H. Burchardi R. Larsen R. Kuhlen K.–W. Jauch J. Schölmerich (Hrsg.)
Die Intensivmedizin 10., überarbeitete und erweite...
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H. Burchardi R. Larsen R. Kuhlen K.–W. Jauch J. Schölmerich (Hrsg.)
Die Intensivmedizin 10., überarbeitete und erweiterte Auflage
H. Burchardi R. Larsen R. Kuhlen K.–W. Jauch J. Schölmerich (Hrsg.)
Die Intensivmedizin 10., überarbeitete und erweiterte Auflage Mit 390 Abbildungen
13
Prof. Dr. med. Hilmar Burchardi, FRCA
Prof. Dr. med. Karl–Walter Jauch
Kiefernweg 2 37120 Bovenden
Chirurgische Klinik u. Poliklinik Klinikum Großhadern LMU München Marchioninistr. 15 81377 München
Prof. Dr. med. Reinhard Larsen Klinik für Anaesthesiologie und Intensivmedizin Universitätskliniken des Saarlandes Gebäude 57 66421 Homburg/Saar
Prof. Dr. med. Ralf Kuhlen
Prof. Dr. Jürgen Schölmerich Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg
Klinik für Intensivmedizin HELIOS Klinikum Berlin Buch Schwanebecker Chaussee 50 13125 Berlin
ISBN–13 978–3–540–72295–3 10. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 3–540–00882–9 9. Auflage Springer–Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d–nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 1955, 1971, 1972,1977, 1982, 1993, 1995, 2001, 2004, 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen– und Markenschutz–Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann und Dr. Anna Krätz, Heidelberg Projektmanagement: Gisela Schmitt, Heidelberg Copyediting: Michaela Mallwitz, Tairnbach Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Stürtz GmbH, Würzburg SPIN: 11009214 Gedruckt auf säurefreiem Papier
0000 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 10. Auflage »Sehr viele und vielleicht die meisten Menschen müssen, um etwas zu finden, erst wissen, dass es da ist.« (Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799) Zehn Auflagen eines Lehrbuchs über Intensivmedizin belegen den Erfolg des interdisziplinären Konzepts dieses Werkes. Intensivmedizin ist ein lebendiges Beispiel für ein multidisziplinäres Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen, für gemeinsame Diskussion und gegenseitige Überzeugung, für wechselseitige Befruchtung mit Kenntnis, Wissen und Erfahrung. Intensivmedizin ist eben nicht begrenzt auf den Zuständigkeitsbereich einzelner Fächer, sondern ist ein Wissens- und Erfahrungsfeld über eine große Breite der Medizin – sie ist eines der letzten Breitenfächer! Eine solche Aussage wird nicht von allen so gesehen, sie entspricht auch nicht den Auffassungen verschiedener Fachgebiete – doch ihre Gültigkeit wird im Zuge der Zeit immer deutlicher. Es ist das gemeinsame Verständnis vieler, die sich ausgiebig mit Intensivmedizin beschäftigen. Für die Fachgesellschaften bedeutet dieses Verständnis keine Bedrohung ihres Einflusses. Es bedeutet eher die Chance einer multidisziplinären Annäherung – so, wie wir sie heute in Zeiten zunehmender Spezialisierung so dringend benötigen. Kaum ein medizinischer Bereich bewegt sich so rasch voran wie die Intensivmedizin. Das stellt höchste Ansprüche an die Aktualität. Es muss dem Springer-Verlag hoch angerechnet werden, dass in so rascher Folge jeweils neue Auflagen dieses Buches herausgebracht werden. Damit wird Aktualität gewährleistet. Für die jetzige 10. Auflage wurde das Buch völlig neu konzipiert. Die Herausgeber haben sich deutlich verjüngt. Zwei altbewährte Weggefährten, Peter Suter und Hans-Peter Schuster, sind auf eigenen Wunsch ausgeschieden. Wir danken ihnen für ihr langjähriges Engagement bei diesem Werk. Für das neue Herausgeberteam konnten der Chirurg Jauch, der Anästhesist Kuhlen und der Internist Schölmerich gewonnen werden, als wichtige Verstärkung des multidisziplinären Konzepts. Dabei wurde auch der gesamte Themenkreis neu überdacht, viele ergänzende Themen wurden hinzugefügt, wichtige aktuelle Probleme aufgegriffen. So deckt das Buch jetzt den Themenkreis noch breiter ab, hat sich weiterer aktueller Fragen angenommen und ist damit, wie wir hoffen, noch informativer geworden. Für diese 10. Auflage konnten zahlreiche neue Autoren gewonnen werden, die mit ihrem Wissen und ihrer besonderen Erfahrung in der Intensivmedizin eine Bereicherung für das gemeinsame Werk bedeuten. Die Herausgeber danken allen Autoren, die sich der großen Aufgabe gestellt haben, ihr Thema aktuell und umfassend, fasslich und didaktisch ansprechend darzustellen. Das Buch lebt vom Sachverstand und vom Engagement dieser Experten. Das Buch ist angelegt sowohl als Lehrbuch für den Arzt, der sich neu mit der Intensivmedizin beschäftigen will; es ist aber auch als Nachschlagewerk für die erfahreneren Ärzte auf der Intensivstation gedacht, die sich mit speziellen Problemen auseinanderzusetzen haben. Es soll also Hilfe sein für die primäre ebenso wie für die kontinuierliche Weiterbildung. Es soll Wissen anbieten und Verständnis für die vielfältigen Zusammenhänge in der Intensivmedizin herstellen. Der didaktischen Darbietung des Textes wurde wiederum große Aufmerksamkeit gewidmet, mit informativen Abbildungen, Tabellen und hervorgehobenen Hinweisen, die das Lesen, Nachschlagen und Aufnehmen erleichtern. Großer Dank gebührt den Mitarbeitern des Springer-Verlags, allen voran Frau Hartmann, die in unermüdlichem Einsatz jeden, der unterwegs müde wurde, zur letzten Wegstrecke animiert hat. Wir wünschen uns, dass dieses Werk vom Leser gut angenommen wird. Wenn mit ihm bei manchem sogar Begeisterung für diesen faszinierenden Bereich der Akutmedizin geweckt werden kann, dann ist unser größter Wunsch erfüllt.
Göttingen, Homburg/Saar, Berlin, München, Regensburg, im September 2007
Die Herausgeber Hilmar Burchardi Rainer Larsen Ralf Kuhlen Karl-Walter Jauch Jürgen Schölmerich
VII
Inhaltsverzeichnis I
I
Grundlagen der Intensivmedizin
Grundlagen der Intensivmedizin ....................................................1
15 Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter ...................................................................... 131 W. Wilhelm, R. Larsen H. Pargger F. Mertzlufft, F. Bach
16 Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring ...................................................................................... 169 K.L. Kiening, A.S. Sarrafzadeh
R. Kuhlen, M. Quintel
2
Rechtliche Probleme ..........................................................................9 R.-W. Bock
3
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin .....................................................................17 V. Köllner, T. Loew
4
17 Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin ............................................................................. 177 E. Eisenhuber, B. Partik, P. Pokieser, C. Schaefer-Prokop
18 Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde...................................................... 225 C. Wrede
Intensivpflege ...................................................................................27 D. Stolecki
5
Hygiene in der Intensivmedizin ....................................................35
III
M. Dettenkofer, E. Meyer
6
Transport kritisch kranker Patienten ............................................45 W. Wilhelm
7
Allgemeine Grundlagen der Therapie
Scores ..................................................................................................53
19 Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen ..................................... 241 J. Langgartner
R. Lefering, E. Neugebauer
20 Ernährungstherapie des Intensivpatienten ............................. 255 8
Risikomanagement und Fehlerkultur ..........................................65
W.H. Hartl, K-W. Jauch
A. Frutiger, J. Graf
9
Leistungserfassung und Qualitätssicherung..............................79 C. Waydhas, O. Mörer
10 Ökonomie und Vergütung ..............................................................89 O. Moerer, H. Burchardi
11 Organisation und Management ....................................................97 H. Burchardi, G. Kreymann
21 Hämorrhagischer Schock ............................................................ 269 R. Larsen
22 Hämostase und Hämotherapie .................................................. 281 M. Reng
23 Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen ................................................................. 303 S. Kleinschmidt
12 Die Intensivmedizin in der Versorgungskette ......................... 109 A. Meier-Hellmann
24 Endotracheale Intubation............................................................ 325 M. Quintel, F. Fiedler
13 Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin .................................................................. 115 K. Peter, M. Rehm, F. Christ
25 Perkutane Tracheotomie.............................................................. 335 H.-W. Bause, A. Prause
26 Thoraxdrainage.............................................................................. 345 B. Regli
II
Allgemeine Grundlagen der Diagnostik und Überwachung
14 Langzeitfolgen nach Intensivtherapie ...................................... 121 U. Börner
27 Bronchoskopie ............................................................................... 353 H. Tonn
28 Akut- und Frührehabilitation ...................................................... 359 M. Bachmann, B. Gassner, S. Kircher, B. Moser, G. Schönherr, N. Trost
VIII
Inhaltsverzeichnis
IV
Akuter Kreislaufstillstand und kardiopulmonale Reanimation
VII Gastrointestinale Störungen 42 Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts .......................... 547 T. Brünnler, J. Schölmerich
29 Kardiopulmonale Reanimation .................................................. 373 H. Herff, T. Danninger, V. Wenzel, K.H. Lindner
43 Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen .............. 557 R.E. Stauber, P. Fickert, M. Trauner
44 Akute Pankreatitis ......................................................................... 569 J. Schölmerich
V
Kardiovaskuläre Störungen
45 Akute gastrointestinale Blutungen .......................................... 579 H. Messmann, F. Klebl
30 Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade ................................................................. 387
46 Mesenteriale Ischämie.................................................................. 591 J. Schölmerich
H.-P. Hermann, S. Vonhof, G. Hasenfuss
31 Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris ............................................................. 407 H.-P. Bestehorn, F.-J. Neumann
32 Herzrhythmusstörungen ............................................................. 429 H.-J. Trappe
33 Infektiöse Endokarditis ................................................................ 445 M. Doering, D. Elsner
VIII Störungen des ZNS und neuromuskuläre Erkrankungen 47 Neurodiagnostik in der Intensivmedizin .................................. 603 G. Becker†, A. Dörfler, M. Forsting, W. Müllges, B. Partik, D. Prayer, B. Wildemann
34 Der hypertensive Notfall .............................................................. 453 M. Barenbrock, K.H. Rahn
48 Erhöhter intrakranieller Druck .................................................... 625 O.W. Sakowitz, A.W. Unterberg
35 Lungenarterienembolie ............................................................... 461 H.-D. Walmrath
49 Koma, metabolische Störungen und Hirntod ......................... 635 F. Weber, A. Bitsch, H. Prange
50 Zerebrovaskuläre Notfälle ........................................................... 645
VI
Respiratorische Störungen
T. Steiner, S. Schwab, W. Hacke
51 Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus............................... 659 H. Stefan, F. Reinhardt
36 Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik............................................................................... 469 R. Kuhlen, R. Dembinski
52 Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten ................................................................... 665 T. Loew, V. Köllner, A. Deister
37 Akutes Lungenversagen .............................................................. 475 R. Kuhlen
53 Infektionen des ZNS ...................................................................... 677 H. W. Prange, A. Bitsch
38 Pneumonien ................................................................................... 481 S. Ewig
39 COPD und Asthma bronchiale ..................................... .............. 499 B. Schönhofer, R. Bals
40 Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung......................................................................... 513 R. Kuhlen, R. Dembinski
41 Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz .................................. 531 B. Schönhofer
54 Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation ........................................................................ 687 G.A. Zäch, M. Baumberger, P. Felleiter, F. Michel, H.G. Koch
55 Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen ...................................... 695 H.-P. Hartung, B.C. Kieseier, M. Schroeter
56 Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation ......................................................................... 707 J.D. Rollnik
IX Inhaltsverzeichnis
70 Thoraxtrauma ................................................................................ 903
IX
Stoffwechsel, Niere, Säure-Basen-, Wasserund Elektrolythaushalt
R. Stocker, U. Bürgi
71 Bauchtrauma .................................................................................. 911 D. Nast-Kolb
72 Brandverletzungen ....................................................................... 919 N. Pallua, K. Hemmrich
57 Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie ........................................................................... 721 S. Klose, H. Lehnert
73 Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung .................... 933 C.-M. Muth
58 Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma ...................................................................... 735 R. Gärtner
XII Operative Intensivmedizin
59 Säure-Basen Status ....................................................................... 743 K. Hofmann-Kiefer, P. Conzen, M. Rehm
60 Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren .................................................................. 755 R. Schindler, K.-U. Eckardt, U. Frei
74 Intensivtherapie schwerer abdominalchirurgischer Krankheitsbilder ............................................................................ 949 E. Klar, A. Pertschy, K.-W. Jauch, W.H. Hartl
75 Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff ................. 969 K. Nassau, K. Kesel, E. Kilger, B. Zwißler
X
Inflammation und Infektion
61 Entzündung und angeborene Immunantwort ....................... 773 A.B.J. Groeneveld
62 Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika ............................. 783 S.W. Lemmen
63 Sepsis ............................................................................................... 791
76 Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen ......................................................................................... 987 J. Geiseler, O. Karg
77 Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen ......................................................................................... 997 T. Kramm, H.-J. Schäfers
78 Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung .............................................................. 1005 J.-P.A.H. Jantzen
F. Bloos, A. Kortgen, A. Meier-Hellmann, K. Reinhart
64 Nosokomiale Infektionen ............................................................ 811 S. Koch, H. Häfner, S. Lemmen
XIII Organtransplantation
65 Spezifische Infektionen ................................................................ 831 A. Cerny, E. Bernasconi
79 Behandlung von Organspendern ............................................ 1031 66 Behandlung von Patienten ‚mit HIV-Infektion auf der Intensivstation ................................................................. 847
T. Bein
80 Intensivtherapie nach Organtransplantation ....................... 1041
I. Schedel
E.-R. Kuse
XI
Trauma
XIV Spezielle Notfälle
67 Polytrauma ..................................................................................... 863 M. Lehnert, I. Marzi
81 Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom .................... 1057 M.C. Schneider, E. Beinder, J.-C. Fauchère, M. Siegemund
68 Schädel-Hirn-Trauma .................................................................... 877 J. Piek
82 Anaphylaktischer Schock........................................................... 1071 U. Müller-Werdan, K. Werdan
69 Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion ......................... 893 S. Reinert
X
Inhaltsverzeichnis
XV Pädiatrische Intensivmedizin 83 Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen ..................... 1083 K. Bauer, P. Groneck, C.P. Speer
84 Pädiatrische Intensivmedizin.................................................... 1131 P.C. Rimensberger
XVI Vergiftungen 85 Akute Vergiftungen..................................................................... 1167 L.S. Weilemann
Anhang 86 Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter ........................................................................... 1181 J. Geisel
Stichwortverzeichnis .................................................................. 1197
XI
Autorenverzeichnis Bach, F., Dr.
Bernasconi, E., Dr.
Christ, F., Prof. Dr.
Eckardt, K.-U., Dr.
Klinik für Anästhesiologie u. Intensivmedizin, Krankenanstalten Gilead Grenzweg 10 D-33617 Bielefeld
Ospedale Civico Lugano Via Tesserete 46, CH-6903 Lugano
Klinik für Anästhesiologie, Klinikum Großhadern, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Charité, Campus Virchow Klinikum der Humboldt-Universität Augustenburger Platz 1, D-13353 Berlin
Bachmann, M., MSc Universitätsklinik für Neurologie, Neurorehabilitation Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Bals, R., Priv.-Doz. Dr. Dr. rer. nat. Klinik f. Innere Medizin – Pneumologie, Klinikum der Philipps-Universität Marburg Baldingerstr. 1, D-35043 Marburg
Barenbrock, M., Prof. Dr. Ambulantes Dialysezentrum Ludwig-Teleky-Str. 3, D-59071 Hamm
Bauer, K., Prof. Dr. Neonatologie Klinikum der Johann-WolfgangGoethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7, D-60596 Frankfurt
Baumberger, M., Dr. Paraplegiker Zentrum Guido A. Zäch Str. 1, CH-6207 Nottwil
Bause, H.-W., Prof. Dr. Abt. für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, Allgemeines Krankenhaus Altona Paul-Ehrlich-Str. 1, D-22763 Hamburg
Becker†, G., Prof. Dr. Bein, T., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie, Klinikum der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 D-93042 Regensburg
Bestehorn, H.-P., Dr. Kardiologie I, Herz-Zentrum Bad Krozingen Südring 15, D-79189 Bad Krozingen
Bitsch, A., Prof. Dr. Neurologische Klinik, Ruppiner Kliniken GmbH Fehrbelliner Str. 38, D-16816 Neuruppin
Bloos, F., Dr. Klinikum der Friedrich-SchillerUniversität, Klinik für Anästhesiologie u. Intensivtherapie Erlanger Allee 101, D-07740 Jena
Klinik für Geburtshilfe, UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstr. 10, CH-8091 Zürich
Klinik für Anästhesiologie, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Danninger, T. Medizinische Universität Innsbruck, Univ.-Klinik für Anaesthesie u. Allg. Intensivmedizin Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Eisenhuber, E., Dr. Klinik für Radiodiagnostik, Universität Wien Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien
Elsner, D., Prof. Dr. III. Medizinische Klinik, Klinikum Passau Innstr. 76, D-94032 Passau
Deister, A., Priv.-Doz. Dr. Ewig, S., Prof. Dr.
Schlüterstr. 37, D-10629 Berlin
Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie u. Psychosomatische Medizin, Krankenhaus Itzehoe Robert-Koch-Str. 2, D-26642 Itzhoe
Börner, U., Prof. Dr.
Dembinski, R., Priv.-Doz. Dr.
Klinikum der Universität Köln, Zentrale Intensivu. Notfallmedizin (ZIN) Joseph-Stelzmann-Str. 9, D-50924 Köln
Klinik für operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Pauwelsstr. 30 D-52074 Aachen
Brünnler, T., Dr.
Dettenkofer, M., Prof. Dr.
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I, Klinikum der Universität Regensburg D-93042 Regensburg
Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Freiburg Breisacher Str. 115b, D-79106 Freiburg
Felleiter, P., Dr.
Burchardi, H., Prof. Dr.
Dörfler, A., Prof. Dr.
Fickert, P., Univ.-Doz. Dr.
Kiefernweg 2, D-37120 Bovenden
Abteilung Neuroradiologie, Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6, D-91054 Erlangen
Klinische Abt. für Gastroenterologie und Hepatologie, Universität Graz, Medizinische Universitätsklinik, Auenbruggerplatz 2/4 A-8036 Graz
Bock, R.-W.
Bürgi, U., Dr. Intensivstation der Unfall u. Viszeralchirurgie, Departement Chirurgie Universitätsspital Rämistr. 100, CH-8091 Zürich
Cerny, A., Prof. Dr. Beinder, E., Priv.-Doz. Dr.
Conzen, P., Prof. Dr.
Clinic for Internal Medicine and Liver Outpatient Clinic, Clinica Luganese Moncucco Hospital Via Moncucco 10, CH-6900 Lugano
Döring, M., Dr. III. Medizinische Klinik, Klinikum Passau Innstr. 76, D-94032 Passau
Thoraxzentrum Ruhrgebiet, Kliniken für Pneumologie und Infektiologie, Evangelisches Krankenhaus Herne und Augusta-Kranken-Anstalt Bergstraße 26, D-44791 Bochum
Fauchère, J.-C., Priv.-Doz. Dr. Klinik für Neonatologie, UniversitätsSpital Frauenklinikstr. 10 CH-8091 Zürich
Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Str. 1, CH-6207 Nottwil
Fiedler, F., Priv.-Doz. Dr. Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, St.-Elisabeth Krankenhaus Köln-Hohenlind, Werthmannstr. 1, D-50935 Köln
XII
Autorenverzeichnis
Forsting, M., Prof. Dr.
Groneck, P., Prof. Dr.
Hofmann-Kiefer, K., Dr.
Klar, E., Prof. Dr.
Institut für diagnostische u. interventionelle Radiologie und Neuroradiologie, Universitätsklinikum Essen Hufelandstr. 55, D-45122 Essen
Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche, Klinikum Leverkusen gGmbH Am Gesundheitspark 11, 51375 Leverkusen
Klinik für Anästhesiologie, Klinikum Großhadern, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Abt. für Allgemein-, Thorax-, Gefäß- u.Transplantationschirurgie Universität Rostock Schillingallee 35, D-18055 Rostock
Hacke, W., Prof. Dr.
Hüttemann, E., Dr.
Klebl, F., Priv.-Doz. Dr.
Universitätsklinikum Charité, Campus Charité Mitte Schumannstr. 20/21, D-10117 Berlin
Neurologische Klinik, Kliniken der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Klinik für Anästhesiologie u. Intensivtherapie, Klinikum der Friedrich-SchillerUniversität Erlanger Allee 101 D-07740 Jena
Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Klinikum der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 D-93042 Regensburg
Frutiger, A., Priv.-Doz. Dr.
Häfner, H., Dr.
Interdisziplinäre Intensivstation, Spitäler Chur AG Rätisches Kantons- und Regionalspital Loestr. 170, CH-7000 Chur
Zentralbereich für Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, D-52057 Aachen
Jantzen, J.-P., Prof. Dr.
Kleinschmidt, S., Prof. Dr.
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Klinikum Hannover Nordstadt Haltenhoffstr. 41, D-30167 Hannover
Gassner, B.
Hartl, W.H., Prof. Dr.
Abtg für Anästhesie, Intensivmedizin u. Schmerztherapie, BG Unfallklinik Ludwigshafen Ludwig-Guttmann-Str. 13, D-67071 Ludwigshafen
Neurorehabilitation, Universitätsklinik für Neurologie Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Chirurgische Klinik u. Poliklinik, Klinikum Großhadern, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Frei, U., Prof. Dr.
Gärtner, R., Prof. Dr. Innenstadt, Medizinische Klinik, Klinikum der Universität München Ziemssenstr. 1, D-80366 München
Chirurgische Klinik und Poliklinik, Klinikum Großhadern, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Hartung, H.-P., Prof. Dr. Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstr. 5, D-40225 Düsseldorf
Geisel, J., Prof. Dr. Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Universitätsklinikum des Saarlandes Gebäude 57, D-66421 Homburg/Saar
Jauch, K.-W., Prof. Dr.
Hasenfuß, G., Prof. Dr. Abt. Kardiologie u. Pneumologie, Herzzentrum Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, D-37099 Göttingen
Geiseler, J., Dr.
Karg, O, Dr. Klinik für Intensivmedizin und Langzeitbeatmung, Asklepios Fachkliniken München-Gauting Robert-Koch-Allee 2, D-82131 Gauting
Klose, S., Dr. Klinik für Endokrinologie/ Stoffwechselkrankheiten Zentrum für Innere Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Leipziger Str. 44, D-39120 Magdeburg
Koch, H.G., Dr. Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Str. 1, CH-6207 Nottwil
Kesel, K., Dr. Klinik für Anästhesiologie der Universität München, Herzklinik am Augustinum Wolkerweg 16, D-81375 München
Klinik für Intensivmedizin und Langzeitbeatmung, Asklepios Fachkliniken München-Gauting Robert-Koch-Allee 2, D-82131 Gauting
Hemmrich, K., Dr. Klinik für Plastische Chirurgie, Hand- u. Verbrennungschirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, D-52074 Aachen
Kiening, K.L., Priv.-Doz. Dr.
Graf, J., Dr.
Herff, H., Dr.
Kieseier, B.C., Prof. Dr.
Klinik für Anästhesie u. Intensivmedizin, Klinikum der Philipps-Universität Baldingerstr. 1, D-35043 Marburg
Klinik für Anaesthesie und Allg. Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck Anichstr.35, A-6020 Innsbruck
Neurologische Klinik Heinrich-Heine-Universität Moorenstr. 5, D-40225 Düsseldorf
Groeneveld, A.B.J., Prof. Dr.
Hermann, H.-P., Priv.-Doz. Dr.
Dept. of Intensive Care, VU University Hospital Medical Center De Boelelaan 1117, NL-1081 Amsterdam HV
Medizinische Klinik u. Kardiologie, Evangelisches Krankenhaus Bergisch Gladbach gGmbH Ferrenbergstr. 24, D-51465 Bergisch-Gladbach
Klinik für Neurochirurgie, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Kilger, E., Dr. Herzklinik der Universität München am Augustinum Wolkerweg 16, D-81375 München
Kircher, S. Neurorehabilitation, Universitätsklinik für Neurologie Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Koch, S., Dr. Zentralbereich für Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, D-52057 Aachen
Köllner, V., Prof. Dr. Fachklinik für Psychosomatische Medizin, Bliestal Kliniken D-66440 Blieskastel
Kortgen, A., Dr. Klinik für Anästhesiologie u. Intensivtherapie, Klinikum der Friedrich-SchillerUniversität Erlanger Allee 101, D-07740 Jena
Kramm, T., Dr. Abteilung für Thoraxu. Herz-Gefäßchirurgie Universitätsklinikum des Saarlandes Kirrberger Str. 1, D-66421 Homburg/Saar
XIII Autorenverzeichnis
Kreymann, G., Prof. Dr.
Lindner, K.H., Prof. Dr.
Müller-Werdan, U., Prof. Dr.
Pertschy, A., Dr.
Medizinische Klinik I, Universitätsklinikum Eppendorf Martinistr. 52, D-20246 Hamburg
Klinik für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin, Universitätsklinikum Innsbruck Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Klinikum Kröllwitz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Straße 40, D-06097 Halle/Saale
Abt. f. Allgemeine, Thorax-, Gefäßu. Transplantationschirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Rostock, Schillingallee 35, 18057 Rostock
Kuhlen, R., Prof. Dr. Klinik für Intensivmedizin, Helios Klinikum Berlin Buch Hobrechtsfelder Chaussee 100, D-13125 Berlin
Loew, T., Prof. Dr. Abt. Psychosomatik, Klinikum der Universität Regensburg, D-93053 Regensburg
Kuse, E.-R., Prof. Dr. Zentrale Klinik für Anästhesie, operative Intensivmedizin u. Schmerztherapie, Klinikum Salzgitter GmbH Kattowitzer Str. 191, D-38226 Salzgitter
Marzi, I., Prof. Dr. Klinik für Unfall-, Handund Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Johann Wolfgang Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7, D-60590 Frankfurt
Langgartner, J., Dr. Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I, Klinikum der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 D-93042 Regensburg
Meier-Hellmann, A., Prof. Dr.
Larsen, R., Prof. Dr.
Mertzlufft, F., Prof. Dr.
Klinik für Anästhesiologie u. Intensivmedizin, Universitätskliniken des Saarlandes Klinikum-Gebäude 56, D-66421 Homburg/Saar
Gilead I, Klinik für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin Burgsteig 13, D-33617 Bielefeld
Klinik f. Anästhesie, Intensivmedizin, Schmerztherapie, Helios Klinikum Erfurt GmbH, Nordhäuser Str. 74, D-99089 Erfurt
Messmann, H., Prof. Dr. Lehnert, H., Prof. Dr. Chair of Medicine, Warwick Medical School, Head, Dept. of Endocrinology, Diabetes, Metabolism and Vascular Medicine, University Hospital of Coventry, Warwickshire Clifford Bridge Road, Coventry CV2 2DX UK
Lehnert, M., Dr. Klinik für Unfall-,Handund Wiederherstellungschirurgie, Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Theodor-Stern-Kai 7, D-60590 Frankfurt am Main
III. Medizinische Klinik, Klinikum Augsburg Stenglinstr. 2, D-86156 Augsburg
Meyer, E., Dr. Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Freiburg Breisacher Str. 115b, D-79106 Freiburg
Michel, F.-J., Dr. Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Str. 1, CH-6207 Nottwil
Lefering, R., Dr.
Moser, B., MSc
Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM), Universität Witten/Herdecke Ostmerheimerstr. 200, D-51109 Köln
Universitätsklinik für Neurologie, Neurorehabilitation Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Mörer, O., Dr. Lemmen, S.W., Priv.-Doz. Dr. Zentralbereich für Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, D-52057 Aachen
Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- u. Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, D-37070 Göttingen
Müllges, W., Dr. Neurologische Klinik, Klinikum der Universität Josef-Schneider-Str. 11, D-97080 Würzburg
Muth, C.-M., Dr. Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Spezielle Anästhesie, Universitätsklinikum Ulm Prittwitzstraße 43, D-89075 Ulm
Nassau, K., Dr. Klinik für Anästhesiologie der Universität München, Herzklinik am Augustinum Wolkenweg 16, D-81375 München
Neugebauer, E.A.M., Prof. Dr. Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) Lehrstuhl für Chirurgische Forschung, Universität Witten/ Herdecke Ostmerheimerstr. 200, D-51109 Köln
Peter, K., Prof. Dr. Klinik für Anaesthesiologie, Klinikum Großhadern Marchioninistr. 15, D-81377 München
Piek, J., Prof. Dr. Abteilung für Neurochirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Rostock, Schillingallee 35, D-18057 Rostock
Pokieser, P., Prof. Dr. Universitätsklinik für Radiodiagnostik, Allgemeines Krankenhaus Altona Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien
Prange, H., Prof. Dr. Universitätsklinikum Göttingen, Abteilung Neurologie Robert-Koch-Str. 40, D-37075 Göttingen
Prause, A., Dr. Abt. für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, Allgemeines Krankenhaus Altona Paul-Ehrlich-Str. 1, D-22763 Hamburg
Neumann, F.-J., Prof. Dr. Kardiologie, Herzzentrum Bad Krozingen Südring 15, D-79189 Bad Krozingen
Prayer, D., Prof. Dr. Klinik für Radiodiagnostik, Universität Wien Währinger Gürtel 18–20, A-1090 Wien
Pallua, N., Prof. Dr. Dr. Klinik für Plastische-, Handu. Verbrennungschirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, D-52074 Aachen
Pargger, H., Dr. Departement Anästhesie, Kantontsspital CH-4031 Basel
Quintel, M., Prof. Dr. Anästhesiologie II – Operative Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, D-37075 Göttingen
Rahn, K.H., Prof. Dr. Poststiege 42, D-48161 Münster
Partik, B., Dr. Klinik für Radiodiagnostik, Universität Wien Währinger Gürtel 18–20, A-1090 Wien
Regli, B., Dr. Klinik für Intensivmedizin DAIN, Inselspital CH-3010 Bern
XIV
Autorenverzeichnis
Rehm, M., Priv.-Doz. Dr.
Schäfers, H.-J., Prof. Dr.
Speer, C.P., Prof. Dr.
Trauner, M., Prof. Dr.
Klinik für Anästhesiologie, Klinikum Großhadern, LMU München Marchioninistr. 15, D-81377 München
Abt. für Thorax- und Herz-Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum des Saarlandes Kirrberger Str. 1, D-66421 Homburg/Saar
Universitäts-Kinderklinik Josef-Schneider-Str. 2, D-97080 Würzburg
Klinische Abt. für Gastroenterologie und Hepatologie, Medizinische Universitätsklinik, Universität Graz Auenbruggerplatz 2/4 A-8036 Graz
Reinert, S., Prof. Dr. Dr. Klinik u. Poliklinik für Mund-, Kiefer- u. Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 2, D-72076 Tübingen
Schedel, I., Prof. Dr. Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie, Endokrinologie, Universitätsklinikum Hannover Carl-Neuberg-Straße 1, D-30623 Hannover
Reinhardt, F., Priv.-Doz.Dr. Neurologische Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg Schwabachanlage 6, D-91054 Erlangen
Reinhart, K., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie u. Intensivtherapie, Klinikum der Friedrich-SchillerUniversität Bachstr. 18, D-07743 Jena
Reng, M., Priv.-Doz. Dr. Kreiskrankenhaus Bogen, Innere Medizin Mussinanstr. 9, D-94327 Bogen
Schindler, R., Prof. Dr. Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Charité, Campus Virchow Klinikum der Humboldt-Universität Augustenburger Platz 1, D-13353 Berlin
Kliniken der Universität Heidelberg, Neurologische Klinik Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Stauber, R.E., Prof. Dr. Klinische Abt. für Gastroenterologie und Hepatologie, Medizinische Universitätsklinik, Universität Graz Auenbruggerplatz 2/4, A-8036 Graz
Kliniken der Universität Heidelberg, Neurologische Klinik Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Stefan, H., Prof. Dr.
Departement Anästhesie, Universitätsfrauenklinik Universitätsspital Basel Spitalstr. 21, CH-4031 Basel
Epilepsiezentrum, Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6, D-91054 Erlangen
Stolecki, D. Schölmerich, J., Prof. Dr.
Soins intensifs pédiatriques, Hopital des Enfants – HUG CH-1211 Genève
Rollnik, J.D., Prof. Dr.
Schönherr, G.S.
Neurologische Klinik Hessisch Oldendorf Greitstr. 18–28, D-31840 Hessisch Oldendorf
Universitätsklinik für Neurologie, Neurorehabilitation Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Sakowitz, O.W., Dr.
Schönhofer, B., Prof. Dr.
Neurochirurgische Klinik, Kliniken der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Abt. für Pneumologie u. Internistische Intensivmedizin, Klinikum Region Hannover Krankenhaus Oststadt-Heidehaus Podbielskistr. 380, D-30659 Hannover
Referat Fort- u. Weiterbildung, St.-Johannes-Hospital Dortmund, Stabstelle Geschäftsführung Johannesstr. 9–17, D-44137 Dortmund
Stocker, R., Dr.
Sarrafzadeh, A., Dr. Klinik für Neurochirurgie, Charité, Campus Virchow Klinikum der Humboldt-Universität Augustenburger Platz 1, D-13353 Berlin
Universitätsklinik für Neurologie, Neurorehabilitation Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
Unterberg, A.W., Prof. Dr. Kliniken der Universität Heidelberg, Neurochirurgische Klinik Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Intensivstation der Unfall u. Viszeralchirurgie, Departement Chirurgie Universitätsspital Rämistr. 100, CH-8091 Zürich
Vonhof, S., Priv.-Doz. Dr. Abt. Kardiologie u. Pneumologie, Herzzentrum Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, D-37099 Göttingen
Walmrath, H.-D., Prof. Dr. Medizinische Klinik II, Zentrum für Innere Medizin, Justus-Liebig-Universität Klinikstr. 36, D-35385 Gießen
Waydhas, C., Prof. Dr. Klinik u. Poliklinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Essen Hufelandstr. 55, D-45147 Essen
Weber, F., Priv.-Doz. Dr. Neurologische Abteilung, Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, D-80804 München
Tonn, H., Dr. Pneumonologie u. internistische Intensivmedizin, Klinikum Hannover-OststadtHeidehaus Podbielskistr. 380, D-30659 Hannover
Weilemann, L.S., Prof. Dr.
Trappe, H.-J., Prof. Dr.
Wenzel, V., Prof. Dr.
Medizinisch Univ.-Klinik II Universitätsklinik Marienhospital Herne, Ruhr-Universität Bochum Hölkeskampring 40, D-44625 Herne
Universitätsklinik für Anaesthesie u. Allgemeine Intensivmedizin Anichstr. 35, A-6020 Innsbruck
II. Medizinische Klinik, Universität Mainz, Vergiftungszentrale Langenbeckstr. 1, D-55131 Mainz
Schroeter, M., Priv.-Doz. Dr. Klinik u. Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität Köln Joseph-Stelzmann-Str. 9, D-50931 Köln
Schaefer-Prokop, C.M., Prof. Dr. Academic Medical Center, Radiologie Meibergdreef 9, NL-1105 AZ Amsterdam,
Trost, N.
Steiner, T., Prof. Dr.
Schneider, M.C. , Prof. Dr.
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I, Klinikum der Universität Regensburg D-93042 Regensburg
Rimensberger, P.C., Dr.
Schwab, S., Prof. Dr.
Siegemund, M., Dr. Medizinische Intensivmedizin u. Departement Anästhesie, Universitätsspital Basel Spitalstr. 21, CH-4031 Basel
Werdan, K., Prof. Dr. Klinikum u. Poliklinik für Innere Medizin III, Klinikum Kröllwitz der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Straße 40, D-06097 Halle/Saale
XV Autorenverzeichnis
Wrede, C., Dr. Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Klinikum der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 D-93042 Regensburg
Wildemann, B., Dr. Kliniken der Universität Heidelberg, Neurochirurgische Klinik Im Neuenheimer Feld 400, D-69120 Heidelberg
Wilhelm, W., DEAA, Priv.-Doz. Dr. Klinik für Anästhesiologie & operative Intensivmedizin, RTH Christoph 8, St.-Marien-Hospital Lünen Altstadtstr. 23, D-44534 Lünen
Zäch, G.A., Prof. Dr. Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Str. 1, CH-6207 Nottwil
Zwißler, B., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin u. Schmerztherapie, Klinikum der Johann-WolfgangGoethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7, D-60596 Frankfurt/Main
1 Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin R. Kuhlen, M. Quintel
1.1
Das Spannungsfeld zwischen technisch Machbarem und medizinisch Sinnvollem –4
1.1.1 Verlust der Arzt-Patient-Beziehung –4 1.1.2 Abwägung von Risiko und Nutzen –4 1.1.3 Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis?
–4
1.2
Grenzen der Behandlungspflicht
–5
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
Aktive Sterbehilfe –5 Passive Sterbehilfe –5 Indirekte Sterbehilfe –5 Bedeutung des höheren Lebensalters –6 Der Wille des Patienten –6
1.3
Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin
1.3.1 Unnötige Verlängerung des Sterbeprozesses –7 1.3.2 Kompetenzerwerb in der Patienten- und Angehörigenbetreuung –8
Literatur –8
–7
4
1
Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
Intensivmedizin hat ohne jeden Zweifel entscheidenden Anteil an wesentlichen Fortschritten in der modernen Medizin. Interventionen, die heute für uns zum selbstverständlichen Standard medizinischer Versorgung gehören, wären ohne die technischen Möglichkeiten einer modernen intensivmedizinischen Versorgung nicht möglich. Die Überwachung und Aufrechterhaltung von Organfunktionen mittels differenzierter medikamentöser und technischer Unterstützung bis hin zum vollständigen Organersatz stellen wesentliche Meilensteine in der Geschichte der Medizin dar. So konnte beispielsweise die Einführung der maschinellen Überdruckbeatmung in den 1950-er Jahren, während der Ausbreitung der Polioepidemie über Skandinavien und Norddeutschland, entscheidend zur drastischen Abnahme der hohen Sterblichkeit der Kinderlähmung beitragen. Beim Nierenversagen konnten durch die Einführung der Nierenersatztherapie, beim akuten Herzinfarkt und beim lebensbedrohlich traumatisierten Patienten durch eine immer differenziertere Versorgung entscheidende Therapieerfolge erzielt werden, die zu einer deutlichen Verbesserung des Outcome der betroffenen Patienten geführt haben. In der postchirurgischen Intensivmedizin sind enorme Fortschritte zu verzeichnen, die heute die Durchführung auch komplexester chirurgischer Eingriffe bis ins hohe Alter hinein ermöglichen. 1.1
Das Spannungsfeld zwischen technisch Machbarem und medizinisch Sinnvollem
Neben diesen unstrittigen und von Patienten, medizinischem Personal und Öffentlichkeit gleichermaßen erwünschten Erfolgen der intensivmedizinischen Entwicklung besteht und wächst – analog zu anderen medizinischen Technologien – die Gefahr, dass ihre Möglichkeiten auch dann eingesetzt werden, wenn eine Wiederherstellung der Vitalfunktionen und eine Genesung des Patienten unwahrscheinlich oder gar nicht mehr möglich ist. Es entsteht das Spannungsfeld zwischen technisch möglichem und medizinisch sinnvollem Handeln. In diesem Zusammenhang wächst in der Gesellschaft und bei Patienten und deren Angehörigen die Angst vor einer Intensivmedizin als »Apparatemedizin«, die ohne Rücksicht auf etwaige Überlebenschancen und resultierende Lebensqualität die rein technischen Aspekte der Therapie in den Mittelpunkt stellt und damit immanent das Risiko in sich trägt, einen unvermeidbaren Sterbeprozess hinauszuzögern und somit bestehendes Leiden zu verlängern. Beim Anblick eines beatmeten, künstlich ernährten Intensivpatienten, der durch Sedierung und Schmerztherapie nicht zur Kommunikation mit den Angehörigen in der Lage ist und dessen »Lebenszeichen« sich auf ein Monitorbild reduzieren, ist eine solche Angst besonders beim medizinischen Laien mehr als verständlich. Neben dem Aspekt des unkritischen Einsatzes der Möglichkeiten der Intensivmedizin nehmen in der öffentlichen Diskussion inzwischen aber auch zunehmend die möglichen Konsequenzen aus Ökonomisierungszwängen und damit die Angst vor der Rationierung der Ressource Intensivtherapie Raum ein, sodass eine Beschäftigung mit diesem Themenkomplex immer spürbarer den intensivmedizinischen Alltag begleitet. In der Tat müssen sich alle an der Intensivmedizin Beteiligten die Frage stellen, wo die Grenzen einer sinnvollen Therapie – unter Einsatz aller verfügbaren und teilweise hochtechnischen Möglichkeiten – liegen und wann schließlich die technischen Möglich-
keiten zum Selbstzweck werden, ohne im Sinne einer Wiederherstellung helfen zu können, ja – im schlimmsten Fall – nur Leiden zu verlängern und damit dem obersten Prinzip ärztlichen Handelns zu widersprechen, niemals dem Kranken zu schaden. 1.1.1 Verlust der Arzt-Patient-Beziehung Heinrich Schipperges formulierte bereits 1985 in seinem Buch Homo patiens [14]: Die Medizin von heute und morgen ist mit ihren wachsenden technischen Möglichkeiten einer immer kritischer werdenden Öffentlichkeit ausgesetzt, ohne ihr so recht gewachsen zu sein. Sie hat ihre erstaunlichen Errungenschaften erkaufen müssen mit einer immer bedrohlicher erscheinenden Anonymität, dem Verlust der so sehr persönlichen Zweierbeziehung zwischen Arzt und Kranken, einer durch und durch personalen Interaktion, die immer mehr übergeht in die Hände der Verwaltung, der Institution, der Versicherungsagenturen oder der Juristen, der Verrechnung, mit der Verrechtlichung.
1.1.2 Abwägung von Risiko und Nutzen Die Risiko-Nutzen-Abwägung einer medizinischen Intervention ist grundsätzlich schwierig; in vital bedrohlichen Situationen ist sie häufig schier unmöglich, da in den entsprechenden Grenzsituationen eben nicht zu beantworten ist, welcher gesundheitliche (End)-zustand aus einer an sich indizierten medizinischen Intervention resultiert. So sind sich meist alle Beteiligten einig, wenn Formulierungen Gebrauch finden wie etwa: »wenn keine Hoffnung auf Besserung des Zustands besteht…« oder aber »wenn die Therapie keinerlei Aussicht auf Erfolg verspricht…« Was damit aber im individuellen Fall gemeint ist, bleibt meist offen und unterliegt mit Sicherheit einer Vielzahl unterschiedlichster Interpretationen. Für eine aussichtslose Therapie besteht keine Indikation; sie darf damit nach den Regeln des ärztlichen Handelns und der aktuellen Rechtssprechung dem Patienten erst gar nicht angeboten werden. Diese eindeutigen Situationen sind allerdings ungleich seltener, ja die Ausnahme im Vergleich zu Situationen, in denen eine wertende Entscheidung getroffen werden muss und damit eine Entscheidung darüber, welcher Zustand um welchem Preis erreicht werden kann und ob das angestrebte Therapieziel tatsächlich dem Willen des Patienten entspricht. Letzteres sollte, ja muss das absolute Primat aller medizinischen Handlungen sein. 1.1.3 Lebenserhalt und Lebensverlängerung
um jeden Preis? In diesem Spannungsfeld wächst auch die Erkenntnis, dass Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis in vielen Fällen kein adäquates, dem Wunsch und Auftrag des Patienten entsprechendes Ziel der Behandlung darstellt. Während der Anfänge der Intensivmedizin war es üblich, dass nahezu jeder Intensivpatient – selbst im Sterbeprozess – wenigstens einen, die meisten sogar mehrere Wiederbelebungsversuche über sich ergehen lassen musste. Oft starben diese Patienten dann schließlich unter Fortführung aller technischen und invasiven Therapiemaßnahmen ohne ihre Angehörigen im anonymen Umfeld einer Intensivstation.
5 1.2 · Grenzen der Behandlungspflicht
In den letzten Jahren hat sich jedoch eine mehr patientenund familienbezogene Haltung durchgesetzt, die die physischen, emotionalen, spirituellen und existenziellen Bedürfnisse der direkt Beteiligten und damit die Autonomie der individuellen Persönlichkeit zu berücksichtigen versucht [1–4]. Diese Entwicklung erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass medizinische Entscheidungen am Lebensende immer häufiger nicht im häuslichen Umfeld, sondern auf Intensivstationen getroffen werden, ja getroffen werden müssen. Je nach Quelle schwanken die Angaben über die Zahl der in Deutschland in Krankenhäusern und Pflegeheimen versterbenden Patienten zwischen 50 und 75%. In Anbetracht der weitreichenden Bedeutung dieses Problemkreises für den intensivmedizinischen Alltag haben sich viele unterschiedliche Gremien der Ärzteschaft diesen Fragen mit dem Ziel gewidmet, für den vor Ort tätigen Arzt medizinethische Rahmenbedingungen für seine Entscheidung zu schaffen und ihm gleichzeitig die Angst vor möglichen rechtlichen Konsequenzen zu reduzieren bzw. zu nehmen. 1.2
Grenzen der Behandlungspflicht
Vor dem geschilderten Hintergrund entstand die Stellungnahme der Bundesärztekammer (BÄK, [5]) und der beteiligten Fachgesellschaften zu den Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht [6]. In der Stellungnahme der BÄK [5] zur ärztlichen Sterbebegleitung wird in der Präambel davon ausgegangen, dass es Aufgabe des Arztes ist, …unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-medizinische Versorgung in den Vordergrund. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden.
Im Text werden dann 3 möglichen Patientengruppen beschrieben: 4 Sterbende, bei denen der Sterbeprozess eingetreten und unwiderruflich ist. 4 Hier ist eine Basisbetreuung mit vorwiegend palliativer, begleitender und sorgender Zielsetzung erwähnt, um ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. 4 Patienten mit infauster Prognose, die sich aber noch nicht im Sterbeprozess befinden, nach allem ärztlichen Wissen aber keine Chance auf Heilung mehr haben. 4 Hier kann das Behandlungsziel geändert werden, wenn lebensverlängernde Maßnahmen Leiden lediglich verlängern und ein entsprechender Wille des Patienten vorliegt. Auch hier wird das Behandlungsziel zugunsten eines palliativen Ansatzes geändert. 4 Eine dritte Kategorie in dieser Stellungnahme stellen Patienten mit schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit dar. 4 Hier wird ein prinzipielles Behandlungsgebot für lebenserhaltende Maßnahmen gesehen, wobei wiederum eine Entscheidung in Anhängigkeit vom mutmaßlichen oder gar geäußerten Patientenwillen zu treffen ist. Insbesondere wird erwähnt,
1
dass die Dauer der Bewusstlosigkeit allein kein ausreichendes Kriterium für eine Therapieentscheidung sein darf. 1.2.1 Aktive Sterbehilfe Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [6] hat in Erweiterung dieser Stellungnahme eine »Leitlinie« für das konkrete medizinische Vorgehen in einer solchen Situation verfasst. Hier wurde in Übereinstimmung mit allen vorliegenden Verlautbarungen ärztlicher und medizinischer Organisationen in Deutschland jedwede Form der aktiven Sterbehilfe – definiert als »Tötung eines unheilbar Kranken aufgrund seines ernstlichen Willens durch eine aktive Handlung« – eine klare Absage erteilt. Ii Im Hinblick auf eine dezidierte Ablehnung der aktiven Sterbehilfe besteht somit in der deutschen Medizin ein breiter und tragfähiger Konsens.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in einigen europäischen Staaten, wie etwa in den Niederlanden, diesem aktiven Vorgehen keine komplette Absage erteilt wird. Hier wird die aktive Sterbehilfe in bestimmten, eng definierten Situationen als mögliche medizinische Handlung akzeptiert. In der Intensivmedizin hat sich in den Niederlanden der Bergriff des »active shortening of the dying process« etabliert, was sich näherungsweise mit »aktive Verkürzung des Sterbeprozesses« übersetzen lässt. Eine Tötung auf Verlangen oder auf Wunsch des Patienten ist nach der niederländischen Rechtssprechung unter Beachtung der erforderlichen Formalitäten ebenfalls möglich. Im Gegensatz dazu weisen niederländische Kollegen darauf hin, dass die aktive, über den Entzug einer bereits etablierten Therapie hinausgehende Verkürzung des Sterbeprozesses in der Intensivmedizin, im Gegensatz zur aktiven Sterbehilfe, nicht notwendigerweise auf den explizit geäußerten authentischen Patientenwillen rekurriert, sondern durchaus den mutmaßlichen – oder von Betreuern geäußerten – Willen eines Patienten als Entscheidungsgrundlage akzeptiert. Dieser Exkurs in die internationale Sichtweise des Problemfeldes soll lediglich aufzeigen, welche enormen Unterschiede in der Frage nach der medizinischen Betreuung am Ende des Lebens bestehen können, die von den unterschiedlichen kulturellen, sozialen, religiösen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Sichtweisen um das Sterben und den Tod geprägt sind [3, 4]. 1.2.2 Passive Sterbehilfe Die in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [6] erwähnte Möglichkeit der passiven Sterbehilfe entspricht wiederum einem breiten Konsens der deutschen Medizin und definiert sich als »Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auf die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen durch intensivmedizinische Verfahren, bei progredienten Erkrankungen mit infauster Prognose«. 1.2.3 Indirekte Sterbehilfe In einer dritten Kategorie wird die indirekte Sterbehilfe definiert als »palliative Behandlung eines Schwerstkranken, insbesondere
6
1
Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
potente Schmerztherapie, unter Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung als unbeabsichtigte Nebenwirkung«. In der intensivmedizinischen Versorgungsrealität bildet sich dieser Konsens v. a. in der Entscheidung ab, typisch intensivmedizinische, dem Erhalt der Vitalfunktionen gewidmete Maßnahmen, wie etwa die maschinelle Beatmung, die hoch dosierte Gabe von Katecholaminen zur Unterstützung des Kreislaufs, die Nierenersatztherapie oder andere Organersatzverfahren im gegebenen Fall nicht anzuwenden (»withholding«) oder aber, wenn sich ein derartiges Zustandsbild unter laufenden, maximalen therapeutischen Bemühungen entwickelt, nicht fortzuführen (»withdrawal«). Aus verschiedenen internationalen Untersuchungen wissen wir, dass auch in dieser an sich weitverbreitet geübten Praxis kulturell, religiös und weltanschaulich bedingte Unterschiede bestehen. Unabhängig von der konkreten Form der geübten Praxis stellen aber dennoch die subjektive ärztliche Einschätzung, das Alter und der mutmaßlichen Wille des Patienten die wesentlichen Entscheidungsgrundlagen dar [1, 2]. 1.2.4 Bedeutung des höheren Lebensalters In diesem Kontext ist die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft einmal mehr von Bedeutung, da immer mehr ältere Menschen mit immer komplexeren Krankheitsprozessen intensivmedizinisch behandelt werden. So werden heute ca. 50% aller Intensivbetten von Patienten über 65 Lebensjahren belegt, wobei die Tendenz zu noch höheren Altersstufen steigend ist. Wichtig in dieser Diskussion ist, dass nicht das Alter per se ein Problem für die Intensivmedizin darstellt, sondern die Tatsache, dass in höherem Alter einfach die Wahrscheinlichkeit zu erkranken steigt. In der Tat finden sich in klinischen Untersuchungen Schätzungen, dass Intensivpatienten jenseits des 65. Lebensjahrs in der Regel an mehr als 5 wesentlichen Begleiterkrankungen zusätzlich zu ihrem akuten Problem leiden. Diese Komorbidität zusammen mit der reduzierten Reserve und Regenerationsfähigkeit der verschiedenen Organfunktionen im Alter bedingt eine höhere Wahrscheinlichkeit, mit der Intensivmedizin nicht kurativ eingreifen zu können, wie es ihrer eigentlichen Intention entspricht. i Somit sind die sich ergebenden Probleme der Technisierung der Intensivmedizin und ihres medizinisch und ethisch vertretbaren Einsatzes beim betagten Patienten nicht prinzipiell anders als bei jüngeren Patienten, sondern einfach nur häufiger [7].
1.2.5 Der Wille des Patienten Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Patienten die alles entscheidende Bedeutung zukommt, ausgehend von einer Medizinethik, die dem freien Willen und dem Recht auf Selbstbestimmung die höchste und damit übergeordnete Priorität einräumt. In der Intensivmedizin findet allerdings gerade dieser Aspekt häufig seine ganz praktischen Grenzen darin, dass der aktuelle Wille weder geäußert noch eruiert werden kann. Der Patient ist auf dem Boden seiner kritischen Erkrankung häufig nicht äußerungs- oder einwilligungsfähig. Ebenso häufig liegt auch keine Äußerung eines mutmaßlichen Willens aus der Phase vor
Beginn der Intensivtherapie vor, oder aber der Zeitpunkt der Äußerung liegt so weit zurück, dass berechtigte Zweifel an der Aktualität bestehen. Um die verschiedenen prinzipiellen Möglichkeiten zur Erfassung des mutmaßlichen Patientenwillens bei Einwilligungsunfähigkeit darzustellen, sollen auch hier einige Begriffe erläutert und definiert werden [8].
Patientenver fügung Eine immer häufiger anzutreffende Art der Formulierung des Patientenwillens für medizinische Fragen stellt die Patientenverfügung dar. Sie ist eine schriftliche oder mündliche Willensäußerung eines einwilligungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung im Fall der Äußerungsunfähigkeit. Sie enthält Aussagen zu Art und Umfang medizinischer Behandlung mit der Option der vollständigen Ablehnung, aber auch dem möglichen Wunsch nach Fortführung der Behandlung oder nach Maximaltherapie. Auch wenn die Patientenverfügung bindend ist, liegt das wesentliche Problem im Detaillierungsgrad der Formulierungen über ein konkretes Therapieausmaß für eine spezifische, zum Zeitpunkt des Verfassens in der Zukunft eintretende und damit nicht oder nur schwer konkretisierbare Situation. Die Tatsache, dass eine Patientenverfügung Anlass zu Diskussionen geben kann, entwertet sie jedoch nicht im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der verfassten Willensäußerung. Sie stellt schon deshalb eine gewisse Verbindlichkeit her, als sie belegt, dass sich die betroffene Person zu Zeiten von weitgehender Gesundheit und damit ohne Not mit der Thematik befasst und zumindest den Versuch unternommen hat, seine Vorstellungen und Wünsche für den Umgang mit seiner Person in einem kritischen Gesundheitszustand zu definieren. Unsere Medizinethik respektiert den Willen eines Patienten als oberstes Primat ärztlichen Handelns, auch dann, wenn der Inhalt nicht notwendigerweise unseren eigenen medizinischen oder ethischen Vorstellungen entspricht. Die einzige und eindeutige Limitierung besteht dann, wenn der Wille des Patienten direkt mit dem Tötungsverbot in Konflikt steht, wenn also ein Patient eine aktive Handlung zur Beschleunigung des Sterbeprozesses für sich fixiert hat und wünscht. In diesem Fall kommt dem Tötungsverbot die höherrangige und damit entscheidende Bedeutung zu.
Betreuungsver fügung Das nächste in diesem Zusammenhang wichtige Instrument ist die Betreuungsverfügung, mit der ein Patient den namentlichen Vorschlag zur Bestellung eines Betreuers im gegebenen Fall macht. Dieser Betreuer wird vom Vormundschaftsgericht bestätigt, sofern kein Anhalt besteht, dass sich der Betreuer dem Wohl und Willen des Patienten nicht entsprechend verhalten würde, oder aber der Betreuer nicht in der Lage ist, die Betreuung bestimmungsgemäß auszuüben. Inhaltlich ist auch dieser Betreuer an den mutmaßlichen, beispielsweise in einer Verfügung geäußerten Willen des Patienten gebunden.
Vorsorgevollmacht Das dritte und eigentlich stärkste Instrument, den mutmaßlichen Willen für eine eigene Einwilligungsunfähigkeit zu benennen, ist die Vorsorgevollmacht. Im Gegensatz zum Betreuer ist der Vorsorgebevollmächtigte eine vom Patienten selbst gewählte und eingesetzte Person.
7 1.3 · Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin
Die Vorsorgevollmacht ist der Betreuerbestellung vorrangig. Wenn also die zu regelnden Angelegenheiten ebenso gut durch den Bevollmächtigten geregelt werden können, so muss nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung kein eigener Betreuer durch das Vormundschaftsgericht bestellt werden. Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich die Bestellung eines Kontrollbetreuers für den Fall, dass dem Gericht die Kontrolle des Bevollmächtigten notwendig erscheint. Die Vorsorgevollmacht ist seit 1999 erstmals ausdrücklich auf den Bereich der Gesundheitsfürsorge ausgedehnt und der Bevollmächtigte im Hinblick auf seine Rechte und Pflichten dem Betreuer gleichgestellt. Sie muss schriftlich erteilt sein, bedarf jedoch keiner notariellen Beglaubigung. Der Vorteil einer Vorsorgevollmacht lag bis vor wenigen Jahren v. a. darin, dass die Entscheidung des Bevollmächtigten keiner vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedurfte. Vielmehr sollte eine Person des eigenen Vertrauens – und nicht das Vormundschaftsgericht – die Entscheidungen in Gesundheitsangelegenheiten im Sinne des Patienten treffen, sollte er selbst nicht mehr hierzu in der Lage sein. Mit Inkrafttreten des Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (BtÄndG] 1999 bedarf allerdings nunmehr auch die Einwilligung oder die Nichteinwilligung eines Bevollmächtigten in lebensentscheidende, intensivmedizinische Maßnahmen einer Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. Dies trifft in analoger Anwendung auch auf die Nichtanwendung oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen zu; eine Situation, die gerade in der intensivmedizinischen Realität zum Tragen kommen kann.
Entscheidung des Vormundschaftsgerichts So wird also unabhängig von dem gewählten Instrument der Wahrung des mutmaßlichen Willens der Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes in allen Entscheidungssituationen am Ende des Lebens eine hohe Bedeutung zugemessen. Neben vielen grundsätzlichen Überlegungen sprechen gegen diese Regelung auch ganz praktische Argumente. In Deutschland sterben jährlich rund 850.000 Menschen, davon knapp 50% im Krankenhaus und weitere 13% in Einrichtungen der Altenhilfe. Epidemiologische Schätzungen besagen, dass bei etwa 300.000 Patienten Entscheidungen am Lebensende entstehen, wobei rund 100.000 solcher Entscheidungen pro Jahr der richterlichen Genehmigung im Sinne der analogen Anwendung des § 1904 BGB bedürften. Tatsächlich werden aber nur etwa 3000 solcher Verfahren pro Jahr durchgeführt, wobei die zuständigen Gerichte schon auf der Basis der derzeit üblichen Umsetzungspraxis personell chronisch überlastet sind. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil das Problem des Betreuungsrechts nicht nur in den therapieentscheidenden Fragen, sondern bei allen einwilligungspflichtigen Interventionen greift, sodass eine Betreuung allein schon für die Durchführung einer Tracheotomie oder ähnlicher Eingriffe im intensivmedizinischen Alltag erforderlich ist [8]. Neben diesen eher juristischen Aspekten sollte das ärztliche Gespräch alle Anstrengungen unternehmen, den mutmaßlichen Willen mit Betreuern oder Bevollmächtigten, der Familie und/ oder den nächsten Angehörigen eines einwilligungsunfähigen Patienten zu erfragen und zu erörtern. Die konkrete intensivmedizinische Situation ist häufig gekennzeichnet durch die Unwägbarkeiten bei der Abschätzung des möglichen Erfolgs medizinischer Bemühungen sowie bei der Unvermitteltheit, mit der eine kritische Erkrankung auftreten kann, die ihrerseits wiederum rasches Handeln erfordert.
1
Dieses Dilemma wird sich kaum gänzlich auflösen lassen, ist es doch für akute und auch zukünftige Patienten unmöglich, alle Kombinationen einer solchen Situation im Vorhinein durchzuspielen und eindeutig zu entscheiden. Insofern wird bereits die Beschäftigung mit dem Thema sowohl in der Medizin, aber auch der Gesellschaft, zu einer Haltung führen, die es uns mehr und mehr erlaubt, auch über die letzten Entscheidungen des Lebens im Vorfeld Gespräche zu führen, die die Basis für eine patientenorientierte Entscheidung liefern können. In einer Untersuchung an der Göttinger Universität zeigte sich, dass hier ein bislang unausgeschöpftes Potenzial liegt, da ca. 80% der befragten Patienten an den unterschiedlichen oben genannten Möglichkeiten der Äußerung des Patientenwillens für die gegebene Situation interessiert sind, bis zum Zeitpunkt der Befragung aber nur 11% ein solches Instrument für sich genutzt hatten. Wiederum 80% der befragten Patienten wäre aber interessiert, im Rahmen der ärztlichen Aufklärung über die bestehenden Möglichkeiten informiert zu werden [8]. 1.3
Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin
Die Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der modernen Intensivmedizin werden letztlich immer von individuellen und sehr unterschiedlichen Einflüssen zu Fragen am Ende des Lebens gekennzeichnet sein. Intensivmedizin darf aber weder dem technologischen Primat zum Opfer fallen noch sich der Patientenorientiertheit durch rigiden Aktivismus verschließen. Immer mehr Menschen werden in immer höherem Alter mit immer mehr Diagnosen und einer immer weiter reichenden Komorbidität intensivmedizinisch behandelt. In den momentanen Strukturen der Gesundheitssysteme werden damit Intensivstationen auch immer mehr zu den Orten im Krankenhaus, an denen Patienten sowohl nach kurzen und dramatischen, aber eben auch langen und teilweise qualvollen Verläufen sterben. Die Antworten der Intensivmedizin werden bestimmt von den Grundprinzipien eines von der Humanität geprägten Handelns und nicht von einem ökonomischen oder technologischen Imperativ. In diesem Sinne bieten sich der Intensivmedizin große, wenn auch nicht einfache Möglichkeiten, sich vom Image der »Gerätemedizin« hin zu einer sorgenden und menschlichen »Akutmedizin« zu entwickeln. i Moderne Intensivmedizin muss akzeptieren und lernen, dass neben der akut medizinischen Diagnostik und Therapie zur Aufrechterhaltung und Unterstützung der vitalen Körperfunktionen mit allen Möglichkeiten der modernen Technologie auch die menschliche Begleitung am Ende des Lebens zu ihren wichtigen und wesentlichen Aufgaben zählt.
1.3.1 Unnötige Verlängerung des
Sterbeprozesses Wir wissen aus der Ethicus-Studie [4], die 1999 und 2000 auf 37 Intensivstationen in 17 europäischen Ländern durchgeführt wurde, dass 99% der Patienten, bei denen eine Therapie aktiv beendet oder entzogen wurde, sterben; demgegenüber verließen 11% der Patienten, denen eine Therapie vorenthalten wurde, lebend die Klinik. Der Rückschluss, dass das passivere Vorgehen des Vor-
8
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Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
enthaltens damit eine geringere Rate von Fehlentscheidungen in sich trüge, berücksichtigt einseitig das Überleben dieser Patienten als Vorteil, wohingegen ein möglicherweise unnötig verlängerter Sterbeprozess bei den übrigen 89% der Patienten billigend in Kauf genommen wird. Gleichzeitig fehlt jede Angabe zur individuellen Lebensqualität nach Entlassung aus dem Krankenhaus und zur Überlebenszeit. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Teil dieser Patienten in einem Zustand überlebt, den er nicht mit seinem Lebensbild in Einklang bringen kann. Hier öffnet sich ein Feld, dem die Medizin im Allgemeinen, aber insbesondere die Intensivmedizin bislang wohl eher zu wenig Rechnung getragen hat. Der Terminus Outcome steht in der Intensivmedizin meist für Überlebenszeiten oder die Dauer der Wirksamkeit einer spezifischen therapeutischen Intervention. Das »gute« Outcome einer Intensivstation bemisst sich u. a. an ihrer Letalität. Überleben in einem ganzheitlichen Sinne erfasst aber neben dem physischen Aspekt die psychosoziale Dimension. Diesem Gedanken muss verantwortungsbewusste Intensivmedizin zukünftig verstärkt Rechnung tragen [9–12]. 1.3.2 Kompetenzer werb in der Patienten- und
Angehörigenbetreuung Das Picker Institute, 1986 in Boston gegründet und seit 2000 in Europa, in England mit Zweigstellen, in Deutschland und der Schweiz etabliert, widmet sich weltweit den Entitäten Krankheit und Therapie aus der Sicht des Patienten und der Angehörigen: Picker works with patients, professionals and policy makers to promote understanding of the patient´s perspective at all levels of healthcare policy and practice. We undertake a unique combination of research, development and policy activities which together work to make patients´ views count.
Picker begleitete im Rahmen von Cobatrice [13], einer von der EU geförderten Initiative der europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin zur Beschreibung und Erfassung europaweit akzeptierter intensivmedizinischer Kompetenzen das Programm im Hinblick auf zu fordernde Kompetenzen im Bereich der Patienten- und Angehörigenbetreuung und nicht zuletzt im Bereich der »end of life care«. Gleichzeitig erfasste die Organisation den derzeitigen Standard der Patienten- und Angehörigenbetreuung in 10 der an Cobatrice beteiligten Länder. Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass das Anforderungsprofil eines zukünftigen europäischen Intensivmediziners neben dem medizinischen Wissen und den erforderlichen manuellen Fähigkeiten nachhaltige Kompetenz auf dem Gebiet der Patienten- und Angehörigenbetreuung und ganz besonders auf dem Gebiet der Betreuung am Lebensende beinhalten wird. Diese Kompetenz zu schaffen wird Aufgabe der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein, die nicht länger auf diesen Aspekt der ethisch-medizinischen Wissens- und Kompetenzvermittlung verzichten darf. Die eine Seite der Intensivtherapie besteht aus der schnellstmöglichen Diagnosestellung mittels aller verfügbaren Technik, der Wertung der wissenschaftlichen Evidenz einer Therapie und dem resultierenden Einsatz aller sinnvollen, auch hochtechnischen, therapeutischen Optionen. Die zweite Seite aber muss die sorgende Begleitung des Patienten und seiner Angehörigen sein, die den Übergang von der kritischen zur terminalen Erkrankung
markiert und sich damit von der bis hierhin möglichen Anonymität zur unausweichlichen Individualität einer endenden Lebensgeschichte wandelt. Dieser Übergang ist oft fließend und muss zumindest die Möglichkeit des Scheiterns intensivmedizinischer Therapie von Anfang an einbeziehen. Gerade das Einbeziehen dieser Möglichkeit gibt dem Betroffenen die Gewissheit, dass auch im Falle des Scheiterns eines Therapieversuchs im besten Sinne Fürsorge für ihn getragen wird und er sich in einem Umfeld befindet, das bereit ist – nachdem alle für diesen individuellen Menschen sinnvollen Maßnahmen ausgeschöpft sind –, das individuelle Lebensende als einen natürlichen Prozess zu akzeptieren. Hierdurch kann die Intensivmedizin Vertrauen schaffen und die mögliche Angst der uns anvertrauten Patienten vor der gefühlskalten Gerätemedizin abbauen. Die Einsicht in das Mögliche und Unmögliche ist es, was den Helden vom Abenteurer unterscheidet.
Literatur 1. Cook D, Rocker G, Marshall J, Sjokvist P, Dodek P, Griffith L et al. (2003) Withdrawal of mechanical ventilation in anticipation of death in the intensive care unit. N Engl J Med 18; 349 (12): 1123–1132 2. Esteban A, Gordo F, Solsona JF, Alia I, Caballero J, Bouza C et al. (2001) Withdrawing and withholding life support in the intensive care unit: a Spanish prospective multi-centre observational study. Intensive Care Med 27 (11): 1744–1749 3. Sprung CL, Carmel S, Sjokvist P, Baras M, Cohen SL, Maia P et al. (2007) Attitudes of European physicians, nurses, patients, and families regarding end-of-life decisions: the ETHICATT study. Intensive Care Med 33 (1): 104–110 4. Sprung CL, Cohen SL, Sjokvist P, Baras M, Bulow HH, Hovilehto S et al. (2003 ) End-of-life practices in European intensive care units: the Ethicus Study. JAMA 290 (6): 790–797 5. Bundesärztekammer (2004) Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztelichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt 7: 19 6. Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (1999) Leitlinien zu Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht. Anästh Intensivmed 40: 94–96 7. Pronovost P, Angus DC (2001) Economics of end-of-life care in the intensive care unit. Crit Care Med Feb 29 (2 Suppl): N46–N51 8. Fangerau H, Burchardi H, Simon A (2003) Der Wille des Patienten: Das Dilemma der ungenutzten Möglichkeiten. Intensivmedizin und Notfallmedizin 40 (6): 99–505 9. Herridge MS, Cheung AM, Tansey CM, Matte-Martyn A, az-Granados N, Al-Saidi F et al. (2003) One-year outcomes in survivors of the acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 348 (8): 683–693 10. Hopkins RO, Herridge MS (2006) Quality of life, emotional abnormalities, and cognitive dysfunction in survivors of acute lung injury/acute respiratory distress syndrome. Clin Chest Med 27 (4): 679–689 11. Hopkins RO, Gale SD, Weaver LK (2006) Brain atrophy and cognitive impairment in survivors of Acute Respiratory Distress Syndrome. Brain Inj 20 (3): 263–271 12. Hopkins RO, Brett S (2005) Chronic neurocognitive effects of critical illness. Curr Opin Crit Care Aug; 11 (4): 369–375 13. Bion JF, Barrett H (2006) Development of core competencies for an international training programme in intensive care medicine. Intensive Care Med 32 (9): 1371–1383 14. Schipperges H (1985) Homo patiens Piper, München
2 Rechtliche Probleme R.-W. Bock
2.1
Einleitung
–10
2.2
Forensisches Risiko
–10
2.2.1 Aktuelle Situation –10 2.2.2 Verrechtlichung der Medizin –10 2.2.3 Fortschritt der Medizin –10
2.3
Rechtliche Problemstellungen
–11
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7
Rechtsgrundlagen –11 Fehlerquellen –11 Behandlungsfehler und Verletzung der Sorgfaltspflicht –11 Organisation der Behandlung –13 Aufklärung des Patienten –13 Dokumentation –15 Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht –15
2.4
Resümee
–15
Literatur
–16
2
10
Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
2.1
Einleitung
Ärztliche Berufsausübung ist allgemein durch Risikoaffinität in der Relation von Behandlungsausübung und Behandlungserfolg im Hinblick auf Komplikationen, Nebenfolgen oder gar einen Misserfolg aller Bemühungen charakterisiert. Dies gilt insbesondere auch für die Intensivmedizin, welche Ärztinnen und Ärzte besonderen Herausforderungen unterwirft. Diese Behandlungsrisikoaffinität korreliert mit einem forensischen Risiko, welches sich gerade während der vergangenen 30 Jahre manifestiert und zunehmend entwickelt hat. Insofern muss es darum gehen, die forensischen Risiken zu minimieren, wozu v. a. auch ein adäquates Risk-Management beitragen kann [1]. Dazu gehört, die rechtlichen Anforderungen, welche an die Berufsausübung des Arztes gestellt sind, zu kennen und die Behandlungsführung demgemäß auszurichten. Unter juristischen Aspekten sind im Kern 3 Problembereiche betroffen: 4 die einzuhaltende Sorgfalt bei der Behandlung des Patienten, 4 die Erlangung von Rechtfertigung für die Vornahme von Behandlungsmaßnahmen (Einwilligung des Patienten aufgrund adäquater Aufklärung/mutmaßliche Einwilligung), 4 die Schaffung organisatorischer Gegebenheiten, um im Ergebnis sorgfaltspflichtgerechte Behandlung vollziehen zu können. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Grenzen der Behandlungspflicht in der Intensivmedizin. 2.2
Forensisches Risiko
2.2.1 Aktuelle Situation Forensische Risiken im Zusammenhang mit der Berufsausübung können sich für die Ärzteschaft in verschiedenen Rechtsbereichen realisieren. Neben einer stetig wachsenden Zahl von Verfahren vor Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen darf v. a. nicht vernachlässigt werden, dass in Deutschland nach Schätzungen bei pro Jahr etwa 40.000 Behandlungsfehlervorwürfen jährlich ca. 10.000 neue Zivilverfahren anhängig gemacht und rund 3.000 neue staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingeleitet werden [2]. Schon seit Jahren sprechen Sachverständige von einem »lawinenartigen Anstieg« der Aufträge für sog. Kunstfehlergutachten [3]. Diese Situation mit »amerikanischen Verhältnissen« beschreiben zu wollen, wäre gewiss übertrieben. Zudem haben sich die Gegebenheiten in den USA zwischenzeitlich verändert (Begrenzung von Schmerzensgeldsummen, Etablierung konsequenten Risk Managements). Das gilt umso mehr, wenn das verfügbare bzw. nachvollziehbare statistische Material in Relation zur Vielzahl tagtäglicher Behandlungsabläufe und konkreter Behandlungsmaßnahmen gesetzt wird. Doch liegt es auf der Hand, dass die Sorge, aus Behandlungsmaßnahmen könnten forensische Auseinandersetzungen resultieren, real gerechtfertigt ist. Demgemäß muss auch konstatiert werden, dass in der Ärzteschaft im Zusammenhang mit medikolegalen Fragestellungen eine erhebliche Verunsicherung entstanden ist. So ist auch zu veranschlagen, welche Belastung es für eine Ärztin oder einen Arzt darstellt, mit dem Vorwurf eines Kunstfehlers konfrontiert zu sein. Das gilt erst recht, wenn die forensische Auseinandersetzung zur Verurteilung des Betroffenen führt.
Zivilrechtlich sind der Patientenseite zwischenzeitlich erhebliche Schadensersatzleistungen zuzusprechen und scheint die deutsche Rechtsprechung ihre frühere grundsätzlich restriktive Haltung bei der Zuerkennung »hoher Schmerzensgeldsummen« aufgegeben zu haben. Umso mehr ist es geboten, Haftpflichtversicherungsverträge routinemäßig auf auch prospektiv ausreichende Deckungssummen zu überprüfen bzw. fachkundig überprüfen zu lassen, um nicht evtl. in persönliche Haftung zu geraten. Die Abwicklung von Zivil- und Strafverfahren stellt sich vielfach mühsam und zeitaufwändig dar. Hinzu kommt, dass sog. Kunstfehlerprozesse oftmals erhebliche Medienwirksamkeit entfalten. Jenseits dessen dürfen evtl. berufsordnungsrechtliche, approbationsrechtliche und vertragsarztrechtliche Konsequenzen nicht vernachlässigt werden. 2.2.2 Verrechtlichung der Medizin Insgesamt ist ein Phänomen zu konstatieren, das durch das Schlagwort von der »Verrechtlichung der Medizin« charakterisiert wird [4]. Juristische Vorgaben ‒ Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und insbesondere auch Maßgaben der Rechtsprechung – führten zur unmittelbar wahrnehmbaren und wahrgenommenen Verquickung von Medizin und Jurisprudenz. In Reaktion darauf hat sich in vielen Zusammenhängen eine »defensive Medizin« etabliert, was Laufs bereits 1986 erkannte und vorausschauend beschrieben hat: »Die Verrechtlichung seiner Kunst lässt den Arzt neben den Risiken, die der Patient mitbringt und die diesem bei der Diagnose oder Therapie drohen, auch die eigenen forensischen Gefahren bedenken und als indizierende wie kontraindizierende Faktoren ins Kalkül ziehen. Aus der verrechtlichten droht eine defensive Medizin zu werden, die aus Scheu vor der Klage zuviel untersucht oder zuwenig an Eingriffen wagt [5]« bzw. Eingriffe auch verfrüht vornimmt. Einerseits ist nachvollziehbar, dass so versucht wird, forensische Risiken zu umgehen bzw. zu minimieren. Doch bedarf ein solches Behandlungsverhalten der kritischen Hinterfragung, wobei letztlich auch Kostenaspekte nicht vernachlässigt werden sollten. Denn die Anwendung defensiver Medizin mit einem an sich unnötigen Mehr an Behandlungsmaßnahmen führt notwendigerweise zu vermeidbaren Kostensteigerungen. Dem wirtschaftlichen Aspekt kommt gerade unter Geltung von DRGs noch gesteigerte Bedeutung zu. Jede Behandlungssituation erfordert ein auf den Einzelfall abgestimmtes Behandlungsverhalten, wobei Maßgabe der einzuhaltende Standard ist. 2.2.3 Fortschritt der Medizin Neben den operativen Fächern gehört die Anästhesiologie zu den haftungsträchtigen Fachgebieten. Das mag einerseits naheliegen, da vielfach schnellste Entschlüsse gefasst werden müssen, Erfolg und Misserfolg meist unmittelbar und für jedermann sichtbar in Erscheinung treten und ein menschliches Versagen, ein Irrtum, nur ein Zögern schwerwiegende, oft irreparable Konsequenzen haben können [7], und überrascht andererseits prima vista, wenn die heutigen anästhesiologischen Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Jedoch darf in diesem Zusammenhang zweierlei nicht vernachlässigt werden: Zum einen implizieren Fortschritte in der Medizin die Reduzierung oder gar Eliminierung »alter Risiken«
11 2.3 · Rechtliche Problemstellungen
und evozieren notwendigerweise »neue Risiken«. Das fordert die Behandlungskunst des Arztes in anderen oder neuen Zusammenhängen heraus, wobei sich andere oder neue diagnostische sowie therapeutische Grenzen zeigen. Zum anderen ruft der »Fortschritt der Medizin« immer neue und weitere Erwartungen bezüglich der Möglichkeiten der Medizin hervor, was vielfach sogar zu einem Anspruchsdenken auf Patientenseite führen mag und die Schicksalhaftigkeit von Krankheitsverläufen oftmals vergessen lässt. Mangelnder Erfolg von Behandlungsmaßnahmen erscheint vor diesem Hintergrund dann nicht als objektiv unvermeidbare Begrenzung medizinischer Möglichkeiten, sondern als »Versagen« der Ärzte. Damit ist ein circulus vitiosus in Gang gesetzt, der neben zahlreichen anderen Faktoren die relativ hohe und nach wie vor steigende Zahl forensischer Auseinandersetzungen im Kern erklären mag. 2.3
Rechtliche Problemstellungen
2.3.1 Rechtsgrundlagen Vor dem Hintergrund tradierter Rechtsprechung resultieren wesentliche rechtliche Anforderungen an den Arzt im Zusammenhang mit seiner Berufsausübung aus dem Strafgesetzbuch. Berührt sind die Tatbestände der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) und der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB). Demnach unterliegt es strafrechtlicher Sanktion, wenn (kurz gesagt) ein fehlerhaftes Verhalten im Zusammenhang mit der Behandlung eines Patienten kausal zu dessen Gesundheitsschädigung oder Tod führt. Gleiches vermag im Grundsatz zivilrechtliche Haftung aus (Behandlungs-) Vertrag und aus Delikt (§§ 823 ff. BGB) auszulösen. Stets dürfen – mit der eventuellen Folge berufsgerichtlicher Sanktion – die Regeln zur ärztlichen Berufsausübung im Berufsordnungsrecht nicht vernachlässigt werden [7]. Im Zusammenhang mit zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Anästhesisten sind grundlegend also 2 Rechtsmaterien zu unterscheiden: 4 Zivilrecht: In Zivilverfahren geht es um die Wiedergutmachung etwa entstandenen Schadens bzw. den Ausgleich für »erlittene Schmerzen« und beeinträchtigte Lebensqualität durch Geldzahlung. Insoweit greift in aller Regel der Haftpflichtversicherungsschutz ein. 4 Strafrecht: Im Gegensatz dazu trifft den Verurteilten bei Durchführung eines Strafverfahrens die Strafsanktion höchstpersönlich. Dagegen gibt es keinen Versicherungsschutz. Weiterhin sind nach strafrechtlicher Verurteilung oftmals auch berufsordnungs- und arbeitsrechtliche Konsequenzen zu erwarten. Insgesamt dürfen die regelmäßig immensen physischen und psychischen Belastungen, die mit der bloßen Anhängigkeit und Durchführung eines Strafverfahrens verbunden sind, nicht vernachlässigt werden. 2.3.2 Fehlerquellen Die einleitend dargestellten forensischen Risiken vermögen sich wesentlich in 3 Sachverhaltszusammenhängen zu realisieren, nämlich
2
hinsichtlich Behandlungsfehlern und Organisationsmängeln, welche sich im Kern als Verstoß gegen die einzuhaltende Sorgfalt darstellen, sowie bezüglich Aufklärungspflichtverletzungen, die im Ergebnis – mangels darauf beruhend wirksamer Einwilligung des Patienten – als verbotene Eigenmacht bei der Behandlungsdurchführung zu charakterisieren sind. Vielfach resultieren konkrete Behandlungsfehler und auch Aufklärungspflichtverletzungen gerade aus zugrundeliegenden Organisationsmängeln. Solche können z. B. auch aus unzureichender Kooperation und Kommunikation verschiedener an der Behandlung des Patienten beteiligter Ärzte des gleichen oder eines anderen Fachgebietes resultieren. Schließlich dürfen Dokumentationsmängel nicht außer Acht bleiben. Sie bilden zwar keine eigene »Anspruchsgrundlage« für Schadensersatz- sowie Schmerzensgeldansprüche [8] und stellen erst recht keinen »Strafgrund« dar. i Nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann lückenhafte oder gar fehlende Dokumentation in Zivilprozessen jedoch zur Beweiserleichterung zugunsten des Patienten – bis hin zur Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes – führen [9].
Es darf nicht verkannt werden, dass hinsichtlich der rechtlichen Anforderungen im Zusammenhang mit intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen nichts anderes gilt als bezüglich sonstiger ärztlicher Berufsausübung, insbesondere anästhesiologischer Behandlungstätigkeit. Es gelten die allgemeinen arzthaftungsund arztstrafrechtlichen Grundsätze, sodass auf diese im Folgenden näher eingegangen werden soll. 2.3.3 Behandlungsfehler und Verletzung der
Sorgfaltspflicht Grundlegend gilt, dass »gerade wegen der Eigengesetzlichkeit und weitgehenden Undurchschaubarkeit des lebenden Organismus… ein Fehlschlag oder Zwischenfall (anlässlich Behandlungsmaßnahmen) nicht allgemein ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes indizieren (kann)«, wie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt ist [10].
Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht Grundvoraussetzung sowohl zivilrechtlicher Haftung als auch strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Arztes ist daher eine Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht. Darunter versteht man konkret einen Verstoß gegen denjenigen Behandlungsstandard, den – aus Ex-ante-Sicht – ein besonnener und gewissenhafter Arzt dem Patienten in der konkret zu beurteilenden intensivmedizinischen Situation geboten hätte. Dieser »Standard« ist abstrakt und generell als der jeweilige Stand der medizinischen Wissenschaft, konkret als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, allgemein anerkannte und für notwendig erachtete Verhalten umschrieben [11].
Facharztstandard i Hierbei ist im Ergebnis »Facharztstandard« bzw. eine Behandlung mit »Facharztqualität« zu gewährleisten [12], d. h. dass der Arzt die konkret anzuwendende Behandlung »theoretisch wie praktisch so beherrscht, wie das von einem Facharzt (des betroffenen Fachgebiets) erwartet werden muss [13]« (materielle Facharztqualität).
12
2
Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
Die o. a. Umschreibung impliziert, dass ein solcher Standard keine rein statische Größe darstellt, sondern eine dynamische Komponente enthält, welche von der Entwicklung und dem jeweiligen Fortschritt allgemein in der Medizin und insbesondere im Bereich der Intensivmedizin abhängt, also neue Erkenntnisse und Erfahrungen in sich aufnimmt und dadurch den Standard ändert. In diesem Zusammenhang darf nicht vernachlässigt werden, dass es ausschließlich der »medizinischen Wissenschaft« und dabei insbesondere den betroffenen Fachgebieten obliegt, zu diskutieren und evtl. auch zu bestimmen, welche Behandlungsweisen als lege artis zu erachten sind und damit die gebotene Sorgfaltspflicht erfüllen. Denn das, was als »Regel der ärztlichen Kunst« bzw. »Standard« zu bezeichnen ist, bleibt »grundsätzlich der medizininternen Auseinandersetzung überlassen, die rechtliche Intervention (hingegen) der Bestimmung äußerster, ›eindeutiger‹ Grenzen ›(un-)vertretbarer‹ Methodenwahl vorbehalten« [14]. In diesem sachlichen Zusammenhang ist auch die Problematik der (rechtlich) zutreffenden Handhabung von Leitlinien zu sehen.
Übernahmeverschulden Jenseits des zu beachtenden Standards im Hinblick auf konkrete Behandlungsmaßnahmen orientiert sich die objektiv einzuhaltende Sorgfalt auch an den infrastrukturellen, insbesondere diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, die dem Intensivmediziner zur Verfügung stehen, sowie an der konkreten Situation, in der die Behandlung des Patienten erfolgt. So unterliegt die Beherrschung einer Notfallsituation, etwa nach einem Unfallereignis, selbstverständlich anderen Regeln als die planbar zu gestaltende postoperative intensivmedizinische Nachsorge bei einem Patienten. i Andererseits vermag einen Arzt z. B. der Hinweis auf geringere fachliche Qualifikation bzw. nicht zur Verfügung stehende diagnostische Geräte nicht zu entlasten. In solchen Fällen muss der Patient rechtzeitig in eine kompetente Behandlung überwiesen bzw. in ein Krankenhaus mit der erforderlichen Ausstattung verlegt werden. Dies nicht zu erkennen wäre sorgfaltspflichtwidrig.
Anders als im Zivilrecht, wo ausschließlich der oben ausgeführte objektive Sorgfaltsmaßstab gilt, ist im Strafrecht zusätzlich eine subjektive Betrachtung anzustellen. Ein strafrechtlicher Vorwurf kann nur dann erhoben werden, wenn der Arzt nach seinen persönlichen Fähigkeiten und individuellen Kenntnissen auch imstande war, die von ihm objektiv verlangte Sorgfalt aufzubringen. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, dass bei nur unterdurchschnittlicher Qualifikation straflos bleibt, wer unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen verursacht. i Auch der Arzt, dem etwa mangels eigener persönlicher Fähigkeiten und Sachkunde ein Behandlungsfehler unterläuft, kann objektiv pflichtwidrig und subjektiv schuldhaft im Sinne einer Übernahmefahrlässigkeit handeln. Vor der Überschätzung der eigenen Fähigkeit und der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kann daher nur gewarnt werden.
Grundsatz der Methodenfreiheit Gibt es im Rahmen des zu beachtenden Standards mehrere medizinisch anerkannte Vorgehensweisen oder haben sich noch keine
Standardbehandlungsverfahren nach Inhalt und Umfang durchgesetzt, gilt der Grundsatz der Methodenfreiheit, wonach die »Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes« ist [15]. Dieser Grundsatz enthebt den Arzt einer strengen Bindung an bestimmte vorgegebene diagnostische wie therapeutische Methoden oder Verfahren, wobei Sorgfaltspflichten selbstverständlich zu beachten sind [16]. Dabei gehört es zur Sorgfaltspflicht des Arztes, unter mehreren medizinisch anerkannten Vorgehensweisen diejenige zu wählen, die das geringste Risiko für den Patienten mit sich bringt. Methodenfreiheit gilt nur hinsichtlich grundsätzlich gleich wirksamer Methoden, bei denen insgesamt von einem vergleichbaren Risikoniveau auszugehen ist. Sie ist abzulehnen bei deutlichem Risikogefälle. Hier gehört es zur Behandlungspflicht des Arztes, dem Patienten die risikoärmere Behandlung zu vermitteln [17]. Der Arzt verstößt somit gegen seine Sorgfaltspflichten, wenn er sich für die gefahrenträchtigere Behandlungsweise entscheidet, obwohl unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der konkreten Erfolgsaussichten, der spezifischen Risiken sowie der besonderen Vor- und Nachteile der jeweiligen Maßnahmen ein weniger riskantes Vorgehen das Behandlungsziel in gleicher Weise, wenn nicht besser, erfüllt hätte.
Rechtliche Bedeutung von Leitlinien Hinsichtlich der richterlichen Beurteilung, ob der Arzt im konkreten Behandlungsfall die »berufsspezifischen Sorgfaltspflichten« eingehalten hat, stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit ärztlicher Leitlinien. Bei der gerichtlichen Ermittlung, welcher Standard im konkreten Behandlungsfall als sorgfaltspflichtgerecht einzuhalten war, was regelmäßig auf der Grundlage entsprechender Begutachtung erfolgt, können Leitlinien zu berücksichtigen sein. Diese könnten mithin also im Zusammenhang mit der Prüfung von Haftung und Strafbarkeit eines Arztes ein »Einfallstor« zum Rückgriff auf medizinische Beurteilungskategorien darstellen. In diesem Sinne würden Leitlinien dann zumindest mittelbar rechtlich verbindliche Relevanz für den Arzt erlangen. Dies gilt ohne Weiteres, falls eine Leitlinie den einzuhaltenden medizinischen Standard tatsächlich zutreffend (einzig richtig) wiedergibt. Eine Haftung bzw. Strafbarkeit resultierte gemäß aktueller Rechtsprechung ggf. jedoch nicht infolge »Nichteinhaltung der Leitlinie«, sondern aufgrund Nichteinhaltung des zu beachtenden Behandlungsstandards, welcher allerdings evtl. (u. a. auch) einer Leitlinie entnommen werden kann [18]. Wie das OLG Naumburg in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2001 formulierte, haben »ärztliche Leitlinien der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF)… unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst. Einer weitergehenden Bedeutung, etwa als verbindliche Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität und Aktualität entgegen. Forensisch betrachtet sind diese Leitlinien der AWMF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen« [19]. In diesem Sinne schließen die von der AWMF im Internet publizierten Leitlinien auch regelmäßig mit dem Hinweis, diese seien für Ärzte »rechtlich nicht bindend« und hätten »daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung«. Allerdings bleibt auch abzuwarten, welche forensische Bedeu-
13 2.3 · Rechtliche Problemstellungen
2
tung evidenzbasierten Konsensusleitlinien zukünftig zukommen könnte bzw. wird. Für den Arzt ist nach wie vor entscheidend, sein medizinisches Agieren nach Maßgabe des individuellen Behandlungsfalles zu bestimmen. Erfordert dies ein Abweichen von Leitlinien, bedarf es – auch aus vorsorglichen forensischen Gründen – der nachvollziehbaren Begründung.
i Die Intensivtherapie erfordert mithin ein adäquates »Behandlungsmanagement«, welches auch organisatorisch abgestützt sein muss. Dazu gehört die Etablierung eines »Risk Managements«, im Sinne einer »juristischen Qualitätssicherung«, um nicht zuletzt forensische Risiken zu vermeiden [22].
2.3.4 Organisation der Behandlung
2.3.5 Aufklärung des Patienten
Dem zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht ist inhärent die Kontrolle, »dass der Patient die von ihm zu beanspruchende medizinische Qualität auch erhalten hat« [20]. Ungeachtet der ratio legis gilt Entsprechendes zumindest im Effekt auch für die strafrechtliche Beurteilung konkreter ärztlicher Behandlungsmaßnahmen. Die Erreichung »zu beanspruchender medizinischer Qualität« muss selbstverständlich auch organisatorisch gewährleistet sein.
Organisationsverschulden Resultiert aus organisatorischen Mängeln eine Schädigung des Patienten, so ist hier Haftung und Strafbarkeit aus einem Organisationsverschulden möglich. Organisationsmängel lassen sich im Wesentlichen auf 4 Fehlerquellen zurückführen: 4 Kommunikationsmängel, 4 Koordinationsmängel, 4 Qualifikationsmängel, 4 Kompetenzabgrenzungsmängel.
Rechtliches Er fordernis Es ist »nicht der Willkür des einzelnen Arztes überlassen, das zu tun, was er für richtig hält« [23]. Letztliche »Legitimation« zur Durchführung von Behandlungsmaßnahmen erhält jeder ärztliche Eingriff erst durch das »Einverständnis des aufgeklärten Kranken« [24]. Dem liegt wesentlich zugrunde, dass – beruhend auf einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1894 [25] – jeder ärztliche Eingriff, selbst bei gegebener Indikation und Durchführung lege artis, den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und grundsätzlich auch als rechtswidrig zu erachten ist. Zur Vermeidung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs bedarf es eines Rechtfertigungsgrundes, der in diesem Fall durch die Einwilligung des Patienten in die Vornahme des Eingriffs gegeben ist. Dabei ist die Einwilligung des Patienten nur wirksam, wenn dieser die für seine Entscheidung bedeutsamen Umstände kennt, mithin weiß, »in was« er einwilligt. i Nur der hinreichend aufgeklärte Patient kann rechtswirksam in einen Eingriff einwilligen!
Hier ist die Organisationsverantwortung von Krankenhaus- und Abteilungsleitungen gefordert. Wie bereits ausgeführt, hat der Patient Anspruch auf (im Effekt) permanente Behandlung mit (materieller) Facharztqualität. Dies ist schon stellenplan- und dienstplanmäßig zu gewährleisten. So bedarf der Einsatz von (v. a. jüngeren) Ärzten in Weiterbildung insbesondere im Nachtund Wochenenddienst einer kritischen Planung. Kommt für die konkrete Behandlungssituation nicht genügend qualifiziertes Personal zum Einsatz und resultiert daraus eine Schädigung des Patienten, steht zum einen ein Übernahmeverschulden der tätigen Ärzte und zum anderen ein Organisationsverschulden des für die Diensteinteilung zuständigen (leitenden) Arztes sowie des Krankenhauses in Rede.
Darüber hinaus ist das aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes resultierende allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden, hier in der Ausgestaltung des »Selbstbestimmungsrechts des Patienten«, zu beachten, dessen Verwirklichung im Rahmen von Aufklärungsmaßnahmen zu gewährleisten ist. Dem Aufklärungsaspekt kommt rechtspraktisch außerordentlich große Relevanz zu. Dies beruht darauf, dass sowohl eine zivilrechtliche Klage (auf Schadensersatz und Schmerzensgeld) als auch eine Strafanzeige auf eine unterlassene oder nur lückenhafte Aufklärung gestützt werden können. Vielfach wird auf Patientenseite auf eine angeblich mangelhafte Aufklärung rekurriert, weil der Nachweis eines Behandlungsfehlers schwierig ist oder scheitert.
Organisation der Intensivtherapie
i Der Arzt trägt im Zivilprozess die Beweislast, dass der Patient adäquat aufgeklärt wurde.
Gerade Intensivtherapie ist durch »Teamarbeit« gekennzeichnet. Dies betrifft das Zusammenwirken aller Beteiligten unter Einschluss des Pflegepersonals in horizontaler (interdisziplinärer) und vertikaler (hierarchisch geprägter) Arbeitsteilung. Insofern gilt das Prinzip der Einzel- und Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich aller zu eigenständiger Erledigung übertragenen bzw. übernommenen Aufgaben und Tätigkeiten. Umso mehr ist es geboten, im Rahmen vertikaler Arbeitsteilung die generelle oder einzelfallbezogene Delegation von Aufgaben sorgfaltig vorzunehmen sowie im Weiteren zu überwachen und im Rahmen horizontaler Arbeitsteilung auf klare Kompetenzabsprachen zu achten. Kompetenzüberschneidungen und Zuständigkeitsleerräume müssen strikt unterbunden bleiben. In diesem Zusammenhang haben auch die einschlägigen Vereinbarungen der Berufsverbände ihre besondere Bedeutung [21].
Aufklärung als Arztaufgabe Die Aufklärung des Patienten ist ärztliche Aufgabe. Demgemäß verbietet sich eine Delegation von Aufklärungsmaßnahmen an nichtärztliches Personal. Grundsätzlich wird nicht beanstandet, dass gerade in der Anästhesiologie der aufklärende und der die Narkose durchführende Arzt vielfach nicht identisch sind. Allerdings muss dabei gewährleistet sein, dass der Arzt, dem die Aufklärung des Patienten obliegt, dafür nach seinem theoretischen und praktischen Wissens- und Erfahrungsstand und unter Berücksichtigung konkreter Gegebenheiten beim Patienten (z. B. anatomische Besonderheiten bzw. sonstige Risikofaktoren) geeignet ist. Der aufklärende Arzt muss befähigt sein, eine adäquate Aufklärung des Patienten vornehmen zu können.
14
Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
Risikoaufklärung
2
Die sog. Risikoaufklärung, welche das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewährleisten und auch seine rechtswirksame Einwilligung in die Behandlungsmaßnahmen herbeiführen soll, bildet den Schwerpunkt forensischer Auseinandersetzungen (davon zu unterscheiden sind die sog. Diagnoseaufklärung sowie die sog. therapeutische Aufklärung). Umfang und Inhalt der Risikoaufklärung stellen die entscheidende und zugleich umstrittenste Frage dar. Dies wird unmittelbar nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass die Rechtsprechung einerseits keine Verpflichtung des Arztes konstatiert, »den Kranken auf alle nachteiligen Folgen aufmerksam zu machen, die möglicherweise mit einer Operation entstehen können [26]«, im Grundsatz vielmehr fordert, der Patient müsse lediglich »im Großen und Ganzen« informiert werden. Andererseits wird dann in einer Fülle von Einzelfallentscheidungen doch festgestellt, über ein ganz bestimmtes Risiko habe in der konkreten Situation gewiss aufgeklärt werden müssen. Damit liegt das volle Risiko, nicht genügend aufgeklärt zu haben, mit allen zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen beim Arzt. Allgemein stellen wesentliche Maßgaben zur Bestimmung von Inhalt und Umfang der Risikoaufklärung die mit dem Eingriff verbundene Gefahrenhäufigkeit, die Dringlichkeit des Eingriffs und auch die Persönlichkeit bzw. das Verhalten des Patienten dar. Dabei ist anzumerken, dass nach Maßgabe der Rechtsprechung des BGH zur ärztlichen Hinweispflicht bei dieser nicht entscheidend auf eine bestimmte statistische Komplikationsdichte und eine bestimmte Risikofrequenz abzustellen ist. i Maßgeblich ist vielmehr, »ob das infrage stehende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet [27]«. Das heißt zum einen, dass der Patient »über schwerwiegende Risiken grundsätzlich auch dann aufzuklären (ist), wenn sie sich nur selten verwirklichen« [28]. Zum anderen muss allerdings auch über ein noch so seltenes Risiko aufgeklärt werden, wenn es eingriffspezifisch, d. h. typischerweise mit der durchzuführenden ärztlichen Maßnahme verbunden ist (z. B. Infektionsrisiken in Zusammenhang mit einer Bluttransfusion).
Aufklärungszeitpunkt
Ist eine ärztliche Behandlung vital indiziert und rasches Handeln zur Beseitigung einer lebensbedrohlichen Situation geboten, tendiert der Aufklärungsumfang gegen Null. In Notfällen, dies liegt auf der Hand, können Aufklärungsmaßnahmen u. U. völlig entfallen, da die Lebensrettung Vorrang hat. Möglicherweise ist der Patient auch überhaupt nicht mehr ansprechbar.
Aufklärungsgespräch i Aufklärung des Patienten muss sich als »Gespräch« darstellen. Sogenannte »Aufklärungsbögen« dienen der Vorabinformation, bilden die informative Grundlage für ein ausführliches Gespräch und dokumentieren dieses Gespräch. Der Patient ist über den ärztlichen Befund, Behandlungsmöglichkeiten, Art und Weise der Durchführung von Eingriffen, damit verbundene Risiken, mögliche und sichere Folgen, etwaige Nebenwirkungen, mögliche Komplikationen, die Gefahr des Fehlschlags etc. aufzuklären. Gerade im Zusammenhang mit anästhesiologischen Maßnahmen ist auch auf evtl. gegebene Behandlungsalternativen einzugehen.
Bestellung eines Betreuers Bei volljährigen Patienten, die z. B. aufgrund von Bewusstlosigkeit, geistiger Verwirrtheit etc. nicht in der Lage sind, die Notwendigkeit und Bedeutung der Behandlung einzusehen und ihren Willen demnach zu bestimmen, gilt Folgendes:
Die mangelnde Einsichtsfähigkeit hebt das Einwilligungserfordernis nicht auf. Dabei geht die Einwilligungskompetenz nicht etwa auf nahe Angehörige, z. B. Ehepartner oder Kinder des Patienten, über. Diese sind nicht ipso iure gesetzliche Vertreter. Vielmehr ist erforderlich, bei nicht einsichtsfähigen erwachsenen Patienten gemäß § 1896 BGB die Bestellung eines Betreuers herbeizuführen. Dieser Betreuer ist dann aufzuklären, damit er auf dieser Grundlage die Einwilligung zum Heileingriff erteilen kann. Besteht die begründete Gefahr, dass der (betreute) Patient aufgrund der Behandlung stirbt, einen schweren oder länger andauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, bedarf die Einwilligung des Betreuers in den Eingriff darüber hinaus der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht (§ 1904 BGB).
i Die Aufklärung des Patienten muss zeitgerecht erfolgen. Dabei gilt, dass eine Aufklärung »zum richtigen Zeitpunkt« nur dann gegebenen ist, »wenn der Patient noch Gelegenheit hat, zwischen der Aufklärung und dem Eingriff das Für und Wider der Operation abzuwägen«. Es muss unbedingt vermieden werden, dass der Patient »wegen der in der Klinik bereits getroffenen Operationsvorbereitungen unter einen unzumutbaren psychischen Druck gerät«, wobei die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen bleiben [29].
Geschäftsführung ohne Auftrag/Mutmaßliche Einwilligung
Im Gegensatz zur operativen Risikoaufklärung genügt im Normalfall bei stationärer Behandlung eine anästhesiologische Aufklärung des Patienten am Vorabend des Eingriffs. Sind schon präoperativ bestimmte postoperative intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen absehbar, so sollte der Patient auch hierüber aufgeklärt werden. Möglicherweise hat dieser Aspekt Einfluss auf seine Einwilligung zur Durchführung des (operativen) Eingriffs.
Patiententestament
Verbleibt für eine Einschaltung des Vormundschaftsgerichts bzw. die Betreuerbestellung wegen vitaler Gefährdung des Patienten keine Zeit mehr, darf – und muss – der behandelnde Arzt als »Geschäftsführer ohne Auftrag« tätig werden und den gebotenen Eingriff vornehmen. Der Rechtfertigungsgrund (im Normalfall die »Einwilligung« des Patienten, 7 s. oben) ergibt sich in diesem Fall aus »mutmaßlicher Einwilligung« des Patienten und oder einem »Notstand« gemäß § 34 StGB.
Sogenannte »Patientenverfügungen« bzw. »Patiententestamente« sind grundsätzlich als verbindlich zu erachten. Problematisch ist und der Beurteilung im Einzelfall bedarf – bei nach wie vor feh-
15 2.4 · Resümee
lender gesetzlicher Regelung –, »ob der in der noch willensfähigen Situation, etwa bei guter Gesundheit geäußerte Wille bis in die Situation schwerer Erkrankung und beginnenden Sterbens trägt« [30]. Möglicherweise hat der Patient nach Errichtung des Patiententestaments seinen Willen insoweit geändert. Eventuell trifft der im Patiententestament geäußerte Wille nicht die konkrete Behandlungssituation. Insofern bedarf es einer sorgfältigen Bewertung – und darin liegt aktuell die praktische Problematik –, ob der in einem vorliegenden Patiententestament zum Ausdruck kommende Wille die konkret gegebene Behandlungssituation mit daraus resultierenden Entscheidungserfordernissen (noch) trifft. i Letztlich liegt die Entscheidung hinsichtlich der Verwertung eines Patiententestaments – und damit auch das Risiko – jedoch beim Arzt, der versuchen muss, den geltenden Willen des Patienten zu ermitteln.
Für das Patiententestament ist keine besondere Form vorgeschrieben; einfache Schriftform genügt. Es sollte nachvollziehbar sein, wann der Patient seine Verfügung erstellt hat. Insofern wäre es wünschenswert, dass zeitlich regelmäßig Bestätigungsvermerke angebracht sind. Ein Patiententestamt hat umso mehr Gewicht, je zeitnäher der darin zum Ausdruck kommende Wille dokumentiert wurde [31]. 2.3.6 Dokumentation i Dokumentationsmängel als solche begründen – im Gegensatz zum Behandlungs-, Aufklärungs- oder Organisationsfehler – keine Haftung bzw. Strafbarkeit. Die Rechtsfolge eines Dokumentationsversäumnisses besteht nach Maßgabe höchstrichterlicher Judikatur jedoch in einer Beweiserleichterung zugunsten des Patienten, welche sich bis hin zur Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes bzw. Krankenhauses auswirken kann [32].
Jenseits rechtlicher Erfordernisse darf allerdings auch nicht verkannt werden, dass eine ordnungsgemäße Dokumentation »nicht nur der Absicherung vor juristischen Nachteilen« dient, sondern auch »Kommunikation und Qualitätssicherung in der Medizin« bedeutet [33]. Eine umfassende, nachvollziehbare Dokumentation der intensivmedizinischen Behandlung dient mithin der Therapiesicherung, Beweissicherung und Rechenschaftslegung, weshalb alle wesentlichen Aspekte im Zusammenhang mit Anamnese, Diagnose und Therapie festzuhalten sind [34]. i Aus den bereits dargelegten Gründen ist es zu Beweiszwecken juristisch essenziell, sowohl den Inhalt von Aufklärungsgesprächen in ihren wesentlichen Bestandteilen als auch die Einwilligung des Patienten zu dokumentieren. Dazu sollten schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit die handelsüblichen Aufklärungsformulare Verwendung finden.
2.3.7 Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht Die Problemstellung der Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bildet in der Tat ein »weites Feld«; ihre Abhandlung müsste den hier gegebenen Rahmen sprengen. So soll es grundsätzlich bei einem Verweis auf die aktuell geltenden »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, welche die
2
ergangene Rechtsprechung insoweit berücksichtigen, verbleiben (vgl. dazu auch noch die allerdings nicht aktualisierte Leitlinie der DGAI zu »Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht« gemäß Leitlinienverzeichnis der AWMF). Vor allem bleibt abzuwarten, ob und welche normativen Regelungen de lege ferrenda erfolgen. Jurisprudenz beschäftigt sich wesentlich mit dem »Sollen« der Rechtssubjekte im Zusammenhang mit bestimmten Lebenssachverhalten. So verstandenes »Sollen« impliziert auch das »Dürfen« und »Können« aufgrund entsprechender Erlaubnis und Ermächtigung [36]. Aus Sicht des Juristen stellt sich hier im Kern die Frage, wie sich rechtlich das »Sollen« des Arztes gestaltet, wenn bei der medizinischen Behandlung von Patienten objektiv Grenzen der Therapie erreicht scheinen. Dies gilt v. a. bei nicht mehr kurativ zu behandelnden Kranken. Dabei würde es bei Weitem zu kurz greifen, den Blick lediglich auf rechtliche Gegebenheiten und Anforderungen richten zu wollen, um eine schlüssige Lösung der Problemstellung zu erhoffen. Dadurch bliebe ein weit gestecktes Spannungsfeld mit erheblichem Konfliktpotenzial für die Beteiligten und Betroffenen – Arzt, Pflege, Patient, Angehörige des Patienten – unter moralischen, allgemein ethischen ‒ insbesondere berufsethischen ‒ und »schlicht menschlichen« Aspekten der Betrachtung entzogen. Dabei verhält es sich auch so, dass Intensivmediziner mit Fragen nach therapeutischen Grenzen in der Praxis oftmals konfrontiert sind, in der Rechtsprechung aber nur relativ wenige strafrechtliche Fälle – diese allerdings z. T. spektakulär – entschieden wurden [37]. Die Frage nach den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht impliziert die Frage nach »Inhalt und Umfang der Behandlung« von Patienten, womit sich rechtlich im Kern die Frage nach »Inhalt und Umfang der Behandlungspflicht« des Arztes stellt. Nicht notwendigerweise damit einhergehend und jedenfalls davon zu differenzieren ist die Problemstellung des – im eigentlichen Sinne – »Behandlungsabbruchs« bis hin zur »Sterbehilfe«. Im Ansatz ist auch im vorliegenden Zusammenhang stets die Frage zu stellen, welche Behandlungsidikation (noch) zu stellen ist [38], wobei diese Indikation selbstverständlich ohne Weiteres Palliativmaßnahmen implizieren muss. Hinsichtlich der Anwendung von Palliativmaßnahmen ist es dann eigentlichen unzutreffend, etwa von einer »Therapiereduktion« zu sprechen [39]. Jenseits fraglich gesicherter Erkenntnisse gibt es ohnehin keine fertigen Lösungen zur Bewältigung der Problematik. Insofern kann auch die Frage aufgeworfen werden, ob es überhaupt notwendig und angemessen ist, dass wir für jeglichen Lebenssachverhalt Lösungen zur Hand haben, die zur – auch noch juristisch abgesicherten – »Gewissheit richtiger Entscheidung« führen sollen. Diese Gewissheit kann es letztlich nicht geben, und warum soll nicht im Einzelfall darum »gerungen« werden müssen, eine angenommen richtige Entscheidung im Kontext von Behandlungsstandard, Methodenfreiheit des Arztes und Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu treffen. Dies wird der Problemstellung unheilbaren menschlichen Lebens bzw. Lebens an der Grenze zum Tod vielleicht noch am ehesten gerecht. 2.4
Resümee
Intensivmedizin stellt für den Arzt eine besondere fachmedizinische Herausforderung hinsichtlich Diagnose- und Indikationsstellung sowie allgemeiner Behandlungsführung dar.
16
2
Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
Selbstverständlich soll der Arzt forensische Risiken berücksichtigen, doch kann dies nicht die leitende Maxime bei der Behandlungsführung sein. Im Ergebnis geht es darum, den rechtlichen und – dem zugrunde liegend – den medizinischen Anforderungen zu genügen. Allerdings ist es geboten, die einleitend beschriebenen forensischen Risiken zu minimieren. Hierzu dient gerade die genaueste Beachtung der rechtlichen Anforderungen an die einzuhaltende Sorgfalt bei der Aufklärung, Einwilligung und Behandlung des Patienten und (insgesamt) bezüglich der organisatorischen Gegebenheiten. Genau dort setzt ein adäquates Risk-Management ein, wobei es darum gehen muss, aktiv nach Schadensursachen und nach Risikofeldern zu suchen, um Haftungsfälle eben präventiv zu vermeiden. Dergestalt werden Schutz und Sicherheit des Patienten weitergehend gewährleistet und lassen sich forensische Auseinandersetzungen potenziell vermeiden.
Literatur 1. Vgl. dazu Bock R-W (2002) Qualitätssicherung und Risikomanagement In: List W, Osswald P M et al. (Hrsg) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 3 2. Ulsenheimer K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis. C.F. Müller, Heidelberg RN 1ff. 3. Eisenmenger W (1979) Unfallmedizinische Tagungen der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, Heft 38, S 61 4. Vgl. Uhlenbruck W (2002) In: Laufs A, Uhlenbruck W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, München, 3. Aufl, § 39, Rdn 7 5. Laufs A (1986) Arzt und Recht im Wandel der Zeit. MedR, S 163 (164) 6. Vgl. Wachsmuth FS (1979) für Bockelmann, S 473 7. Vgl. dazu grundlegend die MBO-Ä 8. BGH, NJW 1988, S 2949 9. Vgl. grundlegend zum Ganzen: Biermann E (1997) Medico-legale Aspekte in Anästhesie und Intensivmedizin. ains 32: 175–193; 427–452, und Ulsenheimer K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis. a. a. O.(FN 2) 10. BGH, NJW 1977, S 1102 (1103) 11. Vgl. dazu auch Künschner A (1993) Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl. Baden-Baden, S 211 12. Vgl. u. a. BGH, NJW 1987, S 1479; 1992, S 1560 13. Steffen E (1995) Der sog. Facharztstatus aus der Sicht der Rechtsprechung des BGH, MedR S 360 14. Damm R (1989) Medizintechnik und Arzthaftungsrecht. NJW S 737, (738f ) 15. BGH, NJW 1982, S 2121 (2122) 16. Laufs A (2002). In: Laufs A, Uhlenbruck W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, a. a. O. (FN 4), § 3, Rdn 13 17. OLG Düsseldorf, AHRS Nr. 2620, S 32 18. Vgl. dazu OLG Stuttgart, MedR 2002, S. 650 19. OLG Naumburg, MedR 2002, S 471 20. Steffen E (1995) Einfluss verminderter Ressourcen und von Finanzierungsgrenzen aus dem Gesundheitsstrukturgesetz auf die Arzthaftung, MedR S 190 21. Vgl. dazu DGAI/BDA (Hrsg), (2006) Entschließungen – Empfehlungen – Vereinbarungen – Leitlinien, Aktiv, Melsungen, 4. Auflage 22. Bock R-W (2002) Qualitätssicherung und Risikomanagement., a. a. O. (FN 1) und grundlegend: Berg D, Ulsenheimer K (Hrsg) Patientensicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhausorganisation (2006) Springer Berlin Heidelberg 23. Koch K (1996) Qualitätssicherung in der Onkologie. Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 1/2, C16 (C17) mit Verweis auf Herfarth 24. Laufs A (1993) Arztrecht, München, Rdn 42 25. RGSt 25, S 375 26. RGZ 78, S 432 (433) 27. BGH, NJW 1994, S 793
28. BGH, NJW 1994, S 793 29. BGH, NJW 1992, S 2351 30. Schreiber H-L (2002) zur Rechtsverbindlichkeit von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsver fügungen. In: Hampel K (Hrsg) Die Autonomie des Patienten. Münster, S 36 31. Vgl. zum Ganzen Schreiber H-L, a. a. O. (FN 30), S. 34 ff. und auch die Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004), Deutsches Ärzteblatt 2004, Heft 19 32. BGH, NJW 1983, S 332 33. Mehrhoff F (1990) Aktuelles zum Recht der Patientendokumentation, NJW, S 1524 (1525) 34. Vgl. dazu Uhlenbruck W (2002) In: Laufs A, Uhlenbruck, W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, a. a. O. (FN 4), § 59, Rdn 5f. 35. Vgl. FN 31 36. Kelsen H (1997) Die Rechtsordnung als hierarchisches System von Zwangsnormen. In: Hoerster N (Hrsg) Recht und Moral, Texte zur Rechtsphilosophie, München, S 21ff. 37. Vgl. zum Ganzen und insbesondere die Falldarstellungen bei Ulsenheimer K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis, a. a. O. (FN 2), § 3 38. Vgl. dazu BGH, Urteil vom 17.03.2003, NJW 2003, 1588 (1593) 39. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Höfling W (2005) Integritätsschutz und Patientenautonomie am Lebensende. Dtsch Med Wochenschr, S. 898 ff.
3 Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin V. Köllner, T. Loew
3.1
Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Inter ventionen bei Intensivpatienten –18
3.1.1 Belastungsfaktoren –18 3.1.2 Prävention psychischer Störungen –19 3.1.3 Psychotherapie auf der Intensivstation –21
3.2
Die Situation der Angehörigen
–22
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Problemsituationen –22 Psychische Belastung und Störungsbilder bei Angehörigen von ITS-Patienten Präventive und therapeutische Ansätze –22 Das Gespräch mit Angehörigen verstorbener Patienten –23
3.3
Belastungsfaktoren bei Mitarbeitern der Intensivstation
3.3.1 Belastungsfaktoren und Folgeprobleme –24 3.3.2 Präventionsmöglichkeiten –25
3.4
Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst Literatur
–26
–26
–24
–22
18
Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
3.1
Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
3.1.1 Belastungsfaktoren
3 Patient auf einer Intensivstation zu sein, stellt für jeden Menschen eine Situation besonderer Belastung, Bedrohung und Herausforderung dar. Die Stressforschung hat Modelle entwickelt, um zu beschreiben, wie Menschen auf Belastungssituationen reagieren. Einen zentralen Stellenwert hat hier das Coping-Modell von Lazarus und Folkman. Diese definieren Coping (1984) als »…sich ständig verändernde, kognitive und verhaltensmäßige Bemühungen, spezifische externale und/oder internale Anforderungen zu handhaben, die so eingeschätzt werden, dass sie die Ressourcen einer Person beanspruchen oder überschreiten«. Die Bewältigung ist demnach ein wechselseitiger Prozess, der sowohl durch die Besonderheiten der betroffenen Personen, ihrer Geschichte, Vorerfahrungen und persönlichen Bewältigungsmuster als auch durch die Besonderheiten der Problemsituation beeinflusst wird. Die Problemsituation wird im intensivmedizinischen Kontext gekennzeichnet durch die Rahmenbedingungen einer Intensivstation und den Verlauf der jeweiligen Erkrankung.
Belastungsfaktoren durch die Situation auf der Intensivstation Die Intensivstation ist für das Personal vertraut, für die dort liegenden Patienten jedoch eine fremde Welt voller unbekannter, häufig wechselnder und unvorhersehbar auftauchender Menschen, unverständlicher Apparate und ungewohnter Geräusche. Diese unvertraute Situation stellt eine erhebliche Anforderung an die Bewältigungsressourcen der Betroffenen dar und löst häufig Gefühle von Angst und Bedrohung aus. Eine Ausnahme bilden Patienten, die bereits mehrfach intensivmedizinisch betreut wurden und für die die Atmosphäre der Intensivstation sogar ein Signal besonderer Sicherheit darstellen kann. Um sich besser in die Wahrnehmungssituation von Patienten hineinversetzen zu können, wird die Lektüre von Patientenberichten empfohlen (z. B. [3] oder [7]). Aus dem absoluten Vorrang, den die Überwachung und Erhaltung der Vitalfunktionen auf einer Intensivstation haben, ergeben sich zahlreiche Belastungsfaktoren, die im Folgenden dargestellt werden [12]. Auch wenn sie in der Regel nicht zu vermeiden sind, ist ihre Kenntnis hilfreich, um die Reaktionen von Patienten besser einschätzen und unnötigen Belastungen vorbeugen zu können. Orientierungsmangel. Die fremdartige Umgebung, das gleichförmige Aussehen des Personals (z. B. grüne oder blaue Kittel) sowie die weitgehende Aufhebung der Unterschiede zwischen Tag und Nacht beeinträchtigen die Orientierung zum Ort und insbesondere zur Zeit. Erschwerend kommt hinzu, dass die Patienten als Folge ihrer Grundkrankheit oder durch medikamentöse Sedierung ihre Orientierung häufig verlieren und neu gewinnen müssen. Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus. Rund um die Uhr brennendes Licht, eine ständige Geräuschkulisse und die Notwendigkeit von Überwachungs- und Behandlungsmaßnahmen auch in der Nacht führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der norma-
len Schlafrhythmik. Eine solche Störung kann auch bei körperlich Gesunden zu depressiven Verstimmungen und psychiatrischen Symptomen bis hin zu Halluzinationen führen. Mangel an Wahrnehmung und Kommunikation. Für den Patienten ist die Situation auf der Intensivstation paradoxerweise gleichzeitig von Reizmangel und Reizüberflutung gekennzeichnet. Reizüberflutung entsteht durch die Unzahl von Geräuschen und Gesprächsfetzen, die ständig auf ihn einströmen und deren Bedeutung er jedoch kaum beurteilen kann.Für den Patienten ist häufig nicht zu erkennen, ob sich das Schrillen eines Alarms oder der Kommentar eines Pflegers auf ihn selbst oder auf den Nachbarpatienten bezieht. Gleichzeitig sind diese Reize jedoch monoton und immer wiederkehrend. So entsteht eine Verarmung an Reizen, die in ihrer Bedeutung wahrgenommen und weiterverarbeitet werden können. Dies gilt in besonderer Weise für flach liegende Patienten, deren Blickfeld überwiegend durch die Zimmerdecke ausgefüllt wird. Durch restriktive Besuchszeiten und den ständigen Zeitdruck des Personals entsteht zusätzlich ein Mangel an Kommunikation. Unvorhersagbarkeit schmerzhafter Eingriffe. Patienten mit eingeschränkter Bewusstseinslage werden häufig durch harmlose (z. B. Lagerung) oder unangenehme (z. B. Absaugen) Eingriffe und Manipulationen überrascht. Diese Unvorhersagbarkeit unangenehmer Ereignisse kann dazu führen, dass jede Annäherung als potenzielle Bedrohung erlebt wird. Abhängigkeit von Personal und Apparaten. Mit zunehmender Aufklärung des Bewusstseins nimmt der Patient seine Abhängigkeit vom Pflegepersonal bei der Erfüllung alltäglicher Bedürfnisse deutlicher wahr, ebenso die vitale Bedrohung und die Abhängigkeit von Überwachungs- und Behandlungsapparaten (z. B. Dialyse). Die Folge hiervon kann das Auftreten erheblicher Angst bei der Verlegung von der Intensivstation sein, wenn der Patient nun befürchtet, auf der Normalstation könnten Gefahrensituationen übersehen oder nicht adäquat behandelt werden.
Belastungen durch die Grunderkrankung Angst und Ungewissheit. Mit der Notaufnahme bzw. Verlegung auf eine Intensivstation wird für die Mehrzahl der Betroffenen deutlich, dass sie sich in einer u. U. lebensbedrohlichen Situation befinden, sei es als Folge einer akut aufgetretenen oder Verschlechterung einer bereits länger bestehenden Krankheit. Sobald der Patient bei Bewusstsein ist, beschäftigen ihn Fragen wie »Werde ich hier wieder lebend herauskommen?« und »Wie wird das Leben danach weitergehen?«. Häufig haben Angst und Ungewissheit einen realen Hintergrund, und eine Antwort auf diese Fragen kann noch nicht gegeben werden. Doch selbst wenn die reale Situation weniger bedrohlich ist, fällt es dem Patienten aufgrund seiner eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit (z. B. durch routinemäßige postoperative Beatmung) häufig schwer, die gewünschten Informationen einzuholen. Schmerzen. Das Erleiden von Schmerzen als Folge der Grundkrankheit oder von Behandlungsmaßnahmen wirkt zusätzlich depressionsauslösend und angststeigernd. Eine ausreichende Analgesie sollte deshalb, wann immer möglich, angestrebt werden, zumal sie die psychische Führung des Patienten erheblich erleichtert.
19 3.1 · Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
Hirnorganische Beeinträchtigungen. Organische Psychosyndrome werden häufig verkannt oder als psychogen fehleingeschätzt. Störungen des Leber- und Nierenstoffwechsels, zerebrale Minderperfusion als Folge eines kardialen Low-output-Syndroms, Medikamentennebenwirkungen, Infektionen des ZNS und viele andere Faktoren können zu kognitiven Beeinträchtigungen, Verlangsamung, depressiven Syndromen, Halluzinationen bis zum klassischen Durchgangssyndrom sowie zu vorübergehenden Bewusstseinstrübungen bis zum Bewusstseinsverlust führen. Insbesondere, wenn diese Störungen nur diskret ausgeprägt sind, werden sie häufig als psychogen verkannt. Sie stören den Patienten sehr empfindlich dabei, die Orientierung wiederzufinden, und können bei ihm ein Gefühl tiefer Verunsicherung hinterlassen.
Belastungsfaktoren und Ressourcen, die der Patient mitbringt Psychiatrische Vorerkrankungen. Ob sich eine vorbestehende
Angststörung oder Depression während des Aufenthalts auf der Intensivstation verschlimmert oder ob der Verlauf in dieser Hinsicht unauffällig sein wird, lässt sich im Voraus nicht abschätzen. In der Situation akuter Bedrohung können Patienten mit einer psychischen Vorerkrankung völlig adäquat reagieren, während vorher unauffällige Patienten dekompensieren können. Trotzdem ist es wichtig, die Anamnese des Patienten diesbezüglich zu kennen, um evtl. auftretende Symptome bewerten zu können. Bedeutsam ist insbesondere die Medikamentenanamnese. Zur Phasenprohylaxe verordnete Neuroleptika oder Antidepressiva sollten möglichst frühzeitig wieder zugeführt werden, sofern keine Kontraindikation besteht. Ebenso sollte ein vorbestehender Medikamenten- oder Alkoholabusus bekannt sein, um Entzugserscheinungen vorbeugen zu können. Vorerfahrungen. Wenn der Patient schon einmal eine schwere
Erkrankung mit Hilfe intensivmedizinischer Behandlung erfolgreich überwunden hat, ist dies eine Ressource, auf die man zurückgreifen kann. Im Gespräch sollten Patient und Angehörige hieran erinnert und dazu ermuntert werden, die damals eingesetzten Bewältigungsstrategien jetzt wieder zu aktivieren. Umgekehrt kann es eine Belastung darstellen, wenn die Intensivstation für den Patienten mit dem Verlust eines nahen Angehörigen verknüpft ist. Die Kenntnis dieser Vorgeschichte kann helfen, dem Patienten evtl. Unterschiede zwischen seiner eigenen Situation und dem ihm bekannten ungünstigen Verlauf aufzuzeigen. Soziale Unterstützung. Menschen, die über ein funktionierendes
soziales Netzwerk verfügen, haben damit eine wertvolle Ressource zur Bewältigung kritischer Lebensereignisse. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich um Verwandte oder Freunde handelt. Soziale Unterstützung ist z. B. in der Lage, den negativen Einfluss einer Depression auf die Mortalität nach einem Myokardinfarkt vollständig abzupuffern. Patienten, die auf der Intensivstation regelmäßig Besuch von nahe stehenden Personen erhalten, erholen sich in der Regel schneller und zeigen weniger psychische Auffälligkeiten. Daher sollte v. a. Patienten, die ohne soziale Unterstützung länger auf der ITS verweilen müssen, professionelle oder ehrenamtliche Betreuung angeboten werden.
3
3.1.2 Prävention psychischer Störungen
Gestaltung der Intensivstation Günstig ist es, auch Patienten auf einer Intensivstation ein Fenster mit Aussicht oder zumindest Tageslicht zu bieten. Die Wahrnehmung der Jahres- und Tageszeit erleichtert die Orientierung, wenn der Patient das Bewusstsein zurückerlangt. Ist dies nicht möglich, sollte zumindest bei der Intensität der künstlichen Beleuchtung ein klarer Tag-Nacht-Rhythmus eingehalten werden. Zusätzlich sollte der Patient die Möglichkeit haben, auf eine Uhr und einen Kalender zu schauen. Die Uhr muss so angebracht sein, dass sie auch für flach liegende Patienten sichtbar ist, außerdem groß genug, um auch für sehbehinderte Patienten erkennbar zu sein. Günstig ist es, wenn Telefonanschluss und Fernsehen für bewusstseinsklare Patienten zur Verfügung stehen. Langeweile stellt einen häufig unterschätzten Auslösefaktor für Depressionen dar. Das Angebot sinnvoller Beschäftigung und Ablenkung ist jedoch nicht nur gegen depressive Störungen präventiv wirksam, sondern hilft auch Patienten nach einem Durchgangssyndrom, in die Realität zurückzufinden. Hierfür eignen sich: 4 Bilder in den Patientenzimmern (wobei für intubierte Patienten auch eine künstlerische Ausgestaltung insbesondere der Zimmerdecke sinnvoll sein kann), 4 Bilder von Angehörigen, die für den jeweiligen Patienten mitgebracht werden, 4 Fernsehen, 4 Zeitungen und Zeitschriften, 4 Radio über Kopfhörer, 4 CDs oder Kassetten mit Musik, die der Patient auswählen kann, 4 ggf. Unterstützung durch Ergotherapie. Da die Mehrzahl der Patienten nicht von sich aus nach diesen Möglichkeiten fragen wird, ist es sinnvoll, diese wiederholt anzubieten. Dies entspricht dem Vorgehen in der kognitiven Therapie der Depression, bei der Patienten dazu aufgefordert werden, positive Aktivitäten zunächst sozusagen als Training wieder aufzunehmen, auch wenn der eigene Antrieb hierfür noch gering ist. Wenn die Behandlungseinheiten auf der Station zu groß sind, nimmt die Störung durch Behandlungsmaßnahmen bei Mitpatienten proportional zu, deshalb sollte auf eine räumliche Unterteilung der Station geachtet werden.
Kommunikation und Patientenführung Die Bedeutung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung für die Prophylaxe psychischer Störungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Grundlage hierfür ist, dass auch der Patient auf der Intensivstation mit allen relevanten Informationen versorgt wird, sobald er von der Bewusstseinslage her zu deren Aufnahme fähig ist. Weiterhin sollte frühzeitig der Versuch unternommen werden, Behandlungsmaßnahmen mit dem Patienten abzusprechen und sein Einverständnis einzuholen. Behandlungsmaßnahmen, deren Notwendigkeit der Patient einsieht, weil er zuvor darüber informiert worden ist, werden in der Regel besser toleriert. In die Behandlungsplanung mit einbezogen zu werden, verringert für den Patienten das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein. Einschätzung der Bewusstseinslage. Gelegentlich wird die Bewusstseinslage des Patienten falsch eingeschätzt, sodass er als
Kommunikationspartner nicht in Betracht gezogen wird. Dies
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
kann dazu führen, dass unangenehme oder gar schmerzhafte Behandlungsmaßnahmen nicht angekündigt werden, was den Patienten unnötig erschreckt. Ebenso unangebracht ist es, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wird und ängstigende Gesprächsinhalte in sein Bewusstsein dringen.
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! Cave Im Zweifelsfall sollte immer davon ausgegangen werden, dass der Patient bei Bewusstsein ist.
Dies bedeutet auch, dass jeder erwachsene Patient mit seinem Nachnamen und mit »Sie« angesprochen wird. Ein höflicher und respektvoller Umgang auch mit bewusstlosen Patienten ist für die Psychohygiene des Stationsteams selbst von großer Bedeutung. Kommunikation mit dem Patienten. Die Kommunikation zwi-
schen Stationsteam und Patient wird durch den unterschiedlichen Erfahrungshorizont erschwert. Viele Handlungsabläufe, Geräusche etc. stellen für das Stationspersonal vertraute Routine dar, sodass es müßig erscheint, darauf jedes Mal hinzuweisen. Für den Patienten sind diese Phänomene jedoch unvertraut und teilweise bedrohlich, sodass eine Erklärung für ihn angstlösend wirkt. Da die Bewusstseinslage der Patienten nicht konstant ist, müssen häufig die gleichen Sachverhalte immer wieder erklärt werden, zumal man sich nicht darauf verlassen kann, dass der Patient bereits wieder über eine normale Merkfähigkeit verfügt. Erklärungen sollten vom subjektiven Erleben des Patienten ausgehen und mögliche unangenehme Wahrnehmungen vorwegnehmen. Nach Möglichkeit sollte auch der Sinn der Behandlungsmaßnahmen verdeutlicht werden. > Beispiel »Ich werde Sie gleich absaugen, um Sie von Schleim zu befreien, der sich in Ihren Luftwegen angesammelt hat. Hinterher bekommen Sie wieder besser Luft, und es schützt Sie vor einer Lungenentzündung. Ich werde Sie hierfür kurz vom Beatmungsgerät abnehmen, das ist jedoch nicht gefährlich. Durch die Spülflüssigkeit und die Sonde werden Sie einen starken Hustenreiz verspüren, das kann zwar unangenehm sein, hilft aber ebenfalls, Ihre Luftwege wieder zu reinigen. Das Ganze dauert höchstens eine halbe Minute; wenn Sie nicht mehr können, geben Sie mir aber ein Handzeichen.«
Kommunikation erfordert für den Patienten erkennbare Ansprechpartner. Deshalb sollten alle Mitarbeiter der Intensivstation Namensschilder tragen, die auch für sehbehinderte Patienten erkennbar sind. Die Visite kann für den Patienten frustrierend sein, wenn er erleben muss, wie die behandelnden Ärzte vorbeiziehen, ohne dass er Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen. Häufig kommt es auch zu Fehlinterpretationen durch mitgehörte Gesprächsfetzen am eigenen oder am Nachbarbett. Aus diesem Grund kann es sinnvoll sein, die Visite aufzuteilen. Eine große Visite am Morgen dient dann dazu, sich einen Überblick über die Situation der Patienten zu verschaffen und den weiteren Behandlungsplan für den kommenden Tag festzulegen. Hierbei sollte möglichst viel vor der Zimmertür geklärt werden, um die Patienten nicht durch lange Diskussionen am Bett zu verunsichern. Zu einem späteren Zeitpunkt wird dann eine Visite durchgeführt, die der Kommunikation mit den Patienten dient. Hier braucht nicht das gesamte Stationspersonal beteiligt zu sein, was Zeit spart. Der behandelnde Arzt sollte sich hierbei an das Bett des Patienten setzen, ihn klar mit Namen ansprechen und Blickkontakt suchen.
In der Visitensituation ist es sinnvoll, dem Patienten im Zweifelsfall nochmals eine kurze Orientierungshilfe zu geben, da die Bewusstseinslage schnell wechseln kann und eine kurzfristig wiedergewonnene Orientierung häufig wieder verloren geht. > Beispiel »Guten Tag Herr Müller, ich bin Dr. Meier und betreue Sie hier auf der Intensivstation der Dresdner Uniklinik. Vielleicht erinnern Sie sich noch von gestern an mich. Sie hatten vorgestern einen Herzinfarkt und sind vom Notarzt hierher gebracht worden. Es geht Ihnen schon wieder besser, und nachher kommt Ihre Frau, um Sie zu besuchen.«
Wichtig ist, hierbei Blickkontakt zu suchen. Gerade die nonverbale Reaktion des Patienten kann Aufschluss über seine Gemütsund Bewusstseinslage geben. Desorientierte Patienten spüren häufig, »dass sie die Situation nicht voll erfassen«, und versuchen, mit freundlichem Nicken oder Höflichkeitsfloskeln darüber hinwegzutäuschen. Bei einer eilig vorüberziehenden Visite können hierdurch Orientierungsstörungen der Patienten unterschätzt werden oder unbemerkt bleiben. Kommunikation mit intubierten Patienten. Intubierte Patienten leiden, sobald sie das Bewusstsein wiedererlangen, darunter, dass sie nicht sprechen können. Wenn irgend möglich, sollten die Patienten (z. B. bei der präoperativen Aufklärung) darauf hingewiesen werden, dass die Möglichkeit besteht, in intubiertem Zustand aufzuwachen und deshalb sprechunfähig zu sein. Wenn der Patient sich hieran erinnert, ist er von der Angst befreit, »plötzlich die Sprache verloren zu haben«, z. B. durch einen Schlaganfall. Der aufwachende Patient sollte immer wieder auf den vorübergehenden Zustand der Intubation hingewiesen werden, um ihn zu beruhigen. Für die erste Zeit sollte er auf Kommunikationsmittel wie Nicken, Kopfschütteln und Handzeichen hingewiesen werden. Stabilisiert sich sein Zustand, so ist häufig die schriftliche Kommunikation möglich. Die hierfür nötigen Hilfsmittel sollten bereitgehalten werden: 4 Klemmbrett mit Filzstiften unterschiedlicher Schriftdicke, 4 Buchstabentafel, mit deren Hilfe der Patient durch Zeigen auf einzelne Buchstaben Wörter zusammensetzen kann, 4 ein Blatt mit vorformulierten Fragen oder Aussagen, auf die der Patient zeigen kann, 4 Brillenträger und Schwerhörige sollten ihre gewohnten Hilfsmittel möglichst bald zurückerhalten.
Manchmal gelingt es trotz aller Mühen von Seiten des Patienten und seiner Betreuer nicht, sich verständlich zu machen, insbesondere wenn die schriftliche Kommunikation noch nicht möglich ist (zittriges Schriftbild). Sollte der Patient sich über sein Unverstandensein sehr erregen, kann es sinnvoll sein, kurzfristig den Kontakt abzubrechen, um eine Eskalation mit ungünstiger Veränderung von Kreislauf- und Ventilationsparametern zu vermeiden. Dies kann mit dem Hinweis auf eine spätere neue Kommunikationsmöglichkeit geschehen. > Beispiel »Leider verstehe ich im Moment nicht, was Sie meinen. Wir können es aber nachher noch einmal versuchen, wenn Ihre Frau da ist; vielleicht fällt es ihr leichter, uns zu erklären, was Sie meinen.«
21 3.1 · Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
3
Physiotherapie. Physiotherapie kann nicht nur möglichen Komplikationen wie Thrombosen, Pneumonien oder Kontrakturen vorbeugen, sondern sie hilft den Patienten auch, den Tagesablauf zu strukturieren und bietet die Möglichkeit zu einer als sinnvoll erlebten Aktivität. Hier ist eine der wenigen Möglichkeiten im Tagesablauf, in denen der Patient Selbstwirksamkeit und -kontrolle erleben kann und das Gefühl hat, selbst aktiv zur Verbesserung seines Zustandes beitragen zu können. Aktivierende Physiotherapie vermittelt dem Patienten zudem Erfolgserlebnisse, einer durch Unterforderung und Verstärkerentzug bedingten Depression vorbeugen. Hier kann ergotherapeutische Betreuung helfen, Tagesstruktur und Alltagsfertigkeiten zurückzugewinnen und den Patienten psychisch und körperlich zu aktivieren.
Anspannung leiden oder die sich bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen so verkrampfen, dass sie diese als besonders belastend oder schmerzhaft erleben. Entspannungsverfahren haben gegenüber einer medikamentösen Sedierung den Vorteil, weder auf Kreislauf noch auf Atemantrieb ungünstig zu wirken. Wenn man dem Patienten den Zusammenhang (Teufelskreis) zwischen Angst, Anspannung und vermehrten Schmerzen verdeutlicht, ist er in der Regel zum Einsatz eines Entspannungsverfahrens zu motivieren. Sofern er bereits zuvor ein Entspannungsverfahren erlernt und praktiziert hat, sollte er ermuntert werden, dies in den oben genannten Belastungssituationen wieder einzusetzen. Bewährt hat sich auch der Einsatz von Entspannungsmusik [41].
Angehörige als Unterstützung. Bei Patienten, die längere Zeit
Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Muss ein Entspan-
auf der Intensivstation bleiben müssen, und bei desorientierten Patienten können Angehörige eine wertvolle Unterstützung sein (s. nächster Abschnitt). Bei »Langliegern« bringt der regelmäßige Besuch von Angehörigen Abwechslung in den monotonen Tagesrhythmus. Da das Personal zu ausführlicher Kommunikation mit intubierten Patienten selten ausreichend Zeit hat, können die Angehörigen hier als Gesprächspartner des Patienten hilfreich sein. Gleichzeitig ist der regelmäßige Besuch für den Patienten ein Signal, dass er noch nicht vergessen worden ist und dass es sich lohnt, weiter zu kämpfen. Bei desorientierten Patienten kann die regelmäßige und längerfristige Anwesenheit einer vertrauten Person helfen, die Orientierung wiederzugewinnen. Wenn die Anwesenheit eines Angehörigen vom Stationsteam als Belastung erlebt wird, besteht die Möglichkeit, ein Gespräch mit einer unbeteiligten Person (z. B. psychotherapeutischer Konsilarzt) anzubieten, die helfen kann, Missverständnisse aufzuklären und zu vermitteln. Auf diese Weise können auch »schwierige« Angehörige als Bündnispartner gewonnen werden.
nungsverfahren neu erlernt werden, so eignet sich hierzu v. a. die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Dieses Verfahren ist auch in schwierigen Situationen einfach zu lernen und kann bereits nach 2 oder 3 Instruktionen vom Patienten eigenständig angewendet werden. Sollte sich der Patient hiermit schwer tun, so kann als Unterstützung eine Entspannungskassette über Kopfhörer angeboten werden.
3.1.3 Psychotherapie auf der Intensivstation Obwohl die Häufigkeit psychischer Probleme bei Intensivpatienten offensichtlich ist, stellt eine enge Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten und Intensivmedizinern derzeit eher die Ausnahme als die Regel dar. Hierbei spielen der unterschiedliche Arbeitskontext und häufig auch wechselseitige Vorurteile eine Rolle. Auf einer Intensivstation muss der Psychotherapeut auf seine gewohnten Arbeitsbedingungen weitgehend verzichten: Einen ruhigen, störungsfreien Raum, in dem er mit dem Patienten allein ist, ausreichend Zeit sowie ein Gegenüber hat, das in Kommunikationsfähigkeit und Bewusstsein nicht eingeschränkt ist. Die psychoanalytische Theorie hat lange Zeit kein praktikables Konzept für die Arbeit auf einer Intensivstation angeboten. Inzwischen stehen jedoch mit der kognitiven Verhaltenstherapie, der lösungsorientierten, systemischen Kurzzeittherapie [25] und neueren Ansätzen der psychodynamischen Therapie Konzepte zur Verfügung, die erfolgversprechend in der Intensivmedizin eingesetzt werden können. Dabei ist es erforderlich, Behandlungstechniken entsprechend der Problemsituation und der Kommunikationsfähigkeit des Patienten zu kombinieren [10].
Entspannungsver fahren Entspannungsverfahren sind indiziert bei Patienten, die während des Aufenthalts auf der Intensivstation unter ängstlicher
Imaginationsverfahren. Auch dieses Verfahren ist für den Einsatz auf der Intensivstation gut geeignet. Hierbei wird der Patient vom Therapeuten zunächst in einen entspannten Zustand gebracht, anschließend wird er dazu aufgefordert, sich »wie im Tagtraum« ein Bild oder eine Szene vorzustellen, die für ihn mit Entspannung verbunden ist (z. B. Liegen am Strand oder im Liegestuhl im heimischen Garten). Nach 2–3 Übungsdurchgängen unter Anleitung wird der Patient dazu ermuntert, selbstständig, auch ohne Anwesenheit des Therapeuten, zu üben. Einige Patienten, die lange auf einer Intensivstation bleiben müssen, nutzen diese Übung gerne, um die Station »wenigstens in Gedanken« verlassen zu können. Durchführung durch das Stationsteam. Entspannungsübungen müssen nicht zwingend von einem Fachpsychotherapeuten ausgeführt werden. Nach entsprechender Ausbildung können diese auch durch ein Mitglied des Pflegepersonals oder von Physiotherapeuten durchgeführt werden, sofern eine entsprechende Fachsupervision gegeben ist. Auf diese Weise können Verfügbarkeit und Praktikabilität von Entspannungsverfahren auf der Intensivstation wesentlich erhöht werden. Psychotherapie. Sinnvoll ist die kontinuierliche Betreuung einer Intensivstation durch einen konstanten psychotherapeutischen Kooperationspartner im Sinne eines Konsil- und Liaisondienstes (7 Kap. 3.4). Dies gibt den Psychotherapeuten Gelegenheit, sich auf die besonderen Anforderungen des Arbeitsfeldes Intensivstation einzustellen und störungsspezifisches Wissen über die jeweils dominierenden Krankheitsbilder zu erwerben. Therapeutische Gespräche werden in der Regel deutlich kürzer sein als sonst in der Psychotherapie üblich. Für die Mehrzahl der ITS-Patienten ist eine Gesprächsdauer zwischen 5 und 15 min günstig. Dafür nehmen Gespräche mit dem Stationsteam und ggf. auch mit Angehörigen einen breiteren Raum ein. Zu den Aufgaben des Psychotherapeuten auf der Intensivstation gehören: 4 stützende Gespräche mit Patienten und Angehörigen, 4 störungsspezifische (verhaltenstherapeutische) Interventionen, z. B. bei Panikanfällen oder Depression,
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
4 konfliktzentrierte (psychodynamische) Interventionen, z. B. wenn durch die Situation auf der Intensivstation ein bisher latenter Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt aktualisiert wird und zu Noncompliance führt, 4 unterstützende oder konfliktzentrierte Gespräche mit Patienten und/oder Angehörigen in schwierigen Entscheidungssituationen, bei Konflikten und Trauer, 4 Unterstützung von Angehörigen verstorbener Patienten, 4 Beratung des ITS-Teams, 4 ggf. Organisation einer psychotherapeutischen Nachbetreuung im Langzeitverlauf nach der Entlassung. Psychotherapeutische Interventionen bei einzelnen Störungsbildern werden in 7 Kap. 52 beschrieben. 3.2
Die Situation der Angehörigen
3.2.1 Problemsituationen Für die Angehörigen ist die Umgebung auf der Intensivstation in der Regel ebenso fremdartig und potenziell bedrohlich wie für den Patienten. Insbesondere wenn der Patient noch bewusstlos oder bewusstseinsgetrübt ist, lastet der größere Leidensdruck auf den Angehörigen, die die Situation und Bedrohung des Patienten bei vollem Bewusstsein wahrnehmen. Die unbekannten Apparate und die Geschäftigkeit des Pflegepersonals sowie die häufige Notwendigkeit, wegen Behandlungsmaßnahmen bei einem Zimmernachbarn den Raum verlassen zu müssen, verstärken das Gefühl, zu stören, unerwünscht zu sein. Gleichzeitig kann es Angst hervorrufen, den Patienten einer »unbekannten Maschinerie« überlassen zu müssen. Unausgesprochene Gefühle der Angehörigen können die Kommunikation und Kooperation mit Ärzten und Pflegepersonal sehr erschweren. Fragen. Die Angst um den Patienten kann sich darin äußern, dass ein Angehöriger immer wieder die gleichen Fragen über Krankheitsverlauf, Behandlungsmaßnahmen und Prognose stellt, auch wenn diese Fragen schon oft beantwortet wurden oder derzeit nicht beantwortbar sind. Wenn die gleichen Fragen kurz hintereinander an verschiedene Mitglieder des Teams gestellt werden, entsteht bei diesen das Gefühl, kontrolliert und gegeneinander ausgespielt zu werden. Aggressivität. Die Wut darüber, dass ein geliebter Mensch so schwer krank ist, leiden muss und möglicherweise sterben wird, kann in Wut und Ärger über das Behandlungsteam umgewendet werden. Im Extremfall kann dies zu aggressivem Verhalten und Beschimpfungen führen. Einflussnahme. Das Gefühl, der Erkrankung ohnmächtig ge-
genüberzustehen, kann dazu führen, dass ein Angehöriger Kontrolle dort ausüben will, wo dies noch möglich ist, und deshalb versucht, das Pflegepersonal und die Ärzte zu kontrollieren und herumzukommandieren. Vermeidung. Eine andere Reaktion auf die Erkrankung eines nahe stehenden Menschen kann darin bestehen, sich der Situation zu entziehen, indem man den Patienten so selten wie möglich besucht und die Situation vermeidet.
Umgang und Kooperation mit Angehörigen. Es ist wichtig, diese Reaktionsformen zu kennen, um nicht persönlich gekränkt zu reagieren, sondern sie als problematisches Verhaltensmuster in einer Überforderungssituation zu erkennen. Eine solche akzeptierende Grundhaltung bedeutet nicht, dass das Stationspersonal verpflichtet wäre, unhöfliches oder grenzüberschreitendes Verhalten von Angehörigen klaglos hinzunehmen. Sie ermöglicht es vielmehr, bei Angehörigen die zugrunde liegenden Ängste und Befürchtungen anzusprechen, um somit die Situation klären zu können. Im Einzelfall kann es auch sinnvoll sein, einen psychotherapeutischen Konsiliarius als Unterstützung für die Angehörigen oder als neutralen Vermittler hinzuzuziehen. Eine gute Kooperation mit den Angehörigen ist eine wertvolle Ressource. Bei Patienten, die längere Zeit auf der Intensivstation verweilen müssen, können Angehörige, die hierzu bereit und in der Lage sind, in die Pflege einbezogen werden. Sie können dem Patienten mehr Gespräch und Abwechslung bieten als es dem Pflegepersonal aus zeitlichen Gründen möglich ist. Für einen Patienten, der nach einem schweren Durchgangssyndrom wieder in die Realität zurückfindet, kann die regelmäßige Anwesenheit einer vertrauten Person eine wesentliche Unterstützung darstellen. Sind schwierige Entscheidungen zu treffen, wie z. B. das Einstellen invasiver therapeutischer Maßnahmen, so ist es ebenfalls hilfreich, wenn bereits vorher ein Vertrauensverhältnis mit den Angehörigen aufgebaut wurde.
3.2.2 Psychische Belastung und Störungsbilder
bei Angehörigen von ITS-Patienten In den letzten Jahren rückte die psychische Situation der Angehörigen zunehmend in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Hierbei zeigte sich, dass Angehörige mitunter stärker belastet sind als die Patienten selbst. Die Arbeitsgruppe von Pochard et al. [17] konnte in einer Multicenterstudie mit 78 teilnehmenden Intensivstationen nachweisen, dass 75,5% aller Familienangehörigen und 82,7% aller Partnerinnen und Partner Symptome von Angst oder Depressivität zeigten. Diese waren stärker ausgeprägt bei jüngeren Patienten und Patienten in kritischem Zustand oder Patienten, die auf der ITS verstarben. Die Unterbringung des Patienten in einem Mehrbettzimmer war mit höherer Depressivität bei den Angehörigen assoziiert. Eine erhöhte Belastung durch Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) wurde bei bis zu 49% aller Angehörigen von Patienten auf der ITS auch noch 6 Monate nach der Entlassung oder dem Tod des Patienten nachgewiesen. Hierbei waren Angehörige Überlebender ebenso stark belastet wie Angehörige von Patienten, die ihre Erkrankung überlebt hatten [22]. Höhere PTB-Raten fanden sich bei Angehörigen, die sich schlecht über Behandlungsverlauf und Therapiemaßnahmen informiert fühlten, sowie bei denjenigen, die in kritische Entscheidungen einbezogen waren. Die mit 81,8% höchste Rate belasteter Angehöriger fand sich bei denjenigen, die in Entscheidungen über den Behandlungsabbruch mit einbezogen worden waren [2]. Dieser Befund deutet darauf hin, dass Angehörige zwar eine umfassende Information über Krankheitsverlauf und Behandlung als hilfreich bei der Verarbeitung der damit verbundenen Belastungen erleben, dass aber das Entscheidenmüssen, z. B. über einen Behandlungsabbruch, zu einer Überforderung mit auf die Belastung bezogenem Grübeln und Schuldgefühlen führen kann, welche die Betroffenen noch lange Zeit in erheblichem
23 3.2 · Die Situation der Angehörigen
Maße belasten. Weitere Forschung ist notwendig, um zu klären, ob sich dieser Befund auch auf Deutschland übertragen lässt und ob hieraus Konsequenzen für die Art des Einbeziehens von Angehörigen in kritische Entscheidungen gezogen werden müssen. 3.2.3 Präventive und therapeutische Ansätze Persönliche Beziehungen sowie ausreichende Informationen verringern in erheblichem Maß Angst und Misstrauen. Es ist daher sinnvoll, dass sich die Mitarbeiter des Stationsteams bei der Kontaktaufnahme namentlich vorstellen und Namensschilder tragen. Sofern es organisatorisch möglich ist, sollten den Angehörigen konstante Ansprechpartner benannt werden, um einer Verunsicherung durch unterschiedliche Aussagen vorzubeugen.
Informationsblatt Ein Informationsblatt kann in der Umkleide ausgehängt und den Angehörigen zusätzlich mit nach Hause gegeben werden. Dieses sollte folgende Informationen enthalten: 4 grundsätzliche Aussage darüber, dass Angehörige auf der Station als Unterstützung für die Patienten willkommen sind, auch wenn medizinische Erfordernisse manchmal dazu zwingen, die Besuchszeit vorzeitig zu beenden oder Notfälle einem ruhigen Gespräch im Wege stehen, 4 Besuchszeiten, 4 Ansprechpartner auf Seiten der Ärzte und des Pflegepersonals, 4 Telefonnummern und Sprechzeiten, 4 einige wenige Sätze zu Funktion und Aufbau (ggf. Spezialaufgaben) der Intensivstation, 4 wenn häufig »Langlieger« betreut werden, Hinweis auf preisgünstige Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeit in Kliniknähe, 4 Hinweis auf Unterstützungsmöglichkeit für die Angehörigen selbst (Seelsorge, Sozialdienst, psychotherapeutische Abteilung).
Gesprächsführung mit Angehörigen Angst und Trauer als Reaktion auf die schwere Erkrankung eines geliebten Menschen sind als gesund anzusehen und sollten daher nicht pathologisiert oder gar mit Beruhigungsmitteln gedämpft werden. Sinnvoll ist der Rat, offene Fragen soweit wie möglich mit dem Stationspersonal zu klären und sich darüber hinaus emotionale Unterstützung und Rückhalt im Kreis der weiteren Familie oder im Freundeskreis zu suchen. Ebenso können in einem kurzen Gespräch Bewältigungsressourcen aktiviert werden (»Waren Sie schon einmal in einer ähnlich schwierigen Situation? Was oder wer hat Ihnen damals geholfen?«). Auch der Hinweis darauf, dass Angst, Niedergeschlagenheit und Trauer angesichts einer solchen Belastung »normale« Reaktionen sind, kann auf die Angehörigen sehr entlastend wirken. 3.2.4 Das Gespräch mit Angehörigen
verstorbener Patienten Gesunde und pathologische Trauer Die Begleitung Angehöriger von sterbenden oder verstorbenen Patienten stellt eine ebenso schwierige wie wichtige Aufgabe dar,
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die hier nur im Überblick behandelt werden kann [10]. Die Aufgabe des Stationspersonals ist es vor allem, Angehörigen den Eintritt in einen gesunden Trauerprozess zu erleichtern und somit Prävention gegen das Auftreten von pathologischer Trauer und Depression zu betreiben. Trauer ist ein physiologischer Prozess und hat 4 Hauptaufgaben [21]: 4 Realität eines Verlusts zu akzeptieren, 4 Schmerz des Verlusts zuzulassen, 4 Anpassung an eine Welt, in die der Vermisste nicht zurückkommt, 4 Gefühle und Energien gegenüber dem Vermissten zurückzuziehen und in neue Beziehungen zu investieren. Pathologische Trauer. Pathologische Trauer erkennt man hinge-
gen an folgenden Merkmalen: 4 selbstzerstörerisches Verhalten (Suizidversuche, Alkohol, Medikamente), 4 Suizidgedanken, 4 zunehmender sozialer Rückzug, 4 Übergang in klinisch manifeste Depression. Verschiedene Studien konnten nachweisen, dass der Initialphase der Mitteilung des Todes und des unmittelbaren Abschieds bei der Weichenstellung zwischen gesunder und pathologischer Trauer eine große Bedeutung zukommt [16].
Hinweise zur Gesprächsführung Wenn irgendwie möglich, sollte den Familienmitgliedern die Gelegenheit gegeben werden, das Sterben ihres Angehörigen zu begleiten. Dies erfordert eine rechtzeitige Information und eine rechtzeitige Entscheidung darüber, wann therapeutische Maßnahmen einzuschränken sind, um der Familie Raum zum Abschied einzuräumen. Auf einer Intensivstation ist diese Möglichkeit jedoch häufig nicht gegeben, wenn der Tod plötzlich eintritt oder wenn die Angehörigen wegen fortgesetzter therapeutischer Maßnahmen oder wegen Reanimationsversuchen bis zuletzt nicht zum Patienten gelassen werden können. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Angehörigen zu ermutigen, den Toten noch einmal zu sehen, um von ihm Abschied zu nehmen. Ein solches Ritual erleichtert den späteren Trauerprozess. Entsprechend dem Wunsch der Angehörigen sollte vorher und nachher Raum für ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt und die Beantwortung von Fragen sein. Für die Angehörigen ist es wichtig, Fragen stellen zu können (z. B. »Wie konnte das so plötzlich geschehen?«; »Hat er sehr gelitten oder ging alles ganz schnell?« usw.). Wenn diese Fragen unbeantwortet bleiben, kann dies zu jahrelangem Grübeln und zu Depressionen führen. Die Angehörigen wollen in einer solchen Situation in der Regel nicht »Material für Klagen« sammeln, sondern sie suchen Informationen, die ihnen helfen sollen, das Geschehene zu begreifen. Zurückhaltende oder ausweichende Informationen können daher die Grundlage für Misstrauen und Zweifel legen. In der folgenden Übersicht sind die Empfehlungen für ein Gespräch, in dem man nahe Angehörige über den plötzlichen Tod eines Patienten informieren muss, zusammengefasst [10]:
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
Empfehlungen zur Überbringung der Todesnachricht 5 Persönliche und respektvolle Atmosphäre durch namentliches Vorstellen und Beachtung nonverbaler Kommunikation (Blickkontakt, Zuhören, Schweigen und Gefühlsausdruck) 5 Ungestörter Raum mit Sitzmöglichkeiten für alle Beteiligten 5 Ermittlung der bisherigen Informationslage der Angehörigen durch die Eingangsfrage »Was haben Sie erfahren?« 5 Die Botschaft im richtigen Moment verständlich und mit hinreichender Deutlichkeit erklären, das Wort »Tod« deutlich aussprechen 5 Gefühle und Ohnmacht zulassen 5 Am Ende des Gesprächs sollte danach gefragt werden, ob und wo die Angehörigen Unterstützung finden können (z. B. weitere Familienangehörige, Freunde, Seelsorger), und ob weitere Hilfen benötigt werden (z. B. Taxi für den Heimweg)
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i Da die Angehörigen durch die Nachricht in der Regel so überwältigt sind, dass sie viele Informationen nicht verarbeiten können und häufig weitere Fragen in den nächsten Tagen auftauchen, ist es sinnvoll, ein weiteres Gespräch anzubieten. Auch hier sind Beruhigungsmittel in aller Regel kontraindiziert, da sie den Beginn des normalen Trauerprozesses nur behindern und verzögern. Hilfreich ist es für die Betroffenen jedoch, wenn ihnen bestätigt wird, dass ihre emotionale Reaktion gesund und angemessen ist. Dies erspart den Betroffenen, zusätzlich zu ihrer Trauer auch noch Scham und Unsicherheit empfinden zu müssen.
Aufklärungsgespräche und Gespräche mit Angehörigen werden auch deshalb als belastend empfunden, weil weder im Medizinstudium noch in der Facharztweiterbildung handlungsleitendes Wissen oder Fertigkeiten in ausreichendem Maß angeboten werden. Regelmäßige, praxisbezogene Weiterbildungen zum Thema »Gesprächsführung« helfen deshalb nicht nur, die Außendarstellung der Intensivstation zu verbessern, sondern wirken ebenso präventiv gegen Überlastungs- und Insuffizienzgefühle der Mitarbeiter. 3.3
Belastungsfaktoren bei Mitarbeitern der Intensivstation
3.3.1 Belastungsfaktoren und Folgeprobleme In zahlreichen Studien (Übersicht bei [9]) konnten verschiedene Belastungsfaktoren für die Arbeitssituation auf einer Intensivstation nachgewiesen werden: 4 hohe Mortalitätsrate wird insbesondere dann zur Belastung, wenn die Heilung als einziges Erfolgskriterium akzeptiert und der Tod als Niederlage eingeschätzt wird, 4 Verlegung des Patienten gerade dann, wenn es ihm besser geht, so dass Dank und Anerkennung von Patient und Angehörigen häufig nicht der Intensivstation, sondern der nachbetreuenden Station zugute kommen,
4 hoher Prozentsatz bewusstloser oder bewusstseinsgetrübter Patienten, 4 ständiges Wechseln von Routineaufgaben und Notfällen führt zu Hektik und Zeitdruck, dies verhindert einen befriedigenden Beziehungsaufbau zum Patienten und ein Auseinandersetzen mit den eigenen Gefühlen, die dann häufig entweder verdrängt oder mit nach Hause genommen werden müssen, 4 Konfrontation mit emotional belastenden Situationen, für die man in der Ausbildung nicht hinreichend trainiert wurde, 4 Konfrontation mit bisher unbekannten oder als bedrohlich eingeschätzten Krankheitsbildern [18], 4 in der Regel geringe finanzielle Belohnung der oft umfangreichen Weiterbildung und Qualifizierung des Personals, 4 Schichtdienst.
Burn-out-Syndrom Die Folge dieser belastenden Arbeitsbedingungen können eine erhöhte Personalfluktuation sowie eine abnehmende Berufszufriedenheit sein. Hieraus können auch klinische Symptome entstehen. Für diesen Prozess wurde der Begriff »Burn-out-Syndrom« geprägt. Burisch [4] beschreibt 7 Kategorien der BurnoutSymptomatik. Burn-out-Symptomatik 5 Warnsymptome der Anfangsphase mit vermehrtem Engagement, freiwilliger unbezahlter Mehrarbeit, Beschränken sozialer Kontakte und Freizeitaktivitäten; die Folge sind chronische Müdigkeit und Erschöpfung 5 Reduziertes Engagement: sowohl desillusionierter Rückzug aus der Arbeit als auch verringertes privates Engagement 5 Emotionale Reaktion mit Depression, Aggression und Schuldzuweisungen 5 Abbau von kognitiver Leistungsfähigkeit, Motivation und Kreativität 5 Verflachung des emotionalen und sozialen Lebens auch in der Freizeit 5 Psychosomatische Beschwerdebilder 5 Verzweiflung und Depression
Studien, die die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf der Intensivstation auf die Gesundheit der Mitarbeiter exakt nachweisen, fehlen jedoch nach wie vor weitgehend [8]. Ebenso ist unklar, ob es sich hier um für die Intensivmedizin spezifische Belastungen handelt, da z. B. vergleichbare Belastungen mit Angstund Stresssymptomen auch beim Pflegepersonal von Notfallambulanzen und Normalstationen nachgewiesen werden konnten [11].
Posttraumatische Belastungsstörung Eine posttraumatische Belastungsstörung kann nicht nur als Folge selbst erlittener Traumata, sondern auch sekundär bei Berufsgruppen entstehen, die häufig mit Extremsituationen, Leid und Tod konfrontiert werden. Entsprechende Befunde für Polizisten und Rettungssanitäter liegen schon länger vor. Bei einer Untersuchung an 144 examinierten Krankenschwestern und -pflegern, die auf verschiedenen Intensivstationen arbeiteten, litten 88 %
25 3.4 · Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst
unter »flash-backs«, die sich auf im Beruf erlebte belastende Situationen bezogen, und bei 75 % waren Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus nachweisbar. Insgesamt 41 % erfüllten die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, dies entspricht auch der PTB-Inzidenz, die bei den anderen genannten Berufsgruppen gefunden wurde [19]. i Möglicherweise ist das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) besser geeignet, um hieraus präventive und therapeutische Maßnahmen ableiten zu können, als das aus der Arbeitspsychologie übernommene Konstrukt des Burn-out. Weitere Untersuchungen über Risikofaktoren, Verlauf und arbeitsmedizinische Relevanz der PTB bei Personal von Intensivstationen sind dringend erforderlich.
3.3.2 Präventionsmöglichkeiten
Gestaltung und Organisation der Intensivstation Die Station sollte von der räumlichen Ausstattung und auch von der Organisation her so gestaltet sein, dass ungestörte Pausen und Erholungszeiten möglich sind. Die Stationsleitung sollte sich ihrer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern bewusst sein und auf ein Arbeitsklima achten, in dem es möglich ist, Gefühle von Überlastung rechtzeitig anzusprechen. Regelmäßige Stationsbesprechungen können helfen, Problemsituationen aufzudecken und zu entschärfen. Studien zur Arbeitszufriedenheit konnten zeigen, dass sich der Krankenstand verringert und die Arbeitszufriedenheit zunimmt, wenn die Mitarbeiter das Gefühl haben, in wesentliche Entscheidungen einbezogen zu werden und nicht nur Befehlsempfänger zu sein. Die regelmäßige Stationsbesprechung kann deshalb ein wichtiges Forum sein, um den Stationsablauf und den Umgang mit immer wiederkehrenden kritischen Situationen gemeinsam zu besprechen und festzulegen (z. B. »Wann sollen Behandlungsmaßnahmen reduziert/eingestellt werden?«).
Weiterbildung Regelmäßige Weiterbildungsveranstaltungen fördern den Aufbau einer gemeinsamen positiven Identität des professionellen Teams einer Intensivstation. Das Gefühl, auf einer Ebene hoher fachlicher Kompetenz zu arbeiten und die täglichen Abläufe auf der Station immer wieder neuen Erkenntnissen der medizinischen und pflegerischen Forschung anzupassen, stärkt Selbstbewusstsein und Arbeitszufriedenheit. Erkrankungsspezifisches Wissen kann auch helfen, Ängste abzubauen und sich schneller auf bisher unbekannte Problemfelder einzulassen [18]. Über diese allgemeinen positiven Aspekte hinaus können Weiterbildungsveranstaltungen im psychosozialen Bereich die Fähigkeit in Gesprächsführung und im Umgang mit »schwierigen Patienten« trainieren und ein Gefühl der Kompetenz in bisher als defizitär erlebten Bereichen schaffen. Insbesondere die Arzt-(Schwester-/Pfleger-)Patient-Kommunikation wird in der medizinischen Ausbildung im deutschsprachigen Raum vernachlässigt. Im angelsächsischen Raum haben entsprechende Konzepte ihren festen Stellenwert im Curriculum (Training in »Doctor-Patient Communication Skills« und »Bringing Bad News«). Entsprechend groß ist der Bedarf, solche Inhalte in der beruflichen Weiterbildung zu vermitteln. Für den ärztlichen Be-
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reich empfehlen sich Kurse im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung, für den Bereich der Pflege wurden Weiterbildungskonzepte, z. B. von Dinger [6], vorgelegt.
Supervision und Balint-Gruppe Die Balint-Gruppe im engeren Sinne stellt für Ärzte, die auf einer Intensivstation arbeiten, eine Möglichkeit dar, außerhalb des Stationsteams schwierige Arzt-Patient-Beziehungen zu reflektieren [14]. Das Konzept der Supervision sieht hingegen vor, dass ein von außen kommender Supervisor (der nach Möglichkeit Erfahrungen mit dem Arbeitsfeld der Intensivstation haben sollte) mit dem gesamten Team arbeitet. Es wird zwischen dem Konzept der Teamsupervision und der Fallsupervision unterschieden. Bei der Teamsupervision stehen Aspekte der Zusammenarbeit untereinander im Vordergrund, während bei der Fallsupervision jeweils einzelne Fallgeschichten besprochen werden. Die Arbeit an einem einzelnen, nach Möglichkeit aktuellen Fall bietet die Möglichkeit, konkrete Veränderungsschritte zu erarbeiten und deren Wirksamkeit zu erproben. So wird verhindert, dass die Supervision in Grundsatzdebatten abgleitet, die letztlich wenig handlungsrelevant und hilfreich sind. Während in der Vergangenheit der Schwerpunkt häufig zu sehr auf gruppendynamische Prozesse gelegt wurde, was die Zusammenarbeit im Team in Einzelfällen mehr verschlechterte als verbesserte, sind inzwischen pragmatischere Supervisionskonzepte entwickelt worden, die auf die Bedürfnisse des jeweiligen Teams besser zugeschnitten sind. Gefühle von Insuffizienz und Überforderung haben ihre Ursache häufig darin, dass Ärzte und Pflegepersonal auf die Bewältigung emotional belastender Situationen in ihrer Ausbildung zu wenig vorbereitet wurden. Das Gefühl von Insuffizienz und die Angst zu versagen, sind häufig Ursache dafür, dass Gespräche vermieden werden. Gesprächsführung und die Verarbeitung der dabei auch bei einem selbst auftretenden Gefühle lassen sich jedoch ebenso lernen und trainieren wie die Anwendung organmedizinischer Behandlungsmethoden. Es hat sich deshalb als sinnvoll erwiesen, eine kontinuierliche Fallsupervision mit Weiterbildungsangeboten zu Themen wie Gesprächsführung und Kommunikationstechniken zu verbinden. Der Erwerb von Wissen und Kompetenz ist hier ebenso wie in anderen Bereichen der Medizin ein wirkungsvoller Schutz vor Gefühlen von Insuffizienz und Überforderung. 3.4
Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst
Nur in Ausnahmefällen wird eine Intensivstation über eigene Psychotherapeuten verfügen. In der Regel wird die Versorgung deshalb über einen Konsil- und Liaisondienst zu organisieren sein [1, 9]. Unter Konsildienst versteht man die direkte Betreuung der Patienten durch den hinzugezogenen Psychotherapeuten, unter Liaisondienst die Beratung und Weiterbildung des Ärzte- und Pflegeteams der Intensivstation bei der Betreuung problematischer Patienten, z. B. bei gemeinsamen Visiten und Fallbesprechungen. Sollte das eigene Krankenhaus nicht über eine psychosomatisch-psychotherapeutische Abteilung oder eine psychiatrische Fachabteilung mit psychotherapeutisch weitergebildeten Kollegen verfügen, so müssen externe Kooperationspartner gesucht
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
werden. Hier bieten sich sowohl benachbarte psychosomatischpsychotherapeutische Fachkliniken als auch niedergelassene Kollegen an. Die Intensivstation sollte möglichst über längere Zeit von dem gleichen psychotherapeutischen Konsiliarius betreut werden, der die Besonderheiten der Station und der auf ihr betreuten Patienten kennt und dem Stationspersonal als Ansprechpartner vertraut ist. Ein kombinierter Konsil- und Liaisondienst hat sich gegenüber einem reinen Konsildienst als effektiver erwiesen. Nicht jeder Patient braucht fachpsychotherapeutische Behandlung. Wenn im Rahmen des Liaisondienstes die Mitarbeiter der Intensivstation entsprechend geschult werden, können sie Aufgaben der »psychosomatischen Grundversorgung« selbst übernehmen. Der im Rahmen eines Liaisondienstes stattfindende regelmäßige Austausch führt weiterhin dazu, dass psychosoziale Probleme zunehmend Beachtung im Stationsalltag finden, was einen präventiven Effekt für das Auftreten psychischer Störungen bei Patienten haben kann. Eine verbesserte Kommunikation zwischen Stationspersonal und Patient macht dann häufig einen Konsilbesuch des Fachtherapeuten überflüssig. Sowohl im Kontakt mit Patienten als auch mit Angehörigen kann es hilfreich sein, dass der konsiliarisch hinzugezogene Psychotherapeut »von außen« kommt und nicht Teil des Stationsteams ist. Wenn dies bereits bei der Vorstellung deutlich ausgesprochen wird, fällt es dem Patienten und den Angehörigen leichter, auch negative Gefühle wie Angst und Ärger zu äußern, ohne befürchten zu müssen, das Stationsteam zu kränken oder zu verärgern. In Konfliktsituationen oder bei ausgeprägtem Misstrauen kann der von außen kommende Konsiliarius als neutrale Informationsquelle und als Vermittler wahrgenommen werden.
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4 Intensivpflege D. Stolecki
4.1
Entwicklung der Intensivpflege
4.2
Pflegeverständnis der Intensivpflege
4.3
Kompetenzen in der Intensivpflege
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Fachkompetenz –31 Methodenkompetenz –31 Persönlichkeitskompetenz –31 Psychosoziale Kompetenz –32
4.4
Personalmanagement in der Intensivpflege
4.4.1 Personaleinsatzplanung –32 4.4.2 Personalentwicklung –33 4.4.3 Gestaltung von Beziehungen –33
Literatur
–34
–28 –29 –30
–32
28
4
Kapitel 4 · Intensivpflege
Die Intensivpflege hat sich zu einem hoch komplexen Bereich entwickelt und füllt als Thema inzwischen ganze Lehrbücher. Insofern geht es in diesem Kapitel nicht um die Beschreibung einzelner intensivpflegerischer Tätigkeiten, sondern um die Darstellung verschiedener Teilaspekte. Beginnend bei der Entwicklung der Intensivpflege werden v. a. das sich verändernde Pflegeverständnis, die erforderlichen Kompetenzen sowie das Personalmanagement dargestellt. Intensivpflege findet heute in zwei Bereichen statt. Politisch gewünscht sind derzeit immer mehr ambulante Versorger am Markt aufgetreten, die bestimmte Versorgungsleistungen von Intensivpflege in den eigenen vier Wänden des Erkrankten gewährleisten. Historisch gewachsen und traditionell verankert ist Intensivpflege aber institutionalisiert im Krankenhaus zu finden, was einer engeren Definition von Intensivpflege entspricht und hier Gegenstand der Betrachtungen sein soll. Intensivpflege auf einer Intensivstation bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen hoher Technisierung und menschlicher Distanz gegenüber engem körperlichem Kontakt und persönlicher Nähe. Daneben bestehen aufwändige diagnostische und therapeutische Möglichkeiten, mit denen das Leben erhalten werden kann. Andererseits sorgen infauste Prognosen z. T. für längere pflegerische Interventionen mit Sterbebegleitung und Trauerarbeit. High-Tech und High-Touch in der Intensivpflege wird begleitet von Kommunikationsprozessen zwischen dem therapeutischen Team und dem Patienten sowie seinen Angehörigen. Gleichfalls bestimmt die Güte der Kommunikation im Team die Versorgungsprozesse rund um den Patienten. Sie ist die Basis für eine gezielte, lückenlose Information in der Behandlung des Patienten und bestimmt den nahtlosen Ablauf aller geplanten Interventionen [15, 39]. Auch die Gestaltung der Beziehung innerhalb des Teams sowie zu Patienten und Angehörigen entscheidet über den Grad der Versorgungsqualität. So gut die Möglichkeiten der gesamttherapeutischen Versorgung heute auch sind, so sehr findet sich in diesem System eine Mischung verschiedener Probleme: 4 Die hohe Technisierung verlangt nicht nur nach fachlicher Kompetenz, sondern auch nach dem Bewusstsein, dass der Mensch im Mittelpunkt der Versorgung steht. Der Grat zwischen Patientenignorierung und -orientierung ist sehr schmal. 4 Die Förderung des Patienten bedarf einer engen Abstimmung aller am therapeutischen Prozess Beteiligten. Hier ist eine echt gemeinte Kooperation gefragt und die Verzahnung der beteiligten Berufsgruppen im Sinne eines gesamttherapeutischen Handelns erforderlich. Kommunikationsprozesse müssen stringent geregelt sein, um Informationsdefizite zu vermeiden bzw. bestmöglich zu minimieren. 4 Die zahlreichen Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen müssen mit geeigneten Methoden geführt und koordiniert werden. Diese Führung verlangt nach einer adäquaten Ausbildung. 4 Die Herausforderungen der modernen Intensivpflege und medizin verlangen von allen Beteiligten ein hohes Potenzial an Kompetenz. Unzureichende Kompetenz kann, je größer das therapeutische Team ist, länger unentdeckt bleiben. 4 Dem Patienten auf der Intensivstation ist zu gewährleisten, dass er im Rahmen der kritischen Erkrankung bis zu seiner Verlegung und darüber hinaus bis zu seinem möglichen Tod eine bestmögliche Versorgung erhält. Seine Angehörigen sind in diesen gesamten Prozess einzubeziehen.
Damit sind hohe Anforderungen an alle Mitglieder des therapeutischen Teams gestellt. Infolgedessen sind für Intensivpflegende wie auch für Intensivmediziner neben einer profunden fachlichtechnischen Kompetenz weitere berufliche Kompetenzen Grundvoraussetzung, um handlungsfähig zu sein. 4.1
Entwicklung der Intensivpflege
Wenn auch erste Ansätze zur Intensivpflege historisch betrachtet weit zurück reichen, ist der eigentliche Ursprung der Intensivpflege in Deutschland mit der Errichtung von Intensivstationen gleichzusetzen. Das bedeutet, dass Intensivpflege seit ca. 40 Jahren existiert und sich seither selbst fulminant entwickelt hat. Mit der Trennung von Chirurgie und Anästhesie sowie der Notwendigkeit zum Bau von Intensivstationen begann die Ära der Intensivpflege. Auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Wiederbelebung (ehemals DGAW, heute DGAI) in Verbindung mit dem Deutschen Krankenhausinstitut e. V. Düsseldorf sowie dem Institut für Krankenhausbau der Technischen Universität Berlin im November 1969 in Nürnberg wurde erstmals die Forderung nach qualifiziertem Personal mit entsprechender Ausbildung erhoben. Bereits 1964 wurde von Frey an der Mainzer Universitätsklinik erstmals eine 2-jährige Weiterbildung zur Fachkrankenschwester bzw. zum Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin eingeführt, aber erst 1969 gab die DGAW Empfehlungen für die Ausbildung von Anästhesiepflegepersonal heraus. Vorgesehen war hier eine 1-jährige Ausbildung mit 100 Unterrichtsstunden und einer abschließender Zertifizierung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gab nur 2 Jahre später Empfehlungen für die Weiterbildung von Krankenpflegepersonal in den Bereichen Anästhesie und Intensivmedizin, Operationsdienst und Psychiatrie heraus. Sie umfasst eine Weiterbildungszeit von 1 Jahr mit insgesamt 320 Unterrichtsstunden. Hier wurden nun auch zum ersten Mal Anerkennungsverfahren für Weiterbildungslehrgänge ausgesprochen. 1972 gab die DGAW überarbeitete Richtlinien heraus, die zur Grundlage für die Durchführung von Lehrgängen in der Anästhesie und Intensivmedizin empfohlen wurden [2]. Die Notwendigkeit der Integration von Weiterbildungslehrgängen für Pflegepersonal wurde aus unterschiedlichen Perspektiven begründet. So schrieb die DKG, dass die bisherige Entwicklung des anästhesiologischen Fachgebietes einen steigenden Bedarf an Fachanästhesisten habe, dieser jedoch nicht mit ärztlichem Personal zu decken sei [17]. Opderbecke u. Weißauer berichteten 1974 in einem Artikel, dass die Übertragung von Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Arztes nur an weitergebildetes und damit besonders qualifiziertes Pflegepersonal den Bedürfnissen der modernen Medizin entspräche, da der zunehmende ärztliche Personalbedarf wohl kaum in nächster Zukunft zu decken sei [30]. Damit sprach man sich für die Empfehlungen der DGAW aus, um das anästhesiologische und intensivmedizinische Fachgebiet adäquat durch weitergebildetes Pflegepersonal zu unterstützen. Jung berichtete auf der Jahrestagung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten im November 1975 von einem weltweiten Mangel an Anästhesisten und war der Meinung, dass dem ausgebildetem Fachpflegepersonal Tätigkeiten übertragen werden, die in der konventionellen Pflege bisher dem Arzt überlassen waren. Ahnefeld verdeutlichte, dass die ständige Ausweitung der
29 4.2 · Pflegeverständnis der Intensivpflege
Intensivmedizin eine Arbeitsteilung zwischen Ärzten und Pflegepersonal nötig mache und damit eine zwangsläufige Delegation bestimmter Aufgaben an das Pflegepersonal. Bedingt durch die quantitative und qualitative Mangelsituation befürwortete er die Weiterbildung des Pflegepersonals mit den Worten: »Die Schwestern und Pfleger, die eine solche Weiterbildung absolviert haben, werden zu den Mitarbeitern, die wir heute in der Anästhesie und ganz besonders in der Intensivmedizin benötigen« [1, 34]. Aufgrund gemeinsamer Beratungen zwischen der DGAI, der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin, der Gesellschaft für Sozialpädiatrie, der inzwischen gegründeten Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege (DGF) und in Absprache mit verschiedenen Krankenpflegeverbänden entstand schließlich erstmalig eine von allen Verbänden befürwortete und 1976 durch die DKG verabschiedete Weiterbildungsordnung, die in verschiedenen Bundesländern unverändert bis 1998 bindend war. Jedoch wurden bereits zwischen den 1980-er und 1990-er Jahren in verschiedenen Bundesländern landesrechtliche Regelungen zur Durchführung von Weiterbildungslehrgängen erlassen, die das curriculare Bild erheblich verändert haben. Die Begründungen für die inhaltliche Neugestaltung sind vielschichtig und umfassen neben politischem Willen auch die Forderungen nach qualitätssichernden pflegerischen Kriterien sowie ein inzwischen verändertes Pflegeverständnis. 4.2
Pflegeverständnis der Intensivpflege
Da die Intensivpflege zunächst nur als Teilgebiet der Intensivmedizin und damit als Assistenzberuf mit körperpflegerischer Orientierung betrachtet wurde, ist es nicht verwunderlich, dass die Struktur der Weiterbildung analog zur Auffassung von Medizin geprägt war. Die Perspektive der Medizin ist naturwissenschaftlich und rational, womit notwendige Interventionen abgeleitet und begründet werden können. Der Fokus ist die Heilung gestörter Organfunktionen. Infolgedessenwird der Mensch anhand seiner defizitären Gesundheit betrachtet und das betroffene Organsystem analysiert. Medizinische Interventionen werden begründet mit der Wiederherstellung dieser bestehenden Defizite, wobei Pflegende eine wichtige Rolle im Sinne von ausführenden und assistierenden Tätigkeiten übernehmen [27, 42, 43]. Aus diesem Verständnis abgeleitet bedeutete das für die Intensivmedizin »die systematische Anwendung aller neuer therapeutischer Möglichkeiten zum temporären Ersatz gestörter oder ausgefallener Organfunktionen bei gleichzeitiger Behandlung des verursachenden Grundleidens« [25]. Genau nach diesem Verständnis wurde Intensivpflege nicht nur wahrgenommen, sondern auch in der Nomenklatur von Ätiologie, Pathophysiologie, Symptomatik, Diagnostik und Therapie gelehrt. Die ersten Lehrgänge waren analog konfiguriert und umfassten zu einem Großteil der 220 Stunden des theoretischen Unterrichts anatomische, physiologische sowie (intensiv-)medizinische und technische Kenntnisse. Infolgedessenwurden auch die Tätigkeitsfelder bzw. Aufgaben beschrieben, zu denen bis zu Beginn der 1990-er Jahre primär Folgende gehörten: 4 Überwachung des Monitorings und der von Monitoren aufgezeichneten Daten, 4 Assistenz bei intensivmedizinischen Eingriffen, 4 Ausführung und Überwachung von Intensivbehandlungsmaßnahmen sowie deren Dokumentation, 4 Durchführung der kardiopulmonalen Reanimation,
4
4 Entnahme von Laborproben, 4 Durchführung von Desinfektions- und Sterilisationsmaßnahmen, 4 Krankenüberwachung und Grundpflege [34]. Durch die Professionalisierung der Pflege änderte sich die Vorstellung über die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Auftrags von Pflege. Mit dem Bekanntwerden erster pflegetheoretischer Ansätze zur Begründung von Pflegeinterventionen tauchten in den 1960-er Jahren auch erste Pflegemodelle auf. Das von Henderson publizierte und in den USA praktizierte Bedürfnismodell wurde mehrfach modifiziert und durch Roper (England) in den 1970-er Jahren für die Krankenpflege auch im deutschen Sprachraum aktuell. Juchli sorgte schließlich zu Beginn der 1980-er Jahre dafür, dass ihr modifiziertes Bedürfnismodell mit den sog. »Aktivitäten des täglichen Lebens« bundesweit Anerkennung fand und fortan zum strukturierenden Moment in der Krankenpflegeausbildung wurde. Der Ansatz aller Bedürfnismodelle ist ein holistischer und wird geprägt durch die Erfassung des Menschen in seinen unterschiedlichen Lebensphasen mit seinen jeweiligen Bedürfnissen. Auch hier geht es zum einen um defizitäre Situationen, die der Mensch in seinen Lebensaktivitäten erfährt. Der Ansatz geht aber auch von der Annahme aus, dass eine Beeinträchtigung einer Lebensaktivität auch Auswirkungen auf andere Personen haben muss. Dabei sind nicht nur physische, sondern auch psychische wie seelische und spirituelle Probleme involviert und werden in den Rahmen der pflegerischen Interventionen einbezogen. Dieser Paradigmenwechsel war insofern wichtig, als der Anspruch des naturwissenschaftlichen Denkens und Handelns in der Medizin, eben Heilung herbeizuführen, weder die Chronifizierung von Krankheit noch Sterben und Tod als handlungsleitende Struktur berücksichtigte. Eine weitere perspektivische Veränderung ergab sich durch den von der WHO 1979 publizierten Krankenpflegeprozess, der bereits 1985 in der BRD im Krankenpflegegesetz verankert wurde. Der Krankenpflegeprozess stellt einen Problemlösungs- wie auch Interaktionsprozess dar, der als zweites strukturierendes Moment pflegerische Interventionen beeinflussen sollte. Er umfasst die Basis für die Planung der pflegerischen Intervention, die Festlegung sowie Durchführung von Maßnamen als auch eine kontinuierliche Einschätzung bezüglich erzielter Wirkungen [4, 12, 19, 24]. Inzwischen sind die Bestrebungen ‒ auch unter den Stichworten von Professionalisierung und Leistungserfassung (DRGrelevante Nebendiagnosen) – vorangeschritten, Pflegediagnosen in den Pflegeprozess aufzunehmen. Das würde zukünftig bedeuten, dass durch eine einheitliche Sprachkodierung eine Klassifizierung möglich wäre. Gleichzeitig könnte im Rahmen der Dokumentation erheblich Zeit gespart werden und ein reeller Leistungsnachweis bezüglich pflegerisch notwendiger Interventionen erfolgen. Vor dem Hintergrund reduzierter ökonomischer Reserven würde das einen doppelten Gewinn darstellen. Beides, Krankenpflegemodell und -prozess, führte damit zu Veränderungen in der Pflegeausbildung wie auch in der Weiterbildung. Mitarbeiter von Weiterbildungsstätten erkannten darüber hinaus sehr früh die weitere Bedeutung beider Anteile im Sinne des Qualitätsmanagements und apostrophierten die Bedeutung durch zahlreiche Publikationen. Das führte zu Entwicklungen von (Pflege-)leitbildern, die bald zum Banner klinischer Einrichtungen sowie von Weiterbildungsstätten wurden.
30
4
Kapitel 4 · Intensivpflege
So hieß es zu Beginn der 1990-er Jahre, dass »Intensivpflege […] die Unterstützung, Übernahme und Wiederherstellung der Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) bei kritisch Kranken mit manifesten Störungen vitaler Funktionen umfasst. Sie beinhaltet eine ganzheitliche, patientenorientierte Pflege, die sich nicht nur mit der Beseitigung von Fehlfunktionen, sondern gleichermaßen mit Problemen von bleibender Behinderung, chronischen Krankheiten und dem Bereich Sterben und Tod eines Menschen befasst. Der Patient wird als Persönlichkeit mit individuellen Bedürfnissen gesehen« [27]. Dieses neue Pflegeverständnis war maßgebend für die curriculare Neugestaltung landesrechtlicher Regelungen im Rahmen der Fachweiterbildungen und wurde von Berufsverbänden publiziert: Geplante Intensivpflege […] beinhaltet neben einer gesundheitsunterstützenden Lebenshilfe unter Aktivierung der physischen, psychischen, spirituellen und sozialen Ressourcen sowie der lindernden Pflege und Sterbebegleitung auch eine präventive und begleitende Gesundheitsberatung. Auf der Basis von ermittelten, den Patienten betreffenden Informationen bezüglich physischer, psychischer, sozialer und medizinischer Voraussetzungen wird Pflege anhand akuter und potenzieller Probleme geplant, durchgeführt und kontinuierlich evaluiert.
Die neuen Vorstellungen über das »Tätigkeitsfeld Intensivpflege« gingen noch weiter unter dem Aspekt von pädagogischen und Managementaufgaben, die bis dahin eine eher untergeordnete Rolle spielten. Damit gesellten sich die Aufgaben von Planung und Überwachung der Organisation des Krankenpflegedienstes sowie der Arbeitsabläufe ebenso hinzu wie die sach- und fachkundige Beratung und Anleitung von Pflegekräften in Intensivpflegeabteilungen [14]. Involviert blieb unverändert die Koordination spezifischer Diagnosen anderer Berufsgruppen im Pflegeprozess. 4.3
Kompetenzen in der Intensivpflege
In ihrem ersten Buch zur Gestaltung einer Weiterbildung für Intensivmedizin und Anästhesie beschrieben die Autoren Ahnefeld et al. [2] die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Erkenntnissen der pflegerischen Erstausbildung und den immer höheren Ansprüchen in einem speziellen Arbeitsbereich wie der Intensivpflege und postulierten parallel zur Etablierung von Weiterbildungslehrgängen einen hohen Bildungsstand. Damit hatte der Begriff »Bildung« auch für die Intensivpflege sehr früh eine besondere Bedeutung. Da Intensivpflege eine hoch komplexe Dimension pflegerischen Handelns darstellt und sich seit Jahren in einem schnellen Wandel befindet, ist ein kontinuierliches Lernen im Sinne des lebenslangen Lernens unverzichtbarer Bestandteil. Der moderne Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, in dem er seine kulturellen, geistigen und lebenspraktischen Fähigkeiten mitsamt seiner sozialen und personalen Kompetenzen erweitern kann. Unter pädagogischer Betrachtung zielt Bildung darauf ab, 3 spezifische Fähigkeiten zu vermitteln: 4 Selbstbestimmungsfähigkeit, 4 Mitbestimmungsfähigkeit und 4 Solidaritätsfähigkeit [31]. Diese Grunddimensionen menschlicher Fähigkeiten sind auch das Gerüst für die Fortsetzung von Bildung nach einer erworbenen Erstausbildung. Demnach soll Bildung u. a. zu einer
. Abb. 4.1. Schlüsselqualifikation
handwerklich-technischen Bildung führen, die Interaktionen zwischenmenschlicher Beziehungen ermöglichen, eine politische und ethische Handlungsfähigkeit entwickeln sowie weitere spezifische Fähigkeiten vermitteln kann. Dazu gehören Schlüsselqualifikationen wie Kritik- und Teamfähigkeit, Empathie und Kooperationsfähigkeit, Kommunikations- und Argumentationsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Selbstständigkeit sowie logisches, systematisches und vernetztes Denken, um nur einige zu nennen. Die 3 Grundelemente von Bildung können im Rahmen einer fachspezifischen Bildungsmaßnahme wie der Intensivpflege nicht ausgeblendet werden, sondern sind die Basis für weiter zu entwickelnde Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit stehen Schlüsselqualifikationen im Mittelpunkt der beruflichen Weiterbildung. Hinter diesem Begriff verbergen sich alle Qualifikationen, die den Berufstätigen befähigen, auch zukünftigen Berufsanforderungen generell gewachsen zu sein. Entwickelt wurde das Konzept mit der Begründung, dass durch schneller eintretende Veränderungszyklen berufliche Ausbildungsinhalte einer kurzen Halbwertszeit unterliegen und Mitarbeitern damit keine Handlungssicherheit mehr gegeben ist [18]. Die Schlüsselqualifikationen (. Abb. 4.1) werden durch verschiedene Kompetenzen konkretisiert. So umfasst Methodenkompetenz u. a. Analyse- und Problemlösungsfähigkeiten, die Fähigkeit zu systematischem und vernetztem Denken sowie konzeptionelle Fähigkeiten. Die personale Kompetenz beinhaltet, neben anderen, Motivation, Verantwortungsbewusstsein, Flexibilität, Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit. Die soziale Kompetenz setzt sich ebenfalls aus verschiedenen Fähigkeiten zusammen, zu denen Empathie, Konflikt- und Teamfähigkeit, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie Vorbildfunktion und Überzeugungskraft gehören [28]. Diese Kompetenzen können nicht losgelöst von fachlichen Inhalten und Situationen vermittelt bzw. erworben werden. Anhand dieses Modells wurde das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz entworfen. Um eine konkrete Handlung auszuführen, benötigt ein Mitarbeiter immer mehrere Schlüsselqualifikationen bzw. Anteile von ihnen. Handlungskompetenz ergibt sich demnach aus der Summe verschiedener Kompetenzen. Folglich müssen im Rahmen der praktischen Ausbildung wie auch in der Weiterbildung, neben notwendigen fachlichen Aspekten, auch Methoden- und Sozialkompetenz unterrichtet werden, damit Mitarbeiter zu einer eigenverantwortlichen Handlungskompetenz gelangen können (. Abb. 4.2). Handlungskompetenz in der beruflichen Praxis lässt sich unter Einbeziehung der betrieblichen Umwelt und des individuellen Mitarbeiters dann mit . Abb. 4.3 anschaulich darstellen [3]. Folglich bedeutet Handlungskompetenz, dass Mitarbeiter über verschiedene Kompetenzen verfügen und diese in der beruflichen Praxis situationsgemäß anwenden wollen und können. Maßgebend ist neben dem Wollen und Können aber auch das Dürfen, womit die institutionellen Rahmenbedingungen entscheidend
31 4.3 · Kompetenzen in der Intensivpflege
. Abb. 4.2. Handlungskompetenz
. Abb. 4.3. Handlungskompetenz im Kontext individueller Einstellungen und Schlüsselqualifikationen
sind, die Handlungskompetenz determinieren können. Wenn das Bildungsverständnis so angelegt ist, dass über Bildungsmaßnahmen verschiedene Kompetenzen von Mitarbeitern entwickelt werden sollen, dann muss das Führungsverständnis des Unternehmens kongruent sein, damit diese erlangten Kompetenzen durch Handeln auch gelebt werden können. Damit müssen evtl. unterschiedliche Interessen in Einklang gebracht werden [3, 6]. 4.3.1 Fachkompetenz Die fachlich-technische Kompetenz steht sicher unbestritten weit oben in der Skala erforderlicher Kompetenzen und ist mit ein Garant für die Umsetzung intensivpflegerisch-medizinischer Interventionen. Ausgehend von der Krankenbeobachtung sowie der klinischen und apparativen Überwachung stellen, unter Beachtung aller hygienischer Kriterien, die Kompensation bzw. Teilkompensation der Körperpflege, alle Arten von Prophylaxen sowie Lagerungsmaßnahmen, die Förderung der Atmung und Organisation der Atemtherapie wie auch die Wundversorgung das Grundgerüst intensivpflegerischer Maßnahmen dar. Daran angeschlossen sind alle assistierenden sowie delegierbare medizinische Tätigkeiten, die im Rahmen der Intensivmedizin erforderlich sein können. 4.3.2 Methodenkompetenz Fachliche Kompetenz allein reicht im komplexen Tätigkeitsfeld der Intensivpflege nicht (mehr) aus. Im Gegenteil: Um handlungsfähig zu sein, muss ein Mitarbeiter auch methodisch kompetent sein, damit er spezifische Probleme mit entsprechenden Konzepten kann. Methodenkompetenz als spezielle Form der Kompetenz meint die Fähigkeit, Techniken, Strategien und Verfahren zur Problemlösung zielgerichtet anzuwenden. Zu den methodisch notwendigen Voraussetzungen in der Intensivpflege gehört unabdingbar die Anwendung von Problemlösungsprozessen. Hier ist der Pflegeprozess nicht nur strukturierendes Moment zur Planung und Durchführung intensivpfle-
4
gerischer Maßnahmen, sondern auch Grundlage zur Evaluation von Versorgungsprozessen. Mit ihm ist es möglich, sowohl eine prospektive Einschätzung der Situation des Patienten vorzunehmen als auch eine intermittierende wie auch eine retrospektive Qualitätsbeurteilung zu leisten, womit das Instrumentarium qualitätssichernder Maßnahmen zum Tragen kommt. Methodenkompetenz bedeutet auch, Arbeitstechniken und Konzepte situationsbezogen und zielgerichtet einsetzen zu können. Damit müssen Konzepte, die nicht primär aus der Pflege stammen, komplementär berücksichtigt werden. Dazu gehören u. a. das Konzept der Kinästhetik zur Förderung der Mobilisation, der basalen Stimulation, des Affolter- und des Bobath-Konzeptes zur Förderung der Wahrnehmung als auch zur Frührehabilitation sowie die fazioorale Stimulation aus der Ernährungstherapie, die in das Gesamtkonzept der intensivpflegerischen Strategie einfließen. Darüber hinaus umfasst Methodenkompetenz auch die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung, die im mittel- und unmittelbaren Kontext der Patientenversorgung benötigt wird. Unter dem Stichwort der evidenzbasierten Intervention sind damit die Ergebnisse von pflegewissenschaftlichen und medizinischen Studien gemeint, die für den jeweiligen Fall in Betracht kommen. Rein empirisches Fachwissen wird also adäquat ergänzt und damit die Versorgung des Patienten auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Wissens wahrgenommen [32]. 4.3.3 Persönlichkeitskompetenz Durch die rasante Entwicklung operativer und intensivmedizinischer Verfahren ist es bereits zu einer deutlichen Zunahme des Leistungsspektrums gekommen. Durch vermehrte Leistungen bei kürzeren Verweilzeiten und gleichzeitiger Zunahme von multimorbiden Patienten ist sowohl die Komplexität der Aufgaben wie auch die Dynamik der Versorgung erheblich gestiegen. Diese unter dem Begriff der Dynaxität zu erfassende Situation erfordert eine 3. Dimension von Kompetenz, um im Berufsalltag bestehen zu können [17]. Dazu gehören u. a. 4 Anwendung spezifischer Normen und Werte zur Beurteilung verschiedener Situationen, 4 Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft vor dem Hintergrund ständiger Neuerungen, 4 Kreativität angesichts neuer Herausforderungen und mangelnder Ressourcen, 4 Autonomie im Sinne von Selbstständigkeit und Selbstdisziplin, 4 ein hohes Maß an Motivation und Energie sowie Stabilität und Belastbarkeit, da Umfang und Qualität der intensivpflegerischen Arbeit ständig variieren und Physis wie Psyche beanspruchen [14], 4 Flexibilität, 4 Konflikt- und Kritikfähigkeit, um in der multidisziplinären Versorgung mit vielen Mitarbeitern zu bestehen, 4 Fähigkeit zur Stressbewältigung und zur Gewährleistung der eigenen Psychohygiene, 4 Authentizität und Loyalität. Bildungsprogramme sowie die abteilungsinterne Begleitung durch Kollegen und Vorgesetzte müssen diese Kriterien im Sinne der eigenen Personalentwicklung mitberücksichtigen, um in absehbarer Zeit über Experten zu verfügen [4].
32
Kapitel 4 · Intensivpflege
4.3.4 Psychosoziale Kompetenz
4
Abgerundet werden die beruflichen Handlungskompetenzen durch psychosoziale Kompetenzen, die gerade in der Intensivpflege eine besondere Verankerung benötigen. In der Versorgung kritisch Kranker ist es notwendig, soziale Verantwortung zu tragen und Respekt auszudrücken. Insbesondere müssen Beziehungen gestaltet und sowohl problemlösende als auch beziehungsbildende Rollen übernommen werden. Hierbei ist die Fähigkeit vorauszusetzen, dass die Bedürfnisse und Wünsche anderer realitätsgerecht erfasst und auf dieser Grundlage in nicht bewertender, sondern deskriptiver Weise beantwortet werden. Empathie ist hierbei die Basis, um die Welt durch die Augen eines anderen zu sehen [21‒23]. Die Vielzahl der unterschiedlicher Berufsgruppen und Tätigkeiten verlangt Kooperations- und Delegationsfähigkeit. Die sich schnell verändernden Versorgungssituationen erfordern eine Ambiguitätstoleranz, d. h. die Fähigkeit, sich schnell und mit geringem Unbehagen an neue, instabile Situationen anzupassen [8]. i Nicht zuletzt ist eine ausgebildete kommunikative Kompetenz das alles verbindende Medium. Das betrifft die unterschiedlichen Formen der Kommunikation mit den Patienten, die Gespräche mit den Angehörigen sowie die fachlichen Diskussionen im Rahmen des therapeutischen Teams.
Wie wichtig die Kombination dieser Kompetenzen ist, verdeutlicht die Übersicht mit einem Auszug aus der Deklaration der Menschenrechte Sterbender, entstanden auf einem Workshop mit dem Thema »Der Todkranke und sein Helfer« in Lansig, Michigan (USA) [7].
Deklaration der Menschenrechte Sterbender I5 Ich habe das Recht, bis zu meinem Tode wie ein lebendiges menschliches Wesen behandelt zu werden und das Recht, stets noch hoffen zu dürfen – worauf auch immer sich diese Hoffnung richten mag. I5 Ich habe ein Recht darauf, von Menschen umsorgt zu werden, die sich eine hoffnungsvolle Einstellung zu bewahren vermögen – worauf auch immer sich diese Hoffnung richten mag. I5 Ich habe das Recht, Gefühle und Emotionen anlässlich meines nahenden Todes auf die mir eigene Art und Weise ausdrücken zu dür fen. I5 Ich habe das Recht, schmerzfrei zu sein, in Frieden und Würde und nicht allein zu sterben. I5 Ich habe das Recht, meine Fragen ehrlich beantwortet zu bekommen und nicht getäuscht zu werden. I5 Ich habe das Recht, von meiner Familie und für meine Familien Hilfen zu bekommen, damit ich meinen Tod annehmen kann. I5 Ich habe das Recht, meine Individualität zu bewahren und meiner Entscheidungen wegen auch dann nicht verurteilt zu werden, wenn diese in Widerspruch zu Einstellungen anderer stehen. I5 Ich habe das Recht, offen und ausführlich über meine religiösen und/oder spirituellen Erfahrungen zu 6
sprechen, unabhängig davon, was dies für andere bedeutet. I5 Ich habe das Recht, zu erwarten, dass die Unverletzlichkeit des menschlichen Körpers nach dem Tode respektiert wird. I5 Ich habe das Recht, von fürsorglichen, empfindsamen und klugen Menschen umsorgt zu werden, die sich bemühen, meine Bedürfnisse zu verstehen, und die fähig sind, innere Befriedigung daraus zu gewinnen, dass sie mir helfen, meinem Tod entgegenzusehen.
4.4
Personalmanagement in der Intensivpflege
Eine wichtige Aufgabe in der Intensivpflege ist die Wahrnehmung von Führungsaufgaben. Auch dies will gelernt sein. Macht wird zwar oft per Amt verliehen, reicht aber in der Regel nicht aus, um eine Organisation fachgerecht zu lenken. Die Annahme, ausschließlich per Amtsautorität Führung wahrnehmen zu können, ist längst überholt. Führung ist keine einseitige Aktion, sondern stellt eine wechselseitige Interaktion dar und beinhaltet ein systematisches und zielorientiertes Einwirken auf eine Person oder Gruppe. Führung geschieht also nicht zufällig, sondern absichtsvoll und geplant unter Berücksichtigung mehrerer Aspekte. Zu den Hauptfragen gehören: Welche Ziele sollen mit welchen Mitarbeitern, mit welchen Mitteln, in welcher Zeit und unter welchen Bedingungen erreicht werden [35]? In diesem Zusammenhang werden auf der Intensivstation mehrere Tätigkeiten postuliert: 4 Organisation der Personaleinsatzplanung 4 Personalentwicklung und Sicherung der Pflegequalität 4 Gestaltung der Beziehungen. Ärztliche und pflegerische Mitarbeiter nehmen auf der Intensivstation sehr ähnliche Aufgaben für unterschiedliche Berufsgruppen wahr. Der ärztliche Leiter trägt die Gesamtverantwortung für alle medizinischen Interventionen und ist zuständig für die Einsatzplanung und Aufsicht nachgeordneter Kollegen. Die pflegerische Leitung bestimmt die Zuordnung des Pflegepersonals und ist verantwortlich für alle Pflegeinterventionen sowie für Fragen der Personalentwicklung, der Fort- und Weiterbildung. Ärzte und Pflegende sind gemeinsam verantwortlich für die Koordination beider und anderer Berufsgruppen. Kooperation sowie eine professionelle Beziehungsgestaltung im inneren System (Team und Patient) wie im äußeren System (Angehörige und andere Berufsgruppen) sind die Basis für ein funktionierendes System [38]. 4.4.1 Personaleinsatzplanung Nach der periodischen Dienstplangestaltung muss im Dienst eine tägliche Zuordnung des Personals erfolgen. Zu berücksichtigen ist dabei die Zuordnung von Mitarbeitern mit entsprechender Qualifikation analog zum Versorgungsgrad der Patienten. Je höher der qualitative wie auch quantitative Versorgungsgrad, desto höher sollte die zuzuordnende Kompetenz des betreuenden Mitarbeiters sein. Gleichzeitig sollte sich im Dienstplan ein
33 4.4 · Personalmanagement in der Intensivpflege
4
Konzept zur Anleitung von Mitarbeitern wiederfinden, das die Personalentwicklung von Mitarbeitern mit noch geringerer Kompetenz durch Zuordnung von Mitarbeitern mit einer höheren Kompetenz garantiert. Im Zuge der Dienstplangestaltung sind Zeitpunkte für die abteilungsinterne Fortbildung zu verankern, sodass nicht nur durch die fachpraktische Arbeit, sondern auch durch intermittierende und flankierende Themenangebote Kompetenz weiter entwickelt werden kann [26]. 4.4.2 Personalentwicklung Das bisher sehr wenig beachte Instrument der Pflegevisite stellt eine hervorragende Ergänzung nicht nur im Zuge der Personalentwicklung, sondern auch im Sinne des Qualitätsmanagements dar. Analog zu der ärztlichen analysieren und entwickeln Pflegeverantwortliche der Intensivstation durch den Besuch am Bett sowohl Struktur- als auch Prozesskriterien. Hinsichtlich der Struktur- und Prozessqualität wird deutlich, ob vereinbarte Kriterien zur Dokumentation, die Handhabung von Pflegeleitlinien und -standards und Konzepte zur Anleitung neuer Mitarbeiter eingehalten werden. Zeitgleich ist es möglich, festzustellen, ob Behandlungspfade und Pflegeinterventionen analog zum Pflegeprozess verstanden worden sind und umgesetzt werden. In gleicher Weise kann auch der Gesamtkenntnisstand der Mitarbeiter erfasst werden. Aus den Visiten gewonnene Erkenntnisse sollten zur Reflexion in Teambesprechungen (Fallbesprechungen) führen, um evtl. Entwicklungspotenziale zu diskutieren. »Nebenbei« erfährt der Patient auf der Intensivstation individuell eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn er bei allen Betrachtungen in den Mittelpunkt gesetzt wird. Das bedeutet, dass man mit ihm über seinen Versorgungsprozess spricht, ihm signalisiert, dass sich alles um ihn dreht. Keinesfalls darf die Pflegevisite zu einem Angst einflößenden Instrument der persönlichen Überprüfung entarten, sondern soll zur Optimierung der Versorgungsprozesse sowie der erwarteten Ergebnisse beitragen [20]. 4.4.3 Gestaltung von Beziehungen Die professionelle Gestaltung von Beziehungen ist ein elementarer Bestandteil des beruflichen Handelns und ein entscheidender Faktor dafür, ob avisierte Ziele erreicht werden können. Da gerade in der Intensivpflege komplexe Situationen bestehen, sind klare Strukturen notwendig zur Regelung von Aufgaben, Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen. Gleichsam müssen Prozesse vereinbart werden in Bezug auf Ablaufpläne, die Informationskultur sowie das notwendige Schnittstellenmanagement. Die Gestaltung muss geprägt sein von einer klaren Linie, die gebildet wird von Initiative, Offen- und Direktheit sowie durch Berechenbarkeit und eine kritische Loyalität. Aufkommende Konflikte im Pflegeteam müssen so früh wie möglich angesprochen und bearbeitet werden. Dies entspricht der Ausübung von Führung nach den Managementprinzipien von »DICOR« (»delegation, information, cooperation, objectives, results«). Führung nach dem Prinzip KITA (»kick in the ass«) im Sinne eines autoritäten Stils ist längst nicht mehr zeitgemäß, da in aller Regel nur Frustration und Aggressionen entstehen, wodurch die Fluktuation zunimmt oder Mitarbeiter
. Abb. 4.4. Ganzheitliche Betroffenheit des Patienten. (Mod. nach Kreienbaum, Hundenborn 1994
erniedrigt werden, die dann nur noch »Dienst nach Vorschrift« absolvieren [5]. Für das Prinzip Delegation spricht, dass kompetente, wollende Mitarbeiter Möglichkeiten zur Entwicklung des fachlichen wie persönlichen Potenzials benötigen. Sie warten auf sie fordernde Tätigkeiten, die sie eigenverantwortlich durchführen wollen. Informationen sorgen für Transparenz und damit für die Nachvollziehbarkeit von notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen. Mündige Mitarbeiter wissen und verstehen, was in ihrem Umfeld passiert, und können sich damit identifizieren. Kooperation ist eine notwendige Grundvoraussetzung innerhalb des Pflegeteams einerseits und in Bezug zum gesamttherapeutischen Team andererseits. Das Ziel muss den Weg bestimmen und erfordert von den Entscheidungsträgern, sich nach Abwägung aller Kriterien auf den besten Prozess zu verständigen. Zielvereinbarungen (»objectives«) vermitteln allen Beteiligten vor dem Hintergrund bestehender Probleme, was, wann und wie erreicht werden soll. Auch hier ist die Folge eine Identifikation mit dem Ziel, die wiederum bestimmend ist für den Zielerreichungsgrad. Bei dieser Form von Führung werden mitarbeiterorientierte und aufgabenbezogene Ziele (weitestgehend) in Einklang gebracht. Das bedeutet, dass neben der Leistung eben auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter eine entscheidende Rolle spielt. Ergebnisse (»results«) sollen Anlass zu positiven Verstärkungen sein, um die Leistungsfähigkeit in quantitativer, v. a. aber in qualitativer Hinsicht zu optimieren [8, 9]. Fehlt ein solches Konzept zur professionellen Beziehungsgestaltung, können im Team u. U. schwelende Konflikte, Verbitterung, Aggression sowie Frustration und Demotivation entstehen. Im schlimmsten Fall zerfällt das Team durch Zunahme von Fluktuation bzw. durch das Auftreten von Burn-outs. Im Rahmen der Beziehungsgestaltung (. Abb. 4.4) spielen natürlich auch der Patient und seine Angehörigen eine entscheidende Rolle. Die Patienten und Angehörigen wollen informiert werden, nachfragen und mitentscheiden können. Fühlen sich Patienten nicht verstanden oder werden kommunikativ ausgeblendet, verweigern sie die Zusammenarbeit, beklagen sich bei Außenstehenden und verbleiben in ihren krankmachenden Mustern. Sind Angehörige aufgebracht, ist die Kontaktaufnahme unumgänglich, um sich der eventuellen Kritik zu stellen, auch wenn sie objektiv nicht unbedingt gerechtfertigt ist.
34
Kapitel 4 · Intensivpflege
Literatur
4
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5 Hygiene in der Intensivmedizin M. Dettenkofer, E. Meyer
5.1
Hauptursachen und Entstehung von Krankenhausinfektionen
5.2
Über tragungswege und häufigste Erregerreser voirs
5.3
Hygienemaßnahmen auf Intensivstationen
5.4
Techniken zur Verhütung und Bekämpfung der wichtigsten Krankenhausinfektionen –37
5.5
Sur veillance nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen
5.6
Isolierung infizier ter und kolonisier ter Patienten
5.7
Reinigung und Desinfektion
5.8
Umweltschutz auf Intensivstationen Literatur
–44
–40 –44
–36
–36
–36
–38
–37
5
36
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
5.1
Hauptursachen und Entstehung von Krankenhausinfektionen
Die Hauptursachen für die überdurchschnittliche Häufigkeit von Krankenhausinfektionen (nosokomiale Infektionen; 7 Kap. 64) auf Intensivstationen sind nicht Hygienefehler, sondern die erhöhte Disposition: Die Patienten sind empfänglich durch verschiedene Grundkrankheiten, operative Eingriffe usw. und die erhöhte Keimexposition durch invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen (z. B. Venenkatheter, Blasenkatheter, Intubation usw.). Durch diese in der Intensivmedizin unerlässlichen Interventionen werden die natürlichen Abwehrbarrieren durchbrochen und den Mikroorganismen der Zutritt zum Körper ermöglicht. Verschiedene therapeutische Maßnahmen vermindern zusätzlich die körpereigene Abwehr (Zytostatika-, Kortisontherapie). Durch den breiten, z. T. nicht indizierten Einsatz v. a. von Breitspektrumantibiotika (7 Kap. 62) wird die Vermehrung und Ausbreitung resistenter Krankheitserreger begünstigt, die heute die größte krankenhaushygienische Herausforderung sind. Krankenhausinfektionen entstehen v. a. auf 2 Wegen: 4 endogen durch Keime der körpereigenen Flora (z. B. Harnwegsinfektionen ausgehend von der Darmflora, Pneumonie aus der Flora des Nasen-Rachen-Raums oder Magens), 4 seltener exogen durch Keime aus der Umwelt des Patienten (direkter Kontakt v. a. mit den Händen oder indirekter Kontakt über Geräte, Instrumente; noch seltener über die Luft). Endogene Krankenhausinfektionen sind wesentlich schwieriger zu verhüten als exogene. Auch mit den besten Methoden der Krankenhaushygiene lassen sich allerdings nur 15–30% aller Krankenhausinfektionen vermeiden [4]. 5.2
Über tragungswege und häufigste Erregerreservoirs
Die wichtigsten Erregerreservoirs von Staphylococcus aureus sind der Nasen-Rachen-Raum und die Hautflora, das wichtigste Erregerreservoir gramnegativer Keime die Rachen- und Gastrointestinalflora. Weitaus am häufigsten werden Krankheitserreger mit den Händen bzw. durch nicht gewechselte Handschuhe übertragen. Die gilt für grampositive wie -negative Keime. Einrichtungsgegenstände und Apparate, die immer wieder mit den Händen berührt werden müssen, z. B. Beatmungsgeräte, Tastenfelder von Monitoren, Armaturen usw., können bedeutende Erregerreservoirs sein, v. a. für Staphylokokken und Enterokokken, aber auch für Acinetobacter u. a. Sie müssen daher entsprechend häufig wischdesinfiziert werden. Gramnegative Keime vermehren sich v. a. in feuchter Umgebung wie kontaminiertes Anfeuchtungswasser, Ultraschallvernebler, O2-Anfeuchtungsgeräte, Mundpflegelösung. In aller Regel unwichtige Erregerreservoirs sind: Fußböden, Wände, Decken, patientenferne Möbel. Über große respiratorische Tröpfchen werden v. a. Viren und bakterielle Erreger von Atemwegsinfektionen, aber auch Meningokokken übertragen (bis maximal 1,5 m um die Streuquelle). Nur selten werden Infektionen auf Intensivstationen im engeren Sinne aerogen über weitere Strecken übertragen, z. B. Tuberkelbakterien, Viren als Erreger von Atemwegsinfektionen (Varizellen- und Masernpneumonie, SARS) oder Aspergillen. Meist werden aber auch respiratorische Viren, die auf Gegenständen mehrere Stunden überleben können (z. B. RS-Viren), mit den
Händen übertragen. Der Mensch berührt unwillkürlich dutzende Male am Tag seine Nase und seinen Mund, dabei gelangen Viren, aber auch Staphylococcus aureus aus dem Nasen-RachenRaum auf die Hände und mit ihnen durch direkten oder indirekten Kontakt (Flächen, Gegenstände) zum Patienten. ! Cave Am häufigsten werden Krankheitserreger auf Intensivstationen mit den Händen (Handschuhen) übertragen.
5.3
Hygienemaßnahmen auf Intensivstationen
Die häufigsten Krankenhausinfektionen auf Intensivstationen sind: 4 Pneumonie, 4 Harnwegsinfektion, 4 Sepsis, 4 Wundinfektion, 4 Infektionen der Haut und Schleimhäute (meist Venenkatheterinfektionen an der Eintrittstelle). Die Hauptursachen sind invasive Maßnahmen, d. h. bei: 4 Pneumonie: Intubation, Beatmung, Aspiration, 4 Harnwegsinfektionen: Blasenkatheter, 4 Sepsis: intravasale Katheter, v. a. ZVK, sekundär bei Beatmungspneumonie und Wundinfektionen. Die wichtigsten Hygienemaßnahmen auf der Intensivstation 5 Händedesinfektion, ggf. auch Händewaschen 5 Handschuhwechsel nach Beendigung der Tätigkeit am Patienten 5 Schulung und Disziplin aller Personen, v. a. der Ärzte (Vorbildfunktion besonders der leitenden Ärzte) 5 Einsatz von speziell ausgebildetem Personal; Beratung durch Krankenhaushygieniker und Hygienefachpersonal 5 Hygienisch einwandfreie interventionelle und pflegerische Techniken zur Verhütung von Blasenkatheterinfektionen, Venenkatheterinfektionen, Pneumonie bei Beatmung und postoperativen Wundinfektionen (7 Kap. 64) 5 Möglichst kurze Verweildauer von Fremdkörpern (Venenkatheter, Blasenkatheter, arterielle Katheter, Hirndruckmesssonden usw.); regelmäßige Prüfung der Indikation 5 Sichere Aufbereitung von Medizinprodukten 5 Gezielte und sinnvolle Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen 5 Sichere und wirksame Isolierungstechniken 5 Ausreichende Personal-Patienten-Relation: Zuwenig Personal bedeutet immer auch weniger Hygiene! 5 Surveillance device-assoziierter Infektionen (Qualitätssicherung) 5 Sorgfältige Indikation von Antibiotikatherapie und Antibiotikaprophylaxe, z. B. ist eine perioperative Antibiotikaprophylaxe länger als 24 h überflüssig, teuer und fördert die Resistenzentwicklung (7 Kap. 62)!
37 5.5 · Surveillance nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen
Händehygiene Händewaschen und insbesondere Händedesinfektion mit einem alkoholischen Präparat sind nach wie vor die wichtigsten Maßnahmen zur Verhütung von Kreuzinfektionen, besonders auf Intensivstationen. Leider wird dies v. a. von Ärzten immer noch zu wenig beachtet. Ärzte desinfizieren die Hände seltener und kürzer als Pflegepersonal. Auch das Wechseln von Handschuhen wird viel zu häufig vergessen!
Da Blasenkatheterinfektionen, Venenkatheterinfektionen, Pneumonie bei Beatmung und postoperative Wundinfektionen die häufigsten Krankenhausinfektionen auf Intensivstationen sind, müssen hygienisch einwandfreie pflegerische Techniken angewendet werden, um diese Infektionen zu verhüten. Leider beobachtet man immer wieder, dass Pflegepersonal die Hygienemaßnahmen beachtet, Ärzte aber beispielsweise ohne Handschuhwechsel und Händedesinfektion Blut abnehmen oder am Venenkathetersystem manipulieren. Hier können gezielte Fortbildungen und der Einsatz von besonders gut verträglichen alkoholischen Desinfektionsmitteln ohne Farbstoff- und Parfümzusätze die Compliance bei der Händehygiene verbessern. Dazu kommt, dass ohne fachlich geschultes Hygienepersonal (Krankenhaushygieniker, Hygienefachpfleger/-schwester) eine sinnvolle und gezielte Krankenhaushygiene nicht möglich ist. Die Hygieneempfehlungen müssen in Zusammenarbeit mit diesem Fachpersonal jeweils den aktuellen internationalen Standards angepasst werden.
Aufgaben des mikrobiologischen Labors Das mikrobiologische Labor, mit dem die Intensivstation zusammenarbeitet, muss in mindestens halbjährlichen Abständen das Erregerspektrum und die Resistenzsituation analysieren. Die Resistenzraten können auch innerhalb eines Krankenhauses erheblich differieren. Ohne Kenntnis der loalen Resistenzsituation ist eine adäquate empirische Antibiotikatherapie nicht möglich [8] (7 Kap. 62). Intensivstationen sollten mit mikrobiologischen Laboratorien zusammenarbeiten, deren Ärzte regelmäßig zusammen mit den Intensivstationsärzten eine Visite durchführen.
Klimatisierung/raumlufttechnische Anlagen Bei der Klimatisierung von Intensivstationen muss zwischen arbeitsphysiologischen und hygienischen Anforderungen unterschieden werden. Aus arbeitsphysiologischen Gründen (angenehmes Raumklima für Patienten und Personal, Wärmeabführung von Geräten) dürfte es notwendig sein, viele Intensivstationen mit raumlufttechnischen Anlagen auszustatten, die jedoch nicht hohen hygienischen Ansprüchen der Luftreinheit genügen müssen (2-stufige Filterung in der Regel ausreichend; in der 2. Stufe Filterklasse F9). Aus rein krankenhaushygienischen Gründen, d. h. zur Verhütung einer aerogenen Keimübertragung, ist es sicher nur notwendig, bestimmte Teilbereiche einer Intensivstation, und zwar abhängig vom jeweiligen Patientenkollektiv, das auf der betreffenden Station betreut werden muss, zu klimatisieren (s. unten).
Umkleiden auf Intensivstationen Personalschleusen sind ebensowenig hygienisch notwendig wie Material- oder Geräteschleusen. Personen, die keinen direkten pflegerischen oder ärztlichen Kontakt mit dem Patienten ha-
5
ben, müssen sich beim Betreten der Intensivstation auch nicht umkleiden. Dadurch werden keine Infektionen verhindert, aber unnötig hohe Kosten verursacht. Dies gilt z. B. für ärztliche Konsiliardienste, Besucher, Handwerker, Sozialdienste und Hygienepersonal. Hygienische Einwände dagegen gibt es nicht, da sich die Hygienebarriere nicht vor der Intensivstation, sondern erst am Patienten selbst befindet. Der Kittelwechsel oder das Anlegen einer Einmalschürze muss erst am Patientenbett und dann erfolgen, wenn bei der entsprechenden pflegerischen oder ärztlichen Tätigkeit tatsächlich die Gefahr einer Kontamination besteht. Da Besucher nur Sozialkontakt und keinen pflegerischen Kontakt mit dem Patienten haben, müssen sie in der Regel auch keinen Kittel anziehen. Auch das Überziehen eines Schutzkittels bei Verlassen der Station ist aus hygienischen Gründen nicht notwendig. Die Händedesinfektion bei Betreten und Verlassen der Station ist jedoch sowohl für Klinikpersonal wie für Besucher wichtig. Spezielle Bereichsschuhe oder gar Plastiküberschuhe sind hygienisch nicht erforderlich, letztere sogar kontraproduktiv, da beim Überziehen leicht die Hände verschmutzt werden. 5.4
Techniken zur Verhütung und Bekämpfung der wichtigsten Krankenhausinfektionen
In Deutschland wurden in den letzten Jahren von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut (RKI) evidenzbasierte, kategorisierte Empfehlungen erarbeitet, die über das Internet abrufbar sind (www. rki.de). Diese stimmen in weiten Teilen mit den HICPAC-Guidelines (Healthcare Infection Control Practices Advisory Committe) der CDC (Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta, USA) überein (http://www.cdc.gov/ncidod/dhqp/guidelines.html). Die eigene Lektüre der RKI- und CDC-Guidelines ist anzuraten, zumal dort wertvolle Hintergrundinformationen gegeben werden. Übersichten zu den einzelnen Themen finden sich 7 Kap. 64 und auch im Standardwerk »Praktische Krankenhaushygiene und Umweltschutz« [1] sowie in [7]. ! Cave Der weitaus häufigste Überträger von Infektionen ist der Mensch selbst, d. h. auf der Intensivstation in erster Linie das Personal, das direkten pflegerischen Kontakt mit den Patienten hat, wobei kontaminierte Hände (und Handschuhe) bei der Infektionsübertragung die bei weitem wichtigste Rolle spielen. Wände, Decken oder auch Fußböden sind nur eine äußerst geringe Infektionsgefahr.
5.5
Surveillance nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen
Die gezielte Surveillance (Erfassung, Analyse und Diskussion) von device-assoziierten Infektionen ist auf Intensivstationen eine wichtige Maßnahme im Rahmen des Qualitätsmanagements [3] (7 Kap. 62). Hier bietet sich im deutschsprachigen Raum die Teilname am Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS) an (www.nrz-hygiene.de).
38
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
5.6
Isolierung infizier ter und kolonisier ter Patienten
Bauliche Voraussetzungen
5
Nach baulichen Gesichtspunkten können im Wesentlichen folgende Intensivstationen unterschieden werden: 4 Offene Stationen, bei denen die Betten nur durch einen bestimmten Abstand voneinander getrennt sind. In diesen Stationen ist eine räumliche Isolierung infizierter oder kolonisierter Patienten unmöglich, 4 Stationen, bei denen zwischen den Patienten Trennwände stehen, sog. offene Boxen. In diesen Boxen können ggf. beatmete Patienten, deren Respirationstrakt mit multiresistenten Keimen besiedelt ist, isoliert werden, 4 Stationen, bei denen einzelne Betten in geschlossenen Boxen oder Einzelzimmern stehen. Im günstigen Fall besitzt eine Intensivstation ein oder mehrere Isolierzimmer mit Schleuse und raumlufttechnischer Anlage. Die Schleuse sollte so groß bemessen sein, dass ein Bett bei geschlossenen Türen darin Platz hat. Hier befindet sich ein Waschbecken, in der Nasszelle ggf. zusätzlich noch eine Steckbeckenspülanlage. In diesen Isoliereinheiten können beispielsweise Patienten mit multiresistenten Erregern, offener Lungentuberkulose, ausgedehnten infizierten Wundinfektionen, aber auch extrem abwehrgeschwächte Patienten oder Patienten nach Organtransplantationen untergebracht werden. Bei letzteren beiden Gruppen ist es wichtig, dass die Luftströmung von innen nach außen gerichtet ist (sog. Umkehrisolation). In den anderen Fällen muss im Zimmer ein negativer Druck gegenüber den angrenzenden Räumen sichergestellt sein.
oder Durchfallerregern, ist es notwendig, auch kolonisierte Patienten, also solche, die noch nicht erkrankt sind, zu isolieren. Bei der sog. Kohortenisolierung werden mit dem gleichen Erreger infizierte oder kolonisierte Patienten in einem räumlich abgetrennten Bereich zusammengefasst, um eine Infektionsübertragung auf noch gesunde Patienten zu verhüten.
Hygienemaßnahmen bei multiresistenten Erregern – Beispiel Methicillin-resistente Staphylococcus aureus Häufigkeit. Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA)
wurden erstmals in den 1960-er Jahren isoliert und haben sich seitdem weltweit verbreitet. In Norwegen, Schweden, Dänemark und den Niederlanden liegt die MRSA-Rate (Anteil an allen S.-aureus-Isolaten) unter 1%, in vielen südeuropäischen Ländern, aber auch in England dagegen über 30%. In Deutschland lag sie 2004 bei 19% aller Staphylococcus-aureus-Isolate (EARSS), bei steigendem Trend (. Tab. 5.1). MRSA sind nicht nur gegen Methicillin resistent, sondern – bis auf Vancomycin/Teicoplanin und die neueren Antibiotika Linezolid, Quinupristin/Dalfopristin (Synercid), Tigecyclin und Daptomycin – häufig gegen die meisten anderen derzeit zugelassenen Antibiotika. Dabei bedeutet eine In-vitro-Empfindlichkeit eines anderen Antibiotikums bei MRSA in der Regel keine klinische Wirksamkeit. Für die Selektion von MRSA gelten v. a. Chinolone als Risikofaktor. Grundsätzlich gilt, dass eine reine Kolonisation mit multiresistenten Erregern nicht mit Antibiotika behandelt werden sollte. Eine rationale Antibiotikatherapie und -prophylaxe in Kombination mit effektiven Hygienemaßnahmen ist der entscheidende Schlüssel für die Kontrolle der Resistenzausbreitung (7 Kap. 62).
Kohortenisolierung In bestimmten epidemiologischen Situationen, z. B. bei Staphylokokkenepidemien, bestimmten mit multiresistenten Keimen
Der Nasenvorhof als natürliches Reservoir für S. aureus bildet meist den Ausgangspunkt für eine Besiedlung der übrigen Kör-
. Tabelle 5.1. Resistenzraten in % auf deutschen Intensivstationen (in Klammern Anzahl der Isolate) Angaben der Paul-Ehrlich Gesellschaft von 2004
Angaben aus SARI von 2000–2005
S. aureus, resistent gegen Methicillin
22,6 (841)
21,2 (9523)
E. faecium, restistent gegen Vancomycin
13,5 (193)
4,1 (1941)
5,6 (288)
8,1 (2906)
21,9 (745)
14,4 (7220)
P. aeruginosa, resistent gegen Piperacillin/Tazobactam
9,6 (819)
22,3 (4517)
P. aeruginosa, resistent gegen Imipenem (SARI) bzw Meropenem (PEG)
2,8 (819)
24,4 (4517)
15,1 (819)
18,1 (4517)
K. pneumoniae, resistent gegen Cefotaxim (PEG) bzw. Cephalosporine der 3. Generation (SARI) E. coli, resistent gegen Ciprofloxacin
P. aeruginosa, resistent gegen Ciprofloxacin
SARI: Daten von Intensivstationen: Surveillance der Antibiotika-Anwendung und der bakteriellen Resistenzen auf Intensivstationen (http:// www.sari-antibiotika.de) [9]. PEG: Daten aus dem ambulanten Bereich, von Allgemeinstation und von Intensivstation (http://www.p-e-g.de)
39 5.6 · Isolierung infizierter und kolonisierter Patienten
perstellen. Daher ist zur Erfassung der Besiedlung mit MRSA der Nasenabstrich unerlässlich (angefeuchteter steriler Tupfer). Die erforderliche hohe Sensitivität beim Nachweis bzw. Ausschluss von MRSA erreicht man durch kombinierte Abstriche von Nase, Rachen (v. a. Prothesenträger), Perineum/Leiste und vorhandenen Wunden. Ein routinemäßiges Aufnahme-Screening auf Intensivstationen ist angezeigt und vereinfacht das Procedere. Der wichtigste Übertragungsweg von Patient zu Patient und von Patient zu Personal ist auch hier der Händekontakt (Kontakt mit Nasen-Rachen-Raum). Sehr selten ist die aerogene Übertragung. Beim trachealen Absaugen (MRSA im Trachealsekret), beim Verbandwechsel (MRSA in der Wunde) oder beispielsweise beim Bettenmachen (v. a. bei perinealen MRSA-Trägern) besteht das Risiko, dass über Sekrete bzw. Hautschuppen Staphylokokken über die Luft übertragen werden. Der Verbreitungsgrad von MRSA und anderen multiresistenten Erregern in der eigenen Klinik muss bekannt sein und seit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes auch systematisch erfasst werden. Bei Ausbrüchen, d. h. beim Auftreten zweier oder mehrerer Erkrankungen mit dem gleichen Erreger, bei denen ein epidemiologischer Zusammenhang anzunehmen oder bestätigt ist, müssen die speziell bei multiresistenten Erregern erweiterten Hygienemaßnahmen oft noch ausgeweitet werden. Ausbrüche sind nach § IfSG dem Gesundheitsamt nichtnamentlich zu melden.
5
5
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Wichtigste Hygienemaßnahmen bei MRSA-positiven Patienten in der Intensivmedizin 5 Standardhygienemaßnahmen nach den allgemeinen Regeln, d. h. insbesondere gründliche Händedesinfektion und Handschuhwechsel (s. unten) bei Patientenkontakt und und vor Verlassen des Raumes. Dies gilt ggf. auch für den Patienten selbst und für Besucher. 5 Unterbringung des MRSA-infizierten oder- besiedelten Patienten im Einzelzimmer oder abgetrennten Bereich; ggf. gemeinsame Unterbringung mehrerer MRSA-Träger (Kohortenisolierung, s. oben). 5 Patienten, die vor der Isolierung eines MRSA-positiven Patienten mit diesem in Kontakt gekommen sind, müssen gescreent werden (Nasen-Rachen-Raum, Perineum/ Leiste, ggf. Wunden). Gleiches gilt bei Aufnahme von Patienten aus Einrichtungen/Abteilungen mit bekanntem MRSA-Problem und bei Wiederaufnahme bei früherem MRSA-Nachweis: Auch zunächst erfolgreich dekolonisierte Patienten haben ein hohes Risiko, wieder mit MRSA besiedelt zu werden. Bei Wiederaufnahme sollten daher Kontrollabstriche durchgeführt werden (ggf. Primärisolierung bis zum Erhalt des negativen Ergebnisses). I5 In Ausbruchsituationen kann auch ein Screening der gesamten Station inklusive Personal notwendig sein. 5 Bei nasaler Besiedlung sollte eine 5-tägige Behandlung mit Mupirocin-Nasensalbe durchgeführt werden, dann 3 Kontrollabstriche im Abstand von 24 h. 6
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5
5
Bei nicht erfolgreicher Dekontamination kann die Therapie bis zu 2-mal wiederholt werden (alternativ ggf. Polyhexanid- oder PVP-Jod-haltige Salbe). Unterstützend sollte bei Hautkolonisation eine tägliche Ganzkörperwaschung mit desinfizierenden Substanzen (Octenidin) erfolgen. Die Akte eines MRSA-positiven Patienten sollte gekennzeichnet sein, und alle Kontaktbereiche sollten informiert werden (Physiotherapeuten, Reinigungspersonal, Röntgenpersonal etc.). Wenn möglich auch elektronischer Warnhinweis im EDV-Patientendatensystem. Bei pflegerischem oder Körperkontakt mit infizierten oder kolonisierten MRSA-Trägern müssen patientenbezogen Handschuhe getragen werden (dies ist bei anderen Tätigkeiten, z. B. Essensversorgung, nicht erforderlich). Bei direktem Patientenkontakt, z. B. auch beim Bettenmachen, sollten zusätzlich Kittel und Mund-/Nasenschutz getragen werden; letzteres zur Verhinderung einer Übertragung durch unbewusste Hand-zu-Mund bzw. -Nasen-Bewegungen des Personals. Kopfhauben sind nicht erforderlich. Nur die notwendigen Pflegeutensilien werden im Zimmer gelagert; Blutdruckmanschetten, Stethoskope und Fieberthermometer dürfen nur patientenbezogen eingesetzt bzw. müssen nach Gebrauch desinfiziert werden. MRSA-positive Patienten werden vorzugsweise auf einer Liege transportiert (frisches Tuch); im eigenen Bett nur, nachdem es frisch bezogen und wischdesinfiziert wurde. Die Kleidung des Patienten sollte frisch gewechselt sein, bei Wunden vor dem Transport neuen Verband anlegen; bei nasaler Besiedlung Mund-/Nasenschutz. Wäsche und Geschirraufbereitung bedürfen keiner besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Maßnahmen: Abfall wird im Patientenzimmer gesammelt und mit dem Hausmüll entsorgt. Die Wäsche wird im Zimmer gesammelt. Die Besiedelung mit MRSA sollte kein Grund sein, einen Patienten nicht aufzunehmen; weiterbehandelnde Institutionen müssen natürlich informiert werden. Das Patienten- bzw. Behandlungszimmer nach Entlassung wischdesinfizieren.
i Wichtig für Intensivstationen ist die leichte Erreichbarkeit von Waschbecken und ganz besonders von Händedesinfektionsmittelspendern (bettplatznah); ggf. sog. Kittelflaschen verwenden.
Weitere wichtige multiresistente Erreger ( VRE, ESBL) Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) nehmen auch in Europa in besorgniserregender Weise zu. Obwohl Enterokokken per se nicht sehr virulent sind, können Infektionen zu erheblichen Problemen führen, v. a. wegen der meist schweren Grunderkrankungen der Patienten [5]. Klinisch bedeutsam sind Enterococcus faecalis (ca. 85%) und Enterococcus faecium. Bei den
40
5
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
meisten VRE handelt es sich um E. faecium. Die Vancomycin-Resistenz bei Enterokokken ist häufig verbunden mit Mehrfachresistenz, die auch Ampicillin und andere Penicilline einschließt. In den meisten Fällen besteht Kreuzresistenz gegenüber Teicoplanin. Durch die Mehrfachresistenz sind die therapeutischen Möglichkeiten eingeschränkt. Im Rahmen von Ausbrüchen v. a. bei hämatologisch/onkologischen Patienten spielen auch in Deutschland besonders virulente Stämme (»clonal complex 17«) eine zunehmende Rolle. Zur Kontrolle von VRE sind konsequente Isolierungsmaßnahmen wie bei MRSA erforderlich – allerdings entfällt die Notwendigkeit eines Mund-Nasen-Schutzes, da keine nasale Trägerschaft zu erwarten ist. Extended-spectrum-E-Laktamase (ESBL) produzierende Bakterien sind nach MRSA mittlerweile in Deutschland die zweithäufigsten multiresistenten Erreger. Sie produzieren Enzyme, die die Fähigkeit haben, E-Laktamantibiotika (Cephalosporine, Penicilline) zu inaktivieren [6]. Sie werden v. a. bei E. coli und Klebsiellen gefunden. Problematisch ist, dass ihre Resistenz plasmidevermittelt übertragen wird, d. h. die Resistenz kann auch zwischen verschiedenen Spezies übertragen werden. Ebenso wie bei MRSA und VRE sind die Therapieoptionen eingeschränkt. Als Risikofaktor für die Selektion von ESBL-Bildern gilt in erster Linie ein hoher Verbrauch an Cephalsoporinen der 3. Generation. Um die Ausbreitung von ESBL zu verhindern, gilt es, die Übertragung von Patient zu Patient zu verhindern (adäquate Isolierungsmaßnahmen) und Antibiotika rational und so kurz wie möglich einzusetzen. Auch VRE- und ESBL-bildende Erreger werden hauptsächlich über Hände/Handschuhe des Personals übertragen. Deshalb sind die wichtigsten Hygienemaßnahmen bei multiresistenten Erregern Händedesinfektion und Handschuhwechsel vor und nach Patientenkontakt. 5.7
Reinigung und Desinfektion
Händedesinfektion Händedesinfektion ist die wirksamste, kostengünstigste und einfachste Maßnahme zur Verhütung von Infektionsüber tragungen (Kreuzinfektionen). Dafür genügend Händedesinfektionsmittel (3–5 ml) in die Hohlhand geben, mit richtiger Technik sorgfältig verreiben. Die Einwirkungszeit der alkoholischen Präparate beträgt 15–30 s. Auf die Notwendigkeit der Händehygiene und die er forderliche Einwirkzeit für das Desinfektionsmittel müssen insbesondere die Ärzte immer wieder hingewiesen werden. Händewaschen bei Verschmutzung oder z. B. bei Dienstbeginn, Dienstende, Verlassen der Station, nach Niesen.
Die Händedesinfektion mit einem alkoholischen Einreibepräparat – am besten farb- und duftstoffrei – ist v. a. vor und nach Manipulation an besonders infektionsgefährdeten oder kontaminierten Stellen notwendig (z. B. vor Manipulationen am Venenkatheter, Infusionsbesteck, Blasenkatheter, nach Manipulationen am Tracheostoma, der Genitalregion). Aus dermatologischen Gründen soll eine routinemäßige Kombination von Waschen mit Seife und anschließender Hän-
dedesinfektion vermieden werden. Wenn die Hände nicht verschmutzt sind, genügt die Händedesinfektion, die durch die rückfettenden Substanzen auch hautschonender ist. Verschmutzte oder kontaminierte Hände werden zuerst vorsichtig mit Wasser und Flüssigseife gewaschen, sorgfältig abgetrocknet und erst dann desinfiziert. ! Cave Auch wenn Handschuhe getragen werden, müssen (zumindest nach Kontamination der Handschuhe) die Hände anschließend desinfiziert werden. Bis zu 20% der Einweghandschuhe weisen nach Gebrauch optisch z. T. nicht wahrnehmbare Löcher auf.
Reinigung und Desinfektion der Betten Das Versprühen von Desinfektionsmitteln ist auf das absolut notwendige Minimum (kleine, dem Wischen schlecht zugängliche Flächen und Ecken) zu beschränken. Durch Versprühen gelangt das Desinfektionsmittel nicht nur auf den Gegenstand, sondern auch in die Atemwege von Patienten und Personal. Kopfkissen, Matratzen und Federbetten beispielsweise können durch Besprühen nicht wirksam desinfiziert werden. Matratzen erhalten einen waschbaren Schonbezug; Kopfkissen und Bettdecken müssen desinfizierend gewaschen werden können. Bettgestelle müssen zur Reinigung und Desinfektion nicht in eine Zentrale gefahren werden, die Reinigung oder Desinfektion kann manuell auf der Station erfolgen.
Raumdesinfektion Eine Raumdesinfektion durch Verdampfen von Formaldehyd ist auch nach meldepflichtigen Erkrankungen, z. B. offener Lungentuberkulose, nicht notwendig. Es genügt eine Wischdesinfektion der horizontalen patientennahen Flächen. Eine routinemäßige Desinfektion von Waschbecken, Siphons oder Toiletten ist nicht nötig; eine Reinigung mit einem umweltfreundlichen Reinigungsmittel reicht aus. Die Desinfektion ist aber erforderlich nach Benutzung durch Patienten mit multiresistenten Erregern oder meldepflichtigen Erkrankungen. Die Reinigung sollte nur von geschultem Personal durchgeführt werden. Patientennahe Flächen, insbesondere solche, die häufig mit den Händen berührt werden (z. B. Nachttisch, Versorgungsleiste, Monitor, Medikamentenwagen, Verbandswagen, Beistelltische) werden routinemäßig mindestens 1-mal täglich, die Bedienungsoberflächen des Beatmungsgeräts und der Monitore in jeder Schicht, desinfizierend gereinigt. Für jeden Raum und für jede Box sollten frische Tücher ver wendet werden. Bei Kontamination von Flächen mit z. B. Blut, Sputum, Eiter, Wundsekret usw. erfolgt unverzüglich eine gezielte Desinfektion, d. h. die Kontamination wird mit einem desinfektionsmittelgetränkten Tuch mit Handschuhen entfernt. Der Fußboden wird 2-mal täglich mit dem hausüblichen Reinigungssystem, ohne Zusatz eines Desinfektionsmittels, gereinigt [2]. Auch hier erfolgt bei Kontamination mit potenziell infektiösem Material immer unverzüglich eine gezielte Desinfektion. Die Verwendung von Desinfektionsmitteln in Konzentrationen der Desinfektionsmittelliste des Robert Koch-Instituts ist auch bei meldepflichtigen Infektionskrankheiten nicht notwendig, sondern nur im Seuchenfall und auch dann nur auf Anordnung des Amtsarztes.
41 5.7 · Reinigung und Desinfektion
5
. Tabelle 5.2. Muster eines Reinigungs- und Desinfektionsplans für die Intensivmedizin Was?
Wann?
Womit?
Wie?
Händereinigung
Bei Betreten bzw. Verlassen des Arbeitsbereiches, nach Verschmutzung
Flüssigseife aus Spender
Hände waschen, mit Einmalhandtuch abtrocknen
Hygienische Händedesinfektion
Zum Beispiel vor Verbandswechsel, Injektionen, Blutabnahmen, Anlage von Blasen- und Venenkathetern;
Alkoholisches Händedesinfektionsmittel (farb- und duftstofffrei)
Ausreichende Menge entnehmen, damit die Hände vollständig benetzt sind, gründlich verreiben bis Hände trocken sind; kein Wasser zugeben
Nach Kontamination* (bei grober Verschmutzung vorher Hände waschen), nach Ausziehen der Handschuhe Chirurgische Händedesinfektion
Vor operativen Eingriffen
4 Alkoholisches Händedesinfektionsmittel: Hände und Unterarme 1 min waschen; dabei Nägel und Nagelfalze nur bei Verschmutzung bürsten, anschließend Händedesinfektionsmittel während 3 min portionsweise auf Händen und Unterarmen verreiben. 4 PVP-Jodseife: Hände und Unterarme 1 min waschen und dabei Nägel und Nagelfalze bürsten, anschließend 4 min waschen, unter fließendem Wasser abspülen, mit sterilem Handtuch abtrocknen
Hautdesinfektion
Vor Punktionen, bei Verbandswechsel usw.
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel oder PVP-Jod-Alkohol-Lösung
Sprühen – wischen – sprühen (– wischen) Dauer: 30 s
Vor Anlage von intravasalen Kathetern
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel (vorzugsweise mit Octenidin)
Mit sterilen Tupfern mehrmals auftragen und verreiben; Dauer: 1 min
Vor invasiven Eingriffen mit besonderer Infektionsgefährdung (z. B. Gelenkpunktionen, Lumbalpunktionen)
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel
Mit sterilen Tupfern mehrmals auftragen und verreiben; Dauer: 3 min
Schleimhautdesinfektion
Zum Beispiel vor Anlage von Blasenkathetern
Octenidin-haltiges Schleimhautdesinfektionsmittel; ggf. PVP-Jodlösung ohne Alkohol
Unverdünnt auftragen; Dauer: 1 min
Instrumente
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat, verpacken, autoklavieren oder in Instrumentenreiniger einlegen, reinigen, abspülen, trocknen, verpacken, autoklavieren; bei Verletzungsgefahr: Zusatz von Instrumentendesinfektionsmittel
Standgefäß mit Kornzange
1-mal täglich
Reinigen, verpacken, autoklavieren (bei Verwendung kein Desinfektionsmittel in das Gefäß geben)
Trommeln
1-mal täglich nach Öffnen (Filter regelmäßig wechseln)
Reinigen, autoklavieren
Thermometer
Nach Gebrauch
Alkohol 70%
Blutdruckmanschette Kunststoff Stoff
Nach Kontamination Nach Verschmutzung
4 Mit Flächendesinfektionsmittel bzw. Alkohol 70% abwischen, trocknen oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat 4 in Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, trocknen, autoklavieren oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Stethoskop
Nach jedem Patienten
Alkohol 70%
Mundpflegeset
1-mal täglich
Tablett/Becher Klemme
Nach jedem Gebrauch 1-mal täglich
Becher mit Gebrauchslösung
Nach jedem Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat, trocknen oder mit Alkohol 70% abwischen 4 Mit Alkohol 70% abwischen, 4 Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, trocknen, verpacken, autoklavieren Mit Alkohol 70% auswischen
6
Gründlich abwischen
Abwischen
42
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
. Tabelle 5.2. (Fortsetzung)
5
Was?
Wann?
Womit?
Wie?
Trachealtuben
Nach Gebrauch
In Instrumentenreiniger (evtl. Ultraschallbad) einlegen, mit Bürste reinigen, abspülen, trocknen, verpacken, autoklavieren
Führungsstab
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder reinigen, verpacken, autoklavieren
Sauerstoffanfeuchter 4 Gasverteiler 4 Wasserbehälter 4 Verbindungsschlauch
Bei Patientenwechsel oder alle 48 h (ohne Aqua dest.) Alle 7 Tage
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder reinigen, trocknen, autoklavieren
Haarschneidemaschine 4 Scherkopf
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat (Flowmeter mit Alkohol 70% abwischen)
Mit Alkohol 70% abwischen Reinigen, in Alkohol 70% für 10 min einlegen, trocknen oder reinigen, autoklavieren (Pflegeöl benutzen)
Geräte, insbesondere Bedienungsknöpfe
1-mal pro Schicht
Flächendesinfektionsmittel
Abwischen
Mobiliar
Nach Kontamination
Flächendesinfektionsmittel
Abwischen
Urometer
Nach Gebrauch
Instrumentendesinfektionsmittel
Einlegen, abspülen, trocknen
Kuhn-System, Beatmungsbeutel
Alle 24 h bzw. bei Patientenwechsel
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Laryngoskopgriff, Tubusklemme
Nach Gebrauch
Flächendesinfektionsmittel oder Alkohol 70%
Laryngoskopspatel
Nach Gebrauch
Unter fließendem Wasser mit Bürste reinigen, trocknen, mit Alkohol 70% abwischen oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat, zuvor Birne entfernen
Masken, Guedel-Tubus, Magill-Zange
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, trocknen, verpacken, autoklavieren
Temperatursonden
Nach Gebrauch
Alkohol 70%
Notfallbeatmungsgerät (Schläuche, Ventil, Beutel etc.)
Nach Gebrauch
Mit Flächendesinfektionsmittel abwischen; Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Transducer und Kabel
Direkt vor und nach Gebrauch, bei jedem Systemwechsel
Flächendesinfektionsmittel oder Alkohol 70%
Kapnometrieschlauch u. Adapter
Nach Gebrauch
Dampfdesinfektion oder autoklavieren
ICP-Kabel
Bei Systemwechsel
Mit Desinfektionsmittel abwischen
ICP-Sonde
Nach Gebrauch
Mit Alkohol 70% abwischen, anschließend Niedrigtemperatursterilisation (z. B. Plasmasterilisation)
Pulsoxymetriekabel und Clip
Bei Patientenwechsel 1-mal täglich
Alkohol 70% oder Flächendesinfektionsmittel
Beatmungszubehör (z. B. Schläuche, Wasser falle, Verneblertopf, Tubusadapter, Y-Stück)
Bei Patientenwechsel (bzw. vorher bei Verschmutzung)
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
6
Abwischen
Abwischen
Abwischen
Abwischen
43 5.7 · Reinigung und Desinfektion
5
. Tabelle 5.2. (Fortsetzung) Was?
Wann?
Womit?
Wie?
Redon-Flaschen, Bülau-Flaschen, Monaldi-Flaschen
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat, autoklavieren oder in Desinfektionsmittel einlegen, abspülen, trocknen, autoklavieren
Absauggefäße inkl. Verschlussdeckel und Verbindungsschläuche
1-mal täglich oder bei Patientenwechsel
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Desinfektionsmittel einlegen, abspülen, trocknen
Waschbecken
1-mal täglich
Mit umweltfreundlichem Reiniger reinigen
Strahlregler
1-mal pro Woche
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Waschschüsseln
Nach Benutzung
Vorzugsweise maschinelle (thermische) Aufbereitung
Duschen
Nach Benutzung durch infizierte Patienten
Flächendesinfektionsmittel
Nagelbürsten
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, autoklavieren
Steckbecken, Urinflaschen
Nach Gebrauch
Steckbeckenspülautomat
Fußboden
1-mal täglich Nach Kontamination*
Umweltfreundlicher Reiniger, Flächendesinfektionsmittel
Abfall, bei dem Verletzungsgefahr besteht, z. B. Skalpelle, Kanülen
Direkt nach Gebrauch (bei Kanülen kein Recapping)
Entsorgung in durchstichsichere und fest verschließbare Kunststoffbehälter
Nach der Einwirkzeit mit Wasser nachspülen, trocknen
Hausübliches Reinigungssystem Wischen
* Kontamination: Kontakt mit (potenziell) infektiösem Material. Anmerkungen: 4 Nach Kontamination mit potenziell infektiösem Material (z. B. Blut, Sekreten oder Exkreten) immer sofort gezielte Desinfektion der Fläche. 4 Beim Umgang mit Desinfektionsmitteln immer mit Haushaltshandschuhen arbeiten (Allergisierungspotenzial). 4 Ansetzen der Desinfektionsmittellösungen nur in kaltem Wasser (Vermeidung schleimhautreizender Dämpfe). 4 Anwendungskonzentration beachten. 4 Einwirkzeiten von Instrumentendesinfektionsmitteln einhalten. 4 Standzeiten von Instrumentendesinfektionsmitteln nach Herstellerangaben (wenn Desinfektionsmittel mit Reiniger angesetzt wird: täglich wechseln). 4 Zur Flächendesinfektion nicht sprühen, sondern wischen. 4 Nach Wischdesinfektion: Benutzung der Flächen, sobald wieder trocken. 4 Benutzte, d. h. mit Blut etc. belastete Flächendesinfektionsmittellösung mindestens täglich wechseln. 4 Haltbarkeit einer unbenutzten dosierten Flächendesinfektionsmittellösung (z. B. 0,5%) in einem verschlossenen Behälter (z. B. Spritzflasche) nach Herstellerangaben (meist 14–28 Tage). 4 Reinigungs- und Desinfektionsautomat: 80°C, 10 min Haltezeit (ohne Desinfektionsmittelzusatz).
Wasserhygiene
Aufbereitung
Die Strahlregler an den Wasserhähnen sollen einmal pro Woche in einer automatischen Reinigungs- und Desinfektionsmaschine bzw. Geschirrspülmaschine gereinigt und thermisch desinfiziert werden, da es durch die sich dort ansammelnden Verunreinigungen aus dem Leitungswasser und einen Biofilm zu einer verstärkten Kontamination des Wassers kommen kann. Im Leitungswasser sind häufig in wechselnder Keimzahl sog. Wasserkeime, z. B. auch Pseudomonaden, Acinetobacter oder Aspergillen, nachzuweisen. Deshalb kann es je nach Wasserqualität sinnvoll sein, dem Waschwasser für die Körperwaschungen vom Patienten PVP-Jodlösung zuzufügen (1 Teil 10%ige PVP-Jodlösung auf 100 Teile Wasser).
Die sichere Aufbereitung von medizinischem Instrumentarium gehört zu den unerlässlichen Standardhygienemaßnahmen [1, 10]. Hierzu wird auch auf die einschlägigen Empfehlungen des Robert Koch-Instituts hingewiesen (www.rki.de). Diese sind mittlerweile in der Medizinprodukte-Betreiberverordnung verankert. Das Muster eines Reinigungs- und Desinfektionplans für eine Intensivstation ist in . Tabelle 5.2 aufgeführt.
Unnötige Hygienemaßnahmen Routinemäßige Abklatschuntersuchungen von Flächen oder Gegenständen zur Überprüfung der Effektivität von Reinigung oder Desinfektion, routinemäßige Personaluntersuchungen oder
44
5
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
routinemäßige Luftkeimzahlbestimmungen auf Intensivstationen sind unnötig. In Übereinstimmung mit Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und der Centers for Disease Control and Prevention, USA, ist auch der Wert von routinemäßigen Wasseruntersuchungen auf Legionellen umstritten, die heute allerdings auf der Basis der Trinkwasserverordnung in der Regel 1bis 2-mal jährlich erfolgen. Bei jeder nosokomialen Pneumonie muss konsequent die Legionellenätiologie ausgeschlossen werden. Wenn eine Legionellenpneumonie auf der Station auftritt, sind unverzüglich gezielte Wasseruntersuchungen erforderlich, d. h. das Trinkwasser muss auf Legionellen untersucht werden (ggf. Typisierung bei positivem Nachweis). Die wichtigsten unnötigen Hygienemaßnahmen sind im Folgenden zusammengestellt: 4 routinemäßige Abklatschuntersuchungen, 4 routinemäßige Personaluntersuchungen (z. B. Rachenabstriche), 4 routinemäßige Luftkeimzahlbestimmungen, 4 routinemäßige ungezielte Wasseruntersuchungen, 4 UV-Lampen, 4 Plastiküberschuhe oder spezielles Schuhwerk, 4 routinemäßige Desinfektion von Waschbecken, Siphons, Gullis, Fußboden, 4 Klebematten, Desinfektionsmatten, 4 Wechsel der Beatmungsschläuche alle 48 h, 4 Personal-, Material- und Geräteschleusen, 4 Umkleiden bei Betreten oder Verlassen der Intensivstation. 5.8
Umweltschutz auf Intensivstationen
Mit Ausnahme von Spritzen und Nadeln ist bisher nicht nachgewiesen worden, dass die Verwendung von Einwegmaterial zu einer Senkung der Infektionsrate führt. Viele Einwegmaterialien (z. B. Beatmungsschläuche, Einwegabsaugsysteme) können durch Mehrwegmaterialien ersetzt werden. Einweggeschirr ist aus hygienischen Gründen überflüssig. Geschlossene Trachealabsaugsysteme können 48–72 h verwendet werden. Einige Einwegsysteme können wiederaufbereitet werden, z. B. Atemtrainer, Einwegbeatmungsschläuche, Sauerstoffmasken. Die Wiederaufbereitung von Einwegmaterialien ist in Deutschland gesetzlich nicht verboten. Infusionsbestecke müssen nicht häufiger als alle 72 h gewechselt werden, dadurch wird die Menge des Kunststoffabfalls deutlich reduziert (vorzugsweise PVC-freie Bestecke verwenden).
Literatur 1. Daschner F, Dettenkofer M, Frank U, Scherrer M (Hrsg) (2006) Praktische Krankenhaushygiene und Umweltschutz, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 2. Dettenkofer M, Wenzler S, Amthor S, Antes G, Motschall E, Daschner FD (2004) Does disinfection of environmental surfaces influence nosocomial infection rates? A systematic review. Am J Infect Control 32: 84–89 3. Gastmeier P, Geffers C, Sohr D, Dettenkofer M, Daschner F, Ruden H (2003) Five years working with the German nosocomial infection surveillance system (Krankenhaus Infektions Surveillance System). Am J Infect Control 31: 316–321 4. Grundmann H, Barwolff S, Tami A, Behnke M, Schwab F, Geffers C, Halle E, Gobel UB, Schiller R, Jonas D, Klare I, Weist K, Witte W, Beck-
5. 6.
7.
8.
9.
10.
Beilecke K, Schumacher M, Ruden H, Gastmeier P (2005) How many infections are caused by patient-to-patient transmission in intensive care units? Crit Care Med 33: 946–951 Hübner J, Dettenkofer M, Kern WV (2005). Vancomycin-resistente Enterokokken. Dtsch Med Wochenschr 28: 130: 2463–2468 Livermore DM, Woodford N (2006) The beta-lactamase threat in Enterobacteriaceae, Pseudomonas and Acinetobacter. Trends Microbiol 14: 413–420 Mayhall CG (ed) (2004) Hospital epidemiology and infection control, 3rd edn. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Baltimore New York Meyer E, Schwab F, Gastmeier P, Rueden H, Daschner FD (2006) Surveillance of antimicrobial use and antimicrobial resistance in german intensive care units (SARI): A summary of the data from 2001 through 2004. Infection 34: 303–309 Meyer E, Schwab F, Gastmeier P, Jonas D, Rueden H, Daschner FD (2006) Methicillin-resistant Staphylococcus aureus in German intensive care units during 2000–2003: data from Project SARI (Surveillance of Antimicrobial Use and Antimicrobial Resistance in Intensive Care Units). Infect Control Hosp Epidemiol 27: 146–154 Schulz-Stübner S, Hauer T, Dettenkofer M (2003) Aufbereitung von Medizinprodukten in der Anästhesiologie und Intensivmedizin. Anästhesiologie & Intensivmedizin 44: 442–446
6 Transport kritisch kranker Patienten W. Wilhelm
6.1
Einleitung
–46
6.2
Transpor trisiken
–46
6.2.1 Atmung/Beatmung –46 6.2.2 Herz-Kreislauf-System –46
6.3
Transportausrüstung
–46
6.3.1 Transportmonitor –47 6.3.2 Transportbeatmungsgerät –47 6.3.3 Notfalltasche –47
6.4
Vorbereitung und Durchführung des Transports
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
Personelle Voraussetzungen –47 Vorbereitung des Patienten –47 Überwachung während des Transports –48 Einstellung des Transportbeatmungsgeräts –48 Vorgehen in Sonderfällen –49
6.5
Besonderheiten des Interhospitaltransports
6.5.1 Transportmittel –50 6.5.2 Vorbereitung und Durchführung
Literatur
–51
–50
–50
–47
6
46
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
6.1
Einleitung
Kritisch kranke Patienten müssen während ihrer Krankenhausbetreuung häufig transportiert werden: vom Schockraum zum OP oder zur Intensivstation, von der Intensivstation zum CT, in den OP, zur Koronarintervention oder auch – innerklinisch oder zwischen Kliniken – zu einer anderen Intensiveinheit. Dabei stellt jeder Transport prinzipiell ein Risiko dar, sodass vorher – insbesondere bei »Diagnostikfahrten« – immer eine Nutzen-Risiko-Beurteilung erfolgen sollte. Manche postoperative Röntgenkontrolle kann verschoben werden, bis der Patient sich stabilisiert hat oder zumindest nicht mehr beatmet wird; große, schwere und teuere Diagnostikgeräte sollte man – wenn auch ungern – zum Intensivpatienten hinfahren. Schließlich werden auch kleinere operative Eingriffe nach der entsprechenden Abwägung besser ohne Transport auf der Intensivstation durchgeführt, hierzu gehört sicherlich die perkutane Dilatationstracheotomie.
6.2.2 Herz-Kreislauf-System Auch Herz-Kreislauf-Störungen können jederzeit während eines Transports auftreten. Bei traumatologischen Intensivpatienten wurde berichtet, dass es bei über 2/3 (68%) der transportierten Patienten zu einer ernstzunehmenden Veränderung physiologischer Parameter kam, u. a. bei 40% zu einer Blutdruckveränderung von mindestens 20 mmHg; bei 21% der Patienten änderte sich die Pulsfrequenz um mindestens 20 Schläge/min [11]. In einer anderen Untersuchung einer chirurgischen Intensivstation kam es bei 12 von 203 (=6%) Transporten zu schwerwiegenden Zwischenfällen, u. a. Herzstillstand (n=3), erheblichem Blutdruckabfall (n=2) und Hypoxämie (n=4); bei einem weiteren Patienten musste eine Thoraxdrainage eingelegt werden [16]. Risikofaktoren und Gefahren beim Transport von Intensivpatienten [9]
i Grundsätzlich gilt: »Der sicherste Transport kritisch kranker Patienten ist derjenige, der überhaupt nicht stattfindet« [14].
5 Wechsel des Beatmungsgeräts, evtl. auch des Beatmungsverfahrens (dadurch Hypo- oder Hyperkapnie, Hypoxie) 5 Akzidentelle Atemwegsverlegung, Tubusdislokation oder Extubation 5 Akzidentelle Unterbrechung der kontinuierlichen Medikamentenzufuhr (bei Katecholaminen oder Vasodilatatoren krisenhaf te Blutdruckschwankungen) 5 Funktionsstörung von passagerem Herzschrittmacher oder intraaor taler Ballongegenpulsation (IABP) 5 Vorübergehender Mehrbedarf an Analgetika/ Sedativa 5 Lagerungsänderungen (Unterbrechung der axialen Rotation bei Patienten mit schwerer Oxygenierungsstörung, Flachlagerung im CT bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck) 5 Akzidenteller Verlust von Kathetern und Drainagen (z. B. arterieller oder zentralvenöser Katheter, Hirndrucksonde, Thoraxdrainage etc.) 5 Hypothermie 5 Transporttrauma (Beschleunigung, Lärm, Vibration) 5 Betriebsinterne Transportprobleme (Fahrstuhl, Wartezeiten) 5 Eingeschränkte Über wachungs- und Behandlungsbedingungen, insbesondere bei Umlagerungsmanövern
Trotzdem sind viele Transporte unumgänglich und müssen manchmal sogar schnellstmöglich unter Notfallbedingungen erfolgen. Es ist daher empfehlenswert, alle Intensivtransporte standardisiert durchzuführen und die erforderliche Ausrüstung rund um die Uhr einsatzbereit vorzuhalten [2, 18]. Inzwischen gibt es dazu auch Expertenforen, Empfehlungen oder Richtlinien verschiedener Fachgesellschaften [1, 5, 9, 18, 21], die z. T. aber nur einen Minimalstandard definiert haben. 6.2
Transpor trisiken
Die Hauptrisiken betreffen die Atmung bzw. Beatmung und das Herz-Kreislauf-System [20]. Hier können Störungen rasch und ohne Vorwarnung auftreten und dann sofort lebensbedrohlich werden. Hinzu kommt, dass es bei den meisten Transporten kurze Zeitabschnitte (z. B. beim Umlagern) gibt, in denen die Überwachung des Patienten trotz optimaler Geräteausstattung ausschließlich klinisch durchgeführt werden muss. 6.2.1 Atmung/Beatmung Die Beatmung während des Transports erfolgt in der Regel nicht mit dem Intensivrespirator, sondern mit einem Handbeatmungsbeutel oder einem Transportbeatmungsgerät. Allein durch diesen Gerätewechsel und den anschließenden Transport kann es zu nachhaltigen Oxygenierungsstörungen kommen: So wurde in einer Untersuchung zum innerklinischen Transport beatmeter Intensivpatienten in nahezu der Hälfte der Fälle (43%) eine signifikante Verschlechterung der Oxygenierung festgestellt, und bei immerhin 1/5 der Patienten wurden die Ausgangswerte erst wieder nach mehr als 24 h erreicht [19]. Zudem scheint der Transport beatmeter Patienten ein eigenständiger Risikofaktor für die Entwicklung einer »respiratorassoziierten« Pneumonie zu sein: Von 273 transportierten Intensivpatienten entwickelten 24% eine Pneumonie, in der nicht transportierten Vergleichsgruppe (n=248) waren es nur 4% [12]. In einer aktuellen Untersuchung beatmeter Patienten verdreifachte der innerklinische Transport das Pneumonierisiko [3].
6.3
Transportausrüstung
Für den innerklinischen Intensivtransport ist folgende Basisausstattung erforderlich [5]: 4 Transportmonitor, 4 Transportbeatmungsgerät bzw. O2-Quelle mit Handbeatmungsbeutel und Reservoir, 4 Notfalltasche mit Medikamenten und Intubationsbesteck, 4 Defibrillator und Absaugeinheit, sofern der Patient besonders gefährdet ist.
47 6.4 · Vorbereitung und Druchführung des Transports
6
6.3.1 Transportmonitor . Tabelle 6.1. Vorschlagsliste zur Medikamentenausstattung eines Notfallkoffers für innerklinische Transporte
Der Transportmonitor muss stabil gebaut, übersichtlich dimensioniert und bedienbar sein, einen beleuchteten, gut erkennbaren Bildschirm besitzen sowie über eine Akkulaufzeit von mindestens 2 h verfügen. Folgende Parameterüberwachung sollte vorhanden sein: 4 EKG mit Herzfrequenz, 4 nichtinvasive Blutdruckmessung (mit verschiedenen Manschettengrößen), 4 invasive Druckmessung mit Darstellung der Druckkurve (für Blutdruck, ZVD, PAP, PCWP oder ICP), 4 Pulsoxymetrie (mit Pulsfrequenzangabe, optional mit Pulskurvendarstellung), 4 Kapnometrie (mit Darstellung der Kapnographiekurve). Bei vielen derzeit verfügbaren Transportmonitoren gehört die Kapnometrie noch nicht zur Grundausstattung; bei Neuanschaffung eines Monitors sollte sie aber unbedingt enthalten sein.
Sedativa/ Analgetika
Sonstiges
4 4 4 4 4 4
4 4 4 4
4 100 ml NaCl 0,9% 4 100 ml NaHCO3 8,4% 4 Nichtdepolarisierendes Muskelrelaxans (z. B. Rocuronium)
Adrenalin Noradrenalin Atropin Akrinor Amiodaron Nitroglycerin
Midazolam Etomidat Propofol Ketamin
Intubationsbesteck sowie einen Handbeatmungsbeutel mit Masken und Guedel-Tuben. Eine Vorschlagsliste zur Medikamentenausstattung findet sich in . Tabelle 6.1. 6.4
6.3.2 Transportbeatmungsgerät
Notfallmedikamente
Vorbereitung und Durchführung des Transports
Ein Transportbeatmungsgerät sollte folgende Einstellmöglichkeiten bzw. Eigenschaften besitzen: 4 Atemfrequenz und Tidalvolumen bzw. Atemminutenvolumen, 4 Atemzeitverhältnis (I:E frei wählbar, zumindest aber 1:1 und 1:2), 4 FIO2 frei wählbar (zumindest aber 50 bzw. 100%), 4 PEEP, 4 Beatmungsdruckanzeige, 4 akustischer und optischer Volumenmangel-, Stenose- und Diskonnektionsalarm.
Geplante Intensivtransporte werden am besten während der Hauptarbeitszeit durchgeführt, wenn die Mitarbeiterzahl am höchsten ist. Dies gilt insbesondere für Transporte zu diagnostischen Zwecken, um Befunde sofort mit einem erfahrenen Untersucher »vor Ort« diskutieren und eventuelle Zusatzuntersuchungen anschließend ohne unnötigen Zweittransport durchführen zu können.
! Cave Beim Einsatz der Transportbeatmungsgeräte müssen folgende Gefahren beachtet werden: 5 Ältere Geräte besitzen keinen Diskonnektions- oder Volumenmangelalarm! 5 Die Beobachtung der Beatmungsdruckanzeige ist zwar hilfreich, beweist aber keine ausreichende Ventilation und kann bei einer Stenose im Bereich der Atemwege irreführend sein. 5 Ältere Geräte sind O2-druckbetrieben. Ist kein O2Druck mehr vorhanden (bei geschlossener oder vollständig entleerter O2-Flasche), endet die Beatmung bei einigen Geräten ohne Vorwarnung.
Innerklinische Transporte beatmeter Intensivpatienten sollten immer von mindestens 2 Personen begleitet werden: einem Arzt und einer Pflegekraft (= Transportteam), beide mit intensivmedizinischer Qualifikation [5, 21]. In der Regel wird das Transportteam den Patienten auch selbst auf der Intensivstation betreuen und ist über die individuellen Besonderheiten informiert. Ist der Patient dem Transportteam nicht bekannt, so wird eine kurze Übergabe durchgeführt. Hierbei muss auch eine Identitätssicherung des Patienten und der geplanten Maßnahme erfolgen.
Daher ist eine gleichzeitige klinische Überwachung dieser Patienten unbedingt erforderlich: Der Thorax hebt und senkt sich regelmäßig. Eine Überwachung mit Kapnometrie ist ideal, die Pulsoxymetrie reagiert erst später bei beginnendem O2-Mangel.
6.4.1 Personelle Voraussetzungen
! Cave Bei innerklinischen Transporten gilt: Persönlich unbekannte Patienten nie ohne vorhergehende Identitätssicherung transportieren!
Dies gilt insbesondere bei Patienten, die zu einer Operation oder nach Hirntoddiagnostik zur Explantation begleitet werden sollen. 6.4.2 Vorbereitung des Patienten
6.3.3 Notfalltasche Die Notfalltasche für innerklinische Transporte muss kein vollständig aufgerüsteter Notarztkoffer sein, sondern enthält einen Basissatz Notfallmedikamente, einige Spritzen und Kanülen, ein
Der ansprechbare Patient wird vor dem Transport entsprechend informiert, etwa 30‒45 min vor dem geplanten Untersuchungsoder Operationstermin kann dann in Ruhe mit den Transportvorbereitungen begonnen werden.
48
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
Infusionen Prinzipiell sollten nur so viele Infusionen und Spritzenpumpen wie wirklich nötig an dem Patienten angeschlossen bleiben, um auch beim Umlagern möglichst übersichtlich arbeiten zu können. In der Regel reicht eine Infusionsflasche (meist eine Vollelektrolytlösung) an einem gut laufenden Venenzugang aus; hier können Medikamente rasch injiziert und eingespült werden. Infusionsflaschen mit parenteraler Ernährung oder Antibiotika werden nicht benötigt und sollten – um Inkompatibilitäten bei der Injektion anderer Medikamente zu vermeiden – gar nicht erst mitgeführt werden.
Kreislaufwirksame Medikamente
6
Katecholamine, Vasodilatatoren und evtl. Antiarrhythmika müssen selbstverständlich auch während des Transports infundiert werden. Hierfür sind Motorspritzenpumpen (»Perfusoren«) am besten geeignet, wobei die Spritzenzuleitung direkt an einen (zentralen) Venenkatheter angeschlossen sein sollte. Werden diese Medikamente über einen Y-Anschluss mit einer laufenden Infusion eingeschwemmt, so müssen Infusionspausen (z. B. durch Ablegen der Flasche beim Transport) unbedingt vermieden werden. Schließlich muss auf ausreichend gefüllte Medikamentenspritzen geachtet werden: Ein Spritzenwechsel sollte noch vor Transportbeginn erfolgen, Ersatzspritzen werden mitgeführt.
Andere Medikamente Weitere Medikamente, insbesondere in Spritzenpumpen, sollten wegen der Transportübersichtlichkeit nur dann am Patienten angeschlossen bleiben, wenn 4 eine Unterbrechung der Infusion für die Transportdauer kontraindiziert ist, 4 eine Unterbrechung aufgrund der individuell erwarteten kurzen Wirkdauer problematisch wäre, 4 das Medikament im Bedarfsfall nicht ausreichend sicher als Bolus appliziert werden kann. So wird man bei einem mit Fentanyl/Midazolam analgosedierten Patient für die Dauer des Transports auf Bolusgaben wechseln und auf die Heparinbasisinfusion ganz verzichten können, andererseits wird eine therapeutische Heparinisierung meist und eine Remifentanil-Propofol-Sedierung immer weitergeführt. ! Cave Besondere Vorsicht gilt für insulin- oder kaliumhaltige Infusionen: Diese sollten (von seltenen Ausnahmefällen abgesehen) wegen der Hypoglykämie- und Hyperkaliämiegefahr nicht auf dem Transport mitgeführt werden.
6.4.3 Über wachung während des Transports Anschließend wird das Transportmonitoring angeschlossen, wobei sich der Überwachungsumfang an den nachfolgenden Empfehlungen orientieren sollte.
Nicht beatmete Patienten Für den Transport nicht beatmeter Intensivpatienten wird zur Überwachung folgender Minimalstandard empfohlen: 4 EKG mit Herzfrequenz, 4 Pulsoxymetrie, 4 nichtinvasive Blutdruckmessung.
Ist eine arterielle Kanüle vorhanden, so wird auch eine direkte invasive Druckmessung empfohlen. In manchen Situationen ist es sinnvoll, eine invasive Druckmessung allein für den Transport und die geplante Intervention neu anzulegen.
Beatmete Patienten Zusätzlich zu dem oben genannten Monitoring ist bei beatmeten Patienten eine weitergehende Überwachung erforderlich. Folgendes wird empfohlen: 4 Beatmungsdruck mit Stenosealarm, 4 Volumenmangel- und Diskonnektionsalarm, 4 Kapnometrie (mit Kapnographiekurve). Die Messung und optische Anzeige des Beatmungsdrucks ist bei allen gängigen Transportbeatmungsgeräten vorhanden. Beim Neukauf eines Beatmungsgeräts oder Monitors sollten die oben genannten Parameter enthalten sein. 6.4.4 Einstellung des Transportbeatmungsgeräts Bei der Einstellung des Transportbeatmungsgeräts wird die Einstellung des Intensivrespirators direkt übernommen. Ist dies nicht vollständig möglich, so sollte bei den folgenden Beatmungsparametern eine ähnliche Einstellung erreicht werden: 4 Atemfrequenz, 4 Tidalvolumen, 4 Atem-Zeit-Verhältnis, 4 PEEP (wichtig: immer einstellen!), 4 Beatmungsspitzendruck. Die Patienten werden beim Gerätewechsel anfänglich mit 100% O2 beatmet. Dies scheint bei Erwachsenen auch für eine übliche Transportdauer akzeptabel zu sein und ist zudem mit einem gewissen Sicherheitsgewinn verbunden. Dauert die Intervention vermutlich länger (z. B. mehrstündige Operation, angiographische Intervention etc.), so wird der Intensivrespirator zusätzlich mitgeführt und im OP oder Angiographieraum über Wandanschlüsse wieder in Betrieb genommen.
Berechnung von O2-Vorrat und maximaler Betriebsdauer Vor dem Transport können O2-Vorrat und mögliche Betriebsdauer berechnet werden. Hierbei muss man berücksichtigen, dass aus Sicherheitsgründen in O2-Flaschen ein Restdruck von ca. 30 bar verbleiben sollte. Der minütliche Gasverbrauch der oben genannten Transportrespiratoren entspricht bei 100%-O2-Beatmung der Summe aus Atemminutenvolumen plus 1 l/min »Betriebsgas«. Nutzbarer O2-Vorrat = Volumen der O2-Flasche u (Flaschendruck –30 bar Restdruck) > Beispiel 3 l × (180 – 30 bar) =450 l O2 Bei einem Atemminutenvolumen von 9 l/min entspricht dies einer sicheren Beatmungsdauer von 450 l/ (9+1 l/min)=45 min. Durch Beatmung mit einer FIO2=0,5 (»Air Mix«) ließe sich die Beatmungsdauer in etwa verdoppeln.
49 6.4 · Vorbereitung und Druchführung des Transports
6
Patienten mit schweren Oxygenierungsstörungen Sollen Patienten mit schwersten Oxygenierungsstörungen transportiert werden (z. B. CT-Diagnostik bei Polytrauma mit ARDS), so ist die Indikation hier besonders streng zu stellen. Für die Transportbeatmung sollte dann am besten ein akkubetriebener Intensivrespirator verwendet werden, der z. B. in eine Spezialtrage integriert oder selbst fahrbar ist. Diese Transporte sind technisch besonders anspruchsvoll und verlangen von allen Beteiligten eine exakte Planung und Durchführung.
möglichst vermeiden oder unter ICP-Kontrolle durchführen 5 Bei länger dauernden Interventionen Kontrolle der Beatmungseinstellung mit Kapnometrie und intermittierender Blutgasanalyse 5 Vorsicht bei intraventrikulärer Druckmessung mit Liquorableitung: System am besten für den Transport verschließen, um ein unbeabsichtigtes Leerlaufen zu verhindern; Öffnung der Liquordrainage nach Bedarf und ICP-Wert
6.4.5 Vorgehen in Sonder fällen Der Intensivpatient kann vor dem Transport an weiteren Diagnostik- oder Therapiegeräten angeschlossen sein. Hier wird folgendermaßen verfahren:
Pulmonalarterienkatheter Ein unbeabsichtigtes Vorschieben des Katheters beim Transport oder Umlagern kann Herzrhythmusstörungen auslösen oder sogar zu einer Pulmonalarterienruptur führen. Um dies zu vermeiden, wird der Pulmonalarterienkatheter vor dem Transport unter Monitorkontrolle zurückgezogen, ausgehend von der Wedge-Position ca. 2–5 cm, sodass die Katheterspitze dann in einem größeren Pulmonalarteriengefäß liegt. Anschließend wird der Katheter am Schleuseneingang fixiert und die Zentimetermarke notiert. Eine kontinuierliche PAP-Messung während des Transports ist m. E. im Routinefall nicht erforderlich, allerdings muss die Lage der Katheterspitze (z. B. während einer CT-Untersuchung) diskontinuierlich mit PAP-Messung überprüft werden. Während länger dauernder Interventionen oder Operationen wird eine kontinuierliche Druckmessung empfohlen, die Bestimmung des Wedgedrucks erfolgt nach Bedarf.
Intrakranielle Druckmessung Abhängig vom ver wendeten Druckmesssystem ist eine kontinuierliche Überwachung des intrakraniellen Drucks (ICP) während des Transports gar nicht möglich. Das in der Übersicht dargestellte Vorgehen hat sich bei Patienten mit erhöhtem ICP bewährt. Praxisempfehlungen zum Transport von Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck 5 Vor Transportbeginn Analgosedierung vertiefen, dabei auf ausreichenden zerebralen Perfusionsdruck (CPP) achten 5 Gegebenenfalls für diese Phase zusätzliche Muskelrelaxierung erwägen (z. B. mit Cisatracurium) 5 Bei der Beatmungseinstellung Hyperkapnie vermeiden, ggf. vorübergehend milde Hyperventilation (bei Bedarf Blutgasanalyse) 5 Osmodiuretika bereithalten; falls schon im Routineplan enthalten, dann Applikation einer Dosis unmittelbar vor Transportbeginn 5 Transport mit erhöhtem Oberkörper, Kopf stabil in der Mittellinie gelagert 5 Bei Ankunft, z. B. im CT oder OP, sofort ICP-Messung wieder anschließen, Flachlagerung des Patienten 6
Thoraxdrainage Thoraxdrainagen werden im Schockraum bei beatmeten Patienten häufig mit einem Gummilippenventil (sog. Heimlich-Ventil) versorgt. Dabei muss auf die seitenrichtige Ventilkonnektion geachtet werden (diese ist auf dem Ventil als Bild dargestellt), anderenfalls kann sich ein Spannungspneumothorax entwickeln. Wird an das Heimlich-Ventil ein Sekretbeutel angeschlossen, so droht die gleiche Gefahr, wenn der Beutel nicht durch einen Scherenschnitt eröffnet wurde. Beim Intensivtransport müssen die Thoraxdrainagen auch während des Transports mit einem ausreichenden Sog versehen werden. Solange bei dem Patienten keine Luftleckage vorliegt, kann für kurze Transporte ein geschlossenes Dreikammersystem mit integrierter Sogkontrolle ver wendet werden, anderenfalls muss eine akkubetriebene Saugpumpe an das Drainagesystem angeschlossen werden. Weiterhin ist Folgendes zu beachten: 4 Thoraxdrainage und Verbindungsschlauch vor Transportbeginn auf freie Durchgängigkeit prüfen, 4 Schläuche sicher befestigen, um ein unbemerktes Abknicken oder eine Diskonnektion zu verhindern, 4 Drainagesystem nicht über Patientenniveau anheben, um einen Rücklauf von Flüssigkeit zu vermeiden. ! Cave Auch bei korrekter Lage und Funktion der Thoraxdrainage kann sich während des Transports ein neuer Spannungspneumothorax ausbilden, der eine sofortige Entlastung erfordert!
Hämodialyse/Hämofiltration Bei Patienten, die ein Nierenersatzverfahren benötigen, sind folgende Besonderheiten zu beachten: 4 Nach intermittierender Hämodialyse: 4 Volumenmangel, Elektrolytdysäquilibrium; daher vor Transportbeginn aktuelle Blutgas- und Elektrolytkontrolle durchführen und Volumenstatus abschätzen. 4 Bei kontinuierlichem Verfahren (z. B. CVVHD): 4 Schlauchleitungen mit heparinhaltiger Kochsalzlösung (»Heparinschloss«) freispülen, Maschine in Stand-by-Modus, abhängig von der geplanten Intervention Heparinrestwirkung beachten!
Intraaortale Ballonpumpe (IABP) Für den Transport von Patienten mit IABP wird die Hilfe einer weiteren Person (z. B. Pflegekraft, Kardiotechniker, Arzt) empfohlen. Der Transport selbst kann nur sehr langsam erfolgen und
50
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
benötigt entsprechende Vorlaufzeit. Vor Transportbeginn muss Folgendes beachtet werden: 4 IABP-Katheter ausreichend fixieren, um eine Dislokation beim Transport (und insbesondere beim Umlagern) zu verhindern, 4 bei EKG-Triggerung: EKG-Elektroden auf sicheren Halt überprüfen, evtl. erneuern, 4 bei Drucktriggerung: Druckmessvorrichtung überprüfen, Steuereinheit der IABP kontrollieren: Augmentationsstärke, Frequenz?
6
Bei manchen IABP-Geräten ist eine korrekte Drucktriggerung bei erheblicher Hypotonie nicht möglich. Daher sollte für den Transport ein alternatives Triggerverfahren sofort verfügbar sein, am einfachsten das EKG. Der IABP-Betrieb kann während des Transports anhand der typischen arteriellen Druckkurvenveränderungen überwacht werden. 6.5
Besonderheiten des Interhospitaltransports
Interhospitaltransporte zwischen Intensivstationen unterschiedlicher Versorgungsstufe finden in beiden Richtungen statt: Anfänglich werden die Patienten aufgrund der Schwere oder Besonderheit der Erkrankung von einer Intensiveinheit niedrigerer Versorgungsstufe in eine Spezialeinheit verlegt, nach abgeschlossener Behandlung wird dann möglicherweise auch ein Rücktransport durchgeführt. Prinzipiell muss davon ausgegangen werden, dass die Risiken beim Interhospitaltransport und beim innerklinischen Transport ähnlich sind, valide Untersuchungen sind allerdings nur unzureichend vorhanden [10]. In einer prospektiven niederländischen Studie wurden 100 konsekutive Interhospitalintensivtransporte untersucht. Dabei wurden bei 1/3 der Transporte Komplikationen beobachtet, wovon ‒ nach Ansicht der Autoren ‒ etwa 70% hätten vermieden werden können [13]. Dies zeigt deutlich, dass der Transport von Intensivpatienten eine sorgfältige Planung durch das abgebende Krankenhaus und eine ebenso sorgfältige Durchführung erfordert! 6.5.1 Transportmittel Für den Interhospitaltransfer werden speziell ausgerüstete Fahrzeuge (ITW = Intensivtransportwagen), Hubschrauber (ITH =Intensivtransporthubschrauber) oder Flächenflugzeuge (Ambulanz-Jet) vorgehalten, deren Alarmierung und Einsatzkoordination über die lokale Rettungsleitstelle (ITW, z. T. ITH) oder die bekannten Hilfsorganisationen (z. T. ITH, AmbulanzJet) erfolgt. Alle Fahr- und Flugzeuge müssen über die für den innerklinischen Transport dargestellten Überwachungs- und Behandlungsmöglichkeiten verfügen, zusätzlich muss ein moderner Intensivrespirator an Bord vorhanden sein. Die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat zu Konstruktion und Ausstattung eines ITW konkret Stellung genommen [6] und darüber hinaus Empfehlungen zur erforderlichen Qualifikation des begleitenden Arztes gemacht [7]. Der Einsatzradius wird etwa folgendermaßen angegeben (angelehnt an [17]):
4 ITW: bis 100 km oder 2 h Transportdauer, 4 ITH: 50–250 km, 4 Ambulanzjet: > 250–500 km. 6.5.2 Vorbereitung und Durchführung Jeder Interhospitaltransport muss im Vorfeld exakt geplant werden; dazu ist unbedingt ein Arzt-Arzt-Gespräch erforderlich. Zuerst müssen zwei entscheidende Fragen beantwortet werden: 4 Warum soll der Patient verlegt werden? 4 Wie dringend ist der Transport? Hierbei sei betont, dass jede Transportindikation eine Einzelfallentscheidung darstellt, bei der Nutzen und Risiken für den Patienten individuell sorgfältig abgewogen werden müssen. Dementsprechend ist es nahezu unmöglich, von einem »nicht transportfähigen« Patienten zu sprechen, der erwartete Nutzen muss aber in jedem Fall das evtl. extrem hohe Risiko rechtfertigen [15]! Weiterhin muss bei sehr dringlichen Einsätzen Folgendes beachtet werden: i Intensivtransporter sind keine Notfallverlegungsfahrzeuge. Muss ein Notfallpatient sofort in eine Spezialklinik gebracht werden (z. B. bei intrakranieller Blutung mit Einklemmungsgefahr), so erfolgt dies mit dem schnellstmöglich verfügbaren Rettungsmittel und mit Begleitung durch den verlegenden Arzt.
In dem Arzt-Arzt-Gespräch müssen außerdem weitere Informationen abgefragt werden, die am besten auf einem speziellen Protokoll dokumentiert werden.
Intensivtransportprotokoll der DIVI [4, 8] 5 verlegendes Krankenhaus: Station, behandelnder Arzt mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. E-Mail-Adresse 5 aufnehmendes Krankenhaus: Station, behandelnder Arzt mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. E-Mail-Adresse 5 Patientdaten: Name, Alter, Gewicht, Größe 5 Erkrankung: Diagnosen und Operationen, Verlauf, aktueller Zustand I5 Intensivmedizinische Besonderheiten: – Gasaustausch und Beatmung – Hämodynamik inkl. Monitoring, kreislaufunterstützende Therapie (Katecholamine, IABP, etc.) – Neurologie (Hirndruckmessung?) – Weitere Organdysfunktionen bzw. Organersatzverfahren – Laborwerte 5 Besonderheiten: Infektionsstatus, Speziallagerung, etc. 5 Kostenträger mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. EMail-Adresse; Zusage der Kostenübernahme
Die Übergabe des Patienten erfolgt auf der Intensivstation des verlegenden Krankenhauses, anschließend übernimmt das Transportteam die volle Verantwortung für den Patienten. Die Übergabe in der Zielklinik sollte ebenfalls an einen intensivmedizinisch erfahrenen Arzt erfolgen.
51 Literatur
Literatur 1. Australasian College for Emergency Medicine, Australian and New Zealand College of Anaesthetists, Joint Faculty of Intensive Care Medicine (2003) Minimum standards for intrahospital transport of critically ill patients. www.acem.org.au/media/policies_and_guidelines/min_stand_intrahosp_crit_ill.pdf (Zugriff 30.06.2006) 2. Beckmann U, Gillies DM, Berenholtz SM, Wu AW, Pronovost P (2004) Incidents relating to the intra-hospital transfer of critically ill patients. An analysis of the reports submitted to the Australian Incident Monitoring Study in Intensive Care. Intensive Care Med 30: 1579–1585 3. Bercault N, Wolf M, Runge I, Fleury JC, Boulain T (2005) Intrahospital transport of critically ill ventilated patients: a risk factor for ventilator-associated pneumonia-a matched cohort study. Crit Care Med 33: 2471–2478 4. Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2000) Intensivtransportprotokoll. www.divi-org.de/pdfs/ pdf/intensiv.pdf (Zugriff 30.06.2006) 5. Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Empfehlung der DIVI zum innerklinischen Transport kritisch kranker, erwachsener Patienten. www.divi-org.de/pdfs/pdf/ Empfehlung_DIVI.pdf (Zugriff 30.06.2006) : Komprimierter Überblick der DIVI zu den wichtigsten Aspekten des Intrahospitaltransports, insbesondere zu Planung, Patient, Begleitpersonal, Transportequipment, Monitoring sowie Therapiegeräten. Diese Empfehlung besitzt normierenden Charakter und ist als Grundlage zur Erstellung einer SOP geeignet. 6. Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Stellungnahme der BAND und DIVI zur Konstruktion und Ausstattung von Intensivtransportwagen (ITW) www.divi-org. de/pdfs/pdf/Stellungnahme_ITW_6_12.pdf (Zugriff 30.06.2006) 7. Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Zur ärztlichen Qualifikation bei Intensivtransport. www.divi-org.de/pdfs/pdf/spez_intensivtransport_2004.pdf (Zugriff 30.06.2006) 8. Ellinger K, Denz C, Genzwürker H, Krieter H (2005) Intensivtransport. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln : Dieses Lehrbuch nimmt auf 235 Seiten zu allen Aspekten des Intensivtransports Stellung und orientiert sich dabei am Curriculum der DIVI. Empfohlene Lektüre für alle Intensiv- und Notfallmediziner, die Intensivtransporte durchführen. 9. Engelhardt W (1997) Innerklinische Transporte von Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck. Anästhesiol Intensivmed 38: 385 10. Fan E, MacDonald RD, Adhikari NKJ, Scales DC, Wax RS, Stewart TE, Ferguson ND (2006) Outcomes of interfacility critical care adult patient transport: a systematic review. Crit Care 10: R6–R12 11. Indeck M, Peterson S, Smith J, Brotman S (1988) Risk, cost, and benefit of transporting ICU patients for special studies. J Trauma 28: 1020–1025 12. Kollef MH, Harz B von, Prentice D et al. (1997) Patient transport from intensive care increases the risk of developing ventilator-associated pneumonia. Chest 112: 765–773 13. Ligtenberg JJM, Arnold LG, Stienstra Y, van der Werf TS, Meertens JHJM, Tulleken JE, Zijlstra JG (2005) Quality of interhospital transport of critically ill patients: a prospective audit. Critical Care 9: R446–R451 : In dieser prospektiven Untersuchung wurden die Komplikationen bei 100 konsekutiven Interhospitalintensivtransporten er fasst. Komplikationen wurden bei 1/3 der Transporte beobachtet, wovon – nach Ansicht der Autoren – etwa 70% hätten vermieden werden können. Die wichtigsten Komplikationen sind in einer Tabelle dieser Arbeit anschaulich dargestellt. Die Autoren empfehlen eine bessere Vorbereitung beim Transport von Intensivpatienten, eine bessere Kommunikation zwischen abgebender und aufnehmender Klinik sowie die Verwendung von Checklisten und Therapieprotokollen.
6
14. Panacek EA, Foulke GE (1998) Transportation of the critically ill patient. In: Hall JB, Schmidt GA, Wood LDH (eds) Principles of critical care, 2nd edn. McGraw-Hill, New York 15. Poloczek S, Madler C (2000) Transport des Intensivpatienten. Anaesthesist 49: 480–491 16. Szem JW, Hydo LJ, Fischer E, Kapur S, Klemperer J, Barie PS (1995) Highrisk intrahospital transport of critically ill patients: safety and outcome of the necessary »road trip«. Crit Care Med 23: 1660–1666 17. Wallace PGM, Ridley SA (1999) ABC of intensive care. Transport of critically ill patients. BMJ 319: 368–371 18. Warren J, Fromm RE Jr, Orr RA, Rotello LC, Horst HM; American College of Critical Care Medicine (2004) Guidelines for the inter- and intrahospital transport of critically ill patients. Crit Care Med 32: 256-262. 19. Waydhas C, Schneck G, Duswald KH (1995) Deterioration of respiratory function after intra-hospital transport of critically ill surgical patients. Intensive Care Medicine 21: 784–789 20. Waydhas C (1999) Intrahospital transport of critically ill patients. Crit Care 3: R83–R89 : Diese Übersichtsarbeit beschreibt verschiedene Konsequenzen für Herz-Kreislauf-System und Atmung sowie Komplikationen, die beim innerklinischen Transport von Intensivpatienten auftreten können. 21. Wissenschaftlicher Arbeitskreis Neuroanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Arbeitsgemeinschaft Intensivmedizin/Neurotraumatologie der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie und der Sektion Rettungswesen und Katastrophenmedizin der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin et al. (2000) Empfehlungen zur Erstversorgung des Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma bei Mehrfachverletzung. Anästhesiol Intensivmed 41: 39–45
7 Scores R. Lefering, E. Neugebauer
7.1
Was ist ein Score?
–54
7.2
Scores in der Intensivmedizin
–54
7.2.1 Zusammensetzung –54 7.2.2 Spezifische vs. allgemeine Scores –57 7.2.3 Einmalerhebung versus Verlaufsbeobachtung –57
7.3
Ziele der Anwendung von Scores
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
Schweregradklassifikation und Prognose –59 Forschung –59 Qualitätssicherung –59 Ökonomie –60 Ausbildung –60
7.4
Entwicklung und Evaluation von Scores
7.4.1 Experte plus Statistik –60 7.4.2 Bewertung von Scores –60 7.4.3 Sensitivität und Spezifität –61
7.5
Grenzen und Gefahren
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5
Interpretation –62 Therapieentscheidungen –62 Therapieabbruch –62 Starre Komponenten –62 Aktualität –63
Literatur
–63
–62
–59
–60
7
54
Kapitel 7 · Scores
7.1
Was ist ein Score?
Der Begriff Score stammt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt Punktzahl. Ein Score ist der Versuch, eine komplexe klinische Situation einem Punktwert zuzuordnen, also auf einer eindimensionalen Skala abzubilden. Eine solche Reduktion verfolgt das Ziel, übergreifende Aspekte wie Schweregrad oder Prognose vergleichen zu können. Jeder Versuch, die individuelle Situation eines Patienten zu dokumentieren, stellt bereits eine Reduktion dar, denn sie stützt sich nur auf das, was wir heute messen können oder meinen, messen zu müssen. Jeder Laborwert, jede Röntgenaufnahme, jede Blutgasanalyse, jedes EKG ist eine punktuelle Information, ein Mosaikstein im Zustandsbild des Patienten. Die Gesamtheit dieser Befunde und ihre Veränderung über die Zeit ist ein Versuch, diese Komplexität – in reduzierter Form – abzubilden und zu verstehen.
Score bedeutet Reduktion Ein Score geht hier noch einen Schritt weiter. Er reduziert die vorliegenden Daten eines Patienten auf einen einzigen Wert, der sich als Punktsumme einzelner Faktoren ergibt, die aus Sicht von Experten oder aufgrund klinischer Datenanalysen als wesentliche Determinanten des Zustands eines Patienten angesehen werden (. Abb. 7.1). Der große Vorteil dieser Reduktion wird deutlich, wenn man den ersten in der Medizin publizierten Score, den 10-Punkte-Apgar-Score zur Beurteilung von Neugeborenen, betrachtet. Es ist der Versuch, eine komplexe Situation durch die Konzentration auf das »Wesentliche« überschaubar zu machen und damit vergleichende Betrachtungen unter vielen Patienten erst zu ermöglichen. i Scores sind der Versuch, durch Reduktion auf das Wesentliche vergleichende Betrachtungen zu ermöglichen.
7.2
Scores in der Intensivmedizin
Die Intensivmedizin befasst sich mit schwerkranken Patienten, und nicht jeder Patient überlebt diesen kritischen Zustand, trotz massivem Einsatz therapeutischer Maßnahmen, technischer Hilfsmittel und permanenter Überwachung. Das Ziel der Intensivtherapie ist letztlich das Überleben der Situation, die zur Einweisung auf die Intensivstation geführt hat, d. h. den Zustand des Patienten soweit zu stabilisieren oder zu normalisieren, dass er der Intensivtherapie nicht mehr bedarf. Es stellt sich bei jedem Intensivpatienten immer die Frage, wie weit er von diesen beiden Extremen, nämlich die Intensivstation lebend verlassen zu können oder zu sterben, entfernt ist. Scores sind ein Versuch, ein Ansatz, eine Möglichkeit, diesen Zustand zu quantifizieren. In . Tabelle 7.1 sind einige in der Intensivmedizin häufig verwendete Scoresysteme beispielhaft zusammengestellt. 7.2.1 Zusammensetzung Ein Score ist immer die Kombination mehrerer Aspekte eines Krankheitsgeschehens, von denen jeder für sich im klassischen Sinne messbar ist, z. B. Blutdruck, Herzfrequenz oder Laborwerte. Zusätzlich zum aktuellen Zustand können auch Aspekte be-
. Abb. 7.1. Scorewerte sind die Zusammenfassung unterschiedlichster Aspekte eines Patienten in einen Zahlenwert (oben). Der gleiche Scorewert kann daher aus unterschiedlichen Situationen resultieren (unten)
rücksichtigt werden, die der Patient anamnestisch (Alter, Vorerkrankungen) oder akut (Operation, Diagnose) mitbringt. Auch therapeutische Maßnahmen können als indirekte Indikatoren für die Schwere der Erkrankung (z. B. Beatmungstherapie, Dialyse) einbezogen werden. Ein Score wählt gewisse Aspekte aus, gewichtet sie mit Punkten und fügt diese durch Summation zu einem Gesamtwert. Auswahl und Gewichtung der Aspekte hängt von der Art und Weise der Scoreentwicklung und von der beabsichtigten Anwendung ab.
Physiologische Scores Bei der Erstellung eines Scores gibt es 2 grundsätzliche Zugänge. Der eine Zugang betrachtet nur das »Funktionieren« des Organismus, gemessen an physiologischen Parametern, ohne mögliche therapeutische Beeinflussungen dieser Werte zu berücksichtigen. Die Befürworter dieses Vorgehens argumentieren, dass jedes Organ im Gesamtorganismus eine Aufgabe hat, und es wird lediglich erfasst, inwieweit diese Aufgabe – gemessen an ausgewählten klinischen und Laborparametern – erfüllt wird. Beispiel ist der SAPS-II-Score (. Tab. 7.2), bei dem für Werte in einem definierten Normbereich 0 Punkte vergeben werden, unabhängig von der therapeutischen Einflussnahme.
55 7.2 · Scores in der Intensivmedizin
7
. Tabelle 7.1. Auswahl von in der Intensivmedizin gebräuchlichen Scoresystemen Score
Autor, Jahr
Patienten
Zeitpunkt
Zusammensetzung Punktwerte
Summenwert*
Bemerkung
Allgemeine Schweregradklassifikation APACHE Acute Physiology and Chronic Health Evaluation
[6] 1981
Intensiv allgemein
nach 32 h
34 physiologische Parameter (je 0–4 Punkte)
0–136*
Von Experten in den USA zur Schweregradklassifikation entwickelt
APACHE II
[7] 1984
Intensiv allgemein
nach 24 h
12 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkr.
0–68*
Prognoseberechnungen mit zusätzlichen Koeffizienten
APACHE III
[8] 1996
Intensiv allgemein
nach 24 h
18 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkr.
0–319*
Formeln für Prognose nicht frei verfügbar
SAPS II Simplified Acute Physiology Score
[12] 1993
Intensiv allgemein
nach 24 h
14 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkr.
0–163*
Multicenterdatenbank aus USA/Europa
SAPS III
[15,16] 2006
Intensiv allgemein
nach 1h
20 Parameter: Patient (5), Aufnahme (5), Physiologie (10)
0-217*
multinationale Datenbasis; mit Prognoseformel
TISS Therapeutic Intervention Scoring System
[5] 1974
Intensiv allgemein
täglich
76 therapeutische und pflegerische Maßnahmen; je 1–4 Punkte
0–177*
Erste Version von 1974 [3] u. a. genutzt für ökonomische Analysen/Personalbedarf
TISS-28
[19] 1996
Intensiv allgemein
täglich
28 therapeutische und pflegerische Maßnahmen; je 1–8 Punkte
0–78*
Berechnet aus TISS; deutlich robuster und einfacher
MOF Multiple Organ Failure
[4] 1985
Intensiv allgemein
täglich
7 Organsysteme: Dysfunktion (1 Punkt), Versagen (2 Punkte)
0–14*
Basiert auf Expertenwissen; einfache Handhabung
MODS Multiple Organ Dysfunction Score
[14] 1995
Intensiv allgemein
täglich
6 Organsysteme, je 0–4 Punkte
0–24*
Basiert auf Literaturstudien und Daten; keine therapeut. Maßnahmen
SOFA Sequential Organ Failure Assessment
[22] 1996
Intensiv allgemein
täglich
6 Organsysteme, je 5 Stufen (0–4 Punkte)
LOD Logistic Organ Dysfunction System
[13] 1993
Intensiv allgemein
nach 24 h
6 Organsysteme, bis zu 3 Stufen (0–5 Punkte) des Organversagens
0–22*
n=10.547 log. Regression
Therapeutische Scores
Organversagenscores
Konsensuskonferenz; ursprünglich »sepsis related organ failure assessment«
Spezifische Scores (Auswahl) GCS Glasgow Coma Scale
[20] 1974
SchädelHirn-Trauma
initial Verlauf
Augen öffnen, verbale und motorische Reaktion
3*–15
weltweit akzeptiert
LIS Lung Injury Severity
[17] 1988
Akutes/ chronisches Lungenversagen
täglich
4 Aspekte, je 0–4 Punkte (Röntgen und Oxygenierung)
0–16*
Dient zur Definition eines ARDS (>2,5 Punkte)
ABSI Abbreviated Burn Severity Index
[21] 1982
Patienten mit Verbrennungen
initial
Alter, Geschlecht, verbrannte Körperoberfläche, Inhalationstrauma
0–18*
Verfeinerung der bekannten Baux-Regel
Mit * sind jeweils die schlechtesten Werte gekennzeichnet, die z. T. real nicht erreichbar sind. GCS = Glasgow Coma Scale.
56
Kapitel 7 · Scores
. Tabelle 7.2. Der SAPS-II-Score, entwickelt an über 13.000 Intensivpatienten aus Nordamerika und Europa [12]. Maßgeblich sind die schlechtesten Werte (d. h. di e höchste Punktzahl) in einem 24-h-Zeitraum nach Aufnahme auf die Intensivstation. Für Werte im Normalbereich werden keine Punkte vergeben Punkte bei niedrigen Werten
Alter [Jahre]
Punkte bei hohen Werten
<40
40–59 7
60–69 12 ≥160 7
Herzfrequenz [pro min]
<40 11
40–69 2
70–119
120–159 4
Blutdruck (systolisch) [mmHg]
<70 13
70–99 5
100–199
≥200 2
<39,0
≥39,0 3
Temperatur [°C]
7
»Normal«
Nur bei Beatmung oder Pulmonaliskatheder: paO2 [mmHg]/ FIO2
<100 11
Urinausscheidung [l/Tag]
100–199 9
≥200 6
–
<0,5 11
0,5–0,99 4
≥1,0
Harnstoff [mg/dl] oder Harnstoff-Stickstoff [mg/dl]
<60 <28
60–179 28–83 6
Leukozyten [103/mm3]
<1,0 12
1,0–19,9
≥20 3
Kalium [mmol/l]
<3 3
3,0–4,9
≥5,0 3
Natrium [mmol/l]
<125 5
125–144
≥145 1
15–19 3
≥20
Serumbikarbonat [mEq/l]
<15 6
Bilirubin [mg/dl]
Glasgow Coma Scale (vor Sedierung)
<4,0
<6 26
6–8 13
9–10 7
11–13 5
4,0–5,9 4
≥6,0 9
Metastasierendes Karzinom 9
Maligne hämatologische Erkrankung 10
Zuweisung auf Intensivstation
Elektiv chirurgisch
Medizinisch (ohne Operation) 6
Ungeplant chirurgisch 8
Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass das Ausmaß der therapeutisch notwendigen Unterstützung einer Organfunktion
≥80 18
14–15
–
Therapeutische Interventionen
75–79 16
≥180 ≥84 10
Vorerkrankungen
. Abb. 7.2 zeigt beispielhaft die Verteilung von SAPS-II-Scorewerten bei Aufnahme auf einer chirurgischen Intensivstation.
70–74 15
Aids 17
ein klinisch äußerst wichtiger Indikator für dessen Zustand ist. Ein Beispiel für einen ausschließlich auf therapeutischen, diagnostischen und pflegerischen Maßnahmen aufgebauten Score stellt der TISS-28 dar (. Tab. 7.3 [19]), eine Weiterentwicklung des bekannten Therapeutic Inter vention Scoring System von Cullen [3] und Keene [5]. 28 Maßnahmen bzw. Maßnahmen-
57 7.2 · Scores in der Intensivmedizin
7
Spezifische Scores Scores, die sich nur auf ganz bestimmte Krankheitsbilder beziehen, betrachten nur eine für diese Situation spezifische Auswahl von Faktoren. Beispiele sind die Lungenfunktion (z. B. LIS = Lung Injury Severity Score [17]) oder die Schwere eines Verbrennungstraumas (z. B. ABSI = Abbreviated Burn Severity Index von Tobiassen [21]). Eine Übersicht über traumaspezifische Scoresysteme gibt z. B. [2].
Allgemeine Scores
. Abb. 7.2. Häufigkeitsverteilung der SAPS-II-Scorewerte (senkrechte Balken) bei Aufnahme auf die Intensivstation in einem gemischen Patientengut (n=11 289; Interdisziplinäre AG Qualitätssicherung der DIVI) sowie die beobachtete Letalität auf der Intensivstation in Abhängigkeit vom initialen SAPS-II-Scorewert (durchgezogene Linie)
komplexe werden mit Punktwerten zwischen 1 und 8 versehen und, falls durchgeführt, zu einem täglichen Wert addiert. Unabhängige Untersuchungen konnten zeigen, dass TISS-Werte sehr gut mit den klassischen Scores (APACHE, SAPS) korrelieren [10, 11].
Organversagenscores Eine Reihe von Scoresystemen beschreibt den Zustand eines Patienten über die Funktion seiner wichtigsten Organsysteme. Jedes Organ(system) für sich genommen hat seine spezifische Aufgabe im Organismus zu erfüllen, es lässt sich in der Regel räumlich gut abgrenzen, und sein Funktionszustand ist durch eine Anzahl direkter oder indirekter Messparameter zu erschließen. Die Nierenfunktion lässt sich beispielsweise gut über die Kreatinin-Clearance erfassen. Über die Vergabe von Punkten für jedes Organ, je nach Grad der Dysfunktion, ergibt sich in der Summe wieder eine kumulative Gesamtzahl. Häufig werden auch therapeutische Inter ventionen wie Beatmung oder Dialyse zur Beschreibung der Organfunktion herangezogen. Organversagenscores dienen in der Regel der Verlaufsbeobachtung, d. h. der wiederholten täglichen Anwendung und Dokumentation. 7.2.2 Spezifische vs. allgemeine Scores Um den Schweregrad konkreter Krankheitsbilder zu beschreiben, werden häufig Scores herangezogen. Hierbei finden sich mit zunehmender Komplexität der Erkrankung fließende Übergänge zwischen »Stadieneinteilung«, »Grading«, »Skalen« und »Scores«, wobei die beiden Letztgenannten über die Vergabe von Einzelpunkten zu einer Graduierung gelangen. Skalen wie die Glasgow Coma Scale 7 Kap. 66) beschreiben eher einen Teilaspekt des Patientenzustands.
Allgemeine oder krankheitsübergreifende Scores versuchen, Aspekte zu kombinieren, die allgemeine Indikatoren von Gesundheit oder Krankheit sind. Fieber, Tachykardie, Hyper-/Hypotonie oder Leukozytose/-penie sind solche Indikatoren. Bezogen auf die Intensivtherapie lassen sich solche Scores in der Regel auf alle Intensivpatienten anwenden. Die bekanntesten Beispiele solcher krankheitsübergreifenden Scores sind die APACHE-Scores von Knaus et al. [6–8] sowie die SAPS-Scores [12,16] (. Tab. 7.1 und 7.2).
Vergleich Spezifische Scores haben den Vorteil, einzelne Aspekte einer Erkrankung deutlich stärker gewichten zu können als ein allgemeiner Score oder spezielle Aspekte einzubeziehen, die nur bei diesem Krankheitsbild von Bedeutung sind. Bei homogenen Patientengruppen kann dies von Vorteil sein. Beschreibt man allerdings ein gemischtes Patientengut, wird man ein krankheitsübergreifendes System wählen müssen. 7.2.3 Einmalerhebung versus
Verlaufsbeobachtung Für Scores gilt das Gleiche wie z. B. für Medikamente: Sie sollten nur bei denjenigen Patienten und unter denjenigen Bedingungen angewendet werden, für die sie entwickelt wurden. Diese Bedingungen, zu denen auch der Zeitpunkt bzw. der Zeitraum der Erhebung gehören, sind immer in der Originalpublikation angegeben und sollten beachtet werden. APACHE II und III sowie SAPS II betrachten die schlechtesten Werte innerhalb der ersten 24 h nach Aufnahme auf die Intensivstation, der SAPS III nur in der 1. Stunde nach Aufnahme. Die meisten dieser prognostischen Scores basieren nur auf einer initialen Statuserhebung. Die meisten Organversagenscores dagegen erlauben eine täglich wiederholte Anwendung, ebenso die Scores, die therapeutische Maßnahmen betrachten (TISS). Damit eignen sich die Letztgenannten zur Verlaufsdokumentation und in ihrer kumulativen Form (Summe der Scorewerte über mehrere Tage) auch zur Klassifikation der gesamten Intensivtherapie – ähnlich den Liegetagen. Der Zeitraum, der einer Scoreerhebung zugrunde liegt, beträgt meistens 24 h, wobei die schlechtesten Werte aus diesem Zeitfenster zu wählen sind. Der Multiple Organ Dysfunction Score von Marshall [14] dagegen wird täglich zu einem definierten Zeitpunkt erhoben (z. B. immer morgens) und erfasst die aktuellen Werte. Abweichungen von den publizierten Vorgaben zur Scoreerhebung (z. B. tägliches Erheben des SAPS II) sind nicht grundsätzlich verboten, bedürfen aber einer eingehenden Validierung und eines Hinweises bei der Publikation solcher abweichend erhobener Daten.
58
Kapitel 7 · Scores
. Tabelle 7.3. Der TISS-28 Score von Reis Miranda et al. [19] Punkte Basis
7
Standardmonitoring
Stündlich Vitalzeichenkontrolle; regelmäßige Bestimmung der Flüssigkeitsbilanz
5
Labor
Biochemische Bestimmungen; Mikrobiologie
1
Medikation
i.v.; i.m.; subkutan; oral oder Magenschlauch
1 Medikament: 2 2 oder mehr Medikamente: 3
Verbandswechsel
Dekubitusprophylaxe/-pflege; tägliche Verbandswechsel; häufig heißt mindestens einmal pro Schicht oder ausgedehnte Wundpflege
Routine: 1 häufig: 2
Drainagen
Pflege aller Drainagen (außer Magenschlauch)
3
Beatmung
Mechanische/assistierte Beatmung, auch Spontanatmung mit PEEP oder Atemunterstützung (Spontanatmung ohne PEEP, O2-Nasenschlauch/-maske)
Mechanisch: 5 unterstützt: 2
künstliche Luftwege
Pflege der künstl. Luftwege; Endotrachealtubus, Tracheostoma
1
Atemtherapie
Behandlung zur Verbesserung der Lungenfunktion: Physiotherapie, Inhalationen, Ergo-/Spirometrie
1
Vasoaktive Medikamente
Jedes Medikament, jede Dosis
1 Medikament: 3 2 oder mehr Medikamente: 4
Flüssigkeitstherapie
Hoher Volumenersatz i.v. (mind. 5 I pro Tag)
4
Arterie
Peripherer arterieller Katheter
5
Pulmonaliskatheter
Mit oder ohne Messung des Herzzeitvolumens
8
ZVK
Zentralvenöser Katheter
2
Reanimation
kardiopulmonale Reanimation nach Herzstillstand (ohne 1 x präkordialer Faustschlag)
3
Dialyse
Hämofiltration, Dialyse (diverse Techniken)
3
Ausfuhr
quantitative Urinmessungen (z. B. über Katheter)
2
Diurese
aktive medikamentöse Diurese (z. B. Furosemid)
3
Messung des intrakraniellen Drucks
4
Azidose/Alkalose
Behandlung einer komplizierten metabolischen Azidose/Alkalose
4
Ernährung
i.v. Hyperalimentation
3
Enterale Ernährung
Durch Magenschlauch oder über Jejunostomie
2
Besondere Interventionen auf der Intensivstation
Endotracheale Intubation, Einsetzen eines Schrittmachers, Kardioversion, Endoskopie, Notfalloperation, Magenspülung (keine Routineinterventionen)
1 Intervention: 3 2 oder mehr Medikamente: 5
Interventionen außerhalb der Intensivstation
Besondere Interventionen außerhalb der Intensivstation, Diagnostik (z. B. CT) oder Operationen
5
Lunge
Herz/Kreislauf
Niere
ZNS Hirndruck Metabolismus
Interventionen
59 7.3 · Ziele der Anwendung von Scores
7.3
Ziele der Anwendung von Scores
Ein Score ist die Reduktion einer komplexen Situation auf eine eindimensionale Skala, auf einen einzigen Wert. Bei diesem Vorgehen gehen wichtige Detailinformationen zugunsten einer Reduktion auf das Wesentliche verloren. Der Vorteil oder Gewinn liegt darin, ein objektives, reproduzierbares und patientenübergreifendes Maß zu besitzen, das eine über den Einzelfall hinausgehende Kommunikation über Krankheiten und deren Therapien wesentlich erleichtert. Dabei ist ein Score relativ unabhängig von der subjektiven, durch Emotionen und Erfahrung beeinflussten Einschätzung durch den Arzt. i Scores können eingesetzt werden, um Erkrankungsschwere zu objektivieren.
Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Scores nicht den Anspruch erheben, den Zustand eines Patienten besser beschreiben zu können als ein Arzt oder durch das Kumulieren von Einzelinformationen diese ersetzen zu wollen. Scores werden in folgenden Bereichen angewendet: 4 Forschung, 4 Qualitätssicherung, 4 Ökonomie, 4 Ausbildung. 7.3.1 Schweregradklassifikation und Prognose Das primäre Ziel der Intensivtherapie ist das Überleben eines Patienten, das Über winden eines kritischen Gesundheitszustands, das Wiederherstellen normaler Organfunktionen. Scores versehen Werte außerhalb eines Normalbereichs mit Punkten, und dies umso mehr, je größer die Abweichung ist. Scores können somit den Grad der Abweichung von einem »gesunden« Normalzustand quantifizieren, bezogen auf die im Score ver wendeten Parameter. Wenn ein Score die für ein spezielles Krankheitsbild relevanten Parameter berücksichtigt, kann mit dem Scorewert der Schweregrad dieser Erkrankung festgelegt werden. i Die Ziele von Scores in der Intensivmedizin sind Schweregradklassifikation und Aussagen über die Prognose.
Da mit zunehmendem Schweregrad einer Erkrankung auch das Risiko für eine ungünstige Prognose steigt, lassen sich Scorewerte auch für prognostische Aussagen nutzen. Basis solcher Aussagen sind immer Daten großer Patientengruppen mit bekanntem Outcome. Die Gegenüberstellung von Scorewert und Letalität beispielsweise zeigt beim SAPS II eine deutliche Korrelation (. Abb. 7.2). Anhand mathematischer Formeln lassen sich Scorewerte auch direkt in Überlebenswahrscheinlichkeiten transformieren (z. B. SAPS II [12]). Für den APACHE III ist diese Formel allerdings nicht publiziert worden. Prognostische Aussagen in Form von Wahrscheinlichkeiten lassen sich jedoch sinnvoll nur für Gruppen von Patienten interpretieren (7 Kap. 7.5.1).
7
7.3.2 Forschung Ziel klinischer Forschung in der Intensivmedizin ist das Erkennen und Beschreiben von Krankheitsbildern, deren Pathophysiologie sowie ihre therapeutische und supportive Beeinflussung zur Verbesserung des Outcome der Patienten. Hierzu ist es notwendig, über den Einzelfall hinausgehende verallgemeinernde Beschreibungen vorzunehmen, wozu sich Scores insbesondere eignen.
Einschlusskriterien Um ein Krankheitsbild in klinischen Studien nachvollziehbar zu charakterisieren, können Scores als Einschlusskriterien dienen. Mit Hilfe von Scores können sehr leicht oder sehr schwer erkrankte Patienten ausgeschlossen werden, sodass sich eine Homogenisierung des Studienkollektivs ergibt. Die Konsensusdefinitionen der Begriffe »Sepsis« und »SIRS« (»systemic inflammatory response syndrome«; [1]) haben dies deutlich gezeigt. Studien an Schädel-Hirn-Verletzten nutzen die Glasgow Coma Scale häufig zum Patienteneinschluss und zur Definition eines Komas (GCS d8).
Vergleichbarkeit In kontrollierten Studien ist die Vergleichbarkeit der untersuchten Patientengruppen eine Grundvoraussetzung für die Interpretation der Ergebnisse. Eine korrekt durchgeführte Randomisierung bei hinreichend großer Fallzahl ist der beste Weg, um vergleichbare Patientengruppen zu erhalten. Doch trotz Randomisierung, und erst recht in nichtrandomisierten Vergleichsstudien, ist eine Prüfung der Strukturgleichheit der Patientengruppen unerlässlich. Scores als zusammenfassendes Maß zur Schweregradklassifikation leisten hier wichtige Dienste.
Outcomeevaluation Scores spielen ferner eine immer wichtigere Rolle bei der Outcomeevaluation therapeutischer Maßnahmen. Neben Letalität und Morbidität (Komplikationsraten) findet man zunehmend über Scores definierte Endpunkte in klinischen Studien, wie das ARDS (»adult respiratory distress syndrome«), definiert über den LIS von Murray et al. [17], oder die Inzidenz eines Multiorganversagens, definiert über einen der verfügbaren Organversagenscores (. Tab. 7.1). Kumulative TISS-Punkte spiegeln den tatsächlichen Therapieaufwand deutlicher wider als Liegetage [11]. Scores können als integratives Maß sowohl Inzidenz als auch Schweregrad verschiedener Ereignisse erfassen. 7.3.3 Qualitätssicherung Die Qualität der Intensivtherapie definiert sich über deren Aufgabenstellung, nämlich schwerkranken Patienten durch supportive Maßnahmen über den kritischen Zustand hinweg zu helfen. Primärer Qualitätsindikator ist das Überleben der Patienten. Jedoch sind Letalitätsraten ohne Angaben zur Erkrankungsschwere kaum zu interpretieren. Soll die Qualität der Intensivtherapie gemessen werden, kann dies einerseits anhand vorgegebener, definierter »Standards« erfolgen, oder man vergleicht die Qualität verschiedener Stationen miteinander und erhält so einen relativen Qualitätsvergleich.
60
Kapitel 7 · Scores
Standardisierte Mortalitätsrate (SMR)
7
Scores können in diesem Zusammenhang als externer Standard dienen. Die aufgrund einer Scoreerhebung berechnete Prognose ist quasi der externe Sollwert, basierend auf den zur Scoreentwicklung benutzten Daten, dem die tatsächlich beobachtete Letalitätsrate (Istwert) gegenübergestellt wird. Die so ermittelte standardisierte Mortalitätsrate (SMR, Istwert dividiert durch Sollwert) sollte um 1 oder darunter liegen. Valide SMR-Werte benötigen jedoch eine große Fallzahl (Konfidenzintervall beachten). Die Identifikation von Patientensubgruppen, in denen der Istwert deutlich größer ist als der Sollwert, d. h. mehr Patienten verstorben sind als gemäß Scoreprognose erwartet (SMR >1), führt über eine Detailanalyse möglicherweise zur Identifikation von Defiziten in der Patientenversorgung. Der Erfolg qualitätssichernder Maßnahmen lässt sich durch wiederholte Messungen ebenfalls mit dieser Methode quantifizieren. Eine unentbehrliche Rolle spielen Scores zur Schweregradklassifikation, wenn die Ergebnisse verschiedener Abteilungen im Sinne eines Benchmarking miteinander verglichen werden sollen. Erst eine Schweregradadjustierung, beispielsweise mit dem SAPS-II-Score, erlaubt hier eine sinnvolle Analyse. Es sei noch darauf hingewiesen, dass scorebasierte Vergleiche nur einen Aspekt im Rahmen des Qualitätsmanagements darstellen. Sie können auch verwendet werden, um Leitlinien zu erstellen. In den Bereich der Qualitätssicherung gehören auch alle Maßnahmen, die in den Routinebetrieb einer Intensivstation eingreifen, beginnend mit der Indikationsstellung für bestimmte therapeutische Maßnahmen (7 Kap. 7.5.2, 7.5.3) bis hin zur Triage. Für Letztere sind allerdings die derzeit vorliegenden Scoringsysteme weder vorgesehen noch geeignet [18]. 7.3.4 Ökonomie Die Intensivtherapie gehört zu den kostenintensivsten Maßnahmen im Gesundheitswesen; entsprechend hoch kann ihr Anteil am Krankenhausbudget sein. Daher ist nicht nur aus gesellschaftlicher Sicht eine Transparenz in der Verwendung dieser Mittel geboten. Ökonomische Analysen werden häufig vorschnell mit Mittelkürzungen und Sparmaßnahmen gleichgesetzt. Sie sollen jedoch die tatsächlichen Kosten einer Behandlung möglichst valide wiedergeben, damit z. B. eine kostendeckende Vergütung dieser Maßnahmen möglich ist. Die häufig angewandte Abrechnung über Tagessätze ist insbesondere für die Intensivtherapie zu ungenau. Eine detaillierte, bis ins Einzelne gehende Kostenanalyse ist wegen des enormen Aufwands aber nur selten durchführbar. Hier können Scoresysteme wie der TISS-28 [19] ein wesentlich genaueres Bild der tatsächlich verbrauchten Ressourcen liefern. Setzt man alle in einem bestimmten Zeitraum erbrachten Leistungen (gemessen mit TISS) in Relation zu den Gesamtkosten der Intensivtherapie in diesem Zeitraum, lässt sich ein Kostenwert pro TISS-Punkt berechnen, der bei ca. 35 Euro pro TISS-28Punkt liegt. Damit lassen sich dann für Patienten oder Patientengruppen die Kosten abschätzen. Bei der Einführung von Aufwandspunkten zur Vergütung intensivmedizinischer Komplexbehandlung im DRG-System spielen Scoresysteme (täglich SAPS II plus die 10 aufwändigsten TISS-28 Items) ebenfalls eine wichtige Rolle.
. Abb. 7.3. Vorgehen bei der Entwicklung eines Scoresystems
7.3.5 Ausbildung Als letztes, aber nicht unwichtigstes Ziel der Anwendung von Scores sei der Ausbildungsaspekt erwähnt. Durch den Anspruch, die »wesentlichen« Aspekte eines Krankheitsbilds oder des Gesamtzustands eines Patienten zu erfassen, erfolgt eine gewisse Fokussierung auf einige wenige Schlüsselparameter. Sofern nicht der falsche Schluss gezogen wird, dass die übrigen Parameter unbedeutend seien, kann die Beschäftigung mit Scores dem Anfänger durchaus eine hilfreiche Orientierung bieten. i Scores sind eine Form der »gemeinsamen Sprache«, die sowohl die Kommunikation unter Intensivmedizinern als auch die Darstellung und den Transfer neuer Erkenntnisse fördern kann.
Entwicklung und Evaluation von Scores
7.4
7.4.1 Exper te plus Statistik Die Entwicklung eines Scores, d. h. die Auswahl der Parameter und die Festlegung der Punktwerte, beruht immer auf Vorerfahrungen, sei es die klinische Erfahrung von Experten oder die systematisch dokumentierte Verlaufsbeobachtung vieler Intensivpatienten (. Abb. 7.3). Mit statistischen Verfahren lassen sich aus solchen Datensammlungen diejenigen Parameter identifizieren, die mit einem guten bzw. schlechten Outcome verbunden sind, und entsprechend multivariat kombinieren (z. B. mit Hilfe einer logistischen Regression). Ein gutes Beispiel für die interdisziplinäre Entwicklung eines Scores ist der SAPS III [15, 16]. Anzumerken bleibt aber, dass erst unabhängige Validierungsstudien die Qualität eines Scores belegen. 7.4.2 Bewer tung von Scores Bei der Frage, wie »gut« ein Score ist, müssen mehrere Aspekte geprüft werden. Diese Aspekte beziehen sich sowohl auf die Eigenschaften des Scores als Messinstrument als auch auf die Anwendbarkeit in der klinischen Situation.
Kriterien zur Bewertung/Auswahl eines Scores 5 5 5 5
Reliabilität (Zuverlässigkeit) Validität (Tauglichkeit) Anwendbarkeit Kinische Relevanz
61 7.4 · Entwicklung und Evaluation von Scores
Reliabilität i Bei der Zuverlässigkeit eines Scores steht die Frage im Vordergrund, ob der Score das, was er misst, genau und verlässlich misst.
Dies ist unabhängig davon, ob das, was der Score zu messen vorgibt, tatsächlich so ist. Ein reliables (zuverlässiges) Messinstrument kann auch sehr exakt das Falsche messen! Kriterien guter Reliabilität sind verständlich definierte Items, die eindeutige Wahl der Messwerte (z. B. höchster/niedrigster Wert der letzten 24 h), klare Punktwerte oder Vorgaben zum Verhalten bei fehlenden Werten. Die Verfügbarkeit der notwendigen Messparameter ist ebenfalls ein wichtiges Kriterium. Werden viele, selten bestimmte Laborwerte benötigt, verschlechtert dies die Reliabilität. Dies ist ebenfalls der Fall, wenn komplizierte Formeln oder aufwändige Untersuchungen benötigt werden. Zur Prüfung der Reliabilität kann man Test-Retest-Untersuchungen durchführen oder den Score von mehreren Personen unabhängig voneinander erheben lassen und vergleichen. Quellen von Beobachtervariationen sind beispielsweise die Bestimmung der Glasgow Coma Scale bei sedierten und beatmeten Patienten, undeutliche Definitionen von Vorerkrankungen oder lange Beobachtungszeiträume bei sich rasch ändernden Messwerten (Blutdruck, Herzfrequenz).
7
Patienten mit kurzer Liegedauer oder solche nach kardiovaskulären Eingriffen sind weitere Gruppen, die oft bei der Scoreentwicklung ausgeklammert wurden.
Klinische Relevanz i Ein Score ist nur dann von Nutzen, wenn seine Ergebnisse klinisch gut interpretierbar sind.
Bei der Wahl eines Scores zur Beschreibung von Patienten oder als Zielgröße in klinischen Studien sollten die Ergebnisse klinisch gut interpretierbar und beobachtete Unterschiede klinisch relevant sein. Ein Scorewert an sich hat nur für denjenigen eine Bedeutung, der sich intensiv mit diesem Score befasst hat; daher ist die Verwendung allgemein bekannter Scores einer Neuentwicklung vorzuziehen. Scorewerte sollten sich leicht in klinische interpretierbare Größen übertragen lassen. Die Umrechnung eines Scorewerts in eine Prognose (Überlebenswahrscheinlichkeit) ist hierfür ein gutes Beispiel. Bei kumulativen TISS-28-Punkten (Summe der TISS-Punkte während des Intensivaufenthaltes) entsprechen 28 Punkte im Mittel einem Liegetag. Will man mit einem Score das Outcome einer Intervention messen, sollten sich die erwarteten Effekte im Score deutlich widerspiegeln (Änderungssensitivität). 7.4.3 Sensitivität und Spezifität
Validität i Ein Score ist valide, wenn er tatsächlich das misst, was er zu messen vorgibt.
Ein Score zur Schweregradklassifikation sollte Patienten, die aus klinischer Sicht tatsächlich schwer krank sind, deutlich höhere Punktwerte zuweisen als weniger schwer kranken Patienten. Die Prüfung der Validität erfolgt einerseits durch die sog. »face validity«, d. h. man prüft, ob die im Score verwendeten Parameter »offensichtlich« mit dem Ziel des Scores (Prognose, Schweregrad, Therapieaufwand) übereinstimmen. Andererseits gibt es formale Methoden zur Prüfung der Validität. Hierzu zählt beispielsweise ein Anstieg der Letalität bei steigenden Scorepunkten, wie in . Abb. 7.2 für den SAPS II gezeigt. Es kann auch die Übereinstimmung (Korrelation) mit bekannten und akzeptierten Verfahren (z. B. anderen Scores) überprüft werden. Subgruppen von Patienten, die sich prognostisch unterscheiden, sollten auch im Scorewert Unterschiede zeigen.
Anwendbarkeit i Vor seiner Anwendung muss gepürft werden, ob der Score für die betrachtete Patientenpopulation überhaupt geeignet ist.
Bei der Anwendbarkeit eines Scores stellt sich die Frage, ob die Gruppe von Patienten oder das betreffende Krankheitsbild identisch ist mit demjenigen, das die Entwickler des Scores betrachtet hatten. Ist dies nicht der Fall, sind erst Validierungsstudien durchzuführen, die möglicherweise die Aussagekraft des Scores einschränken. Beispielsweise konnten mehrere Untersucher zeigen, dass der APACHE II die Prognose von Traumapatienten deutlich unterschätzt [9]. Mit den »Augen des Scores« sieht ein operativ versorgter, stabilisierter junger Traumapatient besser aus, als es seiner tatsächlichen Situation entspricht. Kinder, Patienten mit Verbrennungen,
Für Scores, die aufgrund ihres Wertes oder einer daraus abgeleiteten Wahrscheinlichkeit ein zukünftiges Ereigniss vorhersagen (bei prognostischen Scores das Überleben oder Sterben eines Patienten), gibt es spezielle Kenngrößen, die die Güte oder Genauigkeit der Vorhersage quantifizieren. Für solche prognostischen Aussagen muss der Scorewert in eine Ja/NeinAussage ver wandelt werden. Dies geschieht anhand eines Cutoff-Punkts, eines Grenzwerts. Beispielsweise könnte man allen Patienten mit einem initialen SAPS-II-Wert von 60 Punkten oder darüber ein negatives Outcome prognostizieren. Kennt man nun das wahre Outcome, lässt sich die Richtigkeit der Prognose ermitteln.
Definitionen Bezogen auf einen Score zur Prognose der Letalität geltende Definitionen 5 Sensitivität = Richtigkeit der Prognose, bezogen auf alle verstorbenen Patienten 5 Spezifität = Richtigkeit der Prognose, bezogen auf alle überlebenden Patienten 5 Positiver Vorhersagewert = Richtigkeit der Prognose, bezogen auf alle vom Score als »versterbend« prognostizierten Patienten 5 Negativer Vorhersagewert = Richtigkeit der Prognose, bezogen auf alle vom Score als »überlebend« prognostizierten Patienten
Wiederholt man diese Berechnungen mit anderen Cut-off-Punkten, ergeben sich andere Kennwerte. Erhöht man beispielsweise beim SAPS II den Cut-off-Wert, verschlechtert sich die Sensitivität (immer weniger tatsächlich Verstorbene werden erfasst), und die Spezifität verbessert sich (immer mehr Überlebende liegen
62
Kapitel 7 · Scores
7.5.1 Interpretation Insbesondere die Angabe einer scorebasierten Prognose in Form einer Wahrscheinlichkeit führt häufig zu Fehlinterpretationen. Was ist, wenn bei Aufnahme eines Patienten auf der Intensivstation der Score nur ein Letalitätsrisiko von 5% prognostiziert, der Patient am Ende aber nicht überlebt? Hat sich der Score geirrt? Dies ist ein Problem der richtigen Interpretation von Wahrscheinlichkeiten. Kommen solche Fälle auf lange Sicht nicht häufiger vor als 1 in 20 Fällen (d. h. 5%), dann entspricht dies genau dem Erwarteten. Ein Score kann aber nicht sagen, ob ein einzelner Patient zu den 5% gehört, die diese Erkrankung nicht überleben werden, oder zu den übrigen 95% (. Abb. 7.1). 7.5.2 Therapieentscheidungen
7
. Abb. 7.4. Receiver-operating-characteristic-(ROC-)Kurve für den APACHE-II-Score, ermittelt an 1986 Patienten einer chirurgischen Intensivstation. Die AUC beträgt 0,798
unterhalb des Wertes). Senkt man den Cut-off-Wert, ist dieser Trend gegenläufig. Trägt man nun für jeden Cut-off-Punkt Sensitivität und Spezifität in ein Diagramm ein und verbindet diese Punkte, erhält man eine sog. ROC-Kurve (»receiver operating characteristic«, . Abb. 7.4). Ein Score ist umso exakter, je weiter sich seine ROCKurve in die linke obere Ecke bewegt (hohe Sensitivität und hohe Spezifität). Ein Score ohne jegliche prognostische Information würde eine Diagonale ergeben. Als zusammenfassendes Maß für die Güte eines Scores wird häufig die Fläche unter der ROC-Kurve berechnet (AUC = »area under the curve«). Die Werte liegen hier zwischen 0,5 und 1, je höher der Wert, desto besser der Score. Flächen unter ROC-Kurven aus verschiedenen Publikationen sind aber nur bedingt vergleichbar, denn viele leicht zu prognostizierende Fälle erhöhen die AUC. 7.5
Grenzen und Gefahren
Die Anwendung von Scores birgt aber auch Gefahren. Ähnlich wie bei Medikamenten müssen die »Nebenwirkungen« bekannt sein. Die häufigsten Fehler ergeben sich aus dem fehlenden Wissen um die Intention von Scores und aus der Überbewertung der Ergebnisse. Dies gilt insbesondere für die Anwendung von Scores bei individuellen Patienten [18]. Typische Fehlerquellen und Gefahren bei der Anwendung von Scoresystemen liegen in den Bereichen: 4 Interpretation, 4 Therapieentscheidung, 4 Therapieabbruch, 4 starre Komponenten, 4 Aktualität.
Die Entscheidung für oder gegen gewisse Therapiemaßnahmen beruht auf vielen Aspekten. Da Scores viele Aspekte zu einem Gesamtwert kombinieren, könnte man meinen, solche Entscheidungen könnten sich am Scorewert allein orientieren. Dies würde aber einem Automatismus entsprechen, der auch falsche Entscheidungen induziert. Gerade wegen der vielfältigen Situationen, die zu einem bestimmten Scorewert führen (7 Kap. 7.5.4), darf eine Therapieentscheidung nie allein auf Scorewerten beruhen. Scorewerte können aber durchaus das Spektrum der verfügbaren Informationen erweitern und damit Therapieentscheidungen beeinflussen; das individuelle Abwägen können sie allerdings nie ersetzen. 7.5.3 Therapieabbruch Scores können, wie gesagt, nur Prognosen in Form von Wahrscheinlichkeiten liefern, beinhalten also eine Unsicherheit. Bewegt sich eine Wahrscheinlichkeit aber gegen 0% oder 100%, werden daraus nahezu sichere Aussagen. Dies mag dazu verleiten, daraus auch für den Einzelpatienten Konsequenzen zu ziehen. Diese Sicherheit ist aber nur relativ. Eine aus einem Scorewert abgeleitete 100%ig negative Prognose bedeutet lediglich, dass in dem Datensatz, der der Scoreentwicklung zugrunde lag, unter den wenigen Patienten mit gleich hoher Punktzahl keiner überlebt hatte. Es ist fraglich, ob unter diesen ein vergleichbarer Patient war. Zudem entwickelt sich die Medizin fort, und die Prognosen, beispielsweise des APACHE II, stammen aus dem Anfang der 1980-er Jahre. Ein Scorewert beim Einzelpatienten, auch ein »100%iger«, darf nur gemeinsam mit der individuellen Situation (Alter, Vorgeschichte, akutes Problem, Wünsche des Patienten etc.) interpretiert werden. 7.5.4 Starre Komponenten In der Regel besteht ein Score aus der Summe einzelner, fest definierter Komponenten. Ein bestimmter Scorewert kann auf unterschiedliche Weise zustande kommen und viele unterschiedliche klinische Situationen repräsentieren. Ein weiterer Punkt ist, dass die in einem Score berücksichtigten Parameter häufig synergistische Effekte zeigen, d. h., dass 2 Beeinträchtigungen »A« und »B« jede für sich nicht so schwerwiegende Folgen haben wie das gemeinsame Auftreten von »A«
63 Literatur
und »B«. Um dies in einem Score zu berücksichtigen, müsste eine Punktvergabe variabel und in Abhängigkeit von den übrigen Parametern erfolgen. Dies würde aber sehr schnell zu komplexen Abhängigkeiten führen, die ihrerseits wieder validiert werden müssten. Scores sind daher nur Näherungswerte für den tatsächlichen Schweregrad einer Erkrankung. 7.5.5 Aktualität Der Fortschritt der Medizin zeichnet sich nicht zuletzt auch in der Intensivmedizin ab. Daher ist ein regelmäßiges Hinterfragen der Scorekomponenten sowie deren Gewichtung unerlässlich. Auch liefern Validierungsstudien häufig Ergebnisse, die in eine Überarbeitung eingebracht werden sollten. Häufig verwendete Scoresysteme sollten regelmäßig aktualisiert werden, um dem Fortschritt der Medizin gerecht zu werden. Die Entwicklung des SAPS III wurde nicht zuletzt wegen der bereits über 10 Jahre alten Datenbasis des SAPS II initiiert. i Bei älteren Scores sollten die aus einem Score abgeleiteten Prognosen regelmäßig aktualisiert werden.
Literatur 1. Bone R et al. (1992) American College of Chest Physicians/Society of Critical Care Medicine Consensus Conference: Definition for sepsis and organ failure and guidelines for the use of innovative therapies in sepsis. Crit Care Med 20: 864–874 2. Bouillon B, Neugebauer E, Rixen D, Lefering R, Tiling T (1996) Wertigkeit klinischer Scoringsysteme zur Beurteilung der Verletzungsschwere und als Instrumente für ein Qualitätsmanagement bei Schwerverletzten. Zentralbl Chir 121: 914–923 3. Cullen DJ, Civetta JM, Briggs BA, Ferrara L (1974) Therapeutic Intervention Scoring System: a method for quantitative comparison of patient care. Crit Care Med 2: 57–60 4. Goris RJA, te Boekhorst TPA, Nuytinck JKS, Gimbrère JSF (1985) Multiple-Organ Failure. Generalized autodestructive inflammation? Arch Surg 120: 1109–1115 5. Keene AR, Cullen DJ (1983) Therapeutic Intervention Scoring System – Update 1983. Crit Care Med 11: 1–3 6. Knaus WA, Zimmerman JE, Wagner DP, Draper EA, Lawrence DE (1981) APACHE – acute physiology and chronic health evaluation: a physiologically based classification system. Crit Care Med 9: 591–597 7. Knaus WA, Draper EA, Wagner DP, Zimmerman JE (1985) APACHE II: a severity of disease classification system. Crit Care Med 13: 818–829 8. Knaus WA, Wagner DP, Draper EA, Zimmerman JE, Bergner M, Bastos PG, Sirio CA, Murphy DJ, Lotring T, Damiano A, Harrel FE (1991) The APACHE III prognostic system. Risk prediction of hospital mortality for critically ill hospitalized adults. Chest 100: 1619–1636 9. Lefering R, Dicke S, Böttcher B, Neugebauer E (1997) Der APACHE II Score bei Traumapatienten – eine systematische Unterschätzung der Prognose. Intensivmed 34: 426–431 10. Lefering R, Zart M, Neugebauer E (2000) Retrospective evaluation of the simplified Therapeutic Intervention Scoring System (TISS-28) in a surgical intensive care unit. Intens Care Med 26: 1794–1802 11. Lefering R (1999) Biostatistical aspects of outcome evaluation using TISS-28. Eur J Surg Suppl (584): 56–61 12. Le Gall JR, Lemeshow S, Saulnier F (1993) A new simplified acute physiology score (SAPS II) based on a European/North American multicenter study. JAMA 270: 2957–2963 13. Le Gall JR, klar J, Lemeshow S et al. (1996) The logistic organ dysfunction system. A new way to assess organ dysfunction in the intensive care unit. JAMA 276: 802–810
7
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8 Risikomanagement und Fehlerkultur A. Frutiger, J. Graf
8.1
Grundüberlegungen, Definitionen, Semantik
–66
8.1.1 Irren ist menschlich: Fehler als untrennbares Element jeglichen menschlichen Tuns –66 8.1.2 Semantik: »Fehler« oder »Ereignis«, »Beinaheereignis« –66 8.1.3 Klassifizerung von Schadensereignissen, Sicherheitstaxonomie –66 8.1.4 Die Intensivstation als hochkomplexes verletzliches System –68 8.1.5 Bedeutung des Fehlermonitorings in der Intensivmedizin –68
8.2
Betriebskultur: mit Fehlern leben, aus Fehlern lernen
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
Traditioneller Umgang mit Fehlern –69 Fehlerkultur, »No-blame-Kultur« –69 Täter oder Opfer? –69 Kommunikationskultur/Kritikkultur –69
8.3
Fehlermonitoring: verschiedene Ansätze
8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7
Fehlermonitoring: »Top down versus Bottom up« –70 Wie eine Ereignissammlung aufzubauen ist –70 Weshalb sollen Beinaheereignisse (»Near Miss«) erfasst werden? –71 Wie sollen die Ergebnisse kommuniziert werden? –71 Eingabe anonym oder offen? –73 Andere Erfassungstechniken: »Medical Chart Review« –73 Netzwerke: CIRS, APSF (Australien, Neuseeland) –73
8.4
Risikomanagement und Fehlerkultur in anderen Bereichen
8.4.1 Beispiel Luftfahrt
8.5
–68
–69
–73
–73
»Risk Assessment«, Risikomanagement
–74
8.5.1 Analysen: Fehlermonitoring zum Aufdecken von Ursachen und Angehen von Verbesserungen nutzen –74
8.6
Auswirkung und Nutzen von Ereignismonitoring
–74
8.6.1 Prävention –74 8.6.2 Fehler und Kosten, Aufwand des Fehlermonitorings und Nutzen –74 8.6.3 Fehlerbewirtschaftung als integraler Bestandteil der Betriebsund Führungskultur –75
8.7
Schwerste Ereignisse, Rechtswelt
–75
8.7.1 Grenzen des Ereignismonitorings bei schwersten Ereignissen –75 8.7.2 Verschiedenartige Behandlung von Fehlern in der Rechtswelt und in der Qualitätswelt –75 8.7.3 Vorgehen bei schweren Schäden (schwere Körperverletzung oder Tod)
Literatur
–76
–75
66
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
8.1
Grundüberlegungen, Definitionen, Semantik
Fehler sind in der Medizin häufig, und die damit verbundene Morbidität, Letalität und ökonomischen Auswirkungen sind beträchtlich [1, 2]. Die Intensivstation steht als multidisziplinäres, hochkomplexes und stark technisiertes System im Zentrum der stationären Krankenversorgung. Die Häufigkeit eines Fehlers, Zwischenfalls oder unerwünschten Ereignisses ist, neben anderen Faktoren, v. a. von der Intensität der geleisteten Therapie und Pflege, dem Schweregrad der Erkrankung der Patienten und der Komplexität der organisatorischen Abläufe abhängig [3–5]. i Somit zählt die Intensivmedizin zu einem der fehleranfälligsten Bereiche der stationären Krankenversorgung.
Viele Erkenntnisse über Fehler in der Medizin wurden deshalb auch im Bereich der Intensivmedizin gewonnen.
8
8.1.1 Irren ist menschlich: Fehler als untrennbares
Element jeglichen menschlichen Tuns »To err is human« lautet der Titel eines Aufsehen erregenden Berichts, der für den US-Kongress verfasst wurde [2]. Hierin wird von geschätzten 44.000–98.000 Todesfällen jährlich infolge vermeidbarer medizinischer und organisatorischer Fehler und Zwischenfälle allein in den USA berichtet. Anlass für die Erstellung des Berichtes war die zunehmende Verunsicherung der Öffentlichkeit über Fehler und unerwünschte Ereignisse im Gesundheitswesen, die regelmäßig zu schweren Patientenfolgen und hohen Kosten führten. Australische Untersuchungen stufen etwa 18.000 Todesfälle und mehr als 50.000 bleibende Behinderungen pro Jahr als fehlerassoziiert und somit letztlich vermeidbar ein [3]. Diese Fehler reichen von der unzutreffenden Diagnose über fehlerhafte Untersuchungen bis hin zum falschen Medikament, das dem falschen Patienten zur falschen Zeit verabreicht wird [3]. 8.1.2 Semantik: »Fehler« oder »Ereignis«,
»Beinaheereignis« Die Semantik rund um die Beschreibung von Fehlern ist sehr variabel und bisweilen verwirrend. Die Bezeichnung »Fehler« oder »error« wird oft verwendet, trägt aber das wertende Element der Schuldhaftigkeit in sich. Auch der Begriff »kritisches Ereignis« bzw. »critical incident« wird häufig verwendet. Neutralere Terminologien bevorzugen die Begriffe »Ereignis« oder »adverse event«. Letztlich besteht unter den verschiedenen Autoren keine Einigkeit darüber, wie welche Ereignisse bezeichnet werden sollten. Es gibt Autoren, die nur bei einem tatsächlich eingetretenen Patientenschaden von einem Fehler sprechen. Andere wenden die Begriffe breiter an und schließen auch Vorgänge ein, die ohne direkten Patientenschaden verlaufen (z. B. Sturz einer Pflegeperson auf rutschigem Boden, Nadelstichverletzung). Die Formulierung »near miss« oder »Beinaheereignis« schließlich bezeichnet ein Ereignis, das hätte Schaden anrichten können, bei dem aber glücklicherweise nichts passiert ist. Auch das Verständnis, wann es sich in der Medizin um einen Fehler oder Zwischenfall handelt, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt:
4 alle Handlungen, in denen eine geplante Abfolge von mentalen oder physischen Aktivitäten das erwünschte Ergebnis verfehlen und diese Verfehlungen nicht einer Zufallseinwirkung zugeschrieben werden können [6], 4 ein Ereignis, welches, falls es nicht bemerkt und zeitnah korrigiert wird, zu einem unerwünschten Ergebnis führen könnte bzw. geführt hat [7]. Obwohl diese Definitionen praktisch alle denkbaren Fehler einschließen, sind sie in der (Intensiv-)medizin nicht ganz unproblematisch: Nicht selten werden Patienten mit schwersten Erkrankungen und einer sehr hohen erwarteten Letalität behandelt, wie z. B. Patienten im kardiogenen Schock, septischen Schock oder im Multiorganversagen. Sterben diese Patienten, ist der Tod mitunter die Folge eines unumkehrbaren Krankheitsprozesses und nicht prinzipiell als ein »Fehler« zu bewerten. Noch deutlicher wird die Problematik am Beispiel der Herz-Kreislauf-Wiederbelebung: Natürlich ist es das Ziel dieser Intervention, das Überleben der Patienten sicherzustellen. Auf der anderen Seite ist den behandelnden Ärzten schon während der Reanimationsmaßnahmen die extrem hohe Letalität der Patienten bewusst. Der Tod reanimierter Patienten ist somit nicht unbedingt Folge eines Fehlers, sondern mitunter ein Teil der Erkrankung. Daher führt eine so umfassende Definition des Fehlers zwangsläufig zu einer Überschneidung zwischen den unabwendbaren Geschehnissen des Krankheitsverlaufs auf der einen und tatsächlichen unerwünschten oder ungeplanten Ereignissen bzw. Fehlern auf der anderen Seite. Für die klinische Praxis und v. a. für die Intensivmedizin ist also eine Definition notwendig, die diese besonderen Umstände berücksichtigt (. Tab. 8.1 und 8.2). 8.1.3 Klassifizerung von Schadensereignissen,
Sicherheitstaxonomie Im Ereignismonitoring fehlte bisher eine allgemein anerkannte Terminologie, was die Förderung und Akzeptanz solcher Systeme erheblich erschwert hat. Die JCAHO (Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations) hat kürzlich eine Taxonomie zur Einteilung, Beschreibung und Sammlung von Ereignissen mit Patientenschäden publiziert [11]. Sie will damit die Sprachverwirrung in der Diskussion um Patientensicherheit verringern. Das vereinfachte Schema mit 5 Hauptgruppen ist in . Tab. 8.3 dargestellt. Es wird noch in 21 Unterklassen und 200 kodierte Kategorien unterteilt, die den Rahmen dieses Textes sprengen. Zusätzlich erlaubt das System auch freie Erzählung, »free narrative«, um kontextrelevante Informationen zu ermöglichen. Das System soll namentlich mit im Bereich Intensivmedizin etablierten Systemen gut kompatibel sein. Der Bereich Ursachen sei hier noch etwas vertieft (. Tab. 8.4). Bei der Analyse von Zwischenfällen unterscheiden Fehlertheoretiker zwischen dem sog. »system approach« (Systemansatz) und dem »person approach« (Individualansatz). Der »system approach« bezeichnet eine Verkettung ungünstiger Umstände, die durch das Arbeitsumfeld und die dort herrschenden Organisations- und Prozessstrukturen begünstigt wird. Gleichwohl bildet regelhaft eine auslösende Aktion oder das Unterlassen einer notwendigen Intervention den unmittelbaren Anlass für einen Zwischenfall. Genauere Untersuchungen dieser
67 8.1 · Grundüberlegungen, Definitionen, Semantik
8
. Tabelle 8.1. Definition der verschiedenen Begrifflichkeiten Begriff/Literatur
Definition
Fehler (»error«) [8]
Eine unbeabsichtigte Handlung, entweder durch Unterlassung oder Durchführung, die nicht zum gewünschten Ergebnis führte.
Fehler (»error«) [2]
Eine geplante Handlung kann nicht wie beabsichtigt durchgeführt werden (im Sinne eines Durchführungsfehlers), oder zur Zielereichung wurde ein falscher Plan oder ein falsches Vorgehen verwendet (im Sinne eines Planungsfehlers).
Fehler (»error«) [9]
Eine unerwartete Verletzung oder Komplikation, die den Aufenthalt des Patienten im Krankenhaus verlängerte oder zu bleibender Behinderung oder Tod führte. Hervorgerufen wurde dieses Ereignis durch das medizinische Personal und nicht durch die Krankheit des Patienten.
Unerwünschtes Ereignis (»adverse event«) [2]
Infolge einer medizinischen Behandlung entstandene und nicht durch den Zustand des Patienten verursachte Verletzung.
Vermeidbares unerwünschtes Ereignis – Schaden (»preventable adverse event«) [2]
Ein auf einen Fehler zurückgehendes unerwünschtes Ereignis
Behandlungsfehler (»negligent adverse event«) [2]
Behandlungsfehler bilden eine Untergruppe der unerwünschten Ereignisse, die rechtliche Kriterien der Nachlässigkeit erfüllen
Zwischenfall (»critical incident«) [9]
Ein unbeabsichtigtes Ereignis oder Ergebnis, das die Sicherheit des Patienten gefährdet oder zumindest gefährden konnte. Möglicherweise war es vermeidbar oder unvermeidbar und beinhaltete vielleicht einen Fehler des medizinischen Personals.
Missgeschick, Beinaheereignis (»near miss«) [10]
Ein Ereignis, das sich zu einem unerwünschten Ereignis oder Schaden hätte entwickeln können und sich von solchen nur durch die ausbleibenden Folgen unterscheidet.
Versehen, Ausrutscher (»slip, laps«) [6]
Fehler bei der Durchführung einer Handlung, die auf bestimmten Fähigkeiten beruht. Der Unterschied zwischen einem »slip« und einem »laps« liegt in der Beobachtbarkeit der Handlung: Das Verabreichen der falschen Dosierung einer Arznei ist ein »slip«, wohingegen die fehlende Erinnerung, was die richtige Arznei gewesen wäre, ein »laps« ist.
Irrtum (»mistake«) [6]
Aufgrund einer falschen Planung führt eine ansonsten korrekt durchgeführte Handlung nicht zum gewünschten Ergebnis.
Patientensicherheit (»patient safety«) [2]
Freiheit von Verletzungen und Schäden durch Unfälle.
. Tabelle 8.2. Klassifizierung von Fehlern. (Nach [2]) Fehlerart
Definition
Diagnostische Fehler
4 4 4 4
Behandlungsfehler
4 4 4 4
Fehler bei der Prävention
4 Fehlende oder fehlerhafte vorbeugende Behandlung 4 unzureichende Nachbeobachtung einer Behandlung
Sonstige Fehler
4 Fehler bei der Kommunikation 4 medizintechnischer Fehler 4 andere systembedingte Fehler
Fehler oder Verzögerung in der Diagnosestellung Fehler bei der Durchführung des geeigneten, indizierten Untersuchungsverfahrens Anwendung eines veralteten Untersuchungsverfahrens oder einer veralteten Therapie fehlende Konsequenz aus einem Untersuchungs- oder Testergebnis
Fehler bei der Durchführung einer Operation, einer Prozedur oder eines Tests Fehler bei der Durchführung einer Behandlung Fehler bei der Medikamentendosierung oder Medikamentenauswahl vermeidbare Verzögerung in der Behandlung oder in der Reaktion auf ein pathologisches Untersuchungsergebnis 4 ungeeignete (nicht indizierte) Behandlung
68
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
. Tabelle 8.3. Die Hauptgruppen zur Klassifizierung von Ereignissen der JCAHO Ereignis
JCAHO
Auswirkung
»Impact«
Typus
»Type«
Bereich
»Domain«
Ursache
»Cause«
Vermeidung und Entschärfung
»Prevention and mitigation«
Viele dieser Prozesse verlaufen im Arbeitsalltag parallel und werden zudem häufig mehrfach unterbrochen. Diese in der Intensiv- und Notfallmedizin vorherrschenden Rahmenbedingungen bezeichnen Psychologen als ein kognitiv komplexes Umfeld [14]. Andererseits ist bekannt, dass maximal 4–5 Objekte parallel im Gedächtnis bearbeitet werden können [15]. Bei zunehmendem Informationsgehalt sinkt zudem die Zahl der Objekte. Die Anzahl medizinischer Geräte und Überwachungssysteme hat im Gegensatz dazu in den letzten 30 Jahren um ein Vielfaches zugenommen [14]. Konkurrierten am Anfang der 1970-er Jahre beispielsweise in der Anästhesie noch 4 Geräte um die Aufmerksamkeit des Personals, waren es im Jahr 2000 bereits über 20 verschiedene Systeme [14]. 8.1.5 Bedeutung des Fehlermonitorings
in der Intensivmedizin
. Tabelle 8.4. Untereinteilung von Ereignisursachen Ursachen
8
System
Organisation 4 Management 4 Kultur 4 Richtlinien 4 Wissenstransfer
Technik 4 Geräte 4 Installationen
Faktor Mensch
Patient 4 Compliance
Personal 4 Fachwissen («knowledge-based”) 4 Fertigkeiten («skill-based”, «slips”) 4 Regelbeachtung («rule-based”, «mistakes”)
Zwischenfälle offenbaren jedoch häufig eine Serie von Fehlern, Unzulänglichkeiten und Abweichungen von der sonst geübten Praxis, die letztlich in einem Zwischenfall münden. Beim »person approach« wird das Auftreten von Fehlern und Zwischenfällen als Konsequenz individueller und persönlicher Fehlleistungen aufgefasst. Letzteres stellt die dominierende Sicht- und Verfahrensweise im Gesundheitswesen dar [12]. i Allgemein darf gelten, dass Fehler sowohl Systemkomponenten als auch individuell menschliche Komponenten haben.
8.1.4 Die Intensivstation als hochkomplexes
verletzliches System Obwohl bislang nur wenige strukturierte Untersuchungen zu Fehlern und Zwischenfällen in der Medizin vorliegen, scheinen die Häufigkeit und die Auswirkungen dieser Fehler u. a. von der Komplexität der Versorgung, der Schwere der Erkrankung und dem Spektrum der therapeutischen Interventionen abhängig zu sein [13]. Besonders Bereiche mit hoher Arbeitsbelastung und schwerkranken Patienten – wie in der Intensivmedizin üblich – sind somit potenziell anfällig für Fehler. Gerade hier müssen täglich in kurzer Zeit eine Vielzahl von Parametern bewertet und wichtige Entscheidungen für mitunter lebensbedrohlich erkrankte Patienten getroffen werden [3].
Unternehmen mit hohem Sicherheitsanspruch, wie die Atomkraftwerksbetreiber oder die öffentliche Luftfahrt, arbeiten mit dem Ansatz des »fehlerhaften Systems«. Darin ist der Mensch als eine Fehlerquelle bereits mit einbezogen. Im System enthaltene Kontrollinstanzen überprüfen die menschlichen Aktionen und können so Missgeschicke oder falsche Eingaben melden oder beheben, bevor ein Fehler daraus entsteht. Dazu gehören einerseits technische Überwachungssysteme und andererseits regelmäßige Supervisionen durch Kollegen. Es wird nicht nach dem Schuldigen gesucht, sondern der Fehlerprozess in seiner Gesamtheit analysiert und das System entsprechend angepasst. Dieser ständige, aktive Veränderungsprozess ist das Kernelement des Sicherheitssystems. Eine langfristige und intelligente Systemoptimierung beseitigt so die latenten Fehler und hilft, die Wiederholung eines Fehlers zu vermeiden [16]. Verschiedene Arbeiten zeigen, dass in unseren Intensivstationen täglich zahlreiche gefährliche Ereignisse ablaufen [17]. Eine Arbeit, die stellvertretend für viele steht, nennt 1,7 Fehler pro Patient und Tag bzw. 2 ernste Fehler pro Station und Tag [18]. Viele dieser Fehler haben menschliche Ursachen und liegen im Bereich von Kommunikation und Timing. Fehlererfassungssysteme ermöglichen Einblicke in die Störanfälligkeit und Verletzlichkeit der Abläufe einer Intensivstation. Wenn diese Instrumente richtig eingesetzt werden, kann ein strukturiertes Ereignismonitoring ein sehr wirksames Instrument zur Messung und Verbesserung der Prozessqualität der Intensivmedizin darstellen. Es stellt somit das Rückgrat eines Risikomanagementsystems dar und kann helfen, Fehlerquellen zu identifizieren und möglichen Schaden abzuwenden. 8.2
Betriebskultur: mit Fehlern leben, aus Fehlern lernen
In jedem Qualitätssystem stellen Handlungsanweisungen für den Umgang mit unerwünschten Ereignissen, d. h. Fehlern und Zwischenfällen, Schlüsselelemente der Qualitätssicherung dar. Andere Hochsicherheitsbereiche – die eine geringere als die zufällig auftretende Fehlerrate aufweisen, wie z. B. Atomkraftwerke und die kommerzielle Luftfahrt – sind in ständiger Bereitschaft, Fehler und unerwünschte Ereignisse zu erkennen und frühzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten [12].
69 8.3 · Fehlermonitoring: verschiedene Ansätze
8
Medizinisches Fachpersonal ist hingegen nur unzureichend für die Möglichkeit und Häufigkeit von Fehlern in ihrem eigenen Handeln sensibilisiert. Nach den Ergebnissen einer kürzlich in amerikanischen Universitätskliniken durchgeführten Befragung verneinten 30% der im intensivmedizinischen Bereich beschäftigten Pflegekräfte und Ärzte das Auftreten von Fehlern im Rahmen ihrer Tätigkeiten. Zusätzlich beklagte die Krankenhausverwaltung einen völlig unzureichenden Umgang mit aufgetretenen Fehlern und Zwischenfällen in ihren Einrichtungen [19]. 8.2.1 Traditioneller Umgang mit Fehlern Den Umgang mit Fehlern haben wohl die meisten von uns exemplarisch in der Schule gelernt. Fehler im Diktat oder Aufsatz wurden mit Rotstift markiert und führten zu Sanktionen, genannt »Verbesserungen«, mit dem Ziel, Fehler zu vermeiden. Unsere Motivation war aber nicht das Verbessern des Systems, sondern das Vermeiden von Sanktionen. Dass Fehler ein völlig normales Nebenprodukt menschlichen Handelns ist, lehrte man uns nicht. Über Fehler zu reden, insbesondere wenn es sich um die eigenen handelt, ist alles andere als selbstverständlich. Es ist bekannt, dass im Krankenhaus über Schadensereignisse nicht gern berichtet wird. Vincent et al. [20] identifizierten die Sorge v. a. der jüngeren Kollegen, unfair bezichtigt zu werden, als eine wesentliche Ursache, Fehler nicht offen anzusprechen. Man sorgt sich um allfällige Haftpflichtansprüche oder Disziplinarmaßnahmen, erwartet von seinen Kollegen nicht genug Unterstützung und möchte solche Fälle auch nicht vor größeren Gremien besprechen. Unsere Erfahrung eines traditionell bestrafenden Umgangs mit Fehlern stellt sicherlich ein wesentliches Hindernis bei der Einführung eines erfolgreichen Risikomanagementsystems dar. 8.2.2 Fehlerkultur, »No-blame-Kultur« Entscheidender Ansatz einer Fehlerkultur ist, dass man aufhört, immer nach Schuldigen zu suchen. Auch wenn die Beteiligten nicht direkt beschuldigt werden, hat sich der Blick nicht auf sie, sondern auf das Problem zu richten. Unter dem momentanen Eindruck eines Ereignisses heißt aber die Frage noch allzu oft: »Wer war das?« Richtigerweise müssten die Fragen lauten: »Was hat dazu geführt, dass dieses Ereignis eintreten konnte? Welche Sicherungssysteme haben versagt (falls vorhanden)? Wer kann etwas zur Lösung dieses Problems bzw. zur Verhinderung zukünftiger Ereignisse beitragen?« Es hat aber überhaupt keinen Zweck, in einem Betrieb eine Ereignisüberwachung aufzubauen, wenn nicht parallel dazu die entsprechende teambasierte Kritikkultur entwickelt wird. Ein Auftreten von Fehlern wird noch vielfach als menschliches Versagen und damit als Schwäche menschlicher Leistung angesehen. Dieses bis heute in der Medizin geltende Gedankenmodell wird von Reason als »Heile-Welt Hypothese« bezeichnet [6]. Diese Hypothese besagt, dass nur schlechten Menschen Fehler passieren und es nur wenige schlechte Charaktere in der Masse der Menschheit gibt. Diese schlechten Menschen sind Fehlerverursacher und tragen die alleinige Schuld. Durch öffentliche Bloßstellung und Sanktionen können sie zum richtigen Verhalten erzogen werden. Jede Wiederholung des Fehlers wird dem schlechten Charakter des Verursachers zugeschrieben.
. Abb. 8.1. Das Schweizer-Käse-Modell der Fehlerentstehung nach James Reason
8.2.3 Täter oder Opfer? Fehler haben in der Regel komplexe Ursachen. Fast immer sind sie multifaktoriell und können nicht einem alleinigen Auslöser zugeordnet werden. Namentlich, wenn Systemfehler im Spiel sind, werden die Mitarbeiter, in deren Gegenwart das Ereignis stattfindet, ebenso zu Opfern. Entscheidend ist die Umsetzung dieser Erkenntnis in den täglichen kollegialen Umgang. An Zwischenfällen beteiligte Kollegen benötigen Hilfe, keine Bestrafung. Die Systemfehler sind der (tückische) Teil des Eisbergs unter Wasser. Reason erklärt das Zustandekommen eines Fehlers mit verschiedenen gelochten Schichten, die sich gegeneinander verschieben (. Abb. 8.1). Die verschiedenen Schichten bezeichnen Faktoren der Fehlerentstehung, namentlich System und Mensch. Im Hintergrund wartet die Gefahr auf eine Gelegenheit (»window of opportunity«), ein Ereignis auszulösen. 8.2.4 Kommunikationskultur/Kritikkultur Kritik abgeben und annehmen, positive wie auch negative, will gelernt sein. Im Medizinstudium wird Kritikkultur kaum gelehrt. Der Umgang mit Fehlern und das Lernen daraus muss in einem Betrieb bewusst vorgelebt und gepflegt werden. Entscheidend ist das Vorbild der Chefs, die täglich zeigen müssen, dass gerade sie mit ihren eigenen Fehlern offen und lernend umzugehen verstehen. Sie haben ihren Mitarbeitern zu vermitteln, dass Fehler nicht lediglich seltene und bedauerliche Ausrutscher sind, sondern dass sie häufig und integraler Teil jedes Systems sind, in dem Menschen zusammen arbeiten. Die Einsicht eines Fehlers bzw. Zwischenfalls innerhalb der Verantwortungsträger ist oftmals begrenzt, und besonders Mediziner neigen zur Überschätzung ihrer persönliche Leistungsfähigkeit: 47–70% der befragten Ärzte gaben z. B. an, dass ihre Leistung nicht durch Müdigkeit beeinträchtigt werde. Über 60% der Befragten verneinten Einflüsse privater Probleme bei ihrer Arbeit [19]. 8.3
Fehlermonitoring: verschiedene Ansätze
Ein großer Irrtum wäre es, sich beim Fehlermonitoring lediglich auf die Art der Datensammlung zu konzentrieren. Ein erfolgreiches Fehlermanagementprogramm steht auf 3 Säulen: 4 offene Fehlerkultur, 4 Sammeln von berichteten Ereignissen, 4 Umsetzen des Gelernten in Führungsmaßnahmen.
70
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
8.3.1 Fehlermonitoring: »Top down versus
Bottom up« Ereignismonitoring kann nie erfolgreich von oben organisiert und durchgesetzt werden. Die uns vorgesetzten Behörden sollen zwar durchaus das Vermeiden von Fehlern und das Steigern der Patientensicherheit zu einem strategischen Betriebsziel erklären. Sie können diesen Willen zudem mit organisatorischen Erleichterungen und durch Zuteilung betrieblicher Mittel unterstützen. Stabsstellen (Qualitätsbeauftragte) können mit Know how beitragen. Die Verbesserung der Strukturen kann an Führungsebenen delegiert werden, die Einführung der Prozesse, d. h. der eigentliche Aufbau des Systems muss aber von der Betriebsbasis ausgehen, gestaltet und getragen werden. 8.3.2 Wie eine Ereignissammlung aufzubauen ist
8
Unter dem erneuten Vorbehalt, dass ein Meldewesen nicht schon per se ein Fehlermanagementsystem ist, hat man beim systematischen Sammeln von gemeldeten Ereignissen gewisse Regeln zu beachten. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob mit Papier und Bleistift dokumentiert wird, oder ob man sich eine elektronische Datensammlung anlegt. Die meisten Autoren bezeichnen relativ übereinstimmend die folgenden Elemente einer Ereignissammlung als wesentlich.
Freiwilligkeit Mitarbeiter können nicht zum Melden von kritischen Ereignissen gezwungen werden. Sie sollen dies freiwillig tun. Mit Weiterbildungen sollen sie zum Melden ermuntert werden. Technische und psychologische Hürden müssen tief gehalten werden. Die freiwillige Meldung muss leicht, ohne großen Aufwand erfolgen können.
Anonymität der Aufzeichnung Die Registrierung der gesammelten Ereignisse muss anonym sein, das bedeutet, dass die Ereignisse ohne Nennung von Namen von Geschädigten, aber insbesondere von Beteiligten aufgezeichnet werden. Die Ereignisdokumentation ist so zu gestalten, dass von vorneherein irrelevant ist, »wer es war«. Da keine Schuldigen gesucht werden, müssen auch keine Namen aufgezeichnet werden. Ob auch das Meldewesen anonym laufen soll, ist eine Frage, die weiter unten noch diskutiert wird.
Freies Erzählen des Ereignisses Wenn Betroffene ein kritisches Ereignis frei berichten können, erfährt man die Abläufe hautnah aus erster Hand, ohne dass der Bericht bereits in das Schema eines Fragebogens gezwängt wäre. Erfassungsformulare sollten deshalb unbedingt Raum für freie Texteingabe enthalten. Besonders die australisch/neuseeländischen Autoren untersteichen den Wert des freien Erzählens (»free narrative«) im Ereignismonitoring (www.apsf.net.au). Nicht zu unterschätzen ist auch der kathartische Effekt, wenn Betroffene sich ein kritisches Ereignis von der Seele reden können.
Systematik einbauen Eine gewisse minimale Einteilung nach Art des Ereignisses, Ereignisort, involvierten Bereichen, entstandenem Schaden und festgestellten oder vermuteten Ursachen ist zweckmäßig, um Auswertungen zu ermöglichen. Wichtig ist, dass die Systematik die Erfassung multipler Ursachen möglich macht. Der typischer-
weise multifaktoriellen Ursache eines kritische Ereignisses muss Rechnung getragen werden.
Beinaheereignisse sammeln Der Wert von Beinaheereignissen – solchen, bei denen zum Glück nichts passiert ist – kann nicht überbetont werden. Leider sind viele Ereignissammlungen nur auf das Erfassen von Fehlern mit Patientenschaden ausgelegt. Das Ereignis, bei dem »zum Glück nichts passiert ist«, wird fälschlich als banal und nicht beachtenswert betrachtet. Genau das Gegenteil ist aber der Fall: Risikomanagement beruht gerade darauf, Konstellationen zu identifizieren, bei denen zwar bisher nichts geschehen ist, die aber ein Schadenspotenzial enthalten. Es sind Verbesserungen möglich, ohne dass zuerst etwas passieren musste. »Near miss-Ereignisse« bieten noch einen zusätzlichen Vorteil: Wir können aus ihnen lernen, welche Sicherheitsfaktoren dann doch den Fehler vermieden haben, welche Dämme nicht gebrochen, welche Zäune nicht niedergerissen, welche Warnsignale eben doch noch beachtet wurden. Neben dem Eliminieren von Schwächen im System lassen sich auch dessen Stärken identifizieren und fördern.
Interpretation des Ereignisses durch die Beteiligten Unsere Mitarbeiter verfügen über ein riesiges kollektives Wissen zu Abläufen, Fehlerquellen und Risiken. Sie drängen uns aber diese Kenntnisse nicht auf. Wenn wir freilich fähig sind zuzuhören, lernen wir Vieles und oft Unerwartetes über unseren Betrieb. Befragt man Personal über eine eben aufgetauchte Fehlerquelle an einem Gerät, wird man häufig hören, dies »sei bekannt« oder »mir auch schon passiert«. Der Chef darf sich dann fragen, wieso es ihm bisher nicht gelang, dieses Problemwissen zu realisieren; vermutlich, weil er nicht zugehört hat.
Nie von »Schuldigen« reden Ereignismeldesysteme dürfen nicht strafend sein. Sie dürfen nicht mit dem Finger auf Beteiligte zeigen und sollen nicht Sanktionen androhen. Uns allen klingt noch in den Ohren: »Wer das war, meldet sich nachher bei mir im Büro«. Niemand wird über ein Schadensereignis berichten, wenn er riskiert, an den Pranger gestellt zu werden. Die Schulung hat zu vermitteln, dass die an einem Ereignis Beteiligten eher Opfer als Täter sind.
Transparenz Die Datensammlung, wie auch immer sie organisiert ist, muss für die Teammitglieder einsehbar und kontrollierbar sein. Der Mitarbeiter hat das Recht, zu sehen, in welcher Weise das von ihm mitgeteilte Ereignis in der Dokumentation abgelegt wurde. Er soll überdies nicht nur seine Meldungen, sondern sämtliche Meldungen des Betriebs einsehen dürfen. Transparenz ist eine besonders Vertrauen schaffende Maßnahme. Jeder Mitarbeiter soll schließlich aus der Gesamtheit der Ereignisse lernen können.
Qualitätskreis schließen Der sog. Qualitätszirkel beschreibt den Grundvorgang jeder Qualitätssicherung (. Abb. 8.2). Leider bestehen viele Ereigniserfassungssysteme nur aus dem Sammeln von Daten, ohne dass die erhobenen Befunde in Maßnahmen umgewandelt werden. Datensammlungen sind nutzlos, wenn nicht aus ihnen gelernt und das Gelernte in Führungsmaßnahmen umgesetzt wird. Die Mitarbeiter werden sehr rasch mit dem Melden von Ereignissen aufhören, wenn sie keine verbessernden Maßnahmen feststellen.
71 8.3 · Fehlermonitoring: verschiedene Ansätze
8
i Vor allem in Hochsicherheitsbereichen, die sich keinen Fehler leisten können, zählen Near-miss-Ereignisse zu den wichtigsten Informationsquellen bei der Identifikation von Systemschwächen.
. Abb. 8.2. Qualitätszirkel. Identifikation eines relevanten Problems, gefolgt von der Festlegung des Sollzustandes (Standard), Messen des Istzustandes durch Sammeln relevanter Daten, Vergleich von Ist und Soll und schließlich das Ergreifen von Maßnahmen, um den gegenwärtigen Zustand dem Standard (oder Sollzustand) anzugleichen
Regelung der Datenhoheit Daten über Versäumnisse, Missgeschicke und Fehler sollen innerhalb des Betriebs in der oben beschriebenen Offenheit und Unvoreingenommenheit benutzt werden, bedürfen aber gegenüber Außenstehenden der Vertraulichkeit. Es muss deshalb schon vor Beginn einer Datensammlung klar sein, wem diese Daten gehören und wie es vermieden wird, dass Krankenhausverwaltung oder staatliche Behörden Zugang zu den Daten erhalten. Dies trifft v. a. auf Gesundheitsbehörden zu, aber auch Strafverfolgungsbehörden könnten versucht sein, Daten zu erhalten. Wenn Daten in ein bereichsübergreifendes nationales oder internationales Netzwerk (CIRS) eingespeist werden sollen, müssen die vernetzten Betriebe den gegenseitigen Umgang mit den vertraulichen Daten vertraglich klar regeln. Besonders bei Gesundheitsbehörden ist der politische Druck groß, mit derartigen Statistiken zu punkten. Von denselben Stellen kommt regelmäßig die leidige Forderung nach »benchmarking«; dies in der irrigen Meinung, Vergleiche (vielleicht gar öffentliche Vergleiche) zwischen verschiedenen Fehlerstatistiken seien ein geeignetes Instrument der Qualitätssicherung.
Kritikkultur dauernd entwickeln und fördern Eine Ereignisdatei perpetuiert sich nicht von selbst. Der dahinter stehende Gedanke eines offenen Umgangs mit Fehlern muss immer wieder vermittelt und geschult werden. Jedes neu eingeführte Ereignismonitoring führt zunächst zu einer großen Meldehäufigkeit. Meist werden die Meldungen bald zum dünnen Rinnsal und fließen erst wieder reichlicher, wenn der Leiter dauernd auf den Wert des Systems hinweist. Auch dann wird die Meldefreude sich in Wellen bewegen. Die Häufigkeit der Meldungen hat übrigens nicht mit der Häufigkeit der Ereignisse selbst zu tun. . Abb. 8.3 zeigt das Beispiel eines Erfassungsbogens für Ereignisse 8.3.3 Weshalb sollen Beinaheereignisse
(»Near Miss«) er fasst werden? Übereinstimmend wird der große Wert der Erfassung von Beinaheereignissen betont.
Near-miss-Ereignisse sind für das Risikomanagement und für die Qualitätsverbesserung von herausragender Bedeutung: 4 Beim Beinaheereignis liegt das Interesse automatisch beim Vorgang, nicht bei den Folgen. 4 Beinaheereignisse sind emotional nicht so befrachtet und lassen sich unverkrampft analysieren. 4 Beinaheereignisse zeigen uns jene Sicherheitselemente, die dafür sorgten, dass dann doch nichts passiert ist. 4 Beinaheereignisse machen den direkten Weg zur Prävention frei – ohne Schadensbehebung. Es wird deshalb empfohlen, beim Aufbau eines Ereigniserfassungssystems primär schon Near-miss-Fälle zu sammeln. Im Allgemeinen gilt: Je geringer der Schaden eines Vorfalls, desto größer sein Nutzen in einem Risikomanagementsystem. Gerade die allerschlimmsten Schäden (mit Todesfolge oder schwerer Körperverletzung) sind für die Qualitätssicherung relativ nutzlos, weil ihre Aufarbeitung schon durch die Rechtswelt beansprucht wird (7 Kap. 8.7). Interessanterweise wird der Wert von Beinaheereignissen im medizinischen Bereich nicht uneingeschränkt positiv bewertet: Gerade die JCAHO beschränkt sich in ihrer wegweisenden Taxonomie auf Ereignisse mit Patientenschaden und schließt »any near miss« aus Ereignissammlungen aus. Explizit wird ausgeführt, dass beispielsweise das Wiedererlangen der durch ein Ereignis gestörten Körperfunktion innerhalb von 2 Wochen nicht als Patientenschaden erfasst werden solle. Ebenso seien Ereignisse auszuschließen, die nicht Individuen beträfen. Sogar Medikationsfehler (die häufigsten Fehler in der Medizin überhaupt) seien nur zu erfassen, wenn sie zum Tod oder zu wesentlichen und permanenten Funktionsstörungen führten [11] (www.jcaho.org/). 8.3.4 Wie sollen die Ergebnisse kommuniziert
werden? Innerhalb des Betriebs sollen, wie oben er wähnt, die Datensammlungen transparent und jedermann zugänglich sein. Empfohlen werden aber zudem regelmäßige Sitzungen, bei denen die gesammelten Ereignisse gesichtet und zusammengestellt werden. Ereignismonitoring kann Teil einer umfassenden regelmäßigen Qualitätsbesprechung des Betriebs, aber auch eine selbstständige Aktivität sein. Wie häufig oder wie selten solche Veranstaltungen stattfinden, ist dem Stil der Abteilung zu überlassen. Wichtig ist, dass sie zuverlässig und regelmäßig durchgeführt werden und nachhaltig bleiben. Einfache Bulletins fassen dabei die wesentlichen Beobachtungen und Verbesserungen der Berichtsperiode zusammen. Die Mitarbeiter interessieren sich v. a. dafür, welche Meldungen zu Veränderungen und Maßnahmen geführt haben. Wichtig ist auch, die Auswertungen an die richtigen Adressaten zu verteilen. Wenn, was sehr häufig ist, ein bereichsübergreifendes Ereignis dokumentiert wird, müssen auch die Nachbarbetriebe mit diesem Wissen bedient werden. Darüber hinaus muss der Stationsleiter sicherstellen, dass die Informationen nicht nur abgegeben wurden, sondern auch angekommen sind und betrieb-
72
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
8
. Abb. 8.3. Beispiel eines Erfassungsbogens für Ereignisse. Auf der Intensivstation des Kantonsspitals Chur wird eine einfache File-maker-Datei zur strukturierten Erfassung von Ereignissen benutzt
73 8.4 · Risikomanagement und Fehlerkultur in anderen Bereichen
lich umgesetzt werden. Wenn aber der Kreis sich nicht schließt, wenn damit nicht aktives Risikomanagement betrieben wird, ist Ereignismonitoring nutzlos, und das Desinteresse der Mitarbeiter wird die logische Folge sein. 8.3.5 Eingabe anonym oder offen? Wenn oben ausgeführt wurde, dass die gesammelten Ereignisse anonym, ohne die Namen der Beteiligten, dokumentiert werden sollen, ist damit noch nichts über die Art des Meldevorgangs gesagt. Auch Letzterer kann anonym oder offen sein. Anonyme Meldesysteme sind beispielsweise aus der Fliegerei bekannt, aber auch in vernetzten Ereignissammlungssystemen der Medizin (z. B. Critical Incident Reporting System; CIRS; www.anaesthesie.ch/cirs/) erfolgen die Meldungen anonym, z. B. durch Briefkästen im Stationsbereich. Gerade für Einrichtungen ohne eine entsprechende Betriebskultur, d. h. Intensivstationen, die neu ein Ereignismonitoring einführen wollen, ist die Anonymität zunächst von besonderer Bedeutung. Sind aber Fehlerkultur und Meldesystem in einer Abteilung bereits entwickelt, verblasst das Thema Anonymität rasch. Mit gutem Grund: In einem positiven lernfähigen System müssen keine Sanktionen befürchtet werden, wenn unerwünschte Ereignisse kommuniziert werden. Eine kürzliche publizierte Studie über die Meldepraxis in einer Intensivstation ergab, dass nur 6,5% der Ereignismeldungen anonym eintrafen [13]. Anonyme Meldesysteme haben zudem den Nachteil, dass sie für Denunziationen und persönliche Abrechnungen missbraucht werden können.
8.3.7 Netzwerke: CIRS, APSF (Australien,
Neuseeland) Vielerorts werden landesweite oder gar internationale Netzwerke zum Ereignismonitoring empfohlen. Deren Ausgestaltung ist frei wählbar, wobei zunehmend Internet-basierte Systeme zur Datenerfassung genutzt werden. In der Schweiz haben Basler Anästhesisten vor vielen Jahren schon ein sog. CIRS (»critical incident reporting system”) eingerichtet (www.anaesthesie.ch/cirs/). Der Benutzer kann anonym Ereignisse in strukturierter Form melden und hat auch Zugang zu den gesammelten Ereignisberichten. Ein Vorteil gerade für den Fachbereich Anästhesie liegt darin, dass auch eher seltene Ereignisse einer breiteren Gruppe zur Kenntnis gebracht werden und beispielsweise durch die Fachgesellschaften in Form von Empfehlungen und Standards bekannt gegeben werden können. Nachteile eines CIRS sind die unkontrollierte Eingabe und die Entkopplung vom lokalen Risikomanagement der meldenden Einrichtung. Mit einem zentralen CIRS allein ist die Verbesserung lokaler Prozesse, und damit letztlich die Prävention gleicher oder ähnlicher Ereignisse, nicht möglich. Auch das Fehlen kontextrelevanter Informationen und der Verzicht auf »near miss« schränken den praktischen Nutzen solche Systeme erheblich ein. Ein vorbildliches Netzwerk wird in Australien und Neuseeland betrieben, die Australian Patient Safety Foundation (APSF, www.apsf.net.au). Teil des Angebots ist das »advanced incident management system« (AIMS), das die langjährigen, dortigen Erfahrungen demjenigen zugänglich macht, der ein Ereignismonitoring aufbauen will. 8.4
8.3.6 Andere Er fassungstechniken: »Medical
8
Risikomanagement und Fehlerkultur in anderen Bereichen
Chart Review« Nun ist die Ereignissammlung mit spontanen Meldesystemen durchaus nicht die einzige etablierte Erfassungsmethode. Im Gegenteil, gerade die ersten bahnbrechenden Berichte über Fehler im Krankenhaus wurden mit der Technik des »medical chart review« erarbeitet. Aus der retrospektiven Durchsicht tausender Krankenakten ergaben sich Hinweise über Häufigkeit, Art der Fehler und Ursachenmuster [21]. Im Vordergrund standen bei diesen Untersuchungen Medikationsfehler. Diese Art der Fehler (falsches Medikament, falsche Dosis, falsche Applikation, falscher Zeitpunkt etc.) tauchen in allen Studien als die häufigsten unerwünschten Ereignisse auf. Zum einen, weil Medikamente häufig verabreicht werden und die Bereitstellung von Medikamenten viele fehleranfällige Schritte umfasst (Anordnung, Bereitstellung, Kontrolle, Verabreichung), und zum anderen, weil Fehler dieser Art in den Krankenakten wohl leichter zu erfassen sind als andere Fehler. Prozessfehler sind hingegen im Rahmen einer retrospektiven Durchsicht einer Krankenakte schwer zu identifzieren. In einem prospektiven Vergleich zwischen den Erfassungstechniken der freiwilligen Ereignismeldung und des »medical chart review« auf Intensivstationen wurden mit dem freiwilligen Meldesystem mehr und wesentlichere Ereignisse erfasst als beim Durchsuchen der Krankenakte. Die freiwillig gemeldeten Ereignisse enthielten zudem mehr Informationen über die Umstände und Ursachen und boten somit mehr Ansatzmöglichkeiten zur künftigen Prävention [9].
8.4.1 Beispiel Luftfahrt Der am häufigsten im Zusammenhang mit Sicherheit genannte nicht medizinische Bereich ist die Luftfahrt. Im Gegensatz zur Medizin werden dort seit Jahrzehnten größte Anstrengungen für die Flugsicherheit unternommen. Viele Konzepte wie die kontinuierliche Suche nach Schwachstellen, das anonyme »incident reporting« und die Bedeutung des gut kommunizierenden Teams (»crew ressource management«) wurden in der Luftfahrt entwickelt. Dort hat sich über Jahre auch eine sehr solide Sicherheitskultur etabliert, die sich in einer kritischen Selbsteinschätzung und in einem hoch entwickelten Sicherheitsbewusstsein der Mitarbeiter widerspiegelt [19]. In einem provokanten Editorial gibt Berwick, basierend auf den realen Zahlen eines New Yorker Krankenhauses [21], die entsprechende Cockpitdurchsage eines Flugkapitäns an seine Passagiere wieder [22]: «Ladies and gentlemen, welcome aboard flight number 743, this is your captain speaking«. »You have a 97% chance of reaching your destination without being significantly injured«. «Our chances of making a serious error during the flight is only 6.7%”. Und es folgt die rhetorische Frage: »Would you fly this airline again?«
Unter 30.195 nach Zufall ausgesuchten Krankengeschichten fanden die Autoren 1133 Patienten (3,7%), welche aufgrund der Behandlung schwere Schädigungen erlitten hatten. In 58% dieser
74
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
Fälle stellte man klare Behandlungsfehler fest, die Hälfte davon war auf Nachlässigkeit zurückzuführen. Eine wesentliche Rolle spielten Medikationsfehler [21]. Natürlich haben Vergleiche zwischen Luftfahrt und Akutmedizin gewisse Grenzen. So sind beispielsweise die kritischen Prozesse eines Fluges recht stereotyp, während beim Umgang mit Schwerkranken eine größere Variabilität besteht. Dies entbindet uns aber keineswegs, die hervorragenden Entwicklungen in der Flugsicherheit für unser Fachgebiet weiter zu entwickeln und entsprechend anzuwenden. 8.5
8
»Risk Assessment«, Risikomanagement
Klinisches Risikomanagement stellt eine Methode dar, kontinuierlich und in systematischer Form Fehler oder Risiken zu erkennen, zu analysieren, zu verhindern oder ihre Folgen zu begrenzen und die ergriffenen Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu bewerten. Für Risikoanalysen sind die Beinaheereignisse und jene mit geringem Schaden von besonderer Bedeutung. Es geht schließlich darum, Risiken zu eliminieren und Fehler mit Schaden zu vermeiden. Allgemein lässt sich sagen: Je geringer die Folgen des Ereignisses, desto geeigneter ist es für das Risikomanagement. Je schwerer die Folgen hingegen, desto weniger brauchbar ist ein Ereignis, weil die Notwendigkeit der Schadensbehebung den Präventionsgedanken in den Hintergrund rückt und Emotionen eine größere Rolle einnehmen. 8.5.1 Analysen: Fehlermonitoring zum
Aufdecken von Ursachen und Angehen von Verbesserungen nutzen Konsequentes Ereignismonitoring erlaubt einer Intensivstation, aus Fehlern und v. a. aus den Beinaheereignissen kontinuierlich zu lernen und die eigenen Schwächen, aber auch Stärken zu erkennen. Werden die Daten systematisch ausgewertet, erlaubt die Analyse von Ursachen und Verbesserungsmöglichkeiten die Weiterentwicklung der eigenen Prozesse. Dieser Möglichkeit kommt eine viel größere Bedeutung zu als der Zusammenstellung der Schäden an sich. Ereignismonitoring unterscheidet z. B. zwischen individuellen, menschlichen Fehlleistungen und Systemfehlern, wobei wir meist mit fehlerhaften Prozessen konfrontiert sind. Um diese zu verbessern, müssen Prozessanalysen durchgeführt werden. Dafür bieten sich 2 Methoden an: 4 Process control charts: Bei dieser Technik werden quantifizierbare Prozesse konsekutiv dargestellt (z. B. »door-to-balloon time« bei der perkutanen Koronarintervention) und mit einem angestrebten Soll-Wert verglichen. Die Kurve zeigt, ob die Leistung im Durchschnitt erreicht wird und inwieweit die Leistung streut. Auch ob eine Leistung sich nach und nach verändert, lässt sich ablesen. Der Leiter der Station kann dann gezielte Verbesserungen anstreben. 4 Prozessanalyse mit Cause-effect-Diagramm (»fishbone diagram«):
Hier werden unerwünschte Wirkung und erkannte Ursachen in Form von Fischgräten dargestellt, wobei das unerwünschte Problem als Kopf und die verschiedenen Ursachen als Gräten dargestellt werden. Die Hauptursachen
(Hauptgräten) sind meist: Material, Menschen, Regeln, Technologie. »Nebengräten« helfen, die Analyse zu verfeinern. Diese Technik macht rasch sichtbar, wo die verschiedenen Ursachen des fehlerhaften Prozesses zu suchen sind. Sind die Ursachen eines fehlerhaften Ereignisses identifiziert, müssen gezielte Führungsmaßnahmen zur Prävention erneuter Ereignisse eingeleitet werden. Dabei unterscheiden sich die Maßnahmen für menschliche Fehler und für Systemfehler. Bei den Mitarbeitern ist in der Regel eine Förderung des Fachwissens oder der Fertigkeiten notwendig, oder aber es muss an die Beachtung von Regeln, Standards und Leitlinien erinnert werden. Systemfehler können entweder recht leicht zu lösen oder aber sehr tückisch sein. Ist das Problem an der Oberfläche lokalisiert und betrifft es Prozesse, so lassen sich rasch Gegenmaßnahmen ergreifen. So kann beispielsweise eine fehlerhafte Serie von Infusionssystemen augenblicklich aus dem Verkehr genommen werden. Andere, tiefer im System verankerte Fehler, die die Strukturen der Einrichtung betreffen, sind mitunter nur sehr schwierig zu lösen. So stellen beispielsweise ungenügende Stellenpläne oder veraltete Betriebsstrukturen durchaus Sicherheitsrisiken dar, können aber aufgrund fehlender Mittelzuweisung nicht einfach verändert werden. Deshalb ist Flexibilität eine der Grundvoraussetzungen (und größten Herausforderungen) für ein erfolgreiches Riskomanagementsystem: Es muss ebenso für rasche Reaktion einsatzbereit sein (sofortige Elimination fehlerhafter Infusionssysteme) wie auch für langfristige Umgestaltungen (z. B. wenn ein unzureichender Stellenschlüssel kontinuierlich die Patientensicherheit gefährdet). 8.6
Auswirkung und Nutzen von Ereignismonitoring
8.6.1 Prävention Die idealen kritischen Ereignisse sind jene, die sich gar nicht ereignen. Wird Ereignismonitoring in Führungsmaßnahmen umgesetzt, verringert es die Schäden kritischer Ereignisse oder vermeidet diese ganz. Der wirkliche Nutzen des Risikomanagements lässt sich deshalb kaum quantifizieren. Nur bei sehr genauer Datensammlung kann die Zu- oder Abnahme bestimmter Ereignisse gemessen werden. Die Datensammlungen stellen nie die Gesamtheit der Ereignisse dar, nur die Spitze des Eisbergs. 8.6.2 Fehler und Kosten, Aufwand des
Fehlermonitorings und Nutzen Oft scheut sich ein Stationsleiter, ein Ereignismonitoring einzuführen, weil ihn der Aufwand abschreckt und die Ressourcen zu fehlen scheinen. Qualitätssicherung wird generell als Luxus angesehen, den man sich ohne die nötigen Mittel nicht leisten kann. Die umgekehrte Optik ist richtig: Es ist ein sträflicher Luxus, sich nicht mit Patientensicherheit zu befassen. Der Aufwand, Schadensereignisse zu vermeiden, ist um vieles geringer als derjenige, der nötig ist, um schwere Schäden zu beheben. Korrekturkosten, materiell und emotional, sind immer viel höher als Kosten für die Vorbeugung.
75 8.7 · Schwerste Ereignisse, Rechtswelt
8
8.6.3 Fehlerbewirtschaftung als
integraler Bestandteil der Betriebsund Führungskultur Fehlermonitoring, Prozessanalysen und Risikomanagement sind Kernaufgaben des Leiters einer Intensivstation. Viel zu oft lassen wir uns blenden von immer neueren und spannenderen Therapieformen. Wir vergessen dabei, dass wir im Krankenhaus viel mehr Leben retten und Schäden verhindern könnten, wenn wir schon nur die richtigen Dinge richtig tun würden. Bei fehlerloser Anwendung aller gesicherten Methoden von Diagnose, Therapie und Prävention könnten unsere Kliniken einen Qualitätssprung nach vorn machen, der die Suche nach immer neuen Therapien geradezu nebensächlich erscheinen lassen würde. 8.7
Schwerste Ereignisse, Rechtswelt
8.7.1 Grenzen des Ereignismonitorings
bei schwersten Ereignissen Gerade die schwersten Ereignisse (schwerer Schaden oder Tod eines Patienten) sind aus der Sicht der Qualitätssicherung keine wirklich brauchbaren Situationen. Grund dafür ist einmal, dass ein übergeordnetes Regelsystem, die Rechtswelt nämlich, die Ereignisanalyse in einer anderen Form erzwingt, als sie aus der Sicht der Qualitätssicherung erfolgen würde. Ein weiterer Grund ist zudem, dass Zwischenfälle, die mit schwerstem Schaden oder gar mit dem Tod enden, für die Beteiligten emotional derart belastend sind, dass eine Aufarbeitung mit Mitteln des Ereignismonitorings nicht möglich ist. Zudem müssen sie befürchten, dass Äußerungen, die sie zum Ereignis abgeben, im Rechtsverfahren gegen sie verwendet werden könnten. Schwerste Ereignisse sind aber in anderer Weise für die Qualitätssicherung nutzbar. Sie können im betreffenden Betrieb den nötigen Druck erzeugen, sich mit explizitem Fehler- und Risikomanagement zu befassen. Mitarbeiter sind nach solchen Situationen jeweils offen dafür, dass »jetzt etwas geschehen muss«, und dass »es so nicht weitergehen kann«. Häufig wird dann ein allseits belastendes Ereignis zum Ausgangspunkt eines formalen Ereignismonitorings. 8.7.2 Verschiedenar tige Behandlung von Fehlern
in der Rechtswelt und in der Qualitätswelt Die Rechtswelt ist jenes Fach, das sich seit Menschengedenken mit schweren Schäden befasst hat. Ziel war immer im weiteren Sinn, die Gemeinschaft vor Schäden an Leib und Leben zu schützen und dafür untersuchend und nötigenfalls strafend einzugreifen. 8.7.3 Vorgehen bei schweren Schäden
(schwere Körperverletzung oder Tod) Wie oben erwähnt, entziehen sich die schwersten Formen unerwünschter Ereignisse der Qualitätssicherung im engeren Sinn. Je schwerer ein Schaden ist, desto größer ist das Interesse der Öffentlichkeit, und zwar in zweifacher Hinsicht: Die Rechtspflege
. Tabelle 8.4. Fehler in der Rechtswelt und in der Qualitätssicherung Rechtswelt
Qualitätssicherung
Frage nach Schaden
Frage nach Ursachen
Ereignis ohne Schaden interessiert rechtlich nicht
Beinaheereignis (»near miss«) interessiert sehr
Suche nach Schuldigen
Kein Interesse an Schuldigen
Verfügen von Sanktionen, Strafen
Suche nach Lösungen, nicht punitives System
Entschädigung der Opfer
Alle gelten als Opfer
Je schwerer der Schaden, desto wichtiger
Je schwerer der Schaden, desto hinderlicher
kennt Meldepflichten bei Verdacht auf Offizialdelikte, und die Informationsgesellschaft erwartet, dass schwere Ereignisse kommuniziert werden. Die beiden Anliegen können in Konflikt stehen (»keine Auskunft bei laufendem Verfahren« wird durch die Medien als Geheimnistuerei kommentiert). Vorgesetzte, in deren Bereich ein Schwerstereignis passiert, haben deshalb mit den Rechtsorganen und mit den Medien richtig umzugehen. Dies kann nicht improvisiert werden, sondern muss vorbereitet sein. Wichtig ist, das Ereignis nicht in einer defensiven, vertuschenden Art zu behandeln, sondern sich sofort als engagierter, offener und an der Sicherheit der Patienten interessierter Betrieb darzustellen. Es ist nicht schwer, aufzuzeigen, dass im Krankenhaus Menschen arbeiten, die den anvertrauten Kranken helfen und nicht schaden wollen. Dazu gehören folgende Punkte: 1. Schweres Ereignis überhaupt erkennen: – Viele schwere Ereignisse sind sofort als solche erkennbar. – Aber es gibt auch Ereignisse, die nicht offensichtlich sind. – Immer bereit sein, an einen Zwischenfall zu denken. – Die unerwartete Wende eines Falls muss Verdacht wecken. – Normalverlauf gut kennen. – Ereignis durch andere Mitarbeiter bestätigen lassen. 2. Krisenteam ad hoc formieren: – Alle unmittelbar Beteiligten gehören zum Krisenteam. – Leitung durch den momentan Ranghöchsten. – Der Ad-hoc-Teamleiter teilt dies den anderen klar mit (»Ich leite diese Krisensituation«). – Der Teamleiter hat volle Kompetenzen quer durch alle betrieblich-territorialen Grenzen. – Er hat zunächst das Informationsmonopol. 3. »Safety first«, Folgeereignisse vermeiden: – Sorge tragen, dass Patienten sicher sind. – Sicherheit des Personals gewährleisten. – Hilfe holen. – Geschädigte lückenlos begleiten. – Schadensquellen erkennen und eliminieren (Medikamente, Nahrungsmittel, Stromquelle etc.). – Weitere Opfer verhindern. 4. Ereignisort sichern, Sachverhalte sicherstellen: – Außer Personen, die in Sicherheit gebracht werden, und Schadensquellen, die zu entfernen sind, muss alles unverändert belassen wer den.
76
8
Kapitel 8 · Risikomanagement und Fehlerkultur
– Nicht beginnen, »das Durcheinander aufzuräumen«. – Asservieren und Markieren von Infusionen, Spritzen, Körperflüssigkeiten etc. – Keine Versuche unternehmen, das Ereignis zu kaschieren. – Unverzüglich professionelle Untersucher einschalten (Rechtsmediziner, Untersuchungsbehörden), vollständig kooperieren. – Alle Beteiligten möglichst rasch und allein ihre eigenen Beobachtungen und deren zeitlichen Ablauf niederschreiben lassen. – Betroffene Räume für weitere Verwendung sperren. 5. Kommunizieren, dokumentieren: – Den Patienten (falls er lebt und bei Bewusstsein ist) gründlich und wahrheitsgemäß darüber informieren, dass er Opfer eines Ereignisses wurde (Teamleiter). – Angehörige klar und umfänglich über das Ereignis informieren (Teamleiter und möglichst alle Beteiligten), Zeugen am Gespräch teilnehmen lassen. – Gespräche müssen formellen Charakter haben. – Offen erklären, dass Fehler passiert sind. – Zusichern, dass das Ereignis gründlich untersucht wird. – Keine Selbstbezichtigungen oder Schuldzuweisungen an andere. – Gespräche und ganzes Krisenmanagement protokollieren. – Unverzüglich Klinikleitung informieren. – Klarlegen, wer für die weitere Kommunikation zuständig ist. – Vorbereitetes Kommunikationskonzept umsetzen. – Schriftliche Mitteilung bereithalten, wenn Medien involviert werden. – Weitere Gesprächstermine mit Patienten bzw. Familie festlegen. – Unbürokratische Hilfe anbieten, psychologische Hilfe anbieten. – Immer für Angehörige verfügbar sein. – Beteiligte äußern sich nur noch auf Anfrage. 6. Debriefing, Unterstützung der nicht Geschädigten: – Alle beteiligten Mitarbeiter werden psychisch leiden und meist Schuldgefühle empfinden. – Aussprachen unter den Beteiligten genügen oft (Kollegenhilfe). – Einige Mitarbeiter werden professionelles Debriefing brauchen. – Schwelle tief halten, wenn Hilfe beansprucht werden soll. – Liste von Spezialisten führen, die das Debriefing posttraumatischer Stressstörungen beherrschen. – Den beteiligten Mitarbeitern Rechtshilfe zusichern. 7. Künftige Ereignisse ausschließen: – Versuchen, aus dem Ereignis später zu lernen. – Mit allen Beteiligten eine formale Prozessanalyse durchführen. – Nach versteckten Systemursachen (»root causes«) suchen. – Nicht voreilig Abläufe und Verfahren ändern, da dies als Eingeständnis von Schuld missverstanden werden kann. – Den Kreis des Qualitätszirkels schließen: Ereignis für Verbesserungen nutzen. – Schafft das Ereignis eine Gelegenheit, im betroffenen Betriebsbereich eine Qualitätssicherung aufzubauen?
8. Zurück zur Normalität, Spätkontrollen: – Ereignis durch Bericht an die vorgesetzte Klinikbehörde formal abschließen. – Den Bericht mit den Beteiligten besprechen. – Beginn des erneuten Normalbetriebs explizit bekannt machen. – Allfällige neue Richtlinien und Weisungen publik machen. – Weiter Kontakt zum Patienten und dessen Familie aufrechterhalten, Abschlussgespräch anbieten. – Fachliche Entwicklungen im betreffenden Gebiet aufmerksam verfolgen. – Erfahrungen und Gelerntes für andere verfügbar machen (»lessons learned«). Schlussbemerkung Erfolgreiches Risikomanagement und positiv gelebte Fehlerkultur bedingen sich gegenseitig. Die geschilderten Konzepte sind hochwirksam, wenn Patientenleben geschützt oder Patientenschäden verhindert werden sollen. Tatsächlich könnten in der klinischen Medizin viel mehr Leben gerettet werden, wenn schon nur die gut belegten Regeln sicher angewendet würden. Immer neuere und besser ausgefeilte Therapien hingegen bewegen sich oft im Bereich des Grenznutzens, wo der massiv gesteigerte Aufwand nur noch marginale Fortschritte bringt.
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8
9 Leistungserfassung und Qualitätssicherung C. Waydhas, O. Mörer
9.1
Einleitung
–80
9.2
Qualitätsmanagement
9.3
Ergebnisqualität
–80
–81
9.3.1 Kriterien der Ergebnisqualität –81 9.3.2 Vergleichbarkeit der Ergebnisse –81
9.4
Strukturqualität
–83
9.5
Prozessqualität
9.6
Leistungser fassung
–83 –84
9.6.1 Allgemeine Aspekte –84 9.6.2 Patientendatenmanagmentsysteme –85
Literatur
–86
80
Kapitel 9 · Leistungserfassung und Qualitätssicherung
9.1
Einleitung
Eine hochwertige Qualität der intensivmedizinischen Versorgung wird von Patienten, Angehörigen, den Kostenträgern und der Gesellschaft erwartet. Dieses Ziel entspricht auch dem Selbstverständnis ärztlicher Tätigkeit und ist in der Berufsordnung definiert, in der die »gewissenhafte Ausführung der gebotenen medizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztlichen Kunst« eingefordert wird. Maßnahmen zur Sicherung der ärztlichen Qualität, wie beispielsweise Fallbesprechungen, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen oder auch Chefarztvisiten sind seit langem integraler Bestandteil medizinischen Handelns. Die zunehmende Regulierung, Formalisierung und Transparentmachung erhöht auch die Anforderungen an die Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung. Durch die Gesetzgebung (Novelle des Sozialgesetzbuches V) und die aktuellen politischen Entwicklungen wird die Durchführung von Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in zunehmendem Maße eingefordert. Definitionen
9
Qualitätssicherung bezeichnet dabei Maßnahmen und Instrumente, die geeignet erscheinen, die Beschaffenheit von Dienstleistungen, hier der intensivmedizinischen Versorgung, zur Er füllung der in sie gesetzten Erwartungen zu stabilisieren oder zu bessern. Qualitätsmanagement sind die aufeinander abgestimmten Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation (hier einer Intensivstation) bezüglich Qualität. Dies beinhaltet üblicherweise das Festlegen der Qualitätsziele, die Qualitätsplanung, die Qualitätslenkung, die Qualitätssicherung und die Qualitätsverbesserung. Die Qualitätssicherung ist demnach ein Teilaspekt des übergeordneten Qualitätsmanagements.
9.2
Qualitätsmanagement
Qualitätsmanagement (QM) ist eine Leitungsaufgabe. Im eigentlichen Sinne steht dabei die geplante und organisierte Selbstreflexion im Zentrum. Ein reines Abarbeiten von Formalismen wird zu keiner Qualitätsverbesserung führen, sondern allenfalls Vorschriften erfüllen. Das Qualitätsmanagement stellt einen kontinuierlichen Prozess dar, der in seiner Grundstruktur auf dem Deming-Zyklus und dessen Variationen basiert (. Abb. 9.1). Erster Schritt im Qualitätsmanagement ist die Definition eines Qualitätsziels (wenn man nicht weiß, welche Qualität man haben möchte, kann man auch nicht feststellen, ob sie erreicht ist). Dies ist gleichzeitig die Definition des Soll-Werts. In der Qualitätsplanung werden dann Konzepte und Abläufe erarbeitet, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Diese können Struktur- oder Organisationsmaßnahmen beinhalten ebenso wie Weiterbildungs- und Trainingsaktivitäten. In der anschließenden Phase werden die erarbeiteten Planungen umgesetzt (Qualitätslenkung). Das Auswerten der erreichten Leistungen (Ist-Zustand) und der Vergleich zwischen dem erreichten Ist-Zustand und dem definierten Soll-Wert stellen den Kern der Qualitätssicherung dar.
. Abb. 9.1. Deming-Zyklus, auch PDCA-Zyklus genannt, der in den 1950-er Jahren, basierend auf den Vorschlägen von Shrewhart, entwickelt wurde, um den kontinuierlichen Prozess der Qualitätsverbesserung darzustellen. Auf dieser stark vereinfachten Grundstruktur bauen praktisch alle späteren Modifikationen auf
i Die systematische Erfassung von geeigneten und ausreichenden Daten ist unabdingbare Voraussetzung für den Ist-Soll-Vergleich und alle daraus resultierenden Folgerungen. Dies ist oft der arbeitsintensivste und aufwändigste Teil für die Mitarbeiter und das gesamte QM-System.
Die daraus gewonnenen Informationen werden für Strukturverbesserungsmaßnahmen und Prozessoptimierung eingesetzt (Qualitätsverbesserung). Erfolge und Ergebnisse werden kommuniziert. Dieser Qualitätszyklus wird immer wieder neu durchlaufen. Grundsätzlich kann nicht die Qualität generell bewertet werden, sondern immer nur die Qualität spezieller Teilbereiche der Gesamtleistung. Diese Teilbereiche werden Qualitätsindikatoren genannt. Sie können, sofern keine gesetzlichen oder gesetzesähnlichen Anforderungen bestehen, frei gewählt werden. Um den Qualitätszyklus auf den Indikator anwenden zu können, sollte dieser eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die in der RUMBARegel zusammengefasst sind. RUMBA-Regel 5 5 5 5 5
»Relevant« (bedeutsam) »Understandable« (verständlich) »Measurable« (messbar) »Behaviourable« (beeinflussbar) »Achievable« (erreichbar)
Am Beginn des Qualitätsmanagements steht die Zieldefinierung. Diese bewegt sich im Spannungsfeld zwischen möglichst guter Effektivität (Zielerreichung unabhängig von den eingesetzten Mitteln) und möglichst hoher Effizienz (Zielerreichung mit möglichst geringem Einsatz von Mitteln). Je nach Blickwinkel steht der eine oder andere Aspekt im Vordergrund. Während die Kostenträger und das Krankenhausmanagement das Augenmerk
81 9.3 · Ergebnisqualität
verstärkt auf eine gute Effizienz legen, ist für die Patienten, aber auch für das medizinische Personal die Effektivität der Behandlung zunächst ausschlaggebend. Jedes Qualitätsziel ist demnach in Bezug auf die Zielgruppe auszurichten. Für die Durchführung des QM hat sich die Form des Qualitätszirkels als eine äußerst nützliche Methode erwiesen. Dieser tagt regelmäßig, läuft nach definierten Regeln ab und steuert den gesamten Prozess (von der Zielvorgabe bis zur Analyse und den Schlussfolgerungen). Idealerweise sollte er sich aus Vertretern aller wichtigen Personengruppen (z. B. ärztliches Personal, Pflegepersonal u. a.) und Abteilungen (neben der Intensivstation z. B. auch die Radiologie, die Hygieneabteilung, das Labor, die Transfusionsmedizin, wichtige Konsiliarabteilungen etc.) zusammensetzen. Die Effektivität strukturierter Qualitätszirkel konnte für komplexe interdisziplinäre Bereiche, wie beispielsweise das Polytrauma-Schockraum-Management, nachgewiesen werden (Ruchholtz et al. 2002). Qualitätszirkel müssen nach etablierten Modellen an den jeweiligen Institutionen entsprechend deren Besonderheiten eingerichtet werden. Zertifizierungsverfahren wie die DIN EN ISO 9000 Familie oder KTQ können den Rahmen vorgeben. Sie sind stark formalisiert und zielen hauptsächlich auf strukturelle und organisatorische Qualität ab. Sie sind nicht speziell auf die Bewertung intensivmedizinischer Qualität ausgelegt, auch wenn durchaus relevante Aspekte abgefragt werden (z. B. »In welcher Form wird der Facharztstandard gewährleistet?«, »Ist die Versorgung nach dem Facharztstandard rund um die Uhr sichergestellt?«, »Wird die Indikation zu invasiven Maßnahmen grundsätzlich von einem Facharzt gestellt?«). KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) hat dabei in Deutschland die bislang weiteste Verbreitung gefunden und erlaubt die wissenschaftlich fundierte Analyse und Bewertung des Qualitätsmanagements eines gesamten Krankenhauses, in dem eine Intensivstation dementsprechend nur einen Teil abdeckt. Die Entwicklung einer Fehlerkultur, das Risikomanagment und die damit verbundenen Aspekte der »human resources« und des TRM (»team resource management«) sind ebenfalls Teile eines Qualitätsmanagements und werden an anderer Stelle (7 Kap. 8) dargestellt. Die Bereiche, in denen Qualität erreicht werden kann, beziehen sich nach Donabedian (1966, 1980) auf die Struktur und Organisation, die Prozessabläufe und das Behandlungsergebnis. 4 Strukturqualität bezieht sich auf die Voraussetzungen, die für die Erbringung einer hohen Leistungsqualität erforderlich sind (z. B. Anzahl und Qualifikation der Mitarbeitenden, technische und bauliche Infrastruktur, Zusammenarbeitsformen, Organisationsstruktur, finanzielle Ausstattung). 4 Prozessqualität ist definiert durch die Qualität des Behandlungsprozesses selbst. Sie beinhaltet den Ablauf diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen ebenso wie die Zusammenarbeit verschiedener Personengruppen oder Abteilungen innerhalb der Station oder des Krankenhauses. Sie setzt dabei voraus, dass Umfang und Ablauf der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft und den Erfahrungen der ärztlichen Berufspraxis entsprechen. 4 Ergebnisqualität bezieht sich auf die Qualität der Zielerreichung. Sie ist der primäre Beurteilungsmaßstab für eine medizinische Leistung.
9
Die zentrale Hypothese besagt dabei, dass ein direkter Zusammenhang zum einen zwischen der Qualität der eingesetzten Mittel (Strukturqualität), zum anderen zwischen der Qualität der Behandlungsdurchführung (Prozessqualität) mit dem erreichten Ergebnis besteht. Es wird angenommen, dass qualifiziertes Personal eine hochwertige technische Ausstattung und eine gute Organisation ebenso wie ein qualitativ hochwertiger Behandlungsprozess gute medizinische Ergebnisse bewirken. Eine Abhängigkeit der Prozessqualität von der Strukturqualität wird ebenfalls vermutet. Ein wissenschaftlicher Beleg für diese Zusammenhänge konnte in der Intensivmedizin für einige Teilbereiche geführt werden (7 Kap. 9.4). i Eine Verbesserung des Ergebnisses als Folge qualitätsverbessernder Maßnahmen ist häufig schwierig nachzuweisen. Es ist oft einfacher, den Nachweis über die Erfüllung von Anforderungen über Strukturvorgaben oder -verbesserungen bzw. Prozessabläufe zu beschreiben.
9.3
Ergebnisqualität
9.3.1 Kriterien der Ergebnisqualität Das Ergebnis einer Behandlung ist das wichtigste Kriterium für die Qualität der Versorgung. Alle anderen Maßnahmen, insbesondere auch in den Bereichen der Struktur- und Prozessqualität, zielen ausschließlich auf die Erreichung eines möglichst guten Ergebnisses ab. Im (nicht messbaren) Gesamtergebnis ist allerdings ein weites Spektrum verschiedenster (messbarer) Ergebnisausprägungen enthalten (. Tab. 9.1). Keine der genannten Ergebnisqualitäten ist besser oder schlechter als die anderen. Die Auswahl erfolgt ausschließlich in Abhängigkeit von selbst gewählten oder vorgegebenen Zielen und davon, wer die Qualitätssicherung vornimmt. Entsprechend der ausgewählten Ergebnisausprägungen ist eine darauf abgestimmte spezielle Leistungserfassung erforderlich. Diese kann – je nach Qualität der Datenerfassungsstruktur – routinemäßig und mit relativ geringem Aufwand möglich sein (z. B. Sterblichkeit, Liegedauer, Morbidität, einige Kostenaspekte). Aufwändiger ‒ und deshalb selten außerhalb wissenschaftlicher Studien – werden das Langzeitüberleben und die Lebensqualitätsparameter sowie gesamtökonomische Ergebnisse erhoben und analysiert. 9.3.2 Vergleichbarkeit der Ergebnisse If you have never felt the need for any type of severity scoring system, then you have probably never had to explain how it is that the survival rate of 85% in your intensive care unit is actually better than the survival rate of 97% in some other ICU where the patients are much less seriously ill. (Mod. nach Baker 1983)
Für die Bewertung jeglichen Ergebnisses ist grundsätztlich ein Vergleich notwendig. Ein Vorher-nachher-Vergleich zeigt den Fortschritt, den die eigenen qualitätsverbessernden Maßnahmen bewirkt haben, am besten. Er ist das Herz des Qualitätszyklus. Es fehlt allerdings die Kalibrierung an einem übergeordeten allgemein gültigen »Standard«, um das Ergebnis im Spektrum dessen, was erwartet bzw. geleistet wird, einordnen zu können. Hierfür ist ein externer Qualitätsvergleich erforderlich.
82
Kapitel 9 · Leistungserfassung und Qualitätssicherung
. Tabelle 9.1. Mögliche Ausprägungen der Ergebnisqualität (Auswahl)
9
Sterblichkeit
4 4 4 4
Behandlungsdauer
4 Beatmungsdauer 4 Intensivstationsliegedauer 4 Krankenhausliegedauer
Morbidität
4 4 4 4
Zwischenfälle
4 Inzidenz 4 Schwere
Zufriedenheit und Lebensqualität
4 der Patienten 4 der Angehörigen von Intensivpatienten 4 des medizinischen Personals
Ökonomie und Kosteneffizienz
Aus Sicht der 4 eigenen Abteilung (Budgetverantwortung) 4 Krankenhausleitung 4 Kostenträger 4 Versicherten 4 Gesundheitspolitik
Intensivstationsletalität Krankenhausletalität 28- oder 90-Tages-Letalität 2- oder 5-Jahres-Letalität
Infektionen (Inzidenz, Schwere) Organfunktionsstörungen (Inzidenz, Schwere) Reintubationsrate Ungeplante Wiederaufnahmerate auf die Intensivstation
. Tabelle 9.2. Parameter des Simplified Acute Physiology Score 3 (SAPS 3). (Mod. nach Moreno et al. 2005) Box 1
Box 2
Box 3
4 Alter 4 Komorbiditäten 4 Dauer des Krankenhausaufenthalts vor Aufnahme auf die Intensivstation 4 Krankenhausbereich, in dem sich der Patient vor Aufnahme auf die Intensivstation aufgehalten hat 4 Wesentliche Therapiemaßnahmen vor Aufnahme auf die Intensivstation
4 Geplante oder ungeplante Aufnahme auf die Intensivstation 4 Gründe für die Aufnahme (welche Organstörung) 4 Chirurgischer Status 4 Anatomische Region des chirurgischen Eingriffs (falls zutreffend) 4 Akuter Infektionsstatus zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Intensivstation
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Kernproblem aller Vergleiche ist die Frage, ob verschiedene Patientenkollektive überhaupt miteinander vergleichbar sind. So kann das Behandlungsergebnis vom Alter und Geschecht des Patienten, seinen Vorerkrankungen, der Art und dem Stadium bzw. der Prognose der Grunderkrankung, der Dauer der akuten Erkrankung vor Aufnahme auf die Intensivstation, dem Zustand des Patienten zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Intensivstation u. v. a. abhängen. Nur wenn bezüglich dieser und anderer Risikofaktoren eine Vergleichbarkeit zwischen Patientenkollektiven besteht, kann auf den Einfluss von Qualitätskriterien zurückgeschlossen werden. i Ein externer Qualitätsvergleich ist ohne eine Form der risikoadjustierten Schweregradbeschreibung (z. B. mit Scores) nicht möglich.
Für die Intensivmedizin existieren eine Reihe von gut validierten Prognosescores, deren neuester der Simplified Acute Physiology
Glasgow-Coma-Scale Gesamtbilirubin Körpertemperatur Kreatinin im Serum Herzfrequenz Leukozytenzahl pH-Wert Thrombozytenzahl Systolischer Blutdruck Oxygenierung
Score 3 (SAPS 3) ist (. Tab. 9.2). Dieser ist als »public domain« frei verfügbar. Alternativen sind der ältere SAPS 2 sowie der APACHE II und der APACHE III (kostenpflichtig). Für andere Ergebnisqualitäten können andere Schweregradadjustierungen erforderlich sein; nicht für alle Anwendungen sind diese vorhanden. Ein Ergebnis kann binomial (z. B. ja/nein; tot/lebend), in diskreten Kategorien (z. B. graduierte Schwere eines Organversagens) oder als kontinuierliche Variable (z. B. Liegedauern) dargestellt werden. Nicht selten werden komplexe Ergebnisse in Form eines Scores zusammengefasst (SF-36, Critical Care Family Needs Inventory, Murray-Score zur Beschreibung der Schwere des ARDS, SOFA-Score zur Beschreibung der Schwere des Multiorganversagen etc.). Aus Gründen der Vergleichbarkeit sollten hier nur publizierte und validierte Scores verwendet werden. Für den Ergebnisvergleich ist, neben dem eingangs erwähnten internen Längsschnittvergleich, der Vergleich mit den Ergebnissen anderer, vergleichbarer Intensivstationen von besonderem
83 9.5 · Prozessqualität
Interesse. Diese können, beispielsweise anhand publizierter Daten aus wissenschaftlichen Studien, als die möglicherweise »besten« erzielbaren Ergebnisse definiert werden. Dies hat den Nachteil, dass man sich mit Ergebnissen vergleicht, die zwar unter optimalen Bedingungen erreichbar sind (und zusätzlich einem Hawthorne-Effekt unterliegen können), aber unter artifiziellen Studienbedingungen und Patientenselektionierungen entstanden sind und damit auf typische Patientenkollektive nicht unbedingt sinnhaft zu übertragen sind. Auch ist eine Vergleichbarkeit in der Datenerfassung und Datenqualität meist nicht sichergestellt. Günstiger erscheint die Teilnahme an größeren Qualitätssicherungprojekten mit definierter Datenerfassung, einheitlichen Definitionen und vorgegebenen Qualitätsindikatoren. Hierzu gehören im Wesentlichen: 4 das Nationale Register zur Qualitätssicherung in der Intensivmedizin der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI); www.divi-org.de, 4 Verein Österreichisches Zentrum für Dokumentation und Qualitätssicherung in der Intensivmedizin (ASDI); www. asdi.ac.at, 4 Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS): Modul ITS-KISS; www.nrz-hygiene.de, 4 Qualitätsmanagement ITS der Landesärztekammer Thüringen; www.laek-thueringen.de, 4 Leapfrog Group (USA); www.leapfroggroup.org. i Innerhalb Deutschlands wurde ein Kerndatensatz Intensivmedizin – Mindestinhalte der Dokumentation im Bereich der Intensivmedizin gemeinsam von der DIVI und der DGAI verabschiedet (Waydhas 2000, Martin et al. 2004, www.divi-org.de)
Zur Interpretation des Vergleichs ist die Definierung des angestrebten Ziels entscheidend. Allgemein gesprochen, kann es ein Ziel sein, eine bestimmte Anforderung immer zu erfüllen, schlechte Ergebnisse zu vermeiden bzw. zu minimieren oder im Durchschnitt eine bestimmte Leistung zu erreichen (»benchmarking«). Die angestrebte Leistung kann der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer Intensivstationen entsprechen oder sich an den besten Werten orientieren. Der Vergleich mit dem Durchschnitt kann dazu führen, dass zwar Problembereiche identifiziert werden können, dass jedoch nicht die Potenziale realisiert werden, die eine Spitzenleistung ermöglichen. Andereseits zeigt eine Leistung wie der Durchschnitt eine adäquate Qualität an. Ein unterdurchschnittliches Ergebnis oder ein Ergebnis, das nicht den eigenen Erwartungen oder Anforderungen entspricht, gibt Anlass, neben möglichen Strukturdefiziten auch die eigenen Prozesse zu untersuchen, um das Verbesserungspotenzial auszuschöpfen. 9.4
Strukturqualität
Untrennbar mit der Ergebnis- und Prozessqualität verbunden ist die Strukturqualität. Weder die Qualität des Prozesses noch des Ergebnisses können ohne Kenntnis oder Berücksichtigung der Strukturen, die diesen Prozess ermöglichen bzw. das Ergebnis bedingen, sinnvoll bewertet werden. Die Strukturqualität bezieht sich im Wesentlichen auf folgende Bereiche: 4 räumliche Ausstattung, 4 apparative Ausstattung, 4 personelle Ausstattung (Anzahl und Qualifikation),
9
4 Organisation und Qualitätssicherung, 4 Infrastruktur des Krankenhauses (z. B. verfügbare Spezialisten, technische Ausstattung etc.). Die Anforderungen an die Strukturqualität haben nur in wenigen Fällen einen verbindlichen Charakter, wie etwa die Vorgabe der Berufsgenossenschaften zu baulichen Vorraussetzungen, der Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert Koch-Instituts unter dem Schwerpunkt der Krankenhaushygiene, die Vorgaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft von 1969 bezüglich eines Minimalschlüssels zum Personalbedarf oder die Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern bezüglich der Qualifikation von Ärzten für intensivmedizinische Inhalte und Fertigkeiten. Weiterhin werden ‒ im Rahmen der Vergütung der intensivmedizinischen Komplexbehandlung (OPSZiffer 8-980) ‒ von den Kostenträgern als Mindestmerkmale eine »kontinuierliche, 24-stündige Überwachung und akute Behandlungsbereitschaft durch ein Team von Pflegepersonal und Ärzten, die in der Intensivmedizin erfahren sind und die aktuellen Probleme ihrer Patienten kennen, sowie »die Gewährleistung einer ständigen ärztlichen Anwesenheit auf der Intensivstation« erwartet. Darüber hinaus gibt es ausgezeichnete, allerdings unverbindliche Empfehlungen von nationalen und internationalen Fachgesellschaften zur räumlichen und personellen Ausstattung von Intensivstationen, zur Definition des Intensivmediziners und zur Ausbildung von intensivmedizinisch tätigen Ärzten (eine Auswahl von wichtigen Quellen ist im Literaturverzeichnis aufgelistet). Diese können herangezogen werden, um die wenigen verbindlichen Minimalanforderungen mit den fachlich als notwendig angesehenen Anforderungen an die Strukturqualität zu ergänzen. Die Zusammenhänge zwischen Behandlungsergebnis und Strukturaspekten sind gut belegt. In mehreren Studien konnte eine Korrelation zwischen Intensivstationsliegedauer, Rate an akutem Lungenversagen, Reintubationsrate und auch Letalität mit dem Pflegepersonen-zu-Patienten-Schlüssel beobachtet werden: Wenn eine Pflegekraft 3 oder mehr Intensivpatienten zu betreuen hatte, so stieg die Komplikationsrate deutlich an, im Vergleich zu einem 1 : 2-Schlüssel. i Die organisatorische und medizinische Leitung einer Intensivstation durch einen entsprechend ausgebildeten Intensivmediziner, der vollzeitig und ausschließlich auf der Intensivstation tätig ist, hat in zahlreichen Studien zu einer ausgeprägten Reduzierung der Sterblichkeit und der Intensivstationsliegedauer geführt (Pronovost et al. 2002).
Dieses Kriterium (zusammen mit der permanenten Vefügbarkeit eines intensivmedizinischen ausgebildeten Arztes) wird von der Leapfrog Group als der wichtigste Qualitätsindikator für Intensivstationen angesehen. Durch Umsetzung dieser Anforderung in allen Intensivstationen wird vermutet, dass allein in den USA zwischen 18.000 und 90.000 Leben jährlich gerettet werden könnten. 9.5
Prozessqualität
Für den Bereich der Strukturqualität existiert somit eine Reihe guter Instrumente, die eine geeignete Erfassung und Bewertung von Strukturelementen in der intensivmedizinischen Versorgung ermöglichen. Wesentlich problematischer ist die Messung der Qualität im Bereich der Prozessqualität. Eines der Hauptprobleme für die praktische Umsetzung umfassender qualitäts-
84
Kapitel 9 · Leistungserfassung und Qualitätssicherung
sichernder Maßnahmen in diesen Bereichen ist dabei die hohe Komplexität der modernen Intensivtherapie. i Grundsätzlich muss zwischen den Behandlungsstrategien bezüglich der zugrunde liegenden Erkrankung und den Konzepten bezüglich der Therapie intensivmedizinischer Probleme unterschieden werden. Das eine führt nicht ohne das andere zum Erfolg.
9
Bei der Breite möglicher Grunderkrankungen, aber auch dem Spektrum intensivmedizinischer Probleme ist es offensichtlich, dass eine alles umfassende Qualitätssicherung nicht ohne Weiteres möglich ist. Somit müssen punktuell besonders häufige oder wichtige Bereiche als Indikatoren für die generelle Prozessqualität ausgewählt werden. Solche Indikatoren können einerseits die Behandlungsverläufe bestimmter Erkrankungen sein, beispielsweise der diffusen Peritonitis, der primären außerhalb des Krankenhauses erworbenen Pneumonie oder beliebiger anderer vital bedrohlicher Erkrankungen. Hier stehen dann die Behandlungsabläufe und Konzepte zur Therapie der Grunderkrankung im Vordergrund. Alternativ oder komplementär können intensivmedizinische Syndrome wie schwere Sepsis, Multiorganversagen oder die akute respiratorische Insuffizienz analysiert werden, ohne dass dabei der Einfluss der Therapie der Grunderkrankung außer Acht bleiben kann. In jedem Fall muss eine Auswahl bezüglich der zu erfassenden Prozesse erfolgen. Idealerweise sollte diese Auswahl und insbesondere die ganze Analyse und der Qualitätsmanagementprozess interdisziplinär unter Beteiligung nicht nur der hauptsächlich involvierten medizinischen Fachgebiete, sondern auch der verschiedenen beteiligten Personengruppen, wie ärztliches und Pflegepersonal, erfolgen. Im Sinne der Soll-Definition muss zunächst festgelegt werden, wie ein Behandlungsprozess idealerweise ablaufen soll. Ein erwarteter Behandlungsablauf kann anhand eines Behandlungspfades, einer Leitlinie, eines Algorithmus, eines Ablaufschemas oder anderer transparenter und expliziter Vorgaben festgelegt werden. Ohne eine solche dezidierte Vorgabe kann eine Prozessanalyse nicht durchgeführt werden, da insbesondere systematische Fehler sonst nicht sichtbar werden. In Frage kommen allerdings nur Bereiche, in denen die wissenschaftliche Evidenz ausreichend gut und gesichert ist und die durch Leitlinien abbildbar sind. Möglicher weise erforderliche Verbesserungsmaßnahmen können Strukturverbesserungen, die Einführung oder Weiterentwicklung von Leitlinien oder eine Schulung oder ein Training des medizinischen Personals umfassen. Als Bereiche für die Qualitätskontrolle von Prozessen wurden u. a. die perioperative Gabe von E-Blockern, die erhöhte Oberkörperlagerung zur Aspirationsprophylaxe, die Durchführung der Stressulkus- und Thromboseprophylaxe, die Blutzuckerkontrolle im Bereich von <110‒150 mg/dl oder die Einhaltung eines Protokolls zur Beatmungsentwöhnung vorgeschlagen. 9.6
Leistungser fassung
9.6.1 Allgemeine Aspekte Die Qualität und Effektivität des Qualitätsmanagements ist nur so gut wie die Qualität der verwendeten Daten und damit auch der Datenerfassung. Um zuverlässig verwertbar zu sein, müssen die erfassten Daten bzw. Datensätze
4 4 4 4 4
reliabel (d. h. korrekt), relevant valide, vollständig und lückenlos sowie umfassend genug
sein. Außerdem sollten die Datenerfassung praktikabel und der Aufwand, der für die Erfassung erforderlich ist, in akzeptabler Relation zum erwarteten Nutzen stehen. Im Allgemeinen ist es deshalb günstiger, auf erprobte und validierte Fragebögen und Scores oder andere Instrumente zurückzugreifen, als eigene Fragen und Datensätze zu verwenden. Zusätzlich zur Validität und Reliabilität haben Erstere den unschätzbaren Vorteil der Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen anderer Institutionen (s. o.). Aus der Vielzahl publizierter und erhältlicher Instrumente können diejenigen ausgewählt werden, die für die eigenen Bedürfnisse am relevantesten sind und deren Erfassungsaufwand leistbar ist. Nachdem der Umfang des Datensatzes definiert wurde, ist die Erfassung umzusetzen. Natürlich müssen die Daten korrekt dokumentiert werden, insbesondere müssen aber auch die Daten aller in Frage kommender Patienten erfasst werden. Ausnahmen sind klar zu definieren. Eine nicht nachvollziehbare Selektion von Patienten und das Fehlen wichtiger Patientendaten mindern den Wert der Qualitätserfassung, der Analyse und der daraus abgeleiteten Verbesserungsmaßnahmen ganz erheblich. Zur Datendokumentation steht eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die alle gewisse Vor- und Nachteile aufweisen. Am robustesten und mit der höchsten Kompatibilität versehen ist nach wie vor die papiergebundene Dokumentation auf dafür vorgesehenen Erfassungsbögen oder Formularen. Sie sind arbeitsplatzunabhängig, gut zu kontrollieren, meist gut und schnell verfügbar, und das Beschreiben von Papier ist für die meisten Anwender immer noch intuitiv die einfachste Form der Dokumentation. Hauptnachteile sind die Notwendigkeit zur redundanten Erfassung und Dokumentation zahlreicher Parameter und die Notwendigkeit zur arbeitsaufwändigen und fehlerträchtigen Eingabe in eine elektronische Datenbank, um eine Auswertung überhaupt zu ermöglichen. Die Plausibilitätskontrollen hängen meist von demjenigen ab, der die papiergestützten Daten in eine elektronische Datenbank eingibt. Um einen Arbeitsschritt reduziert ist der Aufwand, wenn die Daten direkt in eine elektronische Datenbank eingegeben werden. Auch die Zahl redundanter Eingaben könnte reduziert werden, indem eine Reihe von Daten nur einmal eingeben werden müssen und dann für verschiedene Anwendungen verfügbar sind, oder wenn sie automatisiert aus anderen Systemen übernommen werden. So attraktiv dies erscheint, so problematisch ist häufig nach wie vor die praktische Umsetzung in der Realität. Folgende Probleme treten u. a. auf: 4 erschwerte Kontrolle der elektronischen Datensätze auf Richtigkeit und Vollständigkeit, 4 fehlende, ungenügende oder uneinheitliche Plausibilitätskontrollen und die damit verbundene Gefährdung der Datenqualität, 4 Notwendigkeit zur aufwändigen und kostenintensiven Programmierung von Schnittstellen zwischen verschiedenen Programmen zum Datenaustausch, 4 geringe Flexibilität von Patientendatenmanagmentsystemen (PDMS) bezüglich der Aufnahme zusätzlicher Parameter und geeigneter Exportfunktionen,
85 9.6 · Leistungserfassung
9
. Abb. 9.2. Einbindung eines Patientendatenmanagmentsystems in das Kliniknetz und Datenfluss
4 Bindung an (wenige) feste Arbeitsplätze, sofern keine tragbaren PCs zur Verfügung stehen. Grundsätzlich scheinen aber die Patientendatenmanagmentsysteme (7 Kap. 9.6.2) bei der steigenden Datenflut trotz aktuell noch bestehender Einschränkungen das ideale Mittel für die Datenerfassung auch im Rahmen der Qualitätssicherung zu sein. Generell ist eine Reihe von Problemen bei der Datenerfassung zu beachten: 4 Die Erfassung von Prozessabläufen ist meist aufwändiger als diejenige von Ergebnissen oder Strukturen. Hier sind neben zeitabhängigen Daten oft auch Verzweigungen in den Handlungsabläufen zu berücksichtigen. Die Beschränkung auf ausschließlich in der Krankenversorgung routinemäßig erfasste Parameter reicht in der Regel nicht aus, um die qualitätsrelevanten Informationen über den Behandlungsprozess zu erfassen. 4 Fehlende Werte (»missing values«) können Scorewerte und daraus abgeleitete Prognosen zu eigenen Ungunsten verfälschen. Dies betrifft insbesondere auch Variablen, die nicht regelhaft täglich erfasst werden (z. B. Bilirubin, Basenexzess, Glasgow Coma Scale). 4 Bei einer automatischen Erfassung von physiologischen Parametern (z. B. Blutdruck, Herzfrequenz) mittels Patientendatenmanagmentsystemen werden häufig pathologischere Werte dokumentiert als bei der herkömmlichen Dokumentation, da bei Letzterer sehr kurzzeitige Abweichungen als möglicher weise nicht relevant angesehen und nicht schriftlich festgehalten werden. Dies führt dazu, dass bei den Patientendatenmanagmentsystemen höhere Scorewerte und eine schlechtere Prognose resultieren, die bei Vergleichen mit anderen Daten einen eigenen Vorteil bedingen können. 4 Bei komplex zusammengesetzten Daten oder Ereignisbeschreibungen sind klare Definitionen erforderlich. Diese sind aber nicht immer allen dokumentierenden Mitarbeitern in allen Einzelheiten bekannt, decken nicht alle Eventualitäten ab oder werden von manchen Mitarbeitern intuitiv nicht als sinnhaft angesehen (z. B. Glasgow Coma
Scale bei beatmeten oder sedierten Patienten). Darunter kann die Reliabilität der Daten leiden. 9.6.2 Patientendatenmanagmentsysteme
O. Mörer In der Intensivmedizin werden zunehmend Patientendatenmanagmentsysteme eingesetzt (Benson et al. 2003). Die Möglichkeiten, die aus dem Einsatz dieser Systeme entstehen, sind vielfälltig und gehen weit über den alleinigen Ersatz einer papierbasierten Patientendokumentation hinaus. Ein PDMS sollte die lückenlose Dokumentation des medizinischen Behandlungsablaufs unterstützen und die Erfassung von Qualitäts- und Kostenfaktoren ermöglichen. Strukturell handelt es sich um ein Applikationsmodul für die Massendatenintegration, das technisch zwischen den Netzkomponenten des Monitorings und dem klinischen Netz angesiedelt ist. Es ist ein spezialisiertes klinisches Subsystem zur strukturierten Sammlung, Bereitstellung und Auswertung von medizinischen Therapie- und Behandlungsdaten. Bei der Datenerfassung fallen große Mengen an Rohdaten aus den verschiedensten Überwachungsprozessen an. Sinnvoll ist die Verknüpfung und Einbindung in die gesamte IT-Landschaft einer Klinik (. Abb. 9.2). Funktionen, die sich sich über das PDM-System abbilden lassen 5 Stationsmanagement – Bettenbelegung – Aufnahmejournal – Mitternachtstatistik – Dienst- und Urlaubspläne von Ärzten und Pflegekräften – Integration von SOPs (»standard operating procedures«) 6
86
9
Kapitel 9 · Leistungserfassung und Qualitätssicherung
– Kommunikation zwischen den Nutzern/ Nutzergruppen – Zeitnaher und retrospektiver Zugriff auf Patientendaten für Leistungsstatistik, Forschung und Lehre 5 Stationsbezogenes Patientenmanagement – Aufnahme – Verlegung/Entlassung – Arztberichte/Briefe – DRG-relevante Datenerfassung (OPS-301 Prozedurenermittlung, ICD-10) – Kostener fassung über Ressourcenverbrauch und hinterlegte Datenbanken 5 Patientenbezogene Planung und Dokumentation – Medizinische und pflegerische Basisdaten – Therapieplanung und Dokumentation – Pflegeplanung und Dokumentation – Patientenkurve (Vitalparameter, Laborwerte etc.) – Flüssigkeitsbilanz – Dokumentation von invasiven Maßnahmen (Beatmung, Hämofiltration etc.) – Qualitätsicherung (Scoringsysteme, z. B. SAPS 2, SOFA, TISS) – Ressourcenverbrauch, Kostener fassung über hinterlegte Datenbanken 5 Austausch von Daten zwischen verschiedenen Kliniken/ Intensivstationen zur Qualitätskontrolle, Benchmarking oder auch für wissenschaftliche Zwecke
Diese Möglichkeiten werden derzeit noch wenig genutzt. Seit 2004 befasst sich eine Arbeitsgruppe der DIVI damit, eine Plattform aufzubauen (COSP-Plattform der IAG-PDMS), mit Hilfe derer die Daten unterschiedlicher Arbeitsgruppen ausgetauscht werden können. Um einen Datenaustausch zu ermöglichen und Unterschiede zwischen verschiedenen Patientendatenmanagmentsystemen zu über winden, benötigt man eine einheitliche Datenbasis. Zunächst muss also ein einheitliches Datenformat definiert werden, in dem z. B. die pseudonymisierten Stammdaten der Patienten abgebildet werden. Dieser Schritt der Datenintegration erfolgt mit Hilfe eines Gateways und muss individuell für jedes PDM-System erstellt werden. Die standardisierten Daten werden dann mit Hilfe einer Metadatenbank inhaltlich hinsichtlich Parameterbezeichnung, Wert und Einheit normiert und damit für die Dateninterpretation aufgearbeitet. Dieser Schritt wird einmal programmiert; die Metadatenbank muss dann an die Konfiguration der Installation angepasst werden. Anschaffung eines PDMS
In der Planungsphase für die Umstellung auf ein computerisiertes PDMS ist die Definition eines Anforderungsprofils unabdingbar. Sicherlich müssen hierbei nicht alle der oben genannten Nutzungsmöglichkeiten berücksichtigt werden, es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass das System entsprechend ausbaufähig ist. Derzeit ist eine Reihe von Systemen auf dem Markt. Administrative Anwendungen, wie z. B. die Bettenbelegung sind in keinem der Systeme kommerziell erhältlich. Weiterhin unterscheiden sich diese teilweise deutlich in ihrer Anwenderfreundlichkeit und Ausbaufähigkeit, v. a. aber auch in den Kosten für Anschaffung und Unterhaltung. So muss z. B. bei einigen Syste-
men für jeden Bettenplatz eine Lizenz erworben werden, was bei größeren Intensivstationen zu hohen Kosten führt. Das PDMS sollte auf einem modernen Datenbanksystem aufbauen. Weitere Aspekte sind spezielle Server- und Speicherplatzanforderungen, Archivierung etc., die berücksichtigt werden müssen, an dieser Stelle aber nicht weiter diskutiert werden. Überlegungen zu Kosten und Nutzen eines PDMS
Die Einführung eines PDM-Systems eröffnet die Möglichkeit, Daten in einer hohen Dichte zu erfassen. Dies war bisher allenfalls im Rahmen von Studien möglich. Mit Verlagerung der papierbasierten Dokumentation auf eine EDV-gestützte Dokumentation ist ein schnellerer (graphisch aufbereiteter) Zugriff auf klinische Daten möglich. Für die Pflege entfällt ein Großteil der Dokumentationsaufgaben (z. B. das stündliche Notieren von Vitalwerten und Beatmungseinstellungen); Therapie- und Pflegeplanung lassen sich leichter standardisieren. Außerdem wird der Zugriff auf diagnostische Daten (Laborwerte Röntgenbefunde) erleichtert und teilweise erheblich beschleunigt. Durch Datentransfer mit anderen Stationen (Normalstation oder OP) brauchen Basisdaten nur einmal aufgenommen zu werden. In Zeiten der DRG-basierte Vergütung kann die Erfassung und Übertragung von vergütungsrelevanten Daten teilweise automatisiert werden. Neben diesen Argumenten für den Einsatz eines PDMS gibt es auch Nachteile, wie etwa die hohen Anschaffungs- und Unterhaltungskosten. Die Frage, ob die Anschaffung eines PDMS auch kosteneffektiv ist, ist daher nicht abschließend zu beantworten. Eine weitere Schwierigkeit kann in der Schnittstellenproblematik mit anderen DV-Strukturen innerhalb der Station, Abteilung oder des Krankenhauses liegen. Wie aus . Abb. 9.2 zu ersehen ist, muss das PDMS mit einer Vielzahl von Datensystemen interagieren und Daten austauschen. Hierfür müssen Schnittstellen entwickelt werden, was nicht selten zusätzliche Programmierund Entwicklungsarbeiten erforderlich macht.
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9
10 Ökonomie und Vergütung O. Moerer, H. Burchardi
10.1
Kosten
10.1.1 10.1.2 10.1.3
Definition der Kosten –90 Erfassung der Kosten –90 Kosten der Intensivbehandlung –91
10.2
Erstattung der Kosten
10.2.1 10.2.2 10.2.3
DRG/OPS-System –91 Kodierung der Intensivbehandlung –92 Fazit –94
Literatur
–90
–94
–91
90
Kapitel 10 · Ökonomie und Vergütung
10.1
Kosten
10.1.1 Definition der Kosten Bei Definition und Beurteilung muss genau berücksichtigt werden, worauf sich die Kostenbelastung bezieht. So sind Kosten für das Krankenhaus solche, für die das Krankenhaus belastet wird. Bei der Berechnung sind z. B. keine Preise (z. B. Preis eines Arzneimittels nach der Roten Liste) zu veranschlagen, da sie in der Regel nicht den realen Kosten entsprechen. Ebenfalls muss genau definiert werden, was bei einer Kostenerfassung mit einbezogen ist (etwa übergreifende Kosten, wie anteilige Personalkosten oder Entsorgungskosten etc.). Häufig werden Kosten in direkte und indirekte Kosten unterteilt. Definition von Kosten [12]
10
5 Direkte Kosten: Kosten, die direkt einem individuellen Patienten (oder Kostenobjekt) zuzuordnen sind. Verabreichte Medikamente und Blutproduke, Diagnostik, invasive Maßnahmen etc. 5 Indirekte Kosten: Nicht direkt zuordnungsfähige, übergeordnete Kosten (sog. Overhead). Verwaltungskosten, Betriebskosten, sog. Hotelkosten, Ver- und Entsorgungskosten, Kosten der Geräteausstattung, Gerätewartung und -reparatur etc. 5 Gesamtkosten: Summe aller entstandenen Kosten. Weitere Unterteilungen z. B. in »variable« Kosten (varieren in Abhängigkeit von der Aktivität) und »fixe« Kosten (werden durch Einzelmaßnahmen nicht beeinflusst) sind möglich, führen allerdings zu Überschneidungen.
Wichtig ist die Perspektive, aus der Kosten beurteilt werden sollen. Dies kann z. B. die Gesellschaft, der Kostenträger, das Krankenhaus, die Intensivstation oder der einzelne Patient sein. In Abhängigkeit davon, können die einzelnen Definitionen völlig unterschiedliche Inhalte haben. Während die Kosten z. B. für die Krankenhausverwaltung aus der Sicht einer Intensivstation indirekte Kosten sind, müssen diese aus Sicht des Krankenhauses als direkte Kosten verbucht werden. Indirekte Kosten werden aus den laufenden Kosten des Gesamtbetriebs berechnet. Der jeweilige Anteil für eine Betriebseinheit kann dann entweder gleichgewichtig proportional (etwa nach der Bettenzahl, der Raumnutzung oder der Pflegetage) oder aber ungleichgewichtig (etwa nach einem speziell ermittelten, aufwandsangepassten Proportionalitätsfaktor) verteilt werden. 10.1.2 Er fassung der Kosten Bislang sind selbst einfachste Voraussetzungen für eine Kostenerfassung in der Intensivmedizin nicht selbstverständlich: In einer breit angelegten Untersuchung (EURICUS) [22] an 88 Stationen aus 12 europäischen Ländern verfügten nur 14 Stationen über ein eigenes Kostenerfassungssystem, und nur 38 Stationsleiter hatten eine gewisse Vorstellung über die Kosten pro Behandlungstag für ihre Station [11]. Aus diesem Grunde sind die realen Kosten einer Intensivbehandlung häufig nicht bekannt. Zwar
lassen sich die laufenden Kosten (wie etwa Personal) und die Gesamtausgaben, etwa für Medikamente, aus der Buchführung des Krankenhauses ableiten. Die Kosten für die verschiedenen Behandlungsmaßnahmen im Zusammenhang mit verschiedenen Diagnosen oder gar die Ausgaben für einen individuellen Patienten können jedoch nicht ermittelt werden. Top-down Analyse. Eine Kostenberechnung ist mit Hilfe einer gut organisierten Krankenhausverwaltung anhand der Gesamtaufwendungen für die Betriebsabteilung durch anteilige Berechnung von oben nach unten (»top-down«) grundsätzlich möglich. Eine Zusammenfassung in verschiedene Kostenblöcke, wie etwa in Kosten für Personal, medizinische Verbrauchsgüter, klinische Hilfsdienste, nichtklinische Hilfsdienste, Einrichtung und Immobilie, erleichtert hierbei die weitere Analyse [7]. Je nach angestrebtem Ziel und der Perspektive der Datenerhebung kann eine derartige Kostenerfassung durchaus sinnvoll sein; sie birgt aus intensivmedizinischer Sicht jedoch folgende Probleme: 4 ausschließlich retrospektiv möglich, 4 nur Erfassung der Kosten einer größeren Betriebseinheit, 4 indivuelle Zuordnung zu einzelnen Diagnosen, Prozeduren oder Patienten nahezu unmöglich, 4 keine sinnvolle Handhabe für etwaige Rationalisierungsmaßnahmen.
Die Frage etwa, warum im vergangenen Jahr das Budget der Betriebseinheit überschritten worden ist, kann mit dem Top-downVerfahren nicht beantwortet werden. So lassen sich nur selten die notwendigen Konsequenzen für eine Therapieoptimierung oder für einen rationelleren Einsatz beschränkter Ressourcen entwickeln [10]. Bottom-up Analyse. Eine Alternative bietet das deutlich aufwän-
digere Verfahren der Bottom-up Analyse, bei der z. B. alle Aufwendungen am individuellen Patienten direkt erfasst werden [6]. Hierduch wird eine detaillierte patientenbezogene Analyse der Therapiekosten möglich. In der Intensivmedizin lässt sich dieses Verfahren allenfalls im Rahmen von Studien oder durch eine automatisierte Erfassung über ein integriertes Patientendatenerfassungssystem (»patient data management system«; PDMS; 7 Kap. 9) verwirklichen [16, 21]. Neben dem geringen personellen Aufwand liegt der Vorteil darin, dass es praktisch jederzeit abrufbar und prospektiv einsetzbar ist ‒ wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung rationaler und ökonomischer Therapiekonzepte. Doch auch die Methode der bettseitiger Erfassung der direkten Kosten hat ihre Grenzen, da ein Teil der Kosten, nämlich die indirekten, übergeordneten Kosten (Overhead), weiterhin nur mit dem Top-down-Verfahren ermittelt werden können. Da diese jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg stabil sind, erscheint ein derartiges Vorgehen vertretbar. Dies gilt auch für die Erfassung von Personalkosten. Sicherlich ist der personelle Aufwand für den einzelnen Patienten u. a. vom aktuellen Krankheitsschweregrad abhängig und theoretisch auch individuell messbar. Doch sofern es keinen »Pflegepool« mit Verfügbarkeit bei Überlastsituationen gibt, sind Personalkosten nur bedingt direkte Kosten, da das Personal unabhängig von der aktuellen Beschäftigungssituation ohnehin vorhanden ist. Es bietet sich daher an, die gesamten Personalkosten als tatsächliche Jahreskosten (inkl. Überstunden) zu erfassen und diese dann etwa als Aufwand pro Behandlungstag zu errechnen.
91 10.2 · Erstattung der Kosten
Die direkte Erfassung individueller Patientenkosten (»bottom up«) ist wenig etabliert; stattdessen werden diese sehr ungenau durch Aufsplittung des Budgets einer Intensivstation oder gar durch die von den Krankenkassen vergüteten Tagessätze (»charges«) geschätzt. 10.1.3 Kosten der Intensivbehandlung Die Intensivmedizin repräsentiert den kostenintensivsten Bereich eines Krankenhauses [4], in dem zwischen 5 und 20% der Gesamtkosten entstehen. Der hohe Anteil an fixen Kosten für Personal führt dazu, dass dies die Hauptausgabe der Intensivmedizin ist. Eigene Daten aus einer Untersuchung an 51 deutschen Intensivstationen zeigten, dass die Personalkosten im Mittel ca. 56% der Tageskosten ausmachen. Die mittleren Tageskosten lagen bei € 790. Allerdings sind Intensivpatienten kein kostenhomogenes Patientengut. Es gibt enorme Unterschiede in den Gesamtkosten, und selbst bei jedem einzelnen Patienten schwanken die Tageskosten, abhängig vom Krankheitsverlauf, erheblich [10]. Neben den Personalkosten wird die Höhe der direkten Therapiekosten von der zugrunde liegenden Erkrankung (Aufnahmegrund, Diagnose, internistisch oder chirurgisch) [18], dem Krankheitsschweregrad [5], der Notwendigkeit invasiver Prozeduren (mechanische Beatmung, Hämofiltration), dem Auftreten von Infektionen und einigen weiteren Faktoren beeinflusst. Das zeigte sich auch in der oben erwähnten Untersuchung. So lagen beispielsweise die Tageskosten von beatmungspflichtigen Patienten deutlich höher (€ 949±355 vs. € 679±202), das Gleiche galt für notfallchirurgische (€ 829±318) oder polytraumatisierte Patienten (€ 951±376). Oye u. Belamy fanden, dass ein relativ kleiner Anteil (8%) der kosteninstensiven Patienten nahezu 50% der gesamten Ressourcen verbraucht [19]. Wir führten 2000–2001 an unserer operativen Intensivstation eine Analyse der direkten Kosten (einschließlich der Personalkosten) an 1.631 Intensivpatienten mit einer Verweildauer über 24 h durch [17]: Bei Intensivpatienten mit einer Verweildauer bis zu 7 Tagen (im Mittel 2,6±1,4 Tage, 83% aller Patienten) lagen die mittleren Gesamtkosten pro Patient bei € 2.259±1.406. Bei der kleinen Gruppe von Patienten (3%) mit einer Verweildauer von t20 Tagen auf der Intensivstation lagen diese im Mittel bei € 28.846±10.229 (allerdings mit erheblicher Streuung); davon litten 83% an einer Sepsis. Die lange Verweildauer führte dazu, dass diese kleine Gruppe von Patienten 23% der Gesamtausgaben der Intensivstation verursachte. Dies unterstreicht den erheblichen Anstieg der Kosten bei Auftreten schwerwiegender Komplikationen wie der schweren Sepsis. In einer Studie an 3 deutschen Universitätskliniken (1997–2000) betrugen die durchschnittlichen Tageskosten für schwere Sepsisfälle € 1.318, die Gesamtkosten lagen im Mittel bei € 23.297 [16]. 10.2
10
vergütet werden sollen, unabhängig von dem (ggf. unökonomischen oder zu hohen) Aufwand. 10.2.1 DRG/OPS-System Mit der Gesundheitsreform 2000 wurde die Einführung eines deutschen Fallpauschalensystems für stationäre Leistungen beschlossen (§ 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz; KHG). Die Ausgestaltung des Systems wurde den Partnern der Selbstverwaltung übertragen, d. h. den Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Anfang 2003 wurde das deutsche DRG-System (G-DRG) auf freiwilliger Basis budgetneutral eingeführt. 2005 begann die sog. »Konvergenzphase«, die bis 2009 andauert und innerhalb der die Krankenhausvergütung in ansteigenden Stufen nach dem neuen DRG-System wirksam wird. Ab 2009 soll dann die Vergütung vollständig nach DRG erfolgen. Ziele dieser grundlegenden Reform der Krankenhausfinanzierung sind: 4 bessere Transparenz der Leistungserbringung, 4 mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern, 4 Verkürzung der Verweildauern, 4 verbesserte Wirtschaftlichkeit, 4 bedarfsgerechte Verteilung der Ressourcen. Es soll das Prinzip gelten: »Das Geld folgt der Leistung«. Ein Vergütungssystem nach DRG ist nicht darauf angelegt, den Aufwand für den Einzelfall sachgerecht abzubilden. Vielmehr soll der durchschnittliche Aufwand für den jeweilige Patientenmix einer Abteilung bzw. eines Krankenhauses innerhalb eines Zeitraums möglichst sachgerecht vergütet werden. Es ist also ein krankenhausökonomisches und nicht ein medizinisch-wissenschaftliches Wertesystem. Daher muss eine DRG möglichst kostenhomogen definiert sein, damit es nicht zwischen verschiedenen Krankenhäusern durch Selektion unterschiedlicher Patienten (Auswahl »günstigerer« Fälle) zu unfairen Vergütungsverteilungen kommen kann. Das Fallpauschalensystem soll ein lernendes System sein und bleiben. So wurden nach den ersten Erfahrungen mit der GDRG-Version erhebliche Änderungen erforderlich, die in jeweils neuen Fassungen Eingang fanden. Für das einzelne Krankenhaus ist es natürlich essenziell, dass die geplante Vergütung nach DRG den tatsächlichen Ist-Kosten entspricht bzw. eine DRG kostendeckend erbracht werden kann. Wesentlich für eine sachgerechte Vergütung ist: 5 eine gute medizinische Dokumentation, 5 eine hohe Kodierqualität. Sie bestimmen letztlich die gesamte Leistungsvergütung des Krankenhauses.
Erstattung der Kosten
In der Vergangenheit, vor Einführung des Fallpauschalensystems, ging die Verweildauer ganz wesentlich in die Vergütung ein, d. h. je länger der Patient im Krankenhaus blieb, desto höher fiel die Vergütung aus. Um einen Anreiz zur Rationalisierung der Gesundheitsleistungen und zu einem ökonomischeren Einsatz der Krankenhausbehandlung zu schaffen, wurde das Fallpauschalensystem eingeführt, mit dem vergleichbare Leistungen gleich
Die jeweils neueste Fassung der DRG- und OPS-Kataloge und der Kodierrichtlinien sind zu finden unter www.dimdi.de. Die Kodierung wird durch offizielle Softwarepakete (»grouper«) wesentlich unterstützt.
Kenngrößen 4 Bewertungsrelation (Relativgewicht): Jeder DRG ist ein Relativgewicht zugeordnet; dieses bestimmt den Preis für diese
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Kapitel 10 · Ökonomie und Vergütung
Leistung im Vergleich zu einem Standardfall mit dem Relativgewicht 1,0. Die effektive Bewertungsrelation errechnet sich aus dem Katalogrelativgewicht unter Berücksichtigung aller Zu- und Abschläge für Verweildauerausreißer. 4 Casemix (Gewicht) ist die Summe aller Relativgewichte für alle in einem bestimmten Zeitraum erbrachten DRGs. Das effektive Gewicht ergibt sich dann aus Berücksichtigung aller Zu- und Abschläge für Verweildauerausreißer und Verlegungen. 4 Casemix-Index (CMI) ist das arithmetische Mittel aller erbrachten Relativgewichte; er stellt damit die durchschnittliche ökonomische Fallschwere im betreffenden Krankenhaus dar. Der effektive Casemix-Index ergibt sich dann aus Berücksichtigung aller Zu- und Abschläge für Verweildauerausreißer und Verlegungen. 4 Baserate (Basisfallpreis): Aus den Daten aller kalkulierenden Krankenhäuser errechnet das InEK einen landesweiten (später bundesweiten) Basisfallpreis als Referenzwert. Das Entgelt für den Behandlungsfall ergibt sich dann aus dem Relativgewicht der DRG multipliziert mit dem Basisfallpreis.
Prozeduren. Diagnostische, therapeutische und pflegerische
Prozeduren werden im sog. »Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS« (derzeit Version 2006) aufgeführt. Alle kodierbaren Prozeduren, die während des stationären Aufenthaltes durchgeführt wurden, müssen angegeben werden (mit Ausnahme von Standardmaßnahmen bei bestimmten Diagnosen oder Prozeduren). Grenzverweildauer und Fallzusammenführungen. Für jede DRG gilt eine festgesetzte Verweildauer (Regelverweildauer). Wird diese unterschritten (untere Grenzverweildauer, UGVD), so sind Abschläge auf die Vergütung vorgesehen. Wird die Regelverweildauer dagegen überschritten (obere Grenzverweildauer, OGVD), werden Zuschläge gewährt. Bei Verlegungen zwischen zwei Krankenhäusern (z. B. Weiterverlegung zur Maximalversorgung) wird für jeden Tag unterhalb der mittleren Normverweildauer ein Verlegungsabschlag abgezogen (Sonderregelungen). Bei Wiederaufnahme ins gleiche Krankenhaus innerhalb eines bestimmten Zeitraums gelten Regeln zur Fallzusammenführung (= 1 Fallpauschale für 2 oder mehrere Aufenthalte). Zusatzentgelte. Für nicht in den DRGs aufgeführte Leistungen
Gruppierungsprinzip
10
Die DRG-Kodierung erfolgt nach Abschluss des gesamten Behandlungsfalles (bzw. der Verlegung) und läuft nach einem bestimmten Algorithmus ab. Zunächst wird geprüft, ob ein Sonderfall (sog. »Prä-MDC«) vorliegt, wie z. B. Langzeitbeatmung oder Transplantation; diese unterliegen der Kodierung außerhalb der üblichen Fallpauschalen. Auch sog. »Fehlergruppen« (gekennzeichnet durch Ziffer 9 an der 1. Stelle des Kodes) werden außerhalb der üblichen Fallpauschalen kodiert. Liegt weder ein Sonderfall noch eine Fehlergruppe vor, so wird die Hauptdiagnose entsprechend den Kodierrichtlinien festgelegt. Eine Hauptdiagnose ist die Diagnose, die hauptsächlich zum stationären Krankenhausaufenthalt geführt hat. Die 23 Hauptdiagnosegruppen (MDCs) orientieren sich im Wesentlichen nach Organsystemen, aufgeteilt in Partitionen wie »operativ«, »andere«, »medizinisch«. Als Nebendiagnosen gelten Krankheiten oder Beschwerden, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose bestehen oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt haben. Für jeden Fall wird (außer den Fehlergruppen) aus den dokumentierten Nebendiagnosen ein Fallschweregrad (»patient clinical complexity level«; PCCL) ermittelt. Viele Basis-DRGs werden nach dem jeweiligen Behandlungsaufwand »gesplittet« (von A für höchsten bis G für niedrigsten Ressourcenverbrauch). Jede Nebendiagnose geht mit einem eigenen Schweregrad (»complication and comorbidity level«; CCL) ein, der zwischen 0 und 4 liegen kann und die Höhe des Entgeltes ganz wesentlich bestimmt. Eine lückenlose medizinische Dokumentation ist daher überaus wichtig. Funktionen. In der G-DRG 2006 gibt es 11 spezielle »Funktionen« mit Einfluss auf die Gruppierung von Behandlungsepisoden: schweres Problem, mehrere schwere Probleme, Aufnahmegewicht, OR- (d. h. operative) Prozeduren ohne Bezug, bestimmte OR-Prozeduren, komplexe OR-Prozeduren, komplizierende Prozeduren, Dialyse, Polytrauma, Eingriff an mehreren Lokalisationen und intensivmedizinische Komplexbehandlung. Näheres ist im G-DRG Definitionshandbuch (www.g-drg.de) nachzulesen.
können Zusatzentgelte (bewertete Zusatzentgelte nach Anlage 2 und 5 des FPV 2006 mit festen Beträgen sowie nicht bewertete Zusatzentgelte nach § 6 Abs. 1 KentGG, die krankenhausindividuell mit den Kassen vereinbart werden müssen) beantragt werden. Bei dem derzeit gedeckelten Budget werden diese Zusatzentgelte allerdings nicht dem Krankenhaus zusätzlich vergütet, sondern bei Erhaltung der Budgetneutralität lediglich von der Entgelthöhe abgezogen. i Bei der Kodierung müssen jeweils die neusten Richtlinien beachtet werden, so gibt es z. B. für die Zusatzentgelte Dosisanpassungen bei verschiedenen Medikamenten, die insbesondere bei Kindern zu einem früheren Erreichen der Schwellendosis führen.
10.2.2 Kodierung der Intensivbehandlung Für die Intensivmedizin birgt das System einer DRG-basierten Vergütung hohe Risiken. So konnten eigene Untersuchungen 2003 zeigen, dass ein Defizit von 47% (= 2,6 Mio. €) entstanden wäre, wenn nach dem damaligen DRG-Katalog vergütet worden wäre. Daten anderer Studien bestätigten im Wesentlichen diese Ergebnisse. Eine von Billing et al. 2004 anhand des DRG-Kataloges von 2003 durchgeführte Untersuchung zeigte erneut, dass nur 49% der Kosten abgedeckt worden wären [3]. Bei diesen Ergebnissen muss allerdings auch berücksichtigt werden, dass nur die Patienten betrachtet wurden, die auf der Intensivstation behandelt wurden. Patienten, bei denen z. B. durch optimierte perioperative Prozesse ein Intensivaufenthalt verhindert werden konnte, obwohl die DRG Anteile einer Vergütung intensivmedizinischer Leistungen beinhaltet, wurden hierbei nicht berücksichtigt. Aus der Perspektive des Krankenhauses werden aber die Erlöse für alle tatsächlich behandelten Fälle zur Kostendeckung durch die DRG-basierte Vergütung herangezogen. Die Erkenntnis, dass die Intensivmedizin ökonomisch unterrepräsentiert war, hat dazu geführt, dass im Jahr 2005 sowie für das Jahr 2006 erhebliche Anpassungen im DRG-System im Hinblick auf die Intensivmedizin eingeführt wurden, die insgesamt
93 10.2 · Erstattung der Kosten
zu einer verbesserten Abbildung der intensivmedizinischen Leistungen führen dürften.
Komplizierende Prozeduren Die 2005 eingeführte Funktion der sog. komplizierenden Prozeduren, die getrennt vom PCCL-Wert in die DRG-Ermittlung eingehen, ist für die Vergütung der Intensivmedizin von erheblicher Bedeutung. Dieses Splitkriterium ist für insgesamt 28 DRGs relevant, von denen 9 DRGs intensivmedizinisch bedeutsam sind. Der Status einer komplizierenden Prozedur wird dann erreicht, wenn eine Mindestanzahl von Prozeduren aus verschiedenen Tabellen durchgeführt wurde, teilweise in Kombination mit Langzeitbeatmung (s. hierzu: Definitions-Handbuch GDRG Band 2, www.g-drg.de).
10
Die Beatmung beginnt mit Anschluss an das Beatmungsgerät; sie endet mit der Extubation oder der Beendigung der Beatmung nach entsprechender Entwöhnung, die zur Beatmungsdauer hinzugezählt wird. CPAP (8–711.0) ist nur bei Neugeborenen, nicht jedoch bei Kindern oder Erwachsenen zu kodieren; auch im Rahmen der Entwöhnung von der Beatmung wird CPAP nicht extra verschlüsselt, der Einsatz zählt jedoch zur Beatmungsdauer. Im OPS-Katalog wurden als Spezialverfahren zur maschinellen Beatmung die inhalative Stickstoffmonoxidtherapie und die Oszilationsbeatmung mit eigenen Kodes eingeführt (OPS 8–714.00 bis .02 bzw. 8‒714.1). Die Definition der einzelnen DRGs und MDCs sind zu finden unter www.dimdi.de.
Intensivmedizinische Komplexbehandlung Auf die vollständige Dokumentation von folgenden Prozeduren sollte geachtet werden: 5 5 5 5 5 5 5 5
Beatmungsdauer Dialysen Transfusionen Therapeutische Pleuradrainagen Reanimation Invasives neurologisches Monitoring und EEG Lagerungsbehandlungen Implantation, Wechsel oder Revision von venösen Katheterverweilsystemen (ZVK/Port) 5 Strahlentherapie
Beatmung Eine Korrelation zwischen den Kosten der Intensivtherapie und der Notwendigkeit zur Beatmung wurde in verschiedenen Untersuchungen nachgewiesen. Dies hat dazu geführt, dass die Vergütung initial nahezu komplett über die Dauer der Beatmung bestimmt wurde. Trotz der Beziehung zwischen den Kosten und der Beatmung bzw. Beatmungsdauer entstehen hierdurch leider falsche Anreize, da unsere Bemühungen dahin gehen müssten, die Beatmungsdauer so kurz wie möglich zu halten. Außerdem wird dadurch jede Intensivbehandlung ohne Beatmung benachteiligt und der Komplexität des Intensivpatienten weiterhin nur unzureichend gerecht. Mittlerweile (ab DRG-2005) sind die BeatmungsDRGs differenzierter definiert und weitere Steuerungsmechanismen als Vergütungskriterien eingeführt worden (7 s. unten). Innerhalb der Prä-MDC sind für die Beatmung 5 BasisDRGs definiert, die allerdings umfasssend untergliedert wurden. Des Weiteren gibt es zusätzliche DRGs aus den 7 spezifischen MDCs für die Abbildung von Beatmungsfällen. Ferner sind die komplizierenden Prozeduren und die intensivmedizinische Komplexbehandlung wichtig für die Verschlüsselung. Gemäß den Kodierrichtlinien kann die Beatmung über Endotrachealtubus, Tracheotomie oder (in der Intensivmedizin) auch über Maske erfolgen; d. h. eine nichtinvasive Beatmung kann ebenfalls kodiert werden. Erfasst wird die Dauer der Beatmung. i Eine postperative Beatmung, die nicht länger als 24 h dauert, darf nicht kodiert werden, sofern sie lediglich Bestandteil der Anästhesie und des operativen Eingriffs ist. Werden bereits beatmete Patienten operiert, so zählt die Operationszeit zur Gesamtbeatmungszeit.
Um die Intensivmedizin besser abzubilden, wurde 2005 die »intensivmedizinische Komplexbehandlung« (8–980) und »neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalles« (8–981) als OPS-Schlüssel eingeführt. Die »intensivmedizinische Komplexbehandlung« ist nach der erreichten Gesamtpunktzahl in Gruppen gestaffelt. Ziel ist es, Spezialleistungen, die unter der DRG-Kodierung nicht sachgerecht abgebildet werden, über solche OPS-Kodes abzurechnen. Eine derartige Anpassung erscheint deshalb sinnvoll, weil eine Intensivbehandlung nicht an irgendeine Diagnose gebunden ist, sondern grundsätzlich bei allen Diagnosen notwendig werden kann. Daher ist sie vom Grundsatz her eine Maßnahme oder Prozedur und nicht eine Diagnose. Der OPS 8–980 ist an bestimmte Strukturbedingungen (»Mindestmerkmale«) geknüpft, die für ihre Anwendung erfüllt sein müssen: 4 kontinuierliche, 24-stündige Überwachung und Behandlungsbereitschaft durch ein Team von Pflegepersonal und Ärzten, die in der Intensivmedizin erfahren sind und die aktuellen Probleme der Patienten kennen, 4 eine ständige ärztliche Anwesenheit auf der Intensivstation. Eine Versorgungsstruktur, bei der die zuständigen Ärzte regelhaft mit anderen Aufgaben beschäftigt sind (z. B. anästhesiologische oder chirurgische Tätigkeit im OP), erfüllt diese Anforderungen nicht. Diese Einschränkung ist aus ökonomischer und klinischer Sicht sinnvoll. Sie bietet zum einen die Möglichkeit für eine spätere Vergütung, die dem hohen Personalaufwand einer kontinuierlich handlungsbereiten Intensivstation gerecht wird. Gleichzeitig setzt sie Qualitätsstandards, die in einem derart kostenintensiven Bereich unabdingbar sind. Der OPS-Kode darf nicht verwendet werden bei: 4 Intensivüberwachung ohne akute Behandlung lebenswichtiger Organsysteme, 4 kurzfristiger (<24 h) Intensivbehandlung bzw. kurzfristiger postoperativer »Stabilisierung«. Der Aufwandspunktwert der intensivmedizinischen Komplexbehandlung setzt sich zusammen aus einem in der Intensivmedizin etablierten Krankheitsschweregradscore, dem SAPS II, wobei die Glasgow Coma Scale herausgenommen wurde, und den 10 aufwändigsten Maßnahmen aus dem TISS-Score. Der täglich zu erfassende Aufwandscore wird schließlich zur Gesamtpunktzahl aufsummiert. Damit werden sowohl der aktuelle Krankheits-
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Kapitel 10 · Ökonomie und Vergütung
schweregrad und die intensivmedizinischen Maßnahmen als auch die Dauer der Intensivbehandlung berücksichtigt. i Die Intensivmedizinische Komplexbehandlung ist ab dem Jahr 2006 vergütungsrelevant.
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Ein Aufwandspunktwert >1104 Punkte führt zu einer Umgrupierung. Damit wird der Aufwandscore derzeit erst relativ spät, bei Patienten mit einer Liegedauer von mindestens 10 Tagen, wirksam. Als Gruppierungselement ist die intensivmedizinische Komplexbehandlung bei 9 DRGs von Bedeutung (A06A, A06B, A07A, A07C, A11A, A13A, F97Z, G36Z, W36Z). Ob mit Hilfe der OPS-8–980 eine ausreichende Kostendeckung erreicht wird, wird sich aus den Vergütungen ergeben, die das INeK nach den sog. Kalkulationsdaten errechnet. Davon wird abhängen, ob die Intensvimedizin in Zukunft in höherem Maße über die intensivmedizinische Komplexbehandlung vergütet wird. Das Konzept an sich erscheint jedoch plausibel. Für Krankenhäuser, die die Dokumentation der intensivmedizinischen Komplexbehandlung organisatorisch noch nicht umgesetzt haben, entstehen möglicherweise erhebliche Probleme. Eine EDV-gestützte Dokumentation mittels computerisierter Patientendatenmanagementsysteme (PDMS), (7 Kap. 9), die automatisiert einen Großteil der zu erhebenden Parameter erfassen kann, erleichtert die Dokumentation erheblich.
Sepsis Die Kodierung der Sepsis umfasst einige Besonderheiten: Besteht eine Bakteriämie, dann gelten Kodierungen für entsprechende Keime (z. B. Sepsis durch Streptokokken A40.-, Sepsis durch Staphylococcus aureus A41.0). Außerdem wurde jetzt zusätzlich das systemische inflammatorische Response-Syndrom (SIRS) miteinbezogen (SIRS infektiöser Genese R65.0! bis .1!, SIRS nichtinfektiöser Genese R65.2! bis 3!, SIRS, nicht näher bezeichnet R65.9!), das als klinisches Syndrom für den Intensivmediziner wichtig ist. Beim Kode mit Ausrufezeichen ist dabei zunächst der Kode für die auslösende Grundkrankheit anzugeben. Für Organkomplikationen, Erreger (B95.-! oder B96.-!) und deren Resistenzlage (U80.-! oder U81.-!) sind zusätzliche Schlüsselnummern zu verwenden. Die Kodierung des SIRS hat einen Einfluss auf die PCCL-Berechnung und kann damit ebenfalls vergütungsrelevant sein. In einigen DRGs sind Sepsiskodes als komplizierende Diagnose definiert oder bei Transplantationen als eigene Hauptdiagnose aufgeführt. Der besondere intensivmedizinische Aufwand bei Sepsisfällen kann teilweise über die Funktion der »komplizierenden Prozeduren« berücksichtigt werden, die zusätzlich kodiert werden müssen (ggf. in Kombination mit der Beatmungszeit).
ben. Neben den Diagnosen sind daher Prozeduren zunehmend zu berücksichtigen, damit die tatsächlichen Leistungen sachgerecht beschrieben werden können. Die zunehmende Ausdifferenzierung führt über CasemixVeränderungen dazu, dass leichtere Fälle geringer vergütet und komplexere Fälle höher vergütet werden. Damit wird für die Intensivstationen, die überwiegend ressourcenintensive Patienten versorgen, eine sachgerechtere Vergütung ermöglicht. Mit der Einführung der »komplizierenden Prozeduren«, der »intensivmedizinischen Komplexbehandlung« und weiterer Ausdifferenzierung der Beatmung sowie der stärkeren Gewichtung von kostenintensiven »Nebendiagnosen« wie der Sepsis wird versucht, die äußerst variable intensivmedizinischer Behandlung sachgerecht zu beschreiben. Inwieweit später die Vergütung diesem Anspruch gerecht wird, bleibt abzuwarten. Unzureichend im DRG-System berücksichtigt sind neue, aufwändige innovative Verfahren. Es liegt im Verfahrensablauf, dass diagnostische oder therapeutische Innovationen erst nach Jahren Eingang in das Vergütungssystem finden. Der Gesetzgeber hat nun die Grundlage für krankenhausindividuelle Entgelte solcher »neuer Untersuchungs- und Behandlungsleistungen (NUB)« geschaffen, die jedoch noch weiter ausgestaltet werden muss. Entgegen aller Befürchtungen und Ängste zeigen die verantwortlichen Institutionen die Bereitschaft zur Anpassung des DRG-Systems. Dies hat gerade im Bereich der Intensivmedzin zu einer erheblichen Modifizierung geführt. Sicherlich müssen die in 2005 und 2006 eingeführtem Neuerungen noch weiter überarbeitet werden. Sie dürften aber schon jetzt eine verbesserte Kostendeckung im Bereich der Intensivmedizin erreichen.
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10.2.3 Fazit
: Standardwerk zur Einführung in die Methodik der Kostenerfassung.
Seit der Einführung im Jahr 2002 ist das DRG-System durch zunehmende Ausdifferenzierung komplexer geworden; es bedarf erheblicher Spezialkenntnisse, um eine sachgerechte Gruppierung vorzunehmen. Da die Vergütung des Krankenhauses von einer korrekten Kodierung abhängt, müssen Strukturen geschaffen werden, die eine hohe Kodierqualität gewährleisten (z. B. geschulte Kodierer). Die Komplexität des tatsächlichen Aufwands ist nicht immer durch den Schweregrad und die Nebendiagnosen zu beschrei-
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95 Literatur
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10
11 Organisation und Management H. Burchardi, G. Kreymann
11.1
Organisation
11.1.1 11.1.2 11.1.3
Verkürzung der Liegedauer –98 Rationelle Diagnostik und Therapie –99 Beschaffung und Bevorratung –99
11.2
Personalentwicklung und deren Folgen
11.2.1 11.2.2
Personalentwicklung unter quantitativen Gesichtspunkten –100 Personalentwicklung unter qualitativen Gesichtspunkten –101
11.3
Leitung der Intensivstation
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4
Die Intensivstation – ein multidisziplinärer Arbeitsplatz –101 Qualifikationen und Aufgaben des Leiters –102 Fähigkeiten zur Leitung –102 Persönliche Qualifikationen –103
11.4
Kommunikation
11.4.1 11.4.2
Zwischenmenschliche Kommunikation –104 Technik der Kommunikation –105
11.5
Konfliktmanagement
11.5.1 11.5.2
Konfliktdiagnose –105 Konfliktlösung –106
Literatur
–98
–107
–101
–104
–105
–100
98
Kapitel 11 · Organisation und Management
11.1
Organisation
Eine gute Organisation ist für die Intensivbehandlung aus verschiedenen Gründen unerlässlich: Die Intensivstation versieht ihre Aufgabe innerhalb des komplexen Netzwerkes der Krankenhausversorgung. Sie hat also selber optimal zu funktionieren, aber ist ebenso auf die abgestimmte und reibungslose Funktion der beteiligten Abteilungen und Dienstleister angewiesen. Jede Hemmung im Ablauf kostet Zeit und Geld – und verursacht ggf. sogar ein Gesundheitsrisiko. Die Intensivmedizin ist ohnehin eine der kostenträchtigsten Abteilungen des Krankenhauses. Der derzeitige Kostendruck zwingt uns, jede Möglichkeit einer Kostenersparnis auszunutzen, die mit guter Behandlungsqualität vereinbar ist. Ohne Zweifel gibt es in jeder Intensivstation und in jedem Krankenhaus noch ein Potenzial zur Verbesserung der Organisation und zur Kosteneinsparung, das es zu nutzen gilt. 11.1.1 Verkürzung der Liegedauer
11
Die Verweildauer auf der Intensivstation ist wegen des hohen Personalkostenanteils besonders maßgeblich für die Behandlungskosten. Jeder eingesparte Behandlungstag senkt die Kosten. Hierauf kann man mit einem ganzen Spektrum an Maßnahmen Einfluss nehmen: 4 Verbesserung der intensivmedizinischen Handlungsabläufe, 4 unverzügliche Behandlung, 4 Vermeidung von Komplikationen, 4 Verbesserung der krankenhausinternen Abläufe, 4 Vermeidung von Verlegungsfehlern. In den letzten Jahren hat sich die durchschnittliche Verweildauer an deutschen Krankenhäusern bereits deutlich verkürzt; sie wird sich auch in Zukunft noch weiter verkürzen. Insbesondere wird man vielfach auf ambulante oder teilstationäre Behandlung übergehen. Für die Intensivmedizin hat das jedoch zur Folge, dass ihre Bedeutung im Rahmen der stationären Behandlung eher noch größer wird und der Druck auf die Bettenbelegung der Intensivstation weiter ansteigt.
Verbesserung der intensivmedizinischen Handlungsabläufe Intensivbehandlung und -pflege ist ein äußerst komplexes Geschehen. Verschiedene Personengruppen müssen funktionsgerecht zusammenarbeiten, wie Pflegekräfte und Ärzte. Die einzelnen Personen müssen ihre Maßnahmen mit den übrigen Behandelnden abstimmen, etwa beim Schichtwechsel. Die verschiedenen Aufgaben müssen miteinander koordiniert werden, wie etwa die Analgosedierung bei einer Beatmung. So gibt es viele Interaktionen, die Möglichkeiten für Missverständnisse, Reibungsverluste, Unstimmigkeiten bieten und die in diesem Zusammenspiel verbessert werden können. Das bedeutet, dass Abläufe festgeschrieben und jedem Mitarbeiter bekannt sein müssen. Ablaufsregelungen, sog. SOPs (»standard operating procedures«), sind Regelungen, mit denen die tatsächlichen Bedingungen und Aufgaben vor Ort und innerhalb des betroffenen Personenkreises berücksichtigt werden. Sie sind daher von Richtlinien, Leitlinien oder Guidelines zu unterscheiden, die überregional mit verallgemeinerter Gültigkeit aufgestellt werden.
Für die Regelung durch SOPs eignen sich Abläufe, die gut standardisierbar sind und häufig vorkommen; etwa die Strategie der Analgosedierung, die routinemäßige postoperative Versorgung nach größeren Eingriffen, die Entwöhnung (Weaning) vom Respirator, die Durchführung von kontinuierlicher Hämofiltration und vieles andere mehr. Die Festlegung von Standardprozeduren ist ein wichtiger Beitrag zur Qualitätssicherung und zur Verbesserung der Handlungsabläufe. SOPs können die Abläufe vereinfachen, verbessern und beschleunigen. Sie rationalisieren die Maßnahmen und bekommen dadurch erhebliche ökonomische Bedeutung. SOPs müssen von dem Personenkreis erstellt werden, der mit ihnen arbeiten muss; sie sollten nicht »von oben herab« verordnet werden. Die Erstellung einer solchen SOP besteht aus mehreren Schritten: 1. Findung der Fragestellung: Die Fragestellung sollte relevant und wichtig, gut abgrenzbar und generalisierbar sein und ausreichend häufig vorkommen. 2. Literaturstudium: Aus der Literatur wird nach evtl. bereits existierenden Lösungen gesucht; ggf. werden mehrere Ansätze gefunden, die dann für den eigenen Bedarf getestet werden können. 3. Erstellung des Protokolls: Eine kleine Gruppe von interessierten Mitarbeitern aus allen betroffenen Funktionsbereichen erstellt einen ersten Entwurf einer SOP; dieser wird dann von weiteren Mitarbeitern revidiert und verbessert. 4. Praxistest: Dieser erste Entwurf wird in der Praxis getestet, ausdrücklich mit dem Ziel, ihn weiter zu verbessern und anzupassen. 5. Einführung in die Praxis: Nach sorgfältiger Prüfung und Verbesserung wird diese Version in die Praxis eingeführt, nicht ohne ausführliche Information aller Mitarbeiter über Zweck und Ziel, Anwendungs- und Ausnahmebereiche, praktische Handhabung und Problembewältigung. 6. Überprüfung und Weiterentwicklung: Die kontinuierliche Überprüfung der Wirksamkeit der SOP ist von besonderer Bedeutung: Wird der Zweck erreicht? Verbessert sich die Behandlungssicherheit? Gibt es Fehlentscheidungen? Gibt es Ausreißer, die sich nicht von der SOP erfassen lassen? Lassen sich diese eingrenzen? Sind die Mitarbeiter mit der SOP zufrieden? Besonders wichtig ist natürlich die lückenlose Protokollierung der Problemfälle und Fehlentscheidungen; sie bildet die Grundlage für die kontinuierliche Verbesserung der SOP. Der Vorgang der Erstellung einer SOP ist letztlich fast ebenso wichtig wie ihre Funktion. Die Erfahrung bei der Erstellung einer SOP kann für die Mitarbeiter »teambildend« sein; es motiviert das Team zur Übernahme von Eigeninitiative und bildet oft den Ausgangspunkt für weitere Verbesserungsmaßnahmen auf der Intensivstation.
Verbesserung der krankenhausinternen Abläufe Die Intensivstation steht inmitten des gesamten Funktionsnetzwerkes des Krankenhauses. Funktionieren einzelne Abläufe schleppend, so verzögert sich u. U. die Intensivbehandlung: Die Verzögerung eines CT-Termins, eines Operationstermins, einer Konsiliarbesprechung, einer Verlegung auf die Normalstation kann die Aufenthaltsdauer auf der teuren Intensivstation verlängern. Jeder kennt diese Probleme aus dem täglichen Ablauf; daher müssen nicht nur die Prozesse innerhalb der Intensivstation, sondern auch die Abläufe zwischen den einzelnen Funktions-
99 11.1 · Organisation
diensten des Krankenhauses organisiert und auf geordnete und rasche Reaktion optimiert werden. Die Bedeutung dieser Zusammenhänge für den Gesamtablauf im Krankenhaus muss jedem Mitarbeiter bewusst sein: unnötige Wartezeiten sind zu vermeiden, Personalengpässe können sich fatal auswirken, mangelnde Information schafft unnötige Reibungen, für Überbedarfssituationen sind Pufferkapazitäten vorzuhalten usw. i Jeder Mitarbeiter kann zur Verbesserung der Abläufe seinen Anteil beitragen.
Wie sehr sich Krankenhausabläufe verbessern lassen, zeigt die Einführung eines »Patientenmanagers«: In einigen Krankenhäusern kümmern sich sog. Patientenmanager um den reibungslosen Behandlungsablauf bei Patienten, die nicht notfallmäßig ins Krankenhaus gekommen sind. Sie kümmern sich um die durchzuführenden Voruntersuchungen, die Operationstermine, ggf. um ein vorzuhaltendes Intensivbett und um eine evtl. notwendige rechtzeitige Anmeldung zur Rehabilitation. Ein solcher Patientenmanager (vielfach eine erfahrene Pflegekraft) entlastet das behandelnde Personal erheblich und ermöglicht ihm, sich auf seine eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren; gleichzeitig wurde nachweislich die Verweildauer im Krankenhaus verkürzt.
11
Hier könnte eine ambulante intensivmedizinische Einsatzgruppe gute Dienste leisten, die gefährdete Patienten auf den Normalstationen kurzfristig aufsucht, die Primärbehandelnden intensivmedizinisch berät, falls notwendig erste Hilfe leistet und ggf. die Verlegung veranlasst (7 Kap. 12). Noch schwieriger und unsicherer ist die Entscheidung, wann der Patient aus der Intensivbehandlung entlassen werden kann. Das hängt entscheidend von der Qualität der Nachsorge ab: So ist oft die mangelhafte Nachsorge auf den Normalstationen mit reduzierter Pflegekapazität ein notgedrungener Grund, den Patienten noch auf der Intensivstation zu behalten – eine kostspielige, unrationelle Maßnahme! Auch hier ist wieder die Intermediate-Care-Station eine bessere Alternative. Ein Hindernis für eine frühe Verlegung von der Intensivstation sind oft fehlende Kapazitäten zur Frührehabilitation, etwa zur fachgerechten Nachsorge von Schädel-Hirn-Verletzten, von Schlaganfällen, von Herzinfarkten und anderen Störungen, die eine frühe, spezialisierte Nachsorge dringender benötigen als inkompetente Betreuung auf einer Normalstation. Hier werden neuerdings Vernetzungen einer integrierten Versorgung zwischen Kliniken und Rehabilitationszentren etabliert, die zur besseren Versorgung des Patienten beitragen und letztlich auch ökonomisch sinnvoll sind(7 Kap. 10.3.1).
Unverzügliche Behandlung In letzter Zeit gibt es zunehmend Belege für die Überlegenheit unverzüglicher Intensivbehandlung. Es bewahrheitet sich, was immer schon vermutet wurde: i Je eher und je konsequenter behandelt wird, desto besser ist der Erfolg!
Das ergibt sich deutlich z. B. aus der Rivers-Studie über »early goal-directed therapy«, bei der eine frühe konsequente Optimierung der Kreislauffunktion und des Sauerstofftransports bei septischen Patienten die Krankenhausletalität von 46,5% auf 30,5% reduzierte [15]. Der Vorteil rascher, entschiedener Behandlung zeigt sich auch in einer Pilotauswertung der Placebo-Gruppen (n=1.036) von 2 großen Sepsisstudien [13] (7 Kap. 10.3.1).
Vermeidung von Verlegungsfehlern Die richtige Entscheidung zur Aufnahme und zum Zeitpunkt der Entlassung von der Intensivstation ist wichtig und oft sehr schwierig. Beide hängen nicht zuletzt auch von der Gesamtstruktur des Krankenhauses ab: Gibt es eine Intermediate-Care-Station? Wie gut ist die Überwachung und Versorgung auf den Normalstationen? Wie rasch und risikoarm ist eine Übernahme möglich? Doch auch die Verfügbarkeit an Intensivbetten spielt eine entscheidende Rolle: Ist eine an sich notwendige Übernahme auf der Intensivstation aus Kapazitätsgründen nicht oder nur verzögert möglich, dann erhöht sich das Letalitätsrisiko [17]. Kann bei Übernahme des Hochrisikopatienten ein anderer Intensivpatient entlassen werden? Solche Notverlegungen sind nicht ohne Risiko [7] (7 Kap. 10.3.1). Andererseits darf nicht vergessen werden, dass eine Intensivbehandlung die Behandlungskosten erheblich ansteigen lässt. Insofern ist jede unnötige Intensivbehandlung zu vermeiden. Gegebenenfalls kann eine gute lückenlose Überwachung auf der Aufwachstation oder einer Intermediate-Care-Station eine billigere, aber ausreichende Alternative sein. Auch hier sind die örtlichen Gegebenheiten wieder ausschlaggebend.
11.1.2 Rationelle Diagnostik und Therapie Durch eine rationellere Diagnostik und Therapie lassen sich Kosten einsparen. Jede diagnostische Maßnahme sollte begründet sein, d. h. das diagnostische Ergebnis muss Konsequenzen haben, in Behandlungsmaßnahmen oder zur Sicherung oder zum Ausschluss von Diagnosen. Unnötige Doppeluntersuchungen sind zu vermeiden, es sei denn, dass das erste Ergebnis in Zweifel gezogen werden muss. Damit verlassen wir den routinemäßigen Versorgungsablauf und bevorzugen die individuell angepasste Intensivmedizin. Natürlich kann dieses Konzept gelegentlich im Gegensatz zu den empfohlenen Standardabläufen (SOPs) stehen; doch sollte jede SOP Abweichungen zulassen, allerdings mit guter Begründung (und ein guter Grund ist die Sinnlosigkeit einer Maßnahme). Eine wichtige Information der eingesetzten Medikamente und Heilmittel bietet eine »Top-ten-« (Top-2wenty-«/»Top-fifty«)-Liste, d. h. eine Aufstellung der monatlichen Kosten gestaffelt nach den kostenträchtigsten Gesamtverbräuchen. Hierdurch kann man eine konkrete Vorstellung bekommen, wodurch die Kosten entstehen und mit welchen Änderungen von Behandlungskonzepten man ggf. die Medikamentenkosten wirksam reduzieren kann. Es hat sich in der Intensivmedizin bewährt, Experten für besondere Fragen hinzuzuziehen. Mit solcher Expertise lassen sich auch Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen rationeller einsetzen Das gilt nicht nur für die Behandelnden der Grunderkrankungen und für die Konsiliarii, das gilt auch für andere Experten, wie Röntgenologen, klinische Pharmakologen [12] u. a (7 Kap. 10.3.1). Deren Expertise kann die Qualität nachweislich verbessern. 11.1.3 Beschaffung und Bevorratung Die gesamte Marktwirtschaft demonstriert uns täglich, wie viel durch gezielte Beschaffung und optimierte Bevorratung gespart werden kann.
100
Kapitel 11 · Organisation und Management
Einmalmaterial Unnötige Diversifikation der Beschaffung (z. B. zu viele verschiedene Kathetersorten) bindet Ressourcen, verhindert Rabattvergünstigungen, schafft Unsicherheiten bei der Nutzung, provoziert Handhabungsfehler und bindet zu große Lagerungskapazität. Die bestmögliche Standardisierung der Beschaffung von Material mit der besten Kosten-Nutzen-Relation ermöglicht große Bestellmengen mit Rabattvergünstigungen, standardisiert die Nutzung und erleichtert den Einsatz durch verschiedene Anwender. Die Auswahl von Einmalmaterial kann durch eine Kommission (»Beschaffungskommission«) aus kompetenten Vertretern der unterschiedlichen Nutzer sehr effizient standardisiert werden. Dadurch lässt sich die unübersehbare Vielfalt der Materialbeschaffung reduzieren und andererseits die Qualität des beschafften Materials verbessern; gleichzeitig können aber auch unnötige Kosten eingespart werden. Die Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der Materialien in der Kommission bringt darüber hinaus einen wichtigen Informationszuwachs und ein besseres Qualitätsbewusstsein für alle Nutzer.
Medikamente
11
Auch auf dem Gebiet der Medikamentenbevorratung verursachen große dezentralisierte Vorräte auf den Stationen große Probleme: Sie benötigen Platz, provozieren Verwechselungen, führen zu Überziehung der Verfallsdauer und verursachen dadurch hohe unnötig Kosten. Die Reduktion der Lagerbestände auf den Stationen (und insbesondere auf einer Intensivstation) erfordert natürlich einen erheblichen logistischen Aufwand: Das Bestell- und Transportsystem zwischen den Stationen und der Zentralapotheke muss optimiert werden. Sonderanforderungen, die grundsätzlich unvermeidlich sind (z. B. Spezialbehandlungen, Fortführung von präklinischer Dauermedikation), müssen soweit wie möglich reduziert werden. Der Lagerbestand auf der Station muss kontinuierlich und sorgfältig kontrolliert und rechtzeitig ergänzt werden. Hier ist eine computergestützte Bevorratungskontrolle mit Barcode-Erfassung sinnvoll. Die Vorteile eines zentralen Apothekeneinkaufs, ggf. durch Zusammenschluss mehrerer Krankenhausapotheken, liegen auf der Hand und sind allgemein bekannt. 11.2
Personalentwicklung und deren Folgen
Die Personalbesetzung einer Intensivstation hat einen quantitativen und eine qualitativen Aspekt; eine falsche Besetzung oder die Vernachlässigung eines der beiden Aspekte geht mit einer deutlichen Verschlechterung der Funktion der Intensivstation einher und kann sogar zu einer Steigerung der Mortalität führen.
liche Belastung zur Verfügung stehen. Da zur Abrechnung der Komplexbehandlung »Intensivmedizin« im Rahmen der DRG die permanente Anwesenheit eines Arztes auf der Intensivstation erforderlich ist, beträgt die Mindestbesetzung einer Intensiveinheit im geregelten 3-Schicht-Modell mit einer Wochenarbeitszeit von 40 h und 15% Fehlzeiten 5,4 Ärzte (ohne Oberärzte). Daraus ergibt sich bereits, dass zu kleine Intensiveinheiten ökonomisch keine Überlebenschance haben.
Anhaltszahlen Bei der Diskussion über Anhaltszahlen überrascht es, dass immer noch auf die Kennzahlen von 1974 [4] zurückgegriffen wird, obwohl sich die strukturellen Bedingungen in der Intensivmedizin in der Zwischenzeit erheblich gewandelt haben. Diese geben vor, dass bei überwiegender Intensivüberwachung die Arzt-Patienten-Relation 1 : 3,0, bei überwiegender Intensivtherapie 1 : 2,0 betragen sollte. Hieraus ergibt sich, dass eine Intensiveinheit mindestens 11 Patienten betreuen muss, um auf die für den Schichtdienst erforderliche Arztzahl zu kommen. Dies steht jedoch im Gegensatz zu den Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin (ESICM) [5], die einen Bedarf von 5 Ärzten pro 6–8 Patienten angibt.
Leistungsgröße Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Diskussion über die Besetzung einer Intensiveinheit ohne Angaben über deren Leistungsgrößen nicht zu führen ist. Ein Ansatz hierzu ist die Bemessung der pflegerischen und ärztlichen Leistung anhand von Leistungsgrößen, die aus dem TISS-Score abgeleitet wurden [10, 11]. Ähnlich ist auch das seit 2005 vom InEK zur Abrechnung der Komplexbehandlung verbindlich vorgeschriebene DRG-Verfahren, das auf dem SAPS II-Score und einem reduzierten TISS-Score beruht. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch durch solche Leistungsgrößen die tatsächliche Leistung einer Intensiveinheit nur unvollständig erfasst wird. Weitere Größen, die erheblich den ärztlichen Arbeitsaufwand mitbestimmen, sind: der Patientendurchsatz (d. h. die Häufigkeit von Neuaufnahmen), die diagnostische Komplexität und die Transporte zu diagnostischen oder therapeutischen Prozeduren sowie die Häufigkeit von Prozeduren für Patienten, die gar nicht auf der Intensivstation liegen, wie das Legen zentraler Venenkatheter, Bülau-Drainagen etc. Dazu kommt noch der heute im Vergleich zur Vergangenheit deutlich gesteigerte Dokumentationsaufwand. Fasst man das Gesagte zusammen, so ergibt sich, dass in der Tat in den meisten Fällen 1 Arzt pro Schicht für die Versorgung von etwa 8 Patienten angemessen ist. Die Versorgung von mehr Patienten ist häufig nur mit Abstrichen an die Versorgungsqualität möglich.
Ärztlicher Aufwand 11.2.1 Personalentwicklung unter quantitativen
Gesichtspunkten Die Diskussion über die Besetzung von Intensivstationen ist mittlerweile über 30 Jahre alt und wird je nachdem auf Arbeitsplätze, Anhaltszahlen oder Leistungsgrößen bezogen.
Arbeitsplatzmethode Die Arbeitsplatzmethode beschreibt die minimale Besetzung eines Arbeitsplatzes, wenn keine anderen Angaben über die tatsäch-
Vagts [20] hat einen anderen Ansatz gewählt: Er hat für 2 Intensiveinheiten à 18 Betten die DRG-Erlöse für den ärztlichen Aufwand auf der Intensivstation ermittelt. Wichtig ist, dass hierzu auch DRGs hinzugezogen wurden, die nur selten einen Intensivaufenthalt erfordern, da auch in diesen Fällen die Kosten für den (seltenen) ärztlichen Aufwand mitenthalten sind. Für die Station A ergab sich bei einem Basisfallwert von 2.975 € ein Erlös von 1,1 Mio. €, für die Station B von 1,16 Mio. €. Hiervon könnten für Station A – der Rechnung von Vagts folgend – in BAT-O 2 Oberärzte, 2 Stationsärzte (Fachärzte mit spezieller Weiterbil-
101 11.3 · Leitung der Intensivstation
dung), 2 Fachärzte in der Ausbildung zum Intensivmediziner sowie 12 Assistenten in der Facharztweiterbildung, also in der Summe 18 Personen, bezahlt werden. Beide Stationen werden aber mit deutlich weniger ärztlichem Personal, nämlich mit je 12,5 Ärzten betrieben. Vagts stellt fest, dass auf beiden Stationen die ausgereizte ökonomische Effizienz mit einer extrem hohen Arbeitsbelastung einhergeht. Es konnte gezeigt werden, dass ein Überdrehen der Sparschraube mit einer messbaren Verschlechterung des Outcomes und einer mehr als Verdoppelung der adjustierten Mortalität verbunden ist [19]. Ebenso ergibt sich hieraus, dass, wenn alle auf der Intensivstation Tätigen bis zur Erschöpfung in der Krankenversorgung eingespannt sind, die Möglichkeiten einer klinischen Forschung minimal sind. So ist es nicht verwunderlich, dass der Output an wissenschaftlichen Arbeiten und die Kongressbeiträge von deutscher Seite in den letzten Jahren zunehmend schwinden. 11.2.2 Personalentwicklung unter qualitativen
Gesichtspunkten Das größere Problem der Personalentwicklung ist allerdings nicht der quantitative, sondern der qualitative Gesichtspunkt. Für amerikanische Verhältnisse wurden in einem systematischen Review [14] 26 Studien zusammengefasst, in denen ein »low-intensity staffing«, d. h. keine oder nur elektive Konsultation eines Intensivmediziners, mit einem »high-intensity staffing«, d. h. regelhafte Konsultation eines Intensivmediziners oder eine »geschlossene Intensivstation«, verglichen wurde. In 16 von 17 Studien wurde in der »high-intensity«-Gruppe über eine verminderte Krankenhausmortalität berichtet (RR 0,71; 95%-KI 0,62–0,82) und in 14 von 15 Studien über eine verminderte ICU-Mortalität (RR 0,61; 95%-KI 0,50–0,75). Die Krankenhausbehandlungszeit war in 10 von 13 Studien verkürzt, davon in 6 Studien signifikant, und die ICU-Behandlungsdauer in 14 von 18 Studien, davon in 11 signifikant.
Versorgungsqualität Man mag dem gegenüberhalten, dass diese Ergebnisse nicht auf Deutschland übertragbar seien, da bei uns ja alle Intensivstationen »geschlossene« sein, d. h. von Ärzten betreut werden, die ausschließlich auf der Intensivstation arbeiten. Dies ist formal richtig, inhaltlich aber falsch. In Deutschland werden viele Intensivstationen von Ärzten betreut, die häufig nur für kurze Zeit im Rahmen ihrer Fachartzweiterbildung auf die Intensivstation versetzt werden. Auch wenn diese redlich bemüht sind, so mangelt es ihnen doch häufig an der Erfahrung mit komplexen intensivmedizinischen Erkrankungen. Ebenso ist auf vielen Stationen eine permanente oberärztliche Betreuung schon während der Tageszeit eher ein Traum und ein Oberarzt mit einer speziellen intensivmedizinischen Weiterbildung noch lange keine Selbstverständlichkeit. So ist es nicht verwunderlich, dass eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. Die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft »Qualitätssicherung« [18] hat mit dieser Fragestellung 349 Intensivstationen untersucht (und damit 25,4% aller Intensivstationen in Deutschland) und fand folgende Ergebnisse: Nur in 74% der Stationen war während der Dienstzeit ein Facharzt anwesend, und während der Nacht sank dieser Anteil auf 20%. Überhaupt war nachts nur in 46% Prozent der Fälle ein Facharzt im Haus.
11
Dieser Sachverhalt muss unbedingt geändert werden, um die Intensivmedizin in Deutschland auf einem konkurrenzfähigen Niveau zu halten. Hierzu muss der Anteil von langfristigen Mitarbeitern auf den Intensivstationen dringend erhöht werden; für sie müssen Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die es ihnen ermöglichen, jahrelang oder sogar auf Lebenszeit in diesen Positionen zu verbleiben. Dazu gehört an den Universitätskliniken auch ein Freiraum zur klinischen Forschung, die erforderlich ist, um die Anforderungen einer akademischen Karriere zu erfüllen.
Belastung Ein weiteres Problem der Intensivmedizin ist die Belastung rund um die Uhr, d. h. Probleme treten nachts genau so häufig auf wie tagsüber. Ist es noch möglich, tagsüber eine entsprechende ärztliche Betreuung aufzubauen, die allen Problemen gerecht wird, so stößt man schnell an Grenzen, wenn es um den Nachtdienst geht. Es ist nicht zu verleugnen, dass mit zunehmendem Alter – was einerseits die Voraussetzung für Erfahrung ist – und veränderter familiärer Situation die Bereitschaft sinkt, die Nächte im Schichtdienst zu verbringen. Auch hier müssen neue Modelle entwickelt werden, die es erlauben, beiden Anforderungen gerecht zu werden. Wenn dies nicht gelingt, werden auch wir in Deutschland ein erhebliches Problem mit der intensivmedizinischen Versorgung bekommen. Für die USA wurde bereits für das Ende dieses Jahrzehnts ein erheblicher Mangel an Intensivmedizinern vorausgesagt [1], der bis 2020 auf 35% ansteigen wird. Möglicherweise wird dieses Problem in Deutschland nicht auftreten, da bei uns immer genügend junge Facharztanwärter zur Verfügung stehen, um die Intensivstationen nominell zu versorgen. Die Intensivmedizin aber wird sich dann immer weiter vom intensivmedizinischen Facharztstandard entfernen, der erforderlich ist, um die Patienten State of the Art zu behandeln, und sie wird damit weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. 11.3
Leitung der Intensivstation
11.3.1 Die Intensivstation – ein multidisziplinärer
Arbeitsplatz Die Intensivstation ist ein multidisziplinärer Arbeitsplatz; hier arbeiten Pflegekräfte, Ärzte, Physiotherapeuten und viele andere im Team zusammen. Laufend kommen Konsiliarii und Vertreter anderer Fachdisziplinen dazu und bringen ihre Expertise in die Patientenversorgung ein; auch die besorgten Angehörigen müssen gebührend betreut und beraten werden. Diese verschiedenen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen zu koordinieren und eine leistungsbereite Arbeitsatmosphäre zu schaffen, ist eine komplexe, gelegentlich sehr schwierige Aufgabe. Dass diese komplexe Aufgabe reibungslos funktioniert, liegt im Aufgabenbereich und in der Verantwortung des Leiters der Intensivstation. Die Schaffung und Erhaltung eines leistungsfreudigen Teams ist ein kostbares Ziel. Einem solchen Team muss die nötige Stabilität geboten werden. Das heißt, dass ein großer Teil des Personals nicht zu kurzfristig wechseln sollte. Das muss der Leiter der Station beachten, wenn er die Teambildung ernst nimmt. Andererseits hat ein solches Team ein dynamisches Eigenleben,
102
Kapitel 11 · Organisation und Management
das aufmerksam beobachtet und unterstützt werden muss. Sonst kann es sich unversehens in die falsche Richtung bewegen: Mit einem zu starken Gruppenbewusstsein kann das Team sich für unfehlbar halten und seine Kreativität verlieren. Dies ist oft ein Ergebnis eines falschen Teamverständnisses, in dem jegliche Kontroversen unterbunden worden sind [9]. Die Vielfalt der Ideen und Vorschläge muss in einem guten Team erhalten bleiben, ja ausdrücklich gefördert werden [16]. Eine Kultur der Toleranz und fairer Diskussionen ist eine wichtige Aufgaben des Leiters der Station. Im gleichen Zusammenhang steht eine gute »Fehlerkultur«. Die altdeutsche Tradition des »Wer war das?« ist überholt. Es ist entscheidend wichtig, Fehler sachlich aufzudecken und ohne persönliche Beschuldigungen zu analysieren; sonst werden sie eben verdeckt, und die Chance, etwas zu verbessern, ist vertan. Regelmäßige M&M-Konferenzen, ein fairer und offener Teamgeist, die Bereitschaft zur Qualitätssicherung und -verbesserung, definierte Ablaufregelungen und SOPs sind Grundlagen einer guten »Fehlerkultur«. Auch hier liefert der Leiter die entscheidenden Vorgaben (7 Kap. 8). 11.3.2 Qualifikationen und Aufgaben des Leiters
Qualifikationen
11
Der Leiter einer Intensivstation muss in Deutschland die spezielle Weiterbildung »Intensivmedizin« vorweisen; für Österreich und die Schweiz gelten die entsprechenden nationalen Richtlinien. Weitere Qualifikationen und Expertisen erscheinen darüber hinaus sinnvoll: 4 für Intensivstationen größerer Häuser 4 eine mindestens 4-jährige vollzeitliche Praxis in der Intensivbehandlung, davon mindestens 2 Jahre als Oberarzt, 4 eingehende Erfahrungen in der Krankenhaus- und Intensivstationsorganisation einschließlich der Budgetierung, DRG-Kodierung sowie Verständnis für die Krankenhausfinanzierung, 4 für Universitätskliniken: 4 aktive Teilnahme an internationalen Kongressen mit eigenen Vorträgen (»life-long-learning«), 4 Erfahrung in Management und Durchführung wissenschaftlicher Forschung, Erfahrung mit wissenschaftlichen Studien im Bereich der Intensivmedizin, Kenntnisse in der Wissenschaftsfinanzierung und des Sponsorings; möglichst internationale Reputation. Für die verschiedenen Managementaufgaben sind auch einige allgemeine Kenntnisse nützlich oder gar unerlässlich: 4 Weiterbildung im Krankenhausmanagement und medizinisches Qualitätsmanagement, 4 Kenntnisse der Strukturen des nationalen Gesundheitssystems. Praktische Erfahrung in der Arbeit in verschiedenen Gremien und Kommissionen sind sehr hilfreich, um die abteilungsübergreifende Bedeutung der Intensivmedizin deutlich zu machen und zu fördern innerhalb des Krankenhauses, ebenso wie im Bereich der eigenen Universität bzw. innerhalb der Fachgesellschaften oder Ärztekammern.
Aufgaben Der Leiter der Intensivstation ist ihr offizieller Vertreter. Er repräsentiert ihre Funktion und Aufgaben nach außen, etwa gegenüber der Verwaltung und gegenüber anderen Fachgebieten und Krankenhäusern, und hat ihre Arbeit zu verantworten. Er hat die finanziellen Ressourcen für ihre auftragsgemäße Funktion anzufordern und zu begründen und die ordnungsgemäße Verwendung des Budgets zu verantworten. Vor allem ist er aber auch der Repräsentant des intensivmedizinischen Behandlungsteams. Als solcher vertritt er das Team bei allen Problemen und Konflikten mit anderen Fachdisziplinen und deren Fachvertretern. Er muss dabei sein Team von seiner Rolle als Leiter, aber auch als »Beschützer« überzeugen. In der täglichen Praxis und der Routine des Managements entstehen daraus wichtige Aufgaben der Personalführung mit sozialer Kompetenz: Erfolgreiche Personalführung bedeutet insbesondere Motivation des gesamten Teams und der einzelnen Individuen; es bedeutet aber auch faire Behandlung von Konflikten zwischen Gruppen und Individuen. Offene oder verdeckte Konflikte können die Effizienz der Arbeit und die Motivation der Gruppe völlig zerstören. So hängt die erfolgreiche Arbeit des Behandlungsteams ganz wesentlich ab von der Fähigkeit des Leiters, sein Team zu motivieren und Konflikte fair zu lösen (7 s. unten). Andererseits muss er auch Situationen von akuter Arbeitsüberlastung und anderen außergewöhnlichen Belastungen für das Team einfühlsam erfassen. Hier muss er die Notwendigkeiten einer optimalen Patientenbehandlung und seiner Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern mit Sensibilität abwägen. In den heutigen Zeiten des ökonomischen Druckes kann das gelegentlich eine schwere Aufgabe sein, die viel Stehvermögen erfordert! Der Leiter einer großen Intensivstation als Manager 5 ist Leiter des Teams der ITS: – letztlich verantwortlich für Controlling und Qualitätsmanagement, – letztlich zuständig für alle internen und externen Probleme, – vertritt die Intensivstation nach innen und außen, – verantwortet letztlich alle Entscheidungen der Intensivbehandlung, 5 ist verantwortlich für die Verwendung und Einhaltung der Budgets (Personal, Investitionen, Beschaffungen, Behandlungen, Wissenschaft und Forschung), 5 ist Verteiler aller intensivmedizinisch relevanten Informationen 5 ist »Verbindungsmann« für das interne und externe Krankenhausnetzwerk.
Insgesamt sind das zahlreiche Funktionen, die außerhalb der medizinischen Kompetenz liegen. Es reicht also nicht, dass er (nur) ein kompetenter Intensivmediziner ist! Das sollte bei der Besetzung des Postens eines Leiters berücksichtigt werden. 11.3.3 Fähigkeiten zur Leitung Offensichtlich gibt es nicht einen einzigen, besten Weg, die Leitungsfunktion auszuüben. Jeder muss seinen eigenen besten Weg
103 11.3 · Leitung der Intensivstation
finden, der zu ihm passt und den Anforderungen am besten gerecht wird. Das heißt sogar, dass er gegenüber unterschiedlichen Mitarbeitern unterschiedliche Führungsstile einsetzen kann. Einerseits kann er sich an den sachlichen Notwendigkeiten orientieren und Aufgaben, Funktionen, Ziele definieren und erklären (»task behaviour«); hier sind SOPs (»standard operating procedures«) hilfreich. Andererseits kann er die Mitarbeitermotivation und das Zwischenmenschliche in den Vordergrund stellen (»relationship behaviour«). Dann wird es ihm in erster Linie um ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen sich und seinen Mitarbeitern gehen; er wird zuhören und sich um gute Kommunikation bemühen, er wird »Streicheleinheiten« verteilen und seine Mitarbeiter mit seiner Kraft und seinem Einfluss unterstützen, damit sie ihre Aufgabe optimal verrichten können.
Delegation von Aufgaben Sobald die Gruppe kompetent und »reif« ist, sollte der Leiter dazu übergehen, Aufgaben zu delegieren. Jede Delegation motiviert das Team und stärkt ihr Selbstvertrauen. Es regt die einzelnen Mitarbeiter an, selbst Verantwortung für ihre Arbeit zu übernehmen – oft eine Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Qualität. Kompetente, tüchtige Mitarbeiter sind i. Allg. äußerst daran interessiert, eigene Aufgaben und Verantwortungen zu übernehmen; werden sie dagegen durch kleinliche Kontrollen gegängelt, dann fühlen sie sich unterbewertet und sind frustriert. Die jeweiligen Aufgaben und Verantwortlichkeiten müssen klar definiert (schriftliche Regeln/SOPs) und allen Mitarbeitern zur Kenntnis gebracht werden. Dies ist ein wichtiger Bestandteil des Qualitätsmanagements. Gleichzeitig muss die Erfüllung der delegierten Aufgaben kontinuierlich überwacht werden, damit der Leiter stets auf dem Laufenden bleibt. Die Delegation der Aufgaben beschränkt nicht die Endverantwortung des Leiters. Er bleibt letztlich verantwortlich für alle Aktivitäten. Plötzliche Ereignisse (z. B. Zwischenfälle und Ähnliches) können es auch erforderlich machen, dass er direkt in das Geschehen eingreift, d. h. das Handlungsregime selbst übernimmt. Es ist sinnvoll, die Kriterien für solche Situationen schriftlich festzulegen, damit alle Mitarbeiter wissen, wann der Leiter informiert und kontaktiert werden muss. Insbesondere ist es wichtig, dass bei »politisch« sensiblen Problemen (z. B. Meinungsverschiedenheiten mit anderen Fachdisziplinen) der Leiter sofort informiert wird und (sofern berechtigt) sein Team unterstützen kann. 11.3.4 Persönliche Qualifikationen Der Leiter trägt zwei »Gesichter«: eines für außen, eines für intern; einerseits ist er der offizielle Repräsentant der Intensivstation, andererseits ist er der Leiter des Teams.
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ve Kooperation mit vielen weiteren Dienstleistungsstellen. Die Intensivmedizin hat also keine abgegrenzte Aufgabe, vielmehr verdankt sie ihre besondere Stellung ihrer guten Kooperation und Interaktion nach allen Seiten. Es ist die Aufgabe des Leiters der Intensivstation, dieses Bewusstsein bei allen ihren Mitarbeitern zu wecken. Für die »Politik« und für das beruflichen »Power Play« innerhalb des Krankenhauses ist es wichtig, dass der Leiter der Intensivstation bei allen Differenzen sich um eine Win-win-Situation für beide Seiten bemüht [2]. Sofern dies nicht erreicht werden kann, sollte er nicht auf die Lösung eingehen, da dann eine der beiden Seiten benachteiligt wird. Hält er sich an diese Regel, dann wird er als kooperativer Partner wahrgenommen, der sich jedoch »nicht über den Tisch ziehen« lässt. Das begründet ein nachhaltiges Vertrauens- und Respektverhältnis zu seinen Partnern.
Interne Leitung Als »Kopf« der Intensivstation ist der Leiter verantwortlich für die Atmosphäre und den »seelischen Zustand« seines Teams. Das bedeutet, dass seine soziale Kompetenz (»emotionale Intelligenz«) in dieser Funktion besonders gefragt ist. Soziale Fähigkeiten, die benötigt werden, um gut mit Menschen zusammenzuarbeiten, sind für Managementaufgaben von höchster Bedeutung [8]. Es ist bemerkenswert, wie die »Psychologie« einer Gruppe von den Charaktereigenschaften ihres Leiters geprägt wird. Eine Reihe guter Ratschläge findet der Leser in dem bekannten und bemerkenswerten Buch von Steven R. Covey »Die sieben Wege zur Effektivität« [2]. Hierin empfiehlt er u. a.: »Versuche erst zu verstehen, dann versuche verstanden zu werden«. Das betont die Bedeutung des aktiven Zuhörens: Um die Mitarbeiter richtig zu verstehen, muss die Kommunikation und die Interaktion mit ihnen stimmen. Häufig verlassen wir uns auf den »ersten Eindruck«, der sehr geprägt ist von unseren Vorurteilen. i Richtig verstehen heißt, gut zuzuhören! Sie erfahren viel mehr, wenn Sie zuhören!
Hören Sie nicht richtig zu, dann signalisieren Sie, dass Sie nicht interessiert sind zu verstehen. Dabei müssen Sie aber objektiv und neutral bleiben, da Sie der Leiter des gesamten Teams sind, für die Ärzte ebenso wie für das Pflegepersonal und andere; und schließlich sind Sie auch verantwortlich gegenüber Ihren Partnerdisziplinen und dem Krankenhaus als Ganzes. Daher gilt: 5 bereit zur Diskussion, aber entschlussfreudig, 5 bereit zur Entscheidung, aber abgewogen, 5 offen und kompetent, …mit anderen Worten: Sozialkompetenz!
Externe Repräsentanz Intensivmedizin ist im besonderen Maße auf multidisziplinäre Kooperation angewiesen. Idealerweise sollte daher ihr Leiter Vertrauen und Respekt bei den Partnerdisziplinen genießen und bei den übrigen Klinikleitern und Chefärzten sowie von der Verwaltung und der Klinikumsleitung wohl angesehen sein. Die Intensivstation hat innerhalb des Krankenhauses in einem komplexen Netzwerk von Zuständigkeiten und Abhängigkeiten zu funktionieren. Das bedeutet eine sensible, aber effekti-
Soziale Kompetenz Auf der Intensivstation arbeitet ein Team – Ärzte, Pflegepersonal und viele andere – miteinander. Der Leiter der Intensivstation ist wie ein »Familienvater«, der sich um seine Familie kümmern muss. Dazu braucht es Vertrauen, nicht Macht! Der Leiter der Station sollte über ein Vertrauenskonto verfügen, ein »emotional bank account«, wie es Covey ausdrückt [2]. Ein solches Vertrauenskonto baut sich der Leiter mit seiner sozialen Kompetenz auf.
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Kapitel 11 · Organisation und Management
Es hilft ihm, dass ihm das Team auch bei schwierigen Situationen und hohen Anforderungen vertrauensvoll folgt. So ist ein Vertrauenskonto die wertvollste Grundlage für eine gute Arbeitsatmosphäre: Selbst wenn es einmal nicht richtig läuft und heftige Worte gewechselt werden, wird dies nicht nachtragend aufgenommen. Eigentlich sollte ja jeder Arzt über eine hohe soziale Kompetenz verfügen, doch sieht die Wirklichkeit nicht so aus.
Motivation Der Einzelne motiviert sich am ehesten über seine Bedürfnisse und Wünsche. Das können die Arbeitsbedingungen sein, die Arbeitsplatzsicherheit, besondere Anforderungen, interessante Arbeitsgruppen, Achtung der Kollegen usw. Je weniger diese Bedürfnisse in seinem Job erfüllt werden, desto wichtiger werden sie ihm. Von Vorteil ist, dass die medizinische und pflegerische Tätigkeit als solche bereits eine hohe Motivation hervorruft; sie ist sinnvoll, wohltätig, verantwortungsvoll. Doch das kann nicht alle untragbaren Arbeitsbedingungen kompensieren, wie etwa die sozial inkompatiblen Schichtdienste oder exzessive Überstunden. i Sozialkompetenz bedeutet auch, nicht nur über Pflichten und Aufgaben zu reden, auch über Bedürfnisse und Wünsche.
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Eine der großen Herausforderungen für den Leiter ist es, die individuelle Verschiedenheit seiner Mitarbeiter zu akzeptieren [9]. Wir sind immer versucht, unsere eigene Sicht der Dinge als absolut zu betrachten. Unsere Wahrnehmung ist selektiv; wir neigen dazu, Informationen, die nicht in unser Konzept passen, zu verdrängen. Natürlich können individuelle Unterschiede und Widersprüche Konflikte hervorrufen; sie fördern allerdings auch die Kreativität, verbessern die Entscheidungsfähigkeit und vergrößern das Engagement. Daher ist der Leiter gut beraten, dieses Potenzial der individuellen Vielschichtigkeit gut im Team zu nutzen, für Diskussionen, für differenzierte Lösungsvorschläge, für individuell abgestimmten Einsatz der Mitarbeiter bei unterschiedlichen Aufgaben. Die Mitarbeiter sind besser motiviert, wenn sie den Eindruck haben, dass sie in ihrer Individualität respektiert werden. Andererseits fördert die Toleranz gegenüber den individuellen Verschiedenheiten das gemeinsame Klima im Team; es ist das beste Mittel gegen Mobbing. Ein gut motiviertes Team hat eine »corporate identity«, es identifiziert sich mit seiner Aufgabe, mit seinen Mitarbeitern und mit dem gesamten Arbeitsumfeld. Das Team hat ein Selbstbewusstsein und ist stolz auf die eigenen Leistungen. Der Leiter tut gut daran, ein solches Selbstbewusstsein zu fördern. Das darf jedoch nicht zur Überheblichkeit gegenüber anderen Leistungsträgern führen; die Intensivmedizin ist ein Dienstleistungszentrum. Nach eigenen Erfahrungen fehlt in großen öffentlichen Krankenhäusern und Universitätskliniken oft gänzlich dieses »Wir-Gefühl«. Das behindert eine hohe Leistungsbereitschaft. 11.4
Kommunikation
11.4.1 Zwischenmenschliche Kommunikation Gute Kommunikation ist für eine effiziente, reibungslose Arbeit des Teams unerlässlich: klare Anweisungen zur Aufgabenvertei-
lung, zu Arbeitsabläufen (SOPs), Visiten, gemeinsame Besprechungen, aber auch Weiterbildungskonferenzen und Zwischenfallbesprechungen (sog. M&M-Konferenzen). Vielfach entstehen Unstimmigkeiten und Streitigkeiten durch unklare, fehlende oder widersprüchliche Kommunikation. Schlechte Kommunikation, sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen Gruppe und Leitung, ist eines der häufigsten und schwerwiegendsten Probleme. Sie verursacht Irrtümer und Behandlungsfehler, führt zu Konflikten und Frustration. i Kommunikation dient nicht nur zur Information, sondern fördert auch zwischenmenschliche Beziehungen. Konflikte lassen sich nur durch Kommunikation lösen!
Die Fähigkeit zur guten Kommunikation ist daher eine der wichtigsten Eigenschaften eines Leiters. In der hektischen, stressbelasteten Arbeitsatmosphäre der Intensivstation ist gute Kommunikation eine schwierige Aufgabe. Es lohnt sich, in ihre Verbesserung einige Mühe zu investieren: Die US-amerikanische Gesellschaft für Intensivmedizin hat einige beachtenswerte Handlungsanweisungen und Regeln erstellt [3]: aktives Zuhören, betonte Stimmgebung, Wiederholung zur Sicherung des Verständnisses (Wer? Was? Wie?) sowie schriftliche Zusammenfassungen über abgeschlossene Diskussionen (z. B. »Tagesthemen«).
Tägliche Visite Die tägliche Visite bildet die Grundlage für die laufende Diagnostik und Behandlung jedes individuellen Patienten. Die Vermittlung so zahlreicher und komplexer Informationen, hinreichend vollständig und in so kurzer Zeit, erfordert ein hohes Maß an allseitiger Disziplin. Andererseits muss die Zeit ausreichen, um Fragen zu stellen und gezielte Diskussionen zu ermöglichen. Die fachliche Diskussion mit den Experten der beteiligten Fachgebiete ist die Grundlage des multidisziplinären Konzepts jeder guten Intensivmedizin. i Die Visite ist Beratung, Erkenntnisaustausch – nicht nur einseitige Information oder Berichterstattung.
Es ist die schwierige Aufgabe des Leiters, bei diesen widersprüchlichen Anforderungen eine abgestimmte, sinnvolle Balance für die tägliche Arbeit zu finden und diese mit gutem Beispiel vorzuleben. Jedenfalls muss am Ende jeder wissen, was er zu tun hat.
Gruppenbesprechungen Ein wichtiges Mittel zur Kommunikation nicht patientenbezogener Fragen ist die Gruppenbesprechung. Direkte Reaktionen auf Informationen können angeregt werden, Missverständnisse werden durch Nachfragen vermieden. Das verbessert die Akzeptanz bei den Mitarbeitern und fördert ihr Engagement. Nicht zuletzt ermöglichen sie Kontrolle und stärken die Position des Leiters. Gruppenbesprechungen sollten regelmäßig abgehalten werden und jeweils nicht zu lange dauern; sonst sind sie langweilig und provozieren Widerstand. Daher wird von allen gute Disziplin erwartet. Es ist die Aufgabe des Leiters, die nötige Balance zwischen offener, aber konzentrierter Diskussion und zielgerichteter Entscheidung zu finden. Die Informationen müssen verstanden werden, Mutmaßungen sind zu vermeiden, die abschließende Botschaft sollte wiederholt werden, damit Missverständnisse ausgeräumt werden [3].
105 11.5 · Konfliktmanagement
Regeln für erfolgreiche Gruppenbesprechungen 5 5 5 5 5 5
Definiere die Ziele … sei gut vorbereitet! Verstehe die Umstände … höre zu! Entdecke die Ursachen … frage! Identifiziere die Verursacher … frage! Lass die Gruppe diskutieren … aber zielorientiert! Fasse zusammen … aber kurz!
Konklusion Wer tut was?
Gruppenbesprechungen fördern die Teambildung; es entwickelt sich ein besseres Verständnis zwischen den Mitarbeitern, wenn sie Informationen austauschen und gegenseitig ihre Auffassungen darüber mitteilen.
Einführung von neuen Mitarbeitern Ein besonderes Problem der Kommunikation ist die Einführung von neuen Mitarbeitern in die Intensivmedizin. Die Grundregel ist denkbar einfach: i Je besser die Mitarbeiter in ihre Aufgaben eingewiesen werden, desto früher können sie ihre Arbeit übernehmen.
Dieser einfache Grundsatz wird häufig missachtet. Anfänger werden ohne ausreichende Vorbereitung in ihre Aufgabe hineingeworfen – und dann wundert man sich, wenn sie ihre Aufgabe nicht gut erledigen oder gar Angst vor der komplexen Intensivmedizin bekommen! Eine gute Einführung motiviert die Mitarbeiter. Unmotivierte Mitarbeiter leisten schlechte Arbeit und verursachen die häufigsten Probleme am Arbeitsplatz. Eine gut strukturierte Einführung beginnt mit einer Unterrichtsphase (möglichst am Arbeitsplatz), mit Informationen und Arbeitsanweisungen (SOPs), eine Phase, in der der Mitarbeiter möglichst von einem individuell benannten Tutor betreut wird. Danach beginnt die Eingewöhnungsphase, in der dann die direkte Betreuung durch individuelle Information und generellere Gruppenbetreuung abgelöst wird. Die regelmäßige Überprüfung (offen oder verdeckt) der jeweiligen Kenntnisse und Fähigkeiten des neuen Mitarbeiters zeigt, inwieweit er bereits in der täglichen Arbeit eingesetzt werden kann. Dieser relativ aufwändige Betreuungseinsatz lohnt sich jedoch: Als je besser vorbereitet der neue Mitarbeiter sich empfindet, desto motivierter widmet er sich seiner Aufgabe und wird bald ein wertvolles Teammitglied sein. 11.4.2 Technik der Kommunikation Für eine gute Kommunikation müssen auch die technischen Voraussetzungen gegeben sein: 4 Stationseigene Telefon- und Faxanschlüsse sind selbstverständlich. 4 PC-basierte Kommunikation: Die nutzerfreundlichen Möglichkeiten PC-basierter Informationsmittel sollten möglichst zur Verfügung stehen: Internetabfragen, digital gespeicherte Listen und Kataloge (etwa Rote Liste, DRG-Kataloge), Literaturabfragen, wissenschaftliche Datensammlungen und Weiterbildungsprogramme und vieles andere mehr.
11
4 PDMS: Ein computerbasiertes Patientendatenmanagementsystem verbessert nicht nur die Patienten- und Behandlungs-Dokumentation, sondern ermöglicht auch eine effiziente Leistungs- und Aufwandsdokumentation. 4 Funktionsbezogene Kommunikation: Digitale Datenübermittlung, etwa für Anforderungen und Befunde aus dem Zentrallabor, der Mikrobiologie und anderen Leistungsstellen verbessern die Übermittlungsschnelligkeit und -sicherheit und vermindern Aufwand und Zeit deutlich. Auch digitale Bild- und Befundvermittlung für Röntgenaufnahmen bringen große Vorteile. 4 Telemetrie bietet heute neue Möglichkeiten der Kommunikation: Das Spektrum reicht von der Übertragung von Patienten- und Befunddaten innerhalb der Hauses bis hin zur Fernübertragung von CT- und Röntgenbildern zwischen kleineren Krankenhäusern und Expertenzentren. Der bestechende Vorteil ist, dass eine Expertenberatung rasch zugänglich gemacht werden kann. 11.5
Konfliktmanagement
Ein Konflikt ist ein Kräftemessen zwischen unterschiedlichen Interessen. Konflikte sind oft unausweichlich, werden meist als störend empfunden, sollten aber öfter als Ausdruck kreativer Auseinandersetzung gesehen werden. Dann haben sie eine wichtige Funktion der Verbesserung und der Erneuerung – kurz der Vitalität. In einer Abteilung ohne Konflikte gibt es: 4 keine Veränderungen, 4 keine Motivation der Mitarbeiter, 4 ungenutzte Ressourcen. Das Arbeitsklima ist langweilig, und alles ist vorhersehbar. So können Konflikte nützlich und kreativ sein; sie können sich aber auch destruktiv auswirken, sie können die Produktivität herabsetzen und Stress, Chaos und Desintegration auslösen. Daher müssen wir verstehen, wie Konflikte entstehen und wie sie nutzbringend verarbeitet werden können. 11.5.1 Konfliktdiagnose Um einen Konflikt zu beurteilen, muss zunächst eine richtige »Diagnose« gestellt werden.
Konflikttypen Es ist wichtig, zu verstehen, auf welchen der 4 typischen Ursachen der Konflikt letztlich beruht: 4 auf Differenzen auf dem Gebiet der strategischen Zielvorgaben, 4 auf Problemen der Aufgabenstellung und Organisation, 4 auf dem Gebiet von individuellen Zielvorstellungen und Interessen oder 4 auf sozialer und emotionaler Ebene. Nur mit dieser Kenntnis kann man den Konflikt ursächlich angehen und lösen. Bei Konflikten der strategischen Zielvorgaben (z. B. Aufgabenstellung der ITS) müssen Definitionen formuliert und Informa-
106
Kapitel 11 · Organisation und Management
tionen verbessert werden. Bei Entscheidungen »entweder/oder« wird es allerdings unvermeidbar gelegentlich »Verlierer« geben. Bei organisatorischen Problemen können Funktionsabläufe verbessert, Arbeitsanweisungen formuliert und in organisatorische Hilfsmittel investiert werden. Bei individuellen Interessenskonflikten, die manchmal nicht klar formuliert sind, muss nachgefragt werden. Hier ist insbesondere die soziale Kompetenz des Leiters gefordert. Bei Konflikten auf sozialer und emotionaler Ebene müssen die Konfliktpersonen miteinander konfrontiert werden, müssen Besprechungen zwischen den Konfliktparteien stattfinden, ggf. müssen Individuen aus dem Team herausgelöst werden.
Konfliktbedingungen Im Konflikt zählen nicht nur die Argumente; auch die Bedingungen des Umfelds spielen eine große Rolle: So wird man es sich lange überlegen, ob man gegen einen sehr mächtigen Gegner einen Streit von Zaun bricht. Die Umfeldbedingungen müssen also klar berücksichtigt werden: die hierarchische Struktur, die Gruppeninteressen (Ärzte/Pflegekräfte), die Interessenslager (»Verbündete«/»Gegner«), die möglichen Alternativen, die eigene Expertise, die eigene Glaubwürdigkeit und vieles mehr.
Konfliktstadien
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Ein Konflikt ist nicht statisch, sondern hat seine eigene Dynamik. Dies zu verstehen hilft, um bei der Intervention Zeitpunkt und Maßnahmen richtig und angepasst zu wählen. Der Konflikt beginnt meist als latenter Konflikt, der von den Beteiligten noch nicht wahrgenommen wird. Erst später wird er deutlich, und die einzelnen Parteien beziehen Stellung; diese Phase sollte zur Konfliktlösung genutzt werden. Wird der Konflikt nicht zufriedenstellend gelöst, dann beginnt die Eskalation: Die Standpunkte verhärten sich, Gespräche werden abgewiesen, es kommt zu Beschuldigungen und Verletzungen. Erst wenn alle einsehen, dass es so nicht weitergehen kann, tritt die Deeskalation ein: Jetzt wird miteinander geredet, verhandelt, um eine gute Lösung gerungen. Die allerletzte Phase jedoch wird oft vergessen: Schließlich muss wieder Frieden einkehren, alle müssen wieder miteinander ein vernünftiges Arbeits- und Vertrauensverhältnis aufbauen. Geschieht das nicht, dann wird sich dieser Konflikt wieder aufschaukeln, und das Ganze beginnt von Neuem. Auch hier ist also die soziale Kompetenz des Leiters gefragt.
Eigene Position Bei der Diagnose des Konflikts ist es schließlich wichtig, die eigene Position zu analysieren: Stehen Sie über den Konfliktparteien, dann können Sie aus ihrer Position als Leiter objektiv und fair eine Entscheidung fällen und die Gruppen wieder zusammenführen. Stehen Sie zwischen den Parteien ohne eine hierarchische Position, dann ist Ihre tatsächliche Meinung und vielleicht auch Ihre Vermittlungsfähigkeit gefragt. Eine faire Vermittlung, die beide Seiten akzeptieren, kann zu einer schwierigen Herausforderung werden. Sind Sie jedoch Teil des Konflikts und müssen bei den Verhandlungen eine eigene Interessensgruppe vertreten, dann ist es besonders schwierig. Hier müssen Sie sehr genau wissen, wozu Sie befugt sind und wozu nicht. Halten Sie engen Kontakt zu Ihrer Interessensgruppe und besprechen Sie vorher eingehend die vorgesehenen Entscheidungen. Nichts ist so frustrierend, als wenn eine mit Mühe erreichte Entscheidung dann in der eigenen Gruppe nicht akzeptiert wird. In Konflikten, in denen Sie als Leiter Krankenhausinteressen zu vertreten haben, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass
Ihre Verantwortlichkeit gegenüber dem Team, das Sie leiten, evtl. höher zu bewerten ist. Halten Sie in solchen Situationen nicht zu Ihren Mitarbeiten, dann kann sich das nachhaltig auf das Arbeitsklima in Ihrer Abteilung und deren Leistung auswirken. 11.5.2 Konfliktlösung Die ideale Lösung eines Konfliktes bedeutet ein gutes Ergebnis für beide Parteien und eine verbesserte zwischenmenschliche Beziehung; dies ist in jeder Hinsicht eine Win-win-Situation. Wer Konflikte grundsätzlich vermeidet und, wenn sie vorkommen, sich ihnen nicht stellt, wird weder gute Ergebnisse erzielen noch ein gutes Arbeitsklima erreichen; das wäre eine typische Lose-lose-Situation. Irgendwo dazwischen liegt das weite Feld der Kompromisse; dabei sollten ausgesprochene Win-lose-Situationen vermieden werden, da sie oft zu neuen Konflikten Anlass geben und die Stimmung unnötig vergiften.
Verhandlungen Konflikte lassen sich am sichersten durch Verhandlungen lösen. Die Voraussetzung für eine gemeinsame Lösung ist, dass es neben den unterschiedlichen Standpunkten auch gemeinsame Interessen gibt, die es bei den Verhandlungen zu betonen gilt. Verhandlungen bedeuten in erster Linie, zuzuhören, zu versuchen die tatsächlichen Motive der Gegenpartei zu verstehen, Fragen zu stellen, um sicherzugehen, dass die Probleme und die Motive richtig verstanden wurden, und die Gegenpartei aufzufordern, ihrerseits Fragen nach Ihren Gründen und Hintergründen zu stellen. Gutes gegenseitiges Verständnis der Motive und Ziele erleichtert und beschleunigt die Verhandlung. Wird Ihnen von anderer Seite ein Angebot gemacht, dann suchen Sie nach Ihren Interessen bei diesem Angebot; sonst sollten Sie nicht darauf eingehen (Win-win-Situation). Wichtig für Sie selbst ist die Frage nach den Alternativen: Als BATNA (»best alternative to a negotiated agreement«) werden die minimalen Bedingungen bezeichnet, unter denen Sie noch eine Einigung akzeptieren würden. Verschaffen Sie sich also über Ihr BATNA Klarheit, bevor Sie in die Verhandlungen gehen, sonst gehen Sie das Risiko ein, einen zu hohen Preis zahlen zu müssen. Während der Verhandlungen wird die Gegenpartei oft versuchen, den Druck zu erhöhen, um eine Lösung zu erzwingen. Lösungen unter Entscheidungsdruck sind jedoch selten gut; daher sollten Sie die Strategie durchschauen, um sich von diesem Druck zu lösen. Dazu sind geeignet: das Entscheidungstempo zu verlangsamen oder den Entscheidungsprozess zu unterbrechen, die direkte Konfrontation mit einem mächtigen Gegner durch Zeitbegrenzung zu verkürzen, oder, schließlich, sich einen anderen Verhandlungspartner zu suchen, um dem Druck auszuweichen.
Konzessionen Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die Verhandlungsparteien zu Konzessionen genötigt werden, damit man schließlich zu einer Entscheidung kommt. Hierfür gibt es einige Regeln, die Sie beachten sollten, sofern Sie nicht verlieren möchten: 4 Machen Sie Konzessionen spät und in kleinen Schritten. 4 Bevorzugen Sie Konzession, die Sie nichts kosten. 4 Kombinieren Sie Leistungen auf Gegenseitigkeit (etwa: »wenn ich…, dann müssen Sie…«). 4 Seien Sie deutlich, wenn Sie Ihre Bedingungen vortragen (nicht: »Könnten Sie nicht vielleicht etwas mehr zahlen?«).
107 Literatur
4 Sie wissen nie, wann die Verhandlungen abgeschlossen sein werden. Konzessionen sind »Handelswaren«. Behalten Sie ein paar Konzessionen in der Hinterhand, die Sie nutzen können, wenn es im letzten Moment unbedingt erforderlich sein sollte. Versuchen Sie bei den Verhandlungen, eine gute Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Das Ziel der Verhandlung ist ein gutes Ergebnis, das sich in partnerschaftlicher Zusammenarbeit nachhaltig bewähren muss. i Verhandlungen sind keine Kampfhandlungen. Gegner sind keine Feinde.
Fähigkeiten der guten Konfliktbewältigung sind hervorragende Eigenschaften eines sozial kompetenten Leiters. Dabei muss er seine Strategie der Konfliktbewältigung sorgfältig an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen; nicht jeder Konflikt ist mit den gleichen Mitteln zu lösen. Aber selbst, wenn er dies anfangs noch nicht beherrscht, lernen doch manche in ihrem Beruf noch dazu.
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11
: Ein überzeugender Beweis, dass unverzügliche und effiziente Intensivbehandlung bessere Ergebnisse liefert! 14. Pronovost PJ, Angus DC, Dorman T et al. (2002) Physician staffing patterns and clinical outcomes in critically ill patients: a systematic review. JAMA 288: 2151–2162 15. Rivers E, Nguyen B, Havstad S et al. (2001) Early goal-directed therapy in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 345: 1368–1377 16. SCCM eNewsletter, March 17th, 2005 (www.sccm.org/publications/) (unter »SCCM eNewletters«) 17. Sprung CL, Geber D, Eidelman LA et al. (1999) Evaluation of triage decisions for intensive care admission. Crit Care Med 27: 1073–1079 18. Stiletto RJ, Schäfer E, Waydhas C (2000) Qualitätssicherung in deutschen Intensivstationen: Erste Ergebnisse einer prospektiven Querschnittsstudie der Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung in der Intensivmedizin der DIVI. Intensivmed 37: 608–616 19. Tarnow-Mordi WO, Hau C, Warden A et al. (2000) Hospital mortality in relation to staff workload: a 4-year study in an adult intensive-care unit. Lancet 356: 185–189 20. Vagts DA (2006) Ärztliche Personalbedarfsermittlung in der Intensivmedizin. Wismarer Diskussionspapiere: 3–43
12 Die Intensivmedizin in der Versorgungskette A. Meier-Hellmann
12.1
Zuständigkeit der Intensivbehandlung
12.2
Probleme in der intensivmedizinischen Versorgungskette
12.3
Differenzier ter Einsatz der Intensivtherapie
12.3.1 12.3.2 12.3.3
Indikationsstellung zu Intensivtherapie –110 Notwendigkeit von Intermediate-Care- oder Wachstationen –111 Integration der Kompetenz aller Fachrichtungen –111
12.4
Krankenhausübergreifende Versorgungskette
12.4.1 12.4.2
Verlegungsprobleme –112 Kooperation und Netzwerk –112
12.5
Zusammenfassung Literatur
–113
–112
–110
–110
–112
–110
12
110
Kapitel 12 · Die Intensivmedizin in der Versorgungskette
12.1
Zuständigkeit der Intensivbehandlung
Aktuelle Diskussionen und Publikationen zur Zukunft der Intensivmedizin befassen sich in aller Regel sehr intensiv mit der Frage der Zuständigkeiten, d. h. wer bzw. welche Fachrichtung die Intensivmedizin verantworten sollte. Alle denkbaren Modelle, von einer streng fachbezogenen bis hin zu einer interdisziplinären Intensivmedizin, die auch die konservativen und operativen Intensivpatienten vereint, werden hier diskutiert. Der Stand der gegenwärtigen Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen: 4 Obwohl eigene, oft in kleineren Einheiten organisierte fachgebundene Intensivstationen für die entsprechenden Disziplinen den Vorteil einer direkten Einflussnahme auf die Bettenverfügbarkeit haben, gehen Krankenhausträger zunehmend dazu über, aus ökonomischen Gründen größere Intensiveinheiten unter einheitlicher Leitung zu etablieren. 4 Werden auf interdisziplinären Intensivstationen die Patienten ausschließlich durch die primär behandelnde Disziplin versorgt, die auch bei intensivmedizinischen Fragestellungen grundsätzlich die Letztverantwortung in Anspruch nimmt, so wird dieses Konzept auch als »open ward« bezeichnet. Es ist aus qualitativen und wie aus ökonomischen Gründen abzulehnen [1]. 4 Aus dem oben Genannten ergibt sich die Notwendigkeit einer klaren Leitungs- und Zuständigkeitsstruktur. Zweifelsohne muss eine solche Leitungsfunktion von einem intensivmedizinisch erfahrenen Kollegen wahrgenommen werden. Welcher Fachdisziplin dieser Kollege angehört, ist vermutlich eher von untergeordneter Bedeutung; wichtiger ist, dass »es jemand macht, der es kann« und dass die Aufgabe nicht nebenbei, sondern als primär und originär wahrgenommen wird. Die oben genannte Diskussion und der gegenwärtige Stand der Entwicklung sind häufig durch berufspolitisch motivierte Auseinandersetzungen über geeignete Strukturen in der intensivmedizinischen Versorgung gekennzeichnet. Eine möglicherweise viel wichtigere Frage ist jedoch, ob bei den zugrunde liegenden Prozessen, insbesondere bei der Einbindung der Intensivmedizin in eine Versorgungskette, nicht erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. Hierbei sind u. a. Probleme der rechtzeitigen Anwendung intensivmedizinischer Kompetenz und der Integration von Kompetenz anderer Fachrichtungen zu diskutieren. 12.2
Probleme in der intensivmedizinischen Versorgungskette
Indikationsstellung zu Intensivtherapie. Intensivmedizinische Kompetenz wird ausschließlich auf Intensivtherapiestationen vorgehalten. Das Erkennen einer intensivmedizinischen Behandlungsbedürftigkeit und auch die primäre Weichenstellung zur Intensivtherapie obliegt aber häufig Kollegen, die selbst über keine intensivmedizinische Kompetenz verfügen.
Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung gibt, die entweder über sog. IMC-Stationen verfügen oder aber gänzlich ohne eine solche Struktur arbeiten, kennzeichnet die Unsicherheit, wie mit einer vermeintlichen Versorgungslücke zwischen Normal- und Intensivstation umgegangen werden soll. Integration der Kompetenz aller Fachrichtungen. Obwohl oder gerade weil die Notwendigkeit einer einheitlichen Leitung bzw. eines sog. Closed-ward-Systems unbestritten ist, ist die Integration fachspezifischer Kompetenz ein häufiges Problem. Hierbei ist nicht nur die Integration anderer klinischer Disziplinen, sondern auch die der sog. »Servicedisziplinen« wie Pharmakologie, Radiologie, Mikrobiologie und Labormedizin wichtig. Die oben genannten Probleme sind weitestgehend unabhängig von den vorgehaltenen Strukturen (Größe der Stationen, fachgebundene oder interdisziplinäre Station, Leitung der Intensivmedizin). Auch potenzielle Lösungen sind von Strukturfragen unabhängig, mögen unter den heutigen Bedingungen jedoch tendenziell visionär erscheinen.
12.3
12.3.1 Indikationsstellung zu Intensivtherapie Entscheidend wichtig ist die Frage, wie es erreicht werden kann, dass intensivmedizinische Maßnahmen überhaupt und vor allem rechtzeitig eingeleitet werden. Neben geplanten Aufnahmen auf einer Intensivstation finden sich immer wieder Patienten, die mehr oder weniger notfallmäßig von Nicht-Intensivstationen aufgenommen werden müssen. Häufig ist hierbei festzustellen, dass eine frühere Aufnahme bzw. ein früheres Erkennen einer intensivmedizinischen Behandlungsnotwendigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Behandlungsergebnis nachhaltig hätte verbessern können [2]. Unter dem Eindruck der auch in letzter Zeit mehrfach eindrucksvoll demonstrierten Bedeutung einer rechtzeitig begonnenen Intensivtherapie ist hier eine erhebliche Qualitätsverbesserung möglich [3, 4]. Das Kernproblem dabei ist, dass das Vorliegen einer vitalen Bedrohung und die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung vom Personal (Pflegekräfte und Ärzte) ohne intensivmedizinische Ausbildung und Erfahrung oft nur begrenzt erkannt werden können. Notfallteam. Um rechtzeitig und mit einfachen Mittel zu erken-
nen, dass bei Patienten auf Nicht-Intensivstationen eine intensivmedizinische Behandlungsbedürftigkeit besteht, sind verschiedene Parameter und Scores empfohlen worden [5–7]. Parameter und Kriterien für ein intensivmedizinisches Konsil (Quelle: Arbeitsgruppe »Intensivmedizin« der Helios Kliniken GmbH) 1.
Notwendigkeit von Intermediate-Care- oder Wachstationen (IMC). Viele Patienten können unter den heutigen Bedingungen
auf einer Normalstation nicht adäquat überwacht und therapiert werden, benötigen jedoch nicht das ganze Spektrum einer Intensivtherapiestation. Allein die Tatsache, dass es in Deutschland
Differenzier ter Einsatz der Intensivtherapie
6
Zerebrale Funktionsstörung – Akute Orientierungstörung mit Selbst- oder Fremdgefährdung trotz medikamentöser Therapie – Unklare akute Vigilanz- und Orientierungsstörung
111 12.3 · Differenzierter Einsatz der Intensivtherapie
2.
3. 4.
5.
6.
Renale Funktionsstörung – Nachlassen der Diurese (<0,5 ml/kg KG/h, <1000 ml/Tag) – Kreatininanstieg auf >130 µmol/l (1,4 mg/dl) bzw. Anstieg um mehr als 20% des Ausgangswerts bei primär erhöhten Kreatininwerten – Kaliumanstieg auf >6 mmol/l Metabolische Störung – Erhöhung des Serumlaktats >2,5 mmol/l Hämatologische Störungen – Abfall der Thrombozytenzahl auf ≤80000/µl oder Abfall um >50% des Ausgangswertes Hämodynamische Störungen – Systolischer Blutdruck ≤80 mmHg – Herzfrequenz <40/min, >140/min Atmungsstörungen – Atemfrequenz >30/min – Arterielle O2-Sättigung <90% – Neu aufgetretene Ruhedyspnoe
Ziel dieser Scores ist es, ein intensivmedizinisches Konsil mit der Frage einer potenziellen Übernahme des Patienten auf eine Intensivstation zu veranlassen. Damit werden die Aufgaben eines vielerorts der Intensivstation zugeordneten Notfallteams erheblich erweitert [8]. Ohne Frage ist ein derartiges Konzept geeignet, viele aufwändige und häufig auch nicht erfolgreiche intensivmedizinische Behandlungen durch ein rechtzeitiges Einleiten adäquater intensivmedizinischer Maßnahmen zu verhindern. Die Effektivität eines solchen Vorgehens setzt jedoch zum einen eine Schulung des gesamten nicht-intensivmedizinischen Personals auf Normalstationen voraus und zum anderen, dass ein erfahrener Intensivmediziner auch kurzfristig für ein entsprechendes Konsil zur Verfügung steht. Begrenzung der Intensivtherapie. Die Frage der Indikationsstellung zur Intensivtherapie wird häufig auch unter dem Aspekt einer Therapiebegrenzung diskutiert. Mit dieser Diskussion soll verhindert werden, dass intensivmedizinische Maßnahmen bei Patienten angewandt werden, bei denen sie nicht oder nicht mehr indiziert sind. Dies ist allein aus ethischen Gründen absolut sinnvoll; doch erfordert auch die Diskussion um eine Begrenzung der Intensivtherapie neben der Fachkompetenz der Ärzte für die Grunderkrankung ebenso die Kompetenz eines erfahrenen Intensivmediziners.
12.3.2 Notwendigkeit von Intermediate-Care-
oder Wachstationen Intermediate-Care-Stationen (IMC) sind Stationen für Patienten, für die eine intensive Überwachung, aber keine eigentliche Intensivtherapie erforderlich ist. Eine ständige Anwesenheit eines Intensivtherapeuten ist nicht nötig, er muss jedoch kurzfristig verfügbar sein. Ferner wird für eine solche Station ein im Vergleich zur Intensivtherapiestation geringerer Pflegeschlüssel (1 Pflegekraft für 4–6 Patienten) gefordert [9]. Es konnte gezeigt werden, dass Intermediate-Care-Stationen dazu führen können, dass vorhandene Intensivtherapiekapazitäten insbeson-
12
dere durch Vermeidung von Fehlbelegungen effektiver genutzt werden können und die Zahl nicht geplanter Wiederaufnahmen auf eine Intensivtherapiestation verringert werden kann [10, 11]. Darüber hinaus gibt es auch Hinweise dafür, dass eine IMC-Station zu einer Senkung der Sterblichkeit auf Normalstationen beitragen kann [12]. Grundsätzlich ist eine IMC-Station somit in der Lage, eine Lücke zwischen der Normalstation ohne intensivmedizinische Kompetenz und der Intensivstation zu schließen. Wie groß diese Lücke und damit der Bedarf an IMC-Kapazität faktisch ist, ist u. a. von der zukünftigen Entwicklung der peripheren Stationen abhängig. Davon ausgehend, dass Normalstationen zunehmend Hotelcharakter haben werden und vorrangig eine Grundpflege bzw. Serviceleistungen anbieten könnten, wäre der Bedarf an IMC-Kapazitäten sicherlich eher hoch. Andererseits gibt es auch die Einschätzung, dass aufgrund einer zunehmenden »Ambulantisierung« der Medizin auf Normalstationen zwar zahlenmäßig weniger, dafür aber kränkere und pflegebedürftigere Patienten betreut werden. Im Extremfall würde dies ein Vorhalten von IMC-Kapazitäten unnötig machen, wenn die Normalstationen entsprechend aufgewertet werden. Obwohl es eine Reihe von Überlegungen gibt [13, 14], den Bedarf an Intensiv- und IMC-Betten abzuschätzen, bestehen aufgrund der derzeitigen Entwicklungen zu viele Unwägbarkeiten, um eine wirklich valide Berechnung vorzunehmen. Eine weitere wichtige Frage ist, ob IMC-Betten als eine eigene Station geführt werden oder ob sie in eine Intensivstation integriert werden sollten. In den Empfehlungen des Arbeitskreises »Intensivmedizin« der DGAI [9] wird die Integration von IMCBetten in Intensivtherapiestationen favorisiert. Wesentliches Argumente hierfür ist die Flexibilität eines solchen Systems, d. h. ein mitunter häufiges Verlegen zwischen IMC- und Intensivstation kann vermieden werden. Ferner können apparative und personelle Ressourcen gemeinsam und damit besser genutzt werden. Ein sicherlich ebenfalls nicht zu vernachlässigendes Argument ist, dass eine »Verdünnung« von Intensivtherapiepatienten durch weniger kranke IMC-Patienten die Arbeitszufriedenheit des Personals steigern kann [15]. 12.3.3 Integration der Kompetenz aller
Fachrichtungen Wie der Begriff der Versorgungskette bereits impliziert, muss nicht nur sichergestellt sein, dass intensivmedizinische Kompetenz rechtzeitig, d. h. bereits im Vorfeld der Intensivbehandlung, zur Anwendung kommt. Umgekehrt ist es ebenso wichtig, dass pflegerische und ärztliche Kompetenz anderer Fachrichtungen auch unter Intensivbehandlungsbedingungen genutzt werden. Aktuelle Untersuchungen legen nahe, dass unter Intensivbehandlungsbedingungen von einer hohen Fehlerrate ausgegangen werden muss [16]. Unter Hinzuziehung externer Kompetenz sind nicht wenige dieser Fehler vermeidbar. So konnte z. B. mehrfach gezeigt werden, dass durch regelmäßige Mitwirkung eines Pharmakologen die Zahl von Fehlern im Rahmen der Pharmakotherapie drastisch gesenkt werden kann [17] und dass beispielsweise die Einbindung eines multidisziplinären Teams die Inzidenz von beatmungsassoziierten Pneumonien reduzieren kann [18]. Zukünftige Strukturen müssen daher noch mehr darauf abzielen, die Kompetenz der sog. Servicefächer (Pharmakologie, Radiologie, Mikrobiologie und Labormedizin) engmaschig ein-
112
Kapitel 12 · Die Intensivmedizin in der Versorgungskette
zubinden (7 Kap. 10.3.1). Da eine wachsende Zahl von Intensivstationen über eine elektronische Datendokumentation verfügt, ist dies oft mit verhältnismäßig geringem Aufwand möglich [19]. Aber auch die klinischen Fächer, die primär für die Behandlung des Grundleidens zuständig sind, dürfen sich nicht, wie vielfach zu beobachten, auf den Status eines Konsilarztes zurückziehen oder zurückgestuft werden. Auch wenn der Intensivtherapeut mit Beginn der Intensivbehandlung die Verantwortung für das neu aufgetretene und möglicherweise nun führende Problem einer vitalen Bedrohung übernommen hat, steht die das Grundleiden behandelnde Disziplin nach wie vor in der Verantwortung. Diese Verantwortung kann durch eine rein konsiliarische Tätigkeit, jeweils nur auf Anforderung durch den Intensivtherapeuten, sicherlich nicht erfüllt werden. Die eingangs genannten, häufig berufspolitisch motivierten Auseinandersetzungen und Vereinbarungen haben hier leider oft nur die berufspolitische und forensische Problematik der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten geklärt. Es erfordert sicherlich noch viel Umdenken, um die Phase der Intensivbehandlung als einen Abschnitt der Versorgungskette zu verstehen, in dem alle Beteiligten hoch konzentriert und diszipliniert zusammenarbeiten müssen. 12.4
12
Krankenhausübergreifende Versorgungskette
Die oben genannten Aspekte beziehen sich auf eine Versorgungskette innerhalb eines Krankenhauses. Die Intensivmedizin ist jedoch in einem besonderen Maße in krankenhausübergreifende Versorgungsketten eingebunden. Zum einen durch die Tatsache, dass kleinere Krankenhäuser aufgrund der nur eingeschränkten intensivmedizinischen Möglichkeiten gezwungen sind, ihre Patienten in größere Häuser mit entsprechenden intensivmedizinischen Möglichkeiten zu verlegen. Zum anderen aber auch, weil viele Patienten direkt im Anschluss an die Intensivtherapie spezielle Rehabilitationsmaßnahmen benötigen. Beide Schnittstellen, die Übergabe von Patienten aus kleineren Häusern sowie die Verlegung von Intensivpatienten in Rehabilitationseinrichtungen, sind derzeit unbefriedigend gestaltet. 12.4.1 Verlegungsprobleme Die »Anbindung« von Häusern mit nur eingeschränkten intensivmedizinischen Möglichkeiten zeigt häufig folgende Probleme auf: Bei eingeschränkten personellen und apparativen Möglichkeiten wird zu lange versucht, den Patienten im eigenen Haus zu halten. Häufige Verlegungsindikation ist dann erst die Notwendigkeit eines Organersatzverfahrens. Die Kritik an der verzögerten intensivmedizinischen Versorgung wird meist jedoch nicht offen ausgesprochen, sodass eine Änderung hier nicht zu erwarten ist. Andererseits ist es für die verlegenden Häuser oft nicht einfach, eine übernahmebereite Intensivstation zu finden. Häuser der Maximalversorgung werden meist die vorhandenen Intensivkapazitäten zur Realisierung des eigenen Operationsprogramms nutzen und nur nicht verplante Intensivbetten für Patienten anderer Häuser zur Verfügung stellen. Dies bedeutet, dass eine Verlegung von Intensivpatienten für Kollegen aus kleineren Häu-
sern häufig ein erheblicher organisatorischer Aufwand ist und so der betreffende Patient meist zu spät verlegt wird. Auch eine adäquate Weiterbehandlung zur Rehabilitation nach Intensivtherapie ist derzeit nicht optimal möglich. Nahezu täglich liegen auf großen Intensivstationen Patienten, die eine eigentliche Intensivtherapie nicht mehr benötigen und auf einen geeigneten Platz in einer Rehabilitationseinrichtung warten. In Anbetracht der allerorts knappen Intensivkapazitäten ist dies medizinisch, aber auch volkswirtschaftlich hochgradig unsinnig. 12.4.2 Kooperation und Netzwerk Eine Lösung der oben genannten Probleme wäre durch ein Netzwerk von Krankenhäusern mit unterschiedlichen intensivmedizinischen Möglichkeiten denkbar. Wenn klare Wege definiert sind, wann ein Patient auf eine andere Intensivstation verlegt werden sollte und wenn diese Intensivstation dann auch verpflichtet ist, diesen Patienten aufzunehmen, nur dann ist es denkbar, dass alle Patienten rechtzeitig intensivmedizinisch adäquat versorgt werden. Derartige Kooperationen haben auch den Vorteil, dass sich beteiligte Kollegen kennenlernen. Die Verlegung eines Patienten in ein anderes Krankenhaus bedeutet immer auch, die eigenen Therapiestrategien und eigene potenzielle Fehler anderen Personen zugänglich zu machen. Dabei ist sicher häufig zu Recht von einer gewissen Arroganz der größeren aufnehmenden Klinik die Rede. In einem Netzwerk ist es grundsätzlich möglich, derartige Spannungen abzubauen und damit auch Maßnahmen einer Qualitätssicherung in der intensivmedizinischen Versorgungskette zu ermöglichen. Hier sind alle Fachgesellschaften, die glauben, auch für die Intensivmedizin zuständig zu sein, gefordert, in den nächsten Jahren entsprechende Modelle zu entwickeln, um die Qualität der intensivmedizinischen Versorgung nachhaltig zu verbessern. Das heutige Vergütungssystem, das grundsätzlich Verlegungen von Patienten in ein anderes Krankenhaus vorsieht, muss aber hierzu sicherlich noch weiter verbessert werden. Die Verlegung eines Patienten in ein Haus mit erweiterten intensivmedizinischen Möglichkeiten darf nur von medizinischen Überlegungen abhängen, nicht jedoch von falsch gesetzten finanziellen Anreizen. Eine Verlegung von der Intensivstation zur weiteren rehabilitationsmedizinischen Behandlung ist häufig durch unnötige Verzögerungen belastet. Die Schnittstelle vom Übergang der Akutmedizin zur Rehabilitationsmedizin, die durch ein Zusammenspiel mehrerer Leistungserbringer und oft auch mehrerer Kostenträger gekennzeichnet ist, ist sicherlich noch verbesserungswürdig. 12.5
Zusammenfassung
Die Behandlung von Patienten wird heute zunehmend als Abfolge von Prozessen im Sinne von Behandlungspfaden oder Versorgungsketten gesehen. Das bedeutet, dass eine Diskussion um klassische Abteilungsgrenzen und -strukturen mehr und mehr in den Hintergrund tritt; sie wird abgelöst von einer Betrachtung von Prozessen und Schnittstellen. Dies gilt auch besonders für die Intensivmedizin, möglicherweise aufgrund ihrer Interdisziplinarität. Ein wesentliches Schnittstellenproblem ist der rechtzeitige Einsatz von intensivmedizinischer Kompetenz. Hier können
113 Literatur
klare Kriterien helfen, die ein intensivmedizinisches Konsil induzieren. Ein wichtiger Mangel besteht in der Versorgungslücke zwischen der Normalstation einerseits und der Intensivstation andererseits. Eine Lösung hierfür sind IMC-Betten, die dazu führen können, dass kritische Patienten schon früher in intensivmedizinisch kompetente Hände gegeben werden können oder früher von einer Intensivstation verlegt werden können. Das wahrscheinlich anspruchsvollste Problem ist die Integration aller Fachrichtungen in die intensivmedizinische Behandlung. Auch wenn die Therapie von vital bedrohlichen Störungen im Vordergrund stehen mag, ist der Patient auf eine adäquate und kompetente Behandlung seines Grundleidens sowie neu hinzu gekommener Probleme angewiesen. Diesen Prozess des täglichen Miteinanders verschiedener Fachdisziplinen weiterzuentwickeln, ist eine der wesentlichen Herausforderungen für die Intensivmedizin der nächsten Jahre. Erhebliches Verbesserungspotenzial besteht auch in der Vernetzung von Häusern mit nur eingeschränkten intensivmedizinischen Möglichkeiten und Häusern der Maximalversorgung. Derzeit muss davon ausgegangen werden, dass viele Patienten nicht rechtzeitig einer adäquaten intensivmedizinischen Versorgung zugeführt werden.
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13 Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin K. Peter, M. Rehm, F. Christ
13.1 Wie sah bzw. sieht die traditionelle Lehre aus?
–116
13.2 Was ist heute das Ziel der studentischen Ausbildung in der Medizin? 13.3 Wodurch ist moderne Wissensvermittlung charakterisiert?
–116
–116
13.4 Wie sind die jetzigen Strukturen der ärztlichen Weiterbildung?
–117
13.5 Wie sollte nun die ärztliche Weiterbildung auf der Intensivmedizin gestaltet werden? –117 13.6 Wie lernen Ärzte, was zeichnet ihren Lernstil aus? 13.7 Simulationstraining 13.8 Zusammenfassung Literatur
–119
–118 –119
–118
116
13
Kapitel 13 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
Der Weg bzw. die Ausbildung zum Intensivmediziner beginnt mit der studentischen Ausbildung im Medizinstudium. Sie geht über in die fachärztliche Weiterbildung, wo sie allerdings keineswegs endet, sondern sich als lebenslanges Erlernen all der Implikationen fortsetzt, die der imposante wissenschaftliche Fortschritt dieses Gebiets erzwingt. Gerade in der heutigen Zeit werden die wichtigsten Entscheidungen darüber gefällt werden müssen, wie das Arztleben auf Intensivstationen in Zukunft sein wird. Nicht nur die kognitive und damit rationale Kompetenz der zukünftigen Ärzte und Intensivmediziner wird hierdurch geprägt. Ganz wesentlich wird auch der Einfluss auf deren ethische Einstellung und damit ihre menschliche und soziale Kompetenz sein. In der Kompetenzvermittlung in der Medizin fand und findet ein elementarer Wandel statt, von der Instruktion zur Konstruktion des Wissens. Dieser fundamentale Richtungswechsel hat ganz wesentliche Verbesserungen in der studentischen Ausbildung mit sich gebracht, jedoch bisher nur bedingt Eingang in die deutsche Facharztweiterbildung gefunden. Natürlich haben auch noch nicht alle Ärzte in Weiterbildung das neue Curriculum in der studentischen Lehre durchlaufen. Trotzdem strahlt der elementare Wandel in der studentischen Lehre schon heute in die Weiterbildung zum Facharzt und gerade auch in die Weiterbildung der Intensivmedizin aus. Dieser Wandel in der Lehre wird die zukünftige Ausbildung zum Intensivmediziner sicherlich nachhaltig verbessern. Um dies angemessen darlegen zu können, müssen zunächst jedoch ganz grundlegende Fragen erörtert werden, die bedeutsam sind für die heutigen und zukünftigen Intensivmediziner und deren Patienten, damit also letztlich für die gesamte Intensivmedizin. Hierfür ist es wichtig, an der Basis, also mit der Kompetenzvermittlung am Anfang der medizinischen Ausbildung zu beginnen. Wie sah also der Weg zum Arzt in der nahen Vergangenheit aus, und wie sieht er gegenwärtig aus? Was ist heute sein Ziel, wie kann und soll er in Zukunft verlaufen? Welche Auswirkungen hat dies am Ende für die Patienten, nicht zuletzt die Patienten auf Intensivstationen? Die Ausbildung zum Arzt beginnt mit der studentischen Ausbildung im Medizinstudium. Die allgemeinen Ziele, die üblicherweise in einem Studium erreicht werden sollen, sind klar definiert. Den Studenten soll möglichst umfassend das Wissen vermittelt werden, das sie für ihr späteres Berufsleben unbedingt benötigen. Die stetig gestiegenen Anforderungen an die Wissensvermittlung konnten in der studentischen Ausbildung durch eine elementare Reform, gerade auch in der Medizin, bewältigt werden. Um diese Reform angemessen beleuchten zu können, muss an dieser Stelle zunächst die Entwicklung der Lehrmethoden dargestellt werden. 13.1
Wie sah bzw. sieht die traditionelle Lehre aus?
In der Medizin wurde vielen Generationen von Studenten meist im Frontalunterricht überwiegend zwar rationales (explizites), aber auch abstraktes Wissen übermittelt. Auch wenn natürlich ganz hervorragende Lehrer existierten, die durchaus glänzende Vorlesungen abhielten, wurden in der Summe weitgehend tabellarisch angehäufte Fakten eingetrichtert. Die Studenten lernen so vielerorts noch heute in großen Hörsälen, in oft geradezu anonym wirkenden Veranstaltungen, bei denen sie nicht selten
zu Hunderten anwesend sein müssen. Fragen können in dieser Konstellation zwangsläufig nur in äußerst begrenzter Form zugelassen werden, sodass die meisten Fragen durch das (Selbst-) studium von Lehrbüchern beantwortet werden müssen. Studien belegen jedoch, dass die Erinnerlichkeit von in Vorlesungen und Frontalunterricht vermitteltem Wissen nach einem Jahr lediglich 5‒8% beträgt, wohingegen interaktiv vermitteltes Wissen mit einer Erinnerungsrate von 38‒75% assoziiert ist. Der Frontalunterricht und das bisherige meist MCQ basierte Prüfungssystem erfordert das klassische Pauken, als sog. Nürnberger Trichter auch als »Wissenstransport« bezeichnet. Der Fehler in der Vergangenheit lag darin, dass in Deutschland typischerweise explizites, tabellarisches Wissen geprüft wurde und damit zum Maß der Qualität der Prüflinge erhoben wurde. Der Student lernt hier zwar zielgerecht, um Prüfungen zu bestehen, die strukturiertes, rationales Wissen abfragen. Dabei hatte die Vermittlung von abstraktem Buchwissen jedoch kaum Bezug zum realen Alltag, es wurde auch nicht in einen persönlichen oder bildlichen Kontext eingebunden. Der Lernende blieb in einer passiv rezeptiven Position, er wurde vom Lehrer geradezu dominiert. Heute wissen wir, dass bei dieser Art der Wissensvermittlung die größte Menge menschlichen Wissens, nämlich das implizite, bildliche und damit persönliche Wissen unberücksichtigt, ja ungenutzt geblieben ist. Auch wissen wir heute, dass mit der traditionellen Lehrmethode gerade in der Medizin, durch die Vermittlung von abstraktem Wissen, wichtige Teile für die Ausbildung zum Arzt viel zu wenig berücksichtigt wurden. Die traditionelle Lehre geriet dementsprechend durchaus auch zu recht, sowohl von Seiten der Lehrenden als auch der Lernenden, zunehmend in die Kritik. 13.2
Was ist heute das Ziel der studentischen Ausbildung in der Medizin?
In der Ausbildung zum Arzt ist es erforderlich, aber keineswegs ausreichend, abstraktes Wissen anzuhäufen, um Prüfungen bestehen zu können. Die Ausbildung zum Arzt dient daher auch dazu: 4 ständig (lebenslang) neuestes Wissen erwerben zu können und zusammen mit umfänglichen Erfahrungen dem Patienten zur Verfügung zu stellen, 4 Ethik, Kultur, Religion und Gesetze der Gesellschaft zu respektieren, 4 ökonomische und demographische Bedürfnisse der Gesellschaft zu verstehen und angemessen zu berücksichtigen, 4 Patienten in medizinische Entscheidungen einzubeziehen, 4 das Vertrauen in die Ärzteschaft aufrecht zu erhalten. 13.3
Wodurch ist moderne Wissensvermittlung charakterisiert?
Bei der Wissensvermittlung im 21. Jahrhundert, wie wahrscheinlich generell bei der Wissensvermittlung in der Zukunft, dürfen wir auf keinen der 3 Teile des Wissens verzichten. In der Lehre gibt es deshalb schon seit längerer Zeit einen grundlegenden Wandel, der aber leider erst in den letzen Jahren wirklich Einzug hielt in die Medizin. Es ist die Hinwendung zur konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie. Der Lernende muss zu Aktivität
117 13.5 · Wie sollte nun die ärztliche Weiterbildung auf der Intensivstation gestaltet werden?
und Eigenverantwortung motiviert werden, und das lebenslang. Neues Wissen muss mit sinnvollen Kontexten und relevanten Handlungen verknüpft werden. Wir, die Lehrenden, müssen uns bewegen vom Primat der Instruktion zum Primat der Konstruktion. Der Lehrer darf nicht mehr der didaktische Anführer, sondern er muss Teil einer Lehrvermittlung im Team sein. Er soll Vorbild und gleichzeitig aktiver Mitspieler sein. Wir müssen uns weg vom traditionellen Unterricht bewegen, der geprägt ist durch den Frontalunterricht; wir müssen stattdessen ein sog. Hybridkonzept verwirklichen. Damit lassen sich auch Ärzte – im wahrsten Sinne des Wortes ‒ »ausbilden«, wie sie sich die Patienten nur wünschen können. Diese Ärzte verfügen neben umfassendem explizitem Wissen, also rationalem fachlichem Wissen, auch über Können, Intuition und, durch das Lernen in individuellen – sprich persönlichen – Kontexten, über weitaus mehr Einfühlungsvermögen und »Mitgefühl«. Bei dieser Lehrmethode steht also der Patient im Mittelpunkt. Die heutigen Medizinstudenten lernen nach diesem Curriculum in Klein- und Kleinstgruppen direkt am Patienten, begleitet von einem Lehrer, der sich als ihr Partner versteht und der jederzeit für sie persönlich ansprechbar ist. Abstraktes, rationales Wissen wird so ganz natürlich tradiert mit den persönlichen Erfahrungen des Patienten und den persönlichen Erfahrungen des Lehrers. Dies können die Studenten viel leichter und dabei in viel größerem Umfang aufnehmen. Aber nicht nur dies, die Lernenden reflektieren in dieser Situation und Umgebung übermitteltes Wissen ad hoc. Damit wird das ganz persönliche Wissen der Studenten gestaltet und konstruiert, die Studenten machen sich dieses Wissen im wahrsten Sinne des Wortes zu eigen. Die studentische Lehre ist bereits wesentlich verbessert worden und hat damit ohne Zweifel schon jetzt einen wesentlich höheren Stellenwert bei den Lehrenden und Studenten gewonnen. 13.4
Wie sind die jetzigen Strukturen der ärztlichen Weiterbildung?
An den Konzepten der Weiterbildung sind viele verschiedene Gremien beteiligt, die wiederum mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet sind und durchaus auch unterschiedliche Ziele verfolgen können. Um nur einige zu nennen: die Bundesärztekammer, die Landesärztekammern, die medizinischen Fakultäten, die Kliniken an Universitäten, die unterschiedlichen Berufsverbände und Fachgesellschaften. Die ärztliche Weiterbildung ist in der Bundesrepublik Deutschland gut etabliert, die Verwirklichung dieses Programms ist aber leider noch nicht so umgesetzt, wie es notwendig wäre und dem höchsten internationalen Standard entspräche. Unbestritten, die Facharztweiterbildung ist ganz besonders anspruchsvoll, müssen doch neben vielen fachspezifischen Detailkenntnissen, die weit über den studentischen Lehrplan hinausgehen, auch viele, teils höchst komplizierte praktische Fertigkeiten vermittelt werden. Dies trifft für die konservativen Fachgebiete zu, besonders aber auch für die operativen Fächer und naturgemäß für die Intensivmedizin. Hier kann ein Arzt erst dann ein wirklich guter Arzt sein, wenn er neben der fachlich-rationalen und menschlich-sozialen Kompetenz schlichtweg auch das »Handwerk« beherrscht und anwendet (. Abb. 13.1). In zahlreichen Präambeln und sog. »Katalogen« ist zwar teils sehr dezidiert geregelt, welches theoretische Wissen und welche
13
. Abb. 13.1. Die ursprünglich von Miller beschriebene Pyramide der Fachkompetenz beschreibt die Progression vom »Wissen« zum »Tun« und differenziert dabei theoretisches Wissen von konkreten Verhaltensweisen. Die Evaluation der Qualität einer medizinischen Leistung wird sich in Zukunft v. a. an der tatsächlichen »per formance« und nicht mehr an der Kompetenz und dem theoretischen Wissen orientieren. (Nach [1])
praktischen Fähigkeiten die Ärzte beherrschen müssen, um das »Zertifikat« eines Facharztes oder die »Zusatzbezeichnung« Intensivmedizin erwerben zu können. Wie dieses theoretische und v. a. auch praktische Wissen vermittelt werden soll, darüber gibt es nur wenige, oft unzulängliche Konzepte. Leider wird in diesen Konzepten meist die zur ärztlichen Weiterbildung unumgänglich notwendige Finanzierung und personelle Ausstattung gar nicht berücksichtigt. Sowohl der Staat als auch die Krankenkassen und die medizinischen Fakultäten fühlen sich hierfür vielerorts wenig oder sogar gar nicht zuständig. Ohne eine entsprechende Finanzierung ist aber das Erreichen dessen, was auch in dieser so wichtigen Ausbildung notwendig wäre, schlichtweg unmöglich. Dass diese Frage noch nicht zufriedenstellend geregelt wurde, stellt sicherlich auch eine besorgniserregende Ursache für den derzeitigen Ärztemangel dar, gerade in den neuen Bundesländern. So ist z. B. die Ausstattung von Universitätskliniken gänzlich auf die studentische Lehre, Forschung, Krankenversorgung und Klinikmanagement ausgerichtet. Die ärztliche Weiterbildung wird zwar in vielen Kliniken zusätzlich geleistet; sie kann aber häufig auf nur äußerst unbefriedigendem Niveau erfolgen, da ihre ausreichende Finanzierung meist nicht gesichert ist. Sofern sie in seltenen Fällen dennoch auf hohem Niveau erfolgt, wird die Weiterbildung nicht angemessen vergütet. Trotzdem hat natürlich der Paradigmenwechsel in der studentischen Lehre auch die ärztliche Weiterbildung beeinflusst. 13.5
Wie sollte die ärztliche Weiterbildung in Intensivmedizin gestaltet werden?
Gerade in der Intensivmedizin werden besonders komplexe und v. a. lebensbedrohliche Krankheitsbilder behandelt, die dem Arzt höchste Kompetenz abverlangen. Hierfür ist ein besonders reichhaltiges Wissen der Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie und der Organfunktionen, um nur einige Gebiete zu nennen, notwendig; besonders wichtig ist auch die Offenheit zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Gerade die Weiterbildung, ja, das lebenslange Lernen und überhaupt die Kompetenzvermittlung an sich stellen besonders
118
Kapitel 13 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
einem theoretischen, subjektbezogenen Zugang. Daraus ergibt sich, dass problemorientiertes Lernen am konkreten Fall die besten Chancen zur Kompetenzvermittlung bietet. Wo liegen typische Herausforderungen in der intensivmedizinischen Aus- und Weiterbildung? Ganz zentral ist die Frage
. Abb. 13.2. Die Abbildung beschreibt die Ergebnisse eines Wissenstests und vergleicht die Selbsteinschätzung der Prüflinge bezüglich »Kenntnisse zum Thema«, »Selbsteinschätzung des Testergebnisses« mit dem »tatsächlichen Ergebnis«. Auffällig ist die sehr große Abweichung der Selbsteinschätzung bei den Prüflingen im schlechtesten Viertel der Testergebnisse. (Nach [3])
13
wichtige Attribute eines Intensivmediziners dar. Hier sollte zunächst der Unterschied zwischen Kompetenz und Befähigung gemacht werden. Kompetenz wird von Greenhalgh et al. [2] definiert als das, was jemand weiß oder befähigt ist zu tun bezüglich Wissen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen. Befähigung (»capability«) definiert er als das Maß, in dem jemand sich an Veränderungen anpassen kann, neues Wissen generiert und seine «performance” verbessert, also das neue Wissens tatsächlich anwendet (. Abb. 13.1). »Outcome« und »performance« sind zwei Schlagwörter, denen in der Zukunft der Intensivmedizin wohl die entscheidende Rolle zugeschrieben werden kann. Bedingt durch die finanziellen Limitationen aller Gesundheitssysteme werden diese Begriffe nicht nur durch die regulativen Institutionen, sondern auch in allen aktuellen politischen Äußerungen in den Vordergrund gerückt. Entscheidend ist hierbei, dass Kompetenz und Befähigung dynamische Prozesse sind und nicht durch einen Titel oder einen Ausbildungsgrad definiert werden. Die Verpflichtung zum lebenslangen Lernen und die sich abzeichnende Rezertifizierung von Kompetenzen und Befähigungen werden die Aus- und Weiterbildung in der Intensivmedizin nachhaltig verändern. Die Fortentwicklung der Weiterbildung in der Intensivmedizin hat ihren Ursprung nicht zuletzt gerade in den Erkenntnissen aus der Weiterentwicklung der studentischen Lehre. Heute wissen wir, dass insbesondere auf dem so komplexen Arbeitsfeld einer Intensivstation die moderne konstruktivistische Lehr- und Lernmethode erfolgreich eingesetzt werden kann und muss, da diese den Ansprüchen der Ärzte besser gerecht wird als konservative Lehrmethoden. 13.6
Wie lernen Ärzte, was zeichnet ihren Lernstil aus?
Ärzte sind selbstbestimmt und unabhängig, sie verfügen über einen großen Erfahrungsschatz, der eine Quelle des Lernens darstellt. Das Lernen eines Arztes muss in die Anforderungen des täglichen Lebens integriert werden, um den größten Lerneffekt zu erzielen. Sie sind weitaus besser durch interne (Überzeugung) als durch externe Faktoren (z. B. Verpflichtung) zum Lernen zu motivieren. Die Mehrzahl der Ärzte ist an einem praktischen, problemzentrierten Zugang zum Lernen mehr interessiert als an
des Erkennens der eigenen Limitation des Wissensstandes. Eindrucksvoll belegt die Studie von Dunning et al. [3], dass diese Wahrnehmung sehr stark von dem tatsächlich vorhanden Wissen abweichen kann (. Abb. 13.2). In diesem Kontext kann auch die Studie von Gnaeggi et al. zitiert werden, die sich mit der Kompetenz bei der Verwendung von Pulmonaliskathetern auf Intensivstationen beschäftigte und überraschende Ergebnisse lieferte. So konnte die Hälfte der Intensivmediziner eine Wedge-Kurve nicht richtig identifizieren, jedoch war sich lediglich ein kleiner Teil dieser Wissenslimitation bewusst [4]. Ein gutes Ergebnis in dieser Studie war abhängig von der Ausbildung auf einer universitären ICU, dem Vorhandensein von Supervision und der korrekten Einschätzung des Vorwissens. In der nachfolgenden und schon seit Langem kontroversen Diskussion über die Sicherheit des Pulmonaliskatheters haben die europäischen Fachgesellschaften immer wieder betont, dass die Ausbildung im Umgang mit dem Katheter den entscheidenden Sicherheitsfaktor darstellt [5]. Wir glauben, dass dies für alle komplexeren intensivmedizinischen Methoden gilt und hier eine kontinuierliche Investition in die Ausbildung stattfinden muss. 13.7
Simulationstraining
Eindruckvoll hat die Ausbildung von Piloten in den vergangen Jahrzehnten bewiesen, wie durch gezielte Ausbildung am Simulator eine Verbesserung der Leistung (»performance«) erzielt werden kann. Komplexe Situation können realistisch nachgestellt werden und insbesondere kann der Umgang des gesamten Teams mit kritischen Situationen geübt werden. Gezielte Nachbesprechungen mit Videofeedback erlauben eine substanzielle Verbesserung des Ergebnisses. Diese Erkenntnisse können zumindest hypothetisch wohl auch so für die intensivmedizinische Versorgung übernommen werden. Heute stehen den Flugsimulatoren vergleichbare medizinische Simulatoren auch für die Intensivmedizin zur Verfügung. Selbst komplexe Abläufe können mit Hilfe von »Full-scale-Simulatoren« und Schauspielern nachgestellt werden. Bisher haben diese Simulationsmodalitäten aber erst bedingt Eingang in die flächendeckende Weiterbildung von Intensivmedizinern gefunden. Erste Studien zeigen den positiven Effekt der Simulation auch in der Intensivmedizin, auch wenn der direkte Nachweis einer besseren Leistung oder einer besseren Patientenversorgung durch Simulationstraining bisher noch nicht erbrachte wurde [6]. Beispielhaft kann hier erwähnt werden, dass Anästhesisten, die einmal pro Jahr an einem Simulatortraining teilnehmen, mit weitaus geringerer Wahrscheinlichkeit in einen Malpractice-Prozess in den USA verwickelt werden (Personal Communication Risk Management Foundation, Boston). Wir sind der Überzeugung, dass das Simulationstraining ein fundamentaler Bestandteil der Aus- und Weiterbildung in der Intensivmedizin werden wird. Im Rahmen des zu erwartenden europäischen Rezertifizierungsprozesses wird es mittelfristig verpflichtenden Charakter bekommen.
119 Literatur
13
Versorgung von Neurotraumata oder die aktuellen Guidelines zur Therapie der Sepsis genannt werden. Zu beobachten ist jedoch das Phänomen, dass, anders als Piloten, Ärzte oftmals Guidelines nicht befolgen ‒ ein Verhalten, das sich aus der studentischen und postgraduierten Ausbildung ergibt. Auch hier scheint ein Paradigmenwechsel dringend erforderlich. 13.8
. Abb. 13.3. Vergleich des Teamverhaltens bei psychischer Belastung von Piloten im Cockpit mit demjenigen von Chirurgen und Anästhesisten. Die deutlichen Unterschiede im Verhalten belegen die Notwendigkeit einer verbesserten Zusammenarbeit unter Medizinern, um die Standards von Piloten zu erreichen. (Nach [7])
Kaum ein Bereich in der Medizin ist mit vergleichbar großen Herausforderungen an Teamarbeit und Gesprächskultur konfrontiert wie die Intensivmedizin. Die bisherige Ausbildungsstruktur berücksichtigt dies jedoch nur zu einem sehr geringen Grad. Insbesondere fehlen eine systematische Feedbackkultur und das Erlernen des Umgangs mit besonderen Stresssituationen. Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede in der Selbsteinschätzung von Piloten und Ärzten. So vermuteten 64% der befragten Intensivmediziner, dass sie auch unter den Bedingungen einer Übermüdung in kritischen Situationen vergleichbar effektiv vorgehen können wie im ausgeruhten Zustand; dagegen bejahten dies nur 26% der Piloten [7]. Auch muss man vermuten, dass bei der Zusammenarbeit der Teams noch fundamentale Unterschiede in der Medizin und der Luftfahrt bestehen und hier ein ganz erheblicher Nachholbedarf in der Medizin vorhanden ist (. Abb. 13.3). Gerade die Arbeit mit Simulation und Videofeedback eröffnet hier ein ganz erhebliches Potenzial. Die Investitionskosten erscheinen hoch; unsere Erfahrung zeigt, dass es mehr die Kosten des »human capital« der Ausbilder als die eigentlichen Material- und Beschaffungskosten der Simulatortechnologie sind, die berücksichtigt werden müssen. Haben Veränderungen in der Gesprächskultur und Verbesserungen in der Ausbildung Auswirkungen auf die tatsächliche Patientenversorgung? Diese Frage wird unserer Ansicht nach ultimativ entscheiden, inwieweit neue Lehr- und Lernkonzepte tatsächlich eingeführt werden. Eine Untersuchung an 137 Krankenhäusern der Akutversorgung in Großbritannien gibt hier unerwartete Einblicke: Es wurden harte Kriterien des Outcomes, wie Todesfälle nach Notfalleingriffen, elektiven chirurgischen Eingriffen, Femurfrakturen und dem akuten Koronarsyndrom verglichen. Als überraschendes Ergebnis bestand eine signifikante Korrelation zwischen den Investitionen in Ausbildung und Kommunikationskultur und der Mortalität, wohingegen z. B. die Größe des Krankenhauses keinen Einfluss auf das Outcome hatte [8]. i Ausbildung und Kommunikationskompetenz haben also einen nachhaltigen Effekt auf die Qualität der Patientenversorgung; die entstehenden Kosten müssen in diesen Kontext gesehen werden.
Zur Verbesserung der intensivmedizinischen Versorgung können Guidelines und evidenzbasierte Medizin signifikant beitragen. Beispielhaft können hier die Empfehlungen der DGAI zur
Zusammenfassung
Die Weiterbildung und Kompetenzvermittelung in der Intensivmedizin basiert auf einer fundierten studentischen Ausbildung. Der in der studentischen Lehre vollzogene Wechsel von der Instruktion zur Konstruktion des Wissens auf der Basis eines problemorientierten Unterrichts in kleinen Gruppen muss im gleichen Maße in der Weiterbildung zur Intensivmedizin vollzogen werden. Neben einem umfassenden expliziten Wissen, also rationalem fachlichem Wissen, muss auch das implizite und persönliche Wissen, die Erfahrung vermittelt werden. Um zu einer Verbesserung des Outcomes beitragen zu können, müssen alle Wissenselemente in ein Team von Experten eingebracht werden, um schlussendlich die »Performance«, also das Ergebnis zu verbessern. Die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und die Verpflichtung, sich immer das neueste Wissen anzueignen und es anzuwenden, wird gerade in der Intensivmedizin von allen Beteiligten erwartet. Die Kommunikationsfähigkeit hat dabei eine herausragende Bedeutung. Die Arbeit mit komplexen Simulationen mit dezidiertem Feedback wird in Zukunft noch bessere Möglichkeiten zur Vermittelung dieser Kernkompetenzen bieten.
Literatur 1. Crossley J, Humphris G, Jolly B (2002) Assessing health professionals. Med Educ 36: 800–804 2. Fraser SW, Greenhalgh T (2001) Coping with complexity: educating for capability. BMJ 323: 799–803 3. Dunning D, Johnson K, Ehrlinger J, Kruger J (2003) Why people fail to recognize their own incompetence. Curr Direct Psychol Sci 12: 83–87 4. Gnaegi A, Feihl F, Perret C (1997) Intensive care physicians´ insufficient knowledge of right-heart catheterization at the bedside: time to act? Crit Care Med 25: 213–220 5. Vincent JL, Dhainaut JF, Perret C, Suter P (1998) Is the pulmonary artery catheter misused? A European view. Crit Care Med 26 (7): 1283– 1287 6. Kozer E, Seto W, Verjee Z, Parshuram C, Khattak S, Koren G, Jarvis DA (2004) Prospective observational study on the incidence of medication errors during simulated resuscitation in a paediatric emergency department. BMJ 329 (7478): 1321 7. Sexton JB, Thomas EJ, Helmreich RL (2000) Error, stress, and teamwork in medicine and aviation: cross sectional surveys. BMJ 320 (7237): 745–9 8. West MA, Borrill C, Dawson J, Scully J, Carter M, Anelay S, Patterson M, Waring J (2002) The link between the management of employees and patient mortality in acute hospitals. Int J Human Resource Manag 13 (8): 1299–1310
14 Langzeitfolgen nach Intensivtherapie U. Börner
14.1
Prognose von Intensivpatienten, Outcome
14.1.1 14.1.2
Sterblichkeit nach Intensivtherapie –122 Lebensqualität nach Intensivtherapie –122
14.2
Physische Langzeitfolgen
14.2.1 14.2.2
Inter ferenzen mit Vorerkrankungen –123 Bedeutende körperliche Folgen einer Intensivtherapie –124
14.3
Psychische Langzeitfolgen Literatur
–126
–122
–123
–125
122
Kapitel 14 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
In den zurückliegenden Jahrzehnten der Intensivmedizin war es notwendig, Therapieformen und -verfahren zu entwickeln, zu validieren und ihre Überlegenheit gegenüber älteren Vorstellungen bzw. gegenüber der Option, »gar nichts zu tun«, wissenschaftlich zu belegen. Mittlerweile wurden für eine ganze Reihe von klassischen intensivmedizinischen Maßnahmen gut begründete Standards entwickelt, die z. T. – den Regeln der evidenzbasierten Medizin entsprechend – mit seriös abgesicherten Empfehlungsgraden den Therapeuten zur Verfügung stehen. Über Langzeitergebnisse, über eventuelle Schäden durch Intensivtherapie wissen wir wenig. Dieses Kapitel trägt einige Daten hierzu zusammen und versucht eine vorsichtige Wertung. 14.1
Prognose von Intensivpatienten, Outcome
14.1.1 Sterblichkeit nach Intensivtherapie
14
Goldhill u. Sumner haben 1998 in 24 Intensivstationen aus der britischen Region North Thames 23.331 Fälle untersucht [13]. Nach Ausschluss der herzchirurgischen Patienten, der Kinder unter 16 Jahren, der Verbrennungsopfer und der Patienten, die vor weniger als 6 Monaten schon in einer Intensivstation behandelt worden waren, ergab sich folgendes Bild: 4 Die Krankenhaussterblichkeit lag bei 32,5%. 4 Die Verstorbenen waren älter und lagen länger auf der Intensivstation als die Überlebenden. 4 Die Patienten von den peripheren Stationen waren eher vom Tod bedroht als diejenigen, die nach größeren Operationen oder aus der Notaufnahme auf die Intensivstation verlegt wurden. 4 Die Sterblichkeit war streng korreliert mit der vorausgesagten Sterblichkeit (APACHE II), wobei aber die Todesfälle auch über die Bereiche geringer vorausgesagter Sterblichkeit verteilt waren. 4 Etwa 1/4 aller Todesfälle ereignete sich nach der Verlegung von der Intensivstation innerhalb des Krankenhauses. 4 Etwa 1/3 der Verstorbenen waren Patienten, die zuvor reanimiert worden waren. 4 Etwa 1/3 der Patienten lag mehr als 2 Tage auf der Intensivstation, beanspruchte dabei aber etwa 80% der Bettenkapazität. Die Autoren folgern aus ihrer Untersuchung, dass mehr Forschung investiert werden solle in die Aufklärung der Ursache für den Tod in Fällen niedriger vorhergesagter Sterblichkeit und in die Frage, ob man durch späteres Verlegen auf die peripheren Stationen Todesfälle vermeiden kann. Hier setzt auch die Kommentierung aus deutscher Sicht ein: Großbritannien besitzt bedeutend weniger Intensivbetten als die Kliniken im deutschsprachigen Raum. In Großbritannien werden intensivmedizinisch nur echte Intensivtherapiepatienten versorgt, die in der Regel ein bis mehrere Organversagen haben. Eine Untersuchung aus Hongkong aus dem Jahr 1999 an 2.268 Patienten einer interdisziplinären Intensivstation ergab, dass bei der Entlassung 65% und nach 1 Jahr noch 44% lebten [40]. Das ergibt eine Krankenhaussterblichkeit von 35%, ähnlich der in der oben zitierten Studie von Goldhill u. Sumner [13]. Eine deutsche Studie an chirurgischen Langzeitpatienten (Intensivaufenthalt t30 Tage) ergab, dass von 101 Patienten 70
lebend entlassen wurden, was einer Krankenhausletalität von ca. 30% entspricht [26]. Die Gesamtmortalität der Patienten betrug über einen Beobachtungszeitraum von bis zu 4 Jahren ca. 50%, was bedeutet, das in den 4 Jahren nach der Entlassung weitere 20% der Gruppe starben. Die Beschränkung dieser Studie auf schwerstkranke Intensivpatienten macht die Zahlen vergleichbar mit den oben zitierten britischen Daten. Eine weitere monozentrische Studie aus dem Johns Hopkins Hospital in Baltimore an 128 chirurgischen Langzeitpatienten (Intensivaufenthalt >7 Tage, hohe Morbidität) ergab, dass 41,4% gestorben waren und nach einen Jahr nur noch 45,3% lebten; nach dem Intensivaufenthalt sind also mit ca. 13% vergleichsweise wenige Patienten gestorben [22]. In dieser Studie hatten nur ca. 15% aller aufgenommenen Intensivpatienten – eben die Langzeitlieger – ca. 44% aller Intensivtage in Anspruch genommen. In einer internationalen Studie an 1.872 Sepsispatienten von 28 Intensivstationen, die den Intensivaufenthalt überlebt hatten, wurden alle Patienten über 1 Jahr nachuntersucht [1]. Innerhalb des 1. Jahres starben 10,4%, wobei das Alter der Patienten, eine chronische pulmonale Störung und Leberzirrhose deutlich mit der Sterbewahrscheinlichkeit korreliert waren. Eine amerikanische Studie an einem sehr speziellen Krankengut (100 80-jährige und 103 70-jährige herzchirurgische Patienten) ergab, dass die jüngere Gruppe eine Krankenhaussterblichkeit von 6% (CABG 1,4%) hatte, die ältere eine von 9% (CABG 8,2%). Die Intensiv- und Krankenhausverweildauern waren nicht unterschiedlich, der finanzielle Aufwand für die 80-Jährigen war jedoch ca. 35% höher [12]. Aus einer Metaanalyse über 19 methodisch brauchbare Untersuchungen zum Überleben nach Intensivtherapie ergibt sich eine Sterblichkeit auf der Intensivstation von 16,3% (8–33%), im Krankenhaus von 31,2% (11–64%), nach 1 Jahr von 39,3% (26–63%) und nach 5 Jahren von 50% (40–58%) [45]. i Von den länger auf der Intensivstation behandelten Intensivtherapiepatienten sterben ca. 30% auf der Station. Nach 4–5 Jahren sind insgesamt etwa 50% gestorben.
Die vorliegenden Zahlen, die sich noch beliebig vermehren ließen durch Untersuchungen an einem stark selektierten Krankengut (z. B. aus der Herzchirurgie) ergeben, dass bei echten Intensivtherapiepatienten mit einer Sterblichkeit von etwa 25% auf der Intensivstation und mit einer Krankenhaussterblichkeit von etwa 30% zu rechnen ist. Nach 1 Jahr sind etwa 40% gestorben, und eine Untersuchung gibt an, dass nach 5 Jahren noch etwa jeder 2. Patient lebt. Ältere Patienten scheinen zu einem höheren Prozentsatz zu sterben als jüngere. Die vorliegenden Informationen sind sehr uneinheitlich. Es ist sicher eine wichtige Forderung für zukünftige Untersuchungen, exaktere Daten an größeren Grundgesamtheiten zu ermitteln; nur durch besseres Zahlenmaterial können Risikogruppen ermittelt und eine Verbesserung der Überlebensrate ermöglicht werden. 14.1.2 Lebensqualität nach Intensivtherapie Viele Untersuchungen befassen sich mit der Lebensqualität (»quality of life«; QOL) nach Intensivaufenthalt. Eine frühe niederländische Arbeit aus dem Jahr 1988 prüfte neben der frühen und späten Letalität eines Intensivaufenthaltes an einer Gruppe von 118 langzeitüberlebenden Patienten deren Lebensqualität
123 14.2 · Physische Langzeitfolgen
[17]. 2 Jahre nach Krankenhausentlassung lebten etwa 90% daheim, vor dem Intensivaufenthalt waren es 92%. Deutlich zugenommen hatte die Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme. Auch waren die Patienten im Vergleich zu früher häufiger im Krankenhaus. Für etwa 20% hatte sich die Lebensqualität jedoch bleibend verschlechtert. Es stellte sich heraus, dass der Gesundheitszustand vor dem Intensivaufenthalt offenbar bestimmend war für die Zeit danach: Wer aus relativ guter Gesundheit akut erkrankte, erholte sich auch zumeist wieder weitgehend. Eine Untersuchung aus Erlangen an 325 Intensivpatienten aus dem Jahr 2001 ergab, dass bei 185 nachuntersuchten Patienten nach 6 Monaten keine Veränderungen der Lebensqualität gegenüber der Situation bei Aufnahme zu verzeichnen war [42]. Die emotionale Stabilität war nach 6 Monaten allerdings höher. Hier muss man aber anmerken, dass keine Besserung im Verhältnis zur – sicher angstbesetzten – Aufnahmesituation kein guter Befund sein muss. Im Gegensatz zu den vorher zitierten Studien wurden hier allerdings auch Patienten mit kürzerer Liegedauer (>24 h) einbezogen. Zu einem anderen Ergebnis kamen Kvåle u. Flaatten, die die gefühlte Lebensqualität (untersucht mit 8 Items) von Intensivpatienten 2 Jahre nach Intensivaufenthalt 1987 und 1997 verglichen [21]: Trotz des Therapiefortschritts über 10 Jahre empfanden die ehemaligen Intensivpatienten ihre Lebensqualität als deutlich schlechter als die jeweilige Vergleichsgruppe aus der gesunden Bevölkerung. In die gleiche Richtung weisen die Befunde einer Untersuchung aus dem Jahr 2003, in der 145 überlebende Patienten untersucht wurden, von denen schließlich 96 die Fragebögen beantworten konnten [23]. Nach 1 Jahr wiesen die Patienten im Vergleich mit den Werten bei Einlieferung eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität auf, v. a. in den Items »Schmerz/Unwohlsein« und »Angst/Depression«. Interessant ist auch eine amerikanische Studie an 115 Traumapatienten, die initial mindestens 3 Wochen intensivbehandelt worden waren. Die Patienten wurden 7 Jahre nachuntersucht. Bei einer Krankenhaussterblichkeit von 22% konnten die meisten überlebenden Patienten wieder ein eigenständiges Leben mit unterschiedlichem Behinderungsgrad erreichen. Die Kosten für diesen Prozess waren hoch. Ältere Patienten hatten ein schlechteres Outcome. Allen Patienten gemeinsam war allerdings, dass sie den Gesundheitszustand von vor dem Unfall nicht mehr erreichten [25]. Eine gute Literaturzusammenstellung von Dowdy et al. von 2005 ergibt, dass Überlebende von Intensivstationen – unabhängig von der Art der Untersuchung – bei der Einlieferung in Intensiveinheiten im Schnitt eine geringere Lebensqualität aufweisen als Kontrollpersonen [10]. Nach der Krankenhausentlassung fühlen sich die Patienten zwar besser, es bleibt aber eine deutliche Differenz zur Normalbevölkerung. Je älter und je kränker Menschen vor und während des Intensivaufenthaltes waren, desto schlechter fühlen sie sich auch hinterher. Lebensqualität, gemessen an Items wie »körperliche Integrität«, »emotionale Integrität«, »Schmerz«, »soziale Kompetenz«, »geistige Gesundheit«, »Vitalität«, »allgemeine Gesundheit«, »Funktionstüchtigkeit des Körpers« und »sexuelle Befriedigung«, um nur einige zu nennen, lässt sich nur sehr schwer mit objektiven Maßstäben messen. Gleichwohl weist die Mehrzahl der Veröffentlichungen darauf hin, dass Patienten nach längerem bzw. vital bedrohlichem Intensivaufenthalt in der Zeit nach der Entlassung deutliche Veränderungen bei sich wahrzunehmen
14
scheinen. Dem Autor dieses Beitrages ist der Ausspruch eines Patienten erinnerlich, der nach Jahren geäußert hat, dass er seelisch und körperlich auf der Intensivstation »seine Unschuld verloren hat« (die psychischen Langzeitfolgen sind in 7 Kap. 14.3 dargestellt). Die Lebensqualität von ehemaligen Intensivpatienten ist auch nach der Entlassung mitunter deutlich eingeschränkt. Menschen, denen es schon vorher nicht gut ging, geht es nach der Intensivtherapie selten besser. Eine situationsangepasste Nachbetreuung durch gut informierte Hausärzte wäre eine wichtige Ergänzung unseres intensivmedizinischen Handelns.
14.2
Physische Langzeitfolgen
14.2.1 Inter ferenzen mit Vorerkrankungen Man muss bei Intensivpatienten damit rechnen, dass die zur Intensivtherapie führende Grunderkrankung bzw. die bestimmende Organschädigung sich in den meisten Fällen nicht vollständig zurückbilden wird und dass dauerhafte Beeinträchtigungen eintreten. Bei chronischen Leiden ist außerdem davon auszugehen, dass der Zustand nach dem Intensivaufenthalt gegenüber vorher in vielen Fällen etwas schlechter geworden sein wird. Auch werden natürlich erneute Krankenhausaufenthalte wahrscheinlicher. Einer Studie aus Cleveland und Bangkok aus dem Jahr 2001 zufolge ist z. B. bei Langzeitbeatmeten davon auszugehen, dass sie häufig erneut hospitalisiert werden müssen [9]. 199 Patienten, die mindestens 96 h beatmet worden waren, wurden nachuntersucht: Nach 6 Monaten waren 38% erneut in ein Krankenhaus aufgenommen worden. Bei Patienten >66 Jahren bestand ein hohes Risiko, innerhalb der ersten 30 Tage nach Entlassung wieder aufgenommen zu werden. Als ein Beispiel für den großen Einfluss der Grunderkrankung und ebenso für immunkompromittierte Patienten mag eine Studie aus den USA gelten [29]. Von über 200 lungentransplantierten Patienten wurde eine Untergruppe über 4 Jahre nachuntersucht, die nach der initialen Behandlung erneut auf einer Intensivstation aufgenommen werden musste. Hier wurden 33 Patienten insgesamt 46-mal wieder aufgenommen, wobei 10 Patienten an einem Lungenversagen starben und weitere 8 Patienten an einem SIRS. Ein weiteres Beispiel stellt eine Münchener Studie an 50 langzeitüberlebenden ARDS-Patienten dar: Sowohl bezüglich der Lebbensqualität als auch bezüglich der Lungenfunktion waren diese Patienten nach etwa 5 Jahren gegenüber einer gesunden Vergleichsgruppe ganz erheblich eingeschränkt [38]. Ein wichtiger Aspekt ist die Frage, welche Auswirkungen Intensivtherapie auf ältere und sehr alte Menschen haben kann. Hierzu gibt es eine wichtige Studie in Chest aus dem Jahr 2004, in der gezeigt wurde, dass bei alten Patienten mit der Angabe des Krankenhausüberlebens ihr tatsächlicher Zustand danach nur sehr unvollkommen beschrieben wird [30]. Vielmehr ist es so, dass viele alte Menschen in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden, weil sie unter verschiedenen, z. T. schon vorbestehenden
124
Kapitel 14 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
und nun aggravierten Problemen leiden, die eine Unterbringung im häuslichen Bereich unmöglich machen. Es ist ein Verdienst dieser Studie, darauf hingewiesen zu haben, dass bei Untersuchungen zum Outcome eine weitgehende Pflegebedürftigkeit v. a. älterer Patienten in die Betrachtungen einbezogen werden müssen. Eine Untersuchung an alten CABG-Patienten ergab ebenfalls, dass im Alter mit höherer Mortalität, Morbidität, postoperativem Nierenversagen und neurologischen Komplikationen zu rechnen war [4]. Diese hier untersuchten alten Patienten hatten außerdem einen deutlich erhöhten Ressourcen-Verbrauch. Eine andere Frage ist, ob Fettleibigkeit die Prognose einer Intensivbehandlung verschlechtert. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass Dicke mehr Probleme haben müssten als Normgewichtige, kommen 2 größere Studien aus neuerer Zeit zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Fettleibigkeit keinen wesentlichen Einfluss auf das Outcome nach Intensivtherapie hat bzw. dass ein hoher BMI sogar protektiv zu sein scheint und das Überleben eher verbessert [28, 32]. 5 Vorerkrankungen inter ferieren mit dem Verlauf des intensivtherapierten Patienten. 5 Entlassen zu werden bedeutet v. a. bei alten Patienten nicht, gesund zu sein. 5 Für eine wirkliche Qualitätskontrolle muss der anschließende Gesundheitszustand berücksichtigt werden.
14.2.2 Bedeutende körperliche Folgen einer
Intensivtherapie
14
Woran man bei Intensivpatienten immer denkt, ist die Frage, ob und inwieweit sich der Verlauf – vorübergehend oder auf Dauer – auf die Nierenfunktion auswirkt. Etwa 5–10% aller Patienten entwickeln ein akutes, maschinell behandlungsbedürftiges Nierenversagen (ANF). Einschränkungen der Nierenfunktion im Sinne eines Harnstoff- und Kreatininanstieges sind viel häufiger, wobei zu berücksichtigen ist, dass Anstiege des Harnstoffspiegels oft allein vorkommen und dann viel eher Ausdruck einer Katabolie sind als Ausdruck einer Nierenfunktionsstörung (erkennbar am Harnstoff/Kreatinin-Quotienten!). Der weit überwiegende Grund für ein ANF ist eine akute tubuläre Nekrose. Sie tritt fast immer ein infolge von ischämischen Episoden, ist also in erster Linie hämodynamisch bedingt. Toxische oder gemischte Ursachen spielen nur eine untergeordnete Rolle [36, 44]. Auch die Bewertung einer kontrastmittelbedingten Nephropathie wird in ihrer Ursache und in der Frage, wie man sie vermeiden kann, kontrovers diskutiert [24, 31]. Eine Arbeit aus dem Jahr 2006 untersucht an einer Gruppe von 46 Patienten die Frage, welche Faktoren nach einem ANF auf der Intensivstation eine längere Dialysepflichtigkeit bedingen [11]. Bei einem sehr hohen Durchschnittsalter von 66,5 Jahren blieben 76% der Patienten länger als 72 h dialysepflichtig, während 24% ohne weitere maschinelle Hilfe auskamen. Als Faktoren für eine längere Dialysepflichtigkeit wurden niedriger Blutdruck und niedrige Thrombozytenzahl – wohl als Korrelat zu einer aktivierten Gerinnung – zu Beginn der Intensivtherapie ermittelt. Längerfristig, so eine Studie aus Kanada, hat die überwiegende Mehrzahl der Intensivpatienten die Aussicht, ihr ARN
soweit zu überstehen, dass sie innerhalb von 90 Tagen ohne maschinelle Hilfe auskommen können [2]. Eine Untersuchung legt nahe, dass Patienten mit einer während des Intensivaufenthaltes bedeutenden Nierenfunktionsstörung im weiteren Verlauf eine deutlich höhere Sterblichkeit aufzuweisen scheinen als Patienten mit initial normaler oder nur unwesentlich eingeschränkter Nierenfunktion [3]. Hier bliebe noch zu untersuchen, ob ein Nierenversagen per se negative Langzeitwirkungen hat, oder ob dies nur symptomatisch für einen insgesamt schwerer erkrankten Patienten ist. Über die Leberfunktion und eventuelle bleibende Störungen nach einem Intensivaufenthalt gibt es wenig Literatur. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Leber sich extrem gut selbst regenerieren kann und in den meisten Fällen bei Überlebenden keine Langzeitprobleme auftreten. Natürlich ist bekannt, dass während eines Intensivaufenthaltes die Leber mitreagiert. Dies kann eine hepatozelluläre Verfettung nach parenteraler Langzeiternährung sein, dies kann sich ausdrücken in einer sepsisinduzierten Cholostase mit hepatozellulärer Zellschädigung, oder aber es kann medikamentenbedingt zu einer Cholostase mit Hyperbilirubinämie kommen. Wirklich bedrohlich aber ist eine Mitreaktion der Leber nur dann, wenn die Leber primär deutlich vorgeschädigt ist oder aber in ihrer Masse z. B. durch eine Tumoroperation so verkleinert ist, dass sie ihre zentrale Rolle im Stoffwechsel nicht mehr ausreichend erfüllen kann. Eine gute Zusammenstellung der Probleme leberkranker Patienten in der Intensivtherapie findet sich bei Volk u. Marrero [41] sowie bei Cholongitas et al. [5]. Als besonders wichtige Langzeitfolge von Intensivtherapie muss die eventuelle Beeinträchtigung des neuromuskulären Systems gelten. Von einigen verkürzt als Intensivpolyneuropathie bezeichnet, wächst die Prävalenz dieser vielschichtigen Störung mit der Dauer des Intensivaufenthaltes und mit der Erkrankungsschwere. Die Literatur zu diesem Thema ist kaum noch überschaubar; eine sehr gute und differenzierte Zusammenstellung bringt die 37th Respiratory Care Journal Conference mit dem Schwerpunktthema »Neuromuscular disease in respiratory and critical care medicine« [33]. Deem führt hier aus, dass eine in der Intensivtherapie akquirierte Muskelschwäche – sei sie nun primär auf eine Polyneuropathie oder auf eine Myopathie gegründet – mitunter schnell abklingt, aber auch Monate und Jahre fortbestehen kann [7]. Die Inzidenz liegt – je nach Untersucher – bei 33 bis über 80% aller Intensivpatienten. Als Risikofaktoren werden eine mediatorvermittelte Zytotoxizität bei Sepsis und SIRS ebenso vermutet wie ein Einfluss von Steroiden, von lang wirkenden Relaxanzien und von Hyperglykämie. Besonders bei der Hyperglykämie ist aber keineswegs geklärt, wie die neuromuskuläre Schädigung zustande kommt. Zur möglichen Bedeutung der Hyperglykämie erschien Ende 2006 eine bedeutende Publikation aus der Arbeitsgruppe von van den Berghe [16]. In einer über 400 Patienten einschließenden Studie konnte durch intensivierte Insulintherapie mit Zielglukosespiegeln um 100 mg/dl gegenüber einer Kontrollgruppe mit Glukosewerten um ca. 160 mg/dl das Folgende erreicht werden: Elektroneuromyographische wöchentliche Kontrollen ergaben, dass die streng normoglykämisch geführten Patienten nur zu 39%, die Kontrollpatienten aber zu 50% eine neuromuskuläre Beeinträchtigung erlitten. Ebenso war in der normoglykämischen Gruppe die Anzahl der langzeitbeatmeten Patienten geringer. Die Unterschiede waren signifikant.
125 14.3 · Psychische Langzeitfolgen
Jubran analysiert den nicht weniger wichtigen Aspekt der beatmungsassoziierten Zwerchfelldysfunktion [20]. Als Ursache werden Muskelatrophie, Remodelling der Muskelfasern, oxidativer Stress und Strukturanomalien des Zwerchfells genannt. Diese Mechanismen können einen stark verzögerten WeaningProzess nach sich ziehen. Therapeutisch kann man dieses Problem in den Griff bekommen, indem man Beatmungsverfahren bevorzugt, die Anteile von Eigenatmung jederzeit zulassen bzw. erfordern. Die in der Folge von Pharmakotherapie akquirierten Innenohrschäden sind durch die deutlich abnehmende Verwendung von Aminoglykosiden sowie durch den Einsatz von Furosemid eher als kontinuierliche Medikation denn als Bolusgabe erfreulicherweise sehr zurückgegangen. In früheren Jahren entstanden als Nebeneffekt der Intensivtherapie oft Hörschäden bis hin zur Ertaubung. Die Gefahr der Intensivtherapie für die Augen wird im intensivmedizinischen Alltag oft vergessen und in der Literatur – abgesehen von der retrolentalen Fibroplasie des Neugeborenen – kaum berücksichtigt. Dabei ist bei ca. 40% der Intensivpatienten von oberflächlichen Keratopathien auszugehen, die bleibenden Schäden hinterlassen können [27]. Als besondere Risikofaktoren gelten Koma mit seltenem Lidschlag, Intubation und langer Aufenthalt auf der Intensivstation. Als Prophylaxe werden Lidreinigung und Anfeuchten der Hornhaut in bis zu 2-stündigem Rhythmus empfohlen. Auch die Haut unserer Intensivpatienten ist in vielfältiger Weise während des Aufenthaltes auf der Intensivstation bedroht. Während durch große Fortschritte in der Pflege und im technischen Aufwand bei der Lagerung Dekubitalulzera kaum noch vorkommen, verlegen wir unsere Patienten oft mit Akne und/ oder verschiedenen möglicherweise allergisch bedingten Reaktionen auf die peripheren Stationen. Erfreulicherweise klingen die meisten Erscheinungen mit der Erholung des Patienten in wenigen Wochen ab. Im Übrigen sei zu weiteren Folgen der Intensivtherapie für Körperfunktionen und Organe auf die speziellen Kapitel in diesem Buch verwiesen. Die wichtigste Folgeproblematik nach längerem Intensivaufenthalt ist für die Patienten zweifellos eine individuell unterschiedlich ausgeprägte neuromuskuläre Beeinträchtigung. Wichtigste präventive Maßnahmen der Intensivtherapie sind hier: 5 effektive Vermeidung von Hyperglykämie, 5 möglichst weitgehende Nutzung der Eigenatmung des Patienten.
14.3
Psychische Langzeitfolgen
Patienten auf Intensivstationen können psychisch auf unterschiedliche Weise alteriert sein. Zum einen kann sich hier ein hirnorganisches Psychosyndrom oder ein Delir äußern, die ihren Ursprung in diversen Störungen des Zentralnervensystems mit oder ohne Beteiligung von Medikamenten oder metabolischen Einflüssen haben können. Zum anderen aber ist natürlich die Auseinandersetzung des Patienten mit der ungewohnten Umgebung, mit den Sorgen und Ängsten, die eigene Krankheit
14
betreffend, und mit der bangen Frage, ob man »da wieder herauskommt«, im halbwachen oder wachen Zustand Grund genug, seelische Krisen zu durchleben. Allerdings kann die Umgebung der Intensivstation, v. a. bei Patienten, die schon länger wach sind, oder bei solchen, die die lebensrettenden Eigenschaften von Intensivstationen schon früher einmal kennengelernt haben, auch einen beruhigenden Eindruck machen, der sich zur scheinbar kindlich empfundenen Geborgenheit und Abhängigkeit im Sinne einer Regression steigern kann. All die z. T. sehr ambivalent erlebten Eindrücke und Träume können sich in vielfältiger Weise im zukünftigen Erleben und Fühlen des Patienten sozusagen als Hintergrundrauschen abbilden. Jones et al. haben untersucht, in welcher Weise kognitive Defizite, die gleichermaßen als neurologisch als auch psychisch verursacht betrachtet werden können, im Leben ehemaliger Intensivpatienten Bedeutung haben [21]. Bei einer kleinen Gruppe von Patienten fanden sie, dass noch Monate nach dem Intensivaufenthalt Schwierigkeiten bei der Lösung testtypischer Probleme und im Erinnerungsvermögen bestanden. Richter et al. konnten zeigen, dass bei einer kleinen Gruppe chirurgischer Patienten mit längerem Intensivaufenthalt und besonders nach einem die Intensivbehandlung bedingenden Unfall ein posttraumatisches Stresssyndrom gehäuft auftritt [34]. Eine Untersuchung aus Göteborg an über 200 Unfallopfern ergab, dass v. a. jüngere Menschen nach Unfällen unter wahnhaften Episoden und Panikattacken leiden können, und dass diese mitunter auch 1 Jahr nach Unfall und Intensivbehandlung noch eine solche Bedeutung haben, dass die Patienten nicht arbeitsfähig sind [35]. Eine sehr interessante Untersuchung stammt von Cochen et al., die an fast 140 Patienten mit Guillan-Barré-Syndrom (GBS) im Unterschied zu einer Kontrollgruppe vermehrt heftige Träume, Halluzinationen und psychotische Episoden fand [6]. Das Besondere war der Befund, dass die gehäuft beobachteten psychischen Phänomene korreliert waren mit dem Grad der für das GBS typischen autonomen Dysregulation und mit einem pathologisch veränderten REM-Schlafmuster. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass es nach Intensivbehandlung wohl oft zu lang anhaltenden sexuellen Störungen kommt. Eine Untersuchung aus Oxford fand bei 127 nachuntersuchten Intensivpatienten in 40% der Fälle eine Störung der Sexualfunktion [14]. Solche Sexualstörungen korrelierten signifikant mit dem Auftreten eines posttraumatischen Stresssyndroms. Die Autoren empfehlen, diesem offenbar häufigen Problem psychotherapeutisch in den Nachsorgekliniken nachzugehen. i Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nach längerem Intensivaufenthalt eine kompetente Nachsorge in der Lage zu sein scheint, negative psychische Folgen besser in den Griff zu bekommen.
So fand eine britische Arbeitsgruppe bei der Untersuchung an 126 ehemaligen Intensivpatienten, dass ein strukturiertes Nachsorgeprogramm dazu führt, dass die Patienten sich nach 2 Monaten ebenso wie nach 6 Monaten besser fühlten und weniger depressiv waren [18]. Panikattacken traten allerdings in der Interventions- wie auch in der Kontrollgruppe in gleicher Häufigkeit auf. Es wurde die Forderung formuliert, bei den allfälligen psychischen Problemen, die v. a. Langlieger auf der Intensivstation entwickeln mögen, frühzeitig eine therapeutische Begleitung si-
126
Kapitel 14 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
cherzustellen [8]. Es soll hier allerdings betont werden, dass eine Begleitung einen rein stützenden Charakter haben sollte und keinesfalls in ein erzwungenes Aufarbeiten des Erlebten einmünden darf; diese Forderung wurde erst kürzlich von einer Schweizer Gruppe, die Unfallopfer nachuntersucht hat, erneut bekräftigt [15]. Es hat natürlich nicht an Versuchen gefehlt, durch eine psychotrope Medikation den psychopathologischen unangenehmen Nachwirkungen einer Intensivtherapie zu begegnen. Die Befunde sind allerdings nicht einfach zu interpretieren. So kommt eine amerikanische Untersuchung an ARDS-Patienten zu dem Schluss, dass zwar 50% der Patienten nach einem Intensivaufenthalt eine antidpressive Medikation zu sich nehmen. Allerdings war das Risiko der Patienten, nach Intensivbehandlung depressiv zu werden oder sich »schlecht zu fühlen«, im Wesentlichen davon bestimmt, ob sie schon vor der Intensivbehandlung unter ähnlichen Symptomen gelitten hatten [43]. Eine Autorengruppe glaubt, herausgefunden zu haben, dass »Stressdosen« eines Glukokordikoids bei Intensivpatienten geeignet sind, spätere Symptome von posttraumatischem Stresssyndrom zu reduzieren [37, 39]. Wie oben schon gesagt, ist es vermutlich am sinnvollsten, Patienten während ihres Intensivaufenthaltes aufmerksam und vor allen Dingend stützend zu begleiten. Wenn später Symptome von Verwirrung, von Panik und Angst auftreten sollten, ist es sinnvoll, dann den Patienten einem fachlich versierten ärztlichen Psychotherapeuten zuzuweisen, der abwägen wird, ob eine reine Gesprächstherapie oder aber eine Kombination aus psychotroper Medikation und Psychotherapie die sinnvollen Maßnahmen sein werden. Es mag in dem einen oder anderen Fall auch richtig sein, eine stationäre Psychotherapie oder Rehabilitation anzustreben. Näheres in 7 Kap. 3.
14
Intensivpatienten brauchen oft sehr lange, um ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle aus der Zeit der Intensivtherapie zu verarbeiten. Vorsichtige Stützung im Behandlungsprozess und danach kann hilfreich sein. Der Patient gibt in jedem Fall das Tempo und das Ausmaß der Hilfe vor; wir bevormunden ihn nicht.
Literatur 1. Azoulay É, Alberti C, Legendre I, Buissson CB, Le Gall JR (2005) PostICU mortality in critically ill infected patients: an international study. Int Care Med 31: 56–63 2. Bagshaw SM et al. (2006) Renal recovery after severe acute renal failure. Int J Artif Organs 29: 1023–1030 3. Bagshaw SM et al. (2006) One-year mortality in critically ill patients by severity of kidney dysfunction: A population-based assessment. Am J Kidney Dis 48: 402–409 4. Bharathi HS, Seifert FC, Grimson R, Glass PSA (2005) Octogenarians undergoing coronary artery bypass graft surgery: resource utilization, postoperative mortality and morbidity. J Cardiothorac Vasc Anesth 19 (5): 583–588 5. Cholongitas E et al. (2006) Risk factors, sequential organ failure and model for end-stage liver disease scores for predicting short term mortality in cirrhotic patients admitted to intensive care unit. Aliment Pharmacol Ther 23: 883–893 6. Cochen V et al. (2005) Vivid dreams, hallucinations, psychosis and REM sleep in Guillain-Barré syndrome. Brain 128: 2535–2545
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14
II
Allgemeine Grundlagen der Diagnostik und Überwachung
15
Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring
–131
16
Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
17
Bildgebende Ver fahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
18
Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde –225
–169 –177
15 Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter W. Wilhelm, R. Larsen H. Pargger F. Mertzlufft, F. Bach
15.1
Einleitung
–132
15.2
Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4
Inspektion, Palpation und Auskultation –132 Kontinuierliche EKG-Überwachung –132 Indirekte Blutdruckmessung –134 Arterielle Katheter und invasive Blutdruckmessung –135
–132
15.3
Venenkatheter und zentraler Venendruck
15.3.1 15.3.2 15.3.3
Einleitung –137 Volumensubstitution und periphere Venenkanülierung –137 Zentrale Venenkatheter –138
15.4
Pulmonalar terienkatheter
15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5 15.4.6
Einleitung –146 Indikationen –146 Kathetertypen –146 Punktionsorte und Einführungstechnik –147 Komplikationen –148 Erhebung und Interpretation hämodynamischer Messwerte –150
–137
–146
I Grundlagen der Intensivmedizin
15.5
HZV-Messung durch ar terielle Pulskonturanalyse und andere Ver fahren
15.5.1
PiCCOplus-Monitor –153
15.6
Atemfunktion
15.6.1 15.6.2 15.6.3
Überwachung der respiratorischen Funktion –156 Pulsoxymetrie –157 Kapnometrie –159
15.7
Analyse der ar teriellen Blutgase
15.7.1 15.7.2 15.7.3 15.7.4 15.7.5 15.7.6 15.7.7 15.7.8 15.7.9 15.7.10
Probenentnahme –160 Aufbewahrung und Verarbeitung der Proben –161 Sauerstoffpartialdruck –161 Sauerstoffsättigung des Blutes –161 Sauerstoffbindungskurve –161 Physikalisch gelöster Sauerstoff –162 Sauerstoffgehalt im Blut –162 Sauerstoffangebot an die Organe –162 Alveoloarterielle O2-Partialdruckdifferenz –163 Störungen des arteriellen Sauerstoffstatus –163
15.8
Tonometrie
15.8.1 15.8.2
Einleitung –163 Messmethodik und klinischer Einsatz –164
Literatur
–156
–160
–163
–165
–152
132
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
15.1
Einleitung
Die Überwachung umfasst die Beobachtung, Messung und Registrierung veränderlicher Funktionen des Intensivpatienten. Ihr wesentliches Ziel ist die frühzeitige Erkennung von Störungen des physiologischen Gleichgewichts und die Erfolgskontrolle therapeutischer Maßnahmen. Die Überwachung muss zielgerichtet und systematisch erfolgen, nicht zufällig oder willkürlich, weil die Überwachungsgeräte zur Verfügung stehen. Die erhobenen Befunde und Messdaten müssen zuverlässig sein, da sie häufig die Grundlage für therapeutische Entscheidungen darstellen. Alle Überwachungsmaßnahmen müssen sinnvoll, unter Abwägung von Nutzen, Risiken und Kosten, auf den jeweiligen Bedarf abgestimmt werden. Das stereotype Ansammeln unzähliger Daten lenkt von der klinischen Beobachtung des Patienten ab, erschwert die integrative Beurteilung des Zustands und behindert im ungünstigen Fall den therapeutischen Entscheidungsprozess.
wiegende hämodynamische Störungen, Sepsis oder Schock den großzügigen Einsatz invasiver Verfahren bis hin zum Pulmonalarterienkatheter. Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion beim Intensivpatienten Basismonitoring 5 Herzfrequenz und -rhythmus: EKG-Monitor 5 Arterieller Blutdruck 5 Zentraler Venendruck
Erweitertes Monitoring 5 5 5 5
Pulmonalarteriendrücke, Wedgedruck Druck im linken Vorhof Herzzeitvolumen; intrathorakale Volumina Pumpfunktion, Kontraktilität, Klappenfunktion (mit Echokardiographie)
Was soll überwacht werden? Beim kritisch kranken Intensivpatienten sind häufig mehrere Organfunktionen gefährdet oder beeinträchtigt, sodass zumeist ein umfangreiches Überwachungsprogramm erforderlich ist. Im Mittelpunkt stehen hierbei naturgemäß die sog. Vitalorgane, d. h. die Funktion des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge, ergänzt durch Erfassung einer Vielzahl weiterer Variablen und Parameter. Überwachung physiologischer Variablen beim Intensivpatienten (Auswahl) 5 5 5 5 5
15
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
15.2
Herzfrequenz und Rhythmus (EKG) Arterieller Blutdruck Zentraler Venendruck Pulmonalarteriendrücke, Wedgedruck Herzzeitvolumen und abgeleitete hämodynamische Größen Intrathorakale Volumina Atemfrequenz, Atemtyp Arterielle Blutgase und O2-Sättigung, O2-Gehalt und -transport Säuren-Basen-Parameter Hämoglobin, Hämatokrit Serumelektrolyte Nierenfunktionsparameter Blutgerinnung, Thrombozyten Leberenzyme Körpertemperatur Intrakranieller Druck EEG, prozessiertes EEG
15.2.1 Inspektion, Palpation und Auskultation Diese einfachen Verfahren sind zwar weniger genau als invasive Methoden und erfordern eine größere Erfahrung des Untersuchers, gehören aber nach wie vor zu den unverzichtbaren Routinemaßnahmen, die täglich – auch wiederholt – angewandt werden müssen, um den Zustand des Patienten einzuschätzen. Inspektion. Die Inspektion ermöglicht meist nur eine grobe Orientierung über die Herz-Kreislauf-Funktion. Überprüft werden die Bewusstseinslage des Patienten, Hautfarbe der Extremitäten, Kapillardurchblutung (Nagelbett), Ödeme, gestaute Halsvenen, Hydratationszustand der Schleimhäute usw. Palpation. Schwache, schnelle oder fehlende periphere Pulse zusammen mit kalten Extremitäten sind Zeichen der Hypovolämie oder des Schocks. Starke respiratorische Schwankungen der Pulsamplitude weisen auf Hypovolämie oder Herztamponade hin und bedürfen der apparativen diagnostischen Abklärung. Auskultation. Zur vollständigen klinischen Untersuchung des Herzens gehört auch beim Intensivpatienten die Auskultation. Hiermit können Herzrhythmus und -frequenz festgestellt werden, weiterhin Störungen der Herzklappenfunktion sowie pathologische Herzgeräusche.
15.2.2 Kontinuierliche EKG-Über wachung
Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Die Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion erfolgt klinisch und apparativ, wobei sich die Invasivität der Überwachungsmaßnahmen in erster Linie nach dem hämodynamischen Funktionszustand des Intensivpatienten richtet. Ist die Herz-KreislaufFunktion unbeeinträchtigt und sind kurzfristig keine wesentlichen Störungen zu erwarten, genügt die klinische Einschätzung, ergänzt durch nichtinvasive Standardverfahren wie EKG und indirekte Blutdruckmessung. Demgegenüber erfordern schwer-
Störungen der Herzfrequenz, des Herzrhythmus und der Koronardurchblutung gehören zu den häufigen Komplikationen bei Intensivpatienten. Um diese Störungen frühzeitig erkennen und behandeln zu können, wird beim Intensivpatienten routinemäßig eine kontinuierliche EKG-Überwachung durchgeführt. Auf der Intensivstation werden hierfür in der Regel Multifunktionsmonitore eingesetzt, mit denen mehrere physiologische Variablen überwacht werden können, z. B. Blutdruck (nichtinvasiv/ invasiv), Herzfrequenz, O2-Sättigung (Pulsoxymetrie), endexspiratorischer pCO2 (Kapnometrie), Atemfrequenz, EEG, intrakranieller Druck, Temperatur.
133 15.2 · Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Mit dem EKG-Monitor feststellbare Störungen der Herzfunktion 5 Störungen der Herzfrequenz: Bradykardie/Tachykardie 5 Störungen des Herzrhythmus: supraventrikulär/ ventrikulär 5 Myokardischämie, Myokardinfarkt 5 Blockbilder 5 Kardiale Nebenwirkungen von Pharmaka 5 Kardiale Wirkungen von Elektrolytstörungen 5 Störungen der Herzschrittmacherfunktion 5 Herzstillstand: Kammerflimmern, Asystolie, elektromechanische Entkoppelung
Die EKG-Ableitung beim Intensivpatienten unterliegt zahlreichen Störfaktoren, die zu einer Beeinträchtigung der Signalqualität mit entsprechenden Fehldeutungen des erhaltenen Bildes führen können. Um verwertbare EKG-Signale zu erhalten, müssen die einzelnen Komponenten des Systems »optimiert« werden.
Vorbereitung des Patienten Das von der Haut abgeleitete EKG-Signal ist sehr klein; die Amplitude beträgt lediglich 0,5–2 mV. Wichtig ist daher eine sorgfältige Vorbereitung der Haut, damit die Elektroden gut haften und der Hautwiderstand vermindert wird. Haare über der Ableitungsstelle müssen zunächst entfernt werden, ebenso alle Rückstände und Verunreinigungen wie Fett, Blut usw. Hierbei empfiehlt sich die Reinigung mit Alkohol und die anschließende Trocknung der Haut.
Elektroden In der Intensivmedizin werden zumeist Hautelektroden verwendet; Nadelelektroden sind speziellen Indikationen vorbehalten, z. B. schweren Verbrennungen. Hautelektroden sind in der Regel Einmalklebeelektroden mit aufgetragenem Elektrodengel, das die Epidermis penetriert und den Hautwiderstand herabsetzt. Ein gutes Elektrodensystem ist erforderlich, damit der elektrische Impuls störungsfrei auf den Monitor übertragen wird. Die Grundlinie des EKG muss stabil und artefaktfrei sein, der QRS-Komplex ausreichend hoch (damit Frequenzfehler und Alarmsystem korrekt funktionieren) und die P-Wellen deutlich erkennbar. Eingetrocknetes Gel aufgrund unsachgemäßer Lagerung der Elektroden oder Einwirkung von Hitze erhöht den Hautwiderstand und führt zu instabiler Grundlinie und Interferenzen mit 50 Hz-Signalen anderer elektrischer Geräte. Die korrekte Platzierung von Elektroden ist besonders wichtig, um ein maximales EKG-Signal mit geringst möglichen Störungen zu erhalten. Knochenvorsprünge, Gelenke und Hautfalten sind für die Elektrodenplazierung nicht geeignet. Artefakte durch Muskelaktivität oder Muskelzittern sowie Haut- und Atembewegungen müssen vermieden werden. Weiterhin sollten an einem Patienten stets nur Elektroden des gleichen Herstellers verwendet werden.
Ableitungssystem Die American Heart Association empfiehlt die Analyse von mindestens 2, bevorzugt aber 3 Ableitungen für die kontinuierliche
15
Überwachung des EKG. Wichtigste Ziele dieser Erweiterung der Ableitsysteme sind: 4 Erkennung von P-Wellen, 4 Beurteilbarkeit der Herzachse, 4 Unterscheidung zwischen ventrikulären und supraventrikulären Rhythmusstörungen oder Extrasystolen, 4 bessere Charakterisierung von ST-Segment-Veränderungen. Ableitung II. Bei dieser Ableitung werden die Potentialdifferen-
zen zwischen rechtem Arm und linkem Bein gemessen. Die Achse der Ableitung verläuft parallel zur Achse zwischen Sinus- und AV-Knoten, entsprechend groß und leicht auffindbar ist daher die P-Welle. Die Ableitung II ermöglicht somit eine Identifizierung von P-Wellen und die Differenzierung zwischen supraund ventrikulären Rhythmusstörungen. Myokardischämien im Hinterwandbereich sind erkennbar. V1-Ableitung. Hierbei befinden sich 4 Elektroden jeweils an den Extremitäten, die 5. Elektrode im 4. Interkostalraum rechts vom Sternum. Bei dieser Ableitung sind P-Welle und QRS-Komplex besonders deutlich zu erkennen. MCL1-Ableitung. Hierbei handelt es sich um eine modifizierte (bipolare) V1-Ableitung. Die positive Elektrode befindet sich in V1-Position rechts vom Sternum im 4. ICR, die linke Elektrode in Nähe der Schulter oder unter der linken Klavikula. Am EKGMonitor wird der Schalter auf Ableitung II eingestellt. Mit dieser Ableitung können gut Herzrhythmusstörungen und Erregungsleitungsstörungen beurteilt werden. Ableitung V5. Die Ableitung V5 dient der Erkennung von Myokardischämien, insbesondere im Vorderseitenwandbereich. Hierbei wird die V5-Elektrode im 5. ICR in der vorderen Axillarlinie platziert. Zusammen mit der Ableitung II können ischämische ST-Segmentveränderungen mit einer relativen Sensitivität von 80% (bei Vergleich mit einem 12-Kanal-EKG) erkannt werden. Die Ableitung V5 gilt allen anderen Ableitungen gegenüber in der Erkennung von Myokardischämien als überlegen. Modifizierte V5-Ableitung. Verfügt der Monitor nur über 3 Ab-
leitungen, so kann die Elektrode für den linken Arm in V5-Position gebracht und der Schalter des Monitors auf Ableitung I gestellt werden. Hierdurch ergibt sich eine modifizierte V5-Ableitung, die für die Erkennung von Myokardischämien gut geeignet ist. Durch einfaches Betätigen des Schalters kann beim Auftreten von Rhythmustörungen, ohne Neuplazierung der Elektroden, die Ableitung II eingestellt werden.
Monitor Die beim Intensivpatienten eingesetzten EKG-Monitore dürfen nur wenig störanfällig sein, besonders gegenüber elektromagnetischen Feldern anderer Geräte (z. B. Infusionspumpen, Spritzenpumpen) oder statischen Aufladungen. Geringe Störanfälligkeit geht allerdings häufig mit Beeinträchtigungen der Signalwiedergabe einher. Moderne EKG-Monitore enthalten Speicheroszilloskope, auf denen das EKG während des Durchlaufs gespeichert wird. Beim Erreichen des Bildrands wird die Kurve gelöscht oder für kurze Zeit gespeichert, sodass Arrhythmien kurz nach ihrem Auftreten erneut abgerufen werden können. Bei den meisten Monitoren
134
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
kann das EKG-Bild auf dem Schirm »eingefroren« und dann genauer analysiert werden. Bei 2-Kanal-Speicheroszilloskopen ist das Bild auf dem zweiten Kanal sogar beliebig lange zu speichern. Einige Monitore verfügen zusätzlich über einen Schreiber, der sich zu vorgewählten Zeitpunkten oder durch Erreichen vorgegebener Alarmgrenzen einschaltet und das EKG registriert. Alle Monitore weisen einen Herzfrequenzzähler auf, der die Herzfrequenz aus den R-Zacken oder (fälschlich) den jeweils höchsten Ausschlägen der EKG-Kurve entnimmt und digital anzeigt, gewöhnlich in Verbindung mit einem akustischen Signal. Die Herzfrequenz kann außerdem über die arterielle Druckkurve oder über das Plethysmogramm des Pulsoxymeters bestimmt werden. Computerunterstützte Analyse. Zahlreiche Monitore ermögli-
chen eine automatisierte, kontinuierliche Analyse des Herzrhythmus und des ST-Segments und damit eine vom Überwacher unabhängige Erkennung von Rhythmusstörungen und Myokardischämien. Die derzeit eingesetzten Systeme sind allerdings nicht absolut verlässlich.
5 Herzfrequenzmonitor alarmiert ständig: – Frequenzalarm zu nahe an Herzfrequenz des Patienten eingestellt – Elektroden falsch platziert (zu niedrige R-Zacke) – Kabel defekt – Instabile Grundlinie
15.2.3 Indirekte Blutdruckmessung Die arterielle Blutdruckmessung ist essenzieller Bestandteil der Überwachung eines Intensivpatienten. Der arterielle Blutdruck gilt als Indikator des allgemeinen hämodynamischen Status, weist aber keine oder nur eine geringe diagnostische Spezifität auf, da eine komplexe Beziehung zwischen Blutdruck, Blutfluss und Blutvolumen besteht mittlerer arterieller Blutdruck = Herzzeitvolumen × peripherer Gefäßwiderstand
Störungen der EKG-Überwachung Bei der kontinuierlichen EKG-Überwachung können zahlreiche Artefakte auftreten, die auf Funktionsstörungen oder falschen Anschlüssen des Systems beruhen. Wichtigster Störfaktor sind elektromagnetische Interferenzen, durch die das normale EKGBild verloren geht. Respiratorische Schwankungen können ebenfalls das EKG beeinflussen, bedingt durch Verschiebungen des Mediastinums oder Veränderungen der Herzvolumina während des Beatmungszyklus. Betroffen ist v. a. die Höhe des QRS-Komplexes. i Erscheint kein EKG-Signal auf dem Monitor, sollte zuerst der Patient überprüft werden, danach das Gerät!
15
Typische EKG-Störungen und ihre wichtigsten Ursachen sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst.
Störungen des EKG und deren wesentliche Ursachen 5 Grundlinie wandert, EKG-Bild fehlt: – Empfindlichkeit zu gering eingestellt – Falsche Ableitung eingestellt – Patienten- und/oder Elektrodenkabel defekt 5 Wandernde oder unregelmäßige Grundlinie: – Bewegungen des Patienten – Muskelzittern – Ungenügende Hautreinigung – Einfluss von Wechselstrom – Elektrodengel ausgetrocknet – Elektroden falsch platziert – Patienten- und Stromkabel berühren sich 5 EKG-Amplitude zu klein: – Größenkontrolle am Monitor zu klein eingestellt – Elektrodengel ausgetrocknet – Elektroden falsch platziert 5 EKG-Bild wird unterbrochen: – Elektrodendraht gerissen – Elektroden falsch platziert – Patientenkabel defekt 6
Häufige Ursachen eines niedrigen Blutdrucks beim Intensivpatienten sind Blut- und/oder Flüssigkeitsverluste, Herzinsuffizienz, Trauma oder Sepsis, während ein hoher Blutdruck häufig als Ausdruck einer »Stressreaktion« gewertet wird. Als normal gelten beim Jüngeren Blutdruckwerte von 120/80 mm Hg. Im Alter zeigt sich eine ansteigende Tendenz. Es gelten systolische Werte ab 140 mm Hg und/oder diastolische Werte ab 90 mm Hg als Hypertonie.
Art der Messung Der arterielle Blutdruck kann indirekt oder direkt gemessen werden. Die indirekten Verfahren sind einfach und nichtinvasiv, die direkten hingegen invasiv und apparativ aufwendig. Mit der indirekten Methode werden systolischer (psyst) und diastolischer (pdiast) Blutdruck gemessen, während der mittlere arterielle Druck (MAP) aus den so bestimmten Werten nach folgender Formel berechnet wird:
MAP=
psyst+2·pdiast 1 = pdiast+ (psyst–pdiast) 3 3
Für die nichtinvasive Blutdruckmessung werden verschiedene Verfahren eingesetzt; allen gemeinsam ist derzeit die Verwendung einer aufblasbaren Manschette, die naturgemäß lediglich eine Intervallmessung ermöglicht. Die indirekte Blutdruckmessung kann bei allen hämodynamisch stabilen Patienten, bei denen nicht mit schweren Störungen der Herz-Kreislauf-Funktion gerechnet werden muss, eingesetzt werden. Hingegen sollte bei instabiler Herz-Kreislauf-Funktion die direkte Messung wegen ihrer größeren Genauigkeit und der kontinuierlichen Erfassung der Blutdruckwerte bevorzugt werden.
135 15.2 · Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Oszillationsmethode Diese Technik in ihrer automatisierten Form wird derzeit am häufigsten eingesetzt. Zunächst wird die Manschette über den systolischen Druck hinaus aufgeblasen, danach langsam abgelassen. Der systolische Blutdruck entspricht hierbei dem erstmaligen Auftreten von Oszillationen der Manometernadel, der mittlere arterielle Druck den maximalen Ausschlägen und der diastolische Druck dem schlagartigen Kleinerwerden oder Verschwinden der Osziallationen. Bei Hypotension, Hypovolämie oder enger Pulsamplitude wird häufig nur der arterielle Mitteldruck angezeigt. Bei hohen Blutdruckwerten werden möglicherweise zu niedrige systolische und mittlere Drücke angezeigt, bei Hypotension zu hohe.
Genauigkeit der indirekten Messung Die Genauigkeit der indirekten Blutdruckmessung kann durch zahlreiche Faktoren beeinträchtigt werden. Hierzu gehören v. a.: 4 falsche Größe und Platzierung der Manschette, 4 zu rasches Ablassen des Manschettendrucks, 4 Hypotension, periphere Vasokonstriktion, Schock, 4 Herzrhythmusstörungen.
15
se Garantie, innerhalb recht kurzer Zeit zu einer angemessenen Erfahrung mit dieser Methode zu gelangen. Häufig wird eine Über-die-Nadel-Punktionstechnik verwendet. Manchmal sind die arteriellen Gefäße jedoch sklerotisch so verändert, dass der Katheter nicht vorgeschoben werden kann. In diesen Fällen kann mit Seldinger-Technik versucht werden, einen weichen geraden Draht (ohne J-Spitze) durch eine Punktionsnadel in das Gefäß und dann den Katheter über den Draht zu schieben. Bei der A. radialis verwenden wir einen 20-G-, bei der A. femoralis einen 17- oder 18-G-Katheter.
A. radialis Die Punktion der A. radialis wird am häufigsten durchgeführt, und zwar sowohl für die Einlage eines Katheters als auch für die einmalige Punktion mit einer Nadel. Über die anatomischen Grundlagen sollte sich der Leser im Detail an anderer Stelle informieren. Entscheidend ist, dass die A. radialis und A. ulnaris je in den arteriellen Bogen in der Handfläche münden. Falls die A. ulnaris verschlossen ist, könnte die Punktion der A. radialis theoretisch zu einer Mangeldurchblutung der Hand führen. Eine Möglichkeit, die Durchblutung an der Hand zu beurteilen, ist der modifizierte Allen-Test [1]. Die Durchführung des Allen-Tests ist in der Übersicht dargestellt.
15.2.4 Ar terielle Katheter und invasive
Blutdruckmessung Arterielle Katheter und eine invasive Blutdrucküberwachung werden je nach Krankengut und Stationsphilosophie bei weit über 50% der Patienten auf Intensivstationen eingesetzt. Der große Vorteil gegenüber der nichtinvasiven automatischen oszillometrischen Blutdruckmessung ist die Möglichkeit, den Druck tatsächlich von Schlag zu Schlag zu überwachen. Obwohl die arterielle Blutdruckmessung in den letzten Jahren infolge von Materialverbesserungen zunehmend häufiger eingesetzt wurde, sollte man ihre Komplikationen nicht negieren und keinesfalls aus Bequemlichkeit arterielle Katheter einführen oder belassen. Insbesondere die routinemäßige Überwachung der O2-Sättigung mit der Pulsoxymetrie und der endexspiratorischen CO2-Konzentration mit der Kapnometrie reduziert die Anzahl der erforderlichen Blutgasanalysen.
Indikationen Es gibt vermutlich einige absolute Indikationen für arterielle Katheter. Tatsächlich bewiesen wurde der Nutzen für die Patienten jedoch nicht. Aufgrund der Verbesserungen in der Technik der nichtinvasiven Blutdrucküberwachung und nach Einführung von Pulsoxymetrie und Kapnometrie sollte man jedoch die Indikationsstellung zur arteriellen Kanülierung immer hinterfragen. Demzufolge können die abgegebenen Empfehlungen von Zentrum zu Zentrum erhebliche Unterschiede aufweisen. Ein arterieller Katheter kann z. B. in folgenden Situationen indiziert sein: 4 instabile Herz-Kreislauf-Funktion, wahrscheinlich ohne Besserung in den nächsten 12 h, 4 Dauerinfusion vasoaktiver Substanzen, 4 Notwendigkeit einer engmaschigen Blutdrucküberwachung, z. B. bei drohender Aneurysmaruptur, 4 Notwendigkeit repetitiver arterieller Blutgasanalysen.
Katheter- und Punktionstechnik Wie bei den venösen Punktionen gilt auch hier, dass sich der Anfänger auf eine Methode beschränken sollte. Das gibt eine gewis-
Durchführung des Allen-Tests 5 Beide Arterien (radial und ulnar) werden am Handgelenk abgedrückt. 5 Der Patient öffnet und schließt die Faust so lange, bis die Handfläche abgeblasst ist. 5 Die Hand darf nicht hyperextendiert werden, weil das zu falsch-negativen Resultaten führt. 5 Eine Arterie wird freigegeben und die Zeit gemessen, bis sich die Hand gerötet hat. 5 Vollständige Rötung in weniger als 7 s deutet auf eine normale Funktion des arteriellen Bogens hin, über 14 s ist pathologisch.
Allerdings sind der Stellenwert des Allen-Tests und seine Korrelation zu Durchblutungskomplikationen umstritten; manche Autoren verzichten ganz auf seine Durchführung. Zur Punktion sollte das Handgelenk über eine Rolle hyperextendiert und gut auf der Unterlage befestigt werden. Die weitere Technik ist in . Abb. 15.1 dargestellt.
A. femoralis Die anatomischen Verhältnisse im Leistenbereich sind in . Abb. 15.8 verdeutlicht. Der Zugang über die A. femoralis wird in der Regel dann verwendet, wenn die Punktion der A. radialis technisch nicht möglich ist, ein Durchblutungsproblem besteht oder die Katheter bei Infektionsverdacht gewechselt werden müssen. Meist wird mit Seldinger-Technik punktiert und ein 15–20 cm langer 17- oder 18-G-Katheter eingeführt. Die Punktionstechnik entspricht der beim venösen Zugang.
Andere Lokalisationen Gelegentlich werden die A. brachialis, axillaris oder dorsalis pedis für eine invasive Blutdrucküberwachung verwendet. Die Punktionstechnik ist nicht wesentlich anders als an den beiden beschriebenen Stellen. Für die A. axillaris wird, wie in der Leiste, die Seldinger-Technik angewandt. Am Fußrücken ist oft eine 20-
136
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Sehne des M. palmaris longus
. Abb. 15.1a–e. a Anatomische Verhältnisse am Handgelenk. b Nach Lagerung und Lokalanästhesie wird die A. radialis in einem Winkel von ca. 30–45° zur Haut punktiert; c freier Blutfluss oder freie Aspiration bestätigen die korrekte Lage. Die Nadel wird festgehalten und der Katheter mit drehenden Bewegungen über die Nadel in das Gefäß geschoben. d Anschließend wird die Nadel entfernt. e Beim Vorschieben des Katheters soll der Winkel zwischen Haut und Katheter auf 20–30° verringert werden
N. medianus
A. ulnaris
Sehne des M. flexor carpi radialis A. radialis
a
b
c
d
15
e
G-Kanüle schon zu groß. Die verwendete 22-G-Kanüle thrombosiert relativ häufig, oder der Katheter knickt ab. Diese alternativen Lokalisationen werden sehr selten verwendet, z. T. wird dann ganz auf die invasive Druckmessung verzichtet, wenn die radiale oder femorale Einlage nicht möglich oder kontraindiziert ist.
Komplikationen Die Häufigkeit von Komplikationen hängt vom Ort der Punktion, der Dicke des Katheters und der Liegedauer ab. Die angegebenen Zahlen schwanken mit 15–40% erheblich, aber wirklich relevante Komplikationen sind viel seltener.
Thrombosen. Thrombosen sind bei Kanülierungen der A. radialis oder A. dorsalis pedis häufiger als bei der A. femoralis. Kontinuierliche Spülsysteme und dünnere Katheter haben aber allgemein zu einer Reduktion dieser Komplikation geführt, wobei ein Heparinzusatz zur Spüllösung nicht nötig ist. Thrombosen scheinen häufig auch erst nach Entfernung der Katheter zu entstehen, klinisch relevante Befunde mit ischämischer Symptomatik der Hand sind jedoch extrem selten. Luftembolien. Zerebrale Luftembolien wurden experimentell
beschrieben; es handelt sich dabei um retrograde Luftembolien. Demnach sind arterielle Leitungen an der oberen Extremität be-
137 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
sonders gefährlich. Daneben sind die Menge der Luft und die Größe der betroffenen Person entscheidende Risikofaktoren. Bei kleinen Kindern muss deshalb ganz besonders aufgepasst werden. Infektionen. Die Infektion eines arteriellen Katheters ist heute selten. Wichtig ist ein sorgfältiges hygienisches Arbeiten bei Verwendung arterieller Leitungen für die Blutdrucküberwachung. Insbesondere dürfen die Spüllösungen keine Glukose enthalten und sollten alle 24 h ausgewechselt werden. Die arteriellen Blutentnahmen sollten möglichst patientennah durchgeführt werden. Keinesfalls sollte das Blut durch das gesamte Schlauchsystem bis in den Bereich der Druckkammer aspiriert werden müssen, außer wenn das Schlauchsystem nach 24 h gewechselt wird. Ein regelmäßiges Umfädeln der arteriellen Kanüle über einen Draht zur Infektprophylaxe wird nicht mehr empfohlen, und das Wechseln des Punktionsortes, z. B. alle 7 Tage, ist umstritten. Hingegen wechseln wir die Punktionsstelle bei einer Sepsis mit positiven Blutkulturen; dies erfolgt auch bei einer Infektion der Einstichstelle, da eine bakterielle Arteriitis lebensgefährlich werden kann. Weitere Komplikationen arterieller Katheter sind Pseudoaneurysmen, Hämatome, Blutungen, Neuropathien, periphere Embolien und, sehr selten, auch kritische Durchblutungsstörungen.
Invasive arterielle Druckmessung Überwachungssystem. Standardmäßig besteht ein System zur
kontinuierlichen Blutdrucküberwachung heute aus folgenden Komponenten: 4 geeigneter, arterieller Katheter, 4 flüssigkeitsgefülltes, starres Schlauchsystem mit patientennahem Dreiwegehahn für Blutentnahmen, 4 Druckaufnehmer mit Eichmöglichkeit gegen die Atmosphäre, 4 automatisches Spülsystem, 4 elektronische Druckwandlereinheit. Eine detaillierte technische Darstellung des Systems ist hier nicht möglich. Der interessierte Leser sei auf andere Quellen verwiesen [12]. Häufige Fehlerquellen. Hierzu zählen:
4 falscher Nullabgleich, 4 falscher Nullpunkt der Messkammer, 4 zu geringe Dämpfung durch das Schlauchsystem (Kurve »verschleudert«), 4 zu starke Dämpfung: Abknicken des Schlauchsystems oder der Kanüle, Thrombose, Druckabfall proximal der Katheterspitze bei arterieller Verschlusskrankheit oder disseziierendem Aneurysma, Luft im Schlauchsystem. Eine zu starke Dämpfung bewirkt eine sehr flache Kurve, hier ist – wenn überhaupt – nur der mittlere arterielle Druck verwertbar. Eine zu geringe Dämpfung produziert eine sehr hohe und spitze systolische Kurve, die nach dem Peak einen mehr oder weniger ausgeprägten, momentanen Abfall zeigt.
Kontinuierliche arterielle Blutgasüberwachung In den letzten Jahren wurden immer häufiger kontinuierliche arterielle Messeinheiten angeboten, die eine Bestimmung des pHWerts sowie des O2-und CO2-Partialdrucks ermöglichen. Die Messung erfolgt mit einer fiberoptischen Technik, es gibt bis heute aber
15
keine Daten, die auch nur annähernd gezeigt hätten, dass diese aufwändigen und teuren Systeme für die Behandlung von kritisch Kranken nützlich wären. Bis auf Weiteres wird der Einsatz dieser Systeme wenigen, seltenen Indikationen vorbehalten bleiben. 15.3
Venenkatheter und zentraler Venendruck
15.3.1 Einleitung Intensivtherapie ohne intravasale Katheter oder ohne intravasales Monitoring ist heute undenkbar geworden. Jeder Patient benötigt mindestens einen peripheren venösen Zugang, hauptsächlich um Medikamente, Flüssigkeiten und Elektrolyte infundieren zu können. Patienten mit instabilem Kreislauf oder anderen schweren intensivmedizinischen Krankheitsbildern werden mit arteriellen, zentralen oder pulmonalarteriellen Kathetern versorgt. Schließlich werden vereinzelt Katheter im Bulbus der V. jugularis platziert, um Rückschlüsse auf die zerebrale Perfusion zu erhalten. Arterielle und Bulbus-jugularis-Katheter dienen praktisch ausschließlich der Überwachung, während zentrale Katheter regelmäßig auch zur Infusion von hochpotenten Kreislaufmedikamenten und zur parenteralen Ernährung verwendet werden. Der Einsatz von körperfreundlichen Materialien und Verbesserungen sowohl in der Punktions- als auch in der Monitortechnik haben die Komplikationen dieser invasiven Eingriffe sinken und die Zuverlässigkeit der abgeleiteten Überwachungsparameter steigen lassen. Nicht überraschend war deshalb bis vor kurzem eine »Punktions- und Überwachungseuphorie« in der Intensivmedizin zu beobachten. Erst in letzter Zeit wurde der Nutzen einiger dieser Techniken kritisch hinterfragt. 15.3.2 Volumensubstitution und periphere
Venenkanülierung Auswahl der Kanüle Eine Volumenersatztherapie mit Kristalloiden, Kolloiden oder Blutersatzprodukten sollte generell über periphere Venenkanülen erfolgen. Zum einen sind periphere Venen schnell und einfach zu punktieren, und zum anderen können kurze und dicke Kanülen verwendet werden. Hierüber lassen sich in kurzer Zeit große Mengen an Flüssigkeiten infundieren, insbesondere, wenn kommerziell erhältliche Druckinfusions- oder Drucktransfusionssysteme verwendet werden. Diese pressen automatisch den Inhalt flüssigkeitsgefüllter Plastikbeutel (Blutprodukte, Kolloide, Kristalloide) über ein spezielles Schlauchsystem und die Kanüle in das Venensystem, wärmen gleichzeitig die Flüssigkeiten an und prüfen auf Luftblasen. Es sind auch sehr dicke Katheter (Außendurchmesser 7– 8,5 F; . Tab. 15.1) erhältlich, die in Seldinger-Technik durch eine 1,2 mm dicke Kanüle eingeführt werden können. Immer ist zu bedenken, dass die Infusionsgeschwindigkeit vom kleinsten Lumen in der Strecke und der Gesamtschlauchlänge abhängt. i Ein dünnlumiger Dreiwegehahn an einem dicken Katheter oder überlange Infusionsschläuche und Katheter machen eine schnelle Volumensubstitution unmöglich (. Tab. 15.2).
138
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
35 . Tabelle 15.1. Maßeinheiten intravasaler Katheter (Außendurchmesser)
Abteilungspersonal
[mm]
Gauge (G) Ⳍ
[mm]
3
1
20
0,90
4
1,35
19
1,08
5
1,67
18
1,26
6
2
17
1,49
Spezialteam
25 20
%
French (F) Ⳍ
p < 0,001
30
15 10 5
p < 0,025
0 7
2,3
16
1,67
8
2,7
15
1,85
9
3,0
14
2,13
10
3,3
13
2,44
. Tabelle 15.2. Durchflussraten durch gleich dicke Katheter (14 G; 2 mm Außendurchmesser) verschiedener Länge Länge [cm]
15
Durchfluss (ml/min bei 1 m Höhe)
Zeitbedarf [min] für die Infusion von 1 I Flüssigkeit
4,5
300
3,3
5,2
260
3,8
10
80
12,5
15
68
14,7
20
65
15,4
30
50
20
Die angegebenen Zahlen sind verschiedenen Herstellerprospekten entnommen. Die Durchflussraten können je nach Innendurchmesser des Katheters bei gleicher Gauge-Zahl schwanken.
Punktionsort Als Punktionsorte kommen neben allen Venen an den Armen auch die V. saphena magna in der medialen Fußknöchelregion und die V. jugularis externa in Frage. Punktionen im Bereich von Gelenken haben den Nachteil, dass der Infusionsfluss durch eine Beugung im Gelenk behindert werden kann. Nach Punktion der V. jugularis externa muss der Kopf häufig zur Gegenseite gedreht werden, um ein Anliegen der Katheterspitze an der Venenwand zu verhindern. Wegen des gebogenen Verlaufes der V. jugularis externa sieht man gelegentlich eine sekundäre Perforation der Katheterspitze mit subkutaner Infusion, besonders wenn die Infusion unter Druck steht. Daher sollten Infusionen unter Druck über die V. jugularis externa nur unter direkter Sichtkontrolle erfolgen.
Komplikationen Neben subkutaner Infusion nach sekundärer Perforation der Katheterspitze sind lokale Reizsymptome und Phlebitiden die häufigsten und wichtigsten Komplikationen peripherer Katheter. Ursachen für diese lokalen Reizsymptome können die Infusion
lokale Symptome
Phlebitis
Induration
schwere Phlebitis
. Abb. 15.2. Die Pflege von peripheren Kathetern durch ein spezialisiertes Team führt, verglichen mit dem normalen Abteilungspersonal, zu einer deutlichen und signifikanten Verringerung der Häufigkeit von Phlebitiden. Damit wurde gezeigt, dass durch sorgfältige Beobachtung und Betreuung der Einstichstellen die Komplikationsrate der peripheren Katheter gesenkt werden kann
von hypotonen oder hypertonen Lösungen, die Injektion von sauren oder basischen Medikamenten und – allerdings umstritten – die Liegedauer sein [4]. Daneben spielen die aseptische Punktionstechnik und eine sorgfältige Katheterpflege entscheidende Rollen (. Abb. 15.2 [23]). Schließlich konnte auch gezeigt werden, dass die Materialien, aus denen die Katheter gefertigt sind, einen Einfluss auf die Häufigkeit von lokalen Reizsymptomen haben. Silikon hat sich im Gegensatz zu Teflon als gewebeverträglicher erwiesen. Unter diesen Gesichtspunkten schwanken die angegebenen Häufigkeiten von Thrombophlebitiden zwischen <10% bis >50%. Lebensbedrohliche Komplikationen wie bakterielle Thrombophlebitiden mit Sepsis sind selten und können durch sorgfältige Pflege und Überwachung der Katheter vermieden werden [23]. 15.3.3 Zentrale Venenkatheter Der zentrale Venenkatheter ist ein integraler Bestandteil der heutigen Intensivtherapie. Fertigkeiten in Punktionstechniken und Kenntnisse der Komplikationen, Indikationen und Limitationen von zentralen Kathetern sind deshalb wichtige Lerninhalte in der Ausbildung von Intensivmedizinern. Die ersten Punktionen von zentralen Venen wurden schon im frühen 20. Jahrhundert durchgeführt, aber die erste Beschreibung einer infraklavikulären Punktion der V. subclavia stammt erst aus dem Jahr 1952. Ein Jahr später publizierte Seldinger seine Technik des Umfädelns von einer Nadel auf einen Katheter mit Hilfe eines Führungsdrahts [21]. Es folgte die Einführung der zentralvenösen Drucküberwachung im Jahr 1959, danach die perkutane supraklavikuläre Kathetereinlage. Schon 1964 wurde das Vorschieben eines Katheters in die V. cava superior über die V. jugularis externa beschrieben und als Methode mit wenigen Komplikationen empfohlen, und 1969 schließlich wurde die erste Serie von V.-jugularis-interna-Punktionen veröffentlicht. Bis heute wird der ideale Punktionsort für eine zentrale Vene kontrovers diskutiert, und wie so oft führt diese 6
139 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
Unsicherheit zu einer Vielzahl von Empfehlungen. Im Folgenden werden mögliche Zugangswege dargestellt, jedoch können andere Methoden völlig gleichwertig sein. Entscheidend ist letztlich das atraumatische, schnelle und effiziente Einführen des Katheters.
Indikationen Die Popularität der zentralen Venenkatheter hat in den letzten Jahren nicht nur auf Intensivstationen erheblich zugenommen. Entsprechend werden die Indikationen immer weiter gefasst, und die prophylaktische Einlage eines zentralen Katheters für eine Therapie in näherer Zukunft ist nichts Ungewöhnliches mehr. Alle verantwortlichen Ärzte sollten sich jedoch bewusst sein, dass lebensbedrohliche Komplikationen dieser Katheter zwar sehr selten sind, dass aber nur eine harte Indikation ihr mögliches Auftreten bei einem Patienten rechtfertigen kann. Jede Indikation enthält objektive und subjektive Gesichtspunkte, die in Relation zum individuellen Risiko des Patienten gesetzt werden müssen. Indikationen für zentralvenöse Venenkatheter können u. a. sein: 4 Infusion von vasoaktiven Substanzen, 4 Infusion von irritablen Substanzen (z. B. Kaliumchlorid oder parenterale Ernährungslösungen), 4 Überwachung des zentralvenösen Drucks, 4 parenterale Ernährung, 4 transvenöse Schrittmachertherapie, 4 notfallmäßige Hämodialyse oder Hämofiltration, 4 Unmöglichkeit, eine periphere Vene zu punktieren, 4 Operationen am Schädel in halbsitzender Position (Luftembolie). Die reine Flüssigkeitstherapie ist nur selten eine Indikation für zentrale Venenkatheter. In der Regel ist die Infusionsgeschwindigkeit über zentrale Katheter deutlich langsamer als über kurze periphere Kanülen. Im Notfall jedoch können über zentrale Hämodialysekatheter oder Schleusen sehr schnell größte Mengen an Flüssigkeiten infundiert werden. Punktionen mit diesen Kathetern sollten aber dem Geübten überlassen bleiben.
Kathetertypen Es gibt mehrere Möglichkeiten, Katheter einzuteilen und damit verschiedene Typen zu unterscheiden. Die wichtigsten Kriterien für eine Kathetereinteilung sind: 4 Punktionstechnik, 4 Anzahl der Lumina, 4 Material inklusive möglicher Spezialbeschichtungen.
Punktionstechniken
15
reichen Punktion die Nadelspitze einige Millimeter im Venenlumen weiterzuschieben, bevor die Nadel festgehalten und der Katheter über die Nadel ganz eingeführt wird. Da der Katheter dicker ist als die Punktionsnadel, wird es nach Einführen des Katheters in das Blutgefäß zwar kaum mehr bluten, dafür kann aber beim Einführen die ganze Vene aufgerollt werden, sodass der Punktionsversuch fehlschlägt. Durch-die-Nadel-Katheter. Ursprünglich wurden diese Katheter v. a. für die peripher-zentrale Punktion der Venen an der Innenseite der Ellenbeuge verwendet, um den Katheter von dort bis in die V. cava superior vorzuschieben. Später wurden diese Kathetertypen auch für die Punktion der V. subclavia oder V. jugularis angeboten, haben sich dafür aber nicht durchsetzen können. ! Cave Ein großer Nachteil dieses Typs besteht darin, dass der Katheter an der messerscharfen Nadelspitze abgeschert werden und dann embolisieren kann. Aus diesem Grund ist es verboten, den Katheter durch die Nadel zurückzuziehen; bei einer Katheterfehllage muss die Nadel also vollständig aus der Haut entfernt und die Punktion von neuem begonnen werden.
Weitere Nachteile sind häufige Hämatome oder Blutungen aus der Einstichstelle, weil der Katheter einen kleineren Durchmesser aufweist als der Schnitt in der Vene, der durch die Nadel verursacht wurde. Seldinger-Technik. Dies ist heute die Standardmethode für die
Punktion von zentralen Venen, häufig von Arterien und bisweilen sogar von peripheren Venen mit dicken Kanülen. Das Prinzip der Methode besteht darin, eine Nadel in ein Blutgefäß zu platzieren, dann einen Draht durch die Nadel an den Zielort vorzuschieben, die Nadel zu entfernen und schließlich den Katheter über den Draht einzuführen (. Abb. 15.3). Anzahl der Lumina
Inzwischen sind zentrale Venenkatheter mit mehreren Lumina (»Mehr- oder Multilumenkatheter«) zum Standard in der Intensivtherapie geworden. Dies hat folgende Gründe: Medikamente können untereinander und in Kombination mit der parenteralen Ernährung inkompatibel sein, was v. a. zu einem Wirkverlust, aber auch zum Ausfällen der Lösungen führen kann. Weiterhin ermöglichen es mehrere Lumina, die Infusionsgeschwindigkeiten unabhängig voneinander zu variieren. Heute werden Katheter mit bis zu 7 Lumina angeboten. Dazu sind erste Computerprogramme (KiK, B. Braun) in Prüfung, die das Verteilen von Medikamenten auf die verschiedenen Lumina unter dem Gesichtspunkt der Kompabilität erleichtern sollen. Ob Mehrlumenkatheter öfter zu katheterassoziierten Infektionen führen als Einlumenkatheter, ist umstritten [15].
Über-die-Nadel-Katheter. Wie der Name schon sagt, ist der Ka-
Material
theter hier über die Nadel gestülpt. Bei den peripheren Venenkanülen ist dies der Standard, für zentrale Punktionen inzwischen aber eher die Ausnahme. Es gibt Hersteller, die 10–15 cm lange zentrale Über-die-Nadel-Katheter produzieren. Es erfordert jedoch einige Übung, diese langen Katheter direkt in eine zentrale Vene zu platzieren, da die Nadelspitze bis und mit dem Katheteranfang im Venenlumen liegen muss, bevor die Nadel zurückgezogen werden darf. Es ist also nötig, nach der erfolg-
Katheter werden heute am häufigsten aus Teflon, Silikon oder Polyurethan hergestellt. Diese Stoffe sind chemisch relativ inert und nicht thrombogen. Teflon ist ein hartes Material, daher ist das Einführen in Gefäße etwas einfacher. Polyurethan und Silikon sind sehr weich und flexibel, sodass eine transdermale Platzierung ohne Seldinger-Technik fast unmöglich ist; dafür wird die sekundäre Perforation der Katheterspitze durch die Venenwand unwahrscheinlicher. Viele Katheter enthalten zusätzlich einen be-
140
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
a b1
Nadel entfernen
b
c
Draht
Katheter
15 d
e . Abb. 15.3a–e. a Zentrale Venenpunktion mit einer Nadel und aufgesetzter Spritze. Die Spitze der Nadel muss genügend weit in der Vene liegen (1 cm). Oft ist eine Aspiration von Blut erst beim langsamen Zurückziehen der Nadel möglich, weil das Venenlumen durch die Nadel verlegt wurde oder das Nadellumen an der Venenwand anliegt. Für alle heikleren Punktionen empfiehlt sich eine Lokalisationspunktion mit einer kurzen, dünnen, z. B. 23-G-Nadel. b Einführen des Drahtes in die Vene (Draht mit J-förmiger Spitze für Venen, gerade und weiche Spitze für Arterien). Der Draht muss ganz leicht in die Vene gleiten. Wenn nach 5–10 cm ein Widerstand auftritt, muss damit gerechnet werden, dass der Draht paravenös liegt. c Zurückziehen und Entfernen der Nadel. d Je nach Dicke des definitiven Katheters muss die Haut entlang des Drahtes mit einem Stichskalpell inzidiert und mit einem Dilatator aufgedehnt werden. e Einführen des Katheters über den Draht
stimmten Anteil an Schwermetallen wie Barium oder Wismut, um die Darstellung im Röntgenbild zu erleichtern. Beschichtete Katheter. Die neuen Katheterentwicklungen zielen darauf ab, die Katheter mit geeigneten Stoffen so zu überziehen, dass einerseits ihre Thrombogenität und andererseits die Infekthäufigkeit herabgesetzt werden. So konnte gezeigt werden,
dass Katheter, die mit Silbersulfadiazin und Chlorhexidin imprägniert sind, eine um 50% geringere Infekthäufigkeit aufweisen können. Die Beschichtung der Katheter mit Antibiotika (z. B. Teicoplanin) scheint dagegen nur kurze Zeit wirksam zu sein, weil schon 36 h nach Einführen kein Antibiotikum mehr auf dem Katheter nachgewiesen werden konnte. Schließlich konnte gezeigt
15
141 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
kranial
werden, dass eine Heparinbeschichtung die Bakterienadhärenz in vitro und die Häufigkeit von Bakteriämien oder Fungämien in vivo reduzieren kann. Aufgrund der Datenlage kann jedoch bis heute keine Empfehlung für den einen oder anderen beschichteten Spezialkatheter gegeben werden.
Punktionsorte und Punktionstechnik In jedem der zahlreichen Lehrbücher, die sich mit der Punktion von zentralen Venen beschäftigen, findet man eine andere Gewichtung bezüglich des idealen Punktionsorts und der angemessenen Punktionstechnik bei einem bestimmten Patienten. Auf diese Weise wird es für den Anfänger schwierig zu entscheiden, welchen Punktionsort und welche Technik er wählen soll. Letzlich wird es so sein, dass verschiedene Varianten möglich sind, ohne dass sicher gesagt werden kann, welche die beste gewesen wäre. Die hier beschriebenen Techniken erheben deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern zeigen, welche Methoden sich in unseren Augen bewährt haben. Das zentrale Venensystem ist durch folgende Zugänge erreichbar: 4 V. basilica 4 V. jugularis externa, 4 V. jugularis interna, 4 V. subclavia, 4 V. femoralis. Jeder dieser Zugänge hat objektive und subjektive Vor- und Nachteile. Es kommt hinzu, dass jede dieser Venen mit verschiedenen Techniken punktiert werden kann. Generell ist zu fordern, dass für jeden Patienten der schonendste und ungefährlichste Zugang zu wählen ist. Dabei spielt auch die Erfahrung und Übung des Ausführenden eine entscheidende Rolle. Wie bei allen manuellen Tätigkeiten tragen auch vollständige und den Verhältnissen angepasste Vorbereitungen zum Gelingen des Unternehmens bei: 4 Kenntnisse über Anatomie, Ablauf der Punktion, Material, 4 Patientenvorbereitung: Aufklärung, Lagerung (Kopftieflage, damit die Halsvenen gefüllt sind!), Landmarken einzeichnen, 4 Punktion: steriles Arbeiten (Desinfektion, Abdecken, Mundschutz, Handschuhe), vollständiges Material, evtl. Lokalanästhesie.
V. basilica V. cephalica
medial
lateral
kaudal
. Abb. 15.4. Punktion der V. basilica in der linken Ellenbeuge
rhythmusstörungen oder sogar eine Perforation hervorgerufen werden können. Für die meisten Anwendungen genügt ein Vorschieben des Katheters bis in die V. subclavia. Der zentralvenöse Druck kann dort reproduzierbar und genau überwacht werden.
Er folgsrate Die Punktion ist in der Regel einfach. Die A. brachialis befindet sich allerdings in unmittelbarer Nähe zur V. basilica, und akzidentelle Punktionen der Arterie kommen immer wieder vor. Eine zentrale Plazierung des Katheters gelingt in etwa 70% der Fälle.
V. basilica
Komplikationen
Die Punktion der Armvenen ist sicher und mit sehr wenigen schwerwiegenden Komplikationen behaftet. Die V. basilica wird in der medialen Armbeuge gefunden und punktiert (. Abb. 15.4). Die Punktion wird wesentlich erleichtert, wenn der Arm im Ellbogengelenk vollständig gestreckt oder sogar überstreckt gelagert wird. Der Verlauf der lateral gelegenen V. cephalica ist eher ungünstig, weil diese in einem stumpfen Winkel in die V. axillaris einmündet und hier häufig nicht gut vorgeschoben werden kann. Auf keinen Fall darf beim Vorschieben Gewalt angewendet werden, weil sonst die Gefahr einer Perforation der Katheterspitze durch die Gefäßwand besteht. Eine intravasale Lage der Katheterspitze darf nur angenommen werden, wenn sich Blut leicht aspirieren lässt. Prinzipiell ist jeder Kathetertyp (inklusive Pulmonalarterienkatheter) über diesen Zugang verwendbar. Man sollte jedoch bedenken, dass Bewegungen des punktierten Arms die Katheterspitze um mehrere Zentimeter wandern lassen können, sodass Herz-
Die häufigste Komplikation ist die Thrombophlebitis. Sie tritt bei bis zu 10% der Patienten auf und kann sich auf die V. subclavia und jugularis interna ausbreiten. Perforationen des rechten Vorhofes mit Entwicklung einer Herztamponade wurden auf die Migration der Katheterspitze bei Armbewegungen zurückgeführt [31]; es sind jedoch auch subkutane Infusionen im Bereich des Oberarms und in der Klavikula-Gegend sowie Infusionen direkt in den Pleuraraum beschrieben worden. Falls eine akzidentelle Punktion der A. brachialis mit der oft dicken (14 G) Einführnadel stattgefunden hat, muss die Punktionsstelle mindestens 10 min direkt komprimiert und anschließend mit einem Druckverband versorgt werden.
Empfehlungen Dieser Zugang eignet sich für zentrale Katheter, die eine nur kurze Liegedauer bei einem weitgehend immobilen Patienten haben sollen, z. B. intraoperativ und wenige Stunden postopera-
142
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Sternocleidomastoideus Klavikula V. jugularis externa
a
Komplikationen Dank der oberflächlichen Lage dieser Vene sind schwerwiegende Komplikationen selten. Vorsicht ist geboten beim Einführen von kurzen, harten und dicken Kathetern, über die zudem mit Druck viel Volumen infundiert werden soll. Die Vene kann auch nach erfolgreicher Platzierung des Katheters sekundär perforiert werden. Unbemerkt besteht die Gefahr, große Mengen von Flüssigkeit in die Halsgewebe zu infundieren. Die Punktionsstelle sollte deshalb genau überwacht werden. Natürlich kann auch der J-Draht die Vene perforieren. Blut muss deshalb jederzeit aus dem Katheter aspirierbar sein. Oft muss bei kurzen Venenkanülen am Hals der Kopf zur Gegenseite gedreht werden, weil sonst die Spitze im Bereich der Klavikula an der Venenwand anstößt.
Empfehlungen Erfolgreich durchgeführt ist die Punktion der V. jugularis externa eine elegante Alternative zur V. jugularis interna oder V. subclavia. Ähnlich wie bei der V. basilica empfielt sich dieser Zugang für Anfänger oder bei Patienten, bei denen andere zentrale Zugänge relativ kontraindiziert sind, z. B. bei Gerinnungsstörungen. In Notsituationen lassen sich über kurze Katheter in dieser Vene schnell größte Mengen an Volumen infundieren.
V. jugularis interna
b . Abb. 15.5a, b. Lokalisation (a) und Punktion (b) der rechten V. jugularis externa.
15
tiv. Außerdem kann es von Vorteil sein, bei der Punktion keine Trendelenburg-Lagerung durchführen zu müssen. Schließlich können die anatomischen Verhältnisse am Hals des Patienten so ungünstig sein, dass eine einfache Punktion am Arm vorteilhaft erscheint, insbesondere wenn die Blutgerinnung gestört ist. Letztlich ist die V. basilica der beste Zugang zum zentralen Venensystem für den ungeübten Arzt, dem keine ausreichende Supervision zur Verfügung steht.
Dieser Zugang wird auf Intensivstationen sehr häufig verwendet. Es gibt für die Orientierung auf der Haut einige Landmarken, die bei den meisten Patienten identifizierbar sind. Um diese Landmarken herum werden verschiedene Punktionsorte empfohlen. Es gibt kein Patentrezept, dem Lernenden sei aber empfohlen, sich bei jedem Patienten den Verlauf der Vene unter der Haut genau vorzustellen und sich auf einen oder höchstens 2 Punktionsorte zu beschränken.
Anatomie Die Vene entspringt an der Schädelbasis zwischen Kieferwinkel und Mastoid und verläuft dann unter dem M. sternocleidomastoideus in Richtung der medialen Klavikula (. Abb. 15.6). Die A. carotis liegt medial der V. jugularis interna, wobei sich allerjugulärer Ansatz des M. sternocleidomastoideus
V. jugularis externa Die Punktion der V. jugularis externa erlaubt es auf einfache Weise, vom Kopf her in das zentrale Venensystem zu gelangen. In Kopftieflage wird durch ein Valsalva-Manöver oder durch Fingerdruck oberhalb der Klavikula der Verlauf der Vene quer über den M. sternocleidomastoideus sichtbar (. Abb. 15.5a). Der Kopf wird leicht zur Gegenseite gedreht und der Hals nach hinten überstreckt. Dann wird zuerst die Haut und anschließend vorsichtig die Vorderwand der Vene punktiert (. Abb. 15.5b). Die Aspiration erfolgt mit wenig Sog, um die Vene nicht kollabieren zu lassen. Über die Nadel kann entweder eine kurze Venenkanüle oder ein an der Spitze J-förmig vorgefertigter Seldinger-Draht eingeführt werden.
V. jugularis interna klavikulärer Ansatz des M. sternocleidomastoideus Klavikula A. carotis
V. jugularis externa
Er folgsrate In etwa 80% der Fälle ist die Katheteranlage erfolgreich. 10% der Misserfolge beruhen auf missglückten Punktionen, in weiteren 10% kann der Draht nicht zentralwärts vorgeschoben werden. Ohne J-Draht erreicht ein langer Katheter nur in 50–70% die V. cava superior [2].
. Abb. 15.6. Lokalisation und Punktion der rechten V. jugularis interna
143 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
dings diese Lageverhältnisse durch Drehung des Kopfes verändern. Die Drehung des Kopfes zur Gegenseite, wie sie oft bei der Punktion der V. jugularis interna praktiziert wird, bringt die Vene leicht vor die Arterie, sodass die Arterie akzidentell durch die Vene punktiert werden kann. Auf Höhe des Zungenbeins liegt die Vene gerade medial des M. sternocleidomastoideus, verschwindet dann darunter, um auf Höhe des Thyroids im Dreieck zu erscheinen, das vom sternalen und klavikulären Muskelbauch des M. sternocleidomastoideus und der Klavikula gebildet wird.
15
V. jugularis externa M. sternocleido mastoideus
V. jugularis interna
Punktion Der ideale Ort für die Punktion liegt im beschriebenen Dreieck. Der Patient befindet sich in Kopftieflage, der Kopf wird nach hinten überstreckt und etwa 15–30° zur Gegenseite gedreht. Man steht am Kopf des Patienten und sticht von der Spitze des Dreiecks oder wenig darunter mit 30–45° Neigung zur Haut kaudal in die Tiefe. Die Vene befindet sich in der Regel 1–3 cm unter der Haut. Die Vene kann prinzipiell auch auf ihrem restlichen Verlauf am Hals punktiert werden. Die Lage der A. carotis muss jedoch in jedem Fall genau eruiert werden. Von Punktionen durch den M. sternocleidomastoideus ist abzuraten: Sie sind schmerzhaft und mit dicken Kathetern und Nadeln sehr schwierig. Je kaudaler im Verlauf der Vene die Punktion ausgeführt wird, desto höher wird die Gefahr einer Pleurapunktion.
Er folgsrate Es kann in über 90% der Fälle mit einer erfolgreichen Punktion gerechnet werden. In besonders schwierigen Fällen kann die Lokalisation der Vene mittels Ultraschall hilfreich sein.
Komplikationen Die Häufigkeit von Komplikationen liegt bei etwa 2%, wobei diese Rate erheblich von der Erfahrung und der Geschicklichkeit des Ausführenden abhängt. Hierbei ist die Punktion der A. carotis interna mit etwa 80–90% Anteil die mit Abstand häufigste Komplikation. Sie kann vom Hämatom bis zur Obstruktion der oberen Luftwege führen, besonders bei Blutgerinnungsstörungen oder wenn sehr dicklumige Katheter in das Gefäß vorgeschoben werden. Glücklicherweise ist jedoch die arterielle Punktion in der Regel ohne Folgen für den Patienten.
a
Stichrichtung supra klavikulärer Zugang
Erste Rippe V. subclavia
Klavikula
Stichrichtung Jugulum
b . Abb. 15.7a, b. a Punktion der V. subclavia, anteriorer Blickwinkel. Mit der Nadel sucht und hält man Knochenkontakt zur Klavikula. b Anterolateraler Blickwinkel: Die Nadel wird Richtung Jugulum zwischen 1. Rippe und Klavikula durchgeführt. Der Pfeil zeigt die Stichrichtung für den supraklavikulären Zugang dorsal des klavikulären Ansatzes des M. sternocleidomastoideus
transvenösen Schrittmachersonden bewährt. Im Routinefall sollte die rechtsseitige Punktion bevorzugt werden, da hierbei der Weg zum Herzen am ehesten geradlinig verläuft und so die Gefahr einer Katheterfehllage oder intraluminalen Gefäßverletzung am geringsten ist. Der Katheter wird dann beim Erwachsenen üblicherweise 14–15 cm weit vorgeschoben. Obwohl schwerwiegende Komplikationen selten sind, sollte die Punktion von erfahrenen Ärzten oder unter entsprechender Supervision stattfinden. Ferner ist zu bedenken, dass der Katheter am Hals von wachen Patienten als unangenehm empfunden werden kann.
Vorgehen bei versehentlicher arterieller Punktion 5 A. carotis 3–5 min lang komprimieren (nicht abdrücken!). 5 Bei erheblicher Einblutung mit Gefahr der Atemwegobstruktion Intubation erwägen. 5 Bei Blutgerinnungsstörung Gerinnungssubstitution erwägen. 5 Evtl. Gefäßchirurgen hinzuziehen.
Ein Pneumothorax nach Punktion der V. jugularis interna ist zwar selten, kann aber bei kaudaler Punktion auftreten.
Empfehlung Die Punktion der V. jugularis interna hat sich für das Einführen von zentralen Venenkathetern, Pulmonalarterienkathetern oder
V. subclavia Der Zugang zur V. subclavia kann supra- oder infraklavikulär erfolgen. Der Patient wird in Kopftieflage gebracht, wobei eine Tuchrolle entlang der thorakalen Wirbelsäule die Punktion deutlich erleichtern kann.
Infraklavikulärer Zugang Meist wird der infraklavikuläre Zugangsweg gewählt. Die Nadel durchsticht die Haut etwa in der Medioklavikularlinie, 2–3 cm kaudal der Klavikula. Die Nadel wird zunächst auf die Klavikula und dann Millimeter um Millimeter nach dorsal bewegt, bis sie zwischen Klavikula und 1. Rippe eindringt. Von dieser koronaren Ebene sollte die Nadel nicht weiter nach dorsal abweichen, sondern exakt nach medial in Richtung des Jugulums vorgeschoben werden. Dabei darf der Kontakt der Nadel mit der Klavikula
144
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Leistenband
V. femoralis
. Abb. 15.8a, b. a Lokalisation von A. und V. femoralis in der Leiste (Merke: IVAN Innen, Vene, Arterie, Nerv). b Punktion der rechten V. femoralis in der Leiste. Die Vene verläuft unter dem Leistenband hindurch
A. femoralis V. femoralis
A. femoralis
a
b
nicht verloren gehen (. Abb. 15.7). Meist ist ein leichtes »Plopp« beim Eindringen der Nadel in die Vene spürbar.
Supraklavikulärer Zugang Die entscheidende Landmarke für den supraklavikulären Zugang ist der klavikuläre Ansatz des M. sternocleidomastoideus. Die Nadel dringt oberhalb der Klavikula durch die Haut und passiert den erwähnten Muskelansatz dorsal mit Stichrichtung auf die kontralaterale Brustwarze. Die Vene liegt in etwa 3 cm Tiefe.
Er folgsrate
15
Es kann mit einer Erfolgsrate von 80–90% gerechnet werden. Misserfolge beruhen einerseits auf dem Nichtfinden der Vene und andererseits auf dem Unvermögen, den Katheter oder den Führungsdraht vorzuschieben [9]. Eine Fehllage der Katheterspitze ist in etwa 10% der erfolgreichen Punktionen zu er warten. Sie scheint beim infraklavikulären Zugang häufiger zu sein.
Komplikationen Noch viel deutlicher als bei der Punktion der V. jugularis interna ist die Häufigkeit und Schwere von Komplikationen von der Erfahrung des Ausführenden abhängig. Die Inzidenz schwerer Zwischenfälle bewegt sich zwischen 1 und 3%, bei einer Gesamtinzidenz von etwa 5% [9]. Der Pneumothorax macht bis zur Hälfte dieser Komplikationen aus, wobei die Inzidenz beim Unerfahrenen 3–5% und beim Erfahrenen unter 0,5% liegt. Der Pneumothorax ist die wichtigste Komplikation einer V.-subclavia-Punktion, daher sollte anschließend immer ein Thoraxröntgenbild angefertigt werden. Etwa die Hälfte der Fälle kann konservativ behandelt werden, jedoch ist eine entsprechende Überwachung insbesondere der nichtdrainierten Patienten anzuraten.
der anderen Seite nur im Ausnahmefall und dann nur von einem erfahrenen Arzt durchgeführt werden. Die Punktion der A. subclavia kommt mit einer Inzidenz von etwa 1% vor. In der Regel kann sie durch Kompression ober- und unterhalb der Klavikula behandelt werden. Bei Patienten mit Gerinnungsstörungen ist die Gefahr einer massiven Blutung gegeben.
Empfehlungen Die rechtsseitige Punktion sollte bevorzugt werden, da die Pleuraspitze hier etwas tiefer liegt und der Ductus thoracicus linksthorakal verläuft. Die Punktion der V. subclavia kann mit erheblichen Komplikationen verbunden sein. Aus diesem Grund muss das Erlernen der Punktion unter kompetenter Anleitung und Supervision stattfinden. Für den Patienten ist die Lage der Punktionsstelle angenehmer als andere Stellen, auch ist die Pflege des Gefäßzugangs beim Intensivpatienten einfacher und möglicherweise mit einer geringeren Katheterinfektionsrate verbunden. Die etwas höhere Komplikationsrate, die schlechtere Erfolgsrate und die häufigere Fehllage der Katheterspitze im Vergleich zur V. jugularis interna verlangen jedoch ein sorgfältiges Abwägen im Einzelfall.
V. femoralis Die V. femoralis ist einfach zu punktieren: 2–3 cm unterhalb des Leistenbandes findet man die V. femoralis 1–2 cm medial der A. femoralis (. Abb. 15.8). Die Vene verläuft in kraniokaudaler Richtung, und entsprechend muss die Nadel für die Punktion geführt werden.
Er folgsrate Auch in den Händen von wenig Erfahrenen hat die Punktion der V. femoralis eine Erfolgsrate von über 90%. Ungeübte mögen zwar mehrere Versuche benötigen, dies scheint jedoch keinen Einfluss auf die abschließende Erfolgsrate zu haben.
Komplikationen Zu den seltenen Komplikationen gehören Spannungspneumothorax, Hämatothorax, Infusionsthorax oder die subkutane Emphysembildung. Wegen des Risikos eines beidseitigen Pneumothorax mit akuter Gefährdung des Patienten sollte eine V.-subclavia-Punktion der Gegenseite nach missglückter Punktion auf
Die einzig wirklich wichtige Komplikation ist die akzidentelle Punktion der A. femoralis. Sie kommt in bis zu 10% der Fälle vor [30]. Dank der anatomischen Gegebenheiten lassen sich die negativen Auswirkungen dieser Komplikation einfach durch einen 10-minütigen Druck auf die Arterie beherrschen. Schließlich ist die Punktion der A. femoralis Routine für viele interventionelle
145 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
und diagnostische radiologische Untersuchungen, für arterielles Druckmonitoring oder für die intraaortale Ballongegenpulsation. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf gehäufte Infekte im Bereich von Femoralkathetern im Vergleich mit anderen Kathetern in großen Venen oder Arterien [30]. Die gefürchtetste Komplikation, die nach Untersuchungen aus den 1950-er Jahren zur Verbannung des Femoralvenenkatheters geführt hatte, ist die Entwicklung von Thrombosen und Embolien. Bei Verwendung der neuen Kathetermaterialien scheint sich heute aber abzuzeichnen, dass Femoralvenenkatheter nicht häufiger zu thomboembolischen Komplikationen führen als Venenkatheter an anderen Stellen.
Empfehlung Die V. femoralis lässt sich auch durch Unerfahrene schnell und einfach punktieren. Unmittelbare, schwere Komplikationen in Verbindung mit der Punktion sind selten, und die Vermutung, Katheterinfektionen und Thrombosen seien bei dieser Lokalisation häufiger, lässt sich durch neuere Untersuchungen nicht bestätigen. Daraus folgt, dass der femoralvenöse Zugang für alle Notfallsituationen, bei Punktionen durch unerfahrene Ärzte oder bei Kontraindikationen für andere Punktionsstellen zu empfehlen ist. Einschränkend sei erwähnt, dass die Beweglichkeit der punktierten Beinseite eingeschränkt ist. Unruhige und unkooperative Patienten, die trotz liegendem Katheter dauernde Bewegungen im Hüftgelenk ausführen, sind für diesen venösen Zugang wenig geeignet.
Allgemeine Probleme und Komplikationen Die folgenden Abschnitte behandeln Probleme, die für alle venösen Punktionsstellen gleichermaßen gelten. Wo nötig, werden Einzelaspekte der verschiedenen Katheterlokalisationen speziell hervorgehoben.
Infektion Die katheterassoziierte Infektion ist die häufigste und wichtigste Komplikation zentraler Venenkatheter. Man muss damit rechnen, dass jeder 4. Katheter kolonisiert ist, und dass jeder 10. Katheter zu einer klinisch relevanten Infektion führt. Man konnte zeigen, dass in Europa über 20% aller Intensivpatienten an einer nosokomialen, während des Intensivaufenthalts entstandenen Infektion leiden, davon 12% mit positiven Blutkulturen [27]. Die intravasalen Katheter sind zudem ein besonders wichtiger Risikofaktor für Septikämien mit einer Mortalität von 12–80% [18]. Mannigfaltige Ursachen und Einflüsse können katheterassoziierte Infekte fördern. Entsprechend ist eine Fülle von klinischen Untersuchungen vorhanden, die in ihrer Gesamtheit eher verwirren als klären. Ganz entscheidend für das Risiko einer Katheterinfektion auf der Intensivstation sind die Dauer des Aufenthaltes und die Liegedauer des Katheters. Der interessierte Leser sei hierzu auf ausgezeichnete Übersichtsartikel verwiesen. Neben ätiologischen und pathogenetischen Faktoren spielen Risikofaktoren eine große Rolle für die Entstehung derartiger Infektionen. Diese sind in . Tabelle 15.3 zusammengefasst. i Katheterinfektionen bei Intensivpatienten sind häufig und haben eine hohe Letalität.
Deshalb sind die rechtzeitige Diagnose und Therapie wichtig. Leider sind die klinischen Zeichen unspezifisch und die Diagnose deshalb schwierig. Im Zweifelsfall muss der zentrale Katheter entfernt werden.
15
. Tabelle 15.3. Risikofaktoren für die Entstehung von Katheterinfekten. (Nach [2]; relevante Beispiele sind in Klammern angegeben) Risikofaktoren Patient
4 Lebensalter (Säuglinge, Greise) 4 Immunalteration (Trauma, Operation, Verbrennung, Sucht) 4 Immunsuppression (Kortikosteroide, Immunsuppressiva, Transplantation) 4 »Haus-« und Abteilungsflora, Resistenzlage (methicillinresistente Staphylokokken)
Katheter
4 Material (PVC) 4 Kathetertyp (Pulmonalarterienkatheter) 4 Zugangsweg (V. jugularis interna und Tracheostoma) 4 Punktionstechnik (ungenügende Sterilität) 4 Katheterverband (Plastikfolien) 4 Verweildauer (>7 Tage)
Ganz verfehlt wäre es aber, deswegen den Katheterinfekt als quasi unvermeidbares Schicksal zu akzeptieren. Denn während die Einführung der beschichteten Katheter bei Risikopatienten zu einer Reduktion der katheterassoziierten Infekte führen kann, ist der Routinegebrauch auch aus Kostengründen weiter umstritten. Dagegen wurde in mehreren großen Studien gezeigt, dass die Einführung von Schulungsprogrammen über die aseptische Punktionstechnik und Schutzmaßnahmen sowie die korrekte Pflege von zentralen Kathetern zu einer Reduktion von Infekten führen. Diese Programme können in Empfehlungen oder Richtlinien für den Umgang mit zentralen Kathetern münden und sind für jede Klinik empfehlenswert [10].
Luft- und Katheterembolien Diese Komplikationen sind selten. Katheterembolien geschehen v. a. dann, wenn bei der Katheter-durch-die-Nadel-Methode der Katheter durch die Nadel zurückgezogen wird. Diese Manipulation ist deshalb verboten. Luftembolien kommen z. B. bei Einlage des Katheters vor, wenn die Kopftieflage aufgehoben wird und der Katheter nicht verschlossen ist. Wird das Problem nicht schnell erkannt, kann dies tödlich enden [16]. Außerdem können Luftembolien auch jederzeit durch akzidentelle Öffnung eines zentralen Infusionssystems entstehen.
Gerinnungsstörungen Die Einlage von zentralen Kathetern bei Gerinnungsstörungen sollte dem Erfahrenen vorbehalten bleiben. In der Regel wird man die Indikation so restriktiv wie möglich stellen und, wenn immer möglich, auf einen peripheren Katheter ausweichen. Falls ein zentraler Katheter unabdingbar erforderlich ist, bieten sich die V. basilica und die V. jugularis externa an, weil ein Kompressionsverband an diesen Stellen leicht anzulegen ist und weil eine Blutung nicht unbemerkt abläuft. Weiter kann – auch abhängig von der Indikation und Schwere der Gerinnungsstörung – eine Punktion der V. femoralis oder der V. jugularis interna erwogen werden. Der Zugang über die V. subclavia sollte nur im äußersten Notfall verwendet werden.
146
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Thrombosen Thrombotische Veränderungen sind mit 10–30% aller Katheter häufig, aber selten von klinischer Relevanz. Bei bis zu 3% der Patienten kommt es jedoch zu klinischen Symptomen. Das Kathetermaterial beeinflusst die Thrombogenität. Es scheint, dass sich hydromerbeschichtetes Polyurethan am günstigsten verhält. Auch Silikonkatheter sind sehr wenig thrombogen, jedoch so weich, dass sie chirurgisch platziert werden müssen. Bei Punktionen an der oberen Extremität oder am Hals ist das klinische Zeichen der Thrombose die obere Einflussstauung oder die Schwellung eines Arms. Um die Diagnose zu sichern, kann eine Ultraschall-Duplexuntersuchung der Venen durchgeführt werden. Wie oft diese Thrombosen zu Lungenembolien führen, ist unklar. Wir empfehlen jedoch, falls keine schwerwiegende Kontraindikation vorliegt, die therapeutische Heparinisierung dieser Patienten und die Entfernung des Katheters. Im ungünstigsten Fall kann sich die Thrombose bei liegendem Katheter infizieren und zur Ursache einer Sepsis mit langem Antibiotikatherapiebedarf und hoher Letalität entwickeln.
Per forationen Perforationen der großen Gefäße nach Kathetereinlage sind selten und können sowohl durch den Seldinger-Draht als auch durch den Katheter selbst hervorgerufen werden. Üblicherweise bemerkt man sie 1–7 Tage nach Einlage. Der Patient kann sich mit Dyspnoe präsentieren, und man findet neue Pleuraergüsse. Offenbar kommen diese Perforationen bei linksseitiger V.-jugularis-Punktion häufiger vor. Möglicherweise drückt die Katheterspitze bei diesem Zugang öfter gegen die laterale Wand der V. cava superior.
pathophysiologischen Situation und damit eine differenzierte Herz-Kreislauf-Therapie erst ermöglichen. Dieser Abschnitt soll helfen, das für den sinnvollen Einsatz des Pulmonalarterienkatheters erforderliche Wissen [15] zu erwerben, und gleichzeitig dazu ermuntern, den Nutzen des Katheters beim einzelnen Patienten täglich zu hinterfragen. 15.4.2 Indikationen Nach einer Erklärung der »European Society of Intensive Care Medicine« gibt es Patienten, Umstände und Erkrankungen, bei denen der Pulmonalarterienkatheter Informationen liefert, die mit dem üblichen hämodynamischen Monitoring nicht erhältlich sind [20]. Hierzu können folgende Situationen gehören: 4 septischer Schock und Behandlung mit hochdosierten Vasopressoren, 4 schwere respiratorische Insuffizienz, 4 schweres Herzversagen, 4 große chirurgische Eingriffe bei Patienten mit kürzlich abgelaufenem Myokardinfarkt oder eingeschränkter kardialer Reserve, 4 prärenales Nierenversagen, das auf eine übliche Therapie nicht reagiert. Die »European Society of Intensive Care Medicine« betont weiter, dass eine rigorose Schulung im Umgang mit dem Pulmonalarterienkatheter nötig ist und dass weitere klinische Studien die erwähnten Indikationen überprüfen müssen. 15.4.3 Katheter typen
15.4
Pulmonalar terienkatheter
15.4.1 Einleitung
15
Der Pulmonalarterienkatheter wird heute vielfach eingesetzt, um Herz- und Kreislauffunktionen insbesondere bei kritisch kranken Patienten zu überwachen und Therapiemaßnahmen anzupassen. Der Katheter wurde 1970 von Swan u. Ganz [25] erstmalig beschrieben und in die Klinik eingeführt. Bis 1996 war der Gebrauch des Pulmonalarterienkatheters relativ unumstritten und die Indikationen entsprechend breit gefächert. Dann aber wurde eine aufsehenerregende Studie an beinahe 6000 Patienten publiziert, die zeigte, dass der Pulmonalarterienkatheter bei diesen Patienten zu einer höheren Mortalität und zu einem größeren Geld- und Ressourcenverbrauch geführt hatte [6]. Daraufhin entstand eine lebhafte Diskussion, Task Forces wurden gegründet und Guidelines publiziert. Bis in das Jahr 2007 aber ist aufgrund von Studienresultaten keine definitive Nutzen-Risiko-Analyse für die Anwendung von Pulmonalarterienkathetern möglich. Zudem müssen in Zukunft neuere, weniger invasive Methoden (ösophageale Doppleruntersuchung, Lithiumdilutionstechnik, transpulmonale Technik) zur Bestimmung des Herzzeitvolumens und anderer Parameter in Erwägung gezogen werden [7, 29]. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Pulmonalarterienkatheter auch heute für ausgebildete und auszubildende Intensivmediziner sehr wichtige Details liefert, die gerade beim kritisch kranken Patienten eine individuelle Abschätzung der
Die Katheter sind gewöhnlich aus Polyvinylchlorid gefertigt und wegen dessen hoher Thrombogenität mit Heparin beschichtet. Die Standardlänge beträgt 110 cm, und der äußere Durchmesser reicht von 5–8 F. Ein aufblasbarer Ballon ist an der Spitze befestigt. Aufgeblasen befördert er den Katheter entlang des natürlichen Blutstroms durch das rechte Herz in die Pulmonalarterie und schließlich in die Okklusionsstellung ( Wedgeposition). In dieser Position kann am endständigen Lumen des Katheters der Druck jenseits der durch den Ballon verschlossenen kleinen Pulmonalarterie gemessen werden: der pulmonalkapilläre Verschlussdruck ( Wedgedruck). Er entspricht dem Druck im Kapillargebiet der Lunge und wird, sofern sich keine Störung zwischen dem Kapillargebiet der Lunge und dem linken Vorhof befindet, als Maß für den Druck im linken Vorhof genommen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe verschiedener Pulmonalarterienkatheter. Der Nutzen der einzelnen Spezialkatheter ist ebensowenig bewiesen wie der des Pulmonalarterienkatheters an sich. Der Preis für einen Katheter mit kontinuierlicher O2-Sättigungs- und/oder Herzzeitvolumenmessung ist jedoch 4-mal so hoch wie der eines Thermodilutionskatheters.
Ballonokklusionskatheter Dieser Katheter hat 2 oder 3 Lumina: Ein endständiges Lumen, eines für den Ballon und evtl. noch ein Lumen, das 30 cm vor der Spitze mündet. Damit kann der pulmonalarterielle Druck kontinuierlich und, nach Aufblasen des Ballons, der pulmonalkapilläre Verschlussdruck gemessen werden. Mit dem 3. Lumen misst man kontinuierlich den Druck im rechten Vorhof.
147 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
15
Thermodilutionskatheter Dieser Kathetertyp wird am häufigsten eingesetzt. Zu den vorher beschriebenen 3 Lumina kommt noch die elektronische Verbindung eines Thermistors, der sich 4 cm hinter der Spitze findet. Dieses Kabel wird an einen Computer angeschlossen, der das Herzminutenvolumen aus dem Temperaturverlauf bestimmen kann.
5
Fiberoptischer Thermodilutionskatheter Mit Hilfe eines 5., fiberoptischen, Lumens kann dieser Spezialkatheter kontinuierlich die O2-Sättigung in der Pulmonalarterie (gemischtvenöse O2-Sättigung) messen und auf einem Spezialmonitor als Kurve und digital darstellen.
Kontinuierlicher Herzminutenvolumenkatheter
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5
Es handelt sich hierbei um einen 6-Lumen-Pulmonalarterienkatheter. Dieser Katheter enthält noch zusätzlich ein Thermoelement, das dann im rechten Ventrikel liegt. Mit Hilfe eines ThermoelementPositionisierungslumens lässt sich die korrekte Lage des Katheters kontrollieren. Das Herzminutenvolumen wird aus der Energie, die für das Aufheizen des Thermoelementes benötigt wird, und aus der Temperatur am Thermistor distal davon berechnet.
5
Schrittmacherkatheter
5
Es gibt verschiedene Schrittmacher-Pulmonalarterienkatheter. Sie enthalten 1–2 zusätzliche Lumina (»paceports«), durch die eine Ventrikel- und/oder eine Vorhofschrittmacherelektrode eingeführt werden können. Durch die Ableitung von Druckkurven an den Schrittmacherlumina lässt sich der Katheter korrekt platzieren. 15.4.4 Punktionsor te und Einführungstechnik Prinzipiell lassen sich Pulmonalarterienkatheter von jedem zentralen Venenzugang an der oberen Extremität oder am Hals einschwemmen. Der rechtsseitige Zugang über die V. jugularis interna gilt als am günstigsten, weil dies der direkte Weg zum rechten Vorhof ist. Die Katheterspitze verschiebt sich auch bei Armbewegungen nicht, der Katheter kann während Herzoperationen verwendet werden, und möglicherweise führt er zu weniger thromboembolischen Komplikationen. Die Punktionstechnik wurde bereits oben im Detail beschrieben. Wichtig ist, dass der Katheter unter streng aseptischen Bedingungen eingelegt wird; hierzu gehören eine Kopfbedeckung und ein steriler Kittel. Ein Pulmonalarterienkatheter wird in der Regel über eine vorher eingelegte Schleuse eingeschwemmt. Diese Schleuse ist 0,5–1 F größer als der Katheter und mit einem Rückschlagventil und einem Seitenarm versehen. Das Rückschlagventil verhindert, dass Blut aus der Schleuse fließt, und der Seitenarm stellt einen zusätzlichen zentralen Infusionsschenkel dar.
5
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5
ausreichend inzidiert werden (. Abb. 15.9a), damit zuerst der Dilatator und dann die Schleuse ohne Gewalt in die Vene vorgeschoben werden können. Vorbereiten des Pulmonalarterienkatheters (. Abb. 15.9b, c): Der Ballon wird aufgeblasen und überprüft, die Lumina werden mit isotoner Elektrolytlösung gefüllt und der sterile Plastiküberzug übergestreift. Das Ende mit den Anschlüssen kann nun unsteril einem Assistenten übergeben werden, der das endständige Lumen des Katheters an einen Druckaufnehmer anschließt. Der Katheter wird durch die Schleuse eingeführt und bis zur Marke »15 cm« vorgeschoben. Manche Autoren empfehlen nun zur Arrhythmieprophylaxe die Injektion von 1 mg/kg KG Lidocain durch das endständige Katheterlumen. Nun muss der Druck am endständigen Katheterlumen kontinuierlich gemessen und die Druckkurve am Bildschirm überwacht werden. Zuerst wird der rechtsatriale Druck (RAP) gemessen und protokolliert (. Abb. 15.10a). Jetzt wird der Ballon vom Assistenten mit der empfohlenen Menge Luft (meist 1,5 ml) aufgeblasen. Der Katheter wird mit aufgeblasenem Ballon langsam vorgeschoben, sodass sich die Spitze mit dem Blutstrom weiterbewegen kann. Bei etwa 25–35 cm wird die Katheterspitze in den rechten Ventrikel eingeschwemmt, der rechtsventrikuläre Druck (RVP) wird registriert (. Abb. 15.10b). Oft kommt es beim Durchschwemmen der Katheterspitze durch das rechte Herz zu ventrikulären Rhythmusstörungen. Ab etwa 40 cm wird die Pulmonalarterie erreicht; auch hier werden die Druckwerte (PAP) registriert (. Abb. 15.10c). Der Katheter erreicht nach etwa 50 cm die Okklusionsposition, nun wird der pulmonalarterielle Okklusionsdruck (Wedgedruck) registriert (PAOP = PCWP) und die Kurve beurteilt (. Abb. 15.10d). Entlastung des Ballons: Es muss wieder eine normale pulmonalarterielle Kurve sichtbar sein. Erneutes Aufblasen des Ballons mit 0,8 ml: Der Ballon sollte nach einigen Sekunden in die Okklusionsposition geschwemmt werden, dann erneute Entlastung des Ballons. Schutz des Pulmonalarterienkatheters ab Austritt aus der Schleuse mit dem sterilen Überzug. Dieser ermöglicht auch später noch, unter sterilen Bedingungen, die Katheterlage zu verändern. Anschließend können Messungen des Herzminutenvolumens oder der pulmonalarteriellen Sättigung durchgeführt werden.
Einschwemmen Die Einlage eines Pulmonalarterienkatheters sollte immer durch einen erfahrenen Arzt oder unter dessen Anleitung stattfinden. Die einzelnen Schritte sind in der Übersicht dargestellt. Einlage eines Pulmonalarterienkatheters 5 Punktion der rechten V. jugularis interna und Einführen der Katheterschleuse in Kopftieflage. Die Haut muss 6
Praxistipps Das Einschwemmen eines Pulmonalarterienkatheters kann manchmal mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Neben technischen oder Katheterdefekten muss auch an Störungen durch Hypovolämie oder Schock gedacht werden. Immer dann, wenn ein schlechter venöser Rückfluss besteht, muss der Katheter extrem langsam bewegt werden, damit er sich mit dem schlechten Blutfluss fortbewegen kann.
148
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
. Abb. 15.9a–c. a Eingelegte Katheterschleuse; b 4-lumiger Thermodilutionspulmonalarterienkatheter; c sterile Katheterschutzhülle; das patientennahe Ende der Schutzhülle wird nach Einlage des Katheters mit der Schleuse verschraubt; dadurch ist auch später noch eine Lageveränderung des Katheters unter sterilen Bedingungen möglich
Seitenarm der Schleuse
Einführloch für den Katheter
Schleuse mit Rückschlagventil
V, jugularis interna
a Teil des Katheters, der zum Assistenten geht
Proximales Lumen
Spritze zum Aufblasen des Ballons
Distales Lumen
15
Konnektion zum Thermistor
b
Schutzhülle Katheterspitze
c
Manchmal kann ein Volumenbolus helfen, oder man fordert den Patienten auf, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Es ist auch hilfreich, die natürliche Krümmung des Katheters so zu belassen, dass die Spitze zum rechten Herz hinzeigt. Auch kann versucht werden, die rechte Seite des Patienten etwas tiefer zu lagern. Falls der Katheter die Pulmonalklappe nicht passiert, sollte der Ballon mit weniger Volumen gefüllt werden, z. B. 0,8 ml. Oft überwindet der nun kleinere Ballon dann die Klappe.
15.4.5 Komplikationen Die Komplikationen, die für die zentralvenösen Zugänge angeführt wurden, gelten in gleicher Weise für die Einlage eines Pulmonalarterienkatheters. ! Cave Dabei ist zu bedenken, dass der fehlerhafte Versuch, eine 8F-Schleuse in die A. carotis interna zu platzieren, zur Zerreißung des Gefäßes und zum Tod des Patienten führen kann.
149 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
15
. Abb. 15.10a–d. Position und Druckkurvenverlauf während des Einschwemmens eines Pulmonalarterienkatheters; a rechter Vorhof (RAP), b rechter Ventrikel (RVP), c Pulmonalarterie (PAP), d Okklusionsstellung = Wedgeposition (PAOP = PCWP)
a
b
EKG 30
a
b
c
d
25
mm Hg
20 15 10 5 0
c
d
Die folgenden spezifische Komplikationen wurden für Pulmonalarterienkatheter beschrieben.
Ballonruptur Es scheint, dass diese Komplikation mit der hohen Qualität des Kathetermaterials sehr selten geworden ist. Bei sachgerechtem Umgang muss nicht damit gerechnet werden.
Knotenbildung im Verlauf des Katheters Knoten entstehen v. a. dann, wenn der Katheter mehrfach zurückgezogen und vorgeschoben oder eingeschwemmt wird. Die Knotenbildung verhindert man am besten, indem man den Katheter nicht weiterschiebt, wenn die er wartete Druckkur ve bei der vorgesehenen Marke auf dem Monitor erscheint. Meist kann der Knoten entfernt werden, indem man ihn in die Schleu-
150
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
se hineinzwängt und dann Schleuse und Katheter zusammen entfernt. Wir haben es auch schon erlebt, dass der Herzchirurg beim Verschließen des rechten Vorhofes den Pulmonalarterienkatheter angenäht hat. Das kann geprüft werden, indem der Katheter auf freie Beweglichkeit kontrolliert wird, nachdem der Vorhof verschlossen wurde. Nicht in jedem Fall ist eine erneute Eröffnung des Herzens nötig, um den Katheter zu entfernen.
Herzrhythmusstörungen
Lungeninfarkt
Direkte Schädigung von Herzstrukturen
Die häufigste Ursache für Lungeninfarkte distal des Pulmonalarterienkatheters ist die unbemerkte Wanderung der Katheterspitze in die Okklusionsposition (»Dauer-Wedge«). Das ist entweder durch den permanent aufgeblasenen Ballon möglich oder, bei entlüftetem Ballon, durch die Okklusion einer kleinen Pulmonalarterie durch die Katheterspitze. Verändert sich die Körperlage des Patienten oder der Widerstand in den Pulmonalgefäßen (Letzteres z. B. durch Änderungen des Volumenstatus oder des Herzzeitvolumens), so kann der Katheter auch ohne weitere Manipulation spontan in die Okklusionsstellung geraten. Daher gilt:
Diese Schädigungen bleiben oft unentdeckt, weil sie offensichtlich klinisch nicht auffallen. Es muss aber bedacht werden, dass in Autopsieuntersuchungen Läsionen bei bis zu 75% der Fälle gefunden wurden. Die Relevanz dieser Schäden ist unklar, die Häufigkeit scheint aber mit der Liegezeit der Katheter zunehmen. Dies unterstreicht einmal mehr die Forderung, nicht mehr benötigte Pulmonalarterienkatheter zügig zu entfernen.
i Der Druckkurvenverlauf an der Spitze des Pulmonalarterienkatheters muss kontinuierlich überwacht werden!
Es gibt keine Hinweise, dass katheterassoziierte Infekte bei Pulmonalarterienkathetern häufiger auftreten als bei anderen zentralen Kathetern. Jedoch muss bedacht werden, dass diese Katheterläsionen am Endokard des rechten Herzens setzen und dass deshalb theoretisch die Gefahr einer Endokarditis höher ist. Diese Theorie wurde allerdings nie klinisch bewiesen.
Ursprünglich war dieses Phänomen mit 7,2% der Fälle relativ häufig, es ist aber inzwischen sehr viel seltener geworden.
Per foration der Pulmonalarterie
15
Es handelt sich hier um eine gefürchtete Komplikation, die zwar relativ selten (0,1–0,2%) auftritt [24], dann aber tödlich enden kann. Mögliche Mechanismen sind ein Vorwärtswandern des Katheters in kleine Arterien und dann eine Ruptur der Arterie beim Ballonaufblasen. Während Herzoperationen am kardiopulmonalen Bypass wird das Herz manipuliert und aus dem Thorax geklappt. Bei liegendem Pulmonalarterienkatheter führt das zu unkontrollierbaren Bewegungen der Spitze und damit zur Gefahr einer Pulmonalarterienruptur entweder sofort oder nach Entwöhnung von der Herz-Lungen-Maschine. Weil wir, wie auch andere [11], Lungenblutungen aus diesem Grund immer wieder gesehen haben, und diese Blutungen bei therapeutischer Heparinisierung tödliche Folgen haben können, wird bei uns der Pulmonalarterienkatheter am kardiopulmonalen Bypass mindestens 5 cm zurückgezogen. Folgende Therapiemaßnahmen können erforderlich werden: 4 Korrektur der Blutgerinnung, 4 Intubation mit einem Doppellumentubus, um die nicht betroffene Lunge zu schützen, 4 Bronchoskopie, 4 Inhalation von Vasokonstriktoren, 4 Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck, 4 evtl. sogar chirurgische Blutstillung bis hin zur Lobektomie.
Thromboembolische Komplikationen Thrombosen sind bekannte Komplikationen bei zentralen Venenkathetern. Ihre Inzidenz ist mit erheblichen Variationen in der Literatur angegeben [22]. Klinisch relevant werden Thrombosen erst, wenn sie sich infizieren. Eine Embolie aufgrund einer Thrombose, bei liegendem Pulmonalarterienkatheter, wurde bisher nicht beschrieben. Seit die Pulmonalarterienkatheter mit Heparin beschichtet sind, scheinen die Thrombosen weiter zurückgegangen zu sein.
Ventrikuläre Rhythmusstörungen beim Einschwemmen des Pulmonalarterienkatheters kommen in über 50% der Einlagen vor. Meist sind sie selbstlimitierend und benötigen keine spezielle Therapie. Obwohl in der Literatur nur ungenau dokumentiert, injizieren wir allen Patienten vor Einlage des Pulmonalarterienkatheters prophylaktisch 1 mg/kg KG Lidocain [24] i. v.
Infektionen
15.4.6 Erhebung und Interpretation
hämodynamischer Messwer te Der Pulmonalarterienkatheter ermöglicht die Messung und Berechnung einer Vielzahl hämodynamischer Parameter. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bleibt es bis heute unklar, ob die Erhebung dieser Daten dem Patienten einen Vorteil bringt. Für das pathophysiologische Verständnis vieler schwerer Krankheitsbilder auf der Intensivstation oder perioperativ sind die Werte jedoch zweifellos nützlich. Der ausgebildete Intensivmediziner kann auf diese Weise seine Arbeitshypothese bestätigen oder verwerfen, und der Anfänger lernt dabei, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen und die Effekte potenter vasoaktiver Substanzen zu bewerten. Um diese Ziele zu erreichen, sind Kenntnisse über diese Parameter und ihre Bedeutung unerlässlich und Wissenslücken inakzeptabel [14]. Die wichtigsten Parameter und ihre Normalwerte sind in . Tabelle 15.4 zusammengefasst.
Zentralvenöser Druck (ZVD) und rechter Vorhofdruck (RAP) Der Kurvenverlauf für den rechten Vorhof ist in . Abb. 15.11 dargestellt. Die A-Welle kommt durch die Kontraktion des Vorhofs zustande. Sie folgt demnach unmittelbar auf die P-Welle des EKG. Die kleine C-Welle entsteht durch die Bewegung des atrioventrikulären Rings in den Vorhof zu Beginn der ventrikulären Systole. Danach kommt der x-Abfall, der die Relaxation des Vorhofs repräsentiert. Die V-Welle entsteht durch den Druckanstieg während der venösen Füllung des Vorhofes bei geschlossener Trikuspidalklappe. Das Maximum wird am Ende der Ventrikelsystole erreicht, gefolgt vom y-Abfall, der durch die Entleerung des Vorhofes über die geöffnete Trikuspidalklappe verursacht wird.
15
151 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
. Tabelle 15.4. Wichtige Herz-Kreislauf-Parameter und ihre Abkürzungen Parameter
Abkürzung/Formel
Mittelwert
Bereich
Einheit
Rechtsatrialer Druck
RAP
3
0–6
mm Hg
Rechtsventrikulärer Druck
RVP
25/5 (s/ed)
15–30/0–8
mm Hg
Pulmonalarterieller Druck
PAP
23/9/15 (s/d/m)
15–30/5–15/10–20
mm Hg
Pulmonalarterieller Okklusionsdruck
PAOP = PCWP
10
5–15
mm Hg
Herzminutenvolumen
CO
3,0–7,0
l/min
Herzindex
Cl = CO/KOF
2,5–4,5
l/min/m2
Schlagvolumen
SV = (CO/HR) × 1000
Schlagvolumenindex
SI = SV/KOF
40–60
ml/Schlag
Rechtsventrikulärer Schlagarbeitsindex
RVSWI = Cl × (PAP–RAP) × 13,6/HR
8–12
g × m/m2
Linksventrikulärer Schlagarbeitsindex
LVSWI = Cl × (MAP-PCWP) × 13,6/HR
50–60
g × m/m2
Systemischer Gefäßwiderstand
SVR = (MAP–RAP)/CO × 80
900–1500
dyne × s × cm-5
Pulmonaler Gefäßwiderstand
PVR = (PAP-PCWP)/CO × 80
120–250
dyne × s × cm-5
Pulmonalarterielle (gemischtvenöse) O2-Sättigung
Sv˙ O2
70–80
%
Arterieller O2-Gehalt
CaO2 = 1,39 × Hb × SaO2 + 0,0031 × paO2
≈ 19
ml/dl
Gemischtvenöser O2-Gehalt
Cv˙ O2 = 1,39 × Hb × Sv˙ O2 + 0,0031 ×pv˙ O2
≈ 14
ml/dl
Gesamtkörper-O2-Angebot
D ˙ O2 = CaO2 × Cl
>550
ml/min/m2
Gesamtkörper-O2-Verbrauch
V˙ O2 = (CaO2-Cv˙ O2 ) × Cl
>170
ml/min/m2
60–90
ml/Schlag
Abkürzungen (überwiegend nach den englischen Bezeichnungen): s systolisch; d diastolisch; ed enddiastolisch; m mittel; KOF Körperoberfläche; HR »heart rate«; MAP mittlerer arterieller Druck; SaO2 arterielle O2-Sättigung; paO2 arterieller O2-Partialdruck; pvO2 gemischtvenöser O2-Partialdruck; Hb Hämoglobingehalt.
Rechter Ventrikeldruck (RVP) Bei gewöhnlichen Pulmonalarterienkathetern kann der Ventrikeldruck nur beim Einschwemmen bestimmt werden (. Tab. 15.4; . Abb. 15.10b). Katheter mit kontinuierlicher Herzminutenvolumenanzeige oder Katheter mit Schrittmacheröffnung erlauben dagegen die kontinuierliche Aufzeichung der Ventrikeldruckkurve.
Pulmonalarterieller Druck (PAP) Wie im systemisch-arteriellen System gibt es pulmonalarteriell einen systolischen Peak, gefolgt von einem diastolischen Abfall mit einer kleinen dikroten Welle, die durch den Schluss der Pulmonalklappe entsteht (. Tab. 15.4; . Abb. 15.10). Unter Normalbedingungen liegt der diastolische Druck in der Pulmonalarterie nur 2–3 mm Hg über dem mittleren Okklusionsdruck. Bei einer aktiven, manchmal reaktiven pulmonalarteriellen Hypertension durch Vasokonstriktion kann es jedoch zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen diesen beiden Druckwerten kommen.
Pulmonalarterieller Okklusionsdruck (PAOP, PCWP) Druckkurve. Prinzipiell entspricht der Verlauf der Druckkurve demjenigen im linken Vorhof (. Abb. 15.11). Durch die größere
Distanz des Druckaufnehmers (Spitze des Pulmonalarterienkatheters) bis zum Ort der Kurvenentstehung (linker Vorhof) ist die Welle jedoch gedämpfter und verspätet. Die A-Welle folgt der P-Welle des EKG nach ungefähr 240 ms. Außerdem ist die V-Welle prominenter. Einschränkungen. Falls sich im Weg von der Katheterspitze bis
zum linken Vorhof ein Hindernis befindet, wie z. B. bei der okklusiven Erkrankung der Pulmonalvenen, kann vom Okklusionsdruck nicht mehr auf den Druck im linken Vorhof geschlossen werden. Falls sich die Pulmonalgefäße intermittierend schließen, wie es in bestimmten Lungenarealen physiologischerweise vorkommt, darf der Okklusionsdruck ebenfalls nicht mehr als Maß des Drucks im linken Vorhof genommen werden. Idealerweise liegt die Spitze des Katheters in der sogenannten Zone 3 der Lunge [26]. Wenn die Okklusionsdruckkur ve starke atemabhängige Schwankungen und unerklärlich hohe Werte anzeigt oder stark gedämpft ist, besteht der Verdacht, dass der Katheter außerhalb dieser Lungenzone mit dauernd offener Gefäßverbindung zum linken Vorhof liegt. Wenn die Mitralklappe und die linksventrikuläre Funktion normal sind, kann vom Okklusionsdruck auf
152
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
A - Welle C - Welle
mittelt. Bei einer sehr geringen Auswurfleistung, bei Trikuspidalinsuffizienz oder intrakardialem Shunt sind die Thermodilutionswerte ungenau.
v - Welle
x - Abfall
y - Abfall
. Abb. 15.11. Druckverlauf in den Vorhöfen. Die Bezeichnung der Spitzen und ihre Bedeutung gilt für den linken und rechten Vorhof gleichermaßen
den linksventrikulären enddiastolischen Druck geschlossen werden. Messung bei Beatmung. Normalerweise wird der Okklusionsdruck am Ende der passiven Exspiration abgelesen. Unter Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck (PEEP) wird ein Teil dieses Drucks auf den Okklusionsdruck übertragen, und dies umso ausgeprägter, je besser die Compliance der Lunge ist: Bei normalen Lungen wird etwa die Hälfe des PEEP auf den Okklusionsdruck übertragen und bei kranken Lungen (z. B. bei ARDS) nur noch ein Viertel oder weniger. Trotz dieser Abhängigkeiten ist es nicht empfehlenswert, den PEEP für die Bestimmung des Okklusionsdrucks wegzunehmen oder die Beatmung zu diskonnektieren, weil sich die Patienten sofort pulmonal verschlechtern. Es wird empfohlen, sich im Verlauf einer Erkrankung auf die Veränderungen des Okklusionsdrucks und weniger auf die absoluten Werte zu konzentrieren.
Pulmonalarterielle O2-Sättigung
15
Die pulmonalarterielle O2-Sättigung entspricht der gemischtvenösen O2-Sättigung und wird für die Berechnung verschiedener hämodynamischer und respiratorischer Parameter benötigt (. Tab. 15.4). Außerdem besteht eine direkte Proportionalität zwischen der gemischtvenösen Sättigung und dem Herzminutenvolumen. Inzwischen gibt es Pulmonalarterienkatheter, die diese Sättigung kontinuierlich messen und anzeigen. Dass auf diese Weise die Behandlung besser wurde, konnte niemals nachgewiesen werden. Außerdem sollte man sich bewusst sein, dass nicht von einem absoluten gemischtvenösen Sättigungswert auf einen absoluten Wert des Herzminutenvolumens geschlossen werden darf, da noch andere Faktoren die O2Ausschöpfung beeinflussen.
Herzminutenvolumen Thermodilution. Die Standardmethode für die Bestimmung des Herzminutenvolumens ist die Thermodilution [11]. Ein Volumen von 10 ml einer kalten Lösung wird in den rechten Vorhof injiziert. Die Flüssigkeit wird auf dem Weg durch das rechte Herz mit dem Blut durchmischt. An der Spitze des Pulmonalarterienkatheters zeichnet der Thermistor eine Temperaturkurve auf, und ein Computer berechnet daraus das rechtsventrikuläre Herzminutenvolumen, das umgekehrt proportional zum Integral der Temperatur-Zeit-Kurve ist. Die Variation beträgt bei 3-maliger Bestimmung etwa 4%. Um eine möglichst kleine Variation zu erhalten, sollte die Lösung immer im selben Teil des Atemzyklus und möglichst schnell gespritzt werden. Bei Verwendung von Flüssigkeit mit Zimmertemperatur ergibt sich eine höhere Variation. Es sollten jeweils 3 Messungen des Herzminutenvolumens durchgeführt werden, wobei die Einzelwerte nicht mehr als 10% auseinanderliegen dürfen; diese Werte werden anschließend ge-
Fick’sches Prinzip. Steht keine Thermodilution zur Verfügung, kann die Pumpleistung auch mit der sog. Fick´schen Methode ermittelt werden. Das Prinzip besteht darin, dass die Gesamtaufnahme oder -abgabe einer Substanz durch ein Organ gleich dem Produkt aus dem Blutfluss durch das Organ und der arteriovenösen Konzentrationsdifferenz ist. Im Falle der Lungen ist also das Herzminutenvolumen gleich dem Blutfluss durch die Lungen, und das ist gleich der Gesamt-O2-Aufnahme dividiert durch die arteriovenöse O2-Gehaltsdifferenz. Für eine korrekte Bestimmung muss die O2-Konzentration direkt in der Atemluft gemessen werden. Kontinuierliche Messverfahren. Die neueste Generation der Pulmonalarterienkatheter kann das Herzminutenvolumen kontinuierlich bestimmen und anzeigen. Die Methode beruht auf derselben Theorie, die für die Thermodilution entwickelt und geprüft wurde. In diesen Katheter ist ein Heizelement integriert, das im rechten Ventrikel platziert wird. Die Messung beruht auf dem Verhältnis zwischen der abgegebenen Heizenergie und der resultierenden Temperatur an der Pulmonalarterienspitze. Die Katheter sind validiert, und es scheint, dass die Werte etwa ähnlich genau sind wie die der Thermodilution. Die korrekte Platzierung ist allerdings eine Grundvoraussetzung. Ob sich der Katheter in der Praxis bewähren wird, und ob es sinnvoll ist, den 3-fachen Preis eines Standardkatheters zu investieren, bleibt abzuwarten [16].
Berechnete Werte Aus den Messwerten des Pulmonalarterienkatheters lassen sich verschiedene weitere physiologische Daten berechnen. Die Widerstände im großen und kleinen Kreislauf werden häufig erhoben, verschiedene Daten des O2-Transportes seltener (. Tab. 15.4). Die letzteren Parameter kamen v. a. im Zusammenhang mit der Forderung nach »supramaximalem« oder »supranormalem« O2Angebot bei bestimmten Krankheitsbildern in Diskussion. Zusammenfassend kann man sagen, dass alle berechneten Werte pathophysiologisch interessant sind, dass es aber unklar bleibt, ob die therapeutische Korrektur dieser Werte mit dem Bestreben, sie zu normalisieren oder sogar zu maximieren, für den Patienten günstig ist.
15.5
HZV-Messung durch ar terielle Pulskonturanalyse und andere Ver fahren
Dieses indirekte Verfahren der HZV-Messung beruht auf Erkenntnissen des deutschen Physiologen Otto Frank, denen zufolge eine direkte Beziehung zwischen dem zeitlichen Verlauf der arteriellen Blutdruckkurve und dem gleichzeitig erfolgenden arteriellen Blutfluss besteht. Bei der von Frank aufgestellten Windkesseltheorie werden Aorta und die proximalen Arterien als eine Kammer (Windkessel) angesehen, die während der Systole des Herzens mit dem Schlagvolumen angefüllt und während Systole und Diastole wieder entleert wird.
153 15.5 · HZV-Messung durch arterielle Pulskonturanalyse und andere Verfahren
15
Auf der Basis dieses Modells und in Anlehung an das Ohm´sche Gesetz beschreiben die Pulskonturverfahren eine Beziehung zwischen dem arteriellen Druck und einem arteriellen Fluss, der vom Gesamtwiderstand bestimmt wird. Im ursprünglichen, für den Kreislauf des Menschen allerdings unzureichenden Modell wurde das Schlagvolumen aus dem Druck als treibender Kraft für den Blutfluss während der Austreibungsphase (Fläche unter dem systolischen Anteil der Druckkurve) und der Impedanz bzw. dem Widerstand der Aorta bestimmt: SV SV Asys ZAo
= Asys/ZAo = Schlagvolumen = Fläche unter dem systolischen Anteil der Druckkurve = Impedanz der Aorta
. Abb. 15.12. Prinzip der arteriellen Pulskonturanalyse. Das PulskonturHZV (HZVpC) wird aus der Fläche unter dem systolischen Anteil der arteriellen Druckkurve (schaffiert), der Herzfrequenz, dem Kalibrationsfaktor der transkardiopulmonalen Thermodilution (cal) und einer differenzierten Analyse der Form der Druckkurve berechnet. (Nach [23])
Cz-Modell von Wesseling
In diesem erweiterten Modell wurden der mittlere arterielle Druck und das Alter berücksichtigt, um druckabhängige nichtlineare Veränderungen des Aortendurchmessers zu korrigieren, außerdem die (altersabhängige) Herzfrequenz, um Reflektionen aus der Periphere auszugleichen. Das Herzzeitvolumen ergibt sich dabei aus folgender Formel:
HZVPC = HF × Asys : ZAo ZAo = a : (b + (c × MAP) + (d × HF) 5 HZVPC = Pulskontur-HZV 5 HF = Herzfrequenz 5 MAP = mittlerer arterieller Druck 5 a, b, c und d = altersabhängige Faktoren
Aufgrund der verschiedenen Korrekturfaktoren kann anstelle des Aortendrucks auch der Druck in einer peripheren Arterie verwendet werden. Da sich Größe und Impedanz der Aorta und der peripheren Arterien individuell unterscheiden, musste das absolute Herzzeitvolumen initial für jeden einzelnen Patienten mit einer Referenzmethode ermittelt werden. Dies war in der Vergangenheit in der Regel die Thermodilutionsmethode über einen Pulmonaliskatheter. Dabei ergab sich für die individuelle Aortenimpedanz folgende Formel:
ZAo = HZVPC : HZVRef u ZAo.Ref 5 HZVRef = Referenz-HZV 5 ZAo.Ref = Referenzaortenimpedanz
Zwischen Pulskontur-HZV und Thermodilutions-HZV ergab sich bei den meisten Messungen und in verschiedenen klinischen Situationen eine sehr gute Übereinstimmung [4, 7, 13]. 15.5.1 PiCCOplus-Monitor Dieses System kombiniert die arterielle Pulskonturanalyse mit der transkardiopulmonalen Thermodilution. Das Schlagvolumen wird fortlaufend, unter Berücksichtigung der individuellen
aortalen Compliance, über einen Algorithmus aus der Pulskontur berechnet. Das HZV kann kontinuierlich durch arterielle Pulskonturanalyse (. Abb. 15.12 und . Tab. 15.5) oder diskontinuierlich durch transkardiopulmonale Thermodilution gemessen werden. Anstelle des Pulmonaliskatheters wird ein Katheter in eine große Arterie, bevorzugt die A. femoralis, alternativ und gleichwertig in die A. radialis [3], eingeführt. Der Katheter enthält ein Lumen für die arterielle Druckmessung, außerdem einen in der Spitze befindlichen Thermistor für die Thermodilutionsmessung. Für die Kalibrierung des Gerätes wird initial das HZV mit der transkardiopulmonalen Thermodilution gemessen. Hierfür wird kalte Kochsalzlösung als Bolus in einen zentralen Venenkatheter injiziert und die sich ergebende Temperaturverlaufskurve vom Thermistor des arteriellen Katheters regristriert. Aus dem Temperaturverlauf
. Tabelle 15.5. Parameter der Pulskonturanalyse (PiCCO, Fa. Pulsion) Parameter
Normalbereich
HZVPC
3,0–5,0 l/min
Systolischer arterieller Blutdruck (mm Hg)
(Keine Angaben des Herstellers)
Diastolischer arterieller Blutdruck (mm Hg)
(Keine Angaben des Herstellers)
Mittlerer arterieller Blutdruck, MAP
70–90 mm Hg
Herzfrequenz 1/min)
60–90/min
Schlagvolumenindex, SVI
40–60 ml/m2
Schlagvolumenvariation
<10%
Pulsdruckvariation (%)
<10%
Systemischer Gefäßwiderstandindex SVRI
1700–2400 dyn × s × cm–5 × m2
Linksventrikulärer Kontraktilitätsindex: maximale Druckanstiegsgeschwindigkeit, dp/dtmax, mm Hg/s
1200–2000
154
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
. Tabelle 15.6. Mit dem PiCCO-System er fasste intrathorakale Volumina (Angaben Fa. Pulsion) Parameter
Normalwerte
GEDVI
680–800 ml/m2 KOF
ITBVI
850–1000 ml/m2 KOF
EVLW
3–7 ml/kg KG
GEDVI globaler enddiastolischer Volumenindex; ITBVI intrathorakaler Blutvolumenindex; EVLW extravaskuläres Lungenwasser.
errechnet das Gerät nach der Stewart-Hamilton-Gleichung das Referenz-HZV. Die Messung erfolgt unabhängig vom Atemzyklus. Zusätzlich berechnet das Gerät aus der transpulmonalen Thermodilutionskurve das kardiale Preload, das intrathorakale Blutvolumen und das extravasale Lungenwasser. Für die kontinuierliche Berechnung des HZVPC wird ein Kalibrationsfaktor aus dem transpulmonal gemessenen HZV verwendet, außerdem die Herzfrequenz, die integrierte Fläche unter dem systolischen Anteil der arteriellen Druckkur ve, die Compliance der Aorta und die Form der Druckkur ve bzw. die Druckänderung im zeitlichen Verlauf (dp/dt). Störungen der Thermodilutionsmessungen können bei Aortenaneurysmen, intrakardialen Shunts, Pneumektomien und während der extrakorporalen Zirkulation auftreten. HZVPC. Das Pulskontur-HZV wird als Mittelwert der letzten 12 s
angezeigt.
Intrathorakales thermales Volumen (ITTV). ITTV ist der intraho-
rakale Verteilungsraum für den Kältebolus; er umfasst somit das intravasale und das extravasale thorakale Volumen: ITTV = HZVtherm u MTTtherm 5 HZVtherm = Thermodilutions-HZV 5 MTTtherm = mittlere Transitzeit des Kältebolus vom Injektionsort zum Messort
Globales enddiastolisches Volumen (GEDV). Dieser Parameter ergibt sich, angenähert, aus der Differenz zwischen ITTV und pulmonalem thermalem Volumen (PTV) und entspricht primär den Blutvolumina in den Herzkammern. Da diese Volumina am Ende der Diastole am größten sind, wird die Summe der enddiastolischen Volumina beider Vorhöfe und Ventrikel als globales enddiastolisches Volumen bezeichnet. Es entspricht dem Vorlastvolumen des gesamten Herzens. GEDV = ITTV × PTV GEDV = HZV u (MTTtherm – DSTtherm) 5 DSttherm = exponentielle Abfallzeit der transpulmonalen Thermodilutionskurve
GEDV (und ITBV) können nützlich sein, um die Reaktion des Herzens auf Volumenzufuhr zu testen. Zuverlässig scheinen beide als Vorlastparameter aber nur bei normaler Herzfunktion oder bei globalen Ventrikelfunktionsstörungen zu sein. Bei beatmeten Patienten mit rechtventrikulären Funktionsstörungen wird die linksventrikuläre Funktion u. U. falsch eingeschätzt, weil GEDV nicht die Vorlast des rechten Herzens allein widerspiegelt [1].
Schlagvolumenvariation, SVV. Sie gibt an, um wie viel Prozent
15
das Schlagvolumen um den über einen Zeitraum von 30 s bestimmten Mittelwert variiert. Bei beatmeten Patienten hängt die Variabilität im Wesentlichen vom intravasalen Volumenstatus ab: Starke Schwankungen unter Beatmung weisen auf Hypovolämie hin; quantitative Aussagen sind jedoch nicht möglich. Pulsdruckvariation, PPV. Dieser Parameter gibt an, um wie viel
Prozent der systolische Pulsdruck um den über einen Zeitraum von 30 s bestimmten Mittelwert schwankt (PPV = maximaler Pulsdruck – minimaler Pulsdruck/mittlerer Pulsdruck). Stärkere Schwankungen bei beatmeten Patienten weisen ebenfalls auf intravasalen Volumenmangel hin. Intrathorakale Volumina. Mit dem PiCCOplus-System können – ohne Pulmonalarterienkatheter und ohne Injektion von Farbstoffindikatoren – verschiedene intrathorakale Volumina gemessen oder berechnet werden, die für die kardiale Vorlast, die Funktion des Herzens und die Flüssigkeitstherapie von wesentlicher Bedeutung sind (. Tab. 15.6). Im Gegensatz zu den Doppelindikatortechniken ist hierfür lediglich die zentravenöse Injektion eines Kältebolus und dessen Messung in einer zentralen Arterie, d. h. die transkardiopulmonale Thermodilution erforderlich. Dieses Verfahren ist weniger aufwändig, risikoärmer und kostengünstiger als die Injektion von Farbstoffindikatoren über einen Pulmonaliskatheter. Die Fehlerbreite beträgt maximal 10%. Eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse dieser minimal-invasiven hämodynamischen Verfahren wurde 2005 von Malbrain et al. vorgelegt [9].
Intrathorakales Blutvolumen (ITBV). Das intrathorakale Blutvolumen lässt sich mit hinreichender Genauigkeit aus dem Thermodilutions-HZV und der mittleren Transitzeit des Kältebolus berechnen: ITBV = HZVtherm × MTTtherm
Die Einzelinjektionsthermodilutionstechnik geht von einer konstanten Beziehung zwischen dem gemessenen globalen enddiastolischen Volumenindex (GEDVI) und dem intrathorakalen Blutvolumenindex aus. Danach gilt vereinfacht: ITBVI = 1,25 × GEDVI
Pulmonales thermales Blutvolumen (PTV). Das pulmonale Blut-
volumen ergibt sich aus der Differenz zwischen intrathorakalem Blutvolumen und globalem enddiastolischem Volumen: PTV = DSTtherm × HZVtherm oder PTV = ITBV - GEDV
Extravaskuläres Lungenwasser (EVLW). Das extravaskuläre Lungenwasser ist die Differenz zwischen intrathorakalem Thermovolumen und intrathorakalem Blutvolumen. Referenzmethode für
155 15.5 · HZV-Messung durch arterielle Pulskonturanalyse und andere Verfahren
die Bestimmung des EVLW ist die Gravimetrie; es kann jedoch auch, ebenfalls mit klinisch hinreichender Genauigkeit, durch reine Thermodiluton ermittelt werden [7, 8, 16]: EVLWth= ITTV – ITBVth = ITTV – (1,25 × GEDV)
Mit der transpulmonalen thermalen Indikatortechnik können bereits Anstiege des extravaskulären Lungenwassers von 10–20% erfasst werden [5]. Obstruktionen der Lungengefäße, fokale Lungenschäden und Lungenresektionen führen allerdings mit dieser Methode zu falsch-niedrigen Werten. Andere Faktoren wie Höhe des EVWL, paO2/FIO2, Atemzugvolumen und Höhe des PEEP können bei chirurgischen Intensivpatienten ebenfalls die Messung signifikant beeinflussen, jedoch sollen die Veränderungen selbst bei schweren Lungenerkrankungen klinisch nicht relevant sein [13] Klinische Bedeutung des EVLW. Sind die normalen pulmonalen Barrieren gestört, kann das EVLW zunehmen. Pathogenetisch führen 2 unterschiedliche Mechanismen zur Akkumulation von Flüssigkeit im Interstitium des Lungengewebes (Lungenödem): 4 ein Anstieg des hydrostatischen Drucks (des Filtrationsdrucks) in den Lungenkapillaren und/oder 4 eine Zunahme der pulmonalen Kapillarpermeabilität.
Anstiege des hydrostatischen Drucks treten typischerweise bei Linksherzinsuffizienz und Überwässerung auf, Störungen der Gefäßpermeabilität bei Pneumonie, ALI/ARDS, Sepsis und bestimmten Intoxikationen. Während eine durch hydrostatischen Druckanstieg bedingte Zunahme des EVLW am Anstieg des Wedgedrucks erkennbar ist, verändert sich der PCWP bei einer permeabilitätsbedingten Zunahme des EVWL nach Untersuchungen von Sakka et al. nicht [16]. Mit der transpulmonalen Thermodilution kann das EVLW somit vermutlich genauer eingeschätzt werden als mit der Messung des PCWP. Möglicherweise kann hierdurch beim schwer kranken Intensivpatienten die Volumenzufuhr besser gesteuert und die Gefahr einer Überwässerung vermindert werden. EVLW als diagnostischer Faktor. Zwischen Routineröntgenaufnahmen des Thorax und EVLW besteht meist eine schlechte Korrelation, besonders bei beatmeten Patienten. Demgegenüber können mit der transpulmonalen Thermodilution oft bereits frühzeitig Anstiege des EVWL festgestellt werden. Häufig wird aufgrund experimenteller Befunde und klinischer Untersuchungen an Intensivpatienten von einem erhöhten EVLW bei ARDS ausgegangen; allerdings ist nach Befunden einiger Autoren [6, 10, 11] bei ¼ bis ⅓ der Patienten, die die Kriterien eines ALI/ARDS erfüllen, keine Zunahme des EVLW nachweisbar, sodass der diagnostische Wert dieses Parameters eingeschränkt wird. Allerdings können so Patienten identifiziert werden, die möglicherweise von einer restriktiven Flüssigkeitszufuhr oder negativen Flüssigkeitsbilanz profitieren. Auch konnten Toth et al. [22] bei Patienten mit ARDS durch pulmonales RecruitmentManöver und Optimierung des PEEP den paO2 kurzfristig signifikant verbessern, ohne dass Veränderungen des EVLW hierunter nachweisbar waren. Steuerung der Flüssigkeitstherapie. Die Flüssigkeitszufuhr bei Patienten mit ARDS ist nach wie vor umstritten: restrik-
15
tive Flüssigkeitszufuhr (»trockene Lungen«) kann einerseits den paO2 und die Lungenmechanik verbessern, außerdem die Entwöhnung von der Beatmung erleichtern, andererseits eine hämodynamische Instabilität auslösen oder wesentlich verschlechtern. In einer großen multizentrischen Studie [21] wurde festgestellt, dass eine »konservative« Strategie mit Flüssigkeitsrestriktion/Entwässerung bei Patienten mit ALI die Lungenfunktion verbessert und die Dauer der maschinellen Beatmung verkürzt, ohne die Häufigkeit nicht-pulmonaler Organfunktionsstörungen zu erhöhen. Ein signifikanter Einfluss auf die 60-Tage-Letalität konnte allerdings mit der »konservativen Flüssigkeitsstrategie« nicht erreicht werden. Compton et al. [2] konnten durch Flüssigkeitsentzug mit der Hämodiylase das EVWL signifikant vermindern, ohne dass sich das ITBV signifikant veränderte. Der Herzindex fiel ebenfalls signifikant ab, während der arterielle Blutdruck stabil blieb; die Oxygenierung verbesserte sich ebenfalls signifikant unter der Hämodialyse. EVLW als prognostischer Faktor. Bereits in frühen Untersuchun-
gen an Intensivpatienten wurde ein Zusammenhang zwischen EVLW und Letalität gefunden. In einer neueren, retrospektiven, Untersuchung von Sakka et al. [17] erwies sich ein erhöhtes EVLW als unabhängiger Prädiktor für eine schlechtere Prognose bei Intensivpatienten: Während Patienten mit einem EVWL von <10 ml/kg KG eine Letalität von 33% aufwiesen, war ein EVWL von >15 ml/kg KG mit einer Letalität von 67% assoziiert. Sato et al. [18] fanden in einer Untersuchung an 23 Patienten nach Ösophagektomie eine positive Korrelation zwischen einem Anstieg des EVLWth und einer Verschlechterung des respiratorischen Index bzw. pulmonalen Komplikationen. Insgesamt gilt aber: Klinische Bewertung der EVLW-Messung Mit der thermalen transkardiopulmonalen Dilutionstechnik kann bei den meisten schwerkranken Intensivpatienten das EVLW auf einfache Weise und mit brauchbaren klinischen Ergebnissen bestimmt werden. Ob aber hiermit das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Patienten mit Lungenödem oder ALI/ARDS entscheidend verbessert werden kann, bedarf eingehender prospektiv-randomisierter Untersuchungen.
LiDCO-System Beim Lithium-Dilution-Cardiac-Output-Measurement-System wird anstelle eines Kältebolus isotone Lithiumchloridlösung in eine periphere oder zentrale Vene injiziert und anschließend in einer Arterie die Lithiumkonzentration mit einer lithiumionenselektiven Elektrode gemessen (Übersicht in [15]). Das hiermit bestimmte initiale HZV dient der Kalibrierung für die arterielle Pulskonturanalyse. Beim LiDCO-System wird die gesamte arterielle Druckkurve in eine Volumenkurve transformiert und hieraus ein Schlagvolumen kalkuliert. Dieses Schlagvolumen wird mit Hilfe des initial ermittelten Lithiumdilutions-HZV in das absolute Schlagvolumen oder HZV umgewandelt. Da aussagekräftige Vergleichsstudien mit bewährten Verfahren fehlen, kann die klinische Verwendbarkeit des Systems nicht beurteilt werden.
156
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Messung der thorakalen Bioimpedanz Dieses nichtinvasive Verfahren zur Messung des Herzzeitvolumens beruht auf elektrischen Widerstandsänderungen des Thorax bzw. den unterschiedlichen elektrischen Leitfähigkeiten der einzelnen Gewebe. Das Blut weist die beste elektrische Leitfähigkeit thorakaler Strukturen auf, Fett und die lufthaltigen Lungengewebe die schlechteste. Die elektrische Bioimpedanz erfasst den elektrischen Widerstand des gesamten Thorax oder dessen Leitfähigkeit für hochfrequenten Wechselstrom mit niedriger Amplitude. Der elektrische Widerstand ist dem Gesamtflüssigkeitsgehalt des Thorax proportional: Nimmt der Flüssigkeitsanteil im Thorax ab, nimmt auch die elektrische Leitfähigkeit ab und die thorakale elektrische Bioimpedanz zu. Beim Bioimpedanzverfahren wird davon ausgegangen, dass mit jeder Systole der Flüssigkeitsgehalt um den Wert des Schlagvolumens ab- und die throkale Impedanz entsprechend zunimmt. Die globale Thoraximpedanz hängt jedoch nicht nur vom aortalen Blutfluss und damit von der Pumpfunktion des Herzens ab, sondern auch von Veränderungen des extravaskulären Lungenwassers sowie von atemabhängigen Schwankungen des intrathorakalen Blutvolumens. Fehlbestimmungen ergeben sich daher bei Lungenödem, Pleuraergüssen, Herzklappenerkrankungen, Herzrhythmusstörungen. Begrenzt wird das Verfahren weiterhin durch Bewegungsartefakte und durch Störungen elektrischer Geräte. Shoemaker et al. [19] fanden bei Traumapatienten eine gute Korrelation mit den über einen Pulmonalarterienkatheter bestimmten Messwerten.
15
Technik. Bei den derzeit gebräuchlichen Verfahren werden auf jeder Körperseite im Halsbereich und am distalen Thorax in Höhe des Processus xiphoideus Elektrodenpaare angebracht. Über die äußeren Elektrodenpaare wird ein hochfrequenter Wechselstrom mit niedriger Amplitude kontinuerlich angewandt, über die beiden inneren Elektrodenpaare werden kontinuierlich die Veränderungen der Bioimpedanz gemessen. Die aufgezeichnete Impedanzkurve wird als IKG bezeichnet.
Klinische Bewertung der Bioimpedanz Wichtigster Vorteil des Verfahrens ist seine Nichtinvasivität. In einigen Untersuchungen fand sich eine gute oder befriedigende Korrelation zwischen der HZV-Messung mit Bioimpedanz und der Thermodilutionsmessung über einen Pulmonaliskatheter. In anderen Studien ergaben sich dagegen bei einigen Patienten erhebliche Abweichungen vom Referenzver fahren. Insgesamt ist die Brauchbarkeit der thorakalen Bioimpedanz bei Intensivpatienten, v. a. bei solchen mit hämodynamischer Instabilität, nicht hinreichend gesichert.
Transösophageale Ultraschallmessung Bei diesem minimal-invasiven Verfahren wird die relative Strömungsgeschwindigkeit des Blutes aufgrund der Frequenzverschiebung einer an den Erythrozyten reflektierten Ultraschallwelle berechnet. Um die Blutflussgeschwindigkeit und damit auch das Schlagvolumen zu erfassen, wird das Integral des Blutlusses während der Systole, das Geschwindigkeits-Zeit-Integral VTI, berechnet. Hierbei muss der Querschnitt des Blutgefäßes bekannt
sein. Für die Aorta werden entweder Werte aus Nomogrammen verwendet oder der tatsächliche Querschnitt sonographisch bestimmt. Es gilt: Schlagvolumen, SV = VTI u Aortendurchmesser 5 VTI = Blutfluss-Zeit-Integral
Die transösophageale Ultraschallmessung kann intraoperativ [20] und auch beim Intensivpatienten angewandt werden. Gemessen wird zumeist der Blutfluss in der Aorta descendens. Die dünne Ultraschallsonde wird so weit in den Ösophagus vorgeschoben, bis ein maximales Flusssignal über der Aorta descendes zu registrieren ist. Allerdings ist es schwierig, die Sonde optimal zu positionieren und diese Position über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Hieraus ergeben sich technisch bedingte Messungenauigkeiten. Um zuverlässige Werte für das Schlagvolumen zu erhalten, muss außerdem der korrekte Wert für den Aortendurchmesser ermittelt werden. Klinische Bewertung Bisherige Vergleichsuntersuchungen mit den Referenzmethoden zeigen teils Übereinstimmung, teils erhebliche Abweichungen der Messwerte, außerdem eine nicht unerhebliche Abhängigkeit vom jeweiligen Untersucher. Ob mit diesem Verfahren die kardiovaskuläre Therapie und die Flüssigkeitszufuhr bei Intensivpatienten optimiert werden kann, ist derzeit ungeklärt.
15.6
Atemfunktion
Störungen der Ventilation und des pulmonalen Gasaustausches treten beim Intensivpatienten häufig auf und sind nicht selten der primäre Anlass für die Aufnahme auf die Intensivstation. Die Überwachung der Atemfunktion gehört daher, neben der HerzKreislauf-Funktion, zu den essenziellen Maßnahmen. Folgende Verfahren dienen zur Überwachung der Atemfunktion des Intensivpatienten: 4 Inspektion, Perkussion, Auskultation, 4 Pulsoxymetrie, 4 Kapnometrie, 4 Blutgasanalyse, 4 Spirometrie, elektronische Flowmessung, 4 Beatmungsmanometrie. Die nichtinvasive Überwachung der Ventilation erfolgt durch Inspektion, Auskultation, Apnoemonitore, Bestimmung von Atemfrequenz, Atemzugvolumen, Atemminutenvolumen, Pulsoxymetrie und Kapnometrie. Die Effektivität der Ventilation bzw. der pulmonale Gasaustausch werden durch eine arterielle Blutgasanalyse objektiviert. 15.6.1 Über wachung der respiratorischen
Funktion Die beiden Hauptstörungen der respiratorischen Funktion sind das hyperkapnische und das hypoxämische Versagen
157 15.6 · Atemfunktion
. Tabelle 15.7. Beispiele zu den beiden Hauptstörungen des respiratorischen Versagens, die ein Monitoring der O2-Versorgung und CO2-Elimination er fordern Hyperkapnisches respiratorisches Versagen 4 Zunahme der CO2-Produktion 4 Zunahme des Totraumverhältnisses 4 Abnahme des Minutenvolumens – Zentraler Atemantrieb – Respiratorische Impedanz – Atemmuskelkapazität Hypoxämisches respiratorisches Versagen 4 Alveoläre Hypoventilation – Zentral – Alveolär 4 Ventilations-/Perfusionsstörungen 4 Refraktäre Hypoxämie (Shunt) – Kapillär – Anatomisch – Venöse Beimischung 4 Erniedrigter gemischtvenöser O2-Gehalt
(. Tab. 15.7). Ziel des respiratorischen Monitorings ist es, die komplexen Formen beider Störungen zu identifizieren. Standard ist hier die Messung der arteriellen O2- und CO2-Partialdrücke (paO2, paCO2; mm Hg). Dies ist allerdings im Regelfall nur diskontinuierlich möglich und bezogen auf die p2O2-Messung in Hyperoxie mit Messfehlern behaftet [12]. Erfolgt die Überwachung kontinuierlich und nichtinvasiv, sind frühzeitiges Erkennen bedrohlicher Ereignisse, rechtzeitige Therapie, Reduktion invasiver Maßnahmen und Datenakquisition ohne zeitliche Verzögerung möglich. Als Methoden hierfür haben sich Pulsoxymetrie und Kapnometrie bewährt: Die Pulsoxymetrie zum kontinuierlichen nichtinvasiven Monitoring der O2-Versorgung, die Kapnometrie zur nichtinvasiven Überwachung der CO2-Entsorgung von Atemzug zu Atemzug. 15.6.2 Pulsoxymetrie Mit Pulsoxymetern erfolgt das Monitoring der O2-Versorgung über die Messung der O2-Sättigung. Diese integriert den O2Partialdruck, die O2-Bindungskapazität und die O2-Affinität des Hämoglobins, während andere Ursachen einer O2-Versorgungsstörung, beispielsweise eine Anämie oder eine Abnahme der O2-Konzentration (Hypoxämie), nicht differenziert werden können. Pulsoxymeter beurteilen demnach die Lungenfunktion und zeigen an, ob der angebotene O2 die Diffusionsbarriere Lunge überwunden und im Blut zu einer physiologischen Konzentration oxygenierten Hämoglobins (O2Hb) geführt hat oder nicht.
Messprinzip Pulsoxymeter integrieren 2 Prinzipien, die Spektralphotometrie und die Photoplethysmographie. Im Gegensatz zur spektralphotometrischen Messung der O2-Sättigung mit MehrwellenlängenOxymetern analysieren Pulsoxymeter das Absorptionsverhalten des Hämoglobins und seiner Derivate oxygeniertes Hb (O2Hb), oxidiertes Hb (MetHb), desoxygeniertes Hb (Hb) und kohlenmonoxidbeladenes Hb (COHb) mit nur 2 Wellenlängen. Zwei lichte-
15
mittierende Elektroden (LED) schicken rotes und infrarotes Licht (je nach Hersteller und Gerätetyp 660 nm und 940 nm) durch das periphere Messorgan (meist die Fingerbeere), um zwischen oxygeniertem und desoxygeniertem Hämoglobin zu differenzieren. Im Rahmen der Photoplethysmographie wird dabei unterstellt, dass der Absorptionsanstieg während der Systole ausschließlich durch das Einströmen arteriellen Blutes verursacht wird. Bei jeder der beiden Wellenlängen wird die Differenz zwischen der sog. diastolischen Hintergrundabsorption (venöses Blut, Gewebe, Knochen, Pigment) und dem Spitzenwert während der Systole bestimmt. Hierfür wird das spektrale Verhalten von O2Hb und Hb benützt: O2Hb absorbiert weniger rotes Licht als Hb und umgekehrt. Die Beziehung zwischen beiden Absorptionsmessungen (das Rot-Infrarot-Verhältnis) soll nur durch die arterielle O2-Sättigung beeinflusst sein. Neben den beiden Wellenlängen variiert auch der jeweils zur Berechnung der O2-Sättigung verwendete Algorithmus.
Messwert Aufgrund der Messung mit nur 2 Wellenlängen wird nicht die tatsächliche O2-Sättigung (SaO2;%) erhalten, sondern die partielle arterielle O2-Sättigung (pSaO2;%; [11, 13]). Partielle arterielle O2-Sättigung wird der Messwert deshalb genannt, weil nur ein Teil des Hämoglobins betrachtet wird (O2Hb im Verhältnis zu O2Hb und Hb) und andere Derivate wie COHb und MetHb mehr oder weniger unberücksichtigt bleiben:
SaO2 [%]=
cO2Hb ·100 cO2Hb+cHb+cCOHb+cMetHb
pSa=O2 [%]=
cO2Hb ·100 cO2Hb+cHb
Die nicht selten verwendete Bezeichnung dieses Messwertes als »funktionelle« SO2 – zur Unterscheidung von einer »fraktionellen« SO2 [4] – hat unnötig Verwirrung gestiftet.
Methodenspezifische Besonderheiten Bedingt durch die spezielle Methodik – Messung der arteriellen O2-Sättigung mit 2 Wellenlängen am peripheren Messorgan – sind Probleme und Besonderheiten zu beachten.
Messwert pSaO2 Mit dem Messwert pSaO2 wird bei Vorliegen von z. B. 5% MetHb und 5% COHb ein Sättigungswert von etwa 98% erhalten, obwohl die tatsächliche Sättigung (SaO2) nur ca. 88% betragen würde. Die betreffenden Normalwerte sind daher unterschiedlich: 98% im Falle der pSaO2 und 96% bei Verwendung der SaO2. Die pSaO2 kann daher weder zur Berechnung der O2-Konzentration noch zur Bestimmung des O2-Angebotes verwendet werden. Der Messwert ist in seiner diagnostischen Aussagekraft nur dem pO2 vergleichbar, erlaubt aber keine direkte Aussage zum arteriellen pO2. Zwischen pSaO2-Werten von 80 und 99% könnte der pO2 lediglich sehr grob geschätzt werden, je nach Begleitumständen. Bei einem pSaO2-Wert von 99% unter Beatmung mit reinem O2 bleibt unklar, ob der paO2 bei 90 mm Hg oder über 600 mm Hg liegt (obwohl er bei reiner O2-Beatmung und intakter Lunge über 600 mm Hg liegen müsste).
158
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
psO2 [%] in vivo
100
Herzzeitvolumen. Weil zur Signalerfassung heute nur noch ein Blutfluss von etwa 4–8% der Norm erforderlich ist, ist das Risiko
cMetHb = 1-45 %
90 cMetHb = 0,4- 8 %
cMetHb = 1-45 % I
80
II I: y = 0,5472x + 43,86 (Patienten; n = 80) II: y = 0,33x + 56,8 (Hunde) III: y = 0,46x + 43,5 (Hunde)
III
70 70
80
90
100
SpO2 [%] in vitro . Abb. 15.13. Partielle O2-Sättigung verschiedener Pulsoxymeter als Funktion der berechneten SpO2 (erhalten mittels CO-Oxymeter 2500, Bayer Diagnostics) bei unterschiedlichen MetHb-Konzentrationen (mod. nach [10]). Die Abbildung zeigt, dass die In-vivo- SpO2 der Pulsoxymeter mit zunehmender MetHb-Konzentration und zunehmender Hypoxie überschätzt, in Normoxie dagegen unterschätzt wird
Zusammensetzung des Blutes
15
Messfehler der pSaO2 durch COHb bestehen mit heutigen Geräten nicht mehr [11, 13]. Im Falle erhöhter MetHb-Konzentration gilt dies allerdings nicht (. Abb. 15.13): Bei zunehmender Hypoxie und gleichzeitiger Methämoglobinämie wird die pSaO2 zunehmend falsch zu hoch angegeben [11]. Auch durch Farbindikatoren (z. B. Methylenblau) oder bei lackierten Fingernägeln sind Messprobleme zu erwarten [11]. Ausgeschlossen werden können dagegen Fehler durch fetales Hämoglobin (HbF) und andere Farbstoffe [11]. Lipidemulsionen wiederum stellen ein neues Problem dar. So kann unter kontinuierlicher Gabe von z. B. Etomidat oder Propofol fälschlicherweise eine »dosisabhängige Hypoxie« (Abnahme des O2-Partialdrucks) gemessen werden [13]. Wie stark sich dieser Fehler auf die Messung heutiger Pulsoxymeter auswirkt, wird derzeit noch untersucht.
Peripheres Messorgan Trotz Messung am peripheren Messorgan soll nicht die periphere (kapilläre), sondern die systemische (arterielle) O2-Sättigung erhalten werden. Messfehler durch Reflektion, Lichtstreuung und natürliche Pigmente wurden inzwischen durch optimierte Signalverarbeitung und Algorithmen eliminiert, während dies für Fremdstrahlung (Licht, elektromagnetische Wellen) und Bewegungsartefakte nicht zutrifft [11, 13]. Gerade Relativbewegungen des Messorgans gegen den Sensor stellen bei Kindern und unruhigen Erwachsenen ein Problem dar. Resultat sind Fehlmessungen, die oft zu der Entscheidungsfalle führen, entweder den Patienten zu behandeln oder den Monitor zu ignorieren. Ein weiteres Problem ist der periphere Blutfluss. Besonders am peripheren Messort Fingerbeere besteht die Gefahr, dass nur ein lokaler peripherer (kapillärer) pSaO2-Wert erhalten wird, insbesondere in Situationen mit Hypotension und erniedrigtem
eines irreführenden (peripheren) pSaO2-Werts noch gestiegen. Der pulsoxymetrische Messwert kann auch bei einem gestörten Ventilations-/Perfusions-Verhältnis in der Lunge abfallen, beispielsweise in Seitenlage oder im Falle der Unterdrückung der pulmonalvaskulären Reflexe durch Anästhetika. Das von vielen Geräten dargestellte Plethysmogramm ist insofern wenig aussagefähig und mit Vorsicht zu interpretieren. Wegen der besseren Regulation der Mikrozirkulation wäre das Ohrläppchen der geeignetere Messort. Sicher besser geeignet als der Finger ist der Messort Ohrläppchen bei Vasokonstriktion, Hypothermie, Hypovolämie, erniedrigtem Herzzeitvolumen, erhöhtem systemischem Gefäßwiderstand und bei Kindern mit angeborenen Herzerkrankungen [11]. Zu den alternativen Messorten Wangenschleimhaut und Zunge liegen noch nicht genügend Erfahrungen vor [11]. Wird hingegen der Finger als Messorgan verwendet, sollte dies aufgrund der arteriellen Versorgung nach Möglichkeit der Zeigefinger sein [11]. Probleme durch Ödeme und Nekrosen (zu starker Druck des Klemmsensors oder unsachgemäße Befestigung mittels Pflasterstreifen) sowie durch die Fingerdicke müssen ebenfalls bedacht werden.
Kalibrierung und Messgenauigkeit Die Kalibrierung erfolgt heute meist korrekt, d. h. gegen den angestrebten Messwert pSaO2 und nicht gegen die SaO2. Weil die Geräte vom Hersteller kalibriert werden, ist eine genaue Justierung durch den Anwender nicht möglich. Unterhalb eines pSaO2-Wertes von 80% ist die Unzuverlässigkeit des Messwerts daher unvorhersagbar für die betreffende Situation und das jeweilige Gerät. Eine Messgenauigkeit im Sättigungsbereich zwischen 80 und 100% von ±3% (95%-Konfidenzintervall, [4]) ist insofern inakzeptabel. Gewährleistet sein muss eine Genauigkeit von ±2% im Bereich 70–100% pSaO2. Nur dann kann beispielsweise ein Abfall des paO2 auf 70 mm Hg durch eine gleichzeitige Abnahme der pSaO2 auf 94% nachgewiesen werden [13]. Diese Messgenauigkeit ist besonders für die Anwendung an Frühgeborenen zu fordern, deren Beatmung häufig an pulsoxymetrischen Werten zwischen 92 und 94% orientiert ist, um sowohl Hyper- als auch Hypoxie zu vermeiden. Bei vielen der heute verfügbaren Geräte ist diese Messgenauigkeit von ±2% auch gewährleistet, einschließlich der Reproduzierbarkeit bei Mehrfachmessung [11, 13].
Erhöhte FIO2 Als Frühwarnmonitor einer Oxygenierungsstörung sind Pulsoxymeter untauglich, wenn inspiratorisch mehr als 21% O2 angeboten werden. Die Geräte eignen sich in diesem Falle lediglich als Negativkontrolle: Sie zeigen nach einer Phase trügerischer Konstanz und Stabilität (je nach O2-Reservoir, alveolärem pO2 und Lage der O2-Bindungskurve) durch plötzlich sehr schnell fallende Werte an (steiler Teil der O2-Bindungskurve), dass bereits eine gravierende Störung der O2-Versorgung eingetreten ist.
Alarmgebung Bei Pulsoxymetern können 75% aller auditiven Alarme Fehlmeldungen sein, während nur in 3% der Fälle eine Gefahr korrekt angezeigt wurde [6]. Bezogen auf eine Anwendungszeit von einer Stunde wurde eine Fehlalarmquote von 47% gefunden, entsprechend 28 min pro Betriebsstunde [1]. Pulsoxymeter gelten allerdings dann als zuverlässig, wenn die Sensitivität 100% beträgt (0% falsch-negative Ergebnisse) und die Spezifität 95% (5%
159 15.6 · Atemfunktion
falsch-positive Ergebnisse). Dies bedeutet für die Praxis, dass die Möglichkeit eines richtig-positiven Alarms 95% beträgt. Werden zwei Geräte dieser Spezifität benutzt, beträgt die Möglichkeit eines richtigen Alarms für beide Geräte allerdings nur noch 90%. Sind 20 solcher Geräte in Betrieb, beträgt die Wahrscheinlichkeit eines korrekten Alarmes nur noch 36%, während die für einen falsch-positiven Alarm bei 64% liegt. Abgesehen von der Lärmbelästigung für Patient und Personal wächst hierdurch die Gefahr, dass eine tatsächliche O2-Versorgungsstörung möglicherweise nicht oder erst verspätet wahrgenommen wird. 15.6.3 Kapnometrie Kapnometrie bezeichnet die fortlaufende Messung des CO2 in der Ausatemluft. Als Messwert angegeben wird entweder die CO2-Konzentration am Ende der Exspiration (cetCO2, Vol.-%; etCO2) oder, unter Berücksichtigung des aktuellen Luftdrucks, der entsprechende CO2-Partialdruck (petCO2, mm Hg). Ideal ist ein Gerät, wenn zusätzlich zum angezeigten endexspiratorischen (alveolären) Wert der zeitliche Verlauf des gesamten in- und exspiratorischen Atemzyklus als Kurve dargestellt wird (Kapnographie), weil diese Kurve einen unverwechselbaren Charakter hat und eine Reihe relevanter Akutveränderungen besser widerspiegelt als der numerische Wert allein. Gekennzeichnet ist die CO2-Kurve durch einen steilen Anstieg zu Beginn der Exspiration, ein nahezu horizontales Plateau während der Entleerung der alveolären Lungenanteile und einen steilen Abfall auf praktisch Null mit Beginn der Inspiration. Danach wäre ein ansteigendes oder unvollständiges Plateau ein direkter Hinweis auf eine mögliche Obstruktion, während Einbuchtungen im alveolären Plateau eine Eigenaktivität des Patienten bedeuten könnten. Eine umfassende Auswahl klinisch anschaulicher Beispiele kann von allen Herstellern schon mit den Geräteprospekten zur Verfügung gestellt werden.
Messprinzip Die Kapnometrie konzentriert sich darauf, ob nach Passage des Blutes durch die Lungenkapillaren ein physiologischer CO2-Partialdruck als Folge der CO2-Elimination erhalten wird. Beträgt der pCO2 annähernd 40 mm Hg, so muss die CO2-Elimination des durch die Lunge geflossenen Blutes intakt sein. Änderungen dieses CO2-Partialdruckes von 40 mm Hg bedeuten, dass die Beatmung entweder gestört ist und/oder sich Lungenperfusion, Herzzeitvolumen oder nutritive Perfusion geändert haben. Der herausragende Stellenwert der Methode liegt demnach darin, dass Ventilation, CO2-Produktion und CO2-Elimination integriert sind.
Messmethoden Methodisch wird zwischen Haupt- und Nebenstromkapnometern unterschieden, die in der Regel nach dem Prinzip der Infrarotabsorption funktionieren. Beispielsweise liegt der Spitzenwert der infraroten CO2-Absorption bei 4,26 Pm, also sehr nahe zwischen den Werten für Wasser und Lachgas, sodass Kollisionen dieser Gase die Infrarotmessung beeinflussen können. Ein Vorteil der Hauptstromgeräte ist, dass zur Analyse kein Gasstrom vom Tidalvolumen abgezweigt werden muss. Hauptvorteile der Nebenstromgeräte sind die praktikable Sensorgröße und die Möglichkeit, auch Lachgas und am spontan atmenden Patienten messen zu können.
15
In Einzelfällen wird die Infrarottechnik mit magneto- und photakustischen Analyseverfahren (z. B. Brüel & Kjær, Kopenhagen, oder Hewlett Packard, Sindelfingen) kombiniert, sodass auch andere Gase (O2, N2, Anästhesiegase) gemessen werden können. Andere, technisch aufwändigere und teurere klinische Möglichkeiten sind die Massenspektrometrie und das Prinzip der Raman-Brechung, mit denen ebenfalls CO2, O2, N2 und Anästhesiegase gemessen und graphisch dargestellt werden können.
Messwert petCO2 Normalerweise reflektiert der endexspiratorische pCO2-Wert (petCO2) den alveolären pCO2-Wert (pACO2) und dieser den arteriellen Wert (paCO2) – bis auf eine sehr kleine alveoloarterielle CO2-Partialdruckdifferenz (AaDCO2) von etwa 0,8–1 mm Hg [14]. Die Genauigkeit der Geräte sollte daher im Bereich von ±1 mm Hg liegen, sowohl betreffend das Kapnometer als auch den Blutgasanalysator. Alveoloarterielle pCO2-Unterschiede von etwa 4–6 mm Hg können über anatomische Shunts (z. B. die Thebesischen Venen) und geringe Ventilations- bzw. Perfusionsstörungen erklärt werden. Deutlichere Differenzen werden gefunden, wenn das Atemminutenvolumen für einen individuellen Patienten nicht richtig eingestellt ist, pathologische Veränderungen des respiratorischen Systems vorliegen sowie während sportlicher Betätigung. Typische Ursachen einer vergrößerten AaDCO2 sind pulmonale Minderperfusion und Embolisation, Herzstillstand sowie Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck oder geringem Tidalvolumen kombiniert mit hoher Atemfrequenz. Bei der Interpretation der AaDCO2 muss jedoch sichergestellt sein, dass der arterielle pCO2 auf die aktuelle Temperatur des Patienten bezogen wurde.
Messprobleme Während der Barometerdruck (pB) bei heutigen Nebenstromkapnometern keinen Einfluss mehr auf die Messung hat, gilt dies nicht für Hauptstromkapnometer. Bei pB–Schwankungen von z. B. 20 mm Hg kann der Messfehler mit Hauptstromgeräten etwa 6% betragen (ca. 1,1 mm Hg bei einem pCO2 von 40 mm Hg; [14]. Liegt eine Intensivstation beispielsweise auf einer Höhe von 600 m über N. N. (pB = 708 mm Hg), so würde der pCO2 dadurch um etwa 3 mm Hg zu hoch bestimmt. Bei Nebenstromgeräten wiederum muss das Problem der Wasserdampfkorrektur und der Querempfindlichkeit gegenüber anderen Gasen (z. B. Sauerstoff) berücksichtigt werden [12, 14]. Nebenstromgeräte trocknen das feuchte Exspirationsgas (pH2O = 47 mm Hg, 37°C), wodurch bei einem Barometerdruck von 760 mm Hg der pCO2 um etwa 6% zunimmt [14]. Damit würde ein petCO2 von 40 mm Hg (feucht) fälschlich mit 43 mm Hg (trocken) zu hoch bestimmt. Die erforderliche Korrektur (STPD/BTPS) wird jedoch nicht von allen Firmen vorgenommen bzw. erfolgt falsch [12, 14]. Die Querempfindlichkeit gegenüber anderen Gasen kann im Falle der Infrarotgeräte bei Anwesenheit von Lachgas zur Überschätzung, im Falle von O2 zur Unterschätzung des Messwerts führen, und zwar in einem Bereich von etwa 1,8–7% [14]. Allerdings wurde belegt, dass mit einigen der heute in der Routine eingesetzten Geräte eine Messgenauigkeit von ±1 mm Hg gewährleistet ist [12, 14]. Im Falle transportabler Geräte zeigte sich aber auch, dass z. T. erhebliche Unterschiede und Messungenauigkeiten bestehen, v. a. bei extremem Wechsel der Umgebungstemperatur [12].
160
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Erniedrigter petCO2 Eine Erniedrigung des gemessenen CO2-Wertes kann prinzipiell bedingt sein durch: 4 eine erniedrigte CO2-Produktion und -Abgabe an die Lungen (z. B. Hypothermie, pulmonale Minderperfusion oder Embolisation, Verminderung des Herzzeitvolumens, Herzstillstand, Blutung, Hypotension), 4 eine gesteigerte alveoläre Ventilation (Hyperventilation), 4 durch Gerätefehlfunktionen (Diskonnektion, Leckagen im Bereich des Tubus, Messfehler, fehlgegangene oder inkorrekte Atemwegssicherung). Auch die »Cola- oder Bierkomplikation« (die ösophageale Intubation bei gleichzeitig im Magen befindlicher kohlensäurehaltiger Flüssigkeit) kann anhand der von Atemzug zu Atemzug sich rasch abflachenden CO2-Kurve sicher erkannt werden. Bei erniedrigtem Herzzeitvolumen können die Kapnometerwerte initial normal bleiben, selbst dann, wenn es zum plötzlichen Herzstillstand kommt (der petCO2 fällt aber mit jedem weiteren Atemzug als Ausdruck der CO2-Auswaschung ab). Sind Segmente der Pulmonalarterie verschlossen und dadurch Teile der Lunge ventiliert, aber nicht perfundiert, so wird das Gas aus der nicht perfundierten Lunge ohne vorherige O2-Abgabe und CO2-Aufnahme exspiriert. Die petCO2-Werte wären daher trotz normaler alveolärer O2-Konzentration erniedrigt – und die AaDCO2 hätte deutlich zugenommen.
Erhöhter petCO2
15
Eine Erhöhung des endexspiratorischen CO2-Messwertes kann hervorgerufen werden durch: 4 erhöhte CO2-Produktion und -Abgabe an die Lunge (Verbesserung der Kreislaufverhältnisse, Fieber, Sepsis, Gabe von Bikarbonat, Zunahme des Metabolismus, Krampfanfälle), 4 abnehmende Alveolarventilation (Hypoventilation, Depression des Atemzentrums, Muskellähmung, Obstruktion der Luftwege), 4 Geräteprobleme (Rückatmung, verbrauchter CO2-Absorber, Leckage im Kreissystem). Wird beispielsweise nur eine Lunge beatmet, hilft die Kapnometrie allerdings wenig: Der große intrapulmonale Shunt beeinflusst den paO2 weit mehr als den paCO2, weil die normale Differenz zwischen gemischtvenösem und arteriellem pO2 groß, die zwischen gemischtvenösem und arteriellem pCO2 hingegen klein ist. Die Vermischung gleicher Mengen venösen Blutes mit arteriellem Blut wirkt sich deshalb zwar stark auf den pO2 aus, hingegen praktisch kaum auf den pCO2. Ähnliches gilt bei anatomischen Shunts, sodass der geringe petCO2-Anstieg nur mit einem sehr genauen Kapnometer erfasst werden könnte.
In Synergie zum Kapnogramm eignet sich die Oxygraphie demnach ausgezeichnet zur Beurteilung der Atemwegsicherung und zur Evaluierung von Shunts. 15.7
Analyse der ar teriellen Blutgase
Die arteriellen Blutgase sind eng mit dem Säure-Basen-Haushalt verknüpft, sodass die entsprechenden Parameter meist zusammen mit den Blutgasen bestimmt werden; durch zusätzliche Bestimmung der O2-Sättigung und der Hämoglobinkonzentrationen kann der O2-Gehalt des arteriellen Blutes berechnet werden. Venöse Blutgasanalysen sind zur Beurteilung des pulmonalen Gasaustausches nicht geeignet. 15.7.1 Probenentnahme Das arterielle Blut kann mit normalen Kunststoffspritzen oder vorgefertigten Spezialspritzen entnommen werden. Die Spezialspritzen sind leichtgängiger, der Spritzenstempel wird oft bereits durch den arteriellen Druck hochgedrückt; die Gefahr einer Beimischung von Luftbläschen mit Verfälschung der Messwerte ist geringer. Blutgasanalysen werden im Vollblut durchgeführt. Damit das Blut in der Spritze nicht gerinnt, wird Heparin als Antikoagulans zugesetzt. Andere gerinnungshemmende Substanzen dürfen nicht verwendet werden, weil hierdurch die gemessenen Werte verfälscht werden. Der pH-Wert von Heparin ist sauer (7,0). Damit keine falsch-niedrigen Werte gemessen werden, darf nicht zuviel Heparin in der Spritze belassen werden. Praktisch werden 0,5 ml Heparin in die Spritze bis zum Anschlag des Stempels aufgezogen und anschließend ingesamt wieder herausgespritzt. Das im Spritzentotraum verbleibende Heparin genügt zur Gerinnungshemmung.
Arterielle Punktionen Die Entnahmen arteriellen Blutes können praktisch an folgenden Stellen durchgeführt werden: 4 A. radialis, 4 A. brachialis, 4 A. femoralis, 4 Ausweichmöglichkeiten: A. ulnaris, A. dorsalis pedis, A. tibialis posterior, A. temporalis. A. radialis. Die A. radialis am Handgelenk ist die am leichtes-
ten zugängliche und vermutlich sicherste Punktionsstelle. Das Gefäß liegt oberflächlich, größere benachbarte Venen fehlen; außerdem besteht fast immer ein ausreichender Kollateralkreislauf über die A. ulnaris.
Oxygraphie
A. brachialis. Die Punktionsstelle befindet sich proximal und me-
Wenn O2 zugeführt wird, muss gleichzeitig der in der Lunge vorhandene N2 anteilmäßig ausgewaschen werden. Dies kann mit einem modernen Kapnometer über die Differenz aus in- und exspiratorischem O2-Partialdruck (pIO2, petO2) oder über die Differenz aus FIO2 und FEO2 abgelesen werden (Oxygraphie), sofern das betreffende Gerät nicht die direkte N2-Messung erlaubt. Diese alveoläre O2-Differenz muss bei gesicherten Atemwegen je nach vorgegebener FIO2 von Atemzug zu Atemzug typische Werte aufweisen und sich zum Kapnogramm invers verhalten.
dial der Bizepssehne in der Ellenbeuge. A. femoralis. Die Punktionsstelle liegt unterhalb des Leistenbandes. Das Gefäß verläuft tief unter der Haut neben V. und N. femoralis (Verletzungsgefahr!). Der Kollateralkreislauf der A. femoralis ist begrenzt. Vorbereitung und Vorgehen bei der Punktion sind ähnlich wie bei der A. radialis. Allergings kann die Kanüle wegen des weiten Gefäßlumens auch senkrecht zum Gefäß eingestochen werden, sonst schräg von kaudal nach kranial.
15
161 15.7 · Analyse der arteriellen Blutgase
Komplikationen der arteriellen Punktion. Die wichtigsten Kom-
plikationen bei arteriellen Punktionen sind: 4 Gefäßspasmus, 4 intravasale Gerinnselbildung, 4 Hämatom. Durch diese Komplikationen kann die Durchblutung beeinträchtigt oder sogar vollständig unterbrochen werden.
. Tabelle 15.8. Normalwerte der Blutgase und O2-Sättigungen Parameter
Arteriell
Gemischtvenös
pO2
70–105 mm Hg
35–40 mm Hg
pCO2
35–45 mm Hg
41–51 mm Hg
O2-Sättigung
96–98%
70–75%
Arterialisiertes Kapillarblut Bei Neugeborenen und Kleinkindern können die Blutgase hinreichend genau aus arterialisiertem Kapillarblut bestimmt werden, wenn die Durchblutung im Bereich der Punktionsstelle ausreichend ist, nicht hingegen bei Zentralisation des Kreislaufs. Das praktische Vorgehen ist in der folgenden Übersicht dargestellt: Praktisches Vorgehen bei der Entnahme einer arterialisierten Kapillarblutprobe 5 Auswahl eines stark kapillarisierten Gefäßbetts: Ferse, Ohrläppchen, Fingerbeere, Großzehe 5 Erwärmen des Punktionsgebiets, z. B. durch 10-minütiges Anstrahlen mit einer Lampe 5 Tiefer Einstich in das erwärmte Gebiet mit einer Lanzette; hierbei muss das Blut frei austreten, ohne dass die Punktionsstelle ausgequetscht wird 5 Eine mit Heparin benetzte Kapillare (10 cm lang, 60–100 μl Fassungsvermögen) tief in den Blutstropfen einführen, damit das Blut leicht in der Kapillare aufsteigen kann 5 Probe luftdicht verschließen und, sofern nicht sofort eine Analyse er folgt, bei 4°C lagern
15.7.2 Aufbewahrung und Verarbeitung
der Proben Das entnommene Blut verbraucht weiterhin O2 und bildet CO2. Das Blut sollte daher möglichst sofort nach der Entnahme analysiert werden. Ist dies nicht möglich, so muss die Stoffwechselaktivität des Blutes durch Lagerung im Kühlschrank bei 4°C gesenkt werden. Die Aufbewahrungszeit bei dieser Temperatur beträgt ca. 1–2 h. Darüber hinaus muss die Blutentnahme unter anaeroben Bedingungen erfolgen, d. h. während und nach der Entnahme darf keine Luft in die Spritzen eindringen, damit die Blutgaswerte nicht verfälscht werden.
Einfluss der Temperatur Die meisten Blutgasanalysegeräte messen die Blutgase bei 37°C. Hypothermie steigert jedoch die Löslichkeit der Blutgase: paO2 und paCO2 fallen ab. Nach derzeitiger Auffassung sollen die Blutgase bei 37°C gemessen und nicht auf Körpertemperatur korrigiert werden. 15.7.3 Sauerstoffpar tialdruck Der Bereich der Normalwerte im arteriellen und gemischtvenösen Blut ist in . Tabelle 15.8 dargestellt. Der paO2 nimmt mit zunehmenden Alter progredient ab:
paO2 (mm Hg) = 102 – 1/3 Alter (in Jahren)
Als unterer Schwellenwert für therapeutische Maßnahmen gilt ein akuter Abfall des paO2 auf ca. 60 mm Hg. Bei chronischer Hypoxie werden auch niedrigere paO2-Werte toleriert. 15.7.4 Sauerstoffsättigung des Blutes Der paO2 bestimmt über die O2-Bindungskurve die O2-Sättigung des arteriellen Blutes (SaO2), d. h. den prozentualen Anteil des mit O2 gesättigten Hämoglobins (O2Hb) am Gesamthämoglobin des Blutes. Der Normalwert der arteriellen O2-Sättigung beträgt 96%. Das Hämoglobin ist praktisch nie zu 100% mit O2 gesättigt, da im Blut 0,5–1% des Hämoglobins als MetHb und 1–2% als COHb vorliegen und außerdem eine geringe Menge des Blutes nicht am pulmonalen Gasaustausch teilnimmt, sondern als Shuntblut in den arteriellen Kreislauf einströmt. Die SaO2 wird mit CO- oder Häm-Oxymetern bestimmt, und zwar diskontinuierlich in vitro, die SpO2 wird hingegen kontinuierlich in vivo mit Pulsoxymetern, in vitro mit Häm-Oxymetern gemessen oder aus der Blutgasanalyse berechnet. Als Schwellenwert für therapeutische Maßnahmen gilt ein akuter Abfall der SaO2 auf 90%. 15.7.5 Sauerstoffbindungskur ve Die O2-Bindungskur ve beschreibt die Beziehung zwischen dem paO2 und der O2-Sättigung des Hämoglobins. Zu jedem bestimmten paO2 gehört auch eine bestimmte O2-Sättigung des Hämoglobins: Ein niedriger paO2 führt zur Abnahme der O2-Sättigung und umgekehrt. Die Beziehung zwischen O2-Sättigung des Hämoglobins und paO2 ist jedoch nicht linear, vielmehr gilt Folgendes: 4 Im Bereich niedriger paO2-Werte verläuft die Kurve sehr steil, d. h. bereits geringe Anstiege des paO2 führen zu starker Zunahme der O2-Sättigung und umgekehrt, 4 im Bereich hoher paO2-Werte, also im Normalbereich und darüber, nimmt die O2-Sättigung nur geringfügig zu, wenn der paO2 ansteigt, 4 bei vollständiger O2-Sättigung des Hämoglobins ist keine weitere chemische O2-Bindung mehr möglich; lediglich die physikalisch gelöste O2-Menge kann (geringfügig) zunehmen. Die O2-Bindungskurve kann durch zahlreiche Faktoren nach links oder rechts verschoben werden (. Abb. 15.14).
162
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Linksverschiebung der Kurve 1. 2, 3. 4.
Rechtsverschiebung der Kurve
[H+ ], pH pCO2 Temperatur 2, 3 - DPG
1. 2, 3. 4.
[H+ ], pH pCO2 Temperatur 2, 3 - DPG
. Abb. 15.14. O2-Bindungskurve des Hämoglobins. 2,3-DPG 2,3-Diphosphoglyzerat
100 90 80
Sauerstoffsättigung [%]
links
rechts
70 60 p50
p pO 502
Sättigung des Hb [%]
Gelöster O2 ml / 100 ml
10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
13,5 35,0 57,0 75,0 83,5 89,0 92,7 94,5 96,5 97,4
0,03 0,06 0,09 0,12 0,15 0,18 0,21 0,24 0,27 0,30
50 40 30 20 10 0 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
120
pO2 [mm Hg]
Rechtsverschiebung. Rechtsverschiebung der O2-Bindungskurve bedeutet: Bei gleichem paO2 wird weniger O2 vom Hämoglobin gebunden. Allerdings wird O2 auch besser aus dem Hämoglobin freigesetzt. Rechtsverschiebung tritt auf bei Fieber, Azidose, Hyperkapnie.
15
Linksverschiebung. Linksverschiebung bedeutet: Bei gleichem
paO2 kann das Hämoglobin mehr O2 binden, sodass die O2-Sättigung entsprechend höher als sonst ist. Die Bindung zwischen O2 und Hämoglobin ist verstärkt, darum wird O2 schlechter freigegeben. Linksverschiebung tritt auf bei Hypothermie, Alkalose, Hypokapnie und 2,3-DPG-Mangel.
15.7.7 Sauerstoffgehalt im Blut Die entscheidende Größe des arteriellen Blutes ist die O2-Konzentration bzw. der O2-Gehalt, CaO2. Er hängt von folgenden arteriellen Größen ab: 4 O2-Partialdruck, paO2 (mm Hg), 4 O2-Sättigung, SaO2 (%), 4 Hämoglobinkonzentration, cHb (g/dl). Der O2-Gehalt des Blutes kann nach folgender Formel berechnet werden: CaO2 (ml/dl) = SaO2 (%) u cHb (g/dl) u 1,39 + (paO2 u 0,003)
15.7.6 Physikalisch gelöster Sauerstoff Die physikalisch im Blut gelöste O2-Menge ist gering: Pro mm Hg werden 0,003 ml O2 physikalisch gelöst, das sind bei einem normalen paO2 von 100 mm Hg 0,3 ml O2/100 ml Vollblut. Selbst durch Erhöhung der inspiratorischen O2-Konzentration auf 100% mit nachfolgendem Anstieg des paO2 auf 600 mm Hg würde die gelöste O2-Menge nur auf 1,8 ml/100 ml Blut ansteigen – eine, im Vergleich zum chemisch gebundenen Anteil von 21 ml/100 ml Blut, außerordenlich geringe Menge. Praktisch gilt daher: ! Cave Bei der Einstellung der inspiratorischen O2-Konzentration am Beatmungsgerät genügt eine Konzentration, die zu einem Anstieg des paO2 in den Normbereich von 70–105 mm Hg führt.
Normalwert arteriell: Männer 20,4 ml/dl, Frauen 18,6 ml/dl.
15.7.8 Sauerstoffangebot an die Organe Die O2-Versorgung aller Organe hängt vom O2-Angebot mit dem arteriellen Blutstrom ab. Für den Gesamtorganismus ergibt sich das O2-Angebot (A ˙O2) aus dem Produkt von Herzzeitvolumen (HZV) und arteriellem O2-Gehalt bzw. -Konzentration (CaO2): A˙O2 (ml/min) = HZV (l/min) u CaO2 (ml/dl)
Das lokale O2-Angebot an die einzelnen Organe wiederum wird von der Organdurchblutung Q ˙ und der arteriellen O2-Konzentration bestimmt:
163
15
Anämische Hypoxämie. Verminderte cHb und CaO2 bei normaOrgan-A˙O2 (ml/min) = Q˙ (ml/min) u CaO2 (ml/dl)
Da während der Narkose das Herzzeitvolumen nur selten und die Organdurchblutung allenfalls bei wissenschaftlichen Fragestellungen gemessen wird, kann der Anästhesist die O2-Versorgung bzw. das aktuelle O2-Angebot nur indirekt anhand der arteriellen O2-Konzentration beurteilen. Hierzu müssen, wie bereits zuvor dargelegt, der O2-Partialdruck, die O2-Sättigung und die Hb-Konzentration bestimmt werden. Klinisch ist Folgendes zu beachten: i Ein normaler paO2 und/oder eine normale O2-Sättigung bedeuten nicht zwangsläufig auch ein normales arterielles O2-Angebot, insbesondere nicht auf Organebene.
Diese Parameter (paO2, SaO2, Hb-Konzentration und CaO2) kennzeichnen nach Zander den O2-Status des Blutes.
ler SaO2 und normalem paO2; Beispiel: Anämie. Folgen der Hypoxämie. Die verschiedenen Formen der Hypoxämie führen bei gleicher Abnahme der arteriellen O2-Konzentration, CaO2, klinisch zu unterschiedlichen Folgen: Eine anämische Hypoxämie wird wesentlich besser toleriert als eine hypoxische Hypoxämie und diese wiederum besser als eine toxische Hypoxämie gleichen Ausmaßes. Der Grund für diese unterschiedliche Toleranz beruht auf dem unterschiedlichen Verlauf der O2-Gehaltskurve bei hypoxischer, toxischer und anämischer Hypoxämie. Da die O2-Versorgung der Gewebe, neben dem O2-Gehalt des arteriellen Blutes, auch vom O2-Partialdruck als treibender Kraft für die O2-Diffusion aus dem Kapillarblut ins Gewebe abhängt, führt eine Linksverschiebung der O2-Gehaltkurve (wie bei hypoxischer und toxischer Hypoxämie), selbst bei gleichem O2-Gehalt, zu einer O2-Minderversorgung. Demgegenüber ist der Verlauf der Kurve bei akuter Anämie nicht und bei chronischer Anämie nur gering verändert.
15.7.9 Alveoloar terielle O2-Par tialdruckdifferenz Die alveoloarterielle O2-Partialdruckdifferenz (AaDO2) ist ein semiquantitatives Maß für den physiologischen Rechts-linksShunt, d. h. für die Blutmenge, die, ohne mit O2 gesättigt zu werden, direkt von der Lungenarterie in die Lungenvene einströmt. Die AaDO2 ist die Differenz zwischen dem alveolären (pAO2) und dem arteriellen (paO2) O2-Partialdruck. Nach Atmung von 100% O2 für etwa 20 min beträgt die normale AaDO2 20–35 mm Hg. Das entspricht einem normalen Shuntanteil von 3–5% des Herzzeitvolumens. Anders ausgedrückt: 3–5% des Herzzeitvolumens werden kurzgeschlossen (über Lungenvenen und Vv. Thebesii) und nehmen nicht am pulmonalen Gasaustausch teil. Bei pathologisch erhöhtem Rechtslinks-Shunt, z. B. durch Atelektasen, nimmt die AaDO2 zu. 15.7.10 Störungen des arteriellen Sauerstoffstatus Für die Beurteilung von Störungen des arteriellen O2-Status des Blutes sind folgende Begriffe klinisch von Bedeutung: 4 Hypoxie: Abnahme des paO2. Sie führt zu Hypoxygenation und Hypoxämie. 4 Hypoxygenation: Verminderung der arteriellen O2-Sättigung (SaO2). Sie führt zur Abnahme des O2-Gehalts bzw. Hypoxämie. 4 Hypoxämie: Abnahme des arteriellen O2-Gehalts. Eine Anämie führt ebenfalls zur Abnahme des arteriellen O2-Gehalts, d. h. zur Hypoxämie.
Hypoxämie Folgende Formen der Hypoxämie, d. h. einer Abnahme des arteriellen O2-Gehalt bzw. der CaO2 können unterschieden werden: Hypoxische Hypoxämie. Abnahme von paO2, SaO2 und CaO2.
Beispiel: Störungen der Lungenfunktion, der äußeren Atmung oder Beatmung. Toxische Hypoxämie. Verminderte SaO2 und CaO2 bei zunächst
normalem paO2; Beispiel: CO-Intoxikation.
Für die Behandlung der verschiedenen Formen der Hypoxämie werden nach einer Zusammenstellung von [14] folgende Grenzwerte der arteriellen O2-Konzentration (CaO2) empfohlen: 5 Hypoxische Hypoxämie: Therapie zu erwägen oder zu beginnen: 18 ml/dl; Behandlung obligat: 15 ml/dl 5 Toxische Hypoxämie: Theapie zu erwägen oder zu beginnen: 17 ml/dl; Behandlung obligat: 14 ml/dl 5 Anämische Hypoxämie: Therapie zu erwägen: 13 ml/ dl; Behandlung empfohlen: 10 ml/dl
Die Werte gelten für akute, innerhalb von Minuten auftretende Veränderungen. Bei chronischen, sich im Verlauf von Tagen entwickelnden Veränderungen können die Grenzwerte evtl. bis zu Hälfte tiefer angesetzt werden. 15.8
Tonometrie
15.8.1 Einleitung Ein Schwerpunkt intensivmedizinischer Therapie und Überwachung ist die Aufrechterhaltung einer suffizienten Organperfusion und Gewebeoxygenierung [1]. Dies betrifft bei chirurgischen und traumatologischen Patienten insbesondere den Gastrointestinaltrakt. Ziel ist es, das Verhältnis zwischen Sauerstoffangebot und -verbrauch zu optimieren. Mit den konventionellen und derzeit klinisch verfügbaren Monitoringverfahren, z. B. invasive Blutdruckmessung (arteriell, pulmonalarteriell und zentralvenös), werden makrohämodynamische Parameter erfasst, die nur eingeschränkte Informationen über Perfusion und Oxygenierung einzelner Organsysteme geben [2]. i Der Gastrointestinaltrakt gilt als ein Zentralorgan in der Pathogenese des Multiorganversagens bei kritisch kranken Patienten, wobei das Hepatosplanchnikusstromgebiet sowohl Ausgangspunkt als auch Angriffspunkt einer inflammatorischen Reaktion sein kann [3, 4].
164
Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
Unter physiologsichen Bedingungen beträgt der Anteil der Splanchnikusperfusion am Herzzeitvolumen (HZV) 25–30% [5]. Das kritische Sauerstoffangebot – also derjenige Wert, bei dem die Sauerstoffaufnahme abhängig vom Verbrauch wird – wird für den Darm um den Faktor 6 höher angegeben als für den Gesamtorganismus [6]. Innerhalb der Darmwand werden der Darmmukosa 80% des Blutflusses zugeführt, gewissermaßen als Ausdruck der hohen Stoffwechselaktivität dieses Gewebes. Die Darmmukosa ist sowohl deshalb als auch aufgrund ihrer hohen Stoffwechselaktivität und durch Besonderheiten ihrer Gefäßarchitektur (»counter-current-exchange mechanism«) [7] besonders vulnerabel gegenüber hypoxischen und hypovolämischen Ereignissen. Mit der Tonometrie soll dieser besonderen Situation messtechnisch über den regionalen pCO2 Rechnung getragen werden können. 15.8.2 Messmethodik und klinischer Einsatz
15
Aufgrund seiner sehr guten Diffusionseigenschaften ist CO2 membrangängig und kann sehr leicht in verschiedene Gewebe oder Lumina intestinaler Organe diffundieren [8]. Damit kommt es zu einem Äquilibrium zwischen diesen verschiedenen Kompartimenten. Das tonometrische Messverfahren basiert auf der Messung des Partialdrucks von Gasen in intestinalen Hohlorganen. Aufgrund der oben genannten Zusammenhänge wird über die Bestimmung des Partialdrucks eines Gases in einem Hohlorgan, z. B. dem Magen, auf den entsprechenden Partialdruck in den Mukosazellen rückgeschlossen. Die ersten derartigen pO2- und pCO2-Messungen in Hohlorganen wurden bereits 1964 durchgeführt [9]. Von Fiddian-Green et al. wurde 1980 die aktuelle Methodik der Tonometrie in die Klinik eingeführt [10, 11]. Dabei wird eine durchlässige und mit 2,5 ml physiologischer Kochsalzlösung oder einem Phosphatpuffer gefüllte Ballonsonde (Tonometersonde) in das zu untersuchende gastrointestinale Hohlorgan (Magen oder Sigma) eingeführt. Unter der Prämisse der freien CO2-Diffusion in den Messballon wird nach einer definierten Äquilibrierungszeit (90 min) die Lösung unter anaeroben Bedingungen aspiriert und unter Verwerfung des Totraumvolumens die CO2Konzentration mit Hilfe eines Blutgasanalysegeräts gemessen. Neben der klinisch gebräuchlichen gastralen Tonometrie gibt es neuere Ansätze wie die sublinguale und die ösophageale Kapnometrie [12, 13]. Vorteile dieser Messverfahren sind die leichte Zugänglichkeit für die Messsonde und die Bedeutungslosigkeit eines duodenalen Refluxes für die Messung. Für eine endgültige Wertung dieser Verfahren liegen allerdings derzeit noch nicht ausreichend valide klinische Daten vor. Die in der klinischen Routine verbreitete Messmethode ist derzeit die Magentonometrie zur Bestimmung des gastralen pCO2 (pgCO2). Unter der Annahme, dass die intrazelluläre Bikarbonatkonzentration der Mukosazellen der Bikarbonatkonzentration des arteriellen Blutes entspricht, kann der gemessene pCO2 nach der Henderson-Hasselbalch-Gleichung in einen pH-Wert der Mukosazellen (sog. pHi) umgerechnet werden [14]: pHi = 6,1 + log10 ([art HCO–3]/pgCO2 u 0,03 u F) 5 F = zeitabhängige Äquilibrierkonstante des Herstellers
i Bei der Durchführung dieses Monitoringverfahrens sind einige methodische Besonderheiten zu berücksichtigen: CO2 entweicht sehr leicht aus einer wässrigen Lösung; hier können bei nicht sehr sorgfältigem Arbeiten leicht Messungenauigkeiten auftreten (z. B. Messdauer, Luftblasen, Lagerungszeit).
In-vitro-Untersuchungen haben gezeigt, dass bei ausreichend langer Äquilibrierungszeit die Verwendung eines Phosphatpuffers als Messlösung die Messgenauigkeit aufgrund der hohen CO2Bindungskapazität erhöht [15]. Bei der Interpretation der Messergebnisse sind mögliche signifikante Unterschiede hinsichtlich der CO2-Messgenauigkeit des verwendeten Blutgasanalysegeräts zu berücksichtigen [16]. Die Vorteile der Methodik, ihre geringe Invasivität und die relativ geringen apparativen Voraussetzungen werden insofern durch methodische Unzulänglichkeiten maßgeblich beeinflusst. Die Umrechnung des gemessenen pCO2 auf einen pH-Wert unter Einbeziehung geschätzter Größen ist umständlich und ungenau. Insbesondere die Annahme einer identischen HCO–3Konzentration im arteriellen Blut und den Mukosazellen ist bei der Betrachtung von Pufferungsprozessen, besonders unter pathophysiologischen Bedingungen, kritisch zu sehen [17]. Weiterhin werden durch die lange Äquilibrierungszeit die zugrunde liegenden, oft sehr dynamischen pathophysiologischen Prozesse unzureichend erfasst bzw. stören die Messung (respiratorische Einflüsse, z. B. Hyperventilation). Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte sich die Methodik, die luminal gemessene CO2-Konzentration direkt und semikontinuierlich über einen Infrarotsensor zu messen – in der Klinik realisiert durch die Einführung des Tonocap Monitors (Tonocap, Tonometrics, Datex-Ohmeda, Instrumentarium, Helsinki, Finnland) [18]. Hierbei wird der Messballon nicht mit Flüssigkeit, sondern mit 5 ml Luft gefüllt, die nach einer vergleichsweise kurzen Äquilibrierungszeit von mindestens 10 min automatisch in eine Messkammer gesaugt wird, in der mit Hilfe eines Infrarotsensors die CO2-Konzentration gemessen wird. Parallel kann am gleichen Gerät die endtidale CO2-Konzentration ermittelt werden.
Zwischen diesen beiden gemessenen Werten oder zwischen dem gastralen CO2-Partialdruck (pgCO2) und dem zeitgleich gemessenen arteriellen CO2-Partialdruck (paCO2) kann die CO2-Differenz als sog. CO2-Lücke (CO2-gap) errechnet werden. Dadurch können die respiratorischen Einflüsse auf den pgCO2 weitgehend eliminiert werden. Bei der Interpretation der Messwerte müssen verschiedene Einflussfaktoren (wie der Säure-Basen-Haushalt, die Körpertemperatur und eine enterale Ernährung) berücksichtigt werden und methodische Fehler (wie eine nicht korrekte Sondenposition oder eine zu kurze Äquilibrierungszeit) ausgeschlossen sein.
Aufgrund einer nicht unerheblichen interindividuellen Streuung der Messwerte gewinnt eine semikontinuierliche Messung entscheidende Bedeutung, um beispielsweise bei einem kontinuierlichen Anstieg der CO2-gap einen frühzeitigen Hinweis auf eine Minderperfusion und/oder Hypoxie im Splanchnikusstromgebiet zu geben. Bei korrekter Handhabung und kontinuierlicher Mes-
165 Literatur
sung ist die Tonometrie zwar ein unspezifisches, aber globales und integratives Verfahren zur Beurteilung der Splanchnikusperfusion. Damit wäre diese Methode eine wertvolle ergänzende Diagnostik bei kritisch kranken Patienten auf der Intensivstation.
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Kapitel 15 · Hämodynamisches und resporatorisches Monitoring
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: Detaillierte, kenntnisreiche und kritische Bewertung alternativer (und weniger invasiver) Verfahren für die bettseitige Bestimmung des extravaskulären Lungenwassers bei schwerkranken Intensivpatienten auf der Basis einer umfassenden Auswertung aktueller Forschungsergebnisse.
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15
16 Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring K.L. Kiening, A.S. Sarrafzadeh
16.1
Einleitung
16.2
Zerebrales Basismonitoring: intrakranieller Druck, zerebraler Per fusionsdruck –170
16.3
Monitoring der zerebralen Oxygenierung
16.3.1 16.3.2 16.3.3
Jugularvenöse Oxymetrie –170 Nahe-Infrarot-Spektroskopie –171 Hirngewebe-pO2 –172
16.4
Kontinuierliche, qauntitative Messung des zerebralen Blutflusses –173
16.5
Zerebrale Mikrodialyse
16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.5.4
Funktionsprinzip –174 Mikrodialyseeinheit auf der Intensivstation –174 Mikrodialyse – bei welchen Patienten? –174 Vorteile und Nachteile der Methode –175
Literatur
–170
–175
–174
–170
170
Kapitel 16 · Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
16.1
Einleitung
Bei zerebral geschädigten Patienten besteht ein erhöhtes Risiko, aufgrund einer zerebralen Hypoxie bzw. Ischämie infolge arterieller Hypoxämie, arterieller Hypotonie oder intrakranieller Hypertension eine sekundäre Hirnschädigung zu erleiden, die zur Verschlechterung des klinischen Endergebnisses führt. In den letzten Jahren hat sich das Spektrum der Methoden zur Beurteilung der zerebralen Situation bei intensivpflichtigen neurologisch-neurochirurgischen Patienten erheblich erweitert. Neben dem Monitoring des intrakraniellen Drucks (ICP) und des zerebralen Perfusionsdrucks (CPP) gibt es mittlerweile etablierte Verfahren zur kontinuierlichen Messung der zerebralen Oxygenierung, des zerebralen Metabolismus bzw. des zerebralen Blutflusses. i Oberstes Ziel des zerebralen Monitorings ist es, Phasen zerebraler Hypoxie oder Ischämie möglichst früh lückenlos zu erkennen und ihre Therapie zu überwachen.
16.2
Zerebrales Basismonitoring: intrakranieller Druck, zerebraler Per fusionsdruck
In einer ersten Annäherung an das diagnostische Problem der zerebralen Minderdurchblutung wurde zunächst als Messparameter der intrakranielle Druck (ICP) und später der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) ‒ die Differenz von mittlerem arteriellen Blutdruck und ICP ‒ verwendet [13, 16]. Der Einfluss von pathologischem ICP und CPP auf das klinische Outcome ist unstrittig. Die Einführung von interventionsbedürftigen Grenzwerten der beiden Druckgrößen (ICP >20 mm Hg; CPP <60 mm Hg) und ihre Behandlung führten zu einer Optimierung der Intensivtherapie, sodass beide Parameter heute die Grundlage des zerebralen Intensivmonitorings darstellen. Allgemein gelten folgende interventionspflichtige Grenzwerte:
16
5 Intrakranieller Druck (ICP): >20 mm Hg 5 Zerebraler Perfusionsdruck (CPP): <60 mm Hg
Die Einhaltung der oben genannten Druckgrenzen garantiert aber per se nicht einen adäquaten zerebralen Blutfluss (CBF) bzw. eine ausreichende zerebrale Oxygenierung. Diese diagnostische Einschränkung wird besonders im Falle einer überschießenden zerebralen Vasokonstriktion, wie sie z. B. bei der Hyperventilationstherapie oder im Rahmen eines zerebralen Vasospasmus nach Subarachnoidalblutung auftreten kann, deutlich. Hierunter kommt es oftmals, trotz »normaler« ICP- und CPP-Werte, zur zerebralen Hypoxie/Ischämie, sodass eine On-line-Überwachung weiterer zerebraler Parameter wie z. B. der zerebralen Oxygenierung wünschenswert ist. 16.3
Monitoring der zerebralen Oxygenierung
Das Gehirn ist hinsichtlich einer drohenden O2-Minderversorgung besonders gefährdet, da es einerseits einen hohen O2-Verbrauch, andererseits keine nennenswerten O2-bzw. ATP-Speicher aufweist und auf einen vorwiegend aeroben Stoffwechsel
zurückgreifen muss. Wie oben erwähnt, ist ein reines zerebrales »Druckmonitoring« (ICP, CPP) oftmals ungenügend und bedarf der Ergänzung. Für ein Monitoring der zerebralen Oxygenierung stehen grundsätzlich drei gänzlich unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, die im Folgenden näher erläutert werden. 16.3.1 Jugular venöse Oxymetrie Einen Meilenstein in der Entwicklung des Monitorings entsprechender Parameter stellt die kontinuierliche Messung der O2-Sättigung im Bulbus der V. jugularis interna (SjvO2) über fiberoptischer Katheter dar [2]. Die theoretischen Voraussetzungen für die Gültigkeit dieses Messverfahrens zur Beurteilung der zerebralen O2-Versorgung und des zerebralen O2-Umsatzes (CMRO2) liegen in den engen Beziehungen von CMRO2, arteriojugularvenöser O2-Differenz, O2-Konzentration im arteriellen und jugularvenösen Blut bzw. zerebralen Blutfluss (CBF) begründet, wie sie in der Fick´schen Gleichung und ihren Umformungen beschrieben sind. Durch Messung der SjvO2 können Aussagen über die globale zerebrale Oxygenierung, das Verhältnis von CBF zu CMRO2 sowie den CBF, unter Annahme einer konstanten CMRO2, getroffen werden.
Messprinzip Oxymetriekatheter – retrograd über die V. jugularis interna bis zur Schädelbasis vorgeschoben – benutzen Licht ausgewählter Wellenlängen aus dem Rot- und Nahe-Infrarotspektrum. Dabei wird die Lichtintensität des am Hämoglobin des Erythrozyten reflektierten Lichtanteils gemessen. Die O2-Sättigung wird dann aus der Lichtabsorption des Hämoglobinmoleküls vom Computer errechnet.
Indikationen Ein SjvO2-Monitoring sollte, als invasive Monitoringmethode, Patienten vorbehalten sein, die einem signifikanten Risiko einer zerebralen Hypoxie bzw. Ischämie unterliegen. Dies ist bei allen bewusstlosen Patienten V. a. unter den folgenden Bedingungen der Fall: 4 zerebraler »Vasospasmus«, 4 Hyperventilationstherapie, 4 eingeschränkte bzw. aufgehobene zerebrale Autoregulation, 4 pulmonale Gasaustauschstörung, 4 Hypermetabolismus (Fieber, zerebraler Krampfanfall), 4 Blutverlust.
Aussagefähigkeit im Rahmen des Intensivmonitorings Es können 3 Messbereiche definiert werden. Der Normalbereich erstreckt sich von 54‒75%. Werte <50% werden als Desaturation [21] und Werte >75% als Hyperämie bezeichnet, die »relativ« (normaler CBF bei reduzierter CMRO2) oder »absolut« (erhöhter CBF bei normaler CMRO2) sein kann (. Tab. 16.1). Klinisch und wissenschaftlich besonders wertvoll geworden ist die SjvO2-Messung durch die Beschreibung sog. Desaturationsepisoden, die das klinische Outcome ungünstig beeinflussen [21]. Eine Desaturationsepisode ist definiert als eine über mindestens 15 min anhaltende Reduktion der SjvO2 auf <50%. Derartige Episoden beeinflussen kumulativ die Mortalität und Morbidität nach schwerem Schädelhirntrauma und treten während der Akutphase in einem entsprechenden Kollektiv bei etwa 40% aller Patienten mindestens einmal auf [21].
171 16.3 · Monitoring der zerebralen Oxygenierung
16
. Tabelle 16.1. Einteilung jugularvenöser Oxymetrieergebnisse Bereich Normalbereich
SjvO2 54–75%
Desaturation
<50%
Hyperämie
>75%
Das SjvO2-Monitoring eignet sich ferner zur Bestimmung des optimalen CPP und zur Überwachung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Senkung eines erhöhten ICP, speziell bei Hyperventilation. Einschränkungen der Aussagekraft der SjvO2 bestehen v. a. hinsichtlich der Identifizierung regionaler hypoxischer Areale, da die Methode als globales Verfahren zur Erfassung der zerebralen Oxygenierung angesehen wird.
Kontraindikationen Kontraindikationen für die SjvO2-Messung sind hämorrhagische Diathese, vorbestehende Infektionen des Punktionsorts, instabile Verletzungen der Halswirbelsäule und jede Art der zerebrovenösen Abflussbehinderung (z. B. Sinusvenenthrombose). Die Katheterisierung bei einem gleichzeitigen Tracheostoma stellt wegen der erhöhten Infektionsgefahr eine relative Kontraindikation dar. Die Anwendung der Methode bei Kindern (<14. Lebensjahr) gestaltet sich problematisch, da hier keine ausreichend gesicherten Daten vorliegen und im Übrigen nur unzureichende Kenntnisse hinsichtlich der Normalwerte von ICP, CPP, CBF und SjvO2 existieren.
Artefakte Bei Lichtintensitätsverlust liegt eine Katheterobstruktion vor, bei zu hoher Lichtintensität liegt der Katheter der Gefäßwand an. Der unter physiologischen Bedingungen kleine Anteil von Beimischungen extrakraniellen Blutes kann unter pathologischen Bedingungen erheblich zunehmen. Dies wurde wiederholt während Phasen der zerebralen »Einklemmung« gezeigt [6]. Hier findet sich, nach einem deutlichen Abfall der SjvO2, ein Anstieg der Messwerte, da nun vermehrt extrakranielles Blut retrograd in den Bulbus fließt. Kann der Katheter sich in der Vene »aufwickeln«, kommt es zu sog. spontanen Wellen der Messwerte [3]. Eine Röntgenkontrolle sichert die Diagnose und erfordert die Lagekorrektur bzw. die Entfernung des Katheters.
Stellenwert im Rahmen des Intensivmonitorings Trotz des gesicherten wissenschaftlichen Nachweises ist die SjvO2 in der praktischen Anwendung v. a. wegen der ihr anhaftenden vielfältigen Probleme (hoher zeitlicher und personeller Aufwand bei hoher Artefaktanfälligkeit) vom Monitoring des Hirngewebe-pO2 (ptiO2) weitgehend verdrängt worden. So ist die Datenqualität auch in Zentren mit großer Erfahrung allenfalls bei 55‒60% zuverlässiger Messwerte anzusiedeln [3, 12]. Ein weiterer, wesentlicher Nachteil der Methode liegt in ihrer relativen kurzen medianen Anwendungszeit von 2,5‒4 Tagen, wenn auf einen Katheterwechsel über die liegende Schleuse (Infektionsgefahr!) bzw. auf eine Neupunktion verzichtet wird [3, 12]. Stabile Messungen bis zu 10 Tagen, z. B. nach Trauma, wären aber bei komplizierten Krankheitsverläufen wünschenswert.
. Abb. 16.1. Algorithmus zur Überwachung der globalen zerebralen Oxygenierung unter Verwendung der SjvO2. (Nach [27])
. Abb. 16.1 zeigt einen Algorithmus zur Überwachung der glo-
balen zerebralen Oxygenierung unter SjvO2-Monitoring (nach [27]).
Komplikationen Von Seiten der möglichen Komplikationen kann das SjvO2-Monitoring als sicher angesehen werden. Eine Jugularvenenthrombose gilt zwar als potenzielles Risiko, ist aber äußerst selten und ohne klinische Relevanz. Goetting et al. [4] sahen bei 123 Patienten mit SjvO2-Katheter keine Thrombose. Akzidentelle Punktionen des Subarachnoidalraums sind vereinzelt beschrieben worden. Eine versehentliche Punktion der A. carotis liegt in der Häufigkeit bei ca. 3%. 16.3.2 Nahe-Infrarot-Spektroskopie Die Nahe-Infrarot-Spektroskopie (NIRS) ist, im Gegensatz zur jugularvenösen Oxymetrie und zur Messung des HirngewebepO2 (ptiO2), eine nichtinvasive Methode zur Überwachung der zerebralen O2-Versorgung und -Utilistation und wäre somit das Monitoring der Wahl bei neurochirurgischen Intensivpatienten. Die Entwicklung entsprechender Geräte begann 1977, als Jöbsis [9] die relativ gute Nahe-Infrarot-Lichtdurchlässigkeit von biologischen Geweben im Bereich einiger Zentimeter, speziell von Haut, Galea, Schädelknochen, Hirnhäuten und V. a. Hirn-
172
Kapitel 16 · Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
parenchym, zeigen konnte. Das Licht wird dabei gestreut, teils absorbiert, teils übertragen sowie partiell reflektiert. Im Nahe-Infrarot-Wellenlängenbereich (650‒1100 nm) besitzen die drei Chromophoren oxygeniertes Hämoglobin, desoxygeniertes Hämoglobin und oxydierte Zytochromoxydaseaa3, das letzte Enzym der mitochondrialen Atmungskette, O2-abhängige spezifische Absorptionsmaxima. Dadurch eröffnet sich, unter Anwendung des Lambert-Beer-Gesetzes, die theoretische Möglichkeit eines zerebralen O2-Monitorings bis hin zur mitochondrialen Ebene. Neben den eingangs erwähnten Parametern können abgeleitete Größen, wie das Gesamthämoglobin oder die regionale O2-Sättigung (SrO2), die das Verhältnis des oxygenierten Hämoglobins zum Gesamthämoglobin in Prozent anzeigt, dargestellt werden. Ferner kann die Veränderung der optischen Dichte von linker zu rechter Hemisphäre einen Hinweis auf sekundär entstehende intra- oder extrazerebrale Hämatome geben [5]. Von ca. 10 Firmen, die initial mit der Entwicklung von NIRS-Reflexionsgeräten begannen, sind wenige bis zur ersten klinischen Erprobung gelangt. Die meisten Gerätetypen wurden aufgrund gravierender Mängel hinsichtlich Spezifität, Sensitivität und Reliabilität bereits wieder vom Markt genommen.
Artefaktverhalten und -erkennung Ein generelles Problem bei der Validierung von NIRS-Systemen besteht darin, dass NIRS-Daten mit keiner anderen Untersuchungstechnik am lebenden Menschen überprüft werden können. Darüber hinaus enthält die NIRS-Technologie eine Reihe von Fehlerquellen, die einerseits methodisch, andererseits rein praktisch bedingt sind.
Methodische Schwierigkeiten
16
Folgende methodische Schwierigkeiten sind besonders zu erwähnen: 4 Eine fehlende Nullpunktkalibration bei der Reflexionsmethode verhindert quantitative Messungen. Kritische Abfälle, z. B. des zerebralen Oxyhämoglobins, können folglich nicht erfasst werden. 4 Das genaue mit NIRS erfasste Gewebevolumen ist unbekannt, ebenso wie die prozentuale Verteilung von venösem, arteriellem und kapillärem Blut im unbekannten Messvolumen. 4 Die für den »normalen« Erwachsenenschädel entwickelten Algorithmen zur Elimination der Signale von extrakraniellem Blut treffen nur auf die wenigsten Patienten zu und sind, z. B. bei einem Kopfschwartenhämatom (traumatisch bzw. postoperativ) durch die Größenzunahme des extrakraniellen Kompartiments sicher nicht mehr korrekt. Gleiches gilt, wenn zusätzliche Medien in den Strahlengang treten (z. B. Wasser bei Schweißbildung auf der Haut, subdurale/ epidurale Hämatome etc.). 4 Das Problem der Messwertveränderung durch extrazerebrales Blut ist ungelöst.
Praktische Probleme bei Anwendung Zusätzlich gibt es praktische Probleme bei der NIRS-Anwendung, V. a. beim Langzeitmonitoring auf der Intensivstation, wie es zur Aufdeckung hypoxisch-ischämischer Episoden gefordert werden muss. Hierzu gehören: 4 Bewegungsartefakte, 4 Sensorlage mit Kontakt zum Sinus frontalis, 4 mangelnde Umgebungslichtabschirmung,
4 Lufteinschlüsse zwischen Sensor und Haut, 4 postoperatives Kopfschwartenhämatom.
Indikationsstellung Aufgrund der genannten Probleme ergibt sich derzeit, außerhalb der rein klinisch-experimentellen Anwendung, keine Indikation für ein Monitoring beim jugendlichen bzw. erwachsenen neurochirurgischen Intensivpatienten. Für ein zuverlässiges Monitoring der zerebralen Oxygenierung sind Systeme für die zerebrovenöse Oxymetrie bzw. Hirngewebe-pO2-Messung (ptiO2) vorzuziehen. 16.3.3 Hirngewebe-pO2 Die kontinuierliche Messung des Hirngewebe-O2-Partialdrucks (ptiO2) beim Menschen ist ein invasives Verfahren zur Überwachung der zerebralen Oxygenierung. Über eine Bohrlochschraube wird ein pO2-Messkatheter in das Hirnparenchym (typischerweise in die weiße Substanz) eingeführt. Der Messwert wird an dem angeschlossenen Monitor in mm Hg angegeben. Haupteinsatzgebiet ist die Überwachung der zerebralen Oxygenierung bei Patienten nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma [12, 14, 26]. Auch Patienten nach Subarachnoidalblutung und/oder Hirninfarkten, bei denen die Indikation für eine intrakranielle Drucküberwachung gestellt wird, können von einer Hirngewebs-pO2-Messung profitieren.
Messprinzip Bei dem derzeit am Markt etablierten System (Licox, Fa. Integra Neuroscience) wird die sog. Clark-Elektrode verwendet, die polarographisch den pO2 erfasst. Systeme, die nach dem Prinzip der Reflexspektroskopie arbeiten, sind aktuell nicht mehr erhältlich, sollen aber demnächst wieder mit überarbeiteter Technologie am Markt präsent sein (Fa. Raumedics).
Lage des Hirn-ptiO2-Katheters Für die Interpretation der Hirngewebe-pO2-Daten ist die Lage des pO2-Mikrosensors im Verhältnis zur Läsion und Anatomie (weiße Substanz, graue Substanz) entscheidend. Zur Überwachung der zerebralen Oxygenierung wird der Mikrosensor in der weißen Substanz positioniert. Will man den ptiO2 als Surrogat für die globale zerebrale Sauerstoffsituation verwenden, sollte der Katheter im vitalen Hirngewebe platziert werden. In z. B. einer Kontusion oder in ihrer unmittelbaren Umgebung ist der ptiO2 erniedrigt und die O2-Reaktivität (pO2-Anstieg bei Erhöhung der F1O2) deutlich herabgesetzt ‒ ein Hinweis darauf, dass geschädigtes bzw. nekrotisches Gewebe vorliegt und die Messwerte dann nur repräsentativ für die lokale Pathologie sind [11]. Der überwiegende Anteil der Anwender bevorzugt für die Anlage des pO2-Katheters die typische rechts oder links frontale, präkoronare Insertionsstelle, wobei man versucht, in die Nähe des pathologischen Befundes zu gelangen, um einen besseren Überblick über die aktuellen Veränderungen im gefährdeten Gewebe zu bekommen. Die Dauer des Eingriffes, der auch bettseitig auf der Intensivstation durchgeführt werden kann, beträgt ca. 15 min.
Zerebrale Hypoxie Der theoretische Normalwert des mittleren ptiO2 in der weißen Substanz wird mit ca. 21 mm Hg angegeben und steigt nach kortikal bis auf arterielle Werte an. Daher ist zur Interpretation der
173 16.4 · Kontinuierliche, quantitative Messung des zerebralen Blutflusses
16
Häufige Ursachen eines Hirngewebe-pO2-Abfalls 5 CPP- bzw. CBF-Abfall 5 Kritisch verminder ter paCO2 (z. B. bei Hyper ventilation) 5 Zerebraler Vasospasmus
Nach Ausschluss einer Katheterfehlmessung/-fehllage (CCT) oder Positionierung in einer Blutung (niedriger pO2) sollten als Ursachen an erster Stelle ein erniedrigter CPP sowie eine zu starke Hyperventilation (paCO2 <30‒35 mm Hg) ausgeschlossen werden. Inwiefern eine Erhöhung des Hirngewebe-pO2 über eine Erhöhung der FIO2 sinnvoll ist, wird derzeit noch kontrovers diskutiert. Theoretisch ist bei ausreichendem arteriellem paO2 (>100 mm Hg) von einer weiteren FIO2-Erhöhung keine wesentliche Steigerung der transportierten Sauerstoffmenge zu erwarten, wohl aber eine verlängerte Sauerstoffdiffusionsstrecke von der Kapillare weg, wodurch insbesondere in Bereichen mit kritisch niedrigem CBF die O2-Versorgung verbessert wird.
Komplikationen, Vor- und Nachteile
. Abb. 16.2. Auswirkung einer 10-minütigen Hyperventilationstherapie (0–10 min) bei 11 Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma auf intrakraniellen Druck (ICP), zerebralen Perfusionsdruck (CPP), Licox-Hirngewebe-pO2 (ptiO2, Licox) endexspiratorisches bzw. arterielles CO2 (ETCO2, paCO2); Messwerte als Mittelwerte ± SEM
Bisher sind im Zusammenhang mit der Platzierung von ptiO2-Kathetern keine Komplikationen berichtet worden [12, 14, 23, 26]. Offensichtlich ist das Risiko einer Infektion bzw. Blutung deutlich niedriger als bei der Anlage einer externen Ventrikeldrainage (hier: Infektion 2‒10%, Blutung 1‒2%). Im Vergleich mit der SjvO2 erhält man wesentlich stabilere Messwerte über einen langen Zeitraum. Der Hirngewebe-pO2-Katheter kann nur invasiv über ein Bohrloch eingebracht werden; die Messung erfolgt lokal/regional. Der Katheter muss von einem erfahrenen Neurochirurgen platziert werden, der mögliche Komplikationen (z. B. subdurale/ intraparenchymale Blutung) behandeln kann. 16.4
ptiO2-Werte die korrekte Lage des Katheters zu kontrollieren. Als kritischer ptiO2 wird ein Abfall auf <10‒15 mm Hg beschrieben, als »hypoxische Episode« ein ptiO2 von <10 mm Hg, analog den sog. »Desaturationsepisoden« (SjvO2 <50%). Vergleichsmessungen mit der Bulbusoxymetrie zeigen im standardisierten Versuch ein paralleles Messverhalten der beiden Oxygenierungsparameter sowie eine gute Reagibilität des ptiO2-Katheters hinsichtlich eines kritischen CPP-Abfalls [10, 12].
Therapie eines erniedrigten ptiO2 Die zerebrale Gewebeoxygenierung wird hauptsächlich von CBF und arteriellem O2-Gehalt bestimmt [8]. Ist der CBF normal (oberhalb eines Ischämieschwellenwerts) und der paO2 >100 mm Hg, bei einem Hb-Wert von >10 g/dl, sollte die Gewebeoxygenierung ausreichend sein, d. h. der ptiO2 in der weißen Substanz 20‒30 mm Hg betragen. Häufigste Ursache für einen Abfall des ptiO2 ist ein unzureichender CBF, verursacht durch intrakranielle Druckerhöhung, Blutdruckabfall oder durch Hypokapnie bei Hyperventilationstherapie (. Abb. 16.2; [20]). Ähnlich dem für die SjvO2 dargestellten Algorithmus (. Abb. 16.1) sollten die möglichen Ursachen des ptiO2-Abfalls untersucht werden.
Kontinuierliche, quantitative Messung des zerebralen Blutflusses
Seit Anfang 2000 ist die kontinuierliche und quantitative Bestimmung des zerebralen Blutflusses (CBF) technisch umgesetzt worden (Bowman Perfusion Monitor, Fa. Hemedex) [25]. Ähnlich wie beim ptiO2 handelt sich auch hier um einen Mikrokatheter, der lokal/regional den CBF mittels Thermodiffusionsflussmessung (rCBFTD) online und quantitativ erfassen kann. Als kritischer Grenzwert eines insuffizienten rCBFTD wird 18 ml/100g/ min angegeben [24]. Vergleichsmessungen von rCBFTD mit »stable xenon-enhanced« CT (sXe-rCBF) zeigten eine gute Korrelation beider Parameter im Bland-Altman–Diagramm (mittlere Differenz:1,1±5,2 ml/ 100 g/min) [25]. In einer kleinen klinischen Kohortenstudie (n=14) scheint der rCBFTD in der Vasospasmusdiagnostik deutlich besser abzuschneiden als die transkranielle Doppler-Sonographie, sofern der Katheter im entsprechenden Gefäßterritorium platziert wird. Bei einem rCBFTD von <15 ml/100 g/min konnten 100% aller Vasospasmen diagnostiziert werden (Sensitivität), bei einer akzeptablen Falsch-positiv-Rate von 30% [24]. Für eine abschließende Beurteilung des Stellenwerts der rCBFTD im Konzert des multimodalen zerebralen Monotorings
174
Kapitel 16 · Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
. Abb. 16.3. Verlauf der Mikrodialyseparameter: Die stündlich gemessenen Parameter des zerebralen aeroben/anaeroben Metabolismus (Glukose, Pyruvat, Laktat) sowie des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat einer Patientin nach aneurysmatischer Subarachnoidalblutung sind im Verlauf eines Tages dargestellt. Gegen 16 Uhr kommt es zu einer Verschiebung des Metabolismus von aerob zu vorwiegend anaerob sowie zu einem Anstieg des Glutamats. Klinisch entwickelte die Patientin einen zerebralen Vasospasmus mit Zunahme der transkraniell gemessenen Blutflussgeschwindigkeiten
ist aber die momentane Datenlage nicht ausreichend. Es bedarf hier weiterer intensiver wissenschaftlicher Anstrengungen. 16.5
Porengröße <20.000 oder <100.000 Molekulargewicht). In den distalen Teil des Katheters ist ein Goldfaden (3u0,13 mm) eingearbeitet, wodurch der Katheter im CT sichtbar wird.
Zerebrale Mikrodialyse 16.5.2 Mikrodialyseeinheit auf der Intensivstation
16
Die Mikrodialyse ermöglicht die Messung von Substanzen im Extrazellulärraum verschiedener Gewebe. Mit der Methode können bereits seit vielen Jahren im tierexperimentellen Bereich metabolische Vorgänge untersucht werden, wie sie z. B. typisch für die Entwicklung des sekundären Hirnschadens sind. Untersuchungen mit der zerebralen Mikrodialyse beim Menschen werden erst seit der Entwicklung geeigneter Mikrodialysekatheter (Beginn der 1990-er Jahre) durchgeführt [22]. Mittlerweile steht ein Analysegerät zu Verfügung, das verschiedene Substanzen messen und in graphischer Form als Trendkurven darstellen kann (. Abb. 16.3). Dieses bettseitige Mikrodialysegerät steht üblicherweise auf der Intensivstation und ermöglicht eine nahezu kontinuierliche (z. B. stündliche) neurochemische Messung von Substanzen des Gehirnstoffwechsels (Glukose, Pyruvat, Laktat), des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat sowie des Glyzerols als Marker der zerebralen Zellmembranstabilität (. Tab. 16.2). Bei Bedarf ist die Messung von mehreren Patienten gleichzeitig möglich. 16.5.1 Funktionsprinzip Grundlage der Methode ist das Dialyseprinzip: Eine semipermeable Membran wird kontinuierlich von 2 Flüssigkeiten umgeben. Auf der einen Seite, innerhalb des Mikrodialysekatheters, wird eine Lösung verwendet, die keine der oben genannten Zielsubstanzen enthält, auf der anderen Seite befindet sich die extrazelluläre Flüssigkeit des Hirngewebes. Der Konzentrationsgradient führt zu einer Diffusion der Substanzen. Über eine Pumpe wird der Mikrodialysekatheter kontinuierlich mit physiologischer Lösung gespült und so der Konzentrationsgradient aufrechterhalten. Je nach Fragestellung kann die Porengröße der Membran unterschiedlich gewählt werden (z. B. für den CMA-ZNS-Katheter
Die auf der Intensivstation einsetzbare Mikrodialyseeinheit besteht aus dem im Hirngewebe liegenden Mikrodialysekatheter, einer Pumpe, die den Katheter mit steriler Ringerlösung perfundiert, den Auffangbehältern für das Mikrodialysat (»microvials«) und dem Analysegerät (CMA Schweden bzw. einer HPLC-Einheit). Der Vorteil einer Analyseeinheit am Patientenbett ist, dass relative Veränderungen rasch erkannt werden, und so ggf. eine frühzeitige Ischämieerkennnung möglich wird. 16.5.3 Mikrodialyse – bei welchen Patienten? Ein neurochemisches Monitoring ist bei allen Patienten mit der Gefahr einer zerebralen Ischämie und Hypoxie sinnvoll. Es ist allerdings ein regional messendes Verfahren, das nur invasiv, d. h. nach Eröffnung von Schädelkalotte und Dura, eingesetzt werden kann. Die Methode wird daher v. a. bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma eingesetzt, die den Mikrodialysekatheter zusammen mit der intrakraniellen Druckmessung in einem operativen Eingriff erhalten. Eine weitere Indikation besteht für Patienten mit einer höhergradigen aneurysmatischen Subarachnoidalblutung (SAB). Der Mikrodialysekatheter wird überwiegend intraoperativ, nach Clipping des Aneurysmas, in das Hirnparenchym eingelegt. Bei Patienten, die eine endovaskuläre Aneurysmaausschaltung erhalten, ist in der Regel nur eine Messung des Stromgebietes der A. cerebri anterior möglich. Hierbei kann der Mikrodialysekatheter ggf. über ein gemeinsames Bohrloch zusammen mit einer Ventrikeldrainage gelegt werden. Ziel ist die Früherkennung eines zerebralen Vasospasmus sowie die Überwachung der Effektivität einer Triple-H-Therapie. Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass die Mikrodialysepa-
175 Literatur
. Tabelle 16.2. Bettseitige Mikrodialyse. Wichtigste derzeit mit der bettseitigen Mikrodialyse erfassbare Parameter sowie ihre Interpretation Parameter
Interpretation
Glukose
Energiesubstrat für die Gehirnzellen
Pyruvat
Metabolit von Glukose
Laktat
Metabolit von Glukose; wird bei O2-Mangel vermehrt gebildet
Laktat/PyruvatQuotient
Indikator für aerobe/anaerobe Stoffwechsellage
Glutamat
Exzitatorischer Neurotransmitter, wird z. B. bei Ischämie freigesetzt, wirkt zytotoxisch; Marker des sekundären Hirnschadens
Glyzerol
Zerebral: bei Zellmembrandegradation über Phospholipasen freigesetzt – Marker für Zellschaden
rameter die Schwere der SAB anzeigen mit signifikanten pathologischen Veränderungen im Energiestoffwechsel (z. B. Laktaterhöhung) und einen Anstieg des extrazellulären Glutamats bei klinisch-neurologischer Verschlechterung des Patienten im Rahmen eines sog. »delayed ischemic neurological deficit (DIND)« [19]. PET-Untersuchungen bei dieser Patientengruppe zeigten, dass die hohen Glutamat- und Glyzerolwerte mit einem kurzfristig erniedrigten regionalen CBF korrelierten, der Laktat/Pyruvat-Quotient hingegen erst nach längerer Ischämie (>6 h) ansteigt [18]. Eine Studie an 131 SAB-Patienten zeigte, dass der Laktat/Pyruvat-Quotient der aussagekräftigste prognostische metabolische Parameter für ein 12-Monats-Outcome war [17]. Weitere Untersuchungen liegen vor für Patienten mit Hirninfarkten [1] sowie bei Epilepsie, M. Parkinson und Hirntumoren [7]. 16.5.4 Vor teile und Nachteile der Methode
Vorteile Die bettseitige Mikrodialyse ermöglicht erstmals eine nahezu kontinuierliche zerebrale Messung neurochemischer Parameter, die Rückschlüsse auf die zerebrale Stoffwechsellage und mögliche Zellschäden zulassen. Die Handhabung ist technisch relativ einfach, und die Analyseergebnisse sind auf dem Monitor gut verständlich dargestellt. Komplikationen durch die Einführung des Katheters oder Infektionen bei liegendem Katheter sowie sonstige Komplikationen wurden bisher nicht beschrieben [15]. Der sinnvollste Einsatz dieser Methode besteht bei bewusstlosen Patienten, die ein hohes Risiko für eine klinisch schwer zu diagnostizierende Ischämie aufweisen, wie insbesondere komatöse Patienten nach einer höhergradigen Suabarachnoidalblutung.
Nachteile Der Mikrodialysekatheter muss invasiv, d. h. über ein Bohrloch oder im Rahmen eines neurochirurgischen Eingriffs (z. B. Aneu-
16
rysma-Clipping, Anlage einer Ventrikeldrainage), eingeführt werden und ist daher mit gewissen Risiken verbunden (Blutung, Infektion). Der Mikrodialysekatheter erfasst nur regionale Stoffwechselveränderungen und kann daher nicht als Überwachungsmethode der globalen zerebralen Situation gewertet werden. Zur Lagekontrolle des Katheters ist immer eine Bildgebung (CT) erforderlich, um die Daten adäquat interpretieren zu können. Zudem ist ein gewisser personeller Aufwand mit dieser Methode verbunden (Wechseln der Mikrodialysatbehälter, Austausch der Reagenzien und Pumpenflüssigkeit etc.). Die Methode ist geeignet zur regionalen Ischämieerkennung, wird allerdings derzeit nur in wenigen spezialisierten neurointensivmedizinischen Zentren eingesetzt.
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176
Kapitel 16 · Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
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16
17 Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin E. Eisenhuber, B. Partik, P. Pokieser, C. Schaefer-Prokop
17.1
Thorakale Bildgebung – Einleitung
–179
17.2
Geräte – Technik – Zubehör
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4
Grundausstattung für die Intensivstation –179 Bildgebungsver fahren –179 Anforderungen radiologischer Leistungen –181 Befundung, Dokumentation und Konferenzen –181
17.3
Technische Durchführung
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
Röntgenaufnahmen am Krankenbett –182 Thoraxaufnahmen am Krankenbett –182 Abdomenaufnahme am Krankenbett –184 Strahlenschutz –184
17.4
Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen und Sonden
17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5 17.4.6 17.4.7 17.4.8
Endotrachealtubus –185 Trachealkanüle –186 Zentralvenöser Katheter –186 Pulmonalarterienkatheter –189 Intraaortale Ballonpumpe –189 Pleuradrainagen –190 Ernährungssonden –190 Herzschrittmacher –190
17.5
Pathologische Luftansammlungen
17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4 17.5.5
Pneumothorax –191 Spannungspneumothorax –192 Atypische Lokalisationen des Pneumothorax –193 Pneumomediastinum –193 Interstitielles Emphysem –193
17.6
Abnorme Flüssigkeitsansammlungen
17.6.1 17.6.2
Pleuraerguss –194 Sonderformen pleuraler Flüssigkeitsansammlungen –194
17.7
Lungenödem und ARDS
17.7.1 17.7.2 17.7.3
Hydrostatisches Lungenödem –195 Permeabilitätsödem ohne diffusen Alveolarschaden –197 Permeabilitätsödem mit Alveolarschaden – das Atemnotsyndrom des Erwachsenen (ARDS) –198
–179
–182
–184
–191
–194
–195
17.8
Pulmonale Verdichtungen
17.8.1 17.8.2 17.8.3 17.8.4
Atelektase –201 Pneumonie –203 Aspiration –205 Diffuse pulmonale Verdichtungen –206
17.9
Indikationen und Wer tigkeit der thorakalen Computer tomographie auf der Intensivstation –206
17.9.1 17.9.2 17.9.3
Indikationen zur CT-Untersuchung des Thorax –207 Diagnostische Leistungsfähigkeit –207 Diagnose der akuten Lungenembolie mit Spiral-CT –207
17.10
Abdominelle Bildgebung – Einleitung
17.11
Konventionelle Abdomenaufnahme
17.11.1 17.11.2 17.11.3 17.11.4
Gasverteilungsmuster –208 Weichteilbeurteilung –211 Intraabdominelle Verkalkungen –211 Beurteilung der ossären Strukturen –211
17.12
Ultraschall
17.12.1 17.12.2 17.12.3 17.12.4 17.12.5 17.12.6 17.12.7 17.12.8
Gallenblase –211 Leber –213 Nieren –214 Pankreas –216 Milz –216 Freie Flüssigkeit –216 Gefäße –217 Ultraschallgesteuerte Aspiration und Drainage –217
17.13
Computer tomographie
17.13.1 17.13.2 17.13.3 17.13.4 17.13.5 17.13.6 17.13.7 17.13.8
Dünndarmobstruktion und paralytischer Ileus –217 Kolitis –219 Abszess –219 Blutung –220 Hypovolämischer Schock –220 Cholezystitis –220 Milz –221 Akute Pankreatitis –221
Literatur
–201
–208 –208
–211
–223
–217
179 17.1 · Thorakale Bildgebung –Einleitung
17.1
Thorakale Bildgebung – Einleitung E. Eisenhuber, C. Schaefer-Prokop
In der Intensivmedizin findet die radiologische Diagnostik überwiegend am Krankenbett statt (»bedside radiology«). Etwa 90% der radiologischen Untersuchungen in der Intensiv- und Notfallmedizin stellen projektionsradiographische Röntgenaufnahmen des Thorax, des Abdomens und des Skelettsystems dar. In zunehmendem Maße werden neben den klassischen Aufnahmen auch die Schnittbildverfahren eingesetzt. Hier kommt der Ultraschalldiagnostik eine führende Rolle zu, gefolgt von der Computertomographie (CT). Das Ultraschallgerät gehört heute zur Standardausrüstung einer Intensivstation. Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird allenfalls für selektive neuroradiologische, die digitale Subtraktionsangiographie (DSA) für angiographische Fragestellungen eingesetzt. In der Regel werden CT, MRT bzw. DSA nur dann durchgeführt, wenn von ihrem Einsatz ein so hoher diagnostischer Zusatzgewinn erwartet wird, dass das erhöhte Transportrisiko im Interesse des Patienten eingegangen werden kann. Die radiologische bildgebende Diagnostik in der Intensivmedizin ist durch folgende Problematik gekennzeichnet: 4 der Patient ist meist nicht kooperationsfähig, 4 die Diagnostik wird durch eingeschränkte Aufnahmebedingungen (z. B. Thoraxorgane in liegender oder sitzender Position) erschwert, 4 zusätzliche diagnostische Verfahren wie Schichtaufnahmen, Durchleuchtung oder Projektionen können nur unter erschwerten Bedingungen angefertigt werden, 4 das Bild wird durch potenziell vorhandenes Fremdmaterial überlagert (Verbandmaterial, Metallimplantate, Katheter, Sonden und Elektroden), 4 die gerätetechnische Ausstattung ist begrenzt (fahrbares Röntgengerät), 4 die Aufnahmen müssen ohne Belichtungsautomatik angefertigt werden. Neben diesen technischen Schwierigkeiten ist die radiologische Diagnostik insbesondere im Thoraxbereich durch eine nur geringe Spezifität der Befunde gekennzeichnet. Alle diese Punkte unterstreichen, dass gerade in der Intensivmedizin die Fachkunde eines Radiologen in der Anfertigung und Interpretation der Bilder besonders gefordert ist, da aus seinen Erkenntnissen unmittelbare Konsequenzen für die weitere Therapie gezogen werden. Sie unterstreichen aber auch, dass die Interpretation der radiologischen Befunde nur in Kenntnis der wichtigen klinischen Parameter (Flüssigkeitsbilanz, Beatmungstherapie, Entzündungszeichen) möglich ist. Es ist in Studien mehrfach nachgewiesen worden, dass das Gespräch zwischen Radiologen und Intensivmedizinern die Ergebnisse radiologischer Diagnostik messbar verbessert.
Für den Radiologen relevante klinische Informationen Folgende klinische Informationen sind für die radiologische Diagnostik bedeutsam: 4 Anamnese und Zustand des Patienten (bewusstlos, beatmet, Schockzustand), 4 Art, Verlauf und zeitlicher Abstand vorausgegangener Operationen, Traumata, Blutungen, Aspirationen, Massen-
4
4 4 4
17
transfusionen, Schockzustände, abnorme Arzneimittelreaktionen, Art, Verlauf und zeitlicher Abstand vorausgegangener Endoskopien, Punktionen, Sonden bzw. Kathetereinführungen in Hohlorgane, Körperhöhlen, Gefäße oder parenchymatöse Organe, vorbestehende oder akut aufgetretene kardiale, renale oder zerebrale Funktionsstörungen, aktuelle Werte von Blutgasanalyse, Blutdruck und Ventilation, früher angefertigte Röntgenaufnahmen als Vergleich.
Der erforderliche Informationsfluss zwischen Stationsarzt und Radiologen ist durch regelmäßige Filmbesprechungen am besten gewährleistet und wird dann auch beim akuten Problemfall funktionieren. Klinische Informationen haben deswegen einen hohen Stellenwert für die Röntgendiagnostik auf der Intensivstation, weil neben der Vielfalt pathologischer Prozesse bestimmte therapeutische und/oder diagnostische Maßnahmen bei der Bildanalyse berücksichtigt werden müssen, die nicht so sehr die Erkennbarkeit, sondern die Interpretation von Befunden beeinflussen. 17.2
Geräte – Technik – Zubehör
17.2.1 Grundausstattung für die Intensivstation Zur Grundausstattung einer bettseitigen bildgebenden Diagnostik auf Intensivstationen gehören: 4 ein Röntgenaufnahmegerät (mobil), 4 Filmkassetten, ggf. Rasterfilmkassetten mit großem Format (35u43 cm) oder einer Rasterlade für den Einschub üblicher Filmkassetten, 4 3 Strahlenschutzschürzen (Bleigleichwerte 0,5–2,5 mm), 4 2 Paar Strahlenschutzhandschuhe, 4 Bleigummistreifen zur Patientenabdeckung bzw. eine fahrbare Strahlenschutzwand, 4 sterile Textilüberzüge, 4 Lichtkästen für die Filmbetrachtung; sie sollten eine ausreichende Leuchtfläche für die vergleichende Betrachtung von 3 Großformatfilmen liefern; wahlweise ist der Einsatz von Monitoren möglich, 4 Ultraschallgerät mit Dokumentationseinrichtung. Die Zahl der Röntgenaufnahmegeräte bzw. das Vorhandensein weiteren Zubehörs ist abhängig von der Anzahl der Intensivbetten sowie von den hygienischen Erfordernissen. Für größere, miteinander verbundene Einheiten ist eine eigene Filmentwicklungsmaschine mit Laserkamera sinnvoll. Ein mobiles Durchleuchtungsgerät sollte in einem eigenen Untersuchungsraum mit geeignetem Lagerungstisch verfügbar sein. 17.2.2 Bildgebungsver fahren
Fahrbare Röntgenaufnahmegeräte Fahrbare Röntgenaufnahmegeräte sollten leicht genug sein, um von einer Person transportiert werden zu können, und klein genug, um in einen Aufzug zu passen; außerdem sollten sie an jede
180
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
normale Steckdose im Krankenhaus angeschlossen werden können. Sie sollten so leistungsstark sein, dass Lungenaufnahmen mit sehr kurzen Belichtungszeiten möglich sind, aber auch Aufnahmen des Beckens, der Wirbelsäule und des Abdomens. Der Fokus-Film-Abstand sollte wenigstens 1,5 m betragen, daher muss die Röntgenröhre an einem schwenkbaren und höhenverstellbaren Ausleger angebracht sein. Derartige Bedingungen werden von der Röntgenkugel, den sog. Einkessel-Zweipuls-Generatoren und den leistungsstärkeren Zweipulsgeneratoren (ca. 20 kW) nur bedingt erfüllt. Die folgenden 2 Bautypen erfüllen die technischen Anforderungen: Hochfrequenzgeneratoren (Gleichstromgeneratoren)
Diese Geräte werden von aufladbaren Batterien gespeist, die auch dem motorischen Antrieb dienen. Vorteil. Sie sind mit aufgeladenem Batteriesatz netzunabhängig;
Nachteil: sie haben ein sehr hohes Gewicht (400 kg und mehr) und sind daher nur mit Motor fortzubewegen.
Kondensatorgesteuerte Hochfrequenzgeneratoren Vorteil. Sie sind innerhalb von 5–10 s am normalen Lichtnetz auf-
ladbar, liefern eine Spannung bis zu 125 kV, sie haben ein geringeres Gewicht durch den Wegfall des Batteriesatzes, eine Batterienachladung entfällt; Nachteil: im Aufnahmebetrieb Anschluss an ein Lichtnetz erforderlich.
Fahrbare Röntgenbildverstärkergeräte
17
Fahrbare Röntgenbildverstärkergeräte gehören zur wünschenswerten Standardausstattung einer Intensivstation. Sie dienen zur Durchleuchtungskontrolle beim Einführen von Venenkathetern und Schrittmachersonden. Mit diesen Geräten können auch Ausschnittaufnahmen angefertigt werden. Für großformatige Aufnahmen oder Röntgenaufnahmen am Körperstamm reicht jedoch die Leistung der Röntgenröhren nicht aus. Die starre Anordnung von Röntgenröhren und Mobilverstärker in Form eines C-Bogens ist darüber hinaus für Röntgenaufnahmen am Krankenbett hinderlich. Fahrbare Röntgenbildverstärkergeräte neuester Bauart werden mit elektronischem Bildspeicher angeboten (bis zu 25 Fernsehbilder). Derartige Bilder können auf Röntgenfilm oder Polaroidfilm dargestellt werden, wenn eine besondere Kamera mit eingebautem Fernsehmonitor zur Verfügung steht. Röntgenbildverstärkergeräte mit eingebauter Kamera werden zur Kontrolle und Dokumentation von Durchleuchtungsbildern in der Unfallchirurgie und Orthopädie im Allgemeinen akzeptiert; in der Intensivmedizin werden sie zur Katheter- und Sondenlagenkontrolle eingesetzt. Nachteil der Bilder ist ihr geringes räumliches Auflösungsvermögen und ein begrenzter Bildausschnitt von 17 bzw. 25 cm.
Ultraschallgeräte Ultraschallgeräte für Untersuchungen am Krankenbett unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Geräten, die in den jeweiligen Sonographieuntersuchungsräumen eingesetzt werden. In der Regel sind dies heute sog. Realtime-Geräte mit Sektortechnik und einem 3- bis 3,5-MHz-Schallkopf als Minimalausstattung. Das Ultraschallgerät sollte eine Duplexfunktion besitzen, weil diese Technik zur nichtinvasiven Beurteilung der Perfusion von Organen, Herzhöhlen und Gefäßen heute zum Standard zählt. Hochfrequentere Schallköpfe (5–10 MHz) sind vorteilhaft
in einer pädiatrischen Intensivstation sowie in der Erwachsenenintensivstation zur Beurteilung von oberflächennahen Prozessen (bis 5 cm Eindringtiefe). Zur Bilddokumentation genügt der Polaroidfilm (relativ teuer) bzw. ein Videoprinter. Eine evtl. sinnvolle Zusatzausstattung umfasst einen Punktionsschallkopf für interventionelle Maßnahmen wie Punktionen und Drainagen.
Digitale Radiographie Die digitale Radiographie hat sich wegen ihrer technischen Vorteile in zunehmendem Maße gerade auf der Intensivstation als Bildaufnahme- und Bilddokumentationssystem durchgesetzt. Vorteile beziehen sich v. a. auf organisatorische Aspekte: In der konventionellen Radiographie steht pro Exposition lediglich ein Film zur Verfügung, der z. B. bei Verlust nicht ersetzbar und stets nur an einer Stelle verfügbar ist. Bei der digitalen Radiographie dagegen stehen pro Exposition unbegrenzt viele Filme zur Verfügung bzw. können die Daten per Netzwerk transferiert werden. Des Weiteren ist jede Filmfolienkombination durch einen begrenzten Dichteumfang charakterisiert. Dies bedeutet, dass große Dichtedifferenzen, z. B. zwischen Lunge und Mediastinum, schlecht simultan abbildbar sind. Weiterhin sind in der konventionellen Radiographie Dosis und Filmschwärzung miteinander gekoppelt, d. h. der Film liefert nur für einen relativ begrenzten Dosisbereich ein Bild mit geeigneter Filmschwärzung. Eine relativ zu hohe Dosis führt zu einem zu schwarzen Film, eine relativ zu niedrige Dosis zu einem relativ zu weißen Film. Da typischerweise auf der Intensivstation keine Belichtungsautomatik zur Verfügung steht, werden die Expositionsparameter – auf Erfahrungswerten bzw. den Expositionswerten der Voraufnahmen basierend – festgelegt, was in einem bestimmten Prozentsatz (ca. 6%) zu Fehlaufnahmen führt.
Digitale Lumineszenzradiographie Mit der digitalen Lumineszenzradiographie steht ein digitales Bildaufnahme- und Dokumentationssystem zur Verfügung, das in seiner Handhabung mit einem Tageslichtsystem vergleichbar ist. Es ist ein auf Kassetten basierendes System, das eine besondere Ausleseeinheit benötigt. In einer Aluminiumkassette liegt der Detektor, der aus einer sog. Lumineszenzfolie oder Speicherfolie besteht. Nach Exposition wird die Kassette in ein speziell dafür vorgesehenes Auslesegerät eingegeben. Das Röntgenbild kann dann entweder auf Film ausgedruckt (»Hardcopy«) oder auf einem Monitor (»Softcopy«) betrachtet werden. Vorteile. Die Lumineszenzradiographie ist durch folgende Vor-
teile gegenüber der konventionellen Radiographie gekennzeichnet: 4 Der Detektor hat einen ca. 400-fach weiteren Dichteumfang. Unabhängig von der Expositionsdosis entsteht immer ein Bild optimierter Bildschwärzung. 4 Fehlbelichtungen mit zu schwarzen oder zu weißen Aufnahmen, wie sie in der konventionellen Radiographie auftreten, sind nahezu eliminiert [17]. 4 Die Bilddaten sind prozessierbar, d. h. sowohl der generelle Bildkonstrast als auch der lokale Strukturkontrast können verändert und optimiert werden, 4 Die Bilddaten werden gespeichert und sind jederzeit abrufbar; das bedeutet, dass bei Verlust einer Hardcopy ein neuer Film bzw. mehrere Filme ausgedruckt werden können.
181 17.2 · Geräte – Technik – Zubehör
4 Die Daten sind prinzipiell übertragbar, vorausgesetzt, ein entsprechendes Netzwerk ist vorhanden. Damit können Bilddaten sofort an geographisch entfernte Stellen transportiert und hier z. B. auf einem Monitor demonstriert werden. Sie stehen damit dem Intensivmediziner sofort zur Betrachtung zur Verfügung, auch wenn die Intensivstation von der radiologischen Abteilung geographisch getrennt ist. Nachteile. Diesen Vorteilen stehen gewisse Nachteile der digitalen Lumineszenzradiographie gegenüber: 4 In Abhängigkeit von der Größe der Bildpunkte (Pixel) haben die digitalen Bilder eine geringere Ortsauflösung als der konventionelle Film. 4 Die Speicherfolienbilder haben gegenüber dem konventionellen Filmfoliensystem ein höheres Bildrauschen. Dies führt dazu, dass die Lungenaufnahmen in der Regel nicht mit einer gegenüber der konventionellen Filmfolienradiographie reduzierten Dosis erfolgen können.
Computertomographie Moderner Standard der Computertomographietechnik ist heute eine sog. Spiral-CT-Technik. Diese Art der Datenakquisition ermöglicht die Untersuchung eines bestimmten Organvolumens, z. B. des gesamten Thorax oder des gesamten Abdomens, in einem Atemstillstand (ca. 30 s). Diese sehr schnelle Scantechnik hat neben der Tatsache, dass die Untersuchung an sich nur noch sehr kurz und damit nur wenig belastend für den Patienten ist, den Vorteil, dass ein Kontrastmittelbolus optimiert ausgenutzt werden kann. Hoher intravaskulärer Kontrast ermöglicht eine nichtinvasive Untersuchung von Gefäßstrukturen (z. B. die Untersuchung der Pulmonalarterien bei Verdacht auf Lungenembolie). So hat die Spiral-CT als nichtinvasive Untersuchungsmethode andere diagnostische Methoden bei der Untersuchung eines Aortenaneurysmas, einer Aortendissektion oder einer Pulmonalarterienembolie weitgehend verdrängt. Sie ist auch zur Untersuchung des Venensystems (z. B. Subklaviathrombose oder Jugularisthrombose) geeignet. Die Wahl der Scanparameter (Schichtdicke, Tischvorschub und Rekonstruktionsabstand) richtet sich nach der Fragestellung und der dafür notwendigen Ortsauflösung in allen 3 Raumebenen. So wird man für feine Strukturdetails in der Lunge eine dünnere Schichtdicke wählen als bei der Fragestellung nach einem entzündlichen Prozess im Mediastinum oder Abdomen. Während die Routine-CT einer standardisierten Technik folgt, ist bei einer Notfallsituation die Untersuchung der klinischen Fragestellung anzupassen. So kann im Einzelfall entschieden werden, ob eine Nativserie erforderlich ist (zumeist bei Frage nach Blutung) und ob eine zusätzliche Kontrastierung des Gastrointestinaltraktes oder Markierung von Rektum und Vagina erfolgen soll [11].
Multislice-CT Mit Einführung der Multislice-CT 1998 wurde es erstmals möglich, gleichzeitig 4 Schichten zu erfassen (4-Zeilen-Scanner) und so entweder dünne Schichten zur Datenerfassung heranzuziehen oder den Untersuchungsbereich schneller zu erfassen. Besonders für Notfallpatienten ließen sich so erstmals Thorax und Abdomen mit hoher Auflösung gemeinsam untersuchen. Die Technik erlaubt es, nicht mehr allein axiale Schnitte, sondern auch qualitativ hochwertige Schnitte in beliebiger Richtung durch den Patienten zu berechnen. Mit 16-Detektor-Zeilen in der neuesten CT-Generation lassen sich bei höchster Auflösung Thorax oder
17
Abdomen in weniger als 10 s Scanzeit untersuchen. Mit der Multislice-CT wird die CT-Angiographie ein Routineverfahren für die minimal invasive Darstellung fast aller Gefäßregionen (Ausnahmen: A. spinalis anterior, mikroangiopathische Veränderungen). Für die meisten neuroradiologischen Fragestellungen sind konventionelle 1-Zeilen-Scanner ohne Spiraloption ausreichend. Die meisten anderen Indikationen bei Intensiv- oder Notfallpatienten profitieren dagegen vom Einsatz der Spiral-CT, idealerweise mit Hilfe moderner Multislice-Scanner. Der Gewinn gegenüber konventionellen Scannern ist umso größer, je subtiler die Veränderungen sind. So können beispielsweise subsegmentale Lungenembolien mit Einzeilenscannern selten, mit MultisliceScannerndagegen in der Regel nachgewiesen werden. 17.2.3 Anforderungen radiologischer Leistungen Bei den Anforderungen radiologischer Leistungen müssen Regelanforderungen von sog. Notfallanforderungen unterschieden werden. Regelleistungen lassen sich harmonisch in den Zeitablauf der Intensivstation integrieren; hierzu genügt die einmalige Abstimmung der beteiligten Institutionen. Notfallanforderungen sollten nach Möglichkeit sofort ausgeführt werden. Dies gelingt über eine Tag und Nacht konstante Funknummer der diensthabenden Assistenten und Ärzte. Die schriftliche Anforderung radiologischer Leistungen sollte die vollständigen Patientendaten, die gewünschte Untersuchung, die Röntgenanamnese und die klinische Fragestellung enthalten. Bei Frauen im gebärfähigen Alter sollte – wenn möglich – angegeben werden, dass keine Schwangerschaft vorliegt. Die Anforderung ist nach der Röntgenverordnung von einem Arzt zu unterschreiben. 17.2.4 Befundung, Dokumentation und
Konferenzen Die Auswertung der erstellten Bilder bzw. die Mitteilung der erhobenen Befunde ist unterschiedlich für reguläre Anforderungen und Notfalluntersuchungen. Während sich für alle Regelanforderungen tägliche gemeinsame Konferenzen auf der Intensivstation am besten bewährt haben, erfordern Notfallanforderungen die direkte Befundmitteilung, da ggf. sofort therapeutische Konsequenzen gezogen werden müssen. Die täglichen gemeinsamen Konferenzen sind dazu geeignet, relevante anamnestische und klinische Daten in einem gemeinsamen Fachgespräch zu erörtern, den aktuellen Befund zu diskutieren sowie das mögliche weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen zu überlegen. Die radiologischen Befunde sollten nach der Konferenz schriftlich niedergelegt werden. Für ständig wiederkehrende Leistungen wie Lungenaufnahmen bei Beatmungspatienten haben sich sog. Verlaufsbögen im Durchschreibeverfahren bewährt.
Dokumentation Die Dokumentation konventioneller Aufnahmen erfolgt auf Film, der in der Regel im Verlauf mit Voraufnahmen auf einem Lichtkasten betrachtet und befundet wird. Digitale Aufnahmen können entweder ebenfalls auf Film (Hardcopy) dokumentiert werden oder sie werden auf dem Monitor (Softcopy) betrachtet. Die Einbindung des digitalen Aufnahme- und Betrachtungssys-
182
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
tems in ein Netzwerk ermöglicht die Anwendung der Teleradiologie, d. h. der Versendung von Bild- und Befundungsmaterial per Datennetz »online«, ohne personelle Interaktion. Dies eröffnet gerade im Hinblick auf die oftmals räumlich getrennt gelegenen Intensivstationen eine erhebliche organisatorische Verbesserung. Bezüglich der Monitorqualität unterscheidet man Befundungsmonitore mit höherer Auflösung und Leuchtdichte von Demonstrationsmonitoren, die der Befundübermittlung dienen. Die Befundung von Soft- und Hardcopy wird als diagnostisch gleichwertig eingestuft. Der Monitor dürfte dem Film bezüglich der Lokalisation von Monitormaterialien aufgrund von Bildverarbeitungsmöglichkeiten (Fensterung) überlegen sein. 17.3
Technische Durchführung
17.3.1 Röntgenaufnahmen am Krankenbett Jede Röntgenaufnahme am Krankenbett auf der Intensivstation stellt einen Kompromiss dar, der sich aus den eingeschränkten Projektionsmöglichkeiten ergibt. i Grundsätzlich sollte die Röntgenaufnahme des Thorax »so sitzend wie möglich« erstellt werden.
Hierdurch lassen sich einige der möglichen Fehlerquellen ausschalten, die die radiologische Diagnostik der Lunge in liegender Position kennzeichnen. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass eine gute Liegendaufnahme immer noch diagnostisch verwertbarer ist als eine schlechte Sitzendaufnahme, d. h. der Patient sollte nur dann in eine sitzende Position gebracht werden, wenn es sein Allgemeinzustand erlaubt.
Film-Folien-Kombination
17
Es stehen verschiedene Film-Folien-Kombinationen zur Verfügung, die je nach ihrer Zusammensetzung einer unterschiedlichen Dosis bedürfen (Empfindlichkeit) und ein mit dem Dosisbedarf invers korreliertes Auflösungsvermögen haben. Die Folie bestimmt den Dosisbedarf, während der Filmtyp den Bildkontrast beeinflusst. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass ein Film mit einem breiten Dynamikumfang (sog. L-Film) gegenüber einem Hochkontrastfilm zu bevorzugen ist. Üblich sind heute Film-Folien-Kombinationen mit einem Dosisbedarf eines 250er bis 400-er Systems.
Rasteraufnahmetechnik In der konventionellen Standardröntgendiagnostik der Thoraxorgane hat sich die sog. Hartstrahltechnik (>120 kV) mit Raster durchgesetzt, um zum einen Bewegungsunschärfen und die Absorption überlagernder Rippen zu reduzieren und zum anderen eine ausreichende Penetration des Mediastinums mit möglichst hoher Kontrastauflösung zu gewährleisten. Zur Reduktion der Streustrahlung stehen Röntgenkassetten mit integriertem Streustrahlenraster zur Verfügung, die allerdings relativ teuer und sehr schwer sind. Eine Alternative stellen sog. Tunnelraster- oder Rasterladekassetten dar, die über die normale Kassette geschoben werden können. Zu beachten ist, dass Thoraxaufnahmen in Rastertechnik eine relativ (ca. 2 Belichtungspunkte) höhere Dosis erfordern als Aufnahmen ohne Raster.
17.3.2 Thoraxaufnahmen am Krankenbett Die »Bettlunge« sollte in folgender Technik aufgenommen werden: 4 tiefe Inspiration, 4 1,5 m Film-Fokus-Abstand, 4 Spannung 100–120 kV, 4 Rasterkassette. Bewährt hat sich ein Aufbelichtungsstreifen (Scribor), mit dem die wichtigsten Angaben zur Position des Patienten, zur Aufnahmetechnik, zu wichtigen Beatmungsparametern (PEEP, F1O2) und zur Flüssigkeitsbilanz auf den Film belichtet werden. Ebenso sollte der Film Angaben über Tag und Uhrzeit der Aufnahme sowie Angaben über die Anzahl der Verlaufskontrollen enthalten. Belichtungsrichtwerte für Lunge und Herz liegen bei Hartstrahl- und Rastertechnik zwischen 5 und 20 ms; sie sind je nach Körperbau oder bei massiven pleuropulmonalen Verdichtungsprozessen zu modifizieren (z. B. bei Ödem oder Flüssigkeitseinlagerung in der Thoraxwand).
Zusatzaufnahmen Für bestimmte Fragestellungen sind folgende Zusatzaufnahmen der Thoraxorgane sinnvoll: 4 Aufnahmen in laterolateralem Strahlengang zur Lokalisation pathologischer Befunde im retrokardialen und im hinteren Mediastinum: Patient in Rückenlage, Rasterkassette seitlich eingestellt, 1,2–1,5 m Film-Fokus-Abstand, 4 Aufnahmen in Links- oder Rechtsseitenlage im horizontalen Strahlengang zur Differenzierung eines Ergusses von einer pleuralen Schwiele bzw. einer intrapulmonalen Infiltration, 4 Tangentialaufnahmen in schrägem ventrodorsalen Strahlengang (kleine Rasterkassette) zum Nachweis eines ventralen Pneumothorax, 4 Aufnahme in Rückenlage oder rechts/links angehoben in Knochentechnik (60–70 kV) zum Nachweis einer Rippenfraktur.
Häufige Aufnahmefehler Neben Unter- oder Überbelichtung sind die häufigsten Ursachen mangelhafter Aufnahmequalität Abweichungen des Zentralstrahls von der geforderten, zur Filmkassette senkrechten Einstellung. Rastereffekt. Der sog. Rastereffekt bewirkt die Unterbelichtung einer Seite mit Grauschleier bzw. Aufhellung einer Thoraxhälfte (. Abb. 17.1). Ursache ist die vermehrte Absorption von Röntgenprimärstrahlung durch die Metallamellen des Rasters bei seitlich schräger Einstellung des Zentralstrahls zur Kassettenebene. Derartige Aufnahmen führen zu einer seitenasymmetrischen Transparenzminderung einer gesamten Lungenhälfte, die einen nach kranial hin auslaufenden Pleuraerguss vortäuscht. Hinweis auf die technische Ursache der Transparenzminderung ist die Tatsache, dass auch die Weichteile auf der betroffenen Seite verschleiert und aufgehellt erscheinen. Lordoseaufnahme. Die sog. Lordoseaufnahme mit atypisch hoher Zwerchfellprojektion und relativer Verkürzung der Lungenfelder entsteht durch eine Kranialabweichung des Zentralstrahls (. Abb. 17.2). Diese Fehleinstellung tritt zwangsläufig dann auf,
183 17.3 · Technische Durchführung
17
. Abb. 17.1. Rastereffekt: Grauschleier (Unterbelichtung) des rechten Lungenfeldes durch Rastereffekt
. Abb. 17.2. Projektionsbedingter Zwerchfellhochstand und Verschattung der Lungenspitzen bei »Lordoseaufnahme«
. Abb. 17.3a, b. Normalbefund der Thoraxorgane (w., 28 J.); a Aufnahme im Sitzen, b schematische Darstellung, Projektion der Lungenlappen (OL, ML, UL). Projektion der großen Venen, des rechten Vorhofs (RA), der rechten Kammer (RV), des linken Vorhofs (LA), der linken Kammer (LV). 1 Weichteilfett, 2 Muskulatur, 3 Mammaschatten, A.p.d. A. pulmonalis dextra, A.p.s. A. pulmonalis sinistra, vv.p. Vv. pulmonales
wenn der Patient in Horizontallage verbleibt und das Röntgengerät am Fußende des Betts positioniert ist. Damit wird die Distanz für eine exakte Röhreneinstellung zu groß. Eine korrekte Zentralprojektion gelingt einfacher bei angehobenem Oberkörper des Patienten.
turen. Bei symmetrischem Körperbau sollte die Distanz jeweils seitengleich sein, bei einer verdrehten Aufnahme erscheint der nach hinten gerichtete Lungenflügel auf der Röntgenaufnahme kleiner und vermehrt strahlendicht (weißer), das Mediastinum wirkt verbreitert.
Verdrehte Aufnahme. Die medialen Klavikulaenden dienen als vordere, die Dornfortsätze der oberen BWS als hintere Leitstruk-
Ungenügende Inspirationstiefe. Hierbei erscheinen die beiden Lungenanteile verdichtet, das Herz ist quergelagert und
184
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
scheinbar vergrößert, das Mediastinum scheinbar verbreitert. i Als Faustregel einer ausreichenden Inspiration gilt die Abgrenzbarkeit der Zwerchfellkuppe in der Medioklavikularlinie in Höhe der 5. ventralen Rippe.
Röntgendiagnostik der Thoraxorgane Für die Bildanalyse wird die systematische Inspektion jeweils zusammengehöriger anatomischer Strukturen empfohlen (. Abb. 17.3a, b). Wann immer möglich, erfolgt die Betrachtung am Einzelbild seitenvergleichend, bei Röntgenbildserien eines Patienten stets im Vergleich mit früher angefertigten Aufnahmen. Diese Grundregeln röntgenologischer Analysetechnik bleiben auf der Intensivstation aus Zeitgründen oder Fehlen ausreichend großer Schaukästen häufig unbeachtet. Initialveränderungen und Prozesse geringer Ausdehnung können dadurch unerkannt bleiben. 17.3.3 Abdomenaufnahme am Krankenbett Zur Gewährleistung einer reproduzierbaren Aufnahmetechnik bei der konventionellen Übersichtsradiographie des Abdomens wird die Untersuchung in 2 Ebenen durchgeführt. Eine Ausnahme stellt lediglich die Untersuchung bei Kindern dar, die je nach Fragestellung in nur einer Ebene angefertigt werden kann. Aufnahme in Rückenlage. Die Aufnahme erfolgt im a.-p.-Strahlengang mit einer Rasterkassette der Größe 35×43 cm. Die Untersuchung wird in Weichstrahltechnik (70 kV) durchgeführt, um eine zufriedenstellende Darstellung von Weichteil- und Organstrukturen zu erreichen. Die exakte Einstellung ist durch die Mitabbildung der Zwerchfellkuppe und der Symphyse gekennzeichnet. Bei Männern sollte die Aufnahme mit Gonadenschutz erfolgen, bei Frauen eine Schwangerschaft vorher ausgeschlossen werden. Aufnahme in Linksseitenlage. Diese Aufnahme erfolgt eben-
17
falls im a.-p.-Strahlengang mit einer Rasterkassette der Größe 35×43 cm, allerdings in Hartstrahltechnik (125 kV). Die Aufnahme dient dem Nachweis von Spiegelbildungen, der Beurteilung der intraluminalen Gasverteilungen, freier Perforation und atypischer Gasansammlungen (Pneumatosis, Aerobilie etc.) 17.3.4 Strahlenschutz Die Anwendung ionisierender Strahlen beim Menschen in Ausübung der Heilkunde ist durch die Verordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen, die sog. Röntgenverordnung, geregelt. Diese wiederum orientiert sich an den Empfehlungen der internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP). Die Röntgenverordnung gilt in allen Teilen auch für die Durchführung entsprechender Untersuchungen in der Intensivmedizin. Hauptanliegen des Strahlenschutzes ist die Minimierung der Strahlenbelastung sowohl für den Patienten als auch das Personal. Folgende Richtlinien sollten beachtet werden: 4 Anordnung von Röntgenaufnahmen nur durch den Arzt, der die für den Strahlenschutz erforderliche Fachkunde besitzt (§ 24, Abs. 3),
4 Anwendung von Röntgenstrahlen nur, wenn die ärztliche Indikation geboten ist (§ 25, Abs. 1), 4 Einhaltung der Qualitätssicherungsmaßnahmen bei Röntgeneinrichtungen, 4 die Röntgenuntersuchung ist so vorzunehmen, dass das Nutzstrahlenbündel keine andere als die zu untersuchende Person treffen kann (§ 20, Abs. 2). In unmittelbarer Umgebung jeder Röntgenröhre entsteht für den Augenblick der Röntgenstrahlenerzeugung ein sog. »Kontrollbereich«. Dieser Kontrollbereich ist definiert als eine Zone, in der eine Person, die sich dort ein Jahr während jeder Röntgenaufnahme ohne Schutzkleidung aufhalten würde, eine Strahlenbelastung von mehr als 15 mSv erhalten kann.
Abstandquadratgesetz Für den praktisch anwendbaren Strahlenschutz ist das wichtigste Gesetz das Abstandquadratgesetz: Die Dosis, die von einer punktförmigen Quelle ausgeht, nimmt mit dem Quadrat der Entfernung ab. Das heißt, in 2 m Abstand kommt nur noch ein Viertel der Streustrahlendosis an, die in 1 m Abstand registriert wird. Dadurch wird in der Regel gewährleistet, dass der Patient in den Nachbarbetten keiner unnötigen Strahlung ausgesetzt wird. Ebenso ist die Strahlenbelastung für das Personal bei Einhaltung entsprechender Abstände sowie Tragen von Schutzkleidung nahezu vernachlässigbar. Bleischürzen mit 0,25 mm Bleigleichwert absorbieren 90% der Strahlung im diagnostischen Bereich. In einer Studie zur Erfassung der effektiven Dosisbelastung durch Thoraxverlaufsserien (im Mittel 39±22 Bilder) und dem individuellen, durch die Strahlenbelastung erhöhten Krebsrisiko lag dieses zwischen 0,01% und 0,07% und wurde gegenüber dem Risiko der Grunderkrankung als vernachlässigbar eingestuft [12]. 17.4
Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen und Sonden
Die richtige Lage aller zur Therapie oder diagnostischen Überwachung eingeführten Sonden und Katheter ist Voraussetzung für eine optimale Funktion und die Prävention möglicher Schäden. Die Einführung und primäre Lagekontrolle erfolgt meist blind oder unter Durchleuchtungskontrolle bzw. fortlaufender Druckmessung. In jedem Fall bleibt das Thoraxübersichtsbild, auch nach erfolgloser Punktion, unerlässlich für die Erkennung etwaiger Komplikationen. Eine Fehlpositionierung von neu eingebrachten Kathetern und Tuben ist in bis zu 27% beschrieben, mit einer radiologisch erkennbaren Komplikationsrate von 6% [2]. Fehllagen oder Komplikationen nach Implantation von Kathetern, Sonden und Tuben sind die häufigsten, für den Intensivmediziner überraschenden Veränderungen in der Thoraxaufnahme [2].
Aufnahmetechnik Das Thoraxübersichtsbild sollte in Hartstrahltechnik evtl. mit leicht erhöhter Dosis zur verbesserten Transparenz des Mediastinums angefertigt werden. Da zur Lagekontrolle in der Regel nur Aufnahmen im sagittalen Strahlengang vorliegen, ist die exakte topographische Zuordnung des Fremdmaterials gelegentlich schwierig. So ist die Angabe einer Katheterposition »in Projektion auf« eine be-
185 17.4 · Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen und Sonden
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stimmte Gefäßstruktur in ihrer Aussage korrekt. Ist die korrekte Lage aufgrund einer einzelnen Aufnahme nicht eindeutig zu klären, müssen weitere radiologische Maßnahmen durchgeführt werden. Dazu gehören Röntgenaufnahmen in weiteren Untersuchungsebenen, das Anspritzen von Kathetern oder Drainagen mit Kontrastmittel und die Dokumentation der Kontrastmittelverteilung. Gegebenenfalls muss mit Hilfe von Schnittbildverfahren (Sonographie und Computertomographie) die Lage des zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken eingebrachten Materials beurteilt werden. 17.4.1 Endotrachealtubus Bei 12–15% der intubierten Patienten wird auf der Thoraxaufnahme eine Fehlpositionierung des Endotrachealtubus gefunden [7]. Der Großteil der meist endobronchial fehlpositionierten oro- bzw. nasotrachealen Tuben wird durch alleinige klinische Untersuchung (seitengleiches Atemgeräusch oder symmetrische Thoraxexkursion) nicht erkannt. Auch kann sich die Tubuslage bei Manipulationen (z. B. Neufixierung) oder durch Husten verändern. Aus diesem Grund muss folgendes beachtet werden: i Die Lage des Endotrachealtubus (und aller anderen Sonden und Katheter) muss auf jeder neuen Thoraxaufnahme auch erneut kontrolliert werden.
Normale Lage Das Auffinden der Tubusspitze auf der Thoraxaufnahme wird durch einen röntgendichten Streifen erleichtert. Die Lokalisation der Spitze des Tubus wird normalerweise in Bezug auf die Trachealkarina (95% BWK 5±1) angegeben. Flexion und Extension von Kopf und Hals führen zu einer beträchtlichen Änderung der Lage der Tubusspitze. Da der Tubus entweder an der Nase oder dem Mund fixiert ist, kann nur das distale Ende der Bewegung des Kopfes und Halses folgen. Bei Flexion wird der Tubus bis zu 2 cm distalwärts, durch Extension bis zu 2 cm kranialwärts verlagert. Bei neutraler Kopfposition wird deshalb ein Abstand zwischen Karina und Tubusspitze von ca. 5 cm empfohlen, denn bei kürzerer Distanz könnte die alleinige Änderung der Kopfposition zu einer einseitigen endobronchialen Intubation führen. Bedeutung der Kopfposition. Die jeweilige Kopfposition ist normalerweise auf der Röntgenaufnahme ersichtlich: In neutraler Position projiziert sich die Mandibula auf die untere HWS. Bei Flexion projiziert sich die Mandibula auf die obere BWS, bei Extension ist die Mandibula oberhalb C4 abgebildet. Auch das Seitwenden des Kopfes kann die Tubusspitze um 1–2 cm verschieben. Tubuslumen und -cuff. Das Lumen des Tubus sollte die Hälfte
bis 2/3 der Trachea ausfüllen, um den Atemwegswiderstand möglichst gering zu halten. Der insufflierte Cuff sollte das tracheale Lumen ausfüllen, ohne die Trachealwand nach außen vorzuwölben, anderenfalls ist mit Schleimhautschädigungen zu rechnen.
Fehllagen In ungefähr 10–20% der Fälle muss der Tubus nach radiologischer Lagekontrolle korrigiert werden [19]. Die häufigste Tubusfehllage ist die einseitige endobronchiale Intubation, zumeist des
. Abb. 17.4. Tubusfehllage im rechten Hauptbronchus
rechten Hauptbronchus (. Abb. 17.4). Die einseitige Intubation des rechten Hauptbronchus kann zu einer Atelektase der linken Lunge und/oder des rechten Oberlappens führen mit Überblähung der ventilierten Lungenabschnitte und der Gefahr eines Spannungspneumothorax durch ein Barotrauma. In 15% der Fälle kann sich bei rechtsseitiger endobronchialer Intubation ein Spannungspneumothorax entwickeln. Liegt die Tubusspitze zu knapp oberhalb der Karina, kann dies einerseits zu einer unbemerkten einseitigen endobronchialen Intubation führen, andererseits kann es zu einer direkten mechanischen Irritation der Schleimhaut kommen. Zusätzlich kann der Absaugvorgang zu Schleimhautläsionen im Bereich der Karina führen. Eine zu hohe Position des endotrachealen Tubus birgt die Gefahr der spontanen Extubation oder der Aspiration um einen schlecht abdichtenden Cuff im Larynx oder Pharynx. Zusätzlich kann es zu Verletzungen im Bereich des Larynx (Stimmbänder) durch den überblähten Cuff kommen. Fehllage im Ösophagus. Eine Fehllage des Tubus im Ösophagus
wird in den meisten Fällen klinisch erkannt. In der Thoraxaufnahme muss eine ösophageale Tubusfehllage vermutet werden bei linkslateral der Trachealkontur lokalisiertem Tubus, Überblähung des Ösophagus und Magens und Verlagerung der Trachea durch den geblähten Cuff. Eine Thoraxkontrolle in 25° rechtslateralisierter Schrägstellung mit nach rechts gedrehtem Kopf könnte den Verlauf des dorsal der Trachealkontur verlaufenden Tubus eindeutig darstellen.
Komplikationen Eine schwere, jedoch sehr seltene Komplikation der endotrachealen Intubation stellt die Ruptur im Bereich des Larynx oder der Trachea (meist im Bereich der Pars membranacea) dar. In der Thoraxübersichtsaufnahme muss eine Trachealruptur vermutet werden bei Rechtsverlagerung des distalen Endes des Endotrachealtubus relativ zum Tracheallumen mit Überblähung des Cuffs. Durch Luftaustritt aus der rupturierten Trachea kann es
186
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
zu Pneumomediastinum, Weichteilemphysem sowie Pneumothorax kommen. Die Durchführung eines CT bei bestehender Trachealperforation ist zu empfehlen zur genauen Lokalisation der Ruptur, zur Beurteilung einer möglichen Infektion im Bereich des Mediastinums bzw. der Halsregion sowie zur Planung eines eventuellen chirurgischen Eingriffes. 17.4.2 Trachealkanüle Nach einer Tracheotomie sollte zur Lagekontrolle der Kanüle sowie zum Ausschluss von Komplikationen eine Thoraxübersichtsaufnahme angefertigt werden.
Normale Lage Die Trachealkanüle soll parallel zur Längsachse des trachealen Luftbandes nach kaudal verlaufen. Die Spitze soll einige Zentimeter oberhalb der Karina liegen. Die Trachealkanüle sollte die Hälfte bis zwei Drittel der Trachea ausfüllen.
Fehllage Das Anliegen bzw. die Verkantung der Trachealkanülenspitze an der Vorder- oder Hinterwand der Trachea kann zu Drucknekrosen und zur Perforation der Trachealwand führen (Nachweis mit Seitenaufnahmen). Sehr selten kann diese Fehllage entweder zu einer Druckarrosion der vor der Trachea verlaufenden linken A. brachiocephalica oder zu einer tracheobronchialen Fistel führen. Wird das äußere und innere Ende der Trachealkanüle in der Thoraxübersichtsaufnahme übereinander projiziert in einer Ebene abgebildet, verläuft die Kanüle nicht regulär nach kaudal und muss repositioniert werden. Auch in diesem Fall kann die zusätzliche Anfertigung einer Seitenaufnahme hilfreich sein.
Komplikationen
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In der Thoraxübersichtsaufnahme nach Tracheotomie ist häufig ein geringes zervikales Hautemphysem sowie ein Pneumomediastinum zu sehen. Ein massives subkutanes Emphysem kann als Zeichen einer Trachealperforation im Rahmen der Tracheotomie gewertet werden. Ein Pneumothorax kann bei Verletzung der Pleura im Rahmen der Tracheotomie sowie bei Trachealperforationen auftreten. Bei Verbreiterung des Mediastinums nach Tracheotomie muss an eine Blutung gedacht werden. 17.4.3 Zentralvenöser Katheter Bei der röntgenologischen Lagekontrolle des Katheters ist darauf zu achten, dass der gesamte intrathorakale Verlauf des Katheters von der Punktionsstelle bis zur Katheterspitze abgebildet ist. Auch bei erfolgloser Punktion ist zum Ausschluss evtl. punktionsassoziierter Komplikationen eine Thoraxübersichtsaufnahme anzufertigen. Um extravasale Katheterfehllagen oder Fehllagen in kleinen Gefäßen eindeutig zu identifizieren, kann die Darstellung des Katheters mit einem nichtionischen Kontrastmittel (5–10 ml) erforderlich werden. Fehlpositionierungen nach Anlage eines zentralvenösen Katheters werden in bis zu einem Drittel der Thoraxübersichtsaufnahmen gefunden.
Normale Lage Der meist über die V. subclavia oder die V. jugularis interna eingeführte Katheter sollte mit der Spitze im Bereich der V. cava su-
. Abb. 17.5a, b. Venöse Anatomie in frontaler und seitlicher Projektion: 1 V. jugularis interna; 2 V. thyroidea inferior; 3 V. subclavia; 4 V. thoracica interna; 5 V. pericardiophrenica, 6 V. azygos; 7 V. intercostalis superior; 8 V. cava superior
perior liegen. Im a.-p.-Bild sollte sich die Spitze auf einen Bereich zwischen den sternalen Ansätzen der 1. – 3. Rippe projizieren, also nicht tiefer als die Trachealkarina liegen. Bei regulärer Lage überkreuzen sich über die V. subclavia und die V. jugularis interna eingeführte Katheter. Fehlt dieses Überkreuzen der Katheter, so muss an eine extravasale oder intraarterielle Lage gedacht werden.
Fehllage Eine Katheterfehllage im rechten Vorhof oder Ventrikel ist wegen der Gefahr von Klappen- oder Endokardläsionen zu korrigieren. Zusätzlich kann es zum Auftreten von Arrhythmien und zu Herzwandperforationen mit Hämatoperikard und Herzbeuteltamponade kommen. Intravasale Katheterfehllagen werden häufig klinisch nicht erkannt, sollten jedoch wegen möglicher Komplikationen wie Thrombose oder Gefäßarrosion korrigiert werden. Die radiologische Beurteilung der verschiedenen Möglichkeiten zentralvenöser Katheterfehllagen setzt die genaue Kenntnis der venösen thorakalen Anatomie voraus [26] (. Abb. 17.5, 17.6a–c, 17.7a–c). Die häufigste Katheterfehllage bei Anlage eines Katheters
187 17.4 · Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen und Sonden
17
. Abb. 17.6a–c. Katheterfehllagen: a von linker V. subclavia in rechte V. thoracica interna; b von linker V. jugularis interna in V. azygos; c von linker V. jugularis interna in linke V. pericardiophrenica
. Abb. 17.7a–c. Katheterfehllagen. a Rechter Subklaviakatheter. Fehllage in der V. jugularis interna; b Katheterspitze eines Jugularis-interna-Katheters in der rechten V. thoracica interna; c doppelter Katheterbruch eines Jugularis-interna-Katheters im subkutanen Verlaufsbereich
über die V. subclavia ist der Verlauf in die ipsilaterale V. jugularis interna (in ca. 15% der Fälle; [23]). Eine andere häufige Katheterfehllage ist die Überschreitung der Mittellinie mit Verlauf des Katheters in die kontralaterale V. brachiocephalica. Eine weitere Fehllage nach Punktion der V. jugularis interna ist der Verlauf in die Venen
der oberen Extremität. Diese Fehllagen sind sehr leicht anhand der Thoraxübersichtsaufnahme in einer Ebene zu erkennen. Seltenere Fehllagen. Schwieriger bzw. nur bei Aufnahmen in 2
Ebenen oder nach Kontrastmittelmarkierung erkennbare Kathe-
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Abb. 17.8 a–c. a Atypischer Verlauf eines linksseitigen Subklaviakatheters entlang des linken Mediastinalrandes (n); korrekte Lage in einer persistierenden V. cava superior sinistra; b, c Darstellung durch Phlebographie: b Kontrastmittelinjektion in beide Vv. cubitales; normale obere Hohlvene rechts; Einmündung der persistierenden linken oberen Hohlvene in den rechten Vorhof; c persistierende linke obere Hohlvene in Schrägposition; retrograde Füllung der V. hemiazygos; Füllungsdefekte durch parietale Thromben im Bereich des Katheterendstückes
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terfehllagen sind im Bereich der V. azygos und der V. thoracica interna zu beobachten. Eine Katheterfehllage mit der Spitze in der V. azygos ist an einer Schleifenbildung in Projektion auf den Einmündungsbereich der V. azygos in die V. cava superior erkennbar [1]. Eindeutig ist eine Fehllage im Bereich der V. azygos auf einer Aufnahme im lateralen Strahlengang durch ihre dorsalwärts gerichtete Position zu erkennen. Eine seltene Katheterlokalisation ist die V. thoracica interna, die in der Seitenaufnahme an ihrem retrosternalen Verlauf identifiziert werden kann. Andere Fehllagen wie im Bereich der V. pericardiophrenica, der V. intercostalis superior links, und der V. thyroidea inferior stellen ausgesprochene Raritäten dar. Die häufigste venöse Gefäßvariante ist eine persistierende linke obere Hohlvene, die in 0,3% der Normalpopulation und in 4,3% der Patienten mit angeborenen Herzfehlern zu erwarten ist (. Abb. 17.8a–c). Der Katheter verläuft typischerweise bei Punktion der linken V. jugularis interna oder V. subclavia links mediastinal nach kaudal. Eine intraarterielle Katheterfehllage ist an ihrem atypischen Verlauf zu erkennen (medial der zu erwartenden Position der V. cava superior).
Komplikationen Pneumothorax. Die häufigste punktionsassoziierte Komplikati-
on ist ein Pneumothorax (bei bis zu 6% der Patienten nach Punktion der V. subclavia). Ein Pneumothorax ist wesentlich seltener nach Punktion der V. jugularis interna zu beobachten. Bei respiratorischer Verschlechterung des Patienten ist an die Möglichkeit des verspäteten Auftretens eines Pneumothorax zu denken; dies ist noch Stunden bis Tage nach der Punktion möglich [18]. Arterielle Punktion. Durch versehentliche arterielle Punktion können ausgedehnte Weichteilhämatome, Mediastinalhämato-
me oder ein Hämatothorax entstehen. Diese sind radiologisch an Weichteilverschattungen, Mediastinalverbreiterung sowie einem Pleuraerguss zu erkennen. Extravasale Fehllage. Eine extravasale Katheterfehllage im Be-
reich des Mediastinums oder in der Pleura führt bei Infusion größerer Flüssigkeitsmengen zu einem Infusionsmediastinum mit rasch zunehmender Mediastinalverbreiterung und Pleuraerguss. Diese Fehllage ist durch eine Extravasation nach Kontrastmittelmarkierung des Katheters nachzuweisen (. Abb. 17.9). ! Cave Hierbei ist zu beachten, dass bei mehrlumigen Kathetern auch nur ein Lumen extravasal gelegen sein kann. Wandständige Katheterspitze. Eine suboptimale, repositions-
bedürftige Katheterposition ist die im Bereich der V. cava superior rechts wandständige Katheterspitze bei meist über die linke V. subclavia eingeführtem Katheter (. Abb. 17.10). Diese Katheterlage birgt ein erhöhtes Risiko von Endothelschädigungen und Gefäßperforationen meist Stunden bis Tage nach der Anlage. Thrombose. Längere Katheterliegezeiten, Schleifenbildungen, Intimaläsionen und Infektionen begünstigen die Bildung intravenöser Thrombosen. Nach 14 Tagen werden bei bis zu 73% der Patienten mit zentralvenösen Kathetern Thrombosierungen um den Katheter gefunden. Primäres Verfahren zur Thrombosediagnostik auf der Intensivstation im Bereich der V. subclavia und V. jugularis interna ist die dopplersonographische Untersuchung. Zur exakten Bestimmung der Ausdehnung der Thrombose in Richtung V. cava superior empfiehlt sich die Durchführung einer CT unter i.v.-Kontrastmittelapplikation über beide Arme.
189 17.4 · Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen und Sonden
17
sollte in jedem Fall, auch bei eindeutigen Druckkurven, zur genauen Lokalisation und zum Ausschluss von Komplikationen eine Thoraxübersichtsaufnahme angefertigt werden.
Normale Lage Der Pulmonaliskatheter verläuft normalerweise über die V. cava superior, den rechten Vorhof und den rechten Ventrikel in die rechte oder linke Pulmonalarterie.
Fehllage Die häufigste Fehllage ist die zu weit nach peripher vorgeschobene Katheterspitze, also die Lage in einem Pulmonalarterienast mehr als 2 cm vom Hilus entfernt. Aus einer zu weit peripheren Katheterlokalisation kann ein Lungeninfarkt oder eine Perforation eines Pulmonalarterienasts mit konsekutiver Lungenblutung entstehen. Ein zu weit proximal im rechten Ventrikel lokalisierter Pulmonaliskatheter kann zu Arrhythmien, Endokardschäden und zu Perforationen führen.
Komplikationen
. Abb. 17.9. Ausgedehnter rechtsseitiger Hämatothorax nach Katheterfehllage in der A. sublavia und Perforation
Die häufigste radiologisch erkennbare Komplikation ist der Lungeninfarkt, der durch einen zu weit peripher gelegenen Katheter oder durch eine zu lange Inflation des Ballons verursacht sein kann. Die Infarktregion wird typischerweise an einer fleckigen Konsolidierung in der Lungenregion peripher des Katheters erkannt. Nur selten sieht man ein typisches keilförmiges, subpleural gelegenes, homogenes Konsolidierungsareal (»Hampton‘s hump«). Schleifen- oder Schlingenbildungen des Katheters innerhalb des Vorhofs oder Ventrikels können atriale und ventrikuläre Arrhythmien verursachen. Eine seltene Komplikation ist die Ruptur einer Pulmonalarterie mit nachfolgender Lungenblutung. Andere sehr seltene Komplikationen sind die Ausbildung eines Pseudoaneurysmas der Arteria pulmonalis, intrakardiale Verknotung des Katheters sowie lokale Thrombosebildung. 17.4.5 Intraaor tale Ballonpumpe Die intraaortale Ballonpumpe (IABP) besteht aus einem Katheter, der an seiner Spitze einen 26–28 cm langen aufblasbaren Ballon besitzt. Der Ballon wird, z. B. EKG-getriggert, während der Diastole mit etwa 40 ml Gas (meist Helium) aufgeblasen und während der Systole wieder entleert. Im Thoraxbild erkennt man die IABP während der Diastole als längliche, gasgefüllte Struktur im Bereich der Aorta descendens. Während der Systole ist der Ballon leer und daher nicht sichtbar. An der Katheterspitze befindet sich ein kleiner, röntgendichter Marker.
. Abb. 17.10. Rechts wandständige Katheterspitze in der V. cava superior mit konsekutiver Perforation der Katheterspitze und Infusionspleuraerguss
Normale Lage
17.4.4 Pulmonalar terienkatheter
Der Zugang erfolgt über die A. femoralis, entweder perkutan oder chirurgisch, durch Arteriotomie. Über die A. femoralis wird der Katheter, meist unter Durchleuchtungskontrolle, retrograd bis in die Aorta thoracalis vorgeschoben.
Pulmonalarterienkatheter werden typischer weise über eine Schleuse in der V. subclavia oder der V. jugularis interna eingeschwemmt; die Spitze sollte in der rechten oder linken Pulmonalishauptarterie liegen. Nach Anlage eines Pulmonaliskatheters
i Idealerweise liegt die Spitze der IABP unmittelbar distal des Abgangs der linken A. subclavia und kann in der a.-p.Thoraxaufnahme in Projektion auf den Arcus aortae dargestellt werden.
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
Fehllage
17.4.7 Ernährungssonden
Liegt die IABP zu weit proximal im Aortenbogen, besteht die Gefahr eines Verschlusses der linken A. subclavia oder der hirnversorgenden Arterien mit dem Risiko zerebraler Embolien. Eine zu weit distale Fehllage der IABP führt zu ungenügender Funktion und der Gefahr einer Obstruktion von Viszeralarterien.
Eine Fehlpositionierung von Magen-, Duodenal- oder Jejunalsonden ist nicht selten und wird häufig klinisch nicht erkannt. Daher sollte nach dem Einführen einer neuen Ernährungssonde in jedem Fall eine Thoraxübersichtsaufnahme angefertigt werden.
Komplikationen
Normale Lage
Die häufigste Komplikation ist eine Ischämie der unteren Extremität, die sowohl ipsi- als auch kontralateral auftreten kann. Zur Abklärung eventueller thromboembolischer Gefäßverschlüsse stehen die Farbduplexsonographie sowie die intraarterielle digitale Subtraktionsangiographie zur Verfügung. Während der Einlage der IABP kann es zu einer Dissektion der Aortenwand oder zu einer Perforation der Aorta kommen. Bei Verdacht auf Aortendissektion oder Aortenruptur ist die CTAngiographie zur weiteren Abklärung das Verfahren der Wahl. Eine weitere sehr seltene Komplikation stellt die Ballonruptur mit der Gefahr einer Gasembolie dar.
Das Auffinden der Ernährungssonde auf der Thoraxaufnahme wird durch einen röntgendichten Streifen erleichtert. Es muss jedoch beachtet werden, dass diese, bei unterexponierten Aufnahmen und bei nur wenig röntgendichten Ernährungssonden, in der Thoraxübersichtsaufnahme nicht oder nur sehr schlecht sichtbar sind; hier kann Kontrastmittel über die Sonde verabreicht werden. Üblicherweise besitzen die Ernährungs- und Ablaufsonden Seitenlöcher im Bereich der distalen 10 cm; die Spitze sollte also zumindest 10 cm distal des gastroösophagealen Übergangs liegen. Duodenal- und Jejunalsonden werden normalerweise unter endoskopischer bzw. Durchleuchtungskontrolle eingeführt.
Fehllage 17.4.6 Pleuradrainagen Pleuradrainagen werden zur Evakuierung von pleuraler Luft oder Flüssigkeit eingeführt. Nach Punktion bzw. Drainage sollte zur Lagekontrolle, zum Ausschluss evtl. Komplikationen (z. B. Pneumothorax bei Pleuraergusspunktion) sowie zur Kontrolle des Therapieerfolges eine Thoraxübersichtsaufnahme durchgeführt werden.
Normale Lage Zur Therapie eines Pneumothorax sollte die Drainagespitze in der Nähe der Lungenspitze in anterosuperiorer Richtung liegen. Zur Drainage pleuraler Flüssigkeit sollte die Drainagespitze posteroinferior zur Darstellung kommen. Abgekapselte Flüssigkeitsoder Luftansammlungen können evtl. atypische Drainagepositionen erfordern. i Es ist besonders darauf zu achten, dass alle Seitenlöcher (erkennbar an einer Unterbrechung des Röntgenstreifens) intrathorakal liegen.
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Fehllagen Eine Fehllage der Drainage muss vermutet werden, wenn in der Kontrollröntgenaufnahme keine Besserung eingetreten ist. Pleuradrainagen können im Bereich der Interlobien, im Lungenparenchym sowie extrapleural im Bereich der Thoraxweichteile liegen. Häufig ist zur genauen Lokalisation der Thoraxdrainage, wenn die Drainagefunktion ungenügend ist, die zusätzliche Anfertigung einer Seiten- oder Schrägaufnahme, ggf. sogar eine CT, notwendig.
Fehlpositionierungen von Ernährungssonden bei Intensivpatienten sind durchaus nicht selten. Die Ernährungssonde kann versehentlich in das Tracheobronchialsystem gelangen und zu Pneumonien, zur Perforation und zu einem Pneumothorax führen.
Komplikationen Eine Ösophagusperforation ist eine sehr seltene Komplikation im Rahmen des Einführens einer Ernährungssonde. Sie kann zu einer Mediastinalverbreiterung und zu einem Pneumomediastinum führen. 17.4.8 Herzschrittmacher Bei Intensivpatienten werden meist transvenös über die V. subclavia oder die V. jugularis interna eingeführte Schrittmachersonden verwendet. Die Schrittmachersonde wird in der Regel unter Durchleuchtungskontrolle in die rechte Ventrikelspitze platziert und in den Trabekeln verankert, so dass sie engen Kontakt zum Endokard besitzt. Nach Herzoperationen werden meist epikardiale Schrittmachersonden verwendet, die intraoperativ platziert werden. Zur exakten Lagekontrolle ist die Anfertigung von Aufnahmen in 2 Ebenen notwendig (a.-p. und seitlich).
Normale Lage Im a.-p.-Bild projiziert sich die Spitze der Sonde auf den Boden des rechten Ventrikels, etwas medial vom linken Herzrand. In der Seitenaufnahme soll die Schrittmachersonde nach ventral verlaufen.
Komplikationen
Fehllage
Komplikationen umfassen Blutungen durch Verletzung einer Interkostalarterie oder von Leber oder Milz. Eine Drainagelage innerhalb des Lungenparenchyms führt zur Parenchymzerreißung, zu Hämatombildung und bronchopleuraler Fistelbildung. Im Einzelfall kann bei unklarer projektionsradiographischer Lage der Thoraxdrainage eine Thorax-CT erforderlich sein. Hier kann insbesondere zwischen einer Lage der Thoraxdrainage im Bereich der Interlobien oder innerhalb des Lungenparenchyms differenziert werden.
Eine Lage im Sinus coronarius ist nur im Seitenbild an einem nach dorsal gerichtetem Verlauf zu erkennen. Weitere, meist schon durch gestörte Erregungsübertragung erkennbare Fehllagen sind die in der V. cava superior oder inferior, im rechten Vorhof, Truncus pulmonalis oder den Pulmonalarterien.
Komplikationen Myokardperforationen können schwer zu erkennen sein, wenn sich die Spitze der Schrittmachersonde nicht eindeutig außer-
191 17.5 · Pathologische Luftansammlungen
17
. Tabelle 17.1. Ursachen eines Pneumothorax beim Intensivpatienten Häufig: Iatrogen
Barotrauma Zentralvenöser Katheter Thoraxdrainage Pleurapunktion Herzmassage
Selten: Thoraxtrauma
Penetrierend oder stumpf
Mediastinalemphysem mit sekundärem Pneumothorax
Tracheobronchiale Verletzungen Tracheotomie Barotrauma Tracheal- oder Ösophagusperforationen
halb des Myokards oder des epikardialen Fettstreifen projiziert. Myokardperforationen bleiben meist ohne Folgen. In seltenen Fällen kommt es zu einem Hämatoperikard mit Herzbeuteltamponade. 17.5
Pathologische Luftansammlungen
17.5.1 Pneumothorax Beim Pneumothorax gelangt Luft zwischen Pleura parietalis und viszeralis, so dass der Unterdruck zwischen den Pleurablättern aufgehoben wird. Das Eindringen von freier Luft in den Pleuraraum führt durch die Eigenelastizität des Lungenparenchyms zum partiellen oder totalen Kollaps der Lunge. Das Auftreten eines Pneumothorax auf einer Intensivstation, insbesondere bei beatmeten Patienten, ist kein seltenes Ereignis: Die Häufigkeit unter positiver Druckbeatmung wird mit 5–15% angegeben. Die Ursachen eines Pneumothorax bei Intensivpatienten (. Tab. 17.1) sind häufig iatrogen, durch ein Barotrauma oder durch Komplikationen im Rahmen der Anlage eines zentralvenösen Katheters bedingt. Seltene Ursachen sind ein penetrierendes oder stumpfes Thoraxtrauma oder ein Mediastinalemphysem mit sekundärer Entwicklung eines Pneumothorax. ! Cave Ein Pneumothorax kann auch erst Stunden bis Tage nach einer Punktion auftreten [18].
Radiologische Befunde Die direkten Röntgenzeichen eines Pneumothorax (. Abb. 17.11 a-d) sind der Nachweis der abgehobenen Pleura viszeralis als scharf abgrenzbare Linie zwischen Lunge und lufthaltigem Pleuraraum und die fehlende Darstellung von peripheren Lungengefäßen im Pneumothoraxspalt. Beim stehenden Patienten verteilt sich die pleurale Luft entsprechend der Schwerkraft mehr in die kranialen Pleuraabschnitte. Eine Aufnahme in Exspiration erhöht die Nachweisrate. Beim liegenden Patienten, wie es auf einer Intensivstation meist der Fall ist, findet man die klassischen Zeichen des Pneu-
mothorax nur bei größerer intrapleuraler Luftansammlung und erhaltener Lungenelastizität. Für eine derartige Darstellung im Röntgenbild ist eine maximal aufgerichtete Patientenposition von besonderer Bedeutung. Häufiger verteilt sich in der liegenden Position die Luft vorwiegend in den ventralen und basalen Pleuraabschnitten. ! Cave Auf der a.-p.-Thoraxaufnahme können ventral gelegene Luftansammlungen dem direkten Nachweis entgehen.
Hier sind folgende indirekte Röntgenzeichen von großer Bedeutung: 4 scharfe Grenze von Zwerchfell und Mediastinalstrukturen, 4 Transparenzerhöhung des Leber- und Milzfeldes, 4 Transparenzerhöhung der gesamten betroffenen Lunge.
Untersuchungstechnik Ist eine klare diagnostische Aussage an Hand der Thoraxaufnahme im sagittalen Strahlengang nicht möglich, empfiehlt sich die Anfertigung von seitlichen Thoraxaufnahmen in Hartstrahltechnik mit Rasterkassette oder in digitaler Technik. Alternativ kann eine Tangentialaufnahme angefertigt werden. Die aussagekräftigste Methode bei der klinischen Verdachtsdiagnose eines verborgenen Pneumothorax ist die Computertomographie [20].
Differenzialdiagnosen Vorsicht ist geboten, um die Fehlinterpretation von Hautfalten besonders bei älteren und kachektischen Patienten zu vermeiden: Diese laufen typischerweise über die Thoraxwand hinaus, sind oft bilateral oder multipel, verschwinden plötzlich und lassen durchziehende Gefäßstrukturen erkennen. Ebenso sprechen eine unscharfe Begrenzung, ein begleitender Weichteilschatten und die nicht parallele Ausrichtung zur Thoraxwand für das Vorliegen einer Hautfalte. Gegebenenfalls muss eine Wiederholungsaufnahme unter kontrollierten Aufnahmebedingungen oder ein CT angefertigt werden. Intra- und extrathorakale Luftansammlungen, verursacht durch zystische Lungenveränderungen (Zysten, Emphysembullae, Pneumatozelen), Luftansammlungen im Mediastinum, im Perikard oder in den Thoraxweichteilen, intrathorakale Hernien und externe Fremdkörper können ebenfalls zu einer Verwechslung mit einem Pneumothorax führen.
192
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
17 . Abb. 17.11 a–d. Pneumothorax: a Linksseitiger mantelförmiger Pneumothorax mit leichter Verlagerung der Mediastinalstrukturen nach rechts im Sinne beginnender Spannungszeichen; kleiner Seropneumothoraxspiegel; b ausgedehnter Spannungspneumothorax rechts mit Totalkollaps der rechten Lunge und ausgeprägten Spannungszeichen; Verlagerungen der Mediastinalstrukturen nach links und Verlagerung der rechten Lunge nach kontralateral; c Totalkollaps der rechten Lunge mit geringen Spannungszeichen; d Seropneumothorax rechts ohne Spannungszeichen; irreguläre Verdickung der Pleura mit Kalkplaques auch linksapikal sowie einer Pleurawinkelergussbildung links; ausgedehntes Lungenemphysem
17.5.2 Spannungspneumothorax Beim Spannungspneumothorax gibt es die folgenden radiologischen Leitsymptome: 4 Verlagerung der Mediastinalstrukturen zur Gegenseite mit Verlagerung der Trachea, 4 Herniation der kollabierten bzw. retrahierten Lunge in das Mediastinum, 4 Kaudalverlagerung des Zwerchfells, 4 Kaudalverlagerung und Verbreiterung des lateralen Recessus phrenicocostalis.
Sicherstes und häufig einziges Spannungszeichen im Röntgenbild sind Kaudalverlagerung und Abflachung des Zwerchfells auf der betroffenen Seite. Bei höheren Druckwerten verläuft die Zwerchfellkontur in kaudalwärts gerichteter Konvexität mit stumpfwinkliger breiter Öffnung des lateralen Sinus (»deep sulcus sign«). ! Cave 5 Die Röntgenzeichen eines Spannungspneumothorax können bei Vorliegen bilateraler diffuser Lungenveränderungen (z. B. ARDS) nur sehr diskret ausgebildet sein. 6
193 17.5 · Pathologische Luftansammlungen
17
5 Bei maschinell beatmeten Patienten führt fast jeder Pneumothorax zu einem Spannungspneumothorax, auch wenn er klein und durch pleurale Adhäsionen abgekapselt erscheint.
17.5.3 Atypische Lokalisationen des
Pneumothorax Aufgrund der meist liegenden Patientenposition auf der Intensivstation sammelt sich die freie pleurale Luft meist ventral und subpulmonal und führt somit häufig zu atypischen Lokalisationen des Pneumothorax.
Anteromedialer Pneumothorax Am liegenden Patienten sammelt sich ein Pneumothorax bevorzugt anterior entlang der ventralen Thoraxwand bzw. das anteriore Mediastinum umgebend an. Dies führt zu einer deutlichen Demarkierung thorakaler Grenzflächen in Abhängigkeit von der Lokalisation der freien pleuralen Luft (indirekte Pneumothoraxzeichen). Die radiologischen Zeichen eines anteromedialen, supra- oder infrahilären Pneumothorax sind in der Übersicht dargestellt. Radiologische Zeichen eines anteromedialen, supra- oder infrahilären Pneumothorax 5 Suprahilärer anteromedialer Pneumothorax; scharfe Demarkierung folgender Strukturen: – V. cava superior – V. azygos – A. subclavia links – Obere Pulmonalvene – Vordere pleurale Umschlagsfalte 5 Infrahilärer anteromedialer Pneumothorax; scharfe Demarkierung folgender Strukturen: – Herzrand – V. cava inferior – Kardiophrenischer Sulkus – Medialer Zwerchfellanteil unter der Herzsilhouette – Perikardialer Fettbürzel 5 Subpulmonaler Pneumothorax: Voraussetzung zur Erfassung eines subpulmonalen Pneumothorax ist, dass bei der Thoraxaufnahme die oberen Abschnitte des Abdomens mit darstellt sind. Radiologische Zeichen eines subpulmonalen Pneumothorax sind: – Hypertransparenz im oberen Abdomen, – tiefer kostophrenischer Sulkus – scharfe diaphragmale Begrenzung – Demarkierung der vorderen und hinteren Zwerchfellkontur (»doppeltes Zwerchfellzeichen«) – Demarkierung der V. cava inferior
17.5.4 Pneumomediastinum Ursächlich steht auch hier das Barotrauma im Vordergrund; das Pneumomediastinum kann ein erster diagnostischer Hinweis sein. Neben den für die Pneumothoraxentstehung bereits angeführten Ursachen kommen für das Pneumomediastinum folgende Pathomechanismen ergänzend in Frage:
. Abb. 17.12. Pneumomediastinum (n), Pneumothorax links (Pfeil mit Querstrich) und Weichteilemphysem am Hals nach Überdruckbeatmung; Beatmungstubus im rechten Hauptbronchus; homogen konfluiertes Ödem in beiden Lungen mit Luftbronchogrammen (weiblich, 21 Jahre, Suizidversuch mit Barbiturat, 4. Beatmungstag; Patientin überlebte)
4 Ösophagusläsionen durch Sonden, Endoskopie, Ballondilatation bzw. Bougierungen, verschluckte Fremdkörper, 4 Ösophagotrachealfistel, Boerhaave- oder Mallory-WeissSyndrom, 4 selten: Tumoren und Entzündungen. Ein Mediastinalemphysem darf postoperativ bis zu 2 Wochen nach Thoraxeingriffen nachweisbar sein. Lufteinschlüsse im Perikard (Pneumoperikard) sind Folge einer penetrierenden Verletzung oder einer Operation mit Perikarderöffnung.
Radiologische Befunde Die mediastinal gelegene Luft verteilt sich entlang der Mediastinalfaszien, des Perikards, der Mediastinalgefäße, Trachea, Bronchien und des Zwerchfells (. Abb. 17.12). Dadurch werden normalerweise unsichtbare Mediastinalstrukturen sichtbar gemacht. Dies führt im Thoraxbild zu streifenförmigen, in kraniokaudaler Richtung verlaufenden mediastinalen Luftaufhellungen. Differenzialdiagnostisch kann manchmal die Unterscheidung eines medialen Pneumothorax von einem Mediastinalemphysem schwierig sein. Ein Weichteilemphysem der Thoraxwand oder des Halses ist ein häufiger Begleitbefund des Mediastinalemphysems, eine Ausbreitung der mediastinalen Luft bis in das Retroperitoneum und Peritoneum ist möglich. In Zweifelsfällen ist der Luftgehalt im Mediastinum retrosternal durch ein CT oder eine seitliche Aufnahme in Rückenlage gut darstellbar. 17.5.5 Interstitielles Emphysem Intrapulmonale, extraalveoläre Luftansammlungen stellen eine ernste Komplikation beim beatmungspflichtigen Intensivpatienten dar.
194
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
Das interstitielle Emphysem des Erwachsenen hat seine Bedeutung während der letzten 15–20 Jahre mit zunehmender Verbreitung der Überdruckbeatmung erlangt [25]. Erhöhter intraalveolärer Druck führt zur Ruptur der Alveolarwand, Luft breitet sich im Interstitium entlang dem broncho vaskulären Bündel und der interlobulären Septen aus. Ein interstitielles Emphysem kann sich nach peripher bis zum Pneumothorax und nach zentral bis zum Pneumomediastinum ausweiten. Die Ruptur subpleuraler Alveolen führt direkt zum Pneumothorax ohne Nachweis eines interstitiellen Emphysems.
Radiologische Befunde Die radiologische Erkennung der extraalveolären Luftansammlungen in der Lungenaufnahme setzt eine gewisse Konsolidierung von Alveolen voraus. Wegweisend sind irregulär angeordnete Luftbläschen (bis zu 5 mm Durchmesser), seltener streifenförmige Luftansammlungen entlang der kleinen Gefäße und Bronchusstrukturen sowie subpleural gelegene Luftbläschen. Man erkennt lufthaltige, vom Hilus nach peripher ziehende Aufhellungsstreifen, die im Gegensatz zum Luftbronchogramm keine Verzweigungen oder eine regelmäßige, peripherwärts gerichtete Kaliberabnahme aufweisen. Sie sind eher ungeordnet und in ihrer Erscheinung vergleichbar mit dem Negativbild von Kerley-Mustern. Ringförmige, perivaskuläre Aufhellungen, sog. »Halos«, sind selten, aber typisch und entstehen durch Luft im perivaskulären Interstitium. Im Verlauf können vorbestehende Konsolidierungen bei Ausbildung eines interstitiellen Emphysems transparenter erscheinen. Hier ist Vorsicht vor einer Fehlinterpretation einer scheinbaren Befundbesserung geboten. 17.6
Abnorme Flüssigkeitsansammlungen
17.6.1 Pleuraerguss
17
Pleurale Flüssigkeitsansammlungen sind in der Intensivmedizin häufige Begleitbefunde. Nach abdominellen Operationen werden bei bis zu 50% der Patienten meist kleine pleurale Begleitergüsse nachgewiesen, ohne dass eine spezielle Behandlung erforderlich wäre. Nach Thoraxeingriffen kommt es beinahe bei allen Patienten zur Ausbildung von Pleuraergüssen, evtl. mit hämorrhagischer Komponente. In der Regel werden diese Patienten bereits intraoperativ prophylaktisch mit Thoraxdrainagen versorgt. Beim liegenden Patienten kommt es bei nicht obliteriertem Pleuraspalt zu einer flächigen dorsalen Verteilung des Pleuraergusses, wobei das Anheben des Oberkörpers eine mehr kaudale Umverteilung bedingt.
Radiologische Befunde Bei einseitigem Pleuraerguss ist die betroffene Thoraxseite im Vergleich zur gesunden Seite transparenzgemindert, bei beidseitigem Erguss müssen zur Diagnosestellung weitere Röntgenzeichen wie die homogene, nach kranial abnehmende Transparenzminderung einer Lungenhälfte, die unscharfe oder fehlende Begrenzung des Zwerchfells, die Verbreiterung des Pleuraraums lateral und apikal sowie die Flüssigkeitsmarkierung der Interlobärspalten hinzutreten (. Abb. 17.13). Die Sonographie hat sich als äußerst wichtige, direkt am Patientenbett verfügbare Methode zum Nachweis eines Pleuraergusses erwiesen. Sie kann schnell und zuverlässig über Vorhandensein, Verteilung und ungefähre Menge des Pleuraergusses
. Abb. 17.13. Bilaterale Pleuraergussbildung, rechts mit Flüssigkeitsmarkierung des Interlobiums und konsekutiver Kompressionsdystelektase im rechten Unterlappen. Kardiale Dilatation mit pulmonaler Stauung (Grad 2). Rechts wurden nach dieser Aufnahme 800 ml Pleuraerguss drainiert
Auskunft geben. Zusätzlich kann für eine evtl. Pleurapunktion die optimale Punktionsstelle bestimmt werden. i Beim liegenden Patienten sind Ergussmengen von 200–500 ml notwendig, um eine sichtbare Verschattung zu verursachen.
Bei größeren Ergüssen steigt die charakteristische homogene Verschattung weiter nach kranial, überlagert und verdeckt die Konturen von Zwerchfell und Mediastinum bzw. Herzrand und kann zur Totalverschattung einer Thoraxhälfte mit Verdrängung des Mediastinums zur Gegenseite führen (sog. »expansiver Pleuraerguss«; . Abb. 17.14). 17.6.2 Sonder formen pleuraler
Flüssigkeitsansammlungen Subpulmonaler Erguss Durch Hochdrängen der Lungenbasis wird ein Zwerchfellhochstand vorgetäuscht (. Abb. 17.15). Eine Abklärung erfolgt durch eine a.-p. Aufnahme in Seitenlage (der Erguss läuft aus) mit homogener Verschattung entlang der seitlichen Thoraxwand. Radiologisch wegweisend ist die in der a.-p. Aufnahme lateralwärts verlagerte Wölbung der vermeintlichen Zwerchfellkontur sowie die Umverteilung bei Lagewechsel. Linksseitig ist die subpulmonale Ergusslokalisation bei lufthaltigem Magen und Kolon durch eine vergrößerte Distanz zwischen Magen- bzw. Kolonluft und Diaphragmakontur erkennbar.
Interlobärerguss Im a.-p.-Bild erkennt man elliptische oder runde, in der Seitenaufnahme spindelförmige Verschattungen im Verlauf der Interlobärspalten.
195 17.7 · Lungenödem und ARDS
17
. Abb. 17.14. Vollständige Verschattung der rechten Thoraxhälfte mit lateral wandständiger, sichelförmiger Abgrenzung des Pleuraergusses sowie leichter Verlagerung der Medianstinalstrukturen nach links bei ausgedehnter, expansiver Pleuraergussbildung rechts
Abgekapselter Erguss Abgekapselte Pleuraergüsse entstehen bei Adhäsionen zwischen viszeraler und parietaler Pleura. In der Thoraxübersichtsaufnahme sieht man bei tangentialer Projektion eine halbkugelige, der Pleura parietalis breitbasig aufsitzende Verschattung. Der Nachweis, die Bestimmung der Ausdehnung sowie der optimalen Punktionsstelle bei abgekapselten Pleuraergüssen ist eine Domäne der Sonographie der Pleura. 17.7
Lungenödem und ARDS
Definition und Einteilung Das pulmonale Lungenödem ist definiert als pathologische Ansammlung von extravaskulärem Wasser im Lungenparenchym. Ein Lungenödem entwickelt sich immer dann, wenn das Gleichgewicht zwischen Transsudation und Resorption gestört ist. i Traditionell wurden 2 Klassen von Lungenödemen unterschieden, das sog. kardiale oder hydrostatische Ödem und das nichtkardiale oder Permeabilitätsödem.
Berücksichtigt man zusätzlich die modernen Konzepte der Pathophysiologie über die beiden Barrieren des Alveolarepithels und des Kapillarendothels, so ergeben sich 4 Lungenödemformen: 4 das hydrostatische Ödem, 4 das Permeabilitätsödem ohne diffuse Alveolarschädigung, 4 das Permeabilitätsödem mit diffuser Alveolarschädigung, 4 eine Mischung zwischen hydrostatischem und Permeabilitätsödem. Bei Dysfunktion des Kapillarendothels kommt es zum Austritt von Flüssigkeit aus den Kapillaren ins Interstitium (hydrostati-
. Abb. 17.15 a, b. a Konventionelle Thoraxaufnahme: Scheinbarer Zwerchfellhochstand rechts mit Lateralisation der Zwerchfellkuppe. Kompressionsatelektase des rechten Unterlappens; b CT: Ausgeprägte Dilatation der zentralen Pulmonalarterien, wandständige, scharf begrenzte Konstrastmittelaussparung in der linken Pulmonalarterie bei chronischer Thrombembolie mit ausgeprägter pulmonaler Hypertension. Sichelförmige, dorsobasale Ergussbildung rechts.
sches Ödem oder Permeabilitätsödem ohne Alveolarschädigung). Das Wasser bleibt im Interstitium solange das Alveolarepithel intakt ist. Erst wenn das Alveolarepithel ebenfalls Permeabilitätsstörungen zeigt, kommt es zum Übertritt in die Lufträume der Alveolen. 17.7.1 Hydrostatisches Lungenödem Die Flüssigkeitsmenge, die in das Interstitium übertritt, ist abhängig vom hydrostatischen Gefäßdruck sowie vom onkotischen Druck zwischen den intravaskulären und extravaskulären Räumen. Ein erhöhter hydrostatischer Druck (pulmonalvenöser Hochdruck durch Linksherzinsuffizienz oder intravaskuläre Flüssigkeitsüberlastung) ist die treibende Kraft, die das Wasser über
196
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
die erste Barriere des Kapillarendothels in den extravaskulären Raum des Interstitiums drängt. Der größte Teil des interstitiellen Ödems wird durch peribronchiale Lymphgefäße kanalisiert, die die Flüssigkeit zunächst hiluswärts transportieren und eine 3- bis 7-fache Kapazitätssteigerung zeigen können. Diese Reservekapazität ist verantwortlich dafür, dass Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz kein Lungenödem entwickeln, obwohl sie einen erhöhten pulmonalvenösen Druck aufweisen. Erst bei einem Pulmonalkapillardruck von über 40 mmHg kommt es zu einer zusätzlichen Insuffizienz der Alveolarepithelien mit Übertritt des Ödems vom Interstitium in die Alveolen.
Radiographische Befunde Im Allgemeinen geht der Entwicklung eines hydrostatischen Lungenödems eine pulmonalvenöse Dilatation voraus. So lässt sich eine gesetzmäßige Abfolge folgender radiographischer Befunde erklären (. Abb. 17.16a, b): 4 vaskuläre Dilatation (Stauung Grad I), 4 interstitielles Ödem (Stauung Grad II), 4 alveoläres Ödem (Stauung Grad III).
Gefäßdilatation (pulmonalvenöse Stauung Grad I)
17
Eine Gefäßdilatation manifestiert sich als vaskuläre Umverteilung (auch bekannt als Kranialisierung oder Gefäßinversion): Die Oberlappengefäße (Arterien und Venen) werden zunächst gleich weit, später weiter als die Unterlappengefäße. Ein sog. Gefäßangleich wird als typisch für Patienten mit hydrostatischem Ödem infolge von Hyper volämie oder Niereninsuffizienz beschrieben [16]. Dieses Zeichen ist allerdings bei einer »Bettlunge« nur bedingt verwertbar, da es allein durch die Rückenlage des Patienten zu einem Gefäßangleich kommen kann. Gefäßinversion dagegen ist ein sensitives, nicht von der Patientenlage beeinflusstes Zeichen und gilt auch bei der »Bettlunge« als Indikator für eine pulmonalvenöse Hypertension, z. B. infolge einer Mitralstenose oder Linksherzinsuffizienz meist chronischer Art. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine vaskuläre Dilatation einer Ödembildung immer vorausgeht. Pulmonalvenöser Hochdruck verursacht erst dann eine Dilatation der Lungengefäße, wenn er chronisch ist. So entwickelt der Patient mit einer akuten Linksherzinsuffizienz (infolge einer Arrhythmie oder eines ersten Herzinfarkts) eher ein schmetterlingsförmiges Lungenödem und Pleuraergüsse aber keine dilatierten Lungengefäße und keine vergrößerte Herzsilhouette. Ist es allerdings erst einmal zu einer Dilatation von Herz und Gefäßen gekommen, so ist die Dehnbarkeit permanent oder dauerhaft angehoben und selbst nach Normalisierung des Befundes kommt es sehr schnell bei erneutem Auftreten einer kardialen Insuffizienz zu einer Gefäßdilatation. Um die Beurteilung der Gefäßkaliberschwankungen zu vereinheitlichen, empfiehlt es sich, den begleitenden Bronchus (z. B. des anterioren Oberlappensegmentes) als internen Standard zu verwenden. Die begleitende Arterie ist normalerweise genauso groß oder etwas größer (maximal 110%). Die Weite des oberen Mediastinums (gemessen oberhalb des Aortenbogens) gilt als Indikator für die hämodynamische Situation (»vascular pedicle«; [16]). Eine Zunahme der Weite des oberen Mediastinalschattens ist verbunden mit einer Flüssigkeitsüberlastung, einer Niereninsuffizienz, einer chronischen Herzinsuffizienz oder einer venösen Thrombose. Allerdings muss beachtet werden, dass derartige Messungen der Weite des oberen Mediastinums sehr stark von Projektion, Rotation, Inspirations-
. Abb. 17.16a, b. Stauung: a 37-jähriger Patient mit akutem Herzinfarkt; pulmonale Stauung Grad II (unscharfe Gefäßkonturen und Bronchialwandverdickungen); b 24 h später: zunehmende perihiläre Gefäßunschär fe und beginnendes schmetterlingsförmiges Lungenöden (Stauung Gra III), bilaterale Pleuraergussbildung
tiefe und Patientenposition abhängig sind. Die individuelle Mediastinalweite hängt außerdem von mediastinalem Fett, Orientierung und Kaliber der Aorta und der supraaortalen Äste ab. Die Beurteilung des »vascular pedicles« ist daher besser im Verlauf von mehreren Vergleichsaufnahmen ähnlicher Positionierung und Inspirationstiefe als auf der Einzelaufnahme möglich. Die radiographischen Befunde hinken den hämodynamischen um 12–24 h hinterher, d. h. es können noch Ödemfolgen radiographisch nachweisbar sein, obwohl der kapillarvenöse Druck reduziert oder normalisiert ist (. Tab. 17.2).
17
197 17.7 · Lungenödem und ARDS
Interstitielles Ödem (pulmonalvenöse Stauung Grad II) Das Interstitium ist definiert durch den extravaskulären subpleuralen, peribronchialen, interlobularen und intersegmentalen Raum. Hier manifestiert sich ein interstitielles Ödem durch Unschärfe von Gefäßkonturen, subpleurale Verdickungen, verdickte Interlobarsepten, peribronchiales Cuffing und septale Linien (Kerley A und B). Die Unschärfe der Gefäßkonturen ist ein Frühzeichen eines interstitiellen Lungenödems, ihre Beurteilung unterliegt jedoch einer hohen Subjektivität. Das interstitielle Ödem ist typischerweise zunächst perihilär lokalisiert. i Eine Gefäßunschärfe kann auch durch Variationen von Expositionsparametern, digitale Bilddatenverarbeitung, Änderung der Inspirationslage und der Dicke der Thoraxwand sowie durch Patientenrotation bedingt sein. Grundsätzlich gilt, dass die Gefäße auf Bettlungenaufnahmen unschärfer konturiert sind als auf Standardaufnahmen aufgrund des größeren Fokus und des kürzeren Fokus-Film-Abstands.
Verdickte Interlobärsepten und ein verdicktes subpleurales Interstitium sind ebenfalls Zeichen eines milden interstitiellen Lungenödems. Diese Zeichen gehen in der Regel der Ausbildung von Kerley-B-Linien und dem peribronchialen Cuffing voraus. Differenzialdiagnostisch davon abzugrenzen ist eine pleurale Flüssigkeitsansammlung im Interlobium. Die ödembedingte Verdickung der Bronchialwand – auch als »peribronchiales Cuffing« bezeichnet – ist am besten am anterioren Oberlappensegment rechts zu beurteilen und kann bei einem Ödem, aber auch bei Bronchitis oder Asthma, nachweisbar sein. Kerley-B-Linien stellen kurze horizontale Linien senkrecht zur lateralen pleuralen Oberfläche dar. Sie repräsentieren verdickte Interlobularsepten und sind meist am deutlichsten entlang der Lungenbasis ausgebildet. Kerley-A-Linien sind länger, mehr zentral in der Lunge lokalisiert und diagonal-hiluswärts orientiert; sie repräsentieren verdickte Lymphgefäße zwischen Segmenten bzw. Subsegmenten. Kerley-C-Linien sind am seltensten. Sie repräsentieren verdickte Interlobularsepten, die jedoch nicht tangential, sondern en face getroffen sind. Sie haben ein retikuläres Muster mit ungefähr 1 cm großen Polygonen. i Bei chronisch erhöhtem pulmonalem Kapillardruck kann es zu Mikroeinblutungen kommen, die letztendlich zu einer Hämosiderose mit Lungenfibrose führen. Diese Lungenfibrose sieht im Röntgenbild wiederum sehr ähnlich aus wie ein interstitielles Lungenödem mit verdickten Septen, unscharf begrenzten Gefäßen und septalen Linien.
Alveoläres Ödem (pulmonalvenöse Stauung Grad III) Während das alveoläre Ödem in der akuten Phase zunächst oft uniform in der gesamten Lunge verteilt ist, kommt es im weiteren Verlauf zu einer bevorzugt perihilären und basalen Verteilung. Bei chronischer Herzinsuffizienz ist eine perihiläre Konzentration des Ödems dagegen selten. Man findet flächige oder unscharf begrenzte fleckige Verdichtungen, die je nach Ausmaß der Flüssigkeitseinlagerung in den Alveolen von flauen Trübungen bis zu dichten Konsolidierungen reichen. Ein positives Luftbronchogramm kann erkennbar sein. Das alveoläre Ödem ist mobiler als das interstitielle Ödem; dies wird bei Verlaufskontrollen
. Tabelle 17.2. Korrelation der radiographischen Stauungsbefunde mit dem linken Vorhofdruck. (Nach [10]) Stauung
Grad I
Grad II
Grad III
Akut
12–19 mmHg
20–25 mmHg
>25 mmHg
Chronisch
15–25 mmHg
25–30 mmHg
>30 mmHg
und nach Lagewechsel des Patienten offensichtlich. Die Mitralinsuffizienz führt bevorzugt zu Ödemen im rechten Oberlappen aufgrund des dominierenden Rückflusses in die rechte Pulmonalvene. Andere Faktoren, die die Verteilung des Lungenödems beeinflussen, sind pulmonale Narben, Emphysem, Lungenembolie und pulmonalvenöse Obstruktion. i Solange das hydrostatische Ödem in den interstitiellen Räumen bleibt, ist es mehr oder weniger regelmäßig im Lungenparenchym verteilt. Erst nach Übertritt von Ödemflüssigkeit in die Alveolen kommt es zu einer Konzentration in den abhängigen Lungenpartien.
CT-Befunde Auch im CT erkennt man bei einer Stauung Grad I die aufgrund des erhöhten pulmonalvenösen Druckes dilatierten und weiter in die Peripherie reichenden Gefäße. Mit Übergang in ein interstitielles Ödem finden sich glatt begrenzte septale Verdickungen, Bronchialwandverdickungen und Milchglastrübungen. Letztere können sowohl ein erhöhtes Blutvolumen, verdickte Alveolarwände als auch eine partielle Flüssigkeitsfüllung der Alveolen repräsentieren. Bei CT-Verlaufskontrollen beobachtet man, dass zunächst das zentrale peribronchovaskuläre Interstitium und dann erst das interlobulare septale Interstitium beteiligt ist. Mit weiter zunehmender alveolärer Flüssigkeitsfüllung kommt es zu einer Konsolidierung, die, ähnlich wie im Übersichtsbild, vorwiegend perihilär (schmetterlingsartig) angeordnet ist. Weder Milchglastrübungen noch Konsolidierung sind spezifisch für das Ödem. Sie kommen differenzialdiagnostisch auch bei Infektion, Sarkoidose, Alveolitis und Alveolarproteinose vor. Eine homogen erhöhte Lungengrunddichte (»dark bronchus sign«: gegenüber dem Lungenparenchym hypertransparente, dunklere Bronchien) ist eher ein Indikator für ein erhöhtes pulmonales Blutvolumen als für die Entwicklung eines Lungenödems [8]. Das CT-Bild des hydrostatischen Ödems ist deutlich variabler als die Übersichtsaufnahme mit einem Nebeneinander diffus homogener oder auch fleckig inhomogener Verteilung von Milchglastrübungen und Konsolidierungen, die von interstitiellen Linien und verdickten Interlobärsepten überlagert sind. 17.7.2 Permeabilitätsödem ohne diffusen
Alveolarschaden Das Permeabilitätsödem ohne begleitenden diffusen Alveolarschaden ist v. a. durch die Folgen des Kapillarendothelschadens charakterisiert und weniger durch die Folgen des Alveolarepithelschadens. Bei Patienten mit einem Permeabilitätsödem ohne diffusen Alveolarschaden kommt es zu einer langsamen Resorption des Wassers und dadurch zu einem relativ langsamen Anstieg
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
der intraalveolären Proteinkonzentration und zu einem insgesamt milderen klinischen wie radiographischen Verlauf. Derartige Veränderungen werden heute mit dem Begriff »akutes Lungenversagen« (»acute lung injury«) beschrieben. Der akute Lungenschaden kann durch eine akute Reaktion auf Medikamente oder Transfusionen (Leukoagglutininreaktion), Immunotherapie (Interleukin 2) oder Infektionen (z. B. mit dem Hanta-Virus) bedingt sein und wird auch als allergisches pulmonales Ödem bezeichnet [15]. Es stellt eine abgeschwächte Reaktion auf dieselben Noxen dar, die auch ein ARDS verursachen können. Klinisch ähnelt es dem hydrostatischem Ödem und radiographisch dem interstitiellen Ödem (verdickte Fissuren, Bronchialwandverdickungen, septale Linien, Pleuraergüsse). Die Zeichen eines Alveolarepithelschadens sind nur minimal. Herzvergrößerung und vaskuläre Gefäßerweiterung gehören nicht primär zum Permeabilitätsödem. Folgende Sonderformen wurden beschrieben: 4 Mischbild aus hydrostatischem und Permeabilitätsödem: Im klinischen Alltag kommt es häufig zu einer Überlappung der verschiedenen Ödemformen, so z. B. durch Überwässerung des septischen oder urämischen Patienten oder durch Entstehung eines Permeabilitätsödems bei einem Patienten mit überlagernden kardialen Problemen. 4 Höhenödem: Die Ätiologie ist noch nicht endgültig geklärt; wahrscheinlich kommt es zu einer generellen, jedoch regional unterschiedlich starken Vasokonstriktion bei Hypoxie. Dies führt zu einer pulmonalarteriellen Hypertension mit erhöhtem pulmonalkapillären Gefäßdruck. Zusätzlich ist das Kapillarendothel durch regionale Hyperperfusion reversibel geschädigt. 2‒5 Tage nach Aufenthalt in großen Höhen kommt es zu einem Lungenödem mit rascher Besserung bei Sauerstoffzufuhr bzw. Aufenthalt in niedrigerer Höhe. 4 Neurogenes Lungenödem: Dieses entwickelt sich nach schwerem zentralem neurologischem Schaden und stellt eine Ausschlussdiagnose dar. Es kommt zu einer Vasokonstriktion durch neurale Mechanismen (nicht durch Hypoxie) mit lokalem Anstieg des hydrostatischen Drucks, zusätzlich zu einem reversiblen entweder druckinduzierten oder durch gestörte neurale Kontrollmechanismen induzierten Permeabilitätsschaden der Kapillaren. Das klassische Röntgenzeichen des neurologisch bedingten Lungenödems ist das bilaterale alveoläre Lungenödem, das in den oberen Lungenabschnitten konzentriert ist und sich rasch bessert. 4 Reexpansionsödem: Das Lungenödem nach plötzlicher Reexpansion einer Lunge entsteht durch die ansteigende Kapillarpermeabilität. Es tritt nach (zu schneller) Entlastung eines Pneumothorax oder eines Pleuraergusses auf. Die Lunge muss wenigstens 3 Tage kollabiert gewesen sein. Das typische radiographische Zeichen sind ipsilaterale Alveolarverdichtungen, die mehrere Tage bestehen können. Manchmal kann ein solches Reexpansionsödem aufgrund der Freisetzung von Mediatoren sogar beide Lungen beeinträchtigen. 4 Postobstruktives Lungenödem: Das postobstruktive Ödem entsteht durch erhöhten hydrostatischen Druck. Aufgund des erhöhten intrathorakalen Drucks, wenn der Patient versucht, gegen eine hochsitzende Obstruktion (Epiglottitis, Strangulation, Laryngospasmus) anzuatmen, entsteht ein zentral betontes, hydrostatisch bedingtes Ödem, das sich in der Regel innerhalb von 24 h rasch zurückbildet.
17.7.3 Permeabilitätsödem mit Alveolarschaden
– das Atemnotsyndrom des Erwachsenen (ARDS) Die pathophysiologische Ursache ist nicht ein erhöhter pulmonalvenöser Druck, sondern vielmehr ein Schaden des Kapillarendothels, der zu erhöhter Permeabilität mit konsekutivem Wasser- und Proteindurchtritt ins Interstitium führt. Es wird auch als Permeabilitäts- oder nicht-kardial bedingtes Ödem bezeichnet. Das ARDS (»adult respiratory distress syndrome«) repräsentiert die schwerste Form des Permeabilitätsödems, bei dem zusätzlich ein diffuser Alveolarepithelschaden vorliegt, der für den weiteren Verlauf entscheidend ist. Es kommt zu einer Füllung der Alveolen mit proteinreicher Flüssigkeit, zu einer Zellnekrose, einer hyperplastischen Entzündungsreaktion des Alveolarepithels mit Ausbildung von hyalinen Membranen und Atelektasen und schließlich zu einer Fibrose. Somit ist das ARDS lediglich initial tatsächlich durch ein Ödem charakterisiert.
Radiologische Befunde des ARDS Das radiologische Bild eines ARDS hat einen gesetzmäßigen Verlauf in mehreren Phasen, wenn dieser nicht durch intensivmedizinische Behandlung unterbrochen oder modifiziert wird. Man unterscheidet die sog. exsudative, proliferative und fibrotische Phase.
Exsudative oder Frühphase (24 h) In dieser Phase entsteht innerhalb weniger Stunden nach der pulmonalen Schädigung ein Ödem des Interstitiums und der Alveolarwand. Die Alveolen füllen sich mit einem proteinreichen Exsudat, das mit einem variablen Anteil von Erythrozyten durchsetzt ist. Zusätzlich besteht eine Stauung der Kapillaren mit Ausbildung von Fibrinthromben sowohl in den Kapillaren als auch in den Arteriolen und Venolen. Einziges initiales Röntgensymptom kann zunächst ein Zwerchfellhochstand mit Mikroatelektasen sein. Im Folgenden beobachtet man ein interstitielles Ödem mit Verbreiterung der Gefäßstrukturen und der Bronchialwände sowie unscharf begrenzte, verdichtete Lungenhili. Die weiteren 24 h sind charakterisiert durch den Übergang vom interstitiellen zum alveolären Ödem mit diffuser Trübung oder fleckig-konfluierenden Verdichtungen, verbreiterten Gefäßstrukturen und Bronchialwänden. Es entwickeln sich flächenhafte, schlecht abgrenzbare Verdichtungszonen in beiden Lungen, wobei im Gegensatz zum kardialen Ödem die peripheren Anteile meist betont sind und die Herzgröße im Normbereich liegt.
Intermediärphase (Tag 2–7) Im weiteren Verlauf wird das alveoläre Ödem kompakter, es enthält Leukozyten und Makrophagen und es bilden sich hyaline Membranen aus. Es kommt zu zunehmender Zellproliferation mit Resorption des alveolären und interstitiellen Ödems und Ausbildung von Atelektasen. Frühe Intermediärphase. In der frühen intermediären Phase (Tag 2–4) nehmen die Verdichtungen zu und dehnen sich auf alle Lungenbereiche aus: die Randkonturen der Herzsilhouette und der Zwerchfellkuppeln werden undeutlicher und sind schließlich nicht mehr abgrenzbar. Im Extremfall zeigt sich das Bild der weißen Lunge (. Abb. 17.17, 17.18a, b). Während ein positives Pneumobronchogramm in dieser Phase typisch ist,
199 17.7 · Lungenödem und ARDS
17
. Abb. 17.17. Konventionelle Thoraxaufnahme: Typische, diffuse, bilaterale flächig konfluierende Strukturverdichtungen mit angedeutetem positivem Luftbronchogramm bei ARDS
weisen Pleuraergüsse eher auf eine Komplikation in Form einer Pneumonie oder einer Lungenembolie hin. Späte Intermediärphase. In der späten intermediären Phase
(Tag 4–7) bessern sich die Befunde im Röntgenbild, die Verdichtungsbezirke lockern auf und werden inhomogen. Gleichzeitig entsteht durch herdförmige Pneumonien und unter Beatmung auftretende regionale Transparenzerhöhungen ein an einen »Schweizer Käse« erinnerndes Muster. Das radiologische Bild zeigt fleckförmige und aufgelockerte flächenhafte Verdichtungen sowie eine retikulär-streifige Strukturvermehrung.
Proliferations- oder Spätphase (nach einer Woche) In der proliferativen Phase (Tag 7–28), auch als fibrotische Phase beschrieben, kommt es zur Proliferation von Fibroblasten und Myelofibroblasten in den Alveolen und im Interstitium. Gleichzeitig besteht eine erhöhte Infektionsgefahr. Das Endstadium bedeutet für die meisten Patienten eine chronische interstitielle Fibrose. Nur bei einem geringen Teil der Patienten mit benignem Verlauf beobachtet man eine weitgehende Auflösung der Proliferation ohne wesentliche Beeinträchtigung der Atemfunktion. Radiologisch erkennt man ein sehr inhomogenes Lungenmuster mit einem Nebeneinander von grob retikulären, streifenförmigen Verdichtungen, flächenhaften Verdichtungen und bullösen Überblähungen (. Abb. 17.19a, b). Das Röntgenbild spiegelt das fleckige Nebeneinander von irreversibler Parenchymdestruktion und Geweberestitution wider.
CT-Befunde Im CT findet man typischerweise Milchglastrübung und Konsolidierung mit einer fleckigen, vorwiegend peripheren Verteilung und einer Konzentration in den dorsalen abhängigen Regionen [5]. Die Inhomogenität ist im CT sehr viel offensichtlicher als auf den konventionellen Aufnahmen und wird von einigen Autoren als Zeichen der inhomogenen, unterschiedlich starken Schädi-
. Abb. 17.18a, b. a Flächige Konsolidierung links mit Luftbronchograrnm und diskreten retikulonodulären Verdichtungen rechts bei Legionellenpneumonie; b drei Tage später »weiße Lunge« links bei postinfektiösem ARDS (intermediäre Phase)
gung der Alveolen angesehen, v. a., wenn sie sich auf die abhängigen Lungenpartien erstreckt [5]. Ziel der Beatmung mit PEEP ist daher, die weniger und nicht irreversibel geschädigten, nur temporär atelektatischen Alveolen zu rekrutieren. Andere Studien ergaben dagegen eine homogene Schädigung der Alveolen und vielmehr eine zusätzliche regionale Schädigung durch Kompression und Atelektase der abhängigen Lungenpartien,
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
genaufnahme für das Vorliegen einer Pneumonie bei nur 52%, für das Vorliegen eines ARDS bei 84%. Besteht ein ARDS, so nimmt die Zahl der Fehlbeurteilungen bezüglich des Vorliegens einer Pneumonie sogar noch weiter zu. Klinische Informationen konnten die Genauigkeit der Beurteilung der Lungenaufnahme nicht verbessern. Auch die Genauigkeit der CT für die Diagnose einer Pneumonie bei ARDS ist mit moderaten 60% richtig-positiven und 70% richtig-negativen Befunden begrenzt. So zeigen zwar 91% der Patienten mit ARDS und einer Pneumonie Konsolidierungen in den nicht-abhängigen Lungenpartien, diese wurden aber auch in 60% der Patienten ohne Pneumonie gesehen. Bronchiektasen im Zusammenhang mit Milchglastrübungen werden als ein frühes Zeichen interstitieller Fibrose und damit irreversibler Parenchymdestruktion bei der fibrosierenden Alveolitis beschrieben. Während Bronchiektasen im Rahmen infektiöser Pneumonien reversibel sind, scheinen sie auch bei Patienten mit ARDS ein Kriterium des Übergangs in eine irrversible fibrosierende Parenchymdestruktion darzustellen (. Abb. 17.20). Die CT zeigt früher als die konventionelle Aufnahme Zeichen eines interstitiellen Emphysems, das bei prolongiertem ARDS aufgrund fortgeschrittener Alveolarwanddestruktion auftritt. Man erkennt bis zu 5 mm große Luftzysten subpleural oder perihilär im Interstitium, die bei kettenartiger peribronchovaskulärer Anordnung interstitielle Luftstraßen bilden und zum Pneumothorax prädisponieren. Sie gelten als Zeichen einer schlechten Prognose. Zusätzlich findet man in etwa einem Drittel der Patienten einen Pneumothorax (32%) oder Bullae (31%), etwas seltener auch ein Pneumomediastinum (13%).
Differenzialdiagnose zwischen Permeabilitätsödem mit Alveolarschaden (ARDS) und hydrostatischem Ödem
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. Abb. 17.19a, b. a Diffuse retikulonoduläre Strukturverdichtung in beiden Lungen mit angedeutetem positiven Luftbronchogramm bei ARDS (Proliferationsphase); b das CT zeigt ebenfalls diffuse retikulonoduläre Strukturverdichtungen, die ungewöhnlich homogen verteilt sind
Die Differenzialdiagnose zwischen einem Permeabilitätsödem mit Alveolarschaden (ARDS) und einem hydrostatischen Ödem kann schwierig sein. Folgende Zeichen können helfen: 4 Eine peripher betonte Verteilung der pulmonalen Verdichtungen ist typisch für das ARDS, wird aber in weniger als 50% gefunden, 4 beim klassischen ARDS findet man keine interstitiellen Verdichtungen wie septale Linien, peribronchiales Cuffing oder verdickte Fissuren und keinen Pleuraerguss. Die Herzgröße ist normal, der »vascular pedicle« nicht verbreitert,
die man durch Umlagerung des Patienten zu vermeiden versucht [3]. Es ist zu beachten, dass die hauptsächliche Komponente der radiographisch vermeintlichen Transparenzbesserung bei PEEPBeatmung durch die Hyperinflation von Alveolen bedingt ist, die ohnehin schon belüftet waren (Barotrauma) und nicht durch das Wiedereröffnen von kollabierten Alveolen. In der CT kann man manchmal ein überlagerndes retikuläres Muster erkennen, das am ehesten durch interstitielles Ödem und Zellularinfiltrate bedingt ist. Häufig ist auch in der CT ein Pleuraerguss nachweisbar, der auf den Röntgenaufnahmen nicht erkennbar war. Es kommt zur Ausbildung von Zysten oder Bullae, vor allem in den abhängigen Lungenpartien, die ätiologisch daher nicht nur durch ein Barotrauma, sondern wahrscheinlich auch durch Lungenischämie bedingt ist. Die Inzidenz einer Pneumonie als Komplikation eines ARDS liegt bei >70%; die Mortalität steigt erheblich an (>70% vs. 25%); und die Diagnose aufgrund einer Bettlungenaufnahme ist bekanntermaßen schwierig. So lag die diagnostische Genauigkeit der Lun-
. Abb. 17.20. Flächige Konsolidierungen in den ventralen Lungenabschnitten (Mittellappen und Lingula) mit Traktionsbronchiektasen als Folgeerscheinungen nach ARDS
201 17.8 · Pulmonale Verdichtungen
17
. Abb. 17.21a, b. Suizidversuch mit Barbiturat, weiblich, 28 Jahre: a klinisch progressive Verschlechterung, weitgehend konfluierte Ödemverschattungen, PEEP-Beginn; b Bild 4 h später: deutlicher PEEP-Effekt, Auflockerung der Ödemverschattungen; perlschnurartige Aufhellungen um die basalen Bronchien rechts (Pfeil mit Querstrich) – interstitielles, peribronchiales Emphysem; kirschgroße Pneumatozele links basal (Pfeil mit Querstrich) und im linken Mittelfeld; Tiefertreten des Zwerchfells, jedoch keine wesentliche Besserung der Blutgaswerte
4 ein hydrostatisches Ödem verändert sich schnell mit Besserung der hämodynamischen Situation, während sich die Exsudate beim ARDS nur sehr langsam zurückbilden, 4 beim ARDS ist der Patient wegen der ausgeprägten Hypoxie immer intubiert, beim hydrostatischem Ödem ist dies häufig nicht notwendig. In den meisten Fällen sind die verschiedenen Ödemformen nicht aufgrund der radiologischen Befundung zu unterscheiden. Sehr häufig liegen Mischformen vor. 5 Diagnostische Hilfestellung leisten: 5 die Mobilität des Ödems (spricht gegen ARDS) und 5 bei einem hydrostatischen Ödem die begleitende Gefäßdilatation, die Kardiomegalie und der Nachweis von Pleuraergüssen.
Einfluss der maschinellen Beatmung Die Behandlung des ARDS erfordert eine maschinelle Beatmung, meist in Form einer kontrollierten Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck (PEEP). Effekte dieser Beatmungsform sind v. a. die Eröffnung von Mikroatelektasen und die Verdünnung des alveolärem Ödemfilms. Hieraus ergibt sich eine Verbesserung der Lungendehnbarkeit (Compliance), der funktionellen Residualkapazität und des Gasaustausches. Das radiographische Bild der Lunge wird durch die PEEPBeatmung deutlich beeinflusst und muss bei der Beurteilung berücksichtigt werden (. Abb. 17.21a, b): 4 Es kommt zu einer Volumenerhöhung der Lunge (Hyperinflation) mit einer Transparenzzunahme und einem Tiefertreten des Zwerchfells. 4 Die Überblähung der intrapulmonalen Luftwege ist an der Ausbildung eines positiven Luftbronchogramms bis in die Lungenperipherie hin erkennbar. 4 Die Auflockerung von Infiltraten und die Umverteilung des Lungenödems in die Lungenperipherie können eine Befundbesserung (Transparenzverbesserung) vortäuschen. Komplikationen der maschinellen Beatmung sind das Barotrauma mit einem interstitiellen Emphysem, einem Pneumothorax, Pneumomediastinum und/oder Weichteilemphysem. Es kann durch Airtrapping zu zystischen Lungenveränderungen (Pneu-
matozele) kommen, die Ausgangspunkte von Superinfektionen sein können. Subpleurale Pneumatozelen prädisponieren zur Entstehung eines Spannungspneumothorax. Verantwortlich für eine Lungenschädigung unter Beatmung können Barotrauma und Volutrauma sein. Sensitives Röntgenzeichen für eine Hyperinflation im Sinne eines potenziellen Volutraumas ist ein Lungenlängsdurchmesser von >24 cm und die Lage des sechsten anterioren Rippenabschnittes über Lungengewebe. 17.8
Pulmonale Verdichtungen
Im Röntgenbild sichtbare Verdichtungen im Bereich der Thoraxhälften können durch pathologische Veränderungen von Lungenparenchym, Pleuraraum oder Thoraxwand entstehen. Während pleurale Veränderungen beispielsweise durch Ergussbildung oder Einblutung mit ergänzender Sonographie diagnostisch eingrenzbar sind, ist das radiologische Bild der Lungenparenchymverdichtungen sehr viel weniger eindeutig. So führen Pleuraerguss, Atelektase, pneumonisches Infiltrat oder Ödembildung zu umschriebenen oder diffusen Transparenzminderungen im Röntgenbild. Der Nachweis der einzelnen Erkrankung aber auch ihre Differenzialdiagnose werden zusätzlich dadurch erschwert, dass alle vier Verschattungsarten gemeinsam auftreten können, sich gegenseitig überlagern und dann kein typisches Bildmuster erkennen lassen. Die Möglichkeiten, fokale pulmonale Verdichtungen aufgrund ihrer Morphologie verschiedenen Ätiologien zuzuordnen, sind relativ begrenzt. Differenzialdiagnostisch ist von einem infektbedingten Infiltrat ein fokales pulmonales Ödem, eine Aspirationspneumonie, eine pulmonale Einblutung oder eine Atelektase abzugrenzen. 17.8.1 Atelektase Belüftungsstörungen der Lunge gehören zu den häufigen Befunden beim liegenden Intensivpatienten. Bedingt durch Schwerkraft und eingeschränkte Atembewegungen finden sich hypoventilierte Lungenbezirke v. a. in den dorsobasalen Lungenabschnitten. Sie werden in 20–30% nach Oberbauchoperationen, in 5% nach Unterbaucheingriffen und in >90% nach thorakalen Eingriffen beobachtet. Die Entstehung von Atelektasen ist nicht auf die postoperative Periode beschränkt, sondern kann zu jedem Zeitpunkt, besonders bei einem protrahierten Krankheitsverlauf, auftreten.
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Abb. 17.22a–c. Verlauf von 3 Thoraxaufnahmen in 14 Tagen: a Konsolidierung im rechten Oberlappen und kardial bedingte Lungenstauung Grad II–III; b 12 Tage später flächige Atelektase des rechten Oberlappens. c 2 Tage später scharf begrenzte plattenförmige Atelektasen
17 Definition Als Atelektase wird der partielle oder vollständige Kollaps eines Lungenlappens oder Lappensegmentes bezeichnet. Funktionell bestehen eine reduzierte Atemfläche und ein Durchblutungsshunt mit nachfolgender Hypoxie, deren Ausmaß von der Größe der Atelektase abhängt. Man unterscheidet aufgrund des Entstehungsmechanismus die poststenotische Obstruktions- oder Resorptionsatelektase und die Kompressionsatelektase.
Radiologische Befunde Plattenatelektase, Dystelektase. Als Plattenatelektase oder Dyst-
elektase werden meist im Lungenmittel- oder Lungenunterfeld gelegene, minderbelüftete Abschnitte im Subsegmentbereich bezeichnet (. Abb. 17.22a–c). Radiologisches Korrelat sind bandför-
mige oder dreieckförmige, relativ scharf begrenzte Lungenparenchymverdichtungen. Sie beschränken sich nicht auf die lobare Anatomie und überkreuzen lobäre Fissuren. Häufig sind sie in der Nachbarschaft von Septen oder Narben lokalisiert, da sie bevorzugt an Orten vorbestehender pleuraler Einziehungen entstehen. Auch Segmentatelektasen können plattenförmig sein. i Zunehmende Breite und unscharfe Randbegrenzung vergrößern die Wahrscheinlichkeit einer pneumonischen Infiltration. Jede sich innerhalb von Tagen nicht zurückbildende Atelektase ist einer infektbedingten Infiltration verdächtig [4]. Lappenatelektase, Totalatelektase. Diese größeren Atelektasen
sind häufig durch Obstruktion des entsprechenden Bronchus bedingt (. Abb. 17.23). Ursächlich kommen Tubusfehllagen,
203 17.8 · Pulmonale Verdichtungen
17
. Abb. 17.23. Scharf durch das Interlobium begrenzte Konsolidierung des rechten Lungenober feldes mit Verlagerung des Interlobiums als Zeichen der Volumenminderung bei Atelektase des rechten Lungenoberlappens. Flächig konfluierende Strukturverdichtungen auch links retrokardial bei partieller Unterlappenatelektase. Nachweis multipler Metallclips in den Weichteilen bei großflächiger Verbrennung
. Abb. 17.24. Inhomogene, teils fleckige, teils flächige Konsolidierung im Bereich des rechten Oberlappens mit Zeichen der Volumenminderung. Eine Differenzierung zwischen Atelektase und entzündlichem Prozess ist schwierig
partielle oder totale Obstruktion durch Sekretverlagerung, Blutkoagel oder aspiriertes Fremdmaterial in Frage. Große Pleuraergüsse können zu Kompressionsatelektasen ganzer Lungenlappen (am häufigsten der Unterlappen) führen.
(Pneumonie) fehlen (. Abb. 17.24). Beide Formen – Atelektase und infektiöse Infiltration – können auch gemeinsam für die Konsolidierung eines Lappens verantwortlich sein. Ebenso schwierig kann die Unterscheidung einer fleckförmigen (Segment-)atelektase von einer alveolaren pneumonischen Konsolidierung sein.
i Gerade der linke Unterlappen ist jedoch aufgrund seines kleineren Volumens und durch den ständigen Druck durch das Herz gehäuft atelektatisch, ohne dass eine zentrale Bronchusverlagerung vorliegt. Dies bedeutet, dass dem Patienten durch eine Bronchoskopie nicht geholfen werden kann; vielmehr profitiert er von einer physikalischen Atemtherapie oder einer Optimierung der mechanischen Beatmung.
Direkte Atelektasezeichen im Röntgenbild sind dreieckige- oder keilförmige Lungenverdichtungen mit Orientierung zum Lungenhilus mit und ohne Luftbronchogramm und Verlagerung von Interlobärsepten in Richtung des kollabierten Lungenabschnittes. Indirekte Atelektasezeichen sind Zwerchfellhochstand auf der betroffenen Thoraxseite, Mediastinalverlagerung zur betroffenen Thoraxhälfte, kompensatorische Überblähung der ipsi- oder kontralateralen Lungenabschnitte, die Hilusverlagerung in Richtung des atelektatischen Lungenabschnitts und verschmälerte Interkostalräume der betroffenen Thoraxhälfte. i Besteht gleichzeitig ein größerer Pleuraerguss, können die klassischen Atelektasezeichen überlagert bzw. kompensiert werden. Differenzialdiagnostisch hilfreich sind Ultraschall oder eine Aufnahme in Seitenlage (Auslaufen des Ergusses nach kranial).
Es kann unmöglich sein, zwischen einer Lobäratelektase und einer lobären Pneumonie zu unterscheiden, wenn Zeichen der Volumenminderung (Atelektase) bzw. Volumenzunahme
17.8.2 Pneumonie Die Pneumonie (. Abb. 17.25a–c) ist eine relativ häufige Diagnose auf einer Intensivstation mit einer geschätzten Inzidenz von ca. 10% bei allgemeinchirurgischen Patienten und ca. 60% bei Patienten mit ARDS oder Verbrennungskrankheit [4]. Bei ARDS-Patienten ist die Diagnose einer Pneumonie besonders schwierig, da die ARDS-assoziierten Lungenverdichtungen eine pneumonische Infiltration überlagern und vollständig maskieren können. Dem möglichst frühen radiologischen Nachweis eines Lungeninfiltrates kommt im Hinblick auf die Einleitung der Therapie daher besondere Bedeutung zu. Eine Erregerdiagnose kann anhand des Röntgenbildes in der überwiegenden Anzahl nicht abgeleitet werden.
Radiologische Befunde Unter den Bedingungen der Intensivmedizin entwickeln sich pneumonische Infiltrate gehäuft in den minderventilierten dorsalen Abschnitten der Unterlappen. Lokale Komplikationen und vorbestehende Lungenerkrankungen können den Entstehungsort und das Ausbreitungsmuster modifizieren. Pleuraveränderungen weisen auf Komplikationen wie Pleuraerguss oder Pleuraempyem hin, können jedoch auch im Rahmen einer Herzinsuffizienz auftreten.
204
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
Häufigster Befund bei nosokomialen Pneumonien sind alveoläre Konsolidierungen mit Luftbronchogramm. Für eine Abszedierung, die gerade bei nosokomialen Pneumonien nicht ungewöhnlich ist, spricht das Auftreten konfluierender und progredienter Fleckschatten, in denen später, nach Kontakt mit einem Ableitungsbronchus, ringförmige Einschmelzungshöhlen entstehen. i Bei der Entwicklung einer Aufhellung innerhalb eines Konsolidierungsareals muss daher differenzialdiagnostisch eine Einschmelzung von einem therapiebedingten Infiltratrückgang unterschieden werden. Eine frühzeitige Klärung mit Computertomographie sollte angestrebt werden. Bronchopneumonie. Radiologisches Substrat einer Broncho-
pneumonie im Liegendthoraxbild sind unscharf begrenzte, mehr oder weniger konfluierende oder kleinflächige Verdichtungsbezirke auf Subsegment- oder Segmentniveau. Eine Beteiligung ganzer Lungenlappen oder einer Lungenhälfte wird nur selten beobachtet (häufig Staphylococcus aureus oder Hämophilus). Pilzpneumonie. Rasch progrediente, fleckige bis noduläre Ver-
dichtungen sind eher typisch für Pilzinfektionen (bei Immunschwäche). Differenzialdiagnostisch ist ein septisch-embolisches Geschehen zu erwägen (häufig Staphylococcus aureus). CMV- und Pneumozystispneumonie. Die CMV- und die Pneumozystisinfektion zeigen diffuse, kontrastarme, kleine Fleckschatten oder diffuse Milchglastrübungen (. Abb. 17.26a, b, 17.27). Beide Erkrankungen weisen in der Regel keine pleurale Beteiligung und keine Einschmelzungen auf. Auch andere virusbedingte oder durch Mykoplasmen hervorgerufene Infiltrationen sind zunächst durch Milchglastrübungen, evtl. mit retikulonodulärer »interstitieller« Verschattung, charakterisiert. Diese gehen bald in flächig-alveoläre Verdichtungen über, die in der Regel weniger dicht als bakteriell bedingte Konsolidierungen sind. Pseudomonas-aeruginosa-Pneumonie.Pseudomonas-aeruginosa-Infektionen sind gekennzeichnet durch zunächst kleinknotige, rasch zu flächigen Konsolidierungen konfluierende Herde, die bilateral und unterlappenbetont auftreten. Häufig entsteht ein Pleuraempyem oder ein Abszess.
Rolle der Computertomographie
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Bei Überlagerung pulmonaler Verdichtungen unterschiedlicher Genese kann eine CT zur Differenzierung hilfreich sein. Eine Indikation zur CT besteht dann, wenn eine über das Röntgenbild hinausgehende Differenzierung pulmonaler Verschattungen eine therapeutische Konsequenz nach sich ziehen würde oder wenn eine Diskrepanz zwischen Röntgenbefund und klinischem Befund besteht (. Abb. 17.25a–c). . Abb. 17.25 a–c. Konventionelle Thoraxaufnahme (a) und CT (b und c) bei Pneumokokkenpneumonie: flächige Konsolidierung im rechten Oberlappen, Mittellappen (Silhouettenzeichen) sowie apikalen Unterlappen links mit positivem Luftbronchogramm. Im CT (c) positives Angiogrammzeichen
Pneumonie. Verdichtungen in nicht abhängigen Lungenpartien
oder in Regionen unauffälligen Lungenparenchyms sprechen für eine Infektion. Die Diagnose von Kavernen lässt sich mit der CT sicherer und früher als mit dem Röntgenbild stellen. Septischembolische Verdichtungen zeigen ein relativ charakteristisches CT-Bild mit multiplen Fleckschatten und unterschiedlichen Einschmelzungen. Pleuraerguss, Empyem oder Lungenabszess. Eine verdickte, kontrastmittelaufnehmende Pleura sowie nicht iatrogen bedingte pleurale Lufteinschlüsse sind diagnostische Zeichen eines Em-
205 17.8 · Pulmonale Verdichtungen
17
. Abb. 17.27. Diffuse noduläre Strukturverdichtungen in beiden Lungen mit konfluierender Tendenz bei Varizelleninfektion. Differenzialdiagnostisch kann ein ähnliches Bild durch eine Alveolitis, ein alveoläres Ödem oder eine Einblutung hervorgerufen werden
. Abb. 17.26a, b. Konventionelles (a) und CT-Bild (b) eines HIV-infizierten Patienten mit diffusen, vorwiegend perihilär angeordneten retikulonodulären Strukturverdichtungen aufgrund einer Pneumocystis-cariniiInfektion. Im CT Milchglastrübungen in perihilärer Anordnung
pyems. Bei Ausbildung einer bronchopleuralen Fistel entsteht ein Flüssigkeits-Luft-Spiegel. In der Regel gelingt es aufgrund der CT-Morphologie, eine subpleurale pulmonale Abszessbildung von einem pleuralen Empyem zu differenzieren. Atelektase. Eine Atelektase und eine pneumonische Konsolidie-
rung lassen sich durch unterschiedliches Anfärben nach Kontrastmittelgabe differenzieren: Das atelektatische Lungenparenchym nimmt homogen und stark Kontrastmittel auf, während pneumonisches Lungengewebe inhomogen und deutlich weniger Kontrastmittel aufnimmt. Ein Luftbronchogramm kann in beiden Verdichtungen auftreten.
Differenzialdiagnose Der positive Nachweis pulmonaler Verdichtungen ist differenzialdiagnostisch abzugrenzen von einem Ödem, einer Einblutung,
Atelektase oder einem pulmonalen Infarkt (. Tab. 17.3). Studien haben eine Spezifität der Lungenaufnahme für den Nachweis einer Pneumonie von nur 30% ergeben. Eher diagnoseweisend sind Verlaufskontrollen. Die fehlende Positionsänderung eines Infiltrates bei Lagewechsel, die schnelle Befunddynamik mit Entstehung und Rückbildung über Stunden bis Tage ist ein Indiz für das Vorliegen eines pulmonalen Ödems, einer umschriebenen Atelektase oder einer geringen Aspiration und nicht für eine pulmonale Infektion. Eine Einblutung (bei neutropenen Patienten, nach Knochenmarktransplantation, bei Vaskulitis) ist durch den bronchoskopischen Nachweis von Blut charakterisiert. Der Nachweis eines positiven Pneumobronchogramms hat für die Pneumoniediagnostik auf Intensivstationen nur sehr eingeschränkte Bedeutung, da dieses Röntgenzeichen, in Abhängigkeit von der zeitlichen Entwicklung, auch bei Atelektasen und jeder Art von Lungenödem beschrieben wird. Die auf Standardaufnahmen oft ableitbare Differenzierung des Ausbreitungsmusters einer alveolären oder interstitiellen Pneumonie ist auf die Liegendthoraxaufnahme nur bedingt übertragbar. Dies ist zum einen auf die reduzierte technische Qualität der Liegendaufnahme zurückzuführen, zum anderen wird das typische Bild eines mehr alveolären oder interstitiellen Infiltrates durch Begleitveränderungen wie Lungenstauung, Lungenödem, Atelektase und Pleuraerguss zu stark überlagert. 17.8.3 Aspiration Die Aspiration ist bei Intensivpatienten eine häufige Komplikation. Kleine Aspirationsmengen sind hier wahrscheinlich die Ursache für viele der nosokomialen Pneumonien. Die pathoanatomischen und damit klinischen Auswirkungen der Aspiration hängen wesentlich vom Säurewert und der Osmolalität des Aspirats, dem Volumen, sowie der Größe fester aspirierter Ma-
206
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Tabelle 17.3. Differenzialdiagnose fokaler pulmonaler Verdichtungen Befund
Diffenzialdiagnostisches Kriterium
Regionale Flüssigkeitseinlagerung (Ödem)
Verschwindet bei Lagewechsel
Infektbedingte Infiltration
Klinik, Rückbildung nach Tagen (7–10) unter Antibiotikatherapie, unscharf begrenzt
Atelektase
Verschwindet in wenigen Tagen (<4), relativ scharf begrenzt
Einblutung
Hämoptoe
Neoplasie
Anamnese
terialien und dem Vorliegen infizierten Materials (Mageninhalt, Sekret, Sputum) ab. Aspiration von Wasser oder Blut bewirkt keine Pneumonitis und verursacht – in Abhängigkeit von der Menge – keine Röntgensymptomatik. Aspiration von infiziertem Sekret der oberen Luftwege führt dagegen zu schweren Pneumonien.
Radiologische Befunde
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Das radiologische Bild reicht vom diffusen Lungenödem bis zu umschriebenen, unscharf begrenzten Fleckschatten oder umschriebenen Atelektasen (. Abb. 17.28). Eine ausgedehnte Aspiration führt innerhalb von 24 h zu einem fleckigen bilateralen pulmonalen Ödem mit Luftbronchogramm (Mendelson-Syndrom) oder bei Aspiration fester Nahrungspartikel zu Atelektasen. Selbst wenn der Mageninhalt steril ist, führt der niedrige pH-Wert zu einem pulmonalen Ödem. Der Grad des pulmonalen Ödems hängt von der Menge des Aspirats und dem Säuregehalt ab. Kommt es zusätzlich zur Aspiration von Nahrungsmitteln, wird eine Infektion wahrscheinlich. Das Reaktionsspektrum reicht von Rückbildung innerhalb von 1–2 Tagen bei komplikationslosem Verlauf bis zur Entwicklung einer Pneumonie oder im schlimmsten Falle bis zur Entwicklung eines ARDS. Das Neuauftreten uni- oder bilateraler Infiltrate, v. a. in den kaudalen Lungenlappen (rechts häufiger als links) des aufgerichteten Patienten oder in den Oberlappen des liegenden Patienten, spricht für eine Aspiration. Bei ausgeprägter Aspiration kann das Bild von einem diffusen Lungenödem nicht zu unterscheiden sein. Bei vorbestehendem ARDS, ausgedehnten Atelektasen und/oder einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz kann es unmöglich sein, neu aufgetretene, aspirationsbedingte Infiltrate zu erkennen.
(vorbestehende) diffuse interstitielle oder neoplastische Lungenerkrankungen, eine diffuse pulmonale Einblutung (bei Leukämie oder bestimmten immunologischen Erkrankungen wie Lupus erythematodes, Wegener-Granulomatose, progressive Glomerulonephritis oder bei pulmonaler Hämosiderose), eine bakterielle Infektion oder bei immunsupprimierten Patienten eine Pneumocystis carinii- oder CMV-Infektion. 17.9
Indikationen und Wer tigkeit der thorakalen Computer tomographie auf der Intensivstation
Mit den zunehmenden diagnostischen wie therapeutischen Möglichkeiten wächst die Komplexität der Erkrankungen und steigen die Anforderungen an eine Intensivstation. Neue Formen der Beatmungstherapie, der immunsuppressiven und antibiotischen Therapie beeinflussen das Patienten- und Erkrankungsspektrum. Obwohl die Bettlungenaufnahme nach wie vor die Hauptrolle in der täglichen bildgebenden Diagnostik der Patienten auf einer Intensivstation darstellt, sind ihre Grenzen durch technische Einschränkungen, fehlende Belichtungsautomatik oder mangelnde Patientenkooperation hinlänglich bekannt. Die Folge ist eine nur sehr begrenzte diagnostische Genauigkeit für bestimmte Fragestellungen [24]. Die CT ist für ihre Überlegenheit in der Evaluierung von pulmonalen, mediastinalen und pleuralen Prozessen im Vergleich zur Lungenaufnahme bekannt. Diese ist auf die größere Kontrastauflösung und die überlagerungsfreie Darstellung der einzelnen Strukturen zurückzuführen. Trotz dieser theoretischen Vorteile hat das Thorax-CT für Intensivpatienten bisher nur eine zögerliche Anwendung gefunden, was in erster Linie durch das erhöhte Transportrisiko sowie die technischen Grenzen der CTGeräte selbst bedingt gewesen sein dürfte. So ergaben zwei, aller-
17.8.4 Diffuse pulmonale Verdichtungen Diffuse pulmonale Verdichtungen sind in der Regel vereinbar mit einem Lungenödem. Dieses kann kardial oder nichtkardial bedingt sein. Nichtkardiale Permeabilitätsödeme sind meist auf ein ARDS zurückzuführen. Gerade durch Überlagerung und therapiebedingte Modifikationen ist es schwierig, zwischen einem kardial bedingten Lungenödem und einem ARDS zu unterscheiden. Andere Ursachen diffuser pulmonaler Verdichtungen sind
. Abb. 17.28. Konfluierende Strukturverdichtungen in beiden Lungenunterfeldern, rechts ausgeprägter als links, bei Aspirationspneumonie im Rahmen einer Bewusstlosigkeit (Blutalkoholspiegel 2,6‰)
207 17.9 · Indikationen und Wertigkeit der thorakalen Comutertomographie auf der Intensivstation
dings schon vor einigen Jahren durchgeführte Studien mit Nutzen-Risiko-Analysen für den Transport von Intensivpatienten eine sinnvolle Änderung des Therapiemanagements durch die CT-Untersuchung in nur 24% bzw. 39% der Fälle [9]. Eine erhöhte Letalität infolge des Transports wurde jedoch in keiner Studie beschrieben. Die in Zukunft wahrscheinlich in größerem Maße zur Verfügung stehenden mobilen CT-Einheiten in räumlicher Nähe zu Intensivstationen dürften den Aufwand und das Risiko des Patienten erheblich reduzieren. Miller [14] beschreibt, dass die Thorax-CT-Untersuchung die Behandlung in lediglich 22% der Fälle veränderte, verglichen mit 51% der Abdomenuntersuchungen und 57% invasiver angiographischer Untersuchungen. Dies kann einerseits durch die hohe Effizienz der Bettlungenaufnahmen bedingt sein, andererseits auf die unspezifische Reaktionsweise des Lungenparenchyms zurückzuführen sein, die auch in der CT-Diagnostik erhebliche differenzialdiagnostische Schwierigkeiten aufwirft. Andererseits haben sich mit der Spiral-CT-Technik neue diagnostische Indikationen ergeben, deren klinische Wertigkeit bereits heute unumstritten ist, z. B. zur Diagnose einer Lungenembolie. Andere Indikationen wie die Rolle der CT zur Verlaufskontrolle bzw. Prognose bei Patienten mit ARDS ist noch Gegenstand der Evaluierung. Die CT hat v. a. bei der Suche nach einem entzündlichen Fokus bei Intensivpatienten mit Fieber oder erhöhten Entzündungsparametern unklarer Genese eine wichtige Bedeutung. 17.9.1 Indikationen zur CT-Untersuchung
des Thorax Pulmonale Erkrankungen In der Lunge eines Intensivpatienten überlagern sich typischerweise multiple Probleme wie Atelektase, Pneumonie, Aspiration, kardiales Lungenödem, ARDS oder Pleuraergüsse. Sämtliche dieser Prozesse führen im Röntgenthorax zu pulmonalen Verschattungen, die sich überlagern und potentiell gegenseitig maskieren. So hat die Lungenaufnahme für die Diagnose einer Pneumonie auf der Intensivstation lediglich eine diagnostische Genauigkeit von 50% [24]. Die CT ist zur Differenzierung sich projektionsradiographisch überlagernder pleuraler und pulmonaler Prozesse in hohem Maße geeignet; so ermöglicht die CT beispielsweise die Differenzierung einer Pneumonie von einem Lungenabszess bzw. eines Lungenabszesses von einem pleuralen Empyem. Häufige Indikation für eine CT-Untersuchung ist nicht der Nachweis, sondern vielmehr der Ausschluss, z. B. eines Malignoms oder einer Infektquelle bei Fieber unklarer Genese.
Mediastinalerweiterung Gerade für die Differenzierung von Mediastinalerweiterungen ist die CT der Lungenradiographie deutlich überlegen. Abzugrenzen sind Prozesse, die eine sofortige invasiv-therapeutische Konsequenz nach sich ziehen wie ein Halsabszess, Ösophagusperforation, ein mediastinales Hämatom oder eine Gefäßruptur, von konservativ zu behandelnden Ursachen wie der gefäßbedingten oder lymphombedingten Verbreiterung des oberen Mediastinums.
Läsionen der Thoraxwand Die CT ist der Projektionsradiographie zur Differenzierung pleuraler und intrapulmonaler Ursachen bei ausgedehnten Verschat-
17
tungen in der Lungenaufnahme überlegen. Ebenso liefert die CT wertvolle Hinweise für die Diagnose abgekapselter Pleuraergüsse, eines Empyems oder zur Dignität eines Prozesses.
Fehllagen von Drainagen Für die Lagekontrolle nahezu aller intensivmedizinischen Monitormaterialien ist die Lungenaufnahme ausreichend und effektiv. Eine Ausnahme stellt die Thoraxdrainage dar, die in ihrem Verlauf in der CT deutlich besser als mit der Projektionsaufnahme kontrolliert werden kann.
Diagnose vaskulärer Pathologie Die CT-Angiographie in Spiral-CT-Technik erlaubt eine zuverlässige Diagnose aortaler (z. B. Dissektion, Blutung) oder pulmonaler Pathologie (z. B. akute oder chronische Lungenembolie). 17.9.2 Diagnostische Leistungsfähigkeit Es liegen bisher nur wenige quantitative Analysen der diagnostischen Wertigkeit einer CT-Untersuchung für Intensivpatienten vor. So wurden in einer kontrollierten Studie mit 108 CT-Untersuchungen 52% aller Befunde (232 von 482 Befunden) nur mit der CT gestellt, jedoch bei nur 30% der Untersuchungen ergab die CT klinisch relevante Befunde. Diese bezogen sich im Thorax auf einen Abszess oder eine postoperative Flüssigkeitsansammlung mediastinal oder in der Thoraxwand, die Diagnose von Neoplasmen, nicht vermuteten Pneumonien oder Pleuraergüssen. In 22% hatte die CT eine unmittelbare therapeutische Konsequenz. Unterschiedliche Diagnosen von CT und Lungenaufnahmen bezogen sich in den meisten Fällen auf die Anwesenheit bzw. den Ausschluss kardial bedingter pulmonaler Stauungszeichen. Diagnostische Korrekturen eines Lungenbefundes durch die überlegene Darstellung in der CT bezogen sich auf die Erfassung eines Pneumothorax, die Diagnose eines Emphysems und die Erfassung mediastinaler Tumoren. 17.9.3 Diagnose der akuten Lungenembolie
mit Spiral-CT Die Spiral-CT ermöglicht bei adäquater Kontrastmittelzufuhr (>100 ml Volumen, injiziert mit einer Flussrate von >3 ml/s) eine homogene Kontrastierung der Pulmonalarterien, die eine Lokalisation arterieller Thromben in Form von Kontrastmittelaussparungen erlaubt [6]. Die Spiral-CT kann sowohl akute Embolien wie organisierte Thromben bei chronischer Lungenembolie mit einer Sensitivität und Spezifität von im Mittel >90% bis auf Segmentebene nachweisen (jeweils zwischen 75 und 100% in multiplen Studien). Subsegmentale Emboli sind aufgrund der begrenzten Auflösung nicht so zuverlässig erkennbar. Voraussetzung ist eine starke und homogene vaskuläre Kontrastierung. Vorteil der Spiral-CT-Technik gegenüber anderen etablierten Verfahren ist der direkte Thrombusnachweis, die erheblich geringere Rate nicht eindeutiger Untersuchungen (<9%), die bei weitem unter der Rate diagnostisch nicht aussagekräftiger Untersuchungen mit der Lungenszintigraphie liegt (28–87%), und die Tatsache, dass sie in einem Untersuchungsgang auch andere nicht embolie-assoziierte thorakale Veränderungen diagnostizieren kann.
208
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
17.10 Abdominelle Bildgebung – Einleitung
B. Partik, P. Pokieser Das diagnostische Vorgehen bei einer unspezifischen abdominellen Symptomatik stellt auf einer Intensivstation aufgrund der speziellen Situation mit einem breiten Spektrum pathologischer Veränderungen und oftmals eingeschränkt transportfähiger Hochrisikopatienten eine besondere klinische Herausforderung dar. Als bildgebende Verfahren stehen zur Abklärung, neben der konventionellen Abdomennativaufnahme, v. a. Ultraschall inklusive Duplex- und Doppleruntersuchung sowie die Computertomographie zur Verfügung. Für die Magnetresonanztomographie (MRT) besteht in der abdominellen Bildgebung bei Intensivpatienten vorerst nur in Spezialfällen eine relative Indikation (z. B. Gravidität). Die Angiographie beschränkt sich auf endoskopisch ungeklärte gastrointestinale Blutungen (arteriovenöse Missbildungen der proximalen Kolonhälfte) und auf akute Gefäßverschlüsse, wenn die Ultraschalldiagnostik unklare Befunde ergibt (Mesenterialgefäße, Transplantationschirurgie).
. Abb. 17.29. Aufnahme in Rückenlage, lateraler Strahlengang (Skelettanteile markiert); freie Luft zwischen Vorderfläche der Leber und Xiphoid (Pfeil mit Querstrich); Spiegelbildungen im Darm (Pfeil); w., 61 Jahre, Tuberculosis peritonei mit Aszites und Peritonitis durch mehrere Dünndarmperforationen
17.11 Konventionelle Abdomenaufnahme Trotz der beträchtlichen technologischen Fortschritte bei den Schnittbildverfahren und der Sonographiegeräte hat die konventionelle Abdomennativaufnahme bei nicht transportfähigen Risikopatienten weiterhin ihren Stellenwert in der bildgebenden Diagnostik. Das in der Übersicht gezeigt Analyseschema kann bei der Auswertung als Leitlinie dienen. i Merke: »gas, mass, stones, bones«.
Schema für die Auswertung einer konventionellen Abdomennativaufnahme
17
5 Beurteilung des Gasverteilungsmusters – freies intraabdominelles Gas (Perforation) – retroperitoneales Gas – atypische intraabdominelle Gasansammlungen sowie die Gasverteilung im Dünn- und Dickdarm (Hinweise auf Ischämie oder Obstruktion) 5 Beurteilung der Weichteilstrukturen (Organomegalie, Raumforderungen, Flüssigkeit) 5 Beurteilung intraabdomineller Verkalkungen (Konkremente) 5 Beurteilung ossärer Strukturen, Sonden- und Katheterlagen
17.11.1 Gasver teilungsmuster
Freie intraperitoneale Luftansammlungen Bei einer Perforation ist die Erkennung von freier Luft auf der Röntgenaufnahme eine wesentliche Voraussetzung für das weitere Vorgehen. Ursache. Zu den häufigsten Ursachen freier Luftansammlungen gehören: Perforation eines abdominellen Hohlorgans (Ulcus ven-
. Abb. 17.30a, b. Freie Luft im Abdomen: a Luftansammlung subdiaphragmal (Pfeil), Sekretspiegel im Magenfundus (Pfeil mit Querstrich); b Aufnahme in Linksseitenlage; Luft zwischen Leber und lateraler Leibeswand bzw. Zwerchfell, weiteres Luftdepot im Zökalbereich (Pfeil); m., 43 Jahre, Perforation eines Ulcus duodeni; Beschwerden seit 3 h
triculi oder duodeni, nekrotisierende Enterokolitis etc.), chirurgische Eingriffe (3–4 Tage nach Laparotomie oder Laparoskopie), Platzierung einer PEG-Sonde, peritoneale Dialyse, Aszitespunktion oder Eileiterdurchblasung. Selten ist Luftmigration über ein Pneumomediastinum in das Retroperitoneum Ursache der Gasansammlung. Lokalisation. In liegender Aufnahmeposition sammelt sich die
Luft in den zentralen abdominellen Abschnitten, wo sie als Aufhellung sichtbar werden kann. Evtl. ist auch eine Aufnahme im laterolateralen Strahlengang möglich (. Abb. 17.29). In halbsitzender Position sind die typischen subphrenischen Aufhellungsareale (»Luftsicheln«) nachweisbar (. Abb. 17.30a). Ein weiterer
209 17.11 · Konventionelle Abdomenaufnahme
17
ner Perforation erhärten (. Abb. 17.30b). Sensitivste Methode bleibt in unklaren Fällen sicherlich die Computertomographie, die auch kleinste intraabdominelle Gasansammlungen nachweisen kann (. Abb. 17.31).
Pneumoretroperitoneum 2 Verteilungstypen kennzeichnen unterschiedliche Ursachen: Kleinblasige umschriebene Aufhellungen. Ursache sind Abszes-
se durch gasbildende Erreger, häufiges Begleitsymptom ist eine Weichteilverschattung. Lokalisation: parazökal (Appendizitis), Pankreasbereich oder Bursa omentalis (Pankreatitis), peri- bzw. pararenal (peribzw. paranephritischer Abszess), Anastomosenabszesse. Diffuse, streifenförmige Aufhellungen. Lokalisation: entlang . Abb. 17.31. Patient (57 Jahre) mit akutem Abdomen bei perforierter Sigmadivertikulitis. CT mit Kontrastmittel auf Höhe der unteren Nierenpole, freies intraabdominelles Gas (Pfeil)
der Zwerchfellschenkel, der Psoasränder und perirenal. Ursachen: retroperitoneale Darmruptur oder -perforation, fortgeleitete Darmgangrän oder Pneumomediastinum (. Abb. 17.32).
Atypische intraabdominelle Gasansammlungen, Gasverteilung im Dünn- und Dickdarm Im Normalfall finden sich Luftmarkierungen des Magenfundus (kann bei liegender Entlastungssonde fehlen) und der Kolonflexuren. Variabel treten diskontinuierliche blasen- oder säulenförmige Gasaufhellungen im Bereich von Dünndarm und Kolonabschnitten auf. Normale Gasansammlungen sind nach außen scharfbogig begrenzt. Gallengänge. Es finden sich bandförmige Aufhellungen im Ver-
lauf des Ductus choledochus, Ductus hepaticus und der intrahepatischen Gallengänge (DD: Gas in den Portalvenen bei Pneumatosis intestinalis). Ursache: Postoperativ nach Choledocho- oder Cholezystoduodenostomie bzw. -jejunostomie, 30–50% der Fälle nach Papillotomie, Cholangitis durch gasbildende Erreger, Gallensteinperforation ins Duodenum oder Kolon, Cholezystitis emphysematosa. Geblähter Magen. Ursachen: nach Maskenbeatmung oder Fehlintubation, Fehllage oder Verstopfung einer Magensonde, postoperativ nach Sondenentfernung, Stenose oder Verschluss einer Gastroenteroanastomose, Aerophagie, z. B. bei schweren Schmerzzuständen, Steinkoliken, Trauma (kombiniert mit Dünn- und Dickdarmblähung)
. Abb. 17.32. Aufnahme im Sitzen; Retropneumoperitoneum – kleinblasige und strichförmige Luftaufhellungen (perirenal); freie Luft im Abdomen – Aufhellungen unter beiden Zwerchfellkuppen (Pfeil); Exsudatspiegel (Pfeil mit Querstrich), Leber, Milz und Nieren gut abzugrenzen; weiblich, 60 Jahre, Duodenalläsion bei endoskopischer Papillotomie; nur geringe subjektive Beschwerden, bei Laparotomie nach 6 h ist keine Dehiszenz zu finden; komplikationsloser postoperativer Verlauf
Hinweis ist das Sichtbarwerden beider Darmwandseiten durch intra- und extraluminale Luftansammlungen. Bei Kindern zeigt eine Demarkation des Lig. falciforme freie intraabdominelle Luft an [45]. Im Zweifelsfall kann eine Aufnahme in Linksseitenlage, falls es die Lagerung des Patienten ermöglicht, die Diagnose ei-
Duodenalblähung. Isoliert oder verbunden mit Magen-Dünndarm-, Kolonblähung, mit oder ohne Flüssigkeitsspiegel. Ursachen: akute Pankreatitis (. Abb. 17.33), posttraumatisch bei retroperitonealem Hämatom durch Wirbelkompression, direkte Duodenalläsion. Dünndarmblähung. Überwiegend einzelne oder viele Dünndarmschlingen betreffend, mit oder ohne Spiegelbildung. Die diagnostische Bewertung orientiert sich weitgehend am klinischen Befund: Ursachen: mechanischer Ileus (. Abb. 17.34a, b) oder Durchblutungsstörungen mit Darmwandödem (mechanisch: Inkarzeration, Invagination; primär vaskulär: embolisch oder thrombotisch).
210
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Abb. 17.33. Blähung der Duodenalschlinge mit Glättung der medialen Wand. Blähung einer Dünndarmschlinge mit Spiegel; Kolonblähung; häufige Situation bei Pankreatitis: 1 Duodenum, 2 Dünndarm, erweitert, wandverdickt, Spiegel, 3 Dünndarm normal, 4 Kolon, 5 Magen, 6 Gallenwege, luftgefüllt
17
Kolonblähung. Von besonderer Bedeutung ist die Kenntnis metabolisch oder reflektorisch bedingter Kolonblähungen, mit oder ohne Spiegelbildungen, die als mechanischer Ileus fehlgedeutet werden könnten. Ursachen: retroperitoneale Prozesse (Ureterkolik, akute Pyelitis, Nierentrauma etc.), akute Cholezystitis, Endo- und Perimetritis, extraabdominelle Erkrankungen (Hypoxie, diabetische Azidose, Hypokaliämie, medikamentös), mechanischer Ileus, Gangrän. Diffuse (kombinierte) Dünn- und Dickdarmblähung. Mit oder
ohne Spiegelbildungen, das am schwierigsten zu bewertende Bild. Die Vielzahl der möglichen entzündlichen, reflektorischen, metabolischen und nervalen Ursachen erfordert zur Bewertung zusätzliche klinisch-anamnestische Fakten. Kausale Hinweise aus dem Röntgenbild sind bei Vorhandensein freier oder retroperitonealer Luft, Darmwandverdickung bzw. Verlagerung von Darmschlingen gegeben. Diffuse Abwehrspannung, fehlende (abgeschwächte) Darmgeräusche. Als Ursache kommt eine Peritonitis diffusa jeder mög-
lichen Genese in Frage. Ist das Abdomen weich mit normalen
. Abb. 17.34 a, b. a Aufnahme in Rückenlage; Blähung und hochgradiges Ödem mehrerer Dünndarmschlingen (Wandverdickung und Distanzierung der Schlingen); b Aufnahme im Sitzen: aufgestellte und wandverdickte Dünndarmschlingen mit basalen Spiegeln, größere Spiegelbildung in der Zökalregion; das Kolon ist gasfrei; Luftaufhellung links subdiaphragmal mit Spiegelbildung: Magenfundus; a, b weiblich, 40 Jahre, Dünndarmileus durch Bride mit Dünndarmobturation 50 cm oral der Bauhin-Klappe; beginnende Peritonitis; Lösung der Bride, keine Darmresektion er forderlich; normaler postoperativer Verlauf
211 17.12 · Ultraschall
17
oder abgeschwächten Darmgeräuschen, sind folgende Ursachen möglich: postoperative Atonie (. Abb. 17.35), Entzündungsprozesse abdomineller oder retroperitonealer Organe, Koma, Hypoxie, Hypokaliämie, Hyponatriämie, medikamentös. Klinische Bewertung. Der klinische Verdacht auf eine Darmobstruktion ist eine der häufigsten Indikationen für eine abdominelle Diagnostik auf der Intensivstation. Wesentliches radiologisches Zeichen ist der Nachweis einer Übergangszone (Übergangsbereich vom dilatierten zum normalkalibrigen Darmlumen). Ein geblähter Magen mit wenig Gas im Dünn- und Dickdarm ist ein Hinweis auf eine Magenausgangsstenose etc. Schwierig ist auch die Differenzierung eines paralytischen Ileus von einer distalen Obstruktion im Kolon, wobei der paralytische Ileus jedoch die höhere Inzidenz aufweist. Ischämien von Dünn- oder Dickdarm sind ein häufiges Problem älterer Patienten auf der Intensivstation. 50% dieser Patienten werden klinisch mit dem Bild einer Dünndarmobstruktion (Pseudoobstruktion) auffällig. Bei einem Patienten, der akut abdominelle Schmerzen und eine Dilatation des Dünndarms entwickelt mit nur geringer Gasmarkierung und fehlender Dilatation des Kolons, ist eine Ischämie zu vermuten; differenzialdiagnostisch zu erwägen sind Dünndarmobstruktion oder ein auf den Dünndarm beschränkter Ileus. Gas in der Darmwand (Pneumatosis intestinalis) und »thumbprinting« (verursacht durch intramurale Blutungen) sind weitere Indikatoren einer Ischämie.
17.11.2 Weichteilbeur teilung Transparenzminderung im Abdomen ist ein unspezifisches Zeichen, das häufig nicht sicher einem Organ zugeordnet werden kann. Prinzipiell können alle Organe vergrößert sein, am häufigsten betroffen sind jedoch Leber, Milz und Harnblase. Hepatomegalie und Splenomegalie sind an der Verlagerung gasmarkierter Kolon- bzw. Dünndarmschlingen zu erkennen. Die vergrößerte Harnblase kann als pelvine, weichteildichte Raumforderung zur Darstellung kommen. Nativradiologisch ist freie abdominelle Flüssigkeit aufgrund der anatomischen Gegebenheit nachweisbar, dass Colon ascendens und descendens unmittelbar dem lateralen abdominellen Fettstreifen anliegen. Sollte das Kolon nach medial verlagert sein, ist das ein Hinweis auf freie intraabdominelle Flüssigkeit. Die Blase ist üblicherweise von perivesikalem Fettgewebe umgeben. Ist das Fettgewebe durch weichteildichte Strukturen maskiert, so kann dies beim männlichen Patienten ein Hinweis auf Aszites sein, bei einer Frau bleibt als differenzialdiagnostische Alternative neben dem Aszites auch ein vergrößerter Uterus. Allerdings gilt: i Bei der Fragestellung »freie Flüssigkeit im Abdomen« ist die Sonographie das Untersuchungsverfahren der Wahl.
17.11.3 Intraabdominelle Verkalkungen Gallenblasenkonkremente sowie Nieren- und Blasensteine werden üblicherweise aufgrund ihrer typischen Lokalisation erkannt. Verkalkungen in der Pankreasloge sind Zeichen einer chronischen Pankreatitis. Selten können Verkalkungen in primären Tumoren (Nierenzellkarzinom), sekundärblastomatösen Läsionen (peritoneale Metastasen, Lebermetastasen) oder Tuberkulomen auftreten.
. Abb. 17.35. Patient, 66 Jahre, 3. postoperativer Tag, postoperative Atonie. Aufnahme im Sitzen: postoperativ noch freie Luft subphrenisch (Pfeile), multiple Spiegelbildungen in Dünn- und Dickdarm
17.11.4 Beur teilung der ossären Strukturen Obwohl die Beurteilung der ossären Strukturen für den Intensivmediziner nur in seltenen Fällen von Relevanz ist, sollten auffällige Befunde (z. B. Knochendestruktionen, grobe Fehlstellungen) Beachtung finden. Weiterhin muss auch die Lage von intraabdominellen Kathetern und Sonden überwacht werden. Die sichere intraluminale Lage eines Katheters lässt sich mit konventioneller Radiologie nur durch Injektion von Kontrastmittel verifizieren. 17.12 Ultraschall Bei Intensivpatienten ist in der Mehrzahl der Fälle die Sonographie des Abdomens das initiale bildgebende Verfahren. Die rasche Verfügbarkeit, das Fehlen ionisierender Strahlen und die nichtinvasive Evaluation der abdominellen Organe inklusive Duplexsonographie (Continuous-wave- oder Pulsed-wave-Doppler kombiniert mit B-Bild-Verfahren), farbkodierter Dopplersonographie sowie ultraschallgesteuerter Biopsien und Drainagen haben die Sonographie bei unklarer abdomineller Beschwerdesymptomatik zur bildgebenden Methode der ersten Wahl werden lassen. Die im folgenden aufgeführten Organe sind einer sonographischen Untersuchung gut zugänglich. 17.12.1 Gallenblase Die Sepsis unklaren Ursprungs ist ein bekanntes klinisches Problem bei Intensivpatienten. Die Symptome einer akuten Chole-
212
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
zystitis sind beim ambulanten Patienten zumeist eindeutig, Intensivpatienten präsentieren sich im Falle einer Cholezystitis häufig jedoch auch mit Fieber unbekannten Ursprungs und generalisierter peritonealer Symptomatik [48].
Cholezystolithiasis Mit einer Sensitivität von 95% ist der Ultraschall eine sehr gute Methode zum Nachweis von Gallensteinen. Ultraschallkriterien für einen Konkrementnachweis sind: 4 Eintrittsecho mit hoher Amplitude, 4 dorsaler Schallschatten, 4 schwerkraftabhängige Lagerung (abgesehen von wandimpaktierten Konkrementen). Bei kleinen oder im Ductus cysticus lokalisierten Konkrementen ist die Erkennung des Schallschattens oft schwierig. Differenzialdiagnostisch ist bei nicht lagevariablen, wandadhärenten Echos hoher Amplitude ohne Schallschatten an kleine Cholesterolpolypen zu denken.
17
Akute Cholezystitis mit Konkrement (»kalkulös«)
. Abb. 17.36. Sonographischer Subkostalschnitt; akalkulöse Cholezystitis; verdickte, dreigschichtete Gallenblasenwand (+), L Leber
Obwohl die Sonographie eine sensitive Methode zur Erkennung biliärer Erkrankungen ist, verringert sich die Spezifität bei der Diagnose der akuten Cholezystitis. Nur ca. 33% der Patienten mit Gallensteinen entwickelt eine Cholezystitis, mehr als die Hälfte der Patienten mit klinischen Symptomen einer akuten Cholezystitis hat im weiteren Verlauf keine akute Entzündung der Gallenblase [41].
ralimentation und metabolischen Störungen wie Hypokaliämie auftreten.
Ultraschallkriterien. Gallensteine allein sind nicht spezifisch für die Diagnose einer akuten Cholezystitis. Daher wurde eine Vielzahl anderer diagnostischer Ultraschallkriterien entwickelt, um die Treffsicherheit der sonographischen Diagnostik zu erhöhen [30]. 4 Murphy-Zeichen: Druckdolenz über der Gallenblase, hier bei Untersuchung mit dem Schallkopf (falsch-negative Ergebnisse bei gangränöser Cholezystitis infolge nekrosebedingter Denervation). 4 Sekundäre Zeichen (auch bei einer Anzahl von nicht-inflammatorischen Krankheitsbildern) sind: – Wandverdickung, – pericholezystitische Flüssigkeitsansammlungen, – Sludge, – Gallenblasenerweiterung.
Eine Wandverdickung auf über 3 mm tritt in 50–75% der Fälle bei akuter Cholezystitis auf, ist jedoch auch in Fällen von Aszites, Hypalbuminämie, Hepatitis, kardialer Einflussstauung, Nierenerkrankungen und Aids nachweisbar. Eine 6-stündige Nahrungskarenz vor der Untersuchung ist zu empfehlen, da die kontrahierte Gallenblase eine Wandverdickung vortäuschen kann. Die Dreischichtung der Gallenblasenwand wurde als eine für die akute Cholezystitis typische sonographische Veränderung diskutiert, neuere Untersuchungen haben dies nicht nachweisen können. Unter dem klinischen Bild einer akuten Cholezystitis ist die Schichtung jedoch als gangränöse Veränderung zu interpretieren. Pericholezystitische Flüssigkeit gilt als Hinweis auf Gallenblasenperforation oder Abszess, wird jedoch auch bei peptischem Ulkus und Pankreatitis beschrieben. Die Gallenblasenerweiterung (Hydrops) ist definiert als Zunahme des Transversaldurchmessers auf mehr als 5 cm und Zunahme der Länge auf über 10 cm. Eine Erweiterung der Gallenblase kann jedoch auch bei Diabetes mellitus, Vagotomie, Hype-
Akute Cholezystitis ohne Konkrement (»akalkulös«) In 5–10% aller Fälle von akuter Cholezystitis handelt es sich um eine akalkulöse Cholezystitis. Im Falle einer postoperativen Cholezystitis steigt die Inzidenz auf bis zu 47%, wobei besonders Patienten nach Trauma und Verbrennung (»Schockgallenblase«), aber auch nach Tumorresektion, bei Diabetes mellitus oder bei Hyperalimentation betroffen sind [41]. Gangränöse Verläufe und Perforation sind häufiger als bei der kalkulösen Cholezystitis. Sonographische Diagnose. Gallenblasenwandverdickung >3mm
(. Abb. 17.36), Gallenblasendistension, pericholezystitische Flüssigkeitsansammlungen, subseröses Ödem und Sludge. ! 33% der Patienten zeigen keine Wandverdickung! Die Differenzierung zur Wandverdickung bei Aszites oder Hypalbuminämie ist sonographisch oft nicht möglich.
Gangränöse Cholezystitis Die gangränöse Cholezystitis repräsentiert eine massive Entzündung der Gallenblase mit Wandnekrose. Das Auftreten einer Perforation ist in bis zu 10% der Fälle beschrieben worden. Patienten, die klinische Symptome einer akuten Cholezystitis entwickeln und bei denen das Sonogramm eine asymmetrische Wandverdickung oder Irregularität sowie eine sich abstreifende Gallenblasenmukosa mit zarten wandparallelen Echos zeigt, weisen in 50% eine gangränöse Cholezystitis auf.
Biläre Obstruktion und Choledocholithiasis Nur etwa 70% der Patienten mit Choledocholithiasis weisen akut eine extrahepatische duktale Dilatation auf (. Abb. 17.37a, b). Sonographische Diagnose. Es zeigt sich ein dilatiertes Gallen-
gangsystem, wobei die Angaben über die Sensitivität im Bereich von 68–99% liegen. Allgemein anerkannt ist eine normale Wei-
213 17.12 · Ultraschall
17
. Abb. 17.38. Sonographischer Subkostalschnitt; cholangitischer Leberabszess; echofreies Zentrum (∆), echoarmes Umgebungsödem (Pfeil)
. Abb. 17.37a, b. Patient, 66 Jahre, laborchemisch Cholestase: a Sonographie subkostal: auf 12 mm erweiterter Ductus hepatocholedochus (Pfeil) V. portae (offener Pfeil); b Sonographie: axial epigastrisch 8 mm große echoreiche Struktur mit dorsalem Schallschatten im Papillenbereich (präpapilläres Konkrement, Pfeil)
te des Ductus hepatocholedochus von bis zu 5 mm mit einer Schwankungsbreite von plus 1 mm pro Dekade Lebensalter über 50 Jahre. Die intrahepatische Gangdilatation ist sonographisch etwas schwieriger zu evaluieren. Ein intrahepatischer Gallengang gilt ab einer Größe von über 40% der begleitenden Portalvene als dilatiert; dies entspricht im Regelfall einem Durchmesser von etwa 2 mm. Wenngleich die Sensitivität des Ultraschalls bei der Erkennung der Gallengangsdilatation sehr gut ist und das initiale Bildgebungsverfahren bei vermuteter Obstruktion bleibt, ist die Spezifität für die Ursache und das Niveau der Obstruktion schlechter. Eine Choledocholithiasis tritt in etwa 15% der Patienten mit Cholelithiasis auf, andere Ursachen für eine extrahepatische Cholestase können sowohl in einer Pankreatitis als auch in Pankreasneoplasien liegen. 17.12.2 Leber Trotz der beträchtlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Schnittbilddiagnostik und dem Einsatz neuer Kontrastmittel bleibt die Sonographie unter intensivmedizinischen Bedingungen Methode der Wahl zur initialen Abklärung hepatobiliärer Erkrankungen. Für eine aussagekräftige Diagnostik ist die Kenntnis der normalen sonographischen Anatomie erforderlich. Die Echoge-
nität der Leber, die im Normalfall eine homogene Echotextur aufweist, ist vergleichbar mit dem Nierenkortex und zumeist hypoechogen in Bezug auf die Milz. Die Lebergröße ist sehr variabel, wobei anatomische Normvarianten, z. B. ein Riedel-Lappen, von einer Hepatomegalie abzugrenzen sind [49]. Mit einer Größe von über 15,5 cm in der Medioklavikularlinie werden 87% der Patienten mit Hepatomegalie erfasst.
Leberabszess Leberabszesse stellen aufgrund der zunehmenden Anzahl älterer und immungeschwächter Patienten ein deutliches Problem dar. Sie können singulär oder multipel auftreten; aufgrund der prädominanten Blutversorgung ist der rechte Leberlappen häufiger betroffen. Die Sensitivität der primären Ultraschalluntersuchung zum Nachweis beträgt 80%, wobei jedoch diffuse Parenchymerkrankungen, kleine Abszesse unter 2 cm und Lokalisation in den kranialen Segmenten die Sensitivität vermindern. Sonographische Morphologie. Leberabszesse stellen sich sehr
variabel dar: rund oder oval, unscharf begrenzt, meist hypoechogen, in seltenen Fällen auch hyperechogen mit variabler Schallverstärkung (. Abb. 17.38). Das unterschiedliche interne Echoverhalten resultiert aus der Veränderung des putriden Inhalts im zeitlichen Ablauf. Auch Flüssigkeitsspiegel, interne Septierungen und Debris können sonographisch dargestellt werden. Aufgrund des unspezifischen Erscheinungsbildes sollten Amöbenabszesse, Echinokokkusinfektionen, komplizierte Zysten, Hämatome und nekrotische Neoplasmen in die Differenzialdiagnose einbezogen werden. Besonders beim immunsupprimierten Patienten ist auch an das Vorliegen einer hepatischen Candidiasis zu denken. Sonographisch zeigen sich multiple kleine hypoechogene Läsionen mit echoreichem Zentrum (Schießscheibenkonfiguration). Zusätzliche Läsionen gleicher Sonomorphologie im Milzparenchym erhärten diese Diagnose. Ähnliche Erscheinungsbilder wurden auch für Pneumocystis-carinii-Infektionen bei Aids-Patienten beschrieben.
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
Leberhämatom Die Leber ist bei abdominellem Trauma nach Milz und Niere das am dritthäufigsten betroffene Organ. Es können intrahepatische Lazerationen mit intakter Kapsel bis zu großen Lazerationen mit intrahepatischem Hämatom, subkapsulärer Blutung und Kapselruptur auftreten. Sonographische Morphologie. Das Erscheinungsbild ist variabel, auch abhängig vom Alter der Blutung. Am häufigsten ist die Blutung in den ersten 24 h hyperechogen, im weiteren Verlauf wird sie innerhalb von 96 h nach Gerinnung zunehmend hypoechogen bis zystisch und kann sowohl Septierungen als auch Binnenechos entwickeln. Weiterhin muss die Frequenz des gewählten Schallkopfs berücksichtigt werden. Während nicht geronnenes Blut mit einem 7,5 MHz-Schallkopf echoreich ist, bleibt es mit einem 3,5 MHz-Schallkopf echoarm (. Abb. 17.39). Subkapsuläre Flüssigkeitsansammlungen zeigen eine linsenförmige Konfiguration und sind je nach Alter echoarm oder echofrei. Wenn die Kapsel nicht intakt ist, ist das Hämatom nicht lokalisiert und kann schwierig zu entdecken sein.
. Abb. 17.39. Traumatische Leberruptur, sonographischer Schrägschnitt; im Leberparenchym (L) harte Binnenechos (Blutungsherde); echoarmes Hämatom in der Morrison-Grube zwischen Leberunterfläche und Niere (N, Pfeil)
Hepatische Farbdoppleruntersuchung und Duplexsonographie Diffuse hepatische Parenchymerkrankungen können extrahepatische vaskuläre Veränderungen, wie z. B. portale Hypertension, verursachen. Echtzeit-Bildgebung erlaubt die Identifikation der abdominellen Gefäße. Der Dopplerultraschall hat die Fähigkeit, Blutfluss zu erkennen und zu quantifizieren [44]. Bei der Farbdopplersonographie wird die Geschwindigkeitsinformation in Abhängigkeit von der Erythrozytenbewegung relativ zum Schallkopf farbkodiert. Lebervenenthrombose. Beim Budd-Chiari-Syndrom kann in der Duplexsonographie der sonst nachweisbare Blutfluss in der V. cava inferior und den hepatischen Venen fehlen, umgekehrt, turbulent oder kontinuierlich sein. Bei akuter Thrombose kann das Fehlen des normalen Blutflusses in den hepatischen Venen die einzige Abnormalität sein. Im Falle einer subakuten oder chronischen Thrombose können Kollateralen zwischen hepatischen Venen und der V. cava inferior auftreten.
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Portalvenenthrombose. Die Dopplerbeurteilung des normalen
portalvenösen Blutflusses zeigt ein kontinuierliches Flussmuster in hepatopetaler Richtung und eine atemabhängige Variation der Geschwindigkeit. Die portalvenöse Thrombose kann mitunter im B-Bild (. Abb. 17.40) und auch mit Farbdoppler- und Duplexsonographie beurteilt werden, wobei Farbdopplerimaging Vorteile bei der Erkennung eines Restblutflusses in partiellen Thrombosen und in kavernös transformierten Kollateralen aufweist [44]. Sensitivität und Spezifität für den Nachweis portalvenöser Thrombosen liegen im Bereich von 89% bzw. 92%, mit einer Genauigkeit von 92%.
. Abb. 17.40. Sonographischer Längsschnitt durch das Lig. hepatodoudenale; echoreicher Thrombus (Pfeil) in der erweiterten V. portae (Vp)
und eine erniedrigte Flussgeschwindigkeit ist für eine portale Hypertension nicht beweisend. Ein signifikanter Hinweis ergibt sich aus der Darstellung portosystemischer Kollateralen. Beide Verfahren sind auch zur Evaluierung portokavaler, mesokavaler, mesoarterieller oder splenorenaler Shunts gut geeignet [34]. Lebertransplantate. Farbdoppler- und Duplexsonographie sind unverzichtbare diagnostische Methoden für die Beurteilung von Lebertransplantaten. In der frühen postoperativen Phase dienen sie zur Beurteilung der Flussverhältnisse in der A. hepatica und V. portae. Während die Bestimmung der Durchblutung in der A. hepatica und V. portae mit Farbdoppler- und Duplexsonographie eine etablierte Methode ist (. Abb. 17.41a, b), wird ein abnormes Dopplersignal für die Beurteilung der Transplantatabstoßung kontrovers beurteilt.
Portale Hypertension. Eine portale Hypertension ist allein auf-
grund der Bildgebung schwieriger zu diagnostizieren. Sonomorphologie (B-Bild). Verschiedene Faktoren wie Aszites, Hepatomegalie und eine prominente V. portae weisen auf eine portalvenöse Drucksteigerung hin, sind aber nicht spezifisch. Farbdoppler- und Duplexsonographie erlauben die rasche diagnostische Bestimmung der portalen Blutflussrichtung. Portale Hypertension ist ein komplexer pathophysiologischer Prozess,
17.12.3 Nieren Die Nierengröße gilt zwischen 9 und 13 cm als normal und ist abhängig von Patientengröße, Alter, Habitus und Hydratation. Der Nierenkortex wird sonographisch mit dem Leberparenchym verglichen. Nieren mit einer im Vergleich zum Leberparenchym
215 17.12 · Ultraschall
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. Abb. 17.41a, b. a 6 Tage nach Lebertransplantation; sonographischer Querschnitt am Abgang des Truncus coeliacus; Dopplermessvolumen in der A. hepatica; Binnenechos im Gefäßlumen, kein Blutfluss (Nulllinie); b selektive Zöliakographie: Verschluss der A. hepatica an der Anastomose (Pfeil)
erhöhten Echogenität werden als abnormal beurteilt. Dies ist jedoch ein unspezifischer Befund und oftmals mit chronischer Nierenerkrankung assoziiert [35]. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Beurteilung der Weite des Nierenbeckenkelchsystems (Harntransportstörung). Die Duplexsonographie der intrarenalen Gefäße ermöglicht über den arteriellen »resistive index« (RI, entspricht dem Verhältnis von systolischem zu diastolischem Flow) eine Aussage über die Durchblutung.
Akutes Nierenversagen Im Fall eines akuten Nierenversagens muss eine postrenale Obstruktion als Ursache ausgeschlossen werden. Ein dilatiertes Nierenbeckenkelchsystem (NBKS) ist ein Hinweis auf ein postrenales Nierenversagens, wobei die Dilatation im Normalfall beidseitig auftritt. Verschiedene Faktoren tragen zur Erweiterung des NBKS bei, sodass diese nicht unbedingt mit dem Schweregrad der Obstruktion korreliert. Der Einsatz der Duplexsonographie bringt hier zusätzliche Information: erhöhte RI-Werte sind mit obstruktiver Dilatation des NBKS assoziiert. Obwohl eine Änderung der Nierengröße und Echogenität für verschiedene Formen des akuten Nierenversagens wie bei akuter Tubulusnekrose (ATN), interstitieller Nephritis, Glomerulonephritis und anderen Ursachen beschrieben wurde, sind diese Befunde für spezielle Krankheitsprozesse weder sensitiv noch spezifisch. In den meisten Fällen eines akuten Nierenversagens kann ein normaler oder unspezifischer Ultraschallbefund erwartet werden. Eine Duplexsonographie ist bezüglich der Diagnose eines akuten Nierenversagens sensitiver als der konventionelle Ultraschall: erhöhter RI bei 91% der Patienten mit ATN, aber in nur 20% mit akutem prärenalen Nierenversagen.
kuten Phase nimmt die Echogenität des Parenchyms ab, manchmal kann auch die Nierengröße abnehmen. Der Thrombus ist zunächst hypoechogen, im weiteren Verlauf zunehmend hyperechogen. Ein akuter Thrombus kann nicht in jedem Fall dargestellt werden. Die Abwesenheit von venösem Fluss im farbkodierten Bild, assoziiert mit einem beträchtlich erhöhtem RI-Wert, ist hochverdächtig auf eine akute Nierenvenenthrombose. Transplantate. Im Rahmen der Transplantationschirurgie sind
Duplexuntersuchungen zur laufenden Überprüfung der Organperfusion und der Versorgungsgefäße (AV-Fistel) unerlässlich. Als Hinweis auf eine Transplantatabstoßung gilt ein Anstieg des RI (. Abb. 17.42) im weiteren Verlauf. Perioperative Komplikationen wie Hämatome oder Urinome sind mit dem Ultraschall gut erfassbar.
Niereninfektion/Urosepsis Akute Pyelonephritis. Die Niere sieht sonographisch meist nor-
mal aus. Fortgeschrittene Stadien. Die Nieren sind vergrößert und hypoechogen. Das NBKS der infizierten Niere kann akzentuiert sein
Nierengefäße Arteriell. Fehlende Flusssignale in der Nierenarterie und ihren Aufzweigungen sind hochverdächtig auf einen arteriellen Verschluss. Die Identifizierung eines normalen Flussmusters im Nierenarteriensystem schließt eine komplette arterielle Thrombose oder Okklusion aus. Venös. Im Falle einer Nierenvenenthrombose können die Nie-
ren vergrößert und geringfügig hyperechogen sein. In der suba-
. Abb. 17.42. Patient, 32 Jahre, Zustand nach Nierentransplantation. Sonographie B-Bild: NTX mit einer 15 mm großen kortikalen Zyste am kaudalen Pol (Pfeil). Doppler: arterielles Spektrum mit RI 0,57
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
und in einem kleinen Prozentsatz der Fälle Debris enthalten. Die Pyelonephritis kann fokal erhöhte Echogenität in der Niere aufweisen und wie eine Raumforderung auffallen. Echos hoher Amplitude in Abwesenheit von Verkalkungen sprechen für Luftansammlungen und lassen eine emphysematöse Pyelonephritis vermuten. Intrarenale oder perirenale Abszesse. Das Erscheinungsbild
kann einer echofreien Raumforderung – ähnlich einer Zyste – entsprechen, zusätzlich finden sich jedoch meist Wandverdickungen, Septierungen und interner Debris. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass Ultraschall nicht sensitiv für den renalen/perirenalen Abszessnachweis ist; hier ist das CT die Methode der Wahl. Pyelonephritis. Diese muss vermutet werden, wenn innerhalb eines erweiterten Nierenbeckenkelchsystems, das sich normalerweise echofrei darstellt, Debris oder geringe Binnenechos identifiziert werden können.
. Abb. 17.43. Sonographischer Querschnitt suprapubisch; Douglas-Abszess (Pfeil). B Blase, U Uterus
Nierentrauma Obwohl das CT in Traumazentren die Methode der Wahl zur primären Bildgebung darstellt, ist der Ultraschall hilfreich bei der Verlaufskontrolle traumatischer Läsionen oder in der Primärdiagnostik bei Patienten, die für den Transport zu instabil sind. Traumatische Lazerationen und Hämatome erscheinen als echogene oder gemischt echoreiche/echoarme Raumforderungen in der Niere oder im perirenalen Raum. Mit dem Ultraschall können Nierenbeckenrupturen und Läsionen des Gefäßstiels u. U. nicht diagnostiziert werden. Daher gilt: ! Cave Ein normales Sonogramm kann ein Nierentrauma nicht sicher ausschließen.
17.12.4 Pankreas
Splenomegalie Splenomegalie bedeutet per Definition ein Überschreiten der Normwerte in mindestens 2 Ausdehnungsrichtungen (normal: Länge u Tiefe u Breite =12u4u7 cm). Ursachen: portale Hypertension, Infektionskrankheiten und hämatologische Systemerkrankungen; selten: Pfortaderthrombose, Amyloidose, Speicherkrankheiten, Rechtsherzinsuffizienz.
Fokale und diffuse Läsionen Fokale Läsionen (Verkalkungen, Zysten, Infarkt, Abszess, Hämangiom, Metastasen) sind selten (unter 1%) und aufgrund ihres variablen Erscheinungsbilds häufig nur im klinischen Zusammenhang diagnostizierbar. Etwa 40% der fokalen bzw. diffusen Milzläsionen sind maligne, wobei in 80% der Fälle mit maligner Infiltration ein Lymphom vorliegt [49].
Milzruptur
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Das Pankreas kann durch starken Meteorismus oder postoperativ durch Nahtklammerreihen, Verbände etc. häufig nur erschwert oder gar nicht beurteilt werden. Die Leitstrukturen zur Auffindung sind die A. mesenterica superior und die V. lienalis.
Ödematöse Pankreatitis Hierbei sieht man eine umschriebene oder diffuse Organvergrößerung und Reduktion der normalen Echostruktur (. Abb. 17.50a).
Hämorrhagisch-nekrotisierende und abszedierende Formen Im vergrößerten Organ finden sich unregelmäßig angeordnete echofreie und hyperechogene Areale. Die weitere Abklärung der Ausdehnung und assoziierter Komplikationen ist eine Domäne der CT. 17.12.5 Milz Die Milz bietet sonographisch ein sehr variables Erscheinungsbild; häufig finden sich kleine Nebenmilzen als anatomische Normvarianten.
Die Sonographie ist ein bewährtes Verfahren bei der Primärdiagnostik des abdominellen Traumas und erlaubt ein Abschätzen des weiteren diagnostischen Vorgehens. Sonographische Morphologie: intraperitoneale freie Flüssigkeit, subkapsuläres Hämatom, intralienales Hämatom, Parenchymlazeration. Im Fall einer negativen Sonographie kann ein Milztrauma nicht ausgeschlossen werden (zweizeitige Milzruptur), daher wird in einigen Zentren primär ein CT durchgeführt. Zusammen mit dem klinischen Bild und weiteren sonographischen Kontrollen mussten bei abdominell traumatisierten Patienten nach primär sonographischer Diagnostik im Schockraum lediglich in 9% der Fälle weiterführende CT-Untersuchungen veranlasst werden, so dass die Sonographie jedenfalls eine gute Einschätzung erlaubt [46]. 17.12.6 Freie Flüssigkeit Freie Flüssigkeit jeder Art ist beim liegenden Patienten an typischen Prädilektionsstellen anzutreffen: 4 subhepatisch im Recessus hepatorenalis (Morison-Raum), 4 im Douglas-Raum (. Abb. 17.43), 4 parakolisch (rechts häufiger als links).
217 17.13 · Computertomographie
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Lediglich postoperative Abszessbildungen sind überwiegend subphrenisch und in der Bursa omentalis lokalisiert – besonders, wenn die ursprünglichen anatomischen Kompartimente des Oberbauches verändert wurden [40].
Sonographische Morphologie Die Echogenität freier Flüssigkeiten differiert. Im Einzelfall geben Anamnese und Klinik ätiologische Hinweise. In Zweifelsfällen ist die ultraschallgesteuerte Punktion einzusetzen. 4 Echofrei: Aszites, Serome, Biliome, Urinome, Lymphozelen und ältere Abszesse. 4 Mittlere Echogenität: ältere Abszesse und frischere Hämatome. Letztere werden bei zunehmender Organisation echoreicher und können, speziell bei Infektion, echofreie verflüssigte Areale aufweisen. Blutungen oder Eiter können Septierungen und flottierende Echos höherer Amplitude (Debris) aufweisen. Maligner Aszites ist häufig mit verbackenen Darmschlingen assoziiert. 17.12.7 Gefäße Bei guten Untersuchungsbedingungen sind Aortenaneurysmen, Dissektionen und Wandthrombosen sowie Gefäßprothesen sonographisch gut darstellbar (. Abb. 17.44, 17.45). Gleiches gilt für die großen Organarterien und die V. cava inferior. Gelegentlich sind ergänzende angiographische Untersuchungen und CT erforderlich.
. Abb. 17.45. Sonographischer Querschnitt, Mittelbauch: 2. Tag nach Implantation einer Aortenprothese (Pfeil); Hämatom (∆)
oder von Empyemen. Aszites und andere Flüssigkeitsansammlungen können lokalisiert, aspiriert und drainiert werden. Die meisten intraabdominellen Abszesse über 3 cm Größe sind sonographisch erkennbar und einer perkutanen Drainage zugänglich. Wenn auch vielfach der CT-gezielten Drainage im Abdomen der Vorzug gegeben wird, stellt die ultraschallgesteuerte perkutane Drainage beim Intensivpatienten, bei dem der Transport ein signifikantes Risiko bedeutet, eine Alternative dar [42]. 17.13 Computer tomographie
17.12.8 Ultraschallgesteuer te Aspiration
und Drainage Die Vorteile der ultraschallgesteuerten Drainage bestehen in der exakten Platzierung der Nadel unter Echtzeitbedingungen und zusätzlich in der Identifikation vaskulärer Strukturen durch farbkodierte Bildgebung. Die Sonographie ist häufig die Methode der Wahl zur Drainage pleuraler Flüssigkeitsansammlungen
Die computertomographische Beurteilung der abdominellen Organe ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Bildgebung beim Intensivpatienten geworden. Die Bauchorgane können mit Geräten der neuesten Generation rasch und exakt beurteilt werden. Durch den Einsatz mobiler CT-Geräte könnten die Diagnostik bei Hochrisikopatienten sowie postoperative Follow-up-Untersuchungen leichter durchgeführt werden. 17.13.1 Dünndarmobstruktion und paralytischer
Ileus Das CT hat sich als sehr nützlich für die Diagnostik der Dünndarmdilatation obstruktiver Genese erwiesen und ermöglicht häufig die Differenzialdiagnose zum paralytischen Dünndarmileus. Die Sensitivität zur Beurteilung der Obstruktion hängt allerdings von deren Schweregrad ab: für hochgradige Obstruktionen beträgt sie 81%, aber nur 48% für geringgradige. Die Wertigkeit des CT liegt in der Beurteilung, ob eine Darmobstruktion oder Strangulation vorliegt, wo die Verschlussetage lokalisiert ist und welche Ursache zugrunde liegt. Ursachen: Adhäsionen (50%), Hernien und Neoplasmen (je 15%); selten kleine primäre Tumoren, peritoneale Absiedelungen, kurze ischämische oder entzündliche Strikturen.
CT-Morphologie der Obstruktion . Abb. 17.44. Sonographischer Querschnitt; teilthrombosiertes, infrarenales Aortenaneurysma; äußere Aortenbegrenzung (gefiederter Pfeil), freies Lumen (schwarzer Pfeil), T Thrombus
Proximal dilatierte Dünndarmschlingen, typischerweise über 3 cm im Durchmesser, mit einer Übergangszone zum normalkalibrigen Dünndarm. Das absolute Kaliber des Darms ist ein
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
unzuverlässiges Kriterium, da eine Darmdilatation sowohl auf einer Paralyse als auch auf einer Obstruktion beruhen kann. Aus diesem Grund ist der Nachweis der Übergangszone der kritische Faktor für die Diagnose [43]. Die dilatierten Dünndarmschlingen orientieren sich entlang der Achse des Dünndarmmesenteriums (distale Dünndarmschlingen liegen weiter kranial als die proximalen Schlingen). Nasogastrische Sonden verursachen gelegentlich diagnostische Probleme, da durch Dekompression der proximalen Dünndarmschlingen das typische diagnostische Muster der Obstruktion verschleiert wird. Wenn einmal die Diagnose der Dünndarmobstruktion gestellt worden ist, gilt es, das Niveau der Obstruktion zu definieren. Hierdurch kann in 47–85% der Fälle die Ursache geklärt werden. Durch eine zusätzliche Dünnschichtuntersuchung mit 5 mm Schichtdicke in der Übergangszone kann evtl. eine obstruierende Raumforderung, Hernie oder andere Veränderung identifiziert werden. Eine Adhäsion kann dann vermutet werden, wenn keine anderen Ursachen vorliegen.
Inkarzeration Eine Inkarzeration (»Closed-loop-Obstruktion«) ist eine mechanische Obstruktion, bei der Darm und Mesenterium gemeinsam eingeklemmt sind. Adhäsionen und Hernien verursachen die Mehrzahl der Fälle. Da die Inkarzeration zu einer Ischämie führen kann, wird diese Konstellation als chirurgischer Notfall angesehen. Das CT-Erscheinungsbild variiert, abhängig von der Länge und dem Grad der Distention des betroffenen Dünndarmsegments. CT-Kriterien für eine Inkarzeration sind das Bild einer mechanischen Obstruktion mit flüssigkeitsgefüllten, dilatierten Dünndarmschlingen in radialer, c- oder u-förmiger Konfiguration und zusätzlich zum Punkt der Obstruktion konvergierend verlaufenden Mesenterialgefäßen [43].
. Abb. 17.46a, b. Patient, 64 Jahre, akutes Abdomen, Dünndarminfarzierung: a CT mit KM auf Höhe des Azetabulums: intramurale Gasansammlungen im Dünndarm (Pneumatosis intestinalis; Pfeile). b Oberbauch-CT mit KM: intrahepatische portalvenöse Gasansammlungen (Pfeil)
Strangulationsobstruktion und Darmischämie
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Die Strangulationsobstruktion ist als eine Inkarzeration mit Darmischämie definiert. Es handelt sich um einen chirurgischen Notfall mit Mortalitätsraten von 20–37%. Im Vergleich dazu beträgt die Mortalitätsrate 5–8% für die nicht-strangulierende Obstruktion. Die CT-Kriterien für Dünndarmstrangulation sind ähnlich denen, die für die Diagnose einer Dünndarmischämie verwendet werden. Die CT-Verdachtsdiagnose einer Strangulationsobstruktion darf gestellt werden, wenn 2 oder mehr der folgenden Zeichen der Darmischämie in Verbindung mit deutlichen Hinweisen für eine Inkarzeration vorliegen: 4 Darmwandverdickung (über 3 mm) mit oder ohne konzentrisches Ring-Enhancement (»Target- oder Halozeichen«), 4 Pneumatosis intestinalis, 4 erhöhte Dichte der Darmwand auf nativen Scans, üblicherweise >20 Houndsfield-Einheiten (HE), 4 portalvenöse oder mesenteriale Gasansammlungen, Unschärfe des Mesenteriums, Blutung oder Flüssigkeit, oftmals assoziiert mit Aszites, 4 verringertes oder heterogenes Darmwand-Enhancement nach Kontrastmittelapplikation [51]. Am spezifischsten für die Diagnose einer intestinalen Ischämie ist der Nachweis von portalvenösem Gas und einer Pneumatose (. Abb. 17.46a, b). Eine Darmwandverdickung mit fakultativem ringförmigen Kontrastmittel-Enhancement kann auch bei entzündlichen Darmkrankungen, Appendizitis, Divertikulitis und chronischer Ischämie auftreten.
Obwohl die Sensitivität für die Diagnose einer intestinalen Ischämie relativ hoch ist, sind die radiologischen Zeichen oft nicht spezifisch und führen zu falsch-positiven Diagnosen. Neben einer Strangulationsobstruktion sind Gefäßverschlüsse (arterieller oder venöser Genese) und Hypoperfusion infolge nichtokklusiver Gefäßerkrankungen die häufigsten Ursachen einer Darmischämie. Die Computertomographie ist für die Diagnose einer primären mesenteriellen Ischämie nicht so sensitiv wie für die Diagnose einer Strangulationsobstruktion (Sensitivität, Spezifität und Genauigkeit: 64%, 92% und 75%). Das Vorliegen von arteriellen oder venösen Thrombosen, intramurales und portalvenöses Gas, fokal erniedrigtes Darmwand-Enhancement, Leber- und Milzinfarkte zeigen eine Spezifität von über 95% für die Diagnose einer akuten mesenteriellen Ischämie, die Sensitivität für jedes dieser Zeichen liegt jedoch unter 30% [51].
Paralytischer Ileus Hier zeigt sich häufig eine diffuse Dünndarmdilatation mit mäßiger Erweiterung des flüssigkeitsgefüllten rechten Kolons, typischerweise bis zum Niveau der Flexura hepatica reichend. Der Rest des Kolons zeigt normales Kaliber ohne den Nachweis einer obstruierenden Raumforderung. Hochgradige Dilatation des rechten Kolons ohne bekannte chronische Ursache erfordert eine Abklärung mit Endoskopie oder Kontrastmitteleinlauf zum Ausschluss einer Raumforderung.
219 17.13 · Computertomographie
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17.13.2 Kolitis
17.13.3 Abszess
Da die CT intraluminale, intramurale und extraluminale perienterische Krankheitskomponenten nachweisen kann, ist sie hervorragend zur Beurteilung einer entzündlichen Darmerkrankung geeignet.
CT ist die Methode der Wahl zur Diagnose eines intraabdominellen Prozesses mit einer Genauigkeit von über 90%. Zusätzlich kann mit perkutaner Drainage eine interventionelle Therapie durchgeführt werden (. Abb. 17.47a, b, 17.48a, b). Schwierig ist die computertomographische Differenzierung von infizierten und sterilen Flüssigkeitsansammlungen, wodurch gelegentlich eine diagnostische Aspiration zur definitiven Diagnose notwendig wird. Flüssigkeitsgefüllte Darmschlingen können u. U. als Abszesse fehlinterpretiert werden. Abszessansammlungen erscheinen typischerweise als flüssigkeits- oder weichteildichte Formationen (0–40 HE), die einen raumfordernden Effekt auf benachbarte Strukturen ausüben [33]. Die Flüssigkeitsansammlung kann von einer dicken, irregulär konfigurierten Wand umgeben sein, die selten ein Kontrastmittel-Enhancement aufweist.
CT-Morphologie. Erkennbar ist eine verdickte Darmwand (normalerweise 1–3 mm) mit ringförmiger Kontrastmittelanfärbung (»Schießscheibenzeichen«). Das ringförmige Enhancement kann als Resultat eines submukösen Ödems, einer Entzündung oder bei Vorhandensein von Fett (typisch bei Colitis ulcerosa und M. Crohn) auftreten und spricht gegen neoplastische Veränderungen [28].
Neutropenische Kolitis Synonyme sind Typhlitis oder nekrotisierende Enteropathie. Hierbei handelt es sich um eine infektiöse Kolitis, die bei neutropenischen Patienten (typischerweise mit akuter Leukämie und Chemotherapie) auftritt. Das Zökum ist am häufigsten betroffen, wobei jedoch auch der Rest des Kolons und das distale Ileum involviert sein können. Der Terminus »Typhlitis« sollte nur verwendet werden, wenn die Erkrankung auf das Zökum beschränkt ist. Sind auch andere Darmabschnitte betroffen, ist der Begriff einer nekrotisierenden Enteropathie oder nekrotisierenden Enterokolitis angebracht. Komplikationen sind die transmurale Nekrose und Perforation. CT-Morphologie. Diese ist oft unspezifisch – konzentrische
Wandverdickung mit intramuralem Ödem, Nekrose, perikolische Flüssigkeitsansammlung, Faszienverdickung und Pneumatosis (schlechte Prognose; [32]). Differenzialdiagnostisch sollten entzündliche Prozesse im rechten unteren Quadranten, Ischämie, intramurale Blutung, rechtsseitige Divertikulitis, perforierende Fremdkörper und Appendizitis in Erwägung gezogen werden.
Pseudomembranöse Kolitis Die häufigste Ursache liegt in antibiotischer Therapie. Durch Veränderung der Darmflora (Clostridium difficile) und Produktion eines Enterotoxins entwickeln sich Ödeme und Ulzerationen der Kolonschleimhaut, die mit Pseudomembranen belegt werden. Ohne Behandlung kann die pseudomembranöse Kolitis zu einem toxischen Megakolon mit intestinaler Perforation und Peritonitis führen. Obwohl die CT gut zur Erkennung dieser Erkrankung geeignet ist, schließt eine normale Untersuchung (bis zu 30%) die Diagnose nicht aus, sodass Stuhlkultur und Kolonoskopie mit Biopsie zum Nachweis notwendig sein können [29].
. Abb. 17.47a, b. Patientin, 60 Jahre, septisches Zustandsbild 10 Tage nach rechter Hemihepatektomie; a CT-Schnitt mit KM-Infusion: breiter Pleuraerguss rechts ( ), subphrenische Flüssigkeitsretention an der Resektionsfläche (*), Splenomegalie (gefiederter Pfeil); Punktion (Pus) und perkutane Drainage von dorsolateral; bakteriologisch E. coli; b CTKontrolle nach Entfieberung (3. Tag), 2 Drains in situ; Retention entleert (keine operative Revision) l
CT-Morphologie. Erkennbar ist eine Pan- oder Segmentkolitis mit unterschiedlich starker Wandverdickung. Die zirkumferente oder exzentrische Darmwandverdickung wird durch ein submuköses Ödem verursacht, das ein glattes, irreguläres oder polypöses Erscheinungsbild hervorrufen kann. Die Schleimhautoberfläche kann ebenfalls eine unregelmäßige, unscharfe Kontur aufweisen, verursacht durch Mukosaplaques oder noduläres Ödem. Murales Enhancement ist typischerweise vorhanden; die relativ spärlichen perikolischen Entzündungszeichen in Verbindung mit der beträchtlichen Darmwandverdickung helfen, die pseudomembranöse Kolitis von anderen Kolitiden zu unterscheiden.
220
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Abb. 17.49. Patient, 39 Jahre, Zustand nach Aneurysmablutung A. renalis links, Zustand nach Embolisation. Nativ-CT auf Höhe des kleinen Beckens: retroperitoneales Hämatom (Pfeil), Embolisationsmaterial (offener Pfeil)
. Abb. 17.48a, b. Patientin, 49 Jahre; Status nach nekrotisierender Pankreatitis und mehr fachen operativen Revisionen, offenes Laparostoma, hohes Fieber (seit 17 Wochen auf der Intensivbehandlungsstation); a CT-Schnitt mit KM-Infusion in der oberen Beckenebene; beidseitig am M. iliacus Abszesse mit KM-Anfärbung der Ränder (*); perkutane Drainage (8-Charr.-Trokartechnik); b CT-Kontrolle nach 36 h (fieber frei, sinkende Leukozytenzahl); gute Drainage (Pfeil), Abszesse entleert (bakteriologisch St. Aureus)
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Trotz dieser Tatsache ist die Durchführung einer kontrastmittelverstärkten CT indiziert, da evtl. vorhandene intrahepatische pyogene Abszesse besser identifiziert werden können. In der Läsion gelegene Gasansammlungen, die bei 30–50% der Abszesse nachweisbar sind, machen die Diagnose sehr wahrscheinlich, obwohl sterile Nekrosen ein ähnliches Erscheinungsbild aufweisen können. Candida-Infektionen in Leber und Milz manifestieren sich mit multiplen, kleinen (2–20 mm im Durchmesser) Läsionen mit niedriger Dichte und diffusem Verteilungsmuster. Die Läsionen können schießscheibenartige Konfigurationen aufweisen. Differenzialdiagnostisch muss auch an Metastasen und septische Emboli (Milz) gedacht werden.
lediglich bei anämischen Patienten kann die Dichte unter 20 HE liegen. Geronnenes Blut hat eine höhere Dichte (60 HE) als fließendes Blut oder ein in Lyse befindlicher Thrombus. Die fokale Ansammlung von geronnenem Blut ist ein wichtiger Hinweis für die Verletzung eines parenchymatösen Organs. Arterielle Extravasationen erscheinen typischerweise als fokale Flüssigkeitsansammlungen mit hoher Dichte (80–130 HE), die von einem Hämatom niedrigerer Dichte umgeben sind [37]. Aktive Extravasation zeigt die höchste Dichte (120–170 HE).
Retroperitoneale Blutung CT ist die Methode der Wahl zur Evaluierung einer retroperitonealen Blutung. Zusätzlich zur Detektion, Quantifizierung und Lokalisation zeigt die kontrastmittelverstärkte CT auch die Ursache der Blutung und ermöglicht eine Planung des weiteren klinischen Vorgehens. Ursachen: Trauma, Aneurysma, (. Abb. 17.49), vaskuläre Tumoren, Antikoagulation und Langzeitdialyse. CT-Morphologie. Retroperitoneale Hämatome erscheinen als
Weichteilformationen mit einer Dichte von über 30 HE, die benachbarte retroperitoneale Strukturen komprimieren oder maskieren. 17.13.5 Hypovolämischer Schock CT-Morphologie. Vasokonstriktion (schmale Aorta, mesenteriale
17.13.4 Blutung
Gefäße und V. cava inferior), Abnahme der Milzgröße und Dichte (Vasokonstriktion der A. lienalis), dichtes Nierenparenchym, (fast) keine renale Exkretion, wandverdickte, flüssigkeitsgefüllte Dünndarmschlingen mit beträchtlichem Wand-Enhancement.
Intraabdominelle Blutung
17.13.6 Cholezystitis
CT-Morphologie. Das Erscheinungsbild freien intraperitonealen
Bluts variiert abhängig von Alter und Größe der Blutung. Die meisten akuten Blutungen haben eine Dichte von über 30 HE,
Obwohl die Sonographie die Methode der Wahl zur Erkennung der Cholelithiasis und akuten Cholezystitis ist, verbleiben für die
221 17.13 · Computertomographie
CT insbesondere bei eingeschränkten Untersuchungsbedingungen Indikationen zur Abklärung dieser Fragestellung.
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ma, bilioenterische Anastomosen oder Sphinkterotomie müssen ausgeschlossen sein).
Akute Cholezystitis mit Konkrement (»kalkulös«) Bei einer Obstruktion des Ductus cysticus durch einen Gallenstein kommt es zur Gallenstase mit Gallenblasenerweiterung, Wandischämie und Epithelschädigung.
17.13.7 Milz
CT-Morphologie. Cholelithiasis, Verdickung, noduläres oder sub-
! Cave Eine normal große Milz überragt gewöhnlich nicht die mittlere Axillarlinie.
seröses Ödem der Gallenblasenwand, schlechte Abgrenzbarkeit zwischen Gallenblase und der Leber, pericholezystische Flüssigkeitsansammlungen, Gallenblasendilatation (über 5 cm), erhöhte Dichte der intraluminalen Galle (>20 HE), der Gallenblase benachbart verstärkte, entzündlich bedingte Leberparenchymanfärbung [31]. Obwohl die Verdichtung der Gallenblasenwand das am häufigsten gefundene Zeichen der CT-Untersuchung ist, ist sie leider nicht spezifisch und kann bei zahlreichen anderen Erkrankungen wie Hypoproteinämie, Hepatitis und Herzvitien gesehen werden. Falls vorhanden, treten die meisten pericholezystitischen Abszesse in der Nähe vom Gallenblasenfundus auf, weil dieser aufgrund seiner eingeschränkten Blutversorgung für die Perforation empfindlicher ist.
Akute Cholezystitis ohne Konkrement (»akalkulös«) Ischämie, Gallenstase und chemische Veränderungen werden als Entzündungsursache postuliert, die genaue Pathogenese ist jedoch unklar. Gallenblasennekrose ist eine häufige Komplikation; zum Zeitpunkt des chirurgischen Eingriffes bestehen bei 40–100% der Patienten fortgeschrittene Erkrankungsstadien, die sich durch Gallenblasenperforation, Gangrän oder Empyem manifestieren. Deswegen sind die Mortalitätsraten der akuten akalkulösen Cholezystitis mit 10–50% signifikant höher als für die akute kalkulöse Cholezystitis (1% [47]).
Die Formvariabilität erschwert eine Größenabschätzung der Milz in der CT. Allerdings gilt:
Das Parenchym stellt sich im Nativscan homogen mit einer Dichte von 45 HE dar. Nach Kontrastmittelgabe zeigt die Milz eine typische scheckige Parenchymanfärbung (entsprechend der Trabekel- und Pulpastruktur), die nach 90–120 s homogen wird. Zystische Prozesse sind selten und in der Mehrzahl parasitären Ursprungs. Plasmozytom und maligne Lymphome können vom Milzparenchym ausgehen, sonst sind primäre Milztumoren (Hämangiom, Lymphangiom) selten. Akute und chronische Infekte führen zu einer stark ausgeprägten Splenomegalie, granulomatöse Entzündungen (z. B. Sarkoidose) zeigen nur eine mäßige Vergrößerung. Schwierig ist die Abgrenzung eines Abszesses gegen ältere Hämatome oder Pseudozysten, wenn die pathognomonischen Gasbläschen fehlen.
Milztrauma Am häufigsten treten Milzverletzungen nach stumpfem Bauchtrauma auf. Bei Splenomegalie (z. B. im Rahmen einer Mononukleose) kann auch ein geringes Trauma zur Ruptur führen. Obligat ist die Suche nach Begleitverletzungen von Leber, Niere, Pankreas und Skelett. CT-Morphologie. Im frischen Stadium kann das Hämatom im
CT-Morphologie. Hauptkriterien: Wandverdickung über 4 mm,
pericholezystitische Flüssigkeit, subseröses Ödem bei Abwesenheit von Aszites und intramurale Gasansammlungen. Nebenkriterien: Gallenblasenerweiterung und hyperdense Galle. Bei Vorliegen von 2 Haupt- oder einem Haupt- und 2 Nebenkriterien reichen die Literaturangaben über die Sensitivität von 50–100%. Eine normale Gallenblasenwanddicke (<4 mm) schließt signifikante intramurale Entzündungen, Blutung oder Gangrän nicht aus. Pathologische Untersuchungen fanden eine normale Gallenblasenwand bei bis zu 33% der Patienten mit akalkulöser Cholezystitis.
Vergleich zum Parenchym isodens erscheinen. Ältere Hämatome sind hypodens. Bei subkapsulärer Lage zeigt sich eine Verformung und Impression des Parenchyms durch das oft sichelförmig konfigurierte Hämatom. Intraparenchymale Einblutungen kommen als unregelmäßig begrenzte Areale zur Darstellung. Freie intraabdominelle Flüssigkeit zeigt eine Milzruptur an. Weiterhin gilt: i Besteht der Verdacht auf eine Milzverletzung, so sollte die CT-Untersuchung mit Kontrastmittelserie erfolgen, um isodense, ansonsten maskierte Parenchymeinrisse erkennen zu können.
Gangränöse Cholezystitis
17.13.8 Akute Pankreatitis
Die gangränöse Cholezystitis ist eine ungewöhnliche und schwere Form der Cholezystitis, verursacht durch gasbildende Mikroorganismen. Die gangränöse Cholezystitis tritt, im Gegensatz zur kalkulösen, häufiger bei Männern auf, wobei Gallenblasensteine oft fehlen. 38% der betroffenen Patienten sind Diabetiker. Als initiales schädigende Agens wird ein Verschluss der A. cystica diskutiert, der zu einer Ischämie, Nekrose und Infektion der Gallenblase führt. Eine rasche Diagnosestellung ist wichtig, da das Risiko einer Gallenblasenperforation hier ca. 5-mal höher als bei der akuten kalkulösen Cholezystitis ist.
Die akute Pankreatitis bietet ein breites Spektrum klinischer und radiologischer Zeichen, die stark vom Verlauf und Schweregrad der Erkrankung abhängen. Ursachen: 90% der Fälle treten bei biliären Erkrankungen und Alkoholismus auf. Bei chirurgischen Intensivpatienten – speziell nach Herzoperationen – kann die Pankreatitis Resultat einer intra- oder perioperativen Hypotension sein. Sensitivität und Genauigkeit der CT-Untersuchung variieren, abhängig vom Schweregrad der Erkrankung.
CT-Morphologie. Nachweis von Gas in der Gallenblasenwand, typischerweise erst 24–48 h nach Beginn der Cholezystitis. Gas kann auch im Lumen der Gallenblase identifiziert werden (Trau-
CT-Morphologie Milde Verlaufsform. Bis zu 14% der Patienten zeigen einen nor-
malen CT-Untersuchungsbefund. Pankreasvergrößerung ist die
222
17
Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
. Abb. 17.50a, b. Patient, 43 Jahre, klinisch und laborchemisch akute Pankreatitis; a sonographischer Querschnitt durch Pankreaskopf-Korpus-Region: inhomogene Echostruktur des vergrößerten Organs (dicker weißer Pfeil V. portae, * Aorta); b CT-Schnitt mit KM-Infusion: ödematösseröse Pankreatitis; inhomogene Struktur, verminderte Anfärbung, hypodense Flüssigkeitsansammlung peripankreatisch (weiße Pfeile; gefiederter Pfeil V. lienalis; * Aorta mit Abgang der A. mesenterica superior)
früheste Abnormität; obwohl diese typischerweise diffus auftritt (. Abb. 17.50a, b), wird in 18% der Fälle eine segmentale Vergrößerung (am häufigsten im Kopfbereich) beobachtet [28]. Zunehmender Schweregrad. Peripankreatische Weichteilent-
zündung, verdickte peripankreatische Faszien und heterogenes Enhancement des Pankreasparenchyms. Assoziierte Rupturen der pankreatischen Ductuli führen zur Bildung intra- und extrapankreatischer Flüssigkeitsansammlungen (Blut, pankreatische Enzyme und Debris). Diese akuten Flüssigkeitsansammlungen haben per Definition keine entzündliche Kapsel oder Wand. Obwohl extrapankreatische Flüssigkeitsansammlungen am häufigsten direkt dem Parenchym benachbart sind, können sie auch im gesamten Peritoneum verteilt auftreten, in solide abdominelle Organe eindringen oder sich in entferntere anatomische Kompartimente ausbreiten (Thorax, Mediastinum, Pleura, Hals, Perikard).
. Abb. 17.51a, b. Patient, 26 Jahre, alkoholinduzierte Pankreatitis, Schockzustand; präoperatives CT-Staging; a CT-Schnitt mit KM-Infusion in Höhe des unteren Nierenpols rechts; nekrotisierende Pankreatitis; b Schemaskizze zum CT-Schnitt: 1 Aorta, 2 V. cava inferior, 3 unterer Nierenpol, 4 Unterrand rechter Leberlappen, 5 Darm, teils luftgefüllt mit Wandverdickung (Ödem), 6 »Nekrosestraße« im vorderen Pararenalraum beidseitig, 7 »Nekrosestraße« retrokolisch links
Akute Flüssigkeitsansammlungen, die bei 40–50% der Patienten mit akuter Pankreatitis auftreten, bilden sich in 50% der Fälle spontan zurück. Wenn sie persistieren, können sie sich zu pankreatischen Pseudozysten entwickeln. Per Definition ist die Pseudozyste eine Flüssigkeitsansammlung mit einer gut abgrenzbaren fibrösen Wand oder Kapsel, die sich bis zu 4 Wochen nach Beginn der Entzündung gebildet hat. 50% der pankreatischen Pseudozysten unter 5 cm Durchmesser zeigen eine spontane Rückbildungstendenz. Der Rest bleibt unverändert, kann jedoch auch eine Größenprogredienz aufweisen und zu Komplikationen führen: Pseudoaneurysmen, venöse Okklusion, biliäre und gastrointestinale Obstruktion und Invasion solider Organe. Die Pseudozyste kann sich auch infizieren (pankreatischer Abszess) oder bluten. Schwerer nekrotisierender Verlauf. Normalerweise zeigt das Parenchym nach intravenöser Kontrastmittelgabe ein homogenes Enhancement mit einer Dichte von 100–150 HE. Die Pankreasnekrose ist definiert als eine fokale oder diffuse Region verminderten oder fehlenden Enhancements (unter 50 HE; . Abb. 17.51a, b). Die Treffsicherheit im Erkennen der Nekrose ist abhängig vom Grad der Pankreasbeteiligung mit Raten zwischen 80 und
223 Literatur
. Tabelle 17.4. CT-Severity-Index (CTSI) Grad
Kriterien
A
Normal
B
Fokale oder diffuse Pankreasvergrößerung
C
Abnormitäten, assoziiert mit peripankreatischer Entzündung
D
Einzelne kleine Flüssigkeitsansammlung
E
2 oder mehr Flüssigkeits- und/oder Gasansammlungen
Den CT-Graden A–E wird ein Nummernscore von 0–4 zugewiesen. Dazu werden 2, 4 oder 6 Punkte addiert, wenn assoziierte Nekroseareale mit einem Anteil von <30%, 30–50% oder von >50% auftreten. Der CTSI-Score korreliert mit der Patientenmorbidität und Mortalität: 4 CTSI-Score 0–1: keine Morbidität und Mortalität 4 CTSI-Score 7–10: Morbidität 92%, Mortalität 17%
90%. Obwohl die CT-Spezifität zur Nekrosedetektion in Fällen, in denen mehr als 30% des Parenchyms betroffen sind, 100% beträgt, fällt sie auf 50% in kleinen Arealen avitalen Parenchyms ab. Die Erkennung der Nekrose ist klinisch wichtig, da sie mit höherer Morbidität und Mortalität korreliert. Die Morbiditätsund Mortalitätsraten betragen 6% und 0% in Fällen ohne pankreatische Nekrose und bis zu 94% bzw. 29% in Fällen von mehr als 30% Organnekrose. Zusätzlich zur Erkennung steriler Pseudozysten und Pankreasnekrosen ist die CT hilfreich zur Differenzierung gegenüber infizierten Pseudozysten (pankreatischer Abszess) und der infizierten Pankreasnekrose. Ein Pankreasabszess ist definiert als eine umschriebene infizierte intra- oder extrapankreatische Flüssigkeitsansammlung. 30–40% dieser Fälle enthalten Gas, dies ist jedoch nicht spezifisch, und die definitive Diagnose, sowohl des Pankreasabszesses als auch der infizierten Nekrose, wird durch Aspiration getroffen. Während die infizierte Pankreasnekrose zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung auftreten kann, entsteht der pankreatische Abszess üblicherweise erst ab 4 Wochen nach Erkrankung. Die infizierte Pankreasnekrose ist definiert als Infektion nekrotischen intra- oder peripankreatischen Gewebes, das ebenfalls Gas enthalten kann. Die Differenzierung zwischen infizierter und steriler Nekrose ist von Bedeutung, da die Mortalität der infizierten Nekrose (39–67%) signifikant höher als bei der sterilen Nekrose (13–14%) ist.
CT-Severity-Index Um die prognostische Wertigkeit der Kontrast-CT-Untersuchung bei akuter Pankreatitis zu erhöhen, wurde ein CT-Severity-Index (CTSI) entwickelt. Dieser Index kombiniert eine CTGraduierung mit der Ausdehnung der peripankreatischen Nekrose (. Tab. 17.4).
CT-Untersuchungen: Wann und wie häufig? Die Notwendigkeit und Frequenz der CT-Untersuchung bei Patienten mit akuter Pankreatitis variiert mit dem Schweregrad der Erkrankung.
17
Initiale CT-Untersuchung. Sie ist indiziert bei jedem Patienten
mit dem klinischen Bild einer schweren Pankreatitis; ebenso bei Patienten, die nach 72 h kein Ansprechen auf eine konservative Therapie zeigen, Patienten mit plötzlicher Verschlechterung der Klinik trotz initialem Ansprechen auf die Therapie und Patienten mit komplikationsverdächtiger Klinik. Verlaufskontrollen. Bei der Interpretation der Verlaufskontrollen ist es wichtig zu wissen, dass der bildmäßige Rückgang der Entzündung im Vergleich mit dem klinisch deutlich gebesserten Zustandsbild verzögert auftritt. Keine Indikation: Bei Patienten mit Pankreatitis Grad A‒C (CTSI-Score 0–2), die auf eine Therapie angesprochen haben und bei denen keine Komplikation vermutet wird. Kontrollen nach 7–10 Tagen und je nach klinischer Notwendigkeit: bei Patienten mit Pankreatitis Grad D bis E (CTSI-Score 3–
10). Diese Patienten sollten vor der Entlassung zum Ausschluss klinisch unauffälliger Krankheitskomplikationen und Nachweis partieller oder kompletter Auflösung der pankreatitischen Entzündung untersucht werden.
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Kapitel 17 · Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
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18 Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde C. Wrede
18.1
Über wachung des Wasser- und Elektrolytstoffwechsels
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.1.6 18.1.7
Natrium –226 Osmolalität –226 Kalium –226 Kalzium –227 Phosphat –227 Chlorid –228 Magnesium –228
18.2
Über wachung des Säure-Basen-Haushaltes
18.3
Über wachung von Organsystemen mittels Enzymdiagnostik und weiteren Messgrößen der Serumchemie –228
18.3.1 18.3.2
Enzyme und weitere Stoffwechselmessgrößen –229 Organsysteme –230
18.4
Über wachung des blutbildenden Systems und der Gerinnung
18.4.1 18.4.2
Überwachung des blutbildenden Systems –231 Überwachung der Gerinnung –231
18.5
Über wachung des Hormonhaushaltes
18.5.1 18.5.2 18.5.3
Kortisol –234 Schilddrüsenhormone –234 Wachstumshormon und Gonadotropine
18.6
Über wachung des Stoffwechsels
18.6.1 18.6.2
Stoffwechseladaptation bei kritisch Kranken –235 Grundzüge und Monitoring der Ernährung –235
Literatur –237
–233
–234
–234
–226
–228
–231
226
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
18.1
Überwachung des Wasserund Elektrolytstoffwechsels
Etwa 50% des Körpergewichts bei Männern und 60% bei Frauen besteht aus Wasser, wovon 2/3 intrazellulär lokalisiert sind. Die Regulation der Flüssigkeitszufuhr erfolgt über den Durst, während die Ausfuhr neben Verlusten über Schwitzen und Oxidationswasser hauptsächlich über die Niere reguliert wird. Der Hydratationszustand des Körpers hängt hierbei von seiner Natriummenge ab, während die Osmolalität über das antidiuretische Hormon gesteuert wird (. Tab. 18.1). Bei Intensivpatienten findet einerseits häufig eine Sollwertverstellung der Regelkreise statt, andererseits können möglicher weise Kompensationsmechanismen bei intensivpflichtigen Patienten, z. B. durch Fehlen von Durst, eingeschränkte Nierenfunktion sowie durch die Menge und Art der zugeführten Infusionslösungen nicht greifen. Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes sind daher bei kritisch kranken Patienten häufig. 18.1.1 Natrium
18
Das Serumnatrium wird entweder flammenphotometrisch oder mittels natriumselektiver Elektroden bestimmt. Eine Hyponatriämie ist die häufigste Elektrolytstörung, wobei zur weiteren Differenzierung die Serumosmolalität bestimmt werden sollte. Iso- und hyperosmolare Hyponatriämien kommen durch eine Ingestion von isotonen natriumarmen Flüssigkeiten oder durch die Anwesenheit osmotisch wirksamer Substanzen wie Mannit oder Glukose zustande. So führt eine Erhöhung des Blutzuckers um 100 mg/dl zu einer Erniedrigung des Serumnatriums um etwa 2 mmol/l. Die meisten Hyponatriämien sind hypoosmolar und werden anhand des Volumenstatus des Patienten in hyper-, iso- und hypovolämische Formen unterschieden. Ursache einer isovolämischen hypoosmolaren Hyponatriämie ist im Wesentlichen das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH), wobei die Sollwertverstellung des Regelkreislaufs zu einer ADH-Ausschüttung mit Wasserretention und erhöhter Urinosmolalität trotz erniedrigtem Serumnatrium und Osmolalität führt. Die hypovolämischen hypoosmolaren Hyponatriämien sind durch einen Natriumverlust gekennzeichnet, der stärker als der Wasserverlust ist und z. B. durch Thiaziddiuretika, Aldosteronmangel oder Diarrhöen ausgelöst werden kann. Dagegen haben
Patienten mit hypervolämischen hypoosmolaren Hyponatriämien Ödeme, aber gleichzeitig einen intravasalen Volumenmangel. Dies führt einerseits zu einer Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) mit erhöhter Natriumresorption, andererseits zu einer verstärkten ADH-Sekretion mit Wasserresorption, wobei die Wasserresorption relativ überwiegt und eine Dilutionshyponatriämie resultiert (. Abb. 18.1). Dies ist beispielsweise bei Leberzirrhose, Herzinsuffizienz oder nephrotischem Syndrom der Fall [17]. Eine Hypernatriämie kann beispielsweise durch eine fehlende ADH-Wirkung (zentraler oder renaler Diabetes insipidus) mit resultierender Wasserdiurese verursacht werden. Eine mangelnde Flüssigkeitszufuhr oder die Infusion natriumhaltiger Infusionen, z. B. Natriumbikarbonat, führt nur bei Patienten mit fehlendem Durstempfinden, z. B. aufgrund von Sedierung oder zerebralen Prozessen, zu einer klinisch relevanten Hypernatriämie. 18.1.2 Osmolalität Die Osmolalität in Serum und Urin gibt die Konzentration osmotisch aktiver Teilchen in 1 kg Flüssigkeit an und wird durch eine Gefrierpunkterniedrigung mittels Osmometer bestimmt. Die Plasmaosmolalität ist wesentlich zur Beurteilung des Hydratationszustandes (. Tab. 18.1), setzt sich normalerweise aus den Konzentrationen von Elektrolyten, Harnstoff und Glukose zusammen und kann nach der folgenden Formel errechnet werden: mosmol/kg=2*Na [mmol/l]+Glukose [mmol/l] +Harnstoff [mmol/l]
Bei einer Abweichung der errechneten von der gemessenen Osmolalität liegt eine osmotische Lücke vor, die durch andere osmotisch aktive Teilchen, z. B. bei Stoffwechselentgleisungen mit Laktatproduktion oder bei Vergiftungen, hervorgerufen wird. Die Osmolalität von Serum und Urin muss in der Zusammenschau mit dem Serumnatrium (7 Kap. 18.1.1) interpretiert werden. 18.1.3 Kalium Das Serumkalium wird analog zur Natriumbestimmung flammenphotometrisch oder mit Hilfe einer kaliumsensitiven Elek-
. Tabelle 18.1. Osmo-/Wasser-Regulation und Volumen-/Natrium-Regulation. (Nach [11]) Osmoregulation
Natriumregulation
Kontrolliert werden:
Plasmaosmolalität
Effektives extrazelluläres Volumen
Sensoren
Hypothalamische Osmorezeptoren
Carotissinus, afferente renale Arteriolen, Vorhöfe
Effektoren
ADH-Freisetzung, Durstempfinden
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, Sympathikus, ANP, auch ADH
Reguliert werden:
Urinosmolalität, Trinkverhalten (über Durstempfinden)
Urinnatriumausscheidung
227 18.1 · Überwachung des Wasser- und Elektrolytstoffwechsels
18
. Abb. 18.1. Osmoregulation und Volumenregulation über ADH und das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS)
trode gemessen. Falsch erhöhte Werte kommen aufgrund der hohen Kaliumkonzentration der Erythrozyten durch Hämolyse der Probe, aber auch durch zu langes Stauen der Venen bei der Blutabnahme durch eine muskuläre Kaliumfreisetzung zustande. 98% des Kaliums befinden sich intrazellulär, der extrazelluläre Anteil wird renal reguliert. Veränderungen des Serumkaliums werden daher entweder durch eine Verschiebung zwischen intra- und extrazellulärem Raum oder aufgrund einer veränderten renalen Kaliumausscheidung verursacht, selten können auch gastrointestinale Kaliumverluste auftreten. Kalium wird nach intrazellulär über die Na+-K+-ATPase aufgenommen, bei extrazellulärer Azidose steht jedoch aufgrund des Austauschs von Na+ und H+ weniger extrazelluläres Na zur Verfügung, K+ verbleibt im Extrazellulärraum, und es entsteht eine Hyperkaliämie. Insulin und Katecholamine stimulieren die Na+-K+-ATPase, was zu einer erhöhten Aufnahme von K+ in die Zelle führt und therapeutisch mit der Gabe von Insulin und Glukose bei Hyperkaliämie genutzt wird. Hyperkaliämien sind überwiegend durch Nierenfunktionseinschränkungen verursacht und gehen dann laborchemisch mit einem Anstieg von Kreatinin und Harnstoff einher. Insbesondere in der Intensivmedizin ist ursächlich auch an eine Nebenniereninsuffizienz mit verminderter Aldosteronwirkung, an einen Insulinmangel mit Hyperglykämie und eine akute Azidose zu denken. Hypokaliämien lassen sich anhand der Kaliumausscheidung im Urin klassifizieren, hierbei weist eine Ausscheidung unter 15 mmol/Tag auf enterale Flüssigkeitsverluste oder eine Kaliumverschiebung nach intrazellulär, z. B. bei Alkalose, hin. Ausscheidungen über 25 mmol/Tag sprechen für einen renalen Kaliumverlust, wobei im Bereich der Intensivmedizin eine Diuretikatherapie, chronische Nephritiden und eine polyurische Phase nach akutem Nierenversagen häufige Ursachen darstellen. Differenzialdiagnostisch sollte jedoch auch eine Aldosteronüberproduktion, z. B. bei einem Conn-Syndrom, in Erwägung gezogen werden.
Albumin erfolgt, und weitere 5% liegt an Anionen gebunden vor. Das Gesamtkalzium kann flammenphotometrisch, photometrisch oder mittels Atomabsorptionsspektroskopie gemessen werden, während das ionisierte Kalzium durch kalziumsensitive Elektroden bestimmt wird. Das Gesamtkalzium und das ionisierte Kalzium entsprechen sich meist in ihrer diagnostischen Aussage. Veränderungen des ionisierten Anteils können jedoch durch Verschiebungen des pH-Werts und der Höhe des Proteinanteils im Blut verursacht sein. So führt eine Alkalose, z. B. bei Hyperventilation, zu einer Erniedrigung des ionisierten Kalziums. Zur Beurteilung des ionisierten Anteils bei Veränderungen des Proteinanteils kann das Gesamtkalzium nach der Formel von Payne auf einen Albuminwert von 40 g/l standardisiert werden:
Korrigiertes Kalzium [mmol/l]=gemessenes Kalzium [mmol/l]–(0,025*Albumin [g/l])+1,0
Etwa 98% des Gesamtkalziums liegen im Knochen als Kalziumphosphatsalze vor. Die Regulation von Kalzium und Phosphat erfolgt über Parathormon und Vitamin D. Zur Beurteilung einer Störung des Kalziumstoffwechsels muss daher zumindest auch die Bestimmung des Phosphats erfolgen. Verminderungen des Gesamtkalziums aufgrund pathologischer Albuminkonzentrationen sind häufig auf einer Intensivstation. Weitere häufigere Ursachen einer Hypokalzämie sind akute Pankreatitiden und Diuretika. Eine Hypokalzämie kann auch auf einen sekundären Hyperparathyreoidismus bei chronischer Niereninsuffizienz hinweisen. Hyperkalzämien finden sich beispielsweise bei Knochenmetastasen, paraneoplastisch über eine Ausschüttung parathormonähnlicher Peptide, bei Immobilisationsosteoporosen, bei einem primären Hyperparathyreoidismus, Vitamin-D-Intoxikation, Sarkoidose und unter Therapie mit Thiaziddiuretika. 18.1.5 Phosphat
18.1.4 Kalzium Etwa 50% des Serumkalziums liegt in ionisierter Form vor, welches den biologisch aktiven Anteil darstellt. 45% des Kalziums ist an Proteine gebunden, wobei die Bindung überwiegend an
Die Messung von anorganischem Phosphat erfolgt durch Überführung in einen Molybdänsäurekomplex und anschließender photometrischer Bestimmung. Etwa 1 g Phosphat wird täglich über das Duodenum und Jejunum aufgenommen und über die
228
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
Nieren ausgeschieden. Phosphat ist hauptsächlich im Skelettsystem gespeichert und dient als Baustein für die energiereichen Phosphatverbindungen ATP und GTP. Parathormon senkt den Phosphatspiegel, während Vitamin D den Spiegel erhöht. Störungen der Phosphatserumspiegel sind bei Intensivpatienten häufig. Hyperphosphatämien treten hauptsächlich bei Nierenfunktionseinschränkungen auf, während Hypophosphatämien eher bei Sepsis, respiratorischer Alkalose, parenteraler Ernährung und kontinuierlicher Hämofiltration vorkommen und zu Kardiomyopathien, respiratorischer Insuffizienz und Funktionsstörungen des Nervensystems führen [6]. Das Monitoring des Phosphatspiegels mit entsprechender Substitution erscheint daher bei intensivpflichtigen Patienten sinnvoll. 18.1.6 Chlorid Die Bestimmung von Chlorid kann photometrisch, coulometrisch oder über selektive Elektroden erfolgen. Chlorid stellt das Gegenion des Natriums dar (7 Kap. 18.1.1) und folgt diesem passiv. Aus Gründen der Elektroneutralität muss darüber hinaus die Chloridkonzentration abnehmen, wenn andere negativ geladene Ionen vermehrt sind, z. B. bei einer metabolischen Alkalose mit Zunahme des Bikarbonats. Eine Zunahme anderer negativ geladener Ionen kann mit der sog. Anionenlücke berechnet werden: Anionenlücke=Na+[mmol/l]–Cl– [mmol/l]–HCO3– [mmol/l] (Referenzbereich 8–16 mmol/l)
Eine vergrößerte Anionenlücke kann durch ein erhöhtes Laktat, durch Ketonkörper und Vergiftungen auftreten. Eine routinemäßige Bestimmung von Chlorid ist bei gleichzeitigem Monitoring von Natrium, Blutgasen und Laktat nicht notwendig. 18.1.7 Magnesium
18
Magnesium wird mittels Atomabsorptionsspektroskopie oder photometrisch gemessen. Nur etwa 1% des Körperbestandes findet sich im Serum. Magnesium ist das zweithäufigste intrazelluläre Kation und liegt dort überwiegend an ATP gebunden vor. Durch Aktivierung der Na+-K+-ATPase senkt Magnesium den Kaliumspiegel und hemmt die intrazelluläre Kalziumbereitstellung. Hypomagnesiämien können beispielsweise bei parenteraler Ernährung, Polyurie und akuter Pankreatitis auftreten und mit Herzrhythmusstörungen und neuromuskulären Symptomen einhergehen [16]. Hypermagnesiämien finden sich überwiegend bei chronischer Niereninsuffizienz. Symptome wie Muskelschwäche oder Bradykardie treten erst bei hohen Serumspiegeln auf und sind selten. Pharmakologisch wird Magnesium auch bei normalen Serumspiegeln in der Intensivmedizin zur Therapie von Herzrhythmusstörungen und Muskelkrämpfen eingesetzt. 18.2
Überwachung des Säure-Basen-Haushaltes
Im Körper fallen große Mengen an Säuren an, die mit Puffersystemen transportiert und über die Lunge und Niere ausgeschieden werden. Das Stoffwechselendprodukt CO2 ist eine flüchtige Säu-
re, die zum Teil physikalisch im Blut gelöst und zum Teil an Hämoglobin gebunden ist. Ein weiterer Teil wird im Erythrozyten durch die Carboanhydrase in H2CO3 umgewandelt, welches vollständig in H+ und Bikarbonat dissoziiert. Die entstehenden H+Ionen werden an Hämoglobin gebunden. In der Lunge entsteht aus den gebundenen H+-Ionen und Bikarbonat wieder CO2, das zusammen mit dem physikalisch gelösten und an Hämoglobin gebundenen CO2 abgeatmet wird [2]. Durch anaerobe Glykolyse entsteht im Stoffwechsel Milchsäure, die bei einem physiologischen pH-Wert vollständig zu H+-Ionen und Laktat dissoziiert. H+ wird an die Bikarbonatpuffersysteme im Blut gebunden, während Laktat zur Leber transportiert und dort unter H+-Verbrauch wieder zu Milchsäure umgebaut wird. Hierbei entsteht Bikarbonat, das in der Lunge zusammen mit H+ wieder als CO2 abgegeben werden kann. Bei Leberinsuffizienz erfolgt die Umwandlung in Bikarbonat nicht in ausreichendem Maß, und die H+-Ionen akkumulieren. Die Ausscheidung muss dann über die Niere erfolgen, die im Vergleich zur Lunge eine deutlich geringere Eliminationskapazität aufweist. Die Blutgasanalyse ermittelt üblicherweise die Werte für den Kohlendioxidpartialdruck pCO2, den pH-Wert und den Sauerstoffpartialdruck pO2. Nach der Henderson-Hasselbalch-Gleichung:
pH=6,1+log
[HCO–3] [0,03*pCO2]
kann aus diesen Werten das Bikarbonat errechnet werden. Die Basenabweichung (»base excess«, BE) gibt an, wieviel mmol an Base oder Säure titriert werden muss, um einen pH-Wert von 7,4 und einen pCO2 von 40 mmHg zu erreichen. Der BE errechnet sich aus: BE [mmol/l]=(HCO–3–24,6)+16,2*(pH –7,4)
Anhand des pH-Wertes, des Bikarbonats und des pCO2 kann ermittelt werden, ob eine primär respiratorische, eine primär metabolische oder eine gemischte Störung vorliegt (. Abb. 18.2). Metabolische Störungen werden respiratorisch kompensiert, was zu einer gleichsinnigen Veränderung von pH-Wert, Bikarbonat und kompensatorisch von pCO2 führt. Respiratorische Störungen führen zu einer metabolischen Kompensation, die jedoch langsamer als eine respiratorische Kompensation abläuft und mehrere Tage beanspruchen kann. Diese Mechanismen erfordern eine Funktionsfähigkeit des kompensierenden Organs, also der Lunge oder der Niere. 18.3
Überwachung von Organsystemen mittels Enzymdiagnostik und weiteren Messgrößen der Serumchemie
Die Bestimmung von Enzymen im Serum ermöglicht Rückschlüsse auf Schädigungen verschiedener Organsysteme, die sowohl primär im Rahmen der Grundkrankheit als auch sekundär im Rahmen der Intensivtherapie auftreten können. Die Höhe des Enzymanstiegs, der Zeitverlauf sowie das Verhältnis der Enzyme zueinander können einerseits den Ort der Schädigung lokalisieren und andererseits auch Hinweise auf die Ätiologie der Schädigung geben.
229 18.3 · Überwachung von Organsystemen mittels Enzymdiagnostik und weiteren Messgrößen
18
Knochen, die Dünndarm- und Gallengangs-AP sind normalerweise klinisch zu vernachlässigen. Sehr hohe AP-Werte sprechen für eine Knochen-AP. Die Differenzierung der Isoenzyme sollte jedoch speziellen Fragestellungen vorenthalten bleiben, weil die Bestimmung weiterer Enzyme (z. B. J-GT) schneller und klinisch sinnvoller ist. Die J-Glutamyl-Transferase (J-GT) findet sich an den Zellmembranen von Hepatozyten, in geringerer Menge auch auf anderen sekretorisch aktiven Epithelien. Die Halbwertszeit liegt bei 9–20 h, die Ausscheidung erfolgt biliär. Die hepatische Synthese kann durch Cholestase, Alkoholgenuss und Medikamente, z. B. Phenytoin, induziert werden. Dieser Mechanismus wird auch für die Erhöhung der J-GT durch Lebertumoren, bei Regeneration und bei tumorbedingter Kompression normalen Lebergewebes verantwortlich gemacht.
Bilirubin, Cholinesterase
. Abb. 18.2. Nomogramm zur Beurteilung des Säure-Basen-Haushaltes. Der Schnittpunkt zwischen der Verbindungslinie »Nullpunkt – Aktuelle Bikarbonatkonzentration« und der horizontalen Linie auf Höhe des aktuellen pH-Werts ergibt die Diagnose. Die Straßen reflektieren den Streubereich primärer Saure-Basen-Veränderungen (N Normbereich). (Aus [2]).
18.3.1 Enzyme und weitere
Stoffwechselmessgrößen Transaminasen (GOT, GPT) Die Glutamat-Oxalazetat-Transaminase (GOT, auch AspartatAminotransferase; ASAT) katalysiert die Übertragung der 2Aminogruppe von Aspartat auf 2-Oxoglutarat, während die Glutamat-Pyruvat-Transaminase (GPT, auch Alanin-Aminotransferase; ALAT) die 2-Aminogruppe von Alanin auf 2-Oxoglutarat überträgt. Die Bestimmung beider Enzyme erfolgt meist mittels eines kinetischen UV-Tests, bei der die Produkte Oxalazetat bzw. Pyruvat enzymatisch unter Verbrauch von NADH2 umgesetzt werden. Die Transaminierungsreaktionen sind an der Synthese und dem Umbau von Aminosäuren beteiligt und finden in Leber sowie Skelett- und Herzmuskulatur statt. Die GOT hat in allen diesen Organen eine hohe spezifische Aktivität, ist überwiegend mitochondrial lokalisiert und hat eine Halbwertszeit von 17 h, während die GPT, ein zytoplasmatisches Enzym, überwiegend in der Leber lokalisiert ist und eine Halbwertszeit von 47 h aufweist. Akute und chronische Schädigungen der Leber führen zu einem Anstieg von GOT und GPT, während Schädigungen der Herz- und Skelettmuskulatur überwiegend einen Anstieg der GOT verursachen (7 Kap. 18.3.2).
Alkalische Phosphatase (AP), γ-Glutamyl-Transferase (γ-GT) Die im Serum bestimmte alkalische Phosphatase (AP) besteht aus verschiedenen genetisch determinierten Isoenzymen, die in weitere postgenetische Formen unterteilt werden können. Bei Gesunden stammt die Serum-AP überwiegend aus Leber und
Der überwiegende Teil des Bilirubins entsteht durch den Abbau von Hämoglobin, ein geringerer Teil durch den Abbau anderer Häm-haltiger Proteine. Unkonjugiertes Bilirubin liegt im Serum an Albumin gebunden vor, welches in den Hepatozyten auf intrazelluläre Transportproteine übertragen, anschließend glukuronidiert und in einem energieabhängigen Prozess in die Galle ausgeschieden wird. Glukuronidiertes, direktes Bilirubin ist gut wasserlöslich und findet sich normalerweise nicht im Serum, das Auftreten weist auf eine Cholestase oder eine akute Schädigung des Leberparenchyms hin. Im Darm wird glukuronidiertes Bilirubin teilweise bakteriell in Urobilinogen umgewandelt, das im enterohepatischen Kreislauf reabsorbiert wird, ein Teil wird über die Niere ausgeschieden. Anhand des Verhältnisses zwischen konjugiertem und unkonjugiertem Bilirubin kann die Ursache einer Hyperbilirubinämie meist als prä-, intra- oder posthepatisch eingestuft werden. Die im Serum gemessene Cholinesterase (CHE)-Aktivität entstammt fast ausschließlich der Pseudocholinesterase, die in der Leber synthetisiert wird und die freie Cholinkonzentration steuert. Die Halbwertszeit beträgt 5–12 Tage. Die CHE-Synthese ist an die Albuminsynthese gekoppelt, weshalb die Beurteilung pathologischer Werte in Zusammenhang mit dem Serumalbumin erfolgen muss. Eine gleichsinnige Erniedrigung weist auf eine Leberschädigung, eine (reaktive) Erhöhung der CHE bei erniedrigtem Albumin auf einen renalen oder enteralen Eiweißverlust hin. Eine Erniedrigung der CHE bei normalem Albumin kann auf eine atypische Form der Cholinesterase, die zu einer verlängerten Wirkung von Succinylcholin führen kann, oder auf eine Intoxikation, z. B. mit Alkylphosphaten, hinweisen.
Laktat-Dehydrogenase (LDH), HydroxybutyratDehydrogenase (HBDH) Die Laktat-Dehydrogenase (LDH) ist eine zytosolisch lokalisierte, ubiquitär verbreitete Enzymfamilie, welche die Reaktion von Laktat zu Pyruvat katalysiert. Es werden 5 Isoenzyme unterschieden, die unterschiedliche Gewebsverteilung und Halbwertszeiten haben.Die Hydroxybutyrat-Dehydrogenase (HBDH) entspricht der LDH1. Eine Erhöhung der LDH kann anhand der Isoenzyme in ein anodisches Muster (LDH1/LDH2; aus Myokard, Erythrozyten und Niere), ein kathodisches Muster (LDH4/LDH5; Leber, Skelettmuskel und maligne Gewebe) und ein intermediäres Muster (LDH3; lymphatische Gewebe, Thrombozyten, maligne Gewebe) unterschieden werden. Erhöhungen der LDH finden sich bei einem erhöhten Zelluntergang. Bei der Klärung der Her-
230
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
kunft helfen die Bestimmungen weiterer Enzyme und das klinische Bild. Eine Differenzierung der Isoenzyme ist nur in seltenen Fällen indiziert.
Creatinkinase (CK) Die Creatinkinase ist durch die mitochondriale Synthese von Creatinphosphat wesentlich an der Energieversorgung der Gewebe beteiligt. Es lassen sich die Isoenzyme CK-MM (Skelettmuskulatur), CK-MB (Myokard) und CK-BB (Gehirn) abgegrenzen. Eine Makro-CK kann durch Bindung spezifischer Immunglobuline an die CK-MM entstehen (Makro-CK Typ 1), eine andere Möglichkeit ist die Bildung von Oligomeren der selteneren CKMiMi (Makro-CK Typ 2). Die Bestimmung der Gesamt-CK erfolgt enzymatisch, während die Bestimmung der CK-MB durch einen Immuninhibitionstest erfolgt. Hierbei werden die CK-MUntereinheiten im Messansatz durch Antikörper gehemmt und die verbleibende Restaktivität gemessen. Diese entspricht normalerweise der CK-B und wird dann für die Angabe der CK-MBAktivität mit 2 multipliziert. Bei Vorliegen einer nicht hemmbaren Makro-CK ist die berechnete Aktivität der CK-MB falsch zu hoch und teilweise höher als die Gesamt-CK. Erhöhte CK-Werte finden sich bei Schädigungen der Skelettund der Herzmuskulatur, wobei ein Anteil der CK-MB von >6% als beweisend für eine myokardiale Ursache gilt. Schwere Erkrankungen einschließlich maligner Tumoren, hämatologischer und zerebraler Erkrankungen können bei gleichzeitig vorliegender Störung der Blut-Hirn-Schranke ebenfalls zu einer CK-Erhöhung führen.
Lipase, Amylase Die Lipase wird in den pankreatischen Azinuszellen sezerniert und tritt bei einer Permeabilitätsstörung, ausgelöst durch eine Pankreatitis, in das Blut über. Nach einem Schmerzereignis dauert es etwa 6 h, bis eine Erhöhung der Lipase im Serum zu finden ist. Amylasen werden im Pankreas und Speichel und in geringerem Umfang auch im Ovar und Eileiter gebildet. Die Bestimmung im Serum ist daher weniger selektiv als die Bestimmung der Lipase, Erhöhungen werden auch bei Parotitis, Salpingitis und Extrauteringravidität gefunden. Die Bestimmung der Lipase und Amylase ist bei wachen Patienten nur zur Abklärung abdomineller Schmerzen und nicht als Screening-Untersuchung geeignet. Bei sedierten Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Pankreatitis kann jedoch eine häufigere Bestimmung der Lipase oder Amylase sinnvoll sein.
18
Kreatinin und Harnstoff Kreatinin ist das Abbauprodukt des energiereichen Kreatinphosphats, das in der Muskulatur gespeichert wird. Die Kreatininmenge im Organismus ist daher von der Muskelmasse abhängig. Kreatinin wird fast vollständig glomerulär filtriert und kann daher zur Abschätzung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) herangezogen werden. Aufgrund der hyperbolen Kurve zwischen Kreatinin und GFR bleibt der Kreatininwert jedoch bis zu einer 50%igen Einschränkung der GFR im Normbereich. Zu einer genaueren Abschätzung der GFR können weitere Faktoren einberechnet werden, die auf die Kreatininkonzentration Einfluss haben. Hierzu gehört eine mittlerweile weit verbreitete Formel, die in der MDRD-Studie (Modification of Diet in Renal Disease) evaluiert wurde und neben dem Kreatininwert Alter, Geschlecht und Hautfarbe einbezieht. Der GFR-Wert nach MDRD ist jedoch bei kritisch kranken Patienten bislang nicht
evaluiert. Zudem kann durch einen niedrigeren Kreatininwert bei längerem Intensivaufenthalt und Katabolismus mit reduzierter Muskelmasse die GFR deutlich überschätzt werden. Die Begriffe Harnstoff und Harnstoff-N (BUN, »blood urea nitrogen«) werden oft nebeneinander benutzt, wobei der Harnstoff aus dem Harnstoff-N berechnet werden kann (7 Kap. 18.6.2). Harnstoff ist das Endprodukt des Protein- und Aminosäurenabbaus, das in der Leber gebildet und über die Nieren ausgeschieden wird. Während die Rückresorption im proximalen Tubulus unabhängig von der Flussrate des Primärharns ist, steigt die Resorption im distalen Tubulus unter Antidiurese. Dies erklärt den stärkeren Anstieg von Harnstoff im Vergleich zu Kreatinin bei reduzierter Urinmenge, und zwar sowohl bei chronischer Niereninsuffizienz als auch bei Exsikkose. Die Harnstoffkonzentration im Serum wird neben der renalen Ausscheidung von Harnstoff durch die Bildungsrate in der Leber bestimmt. Eine katabole Stoffwechsellage führt zu einem stärkeren Anfall von Stickstoff aus dem Abbau von Strukturproteinen und damit zu erhöhten Harnstoffwerten (7 Kap. 18.6.2). Andererseits hat eine Einschränkung der Lebersyntheseleistung eine reduzierte Harnstoffproduktionsrate und damit niedrigere Serumspiegel zur Folge. 18.3.2 Organsysteme
Herz und Kreislauf, Muskulatur Als spezifische kardiale Laborparameter werden die CK-MB (7 Kap. 18.3.1), die Troponine sowie das »brain natriuretic peptide« (BNP) angesehen. Bei einem Myokardinfarkt findet sich in der Reihenfolge des Auftretens eine Erhöhung des Troponins, gefolgt von einer CK-Erhöhung mit erhöhtem relativem CK-MBAnteil (>6%) und einer Erhöhung der Transaminasen mit führender GOT (De-Ritis-Quotient [GOT/GPT] >1; 7 Kap. 18.3.1). Eine akute Rechts- oder Linksherzbelastung kann jedoch ebenfalls zu einem Anstieg des Troponins und über eine Leberstauung zu einem Transaminasenanstieg führen. Zur Klärung der Ursache von Dyspnoe kann das BNP beitragen, da kardiale Ursachen bei Werten >500 Pg/ml wahrscheinlich sind [13]. Lungenembolien gehen bei Rechtsherzbelastung mit einer Erhöhung von Troponin und BNP einher, laborchemisch ist hier v. a. die Erhöhung der D-Dimere relevant. Erkrankungen der Skelettmuskulatur sind häufig mit Erhöhungen der CK assoziiert, jedoch können insbesondere endokrine Myopathien ohne CK-Erhöhung bleiben. Für rheumatologische Ursachen einer Myopathie ist als Suchtest die Bestimmung der antinukleären Antikörper (ANA) geeignet.
Leber Akute Lebererkrankungen wie beispielsweise akute Hepatitiden gehen mit einer Erhöhung der Transaminasen einher, wobei die zytoplasmatische Schädigung bei akuten Virushepatitiden ausgeprägt und daher die GOT niedriger als die GPT ist (De-RitisQuotient <0,7). Stärkere, oft irreversible Schädigungen der Hepatozyten, z. B. bei chronischen Hepatitiden, führen zu einem De-Ritis-Quotienten >1. Ein toxischer Leberschaden, z. B. bei einer Paracetamol- oder Amantidin-Intoxikation, oder eine akute Hypoxie, z. B. bei Schock oder Leberinfarkt, führen aufgrund der massiven Zellschädigung neben einem hohen De-Ritis-Quotienten auch zu einem starken Anstieg der LDH und der GLDH.
231 18.4 · Überwachung des blutbildenden Systems und der Gerinnung
Erkrankungen der ableitenden Gallenwege, z. B. Verschlussikterus, sowie cholestatische Verläufe von Virushepatitiden sind mit einer stärkeren Erhöhung der AP, J-GT und des Bilirubins assoziiert.
Gastrointestinaltrakt Gastrointestinale Störungen gehen oft mit Elektrolytveränderungen und Veränderungen des Säure-Basen-Haushalts einher. Zum Beispiel können Diarrhöen zu Hypokaliämien führen und Malabsorptionssyndrome einen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen hervorrufen. Durchblutungsstörungen des Darms, z. B. bei Mesenterialinfarkt oder hohen Katecholamindosen, sind durch eine vermehrte Laktatbildung mit konsekutiver Laktatazidose gekennzeichnet.
Niere und Harnwege Eine Einschränkung der Nierenfunktion ist entweder auf ein akutes Nierenversagen oder eine vorbestehende chronische Niereninsuffizienz zurückzuführen, die sich im Rahmen der intensivpflichtigen Erkrankung verschlechtern kann. Ein akutes prärenales Nierenversagen ist oft mit anderen Schockorganen, z. B. einer Schockleber, assoziiert. Durch die hypoxische Tubulusschädigung ist häufig auch eine intrarenale Komponente beteiligt (7 Kap. 60). Die Beurteilung der Nierenfunktion ist für die Auswahl und Dosierung einer Vielzahl von Medikamenten, insbesondere Antibiotika und Chemotherapeutika, wichtig. Zur Abschätzung ist die Bestimmung von Kreatinin und Harnstoff (7 Kap. 18.3.1) geeignet. Zur Abklärung der Genese einer Nierenfunktionseinschränkung sollte ein Urinsediment angefertigt werden. Eine Bakteriurie und Leukozyturie ist in der Regel auf einen Harnwegsinfekt zurückzuführen, Erythrozyten im Sediment können auf eine Pyelo- oder Glomerulonephritis, Blutungen und Tumoren im Urogenitaltrakt hinweisen. Der Nachweis von Zylindern im Sediment zeigt in der Regel eine renale Ursache der Störung an. Die Bestimmung der Urinosmolalität und des Urinnatriums kann zur Abklärung eines Diabetes insipidus bei Polyurie und zur Differenzialdiagnose der Oligurie beitragen. Bei Exsikkose oder hepatorenalem Syndrom liegt eine Konzentration des Urins mit hoher Urinosmolalität und niedrigem Urinnatrium vor, während bei akutem Nierenversagen, z. B. bei akuter Tubulusnekrose, aufgrund der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit die Urinosmolalität niedrig und das Urinnatrium hoch ist. 18.4
Überwachung des blutbildenden Systems und der Gerinnung
Die Überwachung des blutbildenden Systems und der Gerinnung zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Labordiagnostik von Intensivpatienten. 18.4.1 Über wachung des blutbildenden Systems Erythrozytenzahlen und Hb-Werte ober- oder unterhalb der 2-fachen Standardabweichung eines Normalkollektivs werden als Polyglobulien bzw. Anämien bezeichnet. Der Hb-Wert und der Hämatokrit verhalten sich in der Regel gleichsinnig mit der Erythrozytenzahl. Alle diese Parameter sind auf ein definiertes
18
Blutvolumen bezogen und ändern sich daher bei einem gleichzeitigen Verlust der anderen Blutbestandteile, wie z. B. bei akuten Blutungen, zunächst nicht, obwohl die Erythrozytenmasse des Körpers abnimmt. Andererseits verursachen Änderungen des Plasmavolumens, z. B. bei Hämokonzentration oder -dilution, eine Änderung der Erythrozytenzahl trotz gleich bleibender Erythrozytenmasse des Körpers, was als relative Anämie oder Polyglobulie bezeichnet wird. Anämien können anhand ihrer Genese in hypo- und hyperregenerative Anämien eingeteilt werden. Hyperregenerative Anämien haben als Zeichen einer verstärkten reaktiven Blutbildung im Knochenmark eine erhöhte Ausschwemmung von Retikulozyten in das periphere Blut. Dies kann bei Blutungsanämien und Anämien mit intravasaler Hämolyse nachgewiesen werden. Bei Letzteren findet sich laborchemisch eine Erhöhung der LDH als Zeichen des Zellumsatzes, ein erhöhtes (indirektes) Bilirubin sowie ein erniedrigtes Haptoglobulin und ggf. Hämopexin durch die Bindung von Hämoglobin. Je nach Genese der Hämolyse können Erythrozytenantikörper mittels Coombs-Test nachgewiesen werden. Bei hyporegenerativen Anämien finden sich diese Laborveränderungen in der Regel nicht. Diese sind durch eine verminderte oder normale Retikulozytenzahl gekennzeichnet. Die Erythrozytenindizes zeigen das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen (MCV) und das mittlere korpuskuläre Erythrozytenhämoglobin (MCH) an und können auf die Ätiologie einer hyporegenerativen Anämie, z. B. einen Eisen- oder Folsäuremangel, hinweisen. Anämien sind bei intensivpflichtigen Patienten häufig, in einer europäischen Studie hatte 1/3 der Patienten Hämoglobinwerte <10 g/dl [19]. Ursachen sind Blutungen und tägliche Blutabnahmen, aber auch eine eingeschränkte Blutbildung, die möglicherweise auf einen zytokininduzierten Mangel an Erythropoetin zurückzuführen ist. Aufgrund der bisher vorliegenden Daten führt jedoch eine großzügige Transfusion von Erythrozytenkonzentraten nicht zu einer Verbesserung der Prognose intensivpflichtiger Patienten, sodass die Erreichung des Normbereichs nicht unbedingt anzustreben ist [7]. 18.4.2 Über wachung der Gerinnung Die Überwachung der Gerinnung hat zum Ziel, einerseits Blutungsneigungen rechtzeitig zu erkennen und Blutungen zu vermeiden und andererseits eine Hyperkoagulopathie mit Bildung von Thrombosen zu vermeiden (7 Kap. 22). Das Gerinnungssystem lässt sich in eine zelluläre und plasmatische Komponente unterteilen (. Abb. 18.3). Die laborchemische Überwachung der zellulären Komponente beschränkt sich weitgehend auf die Thrombozytenzahl und seltener auf Funktionstests, die in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Thrombozytopenie kann aufgrund von Bildungsstörungen oder von einem erhöhten Thrombozytenverbrauch auftreten. Differenzialdiagnostisch kommen bei den Bildungsstörungen Knochenmarkinfiltrationen durch maligne Erkrankungen, toxische Knochenmarkstörungen, z. B. durch vorangegangene Chemotherapie, Radiatio oder Alkoholismus, Vitamin-B12- oder Folsäuremangel, oder Virusinfekte mit Störung der Megakaryopoese in Frage. Laborchemisch kann die Bestimmung der retikulierten Thrombozyten weiterhelfen, die in solchen Fällen einer Thrombozytopenie normal bis erniedrigt sind. Ein erhöhter
232
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
. Abb. 18.3. Übersicht über die Blutgerinnung. Plasmatische Faktoren interagieren mit den zellulären Rezeptoren bei der Bildung eines Thrombus. Proteinkomplexe und Spaltprodukte von Plasmaproteinen können als Aktivierungsmarker verwendet werden. (Nach [15])
Thrombozytenverbrauch tritt bei Blutungen, nach Operationen, durch mechanische Schädigung der Thrombozyten, z. B. durch Hämodialysefilter, und immunologisch vermittelt auf. Zu den immunologisch vermittelten Ursachen können eine idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP), eine Heparin induzierte Thrombopenie (HIT), ein M. Moschkowitz und Reaktionen auf einer Vielzahl von Medikamenten (. Tab. 18.2) gerechnet werden. Die entsprechenden laborchemisch rasch notwendigen Untersuchungen sind die Bestimmung von Fragmentozyten im manuellen Differenzialblutbild zum Ausschluss eines M. Moschko-
witz und die Bestimmung der PF4-Antikörper zum Ausschluss einer HIT. Bei weiterhin ungeklärt niedrigen Thrombozytenzahlen sollte eine Pseudothrombozytopenie, die in vitro durch eine EDTA-vermittelte Aggregation der Thrombozyten auftreten kann, über die Bestimmung der Thrombozytenzahl im Zitratblut ausgeschlossen werden. Hauptbestandteil der plasmatischen Gerinnung ist die Bildung von Fibrin (Faktor I) aus löslichem Fibrinogen, wobei die Aktivierung von Thrombin (Faktor II) den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt darstellt. Der extrinsische Weg der Aktivierung wird durch die Freisetzung von Gewebefaktor (»tissue
. Tabelle 18.2. Medikamenteninduzierte Thrombozytopenie. (Mod. nach [20]) Medikamentenklasse
Substanzen
Mechanismus
Chemotherapeutika
Dosisabhängig, alle
Knochenmarkdepression
Heparine
Unfraktioniertes Heparin (ca. 1%), niedermolekulare Heparine (ca. 0,1%)
Immunologisch, Thrombozytenaggregation
Antibiotika, Antimykotika, Virustatika
Ampicillin, Ceftazidim, Ceftriaxon, Cefuroxim, Ciprofloxacin, Clarithromycin, Ethambutol, Gentamicin, Isoniazid, Penicillin, Piperacillin, Pyrazinamid, Rifampicin, Tobramycin, Vancomycin
Immunologisch
Amphotericin B, Fluconazol, Ganciclovir, Itraconazol, Trimethoprim/ Sulfmethoxazol
Knochenmarkdepression, unbekannt
Amiodaron, Captopril, Digoxin, Diltiazem, Enalapril, Furosemid, Hydrochlorothiazid, Lidocain, Methyldopa, Minoxidil, Nifedipin, Nitroglycerin, Nitroprussid, Ticlopidin
Immunologisch
Chlorothiazid
Knochenmarkdepression
Milrinon
Thrombozytenaggregation
Neuroleptika, Antidepressiva
Carbamazepin, Haloperidol, Phenobarbital, Phenytoin, Prochlorperazin, Valproinsäure
Immunologisch
Sedativa
Diazepam, Morphin
Immunologisch
Verschiedene
Abciximab, Azetazolamid, Allopurinol, Cocain, Cyclosporin, Diazoxid, Famotidin, Octreotid, Ondansetron, Prednison, Procainamid, Ranitidin
Immunologisch
Cimetidin, Inter feron-α
Knochenmarkdepression
Protamin
Thrombozytenaggregation
Herz-Kreislauf-Medikamente
18
18
233 18.5 · Überwachung des Hormonhaushaltes
Quick-Wert=
Gerinnungszeit Normalplasma *100 Gerinnungszeit Patientenplasma
Aufgrund der unterschiedlichen Aktivität der Thromboplastinpräparationen wird für jede Thromboplastincharge die Abweichung gegenüber dem WHO-Standard bestimmt. Mit diesem sog. ISI-Wert (»international sensitivity index«) wird der INRWert (»international normalized ratio«) bestimmt.
INR-Wert=
. Abb. 18.4. Aktivierung der plasmatischen Gerinnung über den intrinsischen und extrinsischen Weg
factor«, Thromboplastin, Faktor III) aus den Endothelzellen, Muskelzellen oder Monozyten initiiert. Es kommt in der Folge zur Bindung und Aktivierung von Faktor VII und Faktor X. Der intrinsische Weg beginnt bei der Kontaktaktivierung von Faktor XII, mit konsekutiver Aktivierung der Faktoren XI, IX, VIII und X. Die gemeinsame Endstrecke beider Wege besteht in der Bildung des Prothrombinasekomplexes aus Faktor Xa, Va, Phospholipiden und Kalzium. Die Synthese der Faktoren II, V, VII, IX und X ist Vitamin-K-abhängig. Den prokoagulatorischen Faktoren steht ein antikoagulatorisches System gegenüber. Antithrombin (AT III) bindet und inaktiviert die Faktoren Xa und Va. Über die Bindung an AT III wird auch der antikoagulatorische Effekt von Heparin vermittelt. Thrombomodulin wird von Endothelien exprimiert und bindet Thrombin. Dies führt zu einer veränderten Substratspezifität von Thrombin, welches statt Fibrinogen Protein C spaltet und aktiviert. Aktiviertes Protein C führt unter Beteiligung des Kofaktors Protein S zu einer Hemmung von Faktor Va und Faktor VIIIa (. Abb. 18.4; 7 Kap. 22). Unter physiologischen Bedingungen besteht ein Gleichgewicht zwischen dem plasmatischen Gerinnungssystem und dem fibrinolytischen System, welches für die Auflösung von intravasalen Fibrinablagerungen und Thromben verantwortlich ist. Das fibrinolytische System wird durch den Gewebeplasminogenaktivator (t-PA) und Urokinase aktiviert, welche die Bildung von Plasmin aus Plasminogen katalysieren. Plasmin spaltet und inaktiviert Fibrin, aber auch Fibrinogen, Faktor V und Faktor VIII. Die laborchemische Untersuchung der Gerinnung umfasst einerseits die Globaltests PTZ (Thromboplastinzeit, QuickWert) und PTT (partielle Thromboplastinzeit) und andererseits die Einzelfaktoranalysen. Der Quick-Wert überprüft das extrinsische Gerinnungssystem durch eine Aktivierung des Patientenplasmas mittels zugegebenem Thromboplastin. Die Zeit bis zur Fibrinbildung wird in Sekunden gemessen und als Prozentwert im Verhältnis zu dem Wert eines Normalplasmapools angegeben.
Gerinnungszeit Patientenplasma Gerinnungszeit Normalplasma
*ISI-Wert
Die Quick- und INR-Werte überprüfen die Aktivität der Vitamin-K-abhängigen Faktoren II, V, VII und X und sind daher für die Kontrolle einer Marcumar-Therapie sowie für die Abschätzung der Lebersyntheseleistung geeignet. Die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) verwendet zur Aktivierung der Gerinnung ein Thromboplastin ohne Proteinanteil (partielle TT), das zusätzlich mit einem Oberflächenaktivator versetzt wird (aktivierte PTT). Hierdurch werden die Faktoren XII und XI aktiviert und das intrinsische Gerinnungssystem überprüft. Die aPTT ist als Screeningtest geeignet, um die AT III-vermittelte Wirkung von unfraktioniertem Heparin auf die Faktoren XII, XI, IX, X und II zu beurteilen. Eine verlängerte aPTT zusammen mit einem unauffälligen Quick-Wert weist auf eine Hämophilie A und B (Faktor-VIII- bzw. -IX-Mangel) oder auf eine Hemmkörperhämophilie hin. Zum Nachweis einer Hämophilie ist anschließend die Analyse der Faktor-XIIIoder Faktor-IX-Aktivität notwendig. In der Intensivmedizin kann es im Rahmen einer Sepsis oder nach größeren Operationen zu einer disseminierten Aktivierung der Gerinnung (»disseminated intravasal coagulation«; DIC) kommen, die zu einem Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und gleichzeitiger Hyperfibrinolyse führt. Zum Monitoring und zur Abschätzung der Therapie bei DIC sollten regelmäßig neben den Globaltests der Gerinnung auch Fibrinogen, AT III sowie die DDimere als Fibrinspaltprodukte gemessen werden. Neben den erwähnten Einzelfaktorenanalysen von VIII und IX bei Hämophilie und Fibrinogen bei DIC spielt in der Intensivmedizin noch die Bestimmung von Faktor V zur Beurteilung der Lebersyntheseleistung eine Rolle (7 Kap. 22). Zusätzlich zu den oben angegebenen, im Labor durchgeführten Analyseverfahren werden zunehmend bettseitige Verfahren zur Beurteilung der Gerinnung eingesetzt. Diese Verfahren haben ihre Vorteile in einer raschen Durchführbarkeit und werden beispielsweise zur Steuerung einer Heparintherapie bei extrakorporaler Zirkulation angewandt. Einen Überblick über aktuell eingesetzte Verfahren gibt die . Tab. 18.3. 18.5
Überwachung des Hormonhaushaltes
Endokrinologische und metabolische Störungen gehören zu den wichtigen Begleitsymptomen kritisch kranker Patienten. Zu Beginn einer intensivpflichtigen Erkrankung kommt es in der Regel zu einer Aktivierung von hypophysenvorderlappenvermittelten Funktionen. Diese Veränderungen im hormonellen System
234
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
. Tabelle 18.3. Verfahren zum bettseitigen Management der plasmatischen Gerinnung. (Mod. nach [4]) Verfahren
Methode
Einsatzgebiet
ACT (»activated clotting time«)
Mit Kontaktphasenaktivator versetzte Messzelle, Verwendung von Vollblut (überprüft das intrinsische System)
Heparin-Management
HMS (Heparin-Management-System)
ACT in Kombination mit Protamin-Titration
Heparin-Management
aPTT und Thrombinzeit
Bettseitige Bestimmung
Marcumar-Kontrolle, Globaltests
ECT (»ecarin clotting time«)
Direkte Prothrombin-Aktivierung, nur geringe HeparinEmpfindlichkeit
Management direkter Thrombininhibitoren
Thrombelastographie, Rotationsthrombelastographie
Aktivierung von Zitratblut mit Aufzeichnung der Gerinnungszeit und Clotfestigkeit, verschiedene Aktivatoren
Globaltest der Gerinnung und Fibrinolyse
können auch als neuroendokrines Stresssyndrom bezeichnet werden. In einer nachfolgenden, chronischen Phase kann es zu einer reduzierten hypothalamischen Aktivierung des Hypophysenvorderlappens kommen, die zusammen mit anderen Faktoren zu einer verminderten Produktion der peripheren Hormone führt. Ob diese Veränderungen einen protektiven Mechanismus oder eine Maladaptation darstellen, wird kontrovers diskutiert [3]. Über diese Veränderungen des Hormonhaushaltes bei kritisch kranken Patienten hinaus können natürlich auch primäre endokrine Erkrankungen bei intensivpflichtigen Patienten vorliegen. 18.5.1 Kor tisol
18
Die Kortisolproduktion ist bei intensivpflichtigen Patienten zunächst aufgrund einer erhöhten Ausschüttung des adrenokortikotropen Hormons (ACTH) gesteigert, wobei die Höhe der Kortisolspiegel die Schwere der Erkrankung reflektiert. In der darauf folgenden chronischen Phase sinken die ACTH-Spiegel ab, die Kortisolspiegel können jedoch weiterhin erhöht sein. Bei manchen kritisch kranken Patienten decken diese Hormonspiegel den Kortisolbedarf nicht, was als relative Nebennierenrindeninsuffizienz angesehen wird. Das Vorliegen einer relativen Nebennierenrindeninsuffizienz ist bei intensivpflichtigen Patienten mit einer schlechteren Prognose vergesellschaftet. Die pathogenetischen Mechanismen werden auf die Wirkungen von Entzündungsmediatoren zurückgeführt, welche u. a. im Rahmen einer Sepsis stark erhöht sind (7 Kap. 63). Die Nebennierenrindenfunktion sollte vor oder während einer Therapie mit Hydrocortison mit einem ACTH-Test überprüft werden. Der in der endokrinologischen Diagnostik etablierte ACTH-Test mit Gabe von 250 Pg synthetischem ACTH i.v. und Bestimmung des Basal- und stimulierten Wertes nach 30 min oder 60 min wird auch zur Überprüfung einer relativen Nebenniereninsuffizienz eingesetzt, wobei jedoch supraphysiologische ACTH-Werte erreicht werden. Ein niedrig dosierter Test mit 1 Pg ACTH ist physiologischer, jedoch auch störanfälliger und derzeit nicht ausreichend validiert [1]. Eine Nebenniereninsuffizienz, z. B. aufgrund einer langdauernden Steroidtherapie oder von Nebennierenprozessen, wird ebenfalls mittels ACTH-Test festgestellt. Diagnostisch hilfreich können neben den klinischen Zeichen auch eine Hyponatriämie und Hyperkaliämie sowie eine Lymphozytose mit Eosinophilie im Blutbild sein.
18.5.2 Schilddrüsenhormone Veränderungen der Schilddrüsenhormone bei kritisch kranken Patienten werden als Low-T3-Syndrom oder »nonthyroidal illness syndrome« (NTIS) bezeichnet. Das NTIS ist häufig und tritt rasch nach Operationen und schweren Erkrankungen, aber auch nach Fasten auf. Bei schwer erkrankten Patienten ist oft auch T4 im Serum erniedrigt, das TSH kann dabei normal, erniedrigt oder auch erhöht sein. Das NTIS ist mit einer erhöhten Mortalität vergesellschaftet, wobei eine zusätzliche Erniedrigung von fT4 oder TSH mit einer weiteren Verschlechterung der Prognose einhergeht. Die Abgrenzung einer Hyper- oder Hypothyreose von einem NTIS kann bei Intensivpatienten schwierig sein und erfordert bei Vorliegen eines pathologischen TSH-Werts die Bestimmung der peripheren Schilddrüsenhormone (7 Kap. 58). 18.5.3 Wachstumshormon und Gonadotropine Sepsis oder Traumata resultieren oft in einer Wachstumshormon (GH)-Resistenz mit hohen GH-Konzentrationen und reduzierten IGF-1-Spiegeln, es gibt jedoch auch Belege für eine Verminderung der GH-Level bei kritisch kranken Patienten. Die Therapie mit Wachstumshormon führte in kleineren Studien zwar zu einer positiven Stickstoffbilanz, größere klinische Studien mit intensivpflichtigen Patienten zeigten jedoch eine erhöhte Mortalität unter einer solchen Therapie. Die Gabe von GH ist daher außer bei Verbrennungspatienten und bei Aids-Patienten mit Wasting obsolet. Indikationen für eine Bestimmung von GH oder IGF-1 bestehen somit bei Intensivpatienten nicht. Gonadotropine und Androgene können bei kritisch kranken Patienten deutlich absinken, während Östrogene eher ansteigen. Therapeutische Konsequenzen aus diesen Veränderungen ergaben sich für den klinischen Alltag bislang jedoch nicht. 18.6
Überwachung des Stoffwechsels
Bereits seit über 100 Jahren ist bekannt, dass die Anpassung des menschlichen Organismus an schwere systemische Infektionen, Traumata oder auch Operationen mit charakteristischen hämodynamischen, metabolischen und immunologischen Veränderungen des Stoffwechsels einhergeht. Diese Anpassungsmechanismen werden als Postaggressionsstoffwechsel bezeichnet und
235 18.6 · Überwachung des Stoffwechsels
18
Myosin in der Muskulatur entfällt. Die freiwerdenden Aminosäuren werden teilweise in der Peripherie als Energiequelle und für den Proteinneuaufbau genutzt, zum größeren Teil jedoch als Alanin und Glutamin über das Blut zur Leber transportiert. Dort werden die Aminosäuren zum Teil zur Neusynthese von Akut-Phase-Proteinen verwendet, im Wesentlichen werden die glukogenen Aminosäuren jedoch zur Neusynthese von Glukose benötigt, wobei der freiwerdende Stickstoff durch die Harnstoffsynthese gebunden und über den Urin ausgeschieden wird. Die Glukoneogenese aus glukogenen Aminosäuren ist bei kritisch kranken Patienten durch Zytokine und eine hepatische Insulinresistenz fixiert und daher im Gegensatz zum Hungerzustand durch eine exogene Glukosezufuhr nicht supprimierbar. Dies trägt zusammen mit einer peripheren Insulinresistenz zur Erhöhung der Blutglukose bei diesen Patienten bei (. Abb. 18.6).
. Abb. 18.5. Veränderungen des Triglyzeridmetabolismus im Postagressionsstoffwechsel
sind auf eine Aufrechterhaltung der Homöostase ausgelegt, wobei der Strukturerhalt des Körpers zunächst sekundär ist. Die Veränderungen lassen sich anhand des zeitlichen Verlaufs in charakteristische Phasen einteilen ([8]; 7 Kap. 20): 4 eine sog. Akutphase oder »Ebb-Phase« in den ersten 24–72 h und 4 eine Übergangs- und Reparationsphase oder »Flow-Phase«. 18.6.1 Stoffwechseladaptation bei kritisch
Kranken Die Stoffwechseladaptationen in der Akutphase der intensivpflichtigen Erkrankung werden durch die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol und Glukagon, durch eine Erhöhung proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin-1 und TNF-D und durch die Freisetzung bakterieller Endotoxine hervorgerufen. Diese Faktoren bewirken eine Mobilisierung von Energiedepots, wobei zunächst die Glykogenspeicher in Leber und Muskel aufgebraucht werden. Die Glykogenreserven sind jedoch begrenzt und können lediglich die ersten 24 h zur Produktion von Blutglukose beitragen. Weitere Möglichkeiten zur Mobilisierung von Energie stellen die Lipolyse und Proteolyse dar. Die Lipolyse stellt quantitativ den größten Anteil an der Bereitstellung der Energie. Triglyzeride aus den Fettdepots werden durch die hormonsensitive Lipase in Glyzerin und Fettsäuren gespalten und in die Blutzirkulation abgegeben. In der Leber wird Glyzerin in den Zitratzyklus zur Glukoneogenese eingeschleust und die Fettsäuren hauptsächlich der E-Oxidation zugeführt, in geringerem Ausmaß aber auch wieder verestert und als VLDL-Partikel in die Zirkulation abgegeben. Diese VLDL-Partikel können in der Peripherie aufgrund einer TNF-induzierten Reduktion der Lipoproteinlipaseaktivität nicht in vollem Ausmaß als Energieträger verwendet werden (. Abb. 18.5). Dieser Mechanismus ist einerseits für die Erhöhung der Serumtriglyzeride, andererseits auch zum Teil für den gesteigerten Energieumsatz kritisch kranker Patienten im Sinne eines »Triglyzerid-Fettsäure-Zyklus« mit Nettoenergieverbrauch verantwortlich. Die Proteolyse führt zu einem Abbau von Strukturproteinen, wobei der quantitativ größte Anteil auf den Abbau von Aktin und
18.6.2 Grundzüge und Monitoring der Ernährung Der Beginn und die Durchführung einer künstlichen Ernährung bei intensivpflichtigen Patienten sind von mehreren Faktoren abhängig. Grundsätzlich ist bei Patienten mit normalem Ernährungszustand keine künstliche Ernährung notwendig, wenn die zu erwartende Dauer der Nahrungskarenz unter 3 Tagen liegt. Wenn ein längerer Zeitraum ohne adäquate Nahrungsaufnahme abzusehen ist, sollte innerhalb der ersten 24 h eine künstliche Ernährung begonnen werden. Hierbei ist die enterale Ernährung aufgrund von niedrigeren Infektionsraten der parenteralen Ernährung vorzuziehen (7 Kap. 20). Die adäquate Kalorienzufuhr ist von der Phase der kritischen Erkrankung abhängig und sollte initial 20–25 kcal/kg KG betragen, während in der anabolen Phase 25–30 kcal/kg KG empfohlen wird. Falls keine ausreichende enterale Ernährung möglich ist – aufgrund einer gastrointestinalen Intoleranz, z. B. durch Diarrhöen, oder eines ausgeprägten gastralen Refluxes –, sollte eine zusätzliche parenterale Ernährung erfolgen, um den Kalorienbedarf zu decken [9]. Wesentlicher Bestandteil des Monitorings der Ernährung und des Energiehaushaltes ist daher die klinische Beurteilung des Patienten mit Einschätzung eines gastrointestinalen Refluxes, Untersuchung der Darmperistaltik, der Stuhlmenge und -qualität, der Urinproduktion sowie der Abschätzung einer evtl. vorbestehenden Malnutrition.
. Abb. 18.6. Veränderungen des Glukosemetabolismus im Postagressionsstoffwechsel
236
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
18.6.2.1 Kohlenhydratzufuhr und Monitoring des Blutzuckers
18
Kohlenhydrate sind mit etwa 50% der zugeführten Energie (unter Einbeziehung der Aminosäuren) die Hauptenergieträger bei enteraler oder parenteraler Ernährung. Bei enteraler Ernährung werden entweder Maltodextrin oder Stärke verwendet, alternativ können bei sog. niedermolekularen Formeldiäten auch Oligosaccharide zum Einsatz kommen. In der parenteralen Ernährung werden hauptsächlich Glukose, seltener auch der Zuckeraustauschstoff Xylit verwendet. Fruktose und Sorbit werden aufgrund des Risikos einer unbekannten Fruktoseintoleranz mit Kumulation von Fruktose-1-Phosphat in der parenteralen Ernährung nur noch selten eingesetzt. Xylit wird insulinunabhängig über den Pentose-Phosphat-Zyklus verstoffwechselt und kann bei Dosierung über 3 g/kg KG/Tag dosisabhängige Schädigungen der Leber, des Pankreas, der Nieren und des Gehirns verursachen. Die maximale Dosierung von Glukose wird mit 6 g/kg KG/Tag (entsprechend 25 kcal/kg KG) angegeben. In hoher Dosierung kann die Glukose in der Leber zu Triglyzeriden verstoffwechselt werden, was zu einer Leberverfettung führt. Insbesondere die parenterale Ernährung kann in der Phase des Postaggressionsstoffwechsels mit gleichzeitig vorliegender Insulinresistenz zu einer Erhöhung der Blutglukose führen. Die bislang häufig angewendete Praxis, Blutzuckerwerte im Vollblut bis 200 mg/dl bei intensivpflichtigen Patienten zu tolerieren, kann seit den Ergebnissen einer Studie von van den Berghe et al. [18] nicht mehr empfohlen werden. In dieser Studie hatten beatmete chirurgische Patienten, deren Blutzucker bei 80–110 mg/ dl gehalten wurde, eine deutlich reduzierte Rate an Infektionen und Organversagen sowie eine reduzierte Mortalität. Aufgrund dieser und weiterer Studien wurde in einer gemeinsamen Stellungnahme der European Society of Cardiology (ESC) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) für die strenge Blutzuckereinstellung intensivpflichtiger Patienten eine Level-A-Empfehlung abgegeben [14]. Zur Durchführung einer strengen Blutzuckereinstellung sind häufige Blutzuckerkontrollen erforderlich, Insulin-Dosierungsschemata tragen zur besseren Einstellung mit geringerer Hypoglykämierate bei [12]. Welche maximalen Insulinkonzentrationen bei einer solchen intensiven Insulintherapie gegeben werden sollten, ist unbekannt (7 Kap. 57). Hypoglykämien ohne Insulinzufuhr deuten, insbesondere in Kombination mit erhöhten Laktat- und erniedrigten Harnstoffwerten, auf eine höhergradig eingeschränkte Leberfunktion hin. Die Blutzuckerbestimmung erfolgt auf Intensivstationen entweder im Vollblut als sog. »point of care testing« (POCT) mittels Blutgasanalysegeräten in einer Durchflusszelle mit membrangebundener Glukoseoxidase und amperometrischer Messung des entstehenden Wasserstoffperoxids, alternativ auch mit Teststreifensystemen mit der Glukoseoxidasemethode unter Farbstoffbildung. Bei Verwendung von Serum oder Plasma liegen die Werte aufgrund eines größeren Verteilungsraums um 10–15% höher als im Vollblut, ebenso sind die Werte im arteriellen und kapillären Blut um etwa 10% höher als im venösen Blut.
18.6.2.2 Fettzufuhr und Monitoring Die Relation der Fette an der Energiezufuhr sollte etwa 30% betragen. Die handelsübliche enterale Ernährung enthält meist Emulsionen aus langkettigen Triglyzeriden (LCT) mit überwiegend einfach ungesättigen Fettsäuren, in wechselndem Ausmaß sind aber auch gesättigte und mehrfach ungesättigte Fettsäuren
enthalten. Einige Präparationen enthalten einen größeren Anteil an mittelkettigen Triglyzeriden (MCT), die eine bessere Resorptions- und Oxidationsrate aufweisen (7 Kap. 20). Die parenterale Fettsubstitution wird mit Triglyzeridemulsionen in einer 10%igen oder 20%igen Lösung, entweder als LCT- oder MCT/ LCT-Präparationen, durchgeführt. Bei bestimmten Indikationen können Präparationen mit einem hohen Anteil an immunmodulierenden Z3-Fettsäuren indiziert sein (7 Kap. 20). Sowohl unter einer enteralen, insbesondere aber unter einer parenteralen Ernährung mit Fettlösungen können die Triglyzeride im Serum ansteigen und sollten daher regelmäßig während der Durchführung der Ernährungstherapie überprüft werden. Eindeutige Grenzwerte, über denen die Rate an Nebenwirkungen wie beispielsweise das Auftreten einer Pankreatitis zunimmt, gibt es nicht, meist wird jedoch eine Grenze von 250–400 mg/dl angegeben. Bei Überschreitung dieser Werte muss durch Reduktion oder Pausierung der Fettinfusion überprüft werden, ob eine eingeschränkte Fettverwertung oder eine vermehrte Triglyzeridsynthese aus Glukose vorliegt. Im letzteren Fall ist es sinnvoll, die Glukosegabe unter Fortführung einer moderaten Fettinfusion zu reduzieren. Die laborchemische Bestimmung erfolgt durch eine hydrolytische Spaltung der Triglyzeride mit anschließendem enzymatischem Nachweis von Glyzerin. Eine Therapie mit Heparin kann die Serumkonzentration von Glyzerin durch eine Aktivierung der endothelialen Lipoproteinlipase erhöhen, was zu falsch hohen Triglyzeridwerten in der Laborbestimmung führt, falls keine Leerwertbestimmung vor Hydrolyse durchgeführt wird.
18.6.2.3 Eiweißzufuhr und Monitoring des Stickstoffhaushaltes Enteral oder auch parenteral zugeführte Proteine und Aminosäuren werden nur eingeschränkt in den Energiestoffwechsel eingeschleust, Voraussetzung hierzu ist allerdings eine ausreichende Verfügbarkeit anderer Energiequellen wie Glukose oder Fettsäuren. Die enterale Zufuhr der Proteine erfolgt mittels Milch-, Sojaoder Eiereiweiß, seltener in Rahmen von niedermolekularen Formeldiäten als Di- und Oligopeptide. Die parenterale Gabe erfolgt ausschließlich als Aminosäurengemische. Der Proteinbedarf kritisch kranker Patienten liegt bei etwa 1,0–1,5 g/kg KG, wobei sowohl die Phase der Erkrankung als auch mögliche nephrologische und hepatische Begleiterkrankungen Einfluss auf die Dosierung und Zusammensetzung der Aminosäuren haben. Die einfachste Möglichkeit, den Stickstoffhaushalt zu beurteilen, ist die Analyse des Harnstoffs. Zunächst kann in der klinischen Praxis eine im Verhältnis zum Serumkreatinin dysproportionale Erhöhung des Serumharnstoffs auf eine katabole Stoffwechsellage hinweisen. Eine genauere Beurteilung des Proteinstoffwechsels ist durch die Bestimmung der Stickstoffbilanz möglich. Hierbei wird die über den Urin ausgeschiedene Stickstoffmenge von der mit der Ernährung zugeführten Stickstoffmenge abgezogen. Auch diese Methode ist bei Intensivpatienten nur zur groben Abschätzung geeignet, da sowohl nichtrenale Stickstoffverluste, z. B. über den Gastrointestinaltrakt, bei Blutungen und bei Nierenersatzverfahren, als auch nichternährungsbedingte Stickstoffzufuhr, z. B. bei Blutttransfusionen, nicht mitbilanziert werden. Eine bessere Beurteilung des Stickstoffhaushaltes kann durch die Harnstoffproduktionsrate (HPR) erzielt werden, die anstatt der Stickstoffzufuhr die mittlere Plasmaharnstoffkonzentration verwendet:
237 Literatur
18
hältnis zwischen der Kohlendioxidproduktion (VCO2) und der Sauerstoffaufnahme (VO2) gemessen werden:
HPR [g/24 h]= Harnstoff im Urin [g/24 h] +(Serum-Harnstoff [mg/dl]*0,0099 kgKG*Faktor)
RQ=
(Faktor =0,6 für Frauen und 0,55 für Männer; für den Serumharnstoff wird der Mittelwert aus Bestimmungen zu Beginn und am Ende der Urinsammelperiode genommen.) Die Bestimmung der Harnstoffproduktionsrate sollte im Stoffwechselgleichgewicht erfolgen, ein Wert über 30 g/24 h zeigt eine Katabolie an, kann aber auch durch eine Überversorgung mit Aminosäuren oder eine Imbalance der zugeführten Aminosäuren zustande kommen. Eine Abnahme der HPR im Verlauf zeigt eine Zunahme der Anabolie an, differenzialdiagnostisch kommt auch eine Abnahme der Leberfunktionsleistung in Frage. Der Serumstickstoff wird entweder als Harnstoff oder als Harnstoff-Stickstoff (Harnstoff-N, BUN, »blood urea nitrogen«) angegeben. Da Harnstoff ein Stickstoffatom enthält, ist die Stoffmenge gleich (1 Mol Harnstoff =1 Mol Harnstoff-N), bei Konzentrationsangaben müssen die Werte entsprechend umgerechnet werden: Harnstoff-N [mg/dl]=0,46*Harnstoff [mg/dl] =0,3561*Harnstoff-N [mmol/l]
VCO2 VO2
Der RQ liegt in der Praxis zwischen 0,7 für eine reine Fettverbrennung und 1,0 für die Kohlenhydratverbrennung. Häufig wird der Anteil der Eiweißoxidation mit etwa 15% als konstant angenommen und bei der Bewertung des RQ nicht berücksichtigt. Der gemessene RQ wird dann zur Ermittlung des Energieäquivalents benutzt, ein Anstieg um 0,1 korrespondiert mit einem Anstieg des Energieäquivalents um 0,1 kcal/l O2. Insbesondere im Postagressionsstoffwechsel kann der Anteil der Proteinoxidation deutlich höher liegen. Die Oxidation der Proteine kann in diesen Fällen über die Harnstoffproduktionsrate (7 Kap. 18.6.2) ermittelt werden. Der Energieverbrauch (»energy expenditure«; EE) kann nach folgender Formel berechnet werden (NU=Stickstoff im Urin) [5]:
EE [kcal/min]=(3,941*VO2)+(1,106*VCO2)–(2,17*NU [g/24 h])
18.6.2.4 Metabolisches Monitoring Der menschliche Organismus lässt sich in energetischer Hinsicht mit einem Brennofen vergleichen, der Kohlenhydrate, Fette und Proteine in einem unterschiedlichen Mischungsverhältnis unter Sauerstoffverbrauch zu Wasser, Kohlendioxid und Wärme verbrennt. Die pro Gramm Substrat freiwerdende Energie wird Brennwert genannt, während die pro Liter verbrauchtem Sauerstoff freiwerdende Energie als Energieäquivalent bezeichnet wird (. Tab. 18.4). Die indirekte Kalorimetrie bestimmt die Sauerstoffaufnahme als Maß für den Energieverbrauch. Als Beispiel beträgt die freiwerdende Energie bei einem Sauerstoffverbrauch (VO2) von 300 ml/ min und reiner Kohlenhydratoxidation 1,5 kcal/min=2182 kcal/ Tag (0,3 l/minu5,05 kcal/l O2), während die freiwerdende Energie bei reiner Fettoxidation 1,4 kcal/min=2026 kcal/Tag (0,3 l/ minu4,69 kcal/l O2) betragen würde. Um das Mischungsverhältnis der verschiedenen Substrate zu bestimmen, kann der respiratorische Quotient (RQ) aus dem Ver-
. Tabelle 18.4. Kenngrößen des Energiestoffwechsels verschiedener Substrate. (Nach [10]) Kohlenhydrate
Fette
Proteine
Brennwert in kcal/g (kJ/g)
4,18 (17,50)
9,44 (39,50)
4,70 (19,68)
Energieäquivalent in kcal/l O2 (kJ/l O2)
5,05 (21,12)
4,69 (19,60)
4,66 (19,48)
Respiratorischer Quotient (RQ)
1,000
0,710
0,835
Die indirekte Kalorimetrie mit Atemgasanalyse kann bei korrekter Anwendung den Energieumsatz und das Verhältnis der oxidierten Substrate zueinander ermitteln und damit eine individuelle Planung und Überwachung einer Ernährungstherapie ermöglichen. Eine solche individuelle Analyse des Energiestoffwechsels ist jedoch außerhalb von Studien nur in Ausnahmefällen notwendig. Bei Anwendung der Methode sollten mögliche Fehlerquellen bedacht werden, insbesondere ist zur Erlangung aussagekräftiger Messwerte eine stabile metabolische Situation Voraussetzung. Weiterhin darf der anaerobe Stoffwechsel keine quantitativ bedeutende Rolle spielen, und bei hohen inspiratorischen Sauerstoffkonzentrationen sind darüber hinaus technisch bedingte Einschränkungen der Messgenauigkeit zu erwarten. Eine weitere Methode zur Ermittlung des Energieumsatzes ist die Bestimmung des Sauerstoffverbrauchs nach dem Fick’schen Prinzip bei liegendem Pulmonaliskatheter aus dem Herzzeitvolumen und der arteriovenösen Sauerstoffdifferenz (7 Kap. 15). Das Monitoring von Ernährung und Energiebilanz gehört zum Standard in der Therapie kritisch kranker Patienten, um eine adäquate Versorgung mit Nährstoffen zu gewährleisten und Komplikationen zu minimieren. Das Ausmaß des benötigten Monitorings ist allerdings von der Schwere der Erkrankung, der Krankheitsphase und den Begleiterkrankungen des Patienten abhängig und muss individuell angepasst werden.
Literatur 1. Annane D (2005) Glucocorticoids in the treatment of severe sepsis and septic shock. Curr Opin Crit Care 11: 449-453
238
Kapitel 18 · Stoffwechselüberwachung und Interpretation klinisch-chemischer Befunde
: In dieser randomisierten placebo-kontrollierten doppelblinden
Studie hatten septische Patienten mit einem pathologischen ACTH-Test, die mit niedrig dosiertem Hydrocortison und Fludrocortison behandelt wurden, ein signifikant besseres 7-Tage-Überleben gegenüber der Placebo-Gruppe, während Patienten mit normalem ACTH-Test nicht von einer Hydrocortison-Therapie profitierten. 2. Boemke W, Krebs MO, Rossaint R (2004) Blutgasanalyse. Anästhesist 53:471-492 3. Brünnler T, Wrede CE (2005) Endokrine Störungen bei kritisch Kranken. Intensivmed 42: 639-652 4. Calatzis A, Heesen M, Spannagl M (2003) Patientennahe Sofortdiagnostik von Hämostaseveränderungen in der Anästhesie und Intensivmedizin. Anästhesist 52: 229-237 5. da Rocha EE, Alves VG, da Fonseca RB (2006) Indirect calorimetry: methodology, instruments and clinical application. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 9:247-256 6. Gaasbeek A, Meinders AE (2005) Hypophosphatemia: an update on its etiology and treatment. Am J Med 118: 1094-1101 7. Hebert PC, Wells G, Blajchman MA, Marshall J, Martin C, Pagliarello G, Tweeddale M, Schweitzer I, Yetisir E (1999) A multicenter, randomized, controlled clinical trial of transfusion requirements in critical care. Transfusion Requirements in Critical Care Investigators, Canadian Critical Care Trials Group. N Engl J Med 340: 409-417 : Diese randomisierte Studie an 832 kritisch kranken Patienten zeigte, dass eine restriktive Transfusion von Erythrozytenkonzentraten mit Erlangung eines Hämoglobin-Werts von 7-9 g/dl einer liberaleren Transfusion mit Hämoglobin-Werten von 10-12 g/dl bezüglich des 30-Tage Überlebens eventuell überlegen ist. Hiervon möglicherweise ausgenommen sind Patienten mit Myokardinfarkt und instabiler Angina pectoris.
18
8. Jauch K-W (1997) Ernährungstherapie – eine Standortbestimmung. Der Chirurg 68: 551-558 9. Kreymann KG, Berger MM, Deutz NEP, Hiesmayr M, Jolliet P, Kazandjiev G, Nitenberg G, van den Berghe G, Wernerman J, DGEM: Ebner C, Hartl W, Heymann C, Spies C (2006) ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition: Intensive Care. Clin Nutrition 25: 210-223 10. Livesey G, Elia M (1988) Estimation of energy expenditure, net carbohydrate utilization, and net fat oxidation and synthesis by indirect calorimetry: evaluation of errors with special reference to the detailed composition of fuels. Am J Clin Nutr. 47: 608-628 11. Luft FC (1998) Salz- und Wasserhaushalt für den klinischen Alltag. Der Internist 39: 804-809 12. Meijering S, Corstjens AM, Tulleken JE, Meertens JH, Zijlstra JG, Ligtenberg JJ (2006) Towards a feasible algorithm for tight glycaemic control in critically ill patients: a systematic review of the literature. Crit Care 10: R19 13. Phua J, Lim TK, Lee KH (2005) B-type natriuretic peptide: issues for the intensivist and pulmonologist. Crit Care Med 33: 2094-2113. 14. Ryden L, Standl E, Bartnik M, Van den Berghe G, Betteridge J, de Boer MJ, Cosentino F, Jonsson B, Laakso M, Malmberg K, Priori S, Ostergren J, Tuomilehto J, Thrainsdottir I, Vanhorebeek I, Stramba-Badiale M, Lindgren P, Qiao Q, Priori SG, Blanc JJ, Budaj A, Camm J, Dean V, Deckers J, Dickstein K, Lekakis J, McGregor K, Metra M, Morais J, Osterspey A, Tamargo J, Zamorano JL, Deckers JW, Bertrand M, Charbonnel B, Erdmann E, Ferrannini E, Flyvbjerg A, Gohlke H, Juanatey JR, Graham I, Monteiro PF, Parhofer K, Pyorala K, Raz I, Schernthaner G, Volpe M, Wood D (2007) Guidelines on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases: executive summary: The Task Force on Diabetes and Cardiovascular Diseases of the European Society of Cardiology (ESC) and of the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Eur Heart J 28: 88-136 : Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaften für Kardiologie und für Diabetes beziehen sich auf die Definition, Klassifikation und Behandlung von Diabetes und chronischen Herzerkrankungen. Eine
intensive Blutglukose-Einstellung von kritisch kranken erwachsenen Patienten wurde mit einer Klasse I / Level A – Empfehlung, und von Patienten mit kardiochirurgischen Eingriffen mit einer Klasse I / Level B Empfehlung versehen. 15. Spannagl M, Schramm W (1999) Hämostaseologie – rationale Diagnostik. Der Internist 40: 657-665 16. Tong GM, Rude RK (2005) Magnesium deficiency in critical illness. J Intensive Care Med 20: 3-17 17. Vachharajani TJ, Zaman F, Abreo KD (2003) Hyponatremia in critically ill patients. J Intensive Care Med 18: 3-8 18. van den Berghe G, Wouters P, Weekers F, Verwaest C, Bruyninckx F, Schetz M, Vlasselaers D, Ferdinande P, Lauwers P, Bouillon R (2001) Intensive insulin therapy in the critically ill patients. N Engl J Med 345:1359-1367 : Diese prospektive monozentrische randomisierte Studie an 1548 beatmeten chirurgischen Patienten zeigte in der Gruppe der Patienten mit einem Ziel-Blutzuckerwert von 80-110 mg/dl einen signifikanten Überlebensvorteil nach 12 Monaten, eine reduzierte Krankenhausmortalität sowie eine geringere Rate an Bakteriämien, akuten Nierenversagen und critical-illness-Polyneuropathien im Vergleich zu Patienten mit Ziel-Blutzuckerwerten von 180-200 mg/dl. 19. Vincent JL, Baron JF, Reinhart K, Gattinoni L, Thijs L, Webb A, MeierHellmann A, Nollet G, Peres-Bota D; ABC (Anemia and Blood Transfusion in Critical Care) Investigators. (2002) Anemia and blood transfusion in critically ill patients. JAMA 288: 1499-1507. : Diese Studie untersuchte den durchschnittlichen Blutverlust durch Blutabnahmen und die Häufigkeit einer Anämie bei 1136 Patienten auf 145 westeuropäischen Intensivstationen. Die Blutabnahmen hatten ein durchschnittliches Volumen von 40ml/d. Etwa 30% der Patienten hatten bei Aufnahme einen Hb-Wert unter 10 g/dl, und 37% der Patienten erhielten Transfusionen. Häufige Blutabnahmen, Anämien und Transfusionen waren mit einer höheren 28-Tage-Mortalität vergesellschaftet. 20. Wazny LD, Ariano RE. (2000) Evaluation and Management of Drug-Induced Thrombocytopenia in the Acutely Ill Patient. Pharmacotherapy 20: 292-307
III
Allgemeine Grundlagen der Therapie
19
Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen –241
20
Ernährungstherapie des Intensivpatienten
21
Hämorrhagischer Schock
22
Hämostase und Hämotherapie
23
Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
–269
24
Endotracheale Intubation
25
Perkutane Tracheotomie
26
Thoraxdrainage
27
Bronchoskopie
28
Akut- und Frührehabilitation
–281
–325 –335
–345 –353 –359
–303
–255
19 Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen J. Langgartner
19.1
Allgemeine Grundlagen
19.1.1 19.1.2
Pharmakodynamik –242 Pharmakokinetische Grundbegriffe –243
19.2
Besondere klinische Situationen
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4
Patienten mit Niereninsuffizienz und Nierenersatztherapie –246 Patienten mit Leberinsuffizienz –248 Patienten mit Adipositas –249 Alte Patienten –251
19.3
Interaktionen
19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4
Pharmakodynamische Interaktionen –251 Pharmakokinetische Interaktionen –251 Pharmazeutische Interaktionen –252 Zusammenfassung –252
Literatur
–253
–242
–246
–251
242
Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
19.1
Allgemeine Grundlagen
Rezeptortheorie
19.1.1 Pharmakodynamik Die Pharmakodynamik beschreibt die Einflüsse eines Pharmakons auf den Organismus, befasst sich also mit der Art und Weise seiner biologischen Wirkungen. Sie beinhaltet Überlegungen zu Wirkungsmechanismen, Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Rezeptortheorien und Nebenwirkungen.
Wirkungsmechanismen Pharmaka sind in der Lage, sowohl spezifische Wirkungen, die über Rezeptoren vermittelt werden, als auch unspezifische Wirkungen, die meist von den physikalischen Eigenschaften der Substanz abhängig und nicht rezeptorabhängig sind, zu vermitteln. Zur Auslösung spezifischer Wirkungen sind, anders als bei den unspezifischen Wirkungen, nur relativ niedrige Dosen bzw. Konzentrationen des Pharmakons notwendig, und es gibt einen genau definierbaren Angriffsort. Sowohl die spezifische als auch die unspezifische Bindung eines Wirkstoffes führt zu charakteristischen Veränderungen auf subzellulärer und molekularer Ebene, die zu wenigen grundlegenden Reaktionsmustern zusammengefasst werden können.
Rezeptoren bzw. Rezeptorproteine sind komplexe Moleküle mit der Möglichkeit der selektiven Anlagerung von Substanzen, den sog. Liganden. Auf diese Weise ist gemäß dem Schlüssel-SchlossPrinzip eine Wechselwirkung zwischen Ligand und Rezeptor möglich. Die Bindung aktiver Liganden führt zu einer Konformationsänderung des Rezeptors, wodurch über die Änderung des Funktionszustandes des Rezeptors die Zellfunktion beeinflusst wird. Überwiegend findet man Rezeptoren in der äußeren Zellmembran, wenige befinden sich auch intrazellulär. Die wichtigsten membranständigen Rezeptorsysteme sind die Ionenkanalrezeptoren und die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Es existieren unterschiedliche Ionenkanäle mit weitgehender selektiver Permeabilität für Natrium-, Kalium-, Kalzium- und Chloridionen. Neben der rezeptorabhängigen Aktivierung ist die Beeinflussung über eine Veränderung des Membranpotenzials möglich. Hier setzen ebenfalls Arzneistoffe an. . Tabelle 19.1 zeigt Beispiele für an Ionenkanälen angreifende Pharmaka. Das Guanylnukleotid-bindende Protein (G-Protein) befindet sich an der Innenseite der Plasmamembran und steuert die Aktivität enzymatisch wirkender Effektorproteine, wie z. B. der Adenylatcyclase oder Guanylatcyclase. Durch die Wirkung der Effektorproteine entsteht ein intrazellulärer Botenstoff (»second messenger«). Dieser beeinflusst benachbarte Ionenkanäle oder intrazelluläre Proteine.
Grundlegende Wirkmechanismen von Pharmaka
Quantifizierung von Pharmakaeffekten
5 Wechselwirkung mit Rezeptoren (Stimulation, Blockade) 5 Beeinflussung von spannungsabhängigen Ionenkanälen (Öffnung, Blockade) 5 Interaktion mit membranständigen Transportsystemen 5 Beeinflussung der Enzymaktivität (Aktivierung, Hemmung) 5 Veränderung der Biosynthese (z. B. in Mikroorganismen)
Neben der qualitativen Wirkung eines Pharmakons interessiert auch dessen quantitative Wirkung in Bezug auf Haupt- und Nebenwirkungen. Die Beschreibung der Wirksamkeit eines Pharmakons im Organismus erfolgt mit Hilfe der folgenden Begriffe: Die Fähigkeit eines Pharmakons, einen biologischen Effekt zu induzieren, wird als intrinsische Aktivität bezeichnet. Sie ist ein Maß für die maximal mögliche Wirkung einer Substanz. Pharmaka mit der gleichen intrinsischen Aktivität weisen die gleichen auslösbaren Maximaleffekte auf, sind also äquieffektiv. 2 Substanzen sind aber nur dann auch äquipotent, wenn zur Erreichung der gleichen Wirkungsstärke auch die gleiche Dosis benötigt wird.
. Tabelle 19.1. An Ionenkanälen angreifende Pharmaka Pharmakongruppe
Beispiel
Kanaltyp
Wirkung
Ca-Antagonisten
4 Verapamil 4 Diltiazem 4 Nifedipin
Ca2+-Kanal
Hemmung
Benzodiazepine
4 Diazepam 4 Flunitrazepam
GABA-aktivierte Cl–-Kanäle
Stimulation
Antiarrhythmika
4 Lidocain 4 Procainamid 4 Chinidin
Na±-Kanäle
Blockade
Muskelrelaxanzien
4 Pancuronium 4 Tubocurarin
Ach-aktivierte K+-Kanäle und inaktivierte Ca2+-Kanäle
Blockade
Diuretika
4 Amilorid 4 Triamteren
Epitheliale Na+-Kanäle
Blockade
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243 19.1 · Allgemeine Grundlagen
Streng von der intrinsischen Aktivität abzugrenzen ist der Begriff der Affinität. Er bezieht sich auf die Menge einer Substanz, die verabreicht werden muss, um eine definierte Wirkung zu erzielen. Affinität und Spezifität eines Liganden sind umso höher, je genauer dieser auf eine Rezeptorbindungsstelle passt. Die intrinsische Aktivität bestimmt somit die maximale Wirkung einer Substanz, während die Affinität ein Maß für die Dosis ist, die erforderlich ist, um eine Wirkung zu erreichen. Mit Hilfe von Dosis-Wirkungs-Kurven kann die Abhängigkeit der Wirkung einer Substanz von seiner Dosis bzw. Konzentration dargestellt werden. Die Beziehung zwischen der verabreichten Dosis und dem ausgelösten biologischen Effekt ist in der Regel nicht linear. So führt eine Verdoppelung der Dosis nicht zu einer Verdoppelung der Wirkung. Bei der Interpretation dieser Kurven dient die Schwellendosis (= kleinste Dosis, bei der ein Effekt eintritt) als Maß für die Affinität, der erreichbare Maximaleffekt als Maß für die intrinsische Aktivität und die Anstiegssteilheit der Kurve als Maß für den Dosisbereich zwischen Wirkungseintritt und Maximum. Außerdem wird aus der Dosis-Wirkungs-Kurve die effektive Dosis (ED50) ermittelt. Dies ist diejenige Dosis, mit der bei 50% der Probanden der spezifische Effekt einer Substanz erzielt werden kann. Eine weitere wichtige Größe ist die ED95, d. h. die Dosis, die erforderlich ist, um 95% der möglichen Wirkung (= submaximaler Effekt) zu erreichen. Ein Maß für die Sicherheit hinsichtlich toxischer Wirkungen bei einer regelrechten Anwendung eines Pharmakons ist die therapeutische Breite. Sie ist definiert als LD50/ED50, wobei die LD50 der Dosis entspricht, die bei 50% der Versuchstiere einen letalen Effekt hervorruft. Je höher die therapeutische Breite ist, desto sicherer ist das Medikament in der Anwendung.
Gewöhnung Bei wiederholter Zufuhr einer Substanz kann es dazu kommen, dass die Dosis gesteigert werden muss, um die gleiche Wirkung wie bei der ersten Gabe zu erzielen. Dies bezeichnet man als Gewöhnung. Der Grund für die Gewöhnung kann in pharmakodynamischen, pharmakokinetischen oder physiologischen Mechanismen liegen. Typischerweise kommt es gerade bei der Therapie mit indirekten Mimetika, die Agonisten aus präsynaptischen Speichern freisetzen, zur Tachyphylaxie. Sie bezeichnet eine Gewöhnung, die sehr rasch einsetzt. Grund für den Wirkungsverlust bei wiederholter Gabe ist die Entleerung der Speichervorräte. Ein Beispiel für einen pharmakokinetischen Effekt ist die Enzyminduktion, z. B. des Cytochrom-P450-Systems in der Leber. So kann es nach wiederholter Gabe oder bei kontinuierlicher Gabe von Substanzen, die eine Enzyminduktion bewirken, nach wenigen Tagen nicht nur zu einem vermehrten Abbau der Substanz selbst, sondern auch aller über das induzierte Enzymsystem metabolisierten Pharmaka kommen. Durch physiologische Gegenregulation kann ebenfalls eine Gewöhnung eintreten. Hierunter fallen die autonomen Reflexe und die humoralen Regulationssysteme. Pharmakodynamische und pharmakokinetische Parameter bleiben dabei unverändert. Beispiele hierfür sind die Kreislaufregulation oder das ReninAngiotensin-Aldosteron-System. 19.1.2 Pharmakokinetische Grundbegriffe Die Pharmakokinetik beschreibt den Weg des Pharmakons und dessen zeitliche Abfolge durch den Organismus. Die Vorgänge
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der Resorption, Verteilung und Elimination werden durch sie beschrieben. Der zeitliche Verlauf der Arzneimittelwirkung ist vom Aufnahmeort, der Geschwindigkeit der Zufuhr, von der Verteilung im Körper und von der Elimination abhängig. Eine Vielzahl an Faktoren, von denen lange nicht alle bekannt sind, beeinflusst diese Vorgänge.
Resorption In der Intensivmedizin werden Arzneimittel überwiegend intravenös verabreicht. Hier ist die Anflutungs- bzw. Verteilungsgeschwindigkeit des Pharmakons im Vergleich zu anderen systemischen Applikationsarten am höchsten. Die Bioverfügbarkeit parenteral zugeführter Substanzen ist grundsätzlich höher als bei oraler Applikation, da sie keinem First-pass-Effekt in der Leber unterliegen. Ein Vorteil der intravenösen Gabe gerade beim Intensivpatienten ist, dass hier die Bioverfügbarkeit unabhängig von der Durchblutung in den Resorptionsorganen ist. Die Resorption der meisten oral verabreichten Medikamente erfolgt im oberen Dünndarm (Ausnahme: Vitamin B12, Gallensäuren mit Resorption im Ileum). Die Resorptionsgeschwindigkeit und Resorptionsquote einer Substanz sind von der pharmazeutischen Zubereitung (Tablette, Dragée, Kapsel, Saft, Tropfen), dem Magen-Darm-Inhalt, den physikochemischen Eigenschaften der Substanz, dem Funktionszustand des Resorptionsorgans und dem Ausmaß der intramukosalen Metabolisierung abhängig. Nach Resorption des Pharmakons gelangt es in den Pfortaderkreislauf und die Leber. Hier kann ein Teil der Substanz abgefangen, metabolisiert oder eliminiert werden (hepatischer Fist-pass-Effekt). Bei der nachfolgenden Passage der Lunge kann ebenfalls noch mal ein Teil des Pharmakons abgefangen werden (pulmonaler First-pass-Effekt). Somit steht erst der Teil, der den großen Kreislauf erreicht, für die Wirkung zur Verfügung. Das Ausmaß der Verfügbarkeit des Wirkstoffes am Wirkort bzw. Plasma bezogen auf die verabreichte Dosis wird durch den Begriff Bioverfügbarkeit beschrieben. Bei intravenöser Gabe wird die Bioverfügbarkeit definitionsgemäß gleich 100% gesetzt. Die intravenöse Bioverfügbarkeit dient als Referenz für die Ermittlung der Bioverfügbarkeit anderer Darreichungsformen der Substanz. Die im Organismus bioverfügbare Substanzmenge kann durch die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve dargestellt werden. Sie wird »area under the curve« (AUC) genannt und kann über das Flächenintegral oder Näherungsverfahren berechnet werden. Neben diesen Applikationswegen stehen noch andere Wege (transrektale, transdermale, intramuskuläre, subkutane, sublinguale oder inhalative Applikation) zur Verfügung. Diese spielen aber in der Intensivmedizin meist eine nur sehr untergeordnete Rolle.
Verteilung und Verteilungsräume Für die Verteilung des Pharmakons ist das Blutplasma verantwortlich. Man bezeichnet es deshalb als zentrales Kompartiment, von dem aus die Substanzen in periphere Kompartimente (Interstitium und Intrazellulärraum) gelangen. Daneben gibt es noch spezielle periphere Kompartimente wie den Liquor, das Kammerwasser des Auges oder die Endolymphe des Innenohrs. Diese speziellen Verteilungsräume sind aber durch besondere Barrieren, wie die Blut-Hirn-Schranke, abgegrenzt und nur erschwert zu erreichen.
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Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
. Tabelle 19.2. Hauptverteilungsräume Kompartiment
Einflussfaktoren auf die Proteinbindung Flüssigkeitsanteil am Körpergewicht
Zentral
Blutplasma Interstitium
Rund 4% Rund 15%
Peripher
Intrazellulärraum
Rund 40%
Gegenüber den peripheren Verteilungsräumen ist das Plasma als zentrales Kompartiment sehr klein. Im einfachsten Fall steht die gemessene Plasmakonzentration des Wirkstoffes in direkter Beziehung zur verabreichten Wirkstoffmenge. Wenn die verabreichte Substanz aus dem Plasma nicht in andere Kompartimente umverteilt wird und ungebunden ist, entspricht das Plasmavolumen dem Verteilungsvolumen der Substanz (Vd). Die meisten Substanzen werden aber vom Plasma in periphere Räume umverteilt und binden sich an andere Gewebe. Nur wenige Pharmaka verteilen sich ausschließlich im Plasma. Hierbei handelt es sich um Makromoleküle (>70.000 D). Erst nach Spaltung in kleinere Moleküle können sie nach extravasal gelangen und somit ausgeschieden werden. Diese Eigenschaft wird bei der Gabe einiger kolloidaler Plasmaersatzstoffe, wie HES 130.000, 200.000 etc. in der Volumentherapie ausgenutzt. Auch die Verteilung ausschließlich im Extrazellulärraum ist selten. Hiervon sind nur rein hydrophile Verbindungen, wie osmotische Diuretika, betroffen. Die meisten Substanzen verteilen sich zwischen Plasma und Interstitium. Plasmaraum und Interstitium werden für niedermolekulare Stoffe unter kinetischen Aspekten häufig zu einem Kompartiment, dem Extrazellulärraum zusammengefasst. Zum Extrazellulärraum gehört auch die transzelluläre Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis, Kammerwasser, Endolymphe, Flüssigkeiten in Körperhöhlen und Hohlorganen). Ihr Volumen macht normalerweise nur 1‒2% des Körpergewichts aus, kann aber unter pathologischen Zuständen, wie z. B. bei Aszites aufgrund einer Leberzirrhose erhebliche Ausmaße annehmen (. Tab. 19.2). Große Bedeutung im Zusammenhang mit der Verteilung von Substanzen hat die Proteinbindung. Die wichtigsten bindenden Proteine sind: 4 Plasmaproteine (Albumin, saures D1-Glykoprotein, Lipoprotein), 4 Hämoglobin, 4 Muskel- und Nukleoproteine.
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Gebundener und freier Anteil eines Pharmakons stehen im Gleichgewicht, wobei nur der freie Anteil für die Verteilung im Gewebe verfügbar ist. Der freie Anteil wird auch als der pharmakologisch aktive Teil bezeichnet. Mit Zunahme der Wasserlöslichkeit eines Pharmakons nimmt dessen proteingebundener Anteil ab. Hydrophobe Hypnotika und Benzodiazepine haben dementsprechend hohe Proteinbindungsraten von >90%. i Nur der freie, nicht proteingebundene Anteil eines Pharmakons kann biologische Membranen passieren und pharmakologische Wirkungen hervorrufen (»free drug hypothesis«)!
Das Ausmaß der Proteinbindung einer Substanz wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst.
5 Affinität des Pharmakons zu den Proteinbindungsstellen in Abhängigkeit vom Grad der Hydrophobie 5 Konzentration des Pharmakons im Plasma bzw. Gewebe 5 Konzentration der bindenden Proteine 5 Temperatur, pH-Wert 5 Injektionsgeschwindigkeit
Die Proteinbindungsrate ist keine absolute Größe für eine Substanz, sondern ändert sich bei zunehmender Besetzung der Bindungsstellen mit der Substanzkonzentration. Bei einigen Substanzen kann die Proteinbindungsrate bei intravenöser Gabe durch die Injektionsgeschwindigkeit beeinflusst werden. So konnte gezeigt werden, dass die zur Narkoseeinleitung erforderliche Dosis von Thiopental bei sehr schneller Injektion um ca. 1/3 geringer als bei langsamer Injektion ist [3]. Durch die Bolusgabe kommt es zu einer Sättigung der Bindungsstellen am Albumin und damit zu einer kurzfristigen Erhöhung des freien Anteils. Neben der Proteinbindung haben auch die Organdurchblutung, der Verteilungskoeffizient, die unspezifische Bindung im Gewebe und die pH-Differenzen zwischen den Kompartimenten Einfluss auf die Arzneimittelkonzentration an den Wirkorten.
Elimination und Gesamtkörperclearance Die Ausscheidung von Pharmaka kann über die Niere, Gallenwege, Schleimhäute oder Haut und Hautanhangsgebilde erfolgt. Der renalen und biliären Ausscheidung kommt dabei die größte Bedeutung zu. Die Eliminationswege unterliegen verschiedenen, sowohl medikamenten- als auch patientenspezifischen Einflussfaktoren.
Einflussfaktoren auf die Elimination von Pharmaka 5 Medikamentenspezifische Faktoren – Eliminationsweg – Molekülgröße – Proteinbindung – Elektrische Ladung – Verteilungsvolumen – Wasser-/Fettlöslichkeit – Gewebegängigkeit 5 Patientenspezifische Faktoren – Organfunktionsstörungen – Komorbidität – Krankheitsbedingt verändertes Verteilungsvolumen – Krankheitsbedingt veränderte Proteinbindung – Komedikation – Fettanteil – Alter
Hydrophile Substanzen (bis ca. 60.000 D) können über die Nieren ausgeschieden werden, größere hydrophile und lipophile Moleküle müssen, um ausgeschieden werden zu können, gespalten bzw. in wasserlösliche Moleküle umgewandelt werden. Zentrale Rolle spielt hier die Leber. Die Metabolisierung in der Leber kann in 2 Schritte unterteilt werden (. Tab. 19.3).
245 19.1 · Allgemeine Grundlagen
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Kompartimentmodell . Tabelle 19.3. Hepatische Biotransformation Metabolisierungsschritt
Vorgang
Wirkung
Phase-IReaktion
4 4 4 4
Oxidation Reduktion Hydrolyse Dekarboxylierung
Entstehung biologisch aktiver oder inaktiver Metaboliten
Phase-IIReaktion
4 4 4 4 4
Glukuronidierung Sulfatierung Acetylierung Methylierung …
Entstehung unwirksamer, wasserlöslicher Metaboliten
In der Phase-I-Reaktion entstehende Metaboliten sind meist weniger aktiv als der Ausgangsstoff (Entgiftung). Der Metabolit kann aber auch den eigentlichen Wirkstoff darstellen (ProdrugAktivierung) oder sogar toxisch sein (Giftung). Phase-II-Reaktionen können sich an Phase-I-Reaktionen anschließen, oder sie erfolgen primär. Am Ende dieser 2-Schritt-Metabolisierung kommt es in der Mehrzahl der Fälle, aber nicht immer, zum Verlust der gewünschten pharmakologischen Wirkung. > Beispiel Morphin wird zu Morphin-3- und Morphin-6-Glukuronid transformiert und sollte somit inaktiviert und für die Ausscheidung vorbereitet sein. Bei funktionell anephrischen Patienten kommt es aber zu einer Anreicherung von Morphin-6-Glukuronid, das ins Gehirn eindringt und dort identische pharmakologische Effekte wie Morphin auslöst. Niereninsuffiziente Patienten zeigten Zeichen einer Morphinüberdosierung ohne Nachweis von Morphin, aber von Morphin-6-Glucuronid im Blut [23].
Die Cytochrom-P450-Enzyme sind die häufigsten Katalysatoren dieser Reaktionen. Hier finden auch die meisten pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen statt. Als Gesamtkörper-Clearance (Cltot) wird das Volumen an Blut oder Plasma bezeichnet, das pro Zeiteinheit vollständig von dem Pharmakon befreit wird. Sie ist Ausdruck für die gesamte Leistung der Elimination und setzt sich aus den einzelnen organbezogenen Eliminationsprozessen zusammen. Im Allgemeinen wird nur zwischen der renalen Clearance (Clren), die leicht berechnet werden kann, und der extrarenalen Clearance (Clextraren) unterschieden.
Cltot = Clren + Clextraren [ml/min]
Die totale Clearance kann nicht nur aus den Einzel-Clearances der beteiligten Organe, sondern auch mathematisch aus der applizierten Dosis (D) und der Fläche unter dem Konzentrationsverlauf im Plasma (AUC) berechnet werden. Cltot = D/AUC [ml/min]
Um die physiologischen Verhältnisse der Verteilung und Elimination von Pharmaka möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, benötigt man komplexe theoretische Modelle. Zur Interpretation der ablaufenden pharmakokinetischen Vorgänge hat sich für die Praxis als am besten geeignet das Kompartimentenmodell erwiesen. Hier wird der Organismus in wenige Verteilungsräume untereilt, anhand derer die pharmakokinetische Analyse der Substanz erfolgt. Im einfachsten Fall lässt sich der Konzentrationsverlauf des Pharmakons unter der Annahme beschreiben, dass es sich in einem einheitlichen Volumen verteilt (Ein-Kompartiment-Modell). Dieses eignet sich aber nur für das grundsätzliche Verständnis der pharmakokinetischen Vorgänge. In Wirklichkeit ist von einer Verteilung in mindestens 2 Kompartimente unterschiedlicher Größe und Zugänglichkeit auszugehen (Zwei- oder MehrKompartiment-Modell). Aber auch dies stellt eine starke Vereinfachung der tatsächlichen Vorgänge dar. Im Allgemeinen haben die pharmakokinetischen Kompartimente keine physiologische Entsprechung und entsprechen rein mathematischen Größen. Beim Zwei-Kompartiment-Modell wird der Organismus in ein zentrales und ein peripheres Kompartiment unterteilt. Man kann davon ausgehen, dass das zentrale Kompartiment dem Blutvolumen und den Organen mit sehr hohem (Gehirn, Herz, Lunge) und hohem Anteil (Nieren, Leber, Gastrointestinaltrakt, Endokrinum) des Herzzeitvolumens entspricht. Entsprechend umfasst das periphere Kompartiment Organe mit mittlerem (Skelettmuskulatur, Haut) und geringem Perfusionsanteil (Fettgewebe). Anders als im Zwei-Kompartiment-Modell wird im DreiKompartiment-Modell eine Einteilung in ein zentrales und in zwei parallele periphere Kompartimente vorgenommen. Es erfolgt die getrennte Betrachtung von Organen mit mittlerer und geringer Durchblutung. Dadurch lässt sich im Drei-KompartimentModell die Kinetik lipophiler Substanzen genauer beschreiben. Während das Ein-Kompartiment-Modell zu ungenau ist, kommt das Drei-Kompartiment-System den tatsächlichen pharmakokinetischen Verhältnissen am nächsten. Für die Praxis meist ausreichend ist die Anwendung des Zwei-KompartimentModells.
Kinetik 1. und 0. Ordnung Für die Wirkung eines Pharmakons ist dessen Konzentration am Wirkort entscheidend. Diese ist aber messtechnisch nicht direkt zugänglich. Konzentrationsbestimmungen können im Blut bzw. Plasma, Urin sowie Liquor und Fäzes durchgeführt werden. Um trotzdem die Konzentrationen an den Wirkorten abschätzen zu können, wurden pharmakokinetische Modelle entwickelt, die zugrundelegen, dass die Konzentration des Pharmakons am Wirkort Folge der Plasmakonzentrationen ist. Für solche Berechnungen müssen die Bioverfügbarkeit, das Verteilungsvolumen, die Clearance und die Plasmahalbwertszeit eines Pharmakons bekannt sein oder errechnet werden. Die Biotransformation der meisten Pharmaka folgt einer Kinetik 1. Ordnung. Das bedeutet, dass die Eliminationsgeschwindigkeit proportional der Plasmakonzentration ist. Mit Abnahme der Plasmakonzentration nimmt auch die Eliminationsgeschwindigkeit ab. Es kommt zu keiner Sättigung der biotransformierenden Enzymsysteme, und die Extraktionsrate bleibt immer gleich. Trägt man die Arzneimittelkonzentration halblogarithmisch über die Zeit auf, ergibt sich eine Gerade. Aus diesem Grund
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Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
wird die Kinetik 1. Ordnung auch als lineare Kinetik bezeichnet. Während sich die Eliminationsgeschwindigkeit verändert, sind Clearance und Halbwertszeit bei der Kinetik 1. Ordnung konzentrationsunabhängige Größen. Bei einer Kinetik 0. Ordnung ist die Eliminationsgeschwindigkeit unabhängig von der aktuellen Plasmakonzentration und damit konstant. Anders als bei der Kinetik 1. Ordnung kommt es zu einer Sättigung des speziellen biotransformierenden Enzymsystems. Eine weitere Zufuhr an Substanz führt zu einer überproportionalen Kumulation. Als Graphik dargestellt erhält man bei linearem Maßstab eine Gerade. Synonyme für Kinetik 0. Ordnung sind Sättigungs- oder Michaelis-Menten-Kinetik. Eine für die Intensivmedizin wichtige Ausnahme bildet Thiopental [29]: Bei einer Dosierung im Bereich von 50‒60 Pg/ml, zur Hemmung des zerebralen Funktionsstoffwechsels, kann es zur Sättigung des Enzymsystems kommen. Somit kommt es zu einem Übergang der Kinetik 1. Ordnung in eine Kinetik 0. Ordnung mit der Gefahr der extremen Verweildauer von Thiopental in der pharmakologisch aktiven Form mit z. T. extrem verlängerten Aufwachzeiten.
. Tabelle 19.4. Verschiedene Halbwertszeiten Halbwertszeit
Bedeutung
Plasmahalbwertszeit
Zeitraum, innerhalb dessen sich die Konzentration einer Substanz im Plasma halbiert
Äquilibrierungshalbwertszeit
Maß für die Anschlagszeit der Wirkung
Verteilungshalbwertszeit
Kennzeichnet den Verteilungszeitraum
Eliminationshalbwertszeit
Kennzeichnet den Zeitraum der Elimination
Kontextsensitive Halbwertszeit
Zeitraum, innerhalb dessen sich die Konzentration eines kontinuierlich infundierten Pharmakons nach Infusionsende halbiert
19.2
Besondere klinische Situationen
Halbwertszeiten Die Plasmahalbwertszeit (t1/2) ist ein Maß für die Eliminationsgeschwindigkeit. Sie kennzeichnet den Zeitraum, in dem sich die Konzentration eines Pharmakons im Plasma halbiert. Sie ist nicht mit der Wirkungsdauer eines Medikamentes gleichzusetzen! Bei einer Kinetik 1. Ordnung ist die Eliminationsgeschwindigkeit einer Substanz proportional ihrer Konzentration, woraus sich ein exponentieller Abfall der Konzentration ergibt. Der Abfall der Plasmakonzentration folgt bei den meisten Pharmaka einer Kinetik 1. Ordnung, d. h. die Plasmaspiegel halbieren sich in immer gleichen Zeitabständen. In der 1. Phase nach Aufnahme einer Substanz in die Blutbahn wird deren Konzentrationsabfall v. a. durch Verteilungsvorgänge bestimmt. Die Halbwertszeit, die hierfür ermittelt werden kann, wird als Verteilungshalbwertszeit bezeichnet. Später wird die Plasmakonzentration durch die Eliminationsvorgänge bestimmt. Die hierfür berechnete Halbwertszeit wird als Eliminations- oder terminale Halbwertszeit bezeichnet. Sie ist ein Maß für die Verweildauer eines Pharmakons im Körper. Beide Halbwertszeiten erlauben keine quantitativen Aussagen zur Abnahme der Arzneimittelkonzentrationen am Wirkort [21]. i Die Eliminationshalbwertszeit ist nicht mit der Wirkungsdauer eines Pharmakons gleichzusetzen. Die Wirkdauer ist meist lediglich proportional der Eliminationshalbwertszeit.
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Die Geschwindigkeit, mit der ein Arzneimittel zum Wirkkompartiment transportiert wird, ist entscheidend für den Wirkungseintritt der Substanz. Dies wird mathematisch mit der Äquilibrierungshalbwertszeit erfasst. Sie gibt Aufschluss über die Anschlagszeit der Wirkung. Seit Einführung der totalen intravenösen Anästhesie ist der Begriff der kontextsensitiven Halbwertszeit hinzugekommen. Man versteht darunter die Zeitspanne von der Beendigung einer Arzneimittelinfusion bis zum Erreichen einer 50%igen Plasmakonzentration des Pharmakons. Als Grundlage wird angenommen, dass die Abnahme der Plasmakonzentration proportional zur Abnahme der Konzentration an den Wirkorten verläuft. Sie ist von der Applikationszeit abhängig und verlängert sich mit zunehmender Infusionsdauer [11]. Die verschiedenen Halbwertszeiten und ihre Bedeutung zeigt . Tabelle 19.4.
19.2.1 Patienten mit Niereninsuffizienz und
Nierenersatztherapie Ungefähr die Hälfte aller Arzneimittel wird über die Niere ausgeschieden. Dabei gelangen durch glomeruläre Filtration hydro- und lipophile Substanzen gleichermaßen in den Primärharn. Bei dieser Ultrafiltration wird Plasmawasser mit den gelösten Stoffen (bis ca. 60.000 D) perfusionsdruckabhängig abgepresst. Größere Substanzen können den glomerulären Filter nicht mehr passieren. Löslichkeitseigenschaften der Substanzen spielen bei der glomerulären Filtration keine Rolle. So werden lipophile Substanzen zwar gut filtriert, sie werden aber trotzdem schlecht ausgeschieden, da nach der primären Filtration eine tubuläre Rückresorbtion im proximalen Tubulus erfolgt. Ist die Eiweißbindung einer Substanz hoch, so gelangt bereits primär nur ein kleiner Anteil in den Primärharn, da nur der nicht gebundene, freie Anteil einer Substanz filtriert werden kann. Neben der Ultrafiltration können Pharmaka mittels tubulärer Sekretion in den Harn gelangen. Bei der tubulären Sekretion handelt es sich um einen aktiven Prozess, bei dem mit Hilfe von Carrier-Systemen dissoziierte organische Säuren und Basen (z. B. Penicilline, Sulfonamide, Sulfonylharnstoffe, Diuretika) gegen ein Konzentrationsgefälle ausgeschleust werden. Hierdurch kann die Effizienz der Ausscheidung hydrophiler Substanzen gesteigert werden. Die Prävalenz des akuten Nierenversagens (ANV) bei Intensivpatienten wird in der Literatur mit 2‒9% angegeben [2, 7, 28]. Bei 85% der Patienten ist das ANV Teil eines Multiorganversagens [27]. Aber gerade diese Patienten benötigen häufig eine Vielzahl an Medikamenten, und es stellt sich nun die Frage nach der Dosierung der über die Niere ausgeschiedenen Pharmaka. Dabei muss die Abwägung zwischen potenzieller Überdosierung mit Auftreten schwerer Nebenwirkungen und Unterdosierung mit der Gefahr der unzureichenden Wirkung erfolgen.
Abschätzung der Nierenfunktion Am Anfang der Überlegungen zur Dosisanpassung von Medikamenten steht die Abschätzung der Nierenfunktion des Patienten. Hierfür stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung.
247 19.2 · Besondere klinische Situationen
Ein schnell zu bestimmender Parameter ist das Serumkreatinin. Es wird neben weiteren Parametern zur Diagnostik einer Nierenfunktionsstörung herangezogen. Das Serumkreatintin ist als Abbauprodukt des Muskelstoffwechsels abhängig von der Muskelmasse des Patienten. Kreatinin wird vor wiegend glomerulär filtriert, ein geringer Teil wird auch tubulär sezerniert. Zu einem Anstieg kommt es erst dann, wenn mehr als 60% der aktiven Nephrone bereits ausgefallen sind. Daher ist dieser Parameter v. a. zur Verlaufsbeobachtung der Nierenfunktion geeignet. Auch die Bestimmung des Serumharnstoffs ist zur Abschätzung der Filtrationsleistung nicht geeignet. Harnstoff wird zur Hälfte tubulär reabsorbiert und ist abhängig von der Ernährung und dem Proteinmetabolismus. Ein Anstieg erfolgt bei einer Nierenfunktionseinschränkung von 60‒70%. Er kann aber Hinweis auf die Schwere der Urämie liefern. Besser geeignet ist die endogene Kreatininclearance im 24-h-Sammelurin. Von der Höhe der Kreatin-Clearance kann direkt auf die glomeruläre Filtrationsleistung rückgeschlossen werden. Die Berechnung der Kreatininclearance erfolgt aus dem im 24-h-Sammelurin gemessenen Kreatinin, dem aktuellen Serumkreatinin und der Urinmenge innerhalb von 24 h.
ClKrea = UKreauVurin/PKrea [ml/min]
Nicht immer liegt zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Dosierung eines Medikamentes die endogene Kreatininclearance vor. Diese kann mit Hilfe der Näherungsformel nach Cockroft u. Gault berechnet werden. Dabei wird die Kreatininclearance anhand Serumkreatinin, Alter, Gewicht und Geschlecht abgeschätzt. Schätzung der Kreatininclearance nach Cockroft u. Gault: 5 Männer: ClKrea= (140–Alter)uKG/72uSKrea 5 Frauen: ClKrea = (140–Alter)uKGu0,85/72uSKrea ClKrea = Kreatininclearance, Alter = Lebensalter [Jahre]; KG = Körpergewicht [kg]; SKrea = Serumkreatinin [mg/dl]
Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz Luzius Dettli hat in den 1960er Jahren erstmals beschrieben [10], dass sich die Clearance eines Arzneimittels linear zur Kreatininclearance als Maß für die Nierenfunktion verhält. Diese Abhängigkeit wird in einer mathematischen Funktion durch die Steilheit A und den Achsenabschnitt Clanur charakterisiert, welcher die Clearance bei anurischen Patienten darstellt.
Cl = Clanur+A–GFR
Weil diese Abhängigkeit linear ist, können die Parameter zwischen beiden Extremen (normal und Anurie) interpoliert werden. Die Halbwertszeit ist dabei der Clearance umgekehrt proportional. Mit Hilfe der sich daraus ergebenden Proportionalitätsregel nach Dettli kann die Dosis des zu verabreichenden Medikamentes wie folgt berechnet werden:
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D/Tau = (D/Tau)normu(Thalf )norm/Thalf D= Dosis; Tau = Dosierungsintervall; Thalf = Halbwertszeit
Bei Medikamenten mit gewünschtem Spitzenspiegel sollte für die Dosisanpassung besser die Halbierungsregel nach Kunin [18] angewendet werden. Grundlage hier ist die Kumulationskinetik. Um eine rasche Aufsättigung zu erreichen, muss eine hohe Anfangsdosis gewählt werden, die meist der normalen Dosis entspricht. Die Erhaltungsdosis entspricht der halben Startdosis. Als Dosierungsintervall wird die interpolierte Halbwertszeit gewählt. Besitzt das verwendete Medikament bereits bei normaler Nierenfunktion eine lange Halbwertszeit, so ist die normale Startdosis zu gering und muss aus dem Spitzenspiegel im Gleichgewichtszustand abgeleitet werden. Die Startdosis kann dann durchaus höher sein als beim Nierengesunden.
D/Tau = ½uDstart/Thalf D= Dosis; Tau = Dosierungsintervall; Thalf = Halbwertszeit
Der Unterschied zwischen beiden Regeln ist, dass bei der Dosisanpassung nach der Kunin-Regel (Halbierungsregel) die Spitzenspiegel des verabreichten Medikamentes gleich bleiben, es aber zu einer Erhöhung der Talspiegel kommt. Anders bei der Dosisanpassung nach Dettli (Proportionalitätsregel), hier bleibt die AUC gleich, aber die Talspiegel werden seltener erreicht oder sind niedriger als bei der Dosierung beim Nierengesunden. Entsprechend der Pharmakokinetik des zu verabreichenden Medikamentes (z. B. hohe Spitzenspiegel erwünscht) kann zwischen beiden Formeln gewählt werden. > Beispiel Das Aminoglykosid Gentamicin hat eine Halbwertszeit von 2 h, die Gabe erfolgt 3-mal täglich alle 8 h. Bei Niereninsuffizienz kommt es zu einer Verlängerung der HWZ auf 12 h (Faktor 6). 4 Dosisanpassung nach der Proportionalitätsregel: Entweder Gabe der normalen Dosis statt alle 8 nur alle 48 h oder Dosis entsprechend reduzieren. 4 Dosisanpassung nach der Halbierungsregel: Beginn der Therapie mit normaler Startdosis und dann Weiterführung der Therapie mit der halben Startdosis nach jeder HWZ (12 h).
Basierend auf diesen pharmakokinetischen Überlegungen werden Empfehlungen für die Dosisanpassung bei verschiedenen Ausprägungen der Niereninsuffizienz meist in Form von Übersichtstabellen ausgegeben. Die Universität Heidelberg bietet unter der Internetadresse www.dosing.de die Möglichkeit der individuellen Dosisberechnung für eine Vielzahl an Medikamenten. i Bei der Anwendung dieser Formeln und Dosierungstabellen muss aber immer bedacht werden, dass es sich dabei um vereinfachte Schemata handelt, die der klinischen Patientensituation nur bedingt gerecht werden können, da eine Vielzahl von Einflussfaktoren nicht berücksichtigt wird.
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Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
Dosisanpassung bei Patienten mit Nierenersatztherapie Ist die Nierenfunktionsstörung so weit fortgeschritten, dass eine Nierenersatztherapie nötig ist, gestaltet sich die Dosisanpassung von Medikamenten noch komplizierter, da durch das Nierenersatzverfahren selbst ein Teil des Medikamentes aus dem Körper eliminiert wird, der bei der Dosisanpassung berücksichtigt werden muss. So kann es bei alleiniger Berücksichtigung und Dosierung des Medikamentes nach der Kreatininclearance des Patienten sogar zu einer Unterdosierung des Medikamentes mit u. U. fatalen Folgen kommen (z. B. fehlendes Ansprechen auf eine Antibiotikatherapie bei Sepsis). Neben den patientenspezifischen Faktoren, wie Restausscheidung, weiteres Organversagen, alternative Eliminationswege, müssen unter einer Nierenersatztherapie weitere Einflussfaktoren auf die Elimination von Medikamenten berücksichtigt werden: 4 Medikamentenabhängige Faktoren: Liegt die Molekülgröße des Medikamentes unterhalb der Porengröße der Filtermembran, wie es häufig der Fall ist, so kann das Antibiotikum theoretisch frei filtriert werden. Die Proteinbindung eines Medikamentes verhindert aber die schnelle Elimination aus dem Blutsystem, da es zu keiner Filtration von Eiweißen über die Dialysemembranen kommt. Je größer das Verteilungsvolumen des Medikamentes, desto größer ist die Halbwertszeit im Körper. 4 Verfahrensabhängige Faktoren: Neben dem gewählten Verfahren selbst (z. B. kontinuierlich oder intermittierende Therapie; Hämofiltration oder Hämodialyse) sind dies v. a. das Filtermaterial mit Porengröße und Oberfläche sowie die gewählten Einstellungen zu Ultrafiltrationsrate und natürlich auch die Einsatzdauer des Verfahrens. Die Abschätzung der Arzneimittelelimination bei kontinuierlicher Nierenersatztherapie (CRRT) basiert ebenfalls auf dem Konzept der totalen Kreatininclearance sowie den pharmakokinetischen Überlegungen von Dettli und Kunin. Die Spezifität der CVVH-Clearance entspricht ungefähr der an der glomerulären Basalmembran. Tubuläre Sekretion und Resorption werden dabei aber nicht berücksichtigt.
Konzept der totalen Kreatininclearance: 5 CLcreaTOT = CLcreaREN + CLcreaCRRT
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CLcreaTOT = totale Kreatininclearance; CLcreaREN = Restfunktion der Niere; CLcreaCRRT = Clearance mittels kontinuierlicher Nierenersatztherapie
Die Gesamtclearance wird, wie in 7 Kap. 19.1.2. bereits erwähnt, in einen renalen und einen nicht renalen Anteil geteilt. Der nicht renale Anteil wird als Q0 bezeichnet, wobei Q0=0 »ausschließlich renale Clearance« und Q0=1 »ausschließlich nicht renale Clearance« bedeutet Die Q0-Werte sind für die meisten Medikamente verfügbar (z. B. www.dosing.de). Gesamtclearance eines Medikamentes: CLgesamt = CLREN + Q0
Bei der Berechnung der Medikamentendosierung muss als erstes die Summe aus renaler Clearance und CRRT-Clearance abgeschätzt werden. Dann erfolgt die Berechnung der prozentualen, reduzierten Dosis. In diese Formel geht implizit eine normale Kreatininclearance von 100 ml/min ein. Individuelle Ausscheidungskapazität = Q0 + (1–Q0)uCLTOTren/100 ml/min
> Beispiel Patient mit akutem Nierenversagen Es ist keine Restfunktion der Niere vorhanden, der Patient wird mit einer kontinuierlichen Hämofiltration therapiert. Die CVVHClearance beträgt 25 ml/min (es werden 1,5 l/h filtriert). Das verabreichte Antibiotikum hat einen Q0-Wert von 0,3. Es ergibt sich eine gesamte renale Clearance (CLTOT en): keine Restfunktion der Niere + CVVH-Clearance =25 ml/min. Damit sollte die Tagesdosis entsprechend der individuellen Ausscheidungskapazität (0,3+0,7u0,25=0,475) auf 47,5% der Standarddosis reduziert werden. Auch hier muss dann noch die Entscheidung getroffen werden, ob das Dosisintervall verlängert oder die Einzeldosis reduziert wird, je nachdem, ob es auf die Spitzenkonzentrationen oder auf gleichmäßige Wirkspiegel ankommt.
Wie bereits bei der Dosisanpassung bei Patienten mit Niereninsuffizienz ohne Nierenersatztherapie erwähnt, ist durch diese Formel nur die Möglichkeit der Abschätzung geben. Streng genommen ist sie nur bei kontinuierlicher venovenöser Hämofiltration (CVVH) mit Postdilution anwendbar. Bei Prädilution ist die CRRT nicht einfach mit der Ultrafiltrationsrate gleichzusetzen, sondern es geht auch noch der Blutfluss mit ein. Außerdem werden auch hier die vorher genannten Einflussfaktoren nicht adäquat berücksichtigt. Leider ist die Zahl der zu diesem Thema vorhandenen Studien begrenzt. Vorteil dieser Studien ist, dass durch die direkte Messung der Medikamentenspiegel im Blut definitive Rückschlüsse und Empfehlungen für die klinische Praxis gegeben werden können, da hier fast alle Einflussfaktoren Einfluss nehmen. Wichtig ist bei der Übertragung dieser Empfehlungen, die entsprechenden Studien bezüglich der eingesetzten Verfahren, verwendeten Filter und Einstellungen genau zu lesen. Optimum ist noch immer die direkte Messung der Medikamentenkonzentrationen im Blut, was aber nur bei wenigen Medikamenten und meist nicht zeitnah möglich ist. Bei den Pharmaka, bei denen dies möglich ist, sollten unbedingt Wirkspiegel bestimmt werden. Weiterhin wichtig ist die klinische Kontrolle des Patienten, um Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen. Bei fehlendem Ansprechen der Pharmakotherapie sollte auch eine potenzielle Unterdosierung in Betracht gezogen werden. Das Vorgehen zur Dosisanpassung von Medikamenten bei Patienten mit Nierenfunktion zeigt . Abb. 19.1.
19.2.2 Patienten mit Leberinsuffizienz Die Inzidenz des akuten Leberversagens in Deutschland wird auf 4‒6 Patienten pro 6000 Klinikaufnahmen geschätzt [24]. Die Inzidenz der Leberzirrhose ist unsicher, da bei einer Vielzahl der Patienten eine Leberzirrhose unerkannt bleibt.
249 19.2 · Besondere klinische Situationen
19
. Abb. 19.1. Vorgehen zur Dosisanpassung von Medikamenten bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen . Abb. 19.2. Vorgehen zur Dosisanpassung von Medikamenten bei Patienten mit Leberfunktionsstörungen
Bei einer Leberinsuffizienz kommt es neben einer verringerten Enzymaktivität zu einem reduzierten Enzymgehalt mit verminderter intrinsischer Clearance. Es kommt zu einer Verminderung des hepatischen Blutflusses und der vermehrten Ausbildung intra- und extrahepatischer Shuntverbindungen. Diese pathophysiologischen Mechanismen führen zu einer Veränderung der Pharmakokinetik der verabreichten Medikamente. Bei Leberzirrhose kann aufgrund der Veränderungen des hepatischen Blutflusses und der Ausbildung von Kollateralen die Bioverfügbarkeit stark zunehmen. Ein Teil der oralen Dosis gelangt dabei direkt von der Portalvene in den systemischen Kreislauf. Bei diesen Substanzen muss entsprechend nach oraler Gabe die Einzeldosis reduziert werden. Phase-I-Reaktionen sind störanfälliger als Phase-II-Reaktionen, denn sie benötigen mehr Energie. Sauerstoffmangel beeinträchtigt frühzeitig Phase-I-Reaktionen und verlängert die Elimination zahlreicher Medikamente. Die Aktivität des Cytochrom P450 -Systems kann durch Krankheit oder Pharmaka gesteigert (z. B. Hepatitis, Barbiturate) oder vermindert (z. B. Leberzirrhose, Cimetidin) werden. Die Phase-II-Reaktion wird durch die meisten Lebererkrankungen nicht beeinträchtigt.
Abschätzung der Leber funktion Anders als bei der Niereninsuffizienz mit der Bestimmung der Kreatininclearance existiert für die Leberfunktionsstörung kein idealer, die Organfunktion umfassend beschreibender Einzelparameter. Laborchemische Tests finden als Screening-Methode
. Tabelle 19.5. Child-Pugh-Klassifikation Parameter
1 Punkt
2 Punkte
3 Punkte
Albumin [g/dl]
>3,5
2,8–3,5
<2,8
Bilirubin [mg/dl]
<2,0
2,0–3,0
>3,0
Quick-Wert (%)
>70%
40–70%
<40%
Aszites
Keiner
Leicht
Mittelgradig
Enzephalopathie
Keine
I–II
III–IV
Child A: 5–6; Child B: 7–9; Child C: 10–15
aufgrund ihrer einfachen Durchführbarkeit vielfache Verwendung in der Abschätzung der Leberfunktion. Sie können aber nur Hinweise auf die Syntheseleistung und exkretorische Funktion der Leber geben. Mit Hilfe von Scores wird versucht, die Leberfunktion zu quantifizieren und eine Prognoseeinschätzung zu erstellen. Der bekannteste Score ist der Child-Score, der nach wie vor als Goldstandard in der Leberfunktionsbeurteilung gilt (. Tab. 19.5). Des Weiteren stehen spezielle Funktionstest, wie z. B. der Methacetin-Atemtest, und die Messung der Indocyaningrün (ICG)-Clearance zur Verfügung. Der ICG-Test misst die hepatische Extraktion des Farbstoffes Indocyaningrün. Die Eliminationsrate von ICG ist ein Maß für die Leberdurchblutung. Die Ausscheidung von ICG erfolgt unverändert über die Galle, ein extrahepatischer Kreislauf besteht nicht. Nach einer Bolusinjektion von 0,5 mg/kg KG ICG erfolgen in 3- bis 5-minütigen Abständen Blutentnahmen mit Plasmaspiegelbestimmungen über insgesamt 20 min. Vorteil des ICG-Funktionstests ist, dass heute auch eine nichtinvasive Messung mittels dichromatischer Densitometrie direkt am Patientenbett möglich ist. Aber auch durch diese speziellen Funktionstests kann nur ein kleiner Teil der Leberfunktion überprüft werden, und eine Übertragung auf die Gesamtfunktion der Leber ist dadurch nicht einfach möglich.
Vorgehen in der klinischen Praxis In der Regel ergeben sich erst bei schwereren Leberfunktionseinschränkungen relevante Probleme. In diesen Fällen sollte Medikamenten mit extrahepatischer Elimination der Vorzug gegeben werden. Gemieden werden sollten Medikamente mit hepatischer Toxizität, sodass es nicht noch zu einer zusätzlichen Leberschädigung kommt. Des Weiteren sollten Pharmaka, die in Form von Prodrugs vorliegen, möglichst nicht verwendet werden. Ansonsten spielt hier die klinische Kontrolle des Patienten eine große Rolle, um Hinweise auf eine mögliche Überdosierung frühzeitig zu erkennen. Zusätzlich verkompliziert der immer häufigere Einsatz von sog. Leberersatztherapien, wie z. B. MARS- oder PrometheusSystem, die Gesamtsituation. Der Einfluss dieser Verfahren auf die Elimination von Medikamenten ist bisher weitgehend unklar, sodass für diese Patienten keine weiterführenden Empfehlungen vorliegen.
250
Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
Das Vorgehen zur Dosisanpassung von Medikamenten bei Patienten mit Leberinsuffizienz zeigt . Abb. 19.2.
19.2.3 Patienten mit Adipositas
Pharmakokinetische Veränderungen
19
Die physiologischen Veränderungen, die bei der Adipositas auftreten, können die Pharmakokinetik von Medikamenten nachhaltig beeinflussen. Der Einfluss der Adipositas auf die Absorption und Bioverfügbarkeit ist nicht ganz klar. Im Gegensatz zu der erwarteten Verminderung der Bioverfügbarkeit aufgrund der bei Adipositas erhöhten Splanchnikusperfusion [1] zeigten Studien zu Midazolam [16] und Propanolol [6], beide mit moderater bis hoher hepatischer Extraktion, keine signifikanten Unterschiede der Bioverfügbarkeit gegenüber Normalgewichtigen. Ebenso zeigte sich für Ciclosporin bei Patienten nach Nierentransplantation keine Änderung der Bioverfügbarkeit [13]. Insgesamt scheint also die Absorption oraler Medikamente nicht signifikant gestört zu sein, obwohl einige Autoren über eine Verzögerung der Magenentleerung bei Adipositas berichten [20]. Das Verteilungsvolumen eines Medikamentes ist, wie bereits erörtert, von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Diese Faktoren können wiederum durch Erkrankungen beeinflusst werden. Bei Adipositas kommt es sowohl zur Zunahme von Fettgewebe als auch fettfreiem Gewebe im Vergleich zu Nichtadipösen. Die Zunahme des Fettgewebes liegt deutlich über der der fettfreien Masse, die 20‒40% der Gesamtzunahme ausmacht. Somit resultiert eine relative Abnahme des prozentualen Anteils von fettfreier Masse und Wasser bei Adipösen gegenüber Nichtadipösen mit Veränderung des Verteilungsvolumnens der Medikamente. Generell kann festgestellt werden, dass das Verteilungsvolumen bei lipophilen Medikamenten stärker durch die Adipositas beeinflusst wird als bei weniger lipophilen Medikamenten. Hier kommt es nur zu geringer oder auch keiner Veränderung des Verteilungsvolumens. Es gibt aber auch Ausnahmen zu dieser Verallgemeinerung: Ciclosporin, stark lipophil, zeigte in mehreren Untersuchungen ein vergleichbares Verteilungsvolumen für adipöse und normalgewichtige Individuen [13, 31]. Der Einfluss der Adipositas auf die Plasmaproteinbindung ist noch immer unklar. Änderungen der Konzentration der Plasmaproteine oder Veränderungen der Affinität der Plasmaproteine für Substrate können eine Verschiebung von Medikamenten in das Gewebe bewirken. Bei der Bindung an Albumin (z. B. Thiopental, Phenytoin) bei Adipösen kommt es zu keiner signifikanten Änderung der Plasmaproteinbindung [8]. Außerdem liegt aufgrund von Studien die Vermutung nahe, dass sich bei Adipositas die Affinität der Plasmaproteinbindung ändern kann ohne nachweisbare Änderung der Plasmaproteinkonzentration [9]. Bei Adipösen können erhöhte Spiegel an Lipoproteinen, Triglyceriden, Cholesterol und freien Fettsäuren nachgewiesen werden. Diese binden sich an die Serumproteine und hemmen somit die Bindung von Medikamenten. Als Folge davon steigt der freie Anteil der Medikamente im Plasma an. Diese Veränderungen sind noch wenig untersucht und Gegenstand der Forschung. Trotz der häufig vorkommenden fettigen Degeneration der Leber bei Adipösen ist die Clearance der meisten hepatisch eliminierten Medikamente nicht vermindert. Bei einigen Medikamenten aber, wie Methylprednisolon oder Popranolol, ist die
hepatische Clearance deutlich reduziert. Vor allem die Phase-IIMetabolisierung von Medikamenten (wie Lorazepam) ist erhöht, während die Phase-I-Reaktionen substratabhängig und normalerweise erhöht oder unverändert sind. Bei Adipösen ist eine höhere glomeruläre Filtrationsrate (GFR) beobachtet worden, somit werden primär glomerulär filtrierte Medikamente vermehrt ausgeschieden. Grund hierfür ist der Anstieg des Nierengewichts mit vermehrter renaler Durchblutung. Bei Adipösen mit Nierenfunktionseinschränkungen sollte die Dosierung nach der gemessenen, nicht einer aus Formeln berechneten GFR erfolgen. Bei der Dosierung von Medikamenten stellt sich immer wieder die Frage, welches Gewicht als Grundlage für die Dosisberechnung zugrunde gelegt werden soll. Entsprechend wurde eine Vielzahl von Größen entwickelt, um der Beschreibung der Zusammensetzung des Körpers aus Fettmasse und fettfreier Masse gerecht zu werden (. Tab. 19.6). Der BMI, der am häufigsten zur Definition der Adipositas herangezogen wird, steigt mit dem Körpergewicht an, kann aber nicht zwischen Fett- oder Muskelgewebe unterscheiden. Er ist nicht geschlechtsspezifisch, und sein Vorhersagewert für Erkrankungen wurde nicht an Frauen evaluiert. Die Bestimmung der Körperoberfläche erscheint ein plausibles Körpermaß zu sein, da Größe und Gewicht eingehen, das Geschlecht aber nicht. Sie wird meist zur Dosierung von Chemotherapeutika eingesetzt, wobei ab einer KOF von 2 m2 die Dosis gekappt wird. Für die Dosierung von Antibiotika, speziell den Aminoglykosiden, wurde das angepasste Gewicht (ABW) entwickelt, in dessen Formel ein Korrekturfaktor, entsprechend der Lipophilie des Medikamentes (Aminoglykoside z. B. 0,3) eingeht. Keines dieser einzelnen Körpermaße ist besser geeignet als ein anderes, um die Pharmakokinetik von Medikamenten beim
. Tabelle 19.6. Körpermaße Formel
Einheit
Body-Mass-Index (BMI)
Aktuelles Gewicht (TBW)/ Größe2
kg/m2
Körperober fläche (KOF)
TBW 0,425×Größe 0,725×0,007184
m2
Idealgewicht (IBW)
45,4+0,89×(Größe–152,4) [+4,5 (für Männer)]
kg
Lean body weight (LBW)
1,1×TBW–0,0128×BMI×TBW (für Männer) 1,07×TBW–0,0148×BMI×TBW (für Frauen)
kg
Angepasstes Gewicht (ABW)
IBW + KF×(TBW IBW) KF = Korrektur faktor von 0,4
kg
Prozentualer Anteil des IBW (%IBW)
TBW/IBW×100 oder (TBW–IBW)/IBW×100
%
Vorhergesagtes Normalgewicht
1,57×TBW–0,0183×BMI × TBW–10,5 (für Männer) 1,75×TBW–0,0242×BMI × TBW–12,6 (für Frauen)
kg
251 19.3 · Interaktionen
Adipösen zu beschreiben. Bei chronischer Gabe von Medikamenten, bei der v. a. die Clearance eine Rolle spielt, sollte die Dosis nicht auf das aktuelle Gewicht, sondern eher auf das LBW bezogen werden. Für das Verteilungsvolumen stark lipophiler Substanzen sollte das TBW herangezogen werden, und bei chronischer Gabe sollte die Dosierung eher nach der LBW erfolgen [15].
Vorgehen in der klinischen Praxis Es liegen nur sehr wenige Studien zur Dosierung von Medikamenten bei Patienten mit Adipositas per magna vor, die herangezogen werden können. Spezielle Untersuchungen zur Medikamentengabe bei adipösen Intensivpatienten gibt es nicht. Es sollte aber bedacht werden, dass die Adipositas einen signifikanten Einfluss auf die Pharmakokinetik von Substanzen nehmen kann. Welches Gewicht als Grundlage für die Dosisberechnung herangezogen werden sollte, ist sowohl abhängig von dem Medikament selbst als auch von der Art und Dauer der Gabe. So weit wie möglich sollte bei diesen Patienten ein Drug-Monitoring durchgeführt werden und mit Hilfe der klinischen Beobachtung der Erfolg bzw. das Auftreten von Nebenwirkungen frühzeitig erfasst werden. Klinische Studien in diesem Bereich wären gerade bei der derzeitigen Entwicklung der Bevölkerungsstruktur dringend notwendig und wünschenswert. 19.2.4 Alte Patienten Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Abnahme der Nierenmasse, welche die Nierenrinde stärker als das Nierenmark betrifft. In Analogie zur kortikalen Betonung der Abnahme der Gesamtnierenmasse beobachtet man auch eine altersabhängige, kortikale Reduktion des renalen Blutflusses auf der Basis einer Widerstandserhöhung sowohl in den afferenten als auch den efferenten Arteriolen [4]. Bereits ab dem 30. Lebensjahr kommt es zu einem kontinuierlichen Abfall der glomerulären Filtrationsrate [26]. Neben der Reduktion der renalen Clearance von bis zu 50% kommt es auch zur Einschränkung tubulärer Funktionen. Die Folge ist eine verlangsamte Ausscheidung von Substanzen mit überwiegend renaler Elimination. Die metabolische Kapazität der Leber ändert sich mit zunehmendem Alter nur geringfügig. Verändert sind v. a. die Phase-IReaktionen, Phase-II-Reaktionen laufen relativ ungestört ab. So ist z. B. die Metabolisierung von Oxazepam mittels Glukuronidierung (Phase-II-Reaktion) nahezu unverändert, während die Hydroxylierung von Midazolam (Phase-I-Reaktion) deutlich verlangsamt ist. Neben diesen altersbedingten Veränderungen der für die Metabolisierung und Ausscheidung maßgeblichen Organe kann es mit zunehmendem Alter bei häufig bestehender Komorbidität auch zu Veränderungen des Verteilungsvolumens von Medikamenten kommen. i Wichtig ist, sich der allein durch das Alter bedingten Veränderungen der Pharmakokinetik von Medikamenten bewusst zu sein und diese bei der Auswahl und Dosierung von Pharmaka zu berücksichtigen.
19.3
Interaktionen
Arzneimittelinteraktionen beschreiben die Wechselwirkungen zwischen mehreren gleichzeitig verabreichten Medikamenten, ohne Aussagen darüber zu machen, ob sich daraus vor- oder nachteilige Konsequenzen für den Organismus ergeben.
19
Während eines Krankenhausaufenthaltes erhält ein Patient im Durchschnitt etwa 10 verschiedene Medikamente, wobei die Streubreite zwischen 1 und 47 Medikamenten liegt [17, 30]. Aufgrund der Vielzahl verwendeter Medikamente in der Intensivmedizin sind Interaktionen gerade hier häufiger anzutreffen. Nimmt der Patient weniger als 6 Arzneimittel zu sich, liegt die Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelinteraktionen bei ca. 5%. Die Häufigkeit steigt auf über 40% an, wenn der Patient mehr als 15 verschiedene Medikamente einnimmt [30]. i Die Häufigkeit schwerer unerwünschter Arzneimittelwirkungen wird mit 6,7%, die tödlicher Komplikationen mit 0,32% angegeben [19].
Die Häufigkeit von Arzneimittelinteraktionen in der Intensivund Notfallmedizin ist nicht bekannt, diese stellen aber ein alltägliches Phänomen dar. Arzneimittelinteraktionen sind nicht immer unerwünscht, sondern können auch gezielt ausgenutzt werden. i 4 Durch die Gabe von Clonidin kann eine Einsparung von Anästhetika und Analgetika erreicht werden. 4 Hypnotika werden durch die gleichzeitige Gabe von Benzodiazepinen in ihrer Wirkung verstärkt.
Die Arzneimittelinteraktionen können in pharmakodynamische, pharmakokinetische und pharmazeutische Interaktionen unterteilt werden. 19.3.1 Pharmakodynamische Interaktionen Von pharmakodynamischen Interaktionen spricht man, wenn sich gleichzeitig applizierte Arzneimittel in ihrer biologischen Wirkung gegenseitig beeinflussen. Dabei kann es zu einer Wirkungsverstärkung oder auch zu einer Wirkungsabschwächung kommen. Beide sind bedingt durch Wirkungsmechanismen der einzelnen Substanzen und daher relativ gut vorhersehbar. Klinisch relevant sind v. a. die Wirkungsverstärkungen, da es hierdurch zu Symptomen einer Überdosierung (wie bei Intoxikationen) durch eine oder beide beteiligten Substanzen kommen kann (. Tab. 19.7). 19.3.2 Pharmakokinetische Interaktionen Pharmakokinetische Interaktionen können zu jedem Zeitpunkt zwischen Applikation und Ausscheidung der Medikamente auftreten. Es können sowohl einzelne als auch mehrere Teilprozesse der Pharmakokinetik betroffen sein [22]. So können sich 2 (oder mehrere) gleichzeitig verabreichte Medikamente in ihrer Resorption, Verteilung (v. a. Proteinbindung), Metabolisierung oder Ausscheidung beeinflussen (. Tab. 19.8). Die Resorption eines Medikamentes wird durch Veränderungen des Magen-pH-Werts und der -motilität, durch Nahrungsaufnahme, durch Chelat- oder Komplexbildung vermindert oder beschleunigt. Durch Verdrängung eines Arzneistoffes von den Bindungsstellen an Plasmaproteinen oder im Gewebe werden dessen Verteilung und dadurch auch die freie Konzentration des Pharmakons verändert. Viele Anästhetika sind in der Lage, diverse Medikamente aus ihrer Plasmaproteinbindung zu verdrängen. Die klinische Relevanz dieser Interaktionen ist aber meist unbedeutend [14, 22, 30].
252
Kapitel 19 · Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen
Arzneimittelkombination
Klinische Wirkung
Trizyklische Antidepressiva + Sympathomimetika
Blutdruckkrisen, Arrhythmien
Orale Antikoagulanzien + Acetylsalicylsäure
Blutungsrisiko
Aminoglykoside + Schleifendiuretika
Verstärkte Ototoxizität
der glomerulären Filtration, der tubulär passiven Rückresorption sowie der aktiven Sekretion zahlreiche Interaktionen bekannt. Viele dieser pharmakokinetischen Interaktionen beruhen auf der Konkurrenz der Substanzen um Bindungsstellen von Transportsystemen. Solche Interaktionen sind dosisabhängig und treten erst im Sättigungsbereich der Bindungsstellen in Erscheinung. Aufgrund der meist nur geringen Arzneimittelspezifität sind pharmakokinetische Interaktionen schlecht vorhersehbar.
ACE-Hemmer + kaliumsparende Diuretika
Hyperkaliämie
19.3.3 Pharmazeutische Interaktionen
ACE-Hemmer + NSAID
Verminderter antihypertensiver Effekt
Insulin + nichtselektive β-Blocker
Fehlende Warnsymptome bei Hypoglykämie
Pharmazeutische Interaktionen sind Folge physikochemischer Reaktionen zwischen gleichzeitig intravenös applizierten Substanzen, wie die Präzipitation bei Vermischung einer sauren mit einer alkalischen Lösung. Hierbei spielen Wechselwirkungen 4 zwischen den Wirkstoffen 4 zwischen den zugesetzten Hilfsstoffen 4 zwischen den Wirk- und den Hilfsstoffen
. Tabelle 19.7. Pharmakodynamische Interaktionen
Die Gefahr einer Überdosierungserscheinung ergibt sich allerdings bei der Kombination mehrerer Medikamente mit folgenden Charakteristika: 4 Plasmaproteinbindung >90%, 4 kleines Verteilungsvolumen, 4 geringe therapeutische Breite, 4 Hemmung des Medikamentenabbaus durch die involvierten Substanzen. Das wichtigste Organ im Arzneimittelstoffwechsel ist die Leber. Die häufigsten pharmakokinetischen Interaktionen sind auf Wechselwirkungen zurückzuführen, die während einer PhaseI- Reaktion das Enzymsystem der Cytochrom-P450-Isoenzyme betreffen, Phase-II-Reaktionen sind weniger betroffen [5, 25]. Durch die Induktion oder Inhibition des Cytochrom-P450-Systems oder durch die Kompetition mehrer Medikamente am selben Enzym wird deren Metabolisierung entweder verlangsamt oder beschleunigt. Im Vergleich zur biliären Exkretion sind bei der Elimination von Pharmaka über die Niere auf der Ebene
eine Rolle. Auch ohne sichtbare Präzipitation kann es bei gleichzeitiger Applikation zweier Substanzen zur Interaktion mit Wirkungsverlust kommen [22]. Eine weitere Form der pharmazeutischen Interaktion ist die Absorption einer Substanz an das Material des Behälters (. Tab. 19.9). 19.3.4 Zusammenfassung 4 Das Risiko von Arzneimittelinteraktionen ist in der Intensivmedizin besonders groß, da hier zahlreiche Medikamente, häufig mit geringer therapeutischer Breite, eingesetzt werden. 4 Die Wahrscheinlichkeit einer Medikamenteninteraktion steigt exponentiell mit der Anzahl der verabreichten Arzneimittel. 4 Bei den pharmakodynamischen Interaktionen sind v. a. die Wirkungsverstärkungen relevant.
. Tabelle 19.8. Beispiele für pharmakokinetische Interaktionen. (Nach [32])
19
Interaktion
Arzneimittel
Verändernde Substanz
Wirkung
Veränderung des gastrointestinalen pH-Wertes
Ketoconazol
Antazida, H2-Blocker, Protonenpumpenhemmer
Verminderung der Bioverfügbarkeit um bis zu 80%
Beeinflussung der Resorption durch Komplexbildung
Tetracycline, Chinolone
Antazida, Eisenionen
Verminderung der Resorption
Veränderung der Resorption durch Hemmung oder Induktion von P-Glykoprotein
Digoxin
Rifampicin
Verminderung der Resorption
Gehemmter Metabolismus
Lovastatin
Azol-Antimykotikum
Erhöhung des Plasmaspiegels
Beschleunigter Metabolismus
Orale Kontrazeptiva
Rifampicin
Unzuverlässige Wirkung
Beeinflussung der renalen Elimination
Penicilline, Cephalosporine
Probenecid
Verminderte tubuläre Sekretion, Erhöhung der Plasmaspiegel
Veränderung der Eiweißbindung
Sulfonamide
Methotrexat
Erhöhte Toxizität
253 Literatur
19
. Tabelle 19.9. Beispiele für pharmazeutische Interaktionen Interaktion
Arzneimittel
Verändernde Substanz
Wirkung
Inkompatibilität
Zahlreiche Substanzen
Furosemid
Inaktivierung
Inkompatibilität
Sulfonamide, Aminoglycoside [5]
Penicillin
Gegenseitige Inaktivierung im Infusionsgemisch
Inkompatibilität
Katecholamine, Kalzium
Natriumbicarbonat
Wirkungsabschwächung
Adsorption an Behälter oder Infusionsleitungen
Insulin, Glyceroltrinitrat
–
Wirkungsabschwächung
4 Medikamente mit geringer therapeutischer Breite, wie z. B. Digitoxin, Digoxin, Theophyllin, Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ oder Antiepileptika, und solche, die den Metabolismus besonders stark beeinflussen (z. B. Barbiturate, Phenytoin, Rifampicin, Carbamazepin, Makrolide, Azol-Antimykotika) bergen ein besonderes Risiko. 4 Wenn möglich sollten problematische Kombinationen vermieden werden. Hierfür sind Kenntnisse über die Grundlagen der Pharmakokinetik und die Metabolisierungswege der häufigsten in der Intensivmedizin verwendeten Medikamente wichtig.
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20 Ernährungstherapie des Intensivpatienten W.H. Hartl, K-W. Jauch
20.1
Pathophysiologische Grundlagen
20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4
Allgemeine Prinzipien –256 Signalsysteme im Postaggressionsstoffwechsel –256 Bedeutung des zentralen Nervensystems – sekundäre metabolische Effekte –256 Veränderungen des Substratstoffwechsels nach perioperativer Homöostasestörung –258
20.2
Praxis der Ernährungstherapie
20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.2.5 20.2.6 20.2.7 20.2.8
Einschätzung des Ernährungszustands –259 Abschätzung des Kalorienbedarfs –261 Substrate für die Ernährung –261 Ernährung des Intensivpatienten –263 Praxis der enteralen Ernährung –265 Komplikationen der enteralen Ernährung –265 Besonderheiten in der Ernährung bei SIRS/septischen Patienten –266 Metabolisches Monitoring –267
Literatur –267
–256
–259
256
Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
Die intensivmedizinische Betreuung umfasst in der Regel zwei große Patientengruppen, einmal Patienten, die intensiv überwacht werden müssen (z. B. Risikopatienten nach größeren Interventionen oder Operationen) und zum zweiten Patienten mit Organfuktionsstörungen (meist hervorgerufen durch SIRS oder Sepsis), die intensiv therapiert werden müssen. Die Ernährungstherapie ist wichtiger Bestandteil der Therapie beider Kollektive. Da viele Formen der Ernährungstherapie jedoch teuer sind, muss auf eine richtige Indikationsstellung geachtet werden. Grundvoraussetzung dafür ist das Verständnis der stoffwechselspezifischen Pathophysiologie. 20.1
Pathophysiologische Grundlagen
20.1.1 Allgemeine Prinzipien
. Abb. 20.2. Kausale und supportive Therapie der perioperativen Homöostasestörung
Die Antwort des Patienten auf eine Homöostasestörung (Operation, Verletzung oder Infektion) ist durch unterschiedlichste endokrine, metabolische und immunologische Veränderungen charakterisiert. Falls der Auslösemechanismus nur schwach ausgeprägt und von kurzer Dauer ist, erfolgt in kurzer Zeit und meistens bei minimaler Intervention die folgenlose Wundheilung und Wiederherstellung der metabolischen und immunologischen Homöostase. Im Gegensatz dazu können stark ausgeprägte Auslösemechanismen zu deutlicheren Veränderungen der endogenen Regulationsprozesse führen. Diese massiven Veränderungen (z. B. persistierend schwere Hyperglykämie) sind teilweise nur unter lebenserhaltender Intensivtherapie zu beobachten und besitzen partiell autoaggressiven Charakter (. Abb. 20.1).
Bei der systemischen Hyperinflammation treten sekundär (über die Aktivierung zahlreicher zellulärer Komponenten) Mikrozirkulationsstörungen auch in initial nicht betroffenen Organsystemen auf. In der Folge kann es dort zu einer progressiven Zellnekrose und schließlich zum Funktionsverlust kommen. In Verbindung mit dem Postaggressionssyndrom beobachtet man ferner eine progrediente Eiweißkatabolie, die bei Miteinbeziehung vital wichtiger Organsysteme ebenfalls über sekundäre Funktionsstörungen zum mehrfachen Organversagen beitragen kann. Die kausale Therapie zur Bekämpfung von SIRS und Sepsis steht heute an erster Stelle. An zweiter Stelle stehen adjuvante Therapien wie die Ernährungstherapie, die jedoch durchaus einen wichtigen Beitrag zur Genesung des Patienten leisten kann (. Abb. 20.2).
i Störungen der Homöostase müssen rechtzeitig und konsequent behandelt werden.
20.1.2 Signalsysteme im Postaggressionsstoff-
Ohne entsprechende und rechtzeitige Intervention können diese Veränderungen das Überleben gefährden und die komplette Wiederherstellung zellulärer und organspezifischer Funktionen behindern. Für die Prognose des Patienten von zentraler Wichtigkeit sind die metabolischen und immunologischen Veränderungen bei SIRS bzw. Sepsis. So kommt es einerseits zu einer Aktivierung des unspezifischen Immunsystems (systemische Hyperinflammation) und zum zweiten zur Ausbildung des sog. Postaggressionssyndroms. Diese beiden Phänomene können in Abhängigkeit vom Ausmaß ihrer Ausprägung und von der Zeitdauer u. U. zu einem lebensbedrohlichen Organversagen führen.
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wechsel Eine perioperative Homöostasestörung ist durch die Freisetzung örtlicher bioaktiver Substanzen, durch gesteigerte neuronale (z. B. Schmerz) und systemische Reaktionen (Tachykardie und Hypertension) und durch eine Aktivierung von E-Rezeptoren durch extravasale Volumenverschiebungen charakterisiert. Im weitesten Sinne können die Hormone, die infolge einer Verletzung freigesetzt werden, unterteilt werden in solche, die überwiegende unter Hypothalamuskontrolle stehen, und solche, die hauptsächlich durch das autonome Nervensystem kontrolliert werden. Dadurch entsteht ein Netzwerk von sich gegenseitig regulierenden Feedbackschleifen. Neben den immunologischen Veränderungen besteht ein wesentlicher Teil der Reaktionen, die nach perioperativer Homöostasestörung auftreten, in der Weiterleitung und Verarbeitung der verschiedenen Signale im Bereich des zentralen Nervensystems. Zur Signalübertragung werden neuronale und humorale Wege sowie Gewebsfaktoren (Zytokine) benutzt (. Abb. 20.3). Diese Signale werden von Efferenzen gefolgt, die in der Hypothalamus-HypophysenAchse und im autonomen Nervensystem entstehen. 20.1.3 Bedeutung des zentralen Ner vensystems
– sekundäre metabolische Effekte . Abb. 20.1. Dichotomie der Hyperglykämie nach perioperativer Homöostasestörung
Die zentrale Verarbeitung der zahlreichen Signale, die infolge von perioperativen Homöostasestörungen entstehen, ist entschei-
257 20.1 · Pathophysiologische Grundlagen
. Abb. 20.3. Afferente und efferente Signale bei perioperativer Homöostasestörung
dend für die Koordinierung der Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Homöostase. Das Zentrum dieser Koordination liegt im Hypothalamus. Zur Regulierung physiologischer Vorgänge besitzt der Hypothalamus zwei bedeutende Efferenzen. Die eine besteht in der sympathischen Achse, zusammengesetzt aus dem Nebennierenmark und dem sympathischen Nervensystem. Die zweite, wesentliche Efferenz beinhaltet die Hypothalamus-Hypophysen-Achse.
Sympathoadrenale Achse Präganglionäre Splanchnikusfasern innervieren das Nebennierenmark und setzen dort Adrenalin und andere Katecholamine in die Zirkulation frei. Postganglionäre sympathische Nervenenden versorgen Organe und Blutgefäße des Körpers und regulieren die Zellen, mit denen sie in Kontakt stehen, durch die Freisetzung von Noradrenalin (. Abb. 20.4). Katecholamine tragen wesentlich zum Anstieg des Energieumsatzes bei, der nach perioperativer Homöostasestörung zu beobachten ist, und wirken zusammen mit anderen Stresshormonen, um die Umstellung des Kohlenhydrat- und Eiweißstoffwechsels herbeizuführen. So beschleunigt Adrenalin die hepathische Glykogenolyse und Glukoneogenese. Ferner mobilisieren Katecholamine freie Fettsäuren durch einen direkten Effekt aus dem Fettgewebe und auch sekundär über die Unterdrückung der pankreatischen Insulinfreisetzung. Da sowohl D- wie auch E-adrenerge Rezeptoren auf den E-Zellen des pankreatischen Apparates vorhanden sind, sind entsprechend den Katecholeminkonzentrationen sowohl inhibierende (D-adrenerge) als auch stimulierende (E-adrenerge) Auswirkungen auf die Insulinfreisetzung möglich. Bei zunehmendem Schweregrad der Homöostasestörung und Über wiegen der D-Wirkung wird somit die pankreatische Insulinfreisetzung gehemmt. Die Freisetzung von Glukagon aus prankreati-
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schen D-Zellen wird durch E-adrenerge Rezeptoren stimuliert und ist dadurch im Rahmen der Stressreaktionen deutlich gesteigert. Unter normalen Umständen ist die Glukosekonzentration der wichtigste Stimulus für die pankreatische Insulinfreisetzung. Insulin besitzt eine globale anabolische Wirkung und steigert die muskuläre Proteinsynthese, die hepatische Glykogensynthese und Glykolyse. Gleichzeitig wird der Glukosetransport in die Zelle hinein sowie die Lipogenese im Fettgewebe und die Proteinsynthese in zahlreichen Kompartimenten beschleunigt. Nach perioperativer Homöostasestörung kann man 2 verschiedene Phasen der Insulinfreisetzung beobachten. 4 Die 1. Phase spielt sich innerhalb der ersten Stunden nach chirurgischem Trauma ab und manifestiert sich als eine relative Unterdrückung der Insulinfreisetzung ‒ ein Phänomen, das ganz überwiegend den Einfluss der Katecholamine und die Aktivierung des sympathischen Nervensystems reflektiert. 4 In einer späteren Phase kommt es dann zu einer Normalisierung bzw. zu einem leichten Anstieg der Insulinkonzentrationen, der jedoch dem Ausmaß der gleichzeitig zu beobachtenden Hyperglykämie nicht entspricht. Gleichzeitig kann das Krankheitsbild der sog. peripheren Insulinresistenz beobachtet werden. Dieses Krankheitsbild entsteht durch das Überwiegen der antiinsulinären Hormone (Katecholamine, Glukagon, Kortison). Glukagon hat im Gegensatz zu Insulin katabole Eigenschaften, es hemmt die Proteinsynthese und stimuliert die hepatische Glykogenolyse und Glukoneogenese. Der synergistische Effekt der Katecholamine, des Glukagons und der Glukokortikoide auf die hepatische Glukoneogenese ist dafür verantwortlich, dass dieser Stoffwechselweg bei gleichzeitiger Erhöhung der Konzentration aller 3 Stresshormone nach chirurgischem Trauma maximal gesteigert ist und bei entsprechend konstanter Hormonaktivierung auch über längere Zeiträume beschleunigt bleiben kann.
Hypothalamus-Hypophysen-Achse Nach perioperativer Homöostasestörung kommt es innerhalb von Minuten zu einer Aktivierung der adrenokortikalen Achse mit rapidem Anstieg von CRH, ACTH und Glukokortikoiden um ein Vielfaches über den Ausgangswert (. Abb. 20.5). stimulieren die hepatische Glukoneogenese und steigern die Speicherung von Kohlenhydraten in Form von Glykogen in der Leber. Gleichzeitig wird die Insulinempfindlichkeit im gesamten Organismus verringert. Kortisol ist ein kataboles Hormon und
. Abb. 20.4. Efferente Signale des zentralen Nervensystems – die sympathoadrenale Achse
258
Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
. Abb. 20.5. Efferente Signale des zentralen Nervensystems – die adrenokortikale Achse (CRH, kortikotropinfreisetzendes Hormon; ACTH, adrenokortikotropes Hormon)
setzt über eine Steigerung der Proteinabbaurate und Hemmung der Proteinsynthese Aminosäuren aus extrahepatischen Geweben frei. Kortisol steigert ferner die Mobilisierung von freien Fettsäuren auf dem Fettgewebe und erhöht damit die Konzentration der freien Fettsäuren im Plasma. Durch die vermehrte Verfügbarkeit von freien Fettsäuren wird somit bei fehlender exogener Nährstoffzufuhr der Energiebedarf überwiegend durch Oxidation von Fettsäuren gedeckt. Die Kohlenhydratutilistaion bleibt obligat zuckerabhängigen Geweben vorbehalten.
Endokrine Besonderheiten des Intensivpatienten Die sympatoadrenale und die Hypothalamus-Hypophysen-Achse sind bei Intensivpatienten auf vielfältige Weise verändert. So korrelieren die Aktivität der sympatoadrenalen Achse bzw. die pankreatische Insulin- und Glukagonfreisetzung eng mit dem Krankheitsschweregrad und der Ausprägung des SIRS bzw. der Sepsis auch über längere Zeit. Im Gegensatz dazu zeigt die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Achse eine deutliche zeitliche Abhängigkeit, die nicht unbedingt mit dem klinischen Krankheitsschweregrad übereinstimmt. Im Anschluss an die Akutphase nach chirurgischem Trauma sind im Prinzip 2 weitere Entwicklungen denkbar. So kann es, sei es mit oder ohne intensivtherapeutische Unterstützung, zu einer Überwindung der Organfunktionsstörung und damit zu einer raschen Erholung des Organismus kommen. Halten SIRS bzw. Sepsis über einen längeren Zeitraum an, so entwickelt sich ein chronisches Krankheitsbild. Bei derartig prolongierten Verläufen besteht eine zunehmende neuroendokrine Dysfunktion, die zumindest z. T. die bei protrahierter Sepsis/SIRS die zu beobachtenden metabolischen Veränderungen erklären kann
(. Abb. 20.6). Dabei ist praktisch jede Achse innerhalb des Hypothalamus-Hypophysen-Systems betroffen. Bei bis zu 50% der Patienten mit protrahierter Sepsis/Mehrfachorganversagen kann eine Insuffizienz der adrenokortikalen Achse gefunden werden. Diese Insuffizienz ist durch einen inadäquaten Kortisonanstieg nach Stimulation mit exogenem ACTH gekennzeichnet. Gleichzeitig sind die Konzentrationen des endogenen ACTH im Normalbereich. Ebenfalls betroffen ist die thyreoidale Achse. Es findet sich bei Intensivpatienten praktisch regelhaft eine ausgeprägte biochemische Hypothyreose, gekennzeichnet durch niedrige TSH-, T4- bzw. T3–Konzentrationen. Inwieweit es sich bei den Veränderungen der thyreoidalen Achse um ein Epiphänomen oder um ein echtes Defizit handelt, das den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflusst, ist immer noch umstritten. Als weiterer wesentlicher Befund imponiert eine pathologisch veränderte Wachstumshormonsekretion mit deutlich verringerter Pulsamplitude. Dadurch kommt es zu einem Abfall der Wachstumshormonkonzentrationen im Vergleich zu den Veränderungen in der akuten Phase. Dieser relative Hyposomatotropismus bei länger anhaltendem Mehrfachorganversagen unterstützt die gleichzeitig immer zu beobachtende ausgeprägte Eiweißkatabolie. 20.1.4 Veränderungen des Substratstoffwechsels
nach perioperativer Homöostasestörung Grundprinzipien Die umschriebenen hormonellen Veränderungen stellen die wesentliche Basis für die Umstellung des Substratstoffwechsels nach
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. Abb. 20.6. Klinischer Verlauf nach perioperativer Homöostasestörung
259 20.2 · Praxis der Ernährungstherapie
chirurgischem Trauma dar. Hierbei steht die Katabolie aller im Körper vorhandener Substratedepots im Mittelpunkt. So kommt es im Fettgewebe zu einer gesteigerten Lipolyse mit vermehrter Freisetzung von freien Fettsäuren, die einerseits als alternative Substrate in den nicht obligat kohlenhydratabhängigen Geweben (Skelettmuskulatur) dienen können und die andererseits in der Leber Energieträger für die dort ebenfalls schneller laufenden Stoffwechselprozesse darstellen. Parallel zur eingeschränkten Kohlenhydratverwertung im Skelettmuskel kommt es dort auch zu einem ausgeprägten Eiweißabbau. Die so freigesetzten Aminosäuren dienen im Wesentlichen 2 Zwecken: 4 Zum einen können die glukoneogenetischen Aminosäuren in der Leber zur beschleunigten Neuproduktion von Glukose herangezogen werden. 4 Zum anderen sind die aus dem Skelettmuskel freigesetzten Stickstoffträger essenziell sowohl für die beschleunigte hepatische Proteinsynthese als auch für die Wundheilung im Bereich der verletzten Strukturen, also für den Aufbau neuen Gewebes an dieser Stelle. In diesem Zusammenhang ist auch die Versorgung des Gastrointestinaltrakts mit bestimmten Aminosäuren (Glutamin) zu nennen. Glutaminabhängige Reparaturmechanismen sollen helfen, das Ausmaß der Integritätsstörung im Gastrointestinaltrakt zu begrenzen. Zentraler Ort des veränderten Stoffwechselgeschehens nach Trauma oder Operation ist die Leber. Hier werden aus Glukoneogenese und Glykogenolyse vermehrt Kohlenhydrate ins Blut abgegeben. Die beschleunigte hepatische Glukoseproduktion erzeugt zusammen mit der peripheren Insulinresistenz eine Hyperglykämie, die dazu dient, in den obligat glukoseabhängigen Geweben (immunkompetente Zellen, Fibroblasten etc.) das Glukoseangebot und damit die Glukoseaufnahme und den Energiestoffwechsel zu optimieren. Gleichzeitig werden ausgewählte Proteine in der Leber mit einer beschleunigten Rate gebildet. Diese sog. Akut-Phase-Proteine (z. B. CRP) spielen nach heutigem Erkenntnisstand ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Überwindung der traumainduzierten Homöostasestörung. Diese Proteine besitzen ausgeprägte antiinflammatorische Eigenschaften und helfen so, die hyperinflammatorischen Reaktionen zu begrenzen. Die Verwendung von endogen freigesetzten Aminosäuren zum Zweck der Glukoneogenese führt zum unwiderruflichen Verlust von Stickstoff in Form von Harnstoff aus dem Körper. Dieser Stickstoffverlust entspricht einem irreversiblen Verlust von körpereigener Eiweißsubstanz und ist das biochemische Korrelat für die Abnahme von Muskelmasse. Nach elektiven chirurgischen Eingriffen und bei unkompliziertem postoperativem Verlauf ist das Maximum der metabolischen Veränderungen, die im Rahmen des Postaggressionssyndroms auftreten, in den ersten 2 Wochen nach der perioperativen Homöostasestörung zu beobachten. Die einzelnen Stoffwechselveränderungen erleben ihren Peak jedoch nicht zum gleichen Zeitpunkt. Die Insulinresistenz mit begleitender Hyperglykämie ist bereits in den ersten 48 h maximal ausgeprägt, wohingegen die Abnahme des Körpereiweißbestandes erst nach 2 Wochen ihr Maximum erreicht. Dementsprechend rekompensiert sich auch der Eiweißstoffwechsel nur sehr langsam. Erst 3–6 Monate nach komplikationslosem chirurgischem Trauma kann mit einer Wiederauffüllung des Körpereiweißbestandes gerechnet werden. Auch das Körper-
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gewicht erreicht erst nach einer derartigen Zeit wieder den präoperativen Ausgangswert.
Metabolische Besonderheiten bei Sepsis/SIRS Bei persistierend schwerem SIRS bzw. schwerer Sepsis bleibt aufgrund der anhaltenden hormonellen Aktivierung auch die schwere Störung des Kohlenhydratstoffwechsels mit Hyperglykämie und Insulinresistenz erhalten. Zum Teil sind unter solchen Umständen extrem hohe Kohlenhydratkonzentrationen zu beobachten, die, falls unbehandelt, über entsprechende immunsuppressive Effekte die Prognose des Patienten negativ beeinflussen können. Des Weiteren imponiert eine markante Eiweißkatabolie. Im Wesentlichen scheinen initial 4 verschiedene Mechanismen für diesen protrahierten massiven Eiweißverlust verantwortlich zu sein: 4 die Immobilisierung des Patienten, 4 die Ausschüttung von katabolen Hormonen, 4 der regelhaft zu beobachtende Hyperkatabolismus mit Erhöhung des Energieumsatzes und schließlich 4 die Aktivierung bestimmter Zytokine. Bei Langzeitverläufen besteht ein weiterer wichtiger Mechanismus zur Auslösung und Aufrechterhalten der protrahierten Eiweißkatabolie in pathologischen Veränderungen des peripheren wie auch des zentralen Nervensystems. Diese sog. septische Neuropathie findet sich bei 70‒90% aller Intensivpatienten und ist mit einer peripheren Polyneuropathie und den Zeichen einer axonalen Degeneration verbunden. In der Folge kommt es zu einer funktionellen Denervierung und damit auch zu charakteristischen Veränderungen im Eiweißstoffwechsel des nachgeschalteten Organs, d. h. des peripheren Muskels. Letzterer reagiert auf eine derartige Denervierung mit einer drastischen Erhöhung der Proteinabbaurate. In der Folge kommt es zu dramatischen Veränderungen im Muskelgewebe. Über 90% der kritisch kranken Patienten zeigen eine Atrophie des Skelettmuskels, bei fast der Hälfte dieser Patienten findet sich eine Muskelnekrose, verbunden mit intrazellulären Fettablagerungen. Bei fast 2/3 der Intensivpatienten bestehen die mikroskopischen Zeichen einer primären Myopathie in der Skelettmuskulatur. Ein weiterer zentraler Befund bei fast allen Intensivpatienten ist die zunehmende Leberverfettung. Sie resultiert aus einer Imbalanz zwischen Fettsäureaufnahme, Fettsäureoxidation und Fettsäuregabe über die VLDL-Triglyzeride. Aufgrund einer Repriorisierung im hepatischen Eiweißhaushalt beobachtet man nämlich eine gestörte hepatische VLDL-Triglyzeridsynthese bzw. -sekretion. Dieses Versagen der hepatischen Lipoproteinsynthese ist zentraler Bestandteil der hepatischen Fettstoffwechselstörungen und führt in Verbindung mit den vermehrt anflutenden freien Fettsäuren zur progredienten Einlagerung von Fett in das Lebergewebe. 20.2
Praxis der Ernährungstherapie
20.2.1 Einschätzung des Ernährungszustands Es sind insbesondere die schwer mangelernährten Patienten, die von einer erhöhten Morbidität betroffen sind und die somit am meisten von einer adäquaten Ernährungstherapie profitieren.
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Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
. Abb. 20.7. Variablen für das Subjective Global Assessment (SGA). Die gefundenen Kriterien sind anzukreuzen, bzw. bei # sind die entsprechenden numerischen Werte einzugeben
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261 20.2 · Praxis der Ernährungstherapie
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i Die zuverlässige Einschätzung des Ernährungszustandes ist heute fester Bestandteil und Voraussetzung für eine effiziente Ernährungstherapie.
Aus klinischer Sicht hat sich die Einteilung in normal ernährt, mäßig mangelernährt oder schwer mangelernährt bewährt. Als mäßig mangelernährt gelten Patienten mit einem Körpergewichtsverlust von 10–15% vor dem Intensivaufenthalt und einer gleichzeitigen Hypalbuminämie bzw. Störung in anderen Organsystemen. Eine schwere Mangelernährung besteht bei einem Gewichtsverlust von 15% oder mehr. Für die Praxis hat sich die Einschätzung des Ernährungszustandes anhand des sog. Subjective Global Assessment (SGA)« durchgesetzt. Diese Methode beruht im Wesentlichen auf einer sorgfältigen Anamneseerhebung, der körperlichen Untersuchung und der Abschätzung des aktuellen Energiebedarfs eines individuellen Patienten. SGA erlaubt es, einen individuellen Patienten ernährungsmedizinisch grob zu klassifizieren mit den Unterscheidungen zwischen 4 gut ernährt (a), 4 mäßig mangelernährt (b) oder 4 schwer mangelernährt (c). Die Variablen für das SGA sind . Abb. 20.7 aufgeführt. Im Besonderen wird dabei auf Gewichtsveränderungen, Veränderungen der Nahrungszufuhr, gastrointestinale Beschwerden, körperliche Aktivität und auf die Grunderkrankung mit ihrem Verhältnis zum Ernährungsbedarf geachtet. Des Weiteren werden bei der körperlichen Untersuchung der Verlust von subkutanem Fett und ein klinisch eindeutig erkennbarer Muskelschwund registriert. Zusätzlich festzuhalten sind Knöchel- oder Flankenödeme bzw. Aszites. Um zu einer entsprechenden SGA-Klassifizierung zu gelangen, wird kein im Detail festgelegter numerischer Algorithmus benutzt. Es erfolgt vielmehr eine Einstufung auf der Basis einer subjektiven Gewichtung. Trotz dieser Subjektivität findet sich eine eindeutige Korrelation des SGA mit der Prognose des chirurgischen Patienten.
. Abb. 20.8. Steuerung der Kalorienzufuhr in Abhängigkeit vom zeitlichen Abstand zum chirurgischen Trauma
Zusätzlich muss der zeitliche Abstand zum chirurgischen Trauma mitberücksichtigt werden (. Abb. 20.8). Unmittelbar postoperativ werden aufgrund der Substratverwertungsstörungen im Rahmen des Postaggressionssyndroms (7 Kap. 20.1.2) zunächst keine Substrate zugeführt. Ab dem 1. postoperativen Tag erfolgt die Energiezufuhr dann entsprechend dem 0,6-fachen, ab dem 4. Tag dann entsprechend dem 0,75-fachen des vorher berechneten Ruheenergieumsatzes. Erst ab dem 7. postoperativen Tag wird der volle Ruheenergieumsatz durch die entsprechende Kalorienzufuhr gedeckt. Somit werden am Operationstag selbst nur Flüssigkeit und Elektrolyte zugeführt. Eine Zufuhr von Vitaminen und Spurenelementen in dieser Phase ist nicht erforderlich. Die Begründung für ein solches Vorgehen liegt darin, dass postoperativ/posttraumatisch zugeführte Kalorien umso weniger vom Körper verwertet werden können, je kürzer der Abstand zum chirurgischen Trauma ist. 20.2.3 Substrate für die Ernährung
20.2.2 Abschätzung des Kalorienbedarfs Nach chirurgischem Trauma muss die Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr mit einer entsprechenden Zufuhr von Kalorien bzw. Substraten in Einklang gebracht werden. Zu diesem Zweck ist es notwendig, zuerst einmal den zu erwartenden Energiebedarf des Patienten festzulegen. Ausgangspunkt ist dabei der basale Energieumsatz, der beim Gesunden anhand von Körpergewicht, Alter, Geschlecht und Körpergröße nach Harris u. Benedikt näherungsweise berechnet werden kann. Für den klinischen Alltag lässt sich der basale Umsatz einfach nach der Faustregel von Stein u. Levine berechnen. Faustregel: Basaler Umsatz nach Stein u. Levine: basaler Energieumsatz [kcal] pro Tag = 24ukg KG
In der Regel ist davon auszugehen, dass unmittelbar postoperativ nach elektiven Eingriffen der Kalorienbedarf des Patienten seinem Ruheumsatz entspricht. Wird der Patient mobilisiert, so erhöht sich diese Rate um etwa 10%. Entwickelt der Patient ein Multiorganversagen, so sinkt der Energieumsatz um 20‒30%.
Die Ernährung kann entweder oral, enteral oder parenteral erfolgen. Dementsprechend existieren für alle 3 Modalitäten kommerziell verfügbare Produkte.
Orale Ernährung In der Regel werden die Produkte zur oralen Ernährung über die Krankenhausküche geliefert. Neben überwiegend flüssiger Kost (Tee, Suppe, orale Trinknahrung mit hoher Kalorien- und Eiweißdichte; auch Zwieback) stehen weitere Zubereitungsformen in Abhängigkeit von der Konsistenz und vom Ballaststoffgehalt zur Verfügung (passierte Kost, leichte Kost, Vollkost). Die orale Nahrungszufuhr sollte den Regelfall bei der Ernährung des Patienten darstellen. Zur Sicherung einer ausreichenden Kalorienzufuhr muss jedoch die tatsächlich vom Patienten verzehrte Nahrungsmenge sorgfältig dokumentiert werden. i Orale Nahrungszufuhr sollte der Regelfall sein.
Enterale Ernährung Bei behindertem Schluckakt oder funktionsuntüchtigem oberem Gastrointestionaltrakt (Magen/Ösophagus) werden Substrate
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Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
. Abb. 20.9. Wirkung immunmodulierender Diäten bei kritisch kranken Patienten
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enteral zugeführt. Bei der enteralen Ernährung kommen industriell hergestellte bilanzierte Diäten zur Anwendung, die bedarfsdeckend für den Nährstoff-, Spurenelement-, Elektrolyt- und Vitaminbedarf des Patienten sind. Die meisten Produkte eignen sich zur vollständigen Ernährung, sind jedoch kostenintensiver als die normale orale Krankenhauskost. Unterschieden werden nährstoffdefinierte Diäten (NDD) von chemisch definierten Diäten (CDD), also hochmolekulare von niedermolekularen Darreichungsformen. Die NDD sind ballaststoffarm und können bei normaler Digestions- und Resorptionsleistung gegeben werden. Sie enthalten Kohlenhydrate als Oligo- und Polysaccharide (50–60%), intaktes Eiweiß aus Milch, Soja, Eiklar und Fleischprotein (15–20%) und schließlich Fette aus Pflanzenölen (25–30%), wobei die Zufuhr von essenziellen Fettsäuren dabei gesichert ist. Für katabole Patienten sind Diäten mit höherer Kaloriendichte und erhöhtem Eiweißgehalt zur eiweißreichen Ernährung (1,3–1,5 g/kg KG/Tag) verfügbar. Bei den gesättigten Fettsäuren finden sich kurzkettige, mittelkettige und langkettige Fettsäuren. Für eine unkomplizierte Langzeiternährung bei uneingeschränktem, funktionstüchtigem Gastrointestinaltrakt existierten auch ballaststoffhaltige Nahrungen. Hier müssen Diäten mit unlöslichen Ballaststoffen (Zellulose) von solchen mit löslichen Ballaststoffen (Präbiotika) unterschieden werden. Zu Letzteren zählen Pektine, Agar, Pflanzenschleim und Oligofruktosen. Die CDD kommen bei globalen Störungen der intraluminalen Hydrolysekapazität und Resorption zum Einsatz, z. B. bei ausschließlich jejunaler Ernährung postoperativ unter Umgehung der Magenpassage, aber auch bei septischen Patienten. CDD sind arm an Fett, ballaststofffrei und wegen der osmotisch wirksamen Proteinhydrolysate gering hyperosmolar, d. h. sie enthalten Aminosäuren, Tripeptide oder Oligopeptide. Diese Oligopeptiddiäten werden nahezu vollständig im oberen Gastrointestinaltrakt resorbiert. Ihr genereller Einsatz als Standardtherapie bei kritisch Kranken ist jedoch nicht angezeigt. Stoffwechseladaptierte Diäten. Die sog. stoffwechseladaptier-
ten Diäten sind für Patienten mit spezifischen Organerkrankungen und Insuffizienzen sowie für Situationen mit metabolischen Besonderheiten entwickelt worden. Zu diesen speziellen Diäten zählen die Diabetesdiäten, Diäten mit immunmodulatorischer Wirkung (Glutamin, ω3-Fettsäuren, Dihomo-γ-Linolensäure, Antioxidanzien), leberadaptierte Sondendiäten und schließlich nierenadaptierte Diäten. Immunmodulierende Diäten können
speziell die überschießenden Reaktionen im unspezifischen Immunsystem dämpfen und gleichzeitig supprimierte Reaktionen im spezifischen Immunsystem stimulieren (. Abb. 20.9). Diese speziellen Diäten (ω-3-Fettsäuren, Antioxidantien, Dihomo-γ-Linolensäure) sind gerade bei beatmeten Patienten von klinischem Nutzten. Für alle anderen insbesondere Argininhaltige Diäten ist jedoch bei Intensivpatienten weder eine Verbesserung von Morbidität oder Letalität eindeutig nachgewiesen, sodass der Einsatz dieser z. T. sehr teuren Produkte gegenwärtig nicht empfohlen wird.
Parenterale Ernährung Bei funktionsuntüchtigem unterem Gastrointestinaltrakt (Dünndarm/Dickdarm) muss die Ernährung parenteral erfolgen. Sie ist in der ersten Woche nach chirurgischem Trauma hypokalorisch, ab der 2. Woche normo (iso-)kalorisch. Sowohl für die frühe (Tag 1–3) als auch die späte (Tag 4–6) postoperative Phase stehen kommerziell erhältliche Infusionslösungen zur Verfügung, die dem jeweiligen Flüssigkeitsbedarf in diesem Zeitraum (40 ml/ kg KG/Tag in der frühen und 25-30 ml/kg KG/Tag in der späten postoperativen Phase) Rechnung tragen. Die Infusionslösungen für die frühe postoperative Phase sind leicht hyperton (700–800 mosm/l) und besitzen eine geringe kalorische Dichte (0,3–0,4 kcal/ml). Sie enthalten 5% Zucker, 3,5% Aminosäuren und Elektrolyte entsprechend den Erhaltungsdosen. Die Konzentrationen sind so angelegt, dass bei Zufuhr von 40 ml/kg KG/Tag eine Substratzufuhr erfolgt, die den in der frühen postoperativen Phase bestehenden Substratverwertungsmöglichkeiten entspricht. Die niedrige Osmolarität dieser Lösungen erlaubt die Zufuhr über einen periphervenösen Zugang. Ab dem 4. postoperativen Tag wird dann die zugeführte Kalorien- bzw. Kohlenhydratmenge erhöht. Die kommerziell verfügbaren Lösungen, die in dieser Situation zum Einsatz kommen, enthalten hypertone Kohlenhydrate, Aminosäuren, Spurenelemente und Elektrolyte. Dem geringeren Flüssigkeitsbedarf in dieser Phase der Erkrankung entspricht die höhere Kaloriendichte, sodass diese Lösungen mit 25–30 ml/kg KG/Tag infundiert werden können. Wegen der hohen Osmolarität (über 1300 mosm/l) müssen diese Lösungen über einen zentralvenösen Katheter zugeführt werden. Die kommerziell verfügbaren Infusionslösungen sind so zusammengesetzt, dass sie dem gesteigerten Eiweißbedarf (1,2‒1,5 g/kg KG/Tag) des Patienten Rechnung tragen. Im Gegensatz zur frühren postoperativen Ernährung tritt jedoch jetzt ein erhöhter Kohlenhydratanteil hinzu.
263 20.2 · Praxis der Ernährungstherapie
Bei Elektrolyt- oder Wasserimbalancen ist es notwendig, anstelle der kommerziell erhältlichen Aminosäure-KohlenhydratMischlösungen Einzellösungen von Aminosäuren und Zucker nach den zuvor aufgezeigten Prinzipien miteinander zu kombinieren. Die Konzentrationen für Zuckerlösungen bewegen sich zwischen 10 und 40% und erlauben eine isokalorische Ernährung bei Patienten, die entweder eine Hypernatriämie oder eine Hyperkalämie bzw. einen Volumenüberschuss aufweisen. So kann die Ernährungstherapie unter gleichzeitiger Zufuhr von größeren Mengen an freiem Wasser (10% Dextrose) oder andererseits unter minimaler Volumenzufuhr (40% Dextrose) zugeführt werden. Die derartig applizierten Kohlenhydratmengen müssen selbstverständlich dem Schweregrad des Postaggressionsstoffwechsels angepasst und dementsprechend dosiert werden. Zusätzlich ist eine Kombination mit separaten Aminosäurelösungen erforderlich, die üblicherweise 10% synthetische kristalline Aminosäuren enthalten. Diese Lösungen bestehen in der Regel zu 40–50% aus essenziellen Aminosäuren, der Rest sind nicht-essenzielle Aminosäuren. Zur kompletten isokalorischen parenteralen Ernährung (frühestens in der 2. postoperativen Woche) existieren hyperosmolare Kombinationslösungen aus Aminosäure, Kohlenhydrat und Fett. Fett kann jedoch auch als Einzelbestandteil der parenteralen Ernährung getrennt zugeführt werden. Bei gleichzeitig sehr hoher Kaloriendichte (2 kcal/ml) genügen geringe Mengen an Fett, um entsprechende Kalorien in Form von Fett zuzuführen. Bei längerfristiger parenteraler Ernährung oder bei chronisch inadäquater enteraler Ernährung muss zusätzlich Glutamin in Form von glutaminhaltigen Dipeptiden zugeführt werden. Zur parenteralen Applikation von Fett stehen derzeit insgesamt 5 Infusionslösungen in unterschiedlicher Zusammensetzung zur Verfügung. Diese Lösungen beinhalten in der Regel 20% Fett in 250 ml und sind 4 Fettemulsionen auf der Basis von Sojabohnenöl (20 g Fett/100 ml mit 52% Linolsäure), 4 Fettemulsionen auf der Basis von Sojabohnen- und Kokusnussöl (sog. mittelkettige Triglyzeride) mit 10 g Sojabohnenöl/100 ml (entsprechend 26% Linolsäure) mit 10 g Kokusnussöl/100 ml in physikalischer Mischung, 4 alternativ in gleicher Zusammensetzung, aber nicht physikalisch, sondern biochemisch gemischt, durch zufällige Veresterung der unterschiedlichen Fettsäuren an den einzelnen Glyzerinmolekülen (sog. strukturierte Lipide), 4 Fettemulsionen auf der Basis von Sojabohnen und Olivenöl mit 4 g Sojabohnenöl/100 ml (entsprechend 18% Linolsäure) und 16 g Olivenöl/100 ml, 4 schließlich noch Präparate mit einem höheren Anteil an Z3-Fettsäuren (Fischöl). Wichtig ist der Anteil der Linolsäure in den Fettemulsionen. Linolsäure ist eine Vorgängersubstanz von Arachnoidonsäure, aus der zahlreiche entzündliche Mediatoren, u. a. auch Prostanglandine und Leukotriene, mit immunsuppressiver Wirkung synthetisiert werden können. Um derartige Effekte zu verringern, enthalten modernere Fettlösungen deutlich weniger Linolsäure, entweder durch Beimischung von mittelkettigen Triglyzeriden als Kokusnussöl oder durch Kombination mit Olivenöl. Aus klinischer Sicht ist bisher nur gesichert, dass die Kombination von Sojabohnenöl und mittelkettigen Triglyzeriden aus Kokusnussöl der reinen Applikation von Sojabohnenöl überlegen ist. Derartige kombinierte Lösungen werden schneller aus
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dem Blut aufgenommen und verstoffwechselt. Außerdem wird eine Überladung des RES durch langkettige Fettsäuren aus Sojabohnenöl vermieden. Inwieweit biochemische Mischungen aus mittel- und langkettigen Triglyzeriden den bisher zur Verfügung stehenden physikalischen Mischungen überlegen sind, ist noch nicht gesichert. Ebenfalls noch nicht etabliert sind Infusionslösungen mit einem extrem geringen Anteil an Linolsäure bzw. hohem Anteil an Z3-Fettsäuren, die beide über die verringerte Synthese von immunsuppressiven Prostanoiden immunologisch günstige Effekte besitzen sollen. Vergleichbar mit der enteralen Ernährung existieren auch für die parenterale Ernährung spezifische Präparate zur Kompensation eventueller Organfunktionsstörungen. Diese sog. Nierenlösungen enthalten ausschließlich essenzielle und wenige semiessenzielle Aminosäuren. Da bei Harnstoffkonzentrationen >100 mg/dl mit weiter steigender Tendenz schädliche Nebenwirkungen zu befürchten sind, wird, wenn eine Hämofiltration/Dialyse hinausgezögert werden soll, eine Reduktion der täglichen Eiweißzufuhr bis auf 1/3 des errechneten Tagesbedarfs durchgeführt. Unter diesem Ernährungsregime ist die Harnstoffproduktion niedriger als unter alleiniger Kohlenhydratzufuhr. Bei länger anhaltendem Nierenversagen ist jedoch die Wiederaufnahme einer isokalorischen Ernährungstherapie mit vollem Aminosäureangebote zu bevorzugen. Bei Patienten mit hepatischer Enzephalopathie und einer Ammoniakkonzentration von >100 mg/dl existieren ebenfalls parenteral einsetzbare Leberlösungen mit einer erhöhten Zufuhr an verzweigtkettigen Aminosäuren. Eine Applikation von Vitaminen und Spurenelementen ist postoperativ nur bei langdauernder parenteraler Ernährung erforderlich. Es existieren kommerzielle Präparate, die die wichtigsten Spurenelemente (Chrom, Kupfer, Eisen, Mangan, Fluor, Molybdän, Selen und Zink) enthalten und die in der Regel täglich zugeführt werden. Wasserlösliche Vitamine können ebenfalls bei längerer parenteraler Ernährung als Zusatz mittels entsprechender Präparate zugeführt werden (Tiamin, Riboflamin, Pyridoxin, Panthotensäure, Ascorbinsäure, Biotin, Folsäure und Cianocobalamin). Die Substitution fettlöslicher Vitamine kann entweder parenteral erfolgen, wenn der Patient im Rahmen seiner Ernährungstherapie Fett intravenös zugeführt bekommt. Auch hier existieren kommerzielle Präparate, die die Vitamine A, D2, K und E enthalten. Erhält der Patient kein Fett intravenös, so besteht alternativ die Möglichkeit, die gleichen Vitamine in spezieller Aufbereitung auch in physiologischer Kochsalzlösung zuzuführen. Zusätzlich können besonders wichtige Spurenelemente (Selen) einzeln parenteral appliziert werden. 20.2.4 Ernährung des Intensivpatienten
Indikation Auch bei Intensivpatienten sollte die orale Nahrungszufuhr so zügig wie möglich begonnen und entsprechend den Gegebenheiten des Postaggressionsstoffwechsels sukzessive gesteigert werden. Bei funktionsuntüchtigem Pharynx (Schluckakt) und/oder Gastrointestinaltrakt muss an eine künstliche Ernährung gedacht werden. Grundsätzlich ist dabei zu berücksichtigen, dass bereits bei nicht intensivpflichtigen Patienten eine nicht ausreichende Nahrungszufuhr für mehr als 14 Tage mit einer erhöhten Letalität assoziiert ist.
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Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
i Die Indikation zur künstlichen Ernährung (enteral/parenteral) besteht nicht nur bei allen bereits vor dem Intensivaufenthalt mangelernährten Patienten, sondern auch bei Patienten ohne die Zeichen der Mangelernährung.
Ohne Verzögerung sollte nach Aufnahme mit einer künstlichen Ernährung begonnen werden, da nur so einer erhöhten Morbidität vorgebeugt werden kann. Ein frühzeitiger enteraler Kostaufbau vermindert das Infektrisiko und verkürzt gleichzeitig die Krankenhausverweildauer. Eine parenterale Ernährung ist nur bei absoluten Kontraindikationen der enteralen Zufuhr (Darmobstruktion mit relevanter Passagestörung, persistierendes intestinales Leck, paralytischer Ileus, schwerer Schockzustand mit Kreislaufinstabilität) indiziert. In allen anderen Fällen wird zumindest der Versuch einer enteralen Ernährung (gastral/jejunal) empfohlen. Bei nur eingeschränkter intestinaler Passage sollte zur Deckung des Kalorienbedarfs die künstliche Ernährung kombiniert enteral und parenteral erfolgen. Auch bei chirurgischen Patienten, die im Rahmen ihres chirurgischen Eingriffs Anastomosen am Gastrointestinaltrakt zur Wiederherstellung der Kontinuität erhalten haben, ist generell postoperativ eine Unterbrechung der oralen/enteralen Nahrungszufuhr nicht erforderlich. Der orale/enterale Kostaufbau sollte sich v. a. nach der Toleranz des Patienten richten. Nach Anastomosen am Kolon und Rektum kann ab dem 1. postoperativen Tag mit der oralen/enteralen Nahrungszufuhr begonnen werden. Bei Anastomosen am oberen Gastrointestinaltrakt ist für die ersten Tage die enterale Nahrungszufuhr über eine distal der Anastomose liegende Sonde/Feinnadelkatheterjejunostomie zu empfehlen.
Parenterale Kalorienzufuhr Im Anschluss an die unmittelbare postoperative Phase ist es nach Abschätzung des Kalorien- und Wasserbedarfs zusätzlich erforderlich, den Anteil der Eiweiß- und Nichteiweißkalorien an der Gesamtkalorienzufuhr festzulegen, der theoretisch zur Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Stickstoffbilanz notwendig ist. Beim gesunden Erwachsenen liegt die notwendige Eiweißmenge bei etwa 0,8 g/kg KG/Tag. Intensivpatienten nach komplikationslosen größeren chirurgischen Eingriffen benötigen je nach Ausmaß ihrer Erkrankung zwischen 1,2 und 1,5 g Eiweiß/kg KG/Tag und damit mehr Eiweiß als ein nicht intensivpflichter Patient nach einer vergleichbaren Operation. i Bei der parenteralen Ernährungstherapie des Intensivpatienten ist der Schwerpunkt auf eine ausreichende Zufuhr von Eiweiß zu legen.
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Geht man von einem Bedarf von 1,5 g/kg KG/Tag aus, so sollte während des gesamten Intensivaufenthalts die entsprechende Menge von etwa 7 kcal/kg KG/Tag in Form von Aminosäuren zugeführt werden. Die zusätzlich zu applizierenden Kohlenhydratbzw. Kohlenhydrat- und Fettmengen richten sich dann nach dem zuvor berechneten Energiebedarf bzw. den zu erwartenden – im Rahmen des Postaggressionssyndroms ‒ auftretenden Substratverwertungsstörungen. So werden zwischen dem 1. und 3. Tag nach operativen Interventionen nur etwa 60% der vorher abgeschätzten Kalorienmenge appliziert, also etwa 14 kcal/kg KG/ Tag (entsprechend der Formel von Stein u. Levine; 7 Kap. 20.2.2). Subtrahiert man von dieser Menge die bereits in diesem Zeitraum zuzuführende Eiweißkalorienmenge (5 kcal/kg KG/Tag,
s. oben), so erhält man eine täglich zuzuführende Kohlenhydratmenge von etwa 9 kcal/kg KG/Tag. Zwischen dem 4. und 6. Tag nach einer chirurgischen Intervention kann mit einem Abklingen des Postaggressionssyndroms und einer Zunahme der Substratverwertung gerechnet werden, sofern keine Komplikationen (Sepsis) auftreten (. Abb. 20.8). In diesem Zeitraum werden etwa 3/4 der als basaler Energieumsatz berechneten Kalorienmenge zugeführt, also etwa 18 kcal/kg KG/ Tag. Nach analoger Subtraktion der Eiweißkalorien ergibt sich hier eine zu applizierende Kohlenhydratmenge von etwa 13 kcal/ kg KG/Tag. Ab dem 7. Tag nach chirurgischem Trauma ist dann eine isokalorische komplette Ernährung mit Aminosäuren/Protein, Kohlenhydraten und Fetten möglich, wobei in der Regel etwa 1/4 der Gesamtkalorienzahl in Form von Fetten appliziert wird. Bei abzusehender länger andauernder parenteraler Ernährung sollte bereits ab dem 1. postoperativen Tag der tägliche Erhaltungsbedarf an Vitaminen und Spurenelementen zugeführt werden.
Orale/enterale Kalorienzufuhr Diese engmaschigen Empfehlungen zur postoperativen Kalorienund Substratzufuhr unter parenteraler Ernährung sind insbesondere für Patienten mit nicht funktionstüchtigem Gastrointestinaltrakt relevant. Bei funktionierendem Gastrointestinaltrakt sind im Hinblick auf die Substratzusammensetzung, jedoch nicht auf die Kalorienzufuhr Abweichungen möglich. Hierbei muss jedoch zusätzlich die Passagekapazität im Magen-Darm-Trakt berücksichtigt werden. Des Weiteren ist die orale/enterale Ernährungstherapie abhängig von der Art des chirurgischen Eingriffs. Bei allen thorax- und unfallchirurgischen Eingriffen kann bei kompletter Unversehrtheit des Gastrointestinaltrakts unmittelbar postoperativ mit der Zufuhr von leichter Kost begonnen werden. Zu achten ist hier jedoch darauf, dass der Patient die ihm angebotenen Kalorienmengen tatsächlich auch verzehrt und sich nicht unerwartet ein Kaloriendefizit entwickelt. Bei abdominalchirurgischen Eingriffen ohne Verletzungen der Integrität des Intestinaltraktes kann ebenfalls in Abhängigkeit vom Ausmaß des Traumas bereits am 1. postoperativen Tag mit dem oralen Kostaufbau begonnen werden. Nach kurzfristiger Verabreichung von überwiegend flüssiger Kost kann dabei bereits am 2. postoperativen Tag auf die Verabreichung von ballaststoffarmer leichter Kost übergegangen werden. Auch hier ist die tatsächlich verzehrte Kalorienmenge jedoch zu kontrollieren. Dabei werden die zuzuführenden Kalorienmengen ‒ wie bei der parenteralen Ernährung – dem Verlauf des Postaggressionssyndroms angepasst (. Abb. 20.8). Bei Eingriffen am unteren Gastrointestinaltrakt erfolgt der orale Kostaufbau leicht verzögert mit zunächst Zufuhr flüssiger Nahrung in den ersten 2 Tagen und dann mit sukzessivem Kostaufbau. Bei Eingriffen am oberen Gastrointestinaltrakt, insbesondere bei Resektionen am Magen und Ösophagus, erfolgt die Nahrungszufuhr über eine intraoperativ eingebrachte spezielle Ernährungssonde, eine sog. Katheterjejunostomie. Hier kommen spezielle enterale Ernährungslösungen zur Anwendung. Bevorzugt wird eine Oligopeptiddiät verabreicht, wobei am 1. postoperativen Tag mit einer kontinuierlichen Gabe von etwa 250 ml über 24 h begonnen wird. Die tägliche Infusionsmenge wird dann in den nächsten Tagen, sofern keine ausreichende orale Nahrungszufuhr erfolgen kann, kontinuierlich um 250 ml/24 h gesteigert, bis das kalorische Maximum von 24 kcal/kg KG erreicht ist.
265 20.2 · Praxis der Ernährungstherapie
Sind Patienten nach thorakalen, gefäßchirurgischen, unfallchirurgischen oder extraintestinalen abdominellen Eingriffen nicht in der Lage, oral Nahrung aufzunehmen, so wird frühzeitig mit einer enteralen Ernährung über eine nasogastrale Verweilsonde begonnen. Auch hier erfolgt der Kostaufbau schrittweise, wobei am 1. postoperativen Tag mit 500 ml enteraler Ernährung begonnen wird. Die Nahrungszufuhr wird dann täglich um 500 ml gesteigert, bis erneut das gewünschte Kalorienoptimum erreicht ist. i Grundvoraussetzung für jegliche Form der enteralen Therapie ist die suffiziente Passage und Resorption der zugeführten Substrate.
Insbesondere bei gastraler Ernährung über Sonde muss auf Passagestörungen geachtet werden. Bei insuffizienter enteraler Kalorienzufuhr ist additiv eine parenterale Supplementierung durchzuführen. Es gilt heute als gesichert, dass von einer postoperativen enteralen Sondenernährung v. a. Patienten nach großen viszeralchirurgischen Tumoroperationen oder schwerem Polytrauma profitieren. Sollte eine enterale Ernährung längerfristig (>4 Wochen) erforderlich sein, so empfiehlt sich der Umstieg auf eine transkutane Sonde, z. B. als PEG. Bei onkologischen Patienten tritt eine Besonderheit hinzu. Hier ist die postoperative Fortführung der präoperativen immunmodulierenden Sondenernährung empfohlen. Bei unkompliziertem Verlauf ist dabei ein Zeitraum von 5–7 Tagen postoperativ ausreichend. 20.2.5 Praxis der enteralen Ernährung Zur enteralen Ernährung wird ein Zugang zum Gastrointestinaltrakt benötigt, dabei sind transnasale Sonden am einfachsten zu platzieren. Ist über einen absehbaren Zeitraum der obere Gastrointestinaltrakt nicht benutzbar, so sollte bereits intraoperativ eine Feinnadelkatheterjejunostomie angelegt werden. Zur nasogastralen Ernährung können großlumige Sonden (12–14 Charr) verwendet werden, die gleichzeitig eine Dekompression des Magens erlauben. 2 verschiedene Applikationsmethoden ‒ kontinuierliche Zufuhr oder Bolusgabe mit Portionen von 50–300 ml (mit oder ohne Gabe von Prokinetika) ‒ sind grundsätzlich möglich. Allgemein zeigt die kontinuierliche Applikation eine bessere Toleranz mit höherer Energie- und Substratzufuhr, da hierunter die Raten an therapielimitierender Diarrhö und Aspirationsereignissen geringer sind. Andererseits können plötzlich auftretende Passagestörungen leicht übersehen werden, woraus sich in der Folge lebensbedrohlich Aspirationsereignisse entwickeln können. Bei unklarer Funktionslage sollte somit die manuelle Bolusapplikation zur Anwendung kommen, da vor jeder erneuten Instillation das Pflegepersonal das im Magen vorhandene Residualvolumen überprüfen und ggf. die zu applizierende Nahrungsmenge daraufhin reduzieren kann. Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine Reihe von Faktoren die normale gastrale Motilität beeinträchtigen kann (sog. Oberbauchatonie). In hartnäckigen Fällen können hier motilitätssteigernde Pharmaka (Metoclopramid oder Erythromyzin) zum Einsatz kommen. Des Weiteren ist es möglich, endoskopisch nasojejunale Sonden zu platzieren. Die endoskopische Sondenplatzierung ist dabei heute die am meisten geübte Technik. Sie ermög-
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licht einen sicheren, wenig zeitaufwändigen Zugang zum oberen Dünndarm. Mit dieser Technik lassen sich auch Anastomoseninsuffizienzen nach Gastro-/Ösophagektomie überbrücken. Bei fehlender Katheterjunostomie kann auf diesem Weg dennoch eine enterale Ernährung bei gleichzeitiger Anastomosendehiszenz durchgeführt werden. 20.2.6 Komplikationen der enteralen Ernährung Die frühzeitige orale/enterale Ernährung ist nicht grundsätzlich risikofrei. Beobachtet werden können insbesondere gastrointestinale (Übelkeit, Diarrhö, Distension) und infektiöse Probleme (Aspirationspneumonie). Treten solche Komplikationen auf, so werden die Krankenhausverweildauer und die assoziierte Morbidität deutlich erhöht. Trotzdem resultiert unter Berücksichtigung aller günstigen und ungünstigen Wirkungen insgesamt ein Vorteil für den Patienten, wenn frühzeitig oral/enteral ernährt wird. In Einzelfällen oder bei bestimmten klinischen Situationen sind jedoch deutliche Abweichungen von der regulären gastrointestinalen Motilität und insbesondere von der normalen Magenentleerungskinetik zu beobachten. Wiederholtes Auftreten von großen Magenresidualvolumina bei Aspiration über Sonde sind die besten Indikatoren einer funktionellen Magenentleerungsstörung. Die Ursachen der Magenentleerungsstörungen sind sehr vielfältig. Sie liegen in der Regel außerhalb des Magens selbst und sind häufig bedingt durch die schwere Allgemeinerkrankung, eine akute Hyperglykämie, autonome Neuropathien und nicht zuletzt Begleitmedikationen, die das autonome Nervensystem beeinflussen (Katecholamine, E2-Mimetika, Analgosedativa). Zu den schweren Allgemeinerkrankungen zählt v. a. die schwere Sepsis. Ein weiterer ungewollter Nebeneffekt der enteralen Ernährung besteht in einer Anhebung des gastralen pH-Werts. Bei gleichzeitig verabreichten Antazida kann es dabei zu einer Verringerung der gastralen Säurebarriere und in der Folge zur Keimaszension und pathologischen Keimbesiedlung im Ösophagus und Pharynx kommen. Treten klinisch oft nicht fassbare Mikroaspirationen unter solchen Bedingungen auf, nimmt das Risiko einer nosokomialen Pneumonie deutlich zu. Dieser Pathomechanismus kann dadurch abgeschwächt werden, dass bei gastraler Ernährung eine nächtliche Ernährungspause eingelegt wird, die ein Absinken des gastralen pH-Werts und damit eine zumindest temporäre Restitution der Säurebarriere erlaubt. Die häufigste Komplikation der enteralen Ernährung ist die Diarrhö. Die Ursachen sind multifaktoriell, die Zusammensetzung der gewählten Nährlösung ist in der Regel jedoch nur selten Ursache des Problems. Auch hier bestimmt die Schwere der Grunderkrankung die Häufigkeit der Komplikationen. Entscheidende Pathomechanismen sind dabei infektiöse Erkrankungen des Intestinaltrakts oder Motilitäts-, Resorptions- und Durchblutungsstörungen. Einen Sonderfall stellt die Antibiotika-induzierte pseudomembranöse Kolitis dar, die einer besonderen Diagnostik (Nachweis von Clostridium-Antitoxin im Stuhl) und einer besonderen Therapie (Vancomyzin peroral/enteral, Metronidazol) bedarf. Ansonsten kann die Behandlung durch Reduktion der Volumenflussrate, durch den Wechsel des Ernährungsregimes bzw. der Ernährungsmodalität bzw. durch Umsetzen einer Antibiotikatherapie erfolgen. In schweren Fällen (hämorrhagische Kolitis) kann sogar eine komplette Ernährungspause angezeigt sein.
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Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
Letztere ist einer hypokalorischen oralen Nahrungszufuhr oder einer erst später begonnenen enteralen Ernährung überlegen. ! Cave In akuten Schockzuständen bzw. bei schwerer Kreislaufinsuffizienz sollte auf jegliche Form der Ernährungstherapie komplett verzichtet werden.
Im Mittelpunkt der ernährungsmedizinischen Anstrengungen bei chronisch septischen Patienten steht die Bekämpfung der Eiweißkatabolie. So werden bei Patienten mit schwerem SIRS oder schwerer Sepsis im Zeitraum von etwa 3 Wochen zwischen 1,2 und 1,4 kg reines Eiweiß verloren, das entspricht etwa 13% des Ausgangswertes. Die Masse des Eiweißverlustes entfällt dabei auf die Skelettmuskulatur. Die Höhe der Kalorienzufuhr in Relation zum Gesamtenergieumsatz hat dabei keinen wesentlichen Einfluss auf die Eiweißkatabolie. Auch bei hoher Eiweißzufuhr wird die Eiweißkatabolie zwar reduziert, jedoch nicht gänzlich aufgehoben. i Das Optimum für die tägliche Eiweißzufuhr beträgt etwa 1,5 g Eiweiß/kg KG/Tag.
. Abb. 20.10. Dickdarmüberblähung bei funktioneller Kolonmotilitätsstörung (Pseudoobstruktion)
Darüber hinaus sind keine günstigen Effekte auf den Eiweißstoffwechsel zu erwarten. Allerdings spielen verschiedene Ernährungsmodalitäten bei der Reduktion des Eiweißverlustes eine Rolle. So kann die enterale Ernährung im Vergleich zu einer isokalorischen parenteralen Ernährung den Eiweißverlust des Intensivpatienten über einen Zeitraum von 10 Tagen fast halbieren.
Kalorienbedarf
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Neben Motilitätsstörungen im Oberbauch spielen auch Passagestörungen im Dünn- und Dickdarm bzw. im Dickdarm isoliert (Oggilvie-Syndrom/Pseudoobstruktion des Kolons; . Abb. 20.10) eine Rolle. Im Rahmen einer derartigen Paralyse imponieren klinisch ein Stuhlverhalt, eine deutliche Distension des Abdomens sowie Übelkeit und Druckschmerz. Der kombinierte Dünn-Dickdarm-Ileus kann vom isolierten paralytischen Dickdarmileus in der Regel mittels einer Röntgenaufnahme des Abdomens differenziert werden. Bei der Pseudoobstruktion handelt es sich um eine isolierte Überblähung des Kolons mit maximaler Distension der Zökalregion (. Abb. 20.10). Die Ursachen für diese Paralyse sind vielfältig, neben lokalen sowie globalen Durchblutungsminderungen (schlechtes Herzzeitvolumen) kommen entzündliche Prozesse im Abdomen sowie motilitätshemmende Medikamente in Frage. Die Therapie erfolgt in der Regel über mechanische Maßnahmen (Hebe-SenkEinlauf) und durch Prokinetika (Ceruletid, Prostigmin), die z. T. mehrmals täglich gegeben werden müssen, um entsprechende Fortschritte in der Passage zu erzielen. Bei einer Kolonüberblähung von >10 cm Durchmesser sind endoskopische Maßnahmen (Luftabsaugung) sowie in Extremfällen die Anlage einer Zökalfistel angezeigt. 20.2.7 Besonderheiten in der Ernährung bei SIRS/
septischen Patienten
Im Gegensatz zu elektiven chirurgischen Operationen kann der gesamte Energieumsatz als Summe des Ruheenergieumsatzes und des Aktivitätsenergieumsatzes bei schwerer Sepsis bzw. SIRS von etwa 2000 kcal in der 1. Woche auf bis zu 4000 kcal in der 2. Woche nach perioperativer Homöostasestörung ansteigen. Somit weisen diese Patienten in der Akutphase ihres Krankheitsgeschehens eine zusätzliche Steigerung um 40–50% über den Ruheenergieumsatz hinaus auf. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei der Entwicklung eines septischen Mehrfachorganversagens wieder eine Abnahme des Energiebedarfs zu beobachten ist (in der Regel nur mehr 10–20% über dem Ruheenergieumsatz). Ebenfalls Im Gegensatz zur Situation nach elektiver Operation ist gerade bei septischen Patienten eine Steuerung der Kalorienzufuhr nach tatsächlichem Energieumsatz nicht angezeigt. Die Begründung ist darin zu suchen, dass auch eine sehr hohe Kalorienzufuhr die Katabolie der endogenen Substratspeicher nicht aufhalten kann und sich somit nicht metabolisch günstig auswirkt. Es können sogar eindeutig schädliche Nebeneffekte beobachtet werden. Bereits eine Erhöhung der Kalorienzufuhr um 20% über den Ruheenergieumsatz hinaus führt bei Intensivpatienten nur zu einer Zunahme der Fettmasse.
Für septische Patienten reicht meist eine konservative Kalorienzufuhr von 21–25 kcal/kg KG/Tag aus (je nach Ausmaß der körperlichen Aktivität und Analgosedierung).
Substrate Auch bei septischen Patienten oder bei einem SIRS sollte frühzeitig mit einer enteralen Ernährungstherapie begonnen werden.
Eine Kalorienzufuhr in derartiger Höhe stellt einen Kompromiss dar zwischen dem Versuch, körpereigene Verluste soweit wie
267 Literatur
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möglich zu kompensieren, und dem Ziel, toxische Nebeneffekte zu vermeiden.
Additive Pharmakotherapie Aufgrund der bekannt schädlichen Nebenwirkungen der Hyperglykämie auf das Immunsystem ist heute eine rigide Einstellung der Blutzuckerspiegel angezeigt. Bei septischen Patienten sollten daher die Zuckerkonzentrationen im Plasma 150 mg/dl nicht überschreiten. Bei entsprechenden Hyperglykämien ist eine rigorose Insulintherapie anzustreben, u. U. mittels Insulin-Dauerinfusionen über Perfusor und unter engmaschiger Blutzuckerkontrolle. 20.2.8 Metabolisches Monitoring Unter künstlicher, speziell parenteraler Ernährungstherapie kann es zu einer Reihe von metabolischen Imbalancen/Nebenwirkungen kommen, zu deren Vorbeugung/Verhütung spezielle Überwachungsmaßnahmen angezeigt sind (. Abb. 20.11). Zum Monitoring der Fettutilisation ist es notwendig, in regelmäßigen Abständen die Plasmatriglyzeridkonzentrationen zu bestimmen. So lassen sich frühzeitig Fettverwertungsstörungen erkennen. Ferner erlaubt auch die mehrfach täglich durchgeführte Blutzuckerbestimmung (Blutzuckertagesprofil) den Nachweis von Kohlenhydratverwertungsstörungen. Die tägliche Bestimmung der Kreatinin- bzw. Harnstoffkonzentrationen kann nur sehr eingeschränkt als Hinweis für eine zunehmende Eiweißkatabolie herangezogen werden. Die Bestimmung dieser Serumkonzentrationen ist jedoch notwendig, um in Verbindung mit einem akuten Nierenversagen den Anstieg dieser harnpflichtigen Substanzen in den toxischen Bereich hinein frühzeitig erkennen und ggf. entsprechende therapeutische Maßnahmen einleiten zu können. Der Elektrolytbedarf des Patienten wird üblicherweise durch tägliche Bestimmung entsprechender Serumkonzentrationen abgeschätzt. Besonders hervorzuheben sind Magnesium und Kalium, da diese Elektrolyte insbesondere bei der Auslösung von Herzrhythmusstörungen eine wichtige Rolle spielen. Auch Kalzium, Phosphat, Chlorid und Natrium sollten überwacht werden, um Einschränkungen der Muskelfunktionen, Störungen der Wundheilung, aber auch metabolische Alkalosen frühzeitig erkennen zu können. Die Intensität der Überwachung richtet sich dabei nach der Schwere des Krankheitsbildes. Nach schwerer perioperativer Homöostasestörung (schweres SIRS, Sepsis) werden regelhaft auch Veränderungen in der Plasmakonzentration der sog. Mikronutrients beobachtet. So fallen postoperativ die Konzentration von Zink und Eisen durch Umverteilungsvorgänge signifikant ab. Gleichzeitig wird ein Anstieg des Kupfers beobachtet. Ebenfalls regelmäßig zeigen sich ein Abfall der Plasmakonzentration der Vitamine A, C und E durch veränderte Plasmaeiweißbindung und ein Abfall von Vitamin B1 und B2. Allerdings kann ein Abfall der Plasmakonzentration bei den Mikronutrients nicht unbedingt als Defizit gewertet werden, da die Plasmakonzentrationen in der Regel nicht den metabolisch relevanten intrazellulären Konzentrationen entsprechen. Zum Nachweis echter Defizite wären indirekte Funktionstests erforderlich, die jedoch kompliziert und in der Praxis nicht durchführbar sind. So wird man sich üblicherweise damit behelfen, bei Risikopatienten entsprechende Vitamine und Spurenelemente unabhängig von gemessenen Konzentrationen oder
. Abb. 20.11. Nebenwirkungen unter parenteraler Ernährung
Enzymaktivitäten prophylaktisch in regelmäßigen Abständen routinemäßig zuzuführen.
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Kapitel 20 · Ernährungstherapie des Intensivpatienten
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20
21 Hämorrhagischer Schock R. Larsen
21.1
Definition und Einteilung der Schocksyndrome
21.2
Pathophysiologie
21.2.1 21.2.2 21.2.3 21.2.4 21.2.5 21.2.6 21.2.7 21.2.8 21.2.9 21.2.10 21.2.11
Sympathoadrenerge Kompensationsreaktionen –270 Allgemeine hämodynamische Störungen –270 Makro- und Mikrozirkulation –270 Atmung –271 Nierenfunktion –271 Darm –271 Leberfunktion –271 Blutgerinnung –271 Säure-Basen-Haushalt –271 Ischämie/Reperfusion –272 Dekompensierter und irreversibler Schock –272
21.3
Klinisches Bild und Einschätzung
21.3.1 21.3.2 21.3.3 21.3.4
Allgemeine Schockzeichen –272 Einschätzung des hämorrhagischen Schocks –272 Differenzialdiagnose –275 Laboruntersuchungen –275
21.4
Behandlung des hämorrhagischen Schocks
21.4.1 21.4.2 21.4.3 21.4.4
Volumenersatz –276 Bluttransfusion –276 Optimierung der Blutgerinnung –277 Begleitmaßnahmen –279
Literatur
–279
–270
–270
–272
–275
270
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
21.1
Definition und Einteilung der Schocksyndrome
Der Schock ist eine akute oder subakute kritische Abnahme der Organdurchblutung oder eine primär verminderte O2-Aufnahme der Zellen mit nachfolgender Zellhypoxie und Anhäufung toxischer Metaboliten sowie Störungen des Zellstoffwechsels. Unbehandelt führt der Schock zum Zusammenbruch des Zellstoffwechsels und der Mikrozirkulation und schließlich zum irreversiblen Herz-Kreislauf-Kollaps. Der Schock ist keine Krankheitseinheit, sondern umfasst eine Gruppe von Syndromen verschiedener Ätiologie und wechselnder Auswirkungen auf die Herz-Kreislauf-Funktion. Vereinfacht können 5 Schockkategorien unterschieden werden [1]: 4 hypovolämischer Schock durch Blutverluste oder Dehydratation, 4 kardiogener Schock durch ein primäres Versagen der Pumpleistung des Herzens bei ausreichenden Füllungsdrücken, 4 septischer Schock: distributiver Schock durch bakterielle Infektion mit Freisetzung bakterieller Polysaccharide oder Proteine, 4 anaphylaktischer Schock: distributiver Schock durch IgEabhängige anaphylaktische und IgE-unabhängige anaphylaktoide Überempfindlichkeitsreaktionen, 4 neurogener Schock: distributiver Schock durch generalisierte Vasodilatation mit relativer Hypovolämie bei neurologischen oder neurochirurgischen Erkrankungen. Der hämorrhagische Schock ist eine spezielle Form des hypovolämischen Schocks. Unterschieden werden: 4 hämorrhagischer Schock durch akute Blutung ohne wesentliche Gewebeschädigung, 4 traumatisch-hämorrhagischer Schock durch akute Blutung und gleichzeitige ausgedehnte Gewebeschädigung mit Freisetzung von Mediatoren. Der hämorhagische Schock ist die häufigste Form des hypovolämischen Schocks. 21.2
Pathophysiologie
Die einzelnen Schocksyndrome verlaufen initial nicht einheitlich, führen aber im weiteren Verlauf zu gleichartigen Reaktionen und Störungen der Organfunktion durch Gewebehypoxie und Anhäufung toxischer Metaboliten. Allen Schocksyndromen ist das Versagen von Zellfunktionen der lebenswichtigen Organe gemeinsam. 21.2.1 Sympathoadrenerge Kompensations-
reaktionen
21
Anfangs reagiert der Organismus auf den akuten Blutverlust mit zahlreichen hormonellen und neurohumoralen Kompensationsmechanismen. Durch Stimulation der Barorezeptoren wird v. a. eine sympathoadrenerge Reflexreaktion ausgelöst, durch die innerhalb weniger Sekunden Adrenalin aus dem Nebennierenmark und Noradrenalin aus den peripheren Nervenendigungen freigesetzt werden. Die Gefäße kontrahieren sich, die Herzfrequenz und die Kontraktilität des Myokards nehmen zu, nachfolgend auch das Herzzeitvolumen. Die Atmung wird durch die sympathoadrenerge Reaktion ebenfalls gesteigert.
Bei anhaltender Stimulation der Hochdruckrezeptoren im Aortenbogen und Karotissinus sowie der Niederdruckrezeptoren im Herzen und in den Lungengefäßen werden Stresshormone ausgeschüttet. Hierzu gehört auch das Arginin-Vasopressin (AVP), dessen Sekretion, ausgelöst durch Stimulation sinoaortaler Rezeptoren als Reaktion auf mäßige Blutdruckabfälle, in 2 Phasen verläuft: einem initialen »burst« und einem lange anhaltenden Plateau. AVP wirkt über den V1-Rezeptor direkt vasonkonstringierend, verstärkt aber aber auch die vasokonstriktorischen Wirkungen von Noradrenalin und Angiotensin II.
Zentralisation Zusammen mit der Stimulation des Herzens kontrahieren sich die afferenten Ateriolen der weniger lebenswichtigen Gefäßgebiete: Peripherer Widerstand und arterieller Blutdruck steigen an. Diese neurohumorale Reaktion wird als Zentralisation bezeichnet. Sie führt zu einer Umverteilung des effektiv zirkulierenden Blutvolumens zu den sog. Vitalorganen (Herz und Gehirn), sodass die Durchblutung dieser Organe zunächst aufrechterhalten werden kann.Außerdem kontrahieren sich kompensatorisch die venösen Gefäße: Der venöse Rückstrom nimmt vorübergehend zu. Daneben strömt interstitielle Flüssigkeit in das Gefäßsystem und vermehrt das intravasale Volumen. i Die sympathoadrenergen Kompensationsreaktionen können in der Regel Volumenverluste von 30–40% des Blutvolumens ausgleichen, während ohne diese Reaktionen ein Blutverlust von 15–20% über eine Dauer von 30 min nicht überlebt wird.
21.2.2 Allgemeine hämodynamische Störungen Bei den meisten Schockformen fällt bereits frühzeitig das Herzzeitvolumen ab (Ausnahme: septischer Schock). Ursache ist ein Versagen der Pumpleistung des Myokards oder eine erhebliche Abnahme des venösen Rückstroms zum Herzen. Hierdurch fällt der arterielle Blutdruck ab. Der periphere Widerstand ist beim hypovolämischen und kardiogenen Schock erhöht, im septischen Schock hingegen vermindert (. Tab. 21.1). 21.2.3 Makro- und Mikrozirkulation Die Zentralisation des Kreislaufs ist zunächst eine sinnvolle Kompensationsreaktion des Organismus anzusehen, um die Durchblutung der Vitalorgane aufrechtzuerhalten. Bleibt jedoch die Zentralisation längere Zeit bestehen, so treten weitere Störungen hinzu, die den Schockzustand noch verstärken. Eine Zentralisation ist fixiert, wenn sie trotz ausreichender Therapie der Schockursachen nicht durchbrochen werden kann.
Störungen der Mikrozirkulation Bei allen Schocksyndromen stehen Störungen der Mikrozirkulation mit Abnahme des Blutflusses und inhomogener Verteilung der Perfusion im Mittelpunkt, wenngleich der Ablauf dieser Störungen bei den einzelnen Symptomen durchaus unterschiedlich sein kann. Für die Mikrozirkulation bilden Arteriolen, Kapillaren und Venolen eine funktionelle Einheit. Während die Arteriolen v. a. den peripheren Blutfluss regulieren, findet im Bereich der Kapillaren und Venolen der Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe statt.
271 21.2 · Pathophysiologie
21
. Tabelle 21.1. Pathophysiologische Charakteristika der Schocksyndrome Parameter
Hypovolämischer Schock
Kardiogener Schock
Septischer Schock
Blutdruck
Erniedrigt
Erniedrigt
Erniedrigt
Herzzeitvolumen
Erniedrigt
Erniedrigt
Erhöht bzw. erniedrigt
Afterload bzw. Gefäßwiderstand
Erhöht
Erhöht
Erniedrigt bzw. erhöht
Preload bzw. Wedge-Druck
Erniedrigt
Erhöht
Erniedrigt
Im frühen Schockgeschehen kontrahieren sich die Widerstandsgefäße beiderseits des Kapillarbetts. Hierdurch wird der Einstrom extrazellulärer Flüssigkeit in das Gefäßsystem begünstigt. Im weiteren Schockverlauf ändert sich jedoch die Reaktivität der Gefäße: Die Arteriolen erweitern sich (verstärkt durch saure Metaboliten), trotz anhaltender Ausschüttung endogener Katecholamine, während die postkapilläre Vasokonstriktion erhalten bleibt und zu einem Anstieg des hydrostatischen Drucks mit Transsudation von Flüssigkeit aus dem Plasma in die Gewebe führt. Zirkulierende vasoaktive Substanzen wie Histamin und Plasmakinine erhöhen die Durchlässigkeit der Kapillaren und begünstigen die Flüssigkeitsverluste aus dem Gefäßsystem. Die Flüssigkeitsverluste führen zur Hämokonzentration; schließlich tritt eine generalisierte Aggregation von Erythrozyten und Thrombozyten im Bereich der Mikrozirkulation auf (Sludgephänomen; »sludge« = Schlamm). Sie führt zur mechanischen Obstruktion der Strombahn und aufgrund der erhöhten Viskosität zur Verlangsamung des Blutstroms. Charakteristisch ist die Tendenz der Erythrozyten, sich in langen, zusammenhängenden (»Geld«-)rollen (»rouleaux«) anzuordnen. Die Mikrozirkulationsstörung breitet sich zunehmend weiter aus und schränkt die Durchblutung der Organe ein, sodass eine Gewebehypoxie und schließlich eine irreversible Schädigung der Zellfunktion mit Tod des Organismus eintreten
fäße, sodass die Nierendurchblutung und die glomeruläre Filtrationsrate abnehmen. Entsprechend kommt es zu einer Oligurie oder Anurie, die zunächst dazu dient, das intravasale Volumen aufrechtzuerhalten. Unter normothermen Bedingungen tolerieren gesunde Nieren eine Ischämiezeit von 15–90 min (Niere im Schock); nach Ablauf der Ischämietoleranz treten zu den funktionellen Störungen morphologische Veränderungen hinzu (Schockniere).
21.2.4 Atmung
21.2.7 Leber funktion
Mit Beginn des Schocksyndroms tritt eine Steigerung der Atmung auf: Das Atemminutenvolumen nimmt zu, der paCO2 ist erniedrigt (reflektorische Hyperventilation), während sich der paO2 zunächst meist nicht verändert. Fällt jedoch das Herzzeitvolumen ab, so wird auch die Durchblutung der Lunge vermindert und das Verhältnis von Belüftung zu Durchblutung in der Lunge und damit auch der pulmonale Gasaustausch erheblich gestört. Klinisch manifestiert sich die Störung des pulmonalen Gasaustausches in der Blutgasanalyse als Hypoxie, meist in Verbindung mit initialer Hypokapnie (kompensatorische Hyperventilation). Die wichtigsten Ursachen der Hypoxie sind Mikroatelektasen und arteriovenöse Shunts, die sich durch die Störungen der Mikrozirkulation entwickeln. Bereits in der Frühphase des Schocksyndroms treten funktionelle und morphologische Lungenveränderungen auf, die im weiteren Verlauf zu einem akuten Lungenversagen führen können.
Irreversible Schäden der Leber sind erst bei lang anhaltender, extremer Ischämie zu erwarten. Eine normale Funktion der Leber ist wegen ihrer Bedeutung als Toxinfilter und Metabolisierungsorgan im Schockzustand besonders wichtig, v. a. beim septischen Schock.
21.2.5 Nierenfunktion
21.2.9 Säure-Basen-Haushalt
Im schweren Schock mit akutem Blutdruckabfall kontrahieren sich die durch sympathische Nervenfasern versorgten Nierenge-
Bei allen Schocksyndromen entwickelt sich eine metabolische Azidose. Sie beruht auf dem anaeroben Stoffwechsel der Gewebe
21.2.6 Darm Bereits kurze Ischämiephasen können die Integrität der Darmmukosa beeinträchtigen; eine erhebliche Verminderung der intestinalen Durchblutung führt im Tierexperiment in weniger als 2 h zu schweren morphologische Schädigungen. Wird eine kritische, beim Menschen nicht genau definierte Zeitspanne überschritten, rreten irreversible Schädigungen auf, besonders im Bereich der Villi. Ödem, Blutung und eingedrungene Bakterien führen zur Bildung einer Pseudomembran, durch die Endotoxine ungehindert in den Kreislauf gelangen können. Zusätzlich wird Histamin freigesetzt und nachfolgend Blut im Splanchnikusbett und in den portalen Gefäßen angesammelt.
21.2.8 Blutgerinnung Im schweren hämorrhagischen Schock entwickelt sich eine Koagulopathie, gekennzeichnet durch Abfall der Fibrinogenkonzentration und eine pathologische Abnahme weiterer Faktoren der Blutgerinnung; im späteren Verlauf auch einer Thrombopenie. Die Koagulopthie wird durch die Azidose und einen Abfall der Körpertemperatur sowie durch Anämie und Hyperfibrinolyse verstärkt.
272
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
. Tabelle 21.2. Klinisches Bild verschiedener Schockformen Parameter
Hypovolämischer Schock
Kardiogener Schock
Septischer Schock
Peripherer Kreislauf
Kalt, Vasokonstriktion
Kalt, Vasokonstriktion
Warm, Vasodilatation
Periphere Zyanose
Häufig
Häufig
Meist nicht
Puls
Schwach, fadenförmig
Schwach, fadenförmig
Gespannt
Zentraler Venendruck
Erniedrigt
Erhöht
Nicht erhöht
Auskultation des Herzens
Unauffällig
Galopp, Geräusche, Reiben
Unauffällig
mit Anhäufung von Laktat, hervorgerufen durch den O2-Mangel der Zellen. 21.2.10 Ischämie/Reper fusion Der starke Abfall des Perfusionsdrucks und des Hämoglobinsgehalts durch den Blutverlust und die Mikrozirkulationsstörungen führen zur Ischämie zahlreicher Organe, zur Anhäufung von Xanthin und Hypoxanthin sowie zur proteolytischen Umwandlung des Enzyms Xanthindehydrogenase in die Xanthinoxidase. Hierdurch werden bei Wiederherstellung des Blutflusses mit oxygeniertem Blut freie Sauerstoffradikale in großer Menge synthetisiert, als deren Folge, unter Katalye von Eisen (Haber-Weiss- und FentonReaktion) hochtoxische Hydroxylradikale entstehen können. Am Ende dieser Reaktion steht die strukturelle Schädigung der Blutgefäße und der Gewebe durch Lipidperoxidation von Membranen. Diese Schädigungen werden, da sie sich erst nach Wiederaufnahme der Durchblutung durch entsprechenden Ersatz der Blutverluste entwickeln, als Reperfusionsschaden bezeichnet. Hierbei gilt folgendens: i Das Ausmaß der Reperfusionsschäden hängt in erster Linie von der Dauer des hämorrhagischen Schocks ab.
Auslösung von Entzündungsreaktionen
21
Der durch O2 induzierte Reperfusionsschaden kann vielfältige Entzündungsreaktionen auslösen. So führt die Interaktion der O2-Radikale mit dem Radikal Stickstoffmonoxid (NO) zur Vasokonstriktion durch Aufhebung der NO-induzierten Vasodilatation. Gleichzeitig bewirken die freien O2-Radikale die Expression endothelialer Adhäsionsrezeptoren, v. a. von L-Selektin und PSelektin. Anschließend werden weitere Rezeptoren synthetisiert und exponiert, und es entwickelt sich eine feste Adhäsion bzw. Transmigration aktivierter Granulozyten in das Gewebe. Hierdurch werden die Membran- und Gewebeschäden verstärkt: Interstitielle Ödeme und Entzündungsreaktionen sind die Folge. Über Mediatorennetzwerk und systemische Entzündungsreaktionen informiert 7 Kap. 61. 21.2.11
Dekompensier ter und irreversibler Schock
Bleibt das Herzzeitvolumen erniedrigt und fällt dadurch das Sauerstoffangebot (DO2) unter eine kritische Schwelle, so nimmt
auch der Sauerstoffverbrauch (VO2) ab. Der Schockzustand gilt aber noch als kompensiert, solange dabei durch die restliche aerobe und anaerobe Glykolyse noch ausreichend ATP für den Funktionsstoffwechsel bereitgestellt wird. Erst, wenn dies nicht mehr möglich ist, d. h. nicht mehr ausreichend ATP für die Zellfunktion und -struktur zur Verfügung steht, treten irreversible Schäden der Gewebe auf [20]. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Zeit: Je länger der Schockzustand dauert, desto ausgeprägter die zellulären Schädigungen und desto größer die Gefahr der Irreversibilität! 21.3
Klinisches Bild und Einschätzung
21.3.1 Allgemeine Schockzeichen Als typische Allgemeinzeichen des ausgeprägten Schocksyndroms gelten: 4 Blutdruckabfall unter 90 mm Hg systolisch oder unter 30–40% der Ausgangswerte, 4 Tachykardie, 4 fadenförmiger Puls, 4 kalte und blasse Haut, 4 Schwitzen, 4 periphere Zyanose, 4 Tachypnoe, 4 Bewusstseinsstörung, 4 verminderte Urinausscheidung. Hierbei sollte beachtet werden, dass die Diagnose »Schock« klinisch häufig erst gestellt wird, wenn die hypotensive Phase eingetreten ist. Zu diesem Zeitpunkt haben sich jedoch bereits zahlreiche pathophysiologische Reaktionen entwickelt. Das klinische Bild der verschiedenen Schocksyndrome ist nicht immer gleich (. Tab. 21.2). Vielmehr bestehen oft geradezu charakteristische Unterschiede, die diagnostisch verwertet werden können. 21.3.2 Einschätzung des hämorrhagischen
Schocks Der hämorrhagische Schock entsteht durch akute äußere und innere Blutungen. Äußere Blutungen als Ursache des Schocks sind gewöhnlich leicht zu erkennen, während bei stumpfen Traumen oder nicht traumatisch bedingten inneren Blutungen die Diagnose zunächst erschwert sein kann.
273 21.3 · Klinisches Bild und Einschätzung
. Tabelle 21.3. Anhaltswerte für Blutverluste bei Frakturen Fraktur
Blutverlust [ml]
Becken
5000
Oberschenkel
2000
Unterschenkel
1000
Oberarm
800
Unterarm
400
! Cave Bei stumpfen Traumen sollte immer an die Möglichkeit okkulter Blutungen in die Körperhöhlen gedacht werden. Das klinische Bild des akuten Schocks ohne offensichtliche Blutungsquelle kann als Alarmzeichen innerer Blutungen angesehen werden.
Offene Blutungen können unbehandelt zum Verbluten führen, während Blutverluste bei geschlossenen Extremitätenverletzungen oft durch eine lokale Tamponade begrenzt werden. In . Tabelle 21.3 sind Anhaltswerte für Blutverluste bei Verletzungen zusammengestellt, in der Übersicht die wichtigsten nichttraumatischen Blutungsursachen.
Wichtigste nichttraumatische Blutungsursachen
21
5 Gynäkologie und Geburtshilfe: – Uterusruptur – Placenta praevia – Extrauteringravidität – postpartale Uterusatonie 5 Weitere Ursachen: – Gefäßarrosionen bei Tumoren oder chronischen Entzündungen – Nasenblutungen – Varizenblutungen usw.
In . Tabelle 21.4 ist die Beziehung zwischen Volumenverlust und klinischem Bild des hämorrhagischen Schocks bei einem jungen, kräftigen und sonst gesunden Patienten zusammengestellt. Die auftretenden Zeichen sind allerdings individuell unterschiedlich stark ausgesprägt. Vor allem reagieren Kinder und alte Patienten empfindlicher auf geringere Volumenverluste als jüngere Patienten. Um den Schweregrad des Schockzustands einzuschätzen, können folgende Messungen durchgeführt werden: 4 Herzfrequenz, 4 arterieller Blutdruck, 4 zentraler Venendruck, 4 Lungenkapillarenverschlussdruck (PCWP), 4 Herzzeitvolumen, 4 Urinausscheidung.
Herzfrequenz
5 Gastrointenstinale Blutungen: – Ulcus duodeni oder ventriculi – Magen- oder Dickdarmtumoren – Meckel-Divertikel – Ösophagusvarizenblutung – Hämorrhoidalblutungen 5 Ruptur von Gefäßen: – Aortenaneurysma – Aneurysma spurium – Angiodysplasien 6
Im Tierexperiment steigen Herzfrequenz und Blutdruck bei Verlusten von ca. 10% des Blutvolumens zunächst an; bei weiteren Verlusten bis zu 15% des Blutvolumens nimmt die Herzfrequenz hingegen vorübergehend ab, der Blutdruck fällt ebenfalls leicht ab, während der zentrale Venendruck unverändert bleibt. In dieser Frühphase ist die Hypovolämie daher schwer zu erkennen. Bei weiteren Blutverlusten entwickelt sich eine Tachykardie, der arterielle Blutdruck und der zentrale Venendruck fallen dagegen drastisch ab. Beim hämorrhagischen Schock gilt: je größer der Blutverlust, desto höher die Herzfrequenz. Allerdings steigt die
. Tabelle 21.4. Klassifikation des hämorragischen Schocks am Beispiel eines jungen, kräftigen und ansonsten gesunden Patienten Parameter
Klasse I
Klasse II
Klasse III
Klasse IV
Blutverlust [ml]
<750 (<10%)
<1500 (<15–30%)
<2000 (<30–40%)
>2000 (>40%)
Systolischer Blutdruck
Normal
Normal
Erniedrigt
Erniedrigt
Diastolischer Blutdruck
Normal
Erhöht
Erniedrigt
Erniedrigt
Puls [1/min]
<100
100–120
120 (flach)
>120 (sehr schwach)
Pulsdruck
Normal oder erhöht
Erniedrigt
Erniedrigt
Erniedrigt
Kapillarfüllung
Normal
Verzögert (>2 s)
Verzögert (>2 s)
Nicht feststellbar
Atemfrequenz [1/min]
14–20
20–30
30–40
<35
Urinfluss [ml/h]
>30
20–30
10–20
0–10
Extremitäten
Normale Farbe
Blass
Blass
Blass und kalt
Mentaler Status
Wach
Ängstlich
Ängstlich und verwirrt
Verwirrt und lethargisch
274
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
Herzfrequenz meist nicht über 150/min an. Liegt die Herzfrequenz höher, so muss an eine primäre Tachyarrhythmie gedacht werden. Wird ein kritischer Volumenverlust überschritten, fällt im dekompensierten hämorrhagischen Schock die Herzfrequenz innerhalb kurzer Zeit progredient ab; schließlich tritt eine Asystolie ein.
Arterieller Blutdruck Ein systolischer Blutdruck von weniger als 80–90 mm Hg oder von 30–40% unter dem Ausgangswert bzw. ein arterieller Mitteldruck von weniger als 50 mm Hg gilt i. Allg. als Indikator für einen Schockzustand. Anhaltende systolische Blutdruckwerte von weniger als 70 mm Hg beeinträchtigen die Koronardurchblutung und führen zu Myokardischämie und myokardialem Pumpversagen, das wiederum wesentlich zur Irreversibilität eines Schockzustands beiträgt. Allerdings sind die Blutdruckwerte, isoliert betrachtet, aus folgenden Gründen von begrenzter Aussagekraft: 4 – Zwar ist ein gewisser minimaler Perfusionsdruck für eine ausreichende Organdurchblutung erforderlich, die Grenzen sind jedoch für die einzelnen Organe nicht genau definiert. Außerdem kann aus der Höhe des Blutdrucks nicht ohne weiteres auf die Größe des Blutflusses geschlossen werden. 4 Die systemische Hypotension ist bei Traumapatienten ein Spätzeichen des hämorrhagischen Schocks[14]: Erst bei bei Blutverlusten von >1500 ml fällt bei Erwachsenen der systolische Blutdruck messbar ab. Dann liegt aber bereits ein ausgeprägter Schockzustand vor (beurteilt am Base excess). 4 Der systolische Blutdruck korreliert beim Traumapatienten schlecht mit dem Base excess: Erst bei einer Abnahme auf mehr als –20 mmol/l fällt der mittlere und mediane systolische Blutdruck auf unter 90 mm Hg ab [14]. 4 – Im Schockzustand ist wegen der Zentralisation der Blutdruck in einer zentralen Arterie wie der Aorta häufig deutlich höher als in einer kontrahierten peripheren Arterie. Für die Überwachung des Schockzustands und den Erfolg der Therapiemaßnahmen sollte der arterielle Druck daher kontinuierlich über eine arterielle Kanüle gemessen werden. ! Cave Die Schwere des hämorrhagischen Schocks darf nicht allein nach nach der Höhe des systolischen Blutdrucks eingeschätzt werden.
saO2 (%)
svO2 (%)
saO2 – svO2 (%)
Isovolämie
>95
>65
20–20
Hypovolämie
>95
50–65
30–50
Hypovolämischer Schock
>95
<50
>50
saO2 arterielle O2-Sättigung, svO2 gemischtvenöse O2-Sättigung, saO2 – svO2 arteriovenöse Sauerstoffdifferenz.
Eine arteriovenöse O2-Differenz von mehr als 30% weist auf eine hämodynamisch signifikante Hypovolämie hin, eine O2-Extraktion von mehr als 50% auf einen hypovolämischen Schock. Hilfreich ist die zusätzliche Bestimmung des Blutlaktats: Werte von mehr als 4 mmol/l zeigen einen Schockzustand an.
Differenzialdiagnostische Erwägungen. Eine erhöhte Sauerstoffextraktion findet sich auch beim Hypermetabolismus und bei Anämie.
Laktat Erhöhte Serumlaktatwerte sind Zeichen der globalen Hypoxie und des Schocks. Die anfänglichen Serumlaktatwerte des Schockpatienten korrelieren mit der Letalität. Wichtiger als der Initialwert scheint aber der weitere Verlauf der Serumlaktatwerte zu sein: Je länger die Laktatwerte erhöht sind (>2 mmol/l), desto höher ist auch die Letalität von Traumapatienten. Auch bei Patienten mit rupturierten abdominellen Artenaneurysmen erwiesen sich erhöhte Serumlaktatwerte als unabhängiger Vorhersageparameter der Letalität [18], witerhin ergab sich eine signifikante Korrelation der Laktatwerte mit den Base-excess-Werten.
Zentraler Venendruck
Der Schockindex kennzeichnet das Verhältnis von Herzfrequenz zu Blutdruck. Bei Werten unter und um 0,5 besteht kein Schock; um 1,0 liegt ein mäßiger Schock vor, über 1,5 ein schwerer Schock. Allerdings ermöglicht der Schockindex lediglich eine grobe Orientierung über den Schweregrad des hämorrhagischen Schockzustands.
Der zentrale Venendruck hängt u. a. vom Füllungszustand des venösen (Kapazitäts)systems ab. Werte unter 5 cm H2O weisen auf Hypovolämie hin, Werte über 12 cm H2O auf Herzinsuffizienz bzw. Volumenüberladung. Die Korrelation zwischen zentralem Venendruck und Hypovolämie ist jedoch schlecht: häufig fällt der zentrale Venendruck erst ab, wenn bereits Verluste von mehr als 30% des Blutuvolumens eingetreten sind. Im hämorrhagischen Schock ist der zentrale Venendruck dagegen erniedrigt, im kardiogenen Schock meist erhöht.
Laktat und avDO2
Lungenkapillarenverschlussdruck
Als indirekte Zeichen eines erniedrigten Blutflusses können die arteriovenöse O2-Gehaltsdifferenz und die arterielle Laktatkonzentration angesehen werden. Im Schock nimmt die arteriovenöse O2-Gehaltsdifferenz (avDO2) aufgrund einer vermehrten O2Ausschöpfung zu; die arterielle Laktatkonzentration steigt wegen der anaeroben Glykolyse an. In . Tabelle 21.5 ist die Beziehung zwischen arteriovenöser O2-Differenz und zunehmender Hypovolämie zusammengestellt.
Der Lungenkapillarenverschlussdruck oder Wedge-Druck (PCWP) wird über einen Pulmonalarterienkatheter gemessen. Erniedrigte Werte weisen auf eine massive Hypovolämie hin, erhöhte Werte auf Linksherzinsuffizienz, die Korrelation ist ähnlich schlecht wie beim zentralen Venendruck, jedoch soll die Messung des Wedge-Drucks eine bessere Kontrolle des Schockverlaufs und des Therapieerfolgs ermöglichen als die des zentralen Venendrucks.
Schockindex
21
. Tabelle 21.5. Beziehung zwischen arteriovenöser Sauerstoffdifferenz (saO2 – svO2) und Hypovolämie
275 21.4 · Behandlung des hämorrhagischen Schocks
Zentralvenöse O2-Sättigung Die Höhe der zentralvenösen O2-Sättigung steht in direkter Beziehung zum Herzzeitvolumen: Je geringer die O2-Sättigung, d. h. je stärker die O2-Extraktion, desto niedriger das Herzzeitvolumen.
21
der Vasokonstriktion, so liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein hämorrhagischer Schock vor. Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch muss die Spät-
phase eines septischen Schocks erwogen werden.
Herzzeitvolumen
Neurogener Schock
Das Herzzeitvolumen, meist gemessen nach der Thermodilutionsmethode, ist der entscheidende Parameter im Schockzustand, weil er Aussagen über die Größe des Blutflusses ermöglicht. Im Frühstadium des Schocks liegt das Herzzeitvolumen, bedingt durch die ausgelösten Kompensationsreaktionen, oft im Normbereich oder ist aufgrund der sympathoadrenergen Reaktion erhöht, fällt jedoch im weiteren Verlauf, mit Ausnahme des hyperdynamen septischen Schocks, ab.
Sind bei einem Patienten im Schock die zentralen Füllungsdrücke niedrig und bestehen gleichzeitig die Zeichen der Vasodilatation, so liegt wahrscheinlich eine funktionelle Vergrößerung des Gefäßbetts durch Abfall des peripheren Widerstands und Abnahme des Venentonus vor, wie sie für den neurogenen Schock charakteristisch ist.
Endexspiratorischer pCO2 Fällt das Herzzeitvolumen ab, so wird auch weniger CO2 ausgeatmet und der endexspiratorische pCO2 fällt ab. Im schweren hypovolämischen Schock werden sehr niedrige Werte gemessen, z. B. 10 mm Hg. Wird Volumen zugeführt und steigt hierdurch das HZV wieder an, so wird auch wieder mehr CO2 ausgeatmet und der endexspiratorische pCO2 steigt entsprechend an. Daher kann mit der kontinuierlichen Kapnometrie der Erfolg therapeutischer Maßnahmen beim hypovolämischen Schock kontrolliert werden.
Hämatokrit Bei akuten Blutverlusten korreliert der Hämatokrit nur schlecht mit dem Ausmaß der Volumen- und Erythrozytenverluste, da sich die relativen Anteile von Plasma und Zellvolumen zunächst nicht wesentlich ändern. Der Hämatokrit nimmt erst im Verlauf von 8‒12 h ab, wenn die Niere beginnt, Natrium zu konservieren. Zudem muss der Effekt therapeutischer Maßnahmen bei der Interpretation beachtet werden, denn die Zufuhr erythrozytenfreier Volumenersatzmittel erniedrigt zwangsläufig den Hämatokritwert. ! Cave Der Abfall des Hämatokritwerts unter der Zufuhr erythrozytenfreier Infusionslösungen beruht auf einem Verdünnungseffekt und darf nicht als Zeichen anhaltender Blutverluste gewertet werden.
Urinausscheidung Mit dem Abfall des Herzzeitvolumens im Schock nehmen auch die Urinausscheidung und die Ausscheidung von Natrium ab, während die Urinosmolarität ansteigt. Im schweren Schock tritt eine Anurie auf. Eine Urinausscheidung von mehr als 0,5–1 ml/kg KG/h weist auf eine ausreichende Organdurchblutung und damit auch Herzleistung hin. Bei jedem Patienten im Schock muss die Urinausscheidung kontinuierlich über wacht werden. 21.3.3 Differenzialdiagnose
Hämorrhagischer Schock Sind bei einem Patienten im Schock die zentralen Füllungsdrücke (zentraler Venendruck, Pulmonalarteriendruck und Wedge-Druck) erniedrigt und bestehen gleichzeitig die Zeichen
Differenzialdiagnose. Hyperdyname Phase des septischen
Schocks; anaphylaktischer Schock.
Kardiogener Schock Sind bei einem Patienten im Schock die zentralen Füllungsdrücke hoch und besteht gleichzeitig eine Vasokonstriktion, so liegt wahrscheinlich ein kardiogener Schock vor. Meist bestehen zusätzlich noch die Zeichen der venösen Stauung. 21.3.4 Laboruntersuchungen Bei Patienten im Schock sollten zunächst die in der folgenden Übersicht zusammengefassten Laborparameter bestimmt werden. Laboruntersuchungen im Schock 5 5 5 5 5 5 5 5
Blutgruppe und Kreuzprobe Hämoglobin, Hämatokrit, Leukozyten Arterielle Blutgasanalyse mit Säuren-Basen-Status Serumelektrolyte Kreatinin und Harnstoff GOT, GPT, J-GT, Bilirubin und Amylase CK, CK-MB Gerinnungsstatus einschließlich Thrombozyten und Fibrinspaltprodukten 5 Arterielle Laktatkonzentration
Aus den insgesamt erhobenen Daten können Schlussfolgerungen über Schockform, Schweregrad und Ursache gezogen werden. 21.4
Behandlung des hämorrhagischen Schocks
Für eine erfolgreiche Therapie muss das Schocksyndrom frühzeitig erkannt werden. Vorrangiges Ziel ist die Wiederherstellung einer ausreichenden Herz-Kreislauf-Funktion und Organdurchblutung. Häufig sind therapeutische Maßnahmen nur dann wirksam, wenn auch rasch die Ursache des Schocks beseitigt wird. Dies gilt ganz besonders für schwere Traumen, bei denen die Blutungen so massiv sind, dass die Volumenzufuhr mit den Verlusten nicht Schritt halten kann: In dieser Situation muss umgehend operiert werden, auch wenn der Schockzustand noch nicht durch therapeutische Maßnahmen kompensiert werden konnte.
276
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
i Wichtigste Maßnahmen beim traumatisch-hämorrhagischen Schock sind die (meist operative) Blutstillung und der ausreichende Ersatz von Volumen und O2-Trägern. Bei Blutungen nichttraumatischer Ursache sollte, nach ausreichender Reaktion der Herz-Kreislauf-Funktion auf Volumenersatz, die Blutungsquelle lokalisiert und operativ oder endoskopisch ausgeschaltet werden.
21.4.1 Volumenersatz
Venöse Zugänge Je nach Ausmaß des Schocks sollten ein weitlumiger zentraler Venenkatheter, kurze Katheterschleusen oder ein Shaldon-Katheter sowie mehrere weitlumige periphere Venenverweilkanülen gelegt werden. Der Volumenersatz sollte über die kurzen peripheren Venenkanülen erfolgen: Sie ermöglichen eine wesentlich raschere Volumenzufuhr als die längeren Venenkatheter, über die der zentrale Venendruck und die zentralvenöse O2-Sättigung gemessen, kardiovaskuläre Medikamente zugeführt und Blut für Laboruntersuchungen entnommen werden können.
Volumenersatzmittel: Kristalloide oder Kolloide? Im Mittelpunkt der Behandlung des hämorrhagischen Schocks steht die umgehende Blutstillung (Kompression, operativ) und die rasche Wiederherstellung des zirkulierenden Blutvolumens durch kolloidale und kristalloide Lösungen (isovolämische Hämodilution), mit denen in der Regel Verluste von ca. 30% des Blutvolumens ohne Zufuhr von Fremdblut kompensiert werden können. Darüber hinausgehende Blutverluste müssen zumeist durch Erythrozytenkonzentrate ausgeglichen werden. Kristalloide. Nur 25% einer infundierten Kristolloidlösung ver-
21
bleibt im Gefäßsystem, der Rest verteilt sich im Interstitium, weil durch die Verdünnung der kolloidosmotische Druck des Plasmas abfällt. Um mit einer Kristolloidlösung den gleichen intravasalen Volumeneffekt zu erreichen wie mit einer kolloidalen Lösung, muss daher die 4-fache Menge zugeführt werden, d. h. ein Blutverlust von 500 ml erfordert die Zufuhr von 2000 ml Kristalloidlösung, wenn die Isovolämie wiederhergestellt werden soll. Allerdings kann die interstitielle Flüssigkeitsansammlung durch Zufuhr großer Mengen von Kristalloidlösungen den pulmonalen Gasaustasch, die Darmperfusion und die Sauerstoffversorgung der Gewebe beeinträchtigen. Werden zudem bikarbonatfreie Lösungen in großer Menge zugeführt, tritt eine Dilutionsazidose auf. Laktathaltige Lösungen wie Ringer-Laktatlösungen sind beim Schock ebenfalls ungünstig, da nur eine funktionsfähige Leber Laktat umsetzen kann und hierdurch der Sauerstoffverbrauch gesteigert wird. Außerdem wird durch die Laktatzufuhr die plasmatische Laktatkonzentration erhöht, sodass Laktat nicht mehr korrekt als Hypoxiemarker verwertet werden kann. Daher sollten isotone Vollelektrolytlösungen bevorzugt werden, die nicht mit der Laktatdiagnostik interferieren. Bei der Zufuhr von Kristalloiden wird empfohlen, pro 4 Einheiten 1 Einheit kolloidale Lösung zuzuführen, um den kolloidosmotischen Druck aufrechtzuerhalten. Kristalloide haben keinen spezifischen Effekt auf die Blutgerinnung, große Mengen verdünnen aber die Gerinnungsfaktoren. Kolloide. Verwendet werden 10%ige Hydroxyethylstärke- (HES)
200/0,5 und Gelatinelösungen; Humanalbumin- und Plasmapro-
teinlösungen haben sich in Metaanalysen beim primären Volumenersatz für hypovolämische Patienten den Kristalloiden und künstlichen Kolloiden nicht als überlegen erwiesen und sollten daher angesichtssind der hohen Kosten nicht verwendet werden. Kolloide haben gegenüber Kristalloiden den Vorteil der längeren Verweildauer im Gefäßsystem, auch nimmt das HZV wegen der Abnahme der Blutviskosität stärker zu. Hydroxyethylstärkelösungen, in großer Menge zugeführt, können die Polymerisation von Fibringerinnseln stören und so die Blutgerinnung beeinträchtigen, außerdem die Niere schädigen. Die Dosisempfehlungen der Hersteller sind entsprechend zu beachten. Diese Effekte sind bei Gelatinelösungen nicht zu erwarten; sie können z. B. eingesetzt werden, wenn die Grenzwerte für Kolloide erreicht werden [2], weiterhin für den Ersatz mäßiger Blutverluste. Welche Art von Volumenersatzmitteln zugeführt werden soll, ist nach wie vor umstritten. Metaananalysen konnten eine Wirksamkeit beider Ansätze belegen; im Vergleich konnten dagegen zwischen Kristalloiden und Kolloiden keine wesentlichen Unterschiede festgestellt werden. Pragmatiker kombinieren häufig isotone Kristalloidlösungen mit HES- oder Gelatinelösungen.
Verzögerte Volumentherapie Bei perforierenden oder penetrierenden Traumen mit zunächst unstillbarer Blutung in den Bauchraum oder Thorax wird ein zurückhaltender Volumenersatz mit permissiver Hypotonie (systolische Blutdruckwerte von 70‒80 mm Hg oder ein mittlerer arterieller Druck von 50 mm Hg) empfohlen [2], um weitere Blutverluste durch den ansteigenden Blutdruck zu vermeiden. Die Empfehlungen beruhen auf einer Untersuchung von Bickell et al. [4] an hypotensiven Patienten mit penetrierenden Verletzungen in einer Körperhöhle, bei denen erst nach Eintreffen in der Notfallaufnahme mit der Volumenzufuhr begonnen wurde. Diese Patienten wiesen eine bessere Prognose auf als diejenigen, die bereits am Unfallort eine aggressive Volumentherapie erhielten. Bei diesem Konzept sind allerdings mögliche Begleiterkrankungen wie koronare Herzkrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankungen kritisch zu berücksichtigen.
Small Volume Resuscitation Bei diesem Konzept [12] erfolgt die initiale Therapie des schweren hämorrhagischen Schocks durch rasche Infusion geringer Volumina (4 ml/kg KG bzw. 250 ml beim Erwachsenen) einer hypertonen, hyperonkotischen NaCl (7,2–7,5%)-Kolloidlösung (6% HES 200/0,5). Durch den entstehenden hohen osmotischen Gradienten wird Flüssigkeit aus dem Interstitium mobilisiert, sofern hier genügend Flüssigkeit vorhanden ist; die Mikro- und Makrozirkulation werden initial verbessert; ein anhaltender Effekt ist aber nur zu erwarten, wenn die aus dem Interstitium mobilisierte Flüssigkeit rasch ersetzt werden kann. Die gleichzeitige Zufuhr von 100%igem Sauerstoff verbessert im Tierexperiment die hämodynamischen Effekte der hyperonkotischen Lösung [6]. Nach wie vor ist jedoch nicht geklärt, ob die »small volume resuscitation« einen günstigeren Effekt auf die Überlebensrate von Schockpatienten aufweist als die initiale Therapie mit isotonen Kristalloidlösungen oder mit Kolloidlösungen [7]. 21.4.2 Bluttransfusion Volumenverlust bis auf 7 g/dl gilt beim kardial und zerebral nicht vorgeschädigten, isovoloämischen Patienten noch nicht als Indikation für die Transfusion von Blut, jedoch muss hierüber stets
277 21.4 · Behandlung des hämorrhagischen Schocks
individuell entschieden werden. Bei Zeichen der Hypoxie (Tachykardie, ST-Senkung im EKG, Laktatanstieg, Zunahme des Basendefizits, Abfall der gemischtvenösen O2-Sättigung) und/oder anhaltenden Blutverlusten sollte auch bei Werten von >7 g/dl die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten erwogen werden. Bei Hb-Werten von >10 g/dl ist eine Bluttransfusion zumeist nicht indiziert, bei Werten <6 g/dl hingegen fast immer [2]. i Beim normalgewichtigen Erwachsenen bewirkt die Transfusion eines Erythrozytenkonzentrats einen Anstieg des Hämoglobinwerts um 1–1,5 g/dl und des Hämatokrits um ca. 3–4%.
Bei Massivtransfusionen, d. h. der Zufuhr von >10 Erythrozytenkonzentraten innerhalb von 24 h, muss mit einer Verlust- und/oder Verdünnungskoagulopathie gerechnet werden (7 Kap. 21.4.2). Massivtransfusion bei Polytraumatisierten. In einer multizentri-
schen Studie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie an 1062 Polytraumatisierten [11] benötigten 13% Massivtransfusionen oder >10 Erythrozytenkonzentrate. Neben dem Lebensalter (>55 Jahre) und einer Glasgow Coma Scale von <8 gehörte die Massivtransfusion zu den 3 wichtigsten Vorhersageparametern der Letalität dieser Patienten. So betrug die Überlebensrate Polytraumatisierter mit Massivtransfusionen 56,9%, ohne Massivtransfusionen dagegen 85,2%. Erhielten die Patienten mehr als 30 Erythrozytenkonzentrate, überlebten nur noch 39,6%. Weitere Risikofaktoren sind in der Übersicht zusammengefasst. Weiterhin nimmt mit zunehmender Anzahl transfundierter Erythrozytenkonzentrate auch das Risiko von Organversagen, Herz-Kreislauf-Insuffizienz, Gerinnungsstörungen und Sepsis zu. Vorhersageparameter der Letalität polytraumatisierter Patienten in absteigender Reihenfolge ihrer Wertigkeit (nach [11]) 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Alter >55 Jahre
Glasgow Coma Scale <8 Transfusion von >20 Erythrozytenkonzentraten* Quick-Wert <50%* ISS >24 Base excess >7* Blutdruck am Unfallort <90 mm Hg systolisch* Hämoglobin <8 g/dl* Transfusion von >10–19 Erythrozytenkonzentraten*
Die 6 mit * markierten Merkmale sind Zeichen der massiven Blutung oder des hämorrhagischen Schocks.
Zielkriterien der Volumen- und Transfusionstherapie Umgehende Blutstillung und rascher Ersatz der Blutverluste sind die Grundpfeiler der Therapie des hämorrhagischen Schocks. Der Volumenersatz muss in ausreichender Menge unter kontinuierlicher Kontrolle der Herz-Kreislauf-Funktion und der metabolischen Parameter erfolgen, bis systolische Blutdrücke von >100 mm Hg bzw. arterielle Mitteldrücke um 80 mm Hg bei sonst normotensiven Patienten sowie ein normaler zentraler Ve-
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nendruck erreicht werden. Bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma sollten höhere Perfusionsdrücke angestrebt werden. Volumenzufuhr ist auch bei anderen Schockformen, die mit Hypovolämie und Dehydratation einhergehen, erforderlich. Der Hämoglobinwert sollte beim sonst Gesunden t7 g/dl betragen. 21.4.3 Optimierung der Blutgerinnung Im hämorrhagischen Schock, v. a. bei Polytraumatisierten mit schwerer Gewebeschädigung, entwickeln sich häufig komplexe, in der Regel multifaktoriell bedingte Störungen der Blutgerinnung [12, 17]. Durch die massive Gewebeschädigung beim Polytrauma wird bereits präklinisch die Blutgerinnung aktiviert; es kommt zur Gerinnselbildung, nachfolgend zur Aktivierung der Fibrinolyse und damit zum Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, unter Volumenersatz auch zur Verdünnung. Klinisch manifestiert sich die Gerinnungsstörung als diffuse Blutung, Petechien, Ekchymosen, Hämaturie sowie Blutungen aus Punktionsstellen und Wundnähten. Lagen vor der Transfusion keine Störungen der Blutgerinnung vor, so kommen als wichtigste Ursachen der vermehrten Blutungsneigung folgende Faktoren in Frage: 4 Verlust und Verdünnung von Gerinnungsfaktoren, 4 vermehrter Verbrauch von Gerinnungsfaktoren bei großen Wundflächen, 4 ungenügende Synthese und Mobilisation von Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren bei Schock, Leberschaden, toxischer Einschwemmung von Gerinnungsfaktoren, 4 Funktionsstörung von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten durch Hypothermie (Kerntemperatur <32‒35°C), 4 disseminierte intravasale Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie, 4 hämolytische Transfusionsreaktion. Es gilt aber: i Häufigste Ursache für eine hämorrhagische Diathese unter Massivtransfusionen sind Verlust, Verbrauch und Verdünnung von Gerinnungsfaktoren.
Die Behandlung von Gerinnungsstörungen bei Patienten im hämorrhagischen Schock sollte so früh wie möglich begonnen werden. Für den differenzierten Einsatz von Thrombozytenkonzentraten bzw. Gerinnungspräparaten ist eine Laboranalyse der Gerinnungssituation erforderlich. Für eine rasche Orientierung kann die bettseitige Thrombelastographie (z. B. ROTEM) eingesetzt werden. Mit ihrer Hilfe kann inerhalb weniger Minuten festgestellt werden, ob ein Thrombozytenmangel, eine plasmatische Gerinnungsstörung oder eine Hyperfibrinolyse vorliegt. Bei Massivtransfusionen sollten jeweils nach Zufuhr von 5‒7 Erythrozytenkonzentraten der Gerinnungsstatus und die Thrombozytenzahl kontrolliert werden. Angestrebt werden die in . Tabelle 21.6 genannten Gerinnungs- und Thrombozytenwerte.
Thrombozytenkonzentrat Thrombopenien treten meist erst im späteren Verlauf anhaltender Blutungen auf, da zunächst Thrombozyten in großer Menge aus den Speicherorganen wie Leber, Milz und Knochenmark freigesetzt werden. Bei Massivtranfusionen oder DIC sind Thrombozytenkonzentrate indiziert, wenn die Thrombozytenzahl im
278
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
. Tabelle 21.6. Zielwerte der Blutgerinnung bei massiven Blutungen/Massivtransfusionen. (Mod. nach [10]) Parameter
Angestrebter Wert
Thrombozyten
>50.000/μl; bei Polytrauma, Hirntrauma oder Thrombopathien >100.000/μl
PT/INR
<1,5-fache des mittleren Normbereichs; Einzelfaktoren >30% der normalen Aktivität
PTT
<1,5-fache des mittleren Normbereichs; Einzelfaktoren >30% der normalen Aktivität
Fibrinogen
>50 mg/dl; bei Thrombopathien und Hirntrauma >100 mg/dl
Fibrinogen, Kryopräzipitat
Plasma auf <50.000/μl abgefallen sind. Für Polytraumatisierte werden Thrombozytenwerte von >100.000/μl empfohlen.
Gelingt es bei Massivtransfusion nicht, die Fibrinogenkonzentation im Plasma mit FFP auf mehr als 100 mg/dl anzuheben, kann Kryopräzipitat (enthält Fibrinogen, F VIII, v.-Willebrand-Faktor und Fibronectin) oder Fibrinogen zugeführt werden. Die Fibrinogendosis in g ergibt sich aus dem erwünschten Anstieg der Plasmakonzentration: g/l × Plasmavolumen (etwa 40 ml/kg KG). Bei schwerem Fibrinogenmangel können 80‒100 mg/kg KG Fibrinogenkonzentrat erforderlich sein, um physiologische Fibrinogenkonzentrationen zu erreichen. Die Dosierung von Kryopräzipitat beträgt 1‒1,5 U pro 10 kg KG.
Dosierung. 1 Thrombozytenkonzentrat steigert die Thrombozy-
Rekombinanter aktivierter Faktor VIIa, rFVIIa
tenzahl um 20.000‒25.000/Pl.
Das Präparat (NovoSeven) ist für die Behandlung von Blutungen bei Hemmkörperhämophilie und bei kongenitalem Faktor-VIIMangel zugelassen. Umfassende klinische Studien zum Einsatz bei massiven Blutungen fehlen bislang. In 2 klinischen Studien von Boffard et al. [5] mit supraphysiologischen Dosen von rF VIIa ergab sich eine Reduktion von Massivtransfusionen bei Patienten mit stumpfem Trauma (14% gegenüber 33% mit Placebo) und ein ähnlicher Trend bei Patienten mit penetrierendem Trauma. Bei der Letalität bestanden dagegen keine Unterschiede, thromboembolische Komplikationen waren in der rF VIIa-Gruppe nicht signifikant häufiger als in der Placebo-Gruppe. Rizoli et al. [15] fanden in einer retrospektiven Kohortenstudie eine möglicherweise günstigere Frühletalität bei massiv blutenden Traumapatienten unter rF VIIa, räumen aber der chirurgischen Blutstillung höchste Priorität ein; auch scheine rF VIIa bei extremem Bluttransfusionsbedarf nicht wirksam zu sein. Angsichts der unzureichenden Datenlage und des ungeklärten Risikos thromboembolischer Komplikationen (Häufigkeit nach einer Übersicht von Barletta et al. [3] bei blutenden Traumapatienten 4%) sollten supraphysiologische Dosen von rF VIIa bei massiv blutenden Patienten mit stumpfem Trauma nur dann eingesetzt werden, wenn die Standardmaßnahmen (operativ und hämostaseologisch) versagen. Weiterhin sollten folgende Voraussetzungen erfüllt sein [10]: 4 Fibrinogen t50‒100 mg/dl, 4 Thrombozyten t50.000‒100.000/Pl, 4 pH-Wert t7,2, 4 möglichst Normothermie.
PT Thromboplastinzeit (»Quick-Wert«), INR international normalized ratio, PTT partielle Thromboplastinzeit.
Frischplasma und Faktorenkonzentrate Um den Verlust und Verbrauch von Gerinnungsfaktoren auszugleichen, wird bei Massivtransfusionen in der Regel Frischplasma zugeführt. Bei komplexen Hämostasestörungen können auch Faktorenkonzentrate erforderlich sein, um einen schwerwiegenden Abfall von Einzelfaktoren auszugleichen.
Gefrorenes Frischplasma (FFP, SDP)
21
Wenn ausschließlich FFP für die Gerinnungstherapie zugeführt wird, sollte initial ebenfalls höher dosiert und die Zufuhr bei Bedarf wiederholt werden, zumal die Halbwertszeiten der Gerinnungsfaktoren bei massiven Blutungen, DIC, schweren Leberzellschäden sowie bei ausgeprägter Katabolie um 80‒90% verkürzt sein können. Thromboembolische Komplikationen durch FFP sind nicht zu erwarten, da die Gerinnungsfaktoren und fibrinolytische Faktoren im Präparat im ausgewogenen physiologischen Verhältnis enthalten sind. Der Volumeneffekt von FFP ist bei Massivtransfusionen ein erwünschter Effekt.
Verwendet werden Frischplasma aus Einzelspenden (FFP) und inaktiviertes Poolplasma (SDP, gefroren oder lyophilisiert). Die Aktivität der Gerinnungsfaktoren in FFP sollte nach dem Auftauen mindestens 70% der ursprünglichen Aktivität des Spenders betragen (Ausnahme: rascher Abfall von Faktor VIII); Poolplasma enthält dagegen 1 U/ml eines Gerinnungsfaktors. Trotz weltweit hohem Verbrauch fehlen nach einer Metaanalyse von Stanworth [19] klinisch aussagekräftige Studien zur Wirksamkeit von FFP bei blutenden und bei blutungsgefährdeten Patienten. Die angegebenen Indikationen und Dosierungsempfehlungen beruhen daher weitestgehend auf theoretischen Erwägungen und Erfahrungsberichten. Die prophylaktische Gabe von FFP bei Patienten mit pathologischen Gerinnungstests gilt als nicht wirksam. Die Zufuhr von FFP bei Massivtranfusionen, DIC und diffusen Blutungen gehört zu den Standardmaßnahmen. Die Indikation sollte sich nach der klinischen Situation und den gemessenen Gerinnungsparametern (Verlängerung der PT/INR und der PTT auf mehr als das 1,5-fache des Normbereichs) richten. Die Bundesärztekammer (www.bundesaerztekammer.de/downloads/Blutkomponentenpdf.pdf) empfiehlt bei Massivtranfusionen oder Blutungen durch Dilutionskoagulopathie eine initiale Dosis von 15‒20 ml/kg KG, die ASA (www.asahq.org/publications) von 15‒20 ml/kg KG, möglicherweise sind aber diese Dosierungen bei schweren Blutungen zu niedrig. So empfehlen Gonzalez et al. [9] für Massivtransfusionen bei Traumapatienten die Zufuhr von jeweils 1 Frischplasma pro 1 Erythrozytenkonzentrat.
Dosierungsempfehlung [17]. 200 Pg/kg KG nach Transfusion
von 8 Erythrozytenkonzentraten; 1 h später 100 Pg/ kg KG, 3 h später 100 Pg/kg KG.
PPSB-Konzentrat Das aus einem großen Plasmapool hergestellte Konzentrat enthält die Faktoren II, VII, IX und X sowie Protein C, S und Z. Als typische Indikationen gelten Gerinnungsstörungen bei schwerer
279 Literatur
Leberinsuffizienz und die rasche Wiederherstellung der Blutgerinnung bei Marcumar-Therapie. Die Wirksamkeit bei Massivtransfusion ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Die Initialdosis beträgt 20, bei bedrohlichen Blutungen 40 IE/kg KG. Die Zufuhr sehr hoher Dosen kann in seltenen Fällen zu überschießender Thrombinbildung mit thromboembolischen Komplikationen führen. Bei DIC ist PPSB eher nicht indiziert.
Antifibrinolytika Aprotinin-Tranexamsäure und Epsilon-Aminocapronsäure. Eine
Cochrane-Metaanalyse von Coats [8] mit lediglich 2 dafür geeigneten Untersuchungen konnte keine Wirkung der Antifibrinolytika auf den Transfusionsbedarf an insgesamt 92 Traumapatienten feststellen. Sichere Aussagen seien nach Angaben der Reviewer wegen der unzureichenden Datenlage nicht möglich, Antifibrinolytika seien aber ein erfolgversprechender Ansatz, der weitere Untersuchungen lohne. Derzeit läuft hierzu eine multizentrische Untersuchung an ca. 20.000 Traumapatienten mit signifikanter Blutung (CRASH-Studie; Protokoll unter www.crash2.Ishtm. ac.uk/Images/SummaryGermanOther.pdf).
21
min. Im protrahierten oder irreversiblen Schock sind Vasopressoren häufig nicht mehr wirksam. Vasopressin. In der irreversiblen Phase des hämorrhagischen
Schocks spricht der Patient nicht mehr auf Volumenzufuhr und Vasopressorkatecholamine (Adrenalin, Noradrenalin) an: Der arterielle Blutdruck bleibt aufgrund einer Vasodilatation anhaltend erniedrigt. Tierexperimentelle Befunde weisen auf einen Vasopressinmangel als einen der beteiligten pathogenetischen Faktoren in dieser Phase hin [16]). Im Schockmodell [21, 22] und in Fallberichten [13] konnte durch Zufuhr von Vasopressin der arterielle Blutdruck in der therapierefraktären Phase des hämorragischen Schocks signifikant gesteigert werden. Nutzen und Risiken der Anwendung von Vasopressin im hämorrhagischen Schock müssen allerdings noch in konrollierten klinischen Studien untersucht werden.
Kortikosteroide Die Wirksamkeit von Steroiden im hämorrhagischen Schock ist nicht gesichert.
21.4.4 Begleitmaßnahmen
Literatur
Sicherung des pulmonalen Gasaustauschs
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Um eine Hypoxämie zu verhindern, erhält jeder Patient im Schock O2 über eine Maske zugeführt. Reicht die Spontanatmung nicht aus, wird ohne Verzögerung intubiert und maschinell beatmet. Überdruckbeatmung hemmt aber durch den Anstieg des intrathorakalen Drucks den venösen Rückstrom und kann so den Schockzustand verschlimmern. Unterstützende Verfahren bei erhaltener Spontanatmung könnten daher vorteilhafter sein als die kontrollierte Beatmung. Alternative Beatmungstechniken, die den intrathorakalen Druck senken, wie z. B. ITV und Wechseldruckbeatmung, befinden sich noch im experimentellen Stadium.
Azidosetherapie Die durch den Schock entstehende metabolische Azidose wird v. a. durch Wiederherstellung eines ausreichenden Herzzeitvolumens behandelt. Eine anhaltende metabolische Azidose ist nahezu immer ein Zeichen für ungenügenden Volumenersatz. Bei andauernder peripherer Kreislaufinsuffizienz nimmt jedoch die Azidose weiter zu, sodass bei einem pH-Wert von <7,1 die Zufuhr von Puffersubstanzen wie Natrumbikarbonat indiziert ist. Die Puffertherapie sollte möglichst immer unter Kontrolle der Säuren-Basen-Parameter erfolgen.
Kardiovaskuläre Substanzen Für die Primärtherapie des hämorrhagischen Schocks sind vasopressorisch wirkende Katecholamine nicht indiziert, da bereits eine kompensatorische Vasokonstriktion vorliegt. Vasopressorische Katecholamine können überbrückend eingesetzt werden, wenn eine schwere Hypotonie durch Volumenzufuhr allein nicht beseitigt werden kann [2]. Bei schwerer Hypotension oder drohendem Herzstillstand sollten die Vasopressoren in möglichst niedriger Dosierung zugeführt werden, um bis zum Beginn einer ausreichenden Volumentherapie die Durchblutung von Herz und Gehirn durch Herstellung eines ausreichenden Perfusionsdrucks zu unterstützen. Mittel der Wahl ist in diesen Fällen Noradrenalin in einer initialen Dosierung von ca. 0,05 Pg/kg KG/
280
Kapitel 21 · Hämorrhagischer Schock
13. Krismer AC, Wenzel V, Voelckel WG, Innerhofer P, Stadlbauer KH, Haas T, Pavlic M, Sparr HJ, Lindner KH, Koenigsrainer, A (2005) Employing vasopressin as an adjunct vasopressor in uncontrolled traumatic hemorrhagic shock: Three cases and a brief analysis of the literature. Anaesthesist 54 (3): 220–224 14. Parks JK, Elliott AC, Gentilello LM, Shafi S (2006) Systemic hypotension is a later marker of shock aufter trauma: a validation study of advanced trauma liefe support principles in al large national sample. Am J Surg 192: 727–731 15. Rizoli SB, Nascimento jr B, Osman F, Netto FS, Kiss A, Callum J, Brenneman FD, Tremblay L, Tien HC (2006) Recombinant activated coagulation factor VII and bleeding trauma patients. Crit Care 10 (6): R178 16. Robin JK, Oliver JA, Landry DW (2003) Vasopressin deficiency in the syndrome of irreversible shock. J Trauma 54 (5 Suppl): S149–154 17. Rossaint R, Cerny V., Coaats TJ, Duranteau J, Fernandez-Mondejar E, Gordini G, Stahel PF, Hunt BJ, Neugebauer E, Spahn DR (2006) Key issues in advanced bleeding care in trauma. Rev Article Shock 26 (4)322–331 18. Singhal R, Coghill JE, Guy A, Bradbury AW, Adam DJ, Scriven JM (2005) Serum lactate and base deficit as predictors of mortality after ruptured abdominal aortic aneurysm repair. Eur J Vasc Endovasc Surg 30 (3): 263–266 19. Stanworth SJ, Brunskill SJ, Hyde CJ, McClelland DBL., Murphy MF (2004) Is fresh frozen plasma clinically effective? A systematic review of randomized controlled trials. Br J Haematol 126 (1): 139–152 20. Thiel M, Czerner S, Prückner S, Kreimeier U (2006) Pathophysiologie des Schocks. Notfall Rettungsmed 9 (6): 509515 21. Voelckel WG, Raedler C, Wenzel V, Lindner KH, Krismer AC, Schmittinger CA , Herff H, Rheinberger K, Königsrainer A (2003) Arginine vasopressin, but not epinephrine, improves survival in uncontrolled hemorrhagic shock after liver trauma in pigs. Crit Care Med 31 (4): 1160–1165 22. Yoo J-H, Kim M-S, Park H-M /2006) Hemodynamic characteristics of vasopressin in dogs with severe hemorrhagic shock. J Vet Med Sci 68 (9): 967–972
21
22 Hämostase und Hämotherapie M. Reng
22.1
Physiologie der Hämostase
22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.1.6
Blutstillung –282 Gefäßwand –283 Thrombozyten –283 Plasmatische Gerinnung –283 Inhibitoren des plasmatischen Gerinnungssystems –284 Fibrinolysesystem –285
22.2
Gerinnungsanamnese
22.3
Gerinnungslabor
22.3.1 22.3.2 22.3.3
Thrombozytäre Gerinnung –285 Plasmatische Gerinnung –286 Thrombophiliediagnostik –287
22.4
Optionen der Hämotherapie
22.4.1 22.4.2
Blutprodukte mit zellulären Bestandteilen –288 Blutprodukte ohne zelluläre Bestandteile –289
22.5
Antikoagulanzien
22.5.1 22.5.2 22.5.3 22.5.4 22.5.5
Thrombozytenaggregationshemmer –291 Heparine –291 Orale Antikoagulanzien –292 Thrombolytika –292 Weitere gerinnungsaktive Medikamente –292
22.6
Antikoagulation
22.6.1 22.6.2
Thromboseprophylaxe –294 Antikoagulation bei kontinuierlichen Nierenersatzverfahren (CRRT) –295
22.7
Ausgewählte Hämostasestörungen
22.7.1 22.7.2
Hämophilien –295 Thrombophilien –296
22.8
Ausgewählte er worbene Hämostasestörungen
22.8.1 22.8.2 22.8.3 22.8.4
Sepsis –296 Verbrauchskoagulopathie (DIC = disseminierte intravasale Koagulation) –297 ITP/TTP –298 Tiefe Beinvenenthrombose –299
22.9
Hämostaserelevante Therapiekomplikationen
22.9.1 22.9.2
Heparin-induzierte Thrombopenie (HIT) –299 Coumarin-Nekrose –300
Literatur –300
–282
–285
–285
–288
–291
–294
–295
–296
–299
282
Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
22.1
Physiologie der Hämostase
Hämostase ist der Oberbegriff der Blutungsstillung. Diese kann bei Blutungen durch körpereigene Mechanismen (u. a. plasmatische Gerinnung, Thrombozyten, Gefäßwand, Hämodynamik) wie auch durch Einfluss von außen herbeigeführt werden. Aber nicht nur für die Stillung von Blutungen ist eine intakte Hämostase von Bedeutung, sie beeinflusst auch den regulären, intravasalen Blutfluss, denn bei überschießender Reaktion des Hämostasesystems – z. B. durch pathologische Gerinnungsaktivierung – kann es zu Thrombosen und Thromboembolien mit Funktionsverlust oder -einschränkung der konsekutiv minderperfundierten Organe kommen (. Abb. 22.1). Zudem ist das Gerinnungssystem nicht nur Basis der Fähigkeit des Blutes zur Blutungsstillung. Immunmodulierende Eigenschaften des Gerinnungssystems sind erst in den letzten Jahren erkannt worden. So steht die Expression von »tissue factor« (auch Faktor III bzw. Gewebsthromboplastin) durch Monozyten am Beginn des extrinsischen Pathways der Gerinnung (. Abb. 22.2). Im Rahmen einer generellen, überschießenden Monozytenaktivierung kann auch die Gerinnung pathologisch stimuliert werden. Umgekehrt können aktivierte Gerinnungsfaktoren auch die Expression zellgebundener Rezeptoren beeinflussen, die z. B. zu ei-
ner vermehrten Freisetzung von »tissue factor« wie auch anderer proinflammatorischer Zytokine führen kann. Dementsprechend können Gerinnungsinhibitoren scheinbar entzündliche Reaktionen nachhaltig hemmen. Auch scheint das Gerinnungssystem an der Entwicklung des akuten Lungenversagens beteiligt zu sein. Während die immunologische Bedeutung des Gerinnungssystems an anderer Stelle (7 Kap. 63) besprochen wird, soll in diesem Kapitel das Gerinnungssystem vorwiegend unter dem Blickpunkt der Blutung und Blutungsstillung betrachtet werden. Der Erhalt der Hämostase – d. h. Blutungs- und Thromboseinhibition – spielt gerade in der Intensivmedizin eine große Rolle, zumal die Hämostase krankheitsbedingt, durch pharmakologische Intervention oder auch durch rein mechanische Probleme positiv wie negativ beeinflusst werden kann. Bei Erkrankungen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, findet sich dementsprechend ein weites Spektrum teilweise lebensgefährlicher Hämostasedefekte von der akuten Massenblutung über Verbrauchskoagulopathie und Gerinnungsversagen bis hin zur überschießenden Gerinnungsaktivierung mit Verschluss des Kapillarstromgebietes im betroffenen Organ. Auch Schlaganfall und Myokardinfarkt sind letztlich auf eine pathologische Veränderung der Hämostase zurückzuführen. Um das adäquate diagnostische und therapeutische Vorgehen zur Behandlung, besser noch zur Vermeidung von Hämostasestörungen planen zu können, ist die Kenntnis einiger grundlegender physiologischer Zusammenhänge unentbehrlich. 22.1.1 Blutstillung
. Abb. 22.1. Zusammenwirken der an der Hämostase beteiligten Faktoren
22
Der Vorgang der Blutstillung teilt sich in die primäre und sekundäre Hämostase. Unter der primären Hämostase versteht man die Vasokonstriktion, die zusammen mit der Bildung des primären Thrombozytengerinnsels sofort nach der Gefäßverletzung eintritt. Infolge einer Verletzung der Gefäßwand kommt es zur Adhäsion von Thrombozyten an die subendothelialen Strukturen mit Aufbau eines Thrombozytenaggregates innerhalb von 2‒5 min. An Thrombozytenaktivierung und Bildung des Thrombozytenpfropfes sind vorrangig das subendotheliale Kollagen,
. Abb. 22.2. Extrinsischer und intrinsischer Pathway der Gerinnung mit gemeinsamer Endstrecke. Gerinnungsfaktoren, die als Einzelfaktorpräparate zur Substitution verfügbar sind, sind blau gekennzeichnet. Die Hauptwirkorte der Gerinnungsinhibitoren sind durch gestrichelte Pfeile gekennzeichnet.
283 22.1 · Physiologie der Hämostase
v.-Willebrand-Faktor, die Glykoproteinrezeptoren der Thrombozytenmembran, Thromboxan A2 und Thrombin beteiligt. Die Thrombozytenaktivierung führt zur erhöhten Expression von Glykoproteinrezeptor GP IIb/IIIa, der dann sowohl v.-Willebrand-Faktor und Fibrin binden kann. Fibrin verbindet schließlich die Thrombozyten irreversibel untereinander. Die Thrombozytenaggregation kann durch das ebenfalls im Gefäßendothel gebildete Prostazyklin (PGI2) inhibiert werden. Die sekundäre Hämostase führt nach etwa 30 min zur endgültigen Blutungsstillung durch Bildung des Fibrinpfropfes. An der Bildung des Fibrinpfropfes sind die aus der Thrombozytenmembran freigesetzten Phospholipide (Plättchenfaktor 3) und die aktivierten Gerinnungsfaktoren beteiligt. Dabei ist die Anwesenheit von Kalzium unabdingbar. Ausgelöst wird die Bildung des Fibringerinnsels bei Gefäßverletzungen über das exogene, extrinsische System (»tissue factor« = Gewebsthromboplastin) oder endogen über das intrinsische System. Über die gemeinsame Endstrecke der plasmatischen Gerinnung wird dann der Fibrinpfropf gebildet. 22.1.2 Gefäßwand Die Gefäßwand ist am Gerinnungsprozess beteiligt. Naturgemäß ist ihre es primäre Aufgabe, die intravasale Gerinnung zu verhindern. So hat das Endothel antikoagulante Eigenschaften: Es erschwert durch negative Ladung die lokale Gerinnselbildung, Thrombin kann an der Endothelmembran inaktiviert werden, zudem werden hier Prostazyklin und Gewebeplasminogenaktivator (t-PA) freigesetzt. Andererseits ist die Gefäßwand auch mit prokoagulanten Eigenschaften ausgestattet, die besonders bei Verletzung in Kraft treten. So befindet sich hier das körpereigene Reservoir des v.-Willebrand-Faktors (vWF), und die Endothelzelle kann den prokoagulanten Plasminogenaktivator-Inhibitor-1 (PAI-1) freisetzen. In der subendothelialen Gefäßwand findet sich schließlich das Gewebethromboplastin (»tissue factor«), das die plasmatische Gerinnung aktiviert, sobald es mit Blut in Berührung kommt. Vasokonstriktion und Hämodynamik sind weitere mechanische Faktoren, die an Blutung und Blutstillung beteiligt sind. Gerade der Einfluss der Hämodynamik auf die Hämostase darf in der Intensivmedizin nicht unterschätzt werden. So ist eine arterielle Hypertonie an der Entstehung von spontanen Blutungen ebenso wie am Unterhalt der Blutung aus großen Gefäßen beteiligt. Hypotonie im arteriellen oder venösen Stromgebiet kann dementsprechend die Blutungsstillung unterstützen. Da Hypotonie aber auch mit geringerer Flussgeschwindigkeit des Blutes einhergeht, ist in entsprechend minderperfundierten Bereichen – besonders bei zeitgleich bestehender pathologischer Gerinnungsaktivierung – auch mit Thrombosen im Kapillarstromgebiet zu rechnen.
22
. Abb. 22.3. Petechiale Blutungen mit Blutung am liegenden Katheter bei Thrombopenie (2/nl)
Da die Thrombozyten eine Lebensdauer von nur 8‒10 Tagen haben, sind Einflüsse auf die Thrombozytenproduktion im Knochenmark im Verlauf der Intensivtherapie von großer Bedeutung. Toxische Prozesse – auch ausgelöst durch die Medikation auf der Intensivstation – spielen neben einem erhöhten Thrombozytenverbrauch eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Thrombopenien. Eine Verminderung der Thrombozytenzahl ist auch bei Hypersplenismus infolge portaler Hypertension zu finden. Demgegenüber kann die Stimulation des Knochenmarks (insbesondere durch Stress und Entzündung) zu einer reaktiven Thrombozytose führen, die jedoch in der Regel nicht in einer erhöhten Koagulabilität des Blutes resultiert. Medikamente, die die Thrombozytenfunktion beeinflussen können 5 Thrombozytenaggregationshemmer (Acetylsalicylsäure, Clopidogrel, Ticlopidin) 5 Antibiotika (Penicilline, Cephalosporine, Ampho B) 5 Kolloide (Dextrane, hochmolekulare HES) 5 Trizyklische Antidepressiva, Valproinsäure
Als klinisches Zeichen für die verminderte thrombozytäre Gerinnung, sei es infolge verminderter Thormbozytenzahl oder Afunktionalität der vorhandenen Thrombozyten, gelten Petechien (nadelstichartige Einblutungen) an abhängigen Körperpartien und am Gaumen. Zudem fällt bei Patienten mit Thrombozytenfunktionsstörungen oftmals auf, dass es an Punktionsstellen zu verlängerten Blutungen kommt (typische Blutungen aus Einstichstellen, z. B. am liegenden Katheter entlang; . Abb. 22.3). 22.1.4 Plasmatische Gerinnung
22.1.3 Thrombozyten Die Rolle der Thrombozytenaggregation bei der Ausbildung des primären Gerinnsels wurde in 7 Kap. 22.1.1 dargestellt. Für den korrekten Ablauf der thrombozytären Gerinnung sind Funktionsfähigkeit und Anzahl der Thrombozyten von Bedeutung. Die Aggregationsfähigkeit der Thrombozyten kann sowohl durch toxische Einflüsse wie auch durch gezielte pharmakologische Intervention herabgesetzt werden.
Die plasmatische Gerinnung läuft, einmal angestoßen, kaskadenartig bis zur Bildung des Fibrinpfropfes ab. Die Gerinnungsfaktoren werden dabei in der Regel durch Abspaltung eines Proteinteils aktiviert. Durch diese Aktivierung werden sie selbst zu dem Enzym, das die Aktivierung des in der Kaskade nachfolgenden Faktors katalysiert. Die Abläufe sind komplex, so sorgen zahlreiche Rückkoppelungsmechanismen innerhalb der Kaskade dafür, dass eine überschießende Gerinnungsaktivierung weitgehend
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Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
a
b
c
d
. Abb. 22.4a–d. Messumfang von aPTT (a), Quick-Wert bzw. INR (b), TZ (c) und D-Dimeren (d)
22
verhindert wird. Ein grob-schematischer Überblick findet sich in . Abb. 22.4. Wie hier erkennbar ist, kann die Aktivierung der plasmatischen Gerinnung über das intrinsische System, dessen pathophysiologische Bedeutung nicht gesichert ist, wie auch über das extrinsische System, d. h. über den Mechanismus der Gefäßverletzung, erfolgen. In der »gemeinsamen Endstrecke« der beiden plasmatischen Gerinnungssysteme wird Prothrombin (Faktor II) zu Thrombin aktiviert (Faktor IIa). Prothrombin bewirkt die Bildung von Fibrin durch die Abspaltung der Fibrinogenspaltprodukte aus Fibrinogen (Faktor I). Abschließend wird Fibrin in Anwesenheit von Faktor XIII quervernetzt und stabilisiert. Besonderer Erwähnung bei den Gerinnungsfaktoren bedarf der Faktor VIII. Spricht man von der plasmatischen Gerinnung, wird unter dem Faktor VIII in der Regel nur der niedermolekulare Anteil (F. VIII:C) eines großen Molekülkomplexes subsumiert. In der Tat bildet der kleine, an der plasmatischen Gerinnung beteiligte F. VIII:C einen Komplex mit dem großen, an der thrombozytären Gerinnung beteiligten v.-Willebrand-FaktorMolekül (F. VIII R:vWF). In vivo ist F. VIII:C nur in Gegenwart von v.-Willebrand-Faktor stabil, sodass ein vWF-Mangel immer auch einen F. VIII:C-Mangel nach sich zieht. An dieser Stelle sind plasmatische und thrombozytäre Gerinnung eng miteinander verzahnt. Klinische Zeichen der Blutungsneigung infolge einer unzureichenden plasmatischen Gerinnung sind flächige Einblutungen in Haut und tieferes Gewebe (Sugillationen und Hämatome). Gelenkblutungen sind auch auf der Intensivstation seltene Ereig-
nisse und müssen immer an eine Hämophilie denken lassen. Die überschießende plasmatische Gerinnung äußert sich in der Ausbildung von Thrombosen mit konsekutiven Embolien. 22.1.5 Inhibitoren des plasmatischen
Gerinnungssystems Die Inhibitoren des plasmatischen Gerinnungssystems hemmen die Gerinnung als Feedback-Systeme. Die im Bereich der Intensivmedizin bedeutsamsten Substanzen aus diesem Bereich sind Antithrombin III (AT III), Protein S und C. AT III hemmt vornehmlich die Aktivierung der Faktoren X und II. Durch Heparin kann diese Hemmwirkung beschleunigt und verstärkt werden. Im Rahmen des nephrotischen Syndroms kommt es zum Verlust von AT III über die Niere, woraus eine Thrombophilie resultieren kann. Auch in Sepsis und Verbrauchskoagulopathie werden oftmals bereits frühzeitig erniedrigte AT III-Spiegel als frühe Zeichen einer pathologischen Gerinnungsaktivierung gemessen. Der Abfall des AT III wird dabei durch seinen Verbrauch bei der Inhibition der überschießenden Gerinnung verursacht. Durch Protein C mit seinem Kofaktor Protein S werden v. a. die Neubildung und Funktion von Thrombin inhibiert. Da die gerinnungsinhibierende Wirkung von aktiviertem Protein C (aPC) über Faktor V vermittelt wird, besteht bei einer Mutation des Faktor V (Faktor-V-Leiden) eine erhöhte Thrombosegefahr, man spricht auch von der APC-Resistenz.
285 22.3 · Gerinnungslabor
22
22.1.6 Fibrinolysesystem Intravasal entstandene Gerinnsel müssen aufgelöst werden, dazu dient das fibrinolytische System. Die Proteolyse wird durch den im Gewebe gebildeten Gewebsplasminogenaktivator (t-PA) oder durch Urokinase (u-PA) initiiert. Beide körpereigenen Enzyme sind in der Lage, Plasminogen zu Plasmin zu aktivieren, das wiederum in der Lage ist, die Spaltung von Fibrin zu vermitteln. Durch die hohe Affinität des t-PA zum Fibringerinnsel wird sichergestellt, dass die Thrombolyse nur direkt am Thrombus stattfindet. Hierbei entstehen Spaltprodukte, die im Körper nur infolge der Fibrinproteolyse zu finden sind: die D-Dimere. 22.2
Gerinnungsanamnese
Mindestens ebenso wesentlich wie Labortestungen ist es, die Gerinnungsanamnese sowohl beim Verdacht auf das Vorliegen akuter Hämostasestörungen als auch bei anderweitig schwer erkrankten Patienten zu erheben. Dabei sind Blutungs- und Thromboseneigung zu erfragen, denn alle diesbezüglichen Dispositionen führen im Bereich der Intensivmedizin zur potenziellen Gefährdung des Patienten. Die Medikamentenanamnese ist in diesem Zusammenhang natürlich nicht weniger bedeutsam. Berücksichtigt werden muss, dass die Selbstwahrnehmung der Patienten in Bezug auf Blutungs- oder Thromboseereignisse individuell sehr unterschiedlich ist. Im Rahmen der Anamnese muss daher versucht werden, die Angaben des Patienten so weit wie möglich durch Nachfragen zu quantifizieren bzw. einen Verdacht zu objektivieren. Gerinnungsanamnese 5 Haben Sie vermehrt Blutungen bei sich beobachtet? – Nasenbluten? (Nur bei Schnupfen, nach Trauma oder auch spontan?) – Blaue Flecken? (Nur an exponierten Stellen, wie z. B. den Extremitäten, oder auch am Rumpf?) – Bei Frauen: verlängerte Monatsblutung? (Wie viele Tage? Wie viele Damenbinden/Tampons verwenden Sie pro Tag?) – Spontane Blutungen in Gelenke? (Falls ja: Cave: Hämophilie!) 5 Haben Sie Wundheilungsstörungen oder Nachblutungen nach Operationen bei sich beobachtet? – Komplikationen nach zahnärztlichen Eingriffen? (Mussten Sie stationär aufgenommen werden?) – Komplikationen nach anderen Operationen? (Transfusionspflichtige Blutungen? Stationäre Behandlung?) 5 Nehmen Sie Medikamente zur Blutverdünnung ein? – Haben Sie schon einmal einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten? (Welche Medikamente nehmen Sie deshalb ein?) – Nehmen Sie Marcumar ein? – Nehmen Sie öfter oder selten Schmerztabletten ein? (Welche?) 6
5 Hatten Sie schon einmal eine Thrombose? – Waren Sie deshalb in stationärer Behandlung? (Thrombose; Differenzialdiagnose Thrombophlebitis?) – Welche Medikamente hatten Sie deshalb eingenommen? (bzw. nehmen Sie noch ein?) – Hat man die Ursache der Thrombose damals näher untersucht? (Thrombophiliediagnostik?) 5 Gibt es in Ihrer Familie Blutsverwandte mit Erkrankungen der Blutgerinnung? – Gibt es »Bluter« in Ihrer Familie? – Gibt es Verwandte, die besonders schwere Erkrankungen erlitten haben?
22.3
Gerinnungslabor
Das Gerinnungslabor bietet die Möglichkeit, durch quantitative Bestimmung der an der Gerinnung beteiligten Substrate mangelhafte Produktion, Verlust oder Verbrauch von einzelnen Gerinnungsfaktoren zu erfassen. Globale Tests erlauben es, das Zusammenspiel, d. h. die Gerinnungsfähigkeit einzelner Bereiche der Gerinnungskaskade, zu beurteilen. Im Folgenden werden nur die in der Intensivmedizin typischerweise verfügbaren und regelmäßig relevanten Gerinnungsparameter besprochen, soweit diese therapierelevante Ergebnisse liefern und damit für das Verständnis von Hämotherapie, Antikoagulation und typischen hämostaseologischen Krankheitsbildern erforderlich sind. Die ausführliche Darstellung der Gerinnungsanalytik findet sich in 7 Kap. 18. Weiterführende Gerinnungsuntersuchungen können in Einzelfällen nötig sein, bedürfen aber nicht nur in Bezug auf Indikation und Bewertung besonderer fachlicher Beratung. Sollen spezielle Gerinnungsuntersuchungen durchgeführt werden, ist es in jedem Fall sinnvoll, vorab mit dem mit der Analyse betrauten Labor Kontakt aufzunehmen. Einerseits werden viele Gerinnungstests durch intensivmedizinische Verfahren und Therapien (z. B. extrakorporale Kreisläufe) beeinflusst, andererseits sind oft spezielle Blutentnahmebedingungen einzuhalten. Nur durch eine enge Zusammenarbeit von Labor und Intensivteam kann vermieden werden, unbrauchbare, zu Missinterpretationen führende Werte zu erhalten. 22.3.1 Thrombozytäre Gerinnung Eine Dysfunktion der primären Hämostase führt zur Verlängerung der Blutungszeit. Während technische Verfahren zur Bestimmung der Thrombozytenfunktion nur in spezialisierten Intensivstationen Einzug gehalten haben, ist die Blutungszeit eine überall verfügbare Methode zur orientierenden Prüfung der Thrombozytenaggregationsfähigkeit. Leider ist ihre Handhabung keineswegs einfach und bedarf einiger Übung, um reproduzierbare Ergebnisse zu erbringen. Beachtet werden sollte im intensivmedizinischen Zusammenhang, dass bei Urämie immer mit einer verminderten Thrombozytenaggregation zu rechnen ist.
286
Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
. Tabelle 22.1. Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die Thrombozytenzahl Thrombozytose
Thrombopenie
4 Sekundäre Thrombozytosen – Posttraumatisch – Im Rahmen schwerer Entzündungen – Nach körperlicher Anstrengung – Begleitend zu malignen Erkrankungen 4 Myeloproliferative Erkrankungen 4 Zustand nach Splenektomie
4 Immunthrombopenie (ITP) 4 Heparininduzierte Thrombopenie (HIT)* 4 Verbrauch an Fremdober flächen im externen Kreislauf (CVVH, ECMO etc.) 4 Medikamentös toxisch (auf der Intensivstation häufig: Antibiotika, Protonenpumpeninhibitoren, Vancomycin) 4 Hypersplenismus 4 Verbrauchskoagulopathie 4 Moschkowitz-Syndrom (TTP), HUS*
* Eine Ausführliche Liste thrombopenieinduzierender Medikamente findet sich in . Tabelle 18.2.
Oftmals steht aber nur die im Rahmen der Blutbilduntersuchung einfach zu bestimmende Thrombozytenzahl als Messparameter für die thrombozytäre Gerinnung zur Verfügung. Wichtig bei der Beurteilung der Thrombozytenzahl ist neben krankheitsbedingten Veränderungen auch die EDTA-assoziierte Pseudothrombopenie. Werden bei der ersten Thrombozytenzählung eines Patienten aus dem Blutbild(=EDTA)-Röhrchen auffällig niedrige Werte bestimmt, so empfiehlt es sich, die Thrombozytenzählung aus einem Gerinnungsröhrchen (mit Zitrat als Antikoagulans) zu wiederholen, um so diese technisch bedingte Pseudothrombopenie auszuschließen (. Tab. 22.1). Während bei den selteneren primären Thrombozytosen sowohl hämorrhagische als auch thromboembolische Komplikationen häufig sind, erhöhen sekundäre Thrombozytosen das Risiko für Gerinnungserkrankungen nur gering. Thrombopenien müssen in jedem Fall ernst genommen und sollten immer so rasch wie möglich ätiologisch geklärt werden, dabei sind eine multifaktorielle Genese und insbesondere eine Sepsis nicht selten und stets zu bedenken. Ätiologische Eingrenzung einer Thrombopenie bei Intensivpatienten
22
5 Bestand die Thrombopenie bereits vor dem Intensivaufenthalt? – Diagnose: Grunderkrankung bzw. zum Intensivaufenthalt führende Erkrankung. – Therapie: Therapie der Grunderkrankung bzw. symptomatische Therapie. 5 Ist die Thrombopenie erst während des Intensivaufenthaltes entstanden? – Diagnose: Akute Erkrankung oder Schaden durch Intensivtherapie. – Therapie: So weit wie möglich Absetzen oder Einschränken aller potenziellen Noxen (Medikamente, extrakorporale Verfahren…). 6
5 Handelt es sich um… – ein Thrombozytenproduktionsproblem? Was verursacht den Knochenmarkschaden? – einen Thrombozytenverbrauch? Ist es eine Immunthrombopenie oder eine Verbrauchskoagulopathie?
22.3.2 Plasmatische Gerinnung Die Bestimmung der Laborparameter der plasmatischen Gerinnung erfolgt in der Regel aus Zitratplasma. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass das Mischverhältnis Zitrat zu Vollblut eingehalten wird. Die vollständige Füllung der Abnahmeröhrchen ist daher unabdingbar. Sind nur geringe Abnahmemengen möglich, stehen spezielle pädiatrische Abnahmegefäße mit geringerem Volumen und geringerer beigegebener Zitratmenge zur Verfügung. In jedem Fall ist aber unmittelbar nach der Entnahme auf die sofortige Durchmischung der Probe zu achten. Die Abnahme der Probe über einen zentralvenösen Katheter ist möglich, sofern das im Katheter stehende Volumen vorher komplett verworfen und während der Abnahme nicht zu kräftig (Hämolyse beeinflusst das Messergebnis) aspiriert wird. Aus hygienischen Gründen ist nach der Abnahme die Freispülung des Katheters von verbliebenem Blut ebenso sicherzustellen.
Globaltests Im Vordergrund des intensivmedizinischen Monitorings der plasmatischen Gerinnung auf der Intensivstation stehen die Gerinnungsglobaltests in Form der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT) und der Prothrombinzeit (PTZ, Thromboplastinzeit oder Quick-Test). Die aPTT erfasst die Faktoren des endogenen Systems, die PTZ die Faktoren des exogenen Systems (. Tab. 22.2). Die seltener verwendete Thrombinzeit (TZ) erfasst lediglich die Funktion der gemeinsamen Endstrecke der Gerinnung (. Abb. 22.4). Die Normbereiche für die Messergebnisse dieser Globaltests sind in Abhängigkeit vom verwendeten Reagens unterschiedlich. Um eine international einheitliche Normierung für die Einstellung der oralen Antikoagulation zu erreichen, die mit der PTZ (»Quick-Test«) bestimmt wird, hat man die INR geschaffen. Die INR wird durch Umrechnung des PTZ-Messergebnisses auf einen testunabhängigen, an einem WHO-Referenztest orientierten Standard erreicht. Je höher die INR, desto länger ist die Zeit bis zum Einsetzen der Koagulation. Im Gegensatz dazu zeigt ein niedriger Quick-Wert einen hohen Grad der Antikoagulation, ein hoher Quick-Wert einen geringen Grad der Antikoagulation an. aPTT und TZ werden von Heparin beeinflusst, die PTZ durch die Wirkung der Vitamin-K-Antagonisten (Phenprocoumon, Warfarin; 7 Kap. 22.5.3) verlängert. Eine Therapie mit Hirudin-Derivaten (direkte Thrombinantagonisten; 7 Kap. 22.5.5) kann über die aPTT oder die TZ eingestellt werden.
Einzelfaktorenbestimmung Neben der Einzelfaktorenbestimmung bei hereditären und Hemmkörperhämophilien ist die Fibrinogen(Faktor I)-Bestimmung im Bereich der Intensivmedizin von Relevanz. Es kann besonders bei schweren septischen Verbrauchskoagulopathien zu einem Fibrinogen-Mangel kommen, der in massiven Blutungen resultieren kann, weil die gemeinsame Endstrecke der plasmati-
287 22.3 · Gerinnungslabor
22
. Tabelle 22.2. Intensivmedizinisch relevante Hämostasestörungen mit veränderten Gerinnungslobaltests INR
aPTT
Erhöht (Gerinnungszeit verlängert)
4 4 4 4
4 Therapie mit unfraktioniertem Heparin 4 Lupusantikoagulans 4 Erworbene Gerinnungsinhibitoren oder hereditärer Faktorenmangel (F. XII, XI, IX, VIII, X, II) bzw. Hämophilie (A oder B) 4 von-Willebrand-Syndrom 4 Fortgeschrittene Verbrauchskoagulopathie 4 Penicillin- und Valproin-Therapie
Erniedrigt (Gerinnungszeit verkürzt)
4 Penicillin-Therapie
Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten Lebererkrankungen (Faktorensynthesemangel) Parenterale Ernährung (Vitamin-K-Mangel) Erworbene Gerinnungsinhibitoren oder hereditärer Faktorenmangel (F. VII, X, II)
schen Gerinnung damit ausgeschaltet ist und kein Fibrinpfropf mehr entstehen kann. Die Einzelanalyse des Faktor V wird vereinzelt zur Bestimmung der Leberfunktion herangezogen. Diese Aussagekraft der Bestimmung resultiert aus einer kurzen Halbwertszeit (12–15 h) des Faktor V, dem Umstand, dass er ausschließlich in der Leber produziert wird, und der Tatsache, dass er nicht zu den Akut-Phase-Proteinen gehört und damit nicht diesen auf der Intensivstation oft gegebenen verfälschenden Einflüssen unterliegt.
Weitere Gerinnungsparameter Zusätzliche Gerinnungstests – insbesondere die sog. Point-ofcare(POC)-Diagnostik – werden in 7 Kap. 18 (Interpretation klinisch chemischer Befunde) beschrieben (. Tab. 22.3). 22.3.3 Thrombophiliediagnostik Da es im Bereich der Intensivmedizin häufig zu thromboembolischen Ereignissen kommt bzw. deren Folgen behandelt werden müssen, stellt sich hier immer wieder die Frage nach der Notwendigkeit einer Thrombophiliediagnostik.
Hereditäre Thrombophilien (Erhöhung des Thromboserisikos)
–
te nach dem akuten Ereignis, d. h. wenn entschieden werden soll, ob die nach thrombotischen Ereignissen meist durchgeführte orale Antikoagulation gefahrlos wieder abgesetzt werden kann. Um die Thrombophiliediagnostik zu diesem Zeitpunkt ohne Gefährdung des Patienten durchführen zu können, sollte ein Umsetzen von oraler Antikoagulation auf niedermolekulares Heparin erfolgen. Unter Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten ist sowohl die Produktion von Gerinnungsfaktoren als auch die Produktion von Vitamin-K-abhängigen Inhibitoren (z. B. Protein-C) vermindert und damit nicht beurteilbar. Unter Behand-
. Tabelle 22.3. Weitere Gerinnungsanalysen mit besonderer Bedeutung für die Intensivmedizin Verfahren
Aussagekraft
AT III
4 Erniedrigt bei Sepsis, Verbrauchskoagulopathie, Präeklampsie, nephrotischem Syndrom, Heparintherapie, Östrogentherapie, großen Wundflächen und hereditärem Mangel 4 Erhöhung bei oraler Antikoagulation (selten)
Fibrinogen
4 Erniedrigt bei Verbrauchskoagulopathie und unter Asparaginase-Therapie (Hämatologie!) 4 Erhöht im Rahmen der Akut-PhaseReaktion 4 Geeignet zum Monitoring der fibrinolytischen Therapie mit Streptokinase und Urokinase
D-Dimerea (Fibrinspaltprodukte)
4 Bei jeder Form intravasaler Fibrinolyse erhöht, z. B. bei Thrombosen, Thromboembolien, fibrinolytischer Therapie oder Verbrauchskoagulopathie
v.-WillebrandFaktor-Aktivität
4 Bei spontan verlängerter aPTT zum Nachweis eines vWF-Mangels und zur Prüfung des potenziellen Nutzens einer Desmopressin-Therapie
5 5 5 5
AT III-Mangel (ca. 10- bis 20-fach) Protein-C-Mangel (ca. 10-fach) Protein-S-Mangel (ca. 10-fach) APC-Resistenz bzw. Faktor-V-Leiden-Mutation (heterozygot ca. 3- bis 5-fach, homozygot ca. 50- bis 80-fach) 5 Antiphospholipidsyndrom (ca. 300-fach) 5 Prothrombinmutation (heterozygot ca. 3-fach)
Eine generelle Thrombophiliediagnostik macht allerdings nur dann Sinn, wenn daraus therapeutische Konsequenzen für den betroffenen Patienten oder seine blutsverwandten Angehörigen erwachsen. Wird der Entschluss zur Thrombophiliediagnostik aber gefasst, so macht eine »Teiluntersuchung« kaum Sinn. Da aber viele der erforderlichen Tests im Rahmen der akuten Gerinnungsaktivierung und bedingt durch intensivmedizinische Maßnahmen keine zuverlässigen Ergebnisse liefern, liegt der ideale Zeitpunkt für die Thrombophiliediagnostik ist in der Regel erst 6‒12 Mona-
a . Abb. 22.4d .
288
Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
lung mit niedermolekularem Heparin können die erforderlichen Analysen dagegen zuverlässig durchgeführt werden. Die Durchführung der Thrombophiliediagnostik hat während der akuten Behandlung auf der Intensivstation in der Regel keinen Stellenwert. Eine Ausnahme bilden allerdings schwere, wiederholte thromboembolische Ereignisse, die primär an ein Antiphospholipidsyndrom (APLS) denken lassen. Da ein solch akutes APLS ggf. auch immunsuppressiv behandelt werden muss, kann hier die Bestimmung der zugehörigen Antikörper auch in der Akutsituation Sinn machen.
22.4
Optionen der Hämotherapie
Unter Hämotherapie versteht man eine Behandlung durch Verabreichung von Blutprodukten. Dabei ist immer die sog. Hämotherapie nach Maß anzustreben, das bedeutet, dass jeder Patient nur die Blutbestandteile erhalten soll, die er aufgrund seiner Erkrankung benötigt. So sollen sowohl potenzielle Gefahren der Hämotherapie (Infektion, Anaphylaxie oder andere Unverträglichkeit) minimiert als auch eine unnötige Verschwendung der kostbaren Ressource vermieden werden. Gesetzliche Grundlage der Hämotherapie ist nicht nur das Arzneimittelgesetz, sondern auch das Transfusionsgesetz sowie zahlreiche weitere Verordnungen. Die Bundesärztekammer hat dazu Transfusionsrichtlinien und Hämotherapieleitlinien veröffentlicht, die Blutspendewesen und Anwendung der gewonnenen Präparate reglementieren: 4 Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/Richtidx/Blutprodukte/Haemo.pdf) und 4 Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten (www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/ Leitidx/Blutkomponentenpdf.pdf). Jede Transfusion bedarf der Aufklärung und Einwilligung des Patienten, nur in lebensbedrohlichen Notfällen darf hierauf verzichtet werden. Während und nach jeder Transfusion ist die Überwachung des Patienten sicherzustellen. Die »Zeugen Jehovas« verweigern jede Zufuhr von Blutprodukten. In der Regel wird von diesem Personenkreis eine notariell bestätigte Erklärung vorgelegt, die ihre diesbezüglichen Wünsche exakt ausführt und die auch in Extremfällen respektiert werden muss. Eine Ausnahme bildet dabei aber die Behandlung von Kindern. Sollte die Möglichkeit bestehen, dass durch die Respektierung der religiösen Überzeugungen ein dauerhafter körperlicher Schaden beim betroffenen Kind verursacht wird, ist das zuständige Vormundschaftsgericht vom behandelnden Arzt in die Entscheidungen einzubeziehen.
22
22.4.1 Blutprodukte mit zellulären Bestandteilen Die Entdeckung der AB0-Blutgruppen durch Karl Landsteiner vor über 100 Jahren hat die Grundlage der Transfusionsmedizin gelegt. Hepatitis und HIV haben den restriktiven Umgang mit
Blutprodukten nachhaltig forciert. Bereits im Bereich der Herstellung wird heute durch Spenderselektion, Blutentnahme, Blutkonservierung, umfangreiche Testung und Lagerung ein sehr hoher Qualitätsstandard der Transfusionsprodukte sichergestellt.
Erythrozytenkonzentrate Weit verbreitet und einfach verfügbar dürfen die Konzentrate jedoch immer nur dann eingesetzt werden, wenn ein kausaler Therapieansatz nicht oder nicht rasch genug zum Erfolg führt. Eine Erythrozytensubstitution ist meist entbehrlich, solange der Hämatokrit nicht unter 30% abgefallen ist. Entscheidend bei der Indikationsstellung zur Erythrozytentransfusion sind allerdings nicht Messwerte, sondern das klinische Bild. Ein Patient mit schwerer Anämie kann an die niedrige Sauerstofftransportkapazität adaptiert sein und auch deutlich unter 30% gelegene Hämatokritwerte problemlos tolerieren, ein anderer – nicht adaptierter – Patient wird schon bei noch darüber gelegenem Hämatokrit mit Atemnot und Tachykardie reagieren und dementsprechend auch eine frühere Substitution benötgen. i Hypovolämie aggraviert das klinische Bild der akuten Blutung und Anämie und kann zunächst auch ohne Gabe von Erythrozytenkonzentraten ausgeglichen werden. Bei akutem Blutverlust hat die Erhaltung der Normovolämie Vorrang vor der Erhaltung der Erythrozyten- bzw. Hämoglobinkonzentration.
Ein Hämatokritwert unter 15% muss aber in jedem Fall als lebensbedrohlich angesehen werden. Hier ist die Substitution von Erythrozyten in jedem Fall – auch weitgehend unabhängig vom klinischen Bild – gerechtfertigt, sofern eine grundsätzliche Therapieindikation besteht. Eine Besonderheit bilden akute und massive Blutungen. Hierbei können wegen der initial noch fehlenden Verdünnungsanämie zu Beginn der Symptomatik noch falsch-hohe Hämatokrit- und Hämoglobinkonzentrationen gemessen werden. Hier ist das klinische Bild (Tachykardie, Luftnot) jeder laborchemischen Untersuchung überlegen. Wegen des hohen Transfusionsbedarfs sollen in solchen Fällen zwar »bevorzugt frische Konzentrate« verwendet werden, um einen möglichst lang anhaltenden Transfusionseffekt zu erhalten, naturgemäß bestehen in kritischen Situationen aber kaum Auswahlmöglichkeiten. Falls bei Massentransfusionen Konserven mit empfängeridentischen Blutgruppen nicht in ausreichendem Maß verfügbar sind, können »kompatible« Blutgruppenkonserven transfundiert werden (. Tab. 22.4). Das Rhesus-Merkmal D ist dabei zu berücksichtigen.
. Tabelle 22.4. Kompatible Blutgruppen für die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten Patient
Spender
A
A, ggf. 0
B
B, ggf. 0
AB
AB, ggf. A, B oder 0
0
0
289 22.4 · Optionen der Hämotherapie
Kardiovaskulär vorgeschädigte Patienten bedürfen einer vorausschauenden und ausgewogenen Volumen- wie auch Erythrozytengabe, da hier auch nur kurzfristige Einbrüche von Blutdruck und Sauerstofftransport zu fatalen Folgen führen können. Eine überschießende Substitution ist aber auch hier strikt zu vermeiden, da sich die Flusseigenschaften des Blutes im hohen Hämatokritbereich verschlechtern können. Gelegentlich krisenhaft in Erscheinung tretende autoimmunhämolytische Anämien (AHA) stellen eine Sonderform der auf der Intensivstation behandelten transfusionspflichtigen Anämien dar. Ursächlich kommen neben den hereditären Formen auch medikamentös induzierte Formen (z. B. durch hochdosiertes Penicillin) in Frage. Naturgemäß steht der kausale Therapieansatz, z. B. eine immunsuppressive Therapie, in Form der Elimination der die Hämolyse bedingenden Antikörper im Vordergrund. Früher wurde die Gabe von Erythrozytenkonzentraten bei der AHA oft als kontraindiziert bezeichnet, heute ist aber klar, dass der vermutete negative Effekt eines »antigenen Stimulus« durch die Erythrozytengabe überschätzt wurde. Bei bedrohlichen Anämien ist auch bei AHA die Erythrozytengabe zulässig bzw. erforderlich, wenn Ischämie und Minderperfusion drohen. Bei Nachweis von Kälteagglutininen als Ursache der AHA ist naturgemäß besonderer Wert auf die Transfusion von körperwarmen Erythrozytenkonzentraten – idealerweise über ein vorgeschaltetes, geeignetes Wärmegerät – zu legen. Das Behältnis mit dem Restblut nach Transfusion ist für 24 h gekühlt (2–4°C) aufzubewahren.
Als Komplikation der Erythrozytentransfusion ist besonders die hämolytische Reaktion vom Soforttyp mit den Symptomen Fieber, Schweißausbruch, Hypotonie und akuter Hämolyse als Folge einer inkompatiblen Transfusion gefürchtet. Um diese Fehltransfusionen zu vermeiden, wird der Bedside-Test der Blutgruppe gefordert. Dabei ist der Test der ja bereits im Labor geprüften Konserve weniger wichtig als die Überprüfung der Blutgruppe des Empfängers. Die Mehrzahl der Verwechslungen geschieht am Empfängerbett. Bei einer pathologischen Reaktion muss die Transfusion sofort unterbrochen, der Konservenrest asserviert, auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr geachtet (Schockbekämpfung, Prävention des Nierenversagens) und die Gerinnungssituation engmaschig beobachtet werden.
Häufiger und weniger gefährlich sind febrile, nichthämolytische Transfusionsreaktionen durch die Freisetzung leukozytärer Bestandteile in der Konserve. Hierbei treten etwa 30 min nach Transfusionsbeginn Schüttelfrost und Fieber auf. Eine hämolytische Reaktion vom Soforttyp ist allerdings unbedingt auszuschließen. Antipyretika, Steroide und H1-Blocker können therapeutisch eingesetzt werden. Allergische Transfusionsreaktionen mit Hautrötung, Urtikaria und Pruritus werden ebenfalls nach Ausschluss einer hämolytischen Reaktion vom Soforttyp mit Steroiden und H1-Blockern behandelt. Sehr selten sind Transfusionsreaktionen durch bakterielle Verunreinigungen, die wie eine Sepsis behandelt werden müssen, wie auch die transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRALI), die in ein beatmungspflichtiges Lungenödem münden kann.
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Thrombozytenkonzentrate Für den Einsatz von Thrombozytenkonzentraten gilt eine sehr strenge Indikationsstellung. Die häufigste Indikation stellen Thrombozytopenien auf dem Boden eines Produktionsdefizites (primäre oder sekundäre Knochenmarkinsuffizienz) dar. Nach der Leitlinie zur Therapie mit Blutkomponenten stellen alle schweren Blutungen mit einer Thrombozytenzahl von <50/nl eine zwingende Indikation zur Gabe von Thrombozytenkonzentraten dar. Einschränkend muss aber gesagt werden, dass die Klärung der Ätiologie der Thrombozytopenie von großer Wichtigkeit ist. Eine thrombopenische Blutung bei Moschkowitz-Syndrom würde beispielsweise durch die Gabe von Thrombozytenkonzentraten kaum gestillt, vielmehr der fatale Verlauf der Erkrankung beschleunigt werden. Im Gegensatz zum Vorgehen bei thrombozytopenischen Blutungen ist eine prophylaktische Thrombozytengabe beim nicht blutenden Patienten erst bei Thrombozytenwerten <10/nl erwägenswert. Die prophylaktische Gabe von Thrombozytenkonzentraten bei autoimmunvermittelten Thrombopenien ist sehr kritisch zu sehen. Die Indikation zur Knochenmarkbiopsie sollte bei notwendiger Thrombozytentransfusion durchaus großzügig gestellt werden. Da alle geeigneten Punktionsorte gut von außen komprimierbar sind, sollte auf eine Knochenmarkpunktion gerade im intensivmedizinischen Bereich keinesfalls unter Hinweis auf die Möglichkeit einer Blutungskomplikation verzichtet werden. Um Mehrfachpunktionen zu vermeiden, ist es hierbei zweckmäßig, zeitgleich sowohl Knochenmark zur histologischen als auch zur zytologischen Bestimmung zu gewinnen. Blutungen unter Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern (7 Kap. 22.5.1) stellen in der Regel keine Indikation zur Thrombozytentransfusion dar. Bei der Thrombozytentransfusion sind die AB0-Klassifikation von Spender und Empfänger und die auf der Thrombozytenmembran exprimierten HLA-Antigene relevant. Idealerweise sollte analog zur Erythrozytentransfusion AB0- und D-kompatibel transfundiert werden. Nicht AB0-kompatible Präparate dürfen bei Erwachsenen jedoch auch gegeben werden. Bei wiederholter Thrombozytentransfusion (hämatologisch-onkologische Patienten) müssen gelegentlich HLA-identische Spender identifiziert werden, um den Transfusionserfolg sicherzustellen.
Leukozytenkonzentrate Granulozytenkonzentrate haben außer in der Neonatologie nur bei Patienten mit seltenen angeborenen Granulozytendefekten Bedeutung. Ihre Anwendung in der Sepsis hat in der Intensivmedizin keine nennenswerten Erfolge erzielt. 22.4.2 Blutprodukte ohne zelluläre Bestandteile In . Abb. 22.2 sind neben der schematischen Darstellung der Gerinnungskaskade auch verfügbare Präparate zur Einzelfaktorsubstitution (blau) dargestellt und teilweise mit Handelsnamen ergänzt.
Einzelgerinnungsfaktorenkonzentrate Einzelfaktorenkonzentrate dienen primär der gezielten Substitution bei hereditärem Mangel des jeweiligen Gerinnungsfaktors bzw. bei erworbener Hemmkörperhämophilie. Als Hemmkörperhämophilien bezeichnet man Erkrankungen, bei denen Au-
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Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
toantikörper gegen den jeweiligen Gerinnungsfaktor gebildet werden und zu seinem Mangel führen. Es stehen rekombinante und/oder humane Faktorenkonzentrate für die Gerinnungsfaktoren F. VII, VIII und IX zur Verfügung. Die Substitution solcher Einzelfaktorenkonzentrate darf aber nur bei gesichertem Mangel erfolgen. Als Besonderheit beinhaltet ein Faktor-VIII-Präparat (Haemate) neben F. VIII auch v.-Willebrand-Faktor (vWF), der eigentlich an der thrombozytären Gerinnung beteiligt ist. Da F. VIII nur in Gegenwart von vWF stabil ist, macht die alleinige Substitution von F. VIII beim erworbenen oder hereditären vonWillebrand-Syndrom wenig Sinn. Hier müssen beide Faktoren substituiert werden. Auch ein Fibrinogenpräparat steht zur gezielten Substitution zur Verfügung. Es kann bei der angeborenen Afibrinogenämie und bei medikamentös verursachten Hypofibrinogenämien (z. B. durch Asparaginase) eingesetzt werden. Für die Intensivmedizin besonders bedeutsam ist die progrediente Hypofibrinogenämie, die durch eine fortgeschrittene Verbrauchskoagulopathie verursacht werden kann. Hier kommt es bei schwerem Fibrinogenmangel zu diffusen Blutungen aus Wunden und Schleimhäuten, die durch gezielte Substitution beeinflusst werden können. Vom Einsatz von Faktor-XIII-Präparaten hat man sich bei mangelnder Wundheilung, verzögerter Wundblutung und chronisch entzündlichen Erkrankungen viel versprochen. Da es erst bei Faktor XIII-Konzentrationen <7% zu spontanen Blutungen kommt, sind Einsatzgebiete dieser Präparation im Bereich der Intensivmedizin nur wenig verbreitet.
Rekombinanter, aktivierter Faktor VII
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In den rekombinanten Faktor VIIa (rFVIIa), der als Stimulans des extrinischen Pathways an einer Schlüsselstelle in die plasmatische Gerinnung eingreifen kann, wurden große Hoffnungen in Bezug auf die Stillung schwerer Blutungen gesetzt. So gibt es zahlreiche Literaturstellen, in denen über die Stillung schwerster Blutungen unter Einsatz des Präparates berichtet wird. Die Zulassung des Präparates beschränkt sich aktuell jedoch neben der Substitutionsbehandlung bei Faktor-VII-Mangel auf die Therapie von Blutungen bei sonst therapierefraktären Hemmkörperhämophilien und der seltenen, transfusionsrefraktären Blutung bei Thrombasthenie Glanzmann. Die Rolle des rFVIIa bei der Therapie von anderen schweren Blutungen bei internistischen oder chirurgischen Patientent wird kontrovers diskutiert. Daten aus systematischen Analysen liegen nicht vor, denkbare Vorteile in Form einer besonders starken Gerinnungsaktivierung sind gegenüber den Nachteilen der ebenso denkbaren überschießenden Gerinnungsaktivierung abzuwägen. So erscheint der Einsatz als Ultima ratio bei unstillbaren, lebensbedrohlichen Blutungen denkbar wie z. B. bei einer diffusen, intestinalen Blutung, die durch mechanische Blutstillungsverfahren nicht angegangen werden kann. Im Bereich schwerer geburtshilflicher Blutungskomplikationen wurde rFVIIa wiederholt erfolgreich eingesetzt, kontrollierte Studien hierzu existieren naturgemäß nicht. Eine weitere interessante Anwendung des rFVIIa wurde bisher nur kasuistisch beschrieben: die intrapulmonale Anwendung bei diffuser alveolärer Hämorrhagie. Da die topische Anwendung erfolgreich zu sein scheint, bekommt rFVIIa zukünftig möglicherweise bei den zwar seltenen, aber keineswegs ungefährlichen und bisher nur schwer therapierbaren intrapulmonalen Blutungen Relevanz.
PPSB PPSB ist eine aus den Faktoren des Prothrombinkomplexes (Faktoren II, VII, IX, X, Protein C und S) zusammengesetzte Präparation, deren exakte Zusammensetzung je nach Hersteller variiert. So ist in einzelnen Präparaten – um eine Faktorenaktivierung zu vermindern – auch Heparin enthalten, was bei Patienten mit heparinassoziierter Thrombopenie bedacht werden muss. Im Bereich der Intensivmedizin ist der PPSB-Einsatz besonders bei schweren Blutungen infolge einer Überdosierung von Vitamin-K-Antagonisten verbreitet. Die Überdosierung von Vitamin-K-Antagonisten allein ist jedoch keine Indikation für den PPSB-Einsatz, da in einem solchen Fall zunächst Vitamin K gegeben werden kann. Nur wenn bei einer Blutung die Zeit, die die Leber zur Neosynthese der Gerinnungsfaktoren benötigt, aus vitaler Indikation nicht abgewartet werden kann, ist PPSB vorzuziehen. Bei schwerer Leberinsuffizienz mit konsekutivem Mangel an Gerinnungsfaktoren darf PPSB bei vitaler Indikation nur sehr zurückhaltend zum Einsatz kommen. Die Substitution der Faktoren des Prothrombinkomplexes kann eine Verbrauchskoagulopathie durch ein Ungleichgewicht zugunsten prokoagulant wirkender Substanzen im Blut bzw. durch eine überschießende Gerinnungsaktivierung in Gang setzen. Das Vorliegen einer Verbrauchskoagulopathie gilt daher als Kontraindikation für den PPSB-Einsatz.
FFP (gefrorenes Frischplasma) Im gefrorenen Frischplasma finden sich die Faktoren der plasmatischen Gerinnung zusammen mit ihren Inhibitoren in normaler Konzentration. Daraus resultiert, dass eine Substitution von Gerinnungsfaktoren durch die Gabe von FFP nicht erfolgversprechend ist. Es müssten exzessive Flüssigkeitsmengen gegeben werden, um einen Faktorenanstieg im Empfängerplasma zu verzeichnen. Hier ist der gezielte Einsatz von Faktorenkonzentraten geeigneter, sofern diese verfügbar sind. Auch ist die Gabe von FFP weder als Volumenersatztherapie noch als Albuminersatz zur Anhebung des kolloidosmotischen Druckes geeignet.
Laut Transfusionsgesetz anerkannte Indikationen für den Einsatz von FFP 5 Verbrauchskoagulopathie 5 Verdünnungskoagulopathie nach Massivtransfusion 5 Notfallbehandlung bei Blutungen auf dem Boden einer höhergradigen Leberinsuffizienz 5 TTP (thrombotisch thrombozytopenische Purpura, M. Moschkowitz) – Plasmapherese gegen FFP 5 Guillain-Barré-Synrom – Plasmapherese gegen FFP 5 Austauschtransfusion 5 Substitution bei Faktor-V- oder Faktor-XI-Mangel (keine Faktorenkonzentrate verfügbar)
Aussagekräftige Studien über den Vorteil der Gabe von FFP oder Einzelfaktoren beim Gerinnungsversagen bzw. bei schwerer Beeinträchtigung der Blutgerinnung im Rahmen der Intensivmedizin stehen jedoch aus (Ausnahme: Blutung im Rahmen von bekannten Hämophilien). Damit kann die Gabe von FFP physiologisch gesehen nur dann sinnvoll sein, wenn bei einer schwer beeinträchtigten Gerinnung zusätzlich größere Volumen-
291 22.5 · Antikoagulanzien
mengen substituiert werden können bzw. müssen. Ist eine Volumenüberladung unbedingt zu vermeiden, ist FFP kein geeignetes Präparat. Zur Korrektur einer erhöhten INR (z. B. bei oraler Antikoagulation) ohne zeitgleich bestehende aktive Blutung ist eine Frischplasmatherapie nicht nützlich.
Albumin Wie bei allen Blutprodukten darf auch der Einsatz von Albumin nur unter strenger Indikationsstellung erfolgen. Es sind zwar keine albuminvermittelten Infektionen bekannt, dennoch handelt es sich um ein rares, teures und nur selten indiziertes Gut. Die Gabe von Albumin als Volumenersatz auf der Intensivstation wurde in mehreren Studien mit einem schlechteren Outcome der beobachteten Patienten verbunden. In diesen Studien wurde Albumin vorrangig als alleiniger Volumenersatz eingesetzt. Ob der Einsatz von Albumin wirklich schädlich ist, bleibt umstritten, jedoch können zumindest keine Nachteile für die alleinige Gabe von kristalloiden oder kolloidalen Infusionen als Volumenersatzmittel im Schock gezeigt werden (7 Kap. 21). So ist die Gabe von Albumin als Volumenersatz zumindest die teuerste Alternative. Indikationen für den Einsatz von Albumin im Bereich der Intensivmedizin beschränken sich daher primär auf die Substitution von Eiweiß nach Parazentese sowie zur Anhebung des kolloidosmotischen Druckes bei hepatischer Synthesestörung mit hepatorenalem Syndrom. Die alleinige Hypoalbuminämie – selbst bei hepatischer Synthesestörung – stellt keine Indikation zur Gabe von Humanalbumin dar, auch wenn dies pathophysiologisch sinnvoll erscheinen mag.
Sonstige Hämotherapeutika Wachstumsfaktoren zur Stimulation der Blutbildung wie Erythropoietin, Thrombopoietin und »granulozytenkoloniestimulierender Faktor« (GCSF) zur Blutstammzellmobilisierung sowie synthetische Blutersatzstoffe ergänzen das Spektrum der Hämotherapeutika, sollen hier aber wegen des geringen Einflusses auf die Hämostase nicht näher besprochen werden.
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Acetylsalicylsäure mit Protonenpumpeninhibitoren in der Risikobewertung für GI-Blutungen den ADP-Rezeptor-Antagonisten gleichzusetzen ist. Die Kombination von Acetylsalicylsäure mit Dipyridamol birgt kein für die Intensivstation erhöhtes Risikopotenzial. Nicht unterschätzt werden darf aber die nahezu vollständige Ausschaltung der Thrombozytenaggregation bei der Kombination von Acetylsalicylsäure mit einem ADP-Rezeptor-Antagonisten. Unter einer derartigen Therapie, die z. B. beim akuten Myokardinfarkt bzw. nach Einlage von Koronarstents durchgeführt wird und oft nicht unterbrochen werden kann, können große Blutungen durch Bagatelltraumen ausgelöst werden. ! Cave Punktionen und andere gewebeverletzende Eingriffe auf der Intensivstation sind unter einer Kombinationstherapie von Acetylsalicylsäure mit einem ADP-Rezeptor-Antagonisten auf das zwingend erforderliche Minimum zu begrenzen, insbesondere Leber- oder Lumbalpunktionen sind, wenn irgend möglich, zu unterlassen.
Eine weitere Substanzklasse der Thrombozytenaggregationshemmer, die GP IIb/IIIa-Blocker (z. B. Abciximab), ist nur für die intravenöse Gabe verfügbar und hat im Gegensatz zu den vorgenannten Substanzen auch nur einen reversiblen, d. h. auf die Zeit der Anwendung begrenzten Effekt. Auch die Hirudine, die ihre Hauptwirkung auf die Gerinnung als direkte Thrombininhibitoren entfalten, sind reversible Thrombozytenaggregationshemmer. Neben der bei allen Präparaten gegebenen Nebenwirkung einer erhöhten Blutungsgefahr sind bei ADP-Rezeptor-Antagonisten und GP IIb/IIIa-Blockern auch Thrombopenien nicht selten und daher besonders zu beachten. Der Thrombozytenaggregationshemmer Cilostazol (Pletal) findet bisher nur bei der arteriellen Verschlusskrankheit Anwendung. Im Bereich der Intensivmedizin gibt es keine weiteren Anwendungsgebiete. 22.5.2 Heparine
22.5
Antikoagulanzien
22.5.1 Thrombozytenaggregationshemmer Thrombozytenaggregationshemmer werden besonders zur Prophylaxe von thromboembolischen Erkrankungen des arteriellen Stromgebietes (KHK, zerebraler Insult) eingesetzt. Während die Acetylsalicylsäure die Thromboxansynthese hemmt, antagonisieren Ticlopidin und Clopidogrel die thrombozytären ADPRezeptoren. Da beide Thrombozytenaggregationshemmer die Aggregationsfähigkeit der Blutplättchen irreversibel blockieren, ist es erforderlich, diese Präparate – unter Abwägung der Risiken – etwa 7 Tage vor elektiven Eingriffen abzusetzen, wenn über die Neubildung der Thrombozyten deren physiologische Aggregationsfunktion komplett wiederhergestellt werden soll. Die häufigste Komplikation der Behandlung mit Thrombozytenaggregationshemmern auf der Intensivstation sind obere gastrointestinale Blutungen. Während wegen der bekannten Nebenwirkung von Acetylsalicylsäure früher bei gefährdeten Patienten oftmals die Entscheidung zugunsten der ADP-Rezeptor-Antagonisten fiel, ist heute klar, dass die Kombination von
Bei den Heparinen ist primär zwischen den nichtfraktionierten und den fraktionierten (sog. niedermolekularen) Heparinen zu unterscheiden. Die unfraktionierten haben im Vergleich zu den fraktionierten Heparinen sowohl bei intravenöser wie auch bei subkutaner Gabe eine meist kürzere, aber durch viele Faktoren beeinflussbare Halbwertszeit (30 min bis 3 h). Die längere Halbwertszeit (2‒4 h) erlaubt gerade bei subkutaner Gabe der niedermolekularen Heparine (LMWH) ein größeres Dosierungsintervall als bei den unfraktionierten Heparinen. Die intravenöse Gabe der unfraktionierten Heparine, deren therapeutischer Effekt durch die Messung der aPTT überprüft werden kann, ist leicht steuerbar. Wichtig ist es dabei aber, sich über den »therapeutischen Bereich« des aPTT-Reagens des Labors zu erkundigen, denn diese Bereiche der Mess-Kits ergeben herstellerabhängig unterschiedlich zu interpretierende Werte. Bei Bedarf kann die Wirkung des Heparins unmittelbar durch Protamin (7 Kap. 22.5.5) antagonisiert werden. Der antikoagulatorische Effekt der LMWH ist nur durch Messung der Anti-Xa-Aktivität kontrollierbar, eine Messmethode, die auf der Intensivstation oft nicht verfügbar ist. Oft kann man beim LMWH-Einsatz aber auf zuverlässige, in Einzelfäl-
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Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
len gewichtsadaptierte Standarddosierungen zurückgreifen, da deren Pharmakokinetik durch eine im Vergleich zu den unfraktionierten Heparinen geringere Plasmaeiweißbindung besser vorhersagbar ist. Zu beachten ist aber auch gerade bei der intensivmedizinischen Therapie, dass niedermolekulare Heparine bei Niereninsuffizienz kumulieren, was in einem solchen Fall den Rückgriff auf Standarddosen sinnlos macht. Gefährlichste Nebenwirkung des Heparin-Einsatzes auf der Intensivstation ist neben der akuten Blutung die Heparin-assoziierte Thrombopenie (7 Kap. 22.9.1), die als HIT-2 eine lebensgefährliche thrombembolische Krise verursachen kann. Wichtig zu wissen ist, dass es sich bei den Heparinen nicht um chemisch inerte Substanzen handelt. Zulassung und Dosierung sind somit von Produkt zu Produkt, von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich. Die unkritische Verwendung von »Heparinen« zur Antikoagulation kann leicht zum unabsichtlichen Off-Label-Use führen, wenn das genutzte Heparin über keine spezielle Zulassung für den geplanten, oft sehr eng definierten Einsatzbereich verfügt. Klinisch sind die Unterschiede jedoch keineswegs derart gravierend, dass sich mit Zulassungskriterien die oft eklatanten Preisunterschiede rechtfertigen ließen. 22.5.3 Orale Antikoagulanzien
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Die verfügbaren oralen Antikoagulanzien Phenprocoumon (Marcumar) und das in USA verbreitetere Warfarin-Natrium (Coumadin) sind Vitamin-K-Antagonisten. Sie werden aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert und sehr stark an Plasmaproteine gebunden, was eine lange Halbwertszeit und bei Stoffwechselgesunden nach einer längeren Einstellungsphase eine stabile Wirkung erlaubt. Die Einstellung der oralen Antikoagulation wird durch die INR kontrolliert (7 Kap. 22.3.2). Entsprechend ihrem Gruppennamen hemmen die oralen Antikoagulanzien die Vitamin-K-abhängige Synthese von Gerinnungsfaktoren in der Leber. Die prokoagulatorischen Proteine VII, IX und X wie auch die antikoagulatorischen Proteine C und S sind davon betroffen, was gerade zu Beginn der Behandlung zu einem gefährlichen Ungleichgewicht zwischen pro- und antikoagulatorischen Substanzen führen kann (o MarcumarNekrose). Auch ist zu bedenken, dass gerade diese Wirkweise und die stabile Eiweißbindung für zahlreiche Interaktionen mit anderen Medikamenten verantwortlich sind. Eine klinisch bedeutsame Wirkungsverstärkung wird u. a. bei gleichzeitiger Einnahme von Acetylsalicylsäure, COX-2-Hemmern, Allopurinol, Schilddrüsenhormonen, trizyklischen Antidepressiva, Makroliden und anderen Antibiotika beobachtet. Naturgemäß kann die gleichzeitige Gabe von Heparinen oder anderen Antikoagulanzien ebenfalls zu verstärkter Blutungsneigung führen. Zu einer Wirkungsabschwächung führt die gleichzeitige Gabe von Barbituraten, Rifampizin und Carbamazepin. Weitere, teilweise komplexe Interaktionen sind aus der Kombination mit Capezitabine, Alkohol, Sulfonylharnstoffen oder Kontrazeptiva bekannt. Dass eine ggf. wechselnde Aufnahme von Vitamin K mit der Nahrung die Wirkung der oralen Antikoagulanzien beeinflusst, erschwert die Einstellung der gewünschten Antikoagulation zusätzlich. Diese großteils unkalkulierbaren Interaktionen und die träge Steuerbarkeit haben dazu geführt, dass eine erforderliche Antikoagulation der Patienten auf der Intensivstation zumindest bei
längerfristig kritisch Kranken in der Regel mit Heparinen durchgeführt wird. Das ursprünglich vielversprechende orale Antikoagulans Ximelagatran (Exanta) wurde wegen schwerer Hepatotoxizität vom Markt genommen. 22.5.4 Thrombolytika Als Thrombolytika sind aktuell die nur noch selten zum Einsatz kommenden Substanzen Streptokinase (Streptase)und Urokinase sowie die häufig eingesetzten rekombinanten GewebsplaminogenAktivatoren (rtPA) Alteplase (Actilyse) und Tenecteplase (Metalyse) verfügbar. Die rtPA-Präparate zeigen gegenüber den älteren Substanzen ein geringeres Nebenwirkungsprofil sowie eine schnelleres und besseres Lyseergebnis. Mit Ausnahme der Streptokinase gilt für alle Substanzen, dass sie keine eigene antikoagulatorische Wirkung haben. Aus pharmakologischer Sicht ist daher die zeitgleiche Administration von Heparin in therapeutischer Dosierung sinnvoll. Eine Ausnahme bilden die Thrombolyse-Regimes bei intrakraniellen Gefäßverschlüssen. Hier wird oftmals auf die zeitgleiche Heparin-Gabe verzichtet, da Studien den Schluss nahe legten, dass dadurch das Risiko der sekundären Einblutung in das Infarktareal vermindert werden kann. Kommt es zu Blutungskomplikationen unter laufender Lysetherapie, muss natürlich sowohl die Thrombolysebehandlung wie auch die begleitende Heparin-Therapie unterbrochen werden (mehr dazu siehe 7 Kap. Herzinfarkt, Schlaganfall). Bei lebensbedrohlichen Lyse-Blutungen mit begleitender Hypofibrinogenämie kann neben der klassischen Blutungsstillung auch die Gabe von Fibrinogen erwogen werden. Alle thrombolytischen Verfahren sind standardisiert und müssen auch in der beschriebenen Form durchgeführt werden. In Anbetracht ihrer hohen Wirksamkeit, aber auch des großen Nebenwirkungspotenzials sind individuelle Abweichungen in Dosierung und Ablauf der Lysetherapie soweit wie möglich zu vermeiden. Zu Indikation und Durchführung der thrombolytischen Therapie 7 Kap. 31 (Myokardinfarkt) und 7 Kap. 35 (Lungenembolie). 22.5.5 Weitere gerinnungsaktive Medikamente Zahlreiche Medikamente haben eine gerinnungsbeeinflussende Wirkung. Hier können naturgemäß nur kursorisch Medikamente aufgeführt werden, die in der Intensivtherapie häufiger zum Einsatz kommen.
Rekombinantes Hirudin und Hirudin-Analoga Die antithrombotische Wirksamkeit von rekombinantem Hirudin (Lepirudin) ist auf seine direkte Wirkung als Thrombininhibitor zurückzuführen. In der Intensivmedizin wird die Substanz vorrangig zur Gerinnungsinhibition bei Heparin-induzierter Thrombopenie eingesetzt. Lepirudin (Refludan) erschien zwar auch in anderen Einsatzgebieten den Heparinen überlegen, konnte sich aber wegen der schwierigeren therapeutischen Einstellbarkeit, der ebenso schwierigen Antagonisierbarkeit und der daraus resultierenden erhöhten Nebenwirkungsgefahr in Form von therapieinduzierten Blutungen nicht als Standardantikoagulans behaupten. Le-
293 22.5 · Antikoagulanzien
pirudin wird ausschließlich renal eliminiert und kumuliert bei Niereninsuffizienz. Argatoban (Argatra) und Bivalirudin (Angiox) sind Hirudin-Analoga, die ebenso wie Hirudin direkt hemmend auf die Thrombinbildung wirken. Sie benötigen also keinen Kofaktor (wie z. B. AT III bei den Heparinen), um wirksam zu werden. Analog zum rekombinanten Hirudin gibt es jedoch auch hier keine Möglichkeit, die Wirkung zu antagonisieren. Argatoban wird in der Leber metabolisiert und über die Fäzes ausgeschieden, während Bivalirudin wie Lepirudin in der Niere metabolisiert und über diese ausgeschieden wird. Das Monitoring der Hirudin-Derivate erfolgt über die aPTT, die typischerweise in einem Bereich vom 1,5- bis 3-fachen des Ausgangswertes eingestellt wird. Auch Quick-Wert (bzw. INR) und Thrombinzeit werden von den Hirudin-Derivaten beeinflusst.
Danaparoid Danaparoid (Orgaran) ist ein Heparinoid, das ebenfalls als Antikoagulans bei manifester Heparin-induzierter Thrombopenie eingesetzt werden kann. Da bei einer Danaparoid-Therapie Blutungskomplikationen seltener als bei einer Hirudin-Therapie zu beobachten sind (8,1% vs. 17,6%) hat die Gabe des Heparinoids unverändert ihren Stellenwert, wenngleich als nachteilig angesehen werden muss, dass auch unter Danaparoid Heparin-induzierte Thrombopenien beschrieben sind.
Protamin Protaminhydrochlorid (Protamin Valeant) kann als Antidot bei unerwünschter Heparinämie eingesetzt werden. Bei einer schweren Heparin-induzierten Blutung muss die Heparin-Zufuhr sofort unterbrochen und Protamin ggf. intravenös verabreicht werden.
Antidotherapie mit Protamin 1000 IE Protamin antagonisieren ca. 1000 IE unfraktioniertes Heparin. Bei einer Überdosierung mit unfraktioniertem Heparin werden zunächst 1000 IE Protamin i.v. gegeben, dann wird nach Wirkung und aPTT vorsichtig titriert (. Tab. 22.5). Die Gabe von Protamin soll nur in schweren Fällen, d. h. bei gravierender oder symptomatischer Überdosierung erfolgen. Bei subkutan verabreichten Heparinen ist die protrahierte Freisetzung des Heparins aus dem Depot zu berücksichtigen. ! Cave Da sich Protamin mit Heparin zu einem nicht mehr antikoagulant wirksamen Salz verbindet, selbst aber antikoagulatorische Wirkung hat, ist die Dosierung von Protamin von der Heparin-Dosierung abhängig. Eine Überdosierung ist dementsprechend kontraproduktiv.
Aktiviertes Protein C Ziel des Einsatzes von aktiviertem Protein C (Drotrecogin alpha, Xigris) ist die Therapie der schweren Sepsis. Diese wird in 7 Kap. 63 ausführlich besprochen. Hier soll nur auf die hämostaseologische Wirkung der Substanz eingegangen werden. Bei der Gabe von Drotrecogin alpha muss immer mit der Entwicklung spontaner Blutungen gerechnet werden. Sein Einsatz ist daher bei Patienten, die in der unmittelbaren Vorgeschichte therapeutisch antikoaguliert wurden, kritisch abzuwägen. Patienten mit aktiven Blutungen, schweren Lebererkrankungen oder anderen hämorrhagischen Diathesen sollten nicht mit aktiviertem Protein C behandelt werden.
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. Tabelle 22.5. Antagonisieren der Wirkung von niedermolekularem Heparin mit Protamin Wirkstoff (Handelsname)
Dosierung in Bezug auf Einheiten des jeweiligen Wirkstoffes
Nadroparin Calcium (Fraxiparin)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 160 anti-Xa-Einheiten
Dalteparin Natrium (Fragmin)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 100 IE
Enoxaparin Natrium (Clexane)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 100 IE
Reviparin Natrium (Clivarin)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 82 Anti-Xa-Einheiten
Tinzaparin Natrium (Innohep)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 100 Anti-Xa-Einheiten
Certoparin Natrium (Mono-Embolex)
100 IE Protamin antagonisieren ca. 200 IE
Der Einsatz dieser Substanz ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt wegen widersprüchlicher Studienergebnisse umstritten, die Indikation zum Einsatz bei Kindern wurde zurückgenommen.
Desmopressin Das Vasopressin-Analogon Desmopressin (Minirin) ist in der Intensivmedizin als Ersatz für das antidiuretische Hormon (ADH) bekannt. Gleichzeitig hat es aber auch eine hämostaseologische Wirkkomponente. Durch die Desmopressin-Wirkung wird – ohne dass der genaue Mechanismus bekannt wäre – v.-Willebrand-Faktor aus dem Endothel freigesetzt. So kann gerade die thrombozytäre Gerinnung kurzfristig verbessert werden. Der Effekt ist allerdings nicht beliebig wiederholbar, da die Speichergranula spätestens nach der 2. Gabe entleert sind und erst mehrere Tage vergehen müssen, bis ein erneuter hämostaseologisch relevanter Effekt verzeichnet werden kann. Anwendung findet Desmopressin bei Blutungen infolge von komplexen Gerinnungsstörungen mit Beteiligung des thrombozytären Sytems (z. B. Urämie, v.-Willebrand-Erkrankung etc.). Eine prophylaktische Gabe von Desmopressin ist nicht sinnvoll. Die typischen Nebeneffekte von Vasopressin (Flush, Hyperhydratation) haben bei der nur kurzfristigen Anwendung im Bereich der Hämostasetherapie kaum Bedeutung. i Die wiederholte Gabe von Desmopressin (Minirin) zur Therapie von Blutungen ist nicht sinnvoll. Die prophylaktische Gabe sollte nur unmittelbar vor dem blutungsgefährdeten Eingriff erfolgen.
Vitamin K Vitamin K (Konakion) ist als fettlösliches Vitamin unentbehrliches Substrat für die Produktion der Gerinnungsfaktoren in der Leber. Besonderer Beachtung bedarf die Substitution von Vitamin K in der Intensivmedizin. Ein erniedrigter Quick-Wert (bzw. eine pathologisch verlängerte INR) deuten auf einen solchen Vitamin-K-Mangel hin, der z. B. auch durch längere parenterale Ernährung ohne Substitution fettlöslicher Vitamine verursacht werden kann.
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Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
Die Substitution von Vitamin K kann in einem solchen Fall die ausreichende Therapie sein, aber in keinem Fall zur sofortigen Korrektur der pathologischen Gerinnungssituation führen. Je nach Schwere des Faktorendefizites bedarf es mindestens eines Tages, bis eine stoffwechselgesunde Leber eine ausreichende Menge an Gerinnungsfaktoren synthetisiert hat, um wieder ein hämostaseologisches Gleichgewicht zu erreichen. Die enterale Gabe von Vitamin K ist der parenteralen wegen geringerer Nebenwirkungen vorzuziehen. Bei ikterischen Patienten oder bei der gleichzeitigen Einnahme von Cholestyramin, d. h. bei durchbrochenem enterohepatischem Kreislauf, ist nur die parenterale Vitamin-K-Gabe erfolgversprechend. Bei geschädigter Leberfunktion kann die Vitamin-K-Gabe jedoch auch bei parenteraler Gabe erfolglos bleiben.
Antifibrinolytika Der Stellenwert der Therapie mit Antifibrinolytika in der Intensivmedizin ist umstritten. Weder für Aprotinin (Trasylol) noch für Tranexamsäure (Cyklokapron) oder ε-Aminokapronsäure existieren Studien, die deren Nutzen im Bereich der Intensivmedizin nachhaltig belegen. Beim Hyperfibrinolysesyndrom wird in einzelnen Berichten der erfolgreiche Einsatz der Antifibrinolytika beschrieben, in der Kardiochirurgie und bei der Lebertransplantation hat die Gabe von Aprotinin noch vielerorts einen festen Platz. Aktuellen Studien folgend, die die besonders negativen Effekte der AprotininGabe hervorheben, ist der Einsatz der Antifibrinolytika jedoch kaum mehr zu rechtfertigen.
Fondaparinux Fondaparinunx (Arixtra) ist ein Pentasaccharid, das aktuell erst zur Therapie von Lungenembolien und tiefen Beinvenenthrombosen zugelassen ist. Es inhibiert die Thrombingeneration wie die Heparine durch eine AT III-abhängige Anti-Xa-Inhibition, hat eine Halbwertszeit von 17 h und wird vornehmlich renal eliminiert. Ein spezifischer Antagonist ist nicht bekannt. Da bisher keine Heparin-induzierten Thrombopenien (HIT) unter Fondaparinux beschrieben sind (und deren Induktion durch Fondaparinux aus pharmakologischer Sicht unwahrscheinlich ist), wird nach dem Vorliegen geeigneter Studien mit einem zunehmend breiten Einsatz im Bereich der Intensivmedizin gerechnet. Weitere Vorteile gegenüber den zahlreichen verfügbaren niedermolekularen Heparinen – die über den Umstand, dass Fondaparinux keine HIT auslöst, hinausgehen – sind noch nicht bekannt.
Dipyridamol Dipyridamol wird in Kombination mit Acetylsalicylsäure (Aggrenox) bei der Schlaganfallprophylaxe erfolgreich eingesetzt und soll hier der alleinigen Gabe von Acetylsalicylsäure überlegen sein. Wenngleich die Kombinationstherapie bereits Einzug in Leitlinienempfehlungen gefunden hat, muss die Studienlage diesbezüglich als nicht eindeutig bezeichnet werden. 22.6
Antikoagulation
22 22.6.1 Thromboseprophylaxe Die Vielzahl intensivmedizinischer Erkrankungen, die zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems führen, und die regelhafte
Immobilisation der Patienten auf der Intensivstation machen die Thromboseprophylaxe zum wesentlichen Bestandteil des internistisch-intensivmedizinischen Behandlungskonzepts. Allerdings unterscheiden sich die Anforderungen an die eingesetzten Therapieverfahren auf der Intensivstation deutlich von denen einer internistischen Normalstation oder auch eines ambulanten Behandlungsbereiches.
Risikofaktoren für das Ausbilden einer Thrombose 5 Thrombose in der eigenen Anamnese 5 Positive Familienanamnese 5 Hohes Alter, hohes Körpergewicht, Nikotinabusus, Varikosis 5 Immobilisation 5 Disponierende Erkrankungen (z. B. Sepsis, Tumorleiden, Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom) 5 Erbliche Disposition (z. B. AT III-Mangel, Protein-C- oder -S-Mangel, APC-Resistenz, Prothrombinmutation) 5 Dehydratation (Cave: Diuretika) 5 Thrombogene Medikamente (z. B. Kontrazeptiva)
Im Bereich der Intensivmedizin sind oft akute Entscheidungen zu treffen, die den Einsatz invasiver diagnostischer oder therapeutischer Verfahren nach sich ziehen. Das ideale prophylaktische Antikoagulationsverfahren sollte daher gerade bei »instabilen« Patienten einen bei Bedarf kurzfristig reversiblen Effekt auf die Gerinnung haben. Andererseits sollte die Wirkung der Thromboseprotektion ebenso rasch wieder erzielt werden können, um das therapiefreie Intervall so kurz wie möglich zu halten. Die orale Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten ist aufgrund der schwierigeren Steuerbarkeit im intensivmedizinischen Bereich ungünstig. Hinzu kommt, dass zahlreiche intensivmedizinisch behandelte Erkrankungen eine Leberstauung oder Minderperfusion des Splanchnikusgebietes – und damit der Leber – mit sich bringen, was den Vitamin-K-Metabolismus beeinträchtigt. Ebenso ist die Vitamin-K-Aufnahme bei kritisch Kranken infolge eines in der Funktion eingeschränkten enterohepatischen Kreislaufes, wegen inkonsistenter Resorption und unphysiologischer Zufuhr unkalkulierbar. Man ist daher meistens gezwungen, eine bestehende Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten vorübergehend abzusetzen oder zumindest durch eine Antikoagulation mit anderen Substanzen zu ersetzen. Dabei kann vor dem Absetzen einer ggf. vor dem Intensivaufenthalt durchgeführten oralen Antikoagulation von großem Interesse für die Intensivmedizin sein, ob die D-Dimere bereits unter dieser laufenden Therapie erhöht waren. Patienten, die unter oraler Antikoagulation erhöhte D-Dimer-Werte haben, sind prädestiniert für thromboembolische Komplikationen im Rahmen des Absetzens der gerinnungshemmenden Medikation. In einem derartigen Fall sollte daher – soweit vertretbar – nur ein Umsetzen auf eine leichter steuerbare Antikoagulation erfolgen. Die meist subkutan applizierten, niedermolekularen Heparine (LMWH) haben in der Thromboseprophylaxe der Intensivmedizin Einzug gehalten. Da mit ihnen sogar ohne Laborkontrolle eine suffiziente Antikoagulation erreicht werden kann, andererseits der antikoagulante Effekt einen Tag nach dem Absetzen abgeklungen ist, erscheinen diese Substanzen gut geeignet. Im Vergleich zum Einsatz beim konventionellen internistischen Pa-
295 22.7 · Ausgewählte Hämostasestörungen
tientengut muss aber immer die spezielle Problematik kritisch kranker Patienten berücksichtigt werden. Komplikationen können durch die auf der Intensivstation häufig anzutreffende, höhergradige renale Funktionseinschränkung auftreten. Bei chronischer Niereninsuffizienz drohen die LMWH zu kumulieren. Einzelne Hersteller bieten zwar adaptierte Dosierungstabellen bei Nierenfunktionsstörungen an, es muss aber bedacht werden, dass die Nierenfunktion der Intensivpatienten therapiebedingt im Behandlungsverlauf auch wechselnd schwer ausgeprägt ist. Wird die Faktor-X-Aktivität als Maß der Antikoagulation im zuständigen Labor nicht tagesaktuell angeboten und kontrolliert, sollte der LMWH-Einsatz bei solchen Patienten kritisch überdacht werden. Die subkutane Gabe bietet ein zusätzliches Problem bei schwerkranken Patienten, da hier die periphere Perfusion oft eingeschränkt ist und ein wechselndes kutanes Ödem besteht, wodurch die Bioverfügbarkeit der subkutan zugefügten Substanzen schlechter als bei weniger kranken internistischen Patienten einzustufen ist. Konventionelles, unfraktioniertes Heparin in kontinuierlicher, intravenöser Applikation bleibt so bei intensivmedizinischen Patienten oft das scheinbar am besten geeignete Medikament zur Thromboseprophylaxe. Hier kann und muss aber der antikoagulante Effekt durch die Messung der aPTT zeitnah kontrolliert und korrigiert werden. Kritisch im Vergleich zu fraktionierten Heparinen ist allerdings zu bewerten, dass es oftmals nicht gelingt, eine stabile Einstellung der Antikoagulation im gewünschten Bereich zu erzielen. Der zur Applikation notwendige Einsatz einer Spritzenpumpe stellt demgegenüber auf der Intensivstation keine so große Hürde wie auf der Normalstation oder gar im ambulanten Bereich dar. i In keinem Fall sollte die Kompression der Beinvenen bei längerer Immobilisation durch geeignete (angepasste) Thrombosestrümpfe vergessen werden, da dieses Verfahren der Heparin-Gabe in prophylaktischer Dosierung an Effektivität kaum nachsteht.
22.6.2 Antikoagulation bei kontinuierlichen
Nierenersatzver fahren (CRRT) Leitlinien zur Antikoagulation beim Einsatz extrakorporaler Eliminationsverfahren – insbesondere beim kontinuierlichen Nierenersatz – auf der Intensivstation existieren nicht. Besteht kein erhöhtes Blutungsrisiko und keine Kontraindikation für den Einsatz von Heparinen, so sollte eine Therapie mit unfraktioniertem Heparin (Ziel: aPTT-Verlängerung auf das 1,4-fache der Norm) oder niedermolekularen Heparinen (Ziel: anti-Xa-Aktivität 0,25–0,35 IE/ml) erfolgen. LMWH wie auch unfraktionierte Heparine werden durch dir CRRT nur in vernachlässigbar geringen Mengen absorbiert. Bei Heparin-induzierter Thrombopenie ist auch die niedrig dosierte Gabe von Heparinen im Rahmen der Nierenersatztherapie kontraindiziert. In einem solchen Fall können nahezu alle für diesen Fall empfohlenen Antikoagulanzien (7 Kap. 22.9.1) zum Einsatz kommen, lediglich der Einsatz der Hirudine wird in einem solchen Fall wegen des erhöhten Nebenwirkungspotenzials mehrheitlich nicht empfohlen. Problematisch beim Einsatz von Zitrat auf der Intensivstation sind die Notwendigkeit eines engmaschigen metabolischen
22
Monitorings und die relative Komplexität der Applikation. Als Nebenwirkungen können besonders bei Leber- oder Niereninsuffizienz eine metabolische Alkalose, eine metabolische Azidose und eine schwere Hypokalzämie auftreten. Erfolgen die ordnungsgemäße Applikation und unbeeinträchtigte Metabolisierung des Zitrats, so wird durch diesen Wirkstoff allerdings kein systemischer antikoagulatorischer Effekt erzielt, was den Einsatz von Zitrat bei CRRT bei besonders hoher Blutungsgefahr als attraktive Alternative zur Gabe anderer Koagulanzien erscheinen lässt. Eine Thromboseprophylaxe ist dann aber – falls erforderlich – zusätzlich zu geben. Bei wiederholtem Filterverschluss kann der Zusatz von Prostaglandin (PG) E1 oder I2 in niedriger Dosierung (5 ng/kg KG/ min) zur Prädilution durch direkte inhibitorische Wirkung auf die Thrombozytenaggregation hilfreich sein. In besonderen Fällen, in der Regel bei vorbestehender Koagulopathie (Thrombopenie, Hämophilie etc.), ist ein Therapieversuch ohne Antikoagulation gerechtfertigt. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die dann stattfindende Gerinnungsaktivierung zum noch weiteren Verbrauch von Thrombozyten und plasmatischen Gerinnungsfaktoren an der Filtermembran führen kann und der Verzicht auf Antikoagulation damit in Bezug auf die bestehende Koagulopathie kontraproduktiv sein kann. 22.7
Ausgewählte Hämostasestörungen
22.7.1 Hämophilien Die verbreitetsten hereditären Hämophilien A und B, d. h. der hereditäre Mangel an Faktor VIII oder IX, sind von einem unterschiedlichen klinischen Verlauf geprägt. Wichtig dabei ist der Grad der Ausprägung des Faktorendefizits. Zudem spielt auch das Risiko der durch rezidivierende Faktorentransfusion erworbenen Hemmkörperhämophilien eine wichtige Rolle. Bei der häufigeren Hämophilie A werden klinisch eine leichte, mittelschwere und schwere Verlaufsformen unterschieden (. Tab. 22.6). In der Intensivmedizin steht die Behandlung akuter, lebensbedrohlicher Blutungskomplikationen dieser Patienten im Vordergrund. Hierbei ist die Substitutionsdosis so zu wählen, dass eine rechnerische Faktorenkonzentration von >50% erreicht werden kann. Es bedarf also einer sofortigen, großzügigen Substitution. Eine zögerliche, langsam steigende Gabe der Faktorenkonzentrate ist bei bedrohlichen Blutungen nicht zielführend und kontraproduktiv. Stehen keine geeigneten Präparate zur Verfügung, muss geprüft werden, ob es im Einzelfall einfacher ist, den Patienten in ein geeignetes Zentrum zu verlegen oder die Präparate aus dem Zentrum anzufordern. Zu beachten ist, dass Hämophiliepatienten wegen der oft wiederholt erforderlichen Transfusionen als Risikopatienten für durch Blut übertragbare Infektionen gelten müssen. Die v.-Willebrand-Erkrankung ist zwar der häufigste erworbene Gerinnungsdefekt, tritt im Bereich der Intensivmedizin aber dennoch nur selten in Erscheinung. Hier stehen eine adäquate Diagnostik (aPTT sowie die Analyse von vWF-Aktivität bzw. -Antigen), eine bedarfsgerechte Substitution und ggf. die Gabe von Desmopressin (7 Kap. 22.5.5) im Vordergrund. Für die Intensivmedizin interessant ist die Tatsache, dass die zunehmende Höhe der vWF-Konzentration im Blut bei Pa-
296
Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
. Tabelle 22.6. Klinische Charakterisierung der Hämophilie A Verlaufsform
Schwer
Mittelschwer
Leicht
Spontane Faktorenkonzentration
<1%
1–4%
5–14%
Blutungscharakteristik
Spontane Blutungen
Blutungen bei leichter Verletzung
Blutungen bei schwerer Verletzung, intraoperativ
Geschätzte Blutungshäufigkeit
1–2 Blutungen/Woche
1 Blutung/Monat
Seltener
Gelenkblutungen
Häufig
Selten
Sehr selten
tienten mit ARDS mit einem schlechten Outcome korreliert. Da vWF in der Gefäßwand produziert und gespeichert wird, scheint die Menge der Freisetzung ein Zeichen für die Schwere der Membranschädigung zu sein. So sind auch hier Sepsis, SIRS und Hämostase eng miteinander verbunden. 22.7.2 Thrombophilien
22
Thrombosen und Thromboembolien gehen mit hoher Mortalität einher. Betroffene Patienten sind daher nicht selten auf Intensivstationen anzutreffen. Neben der jeweils erkrankungsspezifischen Behandlung (Lungenembolie; 7 Kap. 35) stellt sich dabei immer wieder die Frage der Ursache der Gerinnungsstörung. Hereditäre Thrombophilien (AT II-Mangel, APC-Resistenz, Hyperhomozysteinämie etc.) sind in der Tat keineswegs seltene Erkrankungen. Dennoch ist die diagnostisch-therapeutische Umgebung der Intensivstation für das Screening nach der Ursache einer thrombembolischen Erkrankung oftmals ungeeignet. Zum einen ist bei akut bedrohten Patienten allein durch ihre Grunderkrankung oftmals bereits eine pathologische Gerinnungssituation gegeben. Zum anderen ist eine akute Thrombose oder Embolie allein schon geeignet, die gerinnungsphysiologsichen Messwerte durch Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, Reaktion des Körpers auf diesen Verbrauch oder therapeutische Interventionen derart zu beeinflussen, dass eine fundierte Aussage kaum gemacht werden kann. So wird beispielsweise im Verlauf einer akuten Lungenembolie immer ein Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und besonders auch -inhibitoren zu verzeichnen sein, ohne dass dies hinweisend auf einen vorbestehenden Mangel wäre. Es sollte daher auf der Intensivstation bei der differenzialdiagnostischen Abklärung einer Thrombophilie besonders auf die anamnestischen und klinischen Details, weniger auf die hochdifferenzierte Messwertbeurteilung abseits der zur Therapiesteuerung verwendeten Parameter Wert gelegt werden. Zwar sind genetische Tests (Faktor-V-Leiden-Mutation) von funktionellen Veränderungen der Hämostase unabhängig, dennoch sollte – wenn nicht dringende Gründe dagegen sprechen – die laborchemische Beurteilung eines hereditären Thromboseriskos sinnvollerweise erst nach Normalisierung der Gerinnungsprozesse und dann vollständig und zusammenhängend erfolgen. Das intensivmedizinische »setting« selbst muss als thrombophile Umgebung gelten. Eingebrachtes Fremdmaterial, Immobilisation der Patienten, schwere Entzündungen, Traumen und Tumorerkrankungen sind nur einige der hier oft anzutreffenden thrombogenen Faktoren. Selbst einfache Thrombophlebitiden, die im intensivmedizinischen Bereich leider oft infolge periphe-
rer venöser Zugänge beobachtet werden, können zur Entzündung tieferer Venenkompartimente führen und sind daher auch als thrombogene Risikofaktoren zu werten. Gerade auch im Rahmen von hämatologischen Grunderkrankungen sind Thrombosen eine häufige Komplikation. So sind z. B. im Rahmen der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH) intraabdominelle und zentralvenöse Thrombosen eine gefürchtete Komplikation, die bei plötzlicher, unklarer, schwerer Erkrankung solcher Patienten stets zu bedenken sind. In Fallberichten wurde die erfolgreiche Thrombolysetherapie von Splanchnikusthromben beschrieben. Die akute Lebervenenthrombose, das Budd-Chiari-Syndrom infolge einer Polycythaemia vera, ist ein weiteres Beispiel für eine hämatologische Erkrankung mit vergesellschafteter Thrombophilie. i In jedem Fall darf im Rahmen der Intensivtherapie der Thrombophilie-Patienten eine Thromboseprophylaxe nicht vergessen werden.
22.8
Ausgewählte erworbene Hämostasestörungen
22.8.1 Sepsis Insbesondere durch die pathologische Freisetzung von »tissue factor« kommt es bei der Sepsis zu einer unphysiologischen, pathologischen Aktivierung von Gerinnungsfaktoren. Man spricht von einer septischen Koagulopathie, die bei chirurgischen und internistischen Intensivpatienten mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität vergesellschaftet ist. Diese prokoagulatorische Aktivierung wird in der Frühphase der schweren Sepsis noch durch die körpereigenen Thromboseinhibitoren (insbesondere AT III und Protein C) kontrolliert. Im Verlauf der schweren Sepsis kann es dann zur unkontrollierten, überschießenden Gerinnungsaktivierung mit Teilthrombose oder Thrombose des Kapillarstromgebietes der betroffenen Organe und konsekutivem Funktionsverlust kommen (7 Kap. 22.8.2). Ansätze zur Behandlung der septischen Koagulopathie zielen darauf ab, die überschießende Gerinnungsaktivierung in Schach zu halten. Aus pathophysiologischer Sicht sind hierzu AT III, Protein C und Aktivatoren der Gerinnungsinhibition (Heparin) geeignet. Frühe Therapiestudien zur supraphysiologischen Gabe von AT III in der Sepsis verliefen allerdings enttäuschend. Aktuelle Studienergebnisse zeigen in Subgruppen Überlebensvorteile, bleiben im Ergebnis aber widersprüchlich. Die Gabe von niedrig dosiertem Heparin zur Prophylaxe der überschießenden
297 22.8 · Ausgewählte erworbene Hämostasestörungen
Gerinnungsaktivierung ist weit verbreitet. In Kombination mit der AT III-Gabe ergab sich jedoch ein negativer Effekt auf das Überleben der so behandelten Sepsispatienten. Aktuell wird die Behandlung der schweren Sepsis mit dem neu verfügbaren aktivierten Protein C kontrovers diskutiert. Hier scheinen nur selektierte Patientengruppen zu profitieren. Aus pathophysiologischer Sicht ist die unübersichtliche Studienlage beim Einsatz der Gerinnungsinhibitoren bei der Sepsis erklärbar. Der Prozess der überschießenden Gerinnungsaktivierung ist durch allein antikoagulant wirksame Substanzen nur in seiner Frühphase behandelbar. In einer weiter fortgeschrittenen Krankheitsphase kann ein nicht unerheblicher, krankheitsbedingter Verbrauch von Gerinnungsfaktoren u. a. Blutungskomplikationen als Nebenwirkung der Therapie Vorschub leisten, wodurch die erzielbaren Effekte unkontrollierbar werden und sich ins Negative wenden können. Ein unkritischer Einsatz dieser hochwirksamen Substanzen muss daher in jedem Fall unterbleiben. Weitere Studien müssen Indikation und Timing der Gabe präziser definieren, um eine gezielte, erfolgreiche Anwendung zu erlauben. Im Vordergrund der Behandlung der septischen Koagulopathie steht aber in jedem Fall die kausale Therapie, d. h. die Beseitigung des septischen Fokus.
5 Schweres Trauma (Polytrauma, ggf. mit Fettembolie, Neurotrauma) 5 Maligne Erkrankungen (myelo- und lymphoproliferative Erkrankungen, solide Tumoren) 5 Gynäkologische Erkrankungen (Fruchtwasserembolie, vorzeitige Plazentalösung, septischer Abort) 5 HELLP-Syndrom
Die Diagnose einer DIC zu stellen ist schwierig, da es sich um ein multifaktorielles Geschehen handelt. Ein international anerkanntes Scoring-System erlaubt, die Diagnose zu präzisieren. Modifizierter DIC-Algorithmus der International Society of Thrombosis and Hemostasis 1. Hat der Patient eine Grunderkrankung, die zu einer
2.
3.
22.8.2 Verbrauchskoagulopathie (DIC =
disseminier te intravasale Koagulation) Der hochaktive Gerinnungsprozess in der Sepsis (7 Kap. 22.8.1) kann ungebremst in letzter Konsequenz zu einem so hohen Verbrauch an Gerinnungsfaktoren führen, dass an anderer Stelle zu wenig Gerinnungsaktivität zum Erhalt der Hämostase vorhanden ist. Die Gerinnungsfaktoren sind »verbraucht«, und es kommt zu spontanen Blutungen infolge lokal zu geringer Gerinnungsaktivität, man spricht von einer Verbrauchskoagulopathie. Tatsächlich treffen bei der Sepsis aber wohl mehrere Faktoren zusammen, die den »Verbrauch« bedingen. Gerade bei der Sepsis kommt es auch zum Proteinverlust durch die verschlechterte Barrierefunktion des Endothels. So wird ein nicht geringer Teil des »Verbrauchs« in solchen Fällen durch Verlust in den Extravasalraum bedingt. Doch nicht nur die Sepsis kann zur Verbrauchskoagulopathie führen. Der Prozess der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIG oder DIC für »disseminated intravasal coagulation«) kann auch durch andere Erkrankungen und Umstände getriggert werden.
Erkrankungen und Faktoren, die eine Verbrauchskoagulopathie triggern können 5 Sepsis und schwere Entzündung (bakterielle Entzündungen und SIRS) 5 Schwere virale Entzündungen 5 Alle Schockformen 5 Schwere Vaskulitiden 5 Schwere nekrotisierende Prozesse (Pankreatitis) 5 Leberversagen, Lebertransplantation 5 Toxisch (Schlangenbiss, medikamentös induziert) 5 Transfusionsreaktion, Transplantatabstoßung 6
22
4.
5
DIC führen kann? Falls [Ja], bitte weiter zu Frage 2., falls [Nein], ist dieser Algorithmus ungeeignet. Ordnen Sie die folgenden Gerinnungstests an: – Thrombozytenzahl, Quick-Wert, Fibrinogen, D-Dimere. Bewerten Sie die Ergebnisse mit Punkten wie folgt: – Thrombozytenzahl: [>100/nl = 0 Punkte], [<100/nl = 1 Punkt], [<50/nl =2 Punkte] – D-Dimere: [normal = 0 Punkte], [leicht erhöht = 2 Punkte], [stark erhöht = 3 Punkte] bzw. D-Dimere: [d2,0 = 0 Punkte], [2,1–8,0 = 2 Punkte], [>8,0 = 3 Punkte] – Prothrombinzeit*: [<3 s = 0 Punkte], [t3 und <6 s = 1 Punkt], [t6 s = 2 Punkte] bzw. Quick-Wert: [>60% = 0 Punkte], [t30 und d60% = 1 Punkt], [<30% = 2 Punkte] – Fibrinogenkonzentration: [>1g/l = 0 Punkte], [<1g/l = 1 Punkt] Addieren Sie die Ergebnisse der Bewertung: – Score t5 Punkte = DIC wahrscheinlich, – Score <5 Punkte = DIC eher unwahrscheinlich. Wiederholen Sie die Score-Bestimmung in täglichem Abstand. * Lassen Sie sich hierzu als Ergebnis des Quick-Tests als Gerinnungszeit ausgeben.
Noch schwieriger ist es, eine DIC adäquat zu therapieren. Eine evidenzbasierte Therapie existiert nicht. So stützen sich Expertenempfehlungen und kasuistische Berichte auf pathophysiologische Überlegungen. Dabei wird zum »Durchbrechen« der DIC eine vorsichtige Antikoagulation bzw. die Gabe von Inhibitoren der plasmatischen Gerinnung empfohlen. Andererseits ist der Ersatz von Gerinnungsfaktoren und Blut bei statthabender Blutung oft unvermeidlich. Schließlich wird auch von Plasmapheresebehandlungen mit FFP bei aussichtsloser Situation berichtet. Dieses Verfahren bietet neben der physiologischen Substitution von Gerinnungsfaktoren möglicher weise den pathophysiologischen
298
Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
Vorteil der gleichzeitigen Elimination der in großen Mengen anfallenden, selbst antikoagulant wirksamen Gerinnungsspaltprodukte.
Therapie der DIC 5 Nachgewiesene DIC ohne aktive Blutung – Heparin (LMWH oder unfraktioniertes Heparin) in prophylaktischer Dosierung, engmaschige Spiegelkontrollen – Bei AT III-Abfall unter 60%: AT III-Substitution (Ziel: >60%) (?) – Bei zugrundeliegender schwerer Sepsis mit Organversagen: Drotrecogin alpha (Xigris) (?) 5 Nachgewiesene DIC mit Blutung – Fibrinogen bei Fibrinogenspiegeln <1 g/l – PPSB, FFP an Blutverlust und Messwerte (INR, aPTT) adaptiert, Ziel 80% der normalen Gerinnungsfaktorenkonzentration, Überkorrekturen vermeiden – Thrombozytenkonzentrate nur bei Thrombozytenkonzentration <50/nl – Heparin nur bei extrakorporalen Zirkulationsverfahren – Bei AT III-Abfall unter 60%: AT III-Substitution (Ziel: >60%) (?) – Bei zugrundeliegender schwerer Sepsis mit Organversagen: Drotrecogin alpha (Xigris) (?) – rFVIIa nur bei unstillbarer Massenblutung oder schwerer diffuser Blutung
Die schwerste Komplikation der DIC neben der akuten Massenblutung ist die Purpura fulminans, die z. B. im Rahmen eines Waterhouse-Friedrichsen-Syndroms (. Abb. 22.5) bei Meningokokkenmeningitis auftreten kann. Es handelt sich um ein Krankheitsbild mit Extravasion von zellulären Blutbestandteilen, nachdem betroffene Kapillarstromgebiete thrombosiert und nekrotisiert sind. Therapeutisch wird die Substitution von Protein C durch Konzentrate bzw. der frühe Einsatz von aktiviertem Protein C (Xigris) ‒ unter Berücksichtigung der Kontraindikationen und Warnhinweise – mehrheitlich empfohlen. Evidenzbasierte Daten zu Diagnostik oder Therapie dieser seltenen Erkrankung existieren naturgemäß nicht. 22.8.3 ITP/TTP
22
Die idiopathische Thrombozytopenie (ITP) ist ein autoimmun vermitteltes Krankheitsbild, das auf der Intensivstation in der Regel nur wenige Probleme verursacht. Schwere Blutungen sind selten, unter Therapie mit Immunsuppressiva und Steroiden lässt sich die Mehrzahl der kritischen Situationen beherrschen, die Gabe von Thrombozytenkonzentraten ist kaum je erforderlich. Davon zu unterscheiden ist die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP, Moschkowitz-Syndrom). Hierbei handelt es sich um eine lebensgefährliche Erkrankung, die mit dem Auftreten von Mikrothromben in zahlreichen Organen einhergeht. Die typischen Beschwerden der betroffenen Patienten sind unspezifisch und reichen von abdominellen Beschwerden mit Übelkeit und Erbrechen bis zu zunächst unklaren neurologischen Anormalitäten wie Verwirrung und Unkonzentriertheit.
. Abb. 22.5. Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom mit bereits äußerlich erkennbarer, großflächiger Thrombose des Kapillarstromgebietes im Rahmen der DIC
So werden die Fehldiagnosen Gastroenteritis, Sepsis, Hirninsult oder – geleitet vom Symptom der Thrombopenie – ITP gestellt. Das diagnostische Rätsel wird lösbar, sobald Anämie, Thrombopenie und zahlreiche Fragmentozyten (2 oder mehr pro Blickfeld) im Blutbild gefunden werden. Die Hämolysemarker im Blut sind pathologisch verändert (Haptoglobin niedrig, LDH hoch), der direkte Coombs-Test negativ. Im Bereich der Intensivmedizin gibt es zahlreiche Umstände, die auch zu Hämolyse und Thrombopenie führen können. An erster Stelle sind dabei extrakorporale Organersatzverfahren zu nennen, die laborchemisch eine TTP vortäuschen können. Wichtig ist daher immer die ätiologische Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer TTP. Sie kann als Komplikation zahlreicher anderer Erkrankungen auftreten.
Erkrankungen und Behandlungsformen, in deren Verlauf eine TTP auftreten kann 5 Schwangerschaft (HELLP-Syndrom, Präeklampsie, Eklampsie) 5 Autoimmunerkrankungen 5 Hämorrhagische Enterokolitis 5 Medikamentös-toxisch (Chinin) 5 Chemotherapie (z. B. Ciclosporin, Tacrolimus) 5 Stammzelltransplantation
Die Therapie der Wahl der TTP besteht in einer rasch einzusetzenden Plasmapherese mit FFP. Andere Plasmazubereitungen waren in kleinen Untersuchungsreihen erfolgversprechender, nicht zuletzt die einfachere Verfügbarkeit von FFP macht den Einsatz anderer Substituate aber praktisch unmöglich. Daneben muss alles getan werden, um die Grunderkrankung so rasch wie möglich suffizient zu behandeln. Thrombozytentransfusionen verschlimmern den Erkrankungsverlauf regelhaft und sollten so weit wie möglich vermieden werden. Ob die zusätzliche Gabe von Steroiden nach abgeschlossener Plasmapherese erfolgversprechend ist und ein Rezidiv der Erkrankung zu vermeiden hilft, ist unklar. Der Pathomechanismus der TTP ist insofern von besonderer Bedeutung für die Intensivmedizin, da das im Jahr 2006 neu de-
299 22.9 · Hämostaserelevante Therapiekomplikationen
finierte thrombozytopenieassoziierte Multiorganversagen (TAMOF) ätiologisch auf eine sekundäre thrombotische Mikroangiopathie mit begleitender DIC zurückgeführt wird. Ob weitere Untersuchungen in diesem Bereich zu neuen therapeutischen Konzepten für TTP, DIC und TAMOF führen, bleibt abzuwarten. 22.8.4 Tiefe Beinvenenthrombose Die tiefe Beinvenenthrombose ist wegen ihres potenziellen Risikos der akuten Lungenembolie eine gefürchtete, leider auch nicht seltene Erkrankung. Im intensivmedizinischen Kontext kommt ihr große Bedeutung zu, da sie einerseits bei akutem Verlauf wegen resultierender Komplikationen (Lungenembolie; 7 Kap. 35) zur intensivmedizinischen Aufnahme, andererseits aber besonders auch im Rahmen anderer schwerer Grunderkrankungen – die intensivmedizinisch behandelt werden – auftreten kann. Die Diagnose wird primär klinisch, dann durch Hinzunahme von D-Dimer-Test und Kompressions- bzw. Duplexsonographie gestellt. Ist der D-Dimer-Test positiv, so lässt dies eine tiefe Beinvenenthrombose weder sichern noch ausschließen, ist er allerdings negativ, so ist eine akute Gerinnungsaktivierung gesichert. Eine akute Beinvenenthrombose ohne positiven D-Dimer-Test ist praktisch ausgeschlossen. Die Sonographie erlaubt schließlich die weitgehende Sicherung bzw. den weitgehenden Ausschluss einer Oberschenkelvenethrombose. Unterschenkelvenenthrombosen können mit der Sonographie dagegen nur unzureichend dargestellt werden. Die Phlebographie ist zwar in der Lage, auch Unterschenkelvenethrombosen sicher darzustellen, hat jedoch an diagnostischer Bedeutung mangels therapeutischer Konsequenzen (besteht der Verdacht auf eine Unterschenkelvenenthrombose, wird man immer versuchen zu antikoagulieren) zumindest im intensivmedizinischen Bereich keine Bedeutung mehr. Die initiale Behandlung der tiefen Beinvenenthrombose erfolgt – sofern keine Kontraindikation besteht – mit niedermolekularem Heparin in therapeutischer Dosierung. Die Thrombolysetherapie ist früher im deutschsprachigen Raum stark favorisiert worden; sie wird – wenn überhaupt – wegen der nicht selten fatalen Nebenwirkungen (Blutung, Lungenembolie) nur noch bei der Phlegamasie (dem kompletten Verschluss aller Beinvenen mit massiver Stauung und drohendem Kompartmentsyndrom) empfohlen. Mit dem Wegfall der Lysetherapie und der Erkenntnis, dass eine frühzeitige Mobilisierung die Entstehung von Lungenembolien nicht fördert, ist die tiefe Beinvenenthrombose keine primär intensivmedizinisch zu behandelnde Erkrankung mehr. Allerdings wird sie durch die in der Intensivmedizin häufig vorhandenen prädisponierenden Faktoren (Immobilisation, Tumorleiden, pathologische Gerinnungsaktivierung) bei oftmals gleichzeitig bestehender Blutungsneigung zu einer komplex zu behandelnden Erkrankung. Bereits 2 Tage nach Diagnose und Therapie der Beinvenenthrombose mit niedermolekularem Heparin kann die Umstellung auf eine orale Antikoagulation erfolgen. Auch hierzu ist keine intensivmedizinische Überwachung erforderlich. Prolongiert sich der Aufenthalt des Patienten auf der Intensivstation aber aus anderem Grund, so kann die Therapie alternativ vorerst auch mit niedermolekularem Heparin fortgesetzt werden, was besonders zweckmäßig erscheint, wenn noch potenziell »blutungsgefährdende« Interventionen erforderlich sind.
22
Von der früher oftmals empfohlenen Einlage von V.-cava-Filtern bei »flottierendem Thrombus« ist man heute wegen einer hohen Komplikationsrate bei gleichzeitig nur geringem klinischem Erfolg weitgehend abgekommen. Die Einlage eines derartigen Filters ist heute nur noch in besonders begründbaren Ausnahmefällen sinnvoll. Der »flottierende Thrombus« hat auch keine Bedeutung mehr hinischtlich der Entscheidung zur operativen Therapie der Venenthrombose, die ebenso wie die Thrombolysetherapie kaum mehr eingesetzt wird. 22.9
Hämostaserelevante Therapiekomplikationen
22.9.1 Heparin-induzier te Thrombopenie (HIT) Die Heparin-induzierte Thrombopenie Typ 1 wird bei mehr als 10% der Heparin-exponierten Patienten gefunden. In den ersten Tagen nach Heparin-Gabe fallen die Thrombozyten kurzfristig auf Werte bis zu 100/nl ab, um in der Folge ohne Modifikation der Heparin-Dosis wieder zu steigen. Die HIT Typ 1 zeigt keine Komplikationen und fordert damit keine Konsequenzen für die Intensivmedizin.
Typische Differentialdiagnosen der HIT 5 5 5 5
Immunthrombopenie Hämatologische Systemerkrankungen Posttransfusionspurpura Durch andere Medikamente ausgelöste Thrombopenien 5 Sepsis/Verbrauchskoagulopathie
Die Inzidenz für das Auftreten der klinisch relevanten, Heparininduzierten Thrombopenie Typ 2 (auch HAT = Heparin-assoziierte Thrombopenie) hängt von Art und Administration des zugeführten Heparins ab. Niedermolekulare Heparine im Vergleich zu unfraktionierten Heparinen lösen nur 1/10 so häufig eine HIT aus. Patienten, die in der unmittelbaren Vorgeschichte bereits Heparin erhalten haben, neigen vermehrt dazu, eine HIT auszubilden. Die HIT Typ 2 zeigt etwa 5‒10 Tage nach Beginn der Heparin-Medikation – selten später – einen raschen Abfall der Thrombozytenzahl, der erst nach Absetzen der HeparinMedikation zum Stillstand kommen kann. In der Folge werden thromboembolische Komplikationen unter ggf. noch laufender Heparin-Therapie beobachtet. Ein früherer Thrombozytenabfall kann jedoch bei der HIT Typ 2 auch auftreten, wenn die Erkrankung in der Vorgeschichte bereits aufgetreten war und es sich um eine Reexposition handelt. Früher als 3 Tage nach Therapiebeginn ist jedoch auch bei Reexposition nicht mit der Ausbildung einer HIT Typ 2 zu rechnen. So ist es möglich, Patienten, die z. B. im Rahmen einer kardiochirurgischen Operation unter Einsatz eines extrakorporalen Kreislaufs operiert werden müssen, vorübergehend das gut steuerbare und antagonisierbare Heparin intraoperativ zu geben, ohne mit Ausbildung einer HIT Typ 2 rechnen zu müssen, sofern das Heparin postoperativ durch eine andere Antikoagulation ersetzt wird. In sehr seltenen Fällen ist auch eine »delayed onset HIT« beschrieben, die wenige Tage nach Absetzen einer längerdauern-
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Kapitel 22 · Hämostase und Hämotherapie
Relative Häufigkeit
Thrombozyten-Monitoring
Bei bereits stattgehabter Thrombose im Rahmen einer HIT ist die längerfristige Fortsetzung der Antikoagulation – ggf. mit oralen Antikoagulanzien – über den Intensivaufenthalt hinaus anzustreben.
Unfraktioniertes Heparin
1–5%
Jeden 2. Tag bis Tag 14 nach Therapiebegin
i Die Diagnose einer HIT ist in den Akten des Patienten mitzuführen. Er ist hierüber aufzuklären, da eine Heparin-Reexposition lebenslang unterbleiben muss.
Niedermolekulares Heparin
0,1–1%
Jeden 2.–3. Tag bis Tag 14 nach Therapiebegin
. Tabelle 22.7. Häufigkeit der HIT 2 und er forderliches Blutbild-Monitoring bei Heparin-Therapie
22.9.2 Coumarin-Nekrose
den Heparintherapie auftritt. Die Häufigkeit der HIT 2 und das erforderliche Blutbild-Monitoring bei Heparin-Therapie zeigt . Tabelle 22.7. Die Diagnose einer HIT zu stellen, ist allerdings im intensivmedizinischen Umfeld oftmals schwierig, da es zahlreiche andere Faktoren (. Tab. 22.1) gibt, die eine Thrombopenie und thromboembolische Prozesse bei kritisch Kranken verursachen können. Zur laborchemischen Sicherung der HIT bieten sich unterschiedliche Tests an. Während Immunoassays zwar eine hohe Sensitivität haben, ist hier mit einer nur geringen Spezifität zu rechen. Umgekehrt können funktionelle Untersuchungsverfahren zwar sowohl hohe Sensitivität als auch Spezifität bieten, ein virtuoser Umgang mit diesen Verfahren erfordert aber ein besonders erfahrenes Labor. So bleibt die Diagnose der HIT auch mit laborchemischer Hilfe klinisch fokussiert und schwierig.
Laborchemische Diagnosesicherung der HIT Typ 2 Durchzuführende Tests 5 Immunologischer Test (z. B. ELISA) 5 Funktioneller Test (z. B. HIPAA) 5 Anstieg der Thrombozyten nach Absetzen des Heparins Bewertung 5 3 von 3 positiv: HIT Typ 2 sicher 5 2 von 3 positiv: HIT Typ 2 wahrscheinlich 5 1 positiv: HIT Typ 2 unwahrscheinlich 5 0 positiv: HIT Typ 2 ausgeschlossen
Eine sehr seltene Komplikation der Warfarin- oder Phenprocoumon-Therapie ist die sog. Marcumar-Nekrose. Infolge eines Ungleichgewichts der pro- und antikoagulanten Blutgerinnungsfaktoren (initialer Abfall von Protein C), das durch die Einnahme von Marcumar hervorgerufen wird, kommt es zur Thrombosierung im Kapillarstromgebiet, bevorzugt an den Flanken und in abhängigen Körperregionen. Erschwert wird die Diagnose durch den oft vorherrschenden klinischen Eindruck, es handle sich bei den bläulich-lividen Hauterscheinungen um Einblutungen, die zur fatalen Fehleinschätzung, die Antikoagulation müsste abgesetzt werden, verleiten können. Seit die Strategie einer hochdosiert einsetzenden Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten zugunsten eines deutlich moderateren Dosiseinstieges verlassen wurde, wird von Marcumar-Nekrosen kaum mehr berichtet. Bedauerlicherweise tritt die Erkrankung in Zusammenhang mit der HIT Typ 2 etwa 100-mal häufiger auf als allein, sodass der Einsatz von Coumarin-Derivaten erst nach völligem Abklingen der Symptomatik einer HIT Typ 2 erwogen werden sollte.
Literatur Dhainaut JF, Shorr AF, Macias WL, Kollef MJ, Levi M, Reinhart K, Nelson DR (2005) Dynamic evolution of coagulopathy in the first day of severe sepsis: relationship with mortality and organ failure. Crit Care Med 33 (2): 341–348
Im Verdachtsfall einer HIT Typ 2 ist die Heparin-Gabe sofort zu unterbrechen und auf eine alternative Antikoagulation umzustellen (. Tab. 22.8 und 7 Kap. 22.5).
: Große Studie zum Zusammenhang von Hämostasestörungen und Organversagen in der Sepsis. Die Studie legt Schluss nahe, dass eine anormale Gerinnungsaktivität zu Beginn einer Sepsis, wie auch beim Patienten vorbestehende Hämostasedefekte der Entwicklung eines Organversagens und einem schlechten Outcome Vorschub leisten. SAFE Study Investigators; Finfer S, Bellomo R, McEvoy S, Lo SK, Myburgh J, Neal B, Norton R (2006) Effect of baseline serum albumin concentration on outcome of resuscitation with albumin or saline in patients in
. Tabelle 22.8. Optionen zur Antikoagulation bei HIT Typ 2
22
Wirkstoff
Administration
Halbwertszeit
Elimination
Monitoring
Fondaparinux (Arixtra)
s.c.
17 h
Renal
Anti-Xa
Danaparoid (Orgaran)
s.c. oder i.v.
24 h
Renal
Anti-Xa
Lepirudin (Refludan)
s.c. oder i.v.
>80 min
Renal
aPTT
Bivalirudin (Angiox)
i.v.
>20 min
Renal + hepatisch
aPTT
Agratroban (Argatra)
i.v.
>60 min
Hepatisch
aPTT
301 Literatur
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22
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23 Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen S. Kleinschmidt
23.1
Ziele und Anforderungen
23.1.1 23.1.2
Therapieziele –304 Anforderungen an Pharmaka –304
23.2
Therapiephasen und Therapiekonzepte
23.2.1 23.2.2
Therapiephasen –304 Therapiekonzepte –304
23.3
Auswahl und Zufuhr der Pharmaka
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4
Anforderung an Analgosedierungskonzepte –305 Applikationstechniken –305 Grundlagen des Pharmakometabolismus bei Intensivpatienten –306 Überwachung und Objektivierung der Analgosedierung –306
23.4
Pharmaka und Indikationen
23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4 23.4.5 23.4.6 23.4.7 23.4.8 23.4.9 23.4.10 23.4.11 23.4.12 23.4.13
Benzodiazepine –308 Barbiturate –309 Propofol –310 γ-Hydroxybuttersäure (GHB) –311 Ketamin –312 Neuroleptika –312 Inhalationsanästhetika –313 Opioide –313 Nichtopioide –315 Regionalanästhesieverfahren –316 α2-Agonisten –317 Muskelrelaxanzien –317 Schemata zur Analgosedierung –318
23.5
Akute Psychosyndrome
23.5.1 23.5.2 23.5.3 23.5.4
Klinik, Ursachen und Therapie –319 Alkoholentzugssyndrom (AES) –319 Benzodiazepin- und Opioidentzugssyndrom –322 Zentral-anticholinerges Syndrom (ZAS) –322
Literatur
–323
–304
–304
–305
–307
–319
304
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
23.1
Ziele und Anforderungen
23.1.1 Therapieziele Für einen rationalen Einsatz der zur Analgosedierung zur Verfügung stehenden Pharmaka ist ein klar definiertes und regelmäßig zu überprüfendesTherapieziel erforderlich, um die unerwünschten und mitunter auch gefährlichen Nebenwirkungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Umgekehrt müssen die Folgen einer unzureichenden und auch einer übermäßigen Analgosedierung vermieden werden.
Die wichtigsten Ziele der Analgosedierung 5 Beseitigung von Schmerzen 5 Anxiolyse und Ausschaltung schwerer psychischer Belastungen 5 Gewährleistung narkotischer Stadien, z. B. zur Therapie eines kritisch erhöhten intrakraniellen Drucks 5 Vegetative Entlastung mit Senkung des globalen O2Verbrauchs (»Organprotektion« im weitesten Sinne) 5 Steuerung der Entwöhnungsphase von der maschinellen Beatmung 5 Aktivierung, Wiedererlangung der Koordination nach er folgreich therapierter Grunderkrankung (z. B. die Wiederherstellung eines normalen Schlaf-Wach-Rhythmus) I5 In manchen Fällen (z. B. Tetanus, extreme Lagerungen wie Beatmung in Bauchlage beim akuten Lungenversagen) ist auch eine Verminderung des Muskeltonus erforderlich
Diese Ziele müssen im Verlauf der Intensivtherapie regelmäßig überprüft und die weitere Zufuhr sowie die Auswahl der Substanzen entsprechend variiert werden, um eine den Aufenthalt auf der Intensivstation verlängernde, auch unter Kostenaspekten problematische »Leerlaufbehandlung« zu vermeiden. 23.1.2 Anforderungen an Pharmaka
23.2
Therapiephasen und Therapiekonzepte
Je nach Dauer der Analgosedierung wird eine Unterscheidung oft in folgender Weise getroffen: 4 Kurzzeitanalgosedierung (bis zu 24 h), 4 mittellange Analgosedierung (1–3 Tage), 4 Langzeitanalgosedierung (>3 Tage). Als therapeutisch besonders problematisch erweist sich die Analgosedierung bei Langzeitintensivpatienten. 23.2.1 Therapiephasen Entsprechend dem Verlauf der zu therapierenden Grunderkrankungen lassen sich in der Mittel- und Langzeitanalgosedierung folgende Phasen unterscheiden [3]:
Akutphase Unmittelbar posttraumatisch oder postoperativ ist eine vegetative Stabilisierung und Entlastung des Patienten durch maximale Analgesie und Sedierung erforderlich, durch die zudem der O2Verbrauch der einzelnen Organsysteme gesenkt wird.
Entwöhnungsphase Hier ist die Mitarbeit des Patienten erforderlich, indem durch eine ausreichende psychovegetative Abschirmung (Angst- und Schmerzfreiheit) ohne relevante Sedierung eine möglicherweise erschwerte und prolongierte Entwöhnung von der maschinellen Beatmung und die Toleranz weiterer diagnostischer und therapeutischer Interventionen (z. B. Gefäßpunktionen, Verbandswechsel) bewältigt werden muss. Allerdings ist diese Therapiephase oft begleitet von einer Vielzahl von Verhaltensstörungen, die oft unscharf als »Durchgangssyndrom« und »postoperatives delirantes Syndrom« bezeichnet werden. Die Patienten sind oft unkooperativ und desorientiert, was die Therapieführung erheblich erschwert. Außerdem stellt das Auftreten postoperativer deliranter Syndrome mit psychovegetativer Entgleisung eine erneute Gefährdung der Patienten mit einer signifikant erhöhten Mortalität dar, nachdem die eigentliche Grunderkrankung schon erfolgreich therapiert worden ist.
Koordinations- und Aktivierungsphase
23
Die zur Analgosedierung eingesetzten Pharmaka sollten möglichst folgende Voraussetzungen erfüllen [13, 22]: 4 hohe therapeutische Breite ohne Beeinträchtigung der vitalen Funktionen (Herz-Kreislauf-Funktion, Atmung, Nierenfunktion, Gastrointestinaltrakt), 4 günstige pharmakokinetische und pharmakodynamische Eigenschaften auch bei kontinuierlicher Zufuhr über einen längeren Zeitraum (kurze »kontextsensitive Halbwertszeit«), somit eine berechenbare klinische Wirkdauer, 4 keine Entzugssymptome und Verwirrtheitszustände nach Absetzen der Substanz, 4 keine Beeinträchtigung des Immunsystems.
Diese Therapiephase ist gekennzeichnet durch die zunehmende Mobilisierung der Patienten und die bevorstehende Verlegung auf eine Überwachungs- bzw. Normalstation. Es ist jedoch erforderlich, dass die Patienten kooperativ sind und die Ursachen etwaiger deliranter Syndrome erfolgreich therapiert wurden. Hierzu zählt auch die Wiedererlangung eines weitgehend normalen Schlaf-Wach-Rhythmus, der durch die Langzeitanwendung einer Vielzahl von Analgetika und Sedativa erheblich gestört sein kann.
Diese Anforderungen werden von den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Pharmaka nicht in allen Punkten erfüllt.
Zu beachten ist, dass jede Therapiephase – unter Berücksichtigung der Grunderkrankungen – ein eigenes Therapiekonzept erfordert. So muss bei komplizierten Behandlungsfällen auf Pharmaka gewechsel werden, die aufgrund ihres pharmakologischen Profils hierfür geeignet erscheinen. Eine Dosisänderung sowie
23.2.2 Therapiekonzepte
305 23.3 · Auswahl und Zufuhr der Pharmaka
ein starres Beibehalten bestimmter Pharmakakombinationen wird diesen Ansprüchen nicht gerecht [3]. 23.3
Auswahl und Zufuhr der Pharmaka
23.3.1 Anforderung an Analgosedierungs-
konzepte Für die Analgosedierung steht heute eine Vielzahl von Medikamenten zur Verfügung, wobei durch die Fülle und Variabilität der Therapievorschläge und -konzepte die Übersicht erheblich erschwert ist [15]. Oft werden »Idealanforderungen« gestellt, die jedoch von den gebräuchlichen Substanzen allein nie in allen Punkten erfüllt werden können. Ein »universelles Konzept« kann es auch nicht geben, denn die Individualität des Intensivpatienten als »nicht reproduzierbarer Einzelfall«, die Variabilität der Grunderkrankungen, des Krankheitsverlaufs und insbesondere das während der Behandlung wechselnde Therapieziel (z. B. die Senkung eines kritisch erhöhten intrakraniellen Drucks, Kreislaufstabilisierung bei Sepsis/SIRS, Therapie des Alkoholentzugsyndroms) erfordern zwangsläufig unterschiedliche Therapieschemata. Die DGAI hat im Jahr 2005 erstmals Leitlinien der Stufe S2e publiziert, um bei der Therapieentscheidung entsprechende Hilfestellungen zu geben [29]. Auch Kostenaspekte (im Sinne einer Kosten-Effektivitäts-Analyse) sind unter den derzeit herrschenden finanziellen Restriktionen als eine relevante Einflussgröße auf die Auswahl der Pharmaka und Techniken anzusehen.
Anforderungen an ein »ideales Analgosedierungskonzept« und dessen Therapiekomponenten [13] 5 Voraussagbare Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, d. h. eine gute Steuerbarkeit und individuelle Anpassung bei schnellem Wirkungseintritt und rascher Elimination nach Absetzen der Substanz auch bei Langzeitanwendung 5 Elimination möglichst nicht nur von einer Organfunktion (z. B. Niere, Leber) abhängig 5 Geringe oder keine Beeinträchtigung von Organfunktionen, insbesondere des Herz-KreislaufSystems, der Atemfunktion, der Funktion des Gastrointestinaltrakts sowie der Nierenfunktion 5 Keine Immunsuppression 5 Möglichst geringe Interaktionen mit anderen Pharmaka 5 Keine Kumulation pharmakologisch aktiver Metabolite oder Induktion hepatischer Enzymsysteme (z. B. Zytochrom-P450-Familie) 5 Keine anaphylaktoide Potenz 5 Kein Abhängigkeitspotenzial, auch bei Langzeitanwendung 5 Keine teratogene Wirkung, somit auch unbedenkliche Anwendbarkeit bei Schwangeren im 1. Trimenon
Grundsätzlich sollte versucht werden, die oben genannten »Idealvorstellungen« durch Kombination möglichst weniger Komponenten zu erreichen. Entsprechend gelten für die Auswahl und
23
Kombination von Pharmaka zur Analgosedierung folgende Grundprinzipien: ! Cave Voraussetzung für den Einsatz von Sedativa und Hypnotika ist eine ausreichende Analgesie, wenn die Grunderkrankung des Patienten dies erfordert. Unzureichende Analgesie muss primär durch Analgetika und nicht durch Dosissteigerung von Sedativa und Hypnotika behandelt werden.
Die therapeutische und pharmakologische Strategie zur Analgosedierung umfasst auch das Ausnutzen etwaiger synergistischer oder potenzierender Effekte verschiedener Pharmaka. Dies kann dazu beitragen, Toleranzphänomene weitgehend abzumildern und sinnlosen Dosissteigerungen der Einzelsubstanzen vorzubeugen. Eine deutliche Dosissteigerung von Pharmaka mit bekanntem Ceiling-Effekt, wie z. B. den Benzodiazepinen, ist pharmakologisch kaum sinnvoll. Die unterschiedlichen Therapiephasen erfordern ein jeweils eigenes Konzept mit eigenem Pharmakoprofil. Es empfiehlt sich in Anlehnung an die publizierten Leitlinien der DGAI ein »modularer Aufbau« [29]. Beim Vorliegen bestimmter Grunderkrankungen (z. B. Niereninsuffizienz, Sepsis) müssen sich Auswahl und Dosierung der Pharmaka an ihrem Nebenwirkungsprofil (z. B. negativ inotrope Wirkung) und einer evtl. veränderten Eliminationskinetik orientieren. 23.3.2 Applikationstechniken Grundsätzlich können die zur Analgosedierung benötigten Pharmaka kontinuierlich oder als Bolus zugeführt werden. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die intravenöse Zufuhr (idealer weise über einen mehrlumigen zentralvenösen Zugang) wünschenswert ist. Neben der intravenösen Anwendung können die Substanzen auch per inhalationem (z. B. Isofluran, Sevofluran) oder peridural (Lokalanästhetika, Opioide, D2-Agonisten) zugeführt werden. Andere Zugangswege (z. B. intramuskulär, rektal, enteral etc.) sind in der Literatur beschrieben worden, haben aber keine verbreitete Anwendung erfahren und sind mit erheblichen Unsicherheiten (u. a. Resorption) behaftet. Die kontinuierliche Zufuhr über Spritzenpumpen oder Infusomaten ist technisch aufwendiger, gewährleistet im Regelfall aber ein konstanteres Sedierungsniveau mit einer besseren Kreislaufstabilität. Allerdings entbindet diese Applikationstechnik den Therapeuten nicht von der Verpflichtung, in regelmäßigen Abständen das Therapieziel zu überprüfen und entsprechende Dosierungsanpassungen vorzunehmen! Bei belastenden Verfahren, wie z. B. Verbandswechseln, endotrachealem Absaugen oder Lageänderungen, besteht jederzeit die Möglichkeit einer adäquaten Vertiefung der Sedierung durch zusätzliche Bolusgaben. Oft werden aus Gründen der Praktikabilität die einzelnen Therapiekomponenten (Sedativa bzw. Hypnotika sowie Analgetika) in einem festen Mischungsverhältnis zugeführt. Nachteilig ist jedoch, dass die beiden Therapiekomponenten nicht mehr unabhängig voneinander variiert werden können. Daher bietet sich die getrennte Zufuhr der einzelnen Therapiekomponenten an. Hierdurch ist eine wesentlich bessere Steuerbarkeit der Analgosedierung möglich.
306
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
Empfehlungen für die Zufuhr von Pharmaka zur Analgosedierung 5 Intravenöse Verabreichung (idealerweise über einen mehrlumigen zentralvenösen Zugang) 5 Kontinuierliche Zufuhr (Infusomat, Spritzenpumpe) mit der Option für Bolusinjektionen unter laufender Überprüfung des Therapieziels 5 Getrennte Zufuhr der einzelnen Wirkkomponenten (keine »Mischperfusoren«)
23.3.3 Grundlagen des Pharmakometabolismus
bei Intensivpatienten Für die sichere Anwendung der Pharmaka zur Analgosedierung sind zumindest Grundkenntnisse über ihre Metabolisierung und Exkretion erforderlich. Die für die Intensivtherapie wesentlichen Aspekte und die hieraus resultierenden praktischen Konsequenzen sollen kurz dargestellt werden.
Metabolisierung Die Metabolisierung der Analgetika und Sedativa findet überwiegend in der Leber statt, wobei hier hauptsächlich das unspezifische Enzymsystem der Zytochrom-P450-Familie beteiligt ist; extrahepatische Metabolisierungsorgane sind u. a. Niere, Lunge und Gastrointestinaltrakt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. GHB, Remifentanil) erfolgt die Biotransformation der Analgetika und Sedativa in 2 verschiedenen Schritten:
Biotransformation von Analgetika und Sedativa 5 Phase-I-Reaktion: 5 Oxidation (z. B. Hydroxylierung), Reduktion (z. B. Azound Nitrogruppen) oder Hydrolyse (z. B. Esterspaltung) 5 Phase-II-Reaktion: 5 Konjugationsvorgänge (z. B. mit Glukuronsäure), wodurch die Metaboliten in eine eliminationsfähige Form überführt werden
lam oder auch Fentanyl: Da die Verstoffwechselung sehr stark von hepatischen Blutfluss abhängig ist, kann es, z. B. bei Schockzuständen (Sepsis/SIRS, Hypovolämie), zu deutlichen Kumulationsphänomenen kommen. Außerdem sind altersspezifische Aspekte zu berücksichtigen, die sich aus den bekannten physiologischen Veränderungen im Alter ergeben. Hierzu gehören u. a.: 4 Einschränkung der glomerulären Filtrations- und tubulären Sekretionsleistung, 4 Abfall des Herzzeitvolumens, 4 Änderungen der Flüssigkeitskompartimente und 4 Verringerung der »Trägerproteine« für Pharmaka (Albumin, D1-saures Glykoprotein) Auch eine engmaschige Kontrolle von Plasmakonzentrationen der einzelnen Substanzen, die nur mit einer speziellen Laborlogistik möglich ist, kann leider nur einen groben Aufschluss über die Pharmakokinetik geben; über die Pharmakodynamik kann hiermit keine Aussage getroffen werden. Für die klinische Praxis ergeben sich somit folgende Konsequenzen: i Der Pharmakometabolismus des Intensivpatienten wird von einer kaum überschaubaren Zahl von Einflussgrößen modifiziert. Hier sind u. a. hormonelle Einflüsse (»Postaggressionsstoffwechsel«), Entzündungsmediatoren, Alter, Geschlecht, Ernährungszustand und Arzneimittelinteraktionen zu nennen. Auch pharmakogenetische Faktoren (Allelpolymorphismen; »slow« und »fast metabolizer«) spielen mitunter eine Rolle.
Das Auftreten von oft miteinander interagierenden Organinsuffizienzen (Herz-Kreislauf-System, Niere, Leber) hat zwangsläufig erhebliche Einflüsse auf die Metabolisierung und Elimination der Pharmaka. Bei starrem Beibehalten der Dosierungen droht v. a. eine Kumulation und Überdosierung der Substanzen. Ein exaktes »Monitoring« ist jedoch bestenfalls lückenhaft möglich oder mit erheblichem labortechnischen Aufwand verbunden. Es muss in jedem Fall der klinische Versuch einer Dosisanpassung unternommen werden, ohne dass für den Einzelfall verlässliche Anhaltswerte vorliegen. 23.3.4 Über wachung und Objektivierung der
Analgosedierung Elimination Die Kenntnisse über pharmakokinetische Eigenschaften der einzelnen Substanzen (z. B. Eliminationskinetik, Halbwertszeiten) wurden nahezu ausschließlich bei gesunden Probanden oder bei Patienten mit elektiven operativen Eingriffen gewonnen [11].
23
! Cave Diese Daten können jedoch nicht auf Intensivpatienten übertragen werden! Sie dienen lediglich als Anhaltspunkte für die Auswahl der betreffenden Substanzen. Charakteristisch für Intensivpatienten ist, dass es zu Organinsuffizienzen wechselnden Ausmaßes kommt, die eine exakte Vorhersage über die Metabolisierung der einzelnen Pharmaka nahezu unmöglich machen.
Beispiele hierfür sind die deutlich verzögerte Metabolisierung von Pharmaka mit erhöhter hepatischer Extraktion wie Midazo-
Die »Objektivierung« einer adäquaten Analgosedierung ist mit erheblichen methodischen Problemen verbunden. Ein allgemein anerkanntes Monitoringsystem existiert nicht. Folgende Möglichkeiten der Überwachung und Verifizierung der Analgosedierung lassen sich unterscheiden: 4 klinische Scoringsysteme, die im Wesentlichen mit Analogskalen oder Rangskalen die verschiedenen Stadien der »Bewusstseinsmodifikation« und der Schmerzintensität beschreiben (Sedierungsskalen, Schmerzskalen). 4 physiologische Variablen wie Herzfrequenz, Blutdruck, Pupillenreaktion, Schwitzen, 4 endokrine Laborparameter (Hypophysen-Nebennierenrinden-System) oder die bereits erwähnten Plasmakonzentrationen der verwendeten Pharmaka, 4 neurophysiologische Parameter wie bispektraler Index (BIS), computerunterstützte topographische Elektroenzephalometrie (CATEEM) oder evozierte Potenziale.
307 23.4 · Pharmaka und Indikationen
23
Sedierungsscore Klinisch weit verbreitet sind Scoresysteme, die verschiedene »Bewusstseinsstadien« definieren. Die vor etwa 25 Jahren von Ramsay publizierte Sedierungsskala wurde mehrfach modifiziert (z. B. Sedation-Agitation Score, Richmond Sedation-Agitation Scale; . Tab. 23.1). Idealerweise sollten die zur Analgosedierung verwendeten Score-Systeme nicht invasiv und ausreichend sensitiv sein, einfach und reproduzierbar zu handhaben und unabhängig von den zur Analgosedierung verwendeten Substanzen. Diese Scoresysteme sind in der klinischen Praxis sehr beliebt, wobei jedoch bei deren Einsatz beachtet werden sollte, dass die jeweils definierten »Sedierungsebenen« terminologisch eindeutig gebraucht werden, um Missverständnisse innerhalb des Behandlungsteams auszuschließen. Falls man sich zur klinischen Anwendung von Sedierungsskalen entschließt, sollte dies – wie bei allen anderen vitalen Funktionsparametern – auf der Verlaufskurve (»Tageskurve«) dokumentiert werden.
Schmerzscore Auch die Erfassung der Schmerzintensität des Patienten und damit auch die Verifizierung einer ausreichenden Analgesie erfolgt in der klinischen Praxis mit verschiedenen Kategorieskalen, die als verbale oder numerische Skalen ausgelegt sein können. Sehr beliebt ist auch die »visuelle Analogskala« (VAS): Die jeweilige Schmerzintensität wird durch die Länge der auf diesem Balken markierten Strecke ausgedrückt. Somit ist dieses Verfahren prinzipiell auch für intubierte kooperative Patienten geeignet. Die von Payen und Mitarbeitern entwickelte »Behavioural Pain Scale« für beatmete Patienten verwendet insgesamt 3 Kriterien (Adaptation an das Beatmungsgerät, Gesichtsausdruck und Bewegungen der oberen Extremität) mit jeweils 1–4 Punkten, sodass ein Punktwert zwischen 3 und 12 erhoben werden kann [11]. Auch hier empfiehlt es sich, den Score regelmäßig zu dokumentieren.
. Tabelle 23.1. Sedierungsscores nach Ramsay und SedationAgitation Scale Ramsay-Score
Sedation-Agitation Scale
Stadium/klinische Zustandsbeschreibung
Stadium/klinische Zustandsbeschreibung
1 = Patient wach, ängstlich, unkooperativ
1 = Patient agitiert
2 = Patient wach, kooperativ, ruhig
2 = Patient wach
3 = Patient weckbar auf Anruf
3 = Patient weckbar auf Anruf
4 = Patient weckbar durch Schulterklopfen
4 = Patient weckbar durch Absaugen
5 = Patient weckbar durch schmerzhaften Stimulus
5 = Patient nicht erweckbar
6 = Patient komatös
6 = Patient paralysiert 7 = Patient komatös
sches EEG) und 100 (vollständige Wachheit). Derzeit sind verschiedene Monitore kommerziell erhältlich. Zur Bestimmung der Narkosetiefe unter Verwendung verschiedener Anästhetika wie Propofol oder Midazolam ist der BIS validiert. Eine exakte Bewertung des BIS bezüglich seiner Eignung zur Steuerung der Sedierung von Intensivpatienten ist derzeit noch nicht möglich. Bisherige Untersuchungen weisen auf eine schlechte Korrelation zwischen BIS und klinisch tiefen Sedierungsstadien hin. Die »analgetische Therapiekomponente« wird durch den BIS nicht erfasst.
Laborparameter Die Bestimmung von Serum- oder Plasmakonzentrationen der verwendeten Pharmaka ist wegen ihrer begrenzten Aussagekraft und der Kosten meist nicht sinnvoll. Endokrine Parameter, wie die Bestimmung von Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin), Kortisol oder ACTH liefern Anhaltspunkte über den endokrinen Funktionszustand (»Stressniveau«) des Patienten.
Neuromonitoring Verschiedene Verfahren des Neuromonitorings sind in den vergangenen Jahren entwickelt und bei Intensivpatienten eingesetzt worden, um den zerebralen und neurovegetativen Funktionszustand der Patienten zu objektivieren. Obwohl die bereits genannten Verfahren wie prozessiertes EEG oder computerunterstützte topographische Elektroenzephalometrie (CATEEM) auch für in der neurophysiologischen Diagnostik weniger erfahrene Anwender aufschlussreiche Hinweise über den zerebralen Funktionszustand des Patienten und die Wirkung von Pharmaka geben konnten, haben sich diese Verfahren im klinischen Alltag bisher nicht auf breiter Basis durchsetzen können. Nachteilig sind die erforderlichen methodischen Kenntnisse auf Seiten der Anwender und die hohe Anfälligkeit gegenüber Artefakten, die bei der täglichen Arbeit am Patienten leider unvermeidlich sind. Die Berechnung des BIS (»Bispektralindex«) beruht auf einem statistischen Verfahren zur EEG-Bearbeitung, das u. a. Frequenz, »power« und bispektrale Analyse der Biokohärenz umfasst [12, 18]. Der BIS ist eine dimensionslose Zahl zwischen 0 (isoelektri-
23.4
Pharmaka und Indikationen
Eine Vielzahl von Pharmaka und Therapieverfahren steht für die Analgosedierung von Intensivpatienten zur Verfügung, wobei sich wenige Kombinationen von Analgetika und Sedativa/Hypnotika im klinischen Alltag schwerpunktmäßig durchgesetzt haben. In der Übersicht sind die wichtigsten Pharmaka bzw. Therapieverfahren zusammengestellt.
Pharmaka und Therapieverfahren zur Analgosedierung Sedativa, Hypnotika und Neuroleptika 5 Benzodiazepine – Midazolam – Diazepam 5 Barbiturate – Methohexital 5 Neuroleptika – Dehydrobenzperidol – Haloperidol 5 Propofol 5 J-Hydroxybuttersäure (GHB) 5 Ketamin [Razemat und (S)-Enantiomer] 5 Isofluran, Desfluran, Sevofluran 6
308
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
Analgetika 5 Opiate/Opioide – Morphin – Fentanyl, Sufentanil – Remifentanil – Piritramid 5 Nichtopioide – Paracetamol – ASS – NSAID (COX-1- und COX-2-Inhibitoren) – Metamizol
α2-Agonisten 5 Clonidin 5 Dexmedetomidin
Regionalanästhesieverfahren 5 Katheterperiduralanästhesie 5 Leitungsanästhesie der oberen Extremität 5 Systemische Lokalanästhesie
auch bei Midazolam zu deutlichen Kumulationsphänomenen mit Verlängerung der »kontextsensitiven Halbwertszeit«.
Nebenwirkungen Die kardiovaskulären Nebenwirkungen sind beim Herzgesunden gering, besonders bei kontinuierlicher Zufuhr. Bei Patienten mit vorbestehenden Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder im Schock (Hypovolämie, Sepsis) kann es jedoch zu deutlichen Blutdruckabfällen kommen (negativ inotrope Wirkung und periphere Vasodilatation!): Rasche Bolusinjektionen sollten vermieden werden. Nachteile der Benzodiazepine sind die mögliche Toleranzentwicklung und Entzugssyndrome bei abruptem Absetzen der Substanzen. Bei älteren Patienten besteht sowohl eine erhöhte pharmakodynamische Empfindlichkeit als auch eine vermehrte Inzidenz an »paradoxen Reaktionen«. Benzodiazepine werden zumindest nach dem 1. Trimenon der Schwangerschaft als weitgehend unbedenklich angesehen, wobei Midazolam wegen seiner geringeren Plazentapassage bevorzugt werden sollte [10].
Substanzen 23.4.1 Benzodiazepine Die Benzodiazepine sind als sedative Grundkomponente der Analgosedierung weit verbreitet, insbesondere seit der Einführung kurzwirksamer Vertreter dieser Substanzklasse. In mancher Hinsicht kommen sie den bereits genannten »Idealanforderungen« recht nahe.
Pharmakologische Wirkung Die wesentlichen pharmakologischen Wirkungen sind: 4 Anxiolyse und retrograde Amnesie, 4 Sedierung und Hypnose, 4 antikonvulsive Aktivität, 4 zentrale Muskelrelaxierung. Alle Substanzen haben ein ähnliches Wirkprofil und werden aufgrund ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften (Eliminationshalbwertszeiten) folgenden Gruppen zugeteilt: 4 langwirksam: z. B. Diazepam, Lorazepam 4 kurzwirksam: Midazolam.
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In der täglichen Praxis werden bei Daueranwendung meist die kurzwirksamen Substanzen (Midazolam) bevorzugt. Benzodiazepine wirken selektiv auf polysynaptische Verbindungen des zentralen Nervensystems, insbesondere im limbischen System und in der Formatio reticularis. Über spezifische Rezeptoren, die in verschiedene Subtypen unterteilt werden, verstärken sie die inhibitorische Wirkung der J-Aminobuttersäure (GABA). Hierdurch wird eine Erhöhung der Chloridleitfähigkeit erzeugt, die zur Hyperpolarisation der postsynaptischen Membran führt. Somit benötigen die Benzodiazepine den inhibitorischen Transmitter GABA als »Vehikel«. Hemmende Synapsen werden dadurch maximal aktiviert. Dieser Wirkmechanismus erklärt auch den klinisch wichtigen Ceiling-Effekt, wonach der Sedierungsgrad nicht linear mit der zugeführten Dosis einhergeht und weitere Dosissteigerungen ab einer bestimmten (individuell verschiedenen) Dosis zu keinerlei therapeutischen Effekten mehr führen. Dies sollte bei der Analgosedierung unbedingt berücksichtigt werden. Bei komntinuierlicher Zufuhr kommt es
Diazepam Diazepam wurde als »Prototyp« der intravenös applizierbaren Benzodiazepine angesehen und galt über einen langen Zeitraum als das Benzodiazepin der Wahl. Die Weiterentwicklung der Benzodiazepine rückte das Diazepam jedoch deutlich in den Hintergrund. Abgesehen von einigen (relativen) Indikationen wie der Langzeitsedierung bei der Therapie des Tetanus wird Diazepam nur noch selten verwendet. Die Substanz ist nicht wasserlöslich, jedoch stehen spezielle Lösungsvermittler (Liposomen, z. B. im Präparat Diazemuls) zur Verfügung. Hauptnachteil ist die nicht kalkulierbare Steuerbarkeit, bedingt durch die Metabolisierung zu Substanzen mit sedierender Wirkung wie Oxazepam oder Desmethyldiazepam. Dosierungsempfehlungen für Diazepam 5 50–250 mg/Tag, entsprechend 2–10 mg/h (seltene Indikation) 5 Bolusgabe: 2–5 (–10) mg
Midazolam Midazolam ist derzeit das kurzwirksamste verfügbare Benzodiazepin mit einer Eliminationshalbwertszeit von 1–3 h beim Gesunden nach einer Bolusgabe. Die vollständig wasserlösliche Substanz wird durch das Zytochrom P450 3A4 in der Leber zu den Hauptmetaboliten 1-Hydroxy- bzw. 4-Hydroxymidazolam verstoffwechselt, die nur noch über geringe sedierende Eigenschaften verfügen. Somit ist Midazolam auch für längere Sedierungsphasen geeignet. Die wichtigsten Therapieziele bei der Gabe von Midazolam sind Sedierung und retrograde Amnesie. Tiefe narkotische Stadien sind mit der Substanz ebenfalls nicht erreichbar. Midazolam wird im Wesentlichen in der Mittel- und Langzeitsedierung verwendet. ! Cave Zu beachten ist, dass bei verminderter Leberperfusion (z. B. im hypovolämischen Schock oder bei Sepsis) die Metabolisierung von Midazolam erheblich eingeschränkt ist und die Substanz sehr stark kumuliert.
309 23.4 · Pharmaka und Indikationen
Die Eliminationshalbwertszeit von Midazolam kann in diesen Fällen mehrere Tage betragen und klinisch zu einer deutlich verlängerten Aufwachphase führen. Um Entzugssyndrome zu vermeiden, sollte die Dosierung von Midazolam bei Therapieende schrittweise reduziert werden. Dosierungsempfehlungen für Midazolam in Kombination mit einem Opioid 5 Kontinuierlich ca. 0,05–0,2 mg/kg KG/h 5 Bolusgabe 5–10 mg (Cave: Blutdruckabfall!)
Benzodiazepinantagonisten Die rezeptorvermittelte Wirkung der Benzodiazepine kann durch den kompetitiven Antagonisten Flumazenil (Anexate) aufgehoben werden. Flumazenil besitzt eine hohe Affinität zu den Benzodiazepinrezeptoren ohne intrinsische Aktivität. Die Halbwertszeit dieser Substanz liegt bei etwa 50–60 min und ist somit wesentlich kürzer als die der entsprechenden Agonisten! Die Dosis sollte titrierend verabreicht werden, um ein abruptes Erwachen des Patienten zu vermeiden. Es ist zu beachten, dass die Indikation zur Gabe von Flumazenil streng gestellt werden muss und nicht dazu dienen soll, einen unkritischen Einsatz von Benzodiazepinen zu kupieren. Experimentelle und klinische (kasuistische) Daten weisen darauf hin, dass Flumazenil durch intermittierende Gabe die durch Benzodiazepingabe hervorgerufene Veränderungen der Rezeptorsensitivität rückgängig machen und somit den Ceiling-Effekt abschwächen kann. Allgemein anerkannte Empfehlungen liegen hierzu jedoch noch nicht vor. Sinnvolle Indikationen für Flumazenil im Rahmen der Intensivtherapie 5 Intoxikation mit Benzodiazepinen 5 Differenzialdiagnose unklarer Komata
Klinische Bewertung der Benzodiazepine Der Einsatz der Benzodiazepine zur Analgosedierung in der Intensivmedizin kann zusammenfassend folgendermaßen bewertet werden: In Kombination mit Opioiden haben die Benzodiazepine (hauptsächlich Midazolam) aufgrund ihrer günstigen Eigenschaften in der klinischen Praxis eine weite Verbreitung gefunden. Außerdem sind die Therapiekosten relativ niedrig. Wichtige Therapieziele sind die Gewährleistung einer adäquaten Sedierung und einer retrograden Amnesie. Tiefe »narkotische Stadien« sind nicht erreichbar; hierfür werden Hypnotika wie Barbiturate oder Propofol benötigt. Der klinisch wichtige Ceiling-Effekt begrenzt die Anwendbarkeit dieser Substanzen, insbesondere in der Langzeitsedierung. Es sollte frühzeitig damit begonnen werden, durch Kombination mit anderen Substanzen, unter Ausnutzung synergistischer Effekte, eine adäquate »Bewusstseinsmodifikation« zu erreichen und nicht pharmakologisch sinnlose Dosissteigerungen der Benzodiazepine vorzunehmen. Die intermittierende Gabe von Flumazenil zur Kupierung des »Ceiling-Effekts« kann nicht generell empfohlen werden, da hierzu bislang gesicherte
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Erkenntnisse über die Dosierung und den Zeitpunkt der Applikation fehlen. 23.4.2 Barbiturate Bis in die jüngste Vergangenheit wurden Barbiturate meist nur bei besonderen Indikationen, z. B. zur Hirndrucksenkung beim schweren Schädel-Hirn-Trauma eingesetzt. Einige Hauptargumente gegen die verbreitete Anwendung der Barbiturate als hypnotische Komponente in der Analgosedierung waren: 4 Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Funktion (negativinotrope und vasodilatierende Wirkung), 4 Induktion hepatischer mikrosomaler Enzymsysteme (Zytochrom P450), 4 Hemmung der gastrointestinalen Motilität, 4 Immunsuppression mit infektionsfördernder Wirkung, 4 Beeinflussung der Thermoregulation. Offenbar begünstigt durch die therapeutischen Probleme bei Langzeitanwendung der Benzodiazepine (Ceiling-Effekt) wurde die Eignung der Barbiturate zur Analgosedierung, insbesondere von Methohexital, erneut untersucht [3]. Eine weite klinische Verbreitung der Substanz wurde aber nicht erreicht.
Pharmakologische Wirkungen Barbiturate entfalten ihre hypnotische und antikonvulsive Wirkung durch eine holenzephale Hemmung aktivierender Neurone. Im Gegensatz zu den Benzodiazepinen, die den inhibitorischen Transmitter GABA als »Vehikelsubstanz« benötigen, beeinflussen die Barbiturate den Chloridkanal auch unmittelbar. Außerdem bleibt der Chloridkanal länger geöffnet; somit kann der Ioneneinstrom dosisabhängig gesteigert werden. Eine Dosiserhöhung führt daher annähernd linear zu einer Vertiefung der Bewusstlosigkeit, wenn auch auf Kosten einer im Vergleich zu den Benzodiazepinen geringeren therapeutischen Breite. Im mittleren Dosierungsbereich tritt eine cholinerge zentralnervöse Wirkung auf, daher sollen die Barbiturate auch kein zentral-anticholinerges Syndrom auslösen. Weiterhin wirken die Barbiturate antagonistisch am Adenosin-1-Rezeptorkomplex. Die überwiegend in der klinischen Anästhesiologie gewonnenen Erfahrungen und in der Literatur oft betonten Nachteile der Substanzgruppe (z. B. negativ inotrope Wirkung) relativieren sich bei Anwendung in der Intensivmedizin, insbesondere, weil hier kontinuierlich geringere Dosen pro Zeiteinheit appliziert werden. Im Gegensatz zu den Thiobarbituraten (z. B. Thiopental), bei denen in vitro in klinischen Dosierungen die Granulozytenfunktion gehemmt und eine erhöhte Inzidenz an infektiösen Komplikationen beobachtet wird, sind die Oxybarbiturate diesbezüglich als wenig bedenklich einzustufen. Die inhibitorische Wirkung auf die Granulozytenfunktion ist etwa 100-fach geringer als bei den Thiobarbituraten. Auch ist die Induktion mikrosomaler Leberenzyme (z. B. Zytochrom P450) kaum ausgeprägt. Daher scheinen Oxybarbiturate prinzipiell auch zur mittellangen und Langzeitsedierung geeignet zu sein.
Substanzen Methohexital Das Oxybarbiturat Methohexital (Brevimytal) liegt zur intravenösen Anwendung als 1%ige Lösung vor. Die klinische Wirkdauer
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Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
wird primär durch Umverteilungsphänomene zwischen den verschiedenen Körperkompartimenten bestimmt. Die Eliminationshalbwertszeit von Methohexital wird mit 1,0–3,5 h angegeben. Die Steuerbarkeit der Substanz ist auch bei längerfristiger Anwendung gut. Daher erscheint ein Einsatz von Methohexital insbesondere dann indiziert, wenn eine rasche Vigilanzänderung des Patienten angestrebt wird (z. B. zur Beurteilung des neurologischen Status nach Schädel-Hirn-Trauma). Methohexital ist stark alkalisch (pH 11) und sollte daher kontinuierlich über ein eigenes Lumen eines zentralvenösen Katheters appliziert werden, um chemische Inkompatibilitäten mit anderen Substanzen (Inaktivierung von Katecholaminen!) auszuschließen. Der Natriumanteil in der zur Verfügung stehenden Präparation sollte in der Elektrolytbilanz berücksichtigt werden. Bereits in Dosierungen von etwa 1 mg/kg/h kann Methohexital in Kombination mit Opioiden eine effektive Sedierung gewährleisten. In Kombination mit niedrig dosierten Benzodiazepinen kann die Methohexitaldosierung aufgrund der potenzierenden Wirkung noch weiter reduziert werden. Dosierungsempfehlungen für Methohexital in Kombination mit einem Opioid 5 Kontinuierlich: 1,0–2,5 mg/kg KG/h 5 Bolusgabe: 0,5–1,0 mg/kg KG
23.4.3 Propofol Propofol (2,6-Diisopropylphenol) wird im Rahmen der Analgosedierung als sedierende oder hypnotische Komponente eingesetzt. Die Kombination von Propofol mit einem Opioid ist neben der Kombination Benzodiazepin/Opioid als Therapieschema zur Analgosedierung weit verbreitet, insbesondere in der Kurzzeitsedierung [5, 20].
Zubereitungsformen und pharmakologische Wirkungen
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Propofol liegt in einer Öl-in-Wasser-Emulsion vor. Die meisten 1%igen Lösungen enthalten als Lösungsvermittler 10% Sojabohnenöl, 2,5% Glyzerol und 1,2% Eiphosphatide. Seit einiger Zeit ist auch eine 2%ige Lösung mit dem identischen Anteil an Lösungsvermittlern auf dem Markt erhältlich. Propofol ist ein hochpotentes Hypnotikum und zeichnet sich durch eine sehr gute Steuerbarkeit aus, die sich auch bei Zufuhr über mehrere Tage kaum ändert. Durch die hohe Lipophilie der Substanz verläuft die Umverteilung bei einem geringen initialen Verteilungsvolumen (ca. 6 l/kg KG) innerhalb von 2–4 min rasch ab. Die Metabolisierung erfolgt bei einer hohen Clearance hauptsächlich hepatisch durch Glukuronidierung, wobei die pharmakologisch inaktiven Metaboliten renal eliminiert werden (Eliminationshalbwertszeit 20–30 min). Diese chromophoren Phenolderivate können bei Langzeitanwendung zur Grünfärbung des Urins führen, ein klinisch bedeutungsloser Effekt. Das Aufwachen erfolgt auch nach längerer Anwendung relativ rasch, was insbesondere für die neurologische Beurteilung der Patienten von wesentlichem Vorteil sein kann.
Nebenwirkungen Propofol hat jedoch nicht unerhebliche kardiovaskuläre Nebenwirkungen, die vermutlich durch einen kalziumabhängigen Mechanismus bedingt sind und bei entsprechenden Vorerkrankungen oder beim Vorliegen einer Schocksymptomatik (Hypovolämie, Sepsis) berücksichtigt werden müssen: 4 Reduktion der Vorlast, 4 Reduktion der Nachlast, 4 negativ inotrope Wirkung. Propofol verfügt über ein ähnliches Wirkprofil wie die Barbiturate und ist in der Lage, bei entsprechender Applikationstechnik einen kritisch erhöhten intrakraniellen Druck zu senken. Nach den Empfehlungen der FDA in den USA ist Propofol auch im 1. Trimenon der Schwangerschaft als relativ sicher einzustufen [10].
Propofol-Infusionssyndrom Das Propofol-Infusionssyndrom wurde erstmals 1992 beschrieben, als bei beatmeten Kindern auf einer pädiatrischen Intensivstation mit Erkrankungen der Atemwege in Verbindung mit der Anwendung von Propofol Todesfälle auftraten. Mittlerweile wurde dieser Symptomenkomplex auch bei Erwachsenen (Polytrauma, Schädel-Hirn-Trauma) beschrieben: 4 therapieresistente Bradykardien mit Kreislaufversagen, 4 schwere metabolische Azidose mit Laktatanstieg, 4 Rhabdomyolyse, 4 Nierenversagen. Pathophysiologisch vermutet man eine Hemmung der oxidativen Phosphorylierung im Mitochondrium und eine Hemmung des Transports freier Fettsäuren zu den Enzymen der E-Oxidation durch Propofol mit intrazellulärem Energiedefizit, insbesondere bei zusätzlichem Kohlenhydratmangel. Möglicherweise stellt Propofol eine Triggersubstanz dar, wenn bestimmte Primer existent sind: 4 schwere Grunderkrankungen mit Katecholamintherapie, z. B. Sepsis, 4 Patienten mit hohen Dosierungen von Glukokortikoiden, 4 Propofol-Dosierungen über 4 mg/kg KG/h. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat in einem Warnhinweis im Dezember 2004 [30] empfohlen, die Dosierung von Propofol bei Patienten über 16 Jahren auf maximal 4 mg/kg KG/h zu beschränken. Die Indikation zur Anwendung von Propofol sollte bei Vorliegen der bereits beschriebenen Risikokonstellation streng gestellt werden.
Klinische Anwendung Aufgrund der pharmakokinetischen Eigenschaften, die offenbar gut mit den klinischen Wirkungen korrelieren, scheint Propofol auch bei mittleren und längeren Behandlungsphasen ein vorteilhaftes Sedativum und Hypnotikum zu sein. Obwohl Propofol den bereits genannten »Idealanforderungen« recht nahe kommt und die klinische Akzeptanz der Substanz sehr hoch ist, müssen neben der Gefahr des Propofol-Infusionssyndroms weitere Einschränkungen bei der Ver wendung berücksichtigt werden: 4 Die Belastung mit Triglyzeriden: Durch die Anwendung einer 2%igen Lösung wurde dieses Problem etwas entschärft, dennoch kann es zu Hyperlipidämien mit Pankreatitiden
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und Blutgerinnungsstörungen kommen. Pro ml Lösung wird dem Patienten 0,1 g Fett zugeführt. 4 Die Beeinflussung des Immunsystems durch Hemmung der neutrophilen Granulozyten und Lymphozyten. Möglicherweise wird die Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine durch Propofol begünstigt. 4 Der relativ hohe Preis der Substanz, der möglicherweise aber durch eine Verkürzung der Aufwachphase und damit der stationären Verweilkosten kompensiert werden kann [5]. 4 Die durch die Hersteller angegebene Beschränkung der Zulassung auf maximal 7 Tage kontinuierlicher Anwendung mit einer Höchstdosis von 4 mg/kg KG/h. Dosierungsempfehlungen für Propofol 5 Kontinuierlich 1,0–4,0 mg/kg KG/h (Höchstdosis) 5 Bolus 0,5–1 mg/kg KG
23.4.4 γ-Hydroxybuttersäure (GHB) J-Hydroxybuttersäure (GHB) wurde im Jahre 1960 in Frankreich als Hypnotikum in die klinische Anästhesie eingeführt. GHB als liquorgängiges Strukturanalogon des inhibitorischen Neurotransmitters J-Aminobuttersäure (GABA) wurde in neurophysiologischen Untersuchungen als ein natürlicher Bestandteil des Säugerhirngewebes identifiziert, der vermutlich als eigener Neurotransmitter eine entscheidende Rolle in der Steuerung und Induktion des natürlichen Schlafs spielt. Trotz des für die Patienten angenehmen Einschlafens und einer bemerkenswerten Kreislaufstabilität wurde die Substanz wegen stark variierender Aufwachzeiten weitgehend aus der klinischen Anästhesie verdrängt. In den vergangenen Jahren ist es aufgrund neuerer Erkenntnisse zu einer gewissen »Renaissance« der Substanz insbesondere in der Intensivmedizin gekommen. Hier lassen sich viele vorteilhafte Eigenschaften der GHB adäquat nutzen [9].
Chemisch-physikalische Eigenschaften und Zubereitungsform GHB liegt in der derzeit verfügbaren Präparation (Somsanit) als Natriumsalz in schwach alkalischer Lösung (pH 8,0) vor. Eine Ampulle zu 10 ml enthält 2 g GHB (entsprechend 2,42 g GHBNa); das Präparat ist mit wässrigen Lösungen im Bereich von pH 6 bis pH 10 kompatibel. Die theoretische Osmolalität beträgt 3387 mosmol/l. Die Metabolisierung erfolgt überwiegend im Zitronensäurezyklus und durch die E-Oxidation vornehmlich nach einer Michaelis-Menten-Sättigungskinetik (0. Ordnung) zu Kohlendioxid und Wasser; maximal 1% der Substanz wird bei Langzeitanwendung unverändert renal eliminiert. Eine Kumulation in peripheren Geweben ist nicht bekannt; ebenso finden sich keine Hinweise auf eine klinisch relevante Beeinträchtigung von Organfunktionen wie Leber, Niere, Lunge oder Herz-Kreislauf-System.
Pharmakologische Wirkungen GHB übt ihre hypnotische Wirkung offenbar über spezifische GHB-Rezeptoren im ZNS aus, wobei die GHB-Rezeptoren eine deutliche Kumulation im Hippocampus und Striatum aufwei-
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sen. Der elektrophysiologische Mechanismus ähnelt offenbar dem der Benzodiazepine, d. h. es kommt durch Erhöhung der Chloridleitfähigkeit zu einer Hyperpolarisation der Membran. Außerdem beeinflusst GHB die Freisetzung anderer Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin und Acetylcholin. GHB verfügt über keine analgetische, muskelrelaxierende oder vegetativ hemmende Wirkkomponente. Im Gegensatz zu anderen Hypnotika erfolgt der Wirkungseintritt sehr verzögert, mitunter erst einige Minuten nach Injektionsende. GHB ist offenbar in der Lage, durch rasch reversible Reduktion des oxidativen Stoffwechsels (Abnahme des O2-Bedarfs und -Verbrauchs, Verminderung der zerebralen Glukoseutilisation) »gewebeprotektive Effekte« (z. B. im zerebralen und gastrointestinalen Stromgebiet) zu entfalten. Dies ist möglicherweise bei Schockzuständen und beim Ischämie-/Reperfusionssyndrom von klinischer Bedeutung. GHB zeichnet sich durch eine große Kreislaufstabilität aus: Die ventrikuläre Vor-und Nachlast bleibt ebenso konstant wie das Herzzzeitvolumen. Ein positiv-inotroper Mechanismus wird vermutet. Auch wird die Ansprechbarkeit des Atemzentrums auf CO2 nicht beeinflusst, sodass dies bei noch intubierten, jedoch weitgehend spontan atmenden Patienten von Nutzen sein kann. GHB verfügt als körpereigener Neurotransmitter offenbar über die Eigenschaft, den natürlichen Schlaf (insbesondere die Schlafstadien 3 und 4 des NREM-Schlafes) und die Abfolge der verschiedenen Schlafstadien zu regulieren. Daher bietet sich der Einsatz der Substanz in der Aktivierungs- und Koordinationsphase der Intensivbehandlung an. Außerdem wurde über gute Erfolge bei der Prophylaxe und Therapie des Alkoholentzugsyndroms berichtet [9].
γ-Hydroxybuttersäure-Ethanolamid J-Hydroxybuttersäure-Ethanolamid ist eine neu entwickelte Substanz, die pharmakologisch den Antihistaminika vom Cocaintyp ähnelt. Es ist ein Derivat des Ethanolamin, einer ebenfalls im Gehirn physiologisch vorhandenen Substanz mit sedierender Wirkung. In einer klinischen Phase-II-Studie gewährleistete J-Hydroxybuttersäure-Ethanolamid für spontanatmende, nichtintubierte Intensivpatienten nach größeren operativen Eingriffen unter »On-demand«-Analgesie mit Piritramid eine klinisch ausreichende und zuverlässige Sedierung ohne relevante Änderung von Laborparametern (Elektrolyte, Blutbild) oder Nebenwirkungen, wie Atemdepression oder paradoxe Reaktionen [17]. Die hierbei verwendeten Dosierungen betrugen 150 mg/ kg KG als Bolusinjektion sowie kontinuierlich 150 mg/kg KG/h. Inwieweit J-Hydroxybuttersäure-Ethanolamid eine zusätzliche therapeutische Option zur Sedierung von Intensivpatienten darstellen kann, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Da GHB in der derzeit verfügbaren Zubereitungsform über einen relativ hohen Natriumanteil verfügt und für die Metabolisierung der Substanz Protonen verbraucht werden, besteht bei Langzeitanwendung und eingeschränkter Nierenfunktion die Gefahr der metabolischen Alkalose und Hypernatriämie. Dieses Problem kann oft dadurch umgangen werden, dass der Natriumanteil des Präparats in der Elektrolyt- und Flüssigkeitsbilanz berücksichtigt wird. Auch können gelegentlich Myoklonien auftreten (ähnlich wie bei Etomidat). Wahrscheinlich ist GHB als körpereigene Substanz bei Schwangeren auch im 1. Trimenon als relativ sicher anzusehen.
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Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
Klinische Anwendung Für GHB bestehen im Rahmen der Analgosedierung folgende Indikationen: 4 Anwendung als »Basissedativum« in Kombination mit Benzodiazepinen oder Propofol, wobei durch synergistische Effekte beträchtliche Dosiseinsparungen zu erzielen sind, 4 bei kreislaufinstabilen Patienten (Hypovolämie, SIRS) in Kombination mit Ketamin, da die Substanz keine kardiodepressiven Eigenschaften aufweist, 4 in der Entwöhnungsphase nach Langzeitbeatmung, 4 zur Regulierung des natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus; hierdurch kann evtl. die Inzidenz deliranter Syndrome reduziert werden, 4 möglicherweise auch mit Vorteil zur Prophylaxe und Therapie von Ischämie-/Reperfusionssyndromen. Dosisempfehlungen für GHB (in Kombination mit einem Opioid) 5 Initial 30–40 mg/kg KG über 15–20 min 5 Kontinuierlich: ca. 10 mg/kg KG/h
23.4.5 Ketamin Das Phenzyklidinderivat Ketamin unterscheidet sich von den übrigen klinisch gebräuchlichen Sedativa und Hypnotika durch die Erzeugung eines kataleptischen Zustands, der oft als »dissoziative Anästhesie« bezeichnet wird. Außerdem verfügt Ketamin über ausgeprägte analgetische Eigenschaften bereits in subdissoziativen Dosen. Ketamin stand bislang als razemisches Gemisch der beiden Enantiomere (S)- und (R)-Ketamin (Ketanest) zur Verfügung. Seit einiger Zeit ist auch das isolierte Enantiomer (S)-Ketamin als Präparat erhältlich. (S)-Ketamin (Ketanest S) verfügt über eine etwa doppelt so hohe anästhetische und analgetische Wirkung wie das bislang gebräuchliche Razemat [1].
Der klinische Wirkeintritt erfolgt nach etwa 1 min; die anästhetische Wirkung ist durch Umverteilungsphänomene nach etwa 10 min beendet. Die Metabolisierung erfolgt hauptsächlich hepatisch (Zytochrom P450); die Hauptmetabolite Norketamin und Dehydronorketamin werden bei einer Eliminationshalbwertszeit von etwa 2 h renal eliminiert. Als absolute Kontraindikationen von Ketamin werden die schlecht eingestellte oder unbehandelte arterielle Hypertonie, Präeklampsie sowie die manifeste Hyperthyreose angegeben. Relative Kontraindikationen sind die instabile Angina pectoris sowie ein gesteigerter intrakranieller Druck ohne adäquate Beatmung.
Klinische Anwendung Aufgrund des pharmakologischen Profils scheinen Ketaminrazemat und (S)-Ketamin beim Intensivpatienten für folgende Indikationen geeignet zu sein: 4 hämodynamisch instabile Patienten (z. B. bei Hypovolämie/ Sepsis), wobei hier ein deutlicher »katecholaminsparender Effekt« beobachtet werden kann. Hier bietet sich die Kombination mit Midazolam, GHB oder auch Propofol (in niedriger Dosierung!) an, 4 Patienten mit schwerer obstruktiver Ventilationsstörung (Extremfall: Status asthmaticus) zur Analgosedierung und gleichzeitig zur gezielten antiobstruktiven Therapie auch in der Entwöhnungsphase, 4 Patienten mit Darmmotilitätsstörungen, möglicherweise als Folge einer längeren Therapie mit Opioiden, 4 Patienten mit schweren Verbrennungen. Dosierungsrichtlinien für Ketamin 5 Ketaminrazemat: 0,5–2,0 mg/kg KG/h, z. B. in Kombination mit Midazolam (0,03–0,1 mg/kg KG/h), Propofol (1,0–2,0 mg/kg KG/h) oder GHB (10–15 mg/kg KG/h) 5 (S)-Ketamin: 0,3–1,0 mg/kg KG/h in Kombination mit den bereits genannten Sedativa/Hypnotika
Pharmakologische Wirkungen
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Das pharmakologische Profil von Ketaminrazemat und (S)-Ketamin ist durch folgende wesentliche Effekte charakterisiert: 4 dissoziative Anästhesie bei geringer hypnotischer Potenz durch nichtkompetitive Hemmung am NMDA-Rezeptorkomplex, 4 ausgeprägte Analgesie, u. a. durch Agonismus am N-Rezeptor, 4 sympathomimetische Wirkung (Hemmung der peripheren Wiederaufnahme von Katecholaminen), 4 ausgeprägte Bronchospasmolyse, 4 Hypersalivation, 4 geringe Beeinträchtigung der Spontanatmung (durch geringere Affinität zum P-Rezeptor), 4 geringe Beeinträchtigung der Darmmotilität.
23.4.6 Neuroleptika
Grundsätzlich haben Razemat und (S)-Enantiomer die gleichen pharmakologischen Eigenschaften; es bestehen jedoch quantitative Unterschiede. So wird das Aufwachverhalten nach Anwendung von (S)-Ketamin im Vergleich zum Razemat als angenehmer beschrieben; auch sollen die oft negativen Traumerlebnisse weniger ausgeprägt sein. Inwieweit dies auch für die Intensivmedizin bedeutsam ist, kann derzeit noch nicht beurteilt werden.
Der Zustand der Neurolepsie wird wahrscheinlich durch eine Interaktion mit verschiedenen Neurotransmittersystemen (Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Azetylcholin) hervorgerufen. Eine dominierende Rolle wird hierbei der dopaminergen Übertragung von postsynaptischen Rezeptoren im Bereich des nigrostriatalen, mesolimbischen und tubuloinfundibulären Systems zugeschrieben.
Neuroleptika bewirken einen psychomotorischen »Umstimmungsprozess«, der durch Dämpfung der emotionalen Erregbarkeit, Indifferenz gegenüber äußeren Reizen sowie Antriebsminderung bei erhaltener Kooperation gekennzeichnet ist und als »Neurolepsie« bezeichnet wird. Für die Analgosedierung wichtige Substanzen sind die Buty rophenone Dehydrobenzperidol (DHBP) und Haloperidol. Die Kombination eines Neuroleptikums mit einem Opioid entspricht der klassischen »Neuroleptanalgesie«. Ein weiteres Indikationsgebiet der Neuroleptika ist die Therapie agitierter und deliranter Syndrome, z. B. des Alkoholentzugsyndroms.
Klinisches Wirkprofil
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Dehydrobenzperidol (DHBP) als das am häufigsten verwendete Neuroleptikum hat eine hohe therapeutische Breite. Aufgrund der Hemmung der chemorezeptiven Triggerzone in der Area postrema ist DHBP wie auch Haloperidol ein hochpotentes Antiemetikum. Die Substanz verfügt über antagonistische Eigenschaften an D-Rezeptoren, sodass eine Vasodilatation und Blutdruckabfälle als Nebenwirkungen (insbesondere bei relativer Hypovolämie) zu berücksichtigen sind. Außerdem werden DHBP antiarrhythmische (»chinidinartige«) Eigenschaften zugeschrieben. DHBP hat eine Eliminationshalbwertszeit von 2,5 h, jedoch hält die Rezeptorbindung typischerweise länger an. Die klinische Wirkdauer ist sehr variabel. Haloperidol zeichnet sich durch eine hohe antipsychotische Potenz aus und wird hauptsächlich bei produktiver Symptomatik (Wahnideen, illusionäre Verkennungen) verwendet.
Nebenwirkungen Wesentliche Nebenwirkungen einer Neuroleptikatherapie sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst: Wesentliche Nebenwirkungen bei Anwendung von Neuroleptika 5 Blutdruckabfälle aufgrund peripherer Vasodilatation 5 »Parkinsonoid« aufgrund der starken antidopaminergen Aktivität. In diesem Falle wäre die Anwendung von Biperiden (Akineton) angezeigt – die sog. atypischen Neuroleptika wie Olanzapin weisen diesbezüglich weniger Nebenwirkungen auf, sind aber als intravenöse Applikationsform nicht verfügbar 5 Auftreten eines Locked-in-Syndroms, bei dem sich die (wachen!) Patienten nur noch durch vertikale Augenbewegungen bemerkbar machen können 5 Arrhythmien mit Verlängerung der QT-Zeit bis zum Extremfall einer Torsade-de-pointes-Tachykardie 5 Erniedrigung der Krampfschwelle
Klinische Anwendung Aufgrund des beschriebenen Wirkprofils ergeben sich für Neuroleptika folgende wesentliche Indikationsbereiche: 4 Therapie agitierter und deliranter Syndrome (bevorzugt mit produktiver Symptomatik), 4 antiemetische Therapie.
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0,02%) erscheinen Isofluran und Desfluran als akzeptable therapeutische Alternative zu den bereits vorgestellten Sedativa und Hypnotika. Die Substanzzufuhr erforderte bisher eine recht aufwändige Applikationstechnik mit Kreissystem und Narkosegasabsaugung. Durch die Entwicklung des AnaConDa-Systems (»anaesthetic conserving device«) können Isofluran und Sevofluran bei Intensivpatienten kostengünstig zur inhalativen Sedierung angewendet werden [17]. Allerdings ist weiterhin ein funktionierendes Absaugsystem für die Inhalationsanästhetika erforderlich. Das Verfahren ist jedoch noch nicht weit verbreitet. Die bisherigen Studienergebnisse lassen jedoch Vorteile für die Anwendung von Inhalationsanästhetika erkennen [17]. Die bisherigen klinischen Erfahrungen zeigen, dass Isofluran in endtidalen Konzentrationen von 0,3–0,6 Vol.-% eine verlässliche Steuerung des gewünschten Sedierungsniveaus bei raschem Erwachen gewährleisten kann. Da Isofluran über bronchospasmolytische Eigenschaften verfügt, kann die Substanz bei der Beatmung und Entwöhnung von Patienten mit schwerer bronchialer Obstruktion bzw. beim Status asthmaticus eingesetzt werden, wenn andere therapeutische Optionen (E2-Mimetika, Steroide, Methylxanthine, Ketamin) bereits ausgeschöpft sind. Die oft in der Literatur diskutierte potenzielle Nephrotoxizität von Fluorid (als Metaboliten des Isofluran) ist nach neuesten Erkenntnissen nicht relevant. Dosierungsempfehlungen für Inhalationsanästhetika (AnaConDa-System) 5 Isofluran: 0,3–0,7 Vol.-% endtidal 5 Sevofluran: 0,8–1,5 Vol.-% endtidal
23.4.8 Opioide Eine ausreichende Analgesie ist als primäre Grundlage unerlässlich, um die bereits er wähnten therapeutischen Ziele im Rahmen der Intensivbehandlung zu erreichen. Die zur Verfügung stehenden Analgetika werden üblicher weise aufgrund ihres pharmakologischen Profils in Opioide und Nichtopioide unterteilt. Aufgrund ihrer Wirkpotenz sind die Opioide fester Bestandteil der verschiedenen Therapieschemata. Mitunter können Nichtopioide vorteilhaft mit Opioiden kombiniert werden.
Pharmakologische Wirkungen Dosierungsempfehlungen für Neuroleptika 5 DHBP: Bolusgabe: 1,25 –2,5 mg 5 Haloperidol: Bolusgabe 10–20 mg
23.4.7 Inhalationsanästhetika Unter den zur Verfügung stehenden Inhalationsanästhetika wurden in den vergangenen Jahren bevorzugt Isofluran, Sevofluran und Desfluran zur Sedierung von Intensivpatienten eingesetzt. Aufgrund der günstigen physikochemischen Eigenschaften (niedriger Blut-Gas-Verteilungskoeffizient) und der geringen hepatischen Metabolisierungsrate (Isofluran 0,2%, Desfluran
Morphin als Bezugsubstanz und seine synthetischen Derivate (u. a. Alfentanil, Fentanyl, Sufentanil, Remifentanil) binden mit unterschiedlicher Affinität und variabler intrinsischer Aktivität an Opiatrezeptoren, die in verschiedenen Arealen des ZNS (limbisches System, Hypothalamus, Mittelhirn, Substantia gelatinosa dorsalis des Rückenmarks) lokalisiert sind. Die Rezeptoren sind teilweise in Subtypen unterteilt, die für die verschiedenen klinischen Wirkungen dieser Substanzklasse verantwortlich sind: so wird die analgetische Wirkung hauptsächlich über P1- und N-Rezeptoren vermittelt. Die einzelnen Opioide unterscheiden sich hinsichtlich ihrer pharmakologischen Eigenschaften wie Wirkpotenz, Fettlöslichkeit, Proteinbindung sowie pharmakokinetischen Daten. Eine insbesondere unter intensivmedizinischen Gesichtspunkten wich-
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Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
tige pharmakokinetische Größe ist die sog. »kontextsensitive Halbwertszeit«: Diese ist definiert als die Zeit, die notwendig ist, um einen 50%igen Abfall der Substanzkonzentration nach Beendigung einer kontinuierlichen Zufuhr zu erreichen. Der Begriff »Kontext« bezieht sich auf die Infusionsdauer. Hierbei bestehen zwischen den einzelnen Opioiden deutliche Unterschiede [8]. Entsprechend ihrem Wirkverhalten an den Rezeptoren werden die Opioide gewöhnlich in reine Agonisten, partielle Agonisten und Antagonisten eingeteilt, wobei in der Intensivmedizin die reinen Agonisten bevorzugt werden. Neben den analgetischen Wirkungen rufen die Opioide auch entsprechend den Rezeptorinteraktionen weitere Effekte hervor, die teilweise erwünscht sind und auch therapeutisch genutzt werden können: 4 Sedierung, 4 Euphorie, Stimmungsaufhellung, 4 antitussive Wirkung, 4 verbesserte Beatmungstoleranz durch Senkung der Atemfrequenz.
Nebenwirkungen Dennoch verfügen die Opioide über nicht unerhebliche Nebenwirkungen, die mitunter zu therapeutischen Problemen führen können: 4 emetische Wirkung (durch Stimulation der Area postrema), 4 Spasmen der Hohlorgane, der ableitenden Gallenwege und der Ureteren, 4 Obstipation, 4 Vasodilatation, 4 Histaminfreisetzung (Morphin). Die Wirkungen auf das kardiovaskuläre System (Blutdruck, Inotropie, myokardialer Sauerstoffverbrauch) sind bei Patienten ohne Vorerkrankungen gewöhnlich gering. Bei Patienten mit manifesten Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sollten jedoch Bolusinjektionen weitgehend vermieden werden. Bisher liegen keine Hinweise auf eine teratogene Potenz der Opioide vor, sodass die Anwendung bei Schwangeren als relativ unbedenklich eingestuft werden kann.
Opiatantagonisten Die Wirkung der Opiate und Opioide kann durch spezifische kompetitive Antagonisten aufgehoben werden. Hierbei werden die Antagonisten gewöhnlich ver wendet, um uner wünschte Wirkungen (z. B. Atemdepression) aufzuheben. Daher werden Opiatantagonisten gewöhnlich eher in der Notfallmedizin (bei Intoxikationen) und in der klinischen Anästhesie eingesetzt. Hauptvertreter dieser Substanzklasse ist Naloxon. Die klinische Wirkdauer beträgt etwa 40–60 min und ist damit kürzer als die der entsprechenden Agonisten (Ausnahme: Remifentanil)! Die Wirkung sollte individuell titriert werden, mit einer Anfangsdosis von etwa 1 Pg/kg. Der Einsatz von Naloxon sollte – ähnlich wie beim Benzodiazepinantagonisten Flumazenil – sehr streng gestellt werden, da es nahezu unmöglich ist, eine sog. selektive Antagonisierung (z. B. nur der Atemdepression) vorzunehmen.
Substanzen
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Morphin Morphin als Referenzsubstanz der Opioide wird in Deutschland relativ selten eingesetzt, findet jedoch insbesondere im angloame-
rikanischen Raum breite Anwendung [15]. Nebenwirkungen sind eine Histaminfreisetzung mit Vasodilatation, die jedoch bei Patienten mit Myokardinfarkt (Vorlastsenkung!) durchaus vorteilhaft sein kann. Die Steuerbarkeit der Substanz und die Wirkpotenz ist schlechter als die der synthetischen Opioide. Eine vorteilhafte Indikation für Morphin ist die peridurale Applikation, wobei hier, bei gleichem Wirkeffekt, eine beträchtliche Dosisreduktion (etwa auf 1/10) gegenüber der intravenösen Anwendung möglich ist. Morphin wird in der Leber durch Konjugation mit Glukuronsäure verstoffwechselt, wobei eine Kumulation des stark analgetisch wirksamen Metaboliten Morphin-6-Glucuronid bei Niereninsuffizienz möglich ist. Dosierungsempfehlungen für Morphin 5 2–4 mg/h i. v. in Kombination mit einem Sedativum oder Hypnotikum, entsprechend etwa 50–100 mg/Tag 5 Epidurale Anwendung: ca. 6–8 mg/Tag, ggf. in Kombination mit Lokalanästhetika
Fentanyl Fentanyl ist etwa 100- bis 150-mal stärker analgetisch wirksam als Morphin und besitzt eine hohe analgetische Potenz. Das Wirkmaximum wird etwa 4–5 min nach intravenöser Gabe erreicht. Fentanyl weist die längste »kontextsensitive Halbwertszeit« aller Opioide auf und kumuliert stark im Fettgewebe; somit ist die Steuerbarkeit der Substanz schon nach kurzer kontinuierlicher Zufuhr relativ schlecht. Zudem kann es nach Ende der Zufuhr durch Rückverteilung von peripheren in zentrale Kompartimente zu »Rebound-Effekten« mit der Gefahr der Atemdepression kommen. Fentanyl gehört in der Intensivmedizin zu den sehr häufig eingesetzten Opioiden (z. B. in Kombination mit Midazolam oder Propofol). Außerdem ist Fentanyl sehr preiswert. Allerdings kann dieser Vorteil durch eine Verlängerung der Intensivaufenthaltsdauer (extrem lange »kontextsensitive Halbwertszeit«) wieder zunichte gemacht werden, sodass bei einer geplanten Entwöhnung von der Beatmung nach Langzeitsedierung sehr frühzeitig die Dosis reduziert werden muss. Dosierung von Fentanyl 5 Kontinuierlich: 0,05–0,3 mg/h 5 Bolusinjektion: ca. 0,1 mg
Sufentanil Sufentanil ist das stärkste bekannte Opioid mit einer um den Faktor 1000 höheren Wirkpotenz als die Referenzsubstanz Morphin. Die Steuerbarkeit ist vergleichbar mit der von Alfentanil. Sufentanil besitzt »hypnoanalgetische Eigenschaften«, was zu einem verminderten Bedarf an zusätzlichen Sedativa oder Hypnotika führen soll. Dieser pharmakologische Vorteil wird allerdings bezüglich seiner klinischen Relevanz kontrovers beurteilt. Die »kontextsensitive Halbwertszeit« von Sufentanil ist kürzer als die von Fentanyl. Auch soll Sufentanil in der Entwöhnungsphase der Beatmung durch eine bessere »Tubustoleranz« gegenüber Fentanyl Vorteile besitzen. Sufentanil ist weiterhin zur periduralen An-
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wendung zugelassen. Sufentanil besitzt seinen Stellenwert in der Mittel- und Langzeitsedierung Dosierungsempfehlungen für Sufentanil 5 Kontinuierlich: initial ca. 0,3–0,8 Pg/kg KG/h 5 Bolusgabe: 10–20 Pg
Remifentanil Remifentanil (Ultiva) ist ein hochpotenter und subselektiver PRezeptor-Agonist, dessen pharmakologisches und pharmakokinetisches Profil auch bei Intensivpatienten einen Fortschritt darstellt. Remifentanil ist in Deutschland seit 2002 für die Dauer von maximal 3 Tagen zur Analgesie bei Intensivpatienten zugelassen. Remifentanil hat eine im Vergleich zu Fentanyl, Alfentanil und Sufentanil geringe Fettlöslichkeit, eine geringere Proteinbindung (ca. 70%) und eine hohe Clearance, die bei längerer Infusionsdauer klinische Relevanz besitzt. Die Substanz zeichnet sich – im Gegensatz zu den bereits erwähnten Opioiden – durch eine von der Infusionsdauer unabhängige, konstant niedrige »kontextsensitive Halbwertszeit« aus, die ein Wirkungsende (und damit auch das Ende der analgetischen Wirkung) innerhalb weniger Minuten nach Beendigung der Zufuhr erlaubt. Die Metabolisierung erfolgt ausschließlich über unspezifische Plasma- und Gewebsesterasen und ist somit unabhängig von der Leber- und Nierenfunktion. Eine Kumulation von Metaboliten (Remifentanilsäure) ist klinisch nicht relevant. Wesentliche kardiovaskuläre Nebenwirkungen von Remifentanil sind eine Bradykardie und ein Blutdruckabfall, die z. B. bei vorbestehender Hypovolämie therapiert werden müssen. Remifentanil stellt – trotz der Kosten – bei Patienten mit eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion eine therapeutische Alternative zu Sufentanil oder Fentanyl dar. Die Aufwachzeiten nach Remifentanil-gesteuerter Analgesie bleiben innerhalb eines schmalen Zeitfensters von 10–20 min berechenbar und erlauben eine deutlich verbesserte neurologische Beurteilbarkeit der Patienten [20, 24]. Remifentanil bietet sich besonders in der Kurzzeitanalgosedierung an (als Fortführung des Anästhesieverfahrens) und ist Bestandteil von »Fast-track-Konzepten« zur raschen Rehabilitation auch nach komplizierten Eingriffen. i Eine adäquate analgetische Therapie mit Regionalanästhesieverfahren oder Pritramid muss bei Beendigung der Zufuhr von Remifentanil in jedem Fall gewährleistet sein.
Wie die bereits genannten Opioide unterliegt Remifentanil in Deutschland seit 1998 auch der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BTMVV).
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Atemdepression soll durch die geringere Affinität zu den P2Rezeptoren deutlich geringer sein als bei den übrigen Opioiden. Hauptindikationsgebiet für die Substanz ist die postoperative Schmerztherapie, auch in Form der »patient controlled analgesia« (PCA). Hier hat sich die Substanz seit vielen Jahren bewährt. Weiterhin kann Piritramid in der Entwöhnungs- und Aktivierungsphase anstelle von hochpotenten Opioiden bei allgemein reduziertem Analgetikabedarf appliziert werden. Auch kann die euphorisierende Wirkkomponente der Substanz genutzt werden [22]. Dosierungsrichtlinien für Piritramid 5 Kontinuierlich: 2–5 mg/h 5 Bolusgabe: 0,05 mg/kg KG (ca. 3 mg) 5 PCA-Modus: Bolus 3 mg, Sperrzeit 10 min, maximal 6 Boli/h
23.4.9 Nichtopioide Die heterogene Substanzgruppe der Nichtopioide kann insbesondere in der Entwöhnungs- und Aktivierungsphase supplementierend und alternativ zu den Opioiden angewendet werden. Durch synergistische Effekte sind hier mitunter beträchtliche Dosisreduktionen der Einzelsubstanzen möglich.
Pharmakologisches Wirkungsspektrum Durch Hemmung der Zyclooxygenasen 1 und 2 (COX-1 und COX-2) im Arachidonsäuremetabolismus wird die Synthese analgetischer Mediatoren (Prostaglandine, Kinine, Histamin) bzw. deren Potenz zur Erregung peripherer Nervenendigungen vermindert. Inzwischen liegen auch gesicherte Hinweise vor, dass Nichtopioide ebenfalls über »zentrale« analgetische Wirkungen verfügen. Dies erklärt, warum Anilinderivate (z. B. Paracetamol) bei schwacher Wirkung auf die COX ebenfalls gute analgetische Eigenschaften entfalten. Darüber hinaus können Nichtopioide folgende Eigenschaften besitzen: 4 antiphlogistische Wirkung, 4 antipyretische Wirkung, 4 spasmolytische Wirkung.
Substanzgruppen Pharmakologisch werden im Wesentlichen 3 verschiedene Substanzgruppen unterschieden: 4 Anilinderivate (Paracetamol, Propacetamol), 4 Pyrazolonderivate (Metamizol), 4 Derivate schwacher Karbonsäuren (Azetylsalizylsäure) und nichtsteroidale Substanzen (NSAID) wie Piroxicam, Diclofenac, Indometacin oder Ibuprofen.
Dosierungsempfehlungen für Remifentanil 5 Kontinuierlich: ca. 0,1–0,2 Pg/kg KG/min; 5 Bolusgabe: 10 Pg (Cave: Bradykardie!)
Piritramid Piritramid (Dipidolor) ist analgetisch schwächer wirksam als Morphin und hat eine klinische Wirkdauer von 6–8 h. Die
Klinische Anwendung Aufgrund der im Vergleich zu den Opioiden geringeren analgetischen Potenz, aber auch ihrer Nebenwirkungen, sind die Nichtopioide für die Langzeitanalgosedierung weniger geeignet. Insbesondere in der Entwöhnungs- und Restitutionsphase können sich aber folgende vorteilhafte Indikationen, auch bei Kombination z. B. mit Piritramid, ergeben: 4 als Antipyretikum (Paracetamol, Metamizol),
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Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
4 als Antiphlogistikum bei Weichteilschwellungen; auch Periostschmerzen (bei Zustand nach Osteosynthese) sprechen oft gut auf NSAID an, 4 als Spasmolytikum (Metamizol, evtl. in Kombination mit Butylscopolamin). ! Cave Einige COX-2-Hemmer (Coxibe) wurden in den vergangenen Jahren u. a. aufgrund gravierender kardiovaskulärer Nebenwirkungen vom Markt genommen. Die Anwendung dieser Substanzgruppe sollte nur unter strenger Beachtung der Kontraindikationen erfolgen.
23.4.10 Regionalanästhesiever fahren Kontinuierliche Regionalanästhesieverfahren können bei vielen Intensivpatienten als analgetische Wirkkomponente eingesetzt werden, wodurch erhebliche Dosisreduktionen von intravenös applizierten Analgetika und mitunter eine schnellere Entwöhnung von der Beatmung möglich sind. Außerdem lassen sich einige Effekte der Regionalanästhesieverfahren (insbesondere der thorakalen Periduralanästhesie) wie die Sympathikolyse vorteilhaft nutzen, so z. B. bei Obstipation oder Durchblutungsstörungen der unteren oder auch der oberen Extremität bzw. bei einer vorbestehenden koronaren Herzerkrankung. Ein für den geplanten operativen Eingriff gelegter Periduralkatheter sollte – nach den Leitlinien der DGAI ‒ postoperativ auf der Intensivstation zur Analgesie genutzt werden [29].
Ver fahren Folgende Verfahren der Regionalanästhesie werden in der Intensivmedizin angewandt: 4 rückenmarknahe Leitungsanästhesien, bevorzugt als thorakale Katheterperiduralanästhesie, 4 Leitungsanästhesien der oberen oder auch der unteren Extremität (kontinuierliche Blockade des Plexus brachialis, N.-femoralis-Katheter), 4 »systemische Lokalanästhesie« durch intravenöse Zufuhr von Lokalanästhetika wie Procain oder Lidocain. Als Indikationen für die systemische, intravenöse Lokalanästhesie werden insbesondere Verbrennungen, Muskeltraumen und Pankreatitiden genannt. ! Cave Hierbei muss die relativ geringe therapeutische Breite der verwendeten Lokalanästhetika beachtet werden.
Trotz ihrer nachgewiesenen Effektivität bei den erwähnten Indikationen wird die systemische Lokalanästhesie eher selten angewendet.
Klinische Anwendung
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! Cave Für die klinische Anwendung gilt: Die Anlage eines Periduralkatheters sollte möglichst vor Einleitung der Narkose bzw. am wachen und kooperativen Patienten erfolgen! Eine Anlage durch einen erfahrenen Facharzt beim analgosedierten Patienten sollte nur unter strengster Abwägung von Nutzen und Risiken erfolgen!
Folgende Substanzgruppen werden bei den rückenmarknahen Leitungsanästhesien eingesetzt: 4 langwirkende Lokalanästhetika vom Amidtyp (Bupivacain, Ropivacain), 4 Opiate bzw. Opioide (zugelassen sind Morphin und Sufentanil), 4 D2-Agonisten (Clonidin, nicht zugelassen). Die Lokalanästhetika hemmen reversibel die Fortleitung des Aktionspotenzials der Nervenfasern. Opioide binden sich an die P1-Rezeptoren in der Substantia gelatinosa dorsalis des Rückenmarks und bewirken eine Hemmung der Erregungsleitung in den aufsteigenden Schmerzbahnen im Vorderseitenstrang. D2Agonisten wie Clonidin verstärken deszendierende Hemmsysteme (u. a. durch Freisetzung der Substanz P) und modulieren somit die Erregungsweiterleitung. Bei der periduralen Anwendung von Opioiden ist zu beachten, dass hydrophile Substanzen wie Morphin einen verzögerten Wirkungseintritt aufweisen. Allerdings sind bei periduraler Anwendung von Morphin erhebliche Dosisreduktionen auf etwa 10% im Vergleich zur intravenösen Gabe möglich, um äquianalgetische Effekte zu erreichen. Lipophile Substanzen wie Sufentanil werden relativ rasch systemisch resorbiert und verfügen somit über einen wesentlich schnelleren Wirkungseintritt, allerdings auch eine kürzere Wirkdauer. Bei der Katheterperiduralanästhesie werden Lokalanästhetika und Opioide oft kombiniert zugeführt. Die Effektivität der Applikation von D2-Agonisten wird kontrovers beurteilt und stellt kein Routineverfahren dar. Die kontinuierliche Gabe von Lokalanästhetika wie Bupivacain 0,25% oder Ropivacain 0,2% führt im Regelfall, bei weitgehend ausgeglichenem Volumenstatus, zu keiner relevanten Kreislaufdepression. Die Sympathikolyse ist in vielen Fällen (z. B. bei Obstipation, paralytischem Ileus oder nach gefäßrekonstruktiven Eingriffen) sogar erwünscht und kann therapeutisch genutzt werden. Folgende Krankheitsbilder bieten sich für eine kontinuierliche Periduralanalgesie an: 4 thorakaler Zugang: Thoraxtrauma, Thorakotomie, Zweihöhleneingriff (z. B. Ösophagusresektion), Oberbaucheingriff (Gastrektomien, Whipple-Operation); 4 lumbaler Zugang: Unterbaucheingriff (z. B. Rektumresektionen), gefäßrekonstruktiver Eingriff wie infrarenaler Aortenersatz, Osteosynthese im Bereich des Beckens oder der unteren Extremität. Dosierungsempfehlungen für die Katheterperiduralanästhesie bei Intensivpatienten 5 Thorakaler Zugang: Bupivacain 0,125–0,25%% oder Ropivacain 0,2% ca. 4–6 ml/h kontinuierlich bzw. 3–4 ml als Bolusgabe, Morphin ca. 5–8 mg/Tag, Sufentanil ca. 50 Pg/Tag 5 Lumbaler Zugang: Bupivacain 0,125–0,25% oder Ropivacain 0,2% ca. 5–10 ml/h kontinuierlich bzw. 4–8 ml als Bolusgabe, Morphin ca. 5–8 mg/Tag, Sufentanil ca. 50 Pg/Tag
Bei der kontinuierlichen axillären Plexusanalgesie (z. B. bei Replantationen oder Osteoysnthesen im Bereich der oberen Extremität) werden folgende Dosisrichtlinien angegeben:
317 23.4 · Pharmaka und Indikationen
Dosierungsempfehlungen für die Katheterplexusanästhesie bei Intensivpatienten 5 Kontinuierlich: Bupivacain 0,25% oder Ropivacain 0,2%: 6–8 ml/h 5 Bolusgabe: Bupivacain 0,25% oder Ropivacain 0,2%: 15–20 ml
23.4.11 α2-Agonisten
Clonidin Die Substanzgruppe der D2-Agonisten mit Clonidin als deren Hauptvertreter weist ein pharmakologisches Wirkprofil auf, das sich im Rahmen der Analgosedierung von Intensivpatienten vorteilhaft nutzen lässt [2].
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dergrund des klinischen Bilds steht. Hierdurch senkt Clonidin den O2-Verbrauch und wirkt somit »organprotektiv«. Häufig verwendete Kosubstanzen sind Benzodiazepine, GHB oder Neuroleptika, 4 Supplementierung einer therapeutisch unbefriedigenden Sedierung mit Benzodiazepinen, wodurch sich der CeilingEffekt abschwächen lässt, 4 Verlängerung der Analgesie durch peridurale Applikation (nicht zugelassen) in Kombination mit Opioiden oder Lokalanästhetika. Gesicherte und allgemein akzeptierte Indikationen (z. B. Stufen- und Dosierungsschemata) hierfür liegen jedoch noch nicht vor. Die Dosierungsrichtlinien variieren sehr stark. Kasuistisch sind intravenöse Dosierungen bis zu 5 mg/Tag beschrieben worden. Als klinisch praktikabel hat sich folgendes Schema bewährt: Dosierungsempfehlungen für Clonidin
Klinische Wirkungen der α2-Agonisten Clonidin als Hauptvertreter dieser Substanzgruppe ist ein Imidazolderivat, das als freie Base und auch protoniert vorliegen kann. Die Substanz ist ein lipophiler D-Rezeptoragonist mit überwiegender Affinität zu den D2-Rezeptoren (Affinitätsverhältnis D2 : D1 =200 : 1) und penetriert leicht die Blut-Hirn-Schranke. Die D2-Rezeptoren finden sich überwiegend präsynaptisch an den Endigungen der noradrenalinfreisetzenden postganglionären sympathischen Neurone; weiterhin auch im Hinterhorn des Rückenmarks und an extraneuronalen Zellen. Daher vermindern D2-Agonisten den Sympathikuseinfluss auf die Erfolgsorgane. Die Substanzgruppe verfügt jedoch über ein breites Wirkspektrum, welches über die originäre Indikation der Substanz zur Blutdrucksenkung hinausgeht und in den vergangenen Jahren klinisch untersucht worden ist. Für die Anwendung der Substanz in der Intensivmedizin sind folgende Wirkkomponenten von besonderer Bedeutung: 4 Sedierung und Anxiolyse, 4 analgetische Wirkung mit Verminderung des Opioidbedarfs, 4 vegetative Entlastung bei Entzugssyndromen (z. B. beim Alkoholentzugssyndrom), 4 Unterdrückung von Kältezittern, 4 diuretische Wirkung durch Verminderung der ADH-Sekretion bzw. durch Blockade der renal-tubulären Wirkung von ADH.
5 Kontinuierliche i. v.-Zufuhr von 0,5–1 (–2) mg/kg KG/h 5 Im unteren Dosisbereich kommt es so im Regelfall nicht zu klinisch relevanten hämodynamischen Reaktionen
Dexmedetomidin Dexmedetomidin weist im Gegensatz zu Clonidin ein höheres α2-Affinitätsverhältnis auf (D2 : D1 = 1600 : 1) und ist bereits in den USA zur Sedierung von Intensivpatienten für die Dauer von 24 hzugelassen. In Deutschland ist die klinische Einführung nocht nicht absehbar. Bei einem mit Clonidin vergleichbarem hämodynamischen Profil sind viele Patienten unter einer Sedierung mit Dexmedetomidin ansprechbar und kommunikativ. Außerdem führte die Gabe von Dexmedetomidin in bisher durchgeführten Studien mitunter zu erheblichen Einsparungen an Analgetika (z. B. Morphin, Sufentanil) und Hypnotika (z. B. Propofol) im Vergleich zu anderen bereits beschriebenen Therapieschemata [18]. Dosierungesempfehlungen für Dexmedetomidin 5 Initialdosis von 2,5–6 Pg/kg KG 5 Danach kontinuierlich 0,2–2,5 Pg/kg KG/h
Nebenwirkungen Wesentliche Nebenwirkungen von Clonidin sind: 4 Hypotension (insbesondere bei Patienten mit Hypertonie), 4 Bradykardie mit Blutdruckabfall (insbesondere bei Patienten mit Volumendefizit), 4 Verlängerung der QT-Zeit im EKG mit dem Extremfall einer »Torsade-de-pointes«-Tachykardie (ähnlich wie bei Neuroleptika), 4 Mundtrockenheit, Obstipation.
Klinische Anwendung Clonidin wird meist als adjuvantes Pharmakon bei folgenden Indikationen eingesetzt: 4 Therapie von Entzugssyndromen (Alkohol, Opioide), wenn die vegetative Entgleisung (»Noradrenalinsturm«) im Vor-
23.4.12 Muskelrelaxanzien Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien hemmen durch einen kompetitiven Antagonismus am postsynaptischen Acetylcholinrezeptor der neuromuskulären Endplatte die Erregungsweiterleitung und bewirken somit eine reversible Erschlaffung der quergestreiften Skelettmuskulatur. Muskelrelaxanzien vom nichtdepolarisierenden Typ unterscheiden sich durch ihre chemische Grundstruktur (Benzylisochinoline wie Atracurium, Cisatracurim, Doxacurium sowie Aminosteroide wie Pancuronium, Vecuronium oder Rocuronium) und durch pharmakodynamische Parameter wie Anschlagzeit, Wirkdauer oder Erholungsindex. Während die nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien in der klinischen Anästhesie weit verbreitet sind, sollte ihr Gebrauch
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Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
. Tabelle 23.2. Auswahl von Therapieschemata zur Analgosedierung nach Indikationsgebieten Indikation
Therapieziel
Substanzen und Dosierungen
Sedierung, Anxiolyse, Amnesie
Minderung der psychischen Belastung, Toleranz diagnostischer Interventionen
Midazolam 0,05 mg/kg KG/h + Sufentanil 0,25– 0,5 μg/kg KG/h. Bei Steigerung der Midazolam-Dosierung um > 50% gegenüber dem Ausgangswert zusätzlich Propofol 1–2 mg/kg KG/h (maximal 7 Tage)
Neurolepsie
Minderung produktiver Symptomatik, Therapieführung in der »Entwöhnungsphase«
DHBP 2,5–5 mg/h + Sufentanil 0,25–0,5 μg/kg KG/h
Tiefe Hypnose, Narkose
Senkung von Hirndruck und O2-Verbrauch (z. B. beim Polytrauma/isolierten SHT)
Propofol 2–4 mgKG/kg/h (alternativ: Methohexital 1–3 mg/kg KG/h) + Sufentanil 0,25–0,5 μg/kg KG/h. Kombinationssubstanzen: Midazolam 0,03–0,05 mg/ kg KG/h, Clonidin 0,5–1 (–2) μg/kg KG/h
Organprotektion
Kreislaufunterstützung bei SIRS bzw. septischem Schock, »Katecholaminreduktion«, Wahrung der nutritiven Organdurchblutung
Midazolam 0,05–0,1 mg/kg KG/h (alternativ: GHB 10–15 mg/kg KG/h, Propofol 1–2 mg/kg KG/h) + Ketamin-Razemat 0,5–2 mg/kg KG/h (alternativ S-Ketamin 0,3–1,0 mg/kg KG/h)
Aktivierende Entwöhnung, »Schlafregulation«
Wiedererlangung des physiologischen Schlafes, Minderung von Entzugssyndromen
GHB 5–10 mg/kg KG/h, bei erhöhtem Sympathikotonus evtl. zusätzlich Clonidin 0,5–1 (–2) μg/kg KG/h
bei Intensivpatienten auf wenige Ausnahmen beschränkt bleiben [6]. Succinylcholin als depolarisierendes Muskelrelaxans ist in der Intensivmedizin lediglich bei der Notfallintubation indiziert; hierbei müssen die bekannten Kontraindikationen streng beachtet werden.
Mögliche Gefahren und Nebenwirkungen Abgesehen von den Nebenwirkungen der Substanzen selbst (z. B. Histaminfreisetzung bei Atracurium, Tachykardie aufgrund der Vagolyse bei Pancuronium) bestehen beim unkritischen Gebrauch von Muskelrelaxanzien beim Intensivpatienten folgende Gefahren: 4 akut: hypoxische Schädigung bei unbemerkter Diskonnektion von Tubus oder Trachealkanüle vom Beatmungsgerät oder bei akzidenteller Extubation, 4 mittelfristig: Ödembildung, Dekubitus, tiefe BeinBeckenvenenthrombose aufgrund der völligen Immobilisierung, 4 langfristig: Muskelatrophie und persistierende Paralyse (bis hin zur Tetraplegie) mit histologisch verifizierbarer Myofibrillendegeneration, insbesondere bei Verwendung von Aminosteroidrelaxanzien in Kombination mit gleichzeitiger systemischer Steroidgabe.
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Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass eine Vielzahl von Einflüssen wie Begleitmedikation (z. B. Steroide, Methylxanthine), Elektrolytstörungen (z. B. Veränderungen der Kalium- und Magnesiumkonzentration, Veränderungen des Säure-BasenHaushalts) oder Änderungen der Pharmakokinetik (z. B. bei Niereninsuffizienz mit Kumulation aktiver Metaboliten wie 3Desoxypancuronium oder 3-Desoxyvecuronium) die klinische Wirkung von Muskelrelaxanzien erheblich und nahezu unkalkulierbar beeinflussen können. Falls man sich für die längerfristige Anwendung von Muskelrelaxanzien entschließt, sollte ein neuromuskuläres Monitoring (elektromyographisch oder mechanomyographisch) durchgeführt werden.
Indikationen für Muskelrelaxanzien bei Intensivpatienten Unter Abwägung von therapeutischem Nutzen und den bereits beschriebenen Risiken bestehen eng begrenzte Indikationen für die Anwendung von Muskelrelaxanzien bei Intensivpatienten. Dabei ist unabdingbar, dass auf eine adäquate Sedierung und Hypnose geachtet wird, um dem Patienten eine »wache Paralyse« zu ersparen! 4 Mögliche Indikationen sind: 4 Erleichterung der endotrachealen Intubation, 4 therapieresistenter Tetanus oder Status epilepticus, 4 kritisch erhöhter intrakranieller Druck, wenn bei den Patienten jegliche Abwehrbewegungen (z. B. Husten beim endotrachealen Absaugen, bei Umlagerung oder Verbandswechsel) vermieden werden müssen, 4 Erleichterung der maschinellen Beatmung bei extremen Variationen im Atemzeitverhältnis (z. B. IRV 2:1 oder 3:1) oder zur Beatmung in Bauchlage beim akuten Lungenversagen. Generelle Dosierungsempfehlungen für Muskelrelaxanzien können nicht angegeben werden. Bei Patienten mit Leber- und Niereninsuffizienz bietet sich aufgrund der besonderen Eliminationskinetik Atracurium oder Cisatracurium (auch als Dauerinfusion) an. In jedem Fall bleibt die Anwendung von Muskelrelaxanzien beim Intensivpatienten ein »zweischneidiges Schwert« und auf wenige Indikationen beschränkt [29] 23.4.13 Schemata zur Analgosedierung Zusammenfassend sind in . Tabelle 23.2 einige Schemata zur Analgosedierung aufgeführt. In Abhängigkeit von der Therapiedauer oder der Grunderkrankung empfiehlt sich ein modularer Aufbau, wie er in den Leitlinien der DGAI publiziert wurde. Die Dosierungsangaben sind lediglich als Richtwerte anzusehen, auch erheben die mitunter genannten pharmakologischen Kombinationen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
319 23.5 · Akute Psychosyndrome
23.5
Akute Psychosyndrome
Klinische Bilder mit agitierter oder deliranter Symptomatik sind bei Intensivpatienten durchaus keine Seltenheit. Die Inzidenz variiert erheblich und kann mit 10–15% angenommen werden. Das Auftreten von Psychosyndromen ist nicht zwingend abhängig von der Dauer der Intensivbehandlung. Die Ursachen hierfür sind sehr vielfältig und bleiben in einem nicht unerheblichen Prozentsatz unklar. Dies hat offensichtlich dazu beigetragen, diese Psychosyndrome unscharf als »Durchgangssyndrome« oder »Intensivbehandlungssyndrom« (»ICU-Syndrom«) zu bezeichnen [14]. Der multiformen Kausalität stehen oft uniforme Erscheinungsbilder gegenüber, die durch Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsstörungen charakterisiert sind. Oft treten diese Syndrome in der Entwöhnungs- bzw. Aktivierungsphase auf, nachdem die eigentliche vitale Funktionsstörung abgewendet worden ist. Die Problematik ist sehr vielgestaltig (hoher pflegerischer Aufwand, Verlängerung des Intensivbehandlungsaufenthalts), wird oft therapeutisch unterschätzt und als »Randproblem« bagatellisiert. Untersuchungen der vergangenen Jahre belegen eindeutig, dass das Auftreten eines Delirs ein bedutender Mortalitäts- und Morbiditätsfaktor ist, der auch zu einer deutlichen Verlängerung der Beahndlungsdauer führt [26]! Für eine adäquate Therapie ist es jedoch essenziell, die Ursachen dieser Psychosyndrome zu ergründen und eine differenzierte Therapie einzuleiten. 23.5.1 Klinik, Ursachen und Therapie
Klinik Akute Psychosyndrome bei Intensivpatienten können sich u. a. in folgenden klinischen Zustandsbildern manifestieren: 4 Angst- und Panikzustände, 4 depressive Verstimmungen, 4 Pharmakaentzugssyndrome (z. B. Benzodiazepine und Opioide), 4 Alkoholentzugsyndrom (AES), 4 zentral-anticholinerges Syndrom (ZAS).
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lyt- und Säure-Basen-Haushalts sowie febrile Reaktionen (»septische Enzephalopathie«) sein. Prinzipiell können auch alle in der Intensivmedizin angewendeten Pharmaka zur Entwicklung eines Psychosyndroms beitragen, z. B. Antibiotika, H2-Rezeptorantagonisten, Benzodiazepine etc.; eine exakte Zuordnung ist daher äußerst schwierig [5]. Differenzialdiagnostisch sollte auch unter Verwertung fremdanamnestischer Hinweise versucht werden, die Ursache des Psychosyndroms zu ergründen und eine möglichst kausale Therapie einzuleiten.
Therapie Bleibt die Ursache unklar, muss eine symptomatisch orientierte Behandlung erfolgen. Therapeutische Möglichkeiten sind u. a. bei Angstzuständen die persönliche beruhigende Zuwendung, evtl. auch die Gabe eines Benzodiazepins mit geringer schlafinduzierender Wirkung (z. B. Oxazepam, Bromazepam). Bei depressiven Verstimmungen sollte neben der persönlichen Zuwendung die medikamentöse antidepressive Therapie mit wenigen, bekannten Präparaten erfolgen, wobei die verschiedenen Wirkqualitäten (z. B. antriebssteigernd (Desipramintyp), anxiolytisch (Amitryptilintyp), stimmungsaufhellend (Imipramintyp) berücksichtigt werden sollten. 23.5.2. Alkoholentzugssyndrom (AES) Die Anzahl alkoholabhängiger Patienten in Deutschland wird, unter Berücksichtigung einer gewissen Dunkelziffer, auf etwa 5% der Bevölkerung geschätzt und betrifft Menschen aller sozialen Schichten. Deutschland nimmt im internationalen Vergleich bezüglich des Pro-Kopf-Konsums von Alkohol (ca. 10‒15 l/Jahr) eine Spitzenstellung ein. Insbesondere im traumatologischen und neurologischen Patientengut sind alkoholabhängige Patienten deutlich überrepräsentiert (15–20%). Auch Patienten mit Malignomen im Kopf-Hals-Bereich oder im Ösophagus haben sehr häufig eine Alkoholanamnese. Somit kann es z. B. als Folge eines Unfallereignisses schon in der Frühphase der plötzlichen Hospitalisation zu Entzugserscheinungen kommen, die oft im Rahmen des Postaggressionsstoffwechsels unerkannt bleiben und die eigentliche Vitalgefährdung erheblich verstärken können [11, 18].
Definition des Delirs Nach der ICD-10-Klassifikation müssen für die Diagnose eines Delirs Störungen aus folgenden 5 Symptomenkomplexen vorliegen: 5 Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit 5 Störungen der Kognition 5 Psychomotorische Störungen 5 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus 5 Affektive Störungen wie Depression und Angst
Ursachen Eine Fülle von Ursachen können einzeln oder in Kombination Psychosyndrome bei Intensivpatienten verursachen: Die Isolation von der gewohnten Umgebung mit Verlust von Bezugspersonen, insbesondere bei Kindern und älteren Menschen, Störungen des physiologischen Schlaf- Wach-Rhythmus, aber auch Angst und Schmerzen. Weitere Einflussfaktoren können O2-Mangel, Hyperkapnie, Veränderungen des Wasser-, Elektro-
Diagnostik Der alkoholabhängige Patient ist während der Intensivbehandlungsphase durch verschiedenartige Komplikationen (Pneumonie, Kardiomyopathie) hochgradig gefährdet. Dies betrifft insbesondere die deutlich erhöhte Prädisposition zu Infektionen und die pathophysiologischen Folgen des AES. Die Diagnostik der Alkoholabhängigkeit stützt sich im Wesentlichen auf: 4 körperliche Untersuchungsbefunde, 4 anamnestische Angaben, 4 nominale Testverfahren (z. B. CAGE-Questionnaire, Münchener Alkoholismustest), 4 Laborparameter (Transaminasen, milde Anämie bei erhöhtem mittlerem korpuskulärem Volumen der Erythrozyten, Nachweis des »carbohydrate deficient transferrin« (CDT), erniedrigtes Serotonin in den Thrombozyten). Eindeutige, für den Alkoholismus pathognomonische Parameter existieren jedoch nicht, sodass die Diagnose insbesondere bei fehlenden anamnestischen Angaben erheblich erschwert sein kann.
320
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
. Tabelle 23.3. Postulierte neuronale Imbalancen beim Alkoholentzugsyndrom und therapeutische Optionen. (Mod. nach [22]) Transmitter
Alkoholentzug
Symptome
Therapieoptionen
Glutaminsäure
Überschuss
Krämpfe
Benzodiazepine, Clomethiazol, GHB, Magnesium, Vitamine B1 und B6
Dopamin
Überschuss
Halluzinationen, Affektionsstörungen
Neuroleptika, GHB, Clomethiazol
Noradrenalin
Überschuss
Vegetative Entgleisung, Tachykardie, Schwitzen, Hypertonie
Clonidin, Magnesium, β-Rezeptorenblocker
GABA
Mangel
Krämpfe, Unruhe
GHB, Benzodiazepine, Clomethiazol
Acetylcholin
Mangel
Verminderte Vigilanz, Koma
Physostigmin, Clomethiazol, Carbamazepin
Pathophysiologie Die chronische Zufuhr von Alkohol erzeugt depressorische Effekte auf das zentrale Nervensystem, wodurch sich in der neuronalen Übertragung ein neues Gleichgewicht einstellt. Der plötzliche Wegfall der depressorischen Droge Alkohol erzeugt eine neuronale Imbalance verschiedener Transmittersysteme, die offenbar für die klinische Symptomatik des AES verantwortlich ist und sich auch in den verschiedenen therapeutischen Ansätzen widerspiegelt (. Tab. 23.3). Weiterhin kommt es zu Veränderungen von Rezeptorsystemen, so z. B. einer Hochregulation der E-Rezeptoren, wodurch im Entzug die Reaktionen auf Katecholamine verstärkt sind. In allen Einzelheiten ist die Pathophysiologie des AES jedoch noch nicht aufgeklärt. Die postulierten Transmitterimbalancen können jedoch wesentliche Elemente des AES erklären und eine rationale Therapie für die verschiedenen Symptomenkomplexe ermöglichen.
Differenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose des AES umfasst u. a. folgende Syndrome: 4 Hypoxie, metabolische Entgleisung mit Störungen des Glukose-, Wasser-, Elektroyt- und Säure-Basen-Haushalts, 4 Störungen der Temperaturregulation (»febrile Enzephalopathie«), 4 medikamentös induzierte Entzugssyndrome und Intoxikationen, 4 neuropsychiatrische und neurologische Erkrankungen (z. B. zerebrovaskuläre Insuffizienz, Tumoren, schizophrene Psychosen).
Therapie Allgemeine intensivmedizinische Maßnahmen Primäres Therapieziel ist die Beseitigung der vegetativen Störungen und damit die Stabilisierung der bereits durch die Grunderkrankung gestörten Vitalfunktionen. Ein universell akzeptiertes Therapieschema existiert nicht. Neben allgemeinen intensivmedizinischen Maßnahmen wie der Korrektur von Elektrolytstörungen (u. a. der Ausgleich einer häufig zu beobachtenden Hypomagnesiämie), der Gabe von Vitamin B1 und B6 und von Antipyretika werden verschiedene Pharmaka mit wechselndem Erfolg eingesetzt; eine Erfolgsgarantie kann jedoch nicht gegeben werden. Die Anwendung von Alkohol ist sehr umstritten: hier sind u. a. die unkalkulierbare Interaktion mit anderen Pharmaka zu nennen (Antibiotika mit einem Tetrazolseitenring wie Metronidazol, Moxalactam und verschiedene Cephalosporine), welche die Azetaldehyddehydrogenase hemmen und zu einer sog. »Antabusreaktion« mit Übelkeit, Erbrechen, Hautrötung und Kopfschmerz führen können. Somit hat Alkohol lediglich in der Prophylaxe des AES eine Indikation, wobei die individuelle Dosierung sowie der Applikationsweg (intravenös oder enteral) schwierig zu kalkulieren sind. Jedoch kann auch die prophylaktische Gabe von Alkohol ein Entzugssyndrom nicht sicher verhindern. Ist das Delirium tremens bereits ausgebildet, so ist die Gabe von Alkohol kontraindiziert.
Stadieneinteilung Der charakteristische zeitliche Verlauf des AES ist in . Tabelle 23.4 dargestellt.
23
Klinisch bedeutsam ist, dass beim Übergang zum Delirium tremens durch verschiedene therapeutische Maßnahmen bestenfalls eine Verkürzung der Delirdauer erreichbar ist. Trotz der therapeutischen Fortschritte in jüngster Vergangenheit beträgt die Letalität des Delirium tremens immer noch zwischen 2 und 5%. Wesentliche Faktoren sind infektiöse Komplikationen (z. B. Pneumonien) und kardiale Störungen (Arrhythmien, Linksherzversagen insbesondere bei vorbestehender Alkoholkardiomyopathie).
. Tabelle 23.4. Stadienverlauf des Alkoholentzugssyndroms Stadium
Chrakteristika
I
Allgemeine Unruhe, Reizbarkeit, Tachykardie, feinschlägiger Tremor nach etwa 4–12 h Abstinenz
II
Zusätzliches Auftreten optischer Halluzinationen; Prädelir nach etwa 12–24 h Abstinenz
III
Auftreten von Wahnideen, Krämpfen, extremer Unruhe mit Übergang in komatöse Zustände: Vollbild des Delirs nach 2–4 Tagen Abstinenz mit einer variablen Dauer von 2–5 Tagen
321 23.5 · Akute Psychosyndrome
23
Benzodiazepine Kurzwirksame und damit besser steuerbare Benzodiazepine wie Midazolam sind fester Bestandteil vieler Therapieschemata beim AES. Insbesondere die anxiolytische und die antikonvulsive Wirkkomponente der Benzodiazepine kann in der Phase II und III des AES therapeutisch genutzt werden. Oftmals wird Midazolam mit Clonidin kombiniert, wenn eine vegetative Entgleisung im Vordergrund des klinischen Bilds steht. Bei der Therapie mit Midazolam ist der Ceiling-Effekt zu beachten. Daher sollte die Dosierung von Midazolam nicht in pharmakologisch sinnlose Bereiche gesteigert werden, sondern durch eine Begleitmedikation mit synergistisch wirkenden Pharmaka (z. B. GHB) ergänzt werden. Dosierungsempfehlung für Midazolam 3–8 mg/h, bei höherem Bedarf Kombination mit GHB oder Propofol erwägen.
Neuroleptika Neuroleptika vom Butyrophenon-Typ wie Haloperidol, Benperidol und Dehydrobenzperidol antagonisieren die dopaminerge und auch die serotoninerge synaptische Neurotransmission und wirken daher stark antipsychotisch und nur sehr schwach anxiolytisch. Außerdem wirken sie stark antiemetisch. Die Gabe von Neuroleptika ist zu bevorzugen, wenn die halluzinatorische Komponente beim AES dominiert. Außerdem ist DHBP bei ausgeprägter motorischer Unruhe des Patienten wahrscheinlich besser geeignet als Haloperidol. Zu beachten ist die Erniedrigung der Krampfschwelle, sodass bei gleichzeitiger Krampfneigung die gleichzeitige Gabe von Benzodiazepinen (z. B. Midazolam) indiziert ist. Bei Auftreten von extrapyramidalmotorischen Symptomen (Rigor, Choreoathetosen) ist die Gabe von Biperiden (Akineton) als Antagonist angezeigt. Dosierungsempfehlungen für Neuroleptika 5 Haloperidol: 3- bis 4-mal täglich 5–10 mg 5 DHBP: 5–10 mg Boli
γ-Hydroxybuttersäure (GHB) GHB wird seit einigen Jahren (insbesondere in Italien und Frankreich) mit Erfolg zur Prophylaxe und Therapie des AES eingesetzt. Selbst in oralen, nichthypnotischen Dosierungen konnte GHB die Entzugssymptome bei alkoholkranken Patienten signifikant gegenüber einer Placebogruppe reduzieren. Die Wirkmechanismen von GHB beim AES sind möglicher weise multifaktoriell: Durch Erhöhung der GABA-Aktivität und Aufhebung der Transmitterimbalance zugunsten der Glutaminsäure wirkt die Substanz antikonvulsiv; außerdem können durch Beeinflussung des dopaminergen »Belohnungssystems« Verhaltensmuster zur Unterdrückung des Verlangens nach Alkohol verstärkt werden Auch eine »alkoholeliminierende Wirkung« wird vermutet [8]. In Kombination mit Benzodiazepinen und Clonidin können folgende Dosierungsempfehlungen gegeben werden:
Dosierungsempfehlungen für GHB bei Kombination mit Benzodiazepinen und Clonidin Rund 10 mg/kg KG/h nach einer initialen Kurzinfusion von 30–40 mg/kg KG über 15 min
α2-Agonisten Clonidin hemmt durch Stimulation der D2-Rezeptoren die Freisetzung von Noradrenalin aus dem Locus coeruleus (»Noradrenalinsturm«) und verhindert so die sympathoadrenerge Entgleisung beim AES. Somit wirkt Clonidin durch Senkung des O2-Verbrauchs »organprotektiv«. Clonidin wird jedoch selten als Monosubstanz eingesetzt, sondern entsprechend der klinischen Symptomatik meist mit Benzodiazepinen oder Neuroleptika kombiniert. ! Cave Zu beachten ist, dass ein nicht unerheblicher Anteil von Patienten (etwa 25–30%) auf die Therapie mit Clonidin nicht anspricht (»non-responder«).
Die möglichen Nebenwirkungen wurden bereits erläutert (7 Kap. 23.4.11). Dosierungsempfehlung für Clonidin Kontinuierliche Zufuhr von 0,5–1 (–2) Pg/kg KG/h
Clomethiazol Clomethiazol (Distraneurin), ein Derivat des Thiazolteils des Vitamin B1, ist als einzige Substanz zur Monotherapie des AES geeignet. Durch die vielfältige Beeinflussung der gestörten Transmitterimbalance ist Clomethiazol ein zuverlässiges Medikament in der Therapie des AES mit sedativer, anxiolytischer, antikonvulsiver und vegetativ-stabilisierender Wirkung. Diese Wirkungen (. Tab. 23.3) betreffen folgende Transmittersysteme: 4 Reduktion des dopaminergen Umsatzes, 4 Verstärkung der GABA-Wirkung mit funktionellem Antagonismus der Glutaminsäure, 4 Reduktion der cholinergen Übertragung mit Verminderung der kognitiven Störungen. Trotz des breiten pharmakologischen Profils von Clomethiazol sind einige Nebenwirkungen zu beachten, die seine Anwendung einschränken können. Der Einsatz von Clomethiazol wird kontrovers diskutiert, insbesondere, wenn es sich beim AES um die eigentliche intensivmedizinische Diagnose handelt oder das AES im Rahmen der Grunderkrankung (z. B. Malignome im KopfHals-Bereich, Polytrauma) auftritt. Einigkeit besteht darin, dass Clomethiazol nur unter stationären Bedingungen verabreicht werden sollte. Zu den Nebenwirkungen gehören u. a.: 4 bronchiale Hypersekretion mit möglicher Erschwerung der Physiotherapie des Thorax bzw. der Entwöhnung vom Respirator, 4 Atemdepression, 4 Tachykardie, 4 Suchtpotenzial (»Umsteigen auf Distraneurin«).
322
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
i Clomethiazol steht als parenterale Lösung nicht mehr zur Verfügung.
einer vegetativen Entgleisung kann zusätzlich Clonidin eingesetzt werden.
Opioidentzug Dosierungsempfehlung für Clomethiazol zur oralen Gabe 300–400 mg als Einzeldosis
Carbamazepin Carbamazepin (Tegretal) hemmt wahrscheinlich die cholinerge Übertragung und kann schon im Prädelir die klinische Symptomatik der kognitiven Störungen lindern. Durch Verstärkung der GABA-Aktivität ist weiterhin ein antikonvulsiver Effekt zu erwarten [7].
Symptome des Opioidentzugs können sein: 4 Gähnen, Schwitzen, Schlaflosigkeit, 4 Tränenfluss, Rhinorrhö, 4 Glieder- und Muskelschmerzen, Erbrechen, Agitiertheit, 4 Diarrhö, Koma. Ähnlich wie beim Benzodiazepinentzug wird durch titrierende Gabe eines Opioids (z. B. Piritramid oder Pethidin) über mehrere Tage versucht, die fraglichen Entzugssymptome zu beherrschen. Auch hier wird die Verdachtsdiagnose durch das Ansprechen auf die begonnene Therapie bestätigt oder widerlegt. Neben den Opioidgaben wird auch Clonidin in den bereits beschriebenen Dosierungen als Kosubstanz verwendet.
Dosierung von Carbamazepin 4-mal 200 mg/Tag (therapeutische Plasmakonzentration: 6–10 μg/ml).
Physostigmin Physostigminsalicylat (Anticholium), der einzige reversible Cholinesteraseinhibitor mit Penetration der Blut-Hirn-Schranke, steigert präsynaptisch die Azetylcholinkonzentration und kann somit einer Hemmung der cholinergen Übertragung entgegenwirken. Die Indikation zum Einsatz der Substanz liegt in der komatösen Verlaufsform des AES. Die Indikation zur Delirprophylaxe ist hingegen sehr umstritten. Dosierung von Physostigmin 2 mg (ca. 0,02–0,04 mg/kg KG) als Kurzinfusion über 10 min
23.5.3
Benzodiazepin- und Opioidentzugssyndrom
Da im Rahmen der Langzeitanalgosedierung häufig Benzodiazepine und Opioide in Kombination eingesetzt werden, kann es bei abruptem Absetzen der Substanzen zu Entzugserscheinungen kommen. Klinisch ist oft sehr schwer zu unterscheiden, welche Entzugssymptomatik dominiert [8, 22]. Falls anamnestische und klinische Hinweise darauf hindeuten, dass es sich um einen benzodiazepin- oder opiatabhängigen Patienten handelt, kann sich die Therapie erheblich komplizieren.
Benzodiazepinentzug Der Benzodiazepinentzug kann sich in folgenden Symptomen äußern: 4 Tremor, Reizbarkeit, Fieber, 4 Angst und Schlafstörungen, 4 Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe.
23
Grundsätzlich sollte mit absteigenden Dosierungen eines Benzodiazepins mit geringerer schlafinduzierender Wirkung (Bromazepam, Oxazepam) versucht werden, die Symptomatik zu beherrschen. Letztendlich wird die Diagnose »Benzodiazepinentzug« durch das Ansprechen auf die Therapie bestätigt. In Extremfällen
23.5.4 Zentral-anticholinerges Syndrom (ZAS) Das ZAS stellt im Regelfall die Folge einer komplexen Polypharmakotherapie während der Intensivbehandlung dar und tritt mit einer variablen Inzidenz während der Intensivbehandlung auf. Differenzialdiagnostisch sollte ein ZAS bei Psychosyndromen jeglicher Art immer in Erwägung gezogen werden, zumal eine kausale Therapie möglich ist [4].
Pathophysiologie und klinisches Bild Ähnlich wie beim AES ist die Pathophysiologie des ZAS nicht in allen Einzelheiten geklärt. Wahrscheinlich kommt es durch Blockade zentraler, muskarinartiger Azetylcholinrezeptoren zu einem absoluten bzw. relativen Überwiegen anderer Transmittersysteme (u. a. Dopamin, Serotonin, GABA, Noradrenalin). Eine Vielzahl von Medikamenten, denen lediglich die Fähigkeit der Penetration der Blut-Hirn-Schranke gemeinsam ist, können ein ZAS auslösen, u. a.: 4 Hypnotika wie Barbiturate, Propofol, Etomidat, 4 Benzodiazepine, 4 Opioide, Neuroleptika, Antihistaminika, 4 Lokalanästhetika. Die klinische Symptomatik des ZAS umfasst »zentrale« und »periphere« Symptome.
Zentrales anticholinerges Syndrom (ZAS)* Zentrale Symptome 5 Angst, Unruhe, Erregbarkeit 5 Desorientiertheit, Halluzinationen 5 Somnolenz, Koma 5 Krämpfe Periphere Symptome 5 Tachykardie 5 Trockene Haut, Anhidrosis 5 Verminderte Darmmotilität 5 Sprachschwierigkeiten * Die Diagnose »ZAS« kann gestellt werden, wenn mindestens ein zentrales und zwei periphere Symptome vorliegen.
323 Literatur
Verlaufsformen Das ZAS tritt in 2 verschiedenen Verlaufsformen auf: 4 komatöse Form, oft fehlgedeutet als »Sedierungsüberhang« mit Bradypnoe und zentraler Hyperthermie, 4 agitierte Form mit Desorientiertheit, Angst, Unruhe und Krämpfen. Diese Form ist besonders schwierig zu therapieren, da sich nicht selten ein Dilemma ergibt: Falls die Verdachtsdiagnose eines ZAS nicht frühzeitig gestellt wird und man eine agitierte Symptomatik beispielsweise mit Neuroleptika behandelt, kann die Symptomatik möglicherweise noch weiter verstärkt werden.
Therapie Ebenso wie bei der Therapie des Benzodiazepin- und Opiatentzugsyndroms wird die Diagnose des ZAS durch das Ansprechen auf die kausale Therapie mit dem Cholinesterasehemmer Physostigminsalicylat (Anticholium) bestätigt oder verworfen. Physostigminsalicylat unterscheidet sich von den übrigen bekannten reversiblen Cholinesterasehemmern wie Prostigmin, Pyridostigmin oder Distigmin durch das tertiäre Stickstoffatom, das die Penetration der Blut-Hirn-Schranke ermöglicht. Durch Hemmung der Cholinesterase wird die Konzentration von Acetylcholin am synaptischen Spalt erhöht und damit die Imbalance der Transmittersysteme wiederhergestellt. Die Latenzzeit kann auch bei korrekter Diagnose bis zu 30 min betragen, ggf. ist eine Repetitionsdosis erforderlich. Nebenwirkungen von Physostigmin sind Bradykardie, Steigerung des Bronchialmuskeltonus und der Darmperistaltik. Dosierung von Physostigmin 5 Initial 2 mg (ca. 0,02–0,04 mg/kg KG) i. v. über 5–10 min 5 Bei ausbleibender Besserung nach 20–30 min zusätzlich 1 mg über 5–10 min
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23
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324
Kapitel 23 · Analgesie, Sedierung, Relaxation und Therapie von Psychosyndromen
: In dieser randomisierten Studie wurde nachgewiesen, dass ein stringentes Therapieschema mit einem täglichen Aufwachversuch zu einer deutlichen Verkürzung der Beatmungsdauer und des Intensivaufenthaltes führt, unabhängig vom Einsatz gut steuerbarer Pharmaka. 29. Martin J, Bäsell K, Bürkle H et al. (2005) Analgesie und Sedierung in der Intensivmedizin – Kurzversion. S2-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 46 (Suppl 1) S1–S20 : Die S2-Leitlinen der DGAI fokussieren den aktuellen Stand der Literatur unter Berücksichtigung der in Deutschland bevorzugten Techniken und Pharmaka. Neben der wissenschaftlichen Bewertung enthält die Publikation anschauliche Graphiken. 30. Motsch J, Roggenbach J (2004) Propofol- Infusionssyndrom. Anaesthesist 53: 1009–1022 : Eine aktuelle Übersichtsarbeit über die Pathophysiologie und Klinik des Propofol-Infusionssyndroms mit praktischen Empfehlungen für die Anwendung in der Intensivmedizin.
23
24 Endotracheale Intubation M. Quintel, F. Fiedler
24.1
Ziele und Definition
24.2
Anatomie der oberen Atemwege
24.3
Technische Hilfsmittel
24.3.1 24.3.2 24.3.3 24.3.4 24.3.5 24.3.6 24.3.7
Masken –326 Guedel- und Wendel-Tuben –326 Endotracheale Tuben –327 Laryngoskope und Spatel –327 Führungsstäbe –327 Intubationszangen –327 Weitere Hilfsmittel –328
24.4
Diagnostik des schwierigen Atemwegs
24.5
Durchführung der endotrachealen Intubation
24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6
Lagerung –329 Präoxygenierung –329 Orotracheale Intubation –330 Nasotracheale Intubation –330 Ileuseinleitung –330 Fiberoptische Intubation –330
24.6
Management des schwierigen Atemwegs
24.7
Intubationsschäden Literatur
–332
–326 –326
–326
–332
–328 –329
–331
326
Kapitel 24 · Endotracheale Intubation
24.1
Ziele und Definition
Die endotracheale Intubation stellt den Goldstandard zur Sicherung der Atemwege dar, insbesondere bei kritisch kranken Patienten. Sie kann entweder auf oralem (orotracheale Intubation) oder nasalem Weg (nasotracheale Intubation) erfolgen. Mit der Intubation wird eine mechanische Verlegung der Atemwege zuverlässig verhindert oder beseitigt, gleichzeitig eröffnet sie die Möglichkeit, positive Drücke anzuwenden oder den Patienten an ein Beatmungsgerät anzuschließen. Darüber hinaus erleichtert sie die Bronchialtoilette und erlaubt die Durchführung diagnostischer und therapeutischer Bronchoskopien sowie die endotracheale Applikation von Medikamenten. 24.2
Anatomie der oberen Atemwege
. Abb. 24.2. Gesichtsmasken unterschiedlicher Größe und Bauart
Das Röhrensystem der oberen und unteren Luftwege gewährleistet bei Ein- und Ausatmung den Gasfluss von der Körperoberfläche bis in die terminalen Aufzweigungen des Tracheobronchialsystems. Der eigentliche Gasaustausch findet in den sich anschließenden Alveolen statt. Das Atemgas wird insbesondere in den oberen Luftwegen gefiltert, erwärmt und angefeuchtet. Im Bereich der oberen Atemwege gibt es 2 parallele Luftwege, die für die endotracheale Intubation von Bedeutung sind. Zum einen führt der Weg in die Trachea über die Nase, den Naso-, den Oropharynx und den Larynx und zum anderen über den Mund, den Oropharynx und den Larynx (. Abb. 24.1). 24.3
Technische Hilfsmittel
Zur Vorbereitung und Durchführung einer Intubation sind eine Reihe von Gegenständen und Hilfsmitteln erforderlich oder nützlich, die im Folgenden beschrieben werden.
. Abb. 24.3. Guedel- (rechte Bildhälfte) und Wendel-Tuben (linke Bildhälfte) unterschiedlicher Größe und Bauart
24.3.1 Masken Gesichtsmasken, die Mund und Nase umschließen, werden über ein Nichtrückatemventil entweder in Kombination mit einem selbstfüllenden Beatmungsbeutel mit Reservoir und Sauerstoffanschluss oder aber mit einem Beatmungsgerät zur Maskenbeatmung verwendet. . Abb. 24.2 zeigt einige Beispiele für verschiedene Gesichtsmasken. Die Auswahl orientiert sich an den individuellen anatomischen Verhältnissen des Patienten.
24.3.2 Guedel- und Wendel-Tuben Bei erschwerter Maskenbeatmung kann die Anwendung eines oropharyngealen Tubus (Guedel-Tubus; [15]) oder eines nasopharyngealen Tubus (Wendel-Tubus) hilfreich sein (. Abb. 24.3). Die passende Größe lässt sich annäherungsweise durch die Strecke vom Mundwinkel (Guedel-Tubus) bzw. Naseneingang (Wendel-Tubus) bis zum Ohrläppchen bestimmen [22].
24
. Abb. 24.1. Schematische Darstellung der oberen Luftwege. (Mit frdl. Genehmigung von Dr. J. Maurer, HNO-Klinik, Mannheim)
! Cave Die korrekte Größe der Tuben ist von Bedeutung, da bei zu kurzem Tubus die Atemwege nicht ausreichend freigehalten werden; ein zu großer oro- oder nasopharyngealer Tubus kann durch Luxation der Epiglottis den Larynx verschließen [8].
327 24.3 · Technische Hilfsmittel
24
24.3.3 Endotracheale Tuben Endotracheale Tuben dienen der Freihaltung der Atemwege. Das Tubusmaterial – meist PVC, seltener Silikon und Polyurethan – ist durch internationale Standards festgelegt. Neben Standardtuben mit und ohne Cuff finden bei der oro- bzw. nasotrachealen Intubation Spezialtuben – wie Spiral-, Doppellumen- oder Lasertuben – Anwendung (. Abb. 24.4). 24.3.4 Laryngoskope und Spatel
. Abb. 24.4. Verschiedene endotracheale Tuben. Doppellumentubi zur seitengetrennten Beatmung im oberen Bildteil; unterschiedliche Endotrachealtubi (mit und ohne Cuff ) im unteren Bildteil
Laryngoskope und die zugehörigen auswechselbaren Spatel mit verschiedener Form und Größe (. Abb. 24.5) sind ein unabdingbares Werkzeug zur direkten Darstellung des Kehlkopfeingangs und der Stimmritze. In einer experimentellen Untersuchung konnte kein Vorteil spezieller Spatel wie z. B. des McCoy-Spatels bei der schwierigen Intubation nachgewiesen werden [32]. 24.3.5 Führungsstäbe Biegsame Führungsstäbe stabilisieren den Endotrachealtubus und erleichtern die Intubation. Sie finden insbesondere bei der Ileuseinleitung, der schwierigen Intubation und zur Stabilisierung von Spiraltuben Anwendung (. Abb. 24.6). Durch unsachgemäße Anwendung (z. B. Führungsstab reicht über die Tubusspitze hinaus) können erhebliche Verletzungen der oberen Lufwege verursacht werden. 24.3.6 Intubationszangen Tubusfasszangen (z. B. Magill-Zange; . Abb. 24.6) werden i. Allg. bei der nasotrachealen Intubation verwendet, da sich der Tubus in dieser Situation häufig nur unzureichend manuell steuern lässt.
. Abb. 24.5. Laryngoskop mit verschiedenen Spateln (Foregger-Spatel im oberen Bildteil; 2 Mcintosh-Spatel im unteren Bildteil
. Abb. 24.6. Verschiede Hilfsmittel zur Durchführung der Intubation (linke Bildhälfte: Magill-Zange; Bildmitte: Führungsstab; rechte Bildhälfte; Führungsstab zur Stabilisierung eines Spiraltubus nach Woodbridge)
. Abb. 24.7. Linker Bildteil: Intubationslarynxmaske mit liegendem Tubus (Fastrach). Rechter Bildteil: Larynxmaske
328
Kapitel 24 · Endotracheale Intubation
. Abb. 24.8. Oberer Bildteil: Larynxmaske mit Drainagekanal (LMA ProSeal). Unterer Bildteil: Larynxtubus (VBM LT)
. Abb. 24.10. Intubationsfiberskop nach Bonfils
24.4
Diagnostik des schwierigen Atemwegs
Der »schwierige Atemweg« ist gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit einer suffizienten Maskenbeatmung und die fehlende Möglichkeit zur direkten Laryngoskopie und endotrachealen Intubation [22]. Die Inzidenz dieser lebensbedrohlichen Situation wird in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben. Die publizierten Zahlenangaben schwanken zwischen 0,05% (2230 : 1) und 4,5% [22].
. Abb. 24.9. McCoy-Laryngoskop; linker unterer Bildteil: mit abgewinkelter Spitze
Mit ihrer Hilfe kann das Tubusende direkt in den Kehlkopfeingang gelenkt werden. 24.3.7 Weitere Hilfsmittel
24
Zur Bewältigung des schwierigen Atemweges wurde eine große Anzahl an Hilfsmitteln entwickelt. Neben der Standardlarynxmaske und der Intubationslarynxmaske (. Abb. 24.7), über die blind oder ggf. fiberoptisch ein Tubus endotracheal platziert werden kann, entstanden verschiedene Tubuseinführhilfen, wie der Schröder-Mandrin und das Chenowth-Stylet. Mit dem Larynxtubus (. Abb. 24.8) oder dem Kombitubus stehen alternative Tubusformen für das Management des schwierigen Atemwegs zur Verfügung. Technisch aufwändigere Intubationshilfen – wie das Trachlite, das Bullard-Laryngoskop, das McCoy-Laryngoskop (. Abb. 24.9), das retromolare Intubationsfiberskop nach Bonfils (. Abb. 24.10), die Laryngoskopmodifikation nach Bumm und das Intubationstracheoskop – vervollständigen die Palette an Werkzeugen zur Bewältigung einer schwierigen Intubation [22].
Bei bestimmten Vorerkrankungen – wie z. B. Adipositas, Arthrose der Halswirbelsäule, M. Bechterew, Diabetes mellitus, kraniofazialen Missbildungssyndromen (z. B. Pierre-Robin-Syndrom) und dem Schlafapnoesyndrom – treten Intubationsschwierigkeiten gehäuft auf. Auch bei Patienten, die sich hals-nasen-ohrenärztlichen oder kieferchirurgischen Eingriffen unterziehen müssen, bei Patientinnen in der Geburtshilfe und unter Notfallbedingungen treten vermehrt Intubationsschwierigkeiten auf.
Einzelne Untersuchungsverfahren, die eine zuverlässige Vorhersagbarkeit des schwierigen Atemwegs ermöglichen, sind nicht etabliert, sodass in der klinischen Praxis möglichst viele Parameter aus der Anamneseerhebung und der klinischen Untersuchung bewertet und bei der Einschätzung möglicher Intubationsschwierigkeiten abgewogen werden müssen. Eine einfache, klinisch praktikable Untersuchungsmethode ist der Mallampati-Test (. Abb. 24.11), bei dem der Patient aufgefordert wird, im Sitzen bei neutraler Kopfstellung den Mund maximal zu öffnen und die Zunge ohne Phonation möglichst weit herauszustrecken. Die Sichtbarkeit oropharyngealer Strukturen wird dabei in die Klassen I–IV eingeteilt, wobei das Risiko für eine schwierige Intubation mit steigender Klasse zunimmt [23]. Daneben liefern die Messung des thyromentalen Abstands (Test nach Patil [28]) und der maximalen Mundöffnung, die Überprüfung der Unterkiefer- und Halswirbelsäulenbeweglichkeit sowie die spezielle Prüfung der Beweglichkeit im Atlantookzipitalgelenk wertvolle, klinisch einfach zu erhebende Hinweise zur Einschätzung möglicher Intubationsschwierigkeiten. Weiterführende Untersuchungen [22] – wie die Erhebung komplexer
329 24.5 · Durchführung der endotrachealen Intubation
24
. Abb. 24.11. Mallampati-Klassifikation
Risikoscores [26], z. B. des Multifaktor-Risiko-Index nach Arné et al. [4], oder der Einsatz bildgebender Verfahren zur Risikoeinschätzung – bleiben speziellen Fragestellungen vorbehalten. 24.5
Durchführung der endotrachealen Intubation
24.5.1 Lagerung Es wird allgemein empfohlen, den Patient so zu lagern, dass eine direkte Laryngoskopie durch die Position der Schulter-HalsKopf-Achse erleichtert wird [22]. Hierzu soll der Kopf, z. B. durch ein Kissen im Hinterkopfbereich, leicht angehoben und im Atlantookzipitalgelenk nach dorsal flektiert werden (»Schnüffelposition«). Neuere kernspintomographische Untersuchungen an gesunden Probanden belegen, dass die Annäherung der anatomischen Achsen durch dieses Manöver nicht erreicht wird [2]. In einer großen klinischen Untersuchung konnten Adnet et al. [1] keinen Vorteil bei der Intubation durch die »Schnüffelposition« gegenüber der einfachen Überstreckung im Atlantookzipitalgelenk erreichen. Lediglich bei adipösen Patienten und bei Personen mit eingeschränkter Halswirbelsäulenbeweglichkeit erbrachte die Lagerung in »Schnüffelposition« messbar bessere Intubationsbedingungen.
24.5.2 Präoxygenierung Eine Präoxygenierung mit einem FIO2 von 1,0 vor Einleitung der Narkose wird allgemein empfohlen. Die Denitrogenisierung des funktionellen Residualkapazitätsvolumens und dessen Anreicherung mit Sauerstoff können die Toleranz gegenüber einer verlängerten Apnoezeit verbessern. Kritisch kranke Patienten mit respiratorischer Insuffizienz haben jedoch eine deutlich reduzier-
te Apnoetoleranz, die sich auch durch mehrminütige Präoxygenierung mit 100% Sauerstoff nur marginal verbessern lässt [25]. ! Cave Kritisch Kranke haben eindeutlich erhöhtes Hypoxierisiko im Rahmen von Intubationen.
Edmark et al. [12] konnten zeigen, dass eine Präoxygenierung mit 100% Sauerstoff im Vergleich zu 80% und 60% eine signifikante Steigerung der Atelektasenbildung in den basalen Lungenabschnitten induzieren kann. Da die klinische Wertigkeit dieser Befunde, insbesondere für die postoperative Lungenfunktion, derzeit noch nicht abzuschätzen ist und in dieser Untersuchung die Apnoezeittoleranz nach 60% und 80% im Vergleich zu 100% Sauerstoff in klinisch relevantem Ausmaß reduziert war, empfehlen die Autoren weiterhin, v. a. bei Patienten mit möglichem schwierigen Atemweg, die Präoxygenierung mit einem FIO2 von 1,0 (. Abb. 24.12). ! Cave Die Applikation von reinem Sauerstoff ist nicht unproblematisch, da es – wohl auf dem Boden von Resorption – zur Ausbildung von Atelektasen kommen kann
Die Effektivität der Präoxygenierung hängt sowohl vom technischen Equipment als auch von der Art der Atmung ab. Bei pulmonal gesunden Patienten dauert es unter normaler Spontanatmung etwa 2,5 min, bis der endtidale Sauerstoffgehalt auf etwa 90% ansteigt [27]. Bei forcierter Inspiration wird eine vollständige Denitrogenisierung bereits nach 8 Atemzügen innerhalb von 1 min erreicht [7]. Auch die technischen Systeme, mit denen die Präoxygenierung durchgeführt wird, haben einen entscheidenden Einfluss auf die Effektivität. Während die Sauerstoffapplikation mittels Kreisteil oder mittels spezieller Systeme (NasOral) zu einem Anstieg der endtidalen Sauerstoffkonzentration auf etwa 90% führt, war in der Untersuchung von Nimmagadda et al. [27] die Effektivität verschiedener Beatmungsbeutel unterschiedlich hoch. Lediglich Beatmungsbeutel, bei denen durch Scheibenventile oder Ausatemventile ein gerichteter Gasfluss erzeugt wurde, zeigten eine vergleichbare Effektivität. Da speziell in der Intensiv- und Notfallmedizin die Präoxygenierung mit Hilfe von Beat. Abb. 24.12. Linke Bildseite: Atelektasengröße nach Narkoseinduktion in Abhängigkeit von der zur Präoxygenierung verwendeten Sauerstoffkonzentration.Rechte Bildseite: Zeitdauer der Apnoe bis zu einer O2-Sättigung von 90% in Abhängigkeit von der zur Präoxygenierung verwendeten O2-Konzentration. (Nach [12])
330
Kapitel 24 · Endotracheale Intubation
24.5.5 Ileuseinleitung Unter dem Begriff »Ileuseinleitung« (Crush-Einleitung, »rapid sequence induction«) werden Vorgehensweisen verstanden, die bei der Intubation aspirationsgefährdeter Patienten angewandt werden. Im Allgemeinen wird der Patient dazu mit erhöhtem Oberkörper gelagert und ausreichend präoxygeniert. Im Anschluss werden ein Anästhetikum und ein Muskelrelaxans in rascher Folge injiziert. Sobald der Patient das Bewusstsein verloren hat, führt eine Hilfsperson den Krikoiddruck nach Sellink aus. Der Krikoiddruck stellt zwar keinen nachgewiesenen Schutz vor Aspiration dar [9], wird aber als Vorsichtsmaßnahme regelhaft empfohlen. Sobald der Patient ausreichend relaxiert ist, wird ohne Zwischenbeatmung eine orotracheale Intubation durchgeführt.
. Abb. 24.13. Einteilung der Laryngoskopie nach Cormack
24.5.6 Fiberoptische Intubation
mungsbeuteln durchgeführt wird, sind diese Unterschiede durchaus von praktischer Bedeutung.
Die fiberoptische Intubation ist das Verfahren der Wahl bei Patienten mit bekanntem schwierigem Atemweg (. Abb. 24.14). Vor dem Einführen des Bronchoskops wird der Tubus auf das Gerät aufgefädelt und am Kontrollteil fixiert. In aller Regel wird die Intubation am wachen, spontanatmenden Patienten nach ausreichender topischer Anästhesie, z. B. mit Lidocain, auf nasotrachealem Weg durchgeführt. Nach der Passage der Stimmbänder mit dem Bronchoskop kann die Narkose eingeleitet werden; der Tubus wird danach über das liegende Bronchoskop als Leitschiene in die Trachea vorgeschoben und nach optischer Lagekontrolle fixiert. Hauptschwierigkeiten bei der fiberoptischen Intubation sind: 4 das Auffinden der Glottis und die Intubation der Trachea mit dem Bronchoskop und 4 das Vorschieben des Tubus über das liegende Bronchoskop in die Trachea [5].
24.5.3 Orotracheale Intubation Nach Öffnen des Mundes wird das Laryngoskop im rechten Mundwinkel eingeführt und unter Sicht auf die Epiglottis vorgeschoben. Die Zunge wird dabei nach links verdrängt. Bei Verwendung eines gebogenen Spatels ist dessen Spitze zwischen Zungengrund und Epiglottis in die Vallecula epiglottica zu platzieren. Durch Zug in Richtung Mundboden wird die Epiglottis aufgerichtet und damit die direkte Laryngoskopie ermöglicht. i Die Einstellung der Glottis kann durch Manipulation am Krikoid optimiert werden (z. B. »backwards upwards rightwards pressure«; BURP [21]).
Bei Verwendung eines geraden Intubationsspatels wird die Epiglottis direkt aufgeladen und mit angehoben. Abhängig von den anatomischen Verhältnissen wird die Glottis sichtbar (Einteilung nach Cormack [11]; . Abb. 24.13), und der orotracheale Tubus wird unter direkter Sicht durch die Stimmritze in die Trachea eingeführt. Die korrekte Lage des Tubus ist unmittelbar nach Platzierung mittels Auskultation im Epigastrium und über den Lungen zu überprüfen. Dabei ist zumindest bei Kindern eine mehretagige Auskultation in der Axillarlinie dringend zu empfehlen. Die Kapnometrie ergänzt die Auskulation und sollte zumindest bei unsicherem Befund in jedem Fall additiv zur Sicherung einer korrekten Tubuslage angewandt werden.
Indikationen zur fiberoptischen Indikation (nach [20]) 5 Schwierige Intubation 5 Intubation beim wachen Patienten bei – nicht möglicher Maskenbeatmung – Aspirationsgefahr – extremer Position 5 Überstrecken der Halswirbelsäule kontraindiziert 6
24.5.4 Nasotracheale Intubation
24
Nach Vorbehandlung der Nase mit abschwellenden Nasentropfen und Vorbereitung des Tubus mit einem Gleitmittel wird dieser in den unteren Nasengang eingeführt und vorsichtig bis in den Pharynx vorgeschoben. Ein vorsichtiges Sondieren mit dem handschuharmierten und mit Gleitmittel versehenen kleinen Finger erleichtert oft die Wahl der »günstigeren« Nasenöffnung. Anschließend wird der Tubus unter laryngoskopischer Sicht in die Glottis eingeführt. Häufig muss dazu die Tubusspitze mit einer Magill-Zange geführt werden.
. Abb. 24.14. Verschiedene Materialien zur fiberoptischen Intubation
331 24.6 · Management des schwierigen Atemwegs
24
5 Kontraindikation für die Gabe von Anästhetika und Muskelrelaxanzien 5 Endoskopische Untersuchung vor der Intubation 5 Platzierung und Lagekontrolle des endotrachealen Tubus 5 Verhütung von Intubationsschäden 5 Ausbildung in der Technik
Verschiedene Hilfsmittel – wie z. B. der Mainzer Universaladapter, Endoskopiemasken oder spezielle Guedel-Tuben – können die fiberoptische Intubation von Patienten in Allgemeinanästhesie unterstützen. Im klinischen Alltag hat sich bei Patienten in Allgemeinanästhesie oder bei unerwartet schwierigem Atemweg die fiberoptische Intubation über eine liegende Larynxmaske bzw. Intubationslarynxmaske bewährt (. Abb. 24.15). 24.6
Management des schwierigen Atemwegs
Die »American Society of Anesthesiologists« (ASA) hat im Jahr 1993 und 2003 Richtlinien [3] zum Vorgehen bei schwierigem
. Abb. 24.15. Fiberoptische Intubation durch eine Intubationslarynxmaske (Fastrach)
Atemweg veröffentlicht (. Abb. 24.16). Dieser Algorithmus besitzt jedoch keine Allgemeingültigkeit, vielmehr muss er den jeweiligen klinikinternen Gegebenheiten und Besonderheiten angepasst werden.
. Abb. 24.16. Algorithmus »schwieriger Atemweg« in Anlehnung an den Task-forceAlgorithmus »difficult airway« der ASA (American Society of Anesthesiologists). [Nach 20]
332
Kapitel 24 · Endotracheale Intubation
24.7
Intubationsschäden
Insbesondere bei Notfall- und kritisch kranken Patienten ist die Intubation mit besonderen Risiken verbunden [30]. Das Spektrum möglicher Nebenwirkungen und Verletzungen im Rahmen der endotrachealen Intubation reicht von unkomplizierten Verletzungen der Lippen bzw. der Mundschleimhaut bis zu perforierenden Traumen des Oro- und Nasopharynx, der Trachea und des Ösophagus mit hoher Letalität [29]. Zahnschäden stellen mit rund der Hälfte der dokumentierten Verletzungen die häufigsten Narkoseschäden dar. Angaben zur Inzidenz dieser Verletzungen schwanken erheblich. Klinisch relevante Zahnschäden, die eine zahnärztliche Behandlung erfordern, treten mit einer Häufigkeit von 4500 : 1 auf [34], wobei vorbestehende Erkrankungen des Kauapparats das Risiko für Verletzungen deutlich erhöhen [13]. Kiefergelenkbeschwerden, Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und Halsschmerzen treten ebenfalls in einem hohen Prozentsatz auf [29]. Verletzungen des Larynx, wie Hämatome oder Stimmplippengranulome, werden auch nach unauffälliger endotrachealer Intubation und kurzer Intubationsdauer in bis zu 6% der Fälle gefunden [19]. Nach neueren Untersuchungen mit computertomographischen Methoden finden sich geringfügige Schädigungen des Larynx – wie Einrisse, Narben und kleinere Laryngozelen – bei 86% aller Patienten, die 6 Monate zuvor für <8 h elektiv endotracheal intubiert waren, und nach nahezu 100% der Notfallintubationen [6].
Mit einer Inzidenz von bis zu 16% stellt der Postextubationsstridor – ein relevantes Problem bei kritisch Kranken – dar. Mit einem einfachen Test des »Cufflecks« können gefährdete Patienten identifiziert werden [17]. Bei diesen Patienten sollte eine prophylaktische Gabe von Methylprednisolon (z. B. 40 mg i.v. 24 h vor Extubation) erwogen werden [10]. Persistierende Heiserkeit nach einer Intubationsnarkose kann auf einer Funktionsstörung im Krikoarytaenoidgelenk oder einer Schädigung des N. recurrens beruhen. Schädigungen der Trachea sind überwiegend auf druckbedingte Perfusionsstörungen und Ischämien der Trachealmukosa zurückzuführen, in deren Folge in einem hohen Prozentsatz Stenosierungen auftreten können, insbesondere nach Langzeitintubation [29]. Als wichtigste Ursache für diese Schädigungen wird ein inadäquat hoher Cuffdruck angeschuldigt [33]. i Perforierende Verletzungen der Trachea [14], des Hypopharynx [35] oder des Ösophagus [18] stellen die schwerwiegendsten Komplikationen dar.
24
Die spezifischen Komplikationen der nasotrachealen Intubation sind Nasenbluten, das traumatischen Abscheren von Nasenmuscheln, Polypen oder Adenoiden sowie die Perforation der Rachenhinterwand. Eine intrakranielle Fehllage des Tubus ist in Einzelfällen beschrieben worden [24]. Für die Langzeitbeatmung wird die nasotracheale Intubation derzeit nicht mehr empfohlen, da Abszessbildungen im Bereich des Nasenseptums und parapharyngeal, ebenso wie – mit der Dauer der nasotrachealen Intubation in zunehmender Häufigkeit auftretende – Sinusitiden eine relevante Sepsisquelle darstellen können [31]. Wenngleich derzeit nicht belegt, scheint ein Zusammenhang zwischen dem Auftre-
ten von Sinusitiden und nachfolgender nosokomialer Pneumonie mit gleichem Erregerspektrum zumindest möglich [16].
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333 Literatur
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24
25 Perkutane Tracheotomie H.-W. Bause, A. Prause
25.1
Einleitung
25.2
Zeitpunkt der Tracheotomie
25.3
Indikation
25.4
Kontraindikationen der perkutanen Dilatationstracheotomie
25.5
Technik
25.5.1 25.5.2 25.5.3 25.5.4 25.5.5 25.5.6 25.5.7 25.5.8
Identifikation der Trachea –337 Punktionsort –338 Beatmung –338 Kanülenwechsel –338 Perkutane Dilatationstracheotomie nach Ciaglia –338 Technik nach Griggs –339 Translaryngeale Tracheotomie nach Fantoni –340 Perkutane Tracheotomie nach Frova –342
25.6
Komplikationen
25.6.1 25.6.2
Akzidentelle Verletzungen –342 Trachealstenosen –343
Literatur
–336 –336
–337
–337
–343
–342
–337
25
336
Kapitel 25 · Perkutane Tracheotomie
25.1
Einleitung
waren mit zahlreichen und z. T. tödlichen Komplikationen behaftet, sodass diese Technik keine weitere Verbreitung gefunden hat.
Innerhalb der Intensivtherapie sind nur wenige therapeutische Konzepte in den letzten 40 Jahren so kontrovers diskutiert worden wie die Tracheotomie. i Ziele jeder rechtzeitig innerhalb der Langzeitbeatmung durchgeführten Tracheotomie sind die Vermeidung von Kehlkopf- und Stimmbandschäden, die schnellere Entwöhnung vom Respirator sowie die bessere Pflege des Patienten.
Neben der klassischen plastischen Tracheostomie stehen seit 20 Jahren verschiedene Verfahren der perkutanen Tracheotomie zur Verfügung. Sie gehen auf Beschreibungen von Ciaglia, Griggs, Fantoni und zuletzt Frova zurück. Die Attraktivität der Methode liegt in ihrer einfachen Technik und darin, sie bettseitig durchführen zu können. In Deutschland liegt die Anzahl der als Dilatation durchgeführten Tracheotomien bereits bei über 20.000 jährlich [23]. Die niedrige perioperative Komplikationsrate der perkutanen Dilatationstracheotomie (PDT) konnte in mehreren Untersuchungen belegt werden. Bereits vor über 40 Jahren wurde von Sheldon und Mitarbeitern eine perkutane Tracheotomie beschrieben, die zur Identifikation der Trachea eine Spezialnadel erforderte und bei der die Trachealkanüle über einen schneidenden Trokar eingeführt wurde. Toye u. Weinstein beschrieben 1969 eine ähnliche Technik und benutzten zur Identifikation der Trachea eine spaltbare Nadel. Die eigentliche Trachealkanüle, in die ein Dilatator eingeführt war, wurde in einem Schritt in die Trachea eingesetzt. Von besonderer Bedeutung sind die Arbeiten von Ciaglia [4], die den perkutanen Tracheotomietechniken zur Akzeptanz verhalfen. Die Unterschiede der bis heute beschriebenen Verfahren liegen sowohl in differenter Technik zur Identifikation der Trachea als auch in der unterschiedlichen Dissektion des prätrachealen Gewebes und der Trachea. Hierbei werden sowohl verschiedene progressive Dilatationstechniken (Ciaglia-Technik) als auch die einmalige Dilatation mit der Zange (Griggs-Technik) und das Aufdrehen mit einer »Schraube« oder einem schneidenden Trokar angewandt (. Tab. 25.1). Nicht alle neuentwickelten Dilatationstechniken waren jedoch komplikationsfrei. So wurde 1992 die RapiTrac-Technik vorgestellt, ein kombiniertes Verfahren aus Seldinger-Technik und einer sich spreizenden und schneidenden Zange. Die scharfe Spitze des Instruments und der Umstand, dass diese Zange während des Einführens der Trachealkanüle in der Trachea verbleiben muss,
Nomenklatur. Im angelsächsischen Sprachraum werden die Verfahren als »percutaneous tracheostomy« bezeichnet, obwohl kein Stoma angelegt wird. Um sprachlich korrekt zu sein, sollte deshalb der Bezeichnung« perkutane Tracheotomie« der Vorzug gegeben werden.
25.2
Zeitpunkt der Tracheotomie
Momentan kann man nicht festlegen, wann der translaryngeal intubierte Patient tracheotomiert werden soll. Es gibt theoretische Argumente jeweils für eine frühe und eine späte Tracheotomie. Die leichte Durchführbarkeit und die exzellenten Resultate der PDT erlauben die Tracheotomie zu einem früheren Zeitpunkt, dennoch werden prospektive randomisierte Studien benötigt, um Klarheit über den besten Zeitpunkt der Tracheotomie zu finden.
In der 1989 veröffentlichten Stellungnahme (»Consensus Conference on Artificial Airways in Patients Receiving Mechanical Ventilation«) von Direktoren amerikanischer Intensivstationen wird bei einer Beatmungsdauer von <10 Tagen die translaryngeale Intubation empfohlen [15].
Wenn die Beatmungsdauer voraussichtlich >21 Tage betragen wird, soll frühzeitig (bis zum 7. Tag) tracheotomiert werden. Für den Zeitraum zwischen dem 10. und 21. Tag existieren momentan keine Empfehlungen. Letztlich geht es darum, Patienten zu identifizieren, die eine gute Überlebenschance haben und länger als 3 Wochen beatmet werden müssen. Zu dieser Gruppe von Patienten gehören natürlich auch solche mit Schädel-Hirn-Trauma und anderen neurologische Erkrankungen. Auch wenn solche Patienten per se keine Beatmung benötigen, sind sie auf einen sicheren Atemweg angewiesen. Durch mehrere Arbeiten konnte gesichert werden, dass sich durch eine frühzeitige Tracheotomie (innerhalb von 8 Tagen) die Intensivbehandlungszeit verkürzen lässt und dies sogar zu einer Reduktion der Inzidenz nosokomialer Pneumonie führen kann [10, 16]. Die frühzeitige Tracheotomie verbessert somit den Komfort des Patienten, sichert den Atemweg, verbessert die endotracheale Absaugung, erleichtert das Weaning vom Beatmungsge-
. Tabelle 25.1. Methoden der Tracheotomie. (Mod. nach [15]) Methode
Jahr
Prinzip
Punktionstracheotomie (Ciaglia)
1985
Punktion der Trachea, Aufdehnung des Punktionskanals mit abgestuften Dilatatoren
Dilatationstracheotomie (Griggs)
1990
Punktion der Trachea, Aufspreizen des prätrachealen Gewebes mit einer modifizierten Howard-Kelly-Zange
Translaryngeale Tracheotomie (Fantoni)
1997
Punktion der Trachea, Aufdehnung der Trachea und des prätrachealen Gewebes durch retrograden Durchzug der Trachealkanüle
Punktionstracheotomie »Blue Rhino« (Ciaglia)
2000
Punktion der Trachea, Aufdehnung des Punktionskanals mit einem Dilatator
Punktionstracheotomie (Frova)
2001
Punktion der Trachea, Aufdehnung des Punktionskanals mit einer Dilatationsschraube
337 25.5 · Technik
rät, verkürzt den Aufenthalt auf der Intensivstation und schont damit die Ressourcen. 25.3
Indikation
i Tracheotomien sind elektive Eingriffe zur Erleichterung der Langzeitbeatmung bei Patienten, die einen gesicherten Atemweg haben. Die Indikation zur sekundären perkutanen Tracheotomie ist immer relativ.
Im Vergleich zum plastischen epithelialisierten Tracheostoma erfordert die PDT keinen sekundären Eingriff zum Verschluss des Tracheostomas. Die PDT ist immer dann indiziert, wenn für eine begrenzte Zeit ein Tracheostoma benötigt wird. Ist eine permanente Tracheotomie aus anderen als intensivmedizinischen Gründen indiziert, sollte ein epithelialisiertes Tracheostoma angelegt werden. 25.4
Kontraindikationen der perkutanen Dilatationstracheotomie
Generell ist zwischen absoluten und relativen Kontraindikationen zu unterscheiden. In der Notfallmedizin hat die Dilatationstracheotomie keinen Platz. Hier sind die endotracheale Intubation und in seltenen Fällen die Koniotomie die bewährten Maßnahmen zur Sicherung des Atemwegs. Nach Sicherung des Atemwegs sollte dann eine Tracheotomie erfolgen, die bei erforderlicher endgültiger Tracheostomaanlage vorteilhafter als plastische Tracheotomie mit mukokutaner Anastomosierung durchgeführt wird. Absolute Kontraindikationen der perkutanen Dilatationstracheotomie (PDT) 5 Notfälle 5 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (wegen der hohen Elastizität der Trachea, des geringen Abstands zwischen Trachealvorderwand und Pars membranacea und der noch geringen Er fahrung) 5 Nicht korrigierbare Gerinnungsstörung 5 Instabile Halswirbelfrakturen 5 Vorbestehende Trachealeinengung mit Tracheomalazie 5 Schwerste Gasaustauschstörung/ARDS (»adult respiratory distress syndrome«) 5 Frische Trachealnaht 5 Seitengetrennte Beatmung (Doppellumentubus ist nicht platzierbar)
Relative Kontraindikationen der perkutanen Dilatationstracheotomie (PDT) 5 Frische Bronchusnaht 5 Vorbestehende Tracheomalazie 5 Endgültiges Stoma Frische Sternotomien, Aids sowie Adipositas stellen keine Kontraindikationen dar [6, 8, 11].
25.5
25
Technik
Die verschiedenen perkutanen Verfahren unterscheiden sich in den Methoden der Schaffung eines Zugangs zur Trachea. Hierzu müssen die Gewebeschichten zwischen der Haut und der ventralen Trachealwand durchtrennt werden. Dies betrifft insbesondere die Kutis und Subkutis mit Platysma und die mediane Faszie der geraden Halsmuskulatur. In der tieferen Schicht verlaufen subkutane Nerven und Venen. Größere Venen findet man in der Medianlinie sowie am vorderen und hinteren Rand des M. sternocleidomastoideus. ! Cave Von besonderer Bedeutung für Blutungskomplikationen ist der Verlauf des Truncus brachiocephalicus, der ventral und rechtslateral der Trachea verläuft. Bei Tracheomalazie kann es hier zu gravierenden Arrosionsblutungen kommen [20].
Das Prinzip der Seldinger-Technik wurde von Ciaglia für die perkutane Technik der Tracheotomie modifiziert [4]. Der Eingriff kann problemlos auf der Intensivstation unter totaler i. v.-Anästhesie und Beatmung mit einer FIO2 von 1,0 durchgeführt werden; ein Transport in den Operationssaal ist nicht erforderlich. Die Verfügbarkeit kommerzieller »Sets« führte dazu, dass 1997 in Deutschland bereits über 44% der anästhesiologischen Intensivstationen Erfahrungen mit der perkutanen Tracheotomie hatten [2]. ! Cave Voraussetzung: Um eine PDT sicher durchführen zu können, muss die Trachea eindeutig zu tasten und zu identifizieren sein. Nur dann darf eine PDT durchgeführt werden! Technik. Die horizontale Schnittführung ergibt in der Regel ausgezeichnete kosmetische Ergebnisse und vermeidet eine akzidentelle Verletzung des Krikoids. Dagegen ist bei der von manchen Autoren bevorzugten vertikalen Inzision die Verletzung von großen, paramedianen subkutanen Venen weniger wahrscheinlich. Der Patient wird mit überstrecktem Kopf gelagert (Cave: Schädel-Hirn-Trauma mit erhöhtem intrakraniellem Druck!). Der translaryngeale Tubus wird, ggf. unter direkter laryngoskopischer Kontrolle, bis in den Larynx zurückgezogen. Nach üblicher Hautdesinfektion wird steril abgedeckt.
25.5.1 Identifikation der Trachea Marelli [12] empfahl bereits 1990 die bronchoskopische Steuerung der Trachealpunktion, der sich 1996 auch Marx et al. [13] anschlossen. Sie gilt heute als unverzichtbar, wobei die videoskopische Führung die Prozedur noch sicherer macht. Die Kombination von Bronchoskopie und stumpfer Präparation des Gewebes bis nahe an die Trachea mit der progressiven Dilatation des Tracheostomas ist ein besonders schonendes und sicheres Verfahren. Die Trachea kann eindeutig identifiziert werden; damit ist das Risiko einer paratrachealen Fehlpunktion gering. Die Punktionstiefe beträgt nur 1–2 cm, dadurch ist die Gefahr einer zu tiefen Punktion mit Verletzung der Pars membranacea minimal. Die Palpation der Trachea ermöglicht in der Regel eine Identifikation der Knorpelspangen. So kann sicher zwischen den Knorpeln punktiert werden, die dann bei der Dilatation auseinanderweichen, aber in sich unverletzt bleiben. Bei unkontrollier-
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Kapitel 25 · Perkutane Tracheotomie
ter Punktion kann es zur Verletzung einer Knorpelspange kommen, die unter dem Dilatationsvorgang wie bei konventioneller Tracheotomie im anterioren Bereich durchtrennt wird und damit ihre Stabilität verliert. Hierdurch sind allerdings keine besonderen Komplikationen zu erwarten. 25.5.2 Punktionsort Ciaglia beschrieb zunächst die Punktion zwischen Krikoid und 1. Trachealknorpel, wodurch das Krikoid verletzt werden kann [4]. Andere Autoren punktieren zwischen dem 2. und 3. Trachealknorpel [1, 3, 19]. Es wird so in der Regel eine Punktion des translaryngealen Tubus oder seines Cuffs verhindert. Wird der Cuff dennoch zerstört, so muss durch Steigerung des Atemzugvolumens eine ausreichende Ventilation sichergestellt werden. i Die Punktion zwischen dem 2. und 3. Trachealknorpel vermeidet eine Verletzung des Ringknorpels bei der Dilatation.
Auch Drucknekrosen durch die liegende Trachealkanüle sind nicht beobachtet worden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da Verletzungen des Ringknorpels eine hohe Inzidenz an subglottischen Trachealstenosen bedingen. Die von Toursarkissian et al. [19] beschriebenen Trachealstenosen traten bei direkt subkricoidaler Punktion bzw. nach Fraktur des Ringknorpels auf. 25.5.3 Beatmung Ein besonderer Gefahrenpunkt liegt am Anfang der operativen Maßnahme der PDT, nämlich zum Zeitpunkt des Zurückziehens des Endotrachealtubus bis oberhalb der Punktionsstelle in der Trachea bei erhaltener Ventilation. Während Ciaglia [4] den entblockten Tubus bis in die Stimmritze zurückzieht, empfehlen andere Autoren die Benutzung der Larynxmaske. Die korrekte Lage der Trachealkanüle wird über das Fiberbronchoskop kontrolliert. i Erst nach fiberoptischer Kontrolle der korrekten Trachealkanülenlage wird der Endotrachealtubus entfernt.
25.5.4 Kanülenwechsel Der erste postoperative Kanülenwechsel sollte frühestens nach einer Woche durchgeführt werden, da sonst der Tracheotomiekanal nicht stabil ist und das Wiederauffinden der Trachea unmöglich sein kann. Sollte innerhalb der ersten Woche die Kanüle akzidentell entfernt worden sein, muss die Notintubation endotracheal erfolgen! 25.5.5 Perkutane Dilatationstracheotomie
nach Ciaglia Ciaglia berichtete 1985 über eine elektive Dilatationstechnik, bei der zur Tracheotomie mit Ausnahme des Hautschnitts kein Messer benutzt wurde, und stimulierte damit das Interesse an dieser Technik [4]. Die progressive Dilatationstechnik nach Ciaglia fand letztlich dadurch eine besondere Verbreitung, dass
konsequent über eine Dilatationstechnik mit verschiedenen Dilatatoren das prätracheale Gewebe und die Trachea selbst schonend aufbougiert werden. Ciaglia entwickelte die Technik 1999 weiter, indem er die multiplen Dilatatoren durch einen einzigen mit Hydrogel beschichteten Dilatator (»Blue Rhino«, Fa. Cook) ersetzte; diese Technik wird heute von den meisten Anwendern favorisiert. Instrumentarium für die weiterentwickelte Dilatationstechnik nach Ciaglia 5 Tracheotomieset (Einmaldilatatoren bzw. »Blue Rhino«, Fa. Cook) 5 Trachealkanüle der gewünschten Größe 5 Präparierschere 5 Chirurgische Pinzette 5 Nadelhalter oder Kocher-Klemme 5 Pulsoxymeter 5 Operationsleuchte
Die etwa 2 cm lange Hautinzision erfolgt horizontal 1–2 cm distal des Krikoidknorpels (über dem 2.–4. Trachealknorpel). ! Cave Die primär von Ciaglia angegebene Punktionshöhe der Trachea zwischen Krikoid- und 1. Trachealknorpel sollte nicht gewählt werden, da in dieser Höhe mit einer höheren Rate an Trachealstenosen zu rechnen ist!
Das subkutane und prätracheale Gewebe kann mit der Präparierschere oder einer Kocher-Klemme stumpf gespreizt werden, bis die Trachea gut zu tasten ist. Nach Identifikation der Trachea erfolgt die Punktion der Trachea mit einer 14-G-Teflonkanüle unter bronchoskopischer Sicht. Die korrekte Kanülenlage wird durch Aspiration von Luft in eine aufgesetzte, mit Kochsalzlösung gefüllte Spritze gesichert (. Abb. 25.1). Um Komplikationen bei der Punktion zu vermeiden, ist es heute obligatorisch, die Trachealpunktion unter bronchoskopischer Kontrolle durchzuführen. Nach Einführen eines Seldinger-J-Drahtes (. Abb. 25.2) wird dieser mit einem dünnen Kunststoffkatheter armiert (. Abb. 25.3). Dadurch wird verhindert, dass der SeldingerDraht bei dem folgenden Dilatationsmanöver abknickt und die Pars membranacea der Trachea verletzt. Über den armierten Seldinger-Draht erfolgt nun schrittweise die Dilatation des Tracheostomas bis auf 36 Charr (. Abb. 25.4). Dabei werden Dilatatoren benutzt, die in ihrem vorderen Abschnitt leicht gebogen sind. Bei der Dilatation müssen die abgewinkelten vorderen Teile exakt in der Richtung des Punktionskanals gegen einen deutlichen, individuell unterschiedlichen Gewebewiderstand vorgeschoben werden, bis der schwarze Markierungsring das Hautniveau erreicht. Jeder Dilatator wird nur einmal angewandt. Der Wechsel der Dilatatoren sollte schnell erfolgen, damit die kontinuierlich fortgesetzte Beatmung nicht unnötig behindert wird. Die Trachealkanüle wird auf einen passenden Dilatator aufgezogen (ID 8,0 mm auf 24 Charr, ID 9,0 mm auf 28 Charr). Dabei muss durch großzügige Anwendung von Gleitmittel sichergestellt werden, dass der Dilatator leicht wieder aus der Kanüle entfernt werden kann. Dann wird die Kanüle mit dem Dilatator über den armierten Seldinger-Draht in die Trachea eingeführt (. Abb. 25.1e). Das Einbringen der Trachealkanüle erfordert ei-
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nen gewissen Druck, da die Kanüle über die Kante des proximalen und distalen Trachealknorpels rutschen muss. Mit der zur Verfügung stehenden Spezialtrachealkanüle für die perkutane Tracheotomie (Fa. Mallinckrodt) ist das Einbringen der Kanüle deutlich leichter, da sich der Übergang vom Dilatator zur Trachealkanüle bündiger gestaltet. Nach dem Platzieren der Kanüle werden Draht, Armierung und Dilatator entfernt und der Cuff geblockt (. Abb. 25.1f). Dann kann der Patient über die Trachealkanüle beatmet werden. Die korrekte Positionierung der Trachealkanüle erfolgt unter tracheoskopischer Kontrolle.
. Abb. 25.1a–f. Perkutane Dilatationstracheotomie nach Ciaglia. Die Trachea wird unter bronchoskopischer Kontrolle unterhalb des 1. Trachealknorpels punktiert; die Identifikation der endotrachealen Kanülenlage erfolgt durch Luftaspiration in eine mit Kochsalzlösung gefüllte Spritze (a). Anschließend werden der Seldinger-Draht (b) und darüber ein dünner Kunststoffkatheter (c) eingeführt. Nun wird die Punktionsöffnung schrittweise dilatiert (d) und schließlich die Trachealkanüle über einen Dilatator eingelegt (e, f)
25.5.6 Technik nach Griggs Die Vorbereitung zur perkutanen Tracheotomie nach Griggs (Set: Fa. Portex) erfolgt wie oben beschrieben. In Abwandlung der Ciaglia-Technik wird bei der Methode nach Griggs die Trachea nicht mit Dilatatoren, sondern mit einer modifizierten Howard-Kelly-Zange aufgespreizt [7]. Identifikation und Punktion der Trachea erfolgen mit einer 14-G-Nadel mit angeschlossener flüssigkeitsgefüllter Spritze. Ein Seldinger-Draht mit J-Spitze wird in die Trachea eingeführt und die Plastikkanüle entfernt, wobei der Seldinger-Draht
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Kapitel 25 · Perkutane Tracheotomie
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in seiner Position verbleiben muss (. Abb. 25.2a). Sodann wird die Howard-Kelly-Zange über den Draht in das weiche Halsgewebe eingeführt, bis ein Widerstand spürbar ist und anschließend gespreizt, um das prätracheale Gewebe aufzudehnen. Die Zange wird unter Führung des Seldinger-Drahtes geschlossen in die Trachea vorgeschoben (. Abb. 25.2b). Gewöhnlich fühlt man einen leichten Widerstandsverlust, wenn die vordere Trachealwand durchstoßen wird. In der Trachea wird die Howard-Kelly-Zange vorgeschoben, bis die Zange entlang der Längsachse der Trachea liegt (. Abb. 25.2c). Zur Vorbereitung des Stomas wird die Zange auf die Breite der Hautinzision geöffnet und dann entfernt. Eine vorbereitete Trachealkanüle und der beigefügte Trokar werden über den Seldinger-Draht in die Trachea vorgeschoben (. Abb. 25.2d). Trokar und Führungsdraht werden entfernt und der Cuff der Trachealkanüle geblockt. Die weiteren Maßnahmen zur Sicherung der Lage der Trachealkanüle entsprechen der Ciaglia-Technik. Besonderheiten. Die Gefahrenpunkte der Griggs-Technik sind
vergleichbar der Ciaglia-Technik – bis auf den Umstand, dass die Dilatation der Trachea in ihrer Ausdehnung nicht limitiert ist. Sie erfordert deshalb besondere Erfahrung. Die Risiken in Bezug auf einen Defekt der Pars membranacea erscheinen bei beiden Techniken derzeit vergleichbar.
. Abb. 25.2a–d. Perkutane Tracheotomietechnik nach Griggs. Trachealpunktion und Einlage des Seldinger-Drahtes erfolgen wie bei der Methode nach Ciaglia (a). Nun wird die Howard-Kelly-Zange über den Draht geführt und dann gespreizt, wobei zuerst das prätracheale Gewebe und anschließend die Tracheavorderwand eröffnet und aufgedehnt werden (b, c). Schließlich wird die Trachealkanüle auf einem Trokar in die Luftröhre eingeführt (d)
25.5.7 Translaryngeale Tracheotomie nach Fantoni Die Vorbereitungen zur translaryngealen Tracheotomie (TLT) entsprechen weitgehend denen der Ciaglia- und der Griggs-Technik. Neben dem Set (Fa. Mallinckrodt Medical), das eine konisch sich verjüngende Spezialtracheotomiekanüle, eine Punktionsnadel, einen Seldinger-Draht, einen Obturator, einen starren Bronchoskopietubus sowie einen dünnen Beatmungstubus enthält, wird zwingend ein flexibles Bronchoskop benötigt [18]. Für die erforderlichen Umintubationen sollten besondere Erfahrungen in der endotrachealen Intubation vorhanden sein. Zu Beginn des Verfahrens wird der Patient ggf. auf den beigefügten starren Bronchoskopietubus unter Narkose und Relaxation umintubiert [5]. Diese Maßnahme erscheint verzichtbar. Danach erfolgen die übliche Desinfektion des Operationsgebiets mit steriler Abdeckung sowie die Reinigung des Mund- und Rachenraums. Unter fiberoptischer Kontrolle durch den Bronchoskopietubus wird die Trachea mit der beigefügten Spezialnadel nach Hautinzision oberhalb des 2.–4. Trachealknorpels punktiert (. Abb. 25.3a). Nach korrekter Punktion unter fiberoptischer Kontrolle und Luftaspiration wird der Seldinger-Draht durch die Kanüle eingeführt und durch den starren Bronchoskopietubus oder den endotracheal liegenden Tubus nach außen geleitet. Nach Sicherung
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. Abb. 25.3a–e. Translaryngeale Tracheotomie nach Fantoni. Zu Beginn wird der Patient auf den beigefügten starren Bronchoskopietubus umintubiert. Die Trachealpunktion er folgt wie bei der Methode nach Ciaglia (. Abb. 25.1), der Seldinger-Draht wird jedoch translaryngeal durch den Tubus nach außen geleitet (a). Anschließend wird der Bronchoskopietubus entfernt und durch einen dünnen Beatmungstubus ersetzt, dessen Cuff direkt vor der Trachealbifurkation platziert wird. Der Seldinger-Draht wird durch die Fantoni-Kanüle geführt und mit einem Knoten gesichert (b). Nun wird die Fantoni-Kanüle translaryngeal eingeführt und mit ihrer Spitze von endotracheal nach außen durchgezogen (c). Schließlich wird die Spitze abgeschnitten, die Kanüle mit Hilfe eines Obturators aufgerichtet, gewendet und in typischer Weise in der Trachea platziert (d, e). (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Mallinckrodt Medical GmbH, Hennef ) a
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des Drahtes an beiden Enden wird der Bronchoskopie- bzw. Endotrachealtubus entfernt und durch den dünnen Beatmungstubus ausgetauscht, der mit seinem Cuff direkt vor der Bifurkation der Trachea positioniert wird. Nach Sicherstellung der Beatmung wird der Draht nun durch die Spezialkanüle geführt und durch Fixation gesichert (. Abb. 25.3b). Es erfolgt dann der Durchzug der Spezialkanüle mit ihrem metallischen und spitzen Ende durch den Mund-Rachen-Raum
in die Trachea. Durch kontinuierlichen Zug lässt sich die Spitze der Trachealkanüle langsam nach außen ziehen (. Abb. 25.3c). i Damit die Trachealkanüle nicht komplett durchgezogen wird, empfiehlt es sich, den Cuff gering anzublocken und das Durchzugmanöver über das in das kaudale Ende der Trachealkanüle eingeführte Bronchoskop zu kontrollieren.
342
25
Kapitel 25 · Perkutane Tracheotomie
. Tabelle 25.2. Komplikationen der perkutanen Dilatationstracheotomie (PDT) Intraoperativ
Kanüle in situ
Nach Dekanülierung
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4
Blutung Paratracheale Punktion Pars-membranacea-Defekt Kanülenfehllage Cuffdefekt Pneumothorax Hautemphysem Hypoxie Hypotension Verlust des Atemwegs
Blutung Infektion Kanülendislokation Kanülenobstruktion Cuffleckage Trachealerosion Ösophagotracheale Fistel
Es erfolgen dann das Abschneiden des distalen Endes der Trachealkanüle und die Befreiung des Cuffschlauchs aus der Trachealkanüle. In das nun offene Ende der Trachealkanüle wird der Obturator eingeführt, die Kanüle aufgerichtet und unter Rotation nach kaudal in die Trachea vorgeschoben (. Abb. 25.ed, e). Anschließend erfolgt wiederum die bronchoskopische Kontrolle der Kanülenlage. Wenn die Kanüle korrekt positioniert ist, werden der Cuff des Beatmungstubus entblockt und der Tubus entfernt. Die hier dargestellte Fantoni-Technik hat in ihrer jungen Geschichte schon mehrere Modifikationen erfahren, da die primär empfohlene Anwendung eines starren Bronchoskops nur auf geringe Akzeptanz stieß. Insgesamt ähnelt die Technik in einigen Aspekten der retrograden Intubation. Der methodische Vorteil der Fantoni-Technik liegt in der geringen Kompression der Trachea im Vergleich zu Ciaglia- und zur Griggs-Technik. Die Erfahrungen belegen, dass diese Technik sicher angewandt werden kann. Besonderheiten. Problematisch erscheint das Wendemanöver
der Trachealkanüle nach kaudal innerhalb der Trachea, da die Trachealkanüle leicht aus der Trachea herausgezogen werden kann. Die Trachealkanüle kann dann nicht mehr in der Trachea platziert werden, und die gesamte Prozedur ist mit einem weiteren Set zu wiederholen. 25.5.8 Perkutane Tracheotomie nach Frova Bei der von Frova in Italien weiterentwickelten perkutanen Tracheotomietechnik (PercuTwist, Fa. Rüsch) wurde der Dilatator PercuTwist als Schraube entworfen, wobei der Gewindebereich mit einer hydrophilen Schicht versehen ist, die den Dilatationsvorgang erleichtern soll. Statt zu bougieren, wird der PercuTwist unter endoskopischer Sicht über den Führungsdraht unter vorsichtigem Drehen im Uhrzeigersinn in die Trachea vorgebracht. Während des Drehens kann die vordere Trachealwand durch leichtes Ziehen an der PercuTwist-Schraube angehoben werden. Es kann dabei zu einer Entlastung der Vorderwand der Trachea kommen. Der in der Packung beigefügte CrystalClear-Tracheostomietubus ist ebenfalls hydrophil beschichtet, was die Einlage in die Trachea erleichtert. 25.6
Komplikationen
Im Folgenden wird eine Zusammenstellung aller denkbar möglichen Komplikationen der PDT gegeben. Komplikationen der
Kosmetischer Defekt Larynxstenose Trachealgranulation Tracheomalazie
PDT können sowohl während des Eingriffs als auch bei in situ positionierter Trachealkanüle und nach Dekanülierung auftreten (. Tab. 25.2). Am stärksten werden während des Eingriffs die Blutung sowie der Verlust des Atemwegs gefürchtet. Intraoperative Blutungen lassen sich häufig durch das Einsetzen der Trachealkanüle komprimieren und dadurch beherrschen. Späte Blutungen (nach Wochen) sind meistens Folge einer Läsion des Truncus brachiocephalicus, die dramatisch und letal verlaufen können. Sie können selbstverständlich nach jeder Form der Tracheotomie auftreten. i Eine Kontrolle des Cuffdrucks während der Beatmung sowie eine Tracheotomie oberhalb des 4. Trachealknorpels gelten als wichtige Komplikationsprophylaxe.
Die Rate an Komplikationen insgesamt, insbesondere aber die Häufigkeit schwerwiegender Komplikationen (Tod, Trachealstenose) ist im Vergleich zur konventionellen Tracheotomietechnik niedrig. Insgesamt wird die Komplikationsrate für die konventionelle Tracheotomie in einem Bereich von 6 bis 66% angegeben, mit einer Mortalitätsrate von 0–5%. 25.6.1 Akzidentelle Verletzungen Bei einwandfreier Punktions- und Dilatationstechnik liegt die Trachealkanüle sicher intratracheal. Bei falscher (zu tiefer) Punktion kann es zur Verletzung der Trachealhinterwand kommen. Es sind mehrere ösophagotracheale Fisteln bekannt geworden, die nicht zum Tod des Patienten führten. Wird eine solche Komplikation jedoch nicht erkannt, so kann sie letztlich den Tod des Patienten verursachen. ! Cave Wird die Fehllage der Punktionskanüle nicht bemerkt (keine Luftaspiration möglich!), sondern trotzdem der Seldinger-Draht eingeführt und die Dilatation durchgeführt, ergibt sich zwangsläufig eine Fehllage der Kanüle [12]. Diese Komplikation ist bei eindeutiger Identifikation der Trachea sicher vermeidbar.
Wird während des Bougierens beim Wechsel des Dilatators versehentlich der Draht mit aus der Trachea entfernt, so ist das Wiedereinführen außerordentlich schwierig. Es kann leicht zu einer Fehllage im prätrachealen Gewebe kommen. Bevor die Dilatation weitergeführt wird, muss unbedingt die korrekte Lage des Seldinger-Drahtes mit einer fiberoptischen Tracheoskopie über den liegenden Tubus gesichert werden.
343 Literatur
Eine Schleimhautverletzung der Trachea kann auftreten, wenn während der Prozedur der Seldinger-Draht an der Spitze des Dilatators geknickt wird – insbesondere, wenn nicht auf eine korrekte Positionierung des Dilatators auf dem Kunststoffkatheter (Knickschutz!) geachtet wird. Es kann dann zur Schleimhautläsion der Trachealhinterwand kommen. Deshalb darf ein abgeknickter Seldinger-Draht nicht weiterbenutzt werden! Cuffdefekte und Zerreißungen beim Einführen der Trachealkanüle mit der konsequenten bronchoskopischen Entfernung aus der Trachea sind beschrieben [13]. Schließlich sind mehrere Todesfälle im Zusammenhang mit der Dilatationstracheotomie bekannt geworden; ursächlich hierfür waren irreversible Kanülendislokationen. 25.6.2 Trachealstenosen Bei den bisher aufgetretenen und schon früh beschriebenen Trachealstenosen wurden kraniale Tracheostomaanlagen gewählt, wie sie ja auch von Ciaglia in seinen ersten Arbeiten empfohlen wurden. Inzwischen sind auch die Spätfolgen, wie die Trachealstenose, gut untersucht und besitzen kaum noch klinische Relevanz [14, 17, 18]. > Fazit Obwohl die perkutane Dilatationstracheotomie eine einfach durchzuführende Technik darstellt, ist die exakte Kenntnis der anatomischen Verhältnisse unabdingbar; manche Autoren empfehlen darüber hinaus, dass der Operateur über Erfahrung mit der konventionellen Tracheotomie verfügen soll. Nur in den Händen eines mit der Anatomie gut vertrauten Arztes ist die perkutane Tracheotomie ein sicheres und komplikationsarmes Verfahren. Derzeit scheint die PDT in Bezug auf die postoperativen Komplikationen der konventionellen Operationstechnik überlegen zu sein. Letztlich fehlen, trotz weiter Verbreitung der PDT, klare Festlegungen zum richtigen Zeitpunkt der Tracheotomie.
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26 Thoraxdrainage B. Regli
26.1
Einleitung
26.2
Luft- oder Flüssigkeitsansammlungen in der Pleura: Ursachen und Diagnostik –346
26.3
Indikationen zur Drainage
26.4
Thorakozentese
26.5
Technik der Drainageeinlage
26.6
Drainagesysteme
26.6.1 26.6.2
Mehrflaschensysteme –349 All-in-one-Wegwerfsystem –349
26.7
Drainage-Trouble-Shooting
26.8
Entfernen der Drainagen
26.9
Komplikationen im Zusammenhang mit Thoraxdrainagen Literatur
–346
–351
–347
–347 –348
–348
–350
–350 –350
26
346
Kapitel 26 · Thoraxdrainage
26.1
Einleitung
Die Einlage eines Thoraxdrains gehört zu den häufigsten Eingriffen, die auf Notfall- und Intensivstationen durchgeführt werden. Sie ist jedoch mit einer beträchtlichen Morbidität verbunden, v. a. bei ungenügenden Kenntnissen und Fehlen der notwendigen Sorgfalt. In den letzten Jahren sind evidenzbasierte Richtlinien erschienen, wie z. B. von der British Thoracic Society [6, 13, 18]. 26.2
Luft- oder Flüssigkeitsansammlungen in der Pleura: Ursachen und Diagnostik
Luftansammlungen Ätiologie. Ein Pneumothorax kann »spontan« als Folge einer
geplatzten Emphysemblase, nach einem perforierenden oder stumpfen Trauma (häufig mit Rippenfrakturen), iatrogen durch z. B. eine die Lunge verletzende Punktion oder im Zusammenhang mit einem beatmungsbedingten Volutrauma entstehen. Klinik und Diagnostik. Die Diagnose wird meistens klinisch gestellt und orientiert sich an den Symptomen.
Symptome des Pneumothorax 5 Dyspnoe, Tachypnoe, Hypoxämie 5 Abgeschwächtes Atemgeräusch, hypersonorer Klopfschall (kann gelegentlich fehlen) 5 Betroffener Hemithorax in Inspirationsstellung 5 Steigende Spitzen- und Plateaudrücke bei volumenkontrollierter, abnehmende Atemzugvolumina bei druckkontrollierter Beatmung 5 Kreislaufdepression bei Luftansammung unter Druck (Spannungspneumothorax)
Eine in Exspiration durchgeführte Röntgenuntersuchung bestätigt die von der seitlichen Thoraxwand abgehobene Lunge. Gelegentlich präsentiert sich ein ventral gelegener Pneumothorax nur durch eine Transparenzerhöhung. Eine Thoraxcomputertomographie schafft Klarheit. Schwierigkeiten können differenzialdiagnostisch auch Bullae bieten.
Flüssigkeitsansammlungen Sie sind beim Intensivpatienten häufig. Mannigfaltige Ursachen führen zu einem erhöhten Anfall an Flüssigkeit und/oder zu einer gestörten Drainage. Die verantwortlichen Faktoren einer Störung können in 3 Hauptkategorien eingeteilt werden: 4 bedingt durch eine Veränderung des transpleuralen Druckes, 4 durch einen gestörten Lymphabfluss oder 4 durch eine erhöhte Permeabilität des mesothelialen oder kapillären Endothels [28]. Bei Ersterem spricht man von einem Transudat, bei den zwei Letzteren von Exsudaten (ProteinquotientPleura/Serum >0,5). Beim Exsudat ist die Pleuramembran i. Allg. pathologisch verändert. Ätiologie. . Tabelle 26.1 zeigt eine entsprechende Kategorisierung, häufigere Ursachen und dazugehörende typische Pleu-
. Tabelle 26.1. Kategorisierung, häufigere Ursachen und typische Pleuraflüssigkeitsbefunde. (Nach [6, 18]) Transsudat (ProteinPleura/Serum <0,5; LDHPleura/Serum <0,6) 4 Herzinsuffizienz; Leberzirrhose; nephrotisches Syndrom; Peritonealdialyse; Lungenembolie; Hypothyeose; Mitralstenose Exsudat (ProteinPleura/Serum>0,5 ; LDHPleura/Serum> 0,6; LDHPleura>2/3 obere Norm Serum) 4 Parapneumonisch a) unkompliziert (pHPleura>7,2; LDHPleura<1000; GlukosePleura>2,2 mmol/l) b) kompliziert (pHPleura<7,2; LDHPleura>1000; GlukosePleura<2,2 mmol/l; evtl. + gram/Kultur) c) Empyem (wie b) + Eiter 4 Gastrointestinale Erkrankungen wie Pankreatitis, Ösophagusperforation (Amylase), nach Abdominalchirurgie, nach Lebertransplantation, bei intraabdominellem Abszess 4 Lungeninfarkt; Neoplasie; Urämie; Kollagenose; rheumatoide Arthritis; medikamentös induziert; nach Bestrahlung Andere Hämatothorax; Chylothorax, Infusothorax
raflüssigkeitsbefunde (mod. nach [6, 18]). Die Ätiologie des Ergusses spielt für die Indikationsstellung zur Drainage eine wichtige Rolle. i Hierbei gilt: Jeder unklare Erguss sollte untersucht werden. Klinik und Diagnostik. Die Verdachtsdiagnose eines Pleuraergus-
ses wird klinisch gestellt. Es bestehen evtl. pleuritische Schmerzen oder Atemnot. Das Atemgeräusch ist in den abhängigen Lungenpartien abgeschwächt oder fehlt, im Randbereich besteht Kompressionsatmen, die Perkussion ergibt einen dumpfen Klopfschall. Die Unterscheidung zu einer Atelektase ist aber häufig schwierig. Konventionell Radiologisch zeigen sich in der liegenden Aufnahme eine homogene Zunahme der Dichte, ein Verlust der Zwerchfellsilhouette, ein Verschwinden des kostophrenischen Winkels sowie eine schlechter sichtbare Gefäßzeichnung des Unterlappens. Ein apikales »capping« oder ein Zwerchfellhochstand können ebenfalls auf einen Erguss hinweisen. Atelektasen und Konsolidationen können die Zeichen der Ergüsse nachahmen. Falls der Erguss seitlich ausläuft und randständig sichtbar wird, besteht diagnostische Klarheit, und man kann davon ausgehen, dass mindestens 500–700 ml Flüssigkeit vorhanden sind; eine Seitenaufnahme (betroffene Seite nach unten) kann evtl. weiteren Aufschluss bringen. Es können aber auch größere Ergüsse übersehen werden. Mitttels Sonographie ist der Nachweis sensitiver und die Quantifizierung wesentlich besser. Aber selbst mit dieser Methode können an schlecht zugänglichen Stellen beträchtliche dorsal oder apikal liegende Ergüsse verpasst werden. Eine Quantifizierung ist durch Anwendung einfacher Messmetoden möglich [21]. Die zuverlässligsten Informationen gibt die Computertomographie (Lokalisation, Ausdehnung, Kammerung, Verdickung und vermehrte Kontrastmittelaufnahme der Pleura parietalis, z. B. bei Empyem).
347 26.4 · Thorakozentese
26
Infizierte Flüssigkeitsansammlungen/Empyem . Tabelle 26.1. Indikation zur Drainage. (Nach [13]) Pneumothorax
4 4 4 4
Transudat und nicht infiziertes Exsudat in Abhängigkeit von
4 der Pleuraflüssigkeitsmenge und 4 der klinischen Situation
Bei jedem beatmeten Patienten Bei Spannungspneumothorax Bei großem Pneumothorax Bei persisitierendem oder rezidivierendem Pneumothorax
Kompliziertes parapneumonisches Exsudat oder Empyem Hämatothorax; Infusothorax; maligner Erguss
Auch kleine Mengen von komplizierten parapneumonischen bzw. infizierten Flüssigkeitsansammlungen sollten immer möglichst vollständig drainiert werden. Eine vorausgehende diagnostische Pleurapunktion gibt im Zweifelsfall die notwendigen Hinweise (ProteinPleura/Serum; LDHPleura/Serum; pH; Glukose; Gram; Kultur; evtl. Zytologie). Intrapleurale Fibrinolyse. Bei frühzeitiger Anwendung kann die
retrograde Instillation von Strepto- oder Urokinase erfolgreich sein und ein thorakoskopisches Débridement (verlangt in der Regel Doppellumentubus mit Einlungenventilation) oder eine konventionellchirurgische Dekortikation überflüssig machen. Der Nutzen ist allerdings nach wie vor umstritten [17, 20].
Hämatothorax 26.3
Indikationen zur Drainage
Gerinnung. Vor jeder Drainageeinlage muss die Ausgangslage bezüglich Gerinnung bekannt sein und evtl. entsprechend korrigiert werden. Nutzen und Risiken einer Substitution mit Gerinnungspodukten sind gegenüber dem Blutungsrisiko abzuwägen. . Tabelle 26.2 (mod. nach [13]) zeigt einen Überblick hinsichtlich der Indikation zur Drainage.
Pneumothorax Ein Mantelpneumothorax von wenigen Zentimetern Breite bzw. mit einem Lungenvolumenverlust von weniger als 20–25% bei einem beschwerdefreien, spontan atmenden Patienten kann primär belassen und beobachtet werden. Ausgedehntere Befunde sind zu entlasten. Beim beatmeten Patienten empfiehlt sich bereits bei geringen interpleuralen Luftansammlungen eine Drainage. Zu rasch kann sich durch die positiven Beatmungsdrücke ein Pneumothorax weiter ausdehnen, den Kreislauf beeinträchtigen und evtl. in einen lebensbedrohlichen Spannungspneumothorax münden. Ein Spannungspneumothorax muss unverzüglich entlastet werden. Bei einem progredienten Weichteilemphysem kann eine Thoraxdrainage auch ohne sichtbaren Pneumothorax sinnvoll sein (Luftaustritt aus verletztem Lungengewebe passiert die ebenfalls verletzte Pleura parietalis).
Transsudat/nichtinfiziertes Exsudat Ein Pleuraerguss durch Transsudation oder nicht infiziertes Exsudat sollte eher zurückhaltend angegangen werden. Günstige Auswirkungen auf die Lungenfunktion sind häufig enttäuschend. Die Verbesserung der Vitalkapazität ist in Bezug auf die drainierte Flüssigkeitsmenge gering. Durchschnittlich kann von 20 ml je 100 ml drainierter Flüssigkeit ausgegangen werden [14]. Ein Gewinn ist v. a. bei schlechter Gesamtcompliance zu erwarten (ausgeprägte Zwerchfellhochstände bei raumfordernden retrooder intraperitonealen Prozessen). Eine prospektiven Studie zeigte eine signifikante Reduktion des Shunts, der Füllungsdrücke (zentralvenös und Wedge), der Atemfrequenz und eine Erhöhung des O2-Agebotes [1]. Der Effekt bezüglich des Oxygenationsindex ist widersprüchlich [1, 21]. Bei beatmeten Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz unter hohem PEEP sollen selbst geringe Drainagemengen die Compliance und den Oxygenierungsindex verbessern können [24].
Die Indikation zur Drainage eines Hämatothorax sollte großzügig und rasch gestellt werden [9]. Intrathorakale Blutungen können nach Reexpansion der Lunge eher zum Stehen kommen (Niederdruckgefäßsystem). Ein Hämatothorax bei penetrierenden Verletzungen ist wegen der Infektproblematik immer zu drainieren. Bei geschlossenen Verletzungen ist die Indikation ab mehreren 100 ml gegeben, v. a. bei instabilem Thorax zusammen mit einer Lungenkontusion. Blut wirkt als Entzündungsreiz und kann bei größeren Mengen nicht vollständig resorbiert werden. Es kommt zur Organisation und damit zur Ausbildung einer Schwarte. Auch besteht längerfristig das Risiko einer sekundären Infektion (Empyem). Bei koagulierten Blutmassen ist evtl. ein thorakoskopisches Vorgehen indiziert. 26.4
Thorakozentese
Im intensivmedizinischen Bereich wird die wiederholte Punktion eines Pleuraergusses selten angewandt. Ihre diagnostische Bedeutung wurde kürzlich trotz 7% iatrogener Pneumothoraxinzidenz erneut propagiert [10]. Sie soll prinzipiell unter sterilen Kautelen und Lokalanästhesie geschehen. Praktisches Vorgehen. Wenn der Patient nicht sitzen kann, muss
der Oberkörper möglichst hoch gelagert werden. Die Punktion erfolgt 1–2 Querfinger unterhalb der perkutorisch festgestellten Ergussgrenze, mindestens eine Handbreit oberhalb des unteren Rippenbogens oder möglichst unter sonographischer Kontrolle. Nach Lokalanästhesie der Haut mit einer 23-G-Nadel wechselt man auf eine 20-G-Spinalnadel zur Anästhesie der Subkutis. Man ertastet nun die Rippe, anästhesiert großzügig und wandert gegen und entlang des Oberrands derselben Rippe. Damit vermindert man das Risiko einer Verletzung des GefäßNer ven-Bündels. Ein intubierter Patient wird nach Präoxygenierung möglichst vom Respirator diskonnektiert. Dann wird die Pleura unter Aspiration vorsichtig perforiert (Widerstandsverlust bei Durchtritt). Die freie Aspiration von Flüssigkeit bestätigt die korrekte Lage. Bei einer eventuellen Punktion der Lunge kann nur blutig-schaumige Flüssigkeit aspiriert werden. Entweder wird das Procedere nach Gewinnung von Flüssigkeit zu diagnostischen Zwecken abgebrochen, oder man wird die Pleura parietalis vor Einlage einer Drainage großzügig anästhesieren.
348
Kapitel 26 · Thoraxdrainage
! Cave Das Zwerchfell kann in Exspiration bis auf Höhe des 4. Interkostalraums gelangen.
26
. Abb. 26.1. »Triangle of safety«. Das Dreieck wird begrenzt: hinten durch den Vorderrand des M. latissimus dorsi, vorn durch den seitlichen Rand des M. pectoralis major und nach kaudal durch die Höhe der Mamille
! Cave Das Risiko eines iatrogenen Pneumothorax wächst mit dem Entleerungsgrad des Ergusses und einer eventuellen Beatmung.
26.5
Technik der Drainageeinlage
Die sicherste Technik, v. a. beim intubierten Patienten auf der Intensivstation, ist die chirurgische stumpfe Dissektion bis in die Pleurahöhle. i Die Trokarmethode soll wegen ihrer höheren Komplikationsrate nicht mehr angewandt werden.
In ausgewählten Fällen (eher nicht intubiert) und obligatorisch unter sonographischer Kontrolle und/oder bei vorheriger sicherer Luft- oder Flüssigkeitsaspiration kann eine Drainage auch mit kleineren Kathetern nach dem »Durch-die-Nadel-« [19] oder Seldinger-Prinzip erfolgen (z. B. mittels Zentralvenenkatheter [22] oder Thal-Quick-Katheter [25]). Die Einlage eines Pigtail-Katheters geschieht üblicherweise unter sonographischer oder CT Kontrolle [5]. Der große Vorteil der chirurgischen Technik liegt einerseits in der Möglichkeit, Drainagekatheter mit großem Durchmesser zu verwenden, andererseits kontrolliert in den Pleuraraum einzudringen und pleurale Adhäsionen, evtl. die Zwerchfellkuppe oder sogar das Herz ertasten zu können. Der Nachteil liegt im Zeit- und erhöhten Analgesiebedarf. Praktisches Vorgehen. Beim wachen Patienten ist eine Einwilligung erforderlich. Er liegt flach auf dem Rücken oder in leichter Seitenlage und wird adäquat analgosediert (die Einlage ist relativ schmerzhaft!). In der Regel geht der Drainageeinlage eine Probepunktion bzw. großzügige Lokalanästhesie z. B. mit 10–15 ml Mepivacain 1% voraus, wobei Luft oder Flüssigkeit aus dem Pleuraraum aspiriert werden kann. Die Einlage der Thoraxdrainage erfolgt im sog. sicheren Dreieck zwischen vorderer und hinterer Axillarlinie auf der Höhe oder oberhalb des 5. Interkostalraums (hier können die Mamillen als Orientierungshife dienen; . Abb. 26.1).
Für die Drainage wird eine Hautinzision von 3–4 cm Länge 1– 2 Interkostalräume kaudal der geplanten Drainagedurchtrittstelle unter sterilen Kautelen angelegt. Mit einer gebogenen Schere wird nun durch wiederholtes Spreizen, stumpf subkutan, bis zum gewünschten Interkostalraum vorpräpariert. Jetzt soll der Respirator gestoppt, evtl. intermittiernd von Hand weiterbeatmet oder präoxygeniert vom Beatmungsgerät diskonnektiert werden [13]. Dies erlaubt eine Perforation der Thoraxwand in Exspiration mit geringerem Risiko der iatrogenen Lungenverletzung. Bei einem weiterhin beatmeten Patienten kann eine evtl. »hepatisierte« Lunge schlecht ausweichen oder sogar mit viel Druck entgegenkommen und aufgespießt werden. In exspiratorischer Apnoe durchsticht man nun mit geschlossener Schere, die stets in Kontakt mit dem oberen Rand der Rippe bleibt, und mit verhaltener Kraft das interkostale Gewebe senkrecht zur Thoraxwand. Wird nun die Schere gespreizt, hört man entweder Luft austreten, oder es entleert sich bereits Erguss. Die intrathorakalen Verhältnisse können nun mit einem Finger ertastet werden. Dem Finger oder der geschlossenen Schere entlang wird nun der bündig zur Spitze mit der Korn-Zange gefasste Drain eingeschoben. Beim weiteren Einführen (nach dorsal und leicht apikal bei Flüssigkeitsdrainage, nach ventral und apikal bei Pneumothoraxdrainage) bleibt man stets in Kontakt mit der Thoraxwand. Wenn die Korn-Zange bis fast zum Anschlag eingeführt ist, öffnet man sie so weit, dass der Drain noch unter Führung der KornZange weiter geschoben werden kann. Die Hautinzision wird nun verschlossen und die Thoraxdrainage mit einer Distanzknopfnaht fixiert. Es wird nun eine Röntgenkontrolle durchgeführt. Bei abgekapselten Prozessen kann es notwendig sein, mehrere Drainagen einzulegen. Idealerweise erfolgt die Einlage dann unter CT-Kontrolle. Draingröße. Man verwendet 24‒28 Charr bei Drainage von Luft oder Transsudat, 28–36 Charr bei Hämatothorax oder Empyem. Beatmete Patienten sollten auch für die Luftdrainage mindestens ein Drain der Größe 28 Charr erhalten. Sog. Der applizierte Sog beträgt in der Regel ‒10 bis ‒20 cm H2O. Ein inadäquat starker negativer Sog kann zu einseitigem Lungenödem, zu Lungen- und selbst Perikardverletzungen führen. Bei Luftverlusten, wie z. B. nach lungenchirurgischem Eingriff, führt der Verzicht auf Sog ebenso rasch und kostengünstiger zum Sistieren des Luftlecks [2].
26.6
Drainagesysteme
Die Minimallösung besteht im Anschluss eines Heimlich-Ventils [12], welches v. a. für Transporte geeignet ist. Es erlaubt den freien Austritt von Luft und Flüssigkeit, nicht jedoch deren Eintritt, und entspricht einem 1-Flaschen-System (. Abb. 26.2a). Es neigt jedoch zum Verkleben. Die essenziellen Komponenten der heute üblichen geschlossenen Systeme sind: ein Auffanggefäß, ein Wasserschloss, eine Einrichtung, die den Sog reguliert, sowie eine Sogquelle.
349 26.6 · Drainagesysteme
a
26
b
c
. Abb. 26.2a–c. 1-Flaschen-System (a), 2-Flaschen-System (b), 3-Flaschen-System (+ blau: 4-Flaschen-System) (c)
26.6.1 Mehr flaschensysteme Bei den heute verwendeten Systemen handelt es sich mehrheitlich um Mehrflaschensysteme. Obschon heute anstatt konventioneller Flaschensysteme All-in-one-Wegwerfsysteme verwendet werden, sind aus didaktischen Gründen Erstere hier auch erklärt.
tem und noch vorhandenem Luftverlust gefährlich sein und in kurzer Zeit einen Spannungspneumothorax zur Folge haben. Diesbezügliche Sicherheit gibt ein mit dem Auffanggefäß verbundenes Drucküberlaufgefäß mit Wasserschloss und Verbindung zur Atmosphäre (. Abb. 26.2c). 2-Flaschen-System. Das Drainagesystem kann vereinfacht wer-
3-Flaschen-System. Dabei wird die 1. Flasche als Auffang- bzw.
Messgefäß und die 2. Flasche als Wasserschloss verwendet (. Abb. 26.2c). Ein mit der Drainage verbundenes Rohr ist dabei 2 cm in eine desinfizierende Flüssigkeit (z. B. 0,02% Polyhexamid) eingetaucht und wirkt daher als Einwegventil. Die 3. Flasche dient zur Sogregulation. Der Sog entspricht der Eintauchtiefe eines gegenüber der Umgebung offenen Rohrs in z. B. Aqua dest. Durch das Ansaugen von Außenluft wird ein konstanter negativer Druck gewährleistet. Der Sog wird gewöhnlich auf 20 cm H2O eingestellt. Stetig aufsteigende Luftblasen zeigen, dass einerseits der gewünsche Sog vorhanden ist, andererseits das System Luft suffizient drainieren kann. Bei massiven Luftverlusten kann der Flow limitierend werden. Im Sogkontrollgefäß steigen dann keine oder nur intermittierend Luftblasen auf. Die Sogkapazität muss dann erhöht werden; bei bronchopleuralen Fisteln kann der erforderliche Flow sogar 15–20 l/min betragen. Als Sogquelle dient meist ein zentraler Vakuumwandanschluss mit oder ohne Sogreduzierventil, gelegentlich auch eine elektrisch betriebene Pumpe oder ein Venturisystem. 4-Flaschen-System. Wenn die Sogquelle aus irgendeinem Grund abgestellt wird, kann dies bei einem geschlossenen Sys-
den, indem auf das vorgeschaltete Auffanggefäß verzichtet und dessen Funktion vom Wasserschlossgefäß übernommen wird (. Abb. 26.2b). Damit wird der Systemtotraum reduziert. Der erkaufte Nachteil liegt darin, dass mit dem Füllen der Flasche das eingetauchte Rohr hin und wieder nach oben bewegt werden muss, da sonst in Abhängigkeit vom Flüssigkeitsniveau Sog verloren geht. Dieser Verlust kann auch bis zu einem gewissen Grad mit dem Sogkontrollgefäß kompensiert werden (größere Eintauchtiefe des Rohrs). 26.6.2 All-in-one-Wegwerfsystem Die im Handel erhältlichen Systeme funktionieren nach dem oben genannten Prinzip, sind kompakt, aber nicht unproblematisch zu entsorgen (. Abb. 26.3). Wichtig ist, dass bei ihrem Einsatz die unterschiedliche maximal mögliche Flowkapazität (dies könnte bei großer bronchopleuraler Fistel problematisch sein) und der korrekte Sog am System berücksichtigt werden (evtl. Überlaufen der Flüssigkeit von der Sogregulationskammer in die Wasserschlosskammer) [16].
350
Kapitel 26 · Thoraxdrainage
Praktisches Vorgehen. Der spontan atmende Patient wird bei der Entfernung der Drainage aufgefordert, ein Valsalva-Manöver durchzuführen und kräftig gegen geschlossenen Mund und Nase zu pressen. Ist der Patient noch intubiert, so kann ein Beatmungshub für mehrere Sekunden Dauer appliziert werden (»inspiration hold«). In dieser Zeit wird die Drainage unter Sog gezogen und damit der drohende Lufteintritt durch die Wundöffnung vermieden. Kontaminierte und infizierte Wundöffnungen sollten nicht zugenäht werden. Bei korrekter Tunnelierung anlässlich der Drainageeinlage sollte man keine Luft aspirieren können. Ansonsten kann evtl. ein luftdichter Wundverband mit antiseptischer Salbe oder mit Vaseline Abhilfe schaffen. Nach 12–24 h erfolgt eine Röntgenkontrollaufnahme.
26
26.9
Komplikationen im Zusammenhang mit Thoraxdrainagen
Fehllagen. Die häufigste Komplikation ist die Fehllage, die kon. Abb. 26.3. Prinzip eines All-in-one-3-Flaschen-Drainagesystems. Es beinhaltet einen Flüssigkeitsauffangteil, ein Wasserschloss (hier ist auch ein eventueller Luftverlust aus der Pleura sichtbar) und eine hydraulische Sogkontrolle. Alterantive Systeme verfügen über eine mechanische Sogkontrolle
Transport. Auf einen aktiven Sog kann man in der Regel verzichten. Für längerdauernde Transporte wechselt man mit Vorteil auf ein Heimlich-Ventil.
26.7
Drainage-Trouble-Shooting
Die Schaumbildung im Wasserschloss bei großen Luftmengen kann durch Beigabe von 100–200 ml 94%-igem Alkohol deutlich vermindert werden. Es ist zu beachten, dass bei einem durchhängenden Drainageschlauch durch die Siphonbildung Sog verloren geht. Atemabhängige Oszillationen der Drainflüssigkeit zeigen eine zur Pleura offene Drainage. Luftblasen im Wasserschloss müssen nicht unbedingt pleuralen Leckagen entsprechen. Persistierende Luftblasen nach Setzen einer Klemme auf den Drain patientennah weisen auf eine Undichtigkeit im Drainagesystem hin. Das Melken (»stripping«) der Drainagen von Hand oder mit Hilfsmitteln soll einem Verstopfen entgegenwirken. Der praktische Nutzen inklusive diverser anderer Methoden ist allerdings umstritten [26]. 26.8
Entfernen der Drainagen
Wenn bei einem Pneumothorax über einen Zeitraum von 24 h keine Luftblasen mehr sichtbar sind, kann die Drainage entfernt werden. Flüssigkeitsfördernde Drainagen können entfernt werden, wenn die Flüssigkeit serös ist und die täglich geförderte Flüssigkeitsmenge weniger als 100‒200 ml beträgt. Hingegen sollten auch geringe, aber persistierende Blut- oder Eiterentleerungen weiter drainiert werden.
ventionellradiologisch oftmals nicht erkannt werden kann [4]. Nach Einlage unter Notfallbedingungen fanden Baldt et al. [3] in einer retrospektiven Untersuchung mittels CT 26% extrathorakale, intraparenchymale und intrafissurale Fehllagen. Verletzungen. Vor allem die Trokarmethode birgt ein wesentliches Risiko der Lungenperforation und sollte nicht mehr angewandt werden [11]. Bei beatmeten Patienten, v. a. mit verminderter Lungen-Compliance oder pleuralen Verwachsungen, sind Komplikationen generell häufiger. Die Ausbildung spielt eine wichtige Rolle Es gilt v. a. auch, einen Zwerchfellhochstand zu beachten. Die Literatur berichtet über alle erdenklichen Verletzungen (Interkostalarterie, Zwerchfell, Leber, Milz, Magen, Herzhöhlen, Ösophagus, Silikonimplantate). Hilfsmittel wie Sonographie und CT helfen, das Risiko einer unbeabsichtigten Perforation zu mindern. i Nur entsprechend geschulte Ärzte sollten Drainagen bei beatmeten Patienten durchführen. Reexpansionslungenödem. Das einseitige Reexpansionslungen-
ödem nach rascher Lungenentlastung ist eine seit langem bekannte Komplikation, die typischerweise innerhalb von Stunden manifest wird. Risikofaktoren sind die Größe des drainierten Volumens, die Dauer des Lungenkollapses und ein stark negativer intrapleuraler Sog [27]. Ein ischämischer Endothelschaden, ein plötzlich erhöhter transvaskulärer Kapillardruck nach Aufhebung der hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion, ein Reperfusionsschaden oder ein Surfactantmangel werden u. a. dafür verantwortlich gemacht. Eine kürzlich publizierte retrospektive Studie könnte für einen hydrostatischen Mechanismus als wichtige Komponente sprechen [23]. Das Reexpansionslungenödem tritt selten bei weniger als 3 Tage altem Lungenkollaps auf, wurde aber auch schon nach wenigen Stunden beobachtet [15]. Der Verlauf ist meistens gutartig, Todesfälle sind jedoch beschrieben. Infektion und Antibiotikaprophylaxe. Drainagen beinhalten das Risiko eines nosokomialen Infekts. Aufgrund einer Metaanalyse von 6 zwischen 1977 und 1990 publizierten randomisierten Studien wird bei Traumapatienten, insbesondere bei penetrieren-
351 Literatur
den Thoraxverletzungen, eine Antibiotikaprophylaxe empfohlen [8]. Sie sollte aber nur kurzzeitig erfolgen.
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26
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27 Bronchoskopie H. Tonn
27.1
Einleitung
27.2
Indikationen
27.3
Kontraindikationen
27.4
Komplikationen/Risiken
27.5
Untersuchungsgang
27.6
Techniken der Materialentnahme
27.7
Technische Aspekte Literatur
–354 –354
–357
–356 –356
–356
–357
–356
27
354
Kapitel 27 · Bronchoskopie
27.1
Einleitung
Die Entwicklung des Fiberbronchoskops Mitte der 1960-er Jahre in Japan durch Shigeto Ikeda [1] hat zu einer Er weiterung der bronchoskopischen Techniken und deren weltweiter Verbreitung geführt. Als Folge ging der Einsatz der starren Bronchoskopie stark zurück. Die leichtere Erlernbarkeit gegenüber der starren Technik und die bessere Verfügbarkeit aufgrund eines vergleichsweise geringeren technischen und personellen Auf wands haben den Trend zur Fiberbronchoskopie gefördert. Ende der 1960-er/ Anfang der 70-er Jahre wurde die Fiberbronchoskopie zunehmend auch in der Anästhesie und Intensivmedizin, insbesondere beim »Management des schwierigen Atemweges« eingesetzt [2, 3], zu dessen festem Bestandteil sie inzwischen geworden ist [4]. Der anhaltende Rückgang der starren Technik hatte zur Folge, dass viele, ja sogar ganze Ärztegenerationen, insbesondere in den USA und Japan, in dieser Technik nicht mehr ausgebildet worden sind. Erst in jüngerer Zeit hat man erkannt, dass die Ausbildung in der starren Technik und das Know-how weiterhin erforderlich sind [6, 7]. Einerseits wird sicherlich ein Großteil der Indikationen auf Intensivstationen durch die Fiberbronchoskopie abgedeckt, andererseits sind es gerade respiratorisch kritisch kranke Patienten, die in einigen Situationen nur mit der starren Technik optimal versorgt werden können [8]. Unter diesem Gesichtspunkt spielt die Ausbildung in bronchoskopischen Techniken eine große Rolle. Auch wenn eine praktische Ausbildung nicht in allen Verfahren möglich ist, sollten zumindest theoretische Kenntnisse über starre bronchoskopische Techniken vermittelt werden. 27.2
Indikationen
Die Indikationen für die Bronchoskopie sind äußerst vielfältig [8] und ergeben sich z. B. im Zusammenhang mit Intubation und Beatmung, aufgrund klinischer Symptome oder radiologischer Veränderungen, wobei sich diese Indikationen im klinischen Alltag häufig überlapappen. Ebenso ist die Unterscheidung zwischen diagnostischer und therapeutischer Indikation v. a. beim Intensivpatienten eher von theoretischer Bedeutung, da es auch hier zahlreiche Überschneidungen gibt. Indikationen für die Bronchoskopie mit einer Gegenüberstellung von Fiberbronchoskopie und starrer Bronchoskopie sind in . Tabelle 27.1 aufgeführt. Auf einzelne Indikationen wird nachfolgend kurz eingegangen.
Beatmungs-/Tubusprobleme Eine der wichtigsten und häufig dringlichen Indikationen bei beatmeten Patienten sind Ventilationsprobleme [11]. Immer dann, wenn ein Patient nicht mehr mit ausreichenden Volumina beatmet werden kann oder hohe Beatmungsdrücke erforderlich sind, sollte so schnell wie möglich die Ursache bronchoskopisch geklärt werden. Tubusfehllage, Tubusobstruktion und/oder Bronchusobstruktion sind mögliche Ursachen, die mit dem Bronchoskop rasch erkannt werden können. Bei dringlichen Indikationen muss eine rasche Verfügbarkeit des Instrumentariums gewährleistet sein. Von Vorteil sind hier batteriebetriebene Fiberbronchoskope, die ohne großen Aufwand transportabel und einsetzbar sind.
Röntgenthoraxveränderungen Röntgenologische disseminierte, lokalisierte Thoraxveränderungen, Atelektasen und Rundherde gehören zu den häufigsten röntgenologischen Indikationen für eine Bronchoskopie. Die entscheidene Frage lautet, ob die Veränderungen in Zusammenhang mit der eingeschränkten respiratorischen Situation des Patienten stehen und ob eine bronchoskopische Untersuchung kurz oder mittelfristig aufgrund der Diagnostik und/oder der unmittelbaren Therapie die respiratorische Situation verbessern kann. Rundherde spielen daher bei Intensivpatienten unter funktionellen Gesichtspunkten so gut wie keine Rolle, obwohl sie prognostisch (Bronchialkarzinom, Lungenmetastasen von Karzinomen extrathorakaler Lokalisation) sehr wohl eine hohe Bedeutung haben können. Häufig muss vor einer bronchoskopischen Untersuchung ein Thorax-CT mit Kontrastmittelgabe angefertigt werden, um auch die mediastinalen Strukturen und die Gefäße darzustellen. Bei disseminierten Verschattungen ist ein Thorax-CT in hochauflösender Technik (»high resolution«; HR-LT) indiziert.
Hämoptysen Schwere Hämoptysen (300–500 ml/24 h) stellen immer eine dringliche Indikation für eine Bronchoskopie dar. Solche Blutungen können mit verschiedenen Techniken gestillt werden; am besten ist hierfür aber die starre Bronchoskopie geeignet. Wenn erforderlich, können mehrere Absauger gleichzeitig eingeführt und so bei massiven Hämoptysen ein unmittelbares Ersticken verhindert werden. Durch anschließende Platzierung von Tamponaden können weitere Blutungen verhindert werden, bis über das endgültige Vorgehen, z. B. radiologische Embolisation (»coiling«) [13] oder Operation – abhängig von Diagnose und kardiopulmonalem Zustand des Patienten – entschieden worden ist. Fiberbronchoskopisch sind die Möglichkeiten deutlich eingeschränkt, jedoch lassen sich nach Absaugen des Blutes Bronchusblocker einführen. Alternativ kann eine einseitige Intubation des Patienten erfolgen oder die Intubation mit einem Doppellumentubus, um zumindest die akute Blutung zu stoppen.
Fremdkörper Fremdkörper werden gelegentlich als Zufallsbefund im Rahmen einer Bronchoskopie entdeckt, in der Regel jedoch aufgrund der anamnestischen Angaben und des röntgenologischen Befundes bronchoskopisch entfernt. Kleinere Fremdkörper können fiberskopisch entfernt werden. Vorsicht ist jedoch bei größeren und insbesonders scharfkantigen Fremdkörpern geboten. Hier ist die starre Bronchoskopie das schnellere und v. a. sicherere Verfahren.
Atemwegsstenosen Stridor ist das führende Symptom bei hochgradigen Atemwegsstenosen. Bronchoskopisch sollte so bald wie möglich die Ursache (benigne/maligne Stenose) geklärt und über das therapeutische Vorgehen entschieden werden, z. B. primär bronchoskopische Therapie in Form von Dilatation, Tumorabtragung und/oder Stentimplantation oder primäres oder sekundäres chirurgisches Vorgehen. Ein interdisziplinäres Vorgehen (Thoraxchirurgie, HNO) ist in diesen Fällen angezeigt. Auch rein funktionelle Stenosen bei Bronchialkollaps haben eine große Bedeutung, da langzeitbeatmete Patienten mit dieser funktionellen Beeinträchtigung schwer entwöhnt werden können [14].
355 27.2 · Indikationen
27
. Tabelle 27.1. Indikationen zur Bronchoskopie Flexibel
Starr
Beatmungssprobleme (hohe Beatmungsdrücke bzw. niedrige Atemzugvolumina insbesondere´, plötzlich auftretend), Tubusfehllage
Erstmaßnahme, diagnostische Klärung
Stenosen der großen Atemwege, da Diagnostik und Therapie (interventionell) gleichzeitig möglich
Tubuslagekontrolle nasal/oral
Methode der Wahl
–
Schwierige Intubation erwartet/ Umintubation
Methode der Wahl
Abhängig vom Befund, ggf. starres Kinderinstrumentarium bei hochgradigen Kehlkopf- und subglottischen Stenosen
Schwierige Intubation unerwartet
u. U. technisch anspruchsvoll, falls Patient bereits relaxiert ist
Option, abhängig von Befund, Ver fügbarkeit von Instrumentarium und Er fahrung des Anwenders
Kontrolle nach traumatischer Intubation
Erstmaßnahme, Beurteilung der Pars membranacea kann schwierig sein
Einsatz, sofern fiberbronchoskopisch keine eindeutige Klärung möglich
Sekretverlegung Atemwege/ Tubus
Erstmaßnahme
Vorteilhaft bei zähem Sekret
Hämoptysen
Absaugung, Grenzen bei schweren Hämoptysen und Koagelbildung, Einbringung von Bronchusblockern möglich
Schwere Hämoptysen, Absaugung u. U. mit mehreren Absaugern parallel, Möglichkeit der Einbringung von Tamponaden
Fremdkörper
Kleinere Fremdkörper
Große, scharfkantige Fremdkörper
Infektionen
Materialgewinnung
Bei massiver Vereiterung in Kombination mit flexibler Technik
Perkutane Dilatationstracheotomie [10]
Methode der Wahl, bronchoskopische Kontrolle des Punktions- und Dilatationsvorgangs obligat, anschließend endoskopische Kontrolle der Trachealkanüle
Option, Vorteil: Gerät kann durch Punktion nicht beschädigt werden (Kontrolle der Kanüle jedoch nur mit Fiberskop möglich)
Chirurgische Tracheotomie
Einlegen/Kontrolle der Trachealkanüle
–
Dekanülierung
Beurteilung der Trachea nach Entfernen der Kanüle über Tracheotomie: Granulationen, Schleimhautulzera; retrograde Spiegelung bei Verdacht auf subglottische Stenose, funktionelle Atemwegsbeurteilung, »dynamischer Atemwegskollaps« [13]
Einsatz, sofern fiberbronchoskopisch keine eindeutige Klärung möglich. Bei Stenosen und/oder Malazie endoskopische Vermessung zur Frage eines möglichen chirurgischen Verschlusses in Kombination mit einem tracheoplatischen Eingriff
Platzierung von Doppellumentuben oder Doppellumentrachealkanülen
Dünnes ca. 2,8 mm starkes Fiberskop er forderlich
–
Verletzungen der Atemwege Verletzungen der Atemwege stellen immer eine dringliche Indikation für eine Bronchoskopie dar. Der Entstehungsmechanismus der Verletzungen ist unterschiedlich. Zum einen gibt es Verletzungen durch äußere Gewalteinwirkung: stumpfe Traumata (Dezelerationstrauma), Schuss- und Stichverletzungen, Inhalationstraumata. Zum anderen gibt es eine Reihe von iatrogenen Entstehungsmechanismen: Intubationstraumata durch nasale, orale oder Doppellumentubenintubation mit Verletzung der Pars membranacea in unterschiedlicher Ausprägung, Schädigung von Pars membranacea und/oder des Knorpelgerüsts der Trachea durch eine perkutane Dilatations- und auch durch eine chirurgische Tracheotomie, Verletzungen durch bronchoskopische Eingriffe in starrer Technik, Laserresektionen, Sten-
timplantationen mit Bronchuseinriss. Daneben gibt es Folgen chirurgischer Eingriffe, die bronchoskopisch diagnostiziert und in einigen Fällen auch bronchoskopisch (Fibrinklebung, Stentimplantation) therapiert werden, wie Bronchusstumpfinsuffizienzen, und ösophagotracheale Fisteln nach thorakalen resektiven und bronchoplastischen Eingriffen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Schäden. So kann ein stumpfes Thoraxtrauma einen primären Bronchialeinriss hervorrufen, der unentdeckt bleibt und sekundär zu einer Bronchusstenose führen kann. Eine primäre subglottische Schleimhautverletzung der Trachea – z. B. im Rahmen einer Notfallintubation – bleibt unentdeckt, bis sich einige Zeit nach Extubation oder nach Dekanülierung bei Tracheotomie eine subglottische Stenose entwickelt.
356
27
Kapitel 27 · Bronchoskopie
Klinische Symptome einer akuten Atemwegsverletzung können Hämoptysen, Haut- und Mediastinalemphysem sowie ein Pneumothorax oder eine Kombination der Symptome in unterschiedlicher Konstellation sein. Bei beatmeten Patienten kann außer diesen Symptomen auch noch ein hoher Verlust des Atemminutenvolumens über Fisteln auftreten. Das Hautemphysem kann mit Ausbreitung über den ganzen Körper erhebliche Ausmaße annehmen. Das Gesicht, insbesondere die Augenlider können so anschwellen, dass ein Öffnen der Augen nicht mehr möglich ist. i Stridor ist das führende Symptom bei sekundär bedingten Atemwegsstenosen.
Ziel sollte es daher sein, die primären Schäden so schnell wie möglich zu diagnostizieren, das Ausmaß festzustellen und zu klären, ob ein sofortiges chirurgisches Vorgehen erforderlich ist. Je früher eine chirurgische Versorgung erfolgt, desto eher können Infektionen wie beispielsweise eine Mediastinitis verhindert werden und desto besser ist die Prognose. Dies gilt insbesondere für Intubationsschäden mit Verletzung der Pars membranacea. Bei sekundären Schäden sollte entschieden werden, ob eine interventionelle bronchoskopische Maßnahme oder ein chirurgisches Vorgehen indiziert ist. 27.3
Kontraindikationen
Kardiale Erkrankungen stellen eine Kontraindikation für die Bronchoskopie dar, wenn diese den schlechten respiratorischen Zustand verursachen und zu röntgenologischen Veränderungen (Lungenödem/Pleuraergüsse) geführt haben und damit eine Bronchoskopie weder diagnostisch noch therapeutisch weiterführen würde. Vor einer Bronchoskopie sollten daher in Zweifelsfällen eine Echokardiographie und eine Thoraxsonographie (Pleuraergüsse, ggf. Punktion) erfolgen. Hämoptysen können durch Lungenembolien verursacht sein; dann erbringt eine Bronchoskopie keine zusätzlichen Informationen. Sofern massive Hämoptysen nicht eine sofortige Bronchoskopie erzwingen, sollte daher bei Hämoptysen zur Diagnostik von Lungenembolien ein Thorax-CT mit Kontrastmittel angefertigt werden. Gerinnungsstörungen sind eine relative Kontraindikation, ggf. sollte auf Punktionen und Biopsien verzichtet werden. Bei beatmeten Patienten mit schwerer respiratorischer Insuffizienz ist eine Bronchoskopie kontraindiziert, wenn hierdurch eine ausreichende Beatmung gefährdet ist und die bronchoskopischen Maßnahmen per se keine Verbesserung der respiratorischen Situation erbringen können. Bei spontan atmenden Patienten und bei nicht-invasiv beatmeten Patienten kann die Bronchoskopie die respiratorische Situation so verschlechtern, dass eine invasive Beatmung erforderlich wird.
27.4
Komplikationen/Risiken
Die bronchoskopische Untersuchung geht mit verschiedenen Risiken einher: Hypoxämie, Rhythmusstörungen, Laryngo/Bronchospasmus, Blutung, Barotrauma (Pneumothorax) [15, 16]. Je schwerer der Patient ohnehin schon respiratorisch eingeschränkt ist, desto größer ist auch das Gesamtrisiko der Untersuchung. Bei beatmeten Patienten kann die Ventilation eingeschränkt werden, wenn ein Fiberskop mit einem relativ großen
Durchmesser durch einen relativ kleinen Endotrachealtubus eingeführt wird. Zur Verhinderung von Komplikationen ist während der Untersuchung ein kontinuierliches Monitoring der Atem- und der Herz-Kreislauf-Funktion erforderlich. Bei Herzrhyhtmusstörungen oder Abfall der arteriellen Sauerstoffsättigung muss die Untersuchung u. U. abgebrochen werden. 27.5
Untersuchungsgang
Eine wesentliche Voraussetzung für die Untersuchung ist die Fähigkeit des Untersuchers, sich gut im Bronchialsystem orientieren zu können, um die Untersuchung insbesondere bei schwer respiratorisch eingeschränkten Patienten so kurz wie möglich zu halten. Die Orientierung muss auch bei schwierigen Bedingungen wie eingeschränkter Sicht durch endobronchiales Blut gewährleistet sein. Die Hauptkarina ist die wichtigste bronchoskopische Orientierungmarke. Bei beatmeten Patienten muss sichergestellt sein, dass der Tubus oder die Trachealkanüle vor der Bifurkation in der Trachea liegen. Nicht-invasiv beatmete Patienten erhalten während der Endoskopie zusätzlichen Sauerstoff, beatmete Patienten dagegen 100% Sauerstoff. Untersucht wird zunächst die mutmaßlich gesunde Seite, damit sichergestellt ist, dass bei jedweden Manipulationen, die zu einer endobronchialen Blutung führen können, zumindest eine Lunge problemlos ventiliert werden kann. 27.6
Techniken der Materialentnahme
Gewinnung von Sekret Bronchialsekret kann durch direkte Saugung über den Arbeitskanal des Fiberbronchoskops mit einer entsprechenden Sekretfalle gewonnen werden. Möglich ist auch die Absaugung über einen Katheter, der durch den Arbeitskanal eingeführt wird und und dessen Vorteil darin liegt, dass er weiter in die Peripherie geschoben werden kann als das Bronchoskop.
Bronchoalveoläre Lavage (BAL) Dieser Begriff wird für verschiedene Techniken verwendet. Bei der eigentlichen BAL wird eine definierte Menge 0,9%-ige NaCl-Lösung (100–300 ml) in das Bronchialsystem eingebracht, nachdem das Fiberbronchoskops in einem Segmentbronchus in »Wedge-Position« platziert worden ist. Die durch Absaugung zurückgewonnene Menge wird zytologisch quantitativ untersucht. Die BAL wird vorwiegend bei disseminierten Lungenerkrankungen eingesetzt. Für bakteriologische Untersuchungen hat sich diese Technik nicht durchgesetzt, da es schwierig ist, eine Quantifizierung der Bakterien standardisiert vorzunehmen. Für bakteriologische Untersuchungen kann entweder natives Sekret entnommen oder ein Art »Mini-BAL« durchgeführt werden. Das Freispülen von mit Sekret verlegten Bronchusabschnitten wird häufig ebenfalls als BAL bezeichnet. Einen Sonderfall stellt die Lavage bei Alveolarproteineose dar, bei der mit 25–50 l 0,9%-iger Kochsalzlösung über einen Doppellumentubus in Portionen von ca. 1 l eine Lunge gewaschen, d. h. von Proteinbestandteilen, die die Diffusion beeinträchtigen, freigespült wird.
357 Literatur
»Geschützte Bürste« Die »geschützte Bürste« kann zur Entnahme von Material sowohl für bakteriologische als auch für zytologische Untersuchungen eingesetzt werden. Gegenüber einer peripheren Zangenbiopsie besteht ein geringeres Pneumothorax- und Blutungsrisiko.
Transbronchiale Nadelpunktion (TBNA) Transbronchiale Nadelpunktionen werden zur mediastinalen Lymphknoten- und Tumorpunktion eingesetzt. Beachtet werden sollte, dass ein gewisses Pneumothoraxrisiko gerade bei beatmeten Patienten besteht [17].
Zangenbiopsien Biopsien werden bei endobronchialen Schleimhautveränderungen, insbesondere aber in der Tumordiagnostik eingesetzt. Biopsien sollten jedoch nur entnommen werden, wenn die Möglichkeit zur Blutstillung besteht und diese technisch vom Untersucher beherrscht wird.
Periphere Lungenbiopsien Periphere Lungenbiopsien erfolgen bei Intensivpatienten nur als Ultima ratio, da sie mit hohem Risiko eines Pneumothorax bzw. Spannungspneumothorax unter Beatmung verbunden sind. Die Diagnosesicherung kann aber gelegentlich erforderlich sein, um das weitere therapeutische Vorgehen zu bestimmen, etwa eine hochdosierte Kortisontherapie bei interstitiellen Erkrankungen. Bei respiratorisch schwer kompromittierten Patienten mit einer durch periphere Lungenbiopsie histologisch gesicherten malignen Erkrankung – z. B. einem bronchioloalveolären Karzinom oder einer Lymphangiosis carcinomatosa – kann u. U. auch die Entscheidung zur Einstellung der Intensivtherapie folgen. 27.7
Technische Aspekte
Fiberbronchoskope werden in unterschiedlichen Ausführungen hergestellt. Vorzugsweise sollte ein Gerät, das universell eingesetzt werden kann, zur Verfügung stehen. Hier bietet sich ein Fiberbronchoskop mit einem Außendurchmesser von 5,2 mm und einem Absaugkanal von 1,8 mm an. Mit diesem Gerät können Beatmungstuben von 6,0 mm gerade noch passiert werden; eine Absaugung und Spülung des Bronchialsystems ist ebenfalls möglich. Dünne Fiberskope mit einem Außendurchmesser von 2,8 mm (Absaugkanal 1,2 mm) werden für die Platzierung und Kontrolle von Doppellumentuben, zur Passage hochgradiger Trachealstenosen, Intubation bei Stenosen durch Larynxtumoren und in der Pädiatrie eingesetzt. Dickere Bronchoskope mit einem Außendurchmesser von 6,0 mm und mehr (Absaugkanal 2,8–3,2 mm) eignen sich sehr gut zum Absaugen von zähem Sekret. Ultradünne Fiberskope mit einem Außendurchmesser von 2 mm haben keinen Arbeitskanal und sind daher für eine Intensivstation weniger geeignet. Die Länge der Geräte ist abhängig von Modell und Hersteller und reicht von 55–70 cm. Bei einer Länge von <60 cm können gelegentlich bei nasal intubierten Patienten die peripheren Bronchialabschnitte nicht eingesehen bzw. abgesaugt werden. Geräte mit Akkubetrieb benötigen keine netzgebundene Lichtquelle und sind daher leicht zu transportieren und rasch einsetzbar.
27
Die Abwinkelung ist nach vorn und hinten ebenfalls bei den meisten Geräten unterschiedlich. Nach vorn sind es 180°, nach hinten 130°, aber auch hier gibt es diverse technische Ausführungen. Ein speziell eingerichteter Endoskopiewagen bietet den Vorteil, dass alles benötigte Zubehör auf und in dem Wagen gelagert werden kann. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, einen Monitor auf dem Wagen zu platzieren, sodass eine Videoendoskopie entweder mit einer auf dem Endoskop aufgesetzten Kamera oder mit einem Videoendoskop mit integrierter Kamera durchgeführt werden kann. Zur Ausbildung und besonders bei der Dilatationstracheotomie (7 Kap. 25) ist dies von großem Vorteil. Die starre Bronchoskopie wird vorzugsweise in einem speziellen Endoskopieraum oder einem entsprechenden OP durchgeführt. Für bronchologische Notfälle sollten Geräte mit verschiedenen Durchmessern und Längen zur Verfügung stehen. Auf der Intensivstation sollte ein Notfallset mit starrem Instrumentarium (im einfachsten Fall zumindest ein »Notfallrohr«) zur Verfügung stehen.
Literatur 1. Ikeda S, Yanai N, Ishikawa S (1968) Flexible bronchofibrescope. Keio J Med 17: 1–16 2. Kronschwitz, H. Die nasotracheale Intubation mit einem IntubationsFiberskop. Anästhesist 18 (1969) 58 3. Tahir AH (1972) The bronchofiberscope as an aid to endotracheal intubation. Br J Anaesth 44: 1118 4. DGAI (2004) «Airway Management”. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 45: 302–306 5. Lillington GA (2996) To everything there is a season. The welcome return of the rigid bronchoscope, Editorial. J Respirat Dis 27/3: 90 6. Shepherd RW, Beamis JF (2006) Understanding the basics of rigid bronchoscopy. J Respirat Dis 27/3: 100–113 : Der Artikel sollte Programm für alle Intensivmediziner sein. Er bescheibt anschaulich, dass mit dem Rückgang der starren Bronchoskopie auch das Verständnis für die Technik vielerorts fehlt. 7. Beamis JF (2000) Modern use of rigid bronchoscopy. In: Bolliger CT, Mathur PN (eds) Interventional bronchoscopy. Karger, Basel, S 22–30 8. British Thoracic Society (2001) Guidelines on diagnostic flexible bronchoscopy. Thorax 56: 1–21 : Eine sehr gute und gründliche Zusammenfassung verschiedener Aspekte der Bronchoskopie mit Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Fiberbronchoskopie, mit Hinweisen zur starren Bronchoskopie, Komplikationen und Kontraindikationen und mit einem sehr ausführlichen Literaturteil. 9. Schaberg T (2000) Invasive Diagnostik der Beatmungspneumonie. In Wassermann K (Hrsg) Interventionelle und diagnostischen Bronchologie. Dustri-Verlag, S 270–276 10. Klasen J et al. (2006) Dilatative Tracheotomie: Strategien zur Verhinderung von Komplikationen. Anästh Intensived 47: 133–142 11. Zimmermann C, Freitag L, Schönhofer B (2002) Unentdeckte tracheale Tumoren als Ursache für Respiratorpflichtigkeit. Dtsch Med Wochenschr 127: 497–499 : Die rasche Klärung von Ventilationsproblemen ist bei allen Intensivpatienten von vitaler Bedeutung. Spätestens wenn ein Patient nicht vom Respirator entwöhnt werden kann, ist eine bronchoskopische Kontrolle der zentralen Atemwege er forderlich. Sinnvoll ist es jedoch in den allermeisten Fällen, schon frühzeitig nach Beginn der Respiratortherapie den Patieten zu bronchoskopieren, um nicht, wie in der Arbeit von Zimmermann et al. beschrieben, einen die zentralen Atemwege verlegenden Tumor zu übersehen.
358
27
Kapitel 27 · Bronchoskopie
12. Ong TH, Eng P (2003) Massive hemoptysis requiring intensive care. Intens Care Med 2: 317–320 13. Fernando HC, Stein M, Benfield JR, Link DP (1998) Role of bronchial artery embolization in the management of hemoptysis. Arch Surg 133 (8): 862–866 14. Murgu SD, Colt HG (2006) Treatment of adault tracheobronchomalacia and excessive dynamic airway collapse: an update. Treat Respir Med 5 (2): 103–115 : Die Arbeit macht sehr schön deutlich, dass auch pathologische funktionelle tracheobronchiale Veränderungen mit Hilfe der Bronchoskopie diagnostiziert werden können. Neben der bronchoskopischen Diagnostik der fixierten Stenosen hat dies eine große Bedeutung für die weitere Therapie. 15. Lukomsky G, Ovchinnikov A, Bilal A (1981) Complications of bronchoscopy. Comparison of rigid bronchoscopy under general anesthesia and flexible fiberoptic bronchoscopy under topical anesthesia. Chest 79: 316–321 : In dieser prospektiven Studie waren die Komplikationen der starren Bronchoskopie höher als die der Fiberbronchoskpiegruppe. Ein Umstand wurde allerdings nicht berücksichtigt: Eine Reihe von schwer respiratorisch eingeschränkten Patienten mit massiven Hämoptysen oder hochgradigen Atemwegsstenosen kann nur starr bronchoskopiert werden. Der Einsatz des Fiberbronchoskops wäre technisch gar nicht möglich. Ein direkter Vergleich der Fiberbronchoskopie mit der staren Bronchoskopie ist daher bei Hochrisikopatienten praktisch nicht möglich. 16. Ghamande S (2002) Role of transbronchial needle aspiration in patients receiving mechanical ventilation. Chest 212 (3): 985–989 17. Peirerea W, Kovnat D, Snider G (1995) A prospective cooperative study of complications following flexible fiberoptic bronchoscopy. Chest 107: 430–432
28 Akut- und Frührehabilitation M. Bachmann, B. Gassner, S. Kircher, B. Moser, G. Schönherr, N. Trost
28.1
Rehabilitationsteam und Zielsetzung
–360
28.2
Lagerung
28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10
Lagerung zur Verbesserung der Atemfunktion –360 Lagerung zur Vermeidung bzw. Behandlung von Dekubitalulzera –360 Lagerung zur Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion –361 Lagerung bei erhöhtem Hirndruck –361 Lagerung zur Regulation des Muskeltonus –361 Lagerung zur Förderung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten –362 Lagerung zur Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit –362 Lagerung zur Angstreduktion und Vermittlung von Sicherheit –363 Spezielle Lagerungen bei Verletzungen des Bewegungsapparats –363 Zusammenfassung –363
28.3
Atemtherapie
28.3.1 28.3.2 28.3.3 28.3.4 28.3.5 28.3.6 28.3.7 28.3.8 28.3.9 28.3.10 28.3.11
Weaning –363 Sekretlösung und Sekrettransport –363 Erhaltung und Verbesserung der Thoraxdehnbarkeit Normalisierung des Atemmusters –364 Angstminderung, Entspannung –364 Atmung, Stimme und Schlucken –364 Schluck- und Esstherapie –364 Abklärung –364 Kausale Therapieverfahren –365 Esstraining mit Kompensationsstrategien –365 Kanülenmanagement –365
28.4
Bewegungstherapie
28.4.1 28.4.2
Aufgaben –366 Vorgehen bei muskulärem Hypertonus –366
28.5
Basale Stimulation
28.5.1 28.5.2 28.5.3 28.5.4 28.5.5
Vestibuläre Stimulation –366 Taktile Stimulation –367 Akustische Stimulation –367 Visuelle Stimulation –367 Gustatorische und olfaktorische Stimulation –367
28.6
Symptomorientier te Therapie
28.6.1 28.6.2 28.6.3
Physiotherapie –368 Ergotherapie –368 Logopädie –369
–360
Literatur –369
–363
–366
–366
–368
–364
360
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
28.1
Rehabilitationsteam und Zielsetzung
28.2.1 Lagerung zur Verbesserung
der Atemfunktion
28
Erste Rehabilitationsmaßnahmen beginnen bereits in der Akutphase (A-Phase) der Erkrankung und gehen direkt in die Frührehabilitationsphase (B- oder Rehaphase) über. Die Rehabilitation erfolgt – dies ist auf Intensivstationen von besonderer Bedeutung – interdisziplinär. Das Behandlungsteam, bestehend aus Ärzten, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden sowie dem Pflegepersonal legt zunächst therapeutische Ziele fest, die dann gemeinsam erreicht werden sollen. Hierfür muss ein Großteil des Teams in den erforderlichen Behandlungskonzepten auf der Basis des cleanical reasoning (wie z. B. Bobath, basale Stimulation, Affolter, PNF, F.O.T.T. usw.) geschult sein. In der ersten Behandlungsphase arbeitet das Team zusammen am Patienten, berufsspezifische Grenzen verblassen. Akutphase. In der Akutphase stehen die Stabilisierung der Vital-
funktionen sowie die Vermeidung und Bekämpfung sekundärer Komplikationen im Vordergrund. Frührehabilitation. Die Frührehabilitation ist durch folgende Schwerpunkte charakterisiert:
4 4 4 4 4 4 4 4 4
spezifische Lagerungsmaßnahmen, Atemtherapie, Aufbau einer Kommunikationsbasis, Wahrnehmungsförderung, aktivierende, stimulierende Maßnahmen, Kanülenmanagement, Weaning, Förderung der Motorik und der Sensorik, gezielte Schluck- und Esstherapie, Mundhygiene, symptomorientierte therapeutische Intervention.
Atmungserleichternde Positionen müssen ebenfalls für jeden Patienten individuell gefunden werden. Sie sind abhängig von der Grunderkrankung, von Erkrankungen der Atemwege und der Lunge, der Beatmungssituation, dem Körperumfang, persönlichen Vorlieben usw. Bei nicht-kommunizierenden Patienten orientiert man sich an der Atemfrequenz, der O2-Sättigung, der Herzfrequenz, dem Blutdruck usw. Folgende Positionen werden meist gut toleriert: 4 Seitenlage, 4 Sitz, bei Bedarf mit abgestützten Armen, 4 Rückenlage (V-Lagerung). Beim Sitzen ist zu beachten, dass der Patient nicht zusammensackt und der Thorax nicht komprimiert wird. Das Abdomen darf die freie Zwerchfellbeweglichkeit nicht beeinträchtigen. Die Erfahrung zeigt, dass der Sitz im Bett, der oftmals standardmäßig zur Erleichterung der Atmung eingesetzt wird, nicht immer die beste Position ist (zu Drainagelagerungen 7 Kap. 28.3.2). 28.2.2 Lagerung zur Vermeidung
bzw. Behandlung von Dekubitalulzera Dekubitusrisiko. Das Dekubitusrisiko ist in der Akutphase der Intensivbehandlung deutlich erhöht. Die Ursachen sind sehr vielfältig, z. B. Mikrozirkulationsstörungen durch Kreislaufinstabilität und Katecholaminbehandlung, Immobilisierung, Analgosedierung, Thermoregulationsstörungen, Katabolismus usw. Dekubitusgefährdete Körperstellen. Folgende Körperstellen
28.2
Lagerung
Die Lagerung intensivpflichtiger Patienten ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Vermeidung oder zur Behandlung von Sekundärkomplikationen wie Pneumonien, Thrombosen, Dekubitalulzera, Kontrakturen und Nervendruckläsionen. i Eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie eine entsprechende Ausbildung aller auf einer Intensivstation tätigen Personen sind maßgeblich für die sinnvolle und erfolgversprechende Durchführung von Lagerungen. Therapieziele. Es gibt viele verschiedene Ziele, die die jeweilige
Lagerung eines Patienten erfüllen soll: 4 Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion, 4 Verbesserung der Atmung, 4 Hirndrucksenkung, 4 Vermeidung bzw. Behandlung von Dekubitalulzera, 4 Regulation des Muskeltonus, 4 Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit, 4 Speziallagerungen bei Verletzung des Bewegungsapparats, 4 Förderung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten, 4 Angstreduktion, Vermittlung von Sicherheit. Da – je nach aktueller Hauptproblematik – nicht alle Ziele mit jeder Lagerung erfüllt werden können, wird für jeden Patienten eine individuell angepasste Lösung gesucht.
sind dekubitusgefährdet und müssen daher druckentlastet bzw. druckfrei gelagert werden: 4 In Rückenlage: 4 Hinterkopf, Ellbogen, Kreuzbein und Sitzbein, Fersen und Fußknöchel, 4 In Bauchlage: 4 Stirn, Nase, Kinn, Schulter, Rippenbogen, Knie und Fußrücken, bei Männern auch Hoden und Penis. Daraus resultiert der begründete, anfänglich sehr häufige Einsatz von Spezialmatratzen bzw. Spezialbetten zur Auflagedruckminimierung, z. B. die Anwendung von Luftkissenbetten. Anzumerken ist, dass auch auf diesen Spezialmatratzen bzw. -betten regelmäßig in verschiedenen Positionen gelagert werden kann und muss. i Nachteil der Superweichlagerung ist, dass der Patient jegliches Körpergefühl verliert und, z. B. beim Abhusten, kein Widerlager zum Abstützen bzw. zum Einsatz der Atemhilfsmuskulatur findet. Dekubitusprophylaxe durch Umlagern. Wechselnde Körperpositionen dienen nicht nur der optimalen Dekubitusprophylaxe, sondern auch dem Vestibulumtraining und als Orientierungshilfe am eigenen Körper und im Raum. Daher sollte der Patient schnellstens von der Superweichlagerung, z. B. vom Luftkissenbett, entwöhnt und regelmäßig (ca. alle 2 h) umgelagert werden. In Seitenlage wird nicht direkt auf die Seite, sondern etwas vor bzw. hinter der 90°-Position gelagert.
361 28.2 · Lagerung
28.2.3 Lagerung zur Verbesserung
der Herz-Kreislauf-Funktion Regelmäßiges Umlagern im Bett sowie die frühest mögliche, kontrollierte, langsam aufbauende Mobilisation des Patienten dienen der Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion. Die Versorgung mit gut angepassten Antithrombosestrümpfen bzw. Bandagen ist unerlässlich. Passive, möglichst aber aktive rhythmische Bewegungen im Bett dienen als Vorbereitung zur Mobilisation. Im Einzelfall und nach Absprache mit dem Arzt können auch kreislaufstabilisierende Medikamente angewandt werden. Bei venösem Rückstau empfiehlt sich eine 20°-Hochlagerung der Beine. 28.2.4 Lagerung bei erhöhtem Hirndruck Bei der Lagerung von Patienten mit gesteigertem intrakraniellem Druck muss der Kopf in Mittelstellung gelagert werden; Überstreckung oder Abknickung sind zu vermeiden. Bei Kreislaufstabilität wird eine leichte Oberkörperhochlagerung empfohlen, um den venösen Blutabfluss aus dem Gehirn über die Jugularvenen zu fördern. 28.2.5 Lagerung zur Regulation des Muskeltonus Je nach Tonussituation (Hypo-/Hypertonus) wird versucht, diese durch eine entsprechende Lagerung zu beeinflussen.
Hypotonus Durch häufiges Umlagern, Wechsel unterschiedlicher Gelenkpositionen und das Vertikalisieren in den Sitz oder den Stand wird versucht, den Muskeltonus zu normalisieren.
Hypertonus Muskulärer Hypertonus kann zahlreiche Ursachen haben (spinale, zerebrale Spastizität, Tonuserhöhung nach Mittelhirnsyndrom) und sich unterschiedlich manifestieren: Extensions-, Flexionssynergien, Seitenbetonung usw. Die Lagerungsbehandlung erfolgt entgegen derjenigen Gelenkstellungen, die durch die tonische Aktivitätssteigerung eingenommen wurden. Auch hierbei wird nicht streng nach einem Schema vorgegangen, sondern es wird versucht, je nach Reaktion des Patienten (vegetative Zeichen, motorische Unruhe etc.) eine für den Patienten angenehme Position zu finden.
Keine Extrempositionen. Prinzipiell wird bestehenden tonischen Mustern entgegengelagert. In der pseudoschlaffen Phase lagert man entgegen die zu erwartende Form der Tonuserhöhung. Es sollten dabei jedoch keine Extrempositionen eingenommen werden, da es durch Dehnung, im schlimmsten Fall durch Schmerz, zu einer noch stärkeren Tonuserhöhung kommt. Vor allem bei Tonuserhöhungen mit rigidem Anteil, wie nach einem Mittelhirnsyndrom, führt anhaltende Dehnung und endgradiges Bewegen zu einer Erhöhung der Muskelgrundspannung. Übermäßiger Eifer, z. B. beim Durchbewegen mit dem Ziel der Kontrakturprophylaxe, kann in diesem Fall zum gegenteiligen Effekt führen. Lagerungsmaterial. Optimales Lagerungsmaterial zeichnet sich durch gute Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit an die Situation aus (z. B. Federpolster). Starre Polster, Gips-, und Kunststoffschienen in der Frühphase führen zu vermehrter Muskelspannung und somit zu verstärkter Gefahr von Kontrakturen und sollten primär nicht für die Lagerung verwendet werden. Härteres Material wird aber sehr wohl ganz gezielt zum Zweck der Wahrnehmunsförderung, dem Erspüren der eigenen Körpergrenzen und der Umwelt eingesetzt. Gips und Schienen sollen ausschließlich zu therapeutischen Zwecken verwendet werden und müssen individuell genauest an die jeweilige Patientensituation angepasst und kontrolliert werden. Seitenlage. Sie ist bei allen Patienten mit muskulärer Hypertonie die bevorzugte Position, da sie die tonische Muskelaktivierung im Sinne einer Tonusreduktion am günstigsten beeinflusst. Bei Patienten mit halbseitiger Symptomatik wird versucht, den zu erwartenden bzw. den schon vorhandenen pathologischen Haltungs- und Bewegungsmustern entgegenzuwirken. Dabei eignet sich die Lagerung auf die betroffene Körperhälfte am besten zur Tonusregulation (. Abb. 28.1). i Die Seitenlage ist bei allen Patienten mit muskulärem Hypertonus die bevorzugte Position, da sie die tonische Muskelaktivierung am günstigsten vermindern kann.
Bei Patienten mit Tetraspastik wird individuell, d. h. je nach vorherrschender Tonusverteilung, gelagert, wobei darauf zu achten ist, dass sich die Wirbelsäule in Mittelposition und der Kopf in einer leichten Flexionshaltung befinden. Bei vorherrschendem Extensorentonus an den unteren Extremitäten werden diese v. a.
Folgende Prinzipien sollten immer beachtet werden: Stellung des Kopfes und der Halswirbelsäule. Die Stellung des
Kopfes und der Halswirbelsäule (HWS) bedingt, entsprechend der Lokalisation und des Ausmaßes der ZNS-Schädigung, mehr oder weniger stark ausgeprägte Enthemmungsphänomene tonischer Reflexaktivitäten [tonischer Labyrinthreflex (TLR); asymmetrisch und symmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR, STNR)]. So kann die Extension der Kopfgelenke den Extensionstonus im ganzen Körper verstärken, dasselbe gilt für die Flexion (TLR). Wird die HWS extendiert, erhöht sich der Extensionstonus der oberen sowie der Flexionstonus der unteren Extremitäten und umgekehrt (STNR).
28
. Abb. 28.1. Seitenlagerung
362
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
tung der Wirbelsäule zu achten ist. Bei guter Verträglichkeit kann der Patient am nächsten Tag in einen Stuhl gesetzt werden. Auch hier sei auf die leichte Flexionshaltung des Kopfes hingewiesen. Bei instabilem Rumpf wird dieser mit ausreichend formbarem Polstermaterial (ideal: Federpolster) unterstützt, ebenso die Arme, die zusätzlich auf einen Tisch gelagert werden. Die Beine werden in Flexion, möglichst in 90°, gelagert, die Füße aufgestellt. Umlagern. Auch beim Umlagern des Patienten wird Einfluss auf die Tonussituation genommen. Großflächiges Berühren des Patienten vermittelt Sicherheit. Langsames Tempo und genügend Kontakt zur Unterlage senken den Tonus, wohingegen zu schnelles Arbeiten und unklare Berührungen den Tonus steigern.
28
. Abb. 28.2. Bauchlage: Unterlagerung von Kopf, Rumpf und Sprunggelenken
in Flexion gelagert und umgekehrt. Die häufig verwendete Lagerung in 30°-Drehung erweist sich bei Patienten mit Hypertonus als ungünstig, da sie sich zu nahe an der Rückenlage befindet, wodurch der Kopf und in weiterer Folge der ganze Körper in Extensionsstellung kommen. Tonusregulierender wirkt die Seitenlage knapp vor (günstigste Lage bei Tetraspastik) bzw. knapp hinter der 90°-Lagerung mit Rumpf- und Bauchunterlagerung. Die Bauchlage. Sie stellt ebenfalls eine günstige Möglichkeit zur Beeinflussung tonischer Aktivitäten dar. Durch die leichte Flexionshaltung des Kopfes wird bei Patienten mit starker Strecktendenz häufig eine Tonusverminderung erreicht. Zur Freihaltung der Atemwege (v. a. bei Patienten mit Tubus und Trachealkanüle) und zur besseren Lagerungsmöglichkeit der Schultergelenke muss der Rumpf ausreichend unterpolstert werden. Auch beatmete Patienten können und sollen auf den Bauch gelagert werden. Die Umlagerung erfordert in diesem Fall mehrere Personen. Die Sprunggelenke werden ebenfalls unterpolstert, um einerseits die Überstreckung der unteren Extremitäten zu verhindern, andererseits einer Spitzfußstellung entgegenzuwirken (. Abb. 28.2). Rückenlage. Hier ist besonders auf die Stellung des Kopfes zu
achten, da bei Extension des Kopfes, bedingt durch den tonischen Labyrinthreflex, die Extensorenaktivität verstärkt wird. Deshalb wird der Kopf, bei Bedarf auch der ganze Oberkörper, in leichter Flexion gelagert. Die Hüft- und Kniegelenke werden ebenfalls in leichter Beugehaltung positioniert, um dem Strecktonus entgegenzuwirken. i Insgesamt ist die Rückenlage bei Patienten mit muskulärem Hypertonus als ungünstigste Lagerung anzusehen.
Varianten der Rückenlagerung, z. B. die V-Lagerung oder die Lagerung der Beine in Schrittstellung sind der reinen Rückenlagerung vorzuziehen. Sitz. Sobald der Patient vegetativ ausreichend stabil ist, sollte er
im Sitzen gelagert werden. Das Sitzen fördert Vigilanz und Aufmerksamkeit und beeinflusst die Herz-Kreislauf-Funktion sowie den Muskeltonus positiv, er fördert die Gesamtkörperwährnehmung und die Abgrenzung des Körpers gegenüber der Umwelt. Man beginnt, den Patienten im Bett für einige Minuten aufzusetzen, wobei auf eine aufgerichtete, aber nicht überstreckte Hal-
28.2.6 Lagerung zur Förderung von Vigilanz,
Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten Zur Steigerung der Vigilanz eignen sich hohe Positionen am besten (7 Kap. 28.6.1: »Vestibuläre Stimulation«). Auch deshalb werden Patienten so früh wie möglich vertikalisiert (Querbett, Multifunktionsstuhl, Stand, Gehen). Bei jedem Umlagern kann eine Aktivierung des Patienten erfolgen, sofern diese Handlung kein passives Manipulieren darstellt, sondern auf das jeweilige Aktivitätsniveau des Patienten eingegangen wird. i Bei Patienten mit verlangsamter Reizverarbeitung (z. B. sedierte oder neurologische Patienten) ist es wichtig, das Tempo so anzupassen, dass die jeweilige Handlung nachvollzogen werden kann und dadurch eine aktive Beteiligung ermöglicht wird.
Auch ein Wechsel des Tempos kann zur Stimulation der Vigilanz angezeigt sein, jedoch immer unter genauer Beobachtung der Reaktion des Patienten, da Angst zu Rückzug und Abwehr führen kann. Ein einheitliches Vorgehen ermöglicht es dem Patienten, zunehmend Aktivität zu übernehmen, da die einzelnen Handlungsabläufe vertraut sind und nicht jede Person eine andere Methode anwendet. i Alle Lagerungsmaßnahmen müssen dem Patienten, auch wenn er nicht offensichtlich ansprechbar ist, immer angekündigt und erklärt werden. Ihm muss genügend Zeit bleiben, um darauf zu reagieren und nach seinen Möglichkeiten mitzuhelfen.
28.2.7 Lagerung zur Erhaltung der
Gelenkbeweglichkeit Bei Patienten mit muskulärem Hypotonus sollte die Gelenkbeweglichkeit durch entsprechende Lagerung und Umlagerung, frühest mögliche Mobilisation und sanfte Bewegungstherapie erhalten werden können. Bei Patienten mit muskulärem Hypertonus bildet die Lagerung in tonussenkenden Positionen die wichtigste Vorraussetzung zur Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit. Auch hier sei darauf hingewiesen, dass zu forciertes, über die Gegenspannung des Patienten hinausgehendes Lagern die Ausbildung von Kontrakturen eher fördert als verhindert. Die Verwendung von Lagerungshilfsmitteln (z. B. hohe Turnschuhen im Bett) muss in jedem Fall einzeln überprüft werden, da auch diese zu erhöhtem Muskeltonus und in der
363 28.3 · Atemtherapie
Folge zu Kontrakturen führen können. Weiterhin kann es bei zu starkem Gegendruck zur Dekubitusbildung kommen. 28.2.8 Lagerung zur Angstreduktion und
Vermittlung von Sicherheit Der Aufenthalt auf einer Intensivstation macht Angst, v. a. wache und aufwachende Patienten oder solche, die nur teilweise orientiert sind, fühlen sich verunsichert und wissen oft nicht, was mit ihnen geschieht. Deshalb ist es besonders wichtig, durch die Lagerung, sei es im Bett oder in einem Stuhl, dem Patienten Sicherheit, besser Geborgenheit, zu vermitteln. Instabile Lagerungen und Hilfsmittel verunsichern, v. a. dann, wenn die Vigilanz und die Körperwahrnehmung beeinträchtigt sind. Es sollte ausreichend weiches Polstermaterial verwendet werden, um dem Patienten Sicherheit zu geben. Bei Seitenlage im Bett wird der Patient ganz nach hinten an die Bettkante gebracht und am Rücken durch ein Polster oder Pack abgestützt. So wird durch den freien Raum vor ihm Sicherheit vermittelt. Im Sitzen wird nach Möglichkeit ein Tisch vorgestellt, um dem Patienten die Angst vor dem Herausfallen zu nehmen. 28.2.9 Spezielle Lagerungen bei Verletzungen
des Bewegungsapparats Diese Lagerungen werden je nach Art und Ausmaß der Verletzung und in Absprache mit dem behandelnden Arzt vorgenommen. Bei Bedarf werden Spezialschienen und Lagerungshilfen verwendet. 28.2.10 Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzustellen, dass die vielen Möglichkeiten der Lagerung gerade beim Intensivpatienten nicht vernachlässigt werden sollten, da sie die Atmung sowie die Herz-KreislaufFunktionen unterstützen, Schmerzen lindern, den Muskeltonus senken und dem Patienten neue Wahrnehmungen und Körpererfahrungen ermöglichen können. Dazu ist ein interdisziplinäres 24-h-Lagerungsmanangement notwendig. ! Cave Bedingt durch den vermehrten Einsatz von Antidekubitusbetten besteht auf Intensivstationen die Tendenz, Patienten sehr lange in der gleichen Position zu lagern. Hierdurch werden Störungen der Körperwahrnehmung, der Wahrnehmung der Umgebung und der Sensibilität gefördert.
Es kann häufig beobachtet werden, dass Patienten, die entsprechend gelagert werden, weniger Sedativa und Antispastika benötigen. 28.3
Atemtherapie
Auch bei der Durchführung der Atemtherapie auf einer Intensivstation ist die enge Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegepersonal und Therapeuten notwendig. Die Atemtherapie kann nicht nur dazu beitragen, den Patienten vor invasiveren Maßnahmen (Beatmung) zu bewahren, bzw. bei konsequenter Anwendung, auch die Entwöhnung von der maschinellen Beatmung erleichtern und beschleunigen.
28
Die jeweils anzuwendenden Methoden sind abhängig von Beatmungsform, Vigilanz und Kooperation des Patienten, wobei aktive Maßnahmen nach Möglichkeit immer vorzuziehen sind, da sie den passiven Maßnahmen an Wirksamkeit überlegen sind. Die einzelnen Ziele der Atemtherapie werden im Folgenden beschrieben. 28.3.1 Weaning Weaning bedarf einer sehr engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Pflegepersonal. Für die Begleitung des Weanings wird das Therapieteam zur Unterstützung der Atmung hinzugezogen, sobald der Patient nicht mehr voll kontrolliert beatmet ist. Der Patient soll grundsätzlich in eine optimale Ausgangsstellung (Seitlage, Sitz im Bett o. Ä.) gebracht werden. In Absprache mit dem Pflegepersonal werden beispielsweise SIMV-Frequenzen, Druckunterstützung und PEEP reduziert. Währenddessen wird der Brustkorb des Patienten vom Therapeuten unterstützt, damit ein erhöhtes Atemvolumen erreicht wird. Ist ein Patient bereits wach und kooperativ, kann man ihn zum aktiven Mitatmen oder z. B. zum Atmen gegen Widerstand animieren. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Atemfrequenz in einem physiologischen Rahmen bleibt (Richtwert: 15 Atemzüge/min). Die speziellen Techniken sind in 7 Kap. 28.3.4ff. dargestellt. Weiters ist zu berücksichtigen, dass während des »therapeutischen Weanings« eine engmaschige Kontrolle der Blutgasanalyse von Seiten der Pflege durchgeführt werden muss. 28.3.2 Sekretlösung und Sekrettransport Die effektivste Möglichkeit zur Sekretmobilisation ist zum einen die forcierte Exspiration, zum anderen die reflektorische Atemtherapie (RAT). Für die forcierte Exspiration ist die aktive Mitarbeit des Patienten notwendig. In seiner Exspirationsphase wird der Patient vom Therapeuten am Thorax manuell fixiert. Ziel ist es. eine maximale Exspiration zu erreichen und somit das Sekret zu mobilisieren. Idealerweise wird die forcierte Exspiration von 2 Therapeuten durchgeführt (. Abb. 28.3). Bei beatmeten Patienten kommt die reflektorische Atemtherapie zur Anwendung. Durch Stimulierung konkreter Körperrezeptoren wirkt der Therapeut auf den Atemrhythmus mit ein. i Nach der Sekretmobilisation ist es entscheidend, das es zum Sekretabtransport kommt, durch Husten (im Sitzen mit abgestützten Händen, wenn möglich), abschlucken, ausspucken, orales oder tracheales Absaugen. Inhalation. Bei spontan atmenden Patienten können zu Beginn der Atemtherapiesitzung Inhalationen mit sekretlösenden Aerosolen durchgeführt werden. Bei wachen und kooperativen Patienten dient der Einsatz des Flutter VRP1 Desitin (»vario respiratory pressure«) dem Ablösen des Schleims von den Bronchialwänden, zur Mobilisation des Sekrets sowie zur Atemschulung. Drainagelagerung. Je nach Thoraxröntgenbefund (Ort und Ausmaß von Infiltraten, Atelektasen, minderbelüfteten Lungenbezirken) werden – möglichst gleichzeitig mit sekretlösenden Maßnahmen – Drainagelagerungen durchgeführt. Diese sollten frühestens 1–2 h nach der letzten Nahrungsaufnahme erfolgen.
364
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
28.3.5 Angstminderung, Entspannung
28
. Abb. 28.3. Atemtherapie: Unterstützung der Exspiration durch 2 Therapeuten
i Vor der Drainagelagerung wird abgesaugt, um die Verschleppung des Sekrets in andere Lungenbezirke zu verhindern.
Ziel der Drainagelagerung ist es, das Bronchialsekret mit Hilfe der Schwerkraft entsprechend der Anatomie des Bronchialsystems zu transportieren und zu entfernen. Ist ein aktives Abhusten nicht möglich, wird das Sekret vor dem erneuten Umlagern abgesaugt. 28.3.3 Erhaltung und Verbesserung
der Thoraxdehnbarkeit Weiter können Dreh-Dehn-Lagerungen durchgeführt werden, um die Mobilität der Rippen-Wirbel-Gelenke zu erhalten. Auch Techniken der manuellen Therapie sind möglich, wobei bei sedierten oder hypotonen Patienten auf den fehlenden Schutz durch die Muskulatur zu achten ist. Weitere Möglichkeiten sind die Diaphragma-Thorax-Mobilisierung und die passive Mobilisierung im Atemrhythmus. Das Ausstreichen der Zwischenrippenräume dient der Entspannung der Muskulatur und somit der Beweglichkeit des Thorax. 28.3.4 Normalisierung des Atemmusters Je nach Beatmungsform, Vigilanz und Kooperation des Patienten wird mit aktiven oder reaktiven Techniken versucht, das Atemmuster zu beeinflussen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Atmung häufig umso besser beeinflussen lässt, je weniger erklärt wird, da manche Patienten durch den Druck, »richtig« atmen zu müssen, häufig nicht wissen, wie sie den sonst unwillkürlich ablaufenden Vorgang der Atmung bewerkstelligen sollen. Techniken zur Normalisierung des Atemmusters 5 Kontaktatmung mit unterschiedlichen Handpositionen 5 Abheben von Hautfalten am Bauch 5 atemstimulierende Einreibung aus der basalen Stimulation 5 Hänge- und Packegriffe 5 heiße Rolle 5 Lippenbremse 5 forcierte Expiration
Der oft große Leidensdruck, die Unsicherheit und die Angst, die Patienten auf Intensivstationen erleben, können natürlich auch die Atmung beeinflussen. Hyperventilation und große Atemanstrengung können die Folge sein. Der Körperkontakt bei der Atemtherapie, das Wiederkehren einer Bezugsperson und deren ruhige Stimme, optimale Umfeldorganisation (z. B. eigene Musik) können deshalb zur Beruhigung und in der Folge zur Normalisierung der Atmung führen. So kann z. B. ein Therapeut bei der Extubation helfen, indem er die Exspiration unterstützt, wodurch reflektorisch die Inspiration verstärkt wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Hilfe, aber auch der Körperkontakt und die durchgehende Anwesenheit einer Person, in der oft angstbesetzten Situation zu einer schnelleren Normalisierung der Atmung führen. 28.3.6 Atmung, Stimme und Schlucken Die Atmung stellt eine Möglichkeit dar, mit dem Patienten in einen ersten Dialog zu treten. In der logopädischen Therapie nimmt sie einen großen Stellenwert ein. Die Atmung ist entscheidend für die Phonation, aber auch grundlegend für die Koordination von Atmung und Schlucken. Durch die Arbeit an der Atmung lässt sich bei Patienten mit oder ohne Kanüle häufig der erste Stimmeinsatz erreichen. In der Therapie wird die Atmung bewusst gemacht – etwa durch die handgestützte Atemtherapie – und willkürlich vertieft. 28.3.7 Schluck- und Esstherapie Häufig treten bei Intensivpatienten Schluckstörungen (Dysphagien) auf, die meist durch neurologische Erkrankungen oder mechanische Behinderungen bedingt sind. Schon vor der Extubation können erste Stimulationen im Mund- und Gesichtsbereich erfolgen. Durch intraorale Stimulation sowie Manipulation am Tubus werden Erkenntnisse über Sensibilität, Schluckfrequenz, Speichelansammlung und Tonusverhältnisse gewonnen, die wichtig für eine Extubation sind. Weiter wird Sekundärproblemen wie z. B. sensorischer Deprivation, Tonuszunahme und Beißen entgegengewirkt. 28.3.8 Abklärung In dieser frühen Phase der logopädischen Arbeit gibt es kein standardisiertes Diagnostikverfahren, sondern es gilt der Grundsatz: Diagnostik = Therapie. Der Patient wird in eine optimale Ausgangsstellung (Seitlage, aufrechter Sitz, Vertikalisation etc.) gebracht. Schon während des Mobilisierens des Patienten wird auf Warnhinweise einer Aspiration (z. B. Husten beim Umlagern) sowie auf Schluckbewegungen und -frequenz geachtet. Sofern möglich, wird auch auf die Qualität der Stimme (Phonation) – z. B. gurgelnd, »wet voice« etc. – geachtet und in weiterer Folge auf die Reinigung (Räuspern, Husten mit promptem Abschlucken). Abhängig von den oben angeführten Funktionen, ausreichenden Schutzmechanismen und bei ausreichender Vigilanz kann ein Schluckversuch mit Bolus durchgeführt werden. Der erste Schluckversuch soll nicht mit Joghurt erfolgen, da Joghurt schleimbildende und adhäsive (haftet an der gesamten intraora-
365 28.3 · Atemtherapie
28
Aktive Übungen. Aktive Übungen setzen die Mitarbeit des Patienten voraus. Der Patient führt unter Anleitung (taktil, verbal, Imitation etc.) Bewegungen im orofazialen Bereich (intra- und extraoral) durch. Neben dieser Muskulatur können so u. a. auch die laryngeale Adduktion und Larynxelevation gefördert werden.
28.3.10 Esstraining mit Kompensationsstrategien Erste Essversuche erfolgen im Anschluss an Stimulierungs- und Fazilitationsübungen. Das Essen wird dem Patienten u. a. durch gute Kopf- und Kieferkontrolle und eine taktile Stimulation des Schluckreflexes erleichtert. Außerdem werden folgende Kompensationsstrategien angewandt: . Abb. 28.4. Orofaziale Stimulation
len und pharyngealen Schleimhaut) Eigenschaften aufweist. In der Regel wird Fruchtmus in homogener, breiiger Konsistenz ver wendet. Schluckt der Patient diesen Bolus regelrecht ab, wird das Kostspektrum durch Flüssigkeit und feste Kost er weitert. Zu der klinisch logopädischen Diagnostik empfiehlt sich eine weitergehende HNO-ärztliche oder phoniatrische Untersuchung mit einer videoendoskopischen Dysphagiediagnostik (»fiberendoscopic evaluation of swallowing«; FEES). So wird festgestellt, ob dem Patienten eine ausreichende orale Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme möglich ist. Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Indikation zur zusätzlichen Sondenernährung über die nasogastrale Sonde oder PEG gegeben. 28.3.9 Kausale Therapiever fahren
Richtige Konsistenz der Nahrung. Anfangs wird die Nahrung nur im therapeutischen Setting verabreicht. Je nach Störungsbild wird die Kostform an den Patienten angepasst (passierte Kost, weiche Kost, Normalkost). Zu Beginn der Nahrungsaufnahme können Patienten meist nur homogene Konsistenzen bewältigen. Auf dem Weg zu gemischten Konsistenzen wird Kauen in Gaze angewandt. Bei Kost mit gemischter Konsistenz (Suppe mit Einlage, Brot mit z. B. Kaffee etc.) zeigen Patienten häufig Probleme. Sollte es einem Patienten nicht möglich sein, Flüssigkeiten zu trinken, kann die Konsistenz mit Hilfe eines Eindickungsmittels verdickt werden (Sirup-ähnlich, Creme-ähnlich oder Pudding-ähnlich). Haltung und Positionierung. Je nach Art der Störung kann eine
bestimmte Haltung von Rumpf und Kopf das Schlucken verbessern. Die richtige Positionierung der Nahrung im Mund kann das Schlucken außerdem erleichtern. Verwendung von Hilfsmitteln. Dazu zählen spezielle Becher
Ziel der logopädischen Therapie ist in Abhängigkeit von der vorliegenden Problematik die Wiederherstellung der physiologischen Abläufe und die Normalisierung von gestörten Muskelfunktionen und eingeschränkter Sensibilität (kausale Therapie) bzw. die Erleichterung des Schluckens sowie die Verhinderung von Aspiration (kompensatorische Maßnahmen) oder die Anpassung der Umgebung an die tatsächlichen Fähigkeiten des Patienten (Hilfsmittelanpassung). In dieser frühen Phase wird hauptsächlich die Faziooraltrakttherapie (F.O.T.T.; . Abb. 28.4) angewendet. In der Akutphase der Erkrankung ist es zunächst wichtig, 4 pathologische Reflexe (z. B. Beißreflex) oder Saug-SchmatzBewegungen abzubauen, 4 den Muskeltonus zu normalisieren (er kann hypoton sein mit mangelndem Mundschluss oder hyperton, wenn der Mund des Patienten nicht zu öffnen ist), 4 physiologische Reflexe wie Würg- oder Schluckreflex zu fördern, 4 die Sensibilität (Hypo- oder Hypersensibilität) zu normalisieren. Bei den kausalen Therapiemethoden unterscheidet man zwischen passiven und aktiven Übungen. Passive Übungen. Es gibt zahlreiche Therapietechniken, die
herangezogen werden können, z. B. Castillo Morales, Bobath, F.O.T.T., thermale Stimulation, PNF, basale Stimulation.
(Coombes-Becher), Ventilröhrchen, eigenes Besteck. Verwendung von speziellen Schlucktechniken. Bei einigen Störungsformen kommen zusätzliche Schlucktechniken, die der Patient für eine Verbesserung des Schluckaktes erlernt, zum Einsatz. Beispiele dafür sind das supraglottische Schlucken oder das Mendelsson-Manöver.
28.3.11 Kanülenmanagement Das Dysphagiemanagement mit Kanülenpatienten bedarf eines gesonderten Vorgehens. In der Therapiesituation wird der Patient in eine optimale Ausgangsstellung gebracht. Nach intra- und extraoraler Stimulation wird die Kanüle entblockt. Pharyngeale und laryngeale Sensibilität kann nur durch die Atemluft, die in entblocktem Zustand den physiologischen Weg geht (Nase, Rachen, Trachea etc.) erhöht werden. Es hat sich gezeigt, dass die Schluckfrequenz in entblocktem Zustand deutlich höher ist. Weiters wird am physiologischen Schlucken (Zungenmotilität, Kehlkopfmobilisation etc.), an den Schutzmechanismen und an der Phonation gearbeitet. Der erste Schluckversuch wird ausschließlich in entblocktem Zustand mit methylenblau gefärbtem breiigem Bolus und anschließendem Kontrollabsaugen durchgeführt. Die Entblockungszeiten werden in Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal ausgedehnt, bis der Patient im Idealfall dekanüliert (Richtlinie: 24 h entblockt) werden kann.
366
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
28.4
Bewegungstherapie
28.4.1 Aufgaben
28
Die Bewegungstherapie geht mit der Lagerung Hand in Hand und dient der 4 Prophylaxe von Kontrakturen, 4 Behandlung von Traumen, 4 Vermittlung von sensiblen Reizen, Wahrnehmungsschulung, 4 Anbahnung von Motorik und Wiedererlangung motorischer Fähigkeiten. Hierbei werden nicht alle Gelenke hintereinander in alle Bewegungsrichtungen durchbewegt, sondern man versucht, die Bewegung in sinnvolle Handlungen einzugliedern, die Bewegung dazu zu benutzen, dem Patienten den eigenen Körper und in der Folge seine Umgebung wahrnehmbar zu machen (7 Kap. 28.6.2). Das bedeutet nicht, auf das Durchbewegen zu verzichten, vielmehr geht es darum, die Bewegung in einen Zusammenhang zu stellen, ihr einen Sinn und ein Ziel zu geben. Auf der Basis eines Regelkreismodells wird die Bewegung als Reaktion auf die Umwelt bzw. als Mittel zu einem bestimmten Zweck angesehen. So kann z. B. der Arm bewegt werden, indem man dem Patienten einen Waschlappen in die Hand gibt und der Therapeut das Waschen des Gesichts führt usw. Bei solchen bekannten und dadurch leichter wieder abrufbaren Handlungen können oft erste motorische Aktivitäten hervorgerufen oder verstärkt werden. ! Cave Bei Patienten mit muskulärem Hypotonus, d. h. auch bei analgosedierten Patienten, ist bei der Bewegungstherapie besondere Vorsicht geboten, da der Gelenkschutz durch die Muskulatur nicht gewährleistet ist.
Vor allem bei Schultergelenkbewegungen sollte immer die Skapula mitbewegt und der Humeruskopf in der Gelenkpfanne gehalten werden. Zudem sollten keine Extrempositionen eingenommen werden. Häufiges Umlagern und frühestmögliche Mobilisation sind weiter wichtig für die Kontrakturprophylaxe.
Je nach Akzeptanz des Patienten wird zuerst an seinem eigenen Körper entlang geführt, mit Gegenständen hantiert, oder es werden sinnvolle Handlungsabläufe wie z. B. Lagewechsel durchgeführt. Um dem Patienten mehr Sicherheit zu geben, ist es günstig, dies in den ersten Phasen zu zweit, manchmal sogar zu dritt zu tun. Im Verlauf der Remission zeigt sich ein spontaner Tonusrückgang, v. a. der rigiden Komponenten. Erst dann kann das Ausmaß der Kontrakturen und auch der Spastizität beurteilt werden. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, mit der gezielten Kontrakturbehandlung, wie z. B. der seriellen Gipsredression, zu diesem Zeitpunkt zu beginnen, da auch die aktive Mitarbeit des Patienten in dieser Phase besser möglich ist. 28.5
Basale Stimulation
Ein weiterer Schwerpunkt der Frührehabilitation ist die gezielte Stimulation des Patienten. Es gibt zwar auf einer Intensivstation eine Fülle von unspezifischen Stimuli wie Geräusche, Licht, Bewegungen usw. Das Ziel der Stimulation in der Rehabilitation besteht jedoch darin, für den jeweiligen Patienten adäquate, auf ihn abgestimmte Stimuli zu finden, die er verarbeiten und auf die er reagieren kann. Die Erfahrung zeigt, dass je nach der Phase der Remission verschiedene Stimuli unterschiedlich wirksam sein können. Auch die jeweilige therapeutische Zielsetzung bestimmt die Art und den Einsatz der Stimuli, wie z. B. Förderung der Vigilanz, Beeinflussung des Muskeltonus, Schulung der Wahrnehmung, Anbahnung von Bewegungen usw. Es ist natürlich niemals möglich und auch nicht erwünscht, wirklich nur unimodal zu stimulieren, da immer mehrere Sinnesqualitäten angesprochen werden. Stattdessen gilt es, Schwerpunkte zu setzen, um die angebotenen Reize verarbeitbar zu machen. 28.5.1 Vestibuläre Stimulation
28.4.2 Vorgehen bei muskulärem Hyper tonus
Gerade in der Frühphase der Rehabilitation wird die vestibuläre Stimulation häufig verwendet. Durch die Stimulation des aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems (ARAS) der Formatio reticularis wird die Vigilanz gesteigert und die Voraussetzung für Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme des Patienten an allen rehabilitativen Maßnahmen geschaffen.
Bei Patienten mit Hypertonus hat sich gezeigt, dass invasives, auch gegen Widerstand durchgeführtes Bewegen zu Traumatisierungen von Muskeln und Gelenken und in der Folge zu Kontrakturen führen kann. Weiterhin kann es zu schmerzbedingten Abwehrhaltungen und Tonussteigerungen kommen. Auch die Fixierung in starren Schienen und Gipsen in frühen Phasen der Remission führt in diesen Lagerungsmitteln und auch nach deren Abnahme zu verstärktem Tonusanstieg. Günstig ist es, eine für den jeweiligen Patienten tonussenkende Position (d. h. entgegen der vorherrschenden tonischen Muskelaktivierung) zu wählen und dann den Patienten langsam, immer den vorgegebenen Widerstand akzeptierend, zu bewegen. Zu diesen tonussenkenden Positionen gehören v. a.: 4 der Sitz, 4 der Stand, 4 die Seitenlage, 4 die Bauchlage.
Vertikalisieren. Durch das Aufsetzen bzw. Aufstellen erhält der Patient neue sensomotorische Afferenzen zur Förderung der Körperwahrnehmung und der Orientierung des Körpers im Raum. Bessere Augenkoordination sowie Kopf- und Rumpfkontrolle können angebahnt werden als Voraussetzung für weitere motorische Aktivitäten (. Abb. 28.5). Eine weitere Anwendungsmöglichkeit des Vertikalisierens ist die Tonusbeeinflussung. So haben vestibuläre Reize je nach Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung tonuserhöhende oder tonussenkende Wirkung. (z. B. Schaukeln nach vorn/hinten, seitlich, rotatorisch, Hängematte usw.). Schnelle und unregelmäßige Bewegungen können den Tonus erhöhen, langsame gleichmäßige dienen hingegen der Tonusreduktion. Auf den Einfluss der Kopfstellung auf die Tonusverteilung im Körper wurde bereits in 7 Kap. 28.2.5 eingegangen. Auch zur Spitzfußprophylaxe und -behandlung ist das Vertikalisieren bzw. Stehen mit Hilfspersonen unerlässlich. Lange
367 28.5 · Basale Stimulation
28
Immobilität birgt Gefahren wie Bed-rest-Syndrom, Kontrakturen, Dekubitus, Pneumonie, Gelenkverkalkung, Athrophie usw. Durch das Vertikalisieren können viele dieser Symptome gemindert bzw. vermieden werden. Vestibuläre Stimuli haben z. T. starke vegetative Auswirkungen. So können sie beruhigend wirken, den Kreislauf stabilisieren, die Atmung regulieren, jedoch auch Schwindel, Schweißausbrüche und Übelkeit auslösen.
nen sehr positiven Effekt kann auch das Vorspielen der Lieblingsmusik oder etwa der Stimmen der Angehörigen des Patienten haben. Durch Führen kann der Patient auch selbst Geräusche an Klanginstrumenten erzeugen.
! Cave Deshalb sollten die ersten Vertikalisierungen immer mit Monitoring erfolgen, um die Vitalparameter zu kontrollieren.
Bei der visuellen Stimulation ist die Lichtquelle sehr wichtig. Es empfiehlt sich, Tageslicht oder Tageslichtlampen zu verwenden. Die Farben der Inneneinrichtung, der Wände und der Decken sollten, wenn möglich, für liegende Patienten konzipiert sein. Unterschiedliche, in verschiedenen Farben gestaltete Dienstkleidung ist gegenüber weißer Dienstkleidung zu bevorzugen. Bunte Bettwäsche ist vorteilhaft, farbige Muster sind jedoch zu vermeiden, da diese zu Zählphänomenen führen können. Dem Patienten werden zur visuellen Stimulation Bilder mit Helldunkel-Kontrasten und farbigen Objekten gezeigt, wobei auf seine persönlichen Interessen Rücksicht zu nehmen ist.
28.5.2 Taktile Stimulation Der taktil-kinästhetische Sinneskanal, über den die direkte Beziehung zur Umwelt aufgenommen wird, ermöglicht oft den ersten Zugang zum Patienten. Man tritt mit dem Patienten über eine Initialberührung in Kontakt (»Begrüßung«). Auch die Verabschiedung vom Patienten sollte taktil unterstützt werden. Berührungsreize, die großflächig und mit gleichmäßigem Druck erfolgen, sind deutliche, klare Informationen an den Patienten und wirken beruhigend, wohingegen schnelle Berührungen aktivierend, aber auch angsteinflößend wirken können.
28.5.4 Visuelle Stimulation
28.5.5 Gustatorische und olfaktorische
Stimulation
Hilfsmittel und Vorgehen. Zur taktilen Stimulation eignen sich die Hände des Therapeuten (z. B. durch Drücken, Streicheln, Reiben, Pumpen der Muskulatur), die geführten Hände des Patienten und verschiedenartige Materialien (Tücher, Bürsten, Schwämme, Cremes usw.). Schmerzreize sind nicht Teil eines therapeutischen Konzepts. Sie führen nur zur Abwehr und Angst gegenüber dem Therapeuten und sollten nur zur Überprüfung des Verlaufs außerhalb der Therapiesituation zur Anwendung kommen. Taktile Reize werden am ganzen Körper des Patienten gesetzt, wobei bei neurologischen Patienten im Gesichtsbereich Vorsicht geboten ist, da es leicht zu oralen Automatismen kommen kann.
Diese Stimulationsformen stehen in engem Zusammenhang mit der Schluck- und Esstherapie. Bei der gustatorischen Stimulation werden kleine Nahrungsmengen auf der Zunge des Patienten platziert. Die Auswahl der Geschmacksrichtung wird dabei von den Vorlieben des Patienten bestimmt. Über den Geschmack werden Erinnerungsspuren für das Schlucken geweckt und der Schluckakt stimuliert. Gleichzeitig wird eine Grundlage für die höheren Niveaustufen von Artikulation und Lautbildung geschaffen. Durch das Riechen an der angebotenen Nahrung wird auch das olfaktorische System angeregt. Noch gezielter kann der Geruchsinn durch den Einsatz von starken Gerüchen stimuliert werden. Der Geruchsinn intubierter oder tracheotomierter Patienten ist erheblich schwieriger zu stimulieren, da kein Luftfluss durch die Nase stattfindet.
28.5.3 Akustische Stimulation
28.6
Dem Gehör als dem Organ, das Sprache wahrnimmt, kommt in der Therapie große Bedeutung zu. Es versucht,aktiv aus der Klangwelt der Umgebung relevante Reize herauszufiltern. Schon in sehr frühen Remissionsphasen lassen sich bei Patienten Reaktionen auf akustische Reize beobachten. Jeder Sinnesreiz kann grundsätzlich erregend oder beruhigend sein, hochfrequente und laute akustische Reize wirken beispielsweise erregend. Einfache, sich langsam wiederholende Klangbilder werden zur Beruhigung eingesetzt. Es ist wichtig, vor dem Patienten, auch wenn er komatös ist, keine negativen Bemerkungen über ihn zu machen oder wenn möglich, in seiner Anwesenheit gar nicht über ihn zu sprechen. Der Therapeut versucht, durch wiederholtes ruhiges Ansprechen und den Einsatz von Gesang oder das Erzeugen von Geräuschen mit dem Patienten in Kontakt zu treten. Da oft noch Unklarheit über das Sprachverständnis herrscht, wird in einfachen und kurzen, aber altersentsprechenden Sätzen gesprochen. Gestik und Mimik oder Bildmaterial werden unterstützend eingesetzt. Ei-
In den frühen Phasen der Rehabilitation sind die Ziele und Maßnahmen der einzelnen Berufgruppen wie der Ärzte, Pflegepersonen, Physio- und Ergotherapeuten sowie der Logopäden oftmals identisch oder überschneiden sich, wie z. B. Stabilisierung des Herz-Kreislauf-Systems und der Atmung, Förderung der Vigilanz, prophylaktische Maßnahmen, Stimulation verschiedener Sinneswahrnehmungen, Wahrnehmungsschulung usw. Deshalb sollte in diesen Phasen der Patient gemeinsam und interdisziplinär behandelt werden. Sind nun Vigilanz, Aufmerksamkeit, Orientierung und z. T. Problembewusstsein zunehmend vorhanden und können motorische sowie neuropsychologische Probleme genauer definiert werden, beginnt die symptomorientierte Therapie, in der berufsspezifisch auf einzelne Störungen eingegangen wird.
Symptomorientier te Therapie
368
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
28.6.1 Physiotherapie
Schädigungen des oberen Motoneurons Die häufigsten physiotherapeutisch zu behandelnden Störungen beruhen auf Schäden des oberen Motoneurons. Sie sind in der Übersicht aufgeführt.
28
Häufigste Symptome bei Schädigung des oberen Motoneurons 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Paresen bzw. Plegien Tonuserhöhungen Störungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität Tendenz zu primitiven Bewegungsmustern Verlust der selektiven Muskelaktivität Pathologische Reflexaktivitäten (tonische Reflexe) Gleichgewichtsstörungen Wahrnehmungsstörungen Störungen von höheren Hirnleistungen
Je nachdem, welche Art der Störung im Vordergrund steht, werden vom Physiotherapeuten verschiedene Behandlungskonzepte eingesetzt. Zur Behandlung von Tonusveränderungen, primitiven Bewegungssynergien, von Verlust selektiver Beweglichkeit und zur Bewegungsanbahnung dienen neurophysiologische Behandlungskonzepte, z. B. nach Bobath, die PNF sowie die kortikale Fazilitation nach Perfetti, unter Einbeziehung der Prinzipien des morotischen Lernens. Bei Gleichgewichtsstörungen wird mit Orientierungspunkten in der Umgebung (z. B. Gehen an der Wand) oder mit labilen Unterlagen gearbeitet (Schaukeln, Bälle usw.). Symptome bei Schädigungen des unteren Motoneurons 5 5 5 5 5
Verminderung des Muskeltonus, Paresen bzw. Plegien, Areflexie, Sensibilitätsstörungen, Atrophie.
Ossifikationen Ein zu invasives Bewegen in frühen Phasen der Remission kann eine Ossifikation begünstigen. In der aktiven Phase der Ossifikation wird im betroffenen Gelenk nur minimal bewegt, der Patient jedoch häufig umgelagert. Die benachbarten Gelenke können jedoch in vollem Umfang bewegt werden. Nach Abschluss des entzündlichen Prozesses bzw. nach operativer Entfernung der Ossifikation wird mit manualtherapeutischen und anderen Mobilisationstechniken wieder im vollen Bewegungsumfang gearbeitet. 28.6.2 Ergotherapie
Behandlung von Wahrnehmungsstörungen Neben den läsionsbedingten Wahrnehmungsdefiziten haben Patienten auf der Intensivstation meist wenig bis keine Möglichkeit, sich selbst zu bewegen, wodurch sich der adäquate sensorische Input drastisch reduziert. Folgende Wahrnehmungsstörungen können auftreten: reduzierte Körperwahrnehmung, nesteln, motorische Unruhe, in die Luft greifen, Desorientiertheit, Vernachlässigung einer Körperund Raumhälfte, Schwierigkeiten bei Bewegungs- und Handlungsabläufen usw. Mit dem Patienten wird an folgenden Wahrnehmungsbereichen gearbeitet: 4 somatische Wahrnehmung, 4 vestibuläre Wahrnehmung, 4 vibratorische Wahrnehmung, 4 taktil-haptische Wahrnehmung, 4 visuelle, auditive, orale, olfaktorische Wahrnehmung – spielen für die Bildung/Erhaltung des Körperschemas eine geringere Rolle, sind aber trotzdem zu berücksichtigen. Durch Therapieangebote wie z. B. basale Stimulation, Affolter, sensorische Integration usw. wird es dem Patienten in dieser frühen Rehabilitationsphase ermöglicht, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, um Körper- und Raumwahrnehmung wiederzuerlangen. Bereits in dieser Phase wird beginnend an der persönlichen Selbstständigkeit gearbeitet, indem der Patient bei einfachen Alltagsaktivitäten geführt wird (z. B. Gesicht waschen, Zähneputzen, Körper eincremen; . Abb. 28.5).
Förderung der persönlichen Selbstständigkeit Therapeutisch wird mit Sensibilitätsschulung und Kräftigungstechniken vorgegangen, der Einsatz eines EMG-Biofeedbackgeräts kann in diesem Fall unterstützend wirken.
Tixotropie Bei kooperativen Patienten kann mit Techniken des Muskelaufbaus und der -kräftigung in Verbindung mit funktionellen Massagen und Muskeldehnungstechniken gearbeitet werden. Als Vorbereitung kann eine Wärmeanwendung dienen. Bei ausgeprägten Kontrakturen wird eine serielle Gipsredressionsbehandlung durchgeführt. Zur Behandlung von Spitzfüßen dient wiederum das Vertikalisieren, evtl. mit Hilfe von Stehbett und Stehtisch. Auch Techniken der manuellen Therapie können begleitend angewendet werden. Im Vordergrund soll jedoch immer das aktive Bewegen stehen.
Therapeutische Hilfen werden an die Fähigkeiten des Patienten angepasst und schrittweise reduziert, um eine persönliche Selbstständigkeit (Waschen, Anziehen, Essen usw.) zu erreichen. Fallweise ist der Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Griffverdickung, Non-slip-Unterlagen usw.) notwendig. Schon kleinste Teilerfolge in der persönlichen Selbstständigkeit wirken sich meist positiv und motivierend auf den Patienten aus.
Funktionelle Behandlung von Rumpf und oberer Extremität Mit sinnvollen Handlungen und Bewegungszielen wird an Tonusaufbau bzw. -hemmung, Bewegungsanbahnung, Schulung von Oberflächen- und Tiefensensibilität und selektiver Bewegungen gearbeitet, um die Funktion im Alltag zu erhalten bzw. wiederzuerlangen. Die verwendeten Methoden sind Bobath, Affolter, Perfetti, PNF mit dem Ziel des motorischen Lernens.
369 Literatur
28
Patienten in dieser Phase konfrontiert. Die erste Aufgabe besteht nun darin, die Sprachstörung des Patienten genau kennen zu lernen, ihn in dieser schwierigen Phase zu begleiten, die Veränderungen zu verfolgen und eine beobachtende Diagnose zu erstellen. In der Therapie gilt es, mögliche Aus- und Umwege zu suchen. Vor allem Verständigungstraining ist in der Akutphase sehr wichtig.
Übungsphase Verbessert sich der Allgemeinzustand des Patienten, kann eine umfangreichere Aphasiediagnostik erfolgen, um ein symptomspezifisches Üben zu ermöglichen. Die Aphasietherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide entwickelt, was dazu führte, dass heute unzählige Theorien und Methoden bestehen. Wichtige Therapieansätze sind der Kommunikationsansatz, der sprachstrukturelle Ansatz, der Modellansatz, der Modalitätenansatz und der Strategieansatz.
Literatur
. Abb. 28.5. ADL-Training
Kontrakturprophylaxe und -behandlung In enger Zusammenarbeit mit Ärzten und Physiotherapeuten werden auch Schienen- und redressierende Gipsbehandlungen, evtl. in Kombination mit einer Botulinumtoxininjektion, durchgeführt.
Therapie neuropsychologischer Defizite Die Therapie neuropsychologischer Defizite in der Intensivstation ist sehr alltagsorientiert. Mit praktischen Aufgaben des täglichen Lebens wird an Aufmerksamkeit, Konzentration, räumlichkonstruktiver Wahrnehmung, Handlungsplanung, Handlungsflüssigkeit und in weiterer Folge an komplexeren kognitiven Fähigkeiten gearbeitet. Ergänzende Übungsprogramme (nach Schweizer, Caprez, Kerkhoff) und spezielle Computerprogramme können im Laufe der Rehabilitation zum Einsatz kommen. 28.6.3 Logopädie In der frühen Phase der neurologischen Rehabilition beschäftigt sich die Logopädie schwerpunktmäßig mit Dysphagien und Kanülenmanagement 7 Kap. 28.4ff.). Weitere Inhalte der Logopädie sind die Therapien vonAphasien (rezeptive und produktive Störungen der Sprache), Dysarthrophonien (Störungen des Sprechens, der Artikulation, Sprechatmung, Stimme und Prosodie) sowie die Therapien von Störungen des orofazialen Bereichs (Fazialisparese).
Akutphase Die gestörten Sprachfunktionen bilden sich in den ersten 4 Wochen zu einem gewissen Teil, bei etwa 1/3 der Patienten vollständig zurück. Auf der Intensivstation wird der Logopäde meist mit
1. Affolter F (1987) Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. Aus: Wissenschaftliche Beiträge aus Forschung, Lehre und Praxis zur Rehabilitation behinderter Kinder und Jugendlicher. Neckar-Verlag 2. Affolter F, Bischofberger W (1993) Wenn die Organisation des zentralen Ner vensystems zer fällt und es an gespür ter Information mangelt. Aus: Wissenschaftliche Beiträge aus Forschung, Lehre und Praxis zur Rehabilitation behinder ter Kinder und Jugendlicher. Neckar-Verlag 3. Bartolome G, Buchholz DW, Hannig C et al. (1993) Diagnostik und Therapie neurologisch bedingter Schluckstörungen. G. Fischer, Stuttgart Jena New York 4. Bienstein C, Fröhlich A (1993) Basale Stimulation in der Pflege. Verlag Selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf 5. Davies PM (1986) Hemiplegie: Anleitung zu einer umfassenden Behandlung von Patienten mit Hemiplegie – basierend auf dem Konzept von K. und B. Bobath. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 6. Davies PM (1995) Wieder Aufstehen: Frühbehandlung und Rehabilitation für Patienten mit schweren Hirnschädigungen. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 7. Freivogel S (1997) Motorische Rehabilitation nach Schädelhirntrauma: Klinik – Grundlagen – Therapie. Pflaumverlag, München Bad Kissingen Berlin 8. Grohnfeldt M (Hrsg) (1993) Zentrale Sprach- und Sprechstörungen. Handbuch der Sprachtherapie, Bd 6. Marhold, Berlin 9. Hüter-Becker A, Schewe H, Heipertz W (Hrsg) (1998) Physiotherapie: Taschenlehrbuch in 14 Bänden, Bd 11: Neurologie und Psychiatrie. Thieme, Stuttgart New York 10. Jubiläumsschrift 10 Jahre Schulungszentrum, Therapiezentrum Burgau, Burgau (2000) Europrint H. Jähnisch, München 11. Lipp B, Schlaegel W (2000) Gefangen im eigenen Körper, Lösungswege, Neurorehabilitation. Neckar Verlag, Villingen-Schwenningen 12. Lipp B, Schlaegel W (1996) Wege von Anfang an. Frührehabiliation schwerst hirngeschädigter Patienten. Neckar Verlag, VillingenSchwenningen 13. Mang H (1992) Atemtherapie: Grundlagen, Indikationen und Praxis. Schattauer, Stuttgart New York 14. Nusser-Müller-Busch R, (2004) Die Therapie des Facio-oralen-Trakts funktionell – komplex-alltagsbezogen. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 15. Nydal P.; Bartoszek G (2003) Basale Stimulation; Neue Wege in der Pflege Schwerstkranker. Urban & Fischer, München Jena 16. Oczenski W (2005) Atmen – Atemhilfen, Atemphysiologie und Beatmungstechnik, Thieme, Stuttgart
370
28
Kapitel 28 · Akut- und Frührehabilitation
17. Schalch F (1992) Schluckstörungen und Gesichtslähmung: Therapeutische Hilfen. G. Fischer, Stuttgart Jena New York 18. Tesak J, Grundlagen der Aphasietherapie. Schulz-Kirchner, Idstein 19. Wild K von (Hrsg) (1993) Spektrum der Neurorehabilitation. Zuckschwerdt, München Bern Wien 20. Wirth G (1994) Sprachstörungen, Sprechstörungen, kindliche Hörstörungen. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 21. Ziegler A (1992) Dialogaufbau in der Frührehabilitation. Beschäftigungstherapie und Rehabilitation 4: 326 – 334 22. www.basale-stimulation.de 23. www.wahrnehmung.ch
IV
Akuter Kreislaufstillstand und kardiopulmonale Reanimation
29
Kardiopulmonale Reanimation
–373
29 Kardiopulmonale Reanimation H. Herff, T. Danninger, V. Wenzel, K.H. Lindner
29.1
Einleitung
–374
29.2
Ursachen des Kreislaufstillstands
29.2.1 29.2.2 29.2.3
Respiratorische Störungen –374 Kardiale Störungen/plötzlicher Herztod –374 Zirkulatorische Störungen –374
29.3
Diagnosestellung des Herz-Kreislauf-Stillstands
29.4
Verzögerung der kardiopulmonalen Reanimation
29.5
Basismaßnahmen (»Basic Life Support«, BLS)
29.5.1 29.5.2 29.5.3 29.5.4
Freimachen und Freihalten der Atemwege –375 Thoraxkompression –375 Beatmung –375 Basismaßnahmen am erwachsenen Patienten –376
29.6
Er weiter te Maßnahmen (»Advanced Cardiac Life Support«, ACLS)
29.6.1 29.6.2 29.6.3 29.6.4 29.6.5
Präkordialer Schlag –377 Defibrillation –377 Sicherung der Atemwege –378 Pharmakotherapie –378 Koordinierung der Maßnahmen –380
29.7
Innerklinische Reanimation
29.8
Postreanimationsphase
29.9
Einstellen der Reanimationsmaßnahmen
29.10
Zukunft
–382
Literatur
–382
–374
–374 –374
–375
–381
–381 –382
–377
29
374
Kapitel 29 · Kardiopulmonale Reanimation
29.1
Einleitung
Die Therapie des Kreislaufstillstands besteht aus kardiopulmonaler Reanimation (CPR) in verschiedenen Stufen. Zu den Basismaßnahmen (»basic life support«; BLS) gehören Mund-zuMund-/Mund-zu-Nase-Beatmung oder Beutelbeatmung sowie Thoraxkompressionen. Die erweiterten Reanimationsmaßnahmen (»advanced cardiac life support«: ACLS) bestehen u. a. aus Intubation, Applikation von Vasopressoren und Antiarrhythmika, sowie der Defibrillation. Im November 2005 sind vom European Resuscitation Council und der American Heart Association neue Leitlinien zur CPR veröffentlicht worden, die zuletzt 2000 überarbeitet worden waren [2, 3]. Die Leitlinien sind anhand eines »evidence-based« Konzepts entstanden, wobei die alte Einteilung in Klassen von Empfehlungen aufgegeben wurde: man einigte sich darauf, Interventionen entweder definitiv zu empfehlen oder abzulehnen. i Ziel ist es, nur klinisch bewiesene Interventionen zu empfehlen.
29.2
Ursachen des Kreislaufstillstands
Die wichtigsten respiratorischen und kardiozirkulatorischen Ursachen eines Kreislaufstillstands sind in . Tabelle 29.1 zusam-
ren (Störung der Erregungsbildung und/oder -leitung) und die Pumpfunktion des Herzens so stark beeinträchtigen, dass praktisch kein Auswurf mehr stattfindet. Erkrankungen, die zum myokardialen Pumpversagen führen können, sind: 4 Erkrankungen der Koronararterien, 4 primäre und sekundäre Hypertrophien, 4 Erkrankungen der Herzklappen, 4 restriktive und dilatative Kardiomyopathien, 4 Myokarditis, 4 Perikardtamponade, 4 infiltrative Prozesse. 29.2.3 Zirkulatorische Störungen ! Cave Bei entsprechend schwerer Ausprägung kann jede Schockform (hypovolämisch-hämorrhagischer, septischtoxischer, anaphylaktischer oder spinaler Schock) zum völligen Zusammenbruch der Spontanzirkulation führen.
Auch infolge einer Lungenembolie und der daraus resultierenden mechanischen Obstruktion kann ein Kreislaufstillstand auftreten.
mengefasst. 29.3
Diagnosestellung des Herz-Kreislauf-Stillstands
29.2.1 Respiratorische Störungen Schwere respiratorische Störungen können u. U. rasch zu einer lebensbedrohlichen Hypoxämie führen, z. B. durch eine Atemwegsverlegung beim Bewusstlosen durch das Zurückfallen der Zunge. 29.2.2 Kardiale Störungen/plötzlicher Herztod Kardiale Störungen können sich als Herzrhythmusstörungen aufgrund elektrophysiologischer Beeinträchtigungen manifestie-
. Tabelle 29.1. Ursachen eines Atem- und Kreislaufstillstands Respiratorische Ursachen
Kardiozirkulatorische Ursachen
Erniedrigter O2-Partialdruck der Umgebungsluft
Herzrhythmusstörungen
Störungen der Atemregulation
Myokardinsuffizienz
Verlegung der Atemwege
Füllungsstörungen des Herzens
Störungen der Atemmechanik
Pulmonale Embolie
Störungen des alveolären Gasaustauschs
Schock
Folge: Ateminsuffizienz, Atemstillstand
Folge: Kreislaufinsuffizienz, Kreislaufstillstand
Die Symptome des akuten Kreislaufstillstands sind ein fehlender Puls der A. carotis, Bewusstlosigkeit, Atemstillstand oder Schnappatmung sowie weite, reaktionslose Pupillen. Kammerflimmern ist die häufigste Ursache des plötzlichen Herztodes und im EKG durch einen oszillierenden Erregungsablauf ohne Kammerkomplexe charakterisiert. Kammerflattern ist durch eine rhythmische Erregung größerer Myokardareale mit hoher Frequenz (>250/min) gekennzeichnet. Meist geht dieser Rhythmus innerhalb kurzer Zeit in ein Kammerflimmern über. Die pulslose elektrische Aktivität beschreibt eine organisierte elektrische Aktivität des Herzens ohne gleichzeitige mechanische Kontraktion. Bei dieser Form des Kreislaufstillstands kann das EKG einen Sinusrhythmus, alle Arten der Erregungsleitungsblockierung oder auch einen Kammerrhythmus aufweisen. Der pulslose idioventrikuläre Rhythmus, auch Hyposystolie oder »weak action« genannt, ist gekennzeichnet durch niederfrequente, breit deformierte Kammerkomplexe ohne mechanische Aktivität. ! Cave Bei der Ableitung des EKG ist darauf zu achten, dass die Amplitudenverstärkung für die Darstellung der EKG-Kurve auf dem Oszilloskop maximal eingestellt ist, da sonst fälschlich eine Nulllinie sichtbar wird, die als Asystolie fehlinterpretiert werden kann.
29.4
Verzögerung der kardiopulmonalen Reanimation
Es konnte durch mehrere Studien eindrucksvoll belegen werden, dass selbst professionelle Retter teilweise Schwierigkeiten haben,
375 29.5 · Basismaßnahmen (»Basic Life Support«, BLS)
das Fehlen oder Vorhandensein eines Pulses mit hinreichender Sicherheit festzustellen. Dies bedeutet, dass viele Patienten mit einem beobachteten Kreislaufstillstand nicht von einer sofortigen CPR profitieren, weil der Kreislaufstillstand schlichtweg nicht diagnostiziert wird. Gerade die sofortige CPR bei beobachteten Kreislaufstillständen kann die Überlebenschance aber signifikant steigern [8]. i Daher sollte das Pflegepersonal oder die Laienhelfer auf Bettenstationen bei einem Patienten mit plötzlichem Kollaps keine zeitvergeudende Suche nach einem Puls vornehmen. Zeigt ein Patient keine Lebenszeichen außer einen abnormalen Atmung, so sollte unverzüglich mit der CPR begonnen werden.
29.5
Basismaßnahmen (»Basic Life Support«, BLS)
29.5.1 Freimachen und Freihalten der Atemwege Ist der Patient bei Bewusstsein, kann ein Freimachen der Atemwege durch Schläge auf den Rücken oder mehrfaches Husten zum Erfolg führen. Zum Freimachen der Atemwege bei bewusstlosen Patienten werden der Kopf des Patienten mit beiden Händen nackenwärts so weit wie möglich überstreckt und der Unterkiefer bei geschlossenem Mund angehoben (EsmarchHandgriff). In dieser Position sollte an der Nase Atemstrom wahrnehmbar sein. Ist dies nicht der Fall, z. B. bei Verlegung des Cavum nasi oder des Nasopharynx, muss der Mund einen Spalt weit geöffnet werden, um eine Luftpassage über die Mundhöhle zu ermöglichen. Führt auch dies nicht zum gewünschten Erfolg, so muss die Mundhöhle inspiziert, ausgeräumt (z. B. mit MagillZange und Mullbinde) und abgesaugt werden. ! Cave Bei Verdacht auf ein Trauma der Halswirbelsäule sollte der Kopf weder überstreckt noch anteflektiert werden (Gefahr der Rückenmarkschädigung)! In diesem Fall sollte nur der Unterkiefer nach vorn geschoben werden, um den Luftweg frei zu machen. Es muss bedacht werden, dass ein freier Luftweg und die Wiedererlangung der Atmung die Priorität vor einer vermuteten Wirbelsäulenverletzung haben.
Fremdkörperaspiration Sofern der Patient bei Bewusstsein ist, versucht man, durch Husten und Schläge zwischen die Schulterblätter den Fremdkörper zu entfernen. Bei bewusstlosen Patienten kann durch Verwendung einer Magill-Zange der Versuch zur direkten Entfernung des Fremdkörpers unternommen werden. Das Heimlich-Manöver (abdominale Kompressionen) ist oft beschrieben worden, in der Effektivität jedoch nie bewiesen. Durch Thoraxkompressionen kann jedoch ein höherer intrathorakaler Druck als mit dem Heimlich-Manöver aufgebaut werden, um einen Fremdkörper aus der Lunge auszustoßen [1]. i in den neuen Leitlinien wird daher empfohlen, direkt mit Thoraxkompressionen zu beginnen, anstatt das HeimlichManöver auszuführen.
29
29.5.2 Thoraxkompression Bei der CPR wird der auf einer festen Unterlage liegende Thorax des Patienten mit einer Frequenz von 100/min 4–5 cm in der Brustmitte komprimiert. Durch die intrathorakalen Druckschwankungen und die Kompression kardialer Strukturen kommt es so zu einem vorwärtsgerichteten Blutfluss. Koronardurchblutung. Die entscheidende hämodynamische
Variable zur Wiederherstellung spontaner Herzaktionen ist der koronare Perfusionsdruck. Selbst bei optimaler Reanimationstechnik beträgt das Herzzeitvolumen maximal etwa 30% des normalen Herzzeitvolumens unter Spontanzirkulation und die Hirndurchblutung höchstens 20% der normalen Ruhedurchblutung. Während eines Kreislaufstillstands sind die Koronararterien maximal dilatiert, sodass die koronare Durchblutung direkt mit dem koronaren Perfusionsdruck (Differenz aus mittlerem diastolischem Aortendruck und rechtsatrialem Druck) korreliert. Da die Koronardurchblutung nur während der Diastole (= Relaxationsphase bei der CPR) erfolgen kann, müssen die eingesetzten Maßnahmen darauf abzielen, einen möglichst hohen diastolischen Aortendruck aufzubauen. Tierexperimentelle Daten deuten darauf hin, dass während der CPR ein Optimum des koronaren Perfusionsdrucks bei etwa 30 mm Hg liegt; höhere, mit mehr Kraftaufwand erzeugte Drücke gehen häufig – v. a. aufgrund CPR-induzierter Verletzungen – mit einer niedrigeren Langzeitüberlebensrate einher. i Neben einer Modifikation der mechanischen Reanimationstechnik kommt der pharmakologischen Steigerung des diastolischen Aortendrucks durch Vasspressoren eine entscheidende Rolle zu.
29.5.3 Beatmung
Mund-zu-Mund-/Mund-zu-Nase-Beatmung Ohne Hilfsmittel ist die Mund-zu-Mund/-Nase Beatmung die klassische Methode der Wahl für die Beatmung eines Patienten mit Kreislaufstillstand. Die 2-malige Atemspende folgt den initialen 30 Thoraxkompressionen, die Inspirationsdauer (Insufflationsdauer) sollte 1 s betragen. Bei Feststellen des Kreislaufstillstands ist es notwendig, die Perfusion des Myokards vor einer anschließenden Defibrillation zu optimieren. Aufgrund dessen werden vor der 2-maligen Atemspende 30 Thoraxkompressionen durchgeführt. Im Folgenden wird nun die CPR mit 30 Kompressionen zu 2 Beatmungen durchgeführt.
Das Risiko der Mageninsufflation steigt mit zunehmenden Tidalvolumina und hohem inspiratorischem Gasfluss. Bei ungeschütztem Atemweg führt ein Tidalvolumen von 1 l zu einer signifikant stärkeren Magenblähung als ein Tidalvolumen von 500 ml. Ein niedriges Atemminutenvolumen (Tidalvolumen und Atemfrequenz niedriger als normal) kann während der CPR eine effektive Oxygenierung und Ventilation aufrechterhalten. Bei der
376
Kapitel 29 · Kardiopulmonale Reanimation
Reanimation von Erwachsenen sollten Tidalvolumina von annähernd 500–600 ml (6–7 ml/kg KG) angemessen sein. Bei ungeschützem Atemweg wird über 1 s ventiliert. Zeichen einer effektiven Ventilation sind das Heben und Senken des Thorax und das fühlbare Entweichen von Luft aus Mund oder Nase bei der Exspiration.
29
! Cave Eine Hyperventilation (hohe Beatmungsfrequenz oder zu hohes Tidalvolumen) ist nicht nur unnötig, sondern schädlich, weil damit der intrathorakale Druck ansteigt und in der Folge der venöse Rückstrom zum Herzen und die Auswurfleistung verringert werden. Als Konsequenz sinkt die Überlebensrate.
29.5.4 Basismaßnahmen am er wachsenen
Patienten Bei der kardiopulmonalen Reanimation wird stufenweise vorgegangen: 4 bei Bewusstlosigkeit: Rückenlagerung, Inspektion der Atemwege und Kontrolle der Atemtätigkeit (sehen, fühlen, hören!); 4 falls keine normale Spontanatmung nachweisbar: Entfernen sichtbarer Atemhindernisse; 4 nur durch professionelle Retter: Fühlen des Karotispulses (10 s); 4 für Laienhelfer: fehlende Zeichen einer intakten Zirkulation (Atem, Husten, Bewegung etc.); 4 falls kein Puls tastbar oder Zeichen einer intakten Zirkulation fehlen: Beginn der CPR.
Vorgehen Beatmungsbeutel-Masken-System Wie bei der Atemspende ohne Hilfsmittel wird hierfür der Kopf überstreckt und die Beatmungsmaske mit dem sog. CGriff (Daumen und Zeigefinger, beim Rechtshänder in der Regel der linken Hand) fest auf die Mund-Nasen-Partie aufgesetzt. Außerdem besteht die Möglichkeit, direkt in den Beatmungsbeutel zusätzlich Sauerstoff einzuleiten; hierbei lassen sich inspiratorische O2-Konzentrationen bis etwa 50% erzielen, bei Einleitung der O2-Zufuhr über einen Reser voirbeutel bis zu 80–90%. Da während eines Atem- und/oder Kreislaufstillstands die Zufuhr einer möglichst hohen inspiratorischen Sauerstoffkonzentration sinnvoll ist, sollte ein Reser voirbeutel ver wendet werden. ! Cave Der sog. Sellick-Handgriff (Krikoiddruck) während der Atemspende, bei dem es durch Ausübung von Druck auf den Ringknorpel zur Kompression des Ösophagus und damit zur Vermeidung einer Mageninsufflation kommt, wird für medizinisch vorgebildete Helfer) nicht aber für Laienhelfer empfohlen).
Die einzelnen Schritte bei der Durchführung der externen Herzdruckmassage sind in der Übersicht dargestellt.
Durchführung der externen Herzdruckmassage 5 Der Helfer kniet (bei am Boden liegendem Patienten) oder steht (bei auf der Trage oder im Bett liegendem Patienten) seitlich zum Patienten. 5 Druckpunkt ist die kaudale Sternumhälfte in der Mitte des Brustbeins. Der Patient muss auf einer harten Unterlage liegen. 5 Der Druck wird mit gestreckten Ellbogengelenken, übereinandergelegten Handballen und angehobenen Fingerspitzen senkrecht von oben ausgeübt. 5 Die Kompressionstiefe sollte beim Erwachsenen 4–5 cm betragen. 5 Druck- und Entlastungsphase sind gleich lang. 5 Die Kompressionsfrequenz muss 100/min betragen. 5 Sowohl bei der Ein-Helfer-Methode als auch bei der Zwei-Helfer-Methode wird am nicht intubierten Patienten im Rhythmus 30 : 2 reanimiert, d. h. auf 30 Kompressionen folgen 2 Insufflationen.
Fehler und Gefahren der Atemspende: Magenbeatmung Die Atemmechanik eines Patienten mit Atem- und/oder Kreislaufstillstand ist durch eine progressive Abnahme der pulmonalen Compliance und des Ösophagusverschlussdrucks charakterisiert und begünstigt daher bei ungeschütztem Luftweg eine Magenbeatmung. Die sich mit jedem Tidalvolumen verstärkende Magenbeatmung und mit jedem Tidalvolumen sinkende Lungenventilation kann in einen Circulus vitiosus führen [22] und erhöht die Gefahr von Regurgitation und Aspiration. Um den Beatmungsspitzendruck und damit das Risiko einer Magenbeatmung zu senken, kann das Tidalvolumen laut den neuen CPR-Leitlinien bei der Maskenbeatmung mit Sauerstoff (FIO2 >0,4) von üblicherweise 10–15 ml/kg KG (etwa 1000 ml) auf 6–7 ml/kg KG (etwa 500–600 ml) gesenkt werden, da bei Patienten mit normalem Herzzeitvolumen kleine Tidalvolumina für eine Oxygenierung und Kohlendioxideliminierung völlig ausreichend waren.
Effektivitätskontrolle Die auffälligsten Veränderungen einer erfolgreichen Reanimation manifestieren sich in einem Engerwerden der Pupillen sowie einer besseren Durchblutung der Haut und der Schleimhäute. Da der koronare Perfusionsdruck (Differenz zwischen aortalem und rechtsatrialem Druck in der Entlastungsphase) in den meisten Fällen während der CPR nicht gemessen werden kann, wird die Messung der endexspiratorischen CO2-Konzentration als Indikator der Perfusion während der CPR verwendet. Erfolgreich reanimierte Patienten weisen in der Regel während der CPR eine etwa 3-mal höhere endexspiratorische CO2-Konzentration auf als erfolglos reanimierte Patienten.
Komplikationen der externen Herzdruckmassage In etwa 30% aller Reanimationen kommt es zu knöchernen Frakturen an Sternum und Rippen, wobei Organverletzungen von Leber, Milz, Herz oder Lunge und die Ausbildung eines Pneumothorax bei richtiger Technik selten sind. Ursachen dieser Verlet-
377 29.6 · Er weiter te Maßnahmen (»Advanced Cardiac Life Support«, ACLS)
zungen sind in den meisten Fällen zu aggressive Thoraxkompression und falscher Sitz des Druckpunktes. 29.6
Erweiter te Maßnahmen (»Advanced Cardiac Life Support«, ACLS)
Einen Überblick über die erweiterten Maßnahmen am Erwachsenen gibt . Abb. 29.1. 29.6.1 Präkordialer Schlag Der präkordiale Schlag kommt als Erstmaßnahme nur dann zur Anwendung, wenn der Eintritt des Kreislaufstillstands unmittelbar beobachtet wird und nicht sofort ein Defibrillator verfügbar ist. Ein kurzer, kräftiger Faustschlag aus ungefähr 20 cm Entfernung auf die untere Hälfte des Sternums vermag unter diesen Voraussetzungen eine elektrische Aktion hervorzurufen, die zu einer myokardialen Kontraktion führen kann. ! Cave Der präkordiale Schlag ist nicht ungefährlich, da er sowohl Bradykardien als auch Kammertachykardien in Kammerflimmern umwandeln kann. Der präkordiale Schlag darf die EKG-Diagnostik und eine eventuelle Defibrillation nicht verzögern.
29.6.2 Defibrillation Die Defibrillation soll möglichst viele Myokardzellen (»kritische Myokardmasse«) gleichzeitig depolarisieren, d. h. eine kurz andauernde Asystolie erzeugen und es damit dem physiologischen Schrittmacherzentrum des Herzens ermöglichen, seine normale
29
Aktivität wieder aufzunehmen. Voraussetzung ist, dass hierfür noch genügend Vorräte an energiereichen Phosphaten im Myokard zur Verfügung stehen. Unter technischen Gesichtspunkten wird bei der Defibrillation von einem Kondensator ein Stromimpuls abgegeben; die Stromabgabe erfolgt unabhängig von der jeweiligen elektrischen Phase des Herzzyklus dann, wenn der Bediener den Entladeknopf drückt. Bei modernen biphasischen Greäten erfolgt während des Schocks eine Umkehrung der Stromflussrichtung. Die meisten Erwachsenen mit plötzlichem Herz-KreislaufVersagen zeigen im EKG ein Kammer flimmern. Da die Überlebenschance bei diesen Patienten um etwa 7–10% pro Minute ohne Defibrillation sinkt, wird eine frühe Defibrillation dringend empfohlen. Es sollte – sofern einstellbar – eine biphasische Entladungscharakteristik gewählt werden, da nach längerem Kammerflimmern bzw. Kammertachykardie die Wirksamkeit des ersten Schocks besser ist.
Schockabgabe Da mit einer Serie von drei Defibrillationsversuchen ein Spontankreislauf nicht häufiger wiederhergestellt werden konnte als mit nur einem Defibrillationsversuch, sollte immer nur einmal defibrilliert werden [2], um die Phasen ohne Thoraxkompression möglichst gering zu halten. Wegen der geringen Wirksamkeit bei monophasichem Schock wird hierbei eine Energiestufe von 360 J für den ersten Schock empfohlen. Bei biphasischen Geräten, die in klinischen Studien mit höherer Wahrscheinlichkeit Kammerflimmern terminierten, sollte der erste Schock idealer weise mit einer Ausgangsenergie von mindestens 150 J abgegeben werden (gilt für alle Entladungscharakteristika).
. Abb. 29.1. ALS-Algorithmus beim Erwachsenen. Empfehlungen des European Resuscitation Council. (Nach [23])
378
Kapitel 29 · Kardiopulmonale Reanimation
Gerätehersteller sollten die wirksame Energiestufe auf der Vorderseite von biphasischen Geräten angeben. Ist die wirksame Energiestufe nicht bekannt, sollte der erste Schock mit 200 J abgegeben werden. Der Standard 200 J wurde deswegen gewählt, weil diese Energiestufe sowohl für den ersten als auch für die nachfolgenden Schocks innerhalb des Bereichs der sicher wirksamen Schocks liegt. Es handelt sich hiermit um das Ergebnis einer Konsensentscheidung und nicht um die empfohlene Idealdosis.
29 Wenn bei der Verwendung eines monophasischen Defibrillators der initiale Schock von 360 J erfolglos war, sollte bei allen weiteren Schockabgaben die Energiestufe von 360 J beibehalten werden. Für die Verwendung von biphasischen Geräten liegen hinsichtlich der Anwendung mit gleichbleibender oder steigender Energiestufe keine wissenschaftlichen Daten vor. Beide Strategien sind durchaus akzeptabel. Falls dem Helfer der richtige Energiebereich des Gerätes unbekannt ist und bei der ersten Schockabgabe die Standardenergie von 200 J verwendet wurde, sollte für alle weiteren Schocks entweder die gleiche oder, falls das Gerät dies ermöglicht, eine höhere Energiestufe gewählt werden. Bei rezidivierendem Kammerflimmern nach er folgreicher Defibrillation (mit oder ohne Wiederherstellung des Spontankreislaufs) gilt es, für die weitere Schockabgabe die zuletzt wirksame Energiestufe zu wählen.
! Cave Bei der Defibrillation ist jeder Körper- oder Metallkontakt mit dem Patienten zu vermeiden.
Kardioversion
bzw. 70–120 J biphasisch). Auch hier sollte man die Energie bei Bedarf stufenweise steigern. Bei ansprechbaren Patienten sollte eine Kardioversion aufgrund der Schmerzhaftigkeit nur in Sedoanalgesierung durchgeführt werden. 29.6.3 Sicherung der Atemwege i Ein Endotrachealtubus bietet einen sicheren Schutz vor Aspiration und ermöglicht neben einer suffizienten Beatmung auch das Absaugen von bereits in die Lunge eingedrungenem Aspirat und stellt somit immer noch den Goldstandard bei der Atemwegssicherung während der CPR dar.
Die endotracheale Intubation sollte jedoch nur von erfahrenen Helfern ausgeführt werden. Im Atemwegsmanagement ausgebildete Helfer sollten den Patienten ohne Unterbrechung der Thoraxkompressionen laryngoskopieren können. Zum Vorschub des Tubus in die Trachea ist möglicherweise eine kurze CPR-Pause notwendig. ! Cave Kein Intubationsversuch sollte länger als 30 s dauern. Wenn in dieser Zeit eine endotracheale Intubation nicht erfolgreich ist, sollte mit der Maskenbeatmung fortgefahren werden.
Die endotracheale Intubation ist eine Grundlage für das Langzeitüberleben bei der CPR. Wenn aber eine versehentliche ösophageale Intubation oder eine Diskonnektion im Beatmungssystem nicht bemerkt wird, können diese iatrogenen Komplikationen tödlich sein. Daher muss eine erfolgreiche Intubation neben der Auskulation auch noch durch »sichere« Parameter wie Kapnometrie oder einen Ösophagusdetektor verifiziert werden. Ein niedriges endtidales CO2 muss dabei jedoch nicht eine Fehlintubation beweisen, sondern kann auch Folge einer vollkommen unzureichenden Lungenperfusion mit entsprechend ausbleibendem Gasaustausch sein.
Die Kardioversion oder synchronisierte Defibrillation wird in Abhängigkeit vom elektrischen Herzzyklus synchronisiert bzw. R-Zacken-getriggert. Dies bedeutet, dass der Defibrillator zunächst eine R-Zacke im EKG erkennen muss und dann den Stromimpuls einige Millisekunden nach dem höchsten Teil der R-Zacke abgibt. Dadurch wird eine Schockabgabe während der vulnerablen Phase der kardialen Repolarisation (der T-Welle) und damit ein mögliches Kammerflimmern verhindert.
Alternativen zur endotrachealen Intubation
i Voraussetzung für die Kardioversion ist demnach ein EKGRhythmus mit nachweisbaren R-Zacken. Indikationen zur Kardioversion sind Vorhofflimmern/-flattern, supraventrikuläre Tachykardien und ventrikuläre Tachykardien.
29.6.4 Pharmakotherapie
Der Energiebedarf für die Kardioversion bei Vorhofflimmern sollte von initial 200 J (monophasisch) bzw. von initial 120–150 J (biphasisch) je nach Bedarf gesteigert werden. Eine ventrikuläre Tachykardie mit Puls spricht gut auf eine Kardioversion an, wenn die initiale monophasische Energie mit 200 J gewählt wird. Als initiale biphasische Energie bei ventrikülärer Tachykardie sollten 120–150 J gewählt werden. Auch hier gilt es, die Energie stufenweise zu steigern, falls durch den ersten Schock kein Sinusrhythmus erzielt werden kann. Die paroxysmale, supraventrikuläre Tachykardie benötigt hingegen initial geringere Energiestufen (100 J monophasisch
Ist eine Intubation nicht möglich, kann von ausgebildeten Helfern ein Kombitubus, eine Larynxmaske, oder ein Larynxtubus eingesetzt werden.
Zugangswege für die Medikamentenzufuhr Venöser Zugang Muss bei einem Patienten mit Kreislaufstillstand ein venöser Zugang geschaffen werden, so wird in der Regel eineVenenverweilkanüle am Handrücken, Unterarm oder in der Ellenbeuge angelegt, auch die V. jugularis externa ist häufig gut zugänglich. i Der beste Gefäßzugang ist die größte Vene, die ohne Unterbrechung der CPR-Maßnahmen punktiert werden kann.
379 29.6 · Er weiter te Maßnahmen (»Advanced Cardiac Life Support«, ACLS)
Der periphervenösen Applikation von Medikamenten muss eine Bolusgabe von mindestens 20 ml Flüssigkeit und ein Anheben der betreffenden Extremität für etwa 10–20 s folgen, um das Einschwemmen des Medikamentes in die zentrale Zirkulation sicherzustellen. ! Cave Die Anlage eines zentralen Venenkatheters während der CPR wird im Regelfall nicht empfohlen, da hierdurch auch bei optimaler Beherrschung der Technik wertvolle Zeit verloren geht und die Thoraxkompression während der Katheterisierung unterbrochen werden muss.
Ein bereits sicher liegender zentraler Venenkatheter sollte hingegen während der CPR in jedem Fall für die Medikamentenzufuhr benutzt werden.
29
Auch höhere Adrenalindosierungen konnten das Reanimationsergebnis nicht steigern; vielmehr korrelierte eine kumulative Dosis von t4 mg statt 1 mg Adrenalin mit einem schlechten neurologischen Ergebnis [5]. Weder über den optimalen Zeitpunkt der Applikation noch über die Dosierung von Adrenalin herrscht Einigkeit. Nach den neuen CPR-Leitlinien ist Adrenalin das zuerst zu verwendende Medikament bei Kreislaufstillstand jeglicher Ätiologie. Während der CPR wird alle 3–5 min 1 mg Adrenalin injiziert. Weiters wird Adrenalin bei der Anaphylaxie empfohlen. Falls ein i.v.- oder i.o.-Zugang nicht anzulegen ist, kann man 2–3 mg verdünnt auf 10 mg Aqua injectabile über den Endotrachealtubus applizieren.
Intraossärer Zugang Die intraossäre Infusion ist eine einfache und schnelle Methode, Notfallmedikamente, Flüssigkeiten und sogar Kontrastmittel zu applizieren. Außerdem ist der intraossäre Zugang komplikationsarm und kann selbst mit minimalem Trainingsaufwand in weniger als 30 s angelegt werden. Dabei wird eine spezielle intraossäre Nadel unterhalb der Tuberositas tibialis in die Markhöhle des Schienbeins gedreht. Aus diesem Grund hat sich die intraossäre Applikationsmethode v. a. beim Kindernotfall durchgesetzt und wird weltweit von renommierten Institutionen empfohlen und gelehrt. Das Mittel der 1. Wahl sollte jedoch (auch bei Kindern) ein intravenöser Zugang bleiben, anschließend der intraosäre Zugang gefolgt von der endotrachealen Applikation. 5 Zugangsweg der 1. Wahl ist der intravenöse Zugang. 5 Spätestens nach 90 s oder nach 3 fehlgeschlagenen Venenpunktionsversuchen sollte als Weg der 2. Wahl auf die intraossäre Methode zurückgegriffen werden. 5 Lediglich Zugangsweg der 3. Wahl ist gemäß den Leitlinien die endobronchiale Medikamentenapplikation.
Medikamente bei der kardiopulmonalen Reanimation Sauerstoff Eine frühestmögliche Beatmung mit hoher O2-Konzentration, ob über Maske oder nach Intubation, kann das Ausmaß der Hypoxie vermindern. Da das Herzzeitvolumen bei CPR unter dem Einsatz der externen Herzdruckmassage nur ca. 20–30% des Normalwertes beträgt, wird das gemischtvenöse Blut maximal desoxygeniert. Gleichzeitig bestehende Ventilations-Perfusions-Störungen, eine Aspiration oder ein Lungenödem senken in dieser Situation den O2-Partialdruck in einen kritischen Bereich.
Adrenalin Adrenalin wird zwar seit über 100 Jahren bei der CPR verwendet, aber eine positive Korrelation mit der Überlebensrate konnte nie bewiesen werden. Nachteile von Adrenalin wurden in Labor- und klinischen Studien gezeigt und beinhalten eine Steigerung des myokardialen Sauerstoffverbrauchs durch übermäßige E-Stimulation sowie Herzversagen in der Postreanimationsphase. Außerdem kann ein Kammerflimmern durch Adrenalin begünstigt oder sogar therapierefraktär stabilisiert werden [20].
! Exzessive Adrenalinapplikation von über 1 mg kann nach Wiederherstellung eines Spontankreislaufs eine myokardiale Ischämie, Kammertachykardie oder Kammerflimmern auslösen. Hat sich ein Spontankreislauf eingestellt und ist weiteres Adrenalin notwendig, muss eine vorsichtige Titration erfolgen, um einen adäquaten Blutdruck zu erreichen. Dosen von 50–100 μg reichen für die meisten hypotensiven Patienten aus.
Arginin-Vasopressin Vasopressin steigert in tierexperimentellen CPR-Untersuchungen den myokardialen und den zerebralen Blutfluss, das zerebrale Sauerstoffangebot sowie die neurologische Regenerationsrate nach erfolgreicher CPR. In Einzelfällen gelang bei Patienten, die im Rahmen der CPR-Standardtherapie ein refraktäres Kammerflimmern aufwiesen, mit einer Vasopressininjektion und anschließender Defibrillation die Wiederherstellung eines Spontankreislaufs [14]. In einer kleinen Studie über Vasopressin und Adrenalin bei Patienten mit schockrefraktärem Kammerflimmern wurde mit 40 Einheiten Vasopressin ein signifikant besseres 24-h-Überleben als mit Adrenalin gefunden [13]. Daraufhin wurden 2 Studien durchgeführt, die Vasopressin vs. Adrenalin sowohl bei innerklinischem als auch außerklinischem Kreislaufstillstand verglichen. In beiden Studien gelang es nicht mit, 40 IU Vasopressin, verglichen mit 1 mg Adrenalin, einen Anstieg in der Wiederherstellung eines Spontankreislaufes oder der Überlebensrate zu zeigen. Aufgrund dieser Daten und des Mangels an Placebo-kontrollierten Studien haben sich die Teilnehmer der Leitlinienkonferenz 2005 darauf geeinigt, Adrenalin nach wie vor als Standardvasopressor bei einem Kreislaufstillstand zu empfehlen. Hinsichtlich der Empfehlung oder Ablehnung von Vasopressin als Alternative zu Adrenalin oder in Kombination mit Adrenalin bei jeglichem EKG-Rhythmus des Kreislaufstillstandes liegen derzeit ungenügende Daten vor. Falls mit Adrenalin kein Spontankreislauf herstellbar ist, kann als Alternative die Gabe von 40 IU Vasopressin erwogen werden. Bei noch nicht vorhandenem i.v./i.o.-Zugang kann dieselbe Dosis endobronchial appliziert werden.
380
29
Kapitel 29 · Kardiopulmonale Reanimation
Amiodaron, Sotalol
Natriumbikarbonat
Es ist auch hier die Datenlage für einen Nutzen beim Kreislaufstillstand sehr begrenzt. Kein während der CPR verwendetes Antiarrhyhtmikum konnte eine verbesserte Klinikentlassungsrate zeigen, obwohl mit Gabe von Amiodaron zumindest eine verbesserte Krankenhausaufnahmerate erzielt wurde. Trotz des Mangels an klinischen Langzeitüberlebensdaten sprechen die Daten eher für den Einsatz von Amiodaron. Daher wird Amiodaron nach drei erfolglosen Defibrillationen empfohlen.
Die Natriumbikarbonatinfusion soll die bestehende metabolische Azidose ausgleichen, die Wirkung von Adrenalin steigern und die Defibrillation erleichtern. Die Wirkung von Natriumbikarbonat setzt unmittelbar mit Infusionsbeginn ein. Die Azidose im Kapillarstromgebiet und auch im Gewebe hat aber nicht nur eine metabolische Komponente, sondern ist v. a. durch die Hyperkapnie bedingt. Diese kann durch Natriumbikarbonat u. U. noch verstärkt werden, was wiederum aufgrund der guten CO2-Permeabilität der Zellmembran den intrazellaren pH-Wert senken kann. Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass keine Studie bisher einen Vorteil der Bikarbonatapplikation zeigen konnte. Daher wird die routinemäßige Injektion von Natriumbikarbonat bei der CPR oder bei Wiedereinsetzen eines Spontankreislaufs nicht empfohlen.
Bei Erwachsenen wird folgendermaßen dosiert: 5 kardiale Reanimation: nach erfolglosem 3. Defibrillatiosversuch, wenn VF/VT weiter bestehen, 300 mg Amiodaron i.v. (erst nach erfolgter Vasopressorgabe), 5 bei Persistieren oder Wiederauftreten von Kammerflimmern kann ein weiterer Bolus von 150 mg Amiodaron erwogen werden. (Früher wurde Lidocain als Vorgänger von Amiodaron in einer Dosis von 1–1,5 mg/kg KG i.v appliziert; heute ist jedoch Amiodaron eindeutig vorzuziehen.) Die Gabe von Amiodaron sollte andere Maßnahmen (z. B. Defibrillation) nicht verzögern.
Hingegen bei schwerer metabolischer Azidose, lebensbedrohlicher Hyperkaliämie, bei einem mit einer Hyperkaliämie oder einer schweren metabolischen Azidose verbundenen Kreislaufstillstand oder Intoxikationen mit trizyklischen Antidepressiva oder Barbituraten kann Natriumbikarbonat nützlich sein. Bei oben genannten Indikationen kann Bikarbonat in einer Dosierung von 50 mmol (50 ml einer 8,4%igen Lösung) intravenös infundiert werden.
Magnesium Ein Nutzen von Magnesium bei therapierefraktärem Kammerflimmern ist bei durch Hypomagnesämie induzierten Herzrhythmusstörungen erwiesen. Bei Kammerflimmern und Verdacht auf Hypomagnesämie können 2 g Magnesiumlösung 50% über 1– 2 min appliziert werden. Eine Wiederholung ist nach 10–15 min möglich. Eine generelle Empfehlung zur Magnesiumapplikation beim Kammerflimmern kann, trotz positiver Einzelfallberichte, nicht gegeben werden.
Atropin, Theophyllin Bei einer Bradykardie mit Spontankreislauf kann durch die Injektion von Atropin über eine Reduktion des Parasympathikotonus vielfach eine Verbesserung der spontanen Zirkulation hergestellt werden. Die generelle Empfehlung, Atropin bei jedem asystolen Kreislaufstillstand als »first line drug« zu injizieren, kann nicht gegeben werden. Obwohl die Wirkung einer sympathischen Stimulation auf die Herzfrequenz durch einen Vagusreiz abgeschwächt wird, ist der Einfluss des N. vagus auf die myokardiale Kontraktilität und den peripheren Gefäßwiderstand gering. Atropin kann bei Asystolie und pulsloser elektrischer Aktivität (Frequenz <60/min) erwogen werden, da Einzelfallberichte über Erfolge vorliegen und gleichzeitig der Patient wahrscheinlich nicht gefährdet wird. Die empfohlene Dosierung für Erwachsene bei Asystolie oder PEA beträgt 3 mg i.v. als Einzeldosis. Gleiches gilt für die Theophyllinapplikation. Obwohl keine klinische CPR-Studie einen Vorteil von Theophyllin beim Überleben zeigen konnte [3, 12], kann es bei Patienten mit Atropin-resistentem, persistierendem, asystolem Kreislaufstillstand dennoch als »ultima ratio« erwogen werden (5 mg/kg KG), weil es wahrscheinlich keinen Schaden anrichtet.
Kalzium Neuere Untersuchungen bezweifeln den therapeutischen Stellenwert von Kalzium bei der CPR. Eine unbestrittene Indikation besteht bei gleichzeitiger Hyperkaliämie, Hypokalzämie und bei Überdosierung von Kalziumantagonisten. Als Anfangsdosis werden 10 ml 10%iges Kalziumchlorid gegeben, die, wenn nötig, wiederholt werden kann. Die Wiederholungsdosis sollte jedoch frühestens nach 10 min appliziert werden. Eine zu hohe Dosis und wiederholte Injektionen in kurzen Abständen können zu einem Anstieg des ionisierten Kalziumspiegels während der CPR mit einer Suppression des Sinusknotens und einem Koronarspasmus bis hin zum Herzstillstand führen. Kalziumsalze dürfen nicht zusammen mit Natriumbikarbonat infundiert werden, da die Gefahr der Ausfällung von Kalzium besteht.
29.6.5 Koordinierung der Maßnahmen Auch bei den erweiterten CPR-Maßnahmen (. Abb. 29.1) ist die möglichst ununterbrochene und effiziente Durchführung der Basis-CPR unerlässlich. Bei einem CPR-Patienten wird nach der Diagnose sofort mit der Basis-CPR im Verhältnis 30 Thoraxkompressionen zu 2 Beatmungen begonnen. Nach der schnellstmöglichen EKG-Analyse erfolgt, falls erforderlich, eine einmalige Defibrillation mit biphasisch 150–200 J (360 J monophasisch). Ohne Abwarten einer EKG-Änderung wird die Basis-CPR fortgesetzt und erst nach 2 min eine erneute EKG-Analyse durchgeführt. Falls erforderlich, wird dann erneut einmalig defibrilliert; erst
381 29.8 · Postreanimationsphase
nach weiteren 2 min erfolgt, sofern nötig, die Vasopressorinjektion und eine 3. Defibrillation. Die EKG-Analysen und ggf. weitere Defibrillationen werden in 2-minütigem Abstand fortgesetzt sowie Adrenalin (1 mg) alle 3–5 min appliziert. Gegebenenfalls kann die Applikation weiterer Medikamente wie z. B. Amiodaron indiziert sein. Die BasisCPR wird erst eingestellt, wenn ein ausreichender Spontankreislauf wieder hergestellt worden ist. Intubation und Anlage eines venösen Zugangs sind unverzüglich nach der ersten EKG-Analyse anzustreben, dürfen jedoch die effiziente Basis-CPR nur im geringst möglichen Umfang beeinträchtigen. Keinesfalls darf z. B. eine schwierige Intubation die Basis-CPR längere Zeit unterbrechen. i Bei der Durchführung der CPR Maßnahmen sollten auch immer potenziell therapierbare Ursachen eines Kreislaufstillstandes bedacht werden, die im Algorithmus (. Abb. 29.1.) als vier Hs und HITS bezeichnet werden.
29.7
Innerklinische Reanimation
Ein Kreislaufstillstand kann zu jeder Tages- oder Nachtzeit und überall im Krankenhaus auftreten. Entsprechend muss das gesamte medizinische Personal ausgebildet und in der Lage sein, die innerklinische Rettungskette in Gang zu setzen und die Basismaßnahmen der Wiederbelebung unverzüglich zu beginnen und effektiv durchzuführen. An besonders exponierten, entsprechend gekennzeichneten und dem Personal bekannten Stellen im Krankenhaus muss die für die Reanimation erforderliche Ausrüstung (Beatmungsbeutel, Sauerstoff, Absaugeinrichtung, Defibrillator, Material zur Venenpunktion, Medikamente, Laryngoskop, Tuben, Blutdruckmanschette, Pulsoxymeter) in Form von Notfallwagen oder Notfallkoffern jederzeit verfügbar und stets (!) zugänglich gehalten werden. Hierfür muss ein den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten angepasstes Stationierungsschema ausgearbeitet und allen Krankenhausabteilungen schriftlich bekannt gegeben werden. Geeignete Standorte sind Operationseinheiten (Aufwachraum), Intensivstationen und spezielle Ambulanzen. Daneben muss vorab geklärt sein, wer für die Überprüfung der Vollständigkeit und Funktionsfähigkeit der Reanimationseinheiten zuständig und verantwortlich ist. Es ist sinnvoll, diese organisatorischen Aufgaben einem Komitee oder einer medizinischen Abteilung zu übertragen. Das Organisationskomitee muss zudem gewährleisten, dass in regelmäßigen Abständen alle Mitarbeiter eine Auffrischung ihrer theoretischen und praktischen Kenntnisse in Form eines strukturierten Megacodetrainings erhalten. Art und Umfang der Aus- und Weiterbildung für die verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus müssen durch klare Leitlinien festgelegt sein. 29.8
Postreanimationsphase
In jedem Fall ist nach erfolgreicher Reanimation eine Intensivtherapie notwendig. Die Postreanimationsbehandlung hat einen wesentlichen Einfluss auf das neurologische Langzeitergebnis nach einem Kreislaufstillstand. Das oberste Ziel dieser Behandlung sollte die Entlassung des Patienten in ein selbstständiges Leben sein.
29
In der ersten Phase sind Patienten durch Hypotonie, Herzrhythmusstörungen, multiples Organversagen oder Sepis gefährdet. Eine Sedierung in den ersten 24 h nach einer CPR ist zwar nicht evidenzbasiert, durch die zunehmend durchgeführte Maßnahme der milden Hypothermie jedoch zwingend notwendig. Der Einsatz sog. hirnprotektiver Medikamente, wie Barbiturate, Kalziumantagonisten und Hydantoinderivate, ist im Rahmen der Erstversorgung noch wenig belegt. Kommt es in der Aufwachphase zu Krampfanfällen, sind diese aggressiv zu therapieren. Eine einmalige hochdosierte Kortikosteroidinjektion nach Wiederherstellung der spontanen Herzaktion ist wegen der geringen Nebenwirkungen möglich, obwohl der therapeutische Nutzen (antiödematöse Wirkung) nicht bewiesen ist. ! Cave Die Indikation zur Blindpufferung nach erfolgreicher Reanimation sollte sehr zurückhaltend gestellt werden, da eine mäßige metabolische Azidose beim Kreislaufversagen durchaus erwünscht sein kann, denn die Azidose verbessert über eine Steigerung des Herzzeitvolumens und über eine Rechtsverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve den Sauerstofftransport zu den Zellen. Da nach erfolgreicher Reanimation häufig stark erniedrigte Kaliumwerte im Plasma gemessen werden, kann eine überschießende Azidosekorrektur diese Hypokaliämie verstärken und erneut einen Kreislaufstillstand auslösen.
Der therapeutische Einsatz von Hypothermie hat in den letzten Jahren bei der CPR zur Neuroprotektion an Bedeutung gewonnen [24]. So führt die Reduktion der Körpertemperatur über eine generelle Verlangsamung des Stoffwechsels der Hirnzelle nicht nur zu einer Herabsetzung des Glukose- und Sauerstoffverbrauchs, sondern auch zu einer verminderten Bildung freier Radikale. Außerdem inhibiert eine milde Hypothermie direkt die Aktivität apoptoseinduzierender Proteasen (Caspasen) und stabilisiert die Mitochondrienfunktion. Seit 1996 zeigten 3 prospektive, randomisierte Studien einen Vorteil für die nach einer Reanimation mit milder Hypothermie therapierten Patienten. Der Einsatz von therapeutischer Hypothermie kann mit Komplikationen verbunden sein, deren Ausmaß vom Grad der Hypothermie und der klinischen Überwachung der Patienten abhängt. So kann es zu Elektrolytverschiebungen und zu damit verbundenen Herzrhythmusstörungen kommen. Eine Hemmung der ADH-Ausschüttung führt zu einer verstärkten Diurese und einer konsekutiven Hypovolämie, welche evtl. durch eine bisher ungeklärte, nichtentzündliche Extravasation von Flüssigkeit verstärkt wird. Zudem wurden Störungen der Blutgerinnung, Veränderungen der Blutviskosität und eine höhere Infektionsrate beobachtet. Des Weiteren kann eine Hypothermie zu einer Insulinresistenz führen. Die Wiederwärmung sollte mit 0,25–0,5°C/h behutsam durchgeführt werden; eine Hyperthermie ist unbedingt zu vermeiden. Ziel ist es, den Patienten innerhalb von 4 h nach erfolgreicher CPR auf 32–34°C Körperkerntemperatur zu kühlen. Dabei gilt, dass die Patienten generell sediert und bei Beatmung auch muskelrelaxiert werden sollen, um ein körpereigenes Gegensteuern durch Kältezittern zu verhindern. Dies lässt sich ebenfalls durch niedrigdosierte Opioid-, insbesondere Pethidingabe unterstützen. Durch externe Kühlmethoden allein lässt sich auch bei Verwendung von Eispacks eine schnelle Kühlung nicht immer erreichen. Als ein effektives und einfach anzuwendendes Verfahren
382
Kapitel 29 · Kardiopulmonale Reanimation
wird die Infusion von 30 ml/kg KG 4°C kalter Vollelektrolytlösung postuliert. In 60 min kann so die Körpertemperatur um bis zu 3,5°C gesenkt werden. Zudem wirkt die Volumengabe einer Hypovolämie nach einer CPR entgegen; zu einem gehäuften Auftreten von Lungenödemen kam es dabei nicht. Im Gegenteil verbesserten sich arterieller Mitteldruck, Nierenfunktion und Säure-Basen-Haushalt signifikant.
29
5 Erwachsene Patienten mit initialem Kammerflimmern sollten nach Wiederherstellung eines Spontankreislaufes für die folgenden 12–24 h auf eine Körperkerntemperatur von 32–34°C abgekühlt werden (nur wenn sie das Bewusstsein nicht wiedererlangt haben). 5 Eine intensivmedizinische Überwachung mit strikter Kontrolle des Wasser- und Elektrolythaushaltes sowie des Blutzuckerspiegels (80–110 mg/dl) sollte erfolgen.
29.9
Einstellen der Reanimationsmaßnahmen
Die Diagnose des definitiven Hirntodes kann während der CPR nicht gestellt werden. Die Chancen, doch noch er folgreich zu reanimieren, sind in der Regel dann gering, wenn auch nach 60 min dauernder CPR eine spontane elektrische Aktivität nicht zu erreichen ist, lediglich eine elektrische Aktivität mit verlangsamten Kammerkomplexen resultiert oder anhaltendes Kammerflimmern mit ständigen Amplitudenverlusten erfolgt. In diesen Fällen kann – mit bestimmten Einschränkungen – von einem definitiven Herztod ausgegangen werden.
Die Vorhersage nicht erfolgreicher CPR-Versuche ist sehr komplex und daher sehr fehleranfällig. Deshalb kann hier keine allgemein gültige Entscheidungslinie gegeben werden. Die Einstellung der CPR ist eine individuelle Entscheidung des behandelnden Arztes, die aufgrund des initialen EKG-Rhythmus, ggf. der Durchführung von Laien-CPR, Eintreffzeiten der Rettungskräfte, dem Reanimationsverlauf und auch der Berücksichtigung der bisherigen Lebensqualität des Patienten getroffen werden sollte. Ein Transport in die Zielklinik ist unter laufender CPR – außer bei unterkühlten Patienten – meist sinnlos. Der Abbruch einer CPR am Notfallort stellt sowohl für das Rettungspersonal als auch für die Familienangehörigen eine unangenehme bzw. emotional extrem belastende Situation dar. Dies ist v. a. dann für alle Beteiligten bedrückend, wenn ein verstorbener Patient nicht würdevoll in seinem Bett zurückgelassen werden kann, sondern die CPR z. B. in einem Supermarkt oder Freibad erfolglos war. Oft werden Patienten dann auch ohne erreichten Spontankreislauf mit Sondersignalen in die Klinik gebracht, weil das Rettungspersonal die CPR z. B. in der Wohnung des Patienten nicht beenden oder ein Versagen der CPR-Bemühungen in der Öffentlichkeit nicht eingestehen will [9]. Sowohl Daten aus den USA als auch aus Europa belegen, dass die Überlebensrate von Patienten, die am Einsatzort durch erweiterte Reanimationsmaßnahmen keinen Spontankreislauf erlangen, nicht durch schnelle, potenziell gefährliche Eiltransporte mit Sondersignalen zum Krankenhaus zu verbessern ist [10]. Abgesehen von seltenen, speziellen
pathologischen Umständen (z. B. Hypothermie, Medikamentenintoxikation) gibt es auch im Krankenhaus keine speziellen Maßnahmen, mit denen ein vor Ort erfolglos reanimierter Patient in der Klinik erfolgreich wiederbelebt werden könnte. 29.10 Zukunft Seit der Wiederentdeckung der CPR Anfang der 1950-er Jahre sind mit extrem hohem Aufwand z. B. verschiedene Medikamente, Kompressionstechniken und andere Reanimationsstrategien untersucht worden. Man muss aber kritisch anmerken, dass sich die heutigen Leitlinien, von einzelnen Ausnahmen wie der Fibrinolyse bei Herzinfarkt und Schlaganfall oder Vasopressin abgesehen, nicht sehr stark von den Vorschlägen zur Optimierung der CPR abweichen, die Prof. Peter Safar in den 1950-er Jahren erstellt hat [18]. Mögliche Innovationen in der Zukunft der CPR könnten z. B. molekulare Protektion von myokardialen oder neuronalen Zellen, Hypothermie [24] oder Induktion eines Hypometabolismus/einer Hibernation sein. Ein weitererGegenstand aktueller Forschungen ist die Thrombolyse bei der CPR, wie sie schon zur CPR nach Pulmonalarterienembolie empfohlen wird [6, 7]. i Trotz der Hoffnung auf Therapiedurchbrüche darf nicht vergessen werden, dass jegliche CPR-Intervention nur wirken kann, wenn Thoraxkompressionen und Beatmung möglichst frühzeitig und effizient begonnen werden.
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29
V
Kardiovaskuläre Störungen
30
Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade –387
31
Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Instabile Angina pectoris –407
32
Herzrhythmusstörungen
33
Infektiöse Endokarditis
34
Der hyper tensive Notfall
35
Lungenar terienembolie
–429 –445 –453 –461
30 Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade H.-P. Hermann, S. Vonhof, G. Hasenfuss
30.1
Akute Herzinsuffizienz, kardiogener Schock
30.1.1 30.1.2 30.1.3 30.1.4 30.1.5 30.1.6
Grundlagen –388 Klinik –389 Diagnostik –389 Therapie –389 Überwachung –397 Prognose und Folgetherapie –397
30.2
Perikarderguss und Perikardtamponade
30.2.1 30.2.2 30.2.3 30.2.4 30.2.5 30.2.6
Grundlagen –397 Klinische Präsentation –399 Diagnostik –400 Therapie –402 Überwachung –404 Prognose und Folgetherapie –405
Literatur
–405
–388
–397
388
Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
30.1
Akute Herzinsuffizienz, kardiogener Schock
30.1.1 Grundlagen > Definition
30
Herzinsuffizienz bezeichnet ein komplexes klinisches Syndrom, das gekennzeichnet ist durch Störungen der linksventrikulären Funktion und der neuroendokrinen Regulation sowie durch einen Anstieg der Füllungsdrücke (z. B. pulmonal-kapillärer Verschlussdruck, PCWP), Flüssigkeitsüberladung der Gewebe (Kongestion), ein reduziertes Herzminutenvolumen und die daraus resultierende Gewebshypoperfusion. Für die akute Herzinsuffizienz ist keine einheitlich anerkannte Definition verfügbar. Näherungsweise kann sie als rasches Auftreten von Symptomen und Zeichen einer gestörten Herzfunktion mit einem daraus resultierenden dringlichen Behandlungsbedarf charakterisiert werden.
Klinisch sind diverse Einteilungen der Herzinsuffizienz üblich: Nach der Dynamik der Symptomentwicklung wird zwischen aku-
ter und chronischer Herzinsuffizienz unterschieden, nach den vorwiegend erkrankten Herzabschnitten zwischen Linksherzund Rechtsherzinsuffizienz. Entsprechend der primär zugrunde liegenden Funktionsstörung wird eine systolische von einer diastolischen Herzinsuffizienz unterschieden. In Abhängigkeit von der klinisch führenden Symptomatik der Herzinsuffizienz unterscheidet man ein Rückwärtsversagen mit im Vordergrund stehender Stauungssymptomatik (pulmonal oder peripher), erhaltenem Blutdruck und erhaltener Organperfusion von einem Vor wärtsversagen mit führender Hypotonie und Organminderperfusion bis zur Schocksymptomatik; hier kann die Stauungssymptomatik im Hintergrund stehen.
Epidemiologie Die Prävalenz der Herzinsuffizienz beträgt in westlichen Industrienationen zwischen 0,4 und 2%, sie steigt altersabhängig auf 3–13% bei Patienten über 65 Jahren [2]. Die Prognose der akuten Herzinsuffizienz ist schlecht. Je nach untersuchtem Kollektiv liegt der kombinierte Endpunkt aus Mortalität und erneuter Hospitalisation innerhalb von 60 Tagen nach initialer Aufnahme zwischen 30 und 60%.
Ätiologie . Tabelle 30.1. Ursachen der Herzinsuffizienz Pathophysiologie
Ätiologie
1. Systolische Ventrikelfunktionsstörung A. Primäre Kontraktionsschwäche
Akuter Myokardinfarkt (AMI)
Ischämische Kardiomyopathie (ICM) Akute Myokarditis Dilatative Kardiomyopathie (DCM) B. Primär erhöhte Ventrikelwandspannung
Hypertensive Krise
Wird die Herzinsuffizienz durch eine primäre myokardiale Kontraktionsstörung ausgelöst, so ist der Begriff der Myokardinsuffizienz zutreffend. Die häufigsten Ursachen der akuten Herzinsuffizienz sind der akute Myokardinfarkt mit Ausfall von kontraktilem Gewebe sowie die akute Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz, z. B. bei dilatativer Kardiomyopathie (DCM). Herzinsuffizienz kann aber auch bei primär normaler myokardialer Kontraktilität entstehen, wenn eine akute außergewöhnliche hämodynamische Belastung eintritt, wie bei einer akuten Herzklappeninsuffizienz nach Endokarditis/Myokardinfarkt oder bei einer hypertensiven Krise mit peripherer Widerstandserhöhung. Eine Zusammenstellung der häufigen Ursachen der Herzinsuffizienz liefert . Tabelle 30.1.
Pathophysiologie Hypertensive Kardiomyopathie Klappenvitien (akut und chronisch) Shuntvitien
2. Diastolische Ventrikelfunktionsstörung Akute Myokardischämie Hypertensive Krise/hypertensive Kardiomyopathie Hypertrophe Kardiomyopathie (HNCM) Konstriktive Perikarditis Restriktive Kardiomyopathie (RCM) 3. Herzrhythmusstörungen Bradykarde Herzrhythmusstörungen Tachykarde Herzrhythmusstörungen
Um das benötigte Schlagvolumen nach einer initialen myokardialen Schädigung (z. B. Myokardinfarkt) aufrechtzuerhalten, findet kompensatorisch akut eine Sympathikusaktivierung und Herzfrequenzsteigerung statt (positive Kraft-Frequenz-Beziehung mit Zunahme der Kontraktionskraft bei Steigerung der Herzfrequenz). Gleichzeitig kommt es durch vermehrte Vordehnung zu einer Steigerung der Kontraktionskraft (Frank-Starling-Mechanismus), in der Summe resultiert eine Zunahme des Herzminutenvolumens. Mittel- und langfristig kommt es zu myokardialen Umbauprozessen (»remodelling«) mit Myozytenhypertrophie und Änderung des zellulären Phänotyps. Zur Kompensation der reduzierten Pumpleistung und als Folge der peripheren Minderperfusion entsteht systemisch, weitgehend unabhängig von der Ätiologie der Herzinsuffizienz, eine sog. neuroendokrine und Zytokinaktivierung mit konsekutiv im Vordergrund stehender peripherer Vasokonstriktion, Natriumund Flüssigkeitsretention. Teleologisch dient die neuroendokrine Aktivierung (Sympathikus, Renin-Angiotensin-AldosteronSystem, Vasopressin, Endothelin und andere vasoaktive Peptide) der Aufrechterhaltung eines adäquaten Perfusionsdrucks vitaler Organe und ist insbesondere bei akutem Blut- oder Volumenverlust für die Kreislaufregulation physiologisch sinnvoll.
389 30.1 · Grundlagen
Bei der Herzinsuffizienz ist die neuroendokrine und Zytokinaktivierung aber sowohl mit dem Manifestationszeitpunkt als auch mit dem klinischen Erscheinungsbild und letztlich mit der Prognose eng verknüpft. So weisen neuere Untersuchungen darauf hin, dass die Bildung von Zytokinen und freien Sauerstoffradikalen insbesondere für die akute Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz bedeutungsvoll ist. Die Relevanz von akutem Zelluntergang durch Apoptose, d. h. durch programmierten Zelltod, ist unklar. 30.1.2 Klinik Leitsymptome der akuten oder akut dekompensierten chronischen Herzinsuffizienz sind Dyspnoe sowie Tachypnoe, in fortgeschrittenen Stadien Orthopnoe, Hypotonie und Tachykardie. Der Patient ist häufig kaltschweißig, agitiert und verwirrt.
Manifestationsformen/Profile der akuten Herzinsuffizienz Klinisch kann trotz vielfältiger fließender Übergänge eine Reihe von typischen klinischen Profilen der akuten Herzinsuffizienz identifiziert werden, die sowohl für eine einheitliche Klassifizierung von Bedeutung sind als auch eine unterschiedliche Behandlungsstrategie implizieren [11, 19]. Eine Verwendung und Festlegung des behandelnden Arztes auf diese Einteilung erscheint daher unbedingt ratsam.
Manifestationsformen/Profile der akuten Herzinsuffizienz 5 Akute dekompensierte Herzinsuffizienz (de novo Herzinsuffizienz oder akute Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz) 5 Hypertensive akute Herzinsuffizienz 5 Kardiogenes Lungenödem 5 Kardiogener Schock (RRsys <90 mm Hg, Abfall MAP >30 mm Hg, Diurese <0,5 ml/kg KG/h bei Herzfrequenz >60/min, CI <2,2 l/min/m2, PCWP >15 mm Hg) 5 »High-output-Herzinsuffizienz« 5 Akute Rechtsherzinsuffizienz
diale), später feuchte Rasselgeräusche. Bei Patienten mit Lungenödem sind Rasselgeräusche ausgedehnt über großen Lungenarealen hörbar, sie sind häufig grobblasig, exspiratorische pfeifende Geräusche sind oft assoziiert. Die Unterscheidung von einer primär pulmonalen Genese der Dyspnoe ist nicht immer trivial, hier sind anamnestische Angaben zu vorbestehenden kardialen oder pulmonalen Erkrankungen hilfreich. Ergänzend gewinnt hier die Bestimmung der Plasmakonzentrationen von natriuretischen Peptiden differenzialdiagnostische Bedeutung: Normale Konzentrationen von BNP oder NT-proBNP machen eine Herzinsuffizienz als Ursache einer Dyspnoe unwahrscheinlich und verweisen auf andere, z. B. pulmonale Ursachen. Bei Herzinsuffizienz wird eine Ergussbildung im Pleuraraum häufig auf der rechten Seite durch Perkussion und Auskultation festgestellt, diese wird durch einen erhöhten pulmonalkapillären Druck und Flüssigkeitstranssudation ausgelöst. Aszites kann ebenfalls durch Transsudation bei erhöhtem zentralvenösem Druck entstehen. Ödeme sind in den physikalisch abhängigen Körperpartien lokalisiert, beim bettlägerigen Patienten auch in der Sakralregion. Die Urinproduktion ist bei manifester Herzinsuffizienz meist eingeschränkt. Das spezifische Uringewicht ist erhöht, es ist oft eine Proteinurie nachweisbar, und der Natriumgehalt im Urin ist erniedrigt. 30.1.3 Diagnostik Für die kalkulierte Ersttherapie einer akuten Herzinsuffizienz zur Verbesserung der Hämodynamik und Stabilisierung des Patienten genügt zunächst die klinische Diagnose. Das Basisprogramm der apparativen Diagnostik umfasst Laboruntersuchungen, 12Kanal-EKG und Echokardiographie sowie Thoraxröntgenaufnahme. Die erweiterte Diagnostik beinhaltet bei der akuten Herzinsuffizienz in Einzelfällen eine Rechtsherzkatheteruntersuchung (insbesondere bei fehlendem Ansprechen auf die kalkulierte Ersttherapie) sowie häufig eine Linksherzkatheteruntersuchung mit Koronarangiographie und evtl. mit Endomyokardbiopsie (. Tab. 30.2). . Tabelle 30.2. Diagnostik bei Herzinsuffizienz
Klinische Untersuchungsbefunde Bei der klinischen Untersuchung werden zunächst die Vitalparameter Bewusstsein, Atmung, Puls und Blutdruck erfasst. Die Beurteilung des Jugularvenenpulses und der Jugularvenenfüllung erlaubt eine Aussage über den Füllungsdruck des venösen Systems. Im Fall einer Volumenüberlastung, einer Kontraktionsinsuffizienz mit erhöhten rechtsventrikulären Füllungsdrücken oder einer mechanischen Füllungsbehinderung des Herzens ist eine Halsvenenstauung leicht zu erkennen. Am Herz auskultiert man neben der Tachykardie oft einen protodiastolischen Galopp, d. h. einen linksventrikulären oder rechtsventrikulären 3. Herzton als Ausdruck der gestörten frühdiastolischen Kammerfüllung bei erhöhten Füllungsdrücken. Zusätzlich sind häufig begleitende pathologische Herzgeräusche bei ursächlichen Vitien oder bei sekundärer Mitral- oder Trikuspidalklappeninsuffizienz vorhanden. Bei der Auskultation der Lunge finden sich über den basalen Lungenabschnitten häufig zunächst Bronchospastik (Asthma car-
30
Diagnostisches Verfahren
Fragestellung
Klinische Untersuchung
4 Periphere Durchblutung, Temperatur? 4 Venendruck (Jugularvenenfüllung)? 4 Herzauskultation (Galopprhythmus?, pathologische Geräusche?) 4 Lungenauskultation (Rasselgeräusche?)
Serumelektrolyte
4 Serum-Na+ <125 mmol/l: 4 Verdünnungshyponatriämie? (Ödeme, Hkt p) 4 Verlusthyponatriämie? (Keine Ödeme, Hkt n)
6
390
30
Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
. Tabelle 30.2. (Fortsetzung)
. Tabelle 30.3. Behandlungsziele
Diagnostisches Verfahren
Fragestellung
Zeithorizont
Ziel
Kurzfristig
Sicherung der Oxygenierung
Arterielle Blutgasanalyse (ABGA)
Azidose (metabolisch/respiratorisch?)
Sicherung der Organperfusion
Arteriovenöse O2-Differenz (avDO2)
Low-output-/High-output-Failure?
Korrektur der Flüssigkeitsbilanz
Serumlaktat
Organhypoperfusion?
Kreatinin, Harnstoff
Prärenales Nierenversagen?
Urinnatrium/fraktionelle Na-Exkretion
Prärenales oder akutes renales Nierenversagen?
TSH basal
Hyperthyreose?
Ruhe-EKG (12-Kanal)
4 Infarktnarben? 4 Hypertrophie/Schädigungszeichen? 4 Rhythmusstörungen?
Rhythmusmonitoring/ Langzeit-EKG
Komplexe Rhythmusstörungen?
Echokardiographie (ggf. inkl. TEE)
4 Linksherz-/Rechtsherzversagen (Dilatation)? 4 LV-Hypertrophie? 4 Segmentale Kontraktionsstörungen? 4 Globale Kontraktionsstörung? 4 Klappenvitium, Shuntvitium? 4 Linksventrikuläre Auswurffraktion (LVEF)? 4 Pulmonale Hypertonie? 4 Akute Rechtsherzbelastung (Lungenembolie)? 4 Systolische oder diastolische Funktionsstörung? 4 Konstriktion/Restriktion? 4 Perikarderguss?
Mittelfristig
Minimierung des Endorganschadens Verkürzung des Krankenhausaufenthalts Einleitung einer Langzeittherapie
Langfristig
Senkung von Krankenhauswiederaufnahmen Verbesserung der Prognose
30.1.4 Therapie
Behandlungsziele
Thoraxröntgenaufnahme
4 Kardiomegalie? 4 Stauungszeichen? (akut/chronisch?) 4 Pleuraerguss? 4 Pneumonie?
Linksherzkatheter/ Koronarangiographie
4 KHK oder KMP? 4 Klappenvitium/Shuntvitium/ Konstriktion? 4 Revaskularisationsmöglichkeit?
Rechtsherzeinschwemmkatheter
4 Differenzialdiagnose der akuten Kreislaufinsuffizienz 4 Ermittlung des intravasalen Volumens bzw. des LV- und RV-Füllungsdrucks (z. B. bei COPD/ PAH und Herzinsuffizienz) 4 Bei Persistenz der Symptomatik trotz empirischer Therapieanpassung auf der Basis der klinischen Befunde 4 Kritische kardiale Dekompensation (z. B. vor HTX oder Assist device)
Endomyokardbiopsie
4 Akute Myokarditis? 4 Riesenzellmyokarditis?
Bei der Behandlung der akuten Herzinsuffizienz werden perspektivisch kurz-, mittel- und langfristige Behandlungsziele unterschieden (. Tab. 30.3).
Kausale Therapie vor symptomatischen Ansätzen Bei der Behandlung der akuten Herzinsuffizienz hat die Identifizierung von potenziell reversiblen Ursachen absolute Priorität. Nur durch eine unverzügliche kausale Therapie kann die Prognose entscheidend verbessert werden: bei akutem Myokardinfarkt durch Reperfusionsstrategien, bei der Perikardtamponade durch unverzügliche Entlastung, bei einer akuten Herzklappeninsuffizienz (z. B. Papillarmuskelabriss) durch Herzklappenchirurgie (. Tab. 30.4). Eine konservative symptomatische Behandlung beruht auf charakteristischen Veränderungen des Arbeitsdiagramms des Herzens bei akuter Herzinsuffizienz, die in . Abb. 30.1 dargestellt sind. Aus pragmatischen Gründen wird die Therapie in Anlehnung an die klinische Einteilung gezeigt.
Identifizierung von auslösenden Komorbiditäten Bei neu aufgetretener oder akut verschlechterter Herzinsuffizienzsymptomatik kommt neben der Klärung der zugrunde liegenden Herzerkrankung, also der ätiologischen Klärung, dem Erkennen von begünstigenden Begleitumständen und auslösenden Komorbiditäten eine entscheidende Bedeutung zu. Dies beinhaltet insbesondere neu aufgetretene Herzrhythmusstörungen wie beispielsweise Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie, systemische Infektionen, Anämie, akute Blutdruckentgleisungen, Hyperthyreose, Lungenembolien sowie außergewöhnliche physische Belastungen, mangelnde Compliance des Patienten und Nahrungsexzesse mit erhöhter Natrium- und Flüssigkeitszufuhr oder Alkoholgenuss. Eine chronisch kompensierte Herzinsuffizienz kann durch die oben genannten Faktoren ohne intrinsische Verschlechterung der myokardialen Kontraktilität in eine akute Dekompensation mit dem klinischen Bild der akuten Herzinsuffizienz münden.
391 30.1 · Grundlagen
30
. Tabelle 30.4. Mögliche kausale Therapieansätze bei chronischer Herzinsuffizienz Ätiologie
Kausale Therapie
KHK mit chronischer Myokardischämie und Pumpfunktionsstörung (»hibernating myocardium«)
Revaskularisation: Bypassoperation vs. PTCA
Herzklappenfehler
Operation, Valvuloplastie
Konstriktive Perikarditis
Perikardektomie
Tachykarde HRST
Katheterablation, Antiarrhythmika, ICD
Bradykarde HRST
Schrittmacherimplantation
Akute Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz Milde Formen der Dekompensation können häufig durch zusätzliche intensivierte oder intravenöse diuretische Therapie sowie durch Optimierung oder Wiederaufnahme der Dauertherapie behandelt werden, dies kann auch auf einer ambulanten Basis erfolgen. Bei schweren Formen wird häufig eine positiv-inotrope Stimulation mit Katecholaminen unter stationären Bedingungen notwendig.
Pharmakotherapie Stufe 1: Entlastung des Herzens und supportive Maßnahmen Zu Beginn der symptomatischen Therapie des dyspnoischen Patienten steht die supportive Sauerstoffinsufflation (2–10 l/min über Nasensonde/Nicht-Rückatem-Maske), um eine respiratorische Partialinsuffizienz mit Hypoxie zu kompensieren, die Oxygenierung sicherzustellen und um einer hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion (Euler-Liljestrand-Reflex) mit Nachlasterhöhung des rechten Herzens entgegenzuwirken (. Abb. 30.2). Als nächste Maßnahme sollte eine rasche Vorlastsenkung erfolgen. Dazu sind orale oder sublinguale Nitrate geeignet (Nitroglyzerin 0,4–0,8 mg alle 10 min), diese dürfen aber nur bei einem systolischen Blutdruck >90 mm Hg eingesetzt werden. Bei Patienten mit stabilem Blutdruck (RRsys >100 mm Hg) und fehlenden Schockzeichen kann auch eine intravenöse Nitrattherapie eingeleitet werden (0,5–3 mg/h, Dosistitration nach Blutdruck).
Anschließend werden rasch wirksame Schleifendiuretika verabreicht (Furosemid 0,5–1 mg/kg KG i.v., höhere Dosen bei erheblicher Stauung oder bei eingeschränkter Nierenfunktion). Diese bewirken neben einem Flüssigkeitsentzug durch Diurese eine akute Vorlastsenkung durch venöses »pooling«. Bei der Dosierung der Diuretika muss klinisch auf eine kritische Verminderung des intravasalen Flüssigkeitsstatus geachtet werden, insbesondere bei Patienten mit Diuretikavorbehandlung (relative Hypovolämie; Bestimmung des zentralen Venendrucks notwendig). Weiterhin sollte eine Analgosedation des agitierten Patienten erfolgen, hier ist vorzugsweise eine intravenöse Opioidgabe (z. B. Morphin fraktioniert 1–3 mg) sinnvoll. Patienten, die auf die Nitrattherapie nicht unmittelbar rasch ansprechen und deren Herzinsuffizienzsymptomatik überwiegend auf eine schwere Mitral- oder Aortenklappeninsuffizienz oder eine ausgeprägte arterielle Hypertonie mit peripherer Widerstandserhöhung zurückzuführen ist, sollten mit dem Vasodilatator Natrium-Nitroprussid behandelt werden (hypertensive akute Herzinsuffizienz s. unten). Neben der akuten Senkung der Füllungsdrücke durch Nitroglyzerin oder Natrium-Nitroprussid kann auch Nesiritide, ein rekombinantes humanes natriuretisches Peptid mit vasodilatierenden und natriuretischen Eigenschaften, eingesetzt werden. Nesiritide weist ein ähnliches Wirkprofil wie eine Kombination von Nitroprussid und Nitroglyzerin bezüglich arterieller und ve-
. Abb. 30.1 Arbeitsdiagramm des Herzens
392
Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
30
. Abb. 30.2 Therapiealgorithmus bei akutem Lungenödem, Hypotonie oder kardiogenem Schock
nöser Vasodilatation auf, daneben werden Diurese und Natriurese gefördert. Eine Tachyphylaxie wurde bisher nicht beobachtet. Vergleichende Studien mit Nitroglyzerin und Dobutamin liegen vor. Die Substanz ist gegenwärtig in Deutschland nicht zugelassen. Aufgrund neuer Berichte zu einer erhöhten Inzidenz renaler Nebenwirkungen sowie divergierender Mortalitätsdaten müssen weitere Studien abgewartet werden, bevor eine abschließende Bewertung der Substanz möglich ist.
Pharmakotherapie Stufe 2: Positiv-inotrope Stimulation Liegt eine akute Herzinsuffizienz/akute Dekompensation mit begleitender Hypotonie und Hypoperfusion vor, sollten vasodilatierende Substanzen nur mit Vorsicht unter invasivem Monitoring mit Rechtsherzkatheter eingesetzt werden, falls tatsächlich eine erhebliche Widerstandserhöhung vorliegt. In der 2. Stufe der Pharmakotherapie ist aber in der Regel die Gabe von positiv-inotropen Substanzen indiziert: Bei RRsys zwischen 85 und 100 mm Hg besteht zunächst eine Indikation für das überwiegende E1-Sympathomimetikum Dobutamin (2–20 Pg/kg KG/min i.v.). Bei RRsys zwischen 85 und 100mm Hg und beginnender Schocksymptomatik wird in erster Linie Dopamin (5–20 Pg/ kg KG/min i.v.) eingesetzt, das neben vorwiegend positiv-inotropen E-sympathomimetischen auch blutdruckstabilisierende D-mimetische und dopaminerge Wirkungen aufweist. Liegt der gemessene systolische Blutdruck unter 85 mm Hg und/oder liegen progressive Schocksymptome vor, so sollte zusätzlich zu Dobutamin oder Dopamin das stark vasopressorisch wirksame Katecholamin Noradrenalin verabreicht werden (0,05–1 Pg/kg KG/min i.v.).
Die genannten Pharmaka sollten so kurz wie möglich eingesetzt werden, da sie den Sauerstoffbedarf des Herzens steigern und somit ungünstige Effekte auf die Ökonomie der myokardialen Kontraktion ausüben. Die hämodynamischen Effekte sind oft durch rasche Tachyphylaxie limitiert, was häufig zu unerwünschten Dosissteigerungen führt. Bei ungenügendem klinischem Ansprechen auf die Katecholamintherapie mit unzureichender Steigerung des Herzminutenvolumens und weiter bestehenden erhöhten Füllungsdrücken (invasives hämodynamisches Monitoring) ist eine Kombination der Katecholamine mit einem Phosphodiesteraseinhibitor (PDE-Inhibitor) sinnvoll. PDE-Inhibitoren hemmen den Abbau von zyklischem AMP, dem intrazellulären »second messenger« der Katecholamine, und weisen damit synergistische Effekte auf, die unabhängig vom zellulären E-Adrenozeptorstatus und damit einer Vorbehandlung des Patienten mit E-Rezeptorenblockern sind. Die Therapie kann z. B. mit Milrinon (0,25–0,75 Pg/kg KG/ min) eingeleitet werden, eine intravasale Hypovolämie mit Hypotonie darf bei der Therapieeinleitung mit PDE-Inhibitoren nicht vorliegen. Als sehr wirksame Alternative zu selektiven PDE-Inhibitoren in Kombination mit Katecholaminen wird der Einsatz von sog. kalziumsensitivierenden Substanzen betrachtet. Diese Substanzgruppe ist erst seit kurzem verfügbar, und wissenschaftliches Datenmaterial zum Vergleich dieser Substanzen mit Katecholaminen liegt bislang lediglich für Levosimendan vor. Levosimendan bewirkt im therapeutischen Dosisbereich eine Sensitivierung der kontraktilen Proteine für die aktivierenden Kalziumionen mit Steigerung des Herzminutenvolumens und Senkung der Füllungsdrücke, ohne den Energieverbrauch des Herzens signi-
393 30.1 · Grundlagen
fikant zu steigern. Außerdem wurden keine proarrhythmischen Effekte beobachtet. In hohen Dosierungen kommen vasodilatierende Effekte und PDE-Hemmung hinzu. Im Vergleich zu Dobutamin bewirkt Levosimendan eine stärkere Senkung der Füllungsdrücke und Steigerung des Herzminutenvolumens, ein Wirkungsverlust der Dauerinfusion durch Tachyphylaxie wurde nicht beobachtet. Bei der Einleitung der Behandlung mit Levosimendan sollte eine relative oder absolute Hypovolämie unbedingt ausgeschlossen werden, nach einer Bolusgabe von 12 Pg/kg KG wird eine Dauerinfusion mit 0,05– 0,2 Pg/kg KG/min über 12 bis maximal 24 h fortgeführt. Bei relativ niedrigem Ausgangs-RR kann auf die Bolusgabe verzichtet und direkt mit der Dauerinfusion begonnen werden. Im Falle einer intialen Hypotonie kann parallel niedrig dosiert Noradrenalin verabreicht werden. Die günstigen hämodynamischen Effekte sind aufgrund der langen Halbwertszeit der aktiven Metaboliten nicht auf die Infusionsdauer begrenzt, sondern darüber hinaus nachweisbar. Levosimendan ist gegenwärtig die einzige positiv-inotrope Substanz, für die günstige Mortalitätsdaten vorliegen, eine abschließende Beurteilung ist gegenwärtig noch nicht möglich. Die Substanz ist auf dem europäischen Markt verfügbar, in Deutschland aber noch nicht zugelassen.
Mechanische Kreislaufunterstützung durch Kunstherz (»Assist Device«) Mechanische Unterstützungssysteme werden überwiegend als Überbrückungsmaßnahme (»bridging«) bei schwerster, konventionell therapierefraktärer Herzinsuffizienz bis zu einer möglichen Herztransplantation eingesetzt. Es sind extrakorporale rechts- oder linksventrikuläre Ersatzsysteme oder auch weitgehend vollständig implantierbare »assist devices« in spezialisierten Zentren verfügbar. Die Erfahrungen an begrenzten Patientenzahlen sind günstig, es wurden Patienten länger als 1 Jahr mit subjektiv guter Lebensqualität behandelt. In Einzelfällen eines kardialen Pumpversagens durch Myokarditis oder idiopathisch dilatative Kardiomyopathie konnte eine spontane Erholung des eigenen Herzens durch die Entlastung aufgrund des Kunstherzens beobachtet werden, sodass gelegentlich eine Explantation des Systems ohne Notwendigkeit einer HTX möglich war. Der permanente dauerhafte artifizielle Herzersatz befindet sich wegen ungelöster thromboembolischer Komplikationen und der Infektionsgefahr weiterhin nur im experimentellen Stadium.
Herztransplanation (HTX) Patienten mit konservativ nicht beherrschbarer schwerer Herzinsuffizienz (NYHA III–IV) und häufig wiederkehrenden Hospitalisierungen wegen Dekompensationen sind Kandidaten für eine Herztransplantation. Wesentliche Kontraindikationen sind: fixierte pulmonale Hypertonie, akute oder chronische systemische Infektionen, Tumorleiden <5 Jahre in Remission, psychiatrische Vorerkrankungen und Abhängigkeiten, Diabetes mellitus mit Spätsyndrom (, biologisches Alter >60 Jahre). Bei schwerer fixierter pulmonaler Hypertonie muss eine kombinierte Herz-Lungen-Transplantation in Betracht gezogen werden. Als Entscheidungshilfe zur Dringlichkeit einer HTX dient die objektive Bestimmung der maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit mittels Spiroergometrie (<15 ml/kg KG/min für die Aufnahme in die Warteliste gefordert). Die 5-Jahres-Überle-
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bensrate beträgt derzeit nach HTX ca. 70–80%. Das Verfahren ist bekannterweise wegen mangelnder Verfügbarkeit von Spenderorganen erheblich limitiert.
Diastolische Herzinsuffizienz Etwa 20–40% der Patienten mit typischer, auch akuter Herzinsuffizienzsymptomatik weisen eine normale systolische linksventrikuläre Funktion auf. Man geht davon aus (nach Ausschluss von Herzklappenerkrankungen), dass eine gestörte diastolische Funktion primäre Ursache für die Symptomatik ist. Im Gegensatz zur Behandlung der systolischen Funktionsstörung sind nur wenige Daten zur Behandlung der diastolischen Funktionsstörung verfügbar. Zwar wurden kontrollierte Studien mit Digitalis, ACEHemmern, ARB, Kalziumantagonisten und E-Blockern bei Patienten mit normaler linksventrikulärer Auswurffraktion durchgeführt, doch waren diese Studien entweder sehr klein, oder sie ergaben widersprüchliche Resultate. In Ermangelung von evidenzbegründeten Richtlinien basiert die Behandlung der diastolischen Funktionsstörung auf der Kontrolle der physiologischen Variablen Blutdruck, Herzfrequenz, zirkulierendes Blutvolumen und ggf. präexistente Myokardischämie: E-Blocker werden zur Frequenzsenkung und zu einer damit verbundenen Verlängerung der Diastolendauer eingesetzt. Neuere Ergebnisse befürworten insbesondere den Einsatz von Carvedilol, das neben E-blockierenden Effekten auch D-blockierende, vasodilatierende Wirkungen aufweist. ACE-Hemmer senken den Blutdruck, können die myokardiale Relaxation und diastolische Dehnbarkeit direkt verbessern und führen langfristig zu einem Rückgang der Hypertrophie. Gleiches gilt für die Angiotensinrezeptorblocker Losartan und Candesartan, die bei diastolischer Herzinsuffizienz gegenüber ACE-Hemmern nach neueren Daten von Vorteil sein können [32]. Diuretika sind bei peripherer oder pulmonaler Flüssigkeitsüberladung notwendig, sollten allerdings mit Zurückhaltung eingesetzt werden, um die Vorlast bzw. die Füllungsdrücke nicht exzessiv zu senken und damit zu einer weiteren Verminderung des myokardialen Schlagvolumens und des Herzminutenvolumens beizutragen.
Hypertensive akute Herzinsuffizienz Nicht selten tritt eine akute Herzinsuffizienz mit Stauungssymptomatik im Rahmen einer hypertensiven Entgleisung/hypertensiven Krise durch akute Nachlaststeigerung in Erscheinung. Zur Behandlung der isolierten hypertensiven Krise wird auf 7 Kap. 34 verwiesen. Die Sympomatik kann der resultierenden pulmonalen Stauung bis hin zum Lungenödem zugeschrieben werden. Häufig ist eine erhaltene systolische Ventrikelfunktion festzustellen, es bestehen also oft Zeichen der diastolischen Herzinsuffizienz (7 s. oben). Therapieprinzipien beinhalten neben Sauerstoffgabe und ggf. nicht-invasiver Beatmung mit CPAP/NIPPV eine initial rasche Nachlast- und Vorlastsenkung und anschließend eine langsamere Blutdrucksenkung über mehrere Stunden zu Normalwerten. Hierzu können zunächst rasch wirksame Schleifendiuretika eingesetzt werden sowie Nitroglyzerin sublingual oder intravenös. Eine äußerst wirksame Nachlastsenkung kann durch Gabe von Natrium-Nitroprussid erreicht werden. Hierzu ist eine kontinuierliche arterielle Blutdruckmessung obligat, und die Bestimmung des peripheren Gefäßwiderstandes (SVR) mittels Rechtsherzeinschwemmkatheteruntersuchung wünschenswert, falls
394
Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
der Patient nicht rasch auf die Initialtherapie anspricht. Ist der periphere Gefäßwiderstand erhöht (>1200 dynusucm–5), wird mit Nitroprussid in einer Dosis von 0,1 Pg/kg KG/min i.v. begonnen, bei Bedarf wird die Dosis schrittweise nach klinischer und hämodynamischer Reaktion erhöht (üblicherweise zwischen 0,2 und 10 Pg/kg KG/min Dauerinfusionsdosis). Die maximale Infusionsdauer sollte auf 24–48 h beschränkt werden, da eine längere oder hochdosierte Infusion die Gefahr einer Zyanid- oder Thiocyanat-Toxizität birgt (Metabolismus). Um diese zuverlässig zur vermeiden, wird deshalb parallel eine Infusion von Natriumthiosulfat als »scavenger« verabreicht.
Akutes kardiogenes Lungenödem
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Akuttherapie des kardiogenen Lungenödems 5 Sauerstoffinsufflation (2–10 l O2 über Nasensonde oder Nicht-Rückatmungsmaske) 5 Nitroglyzerin 0,4–0,8 mg sublingual, ggf. alle 10 min je nach RR wiederholen, bei RRsys >100 mm Hg auch Nitroglyzerin i.v. 0,5–3 mg/h 5 Furosemid 0,5–1 mg/kg KG i.v. als Bolus, ggf. nach 30 min wiederholen 5 Morphin 1–3 mg i.v. 5 Bei respiratorischer Insuffizienz vorzugsweise nicht-invasive Beatmung mittels CPAP oder NIPPV (»non-invasive positive pressure ventilation«) 5 Bei schwerer Mitral- oder Aortenklappeninsuffizienz, ausgeprägter arterieller Hypertonie oder erhöhtem peripherem Widerstand (>1200 dynusucm–5, Pulmonaliskatheter) Natrium-Nitroprussid (initial 0,1 Pg/kg KG/ min i.v., arterielles Blutdruckmonitoring obligat, Steigerung nach Klinik und RRsys, maximal 10 Pg/kg KG/min) 5 Bei Hypotonie mit RRsys zwischen 85 und 100 mm Hg Dobutamin (2–20 Pg/kg KG/min i.v.); bei RRsys zwischen 85 und 100 mm Hg und beginnender Schocksymptomatik Dopamin (5–20 Pg/kg KG/min i.v.) 5 Bei ausgeprägter Hypotonie mit RRsys d85 mm Hg und/oder progressiven Schocksymptomen zusätzlich Noradrenalin (0,05–1 Pg/kg KG/min i.v.) 5 Bei Myokardinfarkt (AMI) oder akutem Koronarsyndrom (ACS) notfallmäßige Koronarangiographie, ggf. PCI oder ACVB-Operation 5 Alternativ Fibrinolyseindikation prüfen 5 Bei therapierefraktärem Lungenödem intraaortale Ballongegenpulsation (IABP) 5 Bei begleitender bzw. präexistenter Niereninsuffizienz forcierter Flüssigkeitsentzug mittels Hämofiltration
Pharmakotherapie Stufe 1: Entlastung des Herzens und supportive Maßnahmen An erster Stelle der symptomatischen Therapie steht die supportive Sauerstoffinsufflation (2–10 l/min über Nasensonde/NichtRückatem-Maske), um eine respiratorische Partialinsuffizienz mit Hypoxie zu kompensieren, die Oxygenierung sicherzustellen und um einer hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion (EulerLiljestrand-Reflex) mit Nachlasterhöhung des rechten Herzens entgegenzuwirken. Im Fall einer persistierenden Hypoxämie, einer respiratorischen Globalinsuffizienz und Erschöpfung des Patienten sowie bei respiratorischer Azidose ist die Indikation
zur kontrollierten Beatmung bzw. Atmungsunterstützung mit positiv-endexspiratorischem Druck (PEEP) gegeben. Beim kooperativen Patienten und bei engmaschiger Überwachung soll einer nicht-invasiven Beatmung (NIPPV) mittels Atemmaske und positivem Atemwegsdruck [»continuous positive airway pressure« (CPAP) oder »biphasic positive airway pressure« (BIPAP)] der Vorzug gegeben werden. Oft kann damit eine endotracheale Intubation mit den resultierenden Konsequenzen (ventilatorassoziierte Pneumonie, tiefere Sedation etc.) vermieden werden. Als nächste Maßnahme sollte eine rasche Vorlastsenkung erfolgen. Dazu sind orale oder sublinguale Nitrate geeignet (Nitroglyzerin 0,4–0,8 mg alle 10 min), diese dürfen aber nur bei einem systolischen Blutdruck t90 mm Hg eingesetzt werden. In zweiter Linie sollte bei stabilem Blutdruck (RRsys >100 mm Hg) und fehlenden Schockzeichen eine intravenöse Nitrattherapie eingeleitet werden (0,5–3 mg/h, Dosistitration nach Blutdruck). Anschließend werden rasch wirksame Schleifendiuretika verabreicht (Furosemid 0,5–1 mg/kg KG i.v., höhere Dosen bei erheblicher Stauung oder bei eingeschränkter Nierenfunktion). Diese bewirken neben einem Flüssigkeitsentzug durch Diurese eine akute Vorlastsenkung durch venöses »pooling«. Bei unzureichendem Ansprechen auf Diuretika sowie bei präexistenter Niereninsuffizienz ist neben der hämodynamisch aktiven Therapie ein forcierter Flüssigkeitsentzug mittels Hämofiltration notwendig und indiziert. Neuere Daten weisen auf die Überlegenheit einer möglichst hoch dosierten Nitrattherapie in Kombination mit niedrigeren Diuretikadosierungen im Vergleich zum Konzept Hochdosisdiuretika plus niedrigdosierte Nitrate hin [3]. Weiterhin sollte eine Analgosedation des agitierten Patienten erfolgen. Hier ist vorzugsweise eine intravenöse Opioidgabe (z. B. Morphin fraktioniert 1–3 mg) sinnvoll. Patienten, die auf die Nitrattherapie nicht unmittelbar rasch ansprechen und deren Lungenödem über wiegend auf eine schwere Mitral- oder Aortenklappeninsuffizienz oder eine ausgeprägte arterielle Hypertonie mit peripherer Widerstandserhöhung zurückzuführen ist, sollten mit Natrium-Nitroprussid behandelt werden. Hierzu ist eine kontinuierliche arterielle Blutdruckmessung obligat und die Bestimmung des peripheren Gefäßwiderstandes (SVR) mittels Rechtsherzeinschwemmkatheteruntersuchung wünschenswert, falls der Patient nicht rasch auf die Initialtherapie anspricht. Ist der periphere Gefäßwiderstand erhöht (>1200 dynusucm–5) und der systolische Blutdruck >90 mm Hg, wird mit Nitroprussid in einer Dosis von 0,1 Pg/ kg KG/min i.v. begonnen. Bei Bedarf wird die Dosis schrittweise nach klinischer und hämodynamischer Reaktion erhöht (üblicherweise zwischen 0,2 und 10 Pg/kg KG/min Dauerinfusionsdosis). Als untere Grenze für eine Dosissteigerung gilt gewöhnlich ein systolischer Blutdruck von 85–90 mm Hg, es sollten PCWP-Werte zwischen 15 und 18 mm Hg angestrebt werden. Die optimale Dosierung richtet sich nach dem Anstieg des Herzminutenvolumens und dem Verhalten der Füllungsdrücke. Häufig ist nach akuter Vor- und Nachlastsenkung eine Volumensubstitution notwendig, um optimale Füllungsdrücke (ZVD um 12 mm Hg, PCWP zwischen 15 und 18 mm Hg) zu erhalten. Die maximale Infusionsdauer sollte auf 24–48 h beschränkt werden, da eine längere oder hochdosierte Infusion die Gefahr einer Zyanid- oder Thiocyanat-Toxizität birgt (Metabolismus). Um diese zuverlässig zur vermeiden, wird deshalb parallel eine Infusion von Natriumthiosulfat als »scavenger« verabreicht. Neben der akuten Senkung der Füllungsdrücke durch Nitroglyzerin oder Natrium-Nitroprussid kann auch hier Nesiritide,
395 30.1 · Grundlagen
ein rekombinantes humanes natriuretisches Peptid mit vasodilatierenden und natriuretischen Eigenschaften, eingesetzt werden (7 s. oben: »Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz«). Nesiritide weist ein ähnliches Wirkprofil wie eine Kombination von Nitroprussid und Nitroglyzerin bezüglich arterieller und venöser Vasodilatation auf, daneben werden Diurese und Natriurese gefördert; eine Tachyphylaxie wurde bisher nicht beobachtet. Vergleichende Studien mit Nitroglyzerin und Dobutamin liegen vor. Die Substanz ist gegenwärtig auf dem europäischen Markt noch nicht verfügbar (7 s. oben).
Pharmakotherapie Stufe 2: Positiv-inotrope Stimulation Liegt ein kardiogenes Lungenödem mit begleitender Hypotonie und Hypoperfusion vor, so ist die Gabe von positiv-inotropen Substanzen indiziert. Bei RRsys zwischen 85 und 100 mm Hg besteht zunächst eine Indikation für das überwiegende E1-Sympathomimetikum Dobutamin (2–20 Pg/kg KG/min i.v.). Bei RRsys zwischen 85 und 100 mm Hg und beginnender Schocksymptomatik wird in erster Linie Dopamin (5–20 Pg/kg KG/min i.v.) eingesetzt, das neben vorwiegend positiv-inotropen E-sympathomimetischen auch blutdruckstabilisierende D-mimetische und dopaminerge Wirkungen aufweist. Bei RRsys <85 mm Hg s. unten (»Kardiogener Schock«).
Kausaltherapie Ergibt die Basisdiagnostik Hinweise für einen akuten Myokardinfarkt (AMI) oder ein akutes Koronarsyndrom (ACS) als auslösende Ursache des Lungenödems, so ist nach initialer Kreislaufstabilisierung eine rasche kausale Therapie anzustreben. Bei verfügbarem Katheterlabor mit interventioneller Ausrichtung sollte unverzüglich eine Koronarangiographie durchgeführt werden mit der Option einer Revaskularisation durch perkutane Koronarintervention (PCI) oder aortokoronare Bypassoperation (ACVB). Alternativ muss die Indikation zur Fibrinolyse unverzüglich geprüft werden, die jedoch einer interventionellen Therapie prognostisch unterlegen ist. Patienten mit therapierefraktärem Lungenödem profitieren von der Implantation einer temporären intraaortalen Ballongegenpulsationspumpe (IABP). Diese ist insbesondere bei Patienten mit notfallmäßiger Herzkatheterdiagnostik und erfolgter oder geplanter Revaskularisation sinnvoll.
Kardiogener Schock Management Bei kardiogenem Schock (RRsys <90 mm Hg, Abfall MAP >30 mm Hg, Diurese <0,5 ml/kg KG/h bei Herzfrequenz >60/ min, CI <2,2 l/min/m2, PCWP >15 mm Hg; . Abb. 30.2), der nicht durch eine korrigierbare Ursache ausgelöst wird oder nicht adäquat und effektiv behandelt wird, beträgt die Mortalität t85%. Dies begründet ein besonders aggressives Management, um möglichst rasch behandelbare Ursachen zu identifizieren und entsprechend zu korrigieren. Patienten mit peripherer Minderperfusion, aber noch erhaltenem Blutdruck sollten als Präschockpatienten betrachtet und in analoger Weise behandelt werden, um eine Progression zum manifesten Schock zu verhindern. Zu diagnostischen Zwecken und zur Steuerung der Therapie kann bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Schockbehandlung ein Rechtsherzkatheter eingesetzt werden, falls der Patient nicht rasch auf einen kalkulierten Therapieversuch anspricht.
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Bei Patienten mit kardiogenem Schock muss zunächst eine relative oder absolute Verminderung des linksventrikulären Füllungsdrucks als Ursache der Hypotonie ausgeschlossen werden: vorbestehende diuretische Therapie, akute Volumenverschiebungen, rechtsventrikulärer Myokardinfarkt, Perikardtamponade u. a. Die Halsvenenfüllung ist kein verlässlicher Indikator des linksventrikulären Füllungsstatus, daher sollte ein erhöhter Jugularvenendruck nicht notwendigerweise einen Volumenversuch verhindern (z. B. bei chronischem Cor pulmonale, Perikardtamponade, RV-Infarkt). Falls klinisch keine Zeichen einer Linksherzinsuffizienz vorliegen (S3-Galopp, feuchte Rasselgeräusche, radiologische Stauungszeichen), sollte bei Hypotonie mit RRsys <85 mm Hg und Zeichen des Schocks zunächst eine probatorische rasche Volumengabe als Bolus erfolgen (500 ml einer physiologischen NaClLösung, nachfolgend 500 ml/h). Falls keine rasche klinische Besserung eintritt, müssen Katecholamine eingesetzt werden. Ein Perikarderguss sollte echokardiographisch rasch ausgeschlossen werden. Hierbei können auch die linksventrikuläre Pumpfunktion beurteilt sowie eine Rechtsherzbelastung oder ein rechtsventrikulärer Infarkt erkannt werden.
Pharmakotherapie Stufe 2: Positiv-inotrope Stimulation Bei schwerer Hypotonie (RRsys <85 mm Hg) und/oder Schock in Gegenwart einer Volumenüberladung oder trotz adäquater Volumengabe wird in erster Linie Dopamin (5–20 Pg/kg KG/min i.v.) eingesetzt, das neben vorwiegend positiv-inotropen E-sympathomimetischen auch blutdruckstabilisierende D-mimetische Wirkungen aufweist. Kann keine ausreichende Kreislaufstabilisierung erreicht werden (MAP>60mm Hg), so sollte zusätzlich Noradrenalin verabreicht werden (0,05–1 Pg/kg KG/min i.v.). Nach erreichter Blutdruckstabilisierung kann Dopamin durch eine Kombination von Dobutamin in niedriger bis mittlerer Dosierung (2–10 Pg/kg KG/min) und Noradrenalin ersetzt werden. Bei ungenügendem klinischem Ansprechen auf die Katecholamintherapie mit unzureichender Steigerung des Herzminutenvolumens und weiter bestehenden erhöhten Füllungsdrücken ist eine Kombination der Katecholamine mit einem Phosphodiesteraseinhibitor (PDEI) sinnvoll. PDE-Inhibitoren hemmen den Abbau von zyklischem AMP, dem intrazellulären »second messenger« der Katecholamine, und weisen damit synergistische Effekte auf, die unabhängig vom zellulären E-Adrenozeptorstatus und somit einer Vorbehandlung mit E-Blockern sind. Die Therapie kann z. B. mit Milrinon (0,25–0,75 Pg/kg KG/min) eingeleitet werden. Eine intravasale Hypovolämie mit Hypotonie darf bei der Therapieeinleitung mit PDE-Inhibitoren nicht vorliegen. PDEHemmer sollten wegen der möglichen Induktion tachykarder Herzrhythmusstörungen bei akutem Myokardinfarkt nur im Ausnahmefall eingesetzt werden. Als Alternative zu selektiven PDE-Inhibitoren in Kombination mit Katecholaminen wird der Einsatz von sog. kalziumsensitivierenden Substanzen betrachtet (7 s. oben: Pharmakotherapie Stufe 2 bei akuter Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz). Levosimendan bewirkt im therapeutischen Dosisbereich eine Sensitivierung der kontraktilen Proteine für die aktivierenden Kalziumionen mit Steigerung des Herzminutenvolumens und Senkung der Füllungsdrücke, ohne den Energieverbrauch des Herzens signifikant zu steigern. Außerdem wurden keine
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Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
proarrhythmischen Effekte beobachtet. In hohen Dosierungen kommen Effekte der PDE-Hemmung hinzu. Im Vergleich zu Dobutamin bewirkt Levosimendan eine ausgeprägtere Senkung der Füllungsdrücke und eine Steigerung des Herzminutenvolumens, ein Wirkungsverlust der Dauerinfusion durch Tachyphylaxie wurde nicht beobachtet. Eine Kombination von Levosimendan und niedrigdosiertem Noradrenalin stellt daher eine mögliche Therapieoption beim refraktären kardiogenen Schock dar. Bei Versagen der Standardkatecholamine Dopamin, Dobutamin und Noradrenalin (auch in Kombination mit PDE-Hemmern oder Kalzium-Sensitizer) wird als Ultima ratio häufig Adrenalin i.v. (0,05–0,5 Pg/kg KG/min) eingesetzt. Adrenalin stimuliert sowohl E- als auch D-Rezeptoren und weist daher positiv-inotrope wie auch vasokonstriktive Wirkungen auf. Als Nebenwirkung zeigt Adrenalin eine signifikante Arrhythmieinduktion, v. a. ventrikulärer Arrhythmien, sowie häufig bei hochdosierter Therapie Organischämien durch Mikrozirkulationsstörungen. Die Behandlungsdauer sollte daher unbedingt auf ein Minimum beschränkt werden, und es sollten früh supportive Maßnahmen zur mechanischen Kreislaufunterstützung (7 s. unten) eingesetzt werden.
Kausaltherapie Ergibt die Basisdiagnostik Hinweise für einen akuten Myokardinfarkt oder ein akutes Koronarsyndrom als auslösende Ursache des Lungenödems, so ist nach initialer Kreislaufstabilisierung eine rasche kausale Therapie anzustreben. Bei verfügbarem Katheterlabor mit interventioneller Ausrichtung sollte unverzüglich eine Koronarangiographie durchgeführt werden mit Option der Revaskularisation. Bei akutem Myokardinfarkt und fehlender Möglichkeit zur invasiven/inter ventionellen Therapie und Revaskularisation kann eine thrombolytische Behandlung erwogen werden. Die Thrombolyse ist bei Patienten mit begleitender Schocksymptomatik deutlich weniger wirksam als bei Myokardinfarkt ohne Schock, daher ist bei dieser Hochrisikogruppe unbedingt eine frühzeitige invasive Reperfusionsstrategie durch PCI/ACVBOperation anzustreben, ggf. muss der Patient hierzu in ein geeignetes Zentrum verlegt werden. Entstehende Transportzeiten/-verzögerungen werden durch den Vorteil der zuverlässigen Reperfusionsmaßnahme kompensiert; die PCI ist bei Transportzeiten bis zu 2 h beim akuten Myokardinfarkt der Thrombolysetherapie prognostisch überlegen.
Mechanische Kreislaufunterstützung Folgende Patienten sollten für den Einsatz von mechanischen Kreislaufunterstützungssystemen evaluiert werden: 4 Patienten, die auf oben genannte Maßnahmen nicht adäquat ansprechen bzw. bei denen keine Stabilisierung durch konventionelle Maßnahmen erreicht werden kann, 4 Patienten, die potenzielle Kandidaten für eine Herztransplantation darstellen oder 4 Patienten, bei denen potenziell korrigierbare Ursachen mit Aussicht auf Erholung der Herzfunktion zugrunde liegen. Gegebenenfalls muss unverzüglich Kontakt mit einem entsprechenden Zentrum aufgenommen werden. Intraaortale Gegenpulsation (IABP). Die Implantation einer intraaortalen Gegenpulsationspumpe zählt zur Standardtherapie
des kardiogenen Schocks und der schweren akuten Herzinsuffizienz, wenn der Patient nicht adäquat auf die konventionelle Behandlung mit Volumengabe, Vasodilatanzien und positiv-inotroper Stimulation anspricht. Der Einsatz der IABP ist daneben auch bei Patienten zur hämodynamischen Stabilisierung in Vorbereitung auf eine invasive kardiologische Diagnostik und Therapie indiziert, insbesondere bei akutem Koronarsyndrom (ACS) sowie bei Patienten mit Komplikationen des ACS wie akuter Mitralklappeninsuffizienz bei Papillarmuskelruptur oder infarktassoziierter Ventrikelseptumruptur. Duch EKG-synchronisierte diastolische Inflation und systolische Deflation eines Ballonkatheters in der Aorta thoracalis descendens wird einerseits die Koronar- und Zerebralperfusion verbessert und andererseits eine Nachlastsenkung für den linken Ventrikel erreicht. Ein erfolgreicher Einsatz der IABP setzt allerdings eine erhaltene residuale Ventrikelfunktion und einen minimalen Perfusionsdruck voraus und ist damit als supportives Untersützungssystem aufzufassen. Mikroaxialturbine (Impellaturbine). Eine weitergehende Kreislaufunterstützung kann durch die Implantation einer nicht-pulsatilen Mikroaxialturbine erreicht werden. Diese wird retrograd perkutan über die A. femoralis via Aortenklappe in den linken Ventrikel eingebracht und gewährleistet eine Förderleistung zwischen 2,5 und 5 l Herzminutenvolumen in Abhängigkeit vom verwendeten System. »Assist Device«. Für eine längerfristige Herz-Kreislauf-Unterstüt-
zung kommen diverse »assist devices« in Frage. Mechanische Unterstützungssysteme werden überwiegend als Überbrückungsmaßnahme (»bridging«) bei schwerster, konventionell therapierefraktärer Herzinsuffizienz bis zu einer möglichen Herztransplantation eingesetzt. Es sind extrakorporale rechts- oder linksventrikuläre Ersatzsysteme oder auch weitgehend vollständig implantierbare »assist devices« in spezialisierten Zentren verfügbar. Die Erfahrungen an begrenzten Patientenzahlen sind günstig, es wurden Patienten länger als 1 Jahr mit subjektiv guter Lebensqualität behandelt. In Einzelfällen eines kardialen Pumpversagens durch Myokarditis oder idiopathisch dilatative Kardiomyopathie konnte eine spontane Erholung des eigenen Herzens durch die Entlastung aufgrund des Kunstherzens beobachtet werden, sodass gelegentlich eine Explantation des Systems ohne Notwendigkeit einer HTX möglich war. Der permanente artifizielle Herzersatz befindet sich wegen ungelöster thromboembolischer Komplikationen und der Infektionsgefahr weiterhin nur im experimentellen Stadium.
High-output-Herzinsuffizienz Die sog. High-output-Herzinsuffizienz ist gekennzeichnet durch ein erhaltenes bis erhöhtes Herzminutenvolumen, in der Regel bedingt durch eine erhöhte Herzfrequenz. Als Ursachen können oft tachykarde Herzrhythmusstörungen wie Tachyarrhythmia absoluta bei Vorhofflimmern, Thyreotoxikose, Anämie, M. Paget sowie iatrogene Faktoren (z. B. Überdosierung von E2-Sympathomimetika, L-Thyroxin) identifiziert werden. Allgemeine Therapieprinzipien beinhalten die Frequenzkontrolle/-senkung bei Sinustachykardie und Tachyarrhythmia absoluta durch kurzwirksame E-Blocker (z. B. Esmolol i.v.), bei manifester Stauungssymptomatik ggf. auch Elektrokardioversion von Vorhofflimmern oder die rasche Aufsättigung mit Amiodaron
397 30.2 · Perikarderguss und Perikardtamponade
nach Ausschluss einer Hyperthyreose (7 Kap. 32: »Herzrhythmusstörungen«).
Akute Rechtsherzinsuffizienz Die akute Rechtsherzinsuffizienz ist gekennzeichnet durch ein erniedrigtes Herzminutenvolumen mit erhöhtem Jugularvenendruck, Lebervergrößerung und arterieller Hypotonie. Neben sekundärer Rechtsherzinsuffizienz bei primärer Linksherzerkrankung sind auch das dekompensierte chronische Cor pulmonale sowie die fulminante und submassive Lungenembolie als Ursache differenzialdiagnostisch abzugrenzen. Bei der akuten Rechtsherzinsuffizienz durch fulminante und submassive Lungenembolie sind in erster Linie rekanalisierende Verfahren wie Fibrinolyse oder pulmonale Thrombektomie indiziert, daneben werden positiv-inotrope Substanzen analog wie bei kardiogenem Schock eingesetzt (7 Kap. 35 »Lungenarterienembolie«). Bezüglich der Behandlung des chronischen Cor pulmonale und der pulmonalen Hypertonie wird auf 7 Kap. 39 (»Asthma bronchiale und COPD«) verwiesen. Die symptomatische Therapie der Rechtsherzinsuffizienz beinhaltet eine entlastende Pharmakotherapie mit Diuretika (auch in Kombination mit Aldosteronantagonisten), Nitraten und ggf. eine positiv-inotrope Stimulation mit niedrigdosierten Digitalispräparaten.
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der kardiogene Schock, der nicht einer Kausaltherapie zugeführt werden kann, mit einer sehr schlechen Prognose behaftet, die Mortalität beträgt t85%. Die Folgetherapie orientiert sich an der Grunderkrankung und beinhaltet meist eine typische Pharmakotherapie der chronischen Herzinsuffizienz mit dem entsprechenden Spektrum der auslösenden Ursachen. 30.2
Perikarderguss und Perikardtamponade
30.2.1 Grundlagen > Definition Physiologisch finden sich ca. 15–50 ml perikardiale Flüssigkeit im Perikardraum und unterstützen die reibungsfreie Bewegung des Herzens gegen die umliegenden Thoraxorgane. Die pathologisch vermehrte Ansammlung von Flüssigkeit zwischen dem viszeralen und parietalen Anteil des Perikards wird als Perikarderguss bezeichnet.
In Abhängigkeit von der Ätiologie kann sich der Erguss aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzen.
30.1.5 Über wachung Zusammensetzung von Perikardergüssen
Der Umfang der Überwachung eines Patienten mit akuter Herzinsuffizienz orientiert sich am Schweregrad und der Dynamik der Erkrankung und ist zusätzlich abhängig von der Manifestationsform bzw. dem klinischen Profil. So können akute Dekompensationen einer chronisch stabilen Herzinsuffizienz bei oligosymptomatischem Verlauf durch Intensivierung der Dauermedikation und zusätzliche intravenöse Diuretikatherapie im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts auf einer Allgemeinstation unter Pulsoxymetriekontrolle behandelt werden. Mildere Formen können gelegentlich auch auf einer ambulanten Basis durch einen kardiologisch erfahrenen Arzt rekompensiert werden. Ein Patient mit kardiogenem Schock hingegen benötigt die Expertise eines erfahrenen intensivmedizinischen Teams mit Rhythmusmonitoring, arterieller Blutdruckmessung, zentralvenösem Zugang und bei fehlendem Ansprechen auf die Intialtherapie oder schwieriger Differenzialdiagnose auch einer Bestimmung der zentralen Hämodynamik mittels Rechtsherzeinschwemmkatheter. Bei Patienten mit Sinusrhythmus kann zur Verlaufsbeobachtung und Therapiekontrolle auch eine kontinuierliche arterielle Pulskonturanalyse und Bestimmung der transpulmonalen Thermodilution sinnvoll und hilfreich sein. Patienten, die kontrolliert beatmet werden müssen, benötigen selbstverständlich ein entsprechendes Monitoring der Respiratorfunktion und des Gasaustauschs. 30.1.6 Prognose und Folgetherapie Die Prognose des Patienten mit akuter Herzinsuffizienz ist abhängig von der Grunderkrankung und dem klinischen Profil. Während die hypertensive akute Herzinsuffizienz, die High-output-Herzinsuffizienz und v. a. die diastolische Herzinsuffizienz üblicherweise eine gute Akutprognose aufweisen, ist hingegen
5 Exsudate bei entzündlicher Perikarditis 5 Transsudate bei Flüssigkeitsretention und Rechtsherzinsuffizienz 5 Blut bei Neoplasmen oder Traumen (Hämoperikard) 5 Pus bei bakterieller Perikarditis (Pyoperikard) 5 Lymphe (Chyloperikard)
In seltenen Fällen ist eine Perikardtamponade durch eine Gasansammlung im Herzbeutel bedingt (Pneumoperikard). Nach Dauer des Perikardergusses werden akute Ergüsse von chronischen Ergüssen unterschieden. Während akute Perikardergüsse einer Punktionstherapie bei entsprechender Ausdehnung meistens zugänglich sind, kann bei chronischen Ergüssen aufgrund von Organisationsvorgängen mit Bildung von fibrinösen Septen und Kammerung des Ergusses sowie Verdickungen und Adhäsionen der Perikardblätter die Entlastung durch Perikardiozentese erfolglos bleiben. Der Begriff der Perikardtamponade ist durch die ergussbedingte Erhöhung der intrakardialen Drücke, eine zunehmende Behinderung der diastolischen, insbesondere rechtsatrialen und -ventrikulären Füllung und damit die Reduktion des Schlag volumens und des Herzzeitvolumens charakterisiert. Der Übergang des Perikardergusses ohne hämodynamische Konsequenz zur Tamponade wird durch verschiedene Faktoren bestimmt. Determinanten der Tamponadeentwicklung 5 Volumen des Perikardergusses 5 Rate der Ergussentwicklung 5 Dehnbarkeit des Perikards
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Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
Ätiologie Die Ätiologie des Perikardergusses und damit der Herzbeuteltamponade umfasst ein weites Spektrum von Erkrankungen [13, 14]. Die Übersicht stellt eine Auswahl der wichtigsten Ursachen eines Perikardergusses dar. Ätiologie des Perikardergusses
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5 Perikarditis – Infektiös: Häufig viral, selten bakteriell, Rarität: Pilzinfektionen oder Parasiten – Systemische Autoimmunerkrankungen – Urämie – Postkardiotomiesyndrom – Myxödem – Pankreatitis 5 Trauma 5 Aortendissektion 5 Ventrikelruptur 5 Malignome, per continuitatem oder metastatisch 5 Herzinsuffizienz 5 Iatrogen – Koronarintervention – Schrittmacher- und Defibrillatorimplantation – Ablationstherapie – Radiatio und Chemotherapie – Antikoagulation
Pathophysiologie Der Pathomechanismus, der der Entstehung der Perikardtamponade zugrunde liegt, beruht in Abhängigkeit von der Ätiologie auf einer schnell oder langsam progredienten Kompression der kardialen Kammern durch den Perikardinhalt. Der Herzbeutel kann aufgrund seiner bindegewebigen Wandanteile und damit geringen Dehnbarkeit akut nur geringe Flüssigkeitsvolumina kompensieren. Bereits 150–200 ml Flüssigkeit können so zu einer akuten Tamponade führen. Entsteht der Erguss dagegen über einen längeren Zeitraum, so kommt es zu einer Dehnung der Perikardwände, sodass Volumina bis 1–2 l ohne drastische Erhöhung des intraperikardialen Druckes kompensiert werden können [21]. Die intraperikardiale Volumenexpansion erreicht somit in Abhängigkeit von der Entstehungskinetik früher oder später eine Grenze, definiert durch das perikardiale Reservevolumen [28], ab der sich ein zunehmender intraperikardialer Druck aufbaut. Der physiologische intraperikardiale Druck liegt gering unter dem rechtsatrialen, diastolischen Druck. Der intraperikardiale Druck steigt nach Erreichen des perikardialen Reservevolumens steil an (. Abb. 30.3). Bei chronisch progredientem Perikarderguss ist diese J-förmige Kurve nach rechts auf der Abszisse verschoben, ihre Anstiegssteilheit reduziert. Durch den Anstieg des intraperikardialen Druckes bedingt, sinkt der transmurale Druckgradient u. U. über das Niveau der diastolischen atrialen und ventrikulären Füllungsdrücke. Aufgrund der niederen Druckverhältnisse im rechten Atrium kommt es hier zuerst zu einer Behinderung des venösen Einstroms, gefolgt von der rechtsventrikulären Füllung. Diese hämodynamischen Veränderungen treten auf, wenn der intraperikardiale Druck 10–12 mm Hg übersteigt [20].
. Abb. 30.3. Schematische Darstellung der Entwicklung des intraperikardialen Druckes in Abhängigkeit des intraperikardialen Ergussvolumens bei akuter Ergussentwicklung mit niedrigem perikardialen Reservevolumen (Kurve a) und chronisch progredienter Ergussentwicklung mit erhöhtem perikardialen Reservevolumen (Kurve b). Nach Überschreitung des perikardialen Reservevolumens kommt es zu einem drastischen Anstieg des intraperikardialen Druckes bei vergleichsweise geringer Volumenzunahme des Ergusses und konsekutiv zur Ausbildung einer klinisch relevanten Perikardtamponade. (Mod. nach [6])
Im Verlauf führt dies zu einer Reduktion des rechtsventrikulären Schlagvolumens und damit zu einer Erniedrigung des Herzzeitvolumens, welche zunächst durch Stimulation der Herzfrequenz und Steigerung des systemisch- und pulmonalarteriellen Druckes über einen gewissen Zeitraum kompensiert werden kann [24]. Versagen diese Kompensationsmechanismen, tritt eine Reduktion des Blutdruckes bis hin zum hämodynamischen Schock auf. In diesem Zustand liegt eine schwere Tamponade mit intraperikardialen Drücken von 25 mm Hg und darüber vor [27]. Aufgrund der Pathophysiologie der Tamponadeentstehung wird verständlich, dass die Entfernung von bereits relativ geringen Ergussmengen bei der akuten Tamponade zu einer drastischen Verringerung des intraperikardialen Druckes führen wird, während bei der mehr protrahierten bis chronischen Entwicklung der Tamponade dazu deutlich mehr Volumen drainiert werden muss. i Auf der Basis der unterschiedlichen Kinetik des intraperikardialen Druckanstiegs in Abhängigkeit von der zeitlichen Entwicklung des Perikardergusses wird verständlich, dass insbesondere bei akuten Perikardergüssen mit Tamponadeentwicklung die Entfernung von bereits relativ geringen Ergussvolumina (50–100 ml) zu einer deutlichen und schnell einsetzenden klinischen Verbesserung der Hämodynamik führt.
Die genannten Mechanismen beschreiben die Entwicklung einer klassischen Perikardtamponade mit dem zu erwartenden typischen Verlauf und den klinischen Zeichen wie Stauung der Jugularvenen und das Auftreten eines Pulsus paradoxus. Präexistierende Erkrankungen des Herzens, welche zu einer Erhöhung des links- oder rechtsventrikulären enddiastolischen Druckes führen,wie z. B. Aortenklappeninsuffizienz oder ein atrial septaler Defekt (ASD),können allerdings die Präsentation des Pulsus paradoxus verhindern bzw. hinauszögern [25]. Lokalisierte Perikardergüsse, insbesondere bei chronisch entzündlicher Entstehung oder postoperativ nach Herzoperation zeigen häufig abweichende Veränderungen in der Präsentation der Perikardtamponade trotz hoher intraperikardialer Drücke
399 30.2 · Perikarderguss und Perikardtamponade
. Abb. 30.4. Pneumoperikard: Das parietale Perikardblatt stellt sich radiologisch als dünne Linie (dicker Pfeil) dar. Des Weiteren ist nach erfolgter Perikardpunktion und Drainage des Ergusses der liegende Pigtail-Katheter zu erkennen (dünner Pfeil)
und können eine isolierte Kompression des linken Atriums oder des linken Ventrikels aufweisen [5]. Als weitere Sonderform der Tamponade ist die Niedrigdrucktamponade zu werten [23]. Aufgrund einer bestehenden Hypovolämie steigt der zentralvenöse Druck als Zeichen der rechtsatrialen Einflussstauung trotz des erhöhten intraperikardialen Druckes nur mäßig an. Die klinischen Zeichen der Tamponade sind teilweise maskiert. Diese Form der Tamponade tritt bei Patienten mit gleichzeitigem Volumenverlust durch Blutung,z. B. im Rahmen eines Traumas oder exzessiver Diuretikaterapie, oder Hämodialyse bei Vorliegen eines urämischen Perikardergusses ohne ausreichende Volumensubstitution auf. Die Volumeninfusion führt hier zu einer Reduktion der hämodynamischen Komplikationen der Tamponade. i Bei der Niedrigdrucktmponade stellt die Verabreichung von intravaskulärem Volumen die wichtigste Maßnahme dar. Eine Perikardpunktion kann sekundär die kompromittierte Hämodynamik verbessern.
Die langsam progrediente, chronisch exsudative Perikarditis, bei der ausgeprägte Perikardergüsse über lange Zeiten nachweisbar sind, ist aufgrund des erhöhten perikardialen Reservevolumens bedingt durch Perikarddehnung lediglich durch einen mäßigen Anstieg des intraperikardialen Druckes [8] charakterisiert. Patienten mit dieser Form der Perikarderkrankung sind nicht selten beschwerdefrei ohne entsprechende klinische Zeichen der Tamponade und können z. T. konservativ behandelt werden. Allerdings können vermehrt Symptome einer Belastungsinsuffizienz oder Zeichen einer klassischen akuten Tamponade bei Exazerbation der zugrunde liegenden Erkrankung auftreten, was die Entlastung des Perikardergusses, ggf. die chirurgische Therapie durch Perikardektomie, notwendig macht. Bei der exsudativ-konstriktiven Perikarditis, z. B. bei tuberkulösem Befall des Perikards oder nach mediastinaler Radiatio [21], kann der intraperikardiale Druckanstieg aufgrund der reduzierten
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Compliance des Herzbeutels durch Fibrosierung und Narbenbildung deutlich schneller erfolgen mit entsprechend akzellerierter hämodynamischer Instabilität des Patienten. Typischerweise normalisieren sich die pathologisch veränderten, intrakardialen Druckwerte nicht komplett nach Drainage des Perikardergusses [30]. Als weitere Sonderform der Perikardtamponade ist das Spannungspneumoperikard oder Pneumohydroperikard (. Abb. 30.4) zu nennen [10]. Diese Form der Perikarderkrankung verläuft klinisch identisch zur Tamponade durch einen reinen Perikarderguss. Sie tritt bei Patienten mit penetrierendem Thoraxtrauma, Magen- oder Ösophagusruptur, Neoplasmen mit bronchoperikardialer Fistelbildung oder selten als Beatmungstrauma auf [4]. Das das Atrium oder den Ventrikel komprimierende Medium stellt dabei, neben Flüssigkeit, vorwiegend eine Gasansammlung im Perikard dar. Diagnostisch wegweisend kann hier das Auftreten eines tympanitischen Klopfschalls präkordial sein. Des Weiteren besteht ein typischer Auskultationsbefund, ähnlich dem eines sich drehenden Mühlrades, der auf die Anwesenheit von Flüssigkeit und Gas im Herzbeutel hinweist. 30.2.2 Klinische Präsentation Die klinischen Zeichen der Perikardtamponade sind häufig unspezifisch, sodass das eventuelle Vorliegen eines hämodynamisch relevanten Perikardergusses im Kontext mit anderen klinischen Gegebenheiten abzuwägen ist. So muss eine Perikardtamponade bei Patienten mit spitzen oder stumpfen Thoraxtraumen oder penetrierenden Verletzungen des Abdomens differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden. Insbesondere bei der Entwicklung einer Hypotension verbunden mit pleuritischen und perikarditischen Symptomen ist das Vorliegen einer Tamponade auszuschließen. Die von dem Thoraxchirurgen Claude S. Beck im Jahre 1935 beschriebene Trias: 4 arterielle Hypotension, 4 Erhöhung des zentralvenösen Druckes, 4 »ein leises Herz« beschreibt das klassische Erscheinungsbild bei hämorrhagischer Perikardtamponade [31]. Initial fallen Sinustachykardie und Dyspnoe mit zunehmender Schwere im Ruhezustand auf. Die Patienten bevorzugen eine aufrechte (Sitz-)haltung. Hinzu treten Zeichen des beginnenden Schocks, wie Agitation, Angst, Schweißausbruch, Stupor, niedrige Pulsamplitude und periphere Vasokonstriktion. Bei Kompression von Trachea oder Bronchien tritt Husten auf. Typischerweise weisen gestaute Halsvenen auf das Vorliegen einer rechtsventrikulären Einflussstauung hin. Dieses Zeichen kann bei Patienten mit Hypovolämie fehlen. Bei chronisch vorliegenden Perikardergüssen und langsam sich entwickelnder Tamponade können ausgeprägte periphere Ödeme beobachtet werden. Diese fehlen bei akuter Tamponade. Hypotension und Tachykardie sind Kardinalsymptome des sich entwicklenden Schockzustandes. Bei Beginn der Perikarditis und subakuter Entwicklung des Ergusses kann initial Perikardreiben auskultierbar sein, welches sich bei zunehmender Ergussentwicklung wieder verliert. Bei der Auskultation sind die Herztöne aufgrund des schallisolierenden Ergusses nur leise zu hören. Der Herzspitzenstoß ist nicht palpa-
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bel. Perkutorisch lässt sich eine vergrößerte Dämpfung über dem distendierten Perikard beobachten. Als Schlüsselsymptom der Perikardtamponade gilt der Pulsus paradoxus [26]. Dieser ist durch eine Abnahme des systolischen Blutdrucks um >10 mm Hg während der Inspiration definiert. Wie auch beim gesunden Menschen führt die Inspiration zu einer vermehrten Füllung thorakaler Venen (Kapazitätsgefäße) und damit einer Erhöhung der rechtsventrikulären Füllung. Die Zunahme des rechtsventrikulären Volumens bewirkt bei Vorliegen einer Perikardtamponade eine Verschiebung des atrialen und ventrikulären Septums nach links. Dadurch wird die linksventrikuläre Füllung zusätzlich zur Reduktion des rechtsventrikulären Herzzeitvolumens behindert, und es resultiert ein inspirationssynchroner Abfall des systolischen Druckes. Dies kann durch Palpation der peripheren Pulse quantifiziert werden. Bei Vorliegen einer schweren Tamponade kann die palpierte Pulsaktion während der Inspiration komplett verschwinden. Ebenfalls kann der Pulsus paradoxus mit Hilfe der Sphygmomanometrie bestimmt werden. Bei der Blutdruckmessung mittels Sphygmomanometrie wird die Armmanschette mit einem Druck von ca. 20 mm Hg oberhalb des systolischen Druckes aufgepumpt. Anschließend wird der Druck in der Manschette reduziert, bis die Korotkow-Geräusche nur in der Exspirationsphase hörbar sind. Daraufhin wird der Manschettendruck weiter reduziert, bis die Korotkow-Geräusche bei jeder Herzaktion hörbar sind. Die Differenz beider Druckniveaus ergibt die Höhe des Pulsus paradoxus. Insbesondere bei Hypotonie und ausgeprägter Tachykardie ist dieses Phänomen mittels der genannten Methoden schwierig zu quantifizieren. Hier kann die direkte blutige Messung des systemischen Druckes notwendig sein, um den Pulsus paradoxus zu dokumentieren. Durch Erhöhung des linksventrikulären enddiastolischen Druckes, z. B. bei Aortenklappenvitien oder Herzinsuffizienz, kann die Ausprägung des Pulsus paradoxus vermindert sein. 30.2.3 Diagnostik
EKG Im EKG kann im Sinne einer zentralen und peripheren Niedervoltage eine Verminderung der QRS-Amplitude vorliegen. Ein elektrischer Alternans zeigt die pendelartige Schwingung des Herzens in einem Perikarderguss an (»swinging heart«). Der Alternans kann in einem 2 : 1- oder 3 : 1-Muster auftreten und betrifft neben dem QRS-Komplex selten auch P- oder T-Wellen [29]. Des Weiteren können typische EKG-Zeichen einer perikarditischen Erkrankung, nämlich spezifische ST-Strecken-Elevationen vorliegen.
Transthorakale Echokardiogaphie Die 2-D-echokardiographische Untersuchung stellt den Goldstandard zur Diagnose eines Perikardergusses und der Tamponade dar und sollte vor jeder therapeutischen Intervention durchgeführt werden. Nur bei fehlender Verfügbarkeit eines Echokardiographiegerätes oder aus klinischer Notwendigkeit bei drohendem Tod des Patienten kann eine Perikardiozentese auf der Basis des klinischen Erscheinungsbildes allein und der daraus resultierenden Verdachtsdiagnose durchgeführt werden. Typischerweise zeigt das echokardiographische Bild den Flüssigkeitssaum um das Herz (. Abb. 30.5). In Abhängigkeit von der Breite des Ergusssaumes kann semiquantitativ die Ergussmenge
. Abb. 30.5. Echokardiographische Darstellung eines großen Perikardergusses (PE), der vorwiegend vor dem rechten Ventrikel (RV) lokalisiert ist (apikaler 4-Kammer-Blick). Eine beginnende Tamponade ist an der frühdiastolischen Füllungsbehinderung des RV zu erkennen (Pfeil). Linker Ventrikel (LV), rechtes Atrium (RA), linkes Atrium (LA)
geschätzt werden. Üblicherweise erfolgt die Bestimmung des Perikardergusses über das apikale Fenster (4-Kammer-Blick) oder parasternale Kurzachsenfenster. Hierbei lassen sich zirkuläre Ergüsse oder lokalisierte Ergüsse vor dem rechten oder linken Ventrikel in der Regel gut darstellen. Die subkostale Anschallung erweist sich darüber hinaus zur Quantifizierung eines Ergusses vor dem rechten Atrium als hilfreich. Des Weiteren kann die Echogenität des Ergusses Hinweise auf die Genese bieten. So werden bei fibrinreichen oder hämorrhagischen Ergüssen echodichte Strukturen erkennbar, deren Unterscheidung zu perikardialem Fettgewebe gelegentlich schwierig sein kann. Darüber hinaus erlaubt die echokardiographische Diagnostik, andere Ursachen einer rechtsventrikulären oder globalen Herzinsuffizenz als Ursache einer venösen Einflussstauung zu differenzieren. Im Extremfall der Perikardtamponade lässt die zweidimensionale Echokardiographie den Kollaps des rechten Atriums und des rechten Ventrikels während der Diastole erkennen (. Abb. 30.6). Die Invagination der freien rechtsventrikulären Wand ist dabei insbesondere in der frühdiastolischen Phase, die der rechtsatrialen freien Wand im Gegenzug während der spätdiastolischen Phase evident. In etwa 25% der Fälle ist ein Kollaps der linksatrialen Wand sichtbar, was als hochspezifisches Zeichen für das Vorliegen einer Tamponade zu werten ist. Ein Kollaps der linksventrikulären Wand ist selten und lässt sich vorwiegend bei über dem linken Ventrikel lokalisierten Ergüssen, insbesondere nach operativen Eingriffen, feststellen. Darüber hinaus zeigt sich die V. cava inferior prall gestaut ohne inspiratorischen Kollaps. Ein evtl. klinisch vorliegender Pulsus paradoxus findet sein echokardiographisches Korrelat in einer
401 30.2 · Perikarderguss und Perikardtamponade
a
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b
. Abb. 30.6a, b. Echokardiographische Darstellung einer beginnenden Tamponade durch frühdiastolische Kompression der basalen Abschnitte des rechten Ventrikels (RV) durch den Perikarderguss (PE) in epigastraler Einstellung des Herzens (a) und M-Mode-Ver fahren (b)
a
b
. Abb. 30.7a, b. Radiologische Darstellung eines ausgedehnten Perikardergusses mit Tamponadezeichen vor (a) und nach (b) der Perikardiozentese. Auffällig sind die Verbreiterung der Herzsilhouette sowie die Verstreichung der Herztaille vor der Punktion (a)
inspiratorischen Linksverschiebung des Septum interventriculare und interatriale mit Anstieg des rechtsventrikulären Diameters, welcher mit einer Abnahme der linksventrikulären Größe assoziiert ist. Durch die Analyse des Dopplersignals über der Trikuspidalund Pulmonalklappe kann das Vorliegen eines Pulsus paradoxus ebenfalls bestätigt werden. Dabei ist als typisches Zeichen der Tamponade die Zunahme des frühdiastolischen Einstroms über
die Trikuspidalklappe um mindestens 40% sowie die gleichzeitige Abnahme des frühdiastolischen Einstroms über die Mitralklappe in den linken Ventrikel um mindestens 25% während der Inspiration zu werten. Diese Phänomene werden in der Exspirationsphase umgekehrt. Ebenfalls diagnostisch wegweisend ist eine inspiratorische Abnahme der Flussgeschwindigkeit über der Aortenklappe parallel zu einer Zunahme der Flussgeschwindigkeit über der Pulmonalklappe [1].
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Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
Die durch die Tamponade veränderte rechtskardiale Hämodynamik lässt sich auch in den weiter peripher gelegenen großen Venen nachweisen. Bei Exspiration kommt es demnach in den Lebervenen zu einer Verlangsamung des venösen Flusses in Richtung auf das rechte Atrium, während ein evtl. bestehender, stauungsbedingter Rückfluss verstärkt ist [7]. Die Bestimmung der dopplerechokardiographischen Parameter erlaubt die Diagnosestellung einer Tamponade bereits vor Auftreten eines druckmanometrisch evidenten Pulsus paradoxus oder einer Reduktion des arteriellen Blutdruckes.
Transösophageale Echokardiographie
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Die transösophageale Echokardiographie spielt bei der Erfassung von Perikardergüssen und Diagnostik der Perikardtamponade eine untergeordnete Rolle im Vergleich zur transthorakalen Echokardiographie. Sie kann bei technisch schwieriger Durchführung der transthorakalen Diagnostik, z. B. bei ausgeprägter Adipositas oder Verletzungen der Thoraxwand, zum Einsatz kommen. Ihre diagnostischen Stärken liegen insbesondere in der Evaluation atypisch lokalisierter Ergüsse.
Rechtsherzkatheterisierung Bei Patienten mit hämodynamisch relevantem Perikarderguss sollte möglichst ein invasives Monitoring, zumindest des zentralvenösen Druckes durchgeführt werden. Der rechtsatriale Druck ist deutlich erhöht, mit Ausnahme bei Patienten mit Hypovolämie. Die rechtsatriale Druckkurve weist einen erhaltenen systolischen x-Abfall bei gleichzeitig fehlendem oder vermindertem y-Abfall auf [12]. Der mitt- bis enddiastolische rechtsventrikuläre Druck ist ebenfalls auf rechtsatriale Werte erhöht und gleicht sich dem enddiastolischen linksventrikulären sowie pulmonalarteriellen Druck an, im Unterschied zur Pericarditis constrictiva ohne Nachweis eines »Dip-und Plateau-Phänomens«. Die pulmonalarteriellen Drücke und der pulmonalkapilläre Verschlussdruck sind erhöht. Bei simultaner Messung des intraperikardialen Druckes zeigt sich eine Angleichung an rechtsatriale, enddiastolische rechtsventrikuläre und pulmonalkapilläre Verschlussdrücke. Das Herzzeitvolumen ist bei Perikardtamponade reduziert. Nach Perikardiozentese kommt es zu einer raschen Normalisierung der Druckkurven und des Herzzeitvolumens.
Röntgendiagnostik Das Vorliegen eines Perikardergusses kann radiologisch in der posterior-anterioren Thoraxaufnahme anhand einer Verstreichung der Herztaille sowie einer Verbreiterung des Herzschattens vermutet werden (. Abb. 30.7). Allerdings ist die Röntgenübersichtsaufnahme des Herzens ungeeignet, um einen Erguss von einer Kardiomegalie letztlich sicher zu unterscheiden. Darüber hinaus kann trotz radiologisch normaler Herzschattenform ein hämodynamisch relevanter Erguss vorliegen. Die Computertomographie kann das radiologische diagnostische Spektrum er weitern (. Abb. 30.8). Durch diese Methode kann die Lokalisation insbesondere von atypisch gelegenen Ergüssen erleichtert werden. Darüber hinaus kann zwischen einem hämorrhagischen und einem serösen Erguss unterschieden werden, was Rückschlüsse auf die Pathogenese des Ergusses erlaubt. Chronische Perikarditiden werden anhand von Perikardverdickungen und -verkalkungen erkannt. Allerdings ist die Wertigkeit dieses Verfahrens wie auch der Magnetresonanztomographie in der instabilen Situation des Patienten mit Perikardtamponade der Echokardiographie untergeordnet.
. Abb. 30.8. Darstellung eines zirkulären Perikardergusses im Thorax-CT (Pfeil).
30.2.4 Therapie
Interventionelle Therapie Die geeignete Form der Therapie hängt von der klinischen Präsentation des Patienten ab. Patienten mit Perikardtamponade und akuter Verschlechterung der Hämodynamik bedürfen einer sofortigen Entlastung des Perikardraums mittels Perikardiozentese. Für diese Indikationsstellung weisen die Leitlinien der European Society of Cardiology der Perikardpunktion eine Klasse-IIndikation zu [15]. Als absolute Kontraindikation für die Perikardiozentese ist die Aortendissektion (Stanford-Typ A) zu nennen, relative Kontraindikationen umfassen Koagulopathien, Antikoagulanzientherapie, Thrombozytopenie <50.000/mm3 sowie kleine, posterior gelegene oder septierte Ergüsse. Auch bei chronischen Perikardergüssen >20 mm im echokardiographischen Nachweis auch ohne Nachweis einer Tamponade ist die Perikardpunktion, zumal zu diagnostischen Zwecken, indiziert (Klasse-IIa-Empfehlung). Mittlerweile bietet die Industrie vorgefertigte Materialsets für die Durchführung einer Perikardpunktion an (z. B. Angiodyn Drainage Set der Fa. Braun; . Abb. 30.9). In der Regel wird zur Perikardpunktion der substernale, subxiphoidale Zugangsweg gewählt (. Abb. 30.10). Die Punktion erfolgt unter echokardiographischer und/oder fluoroskopischer Kontrolle. Der Patient wird in halbsitzender Stellung gelagert. Nach Lokalanästhesie erfolgt die Punktion im linken kostoxiphoidalen Winkel, ca. 1–2 cm unterhalb und links des Processus xiphoideus. Die Punktionskanüle wird mit Stichrichtung auf das linke Schultergelenk unter den Rippenbogen geführt. Die Vorwärtsbewegung der Kanüle sollte unter Aspiration erfolgen. Das Perikard leistet einen dezenten Widerstand, nach dessen Überwindung Perikarderguss zu aspirieren ist. Über die Punktionskanüle kann nun ein Führungsdraht eingebracht werden. Nach Entfernung der Kanüle erfolgt die Erweiterung des Stichkanals mittels eines 6- bis 8-F-Dilatators. Je nach Zusammensetzung des Perikardpunktionssets ist es möglich, eine Schleuse auf den Dilatator zu montieren, welche nach Entfernung des Dilatators den Zugang zum Perikardraum erleichtert und über deren Seitenschluss der intraperikardiale Druck gemessen werden kann.
403 30.2 · Perikarderguss und Perikardtamponade
. Abb. 30.9a–i. Perikardpunktionsset der Fa. Braun (Melsungen, Angiodyn Drainage Set). Perikardpunktionskanüle (a), Skalpell zur Hautinzision (b), Führungsdraht nach Seldinger (c), Kanüle und Spritze für Lokalinjektion oder Aspiration bei Punktion (d), Auffangbeutel zur Ergussdrainage (e), Konnektor mit 3-Wege-Hahn (f), 50-ml-Spritze zur Ergussaspiration (g), Perikardschleuse (Peelaway) auf Dilatator (h), Pigtail-Katheter mit röntgendichten Mandrin (i)
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bekannte Komplikation darstellt, tritt diese bei einem derartigen Vorgehen und bei Vorliegen großer Ergüsse selten auf. Bei Vorliegen von aortokoronaren Bypassgefäßen sollte auf die Einlage eines Pigtail-Katheters verzichtet werden. Gelegentlich kommt es zu einer Verletzung der A. thoracica interna und Aspiration von arteriellem Blut. Als weitere Komplikationen sind Pneumothorax, Verletzungen von Lunge und Magen beschrieben, wenngleich selten. Gelegentlich, insbesondere bei Drainage der Ergussflüssigkeit über einen Pigtail-Katheter, können Rhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern auftreten. Um einer Verletzung des Myokards oder einer Punktion des rechten Ventrikels bei kleinen Ergüssen vorzubeugen, kann die flüssigkeitsgefüllte Stichkanüle über eine Alligatorklemme mit einem EKG-Gerät (geerdete Brustwandelektrode) verbunden werden. Eine Punktion des rechtsventrikulären Myokards wird im EKG dann in Form einer ST-Strecken-Elevation sowie durch die Auslösung von Extrasystolen angezeigt. Insbesondere bei Aspiration von hämorrhagischer Perikardflüssigkeit muss eine genaue Lokalisierung der Kanülenspitze oder des Pigtail-Katheters erfolgen. Dazu können mehrere Methoden verwendet werden. Differenzialdiagnostische Techniken zur Unterscheidung von aspiriertem Blut vs. hämorrhagischen Erguss 5 Bestimmung der Sauerstoffsättigung des Aspirates 5 Bestimmung des Hämatokrits oder der Hämoglobinkonzentration des Aspirates 5 Injektion von Röntgenkontrastmittel über die Kanüle, Schleuse oder den Pigtail-Katheter unter Durchleuchtung 5 Injektion von Echokontrastmittel und echokardiographische Kontrolle
. Abb. 30.10. Schematische Darstellung der Perikardpunktionstechnik. Unter echokardiographischer oder fluoroskopischer Kontrolle erfolgt die Punktion links des Processus xiphoideus mit ca. 30° Neigung unter dem Rippenbogen hindurch in Richtung auf die linke Schulter und unter Aspiration
Über die liegende Schleuse und den Führungsdraht wird dann ein Pigtail-Katheter in den Perikardraum eingebracht und nach Entfernung der Schleuse an der Haut fixiert. Über den so platzierten Pigtail-Katheter kann, wie auch bereits über die Stichkanüle, Perikardflüssigkeit entfernt werden. Bereits die Entfernung von 50–100 ml Volumen bewirkt eine deutliche Stabilisierung der hämodynamischen Parameter. Wiewohl die Verletzung des Myokards oder von Koronararterien, insbesondere von aortokoronaren Bypassgefäßen, eine
Als einfacher Test kann der Kompressenversuch während der Punktion durchgeführt werden. Dazu werden einige Tropfen des Aspirates auf eine Kompresse gegeben. Bei Blut bildet sich ein roter, gleichfarbener Fleck, bei hämorragischer Flüssigkeit erfolgt eine Entfärbung des Flecks mit Ausbildung eines hellen Hofs um einen zentralen roten Fleck. Sollte der rechte Ventrikel oder ein großes Gefäß bei der Punktion verletzt worden sein, muss eine weitere chirurgische Versorgung erfolgen. Als Alternative bei Versagen des substernalen Zugangswegs kann der apikale Zugangsweg benutzt werden. Hier erfolgt der Einstich im 5. Interkostalraum außerhalb des Herzspitzenstoßes, parasternal links. Neben der Entlastung der Perikardtamponade durch Entfernung von Flüssigkeitsvolumen dient die Perikardiozentese auch der Diagnostik der Pathogenese des Ergusses. Das Punktat muss laborchemisch hinsichtlich auffälliger Parameter untersucht werden. Empfohlene Laboruntersuchungen zur Ergussdiagnostik 5 Proteingehalt (Exsudat vs. Transsudat), LDH, Amylase, Lipase, Adenosindeaminase (bei Verdacht auf Tuberkulose) 5 Glukose- und Cholesterinkonzentration 5 Zytologie 5 Blutbild, Hämoglobinkonzentration 5 Mikrobiologische Testung, kulturelle Anzüchtung
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Kapitel 30 · Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade
Der Pigtail-Katheter sollte nach 48 h Verweildauer zur Vermeidung von Sekundärinfektionen entfernt werden. Insbesondere bei chronisch symptomatisch rezidivierenden Ergüssen, fibrinreichen und hämorragischen Ergüssen mit Teilthrombosierung sowie bei putriden Ergüssen sollte eine chirurgische Entfernung des Ergusses und eine Fensterung des Perikards angestrebt werden. Die chirurgische Therapie ist in Fällen von Perikardergüssen nach Ventrikelruptur und Aortendissektion notfallmäßig anzustreben, da anderenfalls eine exorbitant hohe Letalität besteht. Die chirurgische Therapie bietet neben dem Aspekt der Entlastung auch den Vorteil der Biopsatgewinnung zur weiteren histologischen Aufarbeitung. Sollte aus verschiedenen Ursachen eine chirurgische Perikardfensterung nicht möglich sein, kann die Durchführung einer perkutanen Perikardiotomie mittels Ballonkatheter im Rahmen einer perkutanen Perikardiozentese erwogen werden [18].
Medikamentöse Therapie Im Falle der akuten Perikardtamponade stellt die Perikardiozentese die definitive Therapie dar, eine medikamentöse Therapie hat daher in der Notfallsituation nur supportiven Charakter. Ihr Wert ist umstritten. Die Volumenersatztherapie wird unter der Vorstellung der Erhöhung der rechtsventrikulären Füllung durch Anhebung der Vorlast verabreicht. Diese Therapie ist essenziell bei Patienten mit Hypovolämie und Niederdrucktamponade. Tierexperimentell gewonnene Daten bei Normovolämie erscheinen hinsichtlich der Volumentherapie bei Tamponade ambivalent. Bei normovolämischen Patienten besteht die Möglichkeit der Anhebung des intraperikardialen Druckes, damit Erniedrigung des transmuralen Druckgradienten aufgrund einer volumenbedingten Zunahme der Herzgröße, sodass die Volumentherapie wahrscheinlich nur passager von Nutzen ist. Die Gabe von Katecholaminen zur Steigerung des mittleren arteriellen Druckes resultiert u. U. in einer weiteren Erniedrigung des linksventrikulären Auswurfvolumens, da das Herzzeitvolumen aufgrund der begrenzten Vorlast des linken Ventrikels, der Füllungsbehinderung aufgrund der Septumdeviation und der bereits ausgeschöpften Kompensationsmechanismen nicht weiter verbessert werden kann. Während die medikamentöse Therapie bei der akuten Tamponade lediglich von passagerem Wert ist und keinesfalls die Einleitung der Perikardiozentese verzögern sollte, ist sie bei der Behandlung von chronischen Perikardergüssen von größerer Bedeutung. Gleichzeitig nimmt dabei die Bedeutung der Perikardiozentese ab. Der medikamentöse Behandlungsansatz variiert dabei wesentlich in Abhängigkeit vom Beschwerdebild des Patienten. Bei fehlender klinischer Symptomatik kann zunächst lediglich die Beobachtung des Verlaufs indiziert sein. Bei zunehmender Symptomschwere muss dann der Einsatz von Medikamenten, ggf. mit Perikardiozentese, erwogen werden. Bei der medikamentösen Therapie spielt die kausale Behandlung der Grunderkrankung, z. B. die antibiotische Behandlung einer Tuberkulose, Dialysetherapie bei Urämie oder Einsatz von Diuretika, insbesondere bei Perikardergüssen auf der Basis einer globalen oder rechtsventrikulär betonten Herzinsuffizienz, eine vorrangige Rolle. Bei Perikardergüssen mit autoimmunologischer Genese, z. B. im Rahmen eines Postmyokardinfarktsyndroms (Dressler) oder eines Postkardiotomiesyndroms, kommt Azetylsalizylsäure, 3–6 g/Tag p.o., allein oder in Kombination mit Glukokortikoiden, z. B. Prednisolon in einer Initialdosis von 100 mg/Tag mit schneller Dosisreduktion zum Einsatz. Insbesondere rezidi-
vierende Schübe beim Dressler-Syndrom sprechen auf die Gabe von Glukokortikoiden an, wobei lang anhaltende Therapiephasen mit hohen Glukokortikoiddosen im subakuten Infarktstadium aufgrund eines hemmenden Einflusses auf die Infarktnarbenbildung vermieden werden sollten. Dies gilt ebenfalls für die nichtsteroidalen Antiphlogistika Ibuprofen und Indomethacin. Bei chronisch rezidivierenden autoimmunologischen Perikardergüssen ohne Hinweis auf das Vorliegen eines Myokardinfarkts kann durch die intraperikardiale Gabe von Glukokortikoiden eine lokale antiinflammatorische Wirkung erreicht werden unter Vermeidung der systemischen Nebenwirkungen der oralen Therapie [14]. Bei Patienten mit dieser Form von rezidivierenden und z. T. symptomatischen Perikardergüssen kann eine Langzeittherapie mit Colchizin in einer Dosierung von 2 mg/Tag (Initialdosis) und 0,5–1 mg/Tag (Erhaltungsdosis) erfolgen. Diese Therapie bewirkt bei einer Anwendungsdauer von 12 Monaten eine geringere Rezidivrate verglichen mit anderen medikamentösen Ansätzen und ist bei Patienten mit zwei oder mehreren Rezidiven von autoreaktiven Perikardergüssen indiziert [22]. Darüber hinaus können rezidivierende Perikardregüsse mittels Perikardiodese behandelt werden. Diese hat das Verkleben beider Perikardblätter und damit eine Reduktion des Ergussvolumens zum Ziel. Dazu werden nach Drainage des Ergusses 500 mg Tetrazyklin intraperikardial über den liegenden Pigtail-Katheter verabreicht. Diese Therapie kann mehrfach wiederholt werden. Insbesondere bei malignen Perikardergüssen kommen neben Tetrazyklinen auch Zytostatika zur intraperikardialen Instillation bei palliativem Therapiekonzept zum Einsatz [9]. Hierzu zählen u. a. Bleomycin (2-mal 5–30 mg), Mitoxantron (bis 3-mal 10 mg), oder Thiotepa (3-mal 15 mg) [16, 17]. 30.2.5 Über wachung Aufgrund der durch die Perikardtamponade kompromittierten Hämodynamik und der dadurch bedingten vitalen Gefährdung des Patienten ist eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter erforderlich. Durch Kompression von Anteilen des Reizleitungssystems oder aufgrund einer myokardialen Ischämie bei reduziertem Herzzeitvolumen und gleichzeitig erhöhtem myokardialem Sauerstoffbedarf können akute Herzrhythmusstörungen auftreten, welche einer sofortigen Therapie bedürfen. Dies gilt auch für Rhythmusstörungen aufgrund von mechanischen Reizen bei der Druchführung der Perikardiozentese. Die Anlage eines zentralvenösen Zugangs ist wünschenswert hinsichtlich der Steuerung der Volumengabe und Überprüfung des Therapieerfolges nach Perikardpunktion, sollte Letztere aber nicht verzögern. 30.2.6 Prognose und Folgetherapie Bei rechtzeitiger Entlastung der Tamponade ist das Krankheitsbild mit seinen hämodynamischen Komplikationen prognostisch gut zu bewerten. Die subakute und chronische Prognose der Perikardtamponade ist dagegen überwiegend durch die Grunderkrankung bedingt. Während die akut einsetzende Tamponade nach Herzoperationen aufgrund einer Sekundärblutung oder im Rahmen von autoimmunologischen Vorgängen bei adäquater Therapie eine gute Prognose aufweist, ist die Tamponade z. B. bei Aortendissektion
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aufgrund der hohen Letalität der Grunderkrankung ebenfalls mit einer schlechten Prognose behaftet. Letzteres gilt auch für maligne Perikardergüsse hinsichtlich des Langzeitverlaufs. Hier kann die Perikardiodese als palliatives Verfahren zum Einsatz kommen. Problematisch ist, dass bei etwa 25% der Patienten mit nichtmalignen Perikardergüssen ein Rezidiv auftritt [22], welches in Abhängigkeit von der Ausprägung eine neuerliche Perikardiozentese notwendig machen kann. Deshalb sollten Patienten nach Perikardiozentese zunächst engmaschig echokardiographisch kontrolliert werden. Bei rezidivierenden symptomatischen Ergüssen kann dann eine chirurgische Perikardfensterung notwendig werden. Die seltenen, bakteriell bedingten Perikarderkrankungen, z. B. im Rahmen einer Tuberkulose, bedürfen einer antibiotischen Therapie über einen mehrwöchigen bis -monatigen Zeitraum, bei Vorliegen eines Pyoperikards in Verbindung mit einer chirurgischen Ergussdrainage.
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31 Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris H.-P. Bestehorn, F.-J. Neumann
31.1
Einteilung der akuten Koronarsyndrome und diagnostische Kriterien
31.1.1 31.1.2 31.1.3
Myokardinfarkt mit ST-Hebung (STEMI) –408 Myokardinfarkt ohne ST-Hebung (NSTEMI) –411 Instabile Angina pectoris mit und ohne Risikomerkmale –411
31.2
Myokardinfarkt mit ST-Hebung
31.2.1 31.2.2 31.2.3 31.2.4 31.2.5 31.2.6 31.2.7 31.2.8
Generelle Behandlungsstrategie –412 Prähospitalphase –414 Klinische Maßnahmen vor Eintreffen im Katheterlabor –415 Intensivmedizische Betreuung im Katheterlabor –416 Intensivmedizische Betreuung nach Übernahme aus dem Katheterlabor –416 Besonderheiten bei Patienten mit vorausgegangener Fibrinolyse –422 Besonderheiten bei Patienten mit großem Zeitintervall seit Schmerzbeginn –422 Stellenwert der chirurgischen Revaskularisation beim akutenMyokardinfarkt –423
31.3
Myokardinfarkt ohne ST-Hebung und instabile Angina pectoris mit Risikomerkmalen –423
31.3.1 31.3.2 31.3.3
Generelle Behandlungsstrategie –423 Präklinische Maßnahmen –424 Instabile Angina pectoris ohne Risikomerkmale
Literatur
–425
–408
–412
–425
31
408
Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
31.1
Einteilung der akuten Koronarsyndrome und diagnostische Kriterien
Der Begriff »akutes Koronarsyndrom« umfasst alle klinischen Erscheinungsformen der akuten Myokardischämie. Ihnen liegt in der Regel mit der Ruptur oder Erosion einer koronar-atheromatösen Wandveränderung ein gemeinsamer pathophysiologischer Vorgang zugrunde. Das klinische Leitsymptom ist der akut einsetzende und anhaltende Thoraxschmerz. Wegen der unterschiedlichen klinischen Bedeutung und Behandlungsstrategien ist eine differenzierende Betrachtung der akuten Koronarsyndrome unerlässlich (. Abb. 31.1). Als erstes Unterscheidungskriterium dient das EKG. Bei Patienten mit ST-Hebungen im 12-Kanal-EKG handelt es sich um das Bild des Myokardinfarktes mit ST-Hebungen. Bei den akuten Koronarsyndromen ohne ST-Hebungen im EKG wird nach dem Vorhandensein von Nekrosemarkern weiter differenziert. Bei positivem Troponin handelt es sich um Myokardinfarkte ohne ST-Hebungen. Bei wiederholt negativem Troponin gehören die Patienten zur Gruppe »instabile Angina pectoris«. Bei Patienten dieser Gruppe wird zur Festlegung der weiteren
Behandlungsstrategie das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von zusätzlichen Risikomerkmalen geprüft. 31.1.1 Myokardinfarkt mit ST-Hebung (STEMI) Führt die plättchenreiche Thrombusauflagerung auf der Plaqueruptur oder -erosion zum plötzlichen Koronarverschluss, so resultiert in der Regel eine transmurale Ischämie, die sich rasch im EKG mit Anhebungen der ST-Strecken bemerkbar macht. Da ST-Elevationen im EKG auch bei Nicht-Infarkt-Bildern auftreten können und damit nicht ausreichend spezifisch sind, ist das EKG in der Infarktdiagnose eine wesentliche Stütze, aber keinesfalls ein ausreichendes diagnostisches Kriterium. Die Infarktdiagnose gründet sich auf die 3 sicheren Infarktkriterien 4 klinische Symptomatik, 4 infarkttypische EGK-Veränderungen, 4 infarkttypische Serumenzymveränderungen. Nach der Definition der WHO liegt ein Infarkt dann vor, wenn 2 von 3 sicheren Infarktkriterien anzutreffen sind. In der Regel sind bei der Diagnosestellung darüber hinaus Zusatzinformationen (z. B. einschlägige Vorgeschichte) hilfreich.
Klinische Infarktsymptomatik Bei der klinischen Symptomatik führt der länger (>20 min) anhaltende typische Angina-pectoris-Schmerz. Die Patienten sind blass, kaltschweißig und ängstlich. Das Angstgefühl kann sich bis hin zum Vernichtungsgefühl steigern. Weitere Symptome sind Übelkeit und Erbrechen. In der Akutphase sind sowohl bradykarde als auch tachykarde Herzrhythmusstörungen häufig. Bei komplizierten Frühverläufen können sämtliche Symptome der Linksherzinsuffizienz bis hin zum kardiogenen Schock angetroffen werden. Diese Zeichen erlauben bereits eine erste prognostische Einschätzung der Situation entsprechend der KillipKlassifizierung (. Abb. 31.2).
Infarkttypische EGK-Veränderungen Bei den infarkttypischen EKG-Veränderungen wird man im Rahmen eines akuten Koronarsyndroms in der Regel die Frühstadien
a
. Abb. 31.1a, b. Einteilung der akuten Koronarsyndrome (a) nach dem Vorhandensein von ST-Hebungen im EKG, Herzmarkern und Risikomarkern. b Patientenpfade bei akutem Koronarsyndrom; Differenzierungswege nach EKG, Herzmarkern und Risikomarkern
b
409 31.1 · Einteilung der akuten Koronarsyndrome und diagnostische Kriterien
31
. Tabelle 31.1. Infarktlokalisationen und die betroffenen Ableitungen
. Abb. 31.2. Gesamtmortalität in Abhängigkeit von der klinischen Präsentation bei Aufnahme und der Killip-Klasse. (Nach Killip et al. 1967; Khot 2003)
der Ischämie erkennen. Das EKG hat für die Frühdiagnose eines akuten Myokardinfarktes weiterhin einen großen Stellenwert, ist aber nur bei 50–70% der Infarktpatienten bei der Aufnahme infarkttypisch verändert. Die Sensitivität des EKGs nimmt im (unbeeinflussten) Verlauf der ersten 3 Tage auf 80% zu. Erstes Zeichen ist die Zunahme der T-Wellenamplitude im Sinne eines »Erstickungs-T«, eine meist nur für kurze Zeit und deswegen selten zu beobachtende Veränderung. Im Anschluss stellt sich die Elevation der ST-Strecke mit Verschmelzung des ST-T-Abschnittes ein. Die Dauer dieser ST-Hebung beträgt in der Regel wenige Stunden. Meist noch im Stadium der ST-Elevation kommt es zur Ausbildung von negativen T-Wellen (terminal negatives T, koronares T). In späteren Infarktstadien treten die Nekrosezeichen mit R-Amplitudenreduktion und Ausbildung von Q-Zacken in den infarktbezogenen Ableitungen hinzu. Ein kompletter R-Verlust führt zum Entstehen von QS-Komplexen (. Abb. 31.3). Während bei vorbestehendem oder neuem Rechtsschenkelblock die EKG-Infarktdiagnostik nicht beeinträchtigt ist, wird diese bei Linksschenkelblock schwierig oder unmöglich. Ein im Rahmen eines akuten Koronarsyndroms neu aufgetretener Linksschenkelblock wird definitionsgemäß als Korrelat eines ST-Hebungsinfarkts gewertet. Für die Bestimmung der Lokalisation und Größe eines Infarktes ist das EKG eine weniger sensitive diagnostische Methode. In der Regel gelingt aber die Unterscheidung zwischen Hinterwandinfarkt und Vorderwandinfarkt (. Tab. 31.1). Ferner gilt,
Infarktlokalisation
betroffenene Ableitungen
Anteroseptalinfarkt
V2–V3/4
Vorderwandspitzeninfarkt
V2–V5/6 und I (II), aVL
Anterolateralinfarkt
V5+V6, I und aVL
Hochlateraler Infarkt
I und aVL
Inferiorer Infarkt
II, III und aVF
Posteriorer Infarkt
Zusatzableitungen V7–9, indirekte Zeichen V2/V3
Rechtventrikulärer Infarkt
V1, VR3, VR4
dass Infarktveränderungen in vielen Ableitungen auf ein großes betroffenes Infarktareal hinweisen. Unter Berücksichtigung der heute generell angestrebten frühen interventionellen Revaskularisation ist die Lokalisierung und Größenbestimmung eines Infarktes aus dem EKG von untergeordneter Bedeutung. Bedeutsame Herzrhythmusstörungen werden als Infarktkomplikationen angesehen. Membranpotenzialveränderungen im Ischämiegebiet – vermittelt durch Azidose, Katecholaminfreisetzung, vermehrte freie Fettsäuren und intrazellulären Kaliumverlust – begünstigen Warnarrhythmien als Vorläufer des primären Kammerflimmerns oder hämodynamisch bedeutsamer anhaltender (>30 s) ventrikulärer Tachykardien. Darüber hinaus tritt in der Akutphase des Myokardinfarktes bei 10–20% der Patienten Vorhofflimmern als unabhängiger Prädiktor für eine ungünstigere Prognose auf. Sinusbradykardien mit Frequenzen <50/min werden in etwa 30% der akuten Infarkte gesehen. Sie sind bei Hinterwandinfarkt doppelt so häufig wie bei Vorderwandinfarkten und werden bedeutsam bei gleichzeitiger Hypotonie. Sinusarrest und sinuatriale Blockierungen (2–5%) werden überwiegend bei Hinterwandinfarkt gesehen. Atrioventrikuläre Blockierungen entstehen über die Kompromittierung der AV-Knotenarterie und sind deswegen v. a. beim Hinterwandinfarkt zu beobachten. In der Regel gehen einem AV-Block III. Grades (ca. 10% bei Hinterwandinfarkten) AV-Blockierungen der Grade I und II voraus. AV-Blockierungen III. Grades weisen auf besonders große Hinterwandinfarkte hin.
. Abb. 31.3a–d. EKG-Stadien des Myokardinfarktes: a Erstickungs-T; b monophasische Deformierung des ST-T-Abschnittes mit ST-Hebungen; c T-Negativierung und Q-Zackenausbildung; d persistierende ST-Hebungen bei Aneurysmaausbildung (optional)
410
Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
eine für die Herzmuskelzelle spezifische Aminosäurensequenz auf, die in der Skelettmuskelzelle nicht vorkommt. Der Labornachweis erfolgt über Assays mit Hilfe von spezifischen monoklonalen Antikörpern. Die biologische Halbwertszeit liegt beim cTroponin I bei 2–4 h. Bei Infarktpatienten steigen die Werte je nach Infarktgröße, Lokalisation und Perfusionsverhältnissen innerhalb von 2–8 h nach Beginn der Symptomatik an. i Derzeit existieren verschiedene cTnI-Tests mit jeweils unterschiedlichen Cut-off-Werten. Deswegen sollten Kliniker und Labormediziner über die angewendete Methode informiert sein. . Abb. 31.4. Serumkonzentrationen von cTnI, CK-MB (Masse) und Myoglobin
31
Bei intraventrikulären Leitungsstörungen, die ischämiebedingt unterhalb des AV-Knotens entstehen, ist der totale trifaszikuläre Block mit einer besonders schlechten Prognose verbunden.
Infarkttypische Serummarker Herzmarker sind heute unerlässliche diagnostische Parameter mit hoher Sensitivität und Spezifität für pathologische Veränderungen am Herzmuskel. Die meisten Herzmarker sind Proteine, einige von ihnen Enzyme, andere Bestandteile von Zellstrukturen. Bei Schädigungen des Myokards werden diese Marker aus der Herzmuskelzelle in das Blut freigesetzt. Die Kinetik der Freisetzung wird im Wesentlichen bestimmt von der Lokalisation des Markers in der Herzmuskelzelle, von der Molekülgröße, dem koronaren Blutfluss (Reperfusion) sowie der Halbwertszeit der Marker (. Tab. 31.2; . Abb. 31.4). Die heute in der Diagnostik gebräuchlichen Herzmarker 5 5 5 5
Troponin I Troponin T Myoglobin Creatinkinase (CK) und Isoenzym (CK-MB)
Die früher mitbeachteten Enzyme GOT, LDH und HBDH spielen in der Frühdiagnostik wegen ihres relativ späten Auftretens, aber auch wegen ihrer geringeren Spezifität keine Rolle mehr. Die kardialen Troponine I (cTnI) und T (cTnT) sind Bestandteile des kontraktilen Apparates der Herzmuskelzelle. Sie weisen
Als Schwellenwert ist heute die 99. Perzentile aus gesunden Kontrollkollektiven akzeptiert. Diese Definition hat die Häufigkeit der Infarktdiagnose zwar angehoben, aber die mit der Definition der 97,5. Perzentile verbundene Ungenauigkeit eliminiert (Scirica u. Morrow 2004). Die Sensitivität beträgt in den ersten 2 h 46%, die Spezifität nahezu 100%. In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass Bedside-Troponintestungen weniger sensitiv sind als die Analysen in Zentrallaboratorien, wodurch Patienten mit geringen, aber dennoch bedeutsamen Troponin-Erhöhungen übersehen werden können. Das cTroponin T erreicht seine Höchstwerte aufgrund seiner wesentlich größeren Molekülgröße erst zwischen 12 und 96 h, und auch die Normalwerte werden später erreicht (Mair 1997). Bei der Bewertung erhöht gefundener Troponine ist zu beachten, dass auch Troponinerhöhungen ohne Myokardschädigung bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen beschrieben sind (Bhayana et al. 1995). Ferner wurden erhöhte cTnT-Spiegel (bei negativem cTnI) bei Patienten mit Myopathien ohne Koronarveränderungen gefunden, was darauf hinweist, dass cTnT (ähnlich der CKMB and LDH-1) bei chronischen Skelettmuskelerkrankungen reexprimiert werden kann (Mair 1997). In der Praxis besteht zwischen den beiden Troponinen kein relevanter Unterschied. Da für die Diagnostik des Troponin T lediglich ein Assay auf dem Markt ist und damit keine Normwertadjustierungen zu beachten sind, ist die Bestimmung von Troponin T verbreitet. Die Bestimmung des Myoglobins ist wegen geringer Spezifität trotz des hohen negativen Voraussagewertes weitgehend verlassen worden. Die Creatinkinase (CK) ist ein Enzym, das in sehr vielen Geweben vorkommt und aus 2 Untereinheiten gebildet wird, der B- und M-Untereinheit. Somit existieren 3 Isoenzyme mit den Bezeichnungen CK-MM, CK-MB und CK-BB. Die höchste Konzentration an CK-MB wird in der Herzmuskelzelle gefunden; bis zu 20% sind CK-MB, der Rest ist CK-MM. Mittlerweile wird in
. Tabelle 31.2. Die Zeitverläufe des Auftretens der verschiedenen Herzmarker Marker
Anstieg nach
Maximum
Normalisierung
Creatinkinase (CK)
2–6 h
16–26 h
4–6 Tage
Isoenzym (CK-MB)
2–6 h
12–36 h
4–6 Tage
Troponin I
2–8 h
8–16 h
bis zu 7 Tage
Troponin T
2–8 h
12–96 h
bis zu 14 Tage
Myoglobin
1h
2–4 h
<1 Tag
411 31.1 · Einteilung der akuten Koronarsyndrome und diagnostische Kriterien
der Infarktdiagnostik nicht mehr die CK-MB-Aktivität, sondern direkt die CK-MB-Konzentration im Blut (CK-MB-Masse-Asssays) gemessen, da dieser Parameter hinsichtlich der Sensitivität der Messung der CK-MB-Aktivität signifikant überlegen ist. Die CK-MB-Serumwerte steigen innerhalb von 2–8 h an und erreichen die Höchstwerte nach etwa 24 h. 2–3 Tage nach dem Ereignis werden die Normalwerte wieder erreicht. Falschpositive Anstiege gibt es bei Rhabdomyolysen, Stromunfällen, Muskelquetschungen oder bei unphysiologisch hohen Muskelbelastungen, bei neuromuskulären Erkrankungen und einigen Turmoren (ZNS, Prostata, Darm). Beträgt die CK-MB >5% der Gesamt-CK, besteht Infarktverdacht. Liegt der CK-MB-Anteil bei konstant >25%, so handelt es sich um eine der beiden Makrovarianten der CK-MB (genetische Variante), die mit der MB-Isoenzymbestimmung sicher identifiziert werden können.
Zusätzliche diagnostische Maßnahmen Die Echokardiographie kann in Frühstadien bei negativem EKG vor dem Ergebnis der Markeruntersuchungen über die Aufdeckung von segmentalen Wandbewegungsstörungen als Frühzeichen einer Myokardischämie wegweisend sein. Insbesondere die oft übersehenen Rechtsherzbeteiligungen können hier im apikalen 4-Kammer-Blick erkannt werden. Besondere Bedeutung kommt der Echokardiographie bei den Infarktkomplikationen zu (Mitralinsuffizienz, Perforation, Ventrikelseptumdefekt). Der Röntgenuntersuchung des Thorax kommt bei der Diagnose eines akuten Infarktes keine Bedeutung zu. Sie kann dennoch erforderlich werden, wenn die Lage von Schrittmacherelektroden oder zentraler Venenkatheter zu kontrollieren ist. 31.1.2 Myokardinfarkt ohne ST-Hebung (NSTEMI) Weist ein Patient mit akutem Koronarsyndrom ohne persistierende ST-Streckenhebung erhöhte Markerenzyme auf, so liegt bei ihm definitionsgemäß ein Myokardinfarkt ohne ST-Hebungen vor. Die Diagnose basiert in diesem Fall im Wesentlichen auf der Klinik und den Laborveränderungen, während hier das EKG nicht selten stumm bleibt. Umso wichtiger sind anamnestische Zusatzinformationen über eine evtl. vorbekannte koronare Herzkrankheit (Myokardinfarkt/Bypassoperation/Katheterintervention) oder über Risikoindikatoren (Alter >65 Jahre, Diabetes mellitus). Bei der klinischen Symptomatik führt die Angina pectoris, die bereits unter Ruhebedingungen oder als neue Angina pectoris mit einem Mindestschweregrad III der CCS-Klassifikation (Canadian Cardiovascular Society Classification; Campeau 1976) auftritt. Als Ausdruck der Instabilität dieser Patienten kann auch eine deutliche Zunahme einer vorher stabilen Angina pectoris auf den Schweregrad CCS III auftreten. Das Elektrokardiogramm kann wertvolle Informationen bieten, besonders wenn es sich während eines Angina-pectoris-Anfalls verändert. Die Veränderungen betreffen den ST-TAbschnitt mit ST-Senkung oder Negativierungen der T-Welle, wobei Letztere nicht spezifisch und prognostisch günstiger als ST-Senkungen sind. Ein erstes 12-Kanal-EKG ohne richtungswei-
31
sende pathologische Befunde ist in regelmäßigen Abständen zu wiederholen. Bis zu 25% der Patienten mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt entwickeln später pathologische Q-Zacken. Wertvoll sind in jedem Fall Vor-EKGs, besonders dann, wenn sie noch nicht lange zurückliegen und Unterschiede gegenüber dem aktuellen Befund erkennen lassen. Die erhöht gefundenen Markerproteine, insbesondere die Troponine, grenzen die Gruppe der Patienten mit Myokardinfarkt ohne ST-Hebungen gegenüber den Patienten mit instabiler Angina pectoris (mit und ohne Risikomarker) ab. Die Einzelheiten bezüglich der Herzmarker wurden bereits ausführlich abgehandelt (7 s. oben). 31.1.3 Instabile Angina pectoris mit und ohne
Risikomerkmale Bleiben bei wiederholten Kontrollen die Markerproteine negativ, so handelt es sich definitionsgemäß um einen Patienten mit instabiler Angina pectoris. Dabei ist zu beachten, dass normale Herzmarker innerhalb der ersten 6 h nach Symptombeginn ein Infarktgeschehen noch nicht ausschließen. Eine wiederholte Testung nach einem weiteren Intervall von mindestens 4 h nach der ersten Troponinbestimmung ist erforderlich, um myokardiale Nekrosen sicher auszuschließen (Hamm et al. 1997). Sind auch wiederholte Elektrokardiogramme diagnostisch nicht wegweisend und zeigt auch das Echokardiogramm keine Auffälligkeiten, so können in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit zusätzliche diagnostische Maßnahmen wie Radionukliduntersuchungen (Sestamibi) hinzugezogen werden. Diese Untersuchungen haben, wenn sie im vermeintlichen Angina-pectoris-Anfall negativ ausfallen, einen exzellenten negativen Vorhersagewert für eine akute myokardiale Ischämie. Standardfunktionsdiagnostische Tests wie Belastungs-EKG oder Stressechokardiogramm sollten bei nicht aussagekräftigem EKG und negativen Markern für die Festlegung des weiteren Procedere durchgeführt werden, wenn die Symptomatik (>6 h) abgeklungen ist. Da das Kollektiv der Patienten mit instabiler Angina pectoris heterogen ist und die Patienten sehr stark unterschiedliche Verläufe zeigen, unterscheidet man zur Festlegung des weiteren diagnostischen und therapeutische Procedere instabile Patienten mit und ohne Risikomerkmale. Diese Unterscheidung dient der Selektion derjenigen Patienten, die von einer invasiven Therapiestrategie besonders profitieren. Andererseits sorgt die Identifikation von Patienten mit niedrigem Risiko für eine Minimierung der Gefährdung (z. B. durch das Blutungsrisiko) bei zu aggressiven antithrombotischen Therapiestrategien (Cohen et al. 2005).
Patienten mit hohem Risiko sind nach den Europäischen Leitlinien (2002) Patienten, die folgende Kriterien aufweisen: 4 wiederkehrende Ischämie (entweder erneute Angina pectoris oder dynamische ST-Segment-Veränderungen oder auch transiente ST-Hebungen) 4 instabile Angina pectoris früh nach einem (ersten) Infarkt 4 hämodynamische Instabilität innerhalb der Beobachtungsperiode
412
Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
4 bedeutsame Herzrhythmusstörungen (repetitive ventrikuläre Tachykardien, Kammerflimmern) 4 Diabetes mellitus 4 EKG-Veränderungen, die die verlässliche Erfassung von ST-Segment-Veränderungen ausschließen. Weisen instabile Patienten solche Risikomerkmale auf, so sollten sie einer frühinvasiven Abklärung durch Koronarangiographie zugeführt werden. Bei Patienten ohne Risikomerkmale kann das weitere Vorgehen vom Ergebnis funktionsdiagnostischer Testungen abhängig gemacht werden. 31.2
31
Myokardinfarkt mit ST-Hebung
31.2.1 Generelle Behandlungsstrategie Mit der üblichen Infarkttherapie, wie sie sich in großen Registern mit unselektioniertem Patientengut niederschlägt, liegt die Infarktletalität im Krankenhaus zwischen 15% und 25% (Tunstall-Pedoe et al. 2000; Gottwick 2001). Wird dagegen das volle Potenzial moderner Behandlungsmöglichkeiten genutzt, kann die Krankenhaussterblichkeit unselektionierter Patienten mit akutem Myokardinfarkt in spezialisierten Zentren auf deutlich unter 6% sinken (Kastrati et al. 2000). Voraussetzung hierfür ist ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen Rettungsdiensten, interventioneller Kardiologie, Intensivmedizin und konservativer Weiterbehandlung. Nur so lassen sich die Prinzipien der optimalen Therapie des akuten Myokardinfarkts verwirklichen: 5 wirksame Reper fusion im Katheterlabor, 5 medikamentöse Frühbehandlung zur Entlastung des Myokards, 5 unverzügliche Intervention bei Komplikationen und 5 konsequente Sekundärprävention.
Im Folgenden soll die Implementierung dieser Prinzipien in der klinischen Praxis dargestellt werden. Da sich gesamte Vorgehen an der Reperfusionsstrategie ausrichtet, werden zunächst die Grundlagen der Reperfusion besprochen und dann die praktische Vorgehensweise dargestellt.
Reper fusionsstrategien Die zeitgerechte, vollständige und anhaltende Reperfusion senkt die Infarktsterblichkeit um bis zu >50%. Die wichtigsten zugrunde liegenden Mechanismen sind Reduktion der Myokardnekrose (»myocardial salvage«) und damit Verminderung der infarktbedingten kontraktilen Dysfunktion, Verringerung des Arrhythmierisikos sowie Verbesserung der Narbenbildung mit Verringerung des Rupturrisikos und Stabilisierung der Ventrikelgeometrie. Die Qualität der Reperfusion ist von entscheidender Bedeutung (Reiner et al. 1996). Bei offenem Gefäß mit verzögertem Fluss (sog. TIMI-2Fluss) ist die Prognose nahezu so schlecht wie ohne Wiedereröffnung (TIMI 0/1). Eine Verminderung von Letalität und infarktbedingter linksventrikulärer Dysfunktion wird nur erreicht, wenn sich der Blutfluss im wiedereröffneten Gefäß normalisiert. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Unterschiede in der Güte der mikrovaskulären Reperfusion sogar innerhalb des Spektrums des angiographisch Normalen (TIMI 3) Prognose und Erholung der LV-Funktion entscheidend beeinflussen (Araszkiewicz et al. 2006).
Katheterintervention vs. Fibrinolyse Die Reperfusion im akuten Myokardinfarkt kann durch Fibrinolyse, Katheterinter vention und Bypassoperation erreicht werden, wobei die chirurgische Therapie wegen der logistischen Anforderungen und des hohen Operationsrisikos im Infarkt allenfalls eine Nischenindikation darstellt. Fibrinolyse und Katerinter vention unterscheiden sich in Durchführbarkeit und Effektivität. Die Katheterinter vention ist in spezialisierten Zentren bei fast allen Patienten möglich, während die allgemein verfügbare Fibrinolyse nur für einen Teil der Patienten geeignet ist.
. Abb. 31.5. Überlegenheit der PTCA gegenüber der Fibrinolysetherapie beim akuten Infarkt. Metaanalyse aus 23 prospektiv randomisierten Studien. (Nach Keeley et al. 2003)
413 31.2 · Myokardinfarkt mit ST-Hebung
Mit der Katheterintervention kann unabhängig von der Dauer des Infarktgeschehens bei über 90% der Patienten eine vollständige Wiedereröffnung des Infarktgefäßes (TIMI 3) erzielt werden. Die Erfolgsrate (TIMI 3) der Fibrinolyse liegt in fast allen Studien unter 60% und ist deutlich zeitabhängig, da durch zunehmende Stabilisierung des Thrombus die Chance einer Wiedereröffnung sinkt. Im Vergleich zu Placebo senkt die Fibrinolyse die Infarktsterblichkeit im Krankenhaus um 18%. Zusätzlich zu dem, was durch die Fibrinolyse erreicht wird, senkt die Katheterintervention die Infarktsterblichkeit hochsignifikant um weitere 25%, wie eine Metaanalyse aus 23 randomisierten Studien zeigt (. Abb. 31.5; Keeley et al. 2003). In der täglichen Praxis, wie sie sich in Registerdaten von über 100.000 Patienten widerspiegelt, liegt die relative Reduktion der Infarktsterblichkeit durch die Kathetereintervention noch höher. Die gepoolte Analyse 25 randomisierter Studien von Boersma et al. (2006) weist für die 30-Tages-Mortalität ein mit der Katheterintervention sogar um 37% abgesenktes relatives Risiko gegenüber der Lysetherapie aus. Die optimierte Katheterintervention bewahrt im Mittel mehr als doppelt soviel Myokard vor dem drohenden Zelltod als das derzeit beste etablierte Fibrinolyseverfahren (Kastrati et al. 2002; Schömig 2000) und senkt das Reinfarktrisiko um 64% (Keeley et al. 2003). Der klinische Vorteil der Katheterintervention im Vergleich zur Fibrinolyse nimmt nach Entlassung aus dem Krankenhaus weiter zu und bleibt noch über Jahre statistisch nachweisbar. Die Katheterintervention vermeidet die zerebralen Blutungskomplikationen der Fibrinolyse und halbiert so das Risiko schwerer Schlaganfälle (1% vs. 2%) und ist bei nahezu allen Patienten durchführbar (Keeley et al. 2003). Die Katheterintervention im akuten Myokardinfarkt ist bei Infarkten mit und ohne ST-Hebung gleichermaßen wirksam. Auch jenseits des Zeitfensters von 12 h rettet die Katheterintervention Myokard (BRAVE-Studie; Schömig et al. 2005). Im Gegensatz zur Fibrinolyse findet sich bei Katheterintervention nicht die strenge Abhängigkeit der Krankenhausletalität von der Zeit bis Therapiebeginn. Im MIR/MITRA-Register zeigte sich die Infarktletalität bei Katheterintervention weitgehend unabhängig von Zeitverlusten bis Therapiebeginn, während das Ergebnis der Fibrinolyse absolut und im Vergleich zur Katheterintervention zeitabhängig schlechter wurde (Zahn et al. 1999). Im Vergleich zur Fibrinolysetherapie schnitt die primäre Kathe-
31
terintervention nach Boersma (2006) in allen Zeitgruppen, zu denen sich die Patienten nach Infarkt präsentierten (0–1 h; 1–2 h; 2–3 h; 3–6 h; 6–12 h) besser ab.
Transport zur Katheterintervention statt Fibrinolyse vor Ort Bei Katheterintervention ist die Reduktion von Infarktgröße und Letalität deutlich weniger zeitabhängig als bei Fibrinolyse. Dies bedeutet, dass die Katheterintervention selbst dann noch der Fibrinolyse überlegen ist, wenn sie mit einem Zeitverlust verbunden ist. Hieraus ergibt sich die Frage, ob Patienten, bei denen die Diagnose eines Myokardinfarkts in einer Institution ohne Kathetermöglichkeit gestellt wurde, statt einer Fibrinolyse vor Ort zur Katheterintervention verlegt werden sollen. Diese Frage wurde in 5 randomisierten Studien untersucht. Diese Studien zeigen überzeugend (. Abb. 31.6; Keeley et al. 2003): Der Transport zur Katheterintervention ist der lokalen Fibrinolyse bezüglich des Risikos von Tod und Reinfarkt sowie des Schlaganfallrisikos deutlich überlegen. Komplikationen auf dem Transport waren selten: Das Risiko zu sterben betrug 0,5%, das von ventrikulären Arrhythmien 0,7– 1,4%, das eines höhergradigen AV-Blocks 2% (Keeley et al. 2003).
Durch Fibrinolyse erleichterte Katheterintervention? Derzeit beschäftigen sich mehrere Studien mit der Frage, ob eine vorgeschaltete Fibrinolyse das Ergebnis der Infarktbehandlung verbessert, wenn die Katheterinter vention geplant ist, aber nicht innerhalb von 60–90 min durchgeführt werden kann. Dem liegt das hypothetische Konzept der erleichterten Katheterinter vention (»facilitated PCI«) zugrunde, das besagt, dass eine der Katheterinter vention vorausgegangene Fibrinolyse den Zeitverlust bis zum Beginn der Reperfusion zumindest bei einem Teil der Patienten verkürzt und dass die partielle Wiedereröffnung die nachfolgende Katheterinter vention technisch vereinfacht. Die Hoffnung hat sich allerdings nicht erfüllt. Das klinische Ergebnis fiel sogar signifikant schlechter aus, wenn der Katheterinter vention eine Fibrinolyse vorangeht (ASSENT4-PCI Investigators 2006; Keeley et al. 2006; Widimsky et al. 2000; Vermeer et al. 1999). Auch in der CAPTIM-Studie war der Transport ins Katheterzentrum nach vorausgegangener Prähospitallyse dem Transport ins Katheterzentrum ohne Prähospitallyse nicht überlegen (Steg et al. 2003).
. Abb. 31.6. Vergleich der Katheterintervention mit lokaler Fibrinolyse hinsichtlich Komplikationen
414
Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
31.2.2 Prähospitalphase
31
Die ärztliche Erstversorgung spielt eine zentrale Rolle in der Infarktbehandlung. Ein akuter Myokardinfarkt kann in der Regel mit Hilfe eines 12-Kanal-EKGs bereits prähospital diagnostiziert werden. Das 12-Kanal-EKG ist eine zwingende Voraussetzung für die Differenzialdiagnose der akuten Koronarsyndrome. Der erstversorgende Arzt bereitet die Reperfusionstherapie medikamentös vor und stellt mit der Wahl des für die Infarktbehandlung am besten geeigneten Krankenhauses die entscheidenden Weichen für eine wirksame und kosteneffektive Therapie. Dabei ist das Kriterium der räumlichen Nähe von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem Kriterium der Verfügbarkeit von Katheterkapazität. Nach Information des ausgewählten Krankenhauses kann die Transportzeit zur Vorbereitung des Katheterlabors genutzt werden.
Analgesie, antiischämische medikamentöse Therapie ! Cave Kontraindiziert sind intramuskuläre Injektionen, die sich wegen der notwendigen antikoagulatorischen Maßnahmen verbieten.
Am Beginn jeder Infarktbehandlung steht die Gabe von Morphin zur Schmerzbekämpfung (5–10 mg i.v. von der auf 10 ml verdünnten Lösung). Bei bereits ausgeprägtem Vagustonus (Erbrechen, Herzfrequenz <50/min, niedriger Blutdruck) sind Analgetika mit geringeren parasympathikolyischen Eigenschaften wie Pethidin (Dolantin) zu bevorzugen. Zusätzliche Sedierung (z. B. Midazolam, 5 mg i.v.) kommt v. a. bei sehr unruhigen, aufgeregten Patienten in Betracht. Auch Nitrate können antianginös wirksam sein. Von vielen Patienten wird die Gabe von Sauerstoff als Erleichterung empfunden, wenngleich diese Maßnahme nur bei respiratorischer Insuffizienz pathophysiologisch sinnvoll ist. Ein Ventilations/Perfusions-Mismatch mit Vermehrung der pulmonal-interstitiellen Flüssigkeit kann allerdings auch schon bei kleineren Infarkten vorliegen. Neben ihrer symptomatischen Wirksamkeit können β-Blocker in der Akutphase des akuten Myokardinfarktes die Infarktgröße begrenzen und das Risiko maligner Arrhythmien vermindern. Sie bewirken eine relative Reduktion der Infarktletalität um etwa 15%. Kontraindikationen für die E-Blockade während der Prähospitalphase sind Pulsfrequenz <50/min, systolischer Blutdruck <100 mm Hg, AV-Bock II. oder III. Grades sowie schwere Lungenstauung. Kalziumantagonisten zeigen in der medikamentösen Therapie beim akuten Myokardinfarkt einen Trend zur Prognoseverschlechterung und haben hier keinen Platz. Die Überwachung bis zur Ankunft im weiterversorgenden Zentrum beinhaltet die nichtinvasive kontinuierliche Blutdruckmessung sowie die pulsoxymetrische Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung.
Gerinnungshemmertherapie Zur Einleitung der Reperfusionstherapie werden 5000 IE Heparin i.v. (mit Dosisanpassung bei stark Über- oder Untergewichtigen) und Azetylsalizylsäure (250–500 mg i.v. oder als Kautablette) gegeben. In der ISIS-2-Studie war Azetylsalizylsäure
bezüglich der Reduktion der Infarktletalität gleich wirksam wie Streptokinase. Nach neueren Daten aus der PCI-CLARITY-Studie führt eine zusätzliche Vorbehandlung mit Clopidogrel zu einer signifikanten Reduktion der Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse vor und nach einer inter ventionellen Therapie ohne signifikanten Anstieg von Blutungskomplikationen (Sabatine et al. 2005). Da die zusätzliche Gabe von Clopidogrel im Rahmen einer fibrinolytischen STEMI-Therapie die Offenheitsrate verbesserte und ischämische Komplikationen signifikant reduzierte (CLARITY-TIMI 28; Sabatine et al. 2005), kann Clopidogrel unabghängig vom eingesetzten Revaskularisationsverfahren als etablierte Gerinnungshemmungstherapie empfohlen werden. Die in den Studien eingesetzte Aufsättigungsdosis betrug 300 mg, gefolgt von einer Tagesdosis von 75 mg. Die im Rahmen der elektiven inter ventionellen Therapie akzeptierte Aufsättigungsdosis von 8 Tabletten (600 mg) ist im Rahmen des akuten ST-Hebungs-Infarktes bisher nicht randomisiert getestet worden. Die Datenlage für niedermolekulare Heparine erlaubt es derzeit nicht (auch nicht bei der elektiven PCI), ihren Einsatz anstelle des unfraktionierten Heparins zu rechtfertigen (Rubboli et al. 2006, Montalescot et al. 2006). Aus der ADMIRAL-Studie (Montalescot et al. 2001) ergaben sich Hinweise, dass die prästationäre Gabe des GP IIb/IIIa-Rezeptorblockers Abciximab das Ergebnis einer nachfolgenden Katheterintervention verbessert. Wenn sich diese Hypothese in der zzt. laufenden FINESSE-Studie (Ellis et al. 2004) bestätigt, könnte Abciximab auch bereits für die Prähospitalphase empfohlen werden. Es gibt keine Hinweise, dass die Prähospitallyse im Rahmen von kathetergestützten Reperfusionsstrategien von Vorteil ist. In Anbetracht der um 1% erhöhten Rate von Schlaganfällen kann die Fibrinolyse zur »erleichterten Katheterintervention« nicht empfohlen werden (Keeley et al. 2006). Nur wenn klar ist, dass aus logistischen Gründen keine primäre Katheterintervention möglich ist, sollte die Fibrinolyse möglichst früh und ggf. prähospital begonnen werden. Dies setzt voraus, dass im Notarztwagen die Indikation zur Fibrinolyse aufgrund der 12-Kanal-EKG-Aufzeichnungen eindeutig gestellt und Kontraindikationen unzweifelhaft ausgeschlossen werden können. Indikationen und Kontraindikationen zur Fibrinolyse 5 Indikationen zur Fibrinolysetherapie – ST-Streckenhebungen oder vermutlich neu aufgetretener Linksschenkelblock – 0,1 mV in 2 Extremitätenableitungen oder – 0,2 mV in 2 benachbarten Brusustwandableitungen – Bei weniger als 12 h zurückliegendem Symptombeginn – Katheterintervention innerhalb von 2 h nicht möglich
5 Absolute Kontraindikationen zu Fibrinolysetherapie – Schlaganfall innerhalb der letzten 6 Monate – Zentralnervöse Schädigung oder Tumoren – Schädel-Hirn-Trauma oder Neurochirurgie innerhalb der letzten 3 Wochen – Gastrointestinale Blutung innerhalb des letzten Monats – Hämorrhagische Diathese – Aortendissektion
415 31.2 · Myokardinfarkt mit ST-Hebung
31
31.2.3 Klinische Maßnahmen vor Eintreffen 5 Relative Kontraindikationen zu Fibrinolysetherapie – Transiente ischämische Attacke innerhalb der letzten 6 Monate – Orale Antikoagulanzientherapie – Schwangerschaft und Kindbett innerhalb der 1. Woche nach Geburt – Traumatische Reanimation – Refraktäre Hypertonie (systolischer Blutdruck >180 mm Hg) – Fortgeschrittene Lebererkrankung – Infektiöse Endokarditis – Aktive peptisches Ulkus – Kürzliche retinale Laserbehandlung
Als Fibrinolytika sind t-PA und seine Abkömmlinge der Streptokinase überlegen. Allerdings muss gleichzeitig mit 3 zusätzlichen Schlaganfällen pro 1000 behandelten Patienten gerechnet werden (Califf et al. 1996). Obwohl die gentechnisch hergestellten Abkömmlinge der t-PA, die r-PA (Reteplase) und die TNK-tPA (Tenecteplase) verbesserte pharmakokinetische und fibrinolytische Eigenschaften aufweisen als die Muttersubstanz, konnte in großen Studien keine Verbesserung der klinischen Wirksamkeit gegenüber t-PA nachgewiesen werden. Die Abkömmlinge der tPA bieten jedoch den praktischen Vorteil, dass sie als Doppel- (rPA) oder als Einzelbolus (TNK-tPA) gegeben werden können. Als Begleittherapie ist Azetylsalizylsäure obligatorisch (siehe oben). Heparin bringt zwar als Zusatztherapie zur Streptokinase keinen Vorteil (Metz et al. 1998), sollte jedoch bei Fibrinolyse mit t-PA und seinen Abkömmlingen für 24 – 48 h intravenös verabreicht werden, um eine Reokklusion des Gefäßes zu verhindern. Eine aktivierte, partielle Thromboplastinzeit (aPTT) über 70 s ist mit einem erhöhten Risiko von Tod, Blutung und Reinfarkt verbunden. Die europäische Gesellschaft für Kardiologie empfiehlt die in . Tabelle 31.3 angegebene Heparin-Dosierung in Verbindung mit t-PA und seinen Varianten (Van de Werf 2003). Die Kombination von Fibrinolytika in voller Dosierung mit niedermolekularem Heparin oder Fibrinolytika in halber Dosierung mit GP IIb/IIIa-Blockern ist derzeit Gegenstand mehrerer Studien. Sie kann jedoch nach der derzeitigen Datenlage nicht empfohlen werden, da das Risiko schwerer Blutungen steigt, ohne dass die Infarktletalität gesenkt wird (Di Pasquale et al. 2003).
im Katheterlabor Die diagnostischen Maßnahmen beinhalten die Labordiagnostik unter besonderer Berücksichtigung der Markerbestimmung (Notfalllabor). Erweiterte diagnostische und therapeutische Maßnahmen (Echokardiogramm, Intubation, Katecholamine, zentraler Venenkatheter; Infarktkomplikationen s. unten) sind abhängig zu machen vom Zustand des Patienten. Unnötige Diagnostik mit Verzögerung des Interventionsbeginns oder der Verlegung in ein Katheterzentrum ist in jedem Fall zu vermeiden. Die medikamentösen Maßnahmen orientieren sich an der bereits prähospital erfolgten Therapie und werden im Bedarfsfall entsprechend ergänzt. Bei Vorliegen eines Rechtsherzinfarktes bzw. einer Rechtsherzbeteiligung ist auf eine ausreichende Anhebung des zentralvenösen Druckes auf 20 mm Hg zu achten.
Krankenhäuser mit Kathetermöglichkeit In spezialisierten Katheterzentren sind die Wege ins Katheterlabor meist bereits mit der Ankündigung des Patienten gebahnt. Häufig ist in großen Zentren mit mehreren Kathetermessplätzen die direkte Übernahme vom Helikopter oder vom Rettungswagen in ein freies Katheterlabor möglich, v. a. wenn der Patient von den Erstversorgern vor Ort bereits angekündigt wurde. In diesem Fall wird die Übergabe des Patienten vom Notarzt an den Katheterarzt sowie an den Intensivmediziner im Katheterlabor stattfinden, während bereits die Vorbereitungen für die invasive Diagnostik und Therapie erfolgen können. In Krankenhäusern mit Kathetermöglichkeit ist die Rekanalisation des Infarktgefäßes im Katheterlabor die Therapie der Wahl (7 s. oben). Auch beim akuten Myokardinfarkt senkt eine Stentimplantation im Vergleich zur reinen Ballonangioplastie das Reokklusionsund Restenoserisko nach Katheterintervention. Als antithrombozytäre Begleittherapie sollten neben der Azetylsalizylsäure ein Thienopyridin und Abciximab gegeben werden (7 s. unten). Die zusätzliche Anwendung von Thrombektomiekathetern wird nicht routinemäßig empfohlen, da die Infarktausdehnung eher zunimmt (Kaltoft et al. 2006). Auch Filtersysteme zur Verhinderung einer möglichen peripheren Embolie von Thrombus und Plaquepartikeln bewirken in nativen Koronargefäßen keine Verbesserung des Interventionsergebnisses (Gick et al. 2005; Stone et al. 2005). Ob bei koronarer Mehrgefäßerkrankung nur die Infarktläsion oder alle relevanten Stenosen in der ersten Sitzung
. Tabelle 31.3. Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zur akzelerierten Fibrinolyse mit Alteplase (t-PA) Substanz Intravenöse Alteplase
Dosierung Bolus
15 mg
Infusion
0,75 mg/kg KG über 30 min, dann 0,5 mg/kg KG über 60 min
4 Die Gesamtdosis sollte 100 mg nicht überschreiten. Intravenöses Heparin
Bolus
60 IE/kg KG, maximal 4,000 IE
Infusion
15 IE/kg KG/h, maximal 1000 IE/h, für 24–48 h
4 Ziel-aPTT 50–70 s. 4 Die aPTT sollte 3, 6, 12, 24 h nach Therapiebeginn kontrolliert werden.
416
31
Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
behandelt werden sollen, ist derzeit noch nicht durch Studienergebnisse gesichert. In der Regel ist die Behandlung aller relevanten Stenosen in einer Sitzung gefahrlos möglich. Der Erfolg der Katheterintervention im akuten Myokardinfarkt wird bestimmt von der persönlichen und institutionellen Erfahrung sowie von der Effizienz der Funktionsabläufe im Krankenhaus (Canto et al. 2000). Die Infarktletalität sinkt deutlich mit zunehmender Rate von Interventionen, die an einer Institution durchgeführt werden. Auch die individuelle Erfahrung des Sondeurs spielt eine Rolle; allerdings kann eine geringere individuelle Erfahrung in einer erfahrenen Institution kompensiert werden. Als Maß für ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen Aufnahmeeinheit, Katheterlabor und Intensivstation kann die Zeit zwischen Einlieferung ins Krankenhaus und Katheterintervention dienen. Auch an dieser Variablen zeigt sich, dass die Infarktletalität bei Katheterintervention umso geringer ist, je effizienter sich die Funktionsabläufe im Krankenhaus gestalten.
ner Befindensverschlechterung des Patienten oder einer Katheterkomplikationen eine kurzfristig verfügbare intensivmedizinische Betreuung im Katheterlabor gewährleistet sein. Insofern ist auch eine räumlich möglichst enge Anbindung an die Intensivstation wünschenswert. In denjenigen Fällen, in welchen Patienten bereits in schlechterem Ausgangszustand (Killip-Klasse III und höher) in das Katheterlabor gelangen, ist eine intensivmedizinische Assistenz von Beginn an sinnvoll, damit sich der Interventionalist auf seine Aufgabe konzentrieren kann. Grundsätzlich ist intensivmedizinische Assistenz erforderlich 4 bei Reanimationssituationen, 4 bei hämodynamischer Instabilität bis hin zum kardiogenen Schock, 4 bei beatmeten Patienten, 4 bei der Betreuung der intraaortalen Ballonpumpe und 4 zur situationsgerechten Steuerung einer komplexen medikamentösen Therapie.
Krankenhäuser ohne Kathetermöglichkeit – Transport zur Katheterintervention
31.2.5 Intensivmedizische Betreuung nach
Bei der Erstversorgung der Infarktpatienten kommt dem Verhalten des Notarztes auch insofern eine große Bedeutung zu, als er für die Ansteuerung eines Katheterzentrums verantwortlich ist. In Anbetracht der Dichte dieser Zentren in der Bundesrepublik und der Qualität der Verkehrswege sowie der Zusatzmöglichkeiten mit Hubschraubertransport sollte das Verbringen eines Infarktpatienten in ein Krankenhaus ohne Kathetertherapiemöglichkeit kaum noch vorkommen müssen. Auch wenn Infarktpatienten in einem peripheren Krankenhaus aufgenommen werden, kommt sehr häufig eine Fibrinolysebehandlung nicht in Betracht, da sie außerhalb des Lysezeitfensters im Krankhaus eintreffen, die EKG-Kriterien nicht erfüllen oder andere Kontraindikationen aufweisen. Das Risiko dieser Patienten ist mehr als doppelt so hoch wie das derjenigen Patienten, bei denen eine Fibrinolyse möglich ist. Es besteht jedoch auch bei diesen Patienten die Möglichkeit, durch Katheterbehandlung noch Myokard zu retten. Aus diesem Grund sollte bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt ohne Möglichkeit zur Thrombolyse die sofortige Verlegung in ein Interventionszentrum vorgenommen werden. Auch Patienten, bei denen prinzipiell eine Thrombolyse möglich ist, sollten ohne Lyse zur Katheterintervention in ein Katheterzentrum verlegt werden, wenn dies innerhalb eines akzeptablen Zeitrahmens möglich ist (7 s. oben). Die Obergrenze für die Zeitverzögerung bis zum Einsatz der Kathetertherapie liegt nach den Daten von Boersma et al. (2006) sowie Betriu et al. (2005) bei 2 h. Wenn es gelingt, regionale Organisationsstrukturen zu schaffen, die eine rasche und reibungslose Zusammenarbeit zwischen primär behandelndem Krankenhaus und Interventionszentrum garantieren, sollte die Verlegung in ein Katheterzentrum innerhalb dieses Zeitfensters bei nahezu allen Patienten mit akutem Myokardinfarkt möglich sein. 31.2.4 Intensivmedizische Betreuung im
Katheterlabor Auch wenn viele Revaskularisationsprozeduren bei akuten Infarkten unproblematisch verlaufen, so muss dennoch in Fall ei-
Übernahme aus dem Katheterlabor Auch der frühzeitig revaskularisierte STEMI-Patient ist ein Intensivpatient, der der kontinuierlichen weiteren Überwachung bedarf. Zum einen sind postinterventionelle Leistenkomplikationen unter der maximal intensivierten Gerinnungstherapie häufiger als bei elektiv interventionellen Prozeduren. Die kontinuierliche Überwachung ist weiterhin erforderlich, da mögliche postinterventionelle Infarktkomplikationen rasch erkannt und kompetent beantwortet werden müssen. Kontinuierliches Monitoring des EKGs, der Herzfrequenz und des Blutdrucks sind Standard und erleichtern ein frühzeitiges Erkennen von Komplikationen. Die begonnene Gerinnungstherapie wird hier weitergeführt und überwacht. Die Dauer des Aufenthaltes auf der Intensivstation richtet sich nach der Schwere des abgelaufenen Infarktes (Markeranstiege) sowie nach dem Vorhandensein bedeutender Begleiterkrankungen. Patienten mit unkomplizierten kleinen Infarkten werden bereits am Folgetag auf die Normalstation verlegt.
Gerinnungshemmertherapie Azetylsalizylsäure (ASS) kommt, wenn nicht schon bei der Erstversorgung gegeben, präinterventionell in einer Dosierung von 500 mg i.v. zur Anwendung, auch wenn der Patient vorher schon als Koronarpatient mit ASS behandelt wurde. Die lebenslange Weiterbehandlung erfolgt in einer Dosis von 100 mg/Tag. Clopidogrel als Hauptvertreter der Thienopyridine wird möglichst früh präinterventionell gegeben. Als optimale Aufsättigungsdosis für Clopidogrel sind mittlerweile 600 mg – das sind 8 Tabletten – akzeptiert. Müller et al. (2001) konnten zeigen, dass bei einer Aufsättigungsdosis von 600 mg bereits nach 2 h die angestrebte Plättcheninhibition erreicht wird. Eine noch höhere Initialdosis von z. B. 900 mg brachte in der ISAR-CHOICE-Studie keinen zusätzlichen Nutzen (von Beckerath et al. 2005). Die anschließende Tagesdosis beträgt in der Regel 1 Tablette (=75 mg/Tag). Bei Hochrisikointerventionen (großes Versorgungsgebiet, z. B. linker Hauptstamm) sollte mittels optischer Aggregometrie überprüft werden, ob mit der 75-mg-Dosierung ein ausreichender antithrombozytärer Schutz besteht. Falls dies nicht der Fall ist, kann eine Dosissteigerung auf 150 mg/Tag erfolgen.
31
417 31.2 · Myokardinfarkt mit ST-Hebung
Glykoproteinrezeptorantagonisten sind bei der interventionellen Behandlung des akuten Myokardinfarktes etabliert. Umfangreiche Daten aus größeren Studien belegen für Abciximab höhere postinterventionelle TIMI 3-Flow-Raten, eine geringere Anzahl von erneut notwendigen Revaskularisationen (ADMIRAL, CADILLAC), eine besseres ereignisfreies Überleben (ISAR 2) sowie eine bessere LV-Funktion postinterventinell (Neumann et al. 1998). Mit einer Metaananalyse aus 11 Studien mit 27.000 Patienten (De Luca et al. 2005) konnte nachgewiesen werden, dass Abciximab bei interventionell behandelten Infarktpatienten sowohl die 30-Tages-Mortalität (von 3,4 auf 2,4%) als auch die Langzeitmortalität (von 6,2 auf 4,4%) signifikant senkt. Abciximab (ReoPro) bewirkt eine maximale Rezeptorblockade nach einer Bolusgabe von 0,25 mg/kg KG innerhalb von 30 min, die durch eine kontinuierliche 12-h-Infusion von 0,125 Pg/kg KG/min bis hin zu maximal 10 Pg/min aufrechterhalten wird. Von Bedeutung ist, dass auch 12 h nach Beendigung der Infusion immer noch 70% der Rezeptoren gehemmt sind. Für die kürzer wirksamen Glykoproteinrezeptorantagonisten (Tirofiban, Eptifibatide, Lamifiban) liegen bisher keine Daten aus randomisierten Studien mit ausreichenden Fallzahlen für ihre Wirksamkeit beim akuten Myokardinfarkt vor. Die Heparin-Begleittherapie ist beim Einsatz der Glykoproteinrezeptorantagonisten in der Dosis zu reduzieren, d. h. gewichtsadaptiert durchzuführen (50–70 IE/kg KG für eine PTT von 50–70 s). Heparin wird nach Ende der Intervention gestoppt, während die Infusionen mit den GP IIb/IIIa-Anatgonisten weiterlaufen. Hauptnebenwirkung von Abciximab sind periphere Blutungen. Diese können durch eine körpergerwichtsadaptiert geringere periinterventionelle Heparin-Dosis und v. a. durch die rasche Entfernung der Schleuse (Verschlusssysteme) deutlich reduziert werden. Coumarinderivate spielen bei der interventionellen Behandlung des akuten Myokardinfarktes primär keine therapeutische Rolle. Die bestehende orale Antikoagulation bei einem Patienten im akuten Myokardinfarkt stellt auch keine Kontraindikation für die invasive Diagnostik und Therapie dar, während bei elektiven Eingriffen der INR-Wert für eine Judkins-Koronarangiographie d1,8 und bei einer Radialis/Sones-Angiographie d2,8 sein sollte (Gohlke-Bärwolf et al. 1993). Heparin-Gaben sind auch hier gewichtsadaptiert vorzunehmen und postinterventionell bis zum Wiedererreichen therapeutischer INR-Werte fortzusetzen. Die Verwendung von GP IIb/ IIIa-Antagonisten ist hier wegen der erhöhten Blutungsgefahr wirklichen »Bail-out-Situationen« vorbehalten. Die Schleuse ist hier gleich im Anschluss an die Untersuchung/Intervention unter Zuhilfenahme von Verschlusssystemen zu ziehen. Diese Patienten bedürfen in jedem Fall einer von der Routine abweichenden intensiveren Überwachung mit engermaschiger Kontrolle des Blutdrucks sowie der Kathetereintrittsstelle.
Einleitung der Sekundärprävention Für die Sekundärprävention nach Myokardinfarkt existieren klar formulierte Empfehlungen (AHA/ACC Guidelines for Secondary Prevention for Patients With Coronary and Other Atherosclerotic Vascular Disease; Smith et al. 2006), wobei einige der empfohlenen Maßnahmen umso wirksamer gefunden wurden, je früher sie nach dem Indexereignis zu Anwendung kommen.
. Tabelle 31.4. Sekundärpräventionsempfehlungen mit den Empfehlungs- und Evidenzklassen gemäß den Leitlinien der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft Maßnahme
Empfehlungsklasse
Evidenzgrad
Rauchen einstellen
I
C
Optimale Diabeteseinstellung
I
B
Blutdruckeinstellung
I
C
Mediterrane Diät
I
B
1 g mehrfach ungesättigte Z3-Fettsäuren
I
B
ASS 75–16 mg 4 Alternativ Clopidogrel 4 Alternativ Marcumar
I IIIb IIa
A C B
E-Blocker, falls keine Kontraindikationen vorliegen
I
A
ACE-Hemmer (Fortsetzung)
I
A
Statin 4 bei LDL >115 mg/dl 4 Gesamtcholesterin >190 mg/dl
I
A
Fibrate 4 bei HDL<45 mg/dl und 4 TG >200 mg/dl
IIa
A
Insofern erlangen diese Maßnahmen auch Relevanz für die frühe Phase auf der Intensivstation. Die einzelnen Empfehlungen sind in . Tabelle 31.4 mit Angaben zu Ihrer Wertigkeit mit den Empfehlungsklassen und Evidenzgrad entsprechend den europäischen Leitlinien aufgeführt. Für die Behandlung auf der Intensivstation sind wegen der empfohlenen Frühzeitigkeit des Behandlungsbeginns folgende medikamentöse Maßnahmen mit Klasse-1-Empfehlung von Bedeutung: 4 optimale glykämische Kontrolle bei Diabetikern, 4 Aspirin, 4 E-Blocker, 4 ACE Hemmer, 4 Statine.
Optimale Glykämiekontrolle Besondere Sorgfalt sollte auf die Einstellung eines evtl. bestehenden Diabetes mellitus gelegt werden. Diabetiker zeigen in der Regel während des akuten Infarktgeschehens deutlich höhere Blutzuckerwerte. Beim akuten Myokardinfarkt korreliert ein erhöhter Blutzuckerwert eng mit einer erhöhten Mortalität (Suleiman et al. 2005). Dieser erhöhte Blutzuckerwert ist einerseits Ausdruck eines Diabetes mellitus oder metabolischen Syndroms, andererseits als Folge des durch den Infarkt verursachten Katecholaminexzesses zu sehen. Eine optimale Glukosekontrolle geht mit einer Reduktion des kardiovaskulären Risikos, z. B. der Inzidenz des plötzlichen
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Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
Herztods, einher (Leschke et al. 2006). Ob hierbei eine intensivierte Insulintherapie mit engmaschigem Monitoring und Altinsulingaben einer konventionellen optimalen Blutzuckerkontrolle im akuten Myokardinfarktstadium prognostisch überlegen ist, ist noch nicht gesichert. Das Behandlungsziel ist die Normoglykämie. Der Zielbereich lag in der DIGAMI-Studie für die Nüchernblutzuckerwerte bei 90– 125 mg/dl und bei postprandialen Werten von 180 mg/dl (Malmberg et al. 2005). Auch unabhängig vom Krankheitsbild des akuten Myokardinfarktes konnte für internistische Intensivpatienten eine signifikante Reduktion der Morbidität mit einer optimierten Insulintherapie zur Erreichung der Normoglykämie (80–110 mg/dl) nachgewiesen werden (Van den Berghe 2006). Längerfristig ist ein HbA1c von <7% anzustreben (ACC-Leitlinien 2001). Frühe Hinweise für eine günstige »metabolische Modulation« durch Glukose-Insulin-Kalium Infusionen (GIK) beim akuten Myokardinfarkt konnten trotz positiver Metaanalyse mehrerer kleiner Studien (Fath-Ordubadhi et al. 1997) letzlich nicht bestätigt werden: Die CREATE-ECLA-Studie (CREATE-ECLA Trial Group Investigators 2005), die GIK vs. Standardtherapie bei über 20.000 Patienten mit STEMI untersuchte, zeigte keinen signifikanten Unterschied in den 30-Tages-Inzidenzen von Mortalität, plötzlichem Herztod, kardiogenem Schock und Reinfarkt (Metha et al. 2005).
Azetylsalizylsäure (Aspirin) Zahlreiche Einzelstudien und große Metaanalysen randomisierter Studien belegen den sekundärpräventiven Effekt von Azetylsalizylsäure (ASS; Aspirin). Die Antithrombotic Trialists Collaboration demonstrierte eine 25%ige Reduktion von Tod und Reinfarkt bei Infarktpatienten. Da Aspirin bereits präinterventionell verabreicht wurde, kommt der intensivmedizinischen Betreuung lediglich die Aufgabe zu, die Therapie in einer Tagesdosis von mindestens 1 mg/kg KG (in der Regel 100 mg) weiterzuführen. Höhere Dosen sind nicht wirksamer, dafür aber mit einer höheren Gastrotoxizität verbunden. Bei Patienten mit echter Aspirin-Allergie oder bedeutsamer gastrointestinaler Intoleranz ist Clopidogrel eine teure, aber wirksame Alternative (CAPRIE 1996). Unabhängig von der sekundärpräventiven Wirkung ist Aspirin in Verbindung mit Clopidogrel unerlässlich zur Vermeidung der akuten/subakuten Stentthrombose nach interventioneller Infarktbehandlung (7 s. unten).
β-Blocker E-Blocker ohne intrinsische Eigenaktivität reduzieren in der Sekundärprävention bei Infarkpatienten die Mortalität und die Reinfarktrate um 20–25%. Aus unzähligen Studien mit insgesamt 35.000 Patienten ergibt sich ein hoher Evidenzgrad für die Langzeitbehandlung mit E-Blockern bei allen Infarktpatienten, die keine Kontraindikationen aufweisen. Von Bedeutung ist, dass auch Patienten mit »relativen« Kontraindikationen gegen E-Blocker (ältere Patienten, Patienten mit COPD, Diabetes mellitus und Patienten mit NSTEMI) in gleicher Weise profitieren (Gottlieb et al. 1998; Sauer 2003). Die Tatsache, dass E-Blocker auch in der medikamentösen Therapie der Herzinsuffizienz mittlerweile etabliert sind, unterstreicht die generelle Umsetzung dieser Sekundärpräventionsempfehlung. Wird der E-Blocker abgesetzt, so kehrt das Risiko auf das Niveau der unbehandelten Patienten zurück. Eine neuere Metaanalyse von insgesamt 28 randomisierten Studien ergab, dass die E-Blockade auch dann von Vorteil
ist, wenn zusätzlich ACE-Hemmer gegeben werden. Trotz der klaren Datenlage zeigt das Verordnungsverhalten bezüglich der E-Blocker bei Infarktpatienten ein klares Defizit auf (Stukel et al. 2005). Dieses Defizit betrifft v. a. ältere Menschen mit Komorbiditäten (Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, COPD und Asthma, periphere arterielle Durchblutungsstörungen). Ein weiterer Grund sind die den E-Blockern angelasteten Nebenwirkungen (Depression, Müdigkeit, sexuelle Dysfunktion). Hier zeigte eine Metaanalyse aus 15 Studien mit 35.000 Patienten (Ko et al. 2002) kein signifikant erhöhtes Risiko depressiver Verstimmungen und ein nur gering erhöhtes Risiko für stärkere Müdigkeit und sexuelle Dysfunktion. Im Hinblick auf den sekundärpräventiven Nutzen der E-Blockade sollte den gefährdeten Patienten aus diesen Gründen die Chance zur Risikoabsenkung nicht vorenthalten werden.
ACE-Hemmer 3 Megastudien haben gezeigt, dass eine orale Medikation mit ACE-Hemmern, die am 1. Tag des akuten Myokardinfarktes begonnen wird, die Infarktletalität signifikant senkt. Aus der Metaanalyse ergibt sich, dass bei akutem Myokardinfarkt etwa 5 Todesfälle verhindert werden können, wenn 1000 Patienten mit ACE-Hemmern behandelt werden (Pearce et al. 1998). Patienten mit Linksherzversagen und Reinfarkt haben hierbei den größten therapeutischen Gewinn. Aufgrund der Daten der großen Infarktstudien wie auch des HOPE-Trials kann davon ausgegangen werden, dass eine Langzeitmedikation mit ACEHemmern nach Infarkt auch ohne linksventrikuläre Dysfunktion vorteilhaft ist.
Lipidsenker Neuere Studien zeigen, dass die Einleitung sekundärpräventiver lipidsenkender Maßnahmen umso effektiver ist, je früher damit begonnen wird. Das schwedische COHORT REGISTRY (Stenestrand et al. 2000) zeigte bei 6273 Patienten mit früh nach dem Indexereignis begonnener lipidsenkender Therapie eine um 35% reduzierte 1-Jahres-Mortalität gegenüber den 15.835 Patienten, bei denen die Behandlung mit CSE-Hemmern noch nicht vor der Krankenhausentlassung begonnen worden war. In der MIRACL-Studie (Waters et al. 2002) führte die früh begonnene Behandlung (2100 Patienten mit instabiler Angina oder NSTEMI; 80 mg Atorvastatin vs. Placebo) trotz relativ niedriger Ausgangswerte (121 mg/dl) bereits nach 4 Monaten zu einer signifikanten Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse (Tod, Infarkt, Reanimation und Hospitalisierung wegen Angina pectoris; 14,8% vs. 17,4%; p=0,048). Die frühe Verordnung von CSE-Hemmern noch im Krankenhaus hat über die direkten lipidsenkenden und indirekten pleiotropen Effekte an den Gefäßen hinaus offensichtlich auch eine Auswirkung auf die Compliance der Patienten. Wird der Therapiebeginn während des Krankenhausaufenthaltes versäumt, so liegt die Therapiequote nach 6 Monaten bei nur 25% gegenüber 77% bei denjenigen Patienten, die bereits im Krankenhaus CSEHemmer erhalten hatten (Aronow et al. 2003). Die richtige Dosierung richtet einerseits nach den Zielwertempfehlungen und andererseits nach der Ausgangslage. Die ESC-Leitlinien empfehlen eine Lipidsenkertherapie ab einem Ausgangswert von 190 mg/dl für das Gesamtcholesterin und/ oder 115 mg/dl für das LDL-Cholesterin. Während in der Sekundärprävention ein Zielwert für das LDL-Cholesterin von 100 mg/dl allgemein akzeptiert wird, existiert v. a. bei Hochrisi-
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kopatienten ein zusätzlicher Nutzen, wenn Zielwerte von 70 mg/ dl angestrebt werden. Diese aufgrund neuerer Studien (PROVE IT, REVERSAL, TNT) in die NCEP ATP III Guidelines eingegangene Empfehlung formuliert das strengere Ziel von 70 mg/dl als eine »Option« für Hochrisikopatienten. Daraus ergibt sich, dass auch Hochrisikopatienten mit für »normal« gehaltenen LDLCholesterinwerten von CSE-Hemmern profitieren (Kerst et al. 2004; Heart Protection Study Collaborative Group 2002).
Weitere medikamentöse Maßnahmen Nitrate haben nach den Megastudien ISIS-4 und GISSI-3 keinen Effekt auf die Prognose gezeigt. Die günstigen Effekte von Magnesium, die eine erste kleinere Studie vermuten ließ, konnten in der ISIS-4-Studie nicht bestätigt werden. Schnellwirksame Kalziumantagonisten (z. B. unretardiertes Nifedipin) haben weder einen Platz bei der Behandlung des akuten Myokardinfarktes noch einen sekundärpräventiven Effekt in der Nachbehandlung von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Die langwirksamen Dihydropyridine der 3. Generation können zur antihypertensiven Therapie eingesetzt werden.
Weitere sekundärpräventive Maßnahmen Nichtmedikamentöse Maßnahmen Die Lebensstilberatung betrifft Rauchgewohnheiten, Diät und körperliche Aktivität. Raucher, die nach einem akuten Myokardinfarkt das Rauchen aufgeben, reduzieren ihr kardiovaskuläres Risiko in den nachfolgenden Jahren um etwa die Hälfte (Aberg et al. 1983). In der Lyon Diet Heart Study reduzierte die sog. mediterrane Diät, die reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren, Fisch, Früchten und Gemüse ist, das Risiko von Tod und Reinfarkt im Verlauf von 2 Jahren um mehr als die Hälfte im Vergleich zur üblichen Diät (de Lorgeril et al. 1999). Die in den Guidelines trotz vergleichsweiser geringer Evidenz noch enthaltene Empfehlung der hochdosierten Anwendung von ω3-Fettsäuren (GISSI Prevenzione Trial 1999) wird im Hinblick auf die heute übliche interventionelle Infarkttherapie erneut auf den Prüfstand gestellt. Die mit ω3-Fettsäuren in den ersten 3 Monaten gesehene Verminderung des plötzlichen Herztodes bei den damals überwiegend noch mit Fibrinolyse behandelten Infarktpatienten könnte in effektiver revakularisierten Kollektiven nicht mehr nachweisbar sein. Programme mit körperlicher Bewegung werden zumeist während der zunehmend häufiger ambulant durchgeführten Rehabilitation gestartet. Regelmäßiges körperliches Training kann über den Mechanismus der Plaquestabilisierung die Progression der koronaren Herzkrankheit verlangsamen und senkt die Gesamtsterblichkeit um bis zu 27% (Jolliffe et al. 2001), Der arterielle Blutdruck sollte auf Optimalwerte (systolisch 120, diastolisch 80 mm Hg) eingestellt werden.
Erkennung und Behandlung von Komplikationen Mit mehrmals täglicher Auskultation und kontinuierlichem Monitoring (EKG, Herzfrequenz, Atemfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur und ggf. auch Pulmonalarteriendruck) werden Infarktkomplikationen in der Regel zuverlässig und rasch erkannt. Die Indikation zum hämodynamischen Monitoring mit SwanGanz-Katheter betrifft in erster Linie große Infarkte, Schockzeichen, Lungenödem, Hypotonien <90 mm Hg systolisch sowie mechanische Infarktkomplikationen (Buchwalsky 1998, Hollenberg et al. 1997).
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Rezidivierende Angina pectoris (Perikarditis, Reinfarkt, Restenosen, inkomplette Revaskularisation) Bei rezidivierenden Beschwerden, insbesondere nach schmerzfreiem Intervall, muss differenzialdiagnostisch an die Möglichkeit einer Perikarditis, eines Reinfarktes oder einer inkompletten Revaskularisation gedacht werden. Bei denjenigen Patienten, die eine Lysetherapie ohne nachfolgende Katheterdiagnostik und therapie erfahren haben, ist die wahrscheinlichste Ursache eine subtotale oder totale Okklusion des Infarktgefäßes. Die frühe infarktbegleitende Perikarditis, die sog. Pericarditis epistenocardiaca, trat bereits im Lysezeitalter mit 5–6% der Infarktpatienten deutlich seltener auf als vor der Revaskularisationsära und ist die typische Komplikation großer Infarkte, die in der Regel am 2.–3. Tage nach Infarkt auftritt. Der typische Auskultationsbefund des Perikardreibens kann (in Abhängigkeit von der Größe des Perikardergusses) völlig fehlen. Das Elektrokardiogramm zeigt neue ST-Streckenhebungen, nicht nur in den infarktbezogenen Ableitungen. Das Echokardiogramm kann einen Perikarderguss aufdecken. Meist sind es nur systolisch sichtbare Separationen zwischen Peri- und Epikard. Zirkuläre Ergüsse sind mit weniger als 4% selten (Widimsky u. Gregor 1995; Widimsky et al. 2000). Eine Tamponade auf dem Boden einer alleinigen Infarktperikarditis kommt praktisch nicht vor. Wird sie nachgewiesen, muss an andere schwerwiegendere Komplikationen, wie an eine gedeckte Ruptur, gedacht werden. Die Therapie der Perikarditis ist symptomatisch und auf die Schmerzbekämpfung ausgerichtet. Zur Anwendung kommen Azetylsalizylsäure und nichtsteroidale Antiphlogistika (Ibuprofen). Die Postinfarktangina (wiederkehrende Angina ohne Reinfarkt) ist unter der modernen kathetergestützten Reperfusionstherapie mit 6% deutlich seltener als in der Lyseära (20%; Braunwald 2004). Auch Reinfarkte treten mit der modernen kathetergestützten Revaskularisationstherapie deutlich seltener auf als früher, zumal heute in der Regel die vollständige Revaskularisation angestrebt wird. Reinfarkte sind mit erneuter Symptomatik, EGKVeränderungen und erneuten Enzymanstiegen verbunden. Unabhängig von der Primärtherapie besteht die Indikation zur Reangiographie. Eine Wiederholung der Fibrinolysetherapie ist nicht wirksam. Die interventionelle Therapie ist sowohl einer erneuten Lysetherapie als auch einer konservativ medikamentösen Therapie deutlich überlegen (Gershlick et al. 2005).
Bradykarde Herzrhythmusstörungen Die Sinusbradykardie ist eine häufige vagotonieinduzierte Begleiterscheinung v. a. bei inferiorer und posteriorer Infarktlokalisation. Eine isolierte Sinusbradykardie ohne Hypontonie oder ventrikuläre Ektopie bedarf lediglich der Überwachung und keiner spezifischen Therapie. Bei Frequenzen <40–50/min und in Verbindung mit Hypotonie kann (ggf. wiederholt) Atropin 0,5 mg i.v. bis zu einer Gesamtdosis von 2 mg und bis zur Erreichung einer Zielfrequenz von 60/min verabreicht werden. Der AV-Block I. Grades bedarf keiner Behandlung. E-Blocker, die eine AV-Blockierung ebenfalls herbeiführen können, sollten wegen der antiischämischen Wirkung bis zu Überleitungszeiten von 0,24 s nicht abgesetzt oder reduziert werden. In Verbindung mit ausgeprägter Bradykardie kann Atropin hier ebenfalls wirksam sein. Höhergradige AV-Blockierungen sind häufig assoziiert mit dem Verschluss der rechten Kranzarterie und der damit verbundenen Ischämie des AV-Knotens.
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Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
Der AV Block II. Grades (Typ I Wenckebach) bedarf bei Frequenzen von 50/min keiner spezifischen Therapie, wenn nicht zusätzlich Herzinsuffizienzsymptome, Schenkelblockbilder oder ventrikuläre Rhythmusstörungen vorhanden sind. Bei Vorhandensein dieser Symptome ist Atropin intravenös (7 s. oben) indiziert. Nur selten ist die passagere Schrittmachertherapie notwendig. Eine Sonderform des AV Block II. Grades ist der 2:1-Block. Ist im EKG nicht die Entwicklung aus einer Wenckebach-Periodik erkennbar, so kann das Blockbild bezüglich seiner Lokalisation und Dignität nicht sicher zugeordnet werden. Schlanke Kammerkomplexe und die Ansprechbarkeit auf Atropin sprechen für einen AV Block II. Grades (Typ I Wenckebach), der primär keiner Schrittmachertherapie bedarf. Infrahisale 2:1Blockierungen verursachen breite Kammerkomplexe und stellen eine Schrittmacherindikation dar. Immer schrittmacherbedürftig sind Infarktpatienten mit AV Block II. Grades (Typ II) und AV Block III. Grades. Der AV Block II. Grades (Typ II) ist meist infrahisal verursacht und oft Vorläufer des totalen AV-Blocks. Der temporäre Bedarfsschrittmacher wird auf eine Interventionsfrequenz von 60/min eingestellt. Der totale AV-Block tritt in Zusammenhang mit meist größeren Infarkten auf. Auch wenn die bei Hinterwandinfarkt einsetzenden junktionalen Ersatzrhythmen mit schlanken Kammerkomplexen um 40/min relativ stabil sind, ist die Schrittmachertherapie indiziert. Bei Vorderwandinfarkten sind die Ersatzrhythmen bei totalem AV-Block meist langsamer und zeigen breite Kammerkomplexe als Ausdruck der ausgedehnten Septumnekrose mit Einbeziehung der Reizleitungsschenkel. Hier bewahrt die passagere Schrittmachertherapie auch vor der Asystolie, die vornehmlich bei Patienten mit großem Vorderwandinfarkt auftreten kann. Eine Prognoseverbesserung durch die Schrittmachertherapie ist bisher nicht bewiesen. Intraventrikuläre Blockbilder treten neu bei bis zu 5% der Patienten mit STEMI auf (Sgarbossa et al. 1998). Von prognostischer Bedeutung sind der neu aufgetretene Rechtsschenkelblock (RSB) bei Vorderwandinfarkt sowie die bifaszikulären Summationsblockbilder (RSB + LAHB oder RSB + LPHB oder der LSB) als Ausdruck der größeren ischämisch-myokardialen Schädigung. Die Entwicklung zum kompletten AV-Block ist häufig, weswegen auch hier therapeutisch der passagere transvenöse Schrittmacher zum Einsatz kommt. Bei der Asystolie sollte zunächst grundsätzlich auch an die Möglichkeit des niedrigamplitudigen Kammerflimmerns gedacht werden. Therapie der gesicherten Asystolie ist die sofortige Schrittmacherstimulation, transkutan oder transvenös, wenn dieser bereits gelegt wurde.
Tachykarde Herzrhythmusstörungen Die im Infarkt mangelhafte Sauerstoffversorgung des Myokards führt rasch zu Veränderungen des Ruhemembranpotenzials, wobei reduzierte Membranpotenziale zwischen –70 und –40 mV wegen maximaler Instabilität Ausgangspunkt von Arrhythmien sind. Diese instabilen Membranpotenziale werden v. a. in den elektrisch inhomogenen Nekroserandzonen gefunden. Die Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Verkürzung der Refraktärperiode ist die Voraussetzung für die Reentryphänomene. Die Kreiserregungen entstehen, wenn verzögert aktivierte kranke Myokardabschnitte die Erregung an schon nicht mehr ganz refraktäre gesundere Myokardabschnitte weitergeben. Reentrytachykardien im funktionsbeeinträchtigten Myokard reduzie-
ren das Herzminutenvolumen, erhöhen den Sauerstoffverbrauch und stören die Vorhof-Ventrikel-Synergie mit Reduktion der ventrikulären Vorlast.
Ventrikuläre Rhythmusstörungen Ventrikuläre Extrasystolen, meist polymorph, oft früh einfallend (R-auf-T-Phänomen) sind Ausdruck der Heterogenität der Membranpotenziale. Sie wurden früher als Vorläufer des Kammerflimmerns antiarrhythmisch behandelt. Dies wird heute wegen des erhöhten Risikos für fatale Bradykardien und Asystolien nicht mehr empfohlen, zumal das Risiko für Kammerflimmern bereits durch die initiale E-Blockertherapie signifikant reduziert wird. Auch die in den ersten 2 Tagen auftretenden idioventrikulären Rhythmen, die oft nach erfolgreicher Reperfusion gesehen werden, sind im Gegensatz zu den schnelleren ventrikulären Tachykardien nicht prognostisch bedeutsam und deshalb nicht behandlungsbedürftig, solange sie nicht die Hämodynamik beeinträchtigen. Nichtanhaltende ventrikuläre Tachykardien in der frühen Infarktphase (24 h) sind nicht mit einer erhöhten Mortalität assoziiert. Ventrikuläre Tachykardien in der Spätphase (24 h) treten häufig bei transmuralen Infarkten mit erheblicher Beeinträchtigung der Ventrikelfunktion auf. Sie sind oft anhaltend, hämodynamisch bedeutsam und gehen mit einer erhöhten Intrahospitalund Langzeitmortalität einher. Therapeutisch sind niedrige Kaliumwerte auf >4,5 mmol/l anzuheben. Das Serummagnesium sollte >2 mmol/l liegen. E-Blocker, wenn noch nicht eingesetzt, sind die Therapie der 1. Wahl. Die rasch notwendige Beendigung der ventrikulären Tachykardien, die die Hämodynamik verschlechtern und zum Kammerflimmern degenerieren können, erfolgt sicher mit der Kardioversion. Kammerflimmern tritt bei bereits hospitalisierten Patienten mit STEMI zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit unterschiedlicher prognostischer Bedeutung auf. Das primäre Kammerflimmern beginnt meist unerwartet bei Patienten mit nur geringer oder ganz fehlender Beeinträchtigung der Ventrikelfunktion. Das sekundäre Kammerflimmern ist in der Regel das finale Ereignis nach kontinuierlicher Verschlechterung oder im Rahmen des kardiogenen Schocks. Das späte Kammerflimmern (>24 h nach Infarktbeginn) ist häufiger bei Patienten mit intraventrikulären Leitungsstörungen, persistierender Sinustachykardie, Vorhofflattern oder -flimmern in der Frühphase und mit schrittmacherbedürftigen rechtsventrikulären Infarkten. Die Prophylaxe erfolgt über Anhebung des Serumkaliums auf >4,5 mval/l in Zusammenhang mit Magnesiumsubstitution (>2 mmol/l). Die Beendigung des Kammerflimmerns erfolgt mit der Defibrillation (200–300 J). Ein nichtanhaltender Erfolg einer Defibrillation zeigt sich meist mit sofortigem Wiederauftritt ventrikulärer Tachykardien, erneutem Kammerflimmern oder selten der Asystolie. Nach ineffektiver Defibrillation kann die Erfolgswahrscheinlichkeit weiterer Defibrillationen durch Adrenalin-Gaben erhöht werden. i Wenn der wiedererreichte Herzrhythmus ineffektiv ist (elektromechanische Entkoppelung), so handelt es sich meist um ausgedehnte Infarkte oder um Rupturen der freien Wand oder des Septums. Auch bei Kenntnis der Ursache für die Entkoppelung kann der letale Ausgang selten abgewendet werden.
421 31.2 · Myokardinfarkt mit ST-Hebung
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Supraventrikuläre tachykarde Rhythmusstörungen
Ausgedehnter Infarkt
Die Sinustachykardie ist Ausdruck der erhöhten sympathischen Aktivität (Angst, Schmerz, medikamentös induziert) und tritt in typischer Weise v. a. bei Patienten mit Vorderwandinfarkt auf. Sie verschlechtert die myokardiale Sauerstoffbilanz. Der therapeutische Ansatz ist multifaktoriell: E-Blocker, suffiziente Schmerztherapie, Sauerstoff und Nitroglycerin. E-Blocker sind kontraindiziert bei Hypovolämie oder Pumpversagen des linken Ventrikels (systolischer Blutdruck <100 mm Hg, ausgeprägter Lungenauskultationsbefund mit feuchten RG, Pcp >25 mm Hg). Vorhofflattern- und flimmern sind Ausdruck der sympathischen Vorhofstimulation, meist als Folge einer Linksherzinsuffizienz, und weisen auf eine ungünstige Prognose hin. Die Zunahme der Ventrikelfrequenz und der Verlust der Ventrikel-Vorhof-Synchronität verschlechtern die Hämodynamik. Zusätzlich steigt das Schlaganfallrisiko. Die Hämodynamik verlangt entweder die Beendigung der Störung durch Kardioversion in Kurznarkose oder eine effektive Frequenzregulation, am besten mittels E-Blocker. Digitalispräparate können bei supraventikulären Tachyarrhythmien zur Frequenzregulation eingesetzt werden. Die erzielte Frequenzregulation kompensiert den durch die positiv-inotrope Wirkung erhöhten Sauerstoffbedarf. Amiodarone kann Vorhofflimmern terminieren und Rezidive verhindern. Wiederholte Phasen von Vorhofflimmern sind Anlass zur Antikoagulation mit Ziel-INRWerten von 2,0–3,0. Andere supraventrikuläre Tachykardien sind selten und in der Regel selbstlimitierend. Carotisdruck, E-Blocker und Adenosin (nicht aber Verapamil) können angewendet werden. Wird die Tachykardie schlecht toleriert, so kommt die Kardioversion zur Anwendung.
Die Revaskularisation sollte bei großen Infarkten möglichst vollständig erfolgen, damit strukturell intaktes, aber hypoperfundiertes Myokard zur Verbesserung der Ventrikelfunktion beitragen kann. Patienten mit ausgedehnten Infarkten werden hämodynamisch überwacht. Therapeutisches Ziel ist ein Pulmonalkapillardruck von <20 mm Hg und ein »cardiac index« (CI) von 2,0 l/min/m2. Sauerstoffgabe und Schleifendiuretika werden ergänzt durch Nitroglycerin i.v., beginnend mit 0,25 Pg/min/kg KG bis zu einem systolischen Blutdruck von 90 mm Hg. Hypotonien sind Anlass zur Katecholamingabe. Bei Zeichen der renalen Hypoperfusion kommt Dopamin i.v. in einer Dosierung von 2,5–5,0 Pg/min/ kg KG zur Anwendung. Bei Lungenstauung kommt Dobutamin in der initialen Dosierung von 2,5–10,0 Pg/min/kg KG zum Einsatz. Blutgaskontrollen entscheiden mit über die Notwendigkeit zur Intubation, wenn trotz maximaler Sauerstoffgabe (8–10 l/ min per Maske) ein Sauerstoffpartialdruck von 60 mm Hg nicht erreicht bzw. aufrecht erhalten werden kann.
Linksherzversagen/kardiogener Schock Hämodynamische Komplikationen wie Lungestauung bis hin zum Lungenödem und/oder systemische Hypotension sind häufig Folge fortbestehender oder wiederkehrender sowie ausgedehnter myokardialer Ischämien. Bei noch unklarem Koronarstatus sollten sie zur Katheterdiagnostik Anlass geben mit dem Ziel einer möglichst vollständigen Revaskularisation. Wichtig ist die frühzeitige Erkennung mechanischer Komplikationen, wie Papillarmuskelabriss, Ventrikelseptumruptur oder gedeckte Ruptur der freien Wand, die der chirurgischen Korrektur bedürfen. Bei allen hämodynamischen Komplikationen, die nicht prompt auf einfache Behandlungsmaßnahmen ansprechen, sollte die Therapie von Einschwemmkathetermessungen geleitet werden. Bei schwerer Lungenstauung oder Lungenödem sind Sauerstoff, Schleifendiuretika und intravenöse Nitrate angezeigt. Systemische Hypotension erfordert zunächst die Korrektur eventueller sekundärer Ursachen wie Medikamenteneffekte, Hypovolämie oder Rhythmusstörungen. Erst dann kommen positiv-inotrope Substanzen wie Dobutamin in Betracht. Im kardiogenen Schock hat nur die prompte Katheterintervention Aussicht auf Erfolg. Unterstützend wirkt in diesem Fall eine intraaortale Ballonpumpe für 24–48 h. Generell sollte die intraaortale Ballonpumpe nur eingesetzt werden als Brücke zur definitiven Therapie, z. B. Katheterintervention im kardiogenen Schock oder zur chirurgischen Korrektur von Papillar- oder Septumruptur oder nach definitiver Therapie zur Überbrückung der postischämischen kontraktilen Dysfunktion (»myocardial stunning«).
Ventrikelseptumdefekt Ein Ventrikelseptumdefekt tritt bei bis zu 2% aller Infarkte auf. Innerhalb der 1. Woche liegt die Mortalität ohne chirurgischen Eingriff bei 54%. Die Diagnose erfolgt bei plötzlicher klinischer Verschlechterung auskultatorisch mit einem neuen lauten und rauhen Systolikum, echokardiographisch oder mittels Einschwemmkatheter durch Nachweis hoher Sauerstoffsättigungen in der Pulmonalarterie. In der Vorbereitungsphase für die Kardiochirurgie ist die intraaortale Ballonpumpe effektiv. Die einzige Überlebenschance bei großen Septumrupturen mit kardiogenem Schock liegt in der kardiochirurgischen Versorgung. Auch kleine Septumdefekte bedürfen der chirurgischen Versorgung wegen ihrer Tendenz zur weiteren Vergrößerung. Die Krankenhausmortalität liegt mit chirurgischer Intervention zwischen 25 und 60%. In der Literatur wird in Einzelfallschilderungen auch über die Möglichkeit des interventionellen Verschlusses von Ventrikelseptumrupturen mit dem Amplatzer VSD Occluder berichtet – eine Methode, deren Entwicklung im Hinblick auf das Risiko bei der kardiochirurgischen Korrektur aufmerksam verfolgt werden muss (Anantharaman et al. 2004; Kong et al. 2005).
Ruptur der freien Wand Die akute Ruptur der freien Ventrikelwand ist gekennzeichnet durch einen sofortigen Kreislaufzusammenbruch mit elektromechanischer Entkoppelung. Fehlender »cardiac output« und Pulsverlust führen innerhalb weniger Minuten zum Tod. Kardiopulmonale Reanimationsbemühungen sind wirkungslos. Subakute oder gedeckte Perforationen können einen Reinfarkt mit erneutem Auftreten von Angina pectoris, ST-Hebungen imitieren. Häufiger steht die hämodynamische Verschlechterung mit Hypotonie im Vordergrund. Die Diagnosesicherung erfolgt echokardiographisch (perikardiale echodichte Thrombusmassen und Flüssigkeit, Tamponade). In Vorbereitung zur kardiochirurgischen Versorgung muss im Fall der Tamponade mit Schock die Perikardpunktion erfolgen.
Papillarmuskelabriss Die infarktbedingte Ruptur eines Papillarmuskels ist gleichbedeutend mit einer plötzlichen Verschlechterung der Hämodynamik.
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Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
Der Auskultationsbefund (bandförmiges mittelfrequentes Sofortsystolikum) ist trotz meist schwerer Mitrainsuffizienz wegen des erhöhten linksatrialen Druckes häufig leise. Die Dopplerechokardiographie zeigt das Ausmaß der Mitralregurgitation. Die PCDruckkurve zeigt eine massiv überhöhte V-Welle. Geht die Papillarmuskelruptur mit kardiogenem Schock oder Lungenödem einher, so ist die kardiochirurgische Versorgung (in der Regel Klappenersatz) erforderlich. In der Vorbereitung kommt die intraaortale Ballonpumpe zur Anwendung. Falls nicht schon im Rahmen der Reperfusionstherapie erfolgt, ist die präoperative Koronarangiographie erforderlich.
Rechtsherzversagen
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Bei rechtsventrikulären Infarkten muss durch ausreichende Volumengabe die Vorlastreserve des rechten Ventrikels ausgeschöpft werden. Dies erreicht man mit einer Anhebung des zentralvenösen Druckes auf nicht über 20 mm Hg. Übermäßige Flüssigkeitszufuhr bedingt aufgrund der ventrikulären Interdependenz über die Überdehnung des rechten Ventrikels die Füllungsbehinderung des linken Ventrikels, was sogar zum Abfall des Herzzeitvolumens führen kann. Auch beim rechtsventrikluären Infarkt sollte der pulmonalkapilläre Verschlussdruck <15 mm Hg gehalten werden. Häufig ist der Einsatz von positiv-inotropen Substanzen erforderlich, auch die intraaortale Ballonpumpe kann vorübergehend sinnvoll sein. 31.2.6 Besonderheiten bei Patienten mit
vorausgegangener Fibrinolyse Katheterintervention nach Fibrinolyse Lysierte Patienten weisen eine Reihe von Besonderheiten auf, die im weiteren Procedere zu berücksichtigen sind. Die Fibrinolyse beim akuten Myokardinfakt aktiviert über die Thrombinfreisetzung die thrombozytäre Gerinnung und begünstigt damit Reokklusionen und ischämische Komplikationen. Die Inzidenz von wiederauftretender Angina ohne Reinfarkt beträgt in Fibrinolysekollektiven 20%. Trotz zunehmend häufigerer Anwendung der katherbasierten Reperfusion wird weltweit in 30–70% aller akuten ST-Hebungsinfarkte noch die Lysetherapie angewendet. Auch die fibrinspezifischen Lytika erzielen einen TIMI-3-Fluss nur in maximal 60% aller Fälle. Die weitere Behandlung der erfolgreich lysierten Patienten einerseits sowie die weitere Behandlung bei Lyseversagen (fehlende Rückbildung von ST-Streckenhebungen, persistierende Angina, hämodynamische Instabilität und Reinfarkt) wurde lange kontrovers diskutiert. Bei unkompliziertem Verlauf wurde bisher die Indikation zur Katheterdiagnostik am Ende des stationären Aufenthaltes bei Patienten mit erhöhtem Risiko gestellt. Indikatoren hierfür sind: Postinfarktangina, positives Belastungs-EKG, schlechte Belastbarkeit, Linksherzdekompensation in der Postinfarktphase, eingeschränkte LV-Funktion, höhergradige Rhythmusstörungen und/oder Zweitinfarkt. Dieses Konzept der symptomgeleiteten Koronarangiographie wird auch durch die kürzlich vorgestellte GRACIA-Studie in Frage gestellt (Fernandez-Aviles et al. 2004). Sie zeigt, dass die systematisch innerhalb der ersten 24 h durchgeführte Katheterintervention im Vergleich zur symptomgeleiteten Koronarangiographie die kardiale Komplikationsrate senkt und die Dauer des stationären Aufenthaltes verkürzt.
Entsprechend den Daten der GRACIA-Studie sollte, wann immer möglich, innerhalb von 24 h auch nach vermeintlich erfolgreicher Fibrinolyse eine Katheterintervention erfolgen. Zeichen des Lyseversagens wie fehlende Rückbildung von ST-Streckenhebungen, persistierende Angina, hämodynamische Instabilität und Reinfarkt sind Indikationen zur sofortigen Katheterintervention. Auch entsprechend den Daten aus der REACTStudie (REACT TRIAL Investigators 2005) ist bei Lyseversagen die rasche »rescue PCI« mit einem signifikant höheren ereignisfreien Überleben verbunden als die nochmalige Lysetherapie oder die konservative Therapie. In der REACT-Studie betrug die Inzidenz des kombinierten primären Endpunktes (Tod, Reinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz) 31% mit der erneuten Lyse, 29,8% mit konservativer Therapie und 15,3% mit der »rescue PCI«. Obwohl die Studie, ursprünglich mit 1200 Patienten konzipiert, wegen Rekrutierungsschwierigkeiten nur 427 Patienten einschloss, waren die Ergebnisse zugunsten der interventionellen Rescue-Therapie signifikant. Die Ergebnisse decken sich mit den Daten aus 4 kleineren randomisierten Studien mit insgesamt 386 Patienten: Eine frühe Herzinsuffizienz trat in der RescueGruppe mit 3,8 vs. 11,7% signifikant (p=0,04) seltener auf. Der frühe Trend in Richtung niedrigerer Mortalität erreichte nach 1 Jahr Signifikanz. Ein neuere Metaanalyse unter Einschluss der REACT-Daten (Patel et al. 2006) zeigt eine 36%ige Reduktion der 30-Tages-Mortalität im Rescue-Arm (RR 0,64; 95%-Konfidenzintervall 0,41– 1,00, p=0,048) sowie eine eben nicht mehr signifikante 28%ige Risikoabsenkung für das Auftreten einer Herzinsuffizienz (RR 0,72; 95%-Konfidenz Intervall 0,51–1,01, p=0,06). Zusammenfassend senkt die Rescue-PCI nach Fibrinolyseversagen die Mortalitätsrate. 31.2.7 Besonderheiten bei Patienten mit großem
Zeitintervall seit Schmerzbeginn Ein größeres Zeitintervall zwischen Symptombeginn und stationärer Aufnahme ist assoziiert mit höherem Alter, weiblichem Geschlecht, Diabetes mellitus und einer erhöhten Herzfrequenz. Patienten mit ST-Hebungsinfarkt, bei denen nach Beginn der klinischen Symptomatik bereits ein großes Zeitintervall verstrichen ist, kommen für die Lysetherapie grundsätzlich nicht mehr in Frage. Bereits jenseits der 3 h-Grenze nach Symptombeginn zeigt die Lysetherapie eine geringere Wirksamkeit mit einem Anstieg der Krankenhausmortalität (MITRA-Register). Die Anzahl der Patienten, die behandelt werden müssen, um ein Leben zu retten, betragen 7, 12 bzw. >30 im Zeitfenster 0–3 h, 0–6 h bzw. 3–6 h. Nach 6 h ist kein Vorteil der Lysetherapie mehr zu erwarten. Diese Zeitabhängigkeit des Therapieerfolges existiert bei der kathetergestützten Reperfusionstherapie nicht. Die Krankenhausmortalität bleibt auch jenseits der 12-hGrenze bei 5%. Die BRAVE 2-Studie (Schömig et al. 2005) zeigte sogar bei innerhalb von 12–48 h nach Infarkt interventionell behandelten Patienten einen signifikanten Vorteil mit einer reduzierten residuellen Infarktgröße. In der ALKK-Studie (Zeymer et al. 2003) wurden 300 Patienten 7–28 Tage nach Infarkt konservativ oder interventionell behandelt. Der kombinierte 1-Jahres-Endpunkt (Tod, Reinfarkt, erneute Revaskularisation, Wiederaufnahme wegen Angina pectoris) verfehlte mit 10 vs. 18% zugunsten der späten Wiedereröffnung des Infarktgefäßes
423 31.3 · Myokardinfarkt ohne ST-Hebung und instabile Angina pectoris mit Risikomerkmal
(p=0,06) knapp die Signifikanz. Im Langzeitverlauf von im Mittel 56 Monaten konnte eine signifikant niedrigere Sterblichkeit in der PCI-Gruppe beobachtet werden (4 vs. 11%, p=0,03). Beim infarktbedingten kardiogenen Schock ist die interventionelle Infarktgefäßrevaskularisation auch nach 36 h noch mit einer Prognoseverbesserung verbunden (Hochmann et al. 1999). Derzeit prüfen weitere Studien, für welche Zeiträume jenseits der 24 h die späte Infarktgefäßrekanalisation noch einen Nutzen bringt. i Die Zeitabhängigkeit der Wirksamkeit der Lysetherapie hingegen ist von Bedeutung für die Erstversorger. Diese müssen wissen, dass sie jenseits der 6 h-Grenze in jedem Fall ein Katheterzentrum für die weitere Versorgung ansteuern müssen.
31.2.8 Stellenwert der chirurgischen
Revaskularisation beim akuten Myokardinfarkt Totz unbestrittener Fortschritte bezüglich Technik, Kardioplegie und Hypothermieverfahren kann die chirurgische Myokardrevaskularisation beim akuten Myokardinfarkt in der Regel nicht im gebotenen Zeitfenster realisiert werden. Deswegen werden kardiochirurgische Revaskularisationen primär nur bei gleichzeitigen Infarktkomplikationen in Betracht gezogen. Darüber hinaus gibt es Nischenindikationen: Die alternative operative Revaskularisation muss v. a. bei Schockpatienten mit 3-Gefäß-Erkrankung und bedeutsamer Mitralinsuffizienz in Betracht gezogen werden, da in dieser Subgruppe das Intrahospitalüberleben bei interventioneller Behandlung mit 18% besonders niedrig war (Bertrand et al. 2002; Bertrand u. McFadden 2003). In Einzelfällen führt eine risikoreiche Koronaranatomie (z. B. Haupstamm, Linksversorgungstyp) zur primär chirurgischen Revaskularisation. Interventionell behandelte STEMI-Patienten, die nach nicht erfolgreicher oder inkompletter Katheterrevaskularisation weiterhin eine bedeutsame Ischämie oder hämodynamische Instabilität aufweisen, können von der chirurgischen Revaskularisation profitieren. Da bei transmuralen Infarkten das Mortalitätsrisiko bei chirurgischer Revaskularisation in Abhängigkeit vom Zeitintervall Infarktbeginn bis Operation jenseits von 24 h von vorher 10% auf 3% erheblich absinkt (Lee et al. 2001), sind von der individuellen Situation abhängig Unterstützungsysteme und/oder Überbrückungsmaßnahmen im Katheterlabor (Culprit Vessel) zu berücksichtigen. Patienten, die im Rahmen eines akuten Infarktes notfallmäßig zur Bypassoperation kommen, haben ein intrahospitales Mortalitätsrisiko von 12–15%. 31.3
Myokardinfarkt ohne ST-Hebung und instabile Angina pectoris mit Risikomerkmalen
Aus therapeutisch-strategischen und prognostischen Gründen werden der Myokardinfarkt ohne ST-Hebung und die instabile Angina pectoris mit Risikomerkmalen zusammen abgehandelt. Während Patienten mit instabiler Angina pectoris ohne weitere Differenzierung ein sehr heterogenes Patientenkollektiv mit stark unterschiedlichem Risiko darstellen, liegen Risiko und Prognose der Patienten mit instabiler Angina mit gleichzeitig
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vorhandenen Risikomerkmalen sehr viel näher bei den Patienten mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt, und sie erfahren die gleiche therapeutische Strategie. Risikomerkmale entsprechend der Europäischen Leitlinien (nach Bertrand et al. (2002) 5 Wiederkehrende Ischämie (entweder erneute Angina pectoris oder dynamische ST-Segmentveränderungen oder auch transiente ST-Hebungen) 5 Instabile Angina pectoris früh nach einem (ersten) Infarkt 5 Hämodynamische Instabilität innerhalb der Beobachtungsperiode 5 Bedeutsame Herzrhythmusstörungen (repetitive ventrikuläre Tachykardien, Kammer flimmern) 5 Diabetes mellitus 5 EKG-Veränderungen, welche die verlässliche Erfassung von ST-Segmentveränderungen ausschließen
31.3.1 Generelle Behandlungsstrategie Auf der Basis zahlreicher randomisierter Studien gilt für instabile Patienten mit Risikomerkmalen und solche mit Nicht-STHebungsinfarkt die Empfehlung zur früh-invasiven Strategie mit dem Ziel der kathetergestützten oder chirurgischen Revaskularisation. Die Klasse-1-Empfehlung mit dem Evidenzgrad A schließt lediglich Patienten mit instabiler Angina pectoris ohne Risikomerkmale zunächst aus. Bei diesen Patienten ist ein primär konservatives, aber auch ein früh-invasives Vorgehen bei fehlenden Kontraindikationen für eine Revaskularisationsmaßnahme erlaubt. Metaanalysen mit Studien von 1996–2005 (Hoenig 2006; Metha et al. 2005) zeigen für die früh-invasive Strategie einen nichtsignifikanten Trend zur erhöhten Krankenhausmortalität bei signifikant gesenktem kombiniertem Endpunkt (Tod und Infarkt) zu allen intrahospitalen Zeitpunkten. Die Mortalität innerhalb der nächsten 2–5 Jahre ist mit der früh-invasiven Strategie ebenso signifikant abgesenkt wie das Auftreten einer erneuten Angina pectoris nach 4 bzw. 6–12 Monaten. Nicht ganz so gut in das Konzept der möglichst frühen Revaskularisation passen die Ergebnisse der ICTUS-Studie (De Winter et al. 2005), die bei instabilen Hochrisikopatienten eine früh-invasive interventionelle Behandlung gegenüber einer späteren nur selektiv interventionellen Behandlung untersuchte. Mit der früh-invasiven Strategie waren periinterventionelle Infarkte häufiger (15,0 vs. 10,0%, p=0,005), aber spätere Rehospitalisationen signifikant seltener (7,4 vs. 10%, p=0,04). Dieser sog. »early hazard« (durch die frühere Intervention) war auch in der älteren FRISC-II-Studie beobachtet worden, dann aber in den neueren Studien TACTICS und RITA 3 nicht mehr aufgetreten. Die Beseitigung des frühen Risikos wurde den besseren Kathetertechniken und einer effektiveren antithrombozytären Therapie zugeschrieben. Die hier nun wieder beobachtete relativ hohe Inzidenz von periinterventionellen Myokardinfarkten liegt zum einen an der relativ engen Infarktdefinition und den damit eingeschlossenen auch kleinsten Infarkten und an der systematischen, häufigen Messung der CK-MB-Werte. Zudem kam die Intervention auch in der selektiven Gruppe mit einem hohen
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Kapitel 31 · Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris
Prozentsatz von 54% zur Anwendung, womit eigentlich in dieser Studie eine frühe mit einer späteren Revaskularisation verglichen wurde. Letzlich wurde die frühe Intervention nicht wirklich früh, sondern im Median 23 h nach Randomisierung durchgeführt, womit gegenüber einer wirklich frühen Revaskularisation wesentliches Potenzial verspielt worden sein dürfte. Insgesamt kann man auch nach ICTUS entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie daran festhalten, dass Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Hebung mit Risikomerkmalen eine Intervention innerhalb von 6 h erhalten sollten. Ergänzend zu dieser Strategie konnte mittlerweile auch die Frage geklärt werden, ob eine präinterventionelle »Cooling-offPhase« mit verlängerter antithrombotischer Vorbehandlung bei instabilen Patienten einen Vorteil bringt. Eine 3- bis 5-tägige Vorbehandlung mit Heparin, Aspirin, Clopidogrel und Tirofiban über 24 h war der sofortigen Intervention innerhalb von 6 h nicht überlegen (Neuman et al. 2003). Es fand sich vielmehr eine signifikant erhöhte Komplikationsrate bei Verzögerungen der Katheterintervention, die auf Komplikationen während der Vorbereitungsphase beruhten. Diese Daten sprechen für eine möglichst frühe Katheterdiagnostik und Therapie.
Revaskularisation: Katheter oder Bypassoperation? Während bei akutem Myokardinfarkt mit ST-Hebungen die kardiochirurgische Revaskularisation ein Nischendasein fristet, erlaubt das Zeitfenster bei den Patienten mit NSTEMI und bei denen mit instabiler Angina pectoris mit Risikomerkmalen die Auswahl der jeweils individuell günstigsten Revaskularisationsmethode. Hier gelten im Prinzip die gleichen Kriterien wie bei den nicht instabilen Patienten. In die Entscheidungsfindung gehen mit ein: 4 Koronaranatomie, 4 Begleiterkrankungen, 4 Alter, 4 koronare Vorgeschichte des Patienten. 31.3.2 Präklinische Maßnahmen Die führende Symptomatik vor Ort sind der Thoraxschmerz bzw. die Angina pectoris in allen ihren Erscheinungsformen. Im 12-Kanal-EKG sind v. a. ST-Streckensenkungen wegweisend. Die ergänzende Enzymdiagnostik liegt in der Regel noch nicht vor. Risikomerkmale sind in der sorgfältigen Anamneseerhebung zu eruieren. Bei der extrahospitalen Erstversorgung gelten die gleichen Kriterien wie beim akuten ST-Hebungsinfarkt. Nach Legen eines größerlumigen intravenösen Zugangs erfolgt die Analgesie mit stark wirksamen Analgetika (10 mg Morphin-HCL mit physiologischer Kochsalzlösung auf 10 ml verdünnt, 5 mg initial i.v.). Bei starker Unruhe bewährt sich die Sedierung mit Midazolam (3–5 mg i.v.). Als primäre antianginöse Maßnahme erfolgen in Abhängigkeit von der Blutdrucksituation Nitroglycerin-Gaben (Nitrolingual-Spray, 0,4–0,8 mg sublingual; Cave: Viagra: dann ist Nitroglycerin kontraindiziert). Das Monitoring schließt das EKG und die Pulsoxymetrie ein. Die Sauerstoffgabe (4–8 l/min per Nasensonde) ist indiziert bei Zyanose, bei feuchten Rasselgeräuschen (RG) über der Lunge oder bei einer oxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigung von 92%.
Bei hohen Herzfrequenzen ist die E-Blockergabe (E-Blocker ohne intrinsische Eigenaktivität, z. B. Metoprolol 5–10 mg i.v.) unter Berücksichtigung der üblichen Kontraindikationen indiziert und ggf. zu wiederholen bis zu einer Herzfrequenz um 60/ min. Erhöhte Blutdruckwerte sind abzusenken auf Zielwerte um 120/80 mm Hg. Dies kann erfolgen mit fraktionierten Urapidil (Ebrantil)-Gaben (12,5 mg i.v., ggf. wiederholt). Als antithrombotische Maßnahmen vor Ort oder im Rettungswagen wird mit Aspirin (500 mg i.v.), Heparin (Bolus 5000 IE i.v.) und Clopidogrel (Aufsättigungsdosis von 8 Tbl. à 75 mg =600 mg) auch bereits die früh-invasive Strategie vorbereitet. Mit dieser gut verträglichen Dosis wird innerhalb von 2 h eine wirksame Thrombozyteninhibition erreicht. Eine thrombolytische Therapie ist bei Patienten mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt oder instabiler Angina pectoris mit Risikomarkern nicht indiziert. Auch bei dem Patientenkollektiv mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt/instabiler Angina pectoris mit Risikomarkern ist die Wahl der weiterversorgenden Klinik von Bedeutung. Die leitliniengerechte früh-invasive Strategie verlangt die Einweisung in ein Zentrum mit der Möglichkeit der invasiven Diagnostik und Therapie. Da das Zeitfenster bei diesen Patienten größer ist als bei Patienten mit ST-Hebungsinfarkt und weil die wesentlichen Elemente der Primärversorgung präklinisch realisiert werden können, sollte es in der Regel möglich sein, ein solches Zentrum anzusteuern. Wird der Patient in eine Klinik ohne Katheterlabor gebracht, so ist die Verlegung mit dem Nachweis positiver Herzmarker (Nicht-ST-Hebungsinfarkt) oder bei Vorliegen einer instabilen Angina pectoris mit Risikomerkmalen unverzüglich vorzunehmen.
Klinische Maßnahmen Basismaßnahmen Bei Aufnahme des Patienten auf der Über wachungsstation/Intensivstation erfolgt unverzüglich die erste Blutabnahme für die Basiswerte sowie zur Bestimmung der Herzmarker, wobei das Ergebnis innerhalb von 60 min vorliegen sollte (bei negativem erstem Markerergebnis erfolgt eine nächste Laborkontrolle nach mindestens 4 h (Hamm et al. 1997). Des Weiteren wird ein 12-Kanal-EGK geschrieben und (falls verfügbar) ein Echokardiogramm durchgeführt. Die medikamentösen Maßnahmen werden in Abhängigkeit von der Erstversorgung ergänzt. Das Monitoring umfasst das EKG, die nicht-invasive Blutdruckmessung und die Pulsoxymetrie. Ergänzende therapeutische Maßnahmen richten sich nach der Entwicklung des klinischen Bildes (z. B. Linksinsuffizienz, Rhythmusstörungen, hämodynamische Instabilität; im Einzelnen s. oben bei ST-Hebungsinfarkt).
Kathetervorbereitung Die Aufklärung zur Katheterdiagnostik muss situationsgerecht die therapeutische Konsequenz der Dilatation und Stentimplantation beinhalten. Bei Kontrastmittelallergien wird mit Kortison (250 mg Solu Decortin i.v.) und mit Antihistaminika (Fenistil 1 ml/10 kg KG) vorbehandelt. Bei den präinterventionell zu kontrollierenden Laborwerten sind die Parameter für Nierenfunktion, Schilddrüsenstoffwechsel (inkl. basalem TSH), Elektrolyte und Gerinnungsparameter von besonderer Bedeutung. Bei stark eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin >2,0 mg/dl; Clearence >30%) ist eine gute Hydratation erforderlich, wenn die Si-
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tuation eine entsprechende Verzögerung der Diagnostik erlaubt. Im Falle einer hyperthyreoten Stoffwechsellage muss die Jodaufnahme vor der Kontrastmittelgabe durch Kaliumperchlorat blockiert werden. Marcumarisierte Patienten können alternativ via A. radialis sicher untersucht werden. Für den Judkins-Zugang sollte der INR bei 1,8 liegen. In Abhängigkeit vom Koronarangiographieergebnis und der Wahl der Revaskularisationsmethode wird bei den Patienten mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt vor Beginn der Katheterintervention die Behandlung mit dem Glykoproteinrezeptorblocker Abciximab empfohlen. In der ISAR React-2-Studie reduzierte die zusätzliche Abciximab-Therapie die Inzidenz des kombinierten primären Endpunktes (Tod, Infarkt, Revaskularisation innerhalb von 30 Tagen) signifikant (p=0,03) von 11,9 auf 8,9% (Kastrati et al. 2006). Eine Alternative zu Heparin/Abciximab besteht möglicherweise in der Gabe von Bivalirudin. In der ACUITY-Studie (Präsentation ACC 2006) gab es zwischen Heparin mit GP IIb/ IIIa-Antagonist und Bivalirudin keine signifikanten Unterschiede im primären kombinierten Endpunkt, aber mit Bivalirudin signifikant weniger Blutungen als mit dem kombinierten Einsatz von Heparin und GP IIb/IIIa-Antagonist.
Postinterventionelle Übernahme, Nachsorge, Sekundärprävention Auch der frühzeitig revaskularisierte Patient mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt bedarf der weiteren Überwachung. Zum einen sind postinterventionelle Leistenkomplikationen unter der ggf. maximal intensivierten Gerinnungstherapie häufiger als bei elektiven interventionellen Prozeduren. Die begonnene Gerinnungstherapie wird hier weitergeführt und überwacht. Die Dauer des Aufenthaltes auf der Intensivstation richtet sich nach den periinterventionellen Besonderheiten sowie nach dem Vorhandensein bedeutender Begleiterkrankungen. Patienten mit unkomplizierten Verläufen können spätestens am Folgetag auf Normalstation verlegt werden. Für die Sekundärprävention gilt das beim Patienten mit STHebungsinfarkt Gesagte (7 s. oben). Wenngleich in einer Metaanalyse mit der frühen Lipidintervention in Rahmen akuter Koronarsyndrome innerhalb der folgenden 4 Monate keine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse (Tod, Infarkt, Schlaganfall) gesehen wurde (Briel et al. 2006), so ist dennoch bei früher Verordnung bereits während des Klinikaufenthaltes über eine bessere Patientenmitarbeit mit einer nachgewiesen höheren Rate der Medikamentenverfügbarkeit das Sekundärpräventionsziel langfristig sichergestellt (Fonarow et al. 2001). So beinhalten die ACC/AHA-Leitlinien als Klasse-IIa-Empfehlung mit dem Evidenzgrad B die Aufnahme einer Therapie mit CSEHemmern (und entsprechender Diät) bei LDL-Cholesterinwerten von >100 mg/dl innerhalb von 24–96 h nach Krankenhauseinweisung mit der Fortsetzung der Therapie nach Entlassung. 31.3.3 Instabile Angina pectoris ohne
Risikomerkmale Bei wiederholt unauffälligen EKG-Kontrollen und negativen Herzmarkern sowie fehlenden Risikoindikatoren gehören die Patienten in die Gruppe »Patienten mit instabiler Angina pectoris ohne Risikomarker«. Eine intensivmedizinische Betreuung ist nicht erforderlich. Bei diesen Patienten kann eine primär konservative Strategie betrieben werden, wobei dann die Indikation
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zur invasiven Diagnostik abhängig gemacht wird vom Ergebnis funktionsdiagnostischer Prüfungen (Belastungs-EKG, StressEchokardiogramm, Myokardszintigramm). Mit gleich starker Empfehlung und Evidenzgrad kann hospitalisierten Patienten die früh-invasive Strategie angeboten werden, wenn für evtl. resultierende Revaskularisationsmaßnahmen keine Kontraindikationen vorliegen. Bei der Abwägung der Behandlungspfade ist zu berücksichtigen, dass der früh-invasiv diagnostische Weg bei diesen Patienten nicht gleichbedeutend ist mit früh-invasiver Therapie. i Die diagnostische Koronarangiographie selbst kann in diesem heterogenen und teilweise schwer beurteilbaren Patientenkollektiv mit niedrigem Risiko als Instrument zur Risikostratifizierung eingesetzt werden, insbesondere, wenn wiederholt atypische Beschwerden vorliegen und wenn funktionsdiagnostische Tests nicht eindeutig sind.
Letzlich führt die frühe Koronarangiographie zu kürzeren stationären Aufenthalten und erlaubt eine definitve Beantwortung der Frage, welche sekundärpräventiven Maßnahmen einzuleiten sind.
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428
31
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32 Herzrhythmusstörungen H.-J. Trappe
32.1
Einleitung
–430
32.2
Pathophysiologische Grundlagen
32.2.1 32.2.2
Bradykarde Herzrhythmusstörungen –430 Tachykarde Herzrhythmusstörungen –430
32.3
Wegweisende Befunde und diagnostische Maßnahmen
32.3.1 32.3.2 32.3.3
Klinische Parameter –430 Allgemeine Diagnostik –431 Differenzialdiagnostik bradykarder und tachykarder Rhythmusstörungen im Oberflächen-EKG –432
32.4
Klinik und Therapie bradykarder Herzrhythmusstörungen
32.4.1 32.4.2 32.4.3
Sinusbradykardien –432 Sinuatriale Blockierungen –432 Atrioventrikuläre Blockierungen –433
32.5
Klinik und Therapie tachykarder Herzrhythmusstörungen
32.6
Supraventrikuläre Tachyarrhythmien
32.6.1 32.6.2 32.6.3 32.6.4 32.6.5 32.6.6
Vorhofflimmern –433 Vorhofflattern –434 Sinustachykardien –435 AV-Knoten-Reentry-Tachykardien –435 Ektop atriale Tachykardien –436 Akzessorische Leitungsbahnen –437
32.7
Ventrikuläre Tachyarrhythmien
32.7.1 32.7.2 32.7.3 32.7.4 32.7.5
Inzidenz und Pathogenese ventrikulärer Tachykardien –439 Monomorphe ventrikuläre Tachykardien –439 Polymorphe ventrikuläre Tachykardien –440 Torsade-de-pointes-Tachykardien –441 Kammerflattern und Kammerflimmern –441
32.8
Schlussfolgerungen Literatur –442
–442
–430
–433
–439
–430
–432
–433
32
430
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
32.1
Einleitung
Die Behandlung von Patienten mit Herzrhythmusstörungen ist vielfach schwierig und stellt den Arzt häufig vor große Probleme. Neben der Frage, ob eine Arrhythmie überhaupt behandelt werden soll, muss entschieden werden, welches der zur Verfügung stehenden therapeutischen Verfahren für den Patienten am günstigsten ist. Weiterhin müssen Nutzen bzw. Risiken einer Therapie sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Es ist gesichert, dass Herzrhythmusstörungen zu allermeist nicht als eigenständige Erkrankungen aufzufassen sind, sondern bei zahlreichen kardialen und extrakardialen Erkrankungen sowie bei Elektrolytstörungen auftreten können [8]. Supraventrikuläre Arrhythmien sind in der Regel prognostisch günstig, während ventrikuläre Rhythmusstörungen besonders bei Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion lebensbedrohlich sein können; v. a. dem Schweregrad der Herzinsuffizienz und dem Ausmaß der linksventrikulären Funktionsstörung kommen als prognostische Parameter entscheidende Bedeutung zu [19]. Der plötzliche Tod durch einen Herz-Kreislauf-Stillstand ist als schwerwiegendste Form einer Herzrhythmusstörung nicht durch einzelne Parameter bedingt, sondern vielmehr als multifaktorielles Geschehen aufzufassen [22]. In der Bundesrepublik Deutschland erliegen etwa 100 000 Patienten pro Jahr einem Herz-Kreislauf-Stillstand, der in 65–80 % der Fälle durch eine tachykarde Rhythmusstörung hervorgerufen wird. Bradykardien spielen als ursächlicher Faktor eines Herz-Kreislauf-Stillstands bei Erwachsenen eher eine untergeordnete Rolle und werden in 5–20 % der Patienten beobachtet [16]. 32.2
Pathophysiologische Grundlagen
32.2.1 Bradykarde Herzrhythmusstörungen Eine Unterdrückung der dominanten Schrittmacheraktivität im Sinusknoten oder eine Beeinflussung der Weiterleitung der im Sinusknoten gebildeten Impulse führt zu Erregungsbildungs- oder Erregungsleitungsstörungen und damit zu bradykarden Arrhythmien. Die Leitung der gebildeten Impulse kann vollständig unterbrochen sein, sodass die Ventrikel von einem Schrittmacher im His-Purkinje-System aktiviert werden, oder sie ist nur partiell beeinträchtigt, sodass die Schrittmacheraktivität des Sinusknotens weiter, wenn auch in veränderter Form, führend ist. 32.2.2 Tachykarde Herzrhythmusstörungen Als Mechanismen tachykarder Rhythmusstörungen sind die folgenden 3 elektrophysiologischen Phänomene bekannt [4]: 4 gesteigerte und abnorme Automatie, 4 getriggerte Aktivität, 4 kreisförmige Erregungen (»Reentry«) entlang anatomischer Bahnen oder funktioneller Hindernisse.
Gesteigerte und abnorme Automatie Bei der gesteigerten und abnormen Automatie handelt es sich um eine Erregungsbildungsstörung, die durch Verlust eines stabilen Ruhememembranpotenzials mit Veränderung transmembranärer Ionenströme entsteht. Es kommt zu einer Abnahme
des Ruhemembranpotenzials auf Werte um –50 mV und einer konsekutiven Inaktivierung des schnellen Natriumeinwärtsstromes. Die Depolarisation wird stattdessen durch den »slow calcium channel« getragen. Abnorme Automatiezentren können in jedem beliebigen Myokardareal entstehen [27].
Getriggerte Aktivität Im Gegensatz zur abnormen Automatie besteht bei der getriggerten Aktivität keine Möglichkeit der spontanen Arrhythmieentwicklung, sondern die getriggerte Aktivität ist immer von der vorausgehenden Erregung abhängig [9]. Als eigentliche Auslöser der Erregungen wirken depolarisierende Nachpotenziale, die im Anschluss an ein Aktionspotenzial entstehen (»afterdepolarizations«). Diese können bereits in der Repolarisationsphase eines Aktionspotenzials auftreten (»early afterdepolarizations«) oder einem Aktionspotenzial folgen (»late afterdepolarizations«). Frühe Nachdepolarisationen entstehen v. a. aufgrund einer abnormen Verlängerung der Aktionspotenzialdauer, z. B. durch Medikamente oder durch Hypokaliämie. Fassbare Zeichen einer Verlängerung der Aktionspotenzialdauer ist eine Verlängerung der QT-Zeit. Späte Nachdepolarisationen schließen sich an ein Aktionspotenzial an und können, bedingt durch Erhöhung der intrazellulären Kalziumkonzentration, zu ektoper Aktivität führen, etwa bei Überdosierung von Herzglykosiden [4].
Kreisende Erregung (»Reentry«) Die kreisende Erregung (»Reentry«) ist sicher der häufigste Mechanismus tachykarder Rhythmusstörungen. Voraussetzung für einen Reentry-Mechanismus ist eine Leitungsverzögerung mit unidirektionaler Leitung und Wiedereintritt eines Impulses in das Gewebe. Für das Zustandekommen einer Tachykardie müssen beide Voraussetzungen, Verkürzung der Erregungswelle und inhomogene Erregbarkeit erfüllt sein [27]. Klassische Beispiele für Reentry-Mechanismen sind Tachykardien aufgrund akzessorischer Leitungsbahnen (Wolff-Parkinson-White Syndrom) oder AV-Knoten-Reentry-Tachykardien. Nach heutiger Vorstellung liegen auch dem Vorhofflattern und Vorhofflimmern kreisförmige Erregungen zugrunde [9]. 32.3
Wegweisende Befunde und diagnostische Maßnahmen
32.3.1 Klinische Parameter Die Symptome von Patienten mit Herzrhythmusstörungen reichen vom asymptomatischen Patienten bis hin zum Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand als schwerwiegendster Form einer malignen Herzrhythmusstörung [17]. Bradykarde Rhythmusstörungen sind häufig asymptomatisch, können aber auch mit Phasen von Schwindel, Präsynkopen oder Synkopen einhergehen. Tachykardien werden demgegenüber in der Regel vom Patienten sofort registriert und meistens als bedrohlich empfunden. Sie können paroxysmal auftreten, wenige Sekunden bis zu Stunden anhalten oder als Dauertachykardie (»unaufhörliche«, »incessant« Tachykardie) mit mehr als 50 % Tachykardiezyklen pro Tag imponieren. Sie können plötzlich beginnen und plötzlich enden oder einen langsamen Anfang und ein langsames Ende haben. Wichtige klinische Hinweise auf den vorliegenden Arrhythmietyp finden sich v. a. bei supraventrikulären und ventrikulären
431 32.3 · Wegweisende Befunde und diagnostische Maßnahmen
32
. Tabelle 32.1. Klinische Zeichen zur Differenzialdiagnose supraventrikulärer und ventrikulärer Tachyarrhythmien. (Mod. nach [23]) Tachykardie
Puls
Halsvenen
Blutdruck
1. HT
Sinustachykardie
– regelmäßig
– unauffällig
– konstant
– konstant
Atriale Tachykardie
– regelmäßig
– unauffällig
– konstant
– konstant
VH-Flattern (2: 1-ÜL)
– regelmäßig
– Flatterwellen
– konstant
– konstant
VH-Flattern (unregelmäßige ÜL)
– unregelmäßig
– unregelmäßig
– wechselnd
– wechselnd
Vorhofflimmern
– unregelmäßig
– unregelmäßig
– wechselnd
– wechselnd
AVNRT
– regelmäßig
»Froschzeichen«
– konstant
– wechselnd
CMT bei ALB
– regelmäßig
»Froschzeichen«
– konstant
– wechselnd
Ventrikuläre Tachykardie
– regelmäßig
– unregelmäßig
– wechselnd
– wechselnd
ALB akzessorische Leitungsbahn, AVNRT AV-Knoten-Reentry-Tachykardie, CMT »Circus movement tachycardia«, HT Herzton, VH Vorhof, ÜL Überleitung.
Tachykardien, während »klassische«, klinisch wegweisende Befunde bei bradykarden Rhythmusstörungen fehlen (. Tab. 32.1). Bei Patienten mit tachykarden Rhythmusstörungen sind Tachykardiefrequenz, Vorliegen eines regelmäßigen oder unregelmäßigen Pulses und charakteristische Befunde im Bereich der Halsvenen wichtig und erlauben in vielen Fällen bereits eine klinische Diagnose der vorliegenden Arrhythmieform. Klinische Phänomene wie z. B. das »Froschzeichen«, das als »Propfung« im Bereich der Halsvenen durch simultane Kontraktionen von Vorhof und Kammern beobachtet wird, sind wegweisend für die Diagnose einer AV-Knoten-Reentry- bzw. »Circus-movement-Tachykardie« bei Vorliegen einer akzessorischen Leitungsbahn. Bei ventrikulären Tachykardien sind Zeichen einer AV-Dissoziation mit irregulären Vorhofwellen im Bereich der Halsvenen, unterschiedlichen Intensitäten des 1. Herztons und unterschiedlichen systolischen Blutdruckamplituden bei ca. 50 % der Patienten nachzuweisen [23]. i Die klinische Symptomatik wird neben der Herzfrequenz v. a. von der Grunderkrankung und der Pumpfunktion des Herzens bestimmt.
Während supraventrikuläre Tachykardien überwiegend beim Herzgesunden vorkommen, in der Regel gut toleriert werden und meistens nicht mit schweren hämodynamischen Beeinträchtigungen einhergehen, sind ventrikuläre Tachykardien häufiger bei Patienten mit kardialer Grunderkrankung zu beobachten, werden oft schlecht toleriert und gehen mit Zeichen eines verminderten Herzzeitvolumens (Angst, Unruhe, Schweißausbruch, Hypotonie) einher. 32.3.2 Allgemeine Diagnostik Von entscheidender Bedeutung in der Diagnostik bradykarder und tachykarder Rhythmusstörungen ist neben einer genauen Erhebung der Anamnese sowie des körperlichen Untersuchungsbefundes (Herz-Lungen-Auskultation, Pulsqualitäten, Blutdruck, Herzinsuffizienzzeichen, Pulsdefizit) v. a. das 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramm, das bei systematischer Analyse und Interpretation in >90 % zur richtigen Diagnose führt. Die
. Tabelle 32.2. Diagnostikschema bei Patienten mit bradykarden und tachykarden Herzrhythmusstörungen Erhebung der Vorgeschichte 4 Symptomatik vor und/oder während der Rhythmusstörung 4 Häufigkeit der Arrhythmieepisoden 4 Beginn der ersten Symptome (erstes Auftreten) Körperliche Untersuchung Laboruntersuchungen Nichtinvasive Untersuchungen 4 12-Kanal-Oberflächen-EKG 4 24-h-Langzeit-EKG 4 Belastungs-EKG 4 Signalmittelungs-EKG 4 Herzfrequenzvariabilität 4 Echokardiographie (transthorakal und transösophageal) Invasive Untersuchungen 4 Herzkatheteruntersuchung – Angiographie – Koronarangiographie 4 Elektrophysiologische Untersuchung – programmierte Stimulation – Kathetermapping
tägliche Praxis zeigt jedoch, dass die Differenzialdiagnose von Herzrhythmusstörungen oft schwierig ist und relativ häufig Fehldiagnosen beobachtet werden [16]. Eine falsche Diagnose und eine daraufhin eingeleitete inadäquate Therapie können zu einer ernsten Gefährdung des Patienten bis hin zur Kreislaufdekompensation und Reanimationspflichtigkeit führen. Es ist daher unumgänglich, bei Patienten mit Rhythmusstörungen aus anamnestischen, klinischen und nichtinvasiven Untersuchungsbefunden ein detailliertes »Risikoprofil« zu erstellen und bei speziellen Fragestellungen zusätzliche Maßnahmen wie linksventrikuläre Angiographie, Koronarangiographie und eine elektrophysiologische Untersuchung heranzuziehen (. Tab. 32.2).
432
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
. Tabelle 32.3. Differenzialdiagnose von Tachykardien mit breitem QRS-Komplex (QRS-Breite ≥0,12 s). (Mod. nach [23]) 1. AV-Dissoziation
Ja
→ VT
2. Breite des QRS-Komplexes
>0,14 s Beachte: a) SVT bei vorbestehendem SBB b) SVT mit anterograder Leitung über ALB
→ VT
→ VT
3. Linkstypische Achse des QRS-Komplexes Beachte: a) SVT bei vorbestehendem SBB b) SVT mit anterograder Leitung über ALB 4. Morphologie des QRS-Komplexes 4 RSBB 4 LSBB
32
→ VT → VT → SVT → VT → VT → VT
V1: mono-/biphasisch V6: R/S <1 V1: R (Tachy) R (Sinus) V1/2: »Kerbe« (S-Zacke) V6: qR-Konfiguration
ALB akzessorische Leitungsbahn, AV Atrioventrikulär, LSBB Linksschenkelblockbild, RSBB Rechtsschenkelblockbild, SBB Schenkelblockbild, SVT supraventrikuläre Tachykardie, Tachy Tachykardie, VT ventrikuläre Tachykardie.
32.3.3 Differenzialdiagnostik bradykarder
und tachykarder Rhythmusstörungen im Ober flächen-EKG Es hat sich bewährt, Herzrhythmusstörungen im OberflächenEKG systematisch zu analysieren und jede einzelne Herzaktion (P-Wellen, PQ-Zeit, QRS-Komplex, ST-Strecke, QT-Zeit) zu befunden und zu beurteilen [14]. Während bei bradykarden Rhythmusstörungen v. a. die exakte Beurteilung von Leitungszeiten und Korrelationen von P-Welle und QRS-Komplex wichtig ist, hat es sich bei Tachykardien als günstig erwiesen, solche mit schmalem QRS-Komplex (QRS-Dauer <0,12 s) Tachykardien mit breitem QRS-Komplex (Dauer t0,12 s) gegenüberzustellen. Bei Tachykardien mit schmalem QRS-Komplex ist anhand der Beziehung von Morphologie und Relation der P-Welle zum QRS-Komplex vielfach schon die sichere Diagnose der vorliegenden Rhythmusstörung möglich. Das 12-Kanal-OberflächenEKG erlaubt auch bei breiten QRS-Komplex-Tachykardien (. Tab. 32.3) eine sichere Abgrenzung von supraventrikulären und ventrikulären Tachykardien und ermöglicht eine richtige Diagnose, die zu der für den Patienten adäquaten notfallmäßigen Behandlung führen sollte. 32.4
Klinik und Therapie bradykarder Herzrhythmusstörungen
Bradykarde Rhythmusstörungen werden durch Veränderungen im Bereich des Sinusknotens, der sinuatrialen Überleitung und im AV-Knoten verursacht, werden aber auch bei Überdosierungen von Medikamenten (Digitalis, E-Blocker, Kalziumantagonisten vom Verapamiltyp, spezifische Antiarrhythmika) beobachtet. Notfallmäßig spielen bradykarde Arrhythmien, bedingt durch Erregungsbildungs- oder Erregungsleitungsstörungen besonders in der Akutphase eines Myokardinfarktes eine wichtige Rolle und sollten nicht nur unverzüglich erkannt, sondern auch folgerichtig behandelt werden [11].
32.4.1 Sinusbradykardien Die Sinusbradykardie ist durch einen regulären Sinusrhythmus mit Frequenzen von <60/min und einer regulären atrioventrikulären Überleitung charakterisiert. Sie wird in der Regel bei Athleten, während des Schlafes oder bei Patienten mit Digitalistherapie, E-Blockern, Hypothyreose oder Hypothermie beobachtet. Bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt, besonders in den ersten Stunden eines frischen inferioren Infarktes, wird eine Sinusbradykardie in bis zu 40 % der Fälle beobachtet und ist meistens Ausdruck eines gesteigerten Vagotonus. In den meisten Fällen sind Patienten mit Sinusbradykardien symptomfrei, und eine spezifische Therapie ist nicht notwendig. Liegt allerdings eine symptomatische Sinusbradykardie vor, besonders in der Akutphase eines Myokardinfarktes, ist häufig eine Behandlung mit Atropin (Bolus 0,5 mg i.v., nach Bedarf wiederholen) notwendig. Bei schwerer Symptomatik kann die Sinusfrequenz auch mit Orciprenalin (0,05–0,5 mg i.v.) oder Adrenalin (Bolus 2–10 Pg i.v.) angehoben werden. Die Implantation eines permanenten Schrittmachersystems ist nur in seltenen Fällen gerechtfertigt, während die temporäre Stimulation bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt häufiger angewendet wird, wenn eine Behandlung mit Atropin nicht sinnvoll oder erfolgreich ist [11,13]. 32.4.2 Sinuatriale Blockierungen Sinuatriale Leitungsstörungen oder ein Sinusarrest sind bedingt durch Störungen der Erregungsleitung und/oder der Erregungsbildung. Elektrokardiographisch ist das Fehlen von P-Wellen bei charakteristischen PP-Intervallen für die Diagnose eines sinuatrialen Blocks (SA-Block) typisch [14]. Beim SA-Block III. Grades ist die Überleitung der Erregung vom Sinusknoten auf das umliegende atriale Gewebe komplett unterbrochen. P-Wellen sind hier nicht sichtbar, während ein Sinusarrest durch fehlende Impulsbildung im Sinusknoten gekennzeichnet ist und im EKG mit junktionalen Ersatzrhythmen einhergeht.
433 32.6 · Supraventrikuläre Tachyarrhythmien
32
Sinuatriale Blockierungen und/oder ein Sinusarrest werden relativ selten beobachtet und kommen in einer Häufigkeit von etwa 2–5 % bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt vor, besonders bei inferiorer Infarktlokalisation. Sinuatriale Leitungsstörungen sind meist nur passager, sprechen gut auf Atropin (Bolus 0,5 mg i.v., nach Bedarf wiederholen), Orciprenalin (0,05–0,5 mg i.v.) oder Adrenalin (2–10 Pg i.v.) an und haben eine gute Prognose. Kommt es allerdings zu einem anhaltenden Sinusarrest oder zu höhergradigen sinuatrialen Blockierungen ohne ausreichende Ersatzrhythmen, kann eine passagere Schrittmacherstimulation erforderlich sein, deren Indikation neben dem elektrokardiographischen Befund v. a. vom klinischen Bild gestellt wird. 32.4.3 Atrioventrikuläre Blockierungen Blockierungen im Bereich des AV-Knotens werden traditionsgemäß eingeteilt in AV-Blockierungen I., II. und III. Grades. Die Diagnose eines AV-Blocks ist aus dem Oberflächen-EKG relativ einfach zu stellen [14]. Während die Überleitungsstörungen beim AV-Block II. Grades vom Wenckebach-Typ in der Regel im AV-Knoten selbst lokalisiert sind, findet man beim AV-Block II. Grades vom Typ Mobitz die Lokalisation der Blockierung subnodal oder im Bereich des His-Bündels. Ein AV-Block III. Grades ist durch eine komplette Unterbrechung der Erregungsleitung zwischen Vorhöfen und Kammern charakterisiert. AV-Blockierungen können besonders bei akuten Myokardinfarkten (meistens bei inferiorer Lokalisation), bei Patienten unter Digitalistherapie, nach Herzoperationen oder bei Erkrankungen, die zu einer Fibrosierung im Bereich des AV-Knotens führen, beobachtet werden. Die klinische Symptomatik variiert bei AVBlockierungen sehr und ist neben der Art der Blockierung v. a. von der Frequenz der Kammeraktion und/oder des Ersatzzentrums abhängig.
Therapie i Während beim AV-Block I. Grades in der Regel keine Therapie notwendig ist, sieht man einmal vom Absetzen oder einer Dosisreduktion dromotrop wirkender Medikamente ab, sind Patienten mit höhergradigen AV-Blockierungen Kandidaten für eine temporäre oder permanente Schrittmacherstimulation.
Während beim AV-Block II. Grades vom Typ Wenckebach häufig die engmaschige Beobachtung des Patienten ausreicht, sind Patienten mit AV-Blockierungen II. Grades vom Typ Mobitz bei klinischer Symptomatik (Schwindel, Synkopen) Kandidaten zur Schrittmacherimplantation, zumal bei diesen Patienten oft eine Progression des AV-Blocks II. Grades in einen kompletten Block zu beobachten ist [11]. Bei AV-Blockierungen II. oder III. Grades, die im Rahmen inferiorer Infarkte auftreten, ist die Blockierung oft nur passager, sodass häufig eine temporäre Schrittmachstimulation ausreicht. Daher sollte die Implantation eines permanenten Schrittmachersystems bei permanenten höhergradigen AV-Blockierungen (II. Grades und III. Grades) und klinischer Symptomatik frühestens nach 10 Tagen diskutiert werden, während die Indikation zur Schrittmacherimplantation beim AV-Block II. Grades oder III. Grades bei Vorder wandinfarkt eher zu stellen ist [11, 13].
. Abb. 32.1. Formen supraventrikulärer und ventrikulärer Tachyarrhythmien, die zu lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen führen können. Abkürzungen: ALB akzessorische Leitungsbahn, AVN AV-Knoten, His HisBündel, LA linker Vorhof, LV linker Ventrikel, RA rechter Vorhof, RV rechter Ventrikel, SK Sinusknoten. Ziffern: 1 Sinustachykardien, 2 Vorhofflimmern, 3 Vorhofflattern, 4 AV-Knoten-Reentry-Tachykardien, 5 ektop atriale Tachykardien, 6 »Circus-movement-Tachykardien« bei ALB, 7 ventrikuläre Tachykardien, 8 Kammer flattern/Kammer flimmern
32.5
Klinik und Therapie tachykarder Herzrhythmusstörungen
Das Auftreten von tachykarden Herzrhythmusstörungen ist in der Intensivmedizin meist ein schwerwiegender Befund, der rasch gezielte diagnostische und therapeutische Maßnahmen erfordert [26]. Es ist gesichert, dass tachykarde Rhythmusstörungen nicht als eigenständige Erkrankungen aufzufassen sind, sondern bei zahlreichen kardialen und extrakardialen Krankheiten sowie bei Elektrolytstörungen auftreten können. Tachykarden Rhythmusstörungen können verschiedene supraventrikuläre und ventrikuläre Formen und Mechanismen zugrunde liegen (. Abb. 32.1). Lebensbedrohliche Situationen werden v. a. durch tachykarde ventrikuläre Rhythmusstörungen hervorgerufen, wenngleich unter bestimmten Bedingungen (Vorhofflimmern bei akzessorischer Leitungsbahn) auch supraventrikuläre Tachyarrhythmien das Leben eines Patienten bedrohen können [1, 2]. Klinik und Therapie der supraventrikulären und ventrikulären Herzrhythmusstörungen werden im Folgenden der besseren Übersicht wegen getrennt dargestellt. 32.6
Supraventrikuläre Tachyarrhythmien
32.6.1 Vorhofflim ffl mern Vorhofflimmern ist die häufigste Rhythmusstörung im Erwachsenenalter, hat eine Inzidenz von etwa 0,4 %, und ist in der Regel eine relativ harmlose Rhythmusstörung. Vorhofflimmern kann aber zu einer hämodynamischen Beeinträchtigung und sogar zum Herz-Kreislauf-Stillstand führen, wenn es zu einer schnellen Kammerüberleitung mit deutlichem Abfall des Herzzeitvolumens und reduzierter diastolischer Ventrikelfüllung kommt (. Abb. 32.2). Die Symptomatik ist primär von der Tachykardiefrequenz abhängig, die durch die Leitungseigenschaften im AV-Knoten be-
434
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
Frequenzkontrolle. Neben der Konversion zum Sinusrhythmus
ist die pharmakologische Frequenzkontrolle ein therapeutisches Ziel bei chronischem Vorhofflimmern mit tachykarder Überleitung: Hier haben sich Digitalis (0,5 mg Digoxin i.v., weitere 0,25 mg nach 30 min i.v.), Kalziumantagonisten vom Verapamiltyp (5–10 mg i.v.) bzw. Diltiazem (20 mg i.v.) oder β-Blocker [Propranolol (1–5 mg i. v., Dauertherapie 10–120 mg pro Tag p.o.), Esmolol (0,5 mg/kg KG über 1 min i. v., Dauerinfusion 0,05–0,2 mg/kg KG/min i. v.)] allein oder in Kombination bewährt [2]. 32.6.2 Vorhofflattern
32
. Abb. 32.2. Langzeit-EKG-Registrierung mit Nachweis deformierter Kammerkomplexe infolge schnell übergeleiteter aberranter atrioventrikulärer Überleitung bei bestehendem Vorhofflimmern (Kammer frequenz 219/min)
stimmt wird; Art und Ausmaß der kardialen Grunderkrankung und der linksventrikulären Funktion sind weitere Determinanten der Symptomatik und sogar lebensbedrohliche Zustände, verbunden mit schwerer Herzinsuffizienz, Lungenödem und Synkopen sind bei tachykardem Vorhofflimmern beschrieben worden [12]. Neben den pathophysiologischen Mechanismen eines reduzierten Herzzeitvolumens ist zu bedenken, dass bei Vorhofflimmern mit schneller atrioventrikulärer Überleitung ein Missverhältnis von O2-Angebot und O2-Verbrauch vorliegt, das mit einem verminderten diastolischen Koronarfluss und allen sich daraus ergebenden Folgen einhergeht.
Therapie Die therapeutischen Ziele der Behandlung des tachykarden Vorhofflimmerns liegen entweder in der Beendigung der Arrhythmie und in der Wiederherstellung eines Sinusrhythmus oder in der Frequenzkontrolle bei chronischem Vorhofflimmern [2, 5, 10]. Rhythmisierung. Bei neu aufgetretem Vorhofflimmern und hä-
modynamisch stabiler Situation ist eine elektrische Kardioversion innerhalb von 48 h anzustreben, die ohne vorherige Antikoagulation erfolgen kann. Besteht das Vorhofflimmern jedoch länger als 48 h, sollte eine medikamentöse oder elektrische Kardioversion mittels DC-Schock erst nach einer 3-wöchigen effektiven Antikoagulation, z. B. mit Warfarin, erfolgen [2]. Nach erfolgreicher Kardioversion müssen die Patienten dann für weitere 6 Wochen antikoaguliert werden, bis sich die mechanische Aktivität der Vorhöfe wieder normalisiert hat [12]. Ob die Patienten dauerhaft antikoaguliert werden müssen oder nicht, richtet sich besonders nach dem Alter und der kardialen Grunderkrankung. Es besteht jedoch heute Übereinstimmung, dass aufgrund des Risikos thromboembolischer Komplikationen in der Regel alle Patienten mit Vorhofflimmern antikoaguliert werden sollten, abgesehen von Patienten mit Vorhofflimmern ohne kardiale Grundkrankeit (»lone atrial fibrillation«) [2].
Vorhofflattern ist eine Rhythmusstörung, der Reentry-Mechanismen zugrunde liegen und die wesentlich seltener vorkommt als Vorhofflimmern [27]. Vorhofflattern wird als »gewöhnliche« Form (»common type«) definiert, wenn Vorhoffrequenzen von t240/min (Typ I, Frequenz der Flatterwellen 240–340/min) und elektrokardiographisch negative Flatterwellen in den inferioren EKG-Ableitungen II, III und aVF vorliegen, während die »ungewöhnliche« Form (»uncommon type«) durch positive Flatterwellen in den entsprechenden EKG-Ableitungen mit einer Frequenz der Flatterwellen t350/min (Typ II) charakterisiert wird [14]. Trotz hoher Vorhofflatter-Frequenzen von t240/ minliegt die typische Kammerfrequenz bei 130–150/ min, da es im AVKnoten zu einer Leitungsverzögerung mit 2:1-Überleitung (oder höherer Überleitungsverzögerung mit 3:1-, 4:1-Überleitung) kommt. ! Cave 4 Lebensbedrohliche Rhythmusstörungen können jedoch auch beim Vorhofflattern beobachtet werden, wenn es bei Kindern, Patienten mit Präexzitationssyndromen, Hyperthyreose oder schnell leitendem AV-Knoten zu einer 1:1-Überleitung kommt. 4 Gefährliche Situationen können beim Vorliegen von Vorhofflattern auch durch die Gabe von Chinidin oder Disopyramid ausgelöst werden, da diese Medikamente zu einer Verkürzung der Refraktärzeiten im AV-Knoten führen und so eine 1:1-Überleitung bei Vorhofflattern ermöglichen [7].
Therapie Für die Akutbehandlung des Vorhofflatterns sind 3 Optionen möglich: 4 medikamentöse Therapie, 4 elektrische Kardioversion, 4 atriale hochfrequente Überstimulation. Wenn immer möglich, sollte die atriale Überstimulation als eleganteste Behandlungsmethode gewählt werden, wobei diese nur beim Typ-I-Vorhofflattern erfolgversprechend ist, während sich Vorhofflattern vom Typ II in der Regel nicht durch Überstimulation terminieren lässt. Als Alternative ist die elektrische Kardioversion anzusehen, die immer dann durchgeführt werden sollte, wenn eine Überstimulation nicht möglich oder nicht erfolgreich ist. Der Stellenwert medikamentöser Behandlungskonzepte liegt in der Frequenzverlangsamung bei persistierendem Vorhofflattern; hier sind Digitalis (0,5 mg Digoxin i. v., weitere 0,25 mg nach 30 min i.v.) und/oder Kalziumantagonisten vom Verapamil-
435 32.6 · Supraventrikuläre Tachyarrhythmien
typ (5–10 mg i. v.) zu empfehlen. Spezifische Antiarrhythmika spielen für die Konversion von Vorhofflattern in einen Sinusrhythmus keine Rolle, wenngleich in Einzelfällen Vorhofflattern durch Lidocain (100–150 mg i. v.) oder Procainamid (10 mg/ kg KG über 5 min i.v.) terminiert werden kann [21]. 32.6.3 Sinustachykardien Eine Sinustachykardie ist durch eine Herzfrequenz von >100/ min mit elektrokardiographisch normalen Befunden von PWelle, QRS-Komplex, ST-Strecke und T-Welle definiert [14]. Die Ätiologie von Sinustachykardien ist außerordentlich vielfältig und prinzipiell können physiologische, pharmakologische, reflektorische und pathologische Sinustachykardien unterschieden werden. Sinustachykardien sind bei körperlicher oder psychischer Belastung physiologisch und können durch Medikamente wie Atropin, Isoproterenol, Chinidin und Adrenalin hervorgerufen werden. Sinustachykardien können sich bei Herzinsuffizienz, Myokardinfarkt, Endokarditis oder Myokarditis finden, darüber hinaus bei zahlreichen extrakardialen Störungen (Anämie, Fieber, Kollaps, Hyperthyreose, Hypovolämie). Therapeutisch steht bei Sinustachykardien die Therapie der Grunderkrankung ganz im Vordergrund. Nur in Ausnahmefällen kommt eine symptomatische medikamentöse Behandlung oder eine Therapie mit E-Blockern in Betracht.
32
32.6.4 AV-Knoten-Reentry-Tachykardien Im Erwachsenenalter sind die meisten supraventrikulären Tachykardien durch AV-Knoten-Reentrytachykardien bedingt, während ektop atriale Tachykardien v. a. im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter beobachtet werden [1]. AV-Knoten-Reentrytachykardien setzen in der Regel plötzlich und unvermittelt ein und sind vielfach von Allgemeinsymptomen wie Angst, Unruhe, Schweißausbruch, Schwäche und Stuhldrang begleitet. Während und nach Beendigung der Tachykardie kann es zu einer Polyurie kommen. i Die Frequenz der (regelmäßigen) AV-Knoten-ReentryTachykardie liegt meistens zwischen 160 und 220/min; im Einzelfall werden jedoch auch höhere Frequenzen beobachtet.
Therapie Therapeutische Maßnahmen der 1. Wahl sind vagale Manöver, die leicht durchzuführen sind und durch parasympathische Stimulation zu einer Blockierung oder Leitungsverzögerung im AVKnoten und so zur Terminierung solcher Tachykardien führen, deren Impulsausbreitung den AV-Knoten miteinbezieht [1]. Vagusmanöver. Klassische vagale Manöver sind die Karotissinusmassage, die nur nach vorheriger beidseitiger Palpation und Auskultation der A. carotis und nicht länger als 5 s erfolgen sollte.
. Abb. 32.3. Beendigung einer Tachykardie mit schmalem QRS-Komplex (QRS-Breite <0,12 s, Frequenz 190/min) durch intravenöse Gabe von Adenosin (12 mg Bolus): Etwa 4 s nach Injektion von Adenosin kommt es zu einer Blockierung im AV-Knoten und zu einer Terminierung der Tachykardie. Darstellung der EKG-Ableitungen I, II, III, V1 und V6 und bipolarer Ableitung vom oberen rechten Vorhof (HRA), His-Bündel (HBE), Koronarsinus (CS1–10) und rechtem Ventrikel (RVA) während einer elektrophysiologischen Untersuchung. Klassische AV-Knoten-Reentry-Tachykardie
436
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
Weitere Vagusmanöver sind die Trendelenburg-Lagerung, der »Dive-Reflex« (Gesicht in kaltes Wasser tauchen), Pressen gegen die geschlossene Glottis oder gegen verschlossenen Mund und Nase (Valsalva-Manöver), rasches Trinken eiskalter Flüssigkeit und die Reizung parasympathischer Fasern mit einem Finger im Rachenraum. Medikamente. Beim Versagen vagaler Manöver stehen eine Rei-
32
he von Medikamenten zur Verfügung, die intravenös gegeben werden können und eine hohe Effektivität haben. Die Einführung von Adenosin hat das Spektrum der bisher verfügbaren Medikamente nicht nur erweitert, sondern macht Adenosin aufgrund seiner extrem kurzen Halbwertzeit von wenigen Sekunden zu einem Medikament der ersten Wahl bei Tachykardien mit schmalem QRS-Komplex [1, 15]. Der Mechanismus besteht in einem vorübergehenden AVBlock, sodass Adenosin bei Tachykardien, deren Impulsausbreitung den AV-Knoten miteinbezieht, ein geeignetes Medikament zur Terminierung solcher Rhythmusstörungen ist (. Abb. 32.3). Adenosin wird als schneller Bolus intravenös verabreicht und sollte initial in einer Dosierung von 6 mg injiziert werden, bei mangelndem Erfolg wird die Dosis auf 12 mg erhöht (Erfolgsrate etwa 90 %). Adenosin kann auch während der Schwangerschaft mit gutem Erfolg gegeben werden [20]. Eine andere Alternative, besonders bei AV-Knoten-Reentrytachykardien, ist Verapamil [5–10 mg i.v. über 3 min, Reduktion der Dosis auf 5 mg bei vorbestender β-Blockerbehandlung oder arterieller Hypotonie (systolischer Blutdruck <100 mm Hg)].
Hingegen ist die Intervention mit Ajmalin (50–100 mg i.v. über 5 min) v. a. bei Patienten mit »Circus movement-Tachykardien« (orthodrome oder antidrome Tachykardien) erfolgreich und als Mittel der Wahl bei diesen Tachykardien anzusehen (. Abb. 32.4). i Bei der Notfalltherapie von Tachykardien muss die i.v.-Gabe von Antiarrhythmika unter Monitorkontrolle erfolgen; eine passagere Stimulation oder Reanimation bei Auftreten eines kompletten AV-Blocks (. Abb. 32.5) oder Kammerflimmerns muss sofort möglich sein.
Führt auch die medikamentöse Therapie nicht zur Beendigung der Tachykardie, sollte in Kliniken mit der Möglichkeit einer elektrophysiologischen Intervention eine Überstimulation mittels Elektrodenkatheters durchgeführt werden; ist eine solche Maßnahme nicht möglich, so muss eine R-Zacken-getriggerte elektrische Kardioversion in Kurznarkose erfolgen [1]. 32.6.5 Ektop atriale Tachykardien Atriale Tachykardien kommen in der Regel als paroxysmale Form vor, mit einem plötzlichen Beginn und einem abrupten Ende der Arrhythmie. Die Frequenzen liegen zwischen 100– 250/min. Langsame Tachykardien werden vom Patienten mitunter kaum wahrgenommen, schnelle Tachykardien (Frequenz >200/min) können zu Palpitationen und Schwindel führen. Eine relativ seltene Form atrialer Tachykardien ist die »unauf-
. Abb. 32.4. Beendigung einer Tachykardie mit breitem QRS-Komplex (QRS-Breite >0,12 s, Frequenz 200/min) durch intravenöse Injektion von 40 mg Ajmalin während einer elektrophysiologischen Untersuchung. Terminierung der Tachykardie 4 min nach Beginn der Ajmalin-Applikation. Darstellung der EKG-Ableitungen I, II, III, und V6 sowie bipolarer Ableitungen vom oberen rechten Vorhof (HRA), His-Bündel (HBE), Koronarsinus (CS1–10) und rechtem Ventrikel (RVA). Befund eines Patienten mit akzessorischer Leitungsbahn
437 32.6 · Supraventrikuläre Tachyarrhythmien
hörliche« Form (»incessant tachycardia«), bei der die Tachykardie bei mehr als 50 % der Herzaktionen eines Tages vorliegt (. Abb. 32.6). Diese Tachykardie kommt in 2 Formen vor: 4 konstant »unaufhörlich«, bei der sich ausschließlich Tachykardiekomplexe finden, 4 repetitiv »unaufhörlich«, bei der Phasen von »incessant tachycardias« wiederholt vorkommen, aber auch Phasen von Sinusrhythmus beobachtet werden. Die exakte Diagnose und richtige Behandlung dieser Tachykardien sind besonders wichtig, da Herzinsuffizienz und Kardiomyopathien als Folge der Arrhythmien beschrieben sind.
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Therapie Für die Akuttherapie atrialer Tachykardien sollten zunächst vagale Manöver versucht werden [1]. Bei Erfolglosigkeit sollten medikamentöse Interventionen mit Adenosin, Verapamil oder Ajmalin erfolgen. Beim Therapieversagen auch der medikamentösen Intervention (relativ häufig!) kommen elektrophysiologische Techniken wie programmierte Stimulation, Überstimulation oder DC-Kardioversion in Frage. Bei Ineffektivität einer solchen Behandlung sollte keine medikamentöse Polypragmasie erfolgen, sondern bei klinischer Indikation eine Katheterablation durchgeführt werden [18]. 32.6.6 Akzessorische Leitungsbahnen
Klinik Klinische Zeichen zur Unterscheidung der einzelnen supraventrikulären Tachykardieformen sind relativ einfach zu erheben und ergeben sich aus der Analyse von Pulsfrequenz, Beurteilung der Halsvenenpulsationen, des Blutdrucks und der Lautstärke des ersten Herztones (. Tab. 32.1). Im Vergleich zu anderen Tachykardieformen fehlen jedoch bei atrialen Tachykardien spezifische klinische Zeichen. Die Karotissinusmassage (CSM) ist zur Differenzierung supraventrikulärer Tachykardien jedoch wichtig: Während bei paroxysmalen Tachykardien vom Typ der AV-Knoten-Reentrytachykardien eine CSM häufig zur Tachykardieterminierung führt, wird bei atrialen Tachykardien meistens nur eine Frequenzverlangsamung durch zunehmende AV-Blockierung beobachtet, die jedoch oft zur Demarkierung pathologisch konfigurierter PWellen führt [23].
Bei den supraventrikulären Tachyarrhythmien sind besonders Patienten mit akzessorischen Leitungsbahnen gefährdet, an einem plötzlichen Herztod zu versterben [22]. Während bei Patienten mit akzessorischen Leitungsbahnen v. a. atrioventrikuläre »Circus-movement-Tachykardien« beobachtet werden, kommt es bei ungefähr 10–35 % der Patienten zu Vorhofflimmern, das über die akzessorische Leitungsbahn bei schnell leitenden Fasern zum Kammerflimmern führen kann. Die Höhe der Kammerfrequenz ist dabei ausschließlich von den elektrophysiologischen Charakteristika (Refraktärzeiten) der Bypassbahn abhängig und nicht etwa von den Leitungseigenschaften des AV-Knotens. ! Cave Bei kurzen Refraktärzeiten der Bypassbahn (<250 ms) und Vorhofflimmern liegt eine lebensgefährliche Situation vor, bei der Kammerfrequenzen von >280/min erreicht werden können [24, 25].
. Abb. 32.5. Nachweis eines AV-Blocks III. Grades nach Injektion von 12 mg Adenosin zur Terminierung einer permanenten junktionalen Reentrytachykardie (»PJRT«) während einer elektrophysiologischen Untersuchung. Darstellung der EKG-Ableitungen I, II, III, und V6 sowie bipolarer Ableitungen vom oberen rechten Vorhof (HRA), His-Bündel (HBE), Koronarsinus (CS1–10) und rechtem Ventrikel (RVA)
438
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
32
. Abb. 32.6. 12-Kanal-Oberflächen-EKG eines Patienten mit links ektop atrialer permanenter Tachykardie. Nachweis einer Tachykardie (Frequenz 140/min) mit schmalen QRS-Komplexen (QRS-Breite <0,12 s) und einer P-Welle, die jedem QRS-Komplex vorausgeht. Charakteristische elektrokardiographische Zeichen für eine links ektop atriale Tachykardie sind negative P-Wellen in den Ableitungen I und aVL
. Abb. 32.7a, b. 12-Kanal-Oberflächen-EKG eines Patienten mit Wolff-Parkinson-WhiteSyndrom und Vorhofflimmern. Nachweis maximaler Präexzitation mit kurzen RR-Abständen (<250 ms) als Zeichen einer schnellen anterograden Refraktärzeit der akzessorischen Leitungsbahn (a). Klassische Zeichen eines Präexzitationssyndroms mit manifester G-Welle während Sinusrhythmus (b)
Bei solchen Patienten finden sich im Oberflächen-EKG unregelmäßige RR-Intervalle mit maximaler Präexzitation (QRS-Komplex-Breite t0,12 s) und RR-Intervalle <250 ms (. Abb. 32.7). Die RR-Intervalle sind jedoch bei Vorhofflimmern nur als grobe Risikomarker anzusehen, da Refraktärzeiten von AV-Knoten und akzessorischer Bahn durch Katecholamine oder sympathische Stimulation beeinflusst werden können und im Einzelfall keine sichere Beurteilung des individuellen Risikos zulassen [9].
Demgegenüber ist die Gefahr bei Patienten mit Wolff-Parkinson-White-Syndrom, Vorhofflimmern und schmalen QRS-Komplexen (QRS-Breite <0,12 s) deutlich niedriger, da bei diesen Patienten die anterograde Leitung hauptsächlich über den AVKnoten läuft und eine längere Refraktärzeit der akzessorischen Bahn anzunehmen ist. Andere Zeichen einer langen Refraktärzeiten der akzessorischen Bahn sind das Vorliegen einer intermittierenden Präexzi-
439 32.7 · Ventrikuläre Tachyarrhythmien
32
. Abb. 32.9. Darstellung verschiedener Faktoren zur Genese eines plötzlichen Herztodes und Charakterisierung verschiedener nichtinvasiver und invasiver diagnostischer Verfahren
32.7
Ventrikuläre Tachyarrhythmien
Ventrikuläre Rhythmusstörungen sind in der Intensivmedizin als monomorphe oder polymorphe ventrikuläre Tachykardien, Torsade-de-pointes-Tachykardien, Kammerflattern oder Kammerflimmern gefürchtet. Der plötzliche Tod ist als schwerwiegendste Form einer ventrikulären tachykarden Herzrhythmusstörung weiterhin als ungelöstes Problem der klinischen Kardiologie anzusehen, der nicht durch einzelne Parameter bedingt ist, sondern als multifaktorielles Geschehen aufzufassen ist (. Abb. 32.9).
. Abb. 32.8. 12-Kanal-Ober flächen-EKG eines Patienten mit Wolff-Parkinson-White-Syndrom und intermittierender Präexzitation als Zeichen einer langen anterograden Refraktärzeit der akzessorischen Leitungsbahn
tation (. Abb. 32.8) oder das Verschwinden der G-Welle im Oberflächen-EKG (Blockade der anterograden Leitung über die akzessorische Bahn) nach Injektion von Ajmalin (50 mg über 5 min i. v.) oder Procainamid (10 mg/kg KG über 5 min i. v.).
Therapie Patienten mit Tachykardien aufgrund akzessorischer Leitungsbahnen sollten sofort behandelt werden: Bei hämodynamisch instabiler Situation und schneller Kammerüberleitung sollte eine sofortige Kardioversion durchgeführt werden, während bei stabilen Kreislaufverhältnissen Antiarrhythmika, die zu einer Verlängerung der anterograden Refraktärzeit der akzessorischen Leitungsbahn führen und antifibrillatorische Eigenschaften besitzen, angewendet werden können [23, 24]. Bevorzugte Medikamente sind Ajmalin (1 mg/kg KG über 5 min i. v.) oder Procainamid (10 mg/kg KG über 5 min i. v.). Kommt es unter einer solchen Behandlung zu einer hämodynamischen Verschlechterung, muss eine sofortige elektrische Kardioversion erfolgen [1]. ! Cave Die Blockierung des AV-Knotens durch Verapamil und/ oder Digitalis ist bei Patienten mit akzessorischen Leitungsbahnen kontraindiziert und kann, beim Auftreten von Vorhofflimmern und anterograder Leitung über die akzessorische Bahn, zur Reanimationssituation und zum Tod führen [23–25].
32.7.1 Inzidenz und Pathogenese ventrikulärer
Tachykardien Kammertachykardien sind durch Frequenzen von 100–280/min charakterisisiert, können hämodynamisch gut toleriert werden, aber auch zu einer instabilen Situation oder zum kardiogenen Schock führen [17]. Pathogenetisch ist die koronare Herzkrankheit die häufigste Ursache ventrikulärer Tachykardien (60–70 %); diese Rhythmusstörungen werden aber auch bei Patienten mit dilatativer oder hypertropher Kardiomyopathie (10–15 %) und bei arrhythmogener rechtsventrikulärer Erkrankung (»Dysplasie«) beobachtet. Bei 2–5 % der Patienten lassen sich keine strukturellen Veränderungen am Herzen nachweisen (»idiopathische« ventrikuläre Tachykardien). Ventrikuläre Tachykardien werden nach der Dauer in nicht anhaltende (Dauer <30 s) oder anhaltende (Dauer >30 s) Formen eingeteilt und nach der Morphologie in monomorphe oder polymorphe Formen. Eine besondere Form ventrikulärer Tachykardien ist die Torsade-de-pointes-Tachykardie, die später noch detailliert dargestellt wird [23]. 32.7.2 Monomorphe ventrikuläre Tachykardien Monomorphe ventrikuläre Tachykardien sind die häufigsten Tachykardieformen im Postinfarktstadium, bei arrhythmogenen rechtsventrikulären Erkrankungen, bei Schenkelblock-Tachykardien (»bundle-branch-block tachycardia«), Ausflussbahntachykardien und idiopathischen Kammertachykardien. Pathophysiologisch liegen monomorphen ventrikulären Tachykardien typischerweise Reentry-Mechanismen zugrunde. Sie sind charak-
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Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
terisiert durch breite QRS-Komplexe (Breite t0,12 s), regelmäßige RR-Intervalle, verbunden mit einer identischen Morphologie der QRS-Komplexe (»monomorph«).
Therapie
32
Therapeutisch sind bei monomorphen ventrikulären Tachykardien Ajmalin (50–100 mg i. v. über 5 min) oder Procainamid (10 mg/kg KG i. v.) bei Patienten ohne Zeichen einer akuten myokardialen Ischämie als Mittel der ersten Wahl anzusehen. Bei Kammertachykardien, die im chronischen Infarktstadium auftreten, ist Ajmalin wesentlich effektiver als Lidocain. Bei Vorliegen ischämisch bedingter Kammertachykardien ist die intravenöse Gabe von Lidocain (100–150 mg i. v.) eine Alternative, wenngleich Lidocain zu einer Degeneration in Kammerflimmern führen kann. Andere spezifische Antiarrhythmika wie Sotalol (20 mg über 5 min i. v.), Propafenon (1–2 mg/kg KG i. v.) Flecainid (1–2 mg/ kg KG i. v.) oder Amiodaron (150–300 mg über 5 min i.v., Dauerinfusion 1050 mg/Tag i. v.) spielen als Medikamente der ersten Wahl zur Akutterminierung ventrikulärer Tachykardien eher eine untergeordnete Rolle, wenngleich diese Medikamente im Einzelfall sehr erfolgreich sein können. Führt die medikamentöse Therapie nicht zur Terminierung einer ventrikulären Tachykardie, sollte in Kliniken mit der Möglichkeit einer elektrophysiologischen Intervention eine Überstimulation mittels Elektrodenkatheter vom rechten Ventrikel aus durchgeführt werden. Falls eine solche Maßnahme nicht möglich oder nicht erfolgreich ist, muss die elektrische Kardioversion in Kurznarkose erfolgen (RZacken getriggert, 200–360 J). Sonderfall: Unaufhörliche Tachykardie. In wenigen Fällen liegen monomorphe ventrikuläre Tachykardien vor, die durch Antiar-
rhythmika, Überstimulation und/oder elektrische Kardioversion nicht beeinflusst werden können, oft schon lange (Stunden bis Wochen!) bestehen und deshalb als »unaufhörlich« (»incessant«) bezeichnet werden. Bei diesen Patienten sollte keine medikamentöse Polypragmasie erfolgen, sondern unmittelbar die Indikation zur notfallmäßigen Katheterablation gestellt werden. 32.7.3 Polymorphe ventrikuläre Tachykardien Eine besondere Situation liegt bei Patienten mit polymorphen ventrikulären Tachykardien vor, deren Mechanismen nicht in allen Einzelheiten geklärt sind und die mitunter schwierig zu behandeln sind. Polymorphe ventrikuläre Tachykardien, die durch angeborene QT-Zeit-Verlängerungen bedingt sind (Romano-War-Syndrom, Jer vell-Lange-Nielsen-Syndrom), haben in der Regel das charakteristische Bild von Torsade-de-pointesTachykardien, deren Behandlung gesondert dargestellt wird. Polymorphe ventrikuläre Tachykardien werden häufiger bei er worbenen QT-Zeit-Verlängerungen beobachtet, und treten typischer weise 3–4 Tage nach Beginn einer antiarrhythmisch medikamentösen Therapie auf. Zu solchen lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen führen v. a. Chinidin (Häufigkeit 1–8%), aber auch alle anderen Antiarrhythmika der Klassen I und III (Häufigkeit 2–5%).
Therapie Die Therapie solcher Arrhythmien liegt zunächst im sofortigen Absetzen des auslösenden Agens und im Ausgleich von Elektrolytentgleisungen. Bei hämodynamisch stabiler Situation sollte Isoproterenol (1–4 Pg/min i.v.) zur Herzfrequenzsteigerung, QT-Zeit-Verkürzung und Unterdrückung von Nachpotenzia-
. Abb. 32.10. Langzeit-EKG-Registrierung mit Nachweis einer Torsade-de-pointes-Tachykardie bei einer 30-jährigen Patientin mit idiopathischem QT-Syndrom
441 32.7 · Ventrikuläre Tachyarrhythmien
len infundiert werden, alternativ führen Atropin (0,5–1,0 mg i. v., maximal 0,04 mg/kg KG i. v.) oder eine temporäre Schrittmacherstimulation zu ähnlichen Effekten mit guten Therapieerfolgen. Eine Schrittmacherstimulation hat gegenüber einer Isoprenalininfusion den Vorteil, dass Risiken wie die Auslösung von Angina pectoris-Anfällen oder einer arteriellen Hypertonie vermieden werden. Polymorphe ventrikuläre Tachykardien ohne QT-Zeit-Verlängerungen werden v. a. bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit beobachtet, vielfach im Rahmen einer akuten myokardialen Ischämie [23]. Die therapeutischen Interventionen liegen bei solchen Patienten in der Akutrevaskularisation durch perkutane Koronarintervention (PCI) oder Bypassoperation, alternativ wird die intravenöse Zufuhr von Amiodaron empfohlen. Demgegenüber sind Klasse-I-Antiarrhythmika unter solchen Voraussetzungen nicht geeignet, da sie vielfach zur Aggravation der Rhythmusstörungen führen. 32.7.4 Torsade-de-pointes-Tachykardien Die Torsade-de-pointes-Tachykardie zeigt als polymorphe Kammertachykardie ein charakteristisches elektrokardiographisches Bild (. Abb. 32.10). Sie ist gekennzeichnet durch QRS-KomplexVektoren, die wechselartige Undulationen um die isoelektrische Linie führen und breite QRS-Komplexe haben [6]. Die Torsade-de-pointes-Tachykardie (»Spitzenumkehrtachykardie«) zählt zu den lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen, kann in Kammerflimmern übergehen und wird pathophysiologisch durch frühe Nachdepolarisationen bei einer abnormen Verlängerung der Aktionspotenzialdauer (mit Verlängerung der QT-Zeit im Oberflächen-EKG) hervorgerufen. Ursächlich können Torsade-de-pointes-Tachykardien durch Pharmaka bedingt sein, die zu einer pathologischen Verlängerung der QT-Zeit führen [4]. Torsade-de-pointes-Tachykardien werden typischer weise beim Romano-Ward-Syndrom und beim Jervell-Lange-NielsenSyndrom beobachtet, bei denen eine angeborene Verlängerung der QT-Zeit vorliegt, die nach neuesten Ergebnissen durch einen Gendefekt hervorgerufen wird. Die klinische Symptomatik von
32
Patienten mit Torsade-de-pointes-Tachykardien reicht von Palpitationen und Schwindel bis hin zum Bewusstseinsverlust mit der Notwendigkeit einer sofortigen Reanimation.
Therapie Therapeutisch wird bei typischen »Spitzenumkehr-Tachykardien« eine parenterale hochdosierte Therapie mit Magnesium (initial Magnesiumsulfat 2 g als Bolus i.v. über 5 min, bei Erfolglosigkeit weitere 2 g MgSO4 über 15 min mit möglicher Infusion von 500 mg/h i.v.) empfohlen [3]. Zur Vermeidung häufiger Rezidive polymorpher ventrikulärer Tachykardien können eine Behandlung mit Isoproterenol (1–4 Pg/min i.v.) oder eine temporäre Schrittmacherstimulation notwendig werden [11]. 32.7.5 Kammer flattern und Kammer flimmern Beim Kammerflattern liegt eine hochfrequente ventrikuläre Tachykardie vor, deren Frequenz >250/min beträgt und die mit einer schenkelblockartigen Deformierung des QRS-Komplexes (QRS-Breite t0,12 s) einhergeht. Kammerflattern ist eine lebensbedrohliche Rhythmusstörung, die häufig in Kammerflimmern degeneriert (. Abb. 32.11). Kammerflimmern ist die »chaotische« Erregung des Herzens, bei der regelrechte Impulse nicht mehr auszumachen sind. Man findet bei Kammerflimmern irreguläre Undulationen der elektrokardiographischen Signale, bei denen einzelne Kammerkomplexe nicht mehr erkennbar sind. Kammerflattern undKammerflimmern finden sich meistens bei Patienten mit organischer Herzerkrankung und deutlich eingeschränkter linksventrikulärer Funktion. i Kammerflattern und Kammerflimmern erfordern die sofortige Defibrillation und den Beginn von Reanimationsmaßnahmen.
Wenn Kammerflimmern nach 3 Schocks fortbesteht: Gabe von Amiadoron 300 mg als Bolus. Eine weitere Dosis von 150 mg kann bei wiederauftretendem oder schockrefraktärem Kammerflimmern gegeben werden, danach eine Infusion von 900 mg über 24 h [3].
. Abb. 32.11. Langzeit-EKG-Registrierung mit Nachweis eines Kammerflatterns, das in Kammer flimmern degeneriert
32
442
Kapitel 32 · Herzrhythmusstörungen
32.8
Schlussfolgerungen
Herzrhythmusstörungen sind in der Intensivmedizin nicht selten und erfordern in der Regel rasche diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Von entscheidender Bedeutung für die Wahl des besten Behandlungskonzepts sind neben der klinischen Symptomatik v. a. Arrhythmietyp und hämodynamische Situation des Patienten. Während bei tachykarden Rhythmusstörungen und Schocksymptomatik, unabhängig von Arrhythmieform und -mechanismus, unverzüglich eine Kardioversion bzw. Defibrillation durchgeführt werden sollte, kommen bei stabilen Kreislaufverhältnissen neben vagalen Manövern eine Reihe von medikamentösen und/oder elektrophysiologischen Techniken in Frage, die nach individuellen Kriterien auszuwählen sind. Nach Terminierung der akuten Rhythmusstörung ist für jeden Patienten eine individuelle Risikoanalyse notwendig, um die richtige Entscheidung für die Langzeitbehandlung zu treffen. Während bei Patienten mit supraventrikulären Arrhythmien v. a. die symptomatische Therapie (Verhinderung von Rezidivarrhythmien, signifikante Frequenzssenkung bei tachykardem Vorhofflimmern) mit interventionellen Verfahren (Katheterablation) im Vordergrund steht, spielen bei Patienten mit ventrikulären Tachyarrhythmien darüber hinaus prognostische Überlegungen eine wichtige Rolle. Die richtige Einschätzung der pathophysiologischen Vorgänge und der hämodynamischen Situation ist ein mindestens ebenso wichtiger Bestandteil der therapieorientierten Stufendiagnostik wie die Therapie der Rhythmusstörung selbst.
Literatur 1. ACC/AHA/ESC guidelines for the management of patients with supraventricular arrhythmias (2003) Circulation 108: 1871–1909 : Diese Leitlinie, die in Kooperation der amerikanischen Fachgesellschaften American Heart Association und American College of Cardiology und der europäischen Gesellschaft für Kardiologie vorgelegt wurde, gibt eine umfassende Übersicht über Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie supraventrikulärer Arrhythmien. Sie ist heute Grundlage für das Management von Patienten mit supraventrikulären Arrhythmien. 2. ACC/AHA/ESC guidelines for the management of patients with atrial fibrillation (2001) Eur Heart J 22: 1852–1923 : Diese Leitlinie, die in Kooperation der amerikanischen Fachgesellschaften American Heart Association und American College of Cardiology und der europäischen Gesellschaft für Kardiologie vorgelegt wurde, fasst das gesamte Spektrum der Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern zusammen. Ein ideales Nachschlagewerk für jeden, der spezielle Fragen zum Vorhofflimmern hat. 3. American Heart Association Guidelines for cardiopulmonary resuscitation and emergency cardiovascular care (2005) Circulation 112 (Supplement) 67–77 4. Antoni H, Weirich J (1996) Ursachen tachykarder Herzrhythmusstörungen. Internist 37: 3–11 5. Falk RH (1996) Pharmacologic control of heart rate in atrial fibrillation. In: Dimarco JP (ed) Cardiology Clinics – atrial fibrillation. Saunders, Philadelphia, pp 521–542 6. Grogin HR, Scheinman MM (1993) Evaluation and management of patients with polymorphic ventricular tachycardia. In: Akhtar M (ed) Cardiology Clinics – Cardiac arrhythmias and related syndromes. Saunders, Philadelphia, pp 39–54
7. Herre JM, Scheinman MM (1992) Supraventricular tachycardias. In: Parmley WB, Chatterjee K (ed) Cardiology. Lippincott Raven, Philadelphia, chap 69, pp 1–18 8. Jiménez RA, Myerburg RJ (1993) Sudden cardiac death. Magnitude of the problem, substrate/trigger interaction, and populations at high risk. In: Akhtar M (ed) Cardiology clinics – Cardiac arrhythmias and related syndromes. Saunders, Philadelphia, pp 1–9 9. Josephson ME, Wellens HJJ. Differential diagnosis of supraventricular tachycardia (1990) In: Scheinman MM (ed) Cardiology clinics – Supraventricular tachycardia. Saunders, Philadelphia, pp 411– 442 10. Jung F, DiMarco JP (1996) Antiarrhythmic drug therapy in the treatment of atrial fibrillation. In: DiMarco JP (ed) Cardiology clinics – Atrial fibrillation. Saunders, Philadelphia, pp 507–520 11. Lemke B, Nowak B, Pfeiffer D (2005) Leitlinien zur Herzschrittmachertherapie. Z Kardiol 94: 704–720 : Diese von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie kürzlich vorgestellte Leitlinie gibt eine umfassende Übersicht über die Schrittmachertherapie bei Patienten mit bradykarden Rhythmusstörungen. Sie nimmt ebenso Stellung zur notfallmäßigen Schrittmacherstimulation in der Intensiv- und Notfallmedizin. : Es handelt sich um eine wichtige Leitlinie, die zu allen Fragen der Schrittmacherstimulation Stellung nimmt. 12. Podrid PJ (1995) Atrial fibrillation. In: Parmley WB, Chatterjee K (eds) Cardiology 1995. Lippincott-Raven, Philadelphia, pp 1–30 13. Rosenfeld LE (1988) Bradyarrhythmias, abnormalities of conduction, and indications for pacing in acute myocardial infarction. In: Cabin HS (ed) Cardiology clinics. Saunders, Philadelphia, pp 49–51 14. Schuster HP, Trappe HJ (2005) EKG-Kurs für Isabel. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York 15. Trappe HJ (1997) Akuttherapie supraventrikulärer Tachykardien: Adenosin oder Ajmalin? Intensivmedizin 34: 452–461 16. Trappe HJ, Klein H, Lichtlen PR (1992) Ursachen des akuten Herz-Kreislauf-Stillstands. Internist 33: 289–294 17. Trappe HJ, Klein H, Lichtlen PR (1992) Fehldiagnosen bei kardialen Arrhythmien. In: Kirch W (Hrsg) Fehldiagnosen in der Inneren Medizin. G. Fischer, Stuttgart Jena, S 91–111 18. Trappe HJ, Paul T, Pfitzner P, Lichtlen PR (1994) Ablation einer permanenten linksatrialen ektopen Tachykardie durch Hochfrequenzenergie. Z Kardiol 83: 582–588 19. Trappe HJ, Heintze J, Lichtlen PR (1996) Identifikation des rhythmusgefährdeten Patienten. Nichtinvasive und invasive Diagnostik. Internist 37: 34–44 20. Trappe HJ (2006) Acute therapy of maternal and fetal arrhythmias during pregnancy. J Intensive Care Med 21 (5): 305–315 : Die Akuttherapie von Herzrhythmusstörungen bei Schwangeren ist immer schwierig und bereitet allen Beteiligten oft Probleme. In dieser Übersichtsarbeit werden diagnostische, differenzialdiagnostische und v. a. therapeutische Strategien vorgestellt, mit welchen Maßnahmen Rhythmusstörungen in der Schwangerschaft bei Mutter und Feten behandelt werden. Es werden antiarrhythmisch wirksame Medikamente tabellarisch vorgestellt, deren Wirkungen und Nebenwirkungen erläutert und mögliche teratotoxische Effekte besprochen. 21. Waldo AL (1990). Clinical evaluation in therapy of patients with atrial fibrillation or flutter. In: Scheinman MM (ed) Cardiology clinics – Supraventricular tachycardia. Saunders, Philadelphia, pp 479–490 22. Wellens HJJ, Brugada P (1987) Sudden cardiac death: a multifactorial problem. In: Brugada P, Wellens HJJ (eds) Cardiac arrhythmias. Where to go from here? Futura, Mount Kisco New York, pp 391–400 23. Wellens HJJ, Conover MB (2006) The ECG in emergency decision making. 2nd edn. Saunders, Philadelphia, pp 62–157
443 Literatur
: In diesem Buch finden sich alle wichtigen Informationen zu EKG-Kriterien bei tachykarden und bradykarden Rhythmusstörungen. Dieses Buch ist die Grundlage für alle, die sich mit Rhythmusstörungen befassen. Das Buch ist geprägt durch eine exzellente Didaktik, hervorragende Informationen zur Pathophysiologie von Arrhythmien und ermöglicht die notwendigen Kenntnisse zur Diagnostik tachykarder Rhythmusstörungen in der Intensiv- und Notfallmedizin. 24. Wellens HJJ, Farré J, Bär FWHM (1987) The Wolff-Parkinson-White syndrome. In: Mandel WJ (ed) Cardiac arrhythmias. Their management, diagnosis, and management. Lippincott, Philadelphia, pp 274–296 25. Wellens HJJ, Smeets JLRM, Rodriguez LM, Gorgels APM (1992) Atrial fibrillation in Wolff-Parkinson-White syndrome. In: Falk RH, Podrid PJ (eds) Atrial fibrillation: mechanisms and management. Raven, New York, pp 333–344 26. Werdan K (1994) Rhythmusstabilisierung. In: Madler C, Jauch KW, Werdan K (Hrsg) Das NAW Buch. Urban & Schwarzenberg, München, S 205–214 27. Wit AL (1990) Cellular electrophysiologic mechanisms of cardiac arrhythmias. In: Scheinman MM (ed) Cardiology clinics – supraventricular tachycardia. Saunders, Philadelphia, pp 393–409
32
33 Infektiöse Endokarditis M. Doering, D. Elsner
33.1
Definition und Epidemiologie
–446
33.2
Erregerspektrum
33.3
Klinik und Diagnose
33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4 33.3.5 33.3.6
Symptome und klinische Zeichen –446 Laborbefunde –446 Blutkultur –446 Echokardiographie –447 Radiologische Bildgebung –447 Duke-Kriterien –447
33.4
Indikationen zur intensivmedizinischen Über wachung und Therapie –448
33.5
Therapie
33.5.1 33.5.2 33.5.3
Antimikrobielle Therapie –449 Management von Komplikationen –449 Indikationen zur chirurgischen Therapie –450
33.6
Monitoring
–446 –446
–449
–450
Literatur –451
446
Kapitel 33 · Infektiöse Endokarditis
33.1
Definition und Epidemiologie
Die infektiöse Endokarditis betrifft am häufigsten die Herzklappen, seltener das murale Endokard, Septumdefekte oder AVShunts. Die Inzidenz beträgt ca. 2–7 auf 100.000 Einwohner [1]. Prädisponierende Faktoren sind angeborene oder erworbene Herzklappenfehler, kongenitale Vitien, Zustand nach Klappenoperation oder -ersatz, Mitralklappenprolaps mit Insuffizienz, Zustand nach abgelaufener Endokarditis, i.v.-Drogenabusus, intrakardiales Fremdmaterial sowie Grunderkrankungen mit Resistenzminderung. In den letzten Jahrzehnten haben besonders die Staphylokokkenendokarditiden, akut foudroyante Verlaufsformen, Kunstklappenendokarditiden sowie nosokomiale Infektionen stetig zugenommen [2]. Während früher die Mortalität unbehandelt 100% betrug, liegt sie heute immer noch bei etwa 20%, für die Prothesenendokarditis sogar bei 40%. 33.2
33
Erregerspektrum
In etwa 80% der Fälle wird die Endokarditis durch Staphylokokken, Streptokokken oder Enterokokken verursacht [3] (. Tab. 33.1). Streptococcus bovis ist insbesondere bei älteren Patienten mit Kolonpolypen oder Kolontumoren assoziiert. Die Endokarditis bei i.v.-Drogenabhängigen wird in der Regel durch Staphylococcus aureus hervorgerufen. Häufigste Erreger der nosokomialen Endokarditis sind Staphylokokken gefolgt von Enterokokken. 33.3
Klinik und Diagnose
Die Diagnose einer Endokarditis erfordert die Integration von klinischen, laborchemischen, mikrobiologischen sowie echokardiographischen Befunden. Klinisch im Vordergrund stehen eine konstante Bakteriämie mit systemischer Entzündungsreaktion, metastatische Absiedlungen in verschiedenen Organen, Zerstörung der betroffenen Herzklappen mit progredienter Herzinsuffizienz, embolische Gefäßverschlüsse sowie immunologisch bedingte Prozesse. 33.3.1 Symptome und klinische Zeichen Klassische Zeichen sind ungeklärtes Fieber und neu aufgetretenes oder aggraviertes Herzgeräusch. Gelegentlich bestehen nur
unspezifische Symptome wie subfebrile Temperaturen, Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, Myalgien und Arthralgien. In etwa der Hälfte der Fälle sind typische Hautmanifestationen zu finden (z. B. Osler-Knoten, Janeway-Läsionen). Häufig manifestiert sich die Endokarditis erst über gravierende Komplikationen: Herzinsuffizienz, neurologische Symptomatik, periphere Embolien. Zu den technischen Basisuntersuchungen bei Endokarditisverdacht gehören neben den unten genannten Verfahren das EKG (AV-Überleitungsstörungen), eine Oberbauchsonographie (Milzgröße, Abszesse) sowie die Augenhintergrunduntersuchung (Roth-Flecken, septische Embolien). 33.3.2 Laborbefunde Als Zeichen der Entzündungsreaktion ist das CRP und die BSG erhöht, es finden sich häufig eine Leukozytose mit Linksverschiebung, eine normochrome Anämie, Erhöhung der Gammaglobuline sowie zirkulierende Immunkomplexe. Der Rheumafaktor kann erhöht sein. Der Stellenwert neuer Parameter wie des Procalcitonins ist noch nicht gesichert. Bei renaler Beteiligung zeigt sich eine Proteinurie und Hämaturie, ggf. eine Erhöhung der Retentionswerte. 33.3.3 Blutkultur i Wichtigster Eckpfeiler der Diagnostik ist der Keimnachweis aus mehreren zu verschiedenen Zeitpunkten abgenommenen Blutkulturen.
Ohne antibiotische Vortherapie gelingt der Erregernachweis in ca. 95% der abgenommenen Blutkulturen aufgrund der in der Regel kontinuierlichen Bakteriämie [3]. Die Blutkulturen sollten grundsätzlich vor (!) Einleitung einer antibiotischen Therapie abgenommen werden, und zwar 3 Sets von Blutkulturen innerhalb 24 h für eine anaerobe sowie aerobe Bebrütung aus 3 verschiedenen Venenentnahmestellen unabhängig vom Fieberverlauf [4]. Ein zeitlicher Abstand von mindestens 1 h zwischen der Abnahme der ersten und letzten Kultur sollte eingehalten werden [5].
. Tabelle 33.1. Erregerspektrum (relative Häufigkeit in %). (Nach [3]) Organismus
Nativklappe – Erwachsene 15–60 Jahre
Klappenprothese – Frühform (<2 Monate nach Operation)
Streptokokken
45–65
1
Staphylococcus aureus
30–40
22
Koagulasenegative Staphylokokken
3–5
33
Enterokokken
5–8
8
Gramnegative Bakterien
4–8
13
HACEK–Organismen, Pilze, andere Erreger, kulturnegativ
3–10
22
447 33.4 · Indikationen zur intensivmedizinischen Über wachung und Therapie
Negative Blutkulturen können als Folge einer antibiotischen Vorbehandlung oder bei stoffwechselinaktiven Keimen (z. B. Coxiellen) vorkommen. 33.3.4 Echokardiographie i Die Echokardiographie ist das entscheidende bildgebende Verfahren zum Nachweis von Vegetationen, zur Evaluation der Klappen- und Ventrikelfunktion sowie zur Beurteilung kardialer Komplikationen.
Im Vergleich zur transthorakalen Untersuchung zeigt dabei das transösophageale Echokardiogramm (TEE) eine deutlich höhere Sensitivität beim Nachweis von Vegetationen (über 90%; . Abb. 33.1), Klappenperforationen, intrakardialen Fisteln sowie Klappenringabszedierungen. In <10% der Fälle ist mit falsch-negativen Befunden zu rechnen [3]. Allerdings ist bei Klappenprothesen die Sensitivität auch des TEE niedriger. Bei dringendem klinischem Verdacht auf das Vorliegen einer Endokarditis wird bei initial negativen Befunden empfohlen, einige Tage nach der Erstuntersuchung eine zweites TEE durchzuführen, um zwischenzeitlich entstandene Vegetationen oder Abszedierungen nicht zu übersehen [5]. 33.3.5 Radiologische Bildgebung Bei routinemäßiger Anwendung der Computertomographie lassen sich bei 1/5 der Patienten asymptomatische Embolien nachweisen [6]. Neben einer Thoraxröntgenaufnahme führen wir daher bei jedem Patienten mit Endokarditis eine CT-Untersuchung des Schädels, des Abdomens und Beckens durch, um embolische Komplikationen frühzeitig erfassen zu können. Insbesondere vor einem geplanten herzchirurgischen Eingriff ist der Ausschluss von intrakraniellen Läsionen mit hämorrhagischer Komponente unabdingbar.
Duke-Kriterien 5 Hauptkriterien – Positive Blutkultur: Endokarditistypischer Erreger in t2 Blutkulturen – Persistierend positive Blutkultur – Positive Q-Fieber-Serologie – Nachweis einer endokardialen Beteiligung: echokardiographischer Nachweis einer mobilen intrakardialen Fremdmasse an einer Herzklappe im Verlauf einer Regurgitation oder auf endoprothetischem Material – Abszessbildung – Neu aufgetretene Dehiszenz einer Klappenprothese – Neu aufgetretene Klappeninsuffizienz 5 Nebenkriterien – Prädisponierende Herzerkrankung oder i.v.-Drogenabusus – Fieber >38°C – Vaskuläre Phänomene: – Arterielle Embolie – Septischer Lungeninfarkt – Mykotisches Aneurysma – Intrakranielle Blutung – Konjunktivale Einblutungen – Immunologische Befunde: – Glomerulonephritis, – Osler-Knötchen – Roth-Flecken am Augenhintergrund – Rheumafaktor – Positive Blutkultur, die jedoch nicht die Hauptkriterien er füllt
33.3.6 Duke-Kriterien Die modifizierten Duke-Kriterien sollten als systematischer Ansatz zur Objektivierung und Sicherung der Diagnose verwendet werden [7].
. Abb. 33.1. TEE-Befund bei Staphylokokken-Endokarditis mit Vegetationen an Aorten- (AoK Veg) und Mitralklappe (MK Veg) sowie einem Abszess in der Aortenwand
Einteilung der Diagnose Endokarditis aufgrund der Duke – Kriterien in Kategorien 5 Gesichert – 2 Hauptkriterien – 1 Haupt- und 3 Nebenkriterien – 5 Nebenkriterien 5 Möglich – 1 Haupt- und 1 Nebenkriterium – 3 Nebenkriterien 5 Ausschluss – Eine andere Diagnose ist gesichert – Das Syndrom einer infektiösen Endokarditis verschwindet nach einer Dauer der Antibiotikatherapie von <4 Tagen – Fehlender Nachweis einer infektiösen Endokarditis anlässlich einer chirurgischen Intervention oder in der Biopsie nach einer Antibiotikatherapie von <4 Tagen – Die Kriterien einer möglichen Endokarditis werden nicht erfüllt
33
448
Kapitel 33 · Infektiöse Endokarditis
. Tabelle 33.2. Therapieempfehlungen bei infektiöser Endokarditis mit Erregernachweis. (Nach [5, 9]) Erreger
Sonstige Bedingung
Antibiotikum/ Antimykotikum
Dosierung
Therapiedauer
Penicillinempfindliche Streptokokken
Penicillinverträglichkeit
Penicillin G
20 Mio. IE/Tag i.v. 4–6 ED
4 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG /Tag i.v. 3 ED
2 Wochen
Penicillinunverträglichkeit
Vancomycin 1
2 g/Tag i.v 2 ED
4 Wochen
Penicillinverträglichkeit
Ampicillin
12–24 g/Tag i.v. 4–6 ED
4–6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG/Tag i.v. 3 ED
4–6 Wochen
Vancomycin 1
2 g/Tag i.v. 2 ED
4–6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG /Tag i.v. 3 ED
4–6 Wochen
Flucloxacillin
8–12 g /Tag i.v. 3–4 ED
4–6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG /Tag i.v. 3 ED
3–5 Tage
Vancomycin 1
2 g/Tag i.v. 2 ED
4–6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG/Tag 3 ED
3–5 Tage
Flucloxacillin
8–12 g/Tag i.v. 3–4 ED
>6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG/Tag i.v. 3 ED
2 Wochen
+ Rifampicin
900 mg/Tag 3 ED
>6 Wochen
Vancomycin 1
2 g/Tag i.v. 2 ED
>6 Wochen
+ Gentamycin 1
3 mg/kg KG/Tag 3 ED
2 Wochen
+ Rifampicin
900 mg/Tag 3 ED
>6 Wochen
HACEK 2
Ceftriaxon
2 g/Tag i.v. 1 ED
4 Wochen
E. coli, Klebsiellen, Serratia, Proteus
Ceftriaxon oder
2 g/Tag i v. 1 ED
>4 Wochen
Cefotaxim
6–8 g/Tag i.v. 3–4 ED
>4 Wochen
+ Gentamycin
3–5 mg/kg KG/Tag 3 ED
>4 Wochen
Amphotericin B 3
0,8–1,0 mg/kg KG/Tag i.v. 1 ED
>6 Wochen
+ Flucytosin
150 mg/kg KG i.v. 3 ED
>6 Wochen
Enterokokken und mäßig penicillinempfindliche Streptokokken
Penicillinunverträglichkeit
Staphylococcus aureus
Methicillinsensibel Nativklappe
Methicillinresistent Nativklappe
33 Methicillinsensibel Klappenprothese
Methicillinresistent Klappenprothese
Candida
ED Einzeldosis. 1 Entsprechende Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz. 2 H. influenzae, H parainfluenzae, H aprophilus, Actinobacillus, Cardiobacterium, Eikenella, Kingella. 3 Unter hoher Volumen- und Kochsalzzufuhr ist die Nephrotoxizität verringert, maximale Gesamtdosis 2–5 g.
33.4
Indikationen zur intensivmedizinischen Überwachung und Therapie
Die infektiöse Endokarditis ist bei entsprechenden Komplikationen eine lebensgefährliche Erkrankung mit oft unberechenbarem, foudroyantem Verlauf. Die häufigsten Gründe für intensivmedizinische Therapie und Überwachung [8] sind dabei hämodynamische Instabilität bei kardialem oder septischem Schock, schwere akute Aorten- oder Mitralklappeninsuffizienz, paravalvuläre Infektionsausbreitung mit Abszedierung, schwere Prothsendysfunktion oder Dehiszenz, AV-Überleitungsstörungen, respiratorische
Insuffizienz, akutes Nierenversagen sowie neurologisches Defizit mit Bewusstseinseintrübung oder größerem Insult. 33.5
Therapie
Die Behandlung der infektiösen Endokarditis besteht in der Elimination der auslösenden Keime durch eine adäquate antimikrobielle Therapie, dem Management von Komplikationen sowie, bei entsprechender Indikation, in der rechtzeitigen chirurgischen Intervention.
449 33.5 · Therapie
33
. Tabelle 33.3. Kalkulierte Therapie bei unbekanntem Erreger Bedingung
Antibiotikum/Dosis
Dauer
Nativklappe
Ampicillin 12–24 g/Tag i.v. 4–6 ED
4–6 Wochen
+ Gentamycin 3 mg/kg KG/Tag i.v. in 3 ED
4–6 Wochen
+ Cefotaxim 6 g/Tag i.v. 3 ED oder Ceftriaxon 2 g/Tag i.v. 1 ED
4–6 Wochen
Vancomycin 2 g /Tag i.v. 2 ED
>6 Wochen
+ Gentamycin 3 mg/kg KG/Tag i.v. 3 ED
2 Wochen
+ Rifampicin 900 mg /Tag i.v. in 3 ED
>6 Wochen
Klappenprothese
33.5.1 Antimikrobielle Therapie Prinzipiell müssen bakterizide Antibiotika parenteral über einen längeren Zeitraum appliziert werden. Hohe Serumkonzentrationen müssen gewährleistet sein, damit auch die im Inneren der Vegetation befindlichen Erreger per diffusionem mit ausreichend hoher Konzentration erreicht werden. Die Antibiotikatherapie sollte immer antibiogrammgerecht nach Identifizierung des Erregers und Prüfung der Antibiotikaresistenz erfolgen. . Tabelle 33.2 listet die Antibiotikatherapie der häufigsten Erreger der infektiösen Endokarditis auf. Eine ausführlichere Darstellung der antimikrobiellen Therapie der infektiösen Endokarditis findet sich in den entsprechenden Leitlinien [5, 9]. Bei Patienten mit akutem Verlauf kann nach Abnahme von Blutkulturen sofort mit einer empirischen Therapie begonnnen werden (. Tab. 33.3) und das Regime nach Erhalt des Antibiogramms angepasst werden. Eine Anmerkung zu den Leitlinien Die penicillinasefesten Penicilline wie Flucloxacillin weisen eher ungünstige pharmokokinetische Eigenschaften infolge einer bis zu 95%igen Plasmaeiweißbindung auf [10]. Eine relativ schlechte Gewebepenetration und somit ungenügende klinische Wirksamkeit ist daher häufig zu erwarten. In Abweichung zu den oben vorgestellten Empfehlungen therapieren wir daher in unserer Klinik die Staphylokokkenendokarditis, da sie in der Regel einen sehr aggressiven Verlauf zeigt, entsprechend den Empfehlungen von Stille et al. [10] generell mit einer Kombination aus Vancomycin, Rifampicin sowie zusätzlich in den ersten 2 Wochen Gentamycin. Bei unbekanntem Keim verwenden wir bis zur Erregerisolierung initial eine Therapiekombination aus Vancomycin, Gentamycin und einem Cephalosporin der Gruppe 3a (z. B. Ceftriaxon) sowie bei Klappenprothesen Rifampicin.
33.5.2 Management von Komplikationen Herzinsuffizienz, Sepsis. Die medikamentöse Therapie der akuten Herzinsuffizienz und Sepsis erfolgt entsprechend den jeweiligen Leitlinien (7 Kap. 30 und 63). Die akute Aortenklappeninsuf6 mit Lungenödem trotz medikamentöser Therapie stellt fizienz
eine Indikation zur Notfalloperation dar [5, 9]. Ebenso sollte bei akuter schwerer Mitralklappeninsuffizienz rasch eine operative Korrektur angestrebt werden. Bei passagerem AV-Block III. Grades infolge einer Klappenringabszedierung besteht die Indikation zur Versorgung mit einem passagerem Schrittmacher. Außerdem ist in der Regel eine operative Sanierung indiziert [9]. Septische Embolie. Die effektivste Maßnahme zur Reduktion
der Häufigkeit septischer Embolien ist die rasche Einleitung einer adäquaten antibiotischen Therapie [3]. Eine Behandlung mit ASS oder Heparin reduziert die Häufigkeit embolischer Ereignisse nicht, sondern erhöht das Risiko intrazerebraler Blutungen [3]. Daher sollten nur diejenigen Patienten weiter antikoaguliert werden, bei denen eine eindeutige von der Endokarditis unabhängige Indikation zur Antikoagulation besteht (z. B. Klappenprothese). Milzabszess. Bei etwa 5% der betroffenen Patienten ist mit Milzabszessen zu rechnen mit erhöhtem Risiko einer Milzruptur [5]. Neben einer perkutanen Drainage bei einzelnen Abszessen ist bei multiplen Einschmelzungen die Indikation zur Splenektomie gegeben [9]. Diese sollte dabei wenn möglich vor einem eventuell erforderlichen Klappenersatz durchgeführt werden. Schlaganfall. Der embolisch bedingte Schlaganfall, evtl. mit hä-
morrhagischer Komponente, ist eine der schwerwiegendsten Komplikationen der Endokarditis. Im Falle eines erforderlichen Klappenersatzes droht unter dem Einsatz der Herz-Lungen-Maschine eine intrazerebrale Einblutung. Innerhalb eines Zeitraumes von etwa 72 h nach einer zerebralen Embolie ist allerdings noch nicht mit einer Störung der Blut-Hirn-Schranke zu rechnen, sodass ein rein ischämischer Insult in diesem engen Zeitfenster keine Kontraindikation für einen operativen Eingriff ist [5]. Außerhalb dieses Zeitfensters muss, falls eine hämorrhagische Komponente ausgeschlossen ist, trotz erhöhter Einblutungsgefahr operiert werden bei nicht beherrschbarer Herzinsuffizienz oder therapierefraktärem septischem Geschehen aufgrund der desolaten Prognose unter rein medikamentöser Therapie [5]. Akutes Nierenversagen. Ein akutes Nierenversagen tritt bei etwa 1/3 der Patienten mit Endokarditis auf und führt zu einer Erhöhung des Mortalitätsrisikos um das 5-fache [11]. In der Regel kommt es nach Beherrschung des infektiösen Geschehens durch eine adäquate antibiotische Therapie zu einer Verbesserung der Nierenfunktion. Bei den schweren Verlaufsformen mit septi-
450
Kapitel 33 · Infektiöse Endokarditis
. Tabelle 33.4. Empfehlung zur chirurgischen Therapie der aktiven Endokarditis. (Nach [5, 9]) Insdikation
Evidenz
Akute AI oder MI mit kardialem Pumpversagen/Lungenödem
IB
Perivalvulärer Abszess, Fistelbildung
IB
Endokarditis durch schwer therapierbare Erreger (z. B. MRSA, Pilze)
IC
Schwere Sepsis und septischer Schock >48 h
IIaC
Persistierendes Fieber trotz adäquater antibiotischer Therapie über 5–10 Tage
IIaC
Persistierende Bakteriämie/Fungämie trotz adäquater antibiotischer Therapie
IC
Rezidivierende Embolien nach antibiotischer Therapie
IC
Frische mobile Vegetation an der Mitralklappe >10 mm
IIaC
Größenzunahme der Vegetation/Ausbreitung auf weitere native Klappen/lokal destruierender Verlauf
IIaC
Prothesenendokarditis1
IC
1 Prothesenendokarditis durch penicillinsensible Streptokokken rechtfertig zunächst eine konser vative Therapiestrategie.
33 schem Schock oder Verbrauchskoagulopathie ist häufig zumindest vorübergehend ein Nierenersatzverfahren erforderlich. 33.5.3 Indikationen zur chirurgischen Therapie In etwa 25–30% der Fälle ist im Rahmen der akuten Phase einer Endokarditis ein operatives Vorgehen notwendig, wobei immer eine sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen muss (. Tab. 33.4). Prinzipiell sollte bei jedem Patienten mit kompliziert verlaufender Endokarditis frühzeitig die Kontaktaufnahme mit der Herzchirurgie erfolgen bzw. sollte ein solcher Patient an ein Zentrum mit Herzchirurgie verlegt werden. 33.6
Monitoring
Zum optimalen Management von Patienten mit infektiöser Endokarditis ist ein engmaschiges Monitoring von klinischen, laborchemischen sowie echokardiographischen Befunden unabdingbar. Basis ist dabei die tägliche klinische Untersuchung mit Temperatur- und Blutdruckkontrolle, kardiopulmonaler Auskultation sowie neurologischem Status. Ferner ist gezielt nach neuen embolischen Phänomenen an Haut oder inneren Organe wie Lunge, Milz oder dem ZNS zu fahnden. Insbesondere bei Staphylokokken- oder Pilzendokarditis ist eine Kontrolluntersuchung des Augenhintergrundes sinnvoll [5]. Unter den unspezifischen Entzündungsparametern stellt das CRP den geeignetsten Parameter zur Überprüfung des Ansprechens der antiinfektiösen Therapie dar. Eine CRP-Bestimmung sollte mindestens 2- bis 3-mal pro Woche vorgenommen werden [5]. Bei erfolgreicher antibiotischer Therapie fällt das CRP innerhalb der 1. oder 2. Woche deutlich ab. Eine persistierende CRP-Erhöhung spricht für das Vorliegen einer nicht beherrschbaren Infektion. Neben dem CRP sollten ferner regelmäßig eine Bestimmung des Blutbildes sowie der Nierenfunktionsparameter erfolgen.
Insbesondere unter hoch dosierter Therapie mit E-Laktamantibiotika kann eine Inhibierung der Granulopoese mit Neutropenie entstehen. Anhand der MDRD-Formel kann über die Bestimmung des Serumkreatinins regelmäßig die glomeruläre Filtrationsleistung der Nieren überprüft werden. Eine Kontrolle des Gentamycin-Spiegels sollte 2- bis 3-mal pro Woche vorgenommen werden. Der Talspiegel sollte dabei <1,0 mg/l liegen. Bei Vancomycin sollte der Serumtalspiegel 5–10 mg/l betragen. Eine Serumspiegelbestimmung von Vancomycin ist bei normaler Nierenfunktion mindestens 1-mal wöchentlich durchzuführen. Bei Kombination mit einem Aminoglykosid sollten die Vancomycin-Spiegel 2- bis 3-mal pro Woche bestimmt werden [5]. Tägliche EKG-Kontrollen geben Hinweise auf neu aufgetretene AV-Überleitungsstörungen. Echokardiographische Verlaufsuntersuchungen sind mindestens 1-mal wöchentlich vorzunehmen, um rechtzeitig eine Befundprogression erfassen zu können [9]. Wir führen zumindest in der Anfangsphase ebenfalls 1mal pro Woche eine TEE-Untersuchung durch, da nur so eine Größenzunahme der Vegetationen, Ausbildung von Abszessen oder andere lokale Komplikationen sicher erfasst werden können. Eine erneute TEE-Untersuchung sollte ferner umgehend bei progredienter Herzinsuffizienz, bei Änderung des Auskultationsbefundes sowie neu aufgetretenen AV-Überleitungsstörungen angestrebt werden. Nach Komplettierung der antibiotischen Behandlung ist außerdem eine abschließende echokardiographische Befunddokumentation sinnvoll.
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33
34 Der hypertensive Notfall M. Barenbrock, K.H. Rahn
34.1
Klinische Eingrenzung
–454
34.1.1
Bedeutung der Blutdruckhöhe –454
34.2
Ätiologie und Pathophysiologie
34.2.1 34.2.2
Ätiologie –454 Pathophysiologie –455
34.3
Krankheitsbilder beim hyper tensiven Notfall
34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4
Hypertensive Enzephalopathie –455 Linksherzversagen –455 Angina pectoris und Myokardinfarkt –455 Aortendissektion –456
34.4
Therapie
34.4.1 34.4.2
Medikamente –457 Behandlung der Eklampsie –458
–456
Literatur –458
–454
–455
454
Kapitel 34 · Der hypertensive Notfall
> Definition hypertensiver Notfall Der hypertensive Notfall wird definiert als eine Situation mit akuter Endorganschädigung, die eine sofortige Blutdrucksenkung erfordert, um eine lebensbedrohliche Schädigung von Endorganen zu beheben oder zu verhindern [7].
34.1
34
Klinische Eingrenzung
Entsprechend den Empfehlungen des Joint National Committee on Detection, Evaluation and Treatment on High Blood Pressure 2003 [7] wird bei kritischer Blutdruckerhöhung in Abhängigkeit von dem Vorhandensein oder Fehlen einer Endorganerkrankung zwischen dem hypertensiven Notfall und der hypertensiven Dringlichkeit unterschieden. Der früher gebräuchliche Begriff der hypertensiven Krise, der einen Zustand stark erhöhter Blutdruckwerte mit vital bedrohlichen Folgeerscheinungen kennzeichnet, wird in diesen Empfehlungen nicht mehr verwendet. Im klinischen Alltag werden oft auch akute hypertensive Blutdruckentgleisungen ohne drohende Endorganschäden nicht korrekt als hypertensive Krise bezeichnet. Zum hypertensiven Notfall, bei dem eine sofortige Blutdrucksenkung notwendig ist, werden gezählt: 4 akute hypertensive Enzephalopathie, 4 akutes Linksherzversagen mit Lungenödem, 4 Aortendissektion, 4 Eklampsie, 4 Phäochromozytomkrise, 4 instabile Angina pectoris, 4 Myokardinfarkt. Hirnblutung, Subarachnoidalblutung und ischämischer Hirninfarkt stellen nur bei sehr starken Blutdruckanstiegen einen hypertensiven Notfall dar, bei dem eine Blutdrucksenkung in jedem Fall sehr vorsichtig erfolgen muss [6, 12]. Der hypertensive Notfall kann von der malignen Hypertonie abgegrenzt werden, bei der sich als Folge der ausgeprägten Blut. Tabelle 34.1. Hypertensiver Notfall und hypertensive Dringlichkeit. (Nach [6]) Hypertensive Notfallsituationen
Hypertensive Dringlichkeit
Hypertensive Enzephalopathie
Unkomplizierte maligne Hypertonie
Akutes Linksherzversagen
Perioperative Hypertonie
Akute Aortendissektion
Clonidinentzugssyndrom
Eklampsie Hypertonie mit instabiler Angina pectoris und Myokardinfarkt Phäochromozytomkrise Schwere Hypertonie mit Hirnblutung Akute Subarachnoidalblutung oder ischämischer Hirninfarkt
druckerhöhung eine fibrinoide Nekrose von Arteriolen in Nieren, Darm und Gehirn entwickelt [8]. 34.1.1 Bedeutung der Blutdruckhöhe Von wesentlicher Bedeutung ist, dass für die Entwicklung eines hypertensiven Notfalls die absolute Blutdruckhöhe häufig nicht entscheidend ist. Patienten mit chronischer Blutdruckerhöhung tolerieren deutlich höhere Blutdruckwerte als ehemals normotensive Personen. Ein im Verlauf von mehreren Wochen erfolgender Blutdruckanstieg auf Werte bis zu 280/150 mm Hg verursacht oft keine Symptome. Schwangere mit Eklampsie oder Jugendliche mit akuter Glomerulonephritis können dagegen bereits bei diastolischen Blutdruckwerten von 100 mm Hg eine hypertensive Enzephalopathie entwickeln. > Definition hypertensive Dringlichkeit Die hypertensive Dringlichkeit wird als eine Situation mit unmittelbar drohender, aber noch nicht offensichtlicher akuter Endorganschädigung definiert, bei der ein hoher Blutdruck innerhalb von 24 h gesenkt werden sollte [7] (. Tab. 34.1).
Die klinischen Zeichen einer hypertensiven Dringlichkeit sind unspezifisch, häufige Symptome sind Kopfschmerzen, Epistaxis und psychomotorische Agitiertheit. Die Abgrenzung der hypertensiven Dringlichkeit von einer vorübergehenden Blutdrucksteigerung ohne drohenden Endorganschaden ist häufig schwierig. 34.2
Ätiologie und Pathophysiologie
34.2.1 Ätiologie In der Regel entwickelt sich ein hypertensiver Notfall bei einer bereits bestehenden chronischen Hypertonie. Meistens ist eine unzureichende antihypertensive Therapie, eine Incompliance bei der Einnahme oder ein Absetzen der antihypertensiven Medikation ursächlich [2]. Eine akute Blutdruckerhöhung bei einem bisherigen Normotoniker, beispielsweise in Folge einer akuten Glomerulonephritis oder Eklampsie, ist dagegen eine seltene Ursache eines hypertensiven Notfalls. Essenzielle und renale Hypertonie. Eine chronische Niereninsuffizienz ist eine häufige Grunderkrankung. Ätiologisch ist dabei oft eine Überwässerung von großer Bedeutung. Der hypertensive Notfall wird gehäuft auch bei der renovaskulären Hypertonie beobachtet. Bei essenziellen Hypertonikern führt v. a. eine über längere Zeit inadäquate antihypertensive Behandlung zu einem hypertensiven Notfall. Phäochromozytom. Beim Phäochromozytom pfropft sich ein hypertensiver Notfall nicht selten auf einen bestehenden Dauerhochdruck auf. Die Ursache für einen hypertensiven Notfall beim Phäochromozytom ist eine plötzliche Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin aus den chromaffinen Tumoren, wahrscheinlich infolge von Nekrosen oder Blutungen im Tumor. Andere Ursachen. Das abrupte Absetzen von zentral wirkenden Antihypertensiva wie Clonidin kann ebenfalls zu einem hyper-
455 34.3 · Krankheitsbilder beim hypertensiven Notfall
tensiven Notfall führen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass gelegentlich der Missbrauch von sympathomimetischen Substanzen wie Kokain oder Amphetamin für die Entwicklung eines hypertensiven Notfalls verantwortlich ist. 34.2.2 Pathophysiologie Der hypertensive Notfall ist durch eine Störung autoregulatorischer Mechanismen der Durchblutung gekennzeichnet. Autoregulatorische Mechanismen spielen für die Durchblutung von Gehirn, Myokard und Nieren eine wichtige Rolle und sollen eine konstante Organdurchblutung gewährleisten. Autoregulation der Hirndurchblutung. Besonders gut ist die Regulation der Hirndurchblutung untersucht [9]: Die Hirngefäße reagieren auf einen Blutdruckanstieg mit einer Vasokonstriktion bzw. auf einen Blutdruckabfall mit einer Vasodilatation, sodass der zerebrale Blutfluss bei einem arteriellen Mitteldruck von 60–150 mmHg konstant bleibt. Bei der hypertensiven Gefäßkrankheit sind in Abhängigkeit von der Schwere und Dauer der Bluthochdruckkrankheit die Normwerte der zerebralen Autoregulation in Richtung höherer Druckwerte verschoben. Diese Normwertverschiebung kann sich durch eine protrahierte Blutdrucksenkung nach einigen Wochen wieder normalisieren. Störungen der Autoregulation. Beim hypertensiven Notfall
spielen wahrscheinlich die Überregulation im Sinne einer Vasokonstriktion und die Durchbrechung der Autoregulation mit Überdehnung der Arteriolen eine wichtige Rolle. Der Zusammenbruch der Autoregulation mit druckpassiver Durchblutungssteigerung führt zur Hyperperfusion und Zunahme der Kapillarpermeabilität mit Ödembildung. Wegen der zu höheren Druckwerten verschobenen Autoregulation kann anderseits eine starke, plötzliche Blutdrucksenkung den erhöhten autoregulativen »Normwert« unterschreiten, sodass die Durchblutung abnimmt und Ischämien auftreten können. ! Cave Nicht selten werden daher bei zu starker Blutdrucksenkung neurologische Ausfälle beobachtet [2, 12].
34.3
Krankheitsbilder beim hypertensiven Notfall
34.3.1 Hyper tensive Enzephalopathie Mit Zusammenbruch der Autoregulation der Hirndurchblutung entwickelt sich eine Hyperperfusion mit vermehrter Permeabilität, sodass ein Hirnödem auftreten kann. Mikroskopisch sind nekrotische Arteriolen, Mikroinfarkte und kleine Blutungsherde nachweisbar.
Klinische Zeichen Die klinischen Zeichen der hypertensiven Enzephalopathie sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Verwirrtheitszustände, Sehstörungen, gelegentlich auch zerebrale Krampfanfälle. Mit zunehmender Schwere kann das Sensorium bis zum manifesten Koma eintrüben. Sehstörungen umfassen Verschwommensehen und Skotom bis hin zur Blindheit. Auch können neurologische Ausfälle in Form von Aphasie, Hemiparese, Nystagmus und Re-
34
flexanomalien auftreten. Differenzialdiagnostisch müssen Hirnblutung, Hirninfarkt und Subarachnoidalblutung von der hypertensiven Enzephalopathie abgegrenzt werden. Es ist von klinischer Bedeutung, dass bei zerebrovaskulären Ereignissen oder Hirntrauma eine Reizung der Kreislaufzentren der Medulla oblongata und/oder des Hypothalamus auftreten kann, die für eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems mit reflektorischer Blutdrucksteigerung verantwortlich ist. Charakteristisch für die Hirnblutung oder den Hirninfarkt ist die rasche oder plötzliche Manifestation irreversibler, neurologischer Symptome. Bei der hypertensiven Enzephalopathie dagegen manifestieren sich die neurologischen Symptome häufig subakut, d. h. über einen Zeitraum von 24–48 h und sind nach antihypertensiver Behandlung reversibel.
Diagnostik Eine wichtige diagnostische Bedeutung hat die Fundoskopie, bei der eine hypertensive Retinopathie Grad 3–4 nach Keith-Wagener beobachtet werden kann: Engstellung der Arterien, Papillenschwellung, weiche und harte Exsudate und gelegentlich auch präretinale Blutungen. Die Computertomographie des Schädels spielt bei der Differenzialdiagnose von hypertensiver Enzephalopathie und Hirnblutung bzw. -infarkt ebenfalls eine wichtige Rolle. 34.3.2 Linksherzversagen Eine plötzliche Blutdruckerhöhung geht mit einem starken Anstieg des peripheren Gefäßwiderstands und der linksventrikulären Nachlast einher und kann so zu einer akuten Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem führen. Der ausgeprägte Anstieg der systolischen Wandspannung und des O2-Bedarfs des Myokards kann besonders bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit zu einer lebensbedrohlichen Linksherzinsuffizienz führen. Bei bisher normotensiven Patienten ist gelegentlich ein Phäochromozytom mit plötzlicher exzessiver Katecholaminausschüttung für eine akute Linksherzinsuffizienz verantwortlich.
Klinisches Bild Leitsymptom der akuten Linksherzinsuffizienz ist die Luftnot. Nicht selten wird ein starker Reizhusten (Stauungshusten) beobachtet, dabei kann blutig tingiertes oder serös-schaumiges Sputum ausgeworfen werden. Auskultatorisch können nichtklingende Rasselgeräusche nachgewiesen werden, die sich in Abhängigkeit vom Ausmaß der Linksherzinsuffizienz über der Lunge von basal nach apikal ausdehnen. Bei der Herzauskultation weisen ein 3. Herzton durch verstärkte Ventrikelfüllung oder ein vierter Herzton durch verstärkte Vorhofkontraktion (Galopprhythmus) auf eine akute Herzdekompensation hin. In der Röntgenuntersuchung des Thorax werden neben einer Vergrößerung des Herzschattens Zeichen eines interstitiellen bzw. intraalveolären Lungenödems beobachtet. Die röntgenologischen Zeichen einer Stauungslunge können bei akuter Linksherzinsuffizienz auch ohne Vergrößerung des Herzschattens nachweisbar sein. 34.3.3 Angina pectoris und Myokardinfarkt Eine Blutdrucksteigerung erhöht den O2-Bedarf des Myokards. Bei Patienten mit einem normalen Koronarsystem kann die Per-
456
Kapitel 34 · Der hypertensive Notfall
fusion des Myokards durch Gefäßdilatation verbessert werden. Bei der hypertensiven Herzerkrankung dagegen ist die Koronarreserve vermindert, sodass die Kompensationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Besonders bei gleichzeitig bestehender koronarer Herzerkrankung kann die Myokardperfusion kritisch gestört sein, sodass ein plötzlicher Blutdruckanstieg zu Angina pectoris und zum Myokardinfarkt führen kann. Leitsymptom ist der linksthorakale Schmerz, der häufig in die linke Schulter, den Arm, den Unterkiefer oder das Epigastrium ausstrahlt. Bei einem Myokardinfarkt ist der Schmerz langandauernd und lässt sich durch Gabe von Nitroglyzerin nicht beseitigen. 34.3.4 Aor tendissektion
34
Die akute Aortendisssektion [3] tritt am häufigsten bei Patienten mit chronischer arterieller Hypertonie in der 6. Lebensdekade auf und kann auf degenerative Gefäßwandveränderungen zurückgeführt werden. Ursache bei Patienten mit arterieller Hypertonie ist oft eine Ernährungsstörung der Media, die durch Intimaverdickung und durch eine sklerotische Einengung der Vasa vasorum hervorgerufen wird. Durch Einriss der Aortenintima kommt es zu einer Blutung in die Media mit Aufspaltung der Aortenwand innerhalb der Media. Die fortschreitende Blutsäule bildet dabei einen falschen Kanal, der sich von dem initialen Intimaeinriss ausbreitet und die Blutversorgung der von der Aorta abzweigenden Arterien behindern kann. Folgende Prädilektionsstellen werden beschrieben: 4 Aorta ascendens, 5 cm oberhalb der Aortenklappe, 4 Aorta descendens, unmittelbar distal des Abgangs der linken A. subclavia. Die durch die Dissektion zerstörte Aortenwand kann sofort oder auch zu einem späteren Zeitpunkt rupturieren und zu einer Blutung in das Perikard mit Herzbeuteltamponade oder in Mediastinalorgane, Pleura oder Retroperitoneum führen. Leitsymptom der Aortendissektion ist der schlagartig auftretende, sehr starke Schmerz im Thorax-, Abdominal- oder Lumbalbereich. Durch Verlegung aus der Aorta abgehender Arterien kommt es zu
Durchblutungsstörungen in den entsprechenden Versorgungsgebieten. Differenzialdiagnostisch müssen v. a. der Myokardinfarkt und embolische Ereignisse berücksichtigt werden. 34.4
Therapie
Beim hypertensivem Notfall ist eine sofortige, aber kontrollierte Blutdrucksenkung er forderlich. Mit Ausnahme der akuten Linksherzinsuffizienz und der Aortendissektion sollte der systolische Blutdruck in der Regel um nicht mehr als 15–25% innerhalb der ersten 1–2 h gesenkt werden [1,2].
Beim akuten ischämischen Schlaganfall ist gemäß den Empfehlungen der europäischen neurologischen Stroke Initiative (EUSI) eine sofortige antihypertensive Behandlung nur bei Blutdruckwerten von >200–220/120 mm Hg sinnvoll, beim hämorrhagischen Schlaganfall nur bei Blutdruckwerten von >180/105 mm Hg. Der Blutdruck sollte dabei um nicht mehr als 15 mm Hg gesenkt werden [www.eusi-stroke.com, 12]. Bei Linksherzinsuffizienz ist häufig eine raschere Blutdrucksenkung notwendig. Bei akuter Aortendissektion ist – im Gegensatz zu den anderen hypertensiven Notfällen – eine sofortige Blutdrucksenkung innerhalb von 20 min auf systolisch <120 mm Hg notwendig [3, 11]. ! Cave Eine zu rasche Blutdrucksenkung kann zu neurologischen Ausfällen, Blindheit oder zu einer akuten Koronarinsuffienz führen [2, 12, 13].
Für die medikamentöse Therapie des hypertensiven Notfalls sind deshalb Substanzen zu bevorzugen, die gut steuerbar sind [2, 7, 14]. Nach oraler Gabe von Antihypertensiva ist die Blutdrucksenkung oft nicht titrierbar und nur schwer umkehrbar [2]. Be-
. Tabelle 34.2. Auswahl von Antihypertensiva, die zur Behandlung des hypertensiven Notfalls eingesetzt werden können. Medikament
Handelsname
Dosierung
Urapidil
Ebrantil (Amp. 25, 50 mg)
4 12,5–25 mg i. v.
Glyzeroltrinitrat
Nitrolingual (Amp. 5, 25, 50 mg) (Kapsel 0,8 mg, Hub 0,4 mg)
4 0,5–5 µg//kg KG/min i.v. 4 0,8–1,2 mg s.l. oder Hub
Clonidin
Catapressan, Haemiton (Amp. 0,15 mg)
4 0,075 mg i.v.
Esmolol
Brevibloc (Amp. 100 mg)
4 25–50 mg i.v.
Enalaprilat
EnaHexal i.v. (Amp. 1,25 mg)
4 0,625 mg i.v.
Dihydralazin
Nepresol (Amp. 25 mg)
4 12,5–25 mg i.v.
Furosemid
Lasix (Amp. 20, 40, 250 mg)
4 20–40 mg i.v.
Nitroprussidnatrium
Nipruss (Amp. 60 mg)
4 0,3–2 μg//kg KG/min
457 34.4 · Therapie
sonders von Nifedipin ist bekannt, dass es den Blutdruck stark senken kann [4,10]. Bei kontinuierlicher, intravenöser Zufuhr oder Bolusgabe in kleinen Intervallen ist die Blutdrucksenkung besser steuerbar. Beim hypertensiven Notfall wird aus diesem Grund eine parenterale Therapie empfohlen [7]. Bei hypertensiver Dringlichkeit dagegen reicht meistens die orale Gabe eines langwirkenden Antihypertensivums in der üblichen Dosierung unter regelmäßiger Blutdruckkontrolle aus [7]. In . Tabelle 34.2 ist eine Auswahl von Antihypertensiva dargestellt, die zur Behandlung des hypertensiven Notfalls eingesetzt werden können. Nach den Empfehlungen [1] und der Leitlinie (www.AWMF-online.de) der Deutschen Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdrucks kommt als parenterale Therapie in erster Linie Urapidil, Nitroglyzerin, Dihydralazin oder Clonidin in Betracht. 34.4.1 Medikamente Die Medikation beim hypertensiven Notfall sollte in jedem Fall individuell festgelegt werden. Die Auswahl der Medikation sollte sich nach bekannten Indikationseinschränkungen, Begleitumständen und der persönlichen Erfahrung richten [2, 8, 14]. Die Differenzialtherapie des hypertensiven Notfalls ist in . Tabelle 34.3 dargestellt.
Urapidil Urapidil wird in der Regel in einer Dosierung von 25 mg unter Blutdruckkontrolle langsam intravenös verabreicht, bei bereits vorbehandelten Patienten sollte die initiale Dosis auf 12,5 mg reduziert werden. Die antihypertensive Wirkung tritt nach 10–15 min ein und hält durchschnittlich 4–6 h an. Wegen der zentralen Wirkung bewirkt Urapidil keine reflektorische Tachykardie. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass Urapidil im Gegensatz zu direkten Vasodilatatoren nicht den intrakraniellen Druck erhöht und daher auch in Situationen mit Hirndruckgefahr empfohlen werden kann. D-Blocker sind Mittel der Wahl, wenn anamnestisch der Verdacht auf ein Phäochromozytom geäußert werden muss.
34
Nitroglyzerin Nitroglyzerin ist das bevorzugte Medikament, wenn gleichzeitig Angina pectoris, Herzinfarkt oder Linksherzinsuffizienz bestehen. Bei zerebralem Endorganschaden kann Nitroglycerin durch Gefäßdilatation den Hirndruck und deshalb die zerebrale Minderperfusion verstärken.
Nifedipin Nifedipin kann einen unkontrollierbaren, starken Blutdruckabfall hervorrufen. Außerdem muss beachtet werden, dass Nifedipin zu einer reflexbedingten Aktivierung des sympathischen Nervensystems führt [4, 10]. Bei Herzinsuffizienz, instabiler Angina pectoris, Myokardinfarkt und Aortendissektion sollte Nifedipin deshalb nicht eingesetzt werden. ! Cave Bei instabiler Angina pectoris und Myokardinfarkt sind Kalziumantagonisten vom Dihydropyridin-Typ (z. B. Nifedipin oder Nitrendipin) kontraindiziert. Dies gilt – wegen der reflektorischen Steigerung des Herzzeitvolumens – auch bei der Aortendissektion [2, 3].
Clonidin Clonidin wird in einer Dosierung von 75 Pg, aufgezogen in 10 ml 0,9%iger Kochsalzlösung, langsam unter Blutdruckkontrolle injiziert. Wegen der sedierenden und vigilanzmindernden Wirkung sollte Clonidin bei Patienten mit neurologischem Defizit nicht verabreicht werden. Bei Bradykardie, Sick-Sinus-Syndrom oder AV-Block II. oder III. Grades sollte Clonidin ebenfalls vermieden werden.
β-Blocker Bei Aortendissektion sollten E-Blocker eingesetzt werden [3]. Vasodilatatoren, die eine reflektorische Steigerung des Herzminutenvolumens hervorrufen können, sollten bei Aortendissektion nicht eingesetzt werden. Besonders günstig scheint der EBlocker Esmolol zu sein, der bei kontinuierlicher intravenöser Zufuhr wegen seiner ultrakurzen Halbwertszeit hervorragend
. Tabelle 34.3. Differenzialtherapie des hypertensiven Notfalls Notfallsituation
Günstig
Ungünstig
Hypertensive Enzephalopathie
Urapidil
Clonidin, Nifedipin, Nitrogylcerin
Akutes Linksherzversagen
Nitroglyzerin, Furosemid, ACE-Hemmer, Nitroprussidnatrium
Dihydralazin, Nifedipin
Angina pectoris, Myokardinfarkt
Nitroglyzerin, β-Blocker, ACE-Hemmer
Nifedipin (kontraindiziert)
Akute Aortendissektion
β-Blocker + Nitroprussidnatrium
Nifedipin, Dihydralazin
Hypertensiver Notfall bei Phäochromozytom
Urapidil
Monotherapie mit β-Blocker (kontraindiziert)
Eklampsie
Dihydralazin, Urapidil
Hypertensiver Notfall bei Niereninsuffizienz
Nifedipin, Furosemid (evtl. Hämodialyse)
Hirnblutung, ischämischer Hirninfarkt (Blutdrucksenkung nur bei stark erhöhten Blutdruckwerten >220/120 mm Hg)
Urapidil
Clonidin
458
Kapitel 34 · Der hypertensive Notfall
steuerbar ist. Falls notwendig, wird eine Kombinationstherapie mit Nitroprussidnatrium empfohlen.
Enalaprilat Beim hypertensiven Notfall kann durch intravenöses Enalaprilat in einer initialen Dosierung von 0,625 mg eine adäquate und nebenwirkungsarme Blutdrucksenkung erreicht werden [5]. Die Behandlung mit Enalaprilat scheint besonders günstig bei Patienten mit akutem Lungenödem [2].
Furosemid Furosemid ist besonders bei Patienten mit Linksherzversagen oder Niereninsuffizienz indiziert und sollte zusätzlich in einer Dosis von 20–40 mg i.v. verabreicht werden. Zu beachten ist, dass Patienten mit hypertensivem Notfall häufig dehydriert sind. Vor Anwendung von Furosemid sollte daher bei Patienten mit hypertensivem Notfall eine Dehydratation ausgeschlossen werden. Bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz mit Hyperhydratation ist gelegentlich auch die Gabe von Furosemid nicht ausreichend, sodass in dieser Situation eine Hämodialyse- oder Hämofiltrationsbehandlung erwogen werden muss.
Nitroprussidnatrium
34
Nitroprussidnatrium kommt besonders bei therapierefraktärer Blutdrucksteigerung in Betracht. Die Substanz bewirkt eine direkte Dilatation von Arterien und Venen und dadurch eine sofortige und dosisabhängige Blutdrucksenkung. Als initiale Infusionsgeschwindigkeit werden 0,3 Pg/kg KG/min empfohlen. Wegen der kurzen Halbwertszeit kann der Blutdruck genau titriert werden; nach Absetzen der Substanz lässt der blutdrucksenkende Effekt innerhalb von 2–3 min nach. Zyanidproblem. Hauptproblem der Therapie mit Nitroprussid-
natrium ist die Gefahr einer Thiozyanatvergiftung bei höherer Dosierung (über 3 Pg/kg KG/min) oder längerer Infusionsdauer (>48–72 h). Allerdings kann es bei Einschränkungen der Leberoder Nierenfunktion auch schon eher zu Intoxikationserscheinungen kommen. Im Zweifelsfall sollte der Thiozyanatspiegel im Blut kontrolliert werden; bei Serumspiegelwerten über 0,1 mg/ ml oder bei Auftreten von Abdominalschmerzen, Übelkeit, Desorientiertheit, Krampfanfällen oder psychotischen Veränderungen stellt sich die Indikation zur dringenden Hämodialyse. Die Antidotbehandlung erfolgt mit Natriumthiosulfat. Eine »präventive« Gabe von Natriumthiosulfat parallel zur Infusion von Natriumnitroprussid kann bei prolongierter oder hochdosierter Anwendung und insbesondere bei erheblicher Leberfunktionsstörung erwogen werden. 34.4.2 Behandlung der Eklampsie Die Notfalltherapie bei drohender oder manifester Eklampsie besteht prinzipiell aus einer kontrollierten Blutdrucksenkung mit Dihydralazin oder Urapidil und einer antikonvulsiven Therapie mit Diazepam oder Magnesiumsulfat. Die antihypertensive Therapie wird am besten in Form einer Minibolustherapie mit Dihydralazin (initial 6,25 mg i.v.) oder Urapidil (initial 12,5 mg i.v.) durchgeführt. Urapidil scheint besonders bei Hirndruck vorteilhaft zu sein, da der intrazerebrale Druck durch diese Substanz nicht erhöht wird (7 Kap. 81).
Literatur 1. Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdrucks (2003) Empfehlungen zur Hochdruckbehandlung, 18. Auflage 2. Elliot WJ (2006) Clinical Features in the Management of Selected Hypertensive Emergencies. Prog Cardiovasc Dis 48: 316–325 3. Erbel R, Alfonso F, Boileau C, Dirsch O, Eber B, Haverich A, Rakowski H, Struyven J, Radegran K, Sechtem U, Taylor J, Zollikofer C, Klein WW, Mulder B, Providencia LA, Task Force on Aortic dissection, European Society of Cardiology (2001) Diagnosis and management of aortic dissection. Eur Heart J 22: 1642–1681 : In der Übersicht werden die Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zur Diagnostik und Therapie der akuten Aortendissektion dargestellt. 4. Grossman E, Messerli FH, Grozicki T, Kowey P (1996) Should a moratorium be placed on sublingual nifedipine capsules given for hypertensive emergencies and pseudoemergencies. JAMA 27: 1328–1331 : Obwohl zahlreiche Hinweise ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei der Anwendung von Nifedipin-Kapseln belegen, wird in der klinischen Praxis bei Blutdruckerhöhung auch heute noch kurzwirksames Nifedipin eingesetzt. In dem Review wird dargestellt, dass der therapeutische Nutzen von Nifedipin-Kapseln nicht belegt ist, jedoch zahlreiche Untersuchungen ein erhöhtes Risiko unkontrollierter Blutdruckabfälle und ischämischer Komplikationen sowie eine reflexbedingte Sympathikusaktivierung nachweisen. : Wegen des hohen Risikos und des fehlenden Nachweises eines therapeutischen Nutzens sollen deshalb Nifedipin-Kapseln nicht mehr beim hypertensiven Notfall und bei hypertensiver Dringlichkeit eingesetzt werden. 5. Hirschl MM, Binder M, Herkner H, Brunner M, Mullner M, Sterz F, Laggner AN (1995) Clinical evaluation of different doses of intravenous enalaprilat in patients with hypertensive crisis. Arch Intern Med 155: 2217–2223 : In dieser Untersuchung wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von intravenösem Enalaprilat in einer Dosierung von 0,625–5 mg bei Patienten mit einem hypertensiven Notfall untersucht. Schwerwiegende Nebenwirkungen wurden bei der Behandlung nicht beobachtet. Da das Ausmaß der Blutdrucksenkung und die Erfolgsrate nicht durch Erhöhung der initialen Enalaprilat-Dosis zunahm, wird von den Autoren eine initiale Enalaprilat-Dosis von 0,625 mg empfohlen. 6. Joint National Committee on Detection, Evaluation and Treatment of High Blood Pressure (1997) The sixth report. Arch Intern Med 157: 2413–2446 7. Joint National Committee on Prevention, Evaluation and Treatment of High Blood Pressure (2003) The Seventh Report. Arch Intern Med 289: 2560–2572 : Der Bericht ist die neueste Fassung der Leitlinie zum Bluthochdruck des amerikanischen National Institute of Health und des National High Blood Pressure Education Program. Der Bericht kann im Netz vom Server des National Heart, Lung and Blood Institute kopiert werden (www.nhlbi.nih.gov/guidelines/hypertension/jncintro.htm). 8. Kitiyakara C, Guzman NJ (1998) Malignant hypertension and hypertensive emergencies. J Am Soc Nephrol 9: 133–142 9. Kontos HA (1981) Regulation of cerebral circulation. Ann Rev Physiol 43: 387–407 10. Lüscher TF, Wenzel RR, Noll G (1996) Kalziumantagonisten in der Kontroverse: gibt es eine rationale Differentialtherapie? Dtsch Med Wochenschr 121: 532–538 11. Ouriel K (2002) Descending thoracic aortic dissection: Clinical aspects and anatomic correlations. Semin Vasc Surg 15: 83–88
459 Literatur
12. Semplicini A, Benetton V, Mascagna V, Macchini L, Resaldi A, Sartori M, Calò L (2006) Problems related to short-term antihypertensive therapy in acute ischemic stroke. Clin Exp Hypertens 28: 327–334 : Die Beziehung zwischen Blutdruckhöhe und Prognose von Patienten mit akutem Schlaganfall ist nicht ausreichend untersucht. Wegen fehlender Studien sind auch die Indikation einer antihypertensiven Therapie und der Zielblutdruck nicht ausreichend gesichert. Die Definition des hypertensiven Notfalls bei Patienten mit akutem Schlaganfall ist deshalb unsicher. In der Übersicht werden die Probleme der antihypertensiven Behandlung beim hypertensiven Notfall mit akutem Schlaganfall und die aktuellen Therapieempfehlungen dargestellt. 13. Strandgaard S, Paulson OB (1994) Cerebrovascular consequences of hypertension. Lancet 344: 519–521 14. Vaughan CJ, Delanty N (2000) Hypertensive emergencies. Lancet 356: 411–417
34
35 Lungenarterienembolie H.-D. Walmrath
35.1
Epidemiologie, Prognose, Risikofaktoren
35.2
Symptome und Klinik
35.3
Diagnostik
35.3.1 35.3.2 35.3.3 35.3.4
Basisdiagnostik –462 Klinische Wahrscheinlichkeit einer Lungenarterienembolie –462 Spezifische Diagnostik einer Lungenarterienembolie –463 Diagnostischer Algorithmus bei hämodynamisch und respiratorisch stabilen Patienten –463 Diagnostik bei Schwangeren –464 Risikostratifizierung mit Echokardiographie und kardialen Biomarkern –464 Diagnostischer Algorithmus bei hämodynamisch und respiratorisch instabilen Patienten –464
35.3.5 35.3.6 35.3.7
–462
–462
–462
35.4
Therapie der akuten Lungenar terienembolie
35.4.1
Therapie in Abhängigkeit von den Risikogruppen der hämodynamischen Stabilität –465 Passagerer V.-cava-Filter –465
35.4.2
Literatur –465
–464
462
Kapitel 35 · Lungenarterienembolie
> Definition Die Lungenarterienembolie ist die mechanische Verlegung des pulmonalen Gefäßquerschnittes mit Thromben, die dem venösen Gefäßsystem oder dem rechten Herzen entstammen. Hieraus resultiert eine akute Beeinträchtigung der pulmonalen Zirkulation mit konsekutiver Rechtsherzbelastung und Störung des Gasaustausches, die sekundär mit peripherem Blutdruckabfall verbunden sein kann. Der Schweregrad einer Lungenarterienembolie kann zwischen gering und symptomlos und fulminant mit schwerster arterieller Hypoxie, Rechtsherzversagen (akutes Cor pulmonale) und Schock variieren.
35.1
Das klinische Spektrum der Lungenembolie reicht von völliger Beschwerdefreiheit über sehr häufig geäußerte Symptome wie Dyspnoe, Pleuraschmerz, Husten, Beinschwellung, Beinschmerzen, Palpitationen, Hämoptysen, Angina pectoris (Stein et al. 1991) bis hin zur Synkope und akutem Rechtsherzversagen. Keines dieser Symptome besitzt jedoch pathognomonischen Stellenwert, sondern allenfalls richtungsweisenden Charakter für die Diagnose einer Lungenembolie. Ähnlich verhält es sich bei der klinischen Befunderhebung. Am häufigsten imponieren: Tachypnoe, Dyspnoe, Rasselgeräusche, Tachykardie, ein betonter oder gespaltener 2. Herzton, Thrombosezeichen, Fieber und Giemen (Stein et al. 1991).
Epidemiologie, Prognose, Risikofaktoren 35.3
Die Inzidenz tödlicher Lungenembolien wird in Deutschland auf zirka 20.000 pro Jahr geschätzt. Es werden aber nur lediglich 30% der autoptisch gesicherten pulmonalen Embolien auch klinisch diagnostiziert. i Entscheidend ist es also, an die Möglichkeit einer Lungenarterienembolie zu denken.
Dies ist umso wichtiger, da 90% der tödlichen Ausgänge innerhalb der ersten beiden Stunden nach Symptombeginn auftreten. Darüber hinaus kann die Sterblichkeit nach Diagnosestellung von 30% auf 8% gesenkt werden.
35
i Eine schnelle Diagnostik und eine konsequente Therapieeinleitung sind also für die Prognose entscheidend.
95% aller Lungenembolien sind Folge einer Thrombose im Bereich der tiefen Beinvenen, selten sind Thromben aus den oberen Extremitäten oder dem rechten Herzen verantwortlich. Somit ist die Lungenembolie fast ausnahmslos mit einer Phlebothrombose vergesellschaftet, und zu deren disponierenden Faktoren zählen: 4 Gerinnungsveränderungen: Mangel an AT III, Protein C, Protein S, Resistenz gegen aktiviertes Protein C, Lupus anticoagulans, Erhöhung des Fibrinogens bei Entzündungen oder Malignomen, Thrombozytose, Erhöhung der Blutviskosität bei diuretischer Therapie. 4 Reduzierter venöser Blutfluss: Immobilisation, kardiale Insuffizienz, Operationen und Verbände, langes Sitzen (Bus, Flugzeug), Schwangerschaft, Varikosis. 4 Allgemeine Faktoren: zunehmendes Lebensalter, weibliches Geschlecht, Adipositas, die Einnahme von Ovulationshemmern, v. a. in Verbindung mit Nikotinkonsum, Malignome, besonders des Gastrointestinaltraktes. Die enge Assoziation von Venenthrombose und Lungenembolie impliziert, dass die Inzidenz der Lungenarterienembolie durch die Identifizierung der Patienten mit einem hohen Thromboserisiko, ihre Prophylaxe bzw. ihre rechtzeitige Erkennung und Therapie am effektivsten gesenkt werden kann. 35.2
Symptome und Klinik
Die Symptomatik einer Lungenembolie wird in erster Linie durch das Ausmaß (Schweregrad) des embolischen Geschehens und durch vorhandene Vorerkrankungen bestimmt.
Diagnostik
35.3.1 Basisdiagnostik Die Basisdiagnostik setzt sich zusammen aus der Erhebung der Anamnese, körperlicher Untersuchung, Bestimmung der Viatalparameter (Blutdruck, Puls, pulsoxymetrische Sättigung), Thoraxöntgenaufnahme und EKG. Jeder Parameter dieser Basisdiagnostik ist für sich nicht beweisend für eine Lungenembolie, doch sind sie hilfreich, um sich ein Gesamtbild zu verschaffen und erste Differenzialdiagnosen abzuarbeiten (Myokardinfarkt, Pneumonie, Pneumothorax). 35.3.2 Klinische Wahrscheinlichkeit einer
Lungenar terienembolie Das Wichtigste an der Diagnostik der Lungenembolie ist deren Einbeziehung in die differenzialdiagnostischen Überlegungen . Tabelle 35.1. Klinische Wahrscheinlichkeit einer tiefen Venenthrombose (TVT). (Nach Wells et al. 2003) Klinik
Score
Malignomerkrankung
1
Parese oder Immobilisation der Beine
1
Bettruhe (über Tage), operative Eingriffe (<12 Wochen)
1
Schmerz oder Verhärtung entlang der tiefen Beinvenen
1
Schwellung eines ganzen Beins
1
Unterschenkelschwellung >3 cm im Vergleich zur Gegenseite
1
Eindrückbares Ödem des symptomatischen Beins
1
Vorhandene Kollateralvenen
1
Anamnestisch TVT
1
Alternative Diagnose ebenso wahrscheinlich wie TVT
–2
Hohe Wahrscheinlichkeit für TVT
≥2
Niedrige Wahrscheinlichkeit für TVT
<2
463 35.3 · Diagnostik
. Tabelle 35.2. Klinische Wahrscheinlichkeit für eine Lungenarterienembolie (LE). (Nach Wells et al. 2003) Klinik
Score
Klinische Zeichen einer TVT (. Tab. 35.1)
3,0
LE wahrscheinlicher als andere Diagnose
3,0
Puls >100/min
1,5
Immobilisation oder Operation innerhalb der letzten 4 Wochen
1,5
Frühere TVT oder LE
1,5
Hämoptyse
1,0
Malignom aktiv oder innerhalb der letzten 6 Monate
1,0
35
der Diagnostik der Lungenembolie liegt in der Schnelligkeit des Untersuchungsverfahrens v. a. bei kritisch kranken Patienten. Darüber hinaus kann durch die Ausweitung des Untersuchungsfeldes bis zu den Kniekehlen noch emboliefähiges Material sicher detektiert werden.
Magnetresonanztomographie
Geringe Wahrscheinlichkeit für LE Mittlere Wahrscheinlichkeit für LE Hohe Wahrscheinlichkeit für LE
<2,0 2,0–6,0 >6,0
bei unklarer Dyspnoe. Aus diesem Grund wird heute die Einschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer Lungenembolie an den Beginn des diagnostischen Prozesses gesetzt und sollte auch dokumentiert werden. Etabliert haben sich Scores, in die Elemente der Basisdiagnostik eingehen (. Tab. 35.1 und 35.2). Nach Erhebung dieser Scores wird die weitere Diagnostik von der klinischen Wahrscheinlichkeit bestimmt. 35.3.3 Spezifische Diagnostik einer
Lungenar terienembolie D-Dimer-Test Der Nachweis der bei der Proteolyse von Fibrin entstehenden D-Dimere hat eine hohe Sensitivität, jedoch nur eine geringe Spezifät, da auch bei anderen Erkrankungen als einer Thrombose oder Lungenembolie D-Dimere gebildet werden (z. B. Entzündungen, Malignome, Schwangerschaft). Ein negativer D-DimerTest besitzt aber einen hohen negativen prädiktiven Wert für das Vorliegen einer Lungenembolie.
Per fusions-Ventilations-Szintigraphie Die Szintigraphie zeichnet sich durch eine geringe Invasivität und niedrige Strahlenbelastung aus. Ein Normalbefund schließt eine Lungenembolie mit hoher Sicherheit aus, und ein positiver Befund rechtfertigt die Therapie. In einem nicht geringen Umfang (40–50%) muss aber mit unklaren Befunden gerechnet werden, die eine weiterführende Diagnostik erforderlich machen.
Spiral-Computertomographie Mit der Entwicklung von Mehrzeilen-Computertomographen hat sich die Sensitivität für periphere Embolien, die mit den Geräten der 1. Generation (Einzeiler) nicht erkannt werden konnten, deutlich verbessert. Der Vorteil der Computertomographie bei
Der Stellenwert der Kernspintomographie zum Nachweis einer Lungenembolie ist bislang noch nicht eindeutig geklärt. Ein Vorteil läge v. a. in der fehlenden Strahlenbelastung, was insbesondere bei Schwangeren wünschenswert wäre.
Pulmonalisangiographie Die Pulmonalisangiographie stellt den historischen Goldstandard zur Diagnose der Lungenembolie dar. Ihr klinischer Stellenwert hat jedoch mit Einführung der CT-Technologie deutlich abgenommen, zumal sie mit einer hohen Strahlenbelastung und Invasivität verbunden ist.
Beinvenen-Duplexsonographie Die Sonographie der Beinvenen ist auch bei klinisch unauffälligem Beinbefund ein sinnvoller Schritt in der Abklärung des Verdachts auf Lungenembolie. Bei Patienten mit mittlerer oder hoher klinischer Wahrscheinlichkeit für eine Lungenembolie darf die Diagnose bei Nachweis einer Beinvenenthrombose als gesichert gelten. Andererseits schließt ein unauffälliger Venenstatus des Bein-Becken-Systems eine Lungenembolie nicht aus, da das gesamte Material sich gelöst haben kann. Bei nicht eindeutigem Sonographiebefund kann auch eine Phlebographie in Erwägung gezogen werden.
Echokardiographie Sie er weist sich äußerst wertvoll zur Diagnose einer hämodynamisch signifikanten Embolie, sie kann eine Dilatation des rechten Ventrikels und Vorhofs und seltener auch des Pulmonalisstamms nachweisen. Echokardiographisch kann auch eine akute von einer chronischen Rechtsherzbelastung mit hypertrophierten Wänden differenziert werden. Die Dopplertechnik ermöglicht zudem bei vorliegender Trikuspidalinsuffizienz eine Abschätzung des systolischen pulmonalarteriellen Druckes. Die Echokardiographie gehört bei hämodynamisch und respiratorisch instabilen Patienten zu den ersten Untersuchungen und gewinnt bei mittlerer und hoher klinischer Wahrscheinlichkeit und typischer echokardiographischer Befundkonstellation zunehmend Bedeutung für die Einleitung der spezifischen Therapie. Auf der anderen Seite entzieht sich eine Signalembolie, die ohne Beeinflussung der Hämodynamik abläuft, der echokardiographischen Diagnostik. 35.3.4 Diagnostischer Algorithmus bei
hämodynamisch und respiratorisch stabilen Patienten Das diagnostische Vorgehen beim Verdacht auf eine Lungenembolie hängt zum einen vom Zustand des Patienten ab und zum anderen von den gegebenen technischen Voraussetzungen vor Ort. Die Stabilität des Patienten hängt von Blutdruck, Puls und Sättigung ab. Bei stabilen Verhältnissen werden die in der Übersicht genannten diagnostischen Schritte empfohlen.
464
Kapitel 35 · Lungenarterienembolie
Diagnostischer Algorithmus bei stabilen Verhältnissen 1. 2.
3.
4.
5.
6.
7.
D-Dimer-Test und Erhebung des Scores zur klinischen Wahrscheinlichkeit nach Basisdiagnostik. Bei geringer klinischer Wahrscheinlichkeit und negativem D-Dimer-Test keine weitere Diagnostik, die Lungenembolie gilt als ausgeschlossen. Bei Patienten mit geringer klinischer Wahrscheinlichkeit und positivem D-Dimer-Test sowie bei Patienten mit mittlerer und hoher klinischer Wahrscheinlichkeit (unabhängig vom Ergebnis des D-Dimer-Testes) Sonographie der Beinvenen. Bei Nachweis einer Thrombose in der Sonographie keine weitere Diagnostik, die Lungenembolie gilt als nachgewiesen. Bei negativer Sonographie oder unklarem Befund wird eine Spiral-Computertomographie oder VentilationsPerfusions-Szintigraphie empfohlen. Bei unklarem Befund der Ventilations-Perfusions-Szintigraphie muss eine Spiral-Computertomographie angeschlossen werden. In seltenen Fällen bei nicht eindeutigem Befund der Mehrzeilen-Spiral-Computertomographie muss eine Pulmonalisangiographie zur endgültigen Klärung herangezogen werden.
35 35.3.5 Diagnostik bei Schwangeren Wie bereits erwähnt, wäre für schwangere Patientinnen die Magnetresonanztomographie das diagnostische Vorgehen der Wahl, doch liegen bislang keine Untersuchungen vor, die den Stellenwert dieser Untersuchungstechnik für den Nachweis einer Lungenembolie belegen. Ein Algorithmus zur Diagnostik einer Lungenembolie bei Schwangeren ist bislang noch nicht etabliert worden, obwohl das Thrombose- und Embolierisiko deutlich erhöht und der D-Dimer-Test nur eingeschränkt verwertbar ist. Neben der Beinvenensonographie wird zum sicheren Ausschluss oder Nachweis einer Lungenembolie derzeit die SpiralComputertomographie unter Abwägung des klinischen Zustandes der Mutter und möglicher Schäden für das Kind mit entsprechenden Strahlenschutzmaßnahmen im Bereich des Abdomens empfohlen.
Bewegung des interventrikulären Septums, ein Nachweis einer Trikuspidalklappeninsuffizienz und die darüber abgeschätzte Erhöhung des systolischen pulmonalarteriellen Drucks sowie eine Erweiterung der V. cava inferior. Eine prognostische Einschätzung des Krankheitsverlaufs ist mit diesen Parametern möglich (Kasper et al. 1997). Die kardialen Biomarker Troponin (I und T) und die natriuretischen Peptide »brain natriuretic peptide« (BNP) und pro-BNP besitzen einen hohen negativen prädiktiven Vorhersagewert für den komplizierten klinischen Verlauf einer Lungenembolie (Konstantinides et al. 2002; Kucher et al. 2003). i Somit stehen mit der Echokardiographie und den kardialen Biomarkern prognostische Verlaufsparameter zur Ver fügung, die eine individuelle Risikoabschätzung zulassen.
Hämodynamisch stabile Patienten mit Lungenembolie, bei denen sich eine rechtsventrikuläre Dysfunktion echokardiographisch nachweisen lässt, sollten unbedingt intensivmedizinisch betreut werden. 35.3.7 Diagnostischer Algorithmus bei
hämodynamisch und respiratorisch instabilen Patienten Alle hämodynamisch oder respiratorisch instabilen Patienten mit dem Verdacht auf eine Lungenembolie müssen sofort intensivmedizinisch betreut werden und möglichst ohne grossen diagnostischen Zeitverlust der kausalen Therapie zugeführt werden. Bei instabilen Verhältnissen werden folgende diagnostische Schritte empfohlen: Diagnostischer Algorithmus bei instabilen Verhältnissen (1) Die transthorakale Echokardiographie stellt den entscheidenden diagnostischen Schritt bei instabilen Patienten zum Nachweis einer rechtskardialen Dysfunktion als Auslöser der bestehenden Symptomatik bei Verdacht auf Lungenembolie dar. (2) Lediglich Patienten, bei denen kein adäquater Echokardiographiebefund erhoben werden kann, sollten nach Zustand des Patienten und technischen Gegebenheiten (keine langen Transporte) einer weiteren Diagnostik unterzogen werden (transösophageales Echokardiogramm, Spiral-Computertomographie).
35.3.6 Risikostratifizierung mit Echokardiographie
und kardialen Biomarkern Auch beim hämodynamisch stabilen Patienten sollte mit dem Nachweis einer Lungenembolie eine transthorakale Echokardiographie durchgeführt werden, falls dies nicht schon differenzialdiagnostisch im Vorfeld zum Ausschluss kardialer Erkrankungen (eingeschränkte Pumpfunktion, Klappenvitien, Perikarderguss) erfolgt ist. Diese Echokardiographie dient der Risikoeinschätzung und somit der Überwachungsintensität und ist hilfreich bei der Dokumentation des Befundverlaufs und für weitere Therapieentscheidungen. Die rechtsventrikuläre Dysfunktion ist echokardiographisch definiert als eine eingeschränkte Wandbewegung des rechten Ventrikels, eine rechtsventrikuläre Dilatation, eine paradoxe
35.4
Therapie der akuten Lungenar terienembolie
Für die Therapie der akuten Lungenembolie stehen die alleinige Antikoagulation einerseits und die systemische thrombolytische Therapie andererseits zur Verfügung. In seltenen Fällen kann auch die mechanische Thrombusentfernung mittels Operation am offenen Herzen mit Herz-Lungen-Maschine oder eine Katheterfragmentation, evtl. kombiniert mit einer lokalen Lyse, in Frage kommen. Die mechanischen Verfahren müssen immer dann in Erwägung gezogen, wenn eine nicht beherrschbare Blutungsneigung besteht.
465 Literatur
Ähnlich wie bei der Diagnostik richtet sich auch die Therapie der Lungenembolie nach der hämodynamischen Stabilität des Patienten. Neuerdings werden 4 Risikogruppen unterschieden. Die 4 Risikogruppen der hämodynamischen Stabilität 5 Risikogruppe 1: Hämodynamisch stabil ohne rechtsventrikuläre Dysfunktion 5 Risikogruppe 2: Hämodynamisch stabil mit rechtsventrikulärer Dysfunktion 5 Risikogruppe 3: Schock (RR <90 mm Hg, Puls >100/ min) 5 Risikogruppe 4: Reanimationspflichtigkeit
35.4.1 Therapie in Abhängigkeit von den
Risikogruppen der hämodynamischen Stabilität Für Patienten der Risikogruppe 1 (hämodynamisch stabil und ohne rechtsventrikuläre Dysfunktion) ist die alleinige Antikoagulation ausreichend. Für die Antikoagulation kann unfraktioniertes Heparin verwandt werden, das schon bei begründetem Verdacht nach Abwägen des Nutzens und des Risikos für den Patienten eingesetzt werden sollte. Bei der therapeutischen Antiokoagulation sollte eine partielle Thromboplastinzeit (pTT) von 60–90 s angestrebt werden. Auch die niedermolekularen Heparine (in Deutschland sind Tinzaparin und Enoxaparin zugelassen) erwiesen sich in großen randomisierten Studien als vergleichbar effizient bei der stabilen Lungenembolie wie unfraktioniertes Heparin (Simmoneau et al. 1997; Quinlan et al. 2004). Lediglich bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion kann die gewichtsbezogene Dosierung auch zu Blutungen führen, sodass eine Dosisanpassung vorgenommen werden muss oder eine Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin. Für Patienten der Risikogruppe 2 (hämodynamisch stabil mit rechtsventrikulärer Dysfunktion) ist die optimale Therapieführung noch nicht geklärt. Eine frühzeitige Lysetherapie kann den klinischen Verlauf positiv beeinflussen (Konstantinides et al. 2002), doch die Sterblichkeit konnte bisher durch dieses Vorgehen nicht gesenkt werden. Die derzeitige Empfehlung sieht eine Antikoagulation der Patienten vor sowie ein engmaschiges intensivmedizinisches Monitoring (RR, Puls, Laktat, Echokardiographie, Troponin- und BNP- oder Pro-BNP-Bestimmungen). Patienten der Risikogruppe 3 (beginnender oder manifester kardiogener Schock) haben eine hohe Sterblichkeit (>30%), sodass in diesem Fall eine schnelle rechtsventrikuläre Druckentlastung erfolgen muss. Dies ist nur durch eine umgehende systemische Lysetherapie möglich. Zugelassen für die Lysteherapie sind Streptokinase, Urokinase und der rekombinante Gewebe-Plasminogen-Aktivator (r-tPA), Letzterer wird heute meist eingesetzt in einer Dosierung von 100 mg über 2 h. Begleitend zur Lysetherapie wird eine Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin durchgeführt. Bei hohem Blutungsrisiko entscheidet die Dynamik des klinischen Verlaufs, ob trotzdem eine Lysetherapie oder alternative Therapieansätze (HerzLungen-Maschine oder Katheterfragmentation, falls vorhanden) in Erwägung gezogen müssen.
35
Reanimationspflichtige Patienten der Risikogruppe 4 können nur mit einer sofortigen Rekanalisierung der Lungenstrombahn mittels systemischer Lysetherapie überleben. Die Sterblichkeit liegt sonst bei >90%. Vor diesem Hintergrund können auch keine Kontraindikationen geltend gemacht werden. Stehen mechanische Rekanalisationsverfahren (Operation oder Katheterlabor) nicht unmittelbar zur Verfügung, kann auch ein Transport unter Reanimationsbedingungen er wogen werden. Nach Einleitung der Lysetherapie unter Reanimationsbedingungen sollte die Reanimationsdauer ausreichend lang bemessen werden. 35.4.2 Passagerer V.-cava-Filter Liegen Kontraindikationen für eine antikoagulatorische oder fibrinolytische Therapie vor und findet sich darüber hinaus nicht wandadhärentes Thrombusmaterial in den tiefen Beinvenen, den Beckenvenen oder der V. cava inferior, sollte zusätzlich die transvenöse, passagere Implantation (bis 10 Tage) eines V.-cavaSchirms unterhalb der Nierenvenen erwogen werden. Dieses Vorgehen ist aber bislang durch kontrollierte Studien nicht belegt. Eine permanente Filteranlage kann die Gefahr einer Embolie zwar reduzieren, ist aber gleichzeitig mit einer signifikant erhöhten Rethromboserate behaftet.
Literatur Kasper W, Konstantinides S, Geibel A (1997) Prognostic significance of right ventricular afterload stress detected by echocardiography in patients with clinically suspected pulmonary embolism. Heart 77: 346–349 Konstantinides S, Geibel A, Olschewski M et al. (2002) Importance of cardiac troponins I and T in risk stratification of patients with acute pulmonary embolism. Circulation 106: 1263–1268 : In dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, das erhöhte Troponin-I- und -T-Werte mit der Prognose der Patienten bezogen auf einen komplizierten Verlauf steng korrelieren. Konstantinides S, Geibel A, Heusel G, Heinrich F, Kasper W For the Management Strategies and Prognosis of Pulmonary Embolism Trial Investigators (2002) Heparin plus alteplase compared with heparin alone in patients with submassive pulmonary embolism. N Engl J Med 347: 1143–1150 : In dieser kontollierten Studie konnte nachgewiesen werden, dass bei hämodynamisch stabilen Patienten mit rechtsventrikulätrer Dysfunktion (Risikogruppe 2) eine frühzeitige systemische Lysetherapie plus Heparin-Therapie vs. alleinige Heparin-Therapie eine Eskalation der Therapie signifikant reduzierte. Die Sterblichkeit wurde aber durch den frühen Einsatz der Lysetherapie nicht beeinflusst. Weitere Studien werden nötig sein, um eine optimale Therapieoption bei Patienten der Risikogruppe 2 zu finden. Kucher N, Printzen G, Doernhoefer T et al. (2003) Low pro-brain natriuretic peptide levels predict benign clinical outcome in acute pulmonary embolism. Circulation 107: 1576–1578 : Auch erhöhte p-BNP-Spiegel korrelieren in dieser Studie mit einem komplizierten Verlauf bei der Lungenembolie oder der Notwendigkeit einer Eskalation der Therapie. Damit stehen mit diesen kardiogenen Biomarkern wichtige Parameter für den klinischen Verlauf zur Verfügung. Weitere Studien werden zeigen müssen, ob sie auch für die Therapieentscheidung bedeutsam sind.
466
Kapitel 35 · Lungenarterienembolie
Quinlan DJ, McQuillan A, Eikelboom JW (2004) Low-Molecular-Weight Heparin compared with intravenous unfractionated heparin for the treatment of pulmonary embolism. A meta-analysis of randomized, controlled trials. Ann Intern Med 140: 175–183 : Diese große Metaanalyse belegt den sicheren Einsatz niedermolekularer Heparine im Vergleich zum unfraktionierten Heparin bei der hämodynamisch stabilen Lungenembolie. Simmoneau G, Sors H, Charbonnier B (1997) A comparison of low-molecular-weight heparin with unfractionated heparin for acute pulmonary embolism. N Engl J Med 337: 663–669 Stein PD, Coleman RE, Gottschalk A, Saltzman HA, Terrin ML, Weg JG (1991) Clinical, laboratory, roentgenographic and electrographic findings in patients with acute pulmonary embolism and no pre-existing cardiac or pulmonary disease. Chest 100: 598–603 Wells PS, Anderson DR, Rodger M (2003) Evaluation of D-dimer in the diagnosis of suspected deep-vein thrombosis. N Engl J Med 349: 1227–1235 : Die von Wells et al. eingeführten klinischen Scores zusammen mit dem D-Dimer-Test werden heute vielfach in der klinischen Praxis eingesetzt. Wells PS, Ginsberg JS, Anderson DR (1998) Use of a clinical model for safe management of patients with suspected pulmonary embolism. Ann Intern Med 129: 997–1005 : Der schon 1998 publizierte Score zur klinischen Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer Lungenembolie stellt mittlerweile den Standard für die klinische Untersuchung dar.
35
VI
Respiratorische Störungen
36
Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik
37
Akutes Lungenversagen
38
Pneumonien
39
COPD und Asthma bronchiale
40
Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
41
Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
–469
–475
–481 –499
–531
–513
36 Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik R. Kuhlen, R. Dembinski
36.1
Nomenklatur und Definition
36.2
Hypoxische respiratorische Insuffizienz
36.2.1 36.2.2
Grundlagen –470 Mechanismen der Hypoxämie –470
36.3
Hyperkapnische respiratorische Insuffizienz
36.3.1 36.3.2 36.3.3
Grundlagen –472 Pulmonale Ursachen –473 Extrapulmonale Ursachen –473
Literatur
–473
–470 –470
–472
470
Kapitel 36 · Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik
36.1
Nomenklatur und Definition
Die respiratorische Insuffizienz ist definiert als schwerwiegende Störung des pulmonalen Gasaustauschs oder aber der Atempumpe, deren Funktion sich aus dem zentralen Antrieb, der neuromuskulären Überleitung und der Mechanik des respiratorischen Systems ergibt. Störungen des Lungenparenchyms führen zum primären und meist akuten Lungenversagen, während die Störungen der Atempumpe zur respiratorischen Insuffizienz führen, auch wenn die Lunge als Organ weiterhin funktioniert. Ist v. a. der Sauerstoffaustausch (O2) betroffen, spricht man von einer hypoxischen Form des respiratorischen Versagens, während bei der hyperkapnischen respiratorischen Insuffizienz v. a. die Elimination für Kohlendioxid (CO2) alteriert ist. Die Begriffe der partiellen und globalen respiratorischen Insuffizienz haben ähnliche Bedeutung, wie auch – entsprechend den pathophysiologischen Grundlagen – die Begriffe der pulmonalen Oxygenierungsstörung und der Insuffizienz der »Atempumpe« Verwendung finden. In Übereinstimmung mit der internationalen Literatur wird im Weiteren von der hypoxischen und der hyperkapnischen respiratorischen Insuffizienz gesprochen [1]. 36.2
CaO2 = Hb u 1,34 u HbaO2 + paO2 u 0,0031
Die Hypoxämie als Symptom einer respiratorischen Insuffizienz ist als Abnahme des Sauerstoffgehalts im arteriellen Blut definiert. Sie kann klinisch als Zyanose sichtbar werden, sofern mehr als 5 g/dl deoxygeniertes Hämoglobin vorliegen. Um die eigentliche Leistungsfähigkeit der pulmonalen Austauschfunktion für O2 zu beschreiben, ist der alveoloarterielle O2-Gradient (A-a-Gradient) geeignet, der sich als Differenz des alveolaren O2-Partialdrucks (pAO2) und dem paO2 ergibt, wobei sich der pAO2 entsprechend der alveolaren Gasgleichung berechnet:
Hypoxische respiratorische Insuffizienz
36.2.1 Grundlagen
36
korrigiert, erfordert allerdings die Eingabe der aktuell gemessenen Temperatur des Patienten. Auch mit einem korrekt bestimmten paO2 ist die Oxygenierung nur ungenügend beschrieben, da die eigentliche Zielgröße der arterielle O2-Gehalt (CaO2) ist. Dieser ergibt sich aus dem Hauptanteil des chemisch an Hämoglobin gebundenen O2 und dem nur kleinen Anteil an physikalisch gelöstem O2, das entsprechend der Löslichkeit direkt vom paO2 abhängt:
i Bei der hypoxischen respiratorischen Insuffizienz ist der pulmonale O2 -Austausch soweit reduziert, dass eine Hypoxämie in der arteriellen Blutgasanalyse resultiert.
Zur Definition der Hypoxämie ist eine alleinige Angabe des arteriellen O2-Partialdrucks (paO2) aus vielen Gründen ungenügend. Der paO2 ist wesentlich vom pO2 des inspirierten Gasgemisches abhängig, der wiederum durch die inspirierte O2-Konzentration (FIO2) und den Umgebungsdruck (PB) definiert ist:
piO2 = FIO2 u PB
Zur Interpretation ist mindestens die FIO2 (paO2/FIO2-Quotient) und bei wesentlichen Abweichungen vom normalen Umgebungsdruck – etwa in großer Höhe – auch die Angabe des Umgebungsdrucks erforderlich. Darüber hinaus ist der paO2 altersabhängig. Der individuelle Normwert kann anhand der Formel
paO2 (mm Hg) = 103,5 – (0,41 u Alter)
bei einer FIO2 von 0,21 ungefähr abgeschätzt werden. Die Temperaturabhängigkeit des paO2 wird in modernen Blutgasanalysatoren anhand der Formel log(paO2 aktuell/paO2 gemessen) = 0,024 (eingegebene Temperatur – 37°C)
pAO2 = FIO2 u (pB – pH2O) – paCO2 / R 4 pH2O = pulmonaler Wasserdampfdruck (47 mm Hg) 4 paCO2 = arterieller CO2-Partialdruck (40 mm Hg) 4 R = respiratorischer Quotient (0,8)
Bei Einsetzen der angegebenen Normwerte ergibt sich bei Raumluft ein pAO2 von:
pAO2= 0,21 u (760–47) – 40/0,8 = 100 mm Hg
sodass physiologischerweise der A-a-Gradient vernachlässigbar klein ist. Eine wiederum bestehende Altersabhängigkeit kann wie folgt abgeschätzt werden:
p(A-a) = 2,5 + 0,21 u Alter
36.2.2 Mechanismen der Hypoxämie Pathophysiologisch sind für die Störungen der pulmonalen Oxygenierungsleistung 5 Mechanismen verantwortlich: Eigentliche Hypoxie: 5 Erniedrigung des inspiratorischen O2-Partialdrucks (piO2), 5 globale alveolare Hypoventilation, 5 Intrapulmonaler Rechts-links-Shunt, 5 Ventilations-Perfusions-Verteilungsstörungen, 5 Diffusionsstörungen.
471 36.2 · Hypoxische respiratorische Insuffizienz
Darüber hinaus ist eine ausgeprägte Erniedrigung des O2-Gehaltes im venösen Blut, so wie sie bei extremer körperlicher Anstrengung aufgrund des massiven O2-Verbrauchs oder aber bei extremer Abnahme des Herzzeitvolumens auftreten kann, als Ursache einer unvollständigen pulmonalen Oxygenierung vorstellbar. Auch ein exzessiv gesteigerter intrapulmonaler Sauerstoffverbrauch, etwa bei der foudroyant verlaufenden Pneumonie, kann eine Hypoxämie mitbedingen.
Hypoxie Die eigentliche Hypoxie ist definiert als Atmung eines Gasgemisches mit reduziertem pIO2, der lediglich bei Abnahme der FIO2 unter 21% oder bei Aufenthalt in großen Höhen auftritt. In der Medizin ist die so definierte Hypoxie eine Rarität, sollte aber in alpiner Umgebung und bei luftgebundenen Transporten, besonders von kritisch kranken Patienten, berücksichtigt werden. Die Therapie der Hypoxie besteht in der Erhöhung der FIO2 (O2-Maske bei alpinem Bergsteigen, FIO2-Erhöhung bei luftgebundenen Transporten) oder aber in der Adaptation des Umgebungsdrucks (Fliegen »at sea level«).
Hypoventilation Bei der globalen Hypoventilation erreicht zu wenig O2 die Alveole, während die alveolare CO2-Konzentration ansteigt, sodass aufgrund der alveolaren Gasgleichung der pAO2 absinkt. Die globale Hypoventilation resultiert aus einer Minderfunktion der Atempumpe und führt zu einer kombinierten hypoxischen, hyperkapnischen Insuffizienz. Therapie der Wahl ist die Beseitigung der Ursachen der Hypoventilation, wenn immer möglich. Zur Therapie der Oxygenierungsstörung ist die Erhöhung der FIO2 effektiv, da hierdurch eine direkte Erhöhung des pAO2 der minderventilierten Alveole zu erreichen ist. Allerdings stellt die Erhöhung der FIO2 keine kausale Therapie dar, sondern kann im Gegenteil eine Zunahme einer begleitenden Hyperkapnie nach sich ziehen, wenn nämlich durch die Aufhebung der Hypoxämie der hypoxische Atemantrieb genommen wird. Sowohl die Hypoxie als auch die globale Hypoventilation sind im engeren Sinne nicht als Oxygenierungsstörung der Lunge per se zu werten, da es zu keiner wesentlichen Ausweitung des A-a-Gradienten kommt. Die Alveole wird nicht entsprechend mit O2 versorgt wird, um eine ausreichende arterielle Oxygenierung bei an sich gutem Gasaustausch zu leisten. Demgegenüber sind die folgenden Störungen Ausdruck der Minderfunktion des Gasaustauschs mit entsprechender Erhöhung des A-a Gradienten.
Intrapulmonaler Rechts-links-Shunt Fließt venöses Blutes anatomisch durch die Lungenstrombahn, ohne hier mit belüfteten, gasaustauschenden Alveolen in Kontakt zu kommen – wie etwa bei einer Atelektase –, wird dieser Anteil des Blutes nicht oxygeniert und dekarboxyliert. Das Blut dieser Bereiche wird mit gut oxygeniertem Blut aus nicht betroffenen Alveolen vermischt, was zu einer schweren Hypoxämie führen kann. Der intrapulmonale Rechts-links-Shunt wird als prozentualer Anteil des Herzzeitvolumens angegeben, der nicht in der Lunge oxygeniert wird.
36
Ventilations-Per fusions-Verteilungsstörungen Im Gegensatz zu den globalen Änderungen des Verhältnisses aus Ventilation und Perfusion (z. B. globale Hypoventilation) sind hier Störungen der intrapulmonalen Verteilung von Ventilation und Perfusion gemeint. Ist die Ventilation eines Lungenareals mehr als die Perfusion dieses Areals eingeschränkt, nimmt der lokale pAO2 ab. Als »venöse Beimischung (QVA/QT)« wird der Anteil des schlecht oxygenierten Bluts aus Bezirken mit niedrigen Ventilations-Perfusions-Verhältnissen zusammen mit dem echten intrapulmonalen Rechts-links-Shunt bezeichnet. Unter Zuhilfenahme der Daten eines Pulmonaliskatheters oder aber näherungsweise der zentralvenösen Sättigung ist die venöse Beimischung abzuschätzen als:
QVA/QT = (CcO2-CaO2)/(CcO2-CvO2) 4 CcO2 = kapillärer O2-Gehalt 4 CaO2 = arterieller O2-Gehalt 4 CvO2 = gemischtvenöser O2-Gehalt
Zur weiteren Diskriminierung der venösen Beimischung in »low VA/Q« und echten Shunt kann die aufwändige Technik der gaschromatographischen Analyse des Eliminationsverhaltens mehrerer inerter Gase benutzt werden, die vorher intravenös appliziert wurden (»multiple inert gas elimination technique«; MIGET). Wegen der Aufwändigkeit des Verfahrens bleibt diese Technik allerdings eher der wissenschaftlichen Untersuchung als der klinischen Routine vorbehalten. Klinisch können Oxygenierungsstörungen, die durch low VA/Q-Areale verursacht werden, von echtem Shunts dadurch unterschieden werden, dass in low VA/Q-Arealen die Applikation von O2 zu einer Verbesserung der Oxygenierung führt, während O2-Gabe bei reinem Shunt weitgehend ohne Effekt bleibt [2, 3].
Hypoxisch pulmonale Vasokonstriktion (HPV) Physiologischerweise kommt es bei Abnahme der Belüftung eines Lungenareals zur reflektorischen Vasokonstriktion und so zu einer reduzierten Perfusion dieses Areals. Der Mechanismus der HPV ist für akute Lungenveränderungen wichtig, da die Folgen einer Hypoxie für den Gasaustausch hierdurch minimiert werden. Bleibt die lokale Ventilationsstörung mit der reflektorischen Vasokonstriktion allerdings länger bestehen, kann u. a. hierdurch eine pulmonale Hypertension auftreten. Dies scheint bei der Entwicklung der pulmonalen Hypertonie mit Cor pulmonale bei Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung eine Rolle zu spielen. In der Pathogenese der pulmonalen Hypertension beim akuten Lungenversagen sind allerdings noch weitere Mechanismen wie etwa das Auftreten thrombotischer, kapillärer Gefäßverschlüsse und verschiedene humorale Vasokonstriktoren wie etwa Endothelin o. a. beteiligt [4].
Diffusionsstörungen Da der pulmonale Gasaustausch auf dem Wirkprinzip der Diffusion beruht, erscheint es naheliegend, dass etwaige Diffusionsstörungen eine wesentliche Rolle für den Gasaustausch spielen.
472
Kapitel 36 · Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik
Störungen der Diffusionskapazität können auftreten bei: 5 Verdickung der alveolokapillären Membran (Ödem, Fibrose), 5 Reduktion des pulmonalkapillären Blutvolumens (schwere Verteilungsstörung), 5 Reduktion der pulmonalkapillären Transitzeit (massive HZV-Erhöhung).
Darüber hinaus wäre es denkbar, dass kein Diffusionsäquilibrium am Ende der alveolokapillären Membran erreicht würde, wenn der venöse O2 soweit erniedrigt wäre, dass die gegebene Diffusionskapazität zu einer vollständigen Oxygenierung nicht ausreicht. Dies könnte etwa bei der schweren Anämie und hohem Herzzeitvolumen auftreten. Tatsächlich aber konnte die Diffusionsstörung nie als wesentlicher kausaler Faktor der akuten respiratorischen Insuffizienz nachgewiesen werden. Offensichtlich ist die pulmonale Diffusionskapazität so hoch, dass etwaige Störungen in der intensivmedizinischen Praxis kaum eine Rolle spielen. i Störungen der Ventilation, Perfusion oder der intrapulmonalen Ventilations-Perfusions-Verteilung sind in Anästhesie und Intensivmedizin die weitaus häufigste Ursache der arteriellen Hypoxämie beim hypoxischen respiratorischen Versagen.
36
36.3
Hyperkapnische respiratorische Insuffizienz
Die hyperkapnische respiratorische Insuffizienz ist durch eine Verminderung der alveolaren Ventilation mit konsekutivem Anstieg des paCO2 bei Versagen der Atempumpe gekennzeichnet. 36.3.1 Grundlagen Die Ventilation muss für den jeweiligen metabolischen Bedarf einen ausreichenden Gasaustausch gewährleisten. Hierfür ist ein funktionstüchtiger Atemapparat die Voraussetzung. Zum Atemapparat gehören das zentrale Atemzentrum, vom dem der Atemimpuls über eine intakte neuromuskuläre Signalübertragung an das Zwerchfell weitergeleitet wird. Die Kontraktion des Zwerchfells bewirkt einen Abfall des Druckes im Pleuraspalt, wodurch ein Druckgradient zur äußeren Öffnung der Atemwege entsteht. Entlang dieses Druckgradienten strömt Gas in die Lungen, wobei die Höhe der Gasströmung vom Widerstand der Atemwege und das Volumen von der Dehnbarkeit des respiratorischen Systems abhängen. Der Atemwegswiderstand wird als Resistance (R) bezeichnet und ist definiert als R = 'p / f 4 (Normal ca. 2 mbar u l–1 u s–1) 4 p = treibender Druck 4 f = Gasfluss
Die Dehnbarkeit des respiratorischen Systems wird als Compliance (C) bezeichnet und ist definiert als
C = 'V/'p 4 (Normwert ca. 100 ml/mbar) 4 V = Volumen
Der zur Ventilation notwendige Druckgradient (pTP) muss ausreichend hoch sein, um die resistiven und elastischen Rückstellkräfte des respiratorischen Systems zu überwinden.
pTP = pres + pel
wobei durch Einsetzen der Definitionen für Resistance und Compliance resultiert: pTP = R u f + 'V/C
i Die Höhe der Ventilation hängt vom muskulär generierten Pleuradruck, der Resistance und der Compliance des respiratorischen Systems ab.
Entsprechend der Komplexität des Atemapparates können Störungen an den verschiedensten Stellen auftreten und zu einer Abnahme der alveolaren Ventilation führen. Mögliche Ursachen eines Versagens des Atemapparates 5 Störungen des zentralen Atemantriebs – Medikamente – Vergiftungen – Trauma – Meningitis, Enzephalitis 5 Störungen der nervalen Überleitung – Rückenmarkläsionen – Polyneuropathie des kritisch Kranken – Poliomyelitis – Guillain-Barré-Syndrom – Phrenikusparese 5 Störungen der neuromuskulären Überleitung – Myasthenia gravis – Muskeldystrophie – Schwere Elektrolytstörungen – Schwere Fehl- oder Mangelernährung – Medikamente (Relaxansüberhang) 5 Störungen des mechanischen Atemapparates – Verletzungen der Thoraxwand – Pneumothorax, Hämatothorax, Pleuraerguss – Verletzungen des Zwerchfells – Thoraxdeformitäten (Skoliose) 5 Obstruktive Atembehinderung – Verengungen der oberen Luftwege – Trachealstenosen, Tracheomalazie – Asthma bronchiale, Status asthmaticus 6
473 Literatur
– Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) – Tumoren (z. B. zentrale Bronchialkarzinome) 5 Behinderung der Atemexkursion – Schmerz – Erhöhung des abdominellen Drucks – Adipositas – Restriktive Ventilationsstörungen (Silikose, Asbestose, Mukoviszidose etc.)
Generell unterscheidet man extrapulmonale von pulmonalen Ursachen einer hyperkapnischen respiratorischen Insuffizienz. 36.3.2 Pulmonale Ursachen Die hyperkapnische Form der respiratorischen Insuffizienz ist zum überwiegenden Teil durch die verschiedenen Formen der obstruktiven Lungenerkrankungen verursacht, die im Rahmen dieses Buchs in 7 Kap. 39 behandelt werden. 36.3.3 Extrapulmonale Ursachen Hierzu zählen die Störungen des Atemapparates, die aus einer Fehlfunktion des Atemantriebs, der neuromuskulären Transmission oder schweren Störungen des Atemapparates (z. B. Kyphoskoliosen) resultieren. Im Rahmen dieses Kapitels ist es unmöglich, auf jede einzelne Störung detailliert einzugehen, sodass hier nur die Grundsätze beschrieben werden sollen.
Zentrale Atemdepression Die zentrale Atemdepression ist durch eine Funktionsstörung des Atemantriebs in Form einer zunehmenden Bradypnoe bis hin zur Apnoe gekennzeichnet. Sie kann sowohl Folge einer direkten Schädigung des Atemzentrums (Trauma, Blutung etc.), oder aber medikamentös bedingt sein (Anästhetika, Opioide etc.). Da die verschiedenen Anästhetika und Analgetika atemdepressiv wirken, ist die medikamentös bedingte Atemdepression einer der wesentlichen Gründe der postoperativen Ventilationsstörung. Bei der zentralen Atemdepression besteht unabhängig von der Ursache die Therapie der Wahl in der sofortigen Unterstützung der Ventilation. Da bei den Patienten häufig eine Bewusstseinsstörung mit Einschränkung der Schutzreflexe besteht, ist in aller Regel die Indikation zur Intubation gegeben. Die weitere Therapie muss sich nach der jeweiligen Ursache richten.
Störungen der neuromuskulären Signalübertragung Bei der peripheren Atemdepression können entweder die neuronale oder die neuromuskuläre Transmission des Atemimpulses beeinträchtigt sein. Die Nervenleitung kann bei hohen Rückenmarkläsionen geschädigt sein. Läsionen ab C3–C4 sind in aller Regel sowohl durch einen Ausfall der Zwerchfellatmung als auch der Interkostalmuskulatur gekennzeichnet, sodass die Ventilation entweder unmöglich oder nur insuffizient unter Zuhilfenahme der Atemhilfsmuskulatur möglich ist. Läsionen im hohen Thoraxbereich sind durch den Ausfall der Interkostalmuskulatur mit Einschränkung der inspiratorischen Kapazität und der aktiven Exspiration
36
charakterisiert, während bei Läsionen im unteren Thoraxbereich lediglich der aktive Hustenstoß beeinträchtigt ist. Die Therapie der durch hohe Rückenmarkläsionen bedingten Atemdepression besteht in der Beatmung, die je nach Art und Lokalisation der Läsionen lange oder gar für immer aufrecht erhalten werden muss. Auch hier ergibt sich die kausale Therapie nach Art und Lokalisation der Verletzung. Die neuromuskuläre Übertragung kann bei den verschiedensten primär neurologischen oder muskulären Krankheitsbildern auftreten. Erwähnenswert ist die sog. »critical illness polyneuropathy (CIP)«. Sie tritt bei einem hohen Prozentsatz der Intensivpatienten v. a. nach Sepsis und Multiorganversagen auf. Elektrophysiologisch zeigt sich eine axonale Degeneration sensorischer und motorischer Nerven mit konsekutiver Ausbildung einer muskulären Denervierungsatrophie. Häufig imponiert die CIP durch die Unmöglichkeit, von der maschinellen Beatmung entwöhnt zu werden. Es existiert zwar keine spezifische Therapieform, doch zeigt die »critical illness neuropathy« eine hohe spontane Rückbildungsrate, auch wenn hierfür Wochen oder Monate notwendig sein können. Nur selten bleiben längerfristige neurologische Schäden zurück. Die Atemmuskulatur kann durch Elektrolytstörungen, Unterernährung, schwere Fehlernährung oder Vorliegen einer Azidose gestört sein. Bei der respiratorischen Insuffizienz müssen Störungen der Homöostase aktiv gesucht und im gegebenen Fall korrigiert werden!
Störungen des mechanischen Atemapparates Die Transmission des neuromuskulären Atemimpulses in Ventilation ist nur mit einem anatomisch intakten Atemapparat möglich. Fehlbildungen oder Verletzungen des Zwerchfells, der Thoraxwand oder der Lunge führen zu einer Aufhebung der mechanischen Einheit des Atemapparates. Hierdurch kann die Ventilation so schwerwiegend beeinträchtigt sein, dass keine Aufrechterhaltung der Atmung möglich ist, weswegen unverzüglich mit der apparativen Beatmung therapiert werden muss. Die definitive und kausale Therapie orientiert sich an Art und Lokalisation der Verletzung. Ein Pneumothorax, v. a. wenn er unter Spannung steht, kann die Ventilation schwer beeinträchtigen und muss bei allen Traumata ausgeschlossen werden. Beim Pneumothorax besteht die Therapie der Wahl in der sofortigen Anlage einer Thoraxdrainage. Ein hoher Prozentsatz von Pneumothoraces steht bei Applikation von positivem Atemwegsdruck unter Spannung, weswegen die hämodynamischen Konsequenzen eines Pneumothorax unter Beatmung aggraviert werden können.
Literatur 1. Aldrich TK, Prezant DJ (1994) Indications for mechanical ventilation. In: Tobin M (ed) Priciples and practice of mechanical ventilation. McGraw Hill, New York, p 155 2. West JB (1990) Respiratory pathophysiology, 4th edn. Williams & Wilkins, Philadelphia 3. West JB (1990) Respiratory physiology, 4th edn. Williams & Wilkins, Philadelphia 4. Zapol WM, Snider MT (1977) Pulmonary hypertension in severe acute respiratory failure. N Engl J Med 296: 476–480
37 Akutes Lungenversagen R. Kuhlen
37.1
Einleitung und Definition
–476
37.2
Pathophysiologie
37.3
Klinik
37.4
Therapie
37.4.1 37.4.2 37.4.3 37.4.4 37.4.5 37.4.6
Einstellung der Beatmung –478 Flüssigkeitsmanagement –478 Zeitpunkt der Therapie –478 Lagerungstherapie –478 Erweiterte Therapiemaßnahmen, ECMO –479 Medikamentöse Therapie –479
–476
–477
Literatur
–478
–480
476
Kapitel 37 · Akutes Lungenversagen
37.1
Einleitung und Definition
Das akute Lungenversagen ist ein akut auftretendes, rasch progredient verlaufendes Krankheitsbild, das auf dem Boden der verschiedensten auslösenden Ursachen zu einer schweren Einschränkung des pulmonalen Gasaustauschs führt. Man unterscheidet das pulmonal bedingte Lungenversagen (z. B. Pneumonie) vom extrapulmonal bedingten Lungenversagen (z. B. bei Sepsis) [1]. In der modernen Intensivmedizin stellt das akute Lungenversagen die häufigste Indikation zur Beatmung dar [2] und tritt in Deutschland mit einer Inzidenz von ca. 90 Fällen pro 100.000 Einwohner pro Jahr auf [3]. Ursachen eines akuten Lungenversagens 5 Pulmonale Ursachen – Pneumonie – Aspiration – Lungenkontusion – Beinahe-Ertrinken – Inhalation toxischer Gase 5 Extrapulmonale Ursachen – Sepsis – SIRS («systemic inflammatory response syndrome”) – Multiples Trauma – Massentransfusion – Schock, prolongierte Hypotension – etc.
37
Das alveoläre und interstitielle Lungenödem sowie eine Störung der Surfactant-Produktion und -Funktion schränken die alveoläre Ventilation v. a. der abhängigen Lungenpartien mechanisch ein (. Abb. 37.1; [1]). i Durch die inflammatorische Reaktion der Lunge mit dem sich ergebenden Ödem wird die Lunge schwer. Hierdurch besteht eine ausgeprägte Neigung zum alveolären Kollaps, der sich entsprechend der Gravitation v. a. in den abhängigen Lungenarealen ausbildet [7].
Computertomographische Untersuchungen bestätigen dieses inhomogene Verteilungsmuster und zeigen, dass auch bei einem schweren ARDS Lungenareale mit relativ normaler Struktur erhalten bleiben, auch wenn diese Anteile insgesamt gering sein können [8, 9]. Dieser Morphologie entsprechend wurde das verbleibende gesunde Lungenareal beim ARDS als »baby lung« bezeichnet (. Abb. 37.2). i Die Lunge ist beim akuten Lungenversagen eher klein als steif.
Die Berücksichtigung der inhomogenen Verteilung ist für die Therapie des akuten Lungenversagens bedeutend. Die atelektatischen Lungenareale sollen so weit als möglich eröffnet und offen gehalten werden, ohne dass es hierbei zu einer Überdehnung der noch nicht beeinträchtigten Bezirke kommt.
Definitorisch werden entsprechend der Ausprägung der Oxygenierungsstörung zwei Schweregrade des akuten Lungenversagens unterschieden (. Tab. 37.1; [4, 5]). Auch wenn diese Einteilung in der Literatur durchgehende Berücksichtgung findet, sind die wesentlichen Charakteristika sowie das klinische Outcome eines ALI und eines ARDS vergleichbar. Ebenso ist die initiale Schwere der Hypoxämie nicht prognostisch relevant. Auch heute noch muss mit einer Sterblichkeit bei diesem Krankheitsbild zwischen 30 und 50% gerechnet werden [6]. 37.2
Pathophysiologie
Zunächst kommt es beim akuten Lungenversagen zu einer pulmonalen Entzündungsreaktion mit ausgeprägter Störung der alveolokapillären Permeabilität. Der hierdurch bedingte Einstrom proteinreicher Flüssigkeit in die Alveole imponiert im Röntgenbild als diffuse, inhomogen verteilte Verschattung der Lunge.
. Abb. 37.1. Schematische Darstellung der Pathophysiologie des akuten Lungenversagens
. Tabelle 37.1. Definitionen der verschiedenen Schweregrade des akuten Lungenversagens Schweregrad/Bezeichnung
Charakteristik
ALI
»acute lung injury«
Akuter Beginn, bilaterale Infiltrationen im Thoraxröntgenbild, Linksherzversagen entweder klinisch oder durch PCWP <18 mm Hg ausgeschlossen
paO2/FIO2<300 mm Hg
ARDS
»acute respiratory distress syndrome«
Akuter Beginn, bilaterale Infiltrationen im Thoraxröntgenbild, Linksherzversagen entweder klinisch oder durch PCWP <18 mm Hg ausgeschlossen
paO2/FIO2<200 mm Hg
477 37.3 · Klinik
37
. Abb. 37.3. Schematische Darstellung der intrapulmonalen Shuntperfusion bei atelektatischen Lungenarealen . Abb. 37.2. Schematische Darstellung eines typischen CT-Bildes des Thorax beim akuten Lungenversagen
i Die Überdehnung der Lungen durch zu hohes Volumen oder zu hohen Beatmungsdruck ist ebenso wie der rezidivierende Kollaps der Lunge am Ende der Exspiration als wesentlicher Mechanismus für die Progression eines bestehenden Lungenschadens identifiziert worden [10].
Im weiteren Verlauf des Lungenversagens führt die Einwanderung von Fibroblasten zu einem strukturellen Umbau mit Fibrosierung der Lunge. Die Fibrosierung der Lunge kann reversibel sein, nachdem Nachuntersuchungen von überlebenden Patienten mit schweren Formen des akuten Lungenversagens zeigen, dass einige Zeit nach dem Ereignis wieder eine annähernd normale Lungenstruktur hergestellt sein kann. Durch die Fibrosierung nimmt die Denhbarkeit der Lunge weiter ab. Während aber die 1. Phase der Ödembildung noch auf die Anwendung hoher Beatmungsdrücke mit einer Zurückdrängung des Ödems und folglicher Wiedereröffnung bisher verschlossener Lungenareale führt (»recruitment«), ist die Phase der Fibrosierung dadurch gekennzeichnet, dass sich die Lunge immer schlechter rekrutieren lässt [11]. In der Lungenstrombahn kommt es zu disseminierten Verlegungen der pulmonalen Kapillaren, die zusammen mit der Abnahme des Lungenvolumens für die pulmonale Hypertonie verantwortlich ist. Bei seltenen, schweren Verlaufsformen kann die pulmonale Hypertonie zu einer ausgeprägten Nachlasterhöhung des rechten Herzens führen und ein akutes Rechtsherzversagen auslösen. Die pulmonale Hypertonie führt als treibende Kraft zu einer Zunahme der pulmonalen Ödembildung, sodass eine therapeutische Senkung des pulmonalen Drucks beim Lungenversagen sinnvoll sein kann [12]. Der wesentliche Mechanismus der Oxygenierungsstörung beim akuten Lungenversagen ist die Herabsetzung der gasaustauschenden Fläche mit Erhöhung der venösen Beimischung aufgrund des intrapulmonalen Rechts-links-Shunts (. Abb. 37.3). Durch diese Pathophysiologie erklärt sich auch, warum die Erhöhung der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration nur von geringem Erfolg ist, da der Sauerstoff nicht mit den Kapillaren in Kontakt treten kann. Interessanterweise wurde diese Pathophysiologie schon bei der klinischern Erstbeschreibung des ARDS gewürdigt, als man von einer sauerstoffrefraktären Zyanose der Patienten sprach [13].
37.3
Klinik
Das wesentliche Symptom des akuten Lungenversagens ist die Dyspnoe mit schwerer Einschränkung der arteriellen Oxygenierung, die sich auch bei O2-Gabe kaum therapieren lässt. Aus der Hypoxämie resultiert eine Tachypnoe, die am Beginn des Lungenversagens zur Hyperventilation mit Erniedrigung des paCO2 führen kann. Ohne frühzeitige Therapie wird die permanente Erhöhung der Atemarbeit aber zu einem sekundären Versagen der Atempumpe mit konsekutiver Abnahme der alveolären Ventilation und Erhöhung des paCO2 führen. Da das akute Lungenversagen in der absoluten Mehrzahl der Fälle als Komplikation verschiedener Grunderkrankungen auftritt, ist die umgebende klinische Situation meist von der Grunderkrankung geprägt. i Zur Abgrenzung des akuten Lungenversagen vom kardiogenen Lungenödem muss das Linksherzversagen entweder klinisch, echokardiographisch oder mittels Pulmonaliskatheterisierung ausgeschlossen sein (PCWP <18 mm Hg).
In der arteriellen Blutgasanalyse zeigt sich eine Hypoxämie, die durch die Abnahme des paO2/FIO2-Verhältnisses angegeben wird. Je nach Erkrankungsstadium wird der paCO2 erniedrigt, unverändert, oder erhöht sein. Im a.-p.-Röntgenbild des Thorax finden sich bilaterale Infiltrate. Da mit a.-p.-Aufnahmen lediglich ein Summenbild des horizontalen Thoraxdurchmessers abgebildet wird, ist die Korrelation zwischen röntgenologischem Befund und klinischer Situation aber nur mangelhaft. i Bei schweren Formen des Lungenversagens ist die Durchführung eines Computertomogramms des Thorax indiziert.
Im CT des Thorax ist die Verteilung der Transparenzminderung typischerweise infolge der Pathophysiologie als dorsale Belüftigsstörung imponierend. Auch möglicherweise gleichzeitig bestehende Pleuraergüsse sind von der manchmal flüssigkeitsdichten Atelektase im CT besser abgrenzbar. Begrenzte, abgekapselte, aber auch paramediastinal gelegene Pneumothoraces werden ebenfalls im CT sichtbar, während die a.-p.-Röntgenaufnahme unzuverlässig ist.
478
Kapitel 37 · Akutes Lungenversagen
37.4
Therapie
i Da sich das akute Lungenversagen meist sekundär einstellt, richtet sich die kausale Therapie vornehmlich auf die Behandlung der Grunderkrankung.
Bis heute ist außer der konsequenten und zeitnahen Behandlung der Grunderkrankung keine kausale Therapie des Lungenversagens bekannt. Insofern richtet sich der Fokus der Intensimaßnahmen auf die symptomatische Therapie. Die Grundzüge der symptomatischen Therapie des akuten Lungenversagens sind: 5 maschinelle Beatmung mit positiv-endexspiratorischem Druck (PEEP), 5 Reduktion der Atemwegsdrücke und des Atemzugvolumens, ggf. Entwicklung einer permissiven Hyperkapnie, 5 Vermeidung interstitieller Hyperhydratation, 5 Lagerungstherapie.
37.4.1 Einstellung der Beatmung
37
Entsprechend der teilweise ausgeprägten Verminderung der Gasaustauschfläche durch pulmonale Infiltrate und Atelektasenbildung soll durch Beatmung möglichst viel Lungengewebe für den Gasaustausch eröffnet und exspiratorisch offen gehalten werden (»recruitment«) [14]. Auf der anderen Seite darf die Beatmung aber nicht dazu führen, dass die meist kleinen Anteile normalen Lungengewebes überdehnt und dadurch geschädigt werden. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil aus neueren CT-Untersuchungen klar wird, dass im Schnitt nur ca. 10% der Lunge rekrutierbar sind, während bis zu 25% der Lunge kollaptisch verschlossen und durch Beatmung auch nicht zu eröffnen sind [15]. i Bei akutem Lungenversagen hat sich die Beatmung mit hohen PEEP-Werten bei kleinem Atemzugvolumen durchgesetzt; je nach Schwere des Lungenversagens wird ein PEEP von 10–20 mbar und ein Tidalvolumen von 6 ml/ kg KG gewählt.
Die Wichtigkeit der lungenprotektiven Beatmung konnte eindrücklich in der größten, kontrollierten, randomisierten Untersuchung über das Lungenversagen belegt werden. Das amerikanische ARDS-Netzwerk ARDSnet berichtete an 861 Patienten eine Abnahme der Letalität von 40% auf 30% bei Anwendung reduzierter Atemzugvolumina (6 ml/kg KG vs. 12 ml/kg KG), sodass die Studie wegen der Eindeutigkeit des Effekts vorzeitig abgebrochen wurde. Weitere Details zur Einstellung der Beatmung 7 Kap. 40. Mit der lungenprotektiven Beatmung kann nicht immer ein normaler Gasaustausch aufrechterhalten werden, da es bei reduziertem Atemzugvolumen häufig zur Entwicklung einer Hyperkapnie kommt. i Die Toleranz erhöhter CO2-Werte im Rahmen einer protektiven Beatmung zur Vermeidung beatmungsassoziierter Lungenschäden wird als permissive Hyperkapnie bezeichnet.
Die Hyperkapnie soll sich nur langsam entwickeln, damit es nicht zu einer akuten respiratorischen Azidose kommt. Sollte
im Einzelfall keine Kompensation des pH-Werts zu erreichen sein, so wurde in der ARDSnet-Studie eine Pufferung ab einem pH-Wert <7,25 durchgeführt. Allerdings gibt es hierfür auf dem Boden der komplexen Interaktionen der Pufferung mit Hinblick auf den intrazellulären pH-Wert und die CO2-Produktion keine allgemeine Empfehlung. Hyperkapnie kann zu einer Zunahme des pulmonalen Drucks führen, sodass sich hieraus bei schon vorbestehender Erhöhung des rechtsventrikulären Widerstands ein Rechtsherzvesagen entwickeln kann. In solchen Fällen kann die Hyperkapnie nur bei gleichzeitiger Senkung des Pulmonalisdrucks realisiert werden. Während früher zur Überwachung dieser Zusammenhänge häufig ein Pulmonaliskatheter beim ARDS empfohlen wurde, hat sich in kontrollierten klinischen Studien gezeigt, dass der Pulmonaliskatheter nicht zu einer Verbesserung der klinischen Behandlung führt, ggf. aber Komplikationen mit sich bringt, sodass er heute nicht mehr empfohlen wird [16]. 37.4.2 Flüssigkeitsmanagement Da in der Lunge ein ausgeprägtes Kapillarleck bestehen kann, ist die Flüssigkeitszufuhr restriktiv zu handhaben. i Häufig kann durch Negativbilanzierung mittels medikamentöser Dehydratation oder kontinuierlicher Hämofiltration eine Besserung der Oxygenierungsstörung erreicht werden.
Wichtiger Bestandteil dieses Therapiekonzeptes ist aber die Verhinderung des intravasalen Volumenmangels, um Hypoperfusionsschäden anderer Organsysteme vorzubeugen. Mit einer solchen Strategie kann zumindest eine Verkürzung des Intensivaufenthalts belegt werden, auch wenn hiermit kein eindeutiger Überlebensvorteil verbunden zu sein scheint [17]. 37.4.3 Zeitpunkt der Therapie Sowohl im Zusammenhang mit der Einstellung der Beatmung als auch der Flüssigkeitstherapie ist insbesondere die Beobachtung interessant, dass schon in der initialen Therapiephase ein zu hohes Atemzugvolumen oder eine positive Flüssigkeitsbilanz als Risikofaktor eines schlechten klinischen Behandlungsergebnisses identifiziert werden konnten [18]. Aus dieser Beobachtung kann für die Klinik abgeleitet werden, dass schon bei der initialen Beatmungspflichtigkeit eines ALI-/ARDS-Patienten die oben angegebenen Algorithmen berücksichtigt werden sollen, auch – oder gerade wenn – die Schwere der Störung noch nicht so ausgeprägt ist. 37.4.4 Lagerungstherapie i Eine konsequente Lagerungstherapie inklusive der Bauchlagerungn kann beim Lungenversagen die VentilationsPerfusions-Verhältnisse positiv beeinflussen und damit die Oxygenierung bessern.
Die Lagerungstherapie fördert auch die Sekretmobilisation. Neben der Seiten- und überdrehten Seitenlagerung ist hier v. a. die intermittierende Bauchlagerung (4–6 h) effektiv. Die Bauchlage-
479 37.4 · Therapie
37
rung führt bei ca. 2/3 der Patienten zu einer Verbesserung der Oxygenierung, die durch eine Umverteilung der Ventilation erklärt wird. In einer kontrollierten, randomisierten klinischen Studie konnte allerdings nur bei schwerster Ausprägung der Oxygenierungsstörung (paO2/FIO2 <100 mm Hg) ein Effekt der Bauchlage auf das Überleben beim akuten Lungenversagen nachgewiesen werden [19]. Beim ALI wurde kein Effekt der Lagerung auf das Überleben beobachtet, sodass die Bauchlagerung nur für die schwersten Verläufe des ARDS empfohlen werden kann.
Membran hinein, sodass keine wesentliche Oxygenierung mehr stattfindet, da dieses Blut schon oxygeniert ist. Infolgedessen dient diese Technik v. a. der extrakorporalen CO2-Elimination. Dies kann immer dann wichtig sein, wenn der Schweregrad der Erkrankung eine aggresive Ventilation nötig macht, sodass der nachgewiesene Benefit der protektiven Beatmung häufig erst mittels dieser Technik realisiert werden kann. Derzeit laufende klinische Studien werden zeigen, welchen klinischen Stellenwert das System bei der Behandlung des Lungenversagens erhält [20].
37.4.5 Er weiter te Therapiemaßnahmen, ECMO
37.4.6 Medikamentöse Therapie
Sollte trotz Ausschöpfung aller Therapiemaßnahmen immer noch eine Hypoxämie mit möglichen hypoxischen Folgeschäden an anderen Organsystemen drohen, stehen in spezialisierten Behandlungszentren weitere Therapieoptionen wie etwa die Inhalation von Stickstoffmonoxid (NO), die Gabe von Surfactant oder die extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) zur Verfügung. Bei diesem Verfahren wird das Blut über einen venovenösen, präpulmonalen, extrakorporalen Kreislauf mittels eines Membranoxygenators oxygeniert. Hierzu werden über eine perkutane Punktion der V. femorales Drainagekanülen in die untere V. cava eingelegt. Das venöse Blut fließt entlang des Gravitationsgefälles bis hin zur Antriebspumpe, die es weiter durch die Oxygenatoren pumpt. Das oxygenierte Blut wird dann über eine ebenfalls perkutan in die V. jugularis eingebrachte Kanüle in die obere V. cava zurückgegeben. Alle Bestandteile der Systeme sind mit einer mit Heparin überzogenen Oberfläche versehen. Durch den Einsatz dieser heparinbeschichteten Systeme kann auf eine systemische Antikoagulation – über das Maß einer Thromboseprophylaxe hinaus – verzichtet werden, was die schweren Blutungskomplikationen früherer nicht-beschichteter Systeme erheblich reduziert hat. Typischerweise werden mit dem Verfahren 25–50% des Herzzeitvolumens oxygeniert und dekarboxyliert. Die Grundidee der ECMO besteht darin, über einen extrakorporalen Gastransfer eine lungenprotektive Beatmung zu ermöglichen, um hiermit einen beatmungsassoziierten Progress des Lungenschadens zu vermeiden und der Lunge die nötige Zeitspanne für die Heilung zu ermöglichen. Darum profitieren nur Patienten mit einer prinzipiell reversiblen Erkrankung von dem Verfahren, während ECMO bei allen nicht reversiblen Formen des Lungenversagens kontraindiziert ist, sei es da die Lunge an sich irreversibel geschädigt ist oder die zum ARDS führende Grunderkrankung irreversibel ist. Da es sich bei der ECMO um ein technisch und personell aufwändiges Verfahren handelt, welches bei hoher Invasivität erhebliche Komplikationsmöglichkeiten bietet, wird eine strenge Indikation zur Anwendung der ECMO gestellt. In den meisten Zentren wird ECMO lediglich zur Verhinderung einer drohenden Hypoxie trotz Ausschöpfung aller konventionellen Therapieoptionen (paO2/FIO2 <50 mm Hg, SaO2 <85%) eingesetzt. Interessant ist die heute verfügbare Technik des pumpenlosen, arteriovenösen extrakorporalen Gasaustauschs. Hierbei wird das Blut dem arteriovenösen Druckgradiengten folgend über perkutan angelegte Kanülen über eine Gasaustauschmembran geleitet. Auch wenn diese Membran technisch ein Oxygenator ist, fließt bei dieser Technik schon arterielles Blut in die
Medikamentöse Ansätze zur Therapie des Lungenversagens zielen v. a. auf die Modulation der inflammatorischen Komponente der Erkrankungen ab. Trotz intensiver Forschung konnte bis heute kein wirklicher Durchbruch in der medikamentösen Therapie erzielt werden, der über die konsequente und zielgerichtete Therapie der Grunderkrankung hinausgeht. So bleibt etwa bei der zum Lungenversagen führenden Pneumonie die frühe und erregergerechte Antibiose die einzig wirklich effektive Maßnahme. Im Folgenden soll der Stand der heute verfolgten medikamentösen Ansätze dargestellt werden [6].
Glukokortikoidee Die hochdosierte Therapie mit Glukokortikoideen (bis zu 30 mg/ kg KG Methylprednisolon) kann beim sepsisinduzierten Lungenversagen zu einer Erhöhung der Letalität führen. ! Cave Die hochdosierte Glukokortikoidetherapie beim Lungenversagen gilt heute als obsolet.
Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Applikation von 1–3 mg/kg KG/Tag Methylprednisolon v. a. bei längeren Verlaufsformen des Lungenversagens indiziert sein kann. Auch wenn noch keine Daten aus großen Patientenkollektiven vorliegen, ist dieses Therapiekonzept zumindest in der Spätphase des Lungenversagens (>7 Tage) gerechtfertigt [21]. Die niedrigdosierte Methylprednisolontherapie mit 1–3 mg/ kg/d wird für die Spätphase des Lungenversagens empfohlen.
Ernährung Experimentelle Untersuchungen bei Sepsis zeigen eine günstige Wirkung von Y3-Fettsäure-reichen Diäten durch ihren immunmodulierenden Eingriff in den Arachidonsäuremetabolismus. Eine randomisierte, kontrollierte Studie an ARDS-Patienten berichtete eine Verbesserung der Oxygenierung, Abnahme der zusätzlichen Organversagen, Abnahme der Anzahl der Beatmungstage und damit Verkürzung der Liegedauer auf der Intensivstation durch eine Y3-Fettsäure-reiche Diät [22] Die Ernährung mit Y3-Fettsäure-reichen Diäten ist als adjunktive Maßnahme in der Therapie des Lungenversagens gerechtfertigt. Für andere medikamentöse Therapiekonzept wie etwa die hochdosierte Gabe von Ambroxol oder Acetylcystein, Theophyllin, Bronchodilatatoren oder Pentoxifyllin liegen heute keine überzeugenden klinischen Daten vor. Vermutlich unwirksam sind die intravenöse Gabe verschiedener Vasodilatatoren, die Inhalation von NO, die Anwendung verschiedener Antiphlogistika (Ibuprofen, Ketoconazol) und die partielle Flüssigkeitsbeatmung [6].
480
Kapitel 37 · Akutes Lungenversagen
Auch wenn die klinischen Studien an Erwachsenen keinen positiven Effekt des inhalierten NO auf die Überlebensrate zeigen konnten, wird NO in Behandlungszentren dennoch bei schwersten Oxygenierungsstörungen (paO2/FIO2 <50 mm Hg) benutzt, um so die technisch aufwändige ECMO-Therapie zur Verhinderung einer letalen Hypoxämie zu umgehen. Hierdurch scheint eine Reduktion der ECMO-Behandlungen in allen Zentren zu verzeichnen zu sein [23].
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37
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38 Pneumonien S. Ewig
38.1
Begriffsbestimmung
38.2
Pathophysiologie
38.3
Schwere Verlaufsformen der ambulant er worbenen Pneumonie
38.3.1 38.3.2 38.3.3 38.3.4 38.3.5 38.3.6 38.3.7 38.3.8
Definition –482 Epidemiologie –483 Diagnosestellung einer ambulant erworbenen Pneumonie –483 Indikationen für eine Therapie auf Intensivstation bzw. für eine intensivierte Therapie –484 Mikrobiologische Diagnostik –484 Prognose –484 Therapie –485 Therapieversagen –486
38.4
Nosokomiale Pneumonien
38.4.1 38.4.2 38.4.3 38.4.4 38.4.5 38.4.6 38.4.7
Begriffsbestimmung –486 Pathogenese –486 Epidemiologie –486 Diagnostik –487 Prognose –490 Therapie –490 Verlauf unter Therapie und Therapieversagen –491
38.5
Schwere Pneumonien unter Immunsuppression
38.5.1 38.5.2
HIV-Infektion –492 Organtransplantation und andere Zustände mit iatrogener Immunsuppression –493 Neutropenie –493 Stammzelltransplantation –496
38.5.3 38.5.4
38.6
–482
–482
–486
–492
Auswahl wichtiger antimikrobieller Substanzen und ihrer Dosierungen zur Therapie schwerer Pneumonien Literatur
–496
–482
–496
482
Kapitel 38 · Pneumonien
38.1
Begriffsbestimmung
Die heute gebräuchlichen Definitionen der unterschiedlichen Formen der Pneumonie haben nicht nur eine begrifflich ordnende Funktion, sondern bezeichnen jeweils spezifische ätiopathogenetische, diagnostische und therapeutische Konzepte. Es kommt ihnen somit ein klinisch handlungsanweisender Wert zu. > Definition der ambulant erworbenen Pneumonie Unter ambulant erworbenen Pneumonien versteht man Pneumonien des nicht schwergradig immunsupprimierten Patienten, die sich außerhalb des Krankenhauses entwickeln. Der Begriff der schwergradigen Immunsuppression bezeichnet dabei Zustände bzw. Erkrankungen, die mit einem relevanten Risiko opportunistischer Infektionen einhergehen.
In die Gruppe der nicht schwergradig immunsupprimierten Patienten werden daher auch solche eingeschlossen, die eine mit bestimmten Grunderkrankungen einhergehende Immunsuppression ohne definierbares Risiko opportunistischer Infektionen aufweisen (z. B. COPD, Diabetes mellitus, Leberzirrhose). Eine wichtige Gruppe innerhalb der ambulant erworbenen Pneumonie umfasst die Pneumonie des älteren Menschen (t65 Jahre). > Definition der nosokomialen Pneumonie
38
Im Gegensatz zur ambulant erworbenen Pneumonie bezeichnet man Pneumonien des nicht schwergradig immunsupprimierten Patienten, die nach stationärer Aufnahme im Krankenhaus auftreten, als nosokomiale Pneumonien. Man unterscheidet nosokomiale Pneumonien des spontanatmenden Patienten von den (viel häufigeren) Pneumonien des beatmeten Patienten (Beatmungspneumonie). Weitere Differenzierungen sind möglich (7 Kap. 38.4.1), jedoch bislang noch von untergeordneter klinischer Relevanz.
In den aktualisierten Leitlinien der American Thoracic Society (ATS) wird eine Gruppe von Patienten, die eine Pneumonie innerhalb einer Versorgungs- oder Pflegeinstitution erworben haben, gesondert als »health care-associated pneumonia« angesprochen [3]. Erregerspektrum und Letalität scheinen der nosokomialen Pneumonie mehr zu ähneln als der ambulant erworbenen Pneumonie. Daten hierzu aus Europa bzw. Deutschland sind jedoch noch nicht verfügbar. > Definition der Pneumonie unter Immunsuppression Schließlich bilden Pneumonien des schwergradig immunsupprimierten Patienten eine eigene Gruppe, die je nach vorherrschendem Immundefekt (z. B. T-Zell-, B-Zell-Defekt oder Neutropenie) und dem daraus resultierenden Risiko opportunistischer Infektionen differenziert werden können. Auch in dieser Gruppe findet sich das spezifische Muster des Erregerspektrums der ambulant und nosokomial erworbenen Pneumonien entsprechend dem Ort der Pneumonieentstehung; der jeweilige Grad der Immunsuppression bleibt jedoch für das Gesamtbild des Erregerspektrums bestimmend.
> Definition der primären/sekundären Pneumonie Primäre Pneumonien bezeichnen Pneumonien des vor der Pneumonieepisode gesunden Patienten; sie sind eine Sondergruppe
innerhalb der ambulant erworbenen Pneumonien. Sekundäre Pneumonien sind Pneumonien, die bei Patienten mit vorbestehender Grunderkrankung auftreten. Diese Einteilung ist heute mehr von heuristischem Interesse, da sie innerhalb der oben bezeichneten Grundunterscheidungen keine wesentliche zusätzliche klinisch relevante Differenzierung leistet.
> Definition der typischen/atypischen Pneumonie Analoges gilt für die Einteilung der ambulant erworbenen Pneumonien als »typisch« (nach traditioneller Vorstellung bedingt durch klassische pyogene Erreger) und »atypisch« (bedingt durch »atypische« Bakterien und Viren).
i Nach heutigem Wissen kann eine solche Unterscheidung nach klinischen Kriterien im Individualfall nicht ausreichend valide getroffen werden und stellt daher keine Grundlage für differenzialtherapeutische Entscheidungen dar. Die Einteilung der Erreger in »typische« und »atypische« ist demgegenüber weiterhin hilfreich.
38.2
Pathophysiologie
Von einer schweren Pneumonie sprechen wir, wenn eine schwere akute respiratorische Insuffizienz allein oder zusammen mit einer schweren Sepsis bzw. einem septischen Schock vorliegt. Bei schweren Pneumonien kommt es als Folge des lokalen pulmonalen Inflammationsgeschehens zu einer ausgeprägten Minderbelüftung gut perfundierter Lungenabschnitte und zu einem hohen Anteil von Kompartimenten mit niedrigem Ventilations-Perfusions-Quotienten bis hin zum Shunt. Der Shuntanteil kann dabei 20% und mehr des Herzminutenvolumens betragen. Ein Teil der Ventilations-Perfusions-Störungen ist offenbar auf eine partielle Aufhebung der hypoxischen Vasokonstriktion durch im Rahmen der Immunantwort freiwerdende vasodilatierende Metaboliten der Arachidonsäure (Prostacyclin) zurückzuführen. Zusätzlich kann aufgrund flacher Atmung (Minderung der Compliance, schmerzbedingte Schonhaltung) die Totraumventilation auf bis zu 60% zunehmen. Der pulmonalarterielle Druck kann auf ca. 35 mm Hg ansteigen [20, 38]. Im Falle einer zusätzlichen Aktivierung systemischer inflammatorischer Kaskaden kommt es infolge einer schweren Mikround Makrozirkulationsstörung zu einer Hypotonie mit Organfunktionsstörungen bzw. zu einer schweren Kreislaufinsuffizienz und Gewebshypoxie mit Multiorganversagen. 38.3
Schwere Verlaufsformen der ambulant erworbenen Pneumonie
38.3.1 Definition Bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition der schweren ambulant erworbenen Pneumonie. Klinisch kann es daher hilfreich sein, verschiedene gut validierte Ansätze der Schweregradbestimmung anzuwenden. Der aktuell wichtigste Score ist der CRB-65. Er weist den Vorzug einer sehr einfachen Bestimmbarkeit auf.
38
483 38.3 · Schwere Verlaufsformen der ambulant er worbenen Pneumonie
Die 4 Kriterien des CRB-65-Score 5 C »confusion« = neu im Zusammenhang mit der Pneumonie aufgetretene Bewusstseinstrübung 5 R »respiratory rate« = Atemfrequenz >30/min 5 B »blood pressure« = systolischer Druck <90 mm Hg oder diastolischer Druck d60 mm Hg 5 65 Alter t65 Jahre
Das Vorhandensein jedes Kriteriums ergibt einen Punkt, die maximale Punktzahl ist demnach 4. Eine Punktzahl von 0 ist mit einer Letalität um 1%, 1–2 um 5–8%, 3–4 um 20–30% verbunden. Demnach identifiziert der CRB-65 Patienten ohne Risiko sowie solche mit deutlich erhöhtem Risiko für einen tödlichen Ausgang [8]. Patienten mit einem Score >1 sollten in der Regel hospitalisiert werden. Für die Entscheidung über eine intensivierte Therapie sollten zusätzlich die Sepsiskriterien nach Bone (Sepsis, schwere Sepsis, septischer Schock) sowie die Kriterien der ATS herangezogen werden. Kriterien der schweren ambulant erworbenen Pneumonie nach ATS [2, 14] 5 Kriterien der schweren respiratorischen Insuffizienz – Atemfrequenz >30/min (kann auch ein Kriterium der Sepsis sein) – paO2/FIO2 <250 – Notwendigkeit der (Intubation und) Beatmung 5 Kriterien der Kreislaufinsuffizienz/der schweren Sepsis bzw. des septischen Schocks – Systolischer arterieller Blutdruck <90 mm Hg – Diastolischer arterieller Blutdruck d60 mm Hg – Notwendigkeit einer Vasopressortherapie >4 h – Akute Bewusstseinstrübung – Akute Niereninsuffizienz 5 Kriterien der röntgenologischen Ausbreitung – Bilaterale Infiltrate – Multilobäre Infiltrate – Progression der Infiltrate um 50% innerhalb von 48 h
38.3.2 Epidemiologie Inzidenz. Die Inzidenz der ambulant erworbenen Pneumonie beträgt 2–5/1000 Einwohner/Jahr. Sie nimmt mit dem Alter bis zu einer Inzidenz von 30/100 Einwohner/Jahr deutlich zu. Etwa 20% der Verläufe erfordern eine stationäre Behandlung. Von diesen nehmen ca. 10–15% einen schweren (intensivtherapiepflichtigen) Verlauf [42]. Komorbidität. Etwa 1/3 der Patienten weist keine Grunderkrankung auf (primäre Pneumonien), während bei zwei Dritteln Grundkrankheiten bestehen. Am häufigsten liegen eine chronischobstruktive Lungenerkrankung (COPD), eine Alkoholkrankheit, eine chronische Herzerkrankung oder ein Diabetes mellitus vor. Gründe für eine Intensivtherapie. Häufigster Grund für eine Intensivtherapie ist eine schwere respiratorische Insuffizienz, gefolgt von schwerer Sepsis bzw. septischem Schock. Andere pulmonale und extrapulmonale Komplikationen (z. B. Abszess-
. Tabelle 38.1. Ätiologie der schweren Verlaufsformen der ambulant erworbenen Pneumonie. Häufigkeitsangaben beziehen sich auf die höchste und niedrigste Inzidenz (>0) in epidemiologischen Studien; Streptococcus pneumoniae stellt den einzigen Erreger dar, der in allen Studien gefunden worden ist. (Nach [16]) Erreger
Häufigkeit (%)
Streptococcus pneumoniae
12–38
Legionella pneumophila und andere spp.
3–30
Gramnegative Enterobacteriaceae (GNEB)
2–34
Haemophilus influenzae
2–13
Staphylococcus aureus bzw. spp.
1–18
Mycoplasma pneumoniae
1–7
Respiratorische Viren
1–5
Pseudomonas aeruginosa
1–5
bildung, Empyem bzw. Meningitis, dekompensierte Herzinsuffizienz) stellen zusätzliche Indikationen zur Intensivtherapie dar. Ätiologie. Streptococcus pneumoniae ist der häufigste Erreger auch der schweren Verlaufsformen, das sonstige Erregerspektrum ist regional unterschiedlich. Häufige Erreger sind in . Tabelle 38.1 wiedergegeben. ! Cave Patienten unter Steroidtherapie in einer Dosis ≥20 mg/ Tag über >2 Wochen sind als schwergradig immunsupprimierte Patienten einzuschätzen! Entsprechend ist das erwartete Erregerspektrum um opportunistische Erreger (Aspergillus!) zu erweitern.
38.3.3 Diagnosestellung einer ambulant
erworbenen Pneumonie Kriterien für das Vorliegen einer ambulant erworbenen Pneumonie umfassen: 4 Nachweis eines neu aufgetretenen Infiltrats im Thoraxröntgenbild, 4 Temperatur t38,3°C oder <36°C, 4 akut oder subakut aufgetretene respiratorische Symptome (Husten, Asuwurf, Dyspnoe), 4 akut oder subakut aufgetretene Allgemeinsymptome 4 konstitutionelle Symptome: Übelkeit/Erbrechen, Diarrhö, Kopf-, Glieder-, Muskelschmerzen, 4 Sepsissymptome: Schwindel, Verwirrtheit. ! Cave Gerade schwere Pneumonien können oligosymptomatisch verlaufen. Dies gilt insbesonders für ältere Menschen. Fieber z. B. ist in bis zu 50% der Fälle nicht zu verzeichnen. Hingegen kann eine neu aufgetretene Verwirrtheit einziges Symptom einer schweren Pneumonie sein. Das Ausmaß der Infiltrate in der Röntgenthoraxaufnahme kann gerade bei schwerer COPD mit Lungenemphysem oder Dehydratation leicht unterschätzt werden.
484
Kapitel 38 · Pneumonien
38.3.4 Indikationen für eine Therapie
auf Intensivstation bzw. für eine intensivier te Therapie Eindeutige Indikationen für eine Aufnahme auf der Intensivstation sind die Notwendigkeit einer invasiven Beatmung bzw. das Vorliegen eines septischen Schocks. Vor diesen Endpunkten liegt eine weite Zone des Ermessensspielraums. Die Entscheidung über die Aufnahme auf einer Intensivstation wird in diesen Fällen erheblich davon abhängen, welche Versorgungsstrukturen in einem Krankenhaus vorgehalten werden. Allgemein gilt: Je besser eine Intermediate-care-Station etabliert ist, desto weniger Patienten werden auf der Intensivstation aufgenommen. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird daher besser von der Indikation zu einer intensivierten Therapie gesprochen (die sogar auf Normalstation erfolgen kann, wenn intensivmedizinische Prinzipien der Über wachung gewährleistet sind). Entsprechend ist eine intensivierte Therapie bei allen Patienten mit einem CRB-65-Wert >2 (insbesonders bei einer Atemfrequenz >30/min) sowie einer schweren Sepsis in Er wägung zu ziehen. Das Alter per se stellt keine Kontraindikation zur Intensivtherapie dar, da es kein unabhängiger prognostischer Faktor für einen tödlichen Ausgang ist. Entscheidend für die Indikationsstellung einer Intensivtherapie beim älteren Patienten ist vielmehr der prämorbide Allgemeinzustand. 38.3.5 Mikrobiologische Diagnostik Stellenwert. Die konventionelle mikrobiologische Diagnostik weist eine Reihe wichtiger Nachteile auf:
38
4 Die Ergebnisse der mikrobiologischen Diagnostik sind meist erst nach Stunden (Sofortdiagnostik) oder Tagen (Kulturen, Serologien) verfügbar, in jedem Fall aber nicht zum Zeitpunkt der initialen Einschätzung. Die möglichst rasche Einleitung einer adäquaten antimikrobiellen Therapie ist jedoch prognostisch entscheidend. 4 Die meisten diagnostischen Techniken weisen nur eine begrenzte Sensitivität und Spezifität auf; die diagnostische Ausbeute aller kulturellen Techniken wird durch eine vorbestehende antimikrobiellen Therap ie noch weiter verschlechtert. 4 Auch ein valider Erregernachweis kann naturgemäß eine Infektion durch mehrere Erreger nicht ausschließen. 4 Eine Reduktion der Letalität durch den Einsatz der mikrobiologischen Diagnostik ist nicht nachgewiesen. Andererseits ergeben sich für die mikrobiologische Diagnostik 2 wichtige Funktionen: 4 Identifikation des Erregerspektrums der eigenen Region als Orientierung für eine initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie (»epidemiologische Funktion«); um dies zu gewährleisten, muss allerdings ein sehr umfangreiches diagnostisches Programm über einen relevanten Zeitraum durchgeführt werden. 4 Identifikation des Erregers im Individualfall, um die initiale antimikrobielle Therapie zu modifizieren (»individuelle Funktion«).
Jede größere Intensivstation sollte daher eine umfassende mikrobiologische Diagnostik durchführen und die Ergebnisse systematisch erfassen, um das eigene Erregerspektrum als Basis der initialen kalkulierten antimikrobiellen Therapie zu identifizieren. Trotz ungeklärten Einflusses des Erregernachweises im Individualfall auf den Ausgang erleichtert dieser in jedem Fall die Therapiesteuerung.
Antigentests im Urin. Die bereits kommerziell erhältlichen Tests für Streptococcus pneumoniae und Legionella pneumophila der Serogruppe 1 als einfache, bettseitig durchführbare Antigentests im Urin weisen eine Sensitivität von 50–80% und eine Spezifität von >95–100% auf. Der resultierende hohe positive Vorhersagewert sowie die einfache Durchführbarkeit und rasche Verfügbarkeit der Ergebnisse (binnen 15 min nach Testansatz) lassen diese Tests als wertvolle Ergänzung erscheinen. Vor Klärung der prognostischen Rolle der Mischinfektionen sollte jedoch das Konzept der kalkulierten initialen antimikrobiellen Therapie bei schweren Pneumonien nicht verlassen werden. Diagnostische Verfahren. Bei allen Patienten sollten 2 Blut-
kulturen gewonnen sowie Urinantigentests auf Streptococcus pneumoniae und Legionella pneumophila Serogruppe 1 durchgeführt werden. Gegebenenfalls kann auch eine Sputumprobe nach Gram gefärbt, validiert und kulturell angezüchtet werden. Im Falle eines größeren Pleuraergusses muss eine Thorakozentese mit Zytologie, Bestimmung der laborchemischen Charakteristika (Transsudat/Exsudat) sowie Kultur erfolgen. Gepaarte Serologien (auf Legionella pneumophila, Mycoplasma pneumoniae und Chlamydia pneumoniae, Coxiella burnetti und respiratorische Viren (Influenzavirus, Parainfluenzavirus, RS-Virus, Adenovirus)) sind nur im Rahmen systematischer Erhebungen des Erregerspektrums sinnvoll. Beim beatmeten Patienten sollte Tracheobronchialsekret gewonnen und quantitativ kulturell aufgearbeitet werden. Eine Bronchoskopie mit geschützter Bürste (PSB) und/oder bronchoalveolärer Lavage (BAL) sollte in erster Linie bei einem Scheitern der initialen antimikrobiellen Therapie erwogen werden. In diesen Fällen ist es wichtig, eine umfassende mikrobiologische Aufarbeitung (auf bakterielle, »atypische« ebenso wie opportunistische Erreger) zu veranlassen. Methodische Voraussetzungen sind in . Tabelle 38.3 (7 Kap. 38.5.4) aufgeführt.
38.3.6 Prognose Die Letalität der schweren Verlaufsformen der ambulant erworbenen Pneumonie beträgt 20–35%, in einigen Untersuchungen auch >50%. Todesursachen sind meist eine therapierefraktäre Hypoxie oder ein therapierefraktärer septischer Schock bzw. ein Multiorganversagen. Von den Überlebenden haben nach 2 Jahren ca. 50% wieder ihre normale Lebens- und Arbeitsweise aufgenommen. Prognostische Faktoren. Die wichtigsten prognostischen Faktoren umfassen den prämorbiden Allgemeinzustand des Pati-
485 38.3 · Schwere Verlaufsformen der ambulant er worbenen Pneumonie
enten, eine inadäquate initiale antimikrobielle Therapie, das Vorliegen einer Bakteriämie sowie Faktoren, die die schwere respiratorische Insuffizienz, die schwere Sepsis bzw. den septischen Schock sowie die röntgenologische Ausbreitung der Infiltrate reflektieren [6]. Unter den mikrobiellen Ätiologien kommt Streptococcus pneumoniae, Legionella pneumophila, Staphylococcus aureus, Klebsiella pneumoniae, anderen gramnegativen Enterobacteriaceae (GNEB) sowie Pseudomonas aeruginosa prognostische Bedeutung zu. 38.3.7 Therapie Antimikrobielle therapeutische Grundstrategie. Kontrollierte
Studien zur Therapie der schweren ambulant erworbenen Pneumonie liegen nicht vor. Die initiale antimikrobielle Therapie sollte sich daher am lokalen Erregersepktrum orientieren oder – wo dies nicht bekannt ist – am mutmaßlich der eigenen Region ähnlichsten Spektrum anderer Regionen (»kalkulierte antimikrobielle Therapie«). Die initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie wird stets intravenös begonnen und in der Regel über den ganzen Therapiekurs fortgesetzt. Sie wird ggf. entsprechend den Ergebnissen der mikrobiologischen Diagnostik im Individualfall modifiziert.
Initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie. In der Regel ist
eine Kombinationstherapie indiziert. Dies gilt insbesondere angesichts von Daten, die eine Überlegenheit einer Kombinationstherapie über eine E-Laktam-Monotherapie bei schweren invasiven Pneumokokkeninfektionen nahelegen. Hierbei handelt es sich allerdings um Daten aus retrospektiven und nicht kontrollierten Studien. i Das höchste differenzialtherapeutische Gewicht kommt der Frage zu, ob der Patient ein Risiko für eine Pneumonie durch P. aeruginosa aufweist [2, 7, 23, 45].
Risikofaktoren für eine Pneumonie durch P. aeruginosa sind: 4 strukturelle pulmonale Komorbidität (in der Regel schwere COPD oder Bronchiektasen), 4 wiederholte Hospitalisationen in den letzten 12–24 Monaten, 4 wiederholte antimikrobielle Therapiekurse in den letzten 12–24 Monaten, 4 bekannte Kolonisation durch P. aeruginosa.
38
4 Monotherapie mit Fluorchinolon III/IV (Levofloxacin, Moxifloxacin); 4 Risiko für P. aeruginosa: 4 Kombination aus antipseudomonalem E-Laktam (Cephalosporin der 4. Generation, Cefepim) oder Acylureidopenicillin mit E-Laktamasehemmer, z. B. Piperacillin/Tazobactam, oder Carbapenem I (z. B. Imipenem, Meropenem) plus Fluorchinolon II (Ciprofloxacin). 4 Hinsichtlich der Rationale für eine Kombinationstherapie von E-Laktamen mit Aminoglykosiden wird auf 7 Kap. 38.5 (»Nosokomiale Pneumonien«) verwiesen. Aspirationspneumonie. Patienten mit Verdacht auf Aspirationspneumonie sollten ein Aminopenicillin plus E-Laktamasehemmer, z. B. Amoxicillin/Clavulansäure oder Ampicillin/Sulbactam, Clindamycin plus Cephalosporin der 3. Generation, oder Carbapenem erhalten. Health care-asscociated pneumonia. Das Erregerspektrum die-
ser Patienten scheint dem der nosokomialen Beatmungspneumonie zu gleichen. Zu prüfen ist daher eine primär antipseudomonale Therapie sowie eine gegen MRSA wirksame zusätzliche Medikation. CA-MRSA. Zusätzlich zu den nosokomial erworbenen MRSAStämmen müssen aktuell auch ambulant erworbene in Betracht gezogen werden (CA-MRSA). Diese weisen über das PantonValentin-Leucocidin (PVL) und andere Toxine eine erhöhte Pathogentität auf. Klinisch manifestieren sie sich durch hochakute und nekrotisierende Pneumonien. Unerkannt ist die Pneumonie durch cMRSA entsprechend mit einer hohen Letalität belastet. Anders als nosokomiale MRSA sind cMRSA in der Regel noch gegenüber allen Non-E-Laktamen sensibel. Nichtmedikamentöse Therapie. Die Therapie der schweren
O2-refraktären respiratorischen Insuffizienz bestand bisher alternativlos in Intubation und Beatmung. Aktuell häufen sich Erfahrungsberichte über einen erfolgreichen Einsatz der nichtinvasiven Beatmung auch bei Patienten mit schweren Verlaufsformen der ambulant erworbenen Pneumonie, allerdings überwiegend mit der Komorbidität COPD. Inwieweit die nichtinvasive Beatmung auch bei Patienten ohne COPD erfolgreich eingesetzt werden kann, ist aktuell noch offen. Indikationen und Kontraindikationen scheinen allgemeinen Prinzipien der nichtinvasiven Beatmung zu folgen. i Im Fall einer unilateralen Pneumonie kann durch Lagerung des Patienten auf die gesunde Seite das VentilationsPerfusions-Verhältnis und somit die Hypoxämie (um paO2 ca. 10–15 mm Hg) gebessert werden. Therapie der schweren Sepsis. Einer zeitgerechten und konse-
Entsprechend wird die initiale antimikrobielle Therapie wie folgt ausgewählt: 4 Kein Risiko für P. aeruginosa: 4 Kombination aus Breitspektrum-E-Laktam (Cephalosporin der 3. Generation, z. B. Cefotaxim, Ceftriaxon, oder Acylureidopenicillin mit E-Laktamasehemmer, z. B. Piperacillin/Tazobactam, oder Carbapenem II, z. B. Ertapenem) plus Makrolid (Erythromycin, Clarithromycin) oder
quenten Therapie der schweren Sepsis kommt eine hohe Bedeutung zu (7 Kap. 63). Es gilt daher, insbesonders diejenigen Patienten zu identifizieren, die innerhalb der ersten Stunden nach stationärer Aufnahme eine schwere Sepsis bzw. einen septischen Schock entwickeln. Dies ist nur durch eine intensivmedizinische Überwachung möglich (7 Kap. 38.4.3). Rekombinantes aktiviertes Protein C (Drotrecogin-D) ist die erste Substanz, für die eine Reduktion der Letalität der schweren Sepsis beschrieben ist. In der entsprechenden Studie wiesen ca.
486
Kapitel 38 · Pneumonien
50% der Patienten eine Pneumonie auf. Somit kommt diese Substanz bei Patienten mit schwerer Pneumonie und schwerer Sepsis in Betracht, sofern die sonstigen Einschlusskriterien erfüllt sind.
nung der »ventilator-associated pneumonia« (VAP) durchgesetzt. Aktuell zeichnet sich eine Revision dieser Bezeichnung hin zur »ventilation-associated pneumonia« unter Erhaltung des Akronyms »VAP« ab. > Definition der Beatmungspneumonie
38.3.8 Therapieversagen > Definition des Therapieversagens Ein Therapieversagen liegt vor, wenn sich die klinische Situation des Patienten (Allgemeinzustand, Fieber, Kreislauf ) binnen 72 h nach Beginn der initialen antimikrobiellen Therapie nicht gebessert oder zumindest stabilisiert hat.
Ursachen eines Therapieversagens sind vielfältig und umfassen: 4 inadäquate initiale antimikrobielle Therapie, 4 erregerassoziierte Therapieversager (persistierende, resistente oder »atypische« Erreger), 4 Therapieversager durch Komplikationen der Pneumonie (Empyem, Abszess, nosokomiale Superinfektion), 4 Therapieversager durch Sonderformen der Pneumonie (Aspirations-, Retentionspneumonie oder seltene Erreger, einschließlich M. tuberculosis), 4 Pseudotherapieversager durch nichtinfektiöse Lungenerkrankungen, die eine Pneumonie vortäuschen Entsprechend komplex ist die differenzialdiagnostische Abklärung. Daher sollte bei einem Therapieversagen stets ein Pneumologe und/oder Infektiologe konsultiert werden.
38
Qualitativ hochwertige aktuelle Leitlinien zur Therapie der ambulant erworbenen Pneumonie (einschließlich der schweren Verlaufsformen) umfassen: 5 die Leitlinie der ATS [2], 5 die Leitlinie der ERS [45], 5 die S3-Leitlinie der PEG, DGP, DGI und von CAPNETZ [23]. Die Leitlinien unterscheiden sich in ihren Therapieempfehlungen hauptsächlich darin, dass die ERS- und S3-Leitlinie der DGP und PEG Aminoglykoside als Kombinationspartner nicht mehr empfehlen.
38.4
Nosokomiale Pneumonien
38.4.1 Begriffsbestimmung Nosokomiale Pneumonien können sich entwickeln: 4 beim spontan atmenden Patienten, 4 beim spontan atmenden Patienten mit Tracheostomie, 4 unter Beatmung (nichtinvasiv oder invasiv, jeweils ohne oder mit Tracheostomie). Die weitaus meisten Untersuchungen zur nosokomialen Pneumonie beziehen sich auf die Pneumonie des nicht schwergradig imunsupprimierten Patienten unter invasiver Beatmung, hier bezeichnet als Beatmungspneumonie [24]. Für die Beatmungspneumonie hat sich im angelsächsischen Sprachraum die sachlich inadäqaute und irreführende Bezeich-
Im Kontext der Beatmungspneumonie ist die Unterscheidung der früh einsetzenden nosokomialen Pneumonie (»early onset pneumonia«; von der stationären Aufnahme bis zum 4. Tag der stationären Behandlung) von der spät einsetzenden nosokomialen Pneumonie (»late onset pneumonia«; ab dem 5. Tag der stationären Behandlung [3]) von grundlegender Bedeutung. Die ältere Definition, wonach Pneumonien erst ab 48 h nach Krankenhausaufnahme als nosokomial anzusehen sind, wird durch diese neuere Unterscheidung hinfällig.
38.4.2 Pathogenese Die nosokomiale Pneumonie entsteht in erster Linie durch Mikroaspiration pathogener Keime, die den Oropharynx besiedeln (. Abb. 38.1). Das endogen oder pathologisch besiedelte oropharyngeale Reservoir ist am bedeutsamsten. Für die spät einsetzende nosokomiale Pneumonie spielt das (pathologisch besiedelte) gastrische Reservoir eine zusätzliche Rolle. Begünstigende Faktoren sind: 4 Umgehung der unspezifischen Abwehr des oberen Respirationstrakts durch den Endotrachealtubus, 4 Beeinträchtigung der Immunitätslage des kritisch Kranken, 4 bestimmte Grunderkrankungen (z. B. COPD). Darüber hinaus spielt die exogene Übertragung von Erregern eine bedeutende Rolle. Ein weniger häufiger Pathomechanismus besteht in septischen Absiedlungen. Noch ungeklärt sind Rolle und Häufigkeit der Translokation von Darmbakterien aus dem ischämischen Darm. Die nosokomiale Pneumonie entwickelt sich bevorzugt in den abhängigen Lungenpartien, breitet sich typischerweise multifokal aus und weist häufig eine polymikrobielle Ätiologie auf [19, 27]. Die »early-onset pneumonia« entsteht durch Mikroaspiration von Keimen der oropharyngealen Flora bereits außerhalb oder innerhalb des Krankenhauses (z. B. bei Schluckstörungen, häufig im Rahmen der Intubation). Hingegen liegt der »late-onset pneumonia« eine Mikroaspiration von im Krankenhaus erworbenen meist oropharyngealen, gelegentlich auch gastrischen (potenziell multiresistenten) Kolonisationskeimen zugrunde. Ein liegender Tubus stellt dabei eine »via regia« für die Deszension von Keimen dar – sowohl über das Lumen des Tubus als auch entlang des Tubus am keineswegs dichten Tubuscuff. Die Bildung eines »Biofilms« am Tubus spielt dabei eine wichtige Rolle als Keimreservoir. ! Cave Eine prolongierte antimikrobielle Therapie mit breitem antimikrobiellem Spektrum birgt ein hohes Risiko für die Selektion multiresistenter Keime [37].
38.4.3 Epidemiologie Inzidenz. Die Inzidenz beträgt 5–15 Erkrankungen pro 1000 stationär behandelter Patienten und ist bei älteren sowie bei beat-
487 38.4 · Nosokomiale Pneumonien
38
. Abb. 38.1. Pathogenese der noskomialen Pneumonie
meten Patienten am höchsten. In Deutschland wird die absolute Inzidenz auf 120 000/Jahr geschätzt. Ätiologie. Bei den früh einsetzenden noskomialen Pneumonien
überwiegen ambulant erworbene Keime und leichter therapierbare, weil nicht resistente gramnegative Enterobakterien (GNEB). Mit folgenden Erregern ist am häufigsten zu rechnen [36]: 4 Oxacillin- bzw. Methicilin-sensible Staphylococcus aureus (OSSA bzw. MSSA), 4 Haemophilus influenzae, 4 Streptococcus pneumoniae, 4 Escherichia coli und andere gramnegative Enterobakterien. Bei den spät einsetzenden nosokomialen Pneumonien finden sich zusätzlich meist komplizierte, ggf. auch typische multiresistente Erreger: 4 Oxacillin- bzw. Methicillin-resistente Staphylococcusaureus-Stämme (ORSA bzw. MRSA), 4 Pseudomonas spp., 4 Acinetobacter spp., 4 Stenotrophomonas spp., 4 ESBL-bildende Gram-negative Enterobakterien. Unter bestimmten Bedingungen muss von einem modifizierten Erregerspektrum ausgegangen werden: 4 strukturelle Lungenerkrankung, insbesonders COPD: multiresistente Erreger, 4 Steroidtherapie: Legionella spp., Pilze (Aspergillus spp.), 4 prolongierte stationäre Behandlung bzw. antimikrobielle Therapie: multiresistente Erreger, 4 zerebrale Erkrankungen mit Bewusstseinstrübung: endogene Kolonisationskeime, besonders Staphylococcus aureus (OSSA bzw. MSSA), 4 abdominalchirurgischer Eingriff und Aspiration: Anaerobier (Assoziation weniger gut geklärt). Risikofaktoren. Das Risiko für die Entwicklung einer nosokomia-
len Pneumonie ist erhöht, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen. Hierzu gehören:
4 hohes Lebensalter, 4 kardiopulmonale oder andere schwere Grunderkrankungen, 4 Morbidität (hoher APACHE-II- oder SAPS-II-Score-Wert), 4 Bewusstseinstrübung, 4 vorangegangener thorakoabdomineller Eingriff, 4 prolongierte Hospitalisation, Beatmung und antimikrobielle Therapie. i Wichtige zusätzliche Risikofaktoren sind eine horizontale Körperlage, ein subglottischer Sekretstau sowie die Reintubation. Die Bedeutung der H2-Blocker und Antazida im Rahmen der Stressulkusprophylaxe als Risikofaktoren wird kontrovers diskutiert.
38.4.4 Diagnostik Stellenwert der klinischen Diagnostik. Zu den klassischen Diag-
nosekriterien einer Beatmungspneumonie (nach Johanson et al. [46]) gehören: 4 neu aufgetretenes und persistierendes Infiltrat im Thoraxröntgenbild plus 4 mindestens 2 der 3 folgenden Kriterien: 4 Fieber >38,3°C oder Hypothermie <36°C, 4 Leukozytose >12 000/μl oder Leukopenie <4000/μl, 4 purulentes Tracheobronchialsekret. Alle diese Zeichen kommen bei kritisch Kranken häufig vor, auch ohne dass eine Pneumonie besteht (zur Differenzialdiagnose 7 s. unten). Daher sind klinische Kriterien – im Gegensatz zur ambulant erworbenen Pneumonie – nur begrenzt sensitiv und spezifisch (20–40% falsch-negative und falsch-positive Befunde). Dennoch müssen sie Grundlage für alle weiteren diagnostischen Entscheidungen bleiben [17, 18]. Alternativ wurde von Pugin et al. [35] der »clinical pulmonary infection score« (CPIS) beschrieben (. Tab. 38.2). Eine Überlegenheit gegenüber den Johanson-Kriterien [46] besteht nicht, der CPIS-Score ist jedoch wertvoll als Instrument der Evaluation des Therapieansprechens (7 s. unten).
488
Kapitel 38 · Pneumonien
. Tabelle 38.2. Modifizierter Clinical Pulmonary Infection Score (CPIS). (Modifiziert nach Pugin et al. [35]) Parameter
Punktzahl
Temperatur (°C) Zwischen ≥36,5°C und ≤38,4°C
0
Zwischen ≥38,5°C und ≤38,9°C
1
Zwischen ≥39°C und ≤36°C
2
5 Medikamentös bedingte Alveolitis 5 Infektionen: – Sinusitis – Katheterinfektionen – Harnwegsinfektionen – Abdominelle Infektionen
Stellenwert der mikrobiologischen Diagnostik. Die mikrobioloLeukozyten, mm3 Zwischen ≥4000 und ≤11.000
0
Zwischen <4000 oder >11.000
1
Zwischen <4000 oder >11.000 + Stabkernige ≥50%
2
Tracheobronchialsekret (TBAS) Kein Sekret
0
Nichteitriges Sekret
1
Eitriges Sekret
2
ARDS/Oxygenierung: paO2/FIO2 [mm Hg] ARDS 4 (Definition ARDS: paO2/FIO2 ≤200, pulmonal arterieller Wedge-Druck ≤18 mm Hg (bzw. keine Stauung) und akute bilaterale Infiltrate)
0
paO2/FIO2≤240 and kein ARDS
2
Röntgenthoraxaufnahme
38
Kein Infiltrat
0
Diffuse (oder fleckige) Infiltrate
1
Lokalisierte Infiltrate
2
Kultur TBAS/BALF Pathogene Bakterien nicht nachweisbar
0
Pathogene Bakterien in nicht signifikanter Keimzahl (TBAS <105, BALF <104 KBE/ml)
1
Pathogene Bakterien in signifikanter Keimzahl (TBAS ≥105, BALF ≥104 KBE/ml)
2
Maximale Punktzahl = 12 Punkte; Verdacht auf Pneumonie: ≥6 Punkte.
Differenzialdiagnose der nosokomialen Pneumonie 5 5 5 5 5 5 6
Atelektasen Linksherzinsuffizienz bzw. Lungenödem Nierenversagen mit Lungenödem Lungenembolie bzw. -infarkt Pulmonale Hämorrhagien ARDS
gische Diagnostik hat 3 Ziele: 4 die Diagnose einer Pneumonie mikrobiologisch zu sichern; 4 den oder die zugrunde liegenden Erreger im Individualfall zu identifizieren; 4 das lokale Erreger- und Resistenzspektrum zu dokumetieren, auf das eine initial kalkulierte antimikrobielle Therapie ausgerichtet werden kann. Die qualitative Kultur respiratorischer Sekrete ist für die Diagnosestellung einer Pneumonie eine sensitive, jedoch wenig spezifische Methode (>75% falsch-positive Ergebnisse). Das erste Ziel kann daher mit dieser Methode nicht erreicht werden. Die quantitative Kultur respiratorischen Sekrets erreicht gegenüber der qualitativen Kultur eine ungleich höhere Spezifität. Dennoch muss auch bei sorgfältiger Beachtung der Methodik der Materialentnahme und -verarbeitung mit ca. 10–30% falsch-negativen und falsch-positiven Ergebnissen gerechnet werden [18, 19, 27]. Entsprechend hat die mikrobiologische Diagnostik die Funktionen, 4 die Grundlage für die Auswahl der kalkulierten antimikrobiellen Therapie zu liefern (»epidemiologische Funktion«) sowie 4 die initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie zu modifizieren (»individuelle« Funktion). Eine wichtige Option der Schnelldiagnostik besteht in der Anfertigung eines Gram-Präparats sowie der Bestimmung der »intracellular organisms« (ICO) in phagozytierenden Zellen im Giemsa-Präparat. Ein Anteil von >5% spricht für das Vorliegen einer Pneumonie. Die Sensitivität dieser Untersuchung unter antimikrobieller Vorbehandlung ist jedoch deutlich reduziert (<50%). Als zusätzlicher Parameter zur Diagnose einer noskomialen Pneumonie wurde der »soluble triggering receptor on myeloid cells (s-TREM) in der BALF beschrieben [21]. Die Erfahrungen mit diesem Parameter sind jedoch noch begrenzt. Zusätzlich zu respiratorischen Sekreten sollten folgende Materialien untersucht werden: 4 2 Blutkulturen, 4 ggf. (bei relevanter Ergussmenge) Pleuraergusspunktat, 4 ggf. Schnelltest auf Legionella pneumophila Serogruppe 1. Darüber hinaus ist stets gleichzeitig nach extrapulmonalen Infektionsherden zu fahnden. Diagnostische Methodik. Der korrekten Materialgewinnung
und -verarbeitung ist hohe Bedeutung beizumessen. Tracheobronchialsekret sollte nativ gewonnen und kulturell quantitativ aufgearbeitet werden. Methodische Voraussetzungen zur Wahrung qualitativ hochwertiger diagnostischer Proben aus dem unteren Respirationstrakt sind in . Tabelle 38.3 aufgeführt. Als Trennwert für ein positives Ergebnis gelten Befunde von 105 KBE
489 38.4 · Nosokomiale Pneumonien
(koloniebildende Einheiten)/ml. Bronchoskopisch gewonnene Proben – geschützte Bürste (PSB) oder bronchoalveoläre Lavageflüssigkeit (BALF) – weisen gegenüber dem Tracheobronchialsekret eine tendenziell höhere Spezifität auf. Die klinische Bedeutung dieses Vorteils wird jedoch kontrovers gesehen. Die bronchoskopische Diagnostik kann daher auf Fälle beschränkt bleiben, in denen der Inspektion des Tracheobronchialbaums eine differenzialdiagnostische Bedeutung zukommt. Trennwerte für ein positives Ergebnis sind 103 KBE/ml für die PSB und 104 KBE/ml für die BALF [18].
38
Entscheidend für eine optimale diagnostische Ausbeute ist auch die korrekte Steuerung der antimikrobiellen Therapie. Hier gelten die beiden folgenden Regeln: 4 Optimal ist eine mikrobielle Diagnostik vor Beginn der antimikrobiellen Therapie. 4 Besteht aufgrund einer anderen Infektion bereits eine antimikrobielle Therapie (häufige Konstellation), so sollte diese 72 h vor der Probenentnahme nicht verändert worden sein. Hingegen ist ein sog. »antibiotisches Fenster« für die diagnostische Ausbeute wahrscheinlich kaum relevant. Stellenwert der radiologischen Diagnostik. Das Röntgenthorax-
. Tabelle 38.3. Methodische Voraussetzungen zur Wahrung qualitativ hochwertiger diagnostischer Proben aus dem unteren Respirationstrakt Probe
Voraussetzungen
Tracheobronchialsekret
4 Absaugung des Sekrets aus dem Tubus 4 Tiefes Einführen eines frischen Katheters mit angeschlossenem Auffanggefäß, dann erst Absaugung einstellen 4 Keine vorherige Instillation von Kochsalz
Bronchoskopie
4 Gute Sedierung 4 Keine Anwendung von Lokalanästhetika 4 Keine Aspiration über den Arbeitskanal des Bronchoskops vor Gewinnung der respiratorischen Sekrete
Falls eine simultane Gewinnung von Tracheobronchialsekret und Material aus der bronchoalveolären Lavage erfolgt, wird erst das Tracheobronchialsekret gewonnen und dann die bronchoalveoläre Lavage durchgeführt. Die erste rückgewonnene Portion aus der bronchoalveolären Lavage wird verworfen. Lagerung und Transportzeit der gewonnenen Proben sind möglichst kurz zu halten. Die Verarbeitung der Proben sollte innerhalb von spätestens 4 h (besser 2 h) nach Probengewinung erfolgen.
bild ist Grundlage der Diagnostik bei Verdacht auf eine Pneumonie. Liegendaufnahmen weisen allerdings eine Reihe von »toten Winkeln« auf, in denen sich Infiltrate verbergen können (oberes Mediastinum, para- und retrokardialer Raum). Auf dem Thorax des Patienten angebrachte Elektroden sollten wo immer möglich vor Anfertigung eines Röntgenthoraxbildes entfernt werden. In Einzelfällen kann eine Computertomographie des Thorax bei der Identifikation von Infiltraten oder Abszessen hilfreich sein. Zusammenschau der Diagnostik. Auch die Zusammenschau der klinischen, mikrobiologischen und radiologischen Parameter ergibt nicht selten keine sichere Aussage über das Vorliegen einer nosokomialen Pneumonie. Es bedarf daher Strategien, die zu einem rationalen Umgang mit diesen Unsicherheiten anleiten, indem sie das Risiko für eine verspätete oder inadäquate Therapie einerseits bzw. einer Übertherapie andererseits gleichermaßen minimieren helfen. Prinzipien der Therapie der nosokomialen Beatmungspneumonie (VAP). Ein Vorschlag für eine Therapiestrategie angesichts
der bestehenden diagnostischen Unsicherheiten ist in . Tabelle 38.4 wiedergegeben [43]. Eine antimikrobielle Therapie kann demnach bei negativem mikrobiologischem Ergebnis abgesetzt werden, wenn
. Tabelle 38.4. Umgang mit diagnostischer Unsicherheit: Vorgehen nach Einleitung einer antimikorbiellen Therapie bei Verdacht auf eine nosokomiale Pneumonie. (Nach [43]) Klinische Konstellation
Strategie
Rationale
Klinischer Verdacht auf VAP
4 Quantitative Kulturen TBAS 4 Kalkulierte antimikrobielle Therapie
Gesicherter prognostischer Vorteil
Reevaluation nach 72 h; 4 mögliche klinische Konstellationen: Verdacht auf VAP bestätigt (klinisch und/oder durch Kulturergebnisse)
Fortführung der antimikrobiellen Therapie Adjustierung bzw. Deeskalation nach Kulturergebnissen
Vorgehen evident
VAP klinisch wahrscheinlich, Kulturergebnisse nicht signifikant, keine schwere Sepsis
Individuelle Abwägung
Vorgehen nicht gesichert
VAP klinisch unwahrscheinlich, Kulturergebnisse nicht signifikant, keine schwere Sepsis
Absetzen der antimikorbiellen Therapie
Reduktion des Selektionsdrucks und der Exzessletalität durch antimikrobielle Übertherapie
VAP ausgeschlossen, alternative Infektionsquelle und/oder schwere Sepsis
Fortsetzen bzw. adjustieren der antimikrobiellen Therapie
Vorgehen evident
490
Kapitel 38 · Pneumonien
4 der Pneumonieverdacht nur gering oder ausgeräumt ist und/oder 4 eine alternative Diagnose gefunden worden ist. Das Vorgehen im Fall eines fortbestehenden klinischen Verdachts auf VAP, jedoch negativen kulturellen Ergebnissen, muss im Einzelfall entschieden werden. Gegebenenfalls müssen wiederholte Untersuchungen durchgeführt werden. Eine weitere vielversprechende Strategie zur Minimierung des Risikos einer Übertherapie besteht in der Unterscheidung von Fällen mit hoher oder niedriger Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer nosokomialen Pneumonie entsprechend dem CPIS-Score (Vorliegen von Infiltraten und CPIS <6 oder t6; . Tab. 38.2). Patienten mit CPIS <6 können demnach initial mit einer Monotherapie über 3 Tage behandelt werden; bei fortbestehendem CPIS <6 nach 3 Tagen kann die Therapie abgesetzt werden [41].
In der Regel können nur potenziell pathogene Keime (»potentially pathogenic microorganisms«, PPM) als ursächliche Erreger angesehen werden. Non-PPM (d. h. Streptococcus-viridansGruppe, andere Streptococcus spp. außer Streptococcus pneumoniae, koagulasenegative Staphylokokken, Corynebacterium spp., Neisseria spp., Enterokokken, Anaerobier) stellen in der Regel keine ursächlichen Erreger dar. Candida spp. sind fast immer Kolonisationskeime. Ihre ursächliche Rolle in Ausnahmefällen kann meist nur bioptisch gesichert werden.
38
Bei Nachweis von Aspergillus spp. sollte insbesonders bei Risikopatienten (Steroidtherapie, schwere akute Erkrankung und/oder Grunderkrankung) durch wiederholte Kulturen und bildgebende Verfahren (z. B. Computertomographie des Thorax) nach Hinweisen für eine Aspergilluspneumonie gesucht werden. Bei diesen Patienten ist eine kalkulierte antifungale Therapie in der Regel indiziert.
38.4.5 Prognose Die Letalität der nosokomialen Pneumonie beträgt 30–50%. Der Nachweis einer Pneumonie-assoziierten Exzessletalität ist insbesonders bei schwerkranken Patienten schwierig zu führen. Wahrscheinlich kommt der früh einsetzenden nosokomialen Pneumonie keine bzw. nur eine sehr geringe Exzessletalität zu, während mit einer solchen bei der spät einsetzenden Pneumonie gerechnet werden muss. Ursächlich dafür ist dann die Multiresistenz der Keime. Mehrere Studien haben eine erhebliche Exzessletalität einer initial inadäquaten antimikrobiellen Therapie nachweisen können. i Der umgehenden Einleitung einer adäquaten antimikrobiellen Therapie kommt eine hohe prognostische Bedeutung zu.
Der prognostische Nachteil einer inadäquaten initialen antimikrobiellen Therapie kann auch nach adäquater Korrektur häufig nicht mehr eingeholt werden.
38.4.6 Therapie Initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie. Es gibt nur wenige kontrollierte Studien zur Therapie der nosokomialen Pneumonie, die auch noch heute Aktualität beanspruchen dürfen. Die Auswahl der kalkulierten antimikrobiellen Therapie richtet sich nach heutigem Konsens nach den Kriterien 4 früh einsetzend, 4 spät einsetzend bzw. 4 Vorliegen von Risikofaktoren.
Für Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Pneumonie gilt das Therapieprinzip der Deeskalation, d. h. einer initialen Therapie mit breitem Spektrum, die nach 3–5 Tagen entsprechend den Ergebnissen der Kulturen adaptiert werden kann. Die antimikrobielle Therapie ist stets über den gesamten Zeitraum intravenös zu applizieren. Aminoglykoside. Seit 2004 sind eine Reihe von Studien und
Metaanalysen publiziert worden, die übereinstimmend zeigen, dass eine Kombination aus E-Laktam und Aminoglykosid einer Monotherapie mit einem E-Laktam weder hinsichtlich der Wirksamkeit noch in der Prävention einer Resistenzentwicklung von P. aeruginosa unter Therapie überlegen ist. Die Kombinationstherapie weist im Gegenteil lediglich eine erhöhte Nephrotoxizität auf [5, 25, 26, 32–34, 40]. Seitdem ist die bisherige Sicht der Notwendigkeit einer Kombinationstherapie bei Patienten mit Risiko für P. aeruginosa nicht mehr unumstritten. Die meisten der in die Metaanalyse eingeschlossenen Studien reflektieren allerdings nicht die zuletzt empfohlene Praxis der Einmaldosierung, der Dosierung nach Talspiegeln sowie der Deeskalation. In jedem Fall wird eine Kombinationstherapie nur noch initial (bis zum Vorliegen der Ergebnisse aus Kultur und Resistenztestung) empfohlen. Die Rationale für diese Empfehlung liegt darin, dass durch die Kominationstherapie das Risiko einer initial inadäquaten Therapie vermindert wird [9, 29]. Wird die Therapie als Monotherapie fortgesetzt, darf keinesfalls länger als 8 Tage mit einer Substanz behandelt werden. Als Kombinationspartner eines E-Laktams scheint ein antipseudomonal wirksames Fluorchinolon 1. Wahl. Die ATS-Empfehlungen führen jedoch unverändert Aminoglykoside als mögliche Kombinationssubstanzen auf. Therapieempfehlungen 5 Früh einsetzende nosokomiale Pneumonie: – Breitspektrum-E-Laktam: Cephalosporin der 2. Generation (z. B. Cefuroxim), oder Aminopenicillin plus E-Laktamasehemmer (z. B. Amoxicillin/Clavulansäure oder Ampicillin/Sulbactam oder – Fluorchinolon III/IV (z. B. Levofloxacin, Moxifloxacin) 5 Spät einsetzende nosokomiale Pneumonie: – Kombination eines Breitspektrum-E-Laktams (Acylureidopenicillin mit E-Laktamasehemmer und Pseudomonasaktivität, z. B. Piperacillin/Tazobactam oder Cephalosporin der 3. Generation mit Pseudomonaswirksamkeit, z. B. Ceftazidim), oder Carbapenem (z. B. Imipenem, Meropenem) plus Fluorchinolon II (Ciprofloxacin) 6
491 38.4 · Nosokomiale Pneumonien
5 Modifikation bei entsprechenden Risikofaktoren: – Strukturelle Lungenerkrankung, insbesonders COPD: initial antipseudomonal wirksame Kombinationstherapie – Steroidtherapie: Legionellen erwägen, Fluorchinolon II/III/IV (oder Makrolid ± Rifampicin), bei Verdacht auf Pilzpneumonie Caspofungin (oder Voriconazol: Cave: hohes Interaktionspotenzial!) – Prolongierte stationäre Behandlung bzw. antimikrobielle Therapie: antipseudomonal wirksame Kombinationstherapie, ggf. (bei hoher lokaler Prävalenz von MRSA) Vancomycin oder Teicoplanin – Zerebrale Erkrankung mit Bewusstseinstrübung: staphylokokkenwirksame Therapie – Abdominalchirurgischer Eingriff, Verdacht auf Aspiration: anaerobierwirksame Therapie – Herkunft aus einer Pflegeeinrichtung, multiple Komorbidität und wiederholte antimikrobielle Therapie: ggf. initial MRSA- oder antipseudomonal wirksame Kombinationstherapie
Gezielte antimikrobielle Therapie. Nach Vorliegen des mikro-
biologischen Befundes ist ggf. eine entsprechende Modifikation (Umstellung, Adaptation an Resistenz) der initialen kalkulierten antimikrobiellen Therapie vorzunehmen. Aufgrund der häufig multifokalen Ausbreitung und polymikrobiellen Ätiologie sollte jedoch zumindest bei der spät einsetzenden Beatmungspneumonie ein breites antimikrobielles Spektrum erhalten bleiben. Gezielte Therapie einzelner Problemkeime 5 MRSA: Für die gezielte Therapie der MRSA-Pneumonie stehen (neben Vancomycin 2 Substanzgruppen zur Verfügung: – Oxazolidinone (Linezolid), – Glycylcycline (Tigecyclin; noch nicht für die Therapie der nosokomialen Pneumonie zugelassen). Eine Überlegenheit von Linezolid gegenüber Vancomycin ist aufgrund der überlegenen Pharmakokinetik möglich, jedoch noch nicht gesichert. 5 Multiresistente P. aeruginosa: Für die gezielte Therapie multiresistenter P. aeruginosa kommt als letzte Wahl trotz der Toxizität noch in Frage: – Polymyxine (Colistin). 5 Acinetobacter baumannii: Mittel der Wahl sind Carbapeneme. Ersatzmittel bei Resistenz umfassen: – Sulbactam (in Kombination mit Ampicillin), – Glycylcycline (Tigecyclin), – Tetracycline (Doxycyclin), – Rifampicin, – Polymyxine (Colistin). 5 Stenotrophomonas maltophilia: Mittel der Wahl ist Cotrimoxazol. Neuerdings steht mit Tigecyclin eine weitere wirksame Substanz zur Verfügung. 6
38
5 ESBL-bildende GNEB: Mittel der Wahl sind Carbapeneme. 5 Pilze: Parenteral applizierbare antifungale Substanzen mit Wirksamkeit gegen Candida und Aspergillus spp. sind: – Echinocandine (Caspofungin), – Azole (Voriconazol; Cave: Interaktionen!).
Therapiedauer. Die Therapiedauer sollte grundsätzlich 8 Tage
nicht überschreiten [10]. Insbesondere die Gruppe der Nonfermenter (Pseudomonas spp., Acientobacter spp.) neigt jedoch zu Rezidiven. In diesen Fällen ist bei fortbestehender Beatmungspflichtigkeit täglich nach Anhaltspunkten für ein Rezidiv zu fahnden. Für den Fall eines Rezidivs muss prinzipiell eine Substanz aus einer anderen Substanzgruppe ausgewählt werden. 38.4.7 Verlauf unter Therapie und
Therapieversagen Ein klinisches Ansprechen auf eine Therapie kann binnen 3–6 Tagen erwartet werden. Der CPIS-Score kann als klinischer Score zur Evaluation des Therapieansprechens dienen. Als Laborparameter kommen die Bestimmung des CRP- und des Procalcitonin-Wertes in Frage [12]. Die Ursachen des Therapieversagens sind ähnlich komplex wie bei der ambulant erworbenen Pneumonie. Häufiger als bei letzterer ist jedoch das Therapieversagen aufgrund resistenter Erreger. Abhängig von der jeweiligen Lokalität finden sich am häufigsten: 4 P. aeruginosa, 4 MRSA, 4 Acinetobacter spp., 4 Stenotrophomonas maltophilia, 4 multiresistente gramnegative Enterobacteriaceae (ESBL), wie Klebsiella spp., Proteus spp., Enterobacter spp., Serratia spp. Ebenso ist häufiger mit einer Resistenzentwicklung unter Therapie zu rechnen. Dies geschieht meist innerhalb der 2. Woche. Der rechtzeitigen Erkennung solcher multiresistenter Erreger kommt eine wichtige Rolle in jedem Präventionskonzept der Ausbreitung resistenter Erreger zu. Daher ist in der Regel bei einem Therapieversagen eine auch invasive bronchoskopische Reevaluation mit Gewinnung von Proben mittels geschützter Bürste und/oder BALF indiziert. Die einzige aktuelle Leitlinie zur nosokomialen Pneumonie ist die überarbeitete ATS-Leitlinie von 2005 [2]. Es handelt sich um eine umfassende und kritische Stellungnahme, die auch die methodischen Probleme und praktischen Unsicherheiten thematisiert
492
Kapitel 38 · Pneumonien
38.5
Schwere Pneumonien unter Immunsuppression
4 pulmonale Koinfektionen (z. B. Zytomegalievirus), 4 Auftreten eines Pneumothorax.
> Definition der Immunsuppression Unter Immunsuppression werden hier hochgradige Beeinträchtigungen der systemischen (und lokalen) Immunität verstanden. Dazu gehören typischerweise: 4 HIV-Infektion, 4 Organtransplantation und andere Zustände mit iatrogener Immunsuppression (z. B. Steroidtherapie >20 mg Prednisolonäquivalent), 4 Neutropenie (Neutrophile <500/Pl oder <1000/Pl mit zu erwartendem Abfall auf <500/Pl in den nächsten 2 Tagen), 4 Stammzelltransplantation.
38.5.1 HIV-Infektion Erregerspektrum. Der akuten respiratorischen Insuffizienz HIV-
infizierter Patienten liegt am häufigsten eine Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie (PCP) zugrunde. Andere Ursachen umfassen neben bakteriellen Pneumonien und Tuberkulosen das gesamte Spektrum der möglichen HIV-assoziierten pulmonalen Komplikationen. Die relativen Häufigkeiten einzelner Komplikationen sind in . Tabelle 38.5 zusammengefasst. Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie (PCP). Der Anteil der Episo-
38
den einer PCP mit akuter respiratorischer Insuffizienz konnte von ca. 20% auf ca. 10% gesenkt werden. Die Kurzzeitprognose dieser schweren Verläufe (Ausgang auf der Intensivstation) wird durch folgende Faktoren bestimmt: 4 Zeitpunkt der Diagnosestellung einer PCP (ungünstige Prognose bei später Diagnosestellung), 4 Verlauf der PCP unter Therapie (ungünstige Prognose bei Verschlechterung der akuten respiratorischen Insuffizienz trotz optimaler Therapie), 4 Alter, 4 Immunitätsstatus, 4 Stand der Aids-Erkrankung (Anzahl opportunistischer Infektionen),
Gefährdet sind heute insbesonders Patienten mit noch unbekanntem HIV-Status und PCP als Aids-Erstmanifestation, da mit einer verzögerten Diagnosestellung gerechnet werden muss. Die Letalität auf der Intensivstation beträgt bei rechtzeitiger Diagnosestellung 30–60%, bei ungünstigen prognostischen Faktoren bis zu 90% [22, 30, 31, 44]. Die Langzeitprognose (Ausgang nach erfolgreicher Therapie auf der Intensivstation bzw. Entlassung aus dem Krankenhaus) wird bestimmt von den verbleibenden Optionen der antiretroviralen Therapie. Indikation zur Intensivtherapie. Eine Indikation zur Intensivtherapie bei akuter respiratorischer Insuffizienz ist in der Regel gegeben. Der Verzicht auf eine Intensivtherapie kann im Fall einer weit fortgeschrittenen Aids-Erkrankung mit Vorliegen chronisch-opportunistischer Infektionen und Invaliditätsfolge sowie ausgeschöpfter antiretroviraler Therapiereserve erwogen werden. Es erscheint – soweit möglich – immer geboten, mit dem Patienten frühzeitig über Möglichkeiten und Grenzen der Intensivtherapie sowie die im individuellen Fall vorliegende prognostische Situation zu sprechen. Diagnostik. Aufgrund der Diversität der potenziellen ursächlichen Erreger sowie der guten diagnostischen Ausbeute zumindest bei opportunistischen Erregern sollte stets der Versuch eines Erregernachweises erfolgen. Bei beatmeten Patienten ist stets eine bronchoskopische Diagnostik mit bronchoalveolärer Lavage (BAL) indiziert. Die BAL-Flüssigkeit sollte untersucht werden auf: 4 bakterielle Erreger (möglichst quantitativ), 4 Pilze, 4 Mykobakterien, 4 Viren, 4 Pneumocystis jiroveci, 4 Toxoplasma gondii.
Therapie Therapie schwerer Pneumonien unter Immunsuppression
. Tabelle 38.5. Erregerspektrum der HIV-assoziierten Pneumonie mit akuter respiratorischer Insuffizienz. (Nach [1, 13]). Erreger
Häufigkeit (%)
Pneumocystis jiroveci
50
Pneumocystis jiroveci plus andere Erreger
20
Pneumocystis jiroveci plus bakterielle Erreger
10
Pneumocystis jiroveci plus Zytomegalievirus
10
Bakterielle Pneumonien
5–10
Zytomegalievirus
Sporadisch
Atypische Mykobakterien
Sporadisch
Ungeklärt
10–25
5 Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz Mit hohen O2-Flüssen über Nasensonde oder Venturi-Maske kann versucht werden, die O2-Sättigung bei >90% zu halten. Gelingt dies nicht, kann bei kooperativen Patienten vor einer Intubation der Versuch einer nichtinvasiven Maskenbeatmung unternommen werden [11]. 5 Kalkulierte initiale antimikrobielle Therapie Die kalkulierte initiale antimikrobielle Therapie ohne bzw. vor Erregernachweis erfolgt in Abhängigkeit von der CD4-Lymphozyten-Zellzahl: – CD4 t250/Pl: wie schwere Verlaufsformen der ambulant erworbenen Pneumonie, – CD4 <250/Pl: Therapieregime für Pneumocystis jiroveci plus z. B. Fluorchinolon III/IV (Levofloxacin, Moxifloxacin) oder plus z. B. Carbapenem (Imipenem, Meropenem). 6
493 38.5 · Schwere Pneumonien unter Immunsuppression
5 Therapie der schweren Pneumocystis-jiroveciPneumonie Basis der antimikrobiellen Therapie ist Cotrimoxazol, Reservemittel ist Pentamidin. Adjuvant werden Steroide eingesetzt (Prednisolon 80 mg/Tag in der 1. Woche, 40 mg/Tag in der 2. Woche, dann absetzen). Ein Ansprechen auf die Therapie zeigt sich bei einigen Patienten bereits in den ersten 72 h, abweichend von geltenden Regeln der antibakteriellen Therapie häufiger jedoch erst nach 4–8 (bis 10) Tagen. Eine Änderung der Medikation bei Nichtansprechen ist daher vor Ablauf von 7 Tagen nicht sinnvoll. Bei Therapieversagen sollte jedoch die Möglichkeit von Koinfektionen er wogen werden.
Kontrollierte Studien zur Therapie der PCP im Fall eines Nichtansprechens auf das erste antimikrobielle Regime liegen derzeit nicht vor. Auch steht keine Methodik zur Verfügung, um die Empfindlichkeit des Erregers zu prüfen. Da für Pentamidin die relativ beste Datenbasis besteht, sollte es als Reservemittel der Wahl eingesetzt werden. Eine Kombinationstherapie aus Cotrimoxazol und Pentamidin ist ebenfalls nicht gesichert überlegen, erhöht jedoch die Toxizität. Sogenannte Salvage-Optionen nach Versagen von oder Kontraindikationen gegen Cotrimoxazol und Pentamidin bestehen in der Kombination aus Clindamycin und Primaquin oder Trimetrexat plus Leucovorin (± Dapsone). Mit der antiviralen Therapie gegen HIV (HAART) sollte aufgrund vielfacher sich überschneidender Toxizitäten nicht vor Abschluss der Therapie der Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie begonnen werden.
38.5.2 Organtransplantation und andere
Zustände mit iatrogener Immunsuppression Erregerspektrum. Das Erregerspektrum ähnelt naturgemäß
demjenigen der HIV-Infektion. Bei transplantierten Patienten ist das Zeitfenster zu berücksichtigen, nach dem das Risiko für bestimmte Erreger abgeschätzt werden kann ([39]; . Tab. 38.6). Allgemein ist die CMV-Infektion bzw. -Pneumonie hier zwischen dem 2. und 6. Monat die führende Komplikation. Die PCP ist in dieser Gruppe der iatrogenen T-Zell-Immunsuppression, insbesondere bei allen Patienten unter Steroidtherapie, in Betracht zu ziehen. Ihre Inzidenz ist zwar geringer als bei der HIV-Infektion, die Letalität beträgt hier jedoch unverändert bis 50%. Wichtige Unterschiede zur HIV-assoziierten PCP bestehen in einer kürzeren Dauer der Symptomatik bis zur Diagnosestellung sowie einer höheren Inzidenz der akuten respiratorischen Insuffizienz. Je nach transplantiertem Organ sind Besonderheiten des Erregerspektrums zu berücksichtigen. Diagnostik. Für die Indikation und den Umfang der Diagnostik
gelten die Ausführungen zur HIV-Infektion (7 Kap. 38.6.1).
38
. Tabelle 38.6. Zeitfenster des Erregerspektrums bei organtransplantierten Patienten Zeit nach Organtransplantation
Vorherrschende Erreger
1–28 Tage
4 Grampositive und gramnegative Bakterien (bei Neutropenie auch Pilze: Aspergillus spp., Candida spp.)
29–180 Tage
4 4 4 4 4
>180 Tage
4 Abhängigkeit vom Grad der Immunsuppression: 4 Immunsuppression gering: Spektrum wie ambulant bzw. nosokomial erworben 4 Immunsuppression schwer: Spektrum wie 29–180 Tage
Zytomegalievirus Pneumocystis jiroveci Pilze (Aspergillus spp., Candida spp.) Mykobakterien (Häufigkeit und Spektrum bakterieller Erreger abhängig von Notwendigkeit der Beatmung)
Initiale kalkulier te antimikrobielle Therapie. Es kann nach dem in der Übersicht dargestellten Schema vorgegangen werden.
Initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie 5 Tage 1–28 ab Organtransplantation: – Antibakterielles Regime analog der Therapie der Beatmungspneumonie (7 Kap. 38.5.6) 5 Tage 28–180 ab Organtransplantation: – Gegen Zytomegalievirus wirksame Therapie (Ganciclovir oder Foscarnet) plus antibakterielles Regime analog der Therapie der Beatmungspneumonie – Therapie von Pneumocystis jiroveci im Fall einer fehlenden Prophylaxe 5 Ab Tag 180 ab Organtransplantation: – Abhängig vom Grad der fortbestehenden iatrogenen Immunsuppression – Falls CD4-Zellen <400/Pl: s. Tage 28–180 ab Organtransplantation – Falls CD4-Zellen >400/Pl: entsprechend ambulant oder nosokomial erworbener Pneumonie
38.5.3 Neutropenie Definition und Risikozuordnung. Eine Neutropenie besteht bei Neutrophilenzahlen <500/Pl oder <1000/Pl mit einem zu erwartenden Abfall der Neutrophilenzahl auf <500/Pl in den folgenden 2 Tagen. Patienten mit Neutropenie und Lungeninfiltraten sind stets Patienten mit erhöhtem Risiko. Als Standardrisiko (nicht Niedrigrisiko!) gilt dabei eine zu erwartende Neutropeniedauer von 6–9 Tagen, als Hochrisiko von t10 Tagen.
494
Kapitel 38 · Pneumonien
. Tabelle 38.7. Wichtige antimikrobielle Substanzen zur Therapie der Pneumonie (Auswahl) Substanz
Handelsname
Dosierunga, b
Amoxicillin/Clavulansäure
Augmentan
3-mal 2,2 g
Ampicillin/Sulbactam
Unacid
3-mal 1,5–3 g
Piperacillin/Tazobactam
Tazobac
3-mal 4,5 g
2. Generation
Cefuroxim
Zinacef
3-mal 1,5 g
3. Generation
Cefotaxim
Claforan
3-mal 2 g
Ceftriaxon
Rocephin
1-mal 1–2 g
Ceftazidim
Fortum
3-mal 2 g
Cefepim
Maxipime
3-mal 2 g
Impinem/Cilastatin
Zienam
3-mal 1 g
Meropenem
Meronem
3-mal 1 g
Ertapenem
Invanz
1-mal 1 g
Gruppe II
Ciprofloxacin
Ciprobay
3-mal 400 mg
Gruppe III
Levofloxacin
Tavanic
1-mal 750 mg oder 2-mal 500 mg
Gruppe IV
Moxifloxacin
Avalox
1-mal 400 mg
Erythromycin
Erythrocin
3- bis 4-mal 1 g
Clarithromycin
Klacid
2-mal 500 mg
Vancomycin
Vancymycin
2-mal 1g
Teicoplanin
Targocid
Initial 2-mal 400 mg alle 12 h, dann 1-mal 400 mg
Lincosamide
Clindamycin
Sobelin
3-mal 600 mg
Oxazolidinone
Linezolid
Zyvoxx
2-mal 600 mg
Amphotericin B
Amphoptericin B
1–1,5 mg/kg KG
Liposomales Amphotericin B
Ambisome
3–5 mg/kg KG
Caspofungin
Caspofungin MSD
Initial 70 mg, dann 50 mg
Voriconazol
(Vfend)
Initial 2-mal 6 mg/kg KG, dann 2-mal 3 mg/kg KG
Substanzgruppe Penicilline Aminopenicillin plus β-Laktamasehemmer
Acylureido-Penicillin plus β-Laktamasehemmer Cephalosporine
4. Generation, gegen Pseudomonas wirksam
Carbapeneme
Fluorchinolone
38
Makrolide
Glykopeptide
Andere antibakterielle Substanzen
Antifungale Substanzen
6
495 38.5 · Schwere Pneumonien unter Immunsuppression
38
. Tabelle 38.7. (Fortsetzung) Substanzgruppe
Substanz
Handelsname
Dosierunga, b
Ganciclovir
Cymeven
2-mal 5 mg/kg KG
Foscarnet
Foscavir
3-mal 60 mg/kg KG
Sulfmethoxazol/ Pyrimethamin (Cotrimoxazol)
Bactrim
20/100 mg/kg KG in 4 Dosen
Pentamidin
Pentacarinat
4 mg/kg KG
Antivirale Substanzen
Substanzen zur Therapie der Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie
a Besondere Dosisempfehlungen bei Nieren- und Leberinsuffizienz in der Fachinformation beachten! Empfohlene Internetadresse: www.dosing.de. b Alle Substanzen sind in ihrer intravenösen Applikationsform aufgeführt.
Nicht immer demarkieren sich Infiltrate auf der Röntgenthoraxaufnahme bereits zum Zeitpunkt des Fieberbeginns. Daher muss bei Fieber zunächst unklarer Ursache spätestens im Fall eines Therapieversagens nach 72 h ein CCT des Thorax angefertigt werden. Erregerspektrum, Differenzialdiagnose. In dieser Gruppe sind bakterielle und fungale Pneumonien führend. Unter den Therapieversagern finden sich mehrheitlich Pilzpneumonien, hier über wiegend durch Aspergillus spp. und Candida spp. verursacht. Die typischen Erreger der T-Zell-Immunsuppression sind in dieser Gruppe von nachgeordneter Häufigkeit und manifestieren sich meist als diffuse beidseitige retikulonoduläre Infiltration. Ein nicht geringer Anteil der Patienten weist offenbar nichtinfektiöse Ätiologien (diffuser Alveolarschaden, Hämorrhagien u. a.) auf. Eine schwere respiratorische Insuffizienz entwickelt sich jedoch meist im Rahmen einer Pneumonie. Prognose. Etwa 30% der Patienten sprechen auf die erste kalkulierte antimikrobielle Therapie an, weitere 30% auf eine frühzeitige antimykotische Therapie. Die Prognose neutropenieassoziierter beatmungspflichtiger Pneumonien ist mit einer Letalität von 80–100% sehr schlecht. Dies gilt besonders für neutropenische Patienten mit Pneumonie und beatmungspflichtiger schwerer respiratorischer Insuffizienz [15]. Diagnostik. Gelegentlich liegt zum Zeitpunkt der Entwicklung eines Infiltrats im Röntgenbild des Thorax bereits ein Erregernachweis über eine positive Blutkultur vor. Ein Erregernachweis im Bronchialsekret ist demgegenüber häufig schwierig, da die meisten dieser Patienten bereits breit antimikrobiell vorbehandelt sind. In der Diagnostik von Pilzpneumonien geben klinische Charakteristika und das Computertomogramm des Thorax bereits wesentliche Hinweise, während die Ausbeute bei Pilzerregern in der BALF limitiert ist. i Bei beatmeten Patienten sollte aufgrund der Diversität der potenziell ursächlichen Erreger dennoch der Versuch eines Erregernachweises über Bronchoskopie mit BAL erfolgen.
Initiale kalkulierte antimikrobielle Therapie. Aufgrund der vitalen Gefährdung ist stets die umgehende Einleitung einer kalkulierten antimikrobiellen Therapie erforderlich. Etabliert ist eine antipseudomonal wirksame Monotherapie und eine intravenöse Kombinationstherapie. Wichtig ist eine Wirksamkeit gegen Staphylokokken, gramnegative Enterobakterien (GNEB) und P. aeruginosa. Als Substanzen für eine Monotherapie kommen somit in Frage: 4 Acylureido-Penicillin (Piperacillin/Tazobactam), 4 Cephalosporin der 3. Generation (Cefotaxim, Ceftriaxon), 4 Cephalosporin der 4. Generation (Cefepim).
Als Kombinationspartner kommt in Frage: 4 Aminoglykosid (Tobramycin, Amikacin). Bei Hochrisikopatienten ist bereits initial eine zusätzliche antifungale Therapie indiziert. Als antifungale Substanzen kommen zuerst in Frage: 4 Caspofungin 4 Itraconazol, 4 Voriconazol, 4 Amphothericin B. Hinsichtlich der Rationale für eine Kombinationstherapie von E-Laktamen mit Aminoglykosiden wird auf 7 Kap. 38.5 (»Nosokomiale Pneumonien«) verwiesen (zusätzlich [28]). Gezielte Therapie. Im Fall des Nachweises einer fungalen Ätiolo-
gie kann das Wirkspektrum der antimikrobiellen Therapie entsprechend verschmälert werden. Therapiedauer. Patienten mit Pneumonie unter Neutropenie
werden solange behandelt, bis keine klinischen oder mikrobiologischen Zeichen der Infektion mehr nachweisbar sind. Im Fall einer persistierenden Neutropenie ist eine engmaschige Überwachung zur Erkennung möglicher erneuter Infektionen erforderlich. Die Therapie sollte nicht abgesetzt werden bei Patienten mit ausgeprägter Neutropenie <100/Pl. Therapieversagen. Im Fall eines Therapieversagens ist eine um-
fangreiche diagnostische Reevaluation angezeigt. Als Substan-
496
Kapitel 38 · Pneumonien
zen für die kalkulierte Second-line-Therapie kommen somit in Frage: 4 nach Monotherapie: zusätzlich Aminoglykosid, 4 Carbapeneme, 4 Glykopeptid (Vancomycin, Teicoplanin), 4 Fluorchinolone III/IV, 4 antifungale Substanzen (7 s. oben). Adjuvante Therapie. Der Einsatz von G-CSF kann erwogen werden, wenn die Knochenmarkregeneration noch deutlich verzögert sein wird oder wenn ein Terapieversagen vorliegt. Bei Patienten mit Hypogammaglobulinämie sollte die einmalige Gabe von 10 g Immunglobulin erwogen werden.
38.5.4 Stammzelltransplantation Pneumonien nach Transplantation hämatopoetischer Stammzellen stellen eine schwere Komplikation mit hoher Letalität dar. Das Erregerspektrum reflektiert sowohl die Neutropenie als auch die iatrogene Immunsuppression. Entsprechend muss gerechnet werden mit: Bakterien (auch »atypischen«), Pilzen, CMV, Pneumocystis jireoveci, Viren (Influenza-/Parainfluenzaviren, RSV, Adenoviren). Etwa die Hälfte der interstitiellen Pneumonien wird durch CMV verursacht. Differentialdiagnostisch ist die idiopathische interstitielle Pneumonie (IIP) in Betracht zu ziehen (Risikofaktoren: hohe Bestrahlungsdosen, Ganzkörperbestrahlung, GvHD u. a.) Prinzipien der Diagnostik und Therapie folgen denen transplantierter und neutropenischer Patienten. 38.6
38
Auswahl wichtiger antimikrobieller Substanzen und ihrer Dosierungen zur Therapie schwerer Pneumonien
Eine Auswahl wichtiger antimikrobieller Substanzen und ihrer Dosierung zur Therapie der schweren Pneumonie ist in . Tabelle 38.7 dargestellt. Alle Substanzen sind in ihrer intravenösen Applikationsform aufgeführt.
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39 COPD und Asthma bronchiale B. Schönhofer, R. Bals
39.1
Hintergrund
39.2
Epidemiologie von Asthma und COPD
39.3
Diagnostik und Monitoring
39.4
Verlauf und Prognose
39.5
Kriterien zur Aufnahme ins Krankenhaus und auf die Intensivstation
39.6
Therapie
39.6.1 39.6.2 39.6.3 39.6.4
Therapiemaßnahmen des schweren Asthmaanfalls beim Erwachsenen –502 Medikamentöse Behandlung einer COPD-Exazerbation –505 Nichtpharmakologische Differenzialtherapie –506 Adjunktive Therapiemaßnahmen –509
39.7
Entlassungskriterien Literatur
–500 –500
–501
–501
–502
–510
–510
–501
500
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
39.1
Hintergrund
Asthma bronchiale und COPD (»chronic obstructive pulmonary disease«) sind obstruktive Atemwegserkrankungen, die einige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede aufweisen (. Tab. 39.1). Beide Erkrankungen sind durch eine obstruktive Ventilationsstörung gekennzeichnet. Asthma bronchiale kann bereits im frühen Kindesalter auftreten, wohingegen die COPD eine Erkrankung des Erwachsenen ist und jenseits des 60. Lebensjahres den Altersgipfel hat. In über 80% der Fälle wird die COPD durch aktives oder passives Rauchen verursacht. Exazerbationen sind typische Ereignisse für beide Krankheitsbilder und können Schweregrade erreichen, die eine Intensivtherapie notwendig machen. Obwohl sich die Pharmakotherapie von Asthma bronchiale und COPD bzw. Lungenemphysem unterscheiden, ist es für die intensivmedizinische Therapie nur von sekundärer Bedeutung, welche exakte Pathogenese der akuten Bronchialobstruktion zugrunde liegt. Der Schwerpunkt der Ausführungen dieses Kapitels liegt bei der Erwachsenenmedizin; nur einige Aspekte der Pädiatrie werden aufgeführt. 39.2
39
Epidemiologie von Asthma und COPD
Das Asthma bronchiale ist eine Atemwegserkrankung mit bronchialer Hyperreagibilität sowie variabler Atemwegsobstruktion [1]. Diesen Veränderungen liegt eine chronische eosinophile Entzündung der Schleimhaut der Atemwege zugrunde. Insgesamt besteht eine Fehlregulation des Immunsystems mit Überwiegen einer Th2-Antwort. In vielen Fällen liegt eine allergische Komponente vor. Das Asthma ist eher eine Erkrankung des Kindes- und jungen Erwachsenenalters. Die Prävalenz des Asthmas hat in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern zugenommen [2]. Die Einteilung des Schweregrades des stabilen Asthma bronchiale erfolgt sowohl nach klinischen Parametern als auch nach Lungenfunktionsmesswerten. Die Therapie des stabilen Asthmas gestaltet sich als Stufentherapie, die sich am Schweregrad orientiert [1].
Der Begriff COPD ist komplex definiert und umfasst eine Symptomatik und funktionelle Beeinträchtigung der Lunge, die durch eine Kombination aus chronischem Husten, gesteigerter Sputumproduktion, Atemnot, Atemwegsobstruktion und eingeschränktem Gasaustausch charakterisiert ist. Die Obstruktion ist progredient und durch Gabe eines Bronchodilatators oder eines Glukokotikosteroids im Gegensatz zum Asthma bronchiale nicht vollständig reversibel. Die COPD besitzt im Wesentlichen zwei morphologisch-pathophysiologische Komponenten, zum einen die chronisch obstruktive Bronchitis, zum anderen das Emphysem [3–5]. Nach aktuellen epidemiologischen Daten liegt die Inzidenz für COPD je nach Betrachtungsweise zwischen 8 und 15% [6–8]. 10–20% aller Raucher entwickeln eine COPD, ohne dass bisher klar ist, welche Suszeptibilitätsfaktoren zugrunde liegen. Die COPD und insbesondere ihre Exazerbationen werden meistens erst im fortgeschrittenen Alter klinisch manifest. Weltweit ist die COPD derzeit die vierthäufigste Todesursache und wird Berechnungen zufolge in Jahr 2020 den 3. Platz einnehmen (www.who. int/whr/2002) [9]. Die stabile COPD wird nach Parametern der Lungenfunktion in verschiedene Schweregrade eingeteilt. Die Einteilung des Schweregrades einer COPD-Exazerbation (AECOPD) nach klinischen Gesichtspunkten wird nicht einheitlich durchgeführt. Meist wird die in der Übersicht dargestellte Einteilung nach Anthonisen et al. angewendet [10]. Einteilung der akuten Exazerbationen der chronischen Bronchitis nach Anthonisen et al. [10] Typ I 5 Vorliegen aller 3 Parameter: – Zunahme von Luftnot oder Brustenge – erhöhtes Sputumvolumen – vermehrte Sputumpurulenz Typ II 5 Vorliegen von 2 der 3 oben genannten Parameter 6
. Tabelle 39.1. Differenzialdiagnose von Asthma versus COPD (Nach [15]) Merkmal
Asthma
COPD
Alter bei Erstdiagnose
Variabel; häufig: Kindheit, Jugend
Meist 6. Lebensjahrzehnt
Tabakrauchen
Kein direkter Kausalzusammenhang; Verschlechterung durch Tabakrauchen ist möglich
Direkter Kausalzusammenhang
Hauptbeschwerden
Anfallsartig auftretende Atemnot
Atemnot bei Belastung
Verlauf
Variabel, episodisch
Progredient
Allergie
Häufig
Selten
Obstruktion
Variabel
Persistierend
Reversibilität der Obstruktion
>20% FEV1
<15% FEV1
Bronchiale Hyperreaktivität
Regelhaft vorhanden
Gelegentlich
Ansprechen auf Kortison
Regelhaft vorhanden
Gelegentlich
501 39.5 · Kriterien zur Aufnahme ins Krankenhaus und auf die Intensivstation
Typ III 5 Vorliegen von 1 der 3 oben genannten Parameter und mindestens ein zusätzliches Symptom: – Hinweis auf eine Infektion der oberen Luftwege (Schluckbeschwerden, Schnupfen) – erhöhte Körpertemperatur – Zunahme der Bronchospastik, Husten oder Zunahme der Atemfrequenz über 20% vom Ausgangswert
Die schwergradige Exazerbation führt sowohl bei der COPD als auch dem akut exazerbierten Asthma bronchiale (AA) zum ventilatorischen Versagen im Wesentlichen infolge der Erschöpfung der Atemmuskulatur (die zugrundeliegende Pathophysiologie zeigt die Übersicht). Hieraus resultieren die respiratorsiche Azidose infolge Hyperkapnie sowie eine vital bedrohlicher Hypoxämie.
39
. Tabelle 39.2. Klinische und Funktionsdiagnostik Variable/Messmethode
Hinweis auf schwere Atemwegsobstruktion
Symptome Dyspnoe
In Ruhe
Sprache
Nur noch einzelne Worte
Vigilanz
Agitation
Klinische Zeichen Atemfrequenz
>30/min
Herzfrquenz:
>120/min
Pulsus paradoxus
Ja
Einsatz der Atemhilfsmuskulatur
Ja
Auskultation
Giemen und Pfeifen (Cave: »silent chest«)
Spirometrie (PEF oder FEV1)
<50 l/min oder <50% vom Soll
Faktoren, die zum ventilatorischen Versagen führen 5 Hohe Belastung der Atempumpe – Massive Atemwegsobstruktion (d. h. erhöhter Atemwegswiderstand) – Erhöhter Atemantrieb – Verkürzte Inspiration – Hypersekretion – «Intrinsic positive endexpiratory pressure” (PEEPi) 5 Reduzierte Kapazität der Atempumpe – Dynamische Lungenüberblähung – Abflachung des Zwerchfells
BGA paO2
<60 mm Hg
paCO2
>42 mm Hg
pH-Wert
<7,3
SaO2 (Pulsoxymetrie)
<90%
Die Therapieder COPD erfolgt stadienabhängig [11]. 39.3
Diagnostik und Monitoring
Gerade unter intensivmedizinischer Betrachtung ist es wichtig, zur Erkennung der akuten Atemwegsobstruktion über eine einfache, aber aussagekräftige Diagnostik und das adäquate Monitoring zur verfügen. Im Wesentlichen gehören hierzu die Erfassung der klinischen Symptome, die Lungenfunktion, die Blutgasanalyse und die Pulsoxymetrie. In . Tabelle 39.2 sind diese Aspekte und deren Aussagefähigkeit zur Beurteilung des Schweregrades von AECOPD oder AA tabellarisch aufgeführt. 39.4
Verlauf und Prognose
Patienten mit AECOPD haben generell eine ungünstige Prognose. Die Krankenhaussterblichkeit von Patienten mit einer schweren AECOPD liegt zwischen 3 und 10% [12]. Als unabhängige Prädiktoren für eine erhöhte Mortalität erwiesen sich die Langzeitgabe von oralen Kortikosteroiden, pathologische Blutgase, hohes Lebensalter [13], niedrigeres Albumin, niedriger BodyMass-Index (BMI), kurzer zeitlicher Abstand zur letzten Hospitalisation [14]. Auch wenn die absolute Anzahl der gefährdeten Patienten deutlich niedriger liegt, sind die Prädiktoren für eine eingeschränkte Prognose beim AA ähnlich. Asthmapatienten mit folgenden Charakteristika weisen eine deutlich gesteigerte Mor-
paCO2 arterieller Kohldioxidpartialdruck; paO2, arterieller Sauerstoffpartialdruck; PEF «peak expiratory flow”; SaO2, Sauerstoffsättigung.
talitätsrate auf: wiederholte schwere Exazerbationen, frühere asthmabedingte Hospitalisation oder ambulante Notfallsituationen, Anwendung von >2 Patronen E2-Mimetika monatlich, Anwendung systemischer Kortikosteroide, Komorbidität (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen), schwere psychiatrische oder psychosoziale Störungen und niedriger sozioökonomischer Status. Unter dem Aspekt der zeitlichen Dynamik setzen die Symptome bei der AECOPD relativ langsam ein. Demgegenüber ist es beim AA sinnvoll, zwischen langsamem und schnellem Verlauf der Erkrankung zu unterscheiden. Mehr Details hierzu sind in . Tabelle 39.3 aufgeführt. 39.5
Kriterien zur Aufnahme ins Krankenhaus und auf die Intensivstation
i Aufgrund der schlechten Prognose von schwergradiger AECOPD und AA ist es von entscheidender Bedeutung, gefährdete Patienten frühzeitig zu erkennen und ggf. ins Krankenhaus bzw. in die Intensivstation einzuweisen.
502
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
. Tabelle 39.3. Hauptcharakteristiken bei Patienten mit AA der langsamen bzw. schnellen Verlaufsform Variable/Parameter
Langsamer Verlauf
Schneller Verlauf
Zeitverlauf
Progressive Exazerbation >6 h (üblicherweise über Tage oder Wochen)
Akut exazerbierend, <6 h
Häufigkeit
80–90%
10–20%
Geschlecht
Überwiegend weiblich
Überwiegend männlich
Triggerfaktoren
Überwiegend Infektionen der oberen Luftwege
Überwiegend Allergene, körperliche Belastung oder psychosozialer Stress
Schweregrad der Obstruktion
Mittel
Hoch
Ansprechen auf Therapie
Langsames Ansprechen auf Behandlung, hohe Hospitalisierungsrate
Schnelles Ansprechen auf Behandlung, geringe Hospitalisierungsrate
Dominierender pathophysiologischer Mechanismus
Inflammatorisch
Bronchospasmus
39.6
Therapie
Kriterien zur stationären Aufnahme
39
Anamnese: 5 Rasche und deutliche Zunahme von Symptomen 5 Unfähigkeit zur Verrichtung gewöhnlicher Aktivitäten 5 Oftmals vorbekannte schwere COPD mit FEV1 <1/l oder <30% Soll, gehäufte Exazerbationsrate, ggf. Langzeitsauerstofftherapie Komorbidität: 5 Hohes Alter 5 Schwere chronische Erkrankungen Symptome: 5 Fehlendes Ansprechen auf eine ambulante Therapie 5 Unzureichende häusliche Versorgung 5 Dyspnoe bereits bei leichter Belastung oder in Ruhe 5 neu aufgetretene Lippenzyanose 5 neu aufgetretene beeinträchtigte Wahrnehmung, Schläfrigkeit 5 neue Rechtsherzdekompensation mit peripherem Ödem 5 neu aufgetretene Arrhythmien 5 Pulsoxymetrie, BGA: – evtl. SaO2 <90% – paO2 <60 mm Hg
Leitlinien, die als Grundlage für die Darstellungen zur Therapie in diesem Kapitel dienen 5 Guideline der Global Initiative for Asthma (GINA) [1] (www.ginasthma.org) 5 S2-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Patienten mit Asthma, herausgegeben von der Deutschen Atemwegsliga und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin [15] (www.pneumologie. de) 5 Guideline der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) [11] (www.goldcopd.org) 5 S2-Leitlinie der Deutschen Atemwegsliga und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie zur Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis und Lungenemphysem [16] (www.pneumologie.de)
Die Hauptkomponenten des medikamentösen Managements einer akuten Exazerbation einer COPD bzw. eines Asthmas sind Bronchodilatatoren (bevorzugt inhalative E2-Sympathomimetika und Anticholinergika), Steroide und Antibiotika. Im Prinzip sind die Therapiemaßnahmen bei beiden Erkrankungen ähnlich.
Kriterien zur Aufnahme auf die Intensivstation 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Verschlechterung der PEF-Werte trotz Therapie Schwerste Dyspnoe Orthopnoe trotz eingeleiteter Therapie Verwirrtheit, Lethargie Muskuläre Erschöpfung Persistierende oder zunehmende Hypoxämie Hyperkapnie Fallender arterieller pH-Wert (Azidose) Koma oder Atemstillstand
39.6.1 Therapiemaßnahmen des schweren
Asthmaanfalls beim Erwachsenen i Die grundlegenden Therapiemaßnahmen eines Asthmaanfalls bestehen in der wiederholten inhalativen Gabe schnellwirksamer β2-Agonisten, der frühen Gabe systemischer Glukokortikosteroide und der Sauerstoffgabe.
Wichtig sind insbesondere kurzfristige Kontrollen, ob die bereits getroffenen Maßnahmen zu einer klinischen Verbesserung führen oder ob die Therapie erweitert werden muss. Die Notfallversorgung des schweren Asthmaanfalls entsprechend den Leitlini-
503 39.6 · Therapie
39
. Abb. 39.1. Algorithmus zur Therapie des schweren Asthmaanfalls: (Nach den Leitlinien [1, 15])
en von GINA und DGP ist in einer Übersicht und einem vereinfachten Algorithmus (. Abb. 39.1) dargestellt. Erstversorgung eines akuten Asthmaanfalls nach der Leitlinie der AWL/DGP [15] Erstversorgung – gegebenenfalls präklinisch 5 2–4 Inhalationen eines rasch wirksamen E2-Mimetikums, Wiederholungen in 10- bis 15-minütigen Intervallen; E2-Mimetika-Inhalationen und Ipratropiumbromid 0,5 mg mittels Vernebler 5 50–100 mg Prednisolon-Äquivalent i.v. 5 evtl. E2-Agonisten parenteral 5 Sauerstoffgabe 2–4 l/min über Nasensonde 5 ggf. Theophyllin i.v. 5 Transport ins Krankenhaus mit Arztbegleitung Erstversorgung im Krankenhaus 5 Diagnostische Maßnahmen (BGA, Thoraxröntgenaufnahme, Blutabnahme, EKG) 5 Fortsetzen der Gabe von Sauerstoff und inhalativer Bronchodilatatoren 6
5 evtl. E2-Agonisten parenteral (z. B. Reproterol 0,09 mg langsam i.v., Wiederholung nach 10 min möglich) 5 50–100 mg Prednisolon-Äquivalent i.v., alle 4–6 h 5 Indikation zur Intensivtherapie und Beatmung prüfen
Glukokortikosteroide beschleunigen die Abheilung der Exazerbation und werden bei allen Schweregraden des AA empfohlen.
Ein schwerer AA sollte mit systemischen Glukokortikosteroiden behandelt werden, die oral oder intravenös gegeben werden können. Der intravenöse Zugang sollte bei Patienten bevorzugt werden, die nicht schlucken können, oder wenn die Resorption vermindert sein kann. Eine Dosis von 60–80 mg Methylprednisolon oder 300–400 mg Hydrokortison pro Tag ist aufgrund einer Metaanalyse ausreichend für hospitalisierte Patienten [17]. Es ist nicht geklärt, wie lange systemische Glukokortikosteroide gegeben werden sollten. Für Erwachsene wird eine Dauer von 10–14 Tage angegeben [1], für Kinder 3–5 Tage. Es existieren auch keine wissenschaftlichen Daten, die zeigen, dass nach der Kurzzeittherapie die schrittweise Reduktion der Dosis (»Ausschleichen«) erforderlich ist. Nach klinischer Erfahrung ist nach
504
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
Besserung der Akutsymptomatik das abrupte Absetzen der Steroidtherapie problemlos möglich. Inhalierte Glukokortikosteroide sind als Bestandteil eines bereits etablierten Therapieprogramms effektiv. Einige Studien zeigen, dass bei Patienten, die keine oralen Glukokortikosteroide einnehmen können oder wollen, durch hohe Dosen inhalativer Glukokortikosteroide ähnliche Effekte erreichbar ist [18]. Die Empfehlung einiger Leitlinien, die Dosierung inhalativer Glukokortikosteroide bei Verschlechterung der Asthmakontrolle zu erhöhen, wird durch wissenschaftliche Daten nicht belegt [19].
Bronchodilatatoren bei Asthma bronchiale Inhalativ applizierte kurzwirksame β2-Agonisten sind die 1. Wahl der bronchodilatatorischen Therapie. Die Applikation kann über unterschiedliche Systeme erfolgen: Vernebelung, Pulverinhalatoren oder Dosieraerosole (»metered dose inhaler«) mit einem Spacer. Das optimale Atemmanöver (nach Ausatmung) ist für die bronchiale Wirkstoffdeposition entscheidend. Das bedeutet 4 für Dosieraerosol: langsame tiefe Inspiration (ein Anhalten des Atmens ist bei E2-Mimetika nicht erforderlich, da die trockenen Partikel schnell im Bronchialsystem anwachsen und damit praktisch alle deponieren), 4 für Pulverinhalator: rasche tiefe Inspiration, 4 für Vernebler: langsame tiefe Inspiration, möglichst mit kurzer Pause.
39
Die Anwendung von Dosieraerosolen mit Spacer führt in einigen Studien zum Effekt der Verneblungssysteme. Die Studienlage erlaubt keine sichere Empfehlung zu den Pulverinhalationssystemen beim akuten Asthmaanfall, da meist der Inspirationsfluss zu niedrig ist. Im Vergleich zu den beiden anderen Applikationsformen ist die Vernebelung des Medikamentes bei Kindern zu bevorzugen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass ein akut exazerbiertes Asthma bronchiale durch inhalative Applikation unter Kontrolle gebracht und auf die Gabe systemisch wirksamer Medikamente verzichtet werden kann. Der langwirksame E2-Agonist Formoterol, der ebenfalls einen schnellen Wirkungsbeginn aufweist, hat eine vergleichbare Wirkung wie kurzwirksame E2-Agonisten ohne vermehrte Nebenwirkungen. Formoterol ist allerdings aktuell teurer. Bereits durch die Inhalation von E2-Agonisten kommt es zur signifikanten Steigerung der Herzfrequenz [20]. Um v. a. kardiale Nebenwirkungen zu vermeiden, sollte die parenterale Gabe von E2-Agonisten nur auf solche Fälle beschränkt werden, bei denen eine inhalative Gabe nicht möglich ist. Allerdings ist bei invasiver Beatmung alternativ zur Inhalation auch eine Instillation via Tubus möglich. In den GINA-Leitlinien wird auch die Gabe von Epinephrin (Adrenalin) diskutiert, dessen Anwendung im deutschsprachigen Raum nicht üblich ist. Eine subkutane oder intramuskuläre Injektion von Adrenalin wird zur Behandlung einer Anaphylaxie oder eines Angioödems empfohlen. Wenn E2-Agonisten nicht verfügbar sind, kann Adrenalin zur Behandlung eines akuten Asthmaanfalls eingesetzt werden, geht allerdings mit mehr unerwünschten Nebenwirkungen einher. Die Kombination aus einem inhalativen E2-Agonisten mit einem Anticholinergikum (Ipratropium) kann bezüglich der Bronchodilatation additiv wirken. Generell wird die Zugabe von Ipratropium empfohlen, wenn die Gabe eines schnellwirksamen E2-Agonisten nicht zum Erfolg führt.
Auch Methylxanthine haben eine bronchodilatatorische Wirkung, die derjenigen inhalativer E2-Agonisten allerdings nicht äquivalent ist. Ihre Anwendung geht jedoch mit relevanten Nebenwirkungen einher (z. B. Tachykardie und Krampfanfälle) und ist im Vergleich zu den genannten Bronchodilatatoren wenig effektiv [21]. Die Therapie mit Theophyllin sollte zurückhaltend und nur unter Kontrolle des Serumspiegels erfolgen [22]. Magnesium wird als einmalige Infusion von 2 g über 20 min verabreicht [23]. Obwohl Studien zeigen, dass bestimmte Patientengruppen (z. B. Patienten mit FEV1 25–30% des Solls, Erwachsene und Kinder, die nicht auf die Initialtherapie ansprechen, Kinder, deren FEV1 unter Therapie nicht auf >60% des Solls ansteigt) von einer Magnesiumgabe profitieren können, ist diese Substanz in aktuellen Leitlinien bisher nicht für die routinemäßige Gabe empfohlen. Die Exazerbation eines Asthma bronchiale kann, muss aber nicht zwingend durch eine bakterielle Infektion verursacht werden. Bei Zeichen eines bakteriellen Infektes (d. h. Verfärbung des Bronchialsekretes, laborchemischer Nachweis der Inflammation wie z. B. Procalcitonin) sollte antibiotisch behandelt werden. Die oben genannten Leitlinien gehen nicht spezifisch auf die Art der Antibiose ein. Es liegt jedoch nahe, sich an den Leitlinien zur Behandlung ambulant erworbener Pneumonien zu orientieren [24]. Aktuelle Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass Makrolidantibiotika (z. B. Telithromycin) bei der akuten Exazerbation des Asthma bronchiale neben einem antimikrobiellen einen antiinflammatorischen Effekt haben [25]. Der Stellenwert dieser Wirkung innerhalb des Behandlungskonzeptes beim Asthma bronchiale ist derzeit noch offen. Leukotrienrezeptorantagonisten sind eine etablierte therapeutische Option bei der Behandlung des chronischen Asthmas, ihre Bedeutung beim Asthmaanfall ist allerdings unklar. Nur eine Studie zeigte eine Verbesserung der FEV1 nach Gabe von Montelukast beim AA [26].
Asthma in der Schwangerschaft Um die Entwicklung des Embryos bzw. Fetus nicht zu gefährden, sollte die Basistherapie (d. h. inhalative Glukokortikosteroide, E2-Agonisten, ggf. auch Theophyllin, Leukotrienrezeptorantagonist) in der Schwangerschaft nicht geändert werden [15]. Die Therapie eines AA erfolgt wie bei nichtschwangeren Frauen. Die Behandlung soll stationär erfolgen. Insbesondere ist auf eine ausreichende Oxygenierung zu achten.
Sonstiges Die Gabe von Sedativa sollte zurückhaltend gehandhabt werden. Es wurde gezeigt, dass die Gabe dieser Medikamente mit einer erhöhten Rate an Todenfällen durch Asthma einhergeht [27]. Daher werden Sedativa in den Leitlinien sogar als kontraindiziert betrachtet [1]. Dennoch zeigt die klinische Praxis, dass sich durch die i.v. Gabe von Morphinen in der Hand des erfahrenen Intensivmediziners auch extreme Dyspnoe und Agitation im Einzelfall bessern und so evtl. die Intubation und die assoziierten Komplikationen verhindern lassen. Auch ohne Gefahr einer bedrohlichen Hypoventilation führt die langsame Gabe von Morphin zur Abnahme des Atemantriebs und der Atemfrequenz und damit verbunden zur Besserung der Atemmechanik (u. a. infolge Verlängerung des Exspiriums und Abnahme des intrinsischen PEEP) und des subjektiven Befindens.
505 39.6 · Therapie
39
Steht die Hypersekretion beim Asthma bronchiale im Vordergrund, kann der endoskopisch versierte Intensivmediziner durchaus beim spontan atmenden und nur flach sedierten Patienten unter Monitoring der Vitalfunktionen und Intubationsbereitschaft eine Bronchoskopie zur Sekretentfernung durchführen.
Eine Antibiotikatherapie wird empfohlen bei: 4 Patienten mit einer Typ-I-Exazerbation nach den Anthonisen-Kriterien (7 Kap. 39.2) und einer mittelschweren oder schweren COPD, 4 Patienten mit einer schweren Exazerbation, die eine ventilatorische Unterstützung brauchen.
39.6.2 Medikamentöse Behandlung einer
Eine Antibiotikatherapie kann erwogen werden bei: 4 Patienten aller Schweregrade mit häufigen Exazerbationen (>4/Jahr), 4 Patienten aller Schweregrade mit relevanter kardialer Komorbidität.
COPD-Exazerbation Bei der Pharmakotherapie der COPD-Exazerbation kommen im Wesentlichen die gleichen Medikamentengruppen wie beim Asthmaanfall zum Einsatz. Die medikamentöse Behandlung besteht aus folgenden Medikamentengruppen: Glukokortikosteroide können oral oder intravenös verabreicht werden. Sie verkürzen die Genesungszeit und führen zu einer schnelleren Verbesserung der Lungenfunktion [28]. Die exakte Dosierung ist nicht durch Studien evaluiert, eine Tagesdosis von 20–40 mg Prednisolon-Äquivalent über ca. 10 Tage wird empfohlen. Initial wurden in einigen Studien für kurze Zeit höhere Dosierungen gegeben. Wie beim Asthma bronchiale führt eine längere Behandlungsdauer nicht zur höheren Effizienz, sondern zu mehr Nebenwirkungen (u. a. Myopathie, Osteoporose, Entgleisung eines Diabetes mellitus und Flüssigkeitsretention). Daher sollten die Glukokortikoide auch bei der AECOPD nach 10-tägiger Behandlung abgesetzt werden. Bronchodilatatoren: Kurzwirksame E2-Agonisten sind die Therapie der Wahl. Auch wenn dies nicht explizit in den Leitlinien erwähnt wird, sollte unserer Meinung nach gleichzeitig ein kurzwirksames Anticholinergikum (d. h. Ipratropium oder Oxitropium) inhaliert werden, da bei COPD das parasympathische Nervensystem über bronchiale Rezeptoren zur Bronchialobstruktion beiträgt [29]. Inwiefern auch im Rahmen der AECOPD die inhalative Applikation von langwirksamen Anticholinergika [30] klinisch bedeutsam ist, muss in zukünftigen Studien untersucht werden. Analog zum AA sollte die parenterale Gabe von E2-Agonisten nur auf solche Fälle beschränkt werden, bei denen eine inhalative Gabe nicht möglich ist. Gerade bei COPD-Patienten mit Komorbidität (u.a. kardiale Erkrankungen) ist mit einer erhöhten Nebenwirkungsrate zu rechnen. Die orale oder intravenöse Gabe von Theophyllin bei AECOPD ist nach wie vor umstritten. Aktuell erlebt diese Substanz einmal mehr eine gewisse Renaissance [31]. Positive Effekte bezüglich der Lungenfunktion oder klinischer Outcome-Parameter sind gering und gehen gerade bei COPD-Patienten und ihrer hohen Komorbidität mit einer relevanten Nebenwirkungsrate einher [32]. Zu vermeiden ist die simultane Gabe von i.v. E2-Agonisten und Theophyllin. Wie bereits oben dargestellt können Exazerbationen eines Asthma oder einer COPD durch virale und bakterielle Infektionen verursacht werden. Bei COPD-Exazerbationen ist dies in 50–60% der Fall. Die häufigsten bakteriellen Erreger sind H. influenzae, S. pneumonia, M. catarrhalis, Enterobacteriacaeae und P. aeruginosa. Hier sei auf die Ausführungen der S3-Leitlinine zur ambulant erworbenen Pneumonie, S3-Leitlinie der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie, der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie und vom Kompetenznetzwerk CAPNETZ verwiesen [33, 34]. Eine mikrobiologische Sputumuntersuchung sollte nur bei Patienten mit häufigen Exazerbationen, Therapieversagern und bei einem schweren Verlauf mit Verdacht auf multiresistente Erreger durchgeführt werden.
Die Wahl der Therapie richtet sich nach dem Ausmaß der Lungenfunktionseinschränkung, da mit zunehmender Verschlechterung der FEV1 unterschiedliche Erreger identifiziert werden können: 4 FEV1 50–80% des Solls (Pneumokokken, H. influenzae): Aminopenicillin ohne E-Laktamaseinhibitor (Amoxixillin); Alternativen: Makrolid (Azithromycin, Clarithromycin, Roxithromycin) oder Tetracyclin (Doxycyclin). 4 FEV1 <50% (Enterobacteriacaeae): Aminopenicillin mit E-Laktamaseinhibitor (Amoxicillin + Clavulansäure oder Sultamicillin); pneumokokkenwirksames Fluorchinolon (Levofloxacin, Moxifloxacin). 4 Bei bestehendem Risiko auf das Vorliegen einer Pseudomonasinfektion oder bei Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden: 4 Acylureidopenicillin + E-Laktamaseinhibitor (Piperacillin + Tazobactam), 4 pseudomonaswirksames Carbapenem (Imipenem, Meronem), 4 pseudomonaswirksames Cephalosporin (Ceftazidim*, Cefepim), 4 pseudomonaswirksames Fluorchinolon (Ciprofloxacin*, Levofloxacin), 4 (* + pneumokokkenwirksame Substanz). Auch wenn hierzu keine harten Daten vorliegen, orientiert sich die Dauer der Antibiotikatherapie an der Symptomatik, der Färbung des Sputums und zukünftig evtl. auch am Verlauf des Procalcitoninwertes [35]. Bei Therapieversagen ist die Antibiose abzusetzen und je nach klinischer Situation auf ein anderes empirisches Regime zu wechseln oder eine 2- bis 3-tägige Behandlungspause einzulegen, nach der eine mikrobiologische Diagnostik durchgeführt wird. Da die Patienten mit starker Dyspnoe und Verdacht auf zugrunde liegende Exazerbation einer COPD häufig polymorbide sind, müssen differenzialdiagnostisch andere Erkrankungen, die ebenfalls mit dem Leitsymptom Dyspnoe einhergehen, verifiziert bzw. ausgeschlossen werden. Dies gilt insbesondere für die koronare Herzkrankheit und die Herzinsuffizienz verschiedenster Ursache. Diuretika sind bei peripheren Ödemen, Stauungszeichen im Röntgenbild des Thorax und erhöhtem Jugularvenendruck indiziert. Auch wurde aktuell gezeigt, dass eine Hyperglykämie bei AECOPD als eigenständiger Risikofaktor zu betrachten ist und sich negativ auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirkt [36]. Wir konnten nachweisen, dass ca. 10% der COPD-Patienten, die infolge Infektexazerbation auf die Intensivstation eingeliefert wurden, gleichzeitig asymptomatische tiefe Beinvenenthrombo-
506
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
. Tabelle 39.4. Differenzialtherapie mit Sauerstoff, nicht-invasiver Beatmung (NIV) und invasiver Beatmung Therapieform
Charakteristika
Sauerstofftherapie
Hypoxämie paO2 <60 mm Hg oder SaO2<90%
sen aufwiesen [37]. Ein relevanter Anteil dieser Patienten weist Lungenbembolien auf [38]. Wegen der weitgehenden Immobilität der Patienten mit AECOPD sollte eine Antikogulation mit niedermolekularen oder unfraktionierten Heparinen durchgeführt werden. 39.6.3 Nichtpharmakologische
Unter O2-Gabe ist ein geringgradiger Anstieg des paCO2 erlaubt Therapiekontrolle nach 30 min, ggf. nach 120 min wiederholen NIV
Trotz O2-Gabe persitierende Hypoxämie paO2 <60 mm Hg oder SaO2<90% oder persistierende Azidose, pH-Wert <7,35 Anhaltende Tachypnoe, AF >25/min Voraussetzung: wacher, kooperativer Patient, erhaltener Husten-, Schluckreflex (kein Aspirationsrisiko) Herz-Kreislauf-Stabilität
Invasive Beatmung
Trotz O2-Gabe und NIV persistierender paO2 <40 mm Hg oder respiratorische Azidose pH-Wert <7,2 Tachypnoe AF >35/min Indikation: Atemstillstand, HerzKreislauf-Instabilität, Somnolenz Therapierefraktäre bronchiale Hypersekretion, hohe Viskosität des Sekrets
39
Differenzialtherapie i Neben der aufgeführten Pharmakotherapie stehen zur Notfalltherapie der schwergradigen akuten Atemwegsobstruktion im Wesentlichen die Gabe von Sauerstoff und die maschinelle Beatmung in Form der nicht-invasiven Beatmung (NIV) und invasiven Beatmung (IMV) zur Verfügung.
In . Tabelle 39.4 sind weitere Details zu den genannten Therapieformen dargestellt.
Sauerstofftherapie Da die schwergradige Atemwegsobtruktion mit einer Hypoxämie einhergeht, liegt es nahe, mit Sauerstoff zu therapieren. Auch wenn zum Einsatz von Sauerstoff bei akuter Atemwegsobstruktion wenig evidenzbasierte Literatur existiert, besteht im klinischen Alltag kein Zweifel an dieser Indikation. Liegt eine Hypoxämie mit einer Sauerstoffsättigung <90% oder eine Hypoxämie (paO2 <60 mm Hg) vor, sollte dem Patienten Sauerstoff verabreicht werden. Die Hypoxämie lässt sich häufig bereits durch moderates Anheben der FIO2 (z. B. 2–3 l/min Flussrate) vollständig korrigieren. Es erweist sich als vorteilhaft, anstelle schematischer Sauerstoffkonzentrationen und -flussraten den Sauerstoff-Flow anhand des paO2 bzw. SpO2 zu titrieren. Bei normoxischen Patienten kann auf eine Sauerstofftherapie verzichtet werden.
. Tabelle 39.5. Initiale Beatmungsparameter bei schwerer Atemwegsobstruktion; bei bewusstlosen Patienten Parameter
Empfehlung
Ziel/Kommentar
Beatmungsmodus
Druck- oder volumengesteuert
Atemfrequenz
8–15/min
Dynamische Überblähung vermeiden, bei Blutdruckabfall evtl. weniger, bei CO2-Anstieg evtl. mehr
Atemzugvolumen
6–10 ml/kg KG
Atemwegspitzendruck beachten
Atemminutenvolumen
8–10 l/min
Atemwegspitzendruck beachten
IPAP – druckkontrolliert
30–35 cm H2O
Externer PEEP
3–6 cmH2O, maximal 2/3 des iPEEP
Regelmäßig iPEEP kontrollieren und anpassen
I:E
1 : 1,5 bis 1 : 3–4
Exspiration möglichst lange
Inspiratorischer Flow
>100 l/min
Turbulenz (Inhomogenität) vermeiden
Plateaudruck
<35 cm H2O
Plateaudruck wichtiger als Spitzendruck (7 s. unten)
Spitzendruck
<35 cm H20
Optimaler Plateaudruck = Spitzendruck, ggf. durch Druckbegrenzung erzwingen
PEEP »positive end-expiratory pressure«; iPEEP »intrinsic PEEP«; IPAP »inspiratory positive airway pressure«; KG: Körpergewicht; FIO2 inspiratorische Sauerstofffraktion; SaO2, Sauerstoffsättigung; I : E Verhältnis Inspiration zu Exspiration.
507 39.6 · Therapie
39
. Abb. 39.2. Algorithmus zur Therapie des COPD-Exazerbation
Die Sauerstoffgabe führt bei Patienten mit schwergradiger Atemwegsobstruktion, die per se einen hohen Atemantrieb aufweisen, neben der Verbesserung der Oxygenierung häufig via Hypoventilation und nachfolgender Hyperkapnie zur Entlastung der Atemmuskulatur. Im Gegensatz zu den Bedingungen bei chronisch ventilatorischer Insuffizienz, insbesondere infolge neuromuskulärer Erkrankung [39], ist bei akuter Atemwegsobstruktion nicht generell zu fürchten, dass durch Sauerstoffgabe der hypoxiebedingte Stimulus der peripheren O2-Rezeptoren im Karotissinus ausfällt und damit eine lebensbedrohliche Zunahme der Hypoventilation droht.
Abschnitt in der Beatmungsmedizin begonnen, was sich bereits aktuellen Konsensusartikeln widerspiegelt [40, 41]. Der Algorithmus zur Behandlung der COPD-Exazerbation, angelehnt an die Leitlinie der DGP [16], ist in . Abb. 39.2 dargestellt.
Einstellung der Beatmung
Beatmung
Die oben beschriebene Pathophysiologie der schweren Atemwegsobstruktion wird bei der Einstellung der maschinellen Beatmung berücksichtigt. Wichtige Aspekte v. a. in der Initialphase der Beatmung sind in . Tabelle 39.5 aufgeführt, wobei für NIV und IMV grundsätzlich die gleichen Überlegungen gelten
Über Jahrzehnte galt die invasive Respiratortherapie (»invasive mechanical ventilation«; IMV), deren Beatmungszugang der endotracheale Tubus ist, als Therapie der Wahl bei respiratorischen Notfällen. Mit der in jüngerer Vergangenheit zunehmend eingesetzten nicht-invasiven Positivdruckbeatmung (»non-invasive mechanical ventilation«; NIV) hat inzwischen ein neuer
i Es ist wesentlich, darauf zu achten, dass durch Applikation des externen PEEP (etwa 3–6 cm H2O) der PEEPi antagonisiert und durch inspiratorische Druckunterstützung die diaphragmale Atemarbeit reduziert und die Ventilation erhöht wird [42, 43].
508
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
NIV Der Vollständigkeit halber soll bezüglich der NIV zunächst auf die Möglichkeit der Negativdruckbeatmung (NPV) hingewiesen werden. Vor allem in spezialisierten italienischen Zentren ist NPV sogar Therapie der 1. Wahl in der Behandlung der AECOPD [44, 45]. Auch wenn der Vergleich zwischen NPV und IMV bei AECOPD den gleichen Effekt auf den Gasaustausch und eine Tendenz für eine geringere Komplikationsrate bei NPV ergab [46], hat sich die Positivdruckbeatmung zur Behandlung der akuten Atemwegsobstruktion durchgesetzt. Allgemein gesprochen ergeben sich die Vorteile der NIV aus den Nachteilen bzw. Komplikationen der IMV (. Tab. 41.1). Der Ersatz des Endotrachealtubus durch die Beatmungszugänge der NIV (d. h. vor allem Masken) ist der wesentliche Grund für die Reduktion der tubusassoziierten Komplikationen. Insbesondere führt die Vermeidung der endotrachealen Intubation zur Reduktion der ventilatorassoziierten, besser jedoch tubusassoziierten Pneumonie [47]. Mögliche Nachteile der NIV sind der unsichere Beatmungszugang, lolake Hautschädigung und unzureichende Beatmungsqualität durch Leckagen. Die NIV ist detailliert beschriebein in7 Kap. 41.
Inter faces
39
Eine Auswahl von Nasalmasken, Mund-Nasen-Masken und »nasal pillows« in verschiedenen Größen sollte vorrätig sein (BTS [48]). Bei der hyperkapnischen Verlaufsform der ARI (akut respiratorische Insuffizienz) werden Mund-Nasen-Masken v. a. in der Initialphase der NIV bevorzugt eingesetzt [49]. Bei erfolgreicher Therapie kann nach 24 h auf eine Nasalmaske umgestellt werden. Für den Beatmungshelm, der den gesamten Kopf umschließt und bisher vorwiegend bei Patienten mit hypoxischer ARI eingesetzt wurde [50], ergibt sich bezüglich der hyperkapnischen ARI Folgendes: Im Vergleich zur Ganzgesichtsmaske wurde der Helm von COPD-Patienten zwar ähnlich gut toleriert, die Absenkung des paCO2 war jedoch geringer, vorwiegend bedingt durch das hohe kompressible Volumen [51]. Wird der Helm bei hyperkapnischer ARI eingesetzt, ist auf hohe Flüsse zu achten und die Beatmungsqualität engmaschig zu überwachen.
. Tabelle 39.6. Relative Kontraindikationen für nicht-invasive Beatmung; die Niveaus der Empfehlungen beziehen sich auf die Veröffentlichung der British Thoracic Society [84] Relative Kontraindikation
Empfehlungsniveau der British Thoracic Society
Koma oder massive Agitation
C
Fehlende Spontanatmung, Schnappatmung Fixierte oder funktionelle Verlegung der Atemwege
D
Massive Hypersekretion trotz Bronchoskopie
C
Multiorganversagen
C
Vital bedrohliche Hypoxämie oder Azidose (pH <7,1)
C
Hämodynamische Instabilität (kardiogener Schock, Myokardinfarkt) Vollständige Intoleranz gegenüber Masken oder Helm Gesichtstrauma, faziale Dysmorphie
D
Ileus
C
Gastrointestinale Blutung Zustand nach Operation des Gesichts/ der oberen Luftwege
D
Erbrechen
D
Zustand nach oberer gastrointestinaler Operation
C
Fehlen der Schutzreflexe
C
NIV beim Asthma bronchiale Auch wenn für das akute Asthma bronchiale in Beobachtungsstudien ein günstiger Effekt der NIV auf den Gasaustausch nachgewiesen worden ist [52], konnte bis dato nur in einer randomisierten Studie gezeigt werden, dass durch den zusätzlichen Einsatz der NIV zur Standardtherapie die Lungenfunktion verbessert und eine Hospitalisierung vermieden werden kann [53]. Es wird empfohlen, beim Asthma bronchiale mit niedrigen Inspirationsdrücken (5–7 cm H2O) bei einem PEEP von 3–5 cm H2O zu beginnen und den Inspirationsdruck schrittweise bis maximal 25 cm H2O hoch zu titrieren [54].
NIV bei AECOPD Im Vergleich zu AA wird NIV bei AECOPD deutlich häufiger eingesetzt. Für den Indikationsbereich der NIV als additive Therapie der leicht- bis mittelgradigen ARI, d. h. bei nicht primär bestehender Indikation zur invasiven Beatmung, ist die Datenlage inzwischen recht klar. Die Ergebnisse aller verfügbaren Studien wurden in Metaanalysen hinsichtlich wesentlicher Zielkriterien wie der Notwendigkeit zur Intubation, der Krankenhausaufenthaltsdauer und der Mortalität beurteilt. Die jüngsten 3 Metaana-
lysen [55–57] ergaben mit höchstem EBM-Niveau (A), dass die NIV in Kombination mit der Standardtherapie bereits in der 1. Stunde die Blutgase (pH, paCO2) verbessert und die Atemfrequenz senkt. Die Intubationsfrequenz, die Krankenhausaufenthaltsdauer und die Mortalität werden durch NIV reduziert. Da mit wachsender Erfahrung in der Anwendung von NIV der Schweregrad der Grunderkrankung und das Ausmaß der Komorbidität der behandelten Patienten zunehmen, relativiert sich der Begriff »Kontraindikation« für NIV als Therapieverfahren der hyperkapnischen ARI [58] immer mehr. Daher sind in . Tabelle 39.6 die relativen Kontraindikationen aufgeführt. Auch anhand des Verlaufes der Dyspnoe, Atemfrequenz und paCO2 lässt sich bereits 1–2 h nach Therapiebeginn zwischen Respondern (d. h. Abnahme dieser Parameter) bzw. Non-Respondern (d. h. ausbleibende Abnahme bzw. Zunahme dieser Parameter) unterscheiden [59–63]. Bei NIV-Versagen sollte die NIV umgehend beendet und unverzögert intubiert werden. Nur einige Untersuchungen verglichen direkt NIV und invasive Beatmung auf unterschiedlichem EBM-Niveau bei gegebener Indikation zur Beatmung infolge schwergradiger hyper-
509 39.6 · Therapie
kapnischer ARI mit ausgeprägter Azidose (pH-Wert im Mittel 7,2–7,25) [64, 65]. Es ergaben sich Trends zu besserem Outcome der mit NIV therapierten Patientengruppe. Es lässt sich schlussfolgern, dass NIV als Alternative zur invasiven Beatmung angewandt werden sollte. Ein Therapieversuch mit NIV zur Vermeidung der von Tubusassoziierten Komplikationen sollte auch bei Patienten mit schwergradiger Azidose unternommen werden, wenn die notwendigen Voraussetzungen (d. h. Erfahrung des Behandlungsteams und Möglichkeit zur unverzögerten Intubation und invasiven Beatmung) gewährleistet sind [59, 64].
Sekretmobilisation i Das Management der Hypersekretion kann sowohl bei AECOPD als auch bei AA zentrale Bedeutung für den Krankheitsverlauf haben.
Im Einzelfall kann sich die Indikation zur Bronchoskopie während der NIV stellen. Analog den Erfahrungen zur Bronchoskopie während der NIV [66] kann es mit Hilfe der Sekretabsaugung mit und ohne Bronchiallavage gelingen, die Atemwegsobstruktion bei AECOPD zu verringern und damit zur Besserung der Atemmechanik beizutragen. Des Weiteren stehen effektive physiotherapeutische Manöver zur Sekretmobilisation (z. B. PEP) zur Verfügung.
Invasive mechanische Beatmung Es kann zum Versagen der NIV als Therapieverfahren der ARI kommen. In . Tabelle 39.7 sind die Abbruchkriterien für NIV aufgeführt. Beim Therapieversagen der NIV, im Wesentlichen definiert als Verschlechterung des Vigilanzzustandes, des pH-Wertes und/oder persistierendem paO2 <40 mm Hg, sind Intubation und invasive Beatmung indiziert [67]. Die Vorteile einer invasiven Beatmung sind die hierdurch erfolgende komplette Übernahme der Atemarbeit, die Möglichkeit der besseren tracheobronchialen Sektretabsaugung durch Bronchoskopie mit und ohne Lavage und die effektiv mögliche Sedation bis hin zur Vollnarkose und Muskelrelaxation im Extremfall. Letzteres kann in therapierefraktären Fällen die einzige Möglichkeit zur Durchbrechung des Asthmaanfalls sein. Als Nachteile sind dagegen zu nennen, dass die Intubation bei hochgradiger Dyspnoe schwierig und das Risiko von Herzrhythmusstörungen bei vorliegender Hypoxämie, Azidose, Therapie mit E2-Agonisten und evtl. Theophyllin nicht unbeträchtlich ist.
Tracheotomie Gestaltet sich die Entwöhnung von der invasiven Beatmung schwierig und zeichnet sich eine Langzeitbeatmung ab, dann ist die Tracheotomie der invasive Beatmungszugang der Wahl. Es war lange klinische Praxis, die Tracheotomie erst nach einer Beatmungsdauer von etwa 14 Tagen durchzuführen [68]. Vor allem mit der zunehmenden Verbreitung der Punktionstracheotomie verkürzt sich der Zeitraum zwischen Intubation und Tracheotomie immer mehr [69]. In diesem Zusammenhang ist kritisch anzumerken, dass bei großzügiger Indikationsstellung zur Frühtracheotomie die Vorteile der NIV nach früher Extubation ungenutzt bleiben. Vergleichsstudien beider Verfahren sind daher dringend erforderlich.
39
. Tabelle 39.7. Abbruchkriterien der NIV Kriterium
Abbruchkriterien der NIV (Indikationen zur Intubation)
pH-Wert
Abnahme
Oxygenierung
Abnahme von SaO2
Ventilation
pCO2-Zunahme
Dyspnoe
Zunahme
Atemfrequenz
Zunahme
Tidalvolumen
Abnahme
Herzfrequenz
Zunahme
Hämodynamik
Instabilität
Atemmuskulatur
Zunehmende Erschöpfung
Vigilanz und mentaler Zustand
Zunehmende Verschlechterung
NIV und Weaning vom Respirator bei COPD Bei invasiv beatmeten Patienten mit schwergradiger COPD lässt sich die Erfolgsrate der Respiratorentwöhnung durch frühzeitige Extubation und unmittelbar anschließende NIV, verglichen mit einer invasiv beatmeten Kontrollgruppe, signifikant verbessern. Zusätzlich kommt es zur Reduktion der Letalitäts- sowie Reintubations- und Tracheotomierate [70–72] (Level 1B, A).
NIV in der Postextubationsphase In der Postextubationsphase hat die NIV in der Prävention, aber auch Therapie einer erneuten ARI ihren Stellenwert. Das Dilemma der Reintubation infolge erneuter ventilatorischer Insuffizienz liegt in der hohen Komplikations- und Letalitätsrate [73]. Vor allem bei Risikopatienten mit COPD, hohem Alter und Hypersekretion, die nach Extubation eine hyperkapnische ARI entwickeln, führt der frühzeitige Einsatz von NIV zur Reduktion der Reintubations- und Letalitätsrate; dies wurde auf unterschiedlichen EBM-Niveaus gezeigt [74–77]. Auch wenn dies bisher nur in Form von Beobachtungsstudien gezeigt wurde, sollte zur Verbesserung der Prognose bei Patienten nach erfolgreichem Weaning vom Respirator, aber bleibender chronisch ventilatorischer (d. h. hyperkapnischer) Insuffizienz die NIV in Form der Heimbeatmung angeschlossen werden [78, 79]. 39.6.4 Adjunktive Therapiemaßnahmen
Helium-Sauerstoff-Therapie Die Zumischung von Helium in das Inspirationsgas erleichtert aufgrund der geringen Viskosität von Helium die Verteilung des Gasgemisches bei hohem Atemwegswiderstand und reduziert die Atemarbeit bei Patienten mit AECOPD [80], sodass in der Regel die Überblähung, die Ventilation und die Hyperkapnie gebessert werden können. Zudem haben Studien gezeigt, dass Heliox die Partikelretention von Aerosolen in der Lunge verbessert und damit die Wirksamkeit von Bronchodilatatoren erhöht [81].
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Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
Der Vorteil von Heliox geht jedoch verloren, wenn die Sauerstoffkonzentration erhöht wird und der Heliumanteil dadurch unter 70–80% sinkt. Ein praktisches Problem beim Einsatz von Heliox in der mechanischen Beatmung besteht darin, dass die Flusssensoren in Beatmungsgeräten nicht auf die Dichte des Heliums kalibriert sind und daher Gasfluss und Tidalvolumen zu niedrig anzeigen. Eine Umrüstung von Beatmungsgeräten speziell für diesen Zweck ist möglich, aber sehr aufwändig.
Inhalationstherapie während der Beatmung Prinzipiell sollte auch während der Beatmung die antiobstruktive Inhalationstherapie fortgeführt werden. Es stehen hierzu Dosieraerosole und Vernebler (»metered dose inhaler systems«; MDI, »jet nebuliser system«, »ultrasonic nebulisers«) zur Verfügung [82, 83]. Bei der Inhalationstherapie während der Beatmung u. a. auf Folgendes zu achten: 4 Verwendung von Spacern, 4 Applikation im inspiratorischen Schenkel des Schlauchsystems, 4 keine Befeuchtung, 4 lange Inspirationszeit. 39.7
Entlassungskriterien
Der Zeitpunkt, an dem ein Patient mit einer Exazerbation eines Asthma bronchiale oder einer COPD von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt werden kann, erfordert eine klinische Beurteilung der Situation. Die genannten Leitlinien sprechen hierzu keine Empfehlungen aus. Demgegenüber formulieren die Leitlinien Kriterien, die vor einer geplanten Entlassung von Patienten mit exazerbierter COPD bzw. Asthma bronchiale erfüllt sein sollten.
39
Kriterien für die Entlassung eines Patienten nach Exazerbation einer COPD oder eines Asthma bronchiale aus dem Krankenhaus 5 Die Gabe inhalativer E2-Agonisten alle 4 h ist ausreichend. 5 Der Patient kann im Raum herumgehen (wenn dies vorher möglich war). 5 Essen ohne Dyspnoe und Schlafen ohne Aufwachen wegen Atemnot. 5 Klinische Stabilität für 12–24 h. 5 Stabile Blutgase für 12–24 h (O2-Sättigung >90% oder nahe am persönlichen optimalen Niveau). 5 Der Patient versteht die Verwendung der Medikamente. 5 Die Versorgung zuhause ist sicher gestellt. 5 Patient, Familie und Arzt sind zuversichtlich, dass der Patient die Situation kontrollieren kann. 5 Klinische Untersuchung ist (nahezu) unauffällig (Asthma). 5 PEF oder FEV1 betragen >70% des Normwerts oder des persönliches Bestwertes nach Gaben eine kurzwirksamen E2-Agonisten (Asthma).
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39
Kapitel 39 · COPD und Asthma bronchiale
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40 Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung R. Kuhlen, R. Dembinski
40.1
Einleitung
40.2
Indikationen zur Beatmung
40.3
Unterstützung der Ventilation
40.4
Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustauschs
40.5
Formen der Beatmung
40.5.1 40.5.2 40.5.3
Vollständige Unterstützung der Ventilation –514 Partielle Unterstützung der Ventilation –515 Trigger bei assistierter Beatmung –518
40.6
Nebenwirkungen und Risiken der maschinellen Beatmung
40.6.1 40.6.2 40.6.3 40.6.4 40.6.5
Hämodynamische Konsequenzen maschineller Ventilation –518 Nebenwirkung der Beatmung an der Organfunktion –518 Beatmungsassoziierter Organschäden –519 Infektiöse Komplikationen der Beatmung –519 Beatmung als proinflammatorischer Stimulus –520
40.7
Einstellung der Beatmung und Wahl des Ver fahrens
40.7.1 40.7.2 40.7.3
Akutes Lungenversagen –520 Obstruktive Ventilationsstörung –521 Nicht-invasive Beatmung (NIV) –522
40.8
Entwöhnung von der Beatmung
40.8.1 40.8.2
Begriffsbestimmung –523 Grundlagen der Entwöhnung –523
40.9
Schwierige Entwöhnung
40.9.1 40.9.2 40.9.3
Entwöhnungskonzepte –526 Weaningprotokolle –526 Wahl des Beatmungsverfahrens für die Entwöhnung –528
Literatur
–514
–529
–514 –514 –514
–514
–523
–525
–520
–518
514
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
40.1
Einleitung
Die maschinelle Beatmung mit positivem Atemwegsdruck dient der Übernahme oder Unterstützung der Ventilation und der Aufrechterhaltung eines ausreichenden pulmonalen Gasaustauschs bei der akuten respiratorischen Insuffizienz. Bei physiologischer Atmung wird von der Atemmuskulatur ein negativer Druckgradient aufgebaut, dem entlang inspiratorisch Gas in die Lungen fließt. Bei der Beatmung resultiert demgegenüber der inspiratorische Druckgradient aus einem positiven Atemwegsdruck. i Die Umkehrung der intrathorakalen Druckverhältnisse hat zahlreiche pathophysiologische Konsequenzen. Dementsprechend ist mit der maschinellen Beatmung ein Überwachungsaufwand verbunden, der lediglich auf der Intensivstation gewährleistet werden kann.
40.2
Indikationen zur Beatmung
Eine schwere respiratorische Insuffizienz tritt entweder als Versagen der Atempumpe oder als primäres Versagen des pulmonalen Gasaustauschs auf. Dementsprechend ergeben sich 2 prinzipielle Indikationen zur maschinellen Beatmung: 4 Übernahme oder Unterstützung der Ventilation 4 Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustauschs Hiervon abzugrenzen sind die nicht respiratorischen Indikationen zur Beatmung wie Koma, Intoxikationen, sequenzielle operative Versorgung in Narkose etc., die bei ca. 10% aller Patienten Grund der Beatmung sind. Hierbei führen entweder der Ausfall des zentralen Atemantriebs, Blockaden der neuromuskulären Überleitung oder aber die Sicherung der Atemwege zur Beatmungsindikation [1]. 40.3
40
Unterstützung der Ventilation
Eine absolute Indikation zur maschinellen Beatmung ist fraglos beim Ausfall des zentralen Atemantriebs oder der neuromuskulären Transmission gegeben. Schwieriger ist die Indikationsstellung bei Reduktion der effektiven Ventilation, ohne dass diese aber ganz ausfällt. Die Ineffektivität der Ventilation kann zumindest für eine gewisse Zeit durch Erhöhung der muskulären Atemarbeit kompensiert werden, führt allerdings dann in die Erschöpfung und wird so zu einer der häufigsten Inikationen. i Die Indikation zur Beatmung hängt davon ab, ob die erhöhte Atemarbeit vom Patienten geleistet werden kann, oder ob er sich muskulär erschöpfen wird.
Die Indikation zur maschinellen Beatmung ist in aller Regel bei folgenden klinischen Zeichen gegeben: 5 flache, schnelle Atmung (Frequenz >35/min, »rapid shallow breathing«), 5 deutliche Aktivität der inspiratorischen Hilfsmuskulatur, 5 Einziehungen der oberen oder unteren Thoraxapertur und/oder sichtbare, muskuläre Aktivität der Muskulatur des Schultergürtels, 6
5 Agitation, Minderung der Vigilanz durch die respiratorische Insuffizienz, 5 Entwicklung einer respiratorischen Azidose, 5 Entwicklung einer Hypoxämie (SaO2 <90%) trotz O2-Gabe
40.4
Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustauschs
Die hypoxische respiratorische Insuffizienz beruht pathophysiologisch in aller Regel auf Veränderung der Lungenstruktur und der Volumina. Es kommt auf dem Boden verschiedener Ursachen zu einer uniformen Abnahme der Gasaustauschfläche (7 Kap. 36, 37). In dieser Situation dient die maschinelle Beatmung primär der Restitution der Gasaustauschfläche durch Wiedereröffnung und Offenhalten anderweitig verschlossener Lungenareale [2, 3]. 40.5
Formen der Beatmung
Die verschiedenen Formen der maschinellen Beatmung lassen sich nach dem Anteil der maschinellen Ventilation an der Gesamtventilation in 2 Gruppen unterteilen. 40.5.1 Vollständige Unterstützung der Ventilation Hauptmerkmal der kontrollierten Beatmung ist das Fehlen jeglicher Spontanatmung. Die Ventilation resultiert aus der maschinellen Einstellung des Beatmungsmusters und den passiven mechanischen Eigenschaften des respiratorischen Systems. Je nach Steuerung des verabreichten Atemzugs unterscheidet man die volumenkontrollierte (VCV) von der druckkontrollierten (PCV) Beatmung.
Volumenkontrollierte Beatmung Bei der volumenkontrollierten Beatmung wird ein definiertes Atemzugvolumen (VT) mit einem einstellbaren Gasfluss appliziert. Die Höhe des Gasflusses ergibt sich aus VT und Dauer der Inspiration. An modernen Beatmungsgeräten stehen konstante, dezelerierende und sinusförmige Flussmuster zur Verfügung. Als weitere Option ist ein endinspiratorisches, strömungsfreies Plateau einstellbar (»No-flow-Intervall«; . Abb. 40.1). Der Atemwegsdruck ergibt sich bei der volumenkontrollierten Beatmung aus den mechanischen Eigenschaften des respiratorischen Systems und der Höhe des Gasflusses. Zur Vermeidung überhöhter inspiratorischer Spitzendrücke sollte eine absolute obere Druckgrenze (<35 cm H2O) eingestellt werden, bei deren Erreichen die Inspiration entweder abgebrochen oder auf diesem Druckniveau solange gehalten wird, bis die vorgegebene Inspirationszeit erreicht ist (volumenkontrollierte, druckbegrenzte Beatmung).
Druckkontrollierte Beatmung Bei der druckkontrollierten Beatmung wird der Atemwegsdruck in Form eines Rechtecksignals direkt angewählt. Der Gasfluss ergibt sich hierbei aus der Höhe der Druckamplitude und den mechanischen Eigenschaften des respiratorischen Systems. Da
515 40.5 · Formen der Beatmung
40
. Abb. 40.1. Atemwegsdruck (paw) und Gasfluss (flow) während volumenkontrollierter Beatmung mit konstantem Fluss (oben) und druckkontrollierter Beatmung (unten). Bei der druckkontrollierten Beatmung wird der Atemwegsdruck als Rechteck appliziert, sodass sich eine dezelerierende Gasströmung ergibt
die respiratorischen Widerstände am Beginn der Inspiration am geringsten sind, erhält man eine hohe Initialströmung, die im Sinne eines dezelerierenden Flusses rasch abnimmt und mit einem No-flow-Intervall endet. Dieses No-flow-Intervall unterscheidet sich jedoch vom klassischen Plateau, da der Plateaudruck bei Volumenverlust (z. B. weil bisher verschlossene Bezirke der Lunge bei dem gehaltenen Druck eröffnet werden) sofort durch erneuten inspiratorischen Gasfluss aufrechterhalten wird. Da das Atemzugvolumen bei dieser Beatmung nicht konstant ist, muss das Minutenvolumen eng überwacht werden.
i Die intermittierenden Verfahren zielen auf eine Optimierung des Minutenvolumens, während die Unterstützung jeder Inspirationsbemühung das einzelne Atemzugvolumen augmentiert.
Atemfrequenz, I : E-Verhältnis und »inversed ratio ventilation«
Bei AMV wird ein Atemhub eingestellt, der mit einer gewählten Atemfrequenz und einem einzustellenden I : E-Verhältnis appliziert wird. Der Patient kann allerdings über einen Triggermechanismus den nächsten, voreingestellten Atemhub auslösen, wodurch eine effiziente Entlastung der Atemmuskulatur erreicht wird. Problematisch ist allerdings, dass die Länge der maschinellen Inspiration unabhängig von der Anzahl der Triggerimpulse ist. Bei steigender Atemfrequenz wird also immer häufiger ein Atemhub mit einer definierten Inspiration ausgelöst, sodass die Exspiration notwendigerweise kürzer wird, was zur Entwicklung eines PEEPi beitragen kann. Diese Form der unterstützten Beatmung ist die einfachste und konventionellste Technik und wird heute weltweit nach wie vor am häufigsten verwendet [1].
Bei allen kontrollierten Beatmungsverfahren werden die Beatmungsfrequenz und das Atemzeitverhältnis (Verhältnis aus Inspiration zu Exspiration, »I : E-ratio«) am Beatmungsgerät direkt eingestellt. Wird die Inspirationszeit über das physiologische Verhältnis von 1 : 2 gewählt, spricht man von »inversed ratio ventilation« (IRV). Hierbei wird die Exspirationszeit u. U. soweit verkürzt, dass eine vollständige Exspiration nicht mehr möglich ist, was zur Entwicklung eines intrinsischen PEEP (PEEPi) und zur Abnahme des VT führen kann. IRV ist sowohl bei der druck- als auch bei der volumenkontrollierten Beatmung möglich. Bei den kontrollierten Beatmungsverfahren ist eine tiefe Sedierung notwendig, um die Spontanatemaktivität zu unterdrücken. Bei erhaltener oder wieder einsetzender Spontanatmung kommt es häufig zur Desynchronisation zwischen Patient und Ventilator mit ansteigender Atemarbeit, erhöhtem Sauerstoffverbrauch und ungünstiger Gasverteilung in den Lungen. i Wichtige Zeichen einer Desynchronisation zwischen Patient und Ventilator sind ansteigender Atemwegsdruck und abfallendes VT. Häufig kommt es auch zu einer Verschlechterung des Gasaustauschs.
40.5.2 Par tielle Unterstützung der Ventilation Bei allen Verfahren zur partiellen Unterstützung der Ventilation ist die Spontanatmung zumindest teilweise erhalten. Spontanatmung und maschinelle Beatmung wechseln sich entweder ab (intermittierende Ventilation), oder jede Inspiration wird maschinell unterstützt (»inspiratory assist«).
Die Vielzahl der Verfahren erklärt sich aus den verschiedenen technischen Möglichkeiten, die maschinelle Ventilation und die Spontanatmung zu verbinden.
Assistierte maschinelle Ventilation (AMV, »assist control«, A/C)
Synchronisierte intermittierende Ventilation (SIMV) Bei SIMV kann der Patient zwischen den eingestellten maschinellen Atemzügen ein- und ausatmen. Der Beginn eines maschinellen Atemhubes wird über einen Triggerimpuls an die Spontanatmung synchronisiert. Sollte der Patient nicht spontan atmen, wird der maschinelle Atemzug nach einem gewissen »Erwartungsfenster« appliziert. Da bei fehlender Spontanatmung eine maschinelle Mindestventilation sichergestellt ist, wurde SIMV vielfach als Standardmodus eingesetzt. Die maschinellen Atemhübe können sowohl volumen- als auch druckkontrolliert (pcSIMV) appliziert werden. Nachteilig ist aber, dass mit reinem SIMV keine effektive Entlastung der respiratorischen Muskulatur erreicht wird [4]. Der Tubus und das Atemschlauchsystem sind ein zusätzlicher Atemwegswiderstand, dessen Über windung zusätzliche Atemarbeit darstellt. Deswegen werden die spontanen Atemzüge bei SIMV häufig mit einem inspiratorischen Hilfs-
516
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
. Abb. 40.2. Synchronisierte intermittierende maschinelle Ventilation (SIMV) mit und ohne Druckunterstützung. Im oberen Abschnitt ist der Atemwegsdruck dargestellt, in der Mitte die Entwicklung des Zwerchfelldrucks des spontan atmenden Patienten und unten der Gasfluss. Auf der linken Seite sieht man das Abwechseln zwischen Beatmung und nicht unterstützter Spontanatmung, die nur zu geringen Volumenverschiebungen führt, während auf der rechten Seite die intermittierende Spontanatmung mittels einer geringen Druckunterstützung effektiv augmentiert wird
druck (»pressure support«, PS, 7 s. unten) unterstützt. Hierdurch kann die zusätzliche Atemarbeit kompensiert werden (. Abb. 40.2) [5].
BIPAP (»biphasic positive airway pressure«)
40
BIPAP lässt sich als die Kombination einer drucklimitierten, zeitgesteuerten Beatmung mit erhaltener Spontanatmung beschreiben [6]. Es werden zwei Druckniveaus eingestellt, zwischen denen nach einer einstellbaren Zeitspanne gewechselt wird. Auf beiden Druckniveaus ist die Spontanatmung möglich. Der Anteil der maschinellen Ventilation ergibt sich aus den Volumenverschiebungen beim Wechsel zwischen dem unteren und dem oberen Druckniveau. Atmet der Patient nicht spontan, gleicht BIPAP also der druckkontrollierten Beatmung. Atmet der Patient lediglich auf dem unteren Druckniveau, entspricht dies einem druckkontrollierten SIMV (. Abb. 40.3). Originäres BIPAP ist erreicht, wenn der Patient auf beiden Druckniveaus spontan atmet. Der maschinelle Anteil der Ventilation kann über eine Verringerung der Druckamplitude zwischen oberem und unterem Druck und über eine Verkürzung der Zeit für das obere Druckniveau erreicht werden.
Druckunterstützte Beatmung Im Gegensatz zur intermittierenden Beatmung wird bei der druckunterstützten Beatmung (»pressure support«; PS) jede Spontanatemaktivität mit einem inspiratorischen Hilfsdruck unterstützt. Nach Überwinden der Triggerschwelle liefert der Ventilator hierbei solange eine Gasströmung, bis der gewählte Atemwegsdruck erreicht ist. Sobald die inspiratorische Gasströmung einen bestimmten Wert unterschritten hat (meist 25% des
. Abb. 40.3. Atemwegsdruck, Zwerchfelldruck und Gasfluss während BIPAP. Ungehinderte nicht synchronisierte Spontanatmung ist während des hohen Druckniveaus genauso wie während des unteren Druckniveaus möglich
Spitzenflusses) oder der Atemwegsdruck um einen bestimmten Wert überschritten wird (meist 1–3 cm H2O), wird die Inspiration beendet. Die Höhe des VT hängt von der Höhe der Druckamplitude und der Mechanik des respiratorischen Systems ab. Je nach Höhe der Druckunterstützung ist eine graduelle Reduktion der Atemarbeit zu erreichen (. Abb. 40.4; [7]). Die alleinige Anwendung von PS setzt einen ausreichenden Atemantrieb des Patienten voraus. PS ermöglicht eine gute Adaptation zwischen Patient und Ventilator, da der Patient die nahezu vollständige Kontrolle über die Atemfrequenz, das Atemzeitver-
517 40.5 · Formen der Beatmung
hältnis und die Höhe der Gasströmung behält. Es ist allerdings zu bedenken, dass auch bei diesem Modus eine Desynchronisation auftreten kann, insbesondere dann, wenn der Patient wenig Muskelkraft und eine hohe exspiratorische Resistance hat und beim Beatmungsgerät eine hohe Druckunterstützung eingestellt ist [8].
. Abb. 40.4. Atemwegsdruck, Zwerchfelldruck und Gasfluss während druckunterstützter Beatmung. Jede Atembemühung des Patienten wird mittels eines vorgewählten Atemwegsdrucks unterstützt, sodass jeder Atemhub augmentiert wird
40
Proportional assist ventilation (PAV) Eine neue Entwicklung ist die Beatmung mit volumen- oder flussproportionaler Druckunterstützung (»roportional assist ventilation«; PAV; »proportional pressure support«; PPS) [9]. Bei konventionellen Beatmungsverfahren kommt es zu einer Diskrepanz zwischen der Inspirationsbemühung und der tatsächlich erreichten Ventilation. Ein mit PS beatmeter Patient kann zwar mit einem höheren inspiratorischen Kraftaufwand ein größeres Atemzugvolumen generieren, erhält jedoch vom Respirator keine entsprechend höhere Unterstützung. Die notwendige Mehrarbeit muss vollständig vom Patienten selber aufgebracht werden. Mit PAV soll diese Diskrepanz vermieden werden, indem die Druckunterstützung proportional zur Inspirationsbemühung verabreicht wird (. Abb. 40.5; [9].) Mit PAV wird ein definierter Anteil der Atemarbeit gegen elastische Widerstände als volumenproportionale Druckunterstützung oder ein definierter Anteil der Atemarbeit gegen resistive Widerstände als flowproportionale Druckunterstützung vom Respirator übernommen. Bei Steigerung der Inspirationsbemühung wird eine proportional höhere Druckunterstützung verabreicht. Mit PAV soll eine optimale Adaptation zwischen Patient und Respirator ermöglicht werden. Die Einstellung der Proportionalitätsfaktoren ist allerdings für die klinische Praxis schwierig, sodass der klinische Stellenwert von PAV derzeit nicht abschließend beurteilt werden kann. Interessant sind in diesem Zusammenhang neue Systeme, die eine kontinuierliche Abschätzung der respiratorischen Mechanik erlauben und so eine Grundlage der kontinuierlichen Adaptation der PAV-Einstellung bieten. Werden diese Systeme klinisch validiert, ist hiermit eine wirklich prozentuale Übernahme der Atemarbeit einstellbar.
. Abb. 40.5. Atemwegsdruck, Zwerchfelldruck und Gasfluss während »proportional assist ventilation«. Jede Atembemühung des Patienten wird mit einem Atemwegsdruck unterstützt, der sich aus den eingestellten Proportionalitätsfaktoren ergibt. Der applizierte paw entwickelt sich als Funktion des Pleuradrucks, des Flusses und des Volumens. Steigt der Muskeldruck (in der Abb. rechts), ergibt sich daraus eine Erhöhung des applizierten paw im Sinne eines positiven Feedback-Mechanismus. Die muskuläre Mehrarbeit führt zu einer entsprechenden Erhöhung der Ventilation
518
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
40.5.3 Trigger bei assistier ter Beatmung Wie schon angedeutet, ist die Triggerung bei assistierenden Beatmungsformen ein wichtiges Steuerungsprinzip. Hierbei wird der maschinelle Beatmungsvorgang durch die initiale Spontanatmungsaktivität des Patienten ausgelöst und so synchronisiert. Das erfordert einen entsprechenden Steuermechanismus im Respirator, der die Spontanatmungsbemühungen des Patienten erkennen und durch Auslösen eines maschinellen Beatmungszuges (»assistierte« Beatmung) beantworten oder, bei Spontanatmungsformen, einen ausreichenden Gasfluss zur Verfügung stellen muss (»demand-flow«). Das zugrundeliegende Steuerprinzip beruht auf der Detektion eines relativen Unterdrucks als Folge der Einatmungsbemühungen des Patienten. In modernen Respiratoren erfolgt dies durch empfindliche elektronische Druck- oder Flowsensoren.
Triggerempfindlichkeit Die Triggerempfindlichkeit (Triggerschwelle) wird entweder manuell als Differenzdruck (»Drucktrigger«) oder als Flowäquivalent (»Flowtrigger«) eingestellt oder fest vorgegeben. Bei Spontanatmung steigern hohe Triggerschwellen die Atemarbeit des Patienten durch ineffektive, nicht von einer effektiven Beatmung gefolgte Atemexkursionen. Dyspnoe, Stress, Angst, motorische Unruhe usw. sind die Folge. i Es ist daher nicht sinnvoll, hohe Atemfrequenzen oder unerwünschte Eigenatmung des Patienten durch das Erhöhen der Triggerschwelle am Respirator zu unterdrücken. Der Trigger soll so sensibel wie eben möglich eingestellt werden, ohne dass es zur Selbsttriggerung kommt.
40
Bei der Selbsttriggerung führen bereits geringste Schwankungen von Druck, Flow oder Volumen (z. B. durch Bewegungen des Patienten oder Kondenswasser in den Atemschläuchen) zur Auslösung einer unerwünschten maschinellen Inspiration, ohne dass ein echter Atemantrieb hier vorliegt. Die Sensitivität des gesamten Regelkreises aus Atemmechanik, Steuersensor und Ventil beeinflusst v. a. die Triggerlatenz. Sie beschreibt den Zeitraum vom Beginn der Inspirationsbemühung des Patienten bis zur tatsächlichen Öffnung des Inspirationsventils. Die Triggerlatenz sollte kurz sein, der maschinelle Ventilationsflow sollte möglichst verzögerungsfrei geliefert werden. Die Triggerlatenz ist gerätespezifisch unterschiedlich, abhängig von den pneumatischen Übertragungseigenschaften des Schlauchsystems, der Qualität des Inspirationsventils sowie der Sensitivität des Steuersensors. Sie kann von Patient oder Therapeut nicht unmittelbar beeinflusst werden. Ältere Respiratoren haben aufgrund technischer Unzulänglichkeiten oftmals hohe Ventiltriggerlatenzzeiten im Bereich von mehreren hundert Millisekunden, die insbesondere bei Spontanatmung zu unbefriedigender Volumenbereitstellung, Phasenverschiebung zwischen Patient und Respirator sowie Erhöhung der isometrischen Atemarbeit führen. Wesentliches klinisches Symptom überhöhter Latenzzeiten ist die Desynchronisation. Die Sensoren und Ventile moderner Intensivrespiratoren haben durchgehend recht geringe Triggerlatenzzeiten im Bereich weniger Millisekunden.
40.6
Nebenwirkungen und Risiken der maschinellen Beatmung
40.6.1 Hämodynamische Konsequenzen
maschineller Ventilation i Der positive Atemwegsdruck wird entsprechend der Dehnbarkeit des respiratorischen Systems auf die anderen intrathorakalen Organe über tragen, wobei die Drucktransmission mit der Höhe der Compliance zunimmt.
Bei Vorliegen eines schweren akuten Lungenschadens mit deutlicher Abnahme der Compliance ist mit weniger Beeinträchtigung der kardiozirkulatorischen Funktion durch erhöhten Beatmungsdruck zu rechnen als bei normaler Lungenmechanik, da es aufgrund der Steife der Lunge zu einer geringeren Druckübertragung kommt.
Wirkungen des positiven intrathorakalen Drucks am rechten Herzen Die Erhöhung des intrathorakalen Drucks führt je nach Höhe des Drucks, des Füllungszustandes der Gefäße und der kardialer Funktion zu: 4 Abnahme des venösen Rückstroms nach intrathorakal, 4 Kompression der Vorhöfe und Kammern mit Abnahme der Herzfüllung, 4 Erhöhung der rechtsventrikulären Nachlast.
Vermeidung und Therapie der eingeschränkten Herzleistung Da dem mittleren Atemwegsdruck eine entscheidende Bedeutung für die kardiozirkulatorischen Wirkungen der maschinellen Beatmung zukommt, sollte zu deren Vermeidung der Atemwegsdruck minimiert und der intravasale Füllungszustand optimiert werden [10].
Wirkungen des positiven intrathorakalen Drucks am linken Herzen i Eine Erhöhung des intrathorakalen Drucks senkt die Nachlast des linken Ventrikels.
Das ist der Grund für die benefiziellen Wirkungen der Beatmung beim kardiogenen Lungenödem (7 Kap. 30). Ebenfalls hierdurch erklärbar wird, warum bei der Entwöhnung von der Beatmung durch den abrupten Wegfall des positiven intrathorakalen Drucks beim Risikopatienten eine akute linksventrikuläre Dekompensation provoziert werden kann [11]. 40.6.2 Nebenwirkung der Beatmung an der
Organfunktion Hepatische Nebenwirkungen Aufgrund des verminderten Rückstroms venösen Blutes zum Herzen ist an der Leber häufig eine venöse Stauung nachzuweisen. Durch die Beeinträchtigung der intrahepatischen hydrostatischen Verhältnisse kommt es letztlich zu einer Beeinträchtigung der Leberzellfunktion. Hierdurch kann die maschinelle Beat-
519 40.6 · Nebenwirkungen und Risiken der maschinellen Beatmung
mung zur recht häufigen Hyperbilirubinämie bei Intensivpatienten beitragen [10].
Renale Nebenwirkungen
40
nen. Die dosierte Applikation eines exspiratorischen Drucks während der Beatmung kann lungenprotektiv wirksam sein, wenn hierdurch die exspiratorische Atelektasenbildung minimiert werden kann [16].
Während der maschinellen Beatmung ist regelhaft eine Einschränkung der Diurese und der Natriurese nachweisbar. Neben dem herabgesetzten Herzzeitvolumen und der Erhöhung des Drucks in der V. Cava inferior sind hierfür die Stimulation antidiuretischer und antinatriuretischer Hormonsysteme während der Überdruckbeatmung mitverantwortlich [12, 13].
! Cave Exspiratorische Atelektasenbildung mit Wiedereröffnung in der folgenden Inspiration führt zu Scherkräften, die zu einem beatmungsassoziierten Lungenschaden beitragen (Atelektrauma).
Nebenwirkungen am zentralen Nervensystem
40.6.4 Infektiöse Komplikationen der Beatmung
Abnahme des arteriellen Blutdrucks und Reduktion des venösen Abstroms können den zerebralen Perfusionsdruck senken. Hierdurch kann die Erhöhung des intrathorakalen Drucks bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck negative Folgen für die Hirnfunktion haben. Der mittlere Atemwegsdruck soll bei diesen Patienten so niedrig wie möglich gehalten werden. Auf der anderen Seite muss eine arterielle Hypoxämie oder aber eine ausgeprägte Hypoventilation verhindert werden, da hierdurch ebenfalls eine Beeinträchtigung der Hirnfunktion zu befürchten ist [10]. i Bei gleichzeitigem Vorliegen eines Lungenversagens und eines Schädel-Hirn-Traumas muss ein Hirndruckmonitoring vorgenommen werden, um die ZNS-Effekte der Beatmungseinstellung individuell überprüfen zu können.
40.6.3 Beatmungsassoziier ter Organschäden
Überdehnung der Lunge Die maschinelle Beatmung kann sowohl einen Lungenschaden auslösen als auch zur Progression eines bestehenden Lungenschadens beitragen. Als Ursache wurde der erhöhte Atemwegsdruck identifiziert (Barotrauma). Experimentelle Untersuchungen zeigen, dass auch ein zu hohes Volumen der Lunge im Sinne eines Volutraumas schadet. Beide Effekte sind allerdings in der klinischen Praxis kaum voneinander zu trennen, da bei der Beatmung mit positivem Atemwegsdruck die Applikation hoher Volumina notwendigerweise mit der Applikation hoher Beatmungsdrücke einhergeht [14]. Ganz offensichtlich spielen diese Mechanismen auch für die klinische Behandlung beatmeter Patienten eine große Rolle, da die initiale Überblähung der Lunge durch hohe Atemzugvolumina als Risikofaktor für die Sterblichkeit bei der Behandlung eines akuten Lungeschadens identifiziert werden konnte [15]. ! Cave Kommt es zu einer Überdehnung der Lunge, können Verletzungen der alveolokapillären Mikrostrukturen bis hin zum Einreißen ganzer alveolarer Bezirke resultieren. Klinisches Korrelat eines ausgeprägten Barotraumas sind »Bullae« oder Pneumothoraces.
Lungenschaden durch Scherkräfte Auch die Beatmung bei einem zu geringen Lungenvolumen kann die Lunge schädigen. Rezidivierendes exspiratorisches Kollabieren von Lungenarealen mit Wiedereröffnung in der nächsten Inspiration kann in enormen Scherkräften resultieren, die zum Zerreißen des alveolokapillären Gerüsts der Lunge führen kön-
Beatmungsassoziierte Pneumonie Die nosokomiale Pneumonie ist mit einer Inzidenz zwischen 8% und 28% aller länger als 24 h beatmeten Patienten eine häufige Komplikation der maschinellen Beatmung (7 Kap. 62–64). Sie verlängert die Verweildauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus und ist mit einer hohen Letalität von 20–76% je nach Patientenpopulation verbunden. Die Inzidenz der nosokomialen Pneumonie steigt mit der Dauer der endotrachealen Intubation und Beatmung. Bei nicht-invasiver Beatmung ist die sie weniger häufig als beim intubierten Patienten, sodass der Ausdruck tubusassoziierte Pneumonie treffender ist als beatmungsassoziierte Pneumonie. Der Tubus wird zur Leitschiene für Bakterien, die sich aus dem Oropharynxbereich nach intratracheal ausbreiten und hier über die Tracheobronchitis letztlich eine Pneumonie verursachen können. Zur Verhinderung der beatmungsassoziierten Pneumonie eignen sich entsprechend dieser Pathophysiologie [17]: 5 möglichst steriles Umgehen mit allen Teilen des Beatmungssystems, 5 leichte Oberkörperhochlagerung, 5 Verkürzung der Beatmungsdauer, 5 Anwendung nicht-invasiver Beatmung wann immer möglich.
Auch wenn verschiedene Untersuchungen die frühe enterale Ernährung, selektive Darmdekontamination (SDD), geschlossene Absaugsysteme, Verzicht auf Anhebung des pH-Werts des Magensafts zur Stressulkusprophylaxe u. a. vorgeschlagen haben, ist für eine klare Empfehlung dieser Interventionen keine eindeutige Evidenz gegeben.
Sinusitis Die Sinusitis ist zwar eine typische Komplikation beatmeter Patienten, wird aber oft nicht diagnostiziert. Die klinischen Zeichen der Sinusitis werden häufig im Rahmen der zugrundeliegenden, zur Beatmung führenden Erkrankung nicht entsprechend gewertet. i Bei Fortbestehen von Infektionszeichen ohne eindeutigen Grund sollte die Sinusitis beim beatmeten Patienten mittels bildgebender Diagnostik ausgeschlossen werden.
Gerade bei nasotracheal intubierten Patienten tritt die Sinusitis besonders gehäuft auf, sodass diese Intubationstechnik nur im Ausnahmefall für längere Zeit angewendet werden sollte.
520
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
Auch wenn der Stellenwert der frühzeitigen Tracheotomie zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend beurteilt werden kann, ist die Minimierung der beschriebenen, infektiösen beatmungsassoziierten Nebenwirkungen belegt. Nachhaltig muss in diesem Zusammenhang der Stellenwert der nicht-invasiven Beatmung zur Verhinderung nosokomialer Infektionen betont werden.
40.6.5 Beatmung als proinflammatorischer
Stimulus Beatmung mit hohen Atemzugvolumina und ohne PEEP kann zu einer pulmonalen Freisetzung proinflammatorischer Mediatoren führen [18]. Allerdings scheint dieser Mechanismus wesentlich von der Art des Lungenschadens abzuhängen, da in verschiedenen Modellen unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Ergebnisse gefunden wurden [14]. Bei Patienten mit einem akuten Lungenversagen kommt es bei protektiver Beatmung zu einer Abnahme inflammatorischer Mediatoren. Allerdings ist nicht belegt, ob dies durch Reduktion pulmonaler Freisetzung bedingt ist oder aber als Ausdruck der klinischen Verbesserung der Patienten interpretiert werden kann [19]. Bei lungengesunden Patienten konnte keine pulmonale Freisetzung proinflammatorischer Mediatoren bei verschiedenen Beatmungsstrategien beobachtet werden [20]. Ganz offensichtlich ist also Beatmung nur bei einer schon aktivierten entzündlichen Reaktion der Lunge als zusätzlicher Stimulus wirksam [21]. 40.7
Einstellung der Beatmung und Wahl des Ver fahrens
40.7.1 Akutes Lungenversagen
40
Beim akuten Lungenversagen dient die Beatmungstherapie im Wesentlichen der Wiederherstellung der Gasaustauschfläche, da die Abnahme des ventilierten Lungenvolumens der wesentliche Mechanismus der Oxygenierungsstörung beim Lungenversagen ist [22].
Einstellung des Atemzugvolumens Basierend auf den Erkenntnissen über den beatmungsassoziierten Lungenschaden wurden in den letzten Jahren große klinische Untersuchungen über die optimale Höhe des Atemzugvolumens beim akuten Lungenversagen durchgeführt. Die größte dieser Studien wurde vom amerikanischen ARDS Network mit der Unterstützung der amerikanischen Gesundheitsbehörde (NIH) durchgeführt [23]. Bei 861 Patienten mit akutem Lungenversagen wurde die Anwendung eines konventionellen Atemzugvolumens in Höhe von 12 ml/kg KG mit einem reduzierten Atemzugvolumen von 6 ml/kg KG untersucht. Die Untersuchung wurde vorzeitig abgebrochen, da ein signifikanter Abfall der Letalität von 40% auf 30% bei Anwendung geringer Atemzugvolumen erzielt wurde.
Das Atemzugvolumen beim akuten Lungenversagen soll ca. 6 ml/kg des idealen Körpergewichts betragen. Von enormer Bedeutung hierbei ist, dass sich das ideale Körpergewicht aus der Körpergröße ableitet, wozu in der ARDSnet-Studie folgende Formeln Verwendung fanden: 5 50+0,91 u (Körpergröße–152,4) bei Männern, 5 45,5,+0,91 u (Körpergröße–152,4) bei Frauen.
Positiv endexspiratorischer Druck (PEEP) Nachdem die Anwendung hoher Atemzugvolumina zur Vermeidung der Atelektasenbildung beim Lungenversagen ungeeignet ist, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert des PEEP. Schon Anfang der 1970-er Jahre wurde gezeigt, dass mit PEEP das endexspiratorische Lungenvolumen erhöht und dementsprechend die Oxygenierung verbessert werden kann [24]. PEEP gehört seitdem zu den wesentlichen Bestandteilen der Beatmungstherapie beim Lungenversagen, wobei die Höhe des PEEP nicht genau untersucht ist. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, welcher Algorithmus der PEEP-Einstellung die besten klinischen Erfolge bringt. Ganz wesentlich hierbei ist die Berücksichtigung der individuellen Reaktion eines Patienten auf den PEEP: Kommt es durch PEEP zu einer Rekrutierung bisher verschlossener Lungenareale, könnte dies hilfreich sein. Ist allerdings das Potenzial einer möglichen Rekrutierung bereits erschöpft, wird PEEP eher zu einer weiteren Überdehnung führen. Das Rekrutierungspotenzial ist nach neueren CT-Studien im Schnitt nicht so hoch, dass eine Rekrutierung bei allen Patienten erfolgversprechend erscheint [25]. Dies könnte sehr gut erklären, warum in einer großen, randomisiert kontrollierten Studie kein positiver Effekt höherer PEEP-Werte gefunden werden konnte, da hier eben nicht die individuelle Reaktion auf PEEP zugrunde gelegt, sondern eine fixe Beziehung zwischen PEEP und Oxygenierung postuliert wurde [26]. Eine Möglichkeit, den Effekt des PEEP auch außerhalb des CT zu bestimmen, besteht darin, nicht nur die Wirkungen auf die Oxygenierung, sondern auch auf CO2 oder die Lungenmechanik zu analysieren. In der erwähnten CT-Untersuchung war ein Abfall des CO2 ebenso wie eine Verbesserung der Lungenmechanik recht gut geeignet, das Rekrutierungspozential dieser Lunge zu bestimmen [25]. In der Zukunft werden klinische Untersuchungen nach diesem Effekt stratifiziert werden müssen, um den Effekt des PEEP herauszuarbeiten [27]. i Typischerweise finden PEEP-Werte zwischen 10 und 20 cm H2O bei der Behandlung des akuten Lungenversagens Verwendung.
Die ARDSnet-Studie [23] benutzte einen einfachen Einstellalgorithmus, der neben den Einstellungen des Atemzugvolumens auch eine Tabelle zur PEEP-Einstellung in Abhängigkeit von der notwendigen FIO2 und den angestrebten Oxygenierungszielen der Beatmungstherapie umfasst. Dieser Algorithmus wird auf dem Boden des nachgewiesenen Outcome-Effekts für die klinische Anwendung empfohlen (. Tab. 40.1).
Atemfrequenz und I : E-Verhältnis Bei Reduktion des Atemzugvolumens ist häufig keine Normoventilation zu erreichen. Experimentelle Untersuchungen zeigten,
40
521 40.7 · Einstellung der Beatmung und Wahl des Ver fahrens
. Tabelle 40.1. Beatmungseinstellung für Patienten mit akutem Lungenversagen (ALI/ARDS) entsprechend der ARDSnet Studie [23] Parameter
Einstellung
Beatmungsmodus
Assistiert oder kontrolliert
Atemzugvolumen
6 ml/kg errechnetes Körpergewicht
Plateaudruck
<30 cm H2O
Atemfrequenz und pH Ziel
6–35/min, pH-Wert >7,3, wenn möglich
I : E-Verhältnis
1 : 1–1 : 3
4 Oxygenierungsziel
4 paO2: 55–80 mm Hg 4 SpO2: 88–95%
Entwöhnung von der Beatmung
Spontanatmungsversuch mittels PS wenn FIO2 <0,4; PEEP <8 cm H2O
FIO2
0,3
0,4
0,4
0,5
0,5
0,6
0,7
0,7
0,7
0,8
0,9
0,9
0,9
1,0
PEEP
5
5
8
8
10
10
10
12
14
14
14
16
18
18–24
dass eine Erhöhung der Atemfrequenz zu einer relativen Zunahme der Totraumventilation führt, sodass Atemfrequenzen von mehr als 20/min nur selten eingestellt wurden. Die resultierende Erhöhung des paCO2 wurde toleriert und als Konzept der »permissiven Hyperkapnie« bezeichnet. Interessanterweise wurden in der schon zitierten ARDS Network-Studie deutlich höhere Atemfrequenzen eingestellt, wodurch das Ausmaß der permissiven Hyperkapnie reduziert werden konnte. i Bei lungenprotektiver Beatmung kann die Atemfrequenz im Bedarfsfall bis zu ca. 30–35/min gesteigert werden. Die permissive Hyperkapnie sollte sich langsam entwickeln und nicht in einem pH-Wert <7,20 resultieren.
Wahl des Beatmungsver fahrens Bis heute existieren keine klinischen Daten, die überzeugend die Überlegenheit eines spezifischen Verfahrens zur Beatmung beim Lungenversagen zeigen. Insbesondere die Diskussion um volumenkontrollierte vs. druckkontrollierte Beatmung wurde durch die Untersuchungen zum optimalen Atemzugvolumen entschärft, da offensichtlich die Einhaltung einer Zielvorgabe wichtiger ist als der Modus per se. Interessant sind Berichte, dass die Beibehaltung einer spontanen Atemaktivität mittels APRV/BIPAP beim akuten Lungenversagen zur Verbesserung des Gasaustauschs verglichen zur kontrollierten Beatmung führt [28]. Offensichtlich kann die Atelektasenbildung in den dorsal und zwerchfellnah liegenden Lungenarealen durch Aktivität des Zwerchfells verhindert werden. Hierfür ist wohl der regional erhöhte transpulmonale Druckgradient verantwortlich, der sich ergibt, wenn das Zwerchfell einen negativen Druck zusätzlich zum durch die Beatmung applizierten Beatmungsdruck aufbaut. Aufgrund der umgekehrten Vorzeichen der Spontanatmung kommt es hierbei kaum zu einer Beeinträchtigung der Hämodynamik, sodass der Sauerstofftransport hierdurch eindeutig verbessert werden kann (. Abb. 40.6; [29, 30]). Eine klinische Untersuchung zeigt, dass APRV/BIPAP mit früher Spontanatmung bei Patienten mit akutem Lungenschaden zu einer Verkürzung der Beatmungstherapie beiträgt [31].
. Abb. 40.6. Stellung und Exkursion des Zwerchfells während Wachheit, Allgemeinanästhesie und medikamentöser Muskelrelaxation. Während bei unbehinderter Spontanatmung die größten Zwerchfellexkursionen hinten unten zu verzeichnen sind, wird mit Anästhesie oder gar Muskelrelaxation dieser Bezirk zur Prädilektionsstelle der Atelektasenbildung
Inwieweit der klinische Behandlungserfolg hiervon positiv beeinflusst wird, ist heute noch unklar. 40.7.2 Obstruktive Ventilationsstörung Bei der obstruktiven Ventilationsstörung besteht das wesentliche Ziel der Beatmung in der Übernahme der Atemarbeit, ohne hierbei die die Lunge weiter zu überblähen.
Einstellung des Atemzugvolumens, der Atemfrequenz und des I : E-Verhältnisses i Bei den klassischen obstruktiven Ventilationsstörungen sind die Füllungsvolumina der Lunge hoch.
Die Vermeidung bzw. Limitierung der dynamischen Hyperinflation bei der Beatmung von Patienten mit obstruktiver Ventilationsstörung ist wesentlich. Dazu werden niedrige Atemzugvolumina von ca. 4–8 ml/kg KG empfohlen. Die Abnahme der CO2-Exhalation darf nur bedingt zu einer Erhöhung der Atemfrequenz führen, da mit zunehmender Atemfrequenz die Dauer der Exspi-
522
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
Wahl des Beatmungsver fahrens Bei der COPD führt der Anstieg der Atemarbeit auf dem Boden der eingeschränkten Lungenmechanik zur Beatmung dieser Patienten. Entsprechend sind v. a. solche Beatmungsverfahren geeignet, die eine optimale Übernahme der Atemarbeit ermöglichen. Am Anfang der Therapie ist häufig die kontrollierte Beatmung indiziert, da nur so eine komplette Übernahme der Atemarbeit ermöglicht und dem Patienten eine notwendige Ruhepause verschafft wird. i Die Therapie der Muskelermüdung besteht in der Entlastung der Muskulatur. Die Atemmuskulatur ist nur durch die Übernahme der Atemarbeit durch maschinelle Beatmung zu entlasten. . Abb. 40.7. Einstellung des PEEP bei COPD mit dem Bild eines Wasserfalls. Solange der Wasserspiegel des Sees (paw) unter dem Wasserfall nicht höher wird als die Klippe (pcrit), wird dort Wasser herabfließen, ohne dass sich hierdurch ein Effekt über dem Wasserfall ergeben würde (palv). Wenn also der PEEP geringer bleibt als pcrit, wird es zu keiner Erhöhung von palv und der Entwicklung zunehmender Hyperinflation kommen. Ziel des PEEP ist die Erniedrigung von pcrit durch eine »innere Schienung« der Engstelle, sodass ein einfacherer Gasfluss aus der Alveole resultiert
Druckunterstützte Beatmung (PS) ist zur assistierten Beatmung dieser Patienten geeignet, da jeder Atemhub unterstützt und eine gute Entlastung der Muskulatur erreicht wird, die mit der Höhe der Druckunterstützung dosiert werden kann. Mit PS kann dem Patienten die Atemarbeit weitgehend abgenommen werden. PS kann darüber hinaus durch graduelle Reduktion zur Entwöhnung benutzt werden. 40.7.3 Nicht-invasive Beatmung (NIV)
ration abnimmt und ihrerseits zur unvollständigen Exspiration führt. Zur Ermöglichung einer ausreichend langen Exspiration werden I : E Zeiten von 1 : 2–1 : 4 gewählt. Zur Erkennung einer ausreichend langen Exspiration dient die Flusskurve, die einen möglichst vollständigen exspiratorischen Gasfluss zeigen sollte. Modifikationen der Beatmungseinstellung sollten anhand des exspiratorischen Gasflusses überprüft werden.
PEEP
40
Patienten mit COPD lernen, durch die Technik der Lippenbremse einen extrapulmonalen, exspiratorischen Druck aufzubauen, um der dynamischen Erhöhung des Atemwegswiderstands während der Exspiration entgegenzuwirken. Hierdurch wird der Widerstand in den Bronchiolen gesenkt und die Exspiration vereinfacht. Ebenso kann ein externer PEEP bei der Beatmung sinnvoll sein, solange dieser nicht höher ist als der intrinsische PEEP (PEEPi), da anderenfalls eine Zunahme der Überblähung resultieren würde (. Abb. 40.7). i Der PEEP bei der Beatmung des Patienten mit obstruktiven Ventilationsstörungen sollte bei ca. 75% des PEEPi eingestellt werden.
Entsprechend konnte gezeigt werden, dass die Anwendung eines dosierten PEEP beim spontan oder assistiert atmenden COPDPatienten die Atemarbeit senkt. Ein zweiter Grund für die PEEP Anwendung bei COPD liegt darin, dass ca. 50% aller Exazerbationen einer COPD durch pulmonale Infektionen bedingt sind (»acute on chronic lung failure«). Hier kann PEEP zur Wiedergewinnung etwaiger atelektatischer Lungenareale beitragen. ! Cave Die Höhe des PEEP bei COPD kann nur durch langsame Titration unter Überwachung der exspiratorischen Flusskurve, des Gasaustauschs und der Kreislaufsituation ermittelt werden; dabei ist mit eher geringeren PEEP-Werten von 3–6 mbar anzufangen.
Bei der NIV wird die maschinelle Beatmung über eine dicht sitzende Nasen- oder Gesichtsmaske appliziert, ohne hierfür einen invasiven künstlichen Atemweg zu verwenden. Es werden vergleichbar zur konventionellen Beatmungstechnik verschiedene Beatmungsverfahren verwendet. Bei Beachtung der Voraussetzungen und Kontraindikationen des Verfahrens kann hiermit ebenso suffizient wie mittels konventioneller Beatmungstechnik die Atemarbeit übernommen werden (7 Kap. 41). Voraussetzungen der NIV sind: 5 wacher, adäquat reagierender Patient, 5 Maske ist ohne größere Leckage anzupassen, 5 Patient toleriert die Maske, 5 kein wesentliches Aspirationsrisiko, 5 keine Verletzungen im Gesichtsbereich, 5 logistische Voraussetzungen zur Durchführung und Überwachung der NIV gegeben.
Die Übernahme der Atemarbeit bedeutet nicht notwendigerweise Intubation. Der Vorteil der nicht-invasiven Ventilation besteht im Verzicht auf den Tubus, womit typische tubusassoziierte Komplikationen umgangen werden. Gerade bei der COPD ist der Vorteil der NIV durch klinische Daten belegt. In mehreren kontrollierten klinischen Studien ist gezeigt worden, dass durch NIV die Notwendigkeit zur Intubation von COPD-Patienten eindeutig gesenkt werden kann. Einzelne Studien wie auch Metaanalysen der Datenlage zeigen, dass hiermit auch die Letalität beatmeter COPD-Patienten reduziert werden kann. i Die NIV ist heute Beatmungstherapie der 1. Wahl bei respiratorisch insuffizienten COPD-Patienten. Sollte sie allerdings nicht möglich oder nicht erfolgreich sein, darf die Entscheidung zur notwendigen Intubation nicht verzögert werden.
523 40.8 · Entwöhnung von der Beatmung
40.8
Entwöhnung von der Beatmung
Da die maschinelle Beatmung mit nennenswerten Risiken und Nebenwirkungen behaftet ist, deren Häufigkeit mit der Beatmungsdauer zunimmt, sollte eine möglichst frühe Entwöhnung von der Beatmung angestrebt werden. Bei ca. 20% aller beatmeten Patienten gestaltet sich die Entwöhnung schwierig und kann hier bis zu 40% der gesamten Beatmungsdauer beanspruchen. Eine profunde Kenntnis der Pathophysiologie und der Klinik dieser Phase ist für die intensivmedizinische Praxis unverzichtbar.
40
kann mit einem Druckmesskatheter im Ösophagus abgeschätzt werden, sodass ein solcher Ösophaguskatheter zur direkten Messung der Atemarbeit notwendig ist. Da diese Technik allerdings mit vielen Fehlerquellen behaftet ist, hat sich diese Messung klinisch nicht etabliert. Da die direkte Messung der Atemarbeit in der klinischen Routine nicht zur Verfügung steht, ist es wichtig, die verschiedenen Determinanten der Atemarbeit aufzuzeigen, um das Konzept einer balancierten Atemlast während der Entwöhnung umzusetzen.
Er forderliche Atemarbeit 40.8.1 Begriffsbestimmung Die Entwöhnung bezeichnet den Übergang von maschineller Beatmung zur vollständigen Spontanatmung. Im weiteren Sinn beginnt dieser Prozess mit der graduellen Reduktion der maschinellen Ventilation und der entsprechenden Zunahme der Spontanatemaktivität. In engeren Sinn umfasst die Entwöhnung die Phase der Beendigung der Beatmungstherapie. 40.8.2 Grundlagen der Entwöhnung i Die wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwöhnung ist ein Gleichgewicht zwischen der notwendigen und der möglichen Atemarbeit.
Überschreitet die notwendige Atemarbeit die Leistungskapazität der Atemmuskulatur, wird sich der Patient an seiner eigenen Atmung erschöpfen und eine zunehmende respiratorische Insuffizienz entwickeln.
Die Atemarbeit unterteilt sich in die patientenabhängige und die sog. zusätzliche, durch das Beatmungssystem bedingte Atemarbeit. Determinanten der erforderlichen Atemarbeit Patientenabhängige Faktoren 5 Compliance 5 Resistance 5 Auto-PEEP 5 VO2 5 VCO2 5 Grad der Analgosedierung 5 Schmerzen, Stress »Added work of breathing« 5 Größe des Endotrachealtubus 5 Triggerschwelle 5 Demand-flow-Systeme 5 Höhe des Gasflusses 5 Grad der Synchronisation
Klinische und physiologische Zeichen und der Verlauf der inspiratorischen Muskelerschöpfung Klinische Zeichen 5 Tachypnoe, T V erniedrigt 5 »rapid shallow breathing« 5 Diskoordination der Atmung: – »paradoxe Atmung« – »respiratory alternans« CO2-Retention Entwicklung einer respiratorischen Azidose
Da die Atemarbeit der wesentliche, pathophysiologische Faktor während der Entwöhnung ist, wäre es wünschenswert, die Atemarbeit direkt messen zu können. Die Atemarbeit (work of breathing, WOB) kann im physikalischen Sinne als das Produkt aus transpulmonalem Druck (ptp ) und Zugvolumen (V T ) für einen Atemzug gemessen werden: WOB = ptp*V T
Der transpulmonale Druck während assistierter Beatmung ergibt sich aus der Summe des applizierten Atemwegsdrucks (paw) und dem vom Patienten aufgebrachten Pleuradruck (ppl). Der ppl
Mechanik des respiratorischen Systems Die von der Atemmuskulatur zu leistende Atemarbeit hängt maßgeblich von der Mechanik des respiratorischen Systems ab. Ist die Compliance erniedrigt, muss für ein suffizientes Atemzugvolumen (VT) ein erhöhter Druck aufgebaut werden. Eine Verbesserung der Compliance führt zu einer Senkung der Atemarbeit. Es sollten alle therapierbaren Ursachen einer erniedrigten Compliance, wie etwa Pleuraergüsse, Pneumothoraces o. Ä., vor beginnender Entwöhnung behandelt werden. In diesem Zusammenhang muss auch besonderes Augenmerk auf die Flüssigkeitstherapie und -bilanz gerichtet werden, da die mit der Beatmung einhergehende Wasser- und Natriumretention häufig zu einem interstitiellen Ödem mit Abnahme der Compliance führt, sodass in der Phase der Entwöhnung die Gabe von Diuretika oftmals hilfreich ist. Zur Überwindung einer erhöhten Resistance muss eine höhere Atemarbeit geleistet werden. Entsprechend gestaltet sich die Entwöhnung bei COPD-Patienten besonders schwierig und langwierig.
Metabolisches Gleichgewicht Die O2-Aufnahme und die CO2-Abgabe sind wesentliche Determinanten des respiratorischen Bedarfs und der Atemarbeit. Aus diesem Grund ist die Entwöhnung bei allen Zuständen mit relevanter Erhöhung der VO2 oder VCO2 (Fieber, septisches Syn-
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Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
drom) schwierig. In diesen Situationen sollte zunächst die Infektion beherrscht und die Temperatur soweit gesenkt werden, dass eine Erhöhung des metabolischen und respiratorischen Umsatzes vermieden wird.
Ernährungsregime Während der Entwöhnung soll eine normokalorische Ernährung angestrebt werden. Es liegen keine überzeugenden Befunde für ein spezifisches Ernährungsregime vor. Das Gleichgewicht der Elektrolyte und Mineralien spielt eine wesentliche Rolle für die Leistungsfähigkeit der Atemmuskulatur. Ein Mangel an Phosphat, Kalzium oder Magnesium kann ebenso wie die Ausbildung einer Azidose zu einer klinisch relevanten Abnahme der muskulären Kraft führen. i Die Korrektur etwaiger Elektrolytstörungen verbessert die muskuläre Kapazität, sodass bei der schwierigen Entwöhnung Elektrolytstörungen aktiv gesucht, diagnostiziert und korrigiert werden müssen.
Sonstige Faktoren
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Schmerzen oder physischer und psychischer Stress können den Verlauf der Entwöhnung erschweren, Neben einer suffizienten medikamentösen Analgosedierung ist dementsprechend die psychologische Betreuung des Patienten während der Entwöhnung besonders wichtig. Hierzu kann die Bildung eines Teams der betreuenden Personen unter Einschluss der Familienangehörigen hilfreich sein. Mit normalen Umweltreizen aus dem gewohnten Umfeld (Musik, Bücher, Erzählungen etc.) kann der Patient stimuliert werden. Das Einhalten eines Schlaf-wach-Rhythmus ist wichtig, da bei Schlafmangel neben der generellen Beeinträchtigung des Wohlbefindens auch eine Fehlregulation der Atemsteuerung resultiert. Bei länger dauernden, schwierigen Verläufen der Entwöhnung bietet der Nachtschlaf eine Gelegenheit zur Erholung der Atemmuskulatur, und die Bedeutung der Erholungsphasen wird dadurch unterstrichen, dass nach der Entwicklung einer inspiratorischen Muskelermüdung die Gewährung längerer Erholungsphasen die einzige Möglichkeit zur Wiederherstellung der ursprünglichen Muskelkraft ist.
Endotrachealer Tubus Der Endotrachealtubus (ETT) führt zu einer Querschnittsverengung der oberen Atemwege und zu einem Anstieg des Strömungswiderstands. Die Widerstandserhöhung ist vom Innendurchmesser des Tubus und der Gasströmung abhängig. Bei klinisch ver wendeten Tubendurchmessern wird sich in aller Regel eine turbulente Gasströmung einstellen, sodass die Tubusresistance nicht linear, sondern quasi exponentiell von Gasfluss und Durchmesser abhängt. Die Atemarbeit steigt mit Abnahme des Tubusdurchmessers und Zunahme der Gasströmung erheblich an. Für den Verlauf der Entwöhnung ist dies relevant, wenn ein Patient diese zusätzliche Atemarbeit nicht leisten kann und deswegen zu erschöpfen droht.
Auch wenn dieses Verfahren heute weite klinische Verbreitung besitzt, ist keine überzeugende Datenlage verfügbar, dass hierdurch wirklich die Dauer oder der Verlauf der Beatmungstherapie positiv beeinflusst werden können. Homogen wird aber in der Klinik ein einfacheres Handling des Patienten berichtet, da sowohl die Sekretmobilisation und das Absaugen als auch die intermittierende Beatmung mittels Kanüle einfacher erscheint als durch nicht-invasive Verfahren. Ein direkter Vergleich der frühen Tracheotomie zu nicht-invasiven Beatmungstechniken bei der Entwöhnung steht allerdings noch aus.
Technische Einflüsse Eine weitere Ursache zusätzlicher Atemarbeit ist das Beatmungssystem selbst. Zur Erkennung einer Inspirationsbemühung ist der Triggermechanismus notwendig. Die Sensitivität des Triggermechanismus ist entscheidend für das Ausmaß der zusätzlichen Atemarbeit. Je höher die Triggerschwelle eingestellt ist, desto mehr Atemarbeit muss der Patient leisten. i Die Triggerschwelle wird so sensibel wie möglich eingestellt, ohne dass es zum Phänomen der Selbsttriggerung (»auto-triggern«) kommt.
Das Auto-triggern darf allerdings nicht automatisch zur Erhöhung der Triggerschwelle führen, sondern es müssen zunächst mögliche Gründe hierfür überprüft werden, wie etwa Wasser im System o. Ä. Ebenso darf eine Tachypnoe nicht durch Verstellen des Triggers maskiert werden, sondern es muss die Ursache hierfür gesucht und ggf. behandelt werden. In modernen Beatmungsgeräten wird die inspiratorische Gasströmung bei der assistierten Spontanatmung durch einen Demand-flow-Regler kontrolliert. Mit Hilfe dieser Regulation wird soviel Gasfluss vom Beatmungsgerät appliziert, dass der vorgewählte Druck im Beatmungssystem aufrechterhalten wird. Wenn mit einer solchen Regulation keine Druckkonstanz während der Inspiration gewährleistet ist, steigt die Atemarbeit des Patienten an. Die Entwicklung mikroprozessorgesteuerter Beatmungsgeräte mit schnellen Ventilen hat dieses Problem minimiert. Dennoch führt auch ein gutes Regelsystem mit mechanischen Ventilen zu einer zusätzlichen Atemarbeit. Mit kontinuierlichen Flusssystemen (z. B. High-Flow-CPAP; . Abb. 40.8) kann annähernd vollständige Druckstabilität erreicht werden. Allerdings muss die Gasströmung unter Zuhilfenahme eines ausreichend großen Reservoirs höher sein als die vom Patienten benötigte Gasströmung (. Abb. 40.1).
i Bei der schwierigen Entwöhnung sollen möglichst großlumige Tuben oder Trachealkanülen gewählt werden, da hierdurch die zusätzliche Atemarbeit minimiert wird.
Häufig wird zur Erleichterung der Entwöhnung eine frühzeitige Tracheotomie in perkutaner Dilatationstechnik durchgeführt.
. Abb. 40.8. Schematische Darstellung eines High-flow-CPAP-Systems
525 40.9 · Schwierige Entwöhnung
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Synchronisation
Hämodynamische Konsequenzen der Entwöhnung
Bei der assistierten Spontanatmung wird der transpulmonale Druckgradient anteilig vom Patienten und vom Beatmungsgerät aufgebracht. Die maschinelle Assistenz sollte synchron zur Atembemühung des Patienten appliziert werden. Geht diese Synchronisation verloren, kommt es zu einer Verschiebung zwischen Inspirationsbemühung und maschineller Unterstützung, die zu einer ineffektiven Entlastung der Atemmuskulatur und zur Behinderung der Exspiration führen kann. Klinische Folgen sind ein Anstieg der Atemarbeit sowie das Gefühl der Dyspnoe.
Während in Ruhe der O2-Verbrauch der Atemmuskulatur 1–3% der gesamten VO2 beträgt, kann dieser Anteil während der Entwöhnung auf 5% ansteigen. Da der Sauerstoffbedarf des Zwerchfells lediglich durch eine Erhöhung des Herzzeitvolumens gewährleistet werden kann, muss die kardiale Leistungsfähigkeit während der Entwöhnung erhalten sein.
i Synchronisationsstörungen sind durch die genaue, klinische Beobachtung zu diagnostizieren, wobei die Aktivität der Atemhilfsmuskulatur, nasale und juguläre oder Einziehungen der unteren Thoraxapertur oder aber eine etwaige exspiratorische Aktivität der Bauchmuskeln führende Befunde sind.
Mögliche Atemarbeit Für die erfolgreiche Entwöhnung ist es Bedingung, die notwendige Atemarbeit ohne maschinelle Unterstützung aufbringen zu können. Hierfür sind ein adäquater Atemantrieb und die entsprechende Leistungsfähigkeit der Atemmuskulatur Grundvoraussetzung. Bei der akuten respiratorischen Insuffizienz ist der Atemantrieb in aller Regel stimuliert, was zu einer Ermüdung der Atemmuskulatur durch den permanent erhöhten »drive« führen kann. Deswegen darf der Atemantrieb während der Entwöhnung weder zu hoch noch zu niedrig sein. Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Modulation des Atemantriebs mittels Analgosedierung. Die Anwendung kurzwirksamer Medikamente hat sich bewährt, da sie eine zeitnahe Reaktion auf die gegebene Situation erlauben. Kraft und Ausdauer der Atemmuskulatur werden von vielen Faktoren bestimmt, wobei die dynamische Hyperinflation klinisch die wichtigste Rolle spielt (7 Kap. 40.7.2). Entwickelt sich während der Entwöhnung eine dynamische Hyperinflation, so wird durch die veränderte Geometrie des respiratorischen Systems die Atemmuskulatur in einem Bereich ungünstiger LängeKraft-Relation arbeiten müssen.
i Ein Patienten im Schock sollte nicht entwöhnt werden. i Eine eventuelle Hyper- oder Hypovolämie muss vor dem Weaning korrigiert werden.
Ein weiterer Grund für die engmaschige Kontrolle der kardialen Funktion ist die Reduktion des intrathorakalen Drucks während der Entwöhnung. Hiermit wird der venöse Rückstrom zum rechten Herzen verbessert, es steigt aber die Nachlast des linken Ventrikels, was v. a. bei vorbestehender Herzinsuffizienz zum Versagen des linken Ventrikels führen kann [11]. ! Cave Eine latente linksventrikuläre Herzinsuffizienz kann durch abrupte Änderung der intrathorakalen Drücke während der Entwöhnung demaskiert werden. Hierdurch kann es beim Risikopatienten zu transienten koronaren Ischämien und zum Linksherzversagen kommen.
Wegen der hämodynamischen Konsequenzen des intrathorakalen Drucks ist bei der Entwöhnung von kardialen Risikopatienten ein invasives Kreislaufmonitoring manchmal unumgänglich. 40.9
Schwierige Entwöhnung
Die Häufigkeit der schwierigen Entwöhnung beträgt ca. 20% aller beatmeten Patienten. Nach kurzzeitiger Beatmungstherapie, etwa zur postoperativen Nachbeatmung oder bei Traumata, verläuft die Entwöhnung in aller Regel unproblematisch. Nach lang dauernder Beatmung und bei COPD ist bei bis zu 50% der Patienten mit Entwöhnungsproblemen zu rechnen [32, 33]. Um objektive Daten für den Verlauf der Entwöhnung zu erhalten, wird heute ein sog. Spontanatmungsversuch mittels TStück oder geringer Druckunterstützung empfohlen. Die Kriterien, die zur Beurteilung eines solchen Versuchs herangezogen werden, sind in . Tabelle 40.2 gezeigt.
. Tabelle 40.2. Erfolgversprechende Kriterien zur Beurteilung eines T-Stück-Versuchs Parameter
Wert
Atemzugvolumen (TV)
>5 ml/kg KG
Atemfrequenz (f )
<35/min
Sauerstoffsättigung (SaO2)
>90% (bei FIO2 <0,4)
Maximaler Inspirationsdruck (Pimax)
<20 mbar
Herzfrequenz (HF)
<140/min und keine andauernde Abweichung >20% vom Kontrollwert
Systolischer Blutdruck
<180 mm Hg oder >90 mm Hg und keine andauernde Abweichung >20% vom Kontrollwert
Psychische Verfassung
Keine Unruhe, Agitation oder Angst
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Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
Nach erfolgreichem Spontanatmungsversuch ist eine direkte Entwöhnung in aller Regel möglich, während Patienten, die einen solchen Versuch nicht erfolgreich abschließen, als schwierig zu entwöhnen eingeschätzt werden. Dieses Vorgehen dient der Klassifizierung der Patienten während der Entwöhnung und ist wesentlicher Bestandteil von Entwöhnungsprotokollen. 40.9.1 Entwöhnungskonzepte
Zielgrößen Es gibt keine wissenschaftlich fundierten Präferenzen für ein spezifisches Verfahren zur Entwöhnung. Gerade bei schwierig zu entwöhnenden Patienten wird sich das Vorgehen eher am individuellen Verlauf als an einem festen Schema orientieren müssen. Zur Entwicklung einer erfolgreichen Entwöhnungsstrategie müssen v. a. folgende Fragen beantwortet werden: 4 Welche Kriterien werden für Verlauf und Erfolg der Entwöhnung angelegt? 4 Wann kann mit der Entwöhnung begonnen werden? 4 Welche Entwöhnungstechnik wird gewählt?
Auswahl objektiver Entwöhnungskriterien Anhand objektiver Kriterien zur Beurteilung der Entwöhnung sollte es möglich sein, die Patienten zu identifizieren, die noch nicht zu entwöhnen sind. Bei diesen Patienten sollte anhand der Entwöhnungskriterien auch die Ursache der Ventilatorabhängigkeit beurteilbar sein, um so eventuelle Änderungen des therapeutischen Managements objektivieren zu können. Auf der anderen Seite sollen Patienten identifiziert werden, die einfach und schnell zu entwöhnen sind, damit die Beatmungstherapie nicht unnötig prolongiert wird.
Atemmuster
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Da die häufigste Ursache der gescheiterten Entwöhnung in der Entwicklung einer respiratorischen Muskelermüdung besteht, die durch ein typisches Atemmuster gekennzeichnet ist, wurde das Atemmuster als valider und einfach zu bestimmender Parameter für die erfolgreiche Entwöhnung beschrieben.
wieder als solcher in der Literatur, aber auch in der klinischen Anwendung herangezogen wird [35].
Atemarbeit und Sauerstoffverbrauch Da die Atemarbeit klinisch nur schwierig zu messen ist, wurde als indirektes Maß hierfür der gesteigerte Sauerstoffverbrauch (VO2) bei einsetzender Spontanatmung benutzt. Die Differenz des VO2 zwischen kontrollierter Beatmung und Spontanatmung sollte demnach der Zunahme des O2-Verbrauchs der nun arbeitenden Atemmuskulatur entsprechen und mit der Höhe der inspiratorischen Atemarbeit korrelieren (»oxygen cost of breathing«). Die VO2-Differenz kann nicht-invasiv mit Hilfe der indirekten Kalorimetrie bestimmt werden. Auch wenn es bezüglich der Grenzwerte für die VO2-Differenz während der Entwöhnung unterschiedliche, z. T. widersprüchliche Ergebnisse gibt (5–50%), ist die Entwöhnung bei einem exzessiven VO2-Anstieg durch Spontanatmung (>10–15%) in aller Regel nicht erfolgreich.
Atemwegsokklusionsdruck (P0.1) Der P0.1 ist der negative Druck in den ersten 100 ms einer Inspiration gegen ein geschlossenes System. Da hierbei kein Gas im respiratorischen System fließt, ist dieser Wert von lungenmechanischen Größen weitgehend unabhängig. Bei gegebener Muskelkraft ist der P0.1 direkt proportional zum Atemantrieb. Während die P0.1Normalwerte beim Gesunden bei 1–2 cm H2O liegen, ist der P0.1 während der akuten respiratorischen Insuffizienz erhöht und sinkt wieder mit Besserung der respiratorischen Leistungsfähigkeit. Da der erhöhte zentrale Atemantrieb mit Besserung der respiratorischen Insuffizienz wieder abnimmt, wird ein niedriger P0.1 als prädiktiver Wert für die erfolgreiche Entwöhnung angegeben. Auch hier besteht hinsichtlich des Grenzwertes für eine erfolgreiche Entwöhnung Unklarheit, da je nach Studie Grenzwerte zwischen 3 und 6 cm H2O angegeben werden. Des Weiteren gilt zu berücksichtigen, dass ein hoher Atemantrieb sowohl auf eine noch unzureichende respiratorische Funktion hinweisen kann als auch durch das Ankämpfen eines Patienten gegen die Beatmung oder den Endotrachealtubus, durch Schmerzen oder psychische Agitation bedingt sein kann. Weniger der absolute Wert als mehr der Trend des P0.1 ist somit für den Erfolg der Entwöhnung von Bedeutung.
Gasaustausch Der Quotient aus Atemfrequenz (f :1/min) und Atemzugvolumen (V T : l) ist einer der besten Vorhersagewerte für den Verlauf der Entwöhnung: f/V T : »rapid shallow breathing index« (RSB) Bei einem f/V T >105/min u l–1 ist der Entwöhnungsversuch bei 95% der Patienten nicht er folgreich, während die meisten Patienten mit einem f/V T <100/min u l–1 erfolgreich zu entwöhnen sind [34].
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der RSB lediglich für die direkte Testung bei Diskonnektion vom Beatmungsgerät validiert ist, um einen absehbar unmöglichen Entwöhnungsversuch zu verhindern. Keine sichere Vorhersage besitzt der Parameter im Rahmen anderer Entwöhnungsstrategien; insbesondere ist der RSB nicht als Verlaufsparameter evaluiert, obwohl er immer
Zur Entwöhnung sollte bei einer FIO2 von 0,4 ein paO2 >60 mm Hg bei einem PEEP <5 mbar erreicht werden. Während eines Spontanatmungsversuchs sollte es nicht zu einem exzessiven CO2-Anstieg (>10 mm Hg) kommen. i Es ist nicht möglich, den gesamten Prozess der Entwöhnung anhand eines objektiv erfassbaren Kriteriums zu beurteilen, sodass in der klinischen Routine die Kombination der zur Verfügung stehenden klinischen und physiologischen Parameter gewertet werden muss.
40.9.2 Weaningprotokolle Auch bei Erfüllen der oben genannten Kriterien zeigen ca. 20% der Patienten Zeichen der Erschöpfung bzw. der erneuten Gasaustauschstörung während eines Spontanatmungsversuchs. Auf der anderen Seite benötigen bis zu 50% der Patienten mit akzi-
527 40.9 · Schwierige Entwöhnung
denteller Extubation keine Reintubation, sodass offensichtlich ein relevanter Anteil der Patienten maschinell beatmet wird, ohne dass dies wirklich nötig wäre [36]. Offensichtlich wird in der klinischen Praxis eine konservative Einstellung bevorzugt, wodurch ein relevanter Anteil von Patienten beatmet bleibt, obwohl sie eigentlich entwöhnt werden könnten. Die Standardisierung der Entwöhnung ist sinnvoll, um beim individuellen Patienten zu überprüfen, ob er schon entwöhnt werden kann. Durch die Anwendung von Entwöhnungsprotokollen verläuft die Entwöhnung in aller Regel kürzer und erfolgreicher als bei einem Vorgehen, das von der subjektiven Einschätzung der Behandelnden geprägt ist [37]. Ein mögliches Entwöhnungsprotokoll ist in . Abb. 40.9 gezeigt.
T-Stück-Versuch Das traditionellste Verfahren zur Entwöhnung von der Beatmung besteht darin, den Patienten intermittierend von der maschinellen Beatmung zu diskonnektieren und über ein T-Stück spontan atmen zu lassen. n der Praxis finden hierfür sog. feuchte Nasen häufige Verwendung, die lediglich eine gewisse Anreiche-
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rung der Atemluft mit O2 ermöglichenAlternativ hierzu werden auch Schlauchsysteme verwendet, die neben der O2-Anreicherung eine Befeuchtung und Erwärmung des Inspirationsgases oder die Anwendung eines geringen kontinuierlichen Atemwegsdrucks (CPAP) ermöglichen. i T-Stück-Versuche über 30 min bis maximal 120 n reichen zur Beurteilung der Spontanatmung aus.
Zwischen den Phasen der reinen Spontanatmung wird bei diesem Vorgehen der Patient in aller Regel kontrolliert oder assistiert-kontrolliert beatmet.
Kompensation der zusätzlichen Atemarbeit Der Endotrachealtubus und das Beatmungssystem erhöhen die Atemarbeit. Intubierte Patienten müssen während eines TStück-Versuchs diese zusätzliche Atemarbeit leisten, die nach der Extubation wegfällt. Patienten, die zwar ihre eigentliche Atemarbeit leisten könnten, jedoch wegen der zusätzlichen Atemarbeit durch den Tubus erschöpfen, würden einen T-Stück-Versuch nicht erfolgreich bestehen.
. Abb. 40.9. Beispiel für ein Weaningprotokoll. (Nach [43])
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Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
Druckunterstützte Beatmung zur Kompensation zusätzlicher Atemarbeit Eine geringe Druckunterstützung von 7–12 mbar wurde verwendet, um lediglich die zusätzliche geräte- und tubusbedingte Atemarbeit zu kompensieren. Ist bei einem solchen Spontanatmungsversuch mit PS ein befriedigendes Atemmuster zu beobachten, kann der Patient extubiert werden. Gemessen am Erfolg und am zeitlichen Verlauf der Entwöhnung bestehen keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem T-Stück-Versuch und der Druckunterstützung während der Spontanatmungsversuche [38–41].
Automatische Tubuskompensation Die Kompensation der tubusbedingten Atemarbeit mittels einer fixen Druckunterstützung ist beim individuellen Patienten schwierig, da der Tubuswiderstand und damit die tubusbedingte Mehrarbeit nicht linear vom Gasfluss abhängen. Somit ist auch die tubusbedingte zusätzliche Atemarbeit eine variable, flussabhängige Größe, die mit einer fixen Druckunterstützung nur unzureichend kompensiert werden kann [9]. Deswegen wurde die konventionelle Druckunterstützung dahingehend modifiziert, dass sie nicht mehr fix, sondern entsprechend dem nicht linearen Zusammenhang zwischen Tubuswiderstand und Gasfluss appliziert wird. Da mit dem Verfahren der Tubuswiderstand exakt für jeden Gasfluss kompensiert wird, wurde das Verfahren automatische Tubuskompensation (ATC) genannt. Mit ATC wird die exakteste Kompensation der zusätzlichen Atemarbeit bei verschiedensten Atemmustern erreicht (. Abb. 40.10). Da keine wissenschaftlichen Daten über die klinische Anwendung zur Entwöhnung an größeren Patientenkollektiven vorliegen, kann dieser Ansatz derzeit nicht abschließend beurteilt werden.
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Intermittierende maschinelle Ventilation (IMV) SIMV zur Entwöhnung erschien v. a. deshalb sinnvoll, da die Reduktion der maschinellen Atemfrequenz eine einfache, schrittweise Entwöhnung von der Beatmung ermöglicht. In modernen Respiratoren wird der Gasfluss für die Spontanatmung durch ein Demand-flow-System zur Verfügung gestellt. Hierdurch wird die zusätzliche Atemarbeit für die Spontanatemzüge bei SIMV höher als mit kontinuierlichen Flowsystemen. Außerdem bleibt die Atemmuskulatur auch während der maschinell applizierten Atemhübe aktiv, sodass die Atemarbeit während SIMV bei ungünstiger Einstellung der Frequenz, des Atemzugvolumens oder der Flowcharakteristik sogar deutlich erhöht sein kann [42]. In den großen klinischen Studien zur Entwöhnung wurde zwar keine positive Präferenz für ein Verfahren gefunden, in allen Untersuchungen war aber SIMV mit den schlechtesten Entwöhnungsergebnissen verbunden, sodass es nicht für die Entwöhnung empfohlen werden kann [37].
BIPAP zur Entwöhnung Für die Entwöhnung von der Beatmung liegen keine spezifischen Daten für BIPAP vor. In der klinischen Anwendung wird empfohlen, die BIPAP-Drucklevel einander anzunähern, um dann ein weiteres Weaning über CPAP zu erreichen. Die Entwöhnung mit BIPAP muss zunächst an größeren Patientenkollektiven untersucht werden, bevor hierzu eine Empfehlung gegeben werden kann. 40.9.3 Wahl des Beatmungsver fahrens für die
Entwöhnung Nachdem die Verfahren der assistierten Spontanatmung, und hier v. a. SIMV und PS, weite klinische Verbreitung gefunden haben, wurde in den letzten Jahren in großen, multizentrischen Studien versucht, die verschiedenen Verfahren miteinander zu vergleichen, um ihren Stellenwert für die schwierige Entwöhnung einzuordnen. Auch wenn das Ergebnis dieser Untersuchungen nicht eindeutig ist, kann man doch feststellen [38, 40, 41]: 5 SIMV bietet keine spezifischen Vorteile als Entwöhnungsmodus und wird nicht empfohlen. 5 Sowohl T-Stück-Versuche als auch assistierte Beatmung mit einer geringen Druckunterstützung können für die Entwöhnung empfohlen werden. 5 Im direkten Vergleich beider Verfahren führt Druckunterstützung zu einer etwas höheren Anzahl erfolgreich entwöhnter Patienten.
. Abb. 40.10. Schematische Darstellung des Druckverlustes über den Endotrachealtubus (pett) in Abhängigkeit vom Gasfluss (Flow). Da der exponentielle Anstieg von pett bei steigendem Flow die wesentliche Determinante der zusätzlichen Atemarbeit darstellt, wird verständlich, dass mit einer fixen Druckunterstützung von z. B. 10 mbar (PSV 10) die zusätzliche Atemarbeit eigentlich nur bei einem fixen Fluss exakt kompensiert werden kann. Da bei Spontanatmung der Gasfluss aber variabel ist, wird sich mit PSV entweder eine Unterkompensation bei hohem Flow (am Beginn der Inspiration) oder Überkompensation bei niedrigem Flow ergeben. Im Gegensatz zur fixen Druckunterstützung wird bei der automatischen Tubuskompensation der Atemwegsdruck so gesteuert, dass zu jedem Flow der entsprechende pett vom Beatmungsgerät übernommen wird, sodass der Patient auch bei variablem Gasfluss vollständig von der tubusbedingten Atemarbeit entlastet werden kann
Viel wichtiger als die Auswahl der eigentlichen Technik der Entwöhnung scheint also die Organisation dieser Phase zu sein. Entwöhnungsprotokolle sollten hierbei eine Hilfe darstellen, den Prozess zu organisieren und dem Team zu helfen, den richtigen Zeitpunkt der Entwöhnung zu identifizieren. Auf keinen Fall sollen diese Protokolle aber zu einer Checklistenmentalität führen, die der Individualität des Geschehens keinen Platz mehr lässt. Dies ist insbesondere während der Entwöhnung von größter Bedeutung, da in dieser Phase der Patient aus seiner Sedierung erwacht und mit all den Schwierigkeiten der Situation umgehen lernen muss. Hierzu ist eine enge, verständnisvolle und unterstützende
529 Literatur
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18. Ranieri VM, Giunta F, Suter PM, Slutsky AS (2000) Mechanical ventilation as a mediator of multisystem organ failure in acute respiratory distress syndrome. JAMA 284 (1): 43–44 19. Ranieri VM, Suter PM, Tortorella C, De TR, Dayer JM, Brienza A et al. (1999) Effect of mechanical ventilation on inflammatory mediators in patients with acute respiratory distress syndrome: a randomized controlled trial. JAMA 282 (1): 54–61 20. Wrigge H, Zinserling J, Stuber F, von ST, Hering R, Wetegrove S et al. (2000) Effects of mechanical ventilation on release of cytokines into systemic circulation in patients with normal pulmonary function. Anesthesiology 93 (6): 1413–1417 21. Slutsky AS (2005) Ventilator-induced lung injury: from barotrauma to biotrauma. Respir Care 50 (5): 646–659 22. Gattinoni L, Pesenti A, Bombino M, Baglioni S, Rivolta M, Rossi F et al. (1988) Relationships between lung computed tomographic density, gas exchange, and PEEP in acute respiratory failure. Anesthesiology 69 (6): 824–832 23. Ventilation with lower tidal volumes as compared with traditional tidal volumes for acute lung injury and the acute respiratory distress syndrome. The Acute Respiratory Distress Syndrome Network. N Engl J Med 342 (18): 1301–1308 24. Falke KJ, Pontoppidan H, Kumar A, Leith DE, Geffin B, Laver MB (2000) Ventilation with end-expiratory pressure in acute lung disease. J Clin Invest 1972 51 (9): 2315–2323 25. Gattinoni L, Caironi P, Cressoni M, Chiumello D, Ranieri VM, Quintel M et al. (2006) Lung recruitment in patients with the acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 354 (17): 1775–1786 26. Brower RG, Lanken PN, MacIntyre N, Matthay MA, Morris A, Ancukiewicz M et al. (2004) Higher versus lower positive end-expiratory pressures in patients with the acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 351 (4): 327–336 27. Slutsky AS, Hudson LD (2006) PEEP or no PEEP–lung recruitment may be the solution. N Engl J Med 354 (17): 1839–1841 28. Putensen C, Wrigge H (2004) Clinical review: biphasic positive airway pressure and airway pressure release ventilation. Crit Care 8 (6): 492– 497 29. Henzler D, Pelosi P, Bensberg R, Dembinski R, Quintel M, Pielen V et al. (2006) Effects of partial ventilatory support modalities on respiratory function in severe hypoxemic lung injury. Crit Care Med 34 (6): 1738–1745 30. Henzler D, Dembinski R, Bensberg R, Hochhausen N, Rossaint R, Kuhlen R (2004) Ventilation with biphasic positive air way pressure in experimental lung injury. Influence of transpulmonary pressure on gas exchange and haemodynamics. Intensive Care Med 30 (5): 935–943 31. Putensen C, Zech S, Wrigge H et al. (2001) Long-term effects of spontaneous breathing during ventilatory support in patients with acute lung injury. Am J Respir Crit Care Med 164 (1): 43–49 32. Kuhlen R, Max M (1998) [Weaning from artificial respiration. 2.] Anaesthesist 47 (8): 693–703 33. Kuhlen R, Reyle-Hahn M (1998) [Weaning from artificial respiration. 1.]. Anaesthesist 47 (7): 614–626 34. Yang KL, Tobin MJ (1991) A prospective study of indexes predicting the outcome of trials of weaning from mechanical ventilation. N Engl J Med 324 (21): 1445–50 35. Tobin MJ, Jubran A (2006) Variable per formance of weaning-predictor tests: role of Bayes‘ theorem and spectrum and test-referral bias. Intensive Care Med 32 (12): 2002–2012 36. Boulain T (1998) Unplanned extubations in the adult intensive care unit: a prospective multicenter study. Association des Reanimateurs du Centre-Ouest. Am J Respir Crit Care Med 157 (4 Pt 1): 1131–1137 37. Alia I, Esteban A (2000) Weaning from mechanical ventilation. Crit Care 4 (2): 72–80 38. Esteban A, Alia I, Tobin MJ, Gil A, Gordo F, Vallverdu I et al. (1999) Effect of spontaneous breathing trial duration on outcome of attempts to discontinue mechanical ventilation. Spanish Lung Failure Collaborative Group. Am J Respir Crit Care Med 159 (2): 512–528
530
Kapitel 40 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
39. Esteban A, Alia I, Gordo F, Fernandez R, Solsona JF, Vallverdu I et al. (1997) Extubation outcome after spontaneous breathing trials with T-tube or pressure support ventilation. The Spanish Lung Failure Collaborative Group. Am J Respir Crit Care Med 156 (2 Pt 1): 459–465 40. Esteban A, Frutos F, Tobin MJ, Alia I, Solsona JF, Valverdu I et al. (1995) A comparison of four methods of weaning patients from mechanical ventilation. Spanish Lung Failure Collaborative Group. N Engl J Med 332 (6): 345–350 41. Brochard L, Rauss A, Benito S, Conti G, Mancebo J, Rekik N et al. (1994) Comparison of three methods of gradual withdrawal from ventilatory support during weaning from mechanical ventilation. Am J Respir Crit Care Med 150 (4): 896–903 42. Marini JJ, Smith TC, Lamb VJ (1988) External work output and force generation during synchronized intermittent mechanical ventilation. Effect of machine assistance on breathing effort. Am Rev Respir Dis 138 (5): 1169–1179 43. Esteban A, Alia I (1998) Clinical management of weaning from mechanical ventilation. Intensive Care Med 24: 999–1008
40
41 Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz B. Schönhofer Der Autor ist Sprecher des S3-Leitlinienprojekts »Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz«.
41.1
Pathophysiologischer Hintergrund
41.2
Invasiver und nicht-invasiver Beatmungszugang
41.3
Durchführung der nicht-invasiven Beatmung
41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4
Beatmungsgeräte und Beatmungsverfahren –532 Beatmungszugang (»Interfaces«) –534 Personeller Aufwand und Ort des Geschehens –535 Praktische Applikation von NIV –535
41.4
Spektrum der Indikationen
41.4.1 41.4.2 41.4.3 41.4.4 41.4.5 41.4.6 41.4.7
NIV bei hyperkapnischer Verlaufsform der ARI –536 NIV bei hypoxämischer Verlaufsform der ARI –537 Kardiales Lungenödem –538 NIV in der perioperativen Phase –538 NIV bei schwieriger Entwöhnung –539 Postextubationsphase –539 Neue Anwendungsbereiche –540
Literatur
–541
–532
–536
–532
–532
532
Kapitel 41 · Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
41.1
Pathophysiologischer Hintergrund
Das Atmungsorgan besteht aus 2 Kompartimenten: 4 der muskulären Atempumpe mit dem Zwerchfell als wichtigstem Muskel und 4 dem Lungenparenchym, in dem der Gasaustausch stattfindet (. Abb. 41.1) [1]. Die maschinelle Beatmung dient im Wesentlichen 2 Zielen: 4 der Übernahme einer erhöhten Atemarbeit sowie 4 der Korrektur einer schweren Gasaustauschstörung. Bei der hyperkapnischen respiratorischen Insuffizienz aufgrund einer versagenden Atempumpe ist die Übernahme der Atemarbeit durch maschinelle Beatmung von entscheidender Bedeutung [2]. Bei der hypoxämischen Insuffizienz aufgrund eines akuten Lungenschadens (»acute lung injury«, ALI; »acute respiratory distress Syndrome«, ARDS) stellt die Verbesserung des alveolären Gasaustausches die Indikation zur Beatmung [3] dar, wenn trotz medikamentöser Therapie und O2-Applikation keine ausreichende Oxygenierung aufrechterhalten werden kann. 41.2
Invasiver und nicht-invasiver Beatmungszugang
Bei vitaler Indikation ist die invasive Beatmung zweifelsfrei die Therapie der Wahl. Dennoch geht die »klassische« künstliche Beatmung über einen Endotrachealtubus mit zahlreichen, z. T. auch lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einher. Diese reichen von unmittelbaren Schädigungen des Kehlkopfes und der Trachealschleimhaut über hämodynamische Interaktionen bis hin zu schweren Schädigungen auf alveolärer Ebene im Sinne des Baro-, Volu- bzw. Atelektraumas mit ggf. systemischen Auswirkungen auf den gesamten Organismus [4]. Auch unter atemmechanischer Betrachtung ergeben sich Nachteile für die invasive Beatmung. So führt der Trachealtubus proportional zu seiner Länge, v. a. aber in der 4. Potenz und umgekehrt proportional zu seinem Innendurchmesser zu
erhöhter resistiver Atemarbeit [5]. Bei Sekretablagerung im Tubus kommt es zu einer weiteren Steigerung des Strömungswiderstandes [6]. Die Komplikation der invasiven Beatmung mit der höchsten Relevanz ist jedoch die tubusassoziierte Pneumonie (auch »ventilatorassoziierte Pneumonie«, VAP, genannt). Die Intubation geht mit einer 6- bis 20-fachen Zunahme der VAP, hohen Sterblichkeitsraten sowie deutlichen Mehrkosten einher [7]. Die Inzidenz der tubusassoziierten Pneumonie nimmt proportional zur Intubationsdauer zu [8]. Zur Vermeidung dieser schwerwiegenden Komplikation sollte möglichst auf die Intubation verzichtet bzw. frühzeitig extubiert werden [9]. In diesem Zusammenhang ergeben sich die wesentlichen Vorteile der nicht-invasive Beatmung (. Tab. 41.1) insbesondere unter atemmechanischen und infektiologischen Aspekten. 41.3
Durchführung der nicht-invasiven Beatmung
Die NIV steht in 2 unterschiedlichen Techniken zur Verfügung: Der Negativ- und Positivdruckbeatmung. Bei der Negativdruckbeatmung (mit den Prototypen des »Tankventilators« oder der »eisernen Lunge«) führt der extrathorakal applizierte Unterdruck zur thorakalen Expansion und damit zur Inspiration. Während der Polioepidemien war die Negativdruckbeatmung als Therapieform der ventilatorischen Insuffizienz weit verbreitet [10]. Vor allem bedingt durch den hohen technischen Aufwand wird Negativdruckbeatmung inzwischen nur noch in wenigen Zentren zur Behandlung der akut respiratorischen Insuffizienz (ARI) eingesetzt [11]. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich NIV als Positivdruckbeatmung zur Behandlung der ARI zunehmend durchgesetzt. Hierbei führt die Applikation von positivem Druck über einen nicht-invasiven Beatmungszugang, entweder in Form von Masken oder Helmen, zur Erhöhung des intrabronchialen bzw. -alveolären Druckes und damit zur Unterstützung der Inspiration. 41.3.1 Beatmungsgeräte und
Beatmungsver fahren
41
. Abb. 41.1. Physiologie und Pathophysiologie der akut respiratorischen Insuffizienz
Abhängig vom Schweregrad der Erkrankung, den örtlichen Gegebenheiten und insbesondere der Erfahrung des behandelnden Teams wird zur Durchführung der NIV bei ARI ein breites Spektrum von Beatmungsgeräten verwendet. Es reicht von portablen Geräten mit geringerem technischem Aufwand [12] bis zu Hightech-Intensivrespiratoren. Auch wenn inzwischen ein Minimum an technischer Ausstattung in allen Respiratoren zur Anwendung der NIV gewährleistet ist, existieren bisher keine allgemeingültigen Richtlinien oder Empfehlungen, welcher Gerätetyp bei welcher Indikation an welchem Ort zu verwenden ist. Die wesentlichen Charakteristika der portablen Ventilatoren und Intensivrespiratoren sind in . Tabelle 41.2 aufgeführt. Trotz spezieller Softwareaufrüstungen für Intensivrespiratoren zur NIV-Applikation sind portable Geräte bei vergleichbarer Beatmungsqualität häufig einfacher zu handhaben [13]. Bei der Anwendung der NIV existiert eine teilweise verwirrende Vielzahl von Beatmungsoptionen. Allgemein gesagt wird NIV im assistierten, assistiert-kontrollierten oder kontrollierten Modus mit Druck- oder Volumenvorgabe angewandt.
533 41.3 · Durchführung der nicht-invasiven Beatmung
41
. Tabelle 41.1. Vor- und Nachteile von nicht-invasiver Beatmung bzw. invasiver Beatmung Komplikationen und klinische Aspekte
Invasive Beatmung
Nicht-invasive Beatmung
Ventilator- (tubus-)assoziierte Pneumonie
Relevant ab 3.–4. Tag der Beatmung
Nein
Tubusbedingte zusätzliche Atemarbeit
Ja
Nein
Tracheale Früh- und Spätschäden
Ja
Nein
Tiefe Sedation
Häufig notwendig
Nein
Intermittierende Applikation
Nein
Ja
Effektives Husten möglich
Nein
Ja
Essen und Trinken möglich
Kaum
Ja
Kommunikation möglich
Erschwert
Ja
Aufrechte Körperposition
Selten
Häufig möglich
Schwierige Entwöhnung vom Respirator
10–20%
Relativ selten
Zugang zu den Atemwegen
Direkt
Erschwert
Druckstellen im Gesichtsbereich
Nein
Ja
CO2-Rückatmung
Nein
Gelegentlich
Leckage
Kaum
Mehr oder weniger ausgeprägt
Aerophagie
Kaum
Häufiger
. Tabelle 41.2. Vergleich der portablen Ventilatoren mit den Intensivrespiratoren Kriterium
Portable Ventilatoren
Intensivventilatoren
Leckagekompensation
Gut bis sehr gut
Häufig unzureichend
Alarme
Selten
Häufig (Fehlalarme)
Monitoring (z. B. Flow und Druck)
Oft nicht vorhanden
Immer vorhanden
Möglichkeit der Sauerstoffzumischung
Oft nicht vorhanden
Immer vorhanden
Handhabung
Einfach
Häufig kompliziert
Gewicht des Schlauchsystems
Leicht
Relativ schwer
CO2-Rückatmung
Möglich bei Einschlauchsystem
Nicht möglich bei Zweischlauchsystem d. h. separater Exspirationsschenkel)
Leckagekompensation
Gut bis sehr gut
Häufig unzureichend
i Die inspiratorische Druckunterstützung ist der bevorzugte Modus bei NIV zur Behandlung der ARI. Hierbei bleibt die Spontanatmung erhalten (d. h. der Patient triggert die Inspiration), die inspiratorische Atemmuskulatur wird maschinell entlastet und die Ventilation augmentiert.
Die inspiratorische Druckunterstützung kommt nicht nur in Form von »pressure support ventilation« (PSV) [14], sondern auch in Form der »proportionate assist ventilation« (PAV) zur Anwendung. PAV führt zur Entlastung der Atemmuskulatur
und Besserung der Blutgase [15]. Außer einem besseren Komfort bleibt zu klären, welchen Stellenwert PAV als Beatmungsform bei dieser Indikation hat. Inzwischen wird assistierte Beatmung fast nur noch im sog. ST-Modus mit einer Backup-Frequenz eingesetzt, d. h. dass der Patient in der Regel die Maschine triggert und nur bei Bradypnoe oder Apnoe mit einer Sicherheitsgrundfrequenz kontrolliert beatmet wird. Da Patienten mit ARI häufig stark agitiert sind und einen hohen Atemantrieb aufweisen, werden bei diesen Patienten kontrollierte Beatmungsverfahren im Gegensatz zur elektiven häus-
534
Kapitel 41 · Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
lichen Beatmung bei chronisch ventilatorischer Insuffizienz selten angewendet [12]. In ihrer Anfangsphase wurde NIV bevorzugt mit Volumenvorgabe zur Therapie der ARI eingesetzt [16]. Im weiteren Verlauf setzte sich PSV durch, v. a. weil die Kompensation von Leckagen
infolge Maskenundichtigkeit und/oder offenem Mund bei Beatmung mit Druckvorgabe im Vergleich zur Volumenvorgabe größer ist [17]. Reines CPAP (»continuous positive airway pressure«), d. h. Applikation eines konstanten Drucks während In- und Exspiration, wird in der Therapie des kardialen Lungenödems und während der postoperativen Phase (7 s. dort) erfolgreich eingesetzt. Ansonsten hat CPAP als Therapieoption der ARI nur eine untergeordnete Bedeutung [18]. 41.3.2 Beatmungszugang (»Inter faces«) Ein breites Spektrum von Beatmungszugängen im Gesichtsbereich, wie z. B. Nasenmasken, Mund-Nasen-Masken sowie Ganzgesichtsmasken steht zur Verfügung (. Abb. 41.2). Mund-NasenMasken werden v. a. in der Initialphase der Therapie bevorzugt [19]. Maskenbedingte Druckstellen im Bereich von Nasenrücken und/oder übrigen Gesichtsbereich müssen früh erkannt und umgehend korrigiert werden [20, 21]. Der Beatmungshelm, der den gesamten Kopf umschließt (. Abb. 41.3), wird vorwiegend bei Patienten mit hypoxämischer ARI eingesetzt [22]. Im Vergleich zur Ganzgesichtsmaske wurde der Helm auch von COPD-Patienten gut toleriert; das Ausmaß der paCO2-Absenkung war jedoch geringer [23, 24]. Die klinische Bedeutung der Unterschiede zwischen Masken und Helm bzgl. Triggerungszeiten und Druckkurven im Modellversuch muss weiter abgeklärt werden [25]. Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Beatmungszugänge werden in . Tabelle 41.3 aufgeführt.
a
. Abb. 41.2a–c. Maskentypen: a Nasenmaske, b Mund-Nasen-Maske, c Ganzgesichtsmaske
41
b
c
535 41.3 · Durchführung der nicht-invasiven Beatmung
41
41.3.3 Personeller Aufwand und Ort
des Geschehens Der Personalbedarf bei NIV ist in der Initialphase der Therapie der ARI mit einem Patient-Therapeut-Verhältnis von 1 : 1 relativ hoch. Es ließ sich jedoch zeigen, dass NIV im Vergleich zur konventionellen Therapie (inklusive invasive Beatmung) für ein trainiertes Team auch während der ersten 4 Therapiestunden keinen vermehrten Zeitaufwand bedeutet [26–28]. Im weiteren Verlauf lässt sich dann durch NIV aber Arbeitszeit und -aufwand einsparen [29]. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten und Ressourcen wird NIV zur Behandlung der ARI bevorzugt auf der Intensivstation oder der Intermediate Care Unit durchgeführt [30]. Argumente für diese beiden Einheiten sind die sichere und kontinuierliche Überwachung des Patienten (in Form von Monitoring und unverzögertem Beginn vital indizierter therapeutischer Maßnahmen wie z. B. Intubation), der hohe pflegerische Aufwand in der Initialphase der Therapie [29] und die Notwendigkeit einer exakten Dokumentation von Prozeduren, therapeutischem Aufwand und Beatmungsstunden. Die Ergebnisse der in England auf Normalstationen durchgeführten Therapiestudie zu NIV als Behandlungsform der ARI [31] sind nicht ohne Weiteres auf unsere Verhältnisse zu übertragen. 41.3.4 Praktische Applikation von NIV Die NIV wird bevorzugt in halbsitzender Position durchgeführt. Im Notfall wird vorwiegend mit einer Nasen-Mund-Maske be-
. Abb. 41.3. Beatmungshelm für die NIV
. Tabelle 41.3. Vergleich verschiedener Inter faces für die NIV Klinischer Aspekt
Nasenmaske
Nasen-Mund- bzw. Ganzgesichtsmaske
Beatmungshelm
Mundleckage
Häufig
Nicht relevant
Nicht relevant
Mundatmung
Vermeiden
Möglich
Möglich
Monitoring des Atemzugvolumens
Oft fehlerhaft
Möglich
Möglich
Beeinträchtigte Nasenatmung
Problematisch
Unproblematisch
Unproblematisch
Initiale Besserung der Blutgase (insbesondere CO2-Abnahme)
Verzögert
Relativ schnell
Bei COPD im Vergleich zu NasenMund-Maske geringer
Komfort und Toleranz
Gut
Mäßig
Sehr gut
Kommunikationsfähigkeit
Gut
Mäßig
Mäßig
Expektoration
Gut
Eingeschränkt
Eingeschränkt
Aspirationsgefahr
Gering
Mäßig
Nein
Aerophagie
Selten
Mäßig
Mäßig
Klaustrophobie
Selten
Mäßig
Nein
Totraum (kompressibles Volumen)
Gering
Relativ groß
Groß
Geräuschbelästigung
Nein
Nein
Häufiger
Ohrendruck und Hörstörungen
Nein
Nein
Häufiger
Bronchoskopische Absaugung
Möglich
Möglich
Möglich
536
Kapitel 41 · Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
gonnen. Diese sollte initial von Hand aufgesetzt werden, um den Patienten allmählich an diesen Fremdkörper zu gewöhnen. Darüber wird Sauerstoff zugeführt. Vor allem bei Patienten mit hyperkapnischer ARI kann die Adaptation an die Maskenbeatmung durch manuelle Luftinsufflation erleichtert werden. Diese Vorgehensweise hat auch den Vorteil, abschätzen zu können, wie gut sich der Patient beatmen lässt. Erfahrungsgemäß beruhigt sich der Patient schneller, wenn einige Minuten sein spontanes Atmungsmuster mit dem Beutel unterstützt wird. Zeichnet sich hier eine Stabilisierung ab, kann die Beatmungsmaschine angeschlossen werden. Ist der Patient sehr agitiert, hat sich eine leichte Sedierung bewährt, wobei der Autor wegen der guten Steuerbarkeit hier Morphium i.v. (5–10 mg) empfiehlt. Alternativ werden kurzwirksame Sedativa eingesetzt. 41.4
Spektrum der Indikationen
Auch wenn nationale und internationale Empfehlungen bezüglich NIV als Therapieform der ARI publiziert sind [32, 33], stößt der breite Einsatz der NIV aus unterschiedlichen Gründen an Grenzen. Trotz der genannten praktischen Vorteile und der positiven Studienlage zum Stellenwert der NIV bei ARI sind die epidemiologischen Daten zur Anwendungsrate ernüchternd. Bei einer weltweit durchgeführten Erhebung zu Beatmungsverfahren ergab sich, dass NIV lediglich bei etwa 1–3% der beatmeten Patienten eingesetzt wird [34]. Da mit wachsender Erfahrung in der Anwendung von NIV der Schweregrad der Grunderkrankung und das Ausmaß der Komorbidität der behandelten Patienten zunehmen, relativiert sich der Begriff »absolute Kontraindikationen« für NIV als Therapieverfahren der hyperkapnischen ARI [35] immer mehr. In der Übersicht sind die möglichen Kontraindikationen aufgeführt. Mögliche Kontraindikationen für NIV
41
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Länger dauerndes Koma oder massive Agitation Fehlende Spontanatmung, Schnappatmung Fixierte oder funktionelle Verlegung der Atemwege Massive Hypersekretion trotz bronchoskopischer Absaugung Multiorganversagen Vital bedrohliche Hypoxämie oder Azidose (pH <7,1) Hämodynamische Instabilität (kardiogener Schock, Myokardinfarkt) Vollständige Intoleranz gegenüber Masken oder Helm Gesichtstrauma und faziale Dysmorphie Ileus Gastrointestinale Blutung
Generell lässt sich bezüglich des Stellenwertes von NIV und invasiver Beatmung in der Therapie der ARI sagen, dass sich beide Verfahren ergänzen und nicht in Konkurrenz zueinander stehen [36]. Darüber hinaus sind hohe NIV-Abbruchraten häufig auf infrastrukturelle Mängel, unzureichendes technisches Equipment sowie geringe Erfahrung von Pflegekräften und Ärzten zurückzuführen [37].
i Allgemein ist festzustellen, dass der Erfolg von NIV in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß von der Erfahrung und Motivation des Behandlungsteams sowie der technischen Ausrüstung abhängt.
41.4.1 NIV bei hyperkapnischer Verlaufsform
der ARI Die häufigste Ursache für die hyperkapnische ARI (mit der Definition: pH <7,35 und paCO2 >45 mm Hg) ist die exazerbierte COPD (7 Kap. 39). Es kommt hierbei infolge des erhöhten Atemwegswiderstandes, der dynamischen Lungenüberblähung und der konsekutiven Abflachung des Zwerchfells zur Überlastung mit drohender Erschöpfung der Atemmuskulatur (7 Kap. 39.2). Komplexe Pathophysiologie der COPD 5 Hohe Belastung der Atempumpe – Massive Atemwegsobstruktion (d. h. erhöhter Atemwegswiderstand) – Erhöhter Atemantrieb – Verkürzte Inspiration – Hypersekretion – »Intrinsic positive endexpiratory pressure« (PEEPi) 5 Reduzierte Kapazität der Atempumpe – Dynamische Lungenüberblähung – Abflachung des Zwerchfells
Bezüglich der Einstellung der Beatmungsparameter bei COPD ist v. a. auf ausreichend hohe inspiratorische Spitzendrücke (d. h. zwischen 15 und 35 cm H2O) zu achten. Häufig wird die inspiratorische Druckunterstützung mit externem PEEP (»positive endexpiratory pressure«) von etwa 3–6 cm H2O kombiniert, um den PEEPi zu kompensieren. NIV führt zur Entlastung der Muskulatur, Verbesserung der Ventilation (erkennbar an der Reduktion des paCO2) und Abnahme der Dyspnoe. Im Vergleich zur konventionellen Therapie senkt NIV die Letalität (vermindertes relatives Risiko von 0,41) und die Intubationsfrequenz (vermindertes relatives Risiko von 0,42) [38]. Dies lässt sich an der »number needed to treat« verdeutlichen: nur 5 Patienten müssen mit NIV behandelt werden, damit eine Intubation verhindert wird, und nur 8 Patienten müssen mit NIV behandelt werden, damit ein Leben gerettet wird [38]. Es kommt darüber hinaus zur Senkung der Komplikationsrate und der Dauer des Krankenhausaufenthaltes [39]. Anhand des pH-Wertes lässt sich die Gruppe der COPDPatienten, die von NIV besonders profitieren, gut definieren: Für den pH-Bereich zwischen 7,2 und 7,35 ist die Effektivität der NIV nachgewiesen [31, 40], wobei sich insbesondere durch frühzeitigen Therapiebeginn bei pH-Werten zwischen 7,30 und 7,35 die besten Ergebnisse erzielen lassen [31]. In der Regel sollte bei einem pH-Wert von <7,2 die invasive Beatmung begonnen werden. Nur sehr erfahrene Behandlungsteams können in Einzelfällen (d. h. bei kooperierenden Patienten, unproblematischer Adaptation, keiner weiteren Organinsuffizienz) COPD-Patienten bei pH-Werten von < 7,2 nicht-invasiv beatmen. Das Koma galt lange als Kontraindikation für NIV. Kürzlich wurde allerdings gezeigt, dass NIV auch bei Patienten mit Koma infolge hyperkapnischer ARI erfolgreich eingesetzt werden kann
537 41.4 · Spektrum der Indikationen
41
. Abb. 41.4. Algorithmus zur NIV in der Initialphase der Therapie und im weiteren Verlauf bei Patienten mit hyperkapnischer ARI [1 Verlaufsparameter: Dyspnoe, pCO2, SaO2, pH-Wert, Atemfrequenz, Tidalvolumen; 2 chronisch ventilatorische Insuffizienz]
. Abb. 41.5. Algorithmus zur Differenzialtherapie der invasiven Beatmung und NIV bei hyperkapnischer ARI (1 Nur bei guter technischer Ausstattung und durch Teams mit langjähriger Er fahrung; 2 Kontraindikationen s. Übersicht)
. Tabelle 41.4. Verlaufsparameter und Abbruchkriterien für NIV (d. h. Indikation zur Intubation) Parameter
Abbruchkriterien der NIV
pH-Wert
Weitere Abnahme trotz NIV
Oxygenierung
Abnahme von SaO2
Ventilation
paCO2-Zunahme
Dyspnoe
Zunahme
Atemfrequenz
Zunahme
Tidalvolumen
Abnahme
Herzfrequenz
Zunahme
Hämodynamik
Instabilität
Atemmuskulatur
Zunehmende Erschöpfung
Vigilanz und mentaler Zustand
Zunehmende Verschlechterung
[41, 42]. Es sei angemerkt, dass diese Studienergebnisse in Zentren mit sehr großer Erfahrung auf dem Gebiet der NIV, kontinuierlichem Monitoring und unter Intubationsbereitschaft erhoben wurden und nicht verallgemeinert werden dürfen. In der Initialphase der NIV ist ein Monitoring der wichtigen Verlaufsparameter erforderlich, um Therapieerfolg bzw. -versagen frühzeitig zu erkennen (. Abb. 41.4). Besonders anhand des Verlaufes der Dyspnoe, der paCO2-Werte und der Atemfrequenz
lässt sich bereits 12 h nach Therapiebeginn zwischen Respondern (d. h. Abnahme dieser Parameter) bzw. Non-Respondern (d. h. fehlende Abnahme bzw. Zunahme dieser Parameter) unterscheiden [43]. In . Tabelle 41.4 sind Abbruchkriterien für die NIV bzw. Intubationskriterien aufgeführt. Zum NIV-Versagen kommt es besonders häufig bei Patienten im hohen Lebensalter mit ausgeprägter Azidose und Multimorbidität. Auch nach zunächst erfolgreich abgeschlossener NIV müssen Patienten im weiteren Verlauf engmaschig beobachtet werden, da es auch nach Tagen wieder zur hyperkapnischen ARI (sog. NIV-Spätversagen) kommen kann. Dabei geht der erneute Einsatz der NIV mit einer hohen Letalität einher [44], was sich evtl. durch frühzeitige Intubation bzw. invasive Beatmung verhindern lässt. In . Abb. 41.4 ist ein Algorithmus zum differenzierten Einsatz von NIV und invasiver Beatmung und in . Abb. 41.5 ein Algorithmus zum weiteren Verlauf bei Patienten mit hyperkapnischer ARI dargestellt. 41.4.2 NIV bei hypoxämischer Verlaufsform
der ARI Die Datenlage zum Stellenwert der NIV bei der hypoxämischen ARI (mit der Definition: SaO2 <95% trotz O2-Gabe und Atemfrequenz >25/min) ist im Gegensatz zur hyperkapnischen ARI weniger klar. . Abb. 41.6 zeigt einen Algorithmus zur NIV in der Initialphase der Therapie bei Patienten mit hypoxämischer ARI. Es liegen Studienergebnisse vor, die für diese Indikation sprechen. So führte die Anwendung von NIV bei Patienten mit rein hypoxämischer ARI (paO2 <60 mmHg bzw. SaO2 <90% bei einer inspiratorischen Sauerstoffkonzentration von 50%) gegen-
538
Kapitel 41 · Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
. Abb. 41.6. Algorithmus zur NIV in der Initialphase der Therapie bei Patienten mit hypoxämischer ARI (Kontraindikationen s. Übersicht)
41
über der Standardtherapie (inkl. Sauerstoffgabe) zu einer signifikanten Senkung des Intubationsrisikos, der Rate an septischen Schockgeschehen sowie der 90-Tage-Letalität (Odds-Ratio 0,39; p=0,017) [45]. Bei hämatologisch-onkologischen Patienten mit hypoxämischer ARI führte NIV innerhalb kurzer Zeit zur deutlichen Besserung der Oxygenierung [46]. Demgegenüber zeigten andere Untersuchungen, dass NIV weniger bei rein hypoxämischer ARI, jedoch häufiger bei gemischt hypoxämisch-hyperkapnischer ARI, z. B. infolge Pneumonien, erfolgreich eingesetzt wurde [47–49]. Bei hypoxämischer ARI mit zusätzlich überlasteter Atempumpe und konsekutiver Hyperkapnie bestehen gute Chancen für einen Therapieerfolg mit NIV. Die NIV-Versagerquote für ein heterogenes Patientenkollektiv mit hypoxämischer ARI lag für ambulant erworbene Pneumonie und ARDS bei etwa 30% bzw. >50% [50]. Diese hohe Misserfolgsrate ist im Wesentlichen bedingt durch die komplexe Pathophysiologie der Grunderkrankung und nicht primär assoziiert mit NIV. Hier steht nicht die insuffiziente Atemmuskulatur im Vordergrund, sondern die reduzierte Gasaustauschfläche und Diffusionsstörung infolge Alveolarkollaps und Atelektase, Shunt infolge Ventilations-Perfusions-Missverhältnis und Inflammation. Eine weitere Ursache für die hohe Rate an NIV-Versagen bei Pneumonie und ARDS besteht darin, dass zur Beseitigung des Alveolarkollaps ein kontinuierlicher Überdruck notwendig ist, was bei NIV wegen der Leckage und diskontinuierlichen Anwendung nicht realisierbar ist. Schon kurzzeitige Abfälle des Atemwegsdrucks können bei kollapsgefährdeter Lunge zur Atelektasenbildung und Hypoxämie führen [51]. i Auch in diesem Zusammenhang können sich NIV und invasive Beatmung ergänzen. Jüngst wurde bei bestehender Indikation für eine Intubation bei ARI nachgewiesen, dass sich durch kurzphasige Vorschaltung von NIV die Oxygenierung im weiteren Verlauf bessert [52].
41.4.3 Kardiales Lungenödem Der Stellenwert von NIV und CPAP beim kardial bedingten Lungenödem ist neben der medikamentösen Standardtherapie inzwischen klar belegt [53]. CPAP hat bei dieser Indikation eine besondere Bedeutung. CPAP bewirkt das Absenken der kardialen Vor- und Nachlast, die Reduktion der Atemarbeit, eine Verbesserung der Koronarperfusion sowie des Ventilations-Perfusions-Missverhältnisses.
Bereits vor mehr als 20 Jahren wurde die Überlegenheit der CPAP-Behandlung im Vergleich zur alleinigen O2-Gabe beim kardiogenen Lungenödem nachgewiesen [54]. In oben genannten Metaanalyse ergibt der Vergleich NIV gegen Standardtherapie für NIV Verminderungen der Intubationsrate (–13%, signifikant) und der Sterblichkeit (–7%, nicht signifikant) [53]. Die Myokardinfarktraten werden nicht beeinflusst. Im direkten Vergleich NIV gegen CPAP ergeben sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich Intubationsfrequenz, Sterblichkeit und Myokardinfarktrate. Geht das kardial bedingte Lungenödem neben der Hypoxämie mit einer Hyperkapnie einher, kann CPAP in Kombination mit inspiratorischer Druckunterstützung, d. h. als NIV, durchgeführt werden [55–57]. 41.4.4 NIV in der perioperativen Phase Nur einige Untersuchungen auf niedrigem Evidenzniveau untersuchen den Stellenwert von NIV in der präoperativen Phase. Bei dieser Indikation ergeben sich Hinweise, dass NIV als »BridgingIntervention« bei unterschiedlichen Krankheitsbildern (z. B. bei zystischer Fibrose vor Lungentransplantation und schwergradigem Emphysem vor Lungenvolumenreduktion) die Ventilation stabilisiert [58–60]. Während einer Allgemeinanästhesie in Rückenlage des Patienten und maschineller Beatmung nimmt die funktionelle Residualkapazität (FRC) um ca. 20% ab [61], was zum endexspiratorischen Verschluss der kleinen Atemwege (»airway closure«), Bildung von Atelektasen, Zunahme des intrapulmonalen Rechts-links-Shunts, d. h. Hypoxämie, führt. Insbesondere nach abdominal- und thoraxchirurgischen Eingriffen kann es infolge dorsobasaler Belüftungsstörungen mit daraus resultierendem Rechts-links-Shunt zu Störungen der Sauerstoffversorgung kommen [62]. Obwohl Masken-CPAP schon vor Jahren mit dem Ziel der Vermeidung von atelektatischen Lungenarealen bzw. konsekutiven Pneumonien postoperativ eingesetzt wurde [63], war dieses Vorgehen nicht durch Studien gesichert. Inzwischen ist die Datenlage klarer. Kommt es in der postoperativen Phase von kardiound thoraxchirurgischen Eingriffen zur ARI, führt NIV in Form der inspiratorischen Druckunterstützung neben einer Verbesserung des Gasaustausches und der Hämodynamik zur Reduktion der Reintubations-, Komplikations- und Mortalitätsrate [64–67]. Squadrone et al. verglichen Sauerstofftherapie allein mit Sauerstoff plus CPAP-Therapie bei Patienten mit Hypoxämie nach großen abdominellen Operationen [68]. Patienten unter CPAPTherapie hatten eine signifikant niedrigere Intubationsrate und
539 41.4 · Spektrum der Indikationen
41
. Abb. 41.7. NIV bei schwieriger Entwöhnung von invasiver Beatmung. CVI: Chronisch ventilatorische Insuffizienz
entwickelten weniger Pneumonien bzw. Wundinfektionen durch Anastomoseninsuffizienzen. 41.4.5 NIV bei schwieriger Entwöhnung Im schwierigen Entwöhnungsprozess von der invasiven Beatmung hat NIV eine zunehmende Bedeutung (Algorithmus . Abb. 41.7). Die zugrunde liegende Rationale ist die oben ausgeführte Erkenntnis, dass eine längerdauernde invasive Beatmung die Prognose des Patienten verschlechtert [69]. Vergleichbar der invasiven Beatmung führt NIV zur Reduktion der Atemarbeit und Verbesserung des Gasaustausches. Zwingende Voraussetzungen für diese Strategie sind die Extubations- und NIV-Fähigkeit eines weiterhin vom Respirator abhängigen Patienten. Die Bedeutung der NIV im Weaning-Prozess wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Gute Argumente sprechen dafür, dass NIV bei einer selektierten Gruppe invasiv beatmeter Patienten die Respiratorentwöhnung erleichtert. Aufgrund der komplexen Pathophysiologie der COPD ist bei invasiv beatmeten COPD-Patienten in 35–67% der Fälle mit einer schwierigen Entwöhnung zu rechnen [70]. Bereits vor >10 Jahren wurde im Rahmen von unkontrollierten klinischen Studien nachgewiesen, dass NIV im schwierigen Entwöhnungsprozess bei Patienten mit hyperkapnischer ARI infolge COPD eine mögliche Therapieoption darstellt [71–73]. Inzwischen liegen die Ergebnisse von 3 randomisierten und kontrollierten Studien aus Italien, Frankreich und Spanien vor [74–76]. Bei invasiv beatmeten und schwer vom Respirator entwöhnbaren Patienten (v. a. mit der Diagnose COPD) wurde durch Extubation mit nachfolgender NIV – verglichen mit der invasiv beatmeten Kontrollgruppe – die Erfolgsrate der Respiratorentwöhnung signifikant gebessert. Des Weiteren ließ sich die Letalitätsrate signifikant reduzieren; auch wurden die Reintubations-, Tracheotomie- und Komplikationsrate gesenkt. Trotz dieser vielversprechenden Studienergebnisse sei einmal mehr einschränkend gesagt, dass neben der Patientenselektion (d. h. hyperkapnische ARI, vorwiegend infolge COPD) wesentliche Voraussetzung für den NIV-Erfolg in der Entwöhnungsphase die langjährige Erfahrung des Teams mit dieser Methode ist.
Im Gegensatz zur hyperkapnischen Atmungsinsuffizienz bleibt der Stellenwert der NIV beim schwierigen Weaning infolge hypoxämischer Atmungsinsuffizienz strittig. Bisher wurde nur in einer Fallkontrollstudie mit kleiner Fallzahl bei NichtCOPD-Patienten mit hypoxämischem Lungenversagen gezeigt, dass die Entwöhnungsrate nach frühzeitiger Extubation mit anschließender NIV hoch war und NIV zur Verbesserung physiologischer Parameter (wie z. B. Besserung der Oxygenierung, des Atemmusters und Abnahme des Shunts) führte [77]. Da diese Ergebnisse jedoch bisher nicht durch größere Patientenzahlen und multizentrisch bestätigt wurden, kann der Einsatz der NIV im Weaning für diese Indikation derzeit nicht allgemein empfohlen werden. 41.4.6 Postextubationsphase Abhängig von unterschiedlichen Faktoren liegt die Inzidenz der Reintubation in der Postextubationsphase zwischen 3,3% und 23,5% [78]. Das sog. Postextubationsversagen, d. h. Reintubation aufgrund einer ARI, ist mit einer hohen Komplikations- und Letalitätsrate verbunden [79]. Die Krankenhausmortalität kann 30–40% übersteigen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die ARI in der Postextubationsphase durch den frühzeitigen Einsatz der NIV – im Sinne der Prävention – zu verhindern oder eine bereits manifeste ARI mit NIV zu therapieren. Vor allem bei Risikopatienten mit COPD, hohem Alter, Herzinsuffizienz und Hypersekretion, die nach Extubation eine hyperkapnische ARI entwickeln, führt der frühzeitige Einsatz von NIV zur Reduktion der Reintubations- und Letalitätsrate; dies wurde auf unterschiedlichen EBM-Niveaus gezeigt [80–83]. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass Patienten mit fortbestehender chronisch ventilatorischer Insuffizienz auch nach formell erfolgreich abgeschlossenem Weaning von NIV in Form der Heimbeatmung profitieren. Wir konnten zeigen, dass etwa 30% der entwöhnten Patienten im weiteren Verlauf erfolgreich mit NIV in häuslicher Umgebung versorgt wurden [84].
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Kapitel 41 · Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
Gegen einen unselektierten Einsatz von NIV bei ARI in der Postextubationsphase sprechen aktuelle Ergebnisse randomisierter und kontrollierter Studien [85, 86]. In beiden Studien wurden allerdings vorwiegend Patienten mit hypoxämischer ARI und nur wenige Patienten mit COPD eingeschlossen. Während in einer Studie kein Unterschied zwischen der NIV und der Standardtherapie bezüglich Outcome-Parametern, wie z. B. Reintubationsrate, Letalität, Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus, gefunden wurde [85], waren in der anderen Studie Reintubations- und Letalitätsrate in der NIV-Gruppe signifikant erhöht [86]. Diese Ergebnisse sind ernst zu nehmen und verdeutlichen v. a. bei der hypoxämischen ARI die Notwendigkeit zur strengen Patientenselektion und des engmaschigen Monitorings, um eine indizierte Reintubation nicht zu verzögern. Dennoch muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die beiden genannten Studien relevante methodische Mängel aufweisen und die Ergebnisse daher mit gebotener Zurückhaltung zu interpretieren sind. Die fehlende Effektivität und hohe Komplikationsrate bei den mit NIV behandelten Patienten erklärt sich zumindest teilweise durch den verzögerten Beginn der NIV, niedrige Beatmungsdrücke bzw. Tidalvolumina, geringe Erfahrung des Behandlungsteams (Reintubationsrate >70% nach elektiver Extubation) und unzureichendes technisches Equipment. Diese Studienergebnisse lassen nicht die Schlussfolgerung zu, dass NIV in der Postextubationsphase generell kontraindiziert bzw. obsolet sei. Auch wenn NIV beim hypoxämischen ARI nicht oder nur mit großer Zurückhaltung zu empfehlen ist, profitieren insbesondere Risikopatienten mit COPD – wie in den anderen genannten Studien eindeutig gezeigt wurde – in dieser Situation von NIV. i Wichtige Voraussetzung für den Einsatz von NIV in der Postextubationsphase sind einmal mehr langjährige Erfahrung eines hoch motivierten Teams in der invasiven und nicht-invasiven Beatmung, engmaschiges Monitoring der Vitalfunktionen und die Möglichkeit zur unverzögerten Reintubation bei ventilatorischem Versagen, um weitere Komplikationen zu vermeiden.
41.4.7 Neue Anwendungsbereiche
41
In jüngerer Vergangenheit wurde NIV mit neuen Indikationen eingesetzt. Im Folgenden werden einige Bereiche erläutert.
Immunsupprimierte Patienten Entsprechend der Literatur und der klinischen Erfahrung nimmt die Mortalitätsrate bei immunsupprimierten Patienten, die infolge ARI invasiv beatmet werden, v. a. infolge nosokomialer Infektionen signifikant zu [87]. In einer randomisierten Studie wurde NIV mit der Standardtherapie bei Patienten mit ARI nach Organtransplantation verglichen [64]. Neben der verbesserten Oxygenierung führt NIV auch zur Reduktion der Intubations-, Komplikations- und Mortalitätsrate und der Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation. Ein weiterer Vergleich zwischen Standardtherapie und NIV bei immunsupprimierten Patienten mit hypoxämischer ARI (meistens infolge Pneumonie) und hämatologischen Erkrankungen, HIV-Infektion und nach Transplantation ergab, dass NIV die Intubations-, Komplikations- und Mortalitätrate senkt [46]. Bei Aids ist die ARI infolge Pneumocystis-carinii-Pneumonie oder anderer opportunistischer Erreger die häufigste Todesursache. In einer prospektiven Fallkontrollstudie wurde NIV bei
dieser Population verglichen mit einer gematchten Kontrollgruppe, die invasiv beatmet wurde [88]. Durch den Einsatz von NIV ließ sich die Intubation in 67% der Fälle vermeiden, die Lebenserwartung bessern und die Pneumothoraxrate senken.
Perkutan endoskopische Gastrostomie (PEG) und Bronchoskopie Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen leiden häufig neben einer Atemmuskelschwäche unter Schluckstörungen und benötigen zur adäquaten enteralen Ernährung eine PEG-Sonde. Diesen Patienten droht während der PEG-Anlage die ARI. In Kasuistiken wurde gezeigt, dass durch gleichzeitige Anwendung von NIV die ARI vermieden wurde [89]. Bei gefährdeten Patienten kann durch eine Bronchoskopie eine ARI verursacht werden. Bei unterschiedlichen Indikationen für eine Bronchoskopie bei Patienten mit Hypoxämien ließ sich zeigen, dass sich durch NIV über Maske und Helm die Oxygenierung verbessert und die Notwendigkeit zur Intubation verringert [90–92].
»Do Not Intubate« (DNI) oder »Do Not Resuscitate« (DNR) und Palliation In der terminalen Phase unterschiedlicher Erkrankungen kommt es häufig zur Beteiligung der Lunge mit konsekutiver Atmungsinsuffizienz. In der Endphase ihrer Krankheit werden Karzinompatienten mit ARI häufig nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen, da eine Intubation mit einer hohen Mortalität einhergeht [93, 94]. In dieser Situation lässt sich die Intubation durch NIV verhindern [95]. In einer aktuellen Pilotstudie wurde gezeigt, dass NIV als Palliativmaßnahme bei Krebspatienten in der Terminalphase durchaus sinnvoll eingesetzt werden kann [96, 97]. Die retrospektive Untersuchung von 2 Patientenkollektiven mit hämatologischen Erkrankungen und ARI, die im Zeitraum von 1990–1995 ohne NIV und von 1996–1998 mit NIV auf der Intensivstation behandelt wurden, ergab, dass die Überlebensrate mit NIV deutlich zunahm [66]. Im Grenzbereich zwischen Intensiv- und Palliativmedizin begegnen wir zunehmend multimorbiden Patienten mit ARI. In retrospektiven und unkontrollierten Studien wurde gezeigt, dass NIV bei Patienten mit ARI, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr intubiert wurden, erfolgreich eingesetzt wurde [98– 103]. NIV führte zur Reduktion der Dyspnoe, d. h. Verbesserung der Lebensqualität, wobei eine gewisse Autonomie während der Intervention erhalten blieb. Durch NIV lässt sich evtl. Zeit gewinnen, um z. B. dem Patienten einen bewussten Abschied von seinen Verwandten zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang lässt sich das Statement der internationalen Consensus Conference on Intensive Care Medicine zitieren: The use of NIV may be justified in selected patients who are not to be intubated and may provide patient comfort and facilitate physician-patient interaction [33].
Auch wenn der Begriff »nicht-invasiv« eine gewisse Harmlosigkeit suggeriert, ergibt sich hierbei ein häufig unterschätzter Konflikt, und es stellen sich in diesem Zusammenhang kritische Fragen v. a. zu ethischen Aspekten [104, 105]. > Fazit Bei der NIV handelt es sich definitiv um eine vollwertige Beatmung, die sich in der Akutsituation von der invasiven Beatmung zunächst nur durch den Beatmungszugang unterscheidet.
541 Literatur
NIV reduziert effektiv die Dyspnoe und kann somit in der Palliativsituation hilfreich sein. Wenn in einer Patientenverfügung jede Form der Beatmung als intensivmedizinische Maßnahme oder entsprechend dem auf aussagekräftige Indizien gestützten mutmaßlichen Willen des Patienten abgelehnt wird, ist auch NIV kontraindiziert. Die Maskenbeatmung kann zu relevanten Nebenwirkungen, wie z. B. Reduktion der Kommunikationsfähigkeit, schmerzhaften Druckstellen im Gesichtsbereich oder Aerophagie führen [20, 106]. Eventuell verlängert NIV sogar den Leidensweg und den Sterbevorgang und hat in dieser Situation keinen Nutzen mehr.
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VII
Gastrointestinale Störungen
42
Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts
43
Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
44
Akute Pankreatitis
45
Akute gastrointestinale Blutungen
46
Mesenteriale Ischämie
–569
–591
–579
–547 –557
42 Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts T. Brünnler, J. Schölmerich
42.1
Gastroösophageale Refluxerkankung und Gastroparese
42.1.1 42.1.2 42.1.3
Pathophysiologie –548 Klinische Folgen –548 Therapeutische Konsequenzen –549
42.2
Paralytischer Ileus
42.2.1 42.2.2 42.2.3 42.2.4 42.2.5
Pathophysiologie –549 Ätiologie –549 Systemische Folgen –549 Inflammatorische Reaktion und organsystembezogene Folgen –550 Therapeutische Maßnahmen –551
42.3
Intestinale Pseudoobstruktion
42.3.1 42.3.2 42.3.3 42.3.4 42.3.5 42.3.6
Pathophysiologie –552 Klinische Verlaufsform –553 Diagnostik –553 Differenzialdiagnose –553 Prognose –554 Therapeutische Maßnahmen –554
42.4
Bakterielle Translokation
42.4.1 42.4.2 42.4.3
Mechanismen der bakteriellen Translokation –554 Klinische Relevanz der bakteriellen Translokation –555 Prävention und Therapie der bakteriellen Translokation –555
Literatur
–555
–548
–549
–552
–554
548
Kapitel 42 · Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts
Funktionsstörungen des Magen-Darm-Traktes treten häufig als unerwünschte Begleiterscheinungen bei kritisch kranken Patienten auf. Fehlende Mobilisation, unphysiologische Ernährung oder der Einfluss diverser Medikamente können zu einer verzögerten Magen-Darm-Passage beim Intensivpatienten führen. Dabei spielt der gastroösophageale Reflux im Bereich des oberen Gastrointestinaltraktes eine wesentliche Rolle, generell gilt der paralytische Ileus als eine der Hauptkomplikationen bei Intensivpatienten und im Bereich des unteren Gastrointestinaltraktes die intestinale Pseudoobstruktion. Der Übertritt von Mikroorganismen der Magen-Darm-Flora in die Blutbahn, bezeichnet als bakterielle Translokation, muss schließlich als Kofaktor für entzündliche Prozesse, beispielweise im Rahmen der Sepsis, betrachtet werden. In diesem Kapitel werden diese Themen näher erläutert und sollen dem Leser hilfreiche Informationen für den Intensivalltag an die Hand gegeben werden. 42.1
Gastroösophageale Refluxerkankung und Gastroparese
Motilitätsstörungen im Bereich des oberen Gastrointestinaltraktes einschließlich Ösophagus, Magen und Duodenum treten häufig beim Intensivpatienten auf. Ursachen bzw. auslösende Faktoren unterscheiden sich oft nicht voneinander. > Definition gastroösophageale Refluxerkrankung Bei der gastroösophagealen Refluxerkrankung kommt es zum Reflux von Mageninhalt in den Ösophagus. Während ein geringer Refluxanteil beim Menschen als physiologisch betrachtet werden kann, wird dieser Reflux als pathologisch bezeichnet, wenn eine verlängerte Refluxdauer vorhanden ist, wenn klinische Symptome auftreten und/oder eine Ösophagitis entsteht.
Die Genese der gastroösophagealen Refluxerkrankung ist vielfältig. Es sind in aller Regel mehrere Faktoren beteiligt. Als wichtigster Schutzmechanismus gilt die Aufrechterhaltung einer intakten Funktion des unteren Ösophagussphinkters. Generell sind folgende Faktoren an der Pathogenese beteiligt: 4 transiente Relaxation des unteren Ösophagussphinkters, 4 transienter Anstieg des intraabdominellen Druckes über denjenigen des unteren Ösophagussphinkters hinaus, 4 spontaner Reflux durch einen insuffizienten Ösophagussphinkter, 4 Verminderung der Ösophagusmotilität, 4 verminderte Clearance-Funktion des tubulären Ösophagus. Insbesondere beim Intensivpatienten sind neben nicht messbaren Drücken im Bereich des unteren Ösophagussphinkters häufig erhöhte intraabdominelle Drücke nachzuweisen (7 Kap. 42.2.4; . Tabelle 42.4), die eine wesentliche Ursache in der Pathogenese des gastroösophagealen Refluxes darstellen. Daneben fokussiert sich die Diskussion zunehmend auf eine »Critical-care-Dysmotilität«, die mit einer Störung der Transportkapazität im oberen Gastrointestinaltrakt einhergeht. Der Veränderung der gastralen Motilität beim Intensivpatienten liegen folgende Faktoren zugrunde: 4 antrale Hypomotilität, 4 generell erhöhter Muskeltonus im Bereich des Pylorus, 4 vermehrtes Auftreten isolierter pylorischer Druckwellen. . Tabelle 42.1 zeigt spezifische intensivmedizinische Einflussfaktoren, die die Entstehung einer verzögerten Transportfunktion und der daraus resultierenden Refluxerkrankung begünstigen.
42.1.2 Klinische Folgen
> Definition Gastroparese Bei der Gastroparese kommt es zu einer Verzögerung der Magenentleerung. Während primäre Ursachen vielfältig sind, tritt dieses Phänomen beim kritisch kranken Patienten häufig als Sekundärsymptom auf und kann den klinischen Verlauf deutlich beeinflussen.
42
42.1.1 Pathophysiologie
Bezüglich der Refluxerkrankung treten klassische Symptome wie Sodbrennen, retrosternale Schmerzen oder Dysphagie beim Intensivpatienten eher in den Hintergrund. Relevant ist in der Regel ein vermehrter Reflux über liegende Ernährungssonden, was folglich die Aszension von gastrointestinalen Keimen ins Bronchialsystem und somit die Entstehung einer Aspirationspneumonie begünstigt. Die klinischen Folgen einer verminderten gastralen Transportfunktion führen zur Begünstigung der gastroösophagealen
. Tabelle 42.1. Ursachen für die Entstehung einer verminderten Ösophagusmotilität beim Intensivpatienten Patientenspezifische Faktoren
4 Kritische Erkrankung ohne direkten Einfluss auf die Motorfunkion (z. B. erhöhter intraabdomineller Druck, Sepsis, spinale Erkrankungen) 4 Kritische Erkrankung mit direktem Einfluss auf die Motorfunktion (z. B. akute Pankreatitis, intestinale Ischämie) 4 Vorangegangene Operationen 4 Präexistente Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) 4 Veränderungen im Elektrolytstatus
Iatrogene Faktoren
4 Medikamente (v. a. Sedierung, Analgesie, Katecholamine) 4 Invasive Beatmung 4 Total parenterale Ernährung/enterale Ernährung
549 42.2 · Paralytischer Ileus
Refluxerkrankung, bedingen Schwierigkeiten bei der Nahrungsapplikation und fördern die Aspiration von Mageninhalt in das Bronchialsystem.
. Tabelle 42.2. Ursachen für die Entstehung eines paralytischen Ileus beim Intensivpatienten Medikamente
4 Opioide 4 Katecholamine
Infektiöse Prozesse
4 Intra- oder retroperitoneale Infektionen 4 Sepsis, septisch-toxischer Schock, Capillary-leak-Syndrom 4 Entzündliche Darmerkrankungen 4 Bakterielle oder parasitäre Darminfektionen 4 Antibiotikaassoziierte pseudomembranöse Kolitis
Vaskuläre Faktoren
4 Mesenteriale Ischämie 4 Venöse Stase 4 Retro- oder intraperitoneale Hämatome
Metabolische Ursachen
4 Akutes Nierenversagen 4 Elektrolytstörungen
42.1.3 Therapeutische Konsequenzen Generell kommen 2 therapeutische Ziele zum Tragen: 4 ursächlich die Einleitung einer medikamentösen, prokinetischen Therapie, 4 die medikamentöse Säurehemmung zur Behandlung der Symptome. 42.2
Paralytischer Ileus
> Definition Ileus Ileus wird als Zustand bezeichnet, bei dem es zu einer partiellen oder vollständigen Blockade der Passage von Dünn- oder Dickdarm kommt. Dabei wird zwischen der paralytischen Form und der mechanischen Form unterschieden, wobei entweder eine Beeinträchtigung der Peristaltik zugrunde liegt oder eine mechanische Obstruktion im Bereich des Darmes besteht.
42
42.2.3 Systemische Folgen
Im Bereich der Intensivmedizin spielt v. a. die adyname Form, also der paralytische Ileus eine wesentliche Rolle (. Abb. 42.1a, b).
Der paralytische Ileus bedingt eine Vielzahl systemischer Folgeprobleme, die pathophysiologisch in erster Linie auf einen deutlich erhöhten intraabdominellen Druck und die Flüssigkeitsverschiebung zurückzuführen sind. Eine Übersicht liefert . Tabelle 42.3.
42.2.1 Pathophysiologie
Gastroduodenaler Reflux, Aspiration
Pathophysiologisch liegt dem Ileus eine ungeordenete Aktivität einzelner Zellen zugrunde, die zu einem Verlust der Synchronisation und damit zu einer Beeinträchtigung der Peristaltik führt. Diese diffuse gastrointestinale Dysmotilität führt zu einem vermehrten intraluminalen Druck mit intestinaler Dilatation. Damit verbunden ist schließlich eine Invasion neutrophiler Granulozyten in die Lamina muscularis, was zu einer direkten Schädigung der Muskelzellen durch die Freisetzung proteolytischer Enzyme und von Zytokinen führt. Getriggert durch diese inflammatorische Reaktion wird schließlich Stickstoffmonoxid (NO) freigesetzt, was eine Paralyse der Myozyten bedingt und damit die intestinale Dilatation aggraviert. Als Konsequenz entsteht schließlich eine Ischämie der intestinalen Wand, was wiederum eine vermehrte systemische Freisetzung von Entzündungsmediatoren bedingt. Die inflammatorische Reaktion korreliert dabei klinisch mit dem Schweregrad des Ileus. 42.2.2 Ätiologie Der paralytische Ileus zählt allgemein zu den häufigsten Komplikationen bei Intensivpatienten. Es können dabei alle Abschnitte des Gastrointestinaltraktes betroffen sein. . Tabelle 42.2 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Faktoren, die mit der Entstehung eines paralytischen Ileus beim Intensivpatienten assoziert sind. Beim kritisch kranken Patienten ist die Beeinträchtigung der intestinalen Motilität direkt mit der Schwere der zugrunde liegenden Erkrankung und der Mortalität assoziiert.
Durch die verminderte Motilität wird die Entstehung von gastrointestinalem Reflux begünstigt. Dies kann klinisch mit vermehrtem Erbrechen einhergehen. Von entscheidender Bedeutung ist die Aszension von Mikroorganismen in das Bronchialsystem mit der Folge der Aspirationspneumonie.
Flüssigkeitssequestration und Hypovolämie Der Volumenstatus wird bei jeder Ileusform beeinträchtigt. Typischerweise kommt es – v. a. in der Frühphase – beim paralytischen Ileus zu einer vermehrten Perfusion der intestinalen Mukosa als Zeichen der inflammatorischen Reaktion. Dies kann in ausgeprägten Fällen zu einer Hypovolämie mit Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Funktion führen und darüber entscheidend zu einer klinischen Verschlechterung des Patienten beitragen. Daher ist eine adäquate Flüssigkeitstherapie für den klinischen Verlauf von kritisch kranken Patienten mit Ileussymptomatik von entscheidender Bedeutung.
Bakterielle Überbesiedlung Der paralytische Ileus ist mit einer bakteriellen Überbesiedlung, insbesondere durch Escherichia coli, vergesellschaftet. Dies kann durch eine breite oder auch inadäquate Antibiotikatherapie noch verstärkt werden. Durch Adhärenz bzw. Invasion von Mikroorganismen und/oder Endo- und Exotoxinen an bzw. in die intestinale Mukosa wird eine inflammatorische, mukosale Reaktion verstärkt, was schließlich zu einer Hyperperfusion der Mukosa mit Hypersekretion führt.
Bakterielle Translokation Die bakterielle Translokation bezeichnet den Übertritt von Mikroorganismen bzw. deren Anteilen über die intestinale Mukosa
550
Kapitel 42 · Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts
. Tabelle 42.3. Systemische Komplikationen von Patienten mit paralytischem Ileus
. Tabelle 42.4. Intraabdomineller Druck (IAP) in Abhängigkeit der klinischen Situation
Betroffene Organsysteme
Symptome
Klinische Situation
Kardiovaskuläres System
4 Erhöhung des systemischen Gefäßwiderstandes 4 Verminderung des Herzzeitvolumens 4 Anstieg des ZVD 4 Anstieg des pulmonalkapillären Verschlussdruckes
Normal
0
Invasiv beatmeter Patient
0–12
Erhöhter IAP
12–18
Intraabdominelle Hypertension
18–20
Abdominelles Kompartmentsyndrom Respiratorisches System
ZNS
4 Erhöhter intrakranieller Druck 4 Verminderung der zerebralen Perfusion
Leber
4 Verminderte Leberperfusion
Niere
4 Verminderte Nierenper fusion 4 Verminderte glomeruläre Filtrationsrate 4 Prärenales Nierenversagen
Gastrointestinaltrakt
42
4 Erhöhter intrathorakaler Druck 4 Verminderte pulmonale Compliance 4 Verminderte paO2/FIO2-Ratio
4 Vermehrter gastrointestinaler Reflux 4 Vermehrte Flüssigkeitssequestration 4 Bakterielle Überbesiedlung 4 Bakterielle Translokation 4 Distension 4 Verminderung des mesenterialen Blutflusses
in die Blut- oder Lymphbahn (7 Kap. 42.4). Pathophysiologische Bedeutung gewinnt dieses Phänomen insbesondere bei Patienten mit gestörter mukosaler Barrierefunktion und/oder systemischer Immuninkompetenz der Patienten. Dies resultiert entsprechend der »Darmhypothese der Sepsis« in der Prädisposition systemischer Infektionen und Septikämien. Bei kritisch kranken Patienten mit paralytischem Ileus begünstigen verschiedene Aspekte die bakterielle Translokation: 4 bakterielle Überbesiedlung, 4 inflammatorische mukosale Reaktion mit daraus resultierender Hemmung der mukosalen Barrierefunktion, 4 verminderte mesenteriale Perfusion bei erhöhtem intraabdominellem Druck, was ebenso zu einer Hemmung der mukosalen Barrierefunktion führt, 4 die bei kritisch kranken Patienten in aller Regel vorliegende systemisch supprimierte Immunkompetenz. 42.2.4 Inflammatorische Reaktion
und organsystembezogene Folgen Im Verlauf der Entwicklung eines paralytischen Ileus kommt es, wie bereits erläutert, zu einer Entzündung der intestinalen
IAP [mm Hg]
>20
Wand. Damit repräsentiert der Darm einen entzündlichen Fokus und führt zu einer Aktivierung immunkompetenter Zellen mit Ausschüttung von Zytokinen. Infolgedessen kann die Entwicklung des Ileus per se zu einem systemisch inflammatorischen »response syndrome« (SIRS) führen und die Progression eines Multiorganversagens begünstigen.
Abdominelles Kompartmentsyndrom Mit zu den wichtigsten Komplikationen des paralytischen Ileus gehört das abdominelle Kompartmentsyndrom durch Erhöhung des intraabdominellen Drucks. Eine intraabdominelle Druckbestimmung erfolgt in der Regel indirekt über eine transurethrale Messung. Die direkte Druckmessung über einen intraperitonealen Katheter würde zwar eine genaue Messung liefern, ist jedoch in der Routine auf der Intensivstation nicht generell verfügbar. Einen Überblick über verschiedene Normwerte des intraabdominellen Drucks in Abhängigkeit von der klinischen Situation des Patienten liefert . Tabelle 42.4. Klinische Folge des erhöhten intraabdominellen Drucks ist eine generelle Minderperfusion aller Organsysteme. Es resultiert eine Verschlechterung der kardiovaskulären wie pulmonalen Situation sowie inflammatorischer Prozesse. Dabei können jedwede Organsysteme betroffen sein mit Ausprägung eines »multiple organ dysfunction syndrome« (MODS). Wichtig zu erwähnen ist es noch, dass nicht nur der paralytische Ileus allein die Entstehung von erhöhtem intraabdominellem Druck induziert. Dessen Ursachen sind vielfältig, und viele weitere Differenzialdiagnosen wie abdominelle Traumata, Operationen, Pankreatitis oder hämorrhagischer Schock sind in Betracht zu ziehen.
Kardiovaskuläre Folgen Patienten mit erhöhtem intraabdominellem und in Folge auch erhöhtem intrathorakalem Druck erfahren eine deutliche Verschlechterung des Herzzeitvolumens. Während bei der intraabdominellen Hypertension die Effekte noch durch eine regulatorische Erhöhung des peripheren Gefäßwiderstandes kompensiert werden können, kommt es bei Patienten mit abdominellem Kompartmentsyndrom bereits zu einer deutlichen hämodynamischen Instabilität. Infolgedessen ist eine ausreichende Volumensubstitution zur Kreislaufstabilisierung notwendig.
Intestinale Folgen Das Intestinum reagiert mit am empfindlichsten auf die intraabdominelle Druckerhöhung. Durch eine verminderte mesenteriale Perfusion wird die bakterielle Translokation begünstigt.
551 42.2 · Paralytischer Ileus
Die Patienten weisen einen deutlich erniedrigten mukosalen pH-Wert bei steigendem Druck auf, der sich nach abdomineller Dekompression auch wieder bessern kann. Zudem führt eine Minderperfusion zu einer progredienten Dilatation. Die daraus wiederum resultierende Hypovolämie, das erniedrigte Herzzeitvolumen und die damit oft verbundene notwendige Katecholamintherapie verstärken die intestinale Minderperfusion weiter.
. Tabelle 42.5. Prophylaktische oder therapeutische Optionen bei kritisch kranken Patienten mit paralytischem Ileus Stimulation der gastrointestinalen Motilität
Substanzen
Mechanische Stimulation der gastralen Aktivität
4 Frühzeitige enterale Ernährung
Medikamentöse Stimulation der gastralen Motilität
4 Metoclopramid 4 Erythromycin
Mechanische Stimulation der intestinalen Aktivität
4 Klysmen 4 Hebe-Senk-Einläufe
Medikamentöse Stimulation der intestinalen Motilität
4 Cholinergika 4 Opioidantagonisten
Hepatische Folgen Die intraabdominelle Druckerhöhung führt sowohl zu einer arteriellen Minderperfusion der Leber als auch zu einer Verminderung des portalvenösen Blutflusses, was durch eine hypovolämische Kreislaufsituation noch verstärkt wird. Durch Aggravierung der portalvenösen Hypertension können beispielsweise bei Patienten mit Leberzirrhose entsprechende Komplikationen wie eine akute Ösophagusvarizenblutung induziert oder verstärkt werden. Daher ist eine intraabdominelle Drucksenkung, z. B. durch Ablassen von Aszites bei Patienten mit Leberzirrhose, von therapeutischer Bedeutung.
Pulmonale Folgen Durch einen Anstieg des intraabdominellen Drucks erhöht sich konsekutiv der intrathorakale Druck. Die Elevation des Zwerchfells resultiert in einer Minderbelüftung der basalen Lungenabschnitte, was zu einem Verlust der funktionellen Residualkapazität führt. Durch Affektion der pulmonalen Mechanik mit verminderter Compliance wird die Atelektasenentwicklung mit Erhöhung des intrapulmonalen Shuntvolumens begünstigt. ! Cave Dabei ist zu beachten, dass bereits eine moderate Erhöhung des intraabdominellen Drucks zu einer signifikanten Erhöhung des intraalveolären Drucks führt und somit einen negativen Effekt auf den Gasaustausch hat.
Bei Patienten mit mechanischer Beatmung und erhöhtem intraabdominellen Druck sind insgesamt höhere Beatmungsdrücke für alveoläre Recruitment-Manöver notwendig. Der optimale positiv endexspiratorische Druck (PEEP) scheint tendenziell höher zu sein als bei Patienten ohne abdominelle Hypertension. Somit sollte ein PEEP mindestens um 2 cm H2O höher als der intraabdominelle Druck liegen. Bei spontan atmenden Patienten mit erhöhtem intraabdominellem Druck kommt es zu einer vermehrten Atemarbeit. Somit sollte beispielsweise bei gerade extubierten Patienten eine erhöhte Position angestrebt werden, um so den Druck auf das Diaphragma zu mindern und die Kompression der basalen Lungenabschnitte weitgehend zu reduzieren.
Renale Folgen Im Rahmen des erhöhten intraabdominellen Drucks entsteht eine renale Minderperfusion mit konsekutiver Verschlechterung der glomerulären Filtrationsrate und letztlich verminderter Urinauscheidung. Dabei spielen zusätzliche Faktoren eine wichtige Rolle: 4 erhöhter venöser Druck mit der Folge der Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems, 4 direkte Kompression der Nieren mit der Folge eines erhöhten Gefäßwiderstandes und Reduktion des Herzzeitvolumens, 4 Kompression der Ureteren, 4 erhöhter Sympathikotonus, 4 nicht-osmotische ADH-Sekretion.
42
i Die Entwicklung des akuten Nierenversagens stellt nach wie vor eine ernsthafte Komplikation beim kritisch kranken Patienten dar, die einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Prognose der Patienten hat.
Neurologische Folgen Nicht zuletzt entsteht bei Patienten mit intraabdomineller Druckerhöhung auch eine Erhöhung des intrazerebralen Druckes mit der Folge der zerebralen Minderperfusion aufgrund eines erhöhten Perfusionswiderstandes. Insbesondere betroffen sind Patienten mit vorangegangenem Schädel-Hirn-Trauma, aber auch ohne äußere Hinweise auf eine Schädelverletzung können neurologische Defizite verursacht sein. 42.2.5 Therapeutische Maßnahmen Therapeutische Maßnahmen bei kritisch kranken Patienten mit paralytischem Ileus sind vielfältig. Sie zielen zum einen auf die Beseitigung der Ursache und damit der zugrunde liegenden Erkrankung selbst ab, zum anderen müssen die daraus entstandenen Folgen entsprechend korrigiert werden. Dabei kommen konservative, ggf. aber auch operative Maßnahmen in Frage.
Flüssigkeitsmanagement Aufgrund der in 7 Kap. 42.2.3 und 7 Kap. 42.2.4 erläuterten Folgen bezüglich der zirkulatorischen Funktion ist eine adäquate Volumen- und ggf. auch Katecholamintherapie zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Herz-Kreislauf-Funktion des Patienten unumgänglich. ! Cave Der Einsatz von Medikamenten, die zu einer mesenterialen Minderperfusion führen, wie z. B. Adrenalin, Dopamin oder auch Vasopressin mit seinen entsprechenden Analoga, sollte nur äußerst zurückhaltend erfolgen.
Stimulation der intestinalen Motilität Die frühzeitige bzw. auch prophylaktische prokinetische Therapie kann zur Aufrechterhaltung der Motilität beitragen und so die Entstehung eines paralytischen Ileus verhindern. . Tabel-
552
Kapitel 42 · Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts
le 42.5. liefert einen Überblick über verschiedene prophylaktische oder therapeutische Optionen zur Prävention oder Therapie eines adynamen Ileus.
kalorische Ernährung beim Intensivpatienten enteral häufig nicht zu erreichen ist, konnten die protektiven Effekte bereits bei geringer Zufuhr einer enteralen Ernährung gezeigt werden.
Ernährung
Abdominelle Dekompressionstherapie
Der Stellenwert der enteralen Ernährung beim Intensivpatienten gilt mittlerweile als etabliert. Positive Effekte bezüglich der Aufrechterhaltung der intestinalen Funktionen, der Perfusion, Motilität und der Barrierefunktion der intestinalen Mukosa konnten mehrfach nachgewiesen werden. Auch wenn eine ausreichende
Sind konservative Maßnahmen nicht suffizient in der Therapie des paralytischen Ileus und entsteht ein erhöhter intraabdomineller Druck, sind ggf. auch interventionelle oder chirurgische Maßnahmen zu erwägen. Bei Patienten mit Leberzirrhose kann eine Aszitespunktion zur intraabdominellen Druckreduktion führen, bei Patienten mit ausgeprägter Dilatation evtl. auch eine endoskopische Dekompression. Zur Therapie eines intraabdominellen Kompartmentsyndroms ist schließlich die offene Laparotomie die Methode der Wahl. 42.3
a
Intestinale Pseudoobstruktion
Die intestinale Pseudoobstruktion umfasst ein klinisches Syndrom, das mit einer Veränderung der intestinalen Propulsion einhergeht, ohne dass eine mechanische Ursache zugrunde liegt. Dabei können sowohl Dünn- als auch Dickdarm betroffen sein, und es existieren akute, subakute und chronische Formen. Die klinische Verlaufsform kann von einer leichten Konstipation bis hin zu schweren Formen der intestinalen Pseudoobstruktion variieren. Im Bereich der Intensivmedizin spielt v. a. die akute Form, nach ihrem Erstbeschreiber auch als Ogilvie-Syndrom bekannt und mit einer akuten Dilatation des Darmes assoziiert, eine wesentliche klinische Rolle (. Abb. 42.2). Von dieser Erkrankung abzugrenzen ist das toxische Megakolon, das im Zusammenhang mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung auftritt, und sekundäre Formen des Megakolons, die enzündlich bedingt auftreten. 42.3.1 Pathophysiologie
Grundlagen Als pathophysiologische Grundlagen wurden identifiziert: 4 Inhibierung reflektorischer Motoneurone durch splanchnische Afferenzen als Folge toxischer Stimuli, 4 Verstärkung der inhibierenden sympathischen Impulse des Intestinums (keine Kontraktion), 4 Verstärkung der parasympathischen Impulse des Intestinums (keine Relaxation),
42
b . Abb. 42.1a, b. Röntgenübersicht bei paralytischem Ileus: a im Stehen, b im Liegen
. Abb. 42.2. Intraoperatives Bild eines eingebluteten Ogilvie-Syndroms
553 42.3 · Intestinale Pseudoobstruktion
4 Verminderung exzitatorischer, parasympathischer Impulse (keine Kontraktion), 4 vermehrte Stimulation peripherer P-Opioidrezeptoren durch endogene oder exogene Opioide, 4 Inhibierung der NO-Ausschüttung aus inhibitorischen Motoneuronen (keine Relaxation).
42
4 Darmgeräusche können fehlen, aber auch lebhaft bis hin zu hochgestellt sein und so das Bild des mechanischen Ileus kopieren. 42.3.3 Diagnostik
Sympatikus/Parasympathikus Initial wurde von Ogilvie 1948 propagiert, dass eine Reduktion der sympathischen Aktivität bei gesteigerter parasympathischer Innervation zu dem intestinalen Spasmus mit entsprechender Dilatation führt. Catchpol konnte jedoch 2 Jahrzehnte später zeigen, dass das Bild des Ileus v. a. durch die Prädominanz sympathischer nervaler Einflüsse entsteht. Die akute intestinale Pseudoobstruktion ist mit einer Vielzahl klinischer Komplikationen vergesellschaftet. Dazu zählen die intestinale Ischämie, die lokale oder generalisierte Hypoxie im Bereich des Peritoneums, des Darmes, der harnableitenden Wege oder im Bereich des Thorax, ebenso wie entzündliche Prozesse in den genannten Bereichen. Zudem spielen diverse Medikamente eine wichtige Rolle, die über inhibitorische Reflexe zum klinischen Bild des Ileus führen können.
Der postoperative Patient Bei postoperativen Patienten kommt es nach intestinaler Manipulation zu einer vermehrten Monozyteninfiltration im Bereich der Darmwand mit einer Hochregulation von diversen Entzündungsmediatoren wie ICAM-I, MCP-I, iNOS und COX-2 mRNA. Dabei konnte nachgwiesen werden, dass die klinische Form des postoperativen Ileus mit der intestinalen Entzündungsreaktion korreliert. Zudem konnte in zahlreichen Analysen nachgewiesen werden, dass es postoperativ zu einer Ausschüttung endogener Opioide kommt, die durch eine verminderte NO-Ausschüttung aus inhibitorischen Motoneuronen zu einer verzögerten intestinalen Transitzeit führt. Der medikamentöse Einsatz entsprechender Substanzen kann diese Effekte weiter verstärken. 42.3.2 Klinische Verlaufsform
Labordiagnostik Eine spezifische Labordiagnostik der akuten intestinalen Pseudoobstruktion existiert nicht. Laborchemische Veränderungen sind in aller Regel auf die zugrunde liegende Erkrankung zurückzuführen, evtl. zusätzlich einhergehend mit Elektrolytveränderungen oder einer Leukozytose.
Radiologische Diagnostik Radiologische Verfahren zum Nachweis der intestinalen Dilatation repräsentieren die zentrale Diagnostik dieser Erkrankung. In der Abdomenübersichtsaufnahme findet sich die Dilatation v. a. im Bereich vom Zäkum, Colon ascendens und Colon transversum. Das Colon descendens einschließlich Rektum sind ebenso wie Anteile des Dünndarms eher selten betroffen. Wichtig ist es, dabei differenzialdiagnostisch den mechanischen Ileus abzugrenzen. Als prognostische Größe kann der Diameter des Zäkums bestimmt werden, der entsprechend der Literatur in seiner Größe von 7–25 cm variiert. 42.3.4 Differenzialdiagnose Die differenzialdiagnostische Abgrenzung der intestinalen Pseudoobstruktion zum mechanischen Ileus ist für den Patienten von entscheidender Bedeutung. Der Nachweis von Luft im gesamten Kolonrahmen bis einschließlich im Rektum grenzt dabei die intestinale Pseudoobstruktion deutlich vom mechanischen Ileus ab. Ist jedoch keine Luft im Rektosigmoid nachweisbar, kann anhand der Abdomenübersicht nicht eindeutig zwischen beiden Entitäten unterschieden werden, und weitere Diagnostik ist notwendig.
Kolonkontrastmitteleinlauf Die akute intestinale Pseudoobstruktion tritt in aller Regel bei Patienten auf, die bereits eine schwere zugrunde liegende Erkrankung aufweisen. Dazu zählen Patienten nach Schlaganfall oder akutem Myokardinfarkt sowie Patienten mit Peritonitis, Sepsis oder nach großen Operationen einschließlich orthopädischer Versorgung, Patientinnen nach Sectio oder Patienten nach kardiovaskulärer oder pulmonaler Operation. Die klinischen Symptome sind dabei in aller Regel nicht eindeutig und können sehr variabel imponieren: 4 Eine fehlende Stuhl- oder Gaspassage tritt in vielen Fällen auf, ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Bei bis zu 41% der Patienten findet sich eine erhaltene Stuhl- oder Gaspassage, wobei sogar teilweise Diarrhöen vorkommen können. 4 Übelkeit und Erbrechen treten häufig, in bis zu 71% der Fälle auf. 4 Klinisch weisen die Patienten eine abdominelle Distension auf, die mit abdominellen Schmerzen einhergehen kann. 4 Schmerzen und Abwehrspannung sind jedoch nicht zwingend erforderlich und können differenzialdiagnostisch auch auf eine Perforation hinweisen, die es weiter abzuklären gilt.
Der Einlauf mittels wasserlöslichem Kontrastmittel hat sich bei Verdacht auf Vorliegen eines mechanischen Ileus in der Diagnostik bewährt und weist eine bis zu 96%ige Sensitivität bzw. bis zu 98%ige Spezifität auf. Bei klinischen Zeichen einer Perforation ist diese Untersuchung jedoch kontraindiziert. Im Zweifelsfall kann ggf. alternativ eine Untersuchung mittels Gastrografin vorgenommen werden, die in einzelnen Fällen auch therapeutisch Wirksamkeit zeigte.
Koloskopie Alternativ kann eine endoskopische Untersuchung (Rektosigmoidoskopie bzw. Koloskopie) durchgeführt werden, die zum einen eine Diagnose sichern bzw. therapeutischen Benefit durch eine Dekompression aufweisen kann.
Abdominelle Computertomographie Die abdominelle Computertomographie stellt (noch) kein Standardverfahren in der Diagnostik der intestinalen Pseudoobstruktion dar. Dennoch zeigte sie sich in einigen Analysen als Untersuchung mit hoher Senitivität und Spezifität – wenngleich prospektive Vergleichsuntersuchungen noch fehlen.
554
Kapitel 42 · Funktionstörungen des Magen-Darm-Trakts
42.3.5 Prognose Die Prognose von Patienten mit akuter intestinaler Pseudoobstruktion variiert je nach zugrunde liegender Erkrankung. Dabei wurden in einigen Untersuchungen Mortalitätsraten von 0–32% angegeben. Als Risikofaktoren hierfür wurden das Alter, eine schlechte Grundkonstitution sowie die Notwendigkeit chirurgischer Therapiemaßnahmen identifiziert. Negativ prädiktiv sind die intestinale Ischämie und die intestinale Perforation. Aus diesem Grund ist eine frühzeitige Diagnosesicherung mit Einleitung entsprechender Therapiemaßnahmen unbedingt notwendig.
vermittelte Stimulation peripherer P-Rezeptoren wird für die inhibitorischen Effekte auf den Gastrointestinaltrakt verantwortlich gemacht. Der Einsatz von Opioidrezeptorantagonisten kann daher einen positiven Einfluss auf die postoperative oder opioidvermittelte Ileussymptomatik leisten, ohne die analgetische Wirkung zu stören oder Entzugssymptome zu induzieren.
Andere Des Weiteren gibt es therapeutische Ansätze mit Erythromycin, wobei der Einsatz bei der akuten intestinalen Pseudoobstruktion weiter untersucht werden muss.
Endoskopische Dekompressionstherapie 42.3.6 Therapeutische Maßnahmen Grundsätzlich gilt es zunächst, die zugrunde liegenden Erkrankungen beim Intensivpatienten zu behandeln, um so den »Trigger« der intestinalen Pseudoobstruktion zu therapieren. Dazu zählen die adäquate Volumentherapie, eine ausreichende Oxygenierung des Intensivpatienten, der Ausgleich von Elektrolytstörungen sowie das therapeutische Management infektiöser Komplikationen. Die Zufuhr enteraler Ernährung sollte pausiert werden, ggf. muss bei längeranhaltender Pseudoobstruktion eine parenterale Ernährung – sofern noch nicht vorhanden – eingeleitet werden. Die Anlage einer Magen- oder Jejunalsonde ist nicht zwingend erforderlich, da in aller Regel eher die unteren gastrointestinalen Abschnitte betrofffen sind. Die Anlage eines Darmrohres gehört ebenfalls nicht zur Standardtherapie, sofern nicht das Rektosigmoid mitbetroffen ist. Das Verabreichen von Einläufen hat bislang keinen wesentlichen positiven Effekt gezeigt und sollte in Anbetracht einer potenziellen Perforation mit Vorsicht angewendet werden. i Die Einleitung einer Dekompressionstherapie wird ab einer Zäkumdilatation von 9 cm empfohlen.
Pharmakologische Dekompressionstherapie Neostigmin
42
Der Acetylcholinesteraseinhibitor Neostigmin hat sich in der Therapie der akuten intestinalen Pseudoobstruktion bewährt. Wenngleich seine klinische Wirkung durch eine rasche Dekompression ausreichend bestätigt werden konnte, wurde andererseits keine Risikoreduktion bezüglich der Perforation und der Mortalität nachgewiesen. Dennoch ist die – auch wiederholte – Applikation des Medikaments unter Beachtung der Kontraindikationen durchaus angezeigt. Kontraindikationen für Neostigmin 5 Herzfrequenz <60/min oder systolischer Blutdruck <90 mm Hg 5 Bronchospasmus 5 Serumkreatininkonzentration >3 mg/dl 5 Klinische Zeichen der Darmperforation
Opioidantagonisten Die akute intestinale Pseudoobstruktion ist – zumindest teilweise – mit dem Einsatz von Opioidanalgetika assoziiert. Die dadurch
Der Einsatz der koloskopischen Dekompression erfolgt in aller Regel nicht routinemäßig, sondern sollte der Einzelfallentscheidung vorbehalten werden. Die Prozedur ist insgesamt technisch als anspruchsvoll zu betrachten und mit einer erhöhten Komplikationsrate wie beispielsweise der Perforation assoziiert. Sie sollte daher nur angewendet werden, wenn das Risiko für eine Zäkalperforation besteht und allgemeine wie pharmakologische Maßnahmen keinen ausreichenden therapeutischen Benefit zeigen.
Zäkostomie Da nach endoskopischer Therapie eine relativ hohe Rezidivrate zur erneuten Entwicklung einer akuten intestinalen Pseudoobstruktion besteht, sind auch alternative Therapiemaßnahmen wie die perkutane Zäkostomie zu erwähnen. Wenngleich mit einer hohen Morbidität assoziert, zeigte sich die interventionelle Methode, die – endoskopisch unterstützt – ähnlich wie eine perkutane Gastrostomie angelegt wird, im Einzelfall erfolgreich.
Chirurgische Dekompressionstherapie Bei Versagen konservativer oder interventioneller Therapiemaßnahmen sollte eine chirurgische Dekompressionstherapie mittels Zäkostomie, Kolostomie oder auch der Resektion entsprechender Darmabschnitte erfolgen. Da diese Therapiemaßnahme mit einem schlechteren Outcome vergesellschaftet ist, sollte sie nur bei Versagen der anderen Optionen oder bei Verdacht auf Perforation und/oder Peritonitis durchgeführt werden. 42.4
Bakterielle Translokation
Der menschliche Gastrointestinaltrakt ist von einer Vielzahl von Mikroorganismen besiedelt. Dabei stellt der Darm generell keine absolute Barriere dar, sondern es kommt auch beim Gesunden kontinuierlich zum Übertritt von Organismen im Sinne einer Translokation. Klinische Relevanz erhält dieses Phänomen insbesondere beim kritisch kranken Patienten, da infektiöse Prozesse begünstigt bzw. bestehende Infektionen verschlechtert werden können. 42.4.1 Mechanismen der bakteriellen
Translokation Der bakteriellen Translokation liegen folgende Mechanismen zugrunde: 4 Verminderung der gastrointestinalen Mikroflora mit bakterieller Überbesiedlung,
555 Literatur
4 Störung der mukosalen Barrierefunktion, 4 Reduktion der allgemeinen immunologischen Funktion.
Möglichkeiten der Translokation Die Möglichkeiten der Translokation aus dem Gastrointestinaltrakt zu extraintestinalen Lokalisationen sind vielfältig. Folgende Möglichkeiten können in Betracht gezogen werden: 4 retrograde Migration intrapulmonal, 4 transmurale Migration durch die intestinale Wand, 4 lymphatische Migration durch Peyer-Plaques und mesenteriale Lymphknoten, über den Ductus thoracicus sowie das systemische Lymphsystem, 4 vaskuläre Migration schließlich bis zum Pfortadersystem. Klinisch bedeutend ist v. a. die retrograde Migration, die insbesondere bei Patienten mit invasiver Beatmung Aspirationspneumonien begünstigt. 42.4.2 Klinische Relevanz der bakteriellen
Translokation Inwieweit die bakterielle Translokation schließlich Einfluss auf den klinischen Verlauf kritisch kranker Patienten nimmt, ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht eindeutig geklärt. In einigen Studien konnte ein klarer Zusammenhang zwischen der Inzidenz von infektiösen Komplikationen und der Zunahme der intestinalen Permeabilität gezeigt werden. Wichtig zu beachten ist, dass die bakterielle Translokation nicht einem »On-off-Prinzip« folgt, sondern als permanantes Phänomen v. a. bei kritisch kranken Patienten klinische Bedeutung erlangt. Während der Einfluss der bakteriellen Translokation auf das Outcome im Tiermodell bereits mehrfach nachgewiesen werden konnte, ist der Nachweis der bakteriellen Translokation beim Menschen durchaus schwieriger, zumal klinisch eindeutige Nachweismethoden bislang fehlen. i Eindeutige Aussagen zum Einfluss der bakteriellen Translokation auf den klinischen Verlauf und zur prognostischen Relevanz können derzeit nicht getroffen werden.
42.4.3 Prävention und Therapie der bakteriellen
Translokation Primäres Ziel ist es, die Entstehung der bakteriellen Translokation im Vorfeld zu minimieren. Dazu gehört, die Integrität der intestinalen Mukosa aufrechtzuerhalten. Für die Einleitung einer total parenteralen Ernährung gilt als gesichert, dass die bakterielle Überbesiedlung, die mukosale Atrophie sowie oxidativer Stress begünstigt werden. Somit nimmt die enterale Ernährung beim Intensivpatienten einen wichtigen Stellenwert ein. i Der frühzeitige Einsatz der enteralen Ernährung resultiert beim kritisch kranken Patienten in einer Verminderung septischer Komplikationen.
Weitere Behandlungsstrategien der bakteriellen Translokation umfassen folgende Maßnahmen: 4 Supplementation von IgA zur mukosalen Stabilisierung,
42
4 Verabreichung von Ornithin-D-Ketoglutarat zur Verbesserung der intestinalen Struktur sowie der zelluläre Immunität, 4 Gabe von Fischöl zur Förderung der intestinalen Perfusion. > Fazit
4 Wenngleich einige therapeutische Ansätze existieren, können zum jetzigen Zeitpunkt (noch) keine gezielten Therapiempfehlungen gegeben werden. 4 Das Phänomen der bakteriellen Translokation bedarf einer weiteren Charakterisierung, um künftig klinisch genau eingeordnet werden zu können.
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43 Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen R.E. Stauber, P. Fickert, M. Trauner
43.1
Die Leber als »Opfer«/Zielorgan
43.1.1 43.1.2 43.1.3 43.1.4
Sepsisinduzierte Cholestase –558 Ischämische und hypoxische Hepatitis, Schockleber –559 TPE- (total parenterale Ernährung) und medikamentös-induzierte Cholestase –559 Akalkulöse Cholezystitis, Gallenblasen-Sludge beim Intensivpatienten –560
43.2
Die Leber als »Täter«/Ursache
43.2.1 43.2.2 43.2.3
Akutes Leberversagen (ALV) –560 Akut-auf-chronisches Leberversagen (ACLV) –564 Extrakorporaler Leberersatz –566
Literatur
–567
–558
–560
558
Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
43.1
Die Leber als »Opfer«/Zielorgan
43.1.1 Sepsisinduzier te Cholestase > Definition Als »sepsisinduzierte Cholestase« bezeichnet man das Auftreten einer konjugierten Hyperbilirubinämie als Folge einer extrahepatischen bakteriellen Infektion ohne direkte Invasion der Leber durch Erreger.
Ätiologie Ursächlich handelt es sich dabei meist um Infektionen mit gramnegativen Stäbchen und Bacteroides spp. [29] welche über die Freisetzung bakterieller Lipopolysaccharide (LPS) zur Stimulation der systemischen und hepatischen Zytokinproduktion führen. Gramnegative und grampositive Kokken kommen ursächlich ebenso in Frage. Im Rahmen eines Toxic-shock-Syndroms sind Staphylokokkentoxine (z. B. TSST-1) als Stimulans der Zytokinsynthese von zentraler Bedeutung. Die Infektions-/Sepsisquelle ist bei sepsisinduzierter Cholestase meist intraabdomineller Natur (z. B. Appendizitis, Divertikulitis, Peritonitis). Extraabdominelle Infektionsherde wie Pneumonien, Endokarditiden, Harnwegsinfektionen, Meningitiden und Weichteilabszesse sind weitere wichtige Ursachen [29, 39]. Während die sepsisinduzierte Cholestase die klassische hepatische Manifestation eines Multiorgandysfunktionssyndroms (MODS) im Rahmen einer Sepsis bzw. eines Systemic-inflammatory-response-Syndroms (SIRS) darstellt, können hämodynamische Störungen gleichzeitig auch zur ischämischen Hepatitis und Schockleber führen. Seltener können die beobachteten Leberveränderungen Ausdruck von Nebenwirkungen von Medikamenten oder total parenteraler Ernährung (TPE) sein.
Pathophysiologie Die Cholestase (i. e. Anstieg von Bilirubin und Gallensäuren im Serum) wird durch endotoxininduzierte proinflammatorische Zytokine (z. B. TNF-α, IL-1β, IL-6) ausgelöst, welche die Expression und Funktion hepatobiliärer Transportsysteme für Gallensäuren und Bilirubin hemmen [39]. Die Zytokinsensitivität der Bilirubinkonjugatexportpumpe (MRP2) ist tierexperimentell gut belegt und könnte die beobachtete konjugierte Hyperbilirubinämie bei Sepsis erklären. Zusätzlich wird die Funktion anderer hepatobiliärer Transportsystem (z. B. für Gallensäuren) sowie die Permeabilität von Zell-Zell-Kontakten (»tight junctions«) auf Ebene der Hepatozyten und Cholangiozyten durch proinflammatorische Zytokine erhöht [37]. . Abb. 43.1 fasst die Pathophysiologie und Manifestationsformen der sepsisinduzierten Cholestase zusammen.
Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sollte immer eine mechanische Cholestase mittels Sonographie ausgeschlossen werden. Weiterhin muss das Krankheitsbild gegenüber hepatotoxischen Nebenwirkungen von Medikamenten und der TPE abgegrenzt werden (7 Kap. 43.1.3). Hämodynamische Ursachen eines sepsisassoziierten Pumpversagens im Sinne einer kardialen Stauungsleber oder ischämischen Hepatitis sind auszuschließen. . Abb. 43.2 fasst das differenzialdiagnostische Vorgehen bei Vorliegen eines Ikterus im intensivmedizinischen Bereich zusammen.
Klinik Die Diagnose wird bei Fieber und Ikterus bei vorwiegend konjugierter (70–80% konjugiertes Bilirubin) Hyperbilirubinämie (meist zwischen 5 und 10 mg/dl; selten zwischen 30 und 50 mg/ dl) und relativ unauffälliger Lebersyntheseleistung bzw. Leberenzymen [γ-Glutamyl Transpeptidase (γ-GT) und alkalische Phosphatase (AP) maximal 2- bis 3-fach erhöht] gestellt.
43 . Abb. 43.1. Pathophysiologie und Manifestationsformen der Cholestase bei septischen Patienten. Diese kann entweder auf hepatozellulärer Ebene durch Transporterdefekte, auf Ebene der kleineren Gallengänge durch ein entzündliches Infiltrat (Cholangitis lenta) oder auf Ebene der großen Gallengänge über Obstruktion und fibroobliterierende Entzündung entstehen. Bei Auftreten einer Schockleber (ischämische Hepatitis) stehen zentrolobuläre Leberzellnekrosen im Vordergrund
559 43.1 · Die Leber als »Opfer«/Zielorgan
43
43.1.2 Ischämische und hypoxische Hepatitis,
Schockleber > Definition Die ischämische Hepatitis ist durch läppchenzentrale Nekrosen bei Minderperfusion und daraus resultierender Hypoxie bedingt und durch ausgeprägte Erhöhung der Transaminasen (GOT/GPTRatio >1) sowie der Lactatdehydrogenase (LDH) charakterisiert.
Ätiologie und Pathogenese
. Abb. 43.2. Differenzialdiagnostisches Vorgehen bei Ikterus im intensivmedizinischen Bereich je nach Vorliegen einer vorwiegend unkonjugierten Hyperbilirubinämie, eines primär cholestatischen oder hepatitischen Enzymmusters (LPS Leberparenchymschaden; TPE totale parenterale Ernährung)
Der Ikterus manifestiert sich 2–7 Tage nach Beginn der Bakteriämie. Die Serumgallensäuren sind als Ausdruck der Cholestase erhöht. Nach erfolgreicher antibiotischer Therapie sollten sich die Cholestaseparameter rasch normalisieren. Bei schweren Sepsisverläufen sind protrahierte oder zweigipfelige Verläufe möglich, wobei in diesen Fällen an eine insuffiziente Therapie der Infektionsquelle gedacht werden muss. Eine Leberbiopsie ist zur Sicherung der Diagnose üblicherweise nicht notwendig. Eine ungewöhnliche Art der sepsisinduzierten Cholestase wird selten in Form der Cholangitis lenta beobachtet (. Abb. 43.1), wobei sich hier histologisch Gallethromben in den kleineren Gallengängen mit Infiltration durch neutrophile Granulozyten finden und diese Patienten eine deutlich schlechtere Prognose aufweisen [24]. Persistierende Erhöhungen von AP und J-GT sollten auch an die seltene Möglichkeit einer sekundär sklerosierenden Cholangitis denken lassen (. Abb. 43.1). i Krankheitsbilder, die mit einer sepsisinduzierten Cholestase einhergehen, haben generell eine schlechte Prognose (»signum mali ominis«), die durch den Schweregrad der zugrunde liegenden Erkrankung und nicht durch die Cholestase per se bestimmt wird.
Management Die kausale Therapie der sepsisinduzierten Cholestase besteht in einer Antibiose und/oder der chirurgischen Herdsanierung. Medikamente mit vorwiegend biliärer Elimination sollten in ihrer Dosierung angepasst oder generell gemieden werden (z. B. Fusidinsäure, Cefoperazon). Bei Cephalosporinen mit Thiotetrazolring (z. B. Cefamandol, Cefperazon) sollte aufgrund ihrer Interaktion mit dem Vitamin-K-Metabolismus auf eine ausreichende Vitamin-K-Subsititution geachtet werden. Das Vorliegen einer Cholestase darf jedoch kein Hinderungsgrund für die Gabe von Antibiotika mit primär renaler Elimination sein. Die Gabe von Ursodeoxycholsäure oder der Einsatz von extrakorporalen Leberunterstützungverfahren sind Gegenstand laufender Untersuchungen und sollten derzeit nur im Rahmen von kontrollierten Studien zum Einsatz kommen.
Die ischämische Hepatitis wird durch eine Durchblutungsstörung der zentrilobulären Läppchenanteile (. Abb. 43.1) im Rahmen eines akuten kardialen Pumpversagens, bei starken Blutverlusten und Hitzschlag sowie bei intraoperativen Druckabfällen beobachtet. Obwohl die Hypotonie einen zentralen Faktor für die Genese einer ischämischen Hepatitis darstellt, scheint ein niedriger Perfusionsdruck allein nicht auszureichen, um dieses Bild hervorzurufen [21, 36]. So entwickelten Traumapatienten mit dokumentierten 15-minütigen hypotensiven Phasen keine ischämischen Hepatitiden [36], was die Bedeutung einer präeexistenten eingeschränkten rechtsventrikulären Pumpleistung unterstreicht [17]. Patienten mit chronischer respiratorischer Insuffizienz (z. B. bei COPD oder Schlafapnoesyndrom) können ebenso eine ischämische Hepatitis entwickeln [12].
Klinik und Diagnose An eine ischämische Hepatitis sollte bei Patienten mit rapider Erhöhung der Transaminasen (10- bis 100-fach) und der LDH infolge einer hypotonen Phase oder respiratorischen Insuffizienz gedacht werden. Charakteristisch ist die rasche Reversibilität der Transaminasenerhöhung nach Korrektur der auslösenden Ursache (üblicherweise massiver Anstieg und Fall innerhalb von 3–11 Tagen) [13]. Schwere Fälle werden meist bei vorbestehender kardialer Stauungsleber infolge einer rechtsventrikulären Pumpstörung beobachtet. Patienten mit vorbestehender Leberzirrhose stellen eine Hochrisikogruppe dar. Das Auftreten von Gerinnungstörungen und/oder Enzephalopathie sowie die Entwicklung eines akuten Leberversagens beim primär Lebergesunden sind im Rahmen einer ischämischen Hepatitis selten.
Management Die Therapie konzentriert sich auf die Stabilisierung der Hämodynamik. In speziellen Fällen kann eine extrakorporale Leberunterstützungtherapie in Betracht gezogen werden, wobei diese Therapieverfahren gegenwärtig nur in kontrollierten Studien angewandt werden sollten. 43.1.3 TPE- (total parenterale Ernährung) und
medikamentös-induzier te Cholestase TPE kann beim Erwachsenen zu biliären Komplikationen wie Sludge, Cholezystitis, biliärer Obstruktion, Steatose und nichtalkoholischer Steatohepatitis (NASH) führen. Die durch TPE induzierte nichtmechanische intrahepatische Cholestase wird selten im Erwachsenenalter unter Kurzzeitgabe einer TPE beobachtet, stellt aber ein häufiges Problem bei Frühgeborenen dar und kann bei Erwachsenen bei einer Ernährungszeit von >3 Monaten gehäuft auftreten [7, 8]. Eine Hochrisikogruppe stellen Patienten
560
Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
mit Restdarmlänge <50 cm nach Resektion unter Langzeit-TPE dar (Zirrhoserisiko 15–40%) [7]. Pathogenetisch werden verminderte Gallesekretion durch Dysbalance gastrointestinaler Hormone, bakterielle Translokation von Darmbakterien sowie die Bildung toxischer Gallensäuren (z. B. Lithocholsäure) angeschuldigt. Die Vermeidung einer überhöhten Kalorienzufuhr sowie die zyklische Applikation der TPE mit 6- bis 12-stündigen Pausen stehen therapeutisch im Vordergrund. Über die Wirksamkeit von Metronidazol und/oder Ursodesoxycholsäure kann gegenwärtig aufgrund der beschränkten Datenlage noch keine Aussage gemacht werden. Medikamente stellen beim Intensivpatienten einen seltenen, aber wichtigen Auslöser für Cholestasen und Hepatitiden dar. Antibiotika und Antimykotika sind hier neben Psychopharmaka führend. Meist lösen Antibiotika wie Amoxicillin-Clavulansäure (100.000 : 1 Expositionen), Flucloxacillin (15.000 : 1) und Makrolide das Bild einer medikamentösen Cholestase aus [27]. Eine typische antibiotikainduzierte Cholestase manifestiert sich meist unter dem Bild einer cholestatischen Hepatitis (GPT/ AP-Ratio <2) mit einer Latenzzeit von 3 Wochen (1–6 Wochen) nach Einnahme des Medikaments, oft mit Oberbauchschmerzen, Fieber, Schüttelfrost, Pruritus und relativer Eosinophilie. Die Leberenzyme normalisieren sich meist innerhalb von 1–3 Monaten. Bei ausbleibender Normalisierung ist an das Vorliegen eines medikamentös induzierten »vanishing bile duct syndrome«, einer progredienten, meist immunologisch mediierten Zerstörung der kleineren intrahepatischen Gallenwege, zu denken. Asymptomatische, anikterische Verläufe medikamentös-toxischer Leberschäden mit isolierter Transaminasenerhöhung sind meist harmlos. Bei postoperativen Patienten sind Heparine, Antibiotika, Analgetika und NSAID führende Auslöser einer medikamentös induzierten Hepatopathie [2]. Die kausale Therapie besteht im Absetzen des/der auslösenden Medikamente. 43.1.4 Akalkulöse Cholezystitis, Gallenblasen-
Sludge beim Intensivpatienten Die alkalkulöse Cholezystitis (ACC) macht 2–12% aller Cholezystitiden aus und kann sowohl Auslöser als auch Folge einer Sepsis sein. Vor allem nach Verbrennungen, Traumata sowie herzchirurgischen Eingriffen bei älteren oder immunkompromittierten Patienten sollte an diese seltene Erkrankung gedacht werden.
Pathogenetisch scheinen neben einer Stase des Gallenblaseninhalts oder Ischämie/Hypoxie der Gallenblasenwand auch Druckerhöhungen im Gallengangsystem eine Rolle zu spielen. Die Infektion mit gramnegativen Erregern stellt letztendlich die gemeinsame pathogenetische Endstrecke dar. Risikofaktoren für das Auftretten einer ACC sind männliches Geschlecht, ausgedehnte chirurgische Eingriffe, Polytraumata, Verbrennungen, TPE über mehr als 3 Monate, mechanische invasive Beatmung und Nierenversagen [35]. Klinisch ist die ACC durch Fieber, Oberbauchschmerz rechts, Leukozytose und den typischen sonographischen Befund einer oft druckschmerzhaften, meist wandverdickten Gallenblase ohne Konkremente charakterisiert. Eine sonographische Klassifizierung des Befundes kann hilfreich sein [25], jedoch hängt die Treffsicherheit sehr stark von der Qualität des Untersuchers ab [38]. In 50% kommt es über eine ausgeprägte Schwellung der Gallenblase zur mechanischen Kompression der ableitenden Gallenwege. Die Schwierigkeit der Diagnose trägt entscheidend zur schlechten Prognose des Krankheitsbildes bei, da dieses meist verzögert erkannt wird [26]. Die Therapie besteht in der frühzeitigen Gabe von Antibiotika und Cholezystektomie. Die Feinnadelpunktion der Gallenblase mit Entlastung und Antibiotikainstillation in das Lumen stellt bei nicht operationstauglichen Patienten eine Therapiealternative dar.
Die Leber als »Täter«/Ursache
43.2
43.2.1 Akutes Leber versagen (ALV) > Definition Das akute Leberversagen wurde ursprünglich als »potenziell reversible Erkrankung infolge eines schweren Leberschadens ohne vorbestehende Lebererkrankung mit Auftreten von hepatischer Enzephalopathie innerhalb von 8 Wochen nach Einsetzen erster Symptome« definiert. In der aktuellen Definition wird anhand des Zeitfensters zwischen Auftreten von Ikterus und Enzephalopathie zwischen hyperakutem, akutem und subakutem Leberversagen unterschieden (. Tab. 43.1) [31].
. Tabelle 43.1. Definition des akuten Leberversagens. (Nach O´Grady et al. [31])
43
Leberversagen
Hyperakut
Akut
Subakut
Zeit (Ikterus → HE)
0–7 Tage
8–28 Tage
5–12 Wochen
Hirnödem
Häufig
Häufig
Selten
Prothrombinzeit
++
++
+
Bilirubin
+
++
++
Prognose (ohne LTX)
Mittel
Schlecht
Schlecht
Typische Ätiologie
Paracetamol
Virushepatitis
Non-A-E-Hepatitis
HE hepatische Enzephalopathie; LTX Lebertransplantation.
561 43.2 · Die Leber als »Täter«/Ursache
. Tabelle 43.2. Ätiologie des akuten Leberversagens Ursache
Symptomatik
Viral
4 Fulminante Hepatitis A/B (D) 4 Fulminante Hepatitis E (Endemiegebiet, Gravidität) 4 HSV-1, EBV, CMV
Toxisch
4 Paracetamol (>10 g/Tag; bei chronischem Alkoholabusus >3–4 g/Tag) 4 Idiosynkratische Medikamentenreaktion 4 Ecstasy (3–4 Methylendioxymethamphetamin, MDMA) 4 Amanita phalloides
Metabolisch
4 M. Wilson
Andere Ursachen
4 4 4 4 4
Ischämische Hepatitis Budd-Chiari-Syndrom Akute Schwangerschaftsfettleber Autoimmunhepatitis Maligne Leberinfiltration
Ätiologie Die häufigsten Ursachen eines akuten Leberversagens in Europa sind die fulminante Virushepatitis (schlechtere Prognose bei Hepatitis B), Pilzvergiftungen und andere toxische bzw. medikamentöse Ursachen (. Tab. 43.2). Demgegenüber ist in Großbritannien und den USA die (oft suizidale) Paracetamol-Vergiftung führend vertreten. In einer prospektiven US-Multicenterstudie aus dem Zeitraum 1998–2001 an 308 Patienten mit akutem Leberversagen war eine medikamentös-toxische Ätiologie mit 51% der Fälle am häufigsten (Paracetamol 39%, Idiosynkrasie 13%), während die Ätiologie in 17% unklar blieb [32].
Pathophysiologie Die akute hepatische Enzephalopathie (HE) mit konsekutivem Hirnödem ist zentrales Merkmal des akuten Leberversagens. Höhergradige HE (Grad 3–4) und Hirnödem mit Gefahr der Hirnstammeinklemmung verschlechtern die Prognose dramatisch. Nach der Ammoniak-Glutamin-Hypothese führen erhöhte intrazerebrale NH3-Spiegel über vermehrte Glutaminsynthese in den Astrozyten zu einem osmotisch bedingten Hirnödem. Die arterielle NH3-Konzentration korreliert dabei mit der zerebralen NH3-Aufnahme, und arterielle Ammoniakkonzentrationen >200 Pmol/l bei HE Grad 3–4 sind mit dem Auftreten einer Hirnstammeinklemmung innerhalb der folgenden 24 h assoziiert [9]. Der intrakraniale Druck steigt beim akuten Leberversagen auch mit der Körpertemperatur; Fieber >38,5°C kann zu tödlicher Hirnstammeinklemmung führen.
Diagnose Hinweise für eine fulminante Virushepatitis sind ein rezenter Auslandsaufenthalt (Hepatitis A) oder Information über infizierte Sexualpartner (Hepatitis B). Für ein Leberversagen im Rahmen von Amanita phalloides sprechen der Genuss eines Pilzgerichtes 3–4 Tage zuvor und die Ausbildung einer Gastroenteritis vor dem Auftreten der Hepatotoxizität. Bei toxischer Ätiologie ist eine direkte, dosisabhängige Hepatotoxizität (Paracetamol, Amanita) von der dosisunabhängigen idiosynkratischen Reakti-
43
on auf verschiedene Medikamente (z. B. Antibiotika, Tuberkulostatika, NSAID, Antiepileptika) [2], aber auch pflanzliche Heilmittel zu unterscheiden. Für einen akuten M. Wilson sprechen eine Coombs-negative hämolytische Anämie, eine Ratio von alkalischer Phosphatase (U/l) zu Bilirubin (mg/dl) von <2 sowie das Vorliegen eines Kayser-Fleischer-Kornealrings (nur in ca. 50% vorhanden). Laborchemisch sollten zur weiteren Abklärung der Ätiologie Hepatitisserologie (HAV, HBV, HCV, HEV, EBV, CMV, HSV), Paracetamol-Spiegel, Amanitin-Spiegel, Coeruloplasmin und Autoantikörper (ANA, SMA) bestimmt werden. Der Nachweis eines Budd-Chiari-Syndroms ist mit bildgebenden Verfahren wie Dopplersonographie und/oder MR-Venographie möglich. Die Gewinnung einer Leberhistologie mittels transjugulärer Leberbiopsie ist v. a. bei Verdacht auf Autoimmunhepatitis, idiosynkratische Hepatitis oder maligne Infiltration hilfreich.
Klinik Leitsymptom des akuten Leberversagens ist die Trias Ikterus – Enzephalopathie – Koagulopathie. Anfangs überwiegen unspezifische Symptome wie Malaise, Nausea, Emesis und Bauchschmerzen. Später manifestiert sich das akute Leberversagen mit Ikterus, hepatischer Enzephalopathie, Koagulopathie, Hypoglykämie, metabolischer Azidose und Nierenversagen. i Aufgrund der raschen Progredienz des ALV ist bereits bei geringgradiger Enzephalopathie eine intensivmedizinische Überwachung anzustreben.
Zerebrale Manifestationen Eine höhergradige akute hepatische Enzephalopathie mit konsekutivem Hirnödem und Gefahr der tödlichen Hirnstammeinklemmung ist die gefährlichste Komplikation des ALV. Nach klinischen Hirndruckzeichen (systolische Hypertension, Bradykardie, erhöhter Muskeltonus, gestörte Pupillomotorik, fokale und generalisierte Krampfanfälle, pathologisches Atmungsmuster) sollte bei enzephalopathischen bzw. beatmeten Patienten systematisch gefahndet werden. Diese Symptome entwickeln sich jedoch häufig erst bei deutlich erhöhtem Hirndruck, was frühzeitige therapeutische Interventionen erschwert.
Hämodynamik Das ALV ist wie das fortgeschrittene chronische Leberversagen durch eine periphere Vasodilatation mit kompensatorischer hyperdynamischer Zirkulation im Sinne eines distributiven Schocks (arterielle Hypotonie, verminderter systemischer vaskulärer Widerstand, erhöhtes Herzminutenvolumen) charakterisiert. Hinzu kommen Störungen der Mikrozirkulation mit Gewebshypoxie.
Nierenversagen Das Auftreten eines Nierenversagens bei ALV ist Zeichen eines progredienten Multiorganversagens und mit schlechter Prognose verbunden. Davon abzugrenzen ist eine direkte Nephrotoxizität von Paracetamol. Etwa 30% aller Patienten mit ALV und bis zu 70% der Patienten mit Paracetamol-Intoxikation entwickeln ein akutes Nierenversagen.
Säure-Basen-Haushalt Häufig kommt es beim ALV infolge gestörter Metabolisierung von Bikarbonat zu einer metabolischen Alkalose. Die dadurch
562
Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
bedingte Erhöhung des Ammoniakpartialdrucks kann eine hepatische Enzephalopathie auslösen bzw. verschlechtern. Eine Laktazidose ist als prognostisch ungünstig zu werten. Im Rahmen einer Paracetamol-Vergiftung ist das Ausmaß der Azidose ein wichtiger Prognoseparameter in der Entscheidung zur Lebertransplantation (7 s. unten).
. Tabelle 43.3. Management des akuten Leberversagens Antidottherapie
4 N-Acetylcystein i.v. bei ParacetamolVergiftung 4 150 mg/kg KG als Bolus à 50 mg/ kg KG über 4 h o 100 mg/kg KG über 16 h 4 Silibinin i.v. bei Amanita-Intoxikation (5 mg/kg KG 4-mal täglich)
Kausaltherapie
4 Lamivudine (100–150 mg/Tag) bei akuter HBV-Infektion 4 Aciclovir/Ganciclovir/Famciclovir bei Herpeshepatitis (HSV-1, HHV-6, CMV, EBV) 4 Kortikosteroide bei Autoimmunhepatitis (Prednison 40–60 mg/Tag)
Symptomatische Therapie
4 Glukoseinfusionen (Zielzuckerspiegel 80–110 mg/dl) 4 Substitution von Albumin und Gerinnungsfaktoren 4 Hochlagerung des Oberkörpers um 30° 4 Milde Hypothermie (35–36°C)
Therapie der Komplikationen
4 Antibiotika (empirische Gabe von Breitspektrumantibiotika nach lokaler Resistenzlage bzw. gezielt nach Antibiogramm) 4 Vasopressoren 4 Kontinuierliche Hämo(dia)filtration frühzeitig bei Oligoanurie 4 Respiratortherapie (paCO2 30–35 mm Hg)
Extrakorporaler Leberersatz
4 Derzeit noch experimentell (im Rahmen von Studien)
Lebertransplantation
4 King´s-College-Kriterien (. Tab. 43.4), Clichy-Kriterien (. Tab. 43.5)
Nebenniereninsuffizienz Bei 62% der Patienten mit ALV konnte anhand eines pathologischen Synacthentests eine Nebenniereninsuffizienz nachgewiesen werden, die mit hämodynamischer Instabilität und Schweregrad des Leberversagens korrelierte.
Störung der Hämostase Das ALV ist einerseits durch eine verminderte plasmatische Gerinnung infolge hepatischer Synthesestörung und vermehrten Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, andererseits durch Thrombopenie und/oder herabgesetzte Thrombozytenfunktion gekennzeichnet. Die Prothrombinzeit ist ein wichtiger prognostischer Parameter beim ALV; ihre Verschleierung durch Substitution von Frischplasma bzw. Gerinnungsfaktoren ist zu beachten.
Infektionen Beim ALV besteht aufgrund der gestörten Immunfunktion eine erhöhte Infektneigung. Bakterielle Infektionen (vorwiegend S. aureus, E. coli) konnten in 80% und Pilzinfektionen (v. a. Candida) in 30% nachgewiesen werden [34]. Fieber und Leukozytose fehlen dabei häufig. Infektionen können überdies eine hepatische Enzephalopathie auslösen. Die Entwicklung einer systemischen Entzündungsreaktion (SIRS) mit hohen Konzentrationen inflammatorischer Zytokine ist prognostisch ungünstig.
Management Eine kausale Therapie des akuten Leberversagens existiert derzeit nur für Teilbereiche. Im Vordergrund stehen daher supportive Maßnahmen, um eine spontane Leberregeneration zu begünstigen und/oder eine Überbrückung bis zur Lebertransplantation zu gewährleisten. Bei toxischer Ätiologie kann eine rechtzeitige Antidottherapie (N-Acetylcystein bei Paracetamol, Silibinin bei Amanita phalloides) den Verlauf günstig beeinflussen. Zentrales Problem ist die zeitgerechte, interdisziplinäre Indikationsstellung zur Lebertransplantation (. Tab. 43.3). i Beim Auftreten klinischer Zeichen eines akuten Leberversagens sollte der Patient frühzeitig – jedenfalls vor Auftreten eines Hirnödems – an ein Lebertransplantationszentrum transferiert werden.
43
Kreislaufstabilisierung Entsprechend der zugrundeliegenden Vasodilatation und hyperdynamen Zirkulation ist bei fehlender Kreislaufstabilisierung trotz adäquater Hydrierung der Einsatz von Vasokonstriktoren (Noradrenalin) über einen ZVK unter arterieller Drucküberwachung indiziert. Supraphysiologische Dosen von Hydrokortison (300 mg/Tag) können in Analogie zum septischen Schock den Bedarf an Noradrenalin senken [15].
Beatmung Eine höhergradige hepatische Enzephalopathie kann durch Aspirationsgefahr oder Sekretretention eine Respiratortherapie notwendig machen. Darüber hinaus kann eine oft ausgeprägte
Agitiertheit des Patienten eine Sedierung und Intubation veranlassen. Pneumonien zählen zu den häufigsten Organinfektionen (50%) bei akutem Leberversagen. Eine Lungenbeteiligung im Rahmen eines Multiorganversagens (ARDS) ist als Kontraindikation für eine Transplantation zu werten. Zur Absenkung des Hirndrucks wird eine leichte Hyperventilation (Ziel-paCO2 30–35 mm Hg) empfohlen. Eine stärkere therapeutische Hyperventilation (paCO2 <30 mm Hg) kann zur Kupierung refraktärer ICP-Spitzen eingesetzt werden (Management des Hirnödems 7 s. unten).
Sedierung Aufgrund von Veränderungen am GABA-Rezeptor besteht eine erhöhte Sensitivität gegenüber Benzodiazepinen. Häufig genügt die alleinige Analgesie mit kurzwirksamen Opioiden. Bei erhöhtem Hirndruck kann eine stärkere Sedierung mit Barbituraten zur Vermeidung von Hirndruckspitzen und Krampfanfällen angezeigt sein. Nach neueren Daten kann alternativ Propofol (30–90 Pg/kg KG/min) verwendet werden.
563 43.2 · Die Leber als »Täter«/Ursache
Hepatische Enzephalopathie Zur Therapie der hepatischen Enzephalopathie kommen Lactulose (über Sonde bzw. rektal) und/oder L-Ornithin-L-Aspartat (intravenös) in Frage. Ammoniak kann auch durch extrakorporale Verfahren (7 s. unten) zumindest teilweise aus der Zirkulation entfernt werden. Dies erscheint besonders bei Versagen der pharmakologischen Therapie indiziert (wie in 7 Kap. 43.2.1 angeführt, sollte eine arterielle NH3-Konzentrationen >200 Pmol/l wegen der Gefahr einer Hirnstammeinklemmung unbedingt vermieden werden).
Gerinnungssubstitution Eine Substitution von Gerinnungsfaktoren bzw. Frischplasma ist nur bei manifester Blutung bzw. vor geplanter Intervention indiziert. Die Gabe von Frischplasma ist zu bevorzugen (1 ml/kg KG führt zu Faktoranstiegen von 1–1,5%). Bei Prothrombinkomplexkonzentraten ist Vorsicht geboten, da eine latente Verbrauchskoagulopathie beschleunigt werden könnte. Thrombozytenkonzentrate sollen prophylaktisch bei einer Thrombopenie <10 G/l verabreicht werden (<20 G/l bei Sepsis), bei aktiver Blutung jedoch bereits bei <50 G/l [6, 33]. Vor invasiven Prozeduren ist eine Thrombozytenzahl von >50 G/l anzustreben.
Antimikrobielle Therapie Aufgrund der erhöhten Infektneigung und der Tatsache, dass unkontrollierte extrahepatische Infektionen eine Kontraindikation gegen eine Lebertransplantation darstellen, ist eine prophylaktische antibiotische Therapie beim ALV prinizipiell zu erwägen. Allerdings konnte dafür bisher kein Überlebensvorteil nachgewiesen werden. i Eine engmaschige mikrobiologische Überwachung (Blut-, Harn- und ggf. BAL-Kulturen) zur rechtzeitigen Erfassung bakterieller und fungaler Infektionen ist obligat [33].
Virostatika Die Verwendung von Lamivudin bei fulminanter Hepatitis B ist risikoarm und bei frühem Beginn effektiv. Die Gabe von Lamivudin (100–150 mg/Tag) bei akuter Hepatitis B mit beginnendem Leberversagen (INR >2,0) begünstigt die Spontanheilung bzw. kann eine Lebertransplantation überflüssig machen. Infektionen mit Viren der Herpesfamilie sollten insbesondere bei leukopenischen oder immunsupprimierten Patienten frühzeitig suspiziert werden, da effektive medikamentöse Therapien (Aciclovir, Ganciclovir, Famciclovir) verfügbar sind.
N-Acetylcystein Die hochdosierte Gabe von N-Acetylcystein (NAC) ist Therapie der Wahl bei Paracetamol-Vergiftung. NAC kann bei Verabreichung innerhalb von 10 h nach der Einnahme von Paracetamol die Entwicklung von Lebernekrosen verhindern; ein positiver Effekt auf die Überlebensrate wurde bis zu 72 h Ingestion beobachtet [14]. Das vom King´s College Hospital (London) etablierte Schema umfasst einen einmaligen Behandlungszyklus (. Tab. 43.3).
Management des Hirnödems Patienten mit höhergradiger Enzephalopathie benötigen ein engmaschiges neurologisches Monitoring mit spezieller Beachtung einer Hirndrucksymptomatik. Ob ein invasives Hirndruckmonitoring durchgeführt werden soll, wird kontrovers beurteilt [33].
43
Die kontinuierliche Überwachung des intrakraniellen Drucks (ICP, Ziel <20 mm Hg) und des zerebralen Perfusionsdrucks (CPP, Ziel >60 mm Hg) ist sensitiver als die klinischen Hirndruckzeichen (7 s. oben »Zerebrale Manifestationen«). Diesem theoretischen Vorteil steht aber eine beträchtliche Komplikationsrate (Blutung, Infektion) gegenüber. Ein Überlebensvorteil durch den Einsatz von Hirndrucksonden beim ALV konnte bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden. Eine Hochlagerung des Oberkörpers um 30° senkt den Hirndruck durch Verbesserung des venösen Abflusses und ist auch als Aspirationsprophylaxe sinnvoll. Bei akuten Hirndruckspitzen bzw. klinischen Hirndruckzeichen empfiehlt sich primär die Infusion von Mannitol 20% 0,5–1 g/kg KG über 15 min unter Beachtung der Diurese und Serumosmolalität (<320 mOsmol). Bei fehlendem Ansprechen auf Mannitol können alternativ eine kurzfristige therapeutische Hyperventilation (paCO2 25–30 mm Hg), eine Propofol- bzw. Thiopental-Narkose oder eine therapeutische Hypothermie (7 s. unten) eingesetzt werden.
Nierenersatztherapie Bei Oligoanurie empfiehlt sich der frühzeitige Einsatz einer extrakorporalen Nierenersatztherapie. Aufgrund der hämodynamischen Instabilität und der Gefahr rascher Osmolaritätsverschiebungen bei konventioneller Hämodialyse kommen bei höhergradiger Enzephalopathie primär kontinuierliche Verfahren in Frage. Als Antikoagulation wird bei thrombopenischen Patienten Epoprostenol bevorzugt, ggf. auch in Kombination mit niedrigdosiertem Heparin. Für eine extrakorporale Leberunterstützungstherapie wurde beim akuten Leberversagen bisher kein eindeutiger Benefit gezeigt (7 Kap. 43.2.3).
Therapeutische Hypothermie Aufgrund der Korrelation zwischen Körpertemperatur und intrakraniellem Druck (7 Kap. 43.1.1: »Pathophysiologie«) erscheint eine therapeutische Hypothermie prinzipiell sinnvoll. In einer Pilotstudie konnte durch Kühlung des Patienten auf 32–33°C eine Senkung des ICP von 45 auf 16 mm Hg und eine Verbesserung des CPP von 45 auf 70 mm Hg erzielt werden [18]. Eine derartige therapeutische Hypothermie kommt v. a. bei therapieresistentem Hirnödem als Bridging zur Lebertransplantation in Frage. Mögliche Nachteile einer Hypothermiebehandlung sind gestörte Infektabwehr, beeinträchtigte Blutgerinnung und Herzrhythmusstörungen.
Lebertransplantation (LTX) Die notfallmäßige Lebertransplantation hat mit Überlebensraten von 50–80% einen wichtigen Fortschritt im Management des akuten Leberversagens gebracht. Netzwerke wie Eurotransplant ermöglichen mittels sog. »high-urgency (HU) requests« meist eine Organbeschaffung innerhalb von 48 h. Problematisch ist jedoch die Tatsache, dass aufgrund des Zeitdrucks oft marginale Spenderorgane akzeptiert werden müssen. Es stellt eine besondere klinische Herausforderung dar, Patienten mit potenziell fatalem Verlauf frühzeitig zu identifizieren und rechtzeitig einer Notfall-LTX zuzuführen. Andererseits hat die Leber ein hohes Regenerationspotenzial, und unnötige Lebertransplantationen müssen vermieden werden. Bei persistierendem Leberversagen mit Syntheseausfall, progredienter Hyperbilirubinämie und renaler Dysfunktion ist das Abwarten einer Spontanregeneration meist durch Auftreten einer Sepsis oder Multiorganversagens kompliziert, welche eine
564
Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
. Tabelle 43.4. King´s-College-Kriterien zur Notfall-LTX. (Nach O´Grady et al. [30]; Bernal et al. [4]). Ursache
King´s-College-Kriterien
ParacetamolIntoxikation
4 pH-Wert <7,3 unabhängig vom Grad der Enzephalopathie1 oder 4 Laktat arteriell >3,5 mmol/l2 oder 4 innerhalb von 24 h: – hepatische Enzephalopathie Grad 3/4 und – Prothrombinzeit >100 s (INR >6,5) und – Kreatinin >300 µmol/l (3,4 mg/dl)
Andere Ätiologien
4 Prothrombinzeit >100 s (INR >6,5) 4 oder mindestens 3 der folgenden Kriterien: – Alter <10 oder >40 Jahre – Ätiologie Non-A-E-Hepatitis, Halothan, Idiosynkrasie – Auftreten von Enzephalopathie >7 Tage nach Beginn des Ikterus – Prothrombinzeit >50 s (INR >3,5) – Bilirubin >300 µmol/l (>17,4 mg/dl)
1 Gilt 24 h nach Aufnahme im Referenzzentrum und adäquater Rehydrierung. 2 bzw. >3 mmol/l 12 h nach adäquater Rehydrierung.
. Tabelle 43.5. Clichy-Kriterien. (Nach Bismuth et al. [5]). Alter
Clichy-Kriterien
Alter <30 Jahre
4 Hepatische Enzephalopathie Grad 2–4 plus 4 Faktor V <20%
Alter >30 Jahre
4 Hepatische Enzephalopathie Grad 2–4 plus 4 Faktor V <30%
King᾽s-College-Kriterien unterlegen. Diese Limitationen sind bei der Indikationsstellung zur Notfall-LTX zu berücksichtigen. 43.2.2 Akut-auf-chronisches Leber versagen
(ACLV) > Definition Beim akut-auf-chronischen Leberversagen (»acute-on-chronic liver failure«; ACLF) handelt es sich um eine akute Verschlechterung der Leberfunktion auf dem Boden einer vorbestehenden, chronischen Hepatopathie (Leberzirrhose). Dies ist mit einer kritischen Verschlechterung der Prognose verbunden: die Krankenhausmortalität beträgt anhand der vorliegenden Daten 50–66%. Die genaue Definition des ACLV ist noch im Fluss; derzeit ist folgende Arbeitsdefinition gängig [19]: 4 akute Verschlechterung der Leberfunktion über 2–4 Wochen, 4 präzipitierendes Ereignis (Infektion, GI-Blutung, Exazerbation der Grundkrankheit), 4 Ikterus plus hepatische Enzephalopathie (Grad 2–4) und/oder hepatorenales Syndrom, 4 SOFA (Sepsis-Related Organ Failure Assessment)-Score >8.
Ätiologie Zu den häufigsten präzipitierenden Ereignissen gehören Infektionen (z. B. Pneumonie, spontan-bakterielle Peritonitis, Harnwegsinfekt), schwere GI-Blutung (z. B. Ösophagusvarizenblutung) sowie die Exazerbation der Grundkrankheit (z. B. alkoholische Hepatitis oder akuter Schub einer chronischen Hepatitis B).
Pathophysiologie Zentral ist eine systemische Entzündungsreaktion (SIRS) infolge bakterieller Infektionen oder alkoholischer Hepatitis. Die vermehrte Produktion von NO und proinflammatorischen Zytokinen kann über systemische Vasodilatation zur Entwicklung eines hepatorenalen Syndroms beitragen. Anhand rezenter Daten wird auch die hepatische Enzephalopathie durch SIRS moduliert.
Differenzialdiagnose
43
klare Kontraindikation zur Transplantation darstellen. Das therapeutische Fenster zur Notfall-LTX ist somit sehr eng. Zentrumsabhängig wurden verschiedene Kriterien für eine frühzeitige Indikationsstellung erarbeitet. Am besten validiert sind die britischen King᾽s-College-Kriterien (eigene Kriterien für Paracetamol bzw. Non-Paracetamol; . Tab. 43.4) [30] sowie die französischen Clichy-Kriterien (. Tab. 43.5), welche an Patienten mit fulminanter Virushepatitis erarbeitet wurden [5]. Eine Verbesserung der Prognosestellung bei Paracetamol-Intoxikation gelang durch Einbeziehung des Serumlaktats [4]. Weiterhin zeigte sich eine deutliche Abhängigkeit der Prognose des ALV von der Ätiologie (>50% Überleben ohne LTX bei Paracetamol, Hepatitis A, ischämischer Hepatitis und Schwangerschaftsfettleber [32]). In verschiedenen Validierungsstudien bei durch Paracetamol und bei nicht durch Paracetamol bedingtem ALV zeigten die King᾽s-College-Kriterien einen positiv-prädiktiven Wert von 70– 100%, aber einen negativ-prädiktiven Wert von nur 25–94% [33]. Die Clichy-Kriterien waren bei ALV nichtviraler Ätiologie den
Die Identifizierung des auslösenden Ereignisses (7 s. unten; . Tab. 43.7) steht im Vordergrund der differenzialdiagnostischen Überlegungen. Die Unterscheidung vom akuten Leberversagen gelingt meist anhand klinischer, bildgebender und/oder laborchemischer Zirrhosezeichen als Hinweis auf eine präexistente Hepatopathie.
Klinik Patienten mit ACLV werden meist wegen Ikterus, therapieresistentem Aszites (meist in Kombination mit einem hepatorenalen Syndrom) oder höhergradiger hepatischer Enzephalopathie auffällig.
Hepatorenales Syndrom (HRS) Das hepatorenale Syndrom ist ein funktionelles Nierenversagen infolge fortgeschrittener Leberinsuffizienz. Es wird nach den Diagnosekriterien des International Ascites Club wie folgt definiert [3]: 4 fortgeschrittenes Leberversagen, 4 Serumkreatinin >1,5 mg/dl,
565 43.2 · Die Leber als »Täter«/Ursache
4 Fehlen von Schock, bakterieller Infektion, gastrointestinalen oder renalen Flüssigkeitsverlusten, (rezenter) Behandlung mit nephrotoxischen Substanzen, 4 fehlende Besserung nach Absetzen von Diuretika und Plasmavolumenexpansion (»fluid challenge« mit 1500 ml einer isotonischen Lösung), 4 Proteinurie <500 mg/d, normales Nierensonogramm. Pathogenetisch spielt eine renale Minderperfusion infolge systemischer Vasodilatation und reaktiver Aktivierung von Sympathi. Tabelle 43.6. Schweregrade der HE (West Haven Criteria) Grad
Kriterien
Grad 0
Mentalstatus normal; psychometrische Tests pathologisch (z. B. Zahlenverbindungstest)
Grad 1
Aufmerksamkeitsdefizit, Euphorie/Ängstlichkeit, Rechenschwäche
Grad 2
Lethargie, zeitliche Desorientierung, Persönlichkeitsveränderung, inadäquates Verhalten
Grad 3
Somnolenz bis Stupor, Verwirrtheit, grobe Desorientierung, bizarres Verhalten
Grad 4
Koma
43
kus und Renin-Angiotensin-Aldosteron-System eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wird die Existenz eines sog. hepatorenalen Reflexes diskutiert. Je nach Verlauf unterscheidet man ein HRS Typ 1 (rasch progrediente Form mit t2-fachem Anstieg des Serumkreatinins auf >2,5 mg/dl innerhalb von 2 Wochen) und ein HRS Typ 2 (chronische Form mit einem Serumkreatinin von 1,5–2,5 mg/ dl). Therapeutisch kann das HRS durch die Antagonisierung der systemischen Vasodilation mit einem Vasokonstriktor (Terlipressin bzw. Noradrenalin) und/oder eine Plasmavolumenexpansion mittels Humanalbumin durchbrochen werden (7 s. unten; . Tab. 43.7). In einer kleinen unkontrollierten Studie war das HRS Typ 1 durch kombinierte Gabe von Terlipressin und Albumininfusion in 7 von 9 Fällen reversibel [40]. Eine prophylaktische Albumingabe nach spontan-bakterieller Peritonitis (SBP) und anderen bakteriellen Infektionen kann die Entwicklung eines HRS verhindern und das Überleben verlängern.
Hepatische Enzephalopathie (HE) Die hepatische Enzephalopathie (HE) ist definiert als metabolisch induzierte, potenziell reversible Funktionsstörung des ZNS infolge akuter oder chronischer Leberdysfunktion bei Fehlen anderer neuropsychiatrischer Erkrankungen [11]. Typischerweise findet sich ein grobschlägiger Tremor (Asterixis, »flapping tremor«). Klinisch wird die HE in 5 Schweregrade eingeteilt (West Haven Criteria; . Tab. 43.6).
. Tabelle 43.7. Management des akut-auf-chronischen Leberversagens Kontrolle der Auslöser
4 Intensive Infektsuche und rasche antibiotische Therapie 4 Kontrolle von gastrointestinalen Blutungen 4 Alkoholabstinenz
Hepatorenales Syndrom (HRS) Typ 1
4 Monitoring der Diurese (Harnkatheter!) 4 Plasmavolumenexpansion + Vasokonstriktor 4 Humanalbumin: 1 g/kg KG am Tag 1, danach 20–40 g/Tag – alternativ: ZVD-gesteuert (>4 mm Hg) 4 Terlipressin 3 mg/Tag (0,5 mg alle 4 h), – bei Therapieresistenz alle 3 Tage verdoppeln bis zu maximal 12 mg/Tag – alternativ: Noradrenalin 0.5–3 mg/h über ZVK 4 bei Therapieresistenz evtl. Leberersatztherapie (7 Kap. 43.3) oder transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt (TIPS)1 Prophylaxe: Meiden von nephrotoxischen Substanzen; Volumentherapie mit Albumin bei SBP und anderen bakteriellen Infektionen
Höhergradige hepatische Enzephalopathie (HE)
4 4 4 4 4 4 4
Leberersatztherapie
7 Kap. 43.3.3
Lebertransplantation
Höchstmögliche Priorität (Eurotransplant: T2)
Ausgleich von Hypovolämie und Elektrolytentgleisungen Therapieversuch mit Flumazenil (okkulte Benzodiazepingabe?) Normale Proteinzufuhr (1,2 g/kg KG)2 Laktulose über Magensonde bzw. rektal (geringe Evidenz) L-Ornithin-L-Aspartat i.v. 20–40 g/Tag (Evidenz nur für HE Grad 1–2) Bei Therapieresistenz evtl. Leberersatztherapie (7 Kap. 43.3) Bei HE-Grad 4 großzügige Indikation zur Intubation (Aspirationsgefahr!)
1 Voraussetzungen für TIPS-Implantation: Alter <65 Jahre, gute kardiale Pumpfunktion (EF >50%), keine früheren HE-Episoden, Bilirubin <5 mg/dl, Child-Pugh-Score <12, Option der Lebertransplantation. 2 Proteinrestriktion führte in einer randomisierten Studie zu keiner rascheren Besserung des HE-Grads (Cordoba et al. [10]).
566
Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
Eine höhergradige HE (Grad 2–4) tritt beim Zirrhotiker meist episodisch – ausgelöst durch Infektion, GI-Blutung, Hypovolämie, Elektrolytstörungen (Hypokaliämie) oder nach Benzodiazepingabe – auf. Bei HE-Grad 4 (Leberkoma) besteht aufgrund reduzierter Schutzreflexe eine erhöhte Aspirationsgefahr. Therapeutisch stehen die Kontrolle der auslösenden Faktoren sowie ammoniakspiegelsenkende Maßnahmen im Vordergrund (. Tab. 43.7). Proteinrestriktion ist heute obsolet; in einer rezenten Studie verbesserten sich HE-Episoden unabhängig von normaler (1,2 g/kg KG) oder reduzierter Proteingabe [10]. Eine rezente Metaanalyse ergab auch keine Evidenz für den Nutzen von Disacchariden (z. B. Laktulose) [1]. Die beste Evidenz existiert für L-Ornithin-L-Aspartat (LOLA), allerdings anhand der vorliegenden Daten nur bei HE Grad 0–2 [22]. Die Wirksamkeit bei geringgradiger HE rechtfertigt unseres Erachtens den Einsatz von LOLA auch bei höhergradiger HE. Zu beachten ist die Kontraindikation zur LOLA-Infusion bei einem Serumkreatinin >3 mg/dl (z. B. bei begleitendem HRS). i Oft bessert sich eine höhergradige HE durch alleinigen Elektrolyt- und Flüssigkeitsausgleich.
. Tabelle 43.8. Extrakorporale Leberunterstützungssysteme System
Beispiele
Bioartifizielle Systeme
4 ELAD (»extracorporeal liver assist device«) 4 BAL (»bioartificial liver«, HepatAssist) 4 AMC-BAL (Academic Medical Center [Amsterdam] »bioartificial liver«) 4 MELS (»modular extracorporeal liver support«)
Zellfreie Systeme
4 Hämoperfusion über Aktivkohle (»charcoal hemoperfusion«) 4 BiologicDT (»sorbent suspension dialysis«) 4 MARS (»molecular adsorbents recirculation system«) 4 Prometheus (»fractionated plasma separation and adsorption« FPSA)
sprechen. . Tab. 43.8 zeigt die extrakorporalen Leberunterstützungssysteme.
Bioartifizielle Systeme Management Im Vordergrund stehen die Kontrolle der auslösenden Faktoren und die symptomatische Therapie der sekundären Endorganversagen (HRS, HE; . Tab. 43.7). i Da Infektionen zu den häufigsten Auslösern zählen, ist eine intensive Infektsuche (Thoraxröntgenaufnahme, diagnostische Parazentese, Harn- und Blutkulturen!) und rasche antibiotische Therapie (Soforttherapie empirisch je nach lokaler Resistenzlage, danach möglichst gezielter Antibiotikaeinsatz nach Antibiogramm) sehr wichtig.
Eine Kausaltherapie ist angesichts der weitgehend unbekannten Pathophysiologie gegenwärtig nicht möglich. Zum Stellenwert der extrakorporalen Leberersatztherapie 7 Kap. 43.3. Ein aggressives Management auf der Intensivstation kann die akute Lebensgefahr in vielen Fällen abwenden, doch besteht aufgrund der persistierenden chronischen Leberinsuffizienz ein hohes Risiko für rezidivierendes ACLV. Langfristig kann die Prognose nur durch eine rasche Lebertransplantation mit höchstmöglicher Prioriätsstufe (im Eurotransplant-Bereich T2Listung) verbessert werden, wobei jedoch die Verfügbarkeit von Spenderorganen limitierend ist. Im Fall einer floriden Alkoholhepatitis als Auslöser spielt auch die Frage der Abstinenz bzw. des Rückfallrisikos eine wichtige ethische Rolle.
43 43.2.3 Extrakorporaler Leberersatz Künstliche Leberersatzverfahren werden bereits seit über 2 Jahrzehnten – bisher ohne einen durchschlagenden klinischen Erfolg – entwickelt. Angesichts der sehr komplexen Funktionen der Leber (Galleproduktion, Entgiftung, Synthese, Stoffwechselhomöostase, Immunfunktion) mag dies nicht verwundern. Während zu Beginn vorwiegend bioartifizielle Systeme entwickelt wurden, liegt derzeit der Fokus der Entwicklung auf zellfreien Detoxifikationssystemen. Letztere können nur die Teilfunktion »Entgiftung« ersetzen, und man sollte daher besser von »Leberunterstützung« (»artificial liver support«) als von »Leberersatz«
Bioartifizielle Systeme enthalten Hepatozyten menschlicher oder tierischer Herkunft in Bioreaktoren, welche nicht nur Entgiftungs-, sondern auch Synthesefunktionen übernehmen sollen. Dabei wurden kryopräservierte Hepatozyten aus überzähligen Spenderlebern, humanen Tumorzelllinien und Schweinehepatozyten eingesetzt. Limitierend sind die geringe erreichbare Leberzellmasse (50–200 g), die fehlende physiologische Architektur des Leberzellverbandes entlang von Hohlfasern (fehlendes Stroma, fehlendes Pfortader- und Gallengangsystem) und die beträchtlichen Kosten.
Detoxifikationssysteme Detoxifikationssysteme sollten primär die Entgiftungsfunktion der Leber unterstützen und dadurch die Leberregeneration begünstigen. Ein wichtiges Element ihres Benefits dürfte die Therapie von Endorganversagen sein (Entfernung von Ammoniak bei der hepatischen Enzephalopathie, Entfernung von zirkulierenden Vasodilatoren und harnpflichtigen Substanzen bei hepatorenalem Syndrom). Die ersten derartigen Verfahren, die Hämoperfusion über Aktivkohle und das BiologicDT-System, wurden inzwischen wegen fehlender Wirksamkeit wieder verlassen.
MARS Das Molecular Adsorbents Recirculating System (MARS; Gambro; . Abb. 43.3a), eine Form der Albumindialyse, wurde an der Universität Rostock entwickelt, ist seit 1999 CE-zertifiziert und stellt derzeit das am häufigsten eingesetzte Therapieverfahren dar. Im Blutkreislauf befindet sich ein spezieller Filter (MARSFlux) mit einer Porengröße von 50 kD, welcher für Albumin undurchlässig ist, aber den Übertritt von hydrophoben Substanzen (Toxinen) ermöglicht. Im Sekundärkreislauf zirkuliert eine Albuminlösung hoher Konzentration. Ein Dialysatkreislauf mit einem Low-flux-Dialysator ist am Sekundärkreislauf nachgeschaltet. In zwei kleinen randomisierten Studien bei ACLV zeigte MARS einen Überlebensvorteil gegenüber Hämodiafiltration (beim hepatorenalen Syndrom) bzw. Standardtherapie. In der letzteren Studie an 24 Patienten mit ikterischem Leberversagen unterschiedlicher Ätiologie (vorwiegend schwere alkoholische
567 Literatur
43
. Abb. 43.3a, b. Schematische Darstellung von MARS (a) und Prometheus-System (b). An den Blutkreislauf sind jeweils ein Sekundärkreislauf, in welchem albumingebundene Toxine adsorbiert werden, sowie ein Dialysatkreislauf gekoppelt. Die beiden Systeme unterscheiden sich in den Filtern des Blutkreislaufs (MARS-Flux vs. AlbuFlow, Erklärung s. Text), den Adsorbern und Dialysatoren sowie der Anordnung des Dialysatkreislaufs
. Tabelle 43.9. Indikationen und Kontraindikationen zur extrakorporalen Leberunterstützungstherapie. (Mod. nach Jalan et al. [20]) Mögliche Indikationen
4 Akut-auf-chronisches Leberversagen 4 Schwere alkoholische Hepatitis 4 Therapierefraktärer cholestatischer Pruritus 4 Vergiftungen mit stark albumingebundenen Substanzen
Kontraindikationen
4 Unkontrollierte Koagulopathie (besonders DIC) 4 Unbeherrschbare Sepsis 4 Unstillbare GI-Blutung
Hepatitis mit Leberzirrhose) wurde das 30-Tage–Überleben von 6/12 in der Kontrollgruppe auf 11/12 in der MARS-Gruppe verbessert [16]. Präliminäre Daten einer randomisierten Studie an 70 Patienten zeigen eine beschleunigte Verbesserung höhergradiger HE durch MARS. Weiterhin ist ein Benefit der MARS-Therapie bei therapierefraktärem cholestatischem Pruritus anhand mehrerer kleiner unkontrollierter Studien und Fallserien dokumentiert.
Prometheus Das Prometheus-Verfahren (Fractionated Plasma Separation and Adsorption, FPSA; Fresenius Medical Care; . Abb. 43.3b) hat ebenso wie das MARS einen Blut-, Sekundär- und Dialysatkreislauf, unterscheidet sich aber im Aufbau und in den verwendeten Filtern. Der Blutfilter (AlbuFlow) hat eine größere Porengröße von 300 kD und ist damit durchlässig für das patienteneigene Albumin, welches im Sekundärkreislauf direkt über die Adsorber geführt wird. Der Dialysatkreislauf ist parallel an den Blutkreislauf angeschaltet und enthält einen High-flux-Dialysator. In einer randomisierten Cross-over-Studie an 8 Patienten mit ACLV konnten wir mit beiden Systemen eine vergleichbare Bilirubinelimination bei etwas höherer Bilirubinclearance durch Prometheus zeigen [23]. Bisher existieren keine Daten aus randomisierten Studien zum klinischen Outcome einer PrometheusTherapie.
Indikationen Der Einsatz extrakorporaler Leberunterstützungssysteme ist anhand der aktuellen Datenlage (noch) als experimentell anzusehen, und die Indikationen können erst nach Abschluss laufender randomisierter Studien mit größerer Patientenzahl definiert werden. Mögliche Indikationen aus heutiger Sicht sind in . Tab. 43.9 dargestellt. Eine Metaanalyse von randomisierten Studien mit verschiedenen Leberunterstützungsverfahren ergab einen signifikanten Überlebensvorteil beim ACLV (n=129), nicht jedoch beim ALV (n=354). Einschränkend ist die Heterogenität der analysierten Studien festzuhalten. Um verlässliche Empfehlungen geben zu können, müssen die Ergebnisse derzeit laufender Studien mit MARS und Prometheus an ausreichend großen Patientenzahlen abgewartet werden.
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Kapitel 43 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen, Leberversagen
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43
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44 Akute Pankreatitis J. Schölmerich
44.1
Grundlagen
44.1.1 44.1.2 44.1.3 44.1.4 44.1.5
Epidemiologie –570 Ätiologie –570 Pathophysiologie –570 Klinik –570 Komplikationen –570
44.2
Diagnostik
44.2.1 44.2.2 44.2.3 44.2.4
Differenzialdiagnose –571 Diagnosesicherung –571 Abklärung der Ätiologie –572 Einschätzung der Prognose –572
44.3
Therapie
44.3.1 44.3.2 44.3.3 44.3.4 44.3.5 44.3.6
Konservative Basistherapie –574 Medikamentöse Behandlung –574 Beseitigung der Ursachen –575 Therapie von Komplikationen –575 Operative Therapie –575 Interventionelle Therapie –576
44.4
Über wachung
44.5
Prognose und Folgetherapie Literatur
–570
–571
–574
–576
–576 –576
570
Kapitel 44 · Akute Pankreatitis
44.1
Grundlagen
Die akute Pankreatitis repräsentiert ein Krankheitsbild, das von einer milden Entzündung der Bauchspeicheldrüse bis zur Sepsis, zum Multiorganversagen und zum Tod reichen kann. Morphologisch reicht das Spektrum von der interstitiell ödematöse (80–90% der Fälle) bis zur hämorrhagisch-nekrotisierenden Pankreatitis mit (sub)totaler Nekrose (10–20%). i Die Prognose korreliert mit dieser morphologischen Einteilung: Die Letalität der ödematösen Pankreatitis ist nahezu Null, die der hämorrhagisch-nekrotisierenden Form liegt bei 10–40%.
44.1.1 Epidemiologie Die Erkrankung ist relativ häufig. In Großbritannien hat die Inzidenz zwischen 1960 und 1990 deutlich zugenommen, wobei unklar ist, inwieweit verbesserte diagnostische Techniken zu diesem Anstieg beitragen. In Deutschland liegt die Inzidenz bei 20/100 000/Jahr, der Altersgipfel bei 35–44 Jahren. Männer sind zu 50% häufiger betroffen als Frauen [10]. Es wird immer noch ein überraschend hoher Anteil der Erkrankungen erst autoptisch diagnostiziert [11]. 44.1.2 Ätiologie Ätiologisch kann man zwischen biliären (40–60%), alkoholtoxischen (20–40%) und einer Gruppe idiopathischer und durch seltene Ursachen (Hyperparathyreoidismus, Medikamente, Trauma, Infekte, Hyperlipoproteinämie) bedingten Pankreatitiden (bis 20%) unterscheiden. Hinzu kommt eine größere Gruppe nicht exakt definierter Entzündungsvarianten der Bauchspeicheldrüse nach allen Formen des Schocks und nach kardiovaskulären Eingriffen, deren genaue Häufigkeit und klinische Bedeutung derzeit ungeklärt ist [24]. In einer kürzlich veröffentlichten flächendeckenden Erhebung einer Region waren von 228 Fällen einer akuten Pankreatitis 40% biliär, 32% durch Alkohol und 18% durch andere Ursachen bedingt, für 21% ließ sich keine Ursache eruieren [10]. 44.1.3 Pathophysiologie Grundlage aller Formen der Pankreatitis ist vermutlich ein relativ uniformer Ablauf, der nach Schädigung des Organs durch mechanische, hypoxische oder toxische Einflüsse zu einer ra-
44
schen Aktivierung des Transkriptionsfaktors NFκβ in Azinuszellen und dadurch zur Freisetzung von Chemokinen führt.
Hierdurch kommt es zu einer massiven Immigration von Granulozyten, Monozyten/Makrophagen und Lymphozyten, die ihrerseits eine Vielzahl proinflammatorischer, aber auch antiinflammatorischer Substanzen freisetzen, die dann sowohl zur weiteren Zerstörung der Drüse als auch zu Effekten im Gesamtorganismus führen (. Abb. 44.1) [5, 19, 21, 23]. Von Bedeutung scheint auch eine Kupffer-Zellaktivierung in der Leber zu sein, die zu dem »Zytokinsturm« bei schwerer akuter Pankreatitis im Organismus beträgt.
. Abb. 44.1. Pathophysiologische Abläufe bei akuter Pankreatitis
i Es wird heute davon ausgegangen, dass die Mehrzahl der Effekte an anderen Organen (Lunge, Niere, ZNS und kardiovaskuläres System) durch diese Mediatoren vermittelt ist und diese auch die Prognose der schweren Form der akuten Pankreatitis bestimmen. Diese entspricht daher einem SIRS.
Es ist bislang nicht gelungen, diese pathophysiologischen Vorstellungen in überzeugende Therapiekonzepte umzusetzen. Tierexperimentelle Befunde und erste klinische Studien weisen darauf hin, dass Interventionen bezüglich dieser Immunmediatoren nur in der frühen Phase der Erkrankung wirksam sein können. 44.1.4 Klinik i Die führenden Symptome der akuten Pankreatitis sind unspezifisch (. Tab. 44.1) und schwierig abzugrenzen. Auch erlauben sie keine Differenzierung des Schweregrades der Pankreatitis [25].
Extrapankreatische Organkomplikationen treten fast ausschließlich bei der nekrotisierenden Form auf und haben prognostische Bedeutung. Sie stellen die wesentliche Indikation zur Intensivtherapie dar. Zu beachten ist, dass alle Patienten mit akuter Pankreatitis sehr sorgfältig überwacht werden müssen, da Übergänge von leichten zu schweren Formen auch unter Therapie, wenngleich selten, vorkommen und Organkomplikationen selbst nach initial unkompliziertem Verlauf auftreten können. 44.1.5 Komplikationen
Wesentliche Komplikationen der schweren akuten Pankreatitis: 4 Katecholaminpflichtiges Kreislaufversagen bzw. Schock (30–50%) 4 Nierenversagen (15–40%) 4 Lungenversagen (15–60%) 4 Enzephalopathie (20–60%) 4 Paralytischer Ileus (50–100%)
571 44.2 · Diagnostik
44
. Tabelle 44.1. Häufigkeit klinischer Symptome der akuten Pankreatitis Symptom
Häufigkeit (%)
Intensive Abdominalschmerzen
90–100
Übelkeit, Erbrechen
70–90
Meteorismus
70–80
Aszites
50–70
Temperaturerhöhung
40–50
Schock
30–50
Subikterus
30–50
Abwehrspannung
30–40
Respiratorische Insuffizienz
20–30
Pleuraerguss
15–20
Nierenversagen
10–20
Bewusstseinstrübung – Encephalopathia pancreatica
10–15
Hautphänomene
bis 10
44.2
. Abb. 44.2. Initiale Diagnostik bei akuter Pankreatitis (ERCP endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie, MRCP Magnetresonanzcholangiopankreatikographie, EUS Endoskopischer Ultraschall, CT Computertomographie, CRP C-reaktives Protein)
Diagnostik
Ziel der diagnostischen Maßnahmen ist es, die Diagnose rasch zu sichern, die Ätiologie der Pankreatitis zu klären, den Schweregrad und damit die Prognose abzuschätzen sowie Komplikationen und Verlauf zu beurteilen (. Abb. 44.2). 44.2.1 Differenzialdiagnose Die wesentlichen Differenzialdiagnosen der akuten Pankreatitis sind in der Übersicht dargestellt.
. Abb. 44.3. Serumamylase am Tag 1, 3 und 5 während akuter Pankreatitis bei Patienten mit einem später milden (Gruppe I), schweren (Gruppe II) oder fatalen (Gruppe III) Verlauf
Untersuchung, unterstützt durch laborchemische Analysen und bildgebende Verfahren.
Laboranalysen Wesentliche Differenzialdiagnosen der akuten Pankreatitis 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Mesenterialinfarkt Mesenterialvenenthrombose Akute Erkrankungen des Gallenwegsystems Kompliziertes Ulcus duodeni, Ulcus ventriculi Rupturiertes Aortenaneurysma Myokardinfarkt Akute Porphyrie Enterische Infektionen Intoxikationen (Thallium, Pilze etc.)
44.2.2 Diagnosesicherung
Zu den wichtigsten laborchemischen Methoden gehört die Bestimmung der Aktivität der Lipase im Serum. Die Bestimmung ist sensitiv, wenn der Patient innerhalb der ersten 2 Tage nach Einsetzen der klinischen Beschwerden untersucht wird [28]. ! Cave Es wurden allerdings auch schon normale Lipase- (und Amylase)werte bei letalen Formen der Pankreatitis zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme beobachtet, da insbesondere bei weitgehender Organnekrose die Serumaktivität der Enzyme rasch abfällt (. Abb. 44.3).
Da sich die Lipaseaktivität etwas langsamer als die der Amylase normalisiert und dieses Enzym für die Diagnosestellung spezifischer ist, wird es in der Notfallanalytik bevorzugt.
Bildgebende Ver fahren Diagnose und Differenzialdiagnose der akuten Pankreatitis beruhen in erster Linie auf gründlicher Anamnese und körperlicher
Von den bildgebenden Verfahren stehen Sonographie und Computertomographie im Vordergrund.
572
Kapitel 44 · Akute Pankreatitis
Die Sonographie hat den Vorteil der einfacheren Handhabung, besitzt in der Akutdiagnostik allerdings nur eine Sensitivität von 67% [25]. Vor allem die häufig ausgeprägte Darmgasbildung limitiert dieses Verfahren. Die Computertomographie ist in der Darstellung des Organs überlegen, jedoch findet sich bei 15–30% der Patienten mit leichter Erkrankung zumindes initial ein normales Computertomogramm [1]. Praktisch alle mäßig- bis schwergradigen akuten Pankreatitiden werden durch die Computertomographie aber entdeckt.
gen Wert, da sie Gallengangsteine bei diesen Patienten in der Regel nicht nachweisen kann und ein Aufstau der Gallenwege auch bei ausgeprägter Entzündung im Pankreaskopfbereich vorkommt. Der Nachweis von Gallenblasensteinen ist nicht identisch mit der Diagnose einer biliären Pankreatitis. Gleiches gilt für die Computertomographie [13, 26].
Abgrenzung anderer Erkrankungen
Inwieweit die Magnetresonanzcholangiopankreatikographie (MRCP) hier eine Rolle spielen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Bislang sollte bei schwerer Pankreatitis mit Verdacht auf eine biliäre Genese innerhalb der ersten Tage eine ERCP, evtl. mit Papillotomie und Steinextraktion, erfolgen. Zur Patientenselektion zur ERCP kann eine EUS vorgeschaltet werden [14]. Wenn ein solches Verfahren regelmäßig angewandt wird und die gewonnene Galle auch noch auf Cholesterinkristalle untersucht wird, steigt der Anteil der diagnostizierten biliären Pankreatitiden in der Regel an.
Eine Reihe von Maßnahmen ist erforderlich, um andere Erkrankungen abzugrenzen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn die Beschwerden schon länger anhalten und die Enzymbestimmung nicht mehr sicher verwertbar ist. Die Übersicht zeigt eine Liste diagnostischer Standardmaßnahmen. Standarduntersuchungen in der Diagnose der akuten Pankreatitis 5 Positiver Nachweis – Abdominelle Schmerzen mit und ohne Palpation – Erhöhte Lipase im Serum – Sonographisch oder computertomographisch typische Veränderungen 5 Ausschluss anderer Erkrankungen – Rektal digitale Untersuchung – Serumaktivität der Kreatinkinase und alkalischen Phosphatase – Röntgenuntersuchung von Thorax und Abdomen – Sonographie von Niere, Darm, Gallenblase und Gallenwegen, Leber, Milz und abdominellen Gefäßen – Elektrokardiographie
i Goldstandard ist die ERCP, die beim Nachweis einer biliären Ätiologie dann auch gleich therapeutische Interventionen erlaubt. Die Endosonographie (EUS) ist zum Steinnachweis im Choledochus sicher gleichwertig [14].
44.2.4 Einschätzung der Prognose Die Prognose der Erkrankung wird im Wesentlichen durch das Ausmaß der extrapankreatischen Organschäden bestimmt. Da heute die Mehrzahl der Patienten die 1. Woche aufgrund intensivtherapeutischer Möglichkeiten überlebt, werden dann das Auftreten von Infektionen intra- oder extrapankreatischer Nekrosen und die häufig folgende Sepsis prognosebestimmend. Diesbezüglich spielt auch das Ausmaß der Nekrose eine gewisse Rolle [3, 25] (. Tab. 44.2). Bei ausgedehnten Nekrosen kam es vor der systematischen Anwendung einer prophylaktischen Antibiotikagabe in über 80% der Fälle zu einer Infektion der Nekrose und bei etwa 10% der Patienten zu einer Sepsis mit positivem Erregernachweis [15].
44.2.3 Abklärung der Ätiologie
Computertomographie
Hier spielen laborchemische Verfahren eine geringere Rolle. Erhöhungen der Cholestaseparameter sind bei biliärer Ätiologie sensitiv, aber nicht spezifisch; die Sonographie hat einen gerin-
Da die Computertomographie mit Kontrastmittelbolus bei Weitem die höchste Aussagekraft bezüglich des Vorliegens von intra(und extra-)pankreatischen Nekrosen aufweist [1] (. Abb. 44.4), wird sie häufig zur Prognoseabschätzung eingesetzt.
. Tabelle 44.2. Prognose der akuten Pankreatitis – Einfluss einer Infektion von Nekrosen. (Nach [3]) Nekrosenausmaß
Bakteriologisch positiv
Bakteriologisch negativ
Patienten [%]
Mortalität [%]
Patienten [%]
Mortalität [%]
<30%
27
–
35
–
50%
40
39
45
13*
Subtotal/total
33
67
20
14*
Extrapankreatisch
60
59
41*
11*
Aszites
71
53
51*
17*
44
* Signifikant gegenüber der infizierten Gruppe.
573 44.2 · Diagnostik
44
. Abb. 44.4a–d. Nekrotisierende Pankreatitis im CT. a Subtotale Nekrose mit peripankreatischer Fettgewebsnekrose, Teile des Kopfes erhalten (13.11.06). b Zustand nach Punktion, Luft und nekrotisches Gewebe in der Pankreasloge (24.11.06). c Liegende Drainage, Verkleinerung der Nekrose (27.12.06). d Zustand nach Nekrosektomie, noch liegende Drainage (07.02.07)
Zahlreiche Untersuchungen haben aber gezeigt, dass der CT-Befund nur eine mäßige Vorhersagekraft (positiver Vorhersagewert 75%, negativer Vorhersagewert 70%) für einen schweren oder fatalen Verlauf der Erkrankung hat [25]. So können keineswegs bei allen Patienten mit schwerem Verlauf Nekrosen in der Computertomographie nachgewiesen werden, und umgekehrt gibt es auch etliche Patienten mit leichtem Verlauf, obwohl Nekrosen festgestellt wurden [30]. Dies liegt auch an der Schwierigkeit der sicheren Diagnose von ausschließlichen Fettgewebsnekrosen.
Scores Es wurden zahlreiche klinische Prognosescores für die akute Pankreatitis entwickelt (Übersicht bei [25, 27, 29]). Diese weisen zwar einen statistischen Bezug zum Schweregrad in Patientengruppen auf und sind daher als Kriterien für Studien geeignet, im Einzelfall sind aber die Vorhersagewerte ungenügend und nicht besser als die der bildgebenden Verfahren und einer einfachen klinischen Untersuchung. Ein einfacher Score aus Harnstoff, LDH, Interleukin-6 und Alter ist offenbar ebenso gut [27]. Prognose-Scores kommen daher im Einzelfall selten zur Anwendung.
Laborparameter Verschiedene Laborparameter wurden bezüglich ihrer Fähigkeit der Prognosevorhersage untersucht. Da die diagnoseanzeigenden Pankreasenzyme hierfür nicht geeignet sind (. Abb. 44.3) und alle sonstigen untersuchten Parameter wie Blutglukose, Leukozytenzahl oder LDH-Aktivität im Serum sich als nicht sehr zuverlässig erwiesen haben, wurden aufgrund der oben genannten pathophysiologischen Konzepte Zytokine oder die durch sie induzierten Akut-Phase-Proteine (v. a. C-reaktives Protein) und Leukozytenprodukte (Leukozytenelastase) vorgeschlagen. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl die Leukozytenelastase [6] als auch Interleukin-6 [12] ebenso wie Interleukin-8 [4] die höchsten Vorhersagewerte für einen schweren oder letalen Verlauf der Erkrankung aufweisen (. Tab. 44.3). Die Zytokine haben aber noch keinen Einzug in die Routinediagnostik gehalten. i Das C-reaktive Protein, dessen Synthese erst durch Zytokine induziert wird, erreicht seinen Gipfel erst 48 h oder später nach Einsetzen der Erkrankung und ist daher, zumindest initial, nicht als Prognoseparameter geeignet (. Tab. 44.4) [12, 20, 22, 25].
Letztlich gelingt die Prognoseabschätzung durch eine gründliche mehrmalige tägliche klinische Untersuchung ebenso gut wie durch technische oder laborchemische Verfahren [26].
574
Kapitel 44 · Akute Pankreatitis
44.3.1 Konser vative Basistherapie . Tabelle 44.3. Vorhersagewerte (PPV positiv, NPV negativ) bei optimiertem Grenzwert (ROC-Analyse) für einen schweren oder fatalen Verlauf einer akuten Pankreatitis PPV (%)
NPV (%)
Grenzwert (%)
Die konservative Basistherapie ist in . Tabelle 44.5 dargestellt. Im Vordergrund stehen Schmerzbekämpfung und Volumen- und Elektrolytsubstitution.
CRP (n)
73
73
>10 mg/dl
Schmerzbekämpfung
α1-AT (n)
59
50
>4 g/l
α2-MG (p)
82
67
<1,5 g/l
PMN-Elastase (n)
86
79
<320 µg/l
IL-6 (n)
91
82
>15 U/ml
Klinischer Score Freiburg
80
80
>3
. Tabelle 44.4. Zytokine und CRP zur Vorhersage des Schweregrades der akuten Pankreatitis [22]
Tag 1
Tag 2
Tag 3
Sensitivität [%]
Spezifität [%]
IL-6
100
86
IL-8
100
81
CRP
8
95
IL-6
100
73
IL-8
100
91
CRP
57
86
IL-6
86
91
IL-8
93
95
CRP
100
64
Für die Praxis ist derzeit daher Standard, dass mittels einer kontrastmittelverstärkten Computertomographie das Ausmaß der Nekrosen definiert wird, die Patienten mehrfach täglich klinisch untersucht werden und ab dem 3. Tag das CRP als Prognosemarker herangezogen wird. Schließlich muss sorgfältig auf das Auftreten von Infektionszeichen geachtet werden.
44 44.3
Bei der Schmerzbekämpfung ist zu beachten, dass viele Medikamente eine Verengung der Papilla Vateri bewirken oder die Darmtätigkeit hemmen können. Dies darf aber eine effektive Schmerztherapie nicht verhindern, mit Ausnahme von Morphin sind alle Opioide zur Schmerztherapie geeignet. Es werden vorwiegend Pethidin, Fentanyl und Buprenorphin eingesetzt. Selten ist ein Periduralkatheter mit Bupivacain erforderlich (. Tab. 44.5). Das früher empfohlene Procainhydrochlorid ist nicht hilfreich [8].
Supportive Therapie Bei der Flüssigkeits- und Elektrolytersatztherapie ist zu beachten, dass häufig sehr viel mehr als 3 l Flüssigkeit pro Tag und z. T. auch kolloidale Volumenersatzmittel verabreicht werden müssen, da enorme Mengen eiweißreicher Flüssigkeit in die Peritonealhöhle und in den Darm sequestriert werden. Das benötigte Volumen kann in Einzelfällen bis zu 15 l täglich betragen. Hier sind eine sorgfältige Bilanzierung und eine engmaschige Kontrolle der hämodynamischen Parameter zwingend erforderlich.
Enterale Ernährung Nahrungskarenz, Dauerdrainage des Magensaftes und parenterale Ernährung werden nach wie vor häufig angewandt, auch wenn ihr Effekt nicht durch klinische Studien belegt ist; Gleiches gilt für die Stressulkusprophylaxe. Neuere Daten legen den Schluss nahe, dass eine frühe enterale Ernährung über eine Jejunalsonde oder sogar eine gastrale Sonde [9] Vorteile gegenüber der parenteralen Ernährung bieten kann. Eine zusammenfassende Analyse von 8 prospektiven, randomisierten Studien mit 275 Patienten mit nekrotisierender Pankreatitis, von denen 141 intrajejunal oder intragastral mit Sonden und 134 parenteral ernährt wurden, belegt, dass die Patienten wenn möglich enteral und nicht parenteral ernährt werden sollten [18]. In der Regel sind wegen des Ausfalls der endokrinen Funktionen der Bauchspeicheldrüse Insulingaben erforderlich. i Die enterale Ernährung führt zu erheblicher Kostenersparnis, einer Senkung der Rate infektiöser Komplikationen, sicher nicht zu einer negativen Beeinflussung des klinischen Verlaufs und wahrscheinlich zur Verbesserung der Prognose.
Therapie 44.3.2 Medikamentöse Behandlung
Therapieziele bei der akuten Pankreatitis sind Ursachenbeseitigung, Schmerzbekämpfung, supportive Maßnahmen sowie die Prophylaxe und Therapie von Komplikationen. Dies gilt umso mehr, als eine kausale medikamentöse Therapie bislang nicht existiert und interventionelle Maßnahmen und Operation bislang nur der Beseitigung von Komplikationen dienen [7].
Hemmung der exokrinen Pankreassekretion und Proteaseinhibitoren In zahlreichen Studien wurde versucht, den Krankheitsverlauf durch Anwendung von Hormonen zur Hemmung der Enzymfrei-
575 44.3 · Therapie
44
. Tabelle 44.5. Konservative Basistherapie bei akuter Pankreatitis Schmerzbekämpfung
4 Pethidin 50–100 mg i.v. bei Bedarf, evtl. in Kombination mit Nichtopioidanalgetika (z. B. Metamizol), maximale Tagesdosis 500 mg 4 Fentanyl (0,05-0,3 µg/h) 4 Buprenorphin (maximal 4-mal 0,3 mg/Tag i.v. oder 4-mal 0,2 mg/Tag s.l.) 4 Periduralanästhesie (Bupivacain 0,125–0,5%, 4–8 ml/h)
Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution
4 Initial 3,0–6,0 l Flüssigkeit/24 h 4 Elektrolyte Bicarbonat, Albumin nach Bedarf
Ernährung
4 Parenterale Ernährung nach den üblichen Kriterien, Zusatz von Lipiden erlaubt 4 Frühzeitige enterale Ernährung über nasojejunale Sonde erwägen 4 Insulin nach Bedarf
setzung (Glukagon, Somatostatin, Octreotid, Kalzitonin) oder durch die Gabe von Proteaseinhibitoren (u. a. Aprotinin und Gabexat-Mesilat) zu beeinflussen. Obwohl sich im Tierversuch durchaus positive Effekte abzeichneten, waren die klinischen Ergebnisse bei Anwendung am Patienten bisher enttäuschend [29, 31]). i Da diese Substanzen aber auch relevante Nebenwirkungen aufweisen (z. B. Vasokonstriktion im Splanchnikusbereich), kann ihre Anwendung bei der akuten Pankreatitis derzeit nicht empfohlen werden.
Mediatorenblockade Ob sich die experimentellen Befunde zur Blockade von Tumornekrosefaktor D, Interleukin-1 oder zur Zytokindämpfung durch Interleukin-10 in die Klinik übertragen lassen werden, ist derzeit zweifelhaft. Nach wie vor ist keine medikamentöse Behandlung als wirksam gesichert [7].
Antibiotika Durch Untersuchungen der letzten Jahre ist wahrscheinlich, aber nicht unumstritten, dass die prophylaktische Anwendung von Antibiotika bei der akuten Pankreatitis sinnvoll ist, wenn biliäre Ursachen vorliegen und wenn Pankreasnekrosen nachweisbar sind [7, 17, 32]. Hierbei ist darauf zu achten, dass sowohl gallegängige als auch pankreasgängige Antibiotika bevorzugt werden, die Penetration von Antibiotika in das Pankreasgewebe sehr unterschiedlich ist und die Besiedelung der Nekrosen in der Regel durch gramnegative Keime erfolgt. Ein sofortiger Beginn scheint besser zu wirken als eine verzögerte Gabe [16].
Die akute nekrotisierende Pankreatitis ist eine der wenigen Erkrankungen, bei denen eine Prophylaxe mit hochwirksamen Antibiotika sinnvoll sein kann.
Empfohlen wird die intravenöse Anwendung von Carbapenemen oder Chinolonen, abgeraten wird von Substanzen mit mangelnder Penetration oder Anreicherung im Pankreasgewebe (z. B. Aminoglycoside, Ampicillin, Cefotaxim) [31].
44.3.3 Beseitigung der Ursachen Die Ursachenbeseitigung ist bislang nur bei der biliären Pankreatitis durch Behebung von Abflussstörungen durchführbar. Hier ist bei Anwendung der EUS bzw. ERCP für die Akutdiagnostik eine frühzeitige Papillotomie mit Steinextraktion möglich; sie führt zum raschen Rückgang der klinischen und biochemischen Aktivitätsparameter. Die Durchführung der ERCP hat keine nachteiligen Folgen, die Papillotomie ist komplikationsarm. In verschiedenen Studien wurde nach dem optimalen Zeitpunkt für diese Intervention gesucht; insgesamt muss man davon ausgehen, dass bei klinischen Zeichen einer schweren Pankreatitis eine frühzeitige Intervention sinnvoll ist [7]. Eine Papillotomie bei nichtbiliärer Pankreatitis hat sich als nicht zweckmäßig erwiesen. 44.3.4 Therapie von Komplikationen Die Letalität wird im Wesentlichen durch die extrapankreatischen Komplikationen bedingt. Prophylaxe, Früherkennung und frühzeitige Therapie dieser Komplikationen sind daher von großer Bedeutung. Die Indikation zur maschinellen Beatmung muss rechtzeitig gestellt werden; eine frühzeitige PEEP-Beatmung hat sich hier als zweckmäßig erwiesen. Eine rasche Korrektur der oft unterschätzten Flüssigkeitsverluste ist von wesentlicher Bedeutung und setzt ein angepasstes hämodynamisches Monitoring voraus. . Tabelle 44.6 gibt einen Überblick der Therapie von Komplikationen. 44.3.5 Operative Therapie Die operative Therapie der akuten Pankreatitis und insbesondere die Operationsindikation werden heute einheitlich eher zurückhaltend beurteilt. Eine Operationsindikation besteht übereinstimmend dann, wenn der Nachweis der Infektion von Nekrosen gelingt, was in der Regel durch eine gezielte Feinnadelpunktion und anschließende mikrobiologische Untersuchungen möglich ist. Allerdings werden auch hier zunehmend interventionelle Verfahren unter sonographischer oder computertomographischer Steuerung alternativ eingesetzt. Weitere Operationsindikationen können lokale Spätkomplikationen wie Abszess, Sequesterbildung oder rasch wachsende
576
Kapitel 44 · Akute Pankreatitis
. Tabelle 44.6. Intensivtherapie von Komplikation der akuten Pankreatitis (PAK Pulmonalarterienkatheter; PEEP positiver endexspiratorischer Druck) Ileus
Heber-Drainage, Einläufe, Anwendung von Prostigmin umstritten
Niereninsuffizienz
Bilanzierung, Diuretika, rechtzeitig Nierenersatzverfahren beginnen
Respiratorische Insuffizienz
O2-Gabe, frühzeitige Beatmung (inkl. PEEP), Patientenlagerung (Bauchlage oder motorbetriebenes Drehbett mit kontinuierlichem axialen Lagerungswechsel)
Kreislaufversagen
Invasives hämodynamisches Monitoring (arteriell und zentralvenös), Bilanzierung, Katecholamine
Blutzuckerentgleisung
Bilanzierte Glukosezufuhr, Altinsulininfusion
Gerinnungsstörung
Thromboembolieprophylaxe mit Heparin, ansonsten Substitution nach Bedarf
Pseudozysten sein. In allen anderen Fällen sollte die Operationsindikation nur bei deutlicher klinischer Verschlechterung trotz konservativer Maximaltherapie und Nachweis von Nekrosen gestellt werden. Sicher darf nicht allein das morphologische Ergebnis bildgebender Verfahren die Operation begründen. Wenn operiert wird, sollte eine Nekrosektomie mit Bursalavage erfolgen (Spüllösung: Peritonealdialyselösung mit 4 mmol/l KCl und 250–500 Einheiten Heparin/l) [7].
Bei Nachweis einer biliären Genese ist die baldige elektive Cholezystektomie erforderlich, auch wenn initial eine Papillotomie erfolgt ist. Bei Pancreas divisum und rezidivierenden Pankreatitiden ist die Drainage mittels endoskopischer Techniken und selten auch eine operative Intervention sinnvoll. Bei alkoholinduzierter und medikamentös verursachter Erkrankung ist eine entsprechende Karenz erforderlich.
Literatur 44.3.6 Inter ventionelle Therapie In den letzten Jahren wurde von einzelnen Zentren über gute Erfolge mit der nichtoperativen Nekrosedrainage und -spülung berichtet. Bis zu 12 CT-gesteuert platzierte Drainagen werden eingeführt und gespült, wobei die Zielkriterien die gleichen wie bei der operativen Drainageeinlage sind. Perkutane oder endoskopische transgastrische Nekrosektomien stellen Alternativen zu chirurgischen Verfahren dar [7] (. Abb. 44.4). Inwieweit diese Verfahren die Zahl der Operationen weiter reduzieren werden, ist derzeit nicht endgültig absehbar. 44.4
Überwachung
Die Früherkennung potentiell letaler Komplikationen ist von wesentlicher Bedeutung. Eine engmaschige Überwachung mittels klinischer, laborchemischer und bildgebender Verfahren ist daher erforderlich; insbesondere Gasaustausch, Nierenfunktionen und Infektionsparameter sollten lückenlos überprüft werden. 44.5
44
Prognose und Folgetherapie
Durch die modernen Verfahren der Intensivtherapie hat sich die Prognose auch der schweren Pankreatitis wesentlich gebessert [2]. In größeren Zentren mit selektioniertem Patientengut beträgt die Letalität der schweren Pankreatitis heute deutlich weniger als 10%, wobei alle oben genannten therapeutischen Prinzipien zum Einsatz kommen. Bei den Überlebenden kann es mehrere Monate dauern, bis endokrine und exokrine Organfunktion wiederhergestellt sind. Bei einer Totalnekrose ist naturgemäß eine dauerhafte Ersatztherapie (orale Enzymsubstitution, Insulin) erforderlich. Bei vielen Patienten muss zumindest für eine Übergangsphase eine Ersatztherapie durchgeführt werden.
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44
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45 Akute gastrointestinale Blutungen H. Messmann, F. Klebl
45.1
Definition und Einteilung
45.2
Diagnostik
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4 45.2.5 45.2.6
Anamnese –580 Klinik und Laborparameter –580 Endoskopie –582 Angiographie –582 Szintigraphie –583 Operation –583
45.3
Therapie
45.3.1 45.3.2 45.3.3 45.3.4 45.3.5 45.3.6
Stressblutungsprophylaxe –583 Schockbekämpfung –585 Blutungen aus Erosionen und Ulzerationen –585 Ösophagusvarizenblutungen –586 Seltenere Ursachen oberer gastrointestinaler Blutungen –587 Untere gastrointestinale Blutungen –587
Literatur
–580
–580
–583
–588
580
Kapitel 45 · Akute gastrointestinale Blutungen
45.1
Definition und Einteilung
Akute gastrointestinale Blutungen werden nach ihrer Lokalisation in obere (proximal des Treitz-Bandes) und untere gastrointestinale Blutungen eingeteilt.
der obskuren Blutung entspricht. Angiodysplasien, entzündliche Läsionen z. B. bei M. Crohn, Meckel-Divertikel, Divertikel und Dünndarmtumoren kommen als Ursache in Frage. 45.2
Diagnostik
Obere gastrointestinale Blutung Die obere gastrointestinale Blutung ist mit 85% wesentlich häufiger und wird im Wesentlichen durch Schleimhauterosionen bzw. ulzerationen sowie Varizen verursacht. . Tabelle 45.1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der oberen gastrointestinalen Blutungen [9].
Untere gastrointestinale Blutung Hier überwiegen die Blutungsquellen im Dickdarm (90%); Blutungen im Dünndarmbereich sind vergleichsweise selten (10%). Häufigste Blutungsquelle im Dünndarm sind Tumoren und Angiodysplasien gefolgt von selteneren Ursachen wie Meckel-Divertikel oder M.-Crohn-Ulzerationen. Im Kolorektum sind Hämorrhoidalblutungen und Divertikelblutungen am häufigsten, gefolgt von Proktitis, Karzinomen und Nachblutungen nach Polypektomie oder Biopsie. Bei Kolonblutungen ist die Häufigkeitsverteilung stark altersabhängig (. Tab. 45.2), die Inzidenz der unteren gastrointestinalen Blutung nimmt mit dem Alter zu [26]. In jüngster Zeit wird von der unteren gastrointestinalen Blutung die mittlere gastrointestinale Blutung abgegrenzt – einer Blutung distal des Treitz-Bandes und proximal des koloskopisch einsehbaren Bereichs des terminalen Ileums, die im Wesentlichen
Die Anamnese lässt oftmals eine Verdachtsdiagnose zu, so dass weiterführende diagnostische Maßnahmen bereits frühzeitig veranlasst werden können. Schmerzmitteleinnahme oder rezidivierende Oberbauchbeschwerden, z. T. jahreszeitlich abhängig oder in Stresssituationen, lassen ein Ulkus bzw. Erosionen vermuten. Bei Patienten mit Leberzirrhose ist die Varizenblutung nur in 30–50% der Fälle die Blutungsursache. Gehäuft findet man bei diesen Patienten auch eine Gastropathie durch portale Hypertension oder Mallory-Weiss-Läsionen infolge rezidivierenden Erbrechens. Letzteres tritt v. a. bei Alkoholikern auf, aber auch andere Ursachen (Erbrechen in der Schwangerschaft, bei Zytostatikabehandlung etc.) sind möglich. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz oder Aortenklappenstenose sollten Angiodysplasien in Betracht gezogen werden.
Hämatemesis und Kaffeesatzerbrechen
Blutungsquelle
Häufigkeit (%)
Ulcus duodeni
27
Hämatemesis (Bluterbrechen) und Kaffeesatzerbrechen sind typische Symptome der oberen gastrointestinalen Blutung. Gleichzeitig geben diese Symptome einen Hinweis auf die Blutungsintensität: Der typische »Kaffeesatz« entsteht durch den Kontakt eher geringerer Blutmengen mit Magensäure, hingegen deutet hellrot erbrochenes Blut auf eine stärkere Blutung hin. In beiden Fällen gilt: Kann eine Blutungsquelle im oberen Gastrointestinaltrakt nicht gefunden werden, so muss eine Blutung im Nasen-RachenRaum ausgeschlossen werden.
Ulcus ventriculi
24
Meläna und Hämatochezie
Ösophagusvarizen
19
Erosionen
13
Refluxösophagitis
10
. Tabelle 45.1. Prozentuale Verteilung der Blutungsquellen bei 1139 Patienten mit oberer gastrointestinaler Blutung. (Nach [9])
45
45.2.1 Anamnese
Mallory-Weiss-Läsionen
7
Tumorblutung
3
Angiodysplasie
1
Blutungsquelle nicht identifiziert
6
Meläna (Teerstuhl) und Hämatochezie (Blutstuhl) können sowohl Folge einer oberen als auch einer unteren gastrointestinalen Blutung sein. Auch hier lassen die Symptome einen Rückschluss auf die Blutungsintensität zu: Teerstuhl entsteht, wenn mindestens 100–200 ml Blut das Kolon passieren und dabei bakteriell abgebaut werden. Das Zeitintervall zwischen Blutungsbeginn und dem ersten Auftreten von Teerstühlen kann 5–8 h betragen, jedoch können Teerstühle auch noch mehrere Tage nach Blutungsstopp auftreten oder bei sehr langsamer Passage Ausdruck einer unteren gastrointestinalen Blutung sein. Hämatochezie deutet hingegen eher auf eine untere oder auf eine besonders starke obere gastrointestinale Blutung hin.
. Tabelle 45.2. Blutungsquellen im Kolon in Abhängigkeit von Lebensalter und Häufigkeit
45.2.2 Klinik und Laborparameter
<25 Jahre
25–60 Jahre
≥60 Jahre
4 Colitis ulcerosa/ M. Crohn 4 Polypen
4 Divertikulose 4 Colitis ulcerosa/M. Crohn 4 Polypen 4 Karzinom 4 Angiodysplasie
4 4 4 4
Von entscheidender prognostischer Bedeutung hinsichtlich Rezidivblutung und Mortalität sind neben der Blutungsdiagnose der Schweregrad des Schocks sowie Begleiterkrankungen. In einer englischen Multicenterstudie an über 4000 Patienten mit oberer gastrointestinaler Blutung wurden verschiedene Risikofaktoren ermittelt und in einem Punktesystem zusammengefasst [33] (. Tab. 45.3). Aus den Punktwerten kann dann das Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisko abgeschätzt (. Tab. 45.4) und daraus
Angiodysplasie Divertikulose Karzinom Polypen
45
581 45.2 · Diagnostik
. Tabelle 45.3. Scoringsystem zur Beurteilung des Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisikos bei der akuten oberen nichtvarikösen gastrointestinalen Blutung. (Nach [33])
3
Risikofaktoren
0
1
2
Alter (Jahre)
<60
60–80
>80
Schock
Nein
Tachykardie
Hypotonie
Begleiterkrankungen
Nein
Diagnose
Mallory-Weiss-Läsion, keine Läsion
Alle anderen Blutungsquellen
Blutungsstigmata
Keine Blutungsstigmata, keine Hämatinreste
Blut, adhärentes Koagel, Gefäßstumpf, spritzende Blutung
Renal Hepatisch Maligne
Kardial
Tumor
. Tabelle 45.4. Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisiko bei Patienten mit akuter oberer, nicht variköser gastrointestinaler Blutung [34]: Patienten mit Scorewerten ≤2 können ambulant betreut werden, hingegen bedürfen Patienten mit einem Scorewert ≥6 einer intensivmedizinischen Überwachung Score
Patienten
n ≤2 3–5 ≥6
(%)
Rezidivblutung
Mortalität nach Rezidivblutung
Gesamtmortalität
n
n
n
(%)
744
(30)
32
(4,3)
0
1219
(48)
173
(14)
30
580
(22)
211
(37)
80
(%) (0)
(%) 1
(0,1)
(2,5)
56
(4,6)
(14)
126
(22)
. Tabelle 45.5. Abschätzung der Blutungsstärke bei gastrointestinaler Blutung Parameter
Stärke 4 leicht
4 mittel
4 schwer
Blutverlust (ml/Tag)
4 <250
4 250–1000
4 >1000
Hämoglobin (g/dl)
4 >11
4 9–11
4 <9
Konservenverbrauch (EK/Tag)
4 Keine
4 1–3
4 ≥4
Kreislaufreaktion
4 Keine
4 Puls n 4 RR (p) 4 ZVD p
4 Puls n 4 RR p 4 ZVD p
Klinische Symptome
4 Abgeschlagenheit
4 Durst 4 Übelkeit 4 Bettlägerigkeit
4 4 4 4
Unruhe Fieber Schock Bewusstseinstrübung
EK Erythrozytenkonzentrat.
eine Therapieempfehlung (zur ambulanten, stationären oder Intensivtherapie) abgeleitet werden [34].
Abschätzung der Blutungsintensität Das Ausmaß der Blutverluste wird anhand verschiedener Parameter eingeschätzt (. Tab. 45.5). In der Initialphase einer akuten gastrointestinalen Blutung kann es dennoch schwierig sein,
die Blutungsstärke abzuschätzen, da sowohl der Hämoglobinwert als auch Kreislaufparameter stabil sein können. Da es kein einfaches Verfahren zur Bestimmung des intravasalen Blutvolumens gibt, müssen in der Initialphase der Blutung Kreislaufparameter (Herzfrequenz, Blutdruck, ZVD) und Labor werte (Hb, Hkt, Gerinnungsparameter) engmaschig kontrolliert werden [38].
582
Kapitel 45 · Akute gastrointestinale Blutungen
. Tabelle 45.6. Forrest-Klassifikation der Ulkusblutung Forrest-Klassifikation
Ulkus mit …
Ia
… spritzender Blutung
Ib
… Sickerblutung
IIa
… Gefäßstumpf
IIb
… Blutkoagel
IIc
… hämatinbelegtem Grund
III
… Fibrinbelag
45.2.3 Endoskopie
aber nicht generell verfügbar und mit zusätzlichen Kosten verbunden [18]. Im Idealfall kann bei der Notfallendoskopie die Blutungsquelle lokalisiert und endoskopisch therapiert werden. Bei Patienten mit Hämatemesis und fehlendem Nachweis einer Blutungsquelle ist zu bedenken, dass Erosionen ebenso wie Mallory-Weiss-Läsionen sehr rasch auch spontan abheilen und somit einer endoskopischen Diagnosestellung entgehen können, insbesondere, wenn die Zeitspanne zwischen Hämatemesis und Untersuchung mehr als 24 h beträgt. Auch ein Dieulafoy-Ulkus kann sich differenzialdiagnostisch hinter dem Symptom Hämatemesis verbergen. Diese Läsion ist endoskopisch oftmals schwer zu erkennen und nur bei aktiver Blutung auffindbar. Findet sich endoskopisch Blut und Hämatin und ist der Kreislauf stabil, so sollte eine Kontrollendoskopie nach 12–24 h unter besseren Endoskopiebedingungen durchgeführt werden (. Abb. 45.1) [27].
Endoskopie bei der unteren gastrointestinalen Blutung Die diagnostische Methode der Wahl bei der akuten gastrointestinalen Blutung ist die Endoskopie. Neben der Lokalisationsdiagnostik und der Aktivitätsbeurteilung kann, falls erforderlich und möglich, die sofortige endoskopische Therapie durchgeführt werden.
Endoskopie bei der oberen gastrointestinalen Blutung Bei einer oberen gastrointestinalen Blutung kann in über 95% der Fälle die Blutungsquelle endoskopisch lokalisiert werden, wobei in 15–30% mehrere Blutungsquellen vorliegen. Vor einer Notfallendoskopie sollte die Herzkreislauffunktion möglichst stabilisiert und der Patient im Zweifelsfall zum Schutz vor einer Aspiration intubiert werden.
Vor der endotrachealen Intubation sollte der Mageninhalt über eine Sonde abgesaugt werden, ansonsten gelten auch hier die Regeln der »Ileuseinleitung«.
45
Die Anlage einer Magensonde allein für diagnostische Zwecke oder mit dem Ziel, durch Spülen mit kaltem Wasser einen Blutungsstillstand zu erzielen, ist obsolet. Bei einer aktiven Blutung zeigt das Magenaspirat nur in 50% der Fälle rotes Blut, in 30% Kaffeesatz; bei 20% der Patienten ist das Aspirat unauffällig. Endoskope mit 6-mm-Arbeitskanal erlauben problemlos das Absaugen auch größerer Blutmengen und von Koageln. Zum Schutz vor einer Aspiration sollte beim nichtintubierten Patienten auf eine Rachenschleimhautanästhesie verzichtet und eine Sedierung nur mit größter Vorsicht durchgeführt werden. Die Gabe von 250 mg Erythromycin 20‒90 min vor der Endoskopie kann die Untersuchungsbedingungen verbessern. Bei der endoskopischen Beurteilung der Stärke von Ulkusblutungen hat sich die Forrest-Klassifikation (. Tab. 45.6) bewährt, auch wenn verschiedene Untersucher zu durchaus unterschiedlichen Klassifikationseinschätzungen kommen können [21]. Eine Doppleruntersuchung des Ulkus kann das Risiko eines Blutungsrezidivs möglicherweise genauer einschätzen, ist
Bei Hämatochezie und Hinweisen für eine massive Blutung sollte vor einer den Patienten belastenden Notfallkoloskopie durch eine Ösophagogastroduodenoskopie eine akute obere gastrointestinale Blutung ausgeschlossen werden, insbesondere, wenn anamnestische Hinweise wie rezidivierende Magenulzera oder Schmerzmittelabusus vorliegen. In allen anderen Fällen sollte eine Notfallkoloskopie angestrebt werden. Zwar ist diese Untersuchung beim unvorbereiteten Patienten extrem schwierig, jedoch ergeben Verteilung und Farbe des Blutes im Kolon wichtige Hinweise auf Intensität und Lokalisation der Blutung. Blut im linken Hemikolon, normal gefärbter Stuhl im Colon transversum sowie nachweisbare Divertikel machen die Verdachtsdiagnose »Divertikelblutung« sehr wahrscheinlich. Dies ist für den Chirurgen von großem Nutzen, falls eine Notoperation bei erneuter Blutung erforderlich wird. Ist eine Blutungsquelle im Kolon nicht eindeutig zu identifizieren, so sollte das terminale Ileum immer mitinspiziert werden. Bei Blutungen zwischen Treitz-Band und koloskopisch erreichbarem terminalem Ileum stehen mit der Push-Enteroskopie, der Doppelballonenteroskopie und der Kapselendoskopie weitere endoskopische Verfahren zur Verfügung. Sie haben eine hohe Detektionsrate aktiver Blutungen, die letzten beiden sind jedoch zeitaufwändig. Bei massiver, kreislaufwirksamer gastrointestinaler Blutung ist ihr Stellenwert daher noch nicht definiert. Bei kreislaufstabiler Situation können sie jedoch wichtige diagnostische Hinweise liefern und die weitere Therapie beeinflussen. Aktive Blutungen können während der Push- oder Doppelballonenteroskopie gestillt werden. 45.2.4 Angiographie Lässt sich die Blutungsquelle endoskopisch nicht identifizieren, so kann versucht werden, eine aktive Blutung mittels Angiographie darzustellen und das Gefäß in gleicher Sitzung zu embolisieren. i Für die Praxis gilt: Ein Blutungsnachweis mittels Angiographie gelingt in der Regel nur bei einer Blutungsintensität von mindestens 0,5–1 ml/min.
583 45.3 · Therapie
Liegt keine aktive Blutung vor, so kann die Angiographie höchstens indirekte Hinweise bieten, z. B. können pathologische Gefäße bei Tumoren oder Gefäßmalformationen nachgewiesen werden. Jüngst wurde die Kombination mit der CT als CT-Angiographie beschrieben, ihr Stellenwert gegenüber der konventionellen Angiographie ist nicht eindeutig geklärt.
45
45.2.6 Operation Ist eine Blutungslokalisation mit den oben genannten Methoden nicht umgehend möglich, kann als Ultima ratio eine Explorativlaparotomie erforderlich werden. Hierbei kann die intraoperative Endoskopie sehr hilfreich sein, insbesondere bei Angiodysplasien, die dann mittels Diaphanoskopie besser lokalisierbar sind.
45.2.5 Szintigraphie 45.3
Therapie
99mTc-markierten
Die Radionuklidszintigraphie mit Erythrozyten oder Albumin ist sensitiver als die Angiographie, d. h. es lassen sich bereits Blutungen einer Stärke von 0,1 ml/min als pathologische Aktivitätsanreicherung darstellen. Die Spezifität dieser Methode ist jedoch niedriger als die der Angiographie, und manchmal kann es schwierig sein, die Blutung überhaupt einem bestimmten Darmabschnitt zuzuordnen. Durch die neuen Untersuchungsmodalitäten wie Kapsel- und Doppelballonenteroskopie hat die Blutungsszintigraphie an Bedeutung verloren.
45.3.1 Stressblutungsprophylaxe Intensivpatienten, die eine obere gastrointestinale Blutung entwickeln, haben im Vergleich zu solchen ohne Blutung eine deutlich erhöhte Mortalität [5, 16]. In einer deutschen Studie lag die Blutungsletalität bei ca. 13% und die Mortalität bei 53% [16]. Auch wenn ein Großteil der Mortalität durch Begleiterkrankungen
. Abb. 45.1. Vorgehen bei Patienten mit Hämatemesis und/oder Meläna. (Mod. nach [27])
584
Kapitel 45 · Akute gastrointestinale Blutungen
bedingt ist, wird daher schon seit längerem versucht, die obere gastrointestinale Blutung durch den Einsatz gastroprotektiver Medikamente primär zu verhindern. Die Pathogenese der Stressläsion im Magen besteht in einer Mikrozirkulationsstörung mit Verminderung der lokalen Zytoprotektion im Magen als Folge von Hypotonie und Hypoxie sowie nachfolgender Autokongestion. Helicobacter pylori scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Inzidenz der oberen gastrointestinalen Blutung bei Intensivpatienten hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert. Dafür verantwortlich gemacht wird u. a. ein aggressiveres Ausgleichen von Störungen des Säure-Basen-Haushalts, Maßnahmen zur ausreichenden Oxygenierung bzw. die Vermeidung der Hypotension durch Gegensteuerung mit Katecholaminen mit nachfolgend verbesserter Versorgung der Magenschleimhaut [19].
Nicht alle oberen gastrointestinalen Blutungen, die auf der Intensivstation auftreten, gehen mit einer Beeinträchtigung des Kreislaufs einher. Daher wurde der Begriff der klinisch bedeutsamen Blutung eingeführt [5]. Er ist definiert durch einen Herzfrequenzanstieg um mindestens 20/min, einen Abfall des systolischen Blutdrucks um mindestens 20 mm Hg bzw. um mehr als 10 mm Hg beim Aufsitzen oder einen Abfall des Hämoglobinwertes um 2 g/dl und eine Transfusion mit nicht adäquatem Anstieg des Hämoglobinwertes. Die Häufigkeit solcher Blutungen bei Intensivpatienten liegt nur bei etwa 0,6–2% [5, 19]. Sie führen zu einer mittleren Verlängerung des Intensivstationsaufenthalts um 3,8 Tage und einer Steigerung der Mortalität (relatives Risiko: 2,9; 95%Konfidenzintervall: 1,6–5,5) im Vergleich zu Kontrollen ohne Blutung [6].
Die niedrige Inzidenz klinisch bedeutsamer Blutungen hat die Frage aufgeworfen, ob Risikofaktoren existieren. Die größte
und aussagefähigste Studie diesbezüglich konnte 2 unabhängige Faktoren identifizieren [5]: die schwere respiratorische Insuffizienz (Beatmungspflichtigkeit über mindestens 48 h) und die Gerinnungsstörung (PTT über dem 2-fachen der Norm, INR >1,5 oder Thrombozytenzahl <50/nl; . Tab. 45.7). Nur 0,1% der Patienten ohne diese beiden Risikofaktoren entwickelten eine klinisch bedeutsame obere gastrointestinale Blutung. Somit ist klar, dass nicht alle Patienten auf einer Intensivstation eine Stressblutungsprophylaxe brauchen. In der zitierten Studie wurde jedoch dazu angehalten, Patienten mit einer großflächigen Verbrennung, einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Ulkus bzw. einer Gastritis in den letzten 6 Wochen vor Intensivtherapie eine Stressulkusprophylaxe zukommen zu lassen. Die Beatmungspflicht über mindestens 48 h und die Koagulopathie wurden als Hauptrisikofaktoren in anderen Studien bestätigt. Nach der Festlegung, wer einer Stressblutungsprophylaxe bedarf, muss hinterfragt werden, ob es Medikamente gibt, die die Inzidenz der klinisch bedeutsamen Blutung tatsächlich senken, und wenn ja, welches am besten wirksam ist. In einer großen Metaanalyse verminderten H2-Rezeptorantagonisten die Rate an klinisch bedeutsamen Blutungen um mehr als 50% im Vergleich zu keiner Therapie oder Placebo-Gabe [8]. Die Rate an klinisch diagnostizierten Blutungen lag unter der Behandlung mit H2-Rezeptorantagonisten niedriger als unter Antazida. In der größten Studie, in der Ranitidin mit Sucralfat verglichen wurde, fand sich eine signifikant niedrigere Blutungsrate unter Ranitidin [7]. Interessanterweise ging auch die enterale Ernährung mit einer Reduktion von klinisch bedeutsamen Blutungen einher. ! Cave Ein Problem bei der Anwendung von H2-Rezeptorantagonisten zur Säuresuppression ist die Tachyphylaxie [40]. Zwar gelingt mit der kontinuierlichen Ranitidin-Applikation eine etwas effektivere Säuresuppression innerhalb der ersten 24 h, aber Studien, die einen klinischen Vorteil der kontinuierlichen Infusion nachweisen würden, fehlen bisher.
. Tabelle 45.7. Risikofaktoren für klinisch bedeutsame obere gastrointestinale Blutungen bei Intensivpatienten. (Nach [5]).
45
Risikofaktor
Univariate Odds-Ratio
Regression, p-Wert
Multivariate Odds-Ratio
Regression, p-Wert
Respiratorische Insuffizienza
25,5
<0,001
15,6
<0,001
Koagulopathieb
9,5
<0,001
4,3
<0,001
Hypotension
5,0
0,03˙
3,7
0,08
Sepsis
7,3
<0,001
2,0
0,17
Leberinsuffizienz
6,5
<0,001
1,6
0,27
Niereninsuffizienz
4,6
<0,001
1,6
0,26
Enterale Ernährung
3,8
<0,001
1,0
0,99
Glukokortikoidtherapie
3,7
<0,001
1,5
0,26
Organtransplantation
3,6
0,006
1,5
0,42
Antikoagulationstherapie
3,3
0,004
1,1
0,88
a Beatmungspflicht über >48 h. b Thrombozytenzahl <50000 µl oder PTT >2-fache der Norm oder INR >1,5.
585 45.3 · Therapie
Trotz theoretisch möglicher Vorteile von Protonenpumpenhemmern ist ihr Einsatz zur Stressblutungsprophylaxe auf der Intensivstation bisher wenig untersucht. Eine neue orale Omeprazol-Suspension ist bezüglich der Blutungsprophylaxe zumindest ähnlich effektiv wie eine Cimetidin-Dauerinfusion [4]. Ein Vorteil von Protonenpumpenhemmern gegenüber H2-Rezeptorantagonisten ist jedoch nicht eindeutig belegt. Auch für Letztere fehlt bisher der Nachweis einer Senkung der Mortalität oder der Krankenhausaufenthaltsdauer. > Fazit Zusammenfassend scheinen zur Stressblutungsprophylaxe zunächst Allgemeinmaßnahmen sinnvoll, die die Pathophysiologie der Stressläsionentstehung beeinflussen: 4 Vermeidung einer Hypotension, 4 ausreichende Oxygenierung, 4 Korrektur des Säure-Basen-Haushalts,
4 frühzeitig einsetzende enterale Ernährung. Bei Beatmungspflicht über mindestens 48 h oder Vorliegen einer Gerinnungsstörung ist eine medikamentöse Stressblutungsprophylaxe indiziert – anzuraten auch bei peptischen Ulzera oder einer Gastritis innerhalb der letzten 6 Wochen, bei Schädel-HirnTrauma oder großflächigen Verbrennungen. Als Medikamente der Wahl können derzeit noch H2-Rezeptorantagonisten gelten, für diese liegen die meisten Daten vor. Verabreicht werden kann Ranitidin in Form von Boli (3- bis 4-mal 50 mg/Tag) oder als kontinuierliche Infusion (Dosierung: 0,125 mg/kg KG/h) nach einem initialen Bolus von 50 mg. Bei Niereninsuffizienz ist eine Dosisanpassung nötig.
45.3.2 Schockbekämpfung Die Schockbekämpfung gehört zu den vordringlichsten Therapiemaßnahmen bei der akuten schweren gastrointestinalen Blutung; »Schock« gilt als eigenständiger prognostischer Parameter für Rezidivblutungen und Mortalität [2, 14, 15, 30, 32, 37]. Es sollten daher 2 großlumige Venenkanülen gelegt werden, die zusätzliche zentralvenöse und blutig-arterielle Druckmessung ist empfehlenswert. Bei Hämatemesis ist eine Hochlagerung des Oberkörpers sinnvoll, nicht jedoch im Schockzustand; hier sollte beim nichtintubierten Patienten die stabile Seitenlagerung vorgezogen werden. Die initiale Schocktherapie muss sich am klinischen Zustand des Patienten und an den Kreislaufparametern orientieren! Hingegen kann der erste Hämoglobinwert – wenn eine vorherige Volumensubstitution nicht stattgefunden hat – irreführend »normal« sein. Ohne Infusionstherapie kann es 4–8 h dauern, bis ein Abfall des Hämoglobinwerts manifest wird.
45.3.3 Blutungen aus Erosionen und Ulzerationen
Erosionen Erosionen treten meist multipel auf und können z. B. bei einer hämorrhagischen Gastritis zu einer diffusen Blutung führen.
45
Eine endoskopische Therapie ist meist nicht erforderlich oder bei diffusen Blutungen ungeeignet. Der Einsatz von Somatostatin oder seinem länger wirksamen Analogon Octreotid bei der nichtvarikösen oberen gastrointestinalen Blutung wird seit Jahren kontrovers diskutiert, scheint jedoch vorteilhaft zu sein [17], insbesondere bei endoskopisch schwer angehbaren Blutungen.
Ulkusblutungen Goldstandard bei der Behandlung von Ulkusblutungen ist die endoskopische Therapie. Verschiedene Techniken der Blutstillung werden hier eingesetzt. Blutstillung durch lokale Injektionsverfahren. Das Injektionsverfahren hat sich aufgrund seiner einfachen Anwendbarkeit, der generellen und schnellen Verfügbarkeit und der hohen Effizienz hierzulande durchgesetzt [9]. Dabei wird am häufigsten verdünntes Adrenalin (Verdünnung 1: 10 000–1: 100 000) verwendet. Fibrinkleber scheint für den wiederholten Einsatz bei Forrest-I aBlutungen einer Therapie mit Polidocanol überlegen zu sein [35]. ! Cave Wegen der immer wieder berichteten Komplikationen mit Sklerosierungssubstanzen sollten diese bei der Ulkusblutung nicht mehr eingesetzt werden. Thermokoagulation. Die thermischen Verfahren, insbesondere Laser und EHT-Sonde, haben in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung verloren. Mono- und bipolare Sonden sowie die »Goldprobe« werden überwiegend noch im englischsprachigen Raum eingesetzt und meist mit einem Injektionsverfahren kombiniert. Eine signifikante Überlegenheit dieser kombinierten Methode konnte jedoch nicht eindeutig belegt werden. Hämoclip. Der Hämoclip ist ein atraumatisches, mechanisches Ver fahren, das entweder direkt bei der Forrest-IIa-Blutung
oder nach initialer Blutstillung bei einer Forrest-I-Blutung eingesetzt werden kann. Ihr Stellenwert im Vergleich zu den anderen endoskopischen Methoden ist weiterhin nicht eindeutig definiert: In einer ersten größeren randomisierten Studie konnte kein Vorteil nachgewiesen werden [36], in einer weiteren war die Rezidivblutungsrate im Vergleich zu thermischen Verfahren niedriger [3]. Rezidivblutungen. Da nach initialer Blutstillung in ca. 20% der Fälle mit einer Rezidivblutung zu rechnen ist und diese zu einem dramatischen Anstieg der Letalität von 10% auf 30% führt, sollte v. a. die Rezidivblutung verhindert werden. Eine Kontrollendoskopie nach 24 h und die nochmalige endoskopische Therapie bei Forrest-Stadien I, II a und b erbrachte in einer deutschen Studie keine Vorteile, zumal 40–45% der Rezidivblutungen vor dieser Kontrollendoskopie auftreten [28]. Vor der »Helicobacter-Ära« wurde vielfach eine frühelektive Operation empfohlen, da eine Metaanalyse gezeigt hatte, dass hierdurch die Rezidivblutungsrate auf 11% gesenkt werden konnte. Allerdings betrug die Letalität ca. 7% und lag damit in derselben Größenordnung wie zuletzt bei einer großen europäischen Multicenterstudie, bei der eine Operation nur bei Erfordernis oder im Notfall vorgenommen worden war [17]. Außerdem konnte in Kosten-Nutzen-Analysen gezeigt werden, dass ein konservatives Vorgehen der kostengünstigere Weg ist [11]. Die endoskopische Therapie der ersten Rezidivblutung ist durchaus zulässig, wenngleich Patienten mit einem hohen Blu-
586
Kapitel 45 · Akute gastrointestinale Blutungen
tungsrisiko ‒ in der Übersicht dargestellt ‒ immer von Chirurgen und Internisten gemeinsam behandelt werden sollten [22]. Risikofaktoren für eine Ulkusrezidivblutung 5 5 5 5 5 5 5 5
Alter über 60 Jahre Komorbidität Schock Hämoglobinwert unter 10 g/dl Transfusionsbedarf t4 Erythrozytenkonzentrate 24 h Forrest-Stadium Ia oder IIa Ulkusgröße >2 cm Ulkuslokalisation an der Bulbushinterwand
Protonenpumpenhemmer. In der Akutbehandlung ist die Therapie mit Protonenpumpenhemmern bzw. H2-Rezeptorantagonisten kein Ersatz für die endoskopische Therapie. Im Vergleich zu H2-Rezeptorantagonisten oder Placebo vermindern Protonenpumpenhemmer die Rezidivblutungs- und Operationsrate, ein Einfluss auf die Mortalität ist bisher nicht belegt [23]. Ihr Einsatz zur Ulkusheilung ist sinnvoll. Helicobacter-pylori-Eradikation. Bereits bei der Notfallendosko-
pie sollten je 2 Biopsien aus Korpus und Antrum entnommen werden, um den Helicobacterstatus zu ermitteln. Der Eradikationserfolg ist bei einer sequenziellen Therapie, bei der zunächst nur mit Protonenpumpenhemmern begonnen wird und sich die eigentliche Eradikationstherapie erst später anschließt, jedoch nicht niedriger als bei sofortigem Eradikationsbeginn. Die Eradikationsbehandlung senkt die Häufigkeit von Rezidivblutungen langfristig und besser als eine alleinige Erhaltungstherapie mit antisekretorischen Substanzen [10].
Die Ligatur als einfaches und komplikationsärmeres Verfahren konnte die Sklerotherapie in der Rezidivblutungsprophylaxe bereits als Standardverfahren verdrängen [20]. Eine Studie zeigte nun auch für die spritzende Blutung, dass mit der Ligatur eine bessere Blutstillung zu erzielen ist als mit der Sklerotherapie [25]. Vasoaktive Substanzen. Vasoaktive Substanzen vermindern
die Splanchnikusdurchblutung, reduzieren den Pfortaderdruck und sind der endoskopischen Therapie hinsichtlich der Blutstillung gleichwertig [17]. Die Verabreichung dieser Substanzen in der präklinischen bzw. präendoskopischen Phase verbessert möglicher weise die Endoskopiebedingungen. Außerdem werden bei vorbehandelten Patienten zum Untersuchungszeitpunkt weniger aktive Blutungen beobachtet [24], und auch nach der endoskopischen Blutstillung ist ihr Einsatz vorteilhaft [17]. Die Dosierungsempfehlungen sind in . Tabelle 45.8 zusammengefasst. Ballontamponade, Notfall-TIPS und Operation. Bei Blutungen, die endoskopisch nicht zu beseitigen sind, sollte eine Ballonsonde gelegt und mit einer medikamentösen Therapie kombiniert werden [1]. Bei der Blutung aus Ösophagusvarizen wird eine Sengstaken-Blakemore-Sonde, bei Fundus-/Korpusvarizen eine Linton-Nachlas-Sonde verwendet. Die Indikation zum NotfallTIPS oder, falls dies z. B. wegen einer Pfortaderthrombose nicht möglich ist, zur Operation ist dann zu stellen, wenn die Blutung akut endoskopisch-medikamentös bzw. mittelfristig mittels Sonde nicht zu beherrschen ist. Dabei kann ein Notfall-TIPS in über 90% der Fälle erfolgreich platziert werden. Praktische Hinweise zur Behandlung der Ösophagusvarizenblutung sind in der Übersicht zusammengefasst.
Verschiedene Behandlungsmöglichkeiten der akuten Ösophagusvarizenblutung
45.3.4 Ösophagusvarizenblutungen Bei der akuten Ösophagusvarizenblutung stehen mehrere Therapieverfahren zur Verfügung: 4 endoskopische Sklerotherapie oder Ligatur, 4 medikamentöse Therapie mit vasoaktiven Substanzen wie Vasopressin, Terlipressin, Somatostatin oder Octreotid, 4 Ballontamponade, 4 Notfall-TIPS (transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Stentshunt). Sklerotherapie und Ligatur. Die endoskopische Behandlung mit-
tels Sklerotherapie oder Ligatur ist derzeit das Standardverfahren.
1.
Endoskopische Blutstillung durch Sklerosierung oder Ligatur 5 Methode der Wahl bei der akuten Varizenblutung 5 Injektion von z. B. 0,5–1 ml 1%igem Polidocanol intra- oder paravasal, maximal 20 ml pro Sitzung, oder 0,5 ml N-Butyl-2-cyanoacrylat, 1: 1 gemischt mit Lipoidol intravasal 5 Alternativ Ligatur der blutenden Varize bzw. direkt an der Kardia, um den Blutzufluss zu unterbinden 2. Ballontamponade mittels Sengstaken-Blakemore-Sonde (Doppelballon, vierlumig) 5 Ballon auf Dichtigkeit prüfen 6
. Tabelle 45.8. Dosierung von vasoaktiven Substanzen bei der Varizenblutung
45
Substanz
Dosierung
Unerwünschte Nebenwirkungen
Somatostatin
250-µg-Bolus i.v., dann 250–500 µg/h per infusionem für 48 h
Blutdruckanstieg, Hitzewallungen, Hyperglykämien bei Dauerinfusion
Octreotid
50-µg-Bolus i.v., dann 50 µg/h per infusionem für maximal 5 Tage
Diarrhö
Terlipressin
1–2 mg langsam i.v., dann 1 mg alle 4–6 h, maximale Tagesdosis 6-mal 20 µg/kg KG
Arrhythmien, Angina pectoris, Linksherzinsuffizienz, mesenteriale Ischämien
587 45.3 · Therapie
5 Anschließend mit Lokalanästhetikumgleitgel versehen und durch die Nase einführen 5 Lagekontrolle durch Einblasen von Luft über die distale Öffnung unter gleichzeitiger Auskultation des Magens 5 Magenballon mit 250 ml Luft füllen und zuführenden Schlauch mit Klemme verschließen 5 Sonde zurückziehen, bis ein federnder Widerstand auftritt 5 Ösophagusballon mittels Druckmanometer auf 40 mm Hg aufblasen 5 Sonde ohne Zug fixieren, Schere für den Notfall bereitlegen (bei Dislokation mit Aspirationsgefahr muss die Sonde mit einem Scherenschlag durchtrennt werden) 5 Abschließend radiologische Lagekontrolle 5 Ösophagus- und Magensonde intermittierend absaugen 5 Ösophagusballon alle 4–6 h entblocken, um Drucknekrosen zu verhindern 5 maximale Liegedauer 24 h 3. Notfall-TIPS (transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Stentshunt) 5 Indikation: Versagen der endoskopischen und medikamentösen Therapie 5 Ausschlusskriterien: Pfortaderthrombose, Bilirubin >5 mg/dl, hepatische Enzephalopathie, (Leberzirrhose mit hepatozellulärem Karzinom) 5 Duplexsonographie vor TIPS empfohlen 4. Medikamentöse Therapie 5 Vor der Endoskopie 1–2 mg Terlipressin (Glycylpressin) i.v. ggf. in Kombination mit Nitraten (z. B. Perlinganit 0,5–1 Pg/kg KG/min i.v.), anschließend Fortführen mit 1 mg alle 4–6 h (maximale Tagesdosis 6-mal 20 Pg/kg KG); Kontraindikation: Hypertonie, schwere KHK, Epilepsie, Schwangerschaftstoxikose 5 Alternativ Somatostatin 250 Pg Bolus i.v., anschließend 250–500 Pg/h per infusionem oder Octreotid 50-Pg-Bolus i.v., anschließend 50 Pg/h per infusionem über maximal 5 Tage
Patienten mit Leberzirrhose sollten bei einer gastrointestinalen Blutung prophylaktisch antibiotisch behandelt werden [39]. Eine Lactulosegabe ist bei der Varizenblutung wegen der Gefahr einer hepatischen Enzephalopathie sinnvoll.
45
4 Blutende Ulzerationen im Ösophagus bzw. ösophagokardialen Übergang werden endoskopisch wie bei Lokalisation im Magen bzw. Duodenum therapiert. 4 Mallory-Weiss-Läsionen zeigen ebenfalls meist keine lebensbedrohlichen Blutungen. 80% der Blutungen stehen spontan und bedürfen keiner endoskopischen Therapie; größere Läsionen können gut mit Injektionsverfahren therapiert werden. 4 Angiodysplasien sind in 1% der Fälle für eine obere Gastrointestinalblutung verantwortlich; bei Patienten mit Niereninsuffizienz steigt der Anteil auf über 10% an. Endoskopische Koagulationsverfahren mit dem Nd:YAG-Laser, Argonbeamer oder der EHT-Sonde sind die Methoden der Wahl, jedoch müssen die betroffenen Abschnitte gelegentlich auch reseziert werden. 45.3.6 Untere gastrointestinale Blutungen
Dünndarmblutungen Schwerwiegende Dünndarmblutungen aus Divertikeln, Tumoren, Polypen, Ulzera oder Angiodysplasien waren früher einer endoskopischen Therapie schwer zugänglich und mussten daher operativ versorgt werden, falls sie nicht bei einer Push-Enteroskopie erreichbar waren. Bei einer massiven Blutung kann dies auch heute noch gelten. Es sollte jedoch vorher geprüft werden, ob eine Angiographie mit interventionell-radiologischer Therapie, z. B. mit vasopressorischen Substanzen (Vasopressin 0,2–0,4 IE/ min) erfolgreich sein kann. Patienten, die sich hämodynamisch stabilisieren lassen, können heute mit der Doppelballon- und Kapselendoskopie evaluiert werden. Vorteil der Ersteren ist, dass dabei eine endoskopische Blutstillung durchgeführt werden kann und in einer größeren Fallserie auch bei jedem zweiten Patienten durchgeführt wurde [13]. Nachteil ist, dass nicht bei allen Patienten eine komplette Darstellung des Dünndarms gelingt [29]. Mit der Kapselendoskopie glückt der Blutungsquellennachweis bei 2 von 3 Patienten mit obskurer Blutung [41], bei noch aktiver Blutung scheint die Rate höher zu sein und erreichte in einer Studie 92% [31]. In ersten kleinen vergleichenden Studien war die diagnostische Ausbeute mit der Kapselendoskopie höher als mit der Doppelballonendoskopie [12, 29]. Jedoch ist mit Ersterer keine Blutstillung möglich, weswegen sie lediglich die Wahl der adäquaten Therapie erleichtern kann. Wie die Entscheidungskriterien für die Auswahl bzw. die Reihenfolge des Einsatzes der Methoden lauten sollten, ist noch nicht eindeutig geklärt.
Dickdarmblutungen 45.3.5 Seltenere Ursachen oberer
gastrointestinaler Blutungen Im Folgenden sind seltenere Ursachen für obere gastrointestinale Blutungen einschließlich der therapeutischen Optionen dargestellt: 4 Ösophagitisblutungen finden sich meistens bei Patienten mit Refluxerkrankung, diabetischer Gastroparese oder Immunsuppression. In der Regel handelt es sich hier um diffuse Blutungen, die meist spontan sistieren und keiner endoskopischen Therapie bedürfen; allerdings ist eine Behandlung mit Protonenpumpenhemmern indiziert.
Kolonblutungen können wie die des oberen Gastrointestinaltrakts endoskopisch behandelt werden. Divertikelblutungen lassen sich durch Injektionsverfahren angehen. Ist eine anhaltende Blutung endoskopisch nicht beherrschbar, so besteht die Indikation zur operativen Resektion. Blutende Polypen können mittels Diathermieschlinge abgetragen, Tumorblutungen mittels thermischer Verfahren (Laser, Argonbeamer) behandelt werden. Angiodysplasieblutungen werden mit den gleichen Methoden wie im oberen Gastrointestinaltrakt versorgt. In der Gruppe der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen kommt es bei der Colitis ulcerosa eher zu diffusen Blu-
588
Kapitel 45 · Akute gastrointestinale Blutungen
tungen, während beim M. Crohn Blutungen aus Ulzerationen überwiegen. Eine massive Colitis-ulcerosa-Blutung (Blutverlust >2 l/24 h) tritt selten auf und stellt dann eine Indikation zur Kolektomie dar; gleiches gilt bei einer klinischen Zustandsverschlechterung der Patienten innerhalb von 48 h. Blutende M.-Crohn-Ulzerationen sollten hingegen zuerst endoskopisch mittels Injektionsverfahren therapiert werden. Sie zeichnen sich jedoch durch eine hohe Rezidivblutungsrate aus.
Literatur 1. Averginos A, Armons A (1994) Ballon tamponade technique and efficacy in variceal haemorrhage. Scand J Gastroenterol 29 (Suppl 207): 11–16 2. Brullet E, Calvet X, Campo R, Rue M, Catot L, Donoso L (1996) Factors predicting failure of endoscopic injection therapy in bleeding duodenal ulcer. Gastrointest Endosc 43: 111–116 3. Cipolletta L, Bianco MA, Marmo R, Rotondano G (2001) Endoclips versus heater probe in preventing early recurrent bleeding in peptic ulcer: A prospective and randomized trial. Gastrointest Endosc 53: 147–151 4. Conrad SA, Gabrielli A, Margolis A et al. (2005) Randomized, doubleblind comparison of immediate-release omeprazole oral suspension versus intravenous cimetidine for the prevention of upper gastrointestinal bleeding in critically ill patients. Crit Care Med 33: 760–765 5. Cook DJ, Fuller HD, Guyatt GH et al. (1994) Risk factors for gastrointestinal bleeding in critically ill patients. New Engl J Med 330:377–381 : In dieser großen Studie wurden die Risikofaktoren für die Entwicklung einer klinisch bedeutsamen gastrointestinalen Blutung herausgearbeitet. Gerinnungsstörungen und eine Beatmungspflicht >48 h wurden als Hauptrisikofaktoren identifiziert. Allerdings erfolgte für Patienten mit peptischen Ulzera oder einer Gastritis innerhalb der letzten 6 Wochen vor Studieneinschluss oder mit Schädel-Hirn-Trauma, Verbrennungen oder Organtransplantationen die Empfehlung zur Gabe einer Stressulkusprophylaxe, sodass über diese Parameter keine eindeutige Aussage möglich war. Die Studie zeigt aber, dass es nicht nötig ist, bei allen Intensivpatienten eine Stressblutungsprophylaxe durchzuführen.
45
6. Cook DJ, Griffith LE, Walter SD et al., Canadian Critical Care Trials Group (2001) The attributable mortality and length of intensive care unit stay of clinically important gastrointestinal bleeding in critically ill patients. Crit Care 5: 368–375 7. Cook D, Guyatt G, Marshall J et al. for the Canadian Critical Care Trials Group (1998) A comparison of sucralfate and ranitidine for the prevention of upper gastrointestinal bleeding in patients requiring mechanical ventilation. N Engl J Med 338: 791–797 8. Cook DJ, Reeve BK, Guyatt GH et al. (1996) Stress ulcer prophylaxis in critically ill patients: Resolving discordant meta-analyses. JAMA 275: 308–314 9. Ell C, Hagenmüller F, Schmitt W, Riemann JF, Hahn EG, Hohenberger W (1995) Multizentrische prospektive Untersuchung zum aktuellen Stand der Therapie der Ulkusblutung in Deutschland. Dtsch med Wschr 120: 3–9 10. Gisbert JP, Khorrami S, Carballo F et al. (2004) Meta-analysis: Helicobacter pylori eradication therapy vs. antisecretory non-eradication therapy for the prevention of recurrent bleeding from peptic ulcer. Aliment Pharmacol Ther 19: 617–629 : Diese Metaanalyse belegt, dass die Helicobacter-pylori-Eradikation das Risiko einer Rezidivblutung aus peptischen Ulzera stärker vermindert als eine alleinige antisekretorische Erhaltungstherapie. 11. Gralnek IM, Jensen DM, Kovacs TOG et al. (1997) An economic analysis of patients with active arterial peptic ulcer hemorrhage treated with endoscopic heater probe, injection sclerosis, or surgery in a prospective randomized trial. Gastrointest Endosc 46: 105–112
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45
46 Mesenteriale Ischämie J. Schölmerich
46.1
Grundlagen
–592
46.1.1 46.1.2 46.1.3 46.1.4
Epidemiologie –592 Ätiologie –592 Pathophysiologie –593 Klinik –593
46.2
Diagnostik
46.2.1 46.2.2
Differenzialdiagnose –594 Diagnosesicherung –595
46.3
Therapie
46.3.1 46.3.2 46.3.3 46.3.4 46.3.5
Basistherapie –597 Interventionelle Maßnahmen –597 Operative Therapie –597 NOMI –598 Mesenterialvenenthrombose –598
46.4
Prognose
46.5
Fazit
–594
–597
–598
–599
Literatur
–600
592
Kapitel 46 · Mesenteriale Ischämie
46.1
Grundlagen
Intestinale Durchblutungsstörungen erfassen neben der akuten mesenterialen Ischämie (arterielle Embolie, arterielle Thrombose, nicht-okklusive Ischämie) die mesenteriale Venenthrombose. Die akute mesenteriale Ischämie ist ein lebensbedrohlicher Notfall mit einer nach wie vor erschreckend hohen Letalität von 50–90%. Die klinischen Erscheinungsformen werden von Art und Ausmaß der vaskulären Läsion und von der zugrunde liegenden Erkrankung bestimmt. Die entscheidende Determinante der Prognose ist die Geschwindigkeit der Diagnose, die im Wesentlichen durch bildgebende Verfahren erfolgt. Die Behandlung der akuten Mesenterialarterienverschlüsse und der Mesenterialvenenthrombose ist meist chirurgisch, seltener interventionell, die nicht-okklusiven Formen werden wenn möglich konservativ behandelt. Die Gefäßversorgung des Magen-Darm-Traktes wird durch 3 große Arterien sichergestellt: 4 Truncus coeliacus, 4 A. mesenterica superior (AMS), 4 A. mesenterica inferior (AMI). Diese Hauptstämme werden untereinander durch Anastomosen verknüpft. Diese bestehen zwischen Truncus coeliacus und AMS (Rio-Branco-Arkade) ebenso wie zwischen AMS und AMI (Riolan-Anastomose). Es ist auch eine präformierte Anastomose zur A. iliaca interna sinistra vorhanden (Sudeck-Anastomose). Innerhalb der Versorgungsgebiete der Gefäßstämme bestehen ebenfalls zahlreiche Querverbindungen. Diese Anastomosenbildung gewährleistet, dass erst Ausfälle größerer Stromgebiete eine Mangelversorgung mit sich bringen, während Astverschlüsse der 2. oder 3. Ordnung vollständig kompensiert werden können (. Abb. 46.1).
Definition und Klassifikation Die arteriellen ischämischen Läsionen werden in die arterielle Embolie, die arterielle Thrombose und die nicht-okklusive mesenteriale Ischämie (NOMI) eingeteilt. Dabei handelt es sich bei der NOMI um eine Ausschlussdiagnose: Eine mesenteriale Ischämie, die weder durch Arteriosklerose, arterielle oder venöse Thrombosen, Embolien oder eine Vaskulitis verursacht wird, sondern Konsequenz einer verminderten Perfusion der Mesenterialgefäße aufgrund verschiedenster Ursachen ist [3, 6].
46.1.1 Epidemiologie Es liegen keine klaren Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz akuter mesenterialer Durchblutungsstörungen vor. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa jeder tausendste hospitalisierte Patient ein solches Problem aufweist. i Jüngere Mitteilungen lassen annehmen, dass zumindest die NOMI sehr viel häufiger ist und insbesondere bei multimorbiden Intensivpatienten zum letalen Ausgang beiträgt, ohne dass diese Diagnose angesichts der fehlenden Möglichkeiten der Beschwerdeäußerung durch den analgosedierten Patienten gestellt wird [20, 21].
Die akuten intestinalen Durchblutungsstörungen haben insgesamt wegen ihrer gravierenden Prognose und trotz ihrer relativen Seltenheit erhebliche Bedeutung im Krankenhausalltag, da nur eine rasche Diagnose die Prognose im Einzelfall verbessern kann. Die Mesenterialvenenthrombose ist eine seltene Form der intestinalen Gefäßobstruktion, die langsam und symptomlos, subakut über Wochen und Monate, aber auch als akutes schweres Krankheitsbild verlaufen kann [29]. 46.1.2 Ätiologie Patienten mit mesenterialen Durchblutungsstörungen weisen eine ausgeprägte Komorbidität auf (. Tab. 46.1). In der Mehrzahl der arteriellen Verschlüsse liegt eine Emboliequelle im Herzen, sehr viel seltener sind Aneurysmen der Aorta und der Mesenterialgefäße mögliche Streuquellen, Thromben im venösen Kreislauf mit paradoxer Embolie sind eine Rarität. Die bei weitem häufigste Ursache der Mesenterialarterienthrombose ist eine vorbestehende Stenosierung durch Arteriosklerose der Viszeralarterien [15]. Seltenere prädisponierende Faktoren sind Vaskulitiden oder intraabdominelle Tumoren. Bei Vorliegen einer Vaskulitis ist eine intestinale Beteiligung eher selten, lediglich bei der Polyarteritis nodosa, dem Churg-Strauss-Syndrom und der Purpura Schoenlein-Henoch wird diese häufiger beobachtet [27]. Bei einer NOMI finden sich andere Risikofaktoren (. Tab. 46.2) [7]. Hier ist im Wesentlichen eine verminderte Perfusion der Mesenterialgefäße entweder infolge einer Linksherzin-
. Tabelle 46.1. Komorbidität bei Patienten mit mesenterialen Durchblutungsstörungen
46 . Abb. 46.1. Arterielle Gefäßversorgung des Intestinaltraktes mit präformierten Anastomosen
Embolie
Arterielle Thrombosen
Venöse Thrombosen
Arrhythmie
72
–
–
KHK
36
77
75
Hypertonie
68
62
25
Diabetes
28
8
–
Lungenerkrankungen
20
39
25
Nierenerkrankungen
16
15
–
4
15
50
AT III-Mangel
593 46.1 · Grundlagen
. Tabelle 46.2. Begleiterkrankungen bei NOMI. (Nach[7]) Erkranktes Organ
Häufigkeit (%)
Herz
70
Niere
37
Pankreas
10
Bluthochdruck
10
Schock
40
Diabetes mellitus
23
Artherosklerose
27
46
. Tabelle 46.3. Risikofaktoren für eine Mesenterialvenenthrombose Risikofaktoren
suffizienz, einer schock- oder sepsisbedingten Hypotonie oder einer Hypovolämie bei Dehydratation, Blutung, Dialyse oder überhöhter Diuretikatherapie ursächlich [5, 20, 21]. Eine sekundäre mesenteriale Vasokonstriktion infolge eines systemischen »Niedrigflusssyndroms« ist die entscheidende Ursache. Medikamente, die die splanchnische Perfusion beeinflussen, werden ebenfalls angeschuldigt, hier sind insbesondere Digoxin, Ergotamin, Katecholamine, Angiotensin II, Vasopressin und E-Blocker zu erwähnen, die alle auf Intensivstationen besonders häufig benutzt werden. Eine gestörte Sauerstoffutilisation bei Sepsis und die bei Intensivpatienten ebenfalls häufige Anämie und Hypoxie aufgrund anderer Ursachen verstärken den lokalen Ischämieeffekt [21]. Eine seltene Ursache ist Kokainabusus. Bei der Mesenterialenvenenthrombose ist eine erhöhte Gerinnungsneigung die häufigste Ursache – beispielsweise findet sich ein AT III-Mangel bei etwa 50% der Patienten [2]. . Tabelle 46.3 gibt die Risikofaktoren wieder. Wenn diese zugrunde liegenden primären Störungen ausgeschlossen wurden, bleiben etwa 20% der Mesenterialvenenthrombosen ätiologisch ungeklärt [24]. Nach Splenektomie finden sich ein verminderter Perfusionsdruck und eine konsekutive Thrombozytose als Risikofaktoren. 46.1.3 Pathophysiologie Grundlage der ischämischen Störungen ist eine Verminderung der Sauerstoffversorgung auf <50%. Ab dieser Grenze kommt es zu Funktionsstörungen des Darmes. Bei einem Abfall auf <20% tritt eine Nekrose auf, die aufgrund der Anatomie der Gefäßversorgung (Serosa bis in die Villusspitzen) von der Mukosa ausgeht und dann die gesamte Darmwand betrifft. In der zeitlichen Abfolge sind zunächst eine Verminderung der Resorption, ein Motilitätsverlust, ein Ileus, eine Schleimhautablösung, eine Blutung, eine Permeabilitätssteigerung mit bakterieller Translokation, eine Peritonitis und schließlich eine Sepsis zu beobachten. 46.1.4 Klinik i Bei der akuten mesenterialen Ischämie ist initial häufig eine Diskrepanz zwischen starken Schmerzen und diskreter Druckempfindlichkeit des Abdomens zu beobachten.
1. Thrombophile Zustände
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Antithrombin III-Mangel Protein-S-Mangel Protein-C-Mangel Faktor-V-Leiden G20210A-Mutation im Prothrombingen Phospholipidantikörper Hyperhomozysteinämie Orale Antikontrazeptiva Schwangerschaft Maligne Tumoren
2. Hämatologische Erkrankungen
4 Polycythaemia vera 4 Essenzielle Thrombozythämie 4 Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
3. Entzündliche Erkrankungen
4 Pankreatitis 4 Peritonitis und intraabdominele Sepsis 4 Entzündliche Darmerkrankungen 4 Divertikulitis
4. Postoperative Zustände
4 Abdominelle Operationen 4 Splenektomie 4 Sklerosierung von Ösophagusvarizen
5. Zirrhose und portale Hypertension 6. Verschiedene Ursachen
4 Abdominelles Trauma 4 Dekompressionstrauma
Die Häufigkeit der Symptome bei der akuten Mesenterialarterienembolie ist in . Tabelle 46.4 wiedergegeben. Leitsymptom ist der plötzlich auftretende Bauchschmerz, der in der Regel periumbilikal oder im rechten Unterbauch lokalisiert ist. Das subjektiv starke Schmerzempfinden steht häufig im Gegensatz zur klinischen Untersuchung, bei der das Abdomen noch weich und diskret druckempfindlich ist. Viele Patienten klagen über Übelkeit, Erbrechen und Durchfall [30]. Von klinischer Bedeutung ist der zeitliche Verlauf der Symptomatik, wobei sich ein Initialstadium, ein »stilles Intervall« und ein Spätstadium unterscheiden lassen (. Tab. 46.5). Insbesondere das stille Intervall ist Ursache vieler diagnostischer Probleme, da es vermeintlich die Dringlichkeit der Diagnostik reduziert. Wegen der bei Mesenterialarterienthrombose häufig infolge der Arteriosklerose bereits ausgebildeten Kollateralen verläuft die Symptomatik weniger akut als bei der Embolie. Typisch sind allmählich zunehmende abdominelle Schmerzen mit einer Auftreibung des Bauches. Das Zeitintervall zwischen Beschwerdebeginn und Mesenterialinfarkt beträgt häufig 24 h. Gelegentlich finden sich auch länger zurück liegende Beschwerden einer chronischen mesenterialen Ischämie. Es besteht aber auch bei diesen Patienten zunächst eine Diskrepanz zwischen subjektiven Beschwerdeangaben und objektivem Befund.
594
Kapitel 46 · Mesenteriale Ischämie
. Tabelle 46.4. Häufigkeit der Symptome bei Mesenterialarterienembolie Symptome
Häufigkeit (%)
Abdomineller Schmerz
90
Erbrechen
47
Diarrhö
19
Meteorismus
19
Schock
17
Hämatochezie
15
Fieber
13
Stuhlverhalt
6
Hämatemesis
3
. Tabelle. 46.5. Zeitlicher Verlauf der Klinik der arteriellen mesenterialen Embolie Initialstadium 0–6 h
»Stilles Intervall« 7–12 h
Spätstadium >12 h
Schmerz
+++
+
++
Ileussymptome
0
+
+++
Peritonismus
0
+
+++
AZ
0
––
–––
Formen
Klinik
Labor Leukozytose
++
++
+++
Laktat
0
0
>6 mmol/l
Revaskulisierung
+++
++
+
Resektion
0
++
+++
Letalität
Rund 25%
Rund 60%
80–90%
Therapie
! Cave Bei bereits eingetretenem Mesenterialinfarkt kann sich allerdings rasch eine Sepsis mit Dehydratation, blutigen Durchfällen und Schockzeichen entwickeln.
46
Das klinische Erscheinungsbild der NOMI leitet oft fehl, da die Patienten meist wegen eines zugrunde liegenden Krankheitsbildes in der Regel schwerkrank oder frisch operiert sind und häufig auf der Intensivstation behandelt werden. Die intestinalen Symptome können unspezifisch sein und sich als Verstopfung, unspezifische Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und schleimig-blutige Durchfälle äußern. Wenn es zu einer intestinalen
Gangrän gekommen ist, weist der Patient Zeichen einer Peritonitis oder einer Sepsis auf. i Bei allen Patienten, die eine entsprechende Vorerkrankung haben und bei denen mit Verschiebungen des Flüssigkeitshaushaltes oder Veränderungen der Durchblutung zu rechnen ist, muss bei Auftreten entsprechender Symptome oder bei unerklärten Laborveränderungen auf der Intensivstation (Leukozytose, LDH-Erhöhung) an die NOMI gedacht werden.
Auch die akalkulöse Cholezystitis wird in den Kontext dieses Krankheitsbildes gestellt und sollte an gleichzeitig bestehende intestinale Durchblutungsstörungen denken lassen. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass die Mehrzahl der Patienten infolge ihrer Analgosedierung gar keine Symptome angeben und Diagnose und erforderliche Therapiemaßnahmen ausschließlich durch aufmerksame klinische Beobachtung und Sichtung der routinemäßig erhobenen Kontrollparameter indiziert werden. Auch bei der Mesenterialvenenthrombose ist die klinische Symptomatik unspezifisch. Leitsymptom ist bei mehr als 90% der Patienten der Schmerz, wobei Dauer, Art, Schweregrad und Lokalisation große Variationen aufweisen. Meist bestehen die Schmerzen bei Aufnahme in die Klinik schon einige Tage, über 50% der Patienten geben auch Übelkeit und Erbrechen an. Blutige Diarrhöen, Hämatochezie oder Hämatemesis sprechen für einen erfolgten Mesenterialinfarkt. Die Mehrzahl der Patienten hat ein schmerzhaftes aufgetriebenes Abdomen mit abgeschwächten Darmgeräuschen, die Hälfte hat peritonitische Zeichen und Temperaturen über 38°C. 46.2
Diagnostik
Da Anamnese und klinischer Befund bei Patienten mit den verschiedenen mesenterialen Durchblutungsstörungen fast immer unspezifisch und vieldeutig sind, stellt die definitive Diagnose eine klinische Herausforderung dar. Dies umso mehr, da bei den akuten Formen der mesenterialen Ischämie der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle für das Überleben der Patienten spielt (. Tab. 46.6). Flüssigkeitsexudation in das Darmlumen oder den Peritonealraum kann zur Hämokonzentration führen; Hypoxämie und prärenales Nierenversagen treten oft begleitend auf. Sind diese Komplikationen aber erst eingetreten, ist das »therapeutische Fenster« meist bereits geschlossen.
46.2.1 Differenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose der akuten mesenterialen Ischämie ist umfangreich (. Tab. 46.7), viele der Differenzialdiagnosen können durch klinische Untersuchungen, einzelne technische Verfahren wie Elektrokardiogramm, Sonographie, Computertomographie und Labormethoden ausgeschlossen werden [25]. Bis zum Beweis einer anderen Diagnose muss die Verdachtsdiagnose einer mesenterialen Ischämie aufrechterhalten und zügig weiter verfolgt werden.
46
595 46.2 · Diagnostik
. Tabelle 46.6. Bedeutung der frühen Diagnose der akuten mesenterialen Ischämie für das Überleben. (Nach [6]) Jahr der Studie
Patienten (n)
Mortalität
Mortalität
Keine Gangrän
Gangrän
<24 h
>24 h
1977
52
–
–
54
95
1981
47
–
–
57
73
1986
23
25
75
–
–
1990
65
25
68
–
–
1990
83
–
–
1990
98
26
71
–
–
1990
92
31
73
–
–
1997
141
–
–
44
92
0
88
. Tabelle 46.7. Mögliche Differenzialdiagnosen der akuten mesenterialen Ischämie Diagnose
Verfahren zum Ausschluss
Akuter Myokardinfarkt (Hinterwand)
EKG
Ulcus ventriculi/duodeni mit Penetration/Perforation
CT, ÖGD
Sonstige Hohlorganperforation
CT
Akute Pankreatitis
Labor, CT
Akute Gastroenteritis
Anamnese
Mechanischer Ileus (inkarzerierte Hernie, Volvulus etc.)
CT
Gallenkolik
Sonographie
Peritonitis (Divertikulitis, Appendizitis, spontane bakterielle Peritonitis, Pseudoperitonitis diabetica, etc.)
Klinisches Bild
Obstipation
Anamnese
Ureterenkolik
Sonographie, Urinstatus
Disseziierendes Aortenaneurysma
Sonographie, CT
Intoxikation (Blei, Arsen)
Anamnese
Akute intermittierende Porphyrie
Labor
Vertebragene Beschwerden
Anamnese
Funktionelle Erkrankungen
Anamnese, Erfahrung des Arztes
46.2.2 Diagnosesicherung
Bildgebende Ver fahren
Wie bei jeder akuten Erkrankung findet sich häufig eine Leukozytose. Eine LDH-Erhöhung ist häufig, aber unspezifisch. Die Wertigkeit erhöhter Phosphatspiegel ist umstritten, normale Werte schließen eine mesenteriale Ischämie aber nicht aus. Dasselbe gilt für erhöhte Laktatwerte und eine metabolische Azidose.
Die Sonographie ist das bildgebende Verfahren der 1. Wahl bei Patienten mit abdominellen Beschwerden. Bei akuter mesenterialer Ischämie können als Folgen sonographisch eine verdickte Dünndarmwand (>5 mm), Zeichen eines Subileus oder Ileus mit erweiterten Darmschlingen und fehlender Peristaltik und – in fortgeschrittenen Fällen – freie intraabdominelle Flüssigkeit und Lufteinschlüsse im Portalgefäßsystem gefunden werden [33]. Die wesentliche Bedeutung der Sonographie liegt im Ausschluss
596
Kapitel 46 · Mesenteriale Ischämie
anderer abdomineller Erkrankungen (Aortenaneurysma, me-
chanischer Ileus, biliäre Erkrankungen etc.) [28]. Die Rolle der Duplexsonographie beim akuten Mesenterialarterienverschluss ist bislang wenig untersucht [9]. Die Untersuchung kann durch den häufig vorhandenen Meteorismus erheblich erschwert oder unmöglich sein. Wenn ein normaler Fluss in der AMS gefunden wird, ist eine Okklusion des Hauptstammes proximal der A. colica unwahrscheinlich, dennoch können signifikante Embolien in größere Gefäßabschnitte distal dieses Punktes vorliegen. Die thrombosierte Mesenterialvene kann als erweitertes röhrenförmiges Gebilde ohne Flusssignal dargestellt werden. Bei guten Untersuchungsbedingungen kann hier eine definitive Diagnose möglich sein. Die zunehmende Verbreitung der Computertomographie hat dazu geführt, dass bei vielen Patienten mit unklaren abdominellen Schmerzen diese Untersuchung relativ rasch und unkompliziert durchgeführt werden kann. Die CT ermöglicht eine direkte Darstellung der Darmwand und kann in einigen Fällen intramurale, mesenteriale oder portale Gasansammlungen nachweisen [33]. Arterielle Mesenterialgefäßverschlüsse können nach Bolusinjektion von Kontrastmittel als Füllungsdefekt dargestellt werden [4, 23, 28]. In früheren Studien war die CT nur bei 39% der Patienten diagnostisch, hingegen liegt in anderen Berichten die Sensitivität bei 80% [19]. Durch die neuen Mehrzeilendetektorcomputertomographen kann die CT die Methode der Wahl bei Verdacht auf mesenteriale Ischämie werden. Bei korrekter Technik ist die Identifikation einer Mesenterialvenenthrombose sicher und die CT als diagnostisches Verfahren der Wahl anzusehen. Die Sensitivität liegt zwischen 90 und 100%. i Nach wie vor Goldstandard zum Nachweis einer akuten mesenterialen Ischämie ist aber die Angiographie. Sie ermöglicht die eindeutige Sicherung der Diagnose, eine ätiologische Zuordnung der Ischämie (okklusiv – nicht-okklusiv, embolisch – thrombotisch) und liefert die entscheidenden Hinweise für die Therapieplanung.
a
Nach Darstellung der Aorta und der Abgänge des Truncus coeliacus und der AMS wird Letztere selektiv dargestellt. Bei unauffälligem Befund können anschließend AMI und Truncus coeliacus selektiv dargestellt werden [30]. In der AMS findet sich meist ein abrupter Kontrastmittelabbruch, häufig am Gefäßabgang oder innerhalb von 1–2 cm nach dem Abgang (. Abb. 46.2a). Mesenterialarterienembolien zeigen sich als scharfe, abgerundete Füllungsdefekte in der Kontrastmittelsäule (»Meniskuszeichen«). Wie bei der Thrombose finden sich zusätzliche Vasospasmen. Die Embolien sind üblicherweise an Gefäßengen, Verzweigungen oder Bifurkationen und meist distal des Abgangs der A. colica media lokalisiert (. Abb. 46.2b). b
46
Für die NOMI ist die Mesenterialangiographie das einzig verlässliche Diagnoseverfahren. Sie sollte bei klinischem Verdacht und Fehlen eines Therapieerfolges von Allgemeinmaßnahmen wie Volumenersatz und Schocktherapie rasch angewandt werden.
Die NOMI ist angiographisch durch eine diffuse Verengung der AMS und ihrer Äste als Ausdruck der zugrunde liegenden Vasokonstriktion charakterisiert. Die peripheren Gefäßarkaden können spastisch enggestellt sein, weitgestellte und spastische
. Abb. 46.2a, b. a Hauptstammverschluss zur A. mesenterica superior durch arterielle Thrombose. b Astverschluss der A. mesenterica superior durch Embolie
Abschnitte der Gefäße können aufeinander folgen, und das Bild kann dann an eine Kette von Würsten erinnern (»string of sausage sign«; . Abb. 46.3). Inwieweit die Minilaparoskopie das diagnostische Vorgehen bereichern wird, ist offen [11]. . Abb. 46.4 fasst die Diagnostik zusammen.
597 46.3 · Therapie
46
. Abb. 46.4. Vorgehen bei Verdacht auf akute mesenteriale Ischämie
Eine Angiographie in dieser Situation ist bei begründetem Verdacht auf eine NOMI daher nur sinnvoll, wenn Allgemeinmaßnahmen nicht zu einer Besserung führen. Dann muss eine andere Form der mesenterialen Ischämie als Ursache des Schocks sicher ausgeschlossen werden [25].
teriale Vasokonstriktion behandelt werden. Bei der NOMI ist diese Maßnahme auch als definitive Therapiemöglichkeit anzusehen, wenn noch keine Nekrosen aufgetreten sind [24]. Papaverin ist ein potenter Phosphodiesteraseinhibitor und führt über eine Erhöhung der cAMP-Konzentration zu einer Vasodilatation. Die Dosierung liegt nach einem Bolus von 5–10 mg bei 30– 60 mg/h (Applikation über eine Infusionspumpe). Heparin darf wegen Inkompatibilität mit Papaverin nicht im gleichen System gegeben werden. Bei ausgeprägter Hypovolämie und Hypotonie ist Papaverin kontraindiziert. Während der Infusion muss eine kontinuierliche Überwachung von Blutdruck, Herzfrequenz und Herzrhythmus gewährleistet sein. Bei korrekter Lage des Infusionskatheters in der AMS kommt es allerdings nur selten zu systemischen Blutdruckabfällen, da Papaverin während der ersten Leberpassage zu über 90% abgebaut wird. Beim plötzlichen Blutdruckabfall sollte die Infusion sofort gestoppt und die korrekte Lage des Angiographiekatheters überprüft werden. Eine seltenere Ursache einer akuten Hypotension ist eine Leberinsuffizienz mit inadäquater Clearance [24]. Eine Alternative ist Prostaglandin E1 (7 Kap. 46.3.4). In jüngerer Zeit wird empfohlen, bei akuter Mesenterialarterienokklusion eine lokale Thrombolyse durchzuführen. Eine kürzliche Zusammenfassung von 20 Fallberichten und 7 kleinen Patientenserien betreffend 48 Patienten mit akutem AMS-thromboembolischem Verschluss ergab bei 43 Patienten eine Wiedereröffnung, bei 30 Patienten war keine weitere chirurgische Maßnahme erforderlich. 43 der 48 Patienten überlebten. Der beste Indikator eines Erfolges war ein rascher Rückgang der abdominellen Schmerzen [32]. Es besteht noch keine breite Erfahrung mit diesem Verfahren, sodass es als experimentell betrachtet werden muss [22]. Die angewandten Substanzen entsprechen denen, die auch bei Verschlüssen anderer Gefäßsysteme benutzt werden. Andere Autoren raten von einer interventionellen lokalen Lyse ab, da schwere diffuse Mukosablutungen auftreten können [17].
46.3.2 Inter ventionelle Maßnahmen
46.3.3 Operative Therapie
Die Mehrzahl der Autoren empfiehlt bei angiographischem Nachweis einer mesenterialen Ischämie eine selektive Applikation von Papaverin in die AMS über Angiographiekatheter [8, 16, 20, 30]. Bei Vorliegen eines embolischen oder thrombotischen Gefäßverschlusses soll dadurch die häufig gleichzeitig vorhandene mesen-
Nach wie vor ist bei der Mesenterialarterienembolie und -thrombose nach Stabilisierung des Patienten die rasche operative Gefäßdesobliteration die Therapie der Wahl [3, 6, 10, 12, 25]. Nach einer medianen Oberbauchlaparotomie wird zunächst das Intestinum beurteilt. Bei der Embolie ist das proximale Jejunum in der
. Abb. 46.3. Angiographische Darstellung einer nicht-okklusiven mesenterialen Ischämie mit Wechsel von Spasmen und normal weiten Abschnitten der Gefäße. [Abbildung freundlicherweise zur Verfügung gestellt von T. Herold, Regensburg]
46.3
Therapie
46.3.1 Basistherapie Der erste Schritt der Therapie bei allen Formen der akuten mesenterialen Ischämie ist die Stabilisierung der Kreislaufverhältnisse. Anämie, Flüssigkeitsdefizite und Störung des Elektrolytund Säure-Basen-Haushaltes (Azidose!) sollten ausgeglichen, die Pumpleistung des Herzens optimiert und hämodynamisch relevante Arrhythmien behandelt werden. Bei klinischen oder laborchemischen Zeichen einer fortgeschrittenen Ischämie müssen unverzüglich Antibiotika (z. B. ein Cephalosporin der 3. Generation in Kombination mit Metronidazol) appliziert werden. Potenzielle vasokonstriktorische Medikamente (Digitalis!) sollten vermieden werden, das Gleiche gilt für Katecholamine. i Bei hypotensiven, hypovolämischen und im Schock befindlichen Patienten liegt immer eine mesenteriale Vasokonstriktion vor.
598
Kapitel 46 · Mesenteriale Ischämie
Regel unauffällig, die betroffenen Darmanteile können den gesamten übrigen Dünndarm und den Dickdarm bis ins Colon transversum einschließen. Wenn ein Embolus in der AMS angenommen wird, wird die Eröffnung der AMS im Mesenterium durchgeführt, nachdem der Patient systemisch heparinisiert wurde. Die Arteriotomie sollte proximal der A. colica media erfolgen.
Nach erfolgreicher proximaler und distaler Embolektomie werden 30 min Reperfusion abgewartet, bevor eine Darmresektion durchgeführt wird. Diesbezüglich ist eine gründliche intraoperative Klärung der Darmvitalität nötig, um das Resektionsausmaß zu minimieren [13]. Eine Second-look-Operation kann 12–24 h später durchgeführt werden, um Regionen fraglicher Vitalität zu inspizieren. Dies hilft bei der Reduktion des initialen Resektionsausmaßes. Neuere Daten [18] lassen aber annehmen, dass eine Second-look-Operation nicht in allen Fällen hilfreich oder erforderlich ist.
durch extremen Gefäßspasmus und ausgedehnte Kollateralisierung ausbleiben.
Wenn sich Zeichen einer Peritonitis entwickeln oder sich unter der Infusion nicht zurückbilden, muss bei NOMI eine chirurgische Exploration erfolgen.
Die Papaverin-Infusion wird während und nach der Operation fortgesetzt. Eine Peritoneallavage mit warmer Kochsalzlösung (37°C) kann die Vasokonstriktion ebenfalls reduzieren. Offensichtlich nekrotischer Darm wird reseziert. Wenn die Operationsränder eindeutig vital sind, kann eine primäre Anastomose versucht werden. In allen anderen Fällen ist eine Exteriorisierung mit Anlage eines Splitstomas zur Beurteilung der Vitalität im weiteren Verlauf angezeigt. 46.3.5 Mesenterialvenenthrombose
Wenn der gesamte Dünndarm gangränös ist, ist eine mehr oder weniger komplette Enterektomie mit konsekutiver lebenslanger intravenöser Ernährung gelegentlich die einzige Option, die dann aber mit den ansonsten vorliegenden Erkrankungen abgewogen werden muss. Ist die Darmvitalität und Reperfusion nicht ausreichend beurteilbar, sollte keine die Kontinuität wieder herstellende Anastomose erfolgen, sondern zunächst ein Splitstoma angelegt werden, das eine Beurteilung der Durchblutung der beiden herausgeleiteten Darmenden erlaubt. Weitere operative Eingriffe werden dann von der Vitalität der Splitstomata abhängig gemacht. 46.3.4 NOMI Bei einer NOMI besteht das Hauptproblem in der mesenterialen Vasokonstriktion, die nicht operativ korrigiert werden kann.
46
Eine operative Exploration bei Patienten mit NOMI ist daher nur dann zweckmäßig, wenn die Patienten Zeichen einer Peritonitis aufweisen [24]. Entsprechend den oben dargestellten pathophysiologischen Prinzipien besteht die frühe Behandlung in der Korrektur prädisponierender und präzipitierender Faktoren und einer effektiven Behandlung der mesenterialen Vasokonstriktion. Die oben genannten allgemeinen Behandlungsmaßnahmen sind daher in diesem Fall von besonderer Bedeutung [16, 20]. Die weitere Therapie erfolgt pharmakologisch mit Hilfe der selektiven Infusion von Papaverin (7 Kap. 46.3.2), anschließend oder alternativ kann Postagladin E1 (Bolus 20 Pg, 0,1–0,6 ng/ kg KG/min Dauerinfusion für maximal 48 h) in die AMS infundiert werden. Die Angiographie muss nach 30 min wiederholt werden, um die Beseitigung der Vasokonstriktion zu dokumentieren. Im Erfolgsfall wird die Papaverin-Infusion für 24 h fortgesetzt und eine erneute Angiographie nach 30-minütigem Ersetzen der Papaverin-Infusion durch Kochsalz zur Definition des weiteren Vorgehens durchgeführt. Entsprechende Behandlungszyklen mit diesem Verfahren über bis zu 5 Tage sind beschrieben, natürlich aber nicht durch Studien evaluiert. Ein Effekt der lokalen Pharmakotherapie kann
Bei der akuten Mesenterialvenenthrombose ist in der Regel eine unverzügliche Antikoagulation notwendig. Wenn keine Peritonitis und keine Zeichen der Darmnekrose erkennbar sind, kann sich das weitere Vorgehen auf Antikoagulation beschränken. Diese muss in der Regel lebenslang weiter geführt werden. Wie bei der arteriellen Ischämie sind Antibiotika indiziert. Eine thrombolytische Therapie bei akuter Mesenterialvenenthrombose kann auf drei Wegen durchgeführt werden: systemisch, regional oder portal regional. Die systemische Thrombolyse birgt die Gefahr der generalisierten Blutungsneigung. Die regionale Thrombolyse kann im Rahmen der Operation ermöglicht werden, indem über eine Mesenterialvene ein Katheter in die V. mesenterica oder die Pfortader eingelegt wird. Dies kann durch einen transjugulär-transhepatisch-intraportal gelegten Katheter ebenfalls erreicht werden. Die operative Thrombektomie bei Pfortaderthrombose mit regionaler Thrombolyse wird vereinzelt beschrieben. Der operative Zugang hat durch das interventionelle Verfahren der TIPS-Katheterplatzierung an Bedeutung verloren. 46.4
Prognose
Die verschiedenen Formen der akuten arteriellen mesenterialen Ischämie und die akute venöse Thrombose im Splanchnikusstromgebiet weisen nach wie vor eine sehr hohe Mortalität auf [1, 6, 14, 26]. Dies ist teilweise durch die Begleiterkrankungen der Patienten, v. a. aber durch die häufig verzögerte Diagnose bedingt. Ein Überblick über die publizierten größeren Serien akuter mesenterialer Ischämie zeigt die Bedeutung einer frühen Diagnose für das Überleben der Patienten [6]. Wenn die Diagnose vor Auftreten einer Gangrän erfolgt, liegen die Mortalitätsraten in den Studien, die dies analysiert haben, unter 30%. Erfreulicherweise lassen neue Übersichten [10, 31] erkennen, dass die Prognose sich in den letzten Jahren verbessert hat, wobei dies insbesondere für die Mesenterialarterienthrombose und für die -venenthrombose gilt. Die durchschnittliche Letalität in Studien nach 2000 lag bei 53% [10]. Unverändert schlecht ist die Prognose der NOMI, die ja in der Regel Patienten betrifft, die a priori eine ungünstige Progno-
599 Literatur
46
. Tabelle 46.8. Klinische Kriterien und Vorgehen bei den verschiedenen Formen der akuten mesenterialen Durchblutungsstörung Mesenteriale Durchblutungsstörung
Prädisposition
Leitsymptom
Definitive Diagnosestellung
Therapie
Mesenterialarterienembolie
Herzrhythmusstörungen, Zustand nach Myokardinfarkt, Aortenaneurysma
Plötzlich auftretende heftige Bauchschmerzen
Angiographie (Computertomographie)
Embolektomie; Resektion von infarziertem Darm
Mesenterialarterienthrombose
Generalisierte Arteriosklerose
Allmählich zunehmende Bauchschmerzen
Angiographie, Computertomographie
Operative Revaskularisation; Resektion von infarziertem Darm
Nicht-okklusive Darmischämie
Linksherzinsuffizienz, ausgeprägte Hypotonie, Hypovolämie, Anämie, vasokonstriktorische Medikation
Allmählich zunehmende Bauchschmerzen, aufgetriebenes Abdomen
Angiographie
Papaverin; Resektion von infarziertem Darm
Mesenterialvenenthrombose
Hyperkoagulabilität, portale Hypertonie, entzündliche intraabdominelle Erkrankungen, postoperativ
Allmählich zunehmende Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen
Duplexsonographie, Computertomographie (Angiographie)
Darmresektion + Heparin; evtl. Thrombektomie; in Einzelfällen nur Heparin oder Thrombolyse
se aufweisen und bereits intensivbehandlungspflichtig sind [20]. Hier spielen auch die erheblichen Probleme der Erkennung des Krankheitsbildes bei analgosedierten Patienten eine Rolle, sodass die Prävalenz der NOMI und ihrer Rolle für die Prognose dieser Patienten sicher immer noch unterschätzt wird. Die Mortalität nach einer chirurgischen Therapie einer arteriellen Embolie und einer venösen Thrombose liegt mit 54,1 und 32,1% deutlich niedriger als nach Operation einer arteriellen Thrombose oder einer NOMI (77,4 und 72,7%) [31]. 46.5
Fazit
6 Grundsätze, die als Entscheidungshilfe verstanden werden sollten 5 Ähnlich wie beim Myokardinfarkt gibt es auch für den Mesenterialinfarkt ein bestimmtes Risikoprofil, das das Vorliegen einer mesenterialen Ischämie wahrscheinlich macht. 5 Typisch für das Frühstadium der akuten mesenterialen Ischämie ist ein Missverhältnis zwischen der erheblichen Beschwerdeangabe des Patienten und dem relativ unauffälligen abdominellen Untersuchungsbefund. Bei akuten, heftigen, anderweitig nicht erklärbaren Bauchschmerzen muss immer auch an eine mesenteriale Ischämie gedacht werden. 5 Pathologische Laborwerte wie eine sonst nicht zu erklärende Leukozytose, eine metabolische Azidose oder ein erhöhter Laktatwert können als Hinweis auf eine mesenteriale Ischämie insbesondere bei Intensivpatienten 6
gedeutet und als Argument für eine angiographische Klärung verwendet werden. Das Fehlen dieser Parameter schließt eine mesenteriale Ischämie niemals aus. 5 Die Angiographie als invasive Untersuchung kann zu Komplikationen führen, diese sind aber selten. Bei Patienten, bei denen eine mesenteriale Ischämie möglich erscheint, überwiegt der Nutzen einer frühen Angiographie deutlich die damit verbundenen Risiken. Zu rechtfertigen sind nicht die Angiographien, die veranlasst, sondern die, die unterlassen wurden. 5 Bei begründetem Verdacht auf eine akute mesenteriale Ischämie sollten vor der Angiographie zunächst orientierend und möglichst zügig andere in Frage kommende Erkrankungen ausgeschlossen werden. Hier kann die Computertomographie eine wichtige Rolle spielen. 5 Bei arteriellen Verschlüssen steht die Thrombektomie bzw. Embolektomie im Vordergrund, gefolgt von der Antikoagulation. Bei venösen Thrombosen kann eine lokale Antikoagulation und Lyse durchgeführt werden, unterschiedliche Zugangswege sind möglich.
. Tabelle 46.8 gibt eine Übersicht über die akuten mesenterialen
Durchblutungsstörungen.
600
Kapitel 46 · Mesenteriale Ischämie
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VIII
Störungen des ZNS und neuromuskuläre Erkrankungen
47
Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
–603
48
Erhöhter intrakranieller Druck
49
Koma, metabolische Störungen und Hirntod
50
Zerebrovaskuläre Notfälle
51
Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus
52
Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten –665
53
Infektionen des ZNS
54
Querschnittslähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
55
Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen –695
56
Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
–625 –635
–645 –659
–677 –687
–707
47 Neurodiagnostik in der Intensivmedizin G. Becker†, A. Dörfler, M. Forsting, W. Müllges, B. Partik, D. Prayer, B. Wildemann
47.1
Neuroradiologie
–605
47.2
Computer tomographie
47.2.1 47.2.2 47.2.3 47.2.4 47.2.5 47.2.6
Trauma –605 Infarkt –607 Blutung –609 Postoperative Veränderungen –610 Entzündliche Erkrankungen –610 Hirnödem –611
47.3
Magnetresonanztomographie
47.3.1 47.3.2
MRT-Akutindikationen beim Intensivpatienten –611 Spinale MRT-Indikationen beim Intensivpatienten –612
47.4
Angiographie, digitale Subtraktionsangiographie, MR-Angiographie
47.5
PET und SPECT
47.6
Neurosonographie – Stellenwert auf der Intensivstation
47.7
Indikationen
47.8
Neurovaskuläre Basisuntersuchung
47.9
Sonographische Befunde
47.9.1 47.9.2 47.9.3 47.9.4 47.9.5 47.9.6
Gefäßstenosen –615 Zerebrale Infarkte –615 Intrazerebrale Blutungen –615 Mittellinienverlagerung –616 Liquorzirkulationsstörung und Hydrozephalus –616 Zerebrale Aneurysmen und arteriovenöse Angiome –617
47.10
Liquordiagnostik – Lumbalpunktion
47.11
Liquoranalytik
47.12
Makroskopische Beur teilung
47.13
Proteine im Liquor
47.13.1 47.13.2 47.13.3
Proteine und Schrankenfunktion –618 Immunglobuline –619 Antikörperspezifitätsindex (ASI) –619
–605
–611
–612
–614 –614
–615
–617 –617
–618
–617
–613
–612
47.14
Liquorzellzahl und -zytologie
47.14.1 47.14.2 47.14.3
Entzündungen –620 Unspezifische Reizprozesse –621 Neoplastische Veränderungen –622
47.15
Glukose und Laktat im Liquor
47.16
Molekularbiologische Diagnostik
47.16.1 47.16.2
Virale Infektionen –622 Bakterielle Infektionen –622
Literatur
–622
–620
–622 –622
605 47.2 · Computer tomographie
47.1
47
Neuroradiologie B. Partik, D. Prayer, A. Dörfler, M. Forsting
Einleitung Als bildgebende Verfahren im Bereich des Rückenmarks und des Gehirns stehen die Dopplersonographie, Computertomographie, Magnetresonanztomographie (MRT) und Angiographie zur Verfügung. Die nuklearmedizinischen Methoden Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT) spielen in der neurologischen Intensivmedizin nur eine untergeordnete Rolle. 47.2
Computer tomographie
Das CT ist die am schnellsten verfügbare und für die Akutsituation meistens ausreichende Untersuchung zur Beurteilung des Gehirns und der Wirbelsäule. Die Möglichkeit zur relativ einfachen Überwachung und Beatmung während der Untersuchung machen die Computertomographie zu einem optimalen Verfahren für die rasche Abklärung von Notfällen. Folgende Indikationen können unterschieden werden: 4 Trauma, 4 ischämischer Infarkt, 4 Blutung, 4 postoperative Befundkontrolle, 4 entzündliche Prozesse (relative Indikation).
. Abb. 47.1. Patientin, 67 Jahre, Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, CT axial nativ. Epiduralhämatom in der hinteren Schädelgrube (schwarzer Pfeil), Subduralhämatom links temporal (weißer Pfeil), Kontusionsblutungen frontal
47.2.1 Trauma In der akuten Phase eines Schädel-Hirn-Traumas (SHT) ist die Computertomographie das wichtigste radiologische Untersuchungsverfahren. Epidurale, subdurale und intrazerebrale Blutungen lassen sich schnell und sicher diagnostizieren (. Abb. 47.1 [8]). ! Cave Allerdings zeigt das CT innerhalb der ersten Stunden nach einem SHT häufig noch nicht das volle Ausmaß der Verletzung. Deshalb sollte bei einem klinisch relevanten SHT immer eine Verlaufsuntersuchung durchgeführt werden.
In der subakuten bis chronischen Phase eines Schädel-HirnTraumas ist das MRT dem CT deutlich überlegen, da der höhere Weichteilkontrast und die fehlende knöcherne Artefaktbildung auch kleinere Verletzungen erkennen lassen. Bei der Diagnostik kleinerer Kontusionen oder sogenannter Scher verletzungen hilft auch die hohe Sensitivität des MRT für das Blutabbauprodukt Hämosiderin. Durch sogenannte GradientenEcho-Aufnahmen lassen sich auch kleinste punktförmige Hämorrhagien sicher diagnostizieren. Für die Begutachtung nach Schädelhirntraumen ist daher das MRT die Untersuchungsmethode der Wahl.
Epidurales Hämatom Das epidurale Hämatom (EDH) ist meist arterieller Genese, bedingt durch eine Blutung aus der A. meningea media oder ihren Ästen. Das Hämatom ist zwischen der Dura mater und der Kalotte lokalisiert. Die häufigste Lokalisation ist temporoparietal.
Infratentoriell ist das EDH häufig auch venöser Genese, bedingt durch Verletzungen der venösen Sinus [3]. CT-Befund. Im CT zeigt sich das Epiduralhämatom meistens als
bikonvexe Hyperdensität mit glatter Begrenzung zur Hirnoberfläche [9]. Je nach Größe kann das Epiduralhämatom massiv raumfordernd wirken (. Abb. 47.2a, b). Besonderes Augenmerk gilt dem seltenen isodensen epiduralen Hämatom, das unmittelbar posttraumatisch bei nicht kompletter Thrombosierung beobachtet werden kann. i Das sog. luzide Intervall tritt fast nur beim epiduralen Hämatom auf und hier auch nur in etwa 50% der Fälle. Bei 5% der Patienten können bilaterale EDH auftreten.
Subdurales Hämatom Das subdurale Hämatom (SDH) tritt gehäuft zwischen dem 6. und 8. Lebensjahrzehnt auf, wobei die Anamnese eines schweren Traumas fehlen kann. Das SDH ist meist venösen Ursprungs durch einen Einriss von Brückenvenen. Das Hämatom breitet sich im Subduralraum über größere Anteile der Hemisphäre aus und kann in Abhängigkeit von seiner Größe einen raumfordernden Effekt auf das Gehirn ausüben. CT-Befund. Das SDH zeigt sich als meist konkave hyperdense sichelförmige Zone. Blut im Interhemisphärenspalt, auf dem Tentorium sowie eine gewellte Begrenzung zur Hirnoberfläche sind Hinweise auf eine subdurale Hämatomlokalisation. Je nach Alter des subduralen Hämatoms kann dieses sich im
606
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
. Abb. 47.2a, b. Patient, 35 Jahre, Schädel-Hirn-Trauma vor 7 h; a CT nativ: typisch konfiguriertes Epiduralhämatom temporoparietal (Pfeil) und intrazerebraler Blutungsherd (*) links; b Schnittebene 3 cm tiefer: Zeichen der Raumforderung – Verlagerung und Kompression des Ventrikelsystems (Pfeil), Erweiterung des rechten Hinterhorns – Liquorabflussbehinderung (gefiederter Pfeil)
CT auch hypodens oder hirnisodens präsentieren. Besonders die hirnisodensen Subduralhämatome werden häufig übersehen. Infolge einer Mittellinienverlagerung kann eine kontralaterale Blockade des Foramen Monroi auftreten, die zu einer Liquorzirkulationsstörung im Bereich der Seitenventrikel führt (. Abb. 47.3). Chronisch subdurales Hämatom. Hierbei handelt es sich um ein komplexes Krankheitsbild mit einer vielgestaltigen CT-Morphologie: Infolge von Resorptionsvorgängen, Granulationsgewebebildung, Flüssigkeitstransudation und Resorption entstehen computertomographisch unterschiedliche Bilder.
Hirnkontusion Fokales posttraumatisches Ödem. Infolge einer posttraumati-
schen Permeabilitätsstörung entsteht eine lokalisierte Flüssigkeitsansammlung (. Abb. 47.4). Im Gegensatz zum perifokalen Tumorödem erstreckt sich das traumatische Ödem jedoch auf Rinde und Basalganglien. Kontusionsblutung. Zumeist im Kortex und den subkortikalen Regionen gelegen; häufiger sind sie an dem der Krafteinwirkung entgegengesetzten Seite (»contre-coup«) stärker ausgeprägt als an der direkten Stelle der Gewalteinwirkung.
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. Abb. 47.3. Patient, 68 Jahre, Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, CT axial nativ. Subduralhämatom (schwarzer Pfeil) mit deutlich raumfordernder Wirkung, Metallartefakt durch Hirndrucksonde (weißer Pfeil)
Scherverletzung. Bei Einwirkung exzessiver Rotationskräfte auf das Gehirn treten durch multiple Risse entlang der Faserbündel sog. Scherverletzungen (»diffuse axonal injury«; DAI) auf. Diese sind typischerweise an der Kortex-Mark-Grenze, im Corpus callosum und an der dorsolateralen Zirkumferenz des oberen
607 47.2 · Computer tomographie
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. Abb. 47.4. Patientin, 53 Jahre, Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, MRT axial, FLAIR. Nichthämorrhagische Kontusionsareale im Hirnstamm (schwarzer Pfeil) und am linken Temporalpol (weißer Pfeil)
Hirnstamms lokalisiert [4]. CT: Petechiale Blutungen an der Kortex-Mark-Grenze und im Bereich des Corpus. ! Cave Nur 20–50% der Patienten weisen im initialen CT Abnormitäten auf.
Bei einer Diskrepanz zwischen Klinik und Bildgebung ist ein MRT indiziert, wobei das MRT-Erscheinungsbild der DAI vom Alter der Läsion und dem Vorhandensein einer Blutung abhängt [5]. Weniger als 30% der DAI sind hämorrhagisch und führen daher zu einer Unterschätzung des Verletzungsgrads im CT. Posttraumatisch. Posttraumatisch kann es auch zu Subarachnoidalblutungen (. Abb. 47.5a), Ventrikeleinblutungen, sekundärer Hirnstammblutung (Duret-Blutung) und zu einer ischämischen Infarzierung (Karotisdissektion, traumatischer Karotisverschluss) kommen.
. Abb. 47.5a, b. Patient, 35 Jahre, Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma. a CT axial nativ, traumatische Subarachnoidalblutung mit Blut in der präpontinen Zisterne (Pfeile) und im 4. Ventrikel (weißer Pfeil). b CT axial nativ, HR-Knochenfenster. Frakturlinie rechts okzipital paramedian (Pfeil)
getroffen werden. Der posttraumatische Querschnitt stellt eine MRT-Indikation dar. 47.2.2 Infarkt
Spätfolgen eines Hirntraumas Hier wurden ein aresorptiver Hydrozephalus bei Zustand nach Ventrikeleinblutung, fokale Hirnatrophie, posttraumatische Zysten oder umschriebene Substanzdefekte beschrieben. Eine seltene Komplikation bei Kindern ist die »wachsende Fraktur«, bei der sich die Dura in den Frakturspalt eingeklemmt hat und nachfolgend keine knöcherne Konsolidierung, sondern eine Verbreiterung des Frakturspalts eintritt. Im High-resolution- (HR-) Knochenfenster erlaubt die Computertomographie auch eine Beurteilung der ossären Strukturen (. Abb. 47.5b). An der Wirbelsäule kann mittels multiplanarer Rekonstruktion eine Aussage über die Stabilität einer Fraktur
Ischämischer Infarkt Traditionell wird der ischämische Hirninfarkt nach dem klinischen Verlauf in die Kategorien transitorisch ischämische Attacke (TIA), prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit (PRIND) und kompletter Insult unterteilt. Für die radiologische Diagnostik spielt diese Unterteilung eine nur untergeordnete Rolle. Bei der TIA ist nur in Ausnahmefällen ein CT-Befund nachweisbar. Kompletter Insult. Das CT galt jahrelang als wenig sensitiv in
der Diagnostik des akuten ischämischen Hirninfarktes. Mit
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Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
. Abb. 47.6. Frischer embolischer Infarkt im Versorgungsgebiet der A. cerebri media rechts im Frühstadium. Der rechte Linsenkern ist im Vergleich zur Gegenseite dichtegemindert und nicht mehr abgrenzbar (Pfeil). Die äußeren Liquorräume sind im Vergleich zur Gegenseite rechts temporal gering eingeengt
zunehmender Verbesserung der Technik und zunehmender Erfahrung in der Untersuchung akuter Insulte hat sich das CT jedoch in den letzten Jahren als recht zuverlässiges diagnostisches Verfahren in der Frühdiagnostik des akuten Schlaganfalls erwiesen 4 CT-Frühstadium: Im Frühstadium zeigt sich bei Verschlüssen der A. cerebri media häufig bereits nach 2 h eine Dichteminderung des Linsenkerns und eine fehlende Abgrenzbarkeit des Inselrinde (. Abb. 47.6). 4 CT-Akutstadium ! Cave Im Akutstadium zeigt sich das verschlossene Blutgefäß oftmals hyperdens (»hyperdense middle cerebral artery sign«; HCMS). Bei ausgedehnten Infarkten kommt es bereits früh zu einem Verstreichen der äußeren Liquorräume als Hinweis auf die Schwellung der Hemisphäre.
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4 CT-Spätstadien: Die Dichte nimmt weiter ab, die Konturen werden scharf und im Gegensatz zu anderen hypodensen Prozessen entwickelt sich eine meist keilförmige Zone, die den Versorgungsgebieten der Hirnarterien entspricht (. Abb. 47.7). Nach intravenöser Kontastmittelgabe zeigt sich vom 12.–21. Tag eine gyral konfigurierte Schrankenstörung. Oft ist zu diesem Zeitpunkt das Infarktareal auf den nicht-kontrastangehobenen Bildern durch den sogenannten Fogging-Effekt nicht mehr nachweisbar. 4 CT-Endstadium (Monate/Jahre): Es zeigt sich eine scharf begrenzte liquorisodense Zone, die als Folge des Substanz-
. Abb. 47.7. Patient, 86 Jahre, Zustand nach Insult. Insult im Stromgebiet der A. cerebri posterior im chronischen Stadium (schwarzer Pfeil); subdurale Flüssigkeitslamelle links (Differenzialdiagnose: Hygrom, chronisches subdurales Hämatom) (weißer Pfeil)
defektes mit einer Erweiterung der benachbarten Ventrikel (»evacuo«) kombiniert sein kann.
Zerebrale Mikroangiopathie Als Folge einer lange bestehenden Hypertonie kann es in den Basalganglien durch autochtone Thrombosen der kleinen perforierenden Arterien zu sogenannten lakunären Infarkten kommen. Diese sind nicht-embolischer Genese, sodass nach Durchführung eines CTs bei diesen Patienten nicht nach einer Emboliequelle (Herz, große supraaortale Gefäße) gesucht werden muss. Eine andere Manifestation der zerebralen Mikroangiopathie ist die sogenannte subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE). Diese entsteht ebenfalls auf dem Boden einer Hypertonie und führt über die Lipophyalinose der langen penetrierenden Marklagerarterien zu einer vaskulären Demyelinisierung des Marklagers. Klinisch steht bei diesen Patienten häufig eine dementielle Entwicklung im Vordergrund.
Magnetresonanztomographie Mit konventioneller MR-Technik (T1- und T2-Spin-echo-Bildgebung) können akute Infarkte nicht besser als im CT diagnostiziert werden. Mit modernen MR-Techniken (Diffusions- und Perfusions-Bildgebung) sind die Infarkte jedoch in der Frühphase eindeutig besser als im CT abgrenzbar. Durch die Kombination dieser beiden Verfahren kann möglicherweise die sogenannte Penumbra (ischämischer Halbschatten) besser abgegrenzt werden. Durch die Kombination mit der Magnetresonanz-Angiographie (MRA), können auch Gefäßverschlüsse bzw. Stenosen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien schnell dargestellt werden [9].
609 47.2 · Computer tomographie
Hämorrhagischer Infarkt Hämorrhagische Transformierungen bei embolischen Gefäßverschlüssen kommen nach neuropathologischen Untersuchungen bei bis zu 90% der Patienten vor. Durch die hohe Sensitivität des MRT für kleinere Einblutungen ist diese hämorrhagische Komponente im MRT ebenfalls fast immer nachweisbar. Klinische Konsequenzen aus diesem Nachweis ergeben sich jedoch gegenwärtig nicht. Größere Einblutungen sind auch im CT gut erkennbar. Je nach Größe der Einblutung spricht man edoch dann nicht mehr von einer hämorrhagischen Infarzierung, sondern von einem parenchymalen Hämatom.
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glattwandiger Defekt; Verkalkungen sind selten. Folgende Lokalisationen werden beschrieben: 4 Stammganglienblutung (. Abb. 47.8); lateral im Bereich von Striatum/Claustrum (A. lenticulostriata); medial als Thalamusblutung häufig mit Ventrikeleinbruch, 4 Marklagerblutungen temporoparietal und frontal, 4 infratentorielle Blutungen: Pons und zerebellär.
CT-Befund. Einblutungen in die Nekrosezone mit fleckiger Dichteerhöhung, besonders in der Peripherie der Infarktzone. Die Kombination einer überwiegend im zentralen Kortex lokalisierten hyperdensen Zone und eines hypodensen angrenzenden Areals ist spezifisch für den hämorrhagischen Infarkt.
CT-Befund. Das frische Hämatom ist ein runder oder ovaler Herd von homogen erhöhter Dichte (50–90 Houndsfield-Einheiten) und raumforderndem Effekt. Bei Einbruch in die Liquorräume sind die Ventrikel (Sedimentierung in den Hinterhörnern), die Interhemisphärenzisterne und die basalen Zisternen hämorrhagisch markiert. Ab dem 3.–4. Tag erfolgt die Ausbildung einer fokalen Ödemzone, ab dem 7. Tag bis zu mehreren Wochen kann nach Kontrastmittelgabe eine ringförmige Anfärbung auftreten.
Venöser Infarkt – Sinusvenenthrombose
Subarachnoidalblutung
Bei einer Thrombose von Brückenvenen oder den großen venösen Sinus kann es zu einem venösen Stauungsinfarkt kommen. Zusätzlich liegen bei venösen Stauungsinfarkten fast immer kleinere Einblutungen vor. Nicht selten präsentiert sich die Sinusthombose primär als intrazerebrale Einblutung. Zur Diagnostik einer zerebralen Sinusvenenthrombose sollte die Computertomographie mit Kontrastmittel durchgeführt werden. Die Spiral-CT-Technik mit intravenöser Kontrastmittelgabe und dreidimensionaler Rekonstruktion ermöglicht eine Angiographie-ähnliche Darstellung der großen Arterien und Venen. Mit der CT-Angiographie kann damit schnell und zuverlässig eine zerebrale Sinusvenenthrombose diagnostiziert werden. Auch die MR-Angiographie ermöglicht eine schnelle Diagnostik der Sinusvenenthrombose und sollte natürlich bei schwangeren Patientinnen als Untersuchungsmethode der Wahl eingesetzt werden.
Ätiologie. Aneurysmen, Angiome, posttraumatisch (. Abb. 47.5a). Die Prädilektionstelle für Aneurysmen ist der Circulus arteriosus cerebri (Willisi). Blutungen aus rupturierten Aneurysmen tamponieren den Subarachnoidalraum, insbesondere die basalen Zisternen, die Cisterna V. galeni sowie die Interhemisphärenzisterne. Die Blutung kann sich in das Hirnparenchym wühlen und in das Ventrikelsystem einbrechen. Kleine Aneurysmen sind in der Regel nicht sichtbar – die definitive Diagnose sollte mittels Angiographie gestellt werden. Mögliche Komplikationen können ein angiospastischer Insult oder ein aresorptiver Hydrozephalus sein.
CT-Befund. Ausgedehnte Ödemzonen, die ein inhomogenes fleckiges Enhancement aufweisen, und multiple kleine Blutungen, die bei der Thrombose des Sinus sagittalis superior meist bilateral parasagittal angeordnet sind. Gelegentlich kann die Thrombose der Blutleiter auf dem Nativscan als hyperdenser kalottennaher Streifen gesehen werden (»cord sign«). Als pathognomonisch gilt das sog. »empty triangle sign«, das Korrelat des kontrastmittelumspülten Thrombus im Sinus sagittalis superior. MRT. Manche Autoren empfehlen primär eine Magnetresonanztomographie, wenn der Verdacht auf eine Basilaristhrombose oder Sinusvenenthrombose besteht und der Zustand des Patienten diese Untersuchung erlaubt.
47.2.3 Blutung
Hirnmassenblutung Begünstigende Faktoren sind hypertone Arteriosklerose, Antikoagulanzientherapie, Angitiden, Amyloidangiopathie, Tumorblutung, hämorrhagische Infarkte bei Embolien oder Sinusthrombosen. Das Blut kann in die Ventrikel oder den Subarachnoidalraum eindringen. Die Resorption der Blutung beginnt am Rand der Läsion. Als Residualzustand verbleibt oft ein spaltförmiger,
. Abb. 47.8. Raumfordernde hypertensive Stammganglienblutung rechts. Der rechte Seitenventrikel wird durch die Blutung fast vollständig komprimiert, die Mittellinie ist deutlich nach links verlagert
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Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
i Der sichere Ausschluss einer Subarachnoidalblutung ist letztlich nur mittels Liquorpunktion möglich, nicht aber radiologisch.
47.2.4 Postoperative Veränderungen Aufgrund der hohen Sensitivität für Hämatome ist die Beurteilung des postoperativen Situs eine Domäne der Computertomographie. Gut beurteilbar ist die Trepanationsstelle (osteoplastisch oder osteoklastisch), wobei das Trepanat regulär im Niveau der umgebenden Kalotte liegen sollte. Postoperative Substanzdefekte im Operationsgebiet, intrakranielle Luftansam mlungen und Ödeme sind im Verlauf gut beurteilbar. Aufgrund der Blut-Hirn-Schranken-Störung, die ihr Maximum erst nach etwa 48 h erreicht, ist postoperativ ein kontrastmittelverstärktes CT mit der Fragestellung »Resttumor?« nur innerhalb dieses Zeitfensters sinnvoll. Zu den wichtigsten postoperativen Komplikationen gehören epidurale, subdurale und intrazerebrale Hämatome, Ödeme, Liquorzirkulationsstörungen, Infarkte, subdurale Empyeme und Abszesse. 47.2.5 Entzündliche Erkrankungen Bei entzündlichen oder infektiösen Veränderungen des ZNS sollte ein CT vor und nach Kontrastmittelgabe durchgeführt werden, um pathologische Kontrastimittelanreicherungen nachzuweisen. Eine Trennung von Meningitis und Enzephalitis ist nur selten möglich, da fast immer beide Kompartimente beteiligt sind. Die Meningitis ist die häufigste Form der ZNS-Infektion. Ätiologie: akute pyogene Meningitis (meistens bakteriell), lymphozytäre Meningitis (viral), chronische Meningitis (Tuberkulose) [7]).
mit diskret raumfordernder Wirkung können im Temporallappenbereich auftreten. Hämorrhagien sind ein guter Hinweis auf eine HSE, treten jedoch in der Frühphase nur selten auf (. Abb. 47.9). Im kontrastmittelverstärkten CT: fleckiges oder gyriformes Enhancement möglich. Die akute nekrotisierende Herpesenzephalitis ist eine MRTIndikation.
Hirnabszess Ätiologie. Häufig durch offene Schädelfrakturen sowie per con-
tinuitatem (Sinusitis, Osteomyelitis) und hämatogen (z. B. bei Endokarditis). In der Abszessentwicklung ist ein stadienhafter Ablauf bekannt, der über eine frühe und späte fokale Enzephalitis (engl.: »cerebritis«) zur frühen Abszessmembranentwicklung (2 Wochen) bis zur späten Abszessformation führt. Multiple Abszesse sind – außer bei immungeschwächten Patienten – selten. CT-Befund. In den Frühstadien (»cerebritis«) zeigt sich lediglich
eine unspezifische Ödemzone ohne eindeutige Kontrastmittelaufnahme, später dann – nach Ausbildung einer Abszessmembran – ein hypodenser Herd, der nach Kontrastmittelinjektion ein ringförmiges Enhancement aufweist (. Abb. 47.10). Als Differenzialdiagnose zu einem zentral nekrotischen Primärtumor gelten folgende Hinweise: 4 Die Kontrastmittel aufnehmende Zone ist maximal 3–6 mm breit.
Meningitis In den meisten Fällen ist der CT-Befund negativ. Geringe Dilatation der Ventrikel und des Subarachnoidalraums sind unspezifische Frühzeichen. Weniger als 50% eines Kollektivs pädiatrischer Patienten mit dokumentierter Meningitis zeigten ein meningeales Enhancement im kontrastmittelverstärkten CT [2]. Das abnorme Enhancement der Meningen zeigt sich viel deutlicher im MRT als im CT. Nach Lumbalpunktion ist ein solches Enhancement der Meningen allerdings nicht verwertbar, da es hier in etwa 10–15% der Fälle auftritt, ohne dass eine Meningitis vorliegt. In der Frühphase einer Meningitis sollte die Magnetresonanztomographie als bildgebendes Verfahren eingesetzt werden.
Enzephalitis Ätiologie. Zumeist viral (Herpes simplex Typ 1 und 2); bei im-
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munsupprimierten Patienten viral: HIV, Zytomegalie; nichtviral: Toxoplasmose. CT-Befund. Insbesondere bei der Herpes-simplex-Enzephali-
tis (HSE) in der Frühphase normal. Subtile Hypodensitäten
. Abb. 47.9. Patient, 34 Jahre, unklares Koma, CT axial nativ. Hämorrhagische (schwarzer Pfeil) Herpesenzephalitis rechts temporal, Kompression des Vorderhorns des rechten Seitenventrikels (weißer Pfeil)
611 47.3 · Magnetresonanztomographie
47
fahrens. Im Einzelfall sind die zu erwartenden Informationen aus der MR-Untersuchung und die Belastung für den Patienten (Transport, Untersuchung in Narkose) gegeneinander abzuwägen. Weiterhin ist eine Ausrüstung der MR-Einheit mit entsprechenden nicht-ferromagnetischen Überwachungsgeräten notwendig. Technik. Die Bildgebung basiert auf der Interaktion zwischen
hochfrequenten elektromagnetischen Wellen und den Protonen der Wasser- und Fettbestandteile im Körper in Gegenwart eines starken Magnetfelds (in der Routine bis 1,5 Tesla). Im Gegensatz zur Computertomographie werden somit keine ionisierenden Strahlen verwendet. Die Bildgebung ist in allen Ebenen des Raumes frei wählbar. Kontraindikationen. Herzschrittmacher, bestimmte Herzklappen, intrakorporale metallische Fremdkörper, z. B. Cochleaimplantate und verschiedene Pumpen; relative Kontraindikation: klaustrophobische Patienten (evtl. Sedierung erforderlich).
47.3.1 MRT-Akutindikationen beim
Intensivpatienten Koma ungeklärter Genese . Abb. 47.10. Patient, 32 Jahre, Zustand nach Sinusitis, CT axial nach Kontrastmittelgabe: sinugener Hirnabszess mit Abszessmembran (schwarzer Pfeil) und subduralem Empyem (weißer Pfeil)
4 In etwa der Hälfte der Fälle ist sie medial geringfügig dünner infolge der schlechteren Vaskularisation des Marklagers. Epidurale Abszesse entstehen meist postoperativ, subdurale Empyeme bei offenen Hirnverletzungen oder per continuitatem, wobei die Abgrenzung zum chronischen Subduralhämatom mitunter schwierig ist. 47.2.6 Hirnödem
Insbesondere zum Ausschluss einer Enzephalitis: Bei Herpes-Enzephalitiden sind alle anderen Untersuchungen einschließlich des Liquorbefunds innerhalb der ersten 24–72 h u. U. negativ. MRT-Befund. Innerhalb dieses diagnostischen Fensters zeigt sich in T2-gewichteten Sequenzen und in Sequenzen mit zusätzlicher Unterdrückung des Signals freier Wasserstoff protonen (z. B. »fluid attenuated inversion recovery«; FLAIR) eine mediotemporale Hyperintensität (. Abb. 47.11), die sich später auf die frontalen Hirnregionen, die weiteren temporalen Anteile und die Gegenseite ausdehnen kann. Andere Meningoenzephalitiden manifestieren sich in Form intrazerebraler, auf T2-gewichteten Sequenzen und auf der FLAIR-Sequenz hyperintenser Läsionen, die kein vaskuläres Verteilungsmuster aufweisen. Gelegentlich zeigt sich eine Anfärbung der Meningen.
Hirnstammläsionen Ein Hirnödem stellt sich im CT als Zone verminderter Dichte (hypodens) dar. Raumforderungszeichen wie eine verstrichene Hirnfurchenzeichnung, enge basale Zisternen, eine Kompression der inneren Liquorräume und evtl. eine Verlagerung der Mittellinienstrukturen (Interhemisphärenspalt, Falx, Septum pellucidum, III. Ventrikel) lassen sich mit der Computertomographie ebenso sicher erkennen wie eine Liquorabflussblockade (Hydrocephalus occlusus).
Diese Region ist schädelbasisnah im CT aufgrund von Aufhärtungsartefakten der Knochenstrukturen nur eingeschränkt beurteilbar. Ätiologie. Vaskuläre (ischämischer Infarkt, venöse Infarzierung),
entzündliche, blastomatöse (am häufigsten Tumoren der Gliomreihe) oder toxische Genese (zentrale pontine Myelinolyse). Zentrale pontine Myelinolyse. Diese entsteht nicht nur bei Pa-
47.3
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) bietet einen ausgezeichneten Weichteilkontrast, die Möglichkeit der multiplanaren Bilderzeugung und benötigt keine Röntgenstrahlen. Die langen Untersuchungszeiten, die Anfälligkeit gegenüber Bewegungsartefakten und die schlechte oder nur eingeschränkte Möglichkeit der Patientenüberwachung gehören zu den Nachteilen des Ver-
tienten mit lange bestehender chronischer Intoxikation (Alkohol), sondern auch vermehrt als Komplikation einer zu raschen Veränderung (meist »Korrektur«) des Natriumgehalts durch osmotische Demyelinisierung. Zu den seltenen Ursachen gehören Leukodystrophien, Hydrocarbon, Ciclosporin, Methotrexat und Bestrahlung. MRT-Befund. Zentrale Signalveränderung im Hirnstamm mit erhaltenem peripherem Parenchymsaum.
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Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
Abklärung eines posttraumatischen Hydrocephalus internus von Bedeutung. 47.3.2 Spinale MRT-Indikationen
beim Intensivpatienten Akutes Querschnittsyndrom Das akute Querschnittsyndrom ist eine der wenigen Notfallindikationen für eine MRT-Untersuchung. Der MR-Befund ermöglicht häufig die sichere Differenzialdiagnose zwischen entzündlichen vaskulären oder traumatischen Ursachen des Querschnittsyndroms. Vorsicht ist geboten bei akuten epi- oder subduralen spinalen Hämatomen, diese können in der üblichen Spin-EchoTechnik übersehen werden. Empfehlenswert ist daher, immer sogenannte Gradienten-Echos durchzuführen, um diese seltenen Ursachen einer Querschnittlähmung nicht zu übersehen. Eine Myelographie zur Primärdiagnostik einer akuten Querschnittlähmung ist heute nur in Ausnahmefällen indiziert. 47.4
. Abb. 47.11. Patient, 39 Jahre, MRT axial, T2-gewichtete Turbospinechosequenz. Herpesenzephalitis rechts temporal (Pfeil)
Hirnvenenthrombosen Hier ist die Durchführung einer MR-Angiographie hilfreich. Im Gegensatz zur konventionellen Angiographie können hierbei während einer Sitzung sowohl die Hirngefäße als auch das Hirnparenchym beurteilt werden.
Meningeosis carcinomatosa
Die konventionelle zerebrale Angiographie spielt beim Intensivpatienten nur eine untergeordnete Rolle und ist auf wenige Indikationen, wie z. B. eine intraarterielle thrombolytische Therapie beim akutem Gefäßverschluss oder die Aneurysmasuche bei akuter Subarachnoidalblutung, beschränkt. Die Darstellung der supraaortalen Gefäße erfolgt dabei über einen transfemoralen Zugang in Kathetertechnik [6, 13]. 47.5
PET und SPECT
Die meningeale Tumorabsiedlung ist kernspintomographisch mit höherer Sensitivität zu erfassen als computertomographisch.
Die Positronenemissionstomographie ist ein bildgebendes Verfahren, das in vivo eine Beurteilung des Stoffwechsels und anderer physiologischer Parameter erlaubt.
MRT-Befund. Kontinuierliches oder noduläres Enhancement der
Technik. Es erfolgt eine intravenöse Injektion von mit Positro-
Meningen.
nen emittierenden Nukliden gekoppelten Radiotracern. Durch den Positronenzerfall erfolgt die Emission von γ-Photonen, die zur Bilddarstellung verwendet werden. Die Bilder reflektieren somit die quantitative In-vivo-Verteilung von Radionukliden.
Bei negativem MRT sollte eine Liquorpunktion durchgeführt werden, da sie wesentlich sensitiver ist!
Älteres Schädel-Hirn-Trauma
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Angiographie, digitale Subtraktionsangiographie, MR-Angiographie
Besonders bei einer Diskrepanz zwischen klinischem Bild und negativem CT-Befund (z. B. bei einem apallischen Syndrom) kann die Kernspintomographie häufig die morphologische Ursache klären. Oft finden sich Zeichen eines diffusen Axonschadens in Form von Hyperintensitäten im Parenchym und im Balken auf T2-gewichteten Sequenzen. Weiterhin sind Härnosiderinreste auf für Blutabbauprodukte empfindlichen Gradientenechosequenzen darstellbar. Liquorpulsationen können mit nichtinvasiven Maßnahmen (besondere MR-Sequenzen) sowohl qualitativ als auch quantitativ dargestellt werden. Dies ist bei der
Anwendung. Bisher hat sich die Mehrzahl der Studien mit der Messung des zerebralen Blutflusses durch SPECT mittels 99mTcHMPAO (de la Riva 1992) und der Messung der regionalen zerebralen Metabolisationsrate von Glukose durch PET mittels 18Fgekoppelter Fluordesoxyglukose als Radiotracer befasst [10]. Mit SPECT können nach Schädel-Hirn-Trauma im Vergleich zur strukturellen Bildgebung (CT, MRT) Ausmaß und Schweregrad der zerebralen Veränderungen besser beurteilt werden, wobei auch eine gute Korrelation zwischen neurologischen Ausfällen und Gehirndysfunktionen besteht [11].
613 47.6 · Neurosonographie – Stellenwert auf der Intensivstation
47
. Tabelle 47.1. Zusammenstellung möglicher Indikationen und Fragestellungen für dopplersonographische Untersuchungen auf der Intensivstation. [Nach 14]
Akutdiagnostik
Verlaufsuntersuchungen
Indikationen
Methode
Nachweis und Lokalisation stenosierender oder okkludierender extra- und intrakranieller Gefäßläsionen
ECD,TCD,ECCS,TCCS
Diagnostik intrakranieller Kollateralisierung (Circulus Willisii) bei vorgeschalteten, hämodynamisch wirksamen Gefäßläsionen
TCD,TCCS
Farbduplexsonographische Messung des zerebralen Blutflussvolumens
ECCS
Nachweis eines intrakraniellen Perfusionsstillstands
TCD,TCCS
Nachweis von intrakraniellen arteriovenösen Malformationen (evtl. auch größeren Aneurysmen) oder von Durafisteln (ECD)
TCD;TCCS
Darstellung intrakranieller Parenchymläsionen (z. B. zerebrale Blutung, Tumoren)
TCCS
Nachweis eines Hydrozephalus
TCCS
Nachweis von kardialen und karotidogenen Embolien
TCD (Emboliedetektion)
Diagnostik eines offenen Foramen ovale
TCD (Emboliedetektion), Echokardiographie
Rekanalisation eines Gefäßverschlusses
ECD,TCD,ECCS,TCCS
Überwachung einer systemischen Lyse bei Verschluss der A. cerebri media (Rekanalisation des Verschlusses und Einblutung in das Infarktareal)
TCCS
Verlaufsuntersuchungen bei Gefäßstenosen und Vasospasmen (unter Berücksichtigung des mittels extrakranieller Farbduplexsonographie ermittelten zerebralen Blutflussvolumens)
TCD,TCCS, (ECCS)
(Probe)okklusion der ACl bei intrakraniellen (ACl-)Aneurysmen oder massiven Blutungen aus dem Nasenrachenraum
TCD,TCCS
Intrakranielles Monitoring bei Karotis-TEA
TCD
Vasomotorenreserve bei hämodynamisch bedingten Infarkten
TCD
Verlaufsuntersuchungen der Ventrikelweite bei Liquorzirkulationsstörungen
TCCS
Mittellinienverlagerung, Kompression des Ventrikelsystems Blutungen und andere parenchymatöse Läsionen Optimierung von Antikoagulation (künstliche Herzklappen, »left ventricular assist device« etc.)
TCD (Emboliedetektion)
Monitoring extrakorporaler Zirkulation
TCD (Emboliedetektion)
Monitoring bei Karotis-TEA
TCD (Emboliedetektion)
ECD extrakranielle Dopplersonographie, ECCS extrakranielle Farbduplexsonograpie, TCD transkranielle Dopplersonographie, TCCS transkranielle Farbduplexsonographie.
47.6
Neurosonographie – Stellenwert auf der Intensivstation G. Becker, W. Müllges
Ultraschallverfahren werden in erster Linie zur Untersuchung der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien zum Nachweis von Gefäßstenosen und -verschlüssen eingesetzt. Seit einigen Jahren ist auch die Darstellung von Hirnparenchym und
Hirnvenen sonographisch möglich. Neben der Akutdiagnostik wird die Sonographie auf der Intensivstation auch zur Verlaufsuntersuchung von neurologischen Erkrankungen verwendet, die direkt oder indirekt die Hirndurchblutung beeinträchtigen (z. B. Hirndruck). Sonographische Untersuchungsverfahren können therapierelevante Informationen in der Akutphase und im Verlauf neurologischer Erkrankungen liefern, die die neuroradiologischen Befunde ergänzen, in der Regel aber nicht ersetzen. Der besonde-
614
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
re Vorteil sonographischer Untersuchungsverfahren ist, dass sie am Patientenbett durchgeführt werden können und instabile Intensivpatienten somit nicht transportiert werden müssen. Grundsätzlich können auch unruhige und nicht kooperative Patienten mit den neurosonologischen Basisverfahren untersucht werden. Ferner sind sie nichtinvasiv und ohne Strahlenbelastung. Der wesentliche Nachteil ist, dass die Untersuchungsergebnisse von der Erfahrung des Untersuchers abhängen. 47.7
Indikationen
Fragestellungen, die mit neurosonographischen Methoden beantwortet werden können, sind in . Tabelle 47.1 zusammengefasst. Die verschiedenen zur Verfügung stehenden Untersuchungsverfahren können in Basisverfahren und weiterführende Methoden unterschieden werden. Neurosonologische Untersuchungsver fahren. Basisverfahren
sind die dopplersonographische Blutflussmessung mit der extra- und transkraniellen Dopplersonographie (ECD und TCD), Methoden, die auf jeder (neurologischen) Intensivstation vorhanden sein sollten. Ergänzt werden sie durch die extra- und transkranielle Farbduplexsonographie (ECCS und TCCS), mit denen Halsweichteile, Halsgefäße, zerebrale Gefäße und das Hirnparenchym im zweidimensionalen Schnittbild dargestellt werden können. Dopplersignale der hirnversorgenden Gefäße werden dabei zweidimensional in die Schnittbilder eingeblendet und so die anatomische Orientierung und die Zuordnung der Dopplersignale zu bestimmten Gefäßregionen erleichtert. Ultraschallkontrastmittel. Durch Anwendung »lungenstabi-
ler« Ultraschallsignalverstärker kann besonders die gefäßdiagnostische Qualität der transkraniellen Sonographie erheblich verbessert werden. Ultraschallsignalverstärker, die nicht die Lungenkapillaren passieren, werden zum Nachweis eines Rechtslinks-Shunts verwendet. Emboliedetektion. Emboliedetektion ist ein sonographisches
Verfahren, mit dem arterioarterielle oder kardiale Embolien identifiziert werden können. Hirndruck- und Hirntoddiagnostik. Die transkranielle Dopplersonographie kann auch zum Hirndruckmonitoring verwendet werden, da der Anstieg des intrazerebralen Drucks die Dopplerpulskurve verändert (vermehrte Pulsatilität). Ferner kann die TCD als ergänzendes Verfahren bei der Hirntoddiagnostik zum Nachweis eines zerebralen Perfusionsstillstands eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang muss allerdings daran erinnert werden, dass die Dopplerpulskurve besonders beim intensivtherapierten und beatmeten Patienten von verschiedenen Parametern wesentlich beeinflusst werden kann (z. B. CO2-Partialdruck). Funktionelle Untersuchungen. Bei »funktionellen« sonographi-
47
schen Untersuchungen wird die Änderung der Dopplerpulskurve auf externe Stimmuli analysiert. Als Stimuli dienen ein sich ändernder CO2-Partialdruck bei der Messung der Vasomotoren-Reservekapazität, visuelle und akustische Stimulation oder komplexe kognitive Aufgaben.
47.8
Neurovaskuläre Basisuntersuchung
Zerebrovaskuläre Erkrankungen bilden die zahlenmäßig bedeutendste neurologische Krankheitsgruppe, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordert. Wird eine Stenose oder ein Verschluss der hirnversorgenden Arterien vermutet, sollten Dopplersignale aus repräsentativen Abschnitten aller sonographisch zugänglichen supraaortalen Gefäße im Seitenvergleich und in standardisierter Reihenfolge dargestellt werden. Zur sonographischen Diagnostik sollte der Patient auf dem Rücken liegen. Der Untersucher sitzt vorzugsweise am Kopfende.
Halsgefäße Bei der Untersuchung der Halsgefäße werden zunächst Dopplersignale der A. supratrochlearis vor und nach Kompression fazialer A.-carotis-externa-Äste abgeleitet. Die A. carotis communis wird am vorderen Rand des M. sternocleidomastoideus aufgesucht, dann werden die Dopplersignale kontinuierlich kranialwärts verfolgt und die A. carotis interna und externa aufgesucht. Mittels ECD wird die A. vertebralis am Abgang aus der A. subclavia und submastoidal an der Atlasschleife beschallt, während mit der ECCS und die Beschallung der transforaminalen Vertebralarteriensegmente möglich ist.
Intrakranielle Gefäße Bei der Untersuchung der intrakraniellen Arterien werden Flusssignale der proximalen Segmente der Aa. cerebri media, anterior und posterior sowie der A. ophthalmica abgeleitet. Hierzu können die kostengünstige TCD oder die technisch aufwendigere TCCS eingesetzt werden. Die transkranielle sonographische Untersuchung erfolgt im wesentlichen durch das temporale Schallfenster, das sich am oberen vorderen Ohransatz befindet. Bei 90% der Erwachsenen können temporale Schallfester gefunden werden, die eine dopplersonographische Untersuchung durch die intakte Schädelkalotte ermöglichen. Die distalen Segmente der A. vertebralis und die A. basilaris werden über einen subokzipitalen Zugang aufgesucht.
Allgemeine Hinweise zur Untersuchung Es gibt Fragestellungen, die nur farbduplexsonographisch beantwortet werden können (Ultraschallmorphologie einer ACI-Stenose, Nachweis einer zerebralen Blutung oder eines Aneurysmas etc.). Bedeutsamer als die Frage, ob Doppler- oder Farbduplexsonographie eingesetzt wird, ist die Erfahrung der Untersuchers mit dem jeweiligem Untersuchungssystem und die Kenntnis von Indikationen, Fehlerquellen und Grenzen des Verfahrens. Die vaskuläre Diagnostik steht unter intensivmedizinischen Bedingungen häufig unter Zeitdruck. Dies darf aber nicht dazu verleiten, die Untersuchung auf einzelne als pathologisch verdächtigte Gefäßregionen zu beschränken und unvollständig durchzuführen, und dabei wichtige andere Befunde zu übersehen.
Um Fehlbeurteilungen zu vermeiden, sollte die Basisuntersuchung stets vollständig durchgeführt und Dopplerpulskurven von allen repräsentativen Gefäßabschnitten dokumentiert werden.
Weitere spezifisch intensivmedizinische Probleme, die hohe Anforderungen an den Untersucher stellen können, sind psychomo-
615 47.9 · Sonographische Befunde
torische Unruhe des Patienten, Schnarchartefakte, Verbände, Jugulariskatheter, ungünstige Lagerung des Patienten oder Interferenzen mit umgebenden Instrumenten (Ultraschallvernebler, Respirator). 47.9
Sonographische Befunde
47.9.1 Gefäßstenosen Stenosen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien können etwa ab einer 60%igen Lumeneinengung dopplersonographisch identifiziert werden. Ein direkter Hinweis auf eine Gefäßstenose ist die Erhöhung der Flussgeschwindigkeit im stenotischen Segment (. Abb. 47.12). Bei konstantem Blutflussvolumen besteht eine inverse Beziehung zwischen Gefäßkaliber und Strömungsgeschwindigkeit. Mit zunehmendem Stenosegrad steigt die Flussgeschwindigkeit bis zum Erreichen der sog. Reynolds-Zahl, der Grenze zwischen laminarer und turbulenter Strömung. Indirekte Hinweise auf eine Gefäßstenose sind 4 Reduktion der prä- und poststenotischen Flussgeschwindigkeiten, 4 poststenotische Ablösungsturbulenzen, 4 Anstieg der Flussgeschwindigkeit in benachbarten Gefäßregionen, 4 Umkehr der Flussrichtung in Gefäßen (z. B. A. supratrochlearis bei hämodynamisch wirksamen A.-carotis-internaStenosen über 80%), die zur kompensatorischen Kollateralisation hochgradiger Stenosen beitragen. Mit der ECCS können im Schnittbild des Gefäßes auch Lumeneinengungen von weniger als 50% identifiziert werden. Ferner kann die sonographische Morphologie einer Stenose oder eines Verschlusses beschrieben werden, was z. T. Rückschlüsse auf die Ursache zulässt, z. B. Dissektion oder arteriosklerotische Läsion. Mit sonographischen Untersuchungsverfahren können durch den Geübten mit hoher Sensitivität und Spezifität Gefäßstenosen identifiziert werden.
47
47.9.2 Zerebrale Infarkte Die häufigste Ursache einer akuten Halbseitensymptomatik ist der Verschluss einer hirnversorgenden extra- oder intrakraniellen Arterie. Dopplersonographisch fassbare Zeichen für einen Gefäßverschluss sind sog. Widerstandssignale proximal vom Verschluss (kurze, systolische, bidirektionale Dopplersignale, »Schwappphänomene«). Distal des Verschlusses können keine Flusssignale mehr gefunden werden (. Abb. 47.13). Indirekter Hinweis auf einen Gefäßverschluss ist – wie bei hochgradigen Stenosen – der Nachweis einer Strömungsumkehr in Kollateralarterien (z. B. A. supratrochlearis, A. cerebri anterior). Die Sensitivität und Spezifität der Sonographie in der Aufdeckung von Gefäßverschlüssen liegt bei über 90%. Probleme kann aber die Differenzierung einer subtotalen Stenose der A. carotis interna von einem Verschluss des Gefäßes bereiten. Auch der Nachweis eines distalen Verschlusses der A. basilaris kann schwierig sein. Bei distalem Verschluss der A. basilaris und gutem Blutabfluss über die Kleinhirnarterien können sogar dopplersonographisch fassbare Zeichen ganz fehlen. Da diese Fragestellung lebenswichtige therapeutische Konsequenzen nach sich zieht, sollte bei klinischem Hinweis, aber fehlendem eindeutigen sonographischen Befund in der hinteren Zirkulation immer eine selektive Arteriographie erwogen werden. 47.9.3 Intrazerebrale Blutungen Intrazerebrale Blutungen können mit der TCCS als stark echogene Läsionen, die scharf zur Umgebung begrenzt sind, abgebildet werden. Zerebrale Blutungen heben sich somit deutlich von dem umgebenden normalen echoarmen Hirngewebe ab (. Abb. 47.14). Hierdurch unterscheiden sie sich von zerebralen Infarkten, da sich bei diesen die Echogenität des Hirngewebes zunächst nicht ändert. Allerdings verlieren Blutungen nach zwei Wochen, vom Zentrum ausgehend, zunehmend an Echogenität und sind nach 3–4 Wochen sonographisch nicht mehr darstellbar. Bei guten Untersuchungsbedingungen können in der Akutphase 90–95% aller intrazerebralen Blutungen sonographisch erkannt werden. Atypische parietopolare Blutungen oder Blutungen, die kleiner als 1 cm im Durchmesser sind, werden allerdings häufiger übersehen.
. Abb. 47.12. Hochgradige Stenose der A. carotis interna. Farbdopplersonographisch ist kurz nach Abgang der A. carotis interna (ACl) aus der A. carotis communis (ACC) eine Zone erkennbar, in der das Gefäß verengt ist (Pfeil), und in der unterschiedlich farbkodierte Flusssignale als Hinweis auf einen turbulenten Fluss und/oder eine erhöhte Flussgeschwindigkeit nachweisbar sind. Die gezielte Dopplersonographie aus diesem Gefäßsegment der ACI stellt Flussgeschwindigkeiten von über 400 cm/s als Hinweis auf eine hochgradige ACl-Stenose dar
616
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
schen Diagnose. Weiterhin sind epi- und subdurale Hämatome sowie ausgedehnte Subarachnoidalblutungen erkennbar. Erste prospektive Studien zeigen, dass die Sensitivität und Spezifität der TCCS im Nachweis von intrakraniellen Blutungen, Infarkten und deren Komplikationen (7 s. unten) geringer ist als die der Computertomographie (CT). Sollte allerdings in der Akutdiagnostik eines Patienten mit dem klinischen Bild eines Schlaganfalls kein CT zur Verfügung stehen, könnte neben der extrakraniellen Gefäßdiagnostik die TCCS nach weiteren technischen Verbesserungen die Untersuchung ergänzen, um einige therapierelevante Befunde (Gefäßverschluss, Blutung mit Mittellinienverlagerung, Liquorzirkulationsstörung) zu identifizieren. 47.9.4 Mittellinienverlagerung
. Abb. 47.13a–c. Normalbefund und TCCS-Befunde eines Mediaverschlusses: a Normalbefund (axiale Schnittführung durch den mesenzephalen Hirnstamm): Die TCCS blendet farbkodiert die Dopplersignale in das zweidimensionale Schnittbild des Hirnparenchyms ein. Darstellung des basalen Gefäßkranzes: A. cerebri media (1), A. cerebri anterior (2), A. cerebri anterior der Gegenseite (3), A. cerebri media der Gegenseite (4), A. cerebri posterior (5), kontralaterale A. cerebri posterior (6), mesenzephaler Hirnstamm (7). b Im Vergleich hierzu ist bei dem Patienten mit dem Mediaterritorialinsult kein Farbdopplersignal im Bereich der A. cerebri media erkennbar, obwohl der Gefäßstamm (<) und das umgebende Gewebe sonographisch gut erfasst werden. Farbdopplersignale der benachbarten Gefäße werden regelrecht dargestellt, wobei Aliasing-Phänomene in der kontralateralen A. cerebri anterior auf eine Kollateralisation über die A. communicans anterior hinweisen (A. cerebri anterior (1), kontralaterale A. cerebri anterior (2), A. cerebri posterior (3), kontralaterale A. cerebri media (4), kontralaterale A. cerebri posterior (5). c In der CCT-Untersuchung kann ein linkshemisphärischer Mediainfarkt (Linsenkerninfarkt) nachgewiesen werden
Größere intraventrikuläre Blutungen
47
Auch größere intraventrikuläre Blutungen können mit der TCCS dargestellt werden. Sie sind als echogener Ausguss des sonst echoarmen Ventrikelsystems erkennbar. Kleine Blutspiegel in den Hinterhörnern der Seitenventrikel entgehen der sonographi-
Verlagerungen der Mittellinienstrukturen sind häufig schon im axialen Übersichtsbild der TCCS erkennbar. Mittellinienverlagerungen sollten immer von beiden temporalen Schallfenstern aus untersucht und beurteilt werden. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass durch die Brechungsartefakte am Schallfenster eine leichte konkave Verzeichnung der Mittellinienstrukturen in den Randbereichen des B-Bilds regelhaft stattfindet. Die Verlagerung von Mittellinienstrukturen kann folgendermaßen quantifiziert werden: Zunächst wird in axialer Schnittführung der Abstand zwischen einer ausgewählten Mittellinienregion und der Sondenauflagefläche bestimmt. Die gleiche Messung erfolgt vom gegenüberliegenden temporalen Schallfenster. Das Ausmaß der Verlagerung der Mittellinienstruktur entspricht der Hälfte der Differenz beider Messwerte. Die Verlagerung jeder anderen Struktur der Mittellinie kann auf diese Weise berechnet werden. 47.9.5 Liquorzirkulationsstörung und
Hydrozephalus Das supratentorielle Ventrikelsystem ist sonographisch als echoarme Struktur mit echogenen Grenzlinien nahe bzw. in der Mittellinie erkennbar. Bei ausreichenden Untersuchungsbedingungen können der dritte Ventrikel und das Vorderhorn sowie die Cella-media-Region der Seitenventrikel identifiziert und vermessen werden. Die Messwerte des 3. Ventrikels stimmen gut mit den CT-Werten überein, etwas schlechter ist die Korrelation im Bereich der Seitenventrikel. Erweiterungen des 3. Ventikels
617 47.12 · Makroskopische Beur teilung
47
. Abb. 47.14 a. b. Stammganglienblutung. a CT-Befund einer großen linkshirnigen Stammganglienblutung (1) mit Kompression des Seitenventrikels. b TCCS Befund (axiale Schnittführung durch das Mesenzephalon): Die zerebrale Massenblutung (1) ist als stark echogene Läsion mit relativ homogener Echotextur erkennbar. Sie ruft eine Verlagerung des 3. Ventrikels (schwarzer Pfeil) und eine Kompression des linksseitigen Seitenventrikels hervor, der in dieser Schallebene im Gegensatz zum Vorderhorn des rechten Seitenventrikels (x) nicht erkennbar ist. Falx cerebri (weißer Pfeil)
und der rostralen Anteile der Seitenventrikel sind sonographisch nachweisbar und können auch, wenig aufwendig und belastend, im Verlauf überwacht werden. Schlechter beurteilbar sind hingegen das Temporal- und Okzipitalhorn der Seitenventrikel sowie der vierte Ventrikel. Da die Weite des Subarachnoidalraums sonographisch nicht hinreichend ermittelt werden kann, ist eine dysproportionale Erweiterung von innerem und äußerem Liquorsystem nicht bestimmbar. Hinweise auf den intrazerebralen/intraventrikulären Druck können sich aus der Analyse der Dopplerpulskurve (»Pulsatilitätsindex«) und der Undulationsfähigkeit des Septum pellucidum ergeben (. Abb. 47.15 c).
oder über eine aus therapeutischen Gründen eingeführte externe Ventrikeldrainage gewonnen. Für eine aussagekräftige Liquordiagnostik ist die gleichzeitige Entnahme einer Serum- oder Plasmaprobe unverzichtbar. ! Cave Kontraindikationen für eine Lumbalpunktion sind eine pathologisch veränderte Gerinnung (Thrombopenie <30.000/μl, Quick-Wert <50%, PTT-wirksame Heparinisierung) sowie eine intrakranielle Drucksteigerung, da die plötzliche Druckentlastung nach Lumbalpunktion zu einer Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz oder im Foramen magnum führen kann.
47.9.6 Zerebrale Aneurysmen und ar teriovenöse
Angiome
47.11 Liquoranalytik
Intrazerebrale Aneurysmen und arteriovenöse Angiome können farbduplexsonographisch abgebildet werden. Aneurysmen stellen sich als farbkodierte Aussackungen der großen basalen Hirngefäße dar. Dopplersonographisch können in ihnen kurze, bidirektionale Flusssignale abgeleitet werden. Angiome sind dagegen als echogene pulsierende Läsionen erkennbar, denen ein Netzwek farblich unterschiedlich kodierter Dopplersignale überlagert ist. Einzelne zuführende Arterien und drainierende Venen können farbduplexsonographisch nachgewiesen werden. Allerdings ist die Sensitivität der TCCS im Nachweis von Angiomen, besonders aber von Aneurysmen, geringer als die der Angiographie, sodass bei Verdacht auf eine solche Malformation (z. B. bei Subarachnoidalblutung) immer eine zerebrale Angiographie angestrebt werden muss.
Die Liquordiagnostik umfasst die makroskopische Beurteilung, die Ermittlung der Zellzahl, die zytologische Differenzierung der Liquorzellen, die Bestimmung des Gesamtproteins und die Differenzierung der Proteinfraktionen. Wichtige Zusatzinformationen geben die Glukose- und Laktatkonzentrationen sowie bei Entzündungen der Nachweis einer humoralen erregerspezifischen Immunantwort oder spezifischer Nukleinsäuresequenzen. Die Normalwerte der einzelnen Parameter sind aus . Tabelle 47.2, die Stufen der Liquordiagnostik aus . Tabelle 47.3 ersichtlich. Einige charakteristische Liquorbefunde sind in . Tabelle 47.4 zusammengestellt.
47.10 Liquordiagnostik – Lumbalpunktion
Der normale Liquor ist wasserklar. Trübung weist auf eine Zellvermehrung >800/Pl, eitriger Aspekt auf die Anwesenheit von Granulozyten >3000/Pl hin. Eine xanthochrome Verfärbung des Liquors entsteht durch starke Eiweißerhöhung (>300 md/dl) oder durch Blutungen in den Subarachnoidalraum nach frühestens 6 h durch Austritt von Hämoglobin und Bilirubin aus zerfallen-
B. Wildemann Der Liquor wird durch Punktion des Subarachnoidalraums zwischen dem 3. und 4. bzw. dem 4. und 5. Lendenwirbelkörper
47.12 Makroskopische Beur teilung
618
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
. Abb. 47.15a–c. Hydrozephalus. a CT-Befund: Deutliche Erweiterung der inneren Liquorräume. Vorderhorn der Seitenventrikel (x), Septum pellucidum (*). b TCCS-Befund (axiale Schnittführung durch das Dienzephalon): Deutliche Vergrößerung der echoarmen Liquorräume (Vorderhorn der Seitenventrikel (x), Ill. Ventrikel (weißer Pfeil), Trigonum der Seitenventrikel (0). Septum pellucidum (*). Die doppelläufigen Pfeile stellen dar, wie die Weite des 3. Ventrikels und der Vorderhörner der Seitenventrikel ermittelt wird. c M-ModeAufzeichnung des Septum pellucidum während des Undulationstests: Die Undulation des Septum pellucidum nach einer kurzen Schüttelphase des Kopfes (weißer Pfeil) legt nahe, dass die intraventrikulären Druckwerte unter 20 cm H2O liegen
den Erythrozyten. Beträgt das Zeitintervall zwischen Blutungsereignis und Lumbalpunktion >6 h, dann kann artefiziell blutiger Liquor leicht von einem primär blutigen Liquor unterschieden werden. Klarer Überstand nach Zentrifugation spricht für eine artefiziell blutige Liquorprobe, Xanthochromie des Überstandes für eine primäre Blutung in den Subarachnoidalraum. 47.13 Proteine im Liquor
47.13.1 Proteine und Schrankenfunktion Der normale Eiweißgehalt des Liquors beträgt 15–45 mg/dl. Orientierend kann der Eiweißgehalt in der Notfallsituation mit dem Pandy-Reagenz überprüft werden. Bei Kontakt eines Tropfens Liquor mit dem Reagenz kommt es bei hoher Proteinkonzentration zu einer opaleszenten Verfärbung der Flüssigkeit. Liquorentstehung. Liquor wird als Filtrat des Blutes von den
47
Plexus chorioidei sezerniert und in seiner Zusammensetzung zusätzlich durch die Extrazellularflüssigkeit des Hirnparenchyms beeinflusst. Die Analytik des Liquorproteinprofils benötigt das Serum als Bezugsgröße, da der überwiegende Anteil des Liquorproteins aus dem Serum stammt. Zwischen Blut und Liquor besteht ein Fließgleichgewicht, das durch die Blut-LiquorSchranke aufrechterhalten wird. Die wichtigsten Parameter, die die Liquorkonzentration von Plasmaproteinen beeinflussen, sind die Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke und die Liquorflussgeschwindigkeit. Die Permeabilität ist gut für fettlösliche Moleküle, gering für wasserlösliche Moleküle und nimmt mit der Molekülgröße ab.
Albuminquotient. Die Funktion der Blut-Liquor-Schranke ist
verlässlich charakterisierbar durch den Quotienten aus Albuminkonzentration im Liquor und Albuminkonzentration im Serum (QAlb), da Albumin als rein extrazerebral synthetisiertes Protein auch unter pathologischen Umständen ausschließlich aus dem Blut in den Liquor gelangt. Der Albuminquotient ist altersabhängig und beträgt im mittleren Erwachsenenalter <7 · 10-3. Die Ursachen für Funktionsstörungen der Blut-LiquorSchranke sind vielfältig und umfassen Entzündungen des zentralen und peripheren Nervensystems sowie Hirninfarkte und seltener auch neurodegenerative Erkrankungen. Neben der Funktion der Blut-Liquor-Schranke wird der Albuminquotient durch den Flüssigkeitsturnover im Liquorkompartiment bestimmt. Bei Liquorzirkulationstörungen, z. B. infolge von Entzündungen, Verklebungen der Meningen und Raumforderungen im Spinalkanal, steigt der Albuminquotient in Abhängigkeit vom Ausmaß der Passagebehinderung an. Liquorspezifische Proteine. Einige Liquorproteine, z. B. β-Trace-Protein und τ-Globulin, sind Proteine lokalen Ursprungs und können nur im Liquor nachgewiesen werden. Sie eignen sich daher zur Differenzierung von Liquor und anderen Sekreten bei Liquorfisteln. Proteine des Hirnparenchyms. Bei Zelluntergang innerhalb des
Zentralnervensystems (ZNS) werden Proteine aus dem Hirnparenchym, wie S 100, neuronenspezifische Enolase (NSE) und 143-3-Protein vermehrt in den Liquor freigesetzt. Erhöhte Werte finden sich bei schweren hypoxischen Hirnschädigungen, bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Creutzfeldt-JakobKrankheit und der Alzheimer-Krankheit sowie bei Herpes-simplex-Enzephalitis. Die diagnostische Aussagekraft ist begrenzt
619 47.13 · Proteine im Liquor
. Tabelle 47.2. Liquor: Referenzwerte
. Tabelle 47.3. Stufen der Liquordiagnostik
Parameter
Referenzwert
Notfallprogramm
Farbe
4 wasserklar
Zellzahl
4 bis 5/μl
Zelltyp
4 Lymphozyten (70–100%), Monozyten (bis 30%)
4 Zellzählung 4 Zytologische Differenzierung granulozytärer und mononukleärer Zellen 4 Gramfärbung zur Identifikation und Grobdifferenzierung von Bakterien 4 Pandy-Reaktion zur Grobbeurteilung des Gesamtproteins
Gesamtprotein
4 bis 55 mg/dl*
Basisprogramm
Albumin
4 bis 35 mg/dl*
IgG
4 bis 4 mg/dl*
4 4 4 4
IgA
4 bis 0,6 mg/dl*
IgM
4 bis 0,1 mg/dl*
Glukose
4 <50% der Serumglukose
Laktat
4 <2,1 mmol/I
Albuminquotient
4 bis 7×10–3 bei Erwachsenen
Immunglobulinquotienten
4 . Abb. 47.1
Antikörperspezifitätsindex (Liquor/Serum-Quotient der IgG-bezogenen Antikörperaktivitäten
4 bis 1,5
* Orientierende Referenzwerte; eigentliche Referenzwerte sind die Liquor/Serum-Quotienten.
und jeweils im Zusammenhang mit klinischen und anderen diagnostischen Parametern zu interpretieren. NSE ist nach zerebraler Hypoxie innerhalb weniger Stunden bis Tage auch im Serum in erhöhter Konzentration nachweisbar. Der Serum-NSE-Wert ist in Verbindung mit der bildgebenden Diagnostik ein wichtiger prognostischer Parameter für den Schweregrad der hypoxischen Schädigung des Hirnparenchyms. 47.13.2 Immunglobuline Bei zahlreichen entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems werden lokal innerhalb des ZNS Immunglobuline synthetisiert und in den Liquor sezerniert, die neben den aus dem Serum stammenden Fraktionen nachgewiesen werden können. Der Nachweis und die Differenzierung einer humoralen Immunreaktion im ZNS kann quantitativ oder qualitativ erfolgen. Die quantitative Auswertung erfolgt mit Hilfe von Liquor-Serum-Quotientendiagrammen (nach Reiber und Felgenhauer). Hierbei werden die Liquor/Serum-Quotienten der Immunglobuline gegen den LiquorSerum-Quotienten von Albumin aufgetragen (. Abb. 47.16). Aus den Quotientendiagrammen kann der Anteil der intrathekal produzierten Immunglobuline und auch das Vorliegen einer Blut-Liquor-Schranken-Störung direkt abgelesen werden.
47
Liquor/Serum Albuminquotient (QAlb) Liquor/Serum IgG-Quotient Glukose und Laktat Isoelektrische Fokussierung
Erweitertes Programm 4 Liquor/Serum IgA-Quotient 4 Liquor/Serum IgM-Quotient 4 Antikörperspezifitätsindizes (HSV, VZV, CMV, Borrelien, Treponemen) 4 PCR zum Erregernachweis (HSV, CMV, VZV, EBV, Enteroviren, JC-Virus, Borrelien, Mykobakterien)
Die Konstellation der lokal synthetisierten Immunglobulinklassen ist für zahlreiche Entzündungen des ZNS relativ charakteristisch (. Tab. 47.4). Proteinquotienten sind nur unter der Voraussetzung eines ungestörten dynamischen Gleichgewichts zwischen Blut und Liquor verwertbar, d. h. sie können nicht angewandt werden nach Plasmapherese, größeren Blutverlusten, Albumin- und intravenösen Immunglobulingaben und bei stärkerer Blutbeimengung im Liquor. Noch sensitiver als in der quantitativen Liquorproteinanalytik gelingt der Nachweis einer humoralen Immunantwort durch qualitative Detektion oligoklonaler IgG-Fraktionen im Liquor mittels isoelektrischer Fokussierung. 47.13.3 Antikörperspezifitätsindex (ASI) Bei vielen Entzündungen des Nervensystems werden intrathekal erregerspezifische Antikörper gebildet, deren Nachweis diagnostisch wegweisend ist. Absolute Konzentrationen oder einfache Titerbestimmungen sind nicht ausreichend. Misst man volumenbezogene Titer oder Einheiten, muss man diese jeweils auf das Gesamt-Ig beziehen und aus diesen Quotienten den Liquor/Serum-Index berechnen. Bei dieser Methode der Berechnung kann man ab einem Quotienten >1,5 von einer intrathekalen Immunglobulinsynthese ausgehen. > Beispiel
4 Liquor: Borrelientiter (IgG) = 2,3; Gesamt-IgG = 5,8 mg/dl IgGspez/IgGgesamt =0,4
4 Serum: Borrelien-Titer (IgG) = 85; Gesamt-IgG = 1415 mg/dl IgGspez/IgGgesamt = 0,06
4 Liquor/Serum-Quotient der IgG-bezogenen Antikörperaktivitäten = 6,6
620
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
9 . Abb. 47.16. Die Differenzierung der humoralen Immunantwort auf empirischer Grundlage mit Hilfe eines Diagramms nach Reiber und Felgenhauer. Die Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke ist gekennzeichnet durch den Albuminquotienten (x-Achse) und den Immunglobulinquotienten (y-Achse). Die Werte der Immunglobulinquotienten rechts der Grenzlinie entsprechen dem passiven Transfer, die Werte links der Grenzlinie der prozentualen intrathekalen Synthese (dunkler Bereich)
Meist beginnt die intrathekale Antikörperproduktion in der 2. Woche der Erkrankung und kann über Monate und Jahre nachweisbar bleiben. Der ASI hat für folgende Erkrankungen eine diagnostische Sensitivität von 90–100%: Herpes-simplex-Virusenzephalitis, Varizellen-zoster-Virus-Manifestationen am Nervensystem, progressive multifokale Leukoenzephalopathie, Neuroborreliose. 47.14 Liquorzellzahl und -zytologie Die Zellzahl im normalen Liquor beträgt bis 5/Pl. Eine Zellvermehrung (Pleozytose) ist typisch, aber nicht beweisend für ZNS-Entzündungen und kann auch bei Tumoren, Traumen, Parenchymblutungen oder nach einer vorangegangenen Lumbalpunktion bzw. nach Anlage externer Ventrikeldrainagen auftreten (Reizpleozytose). Im normalen Liquor finden sich mononukleäre Zellen, wobei Lymphozyten deutlich überwiegen. Die zellulären Reaktionen im Liquor lassen sich in 3 grundlegende, z. T. überlappende Typen einteilen: neuroimmunologische entzündliche Erkrankungen, unspezifische Reizprozesse und neoplastische Veränderungen. Spezialfärbungen, z. B. nach Gram, sind insbesondere für die Suche und rasche Grobdifferenzierung von Bakterien erforderlich. 47.14.1 Entzündungen Bei vielen akuten Infektionen des ZNS lassen sich 3 Stadien abgrenzen: 4 eine akute granulozytäre Phase, 4 eine subakute mononukleäre Phase und 4 eine tertiäre humorale Phase.
47
Die Phasenfolge der Entzündungsreaktionen ist monomorph, der zeitliche Ablauf der einzelnen Phasen weist auf die Art des Erregers hin. Die granulozytäre Zellreaktion dominiert alle bakteriellen Meningitiden, bei denen innerhalb von wenigen Stunden 10.000–20.000 Leukozyten/Pl in den Subarachnoidalraum einwandern können. Apurulente bakterielle Meningitiden mit nur gering erhöhten Zellzahlen kommen insbesondere bei immunsupprimierten Patienten vor. Bei den subakuten, nichteitrigen bakteriellen, mykotischen und parasitären Meningitiden bestehen granulozytäre und proliferative mononukleäre Phase nebeneinander, sodass eine gemischtzellige Entzündung vorherrscht (»buntes Zellbild«). Bei den meisten unkomplizierten viralen Meningitiden ist die granulozytäre Phase nach Stunden oder wenigen Tagen abgeklungen, sodass bereits die erste Liquoruntersuchung ein mononukleäres, meist überwiegend lymphozytäres Zellbild in Kombination mit einer deutlich schwächeren Schrankenfunktionsstörung als bei den bakteriellen Meningitiden zeigt.
47
621 47.14 · Liquorzellzahl und -zytologie
. Tabelle 47.4. Charakteristische Liquorbefunde Diagnose
Zellzahl
Zytologie
Albuminquotient
Immunoglobuline
Glukose
ASI
Laktat
Spezialdiagnostik
Isoelektrische Fokussierung Virale Meningitis
Bis mehrere 100/μl
Mononukleäre Zellen, aktivierte Lymphozyten, Plasmazellen
Bis 20×10–3
Je nach Erreger lokale IgG-Synthese oder Zweiklassenreaktion (IgG + IgM)
>50% der Serumglukose >2,1 <3,5 mmol/I
ASI im Verlauf positiv, evtl. Erregernachweis durch PCR
Bakterielle Meningitis
Mehrere 1000/μl Ausnahme: apurulente Meningitis bei Immunsupprimierten
Granulozyten
>20×10–3
Zweiklassenreaktion (IgG + IgA)
<50% der Serumglukose >3,5 mmol/I
Bakteriennachweis im Grampräparat oder Antigenschnelltest, Erregeranzucht durch Kultur
Tuberkulöse Meningitis
Mehrere 100/μl
»Buntes Zellbild«
>20×10–3
Zweiklassenreaktion (IgG + IgA) Oligoklonales IgG
<50% der Serumglukose >2,1 mmol/I
Erregernachweis durch PCR, Erregeranzucht durch Kultur
HerpessimplexVirusEnzephalitis
Bis 500/μl
Mononukleäre Zellen, aktivierte Lymphozyten, Plasmazellen
>15×10–3
Lokale IgG-Synthese und ASI >1,5 ab 2. Woche; oligoklonales IgG
>50% der Serumglukose >2,1 <3,5 mmol/I
Erregernachweis durch PCR
Akute Neuroborreliose
Bis mehrere 100/μl
Mononukleäre Zellen, bis 25% aktivierte Lymphozyten und Plasmazellen
Bis 50×10–3
Dreiklassenreaktion (IgG + IgM + IgA) ASI >1,5; oligoklonales IgG
>50% der Serumglukose >2,1 mmol/I
GuillainBarréPolyneuritis
Normal bis maximal 50/μl
Mononukleäre Zellen
Bis 50×10–3
Keine lokale Synthese, fakultativ oligoklonales IgG in Liquor und Serum
>50% der Serumglukose <2,1 mmol/I
Meningeosis carcinomatosa/ blastomatosa
Normal bis mehrere 100/μl
Tumorzellen, Blasten
>10×10–3
Selten lokale IgModer IgA-Synthese bei Lymphomen
>50% der Serumglukose >2,1 mmol/I
Multiple Sklerose
Bis 35/μl
Mononukleäre Zellen, aktivierte Lymphozyten, Plasmazellen
<10×10–3
Lokale IgGSynthese; oligoklonales IgG
>50% der Serumglukose <2,1 mmol/I
47.14.2 Unspezifische Reizprozesse Mechanische Alterationen, Blutungen in den Subarachnoidalraum und intrathekale Gaben von Medikamenten oder Kontrastmittel führen zu Abräumreaktionen mit meist nur Stunden dauernder granulozytärer Phase und bis zu Monaten dauernder phagozytärer Phase (Erythrophagen, Siderophagen, Hämatoidinablagerungen, Schaumzellen oder Lipophagen). Eosinophile
Identifikation monoklonaler Zellen durch FACS-Analyse oder PCR bei Lymphomen
Granulozyten finden sich ebenfalls häufig als Fremdkörper-Reaktion (z. B. bei einer Liquordrainage), treten aber auch bei Parasitosen des ZNS und auch bei nicht parasitären Entzündungen wie der tuberkulösen Meningitis oder der Listeriose auf. Der zytomorphologische Nachweis von Erythrophagen und/ oder Siderophagen kann bei Patienten mit Subarachnoidalblutungen diagnostisch wegweisend sein.
622
Kapitel 47 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
47.16.1 Virale Infektionen Eine Lumbalpunktion ist zwingend erforderlich, wenn das akute Kopfschmerzereignis bereits einige Tage zurückliegt und in der kranialen Computertomographie Blut im Subarachnoidalraum nicht mehr nachgewiesen werden kann.
Erythrophagen können nach Blutungen in den Subarachnoidalraum frühestens nach 12–18 h, Siderophagen erst mit Latenz von 6–8 Tagen nachgewiesen werden. 47.14.3 Neoplastische Veränderungen Bei hirneigenen Tumoren kommt es relativ selten (in 8–25%) zu einer meningealen Aussaat von Tumorzellen. Häufiger gelingt der Nachweis atypischer Zellen bei einer zerebralen oder meningealen Metastasierung von soliden Tumoren oder Leukosen und malignen Non-Hodgkin-Lymphomen. Unter den Meningealkarzinosen sind Mammakarzinome, Bronchialkarzinome und Melanome am häufigsten vertreten, eine meningeale Beteiligung bei akuten Leukämien und hochmalignen Lymphomen ist ebenfalls häufig zu erwarten und meist durch eine zellreiche unreife Blastenproliferation charakterisiert. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung von niedrig-malignen Lymphomen und reaktiv-entzündlichen lymphozytären Pleozytosen ist problematisch und gelingt oft nur durch zusätzliche Untersuchungen, die den Nachweis einer monoklonalen Zellpopulation erlauben (immunzytochemische Färbungen, FAKS, PCR).
47.16.2 Bakterielle Infektionen
Die Liquorglukose muss immer in Relation zur Serumglukose beurteilt werden. Sie beträgt 50% bis ca. 66% der Serumkonzentration. Die Liquorglukose ist erniedrigt bei bakterieller, tuberkulöser und Pilzmeningitis sowie infolge des erhöhten Metabolismus von Tumorzellen häufig auch bei Meningeosis carcinomatosa. Das Liquorlaktat verhält sich meist umgekehrt proportional zur Liquorglukose und ist auch ohne Kenntnis des korrespondierenden Serumwertes diagnostisch verwertbar. Ein Anstieg des Liquorlaktats findet sich insbesondere bei entzür dlichen Erkrankungen. Laktatkonzentrationen im Liquor von >3,5 mmol/l sind typisch für bakterielle Meningitiden, bei viralen Entzündungen liegen die Werte meist <3,5 mmol/l.
Die erfolgreiche Amplifikation mykobakterieller DNA-Sequenzen aus dem Liquor hat für die Diagnose der tuberkulösen Meningitis einen höheren Stellenwert als konventionelle Nachweisverfahren. Der Erregernachweis gelingt aber nicht in allen Fällen, und falsch-positive Ergebnisse können die Aussagekraft einschränken. Die Sensitivität der Methode liegt bei 50–90%. Der Stellenwert der PCR für die Diagnose einer Neuroborreliose ist gering. Die Detektion borrelienspezifischer DNA-Sequenzen im Liquor gelingt in <50% der Fälle. Eine PCR-Diagnostik für den Nachweis von Erregern bakterieller Meningitiden (Meningokokken, Pneumokokken, Staphylokokken, Haemophilus influenzae, Listerien, E. coli) ist nur in Speziallabors verfügbar. Sie kann als Ergänzung zum konventionellen zytologischen oder kulturellen Erregernachweis bei antibiotisch vorbehandelten Patienten sinnvoll sein.
47.16 Molekularbiologische Diagnostik
Literatur
47.15 Glukose und Laktat im Liquor
Zahlreiche akute, subakute und chronische Infektionen des Nervensystems können mit hoher Sensitivität und Spezifität durch selektive In-vitro-Amplifikation erregerspezifischer Nukleinsäuresequenzen im nativen oder fraktionierten Liquor nachgewiesen werden. Die Polymerasekettenreaktion (PCR) ermöglicht die Detektion erregerspezifischer DNA oder RNA bereits im Initialstadium einer Infektion und deutlich früher als serologische oder kulturelle Verfahren.
47
Die PCR ist die diagnostische Methode der Wahl für die frühe Diagnose der Herpes-simplex-Virusenzephalitis. Der qualitative Nachweis von Herpesvirus- (HSV-)DNA gelingt mit einer Sensitivität von 90–100% und Spezifität von nahezu 100%. Unter Therapie mit Aciclovir werden HSV-Genome in der Regel innerhalb von 2 bis maximal 3 Wochen aus dem Liquor eliminiert. Andere virale Infektionen des Zentralnervensystems, die mit ähnlich hoher Sensitivität durch qualitative Detektion spezifischer DNA-Sequenzen im Liquor diagnostiziert werden können, sind Varizella-Zoster-Virus- (VZV-) und Epstein-Barr-Virus- (EBV) assoziierte Meningitiden, Meningoenzephalitiden und Myelitiden sowie die HSV-2-assoziierte rezidivierende und benigne verlaufende Mollaret-Meningitis. Bei aseptischen Meningitiden, die durch Enteroviren verursacht werden, gelingt der Nachweis spezifischer RNA-Sequenzen im Liquor mit deutlich höherer Sensitivität als die kulturelle Erregeranzucht. Eine hohe diagnostische Aussagekraft hat die PCR auch bei opportunistischen Virusinfektionen, die im Zusammenhang mit erworbener Immunschwäche (Aids, Organtransplantation) auftreten. Beispiele sind Enzephalitiden und Myeloradikuloneuritiden, die durch Reaktivierung von Zytomegalievirus (CMV) verursacht werden, die progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML), die durch Papovaviren vom JC-Typ ausgelöst wird sowie EBV-assoziierte Non-Hodgkin-Lymphome.
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623 Literatur
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47
48 Erhöhter intrakranieller Druck O.W. Sakowitz, A.W. Unterberg
48.1
Einleitung
–626
48.2
Intrakranieller Druck (ICP)
48.2.1 48.2.2
Physiologie und Pathophysiologie des ICP –626 Messmethoden –628
48.3
Klinik
48.3.1 48.3.2 48.3.3
Klinische Manifestationen des erhöhten ICP –628 Indikationen für die ICP-Messung –629 Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks –629
48.4
Ausblick
–632
Literatur
–632
–626
–628
626
Kapitel 48 · Erhöhter intrakranieller Druck
48.1
Einleitung
Der Inhalt des Neurokraniums besteht aus dem weichen Hirngewebe, den bindegewebigen Hirnhäuten und -gefäßen (kompressibles Kompartiment) sowie den Flüssigkeiten Liquor und Blut (inkompressibles Kompartiment). Bei einem Gesamtvolumen von ca. 1500 ml beträgt der Anteil der Hirnsubstanz etwa 1100–1200 ml. Blut- und Liquorvolumen tragen je etwa 150 ml bei. Beim Blutvolumen überwiegt mit 2/3 der venöse Anteil. Der Liquor verteilt sich im extra- und intraventrikulären Raum, wobei sich ersterer von intrakraniell kaudalwärts in den spinalen Subarachnoidalraum fortsetzt. Da sich der knöcherne Hirnschädel nach Schluss der Nähte nicht ausdehnen kann, steht diesen Volumina ein begrenzter Raum (Vgesamt) zur Verfügung. Tritt eine 4. Komponente (dVRaumforderung) hinzu, muss diese durch Ausgleichsbewegungen des inkompressiblen Kompartiments aufgewogen werden. Diese ‒ nach ihren Erstbeschreibern ‒ Munro-Kellie-Doktrin genannten Zusammenhänge sind in den folgenden Gleichungen verdeutlicht. Vgesamt = VBlut + VLiquor + VGewebe Vgesamt + dVBlut + dVLiquor + dVGewebe + dVRaumforderung = konst.
Kann eine Zunahme des intrakraniellen Inhalts nicht mehr durch Volumenverschiebungen (dV) der flüssigen Rauminhalte kompensiert werden, kommt es zum Anstieg des intrakraniellen Drucks (7 Kap. 49). 48.2
Intrakranieller Druck (ICP)
48.2.1 Physiologie und Pathophysiologie des ICP
Definition, Normalwerte Als intrakranieller Druck wird derjenige Druck bezeichnet, der als Flüssigkeitsdruck in Höhe der Foramina Monroi in den Seitenventrikeln herrscht. An anderer Stelle gemessene Drücke (epidural, parenchymal) können geringfügig abweichen. Normalwerte sind in . Tabelle 48.1 zusammengefasst. Der ICP ist positionsabhängig, eine Beziehung, die durch Oberkörperhochlagerung (umgekehrte Trendelenburg-Lagerung) therapeutisch genutzt wird.
ICP-Druckkurve Das Druckprofil des ICP wird durch die arterielle Pulswelle (Amplitudenmodulation um 1–4 mm Hg) und ventilatorische . Tabelle 48.1. Normalwerte des intrakraniellen Drucks
48
Altersgruppe
ICP (Normalwerte)
Säuglingsalter
<7,5 mm Hg
Kleinkindalter
<10 mm Hg
Erwachsene
<15 mm Hg
Schwankungen des intrathorakalen Drucks (Schwankungsbreite der Amplitudenmodulation abhängig von Atemtiefe) bestimmt. Bei spontan atmenden Patienten kommt es zu einem inspiratorischen Minimum, hingegen weisen mit Überdruck beatmete Patienten ein inspiratorisches Maximum auf [4]. Nach Lundberg lassen sich bei der kontinuierlichen Aufzeichnung des ICP 3 Wellenformen klassifizieren [16]: 4 A-Wellen: A-Wellen (Synonyme: Plateauwellen, Lundberg-Wellen) zeichnen sich, bei einer Periode von 5–20 min, durch Druckanstiege über 40 mm Hg aus. Oft lassen sich im Rahmen einer intrakraniellen Raumforderung terminal Serien von A-Wellen auf steigenden Druckniveaus beobachten. Pathogenetisch wird eine Kompression sinusnaher Brückenvenen angenommmen. 4 B-Wellen: Als B-Wellen werden ICP-Anstiege mit einer Frequenz von bis zu 3/min bezeichnet, die unabhängig von Blutdruck und Atmung auftreten. Ihre Ursache ist letztlich ungeklärt, jedoch wird eine intrinsische, rhythmische Änderung des intrazerebralen Gefäßtonus angenommen. 4 C-Wellen: Als Folge von Undulationen des systemischen Blutdrucks (Hering-Traube-Wellen) treten C-Wellen mit einer Frequenz von bis zu 8/min und einer Amplitude von bis zu 20 mm Hg auf. Die Kenntnis der Dynamik der ICP-Kurve und ihrer (patho)physiologischen Korrelate ist von intensivmedizinischer Bedeutung und prognostischem Wert.
Intrakranieller Druck und Hirndurchblutung Das Hauptaugenmerk der intensivmedizinischen Behandlung der intrakraniellen Drucksteigerung liegt darauf, eine adäquate zerebrale Perfusion zu gewährleisten. Der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) lässt sich näherungsweise als Differenz des systemischen arteriellen Mitteldrucks (»mean arterial pressure«, MAP) und des ICP errechnen. Korrekterweise muss der Druckaufnehmer hierbei auf gleicher Höhe angebracht sein (z. B. Nullpunktregistrierung auf Höhe des Meatus acusticus externus). CPP = MAP – ICP CBF = CPP/CVR
In einem Bereich von 50–150 mm Hg ist der zerebrale Blutfluss (CBF) über die Autoregulation des intrakraniellen Gefäßwiderstands (»cerebrovascular resistance«, CVR) gesichert. Unter pathologischen Bedingungen mit einer Engstellung der Gefäße (z. B. zerebralem »Vasospasmus«) ist dieser Bereich verschoben, sodass schon bei normalem CPP von einem signifikant verminderten CBF ausgegangen werden muss.
Parameter der intrakraniellen Druckdynamik Wie aus . Abb. 40.1 zu ersehen ist, folgt der ICP-Anstieg nach Auftreten einer akuten Raumforderung einer Exponentialfunktion. Als kritischer Parameter dieser Druckzunahme kann die Elastance E als Maß der steigenden Rigidität des intrakraniellen Kompartiments bei Volumenzunahme und Einnahme der Ausgleichsräume bestimmt werden. Analog berechnet sich ihr Kehrwert, die Compliance C.
627 48.2 · Intrakranieller Druck (ICP)
48
. Abb. 48.1. Intrakranielle Compliance. Die Druck-Volumen-Kurve veranschaulicht die Phasen der Drucksteigerung bei einer intrakraniellen Raumforderung
E = dp/dV C = dV/dp
Diese abgeleiteten Werte haben den Vorteil, dass sie – im Gegensatz zum absoluten ICP – eine Aussage über die intrakraniellen Reserveräume erlauben. Zur Abschätzung der Compliance bietet sich der sog. Pressure-volume-Index (PVI) an [21]: PVI = dV/log10 (p/p0)
Nach definierter Volumenbelastung (z. B. Flüssigkeitsinjektion in einen Ventrikelkatheter oder Aufblasen eines ventrikulär gelegenen Ballons) oder Volumenentzug wird der resultierende ICP bestimmt und mit dem Ausgangsdruck p0 verglichen. Der errechnete PVI bezeichnet die theoretische Volumenbelastung zur Steigerung des ICP auf das 10-fache des Ausgangswerts (Normwert 25–30 ml).
ICP und Ventilation Der zerebrale Gefäßtonus ist eng an den metabolischen Bedarf gekoppelt. Eine Zunahme des CO2-Partialdrucks (z. B. infolge erhöhter Stoffwechselleistung aktiver Hirnareale) führt zur Vasodilatation des zerebralen Strombetts und nachfolgend zum Anstieg des CBF. Die Umkehr dieser Beziehung wird klinisch im Rahmen der kontrollierten Hyperventilation genutzt. Hierbei gilt: i Im Bereich von 35–60 mm Hg bewirkt ein Abfall des arteriellen pCO2 um 1 mm Hg eine 4%ige Abnahme des CBF.
Der Beitrag des arteriellen O2-Partialdrucks zur Regulation des zerebralen Gefäßtonus ist in einem weiten Bereich vernachlässigbar. Erst ab einem Abfall des pO2 unter 50 mm Hg kommt es zur Vasodilatation.
ICP und Raumforderung Die Gefahr eines erhöhten ICP infolge einer akuten Raumforderung liegt darin, dass ein selbst-verstärkender Mechanismus (. Abb. 48.2) in Gang gesetzt wird, dessen Verlauf sich schema-
. Abb. 48.2. Circulus vitiosus von Raumforderung und intrakranieller Drucksteigerung, der unbehandelt zum zerebralen Kreislaufstillstand führen kann. ICP intrakranieller Druck; CPP zerebraler Perfusionsdruck; CVR zerebrovaskulärer Widerstand; CBV zerebrales Blutvolume
tisch in Phasen einteilen lässt. Nach einer initialen Phase der Kompensation (I) kommt es in der kritischen Phase (II) zur Erschöpfung der Ausgleichsräume des intrakraniellen Kompartimentes. Der resultierende Anstieg des ICP vermindert den zerebralen Perfusionsdruck. Im Zuge der Autoregulation sinkt der zerebrale Gefäßwiderstand, das intrakranielle Blutvolumen steigt und erhöht wiederum den ICP. Dieser Verlauf mündet in die Phase des terminalen Anstiegs (III), wo bereits eine geringe Volumenzunahme zu drastischen Drucksteigerungen führt. Der ICP folgt schließlich passiv dem arteriellen Druck (Verlust der Autoregulation), der zerebrale Blutfluss sistiert, bis der Hirntod (IV) eintritt.
Ursachen der intrakraniellen Drucksteigerung Grundsätzlich lassen sich Steigerungen des ICP (»intrakranielle Hypertension«), überwiegend definiert als Ventrikelinnendruck >20 mm Hg [6], nach ihrem zeitlichen Verlauf unterteilen. Ein langsames Ansteigen (z. B. bei Tumorwachstum) wird trotz pathologisch hoher ICP-Werte oft lange symptomlos toleriert. Schnelle Druckanstiege (innerhalb von Minuten) sind meist durch hämodynamische Ursachen (z. B. Vasodilatation), die zu einer Zunahme des zerebralen Blutvolumens führen, oder akut raumfordernde Prozesse wie intrakranielle Blutungen nach Schädel-Hirn-Trauma bedingt. Die posttraumatische Hirnschwellung gibt pathophysiologisch nach wie vor Rätsel auf. Beim schweren Schädel-Hirn-Trauma sind für die Hirnschwellung vaskuläre Mechanismen (Vasodilatation, erhöhtes zerebrales Blutvolumen) und das posttraumatische Hirnödem verantwortlich. Es werden 2 Prototypen des Hirnödems unterschieden [31]:
628
Kapitel 48 · Erhöhter intrakranieller Druck
4 Vasogenes Hirnödem: Beim vasogenen Ödem kommt es zur Extravasation einer Ödemflüssigkeit ins Hirnparenchym durch die geschädigte Blut-Hirn-Schranke. Die Gefäßpermeabilität ist auch für Makromoleküle erhöht; die Ödemflüssigkeit ist proteinreich, der Extrazellulärraum erweitert. Das Ausmaß des Ödems wird vom Ausmaß der Schrankenstörung und vom Druckgradienten zwischen Blutgefäßen und Parenchym bestimmt. 4 Zytotoxisches Hirnödem: Beim zytotoxischen Hirnödem ist die Gefäßpermeabilität primär unverändert. Ihm liegt ein toxischer Schaden von Astrozyten und Neuronen zugrunde, der zu einer intrazellulären Wasserakkumulation führt (Zunahme der Natriumpermeabilität, Hemmung des Energiestoffwechsels, Versagen der Eliminationsmechanismen für osmotisch wirksame Ionen und Moleküle). Dadurch kommt es zur Schrumpfung des Extrazellulärvolumens. Die zweifellos wichtigste Ursache für ein zytotoxisches Ödem ist die zerebrale Ischämie.
Liquordrainage als Vorteil zu nennen. Die Ventrikelpunktion an sich ist mit einem durchschnittlichen Blutungsrisiko von 2% belastet, die Infektionsgefahr steigt mit der Liegezeit (5–10%). Das Risiko einer Fehlpunktion korreliert mit dem Ausmaß der Ventrikelverlagerung/-kompression (durchschnittlich 6%).
Parenchymdruckmessung Parenchymdruckmessungen erfolgen mit Direktdruckwandlern, die fiberoptisch oder piezoresistiv den mechanischen Druck übertragen. Die Einfachheit der Implantation dieser Systeme (z. B. Camino-Sonden, Codman-Sonden) erklärt die steigende klinische Akzeptanz. Durch ein Bohrloch werden diese Sonden in 2–3 cm Tiefe in der weißen Substanz platziert. Infektionsrisiko und Blutungskomplikationen werden gegenüber der Ventrikeldruckmessung als günstiger beschrieben. Die Nachteile liegen in den deutlich höheren Kosten sowie den fehlenden Möglichkeiten, Liquor zu drainieren und nachträgliche Kalibrationen durchzuführen.
Epidurale Druckmessung
Während die posttraumatische Hirnschwellung noch bis vor kurzer Zeit als vorwiegend vasogenen Ursprungs klassifiziert wurde, sprechen jüngere Ergebnisse eher für das Dominieren einer zytotoxischen Ödemkomponente [20].
Die epidurale Druckmessung beruht auf der Messung der Spannung der Dura (Prinzip der Koplanarität). Sie zeichnet sich durch ihre geringere Invasivität sowie eine geringere Komplikationsrate (Blutungen und Infektionen unter 1%) aus. Die Zuverlässigkeit der Methode ist jedoch eingeschränkt (Fehlfunktionen bis zu 15% der Messungen).
48.2.2 Messmethoden
Subdurale Druckmessung
Zur Messung des ICP wird eine Vielzahl von Messsystemen angeboten. Im Folgenden sollen anhand einer grundsätzlichen Einteilung, die sich nach dem Ort der Messung richtet (für Messmethoden alternativ zur Ventrikeldruckmessung . Abb. 48.3), Vor- und Nachteile der einzelnen Messverfahren geschildert werden.
Messsysteme, die subdural platziert werden, spielen heutzutage eine untergeordnete Rolle. Wenn überhaupt wird der ICP subdural mit Direktdruckwandlern (z. B. Camino-Sonden, CodmanSonden) gemessen. Gegenüber der intraparenchymatösen Messung mit diesen Sonden ist die subdurale Lage mit einer höheren Rate an Fehlfunktionen verbunden.
Ventrikeldruckmessung Bei dem klassischen, flüssigkeitsmanometrischen Verfahren der Ventrikeldruckmessung wird ein Katheter in das Vorderhorn des (rechten) Seitenventrikels eingebracht und über eine Flüssigkeitssäule mit einem externen Druckaufnehmer verbunden. Der Liquordruck des Ventrikelsystems kann so, aber auch mit einem sog. »Tip-Katheter« im Ventrikel bestimmt werden. Neben niedrigen Kosten und einfacher Handhabung ist die Möglichkeit zur
48
. Abb. 48.3. Alternative Messverfahren des intrakraniellen Druckes. a epidural; b Fontanometrie (Säugling); c parenchymal; d subdural
48.3
Klinik
48.3.1 Klinische Manifestationen des erhöhten ICP Die Symptome der intrakraniellen Hypertension sind initial unspezifisch, abhängig vom zeitlichen Verlauf (akut oder chronisch) und müssen in ihrer Zusammenschau bewertet werden. Als Frühsymptome des erhöhten ICP sind Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen zu nennen. Später kann es (insbesondere bei chronisch progredienter Entwicklung) zu einer Stauungspapille kommen. Bei rascher Progredienz des Geschehens kommt es zur Entwicklung eines Druckgradienten mit einer sukzessiven Massenverschiebung des Gehirnes. Die Richtung dieses Gradienten bestimmt die Richtung der Verschiebung und die klinische Symptomatik. So kommt es bei der axialen Massenverschiebung zur Einklemmung des Uncus hippocampi am Tentoriumschlitz mit einer Kompression des N. oculomotorius (N. III). Sie bewirkt eine Anisokorie, die letztendlich in eine bilaterale Mydriasis übergeht. Okklusionen im Stromgebiet der Aa. cerebri posteriores können zu Territorialinfarkten sowie petechialen Blutungen im Mittel- und Stammhirn führen. Bei der inversen transtentoriellen Einklemmung (infratentorielle Raumforderung) fehlt die pupillomotorische Störung. Massive Verschiebungen mit Einklemmung im Foramen magnum führen in kürzester Zeit zur vegetativen Entgleisung und zum Atemstillstand.
629 48.3 · Klinik
i Die klassische Cushing-Trias aus arterieller Hypertension (»Wasserhammerpuls«), Bradykardie und respiratorischer Arrhythmie findet sich nur in 1/3 der Fälle mit massiv erhöhtem ICP.
48
Seltenere Indikationen sind die perioperative Überwachung von Patienten nach Hirntumoroperationen, insbesondere mit erhöhtem Nachblutungsrisiko, schwere Meningitiden und das ReyeSyndrom.
Kontraindikationen 48.3.2 Indikationen für die ICP-Messung Obwohl der positive Beweis einer Verbesserung des klinischneurologischen Endergebnisses durch ICP-Monitoring anhand einer kontrollierten, randomisierten Studie nach wie vor aussteht (und aufgrund methodischer und ethischer Vorbehalte wahrscheinlich nie geführt werden wird [6]), belegen mehrere kontrollierte klinische Studien – zumindest indirekt – den Nutzen der ICP-Messung und der ICP-gesteuerten Therapie [24]. Die Erhöhung des intrakraniellen Drucks kann nur dann behandelt werden, wenn der intrakranielle Druck als unabhängiger Parameter direkt gemessen wird. Die Messung des intrakraniellen Drucks ist immer dann indiziert, wenn eine Erkrankung zur ICP-Dekompensation führen kann und das Ausmaß der Steigerung des intrakraniellen Drucks durch bildgebende Verfahren nur unzuverlässig zu erkennen ist. Die Indikationen für die ICP-Messung gilt in erster Linie für Patienten mit 5 schwerem Schädel-Hirn-Trauma (Glasgow Coma Scale <9), 5 höhergradigen Subarachnoidalblutungen (SAB nach Hunt u. Hess Grad 4 und 5), 5 intraventrikulären und intraparenchymatösen Hirnblutungen, 5 raumfordernden Hirninfarkten.
Aus den Risiken und Komplikationen der einzelnen Messverfahren ergibt sich, dass sie abgebrochen oder nicht durchgeführt werden sollten, sobald weniger invasive Methoden zur Erkennung eines erhöhten intrakraniellen Drucks angewandt werden können. Bei wachen, bewusstseinsklaren Patienten erübrigt sich somit meist die ICP-Messung. An ihre Stelle tritt die engmaschige neurologische Untersuchung. Bei Patienten mit Koagulopathien oder Immundefizit ist unter Abwägung der Nutzen-Risiko-Relation und angemessenen prophylaktischen Maßnahmen (z. B. Normalisierung der Gerinnungsparameter durch Faktorensubstitution) das jeweils risikoärmste Verfahren zu wählen. 48.3.3 Therapie des erhöhten intrakraniellen
Drucks Zur Senkung des erhöhten intrakraniellen Drucks steht eine Reihe von Maßnahmen zur Verfügung, die neben ihrem therapeutischen Nutzen auch potenzielle Risiken und Komplikationen mit sich bringen. Im Folgenden werden diese in der Reihenfolge dargestellt, wie sie auch in der Praxis angewandt werden sollten. Ein detaillierter Algorithmus, der diese Optionen zusammenfasst, wird in Zusammenschau mit den heutzutage vorherrschenden Therapiekonzepten vorgeschlagen [2, 6, 18] (7 Kap. 49; . Tab. 48.2).
Lagerung des Oberkörpers Die Lagerung des Patienten hat einen erheblichen Einfluss auf den intrakraniellen Druck und den zerebralen Perfusionsdruck.
. Tabelle 48.2. Synopsis der Therapieoptionen zur Senkung des intrakraniellen Druckes Therapie
Mechanismus
Vorteile
Nachteile
Oberkörperhochlagerung
Venöse Drainage n, CBV p
Einfach, effektiv
CPP p
Liquordrainage
Intrakranielle Volumenentlastung
Einfach, effektiv
Invasiv, Infektionsrisiko
Hyperventilation
Vasokonstriktion,
Einfach, effektiv
Gefahr der zerebralen Ischämie
4 moderat (pCO2 =30–35 mm Hg)
CBV p
4 forciert (pCO2 <30 mm Hg)
CBF p
Osmodiuretika (z. B. Mannit 20%)
Osmotischer Gradient, Dehydratation des Gehirns
Einfach
Osmolarität >320 mosm/l
Barbiturate
Metabolismus p, CBF p, CBV p
EEG-Überwachung notwendig
THAM (Trispuffer)
Vasokonstriktion, Pufferung
Zerebrale Oxygenierung p
Dekompressionstrepanation (+ Duraerweiterungsplastik)
Intrakranieller Raumgewinn
Hypothermie
Metabolismus p, CBF p, CBVp
Einfach, schnell
Operatives Risiko (gering)
Technisch aufwändig, Nebenwirkungen
630
Kapitel 48 · Erhöhter intrakranieller Druck
Schon die seitliche Drehung des Kopfes oder ein Abknicken des Halses kann den venösen Abfluss deutlich beeinträchtigen und eine prompte Steigerung des intrakraniellen Drucks hervorrufen. Obwohl kontrovers diskutiert, sind bei den meisten Patienten durch eine Oberkörperhochlagerung von 15–30°, bei unbehindertem zerebrovenösen Abfluss, intrakranieller Druck, zerebraler Perfusionsdruck und zerebrale Oxygenierung optimiert [30]. Andere mechanische Zu- und Abflusshindernisse (z. B. enge Halsverbände, zervikale Hämatome, Hautemphysem, zu hoher PEEP) sind zu vermeiden oder zu korrigieren, bevor sie hämodynamisch relevant werden. In verschiedenen Untersuchungen ist gezeigt worden, dass bei der Flachlagerung von Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck der ICP zwar deutlich ansteigt, der zerebrale Perfusionsdruck jedoch praktisch unbeeinträchtigt bleibt und Hirndurchblutung und zerebrale Oxygenierung ebenfalls konstant bleiben [27]. Insofern wird von manchen Autoren sogar die Flachlagerung von Patienten heutzutage regelhaft durchgeführt. Als Empfehlung kann derzeit abgeleitet werden: Die Oberkörperhochlagerung sollte bei Patienten mit deutlich erhöhtem intrakraniellem Druck als Basismaßnahme durchgeführt werden. Patienten mit nur mäßig erhöhtem intrakraniellem Druck profitieren von der Oberkörperhochlagerung entsprechend weniger.
! Cave Die prolongierte, forcierte Hyperventilation (Zielgröße: paCO2 25 mm Hg) wirkt sich negativ auf das klinisch-neurologische Outcome der Patienten aus. Diese Maßnahme ist daher heute obsolet [25].
Auch die kurzfristige Hyperventilation kann sich u. U. negativ auswirken. Stets kommt es – trotz Abnahme des intrakraniellen Drucks und trotz Verbesserung des zerebralen Perfusionsdrucks – zur Abnahme der zerebralen Oxygenierung. Kritisch wird dieser Abfall der zerebralen Oxygenierung jedoch erst dann, wenn eine forcierte Hyperventilation eingesetzt wird [14]. Forcierte Hyperventilation kann dennoch kurzfristig angewandt werden, wenn einer akuten druckbedingten neurologischen Verschlechterung begegnet werden muss oder auch, wenn im Rahmen einer längerfristigen Therapie die Therapieoptionen Sedierung, Liquordrainage und Osmodiuretika ausgeschöpft sind. Zur Erkennung einer möglichen zerebralen Ischämie bei der Hyperventilationstherapie werden die Überwachung der jugularvenösen O2-Sättigung oder die Hirndurchblutungsmessung empfohlen, sofern die Grenze eines paCO2 von 30 mm Hg unterschritten wird [6]. Alternativ bieten sich direkte Messungen des O2-Partialdrucks im Hirngewebe an. Diese Messungen basieren auf dem Prinzip der Clark-Elektrode (z. B. Licox-Mikrokatheter) und sind eine zuverlässige und sensitive Methode zur Erkennung zerebraler Hypoxien [14].
Osmodiuretika (Mannit) Liquordrainage Mittels eines Ventrikelkatheters kann nicht nur der ICP gemessen, sondern auch therapeutisch Liquor drainiert werden. Dadurch wird im intrakraniellen Kompartiment der Liquorraum verkleinert und Platz für eine Raumforderung geschaffen. Die Liquordrainage ist eine sehr einfache und effektive Maßnahme zur ICP-Senkung, deren Wert sich an der Einsparung weiterer Maßnahmen bemisst. Prinzipiell stehen zwei verschiedene Möglichkeiten der Liquordrainage zur Verfügung: Kontinuierliche Liquordrainage. Bei der kontinuierlichen Li-
quordrainage wird das Tropfgefäß in definierter Höhe über dem Meatus acusticus externus installiert und bleibt stets geöffnet. Intermittierende Liquordrainage. Die intermittierende Draina-
ge erfolgt halbstündlich oder stündlich für wenige Minuten bis zu einer Drainagegrenze von 15–20 cm H2O. Während bei der Dauerdrainage eine gleichzeitige Messung des intrakraniellen Drucks nur mit einem zusätzlichen Druckaufnehmer möglich ist, kann dies bei intermittierender Drainage problemlos erfolgen.
Hyperventilation
48
Bei Hypokapnie durch Hyperventilation kommt es zur Konstriktion zerebraler Gefäße. Unterschieden werden mäßige (paCO2 30–35 mm Hg) und forcierte (paCO2 <30 mm Hg) Hyperventilation. Durch die Konstriktion der Hirngefäße wird das zerebrale Blutvolumen reduziert und der intrakranielle Druck rasch und effektiv gesenkt. Andererseits geht mit der Vasokonstriktion die Gefahr einer zusätzlichen (sekundären) zerebralen Ischämie einher [8].
Osmodiuretika führen zur raschen, effektiven, passageren Senkung des intrakraniellen Drucks. Neben Mannit (20%) werden seltener auch Sorbit (intravenös 40%) und Glycerol (10%, sowohl intravenös als auch oral) angewandt. Hypertone Kochsalzlösungen, auch in Kombination mit Kolloiden, befinden sich derzeit in Erprobung. Durchgesetzt hat sich die Gabe 20%iger Mannitinfusionen, wobei in der Intensivmedizin bei erwachsenen Patienten (70–80 kg) in der Regel ca. 125 ml (entspricht: 0,3 g/kg KG) über 10–20 min infundiert werden. Zur akuten, z. B. intraoperativen Senkung des gesteigerten intrakraniellen Drucks werden jedoch auch höhere Dosen, z. B. 250 ml, kurzfristig infundiert. Höheren Dosen von Mannit (bis zu 1,4 g/kg KG als rasche Bolusgabe) kommt nur in der präoperativen oder auch Prähospitalphase eine Rolle zu. So kann bei von zerebraler Einklemmung bedrohten Patienten Zeit bis zur definitiven operativen Versorgung gewonnen werden [32]. Mannitinfusionen werden entweder in vorher festgelegten Zeitintervallen (z. B. alle 6–8 h) gegeben oder erst nach Bedarf, d. h. jedes Mal, wenn der ICP einen definierten Wert (z. B. 20 mm Hg) übersteigt. Diese letztgenannte, individualisierte Mannittherapie ist weniger gebräuchlich. Meist werden Mannitgaben »nach Schema« angesetzt. Die 2-stündliche Mannitgabe entspricht einer Tagesdosis von 3,6 g/kg KG. Aufgrund der möglichen Nierenschädigung sollte vor der Mannitgabe die Plasmaosmolarität (Grenzwert 320 mosm/l) bestimmt werden. Wirkungsmechanismus. Als Wirkungsmechanismen des Mannits werden eine passagere, unspezifische Dehydratation des gut durchbluteten Gewebes (osmotischer Gradient) sowie die Verbesserung der rheologischen Eigenschaften des Blutes (herabgesetzte Viskosität) postuliert. Die Hirndurchblutung steigt
631 48.3 · Klinik
an, und bei intakter Autoregulation nimmt der ICP ab, der CPP hingegen zu [5, 12, 22]. Reboundphänomen. Insbesonders nach mehrfacher Mannitgabe bei defekter Blut-Hirn-Schranke könnte es zum Anstieg des ICP-Niveaus kommen. Dies wird als Reboundphänomen bezeichnet und auf osmotisch wirksames, parenchymales Mannit zurückgeführt. Die Existenz des Rebounds ist schwer nachzuweisen, da der ICP eine dynamische Größe ist. Die klinische Erfahrung lehrt, dass selbst bei Patienten mit nachweisbarer Schrankenstörung über Tage mit Mannit therapiert werden kann und damit immer eine ICP-Reduktion erreicht wird, ohne dass darunter ein »tendenzieller« ICP-Anstieg zu beobachten ist. Im Rahmen des allgemeinen intensivmedizinischen Therapiekonzepts ist besonders darauf zu achten, dass durch adäquate Flüssigkeitsbilanzierung eine Normovolämie erhalten bleibt.
Hochdosis-Barbiturattherapie Nach Ausschöpfen von Liquordrainage, moderater Hyperventilation und Gabe von Osmodiuretika können Barbiturate zur Therapie des erhöhten ICP eingesetzt werden. Barbiturate führen zu einer Reduktion des zerebralen Stoffwechsels und einer damit einhergehenden Senkung der Hirndurchblutung und des zerebralen Blutvolumens. Weitere erwünschte Wirkungen der Therapie sind die antikonvulsive Wirkung, die Hemmung lysosomaler Enzyme, die Verhinderung der Freisetzung von freien O2-Radikalen sowie eine mäßige Hypothermie bzw. Fiebersenkung [17]. Unerwünschte Nebenwirkungen der Barbiturate sind Blutdruckabfall, eine Leukozytendepression sowie eine erhöhte Infektbereitschaft. Um zu testen, ob es durch eine angestrebte Barbiturattherapie zur Verbesserung des zerebralen Perfusionsdrucks kommt, werden 5 mg/kg KG Thiopental in 30 min infundiert. Dabei werden der intrakranielle Druck, der mittlere arterielle Blutdruck und der zerebrale Perfusionsdruck kontrolliert. Nur wenn es zu einer Verbesserung des zerebralen Perfusionsdrucks kommt, ist ein Weiterführen der Therapie sinnvoll [9]. Als Erhaltungsdosis werden 5 mg/kg KG/h Thiopental empfohlen. Da keine eindeutige Korrelation zwischen Serumspiegel und therapeutischer Wirkung gezeigt werden konnte, wird die kontinuierliche EEG-Über wachung zur exakten Titration der therapeutischen Erhaltungsdosis herangezogen. Danach ist die maximale Reduktion des zerebralen Metabolismus erreicht, wenn ein Burst-suppression-Muster induziert worden ist [30].
THAM (Trispuffer) Intravenös appliziertes THAM (Trometamol, Trispuffer) führt zu einer signifikanten Senkung des intrakraniellen Druckes. THAM soll einerseits über eine Pufferung der intrazellulären Azidose wirken, andererseits wird eine diuretische Wirkung postuliert. Der genaue Mechanismus ist ungeklärt. Als mögliche Effekte bei akuten zerebralen Läsionen sind die Verminderung der extra- und intrazellulären Azidose, bei Ischämie die Senkung der Gewebelaktatkonzentration sowie die Verringerung eines postraumatischen Ödems zu nennen [1, 10]. In einer großen prospektiven randomisierten Studie bei schwer schädel-hirn-traumatisierten Patienten konnte jedoch durch THAM allein keine signifikante Verbesserung des klinisch-neurologischen Endergebnisses erzielt werden. Allerdings
48
wurden die nachteiligen Wirkungen prolongierter Hyperventilation durch THAM verringert [25]. Ähnlich wie die Hyperventilation führt die Gabe von THAM (1 mmol/kg KG) zwar zu einer Reduktion des ICP und einer Verbesserung des CPP, jedoch kommt es gleichzeitig zu einem signifikanten, nicht erwarteten Abfall der Gewebeoxygenierung. Möglicherweise erklärt sich dieses Phänomen auch durch einen arteriellen pO2-Abfall nach Bolusinfusion von THAM. Die Gabe von THAM bei erhöhtem intrakraniellen Druck wird daher nicht generell empfohlen [13].
Katecholamine Der Einsatz von Katecholaminen zur Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks beruht auf dem Konzept des sog. CPP-Managements [28]. Wird bei erhaltener Autoregulation und konstantem Hirnstoffwechsel der arterielle Blutdruck gesteigert, so kommt es – dem oben dargestellten physiologischen Regelkreis folgend – zur Vasokonstriktion und zu einer Abnahme von zerebralem Blutvolumen und intrakraniellem Druck. Als Katecholamine werden Dopamin (Niedrigdosis: bis 3 Pg/kg KG/min; Mitteldosis: 5–10 Pg/ kg KG/ min; Hochdosis: über 10 Pg/kg KG/min) sowie Noradrenalin (z. B. 0,1 Pg/kg KG/ min) eingesetzt. Wichtig bei diesem Verfahren ist die Aufrechterhaltung der Normovolämie und die besondere Beachtung der Nierenfunktion. Da diese Therapieform auf der Annahme einer intakten Autoregulation basiert (und anderenfalls die ICP-Erhöhung verstärken würde), sollte sie zur Behandlung der intrakraniellen Hypertension (ICP >20 mm Hg) in erster Linie bei arterieller Hypotension oder erst nach Ausschöpfen anderer Maßnahmen wie moderater Hyperventilation, Liquordrainage und Osmodiuretikagabe eingesetzt werden. Eine vergleichende Studie der ICP-orientierten (»Standard«-) therapie mit einer CPP-orientierten Therapie konnte bei SHTPatienten keinen messbaren Einfluss auf das klinisch-neurologische Endergebnis nachweisen. Hingegen ist die CPP-orientierte Therapiestrategie mit einer Häufung systemischer Komplikationen wie dem adulten Atemnotsyndrom (ARDS) vergesellschaftet [26]. ! Cave Zumindest eine »unkritische« Erhöhung des CPP über 70 mm Hg muss demnach in Frage gestellt werden. Beim Schädel-Hirn-Trauma wird von einer prophylaktischen Anhebung des CPP über 60–70 mm Hg abgeraten.
Dekompressionstrepanation (mit Duraerweiterungsplastik) Die Dekompressionstrepanation mit Duraerweiterungsplastik sollte erst dann erfolgen, wenn zunächst versucht wurde, die Hirnschwellung konservativ zu behandeln. Sie wird uni- oder bilateral durchgeführt. Die Indikation stellt sich insbesondere bei langsam progredienten ICP-Erhöhungen junger Patienten (Alter <50 Jahre), deren primäre Hirnschädigung überlebt werden kann, die keine primäre Pupillenstörung aufweisen und bei denen keine primären Hirnstammschädigungen vorliegen [15]. Patienten mit schwerer Hypoxie sind keine Kandidaten für diese Therapieform [11]. Die Dekompressionstrepanation mit Duraerweiterungsplastik wird als frühzeitige Maßnahme beim malignen Mediainfarkt propagiert. Die Ergebnisse einer bislang unveröffentlichten Studie (DESTINY) legen eine Reduktion von Mortalität und Mor-
632
Kapitel 48 · Erhöhter intrakranieller Druck
bidität nahe. Beim Schädel-Hirn-Trauma erlaubt die gegenwärtige Studienlage kein abschließendes Urteil zur Wertigkeit der Dekompressionstrepanation. Aktuelle prospektiv-randomisierte Multicenterstudien müssen abgewartet werden [29].
Hypothermie In jüngster Vergangenheit wurde die kontrollierte moderate Hypothermie (32°C) zunächst an verschiedenen Zentren klinisch erprobt [19], anschließend in einer multizentrischen, randomisierten, prospektiven klinischen Studie, die an verschiedenen amerikanischen Zentren durchgeführt wurde. Der Wirkungsmechanismus leitet sich wie bei der Hochdosis-Barbiturattherapie von einer Verringerung des zerebralen Metabolismus und des zerebralen Blutflusses ab. Der intrakranielle Druck wird in der Phase der besonders stark ausgeprägten posttraumatischen Schwellung gedrosselt und der zerebrale Perfusionsdruck verbessert. Während durch Hypothermie in Phase-II-Studien zunächst äußerst positive Resultate hinsichtlich des klinisch-neurologischen Endergebnisses von Schädel-Hirn-Trauma-Patienten erzielt werden konnten [19], wurde die multizentrische PhaseIII-Prüfung bereits vorzeitig abgebrochen [7]. Bei dieser Studie konnte kein positiver Effekt der Hypothermie beim schweren Schädel-Hirn-Trauma nachgewiesen werden – im Gegenteil: Die mit Hypothermie behandelten Patienten wiesen mehr Komplikationen auf und waren länger hospitalisiert. Aufgrund der z. T. erheblichen Beeinträchtigung anderer Körpersysteme (Leber, Pankreas, Nieren, Gerinnung) sollte das Verfahren der moderaten Hypothermie nur noch unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen als Ultima-ratio-Verfahren angewendet werden [23].
Glukokortikosteroide In der Vergangenheit ist verschiedentlich beschrieben worden, dass durch Glukokortikosteroide, die nachweislich zu einer Verringerung des perifokalen Tumorödems führen, u. U. auch eine reduzierende Wirkung auf den erhöhten intrakraniellen Druck zu beobachten ist. Dies wird u. a. durch die Drosselung der Liquorsekretion erklärt. Ein solcher Effekt ist jedoch gering und nur schwer nachweisbar. Mit dem Ziel der intrakraniellen Drucksenkung sollte diese Substanzklasse deshalb nicht eingesetzt werden.
Secalealkaloide Die einzige Substanz dieser Gruppe, von der nachweislich eine ICP-senkende Wirkung ausgeht und die heute vereinzelt klinisch eingesetzt wird, ist Dihydroergotamin (DHE; [3]). Sie soll insbesondere auf Venen konstriktorisch wirken und somit zu einer Drosselung des zerebralen Blutvolumens führen. Es sei darauf hingewiesen, dass es besonders bei parenteraler Anwendung von DHE zu schwerwiegender arterieller Vasokonstriktion bis zum vollständigen Gefäßverschluss kommen kann (Ergotismus). 48.4
48
Ausblick
Eine unkontrollierte Erhöhung des intrakraniellen Druckes ist häufig die Endstrecke verschiedener zerebraler Pathologien und stellt nach wie vor eine therapeutische Herausforderung dar. Die ICP-Messung gehört seit vielen Jahren zum Repertoire neurochirurgisch-neurologischer Intensivmedizin. Idealerweise sollte eine sich anbahnende Erhöhung des intrakraniellen Drucks schon in
der frühesten Anfangsphase erkannt werden, um mit der Therapie bereits in der Phase der Kompensation beginnen zu können. Hierzu befinden sich derzeit ergänzende Monitoring-Verfahren in der klinischen Erprobung und könnten zukünftig eine individualisierte Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks erlauben. Neue Therapieoptionen zur Senkung des ICP (z. B. hypertone Kochsalzlösungen), aber auch etablierte Therapieoptionen, die bislang weitestgehend pragmatisch angewandt wurden (z. B. Dekompressionstrepanation), müssen kontrollierten, randomisierten Studien unterzogen werden. Die Überwachung und Therapie von ICP und CPP wird auch in den nächsten Jahren die klinische Behandlung akut zerebral geschädigter Patienten maßgeblich bestimmen.
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48
49 Koma, metabolische Störungen und Hirntod F. Weber, A. Bitsch, H. Prange
49.1
Koma
–636
49.1.1 49.1.2 49.1.3 49.1.4 49.1.5
Pathogenese –636 Beurteilung der Bewusstseinslage –636 Diagnostik –636 Therapie –637 Differenzierung komaähnlicher Syndrome –638
49.2
Metabolische Störungen
49.2.1
Ursachen –638
49.3
Hirntod
49.3.1 49.3.2 49.3.3
Pathogenese –639 Hirntodkriterien –641 Hirntoddiagnostik –641
Literatur
–639
–642
–638
49
636
Kapitel 49 · Koma, metabolische Störungen und Hirntod
49.1
Koma
> Definition Koma Koma kann nach einem Vorschlag der Konsensusgruppe der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) folgendermaßen definiert werden: 4 Verlust aller kognitiven Leistungen, 4 Verlust der elektiven Reagibilität, 4 Unerweckbarkeit.
49.1.1 Pathogenese Bewusstsein und Wachheit sind an eine weitgehend ungestörte Funktion des Kortex, der kognitiven Fähigkeiten sowie der mesenzephalen Formatio reticularis und ihrer aszendierenden Projektionen gebunden. Hierbei hat das aszendierende retikuläre aktivierende System (ARAS) den größten Einfluss auf das Bewusstsein. Es stellt eine schlecht definierte Gruppe von Neuronen dar, die sich von der Brückenhaube bis zum Thalamus erstreckt. 3 Hauptprojektionswege wurden identifiziert [10]: 4 über die intralaminaren Thalamuskerne beidseits bis zum Kortex, 4 über den Hypothalamus zum limbischen System und Frontalhirn, 4 von den Raphekernen und dem Locus coeruleus zum Neokortex. Das ARAS übermittelt externe Stimuli zum Kortex und wird selbst durch kortikale Stimulation der Thalamuskerne und sensorische Projektionen zum limbischen System moduliert. Wichtig für die Entstehung des Komas ist, dass eine beidseitige Schädigung vorliegt, die das ARAS oder seine Projektionen unterbricht. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob es sich um eine funktionelle oder strukturelle (morphologische) beziehungsweise um eine primäre (z. B. Schädel-Hirn-Trauma) oder sekundäre (z. B. metabolische) Schädigung handelt. 49.1.2 Beur teilung der Bewusstseinslage > Definition Stupor – Somnolenz – Sopor – Koma Das Kontinuum des Bewusstseins reicht von Wachheit über Somnolenz, Sopor bis zum Koma, wobei die Begriffe »Somnolenz« und »Sopor« nur unscharf definiert sind. Abzugrenzen ist der Zustand des »Stupors«, der z. B. bei psychiatrischen Erkrankungen beobachtet wird (depressiver Stupor, katatoner Stupor). Es handelt sich um eine qualitativ andere Bewusstseinsstörung mit Fehlen jeglicher körperlicher und/oder geistiger Aktivität bei wachem Bewusstsein. Die Augen sind zumeist geöffnet, der Patient reagiert aber nicht oder nur deutlich vermindert auf externe Stimuli. 4 Somnolenz Ein somnolenter Patient ist durch Ansprache jederzeit erweckbar – d. h. er öffnet die Augen und verhält sich dann adäquat. 4 Sopor Ein soporöser Patient dagegen ist durch Ansprache nicht erweckbar. Auch bei kräftiger Stimulation (Schütteln, Schmerzreiz) wird er nur kurz wach, öffnet die Augen und fällt bei Sis-
tieren der Stimuli sofort wieder in den Sopor zurück. Er ist zu Lautäußerungen, nicht aber zu einer Kommunikation fähig. Auf Schmerzreiz erfolgt eine gerichtete Abwehrreaktion. 4 Koma Der komatöse Patient zeigt auf Schmerzreiz lediglich ungerichtete Reaktionen (leichtes, oberflächliches Koma) oder auch auf stärksten Schmerzreiz keine Reaktion (tiefes Koma). Der komatöse Patient ist bewusstlos, die Augen bleiben geschlossen, und eine Kommunikation ist unmöglich. Die Tiefe des Komas kann anhand des Vorhandenseins oder Fehlens anderer Merkmale abgeschätzt werden. Hierzu zählen Spontanbewegungen, Hirnstammreflexe, Körperhaltung, Muskeltonus und Spontanatmung.
Glasgow Coma Scale Alternativ kann die Schwere der Bewusstseinsstörung mit der Glasgow Coma Scale ermittelt werden [11]. Hierbei wird der jeweils besten Reaktion in den Kategorien 4 Augenöffnen, 4 verbale Antwort und 4 motorische Reaktion ein Punktwert zugeordnet. Diese Skala wurde für Patienten mit akutem Schädel-Hirn-Trauma entwickelt. Ihre Vorteile sind die einfache Handhabung sowie die standardisierbare und reproduzierbare Durchführbarkeit. Ein Nachteil ist, dass die Lokalisation der Schädigung nicht berücksichtigt wird. So wird z. B. ein Patient mit einem linksseitigen Mediainfarkt und einer Aphasie einen niedrigeren Punktwert erhalten und als tiefer komatös eingestuft als ein Patient mit einem rechtsseitigen Mediainfarkt, der keine Aphasie aufweist. 49.1.3 Diagnostik Nach Sicherung der Vitalfunktionen erfolgt die Suche nach der Ursache des Komas. Wenn irgend möglich, sollte eine Fremdanamnese erhoben werden, die frühere Krankheiten, derzeitige Medikation, zeitliche Dynamik der Komaentstehung und Beschwerden in der unmittelbaren Vorgeschichte umfasst. Es schließt sich eine kurze allgemeine und neurologische Untersuchung an. Bei der allgemeinen Untersuchung wird insbesondere auf HerzKreislauf-Funktion, Atemfunktion, Atemtyp, Geruch der Atemluft, Verletzungen, Hauterscheinungen und Fieber geachtet. Insbesondere der Atemtyp kann Hinweise auf die Ursache des Komas geben (. Tab. 49.1). Die neurologische Untersuchung dient der Ermittlung der Komatiefe und soll insbesondere fokale neurologische Symptome aufdecken (7 s. Übersicht). Ergeben sich Hinweise auf eine fokale Läsion, so ist eine strukturelle Hirnschädigung (Ischämie, Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Tumor) wahrscheinlicher als eine metabolische Entgleisung. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse kann die folgende laborgestützte und apparative Diagnostik eingesetzt werden (7 s. Übersicht). Neurologische Untersuchung 5 Meningismus 5 Pupillengröße, -form und -reaktion (weit/mittelweit/ eng, rund/entrundet, normal/träge/fehlend) 6
637 49.1 · Koma
49
. Tabelle 49.1. Atemtypen Bezeichnung
Beschreibung
Ursache
Cheyne-Stokes-Atmung
Periodisch, vertiefte Atmung mit langen Apnoepausen
Diffuse kortikale Läsion, Urämie, toxische Schädigung, dienzephale Läsion
Hyperventilation
Regelmäßige, rasche Atmung
Zentral: Läsion der Formatio reticularis; metabolisch: Hypoxämie, Ketoazidose (Kussmaul-Atmung)
Apneuistische Atmung
Verlängerte Pause nach der Inspiration oder Respirationskrampf bei der Inspiration
Läsion des mittleren oder kaudalen Pons oder des dorsolateralen Tegmentums (z. B. Basilaristhrombose)
Biotsche ataktische Atmung
Unregelmäßiger Wechsel von oberflächlichen und tiefen Atemzügen, regellose Pausen
Läsion der dorsomedialen Medulla oblongata (z. B. Meningitis, Prozesse der hinteren Schädelgrube)
»Undines Fluch«
Normale Atmung im Wachzustand, Sistieren im Schlaf/bei Ablenkung
Läsion von Medulla oder oberem Halsmark, Differenzialdiagnose: Schlafapnoe
Hypoventilation
Flache Atmung
Schädigung des unteren Hirnstamms, metabolisch (z. B. Myxödem), Sedativa, Lungenerkrankungen, neuromuskuläre Erkrankungen
Singultus (Schluckauf )
Kurze Zwerchfellkontraktionen
Thorakoabdominal, Medikamente, Läsion der Medulla oblongata
5 Spontane Augenbewegungen, z. B. – »Déviation conjugée« (konjugierte Blickdeviation): Läsion ipsilateral im Kortex oder kontralateral im Pons; bei epileptischem Fokus kontralateral im Kortex – Bulbusdivergenz: diffuse Schädigung – »Ocular bobbing« (plötzliche konjugierte Abwärtsbewegung der Bulbi mit nachfolgender langsamer Aufwärtsbewegung): bilaterale Ponsläsion – »Ocular dipping« (langsame, konjugierte, extreme Abwärtsbewegung der Bulbi, nach einigen Sekunden rasche Rückkehr in die Ausgangsstellung): diffuse Hypoxie – »schwimmende« Bulbi: diffuse Hirnschädigung mit intaktem Hirnstamm 5 Kornealreflex 5 Okulozephaler Reflex (im Koma lösen bei intaktem Hirnstamm rasche, passive Bewegungen des Kopfes gegenläufige konjugierte Bulbusbewegungen aus) 5 Spontanbewegungen (gerichtet, ungerichtet, symmetrisch, asymmetrisch, Streck- oder Beugesynergismen) 5 Muskeleigenreflexe 5 Pyramidenbahnzeichen 5 Reaktion auf Schmerzreiz (gerichtet, ungerichtet)
5 bildgebende Verfahren (CCT mit CT-Angiographie, MRT mit MR-Angiographie, selten notwendig: DSA) 5 Lumbalpunktion (Zellzahl, Protein, Laktat) 5 Toxikologie (Blut, Urin, Mageninhalt) 5 EEG 5 Evozierte Potenziale (insbesondere Medianus-SEP zur Prognoseabschätzung bei hypoxischem Hirnschaden, AEP zur Funktionsprüfung des Hirnstamms) 5 Doppler- und Duplexsonographie der hirnversorgenden Gefäße (extra- und transkraniell) 5 Echokardiogramm
Weiterführende apparative und Labordiagnostik 5 Labor: – Glukose (Schnelltest), Elektrolyte, Leberenzyme, Ammoniak, Nierenwerte, CK, CK-MB, Troponin, CRP, arterielle Blutgasanalyse, Osmolalität, Blutbild, Gerinnung, Schilddrüsenwerte, Kortisol, Laktat 5 EKG 6
Es ist jedoch zu beachten, dass strukturelle Läsionen, die nahezu symmetrisch beide Hemisphären betreffen (wie z. B. multiple Infarkte), eine metabolische Ursache vortäuschen können. Andererseits kann eine Stoffwechselentgleisung insbesondere bei älteren Patienten klinisch zu einer fokalen Betonung der neurologischen Ausfälle führen und somit eine strukturelle Läsion vortäuschen. Dies gilt insbesondere für die Hypoglykämie. Weiterhin ist zu bedenken, dass auch der Nachweis einer metabolischen Störung nicht mit dem Ausschluss einer strukturellen Hirnläsion gleichgesetzt werden darf, da Stoffwechselentgleisungen als Folge einer strukturellen Läsion auftreten können. Entsprechend zwingend ist aus diesen Gründen bei den meisten komatösen Patienten die neuroradiologische Untersuchung sowie ggf. die Liquordiagnostik. 49.1.4 Therapie Wird aufgrund der Fremdanamnese und der ersten orientierenden Untersuchung die Ursache des Komas nicht ersichtlich, sollte – sofern nicht die Möglichkeit einer sofortigen Blutzucker-
638
49
Kapitel 49 · Koma, metabolische Störungen und Hirntod
bestimmung besteht – ein Bolus von 16–25 g Glukose i.v. verabreicht werden. Da die Hypoglykämie eine sehr häufige Ursache des Komas darstellt und eine länger dauernde Hypoglykämie zu irreversiblen Hirnschäden führen kann, sollte diese Maßnahme vor zeitaufwendigeren Untersuchungen möglichst rasch durchgeführt werden. Selbst wenn die Ursache der Bewusstseinsstörung in einer Hyperglykämie besteht, schadet man dem Patienten durch diese Maßnahme nicht. Falls Hinweise auf das Vorliegen einer Wernicke-Enzephalopathie bestehen, sollten zusätzlich zur Glukoseinfusion 100 mg Thiamin i.v. verabreicht werden, da die alleinige Gabe von Glukose bei Patienten mit Thiaminmangel eine Wernicke-Enzephalopathie hervorrufen kann. Andere Therapien sind von der Ursache des Komas abhängig, sodass eine adäquate Therapie nur eingeleitet werden kann, wenn die Ursache des Komas feststeht. Es sei hier noch einmal betont, dass die oben erwähnte apparative Diagnostik möglichst rasch durchgeführt werden muss.
Minimally Conscious State (akinetischer Mutismus) Patienten mit diesem Syndrom machen einen wachen Eindruck, fixieren und zeigen Folgebewegungen der Augen. Verbale Äußerungen und Bewegungen erfolgen nur nach intensiver Aufforderung. Die Läsion ist bilateral im frontoorbitalen Kortex oder in den nach frontal projizierenden Bahnen des ARAS lokalisiert. Meist sind Teile des limbischen Systems mitbetroffen. Ursachen sind z. B. bilaterale A.-cerebri-anterior-Infarkte, Traumen oder Tumoren [1, 2].
Prolongierte Hypersomnie Die Hypersomnie [10] ist definiert als Zustand eines intensiven und permanenten Schlafs, aus dem die Patienten kurzzeitig erweckt werden können. Gähnen und eine normale Schlafposition helfen bei der Unterscheidung zum Koma. Ursache ist u. a. eine beidseitige Thalamusläsion, wie sie bei Thrombosen der Basilarisspitze oder der inneren Hirnvenen vorkommt. 49.2
Metabolische Störungen
49.1.5 Differenzierung komaähnlicher Syndrome Verschiedene Syndrome sind dem Koma ähnlich und können zu Verwechslungen Anlass geben.
Locked-in-Syndrom Das Locked-in-Syndrom [5] zeichnet sich durch eine Tetraparese und die Lähmung aller motorischen Hirnnerven aus. Lediglich vertikale Augenbewegungen und Lidbewegungen sind möglich. Die Patienten sind wach und nehmen ihre Umgebung wahr. Sie sind also bei Bewusstsein. Ursache ist eine bilaterale Zerstörung der ventralen Brückenanteile mit den hier verlaufendenden motorischen Efferenzen, die zu einer supranukleären motorischen Deafferenzierung führt. Das Locked-in-Syndrom ist am häufigsten Folge einer Basilaristhrombose. Weiterhin können pontine Tumoren, pontine Blutungen, eine pontine Myelinolyse oder ein Schädel-HirnTrauma dieses Krankheitsbild verursachen.
Schwere generalisierte neuromuskuläre Erkrankungen Patienten mit schweren neuromuskulären Erkrankungen – wie Guillain-Barré-Syndrom, Myasthenia gravis, paralytische Poliomyelitis oder schwere Hypokaliämie – können eine Tetraparese und eine Parese der Hirnner ven entwickeln, die Ähnlichkeit mit einem Koma oder einem Locked-in-Syndrom aufweist. Meist gestatten jedoch Charakteristika der zugrunde liegenden Erkrankung und die Entwicklung des Zustands die Abgrenzung.
Apallisches Syndrom (Wachkoma) Patienten mit apallischem Syndrom (»Coma vigile«, »persistent vegetative state«) machen einen wachen Eindruck, zeigen jedoch keine kognitiven oder zielgerichteten motorischen Funktionen. Die Hirnstammfunktionen einschließlich Atmung, Kreislaufregulation und Schlaf-Wach-Zyklus sind normal. Die Patienten haben die Augen geöffnet, fixieren aber nicht. Sie befolgen keine Aufforderungen und zeigen nur langsame, ungezielte Bewegungen. Häufig treten Automatismen und Primitivreflexe auf. Ursachen sind u. a. Hypoxie, Hypoglykämie, Enzephalitis und Schädel-Hirn-Trauma [2–5, 7].
Bei Patienten mit Stoffwechselentgleisungen entwickelt sich das Koma oft langsam, wobei meist Aufmerksamkeitsstörungen und Verwirrtheitszustände vorausgehen. Häufig zeigen die Patienten einen Tremor, oft in Form eines »flapping tremors« (Asterixis), bevor das Koma eintritt. Eine normale Pupillenreaktion, bei Vorhandensein anderer Zeichen einer Mittelhirnschädigung, weist auf eine metabolische Ursache des Komas hin. Atemstörungen und bestimmte Konstellationen in der arteriellen Blutgasanalyse sind oft wegweisend für bestimmte Komaursachen, z. B. Hyperventilation und metabolische Azidose für Diabetes mellitus und Urämie, während Hyperventilation und respiratorische Alkalose bei Lungenerkrankungen, Sepsis und psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Änderungen im Muskeltonus und Reflexstatus sowie Myoklonien und Anfälle können sich im Verlauf eines metabolisch bedingten Komas einstellen. Die Zeichen der fortschreitenden Hirnstammschädigung sind nahezu immer beidseits und können sich akut verschlechtern. i In der Regel verursachen rasche Veränderungen der Stoffwechselsituation schwerere Symptome als besonders hohe Absolutwerte.
49.2.1 Ursachen Die Ursachen metabolischer Störungen sind vielfältig. Hauptfaktoren sind Blutzuckerentgleisungen, Hypoxie (z. B. nach Herzstillstand oder nach Status asthmaticus) und Endotoxine (z. B. bei Leber- und Nierenerkrankungen). Die septische Enzephalopathie wird vermutlich durch Moleküle bakterieller Herkunft und auch durch körpereigene Entzündungsmediatoren verursacht. Noch vor Entstehung eines Komas entwickelt sich ein hirnorganisches Psychosyndrom, das dem Auftreten klinischer und laborchemischer Entzündungszeichen Stunden bis Tage vorausgehen kann. Alkohol ist der bei weitem häufigste exogene Faktor. Weiterhin sind Intoxikationen mit anderen Drogen oder Medikamenten und endokrine Erkrankungen zu berücksichtigen. Zum Teil verursachen metabolische Erkrankungen morphologische Veränderungen des Hirnparenchyms. So können nach einer globalen Hypoxie z. B. ein Hirnödem und später eine Atro-
639 49.3 · Hirntod
phie auftreten. Die pathophysiologischen Veränderungen bei metabolischen Störungen sind uneinheitlich und werden durch die zugrunde liegende Störung bedingt. Die Therapie richtet sich ebenfalls nach der Art der metabolischen Störung. . Tabelle 49.2 gibt eine Übersicht über die häufigsten metabolischen Störungen und deren akute Therapie. Für Details wird auf die weiterführende Literatur verwiesen [6, 9]. 49.3
Hirntod
Bei schwersten Fällen eines Komas kann innerhalb von einigen Stunden ein akuter definitiver Funktionsverlust des Gehirns eintreten. Dies trifft insbesondere für postanoxische bzw. ischämische Komata zu. Der Untersucher findet dann die klinischen Zeichen des Hirntodes (7 Kap. 47). 49.3.1 Pathogenese Der Hirntod kann sich auf der Basis unterschiedlicher Ursachen, nämlich hypoxischer, ischämischer, entzündlicher oder toxischer Läsionen entwickeln. Pathogenetisch grundlegend ist allerdings die zunehmende Anoxie als Folge einer graduell oder kontinuierlich erfolgenden Ödementwicklung.
Anatomische Grundlagen
49
transtentoriellen Einklemmung, bei der sich temporobasale Anteile des Großhirns in den Tentoriumschlitz verlagern. Es folgen Symptome wie zunehmende Bewusstseinsstörung, Streckbewegungen der Extremitäten, Miosis, später Mydriasis und Verlust der Lichtreaktion.
Circulus vitiosus Die zunehmende Schwellung des Gehirns löst einen Circulus vitiosus aus. Die in . Abb. 49-2 dargestellte Druck-Volumen-Kurve zeigt auf der Y-Achse den intrakraniellen Druckanstieg (ICP) und auf der X-Achse die Volumenzunahme an. Solange die intrakraniellen Reserveräume noch nicht erschöpft sind, führt ein definierter Volumenanstieg des Gehirns (ΔV) zu einem geringeren, gut kompensierten Druckanstieg. Sind jedoch diese Komplementärräume erschöpft, hat eine weitere Volumenzunahme einen massiven Druckanstieg zur Folge. Im Verlauf dieses Prozesses wird der kritische Umkehrpunkt (»point of no return«) überschritten, wenn der ICP-Wert den des mittleren arteriellen Druckes erreicht. Der zerebrale Perfusionsdruck (CPP = MAP – ICP) ist jetzt Null. Es tritt ein kompletter Durchblutungsstop ein, der sich zunächst regional entwickelt, dann aber für das Gesamthirn zutrifft, wenn der Prozess auch den infratentoriellen Raum erfasst.
Einklemmung im Foramen magnum Im Endstadium entsteht das Bild der sog. foraminalen Herniation (. Abb. 49-1, Pfeil 3). Sie ist selbst für kurze Zeit nicht mit
Das Gehirn ist umgeben von einer Kapsel, die als knöcherne Struktur starr ist und nur eine größere Öffnung, das Foramen magnum, aufweist. Der Schädelinnenraum ist durch harte Bindegewebsduplikaturen, die Falx cerebri und das Tentorium cerebelli, in sich gekammert. Das Tentorium cerebelli grenzt den supratentoriellen Bereich, vorgesehen v.a. für das Großhirn, vom infratentoriellen Raum ab. Infratentoriell sind Zerebellum, Brücke (Pons) und verlängertes Mark (Medulla oblongata) angeordnet. Das Tentorium enthält einen schlitzförmigen Spalt, durch den das Mittelhirn als wichtiges Verbindungsstück zwischen Großhirn bzw. Zwischenhirn auf der einen und Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark auf der anderen Seite verläuft.
Pathomechanismen Schädigende Einflüsse rufen im Gehirn ebenso wie in anderen Organen eine Schwellung hervor. Ist diese sehr ausgeprägt, sei es als Folge eines Tumors, einer Blutung, Ischämie bzw. Hypoxie oder einer Entzündung, so kann die Volumenzunahme im Hirnparenchym durch die Hohlraumsysteme (Ventrikelsystem, basale Zisternen) nicht mehr kompensiert werden. Es kommt zu Massenverschiebungen, deren Vektor davon abhängt, ob der volumenbeanspruchende Prozess umschrieben oder generalisiert ist.
Subfalxiale Herniation Bei primär hemisphäriellen Prozessen führt die Massenverschiebung zur sog. subfalxialen Herniation mit Verlagerung der Mittellinienstrukturen zur kontralateralen (gesunden) Seite (. Abb. 49-1, Pfeil 1).
Transtentorielle Einklemmung Bei Progredienz des raumfordernden Prozesses stellt sich eine Verschiebung des Hirngewebes von kranial nach kaudal ein (. Abb. 49.1, Pfeil 2). Typisch für diese Situation ist eine Elongation und Torquierung des Hinstamms. Man spricht von einer
. Abb. 49.1. Intrakranielle Massenverschiebungen bei lokalisiertem Hirnödem: 1 subfalxiale Herniation, 2 transtentorielle Herniation (»Einklemmung«), 3 foraminale Herniation
640
49
Kapitel 49 · Koma, metabolische Störungen und Hirntod
. Tabelle 49.2. Metabolische Störungen mit zerebralen Manifestationen Störung
Symptome
Diagnostik
Therapie
Hypoxie
Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit, Myoklonien, Anfälle
Neuronspezifische Enolase, EEG, CCT, MRT, AEP, Medianus-SSEP
Monitoring von Blutdruck und Atmung, symptomatische Behandlung der Anfälle, bei Hirndruck: epidurale Druckmessung, Sorbit 40% 4-mal 125 ml/Tag, Mannit 15% 4-mal 100 ml/Tag, Thiopental bis zum Burstsuppression-EEG
Hyperglykämie: ketoazidotisches/ hyperosmolares Koma
Polyurie, Polydipsie, Exsikkose, Abgeschlagenheit, ggf. Kussmaul-Atmung, Azetongeruch
Glukose in Serum und Urin, BGA, Osmolalität
Altinsulin i.v. (Bolus 0,3 IE/kg KG, dann 0,1 IE/ kg KG/h unter Glukose und K+-Kontrolle), Flüssigkeitssubstitution (meist 4–5 I), Kaliumsubstitution, ggf. Bikarbonat- und Phosphatsubstitution
Hypoglykämie
Heißhunger, erhöhter Sympathikotonus, Anfälle, Sehstörungen, Zephalgie
Glukose im Serum
Glukose 20–40% i.v. oder Glukose p.o., ggf. Glukagon 1 mg i.v. oder i.m.
NNR-Insuffizienz (Addison-Krise)
Abgeschlagenheit, Erbrechen, Hypotonie, Exsikkose, Hyperpigmentierung, abdominale Schmerzen
Na+, K+, Kortisol, ACTH, ACTH-Test
100 mg Hydrokortison i.v. alle 6 h, ggf. Rehydratation mit Glukose 5%
Hypothyreose
Abgeschlagenheit, Reflexverlust, Hypothermie, Hypoventilation, Bradykardie, Hypotonie, Myxödem
T3, T4, TSH, fT4, Cholesterin, respiratorische Azidose, Na+, K+
Bei Hypothermie <35ºC oder Bradyarrhythmie 400–500 μg L-Thyroxin i.v., Schrittmacher, ansonsten L-Thyroxin p.o.
Thyreotoxikose
Fieber, Tachykardie, Rhythmusstörung, Tremor, Diarrhö
fT3, fT4, TSH, Natrium
Thiamazol 10–40 mg/Tag oder Carbimazol 5–30 mg/Tag, β-Blocker, Prednisolon 100 mg, Volumengabe, externe Kühlung, ggf. Schilddrüsenresektion, Radiojodtherapie
Hepatisches Koma
Schläfrigkeit, Asterixis, Foetor hepaticus, Ikterus, Spidernaevi, Palmarerythem, Aszites, Splenomegalie
γ-GT, GOT, GPT, AP, Bilirubin, Ammoniak, Albumin, Quick, Cholinesterase, Sonographie, EEG, CCT, MRT
parenterale Ernährung mit Glukose 20–40%, Lactulose 3-mal 40 ml/Tag p.o., Neomycin 3-mal 2 g/Tag p.o., Ulkusprophylaxe, ggf. Gerinnungsfaktoren, bei Hirndruck: Mannit 15% 3-mal 100 ml/Tag, Lebertransplantation in Abhängigkeit von der Ursache und ihrer Behandlungsmöglichkeit
Urämisches Koma
Foetor uraemicus, KussmaulAtmung, bräunlich-graue Haut, Tremor, Myoklonus, Tetanie, Anfälle, fokal-neurologische Ausfälle
Kreatinin, Harnstoff, K+, Kalzium, Blutgasanalyse, Blutbild, EEG
Ggf. Behebung der Ursache (obstruktive Uropathie, prärenales Nierenversagen), Dialyse
Hyponaträmie
Verwirrtheit, Eintrübung, epileptische Anfälle
Na+ und Osmolalität im Serum und Urin,
4 Dehydratation
Hypotonie, Tachykardie
Kreatinin, Thoraxröntgenaufnahme, CCT, MRT, Lumbalpunktion
4 Überwässerung
Ödeme, Lungenstauung, Aszites
Hypernatriämie
Exsikkose, Tachykardie, Hypotonie
Na+, K+, Blutbild, Blutzucker, Kreatinin, Blutgasanalyse, Durstversuch
Reiner H2O-Verlust: Glukose 5%, bei Na+-Defizit: NaCl 0,9%
Hypokaliämie
Muskelschwäche, Faszikulationen, Adynamie, Rhythmusstörungen
K+ im Serum und Urin, Na+, Chlorid, Bikarbonat, Blutgasanalyse, Renin, Aldosteron, EKG
KCI i.v. oder p.o.
Hypokalzämie
Tetanie, Anfälle, Verwirrtheit
Ca2+, Na+, K+, Kreatinin, AP, Phosphat, Blutgasanalyse, Parathormon, Vitamin D, EKG
Im Notfall 10–20 ml Ca2+-Gluconat 10% i.v., ansonsten 1–2 g Ca2+-Brausetabletten p.o.
6
NaCl 0,9% i.v. (Na+-Anstieg <1 mmol/h bzw. <10 mmol/Tag)
Flüssigkeitsrestriktion, bei instabilem Kreislauf: NaCl 5,85% fraktioniert, ggf. Diuretika
641 49.3 · Hirntod
49
. Tabelle 49.2. (Fortsetzung) Störung
Symptome
Diagnostik
Therapie
Hyperkalzämie
Verwirrtheit, Psychose, Polyurie, Magen-Darm-Ulzera, Pankreatitis
Ca2+, Na+, K+, Kreatinin, Blutbild, AP, PSA, Elektrophorese, Parathormon, EKG, CCT
Forcierte Diurese (z. B. Furosemid 40–120 mg i.v.) einmalig 15–60 mg Pamidronsäure i.v., bei Tumor: Prednison 100 mg/Tag i.v., Dialyse, primärer Hyperparathyreoidismus: Operation
Septische Enzephalopathie
Bewusstseinsstörung, Desorientierung, Verwirrtheit
Blutkulturen, Fokussuche
Therapie der Sepsis
49.3.2 Hirntodkriterien Die Hirntodkriterien sind in der folgenden Übersicht dargestellt: Hirntodkriterien 5 Tiefes Koma mit Verlust sämtlicher motorischer Reaktionen, Verlust des Muskeltonus sowie Verschwinden der vom Gehirn regulierten autonomen Reaktionen – die hirngesteuerten Reflexe erlöschen in rostral-kaudaler Reihenfolge 5 Verlust der Hirnnerven- und Hirnstammfunktionen 5 Verlust der Atemfunktion
Bei schweren Intoxikationen, medikamentös oder toxisch bedingter Blockade der neuromuskulären Übertragung, Unterkühlung, Kreislaufschock, endokrinem oder metabolischem Koma sind diese Hirntodkriterien nicht anwendbar. . Abb. 49.2. Intrakranielle Druck-Volumen-Beziehung (Munro-KellieDoktrin)
dem Leben zu vereinbaren, weil wichtige Atmungs- und Kreislaufzentren im unteren Hirnstamm komprimiert und funktionsunfähig werden. Die komplette Durchblutungsunterbrechung wird von dem Hirnparenchym nur über einen Zeitraum von ca. 5–14 min überlebt. Bereits ein Abfall der Hirndurchblutung auf 10–15% des Normalwertes hat eine kritische Reduktion des Energieniveaus der Hirnzellen, Verlust des Ionengleichgewichts der Zellmembranen und schließlich den Untergang der Zellen zur Folge. Die Überlebenszeit bzw. Wiederbelebungszeit des Hirnparenchyms kann lediglich durch Hypothermie oder massive medikamentöse Stoffwechselsenkungen etwas verlängert werden. Der Hirntod ist somit das Ergebnis eines Prozesses, bei dem zunächst durch lokale Druckzunahme die lokale Durchblutung gestört wird. Das entstehende Perfusionsdefizit führt zu weiterer Gewebeschädigung und Schwellung mit ICP-Anstieg. Am Ende dieses Prozesses, der wenige Stunden bis einige Tage andauern kann, steht der zerebrale Kreislaufstillstand. Ist dieser erst einmal eingetreten, kann zwar evtl. mit Hilfe der Intensivtherapie der Körperkreislauf stabilisiert und die Versorgung peripherer Organe sichergestellt werden, das Gehirn ist aber nicht mehr zu retten.
49.3.3 Hirntoddiagnostik Die diagnostische Verifizierung des Hirntodes ist gemäß der Vorgaben der Bundesärztekammer in folgenden Schritten vorzunehmen (. Abb. 49.3).
Klärung der Ursache Die Ursache des zum Hirntodsyndrom führenden Prozesses ist aufzuklären. Es ist eine eindeutige Diagnose zu stellen. »Primäre« zerebrale Prozesse sind schwere Schädel-Hirn-Verletzungen, intrazerebrale Blutungen, großflächige Hirninfarkte, Enzephalitiden und Subarachnoidalblutungen. Als »sekundäre« Hirnschädigungen werden u. a. zerebrale Hypoxie nach Herz-Kreislauf-Stillstand, schwere Intoxikationen und Sepsis mit Multiorganversagen klassifiziert.
Untersuchung Das Hirntodsyndrom (Koma Grad IV, Hirnstammareflexie, Apnoe) ist durch zwei von einander unabhängige Untersucher zu verifizieren. Die Untersucher (approbierte Ärzte) sollen möglichst über mehrjährige Erfahrungen in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen und dürfen keinem Transplantationsteam angehören. Zu untersuchen sind im Einzelnen 4 Ausmaß der Vigilanzminderung,
642
Kapitel 49 · Koma, metabolische Störungen und Hirntod
49
. Abb. 49.3. Ablauf der Hirntoddiagnostik. (Nach [11])
4 Hirnstammfunktionen einschließlich der Hirnstammreflexe (Pupillenreaktion, Kornealreflex, Okulozephalreflex, vestibulookuläre Reflexe, Schmerzreaktionen im Trigeminusversorgungsbereich, Würge- und Hustenreflexe), 4 Muskeltonus bei gleichzeitigem Ausschluss reizinduzierter Spontanbewegungen. 4 Apnoe Der Untersucher muss außerdem die Körpertemperatur registrieren. Sedierende Medikamente müssen bezüglich ihres Einflusses auf die aktuelle Bewusstseinslage erfasst werden. Informationen über Vorgeschichte und bisherigen Verlauf sind hilfreich. Das Auftreten vegetativer Entgleisungen wie Temperaturabfall, Elektrolytstörungen und Urinflut (Diabetes insipidus) wird für die Diagnose des Hirntodes nicht gefordert, es stützt aber die Diagnose.
Nachweis der Irreversibilität Der Nachweis der Irreversibilität ist obligat. Hierfür wird im einfachsten Falle eine bestimmte Beobachtungszeit verlangt, nach deren Verstreichen die beiden Untersucher ihren klinischen Befund bestätigen müssen. Die Länge der geforderten Beobachtungszeit hängt vom Alter des Patienten und von der Klassifizierung der Hirnschädigung – primär oder sekundär – ab (7 s. Fließschema in . Abb. 49.3).
Zusatzuntersuchungen Um die diagnostische Prozedur zeitlich zu verkürzen, wurden ergänzende Untersuchungen vorgeschlagen. Hierzu gehören EEG, evozierte Potenziale sowie der Nachweis des Zirkulationsstillstands durch die transkranielle Dopplersonographie, zerebrale Perfusionsszintigraphie oder Kontrastmitteldarstellung der hirnzuführenden Gefäße. Eine Angiographie wird nur dann akzeptiert, wenn von ihrem Ergebnis therapeutische Entscheidungen abhängen könnten. Damit kommt der Angiographie nicht mehr die Rolle des Goldstandards zum Nachweis des zerebralen Kreislaufstillstands zu. Für alle apparativen Zusatzuntersuchungen wurden klar definierte Durchführungs- und Bewertungsbestimmungen von den entsprechenden Fachverbänden vorgegeben. Sie können der weiterführenden Literatur entnommen werden [8] (Näheres in 7 Kap. 47).
Literatur 1. Cairns H (1952) Disturbances of consciousness with lesions of the brain stem and diencephalon. Brain 75: 109–146 2. Faymonville M-E, Pantke K-H, Berré J et al. (2004) Zerebrale Funktionen bei hirngeschädigten Patienten. Was bedeuten Koma, Vegetative state, minimally conscius state, Locked-in Syndrom und Hirntod. Anaesthesist 53:1195–1202 3. Multi-Society Task Force on PVS (1994) Medical aspects of the persistent vegetative state (1). N Engl J Med 330: 1499–1508 4. Multi-Society Task Force on PVS (1994) Medical aspects of the persistent vegetative state (2). N Engl J Med 330: 1572–1579
643 Literatur
5. Nordgren RE, Markesbery WR, Fukuda K, Reeves AG (1971) Seven cases of cerebromedullospinal disconnection: the »locked-in« syndrome. Neurology 21: 1140–1148 6. Prange W, Bitsch A (Hrsg) (2004) Neurologische Intensivmedizin – Praxisleitfaden für neurologische Intensivstationen und Stroke Units. Thieme, Stuttgart 7. Quality Standards Subcommittee of the American Academy of Neurology (1995) Practice parameters: assessment and management of patients in the persistent vegetative state (summary statement). Neurology 45: 1015–1018 8. Reimers CD (2004) Hirntoddiagnostik und Organexplantation. In: Prange W, Bitsch A (Hrsg) Neurologische Intensivmedizin – Praxisleitfaden für neurologische Intensivstationen und Stroke Units. Thieme, Stuttgart 9. Ropper A H (1993) Neurological and neurosurgical intensive care, 3rd edn. Raven, New York 10. Schmutzhard E, Ropper AH, Hacke W (1994) The comatose patient. In: Hacke W (ed) Neurocritical care. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, pp 243–254 11. Teasdale G, Jennett B (1974) Assessment of coma and impaired consciousness. A practical scale. Lancet II: 81–83 12. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (1998) Hirntodkriterien. Dtsch Ärztebl (A) 95: 1861–1868
49
50 Zerebrovaskuläre Notfälle T. Steiner, S. Schwab, W. Hacke
50.1
Einleitung
50.2
Klinisches Bild
50.2.1 50.2.2
Differenzialdiagnosen –646 Neurologisches Bild –646
50.3
Aufnahme auf die Intensivstation
50.3.1 50.3.2 50.3.3
Indikationen –646 Akutversorgung und Erstdiagnostik –647 Blutdruckbehandlung –647
50.4
Ischämischer Infarkt
50.4.1 50.4.2
Diagnostik –648 Therapie –649
50.5
Intrazerebrale Blutung
50.5.1 50.5.2 50.5.3 50.5.4
Epidemiologie –651 Ätiologie –651 Neuroradiologische Untersuchungen –652 Therapie –652
50.6
Subarachnoidale Blutung
50.6.1 50.6.2 50.6.3
Klinisches Bild –653 Diagnostik –653 Therapie –654
Literatur
–646
–655
–646
–646
–647
–651
–653
50
646
Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
50.1
Einleitung
Unter zerebrovaskulären Notfällen werden in diesem Kapitel folgende Krankheitsbilder zusammengefasst: 4 zerebrale ischämische Infarkte, 4 spontane intrazerebrale Blutungen (ICB), 4 subarachnoidale Blutungen (SAB), 4 Blutungen aus vaskulären Malformationen, 4 Sinusvenenthrombosen. Die Reihenfolge dieser Aufstellung entspricht der Häufigkeit der Krankheitsbilder (. Tab. 50.1). 50.2
Klinisches Bild
Erstes Kriterium bei der klinischen Evaluation ist die Vigilanz: Syndrome der Hemisphären führen erst dann zu einer Vigilanzminderung, wenn entweder beide Hemisphären betroffen sind oder wenn es durch eine Raumforderung in einer Hemisphäre zu einer Hirnstammkompression kommt. Infratentorielle Prozesse führen in der Regel bereits bei Symptombeginn zu einer ausgeprägten Vigilanzminderung.
beidseitigen (Tetraparese) oder gekreuzten Symptomen (z. B. kontralaterale Hemiparese mit dissoziierter Sensibilitätsstörung und ipsilateraler Hirnnervenparese) führen. Hirnstammläsionen können folgende Kerngebiete betreffen: 4 III. Hirnnerv, Mittelhirn, Pons: Achsenabweichung der Bulbi, Nystagmen, Störungen des Licht- und des Kornealreflexes; 4 IV. und VI. Hirnnerv: Störung der Okulomotorik; 4 V. Hirnnerv: Sensibilitätsstörungen, abgeschwächter Kornealreflex; 4 VII. Hirnnerv: Fazialisparese; 4 X. Hirnnerv: Schluckstörungen, Dysarthrie. Schädigungen bestimmter Gangliengruppen führen zu Atemstörungen (dorsolateraler Pons), Schwindel (Vestibulariskerne: lateraler Pons) und Erbrechen (Area postrema in der Medulla oblongata). Dysarthrie, Ataxie und Vigilanzminderung können sowohl bei Läsionen der Hemisphären als auch bei infratentoriellen Läsionen auftreten. Bei der gezielten Suche nach weiteren klinischen Kennzeichen der jeweiligen Syndrome gelingt die differenzialdiagnostische Eingrenzung in den meisten Fällen. 50.3
Aufnahme auf die Intensivstation
50.2.1 Differenzialdiagnosen
50.3.1 Indikationen
Prinzipiell ist ein ischämischer Hirninfarkt klinisch nicht mit ausreichender Sicherheit von einer ICB zu unterscheiden. Große Blutungen führen im Durchschnitt früher zu einer Vigilanzminderung als Infarkte. Der Kliniker erlebt jedoch häufig nicht den initialen Verlauf. Der dringende klinische Verdacht eines Schlaganfalls ergibt sich aus der Akuität des Symptombeginns und dem Vorliegen fokaler neurologischer Defizite. In der Notfallsituation können Syndrome der Hemisphären von infratentoriellen Syndromen unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist aus 2 Gründen notwendig: 4 Im Hirnstamm sind die lebenswichtigen Steuerungsfunktionen für Herz, Kreislauf und Atmung lokalisiert, daher können Hirnstammprozesse einen akut letalen Verlauf nehmen. 4 Das therapeutische Vorgehen ist unterschiedlich.
i Eine progrediente Verschlechterung kann bedingt sein durch prolongierte Blutung, Hirnödem oder Liquorzirkulationsstörung und ist eine Indikation zur Aufnahme auf die Intensivstation.
50.2.2 Neurologisches Bild Fokale Defizite treten bei einer Schädigung der Hemisphären kontralateral (sensomotorische Hemiparese) auf, während Hirnstammläsionen (oberhalb der Pyramidenbahnkreuzung) zu
. Tabelle 50.1. Häufigkeit zerebrovaskulärer Notfälle Art des Notfalls
Häufigkeit [%]
Ischämischer Schlaganfall
80
Intrazerebrale Blutung
15
Subarachnoidale Blutung Andere vaskuläre Malformationen
5 <1
Patienten mit initialer Bewusstseinstrübung oder mit ausgedehnter ICB müssen intensivmedizinisch überwacht werden, falls eine therapeutische Konsequenz zu erwarten ist. Bei exzessiver Hypertonie ist eine adäquate Blutdrucküberwachung und -therapie häufig nur auf der Intensivstation möglich. Ergeben sich aus dem Befund der initial durchgeführten kranialen Computertomographie (CCT) Hinweise auf eine Liquorzirkulationsstörung, z. B. bei Blutungen mit Ventrikeleinbruch oder bei Verdacht auf eine Kompression des III. Ventrikels bzw. eine Monroi-Foramen-Blockade, werden die Anlage einer Ventrikeldrainage und eine intensivmedizinische Überwachung notwendig. Allgemeine Maßnahmen bei ischämischem Schlaganfall 5 Therapie der respiratorischen Insuffizienz: wegen Gefahr der Hypoxie und Hyperkapnie 5 Fiebersenkung, Erythrozytenkonzentrate bei Hb <10 g/l 5 Therapie einer Kreislaufinstabilität: Hypertonie (wenn systolischer Blutdruck >200 mm Hg und diastolischer Blutdruck >110 mm Hg), Hypo- und Hypervolämie 5 Therapie metabolischer Störungen: Hyperglykämie, Hyponatriämie 5 Optimierung der Kopflagerung
Infarktausdehnung >1/3 des Mediaterritoriums, Hemisphärenifarkt 5 Osmotherapie mit Glyzerol (10%, 500–1000 ml/Tag) 6
647 50.4 · Ischämischer Infarkt
Zunehmende Hirnschwellung 5 Analgosedierung, Intubation und evtl. Muskelrelaxation 5 Monitoring des intrakraniellen Drucks, Kontrolle des zerebralen Perfusionsdrucks 5 Evaluation zu chirurgischer Intervention anhand des Verlaufs der CCT-Befunde
Behandlung einer Hirndruckkrise 5 Osmotherapie – Mannitol 20%: 100 ml als Bolus i.v. – Hypertone Kochsalzlösung (NaCl 7,5%, HES 6%): 150 ml als Bolus i.v. – Kontrolle der Serumosmolarität: <315 mmol/l und Serumnatriumwert <155 mmol/l 5 Bei Unwirksamkeit oder Ausschöpfung der bisherigen Maßnahmen: THAM-Puffer – 1 mmol/kg KG als Bolus i.v., dann via Per fusor 0,25 mmol/kg KG/h; Ziel: pHart 7,5–7,55 5 Bei Unwirksamkeit oder Ausschöpfung der bisherigen Maßnahmen: Hyperventilation – Ziel: paCO2 30–35 mm Hg – nur über Stunden durchzuführen, wenn eine Methode zur Überwachung des zerebralen Blutflusses verfügbar ist 5 Bei Unwirksamkeit oder Ausschöpfung der bisherigen Maßnahmen: Thiopental – unter Volumengabe; nicht bei zerebralem Perfusionsdruck <70 mm Hg – 250 mg als Bolus i.v. 5 Bei Unwirksamkeit oder Ausschöpfung der bisherigen Maßnahmen: Anwendung nichtvalidierter Therapieformen in Erwägung ziehen – milde Hypothermie (32–33ºC) – Barbituratkoma – Indomethacin, Methohexital
50
Zur Intubation wird häufig Thiopental (5–7 mg/kg KG) verwendet. Etomidate ist wegen gelegentlich auftretender Myokloni mit möglichem Anstieg des Hirndrucks Mittel der 2. Wahl. Bei Gerinnungsstörungen wird mit der Substitution von Gerinnungsfaktoren bzw. Thrombozyten unmittelbar nach Eintreffen in der Klinik begonnen, um die Zunahme einer Blutung zu verhindern. Vor einer Operation muss der Quick-Wert mit Hilfe von Gerinnungsfaktoren auf mindestens 50% angehoben werden. 50.3.3 Blutdruckbehandlung i Spontan erhöhte Blutdruckwerte in der Akutphase nach einem Schlaganfall sind ein häufiges Phänomen [2, 3]. Ebenso regelhaft kann eine Verschlechterung neurologischer Symptome nach Gabe von Antihypertonika beobachtet werden [4–6].
Untersuchungen zum prognostischen Wert erhöhter Blutdruckwerte bei Aufnahme und im weiteren Verlauf, erbrachten widersprüchliche Ergebnisse [7, 8]. Bestimmte Patienten mit zerebralen Ischämien scheinen sogar von einer Anhebung des Systemdrucks zu profitieren [9–11]. Bei ischämischen Schlaganfällen sollte erst dann eine Senkung des Blutdrucks vorgenommen werden, wenn bei mehreren Blutdruckmessungen in 15-minütigen Abständen keine Tendenz einer spontanen Senkung zu beobachten ist bzw. erst bei dauerhaft erhöhten Blutdruckwerten die Gefahr einer Einblutung in das Infarktgewebe steigt (. Tab. 50.2) [12]. Bei Patienten mit spontaner ICB sollte der Blutdruck auf der Basis der gegenwärtigen Studienlage bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte gesenkt werden (. Tab. 50.2 und 7 Kap. 50.5.2 zur Bedeutung der Hypertonie bei spontaner ICB). ! Cave Der Blutdruck darf nicht zu rasch oder gar auf hypotensive Werte gesenkt werden, um bei erhöhtem intrakraniellem Druck den zerebralen Perfusionsdruck, v. a. in der ischämischen Randzone der Blutung, zu erhalten [13].
50.3.2 Akutversorgung und Erstdiagnostik Bei respiratorischer Insuffizienz sollte zur Vermeidung einer zerebralen Hypoxie frühzeitig, d. h. vor Erreichen kritischer arterieller Blutgaswerte, intubiert werden. Bei bewusstseinsgetrübten Patienten mit beeinträchtigten Schutzreflexen, wird die Indikation zur Intubation zur Sicherung der Atemwege ebenfalls großzügig gestellt [1]. ! Cave Die Intubation soll schonend erfolgen, um Hirndruckspitzen durch Pressen oder Blutdruckanstieg zu verhindern. Aus diesem Grund wird eine Magensonde auch erst nach der Intubation gelegt.
Ein Blutdruckabfall nach der Intubation muss möglichst schnell mit Volumengaben, bei fehlender Wirkung mit Katecholaminen behandelt werden, um einen Abfall des zerebralen Perfusionsdrucks zu verhindern. Depolarisierende Muskelrelaxanzien können durch initiale Faszikulationen hirndrucksteigernd wirken und sollten daher nicht ohne Präcurarisierung verwendet werden.
50.4
Ischämischer Infarkt
Die pathophysiologische Begründung, den ischämischen Infarkt als Notfall zu behandeln, ergibt sich aus dem Penumbrakonzept: Eine irreversible Schädigung von Neuronen tritt ab einer Senkung des zerebralen Blutflusses auf Werte <8–10 ml/100 g Hirngewebe/min ein. Außerhalb des Infarktkerns kann die Durchblutung – abhängig von der Qualität der Kollateralversorgung – im Ischämiebereich bei 10–20 ml/100 g/min liegen, d. h. nach Wiederherstellung einer normalen Perfusion können Neurone in dieser Zone prinzipiell zu normaler Funktion zurückkehren. Dieser Bereich wird Penumbra genannt. Von entscheidender Bedeutung für diesen Prozess ist die Zeit: Der Infarktkern kann zunehmend die ganze Penumbra er fassen [14]. Gelingt es nicht, in dieser Zeit eine normale Perfusion herzustellen, erstreckt sich der Infarkt über das 6
648
50
Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
. Tabelle 50.2. Blutdruckbehandlung bei Schlaganfällen: Bei Ischämie, wenn systolischer Blutdruck >220 mm Hg und diastolischer Blutdruck 110–120 mm Hg; bei intrazerebraler Blutung mit vorbestehender Hypertonie, wenn systolischer Blutdruck >180 mm Hg/105–110 mm Hg; ohne Hypertonie, wenn systolische Werte >160/95. Der Blutdruck sollte wiederholt im Abstand von 15 min gemessen werden Medikament
Dosierung
Nebenwirkungen
Labetalol i.v. (Trandate)
10 mg
Übelkeit, Hypotension
Esmolol
250–500 mg (Bolus)
Kontraindiziert bei Bradykardie, AV-Block, Bronchospasmuns
Urapidil i.v. (Ebrantil)
5–25 mg
Hypotension
Clonidin s.c./i.v. (Catapressan)
0,075 mg
Initiale Blutdrucksteigerung, Sedierung
Esmolol
Bolus (7 s. oben), dann 50–100 µg/kg KG
s.o.
Urapidil 100 mg/50 ml
2–8 ml/h
–
Clonidin 1,5 mg/50 ml
1–5 ml/h
Sedierung
Dihydralacin 50 mg + Metoprolol 10 mg/50 ml (Nepressol + Lopressor)
2–8 ml/h
Kombination mit Metoprolol zur Vermeidung von Tachykardien
Nifedipin (Adalat)
5–10 mg
Hypotension, Tachykardie (bei Blutungen nur in den ersten beiden Tagen)
Captopril (Lopirin)
6,25–12,5 mg
Hypotension, insbesondere bei Dehydratation
Parenterale Einmalgaben
Parenterale Dauertherapie
Per os
gesamte Ischämiegebiet. Deshalb wird dieser Zeitraum als therapeutisches Fenster bezeichnet. Die Größe des therapeutischen Fensters ist starken interindividuellen Schwankungen unterworfen und liegt in einer Größenordnung von 3–6 h [15].
50.4.1 Diagnostik Ohne bildgebende Verfahren ist eine eindeutige und aus therapeutischen Gründen notwendige Differenzierung von Ischämie und Blutung nicht möglich.
Kraniale Computertomographie und Kernspintomographie Frühzeichen eines Hemisphäreninfarkts sind bei 60% der Computertomogramme bereits innerhalb von 2 h und in 80% innerhalb von 3 h nach Symptombeginn sichtbar (. Abb. 50.1; [16, 17]). Außerdem kann mittels Computertomographie das Ausmaß des späteren Infarkts mit einiger Sicherheit vorhergesagt werden [18]. Mittels diffusions- und perfusionsgewichteter Magnetresonanztomographie (MRT) scheint es möglich zu sein, innerhalb von Minuten nach einer Ischämie zwischen Ischämie- und Infarktbezirk zu unterscheiden (. Abb. 50.2) [19]. Damit wird die Einschätzung von Risikopatienten vor Thrombolyse wesentlich verbessert. Mit modernen bildgegenden Verfahren (neben der
MRT auch die Single-Positronenemissionstomographie – SPECT – und die Positronenemissionstomographie – PET) lässt sich also die Größe der Penumbra und damit das Vorhandensein des zu rettenden Hirngewebes abschätzen [20, 21].
Dopplersonographie und Angiographie der Hirngefäße Zur Abklärung der Genese eines zerebralen Infarkts ist eine Vielzahl diagnostischer Techniken notwendig. Nur wenige sind allerdings in der Akutphase unerlässlich. Hierzu gehören Methoden, welche Aussagen über den Gefäßstatus des Patienten ermöglichen, wie die Dopplersonographie und die zerebrale DSA (digitale Subtraktionsangiographie). Mit diesen Untersuchungen können Befunde erhoben werden, die unmittelbare therapeutische Konsequenzen haben: 4 Verschluss der A. basilaris mit der Konsequenz einer intraarteriellen Thrombolyse, 4 Verschluss extra- oder intrakranieller hirnversorgender Arterien des vorderen Kreislaufs mit der Konsequenz der systemischen Lyse (7 s. unten), 4 Qualität der Kollateralisierung eines Verschlusses als prognostischer Hinweis für den Erfolg einer Thrombolyse bzw. für die Entwicklung eines Hirnödems, 4 Infarktgenese, z. B. Dissektion eines Halsgefäßes mit der wesentlichen therapeutischen Konsequenz der antithrombotischen Therapie bei gleichzeitiger hypertensiver Behandlung zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden zerebralen Perfusionsdrucks,
649 50.4 · Ischämischer Infarkt
50
. Abb. 50.1. Links: Infarktfrühzeichen im Computertomogramm bei rechtsseitigem Infarkt 2 h nach Symptombeginn: fehlende Abgrenzbarkeit zwischen Capsula interna und Basalganglien, Aufhebung der Inselrindenzeichnung, Asymmetrie der Inselzisterne. Rechts: normale anatomische Verhältnisse, dargestellt anhand eines Plastininschnitts durch die gleiche Höhe; Mitte: Höhenschnittbild
4 subtotaler Verschluss der A. carotis interna mit hämodynamischer Beeinträchtigung mit der Konsequenz der hypervolämisch-hypertensiven Therapie. 50.4.2 Therapie
Lysetherapie Wirksamkeit und Sicherheit einer Therapie mit rt-PA beim Hemisphäreninfarkt gelten in einem Zeitfenster zwischen Symptom- und Therapiebeginn von <3 h als gesichert. Im Jahre 2001 erteilte das BfAM die Zulassung für Actilyse (Alteplase) zur fibrinolytischen Therapie bei akutem ischämischem Schlaganfall. Allerdings gelten klare Anwendungseinschränkungen, die wir im Folgenden wiedergeben. Anwendungseinschränkungen für die Lysetherapie mit Actilyse (Alteplase) Die Therapie darf nur innerhalb von 3 h nach Beginn der Symptome eines Schlaganfalls eingeleitet werden, nachdem zuvor eine intrakranielle Blutung durch geeignete bildgebende Verfahren, wie eine Computertomographie (CT) des Schädels, ausgeschlossen wurde. Die Therapie darf nur unter Hinzuziehung eines in der neurologischen Intensivmedizin erfahrenen Arztes erfolgen. Die Therapie des akuten ischämischen Schlaganfalls mit Actilyse darf nur auf Intensivstationen bzw. begründetenfalls 6
auf entsprechend ausgestatteten »Stroke Units« erfolgen, welche weiterhin durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet sind: 5 Die Möglichkeit zur Durchführung einer kraniellen CT muss 24 h am Tag bestehen. 5 Der als verantwortlich geltende Radiologe muss in der Auswertung von kranialen CT in der Frühphase des ischämischen Insults nachweislich qualifiziert sein. 5 Es muss eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einem nahegelegenen neurochirurgischen Zentrum etabliert sein.
Rt-pA Actilyse wird in einer Dosierung von 0,9 mg/kg KG über 1 h (maximal 90 mg) i.v. verabreicht [16, 22, 23]. In einem Zeitfenster bis zu 6 h ist die Thrombolyse bei exakter Patientenauswahl, ebenfalls in der genannten Dosierung, wirksam [54]. Das größte Risiko der Thrombolyse ist eine intazerebrale Blutung. Die Rate symptomatischer intrazerebraler Blutungen lag in der ECASS-II-Studie bei 11,3% und 5,9% und in der NINDSSStudie bei 7% und 1% jeweils in der rt-PA- bzw. in der Placebogruppe [22, 24]. Entscheidend ist die Beachtung klinischer und computertomographischer Ausschlusskriterien [25]. Aufgrund der Studienlage kann zur Thrombolyse bei Verschlüssen der A. basilaris Folgendes festgehalten werden: Es existieren keine multizentrischen, randomisierten und placebokontrollierten Untersuchungen. Bei der überwiegenden Zahl der Patienten (103 vs. 13) wurde das Thrombolytikum angiographisch bzw. intraarteriell appliziert. Einzelne Studien zeigen aber
650
Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
. Abb. 50.2. Beispiel für ein deutliches »mismatch« zwischen Veränderungen in der diffusions- (1a) und der perfusionsgewichteten Magnetresonanztomographie (1b) als Ausdruck einer deutlichen Differenz zwischen irreversibel und reversibel geschädigtem Hirngewebe. Letzteres ist prinzipiell durch Thrombolyse zu retten (»tissue at risk«). Ergebnis nach Thrombolyse: Endgültiger Infarkt reduziert auf den initial diffusionsgestörten Bezirk (2a). Die Per fusionsverhältnisse sind wieder normalisiert (2b)
50
auch, dass eine i.v. Lysetherpaie bei dieser schwersten Form des Schlaganfalls sinnvoll sein kann. Eine retrospektive Analyse von 51 Patienten, die mittels intraarterieller Lyse behandelt worden waren, belegt, dass die Mortalität bei Patienten, bei denen eine Rekanalisation erreicht wurde, deutlich unter derjenigen der nichtrekanalisierten Patienten lag (46% vs. 92%). Insgesamt 10 von 16 Überlebenden behielten eine mäßiggradige bis geringe Behinderung zurück [81].
Durch eine Entlastungstrepanation bei bestimmten Patienten kann die Mortalität auf unter 30% gesenkt werden [28, 29]. Die Autoren therapieren Patienten mit sog. »malignem Mediainfarkt« nach einem Stufenschema (7 s. oben, Therapieempfehlung »Allgemeine Maßnahmen bei ischämischem Schlaganfall«) [30]. Ebenfalls wirksam ist die moderate systemische Hypothermie [31, 55].
Behandlung des raumfordernden postischämischen Ödems
Hämodynamisch wirksame Stenosen der extra- oder intrazerebralen Gefäße (z. B. Dissektion der A. carotis interna, Stenosen der A. cerebri media) stellen ein besonderes Problem dar, wenn die neurologische Symptomatik mit Veränderungen des Blutdrucks fluktuiert. Dieses Problem kann sich insbesondere bei Patienten mit chronischer Hypertonie einstellen, bei denen die zerebrale Perfusion an ein höheres Druckniveau adaptiert ist. In diesen Fällen muß der systemische Druck bis über die »Symptomschwelle« angehoben werden. Hierzu wurde die sog. TripleH-Therapie, welche für die Therapie von Vasospasmen nach Subarachnoidalblutungen eingesetzt wird (7 s. unten), in modifizierter Form übernommen und bezüglich der Zielblutdruckwerte bei ischämischem Infarkt verändert. Durch i.v.-Volumengabe (Hypervolämie) und ggf. Katecholaminzufuhr wird der systemische Druck angehoben (Hypertension). Empfohlene systolische Werte liegen für Normotoniker bei mindestens 140 mm Hg und für Hypertoniker bei mindestens
Zu den allgemeinen Maßnahmen in der Initialtherapie gehören: 4 Oberkörperhochlagerung (d30°), 4 Fiebersenkung bzw. Normothermie, 4 Normalisierung der Blutzuckerwerte, 4 Optimierung der Blutdruckwerte (7 s. oben), wobei die Aufrechterhaltung einer suffizienten zerebralen Perfusion oberstes Gebot sein muss. Etwa 10% der Patienten mit einem Hemisphäreninfarkt oder einem großen Kleinhirninfarkt entwickeln innerhalb von 24–72 h nach Symptombeginn ein raumforderndes Hirnödem. Insgesamt 80% dieser Patienten sterben durch ein zentrales Herz-KreislaufVersagen nach transtentorieller Herniation mit Hirnstammkompression, sofern lediglich eine konservative Hirndrucktherapie durchgeführt wird [27].
Behandlung weiterer Komplikationen
651 50.5 · Intrazerebrale Blutung
160 mm Hg. Bei der auf diese Weise eintretenden Hämodilution sollte ein Hb-Wert von 10 mg/dl nicht unterschritten werden. Ziel der Therapie ist ein langsames Ausschleichen, ohne daß erneut neurologische Fokalsymptome auftreten. 50.5
Intrazerebrale Blutung
50.5.1 Epidemiologie Spontane intrazerebrale Blutungen (ICB) haben eine Inzidenz von etwa 20/100.000 Einwohner pro Jahr. Sie stellen mit einem Anteil von etwa 15% nach ischämischen Hirninfarkten die zweithäufigste Ursache aller Schlaganfälle dar. Aufgrund der geringen Zahl kontrollierter Studien beruht ein großer Teil der gängigen Therapieempfehlungen auf theoretischen Überlegungen, Beobachtungen an kleinen Patientenkollektiven oder Ergebnissen aus Tiermodellen. Die Indikationen für eine konservative oder operative Behandlung sind bei supratentoriellen Blutungen umstritten. 50.5.2 Ätiologie
Hypertonie Die arterielle Hypertonie ist der wesentliche Risikofaktor für viele Subtypen der spontanen ICB. Durch die moderne neuroradiologische Diagnostik mit Angiographie, CT und MRT werden jedoch vermehrt auch andere Blutungsursachen diagnostiziert. Die meisten Patienten mit spontaner ICB haben bei Aufnahme und während des Klinikaufenthalts erhöhte Blutdruckwerte. Der Anteil hypertensiver Blutungen schwankt in neueren Studien zwischen 45 und 70% [32–34]. Die Frage, ob bei ICB durch erhöhte Blutdruckwerte bei Aufnahme die Tendenz der Nachblutungsrate zunimmt, ist bisher nicht in vergleichenden prospektiven Untersuchungen geklärt worden. Allerdings finden sich mehr und mehr Hinweise, die diese Hypothese stützen. Qureshi und Mitarbeiter senkten bei 27 Patienten mit spontaner ICB den Blutdruck innerhalb der ersten 24 h nach Symptombeginn auf systolische Werte unter 160 mm Hg bzw. diastolische Werte unter 90 mm Hg und fanden eine Nachblutungsrate von 9,1% [56]. Dieser Zahl steht eine Nachblutungsrate von 40% innerhalb von 24 h aus der prospektiven Untersuchung von Brott et al. entgegen, in der eine Blutdrucksenkung nicht Gegenstand des Protokolls war [57]. Eine Post-hoc-Analyse der Studie, in der rekombinanter Faktor VIIa zur Senkung der Nachblutungsrate nach spontaner ICB verabreicht worden war, ergab, dass Patienten mit initialen mittleren arteriellen Blutwerten unter 120 mm Hg signifikant seltener eine Zunahme der Ventrikelblutung innerhalb von 24 h nach Symptombeginn erlitten [58]. Die European Stroke Initative (EUSI) empfiehlt, den Blutdruck bei spontanen ICB mit bekannter chronischer Hypertonie über 180/105 mm Hg auf Werte unter 170/100 mm Hg und bei nicht vorbestehender Hypertonie über 160/95 mm Hg auf Werte unter 150/90 mm Hg zu senken [59]. Der Blutdruck sollte jedoch nicht um mehr als 20% des MAP bei Behandlungsbeginn gesenkt werden (. Tab. 50.2)
50
Die Pathogenese hypertensiver Blutungen wird mit degenerativen Veränderungen in Form einer Lipohyalinose der Wand perforierender Arterien erklärt, die zur Ausbildung von Mikroaneurysmen führen. Ein plötzlicher Anstieg des zerebralen Blutflusses bringt die pathologisch veränderten Gefäße zur Ruptur [35]. Die Stammganglien sind neben Kleinhirn und Pons eine typische Lokalisation hypertensiver Blutungen. i Insgesamt 26% der Patienten mit spontaner ICB erleiden eine Nachblutung innerhalb der ersten 4 h nach Symptombeginn, weitere 12% bluten innerhalb der folgenden 21 h nach [52].
Amyloidangiopathie Die sog. zerebrale Amyloidangiopathie wird bei 7–17% aller ICB als Ursache angenommen. Sie tritt mit zunehmendem Alter häufiger auf [36–38]. Die Blutungen liegen lobär, häufig direkt subkortikal. Morphologisch finden sich Amyloidablagerungen in der Wand kleiner und mittelgroßer kortikaler arterieller Gefäße, die zu starren und fragilen Rohren deformiert werden [38]. Auch diese Patienten weisen häufig, aber nicht immer, eine Hypertonieanamnese auf.
Gefäßanomalien Gefäßanomalien – Angiome, arteriovenöse Malformationen (AVM), Durafisteln und Teleangiektasien – liegen ungefähr 5% aller ICB zugrunde. Sie sind bei jüngeren Patienten häufiger. Der Verdacht auf eine Gefäßanomalie ergibt sich bei jüngeren Patienten mit subkortikalen Blutungen, einer familiären Anamnese arteriovenöser Malformationen oder mit entsprechenden CTVeränderungen. Die Diagnose wird mit Hilfe der Angiographie, evtl. in Kombination mit einer MRT gesichert.
Gerinnungsstörungen Störungen der Blutgerinnung sind die Ursache von etwa 10% aller ICB, meist infolge einer Antikoagulation nach Beinvenenthrombose oder bei Arrhythmia absoluta [60]. In einer Studie mit 3862 Patienten unter Cumarintherapie ereigneten sich bei 6,8% der Patienten Blutungskomplikationen, davon nur 1,6% intrakraniell [39]. Die weitaus häufigste Indikation für die Gabe von Cumarinen bildet das Vorhhofflimmern. Aufgrund der demographischen Entwicklung in den Industrieländern ist in den kommenden 40 Jahren mit einer Verdopplung der Inzidenz des VHF und damit auch der assoziierten ICB zu rechnen [61]. Häufig liegen bei dieser Patientengruppe zusätzliche Risikofaktoren, wie eine arterielle Hypertonie, vor. Während einer Heparin-Therapie treten ICB dagegen fast ausschließlich nach akuten Hirninfarkten auf, meist als hämorrhagische Transformation des ischämisch geschädigten Infarktareals. Bei einer Heparintherapie ohne zerebrovaskuläre Indikation ist das ICB-Risiko sehr gering [40].
Drogen Die Pathogenese von Blutungen nach Konsum sympathomimetischer Drogen ist nicht genau bekannt. Als auslösende Mechanismen werden Blutdruckspitzen durch eine Freisetzung von Katecholaminen, nekrotisierende Vaskulitiden und Vasospasmen mit anschließendem Reflowphänomen diskutiert [37]. Beschrieben wurden Blutungen u. a. nach dem Gebrauch von Cocain, Crack, Phenzyklidin und Amphetaminen [37, 41].
652
Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
50.5.3 Neuroradiologische Untersuchungen
50
Nach Sicherung der Vitalfunktionen muß auch bei gering ausgeprägter Symptomatik ohne Verzögerung eine radiologische Diagnostik erfolgen. Bei Blutungen im Stammganglienbereich in Verbindung mit einer Bluthochdruckanamnese reicht eine CT meist aus. Bei atypisch lokalisierter Blutung oder fehlender Hypertonusanamnese ist die Nativ-CT zur weiteren Differenzialdiagnose nicht ausreichend. Bei einigen Patienten, z. B. bei großer arteriovenöser Malformation, kann bereits die kontrastmittelangehobene CT die Diagnose sichern; oft wird aber eine MRT oder eine Angiographie notwendig sein, um behandelbare Blutungsursachen möglichst schnell zu diagnostizieren. ! Cave Eine sofortige Angiographie ist bei Verdacht auf zerebrale Aneurysmen indiziert. Der Verdacht ergibt sich bei Blutungen in den Vorzugslokalisationen – wie Temporallappen und Fissura Sylvii, medianer Frontallappen und Interhemisphärenspalt – sowie bei begleitender Subarachnoidalblutung.
50.5.4 Therapie Die wesentlichen therapeutischen Probleme in der Akutphase der spontanen ICB sind: 4 Nachblutungen, die sich bei fast 30% aller ICB bereits innerhalb von 4 h nach Symptombeginn ereignen und mit einer messbaren klinischen und prognostischen Verschlechterung einhergehen [57], 4 Erhöhungen des intrakraniellen Drucks akut durch Zunahme der Blutung, subakut durch Ödembildung oder Hydrozephalus bei Einbruch der ICB in das Ventrikelsystem, 4 Begleiterscheinungen und Komplikationen, wie erhöhte Blutdruck-, Temperatur- und Blutzuckerwerte, Schmerzen und Krampfanfälle u. a.). Diese Begleiterscheinungen können zu einer Exazerbation der erstgenannten Probleme führen. Die Behandlungen der Begleiterscheinungen und Komplikationen sind mit Ausnahme eines erhöhten Blutdrucks ähnlich wie bei der Ischämie.
Operative Hämatomausräumung In der STICH- (International Surgical Trial in Intracerebral Haemorrhage) Studie wurden 1033 Patienten mit akuter ICB innerhalb von 3 Tagen nach Beginn der Blutung eingeschlossen [62]. Wesentliches Einschlusskriterium war das Prinzip der »Unsicherheit« (»the clinical uncertainty principle«): Patienten mit einer ICB wurden dann eingeschlossen, wenn die verantwortlichen Ärzte nicht sicher waren, ob ein frühzeitiges operatives oder konservatives Vorgehen bei dem jeweiligen Patienten gewählt werden sollte. Die Operation erfolgte dann innerhalb von 24 h nach Randomisierung. Die Blutung musste mindestens 2 cm im Durchmesser betragen und der Glasgow Coma Score (GCS) bei Aufnahme >5 sein. Patienten mit sekundären Blutungen und Kleinhirnblutungen wurden nicht eingeschlossen. Primärer Endpunkt war ein »gutes klinisches Ergebnis« (»favourable outcome«) auf der Extended Glasgow Outcome Scale (eGOS) nach 6 Monaten.
In der STICH-Studie ergab sich kein Vorteil für die Hämatomausräumung bezüglich des klinisch-funktionellen Ergebnisses und der Mortalität. Verschiedene Post-hoc-Analysen von STICH geben Anlass zu der Vermutung, dass bestimmte Untergruppen von Blutungen von einer Operation profitieren könnten, wie oberflächennah gelegene Blutungen (<1 cm) oder lobäre Blutungen ohne Ventrikeleinbruch [63]. Im Mittel wurden Patienten innerhalb von 20‒22 h randomisiert und innerhalb von 5 h operiert. 6% (28 Patienten) der in den operativen Arm randomisierten Patienten waren außerhalb des 24-h-Zeitfensters operiert worden. Deshalb stellt sich die Frage, ob das Zeitfenster in STICH nicht zu groß gewählt wurde. Denn ‒ wie oben erwähnt ‒ ereignet sich der Großteil der Nachblutungen innerhalb von 4 h nach Symptombeginn. Auch diverse Metaanalysen konnten bisher keine Vorteile der chirurgischen, gegenüber der konservativen, Therapie nachweisen [63‒65]. Ein Grund für dieses Ergebnis ist sicher die Heterogenität der verschiedenen Studien. Aus diesen Gründen muss die Entscheidung für eine Operation individuell getroffen werden. Folgende Richtlinien sollten dabei beachtet werden: 5 Initial komatöse Patienten oder Patienten mit bilateralen Pupillenstörungen profitieren in der Regel nicht von einer Operation. 5 Bei Nachweis einer Liquorzirkulationsstörung wird eine externe Ventrikeldrainage angelegt (7 s. unten), falls die genannten Gesichtspunkte nicht gegen den Eingriff sprechen. 5 Patienten mit kleinen Blutungen ohne Bewusstseinstrübung oder Pupillenstörung haben möglicherweise auch ohne Operation eine gute Prognose. 5 Patienten mit progredienter Verschlechterung können von einer frühzeitigen Hämatomausräumung profitieren; ein gutes funktionelles Ergebnis kann dadurch aber meist nicht erzielt werden.
Nicht-operative Behandlung der spontanen ICB Bereits vor Jahren wurde versucht, mit hämostatischen Substanzen Blutungen zu stoppen oder das Risiko von Nachblutungen zu senken. Die Wirkung von Tranexamsäure und Aprotinin wurde vereinzelt bei ICB, aber hauptsächlich bei Subarachnoidalblutungen untersucht, allerdings ohne Erfolg [66‒70]. Nach Gabe von Epsilon-Aminocapronsäure (EACA) innerhalb von 12 h über 24 h bei 5 Patienten mit spontaner ICB in einer prospektiven nicht randomisierten Untersuchung fand sich bei 3 der Patienten eine Vergrößerung der ICB [71]. Einen anderen Ansatz bildet die Gabe von proagulatorischen Substanzen wie beispielsweise gefrorenes Frischplasma (»fresh frozen plasma«; FFP) oder Prothrombinkomplex (PPSB), die u. a. bei ICB verabreicht werden, die mit der Einnahme von oralen Antikoagulanzien (OAT) assoziiert sind [60]. Die Wirkung des aktivierten rekombinanten Faktors VII (rFVIIa) beruht auf einer lokal begrenzten Aktivierung des Gerinnungssystems, die an die Gegenwart des im subendothelialen Gewebes lokalisierten Gewebethromboplastins (Gewebefaktor; »tissue factor«; TF) geknüpft ist [72]. In hohen Dosen amplifiziert rFVIIa den lokal in Gang gesetzten Gerinnungsprozess in Gegenwart von aktivierten Thrombozyten [73]. Die Sicherheit
653 50.6 · Subarachnoidale Blutung
und die prinzipielle Anwendbarkeit von rFVIIa bei spontanen ICB wurde zunächst in 2 Phase-IIa-Studien untersucht und bestätigt [74, 75]. Eine Phase-IIb-Studie untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit von rFVIIa (rFVIIa: 40, 80, 160 Pg/kg KG) gegenüber Placebo bei 400 Patienten mit ICB [76]. Einschlusskriterien waren der Nachweis der Blutung im CCT innerhalb von 3 h. Zu den wesentlichen Ausschlusskriterien gehörten sekundäre Blutungen, die Einnahme von oralen Antikoagulanzien (Einnahme von Aspirin war kein Ausschlusskriterium) und akute ischämische Ereignisse (innerhalb von 30 Tagen). Primärer Endpunkt war die prozentuale Veränderung des Hämatomvolumens im Vergleich mit dem Aufnahme- und dem 24-h-CCT. Sekundäre Endpunkte bildeten das klinischfunktionelle Ergebnis und klinische und laborchemische Sicherheitsparameter (uner wünschte klinische Ereignisse, Gerinnungsparameter, Ödembildung u. a.) am Tag 90. Die klinischen Endpunkte wurden mit der modified Rankin Scale (mRS), der National Institute of Health Stroke Scale (NIHSS), dem Barthel Index (BI) und der extended Glasgow Outcome Scale (eGOS) bestimmt. Eine Zunahme der intrazerebralen Blutungen innerhalb von 24 h trat signifikant seltener nach Gabe von rFVIIa auf [Placebo: 29%, rFVIIa (40, 80 und 160 Pg/kg KG): 16%, 14%, bzw. 11%]. In absoluten Werten ausgedrückt, bedeutete dies eine Reduktion des Volumenzuwachses um 3,3 ml, 4,5 ml und 5,8 ml in der jeweiligen Dosisgruppe. Durch die Behandlung mit rFVIIa konnte die Letalität signifikant von 29% bei Placebo auf 18% (alle Verumgruppen kombiniert) gesenkt werden. Dies führte nicht dazu, dass die Rate der schwerbehinderten Patienten in der Verumgruppe anstieg. Die Rate der verstorbenen oder schwerbehinderten Patienten betrug 69% in der Placebo- und 55%, 49% und 54% in den Verumgruppe. Nicht- oder leichtbehinderte Patienten fanden sich bei 24% aller mit rFVIIa und 8% der mit Placebo behandelten Patienten. Schwerwiegende thromboembolische Ereignisse ‒ hauptsächlich Myokardinfarkte oder zerebrale Ischämien - traten bei 7% der mit rFVIIa behandelten und bei 2% der mit Placebo behandelten Patienten auf (p=0,12). Signifikant häufiger waren schwerwiegende arterielle thromboembolische Ereignisse ‒ und zwar für die höchste Dosis (160 Pg/kg KG) von rFVIIa. Gegenwärtig läuft eine Phase-III-Studie (FAST: rFVIIa in acute Hemorrhagic Stroke), in der diese Ergebnisse überprüft werden. In dieser Studie werden 2 Dosierungen von rFVIIa (20 und 80 Pg/kg KG) gegen Placebo getestet. Den primären Endpunkt bildet das funktionelle Ergebnis nach 3 Monaten. Die EUSI empfiehlt die Gabe von rFVIIa bei spontanen ICB nicht außerhalb der Phase-III-Studie und ordnet diese Empfehlung einem Evidenzlevel B zu [59].
50
Bei Überdrainage besteht das Risiko einer Nachblutung, da der Gegendruck abnimmt und eine Sogwirkung entsteht. Das System kann durch den blutigen Liquor leicht verstopfen und muss daher in kurzen Intervallen auf Durchgängigkeit überprüft werden [42]. Am ersten postoperativen Tag wird eine CT zur Beurteilung der Ventrikelweite und der Lage der Drainage durchgeführt.
Läßt der Abfluß stark blutigen Liquors nach, wird die EVD abgeklemmt und eine Messung des intrakraniellen Drucks über die Ableitung durchgeführt. Steigt der intrakranielle Druck, wird die Drainage wieder freigegeben. Bleibt der Druck bei geschlossener Ableitung im Bereich unter 20–25 cm H2O, wird nach 24 h eine CT durchgeführt. Bei normaler Ventrikelweite kann die EVD dann entfernt werden. Grundsätzlich sollte die EVD wegen des Infektionsrisikos nach 7–10 Tagen entfernt oder gewechselt werden. Bei persistierender Liquorzirkulationsstörung wird ein permanenter Shunt angelegt. Die Behandlung von Blutungen mit Ventrikeleinbruch durch intraventrikuläre Instillation von Fibrinolytika zur schnelleren Klärung des Liquorraums ist gegenwärtig noch nicht etabliert, erste Ergebnisse sind jedoch erfolgversprechend [43, 44]. Die Gabe von rFVIIa senkt ebenfalls die Wahrscheinlichkeit einer intraventrikulären Blutvolumenzunahme bei Patienten mit spontaner ICB. Dies ergab eine Post-hoc-Analyse der oben beschriebenen Studie [58]. Dies war mit einem nicht-siginifkanten Trend einer klinischen Besserung assoziiert. 50.6
Subarachnoidale Blutung
50.6.1 Klinisches Bild Die anamnestischen Angaben des »typischen« Patienten mit subarachnoidaler Blutung (SAB) bestehen in plötzlich einsetzenden, ausgeprägten (»so stark wie noch nie«) Nacken- und Hinterhauptkopfschmerzen, in der Regel verbunden mit Übelkeit und Erbrechen. Klinisch findet sich bei fast jedem Patienten eine Nackensteifigkeit. Prinzipiell können bei einer SAB neurologische Fokalsymptome wie bei jedem zerebralen Infarkt oder einer ICB (7 s. oben) auftreten. Therapeutische Konsequenzen richten sich nach der Klassifikation der Erstsymptome nach Hunt und Hess (. Tab. 50.3) [45]). Folgende Faktoren sind für die Prognose von Bedeutung [46]: 4 Grad der initialen Bewusstseinsstörung, 4 subarachnoidale Blutmenge (schlechte Prognose, wenn bei Aneurysmen im Basilarisgebiet die Blutmenge mehr als 15 cm3 beträgt), 4 Lokalisation des Aneurysmas.
Externe Ventrikeldrainage Bei Zeichen des Liquoraufstaus in der CT ist eine externe Ventrikeldrainage (EVD) indiziert. Die Drainage wird i. Allg. über ein frontales Bohrloch in den Ventrikel eingelegt. Bei Kompression des III. Ventrikels oder bei einer Monroi-Foramen-Blockade kann eine Drainage beider Seitenventrikel notwendig sein. Das Drainagesystem wird auf einer Höhe von etwa 15 cm über dem Niveau des Monroi-Foramen befestigt.
50.6.2 Diagnostik Schon der Verdacht einer SAB rechtfertigt die Durchführung einer CT. Die Wahrscheinlichkeit des Blutnachweises mittels CT liegt bei 95% am ersten Tag und sinkt auf 50% am 3. Tag. Im Liquor ist Blut bzw. eine xantochrome Verfärbung allerdings noch 2–3 Wochen nach einer SAB nachweisbar. Bei positivem Nach-
654
Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
. Tabelle 50.3. Einteilung der subarachnoidalen Blutung in klinische Stadien nach Hunt und Hess
50
Stadium
Symptome
Stadium I
4 Kopfschmerz 4 Leichter Meningismus
Stadium II
4 Schwerster Kopfschmerz 4 Deutlicher Meningismus 4 Hirnnervenparesen
Stadium III
4 Somnolenz 4 Psychische Veränderungen 4 Leichtes fokalneurologisches Defizit
Stadium IV
4 Sopor 4 Hemiparese 4 Vegetative Dysregulation
Stadium V
4 Koma
weis einer SAB muss eine digitale Subtraktionsangiographie zum Nachweis der Blutungsquelle erfolgen. In 80% der Fälle sind Aneurysmen die Ursache einer SAB. Weitere Blutungsquellen sind: 4 arteriovenöse Fehlbildungen, 4 Schädel-Hirn-Trauma, 4 Dissektionen, 4 mykotische Aneurysmen, 4 Gerinnungsstörungen, 4 Cocainmissbrauch.
gesamt gering (<2/1000) und in der endovaskulär behandelten Gruppe etwas größer [53]. Untersucht wurden als primärer Endpunkt: Tod oder Behinderung nach 1 Jahr (Werte auf der modified Rankin Scale (mRS) von 3‒6 und als sekundäre Endpunkte: Rate der Nachblutungen und epileptischer Anfälle. Die vollständigen Langzeitergebnisse dieser Studie wurden 2005 veröffentlicht [77]. Werte von 3‒6 auf der mRS betrugen 23,5% und 30,9% bei den Patienten, die endovaskulär bzw. neurochirurgisch behandelt worden waren, was einer absoluten Risikoreduktion von 7,4% entspricht. Anfälle traten seltener und Nachblutungen häufiger nach endovaskulärer Behandlung auf. Die Kritik an ISAT betrifft die unterschiedliche Vorgehensweise bezüglich der Kontrolle des postinterventionellen Befundes (keine angiographische Kontrolle bei neurochirurgisch behandelten Patienten), die neurochirurgische Expertise und die von der Literatur abweichende (niedrigere) Komplikationsrate [78]. In einer anderen Untersuchung wurden Patienten auch mit schwerer SAB (Stadien IV und V) mit Erfolg früh operiert, wenn in der CT kein irreversibler Hirnschaden vorlag, ein regelrechter Blutfluss in den intrazerebralen Gefäßen nachweisbar war und der intrakranielle Druck unter 30 mm Hg lag [48].
Vasospasmen Vasospasmen beginnen ab dem 3.–5. Tag nach einer SAB, erreichen ihr Maximum zwischen dem 5. und dem 14. Tag und bilden sich innerhalb von 3–4 Wochen zurück. Sie treten bei über 70% der Patienten auf. ! Cave Unbehandelt führen Vasospasmen in über 25% der Fälle zu zerebralen Infarkten und zum Tod.
50.6.3 Therapie
Das Auftreten von Spasmen kann mittels transkranieller Dopplersonographie (mittlere Flussgeschwindigkeit >120 cm/s) oder digitaler Subtraktionsangiographie nachgewiesen bzw. kontrol-
Die Therapie der SAB ist im Wesentlichen die Therapie der Komplikationen. Es sind dies Nachblutungen, Gefäßspasmen und Hydrozephalus, wobei diese in bestimmten Zeitintervallen gehäuft auftreten. Außerdem treten Hyponatriämie und Krampfanfälle auf.
liert werden. Der Kalziumantagonist Nimodipin bewirkt eine Relaxation der glatten Muskelzellen in zerebralen Gefäßen. Außerdem konnte eine spasmenprophylaktische Wirkung bei SAB nachgewiesen werden [49, 50]. Eine Dosierungsempfehlung ist nachfolgend aufgeführt.
Verhinderung von Nachblutungen i Nachblutungen treten in 4% der nicht-geclippten Aneurysmata innerhalb der ersten 24 h auf. Das Blutungsrisiko ist in den ersten 14 Tagen höher als in den ersten 6 Monaten. Innerhalb dieses Zeitraums bluten 50% der nicht-geclippten Aneurysmata nach.
Aus diesem Grund wird bei Patienten, die initial in den Stadien I‒III nach Hunt und Hess eingeliefert werden, bei neuroradiologischem Nachweis einer Blutungsquelle bis zum 3. Tag (bevor Vasospasmen auftreten) eine akute neurochirurgische Intervention mit Clipping des Aneurysmahalses angestrebt. Unzugängliche Aneurysmata oder solche, die aufgrund ihrer Beschaffenheit inoperabel sind, können intravasal mittels »coils« verschlossen werden [47]. Die ISAT- (International Subarachnoid Aneurysm Trial) Studie verglich bei 2143 Patienten mit rupturiertem Aneurysma die Effektivität des Verschlusses durch »coils« (n=1070) oder »clips« (n=1073). Der Anteil der Patienten, die 1 Jahr ohne Behinderung überlebten, war nach endovaskulärer Behandlung signifikant größer. Die Nachblutungsrate war ins-
Dosierungsschema für Nimodipin zur Spasmenprophylaxe und zur Therapie bei subarachnoidaler Blutung ab Aufnahmetag über 2–3 Wochen 5 Bei analgosedierten bzw. bewusstseinsgestörten Patienten unter Beobachtung des Blutdrucks langsame Steigerung – 1–6 h: 1 mg/h i.v. (wegen Thrombophlebitisgefahr über zentralvenösen Katheter) – 7–12 h: 1,5 mg/h i.v. – ab 12 h: 2 mg/h (Erhaltungsdosis) 5 Bei wachen Patienten – 4-mal 2 Tbl. à 30 mg 5 Nebenwirkungen – arterielle Hypotonie – Kopfschmerzen – akuter Ileus – pulmonaler Rechts-links-Shunt – Erhöhung der Leberenzymwerte
655 Literatur
i Die Anwendung von Nimodipin führt bei einer nicht unwesentlichen Zahl der Patienten zu einer Blutdrucksenkung, die so ausgeprägt sein kann, dass die Therapie abgebrochen werden muss, wenn der systolische Blutdruck nicht dauerhaft über 140 mm Hg gehalten werden kann.
Durch Spasmen kann der zerebrale Perfusionsdruck so stark absinken, dass es zu ischämischen Infarkten kommt. In dieser Situation muss eine Verbesserung des zerebralen Blutflusses und der Oxygenierung angestrebt werden, was durch eine Anhebung des zerebralen Perfusionsdrucks und ein Absenken der Viskosität bzw. durch die sog. Triple-H-Therapie (Hypervolämie, Hypertension, Hämodilution) erreicht werden kann. Ein Therapie- bzw. Dosierungsschema ist nachfolgend aufgeführt, wobei berücksichtigt ist, ob ein Aneurysma bereits geclippt wurde. Es wird angenommen, dass bei der Entwicklung von Vasopasmen nach SAB die Inbalance zwischen Stickstoffmonoxid (NO) und Endothelin (ET)-1 eine wesentliche Rolle spielt. Endothelin1 bildet dabei die gefäßverengende Komponente. Im Tierexperiment konnte gezeigt werden, dass der ET-1-Rezeptor-Antagonist Clazosentan zu einer Gefäßrelaxation führt [79]. In einer Phase-IIa-Studie erhielten 32 Patienten mit SAB nach Operation des Aneurysmas entweder Clazosentan (0,2 mg/ kg KG/h) oder Placebo. 19 weitere Patienten mit Vasospasmen wurden in einer Open-label-Studie mit Clazosentan (0,4 mg/ kg KG/h über 12 gefolgt von 0,2 mg/kg KG/h) behandelt [80]. Die Rate der angiopgraphisch nachgewiesenen Vasospasmen betrug 40% und 80% (p=0,008) bei mit Clazosentan behandelten bzw. Placebo-Patienten. Bei Patienten, die Clazosentan zur Behandlung bereits bestehender Vasospasmen erhalten hatten, fand sich eine Reduktion der Gefäspasmen bei 50%. Bei Patienten, die Verum erhalten hatten, traten weniger zerebrale Ischämien auf. Gegenwärtig wird die Wirkung von Clazosentan in einer größeren klinischen Studie untersucht. Triple-H-Therapie 5 Indikation: Auftreten neurologischer Fokalsymptome bzw. Bewusstseinsverschlechterung bei erfolgloser Vasospasmusbehandlung mit Nimodipin oder wenn Kontraindikationen für die Behandlung bestehen 5 Ziel: Anheben des systolischen Blutdrucks bis zum Verschwinden neurologischer Symptome bis zu – systolische Blutdruckwerte von 240 mm Hg bei geclipptem und bis 160 mm Hg bei ungeclipptem Aneurysma – zentralem Venendruck von 8–12 mm Hg – Wedge-Druck von 12–14 mm Hg, falls die Anlage eines Swan-Ganz-Katheters notwendig wird 5 Medikamente (die Therapie erfordert ein Dauermonitoring der Herz-Kreislauf-Parameter) – HAES 10%: 500–1000 ml/Tag – Elektrolytlösungen: 3–12 I/Tag – Katecholamine: Dobutamin, Noradrenalin 5 Risiken – Lungenödem – Pneumothorax – Hämatothorax – Herzinsuffizienz – Herzinfarkt 6
50
– Elektrolytentgleisung – Aneurysmaruptur – Hirnödem
Liquorzirkulationsstörung und Hydrozephalus Ein Hydrozephalus entwickelt sich entweder durch Verlegung der inneren Abflusswege (Okklusivhydrozephalus) oder der Paccioni-Granulationen (Hydrocephalus aresorptivus). Dies geschieht akut oder in den ersten Tagen. Wird ein Hydrozephalus von einer Vigilanzstörung begleitet, besteht die Indikation zur Anlage einer EVD (7 s. oben). > Fazit Durch intensivmedizinische Therapieverfahren konnten Prognose und Outcome schwerer Schlaganfälle in den vergangenen Jahren deutlich verbessert werden. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass der noch vor Jahren herrschende Fatalismus gegenüber der Schlaganfallbehandlung heute nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn die Patienten nach den richtigen Kriterien selektioniert und differenziert behandelt werden. Dies gilt sowohl für ischämische Infarkte als auch für intrazerebrale Blutungen. Der entscheidende prognostische Faktor ist die Zeit bis zur Behandlung.
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Kapitel 50 · Zerebrovaskuläre Notfälle
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51 Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus H. Stefan, F. Reinhardt
51.1
Zerebrale Krampfanfälle
51.1.1 51.1.2 51.1.3 51.1.4
Ursachen –660 Diagnose –660 Notfallversorgung –660 Medikamentöse Behandlung –661
51.2
Status epilepticus
51.2.1 51.2.2 51.2.3 51.2.4 51.2.5
Epidemiologie –663 Pathogenese –663 Differenzialdiagnose –663 Zusatzuntersuchungen –663 Therapie –663
Literatur
–664
–663
–660
660
Kapitel 51 · Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus
51.1
Zerebrale Krampfanfälle
51.1.1 Ursachen
51
Epileptische Anfälle können sowohl als Erstmanifestation einer akut auftretenden Hirnerkrankung (z. B. Enzephalitis, Venenthrombose, ischämischer Hirninfarkt, Tumor, Trauma etc.), als Gelegenheitsanfall (bei Hypoglykämie, Fieber, Alkoholentzug, Medikamenteneinnahme etc.) oder im Verlauf einer chronischen Epilepsie bei bekannter (symptomatisch) oder unbekannter Ursache (kryptogen) auftreten. Pathophysiologisch liegen Erregungsoder Enthemmungsphänomene von Nervenzellen zugrunde, deren Ursache individuell geklärt werden muss. 51.1.2 Diagnose Bei epileptischen Anfällen wird zwischen fokalen Anfällen, bei denen der Ausgangspunkt der Erregung in einer Hirnhemisphäre zu lokalisieren ist, und generalisierten Anfällen (Erregungen in beiden Hemisphären) unterschieden. Je nach Entstehungsort der Erregungsbildung werden unterschiedliche Anfallstypen differenziert. Sie werden nach der internationalen Klassifikation in fokale (partielle) Anfälle ohne Bewusstseinsstörung (einfach fokal) oder mit Bewusstseinsstörung (komplex fokal) eingeteilt. Generalisierte Anfälle können sekundär generalisiert (also aus einem fokalen Anfall hervorgehend) oder primär generalisiert sein (bei initialer Erregung beider Hemisphären).
durch große Kopfkissen möglich. In der Regel bleibt ein isoliert auftretender Grand-mal-Anfall bei sachgerechter Lagerung ohne Komplikationen. Die Basismaßnahmen bei der Notfallbehandlung eines tonisch-klonischen Grand-mal-Anfalls sind in der folgenden Übersicht dargestellt. Basismaßnahmen bei der Notfallbehandlung eines tonisch-klonischen Grand-mal-Anfalls 5 Lagerung: – Stabile Seitenlage (in der Regel erst postiktal möglich), Verletzungsgefahr ausschalten. 5 Sicherung der Vitalfunktionen – Zunächst keine Intubation oder Relaxation. 5 Erhebung der Fremdanamnese: – Frühere epileptische Anfälle. – Andere Vorerkrankungen: Trauma, Kopfschmerz, Fieber, Alkohol, Medikamente, Drogen, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. 5 Untersuchung: – Reaktion auf Anruf, Hirnnerven, Meningismus, Paresen, Blutzucker, Puls, Temperatur. 5 Anfallskontrolle: – Ist die Anfallstätigkeit kontrolliert, liegen Hinweise für eine Anfallsserie bzw. einen Status vor?
Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall
Lagerung
Die stärkste Ausprägung eines epileptischen Anfalls wird als tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall bezeichnet. Hier kommt es nach einer initialen tonischen Anspannung der Muskulatur zu einer zweiten klonischen Phase mit rhythmischen Zuckungen, die sich im Verlauf des Anfalls verlangsamen und schließlich abebben. Hierbei verliert der Patient das Bewusstsein. Es kommt ferner zu einer Pupillenerweiterung, Tachykardie, Blutdruckanstieg und kurzfristiger Apnoe. Ein unkomplizierter tonischklonischer Anfall ist in der Regel in 2 min abgeklungen. Hieran kann sich infolge eines Erschöpfungszustands des Gehirns eine postiktale Phase mit Umdämmerung oder Terminalschlaf anschließen, die vom eigentlichen Anfallsgeschehen abzugrenzen ist. Sie kann mehrere Minuten oder gelegentlich sogar bis zu einer halben Stunde andauern.
Bei der Lagerung des Patienten ist v. a. darauf zu achten, dass die Luftwege freigehalten werden (stabile Seitenlage falls möglich, Öffnen des Hemdkragens, Entfernung von Prothesen, u. U. Einführen eines Guedel-Tubus etc.). Der Patient muss so gelagert werden, dass er sich nicht an scharfen oder heißen Gegenständen oder gar an laufenden Maschinen verletzen kann.
51.1.3 Notfallversorgung Wesentlich bei der Erstversorgung eines epileptischen Anfalls ist, das Ausmaß der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen in der Kürze der verfügbaren Zeit festzulegen, d. h. Hyperaktivismus zu vermeiden, jedoch mögliche Komplikationen frühzeitig abzuwenden. Komplikationen eines tonisch-klonischen Grand-mal-Anfalls können durch den Anfall selbst oder durch die Entwicklung eines Status epilepticus entstehen. Im tonisch-klonischen Grand-mal-Anfall sind Verletzungen durch den Sturz (SchädelHirn-Trauma, Fraktur, Zahnverlust) oder durch motorische Entäusserung (Schlagen gegen scharfe Kanten) möglich. Ersticken ist z. B. bei Aspiration oder Auftreten eines Anfalls im Schlaf
Sicherung der Atemwege Mit Beginn der tonischen Krampfphase ist der Versuch, einen Beißkeil zwischen die Zähne des Patienten zu schieben, zwecklos. Intubation und Relaxation sind beim unkomplizierten Grand-mal-Anfall in der Regel nicht erforderlich. Eine Intubation kann dann notwendig werden, wenn der Patient nach Ende des Krampfanfalls nicht erwacht und Vitalfunktionen (Atmung, Kreislauf) bedroht bzw. Schutzreflexe (Korneal-, Würgereflex) erloschen sind. Weitere Kriterien können die pulsoxymetrisch ermittelte O2-Sättigung (psO2 <85%) oder die Glasgow Coma Scale (<7) darstellen.
Anamnese am Notfallort Falls Angehörige zugegen sind, wird sofort mit der Erhebung der Fremdanamnese begonnen. Hierbei sollte nach weiteren internistischen oder neurologischen Vorerkrankungen, wie z. B. Diabetes mellitus, Hypoglykämieneigung, Trauma, Infekt, Schlafmangel, Alkoholabusus, Medikamenteneinnahme, Drogen, gefragt werden. Wird der Patient allein aufgefunden und besteht keine Möglichkeit der Fremdanamnese, sind besondere Vorsichtsmaßnahmen zweckmäßig. Hierzu gehört auch die Asservierung von Tablettenresten oder Erbrochenem. Falls der Patient bei Eintref-
661 51.1 · Zerebrale Krampfanfälle
fen des Notarztes noch Konvulsionen aufweist, ist in der Regel auch bei unbekanntem Anfallsbeginn von einem prolongierten Grand-mal-Anfall auszugehen.
5 der Versuch, einen Beißkeil während des Anfalls einzuführen 5 auf Brustkorb oder Extremitäten des Patienten knien
Notfallausweis Der Dokumentation von Anfallsleiden, gerade auch für Notfallsituationen, dient ein seit kurzem erhältlicher Epilepsieausweis, der dem professionellen Erstversorger wichtige anamnestische Informationen liefern soll. Der Erstversorgende sollte stets beim Patienten nach dem Notfallausweis suchen, der entweder in einem Brustbeutel, in einer Jacken- oder Hosentasche getragen wird. Darin sind u. a. auch die aktuelle antiepileptische Medikation sowie eine Telefonnummer des behandelnden Arztes vermerkt (. Abb. 51.1). Unnötige, sinnlose oder sogar gefährliche Maßnahmen bei einem unkomplizierten, einmalig auftretenden epileptischen tonisch-klonischen Anfall 5 Intubation und künstliche Beatmung 6
51
51.1.4 Medikamentöse Behandlung Dauert ein tonisch-klonischer Anfall (ohne die postiktale Erschöpfungsphase) länger als 5 min an oder folgt ein 2. Anfall, dann kann ein Benzodiazepin langsam, d. h. innerhalb von 5–10 min, i. v. injiziert werden. Falls die intravenöse Injektion unmöglich erscheint, ist die intramuskuläre Injektion (oder buccale Applikation) von Midazolam oder eine rektale Zufuhr von Diazepam (als Rektiole) angezeigt. Eine Benzodiazepingabe ist auch bei Risikopatienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Neigung zum Status epilepticus sinnvoll (. Tab. 51.1). Bei einem isoliert aufgetretenen tonisch-klonischen Grandmal-Anfall und bei bekannter medikamentös behandelter Epilepsie ist häufig nur eine ambulante Neueinstellung mit Serumspie-
. Tabelle 51.1. Charakteristika von Benzodiazepinen für die Notfallbehandlung bei Grand-mal-Anfall. (Nach H. Strauss, Klinik für Anästhesiologie der Universität Erlangen-Nürnberg) »Generic name« (INN) Clonazepam
Diazepam
Midazolam
Lorazepam
Handelspräparate (Ampp.)
Rivotril
Valium
Dormicum
Tavor
Dosis/Nebenwirkungsabstand (Risiko Atemdepression)
Breit
Relativ breit
Relativ eng
Relativ breit
Initialdosis (i.v.)
12 μg/kg KG
125 μg/kg KG
60 μg/kg KG
50 μg/kg KG
Repetitionsdosis (i.v.)
5 μg/kg KG
50 μg/kg KG
15 μg/kg KG
50 μg/kg KG
Initialdosis für sonst gesunde Patienten (75 kg KG)
1 mg
10 mg
5 mg
4 mg
Repititionsdosis für sonst gesunde Patienten (75 kg KG)*
0,5 mg
5 mg
1,25 mg
4 mg (maximal 8 mg)
Beatmungsbereitschaft nötig ab… (Patient 75 kg KG)*
3 mg
20 mg
7,5 mg
4 mg
Zufuhr (Notfalltherapie)
i.v.
i.v., rektal (Rektiole), i.m.
i.v., rektal (Amp.)**, i.m.
i.v.
Halbwertszeit (i.v.)
18–50 h
24–48 h (Metaboliten 50–80 h)
1–3 h
12–18 h
Lokale Verträglichkeit
Gut
Je nach Galenik: gut bis schlecht***
Gut
Relativ gut
Nebenwirkungen
Bronchialsekretion
Atemdepression, Hypotonie
Atemdepression, Hypotonie
Atemdepression, Hypotonie****
* Bei älteren Patienten (>50 Jahre) sowie bei schwerkranken Patienten mit vorbestehender geringer Atemreserve oder respiratorischen und/ oder zirkulatorischen Störungen ist mit einer verstärkten Wirkung zu rechnen. Bei diesen Patienten sollte die Initialdosis halbiert und wirkungsangepasst weiter titriert werden. ** Dosis 0,5 mg/kg KG (maximal 15 mg) mit NaCl 0,9% auf das Doppelte verdünnt als Mikroklistier (besonders bei Kindern!). *** Mizellare Lösungen (Lipide/Mischmizellen) gut, Lösungen mit Lösungsvermittler schlechter verträglich (i.v. und i.m.). **** Lagerung lichtgeschützt und zwischen +4 und +8°C erforderlich.
662
Kapitel 51 · Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus
51
. Abb. 51.1. Auszug aus dem interantionalen dreisprachigen (deutsch, englisch, französisch) Notfallausweis (eine SOS-Kapsel am Hals oder um den Arm kann auf einen Notfallausweisbesitzer hinweisen)
663 51.2 · Status epilepticus
gelkontrollen der Antikonvulsiva erforderlich, bei erstmaligem Auftreten eines tonisch-klonischen Anfalls hingegen eine neurologische Untersuchung mit EEG, zerebraler Computertomographie und Labordiagnostik. Hierbei muss festgestellt werden, ob die Anfallsaktivität kontrolliert ist oder ob Hinweise für eine Anfallsserie vorliegen. 51.2
Status epilepticus
> Definition Ein Status epilepticus liegt vor, wenn entweder ein Anfallsgeschehen kontinuierlich über 5–20 min abläuft oder eine Serie von Anfällen auftritt, bei denen der Patient das Bewusstsein zwischen den Anfällen nicht wiedererlangt.
51
Gelegentlich wird ein psychogener Status verkannt. Beim psychogenen Status werden häufig tonische motorische Phänomene imitiert. Eine seltene Differenzialdiagnose betrifft den Status narcolepticus. 51.2.4 Zusatzuntersuchungen Neben dem Ausschluss oder der Erfassung einer primär bedrohlichen, akut aufgetretenen Hirnerkrankung durch CT oder MRT kommt der Sicherung der Diagnose durch EEG oder Video-EEG eine wesentliche Bedeutung zu. Kann die Ursache mit diesen Methoden nicht geklärt werden, muss eine Liquoruntersuchung erfolgen. 51.2.5 Therapie
Als Status können tonisch-klonische Anfälle, aber auch alle anderen Anfallstypen auftreten. 51.2.1 Epidemiologie Anfälle sind eine der häufigsten Notfallsituationen in der neurologischen Intensivmedizin. Jährlich sind ca. 24 von 10.000 Menschen betroffen. Die Letalität des Status epilepticus beträgt bei Erwachsenen ca. 25%, kann aber durch rasche intensivmedizinische Versorgung gesenkt werden. 51.2.2 Pathogenese Besonders häufige Ursachen eines Status epilepticus sind Alkoholentzug, Entzug von Antikonvulsiva oder andere Auslöser, wie z. B. bestimmte Medikamente (Einnahme von zentralnervös stimulierenden Substanzen, z. B. Drogen). Andere wichtige Ursachen sind Infektionen und Durchblutungsstörungen des zentralen Nervensystems. Bei bereits hospitalisierten Patienten stellt der hypoxische Hirnschaden durch Herz-Kreislauf- oder Atemstillstand eine wichtige Ursache dar. Beim Versagen inhibitorischer Bremsmechanismen, die gewöhnlich einen Anfall beenden, kommt es zu einer exzessiven Aktivierung exzitatorischer Aminosäuren und zu einem Kalziumeinstrom in die Zellen mit möglicher Zellschädigung. Die energetischen Anforderungen an den Hirnmetabolismus werden um 200–300 % gesteigert. Diese Anforderungen können initial durch eine erhöhte zerebrale Durchblutung und Hypertension ausgeglichen werden. Nach 20–60 min wird die Substratlieferung allerdings inadäquat, und es können neuronale Folgeschäden sowie eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks entstehen. Hierbei kann neben dem vermehrten intrakraniellen Blutvolumen auch ein vasogenes Ödem auftreten; weitere Folgen können eine respiratorische Azidose und Hypoxämie sein. 51.2.3 Differenzialdiagnose
Mit der Behandlung wird schon am Notfallort begonnen; danach ist eine unverzügliche Überwisung auf eine Intensivstation erforderlich (. Tab. 51.2). i Ein Status epilepticus sollte spätestens nach 1 h unterbrochen sein. Bei längerer Dauer ist das Risiko eines neurologischen Defizits erhöht.
Benzodiazepine Bei beginnendem Status epilepticus sollte ein sicherer intravenöser Zugang geschaffen werden. Die Behandlung beginnt mit intravenöser Benzodiazepingabe. Während früher Diazepam oder Clonazepam bevorzugt wurden, wird in letzter Zeit auch vermehrt Lorazepam (0,05–0,2 mg/kg KG) verabreicht. Di Injektionsrate von Lorazepam kann 2 mg/min betragen, als Maximaldosis werden beim Er wachsenen 8 mg angegeben (. Tab. 51.1). Die Maximaldosis für Clonazepam beträgt 16–20 mg/Tag. Die Clonazepamtherapie beginnt mit einem Bolus von 2 mg, danach folgt eine kontinuierliche Infusion von 10 mg in 24 h. Die Benzodiazepintherapie kann bereits am Notfallort eingeleitet werden (Cave: Atemdepression!). Auf der Intensivstation hat sich Midazolam bewährt. Die für die Statustherapie letztlich erforderlichen hohen Dosen müssen unter kontrollierter Beatmung verabreicht werden.
Phenytoin Falls die Benzodiazepintherapie nicht ausreicht, sollte nach 20 min eine intravenöse Phenytointherapie mit 10 mg/kg KG über 30 min begonnen werden. Falls erforderlich, kann die Dosis von 10 mg/kg KG nach 1 h unter EKG-Kontrolle wiederholt werden. Die vom Hersteller angegebene Tagesmaximaldosis beträgt 1500 mg. Phenytoin hat den Nachteil möglicher schwerwiegender Weichteilreaktionen, die durch paravenöse Injektion auftreten können. Wegen des typischen Erscheinungsbildes mit livider Verfärbung des Gewebes wurde auch vom »Purple-glove-Syndrom« [2] gesprochen.
Valproinsäure, Barbiturate, Propofol Ein Status epilepticus muss von Erkrankungen unterschieden werden, die eine Dezerebrierungsstarre hervorrufen. Ein generalisierter Tetanus kann der tonischen Phase eines Anfalls ähneln.
Falls auch Phenytoin keine ausreichende Wirkung zeigt, erfolgt eine Behandlung mit Valproinsäure, Phenobarbital (5–10 mg/ kg KG) bzw. Thiopental oder Propofol.
664
Kapitel 51 · Zerebrale Krämpfe und Status epilepticus
. Tabelle 51.2. Stufenschema zur Status-epilepticus-Therapie. (Nach [1]) 1. Wahl
Alternativen
Lorazepam (0,05–0,2 mg/kg KG) zu 2 mg/min (maximal 8 mg); Clonazepam 1–2 mg i.v. (5–10 min), dann Infusion von 10 mg/24 h (in 30 ml Glukose 5 %, 1 h 20 ml/h, dann 5 ml/h)
falls i.v.-Injektion nicht möglich: Midazolam i. m. oder Diazepam durch Rektaltube
Phenytoinaufsättigung 10 mg/kg KG in 30 min, und eine 2. Dosierung 10 mg/kg KG, falls nötig, nach 1 h, oder Valproat i.v. 15–20 mg/kg danach 2500 mg/24 h (in 5 min. i.v.)
Phenytoinaufsättigung auf 20 mg/kg KG, maximal 50 mg/min oder Phosphenytoin
Midazolam 0,2 mg/kg KG zur Aufsättigung, dann Infusion 0,1–0,4 mg/kg KG/h oder Propofol 1–2 mg/kg KG i.v., dann 2–10 mg/kg KG/h
oder Phenobarbital (5–10 mg/kg KG) oder Lidocain (2–3 mg/kg KG) oder Thiopental (als Bolus 200 mg langsam i.v., danach 200–1000 mg/h) unter EEG-Kontrolle (Burst-suppression-Muster)
Lidocain oder Isofluran- oder Halothaninhalation
Thiopentalinfusion unter EEG-Kontrolle
Stufe I:
51
Beginn der Behandlung
Stufe II: falls Benzodiazepine versagen
Stufe III: falls Phenytoin oder Valproat versagt
Stufe IV: falls I–III versagen
Weitere Behandlungsmöglichkeiten bestehen in der Verabreichung von Paraldehyd oder Lidocain sowie Isofluraninhalation. Bei Alkoholentzug wird Clomethiazol bevorzugt. Im Fall einer Barbituratnarkose wird klinisch Anfallsfreiheit und im EEG ein Burst-suppression-Muster angestrebt.
Besonderheiten Komplikationen wie ein Hirnödem können mit Mannit und eine Hyperthermie mit Kühlung behandelt werden. Bei Patienten, die mit Valproat eingestellt waren, kann diese Therapie parenteral fortgeführt werden. Letztere ist auch bei bisher schwer therapierbaren posthypoxischen Myoklonien hilfreich. Das therapeutische Vorgehen bei einem Grand-mal-Status ist in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Praktisches Vorgehen bei einem Grand-mal-Status 5 Ambulanz – Lagerung, Sicherung der Vitalfunktionen, Kurzbefund (Bewusstseinslage, Meningismus, Pupillen, N. facialis, Reflexe, Motorik, Blutzucker) – Lorazepam i.v. bis 2 mg oder Clonazepam i.v. 1–2 mg 5 Station – Allgemein-körperliche und neurologische Untersuchung – Überwachung: Respiratorische Insuffizienz, Hypoglykämie, Hypotension, Hypertension, Fieber? – Phenytoin- oder Valporat-Schnellinfusion + Lorazepam bis 8 mg/h – Labor 6
5 Intensivstation – Falls nach 1 h kein Effekt oder respiratorische Insuffizienz, Hypertension bzw. Hypotension: – Intubation und Beatmung – Clonazepam bis 12 mg oder Midazolam i.v. – Phenytoin oder Valproat weiterführen – Falls nach 1 h kein Effekt: . Tab. 51.2
Literatur 1. Bleck TP, Stefan H (1994) Status epilepticus in neurocritical care. In: Hacke W (ed) Neurocritical care. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, pp 761–769 2. Cadenbach AK, Röttger M, Müller MK (1998) Purple-Glove-Syndrom. Dtsch Med Wochenschr 123: 318–322 3. Giroud M, Gras T (1993) Use of injectible Valproat in status epilepticus. Drug Invest 5: 154–159 4. Stefan H (1999) Epilepsien: Diagnose und Behandlung. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart
52 Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten T. Loew, V. Köllner, A. Deister
52.1
Psychopathologische Syndrome auf derIntensivstation
52.2
Akute organische Psychosyndrome (insbesondere »Durchgangssyndrome«) –666
52.3
Erregungszustände, Autoaggression und tätliche Aggressivität
52.4
Schlafstörungen
52.5
Entzugssyndrome
52.6
Depressive Störungen
52.7
Suizidalität
52.8
Angststörungen
52.9
Posttraumatische Belastungsstörung
52.10
Einsatz von Psychopharmaka auf der Intensivstation
52.10.1 52.10.2
Substanzgruppen –673 Behandlungsstrategien mit Psychopharmaka –674
Literatur
–666
–667 –668 –669
–670
–675
–670 –672 –672
–667
52
666
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
52.1
Psychopathologische Syndrome auf der Intensivstation
Psychische Störungen sind eine häufige Komorbidität bei Patienten auf der Intensivstation. Dabei sind folgende Zusammenhänge möglich [8]: 4 Die psychische Erkrankung hat zur Aufnahme auf der Intensivstation geführt (Suizidversuch, Intoxikation im Verlauf einer Abhängigkeitserkrankung). 4 Die psychische Störung tritt als Folge der Intensivstationsbehandlung auf (depressive Reaktion infolge Reizdeprivation bei Langzeitbeatmung, Schlafstörung, Durchgangssyndrom). 4 Die psychische Störung ist Folge der Grunderkrankung, die zum Aufenthalt in der Intensivstation geführt hat (z. B. hirnorganisches Psychosyndrom bei Leberzirrhose). 4 Die psychische Störung besteht unabhängig von der Grunderkrankung, die zum Aufenthalt in der Intensivstation geführt hat. Hierbei ist zu beachten, dass anamnestisch bekannte psychische Störungen auf der Intensivstation nicht unbedingt in Erscheinung treten müssen. Nicht selten führt die reale Bedrohung zu einer besseren Realitätsanpassung der Patienten (z. B. Angststörung). Andererseits kann eine bisher kompensierte psychiatrische Erkrankung durch die Stresssituation auf der Intensivstation erstmals manifest werden (z. B. Alzheimer-Demenz). 4 Schließlich kann eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Depression auch als Komplikation im Langzeitverlauf nach Behandlung auf der Intensivstation auftreten. Während in 7 Kap. 3 psychische Belastungsfaktoren für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter der Intensivstation sowie Möglichkeiten zu deren Prävention allgemein dargestellt wurden, ist es Ziel dieses Kapitels, einen Überblick über Diagnostik und Therapie der wichtigsten psychischen Krankheitsbilder und Syndrome bei Intensivstationspatienten zu geben. Da die medikamentöse Therapie bei unterschiedlichen Krankheitsbildern ähnlich sein kann, ist diese am Ende des Kapitels zusammenfassend dargestellt. Grundzüge des psychotherapeutischen Vorgehens und der Gesprächsführung sind in 7 Kap. 3 dargestellt. Die störungsspezifische Psychotherapie wird in der Regel erst nach der Verlegung von der Intensivstation durchgeführt werden können. 52.2
Akute organische Psychosyndrome (insbesondere »Durchgangssyndrome«)
Akute, hirnorganisch bedingte Psychosyndrome unterschiedlicher Ätiologie, Ausprägung, Symptomatologie und Dauer sind auf Intensivstationen häufig anzutreffen. Sie beeinträchtigen das Befinden der Patienten in der Regel sehr deutlich, stellen ein relevantes Problem im Umgang mit den Patienten dar und sind therapeutisch oft schwierig anzugehen und komplikationsreich. Insbesondere das beginnende organische Psychosyndrom kann diagnostisch schwer abzugrenzen sein. Akute organische Psychosen beruhen auf einer organischen Veränderung des zentralen Nervensystems. Sie sind in der Regel charakterisiert durch einen akuten Beginn und fluktuierende Störungen im Bereich der geistigen Fähigkeiten, der Psychomotorik, der Affektivität und evtl. der Bewusstseinslage. Sie sind ge-
wöhnlich vorübergehend und reversibel, wenn die Ursache nicht mehr besteht [12]. Klassifikation. Akute organische Psychosyndrome werden unterschiedlich klassifiziert. In der deutschsprachigen Psychopathologie wurde lange Zeit von »Durchgangssyndromen« gesprochen. Dieser Begriff wird auch heute noch für akute organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsstörung verwendet. i Es muss grundsätzlich auch dann an ein Durchgangssyndrom gedacht werden, wenn die Symptomatik erst mit einer Latenzzeit beginnt, wenn ein fluktuierender Verlauf der Symptome zu beobachten ist und wenn die Störung über einen längeren Zeitraum anhält.
Im aktuellen Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation [17, 25] werden Psychosyndrome unterschieden 4 nach dem Verlauf (akute vs. chronische Psychosyndrome), 4 nach dem Vorhandensein von Bewusstseinsveränderungen, 4 nach der im Vordergrund stehenden psychopathologischen Symptomatik (z. B. organisch-amnestisches Syndrom). Einen Überblick über die unterschiedlichen Klassifikationen mit den jeweiligen Leitsymptomen gibt . Tabelle 52.1. Ätiopathogenese. Die Ätiopathogenese akuter organischer Psychosyndrome ist in der Regel multifaktoriell. Es handelt sich meist um eine Kombination individueller biologischer, psychologischer und situationsabhängiger Faktoren. Besonders anfällig für die Entwicklung eines organischen Psychosyndroms sind Menschen, die bereits eine zerebrale Vorschädigung aufweisen. Dazu gehören insbesondere Patienten mit vorangegangenen Verletzungen des Gehirns sowie Patienten mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. Patienten mit einer früheren Episode eines akuten organischen Psychosyndroms (z. B. nach einer Operation) sind gefährdet, unter den gleichen Bedingungen erneut ein solches Syndrom zu entwickeln. Besonders häufig treten Durchgangssyndrome im Anschluss an operative Eingriffe auf. Mögliche Ursachen bestehen in allgemeinen körperlichen Faktoren (z. B. Flüssigkeitsverlust, Elektrolytschwankungen, Infektionen und Fieber), pharmakologischen Einflüssen (z. B. Schmerzmittel oder Psychopharmaka) sowie situativen Aspekten (z. B. Schlaflosigkeit, postoperative Schmerzen, unspezifische Stressfaktoren). Als ursächlicher Faktor häufig übersehen wird der Einfluss von Medikamenten bzw. deren Wechselwirkungen. Patienten, die psychotrope Substanzen erhalten haben (insbesondere trizyklische Antidepressiva), können aufgrund einer evtl. vorhandenen anticholinergen Wirkung ein akutes organisches Psychosyndrom entwickeln. Auch Medikamente ohne primäre psychotrope Wirkung (u. a. E-Rezeptorenblocker, Diuretika, Kortison, H2-Blocker, Antiarrhythmika und Gyrasehemmer) können das Risiko für postoperative organische Psychosyndrome erhöhen [12]. Symptomatik. Die Symptomatologie der akuten organischen Psychosyndrome ist sehr vielgestaltig und abhängig vom jeweiligen Krankheitsstadium. Von besonderer klinischer Bedeutung ist das Erkennen von Frühsymptomen. Diese sind in der Regel unspezifisch und können leicht verkannt werden. Die wesentli-
667 52.4 · Schlafstörungen
. Tabelle 52.1. Klassifikation organischer Psychosyndrome und deren Leitsymptome Typ des organischen Psychosyndroms
Leitsymptome
Chronisches hirnorganisches Psychosyndrom (demenzielles Syndrom, z. B. Alzheimer-Erkrankung). Bei hirnorganischer Symptomatik muss immer auch an eine vorbestehende Demenz gedacht werden!
4 4 4 4
Delirantes Syndrom
4 Akuter Beginn 4 Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit 4 Störung der Kognition 4 Wahrnehmungsstörung 4 Zeitliche Desorientiertheit, Desorientiertheit zu Ort und Person 4 Störungen des Schlaf-WachRhythmus
Schleichender Beginn Gedächtnisstörungen Störungen der Urteilsfähigkeit Beeinträchtigung des abstrakten Denkens 4 Beeinträchtigung höherer kortikaler Funktionen (Aphasie, Apraxie, Agnosie) 4 Persönlichkeitsveränderungen
Akutes organisches amnestisches Syndrom
4 Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses 4 Antero- und retrograde Amnesie
Organische Halluzinose
4 Halluzinationen auf unterschiedlichen Sinnesgebieten 4 Keine auffällige Störung der Stimmung
Organische wahnhafte Störung
4 Paranoide Symptome (z. B. Ver folgungswahn, hypochondrischer Wahn, Eifersuchtswahn)
Organische affektive Störung
4 Depressive Symptomatik 4 Affektlabilität
Organische Angststörung
4 Angstsymptomatik
chen Frühsymptome sind anhaltende Unruhe, Angst, Schreckhaftigkeit, Überempfindlichkeit für Licht oder Geräusche sowie Schlaflosigkeit. Auch das Auftreten einer depressiven Verstimmung kann auf ein beginnendes organisches Psychosyndrom hindeuten. Das Vollbild der organischen Psychosyndrome ohne Bewusstseinstrübung ist in der Regel durch folgende Symptome gekennzeichnet [25]: 4 zeitliche und örtliche Orientierungsstörung, 4 Störungen der Wahrnehmung (illusionäre Verkennungen oder halluzinatorische Erlebnisse), 4 kognitive Störungen, insbesondere Störungen der Aufmerksamkeit und der Auffassung, 4 affektive Veränderungen (insbesondere depressive Verstimmung und Angst),
52
4 psychomotorische Symptome (ungerichtete Antriebssteigerung oder Antriebsminderung), 4 evtl. Suizidalität, 4 Symptome der autonomen Dysregulation. Zu einem Durchgangssyndrom können jederzeit die verschiedenen Formen der Bewusstseinsstörung hinzutreten. Diese Bewusstseinsstörung ist das Leitsymptom der stärkeren Ausprägungsgrade akuter organischer Psychosen. Organische Psychosyndrome können nicht zuletzt für die Angehörigen sehr traumatisierend sein. Nicht selten werden Äußerungen, die der Patient in bewusstseinsgetrübtem Zustand macht, ernst genommen und können zu tiefen Verletzungen führen. Die Folgen sind besonders dramatisch, wenn der Patient während des Aufenthalts in der Intensivstation stirbt, ohne dass noch eine Aussprache oder Versöhnung möglich war. Deshalb sollten Angehörige von Patienten im Durchgangssyndrom immer vom Intensivstationsteam über das Krankheitsbild informiert werden, ggf. sollte psychotherapeutische oder seelsorgerische Unterstützung angeboten werden. 52.3
Erregungszustände, Autoaggression und tätliche Aggressivität
Tätliche Aggressionen sind bei psychisch Kranken insgesamt seltene Ereignisse, am häufigsten treten sie bei manischen, paranoiden oder schwer betrunkenen und drogenintoxikierten Patienten auf. Da die letzteren Gruppen gehäuft auf Intensivstationen behandelt werden, überrascht es nicht, wenn in Befragungen bis zu 80% des Pflegepersonals angeben, innerhalb des letzten Jahres tätlich angegriffen worden zu sein [11]. Diese Erlebnisse können beim Personal zu erheblichen Irritationen bis hin zur Traumatisierung führen und sollten deshalb auch Thema von Weiterbildungsveranstaltungen und Super vision sein. Hochaggressive Patienten gefährden Mitpatienten, Personal und sich selbst erheblich, was sofortiges und entschlossenes Eingreifen erfordert. In Frage kommen 5 Zuspruch (»Talking down«, wobei es v. a. auf die ruhige und beruhigende Stimmlage ankommt), 5 Fixierung, 5 i.v.-Gabe von Neuroleptika, z. B. Haloperidol 5–15 mg.
52.4
Schlafstörungen
Häufigkeit und Ursachen. In den letzten Jahren wurden Häufig-
keit, Auslöser und klinische Bedeutung von Schlafstörungen bei Patienten auf Intensivstationen zunehmend Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Schlafstörungen werden nicht nur von den Patienten selbst zu den größten Stressoren während des Aufenthalts auf der Intensivstation gezählt [13], sondern auch für somatische Komplikationen, wie z. B. eine verschlechterte Immunfunktion oder respiratorische Konsequenzen, verantwortlich gemacht [4]. Erste Studien fanden Umgebungslärm als Hauptursache von Schlafstörungen [1], später fanden sich mehr Hinweise auf eine
668
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
multifaktorielle Auslösung, wobei Umgebungslärm nur ein Faktor unter verschiedenen anderen war [2, 3]. Therapeutische Ansätze. Da Umgebungslärm zu den am besten
52
belegten und gleichzeitig am effektivsten beeinflussbaren Ursachen von Schlafstörungen bei Intensivpatienten zählt, konzentrierten sich therapeutische Ansätze zunächst auf diesen Punkt. Es konnte gezeigt werden, dass Programme zur Verhaltensmodifikation des Stationspersonals zu einer hochsignifikanten Reduktion der Licht- und Lärmbelastung der Patienten führten und dass sich hierdurch auch die Zeit, in der die Patienten schliefen, erhöhte [15]. Als Alternative wird auch die Ausgabe von Ohrstöpseln während der Nacht diskutiert [22]. Einen anderen Ansatz verfolgen Shilo et al. [20, 21]. Ausgehend von der Beobachtung, dass v. a. bei beatmeten Patienten der physiologische nächtliche Peak der Melatoninausschüttung ausblieb, konnten sie in einer kontrollierten und randomisierten Studie, die allerdings nur eine kleine Stichprobe aufwies (n=8), mit einer Melatoningabe eine signifikante Verbesserung von Schlafdauer und -qualität bei COPD-Patienten erreichen. Für den Fall, dass Hypnotika eingesetzt werden müssen, sollte den neuen, benzodiazepinähnlichen Substanzen der Vorzug gegeben werden. Hier kommen insbesondere Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon in Frage. Das Kriterium für die Auswahl sollte dabei die gewünschte Wirkdauer sein. Zaleplon weist eine Halbwertszeit von etwa 1 h, Zolpidem von etwa 2 h und Zopiclon von etwa 5 h auf. Die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung ist bei diesen Substanzen nicht so groß wie bei Benzodiazepinen, kann jedoch nicht endgültig ausgeschlossen werden. 52.5
Entzugssyndrome
schweren akuten Erkrankungen vom Patienten selbst keine zuverlässigen Angaben zu erhalten sind, zum anderen aber auch daran, dass es den Patienten bzw. den Angehörigen oft sehr peinlich ist, von dieser Abhängigkeit zu berichten. Die schon grundsätzlich schwierig zu therapierende Entzugssymptomatik wird auf Intensivstationen durch die bestehende körperliche Erkrankung oft noch verschärft. Ein weiteres Problem stellt die Abhängigkeit von unterschiedlichen Substanzen (Polytoxikomanie) dar. Bei etwa der Hälfte der Alkoholkranken, bei denen der Alkoholentzug plötzlich erfolgt, ist mit dem Auftreten eines Alkoholentzugssyndroms zu rechnen, bei etwa 10% entwickelt sich ein voll ausgebildetes typisches Alkoholentzugsdelir [16]. Typische Symptome des (leichteren) Alkoholentzugssyndroms 5 Tremor der Hände und der Augenlider 5 Magen-Darm-Störungen: insbesondere Brechreiz, Inappetenz und Durchfälle 5 Kreislaufstörungen: Tachykardie, orthostatische Hypotonie 5 Vegetative Dysregulation: Schwitzen, Schlafstörungen 5 Neurologische Störungen: Ataxie, Dysarthrie, evtl. Grand-mal-Anfälle 5 Psychische Störungen: ängstlich-depressive Verstimmung, Schreckhaftigkeit, Unruhe, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
Ein Alkoholentzugsdelir entwickelt sich typischerweise innerhalb der ersten 3 Tage nach Beendigung des Alkoholkonsums.
Epidemiologie. Die Möglichkeit der Abhängigkeit von be-
stimmten Substanzen oder von Verhaltensweisen ist ein allgemeines menschliches Phänomen. Fast jeder Stoff und fast jedes Verhalten kann zur Abhängigkeit führen. Die häufigste Form ist die Abhängigkeit von Alkohol. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 5% der Bevölkerung von Alkoholabhängigkeit betroffen oder zumindestens bedroht sind. Der Anteil der Medikamentenabhängigen beträgt etwa 1%, die Zahl der Drogenabhängigen etwa 0,2%. Eindeutige epidemiologische Zahlen für nicht stoffgebundene Abhängigkeiten existieren zurzeit nicht. Definition. Die Grenze zwischen dem Missbrauch einer Substanz
und der Abhängigkeit (Sucht) ist oft nicht eindeutig zu ziehen. Die wesentlichen Kriterien für Abhängigkeit sind das Vorhandensein von: 4 psychischer Abhängigkeit (unstillbares Verlangen nach einem Stoff oder einer Situation) und 4 physischer Abhängigkeit (Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik). Symptomatik. Entzugssymptomatik im Rahmen der Abhängigkeit von Alkohol, Drogen und Medikamenten ist ein häufiges Phänomen. Der Umgang mit diesen Störungen wird auf Intensivstationen oft dadurch kompliziert, dass eine vorbestehende Abhängigkeitsproblematik dem behandelnden Personal nicht bekannt ist. Dies liegt zum einen daran, dass bei Unfällen oder
Typische Symptome des Alkoholentzugsdelirs 5 Bewusstseinstrübung 5 Globale Wahrnehmungsstörungen 5 Halluzinatorische Erlebnisse (optisch, taktil oder akustisch) 5 Psychomotorische Störungen 5 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus 5 Vegetative Regulationsstörungen, insbesondere Tachykardie und Hypertonie
Spezielle Symptome von Entzugssyndromen bei anderen Suchtstoffen sind in . Tabelle 52.2 aufgeführt. Häufig wird seitens der Ärzte der Fehler gemacht, Entzugssyndrome »taktvoll« zu verschweigen. Dieses koabhängige Verhalten trägt zur Chronifizierung der Suchtproblematik bei. Stattdessen sollte der Patient, sobald er wieder entsprechend aufnahmefähig ist, darüber aufgeklärt werden, dass er einen Entzug hatte und dass eine Abhängigkeitsproblematik besteht. Auch im Verlegungsbericht sollte die Diagnose dokumentiert und weitere therapeutische Maßnahmen angeregt werden.
669 52.6 · Depressive Störungen
. Tabelle 52.2. Symptomatik der Entzugssyndrome bei verschiedenen Substanzen Substanz
Leitsymptome
Morphin-/Opiattyp
4 »Opiathunger«, Unruhe 4 Dysphorische Verstimmung, Angst 4 Gähnen, Schwitzen, Muskelschmerzen, Hypertonie 4 Beginn 4–12 h nach letzter Einnahme
Barbiturat- und Benzodiazepintyp
4 4 4 4
Kokaintyp
4 Kein typisches Entzugssyndrom 4 Eventuell schwere Depression mit Suizidgefahr
Cannabistyp
4 Kein typisches Entzugssyndrom
Amphetamintyp
4 Extreme Müdigkeit oder Schlaflosigkeit/Unruhe 4 Schmerzen 4 Heißhunger 4 Erschöpfungsdepression mit Suizidalität
Unruhe, Schwitzen, Tremor Gliederschmerzen Verstimmungszustand Eventuell Psychosen
52
den. Dabei spielen insbesondere die Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf Regulationsstörungen im Bereich der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- bzw. -Schilddrüsen-Achse bei depressiven Patienten. Auf der psychologischen Ebene spielen insbesondere negative Lebensereignisse (»life events«) als psychoreaktive Auslöser eine Rolle. Typische Situationen sind eine akute und evtl. lebensbedrohliche Erkrankung, Verlust von nahen Bezugspersonen, Entwurzelungen und anhaltende Konflikte. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht ist der depressive Mensch durch negative Wahrnehmung der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft gekennzeichnet (»kognitive Triade«). Diese depressionstypischen Denkmuster werden sowohl durch starken Stress als auch durch das Fehlen von Aufgaben und Tagesstruktur aktiviert. Insbesondere auf Intensivstationen ist zu beachten, dass der Verlust positiver Verstärker (z. B. reizarme Umgebung) zu einer Zunahme der depressiven Symptomatik beitragen kann. Die psychodynamisch-psychoanalytische Denkweise betont besonders eine Störung des Selbstwertgefühls auf der Basis einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung in der frühen Kindheit. Die Wiederholung frühkindlicher traumatisierender Erfahrungen und das Wiederaufleben der damit verbundenen negativen Gefühlsassoziationen führen demnach zum Ausbruch der Depression [12]. Symptomatik. Leitsymptome der Depression sind depressive
52.6
Depressive Störungen
Die depressive Symptomatik ist eine der häufigsten Störungen im psychischen Bereich. Insbesondere gilt dies für Menschen mit schweren akuten oder langfristigen chronischen körperlichen Erkrankungen. Aus psychiatrischer Sicht kann Depressivität bei diesen Patienten als das zentrale psychische Phänomen aufgefasst werden. Definition und Epidemiologie. Depressive Störungen haben
insgesamt eine Lebenszeitprävalenz von etwa 20%. Bei Patienten auf der Intensivstaion wurden Prävalenzen von 25‒28% für behandlungsbedürftige depressive Störungen beschrieben [24]. Dabei bedeutet der Begriff »Depression« ein sehr heterogenes Geschehen [23]. Depressivität kann verstanden werden als: 4 alltägliches Phänomen, 4 durchgehende Charaktereigenschaft einzelner Menschen, 4 Ausdruck von Trauer nach einer Verlusterfahrung, 4 Ausdruck einer Anpassungsproblematik bei gravierender und anhaltender Veränderung der Lebenssituation, 4 Symptom einer anderen psychiatrischen Erkrankung, 4 eigenständiges Krankheitsbild (insbesondere im Rahmen der depressiven Episode oder bei chronischen Verlaufsformen, wie z. B. der Dysthymie). Ätiopathogenese. Wie die meisten anderen psychischen Symptome auch kann die Depression verschiedene Ursachen haben. Gut belegt ist eine angeborene Vulnerabilität, die zu einer depressiven Symptomatik prädisponiert. Aus neurobiochemischer Sicht kann die Depression als Dysbalance verschiedener Neurotransmittersysteme aufgefasst wer-
Verstimmung, Hemmung von Antrieb und Denken sowie Schlafstörungen. Es ist jedoch zu betonen, dass keines dieser Symptome obligat für eine depressive Erkrankung ist. Das Ausmaß der Depressivität kann von leicht gedrückter Stimmung bis zum schwermütigen, scheinbar ausweglosen, versteinerten »Nichtmehr-fühlen-Können« (»Gefühl der Gefühllosigkeit«) reichen. Der Antrieb ist typischerweise gehemmt, die Kranken können sich zu nichts aufraffen, sind interesse- und initiativlos, können sich zu nichts oder nur schwer entscheiden. Häufig klagen die Patienten über Angst und quälende innere Unruhe, sie fühlen sich hilf- und hoffnungslos. Das Denken ist einerseits gehemmt, andererseits durch häufiges Grübeln geprägt. Der Depressive sieht sich selbst und die ihn umgebende Welt »grau in grau«, häufig ist ein sozialer Rückzug zu beobachten. i Es muss stets daran gedacht werden, dass hinter der Apathie und dem oft vollständigen Rückzug eines Patienten ein massives depressives Syndrom stecken kann.
Die unterschiedliche Kombination verschiedener Symptome charakterisiert verschiedene depressive Subtypen: 4 gehemmte Depression: Reduktion von Psychomotorik und Aktivität; 4 agitierte Depression: ängstliche Getriebenheit, Bewegungsunruhe, unproduktiv-hektisches Verhalten, Jammern; 4 somatisierte Depression: vegetative Störungen und vielfältige funktionelle Organbeschwerden; 4 psychotische Depression: Depression mit depressiven Wahngedanken. Depressive Symptome entwickeln sich häufiger bei Langliegern auf der Intensivstation. Ursachen sind sowohl Verlust von Verstär-
670
52
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
kern und Ablenkung als auch zunehmende Hoffnungslosigkeit. Depression kann zur Non-Compliance z. B. bei der Physio- und Atemtherapie führen, den körperlichen Zustand verschlechtern und so in eine Negativspirale führen. Zur Prävention einer Depressionsentwicklung sollte bei Patienten, die längere Zeit in bewusstseinsklarem Zustand auf der Intensivstation bleiben werden (z. B. zur Überbrückung der Wartezeit auf eine Herz- oder Lungentransplantation), auf Ablenkung und Beschäftigung durch großzügige Besuchsregelung (soziale Unterstützung ist die beste Therapie der Depression!), Fernsehen, Radio/CD, Zugang zu Zeitungen etc. geachtet werden. Auch regelmäßige physio- oder ergotherapeutische Betreuung mit Anleitung zum selbstständigen Üben wirkt antidepressiv. Darüber hinaus profitieren diese Patienten von einer regelmäßigen Betreuung durch einen psychosomatischen Konsil- und Liaisondienst, wobei mehrere kürze Gespräche pro Woche effektiver und dem Intensivstations-Setting angemessener sind als das bei Psychotherapeuten übliche 50-minütige Zeitraster. 52.7
Suizidalität
Die Mehrzahl der psychischen Erkrankungen geht mit erhöhter Suizidalität einher, und Suizidversuche gehören zu den häufigsten Ursachen für eine intensivmedizinische Behandlung. Suizidalität auf der Intensivstation entspringt meist einer Verkennung der Realität, z. B. im Verlauf eines Durchgangssyndroms. Nahezu alle Patienten sind später dankbar dafür, dass sie gerettet wurden. Deshalb kommt der Erkennung von Suizidalität und ihrer konsequenten Behandlung auf der Intensivstation eine besondere Bedeutung zu. Folgende Hinweise in der Anamnese sprechen für eine erhöhte/weiterbestehende Suizidgefährdung [23]: 4 ein oder mehrere Suizidversuche in der Vorgeschichte, 4 positive Familienanamnese mit mehreren Suizidversuchen oder Suiziden, 4 Suizidversuch erfolgte mit harten Methoden oder auf eine Weise, die das Auffinden erschwerte, 4 auslösender Konflikt ist weiter ungelöst, 4 soziale Isolation, 4 Suchterkrankung. Beim psychopathologischen Befund sind folgende Hinweise zu beachten [5]: 4 fehlende Distanzierung von Suizidgedanken, auch nach ausführlichem Gespräch, 4 Erleben von drängenden Suizidgedanken, 4 Hoffnungslosigkeit, Fehlen von Zukunftsperspektiven, 4 depressiver Wahn und psychotische Symptomatik, 4 Hinweise auf mangelnde Impulskontrolle, 4 gereiztes oder aggressives Verhalten, kein tragfähiger Gesprächsrapport möglich. Je mehr dieser Merkmale vorhanden sind, umso höher ist die Suizidgefährdung einzuschätzen. In diesem Fall ist konsiliarische psychiatrische Mitbetreuung notwendig. Gegebenenfalls muss auch die zwangsweise Unterbringung auf einer geschlossenen psychiatrischen Station im Anschluss an den Aufenthalt auf der Intensivstation in Erwägung gezogen werden.
Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung 5 Psychische Krankheit oder Störung 5 Akute Selbst- oder Fremdgefährdung 5 Nichtabwendbarkeit dieser Gefährdung durch andere Maßnahmen (z. B. freiwillige Aufnahme auf einer geschlossenen Station) 5 Antrag eines psychiatrisch erfahrenen Arztes an die zuständige Ordnungsbehörde zur Weiterleitung an das zuständige Gericht (Einzelheiten regelt das jeweilige Landesrecht) 5 Richterlicher Beschluss 5 Bei Gefahr im Verzug ist unmittelbare Verlegung zulässig, diese muss aber dem zuständigen Richter zur nachträglichen Genehmigung gemeldet werden. Der Antrag dazu muss unmittelbar nach Beseitigung der akuten Gefahr er folgen.
Vor allem bei Suizidalität bewährt sich die Kooperation mit einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Institution im Rahmen eines Konsil- und Liaisondienstes, da sich entsprechende Krisensituationen im Rahmen einer eingespielten Kooperation besser bewältigen lassen. 52.8
Angststörungen
Definition. Angst ist ein Phänomen, das jeder Mensch in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlicher Ausprägung wiederholt erlebt hat. Trotzdem ist Angst eine Erlebnisweise, die nur schwer allgemeingültig zu definieren ist. Ganz grundsätzlich kann Angst als ein unangenehm erlebtes Gefühl von Bedrohung beschrieben werden. Das Auftreten von Angst ist in der Regel sowohl ein seelisches als auch ein körperliches Phänomen. Angst kann nach verschiedenen Kriterien differenziert werden. Epidemiologie. Angststörungen gehören zu den häufigsten psy-
chischen Störungen überhaupt. Es ist davon auszugehen, dass in der Allgemeinbevölkerung mindestens 10% der Menschen Angst als behandlungsbedürftiges Symptom aufweisen. Bei Patienten einer Intensivstation ist Angst ein fast regelhaftes Phänomen. Formen der Angst. In der Regel tritt Angst als Reaktion auf eine belastende und angsterzeugende Situation auf. Dies gilt insbesondere bei der Behandlung auf Intensivstationen. Angst ist zunächst nicht als pathologisch anzusehen, sondern sie versetzt uns in die Lage, bedrohliche Situationen zu erkennen und dann schnell und angemessen zu reagieren. Angst wird zum eigenständigen klinischen Phänomen, wenn sie in unangemessenen Situationen oder mit zu starker Ausprägung und Dauer auftritt. Während der Behandlung auf der Intensivstation kann auch eigentlich situationsadäquate Angst durch die hiermit einhergehende Sympathikusaktivierung negative Konsequenzen haben. Grundsätzlich werden folgende Angststörungen unterschieden: 4 phobische Störungen: umschriebene Angst vor bestimmten Situationen, Tieren oder Objekten;
671 52.9 · Angststörungen
52
4 generalisierte Angsstörung: anhaltende Angst unterschiedlicher Intensität; 4 Panikattacken bzw. Panikstörungen: anfallsartig auftretende Angst mit ausgeprägter körperlicher Symptomatik, nicht an bestimmte Situationen gebunden. Ätiopathogenese. Aus neurobiologischer Sicht ist Angst mit
Veränderungen im serotonergen und noradrenergen kortikalen System verbunden. Eine weitere Rolle spielt das neuroendokrine System. Es ist empirisch gut belegt, dass auch eine genetische Disposition zur Ätiologie der Angst beiträgt. Aus psychodynamischer Sicht wird die Bedeutung von nicht gelösten Konflikten, insbesondere in der frühen Kindheit, betont. Die verhaltenstherapeutischen Theorien stellen die Bedeutung des Lernens in der Genese von Angst in den Vordergrund. Zum Entstehen von Angst kann es im Rahmen von operantem bzw. klassischem Konditionieren kommen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der sog. Angstkreis, der das Zusammenspiel von psychischen und körperlichen Faktoren bei der Entstehung von Angst beschreibt (. Abb. 52.1). Beispielhaft sind in der Übersicht die Symptome der Panikattacke aufgeführt. Bei bestimmten körperlichen Erkrankungen (z. B. koronare Herzerkrankung) kann eine ausgeprägte Angstsymptomatik zu einem komplikationsreicheren Verlauf beitragen. Symptomatik der Panikattacke 5 Wiederkehrende schwere Angstattacke, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränkt 5 Die Symptome variieren von Person zu Person, typisch ist aber der plötzliche Beginn von – Herzklopfen – Brustschmerz – Erstickungsgefühlen – Schwindel – Entfremdungsgefühlen 5 Fast immer entstehen dann sekundär auch noch – Furcht zu sterben – Furcht vor Kontrollverlust – Angst, wahnsinnig zu werden
Differenzialdiagnose. Angst kann als eigenständiges Beschwer-
debild, aber auch als Symptom anderer Erkrankungen auftreten. Differenzialdiagnostisch sind als Ursache von Angstsymptomen zu erwägen [12]: 4 andere psychiatrische Erkrankungen (insbesondere schizophrene Psychosen, affektive Psychosen, Zwangsstörungen, Anpassungsstörungen), 4 organisch bedingte psychische Störungen (delirantes Syndrom, organische Angststörung), 4 substanzabhängige Störungen (Intoxikationen mit Alkohol, Halluzinogenen, Opiaten, Koffein bzw. deren Entzug), 4 neurologische Erkrankungen (hirnorganische Anfallsleiden, Hirndrucksymptomatik), 4 internistische Erkrankungen (Angina pectoris, Myokardinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Hypoxie, Hyperthyreose u. a.). Da die Intensivstation von den Patienten meist als sicherer Ort wahrgenommen wird, kann es v. a. bei Langliegern kurz vor oder
. Abb. 52.1. Beispiel für die Bedeutung des Teufelskreismodells in der Intensivmedizin: psychophysiologischer Teufelskreis der Angst
nach der Verlegung von der Intensivstation zu Panikanfällen mit der o. g. Symptomatik kommen, was als Verschlechterung der Grunderkrankung fehlinterpretiert werden kann. Ein besonderes Problem stellen Ängste bei der Entwöhnung von der Beatmung dar. Beim Training der Atemmuskulatur kann es zu Missempfindungen kommen, die vom Patienten als Luftnot deutet werden. Ebenso kann die bewusst wahrgenommene Trennung vom Beatmungsgerät zu Panik mit Hyperventilation, unökonomischer Atmung und Erschöpfung der Atemmuskulatur führen. Dieser Teufelskreis ist in . Abb. 52.1 dargestellt. Folgende therapeutischen Techniken können hilfreich sein: 4 den Patienten bereits vor dem Abtrainieren darüber aufklären, dass Symptome von Luftnot auftreten können, dass diese aber kein Hinweis auf eine Bedrohung sind. Ebenso wichtig ist der Hinweis darauf, dass der Patient ständig überwacht wird und dass bei Hinweisen auf Gefahr die Rückkehr an die Beatmung jederzeit möglich ist. 4 Verabreden fester, langsam größer werdender Zeitintervalle ohne Beatmungsgerät. 4 Ablenkung des Patienten während des Abtrainierens. 4 Rückmeldung der Blutgaswerte als Sicherheitssignal. 4 Erlernen atemberuhigender Techniken (Physiotherapie), um Hyperventilation vorzubeugen. Das Entwöhnen von Langzeitbeatmeten ist eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe, die ein gut eingespieltes multiprofessionelles Team erfordert. Auch hier bewährt sich ein psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst mit einem Psychotherapeuten, der mit den besonderen Problemen beatmeter Patienten vertraut ist. i Bewährt haben sich bei der Behandlung von Ängsten auf der Intensivstation v. a. verhaltenstherapeutische Ansätze.
672
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
52.9
Posttraumatische Belastungsstörung
Definition. Als Folge massiv eingreifender Situationen oder Er-
52
eignisse kann eine posttraumatische Belastungsstörung (PTB) auftreten. Dabei handelt es sich um eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf eine extreme Belastung. Wichtigste Symptome sind die wiederholte unausweichliche Erinnerung, emotionaler oder sozialer Rückzug sowie ein Zustand vegetativer Übererregbarkeit. Der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung wurde in der Psychiatrie erst im Jahr 1980 eingeführt. Ähnliche Beschwerdebilder wurden jedoch bereits früher unter anderen Bezeichnungen klassifiziert. So wurde 1871 das »Da-Costa-Syndrom« beschrieben. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass posttraumatische Belastungsstörungen auch als Folge lebensbedrohlicher Erkrankungen oder invasiver Therapiemaßnahmen auftreten können und die Lebensqualität der betroffenen Patienten im Langzeitverlauf signifikant beeinträchtigen [9, 19, 14]. Bei intensivmedizinisch behandelten Patienten wurden im Follow-up PTB-Inzidenzen zwischen 15 [18] und 27,5% [19] festgestellt, wobei sich die traumatischen Erinnerungen nicht nur auf real erlebte Behandlungssituationen, sondern auch auf Halluzinationen und Fehlwahrnehmungen während eines Durchgangssyndroms bezogen [6]. Während sich Angst und Depressivität im Langzeitverlauf nach der Entlassung aus der Intensivstation häufig spontan zurückbilden, scheinen Symptome der PTB über lange Zeit stabil zu bleiben [7, 16]. Es gibt Hinweise darauf, dass psychoendokrinologische Faktoren an der Ausbildung von PTB-Syndromen beteiligt sind. So konnte nachgewiesen werden, dass die Gabe von Hydrokortison in Stressdosis bei Überlebenden nach septischem Schock eine vorbeugende Wirkung gegen die Entstehung einer PTB im späteren Verlauf hatte [19]. Symptomatik. Die posttraumatische Belastungsstörung ist durch
3 Symptomenkomplexe gekennzeichnet [17]: 4 wiederholtes Erleben des Traumas oder der traumatisierenden Situation in sich aufdrängenden Erinnerungen, Träumen oder Albträumen, 4 emotionaler oder sozialer Rückzug mit Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umgebung, Verlust der Lebensfreude (Anhedonie) und ausgeprägtem Vermeidungsverhalten gegenüber Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können, 4 Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Als Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung können übermäßiger Alkoholkonsum, Drogeneinnahme oder auch Suizidalität auftreten. i Die Erkennung einer PTB ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil heute effiziente und evidenzbasierte Behandlungsmöglichkeiten, wie die kognitive Verhaltenstherapie, zur Verfügung stehen, das Krankheitsbild unbehandelt aber eine eher ungünstige Prognose hat [10].
Von einer posttraumatischen Belastungsstörung wird dann gesprochen, wenn die Störung mindestens 1 Monat anhält. Möglich ist ein verzögerter Beginn, bei dem die Symptomatik erst etwa 6 Monate nach dem Trauma zu erkennen ist.
Die posttraumatische Belastungsstörung stellt die gravierendste Form psychischer Folgeerscheinungen eines Traumas dar. Differenzialdiagnosen sind: 4 Akute Belastungsreaktion Stunden- bis tagelang anhaltende Reaktionen auf außergewöhnliche körperliche und/oder seelische Belastungen bei einem ansonsten psychisch nicht manifest gestörten Patienten. Nach einem anfänglichen Zustand der »Betäubung« kommt es zu affektiven und vegetativen Symptomen. Die Störung klingt in der Regel nach einigen Stunden bis Tagen auch ohne spezifische Therapie ab. Eine ausgeprägte und prolongierte Symptomatik oder das Auftreten von dissoziativen Symptomen sind allerdings als Warnhinweis auf die spätere Ausbildung einer PTB anzusehen. Diese Patienten sollten entsprechend nachbeobachtet werden. 4 Anpassungsstörungen Diese sind Ausdruck eines gestörten Anpassungsprozesses nach einer einschneidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen. Es kommt zu unterschiedlichen affektiven Symptomen (z. B. Depression oder Angst) sowie zu sozialer Beeinträchtigung. Anpassungsstörungen können für die Patienten ähnlich beeinträchtigend sein wie eine PTB oder eine depressive Störung und sollten deshalb konsequent behandelt werden. Methode der Wahl ist Psychotherapie, in der Regel ist eine Kurzzeittherapie ausreichend. Prävention und Therapie. Therapie der Wahl ist bei der PTB die
kognitive Verhaltenstherapie mit Konfrontationsverfahren. Die medikamentöse Therapie hat allenfalls adjuvanten Stellenwert, nachgewiesen ist hier die Wirksamkeit von Paroxetin. Da sich das Krankheitsbild erst im Langzeitverlauf entwickelt, ist die Aufgabe des Intensivstationsteams v. a. in der Prävention der Ausbildung einer PTB zu sehen. Hierzu gehören neben der oben genannten Substituion von Hydrokortison bei kritischen Patienten v. a. die gründliche Information des Patienten und seiner Angehörigen sowie das regelmäßige Gespräch mit dem Patienten. Wenn es dem Patienten gelingt, negative Erlebnisse in einen positiven Kontext zu stellen (»Es war zwar belastend, hat mir aber geholfen, gesund zu werden!«), wird sich in der Regel auch nach schweren Belastungssituationen keine PTB entwickeln. Patienten mit Durchgangssyndrom sollte im Nachhinein ein Gespräch über ihre Erlebnisse während dieser Zeit angeboten werden. Nicht selten grübeln Patienten noch lange nach der Entlassung darüber, welche Erlebnisse real waren und verschweigen ihre Zweifel aus der Angst, für verrückt gehalten zu werden. Ein ausgeprägtes Durchgangssyndrom oder Symptome einer akuten Belastungsreaktion sollten im Entlassungsbericht vermerkt werden, um diese Patienten nachbeobachten und ggf. psychotherapeutische Unterstützung anbieten zu können. 52.10 Einsatz von Psychopharmaka auf der
Intensivstation Bei den meisten psychischen Störungen lässt sich heute eine gezielte und meist nebenwirkungsarme Psychopharmakotherapie verwirklichen. Grundlage dieser Entwicklung sind die zunehmend genauen Kenntnisse der biochemischen Vorgänge im Zentralnervensystem (ZNS), die den wichtigsten psychischen Störungen zugrunde liegen.
673 52.10 · Einsatz von Psychopharmaka auf der Intensivstation
Die wesentlichen biochemischen Prozesse im ZNS spielen sich im synaptischen Spalt ab, wo eine Vielzahl verschiedener Neurotransmitter nach Freisetzung aus dem präsynaptischen Neuron mit Rezeptoren des postsynaptischen Neurons interagiert. Durch verschiedene Mechanismen der Transduktion wird das aufgenommene Signal an das rezeptive Neuron weitergegeben. Das neurobiologische Korrelat der meisten psychischen Störungen besteht in einem Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Transmittersystemen. Die dabei wichtigsten Neurotransmitter sind Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, Azetylcholin und J-Aminobuttersäure (GABA) [5, 12]. Darüber hinaus spielen bei der Genese jedoch noch weitere Störungs- und Anpassungsprozesse eine Rolle, die im einzelnen noch nicht ausreichend bekannt sind. 52.10.1 Substanzgruppen
Antidepressiva Antidepressiva sind Medikamente, die gezielt gegen depressive Symptome wirken. Sie weisen z. T. sehr unterschiedliche Wirkprofile und Nebenwirkungen auf. Allen gemeinsam ist die stimmungsaufhellende und antriebsnormalisierende Wirkung, mit der auch ein Abklingen der körperlichen Depressionssymptome einhergeht. Antidepressiva haben beim Gesunden keinen relevanten Einfluss auf die Stimmung. Die verschiedenen Substanzgruppen sind in der Übersicht aufgeführt. Antidepressiva 5 Trizyklische (klassische) Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Imipramin) 5 Nichttrizyklische (tetrazyklische und chemisch neuartige) Antidepressiva (z. B. Maprotilin, Trazodon) 5 Serotoninselektive Antidepressiva: hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin (z. B. Paroxetin, Fluoxetin) 5 »Duale« Antidepressiva mit selektiven Wirkungen im serotonergen und im noradrenergen System (z. B. Mirtazapin, Venlafaxin) 5 Monoaminooxidasehemmer (z. B. Tranylcypromin, Moclobemid) 5 Noradrenalinselektive Antidepressiva (z. B. Reboxetin)
Wirksamkeit und Nebenwirkungsspektrum. Bei allen antidepressiven Substanzen ist mit dem Eintreten der antidepressiven Wirkung erst nach 1–2 Wochen zu rechnen. Ein Abhängigkeitspotenzial besteht bei diesen Substanzen nicht. Trizyklische Antidepressiva zeichnen sich durch eine zuverlässige Wirksamkeit aus. Ihr Nebenwirkungsspektrum ist gekennzeichnet durch vorwiegend anticholinerge Wirkungen, die sich insbesondere auf Herz-Kreislauf-Funktion und kognitive Fähigkeiten ungünstig auswirken können. Die selektiven serotonergen und noradrenergen Substanzen sind praktisch frei von vegetativen Nebenwirkungen, können aber anfänglich zu Unruhe, Schlafstörungen und Übelkeit führen [5, 12].
52
auf die Symptome psychotischer Erkrankungen auszeichnen. Ihr klinisch-therapeutischer Effekt beruht auf ihrer dämpfenden Wirkung auf psychomotorische Erregtheit, Aggressivität, affektive Spannung, psychotische Sinnestäuschungen und psychotische Wahngedanken. Neuroleptika rufen eine Blockade von Dopaminrezeptoren hervor, wobei die Wirkung auf den D2-Rezeptor eng mit der klinischen Wirksamkeit in Beziehung steht. Neuroleptika gehören unterschiedlichen chemischen Gruppen an (z. B. Phenothiazine, Butyrophenone und Benzamide). Die Neuroleptika können aus klinischer Sicht in verschiedene Gruppen eingeteilt werden. Klinische Einteilung der Neuroleptika 5 Hochpotente Neuroleptika (z. B. Haloperidol, Benperidol) 5 Mittelpotente Neuroleptika (z. B. Perazin, Zuclopenthixol) 5 Schwachpotente Neuroleptika (z. B. Chlorprotixen, Melperon) 5 Neuere (atypische) Neuroleptika (z. B. Risperidon, Clozapin)
Wirksamkeit und Nebenwirkungsspektrum. Die hochpotenten
Neuroleptika haben eine besonders ausgeprägte Wirksamkeit gegen produktive psychotische Symptome (Wahnerlebnisse, Halluzinationen), während die schwach- bzw. mittelpotenten Neuroleptika eher bei Unruhe und Erregungszuständen wirksam sind. Während die älteren neuroleptisch wirksamen Substanzen regelmäßig extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen hervorrufen (insbesondere Rigor, Tremor und Akinese sowie evtl. Spätdyskinesien), sind die neueren (atypischen) Neuroleptika in dieser Hinsicht wesentlich besser verträglich.
Benzodiazepine Die Gruppe der Benzodiazepine umfasst Medikamente, die insbesondere sedierende und angstlösende Eigenschaften aufweisen. Sie greifen in erster Linie in das GABAerge Neurotransmittersystem ein. J-Aminobuttersäure (GABA) ist der wichtigste inhibitorische Neurotransmitter des ZNS. Überall im zentralen Nervensystem sind GABAerge Neurone vorhanden, die sehr komplex mit anderen neuronalen Systemen verschaltet sind. Die klinische Wirkung der Benzodiazepine erklärt sich aus der Verstärkung GABAerger Hemmprozesse durch Aktivierung des zerebralen Benzodiazepinrezeptors [5]. Unter klinischen Gesichtspunkten können Benzodiazepine nach ihrer vorherrschenden Wirkung unterteilt werden. Über diese Einteilung hinaus kommt der sehr unterschiedlichen Halbwertszeit der einzelnen Substanzen eine therapeutische Bedeutung zu.
Einteilung der Benzodiazepine nach ihrer Hauptwirkung 5 Primär sedierend: z. B. Flunitrazepam, Temazepam, Diazepam 5 Primär muskelrelaxierend: z. B. Tetrazepam 5 Primär antikonvulsiv: z. B. Diazepam, Clonazepam 5 Primär anxiolytisch: z. B. Lorazepam, Alprazolam
Neuroleptika Unter dem Begriff »Neuroleptika« werden Psychopharmaka zusammengefasst, die sich durch eine charakteristische Wirkung
Beim Einsatz von Benzodiazepinen ist das stets vorhandene Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial zu beachten [12].
674
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
Weitere Präparategruppen
52
In der Therapie demenzieller Syndrome haben sich die Behandlungsmöglichkeiten durch den Einsatz von Nootropika bzw. der in den letzten Jahren entwickelten Azetylcholinesterasehemmer verbessert. Bei rezidivierenden (phasenhaft verlaufenden) affektiven Störungen werden längerfristig phasenprohylaktisch wirksame Medikamente eingesetzt (insbesondere Lithiumpräparate, Carbamazepin und Valproinsäure). Eine spezielle Bedeutung in der Behandlung von Entzugssyndromen und des Alkoholentzugsdelirs kommt der Substanz Clomethiazol (Distraneurin) zu. 52.10.2 Behandlungsstrategien mit
Psychopharmaka Allgemeine Regeln der Psychopharmakotherapie Beim Einsatz von Psychopharmaka sind grundsätzlich die gleichen Regeln zu beachten, die für den Einsatz anderer Medikamentengruppen gelten (z. B. zuverlässige Indikationsstellung, Herstellung einer tragfähigen Arzt-Patienten-Beziehung, Beachtung von Wechselwirkungen etc.). Darüber hinaus sollte Folgendes beachtet werden: 4 Psychopharmaka müssen immer Teil eines Gesamtbehandlungsplans sein, der zusätzlich psychotherapeutische und soziotherapeutische Maßnahmen umfasst. 4 Wenn aufgrund der allgemeinen Situation möglich, sollte immer eine Aufklärung über die zu erwartende Wirkung sowie über die wichtigsten Nebenwirkungen erfolgen. 4 Der Einsatz von Psychopharmaka ist in der Regel auf bestimmte Symptome bzw. Syndrome ausgerichtet. Die meisten Psychopharmaka wirken bei verschiedenen psychischen Erkrankungen. 4 Die Wirksamkeit von Psychopharmaka zeichnet sich durch eine hohe interindividuelle Streuung aus. Insbesondere beim Vorliegen somatischer Erkrankungen ist auch mit intraindividuellen Schwankungen zu rechnen. 4 Insbesondere bei Patienten mit gravierenden körperlichen Erkrankungen empfiehlt sich zunächst der Beginn mit einer niedrigen Dosis, um den therapeutischen Effekt abschätzen zu können. 4 Die Verwendung weniger Medikamente aus den verschiedenen Gruppen, mit denen persönliche Erfahrungen vorliegen, ermöglicht schnelles und gezieltes Handeln. 4 Beim Einsatz von Benzodiazepinen muss das mögliche Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial beachtet werden. Dies sollte allerdings den Gebrauch dieser Medikamente in eng umschriebenen Krisensituationen nicht behindern. 4 Die Zufuhr von Psychopharmaka sollte in der Regel nicht abrupt, sondern ausschleichend beendet werden. In vielen Fällen ist zur Stabilisierung eines erreichten Effekts auch die längerfristige Gabe erforderlich.
Pharmakotherapie organischer Psychosyndrome 4 Die psychopharmakologische Therapie organischer Psychosyndrome richtet sich nach der im Vordergrund stehenden Symptomatik. 4 Beim Auftreten akuter psychotischer Symptome, wie Wahnideen oder halluzinatorische Symptome, werden
in erster Linie hochpotente Neuroleptika eingesetzt, z. B. Haloperidol (2,5–5 mg als Einzeldosis, maximal 15mg/Tag) oder Risperidon (Einzeldosis 1–2 mg, Tagesdosis bis 8 mg). Bei zerebraler Vorschädigung muss evtl. mit einem verstärkten Ansprechen, in einzelnen Fällen auch mit paradoxen Effekten gerechnet werden. 4 Bei Erregungszuständen werden bevorzugt schwachpotente Neuroleptika eingesetzt (z. B. Melperon 100 bis maximal 300 mg/Tag). Der Einsatz von schwachpotenten Neuroleptika mit ausgeprägter anticholinerger Wirksamkeit (z. B. Chlorprotixen) zur Sedierung sollte auf Intensivstationen möglichst vermieden werden [5]. 4 Falls ein schneller therapeutischer Effekt unabdingbar ist (z. B. wegen Eigengefährdung), empfiehlt sich der Einsatz von Benzodiazepinen (z. B. Diazepam: Einzeldosis 5–10 mg, Tagesdosis 20–40 mg). Die atemdepressorische Wirkung von Benzodiazepinen muss dabei beachtet werden. Dies gilt insbesondere bei bestehender respiratorischer Insuffizienz und bei zerebraler Vorschädigung. 4 Bei Vorliegen eines typischen Delirs mit Bewusstseinstrübung, starker psychomotorischer Unruhe und vegetativer Symptomatik kann die Gabe von Clomethiazol erwogen werden (in den ersten 2 h maximal 6–8 Kaps., in 24 h maximal 16 Kaps.). Auch hier ist von der Gefahr der ausgeprägten respiratorischen Insuffizienz auszugehen, weshalb bei höheren Dosierungen eine entsprechende Überwachung unabdingbar ist. ! Cave Stets muss daran gedacht werden, dass durch den Einsatz sedierender Substanzen die Beurteilung der Bewusstseinslage beeinträchtigt werden kann.
Pharmakotherapie von Angstzuständen Bei akuten und anhaltenden Angstzuständen ist in erster Linie ein stützender (supportiver) psychotherapeutischer Ansatz indiziert. In denjenigen Fällen, in denen die Angstsymptomatik damit nicht zu bewältigen ist, können kurzfristig primär anxiolytische oder sedierende Benzodiazepine eingesetzt werden. Hier kommt Lorazepam in Frage (initial 1–2 mg, maximal 4–8 mg/ Tag). Soll der Wirkungseintritt möglichst rasch erfolgen, so kann Lorazepam als schnell resorbierbares Plättchen (Tavor Expidet) eingesetzt werden. Auch Diazepam (Einzeldosis 5–10 mg; maximal 20–40 mg/Tag) kann verwendet werden. Bei Panikstörungen ist der Einsatz von Antidepressiva (mit vorherrschender serotonerger Komponente) hilfreich [12].
Pharmakotherapie von depressiven Syndromen Mittel der Wahl bei depressiven Syndromen sind grundsätzlich Antidepressiva. Die Auswahl der Substanzen erfolgt nach der jeweiligen sedierenden bzw. aktivierenden Wirkung sowie nach dem Nebenwirkungsprofil. Wenn therapeutische Erfahrungen aus einer früheren depressiven Episode bestehen, so sollten unbedingt diejenigen Medikamente primär eingesetzt werden, die damals einen therapeutischen Effekt aufwiesen. Bei starker psychomotorischer Unruhe sind die eher sedierenden trizyklischen Antidepressiva (z. B. Amitriptylin initial 50–75 mg/Tag oder Doxepin 50–75 mg/Tag) bzw. die »dualen« Antidepressiva mit sedierender Komponente (z. B. Mirtazapin 15–30 mg/Tag) empfehlenswert. Bei im Vordergrund stehender Antriebsminderung sollte auf eher aktivierende Antidepressiva
675 Literatur
zurückgegriffen werden (z. B. Paroxetin 20 mg/Tag, Citalopram 20 mg/Tag). ! Cave Aufgrund der den Antidepressiva eigenen Wirklatenz von 1–2 Wochen sind diese Antidepressiva allein bei möglicher Suizidalität kontraindiziert, da das Auftreten einer initialen Antriebssteigerung, bei unverändert depressiver Stimmungslage, das Suizidrisiko deutlich erhöhen kann.
Zur schnelleren Entlastung des Patienten und bei ängstlicher Prägung der depressiven Symptomatik können vorübergehend auch Benzodiazepine oder schwachpotente Neuroleptika eingesetzt werden [12].
Pharmakotherapie von Entzugssymptomen Leichtere Entzugssyndrome. Leichtere Entzugssyndrome (ohne
Bewusstseinstörung oder starke vegetative Störungen) können oft ohne pharmakologische Intervention beherrscht werden. Bei der Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung kommen entweder Carbamazepin (am 1. Tag 800 mg, dann rasche Reduktion) oder Benzodiazepine (z. B. Diazepam; rasche Reduktion wegen Abhängigkeitsrisiko erforderlich) in Frage. In denjenigen Fällen, in denen zur Unterdrückung der Entzugssymptomatik Alkohol eingesetzt wird, ist strikt darauf zu achten, dass dies gegenüber dem Patienten transparent gemacht wird und dieser auf die Abhängigkeitsproblematik hingewiesen wird, um nicht die Suchtsymptomatik weiter zu unterhalten. Alkoholentzugsdelir. Das Alkoholentzugsdelir erfordert in
der Regel eine sedierende pharmakologische Behandlung. Im deutschsprachigen Raum ist Clomethiazol das Mittel der Wahl, das erheblich zur Senkung der Mortalität des Alkoholentzugsdelirs beigetragen hat. Als Vorteile von Clomethiazol sind die gute Steuerbarkeit infolge kurzer Eliminationshalbwertszeit, die antikonvulsive Wirkung sowie die gute Sedierung anzusehen. Nachteilig sind die bronchiale Hypersekretion und v. a. die atemdepressorische Wirkung. Wegen Letzterer darf die parenterale Applikation nur unter intensivmedizinischer Überwachung in Intubationsbereitschaft durchgeführt werden. Die orale Therapie beginnt üblicherweise mit 2–3 Kaps. oder 15 ml Mixtur, die weitere Dosierung erfolgt nach der Sedierung, aus der der Patient jederzeit erweckbar sein muss. Die maximale Tagesdosis liegt bei 16 Kaps. oder 80 ml. Wegen des beträchtlichen Abhängigkeitspotenzials muss Clomethiazol mit sukzessiver Dosisreduktion innerhalb von 2 Wochen abgesetzt werden. In der Therapie des Alkoholentzugsdelirs ist der Einsatz von Alkohol kontraindiziert. Alternativen zu diesem Vorgehen können sein: 4 Benzodiazepine (insbesondere Diazepam), 4 Neuroleptika (Cave: Senkung der Krampfschwelle), 4 Clonidin (gute Wirkung insbesondere auf die vegetativen Entzugssymptome; Monotherapie häufig nicht ausreichend). Spezielle medikamentöse Strategien bei bestimmten Abhängigkeitsformen 5 Opiatentzugssyndrom – Einsatz von Antidepressiva (insbesondere Doxepin) – Gabe von L-Methadon – Benzodiazepine 6
52
5 Entzug von Sedativa bzw. Hypnotika – Kein abruptes Absetzen der Substanz – Eventuell Umstellung auf wirkungsäquivalente Dosis von Diazepam mit sehr langsamer Reduktion – In einigen Fällen ist zur Vermeidung von Entzugssymtomen während des Aufenthalts auf der Intensivstation die vorübergehende Fortsetzung der Benzodiazepinmedikation vertretbar 5 Kokainentzugssyndrom – Bei starker Unruhe hochpotente Neuroleptika – Bei starker vegetativer Symptpomatik evtl. Gabe von E-Blockern vom Propanolol-Typ – Bei deutlicher Depressivität Gabe von Antidepressiva 5 Halluzinogene – Hochpotente Neuroleptika – Bei starker Angst Benzodiazepine
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52
Kapitel 52 · Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten
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53 Infektionen des ZNS H. W. Prange, A. Bitsch
53.1
Bakterielle Infektionen
53.1.1 53.1.2 53.1.3 53.1.4 53.1.5 53.1.6
Purulente Meningitis –678 Hirnabszess und subdurales Empyem –679 Septische Herdenzephalitiden –680 Listerienmeningoenzephalitis –681 Neurotuberkulose –681 Sonstige bakterielle ZNS-Erkrankungen –682
53.2
Viruserkrankungen
53.2.1 53.2.2 53.2.3 53.2.4
Herpes-simplex-Enzephalitis (HSE) –683 Enzephalitiden durch andere Herpesviren –684 Enzephalitiden durch andere Viren –685 Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) –685
53.3
Oppor tunistische ZNS-Infektionen Literatur
–686
–678
–683
–686
678
Kapitel 53 · Infektionen des ZNS
53.1
Bakterielle Infektionen
53.1.1 Purulente Meningitis
53
Die typischen Symptome der bakteriellen Meningoenzephalitis sind Kopfschmerz, Erbrechen, Fieber, Meningismus, häufiger auch Schüttelfrost und Störungen der Vigilanz. Bei ausgeprägter Beteiligung des Hirnparenchyms treten auch organisch begründete Psychosen auf. Bei tiefer Bewusstseinsstörung kann der Meningismus fehlen. Mit Ausnahme besonderer Verlaufsformen wie der »apurulenten« bakteriellen Meningits, der Neurolisteriose und der Neurotuberkulose ist der Liquor immer eitrig mit Zellzahlen von 1000–50.000/Pl. In der Akutphase dominieren 90–100% Granulozyten. Liquorprotein und -laktat sind stark erhöht, während Liquorzucker und -pH-Wert abfallen. Bei den allgemeinen Laborwerten finden sich BKS-Beschleunigung, erhöhte Werte für C-reaktives Protein (CRP), Fibrinogen, IL-6 und Procalcitonin.
Erreger Typische Erreger der purulenten Meningitis sind Meningokokken (bei Kindern und Erwachsenen), Pneumokokken (vorzugsweise bei Erwachsenen) sowie sonstige Streptokokken, Staphylokokken, E. coli, Pseudomonas und Enterobakterien (v. a. bei nosokomialen Infektionen). Die fast nur bei Kindern auftretende Haemophilusinfluenzae-Meningitis ist nach Einführung der Schutzimpfung fast verschwunden. Der Pneumokokkenmeningitis geht eine Infektion der oberen Luftwege (Durchwanderung) oder eine Pneumokokkenbakteriämie voraus. Besonders schwere Krankheitsverläufe, oft mit rascher Todesfolge, kommen bei asplenischen Patienten vor, die nicht gegen Pneumokokken geimpft sind. Meningokokken und Haemophilus befallen auf hämatogenem Wege das ZNS. Die übrigen Keime dringen je nach Vorerkrankung auf unterschiedliche Weise in den Liquorraum ein. Die sog. Shuntsepsis bei Trägern eines ventrikuloperitonealen oder -atrialen Liquorventils wird fast ausnahmslos durch Staphylokokken hervorgerufen. Ähnliches trifft für Meningoenzephalitiden bei abwehrgeschwächten Patienten, Diabetikern und Endokarditiskranken zu.
Erregeridentifikation
Therapie Allgemeine Therapiemaßnahmen bei bakterieller Meningitis sind: 4 Überwachung auf einer Intensiv- oder Überwachungsstation, ggf. Beatmung, 4 bilanzierte Elektrolyt-, Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr, 4 Pneumonie-, Dekubitus- und Ulkusprophylaxe, 4 Hirnödembehandlung bei bewusstseinseingetrübten Patienten, 4 antikonvulsive Einstellung, Fiebersenkung, Heparingabe. 4 Die Substitution von Gerinnungsfaktoren bei Zeichen einer Verbrauchskoagulopathie wird individuell entschieden.
Hirnödemtherapie Die Hirnödemtherapie wird, sofern sie überhaupt erforderlich ist, in erster Wahl (bei kurzzeitiger Anwendung) mit 15-oder 20%iger Mannitlösung, bei längerer Durchführung entweder i. v. mit 40%igem Sorbit (nach Ausschluss einer Fruktoseintoleranz) oder oral mit Glyzerin durchgeführt. Letzteres erfolgt z. B. in einer p.o.-Dosierung von 1 g/kg KG einer 85%igen Glyzerollösung alle 8 h.
Adjuvante Therapie Die lange währende Kontroverse über den Einsatz von Kortikosteroiden bei der bakteriellen Meningitis wurde durch die Studie von de Gans u. van de Beck beendet [3]. Die Prognose insbesondere der Pneumokokkenmeningitis wird durch die Gabe von Dexamethason verbessert. Die erste Gabe (10 mg i.v.) soll vor der ersten Antibiotikaapplikation erfolgen. Danach werden je 10 mg Dexamethason alle 6 h über 4 Tage i.v. appliziert.
Antibiotikatherapie Die Prämissen der antibiotischen Sofortbehandlung sind: 4 schneller Therapiebeginn nach Entnahme von Untersuchungsmaterial, 4 hohe Antibiotikadosierung, jedoch unterhalb der jeweils toxischen Schwelle, 4 kalkulierte, breite Initialtherapie: gezielt gegen die am ehesten in Frage kommenden Erreger, wirksam gegen alle typischen Keime.
Voraussetzung für eine gezielte Behandlung ist die Erregeridentifikation. Sie erfolgt mittels sofortiger Gram-Färbung des Liquorausstrichs sowie durch Blut- und Liquorkulturen. Auch Wundabstriche bei Nachbarschaftsprozessen können wesentliche Informationen erbringen. Im Rahmen der kulturellen Anzucht ist die Resistenztestung im Reihenverdünnungstest (quantitative Angaben zur minimalen Hemmkonzentration) zu fordern. Weitere diagnostische Maßnahmen sind: 4 Suche nach dem primären Herd der Erregerstreuung (z. B. Sinusitis, Otitis, Endokarditis), 4 Ausschluss von basalen Schädeldestruktionen und Liquorfisteln (Liquorszintigramm, kraniales CT – immer mit Knochenfenster), 4 Feststellung von konsumierenden Krankheiten und Immundefekten.
Bei unbekannter Vorgeschichte wird üblicherweise für Erwachsene eine Zweierkombination aus einem Drittgeneration-Cephalosporin (Cefotaxim 3-mal 2–4 g/Tag oder Ceftriaxon 2–4 g/Tag) und einem Aminopenicillin (Ampicillin 3 bis 4-mal 2 g/Tag) wegen der Listerienlücke der Cephasporine gegeben. Abwehrgeschwächte Patienten, z. B. Diabetiker, und Krankheitsfälle mit Shuntsepsis, erhalten ein Staphylokokkenantibiotikum (Flucloxacillin, Fosfomycin, Rifampicin oder Vancomycin); auf Ampicillin kann dann verzichtet werden. Bei nosokomialen Infektionen ist neben einer staphylokokkenwirksamen Komponente auch der Einsatz eines Aminoglykosids (Gentamicin, Tobramycin) zu erwägen. Ist der Erreger identifiziert, erfolgt die Therapie gezielt (. Tab. 53.1).
Die Letalität der bakteriellen Meningitiden liegt bei 10–15%. Bei Pneumokokkengenese, Neurolisteriose und Neurotuberkulose ist sie noch höher.
Eine weitere wichtige Therapiemaßnahme ist die Herdsanierung, die v. a. bei Durchwanderungsprozessen (Sinusitis, Otitis) umgehend erfolgen muss.
Herdsanierung
679 53.1 · Bakterielle Infektionen
53
. Tabelle 53.1. Therapie häufiger bakterieller ZNS-Erkrankungen. (Nach [7]) Erreger
Mittel der Wahl
Alternativen
N. meningitidis (Meningokokken)
Penicillin G (3- bis 4-mal 10 Mio. IE i. v.)
Ceftriaxon (1-mal 2–4 g/Tag mit Initialdosis von 4 g) oder: Cefotaxim (3-mal 2 g), Ampicillin (3-mal 2–4 g/Tag), evtl. Chloramphenicol
S. pneumoniae (Pneumokokken), penicillinempfindlich
Penicillin G (3- bis 4-mal 10 Mio. IE i. v.)
Ceftriaxon oder Cefotaxim (Dosierung s. oben), Vancomycin
S. pneumoniae, Penicillin-intermediärempfindlich (MIC 0,1–1 μg/ml)
Ceftriaxon (2–4 g/Tag mit Initialdosis von 4 g) oder Cefotaxim (3-mal 2–4 g/Tag)
Chloramphenicol, Vancomycin
S. pneumoniae, penicillinresistent (MIC >1 μg/ml)
Ceftriaxon (4 g/Tag) plus Vancomycin (2-mal 1 g/Tag) oder Ceftriaxon plus Rifampicin (1-mal 600 mg/Tag)
Hochdosis-Cefotaxim-Schema (3-mal 4 g/Tag)
H. influenzae
Cefotaxim (3-mal 2–4 g/Tag) oder Ceftriaxon (2–4 g/Tag; Initialdosis: 4 g)
Ampicillin, Chloramphenicol
Streptokokken (Gruppe B)
Ampicillin (Dosierung s. oben) plus Gentamicin (3-mal 80 mg/Tag)
Ceftriaxon oder Cefotaxim oder Vancomycin
Gramnegative Enterobacteriaceae (z. B. Klebsiella, E. coli, Proteus)
Ceftriaxon oder Cefotaxim (Dosierung s. oben) plus Gentamicin oder Tobramycin
Breitspektrumpenicillin plus Gentamicin oder Tobramycin
Pseudomonas aeruginosa
Ceftazidim (3-mal 2 g/Tag) plus Tobramycin (3-mal 80 mg/Tag)
Piperacillin plus Amikacin (Tobramycin)
Staphylokokken, Methicillin-empfindlich
Flucloxacillin (6-mal 2 g/Tag) oder Nafcillin
Fosfomycin (3-mal 5 g/Tag) oder Vancomycin
Staphylokokken, methicillinresistent (MRSA)
Vancomycin (2-mal 1 g/Tag)
Trimethroprim-Sulfamethoxazol (2-mal 960 mg/Tag)
Listeria monocytogenes
Ampicillin (plus Gentamicin)
Trimethroprim-Sulfamethoxazol
Bacteroides fragilis
Metronidazol (3- bis 4-mal 0,5 g)
Chloramphenicol
Kontrolle des Therapieeffekts Zur Beurteilung der Behandlungseffektivität sind geeignet: 1. klinische Verlaufsbeobachtung, z. B. Entfieberung, Besserung der Vigilanz, 2. wiederholte Liquoruntersuchung. 53.1.2 Hirnabszess und subdurales Empyem Hirnabszess und subdurales Empyem sind raumfordernde intrakranielle Prozesse infektiöser Natur. Für den Hirnabszess wird eine jährliche Inzidenz von 0,3–1,0/100.000 angegeben. Ein extrazerebraler Entzündungsherd ist in ca. 75% nachweisbar. Etwa 50% davon gehen von einer Infektion des Mittelohrs oder benachbarter pneumatisierter Räume aus. Der Primärherd bestimmt die Lokalisation: So liegt einem Kleinhirnabszess zumeist eine Otitis oder Mastoiditis, einem frontalen Abszess eine Sinusitis und einem Abszess im Thalamus oder an der Mark-Rinden-Grenze eine hämatogene Erregerstreuung zugrunde. Traumabedingte Hirnabszesse (20%) liegen gewöhnlich oberflächennah. An eine postoperative Abszessgenese und odontogene Infektionen (10–15%) muss auch gedacht werden. Das subdurale Empyem kann als Folge einer bakteriellen Meningitis oder fortgeleitet – sinugen, rhinogen und otogen – ent-
stehen. Schädel-Hirn-Traumen und neurochirurgische Eingriffe sind seltenere Ursachen subduraler Empyeme.
Symptomatik Allgemeine Entzündungszeichen (Fieber, Leukozytose, BKS-Beschleunigung) fehlen in bis zu 20% der Hirnabszessfälle; am zuverlässigsten ist noch der CRP-Anstieg (in 80–90%). Beim subduralen Empyem liegen regelmäßig Entzündungzeichen vor. Kopfschmerzen, mitunter kombiniert mit morgendlichem Erbrechen, sind bei Hirnabszess und subduralem Empyem nahezu immer vorhanden. Eine febrile Reaktion ist nur bei der Hälfte der Hirnabszesspatienten zu beobachten. Vigilanzstörungen, epileptische Anfälle (ca. 35%), psychopathologische Veränderungen und neurologische Herdstörungen (50–70%) treten je nach Größe und Lage des Abszesses auf. Die Stauungspapille ist als Zeichen der intrakraniellen Druckerhöhung nicht verlässlich.
Diagnostik CT und MRT Das wichtigste diagnostische Verfahren ist das kraniale CT, möglichst mit Kontrastmittelgabe. Das MRT ermöglicht auch eine gute Darstellung von Abszess und subduralem Empyem. Zu be-
680
Kapitel 53 · Infektionen des ZNS
achten ist das phasenabhängig variierende CT-Bild des Abszesses, der sich aus einer lokalisierten Hirnphlegmone (Zerebritis) entwickelt. Eine kontrastmittelaufnehmende Ringstruktur ist erst im Stadium der Kapselbildung (Stadium 3/4) scharf vom umgebenden Ödem abgegrenzt. Hämatogene Abszesse haben weniger ausgeprägte Kapseln; auch Immunsuppression oder Kortikosteroidtherapie beeinträchtigt die Kapselbildung. Das subdurale Empyem stellt sich im CT als hypodense, sichel- oder linsenförmige, im Randbereich KM-aufnehmende Abdrängung der Hirnsubstanz von der Kalotte dar (. Abb. 53.1).
53
Lumbalpunktion Die Lumbalpunktion ist für die Abszess- und Empyemdiagnostik weniger bedeutsam. Oft ist sie wegen einer intrakraniellen Massenverschiebung ohnehin kontraindiziert. Bei tieferer Lokalisation gehen Hirnabszesse manchmal mit einem normalen Liquorbefund (ca. 20%) einher. Ansonsten bestehen eine leichte granulozytäre Pleozytose (um 100 Zellen/Pl) sowie eine mäßige Erhöhung von Laktat und Gesamtprotein. Bei langsam entstehenden Abszessen kann eine lokale IgG- oder IgA-Produktion auftreten.
Erreger Typische Erreger des Hirnabszesses sind Staphylokokken, die bei posttraumatischen und postoperativen Prozessen bis zu 50% ausmachen, sowie Streptokokken, vornehmlich vergrünende und nichthämolysierende Streptokokken, Streptococcus milleri, Enterokokken und die anaeroben Peptostreptokokken. Auch
Bakteroidessubspezies, Enterobakterien und Pseudomonas können an der Abszess- bzw. Empyembildung beteiligt sein. Seltene Erreger des Hirnabszesses sind Listerien, Aspergillus und Candida (Immundefekt), Nocardien (typische Lungenbeteiligung), Entamoeba histolytica (Leberabszesse) und Toxoplasmen (HIVInfektion). Der Erregernachweis ist durch frühe Abszesspunktion oder durch Materialgewinnung aus dem primären Streuherd zu führen.
Therapie Beim subduralen Empyem ist die Therapie der Wahl die Bohrlochdrainage unter prä- und postoperativer antibiotischer Abschirmung mit Ceftriaxon (4 g/Tag) [oder Cefotaxim (3-mal 2–4 g/Tag)] plus Rifampicin (600 mg/Tag) [oder Fosfomycin (3mal 5 g/Tag)] plus Metronidazol (3- bis 4-mal 0,5 g/Tag). Die Behandlung des Hirnabszesses richtet sich nach Entwicklungsstadium, Lage und Größe sowie seiner speziellen Struktur. Sie erfolgt sowohl durch konservative Maßnahmen als auch durch operative. Letztere erfordern eine schon vorhandene Ringstruktur (Ausnahme: Kleinhirnabszesse). Abszessaspiration und Abszessexzision mit offener Kraniotomie sind heute zwei gleichwertig nebeneinanderstehende Behandlungsverfahren. Bei oberflächennahem, gekammerten oder einen Fremdkörper einschließenden Abszess wird sich der Operateur für die Exzision mit Kapselentfernung entscheiden. Tiefer gelegene Abszesse werden durch Aspiration mit stereotaktischer Methodik angegangen. Bei oberflächlichen Abszessen ist auch die sog. »Free-hand-Aspiration« möglich. Eine angemessene antibiotische Initialtherapie bei unbekannten Erregern ist die Kombination aus Ceftriaxon oder Cefotaxim plus Metronidazol (Dosierung wie oben). Andere Therapiekonzepte sind ebenfalls denkbar. Hat sich der Abszess nach offener Hirnverletzung oder nach einem neurochirurgischen Eingriff entwickelt, sollte ein staphylokokkenwirksames Antibiotikum (7 Kap. 53.1.1, . Tab. 53.1) in der Kombination enthalten sein. Hirnödemprophylaktische Maßnahmen bestehen in typischer Lagerung, rechtzeitiger Intubation und, falls erforderlich, Osmotherapie. Für die Hirnödemtherapie bieten sich Osmotherapeutika (Glyzerol, Sorbit oder Mannit) an; Dexamethason wird bei bedrohlichen Fällen in Dosen bis zu 4-mal 8 mg/Tag gegeben. Steroide können allerdings die Erregerelimination beeinträchtigen und eine klinische Besserung vortäuschen.
Verlaufskontrolle Der postoperative Verlauf wird mit CT-Kontrollen, 1- bis 2wöchentlich oder bei klinischer Verschlechterung sofort, überwacht. Die antibiotische Behandlung erstreckt sich in der Regel über 4–6 Wochen. Die Letalität der subduralen Empyeme liegt bei 20% und der Hirnabzesse bei 5–15%. Ein typischer Spätschaden des Abszesses ist die Epilepsie, deren Inzidenz mit 30–70% angegeben wird. 53.1.3 Septische Herdenzephalitiden . Abb. 53.1. Kraniales CT eines 55-jährigen Patienten mit rechtsseitigem subduralem Empyem. Das CCT zeigt eine kleine sichelförmige Raumforderung rechts frontoparietal mit randständiger Kontrastmittelanreicherung sowie eine Schwellung der gesamten rechten Hemisphäre
Die metastatisch-embolische Herdenzephalitis entwickelt sich bei septischen Krankheitsbildern als Folge einer Erregerstreuung in das ZNS. Die septisch-embolische Variante ist nahezu immer eine Komplikation der bakteriellen Endokarditis. Bakterienrei-
681 53.1 · Bakterielle Infektionen
che Fragmente der Herzklappenvegetationen gelangen über den Blutstrom in das Gehirn und induzieren hier eine umschriebene ischämische und entzündliche Reaktion, die zumeist polytop ist. Die dominierenden Erreger sind Staphylo- und Streptokokken. Kompliziert wird die Erkrankung mitunter durch die sog. mykotischen Aneurysmen oder einen Hirnabszess. Bei der septisch-metastatischen Variante ist der bakterielle Streuherd variabel; er kann sich in Magen-Darm-Trakt, Herz, Lunge, Haut, Knochen etc. befinden. Die Erreger, bei denen es sich vorzugsweise um A- und D-Streptokokken, Staphylokokken, Enterobakterien, Pseudomonas, seltener auch Pilze und Chlamydien handelt, erreichen das ZNS über die Blutbahn. Es entstehen häufig multiple Hirnabszesse.
Symptomatik Die Symptomatik der embolischen Herdenzephalitis ist primär die eines Schlaganfalls. Fieber, eine Beschleunigung der Blutsenkungsgeschwindigkeit sowie Fibrinogen- und CRP-Erhöhung sind dabei wichtige Hinweise auf die septische Genese. Die Herdsymptomatik ist bei der metastatischen Herdenzephalitis anfangs weniger ausgeprägt, es dominiert zumeist ein Psychosyndrom. Beiden Manifestationsformen gemeinsam sind Kopfschmerzen, leichtere Bewusstseinseinschränkungen, Krampfanfälle, ggf. auch psychotische Episoden. Entsprechend der Pathogenese verläuft die septisch-embolische Variante eher akut, während die septisch-metastatische Enzephalitis auch subakut in Erscheinung treten kann. Bei Endocarditis lenta kann sich der Prozess bis zu 2 Jahre hinziehen. Mitunter wird das Krankheitsbild zunächst als multiple Sklerose oder Immunvaskulitis fehldiagnostiziert.
Diagnostik und Prognose Im Liquor findet man zwischen 20 und 1000 Zellen/Pl; Granulozyten dominieren zumeist. Bei Einblutungen färbt sich der Liquor xanthochrom. Gesamtprotein und Laktat sind wechselnd, zumeist aber nur leicht erhöht. Der Erregernachweis muss über wiederholte Blutkulturen erfolgen. Septische Absiedlungen oder embolische Manifestation sieht man gelegentlich an Haut und Augenhintergrund. Das kraniale CT zeigt bei der embolischen Variante der septischen Herdenzephalitis multiple runde oder keilförmige Dichteminderungen, die kortikal oder im Marklager auftreten. Derartige Infarktareale neigen wegen der sich entwickelnden pyogenen Vaskulitis zu Einblutungen. Letztere stellen ein prognostisch ungünstiges Kriterium dar. Die metastatische Herdenzephalitis bleibt in ca. 50% der Fälle CT-negativ; ansonsten findet man Mikroabszesse an besonders disponierten Stellen (Mark/ Rindengrenze, Stammganglien, Thalamus). Eine diffuse oder lokalisierte Hirnschwellung ist ebenfalls oft zu registrieren. Die embolische Herdenzephalitis geht mit einer Letalität von bis zu 45% einher; bei den Überlebenden persistieren nicht selten ausgeprägte Residualsyndrome. Die Prognose der metastatischen Herdenzephalitis ist günstiger.
Therapie Die Therapie besteht bei noch nicht identifiziertem Erreger in der Kombination von Rifampicin (1-mal 0,6 g/Tag) plus Ceftriaxon (4 g/Tag) oder Cefotaxin (3-mal 2–4 g/Tag). Bei der septisch-metastatischen Variante ist die zusätzliche Gabe eines Aminoglykosids (z. B. Netilmicin 6 mg/kg KG/Tag) oder von Metronidazol (3- bis 4-mal 0,5 g/Tag), je nach Ausgangsherd, zu
53
erwägen. Auch bei nachgewiesener Endokarditis wird üblicherweise ein Aminoglykosid verabreicht. Bei Drogenkonsumenten, die häufig eine Endokarditis des rechten Herzen aufweisen, ist ein verändertes Erregerspektrum zu erwarten. Hier wird Piperacillin in Kombination mit einem der vorgenannten Präparate empfohlen. Unbedingt zu beachten ist in solchen Fällen, dass auch Pilze (z. B. Candida parapsilosis) am entzündlichen Prozess beteiligt sein können. Nach Erregerisolation wird die Antibiotikawahl dem Keimspektrum und dem Antibiogramm entsprechend . Tabelle 53.1 (7 Kap. 53.1.1) angepasst. Bei der metastatischen Herdenzephalitis ist eine therapeutische Heparinisierung möglich. Dies trifft nicht für die embolische Herdenzephalitis zu, weil es hier gehäuft zu Hirn- oder Organblutungen kommt [1]. Ein Zusammenhang mit dem pyogenen Gewäßwandbefall im Embolieareal ist denkbar. Wesentlich für den Therapieerfolg ist die Sanierung des septischen Primärherdes, also der Herzklappe oder des sonstigen entzündlichen Prozesses. Die antibiotische Behandlung der zerebralen Symptomatik sollte mindestens über 4–6 Wochen erfolgen. 53.1.4 Listerienmeningoenzephalitis Listeria monocytogenes ist für 4–7% aller bakteriellen Meningoenzephalitiden verantwortlich. Obwohl Listerien als Opportunitätskeime gelten, weisen ca. 30% der Patienten mit Neurolisteriose keinen Hinweis auf einen Immundefekt auf. Man kann 4 verschiedene Krankheitsverläufe voneinander abgrenzen: 4 akute Meningitis/Meningoenzephalitis (90% der Fälle), 4 Hirnstammenzephalitis (5–10%), 4 Hirnabszess oder infizierter Hirninfarkt, 4 rekurrierende bzw. chronische Enzephalitis.
Symptomatik und Diagnostik Die akute Verlaufsform manifestiert sich in der Regel entsprechend einer purulenten Meningitis, allerdings sind Liquorpleozytose und Laktatanstieg weniger ausgeprägt. Die Erregerdiagnostik erfolgt durch Liquor- und Blutkulturen. Die Antikörperdiagnostik im Serum ist unzuverlässig. Eine Hirnstammenzephalitis entwickelt sich subakut, kann aber bei zu später Klärung der Erregergenese dramatisch verlaufen; die Hirnstammsymptomatik mündet mitunter in Koma und Atemstillstand. Hirnabszesse durch Listerien sind zumeist durch einen schweren Verlauf gekennzeichnet (Letalität >50%).
Therapie Das Antibiotikum der 1. Wahl ist Ampicillin (8 g/Tag in 3–4 Kurzinfusionen); als Kombinationspartner bieten sich Aminoglykoside (Gentamicin 4 mg/kg KG oder Netilmicin 6 mg/kg KG) an. Auch eine Kombinationstherapie aus Ampicillin und Rifampicin ist möglich. Die Therapie soll über einen Zeitraum von 2–4 Wochen durchgeführt werden. Bei Penicillinallergie werden Chloramphenicol (3-mal 1 g/Tag), Cotrimoxazol (2-mal 960 mg/Tag i. m.), Erythromycin (2 g/Tag) oder Doxycyclin (200 mg/Tag) eingesetzt. 53.1.5 Neurotuberkulose Die Tuberkulose gilt derzeit mit weltweit jährlich 8 Mio. Neuerkrankungen als die häufigste Infektionskrankheit. Die Häufigkeit
682
53
Kapitel 53 · Infektionen des ZNS
der Neurotuberkulose nimmt bei bestimmten Risikogruppen zu, z. B. bei Verwahrlosten, Drogenkonsumenten, Immigranten, Patienten mit Immundefizienzsyndrom. Folgende Manifestationsformen werden unterschieden: 4 Meningitis tuberculosa (82% aller Fälle), 4 raumfordernde intrakranielle und intraparenchymatöse Granulome, 4 Rückenmarkläsionen infolge spezifischer Spondylitis, 4 zerebrale Arteriitiden.
rate wie z. B. Ethambutol, Prothionamid, p-Aminosalizylsäure (PAS), Cycloserin oder Ethionamid (Cave: toxische Nebenwirkungen). Im Schriftum wird zunehmend eine initiale Vierfachkombination empfohlen [6]. Streptomycin wird bei schwersten Krankheitsverläufen systemisch (tgl. 15 mg/kg KG i. m. bis zur kumulativen Gesamtdosis von <40 g) und/oder intrathekal (1 mg/kg KG jeden 2. Tag) eingesetzt. Für letzteres ist die Anlage eines intraventrikulären Reser voirs (Rickham-Kapsel) zu empfehlen.
Symptomatik
Dexamethason
Im Allgemeinen entwickelt sich der Krankheitsverlauf subakut; erste Zeichen der meningitischen Reaktion sind Kopfschmerzen, Nackensteife und zunehmende Lethargie. Hirnhautbefall und Granulombildung spielen sich schwerpunktmäßig an den basalen Hirnstrukturen ab, deshalb sind Hirnnervenläsionen (Nn. III, VI, VII, VIII) besonders häufig. Weitere Symptome sind Verwirrtheit, organische Psychosen, Hemiparesen, extrapyramidale und dienzephale Störungen sowie Zeichen eines Okklusionshydrozephalus oder einer spinalen Querschnittlähmung. Bei kleinen Kindern stehen Apathie, Übererregbarkeit, Erbrechen und epileptische Anfälle im Vordergrund. Der Meningismus kann fehlen.
In der Initialphase der Chemotherapie und auch später, bei passagerer klinischer Verschlechterung unter der Behandlung, sind Kortikosteroidgaben indiziert (z. B. 4-mal 4 mg Dexamethason i. v. in absteigender Dosierung).
Diagnostik Die Sofortdiagnostik schließt ein kraniales (ggf. auch spinales) CT oder MRT sowie die Lumbalpunktion ein. Im Gegensatz zu den purulenten Meningitiden weist der Liquor eine geringere Zellzahl, ein »buntes Zellbild«, gelegentlich mit Eosinophilie, ein hohes Gesamtprotein und nur eine mäßige Laktaterhöhung auf. Bei rein parenchymatöser Manifestation kann der Liquor normal sein (eigene Daten). ! Cave Die »klassische« Erregerdiagnostik (Mikroskopie, Kultur, Tierversuch) ist oft unergiebig oder erst verspätet positiv.
Als moderne Verfahren der Liquordiagnostik hat sich die Polymerasekettenreaktion (PCR) durchgesetzt (Literatur bei [5, 6]). Sputum, Magensaft und Urin werden ebenfalls zur Erregerdiagnostik eingeschickt. Bei jedem Fall einer ZNS-Tuberkulose sollte die Suche nach sonstigen Organmanifestationen (Lunge, Auge, Niere, Knochen) breit angelegt werden. Ein Lungenbefall ist bei 35–75% der Patienten nachweisbar. Ein häufiger unspezifischer Laborbefund ist die Hyponatriämie.
Therapie i Die Therapie tuberkulöser ZNS-Syndrome beginnt bereits beim klinisch begründeten Verdacht.
Für die Anfangsphase wird die folgende Kombination empfohlen: 4 Isoniazid (INH): 10 mg/kg KG/Tag als Infusion (in 3 Einzeldosen, Tageshöchstdosis 1 g) 4 plus 4 Rifampicin: 10 mg/kg KG/Tag als Einmalgabe (Tageshöchstdosis für Erwachsene 0,75 g) 4 plus 4 Pyrazinamid: 30–75 mg/Tag (1,5–2 g/Tag als orale Einmalgabe). Resistenzentwicklung oder Unverträglichkeitserscheinungen erfordern manchmal die Wahl anderer antituberkulöser Präpa-
Vitamin B6 Vitamin B6, bis 600 mg/Woche, darf nicht vergessen werden, weil es sonst als INH-Nebenwirkung zu Krampfanfällen, Psychosen oder schwerer Polyneuropathie kommen kann. Die hochdosierte Chemotherapietherapie muss zunächst über 6–12 Wochen oder länger aufrechterhalten werden. Auf orale Gaben wird umgestellt, wenn der Patient wach und kooperativ ist, kein Erbrechen besteht und die Magen-Darm-Tätigkeit sich normalisiert hat. Später wird die Therapie als Zweierkombination (INH 5 mg/kg KG plus Rifampicin) fortgeführt. 53.1.6 Sonstige bakterielle ZNS-Erkrankungen Das Spektrum sonstiger bakterieller ZNS-Erkrankungen ist umfangreich. Viele Krankheitsbilder sind entweder selten oder ohne intensivmedizinische Relevanz.
Lyme-Borreliose Unter den Spirochätenerkrankungen ist die durch Zeckenstich übertragene Lyme-Krankheit (Borrelia burgdorferi) am häufigsten. Ihre neurologischen Manifestationen wie die Meningoradikulitis Bannwarth, die chronische Borrelien-Enzephalomyelitis, die Borrelien-Myositis und die chronische Polyneuropathie gehen selten mit akuten lebensbedrohlichen Situationen einher; eine Ausnahme stellen Einzelfälle der zerebralen Vaskulitis dar.
Neurosyphilis Ähnliches trifft für die Neurosyphilis (Treponema pallidum) zu. Die progressive Paralyse kann gelegentlich einmal wie eine akute Enzephalitis verlaufen, und bei der vaskulitischen Verlaufsform der Syphilis cerebrospinalis ist das Auftreten ausgedehnter Hirninfarkte in Hemisphären oder Hirnstamm möglich.
Leptospirose Die Leptospirose (Leptospira-interrogans-Komplex) als menigitische, enzephalitische oder myelitische ZNS-Erkrankung kommt kaum noch vor. Wegen eines Multiorganbefalls ist eine Intensivüberwachung erforderlich. Vorgenannte Krankheiten werden vorzugsweise mit infektionsimmunologischen Methoden verifiziert. Die Behandlung erfolgt in erster Wahl hochdosiert mit E-Laktamantibiotika. Im Spätstadium der Spirochätenkrankheiten spielen autoimmunologische Reaktionen für die Aufrechterhaltung des entzündlichen Prozesses eine erhebliche Rolle.
683 53.2 · Viruserkrankungen
Mykoplasmen, Rickettsien und Chlamydien Infektionen durch Mykoplasmen, Rickettsien und Chlamydien werden wegen der besonderen Erregermerkmale zumeist nicht erkannt. Unter den Mykoplasmen spielt nur M. pneumoniae als Verursacher einer entzündlichen Erkrankung des Nervensystems eine Rolle. Enzephalitis, Meningitis oder Myelitis treten typischerweise auf dem Höhepunkt der bronchopulmonalen Infektion in Erscheinung. Die Meningoenzephalitis manifestiert sich mit meningealer Reizsymptomatik, Krampfanfällen, Vigilanzstörungen, hohem Fieber und auch neurologischen Herdsymptomen. Bis zu 30% der Patienten bedürfen einer intensivmedizinischen Behandlung. Kleinhirn- und Hirnstammläsionen, Entwicklung eines Hydrocephalus occlusus sowie akute Querschnittslähmungen sind möglich. Mykoplasmainfektionen gehen gehäuft mit einer akuten Kälteagglutinin-Krankheit einher, die in Einzelfällen zu rezidivierenden Hirninfarkten führt (eigene Beobachtungen). Auch eine Polyradikulitis vom Typ Guillain-Barré kann sich im Rahmen einer Mykoplasmainfektion einstellen. Letztgenanntes Krankheitsbild, das normalerweise parainfektiös auftritt, wird wie Polyradikulitiden anderer Ursache behandelt (7 Kap. 56). Über die Therapie von mykoplasmenassoziierten ZNS-Erkrankungen gibt es keine sicheren Erkenntnisse. Obwohl der Wert einer Antibiotikatherapie nicht eindeutig belegt ist, sollte ein gegen Mykoplasmen wirksames Präparat (z. B. Clarithromycin) eingesetzt werden. Wegen der langen Persistenz der Erreger ist diese Therapie über etwa 8 Wochen fortzusetzen. Eine Kortikosteroidgabe wird vielerorts abgelehnt, weil die Wirksamkeit nicht belegt ist.
Ornithose Als Chlamydienerkrankung des ZNS ist die Ornithose (Psittakose, Papageienkrankheit), die mit einer atypischen Pneumonie sowie mit Leber- und Herzmuskelbefall einhergeht, allgemein gut bekannt. ZNS-Symptome sind Meningismus (und Liquorpleozytose), Vigilanzstörungen, Krampfanfälle, selten auch Querschnittlähmung. Chlamydia trachomatis und Chlamydia pneumoniae können ebenfalls akute neurologische Erkrankungen wie z. B. das Guillain-Barré-Syndrom oder eine zerebrale Vaskulits verursachen. Die Therapie der Ornithose besteht in Doxycyclin (2-mal 100 mg) oder Minocyclin (200 mg/Tag). Alternativ kann Erythromycin (4-mal 500 mg/Tag) oder Clarithromycin (2-mal 500 mg/Tag) gegeben werden. 53.2
Viruserkrankungen
Virale ZNS-Erkrankungen können sich als schwere Enzephalitiden und Myelitiden manifestieren und erfordern dann eine Intensivbehandlung. Die Virusmeningitis (»aseptische Meningitis«) ist dagegen gutartig und bedarf keiner speziellen Therapie. Die Letalität aller Virusenzephalitiden zusammen wird für Erwachsene mit 7% und für Kinder mit 14% angegeben. Die Größenordnung postenzephalitischer Defektsyndrome ist ebenfalls nicht unbedeutend, wenn auch je nach Ätiologie variierend. 53.2.1 Herpes-simplex-Enzephalitis (HSE) Die HSE ist eine schwere, aber therapeutisch beherrschbare virale Gehirnentzündung. Ihre frühe Erkennung und Behandlung
53
ist schicksalhaft für den betroffenen Patienten. Die Inzidenz des sporadisch auftretenden Leidens wird auf 1,5–4 pro 1 Mio. Einwohner geschätzt.
Symptomatik Nach einem grippalen Vorstadium und einem kurzen symptomarmen Inter vall manifestieren sich Fieber, Kopfschmerz, Wernicke-Aphasie und/oder Verwirrtheit. Kurze psychotische Episoden (oft nur Situationsverkennungen) gehören zu diesem Krankheitsstadium. Es folgen komplex-fokale Krampfanfälle mit sekundärer Generalisierung, zumeist in Serien auftretend. Schließlich geht die Symptomatik in ein Stadium zunehmender Vigilanzstörungen über. ! Cave Unbehandelt ist die HSE in 70% der Fälle tödlich. Residualsyndrome wie Hemiparesen, persistierende Aphasie, Epilepsie oder amnestische Syndrome sind v. a. bei spätem Behandlungsbeginn zu erwarten. Deshalb sollte die antiherpetische Medikation schon beim Verdachtsfall ohne zeitlichen Verzug beginnen.
Diagnostik Der Verdacht auf HSE begründet die notfallmäßige MRT- und Liquoruntersuchung. Im kranialen MRT zeigen sich krankheitstypische uni- oder bilaterale Entzündungsherde im Hippokampus-, Operculum-, Insula- und Gyrus-cinguli-Bereich. Das CCT ist in den ersten 5 Krankheitstagen unergiebig. Der Liquor weist in ca. 95% der Fälle eine mäßige Pleozytose (10–400 Zellen/Pl), eine leichte bis deutliche Gesamtproteinerhöhung, einen geringen Laktatanstieg und in der PCR nachweisbares HSV-Genom auf. Die sofortige Durchführung der Liquor-PCR ist bei HSEVerdacht obligat. Eine Verifizierung der Diagnose durch Darstellung der intrathekalen Antikörperproduktion gegen HSV oder einen Titer verlauf im Blut spielt für die Therapieentscheidung keine Rolle, weil sie erst 12–14 Tage nach Krankheitsbeginn möglich ist.
Therapie Jeder HSE-Verdacht wird unverzüglich mit Aciclovir (3-mal 10 mg/kg KG tgl. als i. v.-Kurzinfusion über 2–3 Wochen) behandelt. Die rational begründbare Zusatzmedikation mit Kortikosteroiden ist in Ermangelung prospektiver klinischer Therapiestudien bis heute noch eine Ermessensfrage. Die HSE-typische diffuse hämorrhagische Entzündung in Temporallappen und anderen Teilen des Großhirns führt nicht selten zu einer Steigerung des intrakraniellen Drucks (ICP). Drucksenkende Therapiemaßnahmen sind dann erforderlich. Bei rascher Bewusstseinstrübung gehört dementsprechend die frühzeitige Implantation einer ICP-Sonde zur Basistherapie. Auf diese Weise werden ICP-Anstiege rechtzeitig erfasst und gezielt mit Osmotherapeutika, Trispuffer, Barbiturat- oder J-Hydroxybuttersäurekoma sowie speziellen Lagerungs- und Pflegemaßnahmen behandelt. Solange die Diagnose der HSE nicht durch den positiven Ausfall der PCR gesichert ist, erscheint die begleitende Gabe eines Breitbandantibiotikums sinnvoll, weil bakterielle ZNS-Krankheiten – namentlich Hirnabszesse (im Zerebritisstadium), septische Herdenzephalitiden und Neurolisteriose – das Frühstadium der HSE imitieren können.
684
Kapitel 53 · Infektionen des ZNS
53.2.2 Enzephalitiden durch andere Herpesviren
Varizellen
53
Die VZV-Enzephalitis kann sich als Varizellenenzephalitis (-enzephalopathie) während einer Windpockeninfektion – zumeist mit zerebellärer Symptomatik – manifestieren. Pathogenetisch handelt es sich in der Regel um eine postinfektiöse, also nicht unmittelbar erregerbedingte Enzephalitis. Die davon abzugrenzende Zosterenzephalitis verläuft ähnlich wie die HSE; sie ist bei Lymphompatienten gehäuft und geht dort mit einer Letalität von über 20% einher. Therapeutisch ist, wie bei der HSE, die Anwendung von Aciclovir (3-mal 10 mg/kg KG tgl.) indiziert. Bei immuninkompetenten Kranken sollte die Gabe von Interferon-E erwogen werden. Neben Meningitis und Enzephalitis werden durch das VZV-Virus auch Myelitiden, zerebrale Vaskulitiden, GuillainBarré-Syndrom und Myositis hervorgerufen.
Zytomegalie Das Zytomegalievirus (CMV) spielt als Enzephalitiserreger vorzugsweise bei immundefizienten Patienten (Aids, immunsuppressive Therapie) eine Rolle. Prä- und postnatale CMV-Enzephalitiden verursachen schwere Defektsyndrome. Die klinische Symptomatik der CMV-Enzephalitis im Kindes- und Erwachsenenalters schließt Bewusstseinstrübung, epileptische Anfälle und
verschiedenartige Herdzeichen ein. Das Leiden verläuft zumeist subakut. Im MRT sind größere Entzündungsherde, die Marklager und Rindenareale einschließen, erkennbar. Der Liquor zeigt entzündliche Veränderungen mit humoraler Immunreaktion und intrathekaler Antikörpersynthese. Die diagnostische Bedeutung des pp65-Nachweises im Blut bei ZNS-Infektionen durch CMV ist noch nicht geklärt. Diagnostik der Wahl ist der direkte Erregernachweis mittels PCR im Liquor. Die Therapie ist in . Tabelle 53.2 dargestellt. Unbehandelt ist das Krankheitsbild über kurz oder lang letal.
Epstein-Barr-Virus Das Epstein-Barr-Virus (EBV), Erreger der infektiösen Mononukleose, kann ebenfalls neurologische Komplikationen verursachen. Intensivmedizinisch relevant sind Guillain-Barré-Syndrom, Querschnittmyelitiden und seltener Meningoenzephalitiden mit subakutem Verlauf. Die diagnostische Zuordnung basiert v. a. auf der typischen Konstellation der Serumantikörper (Anti-VCA-IgM positiv, Anti-EA-Antikörper positiv, AntiEBNA-AK negativ oder positiv). Der zusätzliche Nachweis einer intrathekalen Antikörperproduktion, das Auftreten atypischer Lymphozyten und schließlich der Nachweis erregerspezifischer DNA im Liquor mittels PCR sind richtungweisend. Eine spezifische Therapie ist nicht verfügbar, da die derzeit angebotenen Antiherpetika in vivo nicht ausreichend wirksam sind. Eine Aciclovir- oder Famciclovirgabe kann versucht werden.
. Tabelle 53.2. Behandlung opportunistischer ZNS-Erkrankungen Krankheit
Behandlungsmaßnahmen
Prognose
1. Zerebrale Toxoplasmose
Täglich 2-mal 50 mg Pyrimethamin (nach 3 Tagen auf 2-mal 25 mg reduzieren) plus Sulfadiazin 4g pro Tag (oder 2,4 g Clindamycin pro Tag) plus 15 mg Folin-säure/Tag p. o. über 4 Wochen (ggf. antiödematöse Therapie mit 4-mal 4 mg Dexamethason/ Tag); Prophylaxe: 50 mg Pyrimethamin/Tag plus 15 mg Folinsäure/Tag p. o. (plus Sulfaiazin w. o.)
Initial in der Regel rasche Besserung, aber Rezidivgefahr. Beachte: Bei klinischradiologischem Verdacht: unverzüglicher Therapiebeginn!
2. CMV-Enzephalitis
Ganciclovir: initial 2-mal 5 mg/kg KG tgl. über 14–21 Tage oder Foscarnet 2-mal 90 mg/kg KG tgl. über 1–2 h i. v. über 14–21 Tage oder Cidofovir 5 mg/kg KG pro Woche (2–3 Wo.)
Therapie unsicher. Bei fortbestehender Immunsuppression Erhaltungstherapie notwendig.
3. Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)
1-mal wöchentl. 5 mg/kg KG Cidofovir
Wirksamkeit gering. Bei bestehender HIV-Infektion HAART optimieren.
4. Kryptokokkenmeningitis
Täglich 0,3–1 mg Amphotericin B/kg KG plus 4-mal 37,5 mg Flucytosin/kg KG (ggf. intrathekal: 0,25–0,5 mg Amphotericin B in 5–10 ml Aqua dest. jeden 2. Tag intraventrikulär); 2. Wahl: 800 mg Fluconazol/Tag Prophylaxe: 200–400 mg Fluconazol/Tag p. o.
Hohe Rezidivrate, deshalb mehrwöchige Therapiedauer
5. Systemische Candidose (mit ZNS-Beteiligung)
1. Wahl: tgl. 0,3–1,0 mg Amphotericin B/kg KG plus 4-mal 37,5 mg Flucytosin/kg KG; 2. Wahl: Fluconazol 1-mal 400–1200 mg/Tag i. v.
Zumeist Besserung. Cave: Resistenz bei C. glabrata und C. krusei gegenüber Fluconazol; Voriconazol (800 mg/d) empfohlen
6. ZNS-Aspergillose
Wie bei Candidose (1. Wahl), evtl. zusätzlich intrathekal, wie bei Kryptokokkose
Prognose ungünstig, weil zu spät erkannt, deshalb Hirnbiopsie im Verdachtsfall.
7. Rhinozephale Mukormykose
Operative Ausräumung plus tgl. 0,3–1,0 mg Amphothericin B/kg KG
Extrem hohe Letalität (bei schwärzlicher Färbung von Nasensekret und Tränen sofortige Operation).
685 53.2 · Viruserkrankungen
53.2.3 Enzephalitiden durch andere Viren Vertreter weiterer Virusgruppen können ebenfalls Enzephalitiden mit schwerem Verlauf erzeugen. Allerdings ist die Letalität deutlich niedriger; die Therapie besteht in der Regel nur in (intensivmedizinischen) Allgemeinmaßnahmen.
Frühsommermeningoenzephalitis Ein typisches Beispiel hierfür ist die in bestimmten Regionen Mitteleuropas (Ostthüringen, Süddeutschland, Österreich, Slowakei) gehäufte Frühsommermeningoenzephalitis (FSME), deren Erreger, ein Flavivirus, durch Zecken (Ixodes ricinus) übertragen wird.
53
strichs, Hirnbiopsie und ein spezieller Tierversuch. Nach dem Biss ist nur die frühe postexpositionelle Prophylaxe mit HDC-Vakzine, verabfolgt in 5 Einzelgaben, lebensrettend. Bei kopfnahen Bissstellen empfiehlt sich zusätzlich die Immunisierung durch ein humanes Hyperimmunserum (Berirabies-Tollwut-Immunglobulin). Eine gründliche Behandlung der Bissstelle mit Wundexzision und Desinfektion unmittelbar nach der Exposition ist unerlässlich. Das medizinische Personal einer Intensivstation, auf der ein Tollwutkranker behandelt wird, sollte einen ausreichenden Impfschutz besitzen. 53.2.4 Akute disseminier te Enzephalomyelitis
(ADEM)
Symptomatik Die neurologische Symptomatik ist vielfältig und manifestiert sich meistens biphasisch mit katarrhalischem Vorstadium und meningitischem bzw. meningoenzephalitischem Krankheitsstadium. Zerebelläre, extrapyramidale und psychoorganische Funktionsstörungen stehen im Vordergrund. Im MRT stellen sich mitunter symmetrische oder asymmetrische stammgangliennahe Entzündungsherde dar. Der Liquor weist Pleozytose (ca. 100 Zellen/Pl), mäßige Gesamtproteinerhöhung, normales oder grenzwertiges Laktat, später auch intrathekal produziertes IgM auf.
Therapie Eine spezifische Therapie ist nicht verfügbar; die Letalität liegt bei 1–2%. Eine Postexpositionsprophylaxe mit einem Hyperimmunserum ist nicht mehr möglich, da kein Impfstoff mehr erhältlich ist. Bei manifestem Krankheitsbild kann Amantadin (200–500 mg/kg KG) verabfolgt werden; die Effektivität ist mehr als fragwürdig.
Neurotrope Enteroviren Die häufigsten Enzephalitiserreger sind nach allgemeiner Auffassung die neurotropen Enteroviren (Gruppe Picornaviren). Bekannte Vertreter sind Coxsackie-, ECHO- und Polioviren. Die Poliomyelitis spielt heute dank umfassender Schutzimpfungen praktisch keine Rolle mehr.
Tollwut Die Tollwut (Lyssa, Rabies), durch ein neurotropes Rhabdovirus hervorgerufen, ist infolge prophylaktischer Maßnahmen selten geworden. Manifeste Krankheitsfälle sind indes letal.
Symptomatik Die Symptomatik verläuft in 3 Stadien, die innerhalb von ca. 3 Wochen durchlaufen werden: 4 Das katarrhalische Prodromalstadium kann mit Missempfindungen an der Bissstelle einhergehen. 4 Im 2. Stadium treten Hydrophobie, Schlingkrämpfe, Salivation, Erregungszustände und hochgradige Irritabilität, Krampfanfälle, motorische Hyperaktivität und gehäuftes Erbrechen in den Vordergrund. 4 Im 3. Stadium (paralytisches Stadium) kommt es zu Lähmungen, Koma und schließlich zu autonomen Regulationsstörungen.
Diagnostik und Therapie Eine spezifische Therapie gibt es nicht. Besondere diagnostische Maßnahmen sind Immunfluoreszenzfärbung eines Hornhautab-
Die Erkrankungen dieser Gruppe entstehen immunpathogenetisch nach viralen Krankheiten wie Masern, Mumps, Röteln, Varizellen, Influenza, nach Schutzimpfungen (postvakzinal) oder nach Gabe von Medikamenten mit Hapteneigenschaft. Die ADEM entspricht den so genannten para- oder postinfektiösen Enzephalomyelitiden.
Symptomatik und Diagnostik Die Symptomatik kann Hirnnervenläsionen, Paresen, Sensibilitätsstörungen, Krampfanfälle, Vigilanzminderung bis hin zum Koma und spinale Symptome einschließen. Der Liquor unterscheidet sich nicht wesentlich von erregerbedingten Virusenzephalitiden; mitunter sind schon früh oligoklonale IgG-Banden nachweisbar, die oft im weiteren Verlauf wieder verschwinden. Das wesentliche diagnostische Kriterium sind im MRT erkennbare, mehr oder weniger großflächige Entmarkungsherde im Centrum semiovale. Sie sind v. a. in den T2- und FLAIR-gewichteten Aufnahmen nachweisbar.
Therapie Bei frühzeitiger Einleitung intensivmedizinischer Maßnahmen ist die Letalität gering. Die Erkrankung bildet sich in der Regel nach einigen Wochen oder auch Monaten mit oder ohne Residualsymptome zurück. Die Effektivität der allgemein empfohlenen Kortikosteroidgabe (z. B. 1 g Methylprednisolon/Tag als Kurzinfusion über 3–5 Tage) wurde bisher nicht klinisch evaluiert. Intravenöse Immunglobuline (tgl. 0,4 g/kg KG über 5 Tage), Plasmapherese oder Cyclophosphamid kommen zum Einsatz, wenn die Erkrankung trotz Kortikosteroidtherapie progredient oder die Remission unbefriedigend ist [4].
Akute hämorrhagische Leukenzephalitis Die akute hämorrhagische Leukenzephalitis (HURST) entspricht der perakut verlaufenden, nekrotisierenden Manifestationsform der ADEM. Die Krankheit besitzt in ihrer Verlaufsdynamik Ähnlichkeiten mit der HSE mit sukzessivem Auftreten von Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Übelkeit, Erbrechen, hohem Fieber, Aphasie, Hemi-oder Tetraspastik, Papillitis optici, Pupillenstörung, Krampfanfällen und schließlich Koma. Der Liquor ist blutig tingiert; die mononukleäre Pleozytose erreicht Zellzahlen zwischen 10 und 1000/Pl. Kraniales CT und MRT erlauben eine klare Abgrenzung von der HSE. Man findet fleckige, später konfluierende Ödemareale im Marklager; temporale Strukturen sind nicht bevorzugt befallen. Der fulminante Verlauf des Leidens lässt häufig jegliche Therapie zu spät kommen; wesentlich sind ICP- und Tempera-
686
Kapitel 53 · Infektionen des ZNS
tursenkung. Osmotherapie, ein tiefes Barbituratkoma unter EEG-Kontrolle und der frühzeitige Einsatz von intravenösen Immunglobulinen, Plasmapherese oder Cyclophosphamid wurden vorgeschlagen. Solange eine HSE nicht sicher ausgeschlossen ist, wird zusätzlich Aciclovir (3-mal 10 mg/kg KG) verabfolgt. 53.3
53
Oppor tunistische ZNS-Infektionen
Opportunistische Infektionen des Nervensystems entwickeln sich nicht nur bei HIV-Infizierten in späten Krankheitsstadien [2], sondern auch bei Personen, die aus anderer Ursache abwehrgeschwächt sind. Vorzugsweise betroffen sind Patienten mit konsumierenden Krankheiten, Organempfänger, medikamentös Immunsupprimierte, Lymphom- und Leukämiekranke, Patienten nach großen chirurgischen Eingriffen und längerer Intensivbehandlung, schlecht eingestellte Diabetiker, Verwahrloste etc.
Typische Krankheitsbilder Hierzu können folgende Erkrankungen gehören: 4 zerebrale Toxplasmose, 4 CMV-Enzephalitits, 4 progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML; Erreger: Papova-Viren), 4 Neurotuberkulose, 4 Neurolisteriose, 4 Pneumokokkenmeningitis (bei Asplenikern), 4 Hirnabszesse durch Nocardien, 4 Kryptokokkenmeningoenzephalitis, 4 Candidose, 4 Aspergillose, 4 Mukormykose (azidotische Diabetiker; Desferoxamintherapie), 4 EBV-assoziierte ZNS-Lymphome. Auch die granulomatöse Amöbenenzephalitis durch Akanthamöben wird dieser Krankheitsgruppe zugeordnet. Die Krankheitsbilder sind vielfältig, oft auch uncharakteristisch. Sie entwickeln sich zumeist mit subakuter Symptomatik; später kommt es regelhaft zu Bewusstseinstörungen. Die Herdsymptomatik richtet sich nach Erregerart, Lokalisation, Grundleiden und anderen Faktoren. Diagnostisch muss oft die ganze Breite der Möglichkeiten von bildgebenden Verfahren, Liquoranalytik, Serologie bis hin zu den molekularbiologischen Untersuchungstechniken ausgeschöpft werden. Bei Verdacht auf zerebrale Aspergillose ist die Hirnbiopsie zu fordern. Die Therapiemaßnahmen bei einzelnen opportunistischen Infektionen sind in . Tabelle 53.2 aufgeführt.
Literatur 1. Bitsch A, Nau R, Hilgers RA et al. (1996) Focal neurologic deficits in infective endocarditis and other septic diseases. Acta Neurol Scand 94: 279–286 2. Brodt H-R, Helm EB, Kamps BS (2000) AIDS 2000, Diagnostik und Therapie. Steinhäuser, Wuppertal : Die Aktualisierung dieses Werkes kann unter dem Namen »HIV.NET 2005« unter http://hiv.net/2010/buch.htm als PDF-Datei heruntergeladen werden.
3. de Gans J, van de Beek (2002) Dexamethasone in adults with bacterial meningitis. N Engl J Med 347: 1549–1556 : Diese Studie zeigt eindrucksvoll den Nutzen einer frühen und zeitlich begrenzten Therapie mit Dexamethason bei der bakteriellen Meningitis. Der Nutzen ist zwar unabhängig von der vorherigen Erregeridentifikation, aber bei Pneumokokkeninfektionen am größten. 4. Diener HC (2005) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart : Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie werden ständig erweitert und aktualisiert. Sie können auch unter www.dgn.org abgerufen werden. 5. Kniehl E, Dörries H, Geiss RK et al. (2001) Infektionen des Zentralnervensystems. Qualitätsstandards in der mikrobiologisch-infektiologischen Diagnostik, Bd 17 (MIQ 17 2001). Urban & Fischer, München Jena 6. Pfister H-W (2002) Meningitis. Kohlhammer, Stuttgart Berlin 7. Prange H, Bitsch A (2001) Infektionserkrankungen des Zentralnervensystems. Pathogenese, Diagnose und Therapie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart
54 Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation G.A. Zäch, M. Baumberger, P. Felleiter, F. Michel, H.G. Koch
54.1
Grundlagen
54.1.1 54.1.2
Definition –688 Statistik –688
54.2
Pathophysiologie und Klinik
54.2.1 54.2.2 54.2.3
Neurologische Ausfälle –688 Ausfall des autonomen Nervensystems (»autonomic failure«) –688 Störungen des Atmungssystems –689
54.3
Diagnostik
54.3.1 54.3.2 54.3.3
Neurostatus –690 Begleitverletzungen –690 Bildgebende Diagnostik –691
54.4
Notfallmanagement
54.4.1 54.4.2
Präklinik –691 Intensivstation –691
54.5
Therapie
54.5.1 54.5.2
Operative und konservative Maßnahmen –692 Pharmakotherapie –692
54.6
Frührehabilitation
54.6.1 54.6.2 54.6.3
Nahrungsaufbau und Darmrehabilitation –692 Blasenrehabilitation –692 Mobilisation –693
54.7
Prognose Literatur
–688
–688
–690
–691
–692
–693 –693
–692
688
Kapitel 54 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
54.1
Grundlagen
54.2.2 Ausfall des autonomen Ner vensystems
(»autonomic failure«) 54.1.1 Definition
54
Eine Querschnittlähmung entsteht durch akute oder chronische Schädigung des Rückenmarks (nach Unfall oder durch Krankheit). Die Unterbrechung der darin verlaufenden motorischen, sensiblen und vegetativen Bahnen führt zur Lähmung der Muskulatur unterhalb des Verletzungsniveaus, zum Ausfall der Sensibilität (Schmerz, Temperatur, Tast- und Lagesinn) und zu Störungen der vegetativen Funktionen. Die Reflexe fehlen im akuten Stadium, erscheinen aber nach Abklingen des spinalen Schocks in gesteigerter Form. Nach Höhe der Affektion unterscheidet man 4 Paraplegie, Lähmung des Rumpfes und beider Beine (T2–S5) 4 und 4 Tetraplegie, bei welcher alle 4 Extremitäten betroffen sind (C0–T1). Sind nur Teile des Rückenmarks betroffen, können typische Syndrome unterschieden werden. Häufig sind: 4 »central cord syndrome«, 4 »anterior cord syndrome«, 4 Brown-Séquard-Syndrom und deren Mischformen. Bei einem Schaden unterhalb S2 entsteht ein Conus-Cauda-Syndrom. 54.1.2 Statistik Die Inzidenz der Querschnittlähmungen in Deutschland beträgt 25/1 Mio. Einwohner und in der Schweiz 27/1 Mio. Einwohner Traumatische Querschnittlähmungen entstehen mehrheitlich (>60%) bei Verkehrsunfällen und bei Sportunfällen, am häufigsten sind 18- bis 25-jährige Personen betroffen. Rund 60% sind Paraplegiker und 40% Tetraplegiker. 2/3 der traumatischen Querschnittgelähmten sind Männer. Bei nichttraumatischen Querschnittlähmungen ist die Geschlechtsverteilung ausgeglichen. 54.2
Pathophysiologie und Klinik
Die spezifischen querschnittbedingten kardiovaskulären Komplikationen sind Folge des Ausfalls autonomer Funktionen [16]. Im Gegensatz zum parasympathischen Nervensystem (Hirnnerven III, VII, IX und X und Nervenwurzeln S2–S4) läuft die sympathische Innervation über die spinalen Segmente T1‒L2. Die akute traumatische Querschnittläsion führt somit durch den Ausfall der sympathischen Innervation zu einem Überwiegen des Parasympathikus. Entsprechend der sympathischen Versorgung des Herz-Kreislauf-Systems von T1–T7 führt dies zu den im Folgenden dargestellten Komplikationen.
Hypotonie/Hypertonie In den ersten Sekunden bis Minuten kann der Bludruck noch durch die Aktivierung der Vasopressoren der Nebennierenrinde aufrecht erhalten werden, gefolgt von einer Hypotonie durch den Ausfall des sympathischen Nervensystems. Die klassische Trias des neurogenen Schocks beinhaltet die Hypotonie zusammen mit einer Bradykardie und Hypothermie. Pathophysiologisch führen die akute Abnahme des peripheren Gefäßwiderstandes und das venöse Pooling zu einer Abnahme des kardialen Preloads. Die Hypotonie ist am ausgeprägtesten in der Phase des spinalen Schocks, welcher Tage bis Wochen dauert. Danach kann es bei Läsionshöhe T6 und höher zur autonomen Dysregulation (Dysreflexie) mit gefährlicher, unkontrollierter Hypertonie kommen (. Abb. 54.1).
Orthostatische Hypotonie Sie tritt bei Läsionen unterhalb T6 selten auf. Die Symptome bessern sich häufig während der Erstrehabilitation durch lokale spinale Reflexe und Spastizität sowie durch adaptive zerebrovaskuläre Mechanismen.
Bradykardie Bradyarrhythmien und Sinusbradykardien treten infolge des Ausfalls der sympathischen Versorgung von T1–T4 bei allen tetraplegischen Patienten im Akutstadium auf. Ein initialer Sinusstillstand ist selten. Die Bradykardie bessert sich meist nach der Phase des spinalen Schocks. Vorsicht ist jedoch weiterhin geboten bei Manipulationen am Patienten wie beispielsweise trachealem Absaugen, Intubation oder Bronchoskopie. Ein reflektorischer Sinusstillstand kann als Folge der vagalen Stimulation auftreten.
Fehlende Thermoregulation 54.2.1 Neurologische Ausfälle Ein Trauma der Wirbelsäule verursacht in 7,5% der Fälle ein spinales Trauma. Die neurologischen Ausfälle sind durch direkte mechanische Einwirkung auf das Rückenmark (Distorsion oder Kompression durch Fraktur, Tumor, Metastase, Hämatom etc.) oder bei nichttraumatischer Ursache durch Beeinträchtigung der Durchblutung, Entzündungen jeglicher Art, toxisch-allergische Reaktionen oder Bestrahlung des Rückenmarks verursacht. Es kommt zu Schwellungen, Ödembildung und Blutungen periund intraspinal, die ihrerseits den Schaden nach kranial und kaudal ausweiten.
Bei Läsionen oberhalb T6 ist die Temperaturregulation relevant gestört. Diese Patienten können Schwankungen der Körpertemperatur nicht mehr kompensieren. In heißer Umgebung können sie nur an den noch innervierten Körperpartien schwitzen. Die offene periphere Blutstrombahn führt bereits bei Zimmertemperatur zur Auskühlung, und eine Steigerung der Körpertemperatur durch Muskelzittern ist aufgrund der Lähmung nicht möglich.
Endokrinologie und Metabolismus Als Folge der vegetativen Lähmung ergeben sich bei einem Querschnittgelähmten spezielle Probleme, die Ausdruck einer unvorhersehbaren und unorganisierten Aktivität des Sympathikus sind [5]. Im Besonderen sind dies ein gestörter Glukose-, Lipid- und Kalziummetabolismus, ein Hypothyroidismus (»low T3 syndrome«), Hyperprolaktinämie, Verlust des ADH-Tagesrhythmus, ge-
689 54.2 · Neurologische Ausfälle
54
. Abb. 54.1. Pathophysiologie der autonomen Dysregulation. (Nach [6])
störte adrenokortikale Stressreaktion und Hypotestosteronämie. Bei querschnittgelähmten Frauen tritt eine transiente Amenorrhö (Dauer 2‒18 Monate, Durchschnitt 8 Monate) als Folge eines hypothalamischen hypophysären Hypogonadismus auf. 54.2.3 Störungen des Atmungssystems Querschnittläsionen verursachen in Abhängigkeit von der Läsionshöhe eine Schwäche der inspiratorischen und exspiratorischen Muskulatur. Die Abnahme der Kraft der inspiratorischen Muskulatur führt in der Lungenfunktionsprüfung zu einer Abnahme der inspiratorischen Kapazität und somit einer reduzierten totalen Lungenkapazität. Folge davon kann eine Hypoventilation sein. Die Abnahme der Kraft der exspiratorischen Muskulatur führt zu einer Abnahme der exspiratorischen Kapazität und bei nur geringer Abnahme der funktionellen Residualkapazität (entspricht der Atemruhelage) zu einer Erhöhung des Residualvolumens. Folge davon ist ein schwacher Hustenstoß und damit ein vermindertes Vermögen, die Luftwege von Sekret freizuhalten. Querschnittläsionen unterhalb L1 beeinträchtigen klinisch meist kaum die Atempumpe. Läsionen von T5‒T12 führen zu einer Schwäche der abdominalen Muskulatur und der Interkostalmuskulatur, forcierte Ausatmung und Hustenstoß sind beeinträchtigt [4]. Von T1‒T5 wird die Interkostalmuskulatur progressiv schwächer; dadurch wird der Hustenstoß entscheidend beeinträchtigt und damit die Möglichkeit, Sekret abzuhusten [3]. Bei Läsionen oberhalb C4‒C8 erfolgt die Exspiration nur passiv. Läsionen C4 und höher beeinträchtigen die Zwerchfellinnervation und schwächen damit die Inspiration.
i Patienten mit Läsionen C2 oder höher bleiben in der Regel abhängig von einer mechanischen Ventilation, während bis zu 80% der Patienten mit einer Läsion C3 und C4 erfolgreich von der initialen mechanischen Ventilation entwöhnt werden können.
In Einzelfällen kann zu einem späteren Zeitpunkt die Implantation eines Zwerchfellstimulators erwogen werden [11].
Hypersekretion Das Überwiegen des parasympathischen Tonus auf die Luftwege hat eine Verengung der Luftwege und eine Hypersekretion zur Folge. Zusammen mit einem verminderten Hustenstoß führt dies zu Sekretstase, Atelektase, durch die bakterielle Besiedelung der Luftwege zu Bronchitis und Bronchopneumonie [9, 12]. Typische Komplikationen des Atmungssystems (Ausmaß in Abhängigkeit zur Läsionshöhe) 4 4 4 4 4 4 4
Thoraxkontusion (inkl. Pneumothorax) Akute und chronische Bronchitis Alveoläre Hypoventilation Aspiration Pneumonie Pleuraerguss Lungenembolie
690
Kapitel 54 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
54.3
Diagnostik
54.3.1 Neurostatus
54
Die neurologische Beurteilung einer Querschnittlähmung erfolgt nach den Richtlinien der ASIA (American Spinal Injury Association; . Abb. 54.2; [2]) Das klinische Bild lässt Rückschlüsse auf den Ort der Verletzung/Erkrankung des Rückenmarks, die Schwere der Lähmung und prognostische Faktoren zu. Das »neurologische Niveau« bezeichnet das kaudalste Rückenmarksegment mit beidseitig normaler Funktion. Sensibles und in analoger Weise getestetes motorisches Niveau wie auch linke gegen rechte Körperseite können voneinander abweichen. Es empfiehlt sich mit der Prüfung der Sensibilität (Schmerz) von kranial her zu beginnen. Mit der Prüfung der Sensibilität in den Dermatomen können alle Rückenmarksegmente getestet werden, was bei der Prüfung der Motorik nicht möglich ist. Normale Sensibilität zuerst im Gesicht testen, Hirnnerven sind meist nicht betroffen. Die Untersuchung der Motorik beschränkt sich in der Akutphase auf die Testung der Muskelkraft der 10 beidseitigen Schlüsselmuskeln in 10 Myotomen. Der Kraftgrad wird semiquantitativ in Werte zwischen 0 und 5 eingeteilt. In der Akutphase liegt wegen des spinalen Schocks meist ein schlaffe Lähmung vor.
Die Komplexität der Querschnittlähmung unterscheidet sich am Vorhandensein oder Fehlen der »sakralen Aussparung«. Findet sich eine perianale Sensibilität in den Segmenten S4–S5 (= sakrale Aussparung vorhanden), wird die Querschnittlähmung als inkomplette, bei fehlender perianaler Sensibilität als komplette Querschnittlähmung bezeichnet [20, 21]. Die Klassifikation der Querschnittlähmungen gemäß den ASIA-Kriterien zeigt . Tabelle 53.1. Bei der Untersuchung der perianalen Sensibilität sollte immer auch eine Rektaluntersuchung zur Beurteilung des Sphinktertonus und willkürlicher Aktivität durchgeführt werden. Unterhalb des neurologischen Niveaus vorhandene Sensibilität (oder Motorik) wird als Zone mit partiell erhaltener Innervation bezeichnet. 54.3.2 Begleitverletzungen Bei einer Verletzung der Wirbelsäule ist immer auch auf entsprechende Begleitverletzungen zu achten. Schwere Kopfverletzungen sind häufig mit Schäden an der Halswirbelsäule kombiniert. Bei thorakalen Wirbelfrakturen sind Rippenfrakturen, Herz- und Lungenkontusion, traumatische Pankreatitis, Hämato-/Pneumothorax und Paravertebral- und Mediastinalblutungen häufig [18]. Bei Verletzungen der Lendenwirbelsäule kommt es zu Leber- und Milzverletzungen, retroperitonealen Hämatomen und Nierenkon-
. Abb. 54.2. ASIA-Statusblatt für die Untersuchung querschnittgelähmter Patienten. (Aus: [17])
691 54.4 · Notfallmanagement
54
tusionen. Bei Stürzen auf die Füße/Beine immer auch auf Frakturen der unteren Extremitäten, speziell der Füße achten.
Vitalfunktionen insbesondere die Vermeidung eines Transporttraumas im Vordergrund. Transporttraumata durch unsachgemäße Umlagerungen des Patienten können zu einer weiteren direkten Schädigung des Nervensystems mit der Folge einer bleibenden Verschlechterung der neurologischen Situation und somit gravierenden Folgen für das weitere Leben führen [10]. Deshalb werden Immobilisationshilfen bei allen Patienten mit Verdacht auf eine Verletzung der Wirbelsäule großzügig eingesetzt. Standard ist die Stabilisation der Halswirbelsäule, sei es anfangs durch manuelle Stabilisierung mit dem Halsschienengriff (z. B. während der Abnahme eines Motorradhelms) oder durch die anschließend möglichst frühzeitige Anlage einer stabilen Halskrawatte. Alle Umlagerungen wirbelsäulenverletzter Patienten werden mit einer Schaufeltrage oder Spineboard durchgeführt, der Transport selbst auf einer adäquat abgesaugten Vakuummatratze. Zuvor ist eine Kontrolle auf Fremdkörper im Auflagebereich des Patienten (z. B. Geldbörse, Schlüssel, Mobiltelefon) sinnvoll, da bereits in dieser Phase schnell Druckstellen erzeugt werden, welche die Rehabilitation des Patienten erheblich verzögern können. Die Zielklinik für einen Patienten mit Verletzungen der Wirbelsäule und/oder des Rückenmarks muss sowohl diagnostische Möglichkeiten in den Bereichen radiologische Bildgebung (konventionelles Röntgen, Computertomographie, Magnetresonanztomographie) sowie neurophysiologische und laborchemische Untersuchungen als auch die Möglichkeit einer sofortigen operativen Versorgung durch eine wirbelsäulenchirurgische Abteilung bieten. Aufgrund geringerer Vibrationen ist dem Hubschraubertransport der Vorzug zu geben, sofern die Witterungsbedingungen dies zulassen und es deshalb nicht zu zeitlichen Verzögerungen kommt.
54.3.3 Bildgebende Diagnostik
54.4.2 Intensivstation
. Tabelle 54.1. Klassifikation der Querschnittlähmungen gemäß ASIA Schweregrad
Charakteristik
A
Komplett; keinerlei motorische oder sensible Funktionen in den sakralen Segmenten S4–S5
B
Inkomplett; sensible, aber keine motorischen Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden, inklusive S4–S5
C
Inkomplett; motorische Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden. Mehr als die Hälfte der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus hat Muskelkraft von weniger als 3 (= Motorik, die funktionell nicht eingesetzt werden kann)
D
Inkomplett; motorische Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden. Mehr als die Hälfte der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus hat Muskelkraft 3 oder mehr (= Motorik, die funktionell eingesetzt werden kann, z. B. für Transfers)
E
Normal; motorische und sensible Funktionen sind normal
i Weil die klinische Untersuchung durch das Fehlen der Sensibilität erheblich erschwert ist, hat die Bildgebung spezielle Bedeutung.
Eine initiale Ganzkörper-Computertomographie mit einem Spiral-CT bietet einen erheblichen Zeitgewinn in der primären Diagnostik. Sämtliche Skelettfrakturen vom Schädel bis zum Becken und mögliche Verletzungen der inneren Organe sind innerhalb weniger Minuten diagnostiziert, und Probleme können gezielt angegangen werden. Danach empfiehlt es sich, nach Möglichkeit eine Magnetresonanzuntersuchung anzuschließen, die weitere Informationen über das Rückenmark (Blutung, Ödem, Defekte etc.) selbst wie auch über die Wirbelsäule ergibt. Oft werden nicht oder wenig dislozierte Wirbelfrakturen erst im MRI entdeckt, und diskoligamentäre Läsionen der Wirbelsäule können erst im Magnetresonanzbild dargestellt werden. Nach Stabilisation der Wirbelsäule mit metallischen Implantaten ist die Bildgebung der Verletzungsstelle im MRI oft beeinträchtigt. 54.4
Notfallmanagement
54.4.1 Präklinik Bei der präklinischen Versorgung traumatischer Rückenmarkverletzungen steht neben der Sicherung bzw. Wiederherstellung der
Die typischen intensivmedizinischen Problembereiche bei Patienten mit Verletzungen der Wirbelsäule und/oder des Rückenmarks sind 5 der spinale Schock, 5 gesteigerte Reaktionen auf vagale Reize, 5 der paralytische Ileus, 5 das extrem hohe Risiko für Dekubitalulzera. 5 Für den Großteil dieser Probleme ist die vegetative Dystonie durch die Schädigung des Sympathikus verantwortlich.
Die durch Vasoplegie bedingte relative Hypovolämie, oft durch eine blutungsbedingte absolute Hypovolämie verstärkt, wird primär durch die Infusion kristalloider und kolloidaler Volumenersatzmittel therapiert. Bei persistierendem Schock werden Katecholamine eingesetzt, bevorzugt Noradrenalin zur Vasokonstriktion, bei ventrikulärer Dysfunktion auch Dobutamin [1]. Bei Verletzungen oberhalb von T7 kommt es durch den Ausfall der sympathischen Innervation des Herzens zu ausgeprägten Bradykardien bis hin zur Asystolie; diese können spontan auftreten, insbesondere jedoch bei vagalen Reizen (z. B. beim Absaugen). Akut wird mit intravenösem Atropin therapiert, bei rezidivierendem Auftreten wird Orciprenalin in einer Dosierung von 10– 30 mg/Tag eingesetzt. Der Einsatz eines Herzschrittmachers ist nur extrem selten erforderlich.
692
54
Kapitel 54 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
Aufgrund des posttraumatisch auftretenden paralytischen Ileus mit Retentionsmagen muss zur Entlastung möglichst frühzeitig eine Magensonde gelegt werden, über die dann auch bereits innerhalb der ersten 24 h zur endogenen Stimulation eine vorsichtige Ernährung begonnen werden kann. Parallel werden Laxanzien und Einläufe eingesetzt, um mittelfristig einen 2–täglichen Abführrhythmus zu erreichen. Alle querschnittgelähmten Patienten müssen regelmäßig in 2- bis 3-stündigen Intervallen umgelagert werden. Auch bei Patienten mit instabilen Frakturen ist eine seitliche Lagerung mit einem Winkel von 30° durch unter die Matratze gelegte Schaumstoffkeile möglich, dennoch sollte eine operative Stabilisierung schnellstens angestrebt werden. Harte Halskragen sind sobald als irgend möglich gegen weiche Kragen auszutauschen, da sich im Bereich der Kanten innerhalb weniger Stunden schwere Drucknekrosen ausbilden können. Die Haut muss im Bereich der Risikoareale (Fersen, Knöchel, Trochanter major, Sitzbein, Steißbein) täglich kontrolliert werden. Eine nicht wegdrückbare Hautrötung bedeutet bereits einen Dekubitus und muss sofort konsequent und vollständig entlastet werden. 54.5
Therapie
54.5.1 Operative und konser vative Maßnahmen Die Wiederherstellung der Statik und Belastungsstabilität der Wirbelsäule wird heute meist operativ durch offene oder geschlossene Reposition und anschließende dorsale und/oder ventrale Osteosynthese durchgeführt. Eine konservative Therapie durch spezielle Lagerung oder äußere Stabilisierung (z. B. Halogestell, Korsett) bis zur knöchernen Ausheilung kann in einzelnen seltenen Fällen indiziert sein. Allerdings ermöglicht das invasive Vorgehen innerhalb kurzer Zeit eine Mobilisierung der Patienten und trägt damit zur Senkung des Risikos typischer Komplikationen wie Lungenembolien oder Dekubitalulzera bei. 54.5.2 Pharmakotherapie Die Gabe hochdosierter Kortikosteroide nach Rückenmarkverletzungen wird seit vielen Jahren sehr kontrovers diskutiert [13] Die in der NASCIS II-Studie (National Acute Spinal Cord Injury Study)[7] auch im Langzeitverlauf gezeigten positiven Effekte auf Sensorik und Motorik sind geringfügig, können für den einzelnen Patienten jedoch einen erheblichen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Diesem möglichen Benefit steht eine erhöhte Inzidenz von Infektionen gegenüber, welche in engem Zusammenhang mit der Förderung der Glukoneogenese und den daraus folgenden hyperglykämischen Episoden zu sehen ist. Es ist unbekannt, ob diese Erhöhung des Infektrisikos unter der heute in der Intensivmedizin üblichen strengen Kontrolle der Glukosespiegel nachweisbar wäre. Die Solumedrolgabe wird heute nur noch als therapeutische Option empfohlen. Die Indikation wird der individuellen Einschätzung des Behandlers überlassen, ein Verzicht auf den Einsatz dieser Therapie stellt keine Unterlassung dar. Kontraindiziert ist die Gabe von hochdosiertem Methylprednisolon bei gleichzeitigem Vorliegen eines Schädel-Hirn-Traumas und wenn ein Therapiebeginn nicht innerhalb der ersten 8 h nach dem
Rückenmarktrauma möglich war. Ebenfalls besteht keine Indikation bei Stich- und Schnittverletzungen des Rückenmarks und bei Kindern unter 16 Jahren.
Thromboseprophylaxe Querschnittgelähmte haben bereits initial ein sehr hohes Risiko für Becken-Beinvenenthrombosen und damit auch Lungenembolien. Es empfiehlt sich, in den ersten 12 Wochen eine Thromboseprophylaxe mit gewichtsadaptiert dosiertem niedermolekularem Heparin durchzuführen, Beginn 24h postoperativ [19]. Zusätzlich erhält der Patient hüfthohe Kompressionsstrümpfe (Kompressionsklasse II). Diese sollen während 6 Monaten getragen werden. Die orale Antikoagulation stellt eine kostensparende Alternative der Thromboseprophylaxe dar. 54.6
Frührehabilitation
54.6.1 Nahrungsaufbau und Darmrehabilitation Die neurogene Darmlähmung ist eines der Merkmale einer akuten Querschnittlähmung. Charakteristisch ist die Unfähigkeit, den Darm spontan zu entleeren. In der Akutphase hat sich der Einsatz von Prokinetika, Laktulose und Bisacodyl-Suppositorien zusammen mit einer manuellen Ausräumung im zweitäglichen Abführrhytmus etabliert. Wenn diese Maßnahmen nicht erfolgreich sind, muss man zuerst mögliche intraabdominelle Verletzungen/Erkrankungen ausschließen, bevor man mit Neostigmin- (reversibler kompetitiver Hemmstoff der Acetylcholinesterase) und Dexpanthenoluminfusionen beginnt. Das Risiko eines seltenen abdominellen Kompartmentsyndroms bei gleichzeitigem Vorhandensein von massiver Koprostase und Meteorismus muss im Auge behalten werden. Eine besondere Rolle spielt die frühenterale Ernährung. Entgegen älterer Empfehlungen wird heutzutage so früh wie möglich mit der enteralen Ernährung begonnen, evtl. kombiniert mit einer parenteralen Ernährung, wenn der errechnete/gemessene Kalorienbedarf nicht enteral abgedeckt werden kann, oder bei absoluter Kontraindikation für eine enterale Ernährung. Ziel dieser Maßnahme ist es, neben der Stimulation des Gastrointestinaltraktes, einer Mangelernährung während der ersten Rehabilitationsphase vorzubeugen. Beginn mit Infusion einer Glukoselösung über die Magensonde, anschließend mehrstufiger Kostaufbau mit faserreicher Kost und osmotischen Laxanzien (z. B. Laktulose). Gleichzeitig zeigt sich häufig eine akute Pankreatitis (16±5,5 Tage nach Trauma), die selten klinisch relevant wird und die eine Folge der autonomen Lähmung ist (Sphinkter-Oddi-Dysfunktion und vagal dominierte Innervation des Pankreas). 54.6.2 Blasenrehabilitation Die urologischen Störungen erfordern frühzeitig ein klares Behandlungskonzept, da sie bei nicht korrekter Behandlung eine der relevanten Todesursachen bei Querschnittgelähmten darstellen. Unmittelbar nach dem Eintreten der Lähmung entsteht eine schlaffe Blasenlähmung, welche die Phase des spinalen Schocks charakterisiert. Hier kann für kurze Zeit ein transurethraler Dauerkatheter eingelegt werden. Diese transurethrale Ableitung muss spätestens
693 Literatur
nach 48 h durch eine suprapubische Ableitung ersetzt werden, um nicht Blaseninfektionen, Urethrastrikturen, Divertikel, Fistelbildung und Blasensteine zu riskieren. Als nächster Schritt muss der sterile intermittierende Katheterismus angestrebt werden. Die weitere urologische Versorgung ist abhängig von der Blasenlähmungsart, die je nach Läsionshöhe (1. oder 2. Neuron) schlaff (»lower motor neuron bladder«; LMNB) oder spastisch (»upper motor neuron bladder«; UMNB) sein kann. 54.6.3 Mobilisation Der operativ stabilisierte Patient wird, nach Vorgabe des Operateurs, meist in dem ersten Tagen mobilisiert. Beginn mit 15–30 min Sitzen im individuell angepassten Rollstuhl, tägliche Steigerung nach Befinden des Patienten. Bei konservativer Frakturbehandlung der Wirbelsäule wird der Patient 10–12 Wochen immobilisiert. Bei Tetraplegikern ist oft aufgrund der fehlenden Kreislaufregulation ein Vertikalisationstraining im Stehbett oder auf dem Kipptisch notwendig, um den Körper an die aufrechte Sitzposition zu gewöhnen. 54.7
Prognose
i In der Akutphase einer Querschnittverletzung lässt sich kaum eine verlässliche Prognose bezüglich Erholung abgeben (spinaler Schock).
Die Beobachtung der neurologischen Entwicklung in den ersten Wochen nach der Verletzung zeigt meist die Richtung der Entwicklung. Eine vorhandene sakrale Aussparung (= perianale Sensibilität vorhanden) wird als eher positives Zeichen interpretiert, während eine im MRI sichtbare Blutung im Rückenmark oder eine vollständige Kontinuitätsunterbrechung des Rückenmarks als schlechtes prognostisches Zeichen gewertet wird. Inkomplette Lähmungen (ASIA B‒D; . Tab. 54.1), rasche Erholung nach dem Trauma und neurophysiologisch messbare Aktivität können Zeichen einer positiven Prognose sein [8].
Literatur 1. Adams A (2005) Zur Diagnostik und Therapie der Schockformen – Empfehlungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Schock der DIVI – Teil VI – Neurogener Schock. Anästh Intensivmed 46: 453–457 2. American Spinal Injury Association: Standard for neurological classification of spinal injured patients, http: //www.asia-spinalinjury.org/ publications/2006_Classif_worksheet.pdf : Die ASIA stellt unter dieser Webseite nicht nur den Untersuchungsbogen, sondern auch eine Literaturdatenbank und Unterrichtsmaterial zur Verfügung. 3. Bach JR (1994) Cough in SCI patients. Arch Phys Med Rehabil 75: 610 4. Bach JR (2006) Prevention of respiratory complications of spinal cord injury: a challenge to «model” spinal cord injury units. J Spinal Cord Med 29: 3–4 5. Bauman WA, Spungen AM (2000) Metabolic changes in persons after spinal cord injury. Phys Med Rehabil Clin N Am 11: 109–140 6. Blackmer J (2003) Rehabilitation medicine: Autonomic dysreflexia. CMAJ 169: 931–935
54
7. Bracken MB, Shepard MJ, Holford TR et al. (1997) Administration of methylprednisolone for 24 or 48 hours or tirilazad mesylate for 48 hours in the treatment of acute spinal cord injury. Results of the Third National Acute Spinal Injury Randomized Controlled Trial. National Acute Spinal Cord Study. JAMA 277: 1597–1604 : Diese ausgedehnten Multicenterstudien (NASCIS I–III) untersuchten, ob die Gabe von hochdosiertem Methylprednisolon die entzündlichen Sekundärschädigungen nach Rückenmarktrauma unterdrücken kann. Darauf basierend gehörte die Steroidbehandlung in den letzten 20 Jahren zum Standard bei akuter Querschnittlähmung. Über deren Wirksamkeit bestehen unterschiedliche Auffassungen. 8. Curt A, Dietz V (1999) Electrophysiological recordings in patients with spinal cord injury: Significance for predicting outcome. Spinal Cord 37: 157–165 9. Dicpinigaitis PV, Spungen AM, Bauman WA, Absgarten A, Almenoff PL (1994) Bronchial hyperresponsiveness after cervical spinal cord injury. Chest 105: 1073–1076 10. Felleiter P, Reinsberger C, Springe D, Plunien H, Baumberger M (2006) Preclinical diagnosis of traumatic paraplegia or tetraplegia – a prospective study in 100 patients. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 41: 9–13 11. Glenn WW, Anagnostopoulos CE (1966) Electronic pacemakers of the heart, gastrointestinal tract, phrenic nerve, bladder, and carotid sinus: current status. Surgery 60: 480–494 12. Grimm DR, Schilero GJ, Spungen AM, Bauman WA, Lesser M (2006) Salmeterol improves pulmonary function in persons with tetraplegia. Lung 184: 335–339 13. Himmelseher S, Büttner J, Baethmann A, Piek J, Unterberg AW (1999) Zur Gabe von Kortikosteroiden nach akuter spinaler Traumatisierung. Mitteilung des wissenschaftlichen Arbeitskreises Neuroanästhesie der DGAI. Anästh Intensivmed 10: 716–726 14. Kirshblum S, Campagnolo DI, DeLisa JA (Hrsg) (2002) Spinal Cord Medicine. Lippincott, Williams & Wilkins, Phildadelphia 15. Lin V et al. (2003) Spinal cord medicine, principles and practice. Demos Medical Publishing, New York 16. Mathias CJ, Bannister R (Hrsg.) (1993) Autonomic failure, a textbook of clinical disorders of the autonomic nervous system. Oxford University Press, Oxford 17. Maynard FM, Bracken Jr MB, Creasey G, Ditunno JF et al. (1997) International standards for neurological and functional classification of spinal cord injury. Spinal Cord 35: 266–274 18. Nobel D, Baumberger M, Eser P, Michel D, Knecht H, Stocker R (2002) Nontraumatic pancreatitis in spinal cord injury. Spine 1; 27: E228–32 19. Riklin C, Baumberger M, Wick L, Michel D, Sauter B, Knecht H (2003) Deep vein thrombosis and heterotopic ossification in spinal cord injury: a 3 year experience at the Swiss Paraplegic Centre Nottwil. Spinal Cord 41 (3): 192–8 20. Waters et al. (1991) Definition of complete spinal cord Injury. Paraplegia 9: 573–581 21. Woolsley RM, Young RR (1991) The clinical diagnosis of disorders of the spinal cord. Neurol Clin 9: 573–583 22. Zäch GA, Koch HG (Hrsg.) (2006) Paraplegie, Ganzheitliche Rehabilitation. Karger, Basel : Umfassende Darstellung der diagnostischen, therapeutischen und sozialen Aspekte der Rehabilitation von querschnittgelähmten Patienten. Zahlreiche Bilder, Tabellen und Diagramme geben dem Leser eine plastische Vorstellung der Thematik.
55 Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen H.-P. Hartung, B.C. Kieseier, M. Schroeter
55.1
Einleitung
55.2
Guillain-Barré-Syndrom
55.3
Akute hepatische Porphyrien
55.4
Hypokaliämie
55.5
Chronische Polyneuropathien
55.6
Störungen der neuromuskulären Über tragung
55.6.1 55.6.2 55.6.3 55.6.4
Myasthenia gravis –700 Lambert-Eaton-Syndrom –702 Botulismus –702 Neuromuskuläre Blockade –702
55.7
Primäre Myopathien
55.8
Critical-illness-Polyneuropathie (CIP)
55.9
Critical-illness-Myopathie (CIM) Literatur
–696
–704
–697 –700
–700 –700
–702
–704
–703
–700
696
Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
55.1
Einleitung
Eine Reihe von Erkrankungen des peripheren Nervensystems, der neuromuskulären Endplatte und der quergestreiften Muskulatur kann durch rasch fortschreitende Lähmung, Ateminsuffizienz und autonome Störungen lebensbedrohlich werden und eine intensivmedizinische Behandlung erfordern. Diese Erkrankungen können Folge einer Störung oder eines Versagens der Impulsfortleitung entlang des Axons, einer neuromuskulären Übertragungsstörung oder einer strukturellen Schädigung von Nerv oder Muskel sein. Die Ursachen sind in . Tabelle 55.1 gezeigt. In der Mehrzahl der Fälle ist die Diagnose bei Aufnahme auf der Intensivstation bekannt; eine akute Exazerbation oder rasche
55
. Tabelle 55.1. Ursachen einer akuten schlaffen Paralyse (mit/ ohne Ateminsuffizienz) 1
Neuropathien
1.1
Immunvermittelt: Guillain-Barré-Syndrom, chronische Polyneuritis (CIDP), vaskulitische Neuropathien
1.2
Infektiöse Neuropathien: Borreliose, diphterische Neuropathie, West-Nile-Virusinfektion
1.3
Akute alkoholische Polyneuropathie bei Thiaminmangel
1.4
Toxische Neuropathien (Hexacarbonschnüffler; Organophosphate, Acrylamid, Arsen-/Blei-/ Thalliumneuropathie)
1.5
Medikamenteninduzierte Neuropathien (Dapson, Nitrofurantoin, Chloroquin, Gold, INH, Suramin, Zimeldin, Amiodaron)
2
Störungen der neuromuskulären Übertragung
2.1
Myasthenia gravis
2.2
Lambert-Eaton-myasthenes Syndrom
2.3
Botulismus
2.4
Organophosphatintoxikation
3
Myopathien
3.1
Erworbene Myopathien: Dermatomyositis, Polymyositis, Einschlusskörpermyositis, myoglobinurische Myopathie, toxische Myopathie
3.2
Angeborene Myopathien: myotone Dystrophien, kongenitale (Nemalin-, zentronukleäre) Myopathie, saurer Maltasemangel, mitochondriale Myopathien
4
Elektrolytstörungen
4.1
Hypokaliämische periodische Paralyse
4.2
Hyperkaliämische periodische Paralyse
4.3
Hypokaliämie
4.4
Hyperkaliämie
4.5
Hypophosphatämie
4.6
Hypermagnesiämie
Progredienz mit manifesten oder drohenden vitalen Funktionsstörungen erfordert intensivmedizinisches Monitoring und Behandlung. Gelegentlich können sich jedoch einige dieser Erkrankungen primär mit lebensbedrohlichen Komplikationen manifestieren. Hierzu gehören insbesondere das Guillain-Barré-Syndrom und die sich mit Krise manifestierende Myasthenia gravis. Sehr selten sind dagegen dyskaliämische Paralysen, ein Botulismus oder akut nekrotisierende Manifestationen von Myopathien. Auf der anderen Seite können sich neuromuskuläre Erkrankungen als Folge einer schweren intensivpflichtigen Erkrankung ergeben, z. T. stark behindernde neuromuskuläre Erkrankungen während bzw. nach einer Intensivtherapie wegen nicht-neurologischer Erkrankungen: Critical-illness-Neuropathie und Critical-illness-Myopathie sind neuromuskuläre Erkrankungen, die die Entwöhnung von Respirator und die Rehabilitation ganz erheblich erschweren können. Die Erstversorgung des neuromuskulär Erkrankten folgt den allgemeinen intensivmedizinischen Grundsätzen. Liegen bei Aufnahme auf der Intensivstation keine Vorinformationen über eine neuromuskuläre Erkrankung vor oder handelt es sich um eine
. Abb. 55.1. Klinisches Vorgehen bei akuter schlaffer Parese
697 55.2 · Guillain-Barré-Syndrom
Erstmanifestation, so erfolgt, soweit möglich, eine gezielte Anamneseerhebung und eine orientierende neurologische Untersuchung [32, 44].
55
gnose kommt der Neurographie und der Elektromyographie zu (. Abb. 55.2). 55.2
Guillain-Barré-Syndrom
Anamnestische Hinweise 5 Neuropathien: progrediente Schwäche, Parästhesien und andere Sensibilitätsstörungen, Muskelatrophien mit distalem Schwerpunkt 5 Störungen der neuromuskulären Übertragung: muskuläre Ermüdbarkeit, Doppelbilder, Ptose, Dysphagie, Dysarthrophonie 5 Myopathien: Schwierigkeiten beim Aufstehen und Treppensteigen; Schwäche der Kopfbeugung/-streckung evtl. Muskelatrophien mit rumpfnahem Schwerpunkt 5 Neuronopathie (amyotrophe Lateralsklerose): Schwäche, Faszikulationen, Atrophie, Dysphagie, Dysarthrophonie
Bei der neurologischen Untersuchung soll jener Abschnitt des peripheren Nervensystems und der Muskulatur identifiziert werden, dessen Dysfunktion oder Schädigung dem Krankheitsbild zugrunde liegt (. Abb. 55.1, . Tab. 55.2). In . Tabelle 55.3 sind die wegweisenden diagnostischen Zusatzmaßnahmen aufgelistet [44]. Entscheidende Bedeutung in der Differenzialdia-
. Tabelle 55.2. Lokalisation bei Erkrankungen mit muskulärer Schwäche
Mit einer Inzidenz von 1,5–2 pro 100.000/Jahr ist das GuillainBarré-Syndrom (GBS, akute Polyneuritis) seit dem durch die Durchimpfung der Bevölkerung erreichten weitgehenden Verschwinden der Poliomyelitis die häufigste Ursache einer akuten neuromuskulären Paralyse. Es handelt sich um ein Syndrom mit verschiedenen pathologisch und pathogenetisch definierten Varianten (. Abb. 55.3; [23, 25, 39, 43]).
Krankheitsbilder In Mitteleuropa am häufigsten ist die klassische demyelinisierende Form, die akute entzündlich-demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP, 60–90%). Varianten sind die akute motorische und sensorische axonale Neuropathie (AMSAN, 5–10%); eine vorwiegend in Ländern der Dritten Welt vorkommende akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) sowie das Miller-FisherSyndrom, das durch die klinische Trias äußere Augenmuskelparesen, Areflexie und Extremitätenataxie gekennzeichnet ist (3–5% aller GBS-Fälle). Sehr seltene Varianten sind die akute Pandysautonomie mit Ausfall sympathischer und parasympathischer vegetativer Funktionen und eine rein ataktische Variante [25, 39].
. Tabelle 55.3. Akute neuromuskuläre Schwäche: Zusatzdiagnostik Diagnostik
Lokalisation
Klinische Charakteristika
Motoneuron
4 4 4 4
Peripherer Nerv
4 Schwäche und sensible Störungen 4 Gelegentlich assoziierte autonome Funktionsstörungen 4 Hirnnervenbeteiligung möglich 4 Hypo- bis Areflexie
Neuromuskuläre Endplatte
4 Kraniale, Schulter-, Beckengürtelund proximale Muskulatur betroffen 4 Atemmuskeln können betroffen sein 4 Bei präsynaptischen Störungen vorübergehende Kraftsteigerung nach Übung (Fazilitierung), autonome Auffälligkeiten möglich 4 Bei postsynaptischen Störungen: Ermüdbarkeit
Muskel
Vornehmlich motorische Ausfälle Nur gelegentlich sensible Störungen Häufig asymmetrisch Muskeleigenreflexe gesteigert (bei amyotropher Lateralsklerose)
4 Befall vornehmlich von Nacken-, Schulter-, Beckengürtel- und proximaler Muskulatur 4 Mögliche assoziierte Kardiomyopathie 4 Gelegentlich Beteiligung der Atemmuskulatur 4 Mögliches Risiko einer Myoglobinurie
Unmittelbar bei Aufnahme
4 4 4 4 4 4
Weitere klinischchemische Tests
4 Serum/Blut – Leberfunktionstests – Schilddrüsenhormone – Autoantikörper – Bioassays für Botulinumtoxin – Toxikologisches Screening – Parathormon 4 Urin – Porphyrine 4 Liquor – Entzündungszellen – Eiweiß und Immunglobuline
Bildgebende Verfahren
4 Kernspintomographie (Wirbelsäule/ Rückenmark/Cauda equina)
Elektrophysiologie
4 Neurographie, EMG, magnetisch evozierte motorische und sensibel evozierte Potenziale, repetitive Nervenstimulation
Pharmakologischer Test
4 Mit Camsilon (Edrophonium) oder Neostigmin (Prostigmin)
Blutbild BSG/CRP Blutgasanalyse Urinanalyse, Kreatinin, Myoglobin Serumelektrolyte Muskelenzyme (CK u. a.)
698
Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
55
. Abb. 55.2. Diagnostischer Algorithmus bei schlaffer Parese (ALS amyotrophe Lateralsklerose, CIM Critical-illness-Myopathie, CIP Critical-illness-Polyneuropathie, GBS Guillain-Barré-Syndrom, LEMS Lambert-Eaton-Syndrom)
Symptomatik
Ätiologie
Die Erkrankung beginnt in der Regel 1–3 Wochen nach einem Infekt der Atemwege oder des Gastrointestinaltrakts mit distalen Parästhesien, denen unterschiedlich schnell eine progrediente Schwäche mehr als einer Extremität, häufig aszendierend, folgt. Die relativ symmetrisch ausgebildeten schlaffen Paresen entwickeln sich gewöhnlich über Tage, um schließlich entsprechend einer willkürlichen Definition in Abgrenzung zu chronischen Polyneuritisformen innerhalb von 4 Wochen das Maximum der Krankheitsausprägung zu erreichen (. Tab. 55.4). Selten kann es, gerade bei der AMSAN, aber auch perakut, innerhalb von Stunden zur Tetraplegie kommen. Die okulomotorischen Hirnnerven und der N. facialis sind häufig betroffen. Im Extremfall führt die komplette Paralyse aller Extremitätenmuskeln, der extraokulären und der Gesichtsmuskulatur zu einem dem Locked-in-Syndrom ähnlichen klinischen Zustand.
Pathologisch-anatomisch ist die AIDP durch eine sowohl humorale (antikörpervermittelte) als auch zellulär (T-Zellen, Makrophgen) vermittelte Autoimunattacke gegen die Myelinscheiden und in der Folge auch gegen das entmarkte Axon gekennzeichet [11, 56]. Entsprechend dem Konzept des »molekularen Mimikry« wird davon ausgegangen, dass bestimmte Antigene von Erregern einer vorausgehenden Bronchial- oder Darminfektion, z. B. mit Campylobacter jejuni, CMV oder Mycoplasma pneumonia, zu einer antikörpervermittelten Kreuzreaktion gegen Myelinbestandteile führen [56]. Entsprechend lassen sich bei etwa 30% aller Patienten Autoantikörper gegen Glykolipide nachweisen, deren Gegenwart einen prognostisch eher ungünstigen Verlauf anzeigen [4, 23].
Prognose Die Prognose der AIDP ist besser als bei der AMSAN. 25–30% aller GBS-Patienten werden aufgrund eines Befalls des Zwerchfells und der Atemhilfsmuskulatur beatmungspflichtig. Weitere 20–30% entwickeln klinisch apparente autonome Störungen; subklinische Störungen sind mit entsprechenden Untersuchungsverfahren bei 60% nachzuweisen. Neben diesen beiden sind ein höheres Lebensalter und fehlende oder spät einsetzende Therapie (7 s. unten) ungünstige prognostische Faktoren [1]. Die Mortalität beträgt immer noch um 5%. 15% aller Erkrankungen heilen folgenlos aus, 65% der Patienten behalten mäßig ausgeprägte neurologische Defizite zurück. Etwa 15% aller Patienten bleiben deutlich behindert, es kann aber über Monate und Jahre fortschreitende klinische Verbesserungen geben.
Therapie Therapeutisch gleichermaßen wirksam sind Plasmapherese (5bis 6-mal 50 ml/kg KG über 7–14 Tage) [26, 38a] und intravenöse Immunglobuline (5-mal 0,4 g/kg KG/Tag) [23, 45, 52]. Als Indikation gelten eine progrediente Verschlechterung mit der Unfähigkeit, weiter als 10 m zu gehen, oder eine auf unter 1,2–1,5 l reduzierte Vitalkapazität. Etwa 60% aller Patienten sprechen auf Plasmapherese- oder Immunglobulintherapie an. Allerdings kann es bei etwa 15%, in einem Abstand von 1–3 Wochen nach Beendigung der Therapie, zu einer Zunahme der Symptomatik kommen, die eine neuerliche Behandlung erfordert. Glukokortikosteroide sind zur Therapie des Guillain-Barré-Syndroms nicht indiziert [26].
Komplikationen und supportive Therapie Die häufigsten Komplikationen sind in der Übersicht zusammengefasst und bedingen die Empfehlungen zur supportiven Therapie [9, 27].
699 55.2 · Guillain-Barré-Syndrom
55
. Abb. 55.3. Lokalisation und Pathomechanismen verschiedener neuromuskulärer Störungen
Häufige Komplikationen beim Guillain-Barré-Syndrom 5 Ateminsuffizienz 5 Autonome Funktionsstörungen: arterielle Hypertension, arterielle Hypotension, Tachykardie, Tachyarrhythmien, Bradyarrhythmien 5 Thrombembolie 5 Interkurrente Infekte (Pneumonie etc.) 5 Persistierende Dysästhesien/Parästhesien
Bei 25–30% der GBS-Patienten wird vorübergehend eine Beatmung notwendig. Hinweise auf eine progrediente Schwäche der Atemmuskulatur sind Kurzatmigkeit, Tachypnoe, Orthopnoe, schwacher Hustenstoß und paradoxe Atembewegungen. Wie bei allen potenziell zu einer Ateminsuffizienz führenden neuromuskulären Erkrankungen sollte eine Intubation rechtzeitig elektiv durchgeführt werden, wobei v. a. klinische Zeichen, die Geschwindigkeit der Verschlechterung, eine grenzwertige Vitalkapazität von 1,2–1,5 l, eine O2-Sättigung von <90% bei
Raumluftatmung und Nachweis einer CO2-Retention in der arteriellen Blutgasanalyse entscheidend sind [20, 25, 47]. Im weiteren Verlauf sollte die Indikation zur Tracheotomie frühzeitig gestellt werden, wenn eine langzeitige Beatmungspflichtigekt abzusehen ist. Potenziell letale autonome Funktionsstörungen (Asystolie durch vagalen Reiz, etwa beim Absaugen) treten häufiger auf und erfordern neben EKG- auch Blutdruckmonitoring. Eine Einschränkung der Herzfrequenzvariabilität belegt die autonome Mitbeteiligung. Dann empfiehlt sich u. U. die Anlage eines passageren Schrittmachers. Supportive Therapie beim GBS [17, 20, 27, 29, 29, 54] 5 EKG- und Blutdruckmonitoring bei Hinweis auf autonome Mitbeteiligung, ggf. Anlage eines passageren Herzschrittmachers 5 Fürhzeitige Indikationsstellung zur Intubation und Tracheotomie 6
700
Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
. Tabelle 55.4. Guillain-Barré-Syndrom: diagnostische Kriterien
55
1
Erforderlich
1.1
Progrediente Schwäche mehr als einer Extremität (unterschiedlicher Ausprägungsgrad bis hin zur Tetraplegie)
1.2
Areflexie (bzw. distale Areflexie mit proximaler Hyporeflexie)
2
Unterstützende klinische Kriterien
2.1
Progredienz der Erkrankung mit Erreichen des Maximums innerhalb von 4 Wochen
2.2
Relativ symmetrische Ausprägung der Paresen
2.3
Nur geringe sensible Defizite
2.4
Hirnnervenbeteiligung
2.5
Autonome Funktionsstörungen
2.6
Fehlen von Fieber bei Erkrankungsbeginn
3
Unterstützende Laborbefunde
3.1
Albuminozytologische Dissoziation (normale Zellzahl <10/mm3 bei erhöhtem Liquoreiweiß)
3.2
Elektrophysiologie (z.B. bei AIDP: verlängerte F-Wellenlatenzen, F-Wellenausfälle, verlängerte distale Latenzen, verzögerte Nervenleitung, Leitungsblock)
4
Auschlusskriterien
4.1
Botulismus, Diphtherie, Schlangenbiss
4.2
Toxische Neuropathien (Organophosphate, chlorierte Kohlenwasserstoffe, Blei, Nitrofurantoin, Dapson, Suramin, Amiodaron)
4.3
Hexacarbonmissbrauch (Klebstoffschnüffler)
4.4
Akute Porphyrie
5 Verwendung von Succinylcholin und (u. E.) nichtdepolarisiernden Muskelrelaxanzien kontraindiziert 5 Thrombembolieprophylaxe (hohes Thrombembolierisiko) mit 2-mal 7500 IE Heparin oder fraktioniertes Heparin, z. B. Enoxaparin 1-mal 40mg sc., und Kompressionsstrümpfen 5 Behandlung von Parästhesien und Schmerzen entsprechend den allgemeinen Richtlinien der Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin oder trizyklischen Antidepressiva (Cave: Herzrhythmusstörungen) als Medikamente der 1. Wahl
55.3
Akute hepatische Porphyrien
Im Rahmen dieser angeborenen Störung der Hämbiosynthese (akute intermittierende Porphyrie, Porphyria variegata, hereditäre Koproporphyrie) kann sich nach anfänglichen abdominalen und Rückenschmerzen sehr rasch eine in der Regel deutlicher
proximal als distal ausgeprägte symmetrische schlaffe Muskelschwäche ausbilden, die zur kompletten Tetraplegie und zur Ateminsuffizienz führen kann. Typischerweise sind die Achillessehnenreflexe erhalten. Häufig finden sich zusätzlich Zeichen einer autonomen Funktionsstörung (Fieber, Tachykardie, labiler Blutdruck, Harnverhalt, Erbrechen, Konstipation). Daneben werden Verwirrtheitszustände, Psychosen, Depression und epileptische Anfälle beobachtet [3, 46]. Elektrodiagnostisch und pathologisch handelt es sich um eine axonale Neuropathie. Potenziell eine porphyrische Krise auslösende Medikamente müssen abgesetzt werden. Der Krankheitsverlauf wird möglicherweise durch hypertensive Entgleisung und Elktrolytentgleisung, insbesondere Hyponatriämie, weiter aggraviert. Als spezifische Therapie wird die Infusion von Hämin und Glukose zur Reduktion der überschießenden G-Aminolävulinsäureproduktion empfohlen. Die Rücksprache mit einem in der Behandlung der Porphrie erfahrenen Zentrum ist in jedem Fall empfehlenswert. 55.4
Hypokaliämie
Eine nicht selten übersehene Ursache einer neuromuskulären Schwäche ist die Hypokaliämie. Unter den zahlreichen Ursachen, wie beispielsweise der Thyreotoxikose [34a, 36] ist bei entsprechender Familienanamnese – die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt – auch an eine seltene hypokaliämische periodische Lähmung zu denken. Andere Elektrolytstörungen, die zu einer akuten schlaffen Parese mit Ateminsuffizienz führen können, sind die Hypophosphatämie, Hyperkaliämie einschliesslich der ebenfalls genetisch bedingten hypokaliämischen periodischen Lähmung [18a] und die Hypermagnesiämie verschiedener Ätiologie. 55.5
Chronische Polyneuropathien
Gelegentlich können sich vorbestehende chronische Polyneuropathien rasch verschlechtern und zu einer Ateminsuffizienz führen [24]. Zu diesen Neuropathien zählt die chronische Polyneuritis (CIDP) und die diabetische Neuropathie [33, 34, 51]. Häufig sind diese Verschlechterungen durch einen interkurrenten, insbesondere pulmonalen Infekt getriggert. Nach Ausheilung des Infektes ist zu prüfen, ob eine chronische Hypoventilation vorliegt, und es ist ggf. die Indikation für eine nächtliche assistierte Beatmung zu prüfen [19]. 55.6
Störungen der neuromuskulären Über tragung
55.6.1 Myasthenia gravis Die Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Autoantikörper, vornehmlich gegen den Acetylcholinrezeptor der postsynaptischen Membran, die neuromuskuläre Übertragung stören [31].
Symptomatik Charakteristischerweise kommt es zu fluktuierender, belastungsabhängiger Schwäche der Augen-, oropharyngealen und Extremi-
701 55.6 · Störungen der neuromuskulären Über tragung
tätenmuskulatur. Selten manifestiert sich die Myasthenia gravis primär mit einer respiratorischen Insuffizienz. Meist bestanden dann bereits vorher andere, bis dahin unerkannt gebliebene, myasthene Symptome [16]. Häufig lösen fieberhafte Infekte eine akute Dekompensation aus (myasthene Krise), selten die in . Tabelle 55.5 aufgeführten Medikamente.
55
5 10 mg = 1 ml Edrophoniumclorid (Camsilon, früher Tensilon), mit 0,9%iger NaCl auf 10 ml verdünnen 5 Zunächst 1 ml, bei ausreicheder Verträglichkeit die übrigen 9 ml i.v. verabreichen 5 Antidot Atropin bereithalten, Gabe bei bradykarder Reaktion
Warnzeichen einer myasthenen Krise 5 Progrediente Dysarthrie, Verschlucken, Kurzatmigkeit, Hüsteln 5 Kopfhalteschwäche, Schwäche der Kieferschließer 5 Gewichtsverlust 5 Körperlicher Leistungsabfall über Tage bis Wochen 5 Rasch fluktuierende Symptome 5 Rasche Dosiswechsel und Steigerung der Gesamtdosis von Cholinesterasehemmern 5 Fieberhafte Infekte, insbesondere Bronchopneumonie, begünstigen die akute Dekompensation
Auch bei der myasthenen Krise sollte frühzeitig intubiert werden [13]. Empirisch gilt ein Abfall der Vitalkapazität auf <1,2–1,5 l als Indikation. Bei rechtzeitiger Diagnosestellung und konsequent durchgeführter immunsuppressiver Therapie sind myasthene Krisen heutzutage selten. Die Diagnose wird gesichert durch den sog. Tensilontest. Bei deutlicher Besserung der myasthenen Symptome kann die Diagnose als weitgehend gesichert gelten. Elektrophysiologisch ist der Nachweis eines sog. Dekrements, der Abnahme der Amplitude des Summenmuskelaktionspotenzials nach Serienstimulation eines Nervs (N. accessorius oder facialis, axillaris, ulnaris), diagnostisch wertvoll. Der Nachweis von Acetylcholinrezeptorautoantikörpern im Blut belegt die Diagnose, und der intraindividuelle Titerverlauf gibt Anhalt für die zukünftige Kankheitsakuität. Die interindividuellen Antikörpertiter sind jedoch sehr unterschiedlich [55]. Bei 10–15% aller Patienten fehlen Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor; in 70% dieser Fälle lassen sich Antikörper gegen das MUSK (muscle specific kinase)-Antigen nachweisen [12a]. Tensilontest 5 Stabiler i.v. Zugang 6
Therapie Neben allgemeinen Maßnahmen ist die Verabreichung von Azetylcholinesterasehemmern indiziert. Eine Intubation sollte bei Abfall der Vitalkapazität und/oder schwerer Schluckstörung durchgeführt werden. In der myasthenen Krise erfolgt eine kausal orientierte Immuntherapie durch Plasmapherese oder Immunadsorption jeden 2. Tag, 3- bis 6-mal [38a, 45]. Alternativ kann eine hochdosierte intravenöse Immunglobulingabe erfolgen [53], wobei im Einzelfall initial eine weitere Verschlechterung möglich ist. Wegen der Gefahr initialer Verschlechterungen und verzögerten Wirkeintritts ist eine Therapie der myasthenen Krise alleinig mit Kortikoiden ungeeignet, in der Regel wird jedoch begleitend zu einer der oben genannten Therapieoptionen mit einer Kortikoidtherapie begonnen. Nach Auftreten einer myasthenen Krise ist eine langfristig immunsuppressive Therapie indiziert. In den meisten Fällen ist die an der Leukozyten-/Lymphozytenzahl orienterte Azathioprinbehandlung erfolgreich. Alternativ können Mycophenolat Mofetil oder Ciclosporin eingesetzt werden. Cyclophosphamid und Tacrolismus sind geeignete Immunsupressiva der 2. Wahl [50]. Der gegen das CD20-Antigen auf B-Zellen gerichtete monoklonale Antikörper Rituximab scheint bei schweren Fällen effektiv zu sein [22]. Therapie der myasthenen Krise 5 Symptomatische Therapie – Neostigminperfusor, 6–12mg/Tag – Supportive, allgemein-intensivmedizinische Maßnahmen 5 Kausale, akut wirksame Therapie: – Plasmaseparation, 3- bis 6-mal, alle 2–3 Tage – Immunglobuline, je 0,4 g/kg KG über 5 Tage 6
. Tabelle 55.5. Myasthenia gravis: Medikamente, die eine Exazerbation induzieren können Myasthenia gravis: exazerbationsinduzierende Substanzen
4 Antibiotika: Aminoglykoside, Ampicillin, Chinolone, Clindamycin, Colistin, Gyrasehemmer, Lincomycin, Piperacin, Polymyxin, Pyrantel, Streptomycin, Sulfonamide, Tetrazykline 4 Antiarrhythmika: β-Blocker, Chinidin, Procainamid, Propafenon, Verapamil 4 Antikonvulsiva: Carbamazepin, Phenytoin 4 Antirheumatika: D-Penicillamin, Chloroquin, Resochin, Chinin 4 Diuretika: Azetazolamid 4 Kortikosteroide (initial), Schilddrüsenhormone 4 Interferon-α (IFN- α) 4 Kontrastmittel: Gadolinium 4 Muskelrelaxanzien 4 Psychopharmaka: Benzodiazepine, Barbiturate, Opioide, Lithium, Chlorpromazin 4 Magnesiumsalze 4 Lokalanästhetika
702
Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
55.6.3 Botulismus 5 Beginn einer dauerhaft immunsuppressiven Therapie – Kortikoide, initial z. B. 80–100mg Methylprednisolon/ Tag – Azathioprin – Therapiealternativen zu Azathioprin: Mycophenolat Mofetil, Ciclosporin, Cyclophosphamid, Tacrolimus, Rituximab
55
Ein weiteres therapeutisches Prinzip der Myastheniebehandlung ist die Thymektomie, die jedoch erst nach Stabilisierung des klinischen Zustandes und bei bildmorphologischem Nachweis einer Thymusvergrößerung durchgeführt wird. Darüber hinaus wird sie in der Regel bei generalisierter Myasthenie und Alter unter 60 Jahren empfohlen. Die Evidenzlage sowohl für alle konserativen als auch chirurgischen Therapieoptionen bleibt unbefriedigend [6]. ! Cave Häufig löst eine hochdosierte Glukokortikosteroidtherapie eine Verschlechterung der Myasthenie aus, deren Tiefpunkt meist um den 6. Tag nach Therapiebeginn durchschritten wird. Ein hochdosierte Kortikoidtherapie (aus anderer Indikation) kann eine myasthene Krise auslösen. Seltener kann es auch unter Immunglobulintherapie zu Verschlechterungen kommen.
Kommt es in der myasthenen Krise zur respiratorschen Insuffizienz, ist bei adäquater Therapie eine assistierte Beatmung oft nur wenige Tage erforderlich, sodass auf eine Tracheotomie verzichtet werden kann [53]. Die Entwöhnung vom Respirator hat die Besonderheiten neuromuskulärer Ventilationsstörungen zu berücksichtigen und schlägt häufiger als bei anderen Erkrankungen fehl [41, 42]. Die sekundäre Erschöpfung der Atemkraft tritt typischerweise etwas verzögert 24–48 h nach Extubation auf, sodass zumindest für diesen Zeitraum eine intensivmedizinische Überwachung fortgeführt werden sollte. Eine cholinerge Krise als Folge der Überdosierung von Anticholinergika erkennt man an begleitender Übelkeit, Erbrechen, abdominalen Krämpfen, Muskelfaszikulationen, vermehrter oropharyngealer Sekretproduktion, Miosis und Bradykardie. 55.6.2 Lambert-Eaton-Syndrom Das Lambert-Eaton-Syndrom (myasthenes Syndrom) ist ebenfalls eine Erkrankung der neuromuskulären Übertragung, wobei jedoch ursächlich Autoantikörper gegen die E-Untereinheit spannungsabhängiger präsynaptischer Kalziumkanäle gerichtet sind. In 70% der Fälle ist die Erkrankung paraneoplastisch mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom assoziiert. Typischerweise findet sich, im Unterschied zur Myasthenia gravis, eine proximal und beinbetonte Muskelschwäche, selten sind die Augenmuskeln beteiligt; charakteristisch sind parasympathische Störungen wie Mundtrockenheit und Obstipation. Respiratorische Insuffizienz ist seltener als bei der Myasthenia gravis. 3,4-Aminopyridin kann die neuromuskuläre Übertragung verbessern. Plasmaseparation und immunsuppressive Agenzien sind beim nicht-paraneoplastischen Lambert-Eaton-Syndrom wirksam [45a].
Eine andere seltene Ursache einer vital bedrohenden Störung der neuromuskulären Übertragung ist der Botulismus. Neben dem klassischen nahrungsmittelinduziertem Botulismus, bei dem abdominale Schmerzen und Erbrechen etwa 12–16 h nach Nahrungsaufnahme auftreten, sind immer wieder kleine Ausbrüche von Wundbotulismus bei i.v.-Drogenabhängigen vorgekommen. An Symptomen entwickeln sich innerhalb weniger Stunden: Mundtrockenheit, Verlust der Akkommodationsfähigkeit, Mydriasis, kaum reagible Pupillen, intermittierende externe Ophthalmoplegie, Bulbärparalyse und absteigende schlaffe Lähmung, Konstipation, Harnverhalt und orthostatische Hypotension. Elektrodiagnostisch findet sich bei repetitiver Ner venstimulation eine Zunahme der Amplituden des Summenmuskelaktionspotenzials, die Elektromyographie zeigt den Befund einer akuten Myopathie mit Dener vierungsaktivität. Als Therapieoption steht ein Antiserum vom Pferd zur Verfügung, ein neues humanes Immunglobulin ist zumindest bei Kindern erfolgreich angewandt worden [5]. Symptomatisch kann 3,4-Aminopyridin eingesetzt werden [10]. 55.6.4 Neuromuskuläre Blockade Eine persistierende neuromuskuläre Blockade kann durch wiederholte Anwendung von Pancuronium, Vecuronium oder anderen nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien auftreten. Sie manifestiert sich klinisch durch eine Tage nach Absetzen der Medikation manifeste schlaffe Tetraparese bis Tetraplegie, gelegentlich verbunden mit einer kompletten Lähmung der Augenmuskeln. Reflexe sind nicht auslösbar. Soweit überprüfbar, finden sich keine sensiblen Defizite. Die Serum-CK ist pathologisch erhöht. Es kann zu einer Rhabdomyolyse mit nachfolgender Myoglobinurie und akutem Nierenversagen kommen. Häufig liegt eine Multiorgandysfunktion vor, sodass auch die hepatische Eliminierung gestört ist. Dies reduziert die Ausscheidung von Pancuronium, Vecuronium und ihrer Metabolite. Die Diagnose wird elektrophysiologisch und bioptisch gesichert. Durch Serienreizung eines Nervs kann eine persistierende neuromuskuläre Blockade ausgeschlossen werden [7]. ! Cave Die Verwendung von Muskelrelaxanzien sollte bei neuromuskulären Erkrankungen generell vermieden werden, die Verwendung von depolarisierenden Muskelrelaxanzien ist bei neuromuskulären Übertragungsstörungen, aber auch bei neurotraumatologischen Patienten, längerer Immobilisation, Verbrennungen u. a. absolut kontraindiziert.
55.7
Primäre Myopathien
Eine Reihe angeborener und erworbener Muskelerkrankungen können zur Ateminsuffizienz führen (. Tab. 55.1; [32, 40]). Auch Patienten mit einer der drei immunvermittelten primären Myopathien – Polymyositis, Dermatomyositis und Einschlusskörpermyositis – können wegen Schluckstörungen und muskulärer Ermüdbarkeit intensivpflichtig werden [8, 40]. In der Regel ist
703 55.8 · Critical-illness-Polyneuropathie (CIP)
die Diagnose vor einer solchen Dekompensation bekannt. Gesichert wird die Diagnose durch die Muskelbiopsie. Während Dermatomyositis und Polymyositis in einem hohen Prozentsatz gut durch antiinflammatorische bzw. immunmodulierende/-suppressive Therapien beeinflusst werden können, sind diese bei der Einschlusskörperchenmyositis in der Regel ineffektiv, auch wenn die entzündliche Komponente z. T. modifiziert werden kann [15, 48]. Bei Dysphagie und Ateminsuffizienz können jedoch hochdosierte intravenöse Immunglobuline als Therapieoption in Betracht gezogen werden [30, 39a]. Unter den angeborenen Muskelerkrankungen betrifft der Saure-Maltase-Mangel (M. Pompe) regelhaft die Atemmuskulatur. Für diese Erkrankung steht seit kurzer Zeit eine Enzymersatztherapie (Alglucosidase D) zur Verfügung, die bei den kindlichen Formen zu guten Erfolgen führte. Aussagekräftige Studienergebnisse für diese aufwändige und extrem teure Therapie bei Erwachsenen fehlen jedoch noch. 55.8
Critical-illness-Polyneuropathie (CIP)
Die Critical-illness-Polyneuropathie ist eine potenziell reversible Erkrankung des peripheren Nervs, die sich während bzw. im Gefolge des »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) entwickelt. Prädiktoren sind Sepsis, Multiorganversagen, der längere Gebrauch von Muskerelaxanzien und Steroiden sowie eine septische Enzephalopathie [7, 12, 18, 28, 49]. In diesem Zusammenhang ist sie eine der häufigsten Ursachen für eine verzögerte bzw. nicht erfolgreiche Entwöhnung vom Respirator und eine protrahierte Rehabilitation (. Tab. 55.6). Es handelt sich um eine unterdiagnostizierte Entität, die auch erst nach Entlassung von der Intensivstation zu Tage treten und zu respiratorischen Komplikationen führen kann [14, 37]. Klinisch finden sich deutliche schlaffe Paresen und ausgeprägte Muskelatrohien.
55
Diagnostik Die entscheidende diagnostische Maßnahme sind die Neurographie und Elektromyographie, nicht zuletzt, da die klinische Untersuchung durch eingeschränkte oder unmögliche Mitarbeit des Patienten und äußere Hindernisse erschwert ist. Neurographisch finden sich mit einer Latenz von ca. 1 Woche bei normalen oder fast normalen distalen motorischen Latenzen und Nervenleitgeschwindigkeiten eine Amplitudenreduktion der Summenmuskel-/Nervenaktionspotenziale im Sinne der axonalen Läsion [28, 35, 37]. Es ist bemerkenswert, dass bei vielen Patienten überwiegend motorische Fasern betroffen sind. Elektromyographisch findet sich nach etwa 2 Wochen pathologische Spontanaktivität. Ein myopathisches Muster im EMG oder eine reduzierte Antwort bei der direkten Muskelstimulation zeigen eine vergesellschaftetete Myopathie an [38]. Die Bestimmung der Nervenleitung des N. phrenicus und die Nadelableitung aus der Thoraxwand bzw. dem Zwerchfell sind keine Routinemaßnahmen, können aber mit Sicherheit die CIP als Ursache der verzögerten Entwöhnung von der Beatmung identifizieren [12].
Pathogenese Pathogenetisch wird vermutet, dass Mediatoren, die im Rahmen des sog. »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) entstehen, über Mikrozirkulationsstörungen in den Vasa nervorum und toxische Mediatoren eine Schädigung der Axone herbeiführen [7, 12, 28]. Eine CIP lässt sich klinisch bzw. elektrodiagnostisch bei 70% aller Patienten mit Sepsis und Multiorganversagen nachweisen. Die Prognose wird ganz wesentlich von der Grunderkrankung bestimmt. In jedem Fall begünstigt eine verzögerte Entwöhnung vom Respirator und eine verlängerte Immobilisation das Risiko, Sekundärkomplikationen wie tiefe Venenthrombose, Lungenembolie und Pneumonie zu entwickeln. Grundsätzlich kann sich die Neuropathie, nach Erholung von Sepsis und Multiorganver-
. Tabelle 55.6. Neuromuskuläre Ursachen einer verzögerten Entwöhnung vom Respirator 1
Neuropathien
1.1
4 Axonal
4 4 4 4
1.2
4 Demyelinisierend
4 Guillain-Barré-Syndrom (AIDP)
2
Erkrankungen der neuromuskulären Endplatte
2.1
Dauerblockade nach Langzeitanwendung von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien
2.2
Aminoglykoside
2.3
Myasthenia gravis
3
Myopathien
3.1
Nicht nekrotisieiernde atrophisierende Myopathie (Critical-illness-Myopathie im engeren Sinn; CIM)
3.2
Thick-filament-Myopathie
3.3
Rhabdomyolyse, nekrotisierende Myopathie des kritisch Kranken
Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) Axonales Guillain-Barré-Syndrom (AMSAN) Akute hepatische Porphyrie Vorderhornzellschaden bei diffuser hypoxischer Myelopathie
704
Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
. Tabelle 55.7. Gegenüberstellung von Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) und Critical-illness-Myopathie (CIM)
55
Kriterien
CIP
CIM
Risikofaktoren
SIRS (Sepsis, Trauma)
Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien und/oder Kortikosteroide; Asthma; Leber-/Niereninsuffizienz; Organtransplantation (Lunge, Leber)
Neurologische Defizite
Motorisch und sensibel; Muskelatrophie
Rein motorisch; Muskelatrophie
Kreatinkinase
Normal
Normal oder leicht erhöht
Klinischer Verlauf
Langsame Rückbildung
Häufig rasche Rückbildung
Neurographie
Amplitudenreduktion der sensiblen und motorischen Aktionspotenziale (axonaler Läsionstyp)
Normal oder generalisiert reduzierte Amplituden bei höhergradiger Muskelatrophie
EMG
Denervierungszeichen (Spontanaktivität)
Myopathisch verändert
Histopathologie
4 Nerv: axonale Degeneration sensibler und motorischer Fasern 4 Muskel: Denervierungsatrophie
4 Nerv: normal 4 Muskel: – Vermehrte Kalibervariation, perifaszikuläre Atrophie, Typ II-Faseratrophie, zentralisierte Kerne, »rimmed vacuoles«, fettige Degeneration, Fibrose, Einzelfasernekrosen – Selektiver Verlust von Myosin – Nekrose
sagen, innerhalb von Monaten zurückbilden; deutlich behindernde Residualzustände sind jedoch auch beschrieben worden. Eine spezifische Therapie ist nicht bekannt. 55.9
Critical-illness-Myopathie (CIM)
Die Critical-illness-Myopathie tritt wie die CIP im Zusammenhang mit intensivmedizinischen Maßnahmen zur Behandlung von Sepsis und Multiorganversagen, aber charakteristischerweise auch nach Organtransplantation (Lunge, Leber), Kortikosteroidtherapie, insbesondere bei Status asthmaticus, und als Komplikation der Behandlung mit nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien einzeln oder zusammen mit Kortikosteroiden auf. Entsprechend handelt es sich wahrscheinlich um ein heterogenes Krankheitsbild, dem auch unterschiedliche pathologischanatomische Veränderungen der Muskulatur zugrunde liegen (. Tab. 55.7; [2, 21, 28, 35]). i Die Prognose der Critical-illness-Myopathie hängt, wie bei der CIP, von der Grunderkrankung ab und wird mit Ausnahme der nekrotisierenden Form als relativ günstig angesehen, ist aber offenbar ungünstiger, wenn zusätzlich eine CIP vorliegt [7].
Histologischer Befund Die bioptischen Befunde sind heterogen (. Tab. 55.7; [28]). 4 Bei der Critical-illnesss-Myopathie im engeren Sinn sind unspezifische Zeichen der diffusen Muskelschädigung, wahrscheinlich durch Mikrozirkulationsstörung, toxische Metabolite und Hyperkatabolismus zu finden. 4 Histologisch abzugrenzen ist der selektive Myosinverlust bei der »Thick-filament-Myopathie«, die durch Immobilisation und toxische Agenzien, u. a. auch durch hochdosierte
Kortokoidgaben, auch experimentell ausgelöst werden kann. 4 Schließlich findet sich eine nekrotisierende Myopathie mit Übergang in eine generalisierte (toxische) Rhabdomyolyse [2, 7, 21, 28]. Eine spezifische Therapie der CIM ist ebenso wie bei der CIP nicht bekannt. Es handelt sich um monophasische und selbstlimitierende Erkrankungen. Verbesserungen sind noch Monate und Jahre nach der akuten Erkankung zu beobachten, sodass eine langfristige angelegte rehabilitative Therapie sinnvoll ist.
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Kapitel 55 · Neuromuskuläre Störungen beim Intensivpatienten, Critical-illness-Neuropathie und andere neurologische Störungen
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56 Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation J.D. Rollnik
56.1
Einleitung
–708
56.2
Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation und sozialmedizinische Grundlagen –708
56.2.1 56.2.2 56.2.3 56.2.4
Gesetzliche Grundlagen –708 Akutbehandlung und Frührehabilitation der Phase B –708 Weiterführende neurologische Rehabilitation –709 Frühreha-Barthel-Index –709
56.3
Krankheitsbilder in der neurologischen/neurochirurgischen Frührehabilitation –710
56.3.1 56.3.2
»Apallisches Syndrom« (G93.8) –710 Andere Komata und Differenzialdiagnosen –712
56.4
Therapieansätze in der neurologischen Frührehabilitation
56.4.1 56.4.2 56.4.3 56.4.4
Einleitung –712 Medikamente in der Rehabilitation –712 Therapeutische, aktivierende Pflege –713 Physiotherapie –714
56.5
Zusammenfassung Danksagung Literatur
–716
–716
–716
–712
56
708
Kapitel 56 · Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
56.1
Einleitung
Eine Schädigung des zentralen Nervensystems fordert den Arzt in ganz besonderer Weise. Zu Beginn der Behandlung stehen Vigilanzstörungen sowie motorische und koordinative Störungen im Vordergrund; im weiteren rehabilitativen Verlauf stellen v. a. die kognitiven Einschränkungen eine Herausforderung dar. Ein optimales Behandlungsergebnis kann nur erreicht werden, wenn bereits auf der Intensivstation mit rehabilitativen Maßnahmen begonnen wird; danach muss eine nahtlose Überleitung in eine spezialisierte neurologische Rehabilitation erfolgen. Ziel dieser Übersicht ist es daher auch, Anregungen für Therapieansätze zur initialen Frührehabilitation in der Akutklinik zu geben. Außerdem soll ein sozialmedizinisches Basiswissen vermittelt werden, um die Weichen für eine rehabilitative Weiterbehandlung richtig stellen zu können. Bei der immer dringender geforderten Reduktion der Verweildauer ist es wichtiger denn je, dass die Kommunikation zwischen Akutbehandler und Rehabilitationseinrichtung verbessert wird. Zunehmend werden frühe Verlegungen zu den Nachbehandlern erforderlich. Was vor Jahren noch unvorstellbar war, ist heute die Regel – moderne Rehabilitationseinrichtungen übernehmen intensiv- und beatmungspflichtige Patienten. Umso wichtiger ist es, enge Kontakte zu lokalen Rehabilitationskliniken zu pflegen. Es ist – im Interesse der Patienten – ganz wichtig, dass die Akutbehandler »ihre« Rehabilitationseinrichtungen und die dort arbeitenden Kollegen persönlich kennen. Nur so ist eine optimale Abstimmung möglich, können Missverständnisse abgebaut und das Leistungsspektrum der Rehabilitationsklinik optimal genutzt werden. 56.2
Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation und sozialmedizinische Grundlagen
56.2.1 Gesetzliche Grundlagen In der neurologischen Rehabilitation gibt es deutlich mehr Maßnahmenarten als die allgemein bekannte Anschlussheilbehandlung (AHB), die ja v. a. bei Patienten nach Myokardinfarkt oder orthopädischen Erkrankungen beantragt wird. Leider ist es immer noch so, dass viele Akutmediziner nach dem Algorithmus vorgehen: »Wird keine AHB-Fähigkeit erreicht, so muss der Patient in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden.« Das ist definitiv falsch und beraubt viele v. a. ältere Patienten nach einem Schlaganfall ihrer Chance auf Rehabilitation! Nach den Sozialgesetzbüchern gelten in Deutschland die Grundsätze: 5 Rehabilitation vor Pflege! 5 Rehabilitation vor Rente!
56.2.2 Akutbehandlung und Frührehabilitation
der Phase B Die neurologische Rehabilitation orientiert sich an dem sog. Phasenmodell, entwickelt von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Re-
habilitation (BAR) [1]. Dieses Phasenmodell gilt für neurologische bzw. neurochirurgische Patienten mit schweren Hirnschädigungen. Die einzelnen Behandlungsphasen unterscheiden sich nicht nur in den Patientencharakteristika, sondern auch hinsichtlich der leistungsrechtlichen Zuordnung. Im Einzelnen werden die Phasen A‒F unterschieden. Unter der »Phase A« versteht man die Akutbehandlung unter DRG-Bedingungen im Akuthaus. Von hier aus erfolgt dann die Verlegung in die Rehabilitationsklinik, wo die Behandlung als »Phase B« ‒ Frührehabilitation ‒ fortgesetzt wird. Neurologische Frührehabilitation der Phase B; Eingangskriterien 5 Bewusstlose bzw. qualitativ oder quantitativ schwer bewusstseinsgestörte Patienten (darunter auch solche mit einem sog. »apallischen Syndrom«) mit schwersten Hirnschädigungen als Folge von Schädel-Hirn-Traumen, zerebralen Durchblutungsstörungen, Hirnblutungen, Sauerstoffmangel (insbesondere mit Zustand nach Reanimation), Entzündungen, Tumoren, Vergiftungen etc. 5 Patienten mit anderen schweren neurologischen Störungen (z. B. Locked-in-, Guillain-Barré-Syndrom, hoher Querschnittslähmung), die noch intensivbehandlungspflichtig sind
Wie auch die Akutbehandlung ist die Frührehabilitation der Phase B leistungsrechtlich dem Krankenhaus zugeordnet, sodass die Krankenkassen Kostenträger sind und eine Abrechnung über das DRG-System erfolgt. Dies bedeutet auch, dass es sich bei der Verlegung eines Patienten der Phase B in eine geeignete Rehabilitationsklinik um eine Krankenhausdirektverlegung handelt. Für diese ist in der Regel keine vorherige Genehmigung durch den Kostenträger erforderlich, wobei bundeslandspezifische Unterschiede zu berücksichtigen sind. Die neurologische Frührehabilitation wird im aktuellen DRG-Katalog mit der Prozedur OPS 8–552 abgebildet. OPS 8–552: Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation (G-DRG 2006) 5 Mindestmerkmale: – Frührehateam unter Leitung eines Facharztes für Neurologie oder Neurochirurgie, der über eine mindestens 3-jährige Erfahrung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation verfügt. – Standardisiertes Frührehabilitations-Assessment zur Erfassung und Wertung der funktionellen Defizite in mindestens 5 Bereichen (Bewusstseinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion) zu Beginn der Behandlung. Der Patient hat einen Frührehabilitations-Barthel-Index nach Schönle bis maximal 30 Punkte zu Beginn der Behandlung. – Wöchentliche Teambesprechung mit wochenbezogener Dokumentation bisheriger Behandlungsergebnisse und weiterer Behandlungsziele. – Aktivierend-therapeutische Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal. 6
709 56.2 · Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation und sozialmedizinische Grundlagen
56
. Abb. 56.1. Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation. (Nach [1])
– Vorhandensein und Einsatz von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/ fazioorale Therapie und therapeutische Pflege (Waschtraining, Anziehtraining, Esstraining, Kontinenztraining, Orientierungstraining, Schlucktraining u. a.) in patientenbezogenen unterschiedlichen Kombinationen von mindestens 300 min täglich (bei simultanem Einsatz von zwei oder mehr Mitarbeitern dür fen die Mitarbeiterminuten aufsummiert werden).
Die Forderung, 300 min (!) Therapie am Tag zu betreiben, macht deutlich, dass ein Akuthaus eine wie in der Prozedur geforderte Frührehabilitation zumeist nicht leisten kann. Der Frühreha-Barthel-Index (7 Kap. 56.2.4) muss d30 sein, was bei den allermeisten intensivmedizinisch behandelten neurologischen Patienten der Fall sein dürfte. 56.2.3 Weiter führende neurologische
Rehabilitation Wenn sich der Patient weiter bessert – die Dokumentation dieser Besserung erfolgt mit dem Frühreha-Barthel-Index (7 Kap. 56.2.4) ‒, kann eine Weiterbehandlung in der Phase C oder sogar D (Anschlussheilbehandlung) erfolgen. Leistungsrechtlich handelt es sich hierbei nicht mehr um eine Krankenhausbehandlung, sondern eine Rehabilitationsleistung, für die ein Antrag (Phase C) bei der Krankenkasse bzw. der gesetzlichen Rentenversicherung (Phase D bei noch nicht berenteten Patienten) zu stellen ist. Unter der Phase E (auch Phase II genannt) versteht man v. a. die medizinisch-berufliche Rehabilitation, die darauf abzielt, dem Patienten wieder eine Tätigkeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Kostenträger ist hier die gesetzliche Rentenversicherung bzw. die Arbeitsverwaltung. Auch hier ist zuvor
eine Antragstellung erforderlich. Unter der Phase F versteht man v. a. die funktionserhaltende Dauerpflege in dafür spezialisierten Pflegeinrichtungen. . Abb. 56.1 stellt die möglichen Pathways im Phasenmodell dar. Wichtig ist, dass nicht zwingend eine Phase auf die andere folgen muss. So kann sich ein Patient nach der Frührehabilitation der Phase B so rasch verbessern, dass gleich eine Anschlussheilbehandlung folgen kann. 56.2.4 Frühreha-Bar thel-Index Als wichtiges Hilfsmittel für die korrekte Phasenzuordnung, nicht nur in der Frührehabilitation, sondern auch in nachfolgenden Phasen, gilt der Frühreha-Barthel-Index (FRB; . Abb. 56.2). Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) gründet primär auf dieses Messinstrument seine Entscheidungen über Genehmigung oder Ablehnung einer Maßnahme. Der FRB liegt in unterschiedlichen Versionen vor und gliedert sich in einen Frühreha-Index (FRI) und einen Barthel-Index (BI). Während im Frühreha-Index nur Minuspunkte vergeben werden (z. B. absaugpflichtiges Tracheostoma 50 Maluspunkte), ergibt der Barthel-Index Pluspunkte. Der Barthel-Index gibt Auskunft über das Ausmaß der Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens (Range 0–100). Je höher der Punktwert, desto selbstständiger ist der Patient, d. h. desto weniger Hilfe benötigt er. Der Frühreha-Barthel-Index stellt die Summe aus beiden Indices dar. Anwendungsbeispiel für den Frühreha-Barthel-Index (FRB) 5 Frühreha-Index (FRI): –50 Punkte wegen absaugpflichtigen Tracheostomas 5 Barthel-Index (BI): +50 Punkte 5 Summe Frühreha-Barthel-Index (FRB): 0 Punkte Der Patient ist also der Frührehabilitationsphase B (d30) zuzuordnen.
710
Kapitel 56 · Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
. Abb. 56.2. Frühreha-Barthel-Index (FRB). Im oberen Abschnitt findet sich der Frühreha-Index (FRI), in dem Maluspunkte, z. B. für Beatmungspflicht, vergeben werden. Im unteren Abschnitt ist der Barthel-Index (BI) dargestellt, bei dem für jedes Item 0, 5 oder 10 Pluspunkte vergeben werden. Der Frühreha-Barthel-Index (FRB) stelllt dann die Summe aus beiden Scores dar
56
Hilfestellungen zum Frühreha-Barthel-Index, zur korrekten Phasenzuordnung und Antragsformulare zum Download sind auf der Homepage der Neurologischen Klinik Hessisch Oldendorf unter www.nkho.de (Menüpunkt »Anmeldung & Kontakt«) zu finden. 56.3
Krankheitsbilder in der neurologischen/ neurochirurgischen Frührehabilitation
56.3.1 »Apallisches Syndrom« (G93.8)
Klinisches Bild Neurologen scheuen den Begriff des »apallischen Syndroms«, da er oft missbräuchlich oder gar falsch verwendet wird und »Syndrom« schon ausdrückt, dass keine Aussagen zur Ätiologie mit ihm verbunden sind. Definitionsgemäß versteht man unter einem apallischen Syndrom einen subakuten oder chronischen Ausfall sämtlicher Funktionen des zerebralen Kortex (= Pallium) und damit der Großhirnfunktion [2]. Dies trifft nur bei einem geringen Prozentsatz der Patienten wirklich zu, sodass es sinnvoller erscheint, z. B. von einem »minimal-responsivem Status« zu sprechen. Des Weiteren wird dem apallischen Syndrom häufig eine Irreversibilität unterstellt. Diese Annahme trifft nicht in allen Fällen zu, da gerade bei jüngeren Patienten (unter 18 Jahren) mit nur geringer Dauer des vorausgehenden Komas und rascher Besserungsgeschwindigkeit durchaus eine Remission eintreten kann [3]. Apallische Syndrome traumatischer Genese können sich innerhalb von 12 Monaten zurückbilden, bei nicht-traumatischer Genese (z. B. hypoxische Hirnschädigung) zeigt eine Persistenz von mehr als 3 Monaten eine schlechte Prognose an [3].
Das klinische Bild kann wie folgt beschrieben werden: 4 »Wachkoma« (Coma vigile): Trotz »Wachheit« (Augen sind geöffnet) sind die Patienten nicht bei Bewusstsein. Das Pflegepersonal beobachtet nur vegetative Reaktionen auf Schmerzreize, kein Fixieren und Verfolgen von Gesichtern oder Gegenständen im Raum und keine Hinweise auf eine Kommunikationsfähigkeit (z. B. Augenschluss nach Aufforderung). 4 Motorik: Erhöhter Muskeltonus mit Beugung der Extremitäten, keine gezielten Greif- oder Abwehrbewegungen, lediglich Automatismen und Primitivschablonen (z. B. Saugreaktion auf periorale Reize). 4 Vegetatives Nervensystem (»vegetative state«): Erhebliche vegetative Entgleisungen mit Tachykardien, Schwitzen, Hypertonie, Tachypnoe. Die klinische Beobachtung komatöser Patienten ist sehr wichtig, wobei diese Aufgabe häufig nur das Pflegepersonal erfüllen kann. Pflegekräfte verbringen viel mehr Zeit am Patienten als Ärzte. Es ist daher unerlässlich, die Mitarbeiter zu schulen, damit sie Remissionszeichen erkennen. Auf der Intensivstation muss v. a. ein Arbeitsklima herrschen, in dem sich Pflegekräfte als wichtige Mitglieder im Team verstehen und keine Hemmungen haben, ihre Beobachtungen dem Arzt mitzuteilen. Remissionszeichen beim Wachkoma können sein [3]: 5 Schmerzreaktionen mit Grimassieren und ungerichtete Abwehrbewegungen, 5 Augenfolgebewegungen und Fixieren von Gesichtern oder Gegenständen, 5 Greifbewegungen.
711 56.3 · Krankheitsbilder in der neurologischen/neurochirurgischen Frührehabilitation
56
. Abb. 56.3. Das EEG des 46jährigen Patienten zeigte eine relativ flache, areaktive Kurve
. Abb. 56.4. Normale Medianus-SSEP mit regelrechten kortikalen N20bzw. P25-Latenzen (Ableitung am Skalp über C3´ bzw. C4´), die gegen die Annahme eines »apallischen Syndroms« sprechen
Kasuistik An Hand einer kurzen Kasuistik sollen die prognostischen und therapeutischen Überlegungen dargestellt werden: Bei einem 46jährigen Patienten war es nach akzidenteller intrathekaler Injektion eines Lokalanästhetikums zu einem Atemstillstand gekommen, mit konsekutivem hypoxischem Hirnschaden. Der Patient wurde mit der Diagnose eines »apallischen Syndroms« zur Frührehabilitation verlegt. Der Patient war bei Aufnahme komatös [Glasgow Coma Scale (GCS) 4 Punkte] und hatte die Augen geschlossen. Das EEG zeigte eine relativ flache, areaktive Kur ve (. Abb. 56.3), die akustisch (AEP) und somatosensorisch evozierten Potenziale (Medianus-SSEP; . Abb. 56.4) waren jedoch
. Abb. 56.5. CCT des Patienten mit einer Erweiterung der äußeren Liquorräume (Atrophie) sowie einer schlechten Abgrenzbarkeit der Basalganglien (Pfeil)
712
Kapitel 56 · Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
gut reproduzierbar und normgerecht ableitbar. In der Computertomographie zeigten sich neben einer Atrophie nur schlecht abgrenzbare Basalganglien, wie dies nach hypoxischen Hirnschäden oft zu beobachten ist (. Abb. 56.5). Aufgrund der ableitbaren SSEP mit erhaltenen kortikalen Antworten war bei dem Patienten nicht von einem apallischen Syndrom auszugehen. Unter intensiver Ergo- und Physiotherapie sowie aktivierender Pflege zeigte der Patient schon nach wenigen Wochen erste Remissionszeichen. Nach 2 Monaten war der Patient wach und fixierte Personen und Gegenstände im Raum, eine minimale Kommmunikation war über Lidschluss möglich, es bestand eine Hemiparese rechts. Das Beispiel zeigt, dass durch diagnostische Maßnahmen schon frühzeitig ein apallisches Syndrom ausgeschlossen werden kann.
56
i Wenngleich der Nachweis normaler SSEP keine Aussage über die Integrität weiterverarbeitender sensibler Kortexstrukturen zulässt, kommt ihnen bei der Prognose von Komata große Bedeutung zu [4].
56.3.2 Andere Komata und Differenzialdiagnosen Die Differenzialdiagnose der Komata ist überaus vielgestaltig, hier sei auf 7 Kap. 49 (»Koma, metabolische Störungen und Hirntod«) verwiesen. Wegen ihrer Bedeutung für die neurorologische Rehabilitation sollen hier jedoch noch kurz 2 Syndrome besprochen werden: das Locked-in-Syndrom und der akinetische Mutismus. Beim akinetischen Mutismus liegt eine erhebliche Frontalhirnschädigung vor (. Abb. 56.6). Hierdurch kommt es zu einer extremen Antriebsstörung. Die Patienten wirken dabei wach, machen jedoch spontan keine sprachlichen, motorischen und emotionalen Äußerungen. Durch Beobachtung der Patienten gelingt es aber rasch, ein apallisches Syndrom auszuschließen,
da die Patienten doch schwache Reaktionen auf ihre Umwelt zeigen. Vor allem Abwehrbewegungen bei starken Schmerzreizen sind erhalten. Dem Locked-in-Syndrom liegt eine schwere Hirnstammschädigung zu Grunde. Dadurch kommt es zu einer Tetraparese, einem Ausfall der Hirnnervenfunktionen (mit Ausnahme der vertikalen Augen- und Lidbewegungen, über die später eine Kommunikation möglich wird) und der Hirnstammreflexe. Durch den Ausfall der Hirnstammreflexe kann es – wenn die Patienten initial noch komatös sind – zu einer Verwechslung mit dem dissoziierten Hirntod kommen. Ein EEG ist obligat, um diese Differenzialdiagnose ausschließen zu können. 56.4
Therapieansätze in der neurologischen Frührehabilitation
56.4.1 Einleitung Aufgabe dieses Kapitels kann nicht eine umfassende Darstellung der neurologischen Rehabilitation oder ihrer wissenschaftlichen Grundlagen sein. Vielmehr soll empirisch auf einzelne, praxisorientierte Therapieansätze eingegangen werden. Dabei soll sich die Darstellung primär am intensivpflichtigen, vielleicht noch beatmeten Patienten orientieren. Da es sich hierbei meist um einen komatösen Patienten handelt, stehen die therapeutische Pflege sowie die motorische Rehabilitation (mit eher »passiven« Verfahren) im Vordergrund der Behandlung. 56.4.2 Medikamente in der Rehabilitation Bevor auf einzelne Aspekte der Rehabilitation eingegangen wird, kurz einige Bemerkungen zu Einflüssen von Medikamenten. Zu unterscheiden sind hierbei Einflüsse von Begleitmedikamenten und der gezielte Einsatz von Pharmaka zur Förderung der Rehabilitation. Während der gezielte Einsatz von Pharmaka zur Verbesserung des Outcomes noch nicht empfohlen werden kann, ist von einer Reihe von Medikamenten bekannt, dass sie einen negativen Einfluss auf die Rehabilitation haben. Hierzu gehören insbesondere: Neuroleptika, Benzodiazepine, Barbiturate, Phenytoin, Clonidin und Prazosin [5]. Bei diesen »detrimental drugs« ist belegt, dass sie die kortikale Plastizität – als ein wichtiges Substrat der Rehabilitation – einschränken und das Outcome verschlechtern können. i Als Faustregel gilt: Um ein optimales Rehabilitationsergebnis zu erreichen, sollte man versuchen, dem Patienten so rasch wie möglich keine sedierenden Medikamente mehr zu geben, v. a. keine Neuroleptika und Benzodiazepine.
. Abb. 56.6. CCT einer 73-jährigen Patientin mit akinetischem Mutismus nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Beidseits frontal zeigen sich ausgedehnte Kontusionsfolgen
Kontrovers wird der Einsatz von Amantadin nach Schädel-HirnTrauma (SHT) beurteilt [6, 7]. Wie bereits ausgeführt, ist ein genereller Einsatz nicht ausreichend evidenzbasiert. Die Erfahrung lehrt aber, dass die orale Gabe von 200–400 mg/Tag Amantadin nach SHT Vigilanz (und vielleicht auch Outcome) verbessern kann. Wir setzen in unserer Klinik Amantadin bei SHT-Patienten ein und beobachten bei nur geringen Nebenwirkungen oft ein positives Ansprechen.
713 56.4 · Therapieansätze in der neurologischen Frührehabilitation
56
. Abb. 56.8. Seitlagerung mit 30° Oberkörperhochlagerung, seitliche Ansicht
. Abb. 56.7. Komatöser, beatmeter Patient. Seitlagerung mit 30° Oberkörperhochlagerung, in leichter Schrittstellung mit Lagerung beider Füße zur Spitzfußprophylaxe. Ansicht von vorn
56.4.3 Therapeutische, aktivierende Pflege Der therapeutischen Pflege kommt eine große Bedeutung in der Frührehabilitation zu. Besonders wichtig sind Lagerungstechniken, z. B. zur Spastikhemmung, aber auch Verfahren der sog. »basalen Stimulation«. Hierbei ist es wichtig, dass Pflegepersonal und Physiotherapeuten ein gemeinsames Konzept zur Versorgung schwer betroffener neurologischer Patienten erarbeiten. Ziel aller pflegerischen Maßnahmen ist die Erreichung einer möglichst größen Selbstständigkeit des Patienten in seinen alltagspraktischen Fähigkeiten (z. B. Essen und Trinken).
Lagerungstechniken Die Lagerung muss individuell an den Patienten angepasst sein und vom gesamten interdisziplinären Team in gleicher Weise angewendet werden. Lagerungen sollen dem Patienten helfen, die Körperwahrnehmung zu verbessern und aktive Bewegungen durchzuführen. Weitere Ziele sind Vermeidung von Dekubiti, Kontraktur- und Gelenkfehlstellungsprophylaxe, Tonussenkung (Spastikreduktion) und Pneumonieprophylaxe. Die Lagerungen sollten nicht rein statisch erfolgen. Vielmehr soll den Patienten durch die Lagerung die Möglichkeit gegeben werden, sich trotz der bestehenden Defizite aktiv zu bewegen. Die Lagerung soll die Bewegungen der Patienten nicht behindern, sondern ermöglichen und unterstützen. Zuerst bietet man daher den Patienten Lagerungen an, die Aktivitäten erleichtern!
. Abb. 56.9. Seitlagerung mit 30° Oberkörperhochlagerung, seitliche Ansicht
Durch eine dem Patienten angepasste Lagerung kann der Tonus maßgeblich beeinflusst werden, sodass Spastik gehemmt oder zumindest reduziert wird. Spastik ist nicht nur schmerzhaft für den Patienten, sondern verringert auch die Einsetzbarkeit gelähmter Extremitäten, sodass eine erhaltene Willkürmotorik behindert wird. Bei komatösen neurologischen Patienten hat sich eine Oberkörperhochlagerung von 30° zur Hirndrucksenkung, aber auch zur Reduktion respiratorischer Komplikationen bewährt (. Abb. 56.7 bis 56.9). Neben der Seitlagerung wird auch die Rückenlagerung (. Abb. 56.10) durchgeführt, bei der allerdings das Risiko der Entwicklung von sakralen Dekubiti besteht.
Basale Stimulation Unter basaler Stimulation versteht man die Förderung und Erhaltung der Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation des Patienten. Um dem Patienten ein intaktes und vollständiges Körpergefühl zu ermöglichen, werden ihm verschiedene basale Stimuli über seinen Körper angeboten. Diese Angebote können eine dem Körper nachgeformte Ganzkörperwäsche (. Abb. 56.11), ein bekannter Geruch, Geschmack oder auch die Darbietung
714
Kapitel 56 · Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
. Tabelle 56.1. Aufgaben und Ziele der Physiotherapie in der neurologischen Frührehabilitation (nach: [10]) Aufgabenbereiche
Ziele
Lagerung
4 Kontrakturprophylaxe 4 Vermeidung abnormer Haltungsmuster (Kopf, Rumpf, Extremitäten)
Geführte Bewegungen
4 Erhaltung der freien Gelenkbeweglichkeit 4 Erhaltung der Dehnfähigkeit kontraktiler Gewebsstrukturen und des Gelenkspiels
Drehen und Mobilisation
4 Schulung und Erlernen funktioneller Bewegungsabläufe der betroffenen Körperseite 4 Selbstständige Bewegung der Extremität 4 Freies Sitzen 4 Stehen
56
Diese Aspekte der basalen Stimulation sollten in einer aktivierenden Pflege Grundbestandteil sein. . Abb. 56.10. Lagerung in Rückenlage mit Hochlagerung der Arme wegen Ödemen
. Abb. 56.11 Ganzkörperwaschung
akustischer Reize (z. B. Lieblingsmusik) sein. Daher ist es ganz wichtig, die Angehörigen nach Vorlieben des Patienten zu befragen. In der Pflege, aber auch bei anderen therapeutischen Kontakten sollte der Zugang zum Patienten über die gleichzeitige Ansprache, Berührung und motorische Führung bei Sichtkontakt (wenn möglich) erfolgen [8]. Alle Handlungen, die am und in der direkten Gegenwart des Patienten geschehen, müssen zuvor angekündigt werden. Ansprache und Kontaktaufnahme erfolgen bei Halbseitensymptomatik immer von der betroffenen Seite aus.
56.4.4 Physiotherapie Physiotherapie ist unabdingbar in der neurologischen Frührehabilitation. Über die notwendige Behandlungsfrequenz lassen sich keine definitiven Aussagen machen. Sicher ist, dass sich in Studien keine strenge Dosis-Wirkungs-Beziehung belegen lässt, »viel« bringt also auch nicht unbedingt »viel« [9]. Dessen ungeachtet fordert die Prozedur »neurologische Frührehabilitation« (G-DRG; 7 Kap. 56.2.2) 300 min Therapie pro Tag, wobei der Anteil der Physiotherapie daran jedoch nicht spezifiziert wird. An unserer Klinik gilt die Regel, dass ein schwer betroffener Frührehabilitationspatient mindestens 2 physiotherapeutische Einzelbehandlungen (je 30 min) pro Tag erhält. Die Aufgaben und Ziele der Physiotherapie lassen sich grob in . Tabelle 56.1 darstellen. Für die Therapie wird der Patient vorsichtig in eine Position gebracht, die die Behandlung positiv unterstützt oder die es ihm erleichtert mitzuarbeiten. Dann kann ein an den Patienten angepasstes Bewegen erfolgen. Dabei sollte es sich nicht um ein passives Durchbewegen handeln, sondern vielmehr ein aktivierendes Bewegen. i Beim Bewegen ist es wichtig, den Patienten nicht passiv zu bewegen, sondern dem Patienten die Möglichkeit zu geben, dass er sich auf die Bewegungen einlassen kann.
Der Therapeut vermittelt dem Patienten nur den Ansatz einer Bewegung, der Patient soll diese dann möglichst selbstständig initiieren. Dadurch wird erreicht, dass eine Erinnerung an motorische Funktionen stattfindet, möglichst durch häufige aktive Repetition. Repetition ist die Grundlage aller übenden Verfahren und regt die kortikale Plastizität an – ein wichtiges neurophysiologisches Substrat der Funktionswiederherstellung.
715 56.4 · Therapieansätze in der neurologischen Frührehabilitation
. Abb. 56.12. Bewegungsanbahnende Übungen, auch zur Kontrakturprophylaxe
Hände, Füße und der Mund sollten sehr frühzeitig Beachtung in der Therapie erhalten, da diese sehr große Repräsentationsareale im Kortex aufweisen. So kann man den Patienten z. B. sehr gut eine Bewegung der Hand zum Mund initiieren lassen (. Abb. 56.12 bis 56.14). Für den Erhalt der Gelenkbeweglichkeit ist es auch wichtig, dass die Muskulatur ihre physiologische Länge behält. Durch frühzeitige Aktivierung und Bewegung über das gesamte Bewegungsausmaß kann einer Muskelverkürzung vorgebeugt werden. Durch ein frühzeitiges Aktivieren der Muskulatur wird auch das Risiko von Spastizität reduziert. Durch besondere Behandlungstechniken (nach Bobath) wird darüber hinaus der Spastik entgegengewirkt. In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass sich eine spastische Tonuserhöhung bei zentralen Lähmungen in der Regel erst postakut einstellt. Nach Rückenmarkschädigungen liegt z. B. initial ein sog. »spinaler Schock« vor, der mit Areflexie und schlaffen Paresen einhergeht. Dennoch muss die Physiotherapie bereits in der Akutphase einsetzen, um einer erst Tage oder Wochen später einsetzenden Spastik entgegenzuwirken. Atemtherapie und Pneumonieprophylaxe sind ebenfalls Aufgaben der Physiotherapie. Zur Anwendung kommen hier Interkostalausstreichungen (. Abb. 56.15), Packegriffe, manuelle und mechanische Vibrationen, Kontaktatmung (. Abb. 56.16), unterschiedliche Lagerungen und das frühzeitige Vertikalisieren des Patienten. Die Patienten sollten nach Absprache mit den Ärzten möglichst früh an die Bettkante mobilisiert werden. Die Vertikali-
. Abb. 56.13. Präsentation der Hand am Mund, Vorbereitung
. Abb. 56.14. Erste Kontaktaufnahme der Hand mit dem Mund
56
716
Kapitel 56 · Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation
sierung findet unter striktem Monitoring statt (. Abb. 56.17). Durch diese frühzeitige Mobilisation kann eine Steigerung des Wachheitsgrades, eine veränderte und vertiefte Atmung, eine Tonusregulation durch die Aktivierung der autochtonen Rückenstrecker und ein Kreislauftraining erreicht werden. Während jeder Therapie muss auf die korrekte Stellung der Gelenkpartner zueinander geachtet werden, da sonst Schmerzen auftreten können. Auf Schmerz reagiert der Patient mit einer Abwehrspannung, dadurch kann es zu einer Tonuserhöhung kommen, die den Therapiezielen entgegensteht. 56.5
. Abb. 56.15. Atemtherapie, hier: Interkostalausstreichungen
56
. Abb. 56.16. Atemtherapie, hier: Kontaktatmung
Zusammenfassung
Neurologische Patienten sollten zügig einer qualifizierten Frührehabilitation zugeführt werden. Erleichert wird eine rasche und unbürokratische Verlegung durch die Tatsache, dass die neurologische Frührehabilitation Krankenhausbehandlung ist und somit Direktverlegungen aus der Akutklinik in der Regel ohne vorherigen Kostenübernahmeantrag bei der Krankenkasse möglich sind. Dessen ungeachtet sollten schon in der Akutbehandlung, also beim beatmeten Patienten auf der Intensivstation, rehabilitative Behandlungsansätze genutzt werden. Hierzu zählen eine aktivierende Pflege mit speziellen Lagerungstechniken und Maßnahmen der basalen Stimulation wie auch eine früh einsetzende Physiotherapie. Wichtig ist, dass nicht voreilig, z. B. durch die irrige Diagnose eines »apallischen Syndroms« die Weichen in eine Pflegeinrichtung gestellt werden. In Deutschland hat nach dem Sozialgesetzbuch jeder Patient einen Anspruch auf Rehabilitation vor Pflege! Um die Zusammenarbeit zwischen Akutbehandlern und Rehabilitationseinrichtungen zu verbessern, muss es in der Zukunft einen besseren Dialog zwischen beiden Gliedern der Behandlungskette geben. Wünschenswert wäre, dass sich auch Intensivmediziner in »ihren« Rehabilitationseinrichtungen vor Ort einen Überblick über deren Möglichkeiten und Grenzen verschaffen, um dann gezielt Patienten zuweisen zu können. In einigen neurologischen Frührehabilitationseinrichtungen gibt es Beatmungsplätze, aber nur in sehr wenigen auch die Möglichkeit einer anschließenden differenzierten beruflichen Rehabilitation. Letzeres wäre für einen berenteten Patienten irrelevant, für einen jungen Rehabilitanden, der sein Berufsleben noch vor sich hat, jedoch conditio sine qua non für eine erfolgreiche Partizipation.
Danksagung Für die Bereitstellung von Bildmaterial und inhaltliche Beratung bedanke ich mich bei Herrn Harenkamp, Physiotherapiekoordinator der Neurologischen Klinik Hessisch Oldendorf, und Frau Kluck, Ergotherapie. . Abb. 56.17. Vertikalisieren eines beatmeten Patienten mit 2 Therapeuten
Literatur 1. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (1995) Empfehlungen zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C. BAR Publikation, Frankfurt/Main
717 Literatur
2. Lücking CH (1977) Clinical pathophysiology of the apallic syndrome. In: Dalle Ore G et al. (eds) Apallic syndrome. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 129–132 3. Hagel K, Rietz S (1998) Die Prognose des apallischen Syndroms. Anästhesist 47: 677–682 4. Tackmann W (1993) Somatosensorisch evozierte Potentiale (SSEP). In: Lowitzsch K et al. (Hrsg) Evozierte Potentiale bei Erwachsenen und Kindern. Thieme, Stuttgart New York, S 213–277 5. Paolucci S, De Angelis D (2006) New developments on drug treatment rehabilitation. Clin Exp Hypertens 28, 3–4: 345–348 6. Hughes S, Colantonio A, Santaguida PL, Paton T (2005) Amantadine to enhance readiness for rehabilitation following severe traumatic brain injury. Brain Inj 20; 19/14: 1197–1206 7. Kraus MF Smith GS, Butters M et al. (2005) Effects of the dopaminergic agent and NMDA receptor antagonist amantadine on cognitive function, cerebral glucose metabolism and D2 receptor availability in chronic traumatic brain injury: a study using positron emission tomography (PET). Brain Inj 19; 7: 471–479 8. Gobiet W, Gobiet R (1999) Frührehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma. Springer Berlin Heidelberg New York, S 89–107 9. Rollnik JD (2004) Kontrollierte Studien über die Effektivität physiotherapeutischer Maßnahmen nach Hirninfarkt (Dosis-Wirkungs-Beziehungen). In: Gutenbrunner C, Weinmann G (Hrsg) Krankengymnastische Methoden und Konzepte. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 52–53 10. Greul W (1995) Rehabilitative Medizin systematisch. Uni-Med, Lorch, S 193–198
56
IX
Stoffwechsel, Niere, Säure-Basen-, Wasser- und Elektrolythaushalt
57
Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
58
Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma –735
59
Säure-Basen Status
60
Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsver fahren
–743 –755
–721
57 Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie S. Klose, H. Lehnert
57.1
Diabetisches Koma – Einteilung und Klassifikation
57.2
Diabetische Ketoazidose
57.2.1 57.2.2 57.2.3 57.2.4 57.2.5 57.2.6 57.2.7
Häufigkeit –722 Ursachen –722 Pathogenese –722 Klinisches Bild –723 Diagnostisches Vorgehen –724 Therapie –724 Prognose –726
57.3
Hyperosmolares, nicht-ketoazidotisches Koma
57.3.1 57.3.2 57.3.3 57.3.4
Häufigkeit, Ursachen und Pathogenese –726 Diagnostik und klinisches Bild –726 Therapie –727 Prognose –727
57.4
Laktatazidosen
57.4.1 57.4.2 57.4.3
Ursachen –727 Klinik und Diagnostik der Laktatazidosen –727 Therapie –728
57.5
Hypoglykämie
57.5.1 57.5.2 57.5.3 57.5.4
Ursachen –728 Diagnostik und klinisches Bild –729 Therapie –730 Prognose –731
57.6
Perioperative Betreuung des Diabetikers
57.6.1 57.6.2 57.6.3 57.6.4
Perioperative Risiken und Diagnostik –731 Präoperative Therapie –731 Intraoperative Therapie –731 Postoperative Therapie und Risiken –732
57.7
Blutglukosekontrolle bei Intensivpatienten in besonderen Situationen
57.7.1 57.7.2 57.7.3
Akuter Myokardinfarkt –732 Kardiochirurgischer Eingriff –732 Patienten auf internistischer Intensivstation –732
Literatur
–732
–722
–722
–726
–727
–728
–731
–732
722
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
57.1
Diabetisches Koma – Einteilung und Klassifikation
Das diabetische Koma im engeren Sinne wird in die folgenden 3 Formen unterteilt: 4 diabetische Ketoazidose (DKA), 4 hyperosmolares, nicht-ketoazidotisches Koma, 4 Laktatazidose. Diese Einteilung kann nicht immer starr eingehalten werden, da Mischbilder vorkommen. Auch die alkoholische Ketoazidose beim Diabetes mellitus gehört zu diesem Formenkreis, soll aber an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Die Hypoglykämie zählt nicht unmittelbar zu den Formen des diabetischen Komas, muss aber als relevante Akutkomplikation hier mitangeführt werden.
Diabetische Ketoazidose
57
Der DKA liegen vielfältige Mechanismen zugrunde, meist aber eine ausgeprägte Insulinsekretionsstörung bzw. ein Insulinmangel. Es handelt sich damit auch um die klassische Komaform des Patienten mit Typ-1-Diabetes. Per Definition gehören folgende Symptome zu dieser Erkrankung: 4 Hyperglykämie, bereits ab Werten von etwa 250 mg/dl bzw. 14 mmol/l, 4 metabolische Azidose, 4 erniedrigtes Serumbikarbonat, 4 vermehrte Bildung von Ketonkörpern.
Hyperosmolares, nicht-ketoazidotisches Koma Beim hyperosmolaren, nicht-ketoazidotischen Koma steht eine Hyperglykämie mit deutlich höheren Werten als bei der DKA und einem parallel verlaufenden Anstieg der Serumosmolarität, jedoch keine Ketoazidose im Vordergrund. Hier besteht noch eine erhaltene Insulinsekretion, sodass die antilipolytische Wirkung von Insulin vorhanden ist.
Laktatazidose Bei der Laktatazidose steht eine schwere metabolische Azidose mit erhöhten Laktatkonzentrationen im Vordergrund. Bei der diabetischen Laktatazidose handelt es sich im engeren Sinne um eine Laktatazidose vom Typ B1 (7 Kap. 57.4). 57.2
Diabetische Ketoazidose
57.2.2 Ursachen Das Ursachenspektrum der DKA ist außerordentlich vielfältig; neben auslösenden Erkrankungen stehen Behandlungsfehler im Vordergrund. Als Hauptursachen wurden in einer Metaanalyse Infektionen (28–56%) beschrieben, gefolgt von Behandlungsfehlern (21–41%), Diabetesneumanifestationen (17–22%) und anderen akuten Erkrankungen (10%) [10]. Darunter sind Alkoholabusus, Myokardinfarkt und Pankreatitis wichtige Auslöser; Medikamenteninteraktionen tragen weiterhin zur Stoffwechseldekompensation bei. Ein wesentliches Problem sind Behandlungsfehler, hier insbesondere die nicht ausreichende Insulinsubstitution, v. a. unter Stressbedingungen (perioperativ, Begleiterkrankungen). Ein besonderes Problem stellt auch die DKA bei Patienten mit Insulinpumpentherapie dar. Eine fehlende Zufuhr durch Pumpenstopp oder Katheterprobleme kann innerhalb kürzester Zeit zu einer DKA führen, da bei dieser Therapieform kein Basalinsulin zugeführt wird und somit die Insulinvorräte rasch erschöpft sind [2]. 57.2.3 Pathogenese Das klinische Vollbild der DKA ist Ausdruck der Hyperglykämie, der Ketoazidose und einer nachfolgend ausgeprägten Dehydrierung.
Relativer Insulinmangel Ursächlich liegt dieser Entwicklung zunächst ein relatives Überwiegen insulinantagonistischer Hormone zugrunde (Wachstumshormon, Glukokortikoide, Katecholamine, Glukagon) und damit einhergehend ein relativer Insulinmangel. Die Hyperglykämie ist dabei in erster Linie Ausdruck der verminderten Aufnahme von Glukose in die insulinsensitiven Gewebe (quergestreifte Muskelzelle, Fettgewebszelle) bei gleichzeitiger Mehrproduktion von Glukose. Diese Mehrproduktion ist zum einen Ausdruck einer hyperglykämiebedingten Hochregulierung des Glukosetransporters 2 (GLUT-2), der Glukose aus den Hepatozyten transportiert. Im Gegensatz dazu bleibt GLUT4 unter Bedingungen des Insulinmangels inaktiv und kann die Glukoseaufnahme in Muskel- und Fettzellen nicht bewirken. Weiterhin entsteht Glukose als Ausdruck eines erhöhten Proteinkatabolismus und einer verminderten Proteinsynthese (Kortisoleffekte) sowie einer erhöhten Verfügbarkeit von Aminosäuren als Substraten der Glukoneogenese.
Ketose 57.2.1 Häufigkeit Die Bedeutung dieser Akutkomplikation ergibt sich daraus, dass eine DKA etwa 4–9% aller Krankenhausaufnahmen bei diabetischen Patienten ausmacht. Die jährliche Inzidenz liegt in den industrialisierten Ländern bei 4–8 Episoden pro 1000 Patienten mit Diabetes [10]. Im Rahmen von Erstmanifestationen tritt eine Ketoazidose bei 25–40% der Kinder mit Typ-1-Diabetes auf und darf aufgrund ihres lebensbedrohlichen Charakters nicht unterschätzt werden [7].
Die Ketose ist Ausdruck der unter den Bedingungen des Insulinmangels verminderten antilipolytischen Wirkung. Insulin hemmt die Gewebslipase und verhindert hierdurch den Abbau gespeicherter Triglyzeride. Bei Insulinmangel nimmt die Aktivität der Gewebslipase zu, Triglyzeride werden zu Glyzerol und freien Fettsäuren hydrolysiert. Diese wiederum sind die hepatischen Vorstufen für die Ketonsäuren E-Hydroxybutyrat und Acetoacetat [9]. Zusammenfassend ist dies in . Abb. 57.1 dargestellt.
Folge: Dehydrierung Als lebensbedrohliches klinisches Leitsymptom entsteht mit Anstieg der Blutglukosewerte eine osmotische Diurese mit gleichzeitiger glukoseinduzierter Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten. Bei noch normaler Nierenfunktion und ausreichender
57
723 57.2 · Diabetische Ketoazidose
. Tabelle 57.1. Klinik der diabetischen Ketoazidose
. Abb. 57.1. Bildung von Ketonkörpern im Insulinmangel
Hydrierung gleicht der renale Glukoseverlust die Hyperglykämie aus. Höhere Serumwerte sind daher auch ein Hinweis für eine zunehmend eingeschränkte Nierenfunktion bzw. Dehydrierung. Der Verlust von Natriumsalzen verstärkt die Dehydrierung. Schließlich entsteht ein Circulus vitiosus, bei dem sich die Ketonsäuren im distalen Tubulus wie nicht resorbierbare Anionen verhalten und daher als Natrium- und Kaliumsalze ausgeschieden werden; dies führt zu einem weiteren Elektrolytverlust. 57.2.4 Klinisches Bild Die wesentlichen Symptome und Zeichen der DKA und ihre Ursachen sind in . Tabelle 57.1 dargestellt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Differenzialdiagnose zwischen einer Pseudoperito-
Klinische Zeichen
Ursache
Polyurie, Polydipsie
Osmotische Diurese
Gewichtsverlust, Schwäche
Diurese, Katabolie
Übelkeit
Ketose
Abdominalbeschwerden
K+-Depletion (?)
Muskelkrämpfe
Flüssigkeitsverlust
Dehydratation
Osmotische Diurese
Gastroparese
Hyperglykämie
Warme Haut
K+-Depletion, Azidose
Hypotonie, Tachykardie
Vasodilatation
Somnolenz, Koma
Dehydratation, Azidose, Hyperosmolarität
nitis diabetica und einem akuten Abdomen schwierig sein kann. Erstere korreliert mit dem Schweregrad der Azidose. Prodromi wie Polyurie, Polydipsie, Erbrechen und Inappetenz können dabei dem Koma bis zu einigen Tagen vorausgehen; insbesondere bei schleichendem Verlauf sind Exsikkose und Volumenmangel sehr ausgeprägt. Das klinische Vollbild manifestiert sich durch die ausgeprägte Dehydrierung mit ihren Folgen (trockene Schleimhaut, fehlender Hautturgor, weiche Bulbi, herabgesetzter Muskeltonus). Aufgrund des Volumenmangels sind insbesondere die systolischen Blutdruckwerte niedrig, häufig unter 90–100 mm Hg. Die Extremitäten sind in der Regel blass. Mit zunehmendem Schweregrad der Erkrankung und insbesondere mit Zunahme der Azidose entwickelt sich die typische tiefe Kussmaul-Atmung zur Kompensation der metabolischen Azidose. Als prognostisch besonders ungünstiges Zeichen kann sich eine Cheyne-Stokes-Atmung einstellen [6]. Von großer Bedeutung ist die Differenzialdiagnose der unterschiedlichen Komaformen (. Tab. 57.2).
. Tabelle 57.2. Differenzialdiagnostische Aspekte der Komaformen bei diabetischen Patienten Art des Komas
Blutglukose, ca. [mg/dl]
Plasma-/ Urinketone
Dehydratation
Hyperventilation (KussmaulAtmung)
Blutdruck
Haut
Diabetische Ketoazidose
> 300
+-+++
++
++
(↓)
Warm
Hyperosmolares Koma
> 500
Ø –+
+++
Ø
(↓)
(Normal
Laktatazidose
20 – 200
Ø –+
++
↓
Warm
Hypoglykämie
<50
Ø
Ø
Ø
(↑)
Kalt, schweißig
Nicht-metabolisches Koma
Variabel
Ø –+
Ø –+
Ø –+
Variabel
Normal
724
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
57.2.5 Diagnostisches Vorgehen
Akutdiagnostik Die Akutdiagnostik der DKA umfasst v. a. die folgenden Untersuchungen: Blutglukose, Plasmaketonkörper, Elektrolyte im Serum, Kreatinin, Blutgasanalyse, Blutbild, Urinkultur, ggf. Blutkultur, EKG, Thoraxröntgenbild.
Diagnosekriterien Die Diagnose einer DKA kann dann gestellt werden, wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind: 4 Blutglukose über 250 mg/dl (14 mmol/l), 4 pH-Wert <7,3, 4 erniedrigtes HCO–3 (<15 mmol/l), 4 hohe Anionenlücke (optional), 4 erhöhte Urin-/Serumketone.
57
Zu beachten ist, dass eine Leukozytose, insbesondere aufgrund der erhöhten Sekretion der Glukokortikoide, obligat auftritt. 40– 60% der Patienten zeigen Anstiege der Amylase, meist keine Lipaseerhöhung. Am ehesten handelt es sich hier um eine Erhöhung der Isoamylase aus den Speicheldrüsen. Weiterhin finden sich Anstiege der Transaminasen und der Creatinkinase; möglicherweise korreliert die CK-Erhöhung mit dem anfänglich auftretenden intrazellulären Phosphatmangel. Ein Laktatanstieg ist zum einen Ausdruck des Volumenmangels, zum anderen Ausdruck der hieraus resultierenden Minderperfusion und Gewebehypoxie. Hier werden Werte über 2,5 mmol/l beobachtet. Bei deutlichem und weiterem Anstieg der Laktatwerte ist bei Vorliegen einer abdominellen Symptomatik an eine Peritonitis zu denken.
Elektrolyte Insbesondere die Bestimmung des Serumkaliumwertes ist von großer Bedeutung für die Steuerung der Substitutionstherapie. Obwohl die renalen Verluste zum Kaliummangel führen, sind bei der Aufnahme des Patienten die Werte im Serum häufig erhöht. Hierfür gibt es eine Reihe unterschiedlicher Erklärungen; insbesondere geht es dabei um den Transport von Kalium in den Extrazellulärraum, die Freisetzung von Kalium aus den Zellen im Austausch gegen Wasserstoffionen durch die Azidose sowie die intrazellulären Phosphatverluste, die zur Aufrechterhaltung der elektrischen Neutralität auch einen intrazellulären Kaliumverlust bedingen. Schließlich bewirkt der Insulinmangel eine verminderte Aufnahme von Kalium in die Zelle und führt über den Abbau von Glykogen und Proteinen ebenfalls zu einem Kaliumtransport aus der Zelle. Die Situation kann weiter dadurch kompliziert werden, dass bei vielen Patienten, v. a. bei lange bestehendem Diabetes, ein hyporeninämischer Hypoaldosteronismus mit ohnehin tendenziell erhöhten Kaliumwerten besteht. i Dies verdeutlicht gleichzeitig, dass mit Durchführung einer effektiven Therapie (Volumensubstitution, Ausgleich des Insulinmangels) Kalium wieder nach intrazellulär transportiert wird und im Verlauf der Therapie eine Hypokaliämie entstehen kann. Die engmaschige Kontrolle des Serumkaliums ist daher essenziell.
Anionenlücke In der Situation der DKA ist die Anionenlücke typischerweise erhöht. Die Berechnung der Anionenlücke ergibt sich aus der
Subtraktion der Chlorid- und Bikarbonatkonzentration von der Natriumkonzentration ([Na+]–[Cl– + HCO–3]). Die normale Anionenlücke von 8–12 mmol/l entsteht durch die nicht gemessene Konzentration an Albumin und organischen Säuren, in erster Linie Laktat, Phosphat und Sulfaten. Mit Anstieg der Ketonsäuren Acetoacetat und β-Hydroxybutyrat wird durch die notwendigen Puffervorgänge Bikarbonat verbraucht und durch die akkumulierenden Ketosäurenanionen ersetzt. Diese werden nicht bestimmt und erhöhen damit die Anionenlücke. Die Abnahme der Anionenlücke stellt damit auch einen guten und einfach zu berechnenden Parameter für die effektive Behandlung der azidotischen Situation des Patienten dar [1]. 57.2.6 Therapie Die Therapie der DKA muss rasch und zielgerichtet erfolgen, um eine weitere Progression, insbesondere des Flüssigkeitsverlusts, aufzuhalten. Im Vordergrund der therapeutischen Maßnahmen steht daher der Ausgleich des Flüssigkeitsdefizits, erst dann folgen die anderen therapeutischen Ziele, nämlich Insulinsubstitution, Stabilisierung der Kreislauffunktion, Ausgleich des Elektrolytdefizits, Behandlung der metabolischen Azidose und Behandlung der Begleiterkrankungen, Ursachen und Komplikationen. Die prästationäre Therapie des diabetischen Komas umfasst die folgenden Erstmaßnahmen: 4 Eigen- und Fremdanamnese, soweit möglich (Vorerkrankung, Therapie, Auslöser), 4 orientierende körperliche Untersuchung, 4 Glukoseschnelltest, 4 evtl. Ketonkörperschnelltest, 4 großlumige Venenkanüle und Infusion von 0,9%iger Kochsalzlösung, 500–1000 ml/h, sofern keine Herzinsuffizienz vorliegt, dann weiter nach Bedarf, 4 rascher Transport in die Klinik, 4 nur bei sicherer Diagnose 10–12 IE Normalinsulin i.v. Falls in der Notfallsituation kein Glukoseschnelltest durchführbar ist und als Differenzialdiagnose eine Hypoglykämie möglich ist, kann die Gabe von 40 ml 40%iger Glukose erfolgen. Dies führt zu einer sofortigen Besserung der hypoglykämischen Situation und hat einen vernachlässigbaren Einfluss auf das Coma diabeticum. Mit Klinikaufnahme erfolgt dann die Therapie des diabetischen Komas hinsichtlich Volumensubstitution, Insulinsubstitution, Elektrolytsubstitution sowie die Durchführung begleitender Maßnahmen.
Volumensubstitution Da davon ausgegangen werden kann, dass das mittlere Flüssigkeitsdefizit bei ca. 5 l oder etwa 7–10% des Körpergewichts liegt, ist die wichtigste Maßnahme die Beseitigung dieses intravasalen Volumenmangels. Anfänglich werden 1000 ml/h 0,9%ige NaCl-Lösung über ca. 4 h gegeben, dann wird die Substitution nach Bedarf mit 500–250 ml/h fortgeführt. Alternativ kann Ringer-Lösung verabreicht werden. Bei einem Serum-Natrium >150 mml/l bzw. Oligo-/Anurie ist eine halbisotone Kochsalzlösung zu bevorzugen [11]. Die Steuerung der Rehydrierung nach zentralem Venendruck ist in besonderen klinischen Situationen (z. B. bei Herzinsuffizienz) notwendig (. Tab. 57.3).
725 57.2 · Diabetische Ketoazidose
. Tabelle 57.3. Volumensubstitution zur Therapie der diabetischen Ketoazidose. (Mod. nach [6])
. Tabelle 57.4. Kaliumsubstitution bei der Therapie der diabetischen Ketoazidose. (Nach [14])
ZVD (cm H2O)
Serumkalium [mmol/l]
0
Infusionsmenge NaCl (ml/h)
Bei pH <7,2 mmol/h
1000 0
0
5,0–5,9
10
20
100
4,0–4,9
10–20
20–30
0
3,0–3,9
20–30
30–40
2,0–2,9
30–40
40–60
0–3
500
4–8
250
9–12
>12
Bei pH >7,2 mmol/h
57
bei Na+ >150 mmol/l bzw. Oligo-/Anurie 0,45%ige NaCl-Lösung.
Insulinsubstitution Die pathophysiologische Bedeutung der Insulinsubstitution liegt in der antilipolytischen Wirkung und damit in der Behandlung der Ketoazidose sowie in der Hemmung der hepatischen Glukoneogenese. Die Insulinsubstitution folgt an 2. Stelle der therapeutischen Maßnahmen, da häufig mit einer ausreichenden Rehydrierung noch im subkutanen Gewebe vorhandene Insulindepots »mobilisiert« werden. i Wesentliches Prinzip der Insulintherapie in dieser Situation ist die ausschließliche Gabe von Normalinsulin und hier bevorzugt die i.v.-Gabe.
Die i.v.-Gabe ist der i. m.-Gabe vorzuziehen. Eine subkutane Injektion ist wegen der in Zusammenhang mit der Dehydrierung (zunächst) schlechten Resorptionbedingungen und der nach der Rehydrierung erfolgenden unkontrolliert raschen Resorption obsolet. Die kontinuierliche i.v.-Insulingabe beginnt mit einem Bolus von ca. 8–10 IE (0,15 IE/kg), gefolgt von ca. 4–8 IE/h (0,1 IE/ kg KG/h) über eine Infusionspumpe. Wichtig hinsichtlich der Dosierung ist hierbei die Berücksichtigung der evtl. prästationär gegebenen Insulindosen. Die weitere Anpassung erfolgt dann je nach Blutglukosewert, der Zielblutzucker liegt bei 250 mg/dl (14 mmol/l) in den ersten 24 h. Wenn dieser Wert erreicht ist, wird Insulin auf ca. 1–4 IE/h (0,05 IE/kg KG/h) reduziert. Um eine weitere Absenkung des Blutzuckers zu verhindern, kann 5- bis 10%ige Glukose im Bypass infundiert werden [10]. Eine Senkung von mehr als 50 mg/dl (3mmol/l) stündlich. Eine Blutglukosesenkung von mehr als 50 mg/dl bzw. 3 mmol/l stündlich sollte zur Prophylaxe eines Disäquilibriumsyndroms (Hirnödem durch Osmolaritätsgradienten) vermieden werden. Eine niedrigdosierte Insulintherapie ist in spezialisierten Zentren mit einer geringen Mortalität assoziiert [23]
Kaliumsubstitution Die kontrollierte Kaliumgabe ist von größter Bedeutung und muss unmittelbar mit der Insulintherapie beginnen. Wesentlich ist, dass Kaliumverluste unter der Therapie direkt ausgeglichen werden; sie entstehen zum einen durch den renalen Verlust, zum anderen über den intrazellulären Shift durch Ausgleich der Azidose und Insulingabe. Bei regelrechter Nierenfunktion muss eine Kaliumsubstitution bereits bei einem Serumkalium von d5,0 mmol/l mit 20–30 mmol/l Infusionsflüssigkeit begonnen werden. Wenn das initiale Serumkalium <3,3 mmol/l beträgt, müssen wegen der Gefahr kardialer Arrhythmien vor der Insulin-
>6,0
substitution zunächst 40 mmol K+/h verabreicht werden [11]. Empfehlungen zur Kaliumdosierung sind in . Tabelle 57.4 genannt.
Phosphatsubstitution Während häufig unmittelbar vor der Behandlung die Phosphatkonzentrationen aufgrund des Verlusts in den Extrazellulärraum (Insulinmangel) erhöht sind, werden mit Beginn der Insulintherapie und bei fehlender Substitution niedrige Serumphosphatwerte beobachtet. Dies ist problematisch, da hieraus eine Abnahme des 2,3-DPG-Gehalts der Erythrozyten und ein zu rascher Ausgleich der Azidose folgen können. Dies wieder birgt die Gefahr einer Hypoxie der peripheren Gewebe mit kompensatorischer Steigerung des Herzminutenvolumens; Herzinsuffizienz und Atemdepression können resultieren. Prospektive randomisierte Studien konnten keinen Vorteil der Phosphatsubstituion bei DKA aufzeigen. Trotzdem wird bei Patientin mit Herzinsuffizienz, Anämie und respiratorischer Insuffizienz eine Indikation zur vorsichtigen Phosphatsubstitution bei Serumwerten von <1,0 mg/dl (0,4 mmol/l) gesehen. Diese kann mit 20–30 mmol/l einer Kaliumphosphatlösung als Zusatz zur Infusion erfolgen [11].
Bikarbonatgabe Die Bikarbonatgabe in der Therapie der DKA ist umstritten. Die grundsätzlichen Vorteile bestehen im Ausgleich und in der Behandlung von negativer Inotropie, peripherer Vasodilatation, Hypotonie, Atemdepression und Insulinresistenz. Die Gefahren liegen v. a. in einem Abfall des Liquor-pH-Werts, einer Hypokaliämie, einer Linksverschiebung der Hämoglobin-O2-Dissoziationskur ve, einer Natriumüberladung und einer Reboundalkalose. Daher gilt, dass sie nur bei vital bedrohlicher Azidose mit pH <7,0 sowie ernsten Herzrhythmusstörungen bzw. schwerer Hyperkaliämie durchgeführt werden sollte [10]. Die Abschätzung der benötigten Bikarbonatmenge kann nach folgender Formel erfolgen: Natriumbikarbonat 8,4 % in ml = 0,3 x negativer Basenüberschuß x kg Körpergewicht, davon 1/3 über 2 h bis pH > 7,0 unter 2 stdl. pH- Kontrollen Die Infusionsmenge in ml Natriumbikarbonat entspricht etwa dem Körpergewicht in kg.
726
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
57.2.7 Prognose . Tabelle 57.5. Auslöser des hyperosmolaren nicht-ketoazidotischen Komas Begleiterkrankungen:
4 Infektionen (Harnwegsinfekte, Gastroenteritiden) 4 Flüssigkeitsverluste 4 Gestörtes Durstempfinden 4 Kardiovaskuläre Ereignisse
Medikamente:
4 4 4 4
Glukokortikoide Thiaziddiuretika Diphenylhydantoin Atypische Neuroleptika, z. B. Clozapin, Risperidon
Da die Bikarbonatgabe bei Kindern zu einem höheren Risiko der Hirnödementwicklung führt, sollte diese nur Ausnahmefällen vorbehalten bleiben und ggf. mit 1–2 mmol NaHCO–3/kg KG über 1 h erfolgen [7,11].
57
Begleitmaßnahmen Stets muss die Therapie der diabetischen Ketoazidose von der Suche nach auslösenden Ursachen und deren Behandlung begleitet werden. Weiterhin gehören hierzu die Anlage eines zentralvenösen Katheters zur ZVD-Messung und ggf. hochdosierten Kaliumsubstitution in besonderen klinischen Situationen, eine kontinuierliche EKG-Überwachung, eine Antibiotikatherapie bei Infektionsverdacht und die Heparinisierung, v. a. bei älteren Patienten und bei ausgeprägter Dehydratation.
Therapiekontrolle Während der stationären Betreuung müssen folgende Parameter engmaschig überwacht werden: 4 Herz-Kreislauf-Funktion, initial mindestens alle 30 min für 4 h, dann alle 60 min bzw. je nach Befund, 4 Bewusstseinszustand, 4 Atemfunktion, 4 Körpertemperatur, zuerst 2-stündlich, dann später alle 6 h, 4 Flüssigkeitsbilanz mit ZVD-Messung. Hinsichtlich der Laborkontrollen müssen stündlich Blutzuckermessungen durchgeführt werden, bis der Blutzucker bei 250 mg/ dl (14 mmol/l) liegt; bei stabilem Verlauf dann 2-stündlich. Die Serumelektrolyte (Kalium und Natrium) müssen mindestens 4-stündlich bestimmt werden, Serumkreatinin je nach Befund. pH-Wert und pCO2 werden bei einem pH von > 7,0 4-stündlich bis zur Normalisierung gemessen, bei einem pH <7,0 nach jeder Bikarbonatgabe (s. oben).
Zu dieser Frage liegen nur wenige epidemiologische Daten vor. Mit Einführung und zunehmender Anwendung der adäquaten Volumensubstitution und eher niedrig dosierten kontinuierlichen Insulingaben hat sich die Prognose insgesamt deutlich gebessert. Die Gesamtletalität liegt etwa zwischen 5 und 8%. Insbesondere ist die Frühletalität (in den ersten 3 Tagen) deutlich zurückgegangen, die Spätletalität durch begleitende oder auslösende Erkrankungen hat sich dagegen kaum geändert. 57.3
Hyperosmolares, nicht-ketoazidotisches Koma
57.3.1 Häufigkeit, Ursachen und Pathogenese Das hyperosmolare Koma wird insgesamt bei etwa 15–20% aller schweren hyperglykämischen Komaformen des Diabetes beobachtet. Eindeutig häufiger betroffen sind ältere Patienten, oft auch mit bis dahin unbekanntem Diabetes mellitus. Jugendliche und Kinder betrifft es nur sehr selten. Aufgrund des relativen Insulinmangels und der noch supprimierten Lipolyse entsteht keine Ketoazidose. Auslöser des hyperosmolaren Komas sind damit auch Erkrankungen des höheren Lebensalters bzw. auch Einnahme von Medikamenten, die in dieser Altersgruppe häufiger rezeptiert werden (. Tab. 57.5). Besonders problematisch ist bei älteren Patienten das gestörte Durstempfinden, sodass ein Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts nur sehr eingeschränkt erfolgt. Ein zusätzliches großes Problem ist die Zufuhr zuckerhaltiger Getränke zur Durststillung. Zusammenfassend gilt für die Pathogenese, dass – wie oben erwähnt – die insulinantagonistischen Hormone ansteigen, die Lipolyse jedoch bereits bei deutlich niedrigeren als für die Glukoseutilisation in der Peripherie erforderlichen Insulinkonzentrationen gehemmt wird. Daher dominieren in dieser Situation Hyperglykämie und Hyperosmolarität, nicht die Ketoazidose; dies ist in . Abb. 57.2 dargestellt. 57.3.2 Diagnostik und klinisches Bild Aus der Pathogenese ergeben sich die wesentlichen Kennzeichen des hyperosmolaren Komas: 4 bevorzugt ältere, meist Typ-2-Diabetiker, 4 häufig bei bis dahin unbekanntem Diabetes,
. Abb. 57.2. Pathogenese des hyperosmolaren, nicht-ketoazidotischen Komas
727 57.4 · Laktazidosen
4 Hyperglykämie mit Werten z. T. weit über 600 mg/dl (33 mmol/l), 4 Hyperosmolarität und Hypernatriämie, 4 selten Azidose. Mehr als 30% dieser Patienten sind bei Klinikaufnahme deutlich bewusstseinseingeschränkt oder -getrübt, entsprechend hoch ist bei diesen Patienten auch die Anfangsletalität. Die Exsikkose ist häufig sehr ausgeprägt, die tiefe Kussmaul-Atmung fehlt. Eine neurologische Herdsymptomatik ist häufig, lokalisierte oder generalisierte Krampfanfälle, Hemi- oder Monoparesen kommen vor. Da gerade in dieser Altesgruppe Gastrointestinal- und Harnwegsinfekte sehr häufig sind, muss hier nach dem klinischen Korrelat dieser Erkrankungen gesucht bzw. die entsprechende Labordiagnostik durchgeführt werden. Im Übrigen unterscheiden sich die diagnostischen Maßnahmen nicht wesentlich von denen, die für das ketoazidotische Koma aufgeführt wurden.
57
Die Laktatazidose wird eingeteilt in »Typ A« und »Typ B«: 5 Typ-A-Laktatazidosen sind Ausdruck einer Minderperfusion und verminderten Oxygenierung, während 5 Laktatazidosen vom Typ B durch eine Stoffwechselentgleisung oder durch Medikamente ausgelöst werden.
Die allgemeinen therapeutischen Richtlinien und Konzepte entsprechen denen der diabetischen Ketoazidose. Wesentlich ist die rasche Volumengabe bei der sehr ausgeprägten Exsikkose in Form von isotoner, 0,9%iger NaCl-Lösung. Die Kontrolle der Kaliumwerte und die Kaliumsubstitution sind ebenfalls von übergeordneter Bedeutung, da diese Patientengruppe durch eine Hypokaliämie (maligne Herzrhythmusstörungen) hochgradig gefährdet ist. Eine Bikarbonatgabe ist hier nicht indiziert. Auf die Notwendigkeit der Heparinisierung ist bereits hingewiesen worden.
Bei der Typ-A-Laktatazidose besteht ein Ungleichgewicht zwischen O2-Versorgung des Gewebes und Bedarf; dies erklärt, dass die wesentlichen Ursachen eher kardiopulmonale Erkrankungen aber auch regionale Minderperfusionen (Beispiel: akute arterielle Embolie) sind. Bei der Typ-A-Laktatazidose kommt es als Ausdruck der verminderten Gewebeoxygenierung zu einer verminderten Oxidation von Pyruvat im Zitronensäurezyklus. Dies erhöht die Laktatproduktion und die Bildung von ATP über die Glykolyse. Die Laktatkonzentration im Blut ist von prognostischer Bedeutung, da das Ausmaß seiner Produktion mit dem O2-Defizit korreliert. Eine Laktatazidose tritt als Typ-B1-Laktatazidose beim Diabetes mellitus auf; Biguanide als orale Antidiabetika sind heute nur noch sehr selten Auslöser einer Laktatazidose (Typ B2). Dies war deutlich häufiger unter der Einnahme von Phenformin und Buformin Ende der 1970-er Jahre mit etwa 1 Fall auf 2000 Krankenhauspatienten [20]. In einer aktuellen Metaanalyse, die auch niereninsuffiziente Patienten eingeschlossen hat, ist die Inzidenz von Laktatazidosen mit ca. 9 pro 100.000 Patientenjahre mit und ohne Metformin-Therapie identisch. Aufgrund der aktuellen Datenlage sollten die bisherigen Kontraindikationen für Metformin modifiziert werden. [8, 19]. In . Tabelle 57.6 sind die Ursachen der Laktatazidose genannt.
57.3.4 Prognose
57.4.2 Klinik und Diagnostik der Laktatazidosen
57.3.3 Therapie
Auch hier gilt, dass die Gesamtletalität (ca. 15%) im Wesentlichen von den Begleiterkrankungen, aber auch von der Ausgangssituation (Bewusstseinszustand, Exsikkose) abhängt. Eine strikte Beachtung und Prophylaxe thromboembolischer Komplikationen kann die Gesamtletalität weiter senken. 57.4
Laktatazidosen
57.4.1 Ursachen
Labor Die typischen Laborzeichen sind ein Abfall des arteriellen pHWerts und der Bikarbonatkonzentration im Serum, in der Regel begleitet von einem kompensatorischen Abfall des pCO2. Eine begleitende Hyperkaliämie ist sehr häufig. Ein weiterer richtungsweisender Parameter ist die erhöhte Anionenlücke. Es findet sich außerdem ein Anstieg der Serumchloridkonzentration, etwa in dem Ausmaß, wie Bikarbonat erniedrigt ist. Die Bestimmung der Laktatkonzentration ist zur Ausschlussdiagnostik obligat.
Klinik Prinzipiell stellen Laktatazidosen Additionsazidosen dar und sind Ausdruck einer vermehrten Bildung von Laktat mit nachfolgend bedrohlichem Abfall des arteriellen pH-Werts. Gleichzeitig ist diese Form der Azidose ein typisches Beispiel für eine Azidose, die mit erhöhter Anionenlücke einhergeht. Die Konzentration von Laktat liegt unter Kontrollbedingungen bei etwa 0,5–1,5 mmol/l. Eine Hyperlaktatämie wird definiert als ein mäßiggradiger Laktatanstieg auf bis zu 5 mmol/l, während eine Laktazidose durch deutlich erhöhte Laktatspiegel (>5 mmol/l) in Kombination mit einer metabolischen Azidose charakterisiert ist. Im Gegensatz zu einer Hyperlaktatämie findet sich hier damit eine kritische metabolische Dysregulation.
Die klinischen Zeichen reflektieren in erster Linie den veränderten Zellstoffwechsel bei intrazellulärem pH-Abfall. Verschiebungen des pH-Werts im Extrazellulärraum verändern die Bindung beispielsweise von Liganden an zelluläre membranständige Rezeptoren und verändern die Affinität von Transportproteinen im Plasma. Klinische bedeutsam sind v. a. die Veränderungen der kardiovaskulären Funktionen. So führt eine schwere Azidose zu einer verminderten Myokardkontraktilität, zu Vasodilatation und Hypotonie, einem verminderten hepatischen und renalen Blutfluss, einer Bradykardie und einer erhöhten Rate an ventrikulären Rhythmusstörungen. Weiterhin fallen im Prodromalstadium v. a. Appetitlosigkeit, Übelkeit, abdominelle Schmerzen, zunehmende Adynamie und
728
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
. Tabelle 57.6. Ursachen der Laktatazidose Typ
Ursachen
Typ-ALaktatazidose
4 Schock (kardiogen, septisch, hypovolämisch) 4 Schwere Hypoxämie (z. B. Asthma bronchiale) 4 Schwere Anämie 4 CO-Vergiftung
Typ-BLaktatazidose
4 B1 (bei typischer Grunderkrankung) – Diabetes mellitus – Leberzirrhose – Tumor – Sepsis – Phäochromozytom 4 B2 (medikamentös-toxische Einflüsse) – Biguanide (früher beobachtet bei Buformin und Phenformin) – Ethanol – Methanol – Fruktose – Sorbitol – Salicylat – Paracetamol – Terbutalin – Nitroprussid – Isoniazid 4 B3 (angeborene Stoffwechselstörungen) – Glukose-6-phosphatase-Mangel (von Gierke) – Fruktose-1,6-diphosphataseMangel – Pyruvatcarboxylasemangel – Pyruvatdehydrogenasemangel
57
Unruhe auf, im Vollbild dann Hypothermie und Bewusstseinsveränderungen bis hin zum Koma. Es besteht eine tiefe Kussmaul-Atmung. 57.4.3 Therapie Die Behandlung der Laktatazidosen hängt v. a. von ihrer Ursache und Ausprägung ab; eine leichte Azidose z. B. bei chronischem Nierenversagen erfordert nicht unbedingt eine Behandlung. Bei der diabetischen Azidose muss v. a. die Grunderkrankung behandelt werden, wie im vorausgehenden Abschnitt dargestellt; dies betrifft die Zufuhr von entsprechenden Mengen an Flüssigkeit, Insulin und Elektrolyten. Auf die Problematik der Bikarbonattherapie ist ebenfalls hingewiesen worden; zusätzlich sollte erwähnt werden, dass die Bikarbonatgabe insbesondere bei der tumorassoziierten Laktatazidose die Azidose weiter verschlimmern kann, weil hierdurch die Glykolyse stimuliert wird. Zusätzlich wird durch die Azidifizierung der Hepatozyten die Laktataufnahme weiter beeinträchtigt. Es wird daher diskutiert, dass Puffersubstanzen, die nicht zu einer vermehrten Bildung von Kohlendioxid führen, wie eine äquimolare Lösung aus Natriumhydrogenkarbonat und Natriumkarbonat, hier bevorzugt eingesetzt werden sollten.
Bei einer durch Biguanid induzierten Laktatazidose kann eine Elimination der Substanz durch die Hämodialyse erreicht werden; dies betrifft natürlich insbesondere auch oligo-/anurische Patienten. Des Weiteren wird eine Indikation zur Hämodialyse v. a. dann gestellt, wenn der pH unter 7,0 liegt, eine Hypothermie, Azotämie und Oligo-/Anurie bestehen. Ein weiterer Vorteil der Dialyse ist es, dass hierunter eine Bikarbonatinfusion ohne das Risiko einer zu hohen Volumenbelastung möglich ist. Damit korrigiert letztendlich die Dialyse die Azidose nicht über die direkte Elimination von Wasserstoffionen oder Laktat, sondern über den Volumenentzug mit der Möglichkeit, dass Bikarbonat dem Pool an Puffersubstanzen zugeführt werden kann [12]. 57.5
Hypoglykämie
57.5.1 Ursachen
Wahrscheinlichkeit und Prädiktoren Der hypoglykämische Schock stellt eine der wichtigsten Akutkomplikationen beim diabetischen Patienten dar. Insbesondere bei der Einstellung mit intensivierter Insulintherapie muss mit dieser Komplikation gerechnet werden. So beträgt die Wahrscheinlichkeit für einen intensiviert behandelten Patienten, eine schwere Hypoglykämie (oft auch mit Koma) zu erleiden, etwa einmal alle 1,5 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit für einen konventionell behandelten Patienten liegt bei nur etwa einmal in 5 Jahren. i Ein besonderes Problem ist, dass die Mehrzahl (etwa 55%) der schweren hypoglykämischen Episoden unbemerkt während des Schlafs stattfindet und dass etwa 35% der Episoden, die im wachen Zustand auftreten, nicht mit Warnsymptomen einhergehen.
Solche unbemerkten Hypoglykämien stellen einen Hauptrisikofaktor für schwere Hypoglykämien bei Typ-1-Patienten dar. Bei Typ-2-Diabetikern scheint die iatrogene Hypoglykämie seltener aufzutreten; so wurde für Typ-2-diabetische Patienten eine Häufigkeit von 2,2% an schweren Hypoglykämien pro Jahr mitgeteilt. Allerdings weisen aktuelle Daten darauf hin, dass bei diesen Patienten nach Umstellung auf eine Insulintherapie mit einer Hypoglykämiehäufigkeit zu rechnen ist, die sich nicht wesentlich von der von Typ-1-Diabetikern unterscheidet. Wesentliche Prädiktoren für das Auftreten einer Hypoglykämie sind eine: 4 vorausgegangene schwere Hypoglykämie, 4 Diabetesdauer von 9–12 Jahren, 4 Erniedrigung des HbA1c um 1%. Allerdings erklären sie gemeinsam nur 8% der Varianz der hypoglykämischen Ereignisse. Weitere individuelle Faktoren spielen eine erhebliche Rolle, ebenso wie das komplexe Zusammenspiel von gestörter Gegenregulation und patientenspezifischen Parametern. ! Cave Klinisch bedeutsam ist folgender Zusammenhang: Patienten, bei denen sich bereits eine Hypoglykämie ereignet hat, sind besonders rezidivgefährdet.
729 57.5 · Hypoglykämie
. Tabelle 57.7. Ursachen der Hypoglykämie Endogene Ursachen
Exogene Ursachen
4 Endokrin bedingt – Inselzelltumor – Inselzellhyperplasie (Kindesalter) – Extrapankreatische Tumoren – Mesenchymale Tumoren – Sarkom – Hepatozelluläres Karzinom – Hypophyseninsuffizienz – Nebenniereninsuffizienz 4 Metabolisch bedingt – Glykogenspeicherkrankheiten (Kindesalter) – Störungen der Glukoneogenese (Kindesalter) – Carnitinmangel (Kindesalter) – Galaktosämie – Fruktoseintoleranz 4 Hepatisch bedingt – Hepatitis – Leberversagen – Reye-Syndrom 4 Autoimmun bedingt – Antiinsulinantikörpersyndrom (antiidiotypische Antikörper mit Stimulation von Insulinrezeptoren) 4 4 4 4
Mangelernährung Alkoholinduzierte Hypoglykämie Extreme Muskelarbeit Medikamente – Insulin – Sulfonylharnstoffe – Paracetamol – Disopyramid – Pentamidin
Ursachen Als Ursache für eine Hypoglykämie ist prinzipiell ein absoluter oder relativ zu hoher Insulinspiegel im Serum anzusehen. Hierbei hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen endogenen Ursachen (die überwiegend eine Nüchternhypoglykämie induzieren) und exogenen (überwiegend behandlungsbedingten) zu unterscheiden (. Tab. 57.7). Die statistisch mit Abstand führenden Ursachen sind die durch Insulin oder Sulfonylharnstoffe induzierten Hypoglykämien. Bei diabetischen Patienten muss aber im Einzelfall bei begründetem Verdacht nach möglichen endogenen Ursachen gesucht werden. Die wesentlichen Ursachen einer Hypoglykämie bei Patienten, die mit Insulin oder einem Sulfonylharnstoffpräparat behandelt werden, sind in der Übersicht dargestellt. Die wichtigsten Ursachen einer Hypoglykämie bei Patienten, die mit Insulin oder einem Sulfonylharnstoffpräparat behandelt werden 5 Fehlende oder zu geringe Mahlzeitenzufuhr nach Injektion oder Tabletteneinnahme 5 Inadäquat erhöhte Muskelarbeit 5 Versehentlich zu hohe Dosis von Insulin und fehlerhafte Injektionstechnik (i. m. statt s. c.)
57
5 Nicht-indizierte Therapie (Insulin und Sulfonylharnstoffe dort, wo Diät ausreicht) 5 Medikamenteninteraktion: Nicht-selektive E-Blocker können zu einer Abschwächung der Hypoglykämiewahrnehmung führen, Salizylate oder Tetrazykline verstärken die Wirkung oraler Antidiabetika 5 Alkohol kann über die Hemmung der Glukoneogenese zu einer ausgeprägten Hypoglykämie führen
Neben den oben genannten Konstellationen, die in erster Linie mit der Injektion von Insulin oder der Einnahme von Sulfonylharnstoffen verbunden sind, besteht als weitere typische Risikokonstellation die Entwicklung einer diabetischen Nephropathie, die aufgrund der verminderten renalen Elimination nicht nur zu einer Kumulation von Sulfonylharnstoffen, sondern auch von Insulin führen kann.
Physiologie der gegenregulatorischen Antwort Für das Verständnis der Klinik auf der einen Seite, aber auch der verminderten Wahrnehmung einer Hypoglykämie auf der anderen Seite ist die Physiologie der gegenregulatorischen Antwort von großer Bedeutung. Hier besteht insbesondere hinsichtlich der neuroendokrinen Gegenregulation ein hierarchisches System. So ist der sensitivste Mechanismus die Suppression der Insulinsekretion bei etwa 80 mg/dl (4,4 mmol/l). Glukagon wird gemeinsam mit Adrenalin, Kortisol und Wachstumshormon etwa bei einem glykämischen Schwellenwert von 65 mg/dl (3,6 mmol/l) sezerniert. Die zunehmende Sekretion dieser gegenregulatorischen Hormone ist verantwortlich für die autonome Symptomatik einer Hypoglykämie. Bei rekurrierenden Hypoglykämien diabetischer Patienten verschiebt sich der glykämische Schwellenwert (zunehmend niedrigere Werte), sodass die gegenregulatorische und symptombezogene Antwort auf eine Hypoglykämie abnimmt. Insbesondere bei Patienten mit einem Typ-1-Diabetes bestehen im Vergleich zur endokrinen Gegenregulation bei Normalpersonen typische Störungen der Hormonsekretion. So vermindert sich die Glukagonsekretion in den ersten 5 Jahren nach Manifestation des Typ-1-Diabetes; dies scheint mit dem Insulinmangel verknüpft zu sein. Die Adrenalinsekretion nimmt etwa 5–10 Jahre nach Diabetesmanifestation ab. Damit erhöht sich das Risiko für schwere Hypoglykämien etwa um den Faktor 25. Somit besitzt die Diabetesdauer einen erheblichen prädiktiven Wert für das Auftreten von akuten Hypoglykämien, insbesondere bei wiederkehrenden Hypoglykämien [13]. 57.5.2 Diagnostik und klinisches Bild Das klinische Bild der Hypoglykämie ist außerordentlich heterogen, eine Einteilung in eine asymptomatische, milde und schwere Form aber möglich (. Tab. 57.8). Oft findet sich jedoch ein individueller, typischer Ablauf der Hypoglykämie.
Symptomatik Trotz der komplexen Symptomatik unterscheidet man in Anlehnung an den zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozess eine eher vasomotorische Phase mit Zeichen der adrenergen Gegenregulation von einer zerebralen Phase, die durch die neuro-
730
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
. Tabelle 57.8. Einteilung der Hypoglykämiesymptomatik Hypoglykämie
Symptomatik
Asymptomatische Hypoglykämie
4 Klinisch inapparent 4 Nur biochemische Sicherung (Blutglukose <40 mg/dl bzw. 2,2 mmol/l) 4 Vor allem nachts auftretend 4 Häufig auftretend
Milde Hypoglykämie
4 Symptomatisch 4 Fremde Hilfe nicht nötig 4 Etwa 1,5–2 Episoden/Woche
Schwere Hypoglykämie
57
4 Ausgeprägte Klinik und Beeinträchtigung 4 Fremde Hilfe notwendig 4 62 Episoden auf 100 Patienten bei intensivierter Insulintherapie
glukopenischen Symptome gekennzeichnet ist. Solche neuroglukopenischen Symptome sind in der Übersicht zusammengefasst. Neuroglukopenische Symptome bei akuter Hypoglykämie 5 Allgemeinsymptome: Gesichtsblässe, Benommenheit, Taubheit 5 Psychische Symptome: Müdigkeit, Apathie, Angst, Aggressivität 5 Motorische Symptome: Unruhe, gestörte Koordination, Unbeholfenheit 5 Wahrnehmungsstörungen: Konzentrationsschwäche, Halluzinationen, Verwirrtheit, Doppelbilder 5 Fortgeschrittene neurologische Symptome: pathologische Reflexe, Bewusstlosigkeit, Koma
! Cave Vor allem bei älteren Patienten und vorgeschädigtem Gefäßsystem kann es durch die katecholaminbedingte Blutdrucksteigerung zu akutem Myokardinfarkt oder ischämischem Hirninfarkt kommen.
Das Vollbild des hypoglykämischen Schocks zeigt einen bewusstlosen Patienten mit einer Tachykardie bei gut fühlbarem Puls und normotonen bis hypertonen Blutdruckwerten. Die Haut ist feucht, die Atmung in der Regel normal. Es bestehen meist eine motorische Unruhe mit weiten Pupillen, eine Hyperreflexie, u. U. generalisierte tonisch-klonische Krämpfe oder lateralisierte Streckkrämpfe. Mitunter liegen Paresen mit positivem Babinski-Reflex vor, komplette Hemiparesen oder Tetraplegien können auftreten [4].
Diagnostik Die Diagnostik erfolgt durch rasche Blutzuckermessung; daher gehören Blutzuckerteststreifen zur Grundausstattung im ärztlichen Notfalldienst. Bei Verdacht auf zusätzlichen Alkoholgenuss ist die Ketonkörperbestimmung differenzialdiagnostisch wich-
tig, da bei der alkoholischen Ketoazidose neben der Hypoglykämie eine exzessive Ketonurie auftritt. Bei alkoholisierten Patienten kann eine Blutentnahme zur späteren Analyse auch aus forensischen Gründen von Bedeutung sein. Ein solches Vorgehen gilt im Übrigen für alle unklaren Spontanhypoglykämien, um durch spätere Analysen (z. B. Insulin, C-Peptid, Proinsulin, Pharmaka) eine differenzialdiagnostische Abklärung zu ermöglichen. Weiterhin gestattet die Asservierung von Serum auch die Abgrenzung zu endokrinen Ursachen der Hypoglykämie (Beispiel: Kortisolmangel, etwa im Rahmen von Autoimmunadrenalitis und Typ-1-Diabetes bei polyglandulärer Autoimmunität). 57.5.3 Therapie Milde Hypoglykämien erkennt der mit seiner Krankheit vertraute Diabetiker selbst und kann rechtzeitig eine Therapie in Form einer Kohlenhydratzufuhr (Traubenzucker, kohlenhydrathaltige Getränke) durchführen. Eine Problematik ergibt sich bei den mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen und gleichzeitig mit Acarbose behandelten Patienten. Durch diese Medikamentenwirkung kommt es zu einer Hemmung der intestinalen, im luminalen Bürstensaum lokalisierten D-Glukosidase und dadurch zur Hemmung der Resorption von Oligosacchariden. i Bei Auftreten leichter bis mittelschwerer Hypoglykämien ist es daher wichtig, den Patienten aufzuklären, dass im Falle einer sich ankündigenden Hypoglykämie nur noch Traubenzucker direkt aufgenommen werden kann, andere Kohlenhydrate (Di- und Polysaccharide) dagegen ungeeignet sind.
Akuttherapie Ist der Patient bewusstlos und besteht der Verdacht auf eine Hypoglykämie, müssen unverzüglich mindestens 40–60 ml einer 40%igen Glukoselösung i.v. injiziert werden. Ist eine intravenöse Glukosegabe nicht möglich (kein Arzt anwesend, unruhiger Patient), wird 1 mg Glukagon i.m. injiziert; dies kann nach 10–20 min wiederholt werden. Es ist unbedingt darauf zu achten, dass in jedem Fall anschließend Glukose (i.v. oder oral) zugeführt werden muss, da die Glykogenspeicher in der Leber durch Glukagon entleert werden und es zu protrahierten Hypoglykämien kommen kann. Die Glukagongabe ist wirkungslos bei lang anhaltender, hypoglykämiebedingter Entleerung der Glykogenspeicher in der Leber. Nach Durchführung der beschriebenen Maßnahmen kommt es in der Regel nach 5–10 min zur Besserung der Symptomatik.
Weiter führende Maßnahmen Zeigt sich kein Therapieerfolg, ist die Diagnose zu überprüfen. Insbesondere bei protrahierten Hypoglykämien durch kumulierte Sulfonylharnstoffe oder noch wirkendes Depotinsulin muss mit Rezidiven einer Hypoglykämie gerechnet werden. Unter diesen Bedingungen muss eine stationäre Beobachtung für 2–3 Tage erfolgen. Nach schweren Hypoglykämien sollte intravenös eine kontinuierliche Infusion über 24 h mit 1,5–2,5 l 10%iger Glukoselösung erfolgen und gleichzeitig Elektrolyte substituiert werden. Der Blutzucker ist dabei 4-stündlich zu messen und sollte auf Werten zwischen 180 und 230 mg/dl gehalten werden. Insbesondere bei schwerer durch Sulfonylharnstoff induzierter Hypoglykämie müssen alle 2–3 h Kohlenhydrate in einer Menge von 2 BE verabreicht werden. Bei lang anhaltenden Hy-
731 57.6 · Perioperative Betreuung des Diabetikers
poglykämien, die als Folge exzessiver Insulinzufuhr in suizidaler Absicht auftreten, sind neben der kontinuierlichen Glukosegabe bei persistierender Bewusstlosigkeit eine Hirnödemtherapie mit Dexamethason (3-mal 8 mg i.v.) und entwässernde Maßnahmen (Furosemid, ggf. Mannit) einzuleiten. In schwerwiegenden Fällen kann die Exzision des Insulinreservoirs die einzige Möglichkeit zum Schutz vor lang anhaltenden hypoglykämischen Zuständen sein. In jedem Fall ist während des Klinikaufenthalts eine Abklärung der Ursachen, eine Optimierung des Glukosestoffwechsels und eine umfangreiche Beratung und Schulung des Patienten vorzunehmen [14]. 57.5.4 Prognose Die Prognose ist meist günstig, verschlechtert sich aber bei über 1 h dauernder Bewusstlosigkeit. Bei protrahierter, mehrstündiger Hypoglykämie beträgt die Letalität bis zu 10%. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass nach wie vor etwa 4–5% der Typ-1-Diabetiker im hypoglykämischen Schock sterben. Dies bedeutet, dass präventiven Maßnahmen (intensive Schulung, adäquate Insulintherapie) größte Bedeutung zukommt. 57.6
Perioperative Betreuung des Diabetikers
57.6.1 Perioperative Risiken und Diagnostik Diabetische Patienten sind öfter im operativen Krankengut repräsentiert, als es ihrer Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung entspricht. Sie müssen sich besonders häufig koronaren Bypassoperationen, peripheren Gefäßeingriffen, Nierentransplantationen, Augenoperationen oder Amputationen unterziehen. Die bedeutsame Problematik besteht in der Insulinresistenz als Ausdruck des Postaggressionsstoffwechsels. Durch die Aktivierung der Hypophysen-Nebennieren-Achse, des sympathischen Nervensystems und der Glukagonsekretion entsteht eine zunehmende Insulinresistenz. Der Gesunde, nicht aber der Typ-1-Diabetiker, kann hierauf mit einer gesteigerten endogenen Insulinsekretion reagieren. Dies bedeutet, dass der diabetische Patient durch eine Hyperglykämie, drohende Ketoazidose, Laktatazidose, Katabolie, aber auch Thromboembolien in hohem Maße gefährdet ist. Das insgesamt deutlich erhöhte Operationsrisiko resultiert darüber hinaus aus begleitenden Spätkomplikationen wie Makroangiopathie und Nephropathie. Noch zu sehr unterschätzt ist die Gefahr der kardialen autonomen Neuropathie. Plötzliche Kreislaufstillstände, am ehesten auf dem Boden maligner Herzrhythmusstörungen und stummer Infarkte, kommen gehäuft bei Patienten mit kardialer autonomer Neuropathie vor. Letztendlich sind auch aufgrund der häufig gestörten zellulären Immunantwort die Infektionsrate erhöht und die Wundheilung verzögert. 57.6.2 Präoperative Therapie In der präoperativen Situation müssen die Blutzuckerwerte optimiert werden, ein Bereich zwischen 120 und 180 mg/dl (6,6–10 mmol/l) ist anzustreben. Bei diätetisch gut eingestellten
57
Typ-2-Diabetikern ist meist keine Änderung der Behandlung erforderlich. Erst bei Ausgangswerten von 180 mg/dl (10 mmol/l) sollte eine zusätzliche Insulintherapie erfolgen (s. unten). Bei kleineren Eingriffen (z. B. Zahnextraktion, Eingriffe in Lokalanästhesie, aber auch ambulante Operationen) können Patienten, die mit Sulfonylharnstoffen behandelt werden, diese Therapie beibehalten. Insulinotrope Substanzen müssen pausiert werden, solange der Patient nüchtern bleibt. Wegen der kurzen Halbwertszeit (1,5–4,9 h) reicht es, Biguanide am Abend vor Operationen in Allgemeinanästhesie abzusetzen; für die Empfehlung einer 2-tägigen präoperativen Pause gibt es keine Evidenz. Nach unkompliziertem Verlauf und bei normalen Nierenfunktionsparametern in der Kontrolle kann Metformin 2 Tage nach dem Eingriff wieder eingesetzt werden [8, 19]. Für Acarbose gilt, dass die perioperative Gabe dieses Präparats insbesondere für die Dauer der parenteralen Ernährung aufgrund seines Wirkprinzips nicht sinnvoll ist. Erst nach erfolgtem Kostaufbau kann dieses Präparat wieder eingenommen werden.
Praktisches Vorgehen Präoperativ sollte folgendermaßen vorgegangen werden: Bei guter Stoffwechseleinstellung muss eine Insulintherapie erst am Morgen des Operationstags auf i.v.-Zufuhr umgestellt werden. Das Insulin am Vorabend wird regulär subkutan injiziert. Bei kleineren bis mittelschweren Operationen kann die s. c.-Therapie mit ⅔ der Basalinsulindosis am Morgen des Eingriffs fortgeführt werden. Bei noch nicht ausreichender Stoffwechseleinstellung, aber notwendiger Operation wird anstelle der Basalinsulingabe am Vorabend eine kontinuierliche Insulininfusion mit etwa 1/20–1/30 der Gesamttageseinheiten/h beginnend durchgeführt. ! Cave Präoperativ ist bei Patienten mit diabetischer Gastroparese noch eine Besonderheit zu beachten: Hier kann als Folge der verzögerten Magenentleerung die übliche präoperative Nahrungskarenz nicht ausreichen, sodass Aspirationsgefahr besteht.
57.6.3 Intraoperative Therapie Intraoperativ sollte die Blutglukosekonzentration bei allen Patienten mit Diabetes mellitus, die sich größeren oder länger dauernden Operationen unterziehen, gemessen werden. Blutzuckerwerte über 200 (11,2 mmol/l) mg/dl sollten nicht toleriert, sondern mit kleinen Boli Normalinsulin (4–8 IE) behandelt werden. Alternativ kann ein Insulinperfusor eingesetzt werden: Die Infusionsspritze enthält 50 IE Normalinsulin und wird mit isotoner NaCl-Lösung aufgefüllt, sodass 1 ml Lösung 1 IE Normalinsulin enthält. Auf den früher üblichen Zusatz von Humanalbumin wird heute verzichtet, die Dosierung erfolgt ohnehin nach Bedarf. Begonnen wird mit einer Infusionsrate von 0,5–2(–3) IE/ h, je nach Blutzuckerwert. Erfahrungsgemäß ist bei schweren Infektionen, Sepsis oder Glukokortikoidtherapie eine höhere Dosis erforderlich. Neben dem Blutzucker muss auch regelmäßig die Serumkaliumkonzentration überwacht werden, eine Kaliumsubstitution ist häufig erforderlich. Bei längeren Operationen erfolgt eine Therapie mit 5%iger Glukoseinfusionslösung. Die Anwendung einer Infusion aus Glu-
732
Kapitel 57 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
kose (5–10%), Insulin (8–16 IE) und Kalium (10 mmol) kann zweckmäßig sein [3]. 57.6.4 Postoperative Therapie und Risiken
57
Eine engmaschige Überwachung, insbesondere von Problempatienten, muss erfolgen, da sich gerade in der postoperativen Phase, bei vorbestehender kardialer Neuropathie, maligne Arrhythmien und Infarkte ereignen können. Weiterhin muss eine allmähliche Reduktion der Flüssigkeitszufuhr stattfinden: an den ersten Tagen sollte sie ca. 2–3 l/Tag betragen. Das größte Problem (und in dieser Phase häufiger als Folge der Insulinresistenz beobachtet) sind die ketoazidotische bzw. auch die hyperosmolare Entgleisung. Daher werden Patienten mit lange bestehendem oder schwer einstellbarem Diabetes mellitus, insbesondere nach großen Operationen, am besten auf einer Intensivstation betreut (7 Kap. 57.7). Die parenterale Ernährung ist unter adäquater Insulinsubstitution (als Zusatz zur Infusionslösung oder mittels Perfusorspritze im Bypass) durchzuführen. Mit Beginn der regulären Ernährung erfolgt die Wiederaufnahme der oralen Medikation bzw. üblichen Insulintherapie [18].
57.7.2 Kardiochirurgischer Eingriff Bei Patienten einer Intensivstation nach kardio- bzw. gefäßchirurgischen Eingriffen ist die Datenlage klarer. In der intensiv behandelten Gruppe (Blutzuckerziel 80–110 vs. 180–210 mg/dl) konnte die Mortalität nach 12 Monaten auf 4,6 vs. 8,0% gesenkt werden. Die Morbidität hinsichtlich entscheidender Komplikationen wurde ebenfalls deutlich vermindert (u. a. Septikämie 46%, akutes Nierenversagen 41%, Erythrozytentransfusionen 50%; [21]). 57.7.3 Patienten auf internistischer
Intensivstation Patienten einer internistischen Intensivstation wurden in der neuesten Arbeit von Greet van den Berghe et al. [22] untersucht. Eine intensive Insulintherapie (Blutglukose 80–110 mg/dl) konnte hier nicht die Krankenhausmortalität senken, jedoch wurde eine signifikante Reduktion der Morbidität (u. a. Verhinderung eines Nierenversagens, schnellere Entwöhnung von der Beatmung) festgestellt [22]. Schlussfolgerungen für die Praxis
57.7
Blutglukosekontrolle bei Intensivpatienten in besonderen Situationen
57.7.1 Akuter Myokardinfarkt Patienten mit Diabetes haben ein 1,5- bis 2-fach höheres Risiko, an einem Infarkt zu sterben, als nicht-diabetische Patienten. Hyperglykämie und Insulinresistenz sind häufig bei kritisch kranken Patienten, auch wenn kein Diabetes vorbesteht. Deletäre Effekte der Hyperglykämie für das Herz sind: Hypovolämie, Inflammation mit prokoagulatorischer Situation, Modulation des NO-Metabolismus, oxidativer Stress und Verminderung der ischämischen Präkonditionierung. Insulin wirkt diesen Veränderungen entgegen, antiinflammatorische, vasodilatatorische und endothelprotektive Eigenschaften sind unumstritten [5]. Metaanalysen zur bereits in den 1960-er Jahren eingeführten Glukose-Insulin-Kalium-Infusion (GIK) können keine signifikante Senkung der Mortalität nach Myokardinfarkt zeigen, sodass dieses Therapieprinzip nicht weiter empfohlen werden kann [17]. Das Ziel der Behandlung war in diesen Studien jedoch nicht die Korrektur der Hyperglykämie ‒ z. T. lagen die Blutzuckerwerte in der Infusionsgruppe höher als in der Kontrollgruppe. Als vielversprechender Ansatz gilt jedoch die Normalisierung der Hyperglykämie bei Diabetikern und Nicht-Diabetikern in kardiovaskulären Risikosituationen. Dass der in der DIGAMI 1-Studie beobachtete Vorteil (1-Jahres-Mortalität 8,6 vs. 18,0%) einer stärkeren Blutglukosesenkung durch Insulininfusion (9,6 vs. 11,7 mmol/l 24 h nach Infarkt) in der DIGAMI 2-Studie nicht bestätigt wurde, liegt an methodischen Problemen. In der DIGAMI 2-Studie gelang es nicht, bei den intensiv behandelten Patienten eine Blutzuckernormalisierung sowohl in der Akut- als auch in der anschließenden Nachbehandlung zu erreichen, sodass möglicherweise aus diesem Grund derzeit (noch) kein eindeutiger Vorteil der intensiven Blutzuckereinstellung belegt werden kann [15, 16].
5 Eine Hyperglykämie mit Blutglukosewerten > 180 mg/ dl (10 mmol/l) sollte bei schwerkranken Patienten unbedingt vermieden werden. 5 Ziel ist eine Normoglykämie (80–110 mg/dl), insbesondere für kardiochirurgische Patienten. 5 Das Therapiekonzept ist nur über eine glukosegesteuerte kontinuierliche intravenöse Infusion umsetzbar, um ebenso gefährliche Hypoglykämien zu vermeiden.
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57
58 Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma R. Gärtner
58.1
Veränderungen der Schilddrüsen-funktionsparameter bei euthyreoten Intensivpatienten – das Nieder-T3-Syndrom –736
58.1.1 58.1.2 58.1.3
Ätiologie –736 Diagnostik –736 Therapie –736
58.2
Einfluss der Schilddrüsenhormone auf die Organsysteme
58.2.1 58.2.2 58.2.3 58.2.4
Herz-Kreislauf-System –737 Leber –737 Niere –737 Nervensystem –737
58.3
Thyreotoxische Krise
58.3.1 58.3.2 58.3.3 58.3.4
Ätiologie –737 Pathogenese –738 Diagnostik –738 Therapie –738
58.4
Myxödemkoma
58.4.1 58.4.2 58.4.3
Ätiologie und Pathophysiologie –739 Diagnostik –740 Therapie –740
Literatur
–741
–737
–739
–737
58
736
Kapitel 58 · Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma
58.1
Veränderungen der Schilddrüsenfunktionsparameter bei euthyreoten Intensivpatienten – das Nieder-T3-Syndrom
Die Veränderungen der Schilddrüsenhormonwerte bei schwerer Erkrankung oder längerem Fasten werden im deutschen Sprachraum als Nieder-T3-Syndrom bezeichnet; als Synonyme gelten »euthyrold sick syndrome« (ESS) oder »non-thyroidal illness syndrome« (NTIS) [4]. Bei jedem katabolen Zustand, wie einer schweren Erkrankung oder längerem Fasten, fallen regelhaft innerhalb weniger Stunden zunächst nur die Triiodthyronin (T3)Serumspiegel, in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung dann auch die basalen TSH- und in der Folge die Thyroxin (T4)Spiegel ab. Stirbt der Patient an seiner Erkrankung, so sind alle Schilddrüsenfunktionsparameter niedrig bis nicht mehr messbar. Erholt sich der Patient, so steigen die TSH-Werte als erstes wieder an, können sogar vorübergehend im hypothyreoten Bereich (>4 μU/ml) liegen. Bei schwerkranken, schilddrüsengesunden Patienten ergibt sich im Verlauf die Laborkonstellation einer transienten sekundären Hypothyreose, wobei die Patienten aber nach klinischen Kriterien euthyreot sind (. Abb. 58.1). Dieser typische Verlauf gilt sowohl für Schilddrüsengesunde als auch für Patienten mit einer Schilddrüsenfunktionsstörung, Also fallen auch primär erhöhte Schilddrüsenhormone bei Hyperthyreose während der Krise ab, ebenso wie das erhöhte TSH bei einer Hypothyreose. Dies bedeutet also, dass sich die Interpretation der Schildrüsenparameter nicht an den Normwerten orientieren kann, sondern diese müssen in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung interpretiert werden [3, 7]. Diese typischen Veränderungen der Schilddrüsenfunktionsparameter können als Verlaufsparameter bzw. als prognostischer Index der Schwere der Erkrankungen verwendet werden. Die TSH -Spiegel korrelieren invers mit dem APACHE II-Score [12]. 58.1.1 Ätiologie Die Ätiologie dieser physiologischen Beeinflussung der Schilddrüsenhormone ist bisher nicht eindeutig geklärt. Zunächst wird T4
nicht mehr zum stoffwechselaktiven T3, sondern zum stoffwechselinaktiven reversen T3 (rT3) abgebaut. Verantwortlich hierfür ist eine Aktivierung der 5-Deiodase bei gleichzeitiger Inaktivierung der 5´-Deiodase [9]. Da die Deiodasen Selenproteine sind und Selen bei Schwerkranken erniedrigt ist, wurde spekuliert, dass eine geringere Selenverfügbarkeit ursächlich für eine geringere Deiodaseaktivität verantwortlich sein könnte, was sich aber nicht bestätigt hat [1]. Verschiedene Zytokine, v. a. aber Kortisol, sowie Stoffwechselmetaboliten werden hierfür verantwortlich gemacht. Inhibitoren der Schilddrüsenhormonbindung an die Transportproteine im Serum wie z. B. freie Fettsäuren oder Medikamente wie Furosemid oder Barbiturate können mit zu der T3Erniedrigung beitragen [3, 4]. Zytokine, v. a. TNF-α und IL-6, aber auch Kortisol und Somatostatin, die meist bei schwerer Allgemeinerkrankung erhöht sind, hemmen die TSH-Sekretion der Hypophyse. Der TSH-Abfall ist dann für die verminderte T4-Sekretion verantwortlich [9, 13]. 58.1.2 Diagnostik
Die Bestimmung des basalen TSH gilt üblicherweise als der zentrale Parameter zum Ausschluss einer Funktionsstörung. Da aber alle Intensivpatienten, je nach Schweregrad der Erkrankung ein erniedrigtes bis supprimiertes TSH haben, ist dieser Parameter allein nicht hilfreich. Die Schilddrüsendiagnostik bei Schwerkranken muss daher immer neben dem basalen TSH auch die peripheren Schilddrüsenhormone und die Klinik mit einschließen.
Zusätzlich kann der TRH-Test durchgeführt werden, wenn es darum geht, eine Hyperthyreose bei Schwerkranken zu bestätigen [10]: Bei supprimiertem TSH infolge eines NTIS ist TSH durch TRH stimulierbar, nicht aber bei einer Hyperthyreose. Inadäquat zur Schwere der Erkrankung erhöhte periphere Schilddrüsenhormone, die aber durchaus noch im Normalbereich liegen können, deuten bei supprimiertem TSH auf eine Hyperthyreose hin; ein inadäquat zur Schwere der Erkrankung erhöhtes TSH, das ebenfalls noch im oberen Normbereich liegen kann, bei peripher erniedrigten Schilddrüsenhormonwerten auf eine Hypothyreose. Klinik und die typischen Symptomenkomplexe einer Hypo- bzw. Hyperthyreose sind somit führend in der Diagnostik einer ‒ zusätzlich zu einer anderen Erkrankung bestehenden ‒ Schilddrüsenfunktionsstörung. Die Referenzwerte auch für Funktionsstörungen treffen also bei Schwerkranken nur bedingt zu und müssen immer unter Berücksichtigung der Klinik und der verabreichten Medikamente interpretiert werden [7, 9, 10] 58.1.3 Therapie
. Abb.58.1. Typischer Verlauf der Schilddrüsenhormonparameter Triiodthyronin (T3), Thyroxin (T4) und Thyreotropin (TSH) während einer schweren Allgemeinerkrankung und in der Rekonvaleszenzphase. Die Mortalität ist umgekehrt proportional zum Abfall der Schilddrüsenfunktionsparameter
Das NTIS wird als normale Reaktion des Organismus auf eine schwere Erkrankung aufgefasst. Eine Schilddrüsenhormonsubstitution ist nicht sinnvoll, wie klinische Studien gezeigt haben. Eine Ausnahme stellen kardiochirurgische Patienten, insbesondere Kinder dar, bei denen gezeigt werden konnte, dass eine postoperative Schilddrüsenhormonsubstitution den Katecholaminbedarf signifikant reduzieren kann [7].
737 58.3 · Thyreotoxische Krise
Ein neuer Therapieansatz bei lange schwerstkranken Patienten besteht darin, die unterdrückte hypothalamisch-hypophysäre Achse durch pulsatile TRH- und GHRH-Infusion wieder zu normalisieren. Inwieweit dies klinisch bedeutsam ist, muss durch größere Studien erst belegt werden [13]. 58.2
Einfluss der Schilddrüsenhormone auf die Organsysteme
58.2.1 Herz-Kreislauf-System Triiodthyronin (T3) hat viele direkte Wirkungen auf den Herzmuskel, v. a. reguliert es die Expression der E1-adrenergen Rezeptoren sowie die Aktivität der Na-K-ATPase [8]. Die Folgen einer erhöhten T3-Wirkung sind somit 4 Steigerung der Herzfrequenz bis hin zu Rhythmusstörungen, vorwiegend Vorhofflimmern, 4 eine verkürzte QT-Zeit sowie 4 eine Nachlastsenkung. Hieraus ergibt sich ein hyperdynamer Kreislauf, der in ein hyperdynames Herzversagen münden kann. Eine weitere spezifische Schilddrüsenhormonwirkung ist die gesteigerte Expression der Na-K-ATPase an der Niere, die zu einer gesteigerten Na-Rückresortion und einem erhöhten Blutvolumen führt. Zusammen mit der gesteigerten E-adrenergen Aktivität resultiert ein erhöhter systolischer und erniedrigter diastolischer Blutdruck. Die erhöhte Vorlast am Herzen kann zu einer Linksherzdekompensation führen, häufiger aber ist der rechte Ventrikel primär überlastet und führt zu einer Rechtsherzdekompensation. Eine verminderte T3-Wirkung geht mit Bradykardie, verminderter Auswurfleistung und erhöhtem peripherem Widerstand mit der Folge einer globalen Herzinsuffizienz einher [8]. 58.2.2 Leber Schilddrüsenhormone steigern ganz allgemein den Stoffwechsel und erhöhen den Sauerstoffverbrauch in den Mitochondrien. Bei schwerer Hyperthyreose kann dies eine Gewebshypoxie zur Folge haben. Erhöhte Leberwerte (GOT, APH) bei Hyperthyreose sind häufig, und Fälle mit Leberzellnekrosen und zirrhotischem Umbau nach lange unbehandelter Hyperthyreose sind beschrieben [6]. Schilddrüsenhormone erhöhen auch die Bilirubin-/Gallensäureproduktion, ein Ikterus ist aber selten. Bei Hypothyreosen werden keine veränderten Leberwerte oder Leberfunktionsstörungen gefunden. 58.2.3 Niere Schilddrüsenhormone erhöhen den renalen Blutfluss und die glomeruläre Filtrationsrate. Die gesteigerte Na-K-ATPase-Aktivität erhöht die Natriumrückresorption und die Kaliumausscheidung. Die Folge ist ein erhöhtes intravasales Volumen und eine mehr oder weniger ausgeprägte Hypokaliämie. Die bei schwerer Hypothyreose regelhaft auftretende Hyponatriämie wird verstärkt durch eine erhöhte renale ADH-Wirkung [7].
58
58.2.4 Ner vensystem Schilddrüsenhormone erhöhen die Empfindlichkeit der Katecholaminrezeptoren und den Noradrenalinumsatz im ZNS und vermindern die Monoaminoxidaseaktivität. Die Gehirndurchblutung und der Glukosestoffwechsel werden ebenfalls durch Schilddrüsenhormone gesteigert. Psychiatrische Erkrankungen werden daher sowohl bei Über- als auch Unterfunktion der Schilddrüse beschrieben. Eine lange bestehende schwere Hyper-, aber auch Hypothyreose kann zu Apathie, Lethargie und schließlich zum Koma führen. Depressionen und Psychosen kommen ebenfalls bei Über- und Unterfunktion der Schilddrüse vor. Es gibt keine schilddrüsenspezifischen zentralnervösen Erkrankungen. Spezifisch und sehr sensitiv hingegen ist die Relaxationszeit der Muskeldehnungsreflexe, verkürzt bei Hyperthyreose, verlängert bei Hypothyreose. 58.3
Thyreotoxische Krise
Eine Hyperthyreose tritt bei etwa 3% aller Frauen und 0,3% der Männer auf und wird heute durch die verbesserten diagnostischen Möglichkeiten früher erkannt und behandelt. Dagegen sind thyreotoxische Krisen eher selten; etwa 30‒50 thyreotoxische Krisen werden in Deutschland pro Jahr diagnostiziert. Da thyreotoxische Krisen aber wegen der Schwierigkeit der Diagnosestellung übersehen werden können, ist von einer eher höheren Inzidenz auszugehen. Eine nicht adäquat behandelte thyreotoxische Krise ist mit einer Mortalität von über 50% innerhalb weniger Stunden bis Tage behaftet, Gleiches gilt für das Myxödemkoma. Bei richtiger Behandlung sollte die Mortalität jedoch unter 10% liegen [3]. 58.3.1 Ätiologie Voraussetzung für die Entwicklung einer thyreotoxischen Krise ist immer eine länger bestehende, nicht erkannte bzw. nicht behandelte Hyperthyreose. Da gerade bei älteren Patienten eine Hyperthyreose oft monosymptomatisch verläuft, kann sie übersehen werden. Auslöser einer Krise ist nicht die Schilddrüsenhormonwirkung allein. i Die Menge an zirkulierendem Schilddrüsenhormon ist nicht verantwortlich für die Auslösung einer Krise. Patienten mit einer thyreotoxischen Krise weisen keine höheren Schilddrüsenhormonwerte auf als solche mit einer unkompliziert verlaufenden Hyperthyreose. Auslöser einer thyreotoxischen Krise sind vielmehr zusätzliche
Stresssituationen, z. B. Unfall, Operation, Infektion, kardiovaskuläres Ereignis oder psychische Belastung und Stress. Diese zusätzlichen Erkrankungen, die ähnliche Symptome wie die Hyperthyreose selbst hervorrufen können, erschweren oft die Diagnose. ! Cave Da gerade in Deutschland infolge des Iodmangels Knotenstrumen mit autonomer Funktion sehr häufig sind – etwa 20–30 % aller über 70-Jährigen mit Struma weisen eine Schilddrüsenautonomie auf –, kann durch die Applikation iodhaltiger Kontrastmittel vor oder während einer ande-
738
Kapitel 58 · Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma
ren Erkrankung eine Hyperthyreose ausgelöst werden, die dann zusammen mit der zugrunde liegenden Erkrankung zur thyreotoxischen Krise führt.
58.3.2 Pathogenese Die pathophysiologischen Mechanismen, die zur Auslösung einer Krise führen, können bislang nur teilweise erklärt werden. Schilddrüsenhormone erhöhen u. a. die Expression von E1-adrenergen Rezeptoren. Es kann somit angenommen werden, dass zusätzliche Stressreaktionen und damit eine Erhöhung der Katecholamine den Übergang von der Hyperthyreose zur Krise begünstigen. Insbesondere die zentralnervösen Symptome werden verstärkt: psychomotorische Unruhe, Tremor, Agitiertheit gehen über in einen Stupor, begleitet von Schluckstörungen, und enden in Koma und Tod, falls die Erkrankung nicht adäquat behandelt wird. 58.3.3 Diagnostik
58
Die Diagnose muss ausschließlich nach klinischen Kriterien gestellt werden. Klinische Symptome, die an eine thyreotoxische Krise differenzialdiagnostisch denken lassen sollten, sind: 4 hyperdynames Herzversagen, 4 Fieber mit inadäquater Tachykardie, 4 unklares septisches Krankheitsbild, 4 unklare gastrointestinale Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Ikterus), 4 zentralnervöse Symptome, von psychomotorischer Unruhe, Agitiertheit, Tremor bis hin zu Apathie und Koma [3].
Anamnese Aus der Anamnese lassen sich möglicherweise Anhaltspunkte für eine länger bestehende Hyperthyreose erfragen, z. B. Wärmeintoleranz, Gewichtsabnahme, Diarrhöneigung, Verschlechterung einer vorbestehenden Herzinsuffizienz, neu aufgetretenes Vorhofflimmern, Muskelschwäche, Schlaflosigkeit. Kontrastmittelexpositition oder die Anwendung iodhaltiger Medikamente (z. B. Amiodarone, Betaisodona).
Untersuchungsbefund Die typischen Zeichen einer schweren Hyperthyreose gehen über in die Leitsymptome einer thyreotoxischen Krise. Diese können alle gemeinsam, aber auch nur teilweise vorliegen. Leitsymptome einer thyreotoxischen Krise 5 Allgemeinsymptome – warme, gut durchblutete Haut, die – je nach Hydrierungszustand – feucht oder trocken sein kann, Fieber >38,5°C mit inadäquater Tachykardie 5 Schilddrüsenspezifisch – diffus vergrößerte, schwirrende Struma mit oder ohne endokrine Orbitopathie oder nodöse Struma 5 Kardiovaskulär – Sinustachykardie mit verkürzter QT-Zeit oder tachykardes Vorhofflimmern 6
– Zeichen der Rechtsherzdekompensation mit oberer Einflussstauung, Beinödemen, Hepatomegalie, Aszites, seltener Linksherzdekompensation – hohe Blutdruckamplitude 5 Gastrointestinal – gesteigerte Darmmotilität, Diarrhö, subakutes Abdomen 5 Neuromuskulär – psychomotorische Unruhe, Agitiertheit, wechselnd mit Adynamie, Somnolenz und Koma – Pseudobulbärparalyse mit Schluckstörung – verkürzte ASR-Relaxationszeit – ausgeprägte myasthenische Muskelschwäche
Laborkonstellation Es gibt keine typische Laborkonstellation für eine thyreotoxische Krise. Das basale TSH ist immer supprimiert, die freien Schilddrüsenhormone sind vergleichbar mit denen einer unkompliziert verlaufenden Hyperthyreose. Sie können sogar, je nach Schwere des Krankheitsbilds oder einer anderen zusätzlichen, möglicherweise die Krise auslösenden Erkrankung im Normbereich liegen. i Wichtig ist es daran zu denken, dass diese Patienten, wie alle Schwerkranken, auch ein NTIS aufweisen können!
Erhöhte Leberwerte einschließlich Bilirubin sind prognostisch ungünstig. Sie können direkte Folge der Schilddrüsenhormonwirkung auf die Leber sein, aber auch Folge einer Rechtsherzdekompensation. Vorwiegend bei jüngeren Patienten kann auch das Serumkalzium erhöht sein, verursacht durch einen gesteigerten Knochenabbau. Die Leukozyten sind meist eher niedrig normal, und es findet sich eine Mikrozytose mit grenzwertig niedrigem Hämoglobin oder eine mikrozytäre Anämie. 58.3.4 Therapie Jeder Patient mit Verdacht auf eine thyreotoxische Krise muss intensivmedizinisch betreut werden [2]. Die kontinuierliche HerzKreislauf- und Lungenfunktionsüberwachung sowie das neurologische Monitoring sind wichtig, weil sich der Zustand des Patienten innerhalb von wenigen Stunden dramatisch ändern kann. Therapeutisch stehen neben den supportiven Maßnahmen die Hemmung der Schilddrüsenhormonwirkung und -freisetzung im Vordergrund (Übersicht).
Hemmung der Hormonwirkung Die Schilddrüsenhormonwirkung wird am schnellsten durch E-Blocker gehemmt. Auch bei kardial dekompensierten Patienten steht diese E-Blockade an erster Stelle der Therapie, da der adrenerge Stimulus Ursache der kardialen Dekompensation ist. Das vor Jahren verwendete Reserpin hemmt die Katecholaminfreisetzung, wird aber heute wegen der schlechten Steuerbarkeit und der Nebenwirkungen nicht mehr empfohlen. Für Propranolol ist belegt, dass es zusätzlich die periphere Konversion von T4 zu T3, hemmt. Da nur T3, nicht aber T4 stoffwechselaktiv ist, ist diese periphere Konversionshemmung the-
739 58.4 · Myxödemkoma
rapeutisch sinnvoll. Für andere, E1-selektive Blocker ist diese zusätzliche, schilddrüsenspezifische Wirkung nicht nachgewiesen worden. Alternativ zum Propranolol kann aber Esmolol oder Atenolol verwendet werden, wenn diese zusätzliche Wirkung nicht als notwendig erachtet wird. L-Carnitin blockiert die Bindung von T3 an den Kernrezeptor und kann so sehr effizient und nebenwirkungsfrei die Hormonwirkung blockieren. Insbesondere bei hoher Iodkontamination kann dies zusätzlich eingesetzt werden, in Dosen zwischen 2 g und 4 g oral pro Tag. Es ist für diese Indikation zwar nicht zugelassen, in neueren Studien ist die Wirksamkeit aber belegt [2].
Hemmung der Hormonfreisetzung Die Schilddrüsenhormonfreisetzung wird am besten durch Thiamazol (Methimazol, Favistan) i.v. oder, wenn eine orale Applikation noch möglich ist, durch Propylthiouracil (Thyreostat) gehemmt. Da die meisten Patienten mit einer thyreotoxischen Krise mit Iod kontaminiert sind und die antithyreoidalen Medikamente kompetitiv zum Iod wirken, müssen diese Substanzen hochdosiert eingesetzt werden. Dem Propylthiouracil kommt hierbei eine zusätzliche Bedeutung zu, da es auch die periphere Konversion von T4 zu T3 hemmt und diese Konversionshemmung unabhängig von Iod ist. Glukokortikoide hemmen ebenfalls die periphere Konversion von T4 zu T3, und es ist daher sinnvoll, diese bei schweren Fällen zu geben. Die häufig diskutierte sog. relative Nebenniereninsuffizienz bzw. ein Glukokortikoidmangel sind nicht belegt, aber in der Krisensituation ist eine Substitution mit 200 mg Hydrokortison/Tag wie beim septischen Schock möglicherweise sinnvoll.
Weitere Therapiemaßnahmen Die schnellste und effektivste Möglichkeit, die Schilddrüsenhormonsekretion zu hemmen, ist die möglichst frühzeitige Thyreoidektomie. Die früher häufig angewandte Plasmapherese oder Aktivkohle-Hämoperfusion zur Senkung der Schilddrüsenhormonspiegel sind schlechtere Alternativen, da sie wenig effektiv sind – die Schilddrüsenhormonspiegel sind ja nicht exzessiv erhöht – und zusätzliche Komplikationen (Thrombozytenabfall, Volumenverschiebung, Kreislaufbelastung) hervorrufen können [3, 5, 7]. Zur Rekompensation der Herzinsuffizienz wird neben β-Blockern auch Digoxin eingesetzt. Zu beachten ist, dass der Digoxinbedarf etwa doppelt so hoch ist wie bei schilddrüsengesunden Patienten. Zusätzlich können auch Kalziumantagonisten (Diltiazem) verwendet werden [5]. Behandlung der thyreotoxischen Krise 1.
Supportive Maßnahmen: – hochkalorische parenterale Ernährung – Kreislauf- und Lungenfunktionsüberwachung – evtl. frühzeitige Beatmung, v. a. bei beginnenden zentralnervösen Symptomen mit Schluckstörung und Koma, und/oder bei Lungenstauung – Sedierung (Promethazin 2-mal 25 mg oder Benzodiazepine) 2. Blockade der Schilddrüsenhormonwirkung: – Propranolol 1 mg bis maximal 10 mg i.v./Tag oder 6
58
– Propranolol 3- bis 4-mal 40–80 mg p.o./Tag alternativ – Esmolol 0,5 mg/kg KG Bolus über 2–3 min, dann 50–200 Pg/kg KG/min über Per fusor oder – Metoprolol 100–400 mg p. o./Tag – Prednisolon 100–250 mg/Tag – L-Carnitin 2–4 g p.o./Tag (insbesondere bei Amiodaron-induzierter Thyreotoxikose) 3. Blockade der Schilddrüsenhormonbildung: – Thiamazol (Favistan) 3-mal 40 mg i.v. oder – Propylthiouracil (Thyreostat) 4- bis 6-mal 50 mg p. o. – frühzeitige Thyreoidektomie
Die Mortalität der thyreotoxischen Krise sollte heute bei entsprechender Behandlung unter 10 % liegen. Nicht die Therapie ist die Schwierigkeit, sondern vielmehr die rechtzeitige Diagnosestellung und damit der frühzeitige Behandlungsbeginn. 58.4
Myxödemkoma
Das Myxödemkoma tritt bei Patienten mit lange unerkannter Hypothyreose auf. Die Diagnose lässt sich nur klinisch stellen, es gibt hierfür keine typische Laborkonstellation, d. h. sie ist nicht unterschiedlich zu der einer unkomplizierten Hypothyreose. Auslöser ist meist eine zusätzliche Erkrankung wie Infektion, Trauma, Operation oder Stress [11]. 58.4.1 Ätiologie und Pathophysiologie Häufigste Ursache einer Hypothyreose ist entweder eine Autoimmun-(Hashimoto)-Thyreoiditis, eine Strahlenthyreoiditis nach externer Radiatio oder nach ablativer Therapie mittels Radioiod oder Operation. Etwa 5 % der Patienten mit Hypothyreose weisen eine sekundäre Hypothyreose infolge einer Hypophyseninsuffizienz auf, z. B. durch ein Hypophysenadenom, eine granulomatöse oder lymphozytäre Hypophysenentzündung oder eine Hypothalamuserkrankung. Hierbei wird die Symptomatik der Hypothyreose durch die meist begleitende Nebenniereninsuffizienz sowie einen hypogonadotropen Hypogonadismus überlagert. Aber auch bei einer autoimmun bedingten Hypothyreose muss an das gleichzeitige Vorliegen einer anderen organspezifischen Autoimmunerkrankung wie primäre Nebennierenrindeninsuffizienz (M. Addison) oder Diabetes mellitus gedacht werden. Eine Hypothyreose auf dem Boden einer Hashimoto-Thyreoiditis entwickelt sich nahezu immer sehr langsam, oft über Jahre oder Jahrzehnte und kann daher subjektiv unbemerkt zu einer verspäteten Diagnose führen. Durch die verbesserte Diagnostik und die routinemäßige TSH-Kontrolle ist das Vollbild der Erkrankung seltener geworden [10]. Das klinische Erscheinungbild eines Myxödemkomas unterscheidet sich von einer schweren Hypothyreose durch die zusätzlichen zentralnervösen Störungen, deren pathophysiologische Grundlage nach wie vor unklar ist. Die typischen Symptome einer schweren Hypothyreose sind: Hyponatriämie, Hyperkapnie, Hypoxie und Hypothermie. Diese können dann bei einer Exposi-
740
Kapitel 58 · Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Intensivpatienten, thyreotoxische Krise und Myxödemkoma
tion von zusätzlichen Stressfaktoren, wie z. B. Infektion, Trauma oder Operation, in ein Myxödemkoma übergehen [11]. 58.4.2 Diagnostik Die Leitsymptome des Myxödemkomas sind Hypothermie, Hypoventilation, Bradykardie und Koma. Diese Symptome sind nicht pathognomonisch, können auch z. B. bei Barbituratintoxikation oder Hirnstammläsionen führend sein. Es muss bei diesen Symptomen aber differenzialdiagnostisch immer auch an ein Myxödemkoma gedacht werden.
Anamnese
58
Vorangegangene Schilddrüsenoperation, Strahlentherapie unter Einbeziehung des Halsbereiches, Radioiodtherapie oder das unerklärte Absetzen einer Schilddrüsenhormonsubstitution sind evtl. fremdanamnestisch zu erfragen. Organspezifische Autoimmunerkrankungen in der Familie können ebenfalls richtungsweisend sein. Eine Autoimmunthyreoiditis ist die häufigste organspezifische Autoimmunerkrankung mit einer Inzidenz von ca. 10 % aller Frauen und 2 % der Männer. Vorangegangene Hypophysenoperation oder -bestrahlung, Blasserwerden der Haut oder weniger Bräunung durch Sonneneinwirkung können Zeichen einer Hypophysenvorderlappeninsuffizienz mit sekundärer Hypothyreose sein. Eine sich langsam entwickelnde Lethargie, Antriebslosigkeit, Gewichtzunahme, Obstipation und Kälteintoleranz können ebenfalls häufig erfragt werden.
– Vergesslichkeit bis Amnesie, Lethargie und schließlich Koma – Kleinhirnsymptome wie Ataxie und Adiadochokinese – Epilepsie
Laborkonstellation Im Fall einer primären Hypothyreose ist das basale TSH erhöht bei vermindertem freien T4 (fT4) oder T4-Index. Bei schwerkranken Patienten sind die peripheren Schilddrüsenhormonwerte aber wenig hilfreich, da sie im Rahmen des NTIS in jedem Falle erniedrigt sind. Man muss berücksichtigen, dass auch das basale TSH erniedrigt ist, sodass es im Fall eines Myxödemkomas zwar inadäquat erhöht ist, aber nicht so hoch sein muss, wie man dies bei einer schweren Hypothyreose erwarten würde. Auch ist an die selteneren Fälle einer sekundären Hypothyreose zu denken, bei der dieselbe Laborkonstellation wie bei einem NTIS gefunden wird. Die Diagnose kann sich also nicht allein auf die typischen Schilddrüsenhormonparameter stützen. Die Bestimmung von schilddrüsenspezifischen Antikörpern ist für die Akutdiagnose bedeutungslos. Zusätzliche typische, aber unspezifische Laborparameter bei schwerer Hypothyreose sind: Hyponatriämie, erhöhte LDH- und CK-Werte [11] 58.4.3 Therapie
Untersuchungsbefund Die üblichen Symptome der schweren Hypothyreose als zugrunde liegende Erkrankung findet man regelhaft bei Patienten mit Myxödemkoma. Befunde und klinisches Bild sind in der Übersicht dargestellt. Befunde beim Myxödemkoma 4 Allgemeinsymptome: – trockene, rauhe und kühle Haut, struppige Haare, aufgedunsenes Gesicht, große Zunge und rauhe Stimme – Hypothermie (<36°C) 4 Kardiovaskulär: – verlängerte QT-Zeit im EKG – meist auch Sinusbradykardie, seltener AV-Block – vermindertes Schlagvolumen und HZV – Perikard- und Pleuraergüsse 4 Pulmonal: – alveoläre Hypoventilation mit Hyperkapnie ohne subjektive Atemnot – Bronchopneumonie infolge der Hypoventilation 4 Gastrointestinal: – verminderte Darmmotilität bis zum paralytischen Ileus – Magenatonie 4 Neuropsychiatrisch: – verlängerte ASR-Relaxationszeit – Desorientiertheit, Halluzinationen, Depression 6
Die Therapie des Myxödemkomas umfasst, neben dem Ausgleich des Schilddrüsenhormonmangels, die Behandlung der Hypoventilation und Hyperkapnie durch maschinelle Beatmung, den Ausgleich der Hyponatriämie und Hypoglykämie sowie die Behandlung der Hypothermie und Hypotension [10]. Die Modalität der Schilddrüsenhormonsubstitution ist immer noch in Diskussion. Da bei Hypothyreose die periphere Konversion von T4 zu T3 verzögert ist, haben manche Autoren empfohlen, sowohl T4 als auch T3 in niedriger Dosierung (25 Pg/Tag) zu substituieren. Es hat sich aber gezeigt, dass eine hochdosierte Monotherapie mit T4 am schnellsten die periphere Schilddrüsenwirkung wiederherstellen kann, ohne dass es dabei zu den früher so gefürchteten kardialen Nebenwirkungen kommt. Die alveoläre Hypoventilation führt nicht nur zu einer Hyperkapnie und Hypoxie, sondern prädisponiert auch zu einer Bronchopneumonie. Frühzeitige maschinelle Beatmung bzw. Atemgymnastik, eine engmaschige mikrobiologische Überwachung sowie der rechtzeitige und gezielte Beginn einer Antibiotikatherapie sind daher indiziert. Die Hyponatriämie ist Folge einer vermehrten Wasserretention und zusätzlich einer verminderten Natriumrückresorption an der Niere. Wegen der Gefahr einer pontinen Myelinolyse wird daher keine Natriumsubstitution, sondern nur Wasserrestriktion und Hydrokortisonsubstitution empfohlen. Das therapeutische Vorgehen bei Myxoedemkoma ist in der Übersicht zusammengestellt.
741 Literatur
Behandlung des Myxödemkomas 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Schilddrüsenhormonsubstitution – L-Thyroxin 500 Pg i. v. am 1. Tag – danach 1,5 Pg/kg KG/Tag entweder oral oder i. v Intubation und Beatmung – möglichst frühzeitige Beatmung, unter Berücksichtigung eines nicht zu schnellen Ausgleichs der Hyperkapnie Hypoglykämie – initial 50 ml einer 50 %igen Glukoselösung i. v., dann weiter nach Blutglukosewerten Hyponatriämie – alleinige Wasserrestriktion, kein schneller Ausgleich, also keine hochprozentige Natriuminfusionslösung notwendig, da durch die wiederhergestellte Schilddrüsenhormonwirkung an der Niere Natrium wieder rückresorbiert wird Hypothermie – bei Körpertemperatur <31°C: langsame aktive Erwärmung durch Dialyse, angewärmte Infusionen etc., aber nicht mehr als 0,5°C/h – bei Körpertemperatur >31°C: nur passive Erwärmung durch warme Decken Hypotonie – Hydrokortison 200 mg/Tag über die ersten Tage, danach langsam reduzieren – Katecholamine und Digoxin sind weniger wirksam; es besteht eine erhöhte Gefahr von Herzrhythmusstörungen
Das Myxödemkoma wies früher eine Mortalität von über 70 % auf; diese sollte aber heute bei adäquater Behandlung unter 20 % liegen. i Wie bei den meisten metabolischen Krisen ist nicht die Therapie selbst, sondern die rechtzeitige Diagnosestellung und Einbeziehung einer metabolischen Krise in die differenzialdiagnostischen Überlegungen der wichtigste Schritt [7, 11].
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58
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59 Säure-Basen Status K. Hofmann-Kiefer, P. Conzen, M. Rehm
59.1
Einleitung
59.2
Physiologische Grundlagen
59.2.1 59.2.2
Definitionen –744 Puffersysteme –744
59.3
Pathophysiologie des Säure-Basen-Haushalts
59.3.1 59.3.2 59.3.3
Äthiopathologie von Säure-Basen-Störungen –746 Physiologisch-analytische Modelle metabolischer Störungen –746 Respiratorische Störungen –752
59.4
Therapie der Störungen Literatur
–744
–753
–744
–752
–746
744
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
59.1
Einleitung
Ein Großteil der kritisch kranken Patienten zeigt ausgeprägte Veränderungen im Milieu der Körperflüssigkeiten. Das intakte Zusammenspiel verschiedener Regulationsmechanismen, kurz Säure-Basen-Haushalt genannt, ist aber für die Wiederherstellung der Homöostase essenziell, denn nahezu alle biochemischen Reaktionen des Körpers sind abhängig von der Aufrechterhaltung einer physiologischen Wasserstoffionenkonzentration. Diese wird daher vom Organismus normalerweise in sehr engen Grenzen konstant gehalten. Größere Veränderungen können weitreichende Organdysfunktionen hervorrufen.
59.2
Physiologische Grundlagen
Nach der Definition von Brönsted-Lowry sind Säuren Protonendonatoren und Laugen Protonenakzeptoren. Als starke Säure bezeichnet man eine Substanz, die schnell und nahezu irreversibel Protonen abgibt, während starke Basen Protonen nahezu irreversibel binden. Schwache Säuren und Basen können dagegen relativ leicht Protonen abgeben und wieder aufnehmen respektive aufnehmen und wieder abgeben. Sie bilden Gleichgewichte, sog. konjugierte Säuren-Basen-Paare: HA l H+ + A–
(1)
Die meisten biologischen Komponenten sind entweder schwache Säuren oder schwache Basen. Wasser kann sowohl wie eine Säure als auch wie eine Base reagieren, es dissoziiert reversibel zu Hydronium- und Hydroxylionen. 2 H2O l H3O+ + OH–
K=
[H+] · [A–] [HA] , oder [H+] = K [HA] [A–]
(4)
Der negative dekadische Logarithmus dieser Gleichung wird als Henderson-Hasselbalch-Gleichung bezeichnet:
pH = pKs + log
59.2.1 Definitionen
59
Für eine Lösung, die die schwache Säure [HA] und die schwache Base [A–] enthält, lässt sich eine Dissoziationskonstante K wie folgt festlegen:
[A–] [HA]
(5)
Nach dieser Gleichung lässt sich der pH-Wert einer Lösung berechnen aus dem pKs einer Säure und den Konzentrationen der Säure und ihrer konjugierten Base. Klinische Veränderungen, die mit einer Verschiebung des Blut-pH-Werts einhergehen, bezeichnet man je nach der Form der Veränderung als Azidosen oder Alkalosen. Unter einer Azidose versteht man ein Absinken des pHWerts unter 7,36, unter einer Alkalose einen Anstieg des pHWerts über 7,44. Respiratorische Störungen liegen vor, wenn der pCO2 primär von der Veränderung betroffen ist. Betreffen die Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt v. a. die HCO3‒-Konzentration, spricht man von einer nichtrespiratorischen oder auch metabolischen Störung. Hierzu zählen auch Störungen renaler oder intestinaler Ursache. Metabolische Störungen können in der Regel durch respiratorische Kompensationsmechanismen in weiten Grenzen ausgeglichen werden und umgekehrt. (. Tab. 59.1). Zu beachten ist jedoch, dass beim intubierten und beatmeten Intensivpatienten das Atemminutenvolumen als wesentliches Regulativ des pCO2 von den Respiratoreinstellungen und nicht von physiologischen Erfordernissen bestimmt ist.
(2)
59.2.2 Puffersysteme Die Gleichgewichtskonstante dieser Reaktion ist:
K=
[H3O+] · [OH–] [H2O]2
(3)
Der Anteil der Hydronium- und Hydroxylionen ist jedoch sehr viel kleiner als der des undissoziierten Wassers, er beträgt jeweils 10–7 mmol/l unter neutralen Bedingungen. Daher kann die Konzentration des undissoziierten Wassers im neutralen Milieu als konstant betrachtet werden. Der pH-Wert einer Lösung wird üblicherweise definiert als der negative dekadische Logarithmus der Hydroniumionenkonzentration. In neutralem Wasser beträgt der pH-Wert demnach –log(10–7)=7. Im arteriellen Blut dagegen liegt eine Hydroniumionenkonzentration von 40 nmol/l vor. Der pH-Wert beträgt dort dementsprechend: –log(40u10–9)=7,40. Hydroniumionenkonzentrationen zwischen 160 und 16 nmol/l sind mit dem Leben vereinbar (pH 7,8–6,8).
Schon unter physiologischen Bedingungen fallen im Stoffwechsel ca. 50–100 mmol Protonen pro Tag an [1–3]. Diese entstehen im Proteinstoffwechsel sowie aus der unvollständigen Verbrennung von Kohlehydraten, Fetten und organischen Säuren. Unter pathologischen Bedingungen (z. B. Sepsis) können auch weitaus größere Mengen an Protonen im Organismus entstehen. Um ein konstantes physiologisches Milieu aufrecht erhalten zu können, existieren im Körper daher effiziente Puffersysteme, die die anfallenden Protonen »abfangen«, den pH-Wert der Körperflüssigkeiten in engen Grenzen halten (7,36‒7,44) und damit für ein einwandfreies Funktionieren der Enzyme und Transportsysteme des Organismus sorgen.
Kohlensäure-Bikarbonat-Puffersystem Das Kohlensäure-Bikarbonat-System ist das effizienteste Puffersystem im menschlichen Organismus. Obwohl es im eigentlichen Sinn nur aus den Komponenten H2CO3 und HCO3‒ als konjugiertes Säure-Basen-Paar besteht, kann auch der Kohlendi-
745 59.2 · Physiologische Grundlagen
. Tabelle 59.1. Verschiebungen im Säure-Basen-Haushalt und Kompensationsmechanismen Primäre Veränderung
Kompensationsreaktion
Respiratorische Azidose
paCO2 n
[sHCO3–] n
Respiratorische Alkalose
paCO2 p
[sHCO3–] p
Metabolische Azidose
[sHCO3–] p
paCO2 p
Metabolische Alkalose
[sHCO3–] n
paCO2 n
oxidpartialdruck (pCO2) in die Puffergleichung eingesetzt werden, denn es gilt:
H2O + CO2 l H2CO3 l H+ + HCO3–
die Pufferkapazität verantwortlich sind im Wesentlichen Histidinbindungstellen mit einem pK von ca. 6,8. Die Säure-BasenGleichung des Hämoglobins kann vereinfacht ausgedrückt werden als Interaktion zwischen dem hydroxylierten Hämoglobin und seinem Kaliumsalz.
H+ + KHb l HHb + K+
[sHCO3–] = Standardbikarbonatkonzentration: Hierunter versteht man die [HCO3–] einer beliebigen Blutprobe interpoliert auf einen pCO2 von 40 mm Hg, eine Temperatur von 37°C und eine O2-Sättigung von 100%.
(6)
Die Hydratation des CO2 geschieht hierbei über das Enzym Karboanhydrase, das sich v. a. in den Erythrozyten befindet. Zudem findet entlang der Erythrozytenmembran ein (elektroneutraler) Ionenaustausch statt, bei dem Chloridionen gegen HCO3‒ ausgetauscht werden (Chlorid-Shift). Hierdurch kann die HCO3‒ -Konzentration im Plasma erhöht werden. Wird der Löslichkeitskoeffizient des CO2 mit in Betracht gezogen, kann die Henderson-Hasselbalch-Gleichung für das Kohlensäure-Bikarbonat-System wie folgt beschrieben werden:
59
(9)
Desoxygeniertes Hämoglobin hat hierbei eine größere Pufferkapazität als oxygeniertes. Im Gegensatz zum Kohlensäure-Bikarbonat-Puffersystem wird das Hämoglobinpuffersystem sowohl bei metabolischen als auch bei respiratorischen Störungen wirksam.
Weitere Puffersysteme Proteine (v. a. Albumin) und Phosphate spielen eine wichtige Rolle als extrazelluläre Puffersysteme. Daneben hat der Intrazellulärraum bedeutende Pufferkapazitäten. Neben Proteinpuffern spielt v. a. die Pufferung im Knochen eine große Rolle [4]. Karbonate und Phosphate übernehmen hierbei die Funktion von Pufferbasen. Der intrazelluläre Säure-Basen-Haushalt ist sehr komplex und kann daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Es bestehen große Unterscheide zum Extrazellulärraum. So beträgt beispielsweise der pH-Wert im Zytoplasma und im endoplasmatischen Retikulum 6,8‒7,2, in den Golgi-Apparaten 5,6 und in den Mitochondrien 8,0 [5]. Sowohl die klassische Analytik als auch das Stewart-Modell des Säure-Basen-Haushalts (7 Kap. 59.3.2) sollten intrazellulär anwendbar sein. Daten hierzu liegen allerdings noch nicht vor.
Pulmonale Kompensationsmechanismen
Man beachte, dass der pKs der Kohlensäure mit 6,1 relativ weit vom pH-Wert des Blutes entfernt ist und das System daher als Puffer grundsätzlich wenig effizient sein sollte. Das Reaktionsgleichgewicht in Gleichung (6) liegt prinzipiell weit auf Seiten des HCO3‒. Entscheidend ist jedoch, dass das System nach zwei Seiten offen ist: CO2 wird über die Lungen abgeatmet, hierdurch verschiebt sich das Reaktionsgleichgewicht auf die Seite des CO2 ‒ Protonen können aufgenommen werden. Auf der anderen Seite können Nieren und Leber aktiv in die Regulation der HCO3‒-Konzentration eingreifen. Der Kohlensäure-Bikarbonat-Puffer wird nur wirksam bei metabolischen Störungen des Säure-BasenHaushalts, auf respiratorische Störungen hat er keinen Einfluss.
Im Stoffwechsel entstehen bereits in Ruhe täglich ca. 14.000 mmol CO2, die zu einer Verschiebung des pH-Werts in Richtung auf eine Azidose führen würden. Darüber hinaus fallen durch metabolische Prozesse ständig größere Mengen an nicht flüchtigen Säuren an bzw. werden mit der Nahrung aufgenommen. Ein Abfall des pH-Werts im arteriellen Blut stimuliert daher das Atemzentrum sowie periphere Chemosensoren und führt dadurch zu einer Steigerung des Atemminutenvolumens. Die pulmonale Antwort auf Verschiebungen des Säure-Basen Status setzt sehr schnell ein, erreicht aber dennoch erst nach mehreren Stunden ein Gleichgewicht entsprechend der Menge an anfallenden sauren Valenzen. Die alveoläre Ventilation kann hierbei für kurze Zeit auf das 10-fache des Normalwerts gesteigert werden. Dennoch wird durch ventilatorische Kompensation allein der pH-Wert normalerweise nicht vollständig normalisiert. Auch durch maximale Hyperventilation kann der pCO2 nur auf Werte von 10‒15 mm Hg gesenkt werden. Darüber hinaus ist keine respiratorische Kompensation mehr möglich. Metabolische Alkalosen können durch respiratorische Kompensation nur in weitaus geringerem Maße ausgeglichen werden als Azidosen, da die Verminderung der alveolären Ventilation zur Hypoxämie führt. Hierdurch werden sauerstoffsensitive Chemosensoren aktiviert, die wiederum eine Steigerung der Ventilation induzieren. In der Regel kommt es nicht zu einem Anstieg des pCO2 auf mehr als 55 mm Hg.
Hämoglobin als Puffersystem
Renale Kompensationsmechanismen
Neben dem Kohlensäure-Bikarbonat-Puffersystem stellt das Hämoglobin das mengenmäßig bedeutendste Puffersystem dar. Für
Nach der klassischen Analytik ist die Ausscheidung fixer Säuren (und damit von H+-Ionen) und Ammoniumionen unter norma-
pH = pKs + log
[HCO3–] [0,03 PaCO2]
(7)
[HCO3–] [0,03 PaCO2]
(8)
oder pH = 6,1 + log
746
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
len Bedingungen eine der Hauptaufgaben der Niere. Die Regulationsmechanismen setzen bei Störungen im Säure-Basen-Haushalt sofort ein. Bis sie klinisch wirksam werden, sind jedoch in der Regel mehrere Stunden erforderlich. Die renale Kompensation findet sowohl bei respiratorischen als auch metabolischen Störungen statt. Die Niere verfügt hierbei über 3 verschiedene effiziente Regelkreise zur Elimination anfallender saurer Valenzen 4 eine Steigerung der Rückresorption von Bikarbonat bei erhöhtem Anfall (I), 4 die gesteigerte Exkretion fixer Säuren über H2PO4‒ (II), 4 die gesteigerte Bildung von Ammoniak (III). Alle 3 Regelkreise sind an energieverbrauchende, membranständige Transportprozesse gebunden. In jedem Fall laufen die physiologischen Regelkreise über das Enzym Karboanhydrase. Wichtigste Quelle für Ammoniumionen (Regelkreis III) ist das Glutamin. Die genauen Reaktionswege sind der . Abb. 59.1 zu entnehmen. 59.3
59
Pathophysiologie des Säure-BasenHaushalts
Eine Einteilung der metabolischen Störungen im Säure-BasenHaushalt von Intensivpatienten ist sowohl nach äthiopathologischen als auch nach physiologisch-analytischen Gesichtspunkten möglich. 59.3.1 Äthiopathologie von Säure-Basen-
Störungen Bei Intensivpatienten entstehen Störungen im Säure-BasenHaushalt aus einer Vielzahl von Ursachen. Selbstverständlich sollte hierbei eine kausale Behandlung erstes Therapieprinzip sein. Die wichtigsten Erkrankungen sowie kurze Hinweise zu ihrer Genese sind in . Tabelle 59.2 (metabolische Azidosen) und . Tabelle 59.3 (metabolische Alkalosen) zusammengefasst. Oft kann eine metabolische Störung nicht unmittelbar kausal behandelt werden. Eine symptomatische Therapie, z. B. durch Puffern von Azidosen (7 Kap. 59.4), ist angezeigt. Kenntnisse in der Analytik des Säure-Basen-Haushalts sind deshalb zur Auswahl der optimalen Therapiestrategie sowie prinzipiell zum besseren Verständnis der zugrunde liegenden Erkrankungen von großer Bedeutung. 59.3.2 Physiologisch-analytische Modelle
metabolischer Störungen Allgemein anerkannte Meilensteine in der Entwicklung der Analytik des Säure-Basen-Haushalts waren die Beschreibung der Hendersen-Hasselbalch-Gleichung 1916 [6, 7] (7 Kap. 59.2.1) des »base excess« 1960 durch Siggaard-Andersen [8, 9] und der Anionenlücke in den 1970-er Jahren [10, 11]. Als weitere wesentliche Entwicklung gilt auch die von Peter Stewart 1983 ausgearbeitete »quantitative Analytik« des Säure-Basen-Haushaltes« [12].
. Abb. 59.1. Renale Kompensationsmechanismen
re-Basen-Haushalts. Sie stellt die Wasserstoffionenkonzentration als Funktion der Massengleichung der Kohlensäure dar und betrachtet ausschließlich die Variablen des Bikarbonat-Kohlensäure-Puffersystems (7 Kap. 59.2.2). Alle anderen möglichen Variablen werden nicht in Betracht gezogen. Es existieren in der Literatur zahlreiche Nomogramme, die den Zusammenhang zwischen pH-Wert, pCO2 und HCO3‒ graphisch darstellen. Ein Beispiel zeigt . Abb. 59.2. Als weiteres beschreibendes Element zur Differenzierung von Säure-Basen-Störungen wurde 1977 von Oh die Anionenlücke (»anion gap«) eingeführt. Sie wird allgemein definiert als Differenz des Kations (Na+) und der Anionen (Cl– und HCO3‒):
Henderson-Hasselbalch-Gleichung Die Henderson-Hasselbalch-Gleichung bietet nur eine beschreibende Darstellung von pathologischen Veränderungen des Säu-
Anionenlücke = [Na+] – ([Cl–] + [HCO3–])
(10)
747 59.3 · Pathophysiologie des Säure-Basen- Haushalts
59
. Tabelle 59.2. Ätiopathologie der Azidosen Azidosen
Ätiopathologie
Laktatazidose
4 4 4 4 4 4
Ketoazidose
4 Relativer oder absoluter Insulinmangel bei Diabetes mellitus 4 Alkoholkrankheit 4 Fasten
Intoxikationen
4 Kohlenmonoxid und Cyanide o Laktatazidose 4 Acetylsalicylsäure o Akkumulation organischer Säuren (u. a. Laktat), oft überlagert durch respiratorische Alkalose bei Hyperventilation 4 Äthylenglykol o Akkumulation von Glykolsäure und Oxalsäure 4 Methanol o Akkumulation von Formaldehyd
Renale Azidosen
4 Fortgeschrittene Niereninsuffizienz (GFR <20 ml/min): Ausfall der renalen Puffersysteme (7 s. oben) o meist mit erhöhter Anionenlücke (7 Kap. 59.2.3) 4 Renale tubuläre Azidose: Es existieren 3 verschiedene Typen, alle sind durch eine verminderte tubuläre H+-Ionen-Sekretion oder eine verminderte Bikarbonatrückresorption gekennzeichnet. 4 Eine Therapie mit Karboanhydrasehemmern (Acetazolamid) führt ebenfalls zu einer verminderten H+-Ionen-Sekretion.
Hyperchloräme Azidose
4 Verlust von alkalischen Sekreten aus Galle, Darm oder Pankreas o Ersatz von Bikarbonat durch Chloridionen im Plasma aus Gründen der Elektroneutralität 4 Einnahme von Cholestyramin, Kalzium- oder Magnesiumchlorid 4 Zufuhr großer Mengen NaCl-Lösung oder sog. Vollelektrolytlösungen
Mangelnde Sauerstoffversorgung der Gewebe Hochgradige Leberinsuffizienz Alkoholkrankheit Diabetes mellitus (auch ohne Zufuhr von Biguaniden) Thiaminmangel Kurzdarmsyndrom (D-Laktat)
. Tabelle 59.3. Ätiopathologie der Alkalosen. Der größte Teil der metabolischen Alkalosen resultiert entweder aus einem Mangel an Chloridionen (chloridsensitiv) oder einer gesteigerten Aktivität des mineralokortikoiden Systems (chloridresistent) Alkalose
Äthiopathologie
Chloridsensitive Alkalosen
4 Renal 4 Gastrointestinal 4 Zystische Fibrose
Chloridresistente Alkalosen
4 4 4 4
Andere Ursachen
4 Hyperkalzämie (Pathomechanismus unklar) 4 Massivtransfusion
Primärer Hyperaldosteronismus Sekundärer Hyperaldosteronismus Cushing-Syndrom Bartter-Syndrom
4 4 4 4 4
Chloridverluste durch Diuretika (Furosemid, Etacrynsäure) Vermehrte Reabsorbtion von Na+ bei Volumenmangel Chloridverluste durch Erbrechen Magensaftdrainage Chloridverluste über Schweiß
4 Gesteigerte mineralokortikoide Aktivität o Hypernatriämie, Hypokaliämie
4 Milch-Alkali-Syndrom 4 Knochenmetastasen 4 Blutprodukte enthalten Anionen (Acetat, Laktat, Zitrat), die teilweise zu Bikarbonat verstoffwechselt werden
748
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
4 Intoxikation mit exogen zugeführten Säuren, z. B. Salizylaten. Metabolische Azidosen mit normaler Anionenlücke sind in der Regel verbunden mit einer Hyperchloridämie und treten v. a. bei größeren Verlusten von Darminhalt, Galle oder Pankreassekret auf. Auch die renale tubuläre Azidose (RTA; s. unten) ist eine hyperchloräme Azidose mit normaler Anionenlücke. Von hoher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Zufuhr größerer Mengen chloridreicher Volumenersatzlösungen (NaCl-Lösung, Vollelektrolytlösungen, Hydroxyäthylstärkelösungen), die bei Intensivpatienten regelhaft zu einer hyperchlorämen Azidose führen (7 s. unten). In einer ganzen Reihe von Studien wurde untersucht, ob zwischen der Höhe der Anionenlücke und dem Mortalitätsrisiko kritisch kranker Patienten eine nachweisbare Relation besteht. Die Ergebnisse hierzu sind jedoch uneinheitlich. Einige Autoren sprechen dem »anion gap« durchaus eine prädiktive Bedeutung zu [16], andere fanden Parameter mit höherer prognostischer Aussagekraft, wie z. B. »base excess« oder »strong ion gap« (7 s. unten).
Standardbikarbonat und »base excess«
59
. Abb. 59.2. Nomogramm zum Zusammenhang zwischen pH, pCO2 und HCO3–. (Nach Arbus 1973 [13])
Der Normalwert der Anionenlücke liegt bei 12±4 Milliäquivalente/l (meq/l). Milliäquivalente/l ist eine im englischen Sprachraum gebräuchliche Angabe zur Beschreibung der Stoffmengenkonzentration. Wie die (veraltete) Angabe mval/l bezieht sie die Wertigkeit eines Ions (z) mit ein. 1 mmol/z =1 meq =1 mval
In der Realität existiert die Anionenlücke allerdings nicht, denn die Summe aller Kationen und Anionen im Plasma muss immer Null ergeben (»Gesetz der Elektroneutralität«; s. unten). Es gibt demnach eine ganze Reihe von Ionen, sowohl mit negativer als auch mit positiver Ladung, die in die oben genannte Gleichung nicht eingehen. Diese sind teilweise leicht messbar (Beispielsweise Ka+, Mg2+, Ca2+, Laktat, Albumin) und werden daher von einigen Autoren auch mit in die Berechnung einbezogen, sodass die Definition des »anion gap« mittlerweile nicht mehr ganz einheitlich ist und durchaus unterschiedliche Normwerte angegeben werden [14, 15]. Dennoch kann versucht werden, metabolische Störungen in solche mit großer oder kleiner Anionenlücke zu unterteilen: Bei metabolischen Störungen mit großer Anionenlücke (>20 mmol/l) handelt es sich meist um Azidosen, die durch einen starken Anstieg nicht volatiler Säuren im Plasma verursacht werden. Hierfür kommt eine ganze Reihe von Ursachen in Frage: 4 Versagen der renalen Elimination fixer Säuren bei hochgradiger Niereninsuffizienz, 4 gesteigerter Anfall nicht volatiler Säuren, beispielsweise bei Gewebehypoxie (Laktatazidose) oder im diabetischen Koma (Ketoazidose),
Bereits in den 1940-er Jahren erkannten einige Untersucher, dass eine rein deskriptive Betrachtung, wie sie die Henderson-Hasselbalch-Gleichung und die daraus abgeleiteten Größen bieten, hinsichtlich der Beschreibung von Störungen des Säure-Basen-Haushalts einige Limitationen aufweist. Ein offensichtlicher Nachteil ist, dass Veränderungen des Plasmabikarbonats nur dann eine (semi)quantitative Aussage darüber erlauben, wie viel Säure oder Base dem Plasma zugeführt wurde, wenn der pCO2 konstant gehalten wird. Dies führte zu Entwicklung von Techniken, das Plasmabikarbonat zu standardisieren (7 Kap. 59.2.1) bzw. die metabolische Komponente einer Säuren-Basen-Störung zu quantifizieren. 1948 prägten Singer u. Hastings [17] den Begriff der »Pufferbase« als Summe des Plasmabikarbonats und der nicht volatilen, schwachen Säure-Basen-Puffer.
Unter dem Basenüberschuss (»base excess«; BE) versteht man die Menge an Pufferbase (oder Säure), die einer Blutprobe bei standardisierten Bedingungen (pCO2 40 mm Hg, Temperatur 37°C) zugeführt werden muss, um einen pH-Wert von 7,4 zu erreichen.
Es existieren zahlreiche Formeln zur exakten Berechnung des »base excess«, in die teilweise unterschiedliche Einflussgrößen (z. B. Hämoglobinkonzentration, Albuminkonzentration, Phosphatkonzentration, O2-Sättigung des Blutes) mit eingehen. Die bekannteste errechnet den sog. genannten Standard-base-excess (SBE). Hierbei wird eine über sämtliche Körperkompartimente gemittelte Hämoglobinkonzentration von 5 g/dl angenommen:
SBE = 0,9287 u[HCO3– – 24,4 + 14,83 u(pH–7,4)]
(11)
Der Referenzbereich liegt bei ±3 meq/l. Liegt der SBE unter –3 meql/l, liegt eine metabolische Azidose vor, entweder primär oder kompensatorisch.
749 59.3 · Pathophysiologie des Säure-Basen- Haushalts
Mit dem BE ist dem Intensivmediziner ein Instrument an die Hand gegeben, das Ausmaß einer Säure-Basen-Störung auf einen Blick abschätzen zu können. Außerdem kann der SBE zur Berechnung der evtl. notwendigen Menge einer Pufferlösung (z. B. Natriumbikarbonat) herangezogen werden (7 Kap. 59.4). Daneben wurden, vergleichbar der Anionenlücke, zahlreiche Untersuchungen publiziert, die die prognostische Aussagekraft des Parameters »base excess« hinsichtlich der Mortalität von Intensivpatienten untersuchten. Während einige Autoren dem BE eine hohe prognostische Aussagekraft hinsichtlich des Überlebens insbesondere von politraumatisierten Patienten bescheinigten [18‒22], fanden andere keine eindeutige Korrelation [23, 24].
Stewart- Modell des Säure-Basen-Haushaltes Die »moderne quantitative Analytik des Säure-Basen-Haushaltes« [12], wie sie 1983 von Peter Stewart eingeführt wurde, zeigt eine völlig veränderte Sichtweise hinsichtlich der Mechanismen, denen die Veränderungen des Säure-Basen-Haushalts unterliegen, auf. Die wissenschaftliche Diskussion hierüber wird auf breiter Basis geführt und hat bereits zu wichtigen neuen Erkenntnissen und damit einer neuen Sichtweise beigetragen. Das Modell wird daher im Rahmen dieses Kapitels ausführlich dargestellt.
Methodik der quantitativen Analytik Stewarts Ansatz betrachtet Gleichgewichte von Teilchen in Lösungen und die Interaktion dieser Gleichgewichte. Er geht hierbei von 3 Grundprinzipien aus: 4 Dem Prinzip der Elektroneutralität als wichtigster Grundlage: Die Summe der positiven Ladungen im Plasma muss immer der Summe aller negativen Ladungen entsprechen. 4 Die Dissoziationsgleichgewichte aller unvollständig dissoziierten Substanzen müssen immer erfüllt sein. 4 Dem Prinzip von der Erhaltung der Masse. Im Plasma definiert Stewart 3 Komponenten, die zu jeder Zeit diesen Prinzipien unterliegen: 4 Das Wasser, das in nur in geringen Teilen in H+-Ionen und OH–-Ionen dissoziiert vorliegt. 4 »Starke«, d. h. (nahezu) vollständig dissoziierte und damit chemisch nicht mit anderen Substanzen reagierende Ionen, wie Elektrolyte (Na+, K+, Cl–, Ca2+, Mg2+) und körpereigene Substanzen wie Laktat. 4 »Schwache«, d. h. unvollständig dissoziierte Substanzen. Dies sind die volatilen Säure-Basen-Paare Kohlendioxid + Kohlensäure und Ammoniak + Ammonium und die nicht volatilen Paare des Phosphates und der Plasmaproteine. Des Weiteren beschreibt Stewart den pH-Wert und damit die Wasserstoffionenkonzentration, die Hydroxylionenkonzentration (OH–), aber auch die HCO3‒ und CO32–-Konzentrationen als »abhängige« Variablen des Säure-Basen-Haushaltes. Diese sind nicht nur voneinander abhängig, sondern werden von den sog. unabhängigen Variablen vollständig bestimmt: Die 1. unabhängige Variable ist der Kohlendioxidpartialdruck (pCO2). Mit der Beschreibung dieser Variablen sind in das Ste-
wart-Modell die respiratorischen Säure-Basen-Störungen eingeschlossen. Ein Anstieg des pCO2 führt auch hier zu einer Abnahme des pH-Werts und vice versa. Die Hendersen-Hassel-
59
balch-Gleichung hat insofern auch in der Theorie Stewarts nach wie vor Gültigkeit, allerdings ist sie keineswegs der einzige Faktor, der das Verhalten von H+-Ionen im Plasma bestimmt oder gar erklären kann. Weitaus interessanter sind die Implikationen des StewartTheorems für die metabolischen Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes. Die metabolischen Komponenten des Säure-Basen-Haushaltes sind im Stewart-Modell in der 2. und 3. unabhängigen Variablen zum Ausdruck gebracht: Die 2. unabhängige Variable ist die Gesamtmenge aller schwachen Säuren [A–] im Plasma. Der von Peter Stewart noch als
»ATOT« bezeichnete Komplex der schwachen negativen Ladungen beinhaltet alle unvollständig dissoziierten und damit chemisch nicht inerten Substanzen des Blutplasmas. Wie man heute weiß, stellen Albumin und Phosphat hierbei die Hauptmenge an schwachen negativen Ladungen dar [25, 26]. So lässt sich [A–] nach Fencl et al. [27] mit Hilfe folgender Formel berechnen:
[A–] = [Alb u(0,123 upH–0,631)] + [Pi u(0,309 upH-0,469)]
(12)
Die Albuminkonzentration ist hierbei in g/l, die des ionisierten Phosphats in mmol/l anzugeben. Legt man normale Albumin- bzw. Phosphatkonzentration von 45 g/l bzw. 1,2 mmol/l zugrunde, so berechnet sich bei einem pH von 7,4 (der pH-Wert ist hierbei für die Berechnung der Dissoziation des Albumins und des (ionisierten) Phosphats notwendig) ein Normalwert für [A–] von: 12,3+2,2=14,5 meq/l. Die 3. unabhängige Variable ist die Differenz der starken Ionen, die »strong ion difference« (SID). Unter der SID versteht
Stewart die Summe aller »starken« (vollständig dissoziierten) Kationen minus der Summe aller »starken« (vollständig dissoziierten) Anionen.
SID = [Na+]+[K+]–[Cl–]–[Lac–] Normalwert: (142 meq/l) + (4 meq/l) – (105 meq/l) – (1 meq/l)=40 meq/l
(13)
Hier dargestellt ist zunächst die leicht messbare, sog. »BedsideSID«. Stewart beschrieb Natrium und Chlorid als die Hauptkomponenten der SID, da diese, bezüglich ihrer Konzentrationen im Extrazellulärraum die größte Rolle spielen. K+und SO42‒, Ca2+und Mg2+ sind zwar als weitere potenziell starke Ionen einzustufen, nicht nur die in vivo niedrige Konzentration, sondern auch die vergleichsweise geringe Schwankungsbreite im Plasma führt jedoch dazu, dass deren Beitrag für Veränderungen des Säure-BasenHaushaltes begrenz ist. Laktat ist kein Ion im chemischen Sinn, verhält sich aber zumindest im Plasma- und Extrazellulärraum aufgrund seiner nahezu vollständigen Dissoziation in Lac– wie ein starkes Ion und wurde daher in die SID eingruppiert [12]. . Abb. 59.3 erläutert das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten in Stewarts Model: Aus dem Diagramm ist ersichtlich, dass die Summe der Ladungen aller Kationen im Plasma ([Na+], [Ka+], [Mg2+], [Ca2+]) ca. 150 meq/l beträgt. Auf der ne-
750
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
gativen Seite stehen zunächst [Cl–] und [Laktat–] mit zusammen ca. 103 meq/l. Als Gesamtdifferenz der Ladungen dieser Ionen ergibt sich die oben beschriebene SID mit ca. 47 meq/l, die auch als »apparente SID« (SIDa) bezeichnet wird. Aus Gründen der Elektroneutralität, dem wesentlichsten Prinzipien des Stewart-Modells (7 s. oben), müssen aber noch weitere negativ geladene Komponenten im Plasma vorhanden sein: Dies ist zum einen das [HCO3‒] (ca. 24 meq/l) und zum anderen die bereits angesprochene Fraktion der schwachen Säuren [A–] (ca.15 meq/l). Figge et al. [25, 26] beschrieben folgerichtig eine »effektive SID« (SIDe), die sich als Funktion der Albuminund Phosphatkonzentration sowie von pH und pCO2 berechnen lässt. [A–] wird hierbei mit Hilfe der Formel (12) berechnet, die aktuelle Bikarbonatkonzentration über die Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5) aus pH-Wert und pCO2. Es gilt:
SIDe =f(pH, pCO2, [Alb], [Pi–])
(14)
Vereinfacht lässt sich SIDe auch darstellen als :
SIDe = [A–]+[HCO3– ] Normalwert: (14,5 meq/l) + (24 meq/l) = 38,5 meq/l
59
(15)
Ergänzt man die Summe aus [Cl–] und [Laktat–] um die Summe aus [A–]+[HCO3‒] (. Abb. 59.3), zeigt sich, dass zum Erreichen der Elektroneutralität noch weitere negativ geladene Komponenten dargestellt werden müssen. Wiederum Figge et al. [25, 26] wiesen allerdings zu Recht darauf hin, dass nicht alle Anionen messtechnisch erfasst werden können. So finden sich im Blutplasma negative Ladungen (Ketonsäuren, Sulfat, Hydroxyproprionat, Oxalat u. a.), die den heutigen Blutgasanalysatoren vollkommen entgehen [28]. Die Fraktion dieser »schwer« messbaren Anionen (»unmeasured anions«) »füllt den Raum« zwischen SIDa und SIDe und wird demzufolge auch als »strong ion gap« (SIG) bezeichnet. SIG=SIDa–SIDe Normalwert: (47 meq/l) – (38,5 meq/l) = 8,5 meq/l
(16)
Das SIG ist von den Veränderungen der Plasmaalbuminkonzentration unabhängig. Im Gegensatz hierzu ist die Anionenlücke weitaus weniger spezifisch. Sie erfasst sowohl die Veränderungen der »unmeasured anions« als auch die Veränderungen der Plasmaproteine und des Laktats [29, 30]. Das vollkommen neue Verständnis für die Mechanismen der Veränderungen des Säure-Basen-Status im Stewart-Modell ergibt sich aus folgendem Axiom:
Abhängige Variablen, wie der pH-Wert – damit auch [H+] und [HCO3–] – können sich nur dann im Sinne einer Azidose oder Alkalose ändern, wenn sich zumindest eine der unabhängigen Variablen pCO2, [A–] oder SID verändert. Bei ausschließlich metabolischen Veränderungen (pCO2 konstant) sind der pH-Wert und damit auch die Bikarbonatkonzentration vollkommen determiniert von Veränderungen von [A–] und/oder der SID.
Eine metabolische Azidose wird demnach nur durch einen Anstieg von [A–] oder eine Abnahme der SID verursacht, eine metabolische Alkalose nur durch eine Verminderung von [A–] oder eine Zuname der SID. . Abb. 59.4 verdeutlicht beispielhaft die Entstehung einer metabolischen Azidose durch eine Abnahme der SID bei Hyperchloridämie und die einer metabolischen Alkalose durch Abnahme von [A–] bei Hypalbuminämie. Die Rolle des Bikarbonats als abhängige Größe wird hier klar ersichtlich: Werden dem System starke Anionen zugeführt, z. B. in Form von Chlorid, verkleinert sich die SID, [HCO3‒] muss aus Gründen der Elektroneutralität abnehmen. Kommt es zu einem Verlust an [A–], beispielsweise durch eine Abnahme des Serumalbumins, steigt die [HCO3‒] zur Wahrung der Elektroneutralität an. Selbstverständlich verändern sich hierbei auch die Konzentrationen der anderen abhängigen Ionen (z. B. [OH–]), diese sind jedoch aufgrund ihrer geringen Menge für das Gesamtsystem von kleinerer Bedeutung. Sollen die Veränderungen sämtlicher abhängigen Variablen in diesem Zusammenhang berechnet werden, folgt dies mathematisch gesehen einem Polynom 4. Ordnung. SID und [A–] müssen immer im Zusammenspiel betrachtet werden, da sie sich auch voneinander unabhängig verändern kön-
. Abb. 59.3. Normales Ioniogramm
751 59.3 · Pathophysiologie des Säure-Basen- Haushalts
59
. Abb. 59.4. Entstehung einer metabolischen Azidose durch Abnahme der SID bei Hyperchloridämie und Entstehung einer metabolischen Alkalose durch Abnahme von [A–] bei Hypalbuminämie
nen. So sind Konstellationen denkbar, in denen der BE Null ergibt oder das Bikarbonat mit 24 meq/l normal ist, aber dennoch eine hyperchloräme Azidose vorliegt, die jedoch vollständig durch eine hypoalbuminäme Alkalose überlagert wird. Im klinischen Alltag ist diese Situation keineswegs selten, entsteht sie doch z. B. nach der Verabreichung größerer Mengen kochsalzhaltiger Infusionslösungen ([Cl–] n) bei gleichzeitiger Verdünnung des Plasmaalbumins. Der klassischen Analytik entgeht eine solche Störung des Säure-Basen-Haushaltes vollkommen.
Stewarts Analytik in der wissenschaftlichen Diskussion Der Ansatz von Stewart bietet eine Reihe sehr interessanter Implikationen. So ist etwa die einwandfreie Funktion humaner Enzymsysteme nach Stewart nicht abhängig vom pH-Wert (7 s. oben), sondern von der SID und damit von den Konzentrationsverhältnissen der starken Ionen. Auch die bereits beschriebenen (7 Kap. 59.2.2) renalen Kompensationsmechanismen metabolischer Störungen müssen nach den Vorstellungen von Stewart aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Nicht die Sekretion von H+-Ionen und die Rückresorbtion von Bikarbonat sind hierbei die Zielgrößen der renalen Regulation, sondern Veränderungen der Plasma-SID durch Sekretion bzw. Rückresorbtion von Na+, Ka+und Cl–. Hier könnte sich möglicherweise ein Widerspruch zu unseren Kenntnissen über Protonenpumpen und Bikarbonattransportsystemen der Zellmembranen ergeben, die aktuell erforscht werden. Die außer Frage stehende Relation zwischen Fehlfunktionen der membranständigen Protonenpumpen und der RTA beispielsweise könnte ein Problem für Stewarts Analytik darstellen. Erste Arbeiten u. a. von Corey et al. [31] und Ring et al. [32] zeigen jedoch auf, dass Stewarts Theorem auch hier anwendbar sein könnte. So korrelierte in der Arbeit von Corey et al., die Patienten mit RTA einer Kochsalzbelastung aussetzten, der PlasmapH-Wert nicht wie erwartet mit der renalen Bikarbonatausscheidung, sondern mit der SID. Für die Intensivmedizin ebenfalls interessant sind die Arbeiten von Scheingraber et al. [33], Rehm et al. [34‒36] und Kellum et al. [37‒42], die sich mit dem Einfluss von Infusionslösungen auf den Säure-Basen-Haushalt befassten. Scheingraber et al. infundierten Patientinnen im »steady state« größere Mengen an NaCl-Lösung ([Na+] und [Cl–] je 154 meq/l; SID = 0) und stellten fest, dass die mit Hilfe des Stewart-Modells prognostizierten Veränderungen im Säure-Basen-Status (hyperchloräme Azidose) exakt eintrafen. Bei Infusion der gleichen Menge Ringer-Laktatlösung ([Na+]=129 meq/l; [Cl–]=109 meq/l; SID=27 meq/l) trat dieser
Effekt nicht ein. Hier wurde die metabolische Azidose (Zufuhr von Chloridionen) durch eine metabolische Alkalose (Abnahme des Serumalbumins) vollkommen kompensiert. Die Patientinnen blieben pH-stabil. Durch die oben genannten Arbeiten wurde der Begriff der »Dilutionsazidose« relativiert. Hierunter verstand man nach traditioneller Auffassung die Verdünnung von Bikarbonat im Extrazellulärraum durch bikarbonatfreie Elektrolytlösungen und eine sich hieraus ergebende Azidose. Die hier vorgestellten Arbeiten zeigen aber, dass, entsprechend der Terminologie von Stewart, nicht die Dilution von Bikarbonat, sondern Konzentrationsänderungen der Elektrolyte und Plasmaeiweiße als kausal für die Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt anzusehen sind. Rehm et. al. [34] beschäftigten sich in ihren Arbeiten u. a. mit dem Einfluss von hydroxyäthylstärke-und albuminhaltigen Infusionslösungen und konnten die Anwendbarkeit von Stewarts Analytik ebenfalls bestätigen. Kellum und andere Autoren untersuchten den Einfluss der hyperchlorämen Azidose auf die Organsysteme und fanden negative Auswirkungen auf Hämodynamik [38], NO-Freisetzung [43], Immunsystem [39], Perfusion der gastralen Schleimhäute [44] und Hämostase [45, 46]. Als Konsequenz dieser Studien werden von der pharmazeutischen Industrie in jüngster Zeit vermehrt sog. balancierte Infusionslösungen angeboten. Balancierte Infusionslösungen enthalten ein verstoffwechselbares Anion (z. B. Laktat oder Azetat). Hierdurch wird die SID der Lösung soweit herabgesetzt, dass die Verdünnung der Plasmaeiweiße und damit die Abnahme von [A–] gerade ausgeglichen wird. Der Säure-Basen-Haushalt des Patienten bleibt daher, auch nach Infusion mehrerer Liter dieser Lösungen, unbeeinflusst. Analog zu Untersuchungen bezüglich der Anionenlücke und des BE finden sich in der Literatur etliche Studien, die den prognostischen Wert des »strong ion gap« hinsichtlich der Mortalität von Intensivpatienten evaluierten. Balasubramanyan et al. [23], Gunnerson et al. [47] und Kaplan u. Kellum [48] sprachen dem SIG hierbei einen besseren prädiktiven Wert zu als den Parametern der klassischen Säure-Basen-Analytik. Andere Untersucher fanden keine Unterschiede [49]. Die Frage nach der klinischen Relevanz des Stewart-Modells kann aus heutiger Sicht noch nicht abschließend beantwortet werden. Es darf aber festgehalten werden, dass Stewarts Analytik ein zunehmendes Maß an Aufmerksamkeit und auch Akzeptanz erhält. Etliche Kritiker verneinen andererseits die Notwendigkeit einer neuen Säure-Basen-Analytik, da aus deren Applikation auch kein zweifelsfreier klinischer Vorteil zu erkennen sei [49, 50]. Fencl et al. [27] konnten jedoch zeigen, dass gerade bei
752
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
Intensivpatienten eine Vielzahl verschiedener »versteckter« metabolischer Säure-Basen-Störungen auftreten, die mit einem normalen BE oder einer normalen Bikarbonatkonzentration einhergehen und damit der traditionellen Analytik entgehen müssen. Etliche weitere Fragen sind bis heute unbeantwortet: Gibt es überhaupt Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes, die nur mit Hilfe der einen, nicht aber der anderen Analytik erklärt werden können? Lässt sich die Richtigkeit des einen oder anderen Ansatzes beweisen oder sind die Ansätze nicht lediglich komplementär und demzufolge beide, der »klassische« und der »quantitativ analytische«, völlig korrekt? In seiner Arbeit »Reunification of acid-base physiology« [14] zeigt Kellum beispielhaft auf, dass etliche Kenngrößen der »konkurrierenden« analytischen Systeme durch einfache mathematische Umformungen ineinander übergeführt werden können. So kann beispielsweise die SID auch als Maß und damit die Elektrolyte als wichtige Einflussgrößen für die durch Singer und Hastings eingeführte »Pufferbase« verstanden werden. Nimmt die SID ab, führt dies zu einer Azidose und vice versa [51]. 59.3.3 Respiratorische Störungen
Respiratorische Azidose
59
Der arterielle pCO2 repräsentiert prinzipiell das Verhältnis zwischen CO2-Produktion und alveolärer Ventilation:
paCO2 =
CO2 – Genese alveoläre Ventilation
(17)
Von wenigen Ausnahmen abgesehen (maligne Hyperthermie, thyreotoxische Krise, unausgewogene parenterale Ernährung) findet sich beim Intensivpatienten fast immer eine reduzierte alveoläre Ventilation als Ursache einer Hyperkapnie. Kausale Therapiemaßnahmen zielen daher selten auf eine verminderte CO2-Produktion (Dantrolene, Thyreostatika), sondern meist auf die Wiederherstellung einer adäquaten Ventilation (Reversion eines Relaxanzien-, Narkotika- oder Opioidüberhangs, evtl. Bronchodilatation). Ist dies nicht in ausreichendem Maß möglich, so ist die maschinelle Beatmung oft die einzig sinnvolle Therapieoption, da renale Kompensationsmechanismen erst verzögert einsetzen und ausgeprägte respiratorische Azidosen grundsätzlich nicht völlig kompensieren können.
Respiratorische Alkalose Auslöser einer respiratorischen Alkalose ist i. Allg. eine im Verhältnis zur CO2-Produktion inadäquat gesteigerte alveoläre Ventilation. Hierfür kommt eine ganze Reihe von Ursachen in Frage (. Tab. 59.4). Die Therapie erfolgt in der Regel durch die Behandlung der auslösenden Erkrankung. In seltenen Fällen (pH >7,6) kann die Gabe von HCL-Lösung notwendig sein. 59.4
Therapie der Störungen
Prinzipiell sollte bei Störungen des Säure-Basen-Haushaltes die Therapie der Grunderkrankung im Vordergrund stehen. Da dies
. Tabelle 59.4. Ursachen der respiratorischen Alkalose Respiratorische Alkalose
Ursachen
Zentral stimuliert
4 Schmerz 4 Angst 4 Fieber
Drogeninduziert
4 Salicylate 4 Analeptika 4 Progesteron
Peripher stimuliert
4 4 4 4 4
Iatrogen
4 Falsche Respiratoreinstellung
Hypoxämie Asthma Lungenembolien Anämie Kardiale Dekompensation
nicht in allen Fällen möglich ist, steht als symptomatische Therapieoption bei metabolischen Azidosen die Gabe alkalisierender Substanzen zur Verfügung. Natriumbikarbonat (NaBic) ist hierbei immer noch das am meisten eingesetzte Medikament, Trometamol (THAM, Trishydroxymethylaminomethan, R-NH2) kann eine Alternative darstellen.
Dosierung von NaBic NaHCO3 [mmol] = SBE u0,2 uKörpergewicht [kg]
(18)
Der Faktor 0,2 ergibt sich hierbei aus dem Anteil des EZR am Gesamtkörpergewicht.
Dosierung von THAM THAM [mmol] = SBE u0,3 uKörpergewicht [kg]
(19)
Der Faktor 0,3 resultiert hier daraus, dass das THAM-Molekül nur zu 70% in dissozierter (= wirksamer) Form vorliegt, die Dosierung also etwas höher gewählt werden muss. Zu beachten ist, dass sowohl THAM (3000 mmol/l) als auch Nabic (1000 mmol/l) hyperosmolare Lösungen sind! (. Tab. 59.5). i Pufferlösungen sollten nur über einen zentralen Venenkatheter infundiert werden.
Substanzunabhängig bestehen bei einer zu hohen Alkalizufuhr folgende Gefahren: 4 Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve mit dadurch erschwerter Sauerstoffabgabe an die Gewebe. 4 Entwicklung einer intrazellulären Azidose: Bei der Pufferung mit NaBic entsteht CO2. Dies kann, insbesondere bei hämodynamischer und/oder respiratorischer Instabilität, evtl. nicht ausreichend eliminiert werden und wird intrazellulär angereichert. Inwieweit diese potenzielle Gefahr im menschlichen Organismus tatsächlich von Bedeutung ist, ist allerdings unklar.
753 Literatur
59
. Tabelle 59.5. Wirkungsweise und Nebenwirkungen von Pufferlösungen Wirkungsweise nach klassischer Analytik
Wirkungsweise nach dem Stewart-Modell
Unerwünschte Wirkungen
Natriumbikarbonatlösung (8,4%)
Zufuhr von Bikarbonat: H+HCO3– l H2CO3 l CO2+H2O
Zufuhr des starken Kations Na+
4 Hypertone Lösung 4 Hypernatriämie 4 Hyperkapnie
THAM-Lösung (36,34%)
Produktion von HCO3–: + R–NH2+H2O+CO2 l R–NH3 + – HCO3
Entstehung eines »unmeasured kation« + THAM+(R-NH3 )
4 4 4 4 4
! Cave Der intrazelluläre Säure-Basenstatus wird durch eine Blutgasanalyse nicht erfasst.
»Klassische« und »moderne« Analytik gehen von völlig unterschiedlichen Wirkmechanismen einer »Pufferlösung« aus (. Tab. 59.5). Nach Stewarts Terminologie ist die Zufuhr bzw. die Produktion von Bikarbonat – einer abhängigen Variablen – für die Veränderung von pH und HCO3‒ völlig irrelevant. Durch die Infusion von NaBic steigen SIDa und SIDe [35], der »Kationenpool« vergrößert sich. Damit ist die Infusion des starken Ions Natrium, nicht aber die Zufuhr von Bikarbonat als Ursache der pH-Wertveränderung anzusehen. Im Falle der THAM- Infusion postulierten Rehm u. Finsterer [35] das Entstehen eines positiv geladenen THAM-Moleküls (THAM+), ein mit herkömmlichen Methoden nicht messbares starkes Ion, das ebenfalls den »Kationenpool« vergrößert und so auf der Seite der Anionen »Raum« schafft für eine Vergrößerung der SID. > Fazit Die Analytik des Säure-Basen-Haushalts hat, seit Erkennung der enormen Bedeutung metabolischer Störungen für den menschlichen Organismus, immer wieder zu teils enthusiastischen, teils sehr kontroversen Diskussionen geführt, wie z. B. im Rahmen der klassischen »Great trans-Atlantic acid-base debate« oder bei Einführung der Stewart-Analytik. Dem Thema »Säure-Basen-Haushalt« wird in der Zukunft noch viel Aufmerksamkeit zuteil werden. Arbeiten wie die »Reunification of acid-base physiology« [14] stellen wichtige Grundlagen zukünftiger Forschung dar, deren Ergebnisse mit Spannung erwartet werden können.
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754
59
Kapitel 59 · Säure-Basen Status
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60 Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren R. Schindler, K.-U. Eckardt, U. Frei
60.1
Einleitung
60.2
Grundlagen der Nierenfunktion
–756
60.3
Pathophysiologie und Ätiologie
–756
60.3.1 60.3.2 60.3.3
Prärenales akutes Nierenversagen –756 Intrinsisches akutes Nierenversagen –758 Postrenales Nierenversagen –759
60.4
Diagnostik
60.5
Ätiologische Zuordnung
60.6
Verlauf und Komplikationen
60.7
Prävention
60.8
Therapie
–762
60.9
Prognose
–763
60.10
Indikationen für extrakorporale Ver fahren
60.11
Transportmechanismen
60.12
Zugangsmöglichkeiten für extrakorporale Ver fahren
60.13
Definition und Prinzipien der extrakorporalen Ver fahren
60.14
Differenzialindikation der extrakorporalen Ver fahren – intermittierend oder kontinuierlich? –768
60.15
Dialysemembranen und Membranauswahl beim akuten Nierenversagen –768
60.16
Antikoagulation
60.17
Extrakorporale Ver fahren bei Intoxikationen Literatur
–756
–759 –759 –761
–762
–769
–764
–764
–768 –769
–765 –766
756
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
60.1
Einleitung
Eine akute Einschränkung der Nierenfunktion bis hin zum dialysepflichtigen Nierenversagen ist eine sehr häufige Komplikation bei Intensivpatienten. Obwohl das akute Nierenversagen (ANV), verglichen mit anderen Organversagen, technisch relativ einfach zu überbrücken ist, liegt die Mortalität von Patienten mit ANV bei etwa 50% und hat sich seit Einführung der Nierenersatztherapie nicht wesentlich verbessert. Diese ungünstige Prognose beruht zu einem großen Teil darauf, dass das Auftreten eines ANV Ausdruck des Schwergrades der Grunderkrankung und der Multimorbidität von Intensivpatienten ist (Patienten sterben »mit«, aber nicht »am« ANV). Daneben gibt es auch Hinweise dafür, dass das ANV selbst einen unabhängigen Risikofaktor darstellt. Nach Herzchirurgie steigert ein ANV die kurzfristige 28-Tage-Mortalität um den Faktor 8 [1], unabhängig von der Komorbidität des Patienten. Auch Nierenschäden, die noch kein Nierenersatzverfahren erfordern und die anhand der sog. RIFLE-Kriterien klassifiziert werden, haben eine Auswirkung auf die kurzfristige Mortalität [2]. Daher bevorzugen manche Autoren die Bezeichnung »acute kidney injury« (AKI) anstelle von ANV, um anzudeuten, dass nicht erst ein dialysepflichtiges ANV Konsequenzen nach sich zieht, sondern bereits leichtere Einschränkungen der Nierenfunktion.
tung der Niere setzt allerdings eine intakte Funktion der Tubulusepithelien voraus und geht bei Tubuluszellschädigung verloren, sodass sich aus einfacher Urinanalytik Hinweise auf den Funktionszustand ergeben können (7 Kap. 60.4: »Diagnostik«). Kreatinin und Harnstoff. Kreatinin und Harnstoff, deren Serumspiegel die üblichen Indikatoren der Nierenfunktion sind, werden frei filtriert, und ihre Konzentration im Primärharn entspricht der Serumkonzentration. Kreatinin wird zusätzlich im Verlauf der Nephronpassage aus dem Tubulusepithel in das Lumen sezerniert, Harnstoff wird dagegen zu 35–50% reabsorbiert. Diese Rückresorption ist an die Natriumrückresorption gekoppelt. Ein im Vergleich zum Serumkreatinin disproportionaler Anstieg der Serumharnstoffkonzentration kann deshalb ebenfalls auf eine Stimulation der Rückresorptionsmechanismen hinweisen.
Beispiel S-Kreatinin 2 mg/dl bei S-Harnstoff 300 mg/dl spricht für Volumenmangel bzw. Exsikkose.
60.3 60.2
60
Pathophysiologie und Ätiologie
Grundlagen der Nierenfunktion
Im gesunden Organismus werden beide Nieren pro Minute mit ca. 1100 ml Blut, d. h. ca. 600 ml Plasma perfundiert. Ungefähr 20% des Plasmas (120 ml/min) wird während der Passage durch die Glomeruli abfiltriert, entsprechend einer Gesamtprimärharnmenge von etwa 170 l/Tag. Je nach Zufuhr und aktuellen Erfordernissen werden im Verlauf der Nephronpassage aus dem Primärharn 95–99,5% des Wassers und Natriums, 85–95% des Kaliums und nahezu 100% des Bikarbonats rückresorbiert. Die Regulation des renalen Blutflusses (RBF), der glomerulären Filtrationsrate (GFR) und der Nettorückresorptionsraten unterliegt komplexen Mechanismen, die z. T. in der Niere selbst lokalisiert sind und z. T. durch nervale oder humorale Stimuli von außen auf die Niere einwirken. Renale Regulationsmechanismen. Zu diesen Mechanismen
gehört das Prinzip der renalen Autoregulation, durch das RBF und GFR über einen weiten Bereich unabhängig vom Perfusionsdruck sind. Außerdem gehört das sympathische Nervensystem dazu, dessen Aktivierung direkt oder indirekt über eine Stimulation des Renin-Angiotensin-Systems die Natriumrückresorption im proximalen und distalen Tubulus steigert. Das Renin-Angiotensin-System wird außer durch Sympathikusaktivierung durch Abfall des renalen Perfusionsdruckes und eine Abnahme des Natrium-Loads im distalen Tubulus stimuliert. Das antidiuretische Hormon, das durch einen Anstieg der Plasmaosmolalität, aber auch durch Volumenmangel stimuliert wird, steigert die Wasserrückresorption. Ein Abfall des effektiv zirkulierenden Volumens führt durch Stimulation des Sympathikus, durch Abfall des renalen Perfusionsdruckes und durch volumenabhängige Stimulation der ADH-Sekretion zu einer gesteigerten Natrium- und Wasserrückresorption, sodass nur wenig konzentrierter Urin mit niedriger Natriumkonzentration produziert wird. Die Konzentrationsleis-
In Hinblick auf die Pathogenese des ANV hat sich eine Einteilung in 3 Kategorien bewährt (. Tab. 60.1): 4 Störungen der renalen Perfusion, bei denen das Nierenparenchym (noch) nicht geschädigt ist (prärenales ANV), 4 Funktionsstörungen des Nierenparenchyms infolge einer anhaltenden und schweren renalen Minderfusion, einer im weitesten Sinne toxischen Zellschädigung oder einer primär renalen Erkrankung (renales oder intrinsisches ANV), 4 akute Obstruktion der ableitenden Harnwege (postrenales ANV). 60.3.1 Prärenales akutes Nierenversagen Als prärenales ANV bezeichnet man eine funktionelle Nierenfunktionseinschränkung infolge einer renalen Hypoperfusion, die nach Normalisierung der renalen Durchblutung unmittelbar reversibel ist. Das Nierentubulusepithel ist dabei nicht geschädigt. Diese Form der Nierenfunktionseinschränkung kann man als Ausdruck einer maximalen renalen Volumenkonser vierung zugunsten der kardialen und zerebralen Perfusion ansehen. Anhaltende und schwere Minderperfusion der Nieren kann im weiteren Verlauf aber zu einem ischämischen intrinsischen Nierenversagen führen. Dabei wird die Niere gewissermaßen vom »Abwehr-« zum »Zielorgan« gestörter Hämodynamik.
Pathomechanismen Ein prärenales ANV kann im Zusammenhang mit unterschiedlichen hämodynamischen Störungen wie Hypovolämie, Herzinsuffizienz, systemischer Vasodilatation und selektiver renaler Vasokonstriktion auftreten. Eine Hypovolämie, die ausreichend ist, um ein ANV her vorzurufen, kann sich im Rahmen von Blutverlusten (gastrointestinal, chirurgisch oder traumatisch),
757 60.3 · Pathophysiologie und Ätiologie
60
. Tabelle 60.1. Klassifikation der Ursachen des akuten Nierenversagens Prärenales Nierenversagen 4 Hypovolämie – Blutungen, Verbrennungen, Dehydratation, Fieber – Externe Flüssigkeitsverluste – gastrointestinal: Erbrechen, Diarrhö, Drainagen – renal: Diuretika, osmotische Diurese (z. B. Diabetes mellitus) – Sequestration von Flüssigkeit in den 3. Raum – Pankreatitis, Peritonitis, Trauma, Verbrennungen – Peripartale Komplikationen 4 Niedriges Herzzeitvolumen – Vaskuläre oder valvuläre Herzerkrankungen, Herzbeuteltamponade, Herzrhythmusstörungen, Lungenarterienembolie, PEEP-Beatmung 4 Erhöhter intrarenaler Gefäßwiderstand – Sepsis, Katecholamintherapie, Medikamente (Amphotericin B, Cyclosporin), Leberzirrhose 4 Renale Hypoperfusion bei gestörter Autoregulation – Zyklooxygenasehemmer, ACE-Hemmer Intrinsisches Nierenversagen 4 Ischämisches/toxisches Nierenversagen – Ischämie-Komponente: wie bei prärenalem Nierenversagen – toxische Komponente: Röntgenkontrastmittel, Antibiotika (z. B. Aminoglykoside, Amphotericin B), Chemotherapeutika (z. B. Cisplatin), Cyclosporin, Ethylenglykol, Paracetamol, Myoglobin, Hämoglobin, Harnsäure, Oxalat, Entzündungsmediatoren 4 Renovaskuläre Erkrankungen – Nierenarterienthrombose oder -embolie, dissezierendes Aortenaneurysma, Cholesterinembolie 4 Primär renale Erkrankungen/renale Beteiligung bei Systemerkrankungen – akute Glomerulonephritis, Vaskulitis, hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS), thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), disseminierte intravasale Gerinnung (DIC), Sklerodermie – akute interstitielle Nephritis – allergisch: Antibiotika (z. B. β-Laktam-Antibiotika, Rifampicin, Sulfonamide), Diuretika, Zyklooxygenasehemmer – infektiös: bakterielle Infektionen (Pyelonephritis, Leptospirose), Virusinfekte (CMV), Pilzinfektionen 4 Intratubuläre Obstruktion – Myelomproteine, Harnsäure, Oxalat, Aciclovir, Methotrexat, Sulfonamide Postrenales Nierenversagen 4 Ureterobstruktion – Urolithiasis, Papillennekrosen, Malignome, externe Kompression durch retroperitoneale Hämatome, retroperitoneale Fibrose 4 Obstruktion im Bereich der Harnblase – neurogene Blase, Prostatahyperplasie, Urolithiasis, Malignome, Blutkoagel 4 Obstruktion der Urethra – Striktur, angeborene Urethralklappen, Phimose
Verbrennungen, Dehydratation, pathologisch gesteigerten gastrointestinalen, aber auch renalen Flüssigkeitsverlusten oder Sequestration von Flüssigkeit in den Extrazellulärraum (z. B. bei Aszites, Verbrennungen, Pankreatitis, Verletzungen) entwickeln. Auch eine Verminderung des effektiv zirkulierenden Volumens trotz normalem oder erhöhtem Extrazellulärvolumen wie bei Herzinsuffizienz oder systemischer Vasodilatation (z. B. bei Sepsis) kann ein prärenales Nierenversagen hervorrufen. Zu einer Nierenfunktionseinschränkung kommt es in diesen Situationen dann, wenn die Autoregulationsmechanismen überfordert werden, die die GFR bei abfallendem Nierenperfusionsdruck zunächst noch aufrechterhalten. An diesen Kompensationsmechanismen sind Prostaglandine und das ReninAngiotensin-System beteiligt. Deshalb können Hemmstoffe der Prostaglandinsynthese wie die nichtsteroidalen Antiphlogistika und ACE-Hemmer bei schon beeinträchtigter renaler Hämodynamik ein Nierenversagen auslösen. Auch Röntgenkontrastmit-
tel, Ciclosporin, Amphotericin B, Katecholamine und auch Sepsismediatoren können u. a. durch intrarenale Vasokonstriktion die Nierenperfusion beeinträchtigen.
Hepatorenales Syndrom Besonders relevant ist eine renale Minderperfusion auch bei Patienten mit Leberzirrhose und anderen Lebererkrankungen. Intrarenale Vasokonstriktion und stark stimulierte Natriumrückresorption sind die Charakteristika des »hepatorenalen Syndroms«. Obwohl das Auftreten eines hepatorenalen Syndroms häufig Zeichen eines Terminalstadiums einer fortgeschrittenen Lebererkrankung ist, ist die Nierenfunktionsstörung grundsätzlich reversibel, falls sich die Leberfunktion von einer akuten Verschlechterung erholt oder die Patienten lebertransplantiert werden. In manchen Fällen kommt es auch nach TIPSS-Anlage (transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt) zu einer Nierenfunktionsverbesserung.
758
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsver fahren
ANV und ARDS Unter Umständen muss die Entwicklung eines prärenalen Nierenversagens auch im Rahmen der Behandlung einer vital bedrohlicheren Komplikation in Kauf genommen werden. Die Therapie des Lungenversagens beispielsweise kann eine so intensive Dehydratation erfordern, dass manche Patienten ein Nierenversagen entwickeln.
Dies führt dazu, dass bereits bei normaler Nierenperfusion die O2-Versorgung von Tubulusabschnitten mit hohem Energieverbrauch und fehlender Kapazität zu anaerober Energiegewinnnung, wie dem späten proximalen Tubulus und der aufsteigenden Henle-Schleife, nur grenzwertig ist. Bei einem Perfusionsabfall kommt es leicht zu einer Mangelversorgung dieser Strukturen. Vasokonstriktion. Zu einer ischämischen Nierenschädigung
60.3.2 Intrinsisches akutes Nierenversagen
60
Das intrinsische ANV oder ANV im engeren Sinne kennzeichnet ein mit Tubuluszellschädigung einhergehendes Nierenversagen, das in der Regel 1–2 Wochen, manchmal aber auch deutlich länger anhält und sich dann in über 90% der Fälle allmählich zurückbildet. Diese Form des Nierenversagens wird im englischen Sprachgebrauch häufig als »acute tubular necrosis« bezeichnet, was nicht ganz korrekt ist, da in vielen Fällen keine ausgedehnten Nekrosen nachweisbar sind. Vermutlich werden Tublusepithelien häufig nur subletal geschädigt, oder es wird eine andere Form des Zelltodes, eine Apoptose, induziert, die nicht mit den Zeichen einer Nekrose einhergeht [3]. Bei Intensivpatienten lässt sich das intrinsische Nierenversagen heute nur noch selten auf einen einzigen Schädigungsmechanismus der Niere zurückführen. Es tritt vielmehr typischerweise dann auf, wenn mehrere schädigende Faktoren auf die Nieren einwirken und nicht selten auch bereits eine chronische Nierenfunktionseinschränkung vorbesteht (. Abb. 60.1). Obwohl die Rolle verschiedener pathogenetischer Faktoren im Einzelfall schwer abzugrenzen ist, kann man grundsätzlich zwischen einer ischämischen und einer im weitesten Sinne toxischen Nierenschädigung unterscheiden.
Ischämisches ANV Verminderte Perfusion. Ein ischämisches Nierenversagen kann sich leicht aus einer prärenalen Nierenfunktionseinschränkung entwickeln. Dies hängt mit der aufgrund ihrer Gefäßstruktur in manchen Organabschnitten niedrigen Sauerstoffspannung der Niere zusammen. Arterielle und venöse Gefäße laufen über lange Strecken in engem Kontakt parallel zueinander, sodass es präkapillär zu einer Shuntdiffusion von O2 aus den arteriellen in die venösen Gefäße kommt. Dadurch ist der O2-Partialdruck in weiten Bereichen des Nierengewebes sehr viel niedriger als der vergleichsweise hohe O2-Partialdruck in der Nierenvene.
kann es nicht nur bei Abfall des systemischen Blutdrucks kommen, sondern auch aufgrund einer intrarenalen Dysbalance zwischen vasokonstriktorischen Substanzen (z. B. Endothelin) und vasodilatatorischen Substanzen (z. B. NO), wie sie vermutlich u. a. durch generalisierte Entzündungszustände induziert wird. Reperfusion. Darüber hinaus kann ein ANV nicht nur während
der Phase der renalen Minderperfusion, sondern auch durch eine anschließende Reperfusion induziert werden. Im Mittelpunkt eines Reperfusionsschadens steht eine gesteigerte Adhäsion von Leukozyten an Endothelzellen und deren nachfolgende Infiltration des Nierengewebes, die zur Funktionsbeeinträchtigung führt. Auswirkungen auf die Harnproduktion. Nicht ganz klar ist, wie eine ischämische Nierenschädigung trotz einer nicht völlig unterbrochenen Nierenperfusion zu einem kompletten Ausfall der Harnproduktion führen kann. Eine Störung der glomerulären Filtrationsbarriere kann dabei ebenso eine Rolle spielen wie ein »backleak« von abgefiltertem Primärharn in das Interstitium durch einen geschädigten Tubulusepithelverband. Außerdem können sich noch vitale Tubuluszellen aus dem Epithelverband lösen und im Tubuluslumen mit bestimmten Proteinen aggregieren und so zu einer intratubulären Obstruktion führen.
Toxisches ANV Neben der Ischämie sind nephrotoxische Substanzen, allein oder in Kombination mit einer aus anderen Gründen reduzierten Nierenperfusion, die häufigsten Ursachen eines ANV. Aminoglykosidantibiotika, Röntengenkontrastmittel und Chemotherapeutika wie Cisplatin sind die klinisch wichtigsten tubulotoxischen Substanzen. Hämproteine, die bei Rhabdomyolyse oder Hämolyse (z. B. bei Transfusionszwischenfällen) freigesetzt werden, führen insbesondere bei gleichzeitiger Hypovolämie und Azidose zu Tubuluszellschädigung und intratubulärer Obstruktion. Auch bei Hyperurikämie infolge eines Zellzerfalls im Rahmen der Therapie maligner Erkrankungen, bei Hyperoxalurie oder nach intravenöser Gabe von Methotrexat, Aciclovir und Sulfonamiden kann es zu intratubulärer Obstruktion kommen. Leichtkettenproteine bei monoklonalen Gammopathien sind ebenfalls tubulotoxisch, und ihre Ausscheidung prädisponiert zum ANV.
Vaskuläre und entzündliche Nierenerkrankungen mit dem Bild eines ANV
. Abb. 60.1. Multifaktorielle Ursachen des ANV
Neben den klassischen Ursachen eines ischämischen oder toxischen Nierenversagens können unterschiedliche Erkrankungen der Nierengefäße, der Glomeruli und des Niereninterstitiums zu einem akuten Nierenversagen führen. Bei Patienten mit fortgeschrittener Arteriosklerose können arteriosklerotische Stenosen der Nierenarterien vorliegen. Außerdem können in Zusammenhang mit einem Trauma oder nach
759 60.4 · Diagnostik
Eingriffen wie einer Herzkatheteruntersuchung Anteile sklerotischer Plaques aus der Aortenwand abgelöst werden und kleine und mittlere Arterien der Niere verstopfen (Cholesterinembolie), eine lokale Entzündung induzieren und zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion bis hin zum ANV führen. Diese Form des Nierenversagens ist meistens nicht reversibel. Zu anderen mikrovaskulären Erkrankungen der Niere, die zu einem Nierenversagen führen können, gehören: 4 akute Glomerulonephritiden, 4 Vaskulitiden, 4 hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS), 4 thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), 4 disseminierte intravasale Gerinnung (DIC), 4 maligne Hypertonie. Die partielle oder komplette Obstruktion von Arteriolen und Glomeruluskapillaren führt dabei zu glomerulärer Hypoperfusion mit Abfall der GFR. Pharmaka, insbesondere Antibiotika (z. B. Cotrimoxazol), nichtsteroidale Antiphlogistika, ASS und Diuretika können ein ANV auch dadurch auslösen, dass sie eine akute allergische interstitielle Nephritis induzieren. Gelegentlich kann es auch in Zusammenhang mit Infektionen und malignen Erkrankungen zu einer interstitiellen Nephritis mit Nierenversagen kommen. 60.3.3 Postrenales Nierenversagen Eine Obstruktion der ableitenden Harnwege ist insgesamt die seltenste Ursache eines ANV. Da die Ausscheidungsfähigkeit einer Niere normalerweise ausreichend ist, muss die Obstruktion dabei entweder beide Harnleiter betreffen, distal der Blase liegen, oder mindestens eine Niere muss eine relevante Vorschädigung aufweisen. Eine Blasenhalsobstruktion kann infolge einer Prostataerkrankung, bei neurogener Blasenentleerungsstörung oder auch nach Anticholinergika auftreten. Bei Patienten mit Blasenkatheter kann es u. a. durch Blutungen in die Harnblase zu einer Abflussbehinderung des Urins kommen. Als mögliche Ursachen für eine Obstruktion der Ureteren sind u. a. Harnleitersteine, retroperitoneale Blutungen, Tumoren und Eingriffe im kleinen Becken in Betracht zu ziehen. 60.4
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Erste Anstiege, u. U. noch innerhalb des Normbereichs, werden häufig übersehen, wären aber wesentlich, um den Zeitpunkt der Nierenschädigung einzugrenzen. Für frühe Veränderungen ist das Kreatinin jedoch kein guter Marker. Die Serumkreatininkonzentration wird, außer durch die Nierenfunktion, auch durch die Muskelmasse und eine eventuelle Muskelschädigung bestimmt und der Harnstoffspiegel u. a. durch Proteinzufuhr und Proteinkatabolismus, was bei der Interpretation der Werte berücksichtigt werden muss. Beispiel Eine 52 kg schwere 78-jährige Frau weist bei einem SKreatininwert von 1,4 mg/dl eine GFR von 27 ml/min auf, während bei einem 98 kg schweren 24-jährigen Mann, ebenfalls mit einem S-Kreatinin von 1,4 mg/dl, eine GFR von 113 ml/min nachweisbar ist.
Im »steady state« erlauben bestimmte Formeln eine Abschätzung der GFR anhand des S-Kreatinins und anderer Faktoren. Empfohlen wird derzeit die sog. »MDRD-Formel« [4], die in der vereinfachten Form neben dem S-Kreatinin das Alter und das Geschlecht erfasst. Die MDRD-Formel gilt mit Einschränkungen, z. B. nur bei GFR zwischen10 und 60 ml/min und normaler Muskelmasse. Wegen der Komplexität der Formel müssen Internet-basierte GFRKalkulatoren zu Hilfe gezogen werden (http://mdrd.com). Die von Cockroft und Gault entwickelten Formeln erlauben eine Abschätzung der GFR aufgrund des Serumkreatininwerts [mg/dl] unter Berücksichtigung von Lebensalter (Jahre), Körpergewicht [kg] und Geschlecht: Vereinfachte MDRD-Formel zur Errechnung der GFR (http://mdrd.com): 186,3 u (Kreatinin–1,154) u (Lebensalter–0,203) u 0,742 (für Frauen)
Cockroft-Formel zur Errechnung der GFR 5 Männer: 5 Frauen:
GFR = (140–Alter) u Körpergewicht 72/Serumkreatinin GFR = (140–Alter) u Körpergewicht u0,85 72/Serumkreatinin
Diagnostik
Das ANV kann oligurisch (Diurese <400 ml/Tag) oder nichtoligurisch verlaufen. Patienten mit nichtoligurischem ANV haben eine bessere Prognose, vermutlich in erster Linie, weil die schädigende Ursache weniger schwerwiegend ist.
Anstieg der harnpflichtigen Substanzen, GFR Üblicherweise ist das ANV primär asymptomatisch und wird bei hospitalisierten Patienten in der Regel aufgrund eines Anstiegs der harnpflichtigen Substanzen im Serum oder eines Rückgangs der Diurese diagnostiziert. i Kreatinin- und Harnstoffkonzentration im Serum stehen in exponentiellem Zusammenhang mit der GFR und übersteigen den jeweiligen Normbereich erst bei mehr als ca. 50%iger Reduktion der Nierenfunktion.
60.5
Ätiologische Zuordnung
Wenn eine Nierenfunktionseinschränkung oder -verschlechterung festgestellt wird, sollten soweit wie möglich deren Ursache und Verlauf eruiert werden und eine ätiologische Zuordnung erfolgen.
Sonographie In jedem Fall sollte eine Sonographie durchgeführt werden, um zum einen ein postrenales Nierenversagen auszuschließen und zum anderen in Ergänzung zu Anamnese und zurückliegenden Laborbefunden nach morphologischen Hinweisen für eine chronische Vorschädigung der Nieren zu suchen. Die sonographischen Zeichen eines chronischen Nierenparenchymschadens sind eine unregelmäßige Nierenkon-
760
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
. Tabelle 60.2. Diagnostische Parameter zur Differenzierung zwischen prärenalem und intrinsischem ANV (die angegebenen Werte beziehen sich auf Konzentrationsangaben von Harnstoff und Kreatinin in mg/dl) Parameter
Prärenales ANV
Intrinsisches ANV
Rückresorption
Maximal stimulierte Rückresorption
Gestörte Rückresorption
Urinvolumen
Niedrig
Kann niedrig sein
[Na+]Urin
<10–20 mmol/l
>40 mmol/l
OsmolalitätUrin
>500 mosmol/l
<350 mosmol/l
FENA+
<1%
>1%
FEHarnstoff
<35%
>35%
[Kreatinin]Urin/[Kreatinin]Serum
>40
<20
[Harnstoff ]Urin/[Harnstoff ]Serum
>8
<3
[Harnstoff ]Serum/[Kreatinin]Serum
>40
<20–30
tur, reduzierte Nierengröße und verschmälerter Parenchymsaum. Bei diabetischer Nephropathie und Amyloidose kann die Nierengröße allerdings trotz Parenchymschadens normal sein.
60
i Der typische sonographische Befund eines ANV sind eher große, geschwollene Nieren mit echoarmer Demarkierung der Pyramiden.
Die fraktionelle Exkretion (FE) von Natrium oder Harnstoff gibt den Anteil des filtrierten Natriums oder Harnstoffs an, der mit dem Urin ausgeschieden wird [Na+]Urin [mmol/l] u [Kreatinin]Serum [mg/dl] FENa+%) = [Na+] [mmol/l] u [Kreatinin] [mg/dl] u100 Serum
Urin
Die fraktionelle Harnstoffexkretion (FEHarnstoff ) wird analog berechnet.
Anamnestische Hinweise Auf eine prärenale Ursache des Nierenversagens weisen vorangegangene oder andauernde Blutungen oder Flüssigkeitsverluste hin (z. B. enteral, renal oder bei Verbrennungen), insbesondere wenn die freie Flüssigkeitszufuhr behindert ist, wie bei bewusstlosen oder sedierten Patienten. Zu den klinischen Zeichen gehören Tachykardie, Hypotension, verminderter Hautturgor und trockene Schleimhäute. In komplizierten Fällen kann zur Beurteilung des »effektiv« zirkulierenden Volumens auch ein invasives hämodynamisches Monitoring nötig sein. Letztendlich kann die Diagnose aber nur dann sicher gestellt werden, wenn die Wiederherstellung der renalen Perfusion unmittelbar zu einer Verbesserung der Nierenfunktion führt.
Urinanalytik Zur Differenzialdiagnose zwischen noch funktionellem prärenalem und intrinsischem Nierenversagen kann bei nicht völlig anurischen Patienten auch eine Urinprobe allein oder in Verbindung mit den Serumkonzentrationen von Natrium, Kreatinin und Harnstoff helfen (. Tab. 60.2). Anhand unterschiedlicher Parameter lässt sich dabei die aktuelle Konzentrationsleistung der Nieren erfassen und so häufig eine prärenale Funktionsstörung mit intakter Tubulusfunktion von einem intrinsischen Nierenversagen unterscheiden. Allein die Urinnatriumkonzentration, die mit hinreichender Genauigkeit mit entsprechenden Elektroden in Blutgasanalysatoren gemessen werden kann, erlaubt schon eine schnelle Orientierung.
Falls – wie meistens der Fall – vor Urinanalytik bereits Schleifendiuretika verabreicht wurden, ist die Natriumexkretion im Urin nicht mehr sehr aussagekräftig. In diesem Fall sollte die Harnstoffexkretion bestimmt werden. i Die Bestimmung von Natrium, Harnstoff und Kreatinin im Spontanurin sind die wichtigsten und leicht zu erhebenden Parameter.
Die Bestimmung des Urinvolumens hilft wenig bei der Differenzialdiagnose des ANV. Ein funktionelles prärenales Nierenversagen geht zwar immer mit Oligo- oder Anurie einher, ein intrinsisches Nierenversagen kann aber, unabhängig von der Ursache, oligoanurisch oder nichtoligurisch verlaufen. Bei nichtoligurischem Verlauf kann die Nierenfunktion noch partiell erhalten sein, und sie erholt sich in der Regel schneller. Auch ein postrenales Nierenversagen kann bei inkomplettem oder intermittierendem Harnwegsverschluss nichtoligurisch oder sogar polyurisch verlaufen. Im Urinsediment finden sich bei prärenalem Nierenversagen typischerweise wenig Zellen und u. U. hyaline Zylinder. Ein postrenales Nierenversagen geht häufig mit Hämaturie oder Pyurie einher. Beim ischämischen oder nephrotoxischen intrinsischen Nierenversagen finden sich granulierte Zylinder. Bei Myoglobinurie und Hämoglobinurie können Pigmentzylinder vorkommen. Die Proteinausscheidung beim ANV liegt in der Regel <1 g pro 24 h.
Weiter führende Diagnostik Immer dann, wenn die Entstehung eines ischämischen oder nephrotoxischen ANV aus Anamnese und Verlauf eines Patienten
761 60.6 · Verlauf und Komplikationen
nicht weitgehend plausibel ist, muss ohne Verzögerung eine intensivierte nephrologische Diagnostik erfolgen, um primär renale Erkrankungen oder eine Nierenbeteiligung im Rahmen einer Systemerkrankung auszuschließen. Dazu gehört u. a. neben der Urinmikroskopie die Quantifizierung einer Proteinurie, die Bestimmung von Antikörpern gegen glomeruläre Basalmembranen (Anti-GBM) und von Zellkernbestandteilen (ANA, ANCA), die Messung von Komplementfaktoren (C3, C4) und Kryoglobulin im Plasma, außerdem bei Verdacht auf mikroangiopathische Erkrankungen (hämolytisch-urämisches Syndrom) die Suche nach Fragmentozyten im Blutausstrich sowie ggf. selten auch eine Nierenbiopsie. Eine schnelle Diagnose innerhalb weniger als 48 h ist in solchen Fällen entscheidend, um je nach zugrunde liegender Erkrankung eine Therapie, beispielsweise mit Immunsuppressiva und/oder Plasmapherese, einzuleiten. Dies kann für die Wiederkehr der Nierenfunktion entscheidend sein. Besteht der Verdacht auf einen Nierenarterien- oder Nierenvenenverschluss, muss zumindest eine Dopplersonographie, bei unklarem Befund evtl. auch eine Angiographie erfolgen. 60.6
Verlauf und Komplikationen
Das ANV beeinträchtigt die renale Ausscheidung von Natrium, Kalium und Wasser, die Homöostase des Kalzium- und Phosphathaushalts und die renale Säureexkretion. Demzufolge kann das Nierenversagen mit Hypervolämie, Hyponatriämie, Hyperkaliämie, Hyperphosphatämie, Hypokalzämie, Hypermagnesiämie und metabolischer Azidose einhergehen. Die verminderte Ausscheidung von Abbauprodukten aus dem Stickstoffmetabolismus führt zur Urämie. Hyperhydratation. Bei oligo-/anurischem Verlauf droht bei unverminderter Flüssigkeitszufuhr eine Überwässerung mit Beeinträchtigung des pulmonalen Gasaustauschs. Die Volumenüberladung ist insbesondere dann ein Problem, wenn zahlreiche Medikamente und Ernährungslösungen kontinuierlich parenteral verabreicht werden oder wenn zur Pufferung einer metabolischen Azidose Natriumbikarbonat gegeben wird. Bei Zufuhr hypotoner Flüssigkeit kann die Störung der Wasserausscheidung außerdem zur Hyponatriämie führen. Hyperkaliämie. Eine Hyperkaliämie gehört zu den bedrohlichs-
ten Komplikationen eines ANV. Die Nieren sind neben dem Kolon entscheidend für die Ausscheidung von Kalium. Die Therapie kann bestehen aus Gabe von Glukose/Insulin, Gabe von 10%-igem Kalziumglukonat i.v., Ausgleich der Azidose durch Bikarbonat, inhalativen E1-Mimetika, Diuretika oder Hämodialyse. Wenn sich eine Hyperkaliämie bei Patienten mit nichtoligurischem ANV entwickelt, spielen in der Regel zusätzliche Faktoren wie vermehrte Kaliumfreisetzung durch Gewebeschädigung, überhöhte Zufuhr oder schwere Azidose eine Rolle. Auch Aldosteronantagonisten können bei eingeschränkter Nierenfunktion zu einer nach Absetzen der Präparate noch mehrere Tage anhaltenden Hyperkaliämie führen. Eine mäßige Hyperkaliämie (<6 mmol/l) verläuft in der Regel asymptomatisch. Höhere Kaliumspiegel führen zu EKGVeränderungen wie erhöhten T-Wellen, verlängertem PQ-In-
60
tervall und Verbreiterung der QRS-Komplexe und können eine Vielzahl lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen auslösen (Bradykardie, totaler AV-Block, ventrikuläre Tachykardie, Kammerflimmern und Asystolie). Darüber hinaus kann eine Hyperkaliämie zu neuromuskulären Störungen mit Paresen, Hyporeflexie, Schwäche und Ateminsuffizienz führen. Eine Hypokaliämie ist beim ANV selten, kann aber bei nichtoligurischen Verläufen vorkommen. Metabolische Azidose. Die im Rahmen des Proteinmetabolis-
mus anfallenden H+-Ionen werden von der gesunden Niere über unterschiedliche Mechanismen ausgeschieden, und das filtrierte HCO3– wird praktisch vollständig rückresorbiert. Eine metabolische Azidose gehört deshalb zu den typischen Komplikationen des ANV. Die Anionenlücke kann bei mäßiger Niereninsuffizienz zunächst normal sein, ist bei komplettem Nierenversagen aber üblicherweise erhöht. Die Azidose ist dann besonders schwer, wenn der Säureanfall erhöht ist, wie bei Laktatazidose oder Ketoazidose. Hyperphosphatämie und Hypokalzämie. Eine Hyperphosphatä-
mie findet sich in leichter Ausprägung regelmäßig beim ANV und kann durch Gewebeuntergang und Katabolie verstärkt werden. Durch Präzipitation von Kalziumphosphat kann eine Hypokalzämie induziert werden, die meistens aber nicht symptomatisch wird. Urämie. Unter Urämie versteht man die Akkumulation einer
Vielzahl nicht im Einzelnen erfassbarer Substanzen, die normalerweise über die Nieren ausgeschieden werden und überwiegend aus dem Stickstoffmetabolismus stammen. Zahlreiche Symptome der Urämie wie Müdigkeit, Übelkeit, Inappetenz, Erbrechen und Bewusstseinsbeeinträchtigung lassen sich beim Intensivpatienten häufig nicht erfassen oder wegen ihrer fehlenden Spezifität nicht eindeutig zuordnen. Eine der Komplikationen einer schweren Urämie ist die Serositis, die bei einer Perikardbeteiligung zu einer lebensbedrohlichen Perikardtamponade führen kann. Kreatinin- und Harnstoffkonzentrationen im Plasma korrelieren zwar mit dem Ausmaß der Urämie, sind aber selbst keine »Urämietoxine«. Anurische Patienten sollten deshalb auch dann regelmäßig mit Hämodialyse oder -filtration behandelt werden, wenn sie aufgrund einer gestörten Syntheseleistung nur gering erhöhte Harnstoffspiegel aufweisen.
Störung von Infektabwehr und Hämostase Ohne dass die zugrunde liegenden Mechanismen klar definiert und klinisch messbar sind, gilt die Urämie als ein Faktor, der die humorale und zelluläre Infektabwehr beeinträchtigt und so zu der ungünstigen Prognose von Patienten mit ANV beitragen kann. Die Blutungszeit bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist erhöht, vermutlich v. a. bedingt durch eine Thrombozytenfunktionsstörung. Das ANV ist darüber hinaus ein aggravierender Faktor für die Entwicklung einer Anämie bei Intensivpatienten, aber die Ursachen eines vermehrten Blutverlustes oder Blutzellabbaus sind bislang nicht völlig geklärt.
60
762
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
60.7
Prävention
Eine vorbestehende Einschränkung der Nierenfunktion, proteinurische Nierenerkrankungen, hohes Lebensalter, allgemeine Arteriosklerose und eine Beeinträchtigung des effektiv zirkulierenden Volumens wie bei Herzinsuffizienz oder Leberzirrhose mit Aszitesbildung sind Risikofaktoren für die Entwicklung eines ANV. Bei Vorliegen eines oder mehrerer dieser Faktoren kann eine Verschlechterung der renalen Perfusion im Rahmen von vorübergehenden Blutdruckabfällen, Blutverlusten oder einer Diarrhö leicht zur Entwicklung eines ANV führen und bedarf deshalb umgehender Intervention. Auch iatrogene Maßnahmen wie forcierte Dehydrierung, Parazentesen oder die Gabe von nephrotoxischen Medikamenten oder Röntgenkontrastmitteln können insbesondere in den genannten Risikogruppen ein Nierenversagen induzieren. Soweit möglich sollten diese Maßnahmen deshalb unter sorgfältiger Kontrolle der Nierenfunktion und unter Abwägung des Risikos für die Entwicklung eines ANV durchgeführt werden. Eine Optimierung der renalen Perfusion über Verbesserung des Volumenstatus ist dabei – falls durchführbar – die effektivste Maßnahme zur Verhinderung oder Begrenzung eines Nierenfunktionsverlustes. Wenn die Gabe von Aminoglykosidantibiotika unvermeidbar erscheint, kann deren Toxizität durch Applikation der Tagesdosis als Einmalgabe reduziert werden. Die Dosierung sollte anhand von Wirkspiegelkontrollen gesteuert werden. Ob die Nephrotoxizität von Röntgenkontrastmitteln, außer durch Volumengabe, durch spezifische Maßnahmen wie beispielsweise die Gabe von Theophyllin oder durch eine Hämodialyse zur Entfernung des Kontrastmittels unmittelbar nach der röntgenologischen Untersuchung vermindert werden kann, ist sehr umstritten. Bei Rhabdomyolyse oder schwerer Hämolyse sollte versucht werden, durch forcierte alkalisierende Diurese (Ziel: Diurese >200 ml/h, Urin-pH-Wert >6) die Entwicklung eines ANV zu vermeiden.
60.8
Therapie
Allgemeine Therapiemaßnahmen Während das prärenale und das postrenale Nierenversagen nach Korrektur der primären hämodynamischen Störung bzw. Beseitigung der Obstruktion schnell reversibel sind, gibt es für das intrinsische ischämische oder nephrotoxische Nierenversagen keine spezifische Therapie. Seine Behandlung sollte in erster Linie darauf ausgerichtet sein, ursächliche hämodynamische Störungen oder toxische Einflüsse zu beseitigen, zusätzliche Noxen zu vermeiden und die Komplikationen zu behandeln. Dazu gehören die Bilanzierung des Flüssigkeitshaushaltes und die Anpassung der Flüssigkeitszufuhr an die Diuresemenge. Einer Hyperkaliämie kann außer durch Reduktion der Zufuhr durch orale oder rektale Applikation von Austauscherharzen entgegengewirkt werden (Wirkungseintritt jedoch erst nach 1–2 h). Die Gabe von Glukose und Insulin senkt den Serumkaliumspiegel kurzfristig durch Verschiebung von Kaliumionen nach intra-
zellulär, erschwert aber damit auch einen wirksamen Kaliumentzug durch Dialyse. Extrem wichtig ist bei Vorliegen eines ANV die Dosisanpassung von renal metabolisierten oder eliminierten Medikamenten. Viele Medikamente müssen bei ANV reduziert werden, aber genauso wichtig ist es, Medikamente wie Cephalosporine mit großer therapeutischer Breite nicht zu unterdosieren. Leider gibt es außer in den Fachinformationen nur wenig Literatur zu diesem Thema, ein empfehlenswertes Buch ist das von Aronoff [5], das auf jede Intensivstation gehören sollte. Neben rein supportiven Maßnahmen gibt es mehrere medikamentöse Ansätze, um den renalen Blutfluss und die Diurese zu steigern. Ihr therapeutischer Nutzen ist aber trotz häufigen klinischen Einsatzes insgesamt nur unzureichend belegt.
Dopamin und Katecholamine Dopamin wurde zur Prävention und Therapie eines ANV eingesetzt unter der Vorstellung, dass es in niedriger, sog. Nierendosis (1–3 Pg/kg KG u min) die renale Perfusion steigert und diuretisch wirkt, ohne den peripheren Widerstand oder das HZV zu erhöhen. Obwohl diese renalen Effekte von Dopamin nicht nur im Tierexperiment, sondern auch bei gesunden Probanden nachweisbar sind, bleibt ihre Relevanz im Hinblick auf das ANV unklar. In mehreren Metaanalysen ist es nicht gelungen, einen Effekt im Sinne einer Prävention oder Therapie des ANV von »renal-dose« Dopamin überzeugend nachzuweisen [6]. Auch lässt sich das Konzept einer selektiv renal wirksamen Dosierung nicht aufrechterhalten, da dieselbe Dosis zu interindividuell sehr unterschiedlichen Plasmaspiegeln führt und bereits in niedriger Dosis ungünstige Effekte auf die Mesenterialdurchblutung, den myokardialen O2-Verbrauch und den Atemantrieb auftreten können. Der routinemäßige Einsatz von »renal-dose« Dopamin zur Verbesserung der Nierenfunktion erscheint deshalb weitgehend obsolet. Dagegen kann Dopamin in einer Dosierung, die zur Steigerung des arteriellen Blutdrucks führt, durchaus positive Effekte auf die Nierenfunktion haben. Allerdings sollte für diese Indikation anderen Katecholaminen der Vorzug gegeben werden, z. B. bei septischen Patienten dem Noradrenalin. Ein adäquater arterieller Perfusionsdruck ist natürlich Voraussetzung für die Nierenfunktion. Bourgoin et al. berichteten, dass eine Anhebung auf einen mittleren arteriellen Druck (MAP) von 85 mm Hg keine Besserung der Nierenfunktion bewirkt im Vergleich zu 65 mm Hg, sodass ein minimaler arterieller Druck von 65 mm Hg anzustreben ist [7]. Empfehlung: Bei septischen Patienten sollte ein MAP von 65 mm Hg angestrebt werden. Stärkere Anhebungen auf 85 mm Hg bringen keine weiteren Verbesserungen der Nierenfunktion.
Kalziumantagonisten und natriuretische Peptide Weil Anstiege der intrazellulären Kalziumkonzentration den Tonus glatter Gefäßmuskelzellen erhöhen und damit zur renalen Vasokonstriktion beitragen können und außerdem unterschiedliche Formen von Zellschädigung mit pathologischen Anstiegen der intrazellulären Kalziumkonzentration einhergehen, sind
763 60.9 · Prognose
auch Kalziumantagonisten zur Prophylaxe und Behandlung des ANV eingesetzt worden. Obwohl beispielsweise nach Nierentransplantation günstige Effekte auf die Nierenfunktion beobachtet wurden, ist ihr Einsatz zur Verbesserung der Nierenfunktion in vielen Situationen nicht gerechtfertigt, weil sie durch systemischen Blutdruckabfall die Nierenperfusion eher verschlechtern. Auch das atriale natriuretische Peptid und das strukturverwandte Urodilatin können, sofern sie nicht zu einem Abfall des systemischen Blutdrucks führen, die Diurese steigern und die Nierenfunktion u. U. günstig beeinflussen. Positive Effekte wurden für Patienten nach Herzchirurgie und schlechter kardialer Pumpfunktion beschrieben [8], eine allgemeine Therapieempfehlung kann jedoch nicht gegeben werden.
60
Infusion von Mannit zu einer Volumenexpansion. Möglicherweise kann Mannit auch durch antioxidative Eigenschaften zellprotektiv wirken. Die Gabe von Mannit ist propagiert worden, um bei gefäßoder herzchirurgischen Eingriffen sowie bei Verschlussikterus und Rhabdomyolyse der Entwicklung eines ANV vorzubeugen, um ein beginnendes oligurisches in ein nichtoligurisches Nierenversagen zu überführen, oder auch, um die GFR zu steigern. Trotz einiger positiver Erfahrungen ist der günstige Effekt der Mannit-Gabe aber für keine dieser Indikationen ausreichend belegt.
Indikationen zur Nierenersatztherapie
Diuretika Diuretika steigern die renale Natrium- und Wasserausscheidung dadurch, dass sie in unterschiedlichen Bereichen des Nephrons die Rückresorption von Wasser und Natrium aus dem Tubuluslumen abschwächen oder verhindern. Sie beeinflussen damit primär nicht die GFR, die den eigentlichen Parameter der Nierenfunktionsleistung darstellt. Ihre Wirkung hängt aber davon ab, wieviel Natrium und Wasser in das Nephron hineinfiltriert werden. Von daher ist die Wirksamkeit von Diuretika bei Niereninsuffizierenz reduziert. Im Rahmen der Therapie von Patienten mit ANV kommen in erster Linie die hochpotenten Schleifendiuretika wie Furosemid oder Torasemid in Frage, die die Natriumrückresorption in der aufsteigenden Henle-Schleife blockieren. Durch die hochdosierte Gabe dieser Diuretika kann bei einem Teil der Patienten ein oligo-/anurisches in ein nichtoligurisches Nierenversagen überführt werden, was die Steuerung des Volumenhaushaltes erheblich vereinfacht. Es ist außerdem bekannt, dass primär nichtoligurische Nierenversagen günstiger verlaufen als oligo-/anurische, und es ist vorstellbar, dass die Verminderung des tubulären O2-Verbrauchs durch die Schleifendiuretika ebenso wie ein Spüleffekt durch die Zunahme des Urinflusses einen positiven Einfluss auf die Nierenfunktion haben. Ein Effekt der Diuretikatherapie auf die Dauer und Prognose des ANV ist aber nicht nachgewiesen; eine Metaanalyse konnte weder für die prophylaktische noch für die therapeutische Gabe von Schleifendiuretika einen positiven Effekt auf Dauer oder Schwere des ANV zeigen [9]. Entschließt man sich zu einer diuretischen Therapie, sollte der kontinuierlichen Gabe (maximal 40 mg/h i.v.) gegenüber der intermittierenden Bolusgabe (maximal 80 mg i.v.) der Vorzug gegeben werden. Außerdem wird durch eine gleichmäßigere Diurese die fortlaufende Bilanzierung des Patienten und eine daran orientierte Flüssigkeitszufuhr und Dosisanpassung erleichtert. Abzuwägen gegen den möglichen Nutzen von Schleifendiuretika ist ihre potenzielle Ototoxizität, sodass Dosen von ca. 4-mal 125 mg Furosemid p.o. oder 40 mg/h i.v. bei Erwachsenen nicht überschritten werden sollten. Fehlendes Ansprechen auf Schleifendiuretika kann durch zu starke ischämische Tubulusschädigung oder – nach einigen Tagen der Therapie – durch vermehrte Resorption im distalen Tubulus bedingt sein. Im letzteren Fall kann die Kombination mit einem distalen Diuretikum, z. B. Xipamid nützlich sein.
Mannit Mannit ist ein einfacher Zucker, der glomerulär frei filtriert wird und als osmotisches Diuretikum wirkt. Darüber hinaus führt die
Alle Bemühungen um Verbesserung der Nierenfunktion dürfen den notwendigen Einsatz von Hämodialyse oder Hämofiltration nicht unangebracht verzögern. Je nach Definition des ANV und betrachtetem Patientenkollektiv liegt der Anteil der Patienten, der eine Nierenersatztherapie benötigt, bei 20–60%.
Zu den Komplikationen eines ANV, die innerhalb kürzester Zeit die Durchführung einer Nierenersatztherapie erforderlich machen, gehören: 4 diuretikaresistente Hypervolämie mit respiratorischer Insuffizienz, 4 Hyperkaliämie, 4 schwere Azidose, 4 urämische Perikarditis. Erweist sich ein ANV trotz konservativer Therapiemaßnahmen als progredient, sollte die Entwicklung solcher Komplikationen und einer urämischen Symptomatik aber keinesfalls abgewartet, sondern rechtzeitig mit Hämodialyse oder Hämofiltration begonnen werden. Eindeutige, in jeder Situation wegweisende Richtwerte für den Beginn extrakorporaraler Blutreinigungsverfahren gibt es dabei nicht. Im Allgemeinen sollte aber so therapiert werden, dass die Harnstoffkonzentration im Plasma nicht längerfristig über 200 mg/dl ansteigt (7 Kap. 60.10). 60.9
Prognose
Die meisten Patienten, die die Situation überleben, in der es zur Entwicklung eines ANV gekommen ist, entwickeln auch wieder eine ausreichende Nierenfunktion. Grundlage dafür ist die Regeneration des Tubulusepithels durch Proliferation und Differenzierung von nichtgeschädigten Zellen, die durch ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Wachstumsfaktoren gesteuert wird. Versuche, diese Prozesse durch pharmakologischen Einsatz solcher Wachstumsfaktoren zu beschleunigen, sind bislang nur im Tierexperiment, nicht aber beim Menschen erfolgreich verlaufen. Bei etwa der Hälfte aller Patienten lassen sich nach einem ANV anhaltende Einschränkungen der GFR und der Fähigkeit zur Urinkonzentrierung oder Vernarbungen des Nierengewebes nachweisen. In etwa 10% der Fälle, insbesondere bei Patienten mit einer Vorschädigung der Niere, kommt es zu keiner ausrei-
764
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
. Tabelle 60.3. Dialyseindikationen Absolute Dialyseindikationen
Relative Dialyseindikation
Hypervolämie bei Oligo-/Anurie
Metabolische Azidose
Hyperkaliämie bei Oligo-/Anurie
Unterkühlung oder hohes Fieber
Urämische Symptomatik 4 Perikarditis 4 Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle 4 Somnolenz
Hohe Retentionswerte bei fehlender Symptomatik: 4 Kreatinin >500–900 μmol/l (>6–10 mg/dl)a 4 Harnstoff >25–50 mmol/l (>150–300 mg/dl)a 4 ARDS 4 Elimination von Zytokinen bei Sepsis?
a Sind Patienten klinisch nicht ausreichend beur teilbar, z. B. bei Beatmung oder Analgosedierung, sollte man sich eher an den unteren Grenzwerten orientieren.
60
chenden Funktionswiederkehr, sodass diese Patienten chronisch dialysepflichtig bleiben [10]. Weitere 5% entwickeln im Anschluss an eine inkomplette Erholung der Nierenfunktion eine chronisch progrediente Niereninsuffizienz.
ten der PICARD-Studie, in der Patienten, die erst oberhalb eines Harnstoffs von 150 mg/dl dialysiert wurden, eine 1,8-fach gesteigerte Mortalität aufwiesen gegenüber Patienten, die früher dialysiert wurden [11].
60.10 Indikationen für extrakorporale Ver fahren
i Eine absolute Indikation zur Dialyse stellt die urämische Perikarditis dar, da hierbei die Gefahr einer Einblutung mit Perikardtamponade besteht.
Die Indikation, ein extrakorporales Nierenersatzverfahren durchzuführen, muss individuell gestellt werden. Einige absolute und relative Indikationen sind in . Tabelle 60.3 zusammengestellt.
Nichtrenale Indikationen
i Harnstoff und Kreatinin dienen als Marker einer Niereninsuffizienz, sind aber selbst in den in vivo erreichten Konzentrationen nicht toxisch.
Entscheidend sind weniger die Laborwerte als die Symptomatik des Patienten. Trotzdem orientiert man sich aus Gründen der Praktikabilität an den einfach zu messenden Substanzen Kreatinin und Harnstoff. Die eigentlichen urämischen Toxine bestehen allerdings aus einer Vielzahl von Molekülen im Mittelmolekülbereich (MG 500– 20.000), sind nicht alle identifiziert, nicht immer wasserlöslich (also durch Dialyse nicht gut entfernbar) und in unterschiedlichem Ausmaß proteingebunden. Zudem werden die Serumspiegel von Kreatinin und Harnstoff außer von der Nierenfunktion (= Ausscheidungsrate) auch von der Produktionsrate dieser Substanzen bestimmt. Das Serumkreatinin korreliert positiv mit der Muskelmasse des Patienten, der Serumharnstoff steigt durch hohe Eiweißzufuhr und durch katabole Stoffwechsellage (Infekt, Steroidtherapie) an. Daher kann es bereits bei niedrigen Harnstoffwerten zu einer ausgeprägten urämischen Symptomatik kommen. So kann eine Dialyse bei Harnstoffwerten von 20–25 mmol/l bei gleichzeitiger Symptomatik oder bei intensivpflichtigen, beatmeten Patienten indiziert sein, bei anderen Patienten kann bei solchen Werten und fehlender Symptomatik weiter abgewartet werden, wenn Hoffnung auf baldige Besserung der Nierenfunktion nach Beseitigung der Ursache (z. B. akutes Nierenversagen durch Exsikkose) besteht. i Eine Harnstoffkonzentration von >50 mmol/l (>300 mg/ dl) stellt jedoch immer eine Dialyseindikation dar.
Beatmete Patienten, bei denen Urämiesymptome schwer zu erkennen sind, sollten etwa ab einer Harnstoffkonzentration von >25 mmol/l (150 mg/dl) dialysiert werden. Dafür sprechen Da-
In seltenen Fällen gibt es auch nichtrenale Indikationen für die Anwendung eines extrakorporalen Verfahrens. Hierzu gehören Unterkühlung oder hohes Fieber, wo am sinnvollsten ein kontinuierliches Verfahren gewählt wird. Beim ARDS kann mittels CVVH (»continuous veno-venous hemofiltration«) rasch Flüssigkeit entzogen werden, zusätzlich zu einer eventuell erhaltenen Diurese. Die Elimination von Zytokinen und Mediatoren bei Sepsis muss als Dialyseindikation mit großer Zurückhaltung angesehen werden, da ein Beleg der Wirksamkeit bislang aussteht. Die meisten Zytokine und z. B. Komplementfaktoren werden renal eliminiert. Zwar werden Zytokine durch Dialyseverfahren wie CVVH eliminiert, die erreichten Mengen sind jedoch bei erhaltener Nierenfunktion von relativ geringer und klinisch fragwürdig relevanter Größenordnung. In den letzten Jahren wurden großporige Dialysemembranen mit hoher Ausschlussgrenze (sog. High-cut-off-Membranen) für diese Indikation getestet [12]. Eventuell ergeben sich in Zukunft nach weiteren Studien Indikationen für Nierenersatzverfahren mit diesen Membranen, insbesondere bei septischen Patienten. 60.11 Transportmechanismen Der Transport von Substanzen oder Flüssigkeit durch eine Membran kommt durch 4 verschiedene Mechanismen zustande, die im Folgenden erläutert werden. 4 Diffusion Diffusion bezeichnet den Transport von gelösten Teilchen durch eine Membran aufgrund eines Konzentrationsunterschieds auf beiden Seiten der Membran. Gelöste Teilchen wandern von der Seite höherer zur Seite niedrigerer Konzentration, bis eine Äquilibrierung eingetreten ist. Die Diffusion ist der wichtigste Transportmechanismus von
765 60.12 · Zugangsmöglichkeiten für extrakorporale Verfahren
kleinmolekularen Substanzen (bis ca. MG 500) bei der Hämodialyse. 4 Konvektion Konvektion bezeichnet den Kotransport von gelösten Teilchen mit dem Lösungsmittel. Durch Filtration von Plasmawasser werden die darin gelösten Substanzen ebenfalls entfernt, mittelgroße Substanzen (bis MG 20.000) werden v. a. durch Konvektion transportiert. Treibende Kraft sind hydrostatische Druckdifferenzen; die Konvektion ist der Transportmechanismus aller Substanzen bei der Hämofiltration. 4 Ultrafiltration Ultrafiltration bezeichnet den Transport von Flüssigkeit durch eine Membran aufgrund einer hydrostatischen Druckdifferenz. 4 Osmose Osmose bezieht sich auf den Transport von Lösungsmittel durch eine Membran aufgrund von Konzentrationsgradienten. Lösungsmittel wandert von der Seite niedrigerer Konzentration gelöster Substanzen zur Seite mit der höheren Konzentration gelöster Substanzen.
Eliminationsver fahren Bei der Hämodialyse spielen alle 4 Mechanismen eine Rolle, bei der Hämofiltration lediglich die Konvektion und die Ultrafiltration. Kleinmolekulare Substanzen (MG <500, Elektrolyte, Harnstoff, Kreatinin) werden am effektivsten durch die Diffusion bei der Hämodialyse transportiert, höhermolekulare Substanzen (MG <20.000) am effektivsten durch Konvektion bei der Hämofiltration. 60.12 Zugangsmöglichkeiten für extrakorporale
Ver fahren Die Wahl des Gefäßzugangs für die Hämodialyse hängt von mehreren Faktoren ab. Berücksichtigt werden müssen das Alter des Patienten, akutes oder chronisches Nierenversagen, voraussichtliche Notwendigkeit des Zugangs und der arterielle Gefäßstatus. Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz, bei denen ein baldiger Beginn (Wochen bis Monate) der Hämodialyse vorauszusehen ist, werden meist mit einer arteriovenösen Fistel versehen.
Arteriovenöse Fisteln Wenn möglich, sollte bei chronischer Dialysepflicht eine sog. Brescia-Cimino-Fistel zwischen V. cephalica am Unterarm und A. radialis angelegt werden, wobei die Vene nach ca. 10–14 Tagen punktierbar ist. AV-Fisteln können auch zwischen A. brachialis und einer Oberarmvene angelegt werden. Die AV-Fistel weist die geringsten Komplikationen, insbesondere am wenigsten Infektionen im Langzeitverlauf auf und sollte daher immer die 1. Wahl bei chronischer Niereninsuffizienz darstellen.
Kunststoffinterponat Bei ungenügender Ausprägung der venösen Verhältnisse kann ein Kunststoffinterponat aus Goretex oder PTFE (Polytetrafluoroethylen) verwandt werden, das in unterschiedlichen Variationen an eine Arterie (A. radialis, A. brachialis, A. femoralis) und eine Vene (V. axillaris, V. basilica, V. femoralis) anastomosiert werden kann.
60
Scribner-Shunt Nur noch aus historischen Gründen soll der sog. Scribner-Shunt erwähnt werden, bei dem mittels eines extern ausgeleiteten Teflonstücks ein Shunt zwischen der A. tibialis posterior und einer Unterschenkelvene geschaffen wird. Diese Methode ist heutzutage aufgrund der Infektproblematik weitgehend obsolet.
Shaldon-Katheter Patienten ohne vorherige Shuntanlagen müssen bei akuter Dialyseindikation mit temporären Kathetern versorgt werden. Eine Vielzahl von einlumigen oder doppellumigen Kathetern in den Größen 6–13 F wird derzeit zur Dialyse angeboten. Nach dem Erstbeschreiber wird der sog. Shaldon-Katheter mittels Seldinger-Technik in großlumige Venen eingebracht. Nachdem früher der Gefäßzugang eher stiefmütterlich behandelt wurde, hat er in den letzten Jahren aus gutem Grund große Beachtung erfahren. Bei chronischen Dialysepatienten ist die Verwendung von permanenten Kathetern mit einer deutlich erhöhten Mortalität verbunden, meist aufgrund von Infekten und Septikämien. Die Häufigkeit von Katheterinfekten liegt zwischen 2,5 und 5 Bakteriämien pro 1000 Patiententage, d. h. jeder Patient mit Katheter erleidet ungefähr einmal im Jahr eine Bakteriämie. Darüber hinaus ist eine katheterbedingte Bakteriämie mit großem finanziellem Aufwand verbunden, gut fundierte Schätzungen gehen von Kosten in Höhe von 15.000–30.000 Euro pro Bakteriämie aus. Daher sollten bei Verwendung von Kathetern Grundsätze beachtet werden. Regeln für die Verwendung von Kathetern als Gefäßzugang für die Hämodialyse 5 Das Infektionsrisiko ist für Katheter in der V. femoralis am höchsten, daher sollte der V. jugularis der Vorzug gegeben werden. Katheter (ZVK und Dialysekatheter) in der V. subclavia weisen zwar das geringste Infektrisiko auf, großlumige Dialysekatheter sollten wegen der nahezu unausweichlichen Ausbildung von venösen Stenosen möglichst nicht in die V. subclavia eingebracht werden. 5 Getunnelte permanente Katheter weisen ein deutlich niedrigeres Infektrisiko auf als nichtgetunnelte Katheter [13]. Daher wird empfohlen, bei einer voraussichtlichen Liegedauer von >14 Tagen getunnelte Katheter zu verwenden. Dies gilt nicht für Patienten, die nur einige Tage auf der Intensivstation verbringen und einen ZVK benötigen, jedoch für alle Patienten, bei denen eine lange Notwendigkeit für Gefäßzugänge abzusehen ist. 5 Die Implementierung und Einhaltung von einfachen Standards bei der Katheteranlage und -pflege hat einen dramatischen Rückgang der Infektrate zur Folge [14]. 5 Dialysekatheter sollten bei Nichtgebrauch nicht lediglich mit Heparinlösungen, sondern mit speziellen Locklösungen aufgefüllt werden. In Frage kommen Zitratlösungen, Mischungen aus Taurolidin und Zitrat oder antibotikahaltige Locklösungen, die alle eine deutlich niedrigere Infektrate gegenüber Heparin bewirken. Die derzeit besten Daten gibt es zu einer 30%-igen Zitratlösung [15]. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für reguläre ZVK, wofür jedoch noch keine ausreichenden Studien vorliegen.
766
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsver fahren
60.13 Definition und Prinzipien
der extrakorporalen Ver fahren
60
. Tabelle 60.4. Elimination bzw. Verlust verschiedener Substanzen durch Hämodialyse und Hämofiltration
Hämodialyse
Substanzklasse
Elimination durch Hämodialyse
Ein System für die Hämodialyse besteht aus einem Blutkreislauf und einem Dialysatkreislauf. Blut wird aus dem Gefäßzugang des Patienten durch den Dialysator gepumpt und dem Patienten wieder zugeführt. Die Dialysemaschine überwacht die Drücke vor der Pumpe und hinter dem Dialysator, um Probleme der Blutzirkulation zu erkennen. Eine Luftfalle mit Luftdetektor verhindert das Auftreten von Luftembolien. Die zentrale Stelle des Stofftransportes ist der Dialysator, in dem Blut und Dialysat im Gegenstromprinzip zirkulieren (. Abb. 60.2). Hier findet die Diffusion aller Substanzen, für die ein Konzentrationsgradient zwischen Blut und Dialysat besteht, durch die Membran statt. Dies betrifft urämische Produkte wie Harnstoff und Kreatinin, die ins Dialysat diffundieren. Diffusion kann jedoch auch in der Gegenrichtung stattfinden, z. B. für Bikarbonat oder Kalziumionen, je nachdem, ob sie im Blut oder im Dialysat höhere Konzentrationen aufweisen. Es werden auch Substanzen entfernt, deren Elimination möglicherweise nicht erwünscht ist (. Tab. 60.4). Die Elimination von Harnstoff und Kreatinin aus dem Blut ist nach einem einmaligen Durchfluss von Blut durch den Dialysator nahezu komplett, d. h. diese Substanzen werden zu ca. 80–90% aus dem den Dialysator durchfließenden Blut entfernt. Die Clearance von Harnstoff und Kreatinin beträgt demnach bei einem Blutfluss von 200 ml/min ca. 160–180 ml/min. Dies gilt jedoch nur für kleinmolekulare wasserlösliche Substanzen, für die die Hämodialyse das effektivste Eliminationsverfahren darstellt. Mit steigendem Molekulargewicht werden Substanzen zunehmend schlechter dialysiert, ab ca. MG 5000 ist mit keiner Membran eine nennenswerte diffusive Clearance zu erreichen.
Glukose
Ja: Verluste bis 80 g/Tag
Aminosäuren
Ja: 4 CVVH: Verluste ca. 0,25 g/l Filtrat, 5–15 g/Tag 4 HD: 5–10 g/Dialyse
Hormone
Ja: z. B. Insulin und Kathecholamine werden eliminiert; Erhöhung der exogenen Zufuhr selten nötig
Antibiotika
Ja: Zusatzdosis nach Dialyse nötig für viele Antibiotika (Aminoglykoside, Cephalosporine)
Zytokine
Ja: Eliminierte Menge jedoch von fragwürdiger klinischer Relevanz; ungezielter Eingriff in einen komplexen Regelmechanismus
Hämofiltration Die Hämofiltration kann entweder intermittierend oder kontinuierlich durchgeführt werden. In beiden Fällen wird durch einen Unterdruck auf der Dialysatseite der Membran Plasmawasser filtriert und verworfen, das abzüglich der erwünschten Abnahmerate hinter dem Dialysator substituiert werden muss. Auf der Dialysatseite befindet sich kein Dialysat, es findet daher keine Diffusion statt, die Elimination der harnpflichtigen Substanzen wird mittels Konvektion erreicht, indem die im Plasmawasser gelösten Substanzen verworfen werden. Bei intermittierender Hämofiltration über 3–4 h 3-bis 4-mal pro Woche werden pro Minute ca. 100 ml Plasmawasser filtriert und größtenteils mit sterilen Lösungen ersetzt. Hierfür eignen sich sowohl laktat- als auch bikarbonatgepufferte isotone Lösungen, wobei Letzteren zunehmend der Vorzug gegeben wird.
. Tabelle 60.5. Vergleich der Harnstoffclearance verschiedener Verfahren (CAPD kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse) Verfahren
Harnstoffclearance pro Tag
Normale Nierenfunktion (ca. 100 ml/min)
144 l/Tag
Intermittierende Hämodialyse (ca. 200 ml/min für 4 h)
48 l/Tag
Intermittierende Hämofiltration (5 Beutel á 4,5 l)
22,5 l/Tag
CVVH (1–2 l/h)
24–48 l/Tag
CAPD/CCPD (ca. 5–8 ml/min)
7,2–11,5 l/Tag
Bei der kontinuierlichen Hämofiltration ist das Prinzip identisch, es werden lediglich niedrigere Filtratraten von ca. 20–30 ml/min erzielt. In beiden Fällen müssen Dialysatoren mit hoher Wasserpermeabilität verwendet werden (»High-flux-Filter«). Vorteil der Hämofiltration gegenüber der Hämodialyse ist die bessere hämodynamische Stabilität, die durch mehrere Studien belegt ist, die gute Elimination auch von mittelmolekularen Substanzen bis ca. MG 20.000; zudem kann wegen des fehlenden Dialysats keine Kontamination der Maschine durch Blut eines möglicherweise infektiösen Patienten stattfinden (Hepatitis, HIV). Nachteile der Hämofiltration sind die höheren Kosten und die niedrige Clearance für kleinmolekulare Substanzen. Ein Vergleich der Harnstoffclearance der verschiedenen Verfahren ist in . Tabelle 60.5 dargestellt.
Hämodiafiltration . Abb. 60.2. Das Prinzip der Dialyse
Dieses Verfahren kombiniert die Vorteile von Hämodialyse und Hämofiltration. Es besteht aus einer Hämodialyse, bei der größe-
767 60.13 · Definition und Prinzipien der extrakorporalen Verfahren
60
Ultrafiltration Wenn bei niedrigen Retentions- und Kaliumwerten lediglich eine Entfernung von Plasmawasser gewünscht ist, so kann eine Ultrafiltration durchgeführt werden. Hierbei wird wie bei der Hämofiltration Plasmawasser filtriert, jedoch nicht substituiert. Durch dieses Verfahren lassen sich bei guter hämodynamischer Verträglichkeit 1–3 l/h filtrieren.
Kontinuierliche Ver fahren Die Nomenklatur der kontinuierlichen Verfahren ist in . Abb. 60.3 dargestellt. Die heutzutage gebräuchlichsten sind 4 die CVVH (»continuous veno-venous hemofiltration«) und 4 die CVVHD (»continuous veno-venous hemodialysis«). Initial wurden die kontinuierlichen Verfahren von Kramer als CAVH und CAVHD (»continuous arterio-venous hemofiltration/hemodialysis«) vorgestellt, wobei mittels großlumiger Katheter in der A. femoralis der Blutdruck des Patienten als treibende Kraft des Blutflusses durch den Dialysator verwendet wurde. Mittlerweile haben jedoch ausgereifte Geräte mit Blutpumpen die Notwendigkeit der risikoreichen arteriellen Katheter ersetzt. Das Prinzip dieser Verfahren unterscheidet sich nicht von denen der Hämodialyse und der Hämofiltration. Die Vor- und Nachteile der kontinuierlichen Verfahren sind in . Tabelle 60.6 dargestellt.
Hämoper fusion . Abb. 60.3. Die verschiedenen kontinuierlichen Eliminationsver fahren. SCUF Ultrafiltration (»slow continuous ultrafiltration«), CVVH kontinuierliche venovenöse Hämofiltration, CVVHD kontinuierliche venovenöse Hämodialyse, CVVHDF kontinuierliche venovenöse Hämodiafiltration
re Mengen an Plasmawasser filtriert werden (ca. 12–20 l pro Dialyse), die zum größten Teil durch sterile Lösungen substituiert werden. Dadurch wird eine gute Elimination sowohl von kleinals auch von mittelmolekularen Substanzen erreicht. Nachteil der Hämodiafiltration ist der hohe technische Aufwand (exakte Bilanzierung durch das Gerät) und die hohen Kosten durch die Substitutionslösung.
Bei der Hämoperfusion wird Blut durch eine Kapsel gepumpt, die Aktivkohle (z. B. Adsorba 300, Gambro) oder Austauschharze wie Polystyrol (Amberlite, Fa. Braun, Melsungen) enthält. Durch eine spezielle Aufarbeitung der Aktivkohle wird ein gleichmäßiger Blutfluss durch die Kapsel erreicht. Es findet eine unspezifische Adsorption von Substanzen an der Aktivkohle statt, die Hämoperfusion wird daher zur Behandlung von akuten Intoxikationen mit nicht wasserlöslichen (nicht dialysablen) oder proteingebundenen Substanzen eingesetzt (7 s. unten).
Plasmapherese Die Plasmapherese ist im Prinzip eine Hämofiltration. Durch die Verwendung von großporigen Plasmafiltern mit einer Ausschlussgrenze von einem MG von ca. 3 Mio. werden alle Plas-
. Tabelle 60.6. Vorteile und Nachteile von intermittierenden und kontinuierlichen Verfahren Verfahren
Vorteile
Nachteile
Intermittierende Hämodialyse
4 Hohe Effektivität (z. B. Hyperkaliämie, Laktatazidose, Vergiftungen) 4 Auch bei mobilen Patienten und ohne Antikoagulation durchführbar 4 Relativ kostengünstig
4 4 4 4
Höherer logistischer Aufwand Meist Dialyseschwester nötig Bei Hämodialyse Wasseranschluss er forderlich Volumenentzug von maximal 1–1,5 l/h möglich
Kontinuierliche Hämofiltration (CVVH, CVVHD)
4 Hämodynamische Stabilität 4 Kontinuierlicher Volumenentzug, dadurch große Volumina entziehbar 4 Einfache Handhabung 4 Wenig Schwankungen von Elektrolyten, Harnstoff und Kreatinin 4 Jederzeit justierbar 4 Kontinuierliche Fiebersenkung
4 4 4 4
Meist nur bei völlig immobilen Patienten möglich Antikoagulation meist er forderlich Hohe Kosten durch steriles Substituat Ungenügende Effektivität bei z. B. Hyperkaliämie oder Laktatzidose
768
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
maproteine filtriert. Pro Behandlung werden sukkzessive 2–4 l Plasma filtriert, das natürlich substituiert werden muss. Zur Substitution eignet sich eine 4,5%ige Humanalbuminlösung, die aus 20%iger Humanalbuminlösung durch Verdünnung mit 0,9%iger Kochsalzlösung oder Halbelektrolytlösung hergestellt wird. Da auch alle Gerinnungsfaktoren entfernt werden, muss bei schlechter Leberfunktion oder bei kurzfristiger Wiederholung der Plasmapherese als Substituat fremdes Frischplasma verwendet werden. Die Indikation zur Plasmapherese besteht v. a. in der Entfernung von Autoantikörpern (myasthene Krise, akutes GuillainBarré-Syndrom, Goodpasture-Syndrom) und beim hämolytischurämischen Syndrom bzw. thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura. Die Anwendung der Plasmapherese zur Therapie der Sepsis muss derzeit als nicht gesichert angesehen werden. 60.14 Differenzialindikation der extrakorporalen
Ver fahren – intermittierend oder kontinuierlich?
60
Die Vor- und Nachteile der intermittierenden und der kontinuierlichen Verfahren sind in . Tabelle 60.6 zusammengefasst. Die Wahl des Verfahrens richtet sich meist nach praktischen Gesichtspunkten und logistischen Gegebenheiten. So wird ein septischer beatmeter und anurischer Patient mit einer notwendigen Infusionsmenge von 3 l/Tag am besten mit einem kontinuierlichen Verfahren behandelt, da hiermit ohne hämodynamische Instabilität und leichter als mit einem intermittierenden Verfahren auch 3 l Flüssigkeitsentzug pro Tag erreicht werden können. In anderen Fällen, z. B. bei akuter Hyperkaliämie, wird zur raschen Senkung des Kaliumspiegels zunächst eine Hämodialyse aufgrund ihrer höheren Effektivität durchgeführt. Zwar besteht bei vielen Intensivmedizinern die Überzeugung, dass die kontinuierlichen Verfahren prinzipiell den intermittierenden überlegen sind, dies ist jedoch nicht ausreichend belegt. In den bisherigen Metaanalysen zur Frage, ob beim akuten Nierenversagen die intermittierende oder die kontinuierliche Nierenersatztherapie überlegen sei, konnte kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Mortalität zugunsten des kontinuierlichen Verfahrens gezeigt werden. Dies wurde durch eine kürzlich publizierte randomisierte Studie bestätigt [16]. 60.15 Dialysemembranen und Membranauswahl
beim akuten Nierenversagen Eine Vielzahl von Membranen wird für die Dialyse angeboten. Sie lassen sich in solche aus natürlicher Zellulose und solche aus synthetischen Materialien einteilen (. Tab. 60.7). Daneben unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Oberfläche, ihrer Geometrie (Kapillare/Platte), ihrer Wasserpermeabilität (»high flux«/«low flux«) und ihrer Biokompatibilität. Dies bezeichnet die Aktivierung von zellulären und plasmatischen Bestandteilen des Blutes durch den Blut-Membran-Kontakt. Die klinischen Studien zur Mortalität und Morbidität von akut oder chronisch dialysepflichtigen Patienten unter Verwendung verschiedener Membranen sind durchaus widersprüchlich und oft methodisch angreifbar. Inzwischen werden nahezu ausschließlich Kapillardialysatoren mit synthetischen Membranen aus Polysulfon, Polyarylethersulfon oder Polyacrylnitril verwen-
. Tabelle 60.7. Auswahl verschiedener Dialysemembranen Membran
Struktur
Zellulosemembranen Regenerierte Zellulose (Cuprophan)
Polysaccharide mit OHGruppen aus Baumwollfasern
Zelluloseazetat
4 von 5 OH-Gruppen ersetzt durch Acetat
Hämophan
1,5% der OH-Gruppen ersetzt durch DEAE
Synthetische Membranen Polycarbonat
Hydrophil synthetisch
Polysulfon
Hydrophob synthetisch
Polyamid
Hydrophob synthetisch
Polymethylmetacrylat PMMA
Hydrophob synthetisch
Polyacrylonitril PAN, AN69
Hydrophob synthetisch
det. Einzig die Wasserpermeabilität ist eine wichtige Unterscheidungsgröße, so können für Hämofiltration oder CVVH ausschließlich High-flux-Membranen verwendet werden. 60.16 Antikoagulation Die Durchführung eines extrakorporalen Verfahrens setzt in der Regel eine Antikoagulation voraus, die i. Allg. mit Heparin durchgeführt wird. Herkömmliches Heparin wird als Bolus von ca. 1000–3000 IE bei Beginn der Behandlung verabreicht, eine Dauerinfusion von ca. 500–2000 IE/h wird am besten mit Bedside-Gerinnungsanalysen wie der ACT (»activated clotting time«) adjustiert. Die ACT sollte 150–200 s betragen, die PTT etwa 60–80 s. Bei Gabe von niedermolekularem Heparin kann wegen der längeren Halbwertszeit bei der intermittierenden Dialyse auf eine Dauerinfusion verzichtet werden, hier reichen in der Regel Bolusgaben von ca. 2000 Antifaktor-Xa-Einheiten alle 3–4 h aus. Als eine echte Alternative zur systemischen Antikoagulation hat sich in den letzten Jahren die regionale Antikoagulation mit Zitrat etabliert [17]. Es existiert mittlerweile eine Vielzahl von Protokollen sowohl für intermittierende als auch für kontinuierliche Nierenersatzverfahren. Im Prinzip wird vor dem Dialysator eine Zitratlösung infundiert (zwischen 4% und 30% Zitrat), optional wird hinter dem Dialysator 10%-iges Kalzium substituiert. Es existieren Protokolle für kalziumfreies Dialysat und auch normales, kalziumhaltiges Dialysat (Beispiel unter www.universitätsklinikum-freiburg.de/nephrologie/live/therapiestandards/standard_regionale_citrat_antikoagulation_200609.pdf). Inzwischen wurde bei CVVH-Geräten mehrerer Anbieter die notwendige Software integriert, um die Handhabung zu vereinfachen. Diese Geräte kontrollieren wichtige Einstellungen wie die Koppelung zwischen Blutpumpe, Zitratpumpe und Kalziumpumpe; die Kontrollen von S-Kalzium und S-Bikarbonat müssen regelmäßig manuell durchgeführt werden. Durch wei-
769 Literatur
tere Standardisierung und technische Entwicklungen wird sich die regionale Zitratantikoagulation in Zukunft mehr und mehr durchsetzen. ! Cave Von einer regionalen Heparinisierung mit Antagonisierung des Heparins durch Protamin nach dem Filter ist bei blutungsgefährdeten Patienten strikt abzuraten, da es nach Abbau des Protamins zu einer erneuten biologischen Aktivität des Heparins kommen kann. I Ist eine systemische Antikoagulation wegen manifester Blutung (z. B. Polytrauma, chirurgische Blutung, intrakranielle Blutung) oder wegen einer Blutungsneigung kontraindiziert, dann sollte eine regionale Zitratantikoagulation durchgeführt werden.
Mit Verbesserung der diagnostischen Möglichkeiten mehren sich in letzter Zeit die Fälle von heparininduzierter Thrombozytopenie (HIT). In diesem Fall sollte Argatroban zur Antikoagulation eingesetzt werden. Argatroban akkumuliert nicht bei Niereninsuffizienz und führt daher auch bei ANV nicht zur Überdosierung. Die Verwendung von Hirudin bei extrakorporalen Verfahren ist aufgrund seiner stark verlängerten Halbwertszeit bei Niereninsuffizienz sehr problematisch. Bei anurischen Patienten kann die Halbwertszeit von Hirudin auf 5–6 Tage verlängert sein, zudem fehlen derzeit zuverlässige Tests zur Kontrolle der Antikoagulation mit Hirudin.
60
und es sollte ein niedriges Verteilungsvolumen besitzen, d. h. nicht intrazellulär gebunden oder im Fettgewebe gespeichert werden. Darüber hinaus sollte die Clearance durch Dialyse eine erhebliche Ergänzung zur körpereigenen Clearance darstellen. Als Beispiel sei die Rhabdomyolyse mit Freisetzung von potenziell nephrotoxischem Myoglobin genannt. Myoglobin (MG 17.000) kann zwar durch Hämofiltration eliminiert werden, die körpereigene Clearance durch Leber und Milz ist jedoch auch bei Anurie weitaus größer, und der Abfall des Serummyoglobins ist mit und ohne Hämofiltration identisch. 5 Hämoperfusion Durch Hämoperfusion können auch proteingebundene Substanzen mit hohem Molekulargewicht entfernt werden. Auch hier gilt, dass die Substanz in dem ereichbaren Kompartment (Blut) in großen Mengen vorliegen muss, also kein großes Verteilungsvolumen besitzen darf. Diese Einschränkung gilt weniger, wenn der zunächst nicht erreichbare Anteil rasch mit dem Blut äquilibriert. Zudem sollte auch bei der Hämoperfusion die extrakorporale Entfernung die körpereigene Clearance erheblich ergänzen.
Die Details über die klinische Wirksamkeit von extrakorporalen Verfahren für einzelne Gifte sind in Standardwerken wie dem »Giftindex« nachzuschlagen.
Literatur 60.17 Extrakorporale Ver fahren
bei Intoxikationen Literatur zu Kap. 60.1–60.9 Eine Reihe von Substanzen kann durch extrakorporale Verfahren eliminiert werden. Trotzdem mag die Entfernung von Toxinen mittels Hämodialyse oder Hämoperfusion nicht in jedem Fall sinnvoll sein, da eine Reihe von Faktoren den klinischen Nutzen der extrakorporalen Detoxikation bestimmt. Ein Beispiel ist die Vergiftung mit Knollenblätterpilzen. Das Gift des Knollenblätterpilzes Amanita phalloides weist eine hohe Affinität zu Hepatozyten auf, sodass es nach Resorption direkt an die Leberzellen bindet und dort stark toxisch wirkt. Da die Patienten meist erst nach einer Latenzzeit von mehreren Stunden symptomatisch werden und das Krankenhaus aufsuchen, ist eine Entfernung des dann noch zirkulierenden Amanitatoxins durch Hämoperfusion zwar möglich, für den Ausgang der Vergiftung jedoch nicht mehr ausschlaggebend. Für den Einsatz extrakorporaler Verfahren bei Vergiftungen gelten die im Folgenden genannten Regeln. Regeln für den Einsatz extrakorporaler Verfahren bei Vergiftungen 5 Hämodialyse/Hämofiltration Die Dialysierbarkeit eines Giftes wird bestimmt durch seine physikalischen Eigenschaften. Das Gift muss wasserlöslich sein und ein niedriges Molekulargewicht besitzen. Es darf keine hohe Proteinbindung aufweisen, 6
1. Loef BG, Epema AH, Smilde TD et al. (2005) Immediate postoperative renal function deterioration in cardiac surgical patients predicts in-hospital mortality and long-term survival. J Am Soc Nephrol 16: 195–200 2. Hoste EA, Clermont G, Kersten A et al. (2006) RIFLE criteria for acute kidney injury are associated with hospital mortality in critically ill patients: a cohort analysis. Crit Care 10: R73 : Retrospektive Studie in mehr als 5000 Patienten auf 7 Intensivstationen die zeigt dass ein Nierenversagen mit einer signifikant erhöhten 60-Tage Sterblichkeit einhergeht. Interessant ist dass dies auch für eine noch nicht dialysepflichtige Nierenschädigung gilt, also bereits bei einer Verdoppelung des Kreatinins die Mortalität steigt. 3. Schrier RW, Wang W, Poole B et al. (2004) Acute renal failure: definitions, diagnosis, pathogenesis, and therapy. J Clin Invest 114: 5–14 4. Levey AS, Bosch JP, Lewis JB et al. (1999) A more accurate method to estimate glomerular filtration rate from serum creatinine: a new prediction equation. Modification of Diet in Renal Disease Study Group. Ann Intern Med 130: 461–470 5. Aronoff GR (2005) Dose adjustment in renal impairment: response from Drug Prescribing in Renal Failure. BMJ 331: 293–294 6. Kellum JA, J MD (2001) Use of dopamine in acute renal failure: a meta-analysis. Crit Care Med 29: 1526–1531 7. Bourgoin A, Leone M, Delmas A et al. (2005) Increasing mean arterial pressure in patients with septic shock: effects on oxygen variables and renal function. Crit Care Med 33: 780–786 8. Sward K, Valsson F, Odencrants P et al. (2004) Recombinant human atrial natriuretic peptide in ischemic acute renal failure: a randomized placebo-controlled trial. Crit Care Med 32: 1310–1315
770
Kapitel 60 · Akutes Nierenversagen und extrakorporale Eliminationsverfahren
9. Ho KM, Sheridan DJ (2006) Meta-analysis of frusemide to prevent or treat acute renal failure. BMJ 333: 420 : Sehr ausführliche Metaanalyse zur Frage, ob Furosemid einen Einfluss auf den Verlauf des akuten Nierenversagens hat. Weder für die prophylaktische noch die therapeutische Gabe von Furosemid konnte ein positiver Effekt auf Mortalität, Inzidenz des ANV oder Dialysedauer nachgewiesen werden. Allerdings war auch kein die Mortalität steigernder Effekt nachweisbar, wie von manchen Autoren behauptet. 10. Morgera S, Kraft AK, Siebert G et al. (2002) Long-term outcomes in acute renal failure patients treated with continuous renal replacement therapies. Am J Kidney Dis 40: 275–279
Literatur zu Kap. 60.10–60.17 11. Liu KD, Himmelfarb J, Paganini E et al. (2007) Timing of initiation of dialysis in criically ill patients with aute kidney injury. cJASN 1: 915– 919 : Retrospektive Studie zur Frage, bei welchen Harnstoffwerten ein Nierenersatzverfahren begonnen werden sollte. Der Beginn bei Harnstoffwerten <150 mg/dl erbrachte ein besseres Überleben als der Beginn bei höheren Werten. Zwar nicht randomisiert und prospektiv, aber valide Analyse und zugleich gute Literaturübersicht.
60
12. Morgera S, Haase M, Rocktaschel J et al. (2003) High permeability haemofiltration improves peripheral blood mononuclear cell proliferation in septic patients with acute renal failure. Nephrol Dial Transplant 18: 2570–2576 13. Weijmer MC, Vervloet MG, ter Wee PM (2004) Compared to tunnelled cuffed haemodialysis catheters, temporary untunnelled catheters are associated with more complications already within 2 weeks of use. Nephrol Dial Transplant 19: 670–677 14. Pronovost P, Needham D, Berenholtz S et al. (2006) An intervention to decrease catheter-related bloodstream infections in the ICU. N Engl J Med 355: 2725–2732 : Diese große Studie untersuchte den Effekt der Einführung von einfachen Hygienestandards auf die katheterbedingte Infektrate in 108 Intensivstationen in Michigan. Katheterbedingte Bakteriämien wurden von 7,7 auf 1,4 pro 1000 Kathetertage reduziert. 15. Weijmer MC, van den Dorpel MA, Van de Ven PJ et al. (2005) Randomized, clinical trial comparison of trisodium citrate 30% and heparin as catheter-locking solution in hemodialysis patients. J Am Soc Nephrol 16: 2769–2777 : Derzeit größte Studie zu Locklösungen und durch Dialysekatheter bedingten Infekten bei Patienten mit permanenten Langzeitkathetern. Die Verwendung von 30% Zitrat reduzierte die Infektrate signifikant gegenüber Heparin, die Thromboserate unterschied sich nicht wesentlich. 16. Vinsonneau C, Camus C, Combes A et al. (2006) Continuous venovenous haemodiafiltration versus intermittent haemodialysis for acute renal failure in patients with multiple-organ dysfunction syndrome: a multicentre randomised trial. Lancet 368: 379–385 : Prospektive, randomisierte Studie an 360 Patienten, die keinen Unterschied in der 60-Tage-Mortalität zwischen intermittierenden und kontinuierlichen Dialyseverfahren zeigen konnte. Die Studie bestätigt 2 kürzlich publizierte Metaanalysen. 17. Morgera S, Scholle C, Melzer C et al. (2004) A simple, safe and effective citrate anticoagulation protocol for the genius dialysis system in acute renal failure. Nephron Clin Pract 98: c35–40
X
Inflammation und Infektionen
61
Entzündung und angeborene Immunantwort
62
Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
63
Sepsis
64
Nosokomiale Infektionen
65
Spezifische Infektionen
66
Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
–773
–783
–791 –811 –831 –847
61 Entzündung und angeborene Immunantwort A.B.J. Groeneveld
61.1
Einleitung
61.2
Definitionen und klinisches Bild
61.3
Angeborene Immunantwort
61.4
Bakterielle Infektion und angeborene Immunantwort
61.4.1
Besondere Infektionserkrankungen
61.5
Gewebeschädigung und angeborene Immunreaktion
61.6
Angeborene Immunreaktion. Therapie und Behandlungsergebnisse Literatur
–774
–781
–774
–775 –776
–778
–779 –780
774
Kapitel 61 · Entzündung und angeborene Immunantwort
61.1
Einleitung
Sepsis kann gesehen werden als die Antwort des Organismus auf eine mikrobielle Infektion. Sie wird diagnostiziert auf der Grundlage klinischer Zeichen und Symptome, dem Nachweis eines infektiösen Fokus sowie der verursachenden Keime. Vermutlich ist die Reaktion Ausdruck einer aktivierten angeborenen Immunantwort, wobei z. B. Fieber durch die Ausschüttung von Interleukin (IL)6 und IL-1E verursacht wird. Diese angeborene Immunantwort wird aber ebenfalls durch Trauma oder große chirurgische Eingriffe aktiviert. Bei Traumapatienten werden dadurch Erkennung und Verlaufsbeurteilung einer komplizierenden Sepsis erschwert, die ja für diese Patienten eine wesentliche Bedrohung darstellt. In diesem Kapitel werden die gegenwärtig gültigen klinischen Definitionen und die Rolle der angeborenen Immunantwort für die Erkennung mikrobieller Infektionen und für die Differenzierung gegenüber nicht-infektiöser Entzündung vorgestellt. Ebenso wird die Bewertung des Schweregrads der Sepsis und ihrer Prognose bei einem breiten Spektrum verschiedener klinischer Bedingungen gezeigt. 61.2
Definitionen und klinisches Bild
Eine Sepsis wurde ursprünglich definiert als die bedrohliche klinische Manifestation einer mikrobiellen Infektion. Definition und Diagnose spezieller mikrobieller Infektionen sind in ▶ Kap. 63–65 beschrieben [1]. Wird eine Infektion klinisch durch bildgebende Verfahren nachgewiesen, dann deuten Fieber (oder Hypothermie), Tachykardie, Tachypnoe und Leukozytose wahrscheinlich auf eine Sepsis hin. Lässt sich die mikrobielle Infek-
tion durch Gram-Färbung oder Blutkultur direkt nachweisen, dann ist die Diagnose einer Sepsis gesichert (. Tab. 61.1).Wie durch Konsensuskonferenz beschieden, sind Fieber (oder Hypothermie), Tachykardie, Tachypnoe und Leukozytose auch die Kriterien für ein SIRS (»systemic inflammatory response syndrome«), das allgemein als die klinische Immunantwort des Organismus auf die mikrobielle Infektion angesehen wird (was jedoch nicht objektiv bewiesen wurde) [2]. Die klinischen Zeichen und Symptome der Infektion sind wenig aussagekräftig und nicht spezifisch; so geht durch den mikrobiologischen Nachweis oft kostbare Zeit verloren.
Blutkultur Da die Blutkulturen negativ sein können, wenn die Methode oder der Zeitpunkt der Abnahme mangelhaft sind, oder eine (Vor)Behandlung mit Antibiotika vorausgeht, gibt es keinen Goldstandard für die Definition einer Sepsis. Die korrekte Abnahme einer Blutkultur unter intensivmedizinischen Bedingungen wird andernorts beschrieben [3]. Tatsächlich haben 30% aller Patienten mit den klassischen klinischen Zeichen einer Sepsis eine negative Blutkultur. Die Letalität dieser Gruppe von Patienten scheint etwas niedriger zu sein als bei den Patienten mit nachgewiesener lokaler Infektion oder Bakteriämie [4, 5]. Dennoch kann eine Sepsis mit negativer Blutkultur und Schock eine schlechte Prognose bedeuten. i Der fehlende Nachweis einer Bakteriämie bei Patienten unter Sepsis-Verdacht spricht eher für eine okkulte Infektion als für eine systemische Entzündungsraktion durch ein nicht-infektöses Geschehen.
Der Einsatz spezifischer Infektionsmarker, sofern verfügbar, könnte dann die Definition der Sepsis erhärten. Das darf aber
61 . Tabelle 61.1. Klinische Zeichen der körpereigenen Reaktionen auf Entzündung (nach den ACCP/SCCM-Konsensus Kriterien; [2]) Syndrom
Klinik
»Systemic inflammatory response syndrome« (SIRS)
Zwei oder mehr der folgenden Zeichen: 4 Körpertemperatur >38°C oder <36°C 4 Tachykardie >90/min 4 Tachypnoe >20/min (paO2<32 mm Hg) 4 Granulozytenzahl >12 oder <4×109/l oder >10% unreifer Zellen
Schweres SIRS
SIRS + Anzeichen einer Organhypoper fusion/-dysfunktion (7 s. unten)
Sepsis
SIRS + klinisch angenommene und/oder mikrobiologisch erwiesene Infektion
Schwere Sepsis/Sepsissyndrom
Sepsis + Hypotension, die reagiert auf 1 h Flüssigkeitszufuhr, oder eines oder mehr Zeichen einer Organhypoperfusion/-Dysfunktion, wie z. B. 4 akute zerebrale Beeinträchtigung 4 Oxygenierungsstörung (paO2<70–75 mm Hg) 4 Hyperlaktatämie und metabolische Azidämie 4 Oligurie (<0,5 ml/kg KG über mindestens 1 h) 4 (Blutgerinnungsstörungen)
Septischer Schock
Sepsis and Hypotension trotz adäquater Flüssigkeitszufuhr/Notwendigkeit einer Vasopressorbehandlung, + eines oder mehr Zeichen einer Organhypoperfusion/ -dysfunktion, wie z. B. 4 akute zerebrale Beeinträchtigung 4 Oxygenierungsstörung (paO2<70–75 mm Hg) 4 Hyperlaktatämie und metabolische Azidämie 4 Oligurie (<0,5 ml/kg KG über mindestens 1 h) 4 (Blutgerinnungsstörungen)
775 61.3 · Angeborene Immunantwort
nicht davon abhalten, bei dem Verdacht einer Sepsis sorgfältigst nach Keimen zu suchen.
Keimnachweis Der Nachweis von Keimen durch Färbung und Kultur in primär sterilen Medien beim klinischen Verdacht einer Infektion ist der mikrobiologische Beweis und damit die Sicherung einer Sepsis. Die Ergebnisse der mikrobiologischen Untersuchung stehen am Krankenbett oft nicht rechtzeitig zur Verfügung. Dann ist der Nachweis der Sepsis schwierig, und manchmal dauert es Tage, bevor eine korrekte Diagnose möglich ist. Das kann für die Behandlung fatale Folgen haben. So sind die frühen Behandlungsentscheidungen meist empirisch: Die Auswahl des Antibiotikums richtet sich nach den wahrscheinlichsten Keimen oder (sofern verfügbar) nach den Ergebnissen der Gram-Färbung. i Bei vielen Patienten mit klinischen Zeichen einer Sepsis wird keine Infektion bzw. kein Entzündungsherd gefunden. Sie sollten trotzdem eine empirisch gestützte Antibiotikabehandlung erhalten, bis das klinische Bild klarer wird [4].
SIRS-Zeichen Trauma, Verbrennungen, große chirurgische Eingriffe, Pankreatitis, gastrointestinale Blutungen, Lungenembolie und manche andere Krankheitsbilder können die klinischen Zeichen eines SIRS hervorrufen, möglicherweise als Ergebnis einer entzündlichen Reaktion ohne mikrobielle Infektion [6, 7]. In solchen Fällen wird oft eine Sepsis vermutet, doch eine Gabe von Antibiotika ist nutzlos. Solche Patienten mit Fieber haben eine SIRS aus nicht-infektiöser Ursache; hier ist sollten keine Antibiotika gegeben werden.
Modellsimulation Aus diesen Gründen wurden Diagnosemodelle entwickelt, mit denen man auf der Basis klinischer Informationen für eine Reihe von klinischen Bedingungen lokale Infektionen (d. h. mit positiven mikrobiologischen Befunden) und Bakteriämie bzw. Fungämie vermuten kann [4, 8]. Obwohl solche Modellsimulationen vielleicht nützlich sein könnten, sind doch die Klinik- und Laborparameter, die das Vorliegen einer Bakteriämie nahelegen, andere als diejenigen zur Definition einer SIRS (. Tab. 61.1); sie lassen sich oft schlecht reproduzieren und bieten zu häufig falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse [4, 8].
Diagnoseunsicherheit Falsch-negative Ergebnisse würden die Gefahr einer Unterversorgung mit Antibiotika bedeuten, wenn diese bei hoher Wahrscheinlichkeit einer baktiellen Infektion dringlich geboten wären. Falschpositive Ergebnisse würden zur Überbehandlung führen, die möglicherweise auch nicht ungefährlich ist. Die SIRS-Kriterien helfen hierbei wenig, da sie zu empfindlich, dabei jedoch zu unspezifisch sind; dennoch werden sie noch häufig verwendet [2, 4]. Andere klinische Symptome, wie Hypoalbuminämie und Thrombozytopenie, sind zuverlässige Zeichen einer infektiösen Blutbesiedelung; sie wurden jedoch nicht in die SIRS-Kriterien aufgenommen [4]. Zur Verbesserung der klinischen Entscheidungsfindung speziell bei chirurgischen Patienten wären Bestimmungen sinnvoll, mit denen bettseitig eine Infektion, insbesondere eine positve Blutbesiedelung, sowie die positive Wirkung der adäquaten Antibiotikabehandlung nachgewiesen werden könnten.
61
CARS Im Verlauf einer Sepsis oder eines Traumas kommt es nach dem SIRS zu einer gegenläufigen Reaktion, dem sog. CARS. Dieser Begriff bezeichnet einen Prozess der Desensibilisierung und einer anschließenden Immundepression, die nach Infektion, Sepsis oder Trauma eintritt. Ihre klinischen Folgen werden jetzt zunehmend untersucht [9–11]. Obwohl dieser Zustand bettseitig schwierig nachzuweisen ist, ist er gekennzeichnet durch eine weiter verstärkte Anfälligkeit für Infektion, Sepsis und Bakteriämie, die einen Cirkulus vitiosus in Gang setzt, an dessen Ende ein Multiorganversagen und der Tod stehen können [6, 9]. 61.3
Angeborene Immunantwort
Die angeborene Immunantwort ist ein unspezifisches pro- und antiinflammatorisches Reaktionsnetzwerk [10]. Auf Stimulation durch mikrobielle Produkte unabhängig von ihrer Herkunft kommt es zur Ausschüttung von pro- und später antiinflammatorischen Faktoren aus Makrophagen, Neutrophilen und dem Endothel [10]. Die Ziele dieser angeborenen Immunantwort sind die Begrenzung (Kompartimentierung) der Infektion und der Gewebsläsion, die Verhütung einer Ausbreitung im Gewebe und die Vernichtung der eindringenden Keime durch eine lokalisierte proinflammatorische Reaktion. Dadurch soll Zeit gewonnen werden, damit sich die erworbene (adaptive) Immunreaktion aufbauen kann, um dann die Infektion auszulöschen [11]. Diese proinflammatorische Antwort ist also nützlich. Eine gegenläufige antiinflammatorische Reaktion hat den Zweck, eine Überschwemmung mit den potenziell schädlichen proinflammatorischen Faktoren und damit eine systemische Wirkung zu verhindern. Sie spielt damit eine Rolle bei der Überwindung der Entzündung und der anschließenden Regeneration, sie kann aber auch einer nachfolgenden Infektion Vorschub leisten. Daher bestimmt das Gleichgewicht zwischen diesen beiden gegenläufigen Reaktionen letztlich den durch die Keiminvasion entstehenden Schaden im Organismus [10]. i Die Menge an Keimen und ihre Invasivität bestimmen eher als die Art der Keime das Ausmaß der Immunantwort und ihre Folgen wie Sepsis und septischen Schock [10].
Die angeborene Immunreaktion auf die bakterielle Infektion wird zunächst ausgelöst durch die Interaktion mit den Zellwandkomponenten der Bakterien, wie die Lipoteicholsäure/Peptidoglykane bei grampositiven und die Lipopolysaccharide (Endotoxin) bei gramnegativen Infektionen [10].
Proinflammatorische Reaktion Das Lipopolysaccharid-bindende Protein (LBP) im Serum und die zellulären Rezeptoren CD14, Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4) sowie MD2 auf Makrophagen und Granulozyten sind verantwortlich für die Bindung und letztlich die Opsonierung der Bakterienkomponenten am Ort der Bakterieninvasion [10, 12]. Intrazelluläre Signale triggern den »nuclear factor« (NF) NB, wodurch im Zellkern Gene für die Synthese von proinflammatorischen Zytokinen aktiviert werden, wie Tumornekrosefaktor (TNF-D), die Interleukine (IL)-1 und 6, die Imunomodulatoren Makrophagen-Migrations-Inhibitor-Faktor (MIF) und das Interferon-J (IFN-J) sowie seine Aktivatoren IL-12 und -18 [13]. Andere Zytokine gemeinsam mit dem wirksamen Neutrophilenaktivator und -chemoattraktor IL-8, einschließlich des Mono-
776
Kapitel 61 · Entzündung und angeborene Immunantwort
zyten-Chemotaxis-Proteins (MCP)-1 und -2, können ebenfalls in der Sepsis erhöht sein. Durch die intravasale Komplementaktivierung können vasoaktive Mediatoren und Neutrophilenaktivatoren freigesetzt werden, die mit anderen Komponenten der angeborenen Immunreaktion interagieren [14, 15].
Arachidonsäuremetaboliten Lipidmediatoren sind der durch hochregulierte sekretorische Phospholipase A2 (sPLA2) induzierte plättchenaktivierende Faktor (PAF) und die Produkte des Arachidonsäuremetabolismus, wie Thromboxan und Prostazyklin, die in der Sepsis erhöht sind [14–16]. Die lokale Freisetzung dieser Substanzen bewirkt u. a. eine Anziehung der Neutrophilen, die Opsonierung der Bakterien und eine Entzündungsreaktion, die die Kompartimentierung und schließlich die Bekämpfung der Infektion unterstützt [10, 11, 15, 17–19]. Außerdem werden die Neutrophilen durch die Expression neutrophiler und endothelialer Adhäsionsmoleküle zum Entzündungsort gelockt [20].
Immundepression
61
Die Immundepression nach Trauma oder Sepsis kann sowohl die angeborene Immunreaktion als auch die zelluläre Immunantwort und die erworbene Immunität beeinflussen [11]. Das vermehrte Auftreten von Suppressorzellen und die Apoptose der T-Lymphozyten (zytotoxische und Helferzellen) spielen eine zentrale Rolle in der zellulären Immundepression nach Trauma oder Sepsis, während die Neutrophilen- und Monozytenapoptose als proinflammatorische Reaktion verzögert einsetzt [11, 12]. Als Folge des gestörten Gleichgewichts der T-Helferzellen treten bei zirkulierenden Lymphozyten selektive Störungen ihrer sekretorischen Funktionen auf, wodurch die zelluläre Immunreaktion weiter geschwächt wird. Obwohl die Neutrophilen als erste aktiviert wurden, schwächen sich später ihre Reaktionsfähigkeit und ihr Migrationsvermögen ab. Der Labornachweis einer Herabregulierung der Produktion von TNF-D und anderer Zytokine (bei erhaltener oder gesteigerter IL-10-Production) und der Expression des wichtigen Histokompatibilitätssomplexes Klasse II (HLA-DR) an Lymphozyten und Monozyten nach Trauma oder Sepsis kann als ein Zeichen der Depression der angeborenen Immunreaktion gesehen werden. Dennoch sind die komplexen Mechanismen und die klinischen Symptome dieser Laborbefunde bislang unsicher, selbst wenn sie im Zusammenhang mit anhaltender oder wieder aufflackernder Entzündung, beeinträchtigter Bakterien-Clearance oder Sepsis auftreten [9, 11, 20–22].
Überwindung der Infektion Bei der Bekämpfung der Entzündung und beim Reparationsprozess wirken viele Faktoren mit, wie z. B. Komplementaktivierung, IFN-J, IL-1, -6, -10, -12, -13, -18, C-reactives Protein (CRP), »transforming growth factor E« (TGF-E) [10,11]. Wesentliche immunsuppressive Zytokine sind IL-4 und -10; andere, haupsächlich proinflammatorische Zytokine, wie IL-6, können je nach Sekretionsort und Entzündungsumfeld auch antiinflammatorische Reaktionen hervorrufen [23]. Die Wirkung proinflammatorischer Faktoren wird eingeschränkt durch lösliche Rezeptoren für Zytokine, durch natürliche Rezeptorantagonisten, durch Protease, abgestoßene und in Lösung gegangene Adhäsionsmoleküle und durch komplexbildende Moleküle für neutrophile Produkte, wie D1-Antitrypsin [10, 20]. Lösliche Triggerrezeptoren, die auf Myeloidzellen-1
(sTREM) exprimiert werden, können zusätzlich zu ihren proinflammatorischen Effekten auch antiinflammatorische Wirkungen haben [23, 24].
Akut-Phase-Reaktion Die Akut-Phase-Reaktion kann bei der Aktivierung der angeborenen Immunantwort sowohl pro- als auch antiinflammatorische Wirkungen haben: Das C-reaktive Protein (CRP), freigesetzt als Akut-Phase-Protein aus der Leber nach IL-6-Stimulation, kann z. B. eine zweite Welle der Komplementaktivierung in Gang setzen, die zur weiteren Gewebeschädigung führt und bei Sepsis fatale Folgen haben kann [25]. CRP kann gemeinsam mit zirkulierendem sPLA2 das Immunsystem unterstützen bei der Aufgabe, geschädigte Zellmembranen zu markieren und irreversibel geschädigte Zellen auszulöschen [16, 25, 26]. Die Blutkonzentrationen an LBP und löslichem CD14 können bei Sepsis ansteigen und die Endotoxizität verändern [12].
Immunmonitoring Immunmonitoring bedeutet die Laborüberwachung der Immunparameter bei kritisch Kranken, um eine Infektion früh zu erkennen und eine nachfolgende Immunsuppression nachzuweisen. Dennoch ist die klinische, diagnostische und therapeutische Bedeutung dieses Vorgehens immer noch unklar. Obwohl die angeborene Immunantwort eher als ein Netzwerk als eine Kaskade anzunehmen ist, werden in diesem Beitrag aus didaktischen Gründen die Reaktionen in zelluläre, proximale und distale (d. h. zirkulatorische) Ereignisse gegliedert und ihre jeweilige Rolle bei der Erkennung der Infektion und für das Outcome des Patienten besprochen, und zwar getrennt für Sepsis und nach Trauma. 61.4
Bakterielle Infektion und angeborene Immunantwort
Eine Überschwemmung (»spillover«) proinflammatorischer Faktoren in das Blut hängt verständlicherweise ab von der Virulenz und dem Ausmaß der Invasion der Bakterien und von der Abwehrkraft des Organismus. Die Bakteriämie hingegen triggert die Immunreaktionen direkt im zirkulierenden Blut und in den Zellen [15, 17, 18]. Solche proinflammatorischen Faktoren könnten theoretisch ideale frühe Infektionsmarker sein, doch obwohl potenziell sehr empfindlich, reagieren sie oft wenig spezifisch. Ebenso könnte man lokale bakterielle Infektionen mit den am Entzündungsort (etwa im Urin, im Liquor und anderswo) freigesetzten Markern der angeborenen Immunreaktion nachweisen, bevor die verursachenden Keime identifiziert sind.
Zellgebundene und intrazelluläre Signale Das Hochregulieren und das Abstoßen (»shedding«) der sTREM von Neutrophilen und Monozyten im Blut erscheint als spezifisch für bakterielle Infektionen und Pneumonien, etwa wenn es in der bronchioalveolären Lavageflüssigkeit nachgewiesen wird, auch bei beatmeten Intensivpatienten [24]. Ebenso können die Hochregulierung von Fc-Rezeptoren und Adhäsionsmolekülen sowie das anschließende »shedding« spezifisch sein für bakterielle Infektionen.
777 61.4 · Bakterielle Infektion und angeborene Immunantwort
61
Proximale Marker der angeborenen Immunreaktion: aktivierte Komplementfaktoren und Zytokine Die klinische Bedeutung der pro- und vielleicht auch der antiinflammatorischen Faktoren beim Nachweis einer bakteriellen Infektion und dem Erfolg einer antibakteriellen Behandlung wird im Folgenden diskutiert (Übersicht): An sich könnte die Messung von Markern der Keime oder der Reaktionsprodukte des Organismus helfen, einen raschen und einigermaßen sicheren Nachweis einer Infektion zu erbringen und beim Verdacht von Sepsis damit die Therapieentscheidungen zu unterstützen. Zirkulierende Marker der Immunantwort, wie IL-6 und IL-8, könnten unabhängig von SIRS-Kriterien helfen, ein bakterielle Infektion (und insbesondere eine Bakteriämie) bei Patienten mit klinischen Zeichen einer Entzündungsreaktion (wie Fieber) im frühen Stadium nachzuweisen [14, 27–29]. Der Faktor der Komplementaktivierung C3a und ebenso das Akut-Phase-Protein Phospholipase A2 wiesen bei internistischen, febrilen Krankenhauspatienten (davon die meisten mit SIRS-Kriterien) früh auf das Bestehen einer lokalen Infektion bzw. einer Bakteriämie hin, die erst eine Woche später mikrobiologisch gesichert werden konnte (. Abb. 61.1; [4, 14]). Mit diesen Markern konnte also eine Sepsis vorhergesagt werden; sie waren dabei zuverlässiger als die SIRS-Kriterien Fieber und Leukozytose [14]. Angeborene Immunreaktion: Faktoren von klinischer Bedeutung 5 Neutrophile, Linksverschiebung und Neutrophilenprodukte, Elastase, Laktoferrin, ROS 5 Adhäsionsmoleküle 5 Suppressor- und Helfer-T-Lymphozyten 5 Makrophagen/Monozyten 5 Pro- und antiinflammatorische Zytokine 5 Chemokine, »high-mobility group B-1 (HMG-Box 1) protein« 5 »Mannan-binding lectin« und Komplementaktivierung 5 C-reaktives Protein 5 Procalcitonin, Neopterin 5 Sekretorische Phospholipase A2 und Lipidmediatoren 5 »toll-like receptors« und MD-2 5 »triggering receptor« exprimiert auf Myeloidzellen
Bei febrilen Kindern (<3 Jahren) wurde eine okkulte Bakteriämie mittels hoher Konzentrationen von zirkulierendem IL-6 sicherer vorhergesehen als mit den klinischen Symptomen oder den traditionellen Tests; TNF-D und IL-1 hatten dagegen keinen prognostischen Wert. Bei Notfallpatienten mit SIRS-Kriterien boten IL-6 and TNF-D eine Früherkennung von Bakteriämie und schwerer Sepsis. Schließlich kann das Muster der Interleukinfreisetzung zwischen gramnegativer und grampositiver Infektion differenzieren, da letztere u. a. verbunden ist mit höherer IL-1E- und IL-18Freisetzung.
Makrophagenprodukte: Procalcitonin (PCT) und Neopterin Ursprünglich beschrieben in der neonatalen und kindlichen Sepsis, hat sich der Anstieg des Calcitonin-Precursors (PCT) im Blut als relativ neuer Marker insbesondere für frühe Infektion
. Abb. 61.1. Blutspiegel des Komplementaktivierungsprodukts C3a (normal <5 nmol/l), Interleukin-6 (normal <10 pg/ml) und der sekretorischen Phospholipase A2 (sPLA2; <normal 5 ng/ml) in febrilen, internistischen Erwachsenen mit (x) und ohne (8) mikrobiologischnachgewiesene Infektion, an den Tagen 0, 1 und 2 nach Einschluss in die Untersuchung. Mittelwerte ±SD. (Nach [14] mit freundlicher Genehmigung)
und Sepsis bewährt [30–33]. Die genauen Mechanismen der Synthese und Freisetzung dieses Proteins durch Immunzellen (Makrophagen) und anderen Nachinfektionsstimuli sind noch unbekant. Ein einfacher Bedside-Test (basierend auf Immunchromatographie oder Immunfluoreszenz) wurde entwickelt, der innerhalb von 30 min eine zuverlässige Schätzung der zirkulierenden PCT liefert. Entsprechend der Konsensusdefinitionen (. Tab. 61.1) bietet PCT eine gute frühe prognostische und diagnostische Hilfe
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Kapitel 61 · Entzündung und angeborene Immunantwort
bei der Erkennung von (schwerer) Sepsis und Schock und ihrem schlechten Outcome. Für die frühe Erkennung einer lokalen oder systemischen Infektion liegen jedoch weniger Daten vor [4,31–37]. Wir konnten zeigen, dass bei febrilen internistischen Patienten, meist mit SIRS-Kriterien [4], PCT erhöht war, wenn bei den Patienten später lokale Kulturen und/oder Blutkulturen positiv wurden. Eine Bakteriämie konnte mittels PCT besser erkannt werden als durch Fieber oder Leukozytose, den gewichtigsten SIRS-Kriterien [32, 34]. Demgegenüber schließt ein normaler PCT-Spiegel (<0,4 mg/ml mit Immunoluminometrie) bei fieberhaften Patienten eine Bakteriämie praktisch aus, während die CRP weniger zuverlässig diskriminiert [31, 32, 34, 38]. Andere Autoren konnten einen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Infektion und der Sepsis und der Höhe der zirkulierenden PCT feststellen: Die Spiegel waren am niedrigsten bei Patienten ohne septische Symptomatik oder Infektion, stiegen dann zunehmend an bei Patienten mit einfachen Infektion, bei septischer Symptomatik und Infektion, und sie waren schließlich am höchsten beim septischen Schock [27, 31, 33, 39, 40]. i PCT wird heute bei kritisch Kranken und Kindern als der bessere Marker für schwere Infektionen, Bakteriämie und Sepsis mit ihren verschiedenen Ausprägungen angesehen.
61
PCT ist besser als andere zirkulierende Marker wie CRP, IL-6, IL-8 oder der IL-1-Rezeptorantagonist [28, 31, 35, 36, 39, 41, 42]. PCT könnte sogar nützlich sein für die Erkennung einer erneut einsetzenden bakteriellen Infektion bei kritisch Kranken [31, 42]. Zirkulierendes PCT scheint auch nützlich zu sein bei der Differenzierung gegenüber viralen Infektionen und dem Aufflackern eines systemischen Lupus erythematodes. Neopterin wird von Makrophagen etwa bei der Stimulation durch IFN-J produziert, doch dessen Rolle wird noch nicht klar erkannt. Die Plasmaspiegel von Neopterin könnten bei der Diagnostik bakterieller Infektionen bei Intensivpatienten hilfreich sein.
Neutrophilenprodukte Elastase und Laktoferrin sind Proteinasen aus den azurophilen und spezifischen Granula der Neutrophilen, die bei Aktivierung infolge bakterieller Infektionen freigesetzt werden. Die Spiegel dieser Marker im zirkulierenden Blut sind bei der Sepsis üblicherweise erhöht, ja sogar bei Patienten mit Fieber, noch bevor die Infektion durch Blutkulturen nachgewiesen werden kann [34]. So bietet ein erhöhter Spiegel von Elastase-D1-Antitrypsin eine ebenso sichere Prognose für eine Bakteriämie wie PCT [34]. CD64, ein Membranrezeptor für Immunkomplexe (FC gammaR I) an Neutrophilen, wird bei Infektionen hochreguliert, und die Membranexpression an diesen Zellen könnte nützlich sein, um zwischen Infektion und einem akuten Schub einer Autoimmunerkrankung zu unterscheiden.
Akut-Phase-Proteine C-reaktives-Protein (CRP) wird bei IL-6-Stimulation in der Leber produziert. Es ist eines der sog. Akut-Phase-Proteine, dessen Bedeutung in der spontanen Bindung an Mikroorganismen (entdeckt durch Bindung an das Polysaccharid C von Pneumokokken) besteht. Dabei ist seine immunregulierende Funktion noch nicht vollständig bekannt, wenngleich eine antiinflammatorischen Funktion angenommen wird [26].
CRP und dessen Verlauf könnte ein empfindliches, wenn auch nicht sehr spezifisches Merkmal für die Prognose und die Entwicklung einer Infektion und einer Sepsis bei Intensivpatienten sein [26, 35, 39, 43]. Ebenso wie CRP wird auch das sPLA2, als Akut-Phase-Reaktionsprodukt, nach IL-6-Stimulation in der Leber produziert [14, 15]. Ebenso wie C3a (ein Produkt der Komplementaktivierung) und IL-6, könnte auch zirkulierendes sPLA2 eine Früherkennung der bakteriellen Infektion/Septikämie bei Patienten mit Fieber ermöglichen [14,15]. 61.4.1 Besondere Infektionserkrankungen
Meningokokkenmeningitis Bei einer Meningokokkenmeningitis sind die Konzentrationen der Zytokine, wie IL-8, im Liquor höher als im Blut, während bei der Meningokokkensepsis und beim Schock ohne Meningitis die Liquor- und Blutspiegel etwa gleich sind. Offensichtlich hat also die Meningitis eine lokale kompartimentierte Entzündungsreaktion zur Folge. Doch es bleibt zu klären, inwieweit die Entzündungsmediatoren im Liquor in unklaren Fällen die Diagnose Meningitis erhärten können und eine bakterielle von einer viralen Genese zu unterscheiden vermögen. Jedenfalls wird angenommen, dass hohe Blut- (und Liquor-) spiegel von PCT (und CRP) nützlich sein können, um bei Erwachsenen und Kindern zwischen den bakteriellen und den nichtbakteriellen (viralen) Ursachen der Meningitis zu unterscheiden [41, 44]. PCT (und CRP) könnten auch helfen, eine Ventrikulitis nach externer Ventrikeldrainage nachzuweisen, insbesondere bei blutigem Liquor.
Pneumonie Bei Pneumonie sind PCT, Zytokine und die Produkte der Komplementaktivierung in der bronchoalveolären Lavageflüssigkeit (BAL) und im Blut entsprechend der Keimbelastung erhöht, sogar bei leukopenischen Patienten [18, 33, 38, 45]; damit könnte man also die Diagnose stützen und die Behandlung überwachen [33, 45]. Dagegen scheint CRP für die Erkennung einer bakteriellen Pneumonie weniger aussagefähig zu sein. Bei Patienten unter massiver Glukokortikoidbehandlung sind bei bakteriellen (mikrobiologisch gesicherten) pneumonischen Infiltraten die BAL- und Serumwerte der proinflammatorischen Marker, einschließlich TNF-D, IL-6, IL-8 und CRP (Serum) auch dann erhöht, wenn sonst die klinischen Zeichen einer Infektion spärlich sind [46]. Besonders bei bakterieller Pneumokokkenpneumonie sind die proinflammatorischen Marker im Serum hoch; wohingegen durch die Kompartimentierung sonst die BAL-Spiegel eher höher sind als die Blutspiegel, wenn man die BAL-Verdünnung korrekt berücksichtigt. Bei der empirischen Antibiotikatherapie für ambulant erworbene Pneumonien lässt sich mit der Kontrolle nach PCT der Verbrauch an Antibiotika vermindern, ohne die Letalität zu steigern [33].
Harnwegsinfektionen Bei Harnwegsinfektionen übersteigt die Ausscheidung der Zytokine im Urin, einschließlich des IL-8, deutlich diejenige aus anderen Infektionsursachen [47]. So könnte bei Verdacht auf Harnwegsinfekt möglicherweise die Behandlungsentscheidung
779 61.5 · Gewebeschädigung und angeborene Immunreaktion
verbessert werden durch die Messung der Urinkonzentrationen noch vor der Keimfärbung und -kultur.
Immunsuppression Bei Patienten unter Chemotherapie, unter Kortikoidbehandlung oder bei Nierenersatztherapie fehlen oft die klassischen Zeichen der Infektion (SIRS), wie Fieber und Leukozytose. Diese sind daher nicht hilfreich bei der Erkennung einer Infektion; andere Marker könnten in dieser Situation tatsächlich besser sein. Bei krebskranken Kindern mit febriler Neutropenie nach Chemotherapie ist z. B. der Anstieg von PCT, IL-6 und IL-8, CRP, IL-1-Rezeptor-Antagonist, ebenso wie das lösliche TNF oder die IL-2-Rezeptoren im Serum (nicht aber TNF-D oder IL-1E) ein früher Hinweis auf eine bakterielle Infektion oder Bakteriämie, besonders durch gramnegative Keime. Die relative Bedeutung dieser Marker wird in den verschiedenen Studien unterschiedlich beurteilt, gleichwohl wird PCT in dieser Hinsicht als überlegen angesehen [48]. Bei Neutropenie mit Fieber infolge von Chemotherapie bei Er wachsenen sind sowohl IL-6, IL-8, sPLA2, CRP als auch PTC von mehr oder weniger großem Nutzen für den Nachweis bakterieller Infektionen, besonders bei Gramnegativer Bakteriämie und schwerer tödlicher Sepsis [40, 48]. Darüber hinaus kann man mit den IL-8-Spiegeln den Erfolg der Behandlung über wachen; es wird angenommen, dass normale Blutspiegel es erlauben, eine Antibiotikabehandlung sicher abzusetzen [40, 48]. Dennoch können bei leukopenischen Patienten mit Infektionen die PCT-Spiegel geringer erhöht sein als bei nicht-leukopenischen; daher nimmt man an, dass die PCT von zirkulierenden Leukozyten freigesetzt wird [34].
Beatmungspneumonie Intensivpatienten können entweder eine schwere bakterielle Infektion haben, die eine Intensivbehandlung direkt erforderlich macht, oder sie können auf der Intensivstation im Zuge anderer Erkrankungen dort eine nosokomiale Infektion erwerben (einschließlich primärer Bakteriämie), bedingt durch intravenöse Katheter, durch Beatmung (»ventilator associated pneumonia«; VAP), durch Sinusitis u. a. Bei Beatmungspneumonien mit positiver BAL-Kultur war die PCT im Blut erhöht (deutlicher als in der BAL), bei Verdacht auf VAP mit negativer BAL-Kultur dagegen nicht [37]. Die Höhe des PCT-Spiegels im Blut ermöglicht auch eine Aussage über den Verlauf der VAP. Der Nachweis von sTREM in der BAL-Flüssigkeit scheint spezifisch zu sein für eine bakterielle Infektion [24]. Dieser Nachweis könnte bei schwieriger Diagnosestellung zusätzlich helfen. Auch die CRP wurde vorgeschlagen zur Unterstützung der Diagnose und Verlaufsbeobachtung der VAP bei Intensivpatienten [26].
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ALI/ARDS Hohe Spiegel von Entzündungsmarkern in der BAL-Flüssigkeit werden auch beim ARDS nachgewiesen, obwohl es keine pneumonische oder infektiöse Ursache hat; so ist die Spezifität der Entzündungsmarker im alveolären Kompartiment für bakterielle Infektionen letztlich unklar. Im Blut dagegen scheinen Werte für PCT (besser als die Werte für Neopterin, TNF-D, IL-6, IL-8 und CRP) bei ARDS gut zwischen der infektiösen (etwa Pneumonie) und der nicht-infektiösen Genese zu differenzieren. Nebenbei bemerkt, wenn eine nicht-pulmonale Gewebeschädigung oder Sepsis in der Lunge eine initiale proinflammatorische Immunantwort (IL-8) in Gang setzt, die zur akuten Lungenschädigung (ALI/ARDS) führt, so kann dies die alveolären Abwehrmechanismen erschöpfen und eine nachfolgende antiinflammatorische Reaktion (IL-10) hervorrufen; dies kann wiederum Ursache einer anschließenden nosokomialen pulmonalen Infektion sein [19]. 61.5
Gewebeschädigung und angeborene Immunreaktion
Auch nicht-infektiöse Gewebeschädigungen, wie Trauma, Verbrennungen, große operative Eingriffe (z. B. Herzoperationen), Pankreatitis u. Ä., können die angeborene Immunreaktion und die Produktion von (pro- und anti-)inflammatorischen Faktoren anstoßen und damit, je nach Ausmaß der Gewebeschädigung, die Entwicklung eines Multiorganversagens initieren, gelegentlich bis hin zum Tod [35,49–51]. Hämorrhagischer Schock, Minderperfusion und Reperfusion, massive Bluttransfusionen, Gewebsschädigung und andere immunmodulatorische Geschehnisse tragen dazu bei [35]. Durch Trauma stimuliert setzen zirkulierende Neutrophile reaktive Sauerstoffspezies (ROS) frei und exprimieren Adhäsionsmoleküle. Dadurch wird die traumabedingte Neutrophilie durch mikrovaskuläre Sequestration weiter verstärkt, und die Leukozytose und die freigesetzten Adhäsionsmoleküle verlieren ihren Wert für die Erkennung einer Infektion. Die ausgelösten Entzündungsreaktionen können verstärkt werden, wenn nach dem »ersten Schlag« (Trauma) noch weitere Schläge durch Komplikationen, wie Infektion, operative Eingriffe etc. folgen. So wird unter postoperativen Bedingungen der prognostische Wert mancher Infektionsmarker höchst fragwürdig; er hängt dann z. B. ab vom Zeitintervall zwischen den »Folgeschlägen« und der ablaufenden Kinetik der Immunreaktion. i Obwohl PCT ein empfindlicher Marker ist, ist er doch nicht völlig spezifisch für Infektionen. Unabhängig von einer bakteriellen Infektion kann PCP auch nach Operationen, Trauma, Verbrennungen, Herzinfarkten u. a. erhöht sein [4–7, 31, 35, 42].
Aspirationspneumonie
Herzoperationen
Bei der Aspirationspneumonie wird eine Infektion oft vermutet, doch viel seltener tatsächlich nachgewiesen. Dementsprechend werden Antibiotika oft prophylaktisch gegeben, meist jedoch zu Unrecht. Unter diesen Umständen kann die CRP im Blut hilfreich sein, um eine bakterielle Superinfektion nachzuweisen, bei der eine empirische Antibiotikabehandlung wirklich erforderlich ist. Tatsächlich ist der diagnostische Wert der CRP höher als die der wichtigsten SIRS-Kriterien, Fieber und Leukozytose.
Herzoperationen, insbesondere mit kardiopulmonalem Bypass und bei infaktbedingter Myokardschädigung, stimulieren wirksam die proinflammatorische Immunantwort. Dennoch sprechen deutlich erhöhte PCT-Werte bei fieberhaften Patienten in der Frühphase nach einer Herzoperation eher für eine komplizierende bakterielle Infektion als für eine Abstoßungsreaktion oder eine virale Infektion [35, 50, 51]. Dahingegen konnte in anderen Studien mit einem erhöhten PCT/CRP nach Herzoperationen oder -Transplantationen nicht zwischen bakteriellen Infektionen
780
Kapitel 61 · Entzündung und angeborene Immunantwort
einerseits und viralen Infektionen oder Abstoßungsreaktionen andererseits unterschieden werden [35].
Trauma Ein IL-6-Spiegel >35 pg/ml am 6. Tag nach Trauma war ein besserer Marker für nosokomiale Infektionen als ein Anstieg des CRP. Hohe Temperaturen und ständig erhöhte CRP-Werte bei Patienten mit SIRS am 4. Tag nach Trauma sprechen wahrscheinlich für eine Infektion, unabhängig von der Leukozytenzahl. Die Plasmaspiegel von Neopterin bei kritisch kranken Traumapatienten helfen dagegen nicht bei der Diagnose einer baktriellen Infektion. Mit dem Trauma selbst werden PLA2 und neutrophile Mediatoren freigesetzt. Alles in allem sind die Immunreaktionen bei schwerem Trauma weniger hilfreich für den Nachweis von Infektionen als bei nicht-traumatisierten Patienten.
Hämorrhagische Pankreatitis Bei hämorrhagischer Pankreatitis sind die Blutspiegel von PCT, IL-6 und IL-8, CRP und »granulocyte colony stimulating factor« (G-CSF) erhöht, insbesondere bei der akut nekrotisierenden hämorhagischen Pankreatitis, wenn eine Nekroseinfektion besteht oder droht [52, 53]. Daher wurde vorgeschlagen (wenn auch nicht unwidersprochen), dass die oben genannten Faktoren hilfreich sein könnten für den Nachweis einer infizierten Nekrose [52, 53]. Die Entzündungsmarker könnten bei Behandlungsentscheidungen helfen, z. B. bei der Planung der Antibiotikatherapie oder für Operationen, etwa wenn die CT-geführte Nekrosepunktion kontaminiert wurde und keinen schlüssigen Nachweis einer infizierten Nekrose erlaubte [53].
61
andererseits die Komplementaktivierung im zirkulierenden Blut bei bakteriämischen Patienten ein starkes Zeichen für einen fatalen Ausgang ist mit septischem Schok und Tod [15]. Ein »spätes« Zytokin ist das »high-mobility group B-1 (HMG-Box 1] protein« ein proinflammatorisches Zytokin, das im Tiermodell bei Sepsis letztlich den Tod herbeiführt [54]; seine Bedeutung beim Menschen ist aber nach wie vor unklar [54].
Behandlungsansätze Im vergangenen Jahrzehnt hat es viele Versuche gegeben, die angeborene Immunantwort zu beeinflussen, um damit eine Verbesserung der klinischen Behandlung zu erreichen. Doch die meisten dieser Versuche haben keinen Vorteil in der Behandlung der Sepsis gebracht [55]. Untersucht wurden u. a. monoklonale Antikörper, TNF-D-Abfänger (»scavenger«), IL-1E-Rezeptor-Antagonisten, PAF- und sPLA2-Inhibitoren [55, 56]. Einige Untersucher haben mittels eines Bedside-Tests einen initialen IL-6-Blutspiegel >1000 pg/ml festgelegt als Einschlusskriterium für eine immunmodulatorische Behandlung mit antiTNF-Antikörpern [29]. Mit diesem Konzept könnte man nach den neuesten anti-TNF-Untersuchungen gewisse Vorteile für Krankheitsverlauf und Outcome vermuten [29]. Ähnliche Ergebnisse wie für die Sepsis gelten auch für Trauma und für die großen Operationen. Das Ausmaß der Aktivierung der angeborenen Immunantwort, gemessen an den zirkulierenden Zytokinspiegeln, der Komplementaktivierung, den Produkten der Neutrophilendegranulation u. a. korrelieren mit Krankheitsverlauf und Outcome. Ein Behandlungsversuch mit dem ROS-Scavenger Superoxiddismutase verbesserte zwar die Entzündungsreaktion, doch nicht das Überleben nach Trauma.
Immundepression 61.6
Angeborene Immunreaktion. Therapie und Behandlungsergebnisse
Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass die Spiegel der pro- und antiinflammatorischen Zytokine und anderer Mediatoren der angeborenen Immunreaktion (einschließlich IL-6 und PCT) eine prognostische Aussage erlauben über die verschiedenen Stadien der Sepsis; sie korrelieren mit dem Schweregrad der Erkrankung, dem Ausmaß des Organversagens und mit der Sterbeprognose [15, 24, 25, 27–29, 31, 34, 39]. Das ist umso bemerkenswerter, als die Studien hinsichtlich Design und Case-Mix sehr unterschiedlich sind. Obwohl eine ausgeprägte proinflammatorische Reaktion (Zytokine) möglicherweise zum Teil verantwortlich sein kann für eine Progression von der einfachen Infektion über SIRS, Sepsis, septischen Schock und schließlich Tod, konnte jedoch beim Menschen nie ein dafür spezifischer Marker oder Mediator zweifelsfrei identifiziert werden [15, 29].
Marker funktion Sowohl bei überlebenden als auch sterbenden septischen Patienten können primär stark erhöhte Werte zirkulierender Zytokine (IL-6) und anderer Entzündungsfaktoren sich im Laufe der Behandlung verringern, bei Sterbenden allerdings weniger ausgeprägt [24, 27]. Die Produkte der Komplementaktivierung (C3a) und sPLA2 sind auch gelegentlich besonders hoch bei sterbeneden Patienten [14, 15, 25]. So wird vermutet, dass einerseits die Spiegel der Zytokine und der sPLA2 eine Bedeutung bei der Früherkennung lokaler Infektionen mit Sepsis haben und dass
Die nach schwerer Sepsis oder massivem Trauma auftretende Immundepression, oft mit anschließender Sepsis und Multiorganversagen mit Todesfolge, kann gelegentlich nachgewiesen werden durch die oben genannten Laboranalysen der immunologischen Phänomene [9, 10, 21]. Die Immundepression nach Sepsis kann durch den granolozyten-/makrophagenstimulierenden Faktor (GM-CSF) angestoßen werden und dadurch zur Beseitigung der Entzündung beitragen. Doch diese Behandlung ist noch experimentell und noch nicht geeignet für den klinischen Einsatz bei nicht-neutropenischen Intensivpatienten [57]. Es gibt eine Studie zur Behandlung der Immundepression nach Trauma durch ein Anstoßen der Immunogenität von Monozyten mittels IFN-J, jedoch mit uneinheitlichem Ergebnis [58]. Schlussfolgerungen Bei Patienten mit Verdacht auf Infektion werden in der frühen Behandlungsphase spezifische lokale und zirkulierende Marker der Entzündungsreaktionen zunehmend genutzt, um eine bakterielle Infektion nachzuweisen und ihren Schweregrad zu bestimmen. Tatsächlich sind bei febrilen Patienten die Spiegel der zirkulierenden Zytokine, der Produkte der Komplementaktivierung, von PCT, CRP, Lipidmediatoren und Produkte der Neutrophilendegranulation von Bedeutung für die Früherkennung einer bakteriellen Infektion oder Bakteriämie. Wenn sie sich rasch bestimmen 6
781 Literatur
lassen, dann können sie eingesetzt werden, um bei therapeutischen Studien infektiöse Patienten sicherer in Gruppen zu unterteilen, als sie nur durch die üblichen klinischen Symptome zu charakterisieren [29]. Dies könnte auch für Patienten nach Trauma oder schweren operativen Eingriffen gelten, obwohl die Gewebszerstörung selbst eine unspezifische angeborene Immunantwort verursacht. Der Wert dieser Mediatoren für Wahl und Zeitpunkt einer Antibiotikabehandlung und zur Beurteilung des Behandlungserfolges bedarf allerdings noch weiterer Untersuchungen.
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62 Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika S.W. Lemmen
62.1
Antibiotikatherapie
62.1.1 62.1.2 62.1.3 62.1.4 62.1.5 62.1.6 62.1.7
Resistenzentwicklung –784 Adäquate vs. inadäquate Therapie –784 Wahl des Antibiotikums –784 Zeitpunkt der Antibiotikagabe –784 Mono- vs. Kombinationstherapie –785 Dauer und Dosierung –785 Erregerspezifische Therapieumstellung –786
62.2
Antibiotikastrategien
62.2.1 62.2.2 62.2.3 62.2.4
Antibiotikarestriktion –786 Antibiotika-Cycling –786 Antibiotikaleitlinien –786 Fallkonferenzen –786
62.3
Antibiotikaprophylaxe
62.4
Diagnostik und Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
62.4.1 62.4.2 62.4.3 62.4.4
Epidemiologie invasiver Candidainfektionen –787 Diagnostik invasiver Candidainfektionen –788 Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen –788 Antimykotikaprophylaxe –788
Literatur
–788
–784
–786
–787 –787
784
Kapitel 62 · Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
62.1
Antibiotikatherapie
62.1.1 Resistenzentwicklung Eine der größten Herausforderungen der klinischen Infektiologie ist die weltweite und aktuell deutschlandspezifische Zunahme multiresistenter Erreger. So hat sich beispielsweise die Rate Methicillin-resistenter Staphylococcus-aureus-Stämme (MRSA) in Deutschland seit Anfang der 1990-er Jahre bis heute auf 25% erhöht. Bei nosokomial erworbenen Sepsisfällen auf Intensivstationen hat sich die Prävalenz sogar auf über 30% gesteigert. i Somit ist Deutschland das Land mit der höchsten jährlichen relativen Zunahme von MRSA.
62
Auch die Rate Vancomycin-resistenter Enterokokken (VRE) betrug zuletzt ca. 10%; diese variiert sehr stark in den unterschiedlichen Krankenhäusern. Parallel zur Entwicklung der Resistenz bei grampositiven Erregern zeigte sich in den letzten Jahren eine rasant zunehmende Resistenzentwicklung bei gramnegativen Erregern wie E. coli und Klebsiellen spp. Aufgrund einer Breitspektrum-E-Laktamase (»extended spectrum E-lactamase«, ESBL) werden diese Erreger gegen sämtliche Penicilline und Cephalosporine resistent, sodass nur noch wenige Therapieoptionen, wie beispielsweise Carbapeneme, Glycylglyzine (z. B. Tigecyclin) und teilweise Gyrasehemmer zur Therapie eingesetzt werden können. Aufgrund der häufigen initialen empirischen inadäquaten Therapie sind schwere, lebensbedrohliche Infektionen mit diesen resistenteren Erregern assoziiert mit einer signifikant höheren Letalität, verlängerten stationären Liegedauer und erhöhten Kosten [1]. In Risikoanalysen konnte gezeigt werden, dass eine vorangegangene Antibiotikatherapie einer der wichtigsten prädisponierenden Faktoren war. Eine eindeutige Korrelation zwischen Antibiotikaverbrauch und Resistenzentwicklung konnte weiterhin in mehreren unterschiedlichen Publikationen gezeigt werden [2]. Diese Studien korrelierten jedoch ausschließlich einen zeitlichen und regional begrenzten Zusammenhang mit der Resistenzentwicklung, sodass die Kausalität zwischen Antibiotikagabe und Resistenzentwicklung berechtigt angezweifelt wurde. Erstmals beschrieb Gossens et al. bei gesunden Probanden die statistisch signifikant unterschiedliche Zunahme Makrolid-resistenter Streptokokken aus dem oropharyngealen Bereich nach Gabe von Azithromycin bzw. Clarithromycin im Vergleich zu Probanden, welche Placebo einnahmen [3]. i Mit dieser Untersuchung [3] konnte somit erstmals auch auf individueller Ebene ein kausaler Zusammenhang zwischen Antibiotikaanwendung und Resistenzentwicklung gezeigt werden.
Eine der wichtigsten Maßnahmen, einer solchen Resistenzentwicklung entgegenzuwirken, ist der streng indizierte und limitierte Einsatz von Antiinfektiva. Trotz Leitlinien und nationalen und internationalen Therapieempfehlungen für den Umgang mit Antibiotika kann und muss die Indikation für eine Therapie patientenspezifisch am Krankenbett gestellt werden. Hierfür gibt es in fast allen europäischen Ländern eine langjährige Ausbildung zum klinischen Infektiologen.
62.1.2 Adäquate vs. inadäquate Therapie In unterschiedlichen prospektiven randomisierten klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass eine initiale empirische inadäquate Therapie insbesondere bei schweren Infektionen, wie Sepsis und Pneumonie, bei Intensivpatienten signifikant mit einer erhöhten Letalität, verlängerten Liegedauer und erhöhten Kosten assoziiert ist [4]. Inadäquat wird definiert als In-vitro-Resistenz des Erregers gegen das gegebene Antibiotikum. 62.1.3 Wahl des Antibiotikums Grundlage für die adäquate Wahl sind zunächst die häufigsten zu erwartenden Erreger entsprechend der Infektionslokalisation –d. h. in Abhängigkeit von Anamnese, Klinik, Labor und bildgebenden Verfahren kann entweder eindeutig oder zumindest als Arbeitshypothese eine Infektionslokalisation, wie beispielsweise Pneumonie, ZVK-Infektion, Harnwegsinfektion usw., angenommen werden. Zusätzlich müssen individuelle Risikofaktoren für multiresistente Erreger beachtet werden. Risikofaktoren für multiresistente Erreger 5 Chronische Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Alkoholismus) 5 Chronische Organinsuffizienz 5 Malignom 5 Vorausgegangene Antibiotikatherapie 5 Vorausgegangene Hospitalisierung
Für die unterschiedlichen Infektionen sollten die nationalen und internationalen Therapieempfehlungen der jeweiligen Fachgesellschaften berücksichtigt werden. Diese Empfehlungen beruhen zumeist auf der aktuellen nationalen Resistenzsituation der häufigsten Erreger. Diese kann jedoch in der eigenen Institution signifikant vom nationalen Trend abweichen, sodass ist es zwingend notwenig ist, die eigene Therapiestrategie an die lokale aktuelle Resistenzsituation anzupassen und diese regelmäßig in 6- bis 12-monatlichen Abständen zu überprüfen. 62.1.4 Zeitpunkt der Antibiotikagabe Bei schweren lebensbedrohlichen Infektionen – unabhängig davon, ob diese ambulant oder nosokomial erworben wurden – ist der Zeitpunkt der Antibiotikagabe von ausschlaggebender Bedeutung für die Überlebensrate. In einer retrospektive Analyse bei über 13.000 Patienten mit ambulant erworbener pneumogener Sepsis erhöhte sich die Letalität und die stationäre Liegedauer signifikant bei Patienten, bei welchen die Antibiotikatherapie erst 4 h nach stationärer Aufnahme eingeleitet wurde, im Vergleich zu Patienten, welche innerhalb von 4 h therapiert wurden [5]. Es konnte in einer retrospektiven Kohortenstudie gezeigt werden, dass der Beginn einer adäquaten Antibiotikatherapie während der 1. Stunde nach dokumentierter Hypotension mit der geringsten Letalität assoziiert war. Bis 6 h erhöhte jede weitere Stunde Verzögerung die Sterblichkeit um 7,6% [6].
785 62.1 · Antibiotikatherapie
62.1.5 Mono- vs. Kombinationstherapie In in-vitro-Untersuchungen konnte im Vergleich zu E-Laktamantibiotika allein (z. B. Cephalosporine oder Penicillin) in der Kombination mit Aminoglykosiden oder Gyrasehemmern ein additiver oder synergistischer Effekt gegenüber unterschiedlichen grampositiven Erregen (z. B. S. aureus oder Enterokokken) und gramnegativen Stäbchen (z. B. P. aeruginosa) gezeigt werden. Diese Ergebnisse waren Grundlage zahlreicher klinischer Studien, welche die Unterschiede zwischen Mono- vs. Kombinationstherapie bei Patienten mit unterschiedlichen Infektionen belegen sollten. In einer Metaanalyse mit 5 Studien mit sehr unterschiedlichem Studiendesign war nur bei Infektionen mit P. aeruginosa die Kombinationstherapie signifikant der Monotherapie bezüglich Letalität überlegen [7]. Die Autoren empfehlen daher nur bei Infektionen mit Nachweis oder dringendem Verdacht auf P. aeruginosa eine Kombinationstherapie, weniger wegen eines in vitro synergistischen Effektes, sondern vielmehr, um 2 Optionen für eine in vitro empfindliche Therapie zu haben. Andere Studien zeigten eine Überlegenheit der Kombinationstherapie bei neutropenischen Patienten oder eine geringere Komplikationsrate wie beispielsweise Hypotension. In einer 2004 publizierten Metaanalyse wurden die Ergebnisse von 64 klinischen Einzelstudien zusammenfassend bewertet [8]. In allen Studien wurde die Monotherapie mit E-Laktamantibiotika mit der Kombination entweder desselben oder eines anderen E-Laktamantibiotikums mit Aminoglykosiden verglichen. Die Autoren kamen zu den Schlussfolgerungen, dass die Monotherapie bezüglich Letalität, klinischer Versager- und bakterieller Eradikationsrate der Kombination gleichwertig war. Sogar in der Subgruppenanalyse mit P.-aeruginosa-Infektionen und S.-aureus Endokarditiden konnte keine Überlegenheit der Kombinationstherapie gezeigt werden. In keiner der beiden Untersuchungsarme kam es gehäuft zu Superinfektionen mit Candida spp. Die Rate an Nebenwirkungen wie Nephro- und Ototoxizität war signifikant höher in der Patientengruppe mit Aminoglykosiden. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass bei einem Teil der hier analysierten Studien Aminoglykoside 3-mal täglich und nicht, wie heute üblich, 1-mal täglich gegeben wurden. In einer weiteren Metaanalyse wurden 8 Studien bewertet, welche die unterschiedliche bakterielle Resistenzentwicklung bei Patienten mit Monotherapie (E-Laktamantibiotika) vs. Kombinationstherapie (E-Laktam + Aminoglykoside) analysierten [9]. Auch hier ist die Mono- der Kombinationstherapie gleichwertig, d. h. es konnte keine verzögerte Resisenzentwicklung durch die Kombinationstherapie erreicht werden. In all diesen Studien wurde ausschließlich die Kombination von E-Laktamantibiotika mit Aminoglykosiden mit sehr unterschiedlichem Studiendesign untersucht; vergleichbare Studien mit E-Laktamantibiotika und Gyrasehemmern sind bisher nicht publiziert. Derzeit wird von der Deutschen Sepsisgesellschaft eine prospektive multizentrische Studie mit dieser Fragestellung bei Patienten mit Sepsis durchgeführt. Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund müssen die Empfehlungen der unterschiedlichen Fachgesellschaften für eine Kombinationstherapie als nur eingeschränkt evidenzbasiert angesehen und daher die Indikation für eine Kombination im Einzelfall begründet werden.
62
So empfehlen wir beispielsweise eine Kombinationstherapie – bevorzugt E-Laktam + Fluorchinolone – bei Patienten mit septischem Schock mit Multiorganversagen als Initialtherapie. Bei klinischer Besserung wird die Therapie mit dem E-Laktamantibiotikum fortgeführt und der Kombinationspartner abgesetzt. 62.1.6 Dauer und Dosierung Die durchschnittliche Therapiedauer auch schwerer nosokomialer Infektionen beträgt 7 bis maximal 10 Tage. Kriterium für die Beendigung einer Therapie ist in erster Linie die klinische Besserung über 2–3 Tage. Die Reduktion der initial erhöhten Entzündungsparameter sowie Fieberfreiheit sind weitere Parameter, die jedoch aus vielen anderen Gründen auch weiterhin erhöht bleiben können (z. B. nach operativen Eingriffen). Von dieser grundsätzlichen Empfehlung gibt es jedoch viele Ausnahmen, die entweder durch den Erreger oder die Infektionslokalisation bedingt sein können. So ist beispielsweise die postinfektiöse Komplikationsrate einer Staphylococcus-aureusBakteriämie/Sepsis mit Osteomyelitis oder Endokarditis deutlich höher, wenn kürzer als 14 Tage i.v. therapiert wird. Die Relapsrate beatmungsassoziierter Pneumonien war bei P. aeruginosa bei einer Therapiedauer von 8 Tagen deutlich höher im Vergleich zu 15 Tagen [10]. Für Infektionen, bei denen am Infektionsort aufgrund der geringeren Durchblutung (z. B. Osteomyelitis) oder eines bradytrophen Gewebes (z. B. Endokarditis) nur geringe Antibiotikakonzentrationen erreicht werden, sind deutlich längere Therapiezyklen von 4 Wochen bis zu mehreren Monaten (z. B. bei chronischen Osteomyelitiden) indiziert. Auf Intensivstationen sind bei schweren Infektionen die höchstzugelassenen intravenösen Dosierungen indiziert. Selbstverständlich müssen in Abhängigkeit von der Art der Elimination die maximalen Tagesdosierungen an die Organinsuffizienz, beispielsweise von Leber oder Niere, adaptiert werden.
In US-amerikanischen Empfehlungen werden E-Laktamantibiotika (z. B. Penicilline) häufig bis zu 6-mal täglich gegeben. Es ist bekannt, dass die Zeitdauer der Antibiotikakonzentration von E-Laktamantibiotika über der minimalen Hemmkonzentration (MHK) der Bakterien entscheidend ist für die bakterielle Abtötung und damit für die klinische Heilung. E-Laktamantibiotika können daher insbesondere bei schweren lebensbedrohlichen Infektionen oder bei einer persistierenden Bakteriämie trotz adäquater Therapie als Dauerinfusion gegeben werden (z. B. Ceftazidim). Im Gegensatz hierzu entscheidet bei Aminoglykosiden und Gyrasehemmern die maximale Serumkonzentration über das Abtöten von Bakterien. Insbesondere Aminoglykoside werden daher heute – mit Ausnahme bei Endokarditis – nur 1-mal täglich gegeben; so wird bei gleicher Wirkung ein deutlich verbessertes Nebenwirkungsprofil erreicht im Vergleich zur früher üblichen 2 - bis 3-mal täglichen Dosierung.
786
Kapitel 62 · Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
62.1.7 Erregerspezifische Therapieumstellung Auf Intensivstationen ist eine Deeskalation von Antiinfektiva im Sinne einer Dosisreduktion, Verringerung der Applikationshäufigkeit oder Umstellung von der initial begonnenen intravenösen Therapie auf eine perorale Gabe in den meisten Fällen nicht indiziert. Eine erregerspezifische Umstellung der Initialtherapie mit einem breiten Erregerspektrum auf ein schmales Spektrum ist jedoch sowohl aus klinisch-infektiologischer Sicht im individuellen Fall wie auch aus epidemiologischer Sicht sinnvoll (. Tab. 62.2). Hierdurch wird eine verzögerte Resistenzentwicklung der Substanzen mit einem breiten Spektrum erzielt; weiterhin besitzen erregerspezifische Substanzen häufig eine bessere In-vitro-Aktivität, können teilweise höher dosiert werden und sind zudem häufig preisgünstiger. Kriterien für eine Umstellung sind, dass das mikrobiologisch nachgewiesene Bakterium ein typischer Erreger der Infektionslokalisation ist (z. B. S. pneumoniae bei Pneumonie oder S. aureus bei katheterinduzierter Infektion). Dieser sollte idealerweise in physiologisch sterilem Material nachgewiesen werden, wie beispielsweise Liquor, Blutkultur oder Punktion steriler Körperhöhlen. Beim Nachweis aus physiologisch kolonisiertem Material, wie beispielsweise respiratorischem Sekret, sollte der Erreger in Reinkultur und hoher Konzentration – im optimalen Falle wiederholt – nachgewiesen werden (z. B. P. aeruginosa im Trachealsekret bei nosokomial erworbener Pneumonie). 62.2
Antibiotikastrategien
62.2.1 Antibiotikarestriktion
62
In mehreren Untersuchungen konnte durch eine Antibiotikarestriktion bestimmter Substanzklassen eine Reduktion der entsprechenden resistenten Erregerspezies gezeigt werden. Häufig wird in solchen Studien jedoch nicht beschrieben, dass alternativ andere Substanzklassen entsprechend häufiger eingesetzt werden, wodurch weitere Resistenzen selektiert und induziert werden. So konnte beispielsweise durch Einschränkung der Applikation von 3.-Generations-Cephalosporinen, Carbapenemen, Clin. Tabelle 62.1. Erregerspezifische Therapie Erreger
Wirkstoff
Pneumokokken
Penicillin
Streptokokken (z. B. S. pyogenes)
Penicillin
Staphylokokken (S. aureus, CNS)
Oxacillin
Enterokokken (E. faecalis)
Ampicillin
E. coli
Ampicillin, Cefuroxim
Klebsiella spp.
Cefuroxim
Proteus spp.
Cefuroxim
Moraxella catarrhalis
Cefuroxim
P. aeruginosa
Piperacillin, Ceftazidim
damycin, Vancomycin und Aminoglykosiden die MRSA-Rate sowie das endemische hohe Niveau von Klebsiella pneumoniae – Ceftazidim-resistent über einen 4-Jahres-Zeitraum – deutlich gesenkt werden. Da aber die Antibiotikaanwendungsrate an sich nicht reduziert wurde, kam es zu einem Mehrverbrauch von ELaktamase-geschützten Penicillinen, sodass zeitgleich ein massiver Anstieg von Acinetobacter spp. gezeigt werden konnte [11]. Es ist daher nicht sinnvoll, einzelne Substanzklassen zu meiden und andere entsprechend vermehrt einzusetzen mit dem Ziel, das Resistenzniveau zu reduzieren. Es ist sehr viel sinnvoller, die Antibiotikaindikationen strenger zu stellen, um somit die Antibiotikaanwendungsrate insgesamt zu senken. Nur so ist mittelfristig eine Reduktion multiresistenter Erreger erreichbar.
62.2.2 Antibiotika-Cycling Theoretisch ist vorstellbar, dass durch ein routinemäßiges Rotieren bestimmter Substanzklassen über einen definierten Zeitraum (beispielsweise 3–6 Monate) ein verminderter Selektionsdruck ausgeübt wird, wodurch einer Resistenzentwicklung entgegengewirkt werden soll. So wird beispielsweise empfohlen, periodisch bevorzugt Penicilline, dann Cephalosporine, Gyrasehemmer und anschließend Carbapeneme einzusetzen. Einerseits ist die Compliance mit einem solchen rotierenden System häufig gering, und andererseits konnte eine Senkung der Resistenzentwicklung nicht erreicht werden [12]. 62.2.3 Antibiotikaleitlinien Der Vorteil schriftlich eingeführter Leitlinien zur Antibiotikatherapie und Prophylaxe konnte mehrfach belegt werden; solche Leitlinien wurden als SOPs zur Diagnostik und Therapie der unterschiedlichen Infektionen für eine Intensivstation mit Hilfe eines Computerprogramms weiterentwickelt und vorgestellt [13]. Die Befolgung solcher komplexer und komplizierter SOPs erscheint auf den ersten Blick schwer realisierbar, andererseits kann so auf höchstem Niveau eine Qualität sichergestellt werden. Im Individualfall kann und muss jedoch die Freiheit und Möglichkeit bestehen, von solchen vorgegebenen »pathways« begründet abzuweichen. 62.2.4 Fallkonferenzen In angloamerikanischen Ländern ist es üblich, anhand von aktuellen Fällen das implementierte diagnostische und/oder therapeutische Vorgehen aufzuzeigen und kritisch zu hinterfragen. Solche »morbidity and mortality conferences« sind in Deutschland unüblich, obwohl sie v. a. für jüngere Kollegen eine ideale Möglichkeit der Wissensvermehrung darstellen und die Möglichkeit bieten, etablierte Regimes zu aktualisieren und optimieren. So könnten auf dem Gebiet der klinischen Infektiologie beispielsweise Patienten mit einer Dreier- oder Viererkombination, einer Therapiedauer >2 Wochen, sowie Patienten, die bereits einen 3. Antibiotikazyklus erhalten oder bei denen eine verlän-
787 62.4 · Diagnostik und Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
gerte postoperative Prophylaxe über 24 h durchgeführt wird, vorgestellt werden. i Zusammenfassend erscheint eine Strategie, die die unterschiedlichen Instrumente zur adäquaten und indizierten Antibiotikaanwendung kombiniert und diese auf die abteilungsspezifischen Bedürfnisse modifiziert, am sinnvollsten [14].
62.3
Antibiotikaprophylaxe
Das Ziel einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe ist die Reduktion postoperativer Wundinfektionen; dies konnte in mehreren Studien in den 1980-er und 90-er Jahren belegt werden und ist heute in sämtlichen Empfehlungen enthalten. Dennoch können nicht alle postoperativen Wundinfektionen auch durch eine adäquat gegebene Prophylaxe vermieden werden, und auch andere nosokomial erworbene Infektionen, wie Pneumonien, Harnwegsinfektionen oder katheterassoziierte Sepsisfälle können nicht verhindert oder reduziert werden. Die Indikationen für eine Prophylaxe sind entweder Operationen in einem physiologisch bakteriell besiedelten Situs, wie beispielsweise Kolonoperationen, bei denen ein erhöhtes Wundinfektionsrisiko bekannt ist, oder Eingriffe, bei denen eine Wundinfektion eine »medizinische Katastrophe« darstellen würde, wie beispielsweise Herzoperationen oder Implantationen großer Fremdkörper (z. B. Knie- und Hüfttotalendoprothese). Die Indikationen sind aktuell übersichtlich für die einzelnen operativen Disziplinen und mit Evidenzgrad bewertet publiziert [15]. Eine Antibiotikatherapie wird in solchen Fällen durchgeführt, bei denen eine bestehende Infektion bekannt ist (z. B. Klappenersatz bei Endokarditis), oder wenn diese erst intraoperativ offensichtlich wird (z. B. Peritonitis bei perforiertem Appendix). Hier wird die initial begonnene Prophylaxe in eine postoperative Therapie umgewandelt. Für die Antibiotikawahl stehen überwiegend Basisantibiotika, wie 1.- oder 2.-Generations-Cephalosporine oder E-Laktamase-gestützte Penicilline (z. B. Ampicillin/Sulbactam) zur Verfügung. Bei bekannter Kolonisation/Infektion mit multiresistenten Erregern (z. B. MRSA, VRE oder ESBL) im Operationssitus
. Tabelle 62.2. Perioperative Antibiotikaprophylaxe Ziel
Reduktion postoperativer Wundinfektionen
Indikation
Entsprechend den Empfehlungen der Fachgesellschaft
Antibiotikum
1.-/2.-Generations-Cephalosporine oder Aminopenicilline + β-Laktamaseinhibitor
Dosis
Therapeutische Dosis
Zeitpunkt der Gabe
30–60 min vor Inzision
Applikation
Intravenös
Häufigkeit
»Single shot« (2. intraoperative Gabe bei Operationsdauer >3 h, hohem intraoperativem Blutverlust, Herz-LungenMaschine)
62
muss im Einzelfall die Prophylaxe entsprechend modifiziert und adaptiert werden. Es ist bekannt, dass der Zeitpunkt der Gabe der Prophylaxe streng korreliert mit der Effektivität der Infektionsprävention (. Tab. 62.2). Optimalerweise wird die Prophylaxe 30–60 min vor Inzision gegeben. So werden während der Operation ausreichend hohe Antibiotikakonzentrationen in den Wundrändern erzielt, um dort Erreger abzutöten. Beträgt die Operationsdauer >3 h oder kommt es intraoperativ zu einer Verdünnung der Antibiotikakonzentration, beispielsweise durch Bluttransfusionen oder durch den Einsatz von Herz-Lungen-Maschinen (insbesondere in der Pädiatrie), ist eine intraoperative 2. Gabe indiziert. Diese Antibiotika sollten ausschließlich intravenös und in therapeutischer Dosierung gegeben werden.
i Jede postoperative Antibiotikagabe, also nach Verschluss der Wundränder, reduziert nachweislich nicht mehr die Wundinfektionsrate, sondern erhöht die Resistenzrate, Nebenwirkungen und Kosten [16, 17].
Entsprechend den Leitlinien zur Antibiotikatherapie konnten auch durch die Einführung hausinterner Empfehlungen zur Prophylaxe die Qualität gesteigert und die Kosten gesenkt werden [18]. Intravasale Katheter, Drainagen oder Liquordrainagen sind keine Indikationen für eine Prophylaxe. Hier käme es bei einer mehrtägigen Gabe von Antibiotika zur Selektion und Kolonisation mit resistenten Erregern, die dann möglicher weise eine Infektion verursachen. Diese Infektionen sind nachgewiesenermaßen mit einer erhöhten Letalität, Liegedauer und Kosten assoziiert. 62.4
Diagnostik und Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
62.4.1 Epidemiologie invasiver
Candidainfektionen In der angloamerikanischen Literatur wird eine Zunahme nosokomial erworbener Candidainfektionen, inbsondere auf Intensivstationen, beschrieben – immer häufiger werden Patienten auf unseren Intensivstationen betreut, die mehrere Risikofaktoren für eine invasive Candidainfektion besitzen [4, 19]. Diese sind trotz adäquater antimykotischer Therapie mit einer Letalität von bis zu 40% assoziiert [20]. Risikofaktoren für invasive Candidainfektionen [20] 4 4 4 4 4
Antibiotikatherapie Intravasale Devices Gastrointestinale Operationen Verbrennungen Ausgeprägte Immunsuppression
788
Kapitel 62 · Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
Die wichtigsten Infektionsquellen sind intravasale Katheter, Translokation aus dem Gastrointestinaltrakt und Wund- und Urogenitalinfektionen. Trotz häufigen Nachweises von Candida aus respiratorischem Sekret – analog zu koagulasenegativen Staphlyokokken und Enterokokken, insbesondere unter einer Antibiotikatherapie – sind Candidapneumonien bei Intensivpatienten eher selten. 62.4.2 Diagnostik invasiver Candidainfektionen Beweisend für eine invasive Candidainfektion ist der Nachweis von Candida spp. in Blutkulturen. Der einmalige Nachweis in einer einzigen Blutkulturflasche ist eine Therapieindikation. Es gibt Blutkulturflaschen mit speziellem Nährmedium für Sprosspilze; hierdurch konnte jedoch die Detektionsrate nicht erhöht werden, eine kürzere Detektionszeit wird diskutiert. Neben der Blutkulturdiagnostik ist der histologische Nachweis in Biopsiematerial beweisend. Der Nachweis von Candida aus Peritonealflüssigkeit/intraabdominellem Wundabstrich – insbesondere bei Zeichen einer Peritonitis – ist ebenfalls pathognonomisch für eine Candidainfektion. Der Nachweis aus Urin, Wundabstrichen oder respiratorischem Sekret kann nur patientenspezifisch interpretiert werden und stellt häufig eine Kolonisation dar, die keiner antimykotischen Therapie bedarf. In der Literatur wird der erhöhte Nachweis von Antikörpern und Antigen sowie ein Titeranstieg im zeitlichen Verlauf sehr kontrovers diskutiert. Es konnte keine Korrelation zwischen Ergebnissen der Serologie und invasiven Candidainfektionen gezeigt werden.
62
62.4.3 Therapieoptionen invasiver
– ein weiterer Vertreter der Echinokandine – vs. liposomales Amphotericin B nachgewiesen werden. Patienten, die mit Micafungin therapiert wurden, hatten weniger Nebenwirkungen [24] Entsprechend der empirischen Antibiotikatherapie muss die eigene Antimykotikastrategie an die lokale Nachweisrate der unterschiedlichen Candidasspezies und deren Resistenzmuster adaptiert werden. Stellt beispielsweise der Anteil Fluconazol-sensibler Candida-albicans-Stämme bei invasiven Infektionen mit Abstand den größten Anteil der Candidaspezies dar, kann evtl. auch bei instabilen und schwerkranken Patienten Fluconazol als initiale empirische Therapie gegeben werden. Bei der Gabe von Antimykotika müssen patientenspezifische Risikofaktoren berücksichtigt werden, sodass bei Patienten mit bekannter Besiedlung mit Fluconazol-resistenten Candida spp. oder bei bereits durchgeführter Fluconazol-Therapie eines der neueren Antimykotika wie Voriconazol oder Caspofungin gegeben werden sollte. Sind jedoch der Anteil an Candida spp., die intrinsisch gegen Fluconazol resistent sind (z. B. C. crusii), oder der Anteil von Candida albicans mit einer Fluconazol-Resistenz hoch, sollte emipirisch – insbesondere bei instabilen und kritischen Patienten – kein Fluconazol mehr initial gegeben, sondern sofort mit Voriconazol oder Caspofungin therapiert werden. Analog zur erregerspezifischen Therapieumstellung bei Antibiotika kann auch bei initialem Beginn mit Voriconazol oder Caspofungin bei Nachweis Fluconazol-sensibler Erreger auf Fluconazol umgestellt werden. Ausführlich werden die aktuellen Leitlinien und Therapiestrategien für invasive Candidainfektionen von Spellber et al. und Pappa et al. beschrieben [20, 25]. Der Therapieerfolg wird signifikant erhöht, wenn intravasale Katheter (z. B. ZVK) bei Beginn der antimykotischen Therapie gewechselt werden. Eine Kontrolle mit wöchentlichen Blutkulturen wird empfohlen. Komplikationen wie Endokarditis, Osteomyelitis oder Abszedierung in Leber, Milz und Niere sind beschrieben.
Candidainfektionen 62.4.4 Antimykotikaprophylaxe Neben Fluconazol und Amphotericin B gibt es seit wenigen Jahren mit Voriconazol und Caspofungin – der erste Vertreter der Echinokandine – neue Therapieoptionen mit einem deutlich erweiterten antimykotischen Wirkspektrum. Diese neuen Antimykotika sind wirksam gegen Fluconazol-resistente Candida-albicans-Stämme und haben eine sehr gute Aktivität gegen andere Candida spp. mit einer intrinsischen Resistenz gegen Fluconazol, wie beipsielsweise C. krusei. In einer Metaanalyse konnte die Gleichwertigkeit von Fluconazol vs. Amphotericin B bei Patienten mit Candidämie gezeigt werden [21]. In den 6 Studien, die dieser Analyse zugrunde lagen, lag der Anteil von Candida albicans zwischen 50 und 70%. Die Nebenwirkungsrate, insbesondere die Nephrotoxizität, war in fast allen Studien signifikant bei Amphotericin B gegenüber Fluconazol erhöht. In einer randomisierten, prospektiven klinischen Untersuchung war Voriconazol bei nicht-neutropenischen Patienten bezüglich Letalität und mikrobiologischer Heilung (sterile Blutkulturen) gleichwertig mit Amphotericin B [22]. Auch Caspofungin war bei Patienten mit invasiven Candidainfektionen der Therapie mit Amphotericin B gleichwertig und zeigte gleichzeitig eine signifikant geringere Nebenwirkungsrate [23]. In einer Phase- III-Studie konnte die Gleichwertigkeit bei Patienten mit Candidämie und invasiver Candidainfektion von Micafungin
Entsprechend der perioperativen Antibiotikaprophylaxe wird häufig bei Patienten mit multiplen Risikofaktoren für invasive Candidainfektionen die prophylaktische Gabe von Antimykotika diskutiert. In einer Metaanalyse wurden 6 unterschiedliche randomisierte Placebo-kontrollierte Studien mit einer AzolProphylaxe vs. Placebo bei chirurgischen Hochrisikopatienten durchgeführt [26]. Hierbei konnte – analog mehrerer Metaanalysen zur selektiven Darmdekontamination – zwar eine signifikante Reduktion der Candidainfektionen im Prophylaxearm gezeigt werden, die Gesamtletalität konnte jedoch nicht reduziert werden. i Aufgrund der Nebenwirkungsrate, der Resistenz und Kostensteigerung ist daher die Prophylaxe auch bei diesem Hochrisikoklientel kritisch zu hinterfragen und derzeit nicht zu empfehlen.
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62
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63 Sepsis F. Bloos, A. Kortgen, A. Meier-Hellmann, K. Reinhart
63.1
Einleitung
63.2
Epidemiologie
63.3
Risikofaktoren, Letalität und Langzeitüberleben
63.3.1 63.3.2 63.3.3 63.3.4
Risikofaktoren für die Entwicklung einer Sepsis –792 Prognostische Faktoren –792 Früh- und Spätletalität –792 Langzeitüberleben und Lebensqualität –793
63.4
Definition
–793
63.5
Diagnose
–793
63.5.1 63.5.2
Biomarker in der Diagnose der Sepsis –794 Bakteriämie, Erregerspektrum und mikrobiologischer Befund
63.6
Pathophysiologie
63.6.1 63.6.2 63.6.3
Immunantwort bei Sepsis –796 Pathophysiologie des kardiovaskulären Systems –797 Disseminierte intravasale Gerinnung –799
63.7
Therapie
63.7.1 63.7.2 63.7.3 63.7.4
Fokussanierung –800 Supportive Therapie –800 Adjunktive Therapiemaßnahmen –804 Sepsisbündel –806
Literatur
–792 –792
–796
–799
–806
–792
–795
792
Kapitel 63 · Sepsis
63.1
Einleitung
Sepsis, septischer Schock und das sepsisinduzierte Multiorganversagen stellen nach wie vor eine erhebliche Herausforderung hinsichtlich Diagnostik und Therapie dar. Verbesserungen im Bereich der allgemeinen Intensivtherapie und der Organunterstützung wurden zwar von einer allgemeinen Reduktion der Sterblichkeit begleitet, die Letalitätsraten sind aber gerade bei begleitendem Organversagen und im septischen Schock weiterhin inakzeptabel hoch und liegen beim septischen Schock weiterhin um 50–70%. In den letzten Jahren konnte in mehreren prospektiven randomisierten Studien eine Verbesserung der Überlebensrate mit unterschiedlichen Therapiestrategien demonstriert werden [8, 10, 94]. Dies führte zu neuen Leitlinien der Prävention, Diagnostik und Therapie, herausgegeben von der Surviving Sepsis Campaign, die sich eine Reduktion der sepsisbedingten Letalität um 25% zum Ziel gesetzt hat [33, 90]. 63.2
63
Epidemiologie
Die Prävalenzstudie des Kompetenznetzes (SepNet) aus dem Jahr 2003 lieferte erstmals zuverlässige epidemiologische Daten zur Sepsis in Deutschland. Danach beträgt die Prävalenz der Sepsis 12,4%, die der schweren Sepsis 11%. Die geschätzte Inzidenz der schweren Sepsis beläuft sich auf 110 pro 100.000 Einwohner. Eine Atemwegsinfektion ist mit 62,9% der häufigste Fokus bei Patienten mit schwerer Sepsis, gefolgt von intraabdominellen Infektionen mit 25,3%. Organdysfunktionen bei der schweren Sepsis betreffen am häufigsten die Lunge und die Niere mit 52,0% bzw. 42,2%. Die mittlere Ver weildauer auf der Intensivstation beträgt 12,3 Tage, die Sterblichkeit auf der Intensivstation 48,4% und die Sterblichkeit im Krankenhaus 55,2% unabhängig von der Größe des behandelnden Krankenhauses [41]. Mit ca. 60.000 Todesfällen stellen septische Erkrankungen die dritthäufigste Todesursache nach KHK und akutem Myokardinfarkt in Deutschland dar. Aktuelle epidemiologische Daten liegen auch von anderen Industrienationen vor. Eine französische Studie zeigte eine Inzidenz von 95/100.000 und eine Sterblichkeit nach 2 Monaten von 41,9% mit einer steigenden Inzidenz bei sinkender Letalität im Vergleich zu einer früheren Untersuchung [24]. Diese Beobachtung einer steigenden Inzidenz bei gleichzeitiger Abnahme der Letalität deckt sich mit Daten aus den USA. Die absolute Zahl der an einer Sepsis sterbenden Patienten steigt dabei an [70]. Epidemiologische Daten aus Australien und Neuseeland liegen aus einer Studie auf Intensivstationen von Universitätskliniken und Krankenhäusern der Maximalversorgung vor. Die berechnete Inzidenz der schweren Sepsis liegt hier bei 77/100.000 Erwachsenen. Die 28-Tage-Letalität betrug 32,4%, die Krankenhausletalität 37,5%. Auch hier waren pulmonale und abdominelle Infektionen die häufigsten Foci der Sepsis mit 50,3 bzw. 19,3% [44]. Diese Daten zeigen, dass, trotz einiger regionaler Unterschiede, die Sepsis ein führendes Problem der Intensivmedizin in Industrienationen ist, mit einer Inzidenz von ungefähr 50– 200 Fällen pro 100.000 Einwohner. Bei geschätzten Kosten von 20.000–30.000 Euro pro Behandlungsfall in Europa und jährlichen direkten Kosten der intensivmedizinischen Behandlung
von Patienten mit schwerer Sepsis von ca. 1,77 Milliarden Euro – ca. 30% des Budgets für Intensivmedizin – in Deutschland stellt sie eine erhebliche ökonomische Belastung dar. In Deutschland sind zum überwiegenden Teil die einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks zugrunde liegenden Infektionen nosokomial erworben. Dies zeigen die im Rahmen der SepNet-Studie erhobenen Daten. 35,4% der Infektionen waren bei diesen Patienten ambulant erworben, 36,6% auf der Intensivstation und weitere 19,8% außerhalb der Intensivstation im Krankenhaus [41]. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine internationale Multizenterstudie [5]. 63.3
Risikofaktoren, Letalität und Langzeitüberleben
63.3.1 Risikofaktoren für die Entwicklung
einer Sepsis Die in Multivarianzanalysen ermittelten Risikofaktoren für das Auftreten einer Sepsis sind in der Übersicht wiedergegeben. Darüber hinaus wurden Genpolymorphismen für immunologische Schlüsselmoleküle, wie etwa TNF-D, IL-1, IL-6 und Caspase-12, identifiziert, die die Inzidenz und Krankheitsschwere der Sepsis beeinflussen [28, 120]. Risikofaktoren für das Auftreten einer Sepsis 5 Höheres Alter (>50 Jahre) 5 Männliches Geschlecht 5 Aufnahme auf der Intensivstation aus medizinischer und notfallchirurgischer Indikation 5 Eine Prognose der Grundkrankheit, die – nach der McCabe-Jackson-Klassifikation – als absehbar zum Tode führt 5 Chronische Leberfunktionsstörung 5 Krankheitsbedingte oder medikamentöse Immunsuppression
63.3.2 Prognostische Faktoren Die prognostischen Risikofaktoren entsprechen teilweise den Risikofaktoren für die Entstehung einer Sepsis; so erhöhen das Patientenalter (>50 Jahre) und die Schwere einer Grundkrankheit die Sterblichkeit. Das Auftreten von schwerer Sepsis und septischem Schock, grampositive und polymikrobielle Infektionen wirken sich ebenso negativ auf die Prognose aus wie systemische Pilzinfektionen. Die Entwicklung einer schweren Sepsis ist bei katheterassoziierten Bakteriämien sowie im Rahmen von Harnwegsinfektionen niedriger als bei Bakteriämien, die durch abdominelle, pulmonale und meningoenzephale Infektionen bedingt sind [22]. 63.3.3 Früh- und Spätletalität Aus epidemiologischen Untersuchungen ergibt sich für den gesamten Krankenhausbereich eine Sepsisgesamtletalität von
793 63.5 · Diagnose
etwa 30–40%. Berücksichtigt man lediglich Intensivstationen, so liegt sie bei 28–60%. Die 90-Tage-Letalität beträgt in Deutschland 55% [41]. 30% aller Patienten sterben innerhalb der ersten 3 Tage nach Sepsisbeginn, 80% innerhalb der ersten beiden Wochen [23]. 63.3.4 Langzeitüberleben und Lebensqualität Eine Sepsis hat neben der akuten Erkrankung langfristige Auswirkungen auf Langzeitüberleben und Lebensqualität. Die Letalitätsrate erhöht sich innerhalb der ersten 6 Monate nach Überstehen einer Sepsisepisode um ein weiteres Drittel. Nach den wenigen bisher vorliegenden systematischen Nachuntersuchungen sind die Langzeitprognose der Überlebenden durch gesundheitliche Einschränkungen und eine verminderte Lebensqualität charakterisiert; die Lebenserwartung wird durch die Erkrankung reduziert [86]. 63.4
Definition
Der Sepsisbegriff hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Nach der infektiologisch-klinischen Begriffsbestimmung der Sepsis von Schottmüller im Jahr 1914 liegt eine Sepsis dann vor, wenn »sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, von dem konstant oder periodisch pathogene Bakterien in den Blutkreislauf gelangen, und zwar derart, dass durch diese Invasion subjektive und objektive Krankheitserscheinungen ausgelöst werden”. Die aktuelle Begriffsbestimmung der Sepsis stellt dagegen die inflammatorische Wirtsreaktion als entscheidenden Beitrag für die Pathogenese des Krankheitsbildes heraus [18]. > Definition Sepsis Sepsis wird heute definiert als eine akute inflammmatorische Wirtsantwort auf eine Infektion, die dadurch charakterisiert ist, dass es dem Wirt nicht gelingt, die Entzündungsantwort mit ihren destruktiven Teilkomponenten lokal zu begrenzen. Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Infektion und systemischen infektionsortfernen Folgeerscheinungen bis hin zu infektionsortfernen Organfunktionsstörungen.
Der Krankheitsverlauf der Sepsis ist also primär bestimmt durch Ausmaß und Ablauf der Reaktion des Patienten auf die auslösende Noxe und weniger von der Art, Zahl, Pathogenität und Virulenz der Erreger. Die Diagnose einer Sepsis stützt sich dabei auf klinische und klinisch-chemische Parameter, die das Vorhandensein einer systemischen inflammatorischen Reaktion (»systemic inflammatory response syndrome«; SIRS) bei klinischem Verdacht auf eine Infektion (auch ohne mikrobiologischen Nachweis) nahelegen. Der Nachweis einer Bakteriämie als Voraussetzung zur Diagnose einer Sepsis gilt zu Recht nicht mehr. Mit dieser Definition ist die Sepsis klar gegenüber einer Infektion und einer Bakteriämie abgegrenzt. Unter Infektion versteht man eine entzündliche Gewebereaktion auf Mikroorganismen oder eine Invasion von Mikroorganismen in normalerweise steriles Gewebe. Eine Bakteriämie bezeichnet das Vorhandensein vitaler Bakterien im Blut. Nicht jede Bakteriämie geht mit dem klinischen Bild einer Sepsis einher.
63
In einer Reihe von Fallkontrollstudien zur Bestimmung der sepsisbedingten Exzessletalität konnte gezeigt werden, dass es einen der septischen inflammatorischen Wirtsantwort bzw. der Sepsis zuschreibbaren Beitrag zur Letalität der Patienten gibt, der unabhängig von der Grundkrankheit und auch unabhängig von der zugrunde liegenden Infektion ist. i Die Sepsis stellt damit eine eigene pathophysiologische und klinische Entität dar, die auch unter therapeutischen Aspekten von der auslösenden Infektion getrennt darzustellen und zu behandeln ist.
Ein der bakteriellen Sepsis sehr ähnliches Krankheitsbild kann auch ohne Vorliegen einer Infektion entstehen. Die Ähnlichkeit ist dadurch begründet, dass Mediatorbildung und -freisetzung analog ablaufen und sich klinisch in gleicher Weise als mediatorinduzierte Multiorgandysfunktion und Multiorganversagen manifestieren können. Beispiele solcher nichtinfektiöser Noxen als auslösende Ursachen eines SIRS können Pankreatitis, Traumen, Verbrennungen, Intoxikationen oder Ischämie- und Reperfusionsvorgänge sein. 63.5
Diagnose
Die Diagnose der Sepsis, schweren Sepsis und des septischen Schocks ergibt sich aus der Definition der Erkrankung. Die noch heute gültigen Diagnosekriterien wurden 1992 in einer Konsensuskonferenz der Society of Critical Care Medicine (SCCM) und des American College of Chest Physicians (ACCP) niedergelegt [3]. Somit besteht die Diagnose der schweren Sepsis und des septischen Schocks aus dem Nachweis der Trias Infektion, SIRS und Organdysfunktion. Für die bessere klinische Anwendbarkeit wurden die Konsensuskriterien modifiziert [48] und mit einem Kriterienkatalog versehen. Kriterienkatalog zur Diagnose der Sepsis 5 I Nachweis der Infektion – Diagnose einer Infektion über den mikrobiologischen Nachweis oder durch klinische Kriterien 5 II Systemic inflammatory Response Syndrome (SIRS) (mindestens 2 Kriterien) – Fieber (>38°C) oder Hypothermie (<36°C) bestätigt durch eine rektale oder intravasale oder -vesikale Messung – Tachykardie: Herzfrequenz >90/min – Tachypnoe (Frequenz >20/min) oder Hyperventilation (paCO2<4,3 kPa/<33 mm Hg) bzw. Beatmung – Leukozytose (>12.000/mm3) oder Leukopenie (<4000/mm3) oder >10% unreife Neutrophile im Differenzialblutbild 5 III Akute Organdysfunktion (mindestens 1 Kriterium) – Akute Enzephalopathie: eingeschränkte Vigilanz, Desorientiertheit, Unruhe, Delirium – Relative oder absolute Thrombozytopenie: Abfall der Thrombozyten um mehr als 30% innerhalb von 24 h oder Thrombozytenzahl <100.000/mm3. Eine Thrombozytopenie durch akute Blutung oder immunologische Ursachen muss ausgeschlossen sein. 6
794
Kapitel 63 · Sepsis
– Arterielle Hypoxämie: paO2<10 kPa (<75 mm Hg) unter Raumluft oder ein paO2/FIO2-Verhältnis von <33 kPa (<250 mm Hg) unter Sauerstoffapplikation; eine manifeste Herz- oder Lungenerkrankung muss als Ursache der Hypoxämie ausgeschlossen sein – Renale Dysfunktion: Eine Diurese von <0,5 ml/kg KG/h für wenigstens 2 h trotz ausreichender Volumensubstitution und/oder ein Anstieg des Serumkreatinins auf mehr als das Doppelte des lokal üblichen Referenzbereichs – Metabolische Azidose: »base excess« <–5 mmol/l oder eine Laktatkonzentration auf das >1,5-Fache des lokal üblichen Referenzbereichs
Anwendung der Diagnosekriterien. Eine Sepsis liegt vor, wenn die Kriterien I und II erfüllt sind; d. h. bei einem SIRS infektiöser Ursache. Von einer schweren Sepsis spricht man, wenn die Sepsis durch eine Organdysfunktion kompliziert wird (Kriterien I, II und III). Für die Diagnose eines septischen Schocks müssen die Kriterien I und II sowie für wenigstens 1 h ein systolischer arterieller Blutdruck <90 mm Hg bzw. ein mittlerer arterieller Blutdruck <65 mm Hg oder notwendiger Vasopressoreinsatz, um den systolischen arteriellen Blutdruck >90 mm Hg oder den arteriellen Mitteldruck >65 mm Hg zu halten, vorliegen. Die arterielle Hypotonie besteht dabei trotz adäquater Volumengabe und ist nicht durch andere Ursachen zu erklären. Die Ver wendung dieser Diagnosekriterien erlaubt die Identifizierung eines Patientenguts mit einem hohen Letalitätsrisiko. Darüber hinaus finden diese Diagnosekriterien Ver wendung in allen modernen klinischen Studien zur Behandlung der Sepsis.
63.5.1 Biomarker in der Diagnose der Sepsis
63
Alltag immer wieder zu Schwierigkeiten, eine adäquate und individuell richtige Therapie einzuleiten. Häufige klinische Frühzeichen einer Sepsis sind in . Tabelle 63.1 aufgeführt. Mit dem sog. PIRO-Konzept ist der Versuch gemacht worden, die Sepsisforschung in ähnlicher Weise zu befruchten, wie dies durch das TNM-System in der Onkologie gelungen ist [63]. PIRO ist ein Akronym, das für die vier Kriterien des Konzepts steht: 4 P – »predisposition« 4 I – »infection« 4 R – »response« 4 O – »organ dysfunction« Dieses Konzept soll hier nicht näher erörtert werden, da es bisher noch kein brauchbares Werkzeug für die tägliche Praxis darstellt. Teil des PIRO-Konzepts ist die Verwendung von Biomarkern zur besseren Abgrenzung von infektiösen zu nicht-infektiösen Ursachen eines SIRS.
C-reaktives Protein CRP ist ein in den Hepatozyten synthetisiertes Protein und gilt als wichtigster und klinisch am weitestgehenden genutzter Entzündungsparameter aus der Gruppe der Akut-Phase-Proteine. Man beobachtet CRP-Anstiege jedoch auch nach größeren Operationen oder Traumen, bei chronischen Entzündungen sowie bei Tumor und Autoimmunerkrankungen. Selbst bei schweren Entzündungen und septischem Schock kommt es in der Regel erst 24–48 h nach Beginn der klinischen Symptomatik zu einer CRP-Erhöhung. Ist die Leberfunktion im Rahmen eines septischen Geschehens stark beeinträchtigt, so kann eine Reaktion von CRP stark eingeschränkt sein. CRP reagiert relativ unabhängig von der Schwere der Infektion und ist nicht in der Lage, unterschiedliche Schweregrade einer Sepsis zu differenzieren [75, 87].
Zytokine
Klinische Befunde
Inzidenz (%)
Schüttelfrost
20
Fieber >38°C
70
Hypothermiea <36°C
13
Tachypnoe
99
Tachykardie
97
Veränderungen des mentalen Status
35
Proinflammatorische Zytokine wie IL-6 und IL-8 sind bei schweren Infektionen und Sepsis häufig erhöht und haben eine gewisse prognostische Aussagekraft. Wenn es im Verlauf der Erkrankung nicht zu einem Abfall dieser Zytokine kommt, ist dies mit einer erhöhten Letalität assoziiert. Auch erhöhte IL-6-Spiegel (>1000 pg/ ml) bei Sepsisbeginn gehen mit einer erhöhten Letalität einher [92]. Bei einem internistischen Krankengut konnte anhand IL6 gut zwischen Erkrankungen infektiöser und nicht-infektiöser Ursache unterschieden werden [46]. Inzwischen werden diese Parameter auch für die klinische Routine angeboten, sind aber in dieser Hinsicht bisher unzureichend evaluiert. Einschränkungen bezüglich der Interpretation liegen auch hier in ähnlicher Weise wie für das CRP in der geringen Sensitivität und Spezifität für Sepsis und der relativ kurzen Halbwertszeit sowie der Tatsache, dass die Sezernierung dieser Zytokine auch einem zirkadianen Rhythmus unterliegt. Nicht selten ist das Verhalten von Serumzytokinspiegeln nicht mit dem klinischen Verlauf einer Sepsis assoziiert.
Hypotensionen
77
Procalcitonin (PCT)
Oligurie
54
Die Spezifität der klassischen Diagnosekriterien ist gering. Die daraus resultierende Unschärfe der Diagnose führt im klinischen . Tabelle 63.1. Klinische Sepsiszeichen und deren Häufigkeit. (Mod. nach [23])
a Auch eine Normothermie schließt das Vorliegen einer Sepsis nicht aus.
Procalcitonin ist das hormonell inaktive Propeptid des Calcitonins. Bei Gesunden wird Procalcitonin in den C-Zellen der Schilddrüse produziert und proteolytisch gespalten, sodass der Serumspiegel unter 0,1 ng/ml liegt. Bei leichten, auf den Infektionsort bzw. ein Organ beschränkten Infektionen kommt es zu
795 63.5 · Diagnose
keinen oder nur mäßigen PCT-Erhöhungen, während bei schweren generalisierten Infektionen, d. h. bei Sepsis oder septischem Schock, PCT-Serumspiegel bis zu mehreren 100 ng/ml auftreten, wenn der Auslöser für die Sepsis Bakterien, Pilze oder Parasiten sind [56]. Hingegen führen schwere virale Infektionen wie Meningitis oder HIV zu keiner oder nur einer geringgradigen PCTErhöhung. Der Syntheseort ist bisher noch nicht vollständig aufgeklärt [9], jedoch wird dieser Marker auch in Monozyten produziert [82]. Auch die pathophysiologische Rolle von PCT ist derzeit nicht eindeutig geklärt, aber es gibt erste Hinweise aus tierexperimentellen Untersuchungen, dass gegen PCT gerichtete Antikörper zu einer Reduzierung der Sterblichkeit bei Sepsis führen könnten [80]. PCT scheint folgende Vorteile gegenüber bisherigen Sepsisparametern zu haben: 4 Es kommt relativ früh in engem Zusammenhang mit den klinischen Zeichen einer Sepsis zu einem Konzentrationsanstieg im Serum. Erhöhungen werden 3–4 h nach Endotoxinexposition gemessen. Die Halbwertszeit ist mit ca. 24 h deutlich länger als die der Zytokine, was für den klinischen Gebrauch von Vorteil ist [31]. 4 PCT kann besser als z. B. CRP zwischen infektiösen und nicht-infektiösen Ursachen eines SIRS unterscheiden [101]. 4 PCT korreliert besser mit der Schwere der Sepsis als Leukozyten, Temperatur, CRP und möglicherweise auch Zytokine [81]. 4 PCT scheint eine höhere Sensitivität und Spezifität für infektionsbedingte Organdysfunktionen bzw. den septischen Schock zu haben als andere Infektions- bzw. Sepsisparameter und kann z. B. bei der Differenzialdiagnose zwischen infizierter oder steriler Pankreasnekrose hilfreich sein [87]. 4 PCT differenziert im Rahmen der Transplantationschirurgie besser als CRP bezüglich der Frage, ob eine Abstoßungsreaktion oder eine schwere Infektion vorliegt [38]. Auch für PCT gibt es eine Reihe von nicht infektionsbedingten Stressoren, die zu einer Erhöhung im Serum führen können. Dies konnte beobachtet werden insbesondere nach Polytrauma, großen chirurgischen Eingriffe (v. a. am Gastrointestinaltrakt/Organtransplantationen), extrakorporaler Zirkulation, Hitzschlag und Inhalationstrauma sowie bei Patienten mit einem C-Zellkarzinom der Schilddrüse. Dies macht deutlich, dass eine Interpretation von PCT-Werten nur im klinischen Kontext erfolgen kann. Dabei besitzt der Verlauf der Werte einen wesentlich höheren Informationsgehalt als isolierte Einzelwerte. Der Parameter kann in der klinischen Praxis bei der Differenzialdiagnose, der Indikationsstellung für diagnostische Untersuchungen und der Bewertung der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen hilfreich sein. Dies gilt vor allem, wenn der Verlauf beobachtet wird. Neben dem diagnostischen Nutzen gibt es Hinweise, dass mit PCT auch die Dauer der Infektion und damit die Dauer der Antibiotikatherapie sinnvoll abgeschätzt werden kann. Bei Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie konnte in einer Studie die Antibiotikatherapie ohne Nachteil für die Patienten früher abgesetzt werden, wenn die Ärzte die Antibiotikatherapie entsprechend der PCT-Werte absetzen sollten [26]. Es wird gegenwärtig untersucht, ob solche PCT-abhängigen Entscheidungsalgorithmen auch bei Patienten mit schwerer Sepsis/septischem Schock eingesetzt werden können.
63
63.5.2 Bakteriämie, Erregerspektrum
und mikrobiologischer Befund Bakteriämie Lediglich bei maximal 1/3 der Patienten, die klinisch das Bild einer Sepsis zeigen, lassen sich derzeit mikrobielle Erreger durch Blutkulturen nachweisen. Auf der anderen Seite geht nur etwa 1/4 der Fälle von dokumentierter Bakteriämie mit dem klinischen Bild einer Sepsis einher, d. h. positive Blutkulturen können auch bei nicht-septischen Patienten gefunden werden. Die Inzidenz von Bakteriämien auf Intensivstationen ist im Vergleich zu Normalstationen etwa 8-mal so hoch, und auch das Verhältnis von Sepsis und Bakteriämie ist auf Intensivstationen etwa 4-fach höher als auf Normalstationen [22]. Derzeit wird mit modernen Methoden der Genomik und Proteomik an grundlegenden Verbesserungen der kulturunabhängigen Erregerdiagnostik gearbeitet. Hier ist etwa der Nachweis bakterieller DNA mittels PCR-Diagnostik zu nennen, die sich nicht nur durch eine deutlich erhöhte Sensitivität, sondern insbesondere durch eine raschere, innerhalb von Stunden verfügbare Diagnose und die Möglichkeit des Nachweises bisher nicht kultivierbarer Erreger auszeichnet. Auch multiresistente Erreger könnten rasch und zuverlässig nachgewiesen werden.
Erregerspektrum Die in Mitteleuropa in Blutkulturen nachweisbaren Mikroorganismen verteilen sich etwa je zur Hälfte auf grampositive und gramnegative Erreger; die Häufigkeit grampositiver Erreger hat dabei in letzter Zeit zugenommen. Candida spp. finden sich in etwa 2–3%. Etwa 10–20% der bakteriämischen Episoden sind polymikrobiell [5, 22, 70]. Häufigste Erreger sind Escherichia coli, Staphylococcus aureus, Streptococcus pneumoniae, koagulasenegative Staphylokokken, Enterokokken, Klebsiella spp. und Pseudomonas spp. Bei primären nosokomialen Bakteriämien zeichnen sich nach US-amerikanischen Daten (National Nosocomial Infections Surveillance System) 4 Mikroorganismen durch deutliche Zuwachsraten aus: koagulasenegative Staphylokokken, Candidaspezies, Staphylococcus aureus sowie Enterokokken.
Bedeutung des mikrobiologischen Befundes für die Therapie In multizentrischen Studien wurde die Rate dokumentierter Bakteriämien bei Vorliegen einer Sepsis nach klinischen Kriterien mit 37–53% angegeben. Auch der mikrobiologische Nachweis des Erregers bei lokaler Infektion gelingt nur in etwa 70% der Fälle. Daher können mikrobiologische Befunde nicht zur alleinigen Grundlage einer antimikrobiellen Chemotherapie gemacht werden. Ist eine gezielte antimikrobielle Therapie mangels mikrobiologischer Befunde nicht möglich, so muss eine kalkulierte antimikrobielle Therapie (auf der Grundlage empirischer Daten hinsichtlich zu erwartendem Erregerspektrum und Resistenzmuster) erfolgen. Ein artspezifischer eigener Beitrag zur Schwere von Sepsis und septischem Schock konnte nur für wenige Mikroorganismen nachgewiesen werden. Einen unabhängigen prognostischen Prädiktor des Behandlungserfolges bei nosokomialen Bakteriämien stellt der mikrobiologische Nachweis von Pseudomonas aeruginosa und Candidaspezies dar. Eine höhere Letalität konnte für Pseudomonas aeruginosa und Acinetobacter spp. im Vergleich zu anderen Erregern für nosokomiale Pneumonien nachgewiesen werden [42].
796
Kapitel 63 · Sepsis
. Abb. 63.1. Schematische Darstellung des septischen Prozesses
63.6
63
Pathophysiologie
Sepsis entwickelt sich durch eine Invasion von Mikroorganismen oder ihrer Toxine in den Blutstrom (. Abb. 63.1). Die damit verbundene inflammatorische Wirtsreaktion, die sich als »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) manifestiert, bestimmt zusammen mit den Erregern bzw. deren Toxinen den pathophysiologischen Ablauf und kann schließlich zum Multiorganversorgen und Tod führen. Die wesentlichen pathophysiologischen Merkmale sind: 4 gestörtes Gleichgewicht des Gerinnungssystems, 4 endotheliale Dysfunktion, 4 Dysfunktion des kardiozirkulatorischen Systems, 4 zelluläre Hypoxie und Apoptose. Ohne Infektion gibt es per definitionem keine Sepsis. Jede Infektion mit einem Mikroorganismus kann prinzipiell durch eine Sepsis kompliziert werden. Bakterien, Pilze, Parasiten und auch Viren können die Mechanismen triggern, die zu einer Sepsis führen. Während die Signaltransduktion von der Infektion bis zur komplexen inflammatorischen Wirtsantwort vom auslösenden Erreger bestimmt wird, bildet das systemische Inflammationssyndrom (SIRS) die gemeinsame pathophysiologische Endstrecke. Die Immunantwort wird durch spezifische mikrobielle Moleküle (z. B. Bestandteile der bakteriellen Zellwand, Exotoxine, bakterielle DNA, virale RNA) ausgelöst. Diese Moleküle werden »pathogen associated molecular patterns« (PAMP) genannt. Im Wirtsorganismus werden solche Moleküle durch eine Gruppe von Proteinen erkannt (»pattern-recognition proteins«; PRP), die eine Wirtsantwort initiieren können. PRP können auf der Zellmembran oder intrazelluär angesiedelt sein. Beim Menschen werden die membranständigen PRP »TOLL-like receptors« (TLR)
genannt. Derzeit sind 10 verschiedene TLR beschrieben. Es ist allerdings nicht für jeden TLR bekannt, durch welches PAMP er stimuliert wird und was seine spezifische Funktion ist. Das Zusammenspiel zwischen PRP und PAMP ist für gramnegative Infektionen am besten untersucht. Auslösendes Agens sind hier die Endotoxine, die im Plasma an das LPS-bindende Protein gebunden werden. Die Induktion der Inflammation erfolgt über die Bindung sowohl an den CD14-Rezeptor und an TLR4 [121]. Beide Rezeptoren initiieren die Aktivierung des nukleären Faktors κ-B (NF-κB), der im Zellkern die Transkription von Zytokinen und anderen proinflammatorischen Mediatoren initiiert [67]. Darüber hinaus existieren für Endotoxine auch intrazelluläre PRP für Endotoxin (»nucleotide-binding oligomerization domain«; NOD 1 und 2). Der pathopyhsiologische Ablauf bei grampositiven Infektionen ist recht ähnlich. Auch hier ist der CD14-Rezeptor an der Erkennung beteiligt [37]. Im Wesentlichen identifiziert aber TLR2 grampositive Erreger. Einige Exotoxine können eine Sonderform des septischen Schocks durch grampositive Erreger verursachen – das »toxic shock syndrome« (TSS). Die als Superantigen wirkenden Exotoxine sind in der Lage, ca. 20% des gesamten T-ZellPools auf einmal zu aktivieren, was wiederum zu einer massiven Ausschüttung von Zytokinen führt [21]. Als Superantigene können TSS-Toxin-1 sowie Enterotoxine von Staphylokokken und pyogene Exotoxine β-hämolysierender Streptokokken wirken. Die PRP von Parasiten, Viren und Pilzen, die natürlich ebenso eine Sepsis auslösen können, sind weniger gut erforscht. Allerdings sind einige Signaltransduktionswege bekannt. So können Viren mit Doppelstrang-RNA durch TLR3 erkannt werden, während die Inflammation von Aspergillen und Kryptokokken via TLR4 induziert wird. 63.6.1 Immunantwort bei Sepsis Die Zytokine TNF-α und IL-1 werden innerhalb der ersten Stunden nach Infektion von aktivierten Makrophagen und CD4-TZellen ausgeschüttet. Diese primären Mediatoren induzieren die Freisetzung verschiedener sekundärer Mediatoren, die signalverstärkend wirken (. Abb. 63.2). Ein wichtiger Schritt bei der Signalverstärkung ist die Aktivierung des Komplementsystems, das durch Zuckermoleküle der bakteriellen Zellwand und durch Endotoxin stimuliert wird. Das Komplementfragment C5a ist dabei ein starkes Chemoattraktant. C5a tritt ca. 2 h nach Beginn einer Sepsis auf und regt Makophagen zur Produktion proinflammatorischer Mediatoren an. Ein weiterer die Immunantwort verstärkender Mediator ist der »macrophage migration inhibitory factor« (MIF), der von T-Zellen, Makrophagen, Monozyten und hypophysären Zellen als Reaktion auf eine Infektion produziert wird. MIF ist ca. 8 h nach Beginn der Sepsis nachweisbar und aktiviert T-Zellen und Makrophagen, die ihrerseits wieder proinflammatorische Mediatoren produzieren. Etwa 24 h nach Beginn der Sepsis erscheint das »high-mobility group B protein« (HGMB), das u. a. NF-κB aktiviert. HGMB wird als später Mediator der Sepsis von Makrophagen und neutrophilen Granulozyten gebildet [93]. Den proinflammatorischen Mediatoren wirken antiinflammatorische Moleküle wie IL-4 und IL-10 entgegen. CD4-T-Zellen können von der Produktion proinflammatorischer Zytokine (Typ-I-Helferzellen) auf die Produktion antiinflammatorischer Zytokine (Typ-II-Helferzellen) umgeschaltet werden. Lösliche
797 63.6 · Pathophysiologie
63
. Abb. 63.2. Vereinfachtes Schema zur Pathogenese der Sepsis
TNF-Rezeptoren und der IL-1-Rezeptorantagonisten werden freigesetzt, um den Wirkungen der primären Sepsismediatoren entgegenzuwirken. T-Zellen, neutrophile Granulozyten und Makrophagen können dann sogar gegenüber einem infektiösen Stimulus unempfindlich werden (Anergie). Ein anderer Mechanismus der antiinflammatorischen Antwort ist die genetisch programmierte autodestruktive Freisetzung von Proteasen, die den programmierten Zelltod (Apoptose) bewirken. Bei der Sepsis konnte die Apoptose immunkompetenter Zellen wie CD4-T-Zellen und follikulärer dendritischer Zellen beobachtet werden [55]. Apoptotische Zellen können die Funktion von überlebenden immunkompetenten Zellen beeinträchtigen Die antiinflammatorische Antwort wurde als »compensatory antiinflammatory response syndrome« (CARS) bezeichnet [17]. Es wird vermutet, dass die erste Reaktion auf eine Infektion zunächst hyperinflammatorisch und in der Folge hypoinflammatorisch ist. Eine Restitutio ist nur dann möglich, wenn die Fähigkeit des Organismus erhalten bleibt, Mikroorganismen langfristig zu eradizieren [55]. Allerdings sind Serumkonzentrationen antiinflammatorischer Mediatoren gleichzeitig mit den Spiegeln proinflammatorischer Mediatoren erhöht [114]. Das bedeutet, dass sich antiinflammatorische Prozesse parallel zu einer Hyperinflammation entwickeln. Ein Persistieren antiinflammatorischer Mediatoren ist möglicherweise mit einer ungünstigen Prognose des Patienten assoziiert. Unklar ist allerdings, in welcher Weise die Stadien Hypo- und Hyperinflammation aufeinander folgen und welche Rolle dies für den Krankheitsverlauf spielt. 63.6.2 Pathophysiologie des kardiovaskulären
Systems Beim septischen Schock kommt es durch die generalisierte Ausschüttung der Entzündungsmediatoren zu tiefgreifenden Veränderungen im kardiovaskulären System, die alle Ebenen der Kreislauffunktion umfassen (. Abb. 63.3). Eine adäquate Gewebeoxygenierung kann somit nicht mehr gewährleistet werden (. Abb. 63.4).
. Abb. 63.3. Ursachen für den Abfall des Herzzeitvolumens und des Blutdrucks beim septischen Schock. (HZV: Herzzeitvolumen, DO2 : Sauerstoffangebot, BD: Blutdruck, SVR: Systemischer Gefäßwiderstand)
Pathophysiologische Veränderungen 5 5 5 5 5
Kardiale Kontraktilitätsstörung Arterielle Vasodilatation mit arterieller Hypotonie Relative und absolute Hypovolämie Mikrozirkulationsstörung mit O2-Extraktionsdefizit Zytopathische Hypoxie
Kardiale Dysfunktion Bei Patienten mit Sepsis kann eine verminderte Ejektionsfraktion, eine Dilatation des linken Ventrikels sowie eine Erhöhung des linksventrikulären enddiastolischen Volumens nachgewiesen werden. Dieser Mechanismus erlaubt es dem Herzen trotz verminderter Kontraktilität, ein ausreichendes Schlagvolumen zu erzeugen. Patienten mit Sepsis benötigen höhere Füllungsdrücke als gesunde Personen, um ein vergleichbares Schlagvolumen erzeugen zu können [84]. Die Veränderungen sind weitestgehend reversibel, sofern sich der Patient von der Sepsis erholt. Die kardiale Dysfunktion der Sepsis wird durch die Zytokine TNF-α und IL-1, die als myokarddepressive Substanzen wir-
798
Kapitel 63 · Sepsis
. Abb. 63.4. Faktoren, die zur Beeinträchtigung der zellulären O2-Versorgung beim septischen Schock führen können
ken, verursacht. Dabei aktivieren diese Zytokine die myokardiale NO-Synthetase. Das vermehrt entstehende NO greift an verschiedenen Stellen der Kardiomyozyten ein und führt zu einer Funktionseinschränkung des kontraktilen Apparates. Eine Gewebehypoxie ist ein wesentlicher pathophysiologischer Bestandteil bei der Entwicklung von Organdysfunktionen in der Sepsis (. Abb. 63.5). Auch das Herz könnte von diesem Pathomechanismus betroffen sein. Allerdings ist der koronare Blutfluss bei Patienten mit Sepsis erhöht [30]. Andererseits weisen tierexperimentelle Arbeiten auf eine beeinträchtigte Koronarreserve bei Sepsis hin [12]. Bei Patienten mit Sepsis können erhöhte Troponinwerte gemessen werden, was ebenfalls hinweisend für eine myokardiale Ischämie ist [6].
Vasodilatation Das Endothel synthetisiert verschiedene vasoaktive Mediatoren. NO relaxiert die glatte Gefäßmuskulatur und ist somit ein potenter Vasodilatator. NO wird von der NO-Synthetase (NOS) aus
der Aminosäure L-Arginin produziert. Die Expression der NOS wird bei der Sepsis durch Zytokine wie IL-1 und TNF-α stimuliert, was zu einer deutlich verstärkten NO-Produktion und damit ausgeprägter Vasodilatation führt [107]. i Die dadurch verursachte schwere arterielle Hypotension ist ein Kardinalsymptom des septischen Schocks.
Die Vasodilatation führt jedoch nicht nur zu einem niedrigen Blutdruck. Eine differenzierte Vasodilatation und -konstriktion sind notwendige Voraussetzungen für eine bedarfsadaptierte Organdurchblutung. Eine systemische und undifferenzierte Vasodilation hingegen verhindert, dass das Herzzeitvolumen effizient an die verschiedenen Organe verteilt wird. Entsprechende Autoregulationsstörungen wurden in der Leber, den Koronargefäßen und in der intestinalen Mukosa nachgewiesen. Das in der Neurohypophyse sezernierte Hormon Vasopressin könnte der schweren Vasodilatation entgegenwirken. Allerdings findet man bei Patienten mit septischem Schock ver-
63
. Abb. 63.5. Pathogenese des Multiorgandysfunktionssyndroms (MODS)
799 63.7 · Therapie
minderte Vasopressinspiegel [60]. Da sich im MRT bei diesen Patienten eine verkleinerte Neurohypophyse zeigt [100], könnte eine Erschöpfung der Vasopressinspeicher die Ursache für die niedrigen Spiegel sein.
Hypovolämie Die ausgeprägte Vasodilatation führt dazu, dass sich das Blut in den peripheren Gefäßen verteilt und der venöse Rückstrom zum Herz eingeschränkt ist. Dies bezeichnet man als relative Hypovolämie. Bei Inflammation exprimieren Endothelzellen Adhäsionsmoleküle auf ihrer Oberfläche, die zur Adhäsion von Leukozyten führen. Die Adhäsion von Leukozyten ist Voraussetzung für deren Migration in das Gewebe. Bei einer systemischen Inflammation exprimieren Endothelzellen Adhäsionsmoleküle in allen Organen, auch wenn diese nicht von einer Infektion betroffen sind. Adhärierende und damit auch aktivierte Leukozyten produzieren zytotoxische Substanzen (Elastase, Myeloperoxidase und Sauerstoffradikale). Diese als »respiratory burst« bezeichnete Reaktion schädigt nicht nur Mikroorganismen, sondern auch körpereigene Zellen – insbesondere Endothelzellen. Die wichtigste Auswirkung des Endothelschadens ist die Bildung von Kapillarlecks, durch die intravaskuläre Flüssigkeit nach extravaskulär austreten kann. Eine Rückresorption ist zunächst nicht möglich, da das Kapillarleck die Wirksamkeit der Starling-Kräfte ausschaltet. Die Flüssigkeitsverschiebung führt zu einer schweren generalisierten Ödembildung und zu einem intravasalen Volumenmangel, der als absolute Hypovolämie bezeichnet wird. Die Kombination von absoluter und relativer Hypovolämie bewirkt eine ausgeprägte Verminderung der kardialen Vorlast, die schnell zur hämodynamischen Instabilität führen kann, wenn sie unbehandelt bleibt. i Relative und absolute Hypovolämie bilden ein weiteres Kardinalsymptom des septischen Schocks.
Mikrozirkulationsstörung Beim septischen Schock kann trotz eines suffizienten systemischen Sauerstoffangebotes eine Laktazidose in Kombination mit einer niedrigen Sauerstoffextraktion beobachtet werden. Dieses Phänomen lässt sich mit einer Störung der Mikrozirkulation erklären [113]. Wenn es im kapillären Netzwerk der Mikrozirkulation zu einer Verminderung der für die Diffusion zur Verfügung stehenden Oberfläche kommt, ist eine suffiziente O2-Extraktion aus dem Blut nicht mehr möglich. Aussagen über die Mikrozirkulation sind in der klinischen Praxis praktisch nicht möglich. Tierexperiementell lässt sich jedoch zeigen, dass es beim septischen Schock zur Verlegung des Kapillarbetts durch 4 Mikrothromben bei intravasaler Koagulation, 4 Endothellzellschwellung bei Zellödem, 4 an den Endothelzellen adhärierenden Leukozyten, 4 Erythrozyten mit verminderter Deformierbarkeit kommt. Zwar gibt es durchaus Kapillaren mit normalem Blutfluss. Diese können aber den Ausfall der beeinträchtigen Kapillaren nicht ersetzen [39].
Zytopathische Hypoxie Unter experimentellen Bedingungen der Sepsis konnte gezeigt werden, dass es zu einer Dysregulation des zellulären Energieme-
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tabolismus kommt. Dabei sind insbesondere die molekularen Mechanismen der mitochondrialen oxidativen Phosphorylisierung gestört [29]. Dies würde bedeuten, dass im Gewebe ein ausreichender O2-Verbrauch gar nicht möglich wäre, selbst wenn die zelluläre O2-Versorgung aufrecht erhalten wäre. Dagegen spricht jedoch, dass die kompensatorische Erhöhung der Sauerstoffextraktion noch möglich ist [39] und eine frühe Kreislaufstabilisierung mittels der zentralvenösen Sauerstoffsättigung (ScvO2>70%) das Überleben von Patienten mit schwerer Sepsis begünstigt [94]. Momentan ist unklar, wie viel Bedeutung die unter experimentellen Bedingungen nachgewiesene zytopathische Hypoxie im Gesamtbild der septischen Kreislaufstörungen besitzt. 63.6.3 Disseminier te intravasale Gerinnung Die bei der systemischen Inflammation ausgeschütteten Zytokine führen zu einer Expression des Gewebefaktors (»tissue factor«) auf Monozyten, neutrophilen Granulozyten und Endothelzellen [85]. Somit kommt es zu einer Aktivierung der Gerinnungskaskade. Physiologischerweise wird die pathologische Gerinnungsaktivierung durch körpereigene Antikoagulanzien wie Antithrombin (AT), Thrombomodulin-Protein C-Protein S-System und »tissue factor pathway inhibitor« (TFPI) kontrolliert. Die Serumspiegel dieser Substanzen sind jedoch bei Patienten mit Sepsis vermindert [45, 71]. Dies bedeutet, dass bei einer Sepsis das physiologische Gleichgewicht zwischen pro- und antikoagulatorischen Substanzen zugunsten des prokoagulatorischen Zustands verschoben wird. Allerdings werden schwere Blutungskomplikationen als Folge einer Verbrauchskoagulopathie bei Patienten mit Sepsis nur in 3% der Fälle beschrieben [40]. Es wird vielmehr vermutet, dass die kontinuierliche latente Thrombenbildung mit Embolisierung der Mikrozirkulation einen wichtigen pathophysiologischen Faktor für die Genese des Multiorganversagens darstellt. Ein direkter Beweis konnte dafür aber nicht erbracht werden [105]. Das Protein C-System scheint neben seiner Funktion für die Antikoagulation eine wichtige Verbindung zwischen Inflammation und Gerinnung darzustellen, da Protein C möglicherweise antiinflammatorische Eigenschaften besitzt. Es gibt Hinweise darauf, dass aktiviertes Protein C die Produktion von Zytokinen wie TNF-D und IL-1 vermindert, die LPS-CD14-Interaktion beeinflusst und die Immunantwort von Makrophagen auf LPS inhibiert [49]. Wahrscheinlich liegt der Wirkmechansimus in einer durch aktiviertes Protein C vermittelten Blockierung der Migration von NF-NB in den Zellkern [78]. 63.7
Therapie
Die Vielzahl der therapeutischen Ansätze im Rahmen der Therapie von Patienten mit einer Sepsis lässt sich in kausale, supportive/intensivmedizinische und adjunktive Therapien zusammenfassen. 4 Die kausale Therapie besteht aus der medikamentösen bzw. chirurgischen Herdsanierung und den supportiven Maßnahmen. Unter dem Begriff einer supportiven Therapie lassen sich die intensivmedizinischen Maßnahmen subsumieren, die der Korrektur bzw. Wiederherstellung der Homöostase und der Kompensation bzw. dem Ersatz gestörter Organ-
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Kapitel 63 · Sepsis
funktionen dienen. Dazu gehören die Behandlungsmaßnahmen bei hämodynamischen Störungen (z. B. Schocktherapie), organunterstützende Verfahren wie die mechanische Ventilation, organersetzende Verfahren wie die Hämodiafiltration und schließlich auch die parenterale und enterale Ernährung. 4 Als adjunktive Therapien bezeichnet man solche Therapieansätze, die gemeinsam und zusätzlich zur Standardtherapie durchgeführt werden. In der Behandlung der Sepsis beinhaltet dies eine Modulation der wirtseigenen inflammatorischen Antwort mit spezifischen Therapeutika. Diese umfassen u. a. die Inhibition inflammatorischer Mediatoren und die Eindämmung der in der Sepsis auftretenden Aktivierung des prokoagulatorischen Systems. Neben der Einleitung der Vielzahl von therapeutischen Maßnahmen kommt dem zeitlichen Aspekt eine entscheidende Komponente zu. Wie bei jeder anderen Schockform auch, müssen die Therapiemaßnahmen ohne Zeitverzug eingeleitet werden, um für den Patienten den höchsten Prognosegewinn zu erzielen. Dies gilt insbesondere für die Antibioitikatherapie und die Kreislaufstabilisierung. Um die komplexen Verhältnisse von Art und Zeitpunkt der einzuleitenden Behandlungen in klinisch eingängiger Art darzustellen, hat die Surviving Sepsis Campaign sog. Therapiebündel erstellt [64] 7 Kap. 63.7.4 (Sepsisbündel). 63.7.1 Fokussanierung
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Ist ein Fokus durch eine herdsanierende Maßnahme zu eliminieren, so ist die frühzeitige und vollständige Fokussanierung die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie der schweren Sepsis und des septischen Schocks. Entsprechende Maßnahmen sollten insbesondere in Betracht gezogen werden bei Vorliegen eines Abszesses oder einer abgeschlossenen Ansammlung infektiösen Materials, bei einer Infektion durch Obstruktion oder Perforation eines Hohlorgans oder wenn sich nekrotisches Gewebe oder Fremdkörper in räumlicher Nähe zu einer Infektionsquelle befinden. Maßnahmen zur Fokussanierung können neben der Entfernung von Fremdkörpern, wie Implantaten oder Kathetern, die Inzision oder Drainage von Abszessen, die operative Behandlung einer Peritonitis bei Perforation oder Ileus mit Peritoneallavage, Enterostomie oder Drainage, die Eröffnung und das Débridement infizierter Wunden, die Ausräumung infizierter Nekrosen sowie Amputationen sein. Der Rückgang klinischer Zeichen der systemischen Inflammation und die Besserung kompromittierter Organfunktionen, lokal oder fokusfern, können Zeichen der Effektivität der durchgeführten Maßnahmen sein. Indikation, Zeitpunkt und Risiko-Nutzen-Abwägung einer Fokussanierung müssen in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit der behandelnden Intensivmediziner und Chirurgen erfolgen.
Antibiotikatherapie Die frühzeitige, adäquate Antibiotikatherapie reduziert die Letalität bei Patienten mit Sepsis und grampositiver oder gramnegativer Bakteriämie. Die Behandlung sollte so früh wie möglich, möglichst nach Abnahme von Untersuchungsmaterial zur mikrobiologischen Diagnostik, in jedem Fall aber innerhalb 1 h nach Diagnosestellung beginnen [90].
i Mit jeder Stunde, die ohne adäquate Antibiotikatherapie verstreicht, verringern sich bei Patienten mit septischem Schock die Chancen, die Erkrankung zu überleben [59].
Bei inadäquater Antibiotikatherapie – d. h. falsches Antibiotikum oder unzureichende Dosierung – steigt die Letalität um bis zu 40% an [117]. Auch bei einer nachträglichen Umstellung auf eine adäquate Antibiotikatherapie bleibt die Überlebenswahrscheinlichkeit reduziert. Der wesentliche Grund für eine falsche initiale Therapie ist eine Infektion mit multiresistenten Erregern, die von einer zu engen Antibiotikatherapie nicht abgedeckt sind. Deshalb müssen Risikofaktoren für eine Infektion mit multiresistenten Erregern bei der Wahl des Antibiotikums ebenso berücksichtigt werden wie das lokale Resistenzmuster. Das Antibiotikum muss außerdem eine ausreichende Penetrationsfähigkeit in das infizierte Gewebe besitzen. Das initial gewählte kalkulierte, breite Antibiotikaregime sollte alle 2–3 Tage anhand klinischer und mikrobiologischer Kriterien überprüft werden, um die Therapie unter Berücksichtigung des antimikrobiellen Spektrums zu deeskalieren und damit das Risiko von Resistenzen zu verringern [90]. 63.7.2 Suppor tive Therapie Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock erleiden definitionsgemäß mindestens eine Organdysfunktion. In der Regel kommt es jedoch zur Fehlfunktion mehrerer Organe. Die Sanierung des infektiösen Fokus allein kann daher das Überleben dieser Patienten nicht sichern. Die Stabilisierung und Aufrechterhaltung der Vital- und Organfunktionen wird als supportive Therapie bezeichnet. Sie kann das gesamte Spektrum der apparativen Intensivmedizin beinhalten.
Hämodynamische Stabilisierung . Abb. 63.3 zeigt die Faktoren, die bei Sepsis zu einer Erniedrigung des Herzzeitvolumens oder zu einer Hypotonie führen können. Zentrale Pathomechanismen sind: verminderte Ansprechbarkeit der Adrenorezeptoren gegenüber endogenen und exogenen Katecholaminen, myokarddepressive Faktoren, Vorlasterniedrigung durch Flüssigkeitsverluste ins Gewebe über Kapillarlecks, Vasodilation im Bereich der kapazitiven Gefäße.
Als therapeutische Maßnahmen ergeben sich folglich: 5 adäquater Volumenersatz, 5 Einsatz von positiv-inotropen Substanzen, 5 Einsatz von Vasopressoren.
Volumenersatz Die Art des Volumenersatzes wird kontrovers diskutiert. Kristalloide Lösungen werden ebenso verwendet wie kolloidale Lösungen. In verschiedenen Untersuchungen wurden bessere Effekte von kolloidalen Lösungen auf den O2-Transport und die globale O2-Aufnahme beobachtet. In der Wahl des Plasmaersatzmittels zeigte niedrigmolekulare Hydroxyethylstärke Vorteile in der Langzeitanwendung gegenüber Humanalbumin, denn nur durch das künstliche Kolloid konnte bei Patienten mit einer Sepsis eine Verbesserung der globalen Hämodynamik erreicht und ein Abfall des pHi-Wertes vermieden werden [13, 14].
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Aus mikromorphologischen Untersuchungen in einem tierexperimentellen Modell des septischen Schocks ist bekannt, dass Kolloide im Gegensatz zu Kristalloiden die Progression des extrapulmonalen Gewebeschadens und die Endothelschwellung verhindern können [77]. Mit welchen Substanzen die Volumentherapie im Rahmen der Sepsis letztendlich durchgeführt werden sollte, ist jedoch noch offen. Derzeit liegen lediglich 3 Metaanalysen vor, die zu keiner einheitlichen Aussage kommen [11, 97, 112]. In Deutschland ist der Gebrauch von Hydroxyethylstärke (HES) stark verbreitet, obwohl es zahlreiche Hinweise auf die Beeinflussung der Gerinnung und für Nephrotoxizität gibt [118]. Studien mit ausreichend langer Nachbeobachtungszeit lagen bisher nicht vor. Nachdem in einer französischen Studie jedoch bereits über eine höhere Inzidenz von Nierenversagen bei Patienten mit schwerer Sepsis berichtet worden ist [98], legen die Ergebnisse der bisher unveröffentlichten beendeten multizentrischen randomisierten VISEP-Studie des vom BMBF unterstützten Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) nahe, dass HES-Lösungen bei septischen Patienten nicht verwendet werden sollten. In der VISEP-Studie wurde die Effektivität und Sicherheit von HES (HES 10%; 200/0,5) im Vergleich zu einer Ringer-Laktatlösung bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock untersucht (VISEP-Studie; www.clinicaltrials.org). Als Zielkriterien für die hämodynamische Stabilisierung waren ein arterieller Mitteldruck von mindestens 70 mm Hg, ein ZVD von mindestens 8 mm Hg und eine ScvO2 von mindestens 70% vorgegeben. Um diese zu erreichen, erhielten die Patienten in der HES-Gruppe zusätzlich große Mengen an Ringer-Laktatlösungen. In der RingerLaktatgruppe erhielten die Patienten dagegen ausschließlich Ringer-Laktatlösungen. Primärer Endpunkt war die 28-Tages-Mortalität. Die Studie wurde anlässlich einer geplanten Interimsanalyse nach Einschluss von 600 Patienten bei nicht unterschiedlicher 28-Tages-Mortalität (26,7% vs. 24,1%; p=0,48) vorzeitig beendet, da in der HES-Gruppe häufiger ein akutes Nierenversagen (34,9% vs. 23,2%; p=0,003) aufgetreten war. Patienten in der HES-Gruppe mussten zudem häufiger mit Nierenersatzverfahren behandelt werden (31,0% vs. 18,6%; p<0,001) [89]. Zum Einsatz von Albumin bei Hypovolämie, Verbrennungen und Hypoalbuminämie ergab eine Metaanalyse von 30 randomisierten, kontrollierten Studien mit 1419 Patienten ein auf 1,46, 2,40 und 1,69 (im Mittel 1,68) erhöhtes relatives Mortalitätsrisiko bei Verwendung von Albumin im Vergleich zu den Kontrollgruppen [27]. Dies entspräche bei 100 behandelten Patienten 6 zusätzlichen Todesfällen. Als kausale Faktoren werden von den Autoren ein Albumin- und Wasseraustritt durch permeable Kapillarmembranen in das Interstitium, gerinnungshemmende Effekte sowie Störungen der Thrombozytenfunktion diskutiert. In der SAFE-Studie von Finfer et al. [43] mit insgesamt ca. 7000 Patienten konnte für Humanalbumin im Vergleich zu physiologischer Kochsalzlösung kein Vorteil nachgewiesen werden. In einer Subgruppe von Patienten mit Sepsis ergab sich allerdings ein Trend zu einer reduzierten 28-Tage-Mortalität zugunsten von Humanalbumin. Die Datenlage reicht jedoch bisher nicht aus, um eine Empfehlung zum Einsatz von Humanalbumin auszusprechen. Entscheidend bei der Volumentherapie ist jedoch vor allem der ausreichende Volumenersatz und weniger die Art der gewählten Flüssigkeiten. Die hierzu nötigen Volumina werden in der Praxis häufig unterschätzt. . Abb. 63.6 zeigt den individuellen Volumenbedarf von Patienten mit septischem Schock 24 h vor
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. Abb. 63.6. Individueller Volumenbedarf von Patienten mit Sepsis im Zeitraum von 24 h vor bis 72 h nach Diagnosestellung. (Aus [88])
bis 72 h nach Diagnosestellung, wobei sich zeigt, dass Volumina von 5–8 l pro Tag keine Seltenheit sind. Grundlegendes Prinzip der Volumentherapie ist die Verbesserung der myokardialen Vorlast. Als Zielparameter der hämodynamischen Therapie werden in der Untersuchung von Rivers et al. ein zentralvenöser Druck von 8–12 mm Hg, ein mittlerer arterieller Druck >65 mm Hg, eine Diurese >0,5 ml/kg KG/h und eine ScvO2>70% empfohlen. Diese Parameter wurden auch in die Empfehlungen der Surviving Sepsis Campaign übernommen [33]. Allerdings wurden beide Patientengruppen bis auf die ScvO2 nach diesen Parametern behandelt, so dass die Zielwerte in ihrer Sinnhaftigkeit nicht mit Daten belegt sind. Dennoch stellt das Therapieschema nach Rivers et al. einen sinnvollen Algorithmus für die initiale Kreislaufstabilisierung dar. Die Begrenzung auf einen oberen Wert für den ZVD ist problematisch, da dies bei Patienten mit erhöhten intrathorakalen oder intraabdominellen Drücken zu erheblichen Fehleinschätzungen des Volumenstatus führen kann. Zur Einschätzung der myokardialen Vorlast sind volumetrische Parameter (z. B. intrathorakales Blutvolumen oder enddiastolisches Volumen) den klassischen Füllungsdrücken überlegen [66]. Ob ein erweitertes hämodynamisches Monitoring grundsätzlich notwendig ist, ist unklar. Am besten untersucht ist derzeit die Frage, ob ein hämodynamisches Monitoring mittels Pulmonalarterienkatheter sinnvoll ist. Eine aktuelle Metaanalyse, die insgesamt 11 Studien (davon 3 an Patienten mit Sepsis oder ARDS) berücksichtigt, konnte jedoch keine Vorteile eines derartigen Monitorings aufzeigen [99]. Von den meisten Experten wird der Einsatz eines erweiterten Monitorings (Echokardiographie, transpulmonale Indikatordilution, Pulmonalarterienkatheter) bei Patienten, die mit einfachen Maßnahmen nicht umgehend stabilisiert werden können, empfohlen.
Einsatz vasoaktiver und positiv-inotroper Substanzen Lässt sich trotz adäquaten Volumenersatzes kein ausreichender arterieller Mitteldruck (MAD ≤70 mm Hg) und keine zufrie-
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Kapitel 63 · Sepsis
denstellende Urinausscheidung erzielen, ist der Einsatz eines Katecholamins angezeigt. Eine auf prospektiv randomisierten Studien basierende Empfehlung zum Einsatz von vasoaktiven Substanzen kann nicht ausgesprochen werden, da derartige Studien nicht vorliegen. Eine 2002 durchgeführte Beobachtungsstudie auf insgesamt 198 europäischen Intensivstationen legt jedoch nahe, dass der Einsatz von Dopamin und Adrenalin in der Therapie des septischen Schocks mit einer erhöhten Letalität assoziiert ist [96]. Solange beweisende Studien jedoch nicht vorliegen, sollten Substanzen bzw. Substanzenkombinationen unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungen auf die Determinanten der zellulären O2-Versorgung ausgewählt werden (. Abb. 63.4). Entscheidend ist die Beeinflussung der vorliegenden pathophysiologischen Veränderungen am Herzen, im Bereich der Widerstandsgefäße und auf der Ebene der Mikrozirkulation.
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Dobutamin. Dobutamin ist zur Therapie der septischen Kardiomyopathie aufgrund des positiv-inotropen Effektes geeignet. Einen selektiven Effekt auf das Splanchnikusgebiet scheint es darüber hinaus nicht zu geben. Untersuchungen, die eine verbesserte Splanchnikusperfusion unter Dobutamin haben zeigen können, legen nahe, dass diese regionale Perfusionsverbesserung passive Folge des erhöhten globalen Blutflusses ist [54]. Eindeutige Hinweise, dass darüber hinaus mittels Dobutamin bei septischen Patienten selektiv die Perfusion des Splanchnikusgebietes verbessert werden kann, fehlen. Durch den Einsatz von Dobutamin kann ein latenter Volumenmangel zutage treten, der sich in einem Blutdruckabfall manifestieren kann. Er lässt sich jedoch durch Volumengabe leicht kompensieren. In der Regel führt Dobutamin zu einer Steigerung des Herzzeitvolumens und damit des DO2. Bei der Dosierung können und müssen die primär für kardiologische Patienten entwickelten Dosierungen überschritten werden, was auch für andere Katecholamine gilt, da – wie bereits erwähnt – bei der Sepsis mit einer verminderten Rezeptorempfindlichkeit gegenüber Katecholaminen zu rechnen ist. Von einzelnen Autoren werden Dosierungen von über 20 Pg/kg KG/min empfohlen. Limitierend ist hier eine zu ausgeprägte Steigerung der Herzfrequenz, die bei einzelnen Patienten den Einsatz von Dobutamin unmöglich macht, sodass sich in der Praxis die Dosierung zwischen 5 und 15 Pg/kg KG/min bewegt. Noradrenalin. Aufgrund der primär α-agonistischen Wirkung
gilt Noradrenalin als Mittel der 1. Wahl, wenn zur Gewährleistung eines ausreichenden arteriellen Mitteldrucks eine Anhebung des in der Regel im septischen Schock erniedrigten peripheren Gefäßwiderstandes angestrebt wird. Der Einsatz von Noradrenalin ist u. E. allerdings erst dann gerechtfertigt, wenn mit Volumen und Dobutamin ein ausreichender arterieller Mitteldruck (≥70 mm Hg) nicht erzielt werden kann, was jedoch bei der Mehrzahl der Patienten mit septischem Schock der Fall ist. Die für dieses Therapieziel nötigen Dosierungen können ebenfalls die für diese Substanz angegebene Höchstdosierung (8 Pg/min) bei septischen Patienten um ein Vielfaches überschreiten. Ein arterieller Mitteldruck t70 mm Hg scheint u. a. für die Nierenfunktion notwendig, denn in verschiedenen Untersuchungen zeigte sich, dass es unter einer Anhebung des arteriellen Mitteldrucks in diese Größenordnung mittels Noradrenalin zu einer Verbesserung der Diurese und teilweise auch der Kreatininclearance [4, 34, 35, 52] kommt. Dies bedeutet, dass keines-
falls ein inadäquater arterieller Blutdruck toleriert werden sollte, um potenziell negative Effekte des Vasopressors zu vermeiden. Darüber hinaus darf davon ausgegangen werden, dass die potenziell nachteiligen vasopressorischen Wirkungen von Noradrenalin im Sinne einer peripheren Vasokonstriktion und einer Minderperfusion des Splanchnikusgebietes unter den Bedingungen der Sepsis nicht oder zumindest deutlich schwächer auftreten, was mit einer verminderten Ansprechbarkeit der D-Rezeptoren und mit der sepsisbedingten direkten Vasodilatation zu erklären ist. Adrenalin. In niedrigen Dosierungen wirkt Adrenalin vorwiegend auf periphere E1- und E2-adrenerge Rezeptoren, wohingegen bei moderaten bis hohen Dosen D1-Rezeptor-vermittelte vasokonstriktorische Wirkungen dominieren. Adrenalin wird von einigen Autoren für die Therapie des schweren septischen Schocks empfohlen, da es aufgrund der E-mimetischen Wirkung das HZV steigern kann und gleichzeitig mittels der D-pressorischen Komponente einen ausreichenden Perfusionsdruck bewirkt. Obwohl einige Arbeitsgruppen gezeigt haben, dass bei Patienten im septischen Schock, die sich auch mit hochdosiertem Dopamin oder Noradrenalin hämodynamisch nicht stabilisieren ließen, der Einsatz von Adrenalin häufig zu einer Stabilisierung der Kreislaufverhältnisse führte [15, 76], gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass es unter Adrenalin im Vergleich zur Kombination von Dobutamin/Noradrenalin trotz gleichen systemischen Blutdrucks und vergleichbarem O2-Transport bzw. O2-Verbrauch zu einer drastischen Verschlechterung des Blutflusses im Hepatikus-Splanchnikus-Bereich kommt, die mit erhöhten Serumlaktatspiegeln und einer Verschlechterung der Perfusion der Magenmukosa einhergeht [32, 62, 74]. Dopamin. Dopamin wird beim Patienten mit Sepsis sowohl in einer niedrigen Dosierung von 1–3 Pg/kg KG/min (sog. »Nierendosis«) als auch primär in einer höheren Dosierung eingesetzt, in der neben der dopaminergen auch die E1-mimetischen und v. a. die D-agonistischen Eigenschaften dieser Substanz zum Tragen kommen. Als Monosubstanz sind Dosierungen um 20 Pg/ kg KG/min nötig, um im septischen Schock einen ausreichenden arteriellen Mitteldruck zu erzielen, in Einzelfällen sogar ein Mehrfaches dieser Dosierung. Beim Vergleich zwischen Dopamin als Monotherapie und einer Kombination von Noradrenalin mit Dobutamin zeigte sich bei gleichem arteriellem Mitteldruck eine signifikant höhere Herzfrequenz, ein Anstieg des pulmonalkapillären Verschlussdruckes (PCWP) und eine Zunahme des pulmonalen Rechtslinks-Shunts mit einem Abfall des arteriellen pO2 unter Dopamin [50]. Der O2-Transport unter Dopamin war zwar höher als unter der Kombination von Noradrenalin und Dobutamin, die O2-Aufnahme war jedoch trotz des höheren DO2 nicht verbessert. Neben der Monotherapie wird eine wesentliche Indikation für Dopamin heute in der adjuvanten Therapie mit Low-doseDopamin (1–3 Pg/kg KG/min) zur Verbesserung der Nierenfunktion und der Splanchnikusoxygenierung gesehen, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sich hiermit die Inzidenz des Nierenversagens verringern lässt. Die potenziell günstigen Effekte von Low-dose-Dopamin konnten bei Patienten mit Sepsis bisher nicht bestätigt werden [65]. Darüber hinaus muss aufgrund einer Umverteilung des nutritiven Blutflusses mit einer Verschlechte-
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rung der Oxygenierung der besonders hypoxiegefährdeten Mukosa des Darms gerechnet werden [73]. Im Vergleich zu Noradrenalin führte Dopamin in einer vasopressorischen Dosierung bei septischen Patienten zwar zu einem Anstieg des arteriellen Blutdrucks. Noradrenalin bewirkte jedoch auch einen Anstieg des pHi, wohingegen durch Dopamin eine Verschlechterung des pHi resultierte [68]. Bei septischen Patienten, deren fraktioneller Splanchnikusblutfluss primär nicht erhöht war, führte Low-dose-Dopamin zwar zu einer Steigerung des Splanchnikusblutflusses, jedoch bewirkte Low-dose-Dopamin bei Patienten mit einem primär bereits erhöhten fraktionellen Splanchnikusblutfluss keine weitere Steigerung und bei einigen Patienten sogar eine Abnahme des Splanchnikusblutflusses [73]. Neben diesen potenziell ungünstigen Effekten ist bekannt, dass Dopamin die Konzentration verschiedener Hormone der neurohypophysären Achse zu senken vermag. So kann durch Dopamin eine Hypoprolaktinämie induziert werden, die wiederum zu einer eingeschränkten Lymphozyten- und Makrophagenaktivität führen kann. Verschiedene Wachstumshormone sind unter Therapie mit Dopamin vermindert, was eine der Ursachen für eine – oft therapeutisch nicht zu beeinflussende – Katabolie sein kann. Des Weiteren kann Dopamin über eine Beeinflussung von Schilddrüsenhormonen die myokardiale und vaskuläre Funktion beeinträchtigen [108].
Da es neben den beschriebenen potenziell ungünstigen Effekten von Dopamin auf das Splanchnikusgebiet und neben den bekannten Effekten auf verschiedene Hormone bis heute keine eindeutigen Hinweise dafür gibt, dass eine Therapie mit Low-dose-Dopamin ein Nierenversagen verhindern kann, wird der routinemäßige Einsatz von Low-dose-Dopamin zunehmend kritisch gesehen. In vasopressorisch wirksamer Dosierung scheint Dopamin dem Noradrenalin unterlegen zu sein. Wir halten deshalb derzeit die Kombination von Dobutamin und Noradrenalin im septischen Schock für geeigneter als die Monotherapie mit Dopamin.
Dopexamin. Dopexamin ist ein synthetisches Katecholamin, das
überwiegend über eine dopaminerge (DA1) und E-adrenerge Rezeptorenaktivität verfügt. Es besitzt insofern einen Vorteil gegenüber Dopamin, als es D-Rezeptoren nicht stimuliert und daher keine vasokonstringierenden Eigenschaften besitzt. Einige Untersuchungen ergaben Hinweise darauf, dass Dopexamin über einen E2-vermittelten Effekt eine Umverteilung des Blutflusses von der Muskularis zur Mukosa des Darms bewirkt bzw. den Splanchnikusblutfluss insgesamt steigert [25, 104]. Die Steigerung der Splanchnikusperfusion scheint jedoch nur ein passiver Effekt einer Steigerung des HZV zu sein. Zumindest konnte bisher in keiner Untersuchung tatsächlich ein selektiver Effekt von Dopexamin auf die Splanchnikusperfusion bewiesen werden. In einer histologischen Untersuchung von Leberbiopsien zeigten mit Dopexamin behandelte Tiere eine geringere Zellschädigung und Endothelzellschwellung als mit Dobutamin behandelte Tiere [106]. Andererseits konnte sowohl bei septischen als auch bei kardiochirurgischen Patienten eine Verschlechterung des pHi unter
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Therapie mit Dopexamin beobachtet werden, was gegen eine bevorzugte Perfusion der Darmmukosa spricht [72]. Ob hierfür eine Umverteilung des Blutflusses auf der Ebene der Mikrozirkulation – wie für Dopamin beschrieben – die Ursache ist, ist ungeklärt. Die Effekte von Dopexamin auf die regionale Zirkulation, insbesondere auf das Splanchnikusgebiet sind somit noch relativ widersprüchlich. Klinische Untersuchungen, die die Gabe von Dopexamin zur selektiven Verbesserung der Splanchnikusperfusion rechtfertigen, liegen nicht vor. Studien, die zeigen, dass eine perioperative Infusion von Dopexamin zu einer signifikante Reduzierung der Sterblichkeit bei den mit Dopexamin behandelten Patienten führt, sind kein Beleg für die Wirksamkeit von Dopexamin. Vielmehr müssen diese Untersuchungen dahingehend interpretiert werden, dass es Risokopatienten gibt, die von einer perioperativen DO2-Erhöhung profitieren. Dass eine solche Maßnahme zwingend mittels Dopexamin durchgeführt werden muss, ist bislang in keiner dieser Studien gezeigt worden [19, 103, 119].
Da Dopexamin möglicherweise über dem Dopamin ähnliche Nebenwirkungen auf die gastrointestinale Mukosa verfügt, kann der routinemäßige Einsatz von Dopexamin bei septischen Patienten nicht empfohlen werden.
Phosphodiesterasehemmer. Phosphodiesterasehemmer
wie z. B. Milrinon sind für die Therapie des septischen Schocks bisher noch nicht ausreichend untersucht. In der Regel lässt sich zwar mit diesen Substanzen eine weitere Steigerung des Herzzeitvolumens und damit des DO2 erzielen, nach eigenen Untersuchungen geht es jedoch bei bereits hyperdynamen Patienten nicht mit einer klinisch relevanten Steigerung der globalen O2-Aufnahme einher. Bei jedem Einsatz ist zu bedenken, dass Phosphodiesterasehemmer zu einer weiteren deutlichen Erniedrigung des in der Regel bereits reduzierten peripheren Gefäßwiderstandes mit entsprechenden Folgen für den systemischen Blutdruck führen können. Eine ausreichende Volumensubstitution ist deshalb von größter Bedeutung. Als weiterer Nachteil ist die im Gegensatz zu den Katecholaminen geringere Steuerbarkeit anzusehen, die durch die wesentlich längeren Halbwertszeiten von Phophodiesterasehemmern bedingt ist. Im Rahmen der Therapie septischer Patienten mit instabilen Kreislaufverhältnissen führte Enoximon zu einem gesteigerten O2-Angebot und -verbrauch. Ob auch selektive Effekte auf die regionale Perfusion vorliegen, kann derzeit nicht sicher beantwortet werden. Für Enoximon konnte aber gezeigt werden, dass es im Vergleich zu Dobutamin mit einem höheren O2-Verbrauch im Splanchnikusgebiet, einer verbesserten Lidocain-Abbaufunktion und einer geringeren hepatischen TNF-DFreisetzung einhergeht [57]. Gegenwärtig gehören Phosphodiesterasehemmer somit nicht zu den Substanzen, die primär bei Patienten mit septischem Schock eingesetzt werden sollten. Eine Indikation besteht am ehesten bei Patienten, die durch eine vorbestehende ausgeprägte kardiale Insuffizienz trotz konventioneller Maßnahmen keinen hyperdynamen Kreislauf ausbilden.
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Kapitel 63 · Sepsis
Vasopressin. Vasopressin führt zu einer V1-Rezeptor-vermittel-
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ten Erhöhung der intrazellulären Kalziumkonzentration. Eine Reihe von Untersuchungen hat zeigen können, dass Vasopressin zur hämodynamischen Stabilisierung bei Patienten mit septischem Schock eingesetzt werden kann [36, 83], insbesondere auch dann noch, wenn mit Noradrenalin keine adäquate Stabilisierung zu erreichen ist. Diese eindrucksvollen Effekte, die in der Regel mit dem synthetischen Vasopressin-Analogon Terlipressin erreicht wurden, sollten jedoch nicht zu einem unkritischen Einsatz dieser Substanz führen. Im Rahmen einer längerfristigen Anwendung von Vasopressin bleibt eine Reihe von Fragen offen. Eine wichtige Frage ist, ob Vasopressin zur Therapie einer Hypotonie im Sinne eines Vasopressors oder aber zur Substitution bei einem absoluten oder relativen Vasopressinmangel eingesetzt werden sollte. Dass ein solcher Vasopressinmangel bei septischen Patienten sehr häufig vorliegt, ist gut belegt [60]. Ob eine Substitutionstherapie sinnvoll ist und ob es einen qualitativen Unterschied zwischen einer niedrig dosierten Substitutionstherapie und einer höher dosierten Vasopressortherapie gibt, bleibt Spekulation, solange entsprechende Untersuchungen nicht vorliegen. In der kürzlich abgeschlossenen kanadischen VASST-Studie konnte eine Substitutionstherapie mit niedrig dosiertem Vasopressin bei Patienten mit septischem Schock keinen Überlebensvorteil nachweisen. Lediglich in einer Subgruppe von Patienten mit geringgradigem Noradrenalinbedarf brachte Vasopressin möglicherweise einen Überlebensvorteil, nicht jedoch bei Patienten mit schwerem septischem Schock und hohem Noradrenalinbedarf. Bei Drucklegung lag die Publikation der Studie jedoch noch nicht vor. Obwohl mittlerweile eine Reihe von Daten zeigen, dass Vasopressin bei schwersten Schockzuständen eine Stabilisierung der globalen Hämodynamik ermöglicht, ist völlig unklar, ob dies mit einer Verschlechterung der Perfusionsverhältnisse auf der Ebene der Mikrozirkulation erkauft wird. Es gibt jedoch sowohl tierexperimentelle [111] als auch klinische Hinweise [58] dafür, dass Vasopressin insbesondere die gastrointestinale Perfusion verschlechtert. Aufgrund der Unkenntnis der Effekte von Vasopressin auf die Mikrozirkulation, also letztendlich der Effekte, die entscheidend das Auftreten eines Organversagens und damit das Überleben des Patienten beeinflussen können, sollte Vasopressin im Rahmen der hämodynamischen Therapie bei Sepsis als längerfristige Medikation derzeit nur mit äußerster Zurückhaltung eingesetzt werden.
Gabe von Erythrozytenkonzentraten Da die Kreislauftherapie bei septischen Patienten eine adäquate Sauerstoffversorgung zum Ziel hat, ist es naheliegend, die Indikation zur Transfusion von Erythrozyten großzügig zu stellen. Eine Untersuchung von Hébert et al. [51] zeigte jedoch, dass bei kritisch kranken Patienten, die entlang eines restriktiven Transfusionsprotokolls (Hb 7–9 g/dl) behandelt wurden, eine geringere Sterblichkeit als bei Patienten, die entlang eines liberalen Transfusionprotokolls (Hb 10–12 g/dl) therapiert wurden, zu beobachten war. Ursächlich hierfür sind die ungünstigen Effekte auf die Mikrozirkulation, insbesondere bei älteren Erythrozytenkonzen-
traten [69], und die Herabsetzung der immunologischen Kompetenz durch die Verabreichung von Fremdblut [47]. Allerdings stammen alle Daten, die für einen zurückhaltenden Umgang mit Fremdblut sprechen, aus Untersuchungen, in denen nicht-leukozytendepletiertes Blut verwendet wurde. Darüber hinaus wurde in der Untersuchung von Hébert et al. ein hochselektioniertes Patientengut untersucht. Eine evidenzbasierte Empfehlung zum geeigneten Transfusionstrigger bei Sepsis ist deshalb heute nur schwer möglich. In Anlehnung an die Untersuchung von Rivers et al. wird in den Leitlinien der Surviving Sepsis Campaign empfohlen, dass bei Patienten, die trotz adäquater Volumentherapie eine ScvO2<70% aufweisen, ein Hämatokrit >30% angestrebt werden sollte [33, 94]. Andererseits wird in Anlehnung an die oben genannten Daten von Hébert et al. bei Patienten, die keinen Hinweis auf ein ungenügendes O2-Angebot haben, der restriktive Umgang mit Blut (Hb 7–9 g/dl) empfohlen. Nach Meinung der Autoren sollte aufgrund der unklaren Datenlage grundsätzlich versucht werden, mit Erythrozytentransfusionen restriktiv umzugehen. Eine Gabe von Erythrozyten zur Erhöhung des O2-Angebotes sollte aber immer dann er folgen, wenn nach Anwendung der weniger problematischen Interventionen (Volumengabe und Einsatz von Dobutamin) Zeichen der peripheren Minderversorgung (ScvO2<70% oder Erhöhung des Serumlaktatwertes) weiter bestehen.
63.7.3 Adjunktive Therapiemaßnahmen Aus der Erkenntnis, dass die körpereigene systemische Entzündungsreaktion in der Pathogenese des Organsversagens eine maßgebliche Rolle spielt, wurde als neuer Therapieansatz die Modulation der wirtseigenen Entzündungsreaktion des Körpers mit spezifischen neu entwickelten Therapeutika (Immunmodulation) entwickelt. Diese Behandlungen gelten als adjunktiv, da sie mit und zusätzlich zur Standardtherapie (Fokussanierung und supportive Therapie) angewendet werden. Obwohl viele pathophysiologisch gut begründete Therapiekonzepte im Tierexperiment und in kleineren klinischen Studien vielversprechend waren, war ein Behandlungsvorteil in den großen randomisierten Studien dann nicht mehr nachweisbar. Dies betraf antikoagulatorische Maßnahmen wie die hoch dosierte Gabe von Antithrombin [115] oder die Applikation von »tissue factor pathway inhibitor« [2] ebenso wie antiinflammatorische Ansätze wie z. B. monoklonale Antikörper gegen Endotoxin oder gegen TNF-D [91, 116]. Gegenwärtig zählen die Therapie mit niedrig dosiertem Hydrokortison bzw. die Gabe von aktiviertem Protein C bei bestimmten Patientenpopulationen zu den adjunktiven Therapiemaßnahmen bei Sepsis.
Insulintherapie Eine intensivierte Insulintherapie, die eine Normoglykämie mit Blutzucker werten von 80–110 mg/dl bzw. 4,4–6,1 mmol/l zum Ziel hat, kann bei intensivmedizinisch betreuten Patienten Morbidität und Mortalität senken [109, 110]. Eine jüngst durchgeführte Safety-Analyse der VISEP-Studie des Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) ergab eine erhöhte Rate von
805 63.7 · Therapie
Hypoglykämien (<2,2 mmol/l; 40 mg/dl) unter einer intensivierten Insulintherapie, die zum Studienabbruch führte [89]. Es erscheint somit problematisch, bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock eine Normoglykämie gefahrlos zu gewährleisten. Die Sur viving Sepsis Campaign empfiehlt daher, den Blutzucker auf Werte unter 150 mg/dl bzw. 8,3 mmol/l einzustellen [33]. Ob es sich bei dieser Maßnahme tatsächlich um eine effektive Therapie handelt, wurde jedoch bisher nicht prospektiv getestet.
Hydrokortison Eine französische Multicenterstudie bei Patienten im vasopressorrefraktären Schock zeigte für Patienten mit relativer Nebennierenrindeninsuffizienz (mit ACTH-induziertem Kortisolanstieg von 9 Pg/dl oder weniger) eine erfolgreiche Schockbehandlung und einen Rückgang der Sterblichkeit [8]. Zwei weitere kleinere randomisierte kontrollierte Studien zeigten ebenfalls signifikante Verbesserung des Schocks unter Hydrokortison [16, 20]. Dagegen konnte jüngst eine große europäische Multicenterstudie (Corticus), die noch unpubliziert bisher lediglich als Abstrakt vorliegt, keinen Benefit für die Sterblichkeitsraten nachweisen [102]. Corticus zeigte einen schnelleren Rückgang des septischen Schocks unter Steroiden. Dieser Effekt war sowohl bei ACTH-Test-Respondern und Nicht-Respondern nachweisbar. Im Gegensatz zu der französischen Studie, in die nur Patienten eingeschlossen wurden, die durch Vasopressoren nicht zu stabilisieren waren, erfolgte der Einschluss von Patienten in die Corticus-Studie mit septischem Schock auch dann, wenn der Blutdruck auf Vasopressoren ansprach. Weil diese Ergebnisse ohne klaren Einfluss auf die Sterblichkeit blieben bei bekannten Nebeneffekten von Steroiden wie ein erhöhtes Infektionsrisiko und eine vermehrte Inzidenz von Critical-illness-Polyeuropathie, sollte niedrig dosiertes Hydrokortison nur bei solchen Patienten im septischen Schock erwogen werden, bei denen trotz adäquater Volumengabe und dem Einsatz von Vasopressoren kein zufriedenstellender Blutdruck erzielt werden kann. Auch kann die Nutzung eines ACTH-Stimulationstests vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse nicht länger empfohlen werden.
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rhAPC nur für diese Patienten. In der folgenden ADDRESS-Studie konnte die fehlende Wirksamkeit bei den Patienten mit niedrigem Risiko (Apache II-Score <25 bzw. nur 1 Organversagen) bestätigt werden [1]. Drotrecogin D (aktiviert) wird in einer Dosierung von 24 Pg/kg KG/h über 96 h gegeben. Dabei sollte die Behandlung innerhalb von 48 h nach Diagnosestellung begonnen werden. Die europäische Zulassungsbehörde EMEA empfiehlt sogar einen Therapiebeginn innerhalb von 24 h. Entsprechend den Studienergebnissen kommen nur Patienten mit schwerer Sepsis mit mindestens 2 Organversagen und einem Apache II-Score >25 für dieses Medikament in Frage. In der Zulassungsstudie wurde die Frage aufgeworfen, ob niedrig dosiertes Heparin die Wirksamkeit von rhAPC beeinträchtigen könnte. Dies konnte inzwischen widerlegt werden. Auf die Gabe von Heparin, z. B. zur Thromboseprophylaxe, sollte daher nicht verzichtet werden [61]. Unter der Gabe von rhAPC kann es zu schweren Blutungskomplikationen kommen. Daher muss ein Patient unter einer Behandlung mit rhAPC sorgfältig auf das Auftreten von Blutungen beobachtet werden. rhAPC kann nicht antagonisiert werden. Bei Blutungskomplikationen muss die Therapie mit rhAPC sofort unterbrochen werden. rhAPC kann nicht antagonisiert werden. Bei Blutungskomplikationen muss die Therapie mit rhAPC sofort unterbrochen werden. Außerdem sind die umfangreichen Kontraindikationen und die Fachinformation genauestens zu beachten. Wichtigste Kontraindikationen sind aktive innere Blutungen, intrakranielle pathologische Veränderungen einschließlich Apoplex in den letzten 3 Monaten, eine Heparin-Therapie t15 IE/kg KG/h sowie sonstige Gerinnungsstörungen bzw. Blutungsneigungen. Patienten, bei denen eine größere Operation durchgeführt wurde, können rhAPC erst 12 h nach dem Eingriff erhalten. Aufgrund der vielen Einschränkungen bezüglich des Einsatzes von rhAPC wird gegenwärtig eine weitere Studie zum Nachweis der Effizienz dieser Substanz vorbereitet. Bei Kindern war in einer großen randomisierten Studie eine Wirksamkeit nicht nachweisbar [79]. Somit sollte rhAPC bei Patienten <16 Jahren nicht eingesetzt werden.
Aktiviertes Protein C Die disseminierte Gerinnung ist ein pathophysiologisches Phänomen bei der schweren Sepsis. Protein C und Antithrombin gehören zu den natürlichen Antikoagulatoren, die der Hyperkoagulation entgegenwirken könnten. Die Protein C-Spiegel sind bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock jedoch erniedrigt [45]. Niedrige Protein C-Spiegel gehen mit einer erhöhten Letalität einher. Mit Drotrecogin D (aktiviert) steht ein rekombinantes humanes aktiviertes Protein C (rhAPC, Xigris) für die Therapie der Sepsis zur Verfügung. Die Gabe von Drotrecogin D (aktiviert) führte in der Prowess-Studie bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock zu einer Senkung der Letalität [10]. Nach einer Subgruppenanalyse zeigte sich allerdings, dass nur Patienten mit einem hohen Letalitätsrisiko (Apache II-Score t25 bzw. mindestens 2 Organversagen) von der Medikation profitierten. Sowohl in Europa als auch in den USA erfolgte daher die Zulassung für
Selen Das Spurenelement Selen ist bei kritisch Kranken und insbesondere bei Patienten mit Sepsis stark erniedrigt [95]. Die derzeitigen Empfehlungen für die Ergänzung der Nahrungszufuhr durch Selen liegen zwischen 55–75 Pg/Tag. Es liegt inzwischen eine Reihe von Studien zur Selen-Supplementation in höherer Dosierung (500–1000 Pg/Tag) vor, die einen positiven Effekt zur Reduktion der Sterblichkeit nahelegen. In der jüngsten Studie zeigte sich bei 249 Patienten mit schwerer Sepsis eine Reduktion der Sterblichkeit von 56,7% in der Placebo-Gruppe auf 42,2% in der Selenase-Gruppe (p<0,1) [7]. Eine Metaanalyse, die 9 Studien zu Selen bei kritisch kranken Patienten mehrheitlich mit schwerer Sepsis umfasst, ergab mit einem p-Wert von <0,04 ein signifikantes Ergebnis zugunsten von Selen [53]. Der definitive Nachweis dieses Therapieansatzes im Rahmen einer ausreichend großen Studie ist derzeit in Planung.
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Kapitel 63 · Sepsis
63.7.4 Sepsisbündel Die Therapie der Sepsis ist komplex. Dies gilt sowohl für die Anzahl der einzuleitenden Therapiemaßnahmen wie auch für die unterschiedlichen Zeitfenster der einzelnen Behandlungsformen. Es ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe, eine qualitativ hochwertige Versorgung buchstäblich rund um die Uhr aufrechtzuerhalten. Die Erfahrungen aus dem Qualitätsmanagement zeigen dann auch, dass therapeutische Maßnahmen mit guter Evidenz häufig nur sehr verzögert Eingang in die klinische Praxis finden. Aus diesem Grund wurden aus den Empfehlungen der Surviving Sepsis Campaign die sog. Sepsisbündel generiert [64]. Als Bündel bezeichnet man eine evidenzbasierte Auswahl aus Interventionen oder Maßnahmen, die in einem zeitlichen und thematischen Zusammenhang stehen. Die Sepsisbündel (Tabelle 3) bestehen aus einem »resuscitation bundle«, dessen Inhalte innerhalb von 6 h nach Diagnosestellung implementiert werden sollen, und einem »management bundle«, das nachgeordnet innerhalb von 24 h angewendet werden soll. Für die kalkulierte Antibiotikagabe wird sogar nur ein Zeitfenster von 1 h nach Diagnosestellung eingeräumt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme wurde erst kürzlich bestätigt [59]. Die Stärke der Sepsisbündel liegt somit in den strikten zeitlichen Vorgaben. Bezüglich der Gabe von niedrig dosiertem Hydrokortison und aktiviertem Protein C machen die Sepsisbündel keine Vorgabe. Es wird empfohlen, für die Behandlungen eine abteilungsinterne Handlungsanweisung niederzulegen, die dann im Rahmen des »management bundle! abgearbeitet werden muss. Die Sepsisbündel (»sepsis bundles«) der Surviving Sepsis Campaign [64]
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5 »Resuscitation bundle« – Messung von Serumlaktat – Entnahme von Blutkulturen vor Gabe von Antibiotika – Gabe eines Breitspektrumantibiotikums innerhalb 1 h – Bei arterieller Hypotension und/oder Laktat >4 mmol/l: – Bolusgabe von 20 ml/kg KG einer kristalloiden Lösung oder äquivalente Dosierung eines Kolloids – Gabe eines Vasopressors bei arterieller Hypotension trotz Volumengabe; es soll ein MAP t65 mm Hg aufrechterhalten werden – Bei persistierender arterieller Hypotension trotz Volumengabe und/oder Laktat >4 mmol/l: – ZVD von >8 mm Hg anstreben – ScvO2 von >70% anstreben. 5 »Management bundle« – Gabe von niedrig dosiertem Hydrokortison gemäß einer lokalen Arbeitsanweisung – Gabe von Drotrecogin D (aktiviert) gemäß einer lokalen Arbeitsanweisung – Einstellen des Blutzuckerspiegels auf <150 mg/dl (8,3 mmol/l) – Einstellen des inspiratorischen Plateaudrucks auf <30 cm H2O bei beatmeten Patienten (MAP: artererieller Mitteldruck; ZVD: zentraler Venendruck; ScvO2: zentralvenöse Sauerstoffsättigung.)
Die Leitlinien der Surviving Sepsis Campaign stammen aus dem Jahr 2004 [33]. Daher sind die daraus abgeleiteten Sepsisbündel nicht mehr ganz aktuell und weichen in einigen Details von den jüngeren deutschen S2-Leitlinien ab [90]. Die Notwendigkeit einer niedrig dosierten Hydrokortison-Therapie wird nach den neuesten Studiendaten eher kritisch gesehen (7 Kap. 63.7.3). Die von der Surviving Sepsis Campaign festgelegte Blutzuckereinstellung ist nicht durch Studiendaten abgesichert. i Dennoch geben die Sepsisbündel auch dem intensivmedizinisch weniger erfahrenen Arzt ein Werkzeug an die Hand, effektive Maßnahmen zeitgerecht zu implementieren.
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Kapitel 63 · Sepsis
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63
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64 Nosokomiale Infektionen S. Koch, H. Häfner, S. Lemmen
64.1
Epidemiologie und Datenerhebung
64.2
Pathophysiologie
64.3
Allgemeines diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf eine nosokomiale Infektion –813
64.4
Ausgewählte nosokomiale Infektionen
64.4.1 64.4.2 64.4.3 64.4.4 64.4.5
Gefäßkatheter-assoziierte Infektionen –814 Pneumonie, beatmungsassoziiert und nicht beatmungsassoziiert –819 Katheterassoziierte Harnwegsinfektionen –820 Postoperative Wundinfektionen –822 Clostridium-difficile-assoziierte Diarrhö und Kolitis –825
64.5
Prävention device-assoziier ter nosokomialer Infektionen Literatur
–829
–812
–812
–813
–827
812
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
Nosokomiale Infektionen gefährden nicht selten den Erfolg einer intensivmedizinischen Behandlung und können nicht vollständig eliminiert werden. Sie sind jedoch kein unausweichliches Schicksal. Durch Einhaltung sinnvoller Präventionsmaßnahmen kann ca. 1/3 der nosokomialen Infektionen verhindert werden. > Definition Das Wort »nosokomial« leitet sich ab von den griechischen Wörtern »nosos«, die Krankheit, und »komein«, »sich sorgen um«. Nosokomiale Infektionen sind Infektionen, die im Krankenhaus entstehen und bei Aufnahme ins Krankenhaus weder vorhanden noch in Inkubation begriffen waren [1].
4 2,3 Harnwegsinfektionen pro 1000 Harnwegskathetertage [4]. Die Berechnung wirkt abstrakt, ermöglicht aber eine Einordnung der eigenen Daten unabhängig von Erfassungszeitraum und Patientenanzahl. Ein direkter Vergleich mit den Referenzwerten des KISS-Projektes ist nur mit Einschränkungen möglich, da unterschiedliche Versorgungsstufen der Krankenhäuser und die Erkrankungsschwere der Patienten in den Erfassungssystemen nicht berücksichtigt werden. 64.2
64.1
Epidemiologie und Datenerhebung
In der 1995 veröffentlichten EPIC-Studie wurde die Prävalenz ausgewählter nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen von 17 westeuropäischen Ländern ermittelt [2]. Von 10.038 Patienten auf 1417 Intensivstationen entwickelten 21% eine nosokomiale Infektion. Führende Infektionen waren: 4 Pneumonien (46,9%), 4 Infektionen der unteren Atemwege (17,8%), 4 Harnwegsinfekte (17,6%), 4 Bakteriämien/Fungämien (12%). Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes muss in Deutschland pro Jahr mit ca. 500.000–800.000 nosokomialen Infektionsfällen gerechnet werden, davon mehr als 60.000 nosokomiale Infektionen jährlich allein auf deutschen Intensivstationen [3]. i Je nach Studie erleiden bis zu 30% der Patienten einer Intensivstation mindestens eine nosokomiale Infektion, was mit längeren Liegezeiten, Steigerung der Kosten und erhöhter Letalität verbunden ist [1].
64
Dem Gefährdungspotenzial für die Patienten Rechnung tragend, sind Krankenhäuser in Deutschland seit 2001 durch das Infektionsschutzgesetz verpflichtet, in mindestens einem Risikobereich, z. B. Intensivstation oder operativer Abteilung, nosokomiale Infektionen zu erfassen. Dem Gesundheitsamt ist das gehäufte Auftreten nosokomialer Infektionen, bei denen ein epidemiologischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, nicht namentlich zu melden. Als eine mögliche Erfassungsmethode für nosokomialen Infektionen wird die Erhebung und Auswertung der Daten analog dem Krankenhaus-Infektions-Surveillance System (KISS) vorgeschlagen [4]. Für Deutschland werden seit 1997 im KISS-Projekt nationale Daten über im Krankenhaus erworbene Infektionen gesammelt. Das KIS-System ist dem US-amerikanischen National Nosocomial Infections Surveillance System (NNIS) bzw. dem Nachfolgeprojekt National Healthcare Safety Network (NHSN) und den Definitionen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) angelehnt [5]. Zentrale Venenkatheter (ZVK), Harnwegskatheter (HWK) und der Tubus bei der invasiven Beatmung werden als »devices« bezeichnet [4]. Berechnet werden keine absoluten Zahlen, sondern Infektionen pro 1000 Device-Tage als Ausdruck einer risikobasierten Infektionsrate. Für alle 374 am KISS-Projekt teilnehmenden Intensivstationen lagen die device-assoziierten Infektionsraten im Zeitraum 7/2001–6/2006 im Mittel bei: 4 5,6 Pneumonien pro 1000 invasiver Beatmungstage, 4 1,7 ZVK-assoziierte Sepsisfälle pro 1000 ZVK-Tage,
Pathophysiologie
Für das Entstehen einer nosokomialen Infektion sind zwei Mechanismen entscheidend [1]: 4 die Disposition (z. B. Einschränkung der Immunkompetenz des Patienten) und 4 die Exposition (z. B. Kolonisation mit potentiell pathogenen Erregern). Eine Verminderung der körpereigenen Abwehr wird für viele intensivmedizinisch betreute Patienten postuliert. Eine offensichtliche Beeinträchtigung der lokalen Abwehrfunktion stellen Verletzung physiologischer Körperbarrieren, z. B. Verbrennungswunden, intravasale Katheter und Intubationstuben dar. Beispielsweise Traumata, größere Operationen und Blutverlust können eine deutliche inflammatorische Antwort des Körpers triggern, die von einer teilweise dramatischen Verminderung der zellvermittelten Immunität gefolgt sein kann. Diese Einschränkung der Immunkompetenz scheint mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer septischen Komplikation verbunden zu sein [6]. Durch die Fortschritte in der Intensivmedizin überleben Patienten immer häufiger die initiale Schockphase und treten in eine »chronische Phase« ihrer kritischen Erkrankung ein. Viele der Todesfälle in der späten Phase der Intensivmedizin sind Folge eines Multiorganversagens und häufig mit einer Sepsis assoziiert [7]. Durch Diagnostik, Therapie und intensive Pflege wird auf der Intensivstation das natürliche Maß an Körperkontakten eines Menschen um ein Vielfaches überschritten und hat Einfluss auf die Besiedlung des Patienten. McArdle et al. [8] ermittelten pro Patient einer internistisch/chirurgischen Intensivstation durchschnittlich 159 direkte und 191 indirekte Kontakte pro Tag. Diese Zahlen können zum Verständnis beitragen, dass eine exogene Übertragung von potenziellen Infektionserregern im hohen Maße durch nicht adäquat desinfizierte Hände des Personals erfolgt. Deutlich seltener sind Luft, Wasser oder kontaminierte Gegenstände der Vektor. Ein zweiter Mechanismus, der zu Veränderungen der Kolonisation eines Patienten beiträgt, ist die wiederholte Gabe von Antibiotika. Der Selektionsdruck auf die physiologische Flora begünstigt das Wachstum von Bakterien, die natürlicherweise resistent gegen das verabreichte Antibiotikum sind. Der Entwicklung von resistenten oder gar multiresistenten Bakterien wird Vorschub geleistet. Diese Erreger können im weiteren Verlauf, z. B. ausgehend vom Hauptreservoir Oropharynx und Gastrointestinaltrakt, eine endogene nosokomiale Infektion verursachen [1].
813 64.4 · Ausgewählte nosokomiale Infektionen
64.3
Allgemeines diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf eine nosokomiale Infektion
Besteht der Verdacht auf eine nosokomiale Infektion, ist eine abgestufte Diagnostik angeraten. Eine Sonderstellung nehmen febrile, neutropenische Patienten ein, für die es spezielle Empfehlungen gibt. Eine komplette körperliche Untersuchung ist obligat und kann zusammen mit der bisherigen Krankengeschichte erste Hinweise zur Erstellung einer Verdachtsdiagnose liefern. 5 Die Höhe des Fiebers gibt keinen sicheren Hinweis für das Bestehen oder gar den Schweregrad einer Infektion. 5 Begleitsymptome wie Hypotonie und Bewusstseinstörung erlauben keine Differenzierung zwischen infektiösem und nicht-infektiösem Krankheitsbild. 5 Besondere Aufmerksamkeit bedür fen künstlich gekühlte Patienten und Patienten mit extrakorporalen Organersatzverfahren, wie kontinuierlicher Dialyse, die Fieber als Symptom maskieren können.
Septische Patienten, die keine fieberhaften Temperaturen entwickeln, haben eine signifikant höhere Letalität als fiebernde Patienten [9]. Bei Infektionsverdacht ist die Bestimmung von Blutbild, Differenzialblutbild, Kreatinin, Kreatininclearance, Transaminasen und Gerinnungsparametern sowie C-reaktivem Protein (CRP) und/oder Procalcitonin (PCT) sinnvoll. PCT ist das Akut-PhaseProtein mit der schnelleren Dynamik. Ein Marker, der SIRS und Sepsis sicher diskriminiert, existiert derzeit leider nicht. Ein Thoraxröntgenbild, wenn auch nur liegend, ist eine Basisuntersuchung und kann ggf. durch eine Sonographie der Pleura und eine Bronchoskopie ergänzt werden. Die nasale Intubation birgt die Gefahr eine Sinusitis. Wunden und Drainagen sind hinsichtlich möglicher Entzündungszeichen zu inspizieren. Bei abdomineller Symptomatik ist eine Sonographie des Abdomens, z. B. im Hinblick auf eine akalkulöse Cholezystitis, sinnvoll. Bei Verdacht auf eine durch Antibiotika induzierte Diarrhö sollten 2 Stuhlproben zur Bestimmung der Clostridium-difficile-Toxine bzw. zur Erregeranzucht versandt werden. Erbringen die Untersuchung des Patienten und die Diagnostik keinen offensichtlichen infektiösen Fokus, ist die Entfernung des ZVK und ggf. eine Neuanlage zu erwägen. Eine Spiegelung des Augenhintergrundes kann bei Verdacht auf eine Candidämie sinnvoll sein. Unter Umständen gelingt eine Klärung des infektiösen Fokus nur durch eine erneute und forcierte Diagnostik, wie Computertomographie, MRT oder Echokardiogramm (7 Kap. 17). i Bei Verdacht auf eine Infektion sollten möglichst vor Gabe eines Antibiotikums Blutkulturen (BK) entnommen werden. Ein BK-Paar besteht aus einer aeroben und einer anaeroben Flasche.
Ein Blutvolumen von 5–10 ml pro BK-Flasche ist bei Erwachsenen vorgesehen. Für die Art der Blutkulturentnahme gibt es je nach Fragestellung verschiedene Vorgaben. Bei Patienten mit neuem Infektionsverdacht wird die Abnahme von wenigstens 2, aber nicht mehr als 3 BK-Paaren an jeweils getrennten periphe-
64
ren Punktionsstellen empfohlen. Auf der Intensivstation kann auf ein festgelegtes Zeitintervall zwischen den Punktionen verzichtet werden. Die Abnahme an getrennten Punktionsstellen erhöht die Aussagekraft. Mehr als 2–3 BK-Paare führen in der Regel nicht zu einer höheren diagnostischen Ausbeute. Ausnahmen stellen eine akute infektiöse Endokarditis und eine Fungämie dar. Soweit es die klinische Situation erlaubt, sollten bei Endokarditisverdacht 3 Blutkulturpaare durch 3 Venenpunktionen im Abstand von 1 h, bei bedrohlichem Krankheitsbild innerhalb 1 h, vor Therapie entnommen werden. [10]. Bei Verdacht auf eine Fungämie werden 3–4 Blutkulturpaare beimpft. Wird eine Kathetersepsis vermutet und der eventuelle Erhalt des Venenkatheters erwogen, kann eine zusätzliche BKAbnahme über den Venenkatheter oder das implantierte Portsystem sinnvoll sein. Weitere BK-Abnahmen sollten keinesfalls automatisch bei jeder weiteren Fieberzacke erfolgen. Wiederholte Blutkulturabnahmen unter Antibiotikatherapie sind nur bei bestimmten Fragestellungen, z. B. bei Verdacht auf eine persistierende Bakteriämie, insbesondere bei Nachweis von Staphylococcus aureus, sinnvoll. Bei Candidämie werden in den ersten Tagen der Antimykotikagabe BK-Kontrollen empfohlen, da eine Candidämie zu Beginn der Therapie persistieren kann [11]. Bei Verdacht auf eine nosokomiale Infektion sollten neben Blutkulturen weitere Materialien mikrobiologisch und ggf. virologisch untersucht werden. Im Gegensatz zu Abstrichmaterial kann natives Material, z. B. Wundsekret oder Pus, direkt in eine sterile Spritze gesaugt, in der Gramfärbung schnell erste Hinweise bieten. Punktions- und Biopsiematerial für die Mikrobiologie und Virologie sollten nativ und keinesfalls in Formalin versandt werden. Je nach Dringlichkeit des Geschehens kann eine Kooperation der Beteiligten bereits im Vorfeld der Probengewinnung dazu beitragen, dass das Material möglichst optimal gewonnen und evtl. außerroutinemäßigen Testverfahren, z. B. einer PCR, unterzogen wird. Bei instabilen Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock gibt die Leitlinie der Surviving Sepsis Campaign von 2004 wichtige Hinweise zum komplexen Management. Wird eine schwere Sepsis erkannt, soll eine intravenöse Antibiotikatherapie innerhalb der 1. Stunde, nach Abnahme geeigneter Proben, begonnen werden [12] (7 Kap. 63). Je instabiler der Patient, desto schneller und vehementer muss die Diagnostik verfolgt werden. Der Begriff der sog. »antibiotischen Abdeckung« suggeriert falsche Sicherheit. Kein Antibiotikum erreicht jedes Kompartiment und jeden Erreger. Viele nosokomiale, mehrfach resistente Bakterien entziehen sich den gängigen Breitspektrumantibiotika. i Ein Erregernachweis mit Resistogramm kann der Schlüssel zur erfolgreichen Therapie sein, indem Substanzgruppe, evtl. Kombinationspartner, Dosierung und Therapiedauer optimiert werden.
Je nach Art und Lokalisation des Infektionsherdes, z. B. bei Pleuraempyem oder nekrotisierender Fasziitis, sind zusätzlich zur medikamentösen Therapie invasive Maßnahmen zur Sanierung notwendig. 64.4
Ausgewählte nosokomiale Infektionen
Die Häufigkeit der einzelnen nosokomialen Erkrankungen variiert je nach Fachbereich, Patientencharakteristika, Krankenhaus
814
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
und Station. Die in der Übersicht markierten* nosokomialen Infektionen werden nachfolgend besprochen.
von etwa 3 katheterassoziierten Sepsisfällen kann ein Todesfall verhindert werden [13].
Katheterarten und Komplikationsrisiken [14, 15] Nosokomiale Infektionen auf der Intensivstation 5 Gefäßassoziierte Infektionen* 5 Pneumonie, beatmungsassoziiert und nicht beatmungsassoziiert* 5 Katheterassoziierter Harnwegsinfekt* 5 Postoperative Wundinfektion* 5 Clostridium-difficile-Diarrhö/Kolitis* 5 Sinusitis 5 Tracheobronchitis 5 Haut-/Weichteilinfektion 5 Endokarditis 5 Meningitis/Ventrikulitis (ggf. assoziiert mit einer Lumbal- oder Ventrikeldrainage)
64.4.1 Gefäßkatheter-assoziier te Infektionen Das Auftreten von nosokomialen Sepsisfällen auf Intensivstationen kann vielfältige Ursachen haben, jedoch gelten intravaskuläre Katheter in der Intensivmedizin als Hauptursache für eine nosokomiale primäre Sepsis. > Definition
64
Eine nosokomiale primäre laborbestätigte Sepsis ist definiert als Nachweis von Bakterien oder Pilzen in mindestens einer Blutkultur bei Patienten mit Gefäßkathetern bei gleichzeitigem Vorliegen klinischer Infektionszeichen; des Weiteren darf eine andere Infektionsursache nicht erkennbar sein. Diese Infektionen werden auch als katheterassoziierte Blutstrominfektionen bezeichnet, wenn zusätzlich eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: 4 positives Resultat bei der Untersuchung der Katheterspitze, d. h. Nachweis von t15 koloniebildenden Einheiten (KBE) pro Kathetersegment bei der Agar-Roll-Methode oder t102 bzw. t103 KBE/ml Spülflüssigkeit bei der quantitativen Diagnostik (Ultraschall- bzw. Vortexermethode) sowie Nachweis des gleichen Erregers in einer Blutkultur 4 positives Ergebnis (>2 h Zeitdifferenz) bei der »Differentialtime-to-positivity- (DTP-)Methode oder 4 positives Ergebnis (Keimzahlverhältnis 5 : 1 zugunsten des Katheters) bei der quantitativen Blutkulturdiagnostik von 2 simultan entnommenen Blutkulturen [10]. Weitere Sepsisdefinitionen sind in 7 Kap. 63 dargestellt.
Epidemiologie In der deutschen NIDEP-Studie waren 12,8% aller nosokomialen Infektion auf eine primäre Sepsis zurückzuführen, europäische Vergleichszahlen liegen ebenfalls in diesem Bereich [2,13]. In Deutschland rechnet man jährlich mit 10.000 primären Sepsisfällen in der Intensivmedizin [13]. Die KISS-Referenzwerte aus dem Jahr 2006 geben eine gemittelte ZVK-assoziierte Sepsisrate von 1,7 pro 1000 ZVK-Tage für alle Intensivstationen an [4]. Patienten mit einer nosokomialen primären Sepsis haben ein 28–35% höheres Risiko zu versterben als vergleichbare Patienten ohne entsprechende Infektion. Dies bedeutet: Durch Prävention
i Der Einsatz von Gefäßkathetern ist verbunden mit einem erhöhten Risiko für Infektionen und Komplikationen wie Entzündungen an der Einstichstelle, katheterassoziierten Bakteriämien/Sepsen und Thrombophlebitiden. Daher ist vor jeder Katheteranlage eine strenge Indikationsstellung vorzunehmen.
Die Inzidenz katheterassoziierter Infektionen variiert je nach Kathetertyp (. Tab. 64.1), der Häufigkeit der Manipulationen und den patienteneigenen Risikofaktoren. Obwohl im klinischen Alltag lokale oder systemische Infektionen bei peripheren Verweilkanülen relativ häufig beobachtet werden, ist die Infektionsrate bedingt durch die hohe Anzahl der Einsätze dennoch relativ niedrig. Mehr als 90% aller durch Gefäßzugänge verursachten Infektionen sind mit zentralen Venenkathetern assoziiert. Bei arteriellen Kathetern finden sich bei vergleichbarer Liegedauer deutlich niedrigere Infektionsraten. Vermutet wird, dass durch den hohen arteriellen Druck eine Keimkolonisation des Katheters verhindert wird. Pulmonalarterienkatheter verbleiben in der Regel nur wenige Tage. Die Rate katheterassoziierter Sepsisfälle ist mit 2,6 pro 1000 Kathetertage im Mittel ähnlich hoch wie diejenige der zentralvenösen Katheter. Als Risikofaktoren gelten: 4 eine Kolonisierung der Insertionsstelle, 4 das Missachten adäquater Hygienemaßnahmen beim Legen des Katheters sowie 4 eine Liegedauer von mehr als 4–7 Tagen.
Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern Pathogenese und Erregerspektrum Die Oberfläche der meisten ZVK wird bereits nach kurzer Liegedauer mit einer Fibrinschicht bedeckt und bietet besonders Bakterien wie S. aureus und koagulasenegativen Staphylokokken die Möglichkeit zur Adhärenz. Durch Bildung sog. Biofilme schützen sich Bakterien einerseits vor den Angriffen des Immunsystems, andererseits auch vor Antibiotika, da diese den Biofilm nur ungenügend durchdringen können [16]. Grampositive Kokken werden in mehr als 60% der ZVK-assoziierten Bakteriämien/Sepsen nachgewiesen; prinzipiell können aber alle potenziell pathogenen Erreger eine solche Infektion verursachen. Die von KISS ermittelten Nachweishäufigkeiten von Erregern katheterassoziierter Infektionen für den Zeitraum 1997–1999 sind in . Tabelle 64.2 aufgeführt [17].
Infektionsweg Katheterassoziierte Infektionen entstehen im Wesentlichen auf 3 Wegen (. Abb. 64.1; [16]). Extraluminaler Infektionsweg [Abb. 64.1; Punkt 1] Die Kolonisation des Katheters geht von der Einstichstelle aus. Hierbei wandern die Keime der Hautflora entlang des Katheters bis an die Katheterspitze. Selbst bei adäquat durchgeführter Hautdesinfektion gelingt es nicht, alle Hautkeime zu eliminieren,
815 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
64
. Tabelle 64.1. Katheterarten und Komplikationsrisiken. (Mod. nach CDC [14]) Katheter
Insertionsstelle
Anmerkungen/Infektionsrate (IR): mittlere Infektionsrate/1000 Kathetertage
Periphere Venenkatheter (PVK)
Unterarm oder Handrücken
4 Phlebitis bei längerer Liegedauer, meist mechanische Reizung, 4 Sehr selten Sepsis bezogen auf hohe Anwendungsrate, 4 Komplikationsrate wegen großer Verwendungshäufigkeit insgesamt hoch 4 IR: 0,6/1000 Kathetertage
Periphere arterielle Katheter
A. radialis
4 Niedriges Infektionsrisiko im Vergleich zu ZVK bei Liegedauer <10 Tage
Pulmonalarterienkatheter (PAK)
Über eine Teflon-Schleuse eingebracht in zentrale Vene (V. subclavia, V. jugularis, V. femoralis), ≥30 cm Länge
4 Ähnliche Infektionsraten wie bei ZVK, Anlage über V. subclavia scheint Infektionsrisiko zu reduzieren 4 IR: 2,6/1000 Kathetertage
Midline Katheter
Über Kubitalvenen bis in die V. basilaris oder V. basilica, wird nicht bis in die zentralen Venen vorgeschoben, Länge (8–20 cm)
4 Geringere Phlebitisraten als bei kurzen PVK, geringere Infektionsraten als bei ZVK 4 IR: 0,8/1000 Kathetertage
Nicht getunnelte zentralvenöse Katheter (ZVK)
V. subclavia, V. jugularis, V. femoralis (≥8 cm)
4 Hauptverantwortlich für katheterassoziierte Sepsis (7 s. Text) 4 IR: 2,2/1000 Kathetertage
Getunnelte/teilimplantierte zentralvenöse Katheter (z. B. Hickman-Katheter)
Implantiert in V. subclavia, V. jugularis, V. femoralis (≥8 cm)
4 Cuff (»Manschette«) hemmt die Einwanderung von Keimen entlang des Katheters, geringere Infektionsraten als bei nicht getunnelten ZVKs 4 IR: 1,2/1000 Kathetertage
Peripher inserierte ZVK (PICC)
Über V. subclavia, V. jugularis oder V. brachialis in Vena cava superior
4 Geringere Infektionsrate als bei nicht getunneltem ZVK 4 IR: 0,4/1000 Kathetertage
Total implantierte Gefäßzugänge (Ports)
Subkutan implantierter Gefäßzugang in die V. jugularis oder V. subclavia (≥8 cm)
4 Geringstes Risiko für katheterassoziierte Sepsis, chirurgischer Eingriff für Anlage und Wechsel erforderlich 4 IR: 0,2/1000 Kathetertage
. Tabelle 64.2. Nachweishäufigkeiten (%) von Erregern katheterassoziierter Infektionen im KIS-System (1997–1999). (Nach [17]) Erreger
Nachweishäufigkeit
Koagulasenegative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis)
33,9%
S. aureus
15,4%
Enterokokken
12,1%
Gramnegative Stäbchenbakterien (am häufigsten E. coli und Klebsiella spp.)
30,4%
Candida spp.
3,7%
Sonstige
4,5%
sodass diese sich bereits beim Einführen des Katheters auf der Katheteroberfläche absiedeln und vermehren können. Lösen sich die Keime von der Katheterspitze ab, so gelangen sie ins Blut und können eine Sepsis verursachen. Dieser Pathomechanismus wird für die Mehrheit der Katheterinfektionen verantwortlich gemacht, besonders bei kurzen Liegezeiten von 1–10 Tagen (7 Punkt 1 der Abb. 64.1). Intraluminaler Infektionsweg [Abb. 64.1; Punkt 2] Durch unsachgemäßen Umgang beispielsweise mit den 3Wege-Hähnen oder anderen Verbindungsstücken (Hub) werden Keime in das Katheterlumen eingebracht. Die Liegedauer des Ver weilkatheters und damit die Häufigkeit der Manipulationen spielt eine entscheidende Rolle. Diesem Infektionsweg wird bei längeren Liegezeiten die größte Bedeutung beigemessen(7 Punkt 2 der Abb. 64.1). Aber auch durch Applikation von unsterilen Infusionslösungen können katheterassoziierte Infektionen verursacht werden. Industriell hergestellte Infusionen können als keimfrei angenommen werden, unsachgemäßes Arbeiten bei der Zubereitung von Mischinfusionen oder Richten der Infusionen stellen hingegen reelle Infektionsquellen dar.
816
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
Bei Verdacht auf eine ZVK-assoziierte Infektion sollten jeweils ein Blutkulturpärchen über den Katheter und eins über eine periphere Vene entnommen werden. Als zuverlässigste Methode zur Diagnostik einer katheterassoziierten Blutstrominfektion gilt die quantitative Blutkulturdiagnostik (Übersicht »Mikrobiologische Verfahren«) [18]. Sie ist aufwändig und teuer und in den meisten Laboratorien nicht etabliert. Als relative neue Methode zur In-situ-Diagnose wird daher die Differential-time-to-positivityMethode propagiert. Prinzipiell sollten Katheterspitzen nur bei Verdacht auf eine Katheterinfektion zur Mikrobiologie eingesandt werden. Eine rein qualitative Kultivierung der Katheterspitze wird wegen geringer Sensitivität nicht empfohlen, stattdessen sollte die semiquantitative Agar-Roll-Technik oder die quantitative Aufarbeitung mittels Ultraschall oder Vortexer- (Schüttler)-Methode zur Anwendung kommen [10, 18]. . Abb. 64.1. Pathogenese von katheterassoziierten Infektionen
Hämatogene Besiedlung [Abb. 64.1; Punkt 3] Im Rahmen einer sekundären Bakteriämie, deren Ursache als nicht-katheterinduziert anzunehmen ist, kann ein ZVK auf dem Blutweg kolonisiert werden. Eine hämatogene Besiedlung wird in weniger als 5% der Katheterinfektionen vermutet (7 Punkt 3 der Abb. 64.1).
Diagnose der Kathetersepsis
64
Katheterinfektionen durch periphere Katheter gehen häufig einher mit den klassischen Zeichen einer lokalen Entzündung wie Schwellung, Rötung und Überwärmung sowie ggf. eitrige Sekretion. Auch wenn der Patient nicht fiebert, ist eine sofortige Entfernung des Katheters notwendig. Bei ZVK-assoziierten Infektionen sind äußere Zeichen für die Diagnosestellung selten wegweisend. Selbst bei eindeutig nachgewiesenen Kathetersepsen konnte in weniger als 5% Eiter oder Rötung an der Einstichstelle festgestellt werden [18]. Auch die klinischen Infektionszeichen wie Fieber mit und ohne Schüttelfrost oder erhöhte Infektionsparameter (Leukozytose, CRP-/ PCT-Erhöhung) sind wegen ihrer geringen Spezifität wenig hilfreich. Die mikrobiologische Untersuchung der Katheterspitze kann die Hypothese einer Katheterinfektion immer nur retrospektiv bestätigen bzw. widerlegen. Untersuchungen haben gezeigt, dass in 75–90% der Fälle der Katheter unnötig gezogen wurde [16]. Typisch für eine katheterassoziierte Infektion ist eine rasche Entfieberung innerhalb weniger Stunden nach Entfernen des Katheters. Je nach Klinik des Patienten werden unterschiedliche Vorgehensweisen bei Verdacht auf eine Katheterinfektion vorgeschlagen (. Abb. 64.2; [19, 20]). 5 Bei Patienten mit Sepsis kann der Katheter zunächst belassen und die Diagnostik am liegenden Katheter durchgeführt werden. Erhärtet sich der Verdacht, muss der Katheter entfernt bzw. gewechselt werden. 5 Bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock muss der Katheter nach Ausschluss anderer Infektionsursachen immer entfernt bzw. gewechselt werden.
Empfohlene mikrobiologische Verfahren zur Abklärung einer katheterassoziierten/-induzierten Infektion [10, 18] 4 Bei liegendem Katheter: – Ermittlung der »differential time to positivity«: Nach gleichzeitiger Entnahme von Blutkulturen aus Katheter und peripherer Vene wird die Zeit bis zum positiven Wachstumssignal im Blutkulturautomaten ermittelt. Aufgrund der höheren Bakteriendichte am Katheter ist zu erwarten, dass diese Blutkultur früher positiv wird. Beträgt die Zeitdifferenz >2 h; so spricht dies für eine Katheterinfektion. – Quantitative Blutkulturtechnik (z. B. Lysiszentrifugationsverfahren): Simultane Entnahme von Blutkulturen aus Katheter und peripherer Vene. Bewertung: Der Nachweis von Keimen im Verhältnis von 5 : 1 spricht für das Vorliegen einer Katheterinfektion. Die Methode eignet sich nicht bei kurzer Liegezeit. 4 Nach Katheterentfernung: – Semiquantitative Agar-Roll-Technik: Ausrollen des distalen Katheterstücks (5 cm) auf Blutagar. Der Nachweis von t15 KBE macht eine Katheterinfektion bei Vorliegen von Infektionszeichen wahrscheinlich. Da Keime im inneren Katheterlumen mit dieser Methode nicht erfasst werden, sollte bei längerer Katheterverweildauer ein zusätzliches Verfahren eingesetzt werden. – Quantitative Aufbereitung des distalen ZVKSegments mittels Ultraschall- oder Vortexerbehandlung Der Nachweis von t102 bzw. t103 KBE/ml Spüllösung spricht für das Vorliegen einer Katheterinfektion. Durch diese Aufbereitungsmethoden werden auch Keime der Katheterinnenfläche erfasst.:
Wird die Blutkulturdiagnostik rein qualitativ durchgeführt, so müssen typische Hautkeime wie koagulasenegative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis), Corynebakterien oder Propioniebakterien in 2 Blutkulturen unterschiedlicher Entnahmestellen nachgewiesen werden, um als Erreger einer Katheterinfektion gewertet zu werden.
817 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
64
. Abb. 64.2 Management bei Verdacht auf katheterassoziierte Infektionen (KAI) bei nicht-implantiertem zentralvenösem Katheter (ZVK); verschiedene Vorgehensweisen. (Mod. nach Mermel et al. [19])
Therapie Obwohl ein Katheter wechsel allein bereits zu einer deutlichen klinischen Besserung führen kann, wird von den meisten Experten eine systemische Antibiotikatherapie empfohlen [19, 20]. Wahl und Dauer der antimikrobiellen Therapie richten sich dabei nach Erreger, Resistenz und dem Vorhandensein von Komplikationen wie septische Gefäßthrombose oder Endokarditis. In . Abb. 64.3 ist die therapeutische Vorgehensweise bei nachgewiesener Katheterinfektion bei nicht-implantierten zentralvenösen Kathetern dargestellt. Bei Nachweis von S. aureus oder gramnegativen Stäbchen wird ein schneller Katheterwechsel gefordert, da in zahlreiche Studien höhere Morbiditäts- und Komplikationsraten bei Belassen der Katheter gefunden wurden. Weiterhin muss bei diesen Erregern eine unverzügliche systemische Antibiotikatherapie über 10–14 Tage durchgeführt werden; bei Komplikationen verlängert sich die Therapiedauer entsprechend dem Krankheitsbild. Werden koagulasenegative Staphylokokken bei nicht implantierten Kathetern nachgewiesen, so wird ein Katheterwechsel und eine 5- bis 7-tägige Antibiotikatherapie gefordert.
Bei Nachweis von Candida spp. muss der Katheter unverzüglich gewechselt und eine Antimykotikatherapie für 14 Tage nach dem letzten Keimnachweis in der Blutkultur begonnen werden. Empirische Antibiotikatherapie Staphylokokken sind die häufigsten Erreger einer Katheterinfektion. Aufgrund der hohen Methicillin-Resistenz bei koagulasenegativen Staphylokokken und je nach MRSA-Prävalenz wird eine empirische Therapie mit Vancomycin oder Teicoplanin empfohlen. Alternativen hierzu sind Linezolid, Daptomycin, Tigecyclin oder Quinupristin/Dalfopristin. Liegt keine Methicillin-Resistenz vor, sollte eine Umstellung auf penicillinasefeste Penicilline (z. B. Oxacillin) erfolgen. Enterokokken werden mit einer empirischen Vancomycin-Therapie ebenfalls erfasst. Ampicillin gilt bei Empfindlichkeit als Mittel der Wahl, im Fall einer Resistenz kommt Vancomycin in Frage. Bei Verdacht auf gramnegative Erreger kann das Spektrum um 3.-Generations-Cephalosporine (z. B. Cefotaxim, Ceftriaxon) oder Fluorochinolone wie Cipro- oder Levofloxacin erweitert werden. Bei neutropenischen Patienten sollte immer ein pseudomonaswirksames Mittel (z. B. Ceftazidim) gewählt werden.
818
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
. Abb. 64.3. Therapie von katheterassoziierten Infektion (modifiziert nach Mermel [19])
64
Für Enterobacter spp. werden Carbapeneme (z. B. Imipenem, Meropenem) oder Fluorochinolone (z. B. Ciprofoxacin, Levofloxacin) empfohlen, da sich unter Cephalosporin-Therapie Resistenzen entwickeln können. Für P. aeruginosa wird die Kombination von pseudomonaswirksamen E-Laktamantibiotika (Ceftazidim, Carbapeneme, Piperacillin) und Aminoglykosiden oder Chinolonen empfohlen, auch wenn hierfür die klinische Evidenz fehlt. Liegt ein Keimnachweis vor, sollte immer eine gezielte Therapie nach Antibiogramm durchgeführt werden. Bei Verdacht auf eine Candidakatheterinfektion gilt Fluconazol als Mittel der Wahl. Ist der Patient jedoch klinisch instabil, liegen bei dem Patienten Risikofaktoren für eine Fluconazol-Resistenz vor oder bestehen hohe lokale Resistenzraten gegen Fluconazol, so sind Antimykotika wie Caspofungin oder Voriconazol zu bevorzugen. Wird Candida spp. oder S. aureus an der ZVK-Spitze, aber nicht in der Blutkultur nachgewiesen, sollte insbesonders bei Patienten mit Herzklappenerkrankung oder Neutropenie nach weiteren Infektionszeichen gesucht und wiederholt Blutkulturen entnommen werden. Ist der infizierte Katheter implantiert (z. B. Hickman-Katheter, Port) und kann trotz Prüfung aller Optionen nicht entfernt werden, so kann in Ausnahmefällen zusätzlich zur systemischen Therapie eine sog. Antibiotic-lock-Technik versucht werden. Hierzu wird der Katheter mit einem geeigneten Antibiotikum in hoher Konzentration geblockt. Vor erneuter Benutzung wird die Lösung abgezogen und verworfen [20]. Eine dauerhafte Sanierung des Katheters ist meist nicht zu erwarten, jedoch kann durch dieses Vorgehen u. U. Zeit bis zur Neuimplantation gewonnen werden. Keinesfalls ist ein solches Vorgehen bei einer Fungämie indiziert, da das klinische Versagen hier extrem hoch ist. Auch bei Patienten mit Endokarditis, septischer Gefäßthrombose oder Osteomyelitis muss der Katheter immer entfernt werden.
Präventionsmaßnahmen Katheterassoziierte Infektionen sind zu einem Großteil vermeidbar. Die Infektionsraten können signifikant gesenkt werden durch: 5 Anwendung aseptischer Techniken bei der Katheteranlage, 5 Schulungsmaßnahmen, 5 Kenntnisse der Leitlinien und 5 Einhaltung der hygienischen Umgangs- und Pflegemaßnahmen.
Unter den Präventionsmaßnahmen wird der aseptischen Katheteranlage die größte Bedeutung beigemessen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Empfehlungen zur Prävention von zentralvenösen katheterassoziierten Infektionen des Robert Koch-Instituts und der CDC ist . Tabelle 64.8 zu entnehmen [14,15]. Bei der Wahl der Insertionsstelle ist die V. subclavia aus infektionspräventiver Sicht zu bevorzugen, da die Infektionsraten bei einer Anlage in der V. subclavia in der Regel niedriger sind als bei der V. jugularis. Die höchsten Bakteriämie-/Sepsisraten wurden bei Katheterinsertion in die V. femoralis gefunden. Durch Erfassung und Bewertung nosokomialer Infektionen (Surveillance) können eigene Infektionsraten ermittelt und mit KISS-Referenzwerten verglichen werden. Erhöhte Infektionsraten lassen sich durch Erstellung eigener Leitlinien auf der Basis von RKI/CDC-Empfehlungen und deren strikte Umsetzung im stationären Bereich senken. In aktuellen Studien konnten die durchschnittlichen Sepsisraten von 4,3 auf 1,4 bzw. 7,7 auf 2,3 pro 1000 ZVK-Tage gesenkt werden, indem folgende Maßnahmen implementiert wurden:
819 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
4 standardisierte, evidenzbasierte Legetechnik, 4 standardisierte Überwachung der aseptischen Katheteranlage, 4 tägliche Überprüfung der Indikationsstellung für den ZVK, 4 Personalschulungen und 4 Surveillance [21, 22]. Hervorzuheben ist der 2. Punkt. Jeder des »Katheteranlageteams« war berechtigt, bei Missachtung der Asepsis den Vorgang abzubrechen und eine Neuanlage unter sterilen Kautelen zu initiieren. Die Reduktion katheterassoziierter Infektionsraten durch Verwendung antibiotika- oder antiseptikabeschichteter Katheter ist durch randomisierte klinische Studien vielfach dokumentiert. Dennoch wird ihr Einsatz nur empfohlen, wenn die katheterassoziierte Sepsisrate erhöht ist und sich trotz Ausschöpfung aller Präventionsmaßnahmen nicht senken lässt. 64.4.2 Pneumonie, beatmungsassoziert und
nicht beatmungsassoziier t Klassifikationen der Pneumonien Frühere Einteilungen der Pneumonien folgten morphologischen Gesichtspunkten (Lobär-, Lobulär- oder interstitielle Pneumonie) oder mikrobiologischen Nachweisen (»typische« und »atypische« Pneumonie). Durchgesetzt haben sich Klassifikationen, die Unterschiede im zu erwartenden Erregerspektrum widerspiegeln [23]. Klassifikationen der Pneumonien 5 CAP: »community-acquired pneumonia«/ambulant erworbene Pneumonie. 5 HCAP: »health-care-associated pneumonia«/in Pflegeeinrichtungen ambulant erworbene Pneumonie. 5 HAP: »hospital-acquired pneumonia«/nosokomiale Pneumonie Pneumonie mit Beginn t48 h nach Aufnahme bei einem nicht beatmeten Patienten, die bei Aufnahme im Krankenhaus weder vorhanden noch in Inkubation begriffen war. 5 VAP: »ventilator-associated pneumonia«/ beatmungsassoziierte Pneumonie Pneumonie mit Beginn >48–72 h nach endotrachealer Intubation.
64
. Tabelle 64.3. Häufigste Erreger einer »ventilator-associated pneumonia« (VAP) in Deutschland (KISS-Er fassung) Erreger
Anteil an allen VAP
Staphylococcus aureus
24%
Pseudomonas aeruginosa
17%
Klebsiella spp.
12%
E. coli
10%
Enterobacter spp.
9%
atmungstage [5]. Man schätzt, dass ca. 10–20% aller Patienten, die länger als 48 h invasiv beatmeten werden, eine VAP entwickeln [24]. Bei Patienten mit VAP steigt die Länge des intensivmedizinischen Aufenthaltes signifikant um durchschnittlich 6 Tage. Die zusätzlichen Kosten werden mit ca. 7300 Euro bzw. 10.000–40.000 US-Dollar pro VAP veranschlagt [23‒25]. Die Angaben zur Gesamtletalität bei Patienten mit VAP liegen zwischen 30 und 70% [23].
Erreger Nosokomiale Pneumonien werden bei Immunkompetenten durch eine Vielzahl von Bakterien, seltener durch Pilze oder Viren verursacht. Die meisten vorliegenden Daten beziehen sich auf Studien zur VAP; die Studienlage zur HAP und HCAP ist spärlicher. Die häufigsten Erreger der VAP auf 302 Intensivstationen im Zeitraum 1997–2003, erfasst im KISS-Projekt, zeigt . Tabelle 64.3 [26]. Die Zeitspanne bis zum Auftreten der Pneumonie kann Hinweise auf das zu erwartende Erregerspektrum und die Prognose des Patienten geben. Diagnostik und Therapie der nosokomialen Pneumonie sind Gegenstand des 7 Kap. 38 und werden dort ausführlich dargestellt.
Prävention Zahlreiche Risikofaktoren für die Entstehung einer nosokomialen Pneumonie sind beeinflussbar. Im Mittelpunkt stehen die Vermeidung der Aspiration, der sorgsame Umgang mit dem Beatmungszubehör und der adäquate Einsatz von Antibiotika.
Oropharyngeale Besiedlung Epidemiologie Für die Häufigkeit nosokomialer Pneumonien ohne maschinelle Beatmung (HAP) existieren für Deutschland keine genauen Angaben. US-amerikanischen Erhebungen zufolge muss bei 5–15 von 1000 Krankenhausaufnahmen mit einer nosokomialen Pneumonie gerechnet werden [23]. Die Inzidenzrate der VAP in deutschen Krankenhäusern ist orientierend durch das nationale Referenzzentrum für die Sur veillance nosokomialer Infektionen bekannt und beträgt z. B. für die chirurgischen Intensivstationen 6,4 Pneumonien pro 1000 invasiver Beatmungstage [4]. Der US-amerikanische Vergleichswert liegt bei 9,3 Pneumonien pro 1000 invasiver Be-
Mit zunehmender Aufenthalts- und Beatmungsdauer kommt es zu einer oropharyngealen Besiedlung mit resistenten und virulenten Hospitalkeimen. Der Immunstatus des Patienten, die Menge und die Virulenz des Erregers entscheiden, ob es nach Aspiration von oropharyngealem Sekret zur Entwicklung einer Pneumonie kommt. Ob der Magen und die Nasennebenhöhlen ein potenzielles Keimreser voir darstellen, ist umstritten [23]. Um eine direkte Inokulation von Keimen zu vermeiden, sollten für die routinemäße Mundpflege abgekochtes oder steriles Wasser eingesetzt werden. Leitungswasser und Tee sind meist mikrobiell besiedelt. Der Nutzen von topisch und/oder syste-
820
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
misch applizierten Antibiotika als sog. selektive Darmdekontamination (SDD) zur Vermeidung einer VAP wird kontrovers diskutiert. Während die Deutsche Sepsis-Gesellschaft in der S2-Leitlinie zur »Diagnose und Therapie der Sepsis« die selektive Darmdekontamination zur Vermeidung einer VAP bei voraussichtlich längerer Beatmungsdauer (>48 ) mit Einschränkungen befürwortet, spricht sich die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut gegen die routinemäßige Gabe einer SDD aus [27, 28]. Aufgrund bestehender Daten zur Kosteneffektivität und potentiellen Resistenztriggerung, wird die SDD in zahlreichen internationalen Leitlinien z.Zt. für den Routineeinsatz zur Vermeidung einer VAP nicht empfohlen [23, 29].
Die Oberkörperlagerung aller Patienten, soweit nicht kontraindiziert, in einem Winkel von 30–45° ist eine einfache und effektive Methode zur Vermeidung einer Aspiration. Einer frühen enteralen Ernährung wird gegenüber einer parenteralen Ernährung der Vorzug gegeben. Auf eine korrekte Oberkörperlagerung während der enteralen Ernährung ist besonders bei beatmeten Patienten zu achten [23].
muss der Beatmungsschlauch nicht routinemäßig gewechselt werden, sondern nur dann, wenn er sichtlich verschmutzt oder defekt ist [31]. Kondenswasser, das sich in Beatmungsschläuchen ansammelt, kann durch Patientensekret kontaminiert sein und darf nicht unbemerkt in den Tubus oder in In-line-Vernebler gelangen. Die Handhabung von In-line-Verneblern erfordert besondere Vorsicht. Sie bieten die idealen Voraussetzungen für die Vermehrung von »Feuchtkeimen« wie Pseudomonas aeruginosa, Acinetobacter spp. und Serratia spp., die innerhalb des Beatmungssystems als infektiöse Aerosole eine unmittelbare Gefährdung des Patienten darstellen. Zum Schutz werden deshalb steriles Wasser und Medikamente in Einzelampullen verwendet. Eine Alternative zur Applikation von Medikamenten stellen patientenbezogene Dosieraerosole mit Mini-Spacer-Aufsatz dar. Hinsichtlich der Vermeidung einer VAP spielt die Art des Absaugsystems, offen oder geschlossen, keine Rolle. In diesem Fall entscheiden in der Praxis weitere Aspekte wie Kosten und Handlichkeit. Beim Nachweis von infektiösen Erregern wie Mycobacterium tuberculosis wäre ein geschlossenes Absaugsystem zum Schutz Dritter sicher zu bevorzugen.
Stressulkusprophylaxe
Bronchoskope
Im Vergleich zu H2-Rezeptorantagonisten scheint Sucralfat mit einem niedrigeren Risiko für eine »VAP«, aber einem höheren gastrointestinalen Blutungsrisiko verbunden zu sein. Besteht die Indikation zur Stressulkusprophylaxe, müssen die Vor- und Nachteile von H2-Antagonisten bzw. Sucralfat abgewogen werden [23].
Nosokomiale Ausbrüche, z. B. mit Pseudomonas spp., durch defekte oder unzureichend aufbereitete Bronchoskope sind vielfach dokumentiert. Der komplexe Aufbau von Endoskopen verlangt zwingend eine Reinigung und das manuelle Bürsten des Arbeitskanals. Erst danach kann das Bronchoskop manuell, halbmaschinell oder maschinell desinfiziert und getrocknet werden. Gesetzliche Vorgaben existieren und werden durch die Empfehlung »Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung flexibler Endoskope« der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut konkretisiert [32]. Die Verantwortlichkeit für die Aufbereitung der Bronchoskope sollte auf jeder Intensivstation geklärt sein. Umfangreiche Studien zu weiteren Einzelaspekten der Betreuung invasiv beatmeter Patienten und dem Umgang mit dem Beatmungssystem bilden die Grundlage für die in . Tabelle 64.9 als Checkliste zusammengefassten derzeitigen Präventionsstrategien.
Lagerung und Ernährung
Intubation und invasive Beatmung i Es wird geschätzt, dass die invasive Beatmung das Pneumonierisiko um das 6- bis 20-Fache erhöht [23]. Die Indikation sollte folglich streng und die nicht-invasive Beatmung als Alternative geprüft werden.
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Die nicht-invasive Beatmung führte in verschiedene Studien an ausgewählten Patientenkollektiven zu einer Reduktion der Pneumonie-Inzidenz und Senkung der Letalität. Intubation und mechanische Beatmung verhindern den Hustenreflex, beeinträchtigen die mukoziliäre Clearance-Funktion und schädigen das Oberflächenepithel der Trachea. Die Mikroaspiration von oropharyngealem Sekret am Cuff des endotrachealen Tubus vorbei wird als wichtigste Route von Bakterien in tiefere, primär sterile Lungenabschnitte angesehen [23]. Eine Biofilmbildung auf dem Tubus scheint Einfluss auf die Kolonisation der Trachea und die Entwicklung einer späten »ventilator-associated pneumonia« durch resistente Erreger zu haben [30]. Eine Minimierung der durch die mechanische Ventilation verursachten Lungenparenchymschädigung durch die Begrenzung des Tidalvolumens und einen adäquaten PEEP ist infektionspräventiv. Ungeplanten Extubationen und damit evtl. verbundenen Reintubationen kann durch Sedationsprotokolle vorgebeugt werden. Weaningprotokolle helfen, die Intubations- und Beatmungsdauer des Patienten zu verkürzen [23].
Beatmungssystem Die strikte Händedesinfektion vor und nach der Manipulation am Beatmungssystem ist Standard. Das Wechselintervall des Beatmungsschlauches beträgt laut RKI alle 7 Tage. Gemäß CDC
64.4.3 Katheterassoziier te Harnwegsinfektionen Harnwegsinfekte (HWI) gehören zu den häufigsten im Krankenhaus erworbenen Infektionen. Das klinische Spektrum reicht von asymptomatischer Bakteriurie bis zur Urosepsis. Die Leitsymptome eines HWI sind Fieber, Dysurie, Pollakisurie und suprapubische Schmerzen, Flankenschmerzen oder ein klopfschmerzhaftes Nierenlager. Der Begriff des akuten, unkomplizierten HWI umfasst die akute Zystitis und die akute Pyelonephritis sonst gesunder Erwachsener, meist Frauen [33]. Die meisten nosokomialen HWI sind hingegen komplizierte HWI. Komplizierte Harnwegsinfekte sind assoziiert mit verschiedenen Risikofaktoren, die u. a. die Anfälligkeit für eine Infektion erhöhen oder ein Therapieversagen triggern können [33]. Bei postoperativen und traumatologischen Patienten begünstigen Hypothermie, Katabolie und Gewebehypoxie die Entwicklung eines HWI [34].
821 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
Risikofaktoren, für einen komplizierten HWI [33–35] 4 4 4 4 4
4 4 4
Männliches Geschlecht Schwangerschaft Immunsuppression Diabetes mellitus (metabolische und funktionelle Störung) Anatomische oder funktionelle Veränderungen des Harntraktes, die die Urodynamik beeinflussen, z. B. Urolithiasis oder Querschnittslähmung Fremdmaterialien, z. B. Schienen und Harnwegskatheter Kürzlich erfolgter urologischer Eingriff Kürzlich erfolgte Antibiotikatherapie
Nierenabszesse, perinephritische Abszesse, Prostatitis, Kavernitis und das Fournier-Gangrän sind Beispiele für schwere Infektionen des Urogenitaltraktes und werden hier nicht besprochen.
Infektionsweg und Keimspektrum Normalerweise ist der Urintrakt bei Männern und Frauen bis auf die distale Urethra steril. Die meisten HWI entstehen aszendierend, dabei können Urethra, Introitus vaginae und Prostata Ausgangspunkt rezidivierender Infekte sein. Beispiele für den seltenen hämatogenen Infektionsweg sind Nierenabszesse im Rahmen einer Staphylococcus-aureus-Bakteriämie oder eine Pyelonephritis nach Bakteriämie mit gramnegativen Erregern [35].
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sich in einer Matrix, bestehend aus Exopolysacchariden, einzubetten. Einlagerungen, z. B. von wirtseigenen Proteinen und Urinmineralien, führen zu Inkrustationen. Die Biofilmbildung wird insbesondere für langliegende Blasenkatheter (>30 Tage) angenommen und betrifft neben der Außenseite auch das Katheterlumen [37]. Die im Katheterurin nachgewiesene Erregerkonzentration stimmt dementsprechend nicht zwangsläufig mit dem Ausmaß der Blasenkolonisation überein [37]. Biofilme stellen eine wirkungsvolle Barriere gegen die wirtseigene Abwehr und Antibiotika dar. Die Selektion mehrfach resistenter Erreger wird dadurch begünstigt. Eine prolongierte Katheterisierung birgt zusätzlich die Gefahr lokaler, periurethraler Komplikationen, wie Prostatitis, Epididymitis und Skrotalabszess. Suprapubische Blasenkatheter scheinen im Vergleich zu transurethralen Kathetern mit einem niedrigeren Risiko für einen Harnwegsinfekt assoziiert zu sein. Der Einsatz von Kondomkathetern erbrachte widersprüchliche Ergebnisse. Silikon- und Latexkatheter unterscheiden sich nicht hinsichtlich der Bakteriurieinzidenz. Silberbeschichtete Katheter vermindern wahrscheinlich die Infektinzidenz gegenüber unbeschichteten und teflonbeschichteten Kathetern [38]. Blasenverweilkatheter mit Antibiotikabeschichtung scheinen bei kurzzeitiger Katheterisierung eine Bakteriurie verhüten bzw. verzögern zu können. Eine klare Empfehlung für den klinischen Einsatz beschichteter Katheter kann aufgrund der aktuellen Datenlage und der ungeklärten Frage einer möglichen Resistenzinduktion derzeit nicht gegeben werden [38,39].
Screening Wichtigster Risikofaktor für die Entstehung eines nosokomialen Harnwegsinfektes ist ein Blasenverweilkatheter. Für Patienten mit kurzzeitigem Blasenkatheter (<30 Tage) wird das Risiko für die Entwicklung einer Bakteriurie mit ca. 2–7% pro Tag angegeben [36]. Die Indikation zur Anlage eines Blasenverweilkatheters muss deshalb streng gestellt werden. Der Katheter sollte sobald wie möglich entfernt werden.
Bereits die Anlage des Katheters kann zur Kontamination der Blase führen. Im weiteren Verlauf können Infektionserreger intraluminal oder periurethral aufsteigen. Die Gefahr der Erregeraszension wird durch die richtige Katheterwahl, ein geschlossenes Ableitungssystem und eine infektionspräventive Handhabung bei der Probenabnahme und Pflege reduziert. Neben E. coli, dem dominierenden Erreger ambulanter HWI, muss bei nosokomialen HWI u. a. mit Enterokokken, Pseudomonas spp, Proteus spp., Enterobacter spp., Citrobacter spp. und Klebsiellen gerechnet werden. Quelle ist häufig die patienteneigene Darmflora. Kontamination durch die Hände des Personals und Instrumente sind ebenfalls möglich. Ein Candidanachweis im Urin ist bei intensivmedizinischen Patienten, insbesondere bei Blasenkatheter, Diabetes mellitus und unter Antibiotikatherapie häufig. Mehrfach oder gar multiresistente Bakterien, z. B. Klebsiellen mit der Fähigkeit zur Bildung einer »extended spectrum betalactamase« (ESBL), sind aus therapeutischer und krankenhaushygienischer Sicht problematisch. In der Blase vermehren sich Bakterien im Urin oder adhärieren, wie z. B. E. coli, an Urothelzellen. Bakterien wie Pseudomonas aeruginosa sind in der Lage, an Oberflächen von nekrotischem Gewebe, Steinen und Fremdmaterialien zu haften und
i Ein routinemäßiges mikrobiologisches Urinmonitoring auf der Intensivstation wird nicht empfohlen.
Die Indikation für ein Screening besteht bei Schwangeren und Patienten vor transurethraler Resektion der Prostata (TUR) sowie anderen urologischen Eingriffen mit der Gefahr der Schleimhautblutung [36]. Für Patienten dieser Risikogruppen wird bei einer asymptomatischen Bakterurie die Therapie empfohlen. Die Bedeutung des Screenings und der Therapie der asymptomatischen Bakteriurie für Organtransplantierte ist ungeklärt [36].
Diagnose Bei Verdacht auf einen komplizierten HWI umfasst die Diagnostik Anamnese, körperliche Untersuchung, Laborwerte, Urinkultur, 2 Blutkulturpaare und eine Sonographie zur Abklärung einer Abflussbehinderung. Gegebenenfalls sind weiterführende radiologische oder endoskopische Maßnahmen notwendig. Bei liegendem Blasenkatheter erfolgt die Probenabnahme über den entsprechenden Abnahmeport, keinesfalls aus dem Urinauffangbeutel. Voraussetzung für die Diagnostik sind die kontaminationsfreie Abnahmetechnik und der Transport des Nativurins ins Labor innerhalb von 2 h. Eine Lagerung der Probe bei Raumtemperatur führt zu einer deutlichen Keimvermehrung und damit zu einer Verfälschung des Ergebnisses. Nitrit-Teststreifen können zur Detektion von Enterobacteriaceae dienen, die Nitrat zu Nitrit reduzieren. Bakterien wie Pseudomonasspezies und Enterokokken entgehen diesem Nachweis [40]. Eine Pyurie kann mikroskopisch, mittels Leukozytenesterase-Teststreifen oder durch Urinflowzytometrie diagnostiziert werden. Leukozytenesterase-Teststreifen weisen jedoch eine niedrige Sensitivität und Spezifität sowie einen niedrigen prä-
822
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
diktiven Wert auf [40]. Eine Pyurie mit t10 Leukozyten/mm3 kennzeichnet eine Inflammation des Urogenitaltraktes und tritt häufig zusammen mit einer symptomatischen Bakteriurie auf. Bei asymptomatischer Bakteriurie ist eine gleichzeitig bestehende Pyurie keine Indikation zur Therapie [36]. Bei nosokomialen, komplizierten HWI ist eine Urinkultur mit Resistogramm immer indiziert, um auf dem Hintergrund hoher Resistenzraten adäquat zu therapieren. Welche Keimzahl für die Entstehung eines febrilen Harnwegsinfektes ausreicht, ist unklar. Bei einem suprapubischen Punktionsurin ist jeder Erregernachweis relevant [33]. Üblicherweise wird bei komplizierten HWI der Nachweis uropathogener Erreger in hoher Keimzahl mit 105 koloniebildenden Einheiten (KBE)/ml Urin erwartet [40, 41]. Ein bakterieller Grenzwert für Urin aus einem Blasenverweilkatheter existiert nicht. Ein Candidanachweis im Urin ist auf Intensivstationen häufig und in der Regel lediglich als Kolonisation der Blase oder des Blasenkatheters ohne Krankheitswert zu sehen. Selten ist eine Candidurie Ausdruck einer lokalen Infektion oder einer Fungämie mit Ausscheidung des Erregers im Urin. Bei immunsupprimierten Patienten sollte jedoch bei einer persistierenden Candidurie an eine Dissemination gedacht werden und mittels Sonographie oder Computertomographie der Nieren weiter abgeklärt werden [11]. Die Interpretation der Befunde ist schwierig. Mit Ausnahme des Fiebers sind die Symptome eines Harnwegsinfektes bei sedierten Patienten kaum zu erheben. Somit stößt die Unterscheidung in symptomatische und asymptomatische Patienten an ihre Grenzen. Intensivmedizinisch betreute Patienten weisen häufig Fieber, eine Pyurie und eine Bakteriurie auf und werden deshalb therapiert. Bei diesen Patienten sollte zusätzlich an andere Infektionsquellen gedacht werden, bevor die Diagnose eines Harnwegsinfektes gestellt wird.
Therapie
64
Basis einer erfolgreichen medikamentösen Therapie und der Verhütung rekurrenter Infektionen sind die ausreichende Diurese, die Drainage möglicher Abszesse und die Beseitigung möglicher Abflussbehinderungen. Ob es sinnvoll ist, einen liegenden Blasenverweilkatheter vor Beginn einer antibiotischen Therapie zu wechseln, sofern er nicht gezogen werden kann, ist nicht abschließend geklärt. Benötigt ein Patient mit einem bereits lang liegenden Blasenkatheter (>30 Tage) eine Therapie, empfehlen einzelne Autoren den Wechsel des Katheters und Entnahme einer neuen Urinprobe über den neuen Katheter vor Beginn der Antibiotikatherapie [37, 42]. Zur empirischen parenteralen Therapie des nosokomialen komplizierten HWI sind Cephalosporine der Gruppe 2/3a, Chinolone (Cipro- und Levofloxacin), Aminopenicilline/E-Laktamaseinhibitor sowie Carbapeneme geeignet [33]. Trimethoprim-Sulfamethoxazol (TMP-SMX) wird ohne Austestung nicht mehr empfohlen. Bei schweren Infektionen, bei Verdacht auf Pseudomonas spp. oder bei Nichtansprechen der initialen Therapie innerhalb von 1–3 Tagen werden gegen Pseudomonas wirksame Antibiotika eingesetzt [33]. Dazu zählen Cephalosporine der Gruppe 3b (Ceftazidim und Cefepim), Chinolone (Cipro- und Levofloxacin) sowie Acylaminopenicilline/E-Laktamaseinhibitor (z. B. Piperacillin/Tazobactam) und Carbapeneme. Bei Nachweis von Extended-spectrum-E-Laktamase (ESBL)-bildenden Erregern sind Carbapeneme wirksam. Chinolone und Tigecyclin können Therapieoptionen nach Austestung sein.
Bei schwerer Urosepsis kann eine initiale Kombination aus E-Laktamantibiotikum und Chinolon bis zur klinischen Stabilisierung des Patienten sinnvoll sein. Ob ein Aminoglykosid als Kombinationspartner zu einem E-Laktamantibiotikum von klinischem Vorteil ist, ist umstritten. Klinik und Resistogramm entscheiden über die weitere kalkulierte Therapie. Die Therapiedauer der nosokomialen komplizierten Zystitis oder Urethritis beträgt in der Regel 3‒5 Tage über die Entfieberung bzw. Beseitigung der Ursache hinaus [33]. Eine akute unkomplizierte Pyelonephritis benötigt eine Therapie über 7– 14 Tage, bei Komplikationen wie Abszedierung kann eine Gabe über Wochen indiziert sein [41]. Ein asymptomatischer Patient mit Candidanachweis im Urin benötigt in der Regel keine Therapie. Behandelt werden sollten symptomatische Patienten, neutropenische Patienten, Neugeborene mit niedrigem Geburtsgewicht, Patienten nach Nierentransplantation und Patienten, die sich einem urologischen Eingriff unterziehen. Kann bei Candidurie auf den Urinkatheter verzichtet werden, so sollte er als initiale Maßnahme gezogen werden [11]. Ist der Verzicht auf einen Katheter nicht möglich, so kann ein Katheterwechsel evtl. sinnvoll sein. Der Nutzen eines solchen Wechsels bei Candidurie ist ungeklärt. Die Wahl des Antimykotikums, Dosis und Dauer richten sich nach der Infektion (lokal oder systemisch) und der nachgewiesenen Spezies. Antimykotische Blasenspülungen sind umstritten und können aus unserer Sicht nicht empfohlen werden. Einen Überblick über die wichtigsten Empfehlungen zur Prävention von Infektionen, assoziiert mit einem Blasenkatheter zeigt . Tabelle 64.10. 64.4.4 Postoperative Wundinfektionen > Definition Unter einer postoperativen Wundinfektion ist eine Infektion zu verstehen, die innerhalb von 30 Tagen bzw. bei Implantaten (z. B. Hüftendoprothesen, Kunstklappen) innerhalb eines Jahres im Operationsgebiet auftritt. Entsprechend der Infektionslokalisation wird eingeteilt in: 4 oberflächliche Infektion, umfasst ausschließlich die Kutis und Subkutis, 4 tiefe Infektion, greift auf Faszien und Muskeln über, 4 Infektion im Operationsgebiet (Organ, Körperhöhle). Als Infektionskriterien gelten: 4 eitrige Sekretion aus der Inzisionsstelle oder aus der Drainage, 4 mikrobiologischer Keimnachweis aus aseptisch entnommenem Wundsekret oder Gewebe, 4 Rötung, Schwellung, Schmerz oder Druckempfindlichkeit bei oberflächlichen Infektionen, 4 Abszess oder weitere Infektionszeichen der tieferen Schichten, des operierten Organs bzw. der operierten Körperhöhle bei tiefen Infektionen [4].
Epidemiologie Postoperative Wundinfektionen stellen die dritthäufigste nosokomiale Infektionsart dar. Nach den Daten des deutschen Surveillance Systems KISS wurden im Zeitraum 1997‒2004 bei 274.050 erfassten Operationen insgesamt 5500 postoperative Wundinfek-
823 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
tionen ermittelt, d. h. bei 2% der Patienten traten Wundinfektionen auf. Diese Infektionen verlängern die Hospitalisationsdauer im Mittel um 7–8 Tage. Für Deutschland rechnet man mit ca. 1 Mio. zusätzlichen Krankenhausverweiltagen pro Jahr, die durch postoperative Wundinfektionen verursacht werden [43].
Risikofaktoren und Wundinfektionsraten Das Risiko, eine Wundinfektion zu entwickeln, hängt von zahlreichen endogenen und exogenen Faktoren ab (. Tab. 64.4). Als wesentliche Einflussfaktoren gelten das Alter, der ASA-Score, die Operationsdauer und die Wundkontaminationsklasse (sauber, sauber kontaminiert, kontaminiert und schmutzig). Nach abdominalchirurgischen Eingriffen kommen aufgrund des häufiger kontaminierten oder infizierten Operationssitus mehr Wundinfektionen vor als bei aseptischen extraabdominellen Eingriffen. Endoskopische Eingriffe sind in der Regel mit niedrigeren Infektionsraten assoziiert [46]. Eine Übersicht über postoperative Wundinfektionsraten für ausgewählte stationäre Indikatoroperationen ist in . Tabelle 64.5 dargestellt [4].
Erregerspektrum Grampositive Keime wie S. aureus, koagulasenegative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis) oder Enterokokken sind die
häufigsten Erreger von postoperativen Wundinfektionen. Bei allgemeinchirurgischen oder abdominellen Eingriffen dominieren gramnegative Erreger wie E. coli, Pseudomonas aeruginosa und Klebsiellen. Im Einzelfall können auch Enterokokken und anaerobe Bakterien, wie z. B. Bacteroides spp., am Infektionsgeschehen beteiligt sein. In den meisten Fällen handelt es sich um Bakterien der patienteneigenen Haut- oder Darmflora, die zum Zeitpunkt der Inzision oder während der Operation in die Wunde gelangen. Der Nachweis von koagulasenegativen Staphylokokken bei oberflächlichen Wundinfektionen muss kritisch bewertet werden, da bei nicht korrekter Probenabnahme häufig Hautkeime angezüchtet werden. Unbestritten ist ihre Bedeutung als Erreger bei Implantatinfektionen (z. B. Knie- oder Hüft-TEP, künstliche Herzklappe) oder Wundinfektionen nach thoraxchirurgischen Bypassoperationen. Viren (z. B. HIV, Hepatitis B oder C) können zwar während einer Operation übertragen werden, führen aber nicht zu Wundinfektionen.
Diagnostik und Therapie Die meisten Wundinfektionen treten zwischen dem 3. und dem 8. postoperativen Tag nach primärem Wundverschluss auf. Eine primär heilende Wunde ohne Drainage gilt in der Regel nach 24 h als verschlossen und ist nicht mehr exogen kontaminati-
. Tabelle 64.4. Risikofaktoren für die Entstehung einer postoperativen Wundinfektion. (Nach [44, 45]) Risikofaktoren Endogene, patienteneigene Risikofaktoren
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Exogene Risikofaktoren
4 Prä- und intraoperativ – Dauer des stationären Aufenthalts präoperativ – Präoperative Haarentfernung – Verzicht auf eine indizierte perioperative Prophylaxe – Notfalloperation – Kontaminationsgrad der Wunde – Operationsdauer – Operationstechnik einschließlich Blutstillung – Hypothermie des Patienten während des Eingriffs – Hypoxie – Implantation von Fremdkörpern – Bluttransfusionen (Reduktion der zellulären Abwehr) 4 Postoperativ – Drainage (Art und Dauer) – Nicht sachgerechte postoperative Wundversorgung – Art der postoperativen Ernährung – Postoperative invasive Maßnahmen, die eine Bakteriämie auslösen
Hoher ASA-Scorea Hohes Lebensalter Nasale Besiedlung mit S. aureus Infektion an anderer Stelle Komorbiditäten Adipositas permagna Diabetes mellitus Mangelernährung Nikotinkonsum Maligne Grunderkrankung Immunsuppression Anämie (prä- und postoperativ)
a ASA-Score der amerikanischen Gesellschaft für Anästhesie, beschreibt den präoperativen Gesundheitszustand des Patienten, Einteilung in
5 Kategorien.
64
824
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
. Tabelle 64.5. KISS-Referenzdaten für postoperative Wundinfektionsraten (%) für stationäre Indikator-Operationen (2001–2006) Indikatoroperation
Anzahl der Kliniken
Anzahl der Operationen
Anzahl der Wundinfektionen
Postoperative Wundinfektionsrate (%); gepoolter Mittelwert
Appendektomie
38
14974
365
2,4
Cholezystektomie (nicht endoskopisch)
42
5503
234
4,3
Koronare Bypassoperationen mit autologem Gefäßtransplantat, Thoraxwunde
11
27205
824
3,0
Kolonoperationen
51
17464
1280
7,3
Gefäßchirurgische Eingriffe, untere Extremitäten, arterielle Rekonstruktion
20
5965
172
2,9
Herniotomie
56
28733
286
1,0
4 in der Orthopädie
84
34.449
376
1,1
4 in der Traumatologie
67
6749
213
3,2
Hysterektomie, abdominell
28
8240
176
2,1
Eingriffe an der Niere
12
3612
136
3,8
Eingriffe an der Prostata
14
5392
122
2,3
Sectio caesarea
49
47831
607
1,27
Hüftendoprothesen
64
onsgefährdet. Infektionen im Zusammenhang mit Implantaten können jedoch bis zu 1 Jahr nach Operation manifest werden. Die Kennzeichen einer postoperativen Wundinfektion sind vereinfacht in der eingangs genannten Definition zusammengefasst. Die je nach Infektionslokalisation spezifischen Definitionen des RKI bzw. der CDC können unter www.nrz-hygiene.de oder www.cdc.gov nachgelesen werden. Die Diagnose einer Wundinfektion kann im Einzelfall schwierig sein, da Symptome wie Rötung, Schwellung, Schmerz und Druckempfindlichkeit im Operationsgebiet sowohl bei Wundheilungsstörungen als auch bei Infektionen vorliegen können. Eine eitrige Sekretion aus der Inzisionsstelle oder einer Drainage, die Zugang zum Operationsgebiet hat, ist beweisend für eine Wundinfektion. Eine mikrobiologische Diagnostik durch sterile Entnahme eitrigen Sekretes ist indiziert, um eine gezielte Antibiotikatherapie durchführen zu können. Tiefe Wundinfektionen oder Infektionen in einer Körperhöhle, z. B. Mediastinitis, verursachen meist Fieber. Eine Blutkulturdiagnostik sollte immer durchgeführt werden. Postoperative Wundinfektionen erfordern in der Regel eine chirurgische Revision. Eine mechanische Wundreinigung zur Entfernung sämtlicher Nekrosen und Beläge und eine lokale antiseptische Behandlung, ggf. in Kombination mit einer systemischen Antibiotikatherapie, sind die wichtigsten Maßnahmen. Abszesse müssen eröffnet, antiseptisch gespült und mit einer Drainage versorgt werden. Organinfektionen bzw. Infektionen in einer Organhöhle müssen immer chirurgisch revidiert und mit Antibiotika therapiert werden. Bei der empirischen Antibiotikagabe sind die am häufigsten nachgewiesenen Wundinfektionserreger der jeweiligen Indika-
toroperation (. Tab. 64.6) zu berücksichtigen. Die mikrobiologische Untersuchung von intraoperativ gewonnenem Material aus dem Wundgebiet (Gewebe, Punktat, Abstrich) ermöglicht eine erregerspezifische Therapie.
Prävention Die Surveillance postoperativer Wundinfektionen, z. B. im Rahmen des KIS-Systems, gilt als wichtiges Instrumentarium zur Reduktion der Infektionsraten [4]. Es wird geschätzt, dass bei Patienten ohne Risikofaktoren ca. 20% der postoperativen Wundinfektionen vermeidbar sind [47]. Vermutlich liegt dieser Anteil bei sog. »sauberen Eingriffen« noch höher. Wichtigste Eckpfeiler der Prävention von postoperativen Wundinfektionen sind: 4 Kontrolle endogener Risikofaktoren durch optimale Operationsvorbereitung, 4 adäquate Antibiotikaprophylaxe (7 Kap. 62), 4 saubere und aseptisch ausgeführte Operationstechnik, 4 Vermeidung exogener Kontaminationsquellen [47]. Zahlreiche der in . Tabelle 64.4 genannten Risikofaktoren sind beeinflussbar. Eine verlängerte präoperative Verweildauer bzw. eine Verzögerung des Operationszeitpunktes bei Verletzungen erhöhen das Risiko einer postoperativen Wundinfektion. Die Ursachen hierfür sind meist multifaktoriell, z. B. Abhängigkeit der präoperativen Verweildauer von Erkrankungsschwere und Komorbiditäten, Kolonisation mit resistenten Erregern (z. B. MRSA) [45]. Der Zeitpunkt und die Art einer präoperativen Haarentfernung haben einen erheblichen Einfluss auf die Wundinfekti-
64
825 64.4 · Infektionen assoziiert mit zentralen Venenkathetern
. Tabelle 64.6. Anteil der häufigsten nachgewiesenen Erreger (%) bei postoperativen Wundinfektionen je nach Fachgebiet. (Nach [45]) Erreger
Allgemein- und Thoraxchirurgie (n=2527)
Traumatologie/ Orthopädie (n=1631)
Herzchirurgie (n=714)
Gefäßchirurgie (n=413)
Geburtshilfe (n=653)
S. aureus
11,4
42,7
39,6
39,0
19,8
Enterokokken
12,9
10,9
8,7
10,7
6,9
E. coli
22,6
4,1
2,7
6,7
4,4
P. aeruginosa
3,8
3,2
3,6
2,6
0,5
Klebsiella spp.
3,7
1
0,8
3,0
0,5
Koagulasenegative Staphylokokken
4,2
19,4
21,1
9,3
8,7
Enterobacter spp.
12,9
2,4
4,3
3,3
0,3
Streptokokken
4,8
4,8
1,5
5,3
6,4
Candida spp.
1,4
0,2
0,5
0,2
0,1
Daten des Krankenhausinfektions-Surveillance-Systems (Modul OP-KISS) aus dem Zeitraum 1997–2004.
onsrate. Kann auf eine Haarkürzung nicht verzichtet werden, sollte sie vorzugsweise kurz vor der Operation mit einem elektrischen Haarclipper erfolgen. Eine Haarrasur am Vortag mit einem scharfen Einmalrasierer kann Mikroläsionen verursachen, welche Infektionen durch die residente Flora und Krankenhauskeime begünstigen. Eine Haarentfernung mit chemischen Mitteln ist ebenfalls möglich, sollte aber wegen häufiger Hautreizungen einen Tag vor der Operation durchgeführt werden [47]. i Wird eine perioperative Prophylaxe bei vorliegender Indikation verspätet oder gar nicht verabreicht, so muss mit erhöhten Infektionsraten gerechnet werden (7 Kap. 62).
Bei allen Eingriffen im OP ist die generelle Einhaltung aseptischer Arbeitsmethoden/-techniken und der adäquate Umgang mit sterilen Medizinprodukten Standard. Die Erfahrung und die Operationstechnik des Operateurs nehmen wesentlich Einfluss auf die postoperativen Infektionsraten. Als wichtigste Maßnahmen bei der postoperativen Wundversorgung gelten: 4 Bei Verdacht auf eine Wundinfektion, bei Durchfeuchtung oder Lageverschiebung des Verbandes oder anderen Komplikationen muss dieser unverzüglich gewechselt werden. 4 Die Entfernung des Verbandes, des Nahtmaterials sowie der Drainagen muss unter Anwendung aseptischer Arbeitstechniken erfolgen. 4 Wunddrainagen sollten so früh wie möglich entfernt werden [45]. Die kompletten und nach Evidenzgraden bewerteten Präventionsmaßnahmen sind u. a. in der Leitlinie »Prävention postoperativer Infektionen im Operationsgebiet« des Robert Koch-Institutes zusammengefasst [45].
64.4.5 Clostridium-difficile-assoziierte Diarrhö
und Kolitis Die Infektion mit Clostridium difficile ist eine der häufigsten Ursachen einer nosokomialen Diarrhö bei Er wachsenen. Seit dem Jahr 2000 mehren sich Berichte aus Nordamerika über nosokomiale Ausbrüche schwerer Erkrankungen mit deutlich erhöhter Letalität, verursacht durch einen besonders virulenten, Chinolon-resistenten C.-difficile-Stamm (NAP1/027) [48]. Seit 2003 werden solche Epidemiestämme in Teilen Europas (England, Belgien, den Niederlanden und Frankreich) nachgewiesen [49].
Infektionsweg Clostridium difficile ist ein anaerobes, sporenbildendes Bakterium, dessen natürliches Reser voir u. a. der Darm von Tieren und Menschen ist. Bei Prädisposition, z. B. Alteration der normalen Flora durch eine Antibiotikatherapie, Immunsuppression oder Operation, kann C. difficile als Infektionserreger in Erscheinung treten. Prinzipiell kann jedes Antibiotikum eine Infektion mit C. difficile begünstigen, am häufigsten werden in diesem Zusammenhang Clindamycin, Breitspektrum-Penicilline, Cephalosporine und Chinolone genannt. Nur ca. 10–20% aller antibiotikaassoziierten Diarrhöen werden jedoch durch C.-difficile-Stämme verursacht [50]. In Ausnahmen wurde eine C.-difficile-Diarrhö nach Chemotherapeutika, wie Methotrexat und Paclitaxel, beobachtet [50]. Differenzialdiagnostisch ist an Infektionen mit Rota-, Adeno- und Noroviren zu denken. Neben dem endogenen Infektionsweg ist die nosokomiale, fäkal-orale Übertragung auf andere Patienten beschrieben und stellt ein zunehmendes krankenhaushygienisches Problem dar. Ob der Mensch nach der Kolonisation erkrankt oder asymptomatischer Träger bleibt, ist abhängig von der individuellen Disposition und der Virulenz/Toxigenität des C.-difficile-Stammes.
826
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
Klinik Einige C.-difficile-Stämme sind in der Lage, sog. Exotoxine A und B zu produzieren, die zum einen eine sekretorische Diarrhö, zum anderen eine Kolitis auslösen können.
Unspezifische klinische Zeichen sind wässrige Diarrhö, Leukozytose, abdominelle Krämpfe und ggf. Fieber. Hypalbuminämie und Ödeme deuten auf eine Proteinverlustenteropathie hin. Lebensbedrohliche Verläufe einer C.-difficile-Kolitis werden normalerweise, von den oben genannten Ausbrüchen abgesehen, bei 1–3% der Patienten erwartet [51]. i Bei der fulminanten Kolitis besteht die Gefahr der Entwicklung eines toxischen Megakolons, eines Ileus und einer Perforation. Diffuse abdominelle Schmerzen, Leukozytose, Fieber, Hypotonie und Oligurie sind mögliche Kennzeichen einer schweren systemischen Infektion. Die richtungweisende Diarrhö kann bei toxischer Dilatation des Kolons oder paralytischem Ileus fehlen. Bei einer fulminanten Kolitis ist eine entschlossene Diagnostik und rasche Prüfung gastroenterologischer und chirurgischer Therapieoptionen entscheidend.
Diagnose und Therapie
64
Die definitive Diagnose einer C.-difficile-Infektion erfordert die Erregeranzucht und/oder den laborchemischen Nachweis der C.-difficile-Toxine A und/oder B im Stuhl eines symptomatischen Patienten. Bei negativem Ergebnis ist es sinnvoll, erneut 1 oder 2 Stuhlproben zu untersuchen. Eine Koloskopie oder Sigmoidoskopie ist bei typischer Klinik und positivem Toxinnachweis nicht generell notwendig. Die koloskopischen Bilder der C.-difficile-Kolitis sind vielfältig. Eine pseudomembranöse Kolitis ist selten, aber pathognomonisch für das Vorliegen einer C.-difficile-Infektion. . Abb. 64.4 zeigt das endoskopische Bild einer Kolonmukosa mit typischen weißlich-gelblichen Plaques. Bei milder Klinik mit 3–4 wässrigen Stühlen pro Tag ist das Absetzen der auslösenden Antibiotikatherapie der entscheidende Schritt. Indikationen für eine medikamentöse Behandlung sind: 4 Der Patient ist symptomatisch, im Sinne einer Kolitis oder einer schweren Diarrhö. 4 Persistierende Diarrhö trotz Absetzen der Antibiotikatherapie. 4 Notwendigkeit der Fortführung der auslösenden Antibiotikatherapie [50]. Metronidazol ist das Medikament der Wahl. Vancomycin sollte aufgrund der Triggerung Vancomycin-resistenter Enterokokken (VRE) nur bei entsprechender Indikation eingesetzt werden. Die Normaldosis von Metronidazol beträgt 3-mal 500 mg/Tag oral für 10–14 Tage. Bei Schwangerschaft, Stillzeit oder anderen Kontraindikationen für Metronidazol ist die Gabe von Vancomycin möglich. Die orale Vancomycin-Dosis beträgt 4-mal 125 mg/Tag für 10– 14 Tage [50]. Bei moderater oder schwerer Erkrankung werden höhere Vancomycin-Dosierungen bis 4-mal 500 mg/Tag oral angeraten [50, 53].
. Abb. 64.4. Koloskopisches Bild einer pseudomembranösen Kolitis durch C. difficile. [Freundlichst überlassen von Dr. med. R. Winograd, Med. Klinik III, UkA]
Die Applikation der Medikamente sollte bei C.-difficile-Diarrhö bevorzugt oral bzw. über Magensonde erfolgen; eine parenterale Gabe ist, wenn überhaupt, nur für Metronidazol möglich. Die intravenöse Therapie mit Vancomycin erzielt keinen hinreichenden enteralen Effekt. Die Gabe von Flüssigkeit und die Kontrolle des Elektrolythaushaltes sind obligat. Antiperistaltisch wirksame Medikamente sollten vermieden werden. Als Therapieerfolg ist die Entfieberung nach 1‒2 Tagen und das Sistieren der Diarrhö nach 2‒5 Tagen zu werten [53]. Eine Toxinkontrolle im Stuhl zur Bestätigung des Therapieerfolges sollte nicht durchgeführt werden, da der Toxinnachweis noch längere Zeit positiv ausfallen kann. Rund 12–24% der Patienten entwickeln eine zweite Krankheitsepisode innerhalb von 2 Monaten nach initialer Diagnosestellung [53]. Klinisch ist nicht beurteilbar, ob es sich dabei um eine Reinfektion oder um ein Rezidiv mit gleichem Erreger handelt. Die erste Rekurrenz der Erkrankung wird in der Regel mit einer erneuten Metronidazol-Gabe über 10–14 Tage behandelt.
Prävention und Hygienemanagement Der wichtigste Schritt zur Prävention der C.-difficile-Diarrhö ist der restriktive Einsatz von Antibiotika. Ist ein Patient erkrankt, muss die Übertragung auf andere Patienten verhindert werden. Immunsupprimierte und Patienten mit Antibiotikatherapie scheinen besonders gefährdet zu sein. Bei der Versorgung des Erkrankten sollten Handschuhe und Kittel im Sinne einer Kontaktisolation getragen werden, da der Stuhl infektiös ist. Eine Unterbringung im Einzelzimmer ist zu befürworten, solange der Patient symptomatisch ist. Das Zimmer ist entsprechend zu reinigen. i Die Fähigkeit von C. difficile, Sporen zu bilden, ist der Grund für eine ausgeprägte Umweltresistenz. Da Sporen alkoholresistent sind, ist es notwendig, die Hände mit Wasser und Seife zu waschen.
827 64.5 · Prävention device-assoziierter nosokomialer Infektionen
64.5
Prävention device-assoziier ter nosokomialer Infektionen
Detaillierte Leitlinien zur Prävention der wichtigsten im Krankenhaus erworbenen Infektionen existieren, z. B. von den Centers for Disease Control and Prevention und vom Robert KochInstitut, und sind z. B. aktualisiert im Internet zugänglich (www. nrz-hygiene.de oder www.cdc.gov).
64
Weitere wichtige Aspekte des Hygienemanagements auf der Intensivstation sind in 7 Kap. 5 erläutert. Die in . Tabelle 64.7 bis 64.10 zusammengefassten derzeitigen Empfehlungen zur Infektionsprävention sollen dem Stationsteam als praxisnahe Anleitung und Checkliste im Umgang mit den verschiedenen »devices« dienen.
. Tabelle 64.7. Basismaßnahmen zur Prävention device-assoziierter Infektionen. (Nach [15, 28, 52]) Infektionskontrolle
4 Personalschulung 4 Erfassung und Bewertung nosokomialer Infektionen 4 Erkennung und Isolation von Patienten mit multiresistenten Erregern
Händedesinfektion
4 Vor und nach dem Patientenkontakt 4 Vor und nach jedem Kontakt mit dem Katheter bzw.Tubus 4 Vor dem Anziehen und nach dem Ausziehen der Einmalhandschuhe
Einmalhandschuhe
4 Bei Kontakt mit potenziell infektiösem Material
. Tabelle 64.8. Spezielle Maßnahmen zur Prävention der ZVK-assoziierten Sepsis. (Nach [14, 15]) Indikation
4 Indikation für ZVK täglich überprüfen
Katheteranlage
4 Katheteranlage stets unter aseptischen Bedingungen durchführen (sterile Handschuhe, steriler Kittel, Kopfhaube, Mund-/Nasenschutz, steriles Lochtuch) 4 Desinfektion des Punktionsareals mit einem Hautdesinfektionsmittel, dabei Einwirkzeiten beachten 4 V. subclavia aus infektionspräventiven Gründen bevorzugen
Verband
4 Abdecken der Katheterstelle entweder mit steriler Kompresse oder transparentem semipermeablem Folienverband
Verbandswechsel
4 4 4 4
Katheterwechsel
4 Kein routinemäßiger ZVK-Wechsel; Katheter, die notfallmäßig unter aseptischen Bedingungen gelegt wurden, so schnell wie möglich wechseln 4 Tägliche Inspektion der Einstichstelle, bei sichtbarer Entzündung sofortige Entfernung des Katheters und Neuanlage an anderer Stelle 4 Katheterwechsel über Führungsdraht nur, wenn kein Infektionsverdacht
Spülung
4 Falls er forderlich, sterile physiologische Kochsalzlösung verwenden
Infusionssysteme
4 Wechsel des Infusionssystems alle 72 h (Ausnahmen: bei Applikation von Lipidlösungen spätestens nach 24 h, bei Gabe von Blut- und Blutprodukten spätestens nach 6 h)
Wechsel grundsätzlich, wenn der Verband feucht, lose oder schmutzig ist Wechsel in Non-touch-Technik , Einmalhandschuhe verwenden Applikation von Hautdesinfektionsmittel (keine Salben) auf die Insertionsstelle Gazeverband: – Wechsel täglich bei bewusstseinsgetrübten, beatmeten Patienten – tägliche Palpation bei bewusstseinsklaren Patienten, keine Aussage zur Wechselfrequenz 4 Folienverband mindestens alle 7 Tage wechseln
. Tabelle 64.9. Spezielle Maßnahmen zur Prävention der beatmungsassoziierten Pneumonie. (Nach [23, 28]) Intubation
4 4 4 4
Lagerung des Patienten
4 Hochlagerung des Oberkörpers um 30–45°, wenn keine Kontraindikation
6
Indikation für invasive Beatmung täglich überprüfen Anwendung »nicht-invasiver Beatmungsverfahren«, wenn immer möglich Vermeidung von Reintubationen Bevorzugen der orotrachealen Intubation gegenüber der nasotrachealen Intubation, sofern möglich
828
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
. Tabelle 64.9. (Fortsetzung)
64
Beatmungsfilter (HME-Filter)
4 Keine Empfehlung für oder gegen die Verwendung eines HME-Filters
Beatmungsschläuche
4 Kondenswasser ist regelmäßig und vorsichtig aus dem Beatmungskreislauf zu entfernen, dabei Tragen von Einmalhandschuhen und strikte Händedesinfektion 4 Wechselintervall des Beatmungsschlauches auch ohne Einsatz eines Beatmungsfilters alle 7 Tage (RKI), laut CDC kein routinemäßiger Wechsel bei einem Patienten; Wechsel, wenn schmutzig oder defekt
Absaugsystem
4 Hygienische Händedesinfektion und Tragen von keimarmen Einmalhandschuhen 4 Keine Empfehlung hinsichtlich der Favorisierung des geschlossenen oder des offenen Absaugsystems 4 Geschlossene Systeme: Absaugvorgang kann mehr fach mit dem selben Katheter wiederholt werden; Entfernung des Sekrets mittels steriler Spüllösung 4 Offenes Absaugsystem: Sterilen Einmalkatheter verwenden; Entfernung des Sekrets mittels Leitungswasser. Falls innerhalb eines Absaugvorganges der Absaugkatheter wiederholt in den Tubus eingeführt werden soll, Spülung mit sterilem Wasser 4 Aufhängen des Ansatzstückes in senkrechter Position
Medikamentenvernebler
4 4 4 4 4
Wiederaufbereitung von Beatmungszubehör
4 Vor Gebrauch beim nächsten Patienten: Gründliche Reinigung und Desinfektion der Gegenstände, die direkten oder indirekten Schleimhautkontakt haben 4 Bevorzugung thermischer Desinfektionsmaßnahmen 4 Nach einer chemischen Desinfektion: Nachspülen mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelresten; trockene Lagerung
Ernährung
4 Frühzeitiges Anstreben der enteralen Ernährung 4 Kontrolle der korrekten Lage der Ernährungssonde vor jeder Nahrungszufuhr und Anpassung an die Darmtätigkeit
Stressulkusprophylaxe
4 Keine Empfehlung hinsichtlich der Ulkusprophylaxe
Selektive Darmdekontamination (SDD)
4 Derzeit keine Empfehlung für den Routineeinsatz der SDD
Hygienische Händedesinfektion und Tragen von keimarmen Einmalhandschuhen Entfernung des Kondenswassers aus den Beatmungsschläuchen vor Befüllen des Verneblers Verwendung von Medikamenten in Einzelampullen Thermische oder chemische Desinfektion des In-line-Verneblers nach jedem Gebrauch Nach einer chemischen Desinfektion: Vernebler mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelresten ausspülen und trocken lagern
. Tabelle 64.10. Spezielle Maßnahmen zur Prävention des katheterassoziierten Harnwegsinfektes. (Nach [52]) Indikation
4 Strenge Indikationsstellung, Indikation für Katheter täglich überprüfen
Katheterwahl
4 Sorgfältige Auswahl des Katheters je nach Indikation und der Kathetergröße je nach Meatus urethrae 4 Bei Kurzzeitdrainage (≤5 Tage) kann alternativ zwischen transurethralem, suprapubischem Katheter oder streng aseptischem intermittierendem Einmalkatheterismus gewählt werden 4 Bei längerer Katheterisierung (>5 Tage) und nach größeren operativen Eingriffen Anlage eines suprapubischen Katheters unter Beachtung der Kontraindikationen bevorzugen 4 Bei transurethraler Kurzzeitdrainage (≤5 Tage) kann aus Kostengründen ein Latexkatheter verwendet werden (Cave: Latexallergie) 4 Bei längerfristiger Blasendrainage Bevorzugung eines Vollsilikonkatheters
Katheteranlage
4 Keine Antibiotikaprophylaxe vor Anlage oder bei liegendem Katheter zur Verhinderung einer Infektion 4 Desinfektion der Harnröhrenöffnung und ihrer Umgebung mit einem Schleimhautdesinfektionsmittel (Einwirkzeit beachten) 4 Aseptische Katheteranlage möglichst mittels Katheterset (sterile Einmalhandschuhe, steriles Abdecktuch, ggf. sterile Pinzette, sterile Tupfer, steriles Gleitmittel; steriles Aqua dest. oder vorzugsweise sterile 8- bis 10%ige Glycerin-Wasser-Lösung zur Ballonfüllung)
6
829 Literatur
64
. Tabelle 64.10. (Fortsetzung) Ableitungssystem
4 Verwendung steriler, geschlossener Harnableitungssysteme mit Rückflusssperre, Luftausgleichsventil, Ablassstutzen und Ablassventil 4 Abknicken und Diskonnektion von Katheter und Drainagesystem vermeiden; ist eine Diskonnektion nicht vermeidbar, alkoholische Wischdesinfektion der Konnektionsstelle 4 Spülungen und Instillationen nur bei spezieller urologischer Indikation, nicht zur Infektionsprophylaxe durchführen 4 Lagerung des Katheters ohne Zug am Unterbauch zur Leiste hin 4 Positionierung des Auffangbeutels immer freihängend unterhalb des Blasenniveaus ohne Bodenkontakt 4 Rechtzeitiges Entleeren des Auffangbeutels, bevor der Harn mit der Rückflusssperre in Kontakt kommt, dabei Tragen von Einmalhandschuhen 4 Auf Spritzschutz und Verhinderung des Nachtropfens (Rückstecklasche) achten 4 Kein Kontakt zwischen Ablassstutzen und Auffanggefäß bei der Harnentsorgung; Auffanggefäß desinfizierend reinigen 4 Kein intermittierendes Abklemmen des Katheters als Blasentraining
Pflege des Meatus urethrae und des Katheters
4 Reinigung des Genitales: Tägliches Waschen mit Wasser und Seife; Tragen von Einmalhandschuhen; Zug am Katheter vermeiden 4 Schonendes Entfernen von Inkrustierungen am Übergang von Katheter und Urethra mit H2O2 (3%ig) getränkten Tupfern; auf perineale Hygiene achten
Wechselintervall
4 Kein routinemäßiger Katheterwechsel, sondern nur bei Bedarf (z. B. Obstruktion)
Gewinnung von Proben
4 Kein routinemäßiges mikrobiologisches Monitoring bei katheterisierten Patienten 4 Abnahme von mikrobiologischen Proben aus patientennaher Abnahmestelle nach vorheriger alkoholischer Wischdesinfektion 4 Abnahme anderer Proben mit Einmalhandschuhen aus dem Ablassstutzen
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64
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
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65 Spezifische Infektionen A. Cerny, E. Bernasconi
65.1
Tuberkulose
65.2
Typhus abdominalis
65.3
Hämolytisch-urämisches Syndrom
65.4
Schwere Weichteilinfektionen
65.4.1 65.4.2
Nekrotisierende Fasziitis –835 Gasbrand –836
65.5
Tetanus
–837
65.6
Tollwut
–838
65.7
Diphtherie
65.8
Anthrax
65.9
Schwere Malaria
65.10
Virales hämorrhagisches Fieber
65.10.1 65.10.2 65.10.3 65.10.4 65.10.5 65.10.6 65.10.7 65.10.8
Krim-Kongo-Virus –844 Hantaviren –844 Lassafieber –844 Südamerikanisches hämorrhagisches Fieber Filoviren –844 Gelbfieber –844 Denguefieber –845 Vorsichtsmaßnahmen –845
Literatur
–832 –833 –834
–835
–839
–840
–845
–841 –843
–844
832
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
65.1
Tuberkulose
Die Tuberkulose ist die weltweit häufigste infektionsbedingte Todesursache und führt nur selten zur Aufnahme auf der Intensivstation. Hauptgründe für eine Intensivtherapie sind eine respiratorische Insuffizienz, Thoraxeingriffe, fortgeschrittene Tbc-Meningitis, tuberkulöse Perikarditis, Nebenwirkungen von Tuberkulostatika und eine tuberkuloseassoziierte Addison-Krise [11]. Die Kenntnis der verschiedenen klinischen Manifestationen der Tuberkulose ist zudem wichtig, weil disseminierte Formen im Sinne der Miliartuberkulose durch andere Zustände wie Status nach Transplantation und Immunsuppression, Tumorerkrankung oder HIV-Infektion maskiert und unerkannt zur nosokomialen Infektion anderer Patienten sowie von Pflegepersonal und Ärzten führen können [7]. Neben krankenhaushygienischen Problemen (7 Kap. 63) ist beim Intensivpatienten oft eine parenterale tuberkulostatische Therapie notwendig. Chinolone werden vermehrt eingsetzt.
Erreger Mycobacterium tuberculosis und Mycobacterium bovis gehören zum Mycobacterium-tuberculosis-Komplex. Mycobacterium bovis ist klassischerweise resistent gegen Pyrazinamid. Im Grampräparat ist Mycobacterium tuberculosis schwach grampositiv oder lässt sich nicht anfärben. Der direkte visuelle Nachweis erfordert eine klassische Ziehl-Neelsen-Färbung oder eine der neueren Fluoreszenzmethoden. Durch den Einsatz von sensitiven Kulturmethoden, die den Einbau von radioaktiven Metaboliten messen, gelingt der kulturelle Nachweis bereits 9–16 Tage nach Ansetzen der Kultur. DNA-Amplifikationsmethoden erlauben einen noch rascheren Nachweis, geben aber keine Auskunft darüber, ob die Mikroorganismen noch vermehrungsfähig sind oder nicht. Auch für die Empfindlichkeitsprüfung sind verschiedene Amplifikationsmethoden in Entwicklung, die nicht mehr auf Kulturmethoden beruhen.
Epidemiologie
65
In Mitteleuropa ist bei folgenden Personengruppen mit einem erhöhten Tuberkuloserisiko zu rechnen: Personen, die sich längere Zeit in einem Gebiet mit hoher Tuberkuloseprävalenz aufgehalten haben, HIV-Infizierte [14], Patienten mit Unterernährung, Alkoholismus, Obdachlosigkeit, Niereninsuffizienz und Immunsuppression. HIV-Infizierte erkranken rascher und häufiger an einer Tuberkulose. Klinisch steht ein Lungenbefall im Vordergrund: oft ohne Kavernenbildung mit negativer Tuberkulinreaktion, häufig verbunden mit extrapulmonalen Manifestationen. Verschiedene kleinere Epidemien von nosokomialer Übertragung auf Intensivstationen sind darauf zurückzuführen, dass die Diagnose nicht oder nicht rechtzeitig gestellt wurde.
Pathogenese Im Zentrum steht das Gleichgewicht zwischen der intrazellulären Vermehrung von Mykobakterien in Alveolarmakrophagen und deren Aktivierung durch T-Lymphozyten. Die Größe des Inokulums und genetische Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Bei intaktem Immunsystem entwickeln weniger als 10% der Infizierten eine aktive Tuberkulose. Kleinkinder, Adoleszente und junge Erwachsene sowie alte Menschen haben ein höhe-
res Risiko, klinisch zu erkranken. Der Tuberkulintest wird 3–8 Wochen nach der Infektion als Ausdruck der zellulären Immunität positiv. Bei HIV-Infizierten kann sich eine rasch progrediente Pneumonie mit Dissemination im Sinne einer hyperakuten Miliartuberkulose entwickeln. Häufig tritt nach ein paar Wochen eine tuberkulöse Meningitis auf. Der Verlust der zellulären Immunität im Alter und unter Immunsuppression kann zur Reaktivierung einer alten Tuberkulose führen. Besonders unter Kortikosteroiden oder anderen Immunsuppressiva kann es zur späten hämatogenen Dissemination kommen.
Klinik Die folgenden klinischen Manifestationen sind für den Intensivmediziner von Bedeutung: 4 Patienten mit bekannter Tuberkulose und einer zusätzlichen Diagnose, die eine Indikation für eine Intensivbehandlung darstellen. In diesen Fällen ist zu entscheiden, ob die durchgeführte Therapie genügt, um auf die Isolationsmaßnahmen auf der Intensivstation zu verzichten. Ein Problem stellen diejenigen Patienten dar, bei denen eine nichtklassische Tuberkulosemanifestation zur Intensivbehandlung führt oder bei denen eine nichtdiagnostizierte Tuberkulose eine Zusatzerkrankung darstellt. Als Beispiele hierfür können angeführt werden: 4 HIV-positive bzw. Patienten mit HIV-Risikofaktoren, die eine rasch progrediente Pneumonie mit Anämie, niedrigem Serumalbumin und oft auch Hyponatriämie entwickeln. Als Folge der Dissemination treten Verwirrtheitszustand, Meningismus und fokale neurologische Zeichen als Ausdruck einer Tbc-Meningitis auf. Solche Patienten können wegen respiratorischer Insuffizienz, Krampfanfällen oder Koma auf der Intensivstation behandelt werden. 4 Eine progrediente Herzinsuffizienz kann Ausdruck einer tuberkulösen Perikarditis sein und muss durch Entlastung des Perikardergusses behandelt werden. 4 Immunsupprimierte Patienten können zusätzlich zu einem akuten Problem, das eine Intensivtherapie erfordert, eine pulmonale oder extrapulmonale Reaktivierung einer Tuberkulose aufweisen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass eine disseminierte Tuberkulose das klinische Bild eines myeloproliferativen Syndroms nachahmen kann. 4 Die massive Hämoptoe bei Arosion eines Lungengefäßes bei kavernöser Tuberkulose stellt ebenfalls eine Indikation für eine Intensivbehandlung und entsprechende chirurgische Therapie dar.
Diagnose Beim intubierten Patienten muss geeignetes Material blind tracheobronchial oder mittels Bronchoskopie und Lavage gewonnen werden. Bei extrapulmonalem Befall muss entsprechendes Gewebe für den Direktnachweis, die Kultur und die histologische Untersuchung gewonnen werden. Die Einführung sensitiver Nukleinsäurenamplifikationsmethoden erleichtert und beschleunigt den Erregernachweis. Die Untersuchung respiratorischer Proben (Sputum oder Tracheobronchialsekret) sollte mindestens 3-mal hintereinander, am besten morgens, durchgeführt werden.
Behandlung Die medikamentöse Behandlung der Tuberkulose ist abhängig von der lokalen Resistenzlage. Faktoren wie HIV-Infektion, in-
833 65.2 · Typhus abdominalis
ternationale Migration und Verschlechterung der sozioökonomischen Situation im Bereich von Krisenherden führen zu einer Zunahme der Resistenz gegen Tuberkulostatika, insbesondere von Isoniazid, auch in Europa. Standardtherapie. In der Regel wird eine Viererkombination aus
Isoniazid, Rifampicin, Pyrazinamid und Ethambutol für 2 Monate verabreicht, gefolgt von 4 Monaten Isoniazid und Rifampicin. Die empfohlenen Dosierungen sind in . Tabelle 65.1 zusammengefasst. Tuberkulöse Meningitis und Miliartuberkulose. Die tuberku-
löse Meningitis und die Miliartuberkulose werden insgesamt 12 Monate lang behandelt. Zeigt die Resistenzprüfung einen multiresistenten Keim, so muss auf alternative Substanzen ausgewichen werden. Steroide sind in der Frühphase einer schwer verlaufenden Tbc-Meningitis mit erhöhtem intrakraniellen Druck angezeigt. Ist die enterale Resorption der Tuberkulostatika nicht gesichert, muss auf eine parenterale Behandlung umgestellt werden. Nebenwirkungen. Unter Isoniazid und Rifampicin können Tran-
saminasenerhöhungen auftreten. Diese dürfen aber akzeptiert werden, solange der Wert nicht mehr als das 3fache der oberen Norm erreicht und der Patient asymptomatisch bleibt. Wegen der Gefahr einer fulminanten Hepatitis sollten bei ausgeprägteren Transaminasenerhöhungen Isoniazid und Rifampicin abgesetzt werden, bis die Leberwerte wieder normal sind. Haben sich die Werte wieder normalisiert, darf zuerst Isoniazid einschleichend, dann zusätzlich Rifampicin eingesetzt werden. Ethambutol kann zu Sehstörungen führen, sodass eine Visus- und Farbsehprüfung bei einer Behandlungsdauer von mehr als 2 Monaten oder einer Dosis von mehr als 15 mg/kg/Tag empfohlen wird. Die Sehstörungen sind in der Regel reversibel, wenn die Behandlung beendet wird. Die Gabe von 20 mg/Tag Pyridoxin (Vitamin B6) ist bei Patienten mit erhöhtem Vitaminbedarf (Schwangere, Mangelernährte, Diabetiker und Alkoholabhängige) indiziert.
Prävention Der Mensch ist das einzige Reservoir von Mycobacterium tuberculosis. Eine indirekte Übertragung ist selten, wurde aber
. Tabelle 65.1. Tuberkulostatika Medikament
Tägliche Dosis für Erwachsene
Isoniazid (= Isonicotinsäurehydrazid INH)
5 mg/kg KG, maximale Tagesdosis 300 mg
Rifampicin
10 mg/kg KG, maximale Tagesdosis 600 mg
Pyrazinamid
25 mg/kg KG, maximale Tagesdosis 2000 mg
Ethambutol
15–25 mg/kg KG, maximale Tagesdosis 2000 mg
Streptomycin
15 mg/kg KG, maximale Tagesdosis 1000 mg
65
beispielsweise bei Verwendung von nicht korrekt desinfizierten Bronchoskopen beobachtet. Die Empfehlungen zur Infektionsverhütung bei Tuberkulose richten sich nach der Art der Erkrankung. Bei offener Lungen-Tbc muss der Patient isoliert werden, es müssen Schutzkittel, Mundschutz und bei Kontakt mit erregerhaltigem Material auch Handschuhe getragen werden. Die Dauer der Isolationsmaßnahmen beträgt in der Regel 2–3 Wochen nach Beginn der korrekt durchgeführten Chemotherapie. Bei fraglicher Absorption der Medikamente oder möglichem Vorhandensein eines multiresistenten Keims müssen weitere entsprechende Abklärungen durchgeführt werden, bevor die Isolationsmaßnahmen aufgehoben werden. 65.2
Typhus abdominalis
Es handelt sich um eine Erkrankung, die durch eine persistierende Bakteriämie, eine starke Stimulation des retikuloendothelialen Systems sowie durch multiple Organstörungen charakterisiert ist. Die Krankheit kann zu Ablagerungen von Immunkomplexen führen und ist am häufigsten durch Salmonella typhi verursacht. Eine Intensivbehandlung ist manchmal notwendig bei Patienten, die eine Gastrointestinalblutung, Darmperforation, ein Delirium, Koma oder einen septischen Schock entwickeln.
Erreger Von den über 2000 Salmonellaserotypen sind klassischerweise Salmonella typhi, aber auch Salmonella paratyphi A und B sowie Salmonella cholerae suis für das klinische Bild des Typhus abdominalis verantwortlich. Selten können andere Erreger ähnliche Krankheitsbilder auslösen: Yersinia enterocolitica und pseudotuberculosis, Campylobacter fetus und Brucella spp.
Epidemiologie Salmonella typhi infiziert ausschließlich den Menschen, im Gegensatz zu den meisten anderen Salmonellaserotypen. Die Übertragung erfolgt entweder direkt von einem infizierten Träger oder über kontaminierte Nahrungsmittel. Die Mehrzahl der Fälle in Westeuropa sind aus Regionen mit hoher Prävalenz wie z. B. Mexiko und Indien importiert.
Pathogenese Salmonella typhi ist ein motiles gramnegatives Stäbchen, dass aufgrund seiner Virulenzfaktoren gewebeinvasiv vom Darmlumen in die lymphatischen Gewebe gelangt und sich dort in Makrophagen vermehrt. Die massive Bakterienvermehrung führt zur Hyperplasie und Entzündung, zuerst im Bereich des darmassoziierten lymphatischen Gewebes. Blutungen oder Perforationen im Bereich der Peyer-Plaques können die Folge sein.
Klinik Die Krankheit zeigt typische Phasen, die die Diagnose erleichtern (. Tab. 65.2). Die zentralnervösen Komplikationen können u. U. mit psychiatrischen Erkrankungen verwechselt werden. Kinder neigen zu Krampfanfällen. Etwa 5% der unbehandelten Patienten entwickeln eine gastrointestinale Blutung oder eine Darmperforation. Andere Komplikationen wie Myokarditis, akute Cholezystitis, Meningitis, Hepatitis und Pneumonie sind seltener. Superinfektionen mit anderen Bakterien kommen vor [4].
834
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
. Tabelle 65.2. Typischer klinischer Verlauf bei unbehandeltem Typhus abdominalis Zeitperiode
Klinische Manifestationen
1. Woche
Auftreten von Fieber, in der Folge ansteigend zu Kontinua, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und variable Abdominalschmerzen
2. Woche
Auftreten von Roseolen (hellrote, blasse, wegdrückbare, meist ovale makulopapulöse Effloreszenzen, ausschließlich am Körperstamm lokalisiert), Abdominalschmerzen, Durchfall oder Verstopfung, Apathie, Verwirrungszustände, Splenomegalie, Hepatomegalie
3. Woche
4. Woche und später
Mögliches Auftreten von Komplikationen wie Gastrointestinalblutung, Perforation, septischer Schock oder Koma Vorübergehende Besserung der Symptome oder Rückfall mit erneuten akuten Symptomen, zudem Gewichtsverlust und chronische Ausscheidung der Bakterien
Diagnose Salmonella typhi kann in den ersten 2 Wochen aus Blutkulturen isoliert werden. Urin- und Stuhlkulturen sind seltener positiv, erhöhen aber die diagnostische Treffsicherheit. Die Knochenmarkkultur ist der sensitivste Test (ca. 90%) und sollte durchgeführt werden, wenn die übrigen Kulturen negativ bleiben und die Diagnose gesichert werden muss. Der Nachweis von Antikörpern gegen Salmonella-typhi-O- und -H-Antigene wird erst im Verlauf der Krankheit positiv und ist deshalb in der akuten Phase wenig hilfreich.
Behandlung
65
Ciprofloxacin hat Chloramphenicol als Substanz der ersten Wahl weitgehend abgelöst: Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v. pro Tag über 14 Tage. Sobald klinisch möglich, kann auf eine perorale Dosierung von 2-mal 750 mg/Tag gewechselt werden. Als Alternative kann an Stelle eines Chinolons auch Ceftriaxon oder Azithromycin eingesetzt werden. In Asien werden vermehrt Chinolon-resistente Keime isoliert. Die Behandlung erfolgt in diesen Fällen entsprechend dem Resistenzmuster.
Prävention Reisende in Ländern mit hoher Typhusprävalenz müssen auf die notwendigen Hygienemaßnahmen hingewiesen werden. Bei Auftreten von Fällen oder Fallserien, die nicht mit einem Auslandsaufenthalt verknüpft werden können, führt eine epidemiologische Untersuchung oft zur Identifikation eines Salmonellenausscheiders. Die heute verfügbaren Impfstoffe erreichen bei Durchführung einer vollständigen Impfserie einen bis zu 75%igen Schutz. Neue Polysaccharid–Protein-Konjugat-Impfstoffe versprechen einen besseren Impfschutz. 65.3
Hämolytisch-urämisches Syndrom
Das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) ist durch die folgende Trias definiert:
4 mikroangiopathische hämolytische Anämie, 4 akute Niereninsuffizienz, 4 Thrombozytopenie. Verschiedene mögliche Komplikationen der Erkrankung wie Hypovolämie, Niereninsuffizienz, Hypertonie und Blutungen erfordern nicht selten eine Behandlung auf der Intensivstation.
Mögliche Auslöser eines hämolytisch-urämischen Syndroms Im Anschluss an eine Massenerkrankung im Jahre 1982 in den USA wurde Escherichia-coli-Serotyp 0157 : H7 als mögliche Ursache des hämolytisch-urämischen Syndroms erkannt [13]. Seither sind in entwickelten Ländern mehrere größere und kleinere, durch Nahrungsmittel übertragene Ausbrüche beschrieben worden. i Escherichia-coli-Serotyp 0157 : H7 verursacht blutige Durchfälle und wird auch zu den sog. enterohämorrhagischen E. coli (EHEC) gezählt. Daneben können auch Shigella-dysenteriae-Serotyp 1 und verschiedene andere Escherichia-coli-Serotypen Auslöser eines HUS sein.
Den Keimen gemeinsam ist ihre Fähigkeit, eines oder mehrere strukturell verwandte Exotoxine zu produzieren. Die Toxine sind zytotoxisch, indem sie die Proteinsynthese in verschiedenen Zelltypen blockieren können. Nach Invasion und Zerstörung der Kolonepithelzellen gelangt das Toxin in den Kreislauf und führt zu einer Schädigung der Endothelzellen, v. a. im Bereich der Glomeruli. E. coli 0157 : H7 weist im Vergleich zu andern E. coli einige biochemische Besonderheiten auf, die den selektiven Nachweis erleichtern. Wegen der Tatsache, dass weit über 100 verschiedene Serotypen von EHEC beschrieben worden sind, und weil auch Shigellen ein HUS auslösen können, wird zunehmend versucht, das Toxin direkt nachzuweisen. Neben Testverfahren, die auf dem Einsatz spezifischer Antikörper beruhen, werden auch Amplifikationstests angeboten. Einfache, zuverlässige und sensitive Tests sind insbesondere auch für die Kontrolle von Nahrungsmitteln wichtig. Neben den erwähnten Bakterien können auch Virusinfekte, Medikamente wie östrogenhaltige Kontrazeptiva, Ciclosporin A, Mitomycin, Cyclopidin und Chinin ähnliche Erkrankungen hervorrufen.
Epidemiologie Das wichtigste Reservoir von E. coli 0157 : H7 ist Rindvieh. Für die Tiere ist der Keim offensichtlich nicht pathogen. Die meisten Erkrankungen im Rahmen von Ausbrüchen wurden mit dem Konsum von Rindfleisch assoziiert, daneben kann auch Milch, kontaminiertes Wasser, Apfelsaft etc. als Quelle dienen. Sporadische Fälle werden wahrscheinlich in gleicher Weise übertragen. Nach dem heutigen Wissensstand kann die Infektion vermieden werden, wenn Fleisch gut durchgebraten, auf unpasteurisierte Milch verzichtet und eine gute allgemeine Hygiene beachtet wird.
Pathogenese Die Pathogenese des hämolytisch-urämischen Syndroms wie auch der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura basiert auf einer toxininduzierten Endothelaktivierung mit Produktion eines pathologischen v.-Willebrand-Faktors, der als Multimer die Thrombozyten verklumpt und aktiviert. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die angeborene oder erworbene Hemmung
835 65.4 · Schwere Weichteilinfektionen
von ADAMTS3, einer Metalloprotease, die normalerweise die v.-Willebrand-Faktor-Multimere abbaut. Hierdurch kommt es zu einer reversiblen Obstruktion der Arteriolen und Kapillaren verschiedener Organe sowie zur Thrombozytopenie und zur intravasalen Hämolyse mit Erythrozytenfragmentation.
Klinik Im klassischen Fall tritt nach einer Inkubationszeit von 2–9 Tagen nach Aufnahme von EHEC blutiger Durchfall auf. Die Erkrankung ist etwas häufiger bei Kindern unter 5 Jahren und im hohen Alter. Dehydratation und Anämie als Folge der gastrointestinalen Blutung sind die Hauptkomplikationen in dieser Phase. Etwa 1 Woche nach Beginn der Durchfälle kann die Erkrankung in etwa 5% der Fälle zum hämolytisch-urämischen Syndrom führen. In dieser Phase können die Patienten Fieber, Blässe, Atemnot, Anurie oder Polyurie entwickeln. Bei den Laboruntersuchungen findet sich klassischer weise eine Anämie mit Fragmentozyten, Schistozyten, Sphärozyten (= Kugelzellen) und erhöhten Retikulozytenwerten. Das unkonjugierte Bilirubin und die Laktatdehydrogenase sind erhöht, das Haptoglobin erniedrigt. Der Coombs-Test ist typischer weise negativ. Die Thrombozytopenie dauert in der Regel 1–3 Wochen, wobei die Plättchen funktionell aktiviert sind. Die Thrombozytopenie ist selten so schwer, dass es zu Spontanblutungen kommt. Die Leukozytenzahl ist meist erhöht. Die Gerinnungsparameter sind nur leicht verändert mit leichter Erhöhung der Fibrinspaltprodukte. Die Prothrombinzeit ist normal, und es fehlen Zeichen einer disseminierten intravasalen Gerinnung. Die Retentionswerte der Niere steigen, die Patienten sind oft oligurisch, manchmal aber auch polyurisch. Meist liegt eine Proteinurie von 1–2 g/Tag vor. Als Ausdruck des Endothelschadens tritt oft ein Kapillarleck mit intravasaler Hypovolämie und Hypalbuminämie auf.
Diagnose Die Diagnose wird aufgrund der typischen klinischen und laborchemischen Konstellation gestellt. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die bakterielle Sepsis mit disseminierter intravasaler Gerinnung. Seltener können Malaria oder Leptospirose mit dem hämolytisch-urämischen Syndrom verwechselt werden. Beim mit Durchfall assoziierten hämolytisch-urämischen Syndrom müssen die Erregersuche und der Toxinnachweis im Stuhl durchgeführt werden. Die ADAMTS3-Aktivität und im Serum vorhandene Hemmstoffe (meist Antikörper) können in spezialisierten Labors gemessen werden.
Behandlung Bei der Behandlung stehen supportive Maßnahmen im Vordergrund: Die Hypovolämie muss korrigiert werden, bei progredienter Niereninsuffizienz wird intravenös Furosemid und Volumen zugeführt, evtl. muss ein Nierenersatzverfahren angewendet werden. Die Hypertonie ist in der Regel reninvermittelt und kann – bei normaler Nierenfunktion – durch ACE-Inhibitoren behandelt werden. Die Wirksamkeit einer Plasmapherese ist noch nicht gesichert, obwohl es sich pathophysiologisch um eine sinnvolle Behandlungsstrategie handelt. Auch beim durchfallassoziierten hämolytisch-urämischen Syndrom sind Antibiotika nicht indiziert.
Bedeutung zu. Einfache und billige Tests, die sämtliche potenziellen Erreger nachweisen können, stehen derzeit noch nicht zur Verfügung. Hygienische Maßnahmen wie Pasteurisieren der Milch und Milchprodukte sowie Kochen von Rindfleisch sowie eine gute allgemeine Hygiene sind die wichtigsten Möglichkeiten der Prävention. Ein Impfstoff, der zur Bildung von toxinneutralisierenden Antikörpern führt, steht derzeit noch nicht zur Verfügung. 65.4
Schwere Weichteilinfektionen
Schwere Weichteilinfektionen sind gekennzeichnet durch das Auftreten von ausgedehnten Nekrosen im Bereich des subkutanen Gewebes, der tiefen Faszie und des darunter liegenden Muskels. Oft sind die Veränderungen im Bereich der darüber liegenden Haut wenig ausgeprägt. In der Regel erfolgt die Behandlung durch den kombinierten Einsatz von Chirurgie, supportiver Therapie und von Antibiotika. Die rasche chirurgische Exploration mit Entfernung von befallenem nekrotischem Gewebe bringt oft erst die Diagnose und ist das wichtigste Prinzip in der Behandlung. Zur Klärung der Begriffe und der betroffenen anatomischen Strukturen ist das in . Tabelle 65.3 dargestellte Schema hilfreich. 65.4.1 Nekrotisierende Fasziitis Die nekrotisierende Fasziitis ist eine seltene, aber schwere Infektion des Subkutangewebes und der tiefen Faszie. Die Infektion kann überall im Bereich der Haut beginnen. Besonders wenn Streptokokken der Gruppe A beteiligt sind, kann es zu einem schweren toxischen Schocksyndrom mit hämodynamischer Instabilität, disseminierter intravasaler Gerinnung und Multiorganversagen kommen [3].
Erreger Verschiedene Erreger können zum klinischen Bild der nekrotisierenden Fasziitis führen. Dies sind einerseits Mischinfektionen mit einem oder mehreren der folgenden anaeroben Erreger: Peptostreptokokken, Peptococcus spp. und Bacteroides spp. Diese Erreger treten in Kombination mit einem oder mehreren der folgenden Organismen auf: Streptokokken, E. coli, Klebsiella, Sta-
. Tabelle 65.3. Schwere Weichteilinfektionen Anatomische Struktur
Typische Erkrankung
Typischer Erreger
Haut
Erysipel, Follikulitis, Impetigo
Gruppe-A-Streptokokken, Staphylococcus aureus
Subkutanes Gewebe
Phlegmone
Gruppe-AStreptokokken
Tiefe Faszie
Nekrotisierende Fasziitis
Gruppe-A-Streptokokken, grampositive und gramnegative sowie anaerobe Mischflora
Muskel
Gasbrand
Clostridium perfringens
Prävention Bei Epidemien von durchfallassoziiertem hämolytischem Syndrom kommt der Kontrolle von Nahrungsmitteln eine zentrale
65
836
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
phylococcus aureus oder Proteus spp. Gefürchtet und weltweit in Zunahme begriffen ist die nekrotisierende Fasziitis, ausgelöst durch Streptokokken der Gruppe A. Seltener kommen andere Streptokokken, Vibrio vulnificus und Aeromonas hydrophilia vor.
Epidemiologie Die meisten Fälle von nekrotisierender Fasziitis sind sporadisch. Im Falle der nekrotisierenden Fasziitis bei Streptokokken der Gruppe A ist eine nosokomiale und intrafamiliale Übertragung beobachtet worden. Möglicherweise ist die Zahl der Erkrankungen im Zusammenhang mit Streptokokken der Gruppe A im Zunehmen. Vermehrt werden auch durch Methicillin-resistente Staphylococcus aureus verursachte Fälle beobachtet.
Pathogenese Die molekulare Pathogenese der Erkrankung ist von Erreger zu Erreger unterschiedlich. Gemeinsam ist, dass nach einer Phase der bakteriellen Invasion eine rasche Ausbreitung der Infektion entlang der Faszie auftritt. In der Folge entwickeln sich ausgedehnte Gewebenekrosen, die mit einer Thrombosierung der Gefäße verknüpft sind. Sekundär kommt es zu Nekrosen im Bereich der darüber liegenden Haut, oft verbunden mit Blasenbildung. Bakterielle Virulenzfaktoren führen nicht nur zur Gewebezerstörung, sondern sie lösen auch systemische Reaktionen aus. So haben die Streptokokkenpyrogene Exotoxin A, B und C strukturelle und funktionelle Ähnlichkeiten mit dem Toxin des Staphylokokken-toxic-shock-Syndroms. In etwa 80% der Fälle kann eine Eintrittspforte im Bereich der Haut, wie z. B. ein geringes Trauma, eine Operationswunde oder bei Kindern eine Varizelleneffloreszenz ausgemacht werden. Nekrotisierende Fasziitiden kommen in allen Altersgruppen vor, bevorzugt jedoch bei Erwachsenen im mittleren und höheren Lebensalter.
Klinik
65
Die Erkrankung beginnt in der Regel mit starken Schmerzen, die oft ohne wesentliche Veränderungen an der Haut auftreten. Eine lokale Schwellung, Fieber und Schüttelfrost kommen hinzu. Während der Prozess in der Tiefe fortschreitet, treten an der Hautoberfläche Blaufärbung und Blasenbildung auf. In der Folge verschwinden die Schmerzen, es bleibt ein Taubheitsgefühl bestehen, verursacht durch die Zerstörung der Hautnerven. Ödem und Schwellung nehmen zu, und im Bereich der Haut treten ausgedehnte Nekrosen auf, z. T. mit Sekretbildung. Systemische Zeichen mit Bewusstseineintrübung, hämodynamischer Instabilität und Multiorganversagen können im Verlauf auftreten. Aufgrund des klinischen Bilds kann die Diagnose vermutet werden. Die Diagnosestellung erfolgt durch den Chirurgen, der bei Eröffnung der erkrankten Region eine ausgedehnte Gewebenekrose im Bereich der tiefen Muskelfaszie vorfindet; nicht selten ist auch der Muskel unterhalb der Faszie mitbetroffen.
Diagnose Die mikrobiologische Diagnose wird durch das Gram-Präparat und die Kultur des Faszienabstrichs gestellt. Oft sind auch die Blutkulturen positiv. Die Diagnose, nekrotisierende Fasziitis, und die Ausdehnung des Prozesses wird aufgrund der chirurgischen Exploration festgestellt. Die histologische Untersuchung des entnommenen Materials bestätigt in der Regel den makropathologischen Befund.
Behandlung Eine rasche chirurgische Intervention zur Sicherung der Diagnose, zur Entfernung des befallenen Gewebes und zur Drainage ist von zentraler Bedeutung. In der Regel wird die Wunde offengelassen; weitere Nekrosen müssen im Verlauf oft mehrmals chirurgisch entfernt werden. Die Antibiotikabehandlung sollte sich nach dem Ergebnis von Gram-Färbung und Kultur richten. Bei unbekanntem Erreger oder Mischinfekt mit anaeroben und gramnegativen Keimen wird Clindamycin in Kombination mit einem Aminoglykosid und einem E-Laktamantibiotikum mit Antipseudomonasaktivität empfohlen. In Regionen mit hohem Anteil an Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus sollte zusätzlich Vancomycin verabreicht werden. Als Alternative kann ein Carbapenem, allein oder in Kombination mit einem Aminoglykosid, eingesetzt werden. Für Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A wird Clindamycin in Kombination mit hochdosiertem Penicillin G (20–24 Mio. IE/ Tag verteilt in 6 Dosen) empfohlen. Neuere Resultate bei Streptokokken der Gruppe A deuten darauf hin, dass zusätzlich verabreichtes intravenöses Immunglobulin in einer Dosierung von 150 mg/kg KG/Tag für 5 Tage nützlich ist. Die Mortalität der nekrotisierenden Fasziitis liegt bei 20–80%, wobei folgende Faktoren mit einer hohen Mortalität verbunden sind: 4 Organversagen bei Aufnahme, 4 Alter >50 Jahre, 4 vorbestehender Diabetes mellitus, 4 inkomplette chirurgische Behandlung.
Prävention Patienten mit nekrotisierender Fasziitis, verursacht durch Streptokokken der Gruppe A, sollten vorsichtshalber in den ersten Tagen isoliert werden. 65.4.2 Gasbrand Die Krankheit ist charakterisiert durch eine rasche bakterielle Invasion und Destruktion von Muskelgewebe. Die Erkrankung verläuft fulminant, ist lebensbedrohlich und eine frühe Diagnose und chirurgische Intervention sind absolut notwendig [8].
Erreger Clostridium perfringens ist der häufigste Erreger des Gasbrands; Clostridium septicum und Clostridium novyi spielen in ca. 10% der Fälle eine Rolle. Die nekrotisierende Fasziitis kann ebenfalls durch die tiefe Faszie hindurch zur ausgedehnten Muskeldestruktion führen; dann sind die dort erwähnten Erreger verantwortlich.
Epidemiologie Clostridiensporen können ubiquitär aus der Erde isoliert werden. Die meisten Fälle werden sporadisch nach Trauma (Verkehrsunfälle, Kriegsverletzungen) beobachtet. Die in der postoperativen Phase auftretenden Gasbrandinfektionen sind in der Regel endogene Infektionen und nur ausnahmsweise nosokomial erworben.
Pathogenese Eine kleine Zone devitalisierten Muskels genügt, um in die Tiefe eingebrachten Clostridium-perfringens-Sporen eine rasche Vermehrung und Zerstörung des umliegenden Muskelgewebes zu ermöglichen. Die beiden Exotoxine D und - führen zur raschen
837 65.5 · Tetanus
65
Destruktion des Gewebes. Gelangen diese Exotoxine in den Kreislauf, kommt es zur Hämolyse, Neutrophilen- und Plättchendestruktion sowie zu einem systemischen Kapillarschaden. Clostridien produzieren eine Lecithinase, die neutrophile Granulozyten zerstört. Dieses Phänomen erklärt, weshalb im Gram-Präparat typischerweise keine neutrophilen Granulozyten gesehen werden können. Bei Infektionen mit Clostridium septicum handelt es sich häufig um endogene Infektionen. In vielen Fällen findet man bei diesen Patienten eine Neoplasie im Kolonbereich [12].
obwohl bisher keine gesicherten Daten aus kontrollierten prospektiven Studien verfügbar sind.
Klinik
65.5
Bei Auftreten einer Weichteilinfektion mit überproportional starken Schmerzen und einem Hautemphysem muss an eine Gasbrandinfektion gedacht werden. Die Infektion kommt in den in der Übersicht gelisteten Situationen vor. Erkrankungen, die zu einer Gasbrandinfektion prädisponieren können 5 5 5 5 5 5
Gewebetrauma (z. B. Verkehrsunfall, Kriegsverletzung) Postoperativ nach Darm- oder Gallenwegschirurgie Kolorektale Tumoren Arterielle Durchblutungsstörungen einer Extremität Septischer Abort Selten nach Verbrennungen und intramuskulären Injektionen
Nach einer Inkubationszeit von 6 h bis 3 Tagen treten, rasch zunehmend, lokale Schmerzen auf. Die Haut wird ödematös und erhält einen kupfernen Farbton. Innerhalb von Stunden treten systemische Zeichen mit Verwirrtheit, Tachykardie, Tachypnoe, Schwitzen, Blässe und Hypotonie auf. Später folgen Nierenversagen, septischer Schock, intravasale Hämolyse und disseminierte intravasale Gerinnung. Blutkulturen sind in 10–15% der Fälle positiv. Im Bereich der Wunde bildet sich ein wässriges, süßlich riechendes Wundsekret mit Gasbläschen. Innerhalb von Stunden breiten sich die Veränderungen über die noch gesunden Hautmuskelbezirke aus.
Diagnose Wie im Falle der nekrotisierenden Fasziitis wird die Verdachtsdiagnose klinisch gestellt und chirurgisch durch den Nachweis der Muskelnekrosen gesichert. Eine Gram-Färbung des Wundsekrets oder eines Aspirats aus der Tiefe zeigt plumpe grampositive Stäbchen, typischerweise ohne neutrophile Granulozyten. Radiologisch kann Gas in den Weichteilen nachgewiesen werden. Die Intensivbehandlung umfasst Volumenersatz zur Schockbehandlung, O2-Gabe, Azidosekorrektur und Korrektur von Elektrolytstörungen. In der Phase der akuten Hämolyse sollte Blut mit Zurückhaltung ersetzt werden.
Behandlung Nebst der chirurgischen Behandlung ist Penicillin G in einer Dosis von 20–30 Mio. IE/Tag in 6–8 Dosen ist die Therapie der Wahl. Auf Grund theoretischer Argumente und tierexperimentellen Daten wird die Zugabe von Clindamycin empfohlen. Als Alternative kann Metronidazol 4-mal 500 mg/Tag verabreicht werden. Bei Verdacht auf eine Mischinfektion oder eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe A gelten die Behandlungsvorschläge wie für die nekrotisierende Fasziitis. Die hyperbare O2Behandlung sollte dort, wo sie möglich ist, eingesetzt werden,
Prävention Eine gute chirurgische Technik, insbesondere bei der Versorgung kontaminierter Wunden (die nie primär verschlossen werden sollten), stellt die wichtigste Präventionsmöglichkeit des Gasbrands dar.
Tetanus
Tetanus ist eine Toxinerkrankung, die durch Clostridium tetani verursacht wird und klinisch typischerweise durch die folgenden Symptome charakterisiert ist: 4 Trismus, 4 Muskelspasmen, 4 Dysphagie. Da die Krankheit in der Regel generalisiert und mit verschiedensten Komplikationen auftritt, ist eine Verlegung auf die Intensivstation schon im Verdachtsfall erforderlich [16].
Erreger Clostridium tetani ist obligat anaerob und grampositiv. Die reifen Keime entwickeln an einem Ende eine Spore, die ihnen das Aussehen eines Squashschlägers gibt. Die Sporen sind gegen physikalische und chemische Einflüsse enorm stabil. Im Gegensatz zu Clostridium perfringens ist Clostridium tetani nicht lokal invasiv und erzeugt auch keine Entzündungsreaktion.
Epidemiologie Clostridium tetani ist ein ubiquitärer Umweltkeim und muss in jeder schmutzigen Wunde vermutet werden. Die schlechten hygienischen Verhältnisse und das Fehlen eines universellen Impfschutzes erklärt es, weshalb die Krankheit v. a. in Entwicklungsländern vorkommt. In diesen Ländern tritt ein großer Teil der Fälle bei Neugeborenen auf. In den industrialisierten Nationen wird die Krankheit häufig bei älteren Patienten beobachtet, wahrscheinlich aufgrund des mit dem Alter schwindenden Impfschutzes.
Pathogenese Tetanustoxin (Tetanospasmin) ist ein neurotoxisches Toxin, das von der kontaminierten Wunde über den retrograden axonalen Transport ins ZNS gelangt. Das Toxin führt dort zu einer irreversiblen präsynaptischen Unterdrückung der Neurotransmittersekretion, v. a. im Bereich von inhibitorischen Interneuronen im Hirnstamm. Insgesamt resultieren ein Wegfall der Motoneuroneninhibition und ein hypersympathischer Zustand.
Klinik Klinisch werden 3 Typen von Tetanus unterschieden: 4 Lokalisierter Tetanus: Beim lokalisierten Tetanus finden sich Muskelkontrakturen im Bereich der Eintrittspforte. In diesem Stadium kann sich die Krankheit zurückbilden, v. a. wenn eine partielle Antitoxinimmunität vorhanden ist. Der lokalisierte Tetanus kann andererseits auch in die generalisierte Form übergehen. 4 Zephalitischer Tetanus: Der zephalitische Tetanus ist eine spezielle Form des lokalisierten Tetanus, der den Hirnnervenbereich betrifft.
838
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
4 Generalisierter Tetanus: 4 Beim generalisierten Tetanus wird oft zuerst ein Trismus und Risus sardonicus beobachtet. Die Patienten zeigen oft Kontrakturen im Bereich der Bauchmuskeln, die zur Fehldiagnose eines akuten Abdomens führen können. Kontrakturen der Nackenmuskulatur werden oft fälschlicherweise als Ausdruck einer Meningitis interpretiert. Generalisieren die Krämpfe im Verlauf, so kann ein Opistotonus entstehen, der in der Regel auch mit einer normalen Atmung interferiert (»Wundstarrkrampf«). 4 Als Ausdruck der autonomen Dysfunktion treten Hypotonie oder Hypertonie, Störungen des Wärmehaushalts sowie Herzrhythmusstörungen auf. Klassischerweise ist das Bewusstsein des Patienten nicht gestört. Die Spasmen sind sehr schmerzhaft und werden durch sensorische Stimulation ausgelöst.
Diagnose Die Diagnose wird aufgrund der typischen klinischen Zeichen gestellt. Elektrophysiologische Untersuchungen können bei unklaren Fällen die Diagnose erhärten. Clostridium tetani kann nur selten aus dem Wundgebiet isoliert werden, und der kulturelle Nachweis beweist noch nicht, dass der isolierte Erreger auch ein Toxinproduzent ist.
Die Patienten müssen früh enteral ernährt werden. Trotz adäquater Therapie beträgt die Mortalität je nach Schweregrad um 10–15%, in schweren Fällen sogar bis zu 60%. Haupttodesursache sind nosokomiale Infektionen und Herzversagen.
Prävention Die Tetanusgrundimpfung besteht aus 2 intramuskulären Dosen, die im Abstand von mindestens 4 Wochen verabreicht werden müssen, kombiniert mit einer 3. Dosis 6–12 Monate danach. Auffrischungsimpfungen werden alle 10 Jahre empfohlen. Die folgenden Wunden sind tetanusverdächtig: 4 mehr als 6 h alt, 4 mehr als 1 cm tief, 4 devitales Gewebe und Kontamination mit Schmutz, Speichel oder Stuhl, 4 Schusswunden, Quetschungen, Verbrennungen und Erfrierungen. Bei Vorliegen einer tetanusverdächtigen Wunde sollte eine aktive Immunisierung erfolgen, falls keine Grundimmunisierung durchgeführt wurde oder die letzte Auffrischimpfung mehr als 5 Jahre zurückliegt. Fehlt ein aktiver Impfschutz, sollte zusätzlich Tetanusimmunglobulin verabreicht werden. 65.6
Die Strychninvergiftung ist die wichtigste Differenzialdiagnose, die durch entsprechende toxikologische Untersuchungen ausgeschlossen werden muss. Seltener wird eine akute Meningitis oder eine Tollwut mit Tetanus verwechselt. In der Regel haben Patienten mit Starrkrampf keine Antikörper gegen Tetanustoxin.
65
Tollwut
Tollwut ist eine virale Enzephalomyelitis, die in Europa fast ausschließlich von infizierten Hunden und Füchsen auf den Menschen übertragen wird. Es handelt sich um eine Krankheit, die, einmal ausgebrochen, trotz modernster Intensivbehandlung in praktisch 100% der Fälle zum Tode führt. Aus diesem Grund ist die Prävention von höchster Bedeutung [5].
Behandlung
Erreger
Patienten, bei denen ein Tetanus vermutet wird, sollten auf die Intensivstation verlegt werden. Das Hauptaugenmerk muss auf eine Sicherung der Atemwege und einen ausreichenden pulmonalen Gasaustausch gelegt werden. Zur Intubation müssen die Patienten oft relaxiert werden; in der Regel wird dann auch frühzeitig eine Tracheotomie durchgeführt. Benzodiazepine in hoher Dosierung sind notwendig, um die wiederkehrenden Muskelspasmen zu unterdrücken. In schweren Fällen muss auch die neuromuskuläre Übertragung blockiert werden; hierfür werden nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien eingesetzt. Die meisten Autoren empfehlen die rasche intramuskuläre Verabreichung von humanem Tetanusimmunglobulin. Eine Dosis von 500 IE sollte genügen, bis 10-mal höhere Dosen scheinen ebensowenig einen Vorteil aufzuweisen wie deren intrathekale Anwendung. Gleichzeitig mit der passiven Impfung sollte auch eine aktive Impfung begonnen werden. Wie weit Antibiotika bei der Behandlung eine Rolle spielen, ist nicht klar. Clostridium tetani ist in vitro empfindlich gegenüber verschiedenen Antibiotika, wobei in der Regel Metronidazol oder Penicillin G eingesetzt werden. Die autonome Dysfunktion mit erhöhten Katecholaminspiegeln kann durch eine kombinierte D- und E-Blockerbehandlung behandelt werden. Magnesiumsulfat, das einen festen Platz in der Behandlung der Eklampsie hat, hatte in einer großen vietnamesischen Studie einen signifikanten Effekt auf Muskelspasmen und autonome Dysfunktion [15].
Das klassische Tollwutvirus infiziert verschiedene Säugetiere, wobei in Europa v. a. der Hund und der Fuchs, selten auch Fledermäuse, für die Übertragung auf den Menschen verantwortlich sind.
Epidemiologie Weltweit sterben pro Jahr zwischen 30.000 und 70.000 Menschen an der Tollwut, wobei die meisten Fälle in Indien und China vorkommen. Die in europäischen Ländern beobachteten Fälle sind meistens aus Endemiegebieten importiert. Impfkampagnen für Hunde und Füchse in verschiedenen europäischen Ländern haben dazu geführt, dass die Erkrankung in Europa selbst selten übertragen wird. 2004 wurde die Übertragung an4 Patienten durch die Organtransplantation dokumentiert. Der Organspender war an einer Enzepahlitis unklarer Ätiologie gestorben.
Pathogenese Der Mensch wird durch den Biss eines tollwütigen Tieres infiziert, und das Virus gelangt in periphere Nervenendigungen. Während der Inkubationszeit kommt es zur lokalen Virusreplikation. In dieser Phase kann die Krankheit durch eine Immunisierung noch verhindert werden. Mit dem retrograden axonalen Fluss gelangt das Virus mit einer Geschwindigkeit von 10–20 mm/Tag in das zentrale Nervensystem und verursacht dort eine progressive Enzephalitis. In der Folge breitet sich das Virus über die peripheren Nerven erneut im Körper aus, insbesondere in die Speicheldrü-
839 65.7 · Diphtherie
sen. Bei Hunden wird das Virus schon vor dem Auftreten von Symptomen im Speichel ausgeschieden. Diese präsymptomatische Virusausscheidung kann in der Regel nicht mehr als 7 Tage vor Krankheitsausbruch nachgewiesen werden.
65
Behandlung
Tagen mit Müdigkeit, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und Fieber treten die ersten neurologischen Symptome auf. Ein Teil der Patienten klagt über Schmerzen und Parästhesien im Bereich der Wunde.
Es gibt keine wirksame Behandlung der Tollwut. Eine amerikanische Expertengruppe empfiehlt für Erkrankte folgendes Protokoll: aktive und passive Tollwutimpfung, intravenöses oder intraventrikuläres Ribavirin sowie intravenöses oder intraventrikuläres Interferon D. Die einzige Person, die eine symptomatische Tollwut überlebt hat, wurde mit neuroprotektiven Maßnahmen, Ribavirin i.v. und Amantadin p.o. behandelt [17]. Die Postexpositionsprophylaxe muss so früh wie möglich erfolgen. Die Entscheidung, ob diese bei der Art von Exposition indiziert ist, hängt von der lokalen Epidemiologie ab. Ist eine Tollwutexposition möglich, muss sofort eine kombinierte postexpositionelle aktive und passive Impfung gemäß Angaben der Impfstoffhersteller durchgeführt werden. Das Antitollwutimmunglobulin wird teils periläsionell im Bereich der Wunde infiltriert, teils intramuskulär injiziert.
Exzitationsstadium. Im Exzitationsstadium treten Hyperaktivi-
Prävention
tät, Verwirrtheit, Halluzinationen und Anfälle mit Agitiertheit auf. Als Ausdruck einer Störung des autonomen Nervensystems beobachtet man Hyperthermie, Tachykardie, Blutdruckschwankungen und Hypersalivation. Die beiden klassischen Zeichen der Hydrophobie (Auftreten von schweren lokalen Spasmen beim Versuch, Wasser zu trinken, kombiniert mit Angst) und Aerophobie (Überempfindlichkeit gegen leichteste Luftzüge) treten ebenfalls in dieser Phase der Erkrankung auf und sind pathognomonisch für die Diagnose.
Verschiedene inaktivierte Tollwutimpfstoffe stehen zur aktiven Immunisierung zur Verfügung. Die Impfung sollte bei Personen mit erhöhtem Expositionsrisiko wie z. B. Laborpersonal, Tierärzte, Wildhüter und Jäger in Endemiegebieten etc. durchgeführt werden. Die Impfung kann auch für Personen, die mehrere Monate im Ausland in ein Endemiegebiet reisen, empfohlen werden. Nach einer tollwutverdächtigen Exposition wird auch bei Geimpften eine postexpositionelle aktive Immunisierung empfohlen.
Paralytische Phase. Die Exzitationsphase wird von der paraly-
65.7
Klinik Die Inkubationszeit der Tollwut ist, in Abhängigkeit von der Lokalisation der Wunde, unterschiedlich und beträgt zwischen 3 Wochen und 3 Monaten. In seltenen Fällen kann die Inkubationszeit auch 1 oder mehrere Jahre dauern. Prodromalstadium. Nach einem Prodromalstadium von 2–10
tischen Phase abgelöst, bei der die Patienten zunehmende Lähmungen entwickeln, gefolgt von einem progredienten Koma. Die Krankheit führt praktisch immer in 1–2 Wochen zum Tod. Die folgenden Komplikationen sind beschrieben: Störungen der ADH-Sekretion, kardiovaskuläre Komplikationen wie Hypertonie, Hypotonie, Herzrhythmusstörungen, Atemdepression sowie nosokomiale Infektionen.
Diagnose Vor Auftreten der typischen klinischen Zeichen ist die Diagnose einer Tollwutinfektion praktisch unmöglich. Das Virus kann mittels Immunfluoreszenz aus Haut- oder Nervengewebebiopsien oder mittels RT/PCR im Speichel nachgewiesen werden. Andere Verfahren wie Liquoruntersuchungen, die oft eine mononukleäre Pleozytose zeigen, oder die Magnetresonanzuntersuchung des Gehirns oder das Elektroenzephalogramm zeigen keine krankheitsspezifischen Veränderungen. Andere z. T. behandelbare Erkrankungen müssen vor der Diagnose einer Tollwut ausgeschlossen werden:
Diphtherie
Die Diphtherie ist in den meisten europäischen Ländern eine Seltenheit geworden. Importierte Fälle aus Ländern der dritten Welt und aus Russland, die sekundäre Infektionen auslösen können, werden auch in europäischen Krankenhäusern beobachtet. Wegen der gefürchteten Komplikationen wie Verlegung der Atemwege, Myokarditis und Herzversagen sowie Neuropathie müssen mittelschwere und schwere Fälle auf der Intensivstation unter Beachtung notwendiger Isolationsmaßnahmen betreut werden [6].
Erreger Corynebacterium diphtheriae ist ein grampositives Stäbchen, das ausschließlich den Menschen infiziert. Der Keim wächst auf Selektivmedien, die Kaliumtellurit enthalten. i Das Labor muss auf den Verdacht aufmerksam gemacht werden, damit entsprechende Medien eingesetzt werden.
Die Diphtherie selbst wird durch ein Exotoxin ausgelöst, das mit immunologischen oder molekularbiologischen Methoden nachgewiesen werden kann. Die Mehrzahl der in Europa isolierten Corynebacterium-diphtheriae-Stämme produzieren kein Toxin.
Differenzialdiagnosen der Tollwut 5 Virale Enzephalomyelitis, z. B. die behandelbare Herpessimplex-Virus-Enzephalitis: Hier können typische EEGund CT-Befunde sowie der Nachweis von Herpes-simplex-Virus-DNA im Liquor zur richtigen Diagnose führen. 5 Tetanus: Bewusstseinszustand und Liquorbefund sind normal, die Hydrophobie fehlt. 5 Vergiftungen mit atropinartigen Substanzen können klinisch das Exzitationsstadium einer Tollwut nachahmen.
Epidemiologie Die Übertragung erfolgt in der Regel von Mensch zu Mensch als Tröpfcheninfektion oder als Schmierinfektion von infizierten Hautläsionen. In verschiedenen Ländern der Dritten Welt ist die Diphtherie endemisch. Gesunde Träger können den Keim im Respirationstrakt oder auf Hautläsionen mit sich tragen und andere Personen infizieren. Ein vorhandener Diphtherietoxinimpfschutz beeinflusst den Schweregrad der Krankheit, verhindert aber das Trägertum nicht.
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Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
Pathogenese Die Virulenz von Corynebacterium diphtheriae beruht auf der Wirkung des Exotoxins, das die Proteinsynthese der Wirtszellen in kleinsten Dosen inhibiert. Obwohl im Prinzip alle Zelltypen sensibel sind, werden v. a. Herzmuskelzellen, Nervenzellen und Tubulusepithelzellen der Niere betroffen.
Klinik In den Atemwegen kommen Infektionen im Bereich der Tonsillen, des Pharynx, des Larynx und im Tracheobronchialbaum vor. Typisch ist die Bildung schmutzig-grauer Membranen mit darunter liegendem Ödem und Mukosanekrosen. In der Folge treten Atemnot, Heiserkeit, Stridor und Husten auf. Schleimhautödem und Membranen können zur akuten Atemwegsobstruktion führen, die eine notfallmäßige Intubation erfordert. Systemische Komplikationen treten v. a. am Herzen und am Nervensystem auf [2]. Etwa 25% der Patienten entwickeln klinisch relevante kardiale Funktionsstörungen, die 1–2 Wochen nach Krankheitsbeginn auftreten. Die toxinvermittelte Myokarditis kann zur Herzinsuffizienz führen, aber auch zu Erregungsleitungsstörungen, die gelegentlich auch nach Ausheilen der akuten Diphtherie fortbestehen. Die Toxinwirkung im Bereich des Nervensystems führt in der Frühphase der Erkrankung zur Lähmung des Gaumensegels und der Muskulatur im Pharynxbereich mit entsprechenden Schluckstörungen sowie im weiteren Verlauf zu Hirnnervenausfällen bis hin zur ausgedehnten generalisierten Nervenschädigung. Bei der Hautdiphtherie treten nur selten Zeichen einer systemischen Toxinwirkung auf. Klinisch handelt es sich um belegte, chronische, nichtheilende Hautulzera, die häufig auch mit anderen Keimen besiedelt sind.
Diagnose i Bei Patienten mit membranöser Tonsillitis oder Pharyngitis, die aus einem Land der Dritten Welt stammen oder kürzlich heimgekehrt sind, sollte an die Möglichkeit einer Diphtherie gedacht werden.
65
Oft treten in der Folge Heiserkeit, Stridor und eine Gaumensegellähmung auf. In dieser Situation sollte ein Abstrich mit der Frage nach Corynebacterium diphtheriae entnommen werden.
Behandlung Bei Verdacht auf Diphtherie müssen Patienten hospitalisiert und isoliert werden. Eine elektrokardiographische Überwachung ist zwingend notwendig. Die Behandlung besteht aus der Verabreichung von humanem Antidiphtherieimmunglobulin, dosiert nach Angaben des Herstellers. Mit dem Ziel, die Toxinproduktion zu unterbinden und die Weiterverbreitung des Keims zu verhindern, wird eine Behandlung mit Penicillin G oder Erythromycin durchgeführt. Die Dosierung ist wie folgt: 4 Penicillin G: 1,2–4 Mio. IE/Tag oder 4 Erythromycin: 4-mal 500 mg/Tag. Beide Antibiotika werden parenteral verabreicht, bis der Patient wieder normal schlucken kann. Die empfohlene Dauer der Behandlung beträgt 14 Tage. Zur Sicherung der Atemwege ist oft eine Intubation notwendig. Bei Erregungsleitungsstörungen
muss gelegentlich vorübergehend ein Schrittmacher eingesetzt werden. Kontaktpersonen werden unabhängig vom Impfstatus für 7–10 Tage mit oralem Erythromycin behandelt.
Prävention In den meisten europäischen Ländern wird bei Erwachsenen systematisch, mit der Auffrischimpfung gegen Tetanus, auch die Diphtherieimpfung durchgeführt. Eine Auffrischimpfung gegen Diphtherie ist alle 10 Jahre indiziert. 65.8
Anthrax
Der Einsatz von Bacillus-anthracis-Sporen als bioterroristische Waffe ist nicht unwahrscheinlich. Mindestens 13 Länder haben oder hatten entsprechende Produktionsprogramme. Der Laborunfall in Sverdlovsk im Jahr 1979 führte der Welt die mögliche Zerstörungskraft dieses Keimes ebenso vor Augen wie dessen terroristischer Einsatz in den USA im Jahr 2001. Die durch Inhalation von Bacillus-anthracis-Sporen ausgelöste Infektion des Respirationstrakts muss vom Intensivmediziner erkannt und korrekt behandelt werden.
Erreger Bacillus anthracis ist ein aerober, grampositiver, sporenbildender Keim, der in Kultur wie ein Bambusstab konfiguriert auf den herkömmlichen Labormedien wächst. Die Sporen, die unter bestimmten Unweltbedingungen gebildet werden, sind enorm resistent und können im Boden Jahrzehnte infektiös bleiben.
Epidemiologie Da unser Tierbestand frei von Anthrax ist, treten sporadische Fälle selten auf und dies meist in Zusammenhang mit Reisen in Endemiegebiete oder nach beruflichem Kontakt; letzteres z. B. in der Fellverarbeitung nach Kontakt mit kontaminierten Tiermaterialien.
Pathogenese Die Infektion erfolgt entweder kutan, gastrointestinal oder durch Inhalation von kontaminiertem Material. Im bioterroristischen Einsatz muss v. a. mit Inhalationsanthraxfällen gerechnet werden, die eine Lethalität von bis 90% aufweisen. Für den Intensivmedizinier relevant ist v. a. der Inhalationsanthrax, der nach Inhalation von Sporen auftritt. Nach der Phagozytose durch Alveolarmakrophagen wird ein Teil der Erreger intrazellulär abgebaut, ein Teil der Sporen wird jedoch in Lymphknoten nach einer unterschiedlichen Latenzzeit in vegetative, virulente Keime umgewandelt. i Wichtig ist, dass dieser Mechanismus zu einer sehr unterschiedlichen Inkubationszeit führen kann, die in Sverdlovsk 2–43 Tage andauerte.
Dank verschiedenen Virulenzfaktoren des Keimes (letaler Faktor und Ödemfaktor) verläuft die Krankheit – einmal ausgebrochen – sehr rasch und oft letal.
Klinisches Bild Eine mediastinale hämorrhagische Lymphadenitis mit Erweiterung des Mediastinums ist für die erste Phase der Erkrankung typisch und nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, eine
841 65.9 · Schwere Malaria
Pneumonie. Die mediastinale Lymphadenitis kann als Ausdruck der Infektionsausbreitung eine Meningitis, eine Pneumonie und eine systemische Infektion mit Multiorganversagen verursachen.
65
i Eine schwere Malaria kann durch Infektion mit Plasmodium falciparum ausgelöst werden und zu einer Reihe von Komplikationen führen, die eine Intensivbehandlung erfordern und eine Letalität von 10–50% aufweisen.
Diagnose Nebst nachrichtendienstlicher Informationen und epidemiologischer Hinweise muss bei Auftreten einer hoch fieberhaften Erkrankung mit Mediastinalerweiterung an Inhalationsanthrax gedacht werden. Oft ist die Gram-Färbung des Blutausstrichs mit Vorhandensein von grampositiven Bazillen, bestätigt durch Blut- oder Sputumkultur, diagnostisch.
Therapie Der rasche Beginn einer korrekten Antibiotikabehandlung ist wichtig und soll bei Verdacht nach Ansetzten von Blutkulturen begonnen werden. ! Cave Bacillus anthracis ist resistent gegen Breitspektrumcephalosporine, die oft bei Verdacht auf systemische bakterielle Infektionen eingesetzt werden.
Es liegen bisher keine klinischen kontrollierten Studien über die Behandlung von Inhalationsanthrax beim Menschen vor, die beste Behandlung ist deshalb unbekannt. Penicillin G, Doxycyclin, Ciprofloxacin, Clindamycin, Rifampicin, Imipenem, Aminoglykoside, Chloramphenicol, Vancomycin, Linezolid sind in vitro aktiv. Rekombinante Anthraxstämme mit Resistenz gegen Tetrazykline und Penicilline sind beschrieben worden. In der Regel soll mit 2 oder 3 Antibiotika behandelt werden. Die Personen, die beim bioterroristischen Angriff von 2001 an Antrax erkrankten und überlebten, wurden mit einer der folgenden Kombination behandelt: 4 Ciprofloxacin, Rifampicin und Vancomycin oder 4 Ciprofloxacin, Rifampicin und Clindamycin. Liegt eine Meningitis vor, sind liquorgängige Antibiotika – wie Penicillin G, Rifampicin oder Chloramphenicol – einzusetzen. Da Sporen längere Zeit persistieren können, sollte nach abgeschlossener Behandlung der Akutphase eine orale, der Resistenz des Isolats entsprechende Behandlung für insgesamt 60 Tage durchgeführt werden.
Prävention Die US-Armee besitzt seit 1970 einen inaktivierten, zellfreien Impfstoff, der mittlerweile gut untersucht ist und zusammen mit Antibiotika einen guten Impfschutz erzeugt. Die russische Armee hat ebenfalls einen Impfstoff entwickelt, wobei wenige Informationen verfügbar sind. An neuen Entwicklungen wird gearbeitet. Als Postexpositionsprophylaxe wird Ciprofloxacin in einer Dosierung von 2-mal täglich 500 mg per os für 60 Tage empfohlen. Als Alternativen kommen Amoxicillin und Doxycyclin infrage. 65.9
Schwere Malaria
Infekte mit Plasmodium vivax, ovale und malariae verlaufen auch für Touristen praktisch nie tödlich und können in der Regel ambulant behandelt werden.
An eine Malaria muss bei jedem Patienten mit Fieber gedacht werden, der von einer Tropenreise zurückkehrt [10].
Erreger Plasmodium-falciparum-Sporozoiten infizieren primär Hepatozyten, in denen sie zu Schizonten werden. Nach 1–2 Wochen platzen die infizierten Hepatozyten und Merozoiten werden in die Blutbahn freigesetzt. In der Phase der Parasitämie treten die typischen klinischen Symptome auf. Im Gegensatz zu Plasmodium vivax und Plasmodium ovale persistiert Plasmodium falciparum nicht in der Leber. Die freigesetzten Merozoiten infizieren die Erythrozyten, reifen zu Schizonten aus und setzen nach Ruptur des Erythrozyten erneut Merozoiten frei. Die Inkubationszeit bei Plasmodium falciparum beträgt normalerweise etwa 2 Wochen. Bei einer unvollständig aktiven Chemoprophylaxe kann die Inkubationszeit bis mehrere Wochen betragen.
Epidemiologie Plasmodium falciparum ist der häufigste Erreger einer Malaria in Afrika, Haiti, in verschiedenen Ländern Südamerikas, in Südostasien und in Neuguinea, während Plasmodium vivax häufiger auf dem indischen Subkontinent auftritt. Einwohner von Malariaendemiegebieten werden oft erstmals als Kinder infiziert, wobei Infektionen bei Kindern unter 5 Jahren besonders schwer verlaufen. Der wiederholte Kontakt mit dem Parasiten führt zu einer partiellen Immunität, die einige Jahre nach Verlassen des Endemiegebiets wieder verschwinden kann. Neben der Übertragung durch Anophelesmücken kann die Krankheit selten durch Bluttransfusionen, kontaminierte Kanülen, Organtransplantation und transplazentar übertragen werden. In Europa werden die meisten Fälle bei Tropenrückkehrern und Ausländern aus Endemiegebieten beobachtet.
Pathogenese Bei der Ruptur der Schizonten werden vom Parasiten Stoffe freigesetzt, die zur Makrophagenstimulation und der Freisetzung von Interleukin 1, Tumornekrosefaktor-D und anderen proinflammatorischen Zytokinen führen. Parasitenhaltige Erythrozyten adhärieren zudem im Bereich der Venolen verschiedener Organe, insbesondere des Gehirns, der Nieren, des Darms, der Plazenta, des Skelettmuskels und der Leber. Folge davon sind Ischämie, Hypoxie und anaerobe Glykolyse, verbunden mit einer erhöhten Laktatproduktion.
Klinik Eine schwere bzw. komplizierte Malaria besteht bei Vorhandensein von mindestens einem der in . Tabelle 65.4 aufgelisteten Kriterien. Patienten mit schwerer Malaria werden so rasch wie möglich auf eine Intensivstation aufgenommen und mit Chinin behandelt. ZNS. Die klinischen Zeichen einer zerebralen Malaria sind Bewusstseinsstörungen, generalisierte Krämpfe und Augenmotilitätsstörungen. Das Auftreten einer Dezerebrierungsstarre
und Retinablutungen sind Ausdruck einer schlechten Prognose.
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Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
. Tabelle 65.4. Kriterien für eine schwere (= komplizierte) Malaria. Definitionsgemäß genügt ein Kriterium Klinische Kriterien:
Laborparameter:
4 Krämpfe, Somnolenz, Koma (zerebrale Beteiligung) 4 Arterielle Hypotonie, (Blutdruck systolisch <80 mmHg), septischer Schock 4 Ikterus 4 Lungenödem 4 Manifeste Blutung 4 Fieber >40°C 4 Extreme Schwäche 4 4 4 4 4 4 4 4
Parasitämie >4% Disseminierte intravasale Gerinnung Hämoglobinurie (intravasale Hämolyse) Blutglukose <2,8 mmol/l (<50 mg/dl) Kreatinin >260 μmol/l (>3 mg/dl) Hämoglobin <10 g/dl Bilirubin >50 μmol/l (>3 mg/dl) arterieller pH-Wert <7,2
Überlebende können nach einigen Tagen aus dem Koma erwachen und haben nur selten neurologische Folgeschäden. Ein schwerer Verlauf ist v. a. bei kleinen Kindern, schwangeren Frauen, älteren Patienten und Immunsupprimierten inklusive bei Asplenie zu erwarten. Bei Vorhandensein von zerebralen Symptomen müssen unbedingt andere Ursachen wie virale oder bakterielle Meningoenzephalitiden ausgeschlossen werden. ! Cave Eine Hypoglykämie kann Symptome eines zerebralen Befalls nachahmen und tritt gehäuft unter Therapie mit Chinin und Chinidin auf, die als Nebenwirkung eine Hyperinsulinämie verursachen können.
65
Herz, Kreislauf und Lunge. Das akute Lungenödem ist eine gefürchtete Komplikation, v. a. bei Fällen mit hoher Parasitämie und bei schwangeren Patientinnen. Hypotonie und Schock können Ausdruck einer Dehydratation bei Fieber, einer akuten Blutung oder einer gramnegativen Sepsis, die nicht selten als Komplikation einer Malaria auftritt, sein. Eine Laktatazidose ist Ausdruck der Gewebehypoxie. Niere und Leber. Etwa 33% der Patienten mit schwerer Malaria entwickeln Nierenfunktionsstörungen, die bis zur akuten Tubulusnekrose führen können. Der Ikterus ist Ausdruck der intrava-
salen Hämolyse, kombiniert mit einer Hepatozytendysfunktion. Blutgerinnung. Leichtere Störungen der Blutgerinnung mit Akti-
vierung der plasmatischen Gerinnung oder Thrombozytopenie sind häufig. Eine disseminierte intravasale Gerinnung kann bei schwerer Malaria vorkommen.
Diagnose Die Diagnostik beginnt mit einer detaillierten Reise- und Prophylaxeanamnese. Sobald möglich müssen dicke und dünne Blutausstriche angefertigt werden, um die Diagnose zu stellen. Ein einmaliger negativer Ausstrich schließt eine Malaria nicht aus, sondern es sollten weitere Ausstriche alle 4–6 h, wenn möglich bei Schüttelfrost und Fieberanstieg, abgenommen werden. Falls mindestens 3 Ausstriche negativ sind, wird die Diagnose
Malaria unwahrscheinlich. Fälle von zerebraler Malaria mit negativem peripherem Ausstrich sind jedoch beschrieben worden. Aufgrund der Morphologie kann im Ausstrich oft die Artdiagnose gestellt werden und die Parasitendichte in % der befallenen Erythrozyten quantifiziert werden. Bei einer Parasitendichte von >1% sollte eine engmaschige, d. h. 6-stündliche Kontrolle der Parasitendichte durchgeführt werden. Neuere Schnelltests, die den Nachweis von Plasmodiumantigenen ermöglichen, erleichtern das Screening, ersetzen aber die morphologische Diagnostik nicht.
Therapie Die in der folgenden Übersicht dargestellten allgemeinen Behandlungsrichtlinien gelten für Patienten mit schwerer Malaria: Allgemeine Behandlungsempfehlungen für Patienten mit schwerer Malaria 5 Verlegung des Patienten auf die Intensivstation 5 Lumbalpunktion bei klinischem Verdacht auf Beteiligung des Zentralnervensystems 5 Berechnung der Medikamentendosierung aufgrund des Körpergewichts und schnellstmöglicher Beginn mit einer Antimalariachemotherapie 5 Regelmäßige Kontrolle der Laborparameter, insbesondere Blutglukose und arterielle Blutgasanalyse, Laktatkonzentration, Parasitämie, Thrombozyten, Gerinnungsparameter und Nierenfunktion 5 Sorgfältige Überwachung des intravasalen Volumenstatus; hier ist oft die Anlage eines zentralvenösen Katheters (oder eines Pulmonalarterienkatheters) erforderlich. Vorsichtige Flüssigkeitszufuhr, um das Auftreten eines Lungenödems zu verhindern 5 Überwachung der Körpertemperatur: Einsatz von physikalischen Mitteln, kombiniert mit Antipyretika bei schwerer Hyperthermie 5 Blutkulturen zum Ausschluss einer begleitenden Bakteriämie oder Sepsis anderer Ursache 5 Kontrolle der Urinproduktion, meist durch Einlage eines Urinkatheters 5 Kontrolle des spezifischen Gewichts und der Natriumkonzentration im Urin
Die Behandlung einer komplizierten Malaria, bei der entweder Plasmodium falciparum nachgewiesen wurde oder die Artdiagnose noch nicht erfolgte, wird in der Regel parenteral mit Chinin durchgeführt. Für Chinindihydrochlorid wird folgendes Dosierungsschema empfohlen: Empfohlenes Dosierungsschema für Chinindihydrochlorid 5 Ladedosis 7 mg/kg Chinindihydrochlorid (Salz) über 30 min in 100 ml Glukose 5% i.v. 5 Unmittelbar anschließend 10 mg/kg über 4 h in 250 ml Glukose 5% i.v. 5 Die Maximaldosis von 2,5 g Chinindihydrochlorid sollte am 1. Tag nicht überschritten werden. 5 Danach 10 mg/kg i.v. in 250 ml Glukose 5% über 4 h, 3-mal pro Tag, d. h. alle 8 h. 6
843 65.10 · Virales hämorrhagisches Fieber
5 Nach 48–72 h und günstigem Verlauf kann die Tagesdosis auf 1,8 g, d. h. 3-mal 600 mg pro Tag reduziert werden. 5 Bei günstigem Verlauf kann auf eine perorale Behandlung mit Chininsulfat 3-mal 600 mg/Tag p. o. für 7 Tage, kombiniert mit Doxicyclin 200 mg/Tag p. o., gewechselt werden.
65
! Cave Die hohe Infektiosität, verbunden mit der hohen Virulenz einzelner Erreger, erfordert eine frühe rigorose und konsequent durchgeführte Isolation im Verdachtsfall.
Erreger, die ein virales hämorrhagisches Fieber auslösen können, sind in . Tabelle 65.5 dargestellt.
Gemeinsamkeiten viraler hämorrhagischer Fieber Als Alternative zur Chinindihydrochlorid kann Arthemether zuerst parenteral und per os nach Angaben des Herstellers eingesetzt werden. Die Behandlung in der Schwangerschaft ist besonders risikoreich, da vermehrt schwere Hypoglykämien, ein Lungenödem oder ein Abort auftreten können. Die Therapie erfolgt bevorzugt mit Chinin; zusätzlich sollte ein Gynäkologe in die Betreuung einbezogen werden. Anstelle von Doxicyclin wird bei Schwangeren Clindamycin 5 mg/kg KG 3-mal pro Tag angewandt. Nebenwirkungen. Die wichtigsten Nebenwirkungen von Chi-
nin sind: Tinnitus, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzrhythmusstörungen und Krämpfe. Bei Überdosierung kann Aktivkohle per os gegeben werden. Austauschtransfusion. Bei sehr hoher Parasitämie (>15%) und
bei schwerer disseminierter intravasaler Gerinnung muss eine Austauschtransfusion erwogen werden. Die von der WHO publizierten Richtlinien für die Behandlung der schweren Malaria können unter mosquito.who.int/ docs/hbsm_toc.htm heruntergeladen werden.
Prävention Die Malariaprävention basiert auf dem Vermeiden eines Kontakts mit dem Moskitovektor und der medikamentösen Prophylaxe. Verschiedene Vakzinepräparate sind derzeit in klinischer Prüfung. 65.10 Virales hämorrhagisches Fieber Unter viralen hämorrhagischen Fiebern versteht man eine Gruppe von Erkrankungen, die klinisch akut beginnen und mit folgenden Symptomen einhergehen: 4 Fieber, 4 Myalgien, 4 Kopfschmerzen, 4 respiratorische Störungen, 4 gastrointestinale Störungen, 4 Lungenödem, 4 Schock, 4 schwerste Haut- und Schleimhautblutungen. In der Regel werden diese Erkrankungen von Insekten oder Tieren übertragen und in Europa v. a. bei Rückkehrern aus Endemiegebieten beobachtet. Obwohl Ribavirin für einige der Erreger möglicherweise eine wirksame Behandlung darstellt, bleibt die gute intensivmedizinische Betreuung der Komplikationen von zentraler Bedeutung.
Es handelt sich um sehr akut auftretende Erkrankungen mit hohem Fieber, Multiorganbefall und generalisierten Kapillarschäden, die neben den charakteristischen Haut- und Schleimhautblutungen oft mit einem Lungenödem einhergehen. Todesursache ist in der Regel ein hypovolämischer Schock, z. T. begleitet von einem ARDS. Die meisten Erkrankungen sind Zoonosen und werden eher in ländlichen Gebieten übertragen. Alle viralen hämorrhagischen Fieber haben eine Inkubationszeit, die kürzer als 4 Wochen ist. Eine genaue Anamnese kann hierbei Hinweise auf den Erreger liefern. Generell geht es bei der Behandlung darum, die Komplikationen der akuten Phase der Erkrankung zu behandeln, da sich die Patienten in der Regel danach rasch und komplett wieder erholen. Das Hauptproblem ist das Auftreten eines Kapillarlecks mit hypovolämischem Schock und Hämokonzentration, die durch kontrollierte Volumengabe behandelt werden müssen. Ausgedehnte Blutungen führen zu Anämie und Thrombopenie, die durch Blutersatzprodukte korrigiert werden müssen. Eine disseminierte intravasale Gerinnung gehört nicht zur Klinik der viralen hämorrhagischen Fieber, kann aber im Rahmen einer Sekundärkomplikation wie der bakteriellen Sepsis hinzukommen. Lungenödem und ARDS erfordern häufig eine maschinelle Beatmung, und ein Nierenversagen muss durch eine Nierenersatzbehandlung überbrückt werden. Nicht selten treten auch ZNS-Komplikationen mit intrazerebralen Blutungen und Krämpfen auf, weiterhin Herzrhythmusstörungen sowie Leberfunktionsstörungen, v. a. bei Gelbfieber.
Antivirale Behandlung Eine spezifische Behandlungsmöglichkeit besteht in der Gabe von Ribavirin in einer Dosierung von 2 g i.v. als Ladedosis, dann . Tabelle 65.5. Viren, die ein hämorrhagisches Fieber hervorrufen können Virusfamilie
Hauptvertreter
Endemiegebiete
Bunyaviridae
Krim-KongoFieber, verschiedene Hantaviren
Afrika, Südosteuropa, mittlerer Osten und Asien; weltweit
Arenaviridae
Lassavirus, Junin-, Machupo-, Guanarito- und Sabiavirus
Westafrika, Südamerika
Filoviridae
Marburg und Ebolavirus
Zaire, Südsudan, Gabun
Flaviviridae
Gelbfiebervirus, Denguevirus
West- und Zentralafrika, Süd- und Mittelamerika; Asien, Teile von Afrika; Zentral- und Südamerika
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Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
1 g i.v. alle 6 h für 4 Tage, danach 0,5 g alle 8 h für weitere 6 Tage. Diese Behandlung wird für Lassafieber empfohlen, ist aber möglicherweise auch beim südamerikanischen hämorrhagischen Fieber, dem Krim-Kongo-Fieber und bei Hantaviren wirksam. i Weder Austauschtransfusionen noch Steroide scheinen bei viralen hämorrhagischen Fiebern wirksam zu sein.
Differenzialdiagnose Die folgenden Infektionskrankheiten müssen differenzialdiagnostisch bei einem Patienten mit akuter Krankheit, Fieber und hämorrhagischem Ausschlag in Betracht gezogen werden: eine bakterielle Sepsis mit Purpura fulminans/disseminierter intravasaler Gerinnung, verursacht durch Neisseria meningitidis, Streptococcus pneumoniae, Staphylococcus aureus, gramnegative Keime, Capnocytophaga canimorsus oder andere Erreger, weiterhin eine Rickettsiose, eine Leptospirose sowie eine Malaria.
65.10.3 Lassafieber Lassafieber ist endemisch in Westafrika und führt jedes Jahr zu mehreren Tausend Todesfällen. Nach einer Inkubationszeit von 1–3 Wochen treten akut Fieber, Schwäche, Übelkeit und starke frontale Kopfschmerzen auf. Die Symptome sind oft begleitet von lumbalen Schmerzen und nichtproduktivem Husten. Im Gegensatz zu den anderen hier beschriebenen Viruserkrankungen sind Haut- und Schleimhautblutungen nur in 1/5 der Fälle zu beobachten. Als Komplikationen treten Lungenödem und ARDS, hypovolämischer Schock, ein Myokardbefall, ein Leberbefall sowie eine Enzephalopathie auf. Oft persistieren ein Hörverlust und zerebelläre Zeichen längere Zeit nach dem Ausheilen der Krankheit. Ribavirin muss innerhalb der ersten 6 Tage nach Beginn der Symptome verabreicht werden. 65.10.4 Südamerikanisches hämorrhagisches
65.10.1 Krim-Kongo-Virus Das Virus wird durch Zecken übertragen und kommt in Osteuropa, Asien, im mittleren Osten und in Afrika vor. Die Virulenz des Erregers scheint geographisch unterschiedlich zu sein. Klinisch treten nach einer Inkubationszeit von 2–9 Tagen akut Kopfschmerzen, hohes Fieber, Schüttelfrost und ausgeprägte Myalgien auf. Diese sind begleitet von epigastrischen Schmerzen, einer Konjunktivitis und typischerweise einer Bradykardie. 3–5 Tage nach Beginn der Symptome treten Blutungen im Bereich der Schleimhäute mit Epistaxis, Hämaturie und blutigem Durchfall auf. Neben Petechien und Purpura können Hämatemesis und Melaena rasch zum hypovolämischen Schock und Tod führen. Leber- und Myokardbeteiligung kommen vor, ebenso Anämie, schwere Thrombozytopenie und Leukopenie. Bei der akuten Erkrankung kann das Virus im Blut kulturell oder mittels PCR nachgewiesen werden. Verschiedene Autoren empfehlen die intravenöse Verabreichung von Ribavirin aufgrund von In-vitro-Daten und einer derzeit noch beschränkten klinischen Erfahrung. 65.10.2 Hantaviren
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Die in Europa, v. a. in Skandinavien, vorkommenden Hantaviren führen zu einem hämorrhagischen Fieber mit Nierenbeteiligung. 1993 wurde in den USA zudem eine Hantavirusinfektion entdeckt, die sich v. a. als schwere hämorrhagische Pneumonie manifestiert (Sin-Nombre-Virus). Hantaviren werden meist durch kleine Nager übertragen. In der Frühphase der europäischen Erkrankung stehen Kopf- und Muskelschmerzen im Vordergrund. In der Folge treten Petechien im Bereich der Schleimhäute, aber auch der Haut auf. Bei den Laboruntersuchungen steht eine Thrombopenie und Proteinurie im Vordergrund. Leichte Fälle erholen sich in der Folge oder können in Schock, Oligurie oder Anurie übergehen, gefolgt von einer polyurischen Phase. Die Letalität der europäischen Hantavirusinfektionen beträgt <10%; bei den nordamerikanischen Hantaviren wurde eine Letalität um 50% beschrieben. Die Wirksamkeit von intravenösem Ribavirin bei Hantavirusinfektionen ist derzeit nicht gesichert; die Behandlung beschränkt sich auf supportive Maßnahmen.
Fieber Die südamerikanischen hämorrhagischen Fieberviren erzeugen ein ähnliches Krankheitsbild, wobei im Gegensatz zum Lassafieber Haut- und Schleimhautblutungen häufiger auftreten. Zur Behandlung scheint im Fall des argentinischen hämorrhagischen Fiebers (Juninvirus) ein Rekonvaleszentenserum eine schützende Wirkung zu haben. Ob Ribavirin eingesetzt werden soll, ist derzeit unbestimmt. 65.10.5 Filoviren Die Filoviren sind eine Familie von RNS-Viren, zu denen das Marburg- und das Ebolavirus gehören. Das Marburgvirus wurde 1967 anlässlich einer Laborinfektion isoliert, die durch importierte Affen verursacht worden war. Weitere Ausbrüche mit hoher Mortalität traten in der Folge in Sudan, Zaire und Gabun, letztmals 1996, auf. Von einem derzeit unbekannten Tierreservoir gelangt das Virus über infizierte Primaten zum Menschen. Nach einer Inkubationszeit von 3–12 Tagen treten hohes Fieber, starke Kopfschmerzen, Myalgien, Konjunktivitis und eine exsudative Pharyngitis auf, in der Folge dann Abdominalschmerzen, Krämpfe, Durchfall und Erbrechen. Am 5. Tag der Krankheit beginnen profuse Blutungen im Bereich der Schleimhäute mit hypovolämischem Schock, Elektrolyt- und Säure-Basen-Störungen. Eine Enzephalopathie persistiert z. T. nach Ausheilen der akuten Erkrankung. Wie bei anderen hämorrhagischen Fiebern beobachtet man eine Thrombozytopenie ohne disseminierte intravasale Gerinnung. Die Infektiosität von Körperflüssigkeiten ist sehr hoch; deshalb wurden nosokomiale Übertragungen in Afrika häufiger beschrieben. Zum raschen Nachweis hat sich die Polymerasenkettenreaktion bewährt. Eine wirksame antivirale Behandlung steht derzeit nicht zur Verfügung. 65.10.6 Gelbfieber Das Gelbfieber virus wird v. a. durch die Stechmückengattung Aedes aegypti entweder von Mensch zu Mensch oder vom Affen auf den Menschen übertragen. Trotz der Einführung einer
845 Literatur
wirksamen Impfung zirkuliert das Virus in West- und Zentralafrika sowie in Südamerika. Nach einer Inkubationszeit von 3–6 Tagen kann in schweren Fällen eine fulminante Hepatitis mit Nierenversagen und diffusen Blutungen auftreten. Im Vergleich zu den andern Viren, die ein hämorrhagisches Fieber auslösen können, ist das Gelbfieber virus am meisten hepatotrop. Im Gegensatz zu den anderen Viren steht für das Gelbfiebervirus eine wirksame Impfung zur Verfügung, die meist schon nach einmaliger Applikation eine lebenslange Schutzwirkung erreicht. 65.10.7 Denguefieber Das Denguevirus wird ebenfalls durch Stechmücken übertragen und ist in Asien und Afrika sowie in Zentral- und Südamerika endemisch. Während eine erstmalige Denguevirusinfektion ähnlich wie eine Grippe abläuft, kann eine 2. Infektion mit einem neuen Serotyp zur schweren hämorrhagischen Form des Denguefiebers führen. Man nimmt an, dass partiell kreuzreagierende Antikörper den Infektionsprozess beschleunigen und zu einem schweren systemischen Kapillarschaden führen. Klinisch manifestiert sich dieser mit Petechien und einem Kapillarleck mit hypovolämischem Schock und Hämokonzentration. Zur Diagnosestellung hilft in der Regel ein ELISA-Test zum Nachweis von spezifischen IgM-Antikörpern. Ansonsten kann das Virus mittels PCR im Serum nachgewiesen werden. Eine spezifische Therapie steht nicht zur Verfügung. 65.10.8 Vorsichtsmaßnahmen Diese haben das Ziel, sekundäre Erkrankungsfälle zu vermeiden. An ein virales hämorrhagisches Fieber muss bei jedem Patienten gedacht werden, der innerhalb von 4 Wochen nach der Rückkehr aus einem Endemiegebiet akut Fieber, Allgemeinsymptome und Haut- und Schleimhautblutungen entwickelt. ! Cave Patienten, die diese Kriterien erfüllen, sollten hospitalisiert und für 3 Wochen in einem Einzelzimmer, möglichst mit Unterdruckbelüftung, isoliert werden. Die Übertragung findet v. a. durch Kontakt mit Körperflüssigkeiten statt, möglicherweise auch aerogen. Es empfiehlt sich deshalb das Tragen von Schutzkleidung, Hochleistungsatemschutzmaske, chirurgischen Handschuhen, Kopfbedeckung und Schutzbrille. Sämtliche Körperflüssigkeiten müssen mit den notwendigen Sicherheitsmaßnahmen behandelt werden. Alle Personen innerhalb des Krankenhauses, die möglicherweise mit kontaminiertem Material in Kontakt kommen könnten, müssen entsprechend informiert und die notwendigen Schutzmaßnahmen sichergestellt werden [1].
Wichtige Kontaktadresse bei Verdacht auf ein virales hämorrhagisches Fieber: Bernhard Nocht Institut (BNI), Bernhard-Nocht-Str. 74, D-20359 Hamburg. Tel.: ++49-40/42 818-0.
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66 Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation I. Schedel
66.1
Einleitung
–848
66.2
Mor talität auf der Intensivstation behandelter HIV-Infizier ter
66.3
Respiratorische Komplikationen bei fortgeschrittener HIV-Erkrankung
66.3.1 66.3.2
Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PCP) –849 Andere Ursachen für akutes respiratorisches Versagen bei HIV-Erkrankung –851
66.4
Neurologische Komplikationen der fortgeschrittenen HIV-Infektion und deren Behandlung auf der Intensivstation –851
66.5
Gastrointestinale Komplikationen der fortgeschrittenen HIV-Erkrankung und deren Behandlung auf der Intensivstation –852
66.6
Terminales Leber versagen
66.6.1
Lebertransplantation bei HIV-infizierten Patienten –852
66.7
Behandlungvon Nierenerkrankungen als Komplikation der fortgeschrittenem HIV-Erkrankung auf der Intensivstation –852
66.8
Behandlung von Frauen mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung auf der Intensivstation –853
66.9
Behandlung von Säuglingen, Kleinkindern und Kindern mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung auf der Intensivstation
–848 –848
–852
–853
66.10
Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation
66.10.1 66.10.2 66.10.3 66.10.4
Gründe für einen Beginn oder eine Fortführung der antiretroviralen Therapie –853 Gründe gegen den Beginn oder die Fortführung der antiretroviralen Therapie –853 Durchführung der antiretroviralen Therapie auf der Intensivstation –854 Besondere Schwierigkeiten bei der Anwendung antiretroviraler Medikamente während intensivmedizinischer Behandlung –854
66.11
Grundlagen für die mit dem Patienten abgestimmte intensivmedizinische Behandlung – Vorausanweisungen und Vollmachten –857
66.12
Über tragung der HIV-Infektion auf der Intensivstation
66.12.1 66.12.2
Prävention –858 Postexpositionelle Prophylaxe –858
Literatur
–859
–853
–858
848
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
rischen Versagen auf einer Intensivstation behandelt werden, sind ungünstiger, während Patienten mit intensivbehandlungsbedürftigen neurologischen Erkrankungen und HIV-Infektion offenbar eine ähnliche Prognose wie Patienten mit akutem respiratorischem Versagen haben [2, 45]. Vergleichsweise liegt die Mortalität auf Intensivstationen bei nicht-HIV-infizierten Patienten mit akutem respiratorischem Distresssyndrom (ARDS) bei 30–60%, bei Patienten mit hämatologischen Systemerkrankungen bei 80% und bei Patienten mit Leber versagen bei 89% [39]. 66.3 . Abb. 66.1. Gründe für die Aufnahme von Patienten mit HIV-Infektion auf die Intensivstation. (Nach [33])
66.1
Einleitung
HIV-infizierte Patienten können aus einer Reihe von Indikationen heraus der Intensivbehandlung bedürfen (. Abb. 66.1; [7, 17, 19, 33, 41, 44, 51]). In 50–75% der Fälle stellt akutes respiratorisches Versagen die Indikation für die Behandlung HIV-Infizierter auf der Intensivstation dar [7, 17, 19, 33, 41, 44, 51]. Bei 55–90% dieser Patienten mit intensiv behandlungsbedürftigem respiratorischen Versagen stellt Pneumocystis carinii das für die Erkrankung verantwortliche Pathogen dar [7, 33, 44]. Andere häufige Ursachen für die Verlegung von HIV-infizierten Patienten auf Intensivstationen sind neurologische (ca. 13%) und septische Erkrankungen (ca. 10%). Eine demgegenüber relativ geringe Anzahl HIV-infizierter Patienten werden aufgrund anderer, von der HIV-Infektion unabhängiger Erkrankungen intensivbehandlungsbedürftig [17, 44]. Die Einführung effektiverer antiretroviraler Therapien in den letzten Jahren hat zu einer Verminderung intensivmedizinischer Behandlungen bei HIV-Infizierten geführt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass durch die verzögerte Entwicklung des HIV-induzierten Immundefekts unter der verbesserten antiretroviralen Therapie die Rate schwerer therapiebedürftiger Komplikationen zurückgegangen ist. Zusätzlich dürfte die dadurch seltenere Notwendigkeit invasiver diagnostischer Maßnahmen (Bronchoskopie, Hirnbiopsie u. a.) für den Rückgang der Behandlungsbedürftigkeit HIV-infizierter Patienten auf der Intensivstation verantwortlich sein [50].
66 66.2
Mor talität auf der Intensivstation behandelter HIV-Infizier ter
Die Mortalität HIV-infizierter Patienten in klinisch fortgeschrittenen Stadien der HIV-Infektion, die auf einer Intensivstation behandelt werden, beträgt 32–70% bei einer mittleren Liegezeit auf der Intensivstation von 5–11 Tagen [7, 33, 44]. Diese Angaben werden durch die in den letzten Jahren ebenfalls besser gewordenen Resultate der Behandlung des akuten respiratorischen Versagens bei Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PCP) bestimmt, da Patienten mit dieser Erkrankung die zahlenmäßig größte Gruppe der Behandelten bilden [6, 15, 19, 20, 41, 51]. Die Angaben der Mortalität für Patienten im fortgeschrittenen Stadium der HIV-Erkrankung (CD4-positive Zellen <200/μl Blut), die aus anderen Gründen als akutem respirato-
Respiratorische Komplikationen bei fortgeschrittener HIV-Erkrankung
Trotz der Anwendung einer Prophylaxe gegen Pneumocystis carinii und trotz einer in den letzten Jahren erheblich verminderten Erkrankungsfrequenz bleibt das akute respiratorische Versagen bei PCPn (PCP) der häufigste Grund für eine intensivmedizinische Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion [53].
Die Überlebensrate intensivmedizinisch behandelter HIV-infizierter Patienten mit PCP wird aufgrund einer Reihe von Studien mit 30–45% ausgewiesen und ist damit günstiger als noch vor einigen Jahren [17]. Mögliche Erklärungen hierfür könnten in der besseren Selektion von Patienten für die intensivmedizinische Behandlung, der zusätzlichen Behandlung mit Kortikosteroiden und in einer konsequenten antiretroviralen Behandlung mit Verminderung des HIV-induzierten Immundefekts liegen [19]. Insbesondere die höhere diagnostische Sensibilität für das Auftreten einer Pneumocystis-carinii-Pneumonie bei Ärzten und Patienten dürfte in den letzten Jahren zu einer im statistischen Mittel früheren Behandlung der Erkrankung geführt haben und damit zu einer entscheidenden Verbesserung der Prognose trotz ausgeprägter respiratorischer Insuffizienz [53]. Aus verschiedenen großen Behandlungszentren in den USA und Kanada wurden in den 1990er-Jahren wieder schlechtere Überlebensraten und Überlebenszeiten von Patienten berichtet, die mit akutem respiratorischem Versagen bei HIV-assoziierter PCP behandelt wurden. Übereinstimmende Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zeigten, dass diese Verschlechterung in erster Linie auf eine Vergrößerung des Anteils drogenabhängiger Patienten zurückzuführen ist, die in einem – verglichen mit anderen Patienten – späteren Stadium der HIV-Infektion und mit einer im Mittel stärker ausgeprägten respiratorischen Insuffizienz bei Pneumocystis-carinii-Pneumonie zur Aufnahme kamen [30]. Prädiktoren für eine schlechtere Prognose intensivmedizinisch behandelter Patienten mit Pneumocystis-carinii-Pneumonie (nach [25, 28]) 5 Höheres Lebensalter (>60 Jahre) 5 Geringe Anzahl CD4-positiver Zellen im peripheren Blut (<100 CD4-positive Zellen/μl) 6
849 66.3 · Respiratorische Komplikationen bei fortgeschrittener HIV-Erkrankung
5 Arterieller Sauerstoffdruck <50 mm Hg oder arterielle Sauerstoffdifferenz >50 mm Hg bei Beginn der Behandlung 5 Entwicklung eines Pneumothorax bei mechanischer Ventilation 5 Erhöhte Serum-Laktatdehydrogenaseaktivität 5 Radiologischer Nachweis ausgedehnter Veränderungen auf dem Thoraxröntgenbild
66
Eine unter Therapie weiter steigende LDH-Aktivität im Serum ist danach mit einer signifikant verschlechterten Prognose, einem Therapieversagen und gesteigerter Mortalität assoziiert, während sich umgekehrt eine bessere Prognose für Patienten ergeben hat, bei denen sich im Verlauf der Behandlung eine abnehmende LDH-Aktivität im Serum beobachten lässt [2, 7, 37].
Diagnostik 66.3.1 Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PCP)
Klinische Symptomatik Typischerweise kommen die Patienten mit schwerer PCP mit Fieber, häufig nicht produktivem Husten und Dyspnoe in ärztliche Behandlung [53]. Ein besonderes Kennzeichen der durch Pneumocystis carinii hervorrufenen Pneumonien bei HIV-induziertem Immundefekt besteht darin, dass häufig ein über Wochen bestehendes mono- oder oligosymptomatisches Vorstadium mit meist trockenem Husten besteht. In dieser Zeit können Fieber und Dyspnoe fehlen. Individuell können zeitliche Entwicklung und klinische Intensität einer PCP bei HIV-infizierten Patienten in weiten Grenzen variieren. In einer großen Studie wurde eine mittlere oligosymptomatische Dauer von 28 Tagen vor Präsentation der HIV-infizierten Patienten beim Arzt mitgeteilt. Da eine möglichst frühe Diagnose und früh einsetzende Behandlung ausschlaggebend für die Prognose der PCP sind, ist es von großer Wichtigkeit, die Pneumonie bereits in der mono- oder oligosymptomatischen Vorphase diagnostisch zu er fassen und zu behandeln. Eine im Stadium des schweren respiratorischen Versagens diagnostizierte PCP ist mit einer schlechten Prognose assoziiert [24].
Zur den klinischen Symptomen der schweren Pneumocystiscarinii-Pneumonie gehören Fieber (>38,5 °C) und schwere Tachypnoe bei respiratorischer Insuffizienz (arterieller Sauerstoffdruck <50 mm Hg oder arterielle Sauerstoffdifferenz >50 mm Hg bei Beginn der Behandlung). Auskultatorisch und perkutorisch findet sich dagegen häufig ein blander Befund. Als Zeichen der interstitiellen Pneumonie zeigt sich häufig ein verschärftes Atemgeräusch (meist bilateral und ausgedehnte Lungenareale betreffend). Lokalisierte und umschriebene Befunde dagegen sprechen für das (möglicherweise simultane) Vorhandensein von Veränderungen anderer Ätiologie (Cave: Begleitinfektionen, Tumoren). Bei PCP lässt sich in 83–100% der Fälle schon bei Beginn der klinischen Symptomatik ein erhöhter Laktatdehydrogenase(LDH-)Spiegel im Blut der Patienten feststellen [24]. Im Fall derjenigen Patienten, die wegen einer PCP intensivmedizinischer Behandlung bedürfen, findet sich nach einer Zusammenstellung mehrerer Behandlungszentren bei allen Patienten ein erhöhter Serum-LDH-Wert. Es konnte auch gezeigt werden, dass das Ausmaß der Serum-LDH-Wert-Erhöhung mit der Prognose sowie mit Überlebensrate und Überlebenszeit und mit dem Ansprechen auf die Therapie korreliert.
Die Diagnose der PCP ergibt sich aus der geschilderten klinischen Symptomatik, dem Nachweis von Pneumocystis carinii im provozierten Sputum oder nach bronchoalveolärer Lavage sowie durch den klinischen und röntgenologischen Nachweis der interstitiellen Pneumonie.
Radiologische Veränderungen Bei Verdacht auf PCP bei HIV-infizierten Patienten und Immundefekt ist die Auswertung der Röntgenaufnahme des Thorax von ausschlaggebender Bedeutung [28]. Bei der durch Pneumocystis carinii hervorgerufenen Pneumonie findet sich in der Regel eine bilaterale, meist symmetrische retikuläre oder granuläre Zeichnung über den Lungenfeldern. Häufig sind im Fall fortgeschrittener respiratorischer Insuffizienz bei Pneumocystis-carinii-Infektion diffuse, z.T. konfluierende Veränderungen nachweisbar, die an die Röntgenveränderungen bei ARDS erinnern können [28]. Häufig sind dünnwandige, Luft enthaltende Zysten oder Pneumatozelen sichtbar. Pneumatozelen können bereits bei Diagnosestellung sichtbar sein oder sich in den ersten Tagen unter Therapie erst entwickeln. Es handelt sich häufig um multipel über beiden Lungenfeldern verteilte Pneumatozelen, die – wenn sie eine gewisse Größe erreichen – auch für die Entstehung eines Pneumothorax prädisponieren können [38]. Aufgrund der Beeinträchtigung des Lungengerüsts durch die pneumonischen Veränderungen können bei diesen Patienten bei mechanischer Ventilation oder aber auch spontan Pneumothoraces entstehen [36, 46]. ! Cave Die Entstehung von Pneumothoraces verschlechtert wegen der extrem schlechten Heilungstendenz in statistisch relevanter Weise die Prognose der Patienten [25].
Bei schweren Verläufen der PCP treten gelegentlich fokale Infiltrate und Atelektasen auf [37]. Intrathorakale Lymphknotenschwellungen und Pleuraergüsse sind jedoch selten. Derartige Veränderungen im Verlauf einer mikrobiologisch bestätigten PCP sollten dringend Anlass geben, nach anderen, möglicherweise simultan vorhandenen Prozessen, wie bakteriellen Infektionen (insbesondere auch Tuberkulose) und/oder Kaposi-Sarkom, zu suchen. Auch unter effektiver Therapie der PCP und bei klinischer und respiratorischer Besserung können die röntgenologisch nachweisbaren Veränderungen im Laufe der ersten Wochen nach Beginn der Behandlung weiter zunehmen. Eine häufige Beobachtung ist, dass diese Veränderungen erst im Laufe von einer bis mehreren Wochen nach Beginn einer effektiven Behandlung eine Besserung anzeigen, auch wenn schon sehr viel früher eine klinische Besserung der respiratorischen Funktion und der entzündlichen Veränderungen eingetreten ist [37].
850
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
Therapie der schweren Eine »schwer« verlaufende Pneumocystes-carinii-Pneumonie wird definiert als eine Pneumonie mit den oben genannten diagnostischen Kriterien und ausgeprägter respiratorischer Einschränkung (arterieller Sauerstoffdruck <50 mm Hg oder arterielle Sauerstoffdifferenz >50 mm Hg bei Beginn der Behandlung).
. Tabelle 66.1. Medikamentöse Behandlung der mittelschweren bis schweren Pneumocystes-carinii-Pneumonie Therapeutische Substanzen
Dosierung und Verabreichung
TrimethoprimSulfamethoxazola
15 mg/kg KG (Trimethoprim)/ Tag i.v., aufgeteilt in 4 Einzeldosen
Pentamidin-Isothionateb, Atovaquonec
3–4 mg/kg KG/Tag i.v. (Pentamidin-Isothionate), 1500 mg/Tag p.o. (Atovaquone)
Trimetrexat
45 mg/m2KO/Tag i.v.
Leucovorin
20 mg/m2KO p.o.
Dapsoned
100 mg/Tag p.o.
Clindamycin
1800 mg i.v., aufgeteilt in 3–4 Einzeldosen
Primaquine
30 mg/Tag p.o.
Medikamentöse Behandlung Die antibiotische Behandlung der Wahl bei schwerer PCP besteht in der Gabe von Trimethoprim-Sulfamethoxazol. Trimethoprim-Sulfomethoxazol steht als fixe Kombination zur Verfügung und sollte in einer Dosierung von 12–15 mg/kg KG der Trimethoprim-Komponente, aufgeteilt in 3 Dosen, i.v. für mindestens 21 Tage verabreicht werden (. Tab. 66.1; [53]). Nach größeren Statistiken liegt die Rate der Nebenwirkungen dieser Behandlung bei ca. 50% der mit dieser Arzneimittelkombination in dieser Dosis behandelten Patienten. Nach einer Statistik aus San Francisco sind nur ca. 32% der Patienten in der Lage, die Behandlung mit TrimethoprimSulfomethoxazol bis zum geforderten 21. Behandlungstag fortzusetzen. Die Nebenwirkungen, die v. a. kutane Exantheme, aber auch Störungen der Blutbildung betreffen können, treten insbesondere nach dem 4. Behandlungstag auf [53].
66
Jedoch können die meisten Patienten eine initiale Behandlung mit Trimethoprim-Sulfomethoxazol und bei Auftreten von Nebenwirkungen eine Fortsetzung der Behandlung mit i.v. verabreichtem Pentamidin bis zum 21. Behandlungstag vertragen [53]. Bei Patienten, die auch i.v. verabreichtes Pentamidin nicht vertragen, muss auf andere, wahrscheinlich weniger wirksame therapeutischen Substanzen ausgewichen werden: Trimethrexat i.v. plus Dapsone oral (kombiniert mit Leucovorin) oder die Verabreichung von Clindamycin i.v. plus Primaquin oral. Dabei muss allerdings hervorgehoben werden, dass bisher in keiner aussagefähigen Therapiestudie diese 3 Medikamentenkombinationen in der Behandlung der PCP im direkten Vergleich untersucht wurden. Die dargestellte Reihenfolge der Anwendung der therapeutischen Substanzkombinationen berücksichtigt daher erster Linie die Rate der auftretenden Nebenwirkungen und die Breite der bisher gesammelten therapeutischen Erfahrungen mit der jeweiligen Substanz. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass Atovaquone zumindest bei mittelschwerer und leichter PCP eine im Vergleich zu Pentamidin ähnliche Wirksamkeit bei vertretbaren Nebenwirkungen aufweist. Aussagefähige Daten für die Behandlung von Patienten mit schwerer Pneumocystes-carinii-Pneumonie mit Atovaquone liegen bisher nicht vor. Für intensivmedizinische Anwendung liegt ein Nachteil der Atovaquone-Behandlung auch darin, dass keine i.v. verabreichbare Formulierung zur Verfügung steht. Patienten mit fortgeschrittener HIV-Infektion und mäßiger bis schwerer PCP sollten zusätzlich Kortikosteroide erhalten (. Tab. 66.1; [8, 12, 21]). In einer Reihe von klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass durch eine Behandlung mit Kortikosteroiden, die innerhalb von 24–72 h nach Beginn der Behandlung der PCP begonnen wird, die häufig beobachtete initiale Verschlechterung der PCP verhindert, die Häufigkeit zunehmenden respiratorischen Versagens gesenkt und die Überlebensraten sig-
plus Prednison
40 mg p.o. 2-mal täglich für 5 Tage, dann 40 mg p.o. einmal täglich für 5 Tage, dann 20 mg p.o. einmal täglich für 11 Tage
a Trimethoprim-Sulfamethoxazol ist als fixe Kombination im Handel (z. B. Cotrim, Eusaprim,), die Dosis wird nach der Trimethoprim-Komponente berechnet. b Häufige Nebenwirkungen sind Exanthem, Fieber, Übelkeit/ Erbrechen, erhöhte Leberenzymwerte, Hyperkaliämie, Neutropenie (bei Hautsymptomen als einziger Nebenwirkung kann eine Behandlung mit Antihistaminika versucht werden). c häufige Nebenwirkungen sind Exanthem, Übelkeit/Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Fieber, Neutropenie, Anämie, erhöhte Leberenzymwerte. d häufige Nebenwirkungen sind Neutropenie, Thrombopenie, Exanthem, Fieber, erhöhte Leberenzymwerte, hämolytische Anämie, Methämoglobinämie.
nifikant verbessert werden können [13]. Ob eine später (mehr als 72 h nach Beginn der PCP-Therapie) begonnene Steroidbehandlung noch wirksam ist, ist nicht geklärt. In einer Untersuchung von LaRocco et al. [32] wurde über verbesserte Überlebensraten bei mechanisch ventilierten Patienten mit fortgeschrittener HIV-Infektion und PCP berichtet, die mit Kortikosteroiden behandelt wurden [8, 32].
Respiratortherapie Die Indikation für den Einsatz einer Respiratortherapie richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen einer derartigen Behandlung. Wegen der möglicherweise verschlechterten Prognose nach Intubation wird auf eine möglichst weitgehende Zurückhaltung und Konzentration auf dringende klinische Notwendigkeit hingewiesen. In einer Reihe neuerer Studien konnte gezeigt werden, dass die Technik der Maskenatmung mit kontinuierlich positivem Atemwegsdruck (CPAP) bei akutem respiratorischem Versagen bei HIV-assoziierter PCP eine Möglichkeit darstellt, die arterielle Oxygenierung zu verbessern und andererseits die möglicherweise
851 66.4 · Neurologische Komplikationen der fortgeschrittenen HIV-Infektion und deren Behandlung
erhöhte zusätzliche Infektionsgefährdung durch Intubation und mechanische Beatmung hinauszuzögern oder zu vermeiden [23]. Voraussetzung für die Anwendung der (CPAP) ist, dass der Patient wach und kooperativ ist und eine Aspiration vermeiden kann.
Patientengruppen, bei denen die Möglichkeit für eine aussichtsreiche Anwendung der Maskenatmung mit kontinuierlich positivem Atemwegsdruck (CPAP) besteht [23] 5 Patienten mit akuter und möglicherweise kurz andauernder Verschlechterung der respiratorischen Funktion nach Bronchoskopie 5 Patienten, die den Wunsch äußern, nicht intubiert zu werden, andererseits aber respiratorischer Unterstützung bedürfen 5 Patienten nach Intubation und Beatmung, die extubiert sind und zeitweilig der Atmungsunterstützung bedürfen
Die meisten Patienten mit progredient verlaufender Pneumocystis-carinii-Infektion mit mittelschwerer bis schwerer Symptomatik bedürfen jedoch wegen der erheblich gesteigerten Atemarbeit der Intubation und mechanischen Ventilation.
Patienten mit PCP, die mechanischer Ventilation bedürfen, brauchen grundsätzlich assistierte und kontrollierte Beatmung oder intermittierende Zusatzbeatmung. Positive endexspiratorische Drücke (PEEP) können die Oxygenierung verbessern, wenn dies auch bei diesen Patienten häufig nur mäßiggradig erreicht werden kann [44].
Das Auftreten sekundärer pulmonaler Begleitinfektionen bei PCP wird in verschiedenen klinischen Untersuchungen unterschiedlich angegeben und liegt zwischen 10 und 60% [32]. Die Rate sekundär erworbener nosokomialer Pneumonien bei beatmeten Patienten mit HIV-assoziierter Pneumocystescarinii-Pneumonie scheint geringer zu sein als bei Patienten ohne HIV-Infektion. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte die Wirksamkeit der meist verwendeten Antibiotika TrimethoprimSulfamethoxazol gegenüber gramnegativen Keimen sein [42].
Faktoren, die das Überleben von Patienten mit Pneumocystis-carinii-Pneumonie bestimmen Aids-Patienten mit PCP, die in Kliniken zur Behandlung eingewiesen werden, die ausgedehnte Erfahrungen in der Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener HIV-Infektion besitzen, haben eine bessere Prognose als Patienten, die in Kliniken eingewiesen werden, in denen nur geringe Erfahrungen mit diesen Erkrankungen bestehen [5, 48]. Dabei ergibt sich keine Abhängigkeit von den für die Behandlung der Patienten aufgewendeten finanziellen Mittel.
Der prädiktive Wert des APACHE-II-Index (»Acute Physiology and Chronic Health Evaluation«) für die Prognose bei PCP-assoziertem akutem respiratorische Versagen wurde in verschie-
66
denen klinischen Studien evaluiert. Dabei zeigte sich in einer Studie, dass der APACHE-II-Index eine Mortalität von 44% im Studienkollektiv vorhersagte, die aktuelle Mortalität jedoch 86% betrug. In einer späteren Studie bei HIV-infizierten Patienten mit akutem respiratorischen Versagen zeigte sich kein signifikanter Unterschied des APACHE-II-Index bei Patienten, die die Erkrankungen überlebten im Vergleich zu denen, die verstarben. In einer Studie, die Daten von 1986–1991 berücksichtigte, fand sich, dass die Berechnung mit dem APACHE-II-Index die Mortalität auf der Intensivstation bei HIV-infizierten Patienten mit fortgeschrittenem Immundefekt (<200 CD4-positive Zellen/Pl Blut) im Vergleich zur prognostischen Auswertung aufgrund der Anzahl CD4-positiver Zellen im peripheren Blut als signifikant geringer angab. Bei Patienten mit geringer ausgeprägtem HIV-induzierten Immundefekt (Anzahl CD4-positiver Zellen im peripheren Blut >200/Pl) dagegen waren diese Unterschiede nicht nachweisbar. i Daraus ergibt sich, dass der APACHE-II-Index nur für HIV-infizierte Patient mit >200 CD4-positiven Zellen/μl Blut sinnvoll anwendbar ist [10, 17].
66.3.2 Andere Ursachen für akutes
respiratorisches Versagen bei HIV-Erkrankung Bakterielle, virale und mykotische Pneumonien sind als Ursache
für akutes respiratorisches Versagen bei Patienten mit HIV-Infektion gehäuft. Häufigkeit und eventuelle Prädiktoren für das Auftreten eines akut respiratorischen Versagens bei den genannten Infektion sind nicht bekannt. Andere Ursachen für akutes respiratorisches Versagen bei HIV-infizierten Patienten stellen pulmonale Kaposi-Sarkome, Non-Hodgkin-Lymphome und lymphozytisch interstitielle Pneumonien (v. a. im Kindesalter) dar. Akutes respiratorisches Versagen, das nicht im Zusammenhang mit dem HIV-induzierten Immundefekt steht – wie chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Aspiration, Herzinsuffizienz und Medikamentenüberdosierung –, stellt seltener die Ursache für das Auftreten von akutem respiratorischen Versagen bei HIV-Infizierten dar [7, 44, 51]. Seit Einführung einer medikamentösen oder inhalativen Prophylaxe gegen Pneumocystis carinii ist die Häufigkeit von PCPn drastisch zurückgegangen [26, 27]. Bisher liegen keine gesicherten Daten darüber vor, inwieweit eine Prophylaxe gegen Pneumocystis carinii den klinischen Verlauf und die Prognose einer trotz Prophylaxe auftretenden PCP modifiziert. 66.4
Neurologische Komplikationen der fortgeschrittenen HIV-Infektion und deren Behandlung auf der Intensivstation
Etwa 50% der Patienten mit HIV-Infektion entwickeln im Vollbild Aids klinisch relevante neurologische Komplikationen [34]. Entzündliche und nichtentzündliche Läsionen der Hirnsubstanz, Meningitiden und Myelopathien stellen die häufigsten neurologischen Komplikationen dar, die die Ursache einer akuten Verschlechterung des mentalen Zustands des Patienten mit fortschreitender Somnolenz, komatösen Zuständen, Kopfschmerzen, zerebralen Krampfanfällen oder sekundär respirato-
852
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
rischem Versagen darstellen können und eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig machen [4]. Neurologische Erkrankungen, die HIV-assoziiert auftreten und eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig machen können (nach [34]) 5 Intrazerebrale Raumforderungen – zerebrale Toxoplasmose (Toxoplasmose gondii) – primäreLymphome des Zentralnervensystems – andere primäre Tumoren des Zentralnervensystems 5 Meningitis/Meningoenzephalitis mit folgenden Erregern – Kryptokokkus neoformans – Mycobacterium tuberculosis – Listeria monocytogenes – Nocardia asteroides
66
In einer Zusammenstellung von Rosen et al. [45] von auf der Intensivstation behandelten Patienten mit fortgeschrittener HIVInfektion zeigte sich, dass 17% der Patienten mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung wegen neurologischer Komplikationen auf die Intensivstation eingewiesen wurden. Die meisten dieser Patienten bedurften wegen sekundären respiratorischen Versagens einer Respiratorbehandlung. Die häufigste Erkrankung des Zentralnervensystem war die zerebrale Toxoplasmose. Die Mortalität lag bei 68%, bezogen auf einen Zeitraum von 3 Monaten. In dieser Untersuchung ließ sich eine signifikante Korrelation des letalen Verlaufs der Erkrankung mit einem Glasgow Coma Score von <7 und klinischen Zeichen der Hirnstammbeteiligung beobachten. Interessanterweise ergab sich bei dieser prognostischen Auswertung keine Korrelation zur Anzahl CD4-positiver Zellen im Blut der Patienten [4]. Etwa 40% der Patienten mit HIV-Infektion entwickeln im Verlauf der HIV-Erkrankung zentralenervöse Veränderungen, die die Fähigkeit eines Patienten, an Entscheidungen hinsichtlich seiner Behandlung mitzuwirken, beeinträchtigen können [2]. In einer Untersuchung gaben 53% in einer HIV-Klinik ambulant behandelten Patienten an, dass Sie, wenn dies notwendig sein würde, Intensivbehandlungsmaßnahmen für sich wünschen. Nur 19% dieser Patienten wünschten jedoch Intensivbehandlungsmaßnahmen für den Fall, dass bei ihnen hirnorganisch begründete Einschränkungen ihrer Entscheidungsfähigkeit bestünden. Dies zeigt die Notwendigkeit, ausreichend früh und wiederholt während des Krankheitsverlaufs über derartige später möglicherweise notwendige Entscheidung mit dem Patienten zu sprechen (7 Kap. 66.11). 66.5
Gastrointestinale Komplikationen der fortgeschrittenen HIV-Erkrankung und deren Behandlung auf der Intensivstation
Ein großes Spektrum gastrointestinaler Erkrankungen kann die Aufnahme des Patienten auf eine Intensivstation notwendig machen oder den Krankheitsverlauf während der aus anderen Gründen indizierten Behandlung auf der Intensivstation komplizieren. Der häufigste Grund für starke abdominelle Schmerzen bei Patienten in fortgeschrittenem Stadium der HIV-Erkrankung ist die Cytomegalievirus-(CMV-)assoziierte Intestinopathie mit Peritonitis, die von einer CMV-Manifestation des Kolons und/oder des Dünndarms
ausgeht. Im Verlauf dieser Erkrankung kann es zu Perforationen kommen, die operative Maßnahmen und entsprechende intensivmedizinische Therapie zur Folge haben. Die HIV-assoziierte Cholangiopathie, die durch verschiedene infektiöse oder neoplastische Prozesse hervorgerufen werden kann, ist ebenfalls eine häufig intensivmedizinische Maßnahmen erfordernde Erkrankung [52]. 66.6
Terminales Leberversagen
Terminales Leberversagen auf dem Boden einer Virushepatitis B und/oder C gibt in den letzten Jahren zunehmend Grund für die Aufnahme von HIV-Infizierten und -Erkrankten auf der Intensivstation. Dabei ist zu berücksichtigen, dass 3 antiretroviral wirksame Substanzen (Lamivudine, Emtricitabine, Tenofovir) auch gegen Hepatitis B (HBV) wirksam sein können. Wegen der hohen Rate von HBV-Resistenzen gegenüber Lamivudine oder Emtricitabine sollte eine Kombination dieser Substanzen mit Tenofovir in Erwägung gezogen werden. Dies gilt insbesondere bei antiviral/antiretroviral unbehandelten Patienten zur Vermeidung von Resistenzen. Patienten, die vor der Aufnahme derartige therapeutische Substanzen erhielten, sollten nach Möglichkeit diese auch während der Intensivbehandlung weiter erhalten, da nach Absetzen schwere Schübe von Hepatitis B beobachtet wurden [55]. Die Fortsetzung einer antiviralen Therapie mit Interferon und Ribavirin bei Patienten mit Hepatitis C wird, soweit die Nebenwirkungen dieser Präparate dies zulassen, ebenfalls empfohlen. 66.6.1 Leber transplantation bei HIV-infizier ten
Patienten Patienten mit terminaler Leberinsuffizienz sind potenziell Kandidaten für eine Lebertransplantation. Die HIV-Infektion galt lange Zeit als absolute Kontraindikation für die Durchführung einer Leber- oder anderen Organtransplantation, weil das Risiko opportunistischer Infektionen bei gleichzeitiger HIV-assoziierter und iatrogener Immunsuppression sehr hoch war. Durch die Möglichkeit der Durchführung und die Effektivität einer hochwirksamen antiretroviralen Kombinationstherapie hat sich die Situation grundlegend geändert. Bei Patienten, die erfolgreich mit antiretroviralen Kombinationstherapien behandelbar sind, können Organtransplantationen mit nahezu derselben Erfolgsquote wie bei HIV-negativen Patienten durchgeführt werden [14]. 66.7
Behandlung von Nierenerkrankungen als Komplikation der fortgeschrittenem HIV-Erkrankung auf der Intensivstation
Terminale Niereninsuffizienz auf dem Boden einer HIV-assoziierten Nephropathie, einer Hepatitis-B-/-C-Koinfektion, eines begleitenden Diabetes oder bei arterieller Hypertonie stellt eine häufige Komplikation der fortgeschrittenem HIV-Erkrankung dar und kann zur Aufnahme auf die Intensivstation führen. Diese Erkrankungen sollten nach klinischen Notwendigkeiten wie bei nicht-HIV-infizierten Patienten behandelt werden, einschließlich der Anwendung von Dialyse und Nierentransplantation. Die antiretrovirale Therapie sollte, soweit möglich, fortgeführt werden. Gegen eine Steroidmedikation bestehen grundsätzlich
853 66.10 · Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation
keine Kontraindikationen. Eine individuelle Therapieplanung ist dringend gegeben [55]. 66.8
Behandlung von Frauen mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung auf der Intensivstation
In einer Studie, in der mehr als 3000 Patienten mit HIV-assoziierter PCP und deren Behandlung in verschiedenen Krankenhäusern New Yorks ausgewertet wurden, zeigte sich, dass Frauen signifikant seltener bronchoskopiert werden als Männer mit vergleichbarem Schweregrad der Erkrankung (50,7% vs. 61,2%, p=0,02). Diese Untersuchung zeigt darüber hinaus, dass Frauen mit dieser Erkrankung häufiger beatmungsbedürftig werden als Männer (13,6% vs. 9,9%, p=0,01). Die Mortalitätsrate für Frauen, die aus dieser Indikation heraus intensivmedizinischer Behandlung bedurften, betrug 84% im Vergleich zu 57% für Männer (p=0,05) [3]. 66.9
Behandlung von Säuglingen, Kleinkindern und Kindern mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung auf der Intensivstation
Respiratorisches Versagen bei Pneumocystis-carinii-Pneumonie ist der hauptsächliche Grund für die Intensivbehandlung
von Säuglingen mit HIV-Infektion [40]. Für diese Säuglinge besteht eine extrem schlechte Prognose mit weniger als 20% Überlebenden bezogen auf ein Intervall von 5 Wochen nach Beginn der Behandlung und von nur 8% Überlebenden bei einem Jahr Nachbeobachtungszeit. Ähnlich wie in der Behandlung Erwachsener mit PCP wurde auch bei der Behandlung von Säuglingen in neueren Untersuchungen von einer etwas besseren Prognose berichtet. Auch für Kleinkinder und ältere Kinder bildet die Pneumocystes-carinii-Pneumonie mit ihren Komplikationen den Hauptgrund für die Anwendung von intensivmedizinischen Maßnahmen. Darüber hinaus jedoch kommt es bei diesen Kindern häufiger als bei Säuglingen zum Auftreten von bakterieller Sepsis, systemischen mykobakteriellen oder Pilzinfektionen sowie von gastrointestinalen Blutungen und Blutbildungsstörungen [36]. Die »lymphozytäre interstitielle Pneumonie« stellt eine häufige Komplikation des Krankheitsverlaufs der HIV-Erkrankung im Kindesalter dar. Im Verlauf dieser Pneumonie kommt es meist zu einer langsam fortschreitenden Verschlechterung der respiratorischen Funktion. Über akutes respiratorisches Versagen wurde jedoch selten berichtet [36, 40].
Bei Aufnahme von Patienten mit bekannter HIV-Infektion oder bei Diagnose der HIV-Infektion auf der Intensivstation stellt sich die Frage, inwieweit eine Fortführung der antiretroviralen Therapie in der Gesamtsituation günstig sein kann. Zu dieser Frage fehlen bisher Ergebnisse klinisch aussagefähiger größerer Untersuchungen. Die Indikation oder das Aussetzen der laufenden antiretroviralen Therapie bei dem intensivmedizinisch zu behandelnden HIV-infizierten Patienten orientiert sich daher meist an den im Folgenden erläuterten Überlegungen: 66.10.1 Gründe für einen Beginn oder eine
Fortführung der antiretroviralen Therapie Effektivität der antiretroviralen Therapie. Hochaktive antiretrovirale Therapie vermittelt eine verlangsamte Entwicklung des HIV-induzierten Immundefekts und ist in der Lage, auch bei Patienten mit fortgeschrittenem Immundefekt eine Immunrestauration her vorzurufen. Dies hat zur Konsequenz, dass opportunistische Erkrankungen unter antiretroviraler Therapie in verminderter Häufigkeit und mit geringerem Schweregrad auftreten. Es konnte gezeigt werden, dass die Raten sowohl von ambulant- als auch im Hospital erworbenen Pneumonien bei Patienten unter hochaktiver antiretroviraler Therapie vermindert sind [16]. Diese Daten sprechen für den Beginn oder für eine Fortsetzung der antiretroviralen Therapie auf der Intensivstation [1]. 66.10.2 Gründe gegen den Beginn oder die
Fortführung der antiretroviralen Therapie Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie Bei HIV-infizierten Patienten mit Komplikationen und Nebenwirkungen, die direkt auf die antiretrovirale Therapie zu beziehen sind, wie z. B. Laktatazidose oder Pankreatitis, besteht die Notwendigkeit, eine laufende antiretrovirale Therapie abzusetzen [35]. . Tabelle 66.2 gibt Auskunft über die Häufigkeit des Entstehens einer Laktatazidose unter verschiedenen antiretroviralen Therapieschemata. . Tabelle 66.2. Assoziation spezifischer Nukleosidanalogakombinationen mit Laktatazidosen. (Nach [14]) Therapieregime
Inzidenzrate von Laktatazidosen [Fälle/1000 Personenjahre]
Doppel-NRTI
66.10 Antiretrovirale Therapie auf der
Intensivstation Die Prognose der HIV-Erkrankung ist durch die Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) seit 1996 erheblich verbessert worden. Obwohl dies eigentlich einen positiven Einfluss auf die HIV-Testpraxis haben sollte, ist davon auszugehen, dass ca. 30% der auf der Intensivstation erstmalig gestellten Diagnosen einer HIV-Infektion bei Patienten erhoben werden, die bereits einen fortgeschrittenen HIV-induzierten Immundefekt (<200 CD4-positive Lymphozyten/Pl Blut) aufweisen [46].
66
AZT/3TC d4T/3TC d4T/ABC d4T/ddl
3 16,9 40 59,4
Tripel-NRTI AZT/3TC/ABC d4T/3TC/ABC d4t/3TC/ddl
12,7 103,4 119
NRTI: nukleosidale reverse Transkriptaseinhibitoren.
854
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
Obwohl die Pathogenese der Laktatazidosen unter antiretroviraler Therapie noch nicht vollständig geklärt ist, scheint die Fähigkeit verschiedener antiretroviral wirksamer Substanzen, mitochondriale DNA-Polymerase-J zu inhibieren, Störungen in der Atmungskette hervorzurufen und eine damit unter Umständen lebensbedrohliche Laktatazidose auszulösen.
Eine Pankreatitis kann Teil dieses Syndroms sein, sie kann aber auch durch die direkte toxische Wirkung antiretroviraler Substanzen, wie etwa Didanosin, auftreten. Eine Reihe von antiretroviral wirksamen Substanzen, insbesondere Proteaseinhibitoren, können erhöhte Plasmakonzentrationen von Cholesterin, Triglyzeriden und Glukose hervorrufen (Lipodystrophiesyndrom). Dies kann zu schweren intensivmedizinisch relevanten metabolischen Komplikationen führen [35]. Es konnte gezeigt werden, dass nichtnukleosidale Inhibitoren (Nevirapine) der HIV-reversen Transkriptase in einigen Fällen Leberversagen hervorrufen können. Auch andere antiretroviral wirksame Substanzen, die bei hochaktiver antiretroviraler Therapie zum Einsatz kommen, besitzen – insbesondere in Kombination mit anderen im Rahmen der Intensivbehandlung häufig benutzten Medikamenten – eine relevante Lebertoxizität. Wenn die intensivmedizinisch behandlungsbedürftige Erkrankung des Patienten in relevantem Maße auf Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie zu beziehen ist, zwingt dies dazu, die antiretroviralen Medikamente abzusetzen. Eine wirksame Nachfolgebehandlung mit anderen antiretroviralen Subs tanzen oder Substanzkombinationen ist aufgrund von Nebenwirkungen, Resistenzentwicklung und Interaktionen mit anderen Medikamenten, gerade bei antiretroviral vorbehandelten Patienten, häufig schwer zu selektionieren.
HIV-Resistenzentwicklung gegen die antiretrovirale Therapie
66
Patienten mit HIV-Infektion können aufgrund antiretroviraler Vorbehandlung eine Resistenz gegen einige oder alle bis zu diesen Zeitpunkt eingenommenen antiretroviralen Medikamente entwickeln. Bei diesen Patienten besteht in der Regel eine nur wenig durch Medikamente kontrollierte HI-virale Replikation. Diese Patienten sind erfahrungsgemäß besonders durch das Auftreten schwerer opportunistischer Infektionen und Tumoren gefährdet. Ihr HIV-induzierter Immundefekt ist, gerade beim Auftreten schwerer intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Komplikationen, kurzfristig nur sehr eingeschränkt durch Medikamente beeinflussbar. Die bloße Fortführung der laufenden antiretroviralen Medikation ist daher in dieser klinischen Situation nicht effektiv und möglicherweise durch erhebliche Nebenwirkungen belastet. Bestehen jedoch bei diesen Patienten unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen, individuellem Resistenzprofil und Medikamenteninteraktionen aussichtsreiche medikamentös-antiretrovirale Alternativen, so können diese – gerade in einer derartigen Situation – hilfreich sein. 66.10.3 Durchführung der antiretroviralen
Therapie auf der Intensivstation Grundsätzlich sollte die antiretrovirale Therapie als Kombinationsbehandlung und nach den definierten Richtlinien (z. B.
deutsch-österreichische Empfehlungen zur antiretroviralen Therapie [18], europäische Richtlinien zur Durchführung der antiretroviralen Therapie [11]) durchgeführt werden. Besonderheiten bei der Anwendung dieser Therapie auf der Intensivstation ergeben sich insbesondere durch die vorab angesprochenen Punkte. In den . Tabelle 66.3 bis 66.5 sind die wichtigen Charakteristika der antiretroviral wirkenden Medikamente mit ihren grundlegenden pharmakokinetischen Parametern und metabolischen Wirkungen zusammengefasst. Modifikationen der Dosis ergeben sich durch Begleiterkrankungen, wie Niereninsuffizienz und hepatische Funktionseinschränkung. Die entsprechend notwendigen Anpassungen sind in . Tabelle 66.6 aufgeführt. 66.10.4 Besondere Schwierigkeiten bei der
Anwendung antiretroviraler Medikamente während intensivmedizinischer Behandlung Plötzliches Absetzen der antiretroviralen Medikamente Das plötzliche Absetzen antiretroviraler Medikamente führt gelegentlich zu einem sich im Verlauf von Tagen entwickelnden Absinken der Anzahl CD4-positiver Zellen im Blut und zu einem massiven Anstieg der HI-Viruslast. Dies kann die Ursache für ein akutes »Serokonversionssyndrom« mit Verschlechterung des Allgemeinenzustands und/oder Fieber und Arthralgien sein. Andererseits zeigen andere Untersuchungen, dass das Absetzen der antiretroviralen Therapie in einigen, bisher nicht genau definierten Fällen auch zur Induktion spezifischer Immunreaktionen und damit zur Verbesserung der individuellen Immunreativität gegenüber der autologen HIV-Population im Sinne einer »Selbstimmunisierung« führen kann. Das Absetzen der antiretroviralen Therapie kann von einer beschleunigten Entwicklung von Resistenzen gegen antiretrovirale Substanzen gefolgt sein. Dies trifft v. a. für die Gruppe der nichtnukleosidalen Inhibitoren der reversen Transkriptase zu, da diese Substanzen nach dem Absetzen mit einer mittleren Halbwertszeit im Plasma zwischen 3 und 5 Tagen einen für einige Tage anhaltenden subtherapeutischen Wirkspiegel entfalten, währenddessen sich Resistenzen gegen diese Medikamente entwickeln können.
Resistenzentwicklung Während der intensivmedizinischen Behandlung kann es zur Entwicklung von Resistenzen aufgrund schlechter Resorption der antiretroviralen Substanzen aus dem Darm und damit zu einer anhaltenden Unterdosierung kommen. Dies hat nicht nur einen Wirkungsverlust, sondern auch eine beschleunigte Resistenzentwicklung zur Folge. ! Cave Die antiretroviralen Substanzen können nur voll funktionsfähig sein, wenn die resorptive Funktion des Darms in vollem Umfang erhalten ist. Dies ist aber nur dann gewährleistet, wenn der Patient in der Lage ist, orale Kost zu sich zu nehmen und/oder per Sonde ernährt zu werden.
66
855 66.10 · Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation
. Tabelle 66.3. Eigenschaften der nukleosidalen Inhibitoren der reversen Transkriptase Freiname Handelsname
Zidovudin Retrovir
Didanosin Videx
Zalcitabine Hivid
Stavudine Erit
Lamivudine Epivir
Abacavir Ziagen
Dosis
500 mg/Tag (2 Dosen)
400 mg/Tag (2 Dosen)
2,25 mg/Tag (3 Dosen)
80 mg/Tag (2 Dosen)
300 mg/Tag (2 Dosen)
600 mg/Tag (2 Dosen)
Orale Bioverfügbarkeit
60–70%
30–40%
85%
85%
85%
83%
Plasmahalbwertszeit
1,1 h
1,6 h
1,2 h
1h
3–6 h
1,5 h
Zelluläre Halbwertszeit
3h
25 h
3h
3,5 h
12 h
3,3 h
Liquorkonzentration
50–85% der Plasmakonzentration
20% der Plasmakonzentration
20% der Plasmakonzentration
40% der Plasmakonzentration
10% der Plasmakonzentration
27–33% der Plasmakonzentration
Metabolisierung
Hepatisch (50–80%)
Hepatisch (50%)
Hepatisch (5–10%)
Hepatisch (50%)
k. A.
Hepatisch
Ausscheidung
Renal (15% unverändert)
Renal (15% unverändert)
Renal (70% unverändert) und fäkal (<10%)
Renal (50% unverändert)
Renal (70% unverändert)
Renal 83% (2% unverändert, 81% metabolisiert)
Nebenwirkungen
Myelosuppression, Anämie, Neutropenie, Myalgien, Myopathie, Kopfschmerzen,
Pankreatitis, Hyperurikämie, periphere Neuropathie, Diarrhö, gastrointestinale Beschwerden
Periphere Neuropathie, orale Ulzerationen
Periphere Neuropathie, Pankreatitis
Periphere Neuropathie
Hypersensitivitätssyndrom (2–3%)
k. A.: keine Angaben.
. Tabelle 66.4. Eigenschaften der nichtnukleosidalen und nukleotidanalogen (Tenofovir) Inhibitoren der reversen Transkriptase Freiname Handelsname
Nevirapin Viramune
Efavirenz Sustiva
Delavirdine Rescriptor
Tenofovir Viread
Empfohlene Dosis
200 mg/Tag (2 Dosen) für 14 Tage, dann 400 mg/Tag (2 Dosen)
600 mg/Tag (1 Dosis)
1200 mg/Tag (3 Dosen)
300 mg/Tag
Orale Bioverfügbarkeit
>90%
66%
>85%
39%
Plasmahalbwertszeit
25–30 h
40–55 h
5–8 h
16 h (10–50 h zellulär)
Liquorkonzentration
45% der Plasmakonzentration
0,4% der Plasmakonzentration
0,26–1,2% der Plasmakonzentration
Unbekannt
Metabolisierung
Hepatisch (CYP3A4)
Hepatisch (CYP3A4)
Hepatisch (CYP3A4)
Hepatisch
Ausscheidung
Renal 80%, fäkal 10%
Renal 14–34%, fäkal 16–61%
Renal 51%, fäkal 44%
Renal
Nebenwirkungen
Exanthem, erhöhte Transaminasenwerte
»Dizziness«, Schlaflosigkeit, Somnolenz, Psychosen
Exanthem, Kopfschmerzen
Gastrointestinale Beschwerden, erhöhte Transaminasenwerte
856
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
. Tabelle 66.5. Eigenschaften der Proteaseinhibitoren Freiname Handelsname
Indinavir Crixivan
Ritonavira Norvir
Saqinavir Invirase/ Fortovase
Nelfinavir Viracept
Amprenavir Agenerase
Lopinavir/ Ritonavir Kaletra
Empfohlene Dosierung
2400 mg/Tag (3 Dosen)
600 mg/Tag (2 Dosen)
3600 mg/Tag (3 Dosen)
2250 mg/Tag (3 Dosen)
2400 mg/Tag (2 Dosen)
800/200 mg/Tag (2 Dosen)
Orale Biover fügbarkeit
30–60%
80%
4–8%/16–32%
20–80%
Kapsel: >70%, oral Lösung: ca. 65%
k. A.
Liquorkonzentration
14,70% der Plasmakonzentration
<1% der Plasmakonzentration
<1% der Plasmakonzentration
<1% der Plasmakonzentration
<1% der Plasmakonzentration
k. A.
Plasmahalbwertszeit
1,5–2 h
3–5 h
1–2 h
3,5–5 h
9h
5–6 h
Metabolisierung
Hepatisch (CYP3A4; Inhibition)
Hepatisch (CYP3A5; Inhibition)
Hepatisch (CYP3A6; Inhibition)
Hepatisch (CYP3A7; Inhibition)
Hepatisch (CYP3A8; Inhibition)
Hepatisch (CYP3A9; Inhibition)
Ausscheidung
Biliär
Biliär
Biliär
Biliär
Biliär
Biliär (<3% über den Urin)
Nebenwirkungen
Nephrolithiasis, gastrointestinale Beschwerden, Hyperbilirubinämie
Gastrointestinale Beschwerden, orale Parästhesie, erhöhte Transaminasewerte
Gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerzen
Diarrhö
Gastrointestinale Beschwerden, Exanthem
Gastrointestinale Beschwerden, Exanthem
k. A.: keine Angaben. a Zur Veränderung der Pharmakokinetik anderer antiretroviraler Substanzen werden geringere Dosen verabreicht (ausführliche Darstellung bei [11, 18]).
Andererseits sind nur sehr wenige Daten vorhanden, die detailliert Auskunft über die Resorption und Wirksamkeit der verwendeten antiretroviral wirksamen Substanzen nach Applikation über eine nasogastrale Sonde geben. Zidovudin ist die einzige Substanz, die parenteral intravenös verabreichbar ist.
Therapeutisches »Drug monitoring«
66
Plasmaspiegel können für Proteinaseinhibitoren und nichtnukleosidale Inhibitoren der reversen Transkriptase gemessen werden und so (insbesondere die Talspiegel vor erneuter Applikation) einen gewissen Anhalt für die Resorption dieser Substanzen aus dem Darm ergeben. Spiegelbestimmungen für nukleosidale Inhibitoren der reversen Transkriptase sind jedoch – insbesondere in der Intensivbehandlung – häufig nicht besonders aussagefähig, da keine Informationen über den Grad der intrazellulären Phosphorilierung und damit über die eigentlich wirksamen Metaboliten zu erhalten sind.
Medikamenteninteraktionen Von besonderer Bedeutung sind Interaktionen der antiretroviral wirksamen Substanzen mit anderen häufig in der intensivmedizinischen Behandlung verwendeten Substanzen, insbesondere wenn enzyminduzierende Substanzen, wie Phenytoin oder Rifampicin, Anwendung finden.
! Cave Proteaseinhibitoren und nichtnukleosidale Inhibitoren der reversen Transkriptase können als Inhibitoren des Cytochrom C450IIIa4 wirken und damit den Metabolismus vieler häufig auf Intensivstationen verwendeter Substanzen, einschließlich der Opioide, in relevantem Maße beeinflussen.
Zusammenfassend sollte in der Praxis so oft wie möglich und so weitgehend wie möglich eine antiretrovirale Therapie auch während der intensivmedizinischen Behandlung fortgesetzt werden. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Medikamentennebenwirkungen und -interaktionen, insbesondere für die intensivmedizinische Behandlung und deren Effekt, von ausschlaggebender Bedeutung sein können. Um eine Gefährdung des Patienten zu vermeiden, muss in einer solchen Situation zum Absetzen der antiretroviralen Therapie und zur primären Behandlung der für die klinische Entwicklung relevanten Erkrankungen geraten werden, auch wenn diese durch den HIV-induzierten Immundefekt mitbedingt sind. Es wäre zu wünschen, dass der Effekt einer hochaktiven antiretroviralen Therapie auf die klinischen Verläufe intensivme dizinisch behandelter Patienten unter möglichst kontrollierten Bedingungen an größeren Patientenzahlen untersucht und dokumentiert wird, um zukünftig eine Basis für verlässliche Empfehlungen zum Einsatz und zur Fortführung dieser Therapie unter intensivmedizinischen Bedingungen zu erhalten.
857 66.11 · Grundlagen für die mit dem Patienten abgestimmte intensivmedizinische Behandlung
66
. Tabelle 66.6. Dosismodifikationen antiretroviraler Medikamente bei Organinsuffizienz Substanz
Dosierung bei Niereninsuffizienz
Dosierung bei Hämodialyse
Dosierung bei Leberversagen
Kreatininclearance 50–80 ml/min
10–50 ml/min
<10 ml/min
Abacavir
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
Nach Möglichkeit vermeiden
Didanosin
250 mg/Tag
150–250 mg/Tag
>60 kg KG: 100 mg/Tag; <60 kg KG: 50 mg/Tag
>60 kg KG: 200 mg/Tag; <60 kg KG: 125 mg/Tag, jeweils nach Dialyse
Nach Möglichkeit vermeiden
Lamivudin
k. D.
150 mg/Tag
25–50 mg/Tag
25–50 mg/Tag, nach Dialyse
k. D.
Stavudin
k. D.
20 mg/Tag
20 mg/Tag
>60 kg KG: 20 mg/Tag; <60 kg KG: 15 mg/Tag, jeweils nach Dialyse
k. D.
Zalcitabin
k. D.
0,75 mg/Tag
Vermeiden oder 0,75 mg/Tag
0,75 mg, nach Dialyse
Nach Möglichkeit vermeiden
Zidovudin
k. D.
100–200/12 h
100mg/12 h
k. D.
Dosisreduktion um 50%
Nevirapine
k. D.
200 mg/Tag, wenn Kreatininclearance <25 ml/min
200 mg/Tag
200 mg/Tag, nach Dialyse
Nach Möglichkeit vermeiden
Efavirenz
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
k. A.
Nelfinavir
k. D.
k. D.
k. D.
Widersprüchliche Daten
Dosisreduktion, Spiegelbestimmung
Indinavir
Vermeiden
Vermeiden
Vermeiden
k. D.
Dosisreduktion, Spiegelbestimmung
Saquinavir
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
Dosisreduktion, Spiegelbestimmung
Ritonavir
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
Dosisreduktion, Spiegelbestimmung
Amprenavir
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
Dosisreduktion auf 300–450 mg/Tag
Lopinavir
k. D.
k. D.
k. D.
k. D.
Dosisreduktion, Spiegelbestimmung
k. D.: keine Dosisanpassung; k. A.: keine Angaben.
66.11 Grundlagen für die mit dem Patienten
abgestimmte intensivmedizinische Behandlung – Vorausanweisungen und Vollmachten
Entscheidungen hinsichtlich intensivmedizinischer Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion sollen – wie bei der intensivmedizinischen Behandlung von Patienten ohne HIV-Infektion – die Kurz -und Langzeitprognose, die Ziele der Behandlung, die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkei6
ten, diese Ziele zu erreichen, die Vorteile der Behandlung und die Wünsche des Patienten hinsichtlich lebenserhaltender Therapie berücksichtigen.
In einer Studie wurde festgestellt, dass etwa 70% der Patienten mit fortgeschrittener HIV-Infektion Wert darauf legen, lebenserhaltende Maßnahmen und deren Möglichkeiten und Grenzen mit ihren Ärzten zu diskutieren. Dabei zeigte sich auch, dass nur etwa 1/3 der Patienten, die sich bis zu diesem Zeitpunkt lediglich in ambulanter Behandlung befunden hatten, ein Gespräch über intensivmedizinische Maßnahmen mit ihren Ärzten geführt hat-
858
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
ten. Patienten dagegen, die sich in dem Jahr vor der Befragung in stationärer Behandlung befanden, hatten in einem wesentlich höheren Prozentsatz den Wunsch, mit ihrem Arzt oder zumindest mit Familienmitgliedern und ihrem Partner über die Indikation und die Durchführung lebenserhaltener Maßnahmen zu sprechen. Grundsätzlich hat jeder Patient das Recht, über geplante medizinische und gerade auch über intensivmedizinische Maßnahmen informiert zu werden und diese sowohl in einer terminal bedrohlichen als auch in einer nicht bedrohlichen klinischen Situation abzulehnen. Dabei ist eine frühzeitige Patientenbestimmung, unter Umständen lange vor Notwendigwerden intensivmedizinischer Maßnahmen, über die Durchführung medizinischer Maßnahmen, insbesondere lebenserhaltenden Maßnahmen, von besonderer Bedeutung, da in diesem Fall davon ausgegangen werden kann, dass der Patient sich im Vollbesitz seiner geistigen Entscheidungskapazität befindet (7 Kap. 3; [49]). 66.12 Über tragung der HIV-Infektion auf der
Intensivstation 66.12.1 Prävention Die wirksamsten und einfachsten Methoden zur Verhinderung der Übertragung von HIV-Infektionen wie auch anderen durch Blut übertragbaren Virusinfektionen auf das ärztliche oder Pflegepersonal sowie auf andere Patienten liegen in der Beachtung der Hygieneregeln und der Unfallverhütungsvorschriften. 66.12.2 Postexpositionelle Prophylaxe Gerade auf Intensivstationen ergibt sich bei der Behandlung HIV-infizierter Patienten häufig die Frage einer möglichen Exposition des ärztlichen und des Pflegepersonals gegenüber HIV [42]. Berufliche HIV-Übertragungen sind bisher nur durch Blut oder Viruskonzentrat (Viruskultur) erfolgt, und zwar bei 4 Stich- und Schnittverletzungen, 4 Kontakt mit einer offenen Wunde oder nichtintakter (geschädigter) Haut, 4 Schleimhautexposition.
i Für die Übertragung der HIV-Infektion scheinen die Menge und die Zeitdauer des Kontakts mit dem HIV-infizierten Agens (z. B. Blut) entscheidend zu sein.
Die statistische Wahrscheinlichkeit einer Übertragung liegt für die unterschiedlichen Übertragungswege in der Größenordnung zwischen 1 Infektion pro 100 und 1 Infektion pro 1000 Expositionen. Dieses »Basisrisiko« wird durch zahlreiche Variablen beeinflusst. Entscheidend für die Indikationsstellung zu einer Postexpositionsprophylaxe gegen HIV ist die Einschätzung des Infektionsrisikos. Zur Einschätzung des konkreten Infektionsrisikos nach HIV-Exposition und zur Abklärung einer möglichen Resistenz des HIV sollten deshalb folgende Fragen geklärt werden: 4 Wann hat der mögliche Kontakt mit HIV stattgefunden? 4 Von welcher Indexperson stammt das Material? 4 Wie wurde HIV möglicherweise übertragen (z. B. Hohlraumkanülen, Schleimhautkontakt?) 4 Inspektion vorliegender Verletzungen, zeigt das verletzende Instrument Spuren der Kontamination mit Blut? 4 Ist die Indexperson nachweislich infiziert bzw. wie wahrscheinlich ist eine HIV-Infektion? 4 In welchem Stadium der HIV-Erkrankung befindet sich die Indexperson? 4 Wie hoch ist die Virämie der Indexperson (HIV-RNA-Kopien/ml)? 4 Wird/wurde die Indexperson mit antiretroviralen Medikamenten behandelt und wenn ja, mit welchen Medikamenten und über welchen Zeitraum? 4 Welche andere Maßnahmen wurden bisher ergriffen? Eine HIV-Postexpositionsprophylaxe senkt nach akzidentellen Verletzungen das Infektionsrisiko etwa um den Faktor 10. In einer Reihe von Einzelfallberichten sind jedoch auch Serokonversionen unter Monoprophylaxe mit AZT dokumentiert. Jeder Postexpositionsprophylaxe sind somit enge Grenzen allein durch die begrenzte Wirksamkeit der Medikamente und den notwendig schnellen Behandlungsbeginn gesetzt. Daran orientieren sich die im Folgenden kurz zusammengefassten Empfehlungen zu Indikation, Beginn, Art und Dauer einer medikamentösen Postexpositionsprophylaxe gegen HIV [42]. Exponierte Personen, die sich nach Feststellung des Risikos einer Postexpositionsprophylaxe unterziehen wollen, sind über folgende Sachverhalte aufzuklären:
66
. Abb. 66.2. Sofortmaßnahmen zur Postexpositionsprophylaxe gegen HIV
859 Literatur
4 Die für die Postexpositionsprophylaxe verwendeten Medikamente sind für die Therapie der HIV-Infektion, nicht aber für deren Prophylaxe zugelassen. 4 Die Postexpositionsprophylaxe kann versagen. 4 Bis zum Vorliegen eines aussagekräftigen negativen HIVTests (3, ggf. 6 Monate nach der HIV-Exposition) sollten Kondome benutzt und/oder »safer sex« eingehalten werden. 4 Es besteht ärztliche Dokumentationspflicht. Die HIV-exponierte Person sollte schriftlich erklären, dass sie mit der Postexpositionsprophylaxe gegen HIV einverstanden ist und über Nutzen und Risiken aufgeklärt wurde. Sofortmaßnahmen
Nach jeder HIV-Exposition sollten die in . Abb. 66.2 dargestellten Sofortmaßnahmen unverzüglich in der genannten Reihenfolge eingeleitet werden.
Indikation zur Postexpositionsprophylaxe Empfehlung. Eine Postexpositionsprophylaxe gegen HIV sollte in jedem Fall empfohlen werden bei Kontakten mit erhöhtem Infektionsrisiko. Als solche gelten die perkutane Stichverletzung mit Injektionsnadel oder anderer Hohlraumnadel und die Schnittverletzung unter Beteiligung von Körperflüssigkeiten mit potenziell hoher HIV-Konzentrationen (z. B. Blut). Angebot. Eine Postexpositionsprophylaxe gegen HIV kann angeboten werden bei Schleimhaut- oder Hautkontakt mit Flüssigkeiten von hoher Viruskonzentration bei erhöhtem Infektionsrisiko (Hautekzem, frischer Wunde etc.) oder bei sichtbaren Verletzungen, z. B. mit einer blutig tingierten chirurgischen Nadel. Bei geringfügigen, ober flächlichen Verletzungen der Hornschicht ist wegen der Art der Wunde und minimal übertragbarer Blutmenge das theoretische Infektionsrisiko sehr viel kleiner als im Durchschnitt. Die Postexpositionsprophylaxe gegen HIV sollte hier nicht angeboten und nur auf ausdrücklichen Wunsch der verletzten Personen durchgeführt werden.
Keine Empfehlung. Eine Postexpositionsprophylaxe gegen HIV sollte nicht empfohlen werden bei allen fraglichen HIV-Expositionen ohne bzw. mit geringem Risiko, wie z. B. perkutanem Kontakt mit anderen Körperflüssigkeiten als Blut, wie Urin oder und Speichel, und bei alleinigem Kontakt von infektiösem Material mit intakter Haut.
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66
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66
Kapitel 66 · Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion auf der Intensivstation
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XI
Trauma
67
Polytrauma
–863
68
Schädel-Hirn-Trauma
69
Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
70
Thoraxtrauma
71
Bauchtrauma
72
Brandverletzungen
73
Tauchunfälle, Beinahe-Er trinken, Unterkühlung
–877 –893
–903 –911 –919 –933
67 Polytrauma M. Lehnert, I. Marzi
67.1
Allgemeine Aspekte
67.2
Pathophysiologie
67.2.1 67.2.2
Pathophysiologie des Ischämie-Reperfusions-Syndroms –865 Wertigkeit klinisch messbarer Entzündungsmarker –865
67.3
Behandlung des posttraumatischen Organversagens
67.3.1 67.3.2 67.3.3
Inzidenz –865 Intensivtherapie nach Polytrauma –866 Infusions-, Transfusions- und kardiozirkulatorische Therapie –866
67.4
Operative Therapie
67.4.1 67.4.2 67.4.3 67.4.4 67.4.5
Allgemeine Aspekte –868 Behandlungsphasen –869 Übersehene Verletzungen, Patientenübergabe und Folgeoperationen –874 Immun- und metabolismusmodulierende Therapiemaßnahmen –874 Zusammenfassung der Intensivtherapie bei Polytrauma –875
Literatur
–875
–864
–864
–865
–868
864
Kapitel 67 · Trauma
67.1
Allgemeine Aspekte
Der Begriff Polytrauma kennzeichnet die Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei im Idealfall eine komplette Wiederherstellung möglich ist, Einzelverletzungen überlebbar sind, die Kombination der Einzelverletzungen jedoch tödlich enden kann. Im Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie wurden von 1993 bis Ende 2006 fast 25.000 schwerverletzte Patienten erfasst. Es fanden sich ein vorwiegend stumpfer Unfallmechanismus (95%) mit einem Verletzungsschweregrad laut Injury Severity Score (ISS) von 23,9 und ein NACA-Index (National Advisory Board Committee for Aeronautics) von mindestens Grad 4 bei 86,9% der Patienten; 31% der Patienten waren primär bewusstlos (GCS <8: 31%). Das Verletzungsmuster umfasste folgende schwere Verletzungen [Abbreviated Injury Scale (AIS) t3]: 4 Kopf-Hals-Bereich 58,3%, 4 Thoraxtrauma 56,6%, 4 Abdominaltrauma 23,8%, 4 Extremitätenverletzungen 37,9%.
67
3% der Patienten wurden am Unfallort reanimiert, 18,5% der Patienten entwickelten ein Multiorganversagen und 15,3% der Patienten starben im weiteren klinischen Verlauf [2]. Die Behandlung des polytraumatisierten Patienten umfasst nicht nur die Wiederherstellung verletzter Organstrukturen; sie muss vielmehr auch die zum Organversagen führenden Pathomechanismen berücksichtigen. Kurze Rettungszeiten, gezielter Volumenersatz und frühzeitige respiratorische Unterstützung verhindern zunehmend den frühen Unfalltod durch Verblutung oder Ateminsuffizienz. Während eine differenzierte Infusions- und Intensivtherapie immer seltener zu einem frühen therapieresistenten Organversagen, z. B. der Niere oder Lunge führt, rücken das komplexe sequenzielle Versagen mehrerer Organsysteme (Multiorganversagen; MOV) sowie die Sepsis in den Vordergrund. Abgesehen von den individuellen und sozialen Folgen eines überlebten Multiorganversagens ist die Prophylaxe und Therapie eines MOV mit einem erheblichen apparativen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden. Es bleibt damit in jeder Hinsicht klare therapeutische Zielsetzung, sekundäre Organkomplikationen nach Polytrauma auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Durch ein Trauma mit Todesfolge kommt es z. B. in den USA zu einem mittleren Verlust von 35 Lebensjahren, dieser beträgt durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen 12‒13 Lebensjahre und durch bösartige Neubildungen ca. 16 Jahre. Diese Zahlen heben die enorme sozioökonomische Bedeutung des Traumas hervor [1]. 67.2
Pathophysiologie
Direkt vom Trauma abhängig (»first hit«) entwickelt sich eine systemische Entzündungsreaktion (SIRS), die als physiologische körpereigene Abwehrleistung (»host defence response«) angesehen werden kann. Die schwere äußere Gewalt führt zu ausgedehnter Gewebezerstörung verschiedener Körperregionen und umfasst 5 grundlegende Komponenten: 4 Weichteiltrauma, 4 Organtrauma,
4 Frakturen, 4 Ischämie/Reperfusion und Hypoxie, 4 Infektion. Die durch den »first hit« aktivierte Kaskade der körpereigenen Abwehrreaktion (»host defence response«) wird im weiteren Verlauf gemeinsam mit der durch Schmerz und Stress ausgelösten neuroendokrinen Reaktion durch verschiedene sekundäre Faktoren weiter stimuliert (»second hit«). Hierzu zählen exogene Belastungen, wie z. B. ausgedehnte chirurgische Inter ventionen, fortdauernder Transfusionsbedarf, Infekte und endogene Belastungen, wie z. B. Hypoxie, metabolische Azidose, Ischämie-Reperfusions-Syndrome durch rezidivierende Blutdruckabfälle oder vorhandene Gewebsnekrosen nach ungenügendem chirurgischem Debridement sowie Infekte [22, 24]. In Abhängigkeit von der Verletzungsschwere und vom posttraumatischen Verlauf wird neben der systemischen Inflammation (SIRS) ein kompensatorisches antiinflammatorisches Syndrom (»compensatory antiinflammatory response syndrome«; CARS) ausgelöst, das neben der als günstig anzusehenden Begrenzung der Entzündungsreaktion auch in eine posttraumatische Immunsuppression mit verminderter Resistenz gegen Infekte münden kann. Bis zu einer gewissen Schwelle gelingt es dem Organismus, den entstandenen Schaden durch eigene Reparaturmechanismen (Wund- und Frakturheilung, Blutungsstillung) zu begrenzen und im günstigen Fall zur lokalen Heilung zu gelangen. Abhängig von individuellen Faktoren und der Traumaschwere werden jedoch durch die systemische Einschwemmung lokal freigesetzter Entzündungsmediatoren auch verletzungsferne Organe in einen generalisierten Entzündungsprozess (»whole body inflammation«) einbezogen. In diesem Fall kann der immunologische Abwehrprozess außer Kontrolle geraten, und die hochaktiven Abwehrkaskaden (Phagozyten, Monozyten, Komplement u. a.) schädigen Endothelien und Parenchymzellen (. Abb. 67.1). Sie können durch den Verbrauch aber auch kompensieren. Werden die körpereigenen Schutzmechanismen (z. B. Antioxidanzien, Proteaseninhibitoren) übermäßig beansprucht oder therapeutisch nicht ausreichend unterstützt, entsteht ein Zellschaden, und der Organismus entwickelt leicht eine Organdysfunktion. Der Übergang der physiologischen »host defense response” mit SIRS und reversiblen Organdysfunktionen in ein prolongiertes Multiorgandysfunktionssyndrom (MODS) und evtl. irreversibles Multiorganversagen (MOV) wird als »host defence failure disease« beschrieben. Es kann bereits früh (Tag 1‒5) manifest werden und ist zu unterscheiden vom sekundär auftretenden MODS oder MOV, bei dem die Kompensationsmechanismen des SIRS durch weitere Insulte (»second hits«) überlastet werden oder es im Rahmen der Immunsuppression (CARS) zu einem Infekt kommt. i Die gestörte Balance zwischen immunstimulierenden und antiinflammatorischen Mechanismen ist wesentliche Ursache der posttraumatischen Zelldysfunktion und damit Wegbereiter des Organversagens.
In 7 Kap. 61 wird der Themenkomplex Inflammation und SIRS eigens behandelt, sodass im Weiteren nur auf die besonderen Aspekte beim polytraumatisierten Patienten eingegangen wird.
865 67.3 · Behandlung des posttraumatischen Organversagens
67
. Abb. 67.1. Komponenten der posttraumatischen Entzündungsreaktion
67.2.1 Pathophysiologie des Ischämie-
Reper fusions-Syndroms Nach kontusionsbedingter lokaler oder schockinduzierter systemischer Ischämie werden zellluläre ATP-Vorräte verbraucht; toxische Metaboliten und Laktat akkumulieren in der Zelle. Durch die (wieder einsetzende) Reperfusion kommt es zu einer Reoxygenierung der Gewebe und zur Bildung freier Sauerstoffradikale sowie zur Einschwemmung toxischer Stoffwechselprodukte in den Kreislauf. Die Bildung reaktiver O2-Radikale in der frühen Reperfusionsphase ist die Ursache eines membrandestabilisierenden Peroxidationsprozesses und initiiert, neben einer endothelialen Permeabilitätsstörung (Kapillarleck), eine lokale Entzündungsreaktion mit Störung der Mikrozirkulation. Letztere spiegelt sich in ansteigenden Laktatserumwerten wider. Es kommt zur Expression von Adhäsionsmolekülen mit nachfolgender Anhaftung und Gewebeeinwanderung von neutrophilen Leukozyten, die weitere Gewebeschäden induzieren. Der programmierte Zelltod (Apoptose) wird ebenfalls infolge eines Traumas aktiviert und betrifft u. a. Hepatozyten und Enterozyten. Des Weiteren nimmt im Rahmen des CARS der durch Apoptose induzierte Abfall der Blutmonozyten deutlich zu. Die sequenzielle Aktivierung immunkompetenter T- und B-Zellen, die Freisetzung systemisch wirksamer Mediatoren (TNF, Interleukine, Wachstumsfaktoren), die Aktivierung des Komplement, des Gerinnungs- sowie des Kallikrein-Kinin- Systems, die Interaktion mit neuroendokrinen Regulationskreisen und die veränderte Substratzufuhr beeinträchtigen den Gesamtorganismus. Nutritiv bedingte Proteindefizite und Vitaminmangelzustände tragen weiterhin zu einer verminderten Immunität bei [10]. 67.2.2 Wer tigkeit klinisch messbarer
Wert ist hierbei mit der Traumaschwere assoziiert und kann außerdem die Entwicklung posstraumatischer Komplikationen (MODS, ARDS, Tod) vorhersagen [14, 17]. Weiterhin führte die frühe posttraumatische Versorgung von Verletzungen des Oberschenkels,des Beckens oder der Wirbelsäule bei einem Il-6-Schwellenwert von >500 pg/Pl zu einer erhöhten MODS-Inzidenz [19]. Auf Seiten der antiinflammatorischen Mediatoren korrreliert Il-10 mit der Entwicklung posttraumatischer Komplikationen (Sepsis, ARDS). Hierbei kommt der immunsuppressive Effekt des Il-10 zum Tragen. Weiterhin besitzen der TNF-Rezeptor 1 wie auch der Il-1Rezeptorantagonist einen Vorhersagewert für das Aufreten posttraumatischer Komplikationen [7]. Procalcitonin (PCT) kann ebenfalls mit dem klinischen Verlauf nach Polytrauma assoziiert werden, wobei ein fehlender Abfall des postraumatischen Anstiegs mit Sepsis und/oder MODS in Verbindung gebracht werden kann [12, 29]. Insbesondere bei Lungenkontusionen oder abdominellen Traumen wird eine hohe PCT-Produktion beobachtet, daher besitzt dieser Parameter eine gewisse Organspezifität bei der Charakterisierung der Verletzungsschwere. Dieser wichtige Aspekt der topographischen Zuordnung eines Markers wird auch in der Bestimmung von Proteinen aus der Gruppe der »fatty acid binding proteins« (FABP) berücksichtigt, die z. B. als spezifisch für die Freisetzung aus der Leber bzw. aus dem Dünndarm bestimmt werden können. Ihre Wertigkeit für die klinische Einschätzung von Polytraumapatienten ist Gegenstand aktueller klinischer Studien. 67.3
Behandlung des posttraumatischen Organversagens
67.3.1 Inzidenz
Entzündungsmarker Neben den routinemäßig etablierten CRP-Messungen setzt sich die Bestimmung neuerer Parameter der posttraumatischen Entzündungsreaktion zur Quantifizierung des immunologischen Status und zur weiteren Therapieplanung (elektive operative Eingriffe) des Patienten immer mehr durch. Der Serum- Il-6-
Laut Traumaregister der DGU entwickelten 18,5% der erfassten polytraumatisieren Patienten ein Multiorganversagen; die durchschnittliche Intubations- und Beatmungsdauer lag bei 9,1 Tagen, und 2,4% der Patienten wurden dialysiert. In einer retrospektiven Untersuchung fanden Regel et al. [31] bei 1171 polytraumatisierten Patienten eine Inzidenz eines MOV von 11,4%. Die Mor-
866
Kapitel 67 · Trauma
Risikoparameter
Schwellenwert
Alter
>55 Jahre
ISS
>24 Punkte
Laktat
>2,5 mmol/l
Basenüberschuss (BE)
>8 mmol/l
Einerseits gibt es Hinweise, dass die ausschließliche Verwendung kristalloider Lösungen (z. B. Ringer-Laktat oder Ringer-Acetat) sich ungünstig auf die Mikro- und Makrozirkulation auswirkt, Leukozyten aktiviert und außerdem mit einer höheren Inzidenz an Organversagen (Lungenveragen, abdominelles Kompartmentsyndrom) einhergeht. Andererseit gibt es mittlerweise Metanalysen, die entweder für die gesamte intensivmedizinische Population oder aber für operative und traumatisierte Patienten eine schlechtere Prognose bei Verwendung kolloidaler Lösungen aufzeigen oder keine günstigen Einflüsse nachweisen konnten.
Transfusionsbedarf
>5 Konserven innerhalb 12 h
Transfusionstherapie
. Tabelle 67.1. Risikofaktoren für die Entwicklung eines MOV
talität lag bei den Patienten mit einem Multiorganversagen bei 61,5%, verglichen mit 11,4% bei den Patienten ohne Organversagen [26]. Die Mortalität eines etablierten MOV nach schwerem Trauma wird in der internationalen Literatur mit ca. 30–50% angegeben. Bekannte Risikofaktoren für die Entwicklung eines MOV sind in . Tabelle 67.1 dargestellt [22, 25]. 67.3.2 Intensivtherapie nach Polytrauma Die Besonderheiten der Intensivtherapie des Polytraumatisierten werden durch die lokalen, insbesondere aber durch die systemischen Folgen der Gewebetraumatisierung mit schwerem SIRS, hämodynamischer Instabilität und schließlich MODS geprägt. Entscheidend ist das auf die pathophysiologischen Besonderheiten des Polytraumatisierten und auf die jeweilige Stufe der operativen Versorgung abgestimmte intensivmedizinische Vorgehen. 67.3.3 Infusions-, Transfusions- und
kardiozirkulatorische Therapie Jeder polytraumatisierte Patient ist vom Volumenmangel bedroht, der zur Herz-Kreislauf-Insuffizienz und schließlich zum hypovolämischen Schock bzw. – zusammen mit der Gewebetraumatisierung – zum traumatisch-hämorrhagischen Schock führen kann (Einzelheiten 7 Kap. 21). Der Volumenmangel mit nachfolgender Minderperfusion der Organe entsteht durch traumainduzierte Blutungen, weiterhin durch Vasodilatation und das Kapillarlecksyndrom im Rahmen des schweren posttraumatischen SIRS. Das wesentliche Ziel besteht im Ausgleich des Volumenmangels, der Verbesserung der Gewebeperfusion und der Verhinderung des Ischämie-Reperfusions-Schadens.
67
! Cave Voraussetzung für eine intensivmedizinische Volumentherapie beim polytraumatisierten Patienten ist jedoch die schnellstmögliche chirurgische Versorgung großer bzw. sich nicht selbst tamponierender Blutungsquellen, da eine aggressive Infusionstherapie mit O2-Träger-freien Lösungen bei unstillbarer Blutung das Ausbluten des Patienten fördern und damit die Prognose verschlechtern kann.
Infusionstherapie Bis heute ist der Streit, ob kristalloide gegenüber kolloidalen Volumenersatzlösungen zu bevorzugen seien, auch für den Volumenersatz beim des Schwerverletzten nicht entschieden (7 Kap. 21).
Beim polytraumatisierten Patienten wird meist ein Hämoglobinwert von 9‒10 g/dl angestrebt. Allerdings ist ungeklärt, in welchen Situationen von diesen Zielwerten nach oben oder unten abgewichen werden kann oder soll. Bei hämodynamisch stabilen Patienten mit isolierter Organverletzung scheinen niedrigere Hb-Werte vertretbar zu sein, nicht jedoch bei Polytraumatisierten, denn die Dynamik des Blutungsverlaufs ist bei multiplen Blutungsquellen und einer durch das Trauma und die Blutverluste induzierten Gerinnungsstörung nur schwer abschätzbar. Wird bei diesen Patienten lediglich bis zur empfohlenen Untergrenze des Hb-Werts transfundiert, kann sich rasch ein hämorrhagischer Schock entwickeln. Zudem stehen häufig Folgeoperationen in der Sekundär- und Tertiärphase an, die ebenfalls mit Hb-relevantem Blutverlust einhergehen. Es bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass Bluttransfusionen ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung eines Multiorganversagens sind und außerdem immunsuppressive Effekte aufweisen.
Messparameter zur Volumen- und Infusionstherapie Es gibt keinen einfachen Parameter zur Beurteilung des intravasalen Volumenstatus. Meist werden folgende Variablen, allein oder in Kombination, zur Diagnose eines Volumenmangels oder zur Effizienzkontrolle einer Volumentherapie herangezogen: 4 systemischer Blutdruck, 4 Herzfrequenz, 4 Urinausscheidung, 4 zentraler Venendruck (ZVD), 4 Herzzeitvolumen, extravaskuläres Lungenwasser, z. B. bestimmt mit Pulskonturanalyse oder Pulmonaliskatheter.
Zielgrößen der Volumen- und Infusionstherapie Eine anhaltende, verborgene Mangeldurchblutung von Geweben ist von großer Bedeutung für die Prognose polytraumatisierter Patienten. Daher sind nicht nur die oben genannten physiologischen Variablen wichtige Endpunkte der Volumentherapie, sondern auch das Laktat als Produkt des anaeroben Stoffwechsels in den hypoxischen Geweben. Ein erhöhter Serumlaktatspiegel und/oder ein zunehmendes arterielles Basendefizit sind Zeichen der ungenügenden Volumentherapie bzw. der anhaltenden Blutverluste (7 Kap. 21). ! Cave Physiologische Marker der Volumentherapie wie z. B. systolischer Blutdruck und Urinproduktion sind nur dann verlässliche Zielgrößen der Volumentherapie, wenn auch die biochemischen Marker wie Serumlaktat und Basendefizit ausgeglichen sind.
867 67.3 · Behandlung des posttraumatischen Organversagens
Je mehr Zeit vergeht, um das Serumlaktat zu normalisieren, desto höher ist die Letalität: Gelingt die Normalisierung innerhalb von 24 h, beträgt die Letalität weniger als 1%; vergehen hingegen mehr als 48 h, steigt die Letatität auf über 85% an [6, 26].
Gerinnungstherapie Die allgemeinen Grundzüge der Gerinnungstherapie sind in 7 Kap. 22 dargestellt. Die Besonderheiten der Gerinnungsstörung beim polytraumatisierten Patienten ergeben sich aus der Kombination von Verlust- und Verdünnungskoagulopathie, häufig verbunden mit Hypothermie und Azidose, aus der sich die »letale Triade« von Hypothermie, Azidose und Koagulopathie ergibt. Durch Weichteilverletzungen werden außerdem große Mengen des subendothelialen »tissue factor” freigesetzt, die zusätzlich zum Verbrauch von Gerinnungsfaktoren führen. Entscheidend ist eine frühe und vorausschauende, quantitativ ausreichende Substitution von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten. Einzelheiten zur Optimierung der Blutgerinnung bei Polytraumatisierten sind in 7 Kap. 21 dargestellt.
Lunge Das Thoraxtrauma wird umfassend in 7 Kap. 70 abgehandelt. Zu beachten bleibt, dass im Rahmen eines Schockgeschehens auch die initial nicht verletzte Lunge einem Ischämie-ReperfusionsGeschehen mit nachfolgender Entzündungsreaktion bis hin zum ARDS unterliegt. Aber auch ohne Thoraxtrauma kann die Sauerstoffversorgung des Organismus durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt werden, z. B. durch abdominelles Kompartmentsyndrom, neurogenes Lungenödem nach Schädel-Hirn-Trauma, Störungen des Atemantriebs, z. B. bei zervikaler Querschnittslähmung, pulmonale Aspiration oder durch eine Fettembolie im Zusammenhang mit multiplen Extremitätenfrakturen. Bei traumaassoziiertem Lungenversagen kann durch eine kinetische Therapie (intermittierende Bauchlage, Rotorest-Bett) die Oxygenierung oft signifikant verbessert werden [27].
67
Niere Die Häufigkeit des akuten Nierenversagens beim Polytraumatisierten ist seit Einführung der frühzeitigen Volumentherapie erheblich zurückgegangen. Ein drohendes oder manifestes Nierenversagen kann durch Einsatz extrakorporaler, insbesondere kontinuierlicher Eliminationsverfahren weitgehend kompensiert werden und sollte daher nicht mehr als limitierendes Einzelorganversagen, sondern als Teil einer Multiorgandysfunktion angesehen werden. Ursache des akuten Nierenversagens ist v. a. eine ischämische Mikrozirkulationsstörung, wobei der hohe Energiebedarf der Tubuluszellen für ischämische Schädigungen prädisponiert. Maßgeblich für den Grad renaler Funktionsstörungen ist die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems sowie die Konzentration vasokonstringierender Substanzen wie Noradrenalin, Thromboxan A2, Leukotrien C und Endothelin. Ist jedoch ein Nierenversagen eingetreten (Anstieg des Serumkreatinins um 0,5–2 mg/dl/Tag), sollten rechtzeitig extrarenale Eliminationsverfahren eingesetzt werden, da sie der traditionellen intermittierenden Dialyse überlegen sind [4]. Einzelheiten 7 Kap. 60. Crush-Syndrom. Diese Sonderform des akuten Nierenversagens
entsteht bei der Zerstörung großer Muskelmassen mit Myoglobinämie und Myoglobinurie. Myoglobin kann, besonders bei saurem Urin-pH, in den Nierentubuli ausfallen und diese verlegen; zusätzlich spielen O2-Radikal-induzierte Nierenschäden eine große Rolle. Zur Prophylaxe eines Nierenversagens ist in dieser Situation eine forcierte Diurese (Urinausscheidung über 2 ml/ kg KG/h) unter Einsatz von Elektrolytinfusionen, Mannit und Furosemid bei gleichzeitiger Alkalisierung des Urins (Urin-pH ≥7) durch vorsichtige Infusion von Natriumbikarbonat indiziert. Die günstigen Effekte des Mannits beim Crush-Syndrom könnten durch seine kombinierte Wirkung als Osmodiuretikum und Antioxidans bedingt sein.
Gastrointestinaltrakt/Leber
Polytrauma und Schädel-Hirn-Trauma
Anhaltende gastrointestinale Perfusionsstörungen, auch nach erfolgreicher Schocktherapie, sind maßgeblich an Mukosaschäden des Darms beteiligt. Diese Schäden ermöglichen den Übertritt von Darmbakterien in die lymphatische und portale Strombahn ( Translokation). Der Nachweis von zirkulierendem Endotoxin ist beim polytraumatisierten Patienten allerdings nur teilweise gelungen. Ein aktiviertes, darmassoziiertes lymphatisches Gewebe (GALT) kann zudem eine Vielzahl von Entzündungsmediatoren als Reaktion auf eine Bakterientranslokation sezernieren; entsprechend kann das Darmsystem als bedeutende Quelle einer Phagozytenaktivierung angesehen werden. Schwere Verletzungen intraabdomineller Organe, insbesondere der Leber und der Milz, bedingen aufgrund des akuten Blutverlusts immer eine hochgradige Bedrohung des Patienten durch Hypoxie und Ischämie, aber auch durch die Belastung des Gerinnungssystems. Verletzungen der Bauchspeicheldrüse können zu einem prognosebestimmenden Faktor werden, wenn eine Berstung oder ischämische Nekrose zum Austritt von Pankreassekret führt. Eine Steigerung der Katecholamintherapie führt über eine Vasokonstriktion der gastrointestinalen Gefäße zu einer zunehmenden Low-flow-Hypoxie des Gastrointestinaltraktes mit weiterer Schädigung der Barrierefunktion der Darmmukosa. Der Einsatz oder die Steigerung einer Katecholamintherapie ist daher immer erst nach erschöpfender Volumentherapie sinnvoll.
Als nach wie vor limitierende Verletzung der die Klinik erreichenden polytraumatisierten Patienten gilt das schwere SchädelHirn-Trauma (SHT). Die Prognose eines SHT hängt neben der primären morphologischen Hirnschädigung maßgeblich von der sekundären ischämisch-entzündungsbedingten Hirnschädigung ab. Einzelheiten 7 Kap. 68.
Antiinfektiöse Therapie Da zahlreiche nichtinfektiöse Stimuli nach Polytrauma (Weichteil- und Knochenverletzungen, SHT u. a.) ein der Sepsis ähnliches klinisches Bild bis hin zum Multiorgandysfunktionsyndrom hervorrufen können, ist ein durch Erreger ausgelöstes Krankheitsgeschen nicht immer leicht zu erkennen. Eine empirische antibiotische Therapie wird daher, trotz Fehlens prospektiver Daten, für 3‒5 Tage durchgeführt und dann bei Nachweis eines infektiösen Fokus entsprechend angepasst. Neben einer Pneumonie ist bei Polytraumapatienten insbesondere auf das Vorliegen von Weichteil- und Wundinfekten zu achten, da avitale Gewebeanteile von einer bakteriellen Besiedelung besonders betroffen sind. Daher ist eine regelmäßige sorgfältige Untersuchung des Patienten unabdingbar, bei unklaren septischen Zeichen insbesondere die wiederholte Einschätzung des Abdomens (»Pan-CT«). Einzelheiten 7 Kap. 62.
868
Kapitel 67 · Trauma
67.4
Operative Therapie
67.4.1 Allgemeine Aspekte Hämorrhagischer Schock, Schädel-Hirn-Trauma und Multiorganversagen (MOV) stehen als Haupttodesursachen polytraumatisierter Patienten im Mittelpunkt therapeutischer Interventionen. Zur Verkürzung blutungsbedingter Ischämiezeiten steht in der präklinischen Phase, mit der Ausnahme schwerer Blutverluste aus offenen oder geschlossenen Verletzungen, die Volumentherapie mit kolloidalen und/oder kristalloiden Lösungen im Vordergrund. Schwere Gefäß- oder Organzerreißungen führen häufig vor einer definitiven chirurgischen Blutstillung zum Verbluten, sodass hier die Letalität nur durch schnellsten Transport in ein geeignetes chirurgisches Zentrum gesenkt werden kann. Die Primärdiagnostik einer abdominellen Blutung (7 Kap. 71) sollte möglichst bereits präklinisch mit Ultraschall erfolgen (»prehospital focused abdominal sonography for trauma«; p-FAST; [28]).
Frühstabilisierung Die Forderung nach einem frühen Gesamtversorgungskonzept (»day one surgery«, »early total care«) und das derzeitige gestufte Versorgungskonzept polytraumatisierter Patienten basiert auf der pathophysiologischen Überlegung, die entzündungsfördernden Einflüsse von Schmerz, Blutung, Instabilität und lokaler Gewebezerstörung, die zu einer persistierenden Stimulation der humoralen und zellulären Defensivsysteme (Makrophagenaktivierung) führen, zu reduzieren. Die initiale operative Stabilisierung der langen Röhrenknochen hat sich beim Schwerverletzten als Standard gegenüber der Gips- und/oder Extensionsbehandlung durchgesetzt. Liegt gleichzeitig eine Thoraxverletzung vor, sollte der »fixateur externe« zur Reduktion einer sekundären Belastung der primären Marknagelung vorgezogen werden [15]. Allerdings wird die primäre Marknagelung kontrovers diskutiert und unter bestimmten Voraussetzungen auch befürwortet. Daneben werden heute die Primärstabilisierung instabiler Wirbelfrakturen, auch bei fehlender neurologischer Symptomatik, und die Frühversorgung blutender, instabiler oder offener Beckenverletzungen zur Prophylaxe eines MOV sowie zur optimierten Intensivtherapie empfohlen. Primärversorgung sollte allerdings nicht dogmatisch die vollständige Versorgung in einem definierten engen Zeitfenster, sondern die zügige Frühstabilisierung relevanter Frakturen
67
bedeuten. Dies bedarf einer individuellen Abwägung. Bei instabiler Blutgerinnung oder ausgeprägter Hypothermie sollte kein zusätzlicher Schaden durch ausgedehnte primäre Operationen angerichtet werden; insbesondere muss ein Abfall des zerebralen Perfusionsdrucks strikt vermieden werden. Auf der anderen Seite darf aber auch der günstigste Zeitpunkt für die definitive Versorgung nicht verpasst werden [18].
Geplante Sekundär-/Tertiäroperationen Im Rahmen der Primäreingriffe wird ein Gesamtkonzept zur Versorgung der einzelnen Verletzungen erstellt unter Berücksichtigung evtl. erforderlicher Folgeoperationen. Hierbei sind die Konsequenzen aus dem Ersteingriff (Bauchtuchtamponade, Primärstabilisierung mit »fixateur externe« oder »interne« etc.) zu bedenken. Zur Sanierung der Weichteilschäden werden innerhalb der ersten Tage Second-look-Operationen mit Nach-Débridement durchgeführt und bis zum Erreichen gut durchbluteter Wundflächen wiederholt. In der vulnerablen Phase der Intensivbehandlung, vor der 3. Operationsphase, sind lediglich gering belastende Maßnahmen vorzusehen, die jedoch durch Entfernung von Gewebedebris, Hämatomen und Nekrosen die Belastung des Gesamtorganismus vermindern. In der tertiären Operationsphase sind ergänzende und verzögert durchführbare Operationen wie Verfahrenswechsel und die definitive Versorgung von Frakturen des Mittelgesichts, der Hand, des Fußes oder ergänzende Osteosynthesen notwendig.
Zeitplanung Eine genaue Zeitvorgabe für die Eingriffe der 3. Operationsphase ist problematisch, da hierfür harte Indikationsparameter fehlen. Auf der einen Seite sollte bei ausgeprägtem SIRS mit Mehrorganversagen keine aufschiebbare Operation durchgeführt werden, um die systemischen Entzündungsvorgänge nicht zusätzlich zu aktivieren. Auf der anderen Seite kann jedoch nicht unbegrenzt zugewartet werden, da dies die lokalen Erfolgsaussichten, v. a. bei Gelenkverletzungen, verringert und die Infektionsgefahr erhöht. Als grobe Richtschnur mag die Empfehlung gelten, nach dem 5. Tag die Operationen der 3. Phase durchzuführen. Dies sollte allerdings nicht in jedem Fall als günstigster Zeitpunkt angesehen werden. Bei Rückgang der Mediatoraktivierung und deutlichem Trend zur Stabilisierung der Organfunktionen sind Folgeoperationen vertretbar. Die in . Tabelle 67.2 angegebenen Kriterien können als Hilfe bei der Therapieentscheidung eingesetzt werden.
. Tabelle 67.2. Entscheidungskriterien für die Planung verzögerter Operationen nach Polytrauma (Tertiärphase) Kriterien für die Durchführung einer Folgeoperation nach Polytrauma
Kriterien gegen die Durchführung einer Folgeoperation nach Polytrauma
Nach Tag 5 nach Trauma
Tag 1–5 nach Trauma
Verbesserung der Oxygenierung
Verschlechterung des Gasaustauschs
Negative Bilanz (Flowphase)
Positive Bilanz (Einschwemmung)
Stabilisierung der Gerinnung
Protrahierte Gerinnungsstörung (DIC)
Rückläufige Elastase, C-reaktives Protein, Il-6, PCT
Anstieg von Elastase, C-reaktivem Protein, Il-6, PCT
Normalisierung des Laktats
Anhaltende Laktatämie (außer bei operativ korrigierbarer Ischämie!)
869 67.4 · Operative Therapie
67
. Tabelle 67.3. Übersicht über pathophysiologische Ursachen des Multiorganversagens und therapeutische Konsequenzen für dessen Verhinderung Ursache
Pathophysiologie
Erstversorgung
Operation
Intensivbehandlung
Folgemaßnahmen
Hämorrhagischer Schock, Hypoxie
Ischämie/Reper fusion Inflammation, Mikrozirkulationsstörung
Volumentherapie, Bluttransfusion, Beatmung
Blutstillung, Tamponade, Frakturstabilisierung
Volumen- und Transfusionsausgleich, Oxygenierung
»Second look«: definitive Blutstillung (Tamponadenwechsel, Débridement)
Gewebetrauma (Muskel, Weichteile)
Avitales Gewebe, Minderper fusion, Superinfektion
Sterile Abdeckung
Radikales Débridement, temporärer Wundverschluss
Optimierung von O2-Angebot, Perfusion und evtl. Antibiose
»Second look«: Débridement, Weichteilrekonstruktion
Frakturen
Schmerz, Gewebetrauma, Mediatoraktivierung
Grobreposition, Schienung, sterile Abdeckung
Stabilisierung von Becken, Wirbelsäule, Röhrenknochen
Optimierte Pflege, Lagerungstherapie, adaptierter Analgetikabedarf
»Second look«: definitive Osteosynthesen, Verfahrenswechsel
Verletzungen von Parenchymorganen
Direkte Mediatoraktivierung, Blutungsschock, Hypoxie, Perfusionsstörung
Organunterstützende Maßnahmen (Beatmung)
Revaskularisation, Blutstillung,Débridement
Unterstützung der Organfunktion,Beatmung, Hämofiltration, Stoffwechselsubstitution
»Second look«: definitive chirurgische Versorgung
Gastrointestinale Perfusionsstörungen
Persistierender Low-flow, Phagozytenaktivierung, Endotoxinämie, Mukosaschädigung
Volumensubstitution, Verkürzung der Schockphase
Rasche definitive Blutstillung und operative Versorgung
Frühe enterale Ernährung, Optimierung des O2-Angebots
Intervention (Schockgallenblase, Stressblutungen, Darmperforationen)
Neurotrauma
Hypoxie, Blutungen
Optimierung der Durchblutung und Oxygenierung
Entlastung von Raumforderungen
Kreislaufunterstützung, Verbesserung der zerebralen Per fusion, Oxygenierung
Rekonstruktive Eingriffe, (frontobasale Läsionen)
Reduktion der immunologischen Belastung des Gesamtorganismus Nach wie vor ist wegen der ungelösten Schwierigkeit, den Immunstatus eines Patienten exakt festzulegen, eine spezifische Mediatormodulation nach Trauma nicht begründet. Die Vorstellung, durch Inhibition oder Neutralisierung eines sog. Hauptmediators die Entzündungskaskade vorteilhaft beeinflussen zu können, hat sich als falsch erwiesen. Die medikamentöse Beeinflussung der Immunkaskaden muss zudem Risikofaktoren und Vorerkrankungen (Diabetes mellitus, Gefäße, Leber, Lunge usw.), eine veränderte Immunreaktion in Relation zum Alter und auch geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen. Ein Ziel aller therapeutischen Maßnahmen muss die Reduzierung der direkten und indirekten immunologischen Belastung des Gesamtorganismus im Hinblick auf eine Abschwächung und Kontrolle der systemischen Entzündungsreaktion sein. Einen Überblick über pathogenetische Faktoren des Multiorganversagens und mögliche therapeutische Ansätze gibt . Tabelle 67.3. 67.4.2 Behandlungsphasen Die klinische Behandlung des polytraumatisierten Patienten kann im zeitlichen Ablauf von Diagnostik und Therapie in folgende Phasen eingeteilt werden (. Tab. 67.4 und 67.5).
Bei polytraumatisierten Patienten muss ein qualifiziertes Versorgungsteam vor Ankunft des Verletzten im Schockraum bereitstehen, Routinemaßnahmen müssen vorbereitet sowie die diagnostisch-therapeutischen Algorithmen eingeübt sein. Innerhalb des Traumateams bzw. im Schockraum leitet ein Unfallchirurg in Kooperation mit dem Anästhesisten den diagnostischen und therapeutischen Stufenplan unter Heranziehung weiterer Fachdisziplinen. Ziel der Schockraumphase ist es, die Vitalfunktionen zu stabilisieren und dabei gleichzeitig in kurzer Zeit die Diagnostik abzuschließen, um den Patienten dann gezielt der operativen Versorgung zuzuleiten. Im Einzelfall kann dies bedeuten, dass die Schockraumphase abgebrochen wird, um eine Massenblutung in der 1. operativen Phase zu kontrollieren. Ansonsten kann die Diagnostik zügig komplettiert und der Verletzte gezielt der dringlichen Operationsphase oder, bei fehlender Operationsindikation, der intensivmedizinischen Behandlungsphase zugeführt werden. i An die Schockraumphase schließt sich, abhängig von den vorliegenden Verletzungen, entweder eine operative oder eine intensivmedizinische Phase an.
Prinzipien der Primärversorgung Für die Gesamtkoordination der operativen Polytraumaversorgung sollte ein erfahrener Unfallchirurg zuständig sein, der, in
870
Kapitel 67 · Trauma
Behandlungsphase
Zeitraum
Akut- oder Reanimationsphase
1.–3. Stunde,
Verwenden einer Wärmematte und Erwärmung von Infusionslösungen vorgebeugt werden. Die Verwendung eines maschinellen Autotransfusionssystems (»cell saver«) bei »sauberen« Verletzungen und die rechtzeitige Substitution von Plasmakomponenten (v. a. Frischplasma) vor Manifestation einer DIC müssen eingeplant werden.
Primärphase
3. Stunde bis 2. Tag
Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
Sekundärphase
2.–5. Tag
Tertiärphase
Nach dem 5. Tag
Extra- und intradurale Schädel-Hirn-Verletzungen werden morphologisch-strukturell durch die CT-Diagnostik unterschieden. Die Erhebung der Glasgow Coma Scale ab der notärztlichen Versorgung zeigt bei einem Wert von <8 Punkten ein schweres SHT an. In der 1. Operationsphase müssen intrazerebrale Raumforderungen, meist als epidurale und akute subdurale Hämatome, entlastet werden. Ohne Zeitverlust wird dies in der Regel durch osteoplastische Trepanation durchgeführt, wobei je nach örtlicher Gegebenheit auch primär eine Entlastung durch sog. Bohrlöcher erfolgen kann. Als dringliche Operationsmaßnahmen sind in der 2. Operationsphase offene Schädel-Hirn-Verletzungen, raumfordernde Kontusionen oder Impressionsfrakturen einzubeziehen. In dieser 2. Phase muss auch die Implantation einer intrakraniellen, möglichst intraventrikulären Drucksonde für die weitere Überwachung berücksichtigt werden, wobei als Indikationen ein GCS <8 Punkten, im CCT objektivierte Hirnkontusionen und ein Hirnödem anzuführen sind. Bei schweren intrazerebralen Verletzungen sollte nach der primäroperativen Versorgung ein Kontroll-CCT auf dem Weg zur Intensivstation durchgeführt werden, ansonsten innerhalb von 12–24 h (. Tab. 67.5).
. Tabelle 67.4. Behandlungsphasen polytraumatisierter Patienten
Absprache mit dem Anästhesisten, zusätzliche Fachdisziplinen hinzuzieht. In der dringlichen 1. Operationsphase sind als lebenserhaltende Maßnahmen v. a. die Blutstillung und Entlastung intrazerebraler Hämatome indiziert. Zielvorgaben der 1. Operationsphase 5 Reduktion der Systembelastung durch: – Ausgedehntes Débridement nekrotischen und minderdurchbluteten Gewebes – Stabilisierung der großen Skeletabschnitte (Schaftfrakturen, Becken, Wirbelsäule) 5 Erhaltung der verletzten Strukturen durch: – Revaskularisation – Versorgung offener Frakturen – Reposition und Primärstabilisierung von Luxationen oder Frakturen 5 Anzustreben durch: – Lagerungsstabilität – Schmerzreduktion
Operative Ver fahren Bei der Primärversorgung des Schwerverletzten müssen das Versorgungskonzept, Operationsdauer, Lagerung und supportive Medikation zwischen den beteiligten Fachdisziplinen abgesprochen und koordiniert werden. Meist wird bei paralleler operativer Versorgung [z. B. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie (MKG), Neurochirurgie] in Rückenlage, teilweise mit erhöhtem Oberkörper vorgegangen. Einer progredienten Hypothermie sollte durch
67
Mittelgesichtsverletzungen Frontobasale Frakturen mit offener Hirnverletzung und persistierender Liquorrhö werden regelmäßig gemeinsam mit der neurochirurgischen Versorgung in der 3. Operationsphase plastisch verschlossen (. Tab. 67.5). Bei ausgedehnten Verletzungen mit der Gefahr von Hirnabszessen oder Sinusinfektionen kann diese Versorgung, v. a. bei zusätzlichen frontalen raumfordernden Blutungen, in die dringliche Operationsphase vorgezogen werden. Isolierte Mittelgesichtsfrakturen, mit oder ohne Schädelbasisfraktur, führen häufig zu ausgedehnten kreislaufwirksamen Blutungen aus dem Nasen-Rachen-Raum, die bereits in der prähospitalen oder Schockraumphase durch Tamponaden (Gaze, Ballonkatheter) gestoppt werden müssen. Diese Tamponaden müssen ggf. in der 2. Operationsphase komplettiert oder erneuert werden.
. Tabelle 67.5. Stufenkonzept der operativen Versorgung des Polytraumas Primärphase
Sekundärphase
Tertiärphase
Lebenserhaltende Operationen
Dringliche Operationen
4 Blutungskontrolle: Abdomen, Thorax, Gefäße 4 Dekompression: epi-/subdurale Hämatome 4 Revaskularisation bei Ischämie (wenn indiziert)
4 Schädel-Hirn-Verletzungen (offen, raumfordernde Kontusionen, Impressionsfrakturen) 4 Hohlorganverletzungen 4 Offene Frakturen 4 Kompartmentsyndrome 4 Frakturen langer Röhrenknochen 4 Instabile Becken- und Wirbelsäulenfrakturen 4 Luxationen
Second look
Verzögerte Operationen 4 Verfahrenswechsel (»fixateur externe« o Marknagel) 4 Definitive Osteosynthesen: (Becken, Azetabulum, Wirbelsäule) 4 Hand-, Fußverletzungen 4 Weichteilrekonstruktion 4 Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, neurochirurgische, urologische Eingriffe (u. a.)
871 67.4 · Operative Therapie
67
. Tabelle 67.6. Operative Maßnahmen bei Wirbelsäulenverletzungen Verletzung
Sekundärphase
Tertiärphase
Inkomplette oder komplette Querschnittsymptomatik
Dekompression und Stabilisierung: HWS in der Regel von ventral; obere/untere BWS/LWS in der Regel dorsal; mittlere BWS ventral
Komplettierung der Osteosynthese, u. U. ventrale Fusion
Instabile Wirbelsäulenverletzung
Stabilisierung: HWS ventral; LWS dorsal; BWS selten
Komplettierung der Osteosynthese
Wirbelsäulenverletzungen ohne neurologische Ausfälle und ohne Instabilität
Primärphase
In Ausnahmen: Osteosynthese
Konservative Unterstützung (LWS-Rolle, Philadelphiakragen)
Offene Frakturen des Mittelgesichts (Le Fort 1–3) oder offene Unterkieferfrakturen sowie Zahn- und Weichteilverletzungen können in der 2. Operationsphase, parallel mit weiteren Eingriffen, zumindest primär versorgt werden, wobei die Revision in der Regel von innen nach außen hin erfolgt. Aufwändige rekonstruktive Eingriffe sind für die 3. Operationsphase vorzusehen.
Wirbelsäulenverletzungen Bei bewusstlosen polytraumatisierten Patienten müssen neurologische Ausfälle durch instabile Frakturen oder Luxationen immer ausgeschlossen werden. Bis zum Ausschluss einer Verletzung muss die HWS im Philadelphiakragen immobilisiert werden. Bei Frakturen des thorakolumbalen Übergangs sollte bis zur Operation eine Unterstützung der Lordose durch eine Rolle erfolgen. Die therapeutischen Maßnahmen in der 1. Operationsphase zielen auf die sofortige Entlastung einer Rückenmarkkompression. Die frühzeitige, zusätzlicher Gabe von Methylprednisolon nach dem NASCI-Schema (»national acute spinal cord injury«) ist immer noch Gegenstand aktueller Diskussionen [9, 13]. Abhängig von der individuellen Befundkonstellation können sich in wenigen Ausnahmefällen Abweichungen in der Wahl eines ventralen oder dorsalen Vorgehens ergeben. Da bei Polytraumatisierten in der dringlichen Operationsphase keine ausgedehnten Operationen mit hohem Blutverlust durchgeführt werden können, muss die HWS möglichst von vorn dekomprimiert werden, während an der LWS Reposition und Dekompression in der Primärphase in der Regel von dorsal erfolgen. Schwieriger sind die selteneren Verletzungen der oberen BWS, da sie häufig eine ventrale Dekompression erfordern, diese jedoch in der dringlichen Operationsphase v. a. pulmonal belastend ist. Bei klarer Kompressionssymptomatik müssen hier alternativ eine initiale dorsale Dekompression und Reposition und eine sekundäre ventrale Stabilisierung erwogen werden (. Tab. 67.6).
Thorax Beim Polytrauma stehen die geschlossenen Verletzungen mit über 90% an erster Stelle, wobei vital bedrohliche Spannungsund Hämatothoraces bereits am Unfallort oder im Schockraum durch Thoraxdrainagen entlastet werden müssen und unmittelbar anschließend durch eine Röntgenaufnahme kontrolliert werden sollten. Die Kombination von Pneumo- und Hämatothorax ist bei der Einlage von Thoraxdrainagen zu beachten, ebenso wie ein möglicher Zwerchfellhochstand oder eine -ruptur. Die großlumige Drai-
nage sollte, möglichst digital geführt, oberhalb der Mamille in der hinteren Axillarlinie nach dorsal eingebracht werden. Bei persistierendem Pneumothorax (Röntgenkontrolle, Thoraxspiral-CT) sollte eine weitere ventrale Drainage wegen häufiger ventraler Pneumothoraces gelegt werden. Durch konsequenten Einsatz des Thorax-CT sowohl initial als auch während der Intensivbehandlung konnten in einem hohen Prozentsatz persistierende ventrale Pneumothoraces trotz liegender Drainage festgestellt werden. Notfallthorakotomie. Die Notfallthorakotomie bereits im Schockraum ist eine seltene, vorgezogene Operationsindikation bei progredient kreislaufinstabilen Patienten, v. a. mit penetrierenden Thoraxverletzungen. Während ihre Erfolgsaussichten bei Schussverletzungen zumindest als partiell aussichtsreich beurteilt werden, sind die Erfolgsaussichten beim Polytrauma mit stumpfem Verletzungsmuster und Herzstillstand im Rahmen dieses letzten Rettungsversuchs ausgesprochen schlecht. Dringliche Eingriffe. Während die Entscheidung zur Operation
in der 1. Operationsphase von der hämodynamischen Instabilität abhängt, gehören anhaltende Blutungen oder Blutungsgefahren (gedeckte Aortenruptur) oder seltene perforierende Verletzungen (Ösophagus) zu den dringlichen Operationsindikationen. In Anbetracht der weit überwiegenden konservativen, interventionellen (Stenteinlage) und intensivtherapeutischen Behandlung dieser Verletzungen wird die Entscheidung zur Thorakotomie in der 2. und 3. Operationsphase in der Regel erst nach abgeschlossener Diagnostik, unter regelmäßigem Einschluss eines Computertomatogramms und ggf. einer Angiographie, Bronchoskopie oder Ösophagusdarstellung gefällt (. Tab. 67.7).
Abdomen/Retroperitoneum Hämodynamisch wirksame und sonographisch gesicherte abdominelle Blutungen sind, neben intrazerebralen Hämatomen, die Hauptoperationsindikation in der 1. Operationsphase. In ca. 60% der Fälle handelt es sich dabei um Milzverletzungen, danach in absteigender Häufigkeit um Leber-, Mesenterial- und Darmverletzungen. Bei hämodynamisch stabiler Situation sollte jedoch bei nicht eindeutig zuzuordnender Blutung eine ergänzende Diagnostik, möglichst durch Spiral-CT mit Kontrastmittelgabe, erfolgen, v. a. um retroperitoneale Verletzungen und Verletzungen des Urogenitalsystems festzustellen und so deren gezielte Mitversorgung in der dringlichen Operationsphase zu ermöglichen. Ebenfalls ist ein differenziertes Vorgehen bei Leberrupturen mit hämodynamischer Stabilität erforderlich.
872
Kapitel 67 · Trauma
. Tabelle 67.7. Operatives Vorgehen bei Thoraxverletzungen
67
Verletzung
Unfallort, Schockraum
Primärphase
Sekundärphase
Tertiärphase
Hämatothorax
Thoraxdrainage: <1000 ml initial und <500 ml/h; Notfallthorakotomie bei penetrierenden Verletzungen
Thorakotomie bei Blutverlust über Thoraxdrainage: >2000 ml initial
Thorakotomie bei Blutverlust über Thoraxdrainage: >1000 ml oder >500 ml/h
Anhaltender Blutverlust über Drainage (nach weiterer Diagnostik)
Pneumothorax, Spannungspneumothorax
Thoraxdrainage (prophylaktisch bei bilateralen Rippenfrakturen und langem Primäreingriff )
Korrektur oder Ergänzung von Thoraxdrainagen nach Diagnostik
Kontrolle u. ggf. Ergänzung (ventrale Pneumothoraces (CT) oder Beatmungsschwierigkeiten)
Lungenverletzung
Thoraxdrainage
Thorakotomie bei Blutungen und großen Leckagen
Thorakotomie bei Blutungen und persistierenden Leckagen
Bronchusverletzung
Intubation, Thoraxdrainagen
Bei Hämatopnoe und nach Bronchoskopie: Thorakotomie, Naht
Thorakotomie
Herzverletzungen
Perikardpunktion Schockraum: Notfallthorakotomie
Notfallthorakotomie: Perikardfensterung, definitive Versorgung
Thorakale Aortenruptur
Thoraxdrainage links bei Hämotothorax
Vollständige Ruptur: Notfallthorakotomie
Partielle Ruptur mit Hämatom (Intima/Media): Thorakotomie
Bei Diagnostik und Entwicklung eines Aneurysmas
Ösophagusverletzung
Thorakotomie mit Direktnaht (kleine Verletzungen), kollare Ausleitung
Ösophagusersatzoperation: Magenhochzug zug oder Koloninterponat
Zwerchfellruptur
Zwerchfellnaht in der Regel über Laparotomie
Thorakotomie bei Blutverlust über Thoraxdrainage: >2000 ml initial
Minimal-invasive Operationsverfahren stellen bislang nur bei isolierten thorakoabdominellen Stichverletzungen eine Alternative dar. Im Rahmen der Volumentherapie nach Hämorrhagie, aber auch bei größeren retroperitonealen Blutungen kann sich ein abdominelles Kompartmentsyndrom entwickeln. Die Diagnose wird klinisch oder anhand der Druckmessung in der Blase über einen transurethralen Katheter gestellt: ein Druck >25 mm Hg zusammen mit zunehmender Organdysfunktion (Urinausscheidung <0,5 ml/kg KG/h) oder Beatmung (paO2/ FIO2 <150 oder maximaler Beatmungsdruck >45 cm H2O oder Herzindex <3 l/min/m2) und verbesserte Organfunktion nach Entlastung. Die entlastende Laparatomie ist die einzige Therapieoption, der nachfolgende Bauchdeckenverschluss kann über verschiedene Techniken durchgeführt werden (z. B. Vakuumtherapie, Ethizip) [3, 5]. Milzverletzung. Eine konservative Behandlung der Milzverlet-
zungen erfolgt in erster Linie bei Kindern, die primär stabil sind und nicht hämodynamisch relevant bluten. Hingegen ist ein konservatives Vorgehen beim Polytrauma und bei Patienten über 55 Lebensjahren sehr kritisch zu überprüfen und mit einem hohen Risiko verbunden. Folgende prinzipielle Maßnahmen sind bei der abdominellen Verletzung von besonderer Bedeutung: 4 Schadenskontrolle: Exploration des Abdomens über eine erweiterbare mediane Oberbauchlaparotomie und Blutabsau-
gung in einen »cell saver« (Ausnahme Hohlorganverletzungen). Blutstillung durch direkte Kompression, T amponade oder vorübergehende arterielle/venöse Gefäßdrosselung. 4 Abstopfen (»packing«) schwerer Leberblutungen, v. a. bei dekompensierter Gerinnung, da Lebersegmentresektionen nicht möglich sind (Versorgungsprinzip der 1. Operationsphase). Nach Blutstillung durch Abstopfen und ausreichender Substitution von Gerinnungspräparaten wird ein »second look« durchgeführt; evtl. muss der Patient in ein spezielles Zentrum verlegt werden (. Tab. 67.8; 7 Kap. 71 »Bauchtrauma«).
Becken/Sakrum Während bei Klassifikation und Operationsindikation instabiler Beckenverletzung prinzipiell Übereinkunft besteht, herrschen unterschiedliche Auffassungen über das zeitliche und operative Vorgehen, v. a. bei hämodynamisch instabilen Patienten (. Tab. 67.9). Die Strategie der Versorgung muss daher differenziert unter den folgenden Gesichtspunkten beurteilt werden: Hämodynamische Instabilität. Thorakale, abdominale und periphere Blutungen müssen vor einer operativen Intervention am Becken ausreichend versorgt sein. Bei protrahiertem Blutverlust sollte eine operative Blutstillung durch Reposition, initiale Stabilisierung und Tamponade mit folgender Zielsetzung angestrebt werden:
873 67.4 · Operative Therapie
67
. Tabelle 67.8. Versorgungsstrategie bei Abdominalverletzungen Verletzung
Primärphase
Sekundärphase
Tertiärphase
Milzruptur
Splenektomie, ausnahmsweise Milzerhalt
Evtl. »second look«
Leber(teil)rupturen
Bei hämodynamischeer Instabilität Blutstillung, Tamponade, Abstopfen (»packing«)
»Second look«, Segmentresektionen
Darmruptur
Übernähung, Resektion, Anus praeter
»Second Look«
Blasenruptur
Übernähung, Splintung, Spülkatheter
Evtl. sekundäre Eingriffe: Nieren, Ureter, Urethra
Tamponade im Rahmen ventraler Beckenosteosynthesen
»Second look«, gezielte Rekonstruktionen (Urogenitalsystem)
Blutungen im Retroperitoneum
4 Direkt nur bei Nierenverletzungen mit Blutungen oder Ischämie 4 Selbsttamponade zulassen 4 evtl. interventionelle Embolisation
. Tabelle 67.9. Versorgungsstrategie bei Beckenverletzungen Verletzung
Primärphase
Sekundärphase
Stabile, wenig disloziierte Beckenringverletzungen v. a. A-Typen)
Tertiärphase Konservativ
Symphysensprengung
4 Plattenosteosynthese, 4 »Fixateur externe«
Plattenosteosynthese
Laterale Kompressionstypen (B-Typ), Rotationsinstabilität
4 Disloziert: ventrolaterale Osteosynthese 4 Alternativ: Reposition mit Fixateur externe
4 »Second look« 4 Verfahrenwechsel auf ventrolaterale Plattenosteosynthese
Ventrale oder dorsale Osteosynthese bei akuter Blutung, Beckenzwinge
Anatomische Rekonstruktion
Vertical-shear-Verletzungen + Rotationsinstabilität (C-Typen), Sakrumfrakturen
Schwere Blutung: Beckenzwinge, Embolisation, Packing
4 Verhinderung lokaler Kompartmentsyndrome, 4 optimiertes Intensivmanagement inkl. Lagerungsmöglichkeit, 4 Reduktion der immunologischen Belastung. Die primäre Verplattung einer Symphysenruptur bei ohnehin erfolgter Laparotomie ist idealerweise auf dem Rückzug durchzuführen, während bei vitalen Operationen (SHT, Extremitätenserienfrakturen) auch der »fixateur externe« angewandt werden kann. In gleicher Weise sollte bei C-Verletzungen mit instabilem dorsalem Ring die Beckenzwinge als Ergänzung ventraler Fixationsmaßnahmen (»fixateur externe«, Platte) zur dorsalen Reposition und Erststabilisierung eingesetzt werden. Hämodynamische Stabilität. Die Frühstabilisierung instabiler komplexer Beckenverletzungen ist auch in diesen Fällen in der dringlichen Operationsphase großzügig zu stellen, obwohl die verzögerte Versorgung ebenfalls gute rekonstruktive Ergebnisse ermöglicht. Die Rekonstruktion des Azetabulums erfordert höchste Präzision und sollte, als verzögerte Versorgung der 3. Operationsphase, nach entsprechender CT-Diagnostik durchgeführt werden. Ausnahmen hiervon bilden instabile Hüftluxationsfrakturen.
Begleitverletzungen. Aufgrund der erheblichen Gewalteinwir-
kung ist bei Beckenverletzungen regelmäßig mit relevanten Begleitverletzungen zu rechnen. Begleitverletzungen beim Beckentrauma und empfohlene Therapiemaßnahmen 5 Intraabdominelle Verletzungen: Laparotomie 5 Retroperitoneale Blutungen [venöse präsakrale Plexus, Beckengefäße (10–15%), Spongiosa]: Tamponade, Embolisation, Beckenzwinge 5 Urogenitale Begleitverletzungen (Urethra, Ureter, Blase): Rekonstruktion, Schienung 5 Rektumläsionen: Anus praeter 5 Nervenläsion (Plexus lumbosacralis, N. ischiadicus, N. femoralis): sekundäre Versorgung 5 Ausgedehnte Weichteildecollements: Débridement, Drainage, »second look«
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Kapitel 67 · Trauma
Obere Extremitäten Dringliche Operationen. Verletzungen der Arme mit Ischämie
oder arterieller Blutung, z. B. der A. subclavia oder A. brachialis, erfordern die unmittelbare Revaskularisation oder Blutstillung in der 1. Operationsphase. Schaftfrakturen des Humerus, offene Frakturen und Weichteilverletzungen, Luxationen oder Luxationsfrakturen sind Indikationen für die dringliche Operationsphase. Spätere Versorgung. Alle übrigen Verletzungen, insbesondere
periphere Frakturen, Sehnen-, Nerven- oder Weichteilverletzungen des Unterarms oder der Hand können häufig erst in der 3. Operationsphase definitiv versorgt werden, es sei denn, die Gesamtsituation ist so stabil, dass diese Maßnahmen vorgezogen werden können. Bei diesen Verletzungen ist jedoch während der Frühstabilisierung auf eine temporäre Ruhigstellung, in der Regel durch Gipsschienen, und die Verhinderung von Sekundärschäden (Kompartmentsyndrom, Druckstellen) zu achten. Für die Versorgung von Humerusschaftfrakturen beim schweren Polytrauma ist alternativ der »fixateur externe« zur Initialstabilisierung geeignet. Die Möglichkeit zur Versorgung komplexer Gelenkfrakturen, z. B. Humeruskopfluxationsfrakturen oder diakondyläre Humerusfrakturen, hängt beim schweren Polytrauma von der Kreislaufstabilität ab. Sollten diese Verletzungen nicht definitiv operiert werden können, muss aber eine achsenorientierte Reposition und Ruhigstellung, z. B. mit Gilchrist-Verband, durch Gipsschiene oder am Ellbogen mit einem gelenkübergreifenden »fixateur externe«, erfolgen. Offene Frakturen und Weichteilverletzungen. Für die Versor-
gung offener Frakturen der oberen und unteren Extremität gelten die Prinzipien des sorgfältigen Débridements, der ausgiebigen Spülung (Jetlavage) sowie der großzügige Einsatz temporärer Hautersatzmaterialien. Ein geplanter »second look« muss bei allen drittgradigen Weichteilschäden und Verschmutzungen vorgesehen werden. Die Weichteildeckung sollte nicht erzwungen, sondern durch großzügigen Einsatz von temporären Hautersatzmaterialien oder Vorlage dynamischer Hautnähte erreicht werden. Die Druckentlastung von Faszienlogen sollte möglichst präventiv erfolgen, da eine druckrelevante Schwellung sich häufig erst in den folgenden Stunden nach Primärversorgung, im Rahmen der sich entwickelnden Reperfusionsschädigung, etabliert. Luxationen bzw. Luxationsfrakturen des Handgelenks oder der Handwurzel müssen erkannt, eingerichtet und temporär ruhiggestellt werden.
67
Untere Extremitäten Prinzipiell müssen in der ersten Versorgungsphase Gefäßverletzungen behandelt und Extremitätenverluste durch Ischämie vermieden werden. Zur Reduktion der Systembelastung und verbesserten Intensivbehandlung müssen in der dringlichen 2. Versorgungsphase Schaftfrakturen von Femur und Tibia stabilisiert werden. In Anbetracht der hohen systemischen Belastung bei Femurmarknagelung (Fettembolie, vasokonstringierende Mediatoren bis hin zum akuten Lungenversagen) sollte jedoch bei Polytraumatisierten mit einem hohen ISS (>25 Punkte) eine zeitraubende primäre Femurmarknagelung, v. a. bei kurzen Schrägund Querfrakturen oder engem Markraum, nicht durchgeführt werden. Stattdessen kann beim Polytrauma (ISS >25 Punkte) die schnelle Primärstabilisierung des Femur mit einem »fixateur
externe« durchgeführt werden, gefolgt vom Wechsel auf einen Marknagel in der 3. Operationsphase [18]. Auch für Unterschenkelschaftfrakturen ist dieses Vorgehen prinzipiell anzuwenden, wobei die systemische Belastung durch die Marknagelung als wesentlich geringer ‒ verglichen mit der Oberschenkelmarknagelung ‒ anzusehen ist. Hier hängt die Vorgehensweise vom erforderlichen Zeitaufwand und der Frakturlokalisation ab: Bei schweren Polytraumata (ca. ISS >40 Punkte) ist auch hier die externe Fixation durchzuführen, die bei Gelenkfrakturen im Kniebereich (diakondyläre Femurfrakturen, Tibiakopffrakturen) oder Knieluxationen häufig als gelenkübergreifender Fixateur mit Transfixation montiert werden kann. In gleicher Weise können distale Unterschenkelfrakturen (Pilon tibiale, OSG, Rückfuß) durch Transfixation des OSG und Montage des »fixateur externe« auf den I. Mittelfußknochen oder Rückfuß primär stabilisiert werden.
Gefäßverletzungen und Amputationen Verletzungen großer Gefäße der Extremitäten erfordern in der dringlichen Operationsphase eine umgehende Revaskularisation. Analog muss bei Amputationsverletzungen oder drittgradig offenen Frakturen mit prolongierter Ischämie eine Wiederdurchblutung nach spätestens 5 h erfolgen. Eine länger dauernde Ischämiephase führt neben erheblicher lokaler Schwellung, Perfusionsstörungen und Kompartmentsyndrom zu einer vital bedrohlichen systemischen Belastung, die zu einem akuten Lungen- und Organversagen führen kann. i Je stammnaher die Ischämiegrenze liegt, desto ausgeprägter entwickelt sich die systemische Reaktion. Daher muss die Indikation zur Replantation und Revaskularisation beim Polytrauma besonders kritisch gestellt werden.
67.4.3 Übersehene Verletzungen, Patienten-
übergabe und Folgeoperationen Trotz etablierter Diagnostik werden einige Verletzungen (Hand, Fuß) erst während der Intensivtherapie oder bei wiedererlangtem Bewusstsein des Patienten diagnostiziert. Alle therapierelevanten Maßgaben für die Nachbehandlung [Stabilität, Lagerung, Antibiose, geplante Folgeoperationen oder Diagnoseschritte (Kontroll-CCT)] müssen mündlich und schriftlich angeordnet werden. Gerade die Unsicherheit über die Stabilität bereits versorgter Frakturen oder evtl. noch bestehende Instabilitäten verhindern die während der Intensivbehandlung erforderlichen Lagewechsel zur Verbesserung der Lungenfunktion und Prävention von Druckulzera. 67.4.4 Immun- und metabolismusmodulierende
Therapiemaßnahmen Entscheidend für die Minimierung der ungünstigen Auswirkungen der Gewebetraumatisierung und Voraussetzung für eine erfolgreiche Intensivtherapie des Polytraumas ist die rechtzeitige und adäquate chirurgische Versorgung. Als adjuvante medikamentöse oder apparative Verfahren werden darüber hinaus eine Reihe therapeutischer Ansätze diskutiert, die auf pathophysiologischen Überlegungen und erfolgreichen tierexperimentellen Untersuchungen beruhen und z. T. in kleineren klinischen
875 Literatur
Studien untersucht wurden. Hierzu gehören u. a. die frühzeitige, hochdosierte Gabe verschiedener Antioxidanzien sowie Modulationen der Zytokinantwort des Organismus auf das Trauma. Bislang gehört jedoch keines dieser medikamentösen Verfahren zur etablierten Therapie des Polytraumas oder des polytraumainduzierten Organversagens. Die tauma- oder spsisinduzierte Katabolie ist ein Hauptgrund für Morbidität und Mortalität. Hier hat eine frühe enterale Ernährung mit speziellen Zusätzen (Arginin, Glutamin oder ungesättigten ω3-Fetttsäuren, Wachstumsfaktoren) und/oder der Einsatz bestimmter Hormone (anabole Androgene) bei Schwerbrandverletzten ermutigende Ergebnisse gebracht; die Validierung bei polytraumatisierten Patienten steht noch aus [30].
67
. Abb. 67.2. Etablierte Maßnahmen zur Prävention des posttraumatischen Organversagens
Hämofiltration Die Auswirkungen einer kontinuierlichen Hämofiltration auf den Verlauf einer Sepsis werden insgesamt kontrovers, von vielen Autoren jedoch insbesondere wegen der Möglichkeit einer proinflammatorischen Zytokinelimination günstig beurteilt. Möglicherweise führt die frühzeitige kontinuierliche venovenöse Hämofiltration (CVVH) zu einer Abschwächung des hyperdynamen Kreislaufversagens und zu einer Verbesserung der O2-Extraktionsrate; der Stellenwert des Verfahrens ist jedoch außerhalb der Organersatztherapie im Rahmen eines akuten Nierenversagens zzt. nicht validiert [4].
Bewertung Abgesehen von der Sicherstellung bzw. möglichst frühzeitigen Wiederherstellung einer ausreichenden Oxygenierung und Zirkulation zur Begrenzung ischämischer bzw. hypoxischer Schäden ist eine gesicherte, spezifische intensivmedizinische Therapie der Auswirkungen des Gewebeschadens und der unkontrollierten systemischen Entzündungsreaktion zzt. nicht bekannt. Hier scheint das Monitoring der Immunsituation in zeitlicher, örtlicher und quantitativer Hinischt noch nicht ausreichend genau für die gezielte Therapie zu sein.
5
5 5 5 5
5
Transfusionstherapie sowie begleitende Katecholamintherapie. Vermeidung eines iatrogenen »second hit« durch ausgedehnte operative Maßnahmen in der vulnerablen Phase an Tag 2–5 nach Trauma. Vermeidung von Hypoventilation und Hypotension bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Ausreichende Schmerzbekämpfung und Sedierung durch Analgetika und Sedativa. Frühzeitige enterale Nahrungszufuhr. Supportive Maßnahmen bei schweren Funktionsstörungen oder Ausfall einzelner Organe: Beatmung bei Lungenversagen (druckkontrollierte Beatmung mit permissiver Hyperkapnie) und extrakorporale Eliminationsver fahren wie CVVH bei Nierenversagen. Rechtzeitige, adäquate Antibiotikatherapie bei Infektionsnachweis.
Literatur 67.4.5 Zusammenfassung der Intensivtherapie
bei Polytrauma Polytraumatisierte Patienten entwickeln häufig eine systemische Entzündungsreaktion, die zum Multiorganversagen führen kann. Zur Modulation dieser Entzündungsantwort mit dem Ziel einer Prognoseverbesserung des Polytraumapatienten stehen derzeit ergänzende Therapiemaßnahmen mit immunmodulierenden und zytoprotektiven Substanzen im Mittelpunkt des wissenschaftlich-therapeutischen Interesses. Anerkannte Therapieprinizipien Zu den anerkannten Therapieprinzipien des polytraumatisierten Intensivpatienten zählen derzeit (. Abb. 67.2): 5 Vermeidung bzw. frühzeitige Therapie einer Hypoxämie durch O2-Zufuhr, CPAP oder Beatmung mit ausreichend hohem PEEP sowie Transfusion von Erythrozytenkonzentraten bei inadäquat niedriger Hämoglobinkonzentration. 5 Vermeidung bzw. frühzeitige Therapie eines Schockzustands durch chirurgische Blutstillung, Infusions- und 6
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876
67
Kapitel 67 · Trauma
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68 Schädel-Hirn-Trauma J. Piek
68.1
Einleitung und Definition
68.2
Epidemiologie
68.3
Pathophysiologisches Konzept
68.4
Klassifikation und Einteilung
68.4.1 68.4.2
Morphologische Einteilung –879 Verletzungsschwere –880
68.5
Erstversorgung
68.5.1 68.5.2 68.5.3 68.5.4 68.5.5 68.5.6
Untersuchung des Verletzten, Dokumentation der Befunde –881 Stabilisierung der Vitalfunktionen –881 Medikamentöse Behandlung –881 Wundversorgung/Wundbehandlung –882 Sichtung, Transport –882 Übergabe des Patienten durch den Notarzt –882
68.6
Erstversorgung im Krankenhaus
68.6.1 68.6.2 68.6.3 68.6.4 68.6.5 68.6.6
Leichtes und mittelschweres SHT –882 Schweres SHT –883 Verweilkatheter –884 Monitoring –884 Operative Behandlung der Verletzungsfolgen –885 Hirnödem/intrakranielle Drucksteigerung: intensivmedizinische Behandlung –890
68.7
Prognose Literatur
–890 –891
–878
–878 –878 –879
–881
–882
878
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
68.1
Einleitung und Definition
Wirkt eine Gewalt auf den Kopf ein, führt sie, je nach Ausmaß und Richtung der einwirkenden Kraft, zu Verletzungen von Kopfschwarte, Schädelskelett und Gehirn, die unter dem Begriff Schädel-Hirn-Trauma (SHT) zusammengefasst werden. Intensivstationen, in denen Patienten mit schweren Kopfverletzungen behandelt werden, stellen das jeweilige regionale Zentrum dar, in dem Erstversorgung und -behandlung derartiger Patienten in Kooperation mit den zuständigen Stellen organisiert und strukturiert werden. Daher wird nachfolgend auch auf die Aspekte der Primärversorgung am Unfallort und auf die Erstversorgung im Krankenhaus eingegangen. 68.2
Epidemiologie
Das SHT ist in industrialisierten Ländern ein erhebliches gesundheitspolitisches und ökonomisches Problem. Es spielt bei etwa 60–70% aller tödlich verlaufenden Unfälle die verlaufsbestimmende Rolle. Exakte epidemiologische Daten für Deutschland wurden erstmals von Rickels et al. für den Zeitraum 2002–2003 erhoben [34]. Nach dieser Erfassung ist in Deutschland jährlich mit einer Zahl von etwa 330 Patienten pro 100.000 Einwohnern zu rechnen, die wegen eines SHT stationär behandelt werden müssen. Hierbei wird, wie in allen industrialisierten Ländern, ein stetiger Rückgang der Unfallzahlen beobachtet. Dies ist vorwiegend auf den Erfolg präventiver Maßnahmen (Helm- und Anschnallpflicht, Verbesserung der passiven Sicherheitseinrichtungen an Fahrzeugen usw.) zurückzuführen. Hinsichtlich der Häufigkeit finden sich der Risikostruktur entsprechend 3 Altersgipfel: 4 Bei Kindern unter 11 Jahren verunglücken Mädchen und Jungen gleich häufig. Häufige Ursachen des Schädel-HirnTraumas sind in dieser Altersgruppe Stürze, Freizeit- und Verkehrsunfälle. 4 Ein zweiter Gipfel findet sich im Alter von 20–30 Jahren. Hier überwiegen eindeutig Männer, die nahezu 3-mal häufiger als Frauen ein Schädel-Hirn-Trauma erleiden. 4 In hohem Alter sind wiederum Stürze die häufigste Ursache eines SHT; Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Verbesserung der Erstversorgung von Unfallopfern sowie die flächendeckende Versorgung mit neurochirurgischen Abtei-
lungen und mit Zentren für die Frührehabilitation haben in den letzten Jahrzehnten entscheidend zur Senkung von Mortalität und Morbidität beigetragen.
Unfallursachen Regionale und sozioökonomische Gegebenheiten haben entscheidenden Einfluss auf die Unfallursachen. Umfangreiche Datenbanken, wie sie z. B. in Glasgow, San Diego und Rotterdam angelegt wurden, lassen sich nur bedingt mit eigenen Zahlen vergleichen, was die Notwendigkeit regionaler Analysen unterstreicht (. Abb. 68.1). Etwa 25% aller Patienten mit SHT sind Opfer eines Verkehrsunfalls. In der Hauptsache sind Insassen von PKWs, Radfahrer und Fußgänger betroffen. Bei Stürzen in Haus und Garten, die mittlerweile mit über 50% die Verkehrsunfälle als führende Unfallursache abgelöst haben, handelt es sich fast immer um Stürze aus größerer Höhe (von Leitern, Treppen und Bäumen). Freizeit- und Sportunfälle führen ebenfalls oft zu Schädel-HirnVerletzungen; besonders schwer verlaufen erfahrungsgemäß Reitunfälle, die nicht selten mit schweren Wirbelsäulenverletzungen einhergehen. Arbeitsunfälle sind fast immer durch Sturz aus großer Höhe (Dachdecker, Bauarbeiter) bedingt, selten werden sie durch herabfallende Gegenstände verursacht. Gewalttaten (14%) und Suizide (<1%) sind in Deutschland seltenere Ursachen schwerer Kopfverletzungen. Sie werden zumeist durch Schlagverletzungen auf den Kopf verursacht. Kopfschussverletzungen sind im Gegensatz zur amerikanischen Literatur (hier bis zu 20%) extrem selten. Etwa 20% aller Verletzten steht zum Zeitpunkt des Unfalls unter Alkoholeinfluss. Besonders oft findet sich Alkoholeinfluss bei Opfern von Gewalttaten, häuslichen Unfällen und solchen im Sport- und Freizeitbereich. 68.3
Pathophysiologisches Konzept
Beim SHT lassen sich zeitlich primäre von sekundären Hirnschäden abgrenzen (. Abb. 68.2; [3, 22]). Primäre Hirnschäden entstehen im Augenblick des Unfalls, sind daher einer Behandlung nicht zugänglich und für den größten Teil der frühen Todesfälle verantwortlich. Sie umfassen hämorrhagische Kontusionen, Zerreißungen der Nervenfasern (diffuser Axonschaden) und intrakranielle Gefäßläsionen. Sekundäre Hirnschäden entstehen im Verlauf und bestimmen entscheidend die weitere Prognose. Da sie einer Behand-
68
. Abb. 68.1. Ursachen des Schädel-HirnTraumas. (Nach [34])
879 68.4 · Klassifikation und Einteilung
68
. Abb. 68.2. Entwicklung des Sekundärschadens nach schwerem SHT
lung prinzipiell zugänglich sind, gilt ihnen besonderes Interesse. Sekundäre Komplikationen können intra- und extrakraniell bedingt sein. Zu den wesentlichen intrakraniellen Ursachen gehören die posttraumatischen Hämatome (7 Kap. 68.6.5) und das posttraumatische Hirnödem mit nachfolgender Steigerung des intrakraniellen Druckes. Nur einige der zahlreichen extrakraniellen Faktoren sind von prognostischer Bedeutung (. Abb. 68.3). Am ungünstigsten wirken sich Hypotension und Hypoxämie auf die Prognose aus [9, 16, 29, 33]. Durch eine optimale Erstversorgung und Intensivbehandlung kann zumindest ein Teil dieser sekundären Komplikationen vermieden werden. i Das Behandlungskonzept beim Schädel-Hirn-Trauma besteht in einer Vermeidung bzw. Minimierung des zerebralen Sekundärschadens.
68.4
Klassifikation und Einteilung
Je nach Zielsetzung lassen sich Schädel-Hirn-Verletzungen unterschiedlich einteilen und klassifizieren. Ziele der gewählten Klassifikation sind z. B.: 4 morphologische Einteilung der Verletzungsfolgen (chirurgische Behandlung), 4 pathophysiologische Einteilung (Definition von Patientenkollektiven als mögliche Zielgruppen einer spezifischen Behandlung), 4 Analyse von Unfallursachen und Risikofaktoren, 4 Erstellung einer Prognose, 4 Vergleich von Behandlungsergebnissen. 68.4.1 Morphologische Einteilung Morphologisch unterscheidet man offene und gedeckte Verletzungen. Direkt offene Verletzungen sind solche, bei denen es durch Verletzung von Kopfschwarte, Schädelknochen und Dura zu einer Verbindung des intrakraniellen Raums mit der Außen-
. Abb. 68.3. Extrakranielle Komplikationen nach schwerem SchädelHirn-Trauma. Komplikationen, die einen signifikanten Einfluss auf die Prognose haben, sind blau gekennzeichnet. (Nach [33]).
welt kommt. Sichere Zeichen einer derartigen Verletzung sind der Austritt von Liquor oder Hirnsubstanz aus der Wunde. Bei indirekt offenen Verletzungen erfolgt die Verbindung über basale Frakturen mit gleichzeitiger Eröffnung der Nebenhöhlen (frontobasale Verletzungen) oder der Mastoidzellen (otobasale Verletzungen). Klinische Zeichen sind der Austritt von Liquor oder Hirnsubstanz aus Nase oder Gehörgang. Da die intakte Dura einen guten Schutz gegen Infektionen darstellt, führen offene Verletzungen besonders häufig zu intrakraniellen Infektionen (aszendierende Meningitis, Hirnabszess usw.). Sie bedürfen stets der neurochirurgischen Abklärung und Behandlung. Für die morphologische Klassifikation der intrakraniellen Verletzungsfolgen hat sich die Einteilung nach Marshall [31] bewährt (. Tab. 68.1), die ebenfalls eine hohe prognostische
880
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
Aussagekraft hat. Sie beruht auf der Unterscheidung zwischen »diffusen« und »fokalen« Hirnschäden. Als fokale Hirnschäden werden all solche bezeichnet, bei denen eine umschriebene (oft operativ zu behandelnde) Hirnverletzung oder Raumforderung vorliegt (epidurale, subdurale, intrazerebrale Hämatome sowie umschriebene Kontusionen; 7 Kap. 68.6.5). Der diffuse Hirnschaden bezeichnet hingegen Verletzungen, die das Gehirn insgesamt betreffen, oft multilokulär sind, keine operativ behandelbare Raumforderung zur Folge haben und bei genügender Schwere zur sofortigen Bewusstlosigkeit des Patienten führen (z. B. diffuser Axonschaden). Die meisten Schädel-Hirn-Traumen bestehen in einer Kombination von fokalen mit diffusen Hirnschäden. Von besonderer prognostischer Bedeutung ist ferner die Frage, ob die primäre Hirnschädigung tiefer gelegene Hirnarele wie z. B. Pons und Medulla betroffen hat [14, 46]. Derartige Schädigungen lassen sich besonders gut im Kernspintomogramm nachweisen. Beidseitige pontomedulläre Schädigungen werden so gut wie nie überlebt. Auch der Nachweis einer posttraumatischen Subarachnoidalblutung verschlechtert die Prognose zusätzlich [24]. 68.4.2 Verletzungsschwere Die Einteilung der Verletzungsschwere erfolgt international nach der Glasgow Coma Scale (GCS; . Tab. 68.2 [42]). Bei ihr
werden die drei Grundfunktionen des Bewusstseins (Augenöffnen, motorische und verbale Reaktion) untersucht und durch Punktzahlen einer halbquantitativen Skala zugeordnet. Je nach erreichter Leistung kann eine Punktzahl zwischen 1 und 6 erreicht werden. Die jeweils erreichten Ergebnisse werden addiert. Aus dem Verlauf können Änderungen der Bewusstseinslage rasch erkannt werden. Unter den Aspekten des modernen Rettungswesens ist diese Einteilung jedoch nicht unproblematisch, da Sedativa usw. das Ergebnis verfälschen können. Auch müssen zur genauen Beurteilung die Vitalfunktionen stabilisiert sein, um Einflüsse von Hypoxämie und Hypotonie auszuschließen. Die Untersuchung der Bewusstseinslage des SchädelHirn-Verletzten erfolgt nach der Glasgow Coma Scale (GCS). Die Einteilung der Verletzungsschwere richtet sich nach der schlechtesten innerhalb von 48 h erreichten Punktzahl und wird wie folgt vorgenommen: 5 3–8 Punkte = Schweres Schädel-Hirn-Trauma 5 9–12 Punkte = Mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma 5 13–15 Punkte = Leichtes Schädel-Hirn-Trauma Für Kinder wurde die GCS durch die sog. »Children´s Coma Scale« (. Tabelle 68.3) modifiziert.
. Tabelle 68.1. Computertomographische Klassifikation des Schädel-Hirn-Traumas. (Nach [31]) Diffuses SHT Typ I:
Keine computertomographisch fassbaren Läsionen
Diffuses SHT Typ II:
Basale Zisternen abgrenzbar mit einer Mittellinienverschiebung von maximal 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
Diffuses SHT Typ III:
Basale Zisternen komprimiert oder fehlend mit einer Mittellinienverschiebung von maximal 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
Diffuses SHT Typ IV:
Mittellinienverschiebung über 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
Raumfordernde Blutung, operiert:
Alle Verletzungstypen, bei denen eine raumfordernde intrakranielle Blutung operativ entfernt wurde
Raumfordernde Blutung, nicht operiert:
Alle Verletzungstypen, bei denen eine raumfordernde intrakranielle Blutung nicht operativ entfernt wurde
Hirnstammverletzung
. Tabelle 68.2. Glasgow Coma Scale (GCS) [42]
68
Augenöffnen
(1–4 Punkte)
Motorische Antwort
(1–6 Punkte)
Verbale Antwort
(1–5 Punkte)
Auf Aufforderung
6 Punkte
Auf Schmerz gezielt
5 Punkte
Voll orientiert
5 Punkte
Spontan
4 Punkte
Auf Schmerz ungezielt
4 Punkte
Unzureichend orientiert
4 Punkte
Auf Anruf
3 Punkte
Beugesynergismen
3 Punkte
Äußert einzelne Wörter
3 Punkte
Auf Schmerzreiz
2 Punkte
Strecksynergismen
2 Punkte
Unverständliche Laute
2 Punkte
Kein Augenöffnen
1 Punkt
Keine Schmerzabwehr
1 Punkt
Keine Antwort
1 Punkt
68
881 68.5 · Erstversorgung
. Tabelle 68.3. Children´s Coma Scale Augenöffnen
(1–4 Punkte)
Motorische Antwort
(1–4 Punkte)
Spontan
4 Punkte
Auf Schmerz gezielt
4 Punkte
Auf Anruf
3 Punkte
Auf Schmerz ungezielt
Auf Schmerzreiz
2 Punkte
Kein Augenöffnen
1 Punkt
68.5
»Verbale Antwort«
(1–3 Punkte)
3 Punkte
Weinen
3 Punkte
Beuge-/Strecksynergismen
2 Punkte
Spontanatmung
2 Punkte
Keine Schmerzabwehr
1 Punkt
Apnoe
1 Punkt
Erstversorgung
Die Arbeitsgemeinschaft »Neurochirurgische Intensivmedizin und Neurotraumatologie« der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie und der Arbeitskreis »Neuroanästhesie« der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin haben 1997 Empfehlungen zur Primärversorgung von Patienten mit Schädel-Hirn-Traumen publiziert [1], die nachfolgend auszugsweise wiedergegeben werden. 68.5.1 Untersuchung des Verletzten,
Dokumentation der Befunde Besondere Sorgfalt ist der zeitlich genauen Dokumentation der Glasgow Coma Scale, der motorischen Funktion aller Extremitäten und der initialen Bewusstseinslage zu widmen. Anamnese und Befund werden anhand des Notarzteinsatzprotokolls der DIVI erhoben und dokumentiert. Hinsichtlich der Vorgeschichte ist insbesondere auf den Unfallhergang und auf die Medikamentenanamnese zu achten, da zum einen bestimmte Unfallabläufe mit typischen Verletzungsmustern einhergehen, zum anderen die Einnahme gerinnungshemmender Substanzen (insbesondere Cumarinderivate und Thrombozytenaggregationshemmer) die Entstehung intrakranieller Blutungen begünstigt [13].
Kreislauf Aus intensivmedizinischen Daten lässt sich extrapolieren, dass der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) bei 60–70 mm Hg liegen sollte. Therapieziel zu seiner Aufrechterhaltung ist daher ein mittlerer arterieller Blutdruck von 80‒90 mm Hg, der so rasch wie möglich erreicht werden sollte. Daher werden Patienten mit schwerem und mittelschwerem SHT zwei, mit leichtem SHT ein großlumiger peripherer Zugang angelegt. Die Anlage eines zentralvenösen Zugangs am Unfallort bzw. vor der Krankenhauseinlieferung ist fast nie indiziert. Eine Hypertonie ist zumeist Folge einer nicht ausreichenden Analgesierung bzw. Sedierung. Ist diese Ursache ausgeschlossen, sollten erhöhte Blutdruckwerte nicht durch die Gabe vasoaktiver Substanzen gesenkt werden (Cave: CPP-Abfall!). Die Kombination von Hypotonie mit Bradykardie weist oft auf eine Verletzung des Rückenmarks hin. Ein hämorrhagischer Schock ist beim Erwachsenen praktisch immer durch eine extrakranielle Blutungsursache bedingt. Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern können intrakranielle Blutungen und Hämatome der Galea dagegen kreislaufwirksam sein. 68.5.3 Medikamentöse Behandlung
Volumentherapie 68.5.2 Stabilisierung der Vitalfunktionen Die rasche Stabilisierung der Vitalfunktionen dient der Prävention von Hypoxämie und Hypotonie zur Minimierung des sekundären Hirnschadens.
Ein hämorrhagischer Schock erfordert die sofortige Volumensubstitution. Isotone Lösungen (z. B. Ringerlösung, NaCl 0,9%) und Kolloide sind Mittel der Wahl. Hypotone kristalloide Lösungen (Glukose 5%, Ringerlaktatlösung) begünstigen ein Hirnödem.
Atmung
Analgetika, Sedativa
Bewusstlose Patienten (GCS-Score d8 Punkte) sollten endotracheal intubiert und beatmet werden, so rasch dies ohne zusätzliche Gefährdung des Patienten möglich ist. Bei Patienten mit einem GCS >8 Punkten und zusätzlichen Verletzungen, die eine rasche Verschlechterung der Spontanatmung befürchten lassen (z. B. Mittelgesichtsverletzungen, Querschnittslähmung), ist die Indikation zur Intubation und Beatmung ebenfalls großzügig zu stellen. Primär nicht intubationspflichtigen Patienten mit leichteren Verletzungen sollte Sauerstoff verabreicht werden (6 l/min über Maske oder 3 l/min über Nasensonde). Bei der obligaten pulsoxymetrischen Überwachung sollte die O2-Sättigung >95% betragen. Beim normotonen Erwachsenen wird eine Normoventilation angestrebt.
Die ausreichende Sedierung und Analgesie ist besonders bei intubierten und beatmeten Patienten sicherzustellen. Sedativa und Analgetika sind nach Wirkung zu titrieren, weil eine Überdosierung ‒ speziell bei hypovolämischen Patienten ‒ eine Hypotonie bewirken kann. Zur Intubation empfiehlt sich die Kombination eines Opioids mit einem Hypnotikum, für die Analgosedierung während des Transportes die Gabe eines Opioids mit einem Benzodiazepin von kurzer Wirkungsdauer. Ist die Analgosedierung eines nicht intubierten Patienten indiziert (z. B. Agitiertheit, Schmerzen), sollte ebenfalls ein Opioid mit einem Benzodiazepin verabreicht werden; u. U. ist hierbei auch eine Intubation in Kauf zu nehmen. Differenzialdiagnostisch ist zuvor Sauerstoffmangel bzw. ein hämorrhagischer Schock als Ursache der Agitiertheit auszuschließen.
882
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
Vasoaktive Substanzen . Tabelle 68.4. Checkliste für die Übergabe des Patienten mit schwerem SHT im Schockraum
Kann die arterielle Hypotonie nicht innerhalb weniger Minuten durch Volumengabe behoben werden, sind vasoaktive Substanzen indiziert. Die Überlegenheit eines bestimmten Präparates ist nicht erwiesen.
Unfallzeitpunkt/-hergang 4 Art des Unfalls 4 besondere Rettungssituation
68.5.4 Wundversorgung/Wundbehandlung
Eigen-, Fremdanamnese (Medikamentenanmnese!, Vorerkrankungen)
Fremdkörper in perforierenden Verletzungen sind zu belassen: durch das Entfernen kann eine bislang tamponierte Blutung verstärkt werden. Offene Verletzungen mit Austritt von Hirnsubstanz werden feucht und steril abgedeckt. Bei spritzend blutenden Kopfschwartenwunden sollte wegen des erheblichen Blutverlustes eine provisorische Blutstillung (z. B. Fassen des blutenden Gefäßes mit einer Klemme) erfolgen.
Verletzungsmuster Verdachtsdiagnosen (z. B. Blutungen, Aspiration, Intoxikation) Untersuchungsergebnisse 4 Atmung 4 Kreislauf 4 initialer neurologischer Befund (Bewusstseinslage, Pupillenbefund, Motorik) 4 periphere Durchblutung 4 Schmerzlokalisation
68.5.5 Sichtung, Transport
Therapie 4 Beatmung (Intubation, Respiratordaten) 4 Lagerung(Vakuummatratze) 4 Immobilisierung (HWS, Extremitäten) 4 Thoraxdrainage 4 Venenzugänge 4 Medikation (Dosis, Zeitpunkt)
i Es sollte stets dem Transportmittel der Vorzug gegeben werden, das den Patienten auf dem schnellsten und schonendsten Wege in die nächste geeignete Klinik transportiert.
Die Inzidenz von Verletzungen der Halswirbelsäule beträgt bei schwerem SHT bis zu 10%. Daher ist für den Transport bis zum endgültigen radiologischen Ausschluss einer derartigen Verletzung bei allen Patienten mit SHT die Halswirbelsäule gesondert zu immobilisieren (Zervikalorthese). Bei stabilen Kreislaufverhältnissen empfiehlt sich die Hochlagerung des Oberkörpers bis 30°. Bei instabilem Kreislauf wird der Patient flach gelagert. Eine effektive und schnellstmögliche Versorgung von Patienten mit SHT wird durch die primäre Einlieferung in das nächste geeignete Krankenhaus gewährleistet. Hier sollten Patienten mit schweren und mittelschweren Traumen jederzeit computertomographisch untersucht werden können. 68.5.6 Übergabe des Patienten durch den Notarzt Die Übergabe des Patienten in der Notaufnahme ist wesentlicher Schnittpunkt der Behandlungskette. Bei Eintreffen sind daher die weiterbehandelnden Ärzte mündlich und schriftlich ausführlich über den Patienten zu informieren (. Tab. 68.4). 68.6
68
Erstversorgung im Krankenhaus
Auf die Versorgung mehrfachverletzter Patienten wird in 7 Kap. 67 eingegangen, sodass nachfolgend nur die Versorgung isolierter Schädel-Hirn-Traumen beschrieben wird. Zunächst sind die Stabilisierung der Vitalfunktionen und der Ausschluss lebensbedrohlicher Begleitverletzungen durchzuführen.
Orientierende neurologische Untersuchung Anschließend erfolgt die orientierende neurologische Untersuchung mit 4 Erhebung des Lokalbefunds an Kopf und Wirbelsäule, 4 Prüfung der Tiefe der Bewusstseinsstörung (GCS),
Sonstige Daten 4 Patientendaten (Name, Anschrift, Angehörige) 4 Transport 4 vergebliche Punktionsversuche
4 4 4 4
Prüfung von Pupillenweite und -lichtreaktion, Untersuchung der wichtigsten Hirnstammreflexe, Prüfung der Schmerzabwehr und des Muskeltonus, Untersuchung der Kennreflexe der zervikalen und lumbalen Wurzeln, 4 Prüfung auf pathologische Reflexe. Diese Untersuchung ermöglicht eine Einschätzung der Verletzungsschwere und bestimmt Umfang und Dringlichkeit der weiteren neuroradiologischen Diagnostik. Im Rahmen dieses Kapitels soll auf die Versorgung leichter und mittelschwerer Traumen nur kursorisch eingegangen werden, da diese zumeist keiner intensivmedizinischen Behandlung bedürfen. 68.6.1 Leichtes und mittelschweres SHT Liegt ein leichtes SHT vor, so sind Röntgenaufnahmen des Schädels entbehrlich. Ein CT sollte jedoch durchgeführt werden, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen. Die Indikation hierzu besteht bei den in . Tabelle 68.5 dargestellten Befundkonstellationen. Obligat sind ferner Röntgenaufnahmen der HWS (bis BWK 1!) zum Frakturausschluss. Bei Patienten mit mittelschwerem SHT wird so rasch wie möglich ein CT angefertigt. Diese Patienten sind klinisch engmaschig zu überwachen, um eine Verschlechterung der Bewusstseinslage rasch erkennen zu können.
883 68.6 · Erstversorgung im Krankenhaus
. Tabelle 68.5. Indikationen zur CT-Untersuchung nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma. (Nach [12, 13, 17, 20, 25, 32, 40, 47]
68
. Tabelle 68.6. Erstversorgung des Patienten mit schwerem SHT Sicherung der Vitalfunktionen
Patientengruppe
CT indiziert bei
Leichtes SHT: 4 Patient mit Kopfverletzung, 4 nicht oder kurzfristig bewusstlos, 4 GCS-Score 13–15 Punkte bei Erstuntersuchung 4 GCS Score 13 oder 14 Punkte noch 2 h nach Trauma 4 Anamnestisch Anhalt für Gerinnungsstörung oder Einnahme gerinnungshemmender Medikamente 4 Anisokorie, Aphasie oder motorische Halbseitenzeichen 4 Krampfanfall nach Trauma 4 Klinisch Verdacht auf Schädelfraktur 4 Alter >65 Jahre 4 Mehr als einmaliges Erbrechen nach dem Unfall
Außerdem sollte jeder Patient mittels CT untersucht werden, der aufgrund externer Einflüsse (z. B. Sedierung, Alkoholintoxikation) neurologisch nicht beurteilbar ist.
i Bei jedem Patienten schwerem und mittelschwerem SHT oder bei entsprechendem Unfallmechanismus sind Röntgenaufnahmen der HWS in 2 Ebenen (bis BWK 1) anzufertigen, da etwa 10% aller Verletzten eine begleitende Halswirbelsäulenverletzung aufweisen.
Ist die Versorgung in einer neurochirurgischen Abteilung nicht möglich, sollte zumindest der konsiliarische Kontakt (z. B. über Telekonsil) mit einer neurochirurgischen Fachabteilung aufgenommen werden. Auch bei diesen Patienten ist der radiologische Frakturausschluss der HWS obligat. 68.6.2 Schweres SHT Bewusstlose Patienten, d. h. solche mit schwerem SHT, bedürfen stets der intensivmedizinischen Versorgung und der Behandlung in einer neurochirurgischen Fachabteilung. Auch bei ihnen ist ein CT so rasch wie möglich nach Klinikaufnahme und Erstversorgung anzufertigen. Die notwendige Erstversorgung ist in . Tabelle 68.6 zusammengefasst und sollte sich primär (vor Durchführung des CT) auf das Notwendigste beschränken. Sie sollte mit der Erstuntersuchung nur wenige Minuten in Anspruch nehmen.
Neuroradiologische Diagnostik Die zerebrale Computertomographie ist die Methode der Wahl zum Nachweis knöcherner und intrakranieller Verletzungsfolgen. Die Untersuchung dient zunächst dem Ausschluss raumfordernder intrakranieller Hämatome und von Parenchymverletzungen. In Abteilungen ohne Spiral-CT beginnt sie mit Schichten in Ventrikelhöhe, um im Falle einer intrakraniellen Blutung die notwendigen Operationsvorbereitungen zu veranlassen. Wird eine raumfordernde intrakranielle Blutung nachgewiesen, ist diese baldmöglichst operativ zu versorgen.
Anamnese 4 Unfallzeitpunkt 4 Unfallhergang 4 Medikamentenanamnese 4 Vorerkrankungen Klinische Untersuchung 4 Lokal 4 Neurologischer Befund – Bewusstseinslage (GCS) – Pupillenbefund – Motorik Verweilkatheter 4 2–3 großlumige periphervenöse Zugänge 4 Arterielle Kanüle 4 Zentraler Venenkatheter 4 Blasenkatheter 4 Magensonde Laborbestimmungen 4 Kleines Blutbild (Hämoglobin, Hämatokrit, Leukozyten, Thrombozyten) 4 Arterielle Blutgasanalyse 4 Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium) 4 Blutgruppe 4 Gerinnungsstatus (mit Quick, PTT, PTZ als Minimum) 4 Harnstoff, Kreatinin, Blutzucker 4 GOT, GPT, γ-GT, LDH, CK Basismonitoring 4 EKG 4 Pulsoxymetrie 4 Kapnometrie 4 Blutdruck Immobilisierung der Halswirbelsäule
Erst danach bzw. in einer Folgeuntersuchung sollten nicht nur die parenchymatösen Verletzungen erfasst werden. Durch entsprechende Untersuchungstechnik (»Knochenfenster«) ist eine genaue Darstellung der knöchernen Strukturen anzustreben, wobei besonders auf Traumafolgen im Bereich der knöchernen Augenhöhlen, der Fronto- und Otobasis und am kraniozervikalen Übergang zu achten ist. ! Cave Ein früh nach dem Trauma durchgeführtes, unauffälliges Computertomogramm schließt ein intrakranielles Hämatom nicht endgültig aus, da sich viele Hämatome erst mit zeitlicher Verzögerung entwickeln. Im initialen CT nachgewiesene Kontusionen können sich in den nachfolgenden Stunden vergrößern. Bei schweren und mittelschweren Traumen muss daher die Untersuchung nach spätestens 8–12 h wiederholt werden, bei klinischem Verdacht auch früher.
Besondere Risikogruppen für derartige verzögerte Hämatome sind Patienten mit vorbestehender Hirnatrophie (ältere Menschen, Alkoholiker), für die Vergrößerung primärer Kontusionen Patienten mit Störungen der Blutgerinnung (z. B. Massentransfusion).
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
Die Durchführung eines kranialen MRT ist in der Frühphase des SHT so gut wie nie indiziert. Im weiteren Verlauf lassen sich jedoch insbesondere diffuse Hirnschäden im T2- oder Flair-gewichteten Kernspintomogramm gut darstellen (. Abb. 68.4) und ermöglichen eine bessere Abschätzung der Prognose [14, 46]. Die Darstellung der intra- und extrakraniellen Gefäße mittels zerebraler Angiographie ist beim typischen SHT nur selten indiziert. Hauptindikationen ist die Abklärung von Gefäßverletzungen (z. B. extrakranielle traumatische Dissektionen, CarotisSinus-cavernosus-Fistel). 68.6.3 Ver weilkatheter Routinemäßig sollten allen Patienten mit schwerem SHT ein zentraler Zugang, Magensonde, Blasenableitung und arterielle Kanüle angelegt werden, sobald dies ohne Gefährdung des Patienten und Verzögerung der notwendigen Diagnostik möglich ist. Als Punktionsort für den zentralen Venenkatheter ist aus neurochirurgischer Sicht die Punktion der V. jugularis interna wegen der Gefahr der versehentlichen Karotispunktion mit nachfolgender Hämatomentstehung und venöser Abflussbehinderung zu vermeiden. Die Anlage einer arteriellen Kanüle sollte bei Patienten mit bestehenden Paresen grundsätzlich auf der paretischen Seite erfolgen. Zum einen ist so die Gefahr der Diskonnektion geringer, zum anderen wird bei einem Gefäßverschluss nicht die noch funktionstüchtige Gliedmaße betroffen. ! Cave Wegen der Gefahr der Perforation in das Schädelinnere sollten Patienten mit frontobasalen Verletzungen keine transnasale Magensonde erhalten.
68.6.4 Monitoring
Basismonitoring Liegen keine Begleitverletzungen vor, kann bei leichten und mittelschweren Schädel-Hirn-Verletzungen der arterielle Blutdruck unblutig gemessen werden, bei schwerem SHT sollte eine kontinuierliche blutige Messung erfolgen. Zur Bestimmung des zerebralen Perfusionsdrucks erfolgt der Nullpunktabgleich in gleicher Höhe wie der zur ICP-Messung, d. h. in Höhe des Foramen Monroi (grob: in Höhe des äußeren Gehörgangs). Die Überwachung der Oxygenierung erfolgt für mittelschwere und schwere Traumen kontinuierlich mittels Pulsoximetrie. Beim schwerem SHT werden zusätzlich diskontinuierliche Kontrollen der Blutgase durchgeführt. Als Schwellenwerte gelten: SaO2 >95%, paO2 >100 mm Hg, paCO2 >35 mm Hg. Die Überwachung der Körpertemperatur sollte ebenfalls kontinuierlich erfolgen. Sie ist allgemein etwas geringer als die eigentliche Hirntemperatur [21]. Es ist noch nicht definitiv geklärt, ob eine moderate Hypothermie die neurologische Erholung nach SHT verbessert [10, 28, 41]. Hypertherme Zustände sollten jedoch auf jeden Fall vermieden werden, denn Hyperthermie bedeutet eine zusätzliche Belastung des vorgeschädigten Gehirns durch erhöhten zerebralen Metabolismus und Substratbedarf. Der Hämoglobingehalt sollte nicht unter 10 g/dl abfallen. Störungen der Serumelektrolyte sind die häufigsten Komplikationen nach Schädel-Hirn-Trauma [33]. Besonderer Aufmerksamkeit ist den bekannten zentralen Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes zu widmen, auf deren Behandlung an anderer Stelle eingegangen wird. Besondere Aufmerksamkeit erfordern weiterhin mögliche Gerinnungsstörungen [33], da diese das verzögerte Auftreten intrakranieller Hämatome begünstigen und zur Vergrößerung vorbestehender Kontusionsblutungen beitragen können [13, 17, 25, 47].
Klinisch-neurologische Überwachung Trotz einer Vielzahl additiver Verfahren des Monitoring, die Aussagen über den zerebralen Stoffwechsel, die Durchblutung und Oxygenierung des Gehirns geben, ist die neurologische Untersuchung des Patienten die einzige Möglichkeit der Funktionsüberprüfung des geschädigten Gehirns und damit der von Behandlungserfolg oder -misserfolg. Zu erfassen sind Bewusstseinslage (nach der GCS), Pupillenweite und -lichtreaktion sowie die seitengetrennte Prüfung der Motorik. Obwohl die Erhebung der GCS beim sedierten, intubierten und beatmeten Patienten mit schwerem SHT erschwert ist, lässt sich zumindest als prognostisch bedeutsamste Komponente der GCS die motorische Antwort neben der obligaten Pupillenkontrolle erfassen. Eine Verschlechterung des GCS-Scores von 2 oder mehr Punkten, neu aufgetretene Störungen des Pupillenverhaltens oder das Neuauftreten fokaler neurologischer Zeichen sind hochgradig verdächtig auf eine intrakranielle Komplikation und erfordern fast immer ein Kontroll-CT.
68
Intrakranieller Druck . Abb. 68.4. Typisches Kernspintomogramm bei schwerer diffuser Hirnschädigung. Gut erkennbar sind die kontusionellen Läsionen der mesialen Anteile beider Temporallappen (solide Pfeile), des Kleinhirnwurms (gestrichelter Pfeil) und der dorsolateralen Brücke (unterbrochener Pfeil).
Die Messung des intrakraniellen Druckes (ICP) dient der Sicherung der zerebralen Perfusion und der Oxygenierung. Die gezielte Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks setzt seine kontinuierliche Messung voraus. In einer Vielzahl von Untersu-
885 68.6 · Erstversorgung im Krankenhaus
68
chungen wurde der Zusammenhang zwischen erhöhtem ICP und Prognose nachgewiesen (Literatur in [8] und [29]). Anhaltspunkte für einen erhöhten intrakraniellen Druck ergeben sich aus der Bewusstseinslage des Patienten, dem Verlauf des neurologischen Befundes und dem Läsionstyp im CT. Die Indikationen zur intrakraniellen Druckmessung sind in . Tabelle 68.7 dargestellt. Parallel ist der zerebrale Perfusionsdruck zu bestimmen, der sich als Differenz zwischen mittlerem arteriellem Druck und ICP errechnet. Als Schwellenwert sollte bei einem ICP von <20 mm Hg der CPP bei 60–70 mm Hg liegen [1, 8, 26]. Ob eine gezielte Anhebung des CPP über 70 mm Hg die Prognose der Patienten weiter verbessert, ist fraglich. Auf die verschiedenen Messverfahren wird in 7 Kap. 48 eingegangen. Für Patienten mit SHT kommen epidurale, ventrikuläre oder parenchymatöse Messverfahren in Betracht. Ihre Differenzialindikationen sind in . Tabelle 68.8 wiedergegeben.
10–15 min nach Probensammlung. Damit kann sie Auskunft über die biochemischen Reaktionen des Gehirns auf hämodynamische Veränderungen geben [37‒39].
Erweitertes Neuromonitoring
Verletzungen der Kopfschwarte
Zerebrale Oxygenierung und Durchblutung lassen sich durch die Messung von ICP und CPP nur indirekt erfassen. Deshalb wurden in den letzten Jahren zusätzliche Verfahren des Neuromonitorings entwickelt [4, 45], die ausführlich in 7 Kap. 16 dargestellt sind. Mit Hilfe dieser Verfahren lässt sich eine Optimierung des zerebralen Monitorings erreichen, da in einer konkreten Situation ein erhöhter ICP durchaus noch eine adäquate Oxygenierung und Durchblutung bedeuten kann und umgekehrt [44]. Durch die Online-Mikrodialyse können zusätzliche Informationen über die metabolische Situation des Gehirns erhalten werden. Sie wird bislang nur in wenigen Zentren durchgeführt und ermöglicht die Bestimmung der extrazellulären Konzentrationen von Glukose, Laktat, Pyruvat, Glyzerol und Glutamat etwa
Verletzungen der Kopfschwarte heilen i. Allg. problemlos, können aber Ursache erheblicher Blutverluste sein (z. B. Durchtrennung der A. temporalis). Sie sollten möglichst früh versorgt werden. Vorher ist zu klären, ob Fremdkörper eingedrungen sind oder gar eine Impressionsfraktur vorliegt. Eine Tetanusprophylaxe ist obligat.
. Tabelle 68.7. Indikationen zur intrakraniellen Druckmessung. (Nach [8, 27]) Schweres SHT (GCS ≤8 Punkte) und CT-Hinweise auf eine intrakranielle Druckerhöhung 4 Raumfordernde intrakranielle Blutung 4 verstrichenes Kortexrelief 4 Einengung der Ventrikel und/oder perimesenzephalen Zisternen 4 Kontusionen mit perifokalem Ödem Schweres SHT (GCS ≤8 Punkte) ohne CT-Hinweise auf eine intrakranielle Druckerhöhung und 4 Alter über 40 Jahre und 4 beste motorische Antwort Beugesynergismen oder 4 systolischer Blutdruck <90 mm Hg
68.6.5 Operative Behandlung der
Verletzungsfolgen Die operative Behandlung nach SHT umfasst die Versorgung von Kopfschwartenverletzungen, die Entleerung intrakranieller Hämatome, die Behandlung offener Schädel-Hirn-Verletzungen und von Impressionsfrakturen sowie die Therapie der Spätfolgen (z. B. Hirnabszess, posttraumatischer Hydrozephalus). Auf letztere soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Schließlich kann bei therapierefraktärer intrakranieller Drucksteigerung die Dekompressionstrepanation indiziert sein.
Kalottenfrakturen Lineare Frakturen des Schädeldachs Diese heilen, auch wenn sie sehr ausgedehnt sind, spontan und bedürfen fast nie der operativen Behandlung. Durch die geschlossene Kopfhaut sind sie nur selten palpabel. Verdächtig sind umschriebene Unterblutungen der Galea. Durch Inspektion oder Palpation offener Kopfwunden lassen sich ggf. darunter gelegene Frakturen erkennen. Man achte auf Austritt von Liquor und/oder Hirnbrei als Hinweis auf eine offene Schädel-Hirn-Verletzung. Zur Abklärung ist ein Schädel-CT obligat.
Offene Impressionsfrakturen Offene Impressionsfrakturen [5] bedürfen immer der neurochirurgischen Behandlung. Die Versorgung sollte innerhalb der ersten 6–8 h erfolgen, da die Gefahr einer posttraumatischen Infektion (Meningitis, Hirnabszess, Subduralempyem) groß ist. Die Wirksamkeit einer antibiotischen Prophylaxe ist umstritten. Die operative Behandlung besteht in einem Wunddebridement nach allgemeinen chirurgischen Grundsätzen und einem Duraverschluss durch primäre Naht oder autologes Transplantat (Galea, Fascia lata). Eventuell entstandene Knochendefekte können sekundär nach ca. 6 Monaten gedeckt werden.
. Tabelle 68.8. Differenzialindikationen zu verschiedenen Messverfahren des ICP bei schwerem SHT Latente oder zu erwartende Gerinnungsstörungen
Epidural
Enges oder verlagertes Ventrikelsystem
Epidural oder parenchymal
Intraventrikuläre Blutung
Ventrikulär
Traumatisches Hämatom, postoperativ
Parenchymal oder epidural
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
Schussverletzungen Eine Sonderform des offenen SHT stellen Schussverletzungen dar, die eine besonders schlechte Prognose haben. Sind Patienten mit derartigen Verletzungen primär tief bewusstlos und handelt es sich um eine Durchschussverletzung, die das Ventrikelsystem betrifft, ist i. Allg. nur eine provisorische Wundversorgung indiziert. Eine ausgedehntere Versorgung nach obigen Gesichtspunkten ist nur bei wachen oder bewusstseinsgetrübten Patienten indiziert.
Geschlossene Impressionsfrakturen Diese Frakturen müssen ebenfalls operativ versorgt werden, wenn eine Duraverletzung vermutet wird. Dies ist fast immer der Fall, wenn die Impression Kalottendicke überschreitet. Ist die Impressionsfraktur so ausgedehnt, dass sie raumfordernd wirkt (sehr selten), bedarf sie der akuten neurochirurgischen Behandlung. In den meisten Fällen sind Impressionsfrakturen umschrieben und können geplant neurochirurgisch versorgt werden. Eine Verlegung in die neurochirurgische Klinik ist in diesen Fällen erst nach der Versorgung akut bedrohlicher Begleitverletzungen sinnvoll. Impressionsfrakturen sind grundsätzlich computertomographisch abzuklären, um ihre Ausdehnung und das Ausmaß einer evtl. darunter liegenden Hirnverletzung erkennen zu können.
Schädelbasisfrakturen Bei etwa 2% aller Schädelverletzungen bzw. 5–10% aller schweren Schädel-Hirn-Traumen liegt eine frontobasale Fraktur vor. Wegen der Gefahr einer aszendierenden Meningitis durch Verbindung des Schädelinneren mit den Nebenhöhlen oder dem endonasalen Raum bedürfen sie stets der weiteren Abklärung. Klinisch verdächtig auf frontobasale Frakturen ist das Vorliegen eines Brillenhämatoms, für laterobasale Frakturen des Felsenbeins eine retroaurikuläre Unterblutung (»Battle’s sign«). Beweisend ist der Austritt von Liquor oder Hirnbrei aus Nase oder Ohr. Radiologisch (Dünnschicht-CT der betroffenen Region) können, neben der Fraktur selbst, als indirekte Frakturhinweise intrakranielle Luft oder Verschattungen der Nebenhöhlen nachgewiesen werden. Der direkte Nachweis von Liquoraustritt ist schwer zu führen, da er oft nur vorübergehend beobachtet wird.
Liquor fistel Eine fragliche Liquorfistel kann am zuverlässigsten durch eine Liquorraumszintigraphie, ein Dünnschicht-CT in Bauchlage mit vorheriger intrathekaler Kontrastmittelgabe oder durch ein T2gewichtetes Kernspintomogramm bestätigt werden.
Operationsindikationen
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Frakturen der Schädelbasis werden überwiegend konservativ behandelt. Eine operative Behandlung frontobasaler Verletzungen ist jedoch erforderlich bei 4 ausgedehnter Zertrümmerung der Frontobasis mit starker Dislokation von Knochenfragmenten, 4 gleichzeitigem Vorliegen ausgedehnter Mittelgesichtsverletzungen mit frontobasaler Beteiligung, 4 frontobasaler Liquorfistel, die nach etwa 7-tägiger Behandlung durch eine lumbale Dauerdrainage nicht sistiert. Liegt gleichzeitig ein raumforderndes intrakranielles Hämatom vor, erfolgt die Versorgung sofort. Ist dies nicht der Fall, sollte in unkom-
plizierten Fällen der operative Verschluss früh, d. h. innerhalb der ersten Woche vorgenommen werden. Bei ausgedehnten Hirnverletzungen erfolgt die spätere Versorgung nach Abklingen des posttraumatischen Ödems und Stabilisierung des Gesamtzustands.
Antibiotika Der Wert einer antibiotischen Prophylaxe bei aktiver Liquorrhö ist umstritten, sie wird jedoch in den meisten Kliniken durchgeführt. Zur Prophylaxe sollten Antibiotika verwendet werden, die im Wirkspektrum die im Nasen-Rachen-Raum gängigen Keime einschließen. Reserveantibiotika haben in der Prophylaxe keinen Platz! Bei aufgetretener Infektion (Nachweis einer Meningitis durch Lumbal- oder Subokzipitalpunktion) ist immer gezielt (nach Antibiogramm) antibiotisch zu behandeln (7 Kap. 53). Otobasale Verletzungen bedürfen nur selten der operativen Behandlung, da sie sich zumeist spontan oder unter lumbaler Liquordrainage verschließen. Persistiert trotz dieser Maßnahmen eine Otoliquorrhoe über 7 Tage, sollte die operative Deckung erfolgen.
Epidurales Hämatom Epiduralhämatome (. Abb. 68.5) befinden sich zwischen Dura mater und knöchernem Schädel und werden meist innerhalb der ersten 4–8 h nach dem Trauma symptomatisch. Betroffen sind vorwiegend jüngere Patienten. Ursache ist meist eine Verletzung der A. meningea media oder ihrer Äste durch eine Schädelfraktur. Seltener sind Verletzungen eines Hirnsinus oder ein Frakturspalthämatom die Ursachen. Im Computertomogramm sind sie bikonvex, meist temporal (etwa 75%) oder frontal (etwa 11%) lokalisiert und hyperdens. Andere Lokalisationen sind seltener [11, 32].
Symptomatik Klassisch, aber eher selten, ist die Entwicklung der Symptome nach einer kurzen Phase der Bewusstlosigkeit und anschließendem Aufklaren (»freies Intervall«) gefolgt von sekundärer Eintrübung, Entwicklung einer einseitigen homolateralen Pupillenerweiterung mit kontralateraler Hemiparese. Bei primär bewusstseinsgetrübten oder komatösen Patienten kommt es zur Zunahme der Bewusstlosigkeit mit einseitiger Pupillenerweiterung und kontralateralen Halbseitenzeichen (häufigerer Verlauf). Die Behandlung besteht fast immer in der sofortigen operativen Entfernung des Hämatoms und Versorgung der Blutungsquelle. Die Prognose hängt weitgehend vom neurologischen Zustand zum Operationszeitpunkt ab. Wenn keine zusätzlichen intrakraniellen Verletzungen vorliegen, ist sie bei frühzeitiger Operation sehr gut [11, 32].
Subdurales Hämatom (SDH) Subdurale Hämatome werden in akute, subakute und chronische eingeteilt [7, 11, 32].
Akutes SDH Akute Subduralhämatome (. Abb. 68.6) befinden sich zwischen Hirnoberfläche und Dura mater. Sie entstehen zu etwa 25% durch Abrisse von Brückenvenen, zu etwa 75% durch Einrisse kleiner Gefäße auf der kontusionierten Hirnoberfläche. Betroffen sind alle Altersgruppen. Im Computertomogramm manifestieren sich die Blutungen als hyperdense, konvex-konkave Struktur über der Großhirnhemisphäre mit vorwiegender Lokalisation frontotemporoparietal. Fast immer finden sich als Ausdruck
887 68.6 · Erstversorgung im Krankenhaus
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. Abb. 68.5. Typisches Computertomogramm bei ausgedehntem Epiduralhämatom rechts temporoparietal. Man beachte die raumfordernde Wirkung mit Verlagerung der Mittellinienstrukturen und beginnender transtentorieller Herniation
des primären Hirnschadens begleitende Läsionen des Hirnparenchyms (kontusionelle Schäden). Die Symptomatik entspricht der des Epiduralhämatoms mit Bewusstlosigkeit, homolateraler Pupillenerweiterung und kontralateraler Hemiparese. Seitens des Verlaufs wird ein freies Intervall fast nie beobachtet: die Patienten sind aufgrund ihrer schweren primären Hirnschädigung fast immer initial bewusstlos und verschlechtern sich aufgrund der Raumforderung sekundär (»latentes Intervall«). Akute Subduralhämatome werden definitionsgemäß innerhalb von 72 h nach dem Trauma symptomatisch; die meisten
werden in den ersten 1–3 h nach dem Trauma festgestellt. Raumfordernde Blutungen müssen durch eine Notfallkraniotomie und Duraeröffnung dargestellt und ausgeräumt werden. Aufgrund der zusätzlichen Schädigung des Hirnparenchyms sind die Patienten oft tief bewusstlos und die Prognose ungünstig (Letalität zwischen 40 und 70%). Die Neigung zur posttraumatischen Ödementwicklung ist ausgeprägt [7].
Subakutes und chronisches SDH Subakute Hämatome treten nach 3–20 Tagen auf, sind im CT bereits beginnend hypodens, teilweise verflüssigt. Chronisch sub-
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
. Abb. 68.6. Typisches Computertomogramm bei ausgedehntem akutem subduralem Hämatom über der linken Hemisphäre. Beachte die enorme raumfordernde Wirkung des Hämatoms (Verlagerung des ipsilateralen Seitenventrikels zur Gegenseite mit hydrozephalem Aufstau des kontralateralen Seitenventrikels)
durale Hämatome werden ab 20 Tagen, oft jedoch erst Monate nach einem Trauma beobachtet.
Traumatisches intrazerebrales Hämatom
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Intrazerebrale Blutungen (. Abb. 68.7) entwickeln sich aus Einrissen tiefer gelegener kleinerer Hirngefäße, zumeist in Kontusionszonen des Frontal- und Temporalhirns. Die Symptomatik ist ähnlich wie beim Subdural- und Epiduralhämatom, wobei die Ausprägung und Geschwindigkeit der Symptomatik von der Schwere des initialen Hirnschadens sowie von der Größe und Lokalisation der Blutung bestimmt werden. Oftmals entwickelt sich in den nächsten Tagen ein ausgeprägtes perifokales Ödem. Intrazerebrale Hämatome können sich auch noch Tage nach der primären Verletzung entwickeln bzw. deutlich an Größe zunehmen [6, 17] und operationsbedürftig werden (»delayed traumatic intracerebral hematomas«). Besonders gefährdet sind Patienten mit kleinen Kontusionen im primären Computertomogramm und gleichzeitigen Störungen der Blutgerinnung (SHT und Polytrauma, Gerinnungsstörungen durch Massentransfusion) sowie Patienten mit vorbestehender Atrophie (Alter, Alkoholismus) [17, 25, 47].
Raumfordernde Blutungen, die klinisch durch Einklemmungssymptome symptomatisch sind, werden operiert. Kritisch sind Hämatomvolumina von über 20 ml, die operiert werden sollten [6].
Dekompressionstrepanation In den letzten Jahren hat die operative Dekompression bei therapierefraktärer intrakranieller Drucksteigerung eine zunehmende Renaissance erfahren [15, 18, 19]. Die Gründe hierfür liegen darin, dass diese Behandlung kausal, einfach durchzuführen und nebenwirkungsarm ist. Die Indikation hierzu ist jedoch streng zu stellen (. Tab. 68.9) und betrifft nach unseren Erfahrungen pro Jahr nur etwa 2–5% aller Verletzten. Bei streng gestellter Indikation können so durchaus noch in etwa 70% der Fälle gute bis befriedigende Behandlungsergebnisse erreicht werden [18].
. Abb. 68.7. Computertomogramm bei ausgedehnter rechts frontaler/ frontobasaler Kontusionsblutung
7
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
. Tabelle 68.9. Indikationen zur Dekompressionskraniotomie. (Nach [18]) Indikationen zur Dekompressionskraniotomie 4 Alter <50 Jahre 4 Primärer GCS-Score >3 Punkte 4 Konservativ nicht beherrschbarer ICP-Anstieg 4 Intrakranieller Druckanstieg korreliert mit klinischer Verschlechterung (Bewusstseinslage, TCD, EEG, evozierte Potenziale) 4 Eingriff vor Auftreten einer irreversiblen Hirnstammschädigung
68.6.6 Hirnödem/intrakranielle Drucksteigerung:
intensivmedizinische Behandlung Behandlungskonzepte
68
Zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickeln die meisten Patienten mit schwerem SHT infolge des posttraumatischen Hirnödems einen Anstieg des intrakraniellen Drucks [43], der den zerebralen Primärschaden durch Massenverschiebung und transtentorielle Herniation weiter verstärkt. Aktuelle Behandlungsformen des posttraumatischen Hirnödems fußen zum einen auf unspezifischen, allgemeinen Maßnahmen (z. B. Sedierung, Lagerung, Liquordrainage etc.), zum anderen auf einer spezifischen medikamentösen Behandlung mit verschiedenen pharmakologischen Ansätzen. Die Kombination dieser Maßnahmen führt zu verschiedenen Behandlungskonzepten. Das gängige Behandlungskonzept für Patienten mit SHT beruht auf der Hypothese, dass eine Optimierung der zerebralen Perfusion unter gleichzeitiger Senkung des intrakraniellen Druckes und Aufrechterhaltung der allgemeinen Körperhomöostase die neurologische Erholung des Patienten (»outcome«) verbessert [8, 22, 27]. Voraussetzung ist ein Basismonitoring (. Tab. 68.10), verbunden mit der klinischen Überwachung des Patienten, das ggf. durch eine Überwachung von ICP und CPP ergänzt wird. Auf die Behandlung des erhöhten ICP wird ausführlich 7 Kap. 48 eingegangen. Allgemein wird sie in Form einer Stufentherapie durchgeführt, wobei die nebenwirkungsträchtigsten Maßnahmen an letzter Stelle der Therapie stehen. Für die Differenzialtherapie des posttraumatischen Hirnödems wird ein erweitertes Neuromonitoring (endexspiratorisches CO2, Bulbus-jugularis-Oxymetrie, Gewebe-pO2, transkranieller Doppler, EEG, evozierte Potenziale, Mikrodialyse, rCBF) empfohlen, wobei der Stellenwert einzelner Parameter noch definiert werden muss [4]. Durch dieses multimodale Monitoring kann eine bessere Differenzierung der verschiedenen Ödemformen vorgenommen und der Einsatz verschiedener spezifischer und unspezifischer Maßnahmen optimiert werden (7 Kap. 16). Grundsätzlich andere Therapiekonzepte [2, 36] haben sich gegenüber diesen etablierten Behandlungsformen bislang nicht durchsetzen können.
»Neuroprotektive« Medikamente Trotz vielversprechender tierexperimenteller Daten konnte bislang für kein Pharmakon beim posttraumatischen Hirnödem der klinische Wirksamkeitsnachweis erbracht werden. Die Gabe
. Tabelle 68.10. Monitoring bei schwerem SHT Basismonitoring 4 Allgemeines Monitoring – EKG – psO2 (Pulsoxymetrie) – ETCO2 (Kapnometrie) – Blutdruck (blutig, kontinuierlich, Mitteldruck) – Temperatur (rektal, kontinuierlich) – Arterielle Blutgasanalyse (paO2, paCO2, pH) – Labor (kleines Blutbild, Thrombozyten, Elektrolyte, Blutzucker, Gerinnung, Osmolarität) Zerebrales Monitoring 4 Neurologische Überwachung (GCS, Motorik, Pupillen) 4 Intrakranieller Druck (ICP) 4 Zerebraler Perfusionsdruck (CPP) 4 CT (nach Er fordernis jederzeit durchführbar) Erweitertes Neuromonitoring 4 EEG 4 Evozierte Potentiale 4 Transkranielle Dopplersonographie 4 Hirngewebe-pO2 4 Jugularvenenoxymetrie 4 Mikrodialyse 4 Regionaler zerebraler Blutfluss (rCBF)
von Mannitol kann zur Behandlung des akuten intrakraniellen Druckanstiegs als gesichert empfohlen werden. Kortikoide sind zur Behandlung des posttraumatischen Hirnödems nicht indiziert [35]. Gleiches gilt für den Einsatz von Kalziumantagonisten bei Patienten mit traumatischen Subarachnoidalblutungen. Unter entsprechendem Monitoring können Trispuffer (THAM) wie auch Barbiturate als ultima ratio bei therapierefraktärem Anstieg des ICP empfohlen werden [8, 35]. Eine prophylaktische Gabe bei allen Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma beeinflusst jedoch die Behandlungsergebnisse nicht. 68.7
Prognose
Gerade in der Frühphase nach SHT ist es nicht möglich, eine individuelle Prognose zu stellen. Unzweifelhaft korrelieren jedoch bestimmte Faktoren mit einer besonders schlechten Prognose: 4 Alter über 40 Jahre, 4 niedriger Glasgow-Koma-Score, 4 Störungen von Pupillo- und Okulomotorik, 4 intrakranieller Druck >20 mm Hg, 4 bestimmte intrakranielle Verletzungsmuster (diffuse Verletzung mit Schwellung oder Mittellinienverlagerung, akutes Subduralhämatom), 4 Auftreten extrakranieller Komplikationen (Hypoxämie, Hypotension). Zur Bewertung des Behandlungserfolgs hat sich die Glasgow Outcome Scale (. 68.11; [6]) international durchgesetzt. Hierbei werden zur weiteren Vereinfachung die Outcome-Klassen »verstorben«, »vegetativ« und »schwer behindert« als »schlechtes
891 Literatur
. Tabelle 68.11. Glasgow Outcome Scale. (Nach [23]) »Schlechtes Outcome« Verstorben 4 1 Punkt Vegetativ (= apallisches Syndrom) 4 2 Punkte Schwerbehindert, pflegebedürftig 4 3 Punkte »Gutes Outcome« 4 4 Punkte 4 5 Punkte
Mäßig behindert Keine/minimale Behinderung
Outcome«, die Klassen »leichte Behinderung« und »keine/minimale Behinderung« als »gutes Outcome« zusammengefasst. Mortalität und Morbidität von Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma sind in den letzten Jahren gesunken. Grob geschätzt kann von einer Senkung der Sterblichkeit von etwa 40% auf 30% ausgegangen werden [30, 34]. Die Ursache hierfür scheint in einer besseren Primärversorgung und einer Optimierung der allgemein-intensivmedizinischen Behandlung zu liegen. Für Deutschland ist ferner darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren zunehmend Zentren der Frührehabilitation geschaffen wurden, in die die Patienten unmittelbar nach Abschluss der intensivmedizinischen Akutbehandlung verlegt werden sollten.
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892
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
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68
69 Verletzungen der Kieferund Gesichtsregion S. Reinert
69.1
Grundlagen
69.2
Verletzungen der Gesichtsweichteile
69.2.1 69.2.2
Diagnostik –894 Primärversorgung –894
69.3
Einteilung der Gesichtsschädelfrakturen
69.4
Unterkiefer frakturen
69.4.1 69.4.2 69.4.3 69.4.4
Symptomatik und Diagnostik –895 Einteilung –895 Therapie –895 Operationszeitpunkt –896
69.5
Mittelgesichtsfrakturen
69.5.1 69.5.2 69.5.3 69.5.4 69.5.5
Nasenbeinfrakturen –896 Jochbeinfrakturen (laterale Mittelgesichtsfrakturen) –896 Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen –897 Orbitafrakturen –899 Panfaziale Frakturen –900
69.6
Frontobasisfrakturen
69.6.1 69.6.2
Symptomatik und Diagnostik –900 Therapie –900
69.7
Kombinier te Weichteil-Knochen-Verletzungen des Gesichtsschädels –900
69.7.1 69.7.2
Diagnostik und Besonderheiten der Anästhesie –900 Therapie –901
69.8
Sekundäre rekonstruktive Chirurgie im kraniomaxillofazialen Bereich –901 Literatur
–894
–901
–894
–895
–895
–896
–900
894
Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
69.1
Grundlagen
Die herausragende Bedeutung des Gesichts für die Persönlichkeit eines Menschen bedingt, dass Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion für den betroffenen Patienten nicht nur von funktioneller, sondern auch von ästhetischer Bedeutung sind: Funktionen wie Sprache, Sehen, Riechen, Kaufunktion und Schlucken können durch ein Trauma im Gesichtsschädelbereich beeinträchtigt werden, aber auch das Gesicht als Ausdruck der Persönlichkeit kann in seiner Integrität zerstört werden. Diese Gesichtspunkte sind bei der Therapie zu berücksichtigen und erfordern eine sorgfältige Diagnostik, eine zeitgerechte, anatomisch exakte Reposition und Fixation aller frakturierten Skelettabschnitte sowie eine subtile Weichteilversorgung. Wegen der aus ästhetischen Gründen begrenzten Zugangswege im sichtbaren Bereich wird die Exposition der Frakturen von intraoral, kleinen periorbitalen Inzisionen und bei komplexen Mittelgesichtsfrakturen über einen Bügelschnitt bevorzugt. Auch im Rahmen der Primärversorgung, die spätestens ca. 7–10 Tage nach dem Trauma erfolgen soll, kann eine primäre Knochentransplantation von autologen Rippen-, Beckenkammoder Tabula-externa-Kalottentransplantaten notwendig werden. Die Weichteilversorgung erfolgt mit feinstem atraumatischem Nahtmaterial. Wegen der besonderen Bedeutung der Schädel- und Gesichtstraumatologie für die Intensivmedizin sollen diese Aspekte im Folgenden besonders herausgestellt werden. Einerseits haben moderne Anästhesieverfahren der Kiefer- und Gesichtschirurgie die Anwendung fortschrittlicher chirurgischer Techniken ermöglicht, andererseits wird durch die Osteosyntheseverfahren die postoperative Intensivbehandlung v.a. des polytraumatisierten Patienten wesentlich verbessert. Während früher Ober- und Unterkiefer häufig für mehrere Wochen gegeneinander immobilisiert wurden (mandibulomaxilläre Fixation, früher intermaxilläre Fixation genannt), ist dies heute meist nur kurzfristig erforderlich oder vermeidbar. Auf diese Weise werden Mundhygiene und Bronchialtoilette erleichtert und nichtintubierten Patienten die verbale Kommunikation ermöglicht. 69.2
Verletzungen der Gesichtsweichteile
69.2.1 Diagnostik
69
Verletzungen der Gesichtsweichteile treten nicht selten in Kombination mit Frakturen auf. In solchen Fällen werden, unter Nutzung der Weichteilwunden als Zugang, zunächst die knöchernen Verletzungen nach dem Prinzip »von innen nach außen« versorgt. Da die Primärversorgung zugleich auch die definitive Versorgung sein sollte, kommt der Beurteilung des Erstbehandlers große Bedeutung zu: Lässt sich eine knöcherne Verletzung nicht ausschließen, sollte möglichst auf eine Weichteilversorgung zunächst verzichtet und eine exakte Frakturdiagnostik, zumeist mit Hilfe einer Computertomographie, durchgeführt werden. Dies kann bedeuten, dass der Patient in eine Klinik mit mund-, kieferund gesichtschirurgischer Fachabteilung verlegt werden muss. Sind knöcherne Verletzungen ausgeschlossen, sollten Weichteilverletzungen des Gesichts sofort versorgt werden, wenn nicht vital bedrohliche andere Verletzungen im Vordergrund stehen.
69.2.2 Primär versorgung Kleinere Wunden im Gesichtbereich lassen sich in Lokalanästhesie versorgen, ausgedehnte und tiefere Verletzungen sollten in Intubationsnarkose versorgt werden, wobei die Lokalisation der Weichteilverletzungen die Art der Intubationsnarkose bestimmt. ! Cave Generell muss bei allen Operationen im Gesicht der Befestigung des Tubus und einer sicheren Konnektion mit dem Narkosegerät besondere Sorgfalt gewidmet werden. Da sich der Tubus im Operationsgebiet befindet, ist eine ungewollte Dislokation während des Eingriffs nicht sicher auszuschließen.
Schürfwunden Großflächige, wenn auch oberflächliche Schürfwunden im Gesicht sind eine Indikation zur Versorgung in Intubationsnarkose, wenn sie durch Fremdkörper, beispielsweise Schmutz, Steine oder Lacksplitter, verunreinigt sind. Solche Wunden müssen in Narkose mit einer sterilen Bürste, steriler Kochsalz- und 3%iger H2O2-Lösung ausgebürstet werden. Erfolgt dies nicht primär, resultieren ästhetisch störende Schmutztätowierungen, die sekundär nur sehr schwer zu entfernen sind, da auch durch hochtouriges Hautschleifen die tiefer im Gewebe liegenden Pigmentpartikel nicht erfasst werden.
Operationstechnik Generell gilt für die Wundversorgung im Gesichts- und Halsbereich, dass eine atraumatische Operationstechnik mit schichtweisem Wundverschluss, unter Verwendung von feinem Nahtmaterial, erforderlich ist. Alle Wunden müssen sorgfältig bis in die Tiefe und in voller Ausdehnung inpiziert und möglicherweise eingesprengte Fremdkörper (Glassplitter, Holz, Metall, Geschossteile und Schmauchspuren) entfernt werden. Bei gequetschten Wundrändern sind wegen der sehr guten Blutversorgung und hohen Infektionsresistenz der zervikofazialen Weichteile Wundrandexzisionen nicht oder nur äußerst sparsam durchzuführen. Sie sollten auf nekrotische oder extrem schmutztätowierte Gewebeabschnitte beschränkt bleiben. Zur Vermeidung von Gewebeverlusten sollten auch kleine, schmalbasig gestielte Haut- und Schleimhautanteile erhalten werden. Ist bei ausgedehnten Quetschwunden oder Explosionsverletzungen ein Débridement erforderlich oder liegen echte Hautdefekte vor, ist eine plastisch-chirurgische Rekonstruktion, beispielsweise durch Nahlappenplasik, anzustreben. Aus den genannten Prinzipien geht hervor, dass ausgedehnte Weichteilverletzungen des Gesichts nur von in der Gesichtschirurgie erfahrenen Operateuren versorgt werden sollten. Weichteilverletzungen des Gesichts in der Umgebung von Mund, Nase und Augenlidern sollten in speziellen Zentren behandelt werden. Hier kann auch der Transport mit einem Rettungshubschrauber indiziert sein.
Verletzungen des N. facialis Eine Besonderheit stellt die Verletzung von Ästen des N. facialis dar. Eine Primärversorgung sollte nur dann erfolgen, wenn die Nervdurchtrennung gesichert ist und die Voraussetzungen für eine mikrochirurgische Rekonstruktion günstig sind. Ist dies nicht gegeben, müssen die Nervenenden im Rahmen der Primär-
895 69.4 · Unterkiefer frakturen
69
versorgung durch farbige, nicht resorbierbare Fäden markiert werden, um ihr Aufsuchen bei einer baldestmöglichen posttraumatischen frühen sekundären Versorgung zu erleichtern. Ist die Nervdurchtrennung unsicher oder nur partiell, kann ebenfalls ein abwartendes Verhalten vorteilhaft sein, da in solchen Fällen häufig keine Parese eintritt und daher eine FazialisRekonstruktion nicht notwendig ist.
Komplikationen Postoperative Komplikationen sind bei Gesichtsweichteilverletzungen vom Lokalbefund her in der Regel nicht zu erwarten. Die Extubation kann kurz nach Ende des Eingriffs erfolgen. 69.3
Einteilung der Gesichtsschädelfrakturen
Der Gesichtsschädel reicht anatomisch vom Haaransatz bis zum Unterkieferrand und wird in die Regionen Ober-, Mittel- und Untergesicht gedrittelt. Da bei transversalen Abrissfrakturen des Mittelgesichts der große Keilbeinflügel, die Flügelfortsätze, die Gehörgangsvorderwand und die Wände des Sinus frontalis ohne begleitende Hirnverletzungen gebrochen sein können, erstrecken sich die klinischen Grenzen des Mittelgesichts auch in die frontale Region. Anatomisches Substrat des Untergesichts ist der Unterkiefer, der als einziger beweglicher Knochen des Gesichtsschädels über das Kiefergelenk mit der Schädelbasis artikuliert. Frakturen des Unterkiefers folgen wegen seiner kompakten Knochenstruktur in Klinik und Therapie anderen Prinzipien als Frakturen im Mittelgesicht. Es werden folgende Formen unterschieden: 4 Frakturen im bezahnten Kiefer, 4 Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer, 4 Frakturen im Milch- und Wechselgebiss. Das Mittelgesicht besteht im Gegensatz zum Unterkiefer aus einer Vielzahl dünnwandiger, pneumatisierter Knochen. Die durch den Unterkiefer vermittelten hohen statischen Druckkräfte werden durch Stützpfeiler (Trajektorien) auf die Schädelbasis fortgeleitet (. Abb. 69.1). Man unterscheidet: 4 Nasenbeinfrakturen, 4 Jochbeinfrakturen, 4 Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen, 4 Orbitafrakturen, 4 panfaziale Frakturen, 4 Frontobasisfrakturen. 69.4
Unterkiefer frakturen
69.4.1 Symptomatik und Diagnostik Ein sicheres Frakturzeichen im Bereich des Unterkiefers ist die Deformierung, die jedoch aufgrund der Weichteilschwellung maskiert sein kann, sich aber intraoral als Stufenbildung innerhalb der Zahnreihe mit Einriss der angrenzenden Schleimhaut und als Okklusionsstörung manifestiert. Eine pathologische Beweglichkeit ist bei Unterkieferfrakturen innerhalb der Zahnreihe meist nachweisbar, bei Frakturen des aufsteigenden Astes oder Infrakturen nicht. Auf eine Prüfung der ohnehin häufig
. Abb. 69.1. Trajektoriensystem des Gesichtsschädels. 1 Stirn-Nasen-Pfeiler, 2 Jochbeinpfeiler, 3 Flügelgaumenpfeiler. (Nach [5])
nicht auslösbaren Krepitation sollte im Gesichtsschädelbereich verzichtet werden. Die unsicheren Frakturzeichen wie Hämatom, Ödem, Druck- und Stauchungsschmerz sowie die gestörte Funktion sind allenfalls diagnostische Hinweise. Auch für den Gesichtsschädelbereich gilt, dass die bildgebende Diagnostik immer in zwei Ebenen erfolgen muss. Sie umfasst bei isoliertem Verdacht auf eine Unterkieferfaraktur mindestens eine Panoramaschichtaufnahme und eine kaudalexzentrische Schädel-p.-a.-Aufnahme (nach Clementschitsch). 69.4.2 Einteilung Die Unterkieferfrakturen lassen sich einteilen in: 4 Frakturen im bezahnten Kiefer, 4 Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer, 4 Frakturen im Milch- und Wechselgebiss. Klinisch von großer Bedeutung ist innerhalb dieser Gruppen die Abgrenzung von Frakturen des Collum mandibulae, die als gelenknahe Fraktur, nach einer Ruhigstellung von ca. 1 Woche, einer frühfunktionellen Behandlung bedarf. 69.4.3 Therapie Die Therapie der Unterkieferfrakturen hängt von der Frakturlokalisation, dem Frakturtyp, den Begleitverletzungen, dem Gebiss-
896
Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
zustand, dem Allgemeinzustand und dem Alter des Patienten ab. Grundsätzlich werden die konservative Therapie, die operative Therapie und Kombinationsformen unterschieden. Frakturen im Milch- und Wechselgebiss werden meist konservativ, d. h. durch eine Oberkiefer- und Unterkiefer-Schienung mit mandibulomaxillärer Fixation für ca. 3–4 Wochen behandelt. Frakturen innerhalb der Zahnreihe gelten wegen des Kontakts zur Mundhöhle definitionsgemäß als offene Frakturen und werden daher baldmöglichst geschient und unter antibiotischer Prophylaxe ruhiggestellt. Dislozierte Frakturen werden mit besonders zierlichen Osteosyntheseplatten, monokortikal, von intraoral versorgt. Dieser Zugang vermeidet zusätzliche äußere Narben und eine Schädigung des Ramus marginalis des N. facialis. Wegen der Prüfung und Einstellung der Okklusion, d. h. des korrekten Zusammenbisses, muss die Intubation nasotracheal erfolgen. Gelegentlich werden Gummizüge zwischen Oberkiefer- und Unterkieferschiene eingehängt, um auch wegen der Wundheilung eine gewisse Ruhigstellung zu bewirken. Weitere Vorteile der operativen Frakturversorgung sind die verbesserte Mundhygiene und orotracheale Absaugung sowie die Möglichkeit einer schnellen Reintubation während der Intensivtherapie. Dies betrifft v. a. polytraumatisierte Patienten. Einfache, gering dislozierte Frakturen im voll bezahnten Unterkiefer können auch heute noch konservativ, d. h. durch dentale Schienenverbände und mandibulomaxilläre Immobilisation behandelt werden. Eine Schienung kann meist in Lokalanästhesie erfolgen. Dislozierte Frakturen und Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer werden operativ versorgt. Die starre mandibulomaxilläre Fixation kann meist unmittelbar postoperativ entfernt werden. Die mandibulomaxilläre Fixation ist besonders ungünstig während einer Intensivtherapie, da sie die Mundhyggiene erschwert und die verbale Kommunikation behindert. Erschwert wird auch eine Notintubation, da zunächst die mandibulomaxillären Drähte mit einer Drahtschere durchtrennt werden müssen. ! Cave Bei Intensivpatienten, die mandibulomaxillär verdrahtet sind, muss eine Drahtschere sofort verfügbar sein; am besten wird die Schere gut sichtbar am Bett befestigt.
69.4.4 Operationszeitpunkt
69
Besteht eine Indikation zur operativen Frakturversorgung, sollte diese baldmöglichst erfolgen, da durch die dauernde Bewegung mobiler Knochenfragmente über kleinste Schleimhauteinrisse oder die Alveolen von im Bruchspalt stehenden Zähnen die Infektionsgefahr erhöht. Ferner ist eine Sofortversorgung von Unterkieferfrakturen bei unstillbarer Blutung im Frakturbereich oder größeren begleitenden intra- oder extraoralen Weichteilverletzungen indiziert. Ist wegen des Allgemeinzustands des Patienten eine definitive Versorgung nicht möglich, muss zumindest eine Ruhigstellung durch dentale Schienen erfolgen und die Osteosynthese möglichst in den ersten 2–3 Tagen nach dem Unfall durchgeführt werden (sog. verzögerte Primärversorgung). In einem solchen Fall sollte eine antibiotische Therapie möglichst frühzeitig begonnen und bis zur operativen Versorgung fortgesetzt werden. Nach operativer Versorgung von Unterkieferfrakturen sind intraorale Schwellungen mit Behinderung der Atmung allgemein nicht zu
erwarten, sodass postoperativ eine frühzeitige Extubation erfolgen kann. Geschlossene Unterkieferfrakturen, z. B. Collum-mandibulae-Frakturen, werden umgehend durch dentale Schienenverbände ruhiggestellt. 69.5
Mittelgesichtsfrakturen
Mittelgesichtsfrakturen werden heute ausschließlich operativ reponiert und mit Hilfe unterschiedlich dimensionierter Osteosyntheseplatten (Mini- und Mikroplatten) aus Titan fixiert. Diese gewährleisten eine dreidimensional stabile Fixation der operativ reponierten Skelettabschnitte und stellen im Vergleich zu den früher erforderlichen intra-extraoralen Frakturverbänden eine erheblich geringere Belastung des Patienten dar. 69.5.1 Nasenbeinfrakturen
Symptomatik und Diagnostik Wegen ihrer exponierten Lage sind die Nase und ihre äußeren und inneren Weichteile besonders häufig Traumen ausgesetzt. Es handelt sich meist um geschlossene Frakturen, jedoch sind etwa in der Hälfte der Fälle die bedeckenden Weichteile, das knorpelige oder knöcherne Septum oder die Naenmuscheln ebenfalls betroffen. Frakturen des Nasenbeins sind vor Eintreten der Weichteilschwellung oft an der außeren Deformität der Nase erkennbar. Hämatome können sich in die paranasalen Weichteile, aber auch nach endonasal ausbreiten und führen dann zu einer Behinderung der Nasenatmung. Diese Patienten berichten oft auch über eine einseitige Hyposmie infolge einer Einengung des Riechspalts. Komplikationen von Nasentraumen sind begleitende Verletzungen der Rhinobasis sowie Blutungen aus den Aa. ethmoidales oder der A. maxillaris mit Aspirationsgefahr. Die Diagnostik umfasst die innere und äußere Inspektion nach Abschwellen der Nasenschleimhaut mit Nasentropfen sowie die Palpation zur Aufdeckung von Stufen oder einer pathologischen Beweglichkeit.
Therapie Die Behandlung von Weichteil- und Knorpelverletzungen folgt den bereits oben dargestellten Prinzipien. Nasenbeinfrakturen werden in der Regel geschlossen ‒ vom Naseninneren her ‒ reponiert und durch Nasentamponade und äußere Schienung stabilisiert. Bei offenen Frakturen wird die Reposition bereits im Rahmen der Primärversorgung vorgenommen, wobei möglichst alle Knochenfragmente erhalten und durch Drahtnähte oder Mikroplatten fixiert werden. 69.5.2 Jochbeinfrakturen (laterale
Mittelgesichtsfrakturen) Symptomatik und Diagnostik Jochbein- und Jochbogenfrakturen gehören zu den häufigsten Gesichtsschädelfrakturen. Die Frakturlinien der Jochbeinfraktur verlaufen durch die Sutura frontozygomatica entlang der latera-
897 69.5 · Mittelgesichtsfrakturen
69
Liegt gleichzeitig ein Schädel-Hirn-Trauma vor und somit eine Indikation für ein kraniales CT, kann auch die Nativ-Röntgendiagnostik entfallen und unmittelbar ein Gesichtsschädel-CT zur Frakturdiagnostik angefertigt werden.
Therapie Dislozierte Jochbeinfrakturen werden über einen Zugang in der lateralen Augenbraue, subziliar und eine Stichinzision im Bereich der Wange mit Hilfe des Einzinker-Hakens offen reponiert und durch Miniplattenosteosynthese fixiert. Bei entsprechender Trümmerungszone und zur Kontrolle des Repositionsergebnisses wird häufig auch die Crista zygomaticoalveolaris freigelegt. Der frakturierte Orbitaboden wird revidiert und mit Ethisorb oder PDS-Folie rekonstruiert. Jochbeintrümmerfrakturen werden über einen Bügelschnitt versorgt. Der Eingriff erfolgt in Allgemeinnarkose mit orotrachealer Intubation oder nasotrachealer Intubation auf der kontralateralen Seite. 69.5.3 Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen Die Le-Fort-I- und Le-Fort-II-Fraktur werden auch als zentrale Mittelgesichtsfrakturen und die Le-Fort-III-Fraktur als zentrolaterale Mittelgesichtsfraktur bezeichnet.
Symptomatik und Diagnostik . Abb. 69.2. Jochbeinfraktur mit Darstellung der zur Repositionskontrolle relevanten Punkte: 1 Sutura frontozygomatica, 2 Infraorbitalrand, 3 Crista zygomaticoalveolaris, 4 Jochbogen, 5 Innenfläche der lateralen Orbitawand. (Nach [5])
len Orbitawand nach kaudal, durch den Orbitaboden zum Infraorbitalrand, über die faziale Kieferhöhlenwand zur Crista zygomaticoalveolaris und über die dorsolaterale Kieferhöhlenwand zurück zur Fissura orbitalis inferior (. Abb. 69.2). Darüberhinaus ist der Jochbogen frakturiert. Klinisch fällt initial eine Abflachung der Jochbeinprominenz auf, die jedoch bald durch die eintretende Weichteilschwellung mit Lidödem und Monokelhämatom maskiert wird. Schwellungen erheblichen Umfangs sind jedoch auch durch ein Luftemphysem möglich, wenn der Patient geschneuzt hat. Durch Traumatisierung des N. infraorbitalis besteht häufig eine Hyp- oder Parästhesie im Ausbreitungsbereich dieses Nerven. Ein nach medial dislozierter oder im Sinne einer Jochbogenfraktur isoliert eingeknickter Jochbogen kann durch mechanische Behinderung der Muskelfortsatzexkursion eine Kieferklemme verursachen. Da der Orbitaboden bei der Jochbeinfraktur mitbetroffen ist, können Doppelbilder oder, nach Abklingen der Schwellung, auch ein Enophthalmus auftreten. Aus diesem Grund ist parallel immer ein augenärztliches Konsil erforderlich. Da klinisch kein Frakturausschluss möglich ist, sind eine halbaxiale bzw. Nebenhöhlenaufnahme und eine axiale Schädelaufnahme (sog. Henkeltopfaufnahme) erforderlich. Da mit diesen Summationsaufnahmen Blow-out-Frakturen nicht sicher dargestellt werden können, wird heute zumeist ein Gesichtsschädel-CT in axialer und koronarer Schichtführung angefertigt.
Le-Fort-I-Fraktur Bei der Le-Fort-I-Fraktur handelt es sich um eine horizontale Fraktur, die von der Apertura piriformis durch die faziale Kieferhöhlenwand bis zur Crista zygomaticoalveolaris, die dorsale Kieferhöhlenwand und die Flügelfortsätze, die laterale Nasenwand bis wieder zur Apertura piriformis verläuft (. Abb. 69.3). Der Vomer und das knorpelige Nasenseptum sind ebenfalls betroffen. Klinisch fällt entweder eine Einstauchung oder eine pathologische Mobilität des Oberkiefers auf. Durch die Dislokationstendenz des Oberkiefers nach dorsal-kaudal besteht häufig ein Frühkontakt im distalen Seitenzahngebiet mit frontal offenem Biss.
Le-Fort-II-Fraktur Bei der Le-Fort-II-Fraktur wird das Mittelgesicht pyramidenförmig zentral ausgesprengt. Die Bruchlinie verläuft durch die Nasenwurzel im Bereich der Sutura frontonasalis, über das Tränenbein und den Orbitaboden zum Infraorbitalrand, durch die faziale Kieferhöhlenwand, die Crista zygomaticoalveolaris, die dorsale Kieferhöhlenwand, die Flügelfortsätze und die laterale Nasenwand zur Fissura orbitalis inferior (. Abb. 69.4). Klinisch ist neben der Mobilität v. a. die Okklusionsstörung mit noch stärkerer Abflachung des Mittelgesichts (»dish face«) auffällig (. Abb. 69.5). Nasenbluten, Luftemphysem und periorbitale Hämatome sind ebenfalls häufig.
Le-Fort-III-Fraktur Bei der Le-Fort-III-Fraktur handelt es sich um einen vollständigen Abriss des Gesichts- vom Hirnschädel, sodass die Frakturlinie durch die frontonasalen und frontomaxillären Suturen über die mediale Orbitawand zum hinteren Anteil der Fissura orbitalis inferior verläuft. Von dort zieht die Frakturlinie durch die Flügelfortsätze, die Sutura zygomaticosphenoidalis, die Sutura frontozygomatica und den lateralen Orbitarand. Darüberhinaus
898
Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
. Abb. 69.3. Le-Fort-I-Fraktur; schematische Darstellung. (Nach [5])
. Abb. 69.4. Le-Fort-II-Fraktur mit Dislokation des dorsalen Oberkiefers nach kaudal und frontal offenem Biss; schematische Darstellung. (Nach [5])
sind die Jochbögen und das kraniale Nasenseptum frakturiert (. Abb. 69.6). Die Le-Fort-III-Fraktur ist i. Allg. mit einer erheblichen Weichteilschwellung durch Einblutung in die Weichteile verbunden, die oft das Gesicht grotesk entstellt. Durch begleitende Sehnervverletzungen kann eine Erblindung resultieren, und bei größeren Blutverlusten über den Nasenrachen ist u. U. eine vitale Bedrohung mit Aspirationsgefahr möglich.
Therapie
69
In der Regel sind geschlossene Mittelgesichtsfrakturen ohne größere Weichteilverletzungen keine Indikationen zur Sofortversorgung. Wegen des oft nicht mit Sicherheit auszuschließenden begleitenden Schädel-Hirn-Traumas und des sehr schnell einsetzenden, oft extremen posttraumatischen Ödems und Hämatoms im Gesichtsbereich sollte eine verzögerte Primärversorgung zwischen dem 4. und 7. postraumatischen Tag durchgeführt werden. In dieser Zeit kann die präoperative Diagnostik, beispielsweise eine Gesichsschädel-CT und neurochirurgische sowie augenärztliche Untersuchungen, erfolgen. Die umgehende Versorgung von Mittelgesichtsfrakturen ist bei unstillbaren Blutungen aus Mund bzw. Nase und zusätzlichen äußeren Weichteilverletzungen oder ausgedehnten intraoralen Schleimhautverletzungen indiziert. In diesen Fällen ist meist mangels ausreichender Diagnostik und in Anbetracht der
. Abb. 69.5. Seitliche Darstellung der Le-Fort-Frakturen mit Darstellung der typischen Dislokation durch Zug des M. pterygoideus medialis nach kaudal. (Nach [5])
899 69.5 · Mittelgesichtsfrakturen
69
. Abb. 69.7. Zugangswege zum Gesichtsschädel (Bl bikoronare Inzision, NS N. supraorbitalis, FS Foramen supraorbitale, NF Stirnast des N. facialis, TCI transkonjunktivale Inzision, NI N. infraorbitalis, GI Glabella-Inzision, AI Augenbraueninzision, OB Oberlid-Blepharoplastik-Inzision, UB UnterlidBlepharoplastik-Inzision, SI Subziliarinzision, II infraorbitale Inzision, JB Jochbogen, SI Stichinzision). (Nach [5]) . Abb. 69.6. Le-Fort-III-Fraktur, Dislokation wie bei Le-Fort-II-Fraktur. (Nach [5])
erforderlichen Narkosedauer eine endgültige Frakturversorgung nicht möglich. Dislozierte oder mobile Le Fort-Frakturen werden i. Allg. operativ durch intraorale Zugänge und Schnittführungen im Bereich der lateralen Augenbraue sowie unter der Unterlidkante freigelegt, reponiert und durch Miniplattenosteosynthese fixiert. Komplexe Frakturen werden über einen bikoronaren Schnitt angegangen (. Abb. 69.7). Da ein Hauptkriterium der regelrechten Reposition die korrekte Verzahnung von Oberkiefer und Unterkiefer ist, wird während der Operation eine mandibulomaxilläre Immobilisation durch dentale Schienenverbände durchgeführt. In diesen Fällen ist somit eine nasotracheale Intubation erforderlich. Postoperative Ödeme im Oropharynxbereich mit Verlegung der Atemwege sind bei Mittelgesichtsfrakturen nicht zu erwarten. Bei ausreichend stabiler Osteosynthese der Mittelgesichtsfrakturen wird die mandibulomaxilläre Immobilisation am Ende der Operation gelöst. Der frei zugängliche Mund- und Rachenraum erlaubt dann eine baldige Extubation. Kann eine hinreichende Stabilität im Rahmen der osteosynthetischen Versorgung, beispielsweise bei schwersten komplexen Mittelgesichtstrümmerfrakturen, nicht erzielt werden, ist eine weitere mandibulomaxilläre Immobilisation erforderlich. In solchen Fällen sollte der nasotracheale Tubus zur Sicherheit während der ersten postoperativen Nacht belassen werden. Die Extu-
bation kann dann meist am nächsten Tag – in Abstimmung mit dem Operateur – erfolgen. Zur Erleichterung der behinderten Mundatmung, insbesondere bei zusätzlich tamponierter Nase, können 2 Wendl-Tuben in beide Mundwinkel zwischen Wange und Zahnreihen eingebracht werden. Bei voraussehbar längerer Beatmungspflichtigkeit kommt alternativ eine Tracheotomie in Betracht. 69.5.4 Orbitafrakturen Orbitafrakturen treten einerseits im Rahmen von Jochbein-, LeFort-II- und Le-Fort-III-Frakturen auf, kommen aber andererseits auch als isolierte Frakturen vor. Am häufigsten sind isolierte Orbitabodenfrakturen ohne Beteiligung des Infraorbitalrandes, sog. Blow-out-Frakturen, und Frakturen der medialen Orbitawand. Beide Formen sind wegen der Weichteilschwellung oder der geringen initialen Symptomatik klinisch schwer nachweisbar und werden auch auf konventionellen Röntgenaufnahmen leicht übersehen. Da v. a. isolierte Orbitabodenfrakturen mit Dislokation von Orbitaweichteilen in Richtung Kieferhöhle ohne adäquate Therapie zu erheblichen funktionellen Spätfolgen wie Bulbusmotilitätsstörung mit Diplopie und Enophthalmus führen können, ist bei Verdacht eine Computertomographie erforderlich. Der Patient darf vor dem Frakturausschluss nicht schneuzen und erhält abschwellende Nasentropfen.
900
Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
Die Therapie besteht in der operativen Revision mit Reposition der prolabierten Orbitaweichteile. Da eine Reposition und Fixation der meist multiplen Knochenfragmente nicht möglich ist, wird der Defekt in der Orbitawand beispielsweise durch ein Ethisorb-Patch, spezielle Titanplatten oder autologe Knochentransplantate von der Tabula externa rekonstruiert. i Bei umfangreichen Maßnahmen an den Orbitawänden ist in Absprache mit dem Operateur postoperativ eine regelmäßige Visuskontrolle notwendig.
69.5.5 Panfaziale Frakturen Sind mehrere Regionen des Gesichtsschädels frakturiert, spricht man von panfazialen Frakturen. Diese werden wegen der initialen Gefährdung des Patienten und der erheblichen Schwellung meist nach 7–10 Tagen verzögert primär versorgt. Wegen der Komplexität des Gesichtsschädels muss mit langen Operationszeiten und der Notwendigkeit einer postoperativen intensivmedizinischen Betreuung gerechnet werden. Nicht selten ist in solchen Fällen das Zusammenwirken mehrerer Fachgebiete wie Kiefer- und Gesichtschirurgie, Neurochirurgie, HNO und Ophthalmologie erforderlich. Perioperativ ist in Abhängigkeit vom Blutbild die Bereitstellung von Blutkonserven erforderlich. Wegen der zu erwartenden ödematösen Schwellung ist bereits intraoperativ eine antiphlogistische Therapie mit Kortisonpräparaten zu diskutieren. 69.6
Frontobasisfrakturen
69.6.1 Symptomatik und Diagnostik
69
Der vordere Anteil der Schädelbasis wird vom Orbitadach, der Stirnhöhlenhinterwand, der Lamina cribrosa, den Dächern von Siebbein und Keilbeinhöhle sowie der Keilbeinhinter- und Seitenwand gebildet. Wegen der damit verbundenen, sehr unterschiedlichen Festigkeit zeigen frontobasale Frakturen oft unerwartete Verlaufsrichtungen. Von klinisch großer Bedeutung ist, dass die Dura im Bereich der Rhinobasis dünn und mit dem Knochen fest verwachsen ist. Sie ist daher relativ unelastisch mit der knöchernen Unterlage verbunden und reißt bei Frakturen besoders leicht ein. Klinisch sind frontobasale Frakturen, mit Ausnahme offener Verletzungen, wegen ihrer verdeckten Lage nicht unmittelbar erkennbar. Charakteristische Symptome sind Blutungen aus Nase und Nasenrachen, Brillenhämatom, Hämatosinus, Rhinoliquorrhö, eine uni- oder bilaterale Riechstörung und Schleimhautunterblutungen des Rachendachs und der Rachenhinterwand. Oft wird am Patienten mit vermuteter Rhinoliquorrhö eine Bestimmung des Zuckergehalts mit Teststreifen gegenüber dem normalen Nasensekret durchgeführt. Für sie gilt: Der Zuckergehalt des Liquor cerebrospinalis ist halb so groß wie der des Blutes und doppelt so groß wie der des Nasensekrets. Sind klinische Hinweise auf eine frontobasale Fraktur gegeben, ist wegen der schwerwiegenden Spätkomplikationen wie Meningitis oder Hirnabszess in jedem Fall eine bildgebende Diagnostik indiziert. Methode der Wahl ist die Computertomographie, mit deren Hilfe nicht nur die knöchernen Verletzungen, sondern gleichzeitig auch intrakranielle Komplikationen wie Blutungen, Fremdkörper oder Hirnsubstanzdefekte dargestellt werden können.
. Abb. 69.8. Intraoprative Situation nach Bügelschnitt: Zustand nach Osteosynthese einer komplexen Mittelgesichtsfraktur mit Beteiligung des Os frontale
69.6.2 Therapie Die Versorgung frontobasaler Frakturen ist eine interdisziplinäre Aufgabe und hängt vom Dislokationsgrad und den Begleitverletzungen ab. Oft stellt sich bei der Versorgung eine größere Ausdehnung der Verletzungen heraus als erwartet. Absolute Operationsindikationen sind: 4 massive Blutungen aus Nase und Nasenrachen, 4 intrazerebrale Blutungen mit Anstieg des Hirndrucks, 4 offene Hirnverletzungen, 4 Liquorrhö, 4 Pneumatozephalus, 4 Pfählungs- und Schussverletzungen, 4 Früh- und Spätkomplikationen wie Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess, Osteomyelitis, Nebenhöhleneneiterungen sowie posttraumatische Muko- und Pyozelen. Zugangsweg der Wahl ist der Bügelschnitt, der auch als Zugang zum supra- und lateroorbitalen Rand genutzt werden kann. Besondere Bedeutung kommt der adäquaten Versorgung der Stirnhöhle zur Sicherstellung ihrer postoperativen Funktion zu. Diese hängt entscheidend von der Integrität des Ductus nasofrontalis ab. Ist der Ductus nicht durch eine dislozierte Fraktur verlegt, kann die Stirnhöhle, nach Revision und Osteosynthese der Vorderwand (. Abb. 69.8), meist erhalten werden; ist der Ductus nasofrontalis mit der Stirnhöhlenhinterwand zertrümmert, kommt die Kranialisierung der Stirnhöhle mit Entfernung ihrer Rückwand und mit Verschluss des Ductus zur Nase in Betracht. Allgemein scheint eine invasivere operative Therapie von Stirnhöhlenfrakturen langfristig zu besseren Ergebnissen zu führen. 69.7
Kombinier te Weichteil-KnochenVerletzungen des Gesichtsschädels
69.7.1 Diagnostik und Besonderheiten
der Anästhesie Bei den kombinierten Weichteil-Knochen-Verletzungen des Gesichtsschädels handelt es sich oft um schwerste Gesichtsschädel-
901 Literatur
verletzungen. Wegen der vorgegebenen Weichteilzugänge ist in diesen Fällen auch die Versorgung der knöchernen Verletzungen indiziert, sofern nicht vital bedrohliche anderweitige Verletzungen im Vordergrund stehen. Voraussetzung ist allerdings der Ausschluss intrakranieller Verletzungen und eine ausreichende Frakturdiagnostik, sodass i. Allg. umgehend eine Computertomographie des Hirn- und Gesichtsschädels durchgeführt werden muss. i Bei profusen Blutungen und/oder Aspirationsgefahr kann jedoch zuvor eine notfallmäßige Blutstillung, z. B. durch Bellocq-Tamponade, und eine Intubation erforderlich sein.
Letztere kann extrem schwierig sein, sodass der Anästhesist entsprechende Erfahrung besitzen sollte. Der Intubationsweg sollte mit dem Operateur abgestimmt sein. Meist besteht wegen der erforderlichen mandibulomaxillären Fixation eine Indikation für eine nasotracheale Intubation. Bei Vorliegen komplexer nasoorbitoethmoidaler Frakturen kann intraoperativ, nach Osteosynthese des Ober- und Unterkiefers, eine orotracheale Umintubation nach Lösung der mandibulomaxillären Fixation erforderlich werden. 69.7.2 Therapie Kombinierte Knochen- und Weichteilverletzungen werden nach dem Prinzip »von innen nach außen« versorgt, d. h. dass zunächst alle dislozierten Skelettabschnitte freigelegt, reponiert und fixiert werden. Erst im Anschluss erfolgt der mehrschichtige Wundverschluss der Weichteilverletzungen. Bestehen Trümmerungen oder Knochendefekte, ist eine primäre Rekonstruktion mit autologen Knochentransplantaten, meist von der Tabula externa, indiziert. Dies gilt insbesondere für die Wiederherstellung der nasoorbitalen Region, da die anderenfalls eintretenden Spätfolgen wie narbige Schrumpfung der Weichteile, Telekanthus, Enophthalmus, vertikaler Bulbustiefstand und Doppelbilder auf diese Weise am effektivsten gemindert weden können. Alle Sekundärkorrekturen sind einer optimalen Primärversorgung erheblich unterlegen. Wegen des u. U. hohen operativen Aufwandes sind für Primärversorgungen allerdings Operationszeiten von 8–10 h keine Seltenheit. Postoperativ sollte der Patient nach umfangreichen Interventionen intubiert bleiben und für die Nacht einer intensivmedizinischen Überwachung zugeführt werden. In diesem Rahmen ist insbesondere der neurologische Status zur frühen Erfassung sich anbahnender intrakranieller Komplikationen von Bedeutung. Ernste lokale Komplikationen sind unter perioperativer antibiotischer Prophylaxe selten, jedoch kann der Patient für mehrere Tage durch eine erhebliche Schwellung beeinträchtigt sein. 69.8
Sekundäre rekonstruktive Chirurgie im kraniomaxillofazialen Bereich
Sekundäre rekonstruktive Operationen im kraniomaxillofazialen Bereich sind frühestens nach ca. 6 Monaten möglich. In der Regel befindet sich der Patient zu diesem Zeitpunkt wieder in einem guten Allgemeinzustand. Da es sich jedoch nicht selten ebenfalls um langdauernde Eingriffe mit nicht unerheblichem
69
Blutverlust handelt, ist präoperativ die Frage einer Eigenblutspende zu klären. Der Intubationsweg sollte wiederum mit dem Operateur abgestimmt werden, allerdings ist eine mandibulomaxilläre Fixation meist nicht mehr zu erwarten. Bei komplexen endonasalen oder intraoralen Rekonstruktionen sollte die mögliche Verletzungsgefahr durch postoperatives Absaugen geklärt sein. Werden Rippen- oder Beckenkammtransplantate gehoben, steht oft der Schmerz an der Entnahmestelle im Vordergrund, sodass eine effektive analgetische Therapie erforderlich ist.
Literatur 1. Austermann, KH (2002) Frakturen des Gesichtsschädels. In: Schwenzer N, Ehrenfeld M (Hrsg) Spezielle Chirurgie, Bd 2. Thieme, Stuttgart, S 275–366 2. Ewers, R, Wild K, Wild M, Ensilidis G (1995) Traumatologie. In: Hausamen JE, Machtens E, Reuther J (Hrsg) Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 211–298 3. Fonseca RJ, Walker RV, Betts NJ, Barber HD (1997) Oral and Maxillofacial Trauma. Vol 1, 2. Saunders, Philadelphia London 4. Härle F, Champy M, Terry BC (1999) Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesis. Thieme, Stuttgart New York 5. Prein J (1998) Manual of internal fixation in the craniofacial-skeleton. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 6. Samii M, Draf W (1989) Surgery of the skull base. An interdisciplinary approach. Springer, Berlin Heidelberg New York
70 Thoraxtrauma R. Stocker, U. Bürgi
70.1
Einleitung
–904
70.2
Diagnostik
–904
70.3
Stumpfes Thoraxtrauma
70.3.1 70.3.2 70.3.3 70.3.4 70.3.5 70.3.6
Rippenfrakturen –904 Lungenkontusion –905 Pneumothorax, Hämatothorax –905 Zwerchfellruptur –906 Tracheobronchiale Verletzungen –906 Allgemeine Probleme nach stumpfem Thoraxtrauma –907
70.4
Penetrierendes Thoraxtrauma
70.5
Herzverletzungen
70.5.1 70.5.2 70.5.3 70.5.4
Herzkontusion –907 Verletzungen der Koronararterien –908 Herztamponade –908 Anatomische Läsionen des Herzens –908
70.6
Verletzung der Aor ta und der großen Gefäße Literatur
–910
–904
–907
–907
–908
904
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
70.1
Einleitung
Thoraxtraumen sind in den meisten Fällen potentiell lebensbedrohliche Verletzungen, die eine sach- und zeitgerechte Erstbeurteilung mit entsprechender Primärversorgung und Akuttherapie erfordern. Hauptursachen vermeidbarer Todesfälle sind in diesem Zusammenhang v. a. die inadäquate Sicherung der Atmung und die Tatsache, dass Thoraxverletzungen unzureichend erkannt oder behandelt werden [12]. Auch in der Notaufnahme spielt die Unterschätzung bzw. das Nichterkennen von Thoraxverletzungen eine wesentliche Rolle für die Morbidität und Mortalität nach Trauma [12]. Folgende Maßnahmen sind möglicherweise schon bei der präklinischen Versorgung von Patienten mit Thoraxtrauma erforderlich: 4 Intubation und Beatmung, 4 Anlage einer Thoraxdrainage, z. B. beim Spannungspneumothorax oder beim »einfachen« Pneumothorax mit begleitender Hypoxie [9]. 70.2
70
Diagnostik
Die Diagnostik umfasst neben Inspektion (Hautkolorit, Atemmechanik, Atemexkusrsionen, Asymetrien) die Auskultation (bereits am Unfallort), bei der v. a. das Fehlen von Atemgeräuschen einen hohen Stellenwert bei der Diagnose des Pneumothorax hat [40]. Nach Eintreffen in der Notaufnahme erfolgt die Routineuntersuchung des Schwerverletzten auf der Suche nach Thoraxverletzungen in der Regel durch eine Thoraxröntgenaufnahme. Diese muss fast immer im Liegen angefertigt werden, was die Interpretation erschwert. Verletzungen wie Hämatothorax, Pneumothorax und Lungenkontusionen kommen häufig nicht ausreichend zur Darstellung [39]. Die eine deutlich präzisere Evaluation der Verletzungsfolgen erlaubende Computertomographie hat den Nachteil, dass sie den Transport des z. T. sehr instabilen Patienten erforderlich macht. Mit den modernen Multislice-Spiral-Computertomographiegeräten lassen sich kontrastmittelverstärkte Aufnahmen nicht nur des Thorax in Minuten anfertigen, diee Auskunft über Skelett-, Lungenparenchym- und Gefäßverletzungen geben. Eine valable Alternative zur Ergänzung der Röntgenuntersuchung bei Patienten, die nicht transportiert werden können bzw. müssen, stellt die Sonographie des Thorax dar. Sie ist eine rasch verfügbare, bettseitig einsetzbare Methode, die heute in jeder Notfallaufnahme zur Verfügung steht. Obwohl sie in der Thoraxuntersuchung beim Thoraxtrauma nicht allgemein etabliert ist, zeigt die Literatur, dass Rippenfrakturen [4, 16, 19, 24, 39, 41], Sternumfrakturen [4, 24], Pneumothorax [11, 21, 34], Pleuraergüsse bzw. Hämatothorax [1, 6] mit diesem Verfahren diagnostiziert werden können. In einer aktuellen systematischen Arbeit konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit stumpfem Thoraxtrauma mittels Ultraschall häufiger Rippenfrakturen und Pleuraergüsse diagnostiziert werden als in der konventionellen Radiographie [43]. Zudem konnten auch Lungenkontusionen (unregelmäßig, oft polzyklisch begrenzte echoarme, subpleurale Infiltration im Bereich der traumatisierten Region) dargestellt werden, welche durch das Fehlen der typischen Lufteinschlüsse von der Pneumonie abgrenzbar sind.
70.3
Stumpfes Thoraxtrauma
Nichtpenetrierende Verletzungen des Thorax können in der Notaufnahme bei polytraumatisierten Patienten leicht übersehen werden. ! Cave Zeichen eines stumpfen Thoraxtraumas sind ein Warnsignal für evtl. begleitende Herz- und Lungenverletzungen.
Statistisch gesehen sind Hypoxie, Verbluten sowie mit dem Thoraxtrauma verbundene extrathorakale Zusatzverletzungen die häufigsten Todesursachen beim stumpfen Thoraxtrauma. Das Thoraxtrauma selbst stellt die Hauptursache von Todesfällen aufgrund thorakaler Störungen bei Personen unter 45 Jahren dar. Je nach Krafteinwirkung können verschiedene intrathorakale Verletzungen auftreten: 70.3.1 Rippenfrakturen Rippenfrakturen stellen eine häufige Manifestation von Thoraxverletzungen dar. Das Risiko für wesentliche Komplikationen steigt mit der Anzahl verletzter Rippen, als Ausdruck der größeren Krafteinwirkung einerseits und der posttraumatischen Auswirkungen andererseits. Rippenserienfrakturen gehen in 5–7% mit schwersten kardiorespiratorischen Komplikationen einher. Rippenserienfrakturen schließen meistens Frakturen der 7.–10. Rippe ein und sind deshalb oft mit Verletzungen der Milz und/ oder der Leber verbunden. Hohe Rippenfrakturen können auf schwere innere Verletzungen hinweisen, wobei v. a. die Fraktur der ersten Rippe nach früheren Untersuchungen als Warnzeichen für potentielle Gefäßverletzungen (Ruptur der A. subclavia, traumatische Aortenruptur) gegolten hat. In der Untersuchung von Lazrove [22] wurde allerdings gezeigt, dass Frakturen der ersten Rippe nicht notwendigerweise mit einer erhöhten Inzidenz von inneren Verletzungen einhergehen.
Thoraxwandinstabilität Der Begriff »flail chest« bezieht sich auf die paradoxe inspiratorische Retraktion bzw. exspiratorische Expansion eines instabilen Thoraxwandanteils durch Mehrfragmentrippenserienfrakturen. Bei gleichzeitig schlechter Lungencompliance wird die paradoxe Thoraxwandbewegung durch den erhöhten pleuroatmosphärischen Duckgradienten verstärkt. Störungen des Gasaustausches wurden früher v. a. den mechanischen Störungen der Thoraxwand mit dem Auftreten von sog. »Pendelluft« zugeschrieben. Eine größere Relevanz der »Pendelluft« konnte allerdings, außer vielleicht bei massivster Thoraxwandinstabilität, weder klinisch noch experimentell bewiesen werden. Aus verschiedenen Untersuchungen ist bekannt, dass die alveoläre Ventilation und die O2-Aufnahme auf der Seite der Instabilität sogar größer sein können, sodass heute die Störungen des Gasaustausches v. a. auf Lungenkontusionen zurückgeführt werden. Aus diesem Grund sollte von externen (Traktion) oder internen (Beatmung) Stabilisierungsversuchen der mobilen Thoraxwand abgesehen werden. Die Ventilations-/Perfusionsstörung ist v. a. durch regionale Hypoventilation von perfundierten Alveolen bedingt, v. a. durch Lungenkontusionen oder schmerzbedingte Thoraxbewegungseinschränkung.
905 70.3 · Stumpfes Thoraxtrauma
70
delte Patienten einen günstigeren Verlauf hinsichtlich Behandlungsdauer und pulmonaler Infektionen aufweisen können ([4]; . Abb. 70.1). Patienten mit ausgedehnten Lungenkontusionen benötigen eine sorgfältige hämodynamische Behandlung. Einerseits kann eine übermäßige Volumenzufuhr zu einer vermehrten Ödembildung führen, nicht nur in den kontusionierten Arealen, sondern auch in normalen Lungenanteilen. Andererseits begünstigt eine protrahierte Hypovolämie die Gewebeischämie und insbesondere eine Splanchnikusminderperfusion und kann damit Wegbereiter für ein Multiorganversagen sein. Aus diesem Grund ist ein sorgfältiges hämodynamisches Monitoring unabdingbar; entsprechend kann auch die Indikation für die Über wachung mittels Pulmonaliskatheter großzügiger gestellt werden. 70.3.3 Pneumothorax, Hämatothorax Sowohl stumpfe als auch penetrierende Verletzungen des Thorax können mit einem Pneumo- und/oder Hämatothorax einhergehen, selbst dann, wenn keine Rippenfrakturen vorliegen. ! Cave Fehlende Rippenfrakturen schließen ein schweres Thoraxtrauma nicht aus! Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, bei denen das elastische Thoraxskelett die gesamte Verletzungsenergie an die intrathorakalen Organe weitergeben kann.
. Abb. 70.1a, b. Schwere beidseitige Lungenkontusionen bei Polytrauma mit stumpfem Thoraxtrauma (a). Die Computertomographie (b) zeigt die rechtsseitigen Verdichtungen in den abhängigen Lungenabschnitten, die u. a für eine Zunahme des Rechts-links-Shunts mit Verschlechterung des O2-Transports verantwortlich sind und darauf hinweisen, dass diese Patienten u. U. von einer Lagerungstherapie, z. B. intermittierende Bauchlage, profitieren können
70.3.2 Lungenkontusion Bei der Lungenkontusion bewirkt die auf den Thorax einwirkende Energie eine Erhöhung des intraalveolären Drucks mit Ruptur der alveolokapillären Membran. Dies führt zur intraalveolären Blutung gefolgt von einem interstitiellen und alveolären Ödem mit Surfactant-Schaden, auch wenn eine größere Gewebszerreißung fehlt. Pathophysiologische Folge ist ein VentilationsPerfusions-Missverhältnis mit resultierender Hypoxie. Lungenkontusionsbedingte schwere Gasaustauschstörungen stellen die Hauptindikation zur Intubation und Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck dar. Schwere einseitige Kontusionen können dabei zu stark unterschiedlicher Lungendehnbarkeit führen und in Einzelfällen eine differenzierte, seitengetrennte Beatmung über einen Doppellumentubus erfordern. Auch hier gilt jedoch der Grundsatz, so kurz und so schonend wie möglich zu beatmen, da gezeigt werden konnte, dass nicht beatmete, optimal analgetisch behan-
Klinisch sensitive, allerdings nicht sehr spezifische Zeichen für einen Pneumothorax sind ein subkutanes Emphysem, abgeschwächte oder fehlende Atemgeräusche und asymmetrische Thoraxexkursionen. Die größte Gefährdung geht von einem Spannungspneumothorax aus: Er kann zum einen zur Kompression der gegenseitigen Lunge mit weiterer Verschlechterung des Gasaustausches führen, zum anderen, v. a. bei doppelseitigem Spannungspneumothorax, das Herz und die großen Gefäßen komprimieren und so die Herz-Kreislauf- Funktion bis hin zum Kreislaufstillstand beeinträchtigen (. Abb. 70.2).
Pneumothorax Bei jedem Traumpatienten sollte ein Thoraxröntgenbild zum Ausschluss eines Pneumothorax oder anderer Thoraxverletzungen angefertigt werden. In der Regel ist auf dem gewöhnlichen a.-p.-Röntgenbild jeder drainagebedürftige Pneumothorax zu sehen; sicherer ist allerdings die Diagnostik mittels Computertomographie. Falls Intubation und Beatmung notwendig werden, sollte auch ein kleiner Pneumothorax drainiert werden.
Hämatothorax Blutungen, die zu einem Hämathothorax führen, können aus der Brustwand, dem Lungenparenchym, den großen Gefäßen oder dem Herzen stammen. In der Regel werden die Patienten primär lediglich mit einer großlumigen Thoraxdrainage versorgt, die über eine Minithorakotomie ohne Verwendung des Mandrains eingeführt werden sollte. Hierdurch wird das Risiko iatrogener Lungenverletzungen vermindert und eine genauere Plazierung nach dorsobasal ermöglicht. Die Technik der Thoraxdrainage wird ausführlich in Kap. 21 dargestellt. Bei einem starken Blutverlust über die Drainage muss eine Notfallthorakotomie erwogen werden.
906
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
Dann sollte eine Thoraxröntgenaufnahme endexspiratorisch in Kopftieflage angefertigt werden. Die Diagnose wird durch die Computertomographie erleichtert; hierbei wird nach einem der folgenden Zeichen gesucht: 4 Unterbrechung der Zwerchfellkontur, 4 Fett, Magenanteile und/oder Darmschlingen im Thorax [38]. Viele Zwerchfellrupturen werden allerdings erst bei einer aus anderen Gründen erforderlichen Laparotomie oder wegen Komplikationen entdeckt, und ein Teil wird sogar längerfristig übersehen. Bei Problemen der Respiratorentwöhnung nach entsprechenden Verletzungen sollte deshalb an eine übersehene Zwerchfellruptur gedacht werden.
70.3.5 Tracheobronchiale Verletzungen Verletzungen des Tracheobronchialbaumes sind selten, ihre Erkennung aber sehr wichtig. Sie können sowohl bei stumpfem als auch bei penetrierendem Thoraxtrauma vorkommen. Eine plötzliche, heftige Thoraxkompression ist die häufigste Ursache beim stumpfen Trauma. Obwohl über tracheobronchiale Rupturen auf jedem Niveau des Tracheobronchialbaums berichtet wurde, kommt die überwiegende Zahl im Abstand von 2,5 cm von der Carina vor. Hauptsymptome sind Dyspnoe, Husten, schmerzhafte Hämoptoe und Subkutan-, Mediastinal- und Kollaremphysem, wobei immerhin in ca. 10% der Fälle nur wenige Symptome vorliegen. Falls die Rupturstelle frei durch die Pleura mediastinalis kommuniziert, tritt ein Pneumothorax auf, der charakteristischerweise durch eine Thoraxdrainage nicht behoben werden kann. Besteht keine Verbindung mit dem Pleuraraum, tritt kein oder nur ein kleiner Pneumothorax auf, der drainierbar ist [19].
Thoraxröntgenbefund
. Abb. 70.2 a, b. Spannungspneumothorax beidseits nach stumpfem Thoraxtrauma. a Zu beachten ist der beidseitige Zwerchfelltiefstand. b Die Computertomographie zeigt die ausgeprägten Verdichtungen der abhängigen Lungenabschnitte beidseits
70.3.4 Zwerchfellruptur
70
Traumatische Zwerchfellrupturen treten in etwa 2–3% der stumpfen Thoraxverletzungen auf und werden häufig verspätet diagnostiziert. Die verzögerte Diagnose trägt zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität bei. In 70–75% der Fälle ist das linke Zwerchfell betroffen [3]. Radiographisch findet man ein höherstehendes linkes Zwerchfell, eine intrathorakale Verschiebung von Abdominalorganen (Magen, Darm) mit Verschwinden der Zwerchfellkontur und einer atypischen Lage der Magensonde [3]. Falls der Patient beatmet ist, können diese Zeichen schwerer zu erkennen sein.
Bei vollständiger Ruptur befindet sich der obere Rand der kollabierten Lunge unterhalb der Rupturstelle, da die kraniale Fixation durch den Tracheobronchialbaum wegfällt [27]. Dies grenzt die Tracheobronchialruptur vom unkomplizierten Pneumothorax ab, bei dem der Oberrand der kollabierten Lunge oberhalb des Niveaus des ipsilateralen distalen Hauptbronchus liegt.
Trachealruptur Bei einer Trachealruptur sollte der Patient, wenn immer möglich, fiberoptisch intubiert werden, wobei das Fiberskop als Führung verwendet wird. Von einer blinden endotrachealen Intubation ist abzuraten, da sie meist nicht erfolgreich ist, und zudem weitere Verletzungen und bei Fehllage eine Atemwegsobstruktion verursachen kann. Bei hochliegenden, vollständigen Rupturen muss über eine zervikale Inzision die distale Trachea direkt intubiert werden. Bei Bronchialrupturen wird der Patient am besten einseitig auf die Gegenseite oder mittels eines Doppellumentubus intubiert. Falls notwendig, kann intraoperativ die betroffene Seite zur Verbesserung des Gasaustausches direkt intubiert werden.
907 70.5 · Herz verletzungen
70.3.6 Allgemeine Probleme nach stumpfem
Thoraxtrauma Thoraxverletzungen werden in der überwiegenden Zahl der Fälle höchstens mit Einlage von Thoraxdrainagen, sonst aber nicht-chirurgisch behandelt. In weniger als 0,1% ist eine chirurgische Intervention erforderlich, die in Abhängigkeit vom Traumamechanismus (penetrierend vs.stumpf) sowie vom Ausmaß der Resektion (Wedgeresektion, Lobektomie, Pneumonektomie) mit einer hohen Mortalität zwischen 20% (Wedgeresektion bei isoliertem stumpfem Thoraxtrauma) bis 60% (Pneumonektomie beim Mehrfachverletzten) vergesellschaftet ist [25]. Neben den Begleitverletzungen besteht das Hauptproblem nach Thoraxtraumen im hohen, v. a. schmerz- und atemmechanikbedingten Risiko für schwerwiegende pulmonale Komplikationen. Die schmerzbedingte Hypoventilation führt dabei zur Sekretretention, die zusammen mit einer Beeinträchtigung des Hustenstoßes eine wesentliche Vorbedingung für das Auftreten von Atelektasen und Pneumonien darstellt. Dabei ist das Risiko umso größer, je stärker die Lunge chronisch vorgeschädigt ist. i Eine ausreichende Analgesie, die damit mögliche Atemund Physiotherapie und die Möglichkeit, den Patienten zu mobilisieren, spielen deshalb eine Schlüsselrolle bei der Versorgung von Thoraxverletzungen.
Dabei ist es weniger wichtig, welches Analgesieverfahren gewählt wird oder wie die Verfahren kombiniert werden; wichtig ist vielmehr, dass der Patient – nicht nur in Ruhe, sondern auch bei der Atemtherapie und beim Husten – weitgehend schmerzfrei ist. Um dies zu erreichen, hat sich die thorakale Periduralanalgesie, allenfalls kombiniert mit systemischen Analgetika, sehr bewährt. Viele Patienten, auch mit schweren Verletzungen v. a. des Thoraxskeletts, können damit vor der Intubation und Beatmung bewahrt werden. Dabei muss zwischen dem 2. und 4. posttraumatischen Tag mit der schwersten Einschränkung der Lungenfunktion gerechnet werden, sodass während der ersten 5 Tage nach Trauma eine sorgfältige Überwachung, Analgesie und Atemtherapie erforderlich sind. 70.4
Penetrierendes Thoraxtrauma
Die meisten Patienten mit offenen Thoraxverletzungen benötigen in der Regel nur eine Thoraxdrainage, sofern damit die Reexpansion der Lunge und die Drainage eines Hämatothorax sichergestellt werden können. Parenchymverletzungen erfordern selten ein chirurgisches Vorgehen [18]. ! Cave Das Hauptrisiko für diese Patienten besteht im Auftreten von systemischen Luftembolien unter Husten, ValsalvaManöver und mechanischer Beatmung durch traumatisch bedingte bronchovenöse Fisteln.
Das Risiko ist umso größer, je höher die angewendeten Spitzendrücke sind [13]. Subklinische Luftembolisierungen sind häufig unspezifisch. Wichtige Zeichen sind Hämoptysis und der plötzliche Kreislaufzusammenbruch nach Beginn der mechanischen Beatmung oder Drainage eines Pneumothorax [13]. Die definitive Diagnose kann häufig erst nach Thorakotomie durch sichtbare Luft in den Koronararterien oder durch Luftaspiration aus dem linken Ventrikel gestellt werden.
70
Die Mortalität und Morbidität, z. B. durch hypoxische Hirnschädigung nach systemischer Luftembolisierung, ist hoch und steigt auf 100%, wenn weder am Unfallort noch bei der Notaufnahme ein spontaner Kreislauf vorhanden ist [26]. Damit ein Überleben möglich ist, muss die Diagnose schnell gestellt und die Embolisationsquelle sofort ausgeschaltet werden. Bei Verdacht auf Luftembolisierung muss der Patient sofort in Kopftieflage gebracht und mit 100% O2 und niedrigen Drücken beatmet werden [17]. Bei der Notthorakotomie muss die betroffene Lunge am Hilus ausgeklemmt und die Embolisierungsquelle gesucht und ausgeschaltet werden. Gleichzeitig soll versucht werden, möglichst viel Luft aus dem linken Herzen und der Aorta abzusaugen [17]. 70.5
Herzverletzungen
Klinisch relevante Verletzungen des Herzens nach stumpfem Thoraxtrauma sind insgesamt nicht sehr häufig, tragen aber wesentlich zur Mortalität nach stumpfem Thoraxtrauma bei. Über die eigentliche Inzidenz von Herzverletzungen herrscht weitgehend Unklarheit; sie wird in der Literatur zwischen 5 und 78% angegeben [29]. Stumpfe Verletzungen des Herzens können als Folge eines direkten Schlages auf den Thorax oder einer schnellen Dezeleration, bei der das Herz auf das Sternum aufprallt, entstehen. Das Spektrum der Verletzungen reicht dabei von der asymtomatischen Herzkontusion bis zur Herzruptur. Die überwiegende Zahl von Herzverletzungen ist den Herzkontusionen zuzuordnen. Anatomische Läsionen des Herzens sind üblicherweise klinisch (oder post mortem) erkennbar und erfordern oft ein schnelles und rigoroses Eingreifen, während Diagnosestellung und klinische Einschätzung der Herzkontusion sehr schwierig sind. 70.5.1 Herzkontusion Die Häufigkeit von Herzkontusionen nach stumpfem Thoraxtrauma, in der Literatur mit bis zu 76% angegeben, ist abhängig von den Kriterien, die zur Diagnostik verwendet werden [37]. Als diagnostische Methoden wurden die Untersuchung von Herzenzymen, das EKG, Radionukliduntersuchungen und die Echokardiographie eingesetzt. Einige Arbeiten der letzten Jahre haben gezeigt, dass Laboruntersuchungen, so auch die 5–7%Grenze des Verhältnisses CK-MB zu Gesamt-CK, EKG-Veränderungen und auch echokardiographische Befunde schlecht mit der klinischen Relevanz korrelieren [7, 31]. Komplikationen nach Herzkontusion sind selten und bestehen v. a. in Rhythmus- und Überleitungsstörungen, sodass eine Intensivüberwachung bei Patienten mit leichtem stumpfem Thoraxtrauma und normalem oder minimal pathologischem EKG aufgrund der Diagnose Herzkontusion allein nicht mehr notwendig scheint [8]. Bei Patienten mit signifikanter, d. h. symptomatischer Herzkontusion (deutliche EKG-Veränderungen, Schmerzen) genügen eine EKG-Überwachung sowie die symptomatische Therapie von relevanten Herzrhythmusstörungen [31]. Bei Verdacht auf Störungen der Herzfunktion müssen andere kardiale Verletzungen oder Erkrankungen, z. B. mittels Echokardiographie, ausgeschlossen werden. Hier kann die Indikation für einen Pulmonaliskatheter eher großzügig gestellt werden; die
908
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
Korrektur der hämodynamischen Parameter erfolgt symptomatisch. 70.5.2 Verletzungen der Koronarar terien Traumatische Läsionen der Koronararterien sind selten und verlaufen klinisch wie ein akuter Myokardinfarkt. Eine direkte Ruptur der Koronararterie wie auch Intimaläsionen sind sehr selten. In einzelnen Fällen wurde auch über akute Koronarverschlüsse ohne vorbestehende Koronarsklerose berichtet [35]. Verschiedene Mechanismen können am Auftreten eines akuten Myokardinfarktes nach Thoraxtrauma beteiligt sein: 4 Ablösen einer vorbestehenden Plaque, 4 Einblutung in eine Plaque, 4 traumainduzierter Koronarspasmus, 4 Koronarthrombose aufgrund der Gefäßverletzung, 4 direkte Durchtrennung/Ruptur einer Koronararterie, 4 Koronarembolie, 4 disseziierendes Aneurysma. Neben der symptomatischen Therapie sollten bei Verdacht auf eine Koronargefäßläsion, sofern möglich, frühzeitig eine Koronarangiographie mit der Möglichkeit der Angioplastie oder Stenteinlage oder evtl. ein koronarchirurgisches Vorgehen diskutiert werden. 70.5.3 Herztamponade
70
Die beiden häufigsten Gründe für den sofortigen Tod bei Patienten mit penetrierender Thoraxverletzung sind das Verbluten und die Herztamponade [36]. Da über einen gewissen Zeitraum beide Situationen durch Volumenzufuhr/-ersatz verbessert werden können, besteht die Gefahr, dass insbesondere die Herztamponade zu spät erkannt wird. Lewis et al. empfehlen deshalb die Notthorakotomie bei allen Patienten mit penetrierendem Thoraxtrauma, bei denen ein Kreislaufkollaps oder -stillstand auftritt, sofern 3 min vorher noch Lebenszeichen vorhanden waren [23]. Die Diagnose ist, je nach kardialen oder anderen Begleitverletzungen, schwierig zu stellen. Die klassische Beck-Trias mit Halsvenenstauung, Hypotension und abgeschwächten Herztönen ist bei weniger als 50% der Patienten vorhanden. Andere Zeichen wie kalte Extremitäten, Agitiertheit, Pulsus paradoxus können auch bei Patienten im hypovolämischen Schock gesehen werden. Andererseits kann ein Pulsus paradoxus trotz Herztamponade wegen anderer anatomischer Läsionen des Herzens wie Vorhofseptumdefekt, Linksherzversagen oder Aorteninsuffizienz fehlen. Im EKG können eine ST-Hebung, eine »low voltage« und ein elektrischer Alternans Hinweise auf die Tamponade geben, auch wenn diese Zeichen nicht spezifisch sind. Die zuverlässigste Diagnostik kann mit der Echokardiographie erzielt werden, allerdings darf hierdurch im Notfall die relativ einfache Therapie (Perikardiozentese, Perikardiotomie) nicht hinausgezögert werden. Bis zur Entlastung der Tamponade müssen die Füllungsdrücke und die Herzfrequenz hoch gehalten werden, um wenigstens ein minimales Herzzeitvolumen und einen minimalen Druck aufrechtzuerhalten.
70.5.4 Anatomische Läsionen des Herzens
Herzruptur Die Herzruptur stellt ein nicht ungewöhnliches Ereignis bei Patienten dar, die nach Thoraxtrauma sofort sterben. Dezelerierende Kräfte beim Aufprall üben eine signifikante Überdehnung der Wand aus, die zu einer Herzruptur führen kann. Die Vorhöfe, da dünnwandig, sind dabei häufig involviert. Penetrierende Thoraxverletzungen führen allerdings häufiger zur Herzruptur. Falls das Perikard miteröffnet wird, führt die Herzruptur zum exsanguinierenden Hämatothorax, anderenfalls zur Herztamponade.
Ventrikelseptumruptur Die meisten Ventrikelseptumrupturen entstehen im Bereiche des apikalen Anteils des Septums [10]. Klinisch zeigen die Patienten die Zeichen des kongestiven Herzversagens mit einem lauten Holosystolikum über dem linken Sternumrand.
Klappenverletzungen Klappenverletzungen stellen einen seltenen und meist unerwarteten Grund des Herzversagens bei Traumapatienten dar. Unglücklicherweise kann eine akute Dyspnoe auch durch die begleitenden Thoraxverletzungen wie Lungenkontusion, Rippenfrakturen und »flail chest« erklärt werden. Dies gilt auch für verspätet auftretende, z. B. durch eine Papillarmuskelruptur bedingte Klappeninsuffizienzen [14]. Die Aortenklappe ist am häufigsten betroffen, gefolgt von der Mitral- und der Trikuspidalklappe. Die klinischen Zeichen sind von der Größe des Regurgitationsvolumens und von der Compliance der vorgeschalteten Kammer abhängig [10]. In der Regel kommt es dort aufgrund der fehlenden Adaptationszeit zu einem akuten Druckanstieg. Dieser kann, z. B. im Fall der Aorteninsuffizienz, zu einem vorzeitigen Schluss der Mitralklappe mit entsprechendem Rückstau in die Lungenstrombahn führen, womit andererseits eine Erhöhung des Schlagvolumens über den Frank-Starling-Mechanismus verhindert wird. Zusätzlich kommt es über eine reflektorische Erhöhung des Sympathikotonus zur Tachykardie und peripheren Vasokonstriktion. Bei der traumatischen Mitralinsuffizienz führt die Regurgitation zu einem akuten Anstieg des linken Vorhofdrucks mit fulminantem Lungenödem. In Abhängigkeit vom Regurgitationsvolumen kann eine traumatische Trikuspidalinsuffizienz relativ symptomarm verlaufen, sofern keine pulmonale Hypertension (z. B. durch das Auftreten eines ARDS) auftritt [10], da rechter Vorhof und V. cava sehr dehnbar sind. Beim Anstieg des rechtsventrikulären Afterloads nimmt die Regurgitation zu Ungunsten des transpulmonalen Flusses und damit der Linksherzfüllung zu; hierdurch fällt das Herzzeitvolumen ab. Therapeutisch genügt in der Regel die Normalisierung des pulmonalarteriellen Druckes; eine akute kardiochirurgische Intervention ist selten notwendig. 70.6
Verletzung der Aor ta und der großen Gefäße
Beim stumpfen Thoraxtrauma werden erhebliche Scherkräfte durch die abrupte Dezeleration auf die Aortenwand übertragen, die im Bereiche der Mündung der A. subclavia sowie im aszendierenden Anteil auf der Höhe der Koronararterien am größten sind [28].
909 70.6 · Verletzung der Aor ta und der großen Gefäße
70
Die intravenöse, kontrastmitteloptimierte CT-Angiographie in Spiraltechnik hat heute die konventionelle transfemorale, intraarterielle Aortographie als Primärdiagnostik weitgehend verdrängt [15]. Ihre Sensitivität für das Screening nach Aortenverletzungen liegt bei 96–99%. In der normalen Computertomographie des Abdomens gilt ein zwerchfellnahes periaortales Hämatom (PH) als indirektes Zeichen für eine mögliche thorakale Aortenruptur. Die Sensitivität des PH für die Diagnose der Aortenverletzung betrug in einer Untersuchung von Wong et al. [41] 70%. Die Spezifität lag sogar bei 94%. Falsch-positive PHBefunde kamen lediglich bei Zwerchfellrupturen und Wirbelkörperfrakturen vor.
Therapie
. Abb. 70.3. Transösophageale Echokardiographie der thorakalen Aorta descendens (Ao) unmittelbar nach Abgang der A. subclavia links: Im Querschnitt durch die Aorta stellt sich der lokale Intimariss mit Membran (dicker Pfeil) dar; intramurales Hämatom (kleine Pfeile), semizirkuläres periaortales Hämatom (H)
Dabei kann es an der Aufhängung der thorakalen Aorta im Isthmusbereich, durch die geringe Elastizität des Lig. pulmonale, zum Einriss der Aortenwand kommen (häufigste Lokalisation: Aortenisthmus; ca. 85%). Die traumatische Aortenruptur verläuft bei vollständiger Ruptur in ca. 85% der Fälle sofort tödlich [10]. Bei einem kleinen Prozentsatz der Fälle kommt es entweder zur gedeckten Ruptur mit Einriss der Intima und Media bei kontinuitätserhaltender intakter Adventitia und nachfolgender Ausbildung eines Aneurysma spurium und Mediastinalhämatom – oder zur gedeckten Ruptur mit kleinem Intima-/Mediaeinriss und Ausbildung eines chronischen Aneurysmas nach Monaten oder Jahren. Die vollständige Ruptur kann im späteren Verlauf auftreten. Penetrierende Thoraxverletzungen können ebenfalls mit Verletzungen der großen Gefäße einhergehen. Je nachdem ob die Verletzung intraperikardial oder extraperikardial liegt, führt sie entweder zur akuten Tamponade oder zum massiven Hämatothorax [10].
Symptome und Diagnostik Die klinischen Befunde der Aortenruptur weisen eine diagnostische Trias auf, die in mehr als 50% der Fälle zu finden ist [10]. Klinische Symptome der Aortenruptur sind thorakale Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Puls- und Blutdruckdifferenz zwischen oberen und unteren Extremitäten, Atemnot und radiologisch ein verbreitertes Mediastinum [33]. Allerdings sind diese Zeichen nicht immer sehr zuverlässig, sodass einerseits spezifisch nach ihnen gesucht und andererseits im Zweifelsfall eine erweiterte Diagnostik angeschlossen werden muss. Als Screeningmethode, v. a. auch bei instabilen, schlecht transportierbaren Patienten, gewinnt die transösophageale Echokardiographie zunehmenden Stellenwert, vorausgesetzt, sie wird von einem erfahrenen Untersucher durchgeführt ([32]; . Abb. 70.3).
Wenn die Diagnose einer Aortenruptur gestellt worden ist, sollte die Versorgung baldmöglichst erfolgen. Die Therapieoptionen sind offen-chirurgisch oder minimal-invasiv mittels Stentgraftimplantation (EAP). Bezüglich chirurgischem Vorgehen ist bis heute die Frage nicht abschließend geklärt, welche Operationstechnik die schonendste und risikoärmste ist. Bei der Direktnaht ohne kardiopulomonalen Bypass besteht, in Abhängigkeit von der Abklemmdauer der Aorta, das Risiko einer spinalen Ischämie mit nachfolgender Querschnittsläsion (Inzidenz 5–20%) sowie einer Ischämie der Abdominalorgane, insbesondere der Nieren. Darüber hinaus führt das herznahe Abklemmen der Aorta zu einer beträchtlichen Steigerung des linksventrikulären Afterloads mit Anstieg des pulmonalkapillärem Verschlussdrucks bis hin zur Linksherzdekompensation und zu einer u. U. massiven Drucksteigerung in der oberen Körperhälfte, die den Einsatz von Vasodilatatoren erfordert. Andererseits erfordert der Einsatz eines partiellen (z. B. venoarteriellen) Bypasses eine systemische Antikoagulation, die v. a. beim frischen, schweren Polytrauma und/oder speziell beim akuten Schädel-Hirn-Trauma kontraindiziert ist. Die Mortalität des chirurgischen Vorgehens wird in der Literatur ebenfalls zwischen 5 und 20% beziffert [30]. In den letzten Jahren hat sich die transkutane, endovaskuläre Stentgraftimplantation mehr und mehr durchgesetzt. Bei dieser liegt die technische Erfolgsrate bei 90–100%, die Mortalitätsrate zwischen 0 und 10% und das Risiko für eine Paraplegie zwischen 0 und 6% [30]. Aufgrund der Risiken mag es in einigen Fällen sinnvoll sein, die Versorgung während der ersten Tage nach Trauma aufzuschieben. Um das Risiko einer Spontanruptur zu reduzieren, müssen während dieser Zeit Blutdruck und Druckamplitude streng kontrolliert und ggf. reduziert werden, z. B. durch Anwendung eines kurzwirksamen E-Blockers (Esmolol) mittels Dauerinfusion. Um nachteilige Effekte der negativ inotropen Wirkung auf die systemische Zirkulation in der Frühphase nach Trauma zu minimieren, sollte der Einsatz mit einem pulmonalarteriellen Katheter überwacht werden. In etwa 10% aller Aortenverletzungen ist die aszendierende Aorta betroffen. Meist wird eine solche Verletzung von einer Herztamponade und in einem Teil von Koronarläsionen begleitet. Eine chirurgische Intervention kann nur am kardiopulmonalen Bypass vorgenommen werden. Verletzungen im Bereich des Aortenbogens mit seinen Gefäßabgängen sind sehr selten. Die Symptomatologie hängt vom Ausmaß und den betroffenen Gefäßen ab. Eine Versorgung ist in der Regel nur am kardiopulmonalen Bypass in tiefer Hypothermie möglich.
910
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
Literatur
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71 Bauchtrauma D. Nast-Kolb
71.1
Einleitung
71.2
Präklinisches Vorgehen
71.3
Diagnostik
71.3.1 71.3.2 71.3.3
Klinische Untersuchung –912 Vorgehen bei perforierendem Trauma –913 Vorgehen bei stumpfem Trauma –913
71.4
Therapie
71.4.1 71.4.2 71.4.3 71.4.4
Notoperation –913 Therapie bei penetrierendem Bauchtrauma –915 Therapie bei stumpfem Bauchtrauma –916 Prognose –917
Literatur
–912 –912
–912
–913
–917
912
Kapitel 71 · Bauchtrauma
71.1
Einleitung
Im Gegensatz zum angloamerikanischen Sprachraum stehen in Mitteleuropa stumpfe Abdominalverletzungen gegenüber penetrierenden Traumen im Vordergrund, überwiegend im Rahmen einer Mehrfachverletzung. Dabei wird beim Polytrauma die Abdominalbeteiligung häufig mit einer ungünstigeren Prognose beschrieben. Eigene Untersuchungen [14, 15] haben dazu aufgezeigt, dass Polytraumatisierte mit Abdominalbeteiligung in der Regel mit einer höheren Gesamtverletzungsschwere behaftet sind als Patienten ohne Bauchverletzung. Für den Tod innerhalb der ersten Stunden nach Unfall ist, neben dem Schädel-Hirn-Trauma, das Bauchtrauma, bedingt durch Massenblutungen infolge schwerer Verletzungen großer Gefäße bzw. parenchymatöser Organe, von vorrangiger Bedeutung. Andererseits zeigte sich jedoch, dass Patienten mit operationspflichtigen Abdominalverletzungen trotz signifikant höherem Schweregrad (mittlerer Injury Severity Score von 44 statt 32 Punkten) bei richtiger Primärdiagnostik und -therapie keine höhere Spätsterblichkeit (17% bzw. 15%) aufwiesen als diejenigen ohne Bauchtrauma. Weiterhin muss Folgendes beachtet werden [5]: i Die übersehene Abdominalverletzung ist eine der häufigsten vermeidbaren Todesursachen beim Polytrauma.
71.2
Präklinisches Vorgehen
Für die Behandlung am Unfallort werden in der Literatur zwei Vorgehensweisen diskutiert: 4 sofortiger Transport des Verletzten ohne Therapiemaßnahmen (»load and go«), 4 primäre Stabilisierung und Sicherung der Vitalfunktionen (»stay and play«). Während im deutschsprachigen Raum überwiegend aufgrund des etablierten Notarztsystems präklinische Therapiemaßnahmen propagiert werden, wird im angloamerikanischen Schrifttum bevorzugt das Load-and-go-Konzept propagiert, wie in einer Metaanalyse von Liebermann et al. [11] dargestellt wurde. Für den sofortigen Transport spricht, dass bei schweren Massenblutungen eine Kontrolle der Kreislauffunktion nur durch eine schnellstmögliche operative Blutstillung erreicht werden kann. Außerdem bewirkt eine forcierte Volumentherapie über die Hämodilution eine verstärkte Gerinnungsstörung und damit einen erhöhten intraoperativen Volumen- und Blutbedarf. An-
dererseits führt eine sofortige Schocktherapie durch frühzeitige Behandlung bzw. Prophylaxe der Mikrozirkulationsstörungen zu einer Reduzierung der daraus entstehenden Organfunktionsstörungen und damit der durch Multiorganversagen bedingten Spätletalität. Anhand einer Matched-pair-Analyse eines Krankengutes des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie konnte aufgezeigt werden, dass die prophylaktische Intubation beim schweren Thoraxtrauma (AIS=4) ohne respiratorische Störung bzw. begleitendes SHT keinerlei Benefit bewirkt [19]. Die weitergehende Analyse bezüglich der dabei durchgeführten präklinischen Volumentherapie [18] ergab, dass die prophylaktisch Intubierten bei signifikant verlängerter präklinischer Behandlungszeit doppelt so viel Volumen erhalten hatten und im weiteren Verlauf doppelt so viele Blutungskomplikationen mit deutlich erhöhter Letalität aufwiesen. Nach dem derzeitigen aktuellen Wissensstand ergeben sich damit für die präklinische Therapie des Abdominaltraumas mit Schock (systolischer Blutdruck <80 mm Hg) die in . Tab. 71.1 dargestellten Empfehlungen. 5 Beim Bauchtrauma ohne primär erkennbaren Schock sollte prinzipiell, nach Anlage mindestens eines periphervenösen Zugangs und den bei Zusatzverletzungen erforderlichen weiteren Therapiemaßnahmen, ebenfalls eine schnellstmögliche Klinikeinlieferung erfolgen. 5 Bei penetrierenden Verletzungen sollen eingedrungene Fremdkörper (z. B. Pfahl, Messer) belassen, offene Wunden mit oder ohne prolabierende Intestinalorgane locker steril abgedeckt und verbunden werden. 5 Nachdem jeder Verdacht auf Abdominalverletzung in der Klinik apparativ bzw. invasiv abgeklärt werden muss, stellt der traumabedingte Bauchschmerz eine klare Indikation für eine ausreichende Schmerztherapie dar.
71.3
Diagnostik
71.3.1 Klinische Untersuchung Nach Klinikaufnahme gilt es, bei der ersten notfallmäßigen Inspektion im gesamten Rumpfbereich die Lokalisation von per-
. Tabelle 71.1. Empfehlungen zur präklinischen Therapie des Abdominaltraumas mit Schock (systolischer Blutdruck <80 mm Hg)
71
»Load and go«
»Stay and play«
Penetrierende Verletzung (Schuss-, Stichverletzung)
Stumpfes Trauma mit Verdacht auf Polytrauma
Sofortiger Transport zur schnellstmöglichen operativen Blutstillung!
Schocktherapie mit 4 2 großlumigen peripheren Zugängen 4 moderate Volumentherapie (RR systolisch 80–100 mm Hg!) 4 Analgesie und Sedierung 4 Intubation und Beatmung 4 Schnellstmögliche Einlieferung ins Krankenhaus (<60 min nach Trauma)
913 71.4 · Therapie
forierenden Verletzungen (auch dorsal!) zu erfassen und nach Prellmarken, Schürfungen sowie Hämatomen zu suchen. Bei aufgetriebener Bauchwand ist palpatorisch zwischen »weichem« und »prall gespanntem« Abdomen zu unterscheiden. Der wache ansprechbare Patient ist nach Schmerzen zu befragen und bezüglich der Lokalisation entsprechend zu untersuchen. Obligat ist die primäre Stabilitätsprüfung von Thorax und Becken als möglichem Hinweis auf Mitverletzung der angrenzenden Regionen. Diese notfallmäßige klinische Untersuchung sollte zügig innerhalb einer Minute erfolgen. Nachdem die alleinige klinische Untersuchung eine intraabdominelle Verletzung weder beweisen noch ausschließen kann, ist bei jedem Verdacht auf ein Bauchtrauma eine weiterführende Diagnostik obligat, die bei perforierendem und stumpfem Verletzungsmechanismus unterschiedlich verläuft. 71.3.2 Vorgehen bei per forierendem Trauma Im angloamerikanischen Schrifttum wird wegen des z. T. täglich großen Anfalls von Schuss- und Stichverletzungen bei stabilem Kreislauf überwiegend ein abwartendes Vorgehen mit kurzfristiger stationärer klinischer Überwachung propagiert. Bei auffälligem und insbesondere bei sich verschlechterndem Lokal- und Allgemeinbefund wird sekundär die Indikation zur Laparotomie gestellt. Nachdem im deutschsprachigen Raum einerseits perforierende Verletzungen wesentlich seltener vorkommen, andererseits aber bei ca. 1/3 der Patienten tatsächlich mit intraabdominellen Läsionen gerechnet werden muss [4, 10], wird hier allgemein eine sofortige operative Revision empfohlen. Während früher das Durchdringen des Peritoneums zunächst mittels Minilaparotomie abgeklärt wurde, steht heute dafür die Laparoskopie ganz im Vordergrund [6, 22]. Dieses Vorgehen ist erforderlich, da weder die primäre Sonographie oder CT-Untersuchung noch eine »Sondierung« des Stichkanals das Durchdringen des Peritoneums sowie die im Vordergrund stehende Hohlorganperforation beweisen oder ausschließen kann. Lediglich bei aufgrund der Lokalisation sowie der Penetrationsrichtung sehr fraglicher intraabdomineller Verletzung, aber auch zur Beurteilung des Retroperitoneums, stellt die Sonographie eine wichtige Entscheidungshilfe dar. 71.3.3 Vorgehen bei stumpfem Trauma Die Abklärung des stumpfen Abdominaltraumas sollte, auch unter Berücksichtigung des hohen Prozentsatzes an Mehrfachverletzungen, prinzipiell in einem entsprechend eingerichteten Schockraum erfolgen [20]. Um eine schnelle und sichere Abklärung sowohl der Vitalfunktionen als auch möglicher Zusatzverletzungen zu gewährleisten, ist ein standardisiertes Vorgehen unbedingt erforderlich. Hierfür hat sich ein »Schockraumalgorithmus« [14] bewährt, der innerhalb der parallel zu durchlaufenden Flussdiagramme auch das Vorgehen beim Bauchtrauma einschließt.
Apparative Diagnostik Auch wenn vielerorts insbesondere beim Polytrauma ausschließlich die Ganzkörper-CT-Untersuchung propagiert wird, hat die
71
innerhalb weniger Minuten durchgeführte Sonographie(Focus Assessment Sonography for Trauma; FAST) zur unmittelbaren Beurteilung der intrathorakalen, intraabdominellen sowie retroperitonealen Flüsssigkeit mit der unmittelbaren Konsequenz für eine bestehende oder im Verlauf auftretende Schocksymptomatik weiterhin einen hohen Stellenwert. Dagegen wird die Peritoneallavage nur noch in Ausnahmefällen angewandt. Für die frühe definitive apparative Diagnostik stellt jedoch heute bei stabilem Kreislauf ohne jeglichem Zweifel die CT-Diagnostik mit i.v.-Kontrastmittel den Goldstandard dar [21]. Sie sollte prinzipiell mit i. v.-Kontrastmittel durchgeführt werden. Eine Angiographie in DSA-Technik ist indiziert bei Verdacht auf Verletzungen stammnaher großer Gefäße, zur Differenzierung des Ausmaßes von Nierenverletzungen sowie bei persistierenden Blutverlusten nach instabilen Beckenverletzungen und Läsionen parenchymatöser Organe mit der Fragestellung und dem Ziel der therapeutischen Embolisation. Bei Verdacht auf Pankreasläsionen stellt die ERCP die weiterführende Diagnostik dar. Die Laparoskopie hat beim stumpfen Trauma im Gegensatz zu penetrierenden Verletzungen, insbesondere beim Polytrauma, für die Frühdiagnostik keine Bedeutung. Sie hat ihren Stellenwert lediglich bei der sekundären Abklärung unklarer Befunde ohne vordringliche sonstige Operationsindikation.
Hohlorganverletzungen Hohlorganverletzungen werden häufig primär nicht erkannt, selbst bei Einsatz weiterer diagnostischer Maßnahmen [15]. Hier kann nur durch eine engmaschige Verlaufskontrolle eine frühzeitige Diagnose sichergestellt werden. So muss bei jedem primär unauffälligen stumpfen Bauchtrauma, neben regelmäßigen sonographischen und ggf. auch computertomographischen Kontrolluntersuchungen, mit hoher Wachsamkeit nach folgenden Auffälligkeiten gefahndet werden: 4 veränderte oder fehlende Peristaltik, 4 neu auftretende Druckschmerzhaftigkeit oder Abwehrreaktionen, 4 Infektzeichen (Leukozytenanstieg, CRP-Anstieg, Temperaturerhöhung, sonstige Entzündungsparameter), 4 freie intraabdominelle oder retroperitoneale Luft (CT), 4 Kontrastmittelaustritt (CT), 4 freie Flüssigkeit ohne erkennbare sonstige Organläsion (Sonographie, CT), 4 freie Flüssigkeit mit Darmwandverdickung (CT). 71.4
Therapie
71.4.1 Notoperation Bei jedem Bauchtrauma muss bei Klinikaufnahme primär die Kreislauffunktion beurteilt und sofort entsprechend therapiert werden. Lässt sich innerhalb der ersten Minuten der systolische Blutdruck nicht sicher über 80 mm Hg halten und ergibt sich klinisch der Verdacht auf eine potenzielle Massenblutung (instabiles Becken, instabiler Thorax, aufgetriebenes Abdomen, starke offene Blutung), so besteht die Indikation zur sofortigen Blutsubstitution, zunächst mit 4 Erythrozytenkonzentraten (ungekreuzt oder Blutgruppe 0 negativ; . Abb. 67.1).
914
Kapitel 71 · Bauchtrauma
Operatives Vorgehen Standardzugang für diese Notoperation ist der schnelle und relativ blutungsarme obere und untere Medianschnitt, der sich leicht zu einer Sternotomie oder, mit Durchtrennung der Rippenknorpel, in eine links- oder rechtsseitige anterolaterale Thorakotomie erweitern lässt. Dabei sollte neben der Fremdblutsubstitution gleichzeitig eine maschinelle Autotransfusion (mittels »cell-saver«) erfolgen. Operativ muss zuerst geklärt werden, ob eine direkte Blutstillung durch Gefäßligatur oder z. B. Splenektomie möglich ist. Bei schwersten Massenblutungen durch Zerberstung der Leber und/ oder Ruptur großer stammnaher Gefäße kann eine Blutungskontrolle durch zunächst manuelle Kompression, dann durch supraoder infradiaphragmale Aortenabklemmung erreicht werden. Bei schwersten Leberverletzungen kommt darüber hinaus das Pringle-Manöver mit Kompression der im Lig. hepatoduodenale verlaufenden A. hepatica und V. portae sowie eine infra- und suprahepatische V.-cava-Abklemmung in Frage. Bei schweren diffusen Blutungen abdomineller Organe, aber auch des tiefen Retroperionealraums bei dorsalen Beckeninstabilitäten, stellen lokale Kompressionstamponaden (»packing«, »mesh-wrapping«) ein schnelles und sicheres Verfahren zur Blutungskontrolle dar.
»Packing«
. Abb. 71.1. Modifizierter Teilaspekt des Schockraumalgorithmus der Polytraumaversorgung. (Nach [14])
Beim »packing« wird das verletzte Organ durch ein zirkuläres Abstopfen mit Bauchtüchern oder Rollgaze komprimiert. Bei der Leber ist dazu eine vollständige Mobilisation mittels Durchtrennung der Ligg. falciforme, triangulare und coronaria erforderlich. Oft ist nach dieser Tamponade sowie durch die schock- und volumentherapiebedingte gleichzeitige ödematöse Schwellung der Mesenterialorgane ein direkter Bauchdeckenverschluss nicht möglich, sondern nur durch Interposition von Folien oder Verwendung von resorbierbaren Netzen. Nach dieser primären Blutungskontrolle ist ggf. die Verlegung in eine Schwerpunktklinik zur weiteren Intensivbehandlung und operativen Therapie anzustreben. Das »packing« stellt bei Leberverletzungen oftmals bereits die definitive Behandlung dar. Abhängig von der Wiederherstellung der plasmatischen Gerinnung ist nach 24–48 h die Entfernung der Bauchtücher erforderlich, ggf. mit weiteren geplanten Revisionen bis zum definitiven Bauchdeckenverschluss [3, 12].
»Mesh-wrapping« Indikationsstellung
71
Die Indikation zur sofortigen Notlaparotomie mit dem Ziel der operativen Blutstillung wird gestellt, 4 wenn sich trotz der beschriebenen maximalen Volumentherapie keine ausreichende Kreislauffunktion wiederherstellen lässt und 4 aufgrund der Unfallanamnese und des Befunds (prall aufgetriebenes Abdomen mit oder ohne Prellmarken und/oder Hämatome) eine intraabdominelle Verletzung zu vermuten ist oder 4 darüber hinaus bereits der Nachweis freier intraabdomineller Flüssigkeit erfolgt ist. Die Notlaparotomie wird ohne weitere zeitverzögernde Diagnostik sofort durchgeführt.
Alternativ zum »packing« wird das »mesh-wrapping« angegeben [23]. Dabei werden die parenchymatösen Organe mittels vorgefertigter resorbierbarer Netze unter Kompression eingehüllt. Dies kann an der Leber einseitig oder beidseits durchgeführt werden. Mit diesem Verfahren lässt sich eine gezielte Kompression mit im Vergleich zum »packing« wesentlich geringerem Platzbedarf und damit geringerer Beeinträchtigung der Atmung erreichen. Darüber hinaus ist kein Zweiteingriff erforderlich. Der Nachteil dieses Verfahrens für die Notfalltherapie ist jedoch ein deutlich erhöhter Zeitaufwand und die Tatsache, dass größere abdominalchirurgische Erfahrung hinsichtlich der Lebermobilisation vorausgesetzt werden muss. i Die geschilderten Notmaßnahmen bei schwerem Blutungsschock gelten für offene und stumpfe abdominelle Verletzungsformen gleichermaßen.
915 71.4 · Therapie
71.4.2 Therapie bei penetrierendem Bauchtrauma Wie schon ausgeführt, stellt die penetrierende Verletzung in Mitteleuropa überwiegend eine Indikation zur operativen Abklärung und Therapie dar. Bei penetrierenden Verletzungen kranial des Nabels muss dabei vorher immer eine begleitende Thoraxverletzung durch Inspektion, Palpation (Hautemphysem), Auskultation, Röntgenaufnahme und Sonographie (Hämatopneumothorax, Perikardtamponade) ausgeschlossen werden.
Schussverletzung Abdominelle Schussverletzungen stellen auch beim kreislaufstabilen Patienten in der Regel eine Indikation zur Notfalllaparotomie dar, da in 80–90% der Fälle versorgungspflichtige intraabdominelle Organverletzungen vorliegen. Eine Ausnahme ergibt sich bei oberflächlichen oder tangentialen Streifschüssen, bei denen, nach lokalem Wunddébridement, eine 24- bis 48-stündige Überwachung ausreicht. In ganz seltenen Fällen, wenn bei Hb- und Kreislaufstabilität aufgrund des Ein- und Ausschusses sowie der CT-Darstellung der Schussverlauf sicher rekonstruiert und eine Hohlorganverletzung ausgeschlossen werden kann, ist ebenfalls ein konservatives Vorgehen gerechtfertigt. In fraglichen Fällen ohne Schockgeschehen wird auch bei tangentialen Schussverletzungen die Laparoskopie zur Beurtei-
71
lung der möglichen Penetration des Peritoneums empfohlen. Liegt diese vor, so folgt dann ebenfalls eine explorative Laparotomie.
Stichverletzung Große US-amerikanische Untersuchungen haben aufgezeigt, dass zwar bei ca. 66% der Stichverletzungen ein Durchdringen des Bauchfells vorgelegen hatte, es dabei aber nur bei ca. 50% dieser Fälle zu operationsbedürftigen Verletzungen gekommen war [4, 10]. Aus der Tatsache, dass damit einerseits bis zu 70% unnötige Laparotomien mit nicht unerheblicher Komplikationsrate resultieren, aber andererseits bei Nichtdurchführung oder Verzögerung der Operation für ca. 33% der Fälle eine wesentliche zusätzliche Gefährdung vorliegt, ist heute ein differenziertes Behandlungskonzept zu empfehlen (. Abb. 67.2). Nachdem bei Verletzung der oberflächlichen Bauchwandfaszie mit weiterer Exploration oder Sondierung durch die kulissenartige Verschiebung der Bauchwandschichten nicht mit ausreichend hoher Sicherheit eine Penetration des Peritoneums ausgeschlossen werden kann, ergibt sich in diesem Fall die Indikation zur Laparoskopie. Kann dabei aufgrund der Lokalisation eine Dünndarmverletzung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, so besteht die Indikation zur explorativen Laparotomie.
. Abb. 71.2. Behandlungsalgorithmus für abdominelle Stichverletzungen
916
Kapitel 71 · Bauchtrauma
71.4.3 Therapie bei stumpfem Bauchtrauma
Konservative Therapie In der Literatur wird bei nachgewiesenen intraabdominellen Verletzungen zunehmend ein konservatives Vorgehen diskutiert [7–9]. Prinzipiell muss bei einem derartigen Befund immer mittels Computertomographie das mögliche Ausmaß von Parenchymverletzungen abgeklärt und nach Hohlorganläsionen gesucht werden. Ein konservatives Vorgehen mit intensivmedizinischer Überwachung und weiteren engmaschigen sonographischen, ggf. auch computertomographischen Kontrollen ist dann gerechtfertigt, wenn Hb- und Kreislaufstabilität vorliegen und weitere schwerere extraabdominelle Zusatzverletzungen ausgeschlossen sind. Eine operative Intervention ist jedoch dringend erforderlich bei wesentlichem Hb-Abfall oder zunehmender intraabdomineller Flüssigkeitsmenge, aber auch bei zunehmenden Infektionszeichen (Temperatur, CRP-Anstieg, Leukozytose). Hierbei kann, in Abhängigkeit vom Ausmaß der Befundverschlechterung, neben der Laparotomie auch die Laparoskopie eingesetzt werden. Dagegen sollte bei jedem Schockzustand sowie bei jeder schweren Mehrfachverletzung (Injury Severity Score t29 Punkte), auch bei nur geringem Flüssigkeitsnachweis, eine Frühlaparotomie erfolgen, um prolongierte Blutungen nach Kreislaufwiederherstellung und eine zusätzliche Gefährdung durch verzögert diagnostizierte und therapierte Hohlorganverletzungen zu vermeiden [24].
Operative Therapie Nach Blutungskontrolle erfolgt prinzipiell bei jeder Laparotomie eine sorgfältige Inspektion aller 4 Quadranten, der Mesenterialwurzel und des gesamten Darms einschließlich Magenhinterwand sowie von Pankreas und Duodenum.
Milzverletzung Unter den oben genannten Voraussetzungen ist ein konservatives Vorgehen v. a. bei oberflächlichen Läsionen sowie bei Hämatomen gerechtfertigt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Operativ wird darüber hinaus zunehmend der Milzerhalt angestrebt, sei es durch Parenchym- und Kapselnähte bzw. durch Fibrinklebung oder Koagulationsverfahren bei oberflächlichen Läsionen bzw. durch Teilresektionen bei tieferen Verletzungen. In Abhängigkeit vom Angiographiebefund wird zunehmend der Milzerhalt durch selektive Embolisationen erreicht. Bei den milzerhaltenden Verfahren ist jedoch ein nicht unerhebliches Risiko einer Rezidivblutung und bei segmentalen Resektionen ein wesentlicher zeitlicher Mehraufwand zu bedenken. Deshalb sollten diese Verfahren bei prolongiertem Schock, stark blutenden Hilusverletzungen und Berstungsverletzungen des gesamten Organs sowie bei schwer polytraumatisierten Patienten vermieden werden; stattdessen stellen diese Situationen weiterhin eine Indikation zur Splenektomie dar. Eine intra- oder extraperitoneale Autotransplantation von Milzgewebe zur Reduktion der Postsplenektomiesepsis ist nach heutigem Wissensstand nicht sinnvoll, dagegen besteht bei Kindern und Jugendlichen nach Milzexstirpation die Indikation zur Pneumovax-Impfung.
71
Leberverletzung Das tatsächliche Ausmaß der Leberverletzung kann heute meistens durch die CT-Diagnostik ausreichend beurteilt werden. Zur
Klassifikation der Verletzungsschwere ist die in der Literatur viel verwendete Einteilung von Moore [12] gut geeignet. Die am häufigsten vorkommenden oberflächlichen Verletzungen der leichten Kategorie (Grad 1 und 2) können unter den bereits dargestellten Voraussetzungen gut konservativ beherrscht werden, ansonsten kommen oberflächliche Kapselnähte, Koagulation sowie Fibrinklebung mit oder ohne Kollagenvlies zur Anwendung. Bei den schweren Leberverletzungen steht zunächst die operative Blutstillung im Vordergrund, sei es durch die o. g. Abklemmung der großen Gefäße im Sinne einer vaskulären Exklusion [1] oder aber durch die beschriebenen Kompressionsverfahren (»packing« oder »mesh-wrapping«). Neben Maßnahmen, die oft die endgültige Behandlung darstellen, erfolgt die definitive Versorgung der tiefen Parenchymverletzungen (Grad 3) durch ein Resektionsdébridement mit Finger- oder Ultraschalldissektion und gezielter Umstechung bzw. Ligatur von Gefäßen und Gallengängen. Eine anatomische Resektion ist bei diesem Schweregrad nur in Ausnahmefällen nötig. Die schwersten Leberverletzungen (Grad 4 und 5) sind mit einer hohen Letalitätsrate bis 80% behaftet [2]. Neben der fast immer erforderlichen vaskulären Exklusion wurden bei Verletzungen der retrohepatischen großen Venen in Einzelfällen V.-cava-Shunts [1, 2] erfolgreich eingesetzt. Anatomische Leberresektionen sollten, wenn möglich, primär vermieden und erst sekundär nach Stabilisierung von Kreislauf und Gerinnung durchgeführt werden [1, 2, 12]. Schließlich wurde in Einzelfällen bei schwersten Leberzertrümmerungen als Ultima ratio eine ein- oder zweizeitige Lebertransplantation durchgeführt und so ein Überleben erreicht [16].
Hohlorganverletzung i Die Prognose von Hohlorganverletzungen wird durch den Zeitpunkt der Diagnosestellung und damit der operativen Therapie bestimmt [5].
Innerhalb der ersten Stunden nach dem Trauma können die Läsionen, in Abhängigkeit vom Ausmaß der Schädigung, meistens definitiv durch Direktnaht oder Segmentresektionen und Enteroanastomosen versorgt werden. Bei Dickdarmverletzungen sollte bei der einzeitigen Anastomosierung, neben einer intraabdominellen Jet-Lavagierung, auch ein intraluminales »wash out« über große Spülschläuche durchgeführt werden. Bei stärkerer Kontamination und insbesondere bei Rektumverletzungen ist in der Regel ein vorgeschalteter passagerer Anus praeter erforderlich.
Pankreasverletzung Pankreaskontusionen und oberflächliche Parenchymläsionen werden durch Zieldrainagen definitiv versorgt. Dies gilt auch für tiefere Gewebeverletzungen, bei denen zusätzlich die Nekrosen ausgeräumt werden. Gangverletzungen im Kopfbereich werden initial ebenfalls am besten mit einer Drainage versorgt, entstehende Fisteln heilen meist unter konservativer Therapie [17]. Bei linksseitigen Pankreasläsionen mit Gangbeteiligung besteht die Indikation zur möglichst milzerhaltenden Linksresektion der Bauchspeicheldrüse. Nur in Ausnahmefällen ist primär bei schweren Zertrümmerungen des Pankreaskopfes mit begleitender schwerer Duodenum- und/oder Gallengangläsion eine ausgedehnte Resektion im Sinne einer partiellen Duodenopan-
917 Literatur
kreatektomie erforderlich, wobei für diese Eingriffe eine Letalität von bis zu 85% angegeben wird [17]. 71.4.4 Prognose Unter Einhaltung der oben genannten diagnostischen und therapeutischen Grundsätze haben Bauchverletzungen auch beim polytraumatisierten Patienten eine gute Prognose ohne wesentliche Beeinflussung des späteren Krankheitsverlaufs. Eine Ausnahme stellen lediglich die schweren Leberverletzungen mit Gefäßbeteiligung dar.
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71
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72 Brandverletzungen N. Pallua, K. Hemmrich
72.1
Allgemeine Aspekte
72.1.1 72.1.2 72.1.3 72.1.4 72.1.5
Einleitung –920 Beurteilung von Verbrennungstiefe und Verbrennungszonen –920 Berurteilung des flächenhaften Verbrennungsausmaßes –921 Begleitverletzungen –921 Primärversorgung –922
72.2
Technische Aspekte
72.2.1 72.2.2 72.2.3 72.2.4 72.2.5
Therapie von Brandwunden –924 Operative Therapie –926 Spalthauttransplantation –926 Vollhauttransplantation –928 Keratinozytenkultur –928
72.3
Intensivtherapie
72.3.1 72.3.2 72.3.3 72.3.4
Transfusionen –929 Analgosedierung beim Schwerbrandverletzten –929 Ernährung –929 Infektionsprophylaxe –931
Literatur
–931
–920
–924
–929
920
Kapitel 72 · Brandverletzungen
72.1
Allgemeine Aspekte
72.1.2 Beur teilung von Verbrennungstiefe
und Verbrennungszonen 72.1.1 Einleitung
Verbrennungstiefe Brandverletzungen sind Folge einer traumatischen Schädigung der Haut durch Hitzeeinwirkung. Während Verbrennungen durch Flammen oder durch Kontakt mit heißen Gegenständen entstehen, werden Verbrühungen durch heiße Flüssigkeiten und heißen Dampf verursacht. Auch nichtthermische Noxen können analoge Hautschäden her vorrufen, wie sie bei Verbrennungen und Verbrühungen auftreten, so z. B. elektrischer Strom oder Strahlung. Chemische und toxische Hautschädigungen schließlich werden aufgrund ihrer pathophysiologischen Ähnlichkeit zu Verbrennungen als sog. Paraverbrennungen bezeichnet. Die klinische Schwere einer Verbrennung reicht von leichten Bagatellverletzungen bis hin zu lebensbedrohlichen Verläufen. Um eine ädaquate Behandlung von thermischen Verletzungen einleiten zu können, ist eine genaue Beurteilung der Brandwunde erforderlich. Zum einen muss die Tiefenausdehnung der Verletzung abgeschätzt werden, um daraus die Indikationen zur konservativen oder operativen Behandlung zu stellen. Zum anderen ist das flächenhafte Ausmaß der Verletzung zu bestimmen. Zusätzlich muss das Vorliegen eines Inhalationstraumas und anderer Begleittraumata (z. B. Augenverletzungen, Schädelhirntrauma, Knochenbrüche, innere Verletzungen) diagnostiziert bzw. ausgeschlossen werden. Verbrennungsverletzungen stellen eine traumatische Schädigung des größten Organs des menschlichen Organismus dar – der Haut. Diese schützt den Menschen vor physikalischen Umwelteinflüssen wie Hitze, Kälte und Strahlung. Die Thermoregulation des Körpers läuft wesentlich über die vasomotorische Regulation des Kapillarnetzes der Haut. Erhalt von Homöostase, Barriere gegenüber Parasiten und pathogenen Mikroorganismen, Initiierung humoraler und zellulärer Abwehrmechanismen, sensorische Interaktion mit der direkten Umgebung und Vitamin-D-Produktion sind weitere essenzielle Funktionen dieses Organs. All diese Hautfunktionen werden bei Verbrennungsverletzungen wesentlich beeinträchtigt. Teilweise sind die Schädigungen reversibel, sodass die Integrität der Haut komplett wiederhergestellt werden kann. Bei schweren Verletzungen allerdings ist eine Restitutio ad integrum nicht mehr möglich – es findet eine Defektheilung statt. Bei ausgedehnten Verbrennungen über 20% verbrannter Körperoberfläche (VKOF) ist die Schädigung so groß, dass es zu systemischen Störungen mit lebensbedrohlichen oder gar tödlichen Verläufen kommt. Dabei kommt es infolge der Aktivierung der Gewebsmakrophagen zur gesteigerten Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen. Eine systemische Entzündungsreaktion und die Ausbildung eines sog. capillary leak sind die Folge. Bei dieser Schädigung des Endothels kommt es zum unkontrollierten Austritt von Wasser aus dem Blut-Gefäßsystem in das umgebende Gewebe. Die Flüssigkeitsverschiebungen können derartig hohe Volumenverluste verursachen, dass es zum Kreislaufschock kommt.
72
Die Tiefenausdehnung der Hautschädigung ist bei Verbrennungen abhängig von der Höhe der einwirkenden Temperatur und der Zeitdauer der Hitzeeinwirkung. Ab einer Temperatur von 40°C treten Funktionsstörungen von Enzymen und Strukturproteinen auf. Reparaturmechanismen können diese zwar zunächst noch kompensieren, bei zunehmender Temperatur kommt es allerdings zu irreversiblen Zellschädigungen. Die kritische Temperatur, bei der solche irreversiblen Schädigungen der Zellen auftreten, wird mit 50–53°C angegeben. Bei Temperaturen über 65°C genügt eine Expositionsdauer von weniger als einer Sekunde, um eine Koagulationsnekrose mit irreversibler Proteindenaturierung hervorzurufen. Die Einteilung der Verbrennungtiefe erfolgt in 3 Schweregrade (Grad I–III; . Abb. 72.1). Besonders in der englischsprachigen Literatur ist die 2002 von der European Burn Association vorgeschlagene Klassifikation zu finden, die sich an den histologischen Strukturen der Haut orientiert und Verbrennungen nach ihrem histopathologischen Verbrennungsausmaß einteilt: 4 »superficial burns« – nur die Epidermis ist betroffen, 4 »superficial partial thickness burns« – Epidermis und papilläre Dermis sind geschädigt, 4 »deep dermal partial thickness burns« – betroffen sind Epidermis und Dermis bis ins Stratum reticulare, 4 »full thickness burns« – Epidermis und die gesamte Dermis, ggf. zusätzlich das subkutane Fettgewebe, sind durch die Verbrennung geschädigt.
Verbrennung I. Grades Bei Verbrennungen I. Grades ist nur die oberflächliche Schicht der Haut, die Epidermis, betroffen. Die Haut ist aufgrund der ausgeprägten Vasodilatation gerötet, überwärmt und weist ein oberflächliches Ödem auf. Auf Druck bleicht das Gewebe lokal ab und färbt sich bei Nachlassen des Druckes schnell wieder rot an. Eine Blasenbildung ist nicht zu beobachten. Innterhalb von wenigen Tagen erfolgt eine spontane Abheilung ohne Narbenbildung.
. Abb. 72.1. Verbrennungstiefe (Schnittbild durch die menschliche Haut). Bei erstgradigen Verbrennungen ist die Epidermis geschädigt. Zweitgradige Verbrennungen werden unterteilt in oberflächlich dermale und tief dermale Schädigungen. Bei drittgradigen Verbrennungen ist die gesamte Epidermis zerstört
921 72.1 · Allgemeine Aspekte
Verbrennung II. Grades Verbrennungen II. Grades stellen keine einheitliche Entität dar, sondern lassen sich vielmehr aufgrund histopathologischer Veränderungen in oberflächlich (IIa) und tief (IIb) zweitgradige Läsionen unterteilen. Klinisch ist diese Differenzierung von großer Bedeutung, da oberflächlich zweitgradige Verbrennungen unter konservativer Therapie narbenfrei abheilen, IIb-gradige Läsionen hingegen eine Operationsindikation darstellen und nicht ohne Narbenbildung abheilen können. Bei oberflächlich zweitgradigen Verbrennungen ist die Epidermis und die oberflächliche Koriumschicht geschädigt. Die Durchblutung der Haut über den subdermalen Gefäßplexus ist noch gewährleistet. Die Haare sowie Hautdrüsen als Hautanhangsgebilde bleiben weitgehend erhalten. Klinisch zeigt sich eine erythematöse Hautveränderung mit Blasenbildung. Nach Abtragung der Blasen bleibt ein rötlicher Wundgrund zurück, der auf Anritzen mit einer Kanüle kapilläre Blutungen aufweist und schmerzhaft ist. Unter Kompression mit einem Glasspatel zeigt sich eine intakte Kapillarduchblutung im Korium. In der Regel heilen derartige oberflächlich zweitgradige Verbrennungen innerhalb von 2–3 Wochen ohne Narbenbildung ab. Über die nicht geschädigten Anteile der Hautanhangsgebilde wie Haare, Schweiß- und Talgdrüsen erfolgt durch Auswachsen von Epidermis die Wiederherstellung einer intakten Epithelschicht. Wenngleich nach Abschluss der Epidermisregeneration die Schmerzhaftigkeit der Wunde endet, so können Rötungen oder livide Verfärbungen noch über mehrere Wochen persitieren. Erfolgt die Abheilung des Epitheldefektes nicht innerhalb von 2–3 Wochen, so ist von einer tiefergehenden Schädigung im Sinne einer Verbrennung/Verbrühung Grad IIb auszugehen. Bei tief zweitgradigen Verbrennungen reicht die Schädigung bis in die tiefe Koriumschicht. Das klinische Erscheinungsbild ist variabel. Einerseits können sich dickwandige Blasen mit weißlichem Wundgrund finden, andererseits kann die Blasenbildung auch wegen der aufliegenden Nekroseschicht fehlen. Charakteristisch für die tiefe Verbrennung 2. Grades ist die beginnende Zirkulationsstörung im subkorialen dermalen Gefäßnetz. Aufgrund der Zerstörung der subdermalen Plexus erscheinen die Wunden weiß bis elfenbeinfarben. Auf Druck ist weder Abblassen noch anschließende Rekapillarisierung bei Entlastung zu finden. Auch die Sensibilität ist durch die Zerstörung der sensiblen Nervenendigungen deutlich vermindert. Ein tiefes Anritzen der Haut mit einer Kanüle führt nur verzögert und vereinzelt zu kapillären Blutungen. Die spontane Abheilung von Verbrennungen Grad IIb erfolgt stark verlangsamt über mehrere Wochen. Nach Abstoßen der Nekroseschichten bildet sich zunächst Granulationsgewebe, das anschließend vom Wundrand her reepithelisiert. Da hypertrophe und instabile Narben bei diesem konservativen Heilungsverlauf vorprogrammiert wären, besteht eine absolute Operationsindikation.
Verbrennung III. Grades Die bei Verbrennungen III. Grades entstehende Nekrose umfasst sämtliche Schichten von Epidermis und Dermis und bezieht u. U. sogar das subkutane Fettgewebe mit ein. Klinisch zeigen diese Verletzungen eine blasse bis bräunliche oder dunkelrote Kolorierung. Die Haut ist trocken, der Glasspateldruckversuch bewirkt weder eine Entleerung der Kapillaren noch eine wiedereinsetzende Kapillardurchblutung. Die Sensibilität ist vollständig aufgehoben. Im Gegensatz zur tief zweitgradigen Verbrennung
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ist bei der drittgradigen Verbrennung im Ritztest mit einer Kanüle keine kapilläre Blutung zu finden. Eine operative Exzision der verbrannten Areale und eine anschließende Wunddeckung sind zwingend erforderlich.
Verbrennungszonen Wenngleich der Übergang von Brandwunde zu ungeschädigter Haut bei der Inspektion oft als scharfe Grenze erscheint, so spiegelt dies nicht die tatsächliche Wundsituation wider. Im Zentrum einer Brandwunde findet sich die sog. Koagulationszone. Hier ist die Schädigung am größten. Eine zelluläre Regeneration ist aufgrund von Proteindenaturierung und dadurch bedingter Koagulationsnekrose nicht möglich. Konzentrisch um die Koagulationszone herum schließt sich die Stasezone an. Obwohl diese nach dem Trauma zunächst noch ungeschädigt erscheint, kann als Folge der progressiven Durchblutungsverminderung die Nekrose in diese Zone fortschreiten. In der äußeren Zone der Hyperämie findet sich nur eine minimale Zellschädigung bei Vasodilatation und Hyperämie aufgrund freigesetzter Entzündungsmediatoren. Diese Einteilung der 3 konzentrischen Zonen nach Jackson ist unerlässlich, um eine korrekte chirurgische Therapie durchführen zu können. 72.1.3 Berur teilung des flächenhaften
Verbrennungsausmaßes Das Flächenausmaß einer Brandverletzung wird angegeben als prozentualer Anteil der verbrannten Areale an der gesamten Körperoberfläche (VKOF in %). Unterschiedliche Methoden erlauben die Ermittlung dieses Anteils. Bei der 1951 von Wallace aufgestellten Neunerregel wird der Körper eines Erwachsenen in Regionen eingeteilt, die jeweils 9% der Körperoberfläche umfassen. Für die Berechnung der VKOF bei Kindern ist diese Neunerregel an die veränderten Körperproportionen angepasst, so u. a. an den relativ größeren Anteil des Kopfes und relativ geringeren Anteil der Extremitäten. Ein einfaches, allerdings nur grob orientierendes Maß zur Ermittlung des Verbrennungsausmaßes ist die Flächenabschätzung mit Hilfe der Handfläche des Patienten einschließlich der Langfinger, die ca. 1% der Gesamtkörperoberfläche ausmacht. Zur exakten Berechnung der VKOF helfen Tabellen, in die für die unterschiedlichen Altersklassen die verbrannten Areale eingetragen und berechnet werden können. Die Prognose eines Verbrennungsopfers hängt wesentlich vom flächenhaften Ausmaß der Verbrennung und der Verbrennungstiefe ab. Ab einer Schädigung von 25% VKOF wird von einer schweren Brandverletzung gesprochen. Je größer die betroffene Fläche und die Wundtiefe ist, umso schlechter wird die Prognose. Mit Hilfe des »Abbreviated Burn Severity Index (ABSI)« nach Tobiasen kann die Prognose eines Brandverletzten annäherungsweise geschätzt werden. Hierbei werden neben der VKOF auch Alter, Geschlecht, Verbrennungstiefe und das Vorliegen eines Inhalationstraumas berücksicht. 72.1.4 Begleitverletzungen Neben der direkten Hitzeeinwirkung an der Haut kann es zu weiteren Begleitverletzungen kommen. Neben Inhalationstrauma und Brandgasvergiftungen muss auch an innere Verletzungen,
922
Kapitel 72 · Brandverletzungen
Frakturen, Sehnenausrisse sowie Augen-/Ohrenverletzungen gedacht werden. i Alle Patienten mit Begleitverletzungen müssen in ein Schwerverbranntenzentrum verlegt werden.
Inhalationstrauma Erste Hinweise für das Vorliegen eines Inhalationstraumas ergeben sich aus der Unfallanamnese (geschlossener Raum, Stichflammenverletzung). Durch Inhalation von Hitze kann es zu einer lokalen thermischen Schädigung der Luftwege kommen. Da dies zu einem raschen Anschwellen der Atemwege führt, sollte bei Verdacht auf ein stattgehabtes Inhalationstrauma eine frühzeitige Intubation erfolgen. Weitere Hinweise auf ein Inhalationstrauma sind Ruß und/oder Verbrennungen im Gesichtsbereich sowie versengte Gesichtshaare (Wimpern, Augenbrauen, Nasenhaare).
Die Diagnose eines Inhalationstraumas ergibt sich neben der Anamnese aus der Bronchoskopie. Grade des Inhalationstraumas: 5 Grad 1: Rötung und Ödem 5 Grad 2: Blasenbildung 5 Grad 3: Nekrosen und Ulzerationen der Schleimhaut
Rauch und trockene Gase schädigen eher die oberen Luftwege, da Rauch einen frühzeitigen reflektorischen Glottisschluss auslöst und trockene Gase nur eine geringe Wärmekapazität haben. Die Inhalation von Dämpfen hingegen führt zu Verletzungen bis in tiefere Bereiche des Respirationstraktes. Hier läuft das Inhalationstrauma in drei Phasen ab: Exsudative Phase: Während der ersten 2 Tage bestimmt ein Alveolar- und Lungenödem das klinische Bild. Die Alveolaroberfläche besteht zu etwa 93% aus Pneumozyten Typ-I. Durch die Schädigung lösen sich diese Zellen von der Basalmembran und bilden ein intraalveoläres Exsudat. Degenerative Phase: In den folgenden 2 Tagen vermindern die
weniger empfindlichen Typ-II-Pneumozyten die Surfactant-Produktion und begünstigen so die Entstehung eines Lungenödems. Proliferative Phase: Zwischen dem 5. und 10. Tag nach Verbrennungstrauma infiltrieren Entzündungszellen das Lungengewebe. Dadurch besteht erhöhte Gefahr für die Ausbildung eines ARDS und einer Superinfektion.
Behandlung des Inhalationstraumas
72
In der Frühphase des Inhalationstraumas ist nach Intubation eine Beatmung mit 100%igem Sauerstoff kurzzeitig indiziert. Für die Langzeittherapie sollte eine druckkontrollierte Beatmung gewählt werden, wobei der Spitzendruck 35 cm H2O nicht überschreiten sollte. Der positive endexspiratorische Druck (PEEP) ist zwischen 5 cm H2O und 15 cm H2O so einzustellen, dass eine suffiziente Beatmung gewährleistet ist. Zusätzlich kann das Atem-Zeit-Verhältnis umgekehrt werden – beginnend bei I:E 1:1 bis maximal 4:1. Bei derartigen Beatmungsschemata werden CO2-Partialdrücke bis 60 cm H2O als sog. permissive Hyperkapnie toleriert, um pathologisch hohe Atemwegsdrücke zu vermeiden. FiO2-Werte größer 60 cm H2O sind zu vermeiden, da Sauerstoff selber toxi-
sche Schäden am Alveolarepithel verursachen kann. Zur Verbesserung des Gasaustausches und zur Vermeidung von Atelektasen tragen regelmäßige Bronchialtoiletten und Physiotherapie bei. Da bei langzeitbeatmeten Verbrannten Fibrinbeläge und Nekrosen nicht abgehustet werden können, ist bei diesen Patienten auch eine temporäre Bauchlagerung sinnvoll. In extremen Situationen hat sich zur Verhinderung eines ARDS nach Bronchiallavage die intrabronchiale Applikation von Surfactant bewährt. Auch durch regelmäßige Inhalation von Heparin als Aerosol konnte eine signifikante Abnahme von Atelektasen und von Schleimbildung erzielt werden.
Brandgasvergiftung Das Einatmen von toxischen Gasen, die bei Bränden entstehen, z. B. Chlorwasserstoff, Zyanwasserstoff, Aldehyde oder Schwefeldioxid ruft eine Entzündungsreaktion der Atemwege hervor. Andere Gase, wie z. B. Kohlenstoffmonoxid oder Zyanid, rufen keine lokale Reaktion hervor, behindern jedoch den Sauerstofftransport und führen so zu Vergiftungen. Die Vergiftung mit Kohlenstoffmonoxid (CO) ist die häufigste frühe Todesursache nach Inhalationstrauma. Aufgrund der im Vergleich zu O2 200- bis 250-fach höheren Hämoglobinaffinität blockiert CO den Sauerstofftransport. Die Patienten erscheinen gut oxygeniert. Die Pulsoxymetrie zeigt falsch-hohe Werte an. Eine Carboxyhämoglobinkonzentration über 20% ist symptomatisch mit heftigen Kopfschmerzen, Übelkeit und eingeschränktem Urteilsvermögen; Konzentrationen über 60% können letal sein. Eine rasche Intubation und Beatmung mit 100%igem Sauerstoff, ggf. auch eine hyperbare Sauerstoffbeatmung, sollten sofort initiiert werden. Eine Vergiftung mit Zyanwasserstoff (HCN) lässt sich durch Beatmung mit 100%igem Sauerstoff allein nicht verbessern. Die Patienten zeigen eine Hyperventilation mit Azidose. Da die Zytochromoxidase der Atemkette blockiert wird, ist die Sauerstoffabgabe aus dem Blut an das Gewebe unterbunden. Dieser Vorgang ist reversibel. Zur Behandlung einer HCN-Vergiftung wird die i.v.-Gabe von 250 mg/kg KG Natriumthiosulfat und 4 g Hydroxycobalamin (Vitamin B12) sowie eine Beatmung mit 100%igem Sauerstoff empfohlen. Eine Behandlung mit Methämoglobinbildern (z.B. 4-DMAP) wird bei ausschließlichen HCN-Vergiftungen empfohlen. Sie ist bei Inhalationstrauma mit zusätzlichen Verbrennungen kontraindiziert, da die Sauerstofftransportkapazität des Blutes durch die Methämoglobinbildung noch weiter herabgesetzt wird und so die Verbrennungstiefe zunehmen kann. 72.1.5 Primärversorgung Nicht nur bei schweren Verbrennungen, sondern auch bei Bagatellverbrennungen verbessert eine möglichst rasch eingeleitete Akutbehandlung den Heilungsverlauf und das Behandlungsergebnis. Am Unfallort wird der Patient zuerst abgelöscht und aus der Gefahrenzone des Brandherdes geborgen. Sofort sollte eine Kaltwasserbehandlung der Brandwunden begonnen werden, die Mindestdauer beträgt hierbei 15 Minuten. Auch bei verspätetem Therapiebeginn ist die Kaltwasserbehandlung noch sinnvoll, da sie die lokale Gewebsüberhitzung vermindert und zusätzlich einen schmerzlindernden Effekt hat. Zu beachten ist allerdings, dass großflächige Kühlung auch zum Auskühlen des Patienten führen kann. Dies muss verhindert werden, da eine stark erniedrigte Körpertemperatur die operative Notfallversorgung verzö-
923 72.1 · Allgemeine Aspekte
gert und einem Schockgeschehen sowie einer gestörten Blutgerinnung Vorschub leistet. Daher ist eine zeitliche Begrenzung der Kühlung auf 30 Minuten einzuhalten. Im Rettungsdienst werden zunehmend spezielle sterile Gelfolien eingesetzt, die einen kühlenden Effekt besitzen und sich gut als Wundabdeckung für den Transport ins Krankenhaus eignen. Ausgedehnte Verbrennungen verursachen neben der lokalen Hautschädigung generalisierte Reaktionen. Es bildet sich in der gesamten kapillären Strombahn ein Kapillarleck aus. Als Folge verschiebt sich Flüssigkeit vom Intravasalraum in das interstitielle Gewebe. Schwerbrandverletzte verlieren hohe Flüssigkeitsmengen, zum einen in das Gewebe (Gewebsödem), zum anderen über die Wundoberfläche, die Atmung (Beatmung) und die intakte Haut (Schwitzen). Unbehandelt kann diese Volumenverschiebung in kurzer Zeit zum hypovolämischen Schock führen. Zur Therapie des Schockgeschehens sollten ausschließlich kristalloide Lösungen wie Ringer-Lösung oder Ringer-Laktat verwendet werden. Das Kapillarleck besteht für einen Zeitraum von etwa 24 h und klingt allmählich ab.
Der Volumenbedarf eines Schwerbrandverletzten lässt sich mit Hilfe der Parkland-Formel nach Baxter errechnen: 5 Für Erwachsene: (4 ml Ringer-Laktat u % VKOF u kg KG)/24 h. 5 Für Kinder: (4–6 ml Ringer-Laktat u % VKOF u kg KG)/24 h.
Die Hälfte des errechneten Infusionsvolumens wird in den ersten 8 h infundiert, die zweite Hälfte über die anschließenden 16 h. Zu beachten ist, dass in der 1. Stunde nach erfolgter Verbrennung die Infusionsgeschwindigkeit deutlich höher liegen muss. Hier wird folgende Dosis empfohlen:
0,5 ml Ringer-Laktat u % VOKF u kg KG
Neben dieser klassischen Berechnungsformel nach Baxter wurden immer wieder neue Infusionsschemata entwickelt wie z.B. die Cincinnati Formel oder die speziell für Kinder angepasste Galveston Formel. Grundsätzlich handelt es sich bei allen Infusionsformeln um Richtwerte. Eine entscheidende Richtgröße ist die ausreichende Diurese, die durch suffiziente Flüssigkeitszufuhr, nicht jedoch durch Diuretikagabe erreicht wird: 0,5–1 ml/kg/h. Bei Verbrennungen durch elektrischen Strom oder bei gleichzeitig vorliegendem Inhalationstrauma kann der Flüssigkeitsbedarf noch bis zu 50% höher liegen. Noch am Unfallort muss der Verletzte 2 großlumige intravenöse Zugänge erhalten. Eine suffiziente Analgesie ist unerlässlich, zu bevorzugen sind Opioide. Besteht der Verdacht auf ein Inhalationstrauma, sollte die Indikation zur Intubation großzügig gestellt werden. Die Kriterien für die Zuweisung eines Brandverletzten in ein Verbrennungszentrum sind klar definiert.
72
5 Alle Verbrennungen II. und III. Grades, die das Gesicht, die Hände, Füße oder den Genitalbereich betreffen 5 Alle Fälle mit Inhalationstrauma oder Gewebeschäden durch elektrischen Strom
Vorgehen bei der Notaufnahme Die akute Behandlung von Brandverletzten erfolgt in einem speziell eingerichteten Aufnahmeraum, der ein Kreislaufmonitoring und eine maschinelle Beatmung erlaubt. Zum Schutz vor Auskühlung sind zusätzlich zur auf 37°C erhöhten Raumtemperatur spezielle Heizstrahler installiert. Der Patient wird auf einer Spezialtrage gelagert, die ihrerseits in einer speziellen Badewanne liegt. Nach kompletter Entkleidung wird das Monitoring vervollständigt (EKG, Pulsoxymetrie, Blutdruck, Temperatur). Die Verbrennungswunde kann erst beurteilt werden nach Reinigung unter fließendem Wasser mit nicht verfärbenden desinfizierenden Waschlösungen. Erst wenn Rußauflagerungen entfernt und Brandblasen durch manuelles Débridement abgetragen sind, lässt sich das Ausmaß der Verbrennung exakt bestimmen. Abhängig davon erfolgen die Intubation, die Anlage eines zentralvenösen sowie eines arteriellen Zugangs, einer Magensonde und eines Harnblasenkatheters. Neben den arteriellen Blutgasen werden Hämatokrit, CO-Hämoglobin, Elektrolyte, Kreatinin, Myoglobin, Eiweiß/Albumin, Glukose und die Blutgruppe bestimmt. Außerdem wird der Patient gewogen. Aus verbrannter Körperoberfläche und Gewicht des Patienten wird nun erneut der Flüssigkeitsbedarf an kristalloider Lösung ermittelt und mit der bis zu diesem Zeitpunkt infundierten Flüssigkeit verrechnet. Die präklinisch begonnene Analgesie wird fortgesetzt. Der Wundstatus wird auf Fotos und in Dokumentationstabellen festgehalten. Außerdem muss auf einen ausreichenden Tetanusschutz geachtet werden.
Operationsindikationen Unmittelbar im Anschluss an die Erstversorgung sollte mit der operativen Abtragung von verbranntem Gewebe begonnen werden, sofern der Patient kreislaufstabil ist und eine ausreichend hohe Körpertemperatur (>33°C) aufweist. Tief dermale oder drittgradige zirkuläre Verbrennungen am Thorax oder an den Extremitäten können durch die entstehende Gewebeverhärtung und -kontraktur die Atmung bzw. die periphere Durchblutung behindern. Daher muss hier sofort der starre Wundschorf durch eine Inzision, die sog. Escharotomie, entlastet werden. Die Inzisionen erfolgen durch die verbrannte Haut, die Subkutis und die Faszie mit geschwungener bzw. über den Gelenken quer verlaufender Schnittführung. Bei zunehmender Schwellung der Hände ist eine prophylaktische Karpaltunnelspaltung indiziert. Der Erfolg einer kompletten Escharotomie zeigt sich unmittelbar in verbesserter Atmung (bzw. Erniedrigung der Beatmungsdrücke) und einem Wiederauftreten oder Erstarken peripherer Extremitätenpulse.
Kriterien für die Zuweisung eines Brandverletzten in ein Verbrennungszentrum
SIRS, Sepsis und Multiorganversagen
5 Erwachsene mit VKOF >15% Grad II oder 10% VOKF Grad III 5 Kinder mit VKOF >10% Grad II oder 5% VKOF Grad III 6
Ein ausgedehntes Verbrennungstrauma hat neben der lokalen Schädigung der Haut auch weit reichende systemische Auswirkungen, die insbesondere das Immunsystem betreffen. Durch das thermische Trauma werden - ausgehend von den
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
hitzegeschädigten Hautarealen - zelluläre und humorale Abwehrmechanismen in Gang gesetzt. Initial entwickelt sich eine lokal begrenzte Entzündungsreaktion, die klinisch einhergeht mit einer Hyperämie und Gewebeschwellung. Gewebsmakrophagen werden von dem Zelldetritus und den Toxinen angelockt und setzen ihrerseits proinflammatorische Zytokine frei, die weitere zelluläre Entzündungsreaktionen aktivieren. Unterstützt werden die zellulären Mechanismen durch enzymatische Reaktionskaskaden des Komplementsystems und der Blutgerinnung. All diese beschriebenen Reaktionskaskaden dienen grundsätzlich der erleichterten Migration von Entzündungszellen zum Fokus sowie dem Abbau von nekrotischem oder infiziertem Gewebe. Bei schweren Verbrennungen allerdings kommt es zu einer überschießenden Antwort des Immunsystems, so dass innerhalb kürzester Zeit der gesamte Organismus in die Entzündungsreaktion mit einbezogen wird. Auf diese Weise werden ganze Organsysteme, die ursprünglich nicht von der Verbrennung betroffen waren, geschädigt. Diesen Zustand der überschießenden dysregulierten Immunreaktion bezeichnet man als systemic inflammatory response syndrome (SIRS). Die Dauer des SIRS, welches für den Betroffenen eine vitale Gefährung darstellt, beträgt 3-7 Tage. Die Übergänge vom SIRS zur Sepsis mit Multiorganversagen sind fließend. Zwei Theorien werden für die Sepsisentstehung diskutiert, zum einen das Two-hit-Modell, zum anderen das Modell der posttraumatischen Immunsuppresion. Beim two-hit-Konzept wird neben der Verbrennungsverletzung ein zweites Trauma angenommen (z.B. Wundinfektion, Einschwellung von Zelldetritus), welches dann zu einer überschießenden Immunantwort mit hoher Letalität führt. Daher ist die wichtigste Maßnahme zur Reduzierung der Mortalität nach Verbrennungstrauma die frühzeitige operative Entfernung des geschädigten Gewebes. Das Modell der posttraumatischen Immunsuppresion postuliert, dass nach initialer Immunreaktion eine Immunsuppression eintritt, die schwere Infektionen begünstigt. Da im Stadium der Immuninkompetenz Hypersensitivitätsreaktionen vom verzögerten Typ supprimiert sind, werden allogene Hauttransplantate vom Immunsystem nicht als fremd erkannt und können so nach früher Nekrektomie zur temporären Wundabdeckung eingesetzt werden. Die ideale Behandlung der posttraumatischen Immunsuppression bleibt weiterhin umstritten, da eine Stimulation des Immunsystems schließlich auch eine Potenzierung der Immunreaktion wie im Two-hit-Modell verursachen könnte. Zeichen einer beginnenden Sepsis sind Fieber oder Hypothermie, Leukozytose oder Leukopenie, Thrombopenie, Hyperglykämie, ein Ileus, eine veränderte Bewusstseinslage und ein beginnendes Organversagen. Im Labor finden sich Entzündungsparamete wie Tumornekrosefaktor alpha (TNF-alpha), Interleukin-6 (IL-6), CRP und Prokalzitonin (PCT) erhöht. Die hohe Variabilität des klinischen Erscheinungsbildes der Sepsis erschwert häufig die frühzeitige Erkennung. Daher sollten klinische Diagnoseparameter, wie sie in der Baltimore Sepsis Scale zusammengestellt sind, konsequent täglich beurteilt werden.
Baltimore Sepsis Scale:
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Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur (rektal), Blasendefizit, Thrombozyten, Leukozyten, Kreatinin, systemischer Gefäßwiderstand, Urinproduktion, PEEP, PaO2/FiO2 Verhältnis, Glasgow Coma Scale (GCS), Antibiotika.
72.2
Technische Aspekte
72.2.1 Therapie von Brandwunden Wie zuvor beschrieben werden erstgradig und oberflächlich zweitgradige Verbrennungen konservativ behandelt.
Grad-I-Verbrennungen Bei erstgradigen Verbrennungen ist die Epidermis geschädigt. Innerhalb von einer Woche kommt es zur narbenlosen Abheilung. Zur Behandlung sind kühlende Maßnahmen und Hautpflege besonders geeignet. Eine Kombination beider Wirkungen findet sich z. B. in Aloe-vera-Gel. Schmerzmittel sind selten indiziert und meist nicht notwendig.
Ober flächliche Grad-II-Verbrennung (Grad IIa) Für Grad IIa-Verbrennungen gibt es generell 2 Methoden der Wundbehandlung, die Okklusions- und die Expositionsmethode. Die Okklusionsmethode schützt besser gegen Auskühlung, ist jedoch arbeitsintensiver, weil sie große Verbände erfordert, die mindestens einmal täglich gewechselt werden müssen. In trockeneren, heißeren, südlichen Gegenden wird oft die Expositionsmethode bevorzugt.
Okklusionsmethode Allen Behandlungsmethoden der Okklusionstherapie ist gemeinsam, dass die Wunde verbunden und der Wundgrund feucht gehalten wird. Die Austrocknung einer Verbrennung führt zu einem Tieferschreiten der Nekrose und somit zu einem ungünstigen Heilungsverlauf. Oberflächlich zweitgradige Verletzungen müssen mit antibakteriellen Lösungen oder Salben behandelt werden. So lässt sich der Gefahr begegnen, dass mikrobielle Wundbesiedelungen in eine invasive Wundinfektion übergehen und so den Epithelschaden verschlimmern bzw. zu einer Bakteriämie oder Sepsis führen. Nur die Kombination von täglicher Reinigung der Wunden und dem erneuten Auftragen der antibakteriellen Substanz sichert eine niedrige Keimzahl auf der Wundoberfläche und reduziert das Infektionsrisiko. Außerdem erlauben die Verbandswechsel eine engmaschige Wundinspektion. Die gebräuchlichsten topischen antibakteriellen Substanzen sind Silbersulfadiazin, Silbernitrat, Mafenid, und Essigsäure. Silbersulfadiazin wird in Form einer Emulsion 2–3 mm dick einmal täglich auf die Wunden aufgetragen. Es kühlt, wirkt so schmerzlindernd und reduziert die bakterielle Besiedelung. Da die Substanz nur oberflächlich wirkt und Nekrosen nicht durchdringen kann, ist die Anwendung von Silbersulfadiazin bei tieferen Verbrennungen oder auf Wundschorf nicht indiziert. Nach dem Auftragen entsteht rasch ein gelblich-grauer Belag, der wie der Eschar einer drittgradigen Verbrennung aussieht. Hierbei handelt es sich nicht um ein Nachbrennen der Wunde, sondern um eine Reaktion des Silbersulfadiazins mit dem Wundsekret. Nach einigen Tagen sollte sich der Schorf heben und darunter eine beginnende Epithelisierung zeigen. In 5–15% der Fälle tritt nach 2–3 Tagen der Sibersulfadiazin-Anwendung eine Leukopenie auf, die sich spontan – auch bei Fortsetzen der Therapie – wieder normalisiert. Als Ursache dafür wird eine toxische Knochenmarksuppression angenommen. Patienten mit einem Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel können unter Silbersulfadiazin eine akute Hämolyse entwickeln.
925 72.2 · Technische Aspekte
72
. Abb. 72.2a–d. Synthetischer Wundverband (Biobrane) bei einer zweitgradigen Verbrennung am Bein. a Initialer Befund mit Blasenbildung. b Zustand nach Wundsäuberung, Blasenentfernung und Aufbringen der Biobrane-Folie. c Abheilung der Wunde nach 14 Tagen unter Ablösen des Wundverbandes. d Resultat nach einem halben Jahr
Eine neuere Alternative zu Silbersulfadiazin ist Repithel, ein hydrosomales Hydrogel, welches Povidon (PVP)-Iod in geringer Konzentration enthält. Bei IIa-gradigen Verbrennungen begünstigt es einen schnellen Wundschluss, ein gutes kosmetisches Ergebnis und zeigt eine gute Infektionsprophylaxe. Silbernitrat wird als 0,5%ige wässrige Lösung in Form von getränkten Kompressen als feuchter Verband aufgelegt. Es wirkt gut gegen grampositive wie -negative Keime, gegen Pilze und Hefen, kann ebenfalls die Wunde und Nekrosen nicht penetrieren. Die Applikation ist schmerzlos. Silbernitrat färbt die Wunde und die umgebende Haut schwarz; eine Beurteilung der Wunde wird dadurch erschwert. Die Verbände müssen immer feucht gehalten werden und sollten daher 2-stündlich getränkt werden. Da Silberchlorid aus den Wunden ausfällt, wird dem Körper Natrium entzogen, welches dem Chlorid folgt. Von einer Anwendung bei Kindern sollte abgesehen werden, da der Nitratanteil resorbiert werden kann und so eine Methämoglobinbildung hervorruft.. Mafenid wird entweder als wässrige 5%ige Lösung als feuchter Verband eingesetzt oder als 11%ige Emulsion aufgetragen. Mafenid kann durch Wundschorf und Nekrosen hindurchdiffundieren. Gegen grampositive und -negative Keime ist die breite antibakterielle Wirkung gut, gegen methicillinresistente Staphylokokken besteht keine und gegen Hefen und Pilze nur eine geringe Wirkung. Mafenid sollte 2-mal täglich appliziert werden, da es rasch durch die Wunde hindurchtritt und vom Körper resorbiert und abgebaut wird. Mafenid eignet sich besonders, wenn nicht sofort eine Nekrektomie erfolgt, oder auch im Anschluss an eine Nekrektomie als postoperativer Verband. Nachteilig sind die heftigen Schmerzen nach Auftragen. Da Mafenid ein Karboanhydrasehemmer ist, kann es bei größeren Wundflächen zur metabolischen Azidose, u. U. mit Hyperventilation, kommen. Essigsäure findet als 1%ige Lösung Anwendung bei einer Kolonisation der Wunde mit Pseudomonas aeruginosa. Da keine breite antibakterielle Wirkung besteht, empfiehlt sich die alternierende Anwendung mit den zuvor genannten Substanzen, z. B. Abwechseln von Mafenid, Silbersulfadiazin oder Silbernitrat und Essigsäurelösung. Synthetische Wundverbände werden auch der Okklusionsmethode zugerechnet und stellen eine Alternative zum Salbenverband dar. Nach komplettem Débridement wird die sorgfältig
gereinigte Wunde mit einem synthetischen Material bedeckt, welches nicht gewechselt wird und sich im Sinne einer künstlichen Ersatzhaut erst mit Abschluss der Epithelisierung nach ca. 2 Wochen ablöst. Biobrane beispielsweise besteht aus einer inneren Nylon-Kollagen-Schicht und einer äußeren Silikonschicht, ist durchsichtig, wasserabweisend und luftdurchlässig. Zur Verbesserung der Haftung muss die Folie nach dem Aufbringen zunächst mit einem komprimierenden Verband bedeckt werden (. Abb. 72.2). Gerade bei Kindern sind synthetische Wundverbände von Vorteil, da die schmerzhaften Verbandswechsel entfallen. Zu beachten ist, dass der Verband keine antibakterielle Wirkung besitzt. Engmaschige Kontrollen sind daher unerlässlich. Jegliche Sekretansammlung muss abpunktiert werden. Ist das Sekret trübe oder wird die Folie aufgeschwemmt, muss sie sofort entfernt werden und die Behandlung mit z.B. Silbersulfadiazin fortgeführt werden. Suprathel, chemisch zusammengesetzt aus D,L-Lactid, Trimethylencarbonat und H-Caprolacton, ist ein resorbierbarer avitaler Epithelersatz und überschneidet sich in seiner Anwendung teilweise mit Biobrane, z. B. zur Wundabdeckung bei Spalthautentnahmestellen. Zunehmend wird Suprathel auch bei großflächigen IIa- bis IIb-gradigen Verbrennungsarealen eingesetzt. Suprathel ermöglicht eine permanente Wundabdeckung bis zur Reepithelisierung bei geringer Narbenbildung.
Expositionsmethode Dieser Methode liegt der Gedanke zugrunde, dass eine ausgetrocknete Wunde einen aufliegenden Schorf entwickelt, der als körpereigene Schutzschicht gegen Bakterien und Umwelteinflüsse fungieren kann. Zur Verschorfung oder Gerbung werden verschiedene Substanzen verwendet, die mehrfach aufgetragen und immer wieder getrocknet werden. Unter dem Schorf bildet sich ein feuchtes Milieu, welches ideale Vorausetzungen für Wundheilung und Epithelisierung bietet. Im Idealfall verbleiben nach Abheben des Schorfs und Abheilung der Wunde keine Narben. Die Nachteile dieser Methode sind vielfältig, die gegerbte Haut ist starr und bricht daher bei Bewegung leicht. So können über Gelenken schmerzhafte Wunden mit verbleibenden Narben entstehen. Nach Gerbung ist die Wunde unter dem Schorf auch nicht mehr zu beurteilen, eine Wundinfektion kann so lan-
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
. Abb. 72.3. Schmales und breites HumbyMesser zur tangentialen Exzision größerer Hautareale (1). Weck-Messer zur tangentialen Nekrektomie auch kleinerer Areale (2). Akkubetriebenes Dermatom zur Entnahme von Spalthaut (3)
ge unerkannt bleiben und u. U. zu tiefertretenden Schädigungen der Haut führen. 72.2.2 Operative Therapie Bei tief dermalen Verbrennungen muss ein operatives Vorgehen gewählt werden. Spontan heilen derartige Verbrennungen erst nach 3 Wochen oder mehr narbig ab. Kommt es bei einer zunächst als oberflächlich zweitgradig beurteilten Verbrennung nicht innerhalb von 2 Wochen zur Epithelisierung, muss von einer tieferen Schädigung ausgegangen werden. Verbrennungen Grad I werden mit fettenden Salben wie Dexpanthenol-Salbe behandelt, oberflächliche Grad II-Verbrennungen z. B. mit Silbersulfazidin-Creme. Tief dermale und drittgradige Verbrennungen stellen eine Operationsindikation dar. Die operative Abtragung der tief verbrannten Haut sollte bereits innerhalb der ersten 24 h nach Trauma begonnen werden. Es empfiehlt sich, pro Sitzung die Nekrektomien auf maximal 20% der Körperoberfläche zu begrenzen.
Operationsver fahren
72
Ziel der Operation ist die vollständige Entfernung der nekrotischen Hautanteile und die anschließende Deckung des Defektes. Sofern der subdermale Gefäßplexus noch erhalten ist, wird eine tangentiale Nekrektomie als Operationsverfahren gewählt. Dabei werden mit elektrischem Dermatom, Weckmesser oder HumbyMesser (. Abb. 72.3) die verbrannte Epidermis sowie die oberen Schichten der Dermis in 0,2 mm dünnen Schichten abgetragen, bis sich eine kapilläre Blutung vom Wundgrund her zeigt. Dermisanteile mit guter kapillärer Durchblutung stellen einen transplantationsfähigen Wundgrund dar. Zeigt die tangentiale Nekrektomie, dass keine durchblutete Dermis verblieben ist, so muss von einer drittgradigen Brandwunde ausgegangen werden und daher auch das subkutane Fettgewebe entfernt werden. Man spricht von einer epifaszialen Nekrektomie, da nun die Muskelfaszie als Wundgrund mit ausreichender Kapillardichte für die Defektdeckung mit Hauttransplantaten verwendet wird. Nach erfolgter Nekrektomie müssen die Wundflächen sofort gedeckt werden, entweder temporär mit allogenen Hauttransplantaten oder definitiv mit autologer Haut. Bei großflächigen
Verbrennungen empfiehlt sich zuerst eine temporäre Wundabdeckung, um nicht durch Spalthautentnahme die Wundfläche zusätzlich zu vergrößern. Postoperative instabile Kreislaufverhältnisse können ein Nachbrennen verursachen, außerdem kann es zu einem massiven Ödem mit signifikanter Transsudation kommen. Da so die aufgebrachten Hauttransplantate verloren gehen, werden temporär allogene Hauttransplantate eingesetzt. Diese wurden von Organspendern entnommen und in spezialisierten Hautbanken aufgearbeitet und mittels Kryokonservierung oder Glycerol haltbar gemacht. Um auch verloren gegangene Dermisanteile zu ersetzen, lässt sich Integra™ als Dermisersatz verwenden. Dieses kommerziell verfübare Produkt besteht aus Chondroitin-6-Sulfat und einer bovinen Kollagenmatrix und ist zur Oberfläche hin mit einer Silikonfolie beschichtet. Nach erfolgter Neovaskularisierung und bindegewebiger Organisation der Kollagenmatrix entsteht nach 2–3 Wochen ein transplantatfähiges Dermisäquivalent. Im abschließenden Operationsschritt können auf diese Ersatzdermis nach Ablösen der Silikonfolie und bei guter Durchblutung des Wundgrundes Spalthaut, Vollhaut oder kultivierte autologe Keratinozyten transplantiert werden. Alternativ zu Integra liegt mit Matriderm inzwischen eine Kollagen-Elastin-Matrix vor, die ein einzeitiges Vorgehen erlaubt. Matriderm besteht aus Kollagen I, das mit einem ElastinHydrolysat versetzt ist. Nach epifaszialer Nekrektomie wird die rehydrierte Matrix aufgebracht; direkt darüber erfolgt die Spalthauttransplantation in derselben Operation. Die Matrix wird im weiteren Verlauf durch körpereigenes Gewebe ersetzt. 72.2.3 Spalthauttransplantation Spalthauttransplantate werden in einer Dicke von 0,2–0,4 mm an gesunden Hautarealen entnommen und auf die Wunden aufgebracht (. Abb. 72.4). Je dünner die Transplantate, umso schneller erfolgt die Einheilung. Andererseits neigen dickere Transplantate weniger zur Narbenkontraktur als dünne. Die Spalthaut wird glatt auf der Wundfläche mit Vorspannung ausgebreitet und mit Nähten oder Klammern fixiert. In den ersten 24–48 h wird die Haut nur durch Diffusion vom Untergrund her ernährt, daher ist ein vitaler, gut durchbluteter Wundgrund unerlässlich. Um zu vermeiden, dass das Transplantat durch ein eventuelles Hämatom vom Wundgrund abgehoben wird, erfolgt eine
927 72.2 · Technische Aspekte
. Abb. 72.4. Arten von Hauttransplantaten
Skarifizierung mit dem Skalpell. Die aufgebrachten Transplantate müssen durch dicke, leicht komprimierende Überknüpfverbände gesichert werden, um Scherkräfte zu vermeiden und den Kontakt zum Wundgrund sicherzustellen. Der erste Verbandswechsel erfolgt nach 5 Tagen. Bei großen Wundflächen wird die Spalthaut vor Aufbringen expandiert. Zur Erzeugung von Netztransplantaten (MeshGrafts; . Abb. 72.5a) wird die Spalthaut maschinell so eingeschnitten, dass sie sich wie ein Gitternetz auseinanderziehen
72
lässt. Je nach Einstellung des Gerätes lässt sich so eine Expansion zwischen 1 : 1,5 und 1 : 9 erreichen (. Abb. 72.5b). Je größer die Expansion, desto größer ist die Fläche, die mit dem Transplantat bedeckt werden kann. Eine weitere Methode schneidet die Spalthaut in kleine quadratische Hautinseln, die dann auf einer vorgefertigten Trägerfolie expandiert werden. Bei dieser Spalthautexpansion, nach ihrem Entwickler als Meek-Technik benannt, können Expansionsverhältnisse von 1 : 4 bis 1 : 12 erreicht werden (. Abb. 72.5c, d). Die kosmetischen Ergebnisse sind meist besser als das Aufbringen von Mesh-Grafts, die Technik ist allerdings arbeitsaufwändiger und zeitintensiver. Meek-Grafts sind meist resistenter gegenüber Wundinfektionen. Die Zwischenräume im Mesh-Graft sowie zwischen den Meek-Hautinseln epithelisieren sekundär vom Transplantat her. Je größer die gewählte Expansion, desto unbefriedigender ist das kosmetische Ergebnis. An Gesicht und Händen sollten deshalb nie expandierte Transplantate zum Einsatz kommen. An den Armen sollte eine Expansion von 1 : 1,5 bis 1 : 3 nicht überschritten werden. Höhere Expansionen können bei großflächigen Verbrennungen am Rumpf verwendet werden (. Abb. 72.6). Die Spalthautentnahme erfolgt am häufigsten von den Oberschenkeln oder der Bauchregion. Auch von der behaarten Kopfhaut kann nach Rasur Spalthaut entnommen werden. Hingegen sollte vom Dekolleté sowie über Gelenken keine Spalthaut entnommen werden. Spalthautentnahmestellen werden durch Verbände mit Fettgaze oder durch biosynthetische Folien wie z. B. Biobrane behandelt.
. Abb. 72.5a–d. a Mesh-Graft-Herstellung: Die Spalthaut wird maschinell in ein Gittermuster geschnitten. b Mesh-Grafts zur Expansion von 1 : 1,5 und 1 : 3. c Meek-Graft-Herstellung: Die Spalthaut wird auf sterile Träger ausgebreitet und maschinell in kleine Quadrate zerteilt. d die Hautquadrate werden auf spezielle Seidenmembranen übertragen; die Seide wird auseinandergezogen
928
Kapitel 72 · Brandverletzungen
. Abb. 72.6a, b. Aufbringen von gemeshter Spalthaut auf eine ausgedehnte Verbrennungswunde (a). Applikation von Meek-Grafts auf eine Wunde am Thorax und Abdomen (b)
. Abb. 72.7a–d. Keratinozytenkultur. a Aufbringen einer mit Fibrinkleber vermischten Keratinozytensuspension. b Resultat nach Einheilung der Keratinozyten. c Anwendung von sog. Keratinozyten-Sheets. d Resultat nach Sheet-Einheilung
72.2.4 Vollhauttransplantation
72
Vollhaut hat eine bessere Qualität als Spalthaut und neigt weniger zur Kontraktur. Die stabile Einheilung dauert aufgrund der höheren Transplantatdicke länger als bei Spalthaut. Vor allem kleinere Defekte eignen sich für die Behandlung mit Vollhaut. Die Entnahme kann von den beugeseitigen Handgelenken, den Innenseiten der Oberarme, von retroaurikulär, supraklavikulär, aus der Leiste
oder vom Präputium erfolgen. Nach Mobilisation der Wundränder erfolgt der Verschluss der Entnahmestelle primär. 72.2.5 Keratinozytenkultur Autologe Keratinozyten werden in zertifizierten Labors kultiviert und dort für die Transplantation vorbereitet. Durch die
929 72.3 · Intensivtherapie
Züchtung von Eigenhaut kann eine Expansion von 1 : 5000 erreicht werden. Aus einer eingesandten Hautspindel wird eine Primärkultur in Zellkulturmedium hergestellt. Kultivierte Keratinozyten können schließlich in Suspension mit Fibrinkleber oder als konfluierende Zellkultur auf Trägerfolien aufgebracht werden (. Abb. 72.7). Da sich mit 3 cm2 entnommener Vollhaut nach 3–4 Wochen eine Fläche von 1,7 m2 decken lässt, kommt dieses äußerst teure Verfahren nur bei Patienten mit ausgedehnten Verbrennungen (VKOF>60%) zur Anwendung. Nachteil der Keratinozytentransplantation ist neben den hohen Kosten die schlechtere Qualität und Widerstandsfähigkeit der gezüchteten Haut. Um die Fragilität zu vermindern, kann ein »composite graft« generiert werden. Dieses wird aus Dermisersatz, z. B. Integra, mit anschließender Keratinozytenbesiedelung gebildet. 72.3
Intensivtherapie
Die Intensivtherapie von Schwerbrandverletzten erfordert meist eine lange Behandlungsdauer. Der tägliche Flüssigkeitsbedarf, der beim verbrannten Erwachsenen nach der initialen Schocktherapie zu substituieren ist, lässt sich anhand folgender Formel berechnen:
Grundbedarf (1500 ml/ KOF in m2) + evaporativer Wasserverlust [(25 + % VKOF) x KOF in m2 x 24] = täglicher Flüssigkeitsbedarf
Diese Flüssigkeitsmenge ist täglich beim schwerbrandverletzten Intensivpatienten enteral oder parenteral zu applizieren. 72.3.1 Transfusionen Bei Schwerverbrannten sollte der Hämatokrit bei etwa 30% gehalten werden. Nur durch eine ausreichende Organperfusion lässt sich eine Hypoxie mit nachfolgender Gefahr eines Multiorganversagens (MOV) vermeiden. Vor anstehenden größeren Nekrektomien sollte der Hämatokrit auf diesen Zielwert angehoben werden. Intraoperativ empfiehlt es sich, zu jedem Erythrozytenkonzentrat ein Frischplasmakonzentrat zu geben. Ausgedehnte tangentiale Nekretomien gehen mit einem hohen Blutverlust einher. Hierbei darf das gesamte Blutvolumen maximal einmal ausgetauscht werden, danach steigt die Gefahr von Gerinnungsstörungen mit Blutungskomplikationen dramatisch an. 72.3.2 Analgosedierung beim
Schwerbrandverletzten Bei oberflächlichen Verbrennungen ist der Schmerz intensiver als bei tiefen, da bei letzteren die sensiblen Schmerzrezeptoren der Haut stärker geschädigt sind. Schmerzmittel sollten grundsätzlich nur intravenös oder enteral gegeben werden, nicht jedoch subkutan oder intramuskulär. Besondere Anforderungen an die Schmerztherapie und Sedierung des Schwerbrandverletzten ergeben sich aus der Notwendigkeit regelmäßiger schmerzhafter Verbandswechsel. Zur
72
Analgesie stehen Opioide (Fentanyl, Piritramid, Remifentanil) und Ketamin (Esketamin, razemisches Ketamin) zur Verfügung. Die Sedierung wird durchgeführt mit Hypnotika (Propofol), Benzodiazepinen (Midazolam, Diazepam), Neuroleptika (Haloperidol), J-Hydroxybuttersäure (GHB), Clonidin und volatilen Anästhetika wie Isofluran oder Sevofluran. Letztere erfordern allerdings Dosierungseinrichtungen am Respirator sowie eine Gasabsauganlage. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit von Fentanyl, Esketamin und insbesondere von Remifentanil lässt sich die Analgesie gut steuern. Die Pharmakokinetik von Piritramid hingegen ist träge; dieses Medikament ist daher ideal für die Basisanalgesie unter Spontanatmung geeignet. Von den Sedativa ist Propofol am besten steuerbar; zu beachten ist allerdings, dass zur Vermeidung eines Propofol-Infusionssyndroms (PRIS) die Anwendung bei einer Höchstdosis von 4 mg/kg KG/h auf 7 Tage zu begrenzen ist. Benzodiazepine, GHB und Haldol sind im Gegensatz dazu nur sehr schlecht zu steuern; insbesondere bei Benzodiazepinen resultieren – über die durch den Ceiling-Effekt begrenzte Potenz hinaus – stark verlängerte Aufwachzeiten. Isofluran und Sevofluran sind aufgrund der vorwiegend pulmonalen Elimination sehr gut steuerbar. Bei der häufig eingesetzten Kombination von Fentanyl und Propofol (häufiger noch von Remifentanil und Propofol) ist zu beachten, dass durch die starke sympatholytische Wirkung ein systemischer Blutdruckabfall sowie eine opioidbedingte Beeinträchtigung der Darmmotorik auftreten kann. Beide Nebenwirkungen sind insbesondere beim septischen Patienten gefährlich; hier empfiehlt sich die Kombination von Midazolam mit dem sympathomimetischen Ketamin, um Katecholamine einzusparen und gleichzeitig die Darmmotilität weniger zu beeinträchtigen. In der initialen Beatmungsphase des Schwerbrandverletzten mit ausgeprägtem SIRS ist eine Analgosedierung mit Esketamin und Midazolam sinnvoll, um den Kreislauf zu stabilisieren und den Aufbau der enteralen Ernährung zu erleichtern. Ergänzend bieten sich Fentanyl sowie Propofol und Haloperidol an. In der weiteren Behandlung konkurriert die Entwöhnung vom Respirator, welche insbesondere zur Pneumonievermeidung anzustreben ist, mit dem Analgesiebedarf des Patienten. Erneute Operationen und Verbandswechsel bedeuten oft einen Rückschlag im Entwöhnungsprozess; dieser kann allerdings durch kurzfristigen hochdosierten Einsatz von Remifentanil zusammen mit Isofluran oder Sevofluran vermieden werden. Clonidin sollte nicht zu früh gegeben werden, da dessen Einsatz primär der Aufwachphase und ihrer Entzugssymptomatik vorbehalten ist. GHB dient hier als Reservemedikament bei sonst nicht zu erreichender Sedierung. i Eine adäquate und differenzierte Analgosedierung kann Beatmungs- und Behandlungsdauer signifikant verkürzen.
72.3.3 Ernährung Beim Schwerbrandverletzten ist eine frühzeitige enterale Ernährung essentiell. Zur Berechnung des erhöhten Energiebedarfs existieren altersangepasste Formeln, abgestimmt auf das Ausmaß der Verbrennung. Bei schwer verbrannten Erwachsenen empfiehlt sich die Berechnung nach der Curreri-Formel.
930
Kapitel 72 · Brandverletzungen
Curreri-Formel zur Berechnung des Energiebedarfs Schwerbrandverletzter 25 kcal/kg KG/Tag + 40 kcal/% verbrannte KOF/Tag
Für Kinder gibt es altersangepasste Formeln, die statt des Körpergewichtes die Körperoberfläche zur Berechnung verwenden, da insbesondere in den ersten Lebensjahren die Körperoberfläche im Verhältnis zum Gewicht größer ist. In einem optimalen Ernährungsplan beträgt das Verhältnis von Kalorien : Stickstoff 100–150 : 1. Der wesentliche Anteil der Ernährung besteht aus Kohlenhydraten mit einem Kaloriengehalt von 4,5 kcal/g. Einweiß sollte mit ca. 1-2 g/kg KG/Tag substituiert werden. Bei Kleinkindern wird aufgrund der relativ größeren Körperoberfläche ein Eiweißanteil von 3 g/kg KG/Tag gewählt. Wenngleich alle Aminosäuren in ausgewogenem Verhältnis in der Ernährung enthalten sein sollten, so nehmen die Aminosäuren Glutamin und Arginin eine besonders wichtige Rolle bei Schwerverbrannten ein. Arginin ist von zentraler Bedeutung für die Wundheilung. Glutamin fungiert als Energielieferant für Lymphozyten, Makrophagen und Enterozyten, als Radikalfänger und nicht zuletzt als Regulator im Proteinstoffwechsel. Schwerverbrannte weisen einen gestörten Fettstoffwechsel auf. Nach schweren Verbrennungen werden die Fettdepots rasch aufgelöst, allerdings findet vor allem eine Umverteilung und weniger eine Verwertung der Lipide statt. Dies ist u. U. zurückzuführen auf erhöhte Katecholaminspiegel, die die Lipolyse verstärken, gleichzeitig jedoch die Fettsäureoxidation blockieren. So kann es zur Verfettung der Leber kommen. Daher sollte der Fettanteil der Nahrung gering gehalten werden. Die Nahrung kann entweder enteral oder auf intravenösem Weg zugeführt werden. Studien haben gezeigt, dass bei enteraler Nahrungszufuhr die Rate von Infektionen und Sepsis und somit die Letalität signifikant niedriger ist als bei parenteraler Ernährung. Wahrscheinlich wirkt die enterale Ernährung einer Atrophie des Darmepithels entgegen und vermindert so das Risiko einer Translokation von Darmbakterien ins Blut. Auch obere gastrointestinale Blutungen treten unter enteraler Ernährung deutlich seltener auf. Oft geht eine schwere Verbrennung mit einer Magenatonie einher. Da es bei oraler Nahrungszufuhr rasch zu Erbrechen kommen kann, empfiehlt es sich, eine Magensonde zu legen, um eine vorliegende Magenentleerungsstörung frühzeitig erkennen und entlasten zu können. Liegt eine Magenatonie vor, so muss die Ernährung über eine Duodenalsonde gegeben werden. Eine parenterale Ernährung ist nur bei kompletter Dysfunktion des Gastrointestinaltraktes indiziert und sollte zeitlich so kurz wie möglich gehalten werden. Auch in diesem Fall empfiehlt es sich, eine geringe Menge Sondenkost parallel zu geben. Bei parenteraler Ernährung sollte der berechnete Energiebedarf durch Glukose gedeckt werden. Darüber hinaus werden, analog zur enteralen Ernährung, 1–2 g/kg KG/Tag Aminosäuren appliziert. Aufgrund der Fettverwertungsstörung ist der Fettanteil bei Schwerbranntverletzten gering zu halten (1 g/kg KG/Tag Fette).
Elektrolyte
72
In der Akutphase der Verbrennung ist Natrium ein wichtiger Bestandteil der Infusionstherapie. Ungenügende Na-Substitution
führt zu schwerwiegenden Komplikationen. Bei ausreichender renaler Funktion wird ein eventueller infusionsbedingter Na+Überschuss wieder ausgeschieden. Nicht nur durch Wundsekrete, sondern auch durch Wundbehandlung mit silberhaltigen Präparaten wie z. B. Silbersulfadiazin verliert der Körper Natrium, da das Silberchlorid in Form von AgCl ausfällt; dadurch wird dem Körper Natrium entzogen. Ein Verlust an Kalium erfolgt zum einen über die Wundfläche und zum anderen über die renale Ausscheidung. Beim Verbrennungspatienten ist eine solche Hypokaliämie wesentlich häufiger als eine Hyperkaliämie. Eine Hyperkaliämie kann neben einer beginnenden Niereninsuffizienz auf einen vorliegenden Zellzerfall hinweisen. Bei persistierender Hyperkaliämie sollten tiefer liegende Gewebenekrosen in Betracht gezogen werden; diese finden sich insbesondere nach Verletzungen durch elektrischen Strom. In den ersten Wochen nach Verbrennungsverletzungen finden sich stets erniedrigte Serumkalziumspiegel. Diese sind teilweise durch die niedrigen Serumalbuminkonzentrationen bedingt, da Kalzium nur teilweise ionisiert und großteils proteingebunden vorliegt. Um eine genauere Aussage treffen zu können, sollte deshalb die Konzentration ionisierten Kalziums bestimmt werden. Die initial erniedrigten Kalziumspiegel werden zum einen über Verluste im Wundsekret erklärt, zum anderen durch Kalziumverschiebungen nach intrazellulär. Auch der verminderte Knochenstoffwechsel spielt eine Rolle. Phosphat verhält sich ähnlich wie Kalzium und ist ebenfalls nach Verbrennungen erniedrigt. Beide Elektrolyte, sowohl Kalzium als auch Phosphat, sind im Stoffwechsel von hoher Wichtigkeit. So sind diese beiden Elektrolyte im Knochenaufbau und Phosphat darüber hinaus in der ATP-Synthese bedeutsam. Wichtig ist deshalb eine adäquate – allerdings getrennt voneinander erfolgende – Substitution.
Vitamine und Spurenelemente Vitamin A (Retinol) spielt eine Rolle bei der Fibroblastendiffe-
renzierung und der Neusynthese von Kollagen. Bei Schwerverbrannten findet sich eine erniedrigte Vitamin-A-Konzentration. Vitamin B1 (Thiamin) und Vitamin B2 (Riboflavin) sind an der Wundheilung beteiligt. Bei Verbrennungsverletzungen besteht ein erhöhter Bedarf. Insbesondere Vitamin B2 sollte über einen längeren Zeitraum substituiert werden, um den Bedarf von 10–20 mg pro Tag zu decken. Vitamin B6 (Pyridoxin) ist am Aminosäurestoffwechsel beteiligt und wird daher bei erhöhtem Proteinstoffwechsel in stärkerem Maße benötigt. Die Bedeutung von Vitamin B12 (Hydroxycobalamin) bei Verbrennungen bleibt noch unklar. Die Rolle von Vitamin C (Ascorbinsäure) im Rahmen der Verbrennung ist vielseitig. Als Radikalfänger und Antioxidans reduziert dieses Vitamin den Gewebeschaden und wirkt gleichzeitig über die Aktivierung von Leukozyten an der Immunreaktion mit. Insbesondere von Bedeutung ist die maßgebliche Unterstützung der Kollagensynthese im Rahmen der Wundheilung. Vitamin E (Tocopherol) ist als Antioxidans noch potenter als Vitamin C. Auch Tocopherol wird eine gewebeprotektive Wirkung zugeschrieben. Die Substitution der Spurenelemente Zink, Selen und Kupfer erscheint im Rahmen der Verbrennungsbehandlung sinnvoll, wenngleich die spezifischen Wirkungsmechanismen noch nicht gänzlich geklärt sind. Ein Zinkmangel hat schwer wiegende Folgen für die Wundheilung. Die Epithelisierung der Wun-
931 Literatur
dareale ist beeinträchtigt, und die schließlich entstehenden Narben sind deutlich instabiler. Darüber hinaus ist Zink ein Radikalfänger, der wie Vitamin C und Vitamin E gewebeprotektiv wirkt. Eine Substitution ist indiziert, da die körpereigenen Reser ven bei Schwer verbrannten innerhalb einiger Tage aufgebraucht sind. Selen schützt Zellen vor oxidativem Stress und toxischen Medikamentenwirkungen. Da Selen auch protektiv gegenüber Silber wirkt, ist die Gabe bei Verbrennungspatienten durchaus sinnvoll, um vor den Nebenwirkungen der Behandlung mit Silbersulfadiazin oder -nitrat zu schützen. Kupfer ist wichtig für den Erhalt diverser Enzymfunktionen im Rahmen der Immunregulation und der Wundheilung. Initial steigt nach schweren Verbrennungen die Serumkupferkonzentration für 10 Tage an, danach fällt der Spiegel jedoch unter die Norm. Hauptsächlich verantwortlich für den Abfall des Kupferspiegels ist der Verlust dieses Spurenelements über die Wundfläche. Beispiel einer Substitution von Spurenelementen und Vitaminen bei Schwerverbrannten 5 Multivitaminpräparat, mit den Vitaminen A, B1, B2, B6, D, E 5 Vitamin C, 2- bis 4-mal pro Tag, jeweils 0,5–1 g 5 Selen 100 Pg bis zu 3-mal täglich 5 Zink 30 mg bis zu 3-mal täglich 5 Folsäure 1- bis 2-mal 10 mg täglich
72.3.4 Infektionsprophylaxe Neben dem Inhalationstrauma sind Infektionen eine der Haupttodesursachen nach schweren Verbrennungen. Da häufig die Quelle der Infektion die Wunde selbst ist, konnte durch Einführung des Konzepts der frühzeitigen Exzision und Deckung aller verbrannten Areale die Infektionsrate und somit die Letalität deutlich gesenkt werden. Von einer prophylaktischen Antibiotikagabe sollte abgesehen werden, um Selektion und Resistenzentwicklung zu vermeiden. Stattdessen sollte bei ersten Anzeichen einer Infektion eine Breitspektrumantibiose eingeleitet werden. Durch regelmäßige Wundabstriche kann dann eine zielgerichtete Antibiose erfolgen. Fehlt nach 4 Tagen noch jegliche Besserung der Infektionszeichen, sollte anhand der bis dahin vorliegenden Resistenzbestimmung die Therapie umgesetzt werden. Pilzinfektionen stellen bei Schwerbrandverletzten eine lebensbedrohliche Situation dar. Candidainfektionen treten entweder lokal oder systemisch auf; Sporenpilze, z. B. Aspergillus spp., finden sich lokal im Respirationstrakt oder in Wunden. Da Wundinfekte mit Sporenpilzen eine hohe Mortalität besitzen, besteht die primäre Therapie – soweit möglich – in der radikalen, weiträumigen Exzision der betroffenen Region.
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73 Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung C.-M. Muth
73.1
Tauchunfall
73.1.1 73.1.2 73.1.3
Pathophysiologie –934 Symptomatik des schweren Tauchunfalls –934 Therapie des schweren Tauchunfalls –936
73.2
Beinahe-Er trinken
73.2.1 73.2.2 73.2.3 73.2.4
Ursachen und Abläufe beim Ertrinken –938 Pathophysiologie des Ertrinkungsunfalls –938 Therapie –940 Prognose nach Beinahe-Ertrinken –941
73.3
Unterkühlung (Hypothermie)
73.3.1 73.3.2 73.3.3 73.3.4
Pathophysiologie –942 Notfallmaßnahmen bei Hypothermie –942 Klinische Maßnahmen bei Hypothermie –944 Prognose –945
Literatur
–934
–945
–938
–942
73
934
Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
73.1
Tauchunfall
> Definition Tauchunfall Der schwere Tauchunfall ist ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, das bei Tauchern und anderweitig überdruckexponierten Personen in der Dekompressionsphase auftreten kann. Durch einen raschen Abfall des Umgebungsdruckes kommt es zur Bildung freier Gasblasen in Blut und Geweben und dadurch zur Dekompressionserkrankung (DCI, von engl. »decompression illness« oder auch »decompression injury«). Abhängig vom Entstehungsmechanismus werden Dekompressionskrankheit (DCS: »decompression sickness«) und arterielle Gasembolie (AGE) unterschieden [1, 2].
73.1.1 Pathophysiologie
Dekompressionskrankheit Mit dem Abtauchen nehmen der Umgebungsdruck und damit entsprechend dem Dalton-Gesetz auch die inspiratorischen Partialdrücke der Atemgase zu. Dies führt (bei Verwendung von Luft als Atemgas) zu einem Anstieg des Stickstoffpartialdruckes auch im Blut und somit zur Ausbildung von Diffusionsgradienten in Richtung der Gewebe. Während des Tauchens werden die Körpergewebe nach dem Gesetz von Henry mit Stickstoff aufgesättigt, und zwar umso mehr, je höher der inspiratorische Partialdruck des Stickstoffs ist. Neben weiteren Faktoren spielen die im Überdruck verbrachte Zeit und die Gewebeperfusion eine wesentliche Rolle bei der Aufsättigung [3]. Die Menge des überschüssig aufgenommenen Inertgases nimmt also mit der Tauchtiefe und der Tauchzeit zu. Beim Auftauchen und der damit verbundenen Druckabnahme bildet sich ein umgekehrter Diffusionsgradient aus. Es kommt zu einer relativen Inertgasübersättigung der Gewebe, die jedoch in einem gewissen Bereich toleriert wird. Bei zu rascher Druckabnahme kommt es hingegen zu einer kritischen Übersättigung mit der Bildung von Gasblasen im Blut und im Gewebe und dadurch zum Dekompressionsunfall [4].
Arterielle Gasembolie (AGE) Die häufigste Ursache für eine arterielle Gasembolie beim Tauchen ist ein pulmonales Barotrauma (PBT) [1, 2]. Das pulmonale Barotrauma entsteht durch die vom Gesetz von Boyle und Mariotte beschriebene Ausdehnung des Atemgases in der Lunge bei nachlassendem Umgebungsdruck während der Dekompression und inadäquater Exspiration (willentliches Luftanhalten, AirTrapping, Laryngospasmus). Die Folge ist eine Überdehnung der Lunge oder regionaler Bezirke mit der Ruptur von Alveolarabschnitten. Da bereits ein Druckgradient von nur 7,4‒9,8 kPa ‒ entsprechend 75‒100 cm H2O ‒ zur Ruptur von Lungengewebe führen kann [5], sind pulmonale Barotraumen auch beim Tauchen in sehr geringen Wassertiefen (z. B. Schwimmbad) möglich.
Pathophysiologie der Gasblasen Bei massiver Blasenbildung können die Gasblasen direkt im betroffenen Gewebe und im Gefäßsystem entstehen. Gasblasen im Gewebe bedingen durch Verdrängung und mechanische Irritation eine Schmerzsymptomatik, gleichzeitig aber auch durch Kompression von benachbarten Kapillargebieten eine Behinde-
rung der Mikrozirkulation und nachfolgend eine Versorgungsstörung. Gasblasen im Gefäßsystem können zum direkten Gefäßverschluss führen [6]. Die Gasblase bewirkt nicht nur eine mechanische Irritation, sondern als Fremdoberfläche auch erhebliche Schäden am Gefäßendothel, und löst verschiedene biochemische Reaktionen im Blut [6, 7] aus, v. a. Aktivierung der plasmatischen Gerinnung und von Immunglobulinen [8–10]. Darüber hinaus führt die Aktivierung von Faktoren des Komplementsystems zur Zunahme der Perfusionsstörung und somit des Gewebeschadens. Neben diesen allgemeinen Mechanismen, die sowohl für die DCS als auch für die AGE gelten, führt der Verschluss der hirnversorgenden Arterien zu einer zerebralen Ischämie. Insgesamt ähneln die Pathomechanismen nach zerebraler arterieller Gasembolie denen anderer embolischer Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien. 73.1.2 Symptomatik des schweren Tauchunfalls Die Symptomatik des schweren Tauchunfalls hängt unmittelbar mit der Verteilung der Gasblasen und dem Befall der jeweils betroffenen Gewebe zusammen. Die Symptomatik kann dabei ausgesprochen mild sein, mit nur sehr diskreten Beschwerden, aber auch mit neurologischen Ausfällen einhergehen, die bis zur Para- oder Hemiplegie reichen können (. Tab. 73.1; [1, 2]).
Dekompressionskrankheit (DCS) Die DCS ist vornehmlich auf Blasenbildung im Gewebe und im venösen System zurückzuführen und kann in eine milde und eine schwere Verlaufsform untergliedert werden. Die milde Form, DCS Typ 1, ist durch Hauterscheinungen, Pruritus und Schmerz gekennzeichnet. Die schwere Verlaufsform, DCS Typ 2, umfasst hingegen zusätzlich eine neurologische und/oder pulmonale Symptomatik [1, 2].
DCS Typ 1 Bei dieser Form tritt die Symptomatik in der Regel mit einer deutlichen Latenz auf und kann sich dann langsam weiter entwickeln. Die Latenz für das Auftreten von Symptomen kann mehrere Stunden betragen (in der Regel bis24 h, Fälle nach bis zu 72 h sind beschrieben) [4, 11]. Die möglichen Erscheinungsformen sind vielfältig. Relativ häufig ist die kutane Symptomatik, die mit fleckig-marmorierter Haut und Pruritus einhergeht. Diese als Taucherflöhe bekannte Erscheinungsform ist Ausdruck eines Blasenbefalls der Kutis und Subkutis mit Reizung entsprechender Nervenendigungen. In selteneren Fällen kann das Lymphsystem betroffen sein. Dann finden sich schmerzhaft geschwollene Lymphknoten, gelegentlich auch umschriebene ödematöse Schwellungen der Haut. Relativ häufig ist die muskuloskelettale Symptomatik, die mit Muskel- und Gelenkschmerzen einhergeht und in der Tauchmedizin als »bends« bezeichnet wird. Die muskuloskelettale Symptomatik entwickelt sich häufig rasch nach dem Auftauchen, meist innerhalb von 6 h nach einem Tauchgang. Neben diesen klassischen Symptomen gibt es auch unspezifische Beschwerden, die an einen Tauchunfall denken lassen sollten. Dazu zählt z. B. eine auffällige Müdigkeit des Betroffenen, die sich nicht aus der Belastung durch den Tauchgang oder das persönliche Verhalten vor dem Tauchgang erklären lässt oder schmerzhaft geschwollene Mammae bei weiblichen Tauchern.
935 73.1 · Tauchunfall
73
. Tabelle 73.1. Übersicht über die Pathogenese und Symptomatik des schweren Tauchunfalls. (mod. nach [1]) Dekompressionskrankheit
Arterielle Gasembolie
Aktuelle Nomenklatur
Dekompressionskrankheit, DCS, Decompression sickness
Arterielle Gasembolie, AGE
Synonyme
Caisson-Krankheit, Caisson-Unfall, Druckunfallkrankheit
–
Pathogenetische Faktoren
Größere Tauchtiefe/hohe Umgebungsdrücke 4 Lange Expositionszeit 4 Aufsättigung der Körpergewebe mit Inertgas 4 Zu rasches Auftauchen nach längeren und/oder tiefen Tauchgängen mit hoher Aufsättigung
Übertritt von Gasblasen in die arterielle Strombahn beim Tauchen durch: 4 Pulmonales Barotrauma (PBT) mit Überblähung von Alveolarabschnitten 4 Paradoxe Embolie durch – Übertritt venös entstandener Gasblasen über die Lungengefäße – Übertritt venös entstandener Gasblasen über ein offenes Foramen ovale (PFO)
Zeit bis zum Auftreten von Symptomen
Minuten bis Stunden (in der Regel innerhalb von24 h, selten bis zu 72 h)
Minuten
Symptomatik
DCS Typ 1: nur Schmerz 4 Hautsymptome (»Taucherflöhe«): – Juckreiz – Punktförmige Rötung – Schwellung – Marmorierung der Haut 4 Muskel- und Gelenkschmerzen (»bends«): – Große Gelenke (belastungsabhängig) 4 Skelettmuskulatur – Selten: Hand- und Fußgelenke 4 Lymphsystem: – Geschwollene, druckdolente Lymphknoten – Brustschwellung bei weiblichen Tauchern 4 Sonstiges: – Extreme Müdigkeit, Apathie
4 4 4 4
Benommenheit, Schwindel Verwirrtheit, Desorientiertheit Sprach- und/oder Sehstörungen Nervenausfälle unterschiedlicher Ausprägung: von leichten Empfindungsstörungen über hängendes Augenlid und/oder Taubheit in einzelnen Gliedmaßen bis zur kompletten Halbseitenlähmung und Bewusstlosigkeit 4 Bei Mitbeteiligung des Atemzentrums: – Blutdruckabfall – Atemstörungen – Herzstillstand 4 Pupillenasymmetrie möglich: einseitig weite Pupille
DCS Typ 2: wie Typ 1, zusätzlich mit neurologischer und/oder pulmonaler Symptomatik 4 Muskel-/Gelenkschmerzen u. U. schon beim Auftauchen (Verteilung wie bei Typ 1) 4 Schwindel/Erbrechen 4 Hör-/Seh-/Sprachstörungen 4 Gestörte Muskelkoordination 4 Häufig vom Nabel abwärts: – Sensibilitätsstörungen, Paresen, Paraplegie – Blasen- und Mastdarmschwäche 4 Akute Dyspnoe (»Chokes«) mit Brustschmerz, Husten, Erstickungsgefühl 4 Bei paradoxer Embolie auch Halbseitensymptomatik möglich
DCS Typ 2 Bei der schweren Verlaufsform der Dekompressionskrankheit können alle unter DCS Typ 1 beschriebenen Symptome auftreten. Erschwerend kommen hier jedoch eine neurologische und/ oder auch eine pulmonale Symptomatik hinzu [1, 2]. Die pulmonale Symptomatik beruht auf einer massiven Verlegung der pulmonalen Strombahn mit venösen Gasblasen und ähnelt pathophysiologisch der venösen Gasembolie anderer Ursache. Die Symptomatik entwickelt sich unmittelbar bzw. sehr rasch nach dem Auftauchen und ist gekennzeichnet durch retros-
ternale Schmerzen, flache, rasche Atmung sowie die typischen trockenen Hustenattacken, die dieser Erscheinungsfom den Namen (»chokes«) gegeben haben. Differenzialdiagnostisch ist stets auch an ein pulmonales Barotrauma zu denken. Die neurologische Symptomatik betrifft v. a. das Rückenmark, aber auch andere Manifestationsorte des Nervensstems. Die Symptomatik tritt innerhalb von Minuten bis zu wenigen Stunden nach dem Tauchgang auf. Sie kann ausgesprochen mild sein und lediglich mit umschriebenen Parästhesien einhergehen; sie kann aber auch einen kompletten Querschnitt verursachen.
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
pression des Herzens, hier v. a. des rechten Herzens, und über Rückflussbehinderungen und Arrhythmien zu Kreislaufstörungen führen. Am gefürchtetsten ist jedoch das Eindringen von Gas in das Gefäßsystem, speziell in die arterielle Strombahn. Die Folge ist eine arterielle Gasembolie, wobei die Gasbläschen dem Blutstrom folgend in alle Endarterien gelangen können. Besonders gefürchtet ist die zerebrale arterielle Gasembolie, die mit einer schlaganfallähnlichen Symptomatik unterschiedlichster Ausprägung einhergeht und für ca. 15% aller tödlich verlaufenden Tauchunfälle verantwortlich ist [13].
73
Arterielle Gasembolie (AGE) Hier sind grundsätzlich alle Erscheinungsformen denkbar, abhängig von den betroffenen Versorgungsgebieten. Da die arteriellen Blasen dem Blutstrom folgen, ist ein Befall der hirnversorgenden Arterien sehr wahrscheinlich. Auch hier ist die Symptomatik von der Menge des eingedrungenen Gases sowie von den betroffenen Versorgungsgebieten abhängig und ähnelt der des akuten Schlaganfalls. Die Symptomatik kann von leichten Paresen und motorischen Schwächen bis hin zur Hemiplegie reichen. Bei Befall des Hirnstamms mit Ausfall entsprechender Zentren sind auch akute Kreislaufreaktionen und Störungen der Atemregulation möglich [6]. Die Symptomatik einer AGE tritt meist innerhalb von Sekunden bis Minuten nach dem Auftauchen auf [1, 2]. Nicht selten werden zerebrale arterielle Gasembolien von zerebralen Krampfanfällen begleitet, die ausgesprochen therapieresistent sein können. Da diese Form des Krampfanfalls in der Regel nur unzureichend auf die Gabe von Benzodiazepinen anspricht, sollten hierfür Barbiturate eingesetzt werden [6]. . Abb. 73.1. Symptomtrias bei pulmonalem Barotrauma. Darstellung der klassischen Trias der möglichen Folgen eines pulmonalen Barotraumas mit nachfolgender Lungenüberdehnung. Willentliches oder unwillkürliches Luftanhalten beim Auftauchen kann zur Lungenüberdehnung führen. Mögliche Folgen sind eine arterielle Gasembolie z. B. in zerebralen Gefäßen (1), ein Pneumothorax (2), der sich zum Spannungspneumotharax entwickeln kann, und ein Mediastinalemphysem (3). Zu beachten ist, dass jede Folgeerscheinung allein, aber auch in jeder beliebigen Kombination auftreten kann!
Ist das Gehirn der Manifestationsort, so kann die Erscheinungsform von leichten kognitiven Störungen bis zum Koma reichen [11, 12]. Eine Sonderform der neurologischen DCS ist der Befall des Innenohrs, der zu Schwindel, Übelkeit, Erbrechen führen kann, oft verbunden mit einem Nystagmus sowie Hörverlust und Tinnitus.
Pulmonales Barotrauma (PBT) Beim pulmonalen Barotrauma kann es zur Ruptur von Alveolarabschnitten mit unterschiedlichen Folgen kommen (. Abb. 73.1; [1, 2]). Eine Ruptur pleuranaher Abschnitte kann zum Eindringen von Luft in den Pleuraspalt und somit zum Pneumothorax führen. Findet die Ruptur noch unter Überdruckbedingungen statt und ist die Dekompression nicht völlig abgeschlossen, kommt es zur weiteren Ausdehnung des Gases mit Ausbildung eines Spannungspneumothorax. Erfolgt die Ruptur in der Nähe der Hili, entwickelt sich ein Mediastinalemphysem, gelegentlich begleitet von einem kollaren Emphysem. In sehr schweren, aber seltenen Fällen kann die mediastinale Gasmenge zu einer Kom-
73.1.3 Therapie des schweren Tauchunfalls Die Behandlung des schweren Tauchunfalls erfolgt nach empirischen Grundsätzen. Von unbestreitbarem Nutzen sind v. a. die normobare Sauerstoffgabe und die Infusionstherapie für die Akutbehandlung sowie die schnellstmögliche Rekompression und Therapie mit hyperbarem Sauerstoff in einer Therapiedruckkammer. Entsprechend besteht auch für diese Maßnahmen internationaler Konsens und Einigkeit bei den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften (. Abb. 73.2; [2,14]).
Notfallmaßnahmen Wie bei jedem Notfall steht die Sicherung der Vitalfunktionen im Vordergrund. Neben einer kurzen Eigen- oder Fremdanamnese, in der nach den Tauchgangsdaten, vor allem Tiefe und Tauchgangszeit, sowie Besonderheiten während des Tauchgangs gefragt werden sollte, muss der Zeitverlauf der Symptome dokumentiert werden. Des Weiteren muss unbedingt eine sorgfältige Erhebung des neurologischen Status sowohl für periphere Nervenfunktionen als auch Hirnnerven und ZNS erfolgen. Die Befunde müssen gut dokumentiert und dem weiterbehandelnden Arzt zur Verfügung gestellt werden. Da die Ursache für die Symptomatik stets auch ein pulmonales Barotrauma sein kann, muss eine sorgfältige Auskultation der Lungen zum Ausschluss eines Pneumothorax erfolgen, der bei Vorliegen entlastet werden muss.
Normobare Sauerstoffgabe Die wichtigste Sofortmaßnahme beim Tauchunfall ist die schnellstmögliche Gabe von Sauerstoff [1, 2, 14]. Die inspirato-
937 73.1 · Tauchunfall
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. Abb. 73.2. Flussdiagramm der Tauchunfallbehandlung. (Mod. nach [16])
rische Sauerstoffkonzentration muss so hoch wie möglich sein (angestrebte FIO2 1,0!). Ziel ist die rasche Inertgaselimination bei gleichzeitiger Minimierung der durch die Gasblase hervorgerufenen Hypoxie. Die rasche Gabe von Sauerstoff mit möglichst hoher FIO2 kann zu einem Rückgang der Symptomatik führen. Zudem ist erfahrungsgemäß die Effektivität der weiterführenden Therapiemaßnahmen bei jenen Tauchern verbessert, die mit normobarem Sauerstoff vorbehandelt wurden [2, 14].
Flüssigkeitsgabe zum Ausgleich eines Volumendefizits Jeder Taucher hat nach einem Tauchgang ein Volumendefizit, weil es während des Tauchens zu einer überschießenden Urinproduktion gekommen ist. Dieses Flüssigkeitsdefizit ist ungünstig, da nicht nur die Rheologie des Blutes verändert, sondern auch die Inertgasabgabe reduziert ist. Die Gabe von Flüssigkeit stellt daher bei der Akutbehandlung des schweren Tauchunfalls einen wesentlichen Therapiepfeiler dar. Zum Volumenausgleich eignen sich sowohl kolloidale als auch kristalloide Infusionslösungen. Der empfohlene Flüssigkeitsersatz beträgt als Initialdosis 1000‒2000 ml in der ersten Stunde mit einer Erhaltungsdosis von bis zu 500 ml/h in der Folge, ggf. abhängig von den klinischen Parametern [1, 2, 14].
Lagerung Aktuelle Therapievorschläge empfehlen sowohl für die DCS als auch für die AGE die flache Rückenlagerung des Patienten, bei bewusstlosen Patienten auch die stabile Seitenlage [1, 2].
Transport Der Transport von verunfallten Tauchern sollte möglichst erschütterunsfrei erfolgen, weil bei stärkeren Erschütterungen mit weiterer Freisetzung von Gasblasen gerechnet werden muss. Ist ein Lufttransport vorgesehen oder unumgänglich, muss bedacht werden, dass jede weitere Druckreduktion die Symptomatik verschlechtern kann.
Weiter führende Therapiemaßnahmen Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) Die Therapie mit hyperbarem Sauerstoff stellt die einzig sinnvolle weiterführende Therapiemaßnahme dar [1, 2, 11, 14], denn hierdurch werden die Gasblasen aufgelöst. Aus diesem Grund sollten alle Patienten mit der klinischen Symptomatik einer Dekompressionserkrankung schnellstmöglich einer Rekompressionsbehandlung mit hyperbarem Sauerstoff zugeführt werden. Obwohl die unverzügliche Rekompression die besten Ergebnisse
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
bringt, ist eine Druckkammerbehandlung auch nach längerem Verzug noch indiziert, um eine Verbesserung des Zustands zu erreichen. Für die Therapie der arteriellen Gasembolie und für die schwere DCS steht ein bestimmtes Behandlungkonzept zur Verfügung, das mit Therapiedrücken von 280 kP (2,8 bar) nach einer initialen Behandlung, je nach klinischem Verlauf, noch über 1‒3 weitere Behandlungen durchgeführt wird [2]. Ist danach noch eine Restsymptomatik vorhanden, erfolgt die Weiterbehandlung nach dem Therapieschema für Spätbehandlungen bei niedrigeren Therapiedrücken. Diese Behandlungen werden so lange durchgeführt, bis es zu einer Stagnation kommt. Sind über 2‒3 Behandlungseinheiten keine klinischen Fortschritte mehr zu erzielen, kann die HBO-Therapie beendet werden. Als für den Therapieerfolg außerordentlich günstig haben sich therapiebegleitende rehabilitative Maßnahmen und krankengymnastische Übungen erwiesen. Hierbei scheinen sich deutlich bessere Fortschritte im Heilungsverlauf erzielen zu lassen, wenn die Physiotherapie schon während der laufenden HBO-Therapie begonnen wird [2].
zeigt sich eine statistische Häufung in der späten Pubertät und im jüngeren Erwachsenenalter, häufig mit Alkohol als Kofaktor, sowie in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren, hier im Zusammenhang mit kardialen Ereignissen [19, 20]. Wird der Beginn des Ertrinkens bei noch vollem Bewusstsein erlebt, kommt es zu einer initialen Panikreaktion, verbunden mit heftigsten, automatisch einsetzenden Schwimmbewegungen. Während des vollständigen Untertauchens erfolgt ein reflektorisches Atemanhalten, gleichzeitig werden häufig größere Mengen Flüssigkeit geschluckt. Infolge dessen kann es zum Erbrechen kommen, einhergehend mit einer unwillkürlichen Inspiration. Dies, oder die unwillkürliche Inspiration infolge eines maximalen Atemreizes nach längerem Luftanhalten, führt zur Aspiration zunächst kleinster Flüssigkeitsmengen, wodurch in der Regel ein Laryngospasmus ausgelöst wird. Der zunehmende Sauerstoffmangel mündet in eine Bewusstlosigkeit. In dieser Phase kann es erneut zur Aspiration kommen, weil der Laryngospasmus sich löst. Schließlich kommt es zu hypoxischen Konvulsionen und zum Tod [18, 19].
Intensivmedizinische Besonderheiten
73.2.2 Pathophysiologie des Er trinkungsunfalls
Es gibt außer den oben erwähnten Therapiemaßnahmen keine spezifischen Therapieoptionen oder speziellen medikamentösen Einflussmöglichkeiten. Andererseits sind sämtliche intensivmedizinischen Standardverfahren, soweit der Umstand sie erfordert, möglich und statthaft (z. B. Heparinisierung des immobilen Patienten). Bei massivem Gasblasenbefall im Rahmen einer AGE oder einer sehr schweren DCS Typ 2 kann es zur Rhabdomyolyse kommen, sodass nierenprotektive Maßnahmen und eine forcierte Diurese notwendig werden [15, 16]. Bei intubierten Patienten muss vor Beginn der Druckkammerbehandlung ein Pneumothorax sicher ausgeschlossen sein. Darüber hinaus sollte wegen der Unfähigkeit zum Druckausgleich eine Parazentese beidseits durchgeführt werden. Für den Intensivmediziner ist wichtig, dass der Tubuscuff während der Druckkammerbehandlung in der Regel mit Flüssigkeit geblockt werden muss (Aqua dest. oder NaCl 0,9%), um physikalisch bedingte Größenveränderungen eines luftgefüllten Cuffs während der Kompression (Undichtigkeit) oder Dekompression (Cuffruptur, Trachealruptur) zur vermeiden. Die Flüssigkeit muss nach den Behandlungen jeweils entfernt und der Cuff wieder mit Luft geblockt werden [11, 16, 17]. 73.2
Beinahe-Er trinken
> Definition Ertrinken und Beinahe-Ertrinken Nach derzeitiger Nomenklatur bezeichnet Ertrinken einen abgeschlossenen Vorgang, nämlich den Tod durch Ersticken nach Untertauchen in Flüssigkeit. Wird dieses Ereignis initial (auch unter Reanimationsmaßnahmen) für 24 h überlebt, handelt es sich um ein Beinahe-Ertrinken [18, 19].
73.2.1 Ursachen und Abläufe beim Er trinken Das Ertrinken ist weltweit ein Problem v. a. der jüngeren Lebensjahre, von dem Kleinkinder besonders betroffen sind. Daneben
Beim Ertrinken und Beinahe-Ertrinken ohne Aspiration, das in ca 15% der Fälle zu beobachten ist, ist die wahrscheinlichste Ursache ein Herzstillstand, der u. U. noch während des bestehenden Laryngospasmus eintritt. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt es jedoch während des Ertrinkens zur Aspiration zumindest kleiner Mengen an Flüssigkeit (in der Mehrzahl der Fälle deutlich weniger als 22 ml/kg KG; [18, 20, 21])
Salzwasserertrinken und Süßwasserertrinken Salzwasser ist im Vergleich zum Blut eine hypertone Flüssigkeit.
Aufgrund dieser Unterschiede in der Osmolarität bildet sich bei Anwesenheit von Salzwasser im Alveolarraum ein Diffusionsgradient aus, der zum Einstrom von Plasma aus dem Gefäß in die Alveolen führt. So kommt es in den betroffenen Alveolarabschnitten zu einem intraalveolären Lungenödem (. Abb. 73.3; [18, 20]). Süßwasser ist hingegen im Vergleich zum Blut hypoton. Auch hier bildet sich daher nach Aspiration ein Diffusionsgradient zwischen Alveole und Blutgefäß aus, allerdings entgegengerichtet. Der Ausstrom von Süßwasser aus den betroffenen Alveolarabschnitten hat ein Auswaschen von Surfactant mit Ausbildung von Atelektasen in den betroffenen Abschnitten zur Folge [18, 21]. Gleichzeitig kann sich aber beim Ertrinken in Süßwasser ein Lungenödem ausbilden [22]. Es ist noch nicht vollständig geklärt, warum es dazu kommt. Mögliche Ursachen sind eine Verletzung der Integrität der Alveolarwand durch das Auswaschen des Surfactants, eine initiale, vorübergehende Hypervolämie der pulmonalen Strombahn und möglicherweise auch ein entzündliches Lungenödem [23].
Weitere Pathophysiologie und klinisches Erscheinungsbild Obwohl der Unterscheidung in Süß- und Salzwasserertrinken für längere Zeit größte Wichtigkeit zugeordnet wurde, konnten die ursprünglich postulierten Veränderungen (z. B. ausgeprägte Elektrolytverschiebungen, massive Hämolyse u. a.) bei Klinikaufnahme, bis auf wenige Ausnahmen, nie in dem postulierten Maße beobachtet werden. Eine Unterscheidung in Süßwasser-
939 73.2 · Beinahe-Er trinken
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sache dafür liegt in der, verglichen mit Luft, höheren Wärmeleitfähigkeit von Wasser, die beim Opfer zu einer vermehrten und beschleunigten Auskühlung führen kann [20]. Eine Absenkung der Körpertemperatur erhöht jedoch die Wiederbelebungszeit, sodass bei einer notwendigen Herz-Lungen-Wiederbelebung mit scheinbarer Erfolglosigkeit keinesfalls mit den Maßnahmen aufgehört werden darf, ehe der Patient normotherm ist, da bei niedrigen Körpertemperaturen auch nach längerer Zeit noch erfolgreich wiederbelebt werden kann [21]. Dies betrifft v. a. Kinder, die wegen des Verhältnisses von Körperoberfläche zu Körpervolumen besonders rasch auskühlen und bei denen erfolgreiche Wiederbelebungsmaßnahmen nach Submersionszeiten von bis zu 66 min beschrieben werden [22]. Unter besonders günstigen Bedingungen gilt dies auch für Erwachsene. Allerdings hängt das Ausmaß einer solchen Unterkühlung von vielen Faktoren ab. Ganz wesentlich für den Grad der Hypothermie ist die Temperatur des Wassers, aber auch die Menge der aspirierten und geschluckten kalten Flüssigkeit, das Verhältnis von Körperoberfläche zu Körpervolumen (s. oben) [20] sowie die Isolation der betreffenden Person.
Wirbelsäulenverletzungen
. Abb. 73.3. Pathophysiologie der Abläufe beim Ertrinken. Obwohl initial pathophysiologisch völlig unterschiedlich, ist die endgültige Konsequenz sowohl des Ertrinkens im Süsswasser als auch im Salzwasser ein Verlust von Gasaustauschfläche und eine Oxygenierungsstörung mit Ausbildung einer mehr oder minder schweren Hypoxie, die in schweren Fällen zum hypoxisch bedingten Multiorganversagen führt
und Salzwasserertrinken ist daher aus heutiger Sicht, zumindest für die Therapie, von geringer Bedeutung. Tatsächlich ist bei allen Betroffenen eine mehr oder minder stark ausgeprägte Hypoxie nachweisbar [18, 20, 21]. Eine solche Hypoxie tritt unmittelbar nach Aspiration von Flüssigkeit ein. Schon bei der Aspiration einer kleinen Menge von nur 1–2,2 ml/ kg KG Flüssigkeit in die Lunge sind ausgeprägte Veränderungen des arteriellen Sauerstoffgehalts zu beobachten. Im Gegensatz zum Ablauf ohne Aspiration, bei der eine Hypoxie relativ rasch durch Beatmung und Wiederherstellung eines Kreislaufs beseitigt wird, persistiert die Hypoxie bei Zustand nach Aspiration über längere Zeit [24]. Die Ursache liegt in der Ausbildung pulmonaler Rechts-links-Shunts, die eine venöse Beimischung im arteriellen System zur Folge haben. Die Ursache ist der beschriebene Verlust von Gasaustauschfläche als Folge der Flüssigkeitsaspiration. In jedem Fall ist am Ende ein Lungenödem, ein Verlust von Gasaustauschfläche, ein Rechtslinks-Shunt und eine Abnahme der Compliance der Lunge zu beobachten (. Abb. 73.3; [18, 25]).
Hypothermie In vielen Fällen von Beinahe-Ertrinken findet sich begleitend eine mehr oder minder stark ausgeprägte Hypothermie. Die Ur-
Bei Badeunfällen, die mit der Symptomatik Ertrinken/BeinaheErtrinken einhergehen, ist an die Möglichkeit knöcherner Verletzungen der Wirbelsäule, speziell der Halswirbelsäule, zu denken. Gerade bei jüngeren Menschen und einem Unfallgeschehen in Ufernähe ist dem Ereignis nicht selten ein (Kopf-)sprung ins Wasser vorausgegangen, der zu der typischen Verletzung geführt haben kann. Hier ist zu bedenken, dass es sowohl primär zur Schädigung von Nerven und Rückenmark gekommen sein kann, die dann zum Beinahe-Ertrinken führten, oder aber dass es zur irreversiblen Nervenschädigung erst durch Luxationen der Fraktur gekommen ist, die die Folge zu starker Manipulationen bei der Rettung waren. Bei Verdacht (Geschehen ufernah, anamnestisch Sprung oder Sturz ins Wasser) ist daher entsprechende Vorsicht angezeigt, und es sollte eine Stabilisierung der Halswirbelsäule erfolgen [28].
Neurologische Störungen Neben den bislang beschriebenen pathophysiologischen Veränderungen tritt bei zahlreichen Beinahe-Ertrunkenen ein mehr oder weniger schweres Hirnödem auf [29], sehr wahrscheinlich als Reaktion auf eine zerebrale Hypoxie. Abhängig vom Ausmaß und der Dauer der zerebralen Hypoxie, aber auch von der Körpertemperatur während der hypoxischen Episode, kann daher eine Hirnschädigung unterschiedlichster Ausprägung die Folge sein. Insgesamt kann der neurologische Zustand eines Patienten nach Beinahe-Ertrinken über einen weiten Bereich variieren. Um hier eine gewisse Vergleichbarkeit und Systematik zu ermöglichen, wurde u. a. eine Klassifizierung vorgeschlagen, die den neurologischen Zustand in die Kategorien A, B und C einteilt und praktikabel ist (. Tab. 73.2; [30]).
Sekundäres Ertrinken Als Folge eines zunächst überlebten Beinahe-Ertrinkens kann sich der Zustand des Patienten rasch verschlechtern, zum einen bedingt durch den beschriebenen Sachverhalt (früher auch sekundäres Ertrinken genannt), aber auch durch eine entzündliche Reaktion der Lunge, die in ein ARDS und in ein Multiorganversagen münden kann [22].
940
73
Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
. Tabelle 73.2. Klassifikation des neurologischen Status bei Beinahe-Ertrunkenen Kategorie
Subkategorie
Entspricht Glasgow Coma Scale
Beschreibung
A
Keine
15
»Awake« (= wach)
B
Keine
10–13
»Blunted« (= eingetrübt) 4 Lethargie 4 Desorientiertheit 4 Agitiertheit 4 gerichtete Schmerzabwehr
C
Abhängig von motorischer Antwort C1
3–5 5
C2
4
C3
3
»Comatose« (= komatös) 4 Dekortiziert 4 Beugesynergismen auf Schmerzreiz 4 Cheyne-Stokes-Atmung 4 Dezerebral 4 Strecksynergismen auf Schmerzreiz 4 Keine Reaktionen auf Reizung
73.2.3 Therapie
Präklinische Maßnahmen Wichtig ist schnelle Rettung! Dazu müssen Verunfallte rasch an die Wasseroberfläche gebracht werden. Der Transport an Land bzw. in ein Boot muss ebenfalls schnellstmöglich erfolgen. Falls nötig, muss dort umgehend mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen werden. Wegen des beschriebenen Verlustes von Gasaustauschfläche und der vermehrten venösen Beimischung sollte die Beatmung des Verunfallten mit einer FIO2 von 1,0 erfolgen [18–20]. Die Indikation zur Intubation sollte möglichst großzügig gestellt werden, weil zum einen mit einer plötzlichen drastischen Verschlechterung des Zustands gerechnet werden muss und zum anderen die Beatmung mit erhöhten endexspiratorischen Drücken (PEEP) einen günstigen Einfluss auf den Verlauf hat (. Abb. 73.4). Keinesfalls soll Zeit mit dem Versuch vergeudet werden, Wasser aus der Lunge des Verunfallten zu entfernen, wobei eine Absaugung des Rachenraumes vor der Intubation jedoch sehr häufig notwendig ist, da u. U. nur so geeignete Intubationsbedingungen geschaffen werden können. Darüber hinaus sollte nach Intubation und initialer Blähung der Lunge intratracheal abgesaugt werden, um evtl. vorhandenen Schaum oder auch Aspirat aus der Trachea und den Bronchien zu entfernen. Neben der frühzeitigen Intubation sollte rasch ein venöser Zugang geschaffen werden. Des Weiteren sollte so bald wie möglich eine kontinuierliche EKG-Überwachung und v. a. eine pulsoxymetrische Überwachung erfolgen. Im Verlauf des Ertrinkens werden regelhaft größere Flüssigkeitsmengen verschluckt. Entsprechend ist mit einem prall gefüllten Magen zu rechnen. Dadurch wird einerseits die Aspirationsgefahr erhöht und andererseits eine adäquate Beatmung behindert. In vielen Fällen ist es zwar schon vor Beginn der Rettungsmaßnahmen zur Aspiration auch von Erbrochenem gekommen, dies kann jedoch auch während der Rettungsmaßnahmen wiederholt geschehen. Nach adäquater Primärversorgung, Sicherung der Atemwege und Stabilisierung des Zustandes sollte daher der Magen über eine Sonde entlastet werden. Die medikamentöse Wiederbelebung erfolgt nach den Empfehlungen des European Resuscitation Council (ERC) [31]. Hier-
bei ist jedoch zu bedenken, dass bei stärkerer Unterkühlung die Wirkung der Notfallmedikamente verzögert einsetzen kann und dass unter den Bedingungen der Hypothermie die Flimmerschwelle des Herzens verschoben ist. i Wegen der bereits beschriebenen Neigung zur plötzlichen Verschlechterung des Zustandes müssen die Geretteten ständig überwacht werden.
Es gilt daher für jeden Fall von Beinahe-Ertrinken, dass neben einer guten und v. a. raschen Erstversorgung für einen ebenso raschen Transport in ein Krankenhaus gesorgt werden muss. Dies gilt sowohl für Verunfallte, bei denen Herz-Lungen-Wiederbelebung notwendig war, als auch bei jenen, die spontan atmend, evtl. sogar neurologisch und pulmonal unauffällig gerettet werden konnten. In jedem Fall ist die stationäre Überwachung angezeigt, bei entsprechender Symptomatik auf einer Intensivstation, da es wegen der Lungenschädigung noch Stunden bis Tage nach dem Ereignis zu einer plötzlichen Verschlechterung des Zustandes kommen kann.
Klinische Versorgung Die klinische Versorgung richtet sich ganz wesentlich nach dem Zustand des Patienten. Während bei problemlosen Verläufen bei Patienten der Kategorie A (. Tab. 73.2) eine reine Überwachung angezeigt sein kann, erfordern Patienten der Kategorie B zumindest die intensivmedizinische Überwachung und Patienten der Kategorie C eine forcierte intensivmedizinische Behandlung. Bei diesen komatösen Patienten ist neben einer effektiven Wiedererwärmung und der Behandlung der pulmonalen Störungen auch der Versuch der zerebralen Wiederbelebung angezeigt. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht die Normothermie anzustreben, sondern eine milde Hypothermie hat sich als günstig erwiesen [31]. Unter klinischen Bedingungen sollten die Patienten der Kategorien B und C ein er weitertes Monitoring erhalten, sodass sich die Therapie an den damit erhobenen Parametern orientieren kann. Dazu gehört je nach klinischer Situation eine arterielle Kanülierung, sodass Blutgase und Elektrolyte regelmäßig bestimmt und der Blutdruck kontinuierlich gemessen werden können, weiterhin ein zentraler Venenkatheter zur Applikation von Katecholaminen und zur Abschätzung der Volumensituation.
941 73.2 · Beinahe-Er trinken
73
. Abb. 73.4. Flussdiagramm bei Beinahe-Ertrinken. Neben einer raschen Rettung sind bei allen Patienten nach Beinahe-Ertrinken die Sauerstoffgabe und die stationäre Überwachung erforderlich. In Fällen mit objektivierbarer pulmonaler Beeinträchtigung ist eine frühe Intubation gerechtfertigt, der Sauerstoffgehalt des Inspirationsgases sollte hier höchstmöglich sein. Schwere Fälle benötigen eine intensivmedizinische Überwachung und Versorgung
Da bei ausgeprägter zerebraler Hypoxie mit einem Hirndruckanstieg zu rechnen ist, sollte v. a. beim komatösen Patienten das Anlegen einer Hirndrucksonde erwogen werden [32]. Darüber hinaus sollte eine möglichst genaue Überwachung der Körpertemperatur mit Einhaltung einer milden Hypothermie (32– 34°C entsprechend den aktuellen Empfehlungen des ERC) in der frühen Phase erfolgen [31], ebenso das Legen eines Blasenkatheters. Als weitere diagnostische Maßnahme ist die Röntgenkontrolle der Lunge angezeigt; CT- oder NMR-Untersuchungen sind in der Frühphase hingegen nicht zwingend notwendig. Bei ungeklärter Ursache für das Ertrinken, z. B. bei lautlosem Untergehen im Wasser, ist zum Ausschluss internistischer oder neurologischer Erkrankungen ggf. die Diagnostik mittels EKG, EEG sowie abdomineller Sonographie angezeigt. Die Infusionstherapie richtet sich nach dem klinischen Bild und der Hämodynamik. Initial kann es notwendig sein, ein gewisses Flüssigkeitsdefizit auszugleichen, weil, wie oben beschrieben, durch Flüssigkeitsverschiebungen in das Gewebe und in die Lunge eine relative Hypovolämie vorliegen kann [33]. In der Folge sind jedoch häufig eine Volumenrestriktion und die Gabe von Diuretika oder osmotisch wirksamen Infusionslösungen notwendig, um das Hirn- und Lungenödem zu behandeln. Auch die respiratorische Therapie richtet sich nach dem klinischen Bild. Hier ist sowohl die alleinige supplementäre Gabe
von Sauerstoff beim spontan atmenden Patienten als auch die Behandlung eines schweren ARDS denkbar. Es sei auf die entsprechenden Kapitel zur Respiratortherapie verwiesen (7 Kap. 36‒41). Die Gabe von Surfactant nach Beinahe-Ertrinken ist wegen der sehr widersprüchlichen Datenlage derzeit allenfalls als Ultima ratio in sehr schweren Fällen in Betracht zu ziehen [34]. Die medikamentöse Therapie richtet sich ebenfalls nach den klinischen Erfordernissen und allgemeinen intensivmedizinischen Therapieprinzipien. Nicht selten entwickelt sich infolge eines Beinahe-Ertrinkens eine Pneumonie, die entsprechend antibiotisch behandelt werden muss. Es sollte jedoch keine blinde Prophylaxe erfolgen, sondern erst bei positivem Erregernachweis gezielt behandelt werden [35]. 73.2.4 Prognose nach Beinahe-Er trinken Die Prognose nach Beinahe-Ertrinken hängt ganz wesentlich von der Dauer der Hypoxie und der Ausprägung der neurologischen Schädigung ab. Während Patienten, die mit Kategorie A (. Tab. 73.2) klassifiziert wurden, das Ereignis in der Regel ohne bleibende Ausfälle überleben, ist die Überlebensrate bei Patienten der Kategorie B schon leicht verringert, auch kann es bei den Überlebenden zu neurologischen Dauerschäden kommen. Von
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
den mit C klassifizierten Patienten sterben trotz initialem Überleben 30–40%; bei den Überlebenden ist eine bleibende neurologische Beeinträchtigung durchaus wahrscheinlich. Die Dauer der Hypoxie gehört zu den wichtigsten prognostischen Faktoren. Bei Beinahe-Ertrunkenen ist daher absolute Eile bei der Behebung einer Hypoxie geboten. Wegen der spezifischen pathophysiologischen Veränderungen sollte dabei die initiale FIO2 so hoch wie möglich sein [36].
73.3
Unterkühlung (Hypothermie)
> Definition Unterkühlung (Hypothermie) Der menschliche Körper hat die Fähigkeit, seine Körpertemperatur auch bei Schwankungen der Umgebungstemperatur konstant bei etwa 37°C zu halten. Unterkühlung (Hypothermie) ist daher streng genommen definiert als Abfall der Körperkerntemperatur unter diesen Bereich, der aber naturgemäß in Grenzen Schwankungen unterliegt. Klinisch wird daher dann von Hypothermie gesprochen, wenn die Körperkerntemperatur des Patienten unter 35°C liegt [37–40].
73.3.1 Pathophysiologie
ßerdem kann es zu einer ödematösen Schwellung des Alveolarepithels bis hin zur Entwicklung eines Lungenödems kommen, das den Gasaustausch weiter erschwert. Gleichzeitig besteht eine Reduktion der Stoffwechselvorgänge, die einerseits die protektive Wirkung einer Hypothermie erklärt, andererseits wird u. a. die Abbaurate von Medikamenten vermindert [26, 37–40]. Bei höhergradigem Abfall der Körpertemperatur entwickelt sich eine zunehmende Bewusstseinstrübung bis hin zum Koma. Hierdurch wird bei intoxikierten und/oder traumatisierten Patienten die neurologische Einschätzung erschwert. Durch eine verminderte Freisetzung von Insulin und eine periphere Insulinresistenz kommt es außerdem regelhaft zur Hyperglykämie, die unter Wiedererwärmungsmaßnahmen aber meist rückläufig ist, sodass eine Insulingabe im hypothermen Zustand beim wiedererwärmten Patienten zur Hypoglykämie führen kann. Daher sollte die Gabe von Insulin bei hypothermen Patienten unterbleiben [37–40]. Darüber hinaus ist auch die Gerinnung gestört, wobei einerseits die Thrombozytenfunktion vermindert ist, es andererseits aber zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) kommen kann. Da die entsprechenden laboranalytischen Methoden meist bei 37°C durchgeführt werden, ist eine Detektion im Kliniklabor nicht immer möglich [26]. Schließlich führt die schwere Hypothermie über einen Abfall der glomerulären Filtrationsrate und des renalen Blutflusses zu einer Oligo- oder Anurie.
Stadieneinteilung der Hypothermie Ursachen der akzidentellen Hypothermie Zur Hypothermie kommt es dann, wenn die Wärmeabgabe des Körpers für längere Zeit die Wärmeproduktion übersteigt oder die Wärmeabgabe so rasch erfolgt, dass eine Aufrechterhaltung der Homöostase nicht möglich ist (z. B. Eiswasserertrinken) [37, 40]. Wesentliche Kofaktoren sind bei diesem in Mitteleuropa eher seltenen Krankheitsbild Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychiatrische Erkrankungen, Ertrinkungsunfälle, Lawinenunglücke, Bootsunfälle im Küstenbereich und schwere Traumen. Bei Erwachsenen ist der Alkohol- und Drogenmissbrauch die führende Ursache, während bei Kindern häufiger als Auslöser Ertrinkungsunfälle vorliegen [26].
Pathophysiologische Veränderungen bei Hypothermie Eine Hypothermie wirkt sich auf alle wesentlichen Organsysteme aus. Im frühen Stadium versucht der Körper, weitere Wärmeverluste zu minimieren und die endogene Wärmeproduktion zu erhöhen. Es kommt daher zunächst zur Sympathikusaktivierung mit peripherer Vasokonstriktion, Tachykardie und einer Steigerung des Herzzeitvolmens (HZV) sowie einer Zunahme der Atemfrequenz. In diesem frühen Stadium tritt zudem häufig eine Kältediurese auf [26, 37, 39]. Sinkt die Körpertemperatur weiter ab, stehen wärmekonservierende Maßnahmen im Vordergrund. Es kommt nun zu einer Bradykardie und einem Abfall des HZV, bei weiteren Wärmeverlusten zur Asystolie und Kammerflimmern. Unter bereits moderater Hypothermie können atriale und ventrikuläre Arrhythmien und typische EKG-Veränderungen (»J-Wellen«) beobachtet werden. Die PQ- und QT-Zeiten sind verlängert, der QRS-Komplex ist verbreitert [37–40]. Atemfrequenz, Atemzugvolumen und das Sauerstoffangebot nehmen ab, und es bildet sich eine zunehmende Azidose aus. Au-
Je nach Grad der Unterkühlung kommt es entsprechend den beschriebenen pathophysiologischen Veränderungen zu unterschiedlichen Reaktionen, sodass in ein Erregungsstadium (milde Hypothermie), Erschöpfungsstadium (moderate Hypothermie) und Lähmungsstadium (tiefe Hypothermie) unterschieden werden kann [37–40]. 4 Beim Erregungsstadium mit milder Hypothermie (Körperkerntemperatur 37‒34°C) kommt es zu psychischer Erregung und unwillkürlichem Muskelzittern. Die Atmung ist vertieft, die Haut wegen einer Vasokonstriktion in der Peripherie blass. Durch Kälte und verminderte Durchblutung sind Schmerzen an den Akren möglich, im weiteren Verlauf bei persistierender Kälteexposition auch Erfrierungen. 4 Fällt die Körpertemperatur weiter, kommt es bei moderater Hypothermie zum Erschöpfungsstadium (Kerntemperatur 27‒34°C), mit Bewusstseintrübung bis zur Bewusstlosigkeit, Bradykardie unterschiedlicher Ausprägung, Muskelsteife ohne Muskelzittern und zu einer flachen, unregelmäßigen Atmung. Diese Symptome sind umso ausgeprägter, je tiefer die Körpertemperatur ist, und stellen bereits eine ernste Lebensbedrohung dar. Bei einem ausgeprägten Erschöpfungsstadium ist der Unterkühlte unter keinen Umständen mehr zur Selbstrettung in der Lage, muss also gerettet werden. 4 Bei schwerer Hypothermie kommt es zum Lähmungsstadium (Kerntemperatur unter 27°C) mit Bewusstlosigkeit, Muskelstarre, Sistieren der Atembewegungen und (u. U. auch zentral) nicht mehr tastbarem Puls. 73.3.2 Notfallmaßnahmen bei Hypothermie In allen Fällen sind eine rasche Rettung und die Vermeidung weiterer Wärmeverluste wichtig.
943 73.3 · Unterkühlung (Hypothermie)
. Abb. 73.5. Flussdiagramm der Hypothermiebehandlung. (Mod. nach den Empfehlungen der AHA)
73
944
73
Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
Kernpunkte der präklinischen Behandlung sind v. a. die Überwachung und Stabilisierung der Vitalfunktionen sowie die Verhinderung weiterer Auskühlung (. Abb. 73.5; [41]). Einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose hat auch der Bergevorgang an sich, denn bei fehlerhafter Rettung kann es zum plötzlichen Kreislaufstillstand (»Bergetod«) kommen. Die Hauptursache ist hier der sog. Afterdrop mit einem weiteren Abfall der Körpertemperatur nach beendetem Kälteaufenthalt durch Zustrom kalten Blutes aus der Peripherie und Abstrom vergleichsweise warmen Blutes aus dem Kern. Dieser Mechanismus wird durch falsche Lagerung beim und nach dem Bergen und durch falsche Wiedererwärmungsmaßnahmen hervorgerufen. Außerdem kann es beim Afterfall zum Kreislaufzusammenbruch während und nach dem Bergen kommen. Bei sämtlichen Rettungsund Transportmaßnahmen sind die Verunfallten daher streng waagerecht zu lagern und möglichst wenig zu bewegen [37–41]. Obwohl die exakte Bestimmung der Körpertemperatur in dieser Phase wünschenswert wäre, ist dies in der Praxis kaum durchführbar. Zum einen werden dafür spezielle, auch niedrige Körpertemperaturen messende Thermometer benötigt, zum anderen sind die zur Verfügung stehenden Verfahren nicht genau genug. Speziell bei Ertrinkungsopfern ist zudem das Verfahren der tympanalen Temperaturmessung, systembedingt, ungeeignet [42].
Notfallmaßnahmen entsprechend dem Unterkühlungsstadium Bei Unterkühlten im Erregungsstadium steht die rasche Wiedererwärmung im Vordergrund. Nasse Kleidung muss ggf. schnellstmöglich gegen trockene und warme ausgetauscht werden; zusätzlich werden wärmende Decken angewandt (passive externe Wiedererwärmung). »Warm-packs« oder Hiebler-Packungen am Körperstamm sind sinnvoll, bedürfen aber der Überwachung, da lokale Verbrennungen unbedingt vermieden werden müssen. In jedem Fall sollten die Verunfallten dieses Stadiums, wenn bewusstseinsklar, heiße Getränke verabreicht bekommen, keinesfalls jedoch Alkohol! Wegen des erhöhten Sauerstoffverbrauchs beim unwillkürlichen Muskelzittern ist Unterkühlten im Vollbild des Erregungsstadiums (heftigstes, unkontrolliertes Zittern) zusätzlich zu den Wärmeerhaltungsmaßnahmen Sauerstoff per Nasensonde oder Maske zu applizieren. Bei den Verunfallten mit ausgeprägterer Hypothermie ist, wie erwähnt, größtmögliche Vorsicht insbesondere bei allen Manipulationen und Lagerungen geboten, da sich anderenfalls der Zustand verschlechtern kann. Nasse Kleidung ist daher nur dann zu entfernen, wenn es ohne starke Manipulationen (z. B. durch Aufschneiden) möglich ist. Diese Patienten können aber durch Einhüllen in Rettungsfolie (Dampfsperre) und dann in Decken vor weiterer Auskühlung geschützt werden. Eine kardiopulmonale Reanimation darf keinesfalls wegen scheinbarer Erfolglosigkeit zu früh beendet werden, da bei niedrigen Körpertemperaturen auch nach längerer Zeit noch erfolgreich wiederbelebt werden kann. Allerdings ist bei einer Hypothermie unter 28°C Zurückhaltung mit Defibrillationsversuchen geboten, da sie meist frustran bleiben. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch das Ansprechen auf Notfallmedikamente nur zeitverzögert und deutlich abgeschwächt er folgt [26, 31, 41].
Im Vordergrund steht daher der schnellstmögliche Transport (ggf. unter Fortführung der mechanischen Wiederbelebungsmaßnahmen) in ein Krankenhaus mit Intensivstation bzw. bei kreislaufinstabilen Patienten in ein Zentrum mit kardiochirurgischer Abteilung. 73.3.3 Klinische Maßnahmen bei Hypothermie
In der Klinik steht die Stabilisierung des Patienten und die schonende Wiedererwärmung im Vordergrund, wobei insbesondere nach Kreislaufstillstand und Reanimation nicht die Normothermie, sondern initial eine milde Hypothermie von 32–34°C angestebt wird [31]. Eine Hyperthermie ist unbedingt zu vermeiden.
Die weitere Behandlung erfolgt nach den üblichen intensivmedizinischen Prinzipien, wobei eine kontinuierliche Kreislaufüberwachung und ggf. eine entsprechend angepasste Katecholaminund Volumentherapie von besonderer Bedeutung sind. Hierbei ist auch an nierenprotektive Maßnahmen und an eine forcierte Diurese zu denken. Außerdem sind engmaschig Blutgasanalysen und Elektrolytbestimmungen durchzuführen, u. a. weil es durch Zelluntergang zu massiven Anstiegen des Serumkaliumwertes kommen kann (was prognostisch sehr ungünstig ist) [40]. Die Körperkerntemperatur ist engmaschig und möglichst exakt zu überwachen. Hierfür eignen sich z. B. Temperatursonden, die im unteren Ösophagusdrittel platziert werden, Blasenkatheter mit Thermistor oder, bei entsprechender Indikation, auch ein Pulmonaliskatheter.
Ver fahren zur Wiederwärmung Als sinnvolle Wiedererwärmungsmethoden kommen nur solche in Frage, die effektiv Wärme übertragen, ohne bei Patienten mit Körperkerntemperaturen unter 30°C die Gefahr eines Afterdrops zu erhöhen. Sie sollten zudem möglichst breit verfügbar, einfach anzuwenden und so wenig invasiv wie möglich sein. Abhängig von der Ausprägung der Hypothermie, aber auch von der Bewusstseinslage und der Kreislaufsituation kommen die im Folgenden dargestellten Verfahren in Betracht.
Nicht-invasive Ver fahren zur Wiederwärmung Bei milder bis mäßig ausgeprägter Hypothermie und kreislaufstabilen Patienten kann eine nicht-invasive aktive externe Wiedererwärmung erfolgen. Bei diesem Verfahren werden v. a. konvektive Systeme, also Wärmedecken bzw. Warmluftgebläse eingesetzt. Auf diese Weise ist eine Wiedererwärmungsrate von ca. 0,5–1,0°C/h zu erreichen [43]. Die früher statt dessen durchgeführten Warmwasserbäder werden hingegen nicht mehr empfohlen, weil es hierdurch häufiger zu kardiovaskulären Komplikationen kommen kann [44]. Es ist zu beachten, dass die aktive externe Wiedererwärmung eine periphere Vasodilation mit Abfall des Systemgefäßwiderstandes und des arteriellen Blutdrucks auslöst, sodass eine entsprechende Volumen- und/oder Katecholamintherapie notwendig werden kann. Der Patient ist daher engmaschig zu überwachen. Ergänzend sollte erwärmtes und wasserdampfgesättigtes Atemgas zugeführt werden [45] und, obgleich nur gering effektiv, erwärmte Infusionslösungen [46].
945 Literatur
Invasive Ver fahren zur Wiederwärmung Bei höhergradiger Hypothermie werden invasivere Verfahren angewandt. Hierzu gehört die komplikationsträchtige (Aspirationsgefahr) wiederholte Magenspülung mit warmer Kochsalzlösung, bzw. die Anwendung spezieller Erwärmungssonden, die in den Ösophagus eingeführt werden. Traditionell ist auch die Peritonealspülung mit warmen Flüssigkeiten möglich, die zwar sehr invasiv, aber mit Wiedererwärmungsraten von bis zu 4°C/h recht effektiv sein kann [26]. i Als bei Patienten mit spontanem Kreislauf besonders effektiv und v. a. für Intensivstationen problemlos durchzuführen hat sich die Wiedererwärmung mit venovenösem Bypass und Apparaten zur Hämodialyse/Hämofiltration erwiesen [47].
Diese können zur Effizienzsteigerung zudem noch mit einem leistungsfähigen Infusionswärmer für hohe Flussraten gekoppelt werden, mit dessen Hilfe das zum Patienten zurückfließende Blut erwärmt wird. Es steht bei der Anwendung dieser Geräte zwar die Erwärmung im Vordergrund, dennoch ist simultan bei Bedarf (z. B. lebensbedrohliche Hyperkaliämie) auch die Hämodialyse bzw. -filtration möglich. i Bei Patienten mit hypothermiebedingtem Kreislaufstillstand ist hingegen die Wiedererwärmung mit der HerzLungen-Maschine die Behandlungsmethode der Wahl [48].
Gerade bei extremer Hypothermie mit therapierefraktärem Kammerflimmern oder Asystolie ist der Einsatz der Herz-Lungen-Maschine trotz des hohen Aufwands indiziert und kann zum Überleben des Betroffenen führen. Deshalb sollten solche Patienten primär in Zentren mit dieser technischen Möglichkeit transportiert werden. 73.3.4 Prognose Die Prognose ist für Patienten mit milder, aber auch mit moderater Hypothermie mit Temperaturen über 32°C, abhängig von Begleitverletzungen oder -erkrankungen, durchaus als gut zu bezeichnen. Bei Patienten mit schwererer Hypothermie und speziell mit Kreislaufstillstand ist die Prognose jedoch insgesamt sehr schlecht. Die Problematik liegt v. a. darin, dass vor Ort nicht festgestellt werden kann, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Hypothermie und Herz-Kreislauf-Stillstand besteht, oder ob primär der Tod eingetreten und es dann sekundär zur Auskühlung gekommen ist.
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73
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Beinahe-Ertrinken, Unterkühlung
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XII
Operative Intensivmedizin
74
Intensivtherapie schwerer abdominalchirurgischer Krankheitsbilder –949
75
Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
76
Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
77
Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen
78
Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung –1005
–969 –987 –997
74 Intensivtherapie schwerer abdominalchirurgischer Krankheitsbilder E. Klar, A. Pertschy, K.-W. Jauch, W.H. Hartl
74.1
Einleitung: Besonderheiten der organsuppor tiven Therapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen –950
74.2
Postoperative Darmparalyse und Ileus – hypomobile Motilitätsstörungen –950
74.2.1 74.2.2
Mechanischer Ileus –950 Paralytischer Ileus –951
74.3
Ischämie viszeraler Organe
74.3.1 74.3.2
Ätiologie –955 Diagnostik und Therapie –955
74.4
Sekundäre Peritonitis
74.4.1 74.4.2
Diagnose –955 Therapie –955
74.5
Akute Pankreatitis
74.5.1 74.5.2 74.5.3 74.5.4 74.5.5 74.5.6
Stellenwert der chirurgischen Therapie –958 Stellenwert einer prophylaktischen Antibiotikatherapie –959 Enterale Ernährung –960 Biliäre Pankreatitis –961 Chirurgische Konzepte –961 Stellenwert interventioneller Techniken –961
74.6
Abdomielles Kompartmentsyndrom
74.6.1 74.6.2 74.6.3 74.6.4
Definitionen und Klassifikation –962 Pathophysiologie –963 Diagnostik –964 Therapiemaßnahmen und Prävention –964
Literatur
–966
–955
–955
–958
–962
74
950
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
74.1
Einleitung: Besonderheiten der organsuppor tiven Therapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen W.H. Hartl
Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen kann aus 2 Gründen erforderlich sein: 4 Im Rahmen postoperativer primärer Organfunktionsstörungen (kardiopulmonale/zirkulatorische Insuffizienz) können bei abdominalchirurgischen Patienten organsupportive Therapiemaßnahmen notwendig werden, die aufgrund ihrer Aus- oder Nebenwirkungen an die Art der vorangegangenen Operation angepasst werden sollten. 4 Es können postoperativ schwere intraabdominelle Funktionsstörungen auftreten, die zur sekundären Organinsuffizienz führen und die eine intensivmedizinische Therapie erforderlich machen. Zu diesen spezifischen Funktionsstörungen zählen die Anastomoseninsuffizienz mit konsekutiver Peritonitis, intestinale Motitlitätsstörungen (mechanischer, paralytischer Ileus), das massive Darmwandödem mit Ausbildung eines abdominellen Kompartmentsyndroms und die Darmischämie bzw. Ischämie viszeraler Organe (Leber, Milz). 4 Nach Leberresektionen kann es zusätzlich durch Parenchymverlust zum primären Leberversagen kommen, nach Pankreasresektionen können Entzündungen des Restorgans auftreten.
Organsupportive Therapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen Im Rahmen der organunterstützenden Therapien besitzt die Kreislauftherapie die größte Bedeutung für die intensivmedizinische Behandlung nach Eingriffen an den viszeralen Organen. Die perioperative Flüssigkeitstherapie hat primär den Ausgleich perioperativer Verluste und die Konstanthaltung eines physiologischen Hydratationszustands sowie eines adäquaten intravasalen Volumens zum Ziel. Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass eine allzu großzügige postoperative Flüssigkeitszufuhr die postoperative Komplikationsrate und die Erholung der Darm- und Leberfunktion beeinträchtigen kann. Nach Manipulationen am Intestinaltrakt besteht ein erhöhtes Risiko für Ödeme in der Darmwand, das durch übermäßige Flüssigkeitszufuhr noch zusätzlich gesteigert wird. Stark ausgeprägte Darmwandödeme führen zu Motilitätsstörungen und Beeinträchtigungen der Wund-/Anastomosenheilung. Somit ist peri- und postoperativ ein engmaschiges Monitoring der Flüssigkeitsbilanz erforderlich, und es sollten hohe, nicht pathophysiologisch begründbare Infusionsvolumina vermieden werden (z. B. Zufuhr von >4500 ml Flüssigkeit während unkomplizierter Kolonresektionen, oder tägliche postoperative Plusbilanzen von >1000–1500 ml). Die postoperative Natriumzufuhr sollte ebenfalls nur bilanziert erfolgen. Nach Leberresektionen kommt es durch die Verringerung der Leberquerschnittsfläche regelhaft zu einem passageren Anstieg des Pfortaderdrucks. Ferner korreliert das perioperative Blutungsrisiko mit der Höhe des zentralen Venendrucks. i Die Vermeidung einer exzessiven perioperativen Flüssigkeitszufuhr nach Lebereingriffen reduziert die Morbidität durch eine niedrigere Transfusionspflichtigkeit und durch eine geringere intestinale Translokation von Toxinen und Mikroorganismen.
Spezifische postoperative Funktionsstörungen am Intestinaltrakt In den folgenden Abschnitten werden intensivmedizinische Probleme nach viszeralchirurgischen Eingriffen und chirurgischen Erkrankungen wie Anastomoseninsuffizienz, Peritonitis, Pankreatitis, und abdominelles Kompartmentsyndrom sowie Darmmotilitätsstörungen und Ischämie ausführlich dargestellt. 74.2
Postoperative Darmparalyse und Ileus – hypomobile Motilitätsstörungen
Bei der intestinalen Hypomotilität ist zwischen paralytischen und mechanischen Funktionsdefiziten zu unterscheiden. Aus chirurgischer Sicht umfassen paralytische Funktionsdefizite die Krankheitsbilder der funktionellen Magenentleerungsstörung, der postoperativen Darmatonie, des Ileus, der Pseudoobstruktion des Kolons und der Oberbauchatonie. Bei mechanischen Motilitätsstörungen ist zu trennen zwischen früh postoperativen Krankheitsbildern (<2 Wochen nach dem Eingriff), spät postoperativen Passagebehinderungen und schließlich operationsunabhängigen Obstruktionen. 74.2.1 Mechanischer Ileus
Diagnostik Zur Diagnostik des mechanischen Ileus sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Zielführend sind neben der allgemeinen klinischen Symptomatik (Reflux, Erbrechen, Distension, pathologische Peristaltik, Stuhlverhalt bei Dickdarmileus) die Anamnese des Patienten und bei unklaren Fällen die radiologische Bildgebung (Gastrografin-Passage, abdominelle Computerpomographie). Gerade die kontrastmittelgestützte CT-Diagnostik besitzt eine hohe Sensitivität und Spezifität (. Abb. 74.1). In unklaren Fällen und bei gleichzeitiger Entwicklung eines bedrohlichen
. Abb. 74.1. CT-Darstellung eines mechanischen Ileus. Der Pfeil weist auf den poststenotischen Kalibersprung hin
951 74.2 · Postoperative Darmparalyse und Ileus – hypomobile Motilitätsstörungen
74
Darmtätigkeit durch osmotisch wirksame Substanzen, wie z. B. Meglumin-Amidotrizoat (Gastrografin®). Durch entsprechend ausgelöste Dehnungsreize soll so dem Darm die Chance gegeben werden, spontan eine möglicherweise anatomisch reversible Obstruktion zu überwinden. Begleitend dazu kann eine entsprechende medikamentöse Stimulation der Darmtätigkeit (7 Kap. 74.2.2) versucht werden. Bei klinischer Verschlechterung (Auftreten bzw. Progression von Organfunktionsstörungen) ist jedoch die frühzeitige operative Intervention therapeutische Maßnahme der 1. Wahl. 74.2.2 Paralytischer Ileus
. Abb. 74.2. Konventionelle Röntgenaufnahme des Abdomens in Linkseitenlage bei kombiniertem Dick-/Dünndarmileus
Organversagens kann jedoch auch eine explorative Laparotomie zur Abklärung erforderlich sein.
Therapie Die Therapie des mechanischen Ileus erfordert ein hochdifferenziertes und auch zeitlich koordiniertes Vorgehen. Tritt ein mechanischer Ileus in den ersten 2 Wochen nach einem abdominalchirurgischen Eingriff auf (z. B. durch Bridenbildung, Torsionen, innere Hernien), so sollte mit einer operativen Revision nicht gezögert werden. Später im zeitlichen Verlauf oder operationsunabhängig ist beim mechanischen Ileus ein anderes Vorgehen möglich. Zusätzlich zu allgemeinen Maßnahmen, wie Legen einer Magensonde und begleitender Infusionstherapie, kann bei klinisch abgeschwächtem Verlauf über einen kurzen Zeitraum (1–2 Tage) ein kurzzeitiger konservativer Therapieversuch unternommen werden. Letzterer beinhaltet die mechanische Stimulation der
Diagnostik Die Diagnostik des paralytischen Ileus beruht zunächst auf dem Ausschluss eines mechanischen Geschehens und auf dem Vorliegen einer typischen Anamnese (Auslösung durch Medikamente oder intraabdominelle entzündliche Prozesse). Bildgebende Verfahren (Abdomenleeraufnahmen im Liegen oder in Linksseitenlage, Kontrastmittel-CT) sind insofern hilfreich, als sie eine Lokalisationsdiagnostik und eine Quantifizierung (Ausmaß der Überblähung) erlauben. Der paralytische Ileus kann sich entweder als kombinierter Dünn- und Dickdarmileus manifestieren (. Abb. 74.2), oder er kann isoliert nur das Kolon betreffen und dort das Krankheitsbild der sog. Pseudoobstruktion (OggilvieSyndrom) hervorrufen (. Abb. 74.3). Davon abzugrenzen ist das Bild der isolierten Oberbauchatonie (Magenentleerungsstörung).
Therapie Beim paralytischen Ileus ist eine aggressive Therapie angezeigt. Die Begründung dafür liegt zum einen darin, dass nur nach Beseitigung des paralytischen Ileus eine regelrechte und adäquate enterale Ernährung des Patienten möglich ist. Eine Wiederher-
. Abb. 74.3a, b. Pseudoobstruktion des Kolons. a Konventionelle Röntgenaufnahme des Abdomens in Rückenlage. b CT-Darstellung
952
74
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
stellung der Darmtätigkeit ist ferner mit einer Veränderung des intestinalen Keimspektrums verbunden. Dadurch verringert sich bei Intensivpatienten die intestinale Translokation mit Übertritt von Mikroorganismen bzw. deren Toxinen in die Blutbahn. i Beim Krankheitsbild der Pseudoobstruktion kann schließlich nur durch eine aggressive Therapie die immer gegebene Perforationsgefahr deutlich verringert werden.
Die Therapieprinzipien des paralytischen Ileus beinhalten im Wesentlichen 2 Ansätze, nämlich die kausale und die symptomatische Therapie. Grundsätzlich ist einer kausalen Therapie immer die höhere Priorität einzuräumen. So können septische intraabdominelle Infektherde bzw. ein ausgeprägtes SIRS zu klinisch relevanten intestinalen Motilitätsstörungen führen. Damit muss es primäres Ziel sein, das Ausmaß des SIRS durch entsprechende therapeutische Maßnahmen (z. B. rasche Stabilisierung von Frakturen nach Polytrauma) so gering wie möglich zu halten. Bei septischen Krankheitsbildern ist eine effiziente Fokussanierung mit konsekutiver Abschwächung der intraabdominellen Infektion zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Ileustherapie. Ein weiterer Aspekt der kausalen Therapie des paralytischen Ileus umfasst die Reduktion potenziell motilitätshemmender Medikamente, zu denen Opioide, Katecholamine und β2-Mimetika zählen. In Situationen, in denen das Krankheitsbild eines paralytischen Ileus mit der gleichzeitigen Applikation dieser Medikamente verbunden ist, muss jedoch in hohem Maße individuell entschieden werden, welchem therapeutischen Konzept (z. B. Reduktion der Katecholaminzufuhr oder Inkaufnahme eines fortbestehenden paralytischen Ileus) der Vorzug zu geben ist. Erst an 2. Stelle steht die symptomatische Therapie der hypomobilen Motilitätsstörungen. Die symptomatische Behandlung umfasst mechanische sowie pharmakologische Maßnahmen. Ziel der mechanischen Maßnahmen ist es, durch eine künstliche Überdehnung der Darmwand einen peristaltischen Reflex auszulösen, um dadurch die Darmfunktion wieder in Gang zu bringen. Dies kann bei der Oberbauchatonie durch intermittierendes Abklemmen der Magensonde mit konsekutivem Anstieg des intragastralen Volumens erreicht werden. Möglich ist auch die intermittierende Applikation kleiner Mengen von hochvisköser Nahrung (Weizengrieß mit Milch vermischt). Im Bereich des Dünndarms kann eine osmotische Therapie mit entsprechend wirksamen Substanzen (z. B. Gastrografin® oder Rizinus) zum Einsatz kommen. Bei distalen Motilitätsstörungen (Pseudoobstruktion des Kolons) sind Versuche lohnend, die Dickdarmmotilität mittels Einläufen (Hebe-Senk-Einläufe) zu stimulieren bzw. bei Perforationsgefahr koloskopisch Luft abzusaugen.
Pharmakologische Therapie Die pharmakologische Therapie des paralytischen Ileus beruht auf der neuronalen Physiologie der Darmmotilität. Die lokale Signalübertragung zur Steigerung der gastrointestinalen Motilität erfolgt im Bereich der motorischen Endplatte an der glatten Muskulatur des Intestinaltrakts. Das Grundprinzip gibt . Abb. 74.4 wieder. Die medikamentöse Behandlung des paralytischen Ileus beruht im Wesentlichen auf Substanzen, die antiperistaltische Reaktionen, z. B. als Rezeptorblocker, hemmen können oder die properistaltische Reaktion verstärken, sei es als Analoga endogener Properistaltika oder als Inhibitoren der Acetylcholinesterase.
. Abb. 74.4. Physiologie der Reizübertragung an der glatten Muskulatur des Gastrointestinaltraktes (Ach Acetylcholin)
. Abb. 74.5. Einfluss der periduralen Anästhesie auf die Darmmotorik: Unterbrechung des inhbitorischen somatoviszeralen Splanchnikusreflexes (Ach Acetylcholin)
Peridurale Blockade. Eine der effizientesten pharmakologischen Therapien der neuronal vermittelten Darmatonie besteht in der Unterbrechung des sog. somatoviszeralen Splanchnikusreflexes durch peridural applizierte Medikamente (Bupivacain, Fentanyl; . Abb. 74.5). Im Rahmen des somatoviszeralen Splanchnikusreflexes werden über somatische Afferenzen (aus dem Wundbereich) und viszerale Afferenzen (aus verletzten oder manipulierten Darmabschnitten) Signale über das Hinterhorn des Rückenmarks ins zentrale Nervensystem geleitet. Von dort laufen sympathische Efferenzen wieder zum Darm zurück und reduzieren an der Endplatte die Acetylcholinfreisetzung und in der Folge die Darmmotilität. Der afferente Schenkel dieses Reflexes lässt sich hoch effektiv durch peridurale Anästhesie unterbrechen, wodurch gerade in der postoperativen Situation die Darmmotilität deutlich verbessert werden kann. Motilinanaloga. Motilin ist ein Hormon, welches aus endokrinen Zellen im Bereich der duodenalen Mukosa zyklisch freigesetzt wird. Im Sinne eines enteroenterischen Reflexes bindet Motilin direkt an Rezeptoren der glatten Muskelzellen und erhöht dort durch Verstärkung des Kalziumeinstroms die Kontraktilität. Das Makrolidantibiotikum Erythromycin kann unabhängig von seiner antibiotischen Wirksamkeit als Motilinanalogon wirken (. Abb. 74.6). Bei parenteraler Applikation bewirkt Erythromycin (70–200 mg Bolus) eine relevante Verkürzung
953 74.2 · Postoperative Darmparalyse und Ileus – hypomobile Motilitätsstörungen
. Abb. 74.6. Wirkungsweise von Motilin/Motilinanaloga am Gastrointestinaltrakt
der Magenentleerung nach einmaliger, aber auch wiederholter Gabe. Aufgrund der Rezeptorlokalisation ist Erythromycin jedoch nicht zur Ileustherapie geeignet. Zu bedenken ist ferner, dass bei Patienten mit vorbestehender QT-Intervallverlängerung relevante Nebenwirkungen, insbesondere ventrikuläre Arrhythmien, auftreten können. Bei der Verabreichung von Erythromycin zur Therapie der Oberbauchatonie ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass diese Substanz derzeitig nicht für eine solche Therapie zugelassen ist und somit nur ein »off-label use« in Frage kommt. Dopamin (D2)-Rezeptorantagonisten. Dopamin ist ein katecholaminähnlicher Neurotransmitter mit wichtigen regulativen Funktionen sowohl im zentralen wie auch im peripheren Nervensystem. Im enterischen Nervensystem werden Dopaminwirkungen über dem peripheren D2-Rezeptor am Oberbauch
74
. Abb. 74.7. Wirkungsweise von Dopamin/Dopamin (D2)-Rezeptorantagonisten am Gastrointestinaltrakt
vermittelt, über den die Acetylcholinfreisetzung am Endkolben reduziert wird, mit sukzessiver Einschränkung der intestinalen Motilität. Mehrere D2-Rezeptorantagonisten sind bekannt (Metoclopramid, Domperidon). Metoclopramid besitzt zusätzlich zu seiner Funktion als Dopaminantagonist eine intrinsische Fähigkeit zur Steigerung der Darmmotilität, und zwar durch Erhöhung der Empfindlichkeit des Acetylcholinrezeptors gegenüber Acetylcholin (. Abb. 74.7). Bei Gabe von 6-mal 10 mg Metoclopramid i.v./Tag lässt sich die Magenentleerung signifikant verkürzen. Metoclopramid ist gegenwärtig zur Therapie von Funktionsstörungen des oberen Magen-Darm-Traktes zugelassen. Es muss jedoch mit Nebenwirkungen, insbesondere extrapyramidalen Symptomen, gerechnet werden. Domperidon ist ebenfalls zur Therapie von Magenentleerungsstörungen zugelassen. Domperidon ist nur enteral appli-
. Abb. 74.8. Wirkungsweise der Acetylcholinesterasehemmer am Intestinaltrakt (Ach Acetylcholin)
954
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
74
. Abb. 74.9. Wirkungsweise von Cholezystokinin/Cholezystokinin-Analoga am Intestinaltrakt (Ach Acetylcholin)
zierbar, besitzt jedoch im Vergleich zu Metoclopramid den Vorteil, dass es die Blut-Hirn-Schranke nicht passiert und somit keine zentralnervösen Nebenwirkungen (wie z. B. Spätdyskinesien) hervorruft. Acetylcholinesterasehemmer. Ein anderer Ansatz zur Erhöhung der intestinalen Motilität besteht darin, den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt durch Hemmungen der Esterase zu reduzieren (. Abb. 74.8). Verfügbare Acetylcholinesterasehemmer sind derzeit Neostigmin und Distigmin. Neostigmin (2 mg Neostigmin i.v. über 5 min, 9,6 mg Neostigmin i.v. über 24 h) erhöht bei Patienten mit Pseudoobstruktion des Kolons oder auch im postoperativen Ileus die Darmmotilität signifikant. Die Applikation geringerer Mengen intramuskulär
(8-mal 0,5 mg über 24 h) ist nicht wirksam. Allerdings ist auch Neostigmin bisher nicht zur Therapie von Motilitätsstörungen zugelassen (mit der Notwendigkeit eines »off-label use«). Bei intravenöser Applikation kann es zu Bronchospasmen kommen, und es ist zusätzlich eine teilweise ausgeprägte Hypotonie- und Bradykardieneigung zu beachten, die bei kritisch kranken Patienten unter Therapie ein intensives Monitoring erfordert. Distigmin kann ebenfalls die Darmpassage signifikant beschleunigen und ist zur Therapie der postoperativen Darmatonie zugelassen. Zu berücksichtigen ist bei der Applikation die im Vergleich zu Neostigmin lange Halbwertszeit, die in der Regel die nur einmal tägliche Applikation einer Einzeldosis von 0,5 mg intramuskulär bedingt und die mit einer schlechten Steuerbarkeit verbunden ist. Cholezystokininanaloga. Cholezystokinin ist ebenfalls wichtiger Bestandteil des enteroenterischen Reflexes und wirkt über CCK1-Rezeptoren. Die Cholezystokininwirkung ist jedoch anatomisch unterschiedlich. Im oberen Gastrointestinaltrakt besteht eine Hemmung der Acetylcholinfreisetzung mit konsekutiver Verringerung der Motilität, während in weiter distalen Darmabschnitten die Acetylcholinfreisetzung und dadurch v. a. die Kolonmotilität relevant gesteigert werden können (. Abb. 74.9). Als einziges Cholezystokininanalogon steht derzeitig Ceruletid zur Verfügung. Ceruletid (10–20 μg entweder über 1 h i.v. oder 3-mal tgl. i.m.) kann die Darmpassage signifikant beschleunigen. Ceruletid ist derzeitig zur Therapie der postoperativen Darmatonie bzw. des paralytischen Ileus zugelassen. Zu berücksichtigen sind jedoch relevante Nebenwirkungen, wie die antiperistaltischen Effekte unter i.v.-Gabe am Oberbauch. Ferner zu
. Abb. 74.10a, b. CT-morphologische Zeichen der intestinalen Ischämie. a Subpleurale Lufteinschlüsse im linken Leberlappen (Pfeil). b Lufteinschlüsse in der Ileumwand (Pfeil)
74
955 74.4 · Sekundäre Peritonitis
beachten ist eine teilweise ausgeprägte Bradykardie- und Hypotonieneigung, die, ähnlich wie bei Neostigmin, insbesondere unter i.v.-Applikation eine engmaschige Überwachung des Patienten erfordert. 74.3
Ischämie viszeraler Organe
74.3.1 Ätiologie Die Ursachen für eine Darmischämie sind vielfältig. Abzugrenzen sind systemische Faktoren (Low-output-Syndrom, z. B. nach Myokardinfarkt in Verbindung mir peripher-arteriosklerotischen Veränderungen), von lokalen Auslösemechanismen. Zu Letzteren zählen Embolien oder arteriosklerostische Thrombosen im Bereich der mesenterialen Arterien, Mikrozirkulationsstörungen in der Darmwand (»non-occlusive disease«), und Thrombosen der mesenterialen Venen. 74.3.2 Diagnostik und Therapie Die spezifische Diagnostik dieser lebensbedrohlichen Komplikationen ist schwierig, und klinische Symptome sind in der Regel uncharakteristisch. Eine Erhöhung der Plasmakonzentrationen von Laktat und Kreatininkinase kann hinweisend sein, ist aber auf keinen Fall ausreichend sensitiv oder spezifisch. Klarere Hinweise ergeben sich nur durch die radiologische Bildgebung (Angio-CT), bei der sich als eindeutige Zeichen für einen Zusammenbruch der Mukosabarriere Luftansammlungen in der Darmwand und im Pfortaderstromgebiet nachweisen lassen (. Abb. 74.10). Auch spezifische mesenteriale Gefäßabbrüche sind diagnostizierbar. Bei einer derartigen Befundkonstellation ist die unverzügliche operative Revision als einzige Therapieform unumgänglich. Nach Eingriffen in der Leberpforte oder an der Leber selbst sind ebenfalls spezifische, akute chirurgische Komplikationen möglich. Diese bestehen in erster Linie in Perfusionsstörungen (Thrombosen der Pfortader oder der Leberarterien) und sind dringlich therapiebedürftig. Die Diagnostik besteht primär in der engmaschigen akuten postoperativen Überwachung der hepatischen Funktionsparameter (Plasmakonzetrationen der Leberenzyme und Indikatoren der Blutgerinnung). Bei einem akuten übermäßigen Anstieg der Leberwerte bzw. bei Abfall der Gerinnungsfaktoren ist nach entsprechenden Eingriffen immer eine Perfusionsstörung auszuschließen. Zur Diagnostik steht die farbkodierte Sonographie zur Verfügung, die eine semiquantitative Abschätzung des Pfortader- und Leberarterienflusses erlaubt. Bei unklaren Fällen ist die CT-Angiographie das diagnostische Verfahren der Wahl. Bei entsprechend pathologischen Befunden und bei relevanter Leberfunktionseinschränkung muss unverzüglich die chirurgische Revision als die Therapie der Wahl erfolgen. Postoperative Perfusionsstörungen der Milz (Milzinfarkte) sind in der Regel akut asymptomatisch und stellen oft Zufallsbefunde dar. Eine spezifische Therapie ist primär nicht erforderlich. Die Ursache der Infarkte ist jedoch abzuklären, da sich daraus evtl. therapeutische Konsequenzen ergeben, die die Prophylaxe von Durchblutungsstörungen in anderen viszeralen Organen betreffen.
Sekundäre Peritonitis
74.4
A. Pertschy, E. Klar Die Perforation eines gastrointestinalen Hohlorgans löst durch den Austritt von Magen-Darm-Inhalt eine Peritonitis aus, die unbehandelt meist in 2–3 Tagen zum Tod des Patienten führt. Eine Heilung ist nur möglich, wenn die Perforationsstelle verschlossen wird, entweder spontan durch Verklebung und Abdeckung durch die Nachbarorgane oder operativ. i Der klinische Verdacht auf das Vorliegen einer diffusen Peritonitis bedeutet die Indikation zur Operation mit absoluter Dringlichkeit (Notfalloperation) ohne Zeitverzug!
74.4.1 Diagnose Diagnostische Hilfsmittel (Röntgen, Sonographie etc.) können Indizien liefern, sollten aber nicht zum Zeitverzug in der Einleitung der Therapie führen. Zeitverzug bis zum Therapiebeginn verschlechtert die Prognose dieser immer systemisch verlaufenden Erkrankung. 74.4.2 Therapie
Herdsanierung Grundlegendes Ziel ist die Lebensrettung; darüber hinausgehende Interventionen, wie z. B. die Wiederherstellung der Darmkontinuität bei diffuser Peritonitis, führen zu einer Zusatzbelastung bzw. potenziellen Gefährdung des Patienten und stellen die Ausnahme dar. i Bei jeder sekundären Peritonitis sollte mit der Erstoperation immer der Herd saniert werden; die primär sanierten Patienten haben einen deutlichen Überlebensvorteil.
Eine diffuse Peritonitis wird offen chirurgisch angegangen mit dem Ziel der Herdsanierung und der Dekontamination durch Lavage. Auf der anderen Seite darf der Eingriff nicht zu limitiert sein. Oberstes Gebot muss die Herdsanierung bleiben. Erfolgt diese nicht primär beim Ersteingriff, kommt es zum drastischen Anstieg der Mortalität (. Tab. 74.1) Ganz anders ist das Vorgehen beim intraabdominellen Abszess, der wann immer möglich interventionell-radiologisch drainiert wird; die eigentliche Herdsanierung erfolgt nach Abklingen der Akutphase. . Tabelle 74.1. Mortalität im Vergleich bei primärer vs. sekundärer Herdsanierung Mortalität bei primärer Herdsanierung (%)
Mortalität bei sekundärer Herdsanierung (%)
Literatur
13
27
Seiler et al. (2000)
14
67
Billing et al. (1992)
0
63
Agalar et al. (2005)
956
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
Programmierte Relaparotomie vs. Revision »on demand«
74
In Fällen, bei denen eine abdominelle Herdsanierung durch den Ersteingriff nicht eindeutig sichergestellt ist, können grundsätzlich 2 chirurgische Konzepte zur Anwendung kommen: 4 Programmierte Relaparotomie: Der Operateur legt beim Ersteindriff (Indexoperation) fest, ob und in welchem Zeitabstand die Abdominalhöhle erneut revidiert und lavagiert wird. Entscheidend sind Alter und Ausprägung der Peritonitis. 4 Relaparotomie »on demand«: Die Indikation wird im weiteren Verlauf am klinischen Bild des Patienten gestellt. Entscheidend sind ansteigende Entzündungsparameter und insbesondere das Auftreten oder die Verschlechterung sekundärer Organkomplikationen. Über beide Verfahren besteht seit vielen Jahren eine Pro-undKontra-Debatte. Für das programmierte Vorgehen wird angeführt, dass der abdominelle Zugang unkompliziert ist und eine hohe Sicherheit der Herdkontrolle gewährleistet werden kann. Dagegen sprechen die Induktion eines iatrogenen SIRS mit jedem neuen Eingriff sowie chirurgische Folgekomplikationen wie Narbenhernien, Fistelbildungen und Blutungen. Für das On-demand-Verfahren sprechen eine Vermeidung repetitiver Operationstraumata sowie eine geringere Ausbildung von Narbenhernien, dagegen wird angeführt, dass der abdominelle Zugang erschwert sein kann, wenn nach einigen Tagen bereits entzündliche Adhäsionen aufgetreten sind. Es besteht dann die Gefahr der verzögerten Herdkontrolle (Bosscha et al. 1999; Seiler et al. 2000; Teichmann et al. 1986). Die Studienlage zum Vergleich der beiden Verfahren ist sehr eingeschränkt. Es finden sich überhaupt nur 5 prospektive Studien, eine Randomisierung fehlt vollständig. Die Patienten wurden jeweils vom Indexoperateur dem einen oder anderen Verfahren zugeordnet. Lamme et al. (2004) unterstreichen eine Tendenz, die sich in den meisten der zitierten Arbeiten wiederfindet: Der Indexoperateur tendiert dazu, eine Peritonitis mit höherem Schweregrad eher der Gruppe der programmierten Reoperation zuzuordnen, während Patienten mit geringer ausgeprägter Peritonitis eher mit On-demand-Verfahren behandelt werden. Die höhere Mortalität in der Gruppe programmiert behandelter Patienten von 36% gegenüber 21,8% »on demand« ist zwar signifikant unterschiedlich zum Nachteil des programmierten
Verfahrens, vor dem Hintergrund der Literaturanalyse muss jedoch der Umkehrschluss gezogen werden: Es wurden die Patienten mit der schwerer ausgeprägten Peritonitis dem programmierten Verfahren zugeordnet. Dies wird in der Arbeit von Lamme et al. (2004) deutlich durch den signifikant höheren Mannheimer Peritonitis-Index in der programmiert behandelten Patientengruppe und der starken Tendenz zur höheren Inzidenz diffuser Peritonitiden (73% vs. 50,9%, p=0,06). Das geringe Überwiegen der Metaanalyse von Lamme et al. (2004) in Richtung »favours on demand« darf somit nicht als absolute Entscheidungshilfe in der Auswahl der beiden Verfahren gewertet werden (Lamme et al. 2004). Es vertreten daher viele Chirurgen und wir selbst die Sichtweise, dass eine strenge Differenzierung beider Verfahren der Komplexität der Peritonitis nicht gerecht wird. Es sollte kein starres Schema in der Differenzialtherapie vertreten werden, sondern beide Verfahren sollten befundadaptiert zur Anwendung kommen. . Abb. 74.11 stellt die chirurgische Therapie bei diffuser Peritonitis an unserer Klinik in einem gut dokumentierten Behandlungszeitraum dar (Klar et al. 2006). Es wird deutlich, dass die Mortalität auf 0 gesenkt werden kann, wenn beim Ersteingriff die Herdsanierung gelingt. Fast die Hälfte unserer Patienten wurde entsprechend dem on-demand-Konzept behandelt mit einer ersten Revision im Durchschnitt 6,6 Tage nach der Erstoperation und insgesamt 1,6 Revisionen. In der Gruppe der programmiert laparotomierten Patienten (29%) waren im Durchschnitt 2,2 Revisionen nötig, mit einer Hospitalisierung von insgesamt 35 Tagen. Wichtig ist die Feststellung, dass zwischen beiden Verfahren ein Wechsel der Strategie bei 16% der Patienten erfolgte. Ganz entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch die Feststellung, dass in allen Fällen, bei denen die Herdkontrolle primär nicht gelingt, ein programmiertes Behandlungskonzept durchgeführt werden sollte. Mulier et al. (2003) konnten eindeutig nachweisen, dass mittels On-demand-Verfahren eine sekundäre Herdkontrolle nur in 43% überhaupt gelungen ist, bei einer 100%igen Mortalität. Demgegenüber konnte die sekundäre Herdkontrolle bei allen Patienten erreicht werden, die programmiert weiterbehandelt wurden, mit einer signifikant geringeren Mortalität von 64% (Mulier et al. 2003).
Kompartimentierung und geschlossene Lavage Gelingt es bei fehlender Herdkontrolle, den Fokus im Abdomen zu kompartmentieren, so favorisieren wir die geschlossene Lava-
. Abb. 74.11. Chirurgische Konzepte bei Patienten mit diffuser Peritonitis an der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock. Beobachtungszeitraum 9/2003–12/2004. Patientenzahl n=31. Erläuterung im Text
957 74.4 · Sekundäre Peritonitis
74
. Abb. 74.12. Algorithmus zur Therapie der diffusen Peritonitis an der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock
ge. Intermittierend kann bei diesem Konzept durchaus eine Reoperation »on demand« nötig werden. Ziel ist eine Ausheilung des Fokus – durchaus auch im Sinne einer chronischen, gut kontrollierten Fistel, z. B. bei einem alt-perforierten Duodenalulkus, mit deutlich prolongierter Präsentation mit endgültiger Sanierung im Intervall.
Offenes Abdomen Die Indikation für die Anlage eines offenen Abdomens ist in der Frühphase der diffusen Peritonitis die Entwicklung eines abdominellen Kompartmentsyndroms sowie im längerfristigen Krankheitsverlauf die Desintegration der Faszienstrukturen mit der Unmöglichkeit eines adäquaten Bauchdeckenverschlusses. Die Diagnose eines abdominellen Kompartmentsyndroms ist von eklatanter Wichtigkeit im intensivmedizinischen Therapiekontext. Die Steigerung des intraabdominellen Drucks auf >20 mm Hg führt zur Oligurie/Anurie, zur Steigerung der Beatmungsdrücke, zur Absenkung des Vorlast- und des Herzzeitvolumens und insbesondere zur Minderperfusion gastrointestinal mit Zusammenbruch der Mukosabarriere und bakterieller Translokation. Dieser Circulus vitiosus kann nur durch eine abdominelle Druckentlastung (Dekompressionslaparotomie) durchbrochen werden (Grubben et al. 2001). Wir favorisieren das Einbringen eines Kunststoffnetzes in die Bauchdecke, das im weiteren Verlauf sukzessive gerafft werden kann. i Bei Rückgang der Diurese, Steigerung der Katecholamindosis und Erhöhung des notwendigen Beatmungsdrucks in Korrelation zur abdominellen Palpation immer an abdominelles Kompartmentsyndrom denken (Blasendruckmessung)!
Chirurgische Differenzialtherapie der diffusen Peritonitis Wir empfehlen den in . Abb. 74.12 dargestellten Algorithmus. Ist eine primäre Herdkontrolle bei Erstoperation möglich, so ist das Alter der Peritonitis entscheidend, da hiervon abhängt, ob die Infektion ohne weitere Maßnahmen beseitigt werden kann. Bei älterer Peritonitis mit Fibrinauflagerungen als Nährboden progredienten Bakterienwachstums sollte bis zur makroskopischen Säuberung alle 24 h oder 48 h relaparotomiert werden. Ist die Peritonitis frisch und die Abdominalhöhle durch ausgiebige Lavage beim Ersteingriff überzeugend zu reinigen, so ist die Notwendigkeit einer Reexploration eine Seltenheit; diese Indikation kann dann »on demand« gestellt werden.
Gelingt die Herdkontrolle beim Ersteingriff nicht, so muss unbedingt das Konzept der programmierten Relaparotomie verfolgt werden. Bei Besserung des Befundes kann dann durchaus zum On-demand-Konzept gewechselt werden. Bildet sich durch interstitielle Flüssigkeitseinlagerung und intraluminale Sequestrierung ein abdominelles Kompartmentsyndrom aus, so muss die Peritonitis im Sinne des »offenen Abdomens« behandelt werden. Ist der Herd nicht kontrollierbar, und es gelingt jedoch, eine Kompartmentierung des Fokus durchzuführen, so favorisieren wir die geschlossene Lavage.
Adjunktive Maßnahmen Neben der chirurgischen Sanierung sind parallel dazu komplexe intensivmedizinische Therapien notwendig. Die antibiotische Therapie ist eine wesentliche Säule der Peritonitistherapie. Da bei Therapieebeginn das Keimspektrum in den meisten Fällen noch unbekannt ist, muss mit einer breiten kalkulierten Initialtherapie begonnen werden. Primärtherapie bei diffuser Peritonitis (Wacha 2000; Wacha et al. 2004) 5 5 5 5
Acylaminopenicillin/β-Laktamasehemmer (BLI) oder Carbapenem der Gruppe 2 oder Cephalosporin der Gruppe 3a/4 + Metronidazol oder Fluorchinolone der Gruppe 3 + Metronidazol
Eine weitere wichtige Maßnahme ist die zeitnahe Volumensubstitution. Wird neben den Standardzielparametern von ZVD >8–12 mm Hg; MAP >65 mm Hg und Urinmenge >0,5 ml/ kg KG/h zusätzlich die zentralvenöse Sättigung von >70% als Zielparameter definiert, so gelingt eine signifikante Reduktion der Krankenhausmortalität von 46,5% auf 30,5%. Die substituierte Volumenmenge beider Studien-Gruppen ist dabei nach 72 h identisch, jedoch zeigte sich, dass in der EGDT (»early goal directed therapy«)-Gruppe das Substitutionsmaximum innerhalb der ersten 6 h lag, wohingegen in der Standardtherapiegruppe die Volumensubstitution zeitlich verzögert erfolgte (Evidenzgrad Ib; Rivers et al. 2001). Unter Beachtung der Kontraindikationen (beachte auch erhöhtes Blutungsrisiko) führt der Einsatz von aktiviertem Protein C (rhAPC) bei Patienten mit schwerer Sepsis und mindestens 2 Organversagen zu einer statistisch sinifikanten Senkung der 28-TageLetalität (Evidenzgrad Ib; Angus et al. 2004; Reinhart et al. 2006).
958
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
Zusätzliche in Studien belegte Maßnahmen sind die Gabe von Hydrokortison (Evidenzgrad IIb; Annane et al. 2002) und Selen (Evidenzgrad IIa; Matthias et al. 2007).
74 74.5
. Tabelle 74.2. Unterschiedliche Definition von Früh- und Spätphase der akuten Pankreatitis Frühphase
Spätphase
Literatur
Akute Pankreatitis
<72 h
>12 Tage
Mier et al. (1997)
E. Klar, A. Pertschy
<12 Tage
>12 Tage
de Waele et al. (2004)
<14 Tage
>14 Tage
Takeda et al. (1998), Hungness et al. (2002), IAP-Guidelines (Uhl et al. 2002)
<27 Tage
>27 Tage
Fernandez-del Castillo et al. (1998)
<3–4 Wochen
>3–4 Wochen
Büchler et al. (2000)
Die akute Pankreatitis folgt in 80–85% der Fälle der ödematösen Verlaufsform. Diese führt immer zu einer Restitutio ad integrum und hat deshalb keine Berührung zur Chirurgie. Demgegenüber besitzt die nekrotisierende Pankreatitis eine Mortalität von 10– 30%. Die Erkrankung ist initial gekennzeichnet durch eine lokale Produktion und Freisetzung von Mediatoren im Pankreas mit portalvenöser Einschwemmung in die Leber. Durch Aktivierung der von Kupfferschen-Sternzellen kommt es zur Augmentation der Freisetzung proinflammatorischer Zytokine mit Induktion einer systemischen Entzündungsreaktion (SIRS). Je nach Schwere der Erkrankung kann sich ein Multiorganversagen ausbilden. Gerade in den ersten Stunden nach Klinikaufnahme kommt es häufig zu einer dramatischen Destabilisierung des Patienten mit Anurie, Katecholaminpflichtigkeit und Notwendigkeit der Beatmung (Klar u. Werner 2000). i Die Frühphase der akuten nekrotisierenden Pankreatitis ist eine Domäne der Intensivmedizin, nicht der Chirurgie.
74.5.1 Stellenwert der chirurgischen Therapie Dieses schwere Krankheitsbild hat in der Vergangenheit zu der Überlegung geführt, den Mediatorpool durch eine chirurgische Entfernung des Pankreas zu beseitigen. Die Mortalität betrug jedoch bis zu 50% und hat bereits damals das pathophysiologische Prinzip verdeutlicht, dessen Berücksichtigung in den letzten Jahren zur wesentlichen Verbesserung chirurgischer Ergebnisse führte. Die operative Therapie in der Frühphase der nekrotisierenden Pankreatitis führt zur additiven Belastung des Patienten durch die Eröffnung von Wundflächen mit Verstärkung von Zy-
tokinproduktion und Absorption (»second hit«). Zusätzlich sind die Pankreasnekrosen in der Frühphase der Erkrankung unzureichend gegen umgebendes vitales Parenchym demarkiert. Inkomplette Nekrosektomie bzw. Blutung und Verletzung von Nachbarstrukturen sind die Folge (Kivilaasko 1981; Teerenhovi 1988).
Zeitpunkt der Operation Der wesentliche Fortschritt in der Behandlung der nekrotisierenden Pankreatitis wurde dadurch erzielt, dass zum einen seltener und zum anderen später im Verlauf der Erkrankung operiert wurde (Hartwig et al. 2002). Es bestehen allerdings bis zum heutigen Tag unterschiedliche Meinungen zur zeitlichen Einteilung der Erkrankung (. Tab. 74.2). In den Leitlinien der International Association of Pancreatology (IAP; Uhl 2002) gelten die ersten 14 Tage als Frühphase. Aufgrund überzeugender Literaturdaten und entsprechend unserern eigenen Erfahrung umfasst heute die Frühphase die ersten 3–4 Wochen der Pankreatitis.
Gründe für die Operation Ein weiterer Schritt in der Verbesserung der Überlebensrate bei nekrotisierender Pankreatitis ist die Tatsache, dass heute seltener operiert wird. Man hat verstanden, dass ein Patient mit Multiorganversagen mit dem Nachweis von Pankreasnekrosen auch
. Abb. 74.13. Muster von Organversagen bei nekrotisierender Pankreatitis in Bezug zum Infektionsstatus der Nekrosen. Sterile Nekrosen zeigen zwar eine geringere Inzidenz der Veränderungen, Qualität und relative Häufigkeit sind jedoch mit infizierten Nekrosen vergleichbar (Beger et al. 1986)
959 74.5 · Akute Pankreatitis
74
. Abb. 74.14. Algorithmus zur Behandlung der schweren akuten Pankreatitis an der Chirurgischen Universitätsklinik Rostock. Erläuterung im Text
nach der Frühphase der Erkrankung nicht notwendigerweise operiert werden muss, vorausgesetzt, es besteht grundsätzliche Stabilität, durchaus auch mit sekundärem Organversagen. Die Entscheidung zur operativen Therapie basiert im Wesentlichen auf dem Infektstatus bestehender Pankreasnekrosen. i Eine klinische Differenzierung zwischen infizierten und sterilen Nekrosen ist unmöglich, da in beiden Fällen ein sepsisartiges Bild induziert wird, das ein ähnliches Muster besitzt (. Abb. 74.13)
Die Objektivierung gelingt mit einer Sensitivität von 96% und einer Spezifität von 98% mittels CT-gesteuerter Feinnadelaspiration (FNA; Gerzof et al. 1987). Da die Infektion von Pankreasnekrosen als Prädiktor der Mortalität angesehen werden kann, stellt eine positive FNA eine Indikation zur Nekrosektomie dar. Wir betonen dabei, dass der Einsatz der FNA in der Frühphase der akuten Pankreatitis nicht angezeigt ist, da die Indikation zu einer frühen Operation die Ausnahme darstellt und allein aufgrund einer foudroyanten klinischen Verschlechterung des Patienten gestellt werden sollte. Sterile Nekrosen stellen keine Operationsindikation dar. Büchler et al. (2000) konnten zeigen, dass durch FNA-gesicherte, sterile Nekrosen ein leichteres Krankheitsbild darstellen und bei konservativer Therapie lediglich eine Mortalität von 1,8% resultiert. Demgegenüber ist bei infizierten Nekrosen häufiger ein katecholaminpflichtiges Kreislaufversagen nachweisbar; die Mortalität in dieser Serie betrug 21% (Büchler et al. 2000).
Das von uns favorisierte Vorgehen ist in . Abb. 74.14 zusammengefasst. Ein Patient mit nekrotisierender Pankreatitis wird in den ersten 3 Wochen nur in Ausnahmefällen (7 s. unten) operiert. Entscheidend für das konservative Vorgehen ist eine Stabilisierung unter intensivmedizinischen Bedingungen, auch wenn ein Mehrorganversagen vorliegt. Persistiert das Multiorganversagen oder verschlechtert sich der Patient, wird eine FNA durchgeführt. Sind die Pankreasnekrosen infiziert, besteht die Indikation zur Nekrosektomie. Sterile Nekrosen werden weiter konservativ behandelt. In den ersten 3 Wochen der Erkrankung besteht eine Notwendigkeit zur Operation nur bei progredienter Verschlechterung des Patienten. Einer metabolischen Azidose mit steigender Katecholaminpflichtigkeit kommt in der Einschätzung besondere Bedeutung zu. Zugrunde liegt dann oft eine Sekundärkomplikation wie z. B. eine Nekrose des Colon transversum oder eine gangränöse Cholezystitis, die nur chirurgisch diagnostiziert und therapiert werden kann. 74.5.2 Stellenwert einer prophylaktischen
Antibiotikatherapie Die schwere Verlaufsform der akuten Pankreatitis ist in 40–70% der Fälle mit der Entwicklung infizierter Pankreasnekrosen assoziiert. Das Infektionsrisiko steigt mit dem Ausmaß intra- und extrapankreatischer Nekrosen (Isenmann et al. 1999). Die pro-
. Tabelle 74.3. Prophylaktische Antibiotikatherapie bei schwerer akuter Pankreatitis: Diskrepanter Therapieeffekt Autor
Jahr
Antibiotikum
Mortalität (Therapie vs. Kontrolle)
Infizierte Nekrosen (Therapie vs. Kontrolle)
Pederzoli et al.
1993
Imipenem
7% vs. 12% (ns)
12,2% vs. 30,1% (0,001)
Sainio et al.
1995
Cefuroxim
3% vs. 23% (0,03)
39% vs. 40% (ns)
Ho u. Frey
1997
Imipenem
5% vs. 16% (ns)
27% vs. 76% (0,04)
Nordback et al.
2001
Imipenem
8% vs. 15% (ns)
8% vs. 42% (0,003)
Isenmann et al.
2004
Ciprofloxacin + Metronidazol
5% vs. 7% (ns)
12% vs. 9% (ns)
Dellinger et al.
2007
Meropenem
20% vs. 18% (ns)
18% vs. 12% (0,4)
960
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
. Tabelle 74.4. Enterale Ernährung (ENT) vs. total parenterale Ernährung (TPN). Outcome-Daten der in die Metaanalyse eingeschlossenen Studien. (Nach Koretz et al. 2007)
74
Literatur (zit. in Koretz et al. 2007)
Patienten (n)
Septische Komplikationen (n)
Chirurgische Intervention (n)
Krankenhausverweildauer (Tage)
Mortalität (n)
ENT/TPN
ENT/TPN
ENT/TPN
ENT/TPN
ENT/TPN
McClave 1997
16/16
2/2
–
Windsor 1998
16/18
0/3
Kalfarentzos 1997
18/20
Abou-Assi 2002 Olah 2002 Gupta 2003
9,7/11,9
0/0
1/5
12,5/15,0
0/2
5/10
2/4
40/39
1/2
26/27
1/9
1/2
14,2/18,4
6/8
41/48
5/13
5/11
16,8/23,6
2/4
8/9
0/2
–
phylaktische Gabe pankreasgängiger Antibiotika vor dem Auftreten einer manifesten Sepsis ist vom Ansatz logisch und wurde in mehreren Studien untersucht (. Tab. 74.3). Hinsichtlich der Endpunkte »infizierte Nekrosen« und »Mortalität« finden sich diskrepante Ergebnisse. Die Leitlinien der International Society of Pancreatology interpretieren zusammenfassend, dass die frühzeitige Prophylaxe mit einem Breitspektrumantibiotikum die Rate der Pankreasinfektionen reduziert; die Auswirkung auf das Überleben kann jedoch nicht eindeutig beurteilt werden. In klinischen Studien am besten untersucht ist bisher die Gruppe der Carbapeneme. Der Aussagewert der Studien ist jedoch durch kleine Fallzahlen limitiert. Eine aktuelle Metaanalyse bestätigt, dass die Gabe eines E-Laktamantibiotikums sowohl die Mortalitätsrate (6,3% vs. 16,7% in der Kontrollgruppe) als auch die Rate infizierter Nekrosen (15,6% vs. 29,2%) signifikant senkt. Kein Effekt ist hinsichtlich der chirurgischen Therapie sowie der Rate extrapankreatischer Infektionen zu verzeichnen (Mazaki et al. 2006). Die Kombination aus einem Chinolon und Metronidazol zeigt gegenüber der Placebo-Kontrollgruppe keinen Vorteil (Villatoro 2006). Vor diesem Hintergrund empfehlen wir zusammen mit vielen anderen Pankreaszentren eine prophylaktische Antibiotikatherapie bei der schweren akuten Pankreatitis für eine Zeitdauer von 2 Wochen primär mittels Imipenem.
74.5.3 Enterale Ernährung Die frühe enterale Ernährung stellt eine weitere Strategie dar, eine sekundäre Infektion von Pankreasnekrosen zu verhindern. Bei ausschließlich parenteraler Ernährung kommt es innerhalb weniger Tage zur Zottenatrophie der Darmmukosa mit bakterieller Translokation und damit erhöhter Gefahr der Superinfektion per continuitatem und lymphogen. Durch frühzeitige enterale Ernährung kann die Mukosabarriere geschützt werden (Alexander et al. 1998). Die Befürchtung, dass die Pankreatitis durch enterale Ernährung über eine Stimulation des Pankreas verstärkt werden könnte, ist unbegründet, wenn die Nahrung distal des Duodenums appliziert wird (Ragins et al. 1973).
7/10
0/0
Entscheidend für das Konzept ist deshalb die Platzierung einer jejunalen Ernährungssonde endoskopisch oder radiologisch. Bei schwerer Pankreatitis besteht immer eine Paralyse besonders im Magen und Duodenum. Auch aus diesem Grund muss die Sonde deutlich distal des Treitz-Bandes platziert werden. Wir bevorzugen eine Triluminalsonde, um eine Drainage des Magens zu garantieren, falls es dennoch zu einem Reflux von Sondennahrung kommt. In einigen Studien wird eine frühe Oralisierung oder eine problemlose Ernährung über eine nasogastrale Sonde beschrieben. Bei genauer Analyse handelt es sich hierbei jedoch um Kollektive mit einem hohen Anteil minderschwerer Verlaufsformen der akuten Pankreatitis (Kumar et al. 2006). In mehreren prospektiv randomisierten klinischen Studien konnte der positive Effekt einer enteralen Ernährung bei akuter Pankreatitis nachgewiesen werden (Karamitsios et al. 1997; McClave et al. 1997; Olah et al. 2002; Petrov et al. 2006; Powell et al. 2000; Pupelis et al. 2001). Eine Metaanalyse von Marik et al. (2004) hat anhand von 6 randomisierten, kontrollierten Studien aufzeigen können, dass unter enteraler Ernährung bei Patienten mit akuter Pankreatitis weniger septische Komplikationen auftraten. Des Weiteren waren chirurgische Behandlungsstrategien weniger häufig notwendig, und der Krankenhausaufenthalt konnte signifikant verkürzt werden. Einen Einfluss auf die Mortalität hatten die beiden Ernährungskonzepte nicht (. Tab. 74.4; Marik 2004; Woodcock 2001). Eine Senkung des oxidativen Stresses und eine Beschleunigung des Heilungsprozesses durch eine enterale Ernährung wurde in Einzelstudien nachgewiesen (McClave et al. 2006). In der Gruppe der Patienten, die aufgrund von Komplikationen chirurgisch behandelt wurden, konnte postoperativ die Mortalität durch enterale Ernährung reduziert werden. Es muss erwähnt werden, dass der Metaanalyse von Koretz et al. (2007) zufolge bei einer Pankreatitis mit einem Ranson-Score >2 aus den vorliegenden randomisiert kontrollierten Studien keine klare Evidenz für oder gegen eine totale parenterale Ernährung hervorgegangen ist. Entsprechend den Leitlinien der ESPEN ist eine frühzeitige enterale Ernährung ab dem 4.–6. Tag insbesondere bei der schweren, nekrotisierenden Verlaufsform der akuten Pankreatitis zu beginnen (Meier et al. 2006).
961 74.5 · Akute Pankreatitis
Bei enteraler Ernährung sollte die Sonde im proximalen Jejunum platziert sein. Der Magen muss dekomprimiert werden, um einen Reflux zu erkennen und abzuleiten. Bei schwerer Pankreatitis kann die Oberbauchparalyse eine enterale Ernährung in den ersten Tagen der Erkrankung unmöglich machen.
74.5.4 Biliäre Pankreatitis Die Gallensteinpassage über die Papilla vateri bzw. das Impaktieren dieses Konkrements ebendort mit vorübergehendem oder anhaltendem Abflusshindernis stellt den Trigger der biliären akuten Pankreatitis dar (Forsmark et al. 2001). Die offene, chirurgische Exploration und Sanierung der Gallenwege ist mittlerweile fast vollständig durch die endoskopische Intervention ersetzt worden. Die Intubation der Papille und das Einbringen von Kontrastmittel in den Ductus pancreaticus beinhalten potenziell das Risiko einer Verschlechterung der Pankreatitis und erhöhen die Morbidität. Die wesentlichen randomisierten, kontrollierten Studien zielten daher auf die Fragen ab: Welcher Patient profitiert von einer frühen endoskopisch retrograden Cholangiopankreatikographie (ERCP) und ggf. Steinextraktion, und wann ist ein konservatives Konzept von Vorteil (Fölsch 1997; Nowak 1995; Fan 1993; Neoptolemos 1988). Eine Interpretation der Literaturdaten ist dadurch erschwert, dass in 2 der Studien keine Angaben zur Schwere der akuten biliären Pankreatitis gemacht werden, wovon eine nur in Abstractform vorliegt (Fölsch 1997; Nowak 1995). Es besteht trotzdem breiter Konsens, dass eine ERCP bei den Patienten durchgeführt werden sollte, die auch 48 h nach Symptombeginn das klinische Bild und die Laborkonstellation einer persistierenden Gallengangobstruktion bieten und insbesondere in diesem Zeitrahmen trotz Intensivtherapie sekundäre Organkomplikationen im Sinne einer schweren Pankreatitis ausbilden. Patienten, die in diesem Zeitrahmen einen Rückgang der Cholestaseparameter und eine klinische Stabilisierung aufweisen, profitieren mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von einer frühen ERCP, da ein spontaner Steinabgang stattgefunden hat (Sharma et al. 1999; Besselink et al. 2007) .
Bei biliärer Pankratitis wird eine ERCP (und Papillotomie) nur durchgeführt bei persistierenden Cholestaseparametern und fehlender Stabilisierung des Patienten nach einem Zeitintervall von 48 h nach Symptombeginn.
Nach Abklingen der Pankreatitis ist die chirurgische Sanierung der Grunderkrankung entscheidend. Die Cholezystektomie wird in den allermeisten Fällen laparoskopisch und während desselben stationären Aufenthaltes durchgeführt. Von allen biliären Pankreatitiden sind etwa 10% nekrotisierend und nehmen einen schweren Verlauf (Acosta 2006). Hier erfolgt die Cholezystektomie elektiv nach einem Intervall von 3 Monaten.
74
Prinzipien der chirurgische Therapie von Pankreasnekrosen 5 Schonendes Débridement unter Respektierung der Nachbarstrukturen: Dies wird erreicht durch ein digitoklastisches Ausräumen der avitalen Gewebeanteile, d. h. der Chirurg trennt mit den Fingern durch vorsichtiges Austasten unter Kompression die Nekrose vom erhaltenen Parenchym und insbesondere von zentralen Gefäßstrukturen wie A. und V. mesenterica superior, A. und V. colica media, den Milzgefäßen sowie der Milz, der rechten und linken Kolonflexur und dem Duodenum. Dieses Vorgehen ist umso effizienter, je besser die Nekrosen demarkiert sind. 5 Komplettierung der Nekrosektomie nach dem Ersteingriff: In den allermeisten Fällen gelingt eine komplette Ausräumung der Nekrosen durch eine Operation allein nicht. Es stehen grundsätzlich 3 chirurgische Techniken zur Verfügung, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: die Entfernung von zusätzlich demarkiertem, avitalem Gewebe im weiteren Verlauf der Erkrankung: – »Open packing« (Bradley et al. 1991): Der Oberbauch wird mit Bauchtüchern austamponiert. Diese entwickeln eine Sogwirkung und säubern die Wundhöhle. Das Abdomen bleibt offen. Vorteil: Beim Wechsel der Bauchtücher alle 48 h kann das Abdomen genau inspiziert und débridiert werden. Erst bei vollständiger Sanierung wird die Bauchdecke verschlossen. – Geschlossene Bursalavage (Rau et al. 2005): Der Oberbauch wird kompartmentiert; in die verschlossene Bursa omentalis werden großlumige Doppellumenkatheter platziert. Durch Spülmengen von täglich 20–30 l wird devitalisiertes Gewebe ausgewaschen. Vorteil ist die geringere Zahl von Rezidiveingriffen. – Geschlossene Drainage (Fernandez-del Castillo et al. 1998): Bei dieser Methode wird die Säuberung durch multiple Drainagen erzielt.
Bei der Beschreibung der einzelnen Methoden handelt es sich um Fallserien einzelner Institutionen, die aufgrund der Heterogenität nicht direkt vergleichbar sind (Evidenzgrad IV). Die Mortalität ist ähnlich; die Strategien sind in geübten Händen gleich effizient. Die unterschiedlichen Methoden können im Verlauf durchaus beim selben Patienten zum Einsatz kommen. 74.5.6 Stellenwert inter ventioneller Techniken
74.5.5 Chirurgische Konzepte
Unter der Überlegung, möglichst atraumatisch vorzugehen und größere Wundflächen zu vermeiden, wurden 3 Techniken etabliert, die ein minimal-invasives Vorgehen ermöglichen: 4 videoassistiertes retroperitoneales Débridement (VARD), 4 laparoskopisches transperitoneales Débridement, 4 endoskopisches Débridement (transgastral).
Zwei Prinzipien charakterisieren die chirurgische Therapie von Pankreasnekrosen.
Prinzipiell dürfen die beschriebenen Techniken nur bei identischer Indikationsstellung wie zur konventionellen chirurgischen
962
74
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
Therapie zur Anwendung kommen. Kritisch anzumerken ist, dass die taktile Wahrnehmung des Operateurs aufgehoben ist, was gerade bei der schonenden Nekrosektomie einen Nachteil bedeutet. Zusätzlich steigt die Zahl der Eingriffe gegenüber dem offenen chirurgischen Vorgehen, da die Nekrosektomie nicht so umfassend durchgeführt werden kann.
Die IAH kann nach der zeitlichen Entstehung und Dauer unterteilt werden in 4 hyperakute, 4 akute, 4 subakute chronische IAH.
i Minimal-invasive Techniken zur Nekrosektomie dürfen nur unter gleich strenger Indikation angewendet werden, die auch für die eigentliche chirurgische Therapie gilt.
Abdomielles Kompartmentsyndrom
Physiologische Veränderungen wie Husten, Lachen Defäkation oder Maßnahmen wie das Absaugen oder Blähen beim beatmeten Patienten führen kurzfristig innerhalb Sekunden bis Minuten zu Druckerhöhungen, die klinisch nicht relevant sind. In der operativen Intensivmedizin haben wir es zumeist mit der akuten IAH zu tun, die sich innerhalb von Minuten bis Stunden durch Blutung oder Ödem entwickelt. Subakute Formen entstehen über Tage bei Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren unter bestimmten Bedingungen wie Gefäß-Leakage mit zunehmendem Darmödem etc. Eine chronische Form der IAH entwickelt sich über Wochen und Monate z. B. bei Adipositas, Leberzirrhose mit Aszites oder in der Schwangerschaft, wenn die flexible Bauchwand noch lange Zeit nachgibt. Diese Patienten sind in Akutsituationen besonders gefährdet, ein ACS zu entwickeln.
K.-W. Jauch
Weitere Parameter
Hiervon zu trennen ist die CT-gesteuerte Punktion peripankreatischer Flüssigkeitsansammlungen. Durch Einlage größerlumiger Pigtail-Katheter (>8 F) kann auch eine längerfristige Ableitung, z. B. bei Pankreasfisteln, durchgeführt werden. Indikation ist der Verdacht auf Infektion (infizierte Pseudozyste bzw. Abszess) und das abdominelle Kompartmentsyndrom bei zugrunde liegendem Bursaerguss. 74.6
74.6.1 Definitionen und Klassifikation Eine intraabdominelle Druckerhöhung (IAH) und das daraus bei entsprechenden Bedingungen resultierende abdominelle Kompartmentsyndrom (ACS) wurde in den letzten 2 Jahrzehnten vermehrt diagnostiziert und hat große Relevanz in der Intensivtherapie nach abdominellen Eingriffen, Entzündungen, Traumata und Blutungen. Vielfach beruht ein Multiorganversagen auf einem zugrundeliegenden ACS, und eine Organersatztherapie ohne Behandlung des ACS führt meist zum Tod. Nach anfänglicher Sprachver wirrung und unterschiedlichen Definitionen erbrachte eine internationale Konsenususkonferenz sowohl eine klare Basis für die wissenschaftliche Diskussion als auch Empfehlungen für die klinische Praxis (Malbrain et al. 2006). Intraabdomineller Druck (IAP) und die intraabdominelle Hypertension (IAH)
Von einer IAH sprechen wir, wenn der intraabdominelle Druck bei sachgemäßer Messung wiederholt oder dauerhaft über 12 mm Hg erhöht ist. Die klinischen Auswirkungen und die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer dekomprimierenden Maßnahme korrelieren mit der Druckerhöhung im Abdomen. Der Schweregrad einer abominellen Druckerhöhung wurde bisher mit unterschiedlichen Druckwerten angegeben. Durch die Konsunsuskonferenz wurden 4 Grade definiert: Abominelle Druckerhöhung (IAH): Gradeinteilung der International Conference of Experts on Intraabdomal Hypertension and Abdominal Compartment Syndrome (nach Malbrain et al. 2006) 5 5 5 5
Grad I: 12–15 mm Hg Grad II: 16–20 mm Hg Grad III: 21–25 mm Hg Grad IV: >25 mm Hg
Durch die Messung des IAP können weitere Parameter mit pathophysiologischer Bedeutung abgeleitet werden. So wird die Perfusion der Abdominalorgane (APP) ähnlich wie bei der Berechnung der Hirndirchblutung durch die Differenz aus mittlerem arteriellem Druck und IAP bestimmt: Perfusion der Abdominalorgane (APP) = MAP – IAP
Ein APP von mindestens 60 mm Hg ist bei Vorliegen eines ACS mit besserem Überleben korreliert. Weitere Parameter, die berechnet werden können, sind der renale Perfusionsdruck (RPP) sowie der renale Filtrationsgradient (FG), die für ein renales Versagen mit Oligurie entscheidend sind. Der FG ist die Druckdifferenz zwischen dem glomerulären Filtrationsdruck (GFP) und dem proximalen Tubulusdruck (PTP). Liegt eine IAH vor, so entspricht der PTP dem IAP, wodurch Änderungen im IAP für die Nierenfunktion schwerer wiegen als Änderungen des mittleren arteriellen Drucks entsprechend der Formel: FG = GFP – PTP = (MAP – IAP) – IAP
> Definition ACS Ein abdomielles Kompartmentsydrom beinhaltet eine Druckerhöhung über 20 mm Hg verbunden mit einer neuen oder progressiven Organdysfunktion. Klinisch imponiert das abdominelle Kompartmentsyndrom durch gespannte feste Bauchdecken bei erhöhtem Bauchumfang, verbunden mit einer Darmparalyse, einer Erhöhung des Beatmungsdrucks bis hin zur respiratorischen Globalinsuffizienz und Oligurie. Bei morbider Adipositas kann durch die gleichzeitg bestehende Fettschürze die Spannung der Bauchdecken nicht sicher beurteilt werden. 6
963 74.6 · Abdomielles Kompartmentsyndrom
Lange Zeit galt die Definition von Meldrum für das ACS: IAH >20 mm Hg verbunden mit Oligurie unter 0,5 ml/kg KG/h oder Beatmungsdruck >40 cm H2O. Die heutige Definition geht auf die umfangreichen Arbeiten von Malbrain et al. (2006) zurück, die neben der Druckerhöhung >20 mm Hg ein Organversagen mit einem Organversagensscore (SOFA-Score) über 3 forderten. Zwichenzeitlich wurde in die Definition auch neben Druckerhöhung und klinischem Ogranversagen als dritter Definitionsparameter die Besserung auf eine Druckentlastung zur Definition herangezogen.
Nachdem das ACS erstmals bei retroperitonealen Blutungen bei Aortenaneurysma und nach Trauma erkannt und beschrieben wurde, kennen wir heute eine Vielzahl von Situationen beim kritisch kranken Patienten, die durch ein ACS gekennzeichnet werden. Die Inzidenz bei Risikopatienten (. Tab. 74.5) reicht von 4–70%. Wir unterscheiden hierbei zwischen primräem, sekundärem und tertiärem oder rezidivierendem ACS: . Tabelle 74.5. Risikofaktoren für ein ACS Risikofaktor
Beispiele
Verminderte Bauchwandcompliance
4 Akutes Lungenversagen mit hohen Beatmungsdrücken 4 PEEP 4 Verbrennungspatienten 4 Polytrauma 4 Schwere Verletzungen 4 Bauchlage 4 Laparatomie mit Faszienverschluss unter Spannung 4 »Damage control surgery«
Erhöhtes intraluminales Volumen
4 4 4 4
Ileus Gastroparese Volvulus Pseudoobstruktion
Erhöhtes intraabdominelles Volumen
4 4 4 4 4 4 4
Leberzirrhose mit Aszites Peritonealdialyse Hämoperitoneum Pneumoperitoneum mit hohem Druck Adipositas Hernia permagna Intraabdominelle und retroperitoneale Tumoren
Kapilläres »leak«/Volumenüberladung
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Sepsis Bakteriämie Intrabadomelle Infektion Peritonitis Polytrauma Verbrennung Akute Pankreatitis Hypothermie Azidose Koagulopathie Massentransfusion (>10 Erythrozytenkonzentrate in 24 h) 4 Massivinfusion (über 5 l Kristalloide in 24 h)
74
4 Das primäre ACS (früher auch postoperatives, abdominelles oder chirurgisches abdomielles Kompartmentsydrom genannt) ist durch eine akute oder subakute IAH auf dem Boden einer abdominellen Ursache definiert. Klassische Situationen sind Trauma, rupturiertes Aortenaneurysma, Pankreatitis, Peritonitis, Blutung oder Ileus postoperativ. 4 Das sekundäre ACS (früher extraabdominelles oder medizinisches abdomielles Kompartmentsydrom genannt) basiert auf einer IAH als Ursache einer extraabdominellen Erkankung. Häufigste Situationen sind Sepsispatienten mit kapillärem Leak oder Verbrennungen und Situationen mit der Notwendigkeit eines massiven Flüssigkeitsersatzes und nachfolgendem Darmödem. 4 Das rezidivierende ACS betrifft Patienten, die sich nach einer Phase eines primären oder sekundären ACS erholten und dann zumeist unter erneuter Aggravation der Erkrankung (»second hit« bei Trauma/Sepsis) oder ärztlichen Maßnahmen (Volumengabe, Bauchdeckenverschluss unter Spannung) wieder ein ACS entwickeln. 74.6.2 Pathophysiologie Das durch Bauchwand, Zwerchfell, Rücken und Beckenstrukturen begrenzte Abdomen kann als ein elastischer Raum mit einem einheitlichen Druck aufgefasst werden. Der Druck steigt mit der Einatmung und sinkt mit der Ausatmung genauso wie mit dem Zustand der intraabdomellen Organe (Adipositas, Darmatonie, Ileus, Ödem, Tumoren) oder mit Veränderungen der begrenzenden Strukturen (retroperitoneales Hämatom, Verbrennung). Eine klinische Relevanz erhält der intraabdominelle Druck (IAP) in Form einer intraabdominellen Hypertension (IAH) dann, wenn die Perfusion der intrabadomiellen Organe und deren Funktion beeinträchtigt werden. Dies beinhaltet, dass der Druckwert allein nicht ausreichend zur Beschreibung ist, sondern die kardiale Situation und andere Parameter wie die individuelle Ausgangssituation eine Rolle spielen. Entsprechend können Risikofaktoren definiert werden (. Tab. 74.5), bei denen ein ACS gehäuft beobachtet wird. Klinisch sind am häufigsten eine Blutung und ein Kapillarleck nach Ischämie/Reperfusion bei Trauma oder Sepsis sowie ein Bauchdeckenverschluss unter Spannung nach Laparotomie anzuschuldigen. Verstärkt werden diese Faktoren durch entsprechende massive Volumenzufuhr mit Transsudation in die Bauchwand und die Darmwand. Weitere, teils iatrogene Ursachen sind Tamponaden mit Kompression der V. cava, Überdruckbeatmung mit hohem PEEP und Bauchlagerung. In der Folge führt der verminderte Perfusionsdruck zunächst an der Niere durch erhöhten venösen Druck mit vermindertem Abstrom zu einer geringeren Filtrationsleistung mit Oligurie. Die Filtrationsleistung reagiert nicht oder nur begrenzt und vorübergehend auf Volumentherapie, Katecholamine und Diuretika. i Immer ist zur Beseitigung des Nierenversagens beim ACS die Drucksenkung erforderlich, in der Regel durch Dekompressionslaparotomie, worauf sich die Nierenfunktion erholt.
Klinisch gleich bedeutsam mit dem Einsetzen der Oligurie sind die Erhöhung des Beatmungsdrucks und die Einschränkung der Lungenfunktion. Durch den Zerchfellhochstand kommt es zur Lungenkompression mit Atelektasenbildung und vermindertem
964
74
Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
Atemzugvolumen und Verringerung der Lungencompliance. Die Einschränkung der Lungenfunktion macht sich neben der Beatmungsmechanik durch eine Hypoxämie und Hyperkapnie bemerkbar. Häufig ist hierbei eine Pneumonie, ein ARDS oder ein TRALI als Differenzialdiagnose zu diskutieren, es kann sich aber auch um das Zusammenkommen mehrerer Mechanismen handeln, und die Dekompression führt allein zur Besserung der Beatmung und zur Vermeidung einer fatalen Situation mit hypoxischem Herzversagen oder Rechtsherzversagen. Im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems führt die IAH zu einem verminderten venösen Rückstrom bei falsch-hohem ZVD mit Abfall des Herzzeitvolumens. Darüber hinaus wird durch den erhöhten intraabdominellen und intrathorakalen Druck die Myokardkontrakilität direkt beeinträchtigt, und durch Erhöhung der Nachlast kommt es letztlich zum Pumpversagen mit »low output«. Dies alles schaukelt sich in einem Circulus vitiosus hoch, da die verminderte Herzauswurfleistung die Perfusion von Niere und Darm wiederum beeinträchtigt und das akute ACS mit Organversagen sich selbst verstetigt. Für den Viszeralchirurgen steht bei diesen Patienten sehr häufig die beeinträchtigte Perfusion von Leber, Pankreas und Darm im Vordergrund seiner Betrachtung. Schon bei einer anhaltenden Druckerhöhung auf 16–20 mm Hg kann die Mikrozirkulation des Darms massiv beeinträchtigt sein, und es resultiert eine lokale Ischämie mit Azidose, Störung der Darmwandbarriere und Einschwemmung von Toxinen im Sinne einer Translokation. Die nachfolgende Aggravation der systemischen Inflammation (SIRS) führt über weitere Ischämie/Reperfusionsschäden zum zunhemenden ACS durch das Darmwandödem. Die IAH führt zur Beeinträchtigung der Leberunktion bis hin zu Leberzellnekrosen, wie wir sie aus den Erfahrungen der Lebertransplantation kennen. Auch im Bereich des Zentralnervensystems hat eine IAH und ein ACS weitreichende Folgen. Durch den erhöhten venösen Druck mit Abstrombeeinträchtigung der Jugularvenen kann es zu einer Abnahme des zerebralen Perfusionsdrucks kommen, die gerade bei Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma oder Reanimation eine zerebrale Schädigung verstärken. Das komplexe Ineinandergreifen dieser pathophysiologischen Prozesse ist in . Abb. 74.15 dargestellt.
74.6.3 Diagnostik i Die rechtzeitige Diagnose im Sinne einer Früherkennung zur Unterbrechung des Circulus vitiosus und zur Vermeidung zusätzlicher iatrogener Verstärkung vermag in vielen Fällen, ein schweres ACS mit Multiorganversagen zu vermeiden oder bei schon ausgeprägtem ACS mit Organversagen durch Dekompressionslaparotomie die fatalen Folgen zu verhindern. Entscheidend ist es daher, stets den intraabdominellen Druck (IAP) bei Risikopatienten zu bedenken und konsequent regelmäßig zu messen.
Bei allen Intensivpatienten mit klinischer Verschlechterung (Lunge, Niere, Kreislauf) sollte eine IAP-Messung erfolgen, wenn 2 Risikofaktoren (. Tab. 74.5) bestehen. Bei erhöhtem IAP sollten wiederholte Messungen erfolgen, auch wenn kein ACS vorliegt. Durchführung der Druckmessung
Zur Messung des intraabdominellen Drucks hat sich die Bestimmung des Blasendrucks als valide und einfache Technik etabliert. Über einen Blasendauerkatheter erfolgt nach Entleerung der Blase und Blasenfüllung mit 25 ml Kochsalzlösung die Druckmessung über einen Druckabnehmer. Die Messung hat in Flachlagerung zu erfolgen. Als Eichung wird der Druck auf mittlerer Axillarlinie mit 0 mm Hg angenommen. Der Blasendruck sollte dann atemsynchron schwanken. Als IAP wird der endexspiratorische Blasendruck gewertet. Falsch-hohe Werte können bei Schrumpfblase, nach Bestrahlung oder neurogener Blasenstörung vorkommen. 74.6.4 Therapiemaßnahmen und Prävention Die adäquate Prävention und Therapie einer IAH/ACS besteht aus 4 Grundprinzipien, die für alle Patienten zutreffen, auch wenn jeweils sehr individuell vorgegangen werden muss (. Abb. 74.16): 4 Monitoring des IAP bei Risikopatienten. 4 Optimierung des systemischen Perfusionsdrucks bei Patienten mit erhöhtem IAP:
. Abb. 74.15. Abdominelles Kompartmentsyndrom (ACS) : Circulus vitiosus
965 74.6 · Abdomielles Kompartmentsyndrom
74
. Abb. 74.16. Therapiealgorithmus bei intraabdomineller Hypertension und abdominellem Kompartmentsyndrom (IAP intraabdomineller Druck, APP abdomineller Perfusionsdruck, IAH intraabdominelle Hypertension, ACS abdominelles Kompartmentsyndrom)
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Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass bei Traumapatienten, chirurgischen und konservativen Intensivpatienten eine Erhaltung eines APP (= MAP – IAP) >60 mm Hg mit besserem Überleben verbunden war (Übersicht bei Cheatham et al. 2007). Da eine reine Volumentherapie bei Massivinfusion ein ACS auslösen oder verstärken kann, ist im Einzelfall ein balanciertes Regime mit positivinotropen Substanzen, Vasokonstriktoren und Volumengabe anzustreben. Wie bei der Sepsis (7 Kap. 63) gilt auch beim ACS das Prinzip der »early goal directed therapy«. Eine alleinige Flüssigkeitszufuhr kann bei entsprechender Disposition ein ACS auslösen. Andererseits erfordern gerade manche chirurgischen Krankheitsbilder wie Pankreatitis, Peritonitis und Zustand nach Ileus sowie Blutungsschock eine große Volumensubstitution. Hier ist klinische Erfahrung neben dem Monitoring der Messparameter des Kreislaufs, der Lungenfunktion und des IAP unter den laufenden Therapiemaßnahmen von größtem Wert. Bei mainfestem IAH kann evtl. eine hypertone Flüssigkeitssubstitution oder die Gabe von Kolloiden von Vorteil sein. Die vorliegenden Studien sind jedoch nicht ausreichend für entsprechende allgemeine Empfehlungen 4 Nichtoperative Maßnahmen zur Reduktion des IAP und zur Beeinflussung des ACS: Bei distendiertem Gastrointestinaltrakt und Ileus ist eine Dekompression von Magen oder Kolon eine zwingend erforderliche Basismaßnahme. Während eine Magendekompression durch eine Magensonde mit kontinuierlichem Ablauf einfach zu bewerkstelligen ist, kann eine Dekompression des Dickdarms neben Prokinetika und Einläufen im Einzelfall, z. B. bei Pseudoobstruktion, eine mehrfache endoskopische Absaugung erfordern oder gar die Anlage eines passageren Stomas. Bei deutlicher Volumenüberladung und ACS kann eine Hämofiltration mit Flüssigkeitsentzug zielführend sein, um die respiratorische Insuffizienz zu bessern, aber auch den IAP durch Flüssigkeitsentzug bei schon bestehendem Nierenversagen zu reduzieren. Auch kann bei IAH mit noch vorhandener Harnausscheidung im Einzelfall eine Hämofiltration anstelle einer Volumen- und Diuretikagabe erfolgversprechender sein. Dies ist nur im Einzelfall vom erfahrenen Intensivmediziner abzuwägen. Bei Vorliegen von Flüssigkeitsverhalt im Abdomen und Retroperitoneum kann im Einzelfall auch eine perkutane Drainage mit Abszess-, Aszites- oder Blutentlastung ein IAH oder ein ACS positiv beeinflussen. Hier sollten in Abstimmung zwischen Chirurg, Intensivmediziner und interventionellem Radiologen die Therapiechancen anhand der Klinik und eines CT diskutiert werden. 4 Notfallmäßige Dekompression des Abdomens bei refraktärem ACS: In Extremsituationen kann die Eröffnung des Abdomens oder die Wiedereröffnung eines Bauchdeckenverschlusses die wichtigste Notfallmaßnahme noch auf der Intensivstation im Bett sein. Bei allen Patienten, die ein ACS aufweisen, das auf nichtoperative Maßnahmen nicht anspricht, hat eine Entlastungslaparotomie mit offenem Abdomen zu erfolgen. Bei Laparotomie von Risikopatienten sollte schon primär auf einen Bauchdeckenverschluss unter Spannung verzichtet werden (Peritonitis, rupuriertes Aortenaneurysma, schweres Abdominaltrauma, komplizierte Lebertransplantation). Zum provisorischen Bauchdeckenverschluss existie-
ren die unterschiedlichsten Konzepte bis hin zum Vakuumverschluss. Der definitve Bauchdeckenverschluss kann beim akuten ACS und rascher Erholung oft innerhalb 5–10 Tagen erfolgen, bei schwerst Kranken mit Sepsis und MOV muss öfters auf einen Faszien- oder auch Hautverschluss verzichtet und eine Sekundärheilung mit Meshgraft-Deckung in Kauf genommen werden. i Eine frühzeitige Entlastungslaparotomie kann bei Patienten mit ACS lebensrettend sein.
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Kapitel 74 · Intensivtherapie nach abdominalchirurgischen Eingriffen
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75 Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff K. Nassau, K. Kesel, E. Kilger, B. Zwißler
75.1
Grundlagen der Behandlung
75.2
Über wachung nach herzchirurgischem Eingriff
75.2.1 75.2.2
Routineüberwachung –970 Erweitertes hämodynamisches Monitoring –970
75.3
Herz-Kreislauf-Therapie
75.3.1 75.3.2 75.3.3
Herzfunktion –972 Perfusionsdruck –976 Rhythmus –977
75.4
Systemisches Inflammationssyndrom (SIRS)
75.5
Blutgerinnung
75.6
Komplikationen nach Kardiochirurgie
75.6.1 75.6.2 75.6.3 75.6.4 75.6.5 75.6.6 75.6.7
Myokardinfarkt –981 Nierenversagen –982 Lungenversagen –983 Gastrointestinale Komplikationen –983 Neurologische Defizite –983 Infektionen –984 Posttraumatische Belastungsstörungen –984
75.7
Minimal-invasive Herzchirurgie Literatur
–984
–970 –970
–971
–979
–984
–981
–979
75
970
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
75.1
Grundlagen der Behandlung
Herzchirurgische Eingriffe gehören zu den häufigsten Operationen weltweit. Die Anzahl der Eingriffe ist bis vor wenigen Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2003 wurden in Deutschland knapp 95.000 Eingriffe mir extrakorporaler Zirkulation (EKZ) durchgeführt. Die Indikationen für herzchirurgische Eingriffe schließen myokardiale Ischämien, Herzvitien, Herzinsuffizienz, kongenitale Fehlbildungen und Arrhythmien mit ein. Trotz ständiger Fortschritte sowohl der operativen Techniken als auch der perioperativen Patientenbetreuung ist die Letalität bei Erwachsenen in einem Bereich von etwa 3‒4% seit Jahren konstant. Mitverantwortlich für diese Stagnation ist die Tatsache, dass zunehmend ältere Patienten mit mehr Begleiterkrankungen operiert werden. Der Anteil der über 70-jährigen Patienten lag in einer bundesweiten Erhebung aus dem Jahr 2003 bei 40% – im Vergleich dazu 1996 noch bei 29%. Während noch vor einigen Jahren das kardiale Pumpversagen die häufigste Todesursache war, steht heute das Multiorganversagen im Vordergrund. Neben Begleiterkrankungen ist eine generalisierte Entzündungsreaktion (SIRS) nach herzchirurgischen Eingriffen ein Hauptfaktor in der Genese des Multiorganversagens. Hinzu kommt eine Traumatisierung durch den ausgedehnten herzchirurgischen Eingriff.
Potenzielle Komplikationen nach kardiochirurgischem Eingriff 5 Myokardiales Pumpversagen/Myokardischämie/ Low-Output-Syndrom 5 Herzrhythmusstörungen 5 Systemische Inflammation (SIRS) 5 Respiratorische Insuffizienz 5 Hämodilution/Anämie 5 Verlust-, Verdünnungs-, Verbrauchskoagulopathie 5 Niereninsuffizienz 5 Gastrointestinale Funktionsstörungen 5 Neurologische Defizite 5 Infektionen
Einzelne dieser Veränderungen treten in unterschiedlicher Ausprägung bei nahezu jedem Patienten auf und erfordern v. a. in der frühen postoperativen Phase eine gezielte Intervention. Besonderheiten in der Therapie dieser Störungen bei Erwachsenen sind Gegenstand dieses Kapitels. Die intensivmedizinische Betreuung von Kindern, die häufig bereits in den ersten Lebenswochen am Herz operiert werden müssen, erfordert aufgrund der adaptiven Besonderheiten bei Säuglingen und Kleinkindern und den komplexen pathophysiologischen Veränderungen zusätzliche Kenntnisse in der Pädiatrie und Kinderkardiologie. 75.2
Überwachung nach herzchirurgischem Eingriff
75.2.1 Routineüber wachung Überwachung und Behandlung eines Patienten in den ersten Stunden nach einem kardiochirurgischen Eingriff sind personell und apparativ aufwändig.
Routineüberwachung nach herzchirurgischem Eingriff 5 Kontrolle von Blutdruck, Herzfrequenz, Diurese und Körpertemperatur 5 ST-Segment-Analyse am Monitor/kontinuierliche Arrhythmieüberwachung 5 12-Kanal-EKG und Thoraxröntgendiagnostik 5 Berurteilung des Volumenstatus 5 Dokumentation des Blutverlustes über die Thoraxdrainagen 5 Dokumentation von Beatmungsparametern 5 Durchführung von Blutgasanalysen 5 Engmaschige Kontrolle der Elektrolyt-, Blutzucker und Laktatkonzentration 5 Kontrolle von Myokardmarkern, Blutbild und Gerinnung (alle 6 o 12 o 24 h) 5 Kontrolle der Leber- und Nierenfunktionsparameter sowie der Infektionsmarker
Arterieller Zugang Die invasive arterielle Kanülierung erlaubt neben der kontinuierlichen Registrierung des arteriellen Blutdrucks die häufige Entnahme von Blutproben zum Monitoring des pulmonalen Gasaustausches, des Säure-Basen-Haushalts und der Elektrolyte. Die Blutdruckgrenzen sollten bei kardiochirurgischen Patienten eng eingestellt sein. Dabei sollte ein MAP zwischen 60 und 70 mm Hg nicht unterschritten werden. Bei Operationen an der Aorta wird meist zum Schutz der Nähte eine systolische Druckobergrenze (meist 120 mm Hg) eingehalten.
Zentraler Venenkatheter Die Anlage eines mehrlumigen zentralen Venenkatheters ist bei intrathorakalen Eingriffen in der Regel indiziert. Bei der Katheterauswahl sollten mindestens 3 Lumina eingeplant werden, da einige in der kardiochirurgischen Intensivmedizin eingesetzte Medikamente galenisch inkompatibel sind (z. B. Enoximon, Amiodaron, Furosemid). 75.2.2 Er weiter tes hämodynamisches Monitoring
Pulmonalarterienkatheter Die Indikation zum erweiterten makrohämodynamischen Monitoring nach einer Herzoperation hängt vom prä- und intraoperativen Zustand des Patienten ab. Eine Reduktion der perioperativen Morbidität und Letalität durch eine Überwachung herzchirurgischer Patienten mittels Pulmonalarterienkatheter (PAK) ist nicht belegt. Die Indikation zur Anlage eines Pulmonalarterienkatheters ist daher streng zu stellen. Sie ergibt sich v. a. in Fällen, bei denen eine Messung des pulmonalarteriellen Druckes indiziert ist, wie z. B. nach Mitralklappenoperation, nach Herztransplantation oder bei einem akuten Druckanstieg im Rahmen eines akuten Lungenversagens. Die Messung wird zudem zur Steuerung der Therapie im Rahmen der rechtsventrikulären Nachlastsenkung bei Rechtsherzversagen benötigt.
971 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
Transkardiopulmonale Thermodilution und Pulskonturanalyse Bei dem transkardiopulmonalen Messsystem zum hämodynamischen und volumetrischen Monitoring wird das Herzzeitvolumen sowohl diskontinuierlich mittels transkardiopulmonaler Thermodilution als auch kontinuierlich durch arterielle Pulskonturanalyse ermittelt. Die Messung des Herzzeitvolumens mittels Pulskonturanalyse wird durch die transkardiopulmonale Thermodilution kalibriert. Ein kalter Bolus (d24ºC, 10‒15 ml) wird über einen zentralvenösen Katheter injiziert. Die Temperatur des Injektats wird mittels Thermistor am Injektionsort registriert. Mit einem zweiten Thermistor, der in die Spitze eines arteriellen Femoraliskatheters eingebracht wird, wird der Temperaturverlauf des Blutes nach Injektion des Indikators gemessen. Über die Kalibrierung hinaus liefert die transkardiopulmonale Thermodilution u. a. Informationen über das intrathorakale Blutvolumen (ITBV). Das ITBV setzt sich zusammen aus dem global enddiastolischen Volumen (GEDV) und dem Volumen der Lungenstrombahn. Zur Abschätzung der kardialen Vorlast ist der Messwert des ITBV genauer als ZVD oder PCWP. Durch Therapiealgorithmen, die auf dem GEDVI basieren, konnten nach herzchirurgischen Eingriffen neben der Dauer der Katecholamintherapie auch die Dauer der Beatmung und des Intensivaufenthalts reduziert werden [16]. Aus der kontinuierlichen Beat-to-beat-Analyse des arteriellen Pulssignals werden weitere volumetrische Parameter abgeleitet. Die (be)atmungsabhängige Oszillation der Pulsdruckkurve wird rechnerisch ausgewertet. Aus den zyklischen Schwankungen ergibt sich die Schlagvolumenvariation (SVV) als Korrelat des intravasalen Volumenstatus. Diese scheint ein besserer funktioneller Preload-Parameter zu sein als die statischen Parameter PCWP und ZVD.
Gemischtvenöse Sauerstoffsättigung Die Sauerstoffsättigung im gemischtvenösen Blut (SvO2) liefert Informationen über das Maß der globalen Sauerstoffausschöpfung. Bei hypodynamer Kreislaufsituation (z. B. kardial bedingtes Low-output-Syndrom) nimmt die periphere Sauerstoffausschöpfung zu, die arteriovenöse Differenz des Sauerstoffgehalts (avDO2) steigt, und die gemischtvenöse Sättigung fällt ab. Niedrige Werte fordern eine prompte Intervention zur Steigerung des Sauerstoffangebots der Gewebe. Eine zielorientierte Volumen- und Katecholamintherapie, die als Richtgröße eine SvO2 >70% in der frühen postoperativen Phase nach Herzoperation anstrebt, verkürzt die Krankenhausliegedauer und die Inzidenz einer fortbestehenden Organdysfunktion bei Entlassung (z. B. Niereninsuffizienz oder neurologisches Defizit) [33].
Zentralvenöse Sauerstoffsättigung In aktuellen Studien wurde die Sauerstoffsättigung im zentralvenösen Blut (ScvO2) bei der Initialtherapie kritisch kranker Patienten als Surrogatparameter für die gemischtvenöse Sättigung verwendet. Tatsächlich kann die zentralvenöse Sättigung in Zusammenschau mit anderen Parametern, wie dem Laktat- und dem pH-Wert, orientierend Aufschluss über die globale Sauerstoffbilanz geben, ohne dass die Anlage eines Pulmonalarterienkatheters notwendig wäre [11].
Linksatrialer Katheter Ein linksatrialer Katheter wird intraoperativ über einen direkten Zugang nach Eröffnung des Perikards eingelegt. Das distale
75
Ende des Katheters wird durch die Thoraxwand ausgeleitet. Das proximale Katheterende ist nicht an der Vorhofwand fixiert, sodass der Katheter durch Zug entfernt werden kann. Ein linksatrialer Katheter erlaubt die direkte Messung des linksatrialen Druckes (LAP). Dieser entspricht bei normaler Mitralklappenfunktion dem linksventrikulären enddiastolischen Füllungsdruck (LVEDP) und korreliert unter Berücksichtigung der linkskardialen Compliance mit der linksventrikulären Vorlast. Über einen linksatrialen Katheter ist die Zufuhr vasopressorischer Substanzen distal der pulmonalen Strombahn möglich. Dieser Applikationsweg soll eine katecholamininduzierte Aggravierung einer pulmonalen Hypertension verhindern.
Echokardiographie Die transthorakale und transösophageale Echokardiographie (TTE/TEE) als semi-invasives Verfahren erlaubt die visuelle Beurteilung der Herz- und Klappenfunktion. Aussagekräftige Untersuchungsresultate setzen eine entsprechende Ausbildung und Erfahrung des Untersuchers voraus. Über standardisierte Schnittebenen können die globale LV- und RV-Funktion und der Volumenstatus beurteilt sowie regionale Wandbewegungsstörungen und Klappen- und Herzvitien dedektiert werden. Mittels CW- und PW-Dopplertechnik lassen sich Blutflussgeschwindigkeiten über allen Klappen sowie rechts- und linksventrikulärem Ausflusstrakt quantifizieren. In einem echkardiographischen Untersuchungsgang zu erfassende Funktionsparameter/diagnostische Möglichkeiten 5 5 5 5 5 5
Globale links- und rechtsventrikuläre Pumpfunktion Volumenstatus Regionale Wandbewegungsstörungen Klappenvitien Endokarditis/intrakavitäre Thromben Dissektionen/Aneurysmen der Aorta ascendens und der thorakalen Aorta descendens 5 Ausschluss einer Perikardtamponade 5 Positionierung einer intraaortalen Gegenpulsationspumpe (IABP) 5 Beurteilung des operativen Ergebnisses
Die echokadiographische Untersuchung ist ein hochsensitives Verfahren zur Detektion von Myokardischämien. Neu aufgetretene regionale Wandbewegungsstörungen sind bei myokardialer Perfusionsstörung früher erkennbar als EKG-Veränderungen und lassen eine annähernde Lokalisation des okkludierten Gefäßes zu. Bei Patienten, die akute anhaltende hämodynamische Störungen aufweisen und bei denen die ventrikuläre Funktion und ihre Determinanten unklar sind, ist die Echokardiographie sinnvoll und verbessert das klinische Outcome (Empfehlungsgrad B Klassifikation Oxford Centre). 75.3
Herz-Kreislauf-Therapie
Obwohl herzchirurgische Eingriffe langfristig zu einer kardialen Verbesserung führen sollen, ist im unmittelbar postoperativen Verlauf mit einer passageren kardialen Funktionseinschränkung zu rechnen. Das Ausmaß und die Dauer dieser Reduktion hän-
972
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
Genese des Pumpversagens ist trotz allem nicht immer möglich [3]. Mögliche Ursachen eines Low-output-Syndroms nach herzchirurgischem Eingriff
75
. Abb. 75.1. Frank-Starling-Mechanismus: Beziehung zwischen Schlagvolumen und Vorlast
gen von der Schwere der vorbestehenden Dysfunktion, der Qualität der intraoperativen Myokardprotektion, dem Ischämiereperfusionsschaden und dem operativen Ergebnis ab. »Myocardial stunning« beschreibt die reversible Dysfunktion nach zeitlich begrenzter kardialer Ischämie und anschließender Reperfusion. Diese Situation besteht auch nach kardioplegischem Herzstillstand. Es kommt zu einem Zellödem mit intrazellulärer Kalziumakkumulation und zur Freisetzung von Sauerstoffradikalen in der Phase der Reperfusion. Zur Verbesserung der postoperativen Funktion ist neben der inotropen Unterstützung v. a. die Optimierung der Vorlast, aber auch der Nachlast von entscheidender Bedeutung (FrankStarling-Mechanismus; . Abb. 75.1). Typischerweise versucht man, diese Optimierung durch Messung der Füllungsdrücke zu erzielen, wobei diese die ventrikuläre Vorlast vielfach nicht verlässlich reflektieren. Aufgrund der postoperativ verminderten Compliance (diastolische Dysfunktion) benötigt das Myokard in dieser Phase eine höhere Vorlast zur Optimierung der Auswurfleistung. Selbst ein Herz mit präoperativ normaler Auswurfleistung (EF >50%) und unauffälligem intraoperativem Verlauf wird meist in den ersten 6 h auf der Intensivstation eine Verschlechterung der Pumpfunktion um 10‒15% erfahren und sich erst im weiteren Verlauf innerhalb von 24 h erholen. Ausmaß und Dauer der postoperativen systolischen Dysfunktion sind individuell sehr unterschiedlich. Je ausgeprägter die Kontraktilitätsminderung ist, desto höher ist das Risiko multipler Endorgandysfunktionen. 75.3.1 Herzfunktion Postoperativ ist die schnelle Wiederherstellung eines adäquaten Herzzeitvolumens unter optimierter myokardialer Sauerstoffbilanz prognostisch entscheidend. Das Risiko einer globalen Minderperfusion besteht unter Normothermie bei einem »cardiac index« (CI) <2,0‒2,2 l/m2. Dennoch lässt sich die Bedeutung eines unzureichenden Herzeitvolumens nur in der Zusammenschau vieler Befunde abschätzen. Orientierend erlaubt die Bestimmung des Serumlaktatwerts, des Säure-Basen-Status und der zentral- oder gemischtvenösen Sauerstoffsättigung mit arteriovenöser Sauerstoffdifferenz einen Rückschluss auf die globale Sauerstoffbilanz. Ein erweitertes hämodynamisches Monitorung quantifiziert die Herzleistung und dient zur Therapiesteuerung. Durch eine echokardiographische Untersuchung können Perikardtamponaden oder sonstige operativ bedingte Komplikationen ausgeschlossen werden. Eine eindeutige Zuordnung der
5 Systolisches und/oder diastolisches Herzversagen 5 Postoperativer Myokardinfarkt, z. B. frühzeitiger Bypassverschluss 5 Herzrhythmusstörungen 5 Perikardtamponade bei Nachblutung/Erguss 5 Hypovolämie/Hypervolämie 5 Pneumothorax/Hämatothorax 5 Akute Klappendysfunktion, z. B. Mitralklappenprolaps bei Sehnenfadenabriss 5 Shuntvitien
Linksventrikuläre Funktion An erster Stelle in der Therapie des linksventrikulären Pumpversagen steht die Optimierung der myokardialen Vorlast. Darüber hinaus existieren verschiedene pharmakologische und apparative Möglichkeiten zur Verbesserung der linksventrikulären Pumpfunktion. Zur pharmakologischen Verbesserung der myokardialen Kontraktilität kommen Dopamin, Dobutamin, Adrenalin, Noradrenalin, Phosphodiesterasehemmer sowie der Kalzium-Sensitizer Levosimendan zur Anwendung. Die Summation der inotropen, vasokontriktorischen oder vasodilatierenden und chronotropen Wirkungen jeder Substanz muss auf die physiologische Situation des Patienten abgestimmt werden, um den optimalen Therapieeffekt zu erzielen. Eine Kombinationstherapie von Inotropika und Vasokostriktoren ist bei schwer eingeschränkter Pumpfunktion mit Hypotension häufig erforderlich. Apparative Unterstützungssysteme bei myokardialem Pumpversagen sind die intraaortale Gegenpulsationspumpe (IABP) oder verschiedenste Assist-device-Formen von passageren bis bleibenden Kunstherzen.
Medikamentöse Therapie Dopamin war viele Jahre das bevorzugte Katecholamin zur kreislaufstützenden Therapie bei kardiochirurgischen Patienten, insbesondere im Hinblick auf eine Aufrechterhaltung der Nierenfunktion. Die Daten bezüglich der regionalen Perfusion unter Dopamin sind jedoch uneinheitlich. Einige Studien zeigten sogar eine Verschlechterung der renalen und der gastrointestinalen Perfusion. Dies kann dadurch bedingt sein, dass infolge des dosisabhängigen Wirkprofils von Dopamin bereits im niedrigen Dosisbereich eine Vasokonstriktion auftritt. Der Anstieg des koronararteriellen Blutflusses ist unter Dopamin geringer als der Anstieg des Herzzeitvolumens. Ebenso ist bei Patienten mit KHK ein Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks durch Dopamin ungünstig [19]. Der Einsatz von Dopamin wird daher in der Behandlung kardiochirurgischer Patienten zunehmend kritisch diskutiert. Dobutamin ist ein synthetisches Katecholamin, das E1-, E2und D-Rezeptoren als Angriffspunkt hat. Dobutamin stimuliert v. a. die myokardialen E1-Rezeptoren. Die E2- und D-Wirkung ist wesentlich schwächer ausgeprägt. Die Substanz steigert das Herzzeitvolumen und verbessert die renale und gastrointestinale Durchblutung. Durch Stimulation von E2-Rezeptoren kann jedoch der arterielle Perfusionsdruck abfallen.
973 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
Die proarrhythmogene Wirkung und die Steigerung der Herzfrequenz sind nach herzchirurgischen Eingriffen unerwünscht, da die Arrhythmieneigung postoperativ per se erhöht ist. Vor allem bei eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion wird eine Tachykardie oder Tachyarrhythmie aufgrund der verkürzten und unregelmäßigen Diastolendauer schlecht toleriert. Adrenalin ist eine stark positiv-inotrop wirkende Substanz. Die kardiovaskulären Effekte von Adrenalin beruhen auf einer direkten Stimulation der E- und D-Rezeptoren. Adrenalin erhöht die Leitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten bzw. den Purkinje-Fasern, verkürzt die Systole mehr als die Diastole und steigert so die diastolische Perfusion des Myokards. Gleichzeitig nimmt jedoch auch der myokardiale Sauerstoffverbrauch zu, sodass es besonders bei Patienten mit nicht vollständiger Revaskularisation zu einem Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und -bedarf kommen kann. In äquipotenter Dosierung ist der positiv-chronotrope Effekt weniger ausgeprägt als unter Dobutamin. Nachteilig sind die potenzielle Verschlechterung der Splanchnikusperfusion und die Verstärkung einer Laktazidose [30, 40]. Der positiv-inotrope Wirkungsmechanismus der Phosphodiesterasehemmer (PDE-Hemmer) wie Enoximon, Amrinon oder Milrinon erfolgt durch die Hemmung der PDE III an der Zellmembran. Dadurch wird der Abbau von cAMP gehemmt, sodass erhöhte cAMP-Spiegel resultieren. Eine positive Inotropie mit direkter venöser und arterieller Dilatation ist die Folge. Die Vorteile der PDE-Hemmer im Vergleich zu den Katecholaminen bestehen in der rezeptorunabhängigen Steigerung der Myokardkontraktilität. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt bei Patienten mit Down-Regulierung der E-Rezeptoren. PDEInhibitoren reduzieren zudem die myokardiale Wandspannung und ökonomisieren den Sauerstoffverbrauch trotz der Erhöhung der Myokardkontraktilität. Zusätzlich verbessern sie die diastolische Relaxation des Herzens [35, 44]. Eine Hypovolämie muss vor Gabe eines PDE-Hemmers ausgeglichen werden, da anderenfalls infolge der vasodilatierenden Wirkung ein ausgeprägter Blutdruckabfall auftreten kann. Die Wirkung zu den Katecholaminen ist additiv. Kommt es trotz adäquater Volumentherapie zu einem kritischen Abfall des Perfusionsdrucks, sollte zusätzlich ein Vasopressor wie Noradrenalin verabreicht werden. Die Kombination von Enoximon oder Milrinon mit Noradrenalin hat sich dabei als effektives Konzept bei der schwierigen Entwöhnung vom kardiopulmonalen Bypass erwiesen. Milrinon und Dobutamin sind vergleichbar in der Therapie des Low-output-Syndroms nach herzchirugischem Eingriff. Allerdings tritt unter Dobutamin signifikant häufiger Vorhofflimmern als bei Milrinon auf. Die Gabe von Milrinon hingegen ist häufiger mit Sinusbradykardien assoziiert [13]. Levosimendan kommt aus der Familie der Kalzium-Sensitizer. Es verbessert die myokardiale Kontraktilität und wirkt auf die glatte Muskulatur relaxierend. Levosimendan bewirkt am Herzmuskel keine Konzentrationsänderung von intrazellulärem Kalzium. Die Substanz wirkt nicht wie die konventionellen Inotropika über einen »second messenger« (cAMP). Die positiv-inotrope Wirkung wird durch Sensibilisierung des kardiospezifischen Troponin C für Kalzium erzielt. Die Bindung an Troponin C führt zu längeren Aktin-Myosin-Querbrückenankopplungen und damit zu mehr Kraftentwicklung der kontraktilen Elemente der Herzmuskelzellen. Da die intrazelluläre Kalziumkonzentration nicht erhöht wird, bleibt die diastolische Relaxation unverändert.
75
Über eine Aktivierung der ATP-abhängigen Kaliumkanäle wirkt Levosimendan relaxierend. Dadurch kommt es sowohl im arteriellen als auch im venösen System zu einer Vasodilatation. Ferner führt es dadurch zu einer Zunahme des koronaren Blutflusses, was gerade bei Patienten nach Bypasschirurgie erwünscht ist. Levosimendan steigert nicht den myokardialen Sauerstoffverbrauch, was sich zusammen mit der verbesserten Koronarperfusion bei »stunned« oder »hibernating myocardium« als effektiv erwiesen hat [32]. Levosimendan wird kontinuierlich mit einer Dosis von 0,05‒0,1 Pg/kg KG/min mit oder ohne Aufsättigungsbolus verabreicht. Die Therapiedauer differiert derzeit noch stark zwischen 6 und 24 h. Der positiv-inotrope Effekt wird dosisabhängig für wenigstens 48 h nach Beendigung der Infusionzeit nachgewiesen. Verantwortlich dafür ist der Metabolit OR-1876 mit einer Halbwertszeit von 70‒80 h, der bei der Metabolisierung in Leber und Darm entsteht.
In den Leitlinien der »European Society of Cardiology« (2005) wird Levosimendan bei symptomatischem Low-output-Syndrom aufgrund systolischen Herzversagens empfohlen (Klasse IIb).
Der Inodilatator Levosimendan ist eine vielversprechende neue Substanz zur Therapie der akuten Herzinsuffizienz [14]. Aufgrund ihrer pharmakologischen Eigenschaften scheint sie besonders bei ischämiebedingten Funktionseinschränkungen des Myokards geeignet zu sein. Aussagefähige Studien zum Stellenwert von Levosimendan im Bereich der Herzchirurgie, zur optimalen Dosis, der Dauer der Therapie sowie der Langzeiteffekte und der Effekte auf das Patientenüberleben stehen allerdings noch aus [34]. Wegen fehlender Zulassung kann Levosimendan in Deutschland derzeit nur im Rahmen des sog. Heilversuchs zur Anwendung kommen.
Intraaortale Gegenpulsation Bei der intraaortalen Gegenpulsation (IABP) wird in SeldingerTechnik über die A. femoralis ein Ballonkatheter in die Aorta descendens eingebracht. Der Ballon wird in der Diastole – nach Schluss der Aortenklappe – binnen Millisekunden mit Helium gefüllt und kurz vor Beginn der nächsten linksventrikulären Ejektion schlagartig wieder abgelassen. Es resultiert eine Augmentation des diastolischen Druckes, der den intraventrikulären systolischen Druck übersteigen sollte. Die Koronarperfusion nimmt zu. Die präsystolische Entleerung des Ballons vermindert die linksventrikuläre Nachlast durch Absenkung des enddiastolischen Aortendrucks nach einer assistierten Systole (. Abb. 75.2). Die Triggerung der Pumpenaktionen kann über ein EKG-Signal, die an der Katheterspitze aufgenommene aortale Pulsdruckkurve oder über Herzschrittmacherspikes erfolgen. Der Einsatz der IABP-Pumpe ist eine Klasse-I-Empfehlung im kardiogenen Schock und eine Klasse-IIa-Empfehlung bei Myokardinfarkt mit hämodynamischer Instabilität oder bei reduzierter linksventrikulärer Ejektionsfraktion. Die Inzidenz einer Ischämie des Beines auf der Seite der Katheterinsertion lag früher bei 5–18%, konnte jedoch durch die Einführung neuer Katheter mit geringerem Außendurchmesser und die Anwendung einer schleusenlosen Technik weiter reduziert werden. Die Minderperfusion ist nach Entfernen des Kathe-
974
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
75
. Abb. 75.2 Druckkurvenverlauf bei Ballongegenpulsation. (Mit freundlicher Genehmigung von Datascope Deutschland)
Jede pulmonale Hypertension hat einen Anstieg der rechtsventrikulären Nachlast zur Folge. Eine vorbestehende pulmonale Hypertension kann durch die nach EKZ häufig beobachtete Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den gefäßwirksamen Mediatoren zugunsten pulmonaler Vasokonstriktoren oder die Wirkung von Protamin weiter verstärkt werden und ein akutes Rechtsherzversagen auslösen. Postoperative Hypoxie, Hyperkapnie und Azidose wirken additiv. Eine pathologische Erhöhung der rechtsventrikulären Nachlast kann eine relative Ischämie des rechten Ventrikels zur Folge haben. In dieser Situation sinkt der Gradient zwischen dem rechtskoronaren Perfusionsdruck und dem intraventrikulären Druck im rechten Herz. Eine absolute Ischämie im Sinne eines Rechtsherzinfarkts ist meist Folge eines proximalen Verschlusses der rechten Koronararterie. Postoperativ ist die Kontraktilität des RV infolge von Kardioplegie und Reperfusion häufig eingeschränkt.
ters meist reversibel. Schwerwiegende vaskuläre Komplikationen sind, ebenso wie katheterassoziierte Infektionen oder ein Ballonleck, selten [31].
! Cave Der rechte Ventrikel reagiert auf eine Volumenüberladung (Überdehnung) während der Entwöhnung vom kardiopulmonalen Bypass empfindlich (Übersicht bei [46]).
i Mehrere Studien bestätigten, dass der frühzeitige – bei Hochrisikopatienten bereits präoperativ begonnene – Einsatz der IABP die Letalität und die Behandlungskosten einer Herzoperation reduziert.
Diagnostik und Überwachung bei Rechtsherzversagen
Schrittmacherstimulation Über die intraoperativ angelegten epikardialen Schrittmachersonden ist es durch Stimulation oberhalb der Eigenfrequenz möglich, das Herzzeitvolumen auch bei unverändertem Schlagvolumen zu steigern. Patienten mit Sinusrhythmus profitieren von einer atrialen Stimulation, da die Erregung über das physiologische Reizleitungssystem geleitet wird und Vorhof und Ventrikelkontraktion adäquat aufeinander abgestimmt werden. Durch die alleinige ventrikuläre Stimulation geht ein optimaler Kontraktionsablauf verloren und reduziert bei Patienten mit Sinusrhythmus das Herzzeitvolumen. Bestehen postoperativ Reizleitungsstörung, ist zur Steigerung des Herzzeitvolumens eine DDD-Stimulation mit angepasster AV-Überleitungszeit sinnvoll. Kardiologische Patienten mit einer linksventrikulären Ejektionsfraktion ≤35%, einer QRS-Dauer von >130 ms (v. a. bei Linksschenkelblock) bei Sinusrhythmus und in einem NYHAStadium III‒IV profitieren von einer biventrikulären Stimulation durch eine Resynchronisation des Kontraktionsablaufs. Eine biventrikuläre Stimulation zur Optimierung des Kontraktionsablaufs und Verbesserung der Herzleistung ist auch temporär über die epikardalien Schrittmachersonden möglich. Durch atriobiventrikuläre Stimulation bei eingeschränkter EF nach Bypassoperation konnte bei Patienten der Herzindex im Gegensatz zu einer atrialen Stimulation gesteigert werden. Fallstudien geben Hinweise, dass der Inotropikabedarf unter dieser Stimulation bei Patienten mit Herzinsuffizienz (NYHA IV) nach Bypassoperation reduziert werden kann [20,42].
Rechtsherzversagen Eine Dysfunktion des rechten Ventrikels (RV) wird v. a. durch Veränderungen seiner Nachlast und/oder seiner Kontraktilität ausgelöst. Die Inzidenz des schweren akuten Rechtsherzversagens beträgt 0,1% bei konventioneller Herzoperation, 2–3% nach Herztransplantation und 20–30% nach Implantation eines linksventrikulären Assistsystems [21].
Die Echokardiographie ist die beste Methode zum Nachweis einer akuten rechtsventrikulären Dysfunktion. Beim Rechtsherzversagen ist ein erweitertes hämodynamisches Monitoring unverzichtbar. Der zentrale Venendruck bildet das rechtsventrikuläre enddiastolische Volumen und damit die Vorlast häufig unzureichend ab. Eine Methode zur bettseitigen Bestimmung des Füllungsvolumens ist die Fast-response-Thermodilutionstechnik als Fortentwicklung der Swan-Ganz-Methode. Der Katheter registriert nach Injektion eines Kältebolus Schlag für Schlag die Temperaturänderung in der Pulmonalarterie. Daraus werden die Auswurffraktion und das enddiastolische Volumen des rechten Ventrikels errechnet.
Therapiestrategien beim Rechtsherzversagen Ist die Ursache der Rechtsherzdysfunktion bekannt, muss eine kausale Therapie angestrebt werden. Falls diese nicht möglich ist, muss eine symptomatische Therapie erfolgen.
Symptomatische Therapie der Rechtsherzinsuffizienz 5 Optimierung der Vorlast 5 Erhöhung des rechtsventrikulären Per fusionsdrucks durch Noradrenalin und/oder Einsatz der intraaortalen Gegenpulsation 5 Erhöhung der Kontraktilität durch Katecholamine und/oder Phosphodiesterasehemmer 5 Verminderung der Nachlast durch – hohe inspiratorische Sauerstoffkonzentration (Basismaßnahme) – mäßiggradige Hyperventilation und Azidoseausgleich (Basismaßnahme) – Gabe inhalativer Vasodilatatoren, wie Stickstoffmonoxid (NO) oder vasodilatierender Aerosole
Durch eine Volumentherapie kann über den Frank-Starling-Mechanismus eine Erhöhung des rechtsventrikulären Schlagvolu-
975 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
75
. Tabelle 75.1. Therapieoptionen bei Rechtsherzversagen Dosierunga
Halbwertszeitb
Nitroglycerin
0,1–0,8 µg/kg KG/min
2,7 min
Nitroprussidnatrium
0,2–0,8 µg/kg KG/min
3,5 min
Epoprostenol (PGl2-Analogon)
1,0–20 ng/kg KG/min
3,0 min
Iloprost
0,5–2 ng/kg KG/min
30 min
Stickstoffmonoxid (NO)
0,1–40 ppm
<3 s
Prostaglandin E1
5–20 ng/kg KG/min
Nicht untersucht
Epoprostenol (PGl2-Analogon)
10–25 ng/kg KG/min
Nicht untersucht
Iloprost
10–20 µg über 10–15 min
Nicht untersucht
Noradrenalin
0,02–0,4 µg/kg KG/min
Minuten
Adrenalin
0,03–0,15 µg/kg KG/min
Minuten
Dobutamin
5–20 µg/kg KG/min
Minuten
Dopexamin
0,25–1 µg/kg KG/min
7 min
Isoprenalin
0,01–0,05 µg/kg KG/min
3,8 min
Amrinon
0,75 mg/kg KG (über 2–3 min) o5–10 µg/kg KG/min
210–340 min
Enoximon
0,5 mg/kg KG (über 10 min) o 5–20 µg/kg KG/min
360 min
Milrinon
0,05 mg/kg KG (über 10 min) o 0,5 µg/kg KG/min
140–160 min
Medikament Vasodilatatoren (i.v.)
Vasodilatatoren inhalativ (nicht zugelassen)
Katecholamine
Phosphodiesterasehemmer
a Dosierungsangaben sind Anhaltszahlen. Eine individuelle Titration der Dosis je nach gewünschtem klinischen Effekt ist unverzichtbar und kann eine Über- oder Unterschreitung der angegebenen Dosierung erforderlich machen. b Anhaltswerte, die in Abhängigkeit vom Lebensalter sowie Vorerkrankungen starken Schwankungen unterliegen.
mens erfolgen, solange die Vorlastreserve des rechten Ventrikels noch nicht ausgeschöpft ist. Eine Volumenzufuhr darüber hinaus hat durch eine weitere Steigerung des intraventrikulären Druckes negative Auswirkungen. Bei arterieller Hypotension ist eine Steigerung der rechtskoronaren Perfusion durch Anhebung des systemischen Mitteldrucks prognostisch günstig, obwohl die Pulmonalgefäße von der vasokonstriktorischen Wirkung systemisch applizierter Vasopressoren nicht ausgenommen sind. Noradrenalin gilt als Mittel der Wahl zur Anhebung des Perfusionsdrucks bei dekompensiertem Rechtsherzversagen und Schock (. Tab. 75.1). Zur Verbesserung der Kontraktilität werden beim Rechtsherzversagen dieselben Substanzen eingesetzt wie bei der akuten Linksherzinsuffizienz. Dobutamin besitzt das günstigste Wirkungsprofil der Katecholamine. Die pulmonal vasokonstringierende Wirkung von Adrenalin und Dopamin ist ausgeprägter. Phosphodiesterasehemmer werden aufgrund ihrer inodilatorischen Wirkung mit gutem Erfolg eingesetzt, sofern der arterielle Druck stabil gehalten wird.
Bei der systemischen Gabe von Vasodilatatoren zur rechtsventrikulären Nachlastsenkung kommt es meist zu einem gleichzeitigen Blutdruckabfall mit Beeinträchtigung der Organperfusion und zur Verminderung der hypoxisch-pulmonalen Vasokonstriktion mit Verschlechterung der Oxygenierung. Dagegen induzieren inhaliertes Stickstoffmonoxid (NO) bzw. die Aerosole verschiedener vasodilatierender Prostanoide eine selektive pulmonale Vasodilatation. Inhalierte Vasodilatatoren werden daher aufgrund ihrer topischen Effekte systemischen Vasodilatatoren vorgezogen. Als besonders wirksam erwiesen sich die inhalativen Substanzen bei der Therapie des Rechtsherzversagens nach kardiochirurgischem Eingriff. Ihr Einsatz erscheint daher trotz der fehlenden Zulassung im Einzelfall gerechtfertigt.
976
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
. Tabelle 75.2. Kardiovaskuläre Medikamente. (Nach [3])
75
Substanz
Dosis
Inotropie
Chronotropie
Vasokonstriktion
Vasodilatation
Milrinon
0,125–0,5 µg/kg KG/min
++++
0
0
+++
Dobutamin
2–20 µg/kg KG/min
+++/++++
+/++
0
++
Adrenalin
1–20 µg/min
++++
++++
++++
+++
Noradrenalin
2–40 µg/min
++
+
++++
0
Dopamin
1–4 µg/kg KG/min
+
+
0
+
Vasopressin
0,01–0,04 IE/min
0
0
++++
0
75.3.2 Per fusionsdruck
Hypotension Der herzchirurgische Eingriff mit extrakorporaler Zirkulation ist häufig mit einem Vasodilatationssyndrom (VDS) verbunden. Neben bestimmter Begleitmedikation (ACE-Hemmer) wird v. a. ein systemisches Inflammationssyndrom (SIRS) dafür verantwortlich gemacht. Klinisch ist das VDS durch einen erniedrigten systemischen Widerstand gekennzeichnet. Ein inadäquater Perfusionsdruck (MAP <60‒70 mm Hg) sollte nicht wegen potenziell ungünstiger Nebenwirkungen von Vasopressoren toleriert werden. Dauert die katecholaminrefraktäre Vasoplegie länger als 36‒48 h, so steigt die Letalität auf bis zu 25% an. Zu den verfügbaren Medikamenten mit vasokonstriktorischen Eigenschaften zählen Noradrenalin, Vasopressin und selten Methylenblau [3] (. Tab. 75.2). Unter der Prämisse der Normovolämie erscheint der Einsatz von Noradrenalin zur Anhebung des Perfusionsdrucks nach einer Herzoperation als Mittel der Wahl. Noradrenalin weist neben dem D-adrenerg vermittelten vasokonstriktorischen Effekt auch eine positiv-inotrope Komponente auf. Die positive Inotropie wird über E1- und myokardiale D-Rezeptoren vermittelt. Da Noradrenalin eine größere Affinität zu D- als zu E-Rezeptoren besitzt, stehen die Effekte der D-adrenergen Stimulation im Vordergrund. Es kommt zu einer Konstriktion der Arteriolen und damit zu einem deutlichen Anstieg des peripheren Gefäßwiderstands. Der positiv-chronotrope Effekt wird durch eine Reflexbradykardie (Stimulation der Barorezeptoren) abgeschwächt. Mit der Anhebung des Perfusionsdrucks geht eine Verbesserung der regionalen Durchblutung der Nieren und des Splanchnikusgebiets einher. Vasopressin ist ein Hormon der Neurohypophyse, das über periphere Vasopressinrezeptoren (Subtyp V1a) eine katecholaminrezeptorunabhängige Vasokonstriktion bewirkt. Eine Kombination von Noradrenalin mit Argipressin (d4 IE/h) zeigte sich in neueren, prospektiv kontrolliert randomisierten Studien bei vasodilatativem Schock nach herzchirurgischen Eingriffen der Monotherapie mit Noradrenalin überlegen. Hinweise auf eine Reduktion der Tachyarrhythmien sowie eine Verbesserung der myokardialen Funktion im Gegensatz zu Noradrenalin konnten durch verschiedene Studien gesammelt werden. Die Beurteilung von Vasopressin im Hinblick auf die gastrointestinale Perfusion wird kontrovers diskutiert. Als ein Risikofaktor zur Entwicklung eines Vasodilatationssyndroms zählt die präoperative Einnahme eines ACE-Hemmers. Ob bei diesem
Risikokollektiv eine niedrigdosierte Gabe von Vasopressin bereits vor extrakorporaler Zirkulation nützlich sein kann, bedarf der weiteren Evaluation. Zur abschließenden Beurteilung des Stellenwerts von Vasopressin als Kombinationspartner von Noradrenalin nach kardiochirurgischen Eingriffen im Hinblick auf Morbidität und Mortalität fehlen größere prospektive Studien. Vasopressin (maximal 2‒4 IE/h) kann derzeit nicht als alternativer Vasopressor zu Noradrenalin, sondern allenfalls als zusätzliche vasoaktive Substanz im vasodilatatorischen Schock angesehen werden [12]. Das systemische Inflammationssyndrom ist assoziiert mit der Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO). Methylenblau inhibiert NO und verhindert die cGMP-abhängige Relaxation der glatten Muskulatur. Durch die Inhibition von NO soll die postoperative Vasoplegie abgeschwächt werden. Die Datenlage zur Therapie einer katecholaminrefraktären Vasoplegie durch Gabe von Methylenblau ist gering. Einige Fallberichte sowie eine randomisierte Studie konnten unter dieser Therapie die hohe Mortalität bei diesem Patientenkollektiv senken [26]. Nebenwirkungen dieser Substanz umfassen Arrhythmien, koronare Vasokonstriktion, ein reduziertes Herzzeitvolumen, reduzierte Perfusion im mesenterialen und renalen Stromgebiet sowie eine Erhöhung des pulmonalen Widerstands und eine Verschlechterung des pulmonalen Gasaustauschs. Diese treten verstärkt bei Dosierungen >2 mg/kg KG auf. Aufgrund unzureichender Datenlage und der beschriebenen Nebenwirkungen sollte die Indikation zur Therapie bei Vasoplegie nach herzchirurgischem Eingriff kritisch gestellt werden [26].
Hypertension Wenige Patienten entwickeln postoperativ eine Hypertension, die zum einen die Nachlast stark anheben und zum anderen eine postoperative Blutung verstärken kann. In der Phase der Wiedererwärmung nach extrakorporaler Zirkulation normalisiert sich die Kerntemperatur schneller als die Temperatur der Körperperipherie. Die Thermoregulation bewirkt eine Vasokonstriktion der peripheren Gefäße, was eine Hypertension zur Folge haben kann. Die hier zu empfehlenden Vasodilatatoren sind Nitroglycerin, Nitroprussid und Clonidin sowie der α-Blocker Urapidil und der ACE-Hemmer Enalapril. Nitroglycerin senkt über die Freisetzung von Stickstoffmonoxid die Nachlast. Begleitende reflektorische Tachykardien sind bei dem kardiochirurgischen Patientengut nicht immer erwünscht. Nitroprussid ist die stärkste antihypertensive Substanz und senkt bei sofortigem Wirkungseintritt
977 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
75
und sehr kurzer Wirkdauer die Nachlast. Bei längerdauernder Infusion sollte besonders bei Niereninsuffizienz der Thiozynatspiegel zur Vermeidung einer Zyanidinintoxikation kontrolliert werden. Die Therapie mit dem ACE-Hemmer Enalapril ist nicht nur zur Senkung des Blutdrucks, bei zwar längerer Halbwertszeit, gut geeignet, sondern wirkt sich darüber hinaus positiv auf das kardiale Remodelling aus. Urapidil hemmt neben der postsynaptischen D-Blockade die symphatotone Gegenregulation durch Stimulation zentraler Serotoninrezeptoren. Durch die prophylaktische Anwendung von D-Agonisten wie Clonidin kann bei herzchirurgischen Patienten signifikant das Auftreten myokardialer Ischämien reduziert werden.
operativem Vorhofflimmern können Krankenhausaufenthaltsdauer, Apoplexrate und Mortalität reduziert werden [45]
75.3.3 Rhythmus
Prävention des postoperativen Vorhofflimmerns
Herzrhythmusstörungen treten nach herzchirurgischen Eingriffen häufig auf und können den postoperativen Verlauf erheblich beeinträchtigen. Vorerkrankungen, Vormedikation, Art des herzchirurgischen Eingriffs und intraoperativ verabreichte Medikation können sowohl den Herzrhythmus als auch die Herzfrequenz beeinflussen. Häufig treten postoperativ innerhalb der ersten 24 h relative Sinusbradykardien (70‒80/min), Sinustachykardien (>110/min) und nach Klappenoperation junktionale Tachykardien mit AV-oder ventrikulären Blöcken auf. Hypertrophierte, druckbelastete Ventrikel reagieren sensibel auf zu große Frequenzschwankungen. Zu hohe Frequenzen reduzieren das Herzzeitvolumen durch zu kurze Füllungszeit und damit zu geringes enddiastolisches Volumen. Umgekehrt kann durch eine Bradykardie trotz ausreichender diastolischer Füllung ein normales Herzzeitvolumen unterschritten werden. Eine optimale Frequenz liegt hier zwischen 90 und100/min. Der chronisch volumenbelastete Ventrikel benötigt nach herzchirurgischen Eingriffen keine maximale Vorlast. In diesem Fall kann durch ein reduziertes enddiastolisches Volumen mit verminderter Wandspannung die Auswurffraktion erhöht werden. Tachykardien mit Frequenzen um die 100/min können deshalb zur Verbesserung des Herzzeitvolumens führen. Die diastolische Compliance ist bei einem chronisch dilatierten Ventrikel weniger eingeschränkt als bei einem hypertrophierten, chronisch druckbelasteten Ventrikel. Hier sind die Ventrikel weniger von einer Vorhofkontraktion, die zu einer maximalen diastolischen Füllung führt, abhängig. Deshalb werden Tachykardien und der Verlust des Sinusrhythmus in dieser Situation besser toleriert.
Tachykardien Vorhofflimmern Vorhofflimmern ist mit einer Inzidenz von 20–65% die häufigste Rhythmusstörung nach kardiochirurgischem Eingriff. In einer Metaanalyse lag die durchschnittliche Inzidenz bei 32%. Patienten nach kombinierten Eingriffen oder Klappenchirurgie sind häufiger betroffen als Bypasspatienten. Vorhofflimmern entwickelt sich meist innerhalb 48 h, selten in der frühen postoperativen Phase oder nach dem 4. Tag. Insgesamt 15–30% der Patienten mit postoperativem Vorhofflimmern konvertieren spontan binnen 2 h, 25‒80% binnen 24 h, in einen Sinusrhythmus; 90% der Patienten haben 6–8 Wochen nach der Operation einen Sinusrhythmus. Durch die Prävention von post-
Prädiktoren für das Auftreten postoperativen Vorhofflimmerns [29] 5 5 5 5 5 5 5
Höheres Lebensalter Linksventrikuläre Hyperthrophie Anamnestisch paroxysmales Vorhofflimmern Absetzen der E-Blocker/ACE-Hemmer-therapie COPD Signifikante Aortensklerose Herzklappenoperatoion
Metaanalysen haben gezeigt, dass eine Gabe von E-Blockern die Inzidenz von postoperativem Vorhofflimmern reduziert (8,7–9,8% vs. 20–34%). Patienten mit Risikofaktoren, u. a. mit eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion (EF <40%), die überdurchschnittlich häufig Vorhofflimmern entwickeln, waren jedoch in den meisten zugrunde liegenden Studien ausgeschlossen. Sotalol (Klasse-III-Antiarrhytmikum) reduziert die Inzidenz von Vorhofflimmern im Vergleich zu Placebo und ist möglicherweise effizienter als E-Blocker mit einem allerdings größeren Potenzial proarrhythmischer Wirkungen. Die Gabe von Amiodaron (Klasse-III-Antiarrhytmikum) ist zwar weit verbreitet, seine Effektivität im Hinblick auf die Vermeidung von postoperativem Vorhofflimmern jedoch vergleichbar mit der von E-Blockern. Vor allem bei Patienten mit Kontraindikationen gegen E-Blocker, z. B. bei Asthma bronchiale, findet Amiodaron optional seine Anwendung [1, 45]. i Die präoperative Gabe eines β-Blockers reduziert die Inzidenz von postoperativem Vorhofflimmern.
Eine i.v.-Magnesiumsubstitution (6 mmol Magnesiumsulfat/Tag über 5 Tage), beginnend vor elektiver Bypasschirurgie, reduziert die Inzidenz von VHF von 21% (NaCl-Kontrollgruppe) auf 2% [39]. Eine atriale Schrittmacherstimulation (HF 90‒110/min) über temporäre epikardiale Schrittmachersonden kann ebenfalls die Häufigkeit von Vorhofflimmern senken.
Behandlung des postoperativen Vorhofflimmerns Der Grad der hämodynamischen Beeinträchtigung durch das Vorhofflimmern hängt von der Ventrikelfrequenz, der globalen Pumpfunktion und der Dauer des Vorhofflimmerns ab. Besteht ein Vorhofflimmern länger als 48 h und wird eine Konversion in den Sinusrhythmus angestrebt, muss zuvor eine adäquate Antikoagulation oder ein Thrombenausschluss mittels TEE erfolgen. Bei Unsicherheit in der Rhythmusanalyse über das OberflächenEKG kann die Ableitung eines Elektrokardiogramms über die Vorhofelektroden hilfreich sein. Möglich sind 2 Therapiestrategien zur Behandlung von Vorhofflimmern: Frequenzkontrolle und elektrische oder pharmakologische Kardioversion. Anzustreben in der frühen postoperativen Phase ist zunächst eine Konversion in einen Sinusrhythmus, da die sonst benötigte Antikoagulation das Risiko einer Perikardtamponade erhöhen kann. Frequenzkontrolle. Eine Fortführung der β-Blocker-Gabe ist
eine effektive Maßnahme zur Frequenzkontrolle bei postoperati-
978
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
. Abb. 75.3. Flussdiagramm zur Therapie behandlungsbedürftiger Tachykardien bei herzchirurgischen Patienten (QRS QRS-Zeit; SVT supraventrikuläre Tachykardie)
75
vem Vorhofflimmern. Bestehen Bedenken gegen die Gabe eines langwirksamen β-Blockes, kann ein Therapieversuch mit dem kurzwirksamen Esmolol erfolgen. Sind β-Blocker kontraindiziert, können Kalziumantagonisten eingesetzt werden. Verapamil bewirkt eine effektive Frequenzkontrolle, hat aber eine ausgeprägt negativ-inotrope Wirkung, sodass Verapamil nur bei guter Pumpfunktion (EF >60%) gegeben werden sollte. Diltiazem wird bei eingeschränkter Ejektionsfraktion besser toleriert. Digoxin hat auch bei schneller Aufsättigung eine relativ lange Anschlagzeit und v. a. bei eingeschränkter Nierenfunktion eine lange Wirkdauer.
(meist 200 mg/Tag p.o./i.v.) umgesetzt. Gravierende Nebenwirkungen sind bei kurzfristiger Anwendung selten. Ist eine Konversion in einen stabilen Sinusrhythmus nicht zu erreichen, so ist nach 48 h eine adäquate Antikoagulation anzustreben, um thrombembolische Komplikationen zu vermeiden. Bei Patienten mit Vorhofflimmern und zusätzlichen Risikofaktoren für thrombembolische Komplikationen zeigte sich in der ACTIVE W-Studie eine Antikoagulationstherapie mit einem Vitamin-K-Antagonisten einer Kombinationstherapie mit Aspirin und Clopidogrel im Hinblick auf die Reduktion ischämischer Ereignisse und Blutungen überlegen [2].
Kardioversion. Bei hämodynamischer Instabilität durch Vor-
Ventrikuläre Tachykardien
hofflimmern ist neben der Basistherapie mit Anhebung der Serumkalium- und -magnesiumkonzentration in den hochnormalen Bereich eine sofortige elektrische Kardioversion indiziert (. Abb. 75.3). Zur pharmakologischen Kardioversion eignen sich Klasse-IA-, -IC- und Klasse-III-Antiarrhythmika. Unter der Gabe von Typ-IA- und -IC-Antiarrhytmika (7 Kap. 32) erfolgt bei 40‒75% der Patienten eine Konversion in einen Sinusrhythmus innerhalb der 1. Stunde. Klasse-IC-Antiarrhythmika (Flecainid, Propafenon) sollten bei Patienten nach Myokardinfarkt wegen der ausgeprägten proarrhythmogenen Wirkung zurückhaltend eingesetzt werden. Klasse-IA-, -IC- und Klasse-III-Antiarrythmika prädisponieren durch Verlängerung der QTc-Zeit zu Torsade-de-pointe-Arrhythmien, sodass die QTc-Zeit regelmäßig kontrolliert werden muss (abnorme Verlängerung des QTc-Intervalls >500 ms 1/2 oder QTc-Zunahme während der Therapie >60 ms 1/2). Amiodaron hat multiple antiarrhythmische Effekte, u. a. eine Blockade des schnellen Natriumkanals, β-blockierende Eigenschaften, Verlängerung des Aktionspotenzials und der effektiven Refraktärperiode (Klasse-I-, -II-, -III- und -IV-Eigenschaften nach Vaughan-Williams). Als Slow-in-slow-out-Pharmakon sollte Amiodaron nach einer initialen Bolusgabe kontinuierlich i.v. weiter verabreicht werden. Der Kardioversion geht eine Frequenzkontrolle voraus, die für sich häufig bereits eine Stabilisierung der hämodynamischen Situation bewirkt. Entscheidet man sich für eine antiarrhythmische Therapie mit Amiodaron über einen längeren Zeitraum, wird nach einer Aufsättigungsphase (bis zu einer Gesamtdosis von 6–12 g) auf eine Erhaltungsdosis
Ventrikuläre Rhythmusstörungen sind seltener und werden u. a. durch transiente metabolische Störungen oder ischämische Ereignisse hervorgerufen. Ist eine ventrikuläre Tachykardie Folge einer Ischämie oder Myokarddilatation bei akuter linksventrikulärer Dekompensation, so besteht die Therapie in erster Linie in der kardialen Rekompensation bzw. in der koronaren Revaskularisation. Eine adjuvante Kalium- und Magnesiumsubstitution bis in den hochnormalen Bereich sollte in jedem Fall erfolgen. Ventrikuläre Arrhythmien per se sind nur dann behandlungsbedürftig, wenn sie eine hämodynamische Beeinträchtigung oder Prodromi einer vitalen Gefährdung darstellen (Salven, R-auf-TPhänomen, selbstlimitierte ventrikuläre Tachykardie). Lidocain hat einen Stellenwert in der Akutbehandlung ischämiebedingter ventrikulärer Arrhythmien. Amiodaron ist bei rezidivierender ventrikulärer Tachykardie, hochgradig eingeschränkter Pumpfunktion (EF <30%) oder nach Myokardinfarkt das Antiarrhythmikum der Wahl, da die negativ-inotrope und proarrhythmogene Wirkung relativ gering ist.
Bradykardien Bradykarde Rhythmusstörungen treten v. a. nach Klappenersatz auf. Ein höhergradiger AV-Block ist eine typische Komplikation nach Aortenklappenersatz aufgrund der anatomischen Nähe der Reizleitungsstruktur und des Aortenklappenrings. Kommt es spontan oder unter antiarrhythmischer Therapie zu einer hämodynamisch relevanten Reizbildungs- oder Reizleitungsstörung, ist eine temporäre externe Schrittmacherstimulation eine effektive Therapiemöglichkeit, ohne dass die Nebenwirkungen einer
979 75.5 · Blutgerinnung
75
. Abb. 75.4. Systemische Entzündungsreaktion (SIRS) nach Herzoperation und extrakorporaler Zirkulation (EKZ extrakorporale Zirkulation; PML polymorphkerniger Leukozyt; NO Stickstoffmonoxid; PAF »platelet activating factor. (Mod. nach [6])
positiv-chronotropen pharmakologischen Stimulation in Kauf genommen werden müssen. Epikardiale ventrikuläre Elektroden zur VVI-Stimulation sollten bei allen Patienten intraoperativ angelegt werden. Die alleinige ventrikuläre Schrittmacherstimulation reduziert bei Patienten im Sinusrhythmus das Herzzeitvolumen, während durch eine Stimulation über eine zusätzliche atriale Sonde im DDD-Modus mit einer individuell angepassten AV-Verzögerungszeit das Herzzeitvolumen gesteigert werden kann. Oft ist eine kürzere als die intrinsische AV-Zeit optimal. Eine atriale Elektrode ist somit bei allen Patienten mit präoperativ bestehendem Sinusrhythmus wünschenswert. Durch Vorhofstimulation wird die Erregung über das physiologische Reizleitungssystem fortgeleitet und ein optimaler Kontraktionsablauf des Ventrikels initiiert. Bei ventrikulärer Stimulation hat die Erregungswelle einen heterotopen Ursprung. Ist bei hochgradiger Herzinsuffizienz eine Stimulation im AAI-Modus nicht möglich oder besteht ein Linksschenkelblock, so kann über eine biventrikuläre Stimulation eine Optimierung des Kontraktionsablaufs und eine Verbesserung der Herzleistung erzielt werden. Eine biventrikuläre Stimulation ist auch passager über temporäre epikardiale Schrittmacherelektroden möglich. 75.4
Systemisches Inflammationssyndrom (SIRS)
Herzchirurgische Eingriffe prädisponieren zu einer postoperativen systemischen Entzündungsreaktion (SIRS). Das ausgedehnte chirurgische Trauma, die Ischämie mit nachfolgender Reperfusion während extrakorporaler Zirkulation und der Fremdoberflächenkontakt bei EKZ tragen dazu bei. Die Inflammationskaskade nach Beginn der extrakorporalen Zirkulation weist große Parallelen zum Geschehen bei Sepsis auf (. Abb. 75.4). Die komplexe systemische Entzündungsreaktion nach Initiation des kardiopulmonalen Bypass geht mit einer Aktivierung von Komplementfaktoren und Leukozyten einher. Es folgt die Freisetzung von Zytokinen, Arachidonsäuremeta-
boliten, Adhäsionsmolekülen, Stickstoffmonoxid (NO) und Sauerstoffradikalen. Folge ist eine intensive Interaktion zwischen Endothelzellen und Immunantwort im Blut. An den Endothelzellen kommt es zur Adhäsion von Leukozyten und Thrombozyten, die wesentlich für die klinische Manifestation der Entzündungsreaktion ist, weil viele der oben genannten Mechanismen durch die Leukozyten-Endothel-Interaktion weiter unterhalten werden. Das Endothel ist aktiv an der Aufrechterhaltung der kardiovaskulären Homöostase beteiligt, indem es Gefäßpermeabilität, Gefäßtonus, Gerinnung und Fibrinolyse sowie die Entzündungsreaktion moduliert. Proinflammatorische Stimuli reduzieren den Gefäßwiderstand und können postoperativ zu einer vasopressorenpflichtigen Hypotension führen. Das Ausmaß des SIRS korreliert mit der Anzahl postoperativer Komplikationen und tritt in abgeschwächter Form bei jedem Patienten auf. Verschiedene Therapieregimes werden verfolgt, um die systemische Inflammation zu vermindern. Heparin-beschichtete kardiopulmonale Bypasssysteme, Hämofiltration oder die Gabe von Steroiden sollen die Inflammationsreaktion und die damit assoziierten Komplikationen mildern. Wenngleich aussagekräftige Untersuchungen fehlen, deutet die bisherige Datenlage darauf hin, dass die herzchirurgischen Eingriffe am schlagenden Herzen (»off pump coronary artery bypass«) mir einer geringeren oxidativen Stressreaktion und Inflammation einhergehen als Eingriffe unter extrakorporaler Zirkulation. i Die Hypothese, durch Vermeidung des kardiopulmonalen Bypass eine systemische Inflammation zu verhindern, konnte bislang in großen randomisierten Studien nicht bewiesen werden.
Hydrokortison-Substitution In Analogie zu Untersuchungen bei Sepsis kann Hydrokortison zur Suppression der überschießenden proinflammatorischen Immunreaktion eingesetzt werden. Ein ausgeprägtes SIRS scheint
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75
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
in etwa 20–30% der Fälle nach einer Herzoperation aufzutreten. Bei Patienten, die ein schweres postoperatives SIRS im Sinne eines vasopressorenpflichtigen Vasodilatationssyndroms entwickeln, konnte eine stark erhöhte IL-6-Serumkonzentration (>1000 pg/ml) gemessen werden. Als Risikokollektiv gelten Patienten mit einer präoperativen Auswurffraktion <40% und einer intraoperativen EKZ-Dauer >97 min (z. B. Kombinationseingriffe, Eingriffe mit mehr als 4 Bypässen). Bei diesem Patientenkollektiv reduziert eine präventiv, d. h. vor Beginn der extrakorporalen Zirkulation begonnene Substitution von Hydrokortison in Stressdosis (300 mg/Tag) den Katecholaminbedarf, die Beatmungsdauer sowie die Intensivstations- und Krankenhausverweildauer [22]. Interleukin-6 erreicht 4–6 h nach Beendigung der EKZ einen Maximalwert. Es folgt ein zweiter Anstieg 12–18 h nach der Operation, sodass bei Vasoplegie eine Substitution mit Hydrokortison auch zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll sein kann. 75.5
Blutgerinnung
Herzoperationen mit extrakorporaler Zirkulation gehen mit tiefgreifenden Veränderungen des hämostaseologischen Systems einher. Pathophysiologische Veränderungen des Gerinnungssystems bei kardiochirurgischem Eingriff mit extrakorporaler Zirkulation 5 Abnahme oder Denaturierung von Gerinnungsfaktoren 5 Abnahme physiologischer Inhibitoren (Antithrombin, Protein C, Protein S) 5 Konzentrationsabnahme von Fibrinolyseinhibitoren (PAl-1, D2-Antiplasmin) 5 Disseminierte intravasale Gerinnung (z. B. überschießende Thrombinbildung) 5 Gesteigerte Fibrinolyse 5 Thrombozytopenie und/oder Thrombozytopathie mit Thrombozytenaktivierung, -dysfunktion oder -desensibilisierung 5 Hypothermieinduzierte Gerinnungsstörungen 5 Heparin- und protamininduzierte Gerinnungsstörung
Die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Hämostase nach herzchirurgischen Eingriffen mit extrakorporaler Zirkulation ist nach wie vor ein Problem. Insbesondere die zusätzliche Therapie mit verschiedenen Thrombozytenaggregationshemmern führt immer häufiger zu perioperativen Blutungskomplikationen. Der perioperative Verbrauch von Blutprodukten ist bei herzchirurgischen Patienten deutlich höher als bei Patienten anderer chirurgischer Disziplinen. Die Gabe von unfraktioniertem Heparin vor bzw. während extrakorporaler Zirkulation stellt immer noch den Goldstandard der Antikoagulationstherapie dar. Neuere Daten zu direkten Thrombininhibitoren geben einen Hinweis auf eine bessere Biokompatibilität der EKZ als unter Heparin-Therapie. Größere Vergleichsstudien stehen noch aus. Eine Vielzahl von Strategien wurde entwickelt, um das postoperative Risiko einer mikrovaskulären Blutung aufgrund einer Koagulopathie zu reduzieren und den perioperativen Fremdblutverbrauch zu minimieren. Dazu zählen Wärmemaß-
nahmen und die autologe Retransfusion von Drainageblut. Das Ergebnis einer Metaanalyse der Cochrane Library (7027 Patienten) zeigte, dass die intraoperative Gabe von Aprotinin den Erythrozytenverbrauch um 1,1 Einheiten bzw. die Transfusionsrate um 30% verringert [17]. Allerdings zeigen neueste Daten einer großen Obser vationsstudie, dass postoperativ nach Therapie mit Aprotinin neurologische, renale und kardiale Komplikation sowie die Mortalität im Vergleich zu den Lysin-analogen Antifibrinonolytika (Tranexam - und H-Aminoncapronsäure) erhöht ist [28]. Wirkungen von Aprotinin 5 Aprotinin reduziert die perioperative Blutungsmenge, unabhängig von der Art des Eingriffs 5 Aprotinin vermindert die Gesamtmenge an perioperativen Transfusionen 5 Aprotinin vermindert signifikant die Anzahl an blutungsbedingten Rethorakotomien 5 Fraglich führt Aprotinin zu einer erhöhten Venenbypassverschlussrate, höherer Myokardinfarktrate und zur Auslösung eines prothrombotischen Status (DGTHG 2006 [47])
Bei postoperativen Nachblutungen ist die Differenzierung zwischen einer chirurgisch zu stillenden Blutungsquelle und einer mikrovaskulären Blutung aufgrund einer Koagulopathie anhand der Bestimmung von globalen Gerinnungsparametern schwierig, da diese in beiden Fällen oft außerhalb der Norm liegen. Die Korrelation zwischen der Thoraxdrainagenförderrate und globalen Gerinnungsparametern ist gering. Anhand der Sekretionsrate wird der Blutverlust oft überschätzt. Da die Laborlaufzeiten auch für globale Gerinnungsparameter vielerorts zu lang sind, um eine schnelle und zielgerichtete Therapie einer Nachblutung zu ermöglichen, haben mehrere Arbeitsgruppen Algorithmen zur Transfusion von allogenen Gerinnungskomponenten und gerinnungsfördernden Präparaten (z. B. Desmopressin, Protamin) unter Zuhilfenahme bettseitig durchgeführter Gerinnungsmessungen entwickelt. Zur Steuerung der Heparintherapie während EKZ ist die derzeit meist angewandte Methode die Messung der »activated clotting time« (ACT). Die »high dose thrombin time« (HiTT) ist eine weitere Point-of-care-Methode zur Überwachung einer Heparin-induzierten Antikoagulation. Sie ist weniger störanfällig in Bezug auf Hypothermie und Hämodilution als die ACT. Diese Methode hat aber bislang aufgrund der noch spärlichen Datenlage keine Verbreitung gefunden. Ein weiteres Verfahren zur Abschätzung der plasmatischen Gerinnung, der Fibrionolyse sowie der thrombozytären Funktion stellt das Thrombelastogramm (TEG) dar. Vor allem bei Patienten unter Therapie mit Heparin, Phenprocoumon und antifibrinolytischer Medikation liefert es bettseitig wertvolle Ergebnisse. Mittels PFA-100 (»platelet function analyzer«)-Monitoring lassen sich Thrombozytenfunktionsstörungen aufgrund einer v.-Willebrand-Erkrankung, der Gabe von Trombozytenaggregationshemmern und anderen angeborenen oder erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen erkennen. Das PFA-100-System liefert jedoch unterhalb eines Hämatokritwertes von 35% und einer Thrombozytenzahl <100 G/l keine verwertbaren Ergebnisse.
981 75.6 · Komplikationen nach Kardiochirurgie
75
. Abb. 75.5. Nach Thrombelastogramm (TEG) gesteuerte Therapie von Gerinnungsstörungen (hTEG heparinaseaktiviertes TEG; Heparinase Reaktionszeit R ohne Heparinase >2-mal R mit Heparinase; hTEG Gerinnungszeit n R >10 min; TEG Fibrinolyseindex n; Lyseindex zum Zeitpunkt 30 min >7,5%; TEG Thrombusstabilität p; maximale Amplitude <45 mm). (Nach [33]).
Bei der perioperativen Verwendung dieser Point-of-care-Methoden sowie eines thromboelastogrammgesteuerten Transfusionsalgorithmus kann der Transfusionsbedarf sowohl bei dem Routine- als auch bei den Hochrisikopatienten reduziert werden (. Abb. 75.5; [37]).
5 5 5 5
Alter Präoperativer Hämatokrit <34% Gewicht <70 kg Einnahme von Erythrozytenaggregationshemmern
Transfusion von Erythrozytenkonzentraten Die Assoziation von Fremdblutgabe und Letalität, die für allgemeine Intensivpatienten besteht, konnte auch für Bypasspatienten gezeigt werden. Es besteht eine Korrelation zwischen der Anzahl der transfundierten Konzentrate und der steigenden postoperativen Morbidität und Mortalität bei Patienten nach Bypassoperation [23]. Der Transfusionstrigger ist auch bei Herzpatienten kein feststehender Wert, sondern wird individuell anhand physiologischer Variablen abgeschätzt. Trotz bestehender Transfusions-Guidelines differiert der Zeitpunkt der Gabe von Erythrozytenkonzentraten zwischen Chirurgen, Anästhesisten und Intensivmedizinern stark (30‒90%), selbst innerhalb eines Zentrums [23]. In einer großen prospektiven Observationsstudie (ABCTrial) von 146 verschiedenen Intensivstationen in Westeuropa lag der mittlere Transfusionstrigger bei einem gemischten Patientengut bei 8,4±1,3 g/dl. Die geltenden Guidelines für Intensivpatienten sehen einen absoluten Tranfusionsbedarf bei einem Hämoglobinwert d7 g/dl, während bei Werten von >10 g/dl eine Transfusion nicht gerechtfertigt erscheint. Bei Patienten mit Hämoglobinwerten zwischen 7 und 10 g/dl sollten klinische Beurteilungen als Transfusionstrigger mitherangezogen werden. Ungeklärt bleibt der Wert der optimalen Hämoglobinkonzentration bei Intensivpatienten mit schweren kardialen und pulmonalen Erkrankungen. Bei Bypasspatienten beeinflusste das Herabsetzen des Transfusionstriggers von einem Hämoglobinwert von 9 g/dl auf 8 g/dl die Letalität oder die postoperative Morbidität mit unkompliziertem Verlauf nicht. Risikofaktoren für die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten bei kardiochirurgischen Patienten 5 5 5 5 5 6
Reoperation Notfalloperation Kardiopulmonaler Bypass von >2 h Dauer Kombinierte Eingriffe Weibliches Geschlecht
75.6
Komplikationen nach Kardiochirurgie
75.6.1 Myokardinfarkt Der Myokardinfarkt nach Bypassoperation ist mit einer Inzidenz zwischen 5 und 10% ist eine relativ häufige und schwere Komplikation, die mit einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert ist. Der perioperative Myokardinfarkt kann durch Minderperfusion im Bereich der nativen oder der Bypasskoronargefäße bedingt sein. Die häufigsten Ursachen sind Okklusion des Bypass, geknickter oder überdehnter Bypass, subtotale Stenose im Bereich der Anastomose oder Spasmus der Bypassgefäße. Die Diagnose eines Myokardinfarkts in der Akutphase nach einer Herzoperation ist schwierig. Das EKG unterscheidet sich auch nach unkompliziertem Operationsverlauf oft vom präoperativen EKG-Befund. ST-Streckenveränderungen sind bei vorbestehendem Schenkelblock oder unter ventrikulärer Schrittmacherstimulation nicht oder nur eingeschränkt verwertbar. Neu aufgetretene Q-Wellen sind nach Herzoperation kein sicherer Indikator eines abgelaufenen transmuralen Infarkts. Die CK-MB-Massenkonzentration ist der Invasivität des Eingriffs entsprechend postoperativ ebenfalls erhöht. Der prädiktive Wert der CK-MB-Massenkonzentration zeigt sich in den ersten 12 h höher als für Troponin. Die CK-MB-Massenkonzentration ist in den ersten 6 h nach Einsetzen der Myokardläsion auch signifikant sensitiver als die CK-MB-Aktivität. Als Grenzwert, der zwischen einem postoperativen Infarkt und einer Enzymerhöhung als Folge des operativen Eingriffs unterscheidet, wurde eine CK-MB-Massenkonzentration von 45–70 Pg/l ermittelt. Troponin I korreliert postoperativ mit der Aortenabklemmzeit und erreicht 24 h postoperativ ein Maximum. Vorteil dieser Strukturproteine ist neben der Organspezifität auch der Nachweis kleinster Nekrosen z. B. im Rahmen einer Angina pectoris. Nach 24 h ist Troponin I der sensitivste Marker einer myokardialen Ischämie. Grenzwerte, die zwischen einem durch den chi-
982
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
rurgischen Eingriff bedingten Anstieg und einer perioperativen Myokardnekrose differenzieren, liegen in einem Bereich von 9–20 Pg/l.
75
Zeichen eines Myokardinfarkts nach herzchirurgischem Eingriff 5 5 5 5
Hämodynamische Instabilität ST-Streckenveränderungen Rhythmusstörung Neu aufgetretene regionale Wandbewegungsstörungen im TTE/TEE 5 Verlauf der Myokardmarker
Neben dem jeweiligen Maximalwert ist der Verlauf der Myokardmarker entscheidend. Ein sekundärer Anstieg oder eine protrahierte Plateauphase können Indikatoren eines Myokardzelluntergangs sein. Im zeitlichen Verlauf führend in Anstieg und Abfall, aber nicht myokardspezifisch, ist die Serummyoglobinkonzentration. Die transthorakale oder transösophageale Echokardiographie kann bettseitig schnell Auskunft über neu aufgetretene regionale Wandbewegungsstörungen liefern und Rückschlüsse auf das betroffene Koronarstromgebiet geben. Die Diagnose eines postoperativen Myokardinfarkts ist nur in Zusammenschau aller Befunde zu stellen. Die Bestimmung der Myokardmarker hat hierbei prognostische Bedeutung und dient der Verlaufsdokumentation. Die Therapie des postoperativen Myokardinfarkts erfolgt nach den allgemeinen Therapieprinzipien, die eine größtmögliche Ökonomisierung des myokardialen Sauerstoffbedarfs zum Ziel haben. Als weiterführende Maßnahme kann eine sofortige Herzkatheteruntersuchung mit Darstellung der Nativ-und Bypassgefäße indiziert sein. Sie bietet die Möglichkeit der Koronarintervention oder bei entsprechenden Befunden zur Rethorakotomie und Revision der Operationsergebnisse. Eine frühzeitige Wiederaufnahme der Thrombozytenaggregationshemmung mit Azetylsalizylsäure (ASS) nach Bypassoperation sollte angestrebt werden. Eine prospektive Multicenterstudie der »Perioperative Ischemia Research Group« (McSPI) an über 5000 Patienten zeigte eine Reduktion der postoperativen Letalität und der Häufigkeit nichttödlicher ischämischer Komplikationen (z. B. Myokardinfarkt, Apoplex, Mesenterialinfarkt) durch die Gabe von ASS innerhalb 48 h postoperativ. Das Blutungsrisiko war nicht erhöht [27]. i Die frühzeitige postoperative Gabe von ASS reduziert sehr wahrscheinlich die Letalität sowie die Häufigkeit ischämischer Komplikationen nach Bypasschirurgie.
Klinische Studien zeigen, dass Patienten nach Bypassoperation von einer Therapie mit Statinen, die schon präoperativ begonnen wurde, profitieren. Statine mildern die aterosklerotische Progression in Venenvypässen, reduzieren die Inzidenz von Angina pectoris und Ischämien und verbessern das klinische Outcome durch Reduktion des Auftretens von Myokardinfarkten und Schlaganfällen [25]. i Die präoperative oder zumindest postoperative Gabe von Statinen verbessert das postoperative Outcome nach Bypasschirurgie durch Reduktion des Auftretens von Myokardinfarkten und Apoplex.
75.6.2 Nierenversagen Nierenversagen nach herzchirurgischen Eingriffen ist eine ernstzunehmende Komplikation und stellt einen unabhängigen Prädiktor für die postoperative Mortalität dar. 8‒15% der Patienten nach kardiochirurgischem Eingriff entwickeln eine kompensierte Niereninsuffizienz; 1‒5% der Patienten eine Niereninsuffizienz, die ein Nierenersatzverfahren erfordert. Die perioperative Letalität ist bei Patienten mit ersatzverfahrenpflichtigem Nierenversagen durch einen Anstieg auf 50‒65% gekennzeichnet. Selbst bei Patienten mit einer präoperativ gering eingeschränkten Nierenfunktion (Kreatinin <200 Pmol/l) ist postoperativ sowohl die Morbidität und Mortalität erhöht als auch die 5-Jahres-Überlebensrate signifikant reduziert [10]. Postoperative Nierenfunktionsstörungen werden u. a. durch Ischämiereperfusion, Inflammation und atherosklerotische Embolien (mit-)verursacht. Durch die unphysiologische Perfusion der Nieren während des CPB wird die Möglichkeit der Autoregulation der Nieren überschritten. Durch manuelle Manipulationen können Atheromembolien ausgelöst werden, die ebenfalls zum Nierenversagen führen können. Das systemische Inflammationssyndrom mit Freisetzung von Interleukinen und Tumornekrosefaktor verschlechtert die Mikrozirkulation der Nieren und schränkt die tubuläre Funktion der Nieren ein [38]. Risikofaktoren für die Entwicklung eines Nierenversagens 5 Präoperative Risikofaktoren: Alter, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, pAVK, COPD 5 Operative Risikofaktoren: Reoperationen, Operation am offenen Herzen, Kreislaufstillstand, EKZ >140 min 5 Postoperative Risikofaktoren: Infektionen/Sepsis, Low-output-Syndrom, Therapie mit Inotropika, IABP, postoperative Hypotension (systolischer Blutdruck <90 mm Hg über mehr als 1 h) [38]
i Normovolämie, adäquates Herzzeitvolumen und ausreichender renaler Per fusionsdruck haben höchste Priorität bei der Prävention eines postoperativen Nierenversagens.
Die Therapie mit Furosemid, Mannitol, Diltiazem, N-acetylcystein und Dopamin ist bei einem herzchirurgischen Eingriff im Hinblick auf die Vermeidung eines Nierenversagens nicht effektiv. Für eine Prävention durch die Gabe von D2-Agonisten, ACE-Hemmern, ANP oder Fenoldopam ist die Datenlage noch unklar. Sistiert die Diurese, kann bei kardiochirurgischen Patienten durch eine frühe und intensive Hämofiltration (Ultrafiltrationsrate von 2000 ml/h) eine niedrigere Letalität als vorhergesagt erreicht werden (40% tatsächliche Letalität vs. 66% prädiktiver Wert). Ein diskontinuierliches Verfahren ist bei hämodynamischer Instabilität nicht indiziert. Vergleicht man das Auftreten von postoperativem Nierenversagen bei Off-pump-coronary-arterybypass-Verfahren und Operationen mit extrakorporaler Zirkulation, so ist kein signifikanter Unterschied zu finden.
983 75.6 · Minimal-invasive Herzchirurgie
75.6.3 Lungenversagen Die eingeschränkte Lungenfunktion nach kardiochirurgischen Eingriffen ist, trotz des kontinuierlichen Fortschritts im Hinblick auf extrakorporale Zirkulationsverfahren, Operationstechniken und der postoperativen Intensivmedizin, ein wesentlicher Bestandteil der Morbidität. Die Prävalenz der maximalen Lungendysfunktion, des ARDS (»adult respiratory distress syndrome«) ist jedoch sehr gering (0,5‒1,7%). Die Pathogenese der postoperativen pulmonalen Dysfunktion ist multifaktoriell. Die häufig auftretende Einschränkung des pulmonalen Gasaustausches, die sich meist als Oxygenierungsstörung manifestiert, kann v. a. durch den alveoloarteriellen Sauerstoffgradienten und die intrapulmonale Shuntfraktion quantifiziert werden. Durch den operativen Eingriff mit Sternotomie, Pleurotomie und Präparation der Mammaria interna kommt es bereits intraoperativ zu Atelektasenbildung und Veränderungen der Lungencompliance mit Verlust von FRC. Das EKZ-assoziierte systemische Inflammationssyndrom erhöht zusätzlich die endotheliale Permeabilität und den Lungenparenchymschaden. Durch einen intraoperativen Kälteschaden oder nach Durchtrennung (Aortenbogenersatz) kann eine Phrenikusparese mit Zwerchfellhochstand entstehen. Hinzu kommen weitere Faktoren, die postoperativ eine respiratorische Insuffizienz aggravieren: beatmungs- und lagerungsbedingte Dystelektasen, schmerzbedingte Einschränkung der Atemexkursion, Sekretretention. Neuere Daten bei Off-pump- vs. On-pump-Verfahren unterstreichen, dass die Hauptursache der respiratorischen Insuffizienz nicht wie bislang postuliert in der EKZ-bedingten Inflammation liegt, da sich keine signifikanten Unterschiede der Patientenpopulationen im Hinblick auf die Lungenfunktion ergaben [9]. Noch bis zu 4 Monate postoperativ kann bei Patienten nach Bypassoperation eine Verminderung der FRC (6%) festgestellt werden, wobei schmerzbedingt eingeschränkte Atemexkursionen ausgeschlossen werden konnten. Die Ursachen hierfür sind noch nicht geklärt [43]. Die postoperative Anwendung der nicht-invasiven Beatmung nach herzchirurgischen Eingriffen verbessert zwar den pulmonalen Gasaustausch, jedoch konnte ein signifikanter Einfluss auf das Outcome bislang nicht gezeigt werden. 75.6.4 Gastrointestinale Komplikationen Abdominelle Komplikationen nach herzchirurgischem Eingriff sind selten (0,5–3%), mit einer Letalität zwischen 30% und 80% jedoch schwerwiegend. Die gastrointestinale Minderperfusion stellt hier die Hauptursache dar, wobei thromboembolische Ereignisse extrem selten sind. Der Gastrointestinaltrakt verfügt nicht über eine ausreichende Autoregulation, um Hypotensionen zu kompensieren. In multivariaten Analysen stellten sich Alter, eine vorbestehende Herzoder Niereninsuffizienz sowie die Art und Dauer des Eingriffs als Risikofaktoren dar. Postoperativ korrelieren die Notwendigkeit der Gabe inotroper Substanzen, das Auftreten eines Nierenversagens, die Transfusionsmenge sowie die Beatmungsdauer mit gastrointestinalen Komplikationen. Auch die herzchirurgischen Eingriffe in OPCAB-Verfahren scheinen keinen positiven Effekt auf Inzidenz und Prognose zu haben.
75
Eine Besonderheit der gastrointestinalen Komplikationen stellt das Olgivie-Syndrom dar, das postoperativ am häufigsten bei herzchirurgischen Operationen auftritt. Hierbei handelt es sich um eine massive Kolondistension (meist Colon ascendens und transversum sowie Coecum) ohne mechanische Obstruktion. Ursache ist ein Missverhältnis der Aktivität von Parasympathikus und Sympathikus. Neben der hämodynamischen Stabilisierung mit ausreichendem Sauerstoffangebot ist die Gabe von Neostigmin die Therapie der Wahl. Bei Versagen dieser Therapie sollte eine Koloskopie mit Dekompression erfolgen. Die chirurgische perkutane Zäkostomie sollte als Ultima ratio erst nach erfolgloser konservativer Therapie durchgeführt werden [18]. 75.6.5 Neurologische Defizite Die Bandbreite neurologischer Defizite nach kardiochirurgischem Eingriff reicht von Veränderungen der Persönlichkeit, des Verhaltens oder kognitiver Fähigkeiten und fatalen zerebrovaskulären Ereignissen bis hin zum massiven apoplektischen Insult. In einer retrospektiven Analyse der Daten von 16.200 Patienten in Deutschland lag die Inzidenz eines Schlaganfalls im Durchschnitt bei 4,6%. Embolien durch atherosklerotische Plaques sind verursacht durch Manipulationen der Aorta, Mikroembolien durch den extrakorporalen Kreislauf, zu niedrigen Perfusionsdruck während der extrakorporalen Zirkulation sowie Thromboembolien. Unabhängige Risikofaktoren für passagere oder permanente neurologische Defizite sind ein neurovaskuläres Ereignis in der Vorgeschichte, Hypertonus, Diabetes mellitus oder pAVK. Neben fokalen neurologischen Ausfällen stehen kognitive Defizite und delirante Symptome im Vordergrund. Ihre Inzidenz schwankt abhängig von den angewandten Untersuchungsmethoden zwischen 30 und 79%. i Die Inzidenz eines Apoplex nach herzchirurgischem Eingriff liegt bei 2–5%. Die höchste Inzidenz haben Patienten mit Zweifach- oder Dreifachklappenersatz (9,7%). Bei Verwendung eines Off-pump-Verfahrens treten signifikant weniger neurologische Defizite auf. [7]
Intraoperative neuroprotektive Strategien verfolgen v. a. eine Verminderung der zerebralen Mikroembolisation durch Luftblasen, Plaquematerial und Zelldebris während der extrakorporalen Zirkulation. Moderate Hypothermie (33‒35°C) mit langsamem Wiedererwärmen und Vermeidung einer Hyperthermie (>38°C) scheinen den größten positiven Einfluss auf das neurologische Outcome zu haben. Eine Obstruktion der V. cava superior durch die venöse Kanülierung während EKZ mit konsekutivem Abfall des arteriovenösen Druckgradienten muss vermieden werden. Perioperativ muss auf die Aufrechterhaltung eines adäquaten zerebralen Perfusionsdrucks geachtet werden. Hypo- oder Hyperkapnie sind zu vermeiden, und der Blutzuckerspiegel sollte niedrig gehalten werden (Zielwert <120 mg/dl). Die Vermeidung von Vorhofflimmern oder intraatrialen Thromben kann das Risiko eines postoperativen Schlaganfalls ebenfalls vermindern [24].
984
Kapitel 75 · Intensivtherapie nach herzchirurgischem Eingriff
75.6.6 Infektionen
75
Die Inzidenz schwerer Infektionen nach herzchirurgischen Eingriffen liegt bei 3,5%. Dabei handelt es sich in 35% um Septikämien, in 33% um Infektionen der Venenentnahmestellen und in 25% um eine Mediastinitis. Die Patienten mit schweren postoperativen Infektionen haben eine signifikant höhere Mortalität als Patienten mit unauffälligem Verlauf. Als Hochrisikokollektiv gelten Patienten mit Adipositas und Diabetes mellitus [15]. Eine große randomisierte, kontrollierte Studie bei beatmeten Patienten einer chirurgischen Intensivstation (63% herzchirurgische Patienten) konnte durch eine intensivierte Insulintherapie (Blutzucker zwischen 80 und 110 mg/dl) sowohl die Morbidität als auch die Mortalität während der Intensivtherapie senken. Der größte Anteil in der Reduktion der Mortalität konnte bei Patienten im Multiorganversagen mit nachgewiesener Sepsis erreicht werden [5]. 75.6.7 Posttraumatische Belastungsstörungen Die gesundheitsbezogene Lebensqualität nach herzchirurgischen Eingriffen ist in den meisten Fällen sehr erfreulich. Allerdings werden Patienten durch schwere postoperative Verläufe häufig Stresssituationen ausgesetzt. Diese Patienten zeigen im Langzeitverlauf eine erhöhte Inzidenz von stressassoziierten Erkrankungen wie das Auftreten von postraumatischen Belastungsstörungen (PTSD; traumatische Erinnerungen aus der Zeit der Intensivbehandlung), die zu einer signifikanten Verschlechterung der Lebensqualität führen. Unter der Gabe von Hydrokortison in Stressdosierung zeigen diese Patienten eine reduzierte Inzidenz und Intensität chronischer Stresssymptome [36]. 75.7
Minimal-invasive Herzchirurgie
Durch Off-pump-Operationsverfahren ohne kardioplegischen Herzstillstand und ohne extrakorporale Zirkulation sollen die systemischen pathophysiologischen Veränderungen minimiert werden. Der derzeit am häufigsten durchgeführte Eingriff ist das OPCAB-Verfahren (»off pump coronary artery bypass«) mittels Zugang über eine Sternotomie. Beim OPCAB-Verfahren wird der Anastomosenbereich des Myokards durch einen Retraktor ruhiggestellt. Da der Zugang über eine Sternotomie erfolgt, ist in Abhängigkeit von der Lokalisation der Stenosen eine arterielle und venöse Mehrfachbypassversorgung möglich. i Durch das OPCAB-Verfahren kann das kurz-und mittlelfristige klinische Outcome der Patienten verbessert werden. In Bezug auf die Mortalität besteht kein signifikanter Unterschied zum ONCAB-Verfahren.
In den letzten 10 Jahren ist diese Operationstechnik fast zu einem Routineverfahren geworden. Die Inzidenz einer Konversion vom OPCAB- zum ONCAB-Verfahren (»on-pump coronary artery bypass«) liegt bei 1‒20%. Die Entscheidung, ob die begonnene Operation mit der Herz-Lungen-Maschine weitergeführt wird, erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Anästhesist und Herzchirurg. Der Langzeiterfolg einer Bypassoperation wird an der Offenheitsrate der Bypassgefäße gemessen. Es existiert eine Vielzahl heterogener Studien, die OPCAB-Prozeduren mit konventionel-
ler Bypasschirurgie vergleichen. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse von 37 randomisierten Studien (3300 Patienten) ergab keinen signifikanten Unterschied in Bezug auf Mortalität, Häufigkeit perioperativer Schlaganfälle, Myokardinfarkt und Nierenversagen. Im Hinblick auf die Inzidenz von Vorhofflimmern, Transfusionspflichtigkeit und pulmonalen Infektionen sowie die Dauer des Intensivstations-und Krankenhausaufenthalts ‒ bzw. die Krankenhauskosten ‒ ist ein Vorteil des OPCAB-Verfahrens belegt. Ob minimal-invasive Operationstechniken die Offenheitsrate der Bypässe sowie des neurokognitive Outcome der Patienten beeinflussen, ist bislang unklar. [8]. Für Hochrisikopatienten ist der therapeutische Nutzen eines OPCAB-Verfahrens offenbar am größten. In dieser Patientengruppe ist bei OPCAB-Operationen u. a. die Abnahme der Häufigkeit apoplektischer Insulte sowie der Intensivstations- bzw. Krankenhausverweildauer signifikant [41]. Ein Trend zu einer geringeren Letalität ist erkennbar. Auch die Kostenersparnis ist in dieser Patientengruppe am höchsten.
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76 Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen J. Geiseler, O. Karg
76.1
Grundlagen
76.2
Über wachung nach thoraxchirurgischem Eingriff
76.2.1 76.2.2
Routineüberwachung –988 Erweitertes hämodynamisches Monitoring
76.3
Respiratorische Insuffizienz nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.3.1 76.3.2
Formen der respiratorischen Insuffizienz –989 Therapie der respiratorischen Insuffizienz –990
76.4
Sekretmanagement nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.4.1 76.4.2
Physiotherapie –991 Bronchoskopie –992
76.5
Pneumonie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.6
Postoperative Schmerztherapie
76.7
Spezielle postoperative Krankheitsbilder
76.7.1 76.7.2 76.7.3 76.7.4 76.7.5 76.7.6 76.7.7
Herniation des Herzens –992 Tracheobronchiale Ruptur –993 Torsion eines Lungenlappens –993 Prolongierte pleurale Fistel –993 Anastomoseninsuffizienzen bzw. Stumpfinsuffizienzen –993 Postoperative Nachblutung –993 »Acute Lung Injury« (ALI) und »Acute Respiratory Distress Syndrome« (ARDS) nach Lungenresektion –993 Akute Rechtsherzinsuffizienz –994 Herzrhythmusstörungen –995
76.7.8 76.7.9
Literatur
–988
–995
–988
–989
–991
–992
–992 –992
–989
76
988
Kapitel 76 · Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.1
Grundlagen
Hauptindikation für einen thoraxchirurgischen Eingriff ist die Resektion von primären und sekundären Lungentumoren, führend hierbei das Bronchialkarzinom. Pneumothorax und entzündliche Erkrankungen wie Pleuraempyem stellen weitere häufige Indikationen dar. Wurde in den Anfängen der Thoraxchirurgie ausschließlich offen operiert, zeigt sich wie in anderen operativen Disziplinen ein Trend zu vermehrtem Einsatz von videoassistierten Eingriffen (»video-assisted thoracoscopic surgery«; VATS) und minimal-invasiven Eingriffen. Gleichzeitig wird vermehrt parenchymsparend operiert – die Anzahl der Pneumonektomien ist zugunsten von Manschettenresektionen, Bilobektomien und atypischen Resektionen gesunken [1]. Parallel dazu hat sich die Patientenstruktur geändert: Das Durchschnittsalter ist angestiegen, und die Grenzen der funktionellen Operabilität sind nach unten verschoben worden, d. h. Patienten, die aufgrund ihrer Lungenfunktion oder Komorbiditäten früher als inoperabel für einen thoraxchirurgischen Eingriff galten, können heute dank verbesserter Narkoseführung, parenychymsparenden Eingriffen und intensivmedizinischer postoperativer Überwachung und Therapie in kurativer Absicht operiert werden. Die Mortalität nach lungenresizierenden Eingriffen liegt zwischen 2 und 12%, wobei selbst die Untergruppe von Patienten, die das 80. Lebensjahr überschritten haben, keine höhere Mortalität aufweist [2]. i Entscheidend für eine geringe postoperative Komplikations- und Mortalitätsrate ist die präoperative Auswahl von für diesen Eingriff geeigneten Patienten.
Die Darstellung von funktioneller Operabilität und Bedeutung von Komorbiditäten würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, somit wird auf die entsprechende Literatur verwiesen [3, 4]. Haupttodesursache nach einer Thoraxoperation sind pulmonale Komplikationen. Die akute respiratorische Insuffizienz im Rahmen eines »acute lung injury« (ALI) ist mit einer Sterblichkeit von 60–80% behaftet [5] Potenzielle Komplikationen nach thoraxchirurgischen Eingriffen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Sekretretention und Atelektase Nosokomiale Pneumonie Herzherniation Trachealverletzung Lungentorsion und -infarzierung Prolongierte Parenchymfistel Anastomseninsuffizienz, Bronchusstumpinsuffizienz »acute lung injury« (ALI)/»acute respiratory distress syndrome« (ARDS) Pneumothorax, ggf. mit Spannungssymptomatik Bronchospasmus Stimmbandparese Herzrhythmusstörungen Postoperative Nachblutung Akute Schmerzen Pleuraerguss (Wundsekret, Hämatom, Chylothorax) Lungenembolie
Auf die Diagnostik und Therapie von Lungenembolie und Bronchospasmus wird im Weiteren nicht speziell eingegangen – hier wird auf die entsprechenden Kapitel in diesem Buch verwiesen (7 Kap. 35 und 39). 76.2
Überwachung nach thoraxchirurgischem Eingriff
76.2.1 Routineüber wachung Alle Patienten nach thoraxchirurgischen Eingriffen müssen routinemäßig nach der Extubation für einige Stunden überwacht werden (Aufwachraum). Eine Aufnahme auf die Intensivstation bzw. eine postoperative Überwachungsstation ist nicht in jedem Fall erforderlich. Überwachungsintensität in Abhängigkeit vom Eingriff (Beispiele) 5 Intensivstation – Manschettenresektion – Pneumonektomie bzw. Restpneumonektomie – Extrapleurale Pneumonektomie – Lobektomie bzw. atypische Resektion bei grenzwertiger funktioneller Operabilität – Lungenvolumenresektion – Erhebliche Komorbiditäten (Niereninsuffizienz, kardiale Insuffizienz) – Intraoperative hämodynamische Instabilität – Postoperative akute respiratorische Insuffizienz 5 Überwachungsstation – Unkomplizierte Lobektomie bzw. Bilobektomie – Metastasektomie – Dekortikation bei Empyem 5 Thoraxchirurgische Normalpflegestation – Mediastinoskopie – Thorakoskopische Talkumpleurodese – Teilpleurektomie bei Pneumothorax – Lungenbiopsie – Atypische Resektion (VATS) bei benignen Rundherden
Die Routineüberwachung auf Intensiv- und Intermediate Care Station besteht in folgendem: Routineüberwachung nach thoraxchirurgischem Eingriff auf der Intensiv- und Intermediate-Care Station 5 Kontrolle von Blutdruck (nicht-invasiv bzw. invasiv), Herzfrequenz, Atemfrequenz, Körpertemperatur, Diurese 5 Kontinuierliche Arrhythmieüberwachung 5 Kontinuierliches Monitoring der Sauerstoffsättigung 5 12-Kanal-EKG bei intra- bzw. postoperativer hämodynamischer Instabilität 5 Beurteilung des Volumenstatus 6
989 76.3 · Respiratorische Insuffizienz nach thoraxchirurgischen Eingriffen
5 Beobachtung und Dokumentation des Blutverlusts über die Thoraxdrainagen 5 Röntgendiagnostik des Thorax 5 Kontrolle der Laborparameter: Blutbild, Nierenfunktion, Elektrolyte, Blutzucker, ggf. Blutgerinnung, ggf. Laktat (sofort, nach 12 und 36 h – Intervalle an die Klinik angepasst) 5 Blutgasanalyse – ggf. engmaschige Kontrolle bei respiratorischer Insuffizienz
76
Als Alternative steht die transösophageale Echokardiographie (TEE) zur Verfügung, die jedoch höhere Anforderungen an Equipement und Ausbildung bzw. Erfahrung des Untersuchers stellt. Hiermit lassen sich zuverlässig die globale rechts- und linksventrikuläre Funktion sowie regionale Wandbewegungsstörungen beurteilen, ebenso Klappenvitien. Eine Perikardtamponade kann sicher diagnostiziert bzw. ausgeschlossen werden. Der Volumenstatus des Patienten kann für die Notfalltherapie hinreichend genau abgeschätzt werden. 76.3
Respiratorische Insuffizienz nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.2.2 Er weiter tes hämodynamisches Monitoring
Zentralvenöser Druck Der Stellenwert des zentralvenösen Drucks, früher routinemäßig gemessen, ist in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt worden. Als Instrument zur Beurteilung des Flüssigkeitsstatus hat er seine Rolle verloren.
Pulmonaliskatheter vs. Thermodilution Ein erweitertes hämodynamisches Monitoring nach thoraxchirurgischen Eingriffen ist nur selten erforderlich – Hauptindikationen stellen ALI/ARDS und eine akute Rechtsherzdekompensation dar. Obwohl der Einsatz des Pulmonaliskatheters in der Intensivmedizin bezüglich der Prognoseverbesserung nicht evidenzbasiert und möglicherweise mit einer erhöhten Komplikationsrate verbunden ist [6], bietet er im Vergleich zu der alternativ vermehrt in der Intensivmedizin eingesetzten transpulmonalen Thermodilutionsmethode (PiCCO-System) Vorteile. So konnte gezeigt werden, dass der nach Pneumonektomie mittels transpulmonaler Thermodilution bestimmte extravaskuläre Lungenwasserindex (EVLWI) das gravimetrisch oder mit der Doppelindikatormethode bestimmte Volumen deutlich überschätzt [7]. Zudem ist ein Therapiemonitoring bei pulmonalisdrucksenkender Therapie nur mittels der mit dem Pulmonaliskatheter gemessenen Werte möglich.
Echokardiographie Die transthorakale Echokardiographie (TTE) besitzt beim erfahrenen Untersucher eine hohe Aussagekraft in der Akutdiagnostik bei hämodynamischer Instabilität und erlaubt eine visuelle semiquantitative Beurteilung von Volumenstatus und Klappenfunktion des Herzens. Der Einsatz auf der Intensivstation nach thoraxchirurgischen Eingriffen ist eingeschränkt durch die häufig im Rahmen der COPD vorhandene deutliche Lungenüberblähung.
Üblicher weise erhalten Patienten routinemäßig unmittelbar nach Operationsende transnasal Sauerstoff. Bei unkompliziertem Verlauf ist eine frühe Beendigung der Sauerstoffgabe bei vielen Patienten möglich [8]. Nicht wenige Patienten, v. a. mit vorbestehender COPD, Atelektasen oder postoperativer Pneumonie, entwickeln jedoch eine länger anhaltende respiratorische Insuffizienz, die eine differenzierte Diagnostik und Therapie erfordert. 76.3.1 Formen der respiratorischen Insuffizienz Ursächlich für die respiratorische Insuffizienz sind häufig postoperative Veränderungen der Atemmechanik mit Abnahme der funktionellen Residualkapazität (FRC) um bis zu 20% mit der Folge der Ausbildung von Atelektasen [9]. Verstärkt wird die Atelektasenbildung noch durch eine oft schmerzbedingte flache Atmung. Wichtig sowohl für Diagnostik als auch Therapie ist die Blutgasanalyse aus arteriellem Blut oder arterialisiertem Kapillarblut. Anhand der Ergebnisse können zwei verschiedene Formen der respiratorischen Insuffizienz unterschieden werden (. Tab. 76.1): 4 Oxygenierungsstörung, 4 ventilatorische Insuffizienz. Die primäre Therapie ergibt sich aus der zugrunde liegenden Störung: Bei der Oxygenierungsstörung wird durch Erhöhung der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration die Hypoxämie verbessert (beim Shunt gelingt dies allerdings nur unzureichend). Bei der ventilatorischen Insuffizienz erfolgt die Beatmung zur Verbesserung der alveolären Ventilation mit konsekutiver Abnahme bzw. Normalisierung des erhöhten pCO2.
. Tabelle 76.1. Formen der respiratorischen Insuffizienz Oxygenierungsstörung
Ventilatorische Insuffizienz
Erkrankung
Lungenparenchymerkrankung
Atempumpenschwäche
Pathophysiologie
Verteilungsstörung, Diffusionsstörung, Shunt
Verminderung der alveolären Ventilation
Klinik
Hypoxämie
Hyperkapnie (mit begleitender leichter sekundärer Hypoxämie)
Therapie
Erhöhung der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration
Verbesserung der alveolären Ventilation durch Beatmung
990
Kapitel 76 · Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76.3.2 Therapie der respiratorischen Insuffizienz
Therapie der Oxygenierungsstörung Sauerstoff
76
Für die Behandlung der Oxygenierungsstörung nach thoraxchirurgischem Eingriff stehen verschiedene Devices zur Verfügung, die sich in ihrer Effektivität unterscheiden: Niedrigflusssauerstoffsysteme, Hochflusssauerstoffsysteme und Masken-CPAP mit fixer inspiratorischer Sauerstoffkonzentration. Diese unterscheiden sich in ihrer Leistungsfähigkeit zum Teil erheblich (. Tab. 76.2) [10]. Der Wahl des Devices wird durch die zugrunde liegende Pathologie (z. B. Verteilungsstörung bei COPD, Shunt bei Atelektase) und die Schwere der Oxygenierungsstörung bedingt. Ziel der Therapie ist eine Sicherstellung einer ausreichenden Sauerstoffversorgung des Organismus, um eine Gewebshypoxämie mit entsprechenden Konsequenzen zu verhindern. Wichtiger als der Wert des Sauerstoffpartialdrucks (pO2) bzw. der Sauerstoffsättigung (SO2) ist hierbei das Sauerstoffangebot für den Körper (»delivery of oxygen«, DO2). Berechnung des arteriellen Sauerstoffgehalts (CaO2) und des Sauerstoffangebots (DO2) DO2 = HMV [l/min] u CaO2 [ml/dl Blut] u 10 CaO2 = Hb [g/dl] u SaO2 u 1,34 [ml/g Hb]* 5 DO2 = »delivery of oxygen« 5 HMV = Herzminutenvolumen 5 CaO2 = »content arterial of oxygen« 5 Hb = Hämoglobin 5 SaO2 = arterielle Sauerstoffsättigung * physikalisch gelöster O2-Anteil vernachlässigt
Der Normalwert bei Gesunden liegt bei ca. 1000 ml Sauerstoff/ min, die kritische Grenze ist nicht genau bekannt, liegt aber bei der DO2 bei <8 ml O2/kg KG/min [11]. i Angestrebt werden sollte eine DO2 postoperativ von 10–12 ml O2/kg KG/min, um einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur kritischen Grenze zu haben.
CPAP zur Verbesserung der Oxygenierung Das Ziel der CPAP-Therapie ist eine Verbesserung der Oxygenierung durch Erhöhen der postoperativ pathologisch verminderten funktionellen Residualkapazität (FRC). Die Anwendung eines positiven endexspiratorischen Drucks soll dabei einen endexspiratorischen Kollaps von Lungengewebe verhindern und bereits kollabiertes Lungengewebe rekrutieren. Battisti et al. konnten 2005 zeigen, dass durch die Anwendung von CPAP bzw. nichtinvasiver Beatmung (NIV) bei nicht-hyperkapnischen Patienten postoperativ nach verschiedenen großen Eingriffen, darunter auch thoraxchirurgische Eingriffe, bereits im Aufwachraum eine deutliche Verbesserung der Blutgase zu erreichen ist, die über die unmittelbare Anwendung von CPAP hinaus anhielt [12].
Nicht-invasive Beatmung bei postoperativer Oxygenierungsstörung In einer 2001 von Auriant [13] publizierten Studie konnte gezeigt werden, dass durch eine postoperativ bei Oxygenierungsstörungen durchgeführte nicht-invasive Beatmungstherapie mit dem Zielvolumen 8–10 ml/kg KG für im Schnitt 14 h die Reintubationsrate signifikant gesenkt werden konnte. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus unterschieden sich in der NIV-Gruppe nicht von der Kontrollgruppe, jedoch konnte die Krankenhausmortalität und auch die 120-Tage-Mortalität mit dieser Maßnahme signifikant gesenkt werden. Die aktuell sich in Vorbereitung zur Publikation befindende S3-Leitlinie der AWMF »Nichtinvasive Beatmung als Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz« empfiehlt bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für eine postoperative hypoxämische akute respiratorische Insuffizienz die frühzeitige Anwendung von CPAP bzw. NIV unmittelbar nach der Extubation, um die Reintubationsrate und weitere Komplikationen zu senken (»level of evidence«: B) [14]. i Wichtig ist eine ausreichende Höhe des PEEP-Wertes um 9–10 cm H2O – hierdurch kann während des gesamten Atemzyklus ein höherer trachealer Druck aufrechterhalten werden, was zu einer Verbesserung der Oxygenierung ohne negative Auswirkungen auf die Hämodynamik führt [15].
. Tabelle 76.2. Unterschiede verschiedener Devices für die oronasale Sauerstoffgabe Device
Sauerstofffluss
Inspiratorische Sauerstoffkonzentration
Abhängigkeit vom Atemmuster
Einfache Sauerstoffbrille
1–4 (maximal 6) l/min
Bis zu FIO2 0,4
Erheblich
Transnasale Sauerstoffsonde
4–6 l/min
Bis zu FIO2 0,5
Erheblich
Einfache Sauerstoffmaske
6–10 l/min
Bis zu FIO2 0,5 (0,6)
Erheblich
Sauerstoffmaske mit Reservoir und Nichtrückatmungsventil
8–15 l/min
Bis zu FIO2 0,8 (0,9)
Gering
Venturi-Maske
4–6 l/min
Bis zu FIO2 0,6 – je nach verwendeter Düse
Gering (Vorteil einer fixen Sauerstoffkonzentration)
Masken-CPAP
High-flow (10–20 l/min) bzw. über Beatmungsgerät
Bis zu FIO2 1,0
Gering
991 76.4 · Sekretmanagement nach thoraxchirurgischen Eingriffen
Therapie der ventilatorischen Insuffizienz Nicht selten besteht nach Übernahme eines thorakotomierten Patienten aus dem Aufwachraum eine leichte Hyperkapnie mit leichter respiratorischer Azidose. Ursachen hierfür können eine verlängerte Wirkung der Narkosemittel mit Dämpfung des Atemzentrums, eine zu großzügige Gabe von Sauerstoff oder auch eine schmerzbedingte Verminderung der Ventilation sein. Bei nicht zu schwerer respiratorischer Azidose (pH-Wert >7,3) und klinisch stabilem, wachem Patienten reicht häufig die Reduktion der Menge des insufflierten Sauerstoffs – vorausgesetzt: ein hochnormaler pO2 in der Blutgasanalyse – und die ausreichende Gabe von Analgetika. Eine engmaschige Kontrolle des pCO2 in kurzem Abstand von 15–30 min ist erforderlich. Bei deutlich erhöhtem pCO2 ist ein Versuch der nicht-invasiven Beatmung mit ausreichend hohen inspiratorischen Drücken zur Verbesserung der alveolären Ventilation, u. U. in Kombination mit einer medikamentösen Antagonisierung der Narkosemittel, angezeigt. Eigene Daten zeigen, dass in über 90% der Fälle eine Reintubation auf diese Weise verhindert werden konnte [16]. Die Grenzen der nicht-invasiven Beatmung sollten dabei beachtet und bei pH-Werten <7,2 die Reintubation erwogen werden. 76.4
Sekretmanagement nach thoraxchirurgischen Eingriffen
Dem Sekretmanagement kommt nach thoraxchirurgischen Eingriffen eine entscheidende Bedeutung zu: Dys- und Atelektasen (. Abb. 76.1) sind häufige postoperative radiologische Befunde, und die Entwicklung einer Pneumonie ist eine gefürchtete postoperative Komplikation. Ursächlich für die Belüftungsstörung und Sekretretention sind eine verminderte Inspirationstiefe als Folge des Operationstraumas und ein abgeschwächter Hustenstoß, der verschiedene Ursachen haben kann: schmerzbedingt fehlende tiefe Inspiration vor dem Husten, ungenügende Anspannung der Exspirationsmuskeln, eine z. B. intubationsbedingte Glottisdysfunktion oder eine Engstellung von Atemwegen an Bronchusmanschetten. Gleichzeitig besteht postoperativ und als Folge der Intubation eine vermehrte endobronchiale Sekretbildung, die sich auf eine evtl. vorbestehende chronische Raucherbronchitis aufpfropft.
76
i Therapeutische Ansatzpunkte stellen neben einer ausreichenden postoperativen Analgesie (7 Kap. 76.6) die Physiotherapie und die Bronchoskopie dar.
76.4.1 Physiotherapie Die postoperative Physiotherapie stellt einen intergralen Bestandteil der Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen dar. Neben frühzeitiger Mobilisierung werden verschiedene Techniken zur Verbesserung von Sekretolyse und Sekretexpektoration angewandt [17]. Physiotherapeutische Maßnahmen des Sekretmanagements 5 Sekretolyse – manuelle Thoraxperkussion – maschinelle Thoraxperkussion – endobronchiale Oszillationen (Flutter, RC-Cornet, Acapella) 5 Sekretexpektoration – »incentive spirometer« – manuell assistiertes Husten – »active cycle of breathing technique« – forcierte Exspiration – PEP-Ventil
Manuelle und maschinelle Thoraxperkussionen erreichen Frequenzen von 4–8 Hz bzw. 25–40 Hz und liegen somit unter oder über der Resonanzfrequenz des Thorax (11–13 Hz), was ihre Wirksamkeit beeinträchtigt. Für endobronchiale Oszillationen konnte eine bessere Wirkung auf die Sekretolyse bei Patienten mit COPD und Mukoviszidose nachgewiesen werden. Die Datenlage für das »incentive spirometer« ist ebenfalls nicht gut, die Studie von Gosselink [18] fand keinen Vorteil gegenüber konventioneller Physiotherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen. Bei der Auswahl des »incentive spirometer« sollte die zusätzlich notwendige Atemarbeit mitberücksichtigt werden, die sich bei verschiedenen Geräten teilweise deutlich un-
. Abb. 76.1a, b. Totalatelektase der rechten Lunge. a 1. postoperativer Tag nach Unterlappenresektion durch Sekretpfopf im Hauptbronchus rechts. b Kontrolle nach bronchoskopischer Sekretentfernung – Wiederbelüftung des rechten Lungenflügels
992
Kapitel 76 · Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
terscheidet [19] – Geräte mit geringer zusätzlicher Atemarbeit sind zu bevorzugen. Größter Vorteil des »incentive spirometer« ist die häufige Durchführbarkeit des Manövers auch ohne Anwesenheit eines Physiotherapeuten. 76.4.2 Bronchoskopie
76
Die bronchoskopische Sekretabsaugung ist den Patienten vorbehalten, bei denen die Physiotherapie nicht mehr effektiv ist. Insbesondere bei Atelektasen von einzelnen Lungenlappen oder eines gesamten Lungenflügels ist es nahezu nicht mehr möglich, Luft hinter das Sekret zu bringen, was eine Voraussetzung für effektives Abhusten ist. Die Bronchoskopie ist hier sehr hilfreich (. Abb. 76.1b), und gleichzeitig kann der Bronchialbaum auf entzündlich bedingte Engstellen, Knickstenosen u. a. inspiziert werden. Die Verwendung von Lokalanästhesie für die Bronchoskopie ist obligat, auf die Gabe von sedierenden Medikamenten wie Midazolam sollte, wenn möglich, verzichtet werden, da die Sedierung häufig über die Zeit der Untersuchung hinaus anhält und somit während dieser Zeit neuerlich das Abhusten deutlich eingeschränkt ist. 76.5
Pneumonie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
Pneumonien treten nach lungenresizierenden Eingriffen häufig auf – es werden Inzidenzen von 3,4% [20] bis 25% [21] beschrieben. Folgen einer Pneumonie sind eine signifikant höhere Beatmungspflichtigkeit sowie ein längerer Aufenthalt auf der Intensivstation und im Krankenhaus [21]. Folgende Risikofaktoren für das Auftreten einer Pneumonie in der postoperativen Phase sind bekannt [20, 21, 22]: 4 vorbestehende COPD, 4 Ausmaß des lungenresezierenden Eingriffs, 4 Präoperativ vorhandene Kolonisierung des Bronchialsystems, 4 männliches Geschlecht, 4 längere Operationsdauer, 4 Aufenthalt auf der Intensivstation, 4 höherer postoperativer Schmerz-Score. Hilfreich bei der Diagnose einer Pneumonie sind klinischer und radiolgischer Befund sowie mikrobiologische Untersuchungen und Laborparameter – allerdings gelten für das häufig verwandte Procalcitonin postoperativ andere Grenzwerte, oberhalb derer mit ausreichender Sensitivität und Spezifität eine bakterielle Infektion diagnostiziert werden kann [23]. Eine frühzeitige kalkulierte antibiotische Therapie ist aus prognostischen Gründen zwingend erforderlich. Ob in Zukunft eine prophylaktische Antibiotikatherapie bei Nachweis einer signifikanten bakteriellen Besiedelung des Tracheobronchialsystems die Rate postoperativer Pneumonien senken kann, muss in weiteren Studien geklärt werden.
76.6
Postoperative Schmerztherapie
Eine optimale postoperative Schmerztherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen ist obligat, um postoperativ eine effektive Sekretexpektoration zu ermöglichen und den Patienten früh mobilisieren zu können. Grundsätzlich werden heute zwei Verfahren eingesetzt: 4 Patientenkontrollierte Analgesie (PCA): Bei der PCA erfolgt die Applikation von intravenösen Opioiden auf Anforderung durch den Patienten [24], bei nicht ausreichender Schmerzkontrolle werden zusätzlich Substanzen wie Novamin oder Paracetamol gegeben. Diese Methode hat, obwohl bewährt, zwei erhebliche Nachteile: 4 eine opioidinduzierte Übelkeit und Emesis, 4 häufig erheblich sedierende, teilweise auch atemdepressive Effekte, die wiederum einer frühzeitigen Mobilisierung und auch einem effektiven Sekretmanagement entgegenstehen. 4 Periduralanalgesie (PDA): Die PDA besteht in der rückenmarknahen Applikation von Lokalanästhetika, häufig in Kombination mit Opioiden. Mögliche Vorteile sind eine deutlich geringer ausgeprägte Atemdepression und sedierende Wirkung sowie verminderte postoperative Übelkeit. Mögliche Nebenwirkungen sind motorische Paresen und Blasenentleerungsstörungen, die eine intermittierende Katheterisierung der Harnblase erfordern. Eine Hypotonie ist durch eine Hemmung des Sympathikus mit fehlender Vasokonstriktion verursacht und benötigt primär Katecholamine. Eine eindeutige Überlegenheit der einen über die andere Methode ist bisher nicht bewiesen, einige Studien [25, 26] haben jedoch unter Periduralanalgesie eine signifikant bessere analgetische Wirkung und im Vergleich zur präoperativen Funktion geringer eingeschränkte Lungenfunktionsparameter beschrieben. Die Rate postoperativer Komplikationen war allerdings nicht unterschiedlich.
76.7
Spezielle postoperative Krankheitsbilder
76.7.1 Herniation des Herzens Die Herniation des Herzens stellt eine extrem seltene, akut lebensbedrohliche Notfallsituation dar und erfordert unverzügliche Diagnostik und Therapie. Sie setzt einen intraoperativ angelegten, gedeckten Perikarddefekt und eine Pneumonektomie voraus. Postoperativ können folgende Faktoren eine Herniation begünstigen: versehentlich übermäßiger Sog über die Thoraxdrainage in der leeren Pleurahöhle, mechanische Ventilation mit hohen inspiratorischen Drücken und eine Lagerung des Patienten auf die operierte Seite. Folgen der Herniation sind ein akuter Blutdruckabfall, Auftreten von Herzrhythmusstörungen und eine obere Einflussstauung. Therapeutisch notwendig ist eine sofortige Rethorakotomie mit Repositionierung des Herzens. Überbrückend müssen der
993 76.7 · Spezielle postoperative Krankheitsbilder
Sog an der Thoraxdrainage weggenommen werden und eine Lagerung auf die gesunde Seite erfolgen. Bei kritischem Blutdruckabfall ist die Gabe von Vasopressoren bzw. auch Einleitung von Reanimationsmaßnahmen notwendig.
76
nimmt im Vergleich zu Patienten ohne oder mit kurz dauernder pleuraler Fistel nicht zu, jedoch ist das Risiko, ein Empyem zu entwickeln, erhöht [34]. 76.7.5 Anastomoseninsuffizienzen bzw.
76.7.2 Tracheobronchiale Ruptur Eine Ruptur im Bereich von Trachea und/oder Hauptbronchien ist nach Intubation eine seltene Komplikation, kann aber unter Verwendung von Doppellumentuben, wie sie für seitengetrennte Beamtung bei thoraxchirurgischen Operationen verwendet werden, durchaus auftreten. Typischerweise handelt es sich um längsverlaufende Zerreißungen im Bereich der Pars membranacea, die sich sehr selten in einen der beiden Hauptbronchien fortsetzen. Klinisch macht sich eine Trachealruptur durch die Entwicklung eines Mediastinalemphysems bemerkbar, die Entwicklung einer Mediastinitis ist eine häufig fatale Komplikation. Die Diagnostik ist die Domäne der flexiblen Bronchoskopie. Ursprünglich galt die frühe chirurgische Revision mit Übernähung des Defekts als Therapie der Wahl [27]. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass in speziellen Situationen, v. a. bei Spontanatmung und Länge der Lazeration <4–5 cm, auch ein konservatives Vorgehen mit gutem Langzeitergebnis möglich ist [28]. Eine prophylaktische Gabe von Antibiotika zur Verhinderung einer Mediastinitis muss frühzeitig, d. h. unmittelbar nach Diagnosestellung erfolgen. 76.7.3 Torsion eines Lungenlappens Torsionen eines oder mehrerer Lungenlappen sind seltene postoperative Ereignisse nach lungenresizierenden Eingriffen. In der Regel treten sie 1–5 Tage nach der Operation auf. Klinisch weisen die Patienten Zeichen einer Entzündung auf, verbunden mit einer Verschlechterung des Gasaustauschs und radiologischen Zeichen einer Verschattung. Bronchoskopie und evtl. eine Angiographie bestätigen die Diagnose, die Therapie besteht in einer Rethorakotomie mit Replatzierung und ggf. Fixierung des mobilen torquierten Lappens, um die Gefahr einer Nekrose des Lappens mit Infektionsrisiko zu minimieren [29, 30] 76.7.4 Prolongier te pleurale Fistel Pleurale Fisteln treten häufig in den ersten Stunden bzw. Tagen nach thoraxchirurgischen Eingriffen als Folge des Operationstraumas auf. Standardmäßig erfolgt unmittelbar postoperativ die Anlage eines Sogs von –10 bis –20 cm H2O. Ausnahme ist die Pneumonektomie, wo kein Sog angelegt wird. Häufig kann der Sog bereits kurz nach der Operation bei fehlender Fistelung entfernt werden, bei nur geringer Fistel kann die passive Ableitung der Luft über eine Drainage mit Wasserschloss ausreichend sein [31]. Die Indikation für eine weitere Saugung besteht bei großer Fistel mit Hautemphysem bzw. bei radiologisch nicht vollständig ausgedehnter Restlunge [32]. Bei emphysematös veränderten Lungen können prolongierte pleurale Fisteln (Dauer >7 Tage) auftreten, mit dem Risiko eines verlängerten Krankenhausaufenthaltes und erhöhter Krankenhauskosten [33]. Das Risiko kardiopulmonaler Komplikationen
Stumpfinsuffizienzen Anatomoseninsuffizienzen sind seltene postoperative Komplikationen, die aber aufgrund der steigenden Zahlen von Manschettenresektionen häufiger auch die Intensivmedizin vor Probleme stellen. Frühe Zeichen sind eine Zunahme der Expektoration von wässrigem Sekret bzw. Hämoptysen. Eine unverzügliche u.a. bronchoskopische Diagnostik ist erforderlich, um lebensbedrohliche Komplikationen wie Asphyxie im Rahmen einer Hämoptoe zu verhindern. Die Therapie besteht in einer raschen Rethorakotomie mit ggf. Restpneumonektomie, bis dahin muss der Patient auf der Intensivstation überwacht und antitussiv behandelt werden – manchmal ist bei manifester respiratorischer Insuffizienz die seitengetrennte Intubation bereits auf der Intensivstation erforderlich. Stumpfinsuffizienzen treten häufiger nach Pneumonektomie als nach Lobektomie auf, v. a. bei nicht tumorfreiem Resektionsrand bzw. entzündlichen Lungenerkrankungen, und sind meist durch die Entwicklung eines Empyems kompliziert. Klinisch machen sie sich durch eine vermehrte Sekretproduktion bemerkbar, u. U. zusätzlich Entzündungszeichen bei gleichzeitigem Empyem, in Kombination mit einem absinkenden Flüssigkeitsspiegel in der Thoraxröntgenaufnahme nach Pneumonektomie. Die Diagnose wird ebenfalls bronchoskopisch gestellt. Therapeutisch erfolgt eine Drainageableitung bei Empyem und, falls möglich, eine Rethorakotomie mit Deckung des Stumpfs. i Solange die Insuffizienz besteht, ist auf eine korrekte Lagerung des Patienten – Tieferlagerung der betroffenen Seite – zu achten, um Aspirationen von u. U. infektiösem Material in die gesunde Lunge zu verhindern.
76.7.6 Postoperative Nachblutung Hämodynamisch wirksame Nachblutungen nach thoraxchirurgischen Eingriffen sind durch Tachykardie und Hypotonie bis hin zum Schockzustand gekennzeichnet. Die Diagnose wird gestellt durch Messung des Drainagesekrets, Messung des Hämoglobingehalts in der Sekretauffangkammer und radiologisch durch eine zunehmende pleurale Verschattung. Die Therapie besteht in einer chirurgischen Revision mit z. B. Umstechung eines blutenden Gefäßes und Hämatomausräumung. 76.7.7 »Acute Lung Injury« (ALI) und
»Acute Respiratory Distress Syndrome« (ARDS) nach Lungenresektion Pathophysiologie i ALI und ARDS nach lungenresizierenden Eingriffen stellen lebensbedrohliche Komplikationen dar.
Pathologisch gekennzeichnet durch eine diffuse Schädigung der alveolokapillären Membran, besteht klinisch eine progrediente
994
Kapitel 76 · Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
76
. Abb. 76.2a, b. Pneumonektomie rechts. a Thoraxröntgenaufnahme postoperativ. b 36 h später – Entwicklung des Vollbildes eines ARDS (Postpneumonektomieödem)
respiratorische Insuffizienz mit erheblicher Oxygenierungsstörung. In der intialen exsudativen Phase kommt es zur Entwicklung eines interstitiellen und alveolären Ödems mit Ausbildung von hyalinen Membranen. Der weitere Verlauf ist variabel, von einer Lösung des Ödems mit Restitutio ad integrum bis hin zu einer proliferativen Phase mit Remodelling der Lunge, Vernarbung und Entwicklung einer Lungenfibrose. Die Häufigkeit beträgt in Abhängigkeit von der Größe des Eingriffs 4–7% nach Pneumonektomie und 1–2% nach Lobektomie [35]. Die genaue Genese dieser auch als Postpneumonektomieödem bezeichneten akuten Gasaustauschstörung ist nicht geklärt, verschiedene Mechanismen wie eine Schädigung durch die Ein-Lungen-Ventilation während der Operation, IschämieReperfusions-Schädigung, hohe intraoperative inspiratorische Sauerstoffkonzentration mit konsekutiver Radikalenbildung, stark positive Flüssigkeitsbilanz und Stress des pulmonalkapillären Gefäßbettes werden angeschuldigt [36, 37]. Als mögliche Prophylaxe gegen ein ALI sollte postoperativ nach Pneumonektomie eine restriktive Flüssigkeitsbilanzierung erfolgen.
Klinik und Prognose Klinisch manifestieren sich ALI bzw. ARDS zwischen dem 1. und 13. postoperativen Tag [38] mit Tachypnoe, Dyspnoe und einer ausgeprägten Oxygenierungsstörung, häufig bevor korrespondierende radiologische Veränderungen auftreten (. Abb. 76.2). Gleichzeitig kann eine metabolische Azidose vorliegen. Die Mortalität wird mit bis zu 60–80% angegeben.
Therapie Eine spezifische Therapie von ALI bzw. ARDS existiert nicht. In Frühstadien ist die Gabe von Sauerstoff etabliert, um ein ausreichendes Sauerstoffangebot für den Körper zu gewährleisten. In der Regel ist zur Beatmung ein einläufiger Endotrachealtubus ausreichend, in seltenen Fällen, z. B. bei gleichzeitig erheblicher pleuraler Leckage, kann eine seitengetrennte Beatmung (»independent lung ventilation«; ILV) nach Einbringen eines Doppellumentubus erforderlich sein. Bei invasiver Beatmung ist eine lungenprotektive Beatmung heute Standard [39].
Eine strenge Flüssigkeitsrestriktion bei manifestem ALI/ ARDS wird von vielen Abteilungen angewandt, obwohl sich in einer aktuellen Studie [40] in der flüssigkeitsrestriktiven Gruppe nur ein nicht signifikanter Trend zu einer Verbesserung der Lungenfunktion und einer Verkürzung von Beatmungszeit und Dauer des Intensivaufenthalts fanden. 76.7.8 Akute Rechtsherzinsuffizienz Verschiedene Faktoren können postoperativ zu einer starken Erhöhung der pulmonalarteriellen Widerstände mit konsekutivem akutem Rechtsherzversagen führen: Eine postoperative akute Lungenembolie oder ein ALI/ARDS mit schwerer Hypoxämie sind die häufigsten Ursachen. Eine mechanische Beatmung kann zu einer Aggravation der Rechtsherzbelastung führen. Die Reduktion der pulmonalen Strombahn nach Lungenresektion allein führt in der Regel nicht zu einem relevanten Lungenhochdruck, vorausgesetzt, es bestand präoperativ keine pulmonalarterielle Hypertonie, die aber in den allermeisten Fällen eine funktionelle Inoperabilität bedingt. Diagnostisch wegweisend sind eine obere und untere Einflussstauung, Tachykardie und Blutdruckabfall, auskultatorisch nachweisbare Trikuspidalinsuffizienz bzw. betonter 2. Herzton und Rechtsherzbelastungszeichen im EKG. Die Sicherung der Diagnose erfolgt mittels Echokardiographie bzw. Druckmessung im kleinen Kreislauf durch den Pulmonaliskatheter. Die Therapie der akuten Rechtsherzinsuffizienz besteht in der Entlastung des rechten Herzens durch Senkung von Vorund Nachlast, mittels Applikation von Sauerstoff zur Verminderung der hypoxischen pulmonalarteriellen Vasokonstriktion und Gabe von pulmonalisdrucksenkenden Medikamenten wie inhalativem Prostaglandin oder Stickstoffmonoxid (NO). Zusätzlich können positiv-inotrope Substanzen wie E-Rezeptoragonisten (z. B. Dobutamin) die rechtsventrikuläre Funktion verbessern. Nach kausal behandelbaren Ursachen wie einer Lungenembolie, die eine therapeutische Antikoagulation erfordert, sollte immer gesucht werden.
995 Literatur
76.7.9 Herzrhythmusstörungen
Inzidenz und Klinik Herzrhythmusstörungen, die postoperativ nach Thorakotomie auftreten, sind überwiegend supraventrikulärer Genese (supraventrikuläre Tachykardie, Vorhofflattern, Vorhofflimmern). Gehäuft treten sie am 2. und 3. postoperativen Tag auf. Die Inzidenz hängt von der Art des Eingriffs – häufiger nach Lobektomie, Bilobektomie und Pneumonektomie – ab und rangiert in der Literatur zwischen 12,5 und 33% [41, 42]. Klinisch führend sind Dyspnoe, Palpitationen, Atemnot und Hypotonie. Eine lebensbedrohliche hämodynamische Instabilität kann gelegentlich Folge dieser Rhythmusstörungen sein. Ventrikuläre Rhythmusstörungen sind wesentlich seltener und stellen keine postoperative Komplikation im engen Sinn dar, sondern sind Ausdruck einer begleitenden Herzerkrankung bzw. einer perioperativen Myokardischämie.
Therapie Die Therapie der symptomatischen supraventrikulären Rhythmusstörungen unterscheidet sich nicht von der Therapie von Rhythmusstörungen anderer Genese. Bei hämodynamischer Stabilität erfolgt eine medikamentöse Frequenzkontrolle, z. B. mit E-Blockern oder Amiodaron, eine sofortige Elektrokonversion ist nur bei hämodynamischer Instabilität indiziert. Bei Persistenz von Vorhofflattern oder -flimmern muss, sofern chirurgisch vertretbar, eine Antikoagulation mit z. B. niedermolekularen Heparinen in therapeutischer Dosierung zur Prophylaxe thrombembolischer Ereignisse erfolgen. Die Prognose dieser postoperativ aufgetretenen Rhythmusstörungen ist gut, bis vor Entlassung wechseln unter Frequenzkontrolle ca. 85% der Patienten spontan in einen Sinusrhythmus. Bei ventrikulären Rhythmusstörungen muss nach auslösenden Faktoren wie Myokardischämie, Infarkt etc. gesucht werden. Hilfreich sind EKG, Laboruntersuchungen (Troponin, Kalium) und ggf. die Echokardiographie. Bei isolierten ventrikulären Rhythmusstörungen ist ein abwartendes Beobachten gerechtfertigt, bei symptomatischer ventrikulärer Tachykardie erfolgt die Kardioversion/Defibrillation mit nachfolgender antiarrhythmischer Therapie mit E-Blockern oder Amiodaron unter Beachtung der Kontraindikationen.
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Kapitel 76 · Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
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77 Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen T. Kramm, H.-J. Schäfers
77.1
Postoperative Über wachung
77.1.1 77.1.2 77.1.3
Überwachung und Monitoring –998 Blutung und Blutgerinnung –998 Medikamentöse Therapie des Kreislaufs –999
77.2
Spezielle Krankheitsbilder
77.2.1 77.2.2 77.2.3 77.2.4 77.2.5 77.2.6 77.2.7 77.2.8 77.2.9
Aneurysma der Aorta ascendens –1000 Aneurysma des Aortenbogens –1000 Aortenbogenersatz bei akuter Dissektion –1000 Ersatz der Aorta descendens bei Aneurysma –1001 Ersatz der Aorta descendens bei akuter Dissektion –1001 Thorakoabdomineller Aortenersatz –1001 Abdomineller Aortenersatz/Y-Prothese bei AVK –1001 Endarteriektomie der Arteria carotis –1001 Periphere Gefäßchirurgie –1002
Literatur
–1002
–998
–1000
998
Kapitel 77 · Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen
Die intensivmedizinische Überwachung und Therapie nach Eingriffen an Aorta und peripheren Gefäßen muss die möglichen Komplikationen der Operationen berücksichtigen. Diese sind teilweise durch die Operation, im Wesentlichen aber durch Konsequenzen der atherosklerotischen Grunderkrankung bedingt. Zusätzlich weisen diese Patienten häufig eine relevante Komorbidität auf, die berücksichtigt werden muss. Die präoperative Einschätzung der Ausprägung der Begleiterkrankung kann technisch schwierig sein.
77
Bei Patienten mit Erkrankungen der Hauptschlagader oder peripherem arteriellem Verschluss ist die Belastbarkeit durch die Grunderkrankung limitiert, sodass eine pulmonal oder kardial bedingte Einschränkung der physiologischen Reserven präoperativ schwer objektivierbar ist. Der gefäßchirurgische Patient ist somit als multimorbider Risikopatient einzustufen.
Bronchialtoilette. Mit einer erhöhten Rate an pulmonalen Infekten – und bei deren Auftreten – ist mit einer erhöhten Letalität zu rechnen [2]. Die Existenz einer diabetischen Stoffwechsellage, insbesondere die insulinpflichtige Behandlung, beeinflusst nicht nur den Metabolismus (perioperative diabetische Entgleisung), sondern erhöht die Wahrscheinlichkeit von perioperativen Infekten wie auch Morbidität und Letalität [60]. Zielsetzung der Intensivmedizin nach gefäßchirurgischen Eingriffen muss es sein, die physiologischen Konsequenzen der Grunderkrankung, des operativen Eingriffes sowie auch der Begleiterkrankung zu berücksichtigen. Aufgrund der eingeschränkten Reserven ist eine besonders aggressiver Diagnostik und Therapie erforderlich.
77.1 Die Grunderkrankung, die zur Notwendigkeit eines gefäßchirurgischen Eingriffs führt, ist fast immer die Atherosklerose. Diese Erkrankung betrifft das gesamte arterielle Gefäßsystem im Sinne einer gestörten Endothelfunktion [20, 50, 51]. Morphologische Stenosen in verschiedenen Strombahnen, zusätzlich auch die veränderte Endothelzellfunktion, können zu ischämischen Veränderungen vitaler Organe führen [58]. Kardiovaskuläre Komplikationen sind der Myokardinfarkt oder der zerebrovaskuläre Insult [66, 67]. Auch die Ischämie von Mesenterium oder Extremitäten können vital bedrohliches Ausmaß annehmen [23]. Entsprechend ist der Myokardinfarkt bzw. das Herzversagen die häufigste Todesursache nach gefäßchirurgischen Operationen [3, 22, 50, 65]. Schwierig zu diagnostizieren, jedoch relevant sind viszerale Perfusionsstörungen, insbesondere die non-okklusive Mesenterialischämie, wenn auch bislang nur wenige Daten zu dieser Form der Organischämie existieren [42, 43, 63]. Die physiologischen Konsequenzen der atherosklerotischen Grunderkrankung werden durch das operative Trauma verstärkt. Die Größe des Traumas hängt ab von der durchgeführten Operation und vom präoperativen Ausgangszustand. Ein präoperativer Schockzustand wie auch der Einsatz der extrakorporalen Zirkulation führen zu einer ausgeprägten Aktivierung von Zytokinen sowie zellulären Bestandteilen des Blutes (Thrombozyten, Neutrophile, Makrophagen) [8]. Das Resultat ist eine ausgeprägte Störung der Gewebsperfusion auf mikrovaskulärer Ebene [24, 39, 48]. Treten solche Faktoren kombiniert auf (z. B. präoperativer Schockzustand und extrakorporale Zirkulation), ist mit besonders schweren Perfusionsstörungen vitaler Organe zu rechnen [57, 62]. Die Intensivtherapie muss diesen Veränderungen Rechnung tragen und anstreben, schnellstmöglich eine Normalisierung der Gewebsperfusion zu erzielen. i In der Gefäßchirurgie ist das Auftreten weiterer relevanter Begleiterkrankungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Bei einem großen Anteil der Patienten führt der vorausgegangene Nikotinabusus nicht nur zu dem zu behandelnden gefäßchirurgischen Problem, sondern gleichzeitig auch zur Entwicklung einer obstruktiven Lungenerkrankung. Diese limitiert die physiologischen pulmonalen Reserven und erschwert die postoperative
Postoperative Überwachung
77.1.1 Über wachung und Monitoring Überwachung und Monitoring von Kreislauf und Beatmung entsprechen den bereits aufgeführten Grundprinzipien (7 Kap. 15 und 40). Auch die Flüssigkeitssubstitution wird nach den etablierten Kriterien gesteuert. Hierbei ist eine besonders sorgfältige Überwachung erforderlich. Eine Hypovolämie führt bei diesen Patienten eher zu einer vital bedrohlichen Organminderperfusion, als dies bei Kranken mit normalem Gefäßsystem der Fall ist. Eine moderate Hämodilution im Rahmen der Flüssigkeitssubstitution hat zusätzlich positive Auswirkungen auf die Mikrozirkulation [10]. Dagegen kann eine exzessive Gabe von Flüssigkeit zur kardialen Dekompensation und konsekutiven pulmonalen Funktionsstörungen führen. 77.1.2 Blutung und Blutgerinnung Blutungskomplikationen können nach gefäßchirurgischen Eingriffen wie auch nach allen anderen größeren Operationen auftreten. Exzessive Blutungen durch eine Hemmung der plasmatischen Gerinnung (z. B. durch präoperative Antikoagulation) sind selten. Die häufigste nicht-chirurgische Ursache für eine verstärkte Blutung besteht in einer Hemmung der Thrombozytenfunktion, z. B. durch die präoperative Basistherapie der stenosierenden Atherosklerose (Azetylsalizylsäure, Clopidogrel) [21, 32, 34]. Extrakorporale Zirkulation, größere intraoperative Blutverluste und auch das Vorliegen einer septischen Grunderkrankung (z. B. mykotisches Aneurysma) verstärken die Einschränkung der thrombozytären Funktion [5]. Eine ausgeprägte Fibrinolyse, sei es durch Einsatz der extrakorporalen Zirkulation oder im Rahmen ausgeprägter Ischämiereperfusionsphänomene, kann die Blutungsneigung noch erheblich verstärken [8, 64]. Die Therapie ist insofern nicht immer einfach, als eine vollständige Normalisierung der Blutgerinnung nicht nur zur Störung der peripheren Mikrozirkulation, sondern auch zu einem Verschluss der chirurgischen Rekonstruktion führen kann. Primäres Ziel bei diesen Patienten muss es sein, im Rahmen des operativen Eingriffs durch Verbesserung der Thrombozyten-
999 77.1 · Postoperative Überwachung
77
. Tabelle 77.1. Algorithmus zur Kreislauftherapie Diagnostische Schlüssel
Pathophysiologie I
Pathophysiologie II
Pathophysiologie III
Blutdruck
Niedrig
Niedrig
Niedrig
Diurese
Niedrig
Niedrig
Variabel
Akren
Kühl
Kühl
Warm
Zentrale Sättigung
Niedrig
Niedrig
Hochnormal
Zentraler Füllungsdruck
Niedrig
Erhöht
Variabel
Echokardiographie
Normale Herzfunktion
Eingeschränkte Herzfunktion
Hyperdyname Herzfunktion
Diagnose
Volumenmangel
Low-output-Syndrom
SIRS/Sepsis
Lösungsansatz
Volumensubstitution 4 Kristalloide Lösungen 4 Plasmaexpander 4 Blutprodukte (Indikation)
Inotropiesteigerung 4 Dobutamin 4 Inodilatatoren 4 Additiv Nachlastsenkung
Vasopressorengabe 4 Noradrenalin 4 Vasopressin
funktion und Vermeiden oder Therapie einer Fibrinolyse eine normale Gerinnung zu erzielen. Die Gabe von Aprotinin führt nicht nur zu einer Stabilisierung der thrombozytären Funktion, sondern auch zu einer effektiven Hemmung der Fibrinolyse [1, 4, 9]. Eine überschießende, prothrombogene Wirkung wird für den perioperativen Einsatz kontrovers diskutiert [5]. Die Funktion der Thrombozyten kann durch die Gabe von Minirin oder Tranexamsäure verbessert werden [29, 35, 36, 46]. Im Zweifelsfall ist die Substitution von Thrombozyten erforderlich, insbesondere bei zusätzlicher septischer Störung der Plättchenfunktion bzw. ausgedehntem Wundfeld. Postoperativ sind diese therapeutischen Wege ebenso effektiv wie intraoperativ. Beim Einsatz jedes therapeutischen Mittels ist jedoch zu berücksichtigen, dass 4 eine sog. chirurgische Blutung maskiert werden kann (die besser primär mit einer operativen Revision versorgt worden wäre) und 4 Thrombose/Verschluss der chirurgischen Rekonstruktion bzw. Mikrozirkulationsstörung die Folge sein können. Ist postoperativ keine vermehrte Blutungsneigung festzustellen, kann bei klinischer Notwendigkeit mit der parenteralen Gabe von Azetylsalizylsäure bereits innerhalb der ersten 12 h postoperativ begonnen werden [31]. Alternativ ist die Gabe von Heparin möglich. Liegt eine verstärkte Blutungsneigung vor, sollte nach zeitnaher Analyse der Blutgerinnung v. a. die thrombozytäre Blutgerinnung aggressiv normalisiert werden. In jedem Fall muss eine großzügige Entscheidung zur operativen Reintervention überdacht werden [40]. 77.1.3 Medikamentöse Therapie des Kreislaufs Details sind auch in 7 Kap. 19 und 21 zu finden. Die Stabilität des Kreislaufs und insbesondere der peripheren Organperfusion spielt eine zentrale Rolle. Mögliche Ursachen einer Instabilität können vielfältig sein, und Ziel der Intensivmedizin muss es sein, schnellstmöglich eine Homöostase herzustellen. In Anbetracht der Möglichkeit einer kardialen
Funktionsstörung gilt es gerade in der Gefäßchirurgie, sorgfältig kardiale von nicht-kardialen Ursachen einer Kreislaufinstabilität zu differenzieren. Zielparameter ist eine adäquate Organperfusion, die an stündlicher Urinproduktion, venöser Sauerstoffsättigung und Laktatspiegel abgeschätzt werden kann. Bei Vorliegen einer Erkrankung des Herzens (KHK) ist der zentrale Venendruck kein adäquater Parameter für Blutvolumen und linksventrikuläre Vorlast. Im Zweifelsfall erbringt die Messung des pulmonalkapillären Drucks über einen Pulmonaliskatheter zuverlässigere Daten, wenngleich diese nicht unumstritten sind [30]. Kontrovers beurteilt wird die wiederholte Messung des Herzzeitvolumens. Dies ist prinzipiell hilfreich, spielt jedoch in der Relation zu anderen Parametern (venöse Sauerstoffsättigung, Urinausscheidung) nicht zuletzt aufgrund der möglichen Messfehler eine untergeordnete Rolle. Hilfreich ist sicherlich die Objektivierung der linksventrikulären Funktion mittels transösophagealer Echokardiographie. Die systolische Funktion kann hiermit relativ zuverlässig bestimmt werden, während die Objektivierung der diastolischen Funktion differenzierte Messparameter erfordert und deren Korrelation mit intensivmedizinischen Fragestellungen nicht belegt ist [61]. i Am hilfreichsten ist die Zusammenschau aller genannten Parameter, wenngleich die Entwicklung eines eindeutigen und reproduzierenden therapeutischen Algorithmus nur schwer möglich ist (. Tab. 77.1).
In dieser Hinsicht bietet sich in der gefäßchirurgischen Intensivmedizin eine ähnliche Problematik wie in der Intensivmedizin prinzipiell; diese wird jedoch durch die meist eingeschränkten kardialen Reserven zusätzlich erschwert. Eine inadäquate Organperfusion auf dem Boden einer Hypovolämie bedarf primär der Volumensubstitution. Sind Organminderperfusion und Hypotension Folge einer Vasodilatation (ggf. mit Shuntfluss, z. B. im Rahmen allergischer Reaktionen), muss zunächst eine Hypovolämie ausgeschlossen werden. Ist dies geschehen, ist die Gabe eines Vasokonstriktors (Noradrenalin) der nächste sinnvolle Schritt. Hiermit kann der arterielle Systemdruck verbessert werden. Experimentelle Unter-
1000
77
Kapitel 77 · Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen
suchungen haben gezeigt, dass in einer solchen Konstellation die mesenteriale Durchblutung gesteigert wird. Die primäre oder alleinige Gabe von E-Sympathomimetika scheiterte in dieser Situation daran, dass das erkrankte Herz nicht in der Lage ist, das Herzzeitvolumen beliebig zu steigern. Katecholamine mit primär E-sympathomimischer Wirkung steigern darüber hinaus den Sauerstoffverbrauch des Darms. Vasopression ist ein neuer Vasokonstriktor ohne begleitende E-sympathomimetische Aktivität. Bisher besteht wenig Erfahrung mit seinem Einsatz in der Intensivmedizin, und gerade für gefäßchirurgische Patienten besteht die Sorge, dass die sensible Durchblutung der Splanchnikusstrombahn hierdurch besonders negativ beeinflusst werden könnte. Ist eine periphere Organminderperfusion bei normalem Blutvolumen durch eine Einschränkung der kardialen Funktion bedingt, steht im Vordergrund der Therapie die Gabe von E-sympathomimisch wirkenden Substanzen. Dobutamin ist ein gut steuerbares Katecholamin mit einer reinen E-Wirkung, das aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit gut steuerbar und in der Behandlung des kardiogenen Schocks etabliert ist. Reicht die Gabe eines E-Mimetikums nicht aus oder besteht eine erhebliche kardiale Funktionseinschränkung bei gleichzeitig erhöhtem peripherem Widerstand, bieten sich Phosphordiesterasehemmer als sog. Inodilatatoren an. Diese induzieren Vasodilatation und Steigerung der Kontraktilität über einen nicht direkt rezeptorvermittelten Weg und ergänzen somit die Kreislauftherapie durch Katecholamingabe. 77.2
Spezielle Krankheitsbilder
77.2.1 Aneurysma der Aor ta ascendens Ein isoliertes Aneurysma der Aorta ascendens ohne Beteiligung der Aortenklappe ist einfach korrigiert, indem mit Herz-Lungen-Maschine und im kardioplegischen Herzstillstand ein tubulärer Ersatz durchgeführt wird. Die Wahrscheinlichkeit postoperativer Komplikationen ist gering, und intensivmedizinisch sind neben den allgemeinen Grundprinzipien keine Besonderheiten zu erwarten. 77.2.2 Aneurysma des Aor tenbogens Erkrankungen des Aortenbogens beinhalten automatisch die Notwendigkeit der Operation im Bereich der Abgänge der hirnversorgenden Arterien. Unabhängig von der im Detail gewählten operativen Strategie müssen während der Operation Maßnahmen der Hirnprotektion zum Einsatz kommen. Der Kreislaufstillstand unter tiefer Hypothermie (Nasopharyngealtemperatur d18°C) ist ein bewährtes Verfahren, das seit Jahrzehnten verwendet wird. In den letzten 15 Jahren sind zusätzlich antegrade und retrograde Hirnperfusion als zusätzliche Maßnahmen zur Hirnprotektion bei dann meist moderater Hypothermie eingesetzt worden [25, 26]. Der Ersatz des Aortenbogens wird meist als tubulärer Aortenersatz durchgeführt, die Abgänge der supraaortalen Äste in die Aortenprothese impantiert [17]. Gelegentlich kann auch der separate proximale Ersatz der supraaortalen Gefäße zusätzlich zum Aortenbogen sinnvoll sein [16].
Unabhängig von der operativen Technik hat die zerebrale Funktion in der intensivmedizinischen Betreuung Priorität. Eine allzu schnelle Wiedererwärmung nach einer tiefen Hypothermie führt zu einer erhöhten Rate an neurologischen Komplikationen [25, 28]. In Anlehnung an die Therapie des zerebrovaskulären Insultes sollte eine Hyperglykämie sicher vermieden werden, ein Glukosespiegel von <130 mg% ist ideal [19, 44]. In Analogie zur Schlaganfalltherapie ist das Aufrechterhalten eines adäquaten Perfusionsdrucks wichtig. Wenn auch für die gefäßchirurgische Intensivmedizin keinerlei Daten vorliegen, so scheint jedoch ein mittlerer arterieller Druck von mindestens 75 mm Hg sinnvoll zu sein. 77.2.3 Aor tenbogenersatz bei akuter Dissektion Operativ-technisch entspricht der Ersatz des Aortenbogens bei akuter Dissektion dem bei Aneurysma. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird der Ersatz auf einen Teil des Aortenbogens beschränkt bleiben. Bei dieser Erkrankung besteht die Gefahr der präoperativen neurologischen Schädigung durch vaskulär bedingte Malperfusion im Bereich der hirnversorgenden Arterien. Zusätzlich wird ein nennenswerter Teil der Patienten im Zustand des kardiogenen Schocks, d. h. mit manifester Perikardtamponade diagnostiziert und dann sofort operiert. Maßnahmen zur Limitierung eines möglichen zerebralen Schadens haben in dieser Konstellation besondere Bedeutung. Der Spielraum, den arteriellen Blutdruck erhöht zu halten, ist auf der anderen Seite durch die verbliebenen Gefäßverhältnisse der Grunderkrankung äußerst limitiert. Ein arterieller Mitteldruck von 70 mm Hg erscheint als der in den meisten Fällen bestmögliche Kompromiss [7, 18, 33]. Mindestens so relevant wie eine zerebrale Minderperfusion sind Komplikationen der viszeralen Durchblutung im Rahmen des akut dissezierenden Prozesses. Bei sorgfältiger Diagnostik werden allein präoperativ bei mehr als 30% der Patienten Malperfusionsphänomene festgestellt. Intraoperativ und auch postoperativ können sich jederzeit neue Perfusionsminderungen vitaler Organe entwickeln. Wenn auch der Ersatz der proximalen Aorta häufig zur Besserung einer präoperativ bestandenen Organischämie führt, so verbleibt das »Damoklesschwert« der viszeralen Malperfusion innerhalb der ersten Tage postoperativ. Die sorgfältige Überwachung muss eine regelmäßige Kontrolle des Pulsstatus beinhalten. Zusätzlich müssen bei diesem Krankheitsbild Urinausscheidung, Laktatspiegel, Säure-BasenHaushalt und auch arterielle Oxygenierung noch sorgfältiger überwacht werden, als dies sonst der Fall ist. Bei Auffälligkeiten sollte eine spezifische Diagnostik mit Computertomographie und Angiographie schnell und zielgerichtet eingesetzt werden. Die Therapie der viszeralen Malperfusion muss die individuellen Probleme berücksichtigen [45]. Aktuelle Behandlungsverfahren reichen von der Platzierung von aortalen Stent-Grafts über Einsatz von Stents in Abgänge von Aortenästen, die interventionelle Fensterung der Dissektionsmembran bis hin zur chirurgischen Fensterung der infrarenalen Aorta [11, 41, 45, 59]. Da kein einzelnes der Therapieverfahren in der Lage ist, zuverlässig die viszerale Malperfusion zu beseitigen, ist eine sorgfältige und engmaschige Kontrolle des Behandlungserfolges anhand der klinischen Verlaufsparameter wie auch mit bildgebender Diagnostik entscheidend für das Überleben der Patienten mit diesen Komplikationen.
1001 77.2 · Spezielle Krankheitsbilder
77.2.4 Ersatz der Aorta descendens bei Aneurysma Der Aorta-descendens-Ersatz bei Aneurysma wird typischerweise als tubulärer Aortenersatz auf der erforderlichen Länge durchgeführt. Die Ausdehnung des Ersatzes hängt ab von der vorliegenden Pathologie. Die Operation muss in ihrer Strategie die wesentlichen Komplikationsmöglichkeiten berücksichtigen und deren Auswirkungen minimieren. Im Bereich der proximalen Aorta descendens ist dies v. a. eine Verlezung des N. recurrens. Eine Läsion des Ductus thoracicus mit resultierendem Chylothorax kann ebenfalls vorkommen. Das Risiko einer spinalen Ischämie ist beim kurzstreckigen proximalen Ersatz der Aorta descendens gering, steigt jedoch mit Ausdehnung nach distal und erfordert den Einsatz spezifischer Strategien zur Minimierung des Risikos einer Paraparese/Paraplegie [13, 15, 27]. Hierzu gehört in erster Linie die distale Aortenperfusion während der Klemmphase des Eingriffs. Dies lässt sich unter Einsatz des Linksherzbypasses (linke Lungenvene zu Femoralarterie) sicher bewerkstelligen. Eine moderate Hypothermie (Bluttemperatur von 32°C) während der Operation verbessert die Ischämietoleranz des Rückenmarks [14, 15]. Der gezielte Erhalt von Interkostalarterien distal des 7. Brustwirbels reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Paraplegie weiter [54]. In der postoperativen Intensivtherapie ist der Erhalt einer adäquaten Perfusion des Rückenmarks ein für diese Operation spezifisches Ziel und besitzt eine hohe Priorität. Wichtig ist es hierfür, einen mittleren arteriellen Druck von mindestens 75 mm Hg zu erhalten [38]. Die Liquordrainage über den im Spinalkanal liegenden Katheter wird von den meisten Zentren über 48–72 h fortgesetzt [52]. Nach entsprechender Pausierung der Antikoagulation kann er dann bei intakter Neurologie entfernt werden. Gelegentlich sind sekundäre Symptome einer spinalen Ischämie im zeitlichen Zusammenhang mit Hypotension und/oder Hypoxie innerhalb der 1. posteroperativen Woche aufgetreten. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem erneuten Einlegen einer Liquordrainage ist eine Besserung der spinalen Ischämie beobachtet worden [53].
77
lärer Gefäßersatz auf der erforderlichen Länge durchgeführt. Im Vergleich zum Ersatz der Aorta descendens ist das Risiko einer spinalen Ischämie weiter erhöht [56]. Zusätzlich muss bei Ausdehnung über die Viszeralarterien hinaus die Ischämietoleranz der Viszera berücksichtigt werden. In den größeren Zentren werden inzwischen weitgehend standardisierte Verfahren eingesetzt, die das Morbiditäts- und Letalitätsrisiko senken konnten. Die distale Aortenperfusion wird meist durch Einsatz eines Linksherzbypasses unter gleichzeitiger moderater Hypothermie (32°C) durchgeführt [12]. Proximaler wie distaler Perfusionsdruck werden >60 mm Hg gehalten, um die spinale Kollateralperfusion bestmöglich zu sichern. Die Liquordrainage dient der Optimierung der spinalen Durchblutung auch in Phasen kritischer Zirkulation [52]. Durch das schrittweise Ausklemmen des aneurysmatischen Bereiches (»staged clamping«) wird die Ischämiezeit der von den einzelnen Abschnitten abhängigen Organe kurz gehalten. Die Perfusion der Viszeral- und Nierenarterien mit Blut aus der extrakorporalen Zirkulation minimiert das Risiko eines ischämischen Organschadens in diesem Bereich [55]. In Anbetracht der Größe des Operationstraumas muss auf die Normalisierung der Blutgerinnung (v. a. der Thrombozytenfunktion) zum Ende der Operation geachtet werden. Die postoperative Therapie konzentriert sich wesentlich auf den Erhalt der Blutgerinnung sowie auf Maßnahmen zum Erhalt der spinalen Durchblutung (7 Kap. 77.2.4). Der Erhalt eines ausreichenden Perfusionsdrucks ist von entscheidender Bedeutung. Zusätzlich muss die Überwachung des Patienten die viszerale und renale Durchblutung im Auge behalten. Klinische Anzeichen für eine Durchblutungsstörung in diesem Bereich sollten zu einer schnellen Diagnostik führen (Angiographie). Nur durch rasche Diagnostik und ggf. operative Intervention kann ein folgenschwerer Organschaden abgewendet werden. 77.2.7 Abdomineller Aor tenersatz/Y-Prothese
bei AVK
Bei Vorliegen von relevanten Komplikationen der Dissektion (Perforation, schwere Malperfusion), die in etwa 10% der Fälle beobachtet werden, ist der Ersatz der proximalen Aorta descendens erforderlich. Durch die präoperative Risikokonstellation wie auch die operativen Schwierigkeiten im Umgang mit der akut disseziierten Aorta handelt es sich hierbei um einen Eingriff mit erhöhtem Risikoprofil. Die Grundprinzipien des Eingriffs entsprechen denen des Aorta-descendens-Ersatzes bei Aneurysma (7 Kap. 77.2.4). In der postoperativen Intensivtherapie muss das primäre Augenmerk der Diagnostik und ggf. der Therapie weiterhin bestehender oder ggf. neu auftretender vaskulärer Komplikationen der Dissektion gelten. Die Grundprinzipien entsprechen denen, die in 7 Kap. 77.2.3 beschrieben sind.
Bei Vorliegen einer aneurysmatischen Grunderkrankung besteht die Operation meist aus einem tubulären infrarenalen Aortenersatz, bei Ausdehnung der aneurysmatischen Dilatation auf die Iliakalarterien oder Vorliegen schwerer Verkalkungen auch der Anlage einer Bifurkationsprothese [37]. Bei einer arteriellen Verschlusskrankheit vom Beckentyp als primärer Grunderkrankung wird eine Bifurkationsprothese als aortobiiliakaler oder bifemoraler Bypass angelegt. Der operative Zugang ist in der Regel eine Laparotomie, und im Vergleich zum thorakalen Aortenersatz ist das Risikoprofil des Eingriffs relativ gering. Die postoperative Intensivtherapie muss in Bezug auf das Flüssigkeitsmanagement der stattgefundenen Laparotomie Rechnung tragen. Eine positive Flüssigkeitsbilanz von 2–3 l in den ersten 24 h ist meist erforderlich. Der Pulsstatus an den unteren Extremitäten muss überwacht werden; bei regelrechtem Befund sind sonst keine erkrankungs- bzw. operationsspezifischen Komplikationen zu erwarten.
77.2.6 Thorakoabdomineller Aor tenersatz
77.2.8 Endar teriektomie der Ar teria carotis
Bei ausgedehnten thorakoabdominellen Aneurysmen wird der Ersatz von thorakaler und abdomineller Aorta ebenfalls als tubu-
Die chirurgische Desobliteration der A. carotis interna hat trotz der Entwicklung inter ventioneller Verfahren weiterhin
77.2.5 Ersatz der Aor ta descendens
bei akuter Dissektion
1002
77
Kapitel 77 · Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen
eine wichtige Rolle in der Prophylaxe eines Schlaganfalls [47]. Meist wird das Gefäß längs eröffnet und eine offene Endarteriektomie durchgeführt; von manchen chirurgischen Gruppen wird eine Eversionsendarteriektomie bevorzugt [6]. Intraoperativ wird zur Minimierung des Schlaganfallrisikos von manchen Chirurgen generell ein intraluminaler Shunt eingelegt, andere ver wenden diesen bei im EEG nachweisbaren Hinweisen für eine zerebrale Minder versorgung [49]. Als Prophylaxe gegen einen hämodynamisch induzierten Schlaganfall ist der Erhalt eines ausreichend hohen Blutdrucks wichtig (systolischer Druck >130 mm Hg). Die postoperative Überwachung konzentriert sich auf die möglichen neurologischen Komplikationen des Eingriffs, eine längere Intensivtherapie ist üblicherweise nicht erforderlich. Wichtig ist der Erhalt einer ausreichenden Oxigenierung sowie eines adäquaten Blutdrucks. 77.2.9 Periphere Gefäßchirurgie Eine spezifische Intensivtherapie ist nicht erforderlich.
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1003 Literatur
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: Eine aktuelle Übersichtsarbeit mit großer Patientenzahl, die die Verbesserung der Ergebnisse durch Liquordrainage, distale Aortenperfusion und partiellen Linksherzbypass hinsichtlich neurologischer Defizite und Letalität in der Aortenchirurgie aufzeigt.
bei Aortendissektionen resultieren. Nur die rechtzeitige Diagnose und eine aggressive chirurgische oder interventionelle Therapie können die Ergebnisse beeinflussen. Eine distale Fensterung der Dissektionsmembran muss deshalb zeitnah zur Diagnosestellung erfolgen.
28. Fleck TM, Czerny M, Hutschala D, Koinig H, Wolner E, Grabenwoger M (2003) The incidence of transient neurologic dysfunction after ascending aortic replacement with circulatory arrest. Ann Thorac Surg 76: 1198–1202 29. Franchini M, Lippi G, Veneri D (2006) Efficacy of desmopressin in preventing hemorrhagic complications in a patient with Marfan syndrome undergoing cardiac surgery. Blood Coagul Fibrinolysis 17: 325–326 30. Ganter BG, Jakob SM, Takala J (2006) Pulmonary capillary pressure. A review. Minerva Anestesiol 72: 21–36 31. Goldman S, Copeland J, Moritz T, Henderson W, Zadina K, Ovitt T, Kern KB, Sethi G, Sharma GV, Khuri S, et al. (1991) Starting aspirin therapy after operation. Effects on early graft patency. Department of Veterans Affairs Cooperative Study Group. Circulation 84: 520–526 32. Graff J, Klinkhardt U, Harder S (2004) Pharmacodynamic profile of antiplatelet agents: marked differences between single versus costimulation with platelet activators. Thromb Res 113: 295–302 33. Grundmann U, Lausberg H, Schafers HJ (2006) [Acute aortic dissection. Differential diagnosis of a thoracic emergency]. Anaesthesist 55: 53–63 34. Harder S, Klinkhardt U, Alvarez JM (2004) Avoidance of bleeding during surgery in patients receiving anticoagulant and/or antiplatelet therapy: pharmacokinetic and pharmacodynamic considerations. Clin Pharmacokinet 43: 963–981 35. Hardy JF, Belisle S, Dupont C, Harel F, Robitaille D, Roy M, Gagnon L (1998) Prophylactic tranexamic acid and epsilon-aminocaproic acid for primary myocardial revascularization. Ann Thorac Surg 65: 371–6 36. Hedderich GS, Petsikas DJ, Cooper BA, Leznoff M, Guerraty AJ, Poirier NL, Symes JF, Morin JE (1990) Desmopressin acetate in uncomplicated coronary artery bypass surgery: a prospective randomized clinical trial. Can J Surg 33: 33–36 37. Helden RA, Kirklin JW, Gifford RW, Jr. (1953) The treatment of abdominal aortic aneurysms by excision and grafting. Mayo Clin Proc 28: 707–713 38. Huynh TT, Miller CC, 3rd, Estrera AL, Mohamed SG, Hassoun HT, Sheinbaum R, Porat EE, Safi HJ (2005) Correlations of cerebrospinal fluid pressure with hemodynamic parameters during thoracoabdominal aortic aneurysm repair. Ann Vasc Surg 19: 619–624 39. Janvier G, Baquey C, Roth C, Benillan N, Belisle S, Hardy JF (1996) Extracorporeal circulation, hemocompatibility, and biomaterials. Ann Thorac Surg 62: 1926–1934 40. Karthik S, Grayson AD, McCarron EE, Pullan DM, Desmond MJ (2004) Reexploration for bleeding after coronary artery bypass surgery: risk factors, outcomes, and the effect of time delay. Ann Thorac Surg 78: 527–534; discussion 534 41. Kipfer B, Savolainen H, Egger B, Carrel TP (2005) Delayed visceral malper fusion in aortic dissection-successful surgical revascularization using a saphenous vein graft. Eur J Cardiothorac Surg 28: 903–905 42. Klotz S, Vestring T, Rotker J, Schmidt C, Scheld HH, Schmid C (2001) Diagnosis and treatment of nonocclusive mesenteric ischemia after open heart surgery. Ann Thorac Surg 72: 1583–1586 43. Kramer SC, Gorich J, Oertel F, Scheld H, Heindel W (2003) [Non-occlusive mesenteric ischemia]. Rofo 175: 1177–1183 44. Kunihara T, Grun T, Aicher D, Langer F, Adam O, Wendler O, Saijo Y, Schafers HJ (2005) Hypothermic circulatory arrest is not a risk factor for neurologic morbidity in aortic surgery: a propensity score analysis. J Thorac Cardiovasc Surg 130: 712–718 45. Laas J, Heinemann M, Schaefers HJ, Daniel W, Borst HG (1991) Management of thoracoabdominal malperfusion in aortic dissection. Circulation 84: III20–24
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: Diese Arbeit verweist auf die Häufigkeit der intestinalen Malperfusion und deren schlechte Prognose, die nach prinzipiell kurativem Eingriff
: Diese Publikation verweist auf Ursachen und Therapie eines sekundären neurologischen Defizites, das auch noch bis zu 14 Tage nach Ersätzen der deszendierenden thorakalen und thorakoabdominellen Aorta trotz optimierter chirurgischer Technik auftreten kann. Mit Diagnosestellung hat sich dabei insbesondere die sekundäre Einlage einer Liquordrainage als hervorragende Therapieoption bewährt. 54. Safi HJ, Miller CC, 3rd, Carr C, Iliopoulos DC, Dorsay DA, Baldwin JC (1998) Importance of intercostal artery reattachment during thoracoabdominal aortic aneurysm repair. J Vasc Surg 27: 58–66; discussion 66–68 55. Safi HJ, Miller CC, 3rd, Huynh TT, Estrera AL, Porat EE, Winnerkvist AN, Allen BS, Hassoun HT, Moore FA (2003) Distal aortic per fusion and cerebrospinal fluid drainage for thoracoabdominal and descending thoracic aortic repair: ten years of organ protection. Ann Surg 238: 372–380; discussion 380–381 56. Safi HJ, Estrera AL, Miller CC, Huynh TT, Porat EE, Azizzadeh A, Meada R, Goodrick JS (2005) Evolution of risk for neurologic deficit after descending and thoracoabdominal aortic repair. Ann Thorac Surg 80: 2173–2179; discussion 2179 57. Sbrana S, Buffa M, Bevilacqua S, Spiller D, Parri MS, Gianetti J, De Filippis R, Clerico A (2006) Granulocyte- and monocyte-platelet adhesion index in coronary and peripheral blood after extracorporeal circulation and reperfusion. Cytometry B Clin Cytom 58. Schachinger V, Zeiher AM (2000) Atherosclerosis-associated endothelial dysfunction. Z Kardiol 89 Suppl 9: IX/70–74 59. Shiiya N, Sawada A, Tanaka E, Tachibana T, Matsuzaki K, Kunihara T (2006) Percutaneous mesenteric stenting followed by laparoscopic exploration for visceral malperfusion in acute type B aortic dissection. Ann Vasc Surg 20: 521–524 60. Tamai D, Awad AA, Chaudhry HJ, Shelley KH (2006) Optimizing the medical management of diabetic patients undergoing surgery. Conn Med 70: 621–630
1004
Kapitel 77 · Intensivtherapie nach gefäßchirurgischen Eingriffen
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77
: Die nonokklusive Mesenterialischämie (NOMI, NOD) stellt eine der Problematiken mit hoher Letalität nach Eingriffen mit Herz-LungenMaschine dar. In dieser Übersicht wird aufgezeigt, dass die Persistenz des mesenterialen Vasospasmus unabhängig vom auslösenden Ereignis ist. Die selektive Angiographie mit Einlage eines Mesenterialkatheters zur Gabe selektiver Vasidilatoren mit Diagnostellung ist die prognostisch beste Therapie. 64. Whalen J, Tuman KJ (1996) Monitoring hemostasis. Int Anesthesiol Clin 34: 195–213 65. Yang H, Raymer K, Butler R, Parlow J, Roberts R (2006) The effects of perioperative beta-blockade: results of the Metoprolol after Vascular Surgery (MaVS) study, a randomized controlled trial. Am Heart J 152: 983–990 66. Zeiher AM, Drexler H, Wollschlager H, Just H (1991) Modulation of coronary vasomotor tone in humans. Progressive endothelial dysfunction with different early stages of coronary atherosclerosis. Circulation 83: 391–401 67. Zizek B, Poredos P (2002) Dependence of morphological changes of the carotid arteries on essential hypertension and accompanying risk factors. Int Angiol 21: 70–77
78 Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung J.-P.A.H. Jantzen
78.1
Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
78.1.1 78.1.2
Physiologie und Pathophysiologie –1006 Klinisches Bild –1008
78.2
Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
78.2.1 78.2.2 78.2.3 78.2.4
Elektive Kraniotomie –1017 Intrakranielle Blutung –1018 Schädel-Hirn-Trauma –1021 Rückenmarkverletzungen –1024
Literatur
–1026
–1006
–1017
1006
78
Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
Das Kollektiv neurochirurgischer Intensivpatienten umfasst Notfälle (Verletzte und Erkrankte mit oder ohne Operation) und Patienten, die sich einem elektiven neurochirugischen Eingriff unterzogen haben. Hinzu kommt die Gruppe von Patienten, deren Verlegung zur Rehabilitation oder Langzeitpflege ansteht. Patienten mit Wirbelsäulentrauma oder -operation werden in Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten auch auf der traumatologischen oder orthopädischen Station, Patienten mit Subarachnoidalblutung auch auf der neurologischen Station und Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) auch auf der anästhesiologischen Intensivstation versorgt. Im Folgenden werden erst die allgemeinen, anschließend die speziellen Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin dargestellt. Die allgemeinen intensivmedizinischen Verfahren und Maßnahmen werden exemplarisch anhand des Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck (»intracranial pressure«; ICP) dargestellt. 78.1
Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
Gemeinsame Endstrecke unterschiedlicher Mechanismen der Hirnschädigung ist die zerebrale Minderdurchblutung, gleichsam die erste Stufe der zerebralen Thanatogenese. Die pathophysiologische Antwort des zentralen Nervensystems (ZNS) auf eine ischämische Schädigung ist relativ uniform; daraus ergeben sich allgemeingültige Prinzipien der neurochirurgischen Intensivmedizin – unabhängig davon, ob die Ursache der Schädigung traumatisch, entzündlich, neoplastisch, vasospastisch oder anderer Genese ist. 78.1.1 Physiologie und Pathophysiologie
Intrakranieller Druck Das Gehirn ist in die Dura mater eingehüllt, der Schädel bildet eine nicht dehnbare äußere Begrenzung. Der darin herrschende Druck (ICP) ist die Summe dreier Partialdrücke, und zwar von Hirngewebe, Blut und Liquor cerebrospinalis. Die Zunahme des Drucks einer dieser Komponenten bewirkt die Verlagerung von Blut und/oder Liquor in extrakranielle Kompartimente, sodass der ICP – bis zum Aufbrauchen der Reserveräume – weitgehend konstant bleibt (Monro-Kellie-Hypothese): Monro-Kellie-Hypothese: ICP6 = pGehirn + pBlut + pLiquor cerebrospinalis
. Abb. 78.1. Sondenlokalisation zur Messung des intrakraniellen Drucks. Links: Parenchymsonde; rechts: Ventrikelkatheter
Die Hirndurchblutung (CBF) wird durch die metabolischen Bedürfnisse bestimmt: CBF|CMRO2 (CMRO2= zerebrale Sauerstoffaufnahme). Die Beziehung zwischen CBF und CPP wird von den Regelmechanismen der Hirndurchblutung – Autoregulation des CBF und CO2-Reagibilität der Hirngefäße – überlagert. Die Stabilisierung des ICP/CPP im physiologischen Bereich ist ein wesentliches Ziel der neurochirurgischen Intensivmedizin. Zwei der vielfältigen Verfahren zur Messung des intrakraniellen Drucks sind derzeit verbreitet: die Messung im Seitenventrikel (kommunizierende Röhre) und die Messung im Hirnparenchym (elektronisch oder fiberoptisch; . Abb. 78.1). Die Messung im Ventrikel ist der »Goldstandard«; sie bietet umfassende diagnostische und therapeutische Möglichkeiten und erlaubt den Nullpunktabgleich. Das Verfahren ist jedoch invasiv und gegenüber der Messung im Parenchym entsprechend komplikationsbehaftet. Die Messung im Parenchym wird v. a. auf nichtneurochirurgisch geleiteten Intensivstationen angewendet.
Messung des intrakraniellen Drucks (ICP) 5 Indikationen – Hirnschwellung/Hirnödem (Schädel-Hirn-Trauma, intrakranielle Tumoren ohne Steroidvorbehandlung) – Hydrozephalus/Hygrome – maligner Mediainfarkt – intrakranielle Blutung 5 Kontraindikationen – Thrombozytenzahlen <100.000 – PT/PTT >200% – infauste Prognose – Immunsuppression 5 Komplikationen – Pleozytose (>8%) – Meningitis (<4%) – Blutung (operationswürdig; <0,5%)
Der ICP ist eine Determinante des zerebralen Perfusionsdrucks (»cerebral perfusion pressure«; CPP): CPP = MAP – ICP MAP = »mean arterial pressure«; arterieller Mitteldruck
Der CPP ist die treibende Kraft der Hirndurchblutung (»cerebral blood flow«; CBF): CBF = CPP/CVR (CVR = »cerebral vascular resistance«, zerebrovaskulärer Widerstand).
Dem akuten Anstieg des ICP liegt meistens eine Blutung zugrunde; Druckanstiege, die sich über einen längeren Zeitrum entwickeln, sind durch Liquorzirkulationsstörungen (Hydrozephalus) oder durch ein Hirnödem bedingt. ! Cave Als Folge der Erhöhung des intrakraniellen Drucks kann es zur Einklemmung von Hirnanteilen im Tentoriumschlitz kommen.
1007 78.1 · Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
Bei der »oberen« Einklemmung, der Mittelhirneinklemmung, werden das Mittelhirn, die Hirnschenkel und der N. oculomotorius komprimiert. Eine einseitige oder beidseitige Pupillenerweiterung ist daher ein Alarmzeichen. Die »untere« Einklemmung, die Medulla-oblongata-Einklemmung, bei der die Kleinhirntonsillen im Foramen magnum den Hirnstamm komprimieren, ist wegen der Beeinträchtigung der lebensnotwendigen Atem- und Kreislaufzentren rasch tödlich.
Zerebrale Regelmechanismen Die Hirndurchblutung (CBF) ist an den zerebralen Sauerstoffverbrauch gekoppelt, um den metabolischen Bedarf des Hirngewebes zu decken. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) kann die Kopplung aufgehoben sein. Entweder genügt die Hirndurchblutung nicht dem Bedarf (Ischämie), oder sie ist – gemessen am Bedarf – zu hoch (Luxusperfusion). i Die isolierte Messung der Hirndurchblutung gibt keine Auskunft darüber, ob es sich um eine Unter- oder Überversorgung handelt, weil der Bedarf des Hirngewebes ebenfalls variieren kann; nur die Messung der zerebralen Sauerstoffbilanz ermöglicht eine Beurteilung.
Eine Ursache der regional verminderten Hirndurchblutung ist der Vasospasmus; etwa ein Drittel der Patienten mit schwerem SHT und zwei Drittel der Patienten mit einer Subarachnoidalblutung (SAB) entwickeln einen Vasospasmus innerhalb der ersten Tage nach dem Ereignis. Die Erhöhung der Flussgeschwindigkeit bleibt bis zu 2 Wochen bestehen. Die Unabhängigkeit der Hirndurchblutung vom arteriellen Blutdruck, die Autoregulation, ist bei etwa 50% der Patienten mit schwerem SHT gestört. Die Hirndurchblutung folgt dann passiv dem systemischen Blutdruck. Patienten mit gestörter Autoregulation sind durch Blutdruckschwankungen besonders gefährdet: Hypotonie bewirkt eine zerebrale Ischämie, Hypertonie eine Hyperämie mit Anstieg des intrakraniellen Drucks. Bei Patienten mit intakter Autoregulation steigt dagegen bei Blutdruckabfall der ICP an, weil die Hirndurchblutung durch zerebrale Vasodilatation konstant gehalten wird. Zu beachten ist, dass bei Hypertonie die Kurve der Autoregulation nach rechts (zu höheren Blutdruckwerten hin) verschoben ist. Die chronische arterielle Hypertonie bewirkt eine Endothelverdickung zerbraler Arteriolen. Die resultierende Zunahme der CVR schützt das Gehirn vor Hyperämie, erhöht jedoch bei niedrigem CPP das Risikio der Mangeldurchblutung. Ein weiterer Faktor der CBF-Steuerung ist der arterielle CO2-Partialdruck (paCO2). Er dient der Anpassung der regionalen und lokalen Durchblutung. In Regionen mit hohem Metabolismus und entsprechend hohem CO2-Partialdruck fällt der pH-Wert, entsprechend steigt die Durchblutung durch Vasodilatation an, sodass die Versorgung mit Substraten verbessert wird. Diese Abhängigkeit ist nach induzierter Hypokapnie von 6–8 h nicht mehr gegeben. Als Ursache des Wirkungsverlusts der Hyperventilationstherapie wird der Ausgleich der pH-Verschiebung durch zerebrale Pufferungssysteme angenommen. ! Cave Die abrupte Beendigung der Hyperventilation kann ein Reboundphänomen mit Anstieg des ICP durch Hyperämie bewirken.
Prinzipiell kann die CO2-Reagibilität beim SHT gestört sein, obwohl dies selten beobachtet wird. Daher senkt die Hyperventilati-
78
on in aller Regel den erhöhten ICP durch Vasokonstriktion. Weil die Hirndurchblutung bei einem erheblichen Anteil der Patienten mit schwerem SHT bereits kritisch ist, kann die Hyperventilation deletäre Folgen haben. Auch können einzelne Areale, wie Kontusionsherde und das sie umgebende Parenchym besonders sensibel auf einen Abfall des CO2-Partialdrucks reagieren. Eine Hyperventilationstherapie bei erhöhtem intrakraniellem Druck sollte daher nur unter metabolischem Monitoring (svjO2, pTiO2) durchgeführt werden. Bei Patienten mit SHT ist häufig die Autoregulation gestört, die CO2-Reagibilität jedoch erhalten. In der Frühphase nach dem Trauma ist die Hirndurchblutung oft deutlich erniedrigt.
Hirnödem Die Ödembildung ist eine uniforme Reaktion des Gehirns auf Schädigungen unterschiedlicher Genese. Jede Nettozunahme des zerebralen Gewebswassergehalts wird als Hirnödem bezeichnet. Neuropathologisch lassen sich 2 Entitäten abgrenzen – liegt eine Erweiterung des Extrazellulärraums vor, spricht man von einem vasogenen Ödem, ist die Wassereinlagerung intrazellulär lokalisiert, handelt es sich um ein zytotoxisches Ödem: Vasogenes Hirnödem. Dieses tritt peritumorös auf, ferner im Be-
reich von Hirnabszessen, Hämatomen und Kontusionsherden. Die Ursache ist eine Störung der Blut-Hirn-Schranke. Dabei wird in erster Linie der Übertritt von Flüssigkeit durch die normalerweise dichten Zonulae occludentes (»tight junctions«) der Schranke gefördert. Folge ist der Einstrom proteinreicher Flüssigkeit aus dem Intravasalraum, die in ihrer Zusammensetzung einem Plasmafiltrat gleicht. Somit strömen mit der Ödemflüssigkeit Plasmabestandteile in das zerebrale Parenchym, die unter physiologischen Bedingungen durch die intakte Schranke ferngehalten werden. Neben der Hirnschädigung durch die ödematöse Raumforderung wird weiterer Schaden durch Mediatoren verursacht, die mit Nerven- und Gliazellen interagieren [26]. Zytotoxisches Hirnödem. Hierbei finden sich elektronenmikro-
skopisch geschwollene Dendriten und Astrozyten. Bei den Astrozyten ist die Wassereinlagerung in den Astrozytenfortsätzen oft besonders deutlich ausgeprägt. Voraussetzung für eine intrazelluläre Wassereinlagerung ist die Zunahme osmotisch aktiver Teilchen in der Zelle. Dies wird durch Spaltung intrazellulärer Makromoleküle bewirkt, man spricht von der Bildung »idiogener Osmole«, die im Verlauf einer zerebralen Ischämie sogar als Zunahme der Gewebeosmolarität messbar werden. Die intrazelluläre Osmolarität steigt aber v. a. durch den Einstrom von Ionen, insbesondere von Na+-Ionen. Früher ist vereinfachend angenommen worden, dass das zytotoxische Hirnödem die Folge des Versagens der Energieversorgung ist. Nach heutiger Auffassung schwillt die Zelle an, wenn Transportsysteme der Zellmembran aktiviert werden, die für die Homöostase der extrazellulären Glutamatkonzentration oder die intrazelluläre pH-Regulation verantwortlich sind: Bei der Aufnahme von Glutamat werden gleichzeitig 3 Na+-Ionen aufgenommen, aber nur 1 K+Ion abgegeben. Bei der pH-Regulation kommt es zum Austausch von 1 H+-Ion gegen 1 Na+-Ion. Da Protonen aus intrazellulären Puffern sofort wieder freigesetzt werden, ist auch hier eine Nettozunahme der intrazellulären Ionen die Folge. Somit lässt sich die Astrozytenschwellung beim zytotoxischen Ödem zumindest anteilig als aktiver Prozess beschreiben, als Folge einer Homöostasefunktion der Glia.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
Bei langsam verlaufenden Prozessen, z. B. der Bildung des fokalen Hirnödems in der Umgebung von Hirntumoren, steht die Schrankenstörung im Vordergrund. Bei Ischämie bildet sich primär ein zytotoxisches Ödem aus. Im weiteren Verlauf kommt es nach temporärer Ischämie, wie auch nach einem SchädelHirn-Trauma, ebenfalls zur Störung der Blut-Hirn-Schranke mit Entwicklung eines vasogenen Ödems, sodass in der Klinik meist beide Ödemtypen vorliegen. Das Schädel-Hirn-Trauma bewirkt durch die Erschütterung eine Schrankenstörung, befördert durch Hypertonie sowie Mediatoren (Kinine, Arachidonsäure, Thrombin, Histamin, Interleukine). Der Übertritt u. a. von Glutamat in den Interzellularraum aktiviert Rezeptoren (NMDA); die resultierende Öffnung von Ionenkanälen erlaubt Na+-Eintritt. Der Anstieg des intrazellulären osmotischen Drucks erzwingt zum Erhalt der Isoosmolarität Wassereintritt durch Aquaporine und im Ergebnis das zytotoxische Hirnödem. 78.1.2 Klinisches Bild
Beurteilung des Patienten Glasgow Coma Scale. Der neurologische Zustand des Patienten wird nach der Glasgow Coma Scale (GCS; . Tab. 78.1) beurteilt; sie beruht auf der klinischen Untersuchung des Patienten, die
einfach und rasch durchgeführt werden kann. Bewertet werden die Fähigkeit, die Augen zu öffnen, sowie die beste verbale und motorische Reaktion. Der maximale Wert beträgt 15 Punkte, der minimale Wert 3 Punkte. Bezogen auf die Neurotraumatologie liegt ein schweres SHT vor, wenn der Wert 8 Punkte bei der Erstuntersuchung nicht übersteigt [45]. Es besteht eine enge Korrelation zwischen dem Schweregrad des SHT – festgelegt nach dem Punktwert für den Erstbefund – und der Mortalität [16]. Wegen der prognostischen Bedeutung, der einfachen Anwendbarkeit, der geringen interindividuellen Schwankungsbreite und der einfachen Dokumentation hat sich die GCS – ungeachtet erheblicher Unzulänglichkeiten – weltweit durchgesetzt. Der Verlauf kann mit Hilfe der GCS verfolgt werden, Studienergebnisse und Literaturangaben werden dadurch vergleichbar. Nach Einleitung einer Therapie mit sedierenden Medikamenten ist die GCS nicht mehr anwendbar. Auch Unfallopfer unter Alkoholeinfluss oder nach Einnahme von Drogen können einen Punktwert auf der GCS erreichen, der nicht der tatsächlichen Schwere des SHT entspricht. Unter erheblichem Alkoholeinfluss wird ein falsch-niedriger Wert erreicht. Dies unterstreicht die Bedeutung der Verlaufsbeobachtung mit Hilfe der GCS. Am Ende der Intensivtherapie sowie im Rahmen der Nachverfolgung wird eine Beurteilung anhand der Glasgow Outcome Scale (GOS) vorgenommen. Glasgow Outcome Scale (GOS) – modifiziert/erweitert
. Tabelle 78.1. Glasgow Coma Scale (GCS). (Mod. nach [45])
Augen öffnen
Bewusstsein
Motorik
Reiz
Reaktion
Punktezahl
Ansprechen
Spontan
4
Auf Anruf
3
Auf Schmerz
2
Keine
1
Orientiert
5
Desorientiert
4
Ungezielt
3
Unverständliche Laute
2
Keine Antwort
1
Führt Befehle aus
6
Gezielte Abwehr
5
Ungezielte Abwehr
4
Flexion
3
Extension
2
Keine
1
Ansprechen
Befehle, Schmerz
Auswertung: Der maximale Wert beträgt 15 Punkte, der minimale Wert 3 Punkte. Bezogen auf die Neurotraumatologie liegt ein schweres SHT vor, wenn der Wert 8 Punkte bei der Erstuntersuchung nicht übersteigt.
5 5 5 5 5 5 5 5
Tod Vegetativer Zustand Abhängigkeit Teilweise Unabhängigkeit Unabhängig im täglichen Leben Wiederaufnahme früherer Aktivitäten Geringe physische oder psychische Defizite Restitutio ad integrum
Basismaßnahmen und Pflege Thromboseprophylaxe und Bronchialtoilette sind Routinemaßnahmen. Die Lungenpflege einschließlich physikalischer Therapie und Bronchialtoilette muss bei Patienten, die durch erhöhten intrakraniellen Druck gefährdet sind, mit besonderer Vorsicht durchgeführt werden. Den mit endotrachealem Absaugen einhergehenden Phasen der Hypoxie ist durch Präoxygenierung (Denitrogenisierung!) vorzubeugen. Das Absaugen tracheobronchialen Sekrets ist ein sympathomimetischer Stimulus ersten Ranges. Dieser manifestiert sich als Zunahme des arteriellen Blutdrucks und des ICP. Bei Patienten mit erhöhter intratrakranieller Elastance ('P/'V) muss diese Reaktion durch intravenöse Verabreichung eines Hypnotikums (Barbiturat, Etomidat oder Propofol), eines Sedativums (Benzodiazepin), eines Lokalanästhetikums (Lidocain) oder eines Muskelrelaxans verhindert werden. Eine große Gefahr stellt die Pneumonie dar. In den ersten 5 Tagen beruht sie meistens auf Aspiration grampositiver Bakterien aus dem Oropharynx; später auftretende Pneumonien werden durch gramnegative Problemkeime hervorgerufen. Patienten, die gekühlt werden oder Barbiturate erhalten, sind besonders gefährdet. Auch die fixierte Hochlagerung des Oberkörpers um 30° und die Relaxierung erhöhen das Risiko. Bei 27% der Patienten, die eine Subarachnoidalblutung erlitten haben, ist mit der Ent-
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wicklung einer »acute lung injury« (ALI) zu rechnen [55]. ALI ist ein unabhängiger Prädiktor einer verlängerten Behandlungsdauer auf der Intensivstation und einer erhöhten Mortalität. Die Körperkerntemperatur darf 37°C nicht überschreiten, der Blutzucker wird mit Altinsulin unter 160 mg/dl eingestellt und die Hämoglobinkonzentration über 10 g/dl gehalten.
Lagerung Die treibende Kraft der arteriellen Hirndurchblutung ist die Herzleistung, die venöse Drainage erfolgt per vis a tergo, durch die Peristaltik begleitender Arterien sowie passiv durch die Schwerkraft. Die venöse Drainage wird beim spontanatmenden Patienten durch den subatmosphärischen Druck im Pleuraspalt gefördert. Eine Behinderung der venösen Drainage durch Neigung des Kopfes nach vorn, hinten oder zur Seite bewirkt eine Blutakkumulation im Schädel mit der Folge eines Anstiegs des intrakraniellen Drucks (. Abb. 78.2). Dieser Druckanstieg senkt den zerebralen Per fusionsdruck (CPP). Die optimale Kopflage ist die Neutralposition. Die korrekte Lagerung des Kopfes ist die einfachste und wirksamste Maßnahme zur Senkung des intrakraniellen Drucks.
Von besonderer Bedeutung ist die Oberkörper- und somit die Kopflagerung bei Patienten, die maschinell beatmet werden – besonders mit »positivem« endexspiratorischem Druck (PEEP) – und bei Patienten mit erhöhtem zentralvenösem Druck. Bei Patienten mit erhöhtem ICP kann eine mäßige Oberkörperhochlagerung von 15–30° die venöse Drainage verbessern; diese Maßnahme ist um so wirksamer, je höher der ICP ist. Es ist belegt, dass der ICP durch mäßige Oberkörperhochlagerung gesenkt wird, allerdings ohne günstige Wirkungen auf den CPP und den CBF [15]. Weil eine Oberkörpertieflage verhindert werden muss, soll beim Legen eines zentralen Venenkatheters der Kubitalvene der Vorzug gegeben werden. Die mit der Patientenlagerung zur Jugularispunktion einhergehende Zunahme des intrakraniellen Blutvolumens sollte vermieden werden, ebenso das Risiko der akzidentellen Punktion der A. carotis. Zum Einfluss der Bauchlagerung (die beim akuten Lungenversagen vielfach erfolgreich angewandt wird) auf die Hirndurchblutung bei erhöhtem ICP gibt es keine sicheren Daten. Die ge-
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fährlichste Phase ist dabei vermutlich die Umlagerung selbst. Gleiches gilt für die Seitenlagerung. In Rotationsbetten entfällt das Risiko der Umlagerung; allerdings sind die pflegerischen Maßnahmen in diesen Betten erschwert.
Sicherung der Atemwege Indikationen zur Intubation und Beatmung sind
4 Hypoxie (paO2 <60 mm Hg) und 4 Hyperkapnie 4 GCSⱕ8 Im Zweifelsfall muss die Entscheidung zur Intubation großzügig getroffen werden. Allein die meist tiefe Sedierung der Patienten mit erhöhtem ICP erfordert die Intubation oder die Tracheotomie. Zu beachten bei der Durchführung der Intubation bei erhöhtem ICP 5 Die Laryngoskopie kann den ICP erheblich steigern; dies ist nur durch ausreichende Analgosedierung oder Anästhesie zu vermeiden. 5 Ausreichende Präoxygenierung (Denitrogenisierung; ggf. durch unterstützende Maskenbeatmung) und zügiges Intubieren sind wichtig. Während der Intubation und jeder Umintubation muss der ICP beachtet werden. 5 Das Überstrecken des Halses kann den ICP erhöhen, daher ist die modifizierte Jackson-Position, d. h. beim liegenden Patienten die Anhebung des Kopfes nach ventral über die Körperachse als »Schnüffelposition«, vorzuziehen. I5 In der Regel wird oral oder nasal laryngoskopisch intubiert. Die bronchoskopische Intubation ist für den in dieser Technik Geübten eine vorteilhafte Alternative. 5 Eine Umintubation wird bei kritisch erhöhtem ICP nur bei dringender Indikation vorgenommenen. 5 Bei traumatisierten Patienten zwingt der Verdacht auf Verletzungen der Halswirbelsäule (etwa bei 10% aller Polytraumatisierten!) zu äußerster Vorsicht, ggf. muss eine Hilfsperson den Hals in der Achse manuell fixieren (manuelle In-line-Stabilisierung). Die fiberbronchoskopische Intubation ist das Verfahren der Wahl [48].
Bei voraussichtlich längerer Dauer der Beatmung ist die frühzeitige Tracheotomie angezeigt. Sie verringert das Risiko der Nasennebenhöhleninfektion, begünstigt die Bronchialtoilette, gewährt dem Patienten in der (u. U. langen) Entwöhnungsphase höheren Komfort und erleichtert die Entwöhnung vom Beatmungsgerät, u. a. durch Verkleinerung des anatomischen Totraums. ! Cave In Phasen eines kritisch erhöhten ICP sollte nicht tracheotomiert werden, weil der Kopf überstreckt werden muss und damit das Risiko der ICP-Steigerung besteht.
. Abb. 78.2. Auswirkung der Lagerung und der Jugularvenenkompression auf den intrakraniellen Druck. [Mod. nach 62]
Eine Alternative zur herkömmlichen Tracheotomie ist die perkutane Dilatationstracheotomie (7 Kap. 25). Vorteile sind die einfache Durchführung auf der Station und die leichte Erlernbarkeit. Die Punktion der Trachea, die Lagekontrolle des SeldingerDrahtes sowie die Dilatation erfolgen unter Sicht (Bronchoskop).
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
Jedoch können auch Komplikationen, z. B. Verletzungen von Gefäßen der Schilddrüse, auftreten, sodass die Möglichkeit zur operativen Versorgung gegeben sein muss.
Atmung und Beatmung ! Cave Bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck ist jede Beeinträchtigung des Gasaustausches zu vermeiden. Hypoxie, Hyperkapnie und Hypotonie sind wesentliche Faktoren der sekundären Hirnschädigung und deshalb wegweisend für den Behandlungsausgang.
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Grundsätzlich wird jeder bewusstlose Patient ohne Schutzreflexe wegen der Aspirationsgefahr intubiert, Patienten mit einem Score d8 auf der Glasgow Coma Scale (GCS; . Tab. 78.1) müssen beatmet werden. Die apparative Beatmung beeinträchtigt allerdings durch den erhöhten intrathorakalen Druck die systemische Hämodynamik (Abfall des arteriellen Mitteldrucks und des Herzzeitvolumens) und behindert den zerebralvenösen Abfluss. Bei schweren Hirnläsionen können pathologische Atemmuster auftreten, die sich je nach Lokalisation der Läsion unterschiedlich manifestieren (. Abb. 78.3): 4 Cheyne-Stokes-Atmung: regelmäßige periodische Atmung von rhythmisch wechselnder Tiefe und Frequenz mit interponierten Apnoephasen; meist bei Schäden in der Tiefe der Hemisphären oder im Zwischenhirn (z. B. bei bilateralem zerebralen Infarkt, bei hypertoner Enzephalopathie), ferner als Zeichen einer beginnenden transtentoriellen Herniation, gelegentlich auch als Zeichen einer exzessiven Stoffwechselsteigerung bei Hirnläsion; 4 zentrale neurogene Hyperventilation: seltenes Atemmuster (z. B. bei Läsionen im Hirnstammbereich), gelegentlich vorgetäuscht als Reaktion auf arterielle Hypoxie; 4 Apneusis: langsame, periodische Atmung mit tiefer, langer Inspiration und langen Atempausen; Zeichen einer Hirnstammschädigung im Bereich des Atemzentrums; 4 Biot-Atmung (ataktische Atmung): Inspiration und Exspiration von unregelmäßiger Frequenz und Amplitude, unterbrochen von apnoischen Perioden; Zeichen einer Schädigung der medullären Atemzentren (der Formatio reticula-
. Abb. 78.3a–e. Pathologische Atemmuster. Rechts: Spirometriekurven; links: Lokalisation der Hirnschädigung. a Cheyne-Stokes-Atmung; b zentrale neurogene Hyperventilation; c Apneusis; d Cluster-Atmung; e ataktische Atmung. (Mod. nach [8])
ris), z. B. bei schwerer Meningitis, seltener bei Hirntrauma; das Atemminutenvolumen ist meist erheblich vermindert, sodass die Indikation zur Beatmung besteht. Die volumenkontrollierten Beatmungsverfahren (»volume controlled ventilation«; VCV) garantieren die sichere Einhaltung des eingestellten Ventilationsvolumens. Diese Verfahren bieten sich daher bei pulmonal stabilen Patienten an, solange ein Spitzendruck von 25–30 cm H2O nicht überschritten wird. Allerdings können sich akute Änderungen der Atemmechanik, etwa beim akuten Pneumothorax, auf den Beatmungsdruck und damit auf die Hirndurchblutung auswirken. Die druckkontrollierten Beatmungsverfahren (»pressure controlled ventilation«; PCV) sind bei Patienten mit erhöhtem ICP vorzuziehen, weil der Beatmungsdruck bei diesen Verfahren stets unter Kontrolle bleibt; unkontrollierbare Drucksteigerungen, wie sie bei volumenkontrollierten Beatmungsformen auftreten, werden vermieden. Der höhere initiale inspiratorische Fluß bei PCV hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Hirndurchblutung, weil er nicht vollständig auf den Alveolardruck oder den Pleuradruck übertragen wird. Bei der PCV ist zu beachten, dass die Minutenventilation nicht festgelegt ist; deshalb müssen die Blutgaswerte engmaschig überwacht werden.
Atemwegsdruck Für den Beatmungsdruck gilt eine obere Grenze des endinspiratorischen Atemwegsdrucks von etwa 35 cm H2O. Die Gründe dafür sind die Vermeidung der (globalen oder regionalen) Überdehnung der Lunge (sog. »Volutrauma«) sowie die Begrenzung des intrathorakalen Drucks und des Beatmungsniveaus auf die steile Strecke der Druck-Volumen-Kur ve. Auf einen moderaten PEEP sollte nicht verzichtet werden. Die Vorteile des PEEP sind: 4 Verbesserung der Oxygenierung und Verhinderung bzw. Eröffnung von Atelektasen, 4 Abfall des transpulmonalen Drucks bei Erhöhung der pulmonalen Compliance, sodass der zerebralvenöse Abfluss begünstigt wird. Die hämodynamischen Nebenwirkungen des PEEP sind beherrschbar. Dies bedarf der sorgfältig und individuell angepassten Einstellung – ein mäßiger PEEP von 5–8 cmH2O hat keinen ungünstigen Einfluss auf die Hirndurchblutung. Außerdem kann dieser Einfluss durch Oberkörperhochlagerung (bis max. 30°) kompensiert werden. Der Kreislauf muss durch Gabe von Volumenersatzmitteln und ggf. niedrigdosierter Vasokonstringenzien gestützt werden. Für die Behandlung eines komplizierenden Lungenversagens kann gelegentlich eine Beatmung mit umgekehrtem Atemzeitverhältnis (»inverse ratio ventilation«; IRV) notwendig werden. In diesem Fall muss ein hoher intrinsischer PEEP immer dann vermieden werden, wenn er den zerebralen Perfusionsdruck senkt; die Auswirkungen der Umstellung von volumenkontrollierter auf druckkontrollierte IRV-Beatmung auf den ICP sind uneinheitlich und im Einzelfall nicht vorhersehbar (. Abb. 78.4).
Ventilation Das Hubvolumen (VT) ist individuell anzupassen. Ein VT von etwa 500 ml (gelegentlich auch weniger) ist meistens ausreichend. Durch tiefe Sedierung und ggf. durch Hypothermie ist
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4 BIPAP, »biphasic positive airway pressure«: Die (zeitlich festgelegte) druckkontrollierte Beatmung kann zu jeder Zeit (inspiratorisch wie exspiratorisch) für zusätzliche Spontanatmung genutzt werden. Wesentlich ist, dass das Beatmungssystem stets offen ist, d. h. der Patient kann nicht »gegenatmen« und der Atemwegsdruck nicht über das eingestellte Druckniveau ansteigen.
. Abb. 78.4. Auswirkung der druckgesteuerten Beatmung IRV (»inverse ratio ventilation«) auf den intrakraniellen Druck, Einzelverläufe; zum Zeitpunkt 0 Übergang von volumen- auf druckgesteuerte Beatmung. (Aus [9])
Die Beteiligung der Spontanatmung stabilisiert die Hämodynamik und somit theoretisch auch die Hirndurchblutung; allerdings lässt sich dies in der Klinik nicht belegen. Ein möglicher Vorteil des BIPAP könnte darin liegen, dass ein »Gegenatmen« des Patienten jederzeit ausgeschlossen ist, weil das Beatmungssystem auf den jeweiligen Druckstufen stets offen ist. Die Mitbeteiligung der Spontanatmung ermöglicht eine effizientere Bronchialtoilette, sofern man dem Patienten einen eigenen Hustenreflex zumuten kann. Eine starke Hustenreaktion muss jedoch bei kritisch erhöhtem ICP unterbunden werden.
Entwöhnung Die Wahl des richtigen Zeitpunkts für die Entwöhnung kann nicht aufgrund einzelner Parameter getroffen werden. Bei der Entscheidungsfindung müssen sowohl organspezifische als auch allgemeine intensivmedizinische Gesichtspunkte berücksichtigt werden: 4 Schwere und Art des Ausgangsbefunds, 4 Besserung der klinischen Befundkonstellation (ICP-Krise überwunden?), 4 Alter des Patienten, 4 Begleiterkrankungen.
. Abb. 78.5. Auswirkung des alveolären Recruitment (»ventilatory recruitment maneuver«; VRM) auf die Sauerstoffsättigung im Bulbus venae jugularis. (Aus [3])
der Sauerstoffverbrauch ohnehin reduziert. In der Regel ist eine Normoventilation anzustreben (paCO2 <40 mm Hg), bei erhöhtem ICP die mäßige Hyperventilation (paCO2 30–35 mm Hg). Eine permissive Hyperkapnie ist bei erhöhtem ICP kontraindiziert. Soll zur Erhöhung des paO2 ein alveoläres Recruitment durchgeführt werden, sind die Auswirkungen auf den CPP zu beachten; auch sind signifikante Abfälle der Sauerstoffsättigung im Bulbus venae jugularis (svjO2) beschrieben (. Abb. 78.5; [3]).
Gegen einen Entwöhnungsversuch spricht ein kontinuierlich erhöhter ICP (>30 mm Hg). Die Entwöhnung ist stets ein schrittweiser Prozess, der u. U. in wiederholten Ansätzen vollzogen werden muss. Es sollte aber so früh wie möglich mit der Entwöhnung begonnen werden, weil sonst andere Komplikationen (z. B. eine Pneumonie) hinzukommen können, die wiederum der Entwöhnung entgegenstehen [8]. Ein zu früh begonnener, aber frustraner Entwöhnungsversuch gefährdet den Patienten nicht, solange ein kritischer Anstieg des ICP und ein Abfall des zerebralen Per fusionsdrucks vermieden werden.
Assistierende Beatmungsver fahren Diese Verfahren sind einsetzbar, wenn der zentrale Atemantrieb intakt und die Eigenatmung des Patienten nicht durch anderweitige Erkrankungen (z. B. Thoraxtrauma) behindert ist. Eine voll ausreichende Eigenatmung ist jedoch nicht erforderlich, sie kann durch die assistierende Beatmung wirksam unterstützt werden. An Verfahren der assistierenden Beatmung kommen in Frage: 4 (S)IMV, »(synchronized) intermittent mandatory ventilation«: zwischen den maschinellen Hüben werden Phasen der Spontanatmung eingeschoben – bei IMV ist der Zeitablauf starr, bei SIMV erfolgt der maschinelle Hub nach Triggerung innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters. 4 PSV, »pressure support ventilation« (Synonym: ASB, »assisted spontaneous breathing«): Jeder (spontane) Atemzug wird durch vorgegebene maschinelle Druckunterstützung verstärkt.
Flüssigkeitsmanagement und Infusionsbehandlung Der neurochirurgische Patient bedarf einer ausgewogenen Flüssigkeitszufuhr, weil er durch Dehydratation und Überwässerung gleichermaßen bedroht ist. Flüssigkeitsmangel gefährdet die Hirndurchblutung, Überinfusion begünstigt die Entwicklung eines Hirnödems. Hypoosmolarität, z. B. durch Zufuhr freien Wassers (Glukoselösungen) oder hypoosmolarer Infusionslösungen (u. a. Ringer-Laktat), muss vermieden werden; die aus einem erniedrigten kolloidosmotischen Druck resultierenden Risiken sind dagegen von nachgeordneter Bedeutung. Ferner müssen bestimmte – für den neurochirurgischen Patienten spezifische – Elektrolytstörungen beachtet werden. Solche Elektrolytstörungen treten häufig auf; besonders die Hy-
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ponatriämie (Na+ <135 mval/l) muss korrigiert werden, weil die osmotische Pufferkapazität des geschädigten ZNS eingeschränkt ist. Ursachen der Hyponatriämie sind das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) und das zerebrale Salzverlustsyndrom (CSW).
Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
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Das SIADH (Schwartz-Bartter-Syndrom) ist Folge pathologischer Sekretion des antidiuretischen Hormons (ADH). Normalerweise wird ADH bei Hyponatriämie nicht sezerniert; lässt sich ADH im Serum nachweisen, sichert dies die Diagnose. Infolge kontinuierlicher ADH-Sekretion wird Natrium ausgeschieden; kennzeichnend sind die erniedrigte Serumosmolarität und die Hyponatriämie bei gleichzeitig hoher Natriumkonzentration im Urin (>20 mval/l). Der Extrazellulärraum ist normal bis vergrößert. Die zugrunde liegenden Pathomechanismen sind nicht umfassend geklärt. Atriale und zerebrale natriuretische Peptide sowie eine verminderte Aldosteronsekretion sind möglicherweise beteiligt. Das klinische Bild ist gekennzeichnet durch: 4 anhaltende renale Natriumausscheidung von >25 mmol/l trotz niedriger Serumnatriumkonzentration, 4 Serumosmolarität <280 mosmol/l, 4 Fehlen einer Nieren- oder Nebenniereninsuffizienz, 4 höhere Urin- als Serumosmolarität, 4 normales, vielfach aber erhöhtes extrazelluläres Flüssigkeitsvolumen ohne periphere Ödembildung. Wenn Flüssigkeitsrestriktion die Hypernatriurie beseitigt und die Konzentration des Natriums im Serum korrigiert, ist dies diagnostisch richtungweisend und therapeutisch zielführend. Die Behandlung besteht zunächst in einer Flüssigkeitsbeschränkung auf maximal einen Liter einer isoosmolaren Lösung pro Tag bis zur Normalisierung der Serumnatriumkonzentration. Führt diese Maßnahme nicht zum gewünschten Erfolg, ist die Hyponatriämie extrem (Na+ <115 mmol/l) oder verschlechtert sich das klinische Bild, wird das Behandlungsregime um 3%ige Kochsalzlösung und Furosemid erweitert. ! Cave Die Anhebung der Serumnatriumkonzentration muss langsam erfolgen (maximal 2 mmol/h, ≤12 mmol am ersten Tag) weil der zu schnelle Anstieg eine zentrale pontine Myelinolyse verursachen kann.
Zerebrales Salzverlustsyndrom (»cerebral salt wasting«; CSW) Das CSW – insgesamt selten und in seiner Existenz nicht unumstritten – tritt am häufigsten nach Subarachnoidalblutung (SAB) auf. Die inadäquate Freisetzung zerebraler natriuretischer Peptide – möglicherweise auch »digitalisähnlicher Peptide« – wird als ursächlich angesehen [42]. Bei Patienten mit SAB ist die Natriurese möglicherweise reaktiv, ausgelöst durch die induzierte Hypervolämie (Triple-H-Therapie) in Zusammenwirken mit erhöhten Katecholaminkonzentrationen im Plasma. Die Diagnose beruht auf dem Ausschluss anderer Ursachen einer vermehrten NaClAusscheidung. Das CSW bietet anfangs ein ähnliches Bild wie das SIADH, später steht die hyponatriämische Hypovolämie im Vordergrund. Flüssigkeitsrestriktion aggraviert das Krankheitsbild. Die Hyponatriämie muss langsam mit physiologischer Kochsalzlösung korrigiert werden, um der Komplikation des osmotischen
Demyelinisierungssyndroms vorzubeugen. Wenn die Hyponatriämie mit einer neurologischen Symptomatik einhergeht, kann die schnelle Korrektur mit hypertoner NaCl-Lösung indiziert sein (NaCl 3%, 1–2 ml/kg KG/h). SIADH und CSW können auch kombiniert auftreten, was Diagnostik und Behandlung erschwert.
Diabetes insipidus Hauptursache ist ein hypophysenchirurgischer Eingriff (Manifestation 4–6 h postoperativ). In der Neurotraumatologie tritt der Diabetes insipidus bei 2% der Patienten mit SHT auf und manifestiert sich als hypernatriämische hyperosmolare Dehydratation. Die Diagnose ist nicht schwierig zu stellen, weil die Diurese hypoosmolaren Urins erheblich ist. Therapeutisch steht die Wiederherstellung der Normovolämie im Vordergrund. Verabreicht wird der errechnete stündliche Bedarf zuzüglich 75% der Ausscheidung der vorangegangenen Stunde. Die spezifische Behandlung besteht in der intravenösen Gabe von synthetischem Desmopressin (Minirin; fraktioniert i.v., Erhaltungsdosis 0,5–2 Pg).
Analgosedierung Adäquate Sedierung und Analgesie bewirken Angst- und Schmerzfreiheit sowie vegetative Abschirmung. Der spontan atmende Patient sollte aber kommunikationsfähig bleiben und typische intensivpflegerische Maßnahmen ohne kritischen Anstieg des ICP tolerieren. i Bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen ist ein Sedierungs- und Analgesieniveau indiziert, auf dem Agitation, Stress und Schmerzen nicht auftreten sowie eine kritische Zunahme des ICP vermieden wird [49].
Hypnotika, Benzodiazepine, Opioide, Ketamin und D2-Agonisten haben viele Eigenschaften, die für die Sedierung neurochirurgischer Intensivpatienten gefordert werden. Alle diese Substanzen – mit Ausnahme des Ketamin – senken die Hirndurchblutung. Durch Ketamin kommt es zu regional spezifischen Veränderungen des CBF: In einigen Hirnarealen nimmt der CBF zu, in anderen Hirnarealen fällt er ab. Die Veränderungen des CBF durch Hypnotika, Benzodiazepine und Opioide werden vermutlich durch Suppression (bzw. bei Ketamin durch gleichzeitige Stimulation und Suppression) des Hirnstoffwechsels ausgelöst. D2-Agonisten beeinflussen den Hirnstoffwechsel (»cerebral metabolic rate«; CMR) nicht, entkoppeln jedoch den CBF von der CMR. Barbiturate. Barbiturate senken dosisabhängig die CMRO2. Liegt ein Burst-suppression-EEG vor, ist durch Steigerung der Barbituratdosierung keine weitere Reduktion der CMRO2 zu erreichen. Die Abnahme des Hirnstoffwechsels ist an eine Zunahme des zerebralen Gefäßwiderstands mit konsekutiver Abnahme des CBF gekoppelt. Die CO2-Reagibilität der Hirngefäße ist qualitativ erhalten, sodass eine interventionelle Hyperventilation möglich ist. Die Autoregulation der Hirndurchblutung bleibt erhalten. Bei Patienten mit intrakraniellen Druckkrisen kann der ICP mit Barbituraten gesenkt werden; bei Hypovolämie und rascher Infusion der Barbiturate kann der arterielle Blutdruck jedoch so stark abfallen, dass der zerebrale Perfusionsdruck in kritischer Weise abnimmt. Etomidat. Etomidat senkt dosisabhängig die CMRO2 und den CBF. CBF und CMRO2 bleiben gekoppelt. Die CO2-Reagibilität der Hirngefäße (bei interventioneller Hyperventilationsthera-
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pie) sowie die Autoregulation des CBF bleiben unter Etomidat erhalten. Im Gegensatz zu Barbituraten und Propofol kann die Infusion von Etomidat den ICP deutlich senken, ohne die systemische Hämodynamik zu beeinträchtigen. Etomidat ist jedoch wegen der Inhibition der Kortisolsynthese zur Langzeitsedierung nicht geeignet. Propofol. Propofol senkt ebenfalls dosisabhängig den Hirnstoff-
wechsel und den CBF. Während die CO2-Reagibilität der Hirngefäße auch unter sehr hohen Propofolkonzentrationen erhalten bleibt, kann die Autoregulation des CBF in Abhängigkeit von der untersuchten Spezies gestört oder erhalten sein [44]. Propofol senkt den ICP in gleichem Ausmaß wie Barbiturate. Dennoch kann der zerebrale Perfusionsdruck kritisch abfallen, weil Propofol in Abhängigkeit von der Dosis, dem Volumenstatus und der Injektionsgeschwindigkeit den Blutdruck bedrohliche senken kann. Die Wirkung auf den CPP ist im Einzelfall nicht vorhersehbar [36]. Einzelbeobachtungen lassen vermuten, dass die Gabe von Propofol mit verspätet auftretenden Konvulsionen einhergehen kann. Als ursächlich für die mögliche Iktogenität wird eine Interaktion von Propofol mit Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren diskutiert; auch in einer In-vitro-Studie fanden sich Hinweise auf Exzitotoxizität [51]. Bis heute fehlen jedoch kontrollierte Studien, die eine iktogene Wirkung von Propofol belegen.
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durch Dilatation der Hirngefäße mit Zunahme des zerebralen Blutvolumens verursacht, was autoregulativ sekundär zur arteriellen Hypotonie auftritt. Hieraus folgt, dass eine arterielle Hypotonie nach Gabe von Opioiden korrigiert werden muss. i Naloxon oder Nalbuphin können die CMRO2, den CBF und den ICP steigern; dies muss bei Patienten mit erhöhter intrakranieller Elastance beachtet werden. Ketamin. Razemisches Ketamin und das potentere S(+)-Ketamin sind nichtkompetitive N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA-) Rezeptor-Antagonisten, die mit dem thalamo-neokortikalen Projektionssystem interagieren. Ketamin induziert eine regional spezifische Zunahme von CMRO2 und CBF, woraus eine Zunahme des ICP resultieren kann [18]. Der ICP scheint besonders dann anzusteigen, wenn er bereits vor Verabreichung des Ketamins erhöht ist oder Ketamin in einer Dosis >1 mg/kg KG i.v. zugeführt wird. Bei gestörter Autoregulation kann auch die Stimulation des Sympathikus durch Steigerung des arteriellen Blutdrucks einen Anstieg des ICP provozieren, weil das intrakranielle Blutvolumen druckpassiv zunimmt. Ein entscheidender Mechanismus für eine Zunahme des ICP unter Ketamin wird jedoch in der durch Ketamin induzierten Atemdepression mit hypoventilatorischer Hyperkapnie gesehen; es ist davon auszugehen, dass unter kontrollierter Beatmung mit milder Hyperventilation (paCO2|35 mm Hg) eine Zunahme des ICP nach Ketamingabe nicht eintritt [35]. α2-Agonisten. Clonidin und Dexmedetomidin (in Deutschland
Benzodiazepine. Benzodiazepine besitzen hypnotische, sedie-
rende, anxiolytische und antikonvulsive Eigenschaften. Diese Wirkungen können durch den spezifischen Antagonisten Flumazenil antagonisiert werden. Wegen der pharmakokinetischen Eigenschaften muss nach Anästhesie oder Sedierung mit Benzodiazepinen mit einer z. T. erheblich verlängerten Aufwach- und Erholungsphase gerechnet werden. Benzodiazepine senken dosisabhängig die CMRO2 und die Hirndurchblutung. Im Vergleich mit den Hypnotika ist diese Wirkung geringer ausgeprägt, hält aber länger an. Die CO2-Reagibilität der Hirngefäße und damit die Möglichkeit einer interventionellen Hyperventilationstherapie bleibt erhalten. Der Einfluss der Benzodiazepine auf den ICP ist gering. Eine gewisse Entlastung des ICP kann von Benzodiazepinen dann erwartet werden, wenn der ICP erhöht ist und die intrakraniellen Kompensationsmechanismen ausgeschöpft sind. Opioide. Die Gabe von Opioiden (Fentanyl, Sufentanil, Alfenta-
nil oder Remifentanil) ist wegen der ausgeprägten Analgesie bei hämodynamischer Stabilität fester Bestandteil des Therapiekonzepts bei Patienten mit erhöhtem ICP. Die Wirkungen der Opioide können durch den µ-Rezeptor-Antagonisten Naloxon oder den Agonist-Antagonisten Nalbuphin antagonisiert werden. Opioide senken dosisabhängig die CMRO2 und die Hirndurchblutung; die CO2-Reagibilität der Hirngefäße und die Autoregulation der Hirndurchblutung bleiben erhalten. Der Einfluss der Opioide auf den ICP wird uneinheitlich beurteilt. Untersuchungen an Patienten mit erhöhter intrakranieller Elastance (ΔP/ΔV) haben gezeigt, dass der ICP nach Gabe von Opioiden zunehmen kann, wenn gleichzeitig der arterielle Blutdruck sinkt. Bei konstantem arteriellem Blutdruck bleibt eine Zunahme des ICP hingegen aus. Der Anstieg des ICP wird vermutlich
nicht zugelassen) hemmen durch Stimulation präsynaptischer D2-Rezeptoren die Freisetzung von Noradrenalin im sympathischen Nervensystem. Bisher wurde die Suppression der Noradrenalinfreisetzung durch D2-Agonisten klinisch zur Behandlung der arteriellen Hypertonie und des Entzugsdelirs genutzt. Die Reduktion der minimalen alveolären Konzentration von Halothan um 48% (mit Clonidin) bzw. um 95% (mit Dexmedetomidin) zeigt, dass prä- und postsynaptische D2-Rezeptoren eine Sedierung oder Anästhesie vermitteln können. Unter dem Einfluss von D2-Agonisten nimmt die Hirndurchblutung um bis zu 40% ab, die Autoregulation und die CO2Reagibilität der Hirngefäße bleiben erhalten, die CMRO2 bleibt unverändert. Trotz Entkopplung des CBF vom Hirnstoffwechsel findet sich kein Anhalt für eine zerebrale Ischämie. Die durch D2-Agonisten ausgelöste zerebrale Vasokonstriktion geht offenbar nicht mit einer relevanten Abnahme des zerebralen Blutvolumens einher. Tierexperimentelle Studien haben ergeben, dass Dexmedetomidin den ICP sowohl unter normalen als auch unter pathologischen intrakraniellen Bedingungen nur geringfügig senkt bzw. unverändert lässt.
Temperatursteuerung Die Körpertemperatur ist von besonderer Relevanz, wenn ein Risiko zerebraler Ischämie besteht. Die Zunahme der Körpertemperatur um 1ºC geht mit einem Anstieg des globalen Sauerstoffverbrauchs von 7–12% einher. Weil der systemisch verbrauchte Sauerstoff dem Gehirn nicht mehr zur Verfügung steht, aggraviert die Hyperthermie das Risiko zerebraler Hypoxämie. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer auf niedrigem Niveau konstant gehaltenen Körpertemperatur (»niedrige Normothermie«). Diese muss mit Sedierung und vegetativer Blockade einhergehen, damit Kältezittern unterdrückt wird.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
. Abb. 78.6. Auswirkung des Stress- oder Kältezitterns auf den intrakraniellen Druck (Schweinemodell). Der Verlauf des Kapnogramms (oberste Kurve) reflektiert den gesteigerten Stoffwechsel. 1. Pfeil: Beginn des Zitterns; 2. Pfeil: Beendigung durch Verabreichung von Pancuronium; Jantzen, 1990
i Kältezittern geht nicht nur mit einer erheblichen Zunahme des systemischen Sauerstoffverbrauchs, sondern auch mit einem Anstieg des intrakraniellen Drucks einher (. Abb. 78.6).
Neuromonitoring Voraussetzung für eine zielgerichtete Behandlung ist die organspezifische Überwachung, beim ZNS das Neuromonitoring.
Dessen Modalitäten folgen dem Mechanismus »function drives metabolism, metabolism drives flow«. Zur Funktionsdiagnostik stehen das EEG (Roh-EEG und prozessiertes EEG) und evozierte Potenziale (SSEP, BAEP, MEP, VEP oder multimodal evozierte Potenziale) zur Verfügung. Der Metabolismus wird mit der Bulbus-venae-jugularis-Oxymetrie (svjO2), O2-Partialdruckmessungen im Hirngewebe (pTiO2) oder der Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) erfasst (. Abb. 78.7); ergänzend kann das neurochemische Monitoring (Mikrodialyse) zur Anwendung kommen. Die Messung der Hirndurchblutung (Flow) ist auf der Intensivstation kein etabliertes Verfahren. Anstelle des CBF wird häufig die Blutflussgeschwindigkeit (»cerebral blood flow velocity«; CBFV) in der A. cerebri media gemessen. Die Messung des ICP erlaubt die Berechnung des CPP und damit eine Beurteilung der treibenden Kraft der Hirndurchblutung. Hirnfunktion
Die elektroneurophysiologischen Verfahren werden nicht routinemäßig angewandt, u. a. wegen der Störanfälligkeit gegenüber der elektromagnetischen »Kontamination« des intensivmedizinischen Umfeldes. Das EEG ermöglicht die Darstellung der spontanen, unspezifischen elektrokortikalen Aktivität. Abgebildet wird die Summation exzitatorischer und inhibitorischer postsynaptischer Potenziale der kortikalen Pyramidenzellen, generiert in den kortikalen Kerngebieten. Domänen des EEG sind die Überwachung des Barbituratkomas (Burst-suppression-Muster), die Erfassung von Krampfpotenzialen und schließlich die Todesfeststellung. Nicht erfüllt haben sich Erwartungen, mit Hilfe des pEEG die Sedierungstiefe zu beurteilen.
. Abb. 78.7. Metabolisches Monitoring. Links: Bulbus-venae-jugularis-Katheter (svjO2); Mitte: Nahinfrarotspektroskopie (NIRS); rechts: Sauerstoffpartialdruck im Gewebe (pTiO2)
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. Abb. 78.8. Stufenschema zur Senkung des erhöhten intrakraniellen Drucks. Therapieoptionen der 2. Wahl (unterste Zeile) umfassen in ihrer Wirksamkeit nicht gesicherte Ver fahren (z. B. induzierte arterielle Hypertonie, Hypothermie, Lund-Konzept) oder Maßnahmen, die wirksam, aber komplikationsbehaftet sind (z. B. Barbituratkoma, induzierte Hypokapnie mit paCO2 <30 mm Hg, Entlastungskraniektomie). (Mod. nach [BTF, New York, 2000])
Von den evozierten Potenzialen sind v. a. die somatosensorisch ausgelösten (SSEP) zur Beurteilung der Prognose komatöser Patienten geeignet, ferner zur Diagnose eines Locked-in-Syndroms. Die BAEP sind das Standardverfahren des Neurochirurgen zur intraoperativen Überwachung der Hörnervenfunktion bei Operationen am Kleinhirn-Brücken-Winkel. Beim komatösen Patienten zeigt der Ausfall der BAEP-Wellen II–V eine infauste Prognose an. Die motorisch evozierten Potentiale (MEP) und das Spinal-cord-Monitoring kommen in der Aorten- und Wirbelsäulenchirurgie zur Anwendung.
Hirnstoffwechsel Beim metabolischen Monitoring hat die svjO2-Messung – der Artefaktanfälligkeit zum Trotz – eine gewisse Verbreitung gefunden. Die Messung erfolgt kontinuierlich reflexspektrophotometrisch mit einem fiberoptischen Katheter (4,5–5,5 F), vorzugsweise in der rechten V. jugularis interna. Aus dem Messwert lässt sich u. a. die Sauerstoffextraktion berechnen O2ER = (saO2–svjO2)/saO2
Die Indikation ist gegeben, wenn eine Imbalance zwischen zerebralem Sauerstoffbedarf und zerebraler Verfügbarkeit befürchtet wird. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn eine Hyperventilationstherapie mit einem Ziel-paCO2 von <30 mm Hg beabsichtigt ist (Therapieoption der 2. Wahl; . Abb. 78.8). Wegen der guten Signalqualität findet die pTiO2-Messung zunehmend Verbreitung und wird die svjO2-Messung möglicherweise verdrängen. Die Sonde ist mit einer Clark-Elektrode oder Fiberoptik ausgestattet. Durch ein Bohrloch (Durchmesser: 2,5 mm am Kocher-Punkt) wird die Katheterspitze 3 cm unter der Dura in der intakten weißen Substanz positioniert. Anschließend erfolgt die Lagekontrolle mittels kranialer Computertomographie. Der Normbereich wird mit 10–15 mm Hg angegeben.
Die – nicht-invasive – NIRS wird technisch kontinuierlich weiterentwickelt. Licht im Nahinfrarotbereich (O=700–950 nnm) dringt einige Zentimeter in das Gewebe ein und wird von Chromophoren (Hb/HbO2 und reduzierte/oxidierte Zytochromoxidase) absorbiert. Das Verfahren stellt eine regionale Messung dar, der Normwert wird mit 64–75% angegeben. Die Mikrodialyse ist derzeit noch als experimentelles Verfahren einzustufen. Über einen 5 cm langen, knapp 1 mm starken Katheter wird der zerebrale Extrazellulärraum kontinuierlich perfundiert. Im Perfusat können – mit einer Latenz von 5–15 min – u. a. Laktat, Glukose, Pyruvat, Harnstoff, Glyzerol, Glutamat, Aminosäuren und Interleukin bestimmt werden.
Hirndurchblutung Die Messung des CBF ist ein aufwändiges Verfahren, das in erster Linie zu Forschungszwecken und auf einigen wenigen Intensivstationen angewandt wird. Die lokale Messung des CBF (lCBF) mit der Laser-Dopplersonde kommt intraoperativ zur Anwendung, u. a. wenn der Neurochirurg die Durchblutung im Umfeld eines Aneurysmas beurteilen muss. Die klinisch am weitesten verbreitete Methode zur Abschätzung der Hirndurchblutung ist das transkranielle Dopplermonitoring. Untersuchungen sowohl unter physiologischen als auch unter pathologischen Bedingungen haben ergeben, dass die CBFV V als qualitativer und semiquantitativer Indikator für Veränderungen des CBF herangezogen werden kann [7]. Standardmäßig findet das transkranielle Dopplermonitoring Anwendung zur Diagnose des Vasospasmus nach Subarachoidalblutung (SAB). Ein drohender zerebraler Perfusionsstop lässt sich mit Hilfe der Dopplerdiagnostik frühzeitig am Verlust des diastolischen Flusssignals erkennen. Eine weitere Indikation stellt die Hirntoddiagnostik dar. Limitierend ist, dass sich bei etwa 20% der Patienten kein Knochenfenster zur Beschallung der A. cerebri media darstellen lässt. Die ICP-Messung mit Berechnung des CPP ist das Standardverfahren zur Therapieüberwachung bei Patienten mit schwerem SHT. Die therapeutische Interventionsschwelle liegt bei 20 mm Hg.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
i Da sich die genannten Verfahren in ihrer Aussagekraft ergänzen, kommt auf der Intensivstation häufig eine Kombination unterschiedlicher Überwachungsverfahren zur Anwendung (multimodales Monitoring).
tes Ner vengewebe ist nicht wiederherzustellen, Ziel neuroprotektiver Maßnahmen ist der Schutz des umgebenden Gewebes vor Sekundärschäden (Paenumbrakonzept). Von neuroprotektiven Maßnahmen können grundsätzlich alle durch zerebrale Ischämie gefährdeten Patienten profitieren, ungeachtet der Ursache und des Ausmaßes. Die meisten Studien sind an Patienten mit SHT durchgeführt worden. Es werden physikalische (Hypothermie) und medikamentöse Maßnahmen durchgeführt; auch die Krampfprophylaxe (früh-postraumatische Krämpfe) ist als Neuroprotektion anzusehen.
Ergebnisses – v. a. bei Patienten mit SHT. Glukokortikoide verbessern die Prognose nicht und haben erhebliche Nebenwirkungen (Ulcus ventriculi, Hyperglykämie, erhöhte Infektrate). Bei der Indikation »Schädel-Hirn-Trauma« erhöht die Verabreichung von Steroiden die Mortalität [53]. 21-Aminosteroide: Tirilazad verbessert im Tierversuch das Ergebnis; klinische Studien zur Wirksamkeit waren jedoch enttäuschend. NMDA-Rezeptor-Antagonisten befinden sich ebenfalls in klinischer Erprobung. Indomethacin, ein Zyklooxygenasehemmer, senkt nach Bolusinjektion von 50 mg den ICP signifikant und ist auch als Dauerinfusion wirksam. Allerdings kann nach dem Absetzen ein Reboundphänomen auftreten. Für den Radikalfänger Superoxiddismutase konnte keine Verbesserung des neurologischen Ergebnisses belegt werden. Allen im Tiermodell so vielversprechenden Ansätzen zum Trotz steht eine unter klinischen Bedingungen wirksame medikamentöse Neuroprotektion nicht zur Verfügung.
Physikalische Neuroprotektion (Hypothermie)
Barbituratkoma
Eine induzierte Hypothermie von 32–33ºC Körperkerntemperatur, die den zerebralen Sauerstoffverbrauch und den erhöhten ICP senkt sowie die Freisetzung toxischer Neurotransmitter vermindert, beeinflusst das neurologische Ergebnis im Tiermodell günstig. Eine milde Hypothermie kann beim sedierten Patienten durch Oberflächenkühlung erzielt werden. Nebenwirkungen sind: 4 Kältediurese, 4 Erhöhung der Blutviskosität, 4 Beeinträchtigung der Thrombozytenfunktion, 4 Suppression der Immunantwort, 4 Herzrhythmusstörungen, 4 Myokardischämie, 4 Wundheilungsstörungen.
Barbiturate werden in der Neurotraumatologie zur Senkung des erhöhten intrakraniellen Drucks eingesetzt, der durch Maßnahmen der 1. Wahl (. Abb. 78.8) nicht beeinflusst werden kann. Sie senken die CMRO2 und sollen u. a. dadurch hirnprotektiv wirken. Durch Bolusinjektion von Thiopental (5 mg/kg KG) wird zunächst geprüft, ob der ICP gesenkt werden kann; dies setzt eine intakte CO2-Reagibilität der Hirngefäße voraus. Der Responder erhält eine kontinuierliche Infusion unter EEG-Monitoring (Burst-suppression-EEG). Die Bestimmung der Konzentration des Barbiturats im Plasma ist zur Therapiesteuerung ungeeignet. Eine Hypotonie muss konsequent behandelt werden.
Neuroprotektion Unter Neuroprotektion im weitesten Sinne ist die Verlängerung der neuronalen Ischämietoleranz zu verstehen. Zerstör-
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Eine Verbesserung des neurologischen Ergebnisses durch milde Hypothermie hat sich in einer multizentrischen Studie bei Patienten mit SHT nicht sichern lassen [10]; möglicherweise profitiert jedoch eine Subgruppe der Patienten (Alter <45 Jahre, GCS 5–7, Normovolämie) von diesem Therapiekonzept [31]. Eine Studie zur Hypothermie bei Aneurysmaoperationen (The International Hypothermia in Aneurysm Surgery Trial; IHAST) hat keine Vorteile durch Kühlung der Patienten ergeben [61]. Wenn eine Indikation für die Hypothermie gesehen wird, sollte sie für 24 h durchgeführt werden, mit nachfolgender langsamer Wiedererwärmung. Ungeachtet der Datenlage wird die milde Hypothermie bei der Indikation »Schädel-Hirn-Trauma« auf 39% der Intensivstationen deutscher Kliniken durchgeführt, bei der Indikation »SAB« auf 18% (Wissenschaftlicher Arbeitskreis Neuroanästhesie der DGAI; Stand: 2004). ! Cave Eine Temperatur über 37ºC muss vermieden werden, da bereits eine geringe Hyperthermie ungünstige Auswirkungen auf das neurologische Ergebnis hat.
Medikamentöse Neuroprotektion Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Pathophysiologie zerebraler Ischämien waren und sind Anlass für eine Fülle tierexperimenteller und klinischer Studien zur Wirksamkeit verschiedener Medikamente hinsichtlich der Verbesserung des neurologischen
i Patienten, deren ICP durch diese Reservemaßnahme nicht gesenkt werden kann, haben eine sehr ungünstige Prognose.
Kalziumantagonisten Bei traumatischer Subarachnoidalblutung (tSAB) wird häufig der Kalziumantagonist Nimodipin verabreicht. In dieser Subgruppe ‒ Patienten mit SHT und Vasospasmus ‒ wurde das Ergebnis in einer multizentrischen deutschen Studie (Head-injury-trial; HIT III) durch Nimodipin verbessert; in einer internationalen Studie (HIT IV) ließen sich diese Befunde jedoch nicht reproduzieren [21].
Krampfprophylaxe Ungünstig ist das Auftreten von Krampfanfällen, die sich in der ersten Woche (sog. frühe Krampfanfälle) – mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Erleiden weiterer Anfälle – oder als späte Anfälle jenseits der ersten Woche manifestieren. Je schwerer das SHT ist, desto häufiger tritt eine Epilepsie auf: Spätposttraumatische Krampfanfälle weisen nach leichtem, mittlerem und schwerem SHT eine Häufigkeit von 1,5%, 2,9% und 17% auf [1]. Besonders gefährdet sind Patienten mit penetrierenden Kopfverletzungen, intrakraniellem oder subduralem Hämatom und Impressionsfrakturen mit Duradefekt. Die Verabreichung von Antikonvulsiva zur Prophylaxe früher posttraumatischer Krampfanfälle ist die Regel; die Prophylaxe spätposttraumatischer Krämpfe ist dagegen nicht indiziert. Treten trotz Prophylaxe Krämpfe auf, sind diese – vorzugsweise mit Benzodiazepinen – zu kupieren; die Dosierung der Antikonvulsiva muss ggf. korrigiert werden.
1017 78.2 · Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
! Cave Krampfanfälle in der frühen postoperativen Phase gehen mit arterieller Hypertonie und somit dem Risiko der intrakraniellen Nachblutung einher.
78.2
Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
Im Folgenden wird die intensivmedizinische Versorgung elektiv kraniotomierter Patienten sowie der Patienten mit intrakraniellen Blutungen dargestellt. Letztere umfassen spontane und traumatische Blutungen (intrazerebrale Massenblutung, spontane Subarachnoidalblutung, epidurale Blutung, subdurale Blutung, traumatische Subarachnoidalblutung). Anschließend wird die traumatische Schädigung des ZNS (Schädel-Hirn- und Rückenmarktrauma) dargestellt. 78.2.1 Elektive Kraniotomie Das zahlenmäßig größte neurochirurgische Patientenkollektiv auf der Intensivstation sind Patienten, die wegen einer intrakraniellen neoplastischen Raumforderung elektiv operiert werden. Die meisten neurochirurgischen Patienten können nach supratentorieller Kraniotomie die Intensivstation innerhalb von 2 Tagen wieder verlassen, wenn keine Komplikationen aufgetreten sind.
Von Bedeutung sind die Senkung eines erhöhten intrakraniellen Drucks und die Verhütung eines Druckanstiegs, besonders bei Patienten mit erhöhter intrakranieller Elastance. Weil Patienten mit Hirntumoren perioperativ routinemäßig Kortikosteroide erhalten, stellt eine intrakranielle Hypertonie die Ausnahme dar.
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Im eigenen Verantwortungsbereich wird so verfahren, dass der zur Anästhesie orotracheal platzierte Tubus bei voraussichtlicher Nachbeatmungsdauer <24 h belassen wird; steht eine Nachbeatmung über mehrere Tage an, nasotracheal umintubiert. Wenn eine Langzeitbeatmung absehbar ist, wird frühzeitig tracheotomiert.
Blutdruck Hoher arterieller Blutdruck kann eine Nachblutung begünstigen, weil die intraoperativ eröffneten Gefäße weniger belastbar sind [23]. Darüber hinaus ist bei jeder Kraniotomie von einer zumindest regional beeinträchtigten Autoregulation der Hirndurchblutung auszugehen, sodass ein erhöhter arterieller Blutdruck ein vasogenes Hirnödem verursachen kann. Für die medikamentöse Blutdrucksenkung in der postoperativen Phase kommen Vasodilatatoren und Sympatholytika infrage. Im eigenen Arbeitsbereich hat sich zur Kupierung von Blutdruckspitzen die intravenöse Verabreichung von Urapidil bewährt. ! Cave Der erhöhte arterielle Druck kann Manifestation einer Stressreaktion oder einer Hyperkapnie sein. Als 3. Möglichkeit muss die Cushing-Antwort in Erwägung gezogen werden. Aus diesem Grund ist vor einer unkritischen Senkung des arteriellen Blutdrucks zu warnen.
Wenn – wie bei der Cushing-Antwort – der erhöhte intrakranielle Druck als Ursache der arteriellen Hypertonie angenommen wird, liegt die Kausalbehandlung der Hypertonie in der Senkung des ICP. Ist die Hypertonie Folge einer arteriellen Hyperkapnie, kann die »Behandlung« mit Vasodilatatoren tödlich sein! Wenn eine Stressreaktion als Ursache der Hypertonie angenommen wird, muss bedacht werden, dass intrakranielle Eingriffe nicht in dem Maß postoperative Schmerzen bereiten wie beispielsweise orthopädisch-traumatologische Operationen.
Intrakranieller Druck Chirurgische Optionen umfassen:
4 Beseitigung einer intrakraniellen Raumforderung, 4 Entlastung bei intrakraniellem Hämatom oder Abszess, 4 Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts oder einer offenen Ventrikeldrainage.
Sicherung der Atemwege Bei elektiv operierten Patienten ist die Frühextubation noch im Aufwachraum anzustreben, die längere Nachbeatmung ist bei chirurgischen Komplikationen und komplizierenden Begleiterkrankungen erforderlich. Wenn eine Nachbeatmung angezeigt ist, kann diese über einen orotrachealen Tubus, einen nasotrachealen Tubus oder ein Tracheostoma vorgenommen werden.
5 Die nasotracheale Intubation ist mit einer hohen Rate an Verschattung der Nasennebenhöhlen belastet. Die orotracheale Intubation wird vom Patienten schlechter toleriert, erschwert die Mundpflege und schädigt die Kiefergelenke. 5 Der orotracheal platzierte Tubus ist eine mögliche Ursache des intrakraniellen Druckanstiegs in der postoperativen Phase.
Postoperativ besteht während der ersten 8 h ein erhöhter ICP nur in Ausnahmefällen. Während der folgenden 18 h steigt der ICP langsam an und erreicht sein Maximum etwa 20 h nach der Operation. ! Cave Ein unerwartet plötzlicher Anstieg des ICP innerhalb der ersten 8 h ist als Alarmsignal zu werten und bedarf der sofortigen Abklärung (kraniale Computertomographie).
Ein während 48 h kontinuierlich ansteigender ICP ist als Hinweis auf ein Hirnödem zu werten; der intrakranielle Druck ist ein direkter Indikator des Ödemausmaßes. Der Anstieg des ICP bedarf unverzüglicher Behandlung, sobald er den zerebralen Perfusionsdruck beeinträchtigt. Die ursachenorientierte Behandlung steht im Vordergrund; als flankierende Maßnahme kommt die Verabreichung von Steroiden, Osmodiuretika und Schleifendiuretika infrage. Auf die i.v.-Verabreichung kristalloider Lösungen niedriger Osmolalität (z. B. Ringer-Laktat-Lösung) oder freien Wassers (Glukoselösungen) muss verzichtet werden. Der intrakranielle Druck lässt sich auch durch Schleifendiuretika vom Furosemid-Typ senken [11]. Das intrakranielle intravasale Volumen schrumpft sowohl infolge einer gesteigerten Diurese als auch einer Flüssigkeitsverlagerung; darüber hinaus senken Schleifendiuretika die Liquorproduktion. Ein Vorteil der
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
im Subarachnoidalraum verlaufender Gefäße bewirkt auch dann eine Subarachnoidalblutung, wenn kein Aneurysma vorliegt. ! Cave Alle Formen der intrakraniellen Blutung beeinträchtigen die Hirndurchblutung, wenn das Hämatom raumfordernd ist und über die Steigerung des intrakraniellen Drucks den zerebralen Perfusionsdruck senkt. Epi- und subdurale Blutungen sind ganz überwiegend traumatischer Genese (7 Kap. 78.2.3: »Schädel-Hirn-Trauma«). Wegen ihrer speziellen Pathophysiologie und Behandlung gesondert dargestellt wird die Subarachnoidalblutung.
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. Abb. 78.9. Wirkung der Osmotherapie auf die Osmolarität des Liquor cerebrospinalis. Obere Kurve (◆): Mannitolgabe über 100 h; mittlere Kurve (■): Mannitolgabe über 40 h; untere Kurve (▲): Kontrollgruppe (kein Mannitol). (Aus [37])
Schleifendiuretika gegenüber den Osmodiuretika besteht in ihrer geringeren Wirkung auf die Hirndurchblutung; nach Verabreichung von Osmodiuretika steigt die Hirndurchblutung und infolgedessen der intrakranielle Druck vorübergehend an. Der ICP-senkenden Wirkung der Osmodiuretika liegt eine Flüssigkeitsumverteilung vom Hirngewebe in den intravasalen Raum zugrunde. Bei Verabreichung der Osmodiuretika ist ein potenzielles Reboundphänomen zu beachten, das nach 48 h eintreten kann. Das Risiko eines Overshoot-Reboundphänomens kann durch angepasste Dosierung der Osmodiuretika reduziert werden. Die Dosis von Mannitol sollte 0,25 g/kg KG nicht überschreiten. Wenn aus klinischer Indikation eine höhere Dosierung angezeigt ist, sollte diese auf die Frühphase der Behandlung beschränkt bleiben. Die Verabreichung über längere Zeiträume steigert die Osmolarität des Liquors, was als kontraproduktiv anzusehen ist (. Abb. 78.9; [37]). Osmotische Dehydrierung ist auch mit hypertoner Kochsalzlösung zu erreichen. Bei zeitgerechter Verabreichung kann damit zusätzlich der das SHT begleitenden Endothelschwellung begegnet und der Entwicklung von »low flow areas« vorgebeugt werden. Die abschließende Bewertung dieses Therapiekonzeptes steht noch aus. 78.2.2 Intrakranielle Blutung Ursachen intrakranieller Blutungen sind in erster Linie Traumen und hämorrhagische Infarkte, weitere Ursachen sind Aneurysmen und arteriovenöse Malformationen.
Einteilung Intrakranielle Blutungen werden nach ihrer Lokalisation in epidurale, subdurale, subarachnoidale und intrazerebrale Blutungen unterteilt. Hinsichtlich des Pathomechanismus wird die spontane Blutung von der traumatischen unterschieden. Kombinierte Blutungen kommen vor. Die intrazerebrale Massenblutung entsteht in der Regel auf dem Boden einer hypertonusbedingten Vasopathie unter dem klinischen Bild der hämorrhagischen Apoplexie. In Deutschland ist von 12.000 derartigen Blutungen pro Jahr auszugehen. Die spontane Subarachnoidalblutung ist meistens Folge der Ruptur eines intrakraniellen Aneurysmas. Die Traumatisierung
Intrazerebrale Massenblutung Der intrazerebralen Massenblutung liegt in 70–90% der Fälle eine arterielle Hypertonie zugrunde; seltenere Ursachen sind Aneurysmen und arteriovenöse Malformationen. Insgesamt 35% der Patienten sterben noch vor der Krankenhausaufnahme, weitere 38% im frühen Verlauf der Behandlung; 90% der Todesfälle treten innerhalb eines Monats nach der Blutung auf [6]. Wegen der Hämorrhagie stehen die beim ischämischen Infarkt bewährten Therapiekonzepte (Antikoagulation und Thrombolyse, Hämodilution, induzierte Hypertonie) nur eingeschränkt zur Verfügung. Die Entscheidung zur operativen Entfernung des Hämatoms ist im Einzelfall zu treffen. Bei der Indikationsstellung muss neben der lokalen Situation (Ausmaß der Raumforderung, Kapazität der intrakraniellen Reserveräume, periphere oder zentrale Lage des Hämatoms) auch der Allgemeinzustand des Patienten (Alter, Operabilität, Narkosefähigkeit, Prognose) berücksichtigt werden. Ein ergebnisrelevanter Nutzen der Operation konnte bisher nicht gezeigt werden [56]. Die intensivmedizinischen Maßnahmen zur Verbesserung der Hirndurchblutung zielen auf die Stabilisierung des CPP ab. Der arterielle Mitteldruck (MAP) wird auf hohem Niveau stabilisiert, der ICP kontinuierlich gemessen und, wenn erforderlich, gesenkt. Die Zielgröße der physikalischen und medikamentösen Maßnahmen (Lagerung, Normokapnie und Normoxämie, Osmotherapie) ist ein CPP >60 mm Hg. Der MAP, die treibende Kraft der Durchblutung, muss bei Hypertonikern unter Berücksichtigung der anamnestischen »Normalwerte« eingestellt werden. Obgleich ein niedriger MAP hinsichtlich des Risikos einer erneuten Blutung und eines vasogenen Ödems vorteilhaft sein mag, muss der MAP im oberen Normbereich gehalten werden, damit die Durchblutung des an das Hämatom angrenzenden Gewebes (Paenumbra) gesichert und folglich einem fortschreitenden Verlust an Neuronen vorgebeugt wird. Der MAP wird in erster Linie mit Volumenersatzmitteln, bei Normo- oder Hypervolämie mit Inotropika oder Vasokonstringenzien stabilisiert. Steigt der ICP in der Weise an, dass der CPP sinkt, müssen die Lagerung des Kopfes (Torsion, axiale Knickung u. a.; . Abb. 78.2) sowie die Ventilation überprüft und ggf. korrigiert werden. Erbringt dies nicht den gewünschten Erfolg, müssen der Oberkörper um bis zu 30º angehoben und die Sedierung vertieft werden (Cave: MAP!). Bleibt der ICP trotzdem erhöht, werden Osmotherapeutika verabreicht. Kortikosteroide sind, anders als bei elektiven neurochirurgischen Eingriffen, nicht angezeigt; auch spezifische medikamentöse Therapieansätze (Kalziumanatagonisten, Aminosteroide u. a.) sind ohne erwiesene Wirksamkeit. Flankierende Maßnahmen umfassen die langfristige Korrektur der arteriellen Hypertonie,
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die Restitution des Blutgerinnungssystems und die medikamentöse Krampfprophylaxe. Richtungweisend für die Prognose ist die Qualität der Frührehabilitation.
Subarachnoidalblutung Die Subarachnoidalblutung (SAB) entsteht traumatisch oder spontan, die Blutungsquelle ist fast immer ein Aneurysma. Für intrakranielle Aneurysmen wird – bei breiter ethnischer Streuung – eine Prävalenz von 1–5% angenommen, die Inzidenz der Aneurysmablutung wird auf 10,5 : 100.000 Lebensjahre geschätzt [38, 60]. i Die Letalität ist immens hoch, jeder 10. Patient stirbt noch vor der Krankenhausaufnahme.
Der Patient mit SAB wird primär auf die Intensivstation aufgenommen; dort wird er auf Operation und Anästhesie vorbereitet sowie postoperativ behandelt. Die Beurteilung des präoperativen Zustands erfolgt anhand der Hunt-Hess-Skala (. Tab. 78.2). Zunehmend findet die Einteilung nach der World Federation of Neurological Surgeons Anwendung, die neben der Glasgow Coma Scale (7 Kap. 78.1.1) fokale neurologische Ausfälle berücksichtigt. CT-gestützten Einteilungen liegen Ausmaß und Verteilung des Hämatoms zugrunde [60]. Die Hirndurchblutung wird durch die vom Aneurysma oder Hämatom verursachte Raumforderung, die akute Hirnschwellung und den sekundären Hydrozephalus sowie später durch den Vasospasmus beeinträchtigt. Die Mehrzahl der Patienten ist durch autonome Hyperaktivität arteriell hyperton, was ggf. als Cushing-Antwort zu interpretieren ist; im Einzelfall (<3%) kann jedoch eine therapierefraktäre Hypotonie bestehen. Ist eine Raumforderung, z. B. durch ein Riesenaneurysma (»giant aneurysm«; Durchmesser >2,5 cm, 2% der Aneurysmen), Ursache für die Beeinträchtigung der Hirndurchblutung, stellt die Beseitigung des Aneurysmas durch einen neurochirurgischen oder neuroradiologischen Eingriff die Kausaltherapie dar. Steht als Ursache der beeinträchtigten Hirndurchblutung die Hirnschwellung oder das Ödem im Vordergrund, sind unspezifische Maßnahmen zur Stabilisierung des CPP angezeigt (7 s. oben).
Nachblutung Bei 50% der rupturierten Aneurysmen tritt innerhalb von 6 Monaten eine Nachblutung auf; sie ist innerhalb der ersten 3 Monate bei 22% der Patienten die Todesursache [43]. Schutz vor einer
. Tabelle 78.2. Beurteilung des präoperativen Zustands bei SAB nach der Hunt-Hess-Skala Grad
Symptomatik
1
Patient asymptomatisch, geringer Kopfschmerz
2
Mäßiger Kopfschmerz, Nackensteife, keine neurologischen Defizite, ggf. Hirnnervenausfälle
3
Bewusstseinstrübung, Verwirrtheit, leichte fokale Defizite
4
Stupor, Hemiparese, vegetative Entgleisung
5
Koma, Patient moribund
. Abb. 78.10. Inzidenz angiographisch und klinisch manifestierter Vasospasmen. (Mod. nach [47])
Nachblutung bietet einzig die Ausschaltung des Aneurysmas. Dies kann sowohl durch neurochirurgische (»clipping«) als auch durch neuroradiologische Verfahren (»coiling«) erreicht werden. Die Indikation wird im Einzelfall gestellt. Ist der Patient für beide Verfahren gleichermaßen geeignet, ist das Coiling vorteilhaft: Das Risiko einer Nachblutung ist nach dem endovaskulären Eingriff zwar tendenziell höher, das neurologische Ergebnis dagegen besser [20].
Operationszeitpunkt Wird die Indikation zur Operation gestellt, muss über den Zeitpunkt entschieden werden. Obwohl in der »International Cooperative Study on the Timing of Aneurysm Surgery« kein eindeutiger Beleg für die Vorteile der frühen Operation erbracht werden konnte, wird der Eingriff seit Ende der 1980-er Jahre an den meisten neurochirurgischen Kliniken innerhalb von 3–4 Tagen nach der Blutung durchgeführt. Von der Frühoperation (innerhalb von 72 h) wird erwartet, dass der Vasospasmus durch Spülung des Subarachnoidalraums verhindert und das Risiko der Nachblutung vermindert wird. Dem stehen die bei frischer Blutung ungünstigen Operationsbedingungen und das Risiko des »iatrogenen Vasospasmus« gegenüber. i Während eines klinisch oder radiologisch manifestierten Vasospasmus – dessen Maximum zwischen dem 6. und dem 12. Tag nach der Blutung liegt (. Abb. 78.10) – sollte nicht operiert werden.
Vorbereitung auf die chirurgische/ neuroradiologische Versorgung Die mit der SAB einhergehenden Komplikationen rechtfertigen eine aktive präoperative Intensivbehandlung. Die heute mehrheitlich angestrebte Frühoperation bringt zusätzliche Probleme mit sich, u. a. wegen der bei 35% der Patienten mit SAB einhergehenden Herzrhythmusstörungen [43]. Diese resultieren aus autonomer Hyperaktivität und Elektrolytverschiebungen (Hyponatriämie, Hypokaliämie, Hypokalzämie). Die Hyponatriäme (zerebrales Salzverlustsyndrom; s. oben) ist möglicherweise die Folge inadäquater Sekretion des zerebralen natriuretischen Peptids (»brain natriuretic peptide«; BNP) mit konsekutiver Suppression der Aldosteronsynthese [4]. Die Mehrzahl der Patienten sind Raucher, 80% haben eine arterielle Hypertonie. Die autonome Hyperaktivität (»hypotha-
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
lamic stress«) kann ein neurogenes Lungenödem auslösen und zum Herzversagen führen [30]. ! Cave Die subarachnoidale Blutansammlung löst Fieber aus, welches wegen der neurodestruktiven Wirkung der Hyperthermie gesenkt werden muss.
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Ein Argument für die Frühoperation ist die Entfernung alten Blutes aus dem Subarachnoidalraum – mit dem Ziel, die Liquorzirkulation zu erhalten; trotz dieser Maßnahme brauchen 10% aller Patienten mit SAB im Verlauf der Behandlung einen Ventrikelkatheter. Der ICP und die intrakranielle Elastance (∆P/∆V) müssen als erhöht angenommen werden. Wegen der Gefahr der durch einen Krampfanfall ausgelösten Nachblutung (die Inzidenz posthämorrhagischer Konvulsionen beträgt 10% innerhalb von 18 Monaten) werden 80% der Patienten mit Antikonvulsiva behandelt, deren Interferenz mit nichtdepolarisierenden Relaxanzien bedacht werden muss. ! Cave Die Verabreichung von Nimodipin kann eine Zunahme des transpulmonalen Shuntvolumens und – bei Langzeitverabreichung – einen alkoholtoxischen Leberschaden bewirken.
Vorbereitung auf die Anästhesie Die bei Patienten mit SAB häufig gegebene Hypovolämie muss vor Einleitung der Anästhesie ausgeglichen werden. Befindet sich ein Patient dagegen infolge Triple-H-Behandlung am Rande der kardialen Dekompensation, muss auf negativ inotrop wirkende Anästhetika verzichtet werden. Besonderes Augenmerk gilt der Hirndurchblutung, die nicht nur durch den Vasospasmus, sondern auch durch den anästhetikainduzierten Abfall des CPP bedroht ist. Der Patient mit SAB hat einen erhöhten Sympathikotonus, dessen Abnahme bei Einleitung der Anästhesie einen akuten Blutdruckabfall bewirkt. ! Cave Die Laryngoskopie kann das sympathoadrenerge System dermaßen stimulieren, dass das Aneurysma infolge der akuten Zunahme des transmuralen Drucks rupturiert. Die Anästhesieeinleitung wird für 1–2% der Aneurysmarupturen, die im Verlauf der chirurgischen Versorgung auftreten, als ursächlich angeschuldigt.
Die wesentliche Ursache für die intraoperative Ruptur eines Aneurysmas – die bei der Frühoperation eine Häufigkeit von 40%, bei der Spätoperation eine Häufigkeit von 20% aufweist [41] – ist der mit Eröffnung der Dura mater einhergehende akute Anstieg des transmuralen Drucks (pTM) des Aneurysmas. Der den pTM limitierende extravasale Gegendruck (der ICP) fällt bei der Inzision der Dura mater auf den atmosphärischen Druck ab; bei unverändertem arteriellen Druck im Aneurysmasack steigt der transmurale Druck akut um das Ausmaß des Abfalls des ICP an (pTM=pAneurysma–ICP). Zur Blutdruckmessung empfiehlt sich die arterielle Kanülierung in Lokalanästhesie vor Narkoseeinleitung. Bei Patienten mit erheblicher iatrogener Hypervolämie kann im Einzelfall ein Pulmonalarterienkatheter indiziert sein.
Postoperative Behandlung Wenn die Vorerkrankungen, der präoperative Neurostatus sowie der Verlauf von Operation und Anästhesie nicht dagegen spre-
chen, wird der Patient nach Abklingen der Wirkungen der Anästhetika extubiert. Voraussetzung dafür ist eine Kerntemperatur >36°C. Wird die Anästhesie noch in Hypothermie ausgeleitet, resultiert eine erhebliche sympathoadrenerge Stressreaktion (. Abb. 78.6). ! Cave Besonders das Kältezittern des ausgekühlten Patienten kann durch die Zunahme des systemischen Sauerstoffverbrauchs im Zusammenwirken mit der hypoventilatorischen Hypoxämie nach Anästhesie die zerebrale Sauerstoffversorgung gefährden.
Die komplikationslose Operation eines Patienten in präoperativ gutem Zustand (Hunt-Hess-Grade 1 und 2) geht mit einer relativ guten Prognose einher. Der komplizierte Verlauf (Hunt-HessGrade >3) mündet häufig in septischem Schock und Multiorganversagen; die Mortalität dieser Patienten beträgt 65% [17]. Nach Clipping des Aneurysmas wird der arterielle Blutdruck in den oberen Normbereich angehoben. In Absprache mit dem Operateur kann eine arterielle Hypertonie induziert werden. Wenn in der postoperativen Phase neue fokale Ausfälle auftreten, wird der systolische Blutdruck auf 200 mmHg angehoben. Postoperativ ist die frühzeitige enterale Nahrungszufuhr anzustreben; bei parenteraler Ernährung muss der Blutzucker engmaschig kontrolliert werden, auf glutamathaltige Eiweißlösungen ist zu verzichteten [27]. Die postoperative Mortalität der SAB-Patienten beträgt 9,8% in den ersten 14 Tagen und 19% in der ersten 3 Monaten. Als Todesursache wird bei 23% der Patienten der Vasospasmus, bei 22% die Nachblutung und bei 19% die Auswirkung der Erstblutung angesehen; bei immerhin 23% sind internistische Komplikationen die Ursache [43]. Das Auftreten von Pneumonie und Lungenödem bei 22 bzw. 23% der Patienten sowie die Inzidenz von 31% hepatorenaler Komplikationen unterstreicht die Bedeutung der Intensivbehandlung extrakranieller Organsysteme für das Ergebnis. Die frühe Nachblutung, d. h. zwischen initialer SAB und Versorgung, ist mit hoher Letalität belastet. Die Häufigkeit der Nachblutung und die Letalität sinken um annähernd 80%, wenn die Patienten in dieser Phase antifibrinolytisch behandelt werden. Empfohlen wird Tranexamsäure, 1 g alle 6 h, bis zur Versorgung des Aneurysmas [54]; die Verabreichung von aktiviertem Faktor VII ist ein weiterer vielversprechender Ansatz.
Zerebraler Vasospasmus Insgesamt 60–70% der Aneurysmablutungen gehen mit einem zerebralen Vasospasmus einher. Die Prävalenz des Befundes »Vasospasmus« hängt vom diagnostischen Verfahren ab; die neuroradiologische Manifestation des Vasospasmus ist bei Subarachnoidalblutung mit 70% doppelt so häufig wie die klinische Manifestation (. Abb. 78.10). Als ursächlich werden subarachnoidales Oxyhämoglobin, Blutabbauprodukte und Metabolite des Blutgerinnungsstoffwechsels angesehen. Ferner kann ein Vasospasmus iatrogen durch Manipulation im Verlauf der Frühoperation des zugrunde liegenden Aneurysmas ausgelöst oder verstärkt werden. Neben der vasomotorischen Komponente trägt eine ätiologisch nicht geklärte Zunahme der Arterienwandstärke zum Anstieg des zerbralen Gefäßwiderstands (CVR) bei. Der Vasospasmus steigert regional den CVR, eine Determinante der Hirndurchblutung.
1021 78.2 · Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
i Der zerebrovaskuläre Spasmus nach SAB ist die häufigste Ursache der neurologischen Verschlechterung in der frühen postoperativen Phase.
Der Vasospamus zeigt einen biphasischen Verlauf. 4 Die 1. Phase kann innerhalb weniger Minuten nach der SAB auftreten. 4 Die 2. Phase manifestiert sich etwa 2 Tage später. Möglichweise liegen beiden Phasen unterschiedliche Mechanismen zugrunde. Der akute Vasospasmus ist mit der Sekretion von Arginin-Vasopressin aus den A1-Kernen der Medulla oblongata in Zusammenhang gebracht worden. Für diese Hypothese spricht die Beobachtung, dass der Vasospasmus sowohl durch i.v.-Verabreichung eines Vasopressinatagonisten als auch durch intrazisternale Verabreichung des Arginin-Vasopressin-Antiserums verhindert werden kann. Unklar ist die Ursache der 2. Phase, des späten Vasospasmus; aus dieser Unklarheit resultiert die Vielfalt – in ihrer Wirksamkeit unbewiesener – Behandlungskonzepte. Das durch den Vasospasmus verursachte neurologische Defizit ist vermutlich die Resultante aus erhöhtem zerebrovaskulärem Widerstand, erniedrigtem zerebralem Perfusionsdruck und der unter die Ischämieschwelle gefallenen regionalen Hirndurchblutung. Therapeutisches Ziel ist die Wiederherstellung der normalen Hirndurchblutung. Für dieses Ziel wäre ein Medikament ideal, das den Vasospasmus direkt aufheben könnte. Möglicherweise ist die systemische Verabreichung von Vasodilatatoren jedoch kontraproduktiv, weil Vasodilatation in gesunden Gefäßarealen einen Steal-Effekt zuungunsten der vom Spasmus betroffenen Hirnareale bewirkt. Ferner muss bedacht werden, dass systemisch wirkende Vasodilatatoren über eine zerebrale Gefäßweitstellung den ICP steigern und – im Zusammenwirken mit der Senkung des arteriellen Mitteldrucks – den zerebralen Perfusionsdruck überproportional senken. Günstige erste Ergebnisse der intrathekalen Verabreichung des NO-Donators Nitroprussid [46] haben sich nicht reproduzieren lassen. Ein weiterer therapeutischer Ansatz ist die Verbesserung der Hirndurchblutung durch Senkung der Blutviskosität, die sich durch Verabreichung von Dextran, Humanalbumin oder Mannitol erreichen lässt. Die Ergebnisse sind jedoch enttäuschend. Weil Intensität und Dauer des Vasospasmus die Prognose limitieren, ist die Beseitigung des Spasmus vorrangiges Ziel therapeutischer Bemühungen. Zur Anwendung kommen die TripleH-Behandlung und die vom Neuroradiologen interventionell durchzuführende Gefäßdilatation, u. U. in Kombination mit einer Papaverininfusion.
Triple-H-Behandlung Die 3 H stehen für 4 Hypervolämie, 4 Hypertonie und 4 Hämodilution. Die Behandlung wird in der Regel mit der Verabreichung von Nimodipin kombiniert. Die Hypervolämie, in Nordamerika bei 80% der Patienten angewandt [43], wird durch Verabreichung von kristalloiden und kolloidalen Volumenersatzmitteln bzw. Albuminlösungen herbeigeführt. Eine Stärkelösung (z. B. Hydroxyäthylstärke) muss unter Beachtung der Hämostase infundiert werden. Im Einzelfall wird zusätzlich die Gabe von ADH (Pitres-
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sin, Desmopressin) und Atropin erforderlich, um Gegenregulationsmechanismen auszuschalten. Zielgrößen der Behandlung sind ein pulmonalkapillärer Verschlussdruck von 12–20 mmHg bzw. ein zentraler Venendruck >10 mmHg und ein Hämatokrit von 30–35%. Eine sekundäre Zielgröße der Infusionstherapie ist ein kolloidosmotischer Druck von 25 mmHg. Der kolloidosmotische Druck wird durch Zufuhr von Kolloidlösungen mit langer intravasaler Verweildauer auf der gewünschten Höhe gehalten. Der Blutdruck wird bei einem Drittel der Patienten durch Zufuhr von Vasokonstringenzien (Katecholamine, Angiotensin) angehoben [43]. Wenn der arterielle Mitteldruck durch Verabreichung von Dopamin von 90 auf 111 mmHg angehoben wird, steigt die regionale Hirndurchblutung in 90% des nichtinfarzierten Gewebes über die ischämische Schwelle von 25 ml/100 g · min. Die gesteuerte Blutdrucksteigerung (systolischer Blutdruck 160–200 mmHg) ist auf die postoperative Phase beschränkt; präoperativ ist ein systolischer Druck von 120–150 mm Hg anzustreben. In Absprache mit dem Operateur kann im Einzelfall eine Senkung des Blutdrucks auf Werte angezeigt sein, die leicht unter den prähämorrhagischen liegen. Der Behandlungserfolg wird durch transkranielle Dopplersonographie überprüft; Flussgeschwindigkeiten deutlich über 120 cm/s sind als Hinweis auf einen Vasospasmus zu werten. Bei 60% der Patienten bewirkt die Triple-H-Behandlung eine – zumindest vorübergehende – klinische Besserung. Werden die Patienten, die unter dieser Behandlung keine Besserung zeigen, der Ballondilatation zugeführt, ist in 60–70% der Fälle mit einer Befundverbesserung zu rechnen. Ob die Beseitigung des Vasospasmus auch mit einem Anstieg der Überlebensrate einhergeht, ist noch nicht abschließend geklärt. In einer randomisierten, prospektiven Studie konnte die Wirksamkeit der Triple-H-Behandlung weder hinsichtlich der Hirndurchblutung noch hinsichtlich des neurologischen Ergebnisses bestätigt werden; Kosten und Kompikationsdichte sind jedoch höher [14]. i Die Behandlung mit Kalziumantagonisten oder »Triple-H« ist nur empirisch legitimiert und in ihrer Wirksamkeit letztlich unbewiesen.
Kalziumanatagonisten und Radikalfänger Eine – bescheidene – Besserung des klinischen Ergebnisses durch frühzeitige orale Verabreichung eines Kalziumantagonisten vom Dihydropyridin-Typ (Nimodipin) ist gezeigt worden [39]. Weil die klinische Besserung nur selten mit einer Behebung des Vasospasmus einhergeht, müssen andere Wirkungen des Nimodipin als die Vasospasmolyse als ursächlich angenommen werden. Die spontane SAB betreffend wurde die Wirksamkeit des 21Aminosteroids Tirilazad (Freedox® Beziehbar nur über die internationale Apotheke) in einer kontrollierten Studie gezeigt [24]. Die günstige Wirkung ließ sich jedoch nur in der männlichen Subpopulation der Studiengruppe überzeugend darstellen; ob dieser Unterschied pharmakokinetische Ursachen hat oder auf eine Interferenz des Tirilazads mit weiblichen Sexualhormonen zurückzuführen ist, bedarf noch der Klärung. 78.2.3 Schädel-Hirn-Trauma In Deutschland erleiden etwa 300.000 Menschen pro Jahr ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT), davon 28.000 ein schweres SHT;
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
10.000 Patienten sterben am SHT, 280.000 werden stationär behandelt [57]. Nur ein geringer Anteil der stationär behandelten Patienten bedarf der chirurgischen Versorgung. Ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) liegt vor, wenn durch äußere Gewalteinwirkung die funktionelle Integrität des Gehirns gestört ist (7 Kap. 68). Das Ausmaß der Schädigung von Weichteilen, Schädelknochen und Hirngewebe kann dabei stark variieren. Bei intakter Dura mater handelt es sich um ein geschlossenes SHT, bei verletzter Dura mater um ein offenes SHT. Liquorfluss aus Nase oder äußerem Gehörgang ist ein Hinweis auf eine Duraverletzung an der Schädelbasis.
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5 Alle Patienten mit schwerem SHT bedürfen der unverzögerten intensivmedizinischen Versorgung. 5 Die leitliniengestützte Behandlung in Kliniken mit neurotraumatologischer Erfahrung verbessert das Ergebnis [34].
. Tabelle 78.3. Anzahl der Patienten mit schwerem Schädel-HirnTrauma, die während des Aufenthalts auf der Intensivstation ein oder mehrere Ereignisse erlitten. (Nach [22])
Mit Ereignis Ohne Ereignis Gesamt
Schwer
Mittelschwer
Leicht
Gesamt
67
29
17
113
1
7
3
11
68
36
20
124
Im weiteren Verlauf der zerebralen Thanatogenese stehen die Pathomechanismen Exzitotoxizität und Reperfusionsschadenm (Lipidperoxidation) im Vordergrund, später Inflammation und Apoptose.
Intensivtherapie Spezielle Pathophysiologie Das Leitsymptom des SHT ist die Bewusstseinsstörung durch Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns. Sie beruht auf einer primären Schädigung durch Gewalteinwirkung am Unfallort. Dieser irreversible Schaden entsteht durch direkte mechanische Einwirkung auf die Neuronen und Axone, Gefäßzerreißungen und Auslösung einer Kaskade pathobiochemischer Prozesse, die sich von denen der Ischämie anderer Genese nicht grundlegend unterscheiden. Das Ausmaß der sekundären Schädigung kann therapeutisch beeinflusst werden: Das traumatisch geschädigte, ischämische Hirnareal ist von einer partiell ischämischen Zone, der Paenumbra, die über Kollateralen perfundiert wird, umgeben. Die Paenumbra besteht aus reversibel geschädigtem Hirngewebe, dessen Ausmaß die endgültige Gewebezerstörung entscheidend bestimmt. Der reversible Funktionsverlust in der Paenumbra kann durch Hypotonie und Hypoxie in einen irreversiblen Strukturverlust mit Zelluntergang übergehen, sodass sich die Prognose des Verletzten maßgeblich verschlechtert. 4 Hypotonie ist definiert als systolischer Blutdruck <90 mm Hg, 4 Hypoxie als arterieller Sauerstoffpartialdruck <60 mm Hg. i Die konsequente Korrektur der Hypotonie und der Hypoxie eines Patienten mit SHT ist vorrangiges Ziel der Versorgung vom Zeitpunkt des Traumas bis zur Entlassung von der Intensivstation.
Ein weiterer Sekundärschaden ist die zerebrale Ischämie. Die Hirndurchblutung ist in den ersten 6 h nach schwerem SHT vermindert und steigt in den folgenden 18 h wieder an. Auf diese postischämische Hyperperfusion folgt die ‒ möglicherweise durch Endothelinausschüttung bewirkte ‒ sekundäre Hypoperfusion. Bei 1/3 der Patienten bleibt die Durchblutung unterhalb der Ischämieschwelle. Der Zusammenhang zwischen CBF/CBV und ICP ist beim SHT weniger deutlich als im gesunden Gehirn. Zerebrale Hyperämie ohne intrakranielle Hypertonie geht mit einer relativ günstigen Prognose einher; sind CBF und ICP erhöht, ist die Prognose weniger gut [25]. Die zerebrale Ischämie tritt unabhängig von Hypotonie, Hypoxie oder Hypokapnie auf und verschlechtert die Prognose des Patienten erheblich.
Mehr als 90% der Patienten mit schwerem SHT werden nach Primärdiagnostik und -versorgung direkt vom Schockraum auf die Intensivstation übernommen. Patienten mit offenem SHT, Impressionsfraktur oder einer operationspflichtigen epi- oder subduralen Blutung werden postoperativ auf die Intensivstation verbracht. Bis ein verunfallter Patient die Intensivstation erreicht, können mehrere Stunden vergangen sein. ! Cave Auch auf der Intensivstation ist die Anzahl der registrierten Sekundärschäden trotz optimaler Überwachung und der Möglichkeit zum sofortigen Eingreifen hoch.
An 124 Patienten mit SHT wurde die Häufigkeit von Komplikationen erfasst: Hypoxämie, Hypotonie, Anämie, Hypo- oder Hyperkapnie, Fieber, Hyponaträmie, Hypo- oder Hyperglykämie, intrakranielle Hämatome und Infektionen, Vasospasmus, Krampfanfälle und ICP-Anstieg [22]. Je nach Abweichung dieser Parameter von den Normwerten wurde das Ereignis einem von 3 Schweregraden zugeordnet. Für die Hypotonie war ein Absinken des arteriellen Mitteldrucks auf höchstens 70 mm Hg ein leichtes, auf höchstens 55 mm Hg ein mittelschweres und auf höchstens 40 mm Hg ein schweres Ereignis, wenn der Wert mindestens 5 min lang registriert wurde. Insgesamt 91% aller Patienten erlitten mindestens ein Ereignis während ihres Aufenthalts auf der Intensivstation (. Tab. 78.3). Die Versorgung des Patienten mit schwerem SHT stellt erhebliche Anforderungen an das Pflegepersonal und die Ärzte; nicht zuletzt steigt durch das erweiterte Monitoring die Anzahl der zu überwachenden und zu protokollierenden Variablen. Patienten mit schwerem SHT müssen für die Zeit der Erhöhung des ICP sediert und maschinell beatmet werden. Zur Sedierung eignen sich Benzodiazepine oder Propofol in Kombination mit einem Opioid. Die Beatmung (volumen- oder druckkontrolliert) wird mit möglichst niedrigem Mittel- und Spitzendruck durchgeführt (7 s. oben). Eine routinemäßige Relaxierung kann nicht empfohlen werden, u. a. wegen der erhöhten Pneumoniegefahr und der Verlängerung des stationären Aufenthalts [19].
Kontrollparameter Neben der täglichen allgemeinen und neurologischen Untersuchung werden mindestens einmal täglich die wichtigsten Labor-
1023 78.2 · Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
werte einschließlich Laktat (arteriell und venös, ggf. zerebrovenös), der kolloidosmotische Druck und die Serumosmolarität bestimmt. Bei Verdacht auf Infektion wird der Liquor laborchemisch und mikrobiologisch untersucht. Blutgase und Blutzucker werden 4- bis 6-stündlich überwacht. Apparativ werden neben den üblichen Parametern (EKG, arterieller Blutdruck, arterielle O2-Sättigung, Temperatur, Urinausscheidung, zentraler Venendruck) der endexspiratorische CO2Partialdruck, ggf. der ICP, der CPP und die zerebrovenöse O2-Sättigung (alternativ der Sauerstoffpartialdruck im Hirngewebe, pTiO2) überwacht sowie bei entsprechender Fragestellung (u. a. Barbituratkoma, Prognose) das EEG und die SSEP abgeleitet. Kranielle Computertomographien (CCT) und Röntgenuntersuchungen des Thorax werden nach einem festen Schema (CCT-Follow-up nach 24 und 72 h sowie nach 7 Tagen) und bei Bedarf durchgeführt. Eine Septikämie tritt nach SHT häufig auf, die Letalität ist hoch. Weitere Komplikationen sind die tiefe Phlebothrombose mit der Gefahr der Lungenembolie und die Verbrauchskoagulopathie, ausgelöst durch thromboplastisches Material aus dem Hirngewebe. Nach offenem SHT besteht die Gefahr einer Meningitis; die prophylaktische Antibiotikagabe wird allerdings kontrovers beurteilt. Patienten mit schwerem SHT haben höhere Blutzuckerwerte als Patienten mit mittelschwerem SHT, was sich auf die Prognose nachteilig auswirkt [29]. Die Blutzuckersteuerung mit Insulin bedarf der engmaschigen Überwachung, weil eine zerebrale Hypoglykämie vermieden werden muss. Die Aufnahme der Glukose in die Hirnzellen erfolgt insulinunabhängig. Die Glukose, die infolge der Insulinverabreichung systemisch intrazellulär aufgenommen wird, steht dem Gehirn dann nicht mehr zur Verfügung. Diese unerwünschte Wirkung lässt sich durch Mikrodialyse im Einzelfall nachweisen [59]. Das SHT prädisponiert zur Entwicklung von Stressulzera, deren Inzidenz durch die prophylaktische Gabe von Sucralfat und/oder H2-Rezeptorenblockern vermindert wird.
Steuerung des zerebralen Per fusionsdrucks Wesentliches Ziel der Intensivtherapie ist die Stabilisierung des CPP auf Werte ≥60 mm Hg. Dieses Ziel wird durch Anpassung der Hämodynamik und der Beatmung sowie durch Anwendung ICP-orientierter Maßnahmen erreicht (. Abb. 78.8). Zielgrößen und therapeutische Interventionsgrenzen der CPP-Steuerung sind ein ICP <20–25 mmHg und ein arterieller Mitteldruck (MAP) von ca. 80‒90 mmHg. Die weitere Steigerung des CPP durch induzierte arterielle Hypertonie ist eine Therapieoption der 2. Wahl. Die medikamentöse Anhebung des CPP auf >70 mm Hg erhöht das Risiko eines ARDS [63]. Die Indikation zur Messung des ICP ist bei komatösen Patienten (GCS d8) mit pathologischem CCT-Befund gegeben [63]. Pathologische Befunde im Sinne dieser Empfehlung sind Hämatome, Kontusionen, Hirnödem oder verstrichene Basalzisternen. Bei GCS d8 und unauffälligen CCT-Befund ist die Indikation dann gegeben, wenn zwei der drei folgenden Voraussetzungen gegeben sind: 4 Alter >40 Jahre, 4 systolischer Blutdruck <90 mm Hg, 4 Beuge-Streck-Synergismen.
Kreislaufsteuerung Das Behandlungskonzept beruht auf der Annahme, dass eine Optimierung der zerebralen Perfusion unter Senkung des in-
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trakraniellen Drucks und Aufrechterhaltung der allgemeinen Körperhomöostase die neurologische Erholung der Patienten verbessert. Derzeit sind 2 Konzepte zur Optimierung der Hirndurchblutung in der Diskussion (eine Bestätigung der Wirksamkeit dieser Konzepte durch größere kontrollierte Studien im Hinblick auf das neurologische Ergebnis steht noch aus): CPP-orientiertes Behandlungsprinzip. Dem Behandlungskonzept liegt die Hypothese zugrunde, dass bei Patienten mit schwerem SHT die Autoregulationskurve der Hirndurchblutung wegen eines höheren zerebrovaskulären Widerstands zu höheren Werten hin verschoben ist. Primäres Behandlungsziel ist die Anhebung des CPP – insbesondere während intrakranieller Druckkrisen – auf übernormale Werte. Dies wird durch großzügige Gabe von Volumenersatzmitteln und Katecholaminen erreicht. Alle Patienten werden wegen der Gefahr des Abfalls des zerebralen Perfusionsdrucks flach gelagert [40]. Bei einer Gruppe von 158 Patienten mit schwerem SHT wurde eine gute neurologische Erholung bei 59% der Patienten erreicht, 29% starben, 2% überlebten in vegetativem Zustand, 9% schwer behindert. Aus dem Vergleich mit historischen Kontrollen wurde auf eine Überlegenheit des Behandlungskonzepts geschlossen [40]. Vergleicht man die Ergebnisse jedoch mit Studien aus den 1990er-Jahren, entsprechen die erzielten Ergebnisse durchaus dem aktuellen Standard (60% aller Patienten mit schwerem SHT – initialer GCS d8 – überleben in neurologisch gutem Zustand, 40% sterben oder überleben mit schweren Behinderungen). Hydrostatisch-osmotisches Behandlungsprinzip (Lund-Konzept). Diesem Behandlungskonzept liegt die Hypothese zugrunde,
dass die treibende Kraft der posttraumatischen Ödementstehung der hydrostatische und der kolloidosmotische Druckgradient zwischen Extrazellulärraum und Hirnzelle ist [2]. Nach diesen Überlegungen sollte zum Ausgleich dieser Druckdifferenz der kolloidosmotische Druck hoch und der kapilläre Druck im Extrazellulärraum niedrig gehalten werden. Um dies zu erreichen, wird der Blutdruck mit Metoprolol und Clonidin gesenkt. Die Patienten erhalten zur Erhöhung des präkapillären Widerstands Dihydroergotamin (DHE). Es wird eine negative Flüssigkeitsbilanz angestrebt, zusätzlich werden kolloidale Lösungen verabreicht. Der intrakranielle Druck wird durch DHE-induzierte venöse Vaskonstriktion gesenkt. Bislang wurden nur wenige Patienten mit schwerem SHT nach diesem Prinzip behandelt. Aus einem Vergleich mit einer historischen Kontrollgruppe (Mortalität 100%!), einer niedrigeren Sterblichkeit in der Untersuchungsgruppe (2 von 11 Patienten) und einem günstigen Verlauf des intrakraniellen Drucks wird auf die Wirksamkeit der Therapie geschlossen [2]. Zwei jüngere retrospektive Analysen zeigten, dass mit diesem Behandlungsprinzip neurologische Ergebnisse erreicht werden können, die mit den besten bisher erzielten vergleichbar sind (Mortalität 13% [33] und 6% [13] Die methodische Qualität beider Studien ist jedoch sehr begrenzt). Das Behandlungsprinzip vernachlässigt allerdings wesentliche Pathomechanismen des posttraumatischen Hirnödems. In mehreren Studien wird der Zusammenhang zwischen erniedrigtem CPP, erhöhtem ICP und einer Abnahme der Hirndurchblutung nachgewiesen. Eine induzierte Hypotonie in dieser Phase kann nachteilig sein. Eine Überlegenheit des Behandlungsprinzips gegenüber konventioneller Behandlung ist nicht durch prospektive Unter-
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
suchungen belegt. Möglicherweise ist das Lund-Konzept für eine Gruppe von Patienten mit intrazerebraler Hyperämie (vermehrtem intrazerebralen Blutvolumen) und defekter Autoregulation nach SHT günstig.
Beatmung Patienten mit schwerem SHT werden primär kontrolliert beatmet. Es wird, unter Beachtung des ICP, eine »Normoventilation auf niedrigem Niveau« angestrebt. i Die Hyperventilation wird nur therapeutisch bei Erhöhung des intrakraniellen Drucks, nicht jedoch prophylaktisch eingesetzt.
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Wenn die Indikation zur Hyperventilation gegeben ist, wird der paCO2 unter Kontrolle des ICP auf 30–35 mm Hg gesenkt. Fällt der intrakranielle Druck ab, wird die Maßnahme zeitlich befristet fortgesetzt. Nach 6–8 h ist die Wirkung der Hyperventilation meist nicht mehr nachweisbar. Die Senkung des paCO2 auf Werte <30 mm Hg durch forcierte Hyperventilation (Therapieoption der 2. Wahl; . Abb. 78.8) ist wegen der Gefahr der zerebralen Ischämie nur unter Überwachung der zerebrovenösen O2-Sättigung angezeigt. Eine svjO2 im Normbereich schließt eine regionale Ischämie jedoch nicht aus. Die Bestimmung der arterio-zerebrovenösen Laktatdifferenz erhöht die Sicherheit, eine Ischämie zu erkennen. ! Cave Der paCO2 darf nur schrittweise zum Ausgangswert zurückkehren, weil die abrupte Beendigung der Hyperventilation ein Rebound-Phänomen mit Anstieg des ICP auslösen kann.
Ernährung Die Ernährungsbehandlung des Patienten mit SHT ist wenig erforscht. Eine Cochrane-Recherche erbrachte bis zum Jahr 2002 lediglich sieben srandomisierte, kontrollierte Studien zu diesem Thema [50]. Folgende Anhaltspunkte lassen sich ableiten [12]:
Stoffwechsel Der Stoffwechsel des Schädel-Hirn-Verletzten unterscheidet sich in der Frühphase und im Verlauf nicht grundsätzlich von dem anderweitig Verletzter; kennzeichnend sind Hypermetabolismus, Proteinkatabolie, Hyperglykämie, Akutphasenreaktion und T-Zell-Suppression durch Freisetzung von Zytokinen. Der Ruheenergieumsatz (REE), bezogen auf den basalen Energieumsatz nach Harris-Benedict, liegt zwischen 100 und 170%, bei weiter Streuung im Einzelfall. Relaxierung, Barbituratsedierung, Hypothermie und E-Rezeptoren-Blockade senken den REE erheblich. Wegen der weiten Streuung des Energieumsatzes ist ein individuelles Monitoring durch indirekte Kalorimetrie empfehlenswert.
Energie- und Proteinzufuhr Für nichtrelaxierte Patienten ist eine Kalorienzufuhr von etwa 140%, für relaxierte (bzw. tief sedierte) Patienten von 100% des Energieumsatzes nach Harris-Benedict geeignet, bei adaptivem Ernährungsaufbau bis zum 7. Tag. Trotz bedarfsgerechter Kalorienzufuhr wird eine ausgeglichene Stickstoffbilanz nicht vor der 3. Krankheitswoche erreicht. Die Zufuhr von mehr als 1,5 g Protein/kg KG/Tag ist wegen der erhöhten Harnstoffbildung nicht angezeigt. Eine Verbesse-
rung der kumulativen Stickstoffbilanz lässt sich durch Verabreichung einer Aminosäurelösung mit erhöhtem Anteil verzweigtkettiger Aminosäuren erzielen. Ob damit jedoch die Überlebensrate gesteigert wird, ist zweifelhaft. Exogen zugeführtes Glutamat bewirkt bei Aufnahme in die Gliazellen deren Schwellung; Glutamat im zerebralen Interstitium stimuliert den NMDA-Rezeptor [27]. Aufgrund dieser Zusammenhänge ist die Gabe glutamatfreier Lösungen ggf. vorteilhaft.
Enterale vs. parenterale Ernährung Eine Reihe von Argumenten spricht für die frühzeitige enterale Ernährung des Schwerverletzten: Reduktion der Katheterkomplikationen, besonders der Infektionen, geringerer personeller und apparativer Überwachungsaufwand sowie geringere Kosten. Die Vermeidung einer Hyperglykämie durch enterale Nährstoffzufuhr und physiologische Insulinstimulation ist ein zusätzlicher Aspekt bei Patienten mit SHT: Der Zusammenhang zwischen Hyperglykämie in der Akutphase und neurologischen Sekundärschäden ist gesichert. (Zur Gefahr der zerbralen Hypoglykämie s. oben). Durch frühzeitige enterale Ernährung (innerhalb der ersten 24 h) nach dem Trauma wird die Infektionsrate gesenkt, bleibt die gastrointestinale Barrierefunktion erhalten und wird u. U. einer Gastroparese vorgebeugt; die gastrale Ernährung über eine PEG-Sonde ist ein etabliertes und mehrheitlich erfolgreiches Verfahren [28]. Alternativ bietet sich die jejunale Ernährung über eine nasojejunale Sonde an oder die Katheterjejunostomie im Falle einer aus anderen Gründen erforderlichen Laparotomie. Auch das endoskopische Vorbringen einer perkutanen Gastrostomiesonde (PEG) in das Duodenum ist im Einzelfall – sofern zumutbar – erfolgreich. Bei dieser Ernährungsform sind die Stickstoffbilanz günstiger, die Infektionsrate niedriger und die Verweildauer auf der Intensivstation kürzer. Trotz vieler Hinweise auf eine günstige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch bestimmte Ernährungsregime war es bisher nicht möglich, deren Bedeutung für die Überlebensrate und das neurologische Ergebnis zu quantifizieren.
78.2.4 Rückenmarkverletzungen Die meisten Patienten, die wegen einer Erkrankung des Rückenmarks intensivtherapeutisch versorgt werden, weisen traumatische Rückenmarkverletzungen auf. Daneben sind Patienten mit spinalen Raumforderungen, Hämatomen und arteriovenösen Malformationen zu behandeln. Bei den zahlenmäßig im Vordergrund stehenden traumatischen Rückenmarkverletzungen hängt die Intensität der intensivmedizinischen Versorgung von der Höhe der Verletzung, dem Alter, der Stabilität der Fraktur und den begleitenden neurologischen Komplikationen ab.
Höhe der Verletzung Es gilt, dass der Zustand umso ernster ist, je kranialer sich die Verletzung befindet. Das Ausmaß der Komplikationen ist bei Halswirbelsäulenverletzten am größten. Bei Patienten mit Rückenmarkverletzungen im thorakalen Bereich sind Komplikationen
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seltener, bei Patienten mit Verletzungen im lumbalen Bereich gar nicht zu erwarten. Zur Feststellung des höchsten ausgefallenen motorischen Segments wird die Funktion der Leitmuskeln klinisch geprüft. Zuordnung der Kennmuskeln zu den spinalen Segmenten 5 C5: M. biceps, M. brachialis (Ellbogenbeugung) 5 C6: Mm. extensor carpi radialis longus et brevis (Handgelenkstreckung) 5 C7: M. triceps (Ellbogenstreckung) 5 C8: M. flexor digitorum profundus (Fingerbeugen) 5 Th1: M. abductor digiti minimi (Kleinfingerabspreizung) 5 L2: M. iliopsoas (Hüftbeugung) 5 L3: M. quadriceps femoris (Kniestreckung) 5 L4: M. tibialis anterior (Sprunggelenkextension) 5 L5: M. extensor hallucis longus (Großzehenstreckung) 5 S1: M. gastrocnemius, M. soleus (Sprunggelenkbeugung)
Sicherung der Atemwege ! Cave Grundsätzlich besteht das Risiko, eine unvollständige Halsmarkverletzung durch Maßnahmen der Atemwegssicherung (Laryngoskopie, Lagerung) zu komplettieren. Die dafür verantwortlichen passiven Gefügeverschiebungen der Halswirbelsäule werden auch durch einen stabilisierenden Kragen nicht sicher verhindert.
Der sicherste Weg, diese Komplikation zu vermeiden, ist die Verwendung eines flexiblen Fiberbronchoskops zur nasotrachealen Intubation unter örtlicher Betäubung [48]. Nur im Fall akuter respiratorischer Insuffizienz und der Nichtverfügbarkeit eines Endoskops sind Alternativverfahren, wie die laryngoskopische Intubation unter manueller In-line-Stabilisierung der Halswirbelsäule oder die »blinde« nasale Intubation, gerechtfertigt.
Atmung, Beatmung Den größten Anteil an der äußeren Atmung hat das Zwerchfell. Der das Diaphragma versorgende N. phrenicus hat seinen Ursprung in den Segmenten C3‒C5; eine Verletzung oberhalb dieses Niveaus beeinträchtigt die Atmung und die Schutzreflexe signifikant. Die Schädigung des N. phrenicus ist eine Ursache der Pneumonie infolge pulmonaler Sekretion und der Unfähigkeit abzuhusten. Die resultierende arterielle Hypoxie ist eine typische Folge der Wirbelsäulenverletzungen. Intensive Lungenpflege und Physiotherapie stellen die Basis der Behandlung dar.
Kreislauf Zum Ausfall der kardialen Rr. accelerantes mit konsekutiver Bradykardie kommt es bei Verletzungen des Hals- und Thorakalmarks oberhalb des Segments Th5. Verletzungen oberhalb des Segments Th10 verursachen über die damit einhergehende sympathische Blockade eine relative Hypovolämie mit Blutdruckabfall. Die Behandlung besteht in der i.v.-Verabreichung von Flüssigkeit. In Abhängigkeit von der Höhe der Verletzung ist der periphere Gefäßwiderstand des Patienten mit Rückenmarkverlet-
78
zung verringert; je nach Verletzungshöhe und intravasalem Volumenstatus kann das Herzzeitvolumen sinken.
Vegetativum Die Unfähigkeit des Patienten mit hoher Querschnittverletzung, seinen Gefäßtonus zu steuern, beeinträchtigt die Temperaturregulation und macht den Organismus partiell wechselwarm. Die Körpertemperatur wird weitgehend von der Raumtemperatur beeinflusst, mit dem Risiko der Hypothermie oder Überwärmung. Zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt sich eine autonome Hyperreflexie als Manifestation viszeraler Stimulation ohne Gegensteuerung. In Abhängigkeit vom Alter der Verletzung sind 2 Komplikationen zu unterscheiden: 4 Spinaler Schock: In der Frühphase der Rückenmarkverletzung kann durch Vasodilatation ein relativer Volumenmangelschock eintreten. Der Patient kann wegen Verlusts der vaskulären Schutzreflexe die akute Diskrepanz zwischen intravasalem Raum und Volumen nicht kompensieren; es tritt eine Hypotonie bis hin zum Schock auf, die der Volumensubstitution bedarf. 4 Deafferenzierung: Auf die nach Querschnittverletzung ausbleibende nervale Stimulation reagiert die Skelettmuskulatur mit Ausbildung zusätzlicher Endplatten. Dies verstärkt die mit der durch Succinylcholin induzierten Depolarisation einhergehende Kaliumfreisetzung aus der Muskelzelle. Diese Komplikation tritt innerhalb von 1–3 Tagen nach der Rückenmarkverletzung auf. Die Überempfindlichkeit gegenüber deporalisierenden Relaxanzien kann bis zu 1 Jahr anhalten. i Wegen des Risikos hyperkaliämisch bedingter Herzrhythmusstörungen werden bei querschnittsgelähmten Patienten ausschließlich nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien angewandt.
Die Behandlung einer medikamentös induzierten Hyperkaliämie umfasst die i.v.-Verabreichung von Kalzium sowie von Glukose und Insulin, im Extremfall die kardiopulmonale Wiederbelebung.
Behandlung Die chirurgische Wiederherstellung zerstörter Leitungsbahnen ist nicht möglich. Indikationen zur Operation sind die Vermeidung von Sekundärschäden und die Stabilisierung von Frakturen. Dem erstgenannten Ziel dienen die Entfernung von Knochensplittern, Bandscheibenfragmenten und Hämatomen aus dem Spinalkanal sowie die Laminektomie [32]. Damit wird die Durchblutungsstörung des Rückenmarks infolge des posttraumatischen Ödems verhindert. Bei der zervikalen und hochthorakalen Paraplegie ist die frühzeitige Tracheotomie angezeigt. Die medikamentöse Therapie in der Akutphase erfolgt mit hochdosierten Kortikosteroiden. Die Wirksamkeit des »NASCIS-Protokolls«, obgleich bescheiden, ist belegt [5]. Verabreicht werden innerhalb von 8 h nach dem Trauma 30 mg Methylprednisolon/kg KG als Bolus, gefolgt von einer Infusion. Bei Behandlungsbeginn innerhalb von 3 h beträgt die Dosis 5,4 mg/kg KG/h über 24 h, bei Beginn innerhalb von >3–8 h wird diese Dosis für 48 h verabreicht. Die Sinnhaftigkeit dieses Therapiekonzeptes ist, gerade in Anbetracht der Nebenwirkungen, allerdings umstritten. Ziele der Intensivtherapie sind die Stabilisierung der Vitalfunktionen und die Absicherung der ersten operativen Phase.
1026
Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
Die für Rückenmarkverletzte zukunftsweisenden Techniken des Organersatzes, der Stammzelltherapie oder der Neurobionik kommen in der Postakutphase zur Anwendung. Diese sowie die vorwiegend orthopädischen und urologischen Sekundäreingriffe sind Domäne der Rehabilitationsmedizin.
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78
XIII
Organtransplantation
79
Behandlung von Organspendern
–1031
80
Intensivtherapie nach Organtransplantation
–1041
79 Behandlung von Organspendern T. Bein
79.1
Hirntodfeststellung
79.1.1 79.1.2 79.1.3 79.1.4 79.1.5 79.1.6
Definition des Hirntodes –1032 Voraussetzungen zur Feststellung des Hirntodes –1032 Untersuchungen zur Feststellung des Hirntodes –1033 Qualifikation der Untersucher –1034 Apparative Zusatzuntersuchungen –1034 Todeszeitpunkt und Dokumentation –1035
79.2
Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
79.2.1 79.2.2 79.2.3
Einleitung –1035 Pathophysiologische Konsequenzen des Hirntodes –1036 Spezielle Kriterien für die Eignung zur Spende –1038
Literatur
–1039
–1032
–1035
1032
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
79.1
Hirntodfeststellung
79.1.1 Definition des Hirntodes > Definition Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten. (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer)
79
Nach Feststellung des Hirntodes ist die Organentnahme zum Zwecke der Transplantation möglich, sofern der Verstorbene zu Lebzeiten eine gültige Willensbekundung vorgenommen hat (z. B. mittels Organspendeausweis) oder – bei Fehlen einer solchen Bekundung – die Verwandten/Angehörigen den bekannten oder mutmaßlichen Willen erklären. Darüber hinaus ergeben sich medizinische (z. B. Malignomerkrankung) und juristische Besonderheiten (bei nicht-natürlicher Todesursache), welche zuvor abgeklärt werden müssen. Die Entscheidung zur Organspende des Verstorbenen gilt als unabdingbare (rechtliche) Voraussetzung zur Organentnahme. Bei Fehlen einer schriftlichen Willensbekundung zu Lebzeiten (z. B. Organspendeausweis) muss für diese Entscheidung unter Einbeziehung der nächsten Verwandten/Angehörigen der mutmaßliche Wille des Verstorbenen ermittelt werden (sog. »erweiterte Zustimmungsregelung« durch das Transplantationsgesetz von 1997; 7 Kap. 80.1.1).
Bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines kompletten Ausfalls der Hirnfunktionen sollte – unter Beachtung der Voraussetzungen ‒ unverzüglich die Hirntoddiagnostik vorgenommen werden. Die behandelnden Ärzte sind verpflichtet, den festgestellten Hirntod eines Patienten der zuständigen Koordinierungsstelle der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) oder dem zuständigen Transplantationszentrum mitzuteilen. Über die medizinische Eignung für oder Kontraindikationen gegen die Organentnahme wird interdisziplinär entschieden. Die Bundesärztekammer hat ‒ entsprechend § 3 Abs. 2 Pkt. 2 Transplantationsgesetz (TPG) – die Verfahrensregeln zur Feststellung des Hirntodes vorgegeben. Die Hirntoddiagnostik ist sowohl an bestimmte klinische Voraussetzungen als auch an eine spezielle Qualifikation der Untersucher geknüpft. 79.1.2 Voraussetzungen zur Feststellung
des Hirntodes Der klinische Verdacht auf das Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen und somit die Bedingungen zur Einleitung entsprechender Untersuchungen sind gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: 4 Akute schwere Hirnschädigung: 4 Primär: direkte traumatische oder nicht-traumatische Hirnschädigung, z. B. Schädel-Hirn-Trauma, Hirnin-
. Abb. 79.1. Hirntodalgorithmus. Algorithmus zum Vorgehen bei schweren Hirnschädigungen, bei denen ein Erlöschen der Hirnfunktionen vermutet wird
farkt, intrazerebrale oder subarachnoidale Blutung, Enzephalitis, Hirntumor, akuter Verschlusshydrozephalus). Bei primärer Hirnschädigung wird zwischen supra- und infratentorieller Läsion unterschieden. 4 Sekundär: Hirnschädigung infolge ausgeprägter hypoxisch-ischämischer Läsion nach Kreislaufstillstand, Intoxikation oder Lungenerkrankung sowie infolge Hypoglykämie. Vor der Feststellung des Hirntodes muss ausgeschlossen werden, dass andere Einflussfaktoren an der bestehenden Hirnstörung beteiligt sind. Zu diesen gehören: Schock/schwere Hypotension (systolischer Blutdruck <80 mm Hg), Intoxikation/Medikamenteneinwirkung, Hypothermie (Körperkerntemperatur <36°C), schwere Störung des Elektrolyt- oder Säure-Basen-Haushalts, endokrinologische oder metabolische Stoffwechselentgleisung. i Die Hirntoddiagnostik darf nur bei Kreislaufstabilität (systolischer Blutdruck ≥80 mm Hg sowie bei ausreichender Körperkerntemperatur (≥36°C) durchgeführt werden.
Für den Intensivmediziner klinisch bedeutsam ist der Ausschluss des Einflusses sedierender oder analgesierender Medikamente, welche im Rahmen der Behandlung (in der Regel kontinuierlich via Perfusor!) verabreicht wurden. In diesen Fällen muss eine Pause von mindestens 24 h zwischen der Beendigung der Analgosedierung und der Hirntoddiagnostik eingehalten werden. i Nach Beendigung einer kontinuierlichen Analgosedierung mit Benzodiazepinen/Opioiden via Perfusor muss mindestens 24 h vor Einleitung der Hirntoddiagnostik gewartet werden, um einen Überhang auszuschließen. Im Zweifel können Konzentrationsbestimmungen dieser Substanzen im Serum durchgeführt werden.
Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die Beobachtungszeit. Sie beträgt bei primärer Hirnschädigung für Erwachsene und Kinder ab dem 3. Lebensjahr 12 h, für Kinder unter 2 Jahren 24 h und für reife Neugeborene (erste 4 Lebenswochen) 72 h; bei sekundärer Hirnschädigung ist für alle Patienten eine Beobachtungsdauer von 72 h gefordert (. Abb. 79.1).
1033 79.1 · Hirntodfeststellung
79.1.3 Untersuchungen zur Feststellung
des Hirntodes Die klinischen Symptome des Ausfalls der Hirnfunktionen wer-
den nach einem von der Bundesärztekammer vorgegebenen Musterprotokollbogen wie im Folgenden dargestellt dokumentiert (abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de). Komanachweis. Fehlen jeglicher Reaktionen, spontaner mimischer Äußerungen und Grimassieren oder Abwehrbewegungen auf Schmerzreize (z. B. kräftiger Druck mit dem Reflexhammerstiel auf Finger- und Fußnägel, Druck auf den oberen Orbitarand, die Kiefergelenke oder das Nasenseptum). ! Cave Bei Störungen der sensiblen Leitungsbahnen (Querschnittslähmung, Guillain-Barré-Syndrom) können die Reaktionen auf Schmerzreize an den Extremitäten fehlen. Bei Gesichtsschädelverletzung kann die Wahrnehmung von Schmerzreizen an den supraorbitalen Nervenaustrittspunkten und an der Nasenschleimhaut beeinträchtigt sein.
Eine besondere, häufig irritierende Ausdrucksform des Hirntodes ist das Auftreten von spontanen oder bei Berührungen ausgelösten ungerichteten Bewegungen der Extremitäten oder des Rumpfes. Es handelt sich um eine Enthemmung spinaler Reflexschablonen durch den Wegfall inhibierender Einflüsse des Gehirns auf das Rückenmark. Auch vegetative Äußerungen (wie Hautrötung, profuses Schwitzen, Tachykardie, plötzlicher Blutdruckanstieg), das Auftreten von Muskeleigen- und Bauchhautreflexen, Beugesynergien und Babinski-Zeichen sind bei bereits eingetretenem Hirntod möglich. Fehlen der Pupillenreaktion. Mittelweite (4 mm) bis weite
(9 mm) Pupillen. Keinerlei Reaktion auf Lichteinfall. Artifizielle Beeinträchtigungen der Pupillenreaktion – wie Trauma der Kornea oder des Bulbus, lokale Anwendung von pupillenwirksamen Substanzen – wie auch vorbestehende Pupillenanomalien sind auszuschließen. Fehlen des okulozephalen Reflexes. Seitdrehungen des Kopfes aus der Mittelposition um 90° führen nicht zu Gegenbewegungen der Bulbi. Auch Bulbusbewegungen nach oben infolge rascher Nackenbeugung fehlen. Bei vermuteter oder nachgewiesener Instabilität der Halswirbelsäule kann eine beideitige kalt-kalorische Vestibularisprüfung (Auslösung von Nystagmus) durchgeführt werden. Fehlen des Kornealreflexes. Das reflektorische Blinzeln bei Berührung der Kornea unterbleibt. Der Kornealreflex weist einen trigeminofazialen Reflexbogen auf, deshalb kann er bei traumabedingter Schädigung der genannten Ner ven ausfallen (z. B. bei Orbita- und Felsenbeinfrakturen). In solchen Fällen ist die Bewertung für die Hirntoddiagnostik nur eingeschränkt möglich. Fehlen des Rachen- und Trachealreflexes. Tiefes, endotracheales
Absaugen führt nicht zur Auslösung eines Hustenreflexes oder zur Würgereaktion. Apnoetest. Der Apnoetest ist ein wesentlicher Hinweis auf die erloschenen Hirnstammfunktionen. Er sollte als letzter Test durch-
79
geführt werden, wenn alle anderen Untersuchungsergebnisse mit der Diagnose des Hirntodes kompatibel sind. Zur Durchführung des Apnoetests wird der Patient zunächst für einige Minuten mit reinem Sauerstoff beatmet, sodass der arterielle Sauerstoffpartialdruck (paO2) auf mindestens 200 mm Hg steigt. Anschließend wird der Patient vom Respirator diskonnektiert, oder es wird eine apnoeische Ventilation mit reinem Sauerstoff vorgenommen. Etwa 5 min nach Beginn des Apnoetests werden die arteriellen Blutgaswerte bestimmt, da nach Maßgabe des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ein paCO2 von t60 mm Hg zur Beurteilung und Dokumentation der Apnoe gefordert ist. In Abhängigkeit von einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion kann sich während der »Wartezeit« bis zur dokumentierten Hyperkapnie eine Desaturation (SaO2<90%) entwickeln. In dieser Situation wird eine kurze Beatmungszeit mit niedrigen Tidalhüben und reinem Sauerstoff empfohlen. Auch weitere Störungen können sich unter Hyperkapnie einstellen (Hypotension, Herzrhythmusstörungen). Bei kritischer Verschlechterung des Zustands unter Hyperkapnie im Rahmen des Apnoetests oder bei anderen Konstellationen, welche die Beurteilung einer möglichen Atemexkursion erschweren, muss der Patient zunächst stabilisiert und die Untersuchung verschoben werden. ! Cave Spinale Automatismen können Atembewegungen vortäuschen. Weitere, ergänzende klinische Untersuchungsmöglichkeiten zum Nachweis ausgefallener Hirnstammfunktionen. Das Feh-
len folgender Reflexe unterstützt die Diagnose »Hirntod«, ist aber weder beweisend noch vorgeschrieben. Es handelt sich um 4 Ausfall des bulbovagalen Reflexes (okulokardialer Reflex): Die Herzfrequenz sinkt nicht bei starkem Druck auf die Bulbi. 4 Ausfall des vestibulookulären Reflexes: Spülung des äußeren Gehörgangs mit etwa 50 ml kalten Wassers (Eiswasser) führt nicht zu einer langsamen, tonischen, ipsiversiven Bulbusbewegung wie bei komatösen Patienten mit intaktem Hirnstamm. Diese Untersuchungen sind – wie auch der Atropin-Test – nicht obligatorisch. Sie können zusätzlich zur Bestätigung der vorgeschriebenen Untersuchungen durchgeführt werden. 4 Atropintest: Bei Ausfall des dorsalen (parasympathischen) Vaguskerns im kaudalen Hirnstamm kommt es nach Injektion von 2,0 mg Atropin nicht zu einer Tachykardie. Zu beachten ist allerdings: Ein Atropin-induzierter Herzfrequenzanstieg schließt den Hirntod aus, umgekehrt jedoch ist ein fehlender Herzfrequenzanstieg kein Beweis für den eingetretenen Hirntod. Aus medizinischer und juristischer Sicht ist nicht nur der Nachweis des Ausfalls der Gesamtfunktion des Gehirns, sondern auch der Nachweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome gefordert. Dies impliziert eine Wiederholung der klinischen Untersuchung nach den oben angegebenen Fristen der Beobachtungszeit. Selbstverständlich dür fen sich in der Zwischenzeit keine Hinweise auf eine noch intakte Hirnfunktion ergeben.
1034
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
79.1.4 Qualifikation der Untersucher
79
»Die beiden den Hirntod feststellenden und dokumentierenden Ärzte müssen über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen.« (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer), eine spezielle Fachrichtung ist hierfür aber nicht vorgeschrieben. Die Ärzte sollen die Untersuchung unabhängig voneinander vornehmen. Sie dürfen im Fall einer Organtransplantation weder an der Entnahme noch an der Übertragung von Organen des Verstorbenen beteiligt sein oder Weisungen eines Arztes unterstehen, der an diesen Maßnahmen beteiligt ist. Die Untersuchungsergebnisse und der Zeitpunkt ihrer Feststellung müssen von den Ärzten unter Angabe der zugrunde liegenden Befunde dokumentiert und anschließend unterschrieben werden. Die Gelegenheit zur Einsichtnahme der Untersuchungsbefunde ist den nächsten Angehörigen sowie anderen nahestehenden Personen zu gewähren. 79.1.5 Apparative Zusatzuntersuchungen Zum Nachweis der Irreversibilität können statt einer zweiten klinischen Untersuchung bestimmte apparative Zusatzuntersuchungen verwendet werden, welche hinsichtlich ihrer Aussagekraft evaluiert wurden. Die vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer akzeptierten Zusatzuntersuchungen sind: das Elektroenzephalogramm (EEG), die multimodal evozierten Potenziale (EVP), die Dopplersonographie und die zerebrale Perfusionsszintigraphie. Die Durchführung einer Zusatzuntersuchung ist ausreichend. Manche Methoden sind jedoch in Handhabung und Bewertung sehr von der individuellen Erfahrung der Untersucher abhängig. Außerdem können bestimmte methodische Schwierigkeiten auftreten, die zu Fehlinterpretationen führen und die Diagnose »Hirntod« in Frage stellen. Daher dürfen untersuchende Ärzte nur diejenigen Methoden verwenden und deren Ergebnisse interpretieren, mit welchen absolute Routine und Vertrautheit besteht und die keine uneindeutigen Befunde zulassen.
Wegen der Problematik der Artefakterzeugung und der Schwierigkeit der Intepretation wird auf vielen Intensivstationen das EEG als apparative Zusatzuntersuchung nicht angewendet. Bei bestimmten Hirnschädigungen (primäre infratentorielle Lokalisation) hat allerdings die EEG-Untersuchung nach wie vor einen hohen Stellenwert. i Im Fall einer primär infratentoriellen Hirnschädigung ist zur Feststellung des Hirntodes der Nachweis eines Nulllinien-EEG oder des zerebralen Kreislaufstillstands erforderlich; nur so kann belegt werden, dass auch die Funktion des Großhirns und nicht nur diejenige des Hirnstamms erloschen ist.
Evozierte Potenziale Akustisch (AEP) oder somatosensibel (SEP) evozierte Potenziale weisen den Vorteil auf, dass sie von Sedativa, Anästhetika und metabolischen Enzephalopathien nicht nennenswert beeinflusst werden. Dennoch sind Durchführung und Interpretation dieser Zusatzuntersuchung abhängig von der Erfahrung des Anwenders. Akustisch evozierte Potenziale (AEP). Die Wellen I und II entstehen im Hörnerv. Ihre Darstellung auf einer oder beiden Seiten belegt die Intaktheit von Innenohr und Hörnerv. Die Wellen III‒V werden im Hirnstamm generiert. Sie verschwinden beim Erlöschen der Hirnstammfunktionen. Das Fehlen der frühen akustisch evozierten Potenziale ist aber kein sicheres Hirntodzeichen, denn eine vorbestehende Taubheit oder eine Läsion des Hörnervs, z. B. infolge einer Felsenbeinquerfraktur oder einer Meningitis, können zum Ausfall geführt haben. Fehlende akustisch evozierte Potenziale mit und ohne Persistenz der Welle I werden auch bei einer Thrombose der A. basilaris beobachtet. Es wird daher bei Nichtdarstellbarkeit der AEP das Vorhandensein einer Voruntersuchung mit noch nachweisbarer Welle I gefordert. Anderenfalls ist der Befund erloschener AEP-Wellen für die Hirntoddiagnostik nicht interpetierbar.
Die standardisierte Ableitung eines Elektroenzephalogramms muss über 30 min einen völligen Ausfall der bioelektrischen Hirnaktivität (sog. Nulllinien-EEG) aufweisen. Der Nachweis der Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls ist somit gegeben. Allerdings können Artefakte im Zeitalter der elektronisch »hochgerüsteten« Intensivstationen – bedingt durch elektronische Signale von Beatmungsgeräten, Alarmsystemen etc. – die Beurteilung des Elektroenzephalogramms beeinträchtigen. Studien haben zudem interindividuelle und sogar intraindividuelle Diskrepanzen bei der (wiederholten) Befundung gezeigt. Die Ableitung ist zeitaufwändig und dauert nicht selten 2 h und mehr.
Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP) des N. medianus. Die Ableitung der SEP nach bilateraler Medianusstimulation ist als Irreversibilitätsnachweis des Hirnfunktionsverlusts bei primär supratentoriellen und sekundären Hirnschädigungen jenseits des 2. Lebensjahres geeignet. Für primär infratentorielle Schädigungen gelten andere Untersuchungsbedingungen (7 s. EEG). Eine Rückenmarkschädigung soll ausgeschlossen sein. Die Medianus-SEP müssen bei der Hirntoddiagnostik grundsätzlich auf beiden Seiten untersucht werden. Beim Hirntod fallen die Komponenten N13 (ableitbar über dem 2. Halswirbelkörper) und der kortikale Primärkomplex bei Fz-Referenz aus. Die Kette der Farfield-Potenziale bricht spätestens nach der Komponente N11/P11 bei extrakranieller Referenz und Ableitung über der sensiblen Hirnrinde ab. Die kortikalen Antworten erlöschen jedoch oft schon vor Eintritt des definitiven Hirntodes. Das Potenzial über dem 7. Halswirbelkörper (N13a) ist üblicherweise vorhanden, kann aber bei einer zusätzlichen Schädigung des Halsmarks fehlen.
! Cave Intoxikationen mit Sedativa (z. B. Barbiturate, Benzodiazepine) oder Succinylcholin können eine elektrozerebrale Stille vortäuschen. Die korrekte, artefaktfreie Ableitung eines Nulllinien-EEG über 30 min ist auf modernen Intensivstationen erheblich erschwert.
i Die Ableitung akustisch oder somatosensibel evozierter Potenziale erfordert Erfahrung in Durchführung und Befundung, darüber hinaus ist diese Untersuchung eher als Verlaufsuntersuchung geeignet, da häufig zur zweifelsfreien Intepretation ein Vorbefund (vor Eintreten des Hirntodes) erforderlich ist.
Elektroenzephalographie (EEG)
79
1035 79.2 · Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
Untersuchung der zerebralen Per fusion Der Stillstand des zerebralen Kreislaufs lässt sich mittels Dopplersonographie nachweisen. Hierfür ist ein arterieller Mitteldruck >80 mm Hg (Erwachsene), bzw. >60 mm Hg (Kinder) erforderlich. Die zerebrale Perfusionsszintigraphie (»single photon emission computer tomography«; SPECT) ist ebenfalls für den Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstands geeignet. Die selektive zerebrale Angiographie wurde »historisch« häufig eingesetzt, wird heute aber aus verschiedenen Gründen (z. B. Kontrastmittelapplikation) nicht mehr empfohlen. Wurde im Rahmen einer diagnostischen zerebralen Perfusionsdarstellung der Zirkulationsstillstand nachgewiesen, ist hierdurch die Irreversibilität ohne weitere Beobachtungszeit festgestellt, sofern die Untersuchungsdauer mindestens 30 min betragen hat. Dopplersonographie. Diese kann in jedem Lebensalter eingesetzt werden, allerdings können bei Kleinkindern die Untersuchungsbedingungen wegen des inkompletten knöchernen Schädels erschwert sein. Sie schließt mindestens die extrakraniellen Aa. carotides internae et vertebrales sowie die transkraniell zu beschallenden Aa. cerebri mediae ein. Bei zerebralem Zirkulationsstillstand wird entweder ein Perfusionsstopp oder ein Pendelfluss dargestellt. Die Qualität auch dieser Untersuchung ist in hohem Maße von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Unklare Ergebnisse sind nur in Zusammenschau mit einem vor dem Hirntod erhobenen Befund ausreichend interpretierbar.
Auch das Verfahren der transkraniellen Dopplersonographie ist sehr stark von der Er fahrung des Untersuchers abhängig. Unter erschwerten Untersuchungsbedingungen (z. B. fehlendes »Knochenfenster«) darf dieser Befund nur dann als sicheres Zeichen des zerebralen Kreislaufstillstands gewertet werden, wenn derselbe Untersucher einen Signalverlust bei zuvor eindeutig ableitbaren intrakraniellen Strömungssignalen dokumentiert hat und an den extrakraniellen Arterien ebenfalls ein zerebraler Kreislaufstillstand nachweisbar ist.
Zerebrale Per fusionsszintigraphie (SPECT). Bei der SPECT werden Radiopharmaka ver wendet, deren diagnostische Sicherheit validiert worden ist (meist: Tc-99m-Hexamethylpropylenaminoxim; HMPAO). Kriterien des Hirntodes sind die fehlende Darstellung der zerebralen Gefäße, der zerebralen Perfusion und der Anreicherung im Hirngewebe. Die Szintigraphie muss in verschiedenen Ansichten und in tomographischer Technik erfolgen. Nach Bolusinjektion des Radiopharmakons werden zunächst die großen kranialen Gefäße von ventral dargestellt, anschließend werden die Gewebedurchblutung mittels statischer Szintigraphien erfasst. Interne Qualitätskontrollen (z. B. Überfprüfung der physiologischen Verteilung des Radiopharmakons in Thorax und Abdomen) tragen zur Qualitätssicherung bei.
Der Zeitpunkt des Hirntods ist unabhängig sowohl vom Zeitpunkt der Beendigung der mechanischen Beatmung/Kreislaufunterstützung als auch vom Zeitpunkt einer späteren Organentnahme. 79.2
Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
79.2.1 Einleitung In den letzten Jahren stieg in Deutschland nach Angaben der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) die Zahl der Organspender stetig; die Angaben von 2006 zeigt . Tabelle 79.1. Dementsprechend wurde die Zahl der Transplantationen gesteigert. Dennoch ergibt sich für die einzelnen Organe weiterhin eine unverändert große oder zunehmende Warteliste, da die Zahl von Patienten mit Organerkrankungen im Endstadium, für welche die Transplantation die einzige erfolgversprechende Therapie bedeutet, weiter steigt. Auch die zunehmende Aktivität im Bereich der Lebendspende (Niere, Teil der Leber) kann dieses Defizit nur begrenzt auffangen. In den letzten Jahren wurde wegen des Spendermangels eine liberalere Einstellung zur Frage der medizinischen Eignung von verstorbenen Patienten für eine Organspende entwickelt. Strenge medizinische Kriterien für die Auswahl hirntoter Spender sind heute weitgehend aufgegeben worden, um wartenden Patienten eine Möglichkeit zur Transplantation zu geben. Dabei wurden in den letzten Jahren zunehmend »marginale« Spenderorgane gewonnen und auch vielfach erfolgreich transplantiert. Auch die Altersgrenze der zur Organspende geeigneten Verstorbenen hat sich deutlich nach oben verschoben: Während man z. B. in den 1980-er Jahren die Obergrenze für eine Leberspende mit 50–55 Jahren angab, wurden in jüngster Vergangenheit gelegentlich auch Lebertransplantationen von über 80-jährigen Spendern durchgeführt. Die Ursachen für den oben beschriebenen Organmangel bestehen zum einen in einer ungenügenden Meldung potenzieller Organspender an die DSO oder die Transplantationszentren. Darüber hinaus besitzt nach wie vor nur ein geringer Teil der Bevölkerung einen Organspendeausweis. Die Erfassung des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen durch die Angehörigen/Verwand-
. Tabelle 79.1. Postmortale Organspenden in Deutschland im Jahr 2006. (Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation) Organe
Transplantationen im Jahr 2006
Aktive Warteliste
Differenz
Niere
2776a
8473
5697
Leber
971a
1610
639
79.1.6 Todeszeitpunkt und Dokumentation
Herz
412
741
329
> Definition
Lunge
253
396
143
Pankreas
141
181
40
Da nach aktueller Rechtsauffassung der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist, entspricht der Abschluss der Diagnosestellung und Dokumentation des Hirntodes dem Todeszeitpunkt des Patienten.
a incl. Lebendspende.
1036
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
ten ist schwierig und emotional belastet. Die Ablehnungsquote durch die Angehörigen/Verwandten wird nach wie vor mit ca. 40% angegeben. 5 Trotz einer leicht steigenden Zahl von Organspenden in Deutschland besteht weiterhin eine unveränderte oder sogar zunehmende Differenz zwischen der Transplantationstätigkeit und der Warteliste schwer kranker Patienten. 5 Das Konzept der Lebendspende ist nur in eingeschränktem Maße in der Lage, dieses Defizit abzubauen. 5 Die mögliche erreichbare Zahl postmortaler Organspender wird derzeit verhindert durch eine unzureichende Meldung von Patienten mit vermutetem oder eingetretenem Hirntod durch die Krankenhäuser sowie durch die hohe Ablehnungsquote durch Angehörige/Verwandte.
79 In diesem Zusammenhang ist die adäquate intensivmedizinische Betreuung hirntoter Patienten von großer Bedeutung. Durch den Eintritt des Hirntodes kann es zu gravierenden pathophysiologischen Veränderungen kommen. Diesen muss durch geeignete Maßnahmen entgegengetreten werden, damit nicht in der Situation des Spendermangels weitere geeignete Organe verloren werden. Die Durchführung der Hirntoddiagnostik und auch die Versorgung des hirntoten Organspenders stellen erhebliche Anforderungen an das Personal einer Intensivstation. Daher sollte unmittelbar nach eingetretenem Hirntod der zuständige Transplantationskoordinator der DSO verständigt werden, damit dieser das Krankenhaus bei der Organspende logistisch und ggf. auch personell unterstützen kann. i Durch einen reibungslosen Ablauf der Organspende mit einer möglichst kurzen Zeitspanne zwischen Eintreten des Hirntodes und Organentnahme lassen sich sekundäre Schädigungen geeigneter Spenderorgane vermeiden.
bis zu 85% aller Organspender auf und ist die häufigste behandlungspflichtige Komplikation. ! Cave Nach Eintritt des Hirntodes entwickelt sich häufig eine ausgeprägte Hypotension. Um sekundäre Organschäden zu vermeiden, sollte ein ausreichender arterieller Mitteldruck ≥70 mm Hg aufrechterhalten werden.
Die Behandlung der Hypotension erfolgt entsprechend dem Konzept des septischen Schocks: Neben ausgiebiger Volumensubstitution ist der Einsatz von Vasopressoren notwendig (Noradrenalin, Dobutamin). Bei unklarem Volumenstatus und/oder hämodynamischer Instabilität kann ein erweitertes hämodynamisches Monitoring sinnvoll sein. Die Echokardiographie erlaubt neben der Abschätzung der kardialen Vorlast auch eine Beurteilung der Inotropie und kann insbesondere bei Traumapatienten einen Perikarderguss als Ursache einer Hypotension ausschließen. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung der Ursache der Hypotension empfiehlt sich auch die Durchführung eines Volumenbelastungstests mit Infusion von 500 ml kristalloider Flüssigkeit innerhalb von 5–10 min. Ein Anstieg des Blutdrucks mit Abnahme der Herzfrequenz lässt einen Volumenmangel als wesentliche Ursache der Hypotension erscheinen. Die großzügige Volumengabe ist die wichtigste Maßnahme zur Kreislaufstabilisierung nach eingetretenem Hirntod. Bleibt hierunter eine Verbesserung der kardiovaskulären Funktion aus, ist die zusätzliche Katecholamintherapie erforderlich.
Zur Volumensubstitution sollten vordringlich kristalloide Infusionen verwendet werden, da kolloidale Volumenersatzmittel eine Vielzahl verschiedener Nebenwirkungen auslösen können und möglicherweise die Nierenfunktion beeinträchtigen.
Herzrhythmusstörungen 79.2.2 Pathophysiologische Konsequenzen
des Hirntodes Das Erlöschen der zerebralen Funktionen resultiert in gravierenden pathophysiologischen Veränderungen, deren Kenntnis die Durchführung gezielter Maßnahmen ermöglicht, um einen hirntoten Organspender bis zur Organentnahme in einem stabilen Zustand zu halten.
Stabilität des kardiovaskuläres Systems Durch den Hirntod werden ausgeprägte Störungen der neurohumoralen Steuerungssysteme induziert. In der Frühphase nach eingetretenem Hirntod finden häufig kurzfristig massive endogene Katecholaminausschüttungen statt, welche fokale myokardiale Nekrosen bis hin zum Infarkt hervorrufen können. In einer späteren Phase manifestiert sich ein »sepsisähnliches« Syndrom mit Freisetzung inflammatorischer Mediatoren und einer entsprechenden Vasoplegie. Zusätzlich kommt es zum Verlust aller zentralen sympathoadrenergen Funktionen. Durch Verlust des peripheren Vasomotorentonus in Verbindung mit einer Reduktion des Herzminutenvolumens droht eine Minderperfusion der Organsysteme. Eine behandlungspflichtige Hypotension tritt bei
Arrhythmien und insbesondere Bradykardien sind mit Eintreten des Hirntodes durch Ausfall der sympathischen und parasympathischen Kreislaufregulation häufig zu beobachten. Dabei muss beachtet werden, dass die Gabe von Atropin durch den Ausfall der parasympathischen Regulationszentren im Hirnstamm keinen Effekt hat. Das Herz eines hirntoten Organspenders ist funktionell denerviert. Klinisch bedeutsame, bradykarde Herzrhythmusstörungen nach eingetretenem Hirntod sind nicht mit Atropin behandelbar. In dieser Situation sind entweder sympathomimetische Substanzen mit direkter Wirkung am Herzen (Adrenalin, Dobutamin) einzusetzen oder es ist – in bedrohlichen Situationen – die Einschwemmung eines passageren Schrittmachers zu erwägen.
Diabetes insipidus Bei etwa 80% der Patienten entwickelt sich nach eingetretenem Hirntod ein zentraler Diabetes inspidus als Konsequenz aus dem Ausfall der hypothalamisch-hypophysären Funktion. Er manifestiert sich durch eine Polyurie, die nachfolgend zu einer
1037 79.2 · Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
hyperosmolaren Dehydratation mit Hypernatriämie führt. Die klinisch oft eindrucksvolle Diagnose eines Diabetes insipidus (Polyurie von 400 ml/h und mehr) kann durch die Bestimmung der Natriumausscheidung im Urin (<20 mmol/l) bestätigt werden. Die Behandlung des Diabetes inspidus erfolgt am einfachsten durch die Gabe von Desmopressin, (Bolus 2–4 Pg, kontinuierlich 0,5–1 Pg/h i.v.). Negative Effekte einer DesmopressinGabe im Hinblick auf die Funktion der Spendernieren wurden nicht nachgewiesen. Sind bereits größere Flüssigkeitsverluste aufgetreten, sollten diese durch Infusion 2,5%iger Glukoselösung oder 0,45%iger NaCl-Lösung ausgeglichen werden. Zur Behandlung der Polyurie im Rahmen eines Diabetes insipidus empfiehlt sich die Gabe von Desmopressin in Kombination mit der Infusion hyposmolarer Lösungen. Bei dieser Mßnahme müssen engmaschige Elektrolytkontrollen (insbesondere Na+ und K+) erfolgen.
Hypothermie Mit Eintreten des Hirntodes kommt es zum vollständigen Verlust der Temperaturregulation, sodass oftmals eine Hypothermie (Körperkerntemperatur <36°C) auftritt. Zusätzlich kann die Substitution von großen Flüssigkeitsvolumina zur Behandlung des Diabetes insipidus diesen Effekt verstärken. Die Hypothermie kann zahlreiche unerwünschte Effekte nach sich ziehen: 4 Kardiale Arrhythmien sowie negativ-inotrope Effekte der Hypothermie können eine Kreislaufinstabilität begünstigen. 4 Eine Koagulopathie kann zu einer klinisch relevanten Blutungsneigung insbesondere bei Traumapatienten führen. 4 Nicht zuletzt kommt es als Folge der Hypothermie zu einer Linksverschiebung der Hämoglobin-O2-Bindungskurve.
79
Dies vermindert die Sauerstoffabgabe von Oxyhämoglobin im Gewebe. Daher sollte auch nach Eintritt des Hirntodes die Normothermie angestrebt werden. Zu diesem Zweck ist der Einsatz konvektiver Luftwärmer wie auch spezieller Infusionswärmer geeignet.
Beatmung Die Beatmungsbehandlung folgt den Grundsätzen des Konzeptes der lungenprotektiven Beatmung: Anwendung kleiner Tidalvolumina von etwa 6 ml/kg KG, Begrenzung des Inspirationsdrucks auf ca. 30 mbar, ausreichend hoher PEEP zur Verhinderung des Alveolarkollapses. Dies gilt besonders, wenn auch die Entnahme der Lungen im Rahmen einer Multiorganspende vorgesehen ist. Hier ist aber darauf zu achten, dass ein (zu) hoch gewählter PEEP eine Hypotension als Folge hoher Beatmungsdrücke induzieren kann, insbesondere wenn gleichzeitig eine Hypovolämie vorliegt. Die frühzeitige Antibiotikagabe (nach Entnahme von Trachealsekret zur mikrobiologischen Analyse) trägt zur Verhinderung einer nosokomialen Pneumonie bei und steigert damit die mögliche Eignung als Spenderorgan.
Blutersatz Die Indikationsstellung zur Transfusion von Blutprodukten richtet sich nach den inzwischen nicht mehr strittigen Grundsätzen einer »restriktiven« Strategie. In der Regel ist ein Transfusionstrigger eines Hb-Wertes <7 g/dl für die Gabe von Erythrozytenkonzentraten ausreichend.
Gerinnungsstörungen Gerinnungsstörungen sind selten, können jedoch im Rahmen des Eintritts des Hirntodes auftreten. Neben einer Verlustkoagulopathie bei traumatisierten Patienten wird eine Verbrauchsko-
. Tabelle 79.2. Ziele der Intensivtherapie des hirntoten Organspenders Parameter
Therapeutisches Ziel
Therapiemöglichkeiten bei Abweichungen von der therapeutischen Zielgröße
Blutdruck
Mittlerer arterieller Druck ≥70 mm Hg
4 Ausgleich eines Volumenmangels bei beatmungsabhängigen Schwankungen der arteriellen Druckkurve 4 Bei Normovolämie: Gabe von Katecholaminen, bevorzugt Dobutamin + Noradrenalin
Diurese
>1,0 ml/kg KG/h
4 Anhebung des arteriellen Mitteldrucks 4 Bei Polyurie: Desmopressin (2–4 µg i.v.)
Natrium
Na+ <155 mol/l
4 Gabe von Na+-freier Flüssigkeit via Magensonde 4 Infusion von 2,5%iger Glukoselösung 4 Gabe von Desmopressin
Oxygenierung
SaO2 ≥90%
4 Erhöhung der FIO2 4 Erhöhung des PEEP 4 Lagerungstherapie, Open-lung-Manöver
Körpertemperatur
≥36,0°C
4 Anwendung eines Infusionswärmers 4 Anwendung konvektiver Luftwärmer
Hämoglobinwert
≥7 g/dl
4 Transfusion von Erythrozytenkonzentraten
Blutzucker
<150 mg/dl
4 Insulin-Perfusor
1038
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
agulopathie bis hin zum Vollbild der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) bei etwa 5% aller Organspender beobach-
tet und pathophysiologisch mit dem Übertritt von zerebralen Gangliosiden in die systemische Zirkulation in Zusammenhang gebracht. Die Substitutionstherapie mit Gerinnungsfaktoren sollte sich primär am klinischen Bild und weniger an Laborparametern orientieren. Gerinnungsstörungen im Rahmen des Eintritts des Hirntodes sind selten. Therapieziel bei Gerinnungsstörungen ist die Kontrolle klinisch relevanter Blutungen, aber nicht die Normalisierung von Laborwerten!
79
Die Substitutionstherapie mit Gerinnungsfaktoren oder gefrorenem Frischplasma erschwert zudem die Beurteilung der Leberfunktion des Spenders, die Indikation sollte insbesondere bei einer geplanten Leberspende sehr streng gestellt werden. Die Ziele der Intensivtherapie des hirntoten Organspenders sind in . Tabelle 79.2 zusammengefasst. 79.2.3 Spezielle Kriterien für die Eignung
zur Spende In Zeiten stagnierender Spenderzahlen und großer Wartelisten gibt es keine allgemein gültigen Kriterien, welche ein Organ als spendeuntauglich charakterisieren. Allgemein gilt, dass eine sorgfältige Anamnese zu erheben ist in Bezug auf frühere Erkrankungen, Auslandsaufenthalte, Drogen-, Alkohol- und Nikotinabusus. Der aktuelle Status der Organe lässt sich durch klinische Untersuchung, Laborkonstellation und bildgebende Verfahren einschätzen. Abgesehen von den meisten Malignomerkrankungen und schwersten systemischen Infektionskrankheiten (Sepsis) lässt sich kein eindeutiges Ausschlusskriterium – auch nicht für das Alter – definieren. Bei eingeschränkten Funktionen zu transplantierender Organe oder einem unklaren Infektionsoder Malignomstatus muss gemeinsam mit dem Koordinator der Deutschen Stiftung Organtransplantation und dem Fachkollegen des Transplantationszentrums entschieden werden. Die erfolgreiche Transplantation von Nieren älterer Spender (>70 Jahre) gilt heute nicht mehr als Einzelfall. Kreatininwerte >2 mg/dl, ein hoher Katecholaminbedarf und eine Oligurie werden von einzelnen Zentren kritisch bewertet, sind aber kein absolutes Ausschlusskriterium. Auch ein seit langem bestehender Diabetes mellitus, ein Hypertonus sowie eine fortgeschrittene Arteriosklerose stellen in vielen Zentren keine absolute Kontraindikation zur Nierenentnahme/-transplantation dar. In diesen Fällen und auch bei hohem Spenderalter geht aber häufig eine histologische Begutachtung der entnommenen Organe der endgültigen Entscheidung über eine Eignung als Transplantat voraus. Die Altersobergrenze für eine Spende der Leber wird im Eurotransplant-Bereich mit 75 Jahren angegeben, wobei Spender über 60 (65) Jahren häufig bereits als »marginale« Spender betrachtet werden. Auch andere Faktoren (Langzeitbeatmung, eine höhere inotrope Medikamentengabe, verlängerte hypotensive Pe-
rioden sowie deutlich erhöhte Transaminasenwerte) können zur Ablehnung führen. Der Grad der Leberverfettung wird als wesentlicher Faktor für eine gute Transplantatfunktion angesehen. Als oberer Grenzwert wird etwa 30% angegeben.
Diabetes mellitus stellt per se keine Kontraindikation zur Leberentnahme dar. Im Zweifelsfall müssen histologische Untersuchungen nach der Organentnahme die Eignung der Leber bestätigen. Bezüglich der Entnahme des Pankreas gelten relativ restriktive Regeln. Die Obergrenze des Alters des Verstorbenen wird mit 50 Jahren angegeben. Dies hängt zum einen mit der Tatsache zusammen, dass im Gegensatz zu Herz oder Leber die Bauchspeicheldrüse kein absolut lebensnotwendiges Organ darstellt, zum anderen ist die Transplantatverlustrate bei über 45-jährigen Spendern erhöht. Ein anamnestisch bestehender Diabetes mellitus verbietet die Entnahme/Transplantation des Pankreas. In zweifelhaften Situationen hilft die Bestimmung des HbA1c-Wertes. Erhöhte Amylasewerte, wie sie bei vielen traumatisierten Patienten gefunden werden, sind keine absolute Kontraindikation zur Pankreastransplantation. Ältere Verstorbene und Patienten mit einem BMI >30 kg KG/m2 sind jedoch auch mögliche Spender für Inselzelltransplantate. Bei beabsichtigter Entnahme des Herzens wird die Altersgrenze des Spenders mit etwa 60 Jahren angegeben. Allerdings sind auch hier die Grenzen fließend, und es kommt im Wesentlichen auf das biologische Alter bzw. die konkrete kardiale Situation des Spenders an. Akzeptiert werden heute auch Spender mit höherer kontinuierlicher Infusion von Katecholaminen, Zustand nach Reanimation, myokardialer Dysfunktion (echokardiographisch bestimmte Ejektionsfraktion von 0,35±0,10) und EKG-Veränderungen (WPW-Syndrom, verlängerte QT-Zeit). Allerdings fordern viele Transplantationszentren die Durchführung einer Koronarangiographie als Kriterium zur Akzeptanz bzw. Ablehnung. Die Realisierung von Lungenentnahmen bei potenziellen Organspendern weist die niedrigste Rate aller in der klinischen Routine transplantierten Organe auf. Wegen der Zunahme von Lungentransplantationskandidaten auf den Wartelisten hat sich die Akzeptanz von »nicht idealen« Spendern aber auch auf diesem Gebiet erhöht. Während im Eurotransplant-Bereich noch eine Altersgrenze von 50 Jahren gilt, geben amerikanische und japanische Autoren deutlich höhere Grenzen an (60 bzw. 65 Jahre). Bei der Lungenspende spielt die Dauer der maschinellen Beatmung wegen der hohen Inzidenz nosokomialer Pneumonien eine erhebliche Rolle. Diese Zeitdauer sollte eine Woche nicht überschreiten.
Radiologisch nachgewiesene Infiltrate sind heute kein absolutes Ausschlusskriterium mehr. Auch bezüglich eines »kritischen« paO2/FIO2-Indexes sind viele Transplantationszentren großzügiger geworden. Auch hier ist im Einzelfall eine Klärung mit der DSO bzw. den Transplantationsteams erforderlich.
1039 Literatur
i Die umfassende, sorgfältige, intensivmedizinische Behandlung des Spenders verbessert nicht nur die Funktion des übetragenen Organs im Empfänger, sondern erhöht auch die Anzahl der pro Spender gewonnenen Organe und hilft somit, den Mangel an Spenderorganen zu reduzieren.
In einer prospektiven Untersuchung wurde in 15 Intensivstationen in Italien die Praxis der Organprotektion bezüglich einer potenziellen Lungenspende untersucht (Mascia et al. 2006). Von 34 Patienten, bei denen der Hirntod festgestellt worden war, waren 23 wegen erhöhten Alters nicht zur Lungenspende geeignet. Nur bei 2 von den verbleibenden 11 Patienten wurden die Lungen entnommen, weil die anderen eine zu schlechte Lungenfunktion hatten (paO2/FIO2 <300). Bei diesen Patienten waren in der Phase während und nach der Hirntodbestimmung keinerlei Recruitmentoder Lagerungsmaßnahmen vorgenommen worden, sodass das organprotektive Regime als »suboptimal« eingeschätzt wurde. In einer retrospektiven Analyse aller in den USA von 2000– 2001 erfassten Organspender wurden die Auswirkungen einer konsequenten Hormonsubstitution (Methylprednisolon, Vasopressin, Trijodthyronin) auf die Stabilität und die Transplantationseignung der Organe ermittelt. Von ca. 10.000 Spendern wurden 701 mit diesem Schema behandelt. Es zeigte sich, dass in dieser Gruppe die Rate der zur Spende geeigneten Organe um 22,5% größer war im Vergleich zur nicht hormonbehandelten Gruppe. Hochgerechnet bedeutete dies, dass durch konsequente Hormonsubstitution ca. 2000 Organe mehr hätten gewonnen werden können (Rosendale et al. 2003). Für eine erfolgreiche Organspende ist aber nicht nur eine gute Intensivtherapie des Spenders erforderlich, sondern auch eine möglichst schnelle und reibungslose Organentnahme nach durchgeführter Hirntoddiagnostik und anschließender Zustimmung durch die Angehörigen. i Je mehr Zeit zwischen Eintreten des Hirntodes und Entnahme der Organe vergeht, umso größer ist die Gefahr sekundärer Schäden primär transplantationsgeeigneter Organe.
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Literatur zu Kap. 79.2 Briceno J, Marchal T, Padillo J, Solorzano G, Pera C (2002) Influence of marginal donors on liver preservation injury. Transplantation 74/4: 522–526 Guesde R, Barrou B, Leblanc I et al. (1998) Administration of desmopressin in brain-dead donors and renal function in kidney recipients. Lancet 352: 1178–1181 Jenkins DH, Reilly PM, Schwab CW (1999) Improving the approach to organ donation: a review. World J Surg 23: 644–649 Mascia L, Bosma K, Pasero D et al. (2006): Ventilatory and hemodynamic management of potential organ donors: an observational survey. Crit Care Med 34: 321–327 : Eindrucksvoller Nachweis, dass durch sorgfältige Beatmungstechnik während der Hirntodphase zusätzliche Organe, v. a. Lungen, zur Spende zu gewinnen sind. Mauer D, Nehammer K, Bösebeck D, Wesslau C (2003) Die organprotektive Intensivtherapie bei postmortalen Organspendern. Intensivmedizin 40: 574–584 Nygaard CE, Townsend RN, Diamond DL (1990) Organ donor management and organ outcome: a 6-year review from a level I trauma center. J Trauma 30: 728–732 Pancreas Advisory Commitee (2002) Eurotransplant Foundation. http//: www.eurotransplant.org Powner DJ, Darby JM (2000) Management of variations in blood pressure during care of organ donors. Prog Transplant 10: 25–30 Rosendale J, Kauffman HM, McBride MA et al (2003) Aggressive pharmacologic donor management results in more transplanted organs. Transplantation 75: 482–487 : Klares Konzept zur Optimierung der Funktion von Spenderorganen mit Hochrechnung der potenziellen Steigerung der Transplantationstätigkeit. Totsuka E, Dodson F, Urakami A et al. (1999) Influence of high donor serum sodium levels on early postoperative graft function in human liver transplantation: effect of correction of donor hypernatremia. Liver Transplant Surg 5/5: 421–428
80 Intensivtherapie nach Organtransplantation E.-R. Kuse
80.1
Grundlagen
80.1.1 80.1.2 80.1.3
Das deutsche Transplantationsgesetz –1042 Blick in die Nachbarländer –1042 Spender: Lebendspende oder Hirntod? –1042
80.2
Leber transplantation (OLTx)
80.2.1 80.2.2 80.2.3 80.2.4 80.2.5 80.2.6 80.2.7 80.2.8 80.2.9
Präoperative Vorbereitung –1043 Lebertransplantation, postoperativ –1044 Transplantatfunktion –1044 Infektionen –1045 Abstoßungsreaktionen –1046 Pulmonale Komplikationen –1046 Nierenfunktionsstörungen –1047 Neurologische Komplikationen –1047 Blutungskomplikationen –1047
80.3
Nierentransplantation (NTx)
80.3.1 80.3.2 80.3.3 80.3.4 80.3.5
Präoperative Vorbereitung –1048 Postoperative Überwachung und Therapie –1048 Diagnose und Überwachung –1048 Therapie –1048 Häufige Komplikationennach NTx –1048
80.4
Pankreastransplantation (PTx)
80.4.1 80.4.2 80.4.3
Postoperative Überwachung und Therapie –1049 Standardmedikation nach PTx –1049 Komplikationen –1049
80.5
Herztransplantation (HTx)
80.5.1 80.5.2 80.5.3 80.5.4
Indikationen, Kontraindikationen –1050 Präoperative Vorbereitung –1050 Postoperative Überwachung und Therapie –1050 Komplikationen nach Herztransplantation –1051
80.6
Lungentransplantation (LTx)
80.6.1 80.6.2
Indikationen, Kontraindikationen –1052 Postoperative Überwachung, Therapie und Komplikationen –1053
Literatur
–1042
–1054
–1043
–1047
–1049
–1050
–1052
1042
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
80.1
Grundlagen
80.1.1 Das deutsche Transplantationsgesetz
80
Nach langen Diskussionen bietet das Transplantationsgesetz, das seit 01.12.1997 in Kraft ist, Rechtssicherheit. Das Gesetz dient dem Schutz des Spenders und des Empfängers, und es bietet Rechtssicherheit für alle in der Transplantationsmedizin Tätigen. Das Gesetz legt die Rechte und Verpflichtungen der Beteiligten und die Wege der Organspende und -vermittlung fest. Das Gesetz unterscheidet zwischen der Organentnahme bei Lebenden und bei Verstorbenen und legt die Rahmenbedingungen fest. Die Umsetzung der Todesbestimmung soll nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft erfolgen und ist in den Richtlinien der Bundesärztekammer (3. Fortschreibung 1997) festgelegt worden. Die Organentnahme bei toten Organspendern ist nur zulässig, wenn 4 der Organspender in die Organspende eingewilligt hatte (Organspendeausweis oder anderes schriftliches Dokument), 4 der Tod des Organspenders nach oben genannten Richtlinien festgestellt worden ist, 4 der Eingriff von einem Arzt vorgenommen wird. Der Arzt hat den nächsten Angehörigen des Organspenders über die beabsichtigte Organentnahme zu unterrichten. Liegt dem Arzt, der die Organentnahme vornehmen soll, keine Einwilligung und kein Widerspruch des möglichen Organspenders in schriftlicher Form vor, ist dessen nächster Angehöriger zu befragen. Ist auch dem nächsten Angehörigen nichts von einer solchen Erklärung bekannt, so ist die Organentnahme zulässig, wenn der nächste Angehörige der Organentnahme zugestimmt hat. Er hat dabei den mutmaßlichen Willen des möglichen Organspenders zu beachten. Der nächste Angehörige ist nur dann zu einer Entscheidung befugt, wenn er in den letzten 2 Jahren vor dem Tod des möglichen Organspenders zu diesem persönlichen Kontakt hatte. Dem nächsten Angehörigen steht eine volljährige Person gleich, die dem möglichen Organspender bis zu seinem Tode in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahegestanden hat. Die Organentnahme ist unzulässig, wenn die Person, deren Tod festgestellt wurde, der Organspende widersprochen hat. Die Organentnahme und alle mit ihr zusammenhängenden Maßnahmen müssen unter Achtung der Würde des Organspenders erfolgen. Wichtigste Voraussetzung bei der Organentnahme lebender verwandter oder nicht verwandter Spender ist die Einwilligung des Spenders. Diese Person muss volljährig und einwilligungsfähig sein, eine gesundheitliche Gefährdung des Spenders muss ausgeschlossen sein, und es darf kein Organ eines toten Spenders zur Verfügung stehen. Durch ein geeignetes Gremium muss festgestellt werden, dass die Spende freiwillig ist und kein Missbrauch im Sinne von Organhandel vorliegt. Die Spende darf erst erfolgen, wenn Spender und Empfänger sich zur Teilnahme an einer empfohlenen ärztlichen Nachbetreuung bereit erklärt haben. Organübertragungen dürfen nur in Zentren durchgeführt werden, die für diese Operationen zugelassen sind. Die Allokation von Organen toter Spender hat in Zukunft nach den Richtlinien der Bundesärztekammer zu erfolgen, die kurzfristig veröffentlicht werden.
Die Verteilung der Organe muss über eine zentrale Vermittlungsstelle erfolgen, die Regeln der Verteilung müssen dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Erfolgsaussichten und Dringlichkeit sind hier von zentraler Bedeutung. Weitere Aspekte des Transplantationsgesetzes regeln die Aufgabe und Struktur der Vermittlungsstellen, sichern den Datenschutz und die Dokumentation und stellen Straf- und Bußgeldvorschriften bei Zuwiderhandlung auf. 80.1.2 Blick in die Nachbarländer In Österreich, Belgien, Frankreich, Portugal und Schweden gilt die Widerspruchslösung; falls der Verstorbene zu Lebzeiten einer Organspende nicht widersprochen hat und dies aktenkundig ist, gilt er als Organspender. In manchen Ländern können Angehörige Einspruch erheben. In Irland, England, Niederlande, Dänemark und Finnland wird nach der Zustimmungsregelung verfahren. In manchen Ländern berechtigt nur das Vorliegen eines Spendeausweises (enge Zustimmungsregelung) zur Organentnahme; sonst gilt wie in Deutschland die erweiterte Zustimmungsregelung. Dann können auch Angehörige die Einwilligung geben, wenn dies dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht und kein Spendeausweis vorliegt. 80.1.3 Spender: Lebendspende oder Hirntod? Der zentrale Diskussionspunkt vor Verabschiedung des Transplantationsgesetzes umfasste die legalen und ethischen Aspekte des Hirntodkonzepts. Es musste entschieden werden, ob es legal sei, eine Person auf der Basis der Hirntoddiagnose als tot zu erklären. Juristen, Ärzte, Ethiker, Wissenschaftler und Theologen diskutierten die Frage des Lebensendes. Das Konzept des Hirntods ist keine Folge der Transplantationsmedizin, obwohl natürlich die Definition eine wichtige Voraussetzung darstellt. > Definition Hirntod Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer führt aus: Hirntod wird definiert als Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen HerzKreislauf-Situation.
Auch die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in ihrer gemeinsamen Erklärung Stellung bezogen und den Hirntod als Tod des Menschen festgeschrieben. Weiter wird gefordert, dass eine mögliche Organspende die Therapie oder den Einsatz, das Leben des Patienten zu retten, nicht einschränken darf. Der Tod des Spenders muss vor einer Organentnahme zweifelsfrei feststehen, und die gesetzlichen Vorgaben müssen erfüllt sein. Während in Skandinavien 30–50% der Nierentransplantationen mit verwandten oder nichtverwandten Lebendspendern durchgeführt werden, liegt die Zahl in Deutschland in den meisten Zentren unter 8%. Diskussionswürdig bleibt, ob es ethisch vertretbar ist, die Lebendspende zu propagieren, solange nicht alle Möglichkeiten der postmortalen Organspende ausgeschöpft sind. Die Vor- und Nachteile sind in . Tabelle 80.1 aufgeführt.
1043 80.2 · Lebertransplantation (OLTx)
80
. Tabelle 80.1. Vor- und Nachteile der Lebendspende Vorteile
Nachteile
Empfänger
4 Verkürzte Wartezeit 4 Elektive Operation 4 Bessere Ergebnisse
4 Mortalität und Morbidität des Spenders 4 Vermehrte psychologische Probleme beim Auftreten von Komplikationen 4 Abhängigkeit vom Spender
Spender
4 Freie Entscheidung zur Hilfe 4 Verbesserung der familiären Situation im Umgang mit der chronischen Krankheit
4 Physische Einschränkung und Schmerzen durch Operationstrauma 4 Möglicherweise langdauernde medizinische Probleme 4 Psychologische Komplikationen
Versicherung
4 Kostengünstiger als Dialyse oder Post-mortem-Spende
4 Mögliche medizinische Behandlung bei Komplikationen
Ärzte
4 4 4 4 4
4 Operation eines Gesunden 4 Gegebenenfalls Einschränkungen des körperlichen und/oder seelischen Wohlbefindens
Verkürzte Wartezeit Weniger dialyseassoziierte Probleme Elektive Operation Bessere Organqualität Reduzierte Warteliste
Das Risiko für den Spender ist abhängig vom gespendeten Organ. Während bei einer Nephrektomie nur ein geringes Risiko für perioperative oder postoperative Komplikationen besteht, ist das Risiko bei Leberlebendspenden größer: Nachblutung, Galleleck und ggf. eine passagere Einschränkung der Leberfunktion mit all ihren Konsequenzen. Wenn nach vorsichtiger Evaluation eine Einigung für eine geplante Lebendspende erreicht wird, muss dem Aspekt der Freiwilligkeit nachgegangen werden. Die Einzelheiten der Hirntoddiagnostik werden in 7 Kap. 79 dargestellt. 80.2
Leber transplantation (OLTx)
80.2.1 Präoperative Vorbereitung Bei der Vorbereitung des zur Lebertransplantation vorgesehenen Patienten ist zwischen elektiven und notfallmäßigen Transplantationen zu unterscheiden. Kontraindikationen der Lebertransplantation 5 Absolute Kontraindikationen – Manifeste Infektionserkrankung, bei denen die Leber nicht den Fokus darstellt – HIV (mit Aids) – Extrahepatische maligne Erkrankung – Aktive Psychose – Alkohol- oder Drogenmissbrauch 5 Relative Kontraindikationen – Cholangiozelluläres Karzinom – Multiorganversagen ohne akuten Leberausfall als Grunderkrankung – Hepatopulmonales Syndrom mit hohem Shuntanteil
Die Vorbereitung des Patienten für eine elektive Transplantation dient in der Regel dem Ausschluss akut eingetretener Kontraindikationen. Zu diesen zählen manifeste Infektionserkrankungen. An die spontane bakterielle Peritonitis des Zirrhotikers, die bei diesen Patienten im Erkrankungsverlauf mit einer Inzidenz von rund 30% auftritt, muss immer gedacht werden. Die präoperative Procalcitoninbestimmung wäre aus diesem Grund wünschenswert, scheitert jedoch meist an der knappen Vorbereitungszeit. Alternativ ermöglicht die Bestimmung des C-reaktiven Proteins eine grobe Einschätzung, allerdings muss dabei die Grunderkrankung (z. B. primär sklerosierende Cholangitis, Caroli-Syndrom) berücksichtigt werden, um nicht aus der Indikation eine Kontraindikation werden zu lassen. Bei Patienten mit postinfektiöser Leberzirrhose muss immer der Status der Hepatitis-B-Serologie bekannt sein, da einige Patienten zum Zeitpunkt der Transplantation HbsAg-negativ sind – die 10.000 IE des Anti-Hepatitis-B-IgG (Hepatect), das in der anhepatischen Phase gegeben wird, kosten ca. 6500 Euro. Die präoperative Plasmapherese zur Verbesserung der Gerinnung wird nicht mehr praktiziert. Dies gilt aus Zeitgründen auch für die antegrade Darmspülung, da sich der »Erfolg« häufig erst/noch während der Operation eingestellt hat. Die weiteren präoperativen Vorbereitungen und Laboruntersuchungen entsprechen denen anderer großer abdominalchirurgischer Eingriffe.
Intensivtherapie bei Leberkoma Die Vorbereitung des Komapatienten oder des bereits Transplantierten mit Transplantatversagen erfolgt nach den Richtlinien der Behandlung des Leberversagens. Je nach Grad der Leberinsuffizienz kann die intensivmedizinische Vorbereitung umfassen: 4 Beatmung, 4 Dialyse oder Hämofiltration (hepatorenales Syndrom), 4 Hirndruckbehandlung, 4 Blutdruckstabilisierung (niedriger SVR), 4 Gerinnungssubstitution, 4 Infektionsbehandlung,
1044
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
4 Behandlung gastrointestinaler Blutungen, 4 Abführmaßnahmen und Darmdekontamination (NH3-Reduktion), 4 vollständige parenterale Ernährung, 4 Korrektur des Wasser- und Elektrolythaushalts. Beim Patienten mit akutem Leberversagen sollte nach Möglichkeit eine Hirndrucksonde eingesetzt werden. Akzeptierte Mindestvoraussetzungen dafür sind: Quick t50%, PTT d50 s und Thrombozytenzahl t50.000/Pl (Merke: »50–50–50«). Das Komastadium IV, verbunden mit einem Nulllinien-EEG, stellt keine Kontraindikation dar, da die EEG-Veränderung enzephalopathischer Genese sein kann.
80
Der Anteil der transplantierten Komapatienten beträgt durchschnittlich 3% im Eurotransplantbereich, der Anteil aller durch HU-Meldung (»high urgency«, höchste Dringlichkeitsstufe) Lebertransplantierter beträgt pro Jahr rund 15%. Die 1-Jahres-Überlebensrate bei elektiver Transplantation liegt gegenwärtig zwischen 80 und 90%, für notfallmäßig durchgeführte Transplantationen zwischen 60 und 70%. 80.2.2 Leber transplantation, postoperativ Jeder Lebertransplantierte bedarf einer postoperativen Intensivtherapie. Die Nachbeatmung ist nicht zwingend erforderlich; bei nicht dystrophen Patienten (typischerweise Tumorpatienten) und offensichtlich guter Transplantatfunktion kann die Extubation zum Ende der Operation erfolgen. Die Dauer der Intensivtherapie ist abhängig von den intraund postoperativen Komplikationen. Elektiv Transplantierte mit guter initialer Transplantatfunktion sind in der Regel während der ersten 6 h postoperativ extubierbar und bedürfen selten einer Intensivtherapie von mehr als 3 Tagen Dauer. Leider trifft dies jedoch selten für mehr als 40% der Patienten nach OLTx zu.
ve arterielle Thrombose des Transplantats führt fast immer zum Transplantatverlust.
Thrombozytenersatz Hier wird folgendermaßen verfahren: Ohne Blutung bei <20.000/Pl, bei chirurgischen Blutungen Ersatz zwischen 20.000 und 50.000/Pl. Da die meisten OLTx-Patienten unter einem Hypersplenismus leiden, sollte in jedem Fall die 1-h-Recovery ermittelt werden, um die Wirksamkeit der Thrombozytentransfusion zu bestimmen.
Ernährung Der Energiebedarf nach OLTx liegt während der ersten 14 Tage zwischen 30 und 34 kcal/kg KG/Tag. Die parenterale Ernährung beginnt am 1. postoperativen Tag mit Glukose und Aminosäuren (Hälfte der angestrebten Nonproteinkalorien). Unter Beachtung des Triglyceridspiegels (tägliche Bestimmung) können ab dem 3. postoperativen Tag Fettemulsionen gegeben werden. Das Verhältnis Glukose: Fett sollte zwischen 40 : 60 und 50 : 50 liegen. MCT/LCT-Fettemulsionen ist wegen der geringeren Beeinflussung der RES-Funktion des Transplantats der Vorzug vor reinen LCT-Emulsionen zu geben. Die enterale Ernährung ist frühestmöglich zu beginnen. Nach Möglichkeit sollte schon intraoperativ, unter manueller Kontrolle, eine Dünndarmsonde eingelegt werden [1].
Stressulkusprophylaxe Eine Stressulkusprophylaxe ist immer erforderlich (H2-Antagonist, z. B. 2-mal 50 mg Ranitidin i. v. kombiniert mit 6-mal 1 g Sulcrafat p. o. oder über die Magensonde, alternativ Protonenpumpeninhibitor i.v.).
Antibiotikaprophylaxe Die periopoerative Antibiotikaprophylaxe sollte 24–48 h nicht überschreiten; sie richtet sich nach den individuellen Erfordernissen (Cholangitis bei PSC, abgelaufene spontane Peritonitis beim Zirrhotiker) und den lokalen Keimspektren der einzelnen Intensivstationen. Die selektive Darmdekontamination hat sich beim Lebertransplantierten durchgesetzt und wird in der Regel für 14 Tage beibehalten [2].
Grundzüge der Intensivtherapie
Immunsuppression
Nachbeatmung
Die Immunsuppression erfolgt nach dem »Local-best-Schema«, d. h. nach den Regeln des jeweiligen Zentrums.
Eine Nachbeatmung ist nicht zwingend erforderlich, der PEEP sollte initial nicht höher als 8 mm Hg sein, um den venösen Abfluss aus dem Transplantat nicht zu behindern.
Komplikationen
Volumenersatz Der Volumenersatz erfolgt nach zentralem Venendruck, PAP bzw. PCWP und der Ausprägung des intraoperativen Transplantatödems. Der Volumenersatz erfolgt mit laktatfreien Kristalloiden. Als Ausnahme kann bei hohen Aszitesverlusten der Ersatz von Albumin erforderlich werden.
Postoperative Gerinnungsstörungen Die Indikation zum Einsatz von FFP ist die unzureichende Faktor-V-Synthese bei initialer Dysfunktion des Transplantats. Bei Faktor-V-Werten von >25% ist die FFP-Gabe nicht indiziert. AT III sollte engmaschig bestimmt werden, um Mangelzustände (<60%) kurzfristig ausgleichen zu können; die frühe postoperati-
Häufige Komplikationen des Lebertransplantierten sind: 4 Transplantatdysfunktion oder initiales Transplantatversagen, 4 Infektionserkrankungen, 4 Abstoßungsreaktionen, 4 pulmonale Komplikationen, 4 Nierenfunktionsstörungen, 4 Blutungskomplikationen, 4 neurologische Komplikationen. 80.2.3 Transplantatfunktion Bei der Lebertransplantation scheint der Schlüssel zum Erfolg, neben der Patientenauswahl, in der vorsichtigen Transplantataus-
1045 80.2 · Lebertransplantation (OLTx)
80
wahl und damit in der postoperativen Transplantatfunktion zu liegen. Üblicherweise erfolgt die Beurteilung der Transplantatqualität, neben dem bioptischen Befund und der subjektiven Einschätzung des Entnahmechirurgen, durch die Bestimmung und Kombination der geeigneten Laborparameter.
Weitere Parameter zur Funktionsbeurteilung des Transplantats sind der Verlauf der Laktat- und NH3-Konzentration als metabolische Verlaufsparameter und die Ketonkörperratio (Acetoacetat/3-Hydroxybutyrat) als Maßstab des »energy charge« der Mitochondrien der Hepatozyten [3].
Leberenzyme
80.2.4 Infektionen
Zur Einschätzung des Ischämieschadens eignen sich in hervorragender Weise noch immer GPT (= ALT), GOT (= AST) und GLDH. Die GPT und GOT erreichen bei unkomplizierten Verläufen während der ersten 24–36 h ihr Maximum und fallen während der ersten 10 Tage auf Normalwerte. Die GLDH erreicht oft erst am 2. postoperativen Tag ihr Maximum. Liegt der Anstieg der GLDH deutlich über dem der GPT und GOT, so ist dies immer verdächtig auf eine arterielle Perfusionsstörung, die sofort abgeklärt werden muss. Dies geschieht durch die Duplexsonographie, sofern dies nicht möglich ist, durch Computertomographie oder Angiographie. Ein Anstieg der Leberenzyme bis 1000 U/l ist als akzeptabel und unbedenklich anzusehen. Ein Anstieg auf >2500 U/l bedeutet einen ausgeprägten Ischämieschaden und geht fast immer mit einer deutlichen Funktionseinschränkung des Transplantats einher. Eine Ausnahme bildet die isolierte Perfusionsstörung einzelner Lebersegmente. Diese kann von einer hohen Transaminasenausschüttung ohne Funktionseinschränkung begleitet sein. Die Diagnose wird durch das CT gestellt. Bei Leberenzymausschüttungen von >2500 U/l über mehrere Tage mit deutlicher Funktionseinschränkung sollte die frühe Retransplantation in Betracht gezogen werden. Eine Leberbiopsie zur Bestimmung des Nekroseausmaßes kann die Entscheidung erleichtern.
Bilirubin Die Bestimmung des Bilirubins ist bei der Einschätzung der Primärfunktion wenig hilfreich, ein ausgeprägter Ischämieschaden führt sekundär immer zur Schädigung des Gallengangsepithels und damit zur Hyperbilirubinämie. Eine frühe und erhebliche Hyperbilirubinämie (Bilirubin >300 Pmol/l bzw. >18 mg/dl) bei nur mäßigem Ischämieschaden sollte zum Nachdenken über ein mechanisches Gallengangsproblem anregen und die Gallengangsnekrose (meist arterielles Perfusionsproblem) nicht außer Acht lassen.
Gerinnungsparameter Die Bestimmung von Quick-Wert, PTT, Faktor II, Faktor V (besser noch Faktor VII, da kürzere Halbwertszeit) dient nicht nur der Abschätzung des Blutungsrisikos bzw. des Substitutionsbedarfs, sondern erlaubt einen Rückschluss auf die Gerinnungsynthese der transplantierten Leber. Bei initialer Nichtfunktion (INF) des Transplantats liegt die Faktor-V-Konzentration unter 10% und lässt sich auch durch die großzügige Substitution von FFP (2000 ml und mehr/Tag) nur selten auf über 15% anheben. Die Substitution der Faktoren des Prothrombinkomplexes ist in dieser Situation immer erforderlich. Lässt sich der Quick-Wert nur unzureichend beeinflussen, so muss der Faktor VII bestimmt werden (meist nicht Routine).
Weitere Parameter Zur Einschätzung der Glukoneogenese ist während der ersten Stunden die regelmäßige (1- bis 2-stündlich) Blutzuckerbestimmung unerlässlich.
Je nach Zentrum und Selektion der Patienten entwickeln 40–50% der Patienten nach OLTx mindestens eine bakterielle Infektepisode. Die Häufigkeit von Virusinfektionen wird mit rund 30% angegeben. Dabei entfällt auf die Zytomegalievirusinfektion mit über 90% der Hauptanteil. Die zweithäufigste Virusinfektion ist die frühe Erkrankung durch das Herpes-simplex-Virus. Mit der Entwicklung von schweren Pilzinfektionen ist in 12–15% der Fälle zu rechnen [4].
Risikofaktoren Zu den Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung einer schweren bakteriellen oder Pilzinfektion zählen: 4 Retransplantation, 4 Zustand nach totaler Hepatoektomie von >24 h. Infektionen sind nach wie vor die Haupttodesursache nach Lebertransplantation. In unserem eigenen Patientkollektiv lag der Anteil der an Infektkomplikationen gestorbenen Patienten bei 72% der insgesamt gestorbenen Patienten. Dies kann auch Ausdruck einer Überimmunsuppression sein – der Transplantierte stirbt nicht an der Abstoßung, sondern an der Infektion. Ein besonderes Keimspektrum, mit Ausnahme der Pilze, hat sich in diesem Bereich nicht entwickelt. Lediglich bei den mehrfach revidierten Patienten ließen sich in über 50% der Fälle intraabdominelle Enterokokkenkontaminationen nachweisen. Für die perioperative Prophylaxe existiert kein allgemeingültiges Schema, wir bevorzugen Cefotaxim und Metronidazol (für 24 h) in Kombination mit selektiver Darmdekontamination durch Colistinsulfat, kombiniert mit Amphotericin B. Bei Patienten nach mehrfacher Abstoßungsbehandlung und OKT3-Behandlung sollte eine Pneumocystis-carinii-Prophylaxe mittels Pentamidininhalation oder oraler Gabe von Cotrimoxazol durchgeführt werden.
Pilzinfektionen Über 90% der Pilzinfektionen werden durch Candida species verursacht, der Anteil der Aspergillosen liegt bei 3–5%. Mittel der Wahl sind heute in neuen Echinocandine (Capsofungin) oder Triazole (Voricanazol), die sich durch eine deutlich reduzierte Nebenwirkungsrate, speziell in Hinblick auf die Nephrotoxizität, auszeichnen.
Zytomegalievirus Zytomegalieviruserkrankungen sind die häufigsten Viruserkrankungen des OLTx-Patienten; die Inzidenz liegt zwischen 25 und 35%. Es kann sich dabei um eine Reaktivierung wie auch um eine Neuinfektion handeln. Die Diagnose wird bei klinischem Verdacht durch die Bestimmung des Anteils CMV-pp65 (auch als Frühantigen bezeichnet) positiver Zellen (>4 von 400.000 Leukozyten) oder die typischen histopathologischen Veränderungen im Biopsiematerial gestellt.
1046
80
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
Das klinische Bild ist außerordentlich variabel und reicht von Krankheitsgefühl mit Fieber über grippeähnliche Symptome bis zur lebensbedrohlichen CMV-Pneumonie, CMV-Enzephalitits, CMV-Hepatitis oder CMV-Gastritis/-Gastroenteritis. Die Diagnose der so häufig beschriebenen CMV-Pneumonie ist oft nur durch die transbronchiale Lungenbiopsie zu stellen. Wir konnten die Diagnose bei den letzten 1000 OLTx-Patienten nur 5-mal verifizieren. Die Behandlung besteht in der i. v.-Gabe von Ganciclovir, die der Nierenfunktion angepasst werden muss. Beim Ausbleiben des Therapieerfolges muss berücksichtigt werden, dass ganciclovirresistente Wildstämme existieren. Dies erfordert das Umsetzen der Therapie auf Foscarnet-Natrium. Die kombinierte Ganciclovir-Foscarnet-Behandlung zur Primärtherapie wird derzeit untersucht. Die adjuvante, extrem teure, und nicht weniger umstrittene CMV-Hyperimmunglobulingabe scheint keinen entscheidenden zusätzlichen Therapieerfolg zu erbringen. Eine generelle CMV-Prophylaxe mittels Ganciclovir hat sich nicht durchgesetzt. Sie sollte der Risikokonstellation IgGCMV-positiver Spender/IgG-negativer Empfänger vorbehalten bleiben. Die Ganciclovir-Prophylaxe ist der Aciclovir-Prophylaxe überlegen.
Herpes-simplex-Virus Erkrankungen durch das Herpes-simplex-Virus (HSV) sind seltener, aber nicht minder schwer. Es handelt sich meist um Infektionen der Frühphase nach Transplantation, die als Pneumonie oder Enzephalitis auftreten. Durch die i. v.-Therapie mit Aciclovir sind diese gut beherrschbar [7].
Vorgehen bei Infektionsverdacht Grundsätzlich muss beim Auftreten von Infektkomplikationen nach der Transplantation die Reduktion oder das Aussetzen der Immunsuppression erwogen werden. Als Überwachungsparameter hinsichtlich Infektionsverlauf und sich möglicherweise entwickelnder Abstoßungsreaktionen hat sich die Kombination aus täglicher Bestimmung der Procalcitoninserumspiegel und die 3mal wöchentlich entnommene transkutane Aspirationszytologie (transkutane Aspiration von Lebergewebe mittels 25-G-Spinalnadel und Bestimmung aktivierter Lymphozyten) bewährt [8]. 80.2.5 Abstoßungsreaktionen Rund 10–20% aller Patienten nach OLTx entwickeln heute noch, je nach zentrumspezifischem Immunsuppressionsschema, in der Frühphase nach Transplantation eine akute Abstoßungsreaktion. Die Inzidenz dieser Komplikation ist abhängig von dem jeweiligen Immunsuppressionsschema des behandelnden Zentrums. Die Patienten entwickeln primär Fieber, allgemeines Krankheitsgefühl, meist einen Anstieg der GOT; GPT und GLDH und/oder einen Anstieg des Bilirubins. Der Satz »Keine Abstoßung ohne Erhöhung der Leberenzyme« gilt sicher nicht mehr, da die Abstoßung anfangs ohne Transaminasenanstieg verlaufen kann, dann jedoch als biliär betonte Abstoßung mit einem Bilirubinanstieg und Fieber auftritt. ! Cave Sowohl Infektion wie auch Abstoßung können in der Frühphase die gleichen Symptome bieten. Es ist wichtig, frühzeitig die richtige Diagnose zu stellen, da diese Kom-
plikationen in Bezug auf die Immunsuppression ein gegensätzliches Verhalten erfordern. Der typische Zeitpunkt der frühen akuten Abstoßung liegt zwischen dem 5. und 10. Tag nach Transplantation.
Während der ersten 4 Wochen nach Transplantation erlaubt die transkutane Aspirationszytologie, unter Berücksichtigung der Procalcitoninspiegel, eine zuverlässige Diagnosestellung. Alternativ dazu bleibt noch die Möglichkeit der Leberbiopsie, die jedoch mit einer Komplikationsrate von 0,6–1,6% behaftet ist. Abstoßungsreaktionen, die zum frühen Transplantatverlust führen, sind unter den heute üblichen Schemata der Immunsuppression eine Rarität geworden (ca. 0,1–0,3%). Die Behandlung der akuten Abstoßung erfolgt in der Regel mit 500 mg Methylprednisolon (i. v.) an 3 aufeinander folgenden Tagen. Handelt es sich um eine steroidresistente Abstoßung, wird in der Regel von Ciclosporin auf Tacrolimus (Prograf) umgestellt (Zielkonzentration 12–15 ng/ml). Vaskuläre Abstoßungen werden mit OKT3 oder durch Umstellung auf Tacrolimus behandelt. Eine deutliche Senkung der Abstoßungsrate ließ sich durch den primären Einsatz von IL-2-Rezeptor-Antikörpern erreichen. 80.2.6 Pulmonale Komplikationen Die häufigste pulmonale Komplikation nach Lebertransplantation ist die Pneumonie, die mit einer Inzidenz von ca. 10–15% auftritt. Führend sind die bakteriellen Infektionen, gefolgt von Candidainfektionen. Viruspneumonien der Frühphase sind fast immer Erkrankungen durch Herpes simplex. Die Zytomegalieviruspneumonie ist eine seltene Infektion, die erst im späteren Verlauf klinisch in Erscheinung tritt (3–6 Wochen postoperativ). Die Diagnose wird wie bei jedem anderen Intensivpatienten gestellt (bronchoalveoläre Lavage). Bei eindeutigen Infiltraten im Röntgenbild oder CT sollte die Diagnose erzwungen werden, notfalls durch die transbronchiale Biopsie. Bei schwerem Infektionsverlauf ist immer ein Absetzen der Immunsuppression in Betracht zu ziehen. Der rechtsseitige Pleuraerguss tritt regelhaft nach OLTx auf. Therapie der Wahl ist die Punktion zur Entlastung oder die Einlage einer Thoraxdrainage. Eine Entlastung sollte immer erfolgen, da es durch den Erguss zur Ausbildung von Verdrängungsatelektasen kommt und so die Entwicklung einer Pneumonie begünstigt wird. Das hepatopulmonale Syndrom (HPS) als Rechts-linksShunt ist weniger eine Komplikation als vielmehr eine Indikation zur Lebertransplantation. Jedoch bildet sich der Rechts-linksShunt nicht sofort mit der Transplantation zurück. Das HPS ist einer der häufigsten Gründe für postoperative Oxygenierungsstörungen, sofern Infektionen ausgeschlossen sind. Der Anteil der langjährigen Zirrhosepatienten, bei denen mit einem mehr oder weniger ausgeprägten HPS gerechnet werden muss, liegt bei über 40% [9]. Die Entwicklung eines ARDS wird nach Lebertransplantation fast ausschließlich bei den Patienten gesehen, bei denen es initial nicht zur Funktionsaufnahme (INF) des Transplantats kommt, die also funktionell anhepatisch bleiben. Fast alle Patienten, die in dieser Situation bis zur Retransplantation hepatektomiert werden, entwickeln ein ARDS, das allerdings eine gute Rückbildungstendenz hat, sofern die Retransplantation hinsichtlich der Transplantatfunktion erfolgreich ist.
1047 80.3 · Nierentransplantation (NTx)
80.2.7 Nierenfunktionsstörungen Das postoperative Nierenversagen nach OLTx ist eine Komplikation, mit deren Auftreten in ca. 10% der Fälle gerechnet werden muss. Die Inzidenz ist dabei in den verschiedenen Gruppen der Grunderkrankungen unterschiedlich ausgeprägt. Bei Patienten mit einem langjährigen Zirrhoseverlauf finden sich Nierenfunktionsstörungen im Sinne eines hepatorenalen Syndroms häufiger als bei Patienten mit kurzem Krankheitsverlauf. Pathogenetisch wesentliche Faktoren sind eine deutliche arterielle Vasodilatation bei renaler Vasokonstriktion und gleichzeitig vermindertem Intravasalvolumen. Die häufigsten Gründe für das Nierenversagen nach OLTx sind: 4 Hypotension mit sekundärem Tubulusschaden, 4 nephrotoxische Medikationen (Ciclosporin A, Tacrolimus, Amphotericin B, Aminoglykoside etc.), 4 Einsatz von Vasopressoren, 4 Transplantatdysfunktion mit postoperativem hepatorenalem Syndrom. Die Prognose des Nierenversagen nach OLTx ist gut, sofern die Transplantfunktion zufriedenstellend und die Ursache kausal zu beheben ist. Das Nierenversagen ist fast immer reversibel (Ausnahme: Amanita-phalloides-Intoxikation). Die Behandlung entspricht der üblichen Nierenersatztherapie des Intensivpatienten; wir bevorzugen die kontinuierliche venovenöse Hämofiltration. 80.2.8 Neurologische Komplikationen Bei den neurologischen Komplikationen muss zwischen der bleibenden und der passageren zentralen Schädigung unterschieden werden. Zerebrale Komplikationen nach Lebertransplantation werden, je nach Zentrum, mit einer Häufigkeit von 27–90% angegeben. Die Palette der neurologischen Auffälligkeiten reicht dabei vom Durchgangssyndrom bis zur pontinen Myelinolyse oder intrazerebralen Blutung.
Durchgangssyndrom Bei den zeitlich begrenzten neurologischen Störungen steht an erster Stelle das Durchgangssyndrom. Dies ist unabhängig von der Primärfunktion des Transplantats und spricht gut auf Clonidin oder Haloperidol an. Das zentral-anticholinerge Syndrom (ZAS) wird nach Lebertransplantation häufiger gesehen als nach jeder anderen Operation. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um Überlagerung mit enzephalopathischen Veränderungen handelt, die in der Frühphase nach OLTx metabolisch bedingt sind. Die Diagnose ist eine Ausschlussdiagnose. Die früher so häufig beschriebenen Verwirrtheitszustände, die auf Ciclosporin A oder Tacrolimus zurückgeführt wurden, waren sicherlich z. T. durch einen Erklärungsnotstand des Behandelnden bedingt; heute sieht man diese Komplikation seltener. Die Erklärung ist vielleicht auch darin zu sehen, dass die Zielspiegel für Ciclosporin A und Tacrolimus durch Einführung einer Tripel- oder Quadrupelimmunsuppression niedriger angesetzt werden.
80
! Cave Vorsicht ist geboten, wenn Patienten, die zur Immunsuppression mit Tacrolimus eingestellt sind, zur Infektionsbehandlung Chinolone erhalten; dann ist mit schweren Verwirrtheitszuständen zu rechnen. Krampfanfälle unter Ciclosporin A beruhen fast immer auf einer Überdosierung.
Bei protrahierten Verwirrtheitszuständen oder unklarer Bewusstseinseinschränkung empfiehlt sich immer ein Auslassversuch des Ciclosporins oder Tacrolimus, natürlich nur unter Substitution durch Immusuppressiva mit einem anderen Wirkmechanismus. Eine Spiegelabhängigkeit beim Ciclosporin A und Tacrolimus ist häufig, jedoch ist das Aufteten der Neurotoxizität auch bei niedrigen Spiegeln nicht ausgeschlossen. Bei allen unklaren Bewusstseinstrübungen ist der Ausschluss einer zentralen Infektionserkrankung zwingend erforderlich, da es unter der Immunsuppression gehäuft zu Infektionen mit seltenen Erregern kommt (z. B. Kryptokokkenmeningitis).
Hirnblutungen, pontine Myelinolyse Die zentralnervösen Komplikationen, die am häufigsten zu einer permanenten Einschränkung oder zum Tod führen, sind die intrazerebrale Blutung und die pontine Myelinolyse (PML). Zentrale Einblutungen stehen fast immer im Zusammenhang mit schweren Gerinnungsstörungen und damit mit einer eingeschränkten Transplantatfunktion [10, 11]. Die Genese der nach Lebertransplantation gehäuft auftretenden PML ist nicht geklärt, wenngleich der Ausgleich einer vorbestehenden Hyponatriämie als Erklärungsversuch herangezogen wird. In unserem eigenen Patientenkollektiv stellten wir bei 35 von 950 Patienten die Diagnose, ohne die Hypothese der Natriumveränderungen nachweisen zu können. Die einzigen Übereinstimmungen bei diesen Patienten waren: Es erkrankten nur Zirrhosepatienten mit längerer Erkrankungsdauer (kein Tumorpatient, kein Patient mit akutem Leberversagen), bei 32 der 35 Patienten trat die Erkrankung innerhalb der ersten 7 Tage auf, bis auf 3 wiesen alle Transplantate eine ausgezeichnete Funktion auf. Zur vollständigen Erholung ist es nur bei wenigen Patienten gekommen; der größere Teil der Patienten ist entweder gestorben oder pflegebedürftig geblieben. 80.2.9 Blutungskomplikationen Die Blutung nach Lebertransplantation, die zu einer operativen Intervention zwingt, gehört heute beim elektiv Transplantierten zu den seltenen Komplikationen (<10%). Nachblutungen treten etwas häufiger bei Patienten auf, die im akuten Leberversagen transplantiert werden, oder bei den Patienten, deren Transplantat eine initiale Nichtfunktion zeigt. 80.3
Nierentransplantation (NTx)
Die Indikation zur Nierentransplantation ist die terminale Niereninsuffizienz. Die Transplantation der Niere ist die häufigste Transplantation solider Organe. Die 1-Jahres-Überlebensrate liegt heute zwischen 90 und 100% für die Patienten und beträgt 75–90% für die Transplantate. Im Eurotransplantbereich werden
1048
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
. Abb. 80.1a, b. Kombinierte Nieren- und Pankreastransplantation. a Systemischvenöse Drainage (V. iliaca communis. b Venöse Drainage über die Pfortader
80
pro Jahr rund 3000 Nierentransplantationen durchgeführt, davon ca. 1900 in der Bundesrepublik. Die Transplantation erfolgt in die Fossa iliaca unter Anastomosierung der Transplantatgefäße mit den Iliakalgefäßen des Empfängers. Der Ureter des Spenderorgans wird in die Blasenwand implantiert (. Abb. 80.1).
4 dopplersonographische Kontrolle der Transplantatgefäße innerhalb der ersten Stunde postoperativ (die venöse Thrombose ist die häufigste Gefäßkomplikation, dopplersonographisch als arterieller Pendelfluss zu erkennen), 4 genaue Bilanzierung, 4 stündliche ZVD-Messung.
80.3.1 Präoperative Vorbereitung
80.3.4 Therapie
Die Patientenvorbereitung entspricht der allgemeinen präoperativen Vorgehensweise, zusätzlich: 4 Dialyse, falls K+ >5,4 mmol/l oder Zeichen der Überwässerung, 4 Beckenübersichtsaufnahme, falls sich anamnestisch oder bei der körperlichen Untersuchung Hinweise auf eine AVK ergeben (ausgedehnte arterielle Plaques haben schon manche Transplantation verhindert), 4 Ausschluss von Kontraindikationen: Infektionserkrankungen oder maligne Erkrankungen zum Zeitpunkt der geplanten Transplantation.
Die Therapie erfolgt nach folgenden Grundsätzen: 4 Immunsuppression nach dem Local-best-Schema, d. h. in den meisten Fällen auch Prednisolon: regelmäßige Blutzuckerkontrollen (4- bis 6-stündlich) und Kontrolle der Ciclosporin-A-Spiegel (maßgeblich ist der sog. C2-Spiegel, der anfänglich täglich bestimmt wird und zwischen 800 und 1200 ng/ml liegen sollte. Sobald der C2-Spiegel stabil ist nur 3 Bestimmungen/Woche), 4 perioperative Antibiotikaprophylaxe als »single shot«, Ausnahme: positiver bakteriologischer Urinbefund des Spenders, 4 Flüssigkeitsbilanz nach ZVD (+8 bis +12 cm H2O), Ausnahmen: OKT3 zur Immunsuppression sowie kardiale Vorerkrankungen, die eine Volumenbelastung verbieten, 4 Flüssigkeitssubstitution bei initialer Dysfunktion als kaliumfreie Lösung, 4 Ulkusprophylaxe, da Kortikosteroide zur Immunsuppression verwendet werden, 4 oropharyngeale Pilzprophylaxe mit Amphotericin-B-Lutschtabletten oder Nystatin-Suspension, 4 Thromboseprophylaxe unter PTT- bzw. Anti-Xa-Kontrolle.
80.3.2 Postoperative Über wachung und Therapie Nicht jeder Nierentransplantierte bedarf einer Intensivtherapie bzw. -überwachung. Die Indikation ist wie bei anderen postoperativen Patienten zu stellen, jedoch ist die Rate der kardialen Vorerkrankungen in dieser Patientengruppe höher. Ausnahmeindikationen für die Intensivbehandlung können das polyurische Nierenversagen mit einer Diuresemenge von bis zu 40 l/Tag sein, ein ausgeprägter Hypertonus sowie die immunsuppressive Therapie mit OKT3. 80.3.3 Diagnose und Über wachung Folgende Parameter müssen überwacht werden: 4 Vitalparameter, 4 Kaliumkontrolle, 4 Diurese (30% initiale Nichtfunktion durch akute Tubulusnekrose, postoperative Diurese kann auch stimulierte Restdiurese sein),
80.3.5 Häufige Komplikationennach NTx Bei initialer Nichtfunktion der Transplantatniere wird folgendes Vorgehen empfohlen: 4 Ausschluss einer Thrombose der Transplantatgefäße durch Dopplersonographie (. Abb. 80.2), 4 Volumenmangel: ZVD-Kontrolle, ggf. ZVD anheben (+ 8 bis + 12 cm H2O), 4 Ausschluss eines Urinlecks durch Untersuchung (Patient hat Schmerzen) und Sonographie; falls weiterhin unklare
1049 80.4 · Pankreastransplantation (PTx)
80
ker (Typ 1) mit Niereninsuffizienz oder als Einzeltransplantation beim bereits nierentransplantierten Diabetiker. Bei der Operation wird das exokrine Pankreassekret über ein Dünndarmsegment des Spenders, das am Dünndarm des Empfängers anastomosiert wird, enteral drainiert. Die venöse Drainage erfolgt systemisch oder über die Pfortader (. Abb. 80.1). Die unmittelbar präoperative Vorbereitung dieser Patienten gleicht denen zur Nierentransplantation, jedoch wird bei allen Patienten, bevor sie auf eine Transplantationsliste gemeldet werden, eine Koronarangiographie durchgeführt. Im eigenen Patientengut wurde bei 29% der Patienten eine Koronarsklerose festgestellt; 16% hatten sich bereits einer Koronarintervention (Bypassoperation oder PTCA) unterzogen. 80.4.1 Postoperative Über wachung und Therapie
. Abb. 80.2. Registrierung der Dopplersonographie bei venöser Thrombose eines Nierentransplantats. Das Signal zeigt die Flussverhältnisse einer Arterie im Parenchym mit dem typischen diastolischen Fluss
Situation: nuklearmedizinische Untersuchung der Transplantatperfusion und -funktion. Bei initialer Nichtfunktion sollte nach 6–8 Tagen eine Nierenbiopsie zum Ausschluss einer Abstoßungsreaktion durchgeführt werden. Eine Ciclosporin-Toxizität durch zu hohe Spiegel muss vermieden werden (angestrebter »C-2-Spiegel«, Vollblutspiegel 2 h nach p.o.-Einnahme: 800–1200 mg/ml). Bei Verdacht auf Ciclosporin-Toxizität kann die Dosierung erniedrigt und das Medikament mit anderen Immunsuppressiva kombiniert werden.
Urinleck Ursache ist eine Insuffizienz der Blasenanastomose oder eine distale Ureternekrose; die Häufigkeit liegt unter 5%. Die Diagnose wird durch die körperliche, sonographische und/oder nuklearmedizinische Untersuchung gestellt.
Harnverhalt Folgende Ursachen sind möglich: Ureterstenose als chirurgisches Problem, Blasentamponade durch Blutung, extrarenale Nachblutung ins Transplantatlager mit Kompression des Ureters.
Abstoßung 20–30% der Patienten entwickeln während der ersten 30 postoperativen Tage eine Abstoßungsreaktion. Erste Anzeichen sind Diureserückgang und/oder Kreatininanstieg. Die Diagnosestellung erfolgt durch die Transplantatbiopsie [12]. Die perioperative Letalität des Nierentransplantierten liegt unter 1%. Bei den Patienten, die während der ersten 60 Monate nach NTx sterben, sind die 3 häufigsten Todesursachen: kardiovaskuläre Komplikationen (38%), Infektionen (29%) und maligne Erkrankungen (7,8%). 80.4
Pankreastransplantation (PTx)
Die Pankreastransplantation (PTx) erfolgt in der Regel als kombinierte Transplantation des Pankreas und der Niere beim Diabeti-
Patienten nach PTx sind während der ersten 2 postoperativen Tage intensivmedizinisch zu betreuen. Neben der Überwachung der Nierenfunktion (7 Kap. 80.3.3) steht die engmaschige Blutzuckerkontrolle und damit die Überwachung der Pankreasfunktion im Vordergrund. Bei unkomplizierten Verläufen normalisiert sich der Blutzuckerspiegel innerhalb weniger Stunden nach Reperfusion. Jede sekundäre Blutzuckerentgleisung im Sinne einer Hyperglykämie ist ursächlich zu klären, da jeder Funktionsverschlechterung eine Perfusionsstörung zugrunde liegen kann, im schlimmsten Fall eine Transplantatthrombose. Die Einschätzung des durch die Konservierung bedingten Ischämieschadens und die sich dadurch entwickelnde Transplantatpankreatitis erfolgt durch Bestimmung der Serumamylase und -lipase; dies sind jedoch keine Funktionsparameter. Durch die intraabdominelle Lage zwischen den Darmschlingen ist die dopplersonographische Perfusionskontrolle oft nicht möglich. Die Transplantatperfusion kann mittels MRT bestimmt werden, sobald der Patient extubiert und transportfähig ist. 80.4.2 Standardmedikation nach PTx Die Heparinisierung wird sofort postoperativ eingeleitet (aPTT: 40–45 s; obere Normgenze: 32 s), ab dem 3. postoperativen Tag Acetylsalicylsäure 100 mg/Tag. AT III wird regelhaft auf Werte >80% substituiert. Die Infektionsprophylaxe (2 Tage) besteht aus Ceftriaxon 2 g/Tag und Metronidazol 3-mal 500 mg/Tag. Fluconazol wird an die Nierenfunktion angepasst und für 5 Tage gegeben. Alle Patienten erhalten eine Zytomegalievirusprophylaxe (Ganciclovir i. v./ p. o. entsprechend der Nierenfunktion in der Erhaltungsdosierung). Eine Ulkuspropylaxe ist immer erforderlich. Ein einheitliches Schema der Immunsuppression existiert nicht, an unserer Klinik wird derzeit eine Kombination aus Ciclosporin (Zielspiegel 180 ng/ml), IL-2-Rezeptorantikörpern (Basiliximab 20 mg an Tag 0 und 4), Prednisolon (Startdosierung 1 mg/kg KG/Tag, Dosisreduktion bis 7,5 mg/Tag) und Mycophenolatmofetil (2mal 1,5 g/Tag) eingesetzt. 80.4.3 Komplikationen Eine der häufigen Komplikationen ist die venöse Transplantatthrombose [13]. Sie erfordert die sofortige Revision und führt
1050
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
fast immer zum Transplantatverlust, bei inkompletter Venenthrombose kann die Thrombektomie erfolgreich sein. Besteht keine Möglichkeit des Organerhalts, so ist die Pankreatektomie erforderlich, um sekundäre Infektkomplikationen zu vermeiden. Bei der venösen Thrombose handelt es sich meist nicht um ein chirurgisches Problem, sondern um eine Perfusionsstörung durch das ischämiebedingte Ödem des Transplantats. Die Häufigkeit dieser Komplikation liegt nach Angaben des International Pancreas Transplant Registry (n>10.000) bei 5,5% für Transplantationen mit exokriner Drainage über die Blase und bei 11% für Patienten mit enterischer Drainage über ein Dünndarminterponat (die derzeit favorisierte Technik). Andere häufige Komplikationen nach PTx sind [14]: intraabdominelle Infektionen (Inzidenz ca. 10%), intraabdominelle Blutungen (Inzidenz 6–8%) und Leckagen der Blasen- oder Darmanastomose (Inzidenz 5%).
80
80.5
Herztransplantation (HTx)
80.5.1 Indikationen, Kontraindikationen Die Indikation zur Herztransplantation wird bei einer irreversiblen, medikamentös therapierefraktären Herzerkrankung im Endstadium (NYHA III/IV) mit einer geschätzten Lebenserwartung ohne Transplantation von 6–12 Monaten, d. h. bei einer Überlebenswahrscheinlichkeit von <50% für die nächsten 12 Monate, gestellt. Typische Symptome und die hämodynamischen Veränderungen sind in der einer Übersicht dargestellt. Klinische Zeichen der Herzdekompensation (LD Linksherzdekompensation, RD Rechtsherzdekompensation) und typische hämodynamische Veränderungen 5 Klinische Zeichen: – Ruhedyspnoe, die bei geringer körperlicher Belastung zunimmt (LD) – Kaltschweißigkeit (LD) – flacher, schneller Puls (LD) – feuchte Rasselgeräusche (LD) – gestaute Jugularvenen (RD) – Lebervergrößerung und Ikterus (RD) – Aszites und Ödeme (RD) 5 Typische hämodynamische Veränderungen: – Herzindex <2 l/min/m2 – Ejektionsfraktion <25% – linksventrikulärer enddiastolischer Druck (LVEDP) >20 mm Hg – pathologischer pulmonalarterieller Druck – zentralvenöser Druck >15 mm Hg
80.5.2 Präoperative Vorbereitung Akzeptierte Indikationen und Kontraindikationen für eine Herztransplantation zeigt die Übersicht.
Akzeptierte Indikationen und Kontraindikationen für eine Herztransplantation 5 Indikationen: – Maximale O2-Aufnahme von <10 ml/kg KG/min – Einschränkende Ischämie, die eine normale Aktivität unmöglich macht und nicht durch eine Bypassoperation oder Angioplastie therapierbar ist – Therapierefraktäre ventrikuläre Arrhythmien (nach [15]) 5 Kontraindikationen: – Floride Infektionserkrankungen – Fortgeschrittene Leberinsuffizienz (kombinierte Herz- und Lebertransplantation erwägen) – Fortgeschrittene, irreversible Niereninsuffizienz (kombinierte Herz- und Nierentransplantation erwägen) – Akute Lungenembolie – Fixierte pulmonale Hypertonie (PVR >240 dyn u s u cm–5) – Chronische Pankreatitis – Arterielle Verschlusskrankheit (peripher/zentral) im fortgeschrittenen Stadium (III/IV) – Nicht kurativ therapierbare maligne Erkrankungen – Inadäquates psychosoziales Umfeld und eingeschränkte Compliance
Die direkte präoperative Vorbereitung dient der nochmaligen Überprüfung von Kontraindikationen und dem Ausschluss akut aufgetretener Infektionen. Die genannten Kontraindikationen sind zum Zeitpunkt der Einbestellung zur Transplantation bereits abgeklärt; zu diesem Zeitpunkt geht es nur noch darum, Veränderungen oder neu aufgetretene Folgekomplikationen vorbestehender bekannter Erkrankungen zu erfassen. Bei notfallmäßig zugewiesenen Patienten kann es erforderlich sein, zur Überbrückung bis zur Transplantation ein linksventrikuläres oder biventrikuläres Unterstützungssystem zu implantieren. Die Ergebnisse nach Herztransplantation ohne oder mit vorheriger Unterstützungsbehandlung unterscheiden sich in der 30-Tage-Letalität (ca. 11%) nicht. 80.5.3 Postoperative Über wachung und Therapie Die direkte postoperative Überwachung schließt neben der kontinuierlichen Rhythmusüberwachung das invasive Monitoring des systemischen, des pulmonalarteriellen, des linksatrialen und des zentralvenösen Drucks ein, ebenso die kontinuierliche oder diskontinuierliche Bestimmung des Herzindex (HZV/m2) und die Blutgasanalyse. Zu den weiteren Verlaufskontrollen zählen die regelmäßige Echokardiographie und die Thoraxröntgenaufnahme. Die regelmäßige Procalcitoninbestimmung (einmal tgl.) hat sich beim Infektmonitoring durchgesetzt. ! Cave In der frühen postoperativen Phase sind die hämodynamischen Besonderheiten der Herztransplantation durch 2 Probleme gekennzeichnet: 4 das Transplantat ist denerviert, 4 die frühe Transplantatfunktion wird stark durch das Ausmaß von Ischämie- und Reperfusionschaden beeinflusst.
1051 80.5 · Herztransplantation (HTx)
80
Denervierung
Herzrhythmusstörungen
Die Denervierung führt durch den Wegfall der parasympathischen Einflussnahme zu einer erhöhten Ruhefrequenz, meist zwischen 90 und 110/min. Da auch die direkte sympathische Erregung nicht übertragen wird, fehlt die schnelle Belastungsanpassung. Diese erfolgt erst mit einer zeitlichen Verzögerung über die sekundäre Freisetzung der Katcholamine aus der Nebenniere. Es ist zu berücksichtigen, dass Medikamente, die den Sympathikooder Parasympathikotonus beeinflussen (wie z. B. Atropin), keine Wirkung entfalten können. Infolge der Sympathikusdenervierung kommt es zur verstärkten Ausbildung der Rezeptoren mit einer sog. Denervierungshypersensitivität des Transplantats für Katecholamine. Bei allen Patienten werden bereits intraoperativ passagere Schrittmacherkabel für die ersten postoperativen Tage implantiert.
Langsame Sinusknoten- oder AV-Knotenfunktionsstörungen sind nach HTx häufig, der vorübergehende Einsatz eines Schrittmachers ist bei bis zu 27% der Patienten erforderlich, der permanente Schrittmachereinsatz bei bis zu 10% der Patienten. Bei Patienten, die vor dem Eingriff mit Amiodaron behandelt wurden, treten regelmäßig 2–3 Tage nach Herztransplantation Bradykardien auf. Durch Umverteilung kommt es nach einigen Tagen zu einer Anreicherung im Myokard mit Spitzenwerten in der 2. postoperativen Woche. Die medikamentöse Behandlung bradykarder Rhythmusstörungen besteht in Gabe von Orciprenalin (10–30 Pg/min i. v. oder 30–60 mg/Tag p. o.), alternativ kann Theophyllin eingesetzt werden (200–1000 mg/Tag). Ventrikuläre, meist tachykarde Herzrhythmusstörungen haben häufig als Ursache eine fortgeschrittene Transplantatvaskulopathie mit endsprechender myokardialer Ischämie. Die Diagnose wird durch Biopsie geklärt. Supraventrikuläre Tachyarrhythmien sind meist Ausdruck einer Abstoßungsreaktion und nach erfolgreicher Abstoßungsbehandlung nicht mehr nachweisbar [17].
Transplantatischämie Die Transplantatischämie kann zu einer vorübergehenden diastolischen Complianceeinschränkung wie auch zu einer herabgesetzten systolischen Funktion aufgrund einer eingeschränkten Kontraktilität führen. Daher müssen in der frühen postoperativen Phase, selbst bei leicht erhöhten PCWP-Werten, oft inotrope Katecholamine gegeben werden; verwendet werden Dobutamin oder Adrenalin für 3–5 Tage.
Immunsuppression Das am weitesten verbreitete Konzept umfasst eine Basismedikation von Ciclosporin A oder Tacrolimus in Kombination mit Prednisolon und ATG/ALG (initial 3–5 Tage) und Azathioprin oder Mycophenolatmofetil. Die Prednisolondosierung wird in festen zeitlichen Intervallen reduziert, die Ciclosporin- und Tacrolimus-Dosierung orientiert sich an den Blutspiegeln (Zielkonzentration: 200–250 ng/ml für Ciclosporin, 12–15 ng/ml für Tacrolimus; [16]). 80.5.4 Komplikationen nach Herztransplantation
Abstoßung Unterschieden wird zwischen akuter zellulärer und vaskulärer Abstoßung. Abstoßungen sind während der ersten 2 Jahre nach HTx für ca 20% der Todesfälle verantwortlich. Das Abstoßungsrisko ist dabei individuell unterschiedlich und hängt vom Empfängeralter und Geschlecht ab, es ist erhöht bei Kindern <5 Jahren und bei Frauen. Während der ersten 12 Monate nach der Transplantation ist bei rund 40% der Patienten mit mindestens einer Abstoßungsepisode zu rechnen, bei 20% der Patienten wird während dieser Zeit mehr als eine Abstoßung diagnostiziert. Die Diagnose wird nach wie vor anhand einer Myokardbiopsie gestellt. Die Einteilung des Schweregrades erfolgt nach dem histologischen Befund anhand der Klassifizierung der International Society for Heart and Lung Transplantation [18].
Akute zelluläre Abstoßung Rechtsherzversagen Besonderes Augenmerk muss in der Frühphase auf das Monitoring des pulmonalen Gefäßwiderstands gelegt werden, da das Transplantat nicht auf eine erhöhte rechtsventrikuläre Nachlast eingestellt ist und die Gefahr des akuten Rechtsherzversagens besteht. Echokardiographisch manifestiert sich die rechtsventrikuläre Pumpstörung in Verbindung mit einem Abfall des Herzindex unter 2 l/min/m2 und einem pulmonalen Gefäßwiderstand >240 dyn u s u cm-5 bei gleichzeitigem Anstieg des rechtsatrialen Drucks über 15 mm Hg. Die Therapie besteht in der inotropen Unterstützung und Senkung der Nachlast durch Prostaglandinderivate (Epoprostenol) oder NO-Beatmung. Bei fehlender Stabilisierung ist ein rechtsventrikuläres Unterstützungssystem indiziert. Die Symptome Hypotonie, erniedrigtes Herzzeitvolumen, hoher ZVD und prärenales Nierenversagen können in dieser Situation mit einer Perikardtamponade verwechselt werden. Die Differenzialdiagnose erfolgt durch die transösophageale Echokardiographie.
Die mittlere Abstoßungsfrequenz in den ersten 12 Monaten nach HTx liegt bei 1,3±0,7 Episoden. Die klinischen Zeichen der Abstoßung sind Dyspnoe, Knöchelödeme und Herzrhythmusstörungen. Die Behandlung besteht bei leichten Abstoßungen in der Erhöhung der Ciclosporin- oder Tacrolimus-Dosierung und/ oder der Erhöhung der Azathioprin-Dosis. Alle schwereren Abstoßungen werden mittels Methyprednisolon-Stoßtherapie (500–1000 mg/Tag i. v. für 3 Tage) behandelt. Steroidresistente Abstoßungen oder solche, die über den Schweregrad 3 oder 4 hinausgehen, werden mit lymphozytotoxischen Antikörpern wie OKT3 behandelt. Das Behandlungskonzept wird individuell abgestimmt und von den Zentren unterschiedlich festgelegt.
Humorale (vaskuläre) Abstoßung Die humorale Abstoßung tritt seltener auf als die zelluläre, ist aber von einer höheren Mortalität begleitet, da es zu einer sekundären Komplementaktivierung, Vasokonstriktion und Thrombozytenaggregation kommt. Die bioptischen Befunde zeigen eine endotheliale Zellproliferation mit Schwellung; die Ablagerung von Immunglobulinkomplexen ist mittels Immunfluoreszenz nachweisbar. Ausgeprägte humorale Abstoßungen führen zum Transplantatversagen, sodass Katecholamine oder mechanische Unterstüt-
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Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
zungsverfahren eingesetzt werden müssen, ggf. ist die Retransplantation zu erwägen. Die medikamentöse Therapie besteht, neben dem Einsatz von Methylprednisolon und antilymphozytären Antikörpern (OKT3), in der Behandlung mit Cyclophosphamid oder Plasmapherese, um den Spiegel der zirkulierenden präformierten Antikörper zu reduzieren.
Transplantatversagen Das Transplantatversagen in der frühen postoperativen Phase ist eine seltene Komplikation. Es erfordert den Einsatz mechanischer Unterstützungsverfahren und die Entscheidung über die ggf. notwendige Retransplantation. Das Transplantatversagen kann seine Ursache in einer hyperakuten Abstoßung oder Ischämie des Endomyokards aufgrund einer verlängerten Ischämie bis zur Reperfusion haben. Die Differenzierung zwischen Ischämieschaden und hyperakuter Abstoßung wird bioptisch geklärt.
Infektion
80
Frühphase Infektionen in der Frühphase sind bakterielle oder Pilzinfektionen, die als Pneumonie, Katheter- oder Wundinfektion auftreten. Infektionserkrankungen sind nach wie vor eine der Haupttodesursachen nach Herztransplantation. Die Infektionsprophylaxe mittels Antibiotika und Antimykotika ist zentrumsspezifisch. Für die Differenzialdiagnose zwischen Infektion und Abstoßung bei Fieber unklarer Genese (beides geht initial mit den gleichen klinischen Symptomen einher) hat sich die tägliche Überwachung von Procalcitonin bewährt (PCT-Anstieg nur bei Infektion). CRP eignet sich für diese Differenzierung nicht, da es sowohl bei Infektionen wie auch bei Abstoßung ansteigt [19].
Spätphase Infektionserkrankungen im späteren Verlauf (>30 Tage) sind häufig durch Erreger verursacht, die beim Patienten ohne Immunsuppression sehr selten gefunden werden bzw. Infektionserkrankungen verursachen. Typisch sind Zytomegalievirusinfektionen als Neuinfektion oder Reaktivierung. In der Diagnostik hat sich die Bestimmung des CMV-pp65 (»immediate early antigene«, es handelt sich aber nicht um ein Antigen, sondern um ein Protein) durchgesetzt. Bei der Antikörperbestimmung muss berücksichtigt werden, dass Titeranstiege auch durch Transfusionen verursacht sein können. Die Therapie besteht in der Behandlung mit Ganciclovir, angepasst an die Nierenfunktion. Bei ausbleibendem Therapieerfolg wird auf Foscavir umgestellt. Die primäre Kombinationsbehandlung scheint vielversprechend zu sein, ist aber noch nicht abschließend zu beurteilen. Andere Spätinfektionen werden häufig durch Pneumozystis, Listerien, Nocardien, Toxoplasmen oder Legionellen verursacht, ein Grund, der viele Zentren zu einer 6-wöchigen Trimethoprim-Sulfamethoxazol-Prophylaxe veranlasst hat [20].
Nierenversagen Nach Herztransplantation entwickeln 7–12% der Patienten ein Nierenversagen, das mit einem entsprechenden Nierenersatzverfahren behandelt werden muss. Ursächlich liegt dem Nierenversagen eine Kombination aus präoperativ eingeschränkter Nierenfunktion, Ciclosporin-/Tacrolimus-Toxizität, Kreislaufinsuffizienz mit entsprechend reduzierter Nierenperfusion und hochdosierter Katecholaminbehandlung zugrunde.
Bei der Behandlung wird der kontinuierlichen Ersatztherapie (venovenöse Hämofiltration) wegen geringerer kardiozirkulatorischer Nebenwirkungen der Vorzug vor den diskontinuierlichen Verfahren gegeben. Eine der Möglichkeiten, das Risiko des Nierenversagens zu reduzieren, besteht in der einschleichenden Ciclosporin-Dosierung bei Beginn der Immunsuppression, unter Überbrückung der immunsuppressiven Lücke mit IL-2-Rezeptor-Antikörpern, ALG oder ATG [21]. 80.6
Lungentransplantation (LTx)
80.6.1 Indikationen, Kontraindikationen
Indikationen Die Indikation zur Lungentransplantation ist gegeben bei Lungenerkrankungen im Endstadium, die – unter Ausschöpfung aller konservativen Therapieoptionen – eine rasche Progression im Krankheitsverlauf zeigen. Die Lebenserwartung der Patienten ohne Transplantation beträgt bei Indikationsstellung maximal 12–18 Monate. Bei den zugrunde liegenden Erkrankungen wird nach parenchymalen und vaskulären Lungenerkrankungen unterschieden. Den Anteil der jeweiligen Erkrankungen bei 6579 Transplantationen zeigt . Tabelle 80.2 [22].
Kontraindikationen Kontraindikationen für eine Lungentransplantation sind immer dann gegeben, wenn Zusatzerkrankungen oder Folgeerkrankungen vorliegen, die den Transplantationserfolg unwahrscheinlich machen. Kontraindikationen für eine Lungentransplantation 5 Schwere systemische Zusatzerkrankungen 5 Floride systemische Infektionserkrankungen 5 Pulmonale Infektionen mit multiresistenten Pseudomonas-aeruginosa-Stämmen 6
. Tabelle 80.2. Verteilung der Grunderkrankungen bei 6579 Lungentransplantationen (Registry of the International Society of Heart Lung Transplantation 1997) Indikation
Einzellungen [%]
Doppellungen [%]
Emphysem/COLD
44
17
α1-Antitrypsinmangel
12
11
Lungenfibrose
20
7
Zystische Fibrose
1
34
Primäre pulmonale Hypertonie
6
10
Retransplantation
3
3
14
18
Andere
1053 80.6 · Lungentransplantation (LTx)
5 Maligne Erkrankungen 5 Hochdosierte Kortikosteroidmedikation über längere Zeit 5 Patienten ohne Rehabilitationsfähigkeit 5 Extreme Kachexie oder Adipositas 5 Schwere Knochenmarkfunktionsstörung 5 Koronare Herzkrankheit/Kontraktilitätsstörungen 5 Hochreplikative, chronische Hepatitis B 5 Alkohol- oder Drogenabhängigkeit 5 Anamnese fehlender medizinischer Compliance
80.6.2 Postoperative Über wachung, Therapie
und Komplikationen Zum Standardmonitoring des Lungentransplantierten gehören die kontinuierliche arterielle, zentralvenöse und pulmonalartierielle Druckmessung, die Überwachung der gemischtvenösen und der pulsoxymetrischen O2-Sättigung sowie die kontinuierliche oder diskontinuierliche HZV-Messung. Thoraxröntgenaufnahmen erfolgen anfänglich 2-mal täglich, später einmal täglich. Sollte eine frühe Extubation nicht möglich sein, so wird der Patient 1- bis 2-täglich bronchoskopiert. Bei jedem Temperaturanstieg auf >37,9°C wird eine Blutkultur abgenommen. Abgesehen von der höheren Bronchoskopiefrequenz mit entsprechender Materialgewinnung zur mikrobiologischen Diagnostik entspricht das Infektionsmonitoring dem anderer Organtransplantationen. Die Bronchoskopie dient bei diesen Patienten nicht nur der Infektüberwachung, sondern auch der Differenzierung zwischen Infektion und Abstoßung (transbronchiale Biopsie) sowie der Beurteilung der bronchialen Anastomosenverhältnisse (Insuffizienz, Stenose) und der Bronchialtoilette.
Immunsuppression Die meisten Transplantationszentren verwenden derzeit eine Kombination aus Ciclosporin oder Tacrolimus, kombiniert mit Prednisolon und Azathioprin oder Mycophenolatmofetil. Die initialen Zielkonzentrationen liegen bei 300 ng/ml Ciclosporin bzw. bei 15 ng/ml Tacrolimus. Die Induktionstherapie mit OKT3, ALG oder ATG wird noch von einzelnen Zentren eingesetzt. IL2-Rezeptorantikörper befindet sich in Erprobung [23].
Extubation
80
Kapillarpermeabilität, einem interstitiellen Ödem und einer signifikanten Dysfunktion der Alveolarpneumozyten vom Typ II einhergeht und Hypoxie, pulmonale Hypertonie und eine verminderte Compliance zur Folge hat. Ein ausgeprägter Reperfusionsschaden führt zu einem längeren Intensivaufenthalt mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität. Radiologisch zeigt sich während der ersten 2 Tage eine retikuläres interstitielles Infiltrat, das vorwiegend um den Lungenhilus und in den unteren Abschnitten lokalisiert ist und seine maximale Ausprägung um den 3.‒4. Tag nach Tranplantation findet. Die Therapie besteht in der Fortführung der maschinellen Beatmung mit erhöhtem PEEP, bei pulmonaler Hypertonie in NO-Inhalation oder Prostaglandin-E1-Infusion sowie Flüssigkeitsrestriktion bzw. Volumenentzug, sofern dies hämodynamisch vertretbar ist. Bei ca. 5% der Patienten nach Lungentransplantation ist der Reperfusionsschaden so ausgeprägt, dass eine Behandlung mit der extrakorporalen Membranoxygenierung oder die Retransplantation erforderlich wird [24].
Lungenödem Der Reperfusionsschaden darf nicht mit dem Ödem verwechselt werden, das aus perioperativer Flüssigkeitsüberladung oder Pulmonalvenenobstruktion (»kinking« der Vene oder Thrombose bei zu enger Anastomose) resultiert. Die Diagnose wird durch die transösophageale Echokardiographie oder per Angiographie gestellt und erfordert die operative Revision.
Störungen des Ventilations-Per fusionsVerhältnisses Patienten nach Einzellungentransplantation können ein Ventilations-Perfusions-Missverhältnis entwickeln, das zu ausgeprägten Gasaustauschstörungen führt. Bei Patienten, die wegen einer Erkrankung mit pulmonaler Hypertension transplantiert wurden, beruht der zugrunde liegende Mechanismus darauf, dass nach der Transplantation der größere Anteil des Herzzeitvolumens das Transplantat perfundiert und sich ein funktioneller Rechtslinks-Shunt ausbildet.
Hyperakute Abstoßung Die hyperakute Abstoßung als eine durch Empfängerantikörper vermittelte Reaktion gegen das Endothel des Transplantats führt zur Komplementaktivierung und daraus resultierend zu Thrombose und Transplantatversagen. Die hyperakute Abstoßung stellt die seltenste Form der Abstoßung dar.
Eine Extubation während der ersten 36 h ist immer anzustreben. Dabei gelten die üblichen Kriterien der Extubation. Einige Zentren bevorzugen bei der Einzellungentransplantation die initiale, seitengetrennte Ventilation über einen Doppellumentubus. Hintergrund ist die Überlegung, dass es bei Verwendung eines normalen Tubus zu einer Ventilationsstörung mit Überblähung des Tranplantats kommt, da dieses in der Regel die bessere Compliance aufweist. Sekundär würde es zu einer Mediastinalverlagerung mit Kompression der Gegenseite wie auch einer Ventilations-/Perfusionsstörung und Zunahme des funktionellen Rechts-links-Shunts durch Gefäßkompression der überblähten Lunge kommen.
Akute Abstoßung
Reper fusionsödem
Die chronische Abstoßung wird selten vor Ablauf der ersten 2 Monate nach Transplantation diagnostiziert. Sie tritt als chronisch obstruktive Bronchiolitis auf. Die Diagnose wird bioptisch
Zwischen 10 und 20% der Lungentransplantate entwickeln einen ausgeprägten Reperfusionsschaden, der mit einer erhöhten
Zeichen der akuten Abstoßung (zytotoxische T-Lymphozyten) sind Husten, Dyspnoe, Verschlechterung des Gasaustauschs und Fieber. Radiologisch stellen sich interstitielle Infiltrate mit perihiliärer Lokalisation dar. Die Diagnose wird durch die transbronchiale Lungenbiopsie gesichert. Die Therapie besteht in der Bolusgabe von 500–1000 mg/ Tag Methylprednisolon über 3 Tage. Bei steroidresistenter Abstoßung wird die Basisimmunsuppression von Ciclosporin auf Tacrolimus umgestellt, oder es wird für 7–10 Tage mit OKT3 (5 mg/Tag) therapiert.
Chronische Abstoßung
1054
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Organtransplantation
gesichert. Das Thoraxröntgenbild bleibt unauffällig; je nach Schwere der Abstoßung kommt es zu einer Einschränkung der FEV1. Die Therapie besteht in einer maximalen Verstärkung der Immunsuppression. In dieser Situation müssen die Patienten bei einer CMV-Anamnese oder Risikokonstellation (Empfänger CMV-IgG-negativ, Spender CMV-IgG-positiv) eine GanciclovirProphylaxe erhalten. Phasen maximaler Immusuppression zur Stabilisierung werden häufig durch sekundäre Infektionen kompliziert. i Die chronische Abstoßung ist die häufigste Ursache der Spätletalität [25].
Infektion Pneumonie
80
Die häufigste bakterielle Infektion der frühen postoperativen Phase ist die Pneumonie. Die antibiotische/antimykotische Prophylaxe hat bei Lungentransplantationen einen höheren Stellenwert als bei anderen Organtransplantationen. Dabei richtet sich das Prophylaxeregime nach der Grunderkrankung und der pulmonalen Besiedlung des Transplantats. Bei Lungenerkrankungen, die nicht mit einer Infektion verbunden sind, besteht die Prophylaxe meist aus einem Cephalosporin der 3. Generation in Kombination mit Clindamycin. Die Antibiotikatherapie wird dann gemäß Keimnachweis aus dem Transplantat und Antibiogramm angepasst. Patienten mit zystischer Fibrose oder Bronchiektasien erhalten eine Antibiotikaprophylaxe entspechend den präoperativ nachgewiesenen Keimen.
Sinusitis Da die Sinusitis bei Patienten mit langer antibiotischer Vorbehandlung ein Reservoir für rezidivierende pulmonale Infektionen darstellen kann, ist eine Sanierung unbedingt erforderlich. Bei Candida- oder Aspergillusnachweis (häufig) sind Ecchinocandine oder Triazole (Caspofungin, Voriconazol) indiziert.
Prophylaxe CMV-positive Empfänger erhalten eine 3- bis 4-wöchige Ganciclovir-Prophylaxe; bei CMV-negativen Empfängern mit CMV-positivem Organ wird eine 3-monatige Prophylaxe durchgeführt. Bei CMV-negativem Empfänger und Transplantat ist keine Prophylaxe erforderlich, jedoch ist auf die Verwendung CMVnegativer Blutprodukte zu achten. Der Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin ist ebenso weit verbreitet wie teuer und umstritten. Bei allen Lungentransplantierten wird eine Pneumozystisprophylaxe (Cotrimoxazol, 3-mal wöchentlich) empfohlen.
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XIV
Spezielle Notfälle
81
Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
82
Anaphylaktischer Schock
–1071
–1057
81 Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom M.C. Schneider, E. Beinder, J.-C. Fauchère, M. Siegemund
81.1
Terminologie
81.2
Epidemiologie
81.3
Ätiologie und Pathogenese
81.3.1 81.3.2
Physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft –1059 Pathophysiologie der Präeklampsie –1060
81.4
Screening, Diagnostik, Differenzialdiagnostik
81.4.1 81.4.2 81.4.3
Screening –1061 Diagnostik –1062 Differenzialdiagnostik –1062
81.5
Prävention
81.6
Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
81.6.1 81.6.2 81.6.3 81.6.4 81.6.5 81.6.6
Hypertonie –1065 HELLP-Syndrom –1066 Drohende Eklampsie, Eklampsie –1066 Nierenversagen –1068 Respiratorische Insuffizienz –1068 Gerinnungsstörungen, Thrombozytopenie
81.7
Betreuung des Neugeborenen bei Präeklampsie
81.7.1 81.7.2 81.7.3
Einfluss der Präeklampsie auf den Feten –1069 Einfluss der Präeklampsie auf das Neugeborene –1069 Einfluss der mütterlichen Behandlung der Präeklampsie auf das Neugeborene –1069
Literatur
–1058 –1058 –1059
–1061
–1063
–1070
–1064
–1069
–1069
81
1058
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
81.1
Terminologie
Die Präeklampsie und die mit ihr assoziierten Krankheitsbilder Eklampsie und HELLP-Syndrom setzen Schwangere und deren Feten bedeutenden Risiken aus und zählen zu den Hauptursachen mütterlicher und fetaler Morbidität und Mortalität. Die Erkrankung kann sich ganz unterschiedlich äußern: als überwiegend mütterliches (Hypertonie, Proteinurie und weitere Organfunktionsstörungen) oder fetales Syndrom (fetale Wachstumsrestriktion, Verminderung der Fruchtwassermenge, fetale Asphyxie) bzw. auch als Kombination der mütterlichen und fetalen Erkrankung. Sie wird dennoch ausschließlich nach mütterlichen Kriterien eingeteilt [34]: 4 Schwangerschaftshypertonie: Erstmanifestation einer Hypertonie nach der 20. Schwangerschaftswoche (SSW) mit systolischen und/oder diastolischen Blutdruckwerten >140 bzw. >90 mm Hg, die 2-mal im Abstand von mindestens 6 h bei Fehlen einer Proteinurie gemessen werden. Schwangerschaftskomplikationen sind selten. Meist tritt im Verlauf der Schwangerschaft kein weiterer Anstieg des Blutdrucks auf, bisweilen wird ein progredienter Anstieg ohne weitere Präeklampsiesymptome (außer einer fetalen Wachstumsrestriktion) beobachtet, selten die Progression in eine Präeklampsie. Postpartal kommt es zur Blutdrucknormalisierung. 4 Chronische Hypertonie: Hypertonie, die bereits vor der Schwangerschaft oder später als 12 Wochen nach der Entbindung besteht. Bei einer Pfropfpräeklampsie mit einer Inzidenz von etwa 25% sind die Risiken der Frühgeburtlichkeit, der fetalen Wachstumsrestriktion, der vorzeitigen Plazentalösung und des akuten Nierenversagens höher als bei der neu aufgetretenen Präeklampsie. 4 Präeklampsie/Eklampsie: Schwangerschaftshypertonie mit Proteinurie, die durch >300 mg Protein im 24-h-Sammelurin bzw. durch zwei qualitative Bestimmungen (Uristix) einfach positiv im Abstand
von mehr als 4 h definiert ist. Die Eklampsie als Komplikation einer schweren Präeklampsie äußert sich in tonisch-klonischen Krämpfen. Nach dieser Klassifikation gehen weder die Ödeme noch der relative oder absolute Blutdruckanstieg in die Definition der Präeklampsie ein. Da die Proteinurie ein spätes Symptom ist, sollten auch die Patientinnen wie bei einer Präeklampsie behandelt werden, bei denen die Schwangerschaftshypertonie mit Kopfschmerzen, Oberbauchschmerzen oder Laborveränderungen (Thrombopenie und erhöhte Leberwerte) assoziiert sind. Aus klinischer Sicht ist es sinnvoll, eine schwere von einer milden Präeklampsie zu unterscheiden, da dies den Entbindungszeitpunkt beeinflusst und bestimmt, ob die Patientin intensivmedizinisch behandelt werden muss (. Tab. 81.1; . Abb. 81.1).
Epidemiologie
81.2
Die Präeklampsie tritt mit einer Inzidenz von 3‒5% aller Schwangerschaften auf. 4 In etwa 25% der Fälle entwickelt sie sich bereits vor der 35. SSW, in der Regel mit einem höheren mütterlichen bzw. kindlichen Komplikationsrisiko. 4 Bei rund 75% der Fälle tritt sie erst kurz vor oder am Entbindungstermin auf [25], meist als leichte Form mit einem geringen mütterlichen und neonatalen Morbiditätsrisiko. Gemäß einer englischen Erhebung [5] sterben heutzutage in England zwischen 7 und 12 Mütter auf 1 Mio. Schwangerschaften direkt an den Folgen und Komplikationen einer schwangerschaftsinduzierten Hypertonie. Diese mütterlichen Todesfälle wären heute meist vermeidbar, wenn die Schwangerschaft rechtzeitig beendet, die Entwicklung schwerer Erkrankungsstadien vermieden und die Behandlungsstandards eingehalten würden. So konnte die Inzidenz der Eklampsie in England von 1922‒1964 von 0,8% auf 0,049% um über 90% reduziert werden.
. Tabelle 81.1. Kriterien einer schweren Präeklampsie und damit einer Intensivbehandlung Kriterien
Symptome
Schwangerschaftshochdruck ≥160/110 mm Hg und Proteinurie >0,3 g/24 h Schwangerschaftshochdruck ≥140/90 mm Hg und Proteinurie >5 g/24 h Zusätzliche Organmanifestationen
zentralnervöse Symptome
4 4 4 4
Niere
4 Oligurie <500 ml/24 h
Leber
4 Leberschwellung 4 Leberenzymanstieg (LDH >600 U/l, AST >70 U/l, ALT >70 U/l) 4 Oberbauchschmerzen
Lunge
4 Lungenödem 4 Zyanose
Thrombozytopenie
4 <100×109/l
Hämolyse
4 LDH, indirektes Bilirubin und Fragmentozyten erhöht
Anhaltende Kopfschmerzen Augenflimmern und Skotome Myoklonien Papillenödem
1059 81.3 · Ätiologie und Pathogenese
81
. Abb. 81.1. Algorithmus: Stationäre vs. intensivmedizinische Betreuung
Risikofaktoren für das Auftreten einer Präeklampsie [8] 5 Altersextreme bei Erstgravidität (<20 bzw. >40 Jahre) 5 Primipaternität 5 Heterologe Inseminationen, Eizell- oder Embryospende 5 Erhöhte Trophoblastmenge (Mehrlingsschwangerschaften, Blasenmole) 5 Erkrankungen der Mutter mit Gefäßbeteiligung (Hypertonie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Adipositas, Nierenerkrankungen) 5 Autoimmunerkrankungen (Antiphospholipidsyndrom, Rheuma, Lupus erythematodes) 5 Genetische Disposition (Mutationen und Polymorphismen mit Assoziation zu Thrombophilie, Hyperlipidämie, Arteriosklerose) 5 Positive persönliche (Präeklampsie in früherer Schwangerschaft) bzw. familiäre Anamnese (mütterlicher- oder väterlicherseits)
Intensivmedizinische Bedeutung der schweren Präeklampsie Die prädiktive Bedeutung der schweren Präeklampsie als wichtiger mütterlicher Morbiditätsfaktor ergibt sich aus den Ergebnissen einer englischen Fallkontrollstudie aus dem Jahre 1998 [33]: Bei einer totalen Morbiditätsinzidenz von 12,0 auf 1000 Geburten folgten auf massive Hämorrhagie 6,7 schwere Präeklampsie 3,9, Eklampsie 0,2, HELLP 0,5, schwere Sepsis 0,4 und Uterusruptur 0,2. Auch in Finnland waren Komplikationen einer schweren Präeklampsie (32%) nach denjenigen einer Massenblutung (73%) die zweithäufigsten Eintrittsdiagnosen von Schwangeren auf einer Intensivstation. In Yorkshire mussten zwischen 1999 und 2003 49 von 1087 Schwangeren (4,5%) wegen Komplikationen einer schweren Präeklampsie (Inzidenz 0,52%) auf einer Intensivstation behandelt werden. 81.3
Ätiologie und Pathogenese
81.3.1 Physiologische Veränderungen in der
Schwangerschaft Faktoren, die das Präeklampsierisiko reduzieren 5 Blande Anamnese (Schwangerschaft mit demselben Partner) 5 Zigarettenkonsum (senkt paradoxerweise die Präeklampsiehäufigkeit [11])
Physiologische Umstellungen während der Schwangerschaft begünstigen den plazentaren Blutfluss und damit die Bedingungen für den fetalen Nährstoff- und Gasaustausch dank optimierter mütterlicher Organfunktionen. Das mütterliche Blutvolumen vergrößert sich bis zur Geburt um 30‒50%. Gleichzeitig kommt
1060
81
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
es zu einer Zunahme des extrazellulären Gesamtkörperwassers um 1–5 l, die auch bei gesunden Schwangeren zu peripherer Ödembildung prädisponiert. Die geringere Zunahme der Erythrozyten-, Leukozyten- und Thrombozytenmasse erklärt die physiologische Hämodilution (Schwangerschaftsanämie). Das mütterliche Sauerstoffangebot wird durch ein erhöhtes Herzzeitvolumen aufrechterhalten. Der gesteigerte Sauerstoffbedarf wird trotz Verminderung der funktionellen Residualkapazität durch eine Steigerung des Atemminutenvolumens um bis zu 50% gedeckt. Unter dem Einfluss von Progesteron, Prostaglandin und NO entwickelt sich durch das maximal dilatierte uteroplazentare Gefäßbett ein Links-rechts-Shunt, der die Steigerung des Herzzeitvolumens begünstigt. Dies garantiert, ebenso wie die höhere Konzentration und stärkere Sauerstoffaffinität des fetalen Hämoglobins sowie das Gegenstromprinzip des plazentaren Blutflusses, eine optimale Sauerstoffversorgung des Feten. Die erhöhten Konzentrationen von Fibrinogen, Faktor VII und X und der Abfall der Prothrombinkonzentration führen zu keinen Veränderungen der globalen Gerinnungstests. Trotzdem sollte bei einer Schwangerschaft auch bei leicht erniedrigten Thrombozyten immer von einer gesteigerten Gerinnungsaktivität ausgegangen werden. Die um 45% gesteigerte glomeruläre Filtration und Kreatinin-Clearance ist mit einer gesteigerten Urinproduktion assoziiert. Dadurch befinden sich Kreatinin, Harnstoff und Harnsäure im Serum im unteren Bereich der Norm: Normale bis hochnormale Serumkreatininwerte sind deshalb bereits als Zeichen einer eingeschränkten Nierenfunktion zu werten. Im Verlauf der Schwangerschaft sinkt die Plasmaosmolarität bei gleichzeitig erhöhter Aktivität von Aldosteron, Östrogen und Renin. Eine
. Abb. 81.2. Pathophysiologie der Präeklampsie. (Nach [21])
herabgesetzte Empfindlichkeit gegen diese vasoaktiven Substanzen (»down regulation« adrenerger Rezeptoren in der Schwangerschaft) bedingt die schwangerschaftstypische Erniedrigung des systolischen und diastolischen Blutdruckes sowie die Vergrößerung der Blutdruckamplitude. 81.3.2 Pathophysiologie der Präeklampsie Die Ätiologie der Präeklampsie ist nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt: Sicher ist, dass die Erkrankung nur entsteht, wenn eine Plazenta vorhanden ist, und dass sie meist folgenlos ausheilt, wenn die Plazenta im Rahmen der Entbindung entfernt wird. Ferner ist allgemein anerkannt, dass die mütterlichen Symptome der Präeklampsie wie Hypertonie, Proteinurie, Gerinnungsstörung und Leberdysfunktion auf eine generalisierte Endothelerkrankung der Schwangeren zurückzuführen sind. Die Präeklampsie ist eine zweiphasige Erkrankung mit einem präklinischen plazentaren und einem klinischen Stadium (. Abb. 81.2; [21, 23, 25]). Stadium 1. Histopathologische Untersuchungen zeigen, dass eine mangelhafte endovaskuläre Invasion fetaler Zytotrophoblastzellen in mütterliche deziduale Gefäße (»poor placentation«) als früheste pathophysiologische Veränderung bei Präeklampsie regelmäßig nachweisbar ist [22]. Die endovaskuläre Invasion von Zytotrophoblastzellen führt im Normalfall zu einem extensiven Umbau (Remodelling) der Spiralarterien, den Endarterien der uteroplazentaren Zirkulation, die mütterliches Blut direkt in den intervillösen Raum der Plazenta leiten. Dieses Remodelling ist etwa in der 20. SSW abgeschlossen, sodass der niedrige Gefäßwi-
1061 81.4 · Screening, Diagnostik, Differenzialdiagnostik
derstand der schlauchartig dilatierten Spiralarterien eine maximale Perfusion des intervillösen Raumes gewährleistet. Bei der Präeklampsie ist die von natürlichen Killerzellen und Makrophagen begleitete Trophoblastinvasion in Spiralarterien und Dezidua unvollständig (»shallow invasion«), sodass der Umbau der Spiralarterien ausbleibt und die uteroplazentare Perfusionskapazität den fetalen Bedürfnissen, die sich im Verlauf der Schwangerschaft verzehnfachen (von 50 auf 500 ml/min), nicht entspricht ‒ aus immunologischer Sicht eine Form der mütterlichen Abwehr des genetisch fremden Feten. Stadium 2. Vasokonstriktion und Minderperfusion im intervillö-
sen Raum führen zu einer plazentaren Hypoxie, die über weitgehend unbekannte Mechanismen eine Endothelaktivierung auslöst und unterhält. Diese wird von einer Thrombozytenaktivierung begleitet, die durch freigesetztes Thromboxan A2, Thrombinund Fibrinbildung eine Thrombozytenaggregation induziert; ein Prozess, der infolge eines relativen Mangels an Prostazyklin, dem endogenen Thromboxanantagonisten, nicht verhindert wird [9]. Eine verminderte plazentare Durchblutung, auch wenn sie zu einer fetalen Wachstumsrestriktion führt, reicht jedoch allein nicht für die Entwicklung einer Präeklampsie aus. Nur 30‒50% aller Feten präeklamptischer Schwangerer weisen eine Wachstumsrestriktion auf. Offenbar handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, das zur endothelialen Aktivierung bei Präeklampsie führt. Das Endothel steht im Mittelpunkt der Symptome Hypertonie, periphere Vasokonstriktion, Proteinurie und Ödeme, die allesamt auf gestörte endotheliale Funktionen zurückgeführt werden können. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das Endothel durch noch unbekannte zirkulierende Substanzen (»Faktor X«) aktiviert wird, die zu Endothelveränderungen führen, wie sie auch unter oxidativem Stress beobachtet werden. Allerdings konnte in einer prospektiv randomisierten und Placebokontrollierten Untersuchung, in der der Einfluss von Vitamin C und Vitamin E auf die Inzidenz der Präeklampsie in einem Hochrisikokollektiv untersucht wurde, kein präventiver Effekt dieser Antioxidanzien nachgewiesen werden [19]. Die pathologischen Veränderungen einer Präeklampsie entsprechen nicht derjenigen einer klassischen Hypertonie, sondern vielmehr einer Minderdurchblutung praktisch aller Organe. In der Niere beispielsweise finden sich stark geschwollene Endothel- und Mesangiumzellen, welche die glomerulären Kapillaren verschließen. Die veränderte Nierenfunktion spiegelt sich im Kreatinin- und Harnsäurespiegel und in der Eiweißausscheidung wider. Veränderungen am zerebralen Gefäßsystem sind unabhängig vom systemischen Blutdruck und reichen von Blutungen und Petechien bis zu Gefäßwandveränderungen und fibrinoiden Nekrosen mit Ischämiearealen und Mikroinfarkten.
81.4
81
Screening, Diagnostik, Differenzialdiagnostik
81.4.1 Screening Die Präeklampsie manifestiert sich klinisch erst in der 2. Hälfte der Schwangerschaft. Die zugrunde liegenden pathophysiologischen Veränderungen beginnen jedoch bereits in der 11.–12. SSW. Es hat deshalb in der Vergangenheit zahlreiche Versuche gegeben, dieses zeitliche Fenster für ein Screening der Erkrankung mit hämodynamischen und biochemischen Methoden zu nützen. Die Dopplersonographie der Uterinarterien ist mit aktuell 43 Studien (n=42261) die am besten untersuchte Screeningmethode für die Präeklampsie. Ein hoher Perfusionswiderstand führt zu einem pathologischen uterin-arteriellen Blutfluss und der Persistenz einer frühsystolischen Inzisur (»Notch-Phänomen«; . Abb. 81.3). Bei niedrigem Präeklampsierisiko entspricht ein beidseitiges Notch-Phänomen im II. Trimenon einer LHR (»pooled likelyhood ratio«) von 6,6, im negativen Fall von 0,8. In der Hochrisikogruppe betragen die entsprechenden Werte nur 2,8 und 0,6. Sowohl bei niedrigem als auch bei hohem Präeklampsierisiko beträgt der positive prädiktive Wert der Dopplersonographie als Screeninguntersuchung lediglich etwa 25‒30% bei einem negativen Vorhersagewert von etwa 97%. Ebenso begrenzt ist die Bedeutung zahlreicher biochemischer Marker, die als Screeningparameter für die frühzeitige Diagnose einer pathologischen Plazentainvasion und Endotheldysfunktion evaluiert wurden. Dies gilt auch für folgende Serummarker, für die in prospektiven Untersuchungen veränderte Konzentrationen vor Manifestation einer Präeklampsie nachgewiesen wurden: 4 sFlt1 (»soluble fms-like tyrosine kinase 1«), der lösliche Rezeptor von VEGF mit antiangiogenetischer Aktivität, der von Trophoblastzellen unter hypoxischen Bedingungen sezerniert wird. 4 sEng (Endoglin), dieser lösliche Rezeptor des TGF-E, ist bei Schwangeren mit Präeklampsie schweregradabhängig
i Das Leitsymptom der Präeklampsie, die Hypertonie, ist hauptsächliche durch eine erhöhte Sensitivität gegen alle zirkulierenden Vasokonstriktoren bedingt, unterstützt durch die gesteigerte Aktivität des sympathischen Nervensystems.
Gleichzeitig führt die gestörte Endothelfunktion zu einer verminderten Produktion von gefäßerweiternden Mediatoren wie den Prostaglandinen und Stickstoffmonoxid. Die Organdurchblutung wird durch die aktivierte Gerinnung mit Ablagerung von kapillären Mikrothromben sowie die Hämokonzentration bei vermehrter Ödembildung weiter beeinträchtigt.
. Abb. 81.3. Dopplersonographie der Uterinarterien mit frühsystolischer Einkerbung in der Blutflusskurve (»Notch-Phänomen«)
1062
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
erhöht und scheint zusammen mit sFlt1 die Bildung von Kapillaren zu hemmen und die Gefäßpermeabilität sowie den Blutdruck zu steigern. 4 ADMA (»asymmetric dimethylarginine«) ist ein endogener Hemmstoff der Stickstoffmonoxidsynthase (NOS) im Endothel. Folgen erhöhter ADMA-Sermuspiegel sind eine endothelial verursachte Vaskonstriktion und Endothelstörung. 4 Neurokinin B. 4 Nachweis erhöhter Konzentrationen syncytiotrophoblastärer Zellen und fetaler DNA im mütterlichen Blut, die bereits Wochen vor Erkrankungsbeginn oxidativen endothelialen Stress verursachen. Trotz vielversprechender Untersuchungen gibt es derzeit keine Methode, die für die klinische Anwendung als Screeningtest geeignet ist [14]. Das Fehlen wirksamer präventiver Maßnahmen relativiert ohnehin die Bedeutung der verfügbaren Screeningmethoden.
81
81.4.2 Diagnostik . Abb. 81.4. Symptome der Präeklampsie
Blutdruckmessung Die Messung wird nach einer 10-minütigen Ruhephase bei der sitzenden Patientin durchgeführt; primär an beiden Armen, zur Verlaufskontrollen am Arm mit den höheren Werten. Die International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) empfiehlt, die Korotkoff-Phase I (Hörbarwerden der Töne) zur Bestimmung des systolischen und die Korotkoff-Phase V (Verschwinden der Töne) zur Bestimmung des diastolischen Blutdruckwertes zu benutzen. Bei bis zu 25% der Patientinnen mit leichter Hypertonie führt die manuelle Blutdruckmessung zu falsch-hohen Werten (»white coat hypertension«), tageszeitliche Schwankungen sollten ebenfalls beachtet werden. Diese Fehlerquellen können durch eine 24-h-Blutdruckmessung mit vollautomatischen, oszillometrischen Geräten ausgeschaltet werden, die sich auch zur Überprüfung der therapeutischen Maßnahmen eignen.
i Das Auftreten dieser Prodromalsymptome sollte eine umgehende stationäre Einweisung der Schwangeren zur weiteren Abklärung und Therapie nach sich ziehen.
Fetale Überwachung Mit Kardiotokographie (CTG; Wehenschreiber), Dopplersonographie der uterofetoplazentaren Gefäße und Fetometrie kann der fetale Zustand beurteilt und eine fetale Retardierung/Restriktion ausgeschlossen werden. Bei einer Entbindung vor der 34. SSW stellt sich die Indikation zur fetalen Lungenreifeinduktion mit Betamethason (2-mal 12 mg i.m. im Abstand von 12 h).
Laboruntersuchungen Diese dienen dem Ausschluss eines HELLP-Syndroms und der Funktionsdiagnostik evtl. beteiligter Organe (. Tab. 81.2).
Eiweißausscheidung im Urin Falls keine quantitative Proteinbestimmung im 24-h-Sammelurin vorliegt, die zur Objektivierung verlangt werden sollte, gilt ein Wert von >0,3 g/l (einfach positiv im U-Stix) als pathologisch. Falsch-positive Werte können durch verstärkten Fluor oder eine Infektion vorgetäuscht werden.
Klinisches Bild Starke Kopfschmerzen (bis zu 40%), Doppelsehen, Augenflimmern und Hyperreflexie mit Klonus sind als zentralnervöse Symptome grundsätzlich als Warnhinweise auf eine drohende Eklampsie zu werten. Jede hypertensive Schwangere sollte regelmäßig danach gefragt und über die Bedeutung dieser Symptome aufgeklärt werden. Das Eklampsierisiko steigt, wenn gleichzeitig eine Proteinurie besteht. Der (rechtsseitige) Oberbauchschmerz ist für das HELLP-Syndrom meist richtungsweisend; in ca. 20‒ 40% der Fälle geht er den laborchemischen Veränderungen um Tage bis Wochen voraus. Die Symptome der Präeklampsie sind in . Abb. 81.4 dargestellt.
81.4.3 Differenzialdiagnostik i Bei einer neu aufgetretenen Hypertonie in Kombination mit einer Proteinurie in der Schwangerschaft besteht kein Zweifel an einer Präeklampsie.
Schwieriger ist die Differenzialdiagnose bei einer Thrombozytopenie oder bei Hämolyse, Anstieg der Leberenzyme, alleinigen Oberbauchschmerzen und Nierenerkrankungen (. Tab. 81.3). Wichtige Differenzialdiagnosen einer Thrombozytopenie in der Schwangerschaft 5 5 5 5 6
Pseudothrombozytopenie Gestationsthrombozytopenie Immunologische Formen Autoimmunthrombozytopenie
81
1063 81.6 · Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
. Tabelle 81.2. Präeklampsie: Laborparameter (Verlaufskontrolle) Organfunktion
Parameter
Pathologische Werte
Niere
Kreatinin-Clearance
<60–80 ml/min
Kreatinin
>80 µmol/l (90 mg/l)
Harnsäure
>360 µmol/l (50 mg/l)
Proteinurie
>0,3 g/24 h
Albumin
Abfall < Referenzbereich
Alaninaminotransferase (ALT)
Anstieg > Referenzbereich
Aspartataminotransferase (AST)
Anstieg > Referenzbereich
Laktatdeyhdrogenase (LDH)
Anstieg > Referenzbereich
Bilirubin
Anstieg > Referenzbereich
Thrombozyten
<100.000/ µl (Abfall)
Hämoglobin
>13 g/dl
Hämatokrit
≥38%
Fibrinogen
Abfall < Referenzbereich
Haptoglobin
Abfall <70%
Leber
Gerinnung und Blutbild
. Tabelle 81.3. Differenzialdiagnose des HELLP-Syndroms HELLP
TTP
HUS
Virushepatitis
Hämolyse
++
+++
++
–
Thrombopenie
++
+++
+++
–
Ikterus
–
++
++
++
Hypertonie
Meist
–
–
–
Transaminasen
++
Selten
Selten
++
Proteinurie
Meist
Selten
Meist
–
Besonderes
Oberbauchschmerz, häufig DIG
Neurologische Symptome
DIG: Disseminierte intravaskuläre Gerinnung; TTP: thrombotisch-thrombozytopenische Purpura; HUS: hämolytisch-urämisches Syndrom.
81.5 5 5 5 5 5 5 5
Medikamentös induzierte Thrombozytopenie Präeklampsie und HELLP-Syndrom Disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) Hämolytisch urämisches Syndrom (HUS) Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel Schwangerschaftsfettleber
Prävention
Diätetische und pharmakologische Interventionen zur Prävention der Präeklampsie blieben in randomisierten Studien ohne durchschlagenden Erfolg. 4 Magnesium, Zink oder Fischöl: Kleinere Untersuchungen zeitigten nur geringe oder fehlende Wirksamkeit bei der Prävention der Präeklampsie. Magnesiumsulfat hat seinen bedeutenden Stellenwert nur in der Prophylaxe der Eklampsie bei bereits manifester Präeklampsie. 4 Kalziumsupplementation: Verschiedene randomisierte Untersuchungen kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen. In der Untersuchung des National Institute of Child Health and Human Development (n=4589) konnte bei gesunden
1064
81
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
Erstgebärenden kein signifikanter Effekt auf die Präeklampsieinzidenz nachgewiesen werden. 4 Low-dose-Aspirin-Gabe:In niedriger Dosierung wird die thrombozytäre Bildung von Thromboxane A2 gehemmt, ohne dass die endotheliale Biosynthese von Prostazyklin beeinflusst wird. Dies verspricht eine günstige Wirkung auf das bei Präeklampsie gestörte Prostaglandingleichgewicht. Kleinere Studien weisen auf eine günstige Wirkung von Acetylsalicylsäure (ASS) bei einer Tagesdosis von 60‒100 mg hin. Größere multizentrische Untersuchungen wie der CLASP (Collaborative Low-dose Aspirin Study in Pregnancy) Trial (n=9364) oder diejenige des National Institute of Child Health and Human Development (n=2539) konnten diese Ergebnisse allerdings nicht bestätigen. Eine Metaanalyse kam zum Schluss, dass ASS nur bei Schwangeren mit hohem Präeklampsierisiko zu einer moderaten, aber signifikanten Abnahme der Inzidenz der Erkrankung führt. Dies gerade auch dann, wenn der Nachweis pathologischer uteriner Dopplerkurven zwischen der 17. und 24. SSW gelingt. In einer weiteren Metaanalyse (n=33.439) wurde eine Risikoreduktion von 19% errechnet; relatives Risiko (RR)=0,81 [12]. 4 Antioxidative Vitamine: Vielversprechende Ergebnisse einer prophylaktischen Gabe von 400 IE Vitamin E und 1000 mg
Vitamin C bei Frauen mit hohem Präeklampsierisiko wurden in einer randomisierten, Placebo-kontrollierten Untersuchung eines größeren Hochrisikokollektivs (n=2410) nicht bestätigt [19]. i Bei anamnestisch hohem Präeklampsierisiko kann also nur die niedrig dosierte ASS-Prophylaxe zwischen der 12. und der 36. SSW empfohlen werden, besonders, wenn gleichzeitig ein pathologischer Blutfluss in der A. uterina nachgewiesen wird.
81.6
Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
Obwohl die Entbindung die einzige kausale Therapie der Präeklampsie darstellt, von der sich die Patientin bei komplikationslosem Verlauf rasch vollständig erholen kann, sind sowohl der klinische Verlauf als auch der Zeitpunkt der Schwangerschaft für das Vorgehen richtungsweisend. Nach Sicherung der Diagnose sollte der Zustand der Schwangeren optimiert und unter engmaschiger Kontrolle stabilisiert werden, um das Komplikationsrisiko zu minimieren. Vor der 34. SSW drängt sich in aller Regel ein abwartendes Verhalten auf, um die Probleme der extremen Früh-
. Abb. 81.5. Algorithmus zum Vorgehen bei schwerer Präeklampsie. (Hauseigenes Vorgehen; [23, 29])
1065 81.6 · Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
geburtlichkeit zu vermeiden. Dadurch wird die Mutter allerdings der Gefahr einer Verschlechterung der Präeklampsie und damit assoziierten Komplikationen ausgesetzt. Das Vorgehen besteht also aus einem ständigen Abwägen der Risiken, dessen wichtigste Entscheidungsdeterminanten der Schweregrad der Präeklampsie einerseits und die Gefahren der Frühgeburtlichkeit andererseits sind, wobei der Sicherheit der Mutter oberste Priorität zukommt (. Abb. 81.5). Da sich aus einer Präeklampsie jederzeit ohne Vorwarnzeichen eine Eklampsie oder ein HELLP-Syndrom entwickeln kann, muss die ambulante oder stationäre Überwachung der Schwangeren darauf ausgerichtet sein, die mit einer Exazerbation assoziierte Morbidität und Mortalität durch frühzeitige Erfassung und rechtzeitige therapeutische Interventionen zu reduzieren. Deshalb sollten, bei individualisierten Untersuchungsintervallen, die Laborwerte regelmäßig kontrolliert werden, bei milden Verlaufsformen wöchentlich, bei schweren täglich, in Einzelfällen sogar noch häufiger. i Die engmaschige klinische Überwachung ist von zentraler Bedeutung.
81.6.1 Hyper tonie
81
Dihydralazin, das klassische Mittel der Wahl, wenn die Hypertonie unter intravenöser Magnesiumtherapie persistiert [29], kann durch Labetalol und Nifedipin oder Urapidil als Alternativen (. Tab. 81.4) ersetzt bzw. ergänzt werden, die ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen [16]. Im Fall einer rein antihypertensiven Akuttherapie können US-amerikanische Empfehlungen als Leitlinien dienen: 5 Labetalol 20 mg i.v., bei fehlender Wirkung jeweils nach 10 min in steigender Dosierung wiederholen (40 mg, 80 mg bis Gesamtdosis von 300 mg) 5 Dihydralazin 5–10 mg i.v./15–20 min als Alternative 5 Nifedipin 10–20 mg p.o./30 min bis Gesamtdosis 50 mg [27] 5 Das Therapieziel ist ein Blutdruck um 130–140/ 90–100 mm Hg; eine Hypotonie, die den Feten gefährden kann, sollte vermieden werden. 5 Die zerebrovaskuläre Autoregulation ist bei einem mittleren arteriellen Blutdruck von über 150 mm Hg aufgehoben. Deshalb sollte der mittlere arterielle Druck zur Verhinderung von zerebrovaskulären Ereignissen und Krampfanfällen unter 125 mm Hg gehalten werden.
Therapie der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie Die endotheliale Dysfunktion, die mit einer gestörten Stickstoffmonoxid (NO)-Freisetzung gekoppelt ist, führt zu Beeinträchtigung der Gefäßintegrität, diffusen Vasospasmen und inadäquater Sauerstoffversorgung. Zwischen Hypertonie und Hypovolämie scheint eine inverse Korrelation zu bestehen [15]. Das Ziel der antihypertensiven Therapie besteht darin, das Risiko zerebro- und kardiovaskulärer Komplikationen zu reduzieren, die für die mütterliche Mortalität und Morbidität hauptsächlich verantwortlich sind [5, 35]. Die Blutdrucksenkung ist für den Fetus selbst nachteilig: Durch Verminderung der uteroplazentaren Durchblutung kommt es gehäuft zu Wachstumsrestriktion und pathologischen Kardiogrammen. Die Behandlung einer leichten bis mittelschweren Hypertonie in der Schwangerschaft vermindert zwar die Entwicklung einer schweren Hypertonie, verhindert aber nicht das Auftreten einer manifesten Präeklampsie; wenig beeinflusst werden Frühgeburtshäufigkeit, Wachstumsrestriktion und perinatale Mortalität [12]. Eine medikamentöse Behandlung der Schwangerschaftshypertonie wird empfohlen, wenn die Blutdruckwerte wiederholt 160 mm Hg systolisch oder 110 mm Hg diastolisch übersteigen [23].
Flüssigkeitstherapie und Monitoring Das durch die Hämokonzentration verminderte Plasmavolumen und das tief normale Herzzeitvolumen bergen die Gefahr von Oligurie, Nierenversagen und fetaler Minderversorgung. Besonders die Verabreichung von Antihypertensiva und Anästhetika kann die Organminderperfusion verstärken. Deshalb sollte am Beginn der Therapie der schweren Eklampsie immer eine Optimierung des Plasmavolumens stehen. Dabei werden sowohl kristalloide wie auch kolloidale Infusionen eingesetzt. Die Verabreichung von kristalloiden Infusionen mit 1–2 ml/kg KG/h sollte bis zum Erreichen einer Normovolämie fortgesetzt werden. Der theoretische Vorteil von Kolloiden für Ödembildung, Mikrozirkulation und Volumenstatus wurde bisher noch in keiner kontrollierten Studie untersucht. Die Infusion von 500–1000 ml einer Hydroxyethylstärkelösung mit möglichst geringem Molekulargewicht und Substitutionsgrad ist aber ohne eine Gefährdung der Niere möglich. Dabei sollte auf eine genaue Flüssigkeitsbilanz geachtet werden. Bei Patientinnen mit einer Oligurie, einer Blutung oder einer strukturellen Herzerkrankung ist der Einsatz eines zentralve-
. Tabelle 81.4. Medikamente zur Akuttherapie der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie Substanzklasse
Pharmakon
Dosis
Peripherer Vasodilatator
Dihydralazin (Nepresol)
5–10 mg i.v., repetitiv nach 15–20 min bis Therapieziel erreicht; danach 3,0–4,5 mg/h i.v.
Kalziumantagonist
Nifedipin (Adalat)
5–10 mg p.o., repetitiv nach 30 min bis maximal 50 mg; danach retardiertes Nifedipin 20 mg/8–12 h p.o.
Kombinierter α1-/β-Rezeptorenblocker
Labetolol (Trandate)
10–20 mg i.v., repetitiv nach 10–20 min, bis Therapieziel erreicht, bei fehlender Wirkung Dosissteigerung auf 40 bzw. 80 mg i.v. bis zur Maximaldosis von 300 mg; danach 20–160 mg/h i.v.
α1-Rezeptorblocker und 5HT1A -Agonist
Urapidil (Ebrantil)
5–10 mg i.v.; danach 6–24 mg/h i.v.
1066
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
. Tabelle 81.5. Medikamente zur Therapie der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft Substanzklasse
Pharmakon
Anfangsdosis
Maximaldosis
Zentraler adrenerger Antagonist
Methyldopa
3-mal 250 mg
3 g/Tag
Kalziumantagonist
Nifedipin (retardiert)
2-mal 30 mg
150 mg/Tag
β-Rezeptorenblocker
Metoprolol
1-mal 50 mg
100 mg/Tag
Kombinierter α1-/β-Rezeptorenblocker
Labetolol
3-mal 100–200 mg
2400 mg/Tag
nösen Katheters indiziert. Bei ausgeglichener Flüssigkeitsbilanz und normalem ZVD und weiter bestehender Oligurie oder bei einem unter der Infusionstherapie aufgetretenen Lungenödem kann die Echokardiographie oder ein Pulmonalarterienkatheter weiteren Aufschluss über die Hämodynamik geben. Eine Therapie mit Diuretika ist nur bei Patientinnen mit Lungenödem aufgrund starken Kapillarschadens, Tokolyse oder bei vorbestehender Herzkrankheit indiziert.
81
Therapie der chronischen Hypertonie Schwangere mit schwerer Hypertonie (>160/110 mm Hg) oder Endorganschaden haben ein erhöhtes mütterliches und auch fetales Morbidität- und Mortalitätsrisiko. Sie bedürfen einer antihypertensiven Therapie und engmaschiger Schwangerschaftskontrollen, weil sie in über 50% der Fälle eine Präeklampsie entwickeln. Außerdem sollte der auf 5–10% erhöhten Inzidenz einer vorzeitigen Plazentalösung Rechnung getragen werden. In der Schwangerschaft werden Methyldopa, Nifedipin und Metoprolol zur Langzeitbehandlung der Hypertonie bevorzugt (. Tab. 81.5; [26]). Frauen, die pränatal Angiotensin-I-Converting-Enzym (ACE)-Hemmer oder Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten erhielten, sollten möglichst schon präkonzeptionell auf andere Antihypertensiva umgestellt werden. Mit Nifedipin bestehen zwar zahlreiche Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft, die Substanz ist dennoch nicht zur Behandlung in der Schwangerschaft zugelassen. Schwangere mit unkomplizierter essenzieller Hypertonie und einem Blutdruck <160/110 mm Hg haben dagegen eine günstigere Prognose. Meist sinkt der Blutdruck auch ohne medikamentöse Therapie im II. Trimenon, sodass in vielen Fällen auf eine antihypertensive Therapie verzichtet werden kann. Die Frage, ab welchen Blutdruckwerten eine Hypertonie in der Schwangerschaft behandelt werden sollte, wird in der Literatur kontrovers beurteilt: Am häufigsten wird eine Blutdruckgrenze von 160/110 mm Hg [29] angegeben. In einer retrospektiven Auswertung von 28 Präeklampsiefällen mit zerebrovaskulärem Insult war das Auftreten eines Insults bei allen Patientinnen mit einem systolischen Blutdruck von mehr als 155 mm Hg (>160 mm Hg; 95,8%), nicht aber mit einer schweren diastolischen Hypertonie assoziiert [18]. 81.6.2 HELLP-Syndrom Das Akronym HELLP steht für Laborveränderungen, die mit einer Inzidenz von 10–20% im Rahmen einer schweren Präeklampsie auftreten [29] und durch Hämolyse, »elevated liver enzymes« (LDH, AST, ALT) und »low platelets« (100.000/Pl) charakterisiert sind (. Tab. 81.1). Rechtsseitige Oberbauchschmerzen sind richtungsweisend und gehen den laborchemischen Veränderungen
in ca. 20–40% der Fälle um Tage bis Wochen voraus. Sie werden durch den gestörten Blutfluss in den Lebersinusoiden und Dehnung der Glisson-Kapsel ausgelöst. Im Falle subkapsulärer oder intrahepatischer Hämatome muss mit dem Risiko einer spontanen Leberruptur gerechnet werden. Leberzellnekrosen äussern sich in erhöhten Transaminasenwerten. In bis zu 20% der Fälle fehlen aber die klassischen Symptome der Präeklampsie. Der spontane Verlauf des HELLP-Syndroms ist unberechenbar, einerseits kann es in bis zu 43% der Fälle zu einem (meist kurzfristigen) Rückgang der klinischen und laborchemischen Symptomatik kommen, andererseits muss unabhängig davon in über 50% der Fälle mit schweren Komplikationen gerechnet werden. In einem Kollektiv von 442 Fällen [31] waren dies: 4 disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) (21%), 4 vorzeitige Plazentalösung (16%), 4 akutes Nierenversagen oder Aszites (8%), 4 Lungenödem oder Pleuraerguss (6%), 4 Leberhämatome, Hirnödem, Netzhautablösung und ARDS (je 1%), Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf des HELLP-Syndroms sind das Auftreten einer DIG und afroamerikanische Ethnizität, nicht jedoch der Schweregrad der HELLP-assoziierten Laborveränderungen [13]. Da eine Prognose im Einzelfall nicht möglich ist, ist in der Regel die Entbindung als einzig kausale Therapie angezeigt. Nur in Einzelfällen kann aufgrund extremer Frühgeburtlichkeit unter Intensivbeobachtung in einem Perinatalzentrum bis zum Eintritt der Lungenreife abgewartet werden. Ob durch Steroide, die zur Induktion der fetalen Lungenreife verabreicht werden (2 mg Dexamethason 12-stündlich, für mindestens 2 Tage), auch der Verlauf der Erkrankung günstig beeinflusst wird, kann wegen fehlender Power der Untersuchungsergebnisse nicht schlüssig beantwortet werden [30]. Steroide sind in der Lage, die Normalisierung pathologisch hämatologischer und biochemischer Veränderungen beim HELLP-Syndrom zu beschleunigen. 81.6.3 Drohende Eklampsie, Eklampsie In den westlichen Industrieländern sind Krampfanfälle bei Schwangeren mit Präeklampsie mit einer Inzidenz von etwas 0,05% selten [10]. Im Gegensatz dazu sind eklamptische Anfälle in Schwellenländern zum Großteil für die mütterliche Mortalität verantwortlich. Die Ätiologie der Krampfanfälle ist bisher unbekannt, durch bildgebende Verfahren und autoptisch konnten petechiale Blutungen, kortikale und subkortikale Ödeme sowie fokale und regionale Ischämien im Rahmen einer hypertensiven Enzephalopathie nachgewiesen werden.
1067 81.6 · Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
Obwohl keine direkte Korrelation zwischen dem Auftreten einer Eklampsie und den Blutdruckwerten besteht, sind Kopfschmerzen und andere zentralnervöse Symptome als Warnhinweise für eine drohende Eklampsie ernst zu nehmen. Das traditionelle Präeklampsiekriterium Hypertonie konnte bei 38% der Eklampsiefälle nicht nachgewiesen werden [10]. Etwa 2/3 der Eklampsien treten prä- und intrapartal auf, 1/3 in den ersten 2 Tagen (selten auch später) nach der Entbindung. Dabei kommt es v. a. bei Entbindungen am Termin gehäuft zu postpartalen Krampfanfällen. Charakteristisch sind tonisch-klonische Krämpfe, die, meist an den Extremitäten beginnend, sich auf den Stamm ausbreiten und von einem epileptischen Anfall kaum zu unterscheiden sind. i Die Letalität einer Eklampsie ist hoch, für Schwangere beträgt sie bis zu 2–5%, für Feten bis zu 20% – ein eklamptischer Krampfanfall muss deshalb immer therapiert werden.
Differenzialdiagnose der Eklampsie 5 Epilepsie 5 Epileptiforme Krampanfälle bei – zerebrovaskulärem Insult (Ischämie, Sinusvenenthrombose) – intrakranieller Raumforderung (Hirnödem, Hämorrhagie) – Meningitis/Enzephalitis – toxisch-metabolischen Störungen (Kokainabusus, Hypound Hyperglykämie, Hyponatriämie, Hypokalzämie)
81
– Urinausscheidung (>50 ml/h) – Dosisanpassung bei Oligurie – Atemfrequenz (>14/min) oder Pulsoxymetrie (>95%) 5 Bei klinischen Hinweisen auf Magnesiumüberdosierung: – Stopp der MgSO4-Infusion – Kalziumglukonat 10% 10 ml i.v. über 3 min – Sauerstoff (Gesichtsmaske), Intubation und Beatmung bei Atermstillstand – Kardiopulmonale Reanimation (Asystolie); Sectio in moribunda
Nach der Entbindung sollte bei allen Patientinnen mit schwerer Präeklampsie und HELLP-Syndrom die intravenöse Magnesiumprophylaxe und Blutdrucktherapie für 48 h auf einer Intensivstation fortgesetzt werden, da eklamptische Krampfanfälle sowie ein HELLP-Syndrom auch postpartal auftreten können. Die intensivmedizinische Betreuung sollte gleichzeitig für eine intensivierte Atemtherapie sowie die Normalisierung des Flüssigkeits- und Elektrolythaushaltes (Therapie von Ödemen mit Schleifendiuretika) genutzt werden. Die kritisch kranke Schwangere benötigt somit eine multidisziplinäre Betreuung bis in die postpartale Phase, um einen optimalen Ausgang für Mutter und Kind zu garantieren.
Therapie der Eklampsie Prophylaxe der Eklampsie Die prophylaktische Wirkung von Magnesiumsulfat wurde in einer prospektiven Multicenterstudie mit 10.141 Patientinnen, die in der Mehrzahl aus Schwellenländern stammten und an einer schweren Präeklampsie litten, nachgewiesen [1]. Das Eklampsierisiko wurde halbiert, bei schwerer Präeklampsie wurde auf 63 Patientinnen eine Eklampsie verhindert (»number needed to treat«; NNT), bei leichter Präeklampsie mussten 109 behandelt werden. Ebenso wurde das mütterliche Mortalitätsrisiko insignifikant gesenkt. Die prophylaktische Wirksamkeit von Magnesiumsulfat wurde in weiteren großen prospektiv randomisierten Untersuchungen bestätigt, gemäß welchen das Eklampsierisiko von 2% auf 0,6% reduziert wurde [29]. Da diese prophylaktische Wirksamkeit von Magnesiumsulfat in zwei randomisierten Studien bei milder Präeklampsie jedoch nicht nachgewiesen wurde, ist diese Therapie wohl bei schwerer, nicht aber bei milder Präeklampsie indiziert [28]. Magnesiumtherapie (MgSO4) 5 Dosierung: – »loading dose« von 3–4 g MgSO4 als Kurzinfusion über 20 min – Erhaltungsdosis von 1–3 g/h als Dauerinfusion bis 24–48 h nach der Entbindung, normale Nierenfunktion vorausgesetzt 5 Kontrolle folgender Parameter: – Serummagnesiumspiegel – therapeutischer Bereich 2,0–4,0 mmol/l – Patellarsehnenreflex nicht auslösbar >5 mmol/l) – Atemdepression >6 mmol/l – Herzstillstand >12 mmol/l 6
Von einer Eklampsie ist auszugehen, wenn bei einer Schwangeren mit Präeklampsie und neurologisch blander Anamnese ein tonisch-klonischer Krampfanfall auftritt. Es handelt sich also um eine Ausschlussdiagnose (7 s. oben). Wichtigste Maßnahmen bei der Eklampsie 5 Therapie des Anfalls und Prophylaxe weiterer Konvulsionen: – MgSO4 als Mittel der Wahl: »loading dose« von 3–4 g als Kurzinfusion über 5 min, anschließend eine Dauerinfusion von 1–3 g MgSO4/h – Mütterliche Nebenwirkungen: Wärmegefühl, Flush, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und Palpitationen – Fetale Nebenwirkungen (MgSO4 passiert die Plazenta): Verringerung der basalen Herzfrequenz und Einengung der Oszillationsamplitude – Diazepam als Alternative in einer Dosierung von 0,1–0,3 mg/kg KG – Risiko des Atemstillstands bei Polypharmazie erhöht – Im Unterschied zu MgSO4 kein Einfluss auf mütterliche Mortalität: Relatives Risiko (RR) unter MgSO4 vs. Diazepam 0,59 [12]. I – Im Unterschied zu MgSO4 kein (neuro-)protektiver fetaler Effekt: 5-min-Apgar-Wert <7 MgSO4 vs. Diazepam RR 0,72; Intensivbehandlung >7 Tage RR 0,66 [12] – Stabilisierung des Zustands der Mutter unter Monitoring der Vitalfunktionen 6
1068
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
5 Schutz vor Sekundärschaden (Hypoxie, Aspiration, Körperverletzungen) – Sauerstoffgabe, Seitenlagerung, H2-Blocker, Metoclopramid, Natriumzitrat 5 Korrektur des Volumenstatus (Hypovolämie, Oligurie) – Kontrolle der Flüssigkeitbilanz: Zufuhr/Ausfuhr (Dauerkatheter) – Korrektur einer Hypovolämie: primär Kristalloide, sekundär auch Kolloide (Hydroxyethylstärke; HES) vor vasodilatativer Therapie bzw. rückenmarknaher Regionalanästhesie; Blut bzw. Blutprodukte gelten als wichtige Risikofaktoren für das Auftreten eines Lungenödems [32] Cave: Erhöhtes Lungenödemrisiko: »capillary leak syndrome«, tiefer onkotischer Druck (Hypalbuminämie), Steroidtherapie (Lungenreifung) in Kombination mit Tokolyse (E-Stimulation).
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Entbindung und postpartale Betreuung 5 Entbindung nach Stabilisierung, da in bis zu 10% trotz MgSO4-Therapie ein weiterer Anfall auftreten kann [29] – Keine Notfallsectio: Optimierung des Zustands der Mutter hat Priorität – Dringliche Sectio: persistierende fetale Bradykardie und/oder späte Dezelerationen (Differenzialdiagnose Abruptio placentae) 5 Postpartale Betreuung (Überwachungs- bzw. Intensivstation): – Fortsetzung der MgSO4-Therapie (24–48 h) (in einer prospektiv erfassten Kohorte aus den Jahren 1999/2003 traten 32% der eklamptischen Anfälle postpartal auf [32]) – Verlaufskontrolle – Anpassung der antihypertensiven Therapie – HELLP-Syndrom post partum (Inzidenz 31% [2]) – Korrektur der Hypervolämie (negative Bilanzierung) – Rehabilitation (Mobilisation, Physiotherapie)
Geburtsmodus und intrapartales Vorgehen Aus den pathophysiologischen Veränderungen wird deutlich, dass die Geburt und damit die Entfernung der Plazenta die kausale Therapie der Erkrankungen des präeklamptischen Formenkreises ist. Deshalb bedürfen Patientinnen nach der 34.–36. SSW meist nur einer kurzen antepartalen Stabilisierung und einer postpartalen Intensivtherapie. In früher auftretenden Fällen (<32‒34 SSW) kann eine längere, abwartende Therapie die Schwangerschaft verlängern und damit die kindliche Morbidität und Mortalität senken [34]. Um ein optimales Ergebnis zu gewährleisten, sollten dabei Geburtshelfer, Anästhesisten, Neonatologen und Intensivmediziner eng zusammenarbeiten. Es gibt keine prospektiv randomisierten Untersuchungen zur Frage des besten Geburtsmodus bei Schwangeren mit einer Präeklampsie. Bei leichter Schwangerschaftshypertonie oder Präeklampsie und komplikationslos vorangeschrittener Geburt
sowie unbeeinträchtigtem fetalem Zustand kann eine vaginale Geburt angestrebt werden. Bei schwerer Präeklampsie kann ebenfalls eine vaginale Geburt angestrebt werden, wenn die geburtshilflichen Befunde günstig sind und das Schwangerschaftsalter über der 22. SSW liegt. In einer retrospektive Fallanalyse (n=114) wurde keine Verbesserung des mütterlichen oder neonatalen Outcome bei dringlicher Sectio nach der 32. SSW nachgewiesen, wohl aber ein höheres mütterliches und neonatales pulmonales Morbiditätsrisiko als bei vaginaler Entbindung [7]. Durch kontinuierliche klinische und CTG-Überwachung wird dem bei Präeklampsie peripartal erhöhten Risiko einer vorzeitigen Plazentalösung bzw. pathologischer CTG-Befunde Rechnung getragen. 81.6.4 Nierenversagen Die Verminderung des renalen Blutflusses und der glomerulären Filtrationsrate im Rahmen einer schweren Präeklampsie ist auf Vasospasmen, thrombotische Mikroangiopathie und prärenale Hypovolämie zurückzuführen; im Falle eines HELLP-Syndroms auch auf eine direkte tubuläre Schädigung durch Hämaturie und Hämoglobinurie bei Hämolyse. Ein Nierenversagen, als Diurese <500 ml/24 h definiert, wird oft durch zusätzliche Faktoren (HELLP, Hämorrhagie, Sepsis) ausgelöst [32]. Sie unterscheidet sich von der pränatalen Niereninsuffizienz durch eine erniedrigte Urinosmolalität. Grundsätze von Prophylaxe und Therapie des Nierenversagens 5 Korrektur einer Hypovolämie: Kristalloidlösung als Bolus 300–500 ml (7 s. oben) 5 Kontrolle der Flüssigkeitsbilanz: Zufuhr (1–2 ml/kg KG/h), Ausfuhr (>30 ml/h), Gewichtskontrolle 5 Schleifendiuretika (Furosemid): vor Korrektur des Volumendefizits und präpartal kontraindiziert (Ausnahme: Lungenödem) 5 Katecholamine niedrig dosiert: verbesserte Diurese [17] 5 Invasives Monitoring des rechts- bzw. linksventrikulären Preloads (ZVD bzw. PCWP): Als Routine nicht empfohlen; keine Literaturhinweise, die einen positiven Einfluss auf mütterliches, fetales oder geburthsilfliches Outcome belegen [20] Indikationen: persistierende Oligurie/Anurie nach Volumenkorrektur bzw. Auftreten eines Lungenödems oder einer Herzerkrankung [6] – Persistierende Oligurie bei ZVD <10 mm Hg: balancierte Elektrolytlösung bzw. Kolloid 300–500 ml – Persistierende Oligurie bei ZVD >10 mm Hg: Furosemid 20 mg i.v. 5 Hämodialyse bzw. Hämofiltration: Inzidenz in industrialisierten Ländern 0,01%
81.6.5 Respiratorische Insuffizienz Der hohe hydrostatisch-onkotische Druckgradient und die gestörte Gefäßpermeabilität begünstigen die Entwicklung eines Lungenödems bei Präeklampsie. Tokolytika, Steroide, korrektive
1069 81.7 · Betreuung des Neugeborenen bei Präeklampsie
Infusionstherapie und peripartale Volumenverschiebungen können in vielen Fällen als zusätzliche Risikofaktoren nachgewiesen werden [24]. Die Diagnose stützt sich in erster Linie auf Klinik und Pulsoxymetrie, auf eine Bestimmung des ZVD kann wegen schlechter Korrelation mit dem PCWP meist verzichtet werden [4].
81
verminderten Wachstum glialer Zellen. Die Ausprägung der intrauterinen Wachstumsrestriktion durch die nutritive und respiratorische Insuffizienz hängt vom Schweregrad der Präeklampsie und damit vom Grad der fetalen Hypoxämie und Azidose und dem Gestationsalter bei der Geburt ab. Auf diesem Hintergrund ist eine Verbesserung der Oxygenation durch eine Lungereifung sowie die Vermeidung einer mütterlichen Hypoxämie essenziell.
Prophylaxe und Therapie der respiratorischen Insuffizienz 5 Flüssigkeitsrestriktion (1–2 ml/kg KG/h) und Diuretika (Lungenödem) 5 Supportive Maßnahmen (O2-Maske, CPAP, BiPAP, Intubation und Beatmung) 5 Antibiotika (Peumonie, puerperale Sepsis, ARDS) 5 Invasives hämodynamisches Monitoring 5 Stellenwert der auf PiCCO beruhenden Bestimmung der intrathorakalen Flüssigkeitsvolumina bei Präeklampsie noch nicht definiert
81.7.2 Einfluss der Präeklampsie auf das
Neugeborene Das Neugeborene einer Mutter mit Präeklampsie ist durch chronische intrauterine Hypoxie bereits präpartal einem erhöhten Stress ausgesetzt, der im Fall einer vorzeitigen Plazentalösung intrapartal bedrohlich zunehmen kann. Einfluss der Präeklampsie auf das Neugeborene
81.6.6 Gerinnungsstörungen, Thrombozytopenie Eine disseminierte intravaskuläre Gerinnungungsstörung (DIG) tritt mit einer Inzidenz von bis zu 20% sowohl bei vorzeitiger Plazentalösung als auch akutem Nierenversagen im Rahmen eines HELLP-Syndroms auf [13]. Sie gewinnt an Bedeutung, wenn gleichzeitig eine Thrombozytopenie vorliegt. Von einem erhöhten Blutungsrisiko muss bei einer isolierten Thrombozytopenie <50.000/Pl ausgegangen werden, sie gilt ohne Thrombozytensubstitution als Kontraindikation für eine Sectio oder rückenmarknahe Anästhesie. Eine Substitutionstherapie ist jedoch ohne manifeste Blutungsneigung selbst bei Thrombozyten <25.000/Pl selten indiziert [3], da die verabreichten Thrombozyten sofort in mikroangiopathischen Thrombosen verbraucht werden. 81.7
Betreuung des Neugeborenen bei Präeklampsie
Die etablierte Präeklampsie schreitet mit variabler Geschwindigkeit fort bis zur Geburt von Fetus und Plazenta. Deshalb sind mütterliche und kindliche Interessen, außer in schweren Fällen von uteroplazentarer Insuffizienz und intrauteriner Wachstumsrestriktion, nicht immer leicht zu vereinbaren. Ohne alternative Behandlungsmöglichkeit zur vorzeitigen Entbindung bleibt die Präeklampsie eine wichtige Ursache iatrogener Frühgeburtlichkeit.
5 Folgen der intrauterinen Wachstumsrestriktion – Neonatalperiode: – häufigerer Reanimationsbedarf – vermehrte Mortalität und Morbidität – längerer stationärer Aufenthalt – Spätfolgen: – erhöhtes Risiko eines metabolischen Syndroms (arterielle Hypertonie, Übergewicht, koronare Herz-erkrankung, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen) in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter 5 Abnormitäten des Blutbildes – Neutropenie: tritt bei 40–50% der Neugeborenen durch eine verminder te Produktion von neutrophilen Granulozyten auf; diese in der Regel vorübergehende Erscheinung erhöht in seiner schweren Form (<500/Pl) die Infektionsgefahr der Neugeborenen – Thrombopenie: hypoxische Schädigung der fetalen Megakaryozyten bei intrauteriner Wachstumsrestriktion; gestörte Blutgerinnung mit nicht signifikant erhöhter Hirn- und Lungenblutungsneigung – Polyglobulie 5 Neurologische und psychomotorische Entwicklung – Präeklampsie und intrauterine Wachstumsrestriktion sind unabhängige Risikofaktoren für – zerebrale Ischämien mit vermehrtem Auftreten von Zerebralparesen, Epilepsien sowie motorischen und kognitiven Störungen – neonatale Enzephalopathie
81.7.1 Einfluss der Präeklampsie auf den Feten Bei Feten von Müttern mit Präeklampsie besteht keine Evidenz für eine beschleunigte Lungenreifung oder neurologische und körperliche Entwicklung. Im Gegenteil scheint die Präeklampsie eher mit einer verzögerten Lungenentwicklung verbunden zu sein. Durch den chronischen Mangel an Sauerstoff, Proteinen und Eisen kommt es im Gehirn dieser Feten zu einer herabgesetzten Myelinisation der Ner venzellen sowie zu einem
81.7.3 Einfluss der mütterlichen Behandlung
der Präeklampsie auf das Neugeborene Die iatrogene, frühzeitige Entbindung beeinflusst die neonatale Morbidität und Mortalität in Abhängigkeit von Gestationsalter und intrauteriner Wachstumsrestriktion. Die Behandlung der Mutter führt häufig zu Komplikationen.
1070
Kapitel 81 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
Einfluss der mütterlichen Behandlung auf das Neugeborene 5 Komplikationen bei Frühgeburtlichkeit: – Atemnotsyndrom des Frühgeborenen durch Surfactantmangel – bronchopulmonale Dysplasien – nekrotisierende Enterokolitis – Retinopathie des Frühgeborenen 5 Hypermagnesiämie durch den Übertritt des therapeutisch verabreichten Magnesiums in die fetale Zirkulation und dessen Konkurrenz zu Kalzium – Muskelrelaxation mit neonataler Muskelhypotonie und Bewegungsarmut – neonatale Atemdepression – verminderte gastrointestinale Motilität mit verzögertem enteralem Nahrungsaufbau 5 Hyponatriämie durch den plazentaren Übertritt von freiem Wasser beim Einsatz von Glukoselösungen bei der Mutter
81 Literatur 1. Altman D, Carroli G, Duley L, Farrell B, Moodley J, Neilson J, Smith D (2002) Do women with pre-eclampsia, and their babies, benefit from magnesium sulphate? The Magpie Trial: a randomised placebo-controlled trial. Lancet 359: 1877–1890 2. Audibert F, Friedman SA, Frangieh AY, Sibai BM (1996) Clinical utility of strict diagnostic criteria for the HELLP (hemolysis, elevated liver enzymes, and low platelets) syndrome. Am J Obstet Gynecol 175: 460–464 3. Baxter JK, Weinstein L (2004) HELLP syndrome: the state of the art. Obstet Gynecol Surv 59: 838–845 4. Bolte AC, Dekker GA, van Eyck J, van Schijndel RS, van Geijn HP (2000) Lack of agreement between central venous pressure and pulmonary capillary wedge pressure in preeclampsia. Hypertens Pregn 19: 261–271 5. CEMACH The sixth Report on Confidential Enquiry into Maternal and Child Health. Why mothers die 2000–2002. (2004). RCOG Press, London, pp 79–85 6. Clark SL, Cotton DB (1988) Clinical indications for pulmonary artery catheterization in the patient with severe preeclampsia. Am J Obstet Gynecol 158: 453–458 7. Coppage KH, Polzin WJ (2002) Severe preeclampsia and delivery outcomes: is immediate cesarean delivery beneficial? Am J Obstet Gynecol 186: 921–923 8. Dekker G, Sibai B (2001) Primary, secondary, and tertiary prevention of pre-eclampsia. Lancet 357: 209–215 9. Dekker GA, Sibai BM (1998) Etiology and pathogenesis of preeclampsia: current concepts. Am J Obstet Gynecol 179: 1359–1375 10. Douglas KA, Redman CW (1994) Eclampsia in the United Kingdom. Br Med J 309: 1395–1400 11. Duckitt K, Harrington D (2005) Risk factors for pre-eclampsia at antenatal booking: systematic review of controlled studies. Br Med J 330: 565 12. Duley L (2003) Pre-eclampsia and the hypertensive disorders of pregnancy. Br Med Bull 67: 161–176 13. Haddad B, Barton JR, Livingston JC, Chahine R, Sibai BM (2000) Risk factors for adverse maternal outcomes among women with HELLP (hemolysis, elevated liver enzymes, and low platelet count) syndrome. Am J Obstet Gynecol 183: 444–448 14. Lapinsky SE, Kruczynski K, Slutsky AS (1995) Critical care in the pregnant patient. Am J Respir Crit Care Med 152: 427–455
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82 Anaphylaktischer Schock U. Müller-Werdan, K. Werdan
82.1
Definitionen, Pathogenese
–1072
82.1.1 82.1.2
Anaphylaktische Reaktionen –1072 Anaphylaktoide Reaktionen –1072
82.2
Pathophysiologie und Pathologie
82.3
Inzidenz und Ursachen
82.4
Klinik
82.5
Diagnose und Therapie
82.5.1 82.5.2
Allgemeine Maßnahmen –1075 Medikamentöse Therapie –1076
82.6
Nachbehandlung und Prophylaxe
82.6.1 82.6.2 82.6.3 82.6.4
Allgemeine Empfehlungen –1076 Vorgehen bei bekannter Allergie auf iodhaltige Kontrastmittel –1076 Promitprophylaxe vor Dextraninfusionen –1078 Experimentelle Therapieansätze –1078
–1072
–1072
–1074
Literatur
–1078
–1074
–1076
1072
Kapitel 82 · Anaphylaktischer Schock
82.1
Definitionen, Pathogenese
Der anaphylaktische Schock ist ein akut eintretender Schockzustand, der durch anaphylaktische und anaphylaktoide Reaktionen ausgelöst wird. Der Blutdruckabfall infolge Vasodilatation mit relativer Hypovolämie kann mit folgenden Begleitsymptomen einhergehen: 4 Erythem, 4 Urtikaria, 4 Angioödem (Quincke-Ödem), 4 Bronchospasmus, 4 Larynxödem. Der anaphylaktische Schock ist typischerweise ein »warmer« Schockzustand. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Schock« der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin hat folgende Definition vorgeschlagen [2]: Der anaphylaktische Schock ist eine akute Verteilungsstörung des Blutvolumens im Sinn des distributiven Schocks, die durch IgE-abhängige, Typ-I-allergische, klassisch-anaphylaktische Überempfindlichkeitsreaktionen bzw. physikalisch, chemisch oder osmotisch bedingte, IgE-unabhängige anaphylaktoide Überempfindlichkeitsreaktionen ausgelöst wird.
82
82.1.1 Anaphylaktische Reaktionen Klassische anaphylaktische Reaktionen sind IgE-vermittelte allergische Reaktionen auf ein meist bivalentes Antigen, entsprechend einer Typ-I-Reaktion nach Gell und Coombs, die perakut und generalisiert ablaufen. Antibiotika, Insekten- und Schlangengifte, Impfstoffe, Seren und Nahrungsmittel gehören zu den typischen auslösenden Allergenen. IgE-spezifische Effektorzellen der Immunantwort sind im wesentlichen Mastzellen und basophile Granulozyten, die nach Stimulation ein ähnliches Spektrum proinflammatorischer, sog. primärer Mediatoren (Histamin, Prostaglandine, Leukotriene, PAF u. a.) freisetzen und damit das klinische Erscheinungsbild der Anaphylaxie hervorrufen. Beide Zellarten setzen chemotaktische Faktoren frei, die weitere Zellen des Abwehrsystems anlocken, deren Sekretionsprodukte sekundäre Mediatoren im Entzündungsgeschehen sind: Den eosinophilen Granulozyten wird eine modulierende Wirkung auf diese proinflammatorischen Kaskaden zugeschrieben, hervorgerufen durch die Freisetzung von Substanzen, die Leukotriene und Histamine inaktivieren. Neutrophile Granulozyten und Thrombozyten und deren zahlreiche Freisetzungsprodukte spielen vermutlich v.a. bei Spätreaktionen eine wesentliche Rolle, die, wie bei allen Typ-I-Allergien, auch bei der Anaphylaxie komplizierend 6–12 h nach dem initialen Ereignis auftreten können. 82.1.2 Anaphylaktoide Reaktionen Von der klassischen Anaphylaxie abzugrenzen sind IgE-unabhängige Unverträglichkeitsreaktionen ohne vorausgehende Sensibilisierung mit einem sehr ähnlichen oder identischen klinischen Erscheinungsbild: Bei anaphylaktoiden Reaktionen (typischerweise ausgelöst z. B. durch Röntgenkontrastmittel, Salicylate und Opioide) kommt es durch chemische, physikalische oder
osmotische Stimuli zur Mediatorfreisetzung aus Mastzellen und basophilen Granulozyten. Der Begriff »anaphylaktoide Reaktion« kann auch als Oberbegriff für akute Unverträglichkeitsreaktionen mit den Symptomen einer Anaphylaxie verwendet werden, ohne damit eine Aussage zum Pathomechanismus zu verknüpfen.
Idiopathische Anaphylaxie Diese kann typischerweise bei jungen Erwachsenen auftreten, häufig nachts oder postprandial; auslösende Faktoren und Effektorzellen sind unbekannt.
Anaphylaxis factitia Die Anaphylaxis factitia wird dem Münchhausen-Syndrom zugerechnet. 82.2
Pathophysiologie und Pathologie
Der kumulative Effekt der freigesetzten Mediatoren besteht im Wesentlichen in einer erhöhten Gefäßpermeabilität, einer ausgeprägten Vasodilatation und einem Bronchospasmus. Autoptisch wurde bei tödlich verlaufenden Anaphylaxien ein Lungenödem mit oftmals flüssigkeitsgefüllten Alveolen, ein Ödem der oberen Atemwege einschließlich des Larynx und der Epiglottis, der Haut und der viszeralen Organe gefunden. Auch eine pulmonale Überblähung wird häufig im Zusammenhang mit Ödemen der oberen Atemwege beobachtet. In anderen Fällen kommt es zu einer ausgeprägten Bronchokonstriktion. 82.3
Inzidenz und Ursachen
Genaue Zahlen zur Inzidenz anaphylaktischer und anaphylaktoider Reaktionen sind aufgrund deren Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit nicht bekannt. Nach einer älteren Untersuchung kommt es bei ca. 1/2700 hospitalisierten Patienten zu einer medikamenteninduzierten Anaphylaxie. Die Arbeitsgruppe des American College of Allergy, Asthma and Immunology zur Epidemiologie der Anaphylaxie [16] kam auf der Grundlage der publizierten Literatur zu aktuellen Schätzungen des Risikos einer anaphylaktischen Reaktion; dieses wird beziffert auf 50‒2000 Episoden pro 100.000 Personen oder als Lebenszeitprävalenz von 0,005‒2,0%.
Medikamente β-Laktamantibiotika. Nach Schätzungen ist bei Verabrei-
chung von Penicillin bei 1:10.000 Patienten mit einer Anaphylaxie zu rechnen, die in 9% der Fälle tödlich verläuft, sodass z. B. in den USA jährlich mit mehreren Hundert Todesfällen zu rechnen ist [3]. Auch die Einnahme von Cephalosporinen und neueren β-Laktamantibiotika kann zur Anaphylaxie führen. i Es wird geschätzt, dass bei etwa 3–7% der Patienten mit Penicillin-Allergie Kreuzreaktionen gegen ein Cephalosporin auftreten. Chinolone. Die Häufigkeit anaphylaktischer Reaktionen bei Einsatz von Fluorchinolonen wird auf 1,8–23 pro 10 Mio. Behandlungstage geschätzt [4].
1073 82.3 · Inzidenz und Ursachen
Iodhaltige Kontrastmittel. Etwa 200–800 Todesfälle sollen in
den USA jährlich zu Lasten iodhaltiger Kontrastmittel gehen [6]. Dagegen gelten schwere anaphylaktoide Reaktionen auf Kontrastmittel mit Gadoliniumchelaten, welche im Rahmen von Magnetresonanztomographien eingesetzt werden, als extrem selten, mildere Unverträglichkeitsreaktionen kommen bei einem sehr niedrigen Prozentsatz der Patienten vor [22]. Kolloidale Infusionslösungen. Folgende Inzidenzen anaphylaktoider Reaktionen wurden für den Einsatz von kolloidalen Volumenersatzlösungen berichtet (zit. in [18]): 4 0,069% für Dextran 70.000, 6%, 4 0,085% für Hydroxyethylstärke 450.000, 6%, und für Hydroxyethylstärke 200.000, 10%, 4 0,066–0,146% für Gelatine 3%, 4 0,011% für Albumin 5%.
Eine weitere, prospektiv angelegte Studie [13] berichtete über eine Inzidenz anaphylaktoider Reaktionen auf Gelatinepräparate von 0,345%, auf Dextrane von 0,273%, auf Albumin von 0,099% und auf Stärkepräparate von 0,058%. Die insgesamt niedrige Inzidenz anaphylaktoider Reaktionen – in dieser französischen Studie bei einem von 456 Patienten – erklärt die Schwankungsbreite der Zahlenangaben.
Insekten, Schlangen Typische Verursacher der Anaphylaxie sind Insektengifte, übertragen durch Stiche der Tiere der Ordnung Hymenoptera (u. a. Bienen, Wespen, Hornissen), und Schlangengifte (z. B. Klapperschlangen, Mokkassinschlangen), die neben toxischen auch schwere allergische Reaktionen hervorrufen können. Etwa 0,5– 5% der Bevölkerung haben schon eine schwere allergische Reaktion auf einen Insektenstich durchgemacht, und 1% dieser Reaktionen kann in eine lebensbedrohliche Anaphylaxie münden [6].
Nahrungsmittel Schwierig ist bei akuten Reaktionen nach Mahlzeiten die Abgrenzung allergischer Reaktionen gegenüber Nahrungsmittelintoleranzen und Bakterientoxinerkrankungen. Nahrungsmittelallergien bestehen bei etwa 1–6% der Kinder und sind im Erwachsenenalter seltener anzutreffen. Schwere anaphylaktische Reaktionen auf Nahrungsmittel sind eher selten, jedoch gehäuft für Erdnüsse, Sojabohnen, Eiweiß und Schalentiere beschrieben worden.
Latexallergie Die Inzidenz latexallergischer Anaphylaxien nimmt zu. Diese können durch die Benutzung von Latexhandschuhen ausgelöst werden; es sind aber auch Anaphylaxien bei Anwendung von Latexkathetern oder Kondomen beschrieben worden. Im Gefolge der Aids-Epidemie hat sich die weltweite Latexproduktion mehr als verdoppelt. Auch wenn keine exakten epidemiologischen Daten vorliegen, ist davon auszugehen, dass etwa 7–18% [9] der Ärzte und des Pflegepersonals auf Latex allergisch reagieren. Gefährdet sind neben dem medizinischen Personal und den Arbeitern aus der latexverarbeitenden Industrie v.a. Patienten, die sich mehreren operativen Eingriffen unterzogen haben. Ganz besonders hoch ist der Anteil sensibilisierter Spina-bifida-Patienten (mehr als 50%). Ein hohes Allergisierungspotential haben auch Schleimhautkontakte, z. B. bei urogenitalen Katheterisierungen oder Bariumkontrasteinläufen.
82
Inzwischen stehen kommerzielle Tests zur Verfügung, die präoperativ innerhalb weniger Stunden eine Aussage darüber zulassen, ob bei einem Patienten latexspezifische IgE-Antikörper im Serum vorhanden sind. Von den im Naturlatex enthaltenen Polypeptiden zeigen etwa 60 IgE-bindende Eigenschaften, viele der Allergene sind mittlerweile molekular identifiziert [19]. Überzufällig häufig ist die Latexallergie mit Nahrungsmittelallergien verbunden, oft gegen exotische Früchte wie Avocado, Banane, Kiwi, Passionsfrucht, aber auch Kastanien.
Weitere Einflussfaktoren Anaphylaktische Reaktionen treten nicht regelhaft auf, kommen aber, wie alle anderen Formen der Typ-I-Allergie, bei genetisch prädisponierten Individuen gehäuft vor. Bei Atopikern sollen anaphylaktische/ anaphylaktoide Reaktionen stärker verlaufen, ebenso bei Patienten unter Therapie mit ACE-Hemmern oder E-Rezeptorenblockern. Hat der Patient bereits eine oder mehrere Überempfindlichkeitsreaktionen erlitten, so ist das Risiko einer weiteren Reaktion erhöht. Bei Patienten, die an einer Virusinfektion erkrankt sind (Aids, infektiöse Mononukleose, Cytomegalievirus), ist das Risiko unerwünschter und multipler Arzneimittelwirkungen erhöht [28]. Anaphylaktische Reaktionen treten häufiger nach intravenöser als nach oraler Allergenzufuhr auf, daher ist der anaphylaktische Schock nicht selten iatrogen verursacht.
Anaphylaktoide Narkosezwischenfälle Anaphylaktoide Narkosezwischenfälle bis hin zum Herzstillstand treten nach einer umfangreichen französischen Studie mit einer Inzidenz von 1:4500–1:6000 Allgemeinanästhesien auf. In ca. 6% der Fälle kam es trotz adäquater Therapie zum Tod des Patienten. Auslösende Agenzien waren in 60–70% der Fälle Muskelrelaxanzien, in ca. 18% Latexprodukte und in ca. 5% kolloidale Volumenersatzmittel [9]. Auch in einer neueren Studie waren wesentliche Allergene, die in der perioperativen Phase zur Anaphylaxie führten, Muskelrelaxanzien (am häufigsten) und Latex [14]. Bei klaren Verdachtshinweisen kann bei Risikopatienten eine präoperative Diagnostik zum Nachweis von IgE-Antikörpern sinnvoll sein. Aufgrund struktureller Besonderheiten (quartäre Ammoniumgruppe) können alle Muskelrelaxanzien Unverträglichkeitsreaktionen hervorrufen. Aber auch Opioide, Lokalanästhetika und andere Anästhetika wurden als potenziell anaphylaktoid wirkende Agenzien identifiziert. Zahlreiche Substanzen, die in der Intensivmedizin und Anästhesiologie eingesetzt werden, können anaphylaktische/anaphylaktoide Reaktionen auslösen [6, 28]. Wie die Mainz-Marburg-Studie [17] an 240 allgemeinchirurgischen Patienten zeigen konnte, ist eine Histaminfreisetzung in der perioperativen Phase ein häufiges Ereignis und wird wegen fehlender Hautreaktionen oft fehlinterpretiert. Histaminfreisetzung wurde nach jedem Medikament der Narkoseeinleitung und Narkoseerhaltung gemessen. Bei den meisten Patienten ist sie klinisch unbedeutend, bei einigen besonders empfindlichen Patienten aber exzessiv und kann dann zu kardiorespiratorischen Störungen führen. Patienten mit Tumoren sind eine spezielle Risikogruppe für das Auftreten von histaminbedingten kardiorespiratorischen Störungen.
Prophylaxe Eine Prophylaxe mit Fenistil (0,1 mg/kg KG) und Cimetidin (5 mg/kg KG) 15 min vor Narkoseeinleitung kann die histamin-
1074
Kapitel 82 · Anaphylaktischer Schock
bedingten kardiorespiratorischen Störungen vor dem Hautschnitt möglicherweise reduzieren, wird in der klinischen Routine aber nur bei besonders gefährdeten Patienten durchgeführt. Statt Cimetidin, das stark an Cytochrom P450 bindet, können auch neuere H2-Blocker verwendet werden.
Protamin Anaphylaktische Reaktionen auf Protamin zur Neutralisation der Heparinwirkung wurden gehäuft bei Diabetikern beobachtet, die protaminhaltige Insulinpräparate erhalten hatten [23]. 82.4
82
Klinik
Eine klinische Unterscheidung zwischen anaphylaktischer und anaphylaktoider Reaktion ist nicht möglich. Im Folgenden ist daher von anaphylaktoiden Reaktionen oder Anaphylaxie als Oberbegriffen die Rede. Das klinische Bild anaphylaktoider Reaktionen variiert interindividuell stark, auch in Abhängigkeit vom Antigeneintrittsort, der Absorptionsrate und dem Ausmaß der Sensibilisierung. Initial können daher abdominelle Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle, kolikartige Beschwerden, Uteruskrämpfe, Harn-/ Stuhldrang bis zum unwillkürlichen Abgang von Stuhl und Harn, selten Darmblutungen), Hauterscheinungen oder Beschwerden von Seiten des Respirationstraktes im Vordergrund stehen. Das zeitliche Intervall bis zum Auftreten von Beschwerden kann Minuten bis mehrere Stunden betragen, ganz überwiegend treten die Symptome jedoch innerhalb der ersten Stunde nach Antigenexposition auf. ! Cave Der Verlauf ist unberechenbar: Anaphylaktoide Reaktionen können spontan zum Stillstand kommen oder unter adäquater Therapie progredient verlaufen. In schweren Fällen, etwa bei intravenöser Antigenexposition, kann ohne Hauterscheinungen und Atembeschwerden unmittelbar ein Schock ausgelöst werden.
Hauterscheinungen Die sich meist sehr rasch entwickelnde systemische Reaktion geht in über 90% der Fälle mit Hauterscheinungen wie Pruritus, Flush oder Erythem einher, in schweren Fällen mit Urtikaria und Angioödem. Während es sich bei der Urtikaria um eine oberflächlich dermale Quaddelbildung handelt, ist das Angioödem (Quincke-Ödem) eine umschriebene teigig-ödematöse subkutane Schwellung von Haut und Schleimhäuten, die häufig an Augenlidern, Lippen, Genitalien und den Extremitäten (in Gelenknähe) auftritt. Am Anfang allergischer Sofortreaktionen stehen oft Juckreiz und/oder Brennen an Handinnenflächen und Fußsohlen, perioral oder/und perianal, sowie ein Kribbeln im Rachen, während Unverträglichkeitsreaktionen, z. B. auf Aspirin, meist im Kopfbereich beginnen und sich dann kontinuierlich kaudalwärts ausbreiten. Häufig treten Juckreiz und Schwellungen der Nasen-, Augen- und Mundschleimhaut und Ödeme der Lippen, der Augenlider und der Zunge auf.
Atemwegsobstruktion Häufig und bedrohlich sind Atemwegsobstruktionen, extrathorakal durch Ödeme im Larynx- und Pharynxbereich, intratho-
rakal durch Bronchialobstruktion. Hauptaugenmerk ist auf die mögliche Entwicklung eines Larynxödems zu richten, das sich durch Heiserkeit und Stridor ankündigen kann. Das Larynxödem ist die häufigste Todesursache bei anaphylaktoiden Reaktionen. ! Cave Das Larynxödem kann, ebenso wie die akute Schocksymptomatik, das einzige Symptom der Anaphylaxie sein! Ein Uvulaödem ist ein häufiges Frühsymptom; ein subjektives Globusgefühl ist als Alarmzeichen zu werten, auch wenn bei der oropharyngealen Untersuchung noch kein pathologischer Befund zu erheben ist [7].
Häufig entwickelt sich ein Lungenödem. In unterschiedlichem Ausmaß kann es auch zur pulmonalen Vasokonstriktion kommen, z. T. mit extremer Erhöhung des pulmonalen Gefäßwiderstands bis hin zur akuten respiratorischen Insuffizienz.
Gastrointestinale Symptome Gastrointestinale Beschwerden sind einerseits Folge der Permeabilitätsstörung des Magen-Darm-Trakts, andererseits einer gesteigerten Darmmotorik durch Histaminrezeptorstimulation. Abdominelle Koliken, Erbrechen und Diarrhö sind die Folge.
Herz-Kreislauf-Störungen Die hämodynamischen Veränderungen beim anaphylaktischen Schock sind bekannt. Im Vordergrund stehen Hypovolämie aufgrund von Flüssigkeitsverschiebungen ins Interstitium und periphere Vasodilatation, Tachykardie oder bei fulminantem Verlauf initial reflektorische Bradykardie sowie erniedrigte kardiale Füllungsdrücke.
Bewusstseinsstörungen Inwieweit zerebrale Symptome wie Schwindel, Verwirrtheit, Synkopen, Krampfanfälle und Bewusstseinseinschränkungen bei anaphylaktischen Reaktionen die Folge einer zerebralen Minderdurchblutung oder einer direkten Einwirkung der freigesetzten Mediatoren sind, ist nicht geklärt. 82.5
Diagnose und Therapie
Die Diagnose der Anaphylaxie ergibt sich aus der Beobachtung der typischen klinischen Befunde im Zusammenhang mit der Exposition mit einem möglichen Antigen oder einem anderen Trigger einer anaphylaktoiden Reaktion (z. B. körperliche Anstrengung, Sport bei der anstrengungsbedingten Anaphylaxie). Jedoch lässt sich bei etwa 25% der anaphylaktoiden Reaktionen kein Trigger zuordnen. Experimentelle Ansätze in der Diagnostik des anaphylaktischen Schocks betreffen insbesondere die Einführung neuer diagnostischer Blutmarker, die eine Diagnose und eine Verlaufskontrolle der Erkrankung erleichtern sollen. Insbesondere die Messung erhöhter Histaminspiegel und der Nachweis von Mastzelltryptase im Plasma können – auch retrospektiv – die Diagnose einer akuten anaphylaktischen/anaphylaktoiden Reaktion sichern [14]. Mögliche Differenzialdiagnosen sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst:
1075 82.5 · Diagnose und Therapie
Erkrankungen, die mit einer anaphylaktischen/ anaphylaktoiden Reaktion verwechselt werden können (mod. nach [6]) 5 Vasovagale Episoden 5 Akute pulmonale Ereignisse – akuter Asthmaanfall – akutes Lungenödem – Lungenembolie – Spontanpneumothorax – Fremdkörperaspiration – Epiglottitis 5 Akute kardiale Ereignisse – supraventrikuläre Tachykardien – akuter Myokardinfarkt/akute Myokardischämie 5 Medikamentenüberdosierung 5 Arzneimittelunverträglichkeitsreaktionen 5 Akute Hypoglykämie 5 Karzinoidsyndrom 5 Mastozytose 5 Hereditäres Angioödem
Für die Notfalltherapie spielt die Unterscheidung zwischen anaphylaktischer und anaphylaktoider Reaktion keine Rolle. Pragmatisch sinnvoll erscheint aber eine Stadieneinteilung der Symptomatik unter Berücksichtigung der Organmanifestation, wobei der anaphylaktische Schock dem Stadium III entspricht (. Tab. 82.1). Besteht der Verdacht auf eine anaphylaktische Reaktion, so muss umgehend mit der Notfalltherapie begonnen werden; diese richtet sich nach dem klinischen Erscheinungsbild und dem mutmaßlichen Auslöser. . Tabelle 82.1. Stadieneinteilung und Symptomatik anaphylaktischer/anaphylaktoider Sofortreaktionen. (Nach [3]) Stadium
Symptomatik
0
Lokal begrenzte kutane Reaktion
I
Leichte Allgemeinreaktion: 4 disseminierte kutane Reaktionen (z. B. Flush, generalisierte Urtikaria, Pruritus) 4 Schleimhautreaktionen (z. B. Nase, Konjunktiven) 4 Allgemeinreaktionen (z. B. Unruhe, Kopfschmerz)
II
Ausgeprägte Allgemeinreaktion: 4 Kreislaufdysregulation (Blutdruck-, Pulsveränderung) 4 Luftnot (leichte Dyspnoe, beginnender Bronchospasmus) 4 Stuhl- bzw. Urindrang
III
Bedrohliche Allgemeinreaktion: 4 Schock 4 Bronchospasmus mit bedrohlicher Dyspnoe 4 Bewusstseinstrübung, -verlust, ggf. mit Stuhl-/Urinabgang
IV
Versagen der Vitalfunktionen: 4 Atem-, Kreislaufstillstand
82
Grundpfeiler der Sofortbehandlung bei Hypotension und Hypoxie sind: 4 Ausschalten des mutmaßlichen Auslösers, 4 Offenhalten der Atemwege, 4 100% O2-Zufuhr, 4 intravasale Volumengabe, 4 Anwendung von Katecholaminen bei Bedarf. In den Mitteilungen des International Liason Committee on Resuscitation (ILCOR; 10]) und des Project Team of the Resuscitation Council [20] wird die intramuskuläre Adrenalininjektion durch den Erstversorger bei schweren anaphylaktoiden Reaktionen mit Schock und/oder Atemnot empfohlen. 82.5.1 Allgemeine Maßnahmen Nach derzeitigem Kenntnisstand werden die folgenden allgemeinen Maßnahmen empfohlen [3, 6, 12]:
Unterbrechung der Antigenzufuhr Entfernung des auslösenden Agens von der Eintrittspforte (z. B. Entfernen des Insektenstachels) oder Verminderung der weiteren systemischen Absorption (z. B. Anlegen eines Tourniquets bei Eintrittspforte an einer Extremität) bzw. Unterbrechung der Antigenzufuhr. In bestimmten Situationen (z. B. Insektenstich) kann die subkutane Injektion von Adrenalin (0,1–0,2 mg) – möglichst in der Nähe der Einstichstelle – sinnvoll sein.
Adrenalin Adrenalin kann grundsätzlich intravenös, intramuskulär (sofortige Selbsttherapie von Patienten mit bekannter Allergie nach Allergenexposition bei ausgeprägten Allgemeinreaktionen mit kommerziell erhältlichen Fertigspritzen), sublingual oder endotracheal verabreicht werden. Eine inhalative Verabreichung von Adrenalin könnte insbesondere bei drohendem Larynxödem oder bei pulmonaler Symptomatik sinnvoll sein. Jedoch kommt es oft zu geringeren systemischen Wirkspiegeln bei inhalativer Adrenalinverabreichung, insbesondere bei Kindern [25]. ! Cave Die intravenöse Verabreichung von Adrenalin darf nur fraktioniert in kleinen Dosen (ca. 0,1 mg/min) sehr langsam unter Puls- und Blutdruckkontrolle erfolgen.
Im Rahmen der Erstversorgung wird bei schweren anaphylaktoiden Reaktionen mit Atemnot und/oder Hypotension – besonders bei Hauterscheinungen – die Verabreichung von Adrenalin i.m. empfohlen (500 Pg bei Erwachsenen, bei fehlender klinischer Besserung nach 5 min wiederholen [20]).
Sicherung der Atemwege In jedem Fall wird eine O2-Zufuhr über Maske empfohlen, bei bedrohlicher Hypotension und/oder Hypoxie (Dyspnoe/Zyanose) sind endotracheale Intubation und 100% O2-Beatmung indiziert. Ein Larynxödem kann die Intubation erschweren oder sogar unmöglich machen; in solchen Fällen kann die Koniotomie lebensrettend sein. Entwickelt sich eine Obstruktion der oberen Atemwege, so ist eine sofortige Intubation des Patienten erforderlich, die dann meist schwierig ist. Bei Hypoxie und Lungenödem ist häufig eine kontrollierte Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck erforderlich.
1076
Kapitel 82 · Anaphylaktischer Schock
Lagerung
Verminderte Ansprechbarkeit auf Katecholamine
Flachlagerung des Patienten, wenn möglich Schocklagerung (Ausnahme: Lungenödem).
Bei Patienten unter E-Blockertherapie sowie unter Medikation mit trizyklischen Antidepressiva besteht eine verminderte Ansprechbarkeit auf Katecholamine. Dies dürfte auch für Patienten unter ACE-Hemmertherapie zutreffen: Die Kininase II ist mit dem Angiotensin-converting-Enzym identisch, ACE-Hemmer verhindern durch die Hemmung der Kininase II den raschen Abbau der Kinine, deren Wirkung hierdurch etwa um das 50fache gesteigert wird. Durch Dosiserhöhung der Katecholamine lässt sich jedoch die erwünschte Wirkung auch bei so vorbehandelten Patienten erzielen.
Venenzugang Schon ab Stadium I: zuverlässiger, möglichst großlumiger venöser Zugang, rasche Volumensubstitution (Elektrolyt- und Kolloidlösungen).
Stationäre Aufnahme Alle Patienten mit einer anaphylaktischen Reaktion müssen stationär aufgenommen und kontinuierlich überwacht werden, auch dann, wenn die Symptome rasch auf eine adäquate Therapie ansprechen. Die Symptome können wiederkehren und sich als Spätreaktion bis zu 12 h nach dem Initialereignis manifestieren! Biphasische Reaktionen treten in etwa 20% der Fälle auf [5].
82
Die Vitalfunktionen werden mit EKG und Pulsoxymeter kontinuierlich überwacht, da Arrhythmien, myokardiale Ischämien, respiratorische Insuffizienz und Gewebshypoperfusion auftreten können. Bei Kreislaufschock und Störungen des pulmonalen Gasaustausches sowie zur Steuerung der Flüssigkeits- und Katecholamintherapie kann ein invasives hämodynamisches Monitoring (intraarterielle Blutdruckmessung, Kontrolle der zentralvenösen/kardialen Füllungsdrücke und des Herzindex) angezeigt sein [6, 26]. Die aktuelle Diskussion um den Stellenwert des Rechtsherzkatheters gibt derzeit [1] noch keinen überzeugenden Anlass zur Änderung dieser Empfehlungen.
Reanimation Die Therapie im Stadium IV richtet sich nach der jeweiligen Organinsuffizienz und dem ggf. eingetretenen Herz-Kreislauf-Stillstand.
82.6
Nachbehandlung und Prophylaxe
82.6.1 Allgemeine Empfehlungen Substanzen, die anaphylaktisch/anaphylaktoid wirken, sollten möglichst vermieden werden. Ist dies nicht möglich, wird eine Prämedikation mit H1- und H2-Blockern sowie Kortikosteroiden empfohlen. Langfristige Desensibilisierungsbehandlungen können bei Patienten sinnvoll sein, die anaphylaktisch auf Antigene, die nicht durchgehend vermeidbar sind (z. B. Insektengifte und Nahrungsmittel), reagiert haben. Alle Patienten, die eine anaphylaktische oder anaphylaktoide Reaktion durchgemacht haben, müssen allergologisch weiter abgeklärt werden. Aufklärung und Schulung zur initialen Selbstbehandlung im Falle eines Antigenkontakts (z. B. eines Insektenstichs) sollten unbedingt erfolgen. Der Patient erhält einen Allergiepass. Für anaphylaxiegefährdete Patienten kann ein Notfallset zusammengestellt werden, das die Patienten immer bei sich tragen sollten. 82.6.2 Vorgehen bei bekannter Allergie
auf iodhaltige Kontrastmittel 82.5.2 Medikamentöse Therapie Empfehlungen zur Akuttherapie anaphylaktoider Reaktionen wurden in einer interdisziplinären Konsensuskonferenz erarbeitet und 1994 in der Zeitschrift »Der Anästhesist« publiziert [3]. Ranft u. Kochs haben 2004 eine Synposis bestehender Leitlinien und Empfehlungen zur Therapie anaphylaktischer Reaktionen im Allgemeinen erstellt [21]. Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Schock« der DIVI hat in 2005 überarbeitete Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie des anaphylaktischen Schocks herausgegeben [1]. Differenzialindikationen zum Einsatz von Medikamenten zur Akuttherapie anaphylaktischer Reaktionen mit Dosierungsbeispielen sind in . Tabelle 82.2 (mod. nach [3]) zusammengestellt. Für eine ausführliche Darstellung der Differenzialtherapie wird auf die Publikationen der interdisziplinären Konsensuskonferenz und der IAG Schock sowie das Advisory Statement der ILCOR [10] verwiesen. Diese Leitlinien beruhen im Wesentlichen auf Expertenkonsens, da Evidenz aus klinischen Studien weitgehend fehlt. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich auch eine Analyse der Cochrane Collaboration hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit von H1-Antihistaminika bei der Behandlung der Anaphylaxie [24].
Bei einer positiven Allergieanamnese und besonders bei früherer Kontrastmittelreaktion erhöht sich das Risiko einer Kontrastmittelnebenwirkung um ein Mehrfaches. Bei derartigen Patienten sollte möglichst auf Untersuchungen ohne Kontrastmittelanwendung ausgewichen werden. Sollte dies aus zwingenden Gründen nicht möglich sein, sind die unten genannten Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Vortestung mit einer geringen Dosis des Kontrastmittels hat bei einem anaphylaktoiden Reaktionsmechanismus wenig Sinn. Verschiedene Prämedikationskonzepte werden empfohlen, die meisten schließen die Gabe von H1- und H2-Antagonisten und Kortikosteroiden ein. Umstritten ist dagegen die zusätzliche Prämedikation mit Adrenalin. Es gibt Empfehlungen, bei Hochrisikopatienten eine E-Blockertherapie abzusetzen [27]. Die potenziell verstärkte anaphylaktische/anaphylaktoide Reaktion unter E-Blockern und die abgeschwächte Wirkung der therapeutisch zugeführten Katecholamine sind im Einzelfall abzuwägen gegen die nachgewiesene perioperative Letalitätssenkung durch E-Blocker bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit bei nichtkardialen operativen Eingriffen. In jedem Fall sollte das Notfallinstrumentarium (inkl. Intubationsbesteck, O2-Quelle) sofort bereitstehen; evtl. kann es auch
Obligat: i.v.-Zugang, O2 1. β2-Mimetika-/Adrenalininhalation*** 2. 1000 mg Prednisolonäquivalente i.v 3. 5 mg/kgKG Theophyllin i.v (weiter: 10 mg/kgKG/Tag. Cave: Tachykardie)
Reanimation: 4 allgemeine Maßnahmen, 4 Adrenalin (+ Noradrenalin), Volumen
Katecholamine: Adrenalin i.v.(1 mg/10 ml: 0,1 mg/min) oder intratracheal [17]
Obligat: i.v.-Zugang, O2 Kolloide und/oder Ringer-Laktat (u. U. > 2 I)
Obligat: i.v.-Zugang, O2 1. Ringer-Laktat (≥500 ml) 2. Kolloide
Möglichst: i.v.-Zugang, O2
Kardiovaskuläre Reaktionen
Bei unzureichendem Therapieerfolg nach Volumengabe und Adrenalin: Nach etwa 1 mg Adrenalin: 1. Noradrenalin (1 mg/10 ml: 0,05–0,1 mg/min) 2. H1- und H2-Antagonisten: Dimetindenmaleat ≥8 mg oder: Clemastin ≥4 mg (H1-Blocker) 1. Cimetidin ≥400 mg oder 2. Ranitidin ≥100 mg (H2-Blocker) Ultima ratio: Vasopressin
Bei zunehmender Kreislaufsymptomatik trotz Volumengabe: H1- und H2-Antagonist*. Bei zunehmender Kreislaufsymptomatik trotz Volumengabe und H1- und H2Antagonisten: Adrenalin i.v.: 1 mg/10 ml: 0,1 mg/min (oder Adrenalin i.m., 7 s. Text)
Progredienz/unzureichender Therapieerfolg
Kortikosteroide i.v. (H1- und H2-Antagonist)
Kortikosteroide i.v. (H1- und H2-Antagonist)
Progredienz erwartet
1077
* H1-Antagonisten: Dimetindenmaleat 8 mg oder Clemastin 4 mg; H2-Antagonisten: 1.) Cimetidin 400 mg, 2.) Ranitin 100 mg. ** Bei Patienten mit bekannter Allergiedisposition (z. B. Hyposensibilisierung, Allergietestung). *** Bis zum Auftreten von Tremor oder/und Tachykardie.
IV
III
Obligat: i.v.-Zugang, O2 1. β2-Mimetika-/Adrenalininhalation*** 2. 250–500 mg Prednisolonäquivalente i.v.
Evtl. H1- (und H2-)Antagonist* (250–500 mg Prednisolonäquivalente i.v.)**
II
H1- (und H2-)Antagonist* (250–500 mg Prednisolonäquivalente i.v.)**
Keine Therapie
I
Möglichst: i.v.-Zugang, O2
Keine Therapie
Keine Therapie
0
Pulmonale Reaktionen
H1-(und H2-)Antagonist* (50– 125 mg Prednisolonäquivalente i.v.)**
Sonstige Situationen
Kutane Reaktionen
Perioperativ
Stadium
. Tabelle 82.2. Differenzialtherapie anaphylaktischer/anaphylaktoider Reaktionen. (Mod. nach [3] und [18])
82.6 · Nachbehandlung und Prophylaxe
82
1078
Kapitel 82 · Anaphylaktischer Schock
sinnvoll sein, die Untersuchung nur in Anwesenheit eines erfahrenen Intensivteams durchzuführen.
Medikamentöse Prophylaxe Eine validierte Prophylaxe gibt es nicht [27]. Bei bekannter Kontrastmittelüberempfindlichkeit kann in folgender Weise vorgegangen werden: H1/H2-Blocker. 20–30 min vor der Kontrastmittelgabe sollte Dimetinden (Fenistil) in der Dosierung von 0,1–0,5 mg/kg KG (= 2 Amp. = 8 mg) i.v. verabreicht werden; gleichzeitig werden 5 mg/kg KG Cimetidin (Tagamet) i.v. gegeben. Die Verabreichung sollte in 250 ml einer herkömmlichen Infusionslösung erfolgen. Statt Cimetidin, das stark an Cytochrom P450 bindet, können auch neuere H2-Blocker verwandt werden. Kortikoide. Es gibt kein allgemein verbindliches Konzept für die Prämedikation mit Kortikosteroiden. In einer nicht verblindeten Untersuchung an 6763 Patienten war die Inzidenz von Kontrastmittelreaktionen nach zweimaliger oraler Gabe von 32 mg Methylprednisolon ca. 12 und 2 h vor Gabe eines ionischen Kontrastmittels signifikant verringert, nicht aber nach nur einmaliger Verabreichung der Dosis ca. 2 h vorher [11].
82
Auswahl des Kontrastmittels Empfohlen wird ferner die Verwendung von nichtionischen, niedrigosmolaren Kontrastmitteln wegen der geringeren Inzidenz anaphylaktoider Reaktionen und der besseren kardiovaskulären Verträglichkeit, insbesondere bei Patienten mit eingeschränkter Herzleistung. 82.6.3 Promitprophylaxe vor Dextraninfusionen Die Einführung der i.v. Haptenprophylaxe (Dextran 1 = Promit) hat die schweren anaphylaktischen Reaktionen nach Dextraninfusion ganz erheblich reduziert. Vor einer Infusion von Dextran 40 oder 60 werden beim Erwachsenen 20 ml Promit langsam i.v. injiziert. Als prophylaktische Maßnahmen sind außerdem angezeigt: klare Indikationsstellung, strenge Überwachung des Infusionsbeginns, d. h. der ersten 20–30 ml der Dextraninfusion, ausreichende Information über die Art der möglichen anaphylaktoiden Symptome. 82.6.4 Experimentelle Therapieansätze Ein vielversprechender Therapieansatz zur Prävention anaphylaktischer Reaktionen bei bekannter Typ-I-Allergie ist der Einsatz von monoklonalen Anti-IgE-Antikörpern der Klasse IgG. Eine Studie bei Patienten mit Erdnussallergie konnte zumindest in immunologischen Tests eine verbesserte Toleranz gegen das Allergen belegen [15]. Weitere immuntherapeutische Ansätze mit einem DNA-Abschnitt des Haupterdnussallergens sind im tierexperimentellen Stadium [8].
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82
XV
Pädiatrische Intensivmedizin
83
Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
84
Pädiatrische Intensivmedizin
–1131
–1083
83 Intensivmedizin bei Frühund Neugeborenen K. Bauer, P. Groneck, C.P. Speer
83.1
Reanimation Früh- und Neugeborener
–1085
83.1.2 83.1.3
Temperaturregulation des Neugeborenen und Schutz vor Unterkühlung –1085 Maßnahmen der Neugeborenenreanimation –1087
83.2
Perinatale Schäden und ihre Folgen
83.2.1 83.2.2
Asphyxie –1089 Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) –1090
83.3
Das Frühgeborene
83.3.1 83.3.2 83.3.3 83.3.4 83.3.5 83.3.6 83.3.7 83.3.8 83.3.9
Atemnotsyndrom Frühgeborener –1092 Persistierender Ductus arteriosus (PDA) –1095 Neonatale chronische Lungenkrankheit oder bronchopulmonale Dysplasie (BPD) –1096 Retinopathia praematurorum (ROP) –1097 Hirnblutungen des Frühgeborenen –1098 Posthämorrhagischer Hydrozephalus (HC) –1100 Periventrikuläre Leukomalazie (PVL) –1100 Frühgeborenenapnoe –1101 Grundzüge der mechanischen Beatmung bei Neugeborenen –1102
83.4
Lungenerkrankungen des Neugeborenen
83.4.1 83.4.2 83.4.3 83.4.4 83.4.5 83.4.6 83.4.7 83.4.8 83.4.9 83.4.10 83.4.11
Transitorische Tachypnoe –1104 Mekoniumaspirationssyndrom –1104 Pneumothorax –1106 Lobäres Emphysem –1106 Lungenhypoplasie –1107 Zwerchfellhernie (Enterothorax) –1107 Neonatale Pneumonien –1108 Persistierende pulmonale Hypertonie (persistierende fetale Zirkulation) –1108 Lungenblutung –1109 Chylothorax –1110 Obstruktion der oberen Atemwege –1110
83.5
Bluterkrankungen
83.5.1 83.5.2 83.5.3 83.5.4 83.5.5 83.5.6 83.5.7 83.5.8 83.5.9 83.5.10
Fetale Erythropoese –1111 Neonatale Anämie –1111 Polyzythämie, Hyperviskositätssyndrom –1112 Pathologische Hyperbilirubinämie –1112 AB0-Erythroblastose –1112 Rh-Erythroblastose –1113 Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie –1115 Weitere hämolytische Erkrankungen –1115 Neonatale Thrombozytopenie –1115 Koagulopathien –1116
–1089
–1091
–1111
–1104
83.6
Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts
83.6.1 83.6.2 83.6.3 83.6.4
Ösophagusatresie –1116 Intestinale Obstruktionen –1117 Bauchwanddefekte –1118 Nekrotisierende Enterokolitis (NEC) –1119
83.7
Neugeborenenkrämpfe
83.8
Sepsis des Früh- und Neugeborenen
83.8.1
Meningitis –1123
83.9
Metabolische Störungen
83.9.1 83.9.2 83.9.3 83.9.4 83.9.5 83.9.6 83.9.7
Hypoglykämie –1123 Hyperglykämie –1124 Hypokalzämie –1124 Hyponatriämie –1124 Hypernatriämie –1125 Hyperkaliämie –1125 Hypokaliämie –1126
83.10
Analgesie bei Früh- und Neugeborenen
83.10.1 83.10.2
Beurteilung der Schmerzintensität bei Neugeborenen –1126 Analgetische Therapie für wenig schmerzhafte diagnostische und therapeutische Eingriffe bei Neugeborenen –1127 Schmerztherapie bei kleinen operativen Eingriffen –1127 Indikationen für Opioidanalgetika (Morphin und Fentanyl) in der Neonatologie –1127
83.10.3 83.10.4
Literatur
–1128
–1116
–1120 –1121
–1123
–1126
1085 83.1 · Reanimation Früh- und Neugeborener
83.1
Reanimation Früh- und Neugeborener
83
83.1.2 Temperaturregulation des Neugeborenen
und Schutz vor Unterkühlung C.P. Speer K. Bauer Voraussetzungen für die Durchführung einer Reanimation Die meisten Neugeborenen durchlaufen eine unproblematische kardiorespiratorische Adaptation; bei ca. 10 % der Kinder können allerdings mehr oder weniger intensive Reanimationsmaßnahmen erforderlich sein. Ungefähr 2/3 dieser Patienten lassen sich aufgrund definierter Risiken bereits vor der Geburt identifizieren, bei 1/3 der Neugeborenen tritt die Reanimationssituation völlig unerwartet auf. Diese Tatsache unterstreicht die Notwendigkeit, dass die essenziellen Wiederbelebungsmaßnahmen zu jeder Zeit differenziert und kompetent durch ein geschultes neonatologisches Reanimationsteam durchgeführt werden können. Weitere Voraussetzungen sind eine optimale Information über maternale und fetale Risiken sowie eine gezielte Vorbereitung auf die spezielle Reanimationssituation. i Sind die personellen und apparativen Möglichkeiten in einer Geburtsklinik nicht vorhanden, um ein Frühgeborenes oder Risikoneugeborenes optimal zu versorgen, so muss die Mutter – wenn immer medizinisch vertretbar – in ein Perinatalzentrum verlegt werden. Dieses medizinisch gut begründete Postulat ist inzwischen durch die deutsche Rechtsprechung bestätigt worden.
Postnatale Beurteilung Apgar-Schema. Für die postnatale Beurteilung reifer Neugebore-
ner hat sich das Apgar-Schema bewährt (. Tab. 83.1). Frühgeborene lassen sich aufgrund des vom Gestationsalter abhängigen Muskeltonus und der Reflexerregbarkeit allerdings nicht adäquat beurteilen. Eine allzu schematische Erfassung der einzelnen Apgar-Kriterien bei der Erstversorgung eines deprimierten reifen Neugeborenen birgt darüber hinaus die Gefahr, dass die Wiederbelebungsmaßnahmen nur verzögert einsetzen. Säure-Basen-Status. Die Bestimmung des Säure-Basen-Status
ist als ein fester Bestandteil und eine wesentliche Ergänzung der kindlichen Zustandsbeurteilung anzusehen. Diese nur mit einer zeitlichen Latenz verfügbare Diagnostik ist jedoch für die initialen therapeutischen Entscheidungen in der Regel nicht relevant.
Die Geburt bedeutet für das Neugeborenen eine akut einsetzende Kältebelastung: Die Umgebungstemperatur liegt 15–20°C unter der Körpertemperatur, und damit treten Wärmeverluste durch Strahlung (kühle Raumwände), Konvektion (kühle, bewegte Luft) und Verdunstung (trockene Luft) auf.
Temperaturregulation des reifen Neugeborenen Als Gegenregulation auf die postnatale Kälteeinwirkung verringert das Reifgeborene die Wärmeverluste an der Körperoberfläche durch Vasokonstriktion der Hautgefäße und steigert seine Wärmeproduktion. Die Wärmeproduktion erfolgt im braunen Fettgewebe, das nur Neugeborene besitzen. Das braune Fettgewebe liegt zwischen den Schulterblättern, hinter dem Herzen und um die großen Blutgefäße, damit die dort produzierte Wärme rasch im Körper verteilt werden kann. Die Braunfärbung des Gewebes entsteht durch den hohen Anteil an Mitochondrien. Die dort stattfindende Fettoxidation ist durch das sog. »uncoupling protein« von der Atmungskette abgekoppelt, damit die Energie ausschließlich in Form von Wärme frei wird. Durch die Aktivierung des braunen Fettgewebes kann das reife Neugeborene seine Wärmeproduktion von 23 auf 45 cal/kg KG/min steigern. Trotzdem übertreffen die Wärmeverluste eines unbekleideten reifen Neugeborenen bei Raumtemperatur seine Wärmeproduktion (. Abb. 83.1), und ohne wärmeschützende Maßnahmen kommt es zu einem Abfall der Körpertemperatur um >1,5°C in der 1. Lebensstunde. Asphyktische Reifgeborene haben eine verringerte Fähigkeit zu Wärmeproduktion.
Temperaturregulation des Frühgeborenen Beim Frühgeborenen ist das Risiko einer Unterkühlung sehr viel größer als beim Reifgeborenen, und die Wärmeverluste übersteigen die Wärmeproduktion bei weitem (. Abb. 83.2). Dies hat folgende Ursachen: 4 5-mal größere Körperoberfläche im Verhältnis zur Körpermasse als beim Erwachsenen, 4 kein subkutanes Fettgewebe, 4 hohe Wasserdurchlässigkeit der Haut und damit hoher transkutaner Wasser- und Wärmeverlust, 4 kaum braunes Fettgewebe.
. Tabelle 83.1. Apgar-Schema zur Beurteilung der postnatalen Adaptation Apgar-Kriterium
0 Punkte
1 Punkt
2 Punkte
Aussehen
Blass oder zyanotisch
Stamm rosig, Akrozyanose
Ganz rosig
Puls (Herzfrequenz)
Kein/e
<100/min
>100/min
Gesichtsmimik bei Stimulation
Keine
Grimassieren
Schreien
Aktivität
Schlaff
Geringe Extremitätenflexion
Kräftig, aktiv
Respiration
Keine
Langsam, unregelmäßig
Regelmäßig, kräftig
1086
83
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Abb. 83.1. Wärmebilanz eines reifen unbekleideten Neugeborenen bei Zimmertemperatur
. Abb. 83.2. Wärmebilanz eines unbekleideten Frühgeborenen von 1000 g Geburtsgewicht bei Zimmertemperatur
Aufgrund seiner minimalen Fähigkeit zur Gegenregulation verhält sich das sehr unreife Frühgeborene wie ein wechselwarmer Organismus.
Hyperthermie sollte aber bei der Erstversorgung von Neugeborenen ebenfalls vermieden werden.
Schutz vor Unterkühlung
Beim reifen gesunden Neugeborenen genügen einfache Maßnahmen zum Schutz vor Unterkühlung: Das Neugeborene wird gut abgetrocknet, und die nassen Tücher werden entfernt. Danach kann das gesunde Reifgeborene in direkten Hautkontakt auf die Brust der Mutter gelegt und mit einem trockenen Tuch zugedeckt werden (. Tab. 83.3).
Akute Hypothermie beeinträchtigt eine Vielzahl von Organfunktionen (. Tab. 83.2). Sie muss deshalb bei der Erstversorgung von Neu- und Frühgeborenen vermieden werden. Die Aufrechterhaltung einer normalen Körpertemperatur spielt auch in der weiteren Therapie von Neugeborenen eine entscheidende Rolle. Ein therapeutischer Einsatz von Hypothermie zur Neuroprotektion nach Asphyxie befindet sich im experimentellen Stadium und kann zum klinischen Einsatz nicht empfohlen werden. Eine
. Tabelle 83.2. Symptome der akuten Hypothermie beim Neugeborenen Rektaltemperatur
Symptome
31–35°C
Zunahme des O2-Verbrauchs Vasokonstriktion, Akrozyanose Tachykardie
29–31°C
Abnahme des O2-Verbrauchs Azidose oder Alkalose Ödeme Bradykardie, arterielle Hypotonie Lethargie, Trinkschwäche
25–29°C
Bradykardie, Asystolie, Herzrhythmusstörungen Vasodilatation in der Haut, Ödeme Koma, Apnoe
Wärmeschutz bei reifen, gesunden Neugeborenen
Wärmeschutz bei der Reanimation von Neugeborenen Wärmeschutz ist ein wichtiger Bestandteil bei der Reanimation von Neugeborenen, deshalb ist die Überwachung der Rektaltemperatur während der Reanimation notwendig. Zu Beginn der Reanimation müssen die Neugeborenen gut abgetrocknet und die nassen Tücher entfernt werden. Die Erstversorgung erfolgt dann unter einem Wärmestrahler. Der Erstversorgungsraum sollte zugluftfrei und kein Durchgangsraum sein.
Wärmeschutz bei der Erstversorgung von unreifen Frühgeborenen Bei der Erstversorgung von Frühgeborenen sollte der Erstversorgungsraum durch zusätzliche Wärmelampen aufgeheizt und der Wärmestrahler über dem Reanimationstisch sollte auf maximale Strahlungsleistung gestellt werden. Die Extremitäten des Frühgeborenen werden mit warmen Tüchern bedeckt, Bauch und Brust bleiben frei und dem Wärmestrahler exponiert. Der feuchte Nabel mit der Metallklemme darf nicht am Kind anliegen (. Abb. 83.3).
. Tabelle 83.3. Schutz vor Unterkühlung im Kreißsaal Reifgeborenes
Asphyktisches/dystrophes Reifgeborenes
Frühgeborenes
4 Abtrocknen 4 Nasse Tücher entfernen 4 Hautkontakt zur Mutter
4 Abtrocknen 4 Nasse Tücher entfernen 4 Wärmestrahler
4 4 4 4 4
Abtrocknen Nasse Tücher entfernen Wärmestrahler Tücher (Extremitäten) Rumpf und Kopf dem Wärmestrahler exponieren
1087 83.1 · Reanimation Früh- und Neugeborener
83
Hypotherme Neugeborene benötigen eine kontinuierliche intravenöse Glukosezufuhr. 83.1.3 Maßnahmen der Neugeborenen-
reanimation C.P. Speer 3 klinische Kriterien – nämlich Hautfarbe, Atmung und Herzfrequenz – geben ausreichende Informationen, um das akute Vorgehen zu planen und die Maßnahmen, die in 3 Stufen erfolgen sollten, weder zu spät noch zu voreilig durchzuführen (. Abb. 83.4).
Stufe 1: Basismaßnahmen Die einfachen Basismaßnahmen der Reanimation umfassen Abtrocknen, Stimulation und Absaugen des Neugeborenen sowie ggf. eine sog. »O2-Vorlage«. Während dieser Maßnahmen ist eine schnelle Beurteilung zum Ausschluss von schweren Fehlbildungen erforderlich. Abtrocknen. Nach dem Abtrocknen wird das Neugeborene in angewärmte, trockene Tücher gehüllt. Die Erstversorgung erfolgt unter einem Heizstrahler, Zugluft im Raum ist zu vermeiden! Bei sehr kleinen Frühgeborenen und extrem hypotrophen Neugeborenen ist ein zusätzlicher Wärmeschutz durch verschiedenste Folien (u. a. Plastikfolien) oder Warmluftdecken erforderlich. Stimulation. Durch die taktile Stimulation, u. a. von Rücken und . Abb. 83.3. Bei der Erstversorgung von Frühgeborenen unter einem Wärmestrahler werden Extremitäten und Flanken mit warmen Tüchern bedeckt, Gesicht und Rumpf bleiben frei dem Wärmestrahler exponiert
Nach der Erstversorgung sollte das unreife Frühgeborene möglichst schnell in einen Inkubator gelegt werden, in dem hohe Lufttemperaturen und hohe Umgebungsfeuchte eingestellt werden können.
Therapie der Hypothermie Um ein unterkühltes Neugeborenes aufzuwärmen, wird im Inkubator initial eine Lufttemperatur von 37°C eingestellt und Manipulationen, die ein Öffnen der Inkubatorklappen erfordern, werden auf ein Minimum beschränkt. Die Rektaltemperatur muss kontinuierlich überwacht werden, um eine überschießende Hyperthermie durch rechtzeitige Reduktion der Inkubatortemperatur zu vermeiden.
Fußsohlen, wird die kindliche Atmung stimuliert. Die Mehrzahl der Neugeborenen beginnt innerhalb von 10 s nach der Geburt spontan zu atmen, allerdings ist damit zu rechnen, dass ca. 10 % der Neugeborenen nach 1 Lebensminute noch keine regelmäßige Atemtätigkeit aufweisen. Absaugen. Bei entsprechender Indikation wie Verlegung der Atemwege durch Fruchtwasser, Blut oder Mekonium sollten zuerst der Oropharynx und dann die Nasenwege des Neugeborenen mit einem ausreichend großlumigen Katheter (Ch 8–10) abgesaugt werden. ! Cave Mund vor Nase absaugen! Es besteht eine erhöhte Aspirationsgefahr durch die Stimulation der kindlichen Eigenatmung nach nasalem Absaugen!
Weiterhin ist unbedingt darauf zu achten, dass beim Absaugen keine Bradykardie durch Vagusstimulation auftritt. Der Sog am Absauggerät ist auf 200 mbar zu begrenzen, um Verletzungen
. Abb. 83.4. 3-Stufen-Modell der Neugeborenenversorgung. (Nach Speer [14])
1088
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
der Schleimhaut zu vermeiden. Ein routinemäßiges Absaugen aller Neugeborenen ist nicht indiziert. O2-Gabe. Bei zentraler Zyanose während der ersten Lebensminuten wird dem Neugeborenen O2 vor Nase und Mund geleitet. Trotz theoretischer Bedenken wegen einer potenziellen O2-Toxizität (Bildung von toxischen O2-Radikalen) gibt es bisher keine eindeutigen Hinweise, die zu einem Verzicht dieser Maßnahme führen müssten.
Stufe 2: Zusatzmaßnahmen bei insuffizienter Spontanatmung Führen die beschriebenen Basismaßnahmen nicht zum Einsetzen der Spontanatmung, so sind zur Vermeidung von Bradykardie und Hypoxie weitere Schritte erforderlich.
83
Beutel-Masken-Beatmung. Neugeborene mit fehlender Eigenatmung werden nach 30 s mit einer Beutel-Masken-Beatmung und inspiratorischem Druckplateau (»Blähatmung«) behandelt. Diese Blähatmung besteht aus maximal 3 Beatmungshüben mit einem hohen inspiratorischen Beatmungsdruck (ca.30 cm H2O) und einer langen Inspirationszeit (ca. 3–5 s). Ziel dieser Beatmungsstrategie ist, die intraalveoläre Lungenflüssigkeit in das pulmonale Lymph- und Gefäßsystem zu pressen und somit, in Analogie zur Atemtechnik Neugeborener, eine funktionelle Residualkapazität herzustellen. Diese Maßnahme sollte unter Auskultationskontrolle erfolgen und in eine den Bedürfnissen des Neugeborenen angepasste assistierte Beatmung übergehen. Runde Silikonmasken eignen sich für die Maskenbeatmung am besten; sie erlauben eine optimale Abdichtung. Bei sehr kleinen Frühgeborenen, die postpartal nicht schreien, sollte sofort mit einer Beutel-Masken-Beatmung begonnen werden, um eine hypoxisch bedingte Bradykardie und somit das Risiko von Fluktuationen des zerebralen Blutflusses zu vermeiden (Cave: Hirnblutung). Allerdings ist bei sehr kleinen Frühgeborenen mit unreifen Lungenstrukturen auf einen äußerst sensiblen Umgang mit der Beutelmaskenbeatmung zu achten; durch inadäquat hohe Beatmungsvolumina und Beatmungsdrücke können folgenschwere Lungenverletzungen ausgelöst werden (7 Kap. 83.3.3: bronchopulmonale Dysplasie). ! Cave Durch falsche Kopfposition oder fehlerhafte Maskenhaltung kann die Atemtätigkeit des Früh- und Neugeborenen unterdrückt werden (»Erstickung unter der Maske«)! Ebenso kann eine forcierte Maskenbeatmung zu einem Baro- und Volutrauma mit Schädigung der Alveolen führen; mögliche Komplikationen sind ein iatrogenes pulmonales interstitielles Emphysem oder ein Pneumothorax.
Eine primäre Maskenbeatmung sollte bei folgenden Erkrankungen des Neugeborenen gänzlich vermieden werden: 4 Mekonium- und Blutaspiration, 4 Zwerchfellhernie, 4 schwerste postpartale Asphyxie. Diese Kinder werden abgesaugt bzw. sofort intubiert. Intubation. Bleibt ein Neugeborenes trotz Beutel-Masken-Beatmung apnoeisch oder bradykard, wird es umgehend endotracheal intubiert. Für die Gruppe sehr kleiner Frühgeborener ist inzwi-
schen eindeutig belegt, dass die Vermeidung von postpartaler Hypoxie zu einer Reduktion der Inzidenz des Atemnotsyndroms und der Sterblichkeit beiträgt. Dennoch ist von einer grundsätzlichen Intubation dieser besonderen Patientengruppe abzuraten, da gerade bei sehr vitalen Frühgeborenen unter der Intubation transistorische hypoxämische Phasen und Störungen der zerebralen Zirkulation nicht auszuschließen sind. Es empfiehlt sich, die Intubation selektiv durchzuführen. In Abhängigkeit vom Schweregrad der Atemnotsymptomatik sollte das Frühgeborene innerhalb von Minuten intubiert oder aber mit einem nasalen CPAP-System versorgt werden. Während der Intubation muss eine kontinuierliche Über wachung der kindlichen Herzfrequenz und O2-Sättigung (Pulsoxymeter) erfolgen. Bei einer Bradykardie ist der Intubationsversuch unverzüglich abzubrechen und das Kind mit erneuter Beutel-Masken-Beatmung und adäquater O2-Zufuhr zu stabilisieren (Cave: Hyperoxie).
Komplikationen Die häufigsten Komplikationen im Verlauf der Intubation sind die Fehlpositionen des Tubus in den Ösophagus und eine einseitige Intubation des rechten Hauptbronchus; durch entsprechende Korrektur der Tubuslage sind diese Situationen leicht zu beheben. Ernsthafte Komplikationen stellen die Perforation des Ösophagus und Hypopharynx dar; tracheale Perforationen wurden durch Führungsstäbe von Endotrachealtuben beobachtet. Magenrupturen wurden nach Reanimation Neugeborener mit tracheoösophagealer Fistel beschrieben. Subglottische Stenosen können sich als chronische Komplikationen eines Intubationsschadens ausbilden. Naloxon. Neugeborene, deren Mütter unter der Geburt Opioide
erhalten haben, fallen häufig durch einen fehlenden Atemantrieb nach der Geburt auf. Durch die intravenöse Gabe des Opioidantagonisten Naloxon (z. B. Narcanti neonatal) kann die atemdepressive Wirkung diaplazentar übergetretener Morphinderivate aufgehoben werden (Dosierung: 0,1 mg/kg KG). Da die Opioidanalgetika eine längere Halbwertszeit als Naloxon haben, muss mit symptomatischen Reboundeffekten beim Kind gerechnet werden; sie erfordern wiederholte Gaben von Naloxon. ! Cave Kinder heroinabhängiger Mütter dürfen kein Naloxon erhalten, da schwerste akute Entzugserscheinungen ausgelöst werden können.
Stufe 3: Zusatzmaßnahmen bei insuffizienter Kreislauffunktion Da Bradykardien bei Neugeborenen in der Regel durch eine Hypoxie bedingt sind, lassen sich die meisten Kreislaufprobleme durch eine suffiziente Oxygenierung beheben. Besteht die Bradykardie trotz ausreichender Lungenbelüftung fort, so sind weitere Maßnahmen wie extrathorakale Herzmassage, Adrenalingabe, Volumensubstitution und Azidosekorrektur angezeigt. Herzmassage. Eine externe Herzmassage sollte bei allen Neuge-
borenen durchgeführt werden, bei denen die Herzfrequenz unter 60 Schlägen/min liegt und die nach Beginn der adäquaten
1089 83.2 · Perinatale Schäden und ihre Folgen
Ventilation nicht mit einem Anstieg der Herzfrequenz reagieren. Bei einer der möglichen Techniken wird der Thorax des Kindes von beiden Seiten umfasst und das Sternum 1 Querfinger unterhalb der Intermamillarlinie mit einer Frequenz von 120/min um 1–2 cm komprimiert. Diese Art der Herzmassage stellt die effektivste Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Kreislauffunktion dar, sie setzt aber voraus, dass zwei in der Reanimation Neugeborener erfahrene Personen die kardiozirkulatorische und respiratorische Reanimation durchführen. Eine Einzelperson ist gezwungen, durch Sternumkompression mit 2 Fingern eine wirksame Herzmassage und gleichzeitig eine effiziente Beatmung zu gewährleisten. Es wird derzeit ein Verhältnis von 3 Herzkompressionen zu 1 Beatmung empfohlen. Trotz wirksamer Herzmassage muss die Ursache der Bradykardie rasch erkannt und wenn möglich kausal behandelt werden. Adrenalin. Besteht die Bradykardie trotz ausreichender Lungenbelüftung fort, so wird Suprarenin über die katheterisierte Nabelvene oder eine periphere Vene (0,01–0,03 mg/kg/KG) appliziert. Ist kein Gefäßzugang möglich, so sollte Adrenalin (0.1–0.3 ml/kg/KG in einer Verdünnung von 1:10.000) über den endotrachealen Tubus verabreicht werden. Intrakardiale Injektionen sind obsolet. Die Wirkung von Adrenalin wird durch die bestehende Azidose eingeschränkt.
83
Praktisches Vorgehen bei der Neugeborenenreanimation 5 Basismaßnahmen – Adäquate Wärmezufuhr; Abtrocknen und Zudecken des Neugeborenen – Luftwege freimachen (Mund vor Nase gezielt absaugen) – Auskultation (Stethoskop) – Beutel-Masken-Beatmung (O2-Zufuhr: 21–100=%), initiale »Blähatmung« (3–5 s), danach assistierte Beatmung (Beatmungsfrequenz 40–60/min) 5 Bei Apnoe und/oder Bradykardie (Herzfrequenz 60–80/min unter Beutel-Masken-Beatmung) – Endotracheale Intubation (Tubus: 2,0–3,5 mm) – Herzmassage; Verhältnis Kompression zu Beatmung 3:1 – Bei Bedarf Suprarenin 0,01–0,03 mg/kg/KG i.v. – Eventuell Natriumbikarbonat 8,4 % (1 : 1 mit Aqua pro inj. verdünnt), 1(–3) mmol/kg KG sehr langsam i.v. 5 Eventuell Nabelvenenkatheter, Volumenzufuhr (isotone Kochsalzlösung, Blut; 10–15 ml/kg KG)
83.2
Perinatale Schäden und ihre Folgen
Natriumbikarbonat. Die Indikation für die Gabe von Natriumbi-
karbonat ist nur bei schwerer protrahierter metabolischer Azidose z. B. nach intrauteriner Hypoxie und nach längerdauernden Reanimationsmaßnahmen, insbesondere bei schlechtem Ansprechen auf Adrenalin indiziert. Die Gabe von Natriumbikarbonat erfolgt intravenös in einer mindestens 1 : 1 verdünnten Lösung (Aqua dest) und über einen längeren Zeitraum – über 15 min bei Neugeborenen und über Stunden bei Frühgeborenen – (Initialdosis: 1–3 mval NaHCO3/kg KG). Da Natriumbikarbonat 8,4 % hyperosmolar ist, besteht die Gefahr, dass Frühgeborene im Rahmen der Serumosmolalitätspitzen und -schwankungen eine Hirnblutung entwickeln. Eine Bikarbonatbehandlung verbietet sich bei einer ausgeprägten respiratorischen Azidose. Volumengabe. Bei anamnestischem und klinischem Verdacht auf einen akuten Blutverlust sollte unverzüglich Volumen zugeführt werden. Für eine initiale Volumensubstitution bietet sich isotone Kochsalzlösung (10–15 ml/kg KG) an. Als effektivste Maßnahme ist unter kritischer Indikationsstellung die Gabe von rhesusnegativem, lysinfreiem Erythrozytenkonzentrat (10–15 ml/kg KG) anzusehen. Eine entsprechende Notfallkonser ve, die ohne Kreuzprobe transfundiert werden kann, sollte heute für Risikosituationen unmittelbar nach der Geburt verfügbar sein; bei hämorrhagischem Schock ist die Transfusion bis zu einer Stabilisierung des kindlichen Zustands fortzuführen. In der Übersicht sind sämtliche Schritte der Reanimation zusammengefasst.
P. Groneck 83.2.1 Asphyxie Perinatale Asphyxie bedeutet einen Insult für den Fetus oder das Neugeborene, bedingt durch eine Hypoxie und/oder Ischämie mit begleitender Azidose vor oder unter der Geburt, der zu einer stark gestörten postnatalen kardiorespiratorischen Adaptation führt.
Pathophysiologie Antenatal kann eine Beeinträchtigung des Fetus durch plazentare Insuffizienz, maternale Infektionen oder Blutungen bedingt sein. Risikofaktoren für eine Asphyxie unter der Geburt 5 maternale Erkrankungen: – Hypertension, Hypotension, Diabetes, Infektion, andere Grunderkrankung 5 plazentare Auffälligkeiten: – Chorioamnionitis, Infarzierung, Fibrose, vorzeitige Lösung 5 Nabelschnurzwischenfälle: – Prolaps, Knoten, Kompression, Insertio velamentosa mit Gefäßriss 5 fetale Ursachen: – Frühgeburtlichkeit, Infektion, Wachstumsrestriktion, Übertragung
Die auslösenden Faktoren führen zu einer Bradykardie, Hypotension, verminderten Herzauswurfleistung und metabolischen Azi-
1090
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
dose. Das Ausmaß einer Asphyxie zeigt sich an der Schnelligkeit, mit der ein asphyktisches Kind auf Reanimationsmaßnahmen reagiert. Untersuchungen beim Versuchstier zeigen eine typische Sequenz nach einer experimentell induzierten Hypoxie: Nach einigen heftigen Atemzügen kommt es zu einer Phase der primären Apnoe, begleitet von einer Bradykardie. In dieser Situation lassen sich die Tiere oft durch einfache taktile Maßnahmen zur Atmungsaufnahme stimulieren, unter der es auch zum Anstieg der Herzfrequenz kommt. Bei weitergehender Hypoxie folgt eine Phase mit erneuten heftigen Atemzügen, die schließlich sistieren und in eine terminale Apnoe übergehen. In dieser Phase ist das Tier schwer deprimiert, azidotisch, bradykard, und bedarf der intensiven kardiopulmonalen Reanimation. Formen der fetalen Depression, bei denen eine ausreichende kardiorespiratorische Adaptation nach taktiler Stimulation oder kurzfristiger Maskenbeatmung zu erreichen ist, können also nicht als schwere perinatale Asphyxie bezeichnet werden.
Klinik
83
Eine pränatale Hypoxie/Ischämie kann sich durch Auffälligkeiten im Kardiotokogramm äußern. Bei einer perinatalen Hypoxie/Ischämie präsentiert sich das Kind klinisch unter einer stark gestörten kardiorespiratorischen Adaptation nach der Geburt: es ist bradykard, zyanotisch, apnoisch, hypoton, bewegungslos und bedarf der Reanimation. Der Apgar-Score ist eine gute und brauchbare Zustandsbeschreibung der kardiopulmonalen Adaptation nach der Geburt. Ein niedriger Score zeigt die Notwendigkeit von Reanimationsmaßnahmen an, ist aber kein sicherer Indikator für eine perinatale Asphyxie (= Hypoxie/Ischämie + Azidose) und allein auch kein Prognosekriterium für die Entwicklung einer Zerebralparese. Ansteigende Werte unter der Reanimation geben Hinweis auf den Erfolg der durchgeführten Maßnahmen. Kinder mit einer für die Prognose relevanten Asphyxie unter der Geburt zeigen in der Regel folgende Störungen: 4 eine schwere Azidose im Nabelschnurblut (<7,0), 4 einen 10-min-Apgar-Wert von d5, 4 eine verzögerte Aufnahme der Eigenatmung (>10 min), 4 Symptome der hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie (7 Kap. 83.2.2), d. h. neonatale neurologische Symptome einschließlich Krampfanfälle, 4 hypoxisch-ischämisch bedingte Funktionsstörungen anderer Zielorgane.
Zielorgane der Asphyxie Hypoxisch-ischämische Läsionen können sich an verschiedenen Organsystemen manifestieren (%oHäufigkeit): 4 Niere: 50 %, Oligurie bis Anurie. Genaue Flüssigkeitsbilanz! Vorsicht bei nephrotoxischen Medikamenten. 4 ZNS: 28 %, hypoxisch-ischämische Enzephalopathie. 4 Herz: 25 %, postasphyktische Kardiomyopathie mit schlechter Herzauswurfleistung, niedriger Blutdruck! Diagnose durch Echokardiographie. 4 Lunge: 23 %, postasphyktische Lungenkrankheit vom ARDSTyp oder pulmonale Hypertension, Echokardiographie). 4 Leber: Transaminasenanstieg, Produktionskoagulopathie, später Cholestase. 4 Mikrozirkulation: disseminierte intravasale Gerinnung mit Thrombozytenabfall.
Differenzialdiagnose Eine nicht asphyxiebedingte postnatale Beeinträchtigung der Atmung kann in folgenden Situationen beobachtet werden:
Massiver Vagusreiz Bei einem massiven Vagusreiz aufgrund einer fetalen Kopfkompression oder Zug an der Nabelschnur bei Entwicklung ist der Nabelarterien-pH-Wert meist normal, d. h. >7,2, das Kind bradykard und atemdeprimiert (niedriger 1-min- und ggf. 5-min-ApgarWert), reagiert aber sofort und anhaltend auf Maskenbeatmung. Anschließend finden sich keine Hinweise auf neurologische Beeinträchtigung, Spontanatmung, Spontanmotorik, Muskeltonus und Blutdruck sind normal. Diese Kinder müssen postnatal beobachtet werden. Blutdruck, klinisch-neurologische Symptome und Schädelsonographie müssen registriert werden, eine Therapie ist nicht erforderlich.
Anästhetika Fetale Atemdepression aufgrund von Auswirkungen der maternalen Anästhesie oder anderer Medikamente (MgSO4): guter Nabelarterien-pH-Wert, fehlende Spontanatmung, schnelles Ansprechen auf Reanimationsmaßnahmen, jedoch auch nach Intubation und Beatmung wenig Spontanatmung und -motorik.
Weitere Ursachen 4 Neuromuskuläre Erkrankung des Neugeborenen: Symptomatik wie bei Anästhetika, 4 ZNS-Missbildung oder -trauma, spinales Trauma: Symptomatik wie bei Anästhetika, 4 Larynx-/Tracheamissbildung, Lungenhypoplasie, Zwerchfellhernie, Pleuraerguss: oft guter Nabelarterien-pH-Wert, jedoch postnatal ausgeprägte Zyanose bei meist anfangs noch regem Kind, 4 fetale Infektion: variable Werte für Nabelarterien-pH-Wert und Reaktion auf Reanimationsmaßnahmen je nach fetaler Beeinträchtigung. Neugeborene mit zyanotischen Vitien sind selten unmittelbar postnatal auffällig. Die Kinder adaptieren sich in der Regel gut und werden, wenn die Lungenperfusion Ductus-abhängig ist, erst bei Verschluss des Ductus arteriosus Botalli zyanotisch. Eine Gruppe von Neugeborenen weist bei der Geburt eine ausgeprägte Azidose auf (pH-Wert <7,0), zeigt jedoch klinisch keine Symptome und eine ungestörte kardiopulmonale Adaptation. Es besteht eine Assoziation mit einer Sectioentbindung und/oder einer Spinalanästhesie. Diese Kinder sind nicht asphyktisch, die Prognose ist gut. Sie sollten jedoch nicht zu früh entlassen, sondern für ca. 24 h überwacht werden (einschließlich Blutzuckerkontrolle). 83.2.2 Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie
(HIE) Tierexperimentelle Untersuchungen ischämischer Hirnläsionen haben gezeigt, dass die Gewebeschädigung während der Hypoxie-Ischämie beginnt und in der Reperfusionsphase noch weiter zunimmt. Wesentliche Schädigungsmechanismen im Bereich der Mikrozirkulation laufen erst ab, wenn die Blutversorgung wiederhergestellt ist. Die Hauptmediatoren dieses Reperfusionsschadens
1091 83.3 · Das Frühgeborene
sind freie O2-Radikale, neutrophile Granulozyten und vom Endothel stammende Faktoren. Die Folge einer Ischämie ist zunächst eine Entzündung der Mikrovaskulatur. Der Entzündungsprozess mündet in einen Zusammenbruch der Blut-Hirn-Schranke. Aus lädierten Zellen werden dann neurotoxische exzitatorische Aminosäuren freigesetzt (Glutamat und Aspartat). Diese Substanzen aktivieren einen Ionenkanal (NMDA-Kanal, N-Methyl-D-Aspartat), was zu einem Ca2+-Influx in die Zelle führt. Durch Aktivierung von Proteasen kann der Zelltod eingeleitet werden. Während sich meist alle anderen Organe vom asphyktischen Insult erholen, ist dies beim Gehirn nicht immer der Fall. Die Schädigung des Gehirns verläuft in verschiedenen Phasen: Auf die Hypoxie/Ischämie folgt die initiale Gefäßläsion im Rahmen der Reperfusion. Daran schließt sich eine Latenzzeit an, die dann gefolgt wird von einer Verminderung energiereicher Phosphate (Phosphokreatinin und ATP). Dieses sekundäre Energieversagen ist in der Regel erst nach 24–72 h in voller Ausprägung vorhanden. Je nach Ausmaß der Schädigung entwickelt sich eine lokale Hirnläsion oder eine diffuse neuronale Nekrose mit schwerem Hirnödem oder Hirntod. Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass die Latenzphase möglicherweise ein therapeutisches Fenster zur Behandlung der hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie darstellt. Dies bildet die Basis für die Hypothermiebehandlung (s. unten)
Klinik Die typischen klinischen Symptome einer HIE sind: 4 Beeinträchtigung der Bewusstseinslage (Hyperexzitabilität, Lethargie oder Koma), 4 Änderung des Muskeltonus (Hyper- oder Hypotonie), 4 Änderung des Reflexverhaltens (fehlender Moro-Reflex, fehlender Greif- und Saugreflex), 4 Auftreten von Krampfanfällen. Das EEG zeigt typische Veränderungen in Abhängigkeit vom Schweregrad der Hirnschädigung. Die Sarnat-Klassifikation erlaubt oft die Prognoseeinschätzung aufgrund klinischer Parameter.
Therapie Hypothermiebehandlung. Die Kühlung des Körpers und damit des Gehirns auf eine Temperatur von 33‒34°C für eine Zeit von 72 h mit Beginn in der Latenzphase (2 bis spätestens 6 h nach dem Insult) führt bei Neugeborenen mit moderater Enzephalopathie offenbar zu einer Verminderung der Hirnschädigung. Bei Neugeborenen mit schwerer Enzephalopathie verbessert diese Behandlung die Prognose nicht. Die Hypothermiebehandlung ist derzeit noch nicht generell etabliert. Wegen der Begrenztheit der Spätergebnisse wird sie als »Therapie in Entwicklung« angesehen. Bei unregelmäßiger Atmung oder Apnoen sollte eine frühzeitige Intubation und Beatmung erfolgen. Der pO2 und pCO2 sollten in normalen Grenzen gehalten werden; eine Hyperventilation ist nicht sinnvoll. Bei metabolischer Azidose sollte gepuffert werden. Kreislauf. Wichtigste Größe für ausreichende Hirnperfusion ist der Blutdruck. Bei Kindern mit schwerer Asphyxie soll bereits im Kreißsaal ein sicherer intravenöser Zugang gelegt werden, bei instabilem Blutdruck erfolgt die Gabe von Katecholaminen (Dopamin/Dobutrex oder Suprarenin).
83
Bei Kindern <1000 g: Vorsicht bei der Katecholamintherapie. Sedierung. Die Verwendung von Sedativa sollte vorsichtig erfolgen (Cave: Hypotension), falls möglich keine Sedierung, damit
die neurologische Prognose besser eingeschätzt werden kann. Bei Auftreten von Krampfanfällen erfolgt eine Behandlung mit Phenobarbital, Phenytoin oder Lorazepam (7 Kap. 83.7). Weitere Maßnahmen. Bei einer HIE kann ein Hirnödem auftreten. Wie bei allen anderen Anoxie-bedingten Hirnödemen gibt es jedoch keine spezifische »Hirnödemtherapie«, da es sich um ein zytotoxisches Hirnödem handelt. Glukokortikosteroide sowie Mannit sind aus diesen Gründen nicht indiziert.
83.3
Das Frühgeborene C.P. Speer
Grundlagen Ungefähr 6,5 % aller Geburten erfolgen vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW); etwa 1,5 % der Kinder sind sehr kleine Frühgeborene (Geburtsgewicht <1500 g, Gestationsalter <32 vollendete Gestationswochen). Die Frühgeburtlichkeit trägt als wesentlicher Faktor zur perinatalen und neonatalen Sterblichkeit bei. Die Ursachen der Frühgeburtlichkeit lassen sich nur bei einem Teil der Patienten eruieren: 4 vorzeitige Wehen, 4 vorzeitiger Blasensprung, 4 Amnioninfektionssyndrom, 4 Mehrlingsschwangerschaften, 4 akute Plazentalösung, 4 mütterliche Erkrankungen wie EPH-Gestose u. a.
Prognose Die Überlebenschance Frühgeborener mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1500 g hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich verbessert. Während in den frühen 70er-Jahren nur 15–40 % dieser Risikopatienten die Neonatalperiode überlebten, ist 10 Jahre später der Anteil überlebender Frühgeborener auf mehr als 90 % angestiegen. Die günstigere Prognose ist zu einem großen Teil auf die Verbesserung der Betreuung und des perinatalen Managements von Risikoschwangeren sowie die Fortschritte der neonatalen Intensivmedizin zurückzuführen. Das Grundproblem sehr kleiner Frühgeborener bleibt jedoch bestehen – die Unreife von Organsystemen und -funktionen, die postpartal zu einer Reihe von akuten Erkrankungen und chronischen pulmonalen und neurologischen Folgeschäden führen können: 4 Apnoe, Atemnotsyndrom, chronische Lungenerkrankung, bronchopulmonale Dysplasie, 4 Hypothermie, Hypoglykämie, Bradykardie, 4 persistierender Ductus arteriosus, 4 nekrotisierende Enterokolitis, 4 erhöhte Infektionsdisposition, nosokomiale Sepsis, 4 intrazerebrale Blutung, periventrikuläre Leukomalazie, Frühgeborenenretinopathie, Taubheit, psychomotorische Retardierung, neurologische Schädigung.
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Prävention Für eine optimale Betreuung von Risikofrühgeborenen müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Risikoschwangere und Frühgeborene sollten nur in personell und technisch optimal ausgestatteten Perinatalzentren betreut werden. Ein In-utero-Transport eines gefährdeten Frühgeborenen ist mit ungleich geringeren Risiken verbunden als eine postnatale Verlegung. Die Inzidenz von bleibenden Behinderungen ist – wie in vielen Studien belegt – bei einer Behandlung in Perinatalzentren deutlich geringer als in kleinen Kinderkliniken, die über eine geringere Erfahrung in der Behandlung der Patienten und/oder eine unzureichende personelle bzw. apparative Ausstattung verfügen. i Bei einer drohenden Geburt vor der 34. Gestationswoche ist unter maximaler tokolytischer Therapie eine Lungenreifungsbehandlung mit Betamethason oder Dexamethason durchzuführen.
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Die Geburt dieser Risikopatienten sollte so atraumatisch wie möglich erfolgen. Eine primäre Sectio caesarea ist in jedem Fall bei Kindern mit Beckenendlage, drohender intrauteriner Asphyxie, Verdacht auf Amnioninfektionssyndrom sowie jedweder Form relevanter mütterlicher und kindlicher Pathologie indiziert. Durch eine schonende Spontangeburt scheint die Komplikationsrate, insbesondere zerebraler Schädigungen, nicht erhöht zu sein. Während der mütterlichen Anästhesie muss eine intrauterine und postpartale Depression des Kindes unbedingt vermieden werden. Dies setzt eine enge Abstimmung von Anästhesieverfahren, chirurgischem Vorgehen und unmittelbar postpartaler Versorgung der Frühgeborenen voraus. Nach der Erstversorgung der Frühgeborenen im Kreißsaal erfolgt die weitere zeit- und personalaufwendige Behandlung und Pflege der Kinder auf einer neonatologischen Intensivstation. Einzelheiten sind den Lehrbüchern der Pädiatrie und Neonatologie zu entnehmen. 83.3.1 Atemnotsyndrom Frühgeborener
C.P. Speer Die Surfactant-Substitution stellt einen entscheidenden Durchbruch in der Behandlung des Atemnotsyndroms Frühgeborener dar. Durch diese kausale Therapiemaßnahme konnten die akuten pulmonalen Komplikationen beatmeter Frühgeborener um 2/3 reduziert und die Sterblichkeit von Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom nahezu halbiert werden.
Epidemiologie Das Atemnotsyndrom Frühgeborener (RDS, »respiratory distress syndrome«, hyalines Membransyndrom) stellt die häufigste Todesursache der Neonatalperiode dar. Etwa 1 % aller Neugeborenen erkrankt an einem RDS. Die Inzidenz steigt mit abnehmendem Gestationsalter; bis zu 60 % der Frühgeborenen <30. Gestationswoche entwickeln ein RDS.
Pathogenese Wesentliche Ursache des RDS ist der Mangel eines pulmonalen oberflächenaktiven Surfactant-Systems, das die Oberflächenspannung der Alveolen vermindert und somit zur Stabilität des
Alveolarsystems beiträgt; es beugt einem Alveolarkollaps in der Exspiration vor (Surfactant = »surface active agent«). Surfactant wird von Pneumozyten des Typs II gebildet, in den Alveolarraum sezerniert und besteht überwiegend aus verschiedenen Phospholipiden.
Lecithin/Sphingomyelin-Quotient Bei Patienten mit RDS ist die Surfactant-Hauptkomponente Dipalmitoyl-Phosphatidylcholin (Lecithin) quantitativ vermindert, Phosphatidylcholin fehlt vollständig. Da eine ständige Sekretion von Surfactant in das Fruchtwasser stattfindet, kann durch eine Bestimmung des L/S-Quotienten (Lecithin/Sphingomyelin) die Lungenreife von Frühgeborenen abgeschätzt werden; der Sphingomyelingehalt im Fruchtwasser bleibt im Verlauf der Schwangerschaft konstant. Ein L/S-Quotient von >2 : 1 weist auf ein ausgereiftes Surfactant-System hin.
Apoproteine Neben Phospholipiden enthält Surfactant Apoproteine unterschiedlichen Molekulargewichts (SP = Surfactant-Protein). Während die hochmolekularen Apoproteine (SP-A) vermutlich die zelluläre Sekretion und Wiederaufnahme der Phospholipide regulieren, sowie lokale Abwehrfunktionen gegen verschiedenste mikrobielle Erreger übernehmen (SP-A, SP-D), kommt den hydrophoben niedermolekularen Apoproteinen (SP-B; SP-C) eine besondere funktionelle Bedeutung zu: Sie verbessern die Absorption und Ausbreitung der Surfactant-Phospholipide.
Hyaline Membranen Das Surfactant-Defizit wird typischerweise durch eine postnatal einsetzende intraalveoläre Akkumulation von Plasmaproteinen kompliziert, die nach Schädigung des Alveolarepithels und Kapillarendothels die Alveoli auskleiden und die Surfactant-Wirkung direkt hemmen (hyaline Membranen). Eine ausreichende Surfactant-Synthese besteht in der Regel von der 35. Gestationswoche an. Kinder diabetischer Mütter, Neugeborene mit Asphyxie oder schwerer Erythroblastose können eine verzögerte Lungenreifung aufweisen. Eine beschleunigte Lungenreifung wird bei Präeklampsie und Wachstumsrestriktion, bei intrauterinem Stress durch vorzeitigen Blasensprung (2–7 Tage) und durch mütterliches Amnioninfektionssyndrom beobachtet.
Pathophysiologie Bei einem Surfactant-Mangel entwickeln sich in den Lungen der Frühgeborenen unmittelbar nach der Geburt zunehmende diffuse Atelektasen. Die alveoläre Minderbelüftung führt zu einer Hypoxämie/Hypoxie und zu einem Anstieg des CO2-Partialdruckes. Die Folgen sind eine systemische Hypotension und Vasokonstriktion der pulmonalen Gefäße, die eine pulmonale Minderperfusion sowie eine Ausbildung intrapulmonaler Shunts und eines Rechts-Links-Shunts auf Vorhofebene (Foramen ovale) bzw. über den Ductus arteriosus nach sich ziehen; der pulmonale Metabolismus wird erheblich eingeschränkt. Azidose, Hypoxie und der veränderte Lungenstoffwechsel hemmen die postnatal einsetzende de novo-Synthese von Surfactant. In . Abb. 83.5 ist der Circulus vitiosus des Atemnotsyndroms dargestellt.
1093 83.3 · Das Frühgeborene
83
i Man beachte folgende Differenzialdiagnose: Eine neonatale Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B kann sich unter den klinischen und radiologischen Zeichen eines RDS manifestieren!
Akute Komplikationen Im Verlauf der Erkrankung können folgende Komplikationen auftreten: 4 extraalveoläre Luftansammlung, pulmonales interstitielles Emphysem, 4 Pneumothorax, 4 Pneumomediastinum, 4 Pneumoperitoneum, 4 Pneumoperikard. . Abb. 83.5. Circulus vitiosus des Sur factant-Mangels
Als Folge der Lungenunreife, der Langzeitbeatmung und der O2-Toxizität (durch die hohe inspiratorische O2-Konzentration) kann sich bei Risikopatienten eine chronische Lungenerkrankung, die bronchopulmonale Dysplasie (BPD) entwickeln.
Therapie Symptomatische Behandlung Die Therapie des RDS wird vom Schweregrad der pulmonalen Erkrankung bestimmt. Bei leichtem RDS erfolgt eine gezielte O2Zufuhr unter einer »Headbox« oder mittels Nasen-CPAP über einen in der Nase liegenden Tubus, bei deutlicher Ventilationsund Oxygenierungsstörung müssen die Kinder maschinell beatmet werden. Die Überwachung erfolgt mittels kontinuierlicher transkutaner pO2-und pCO2-Messung, Pulsoxymetrie, regelmäßiger Blutgasanalysen und engmaschiger Blutdruckkontrollen; evtl. ist eine Plasma- bzw. Bluttransfusionen erforderlich. Grundprinzip der Behandlung ist das sog. »minimal handling«, d. h. die möglichst geringe Belastung des Frühgeborenen durch diagnostische und therapeutische Maßnahmen. . Abb. 83.6. Radiologische Veränderungen eines schweren Atemnotsyndroms. Verdichtetes Lungenparenchym, Auslöschung der Zwerchfellund Herzkonturen, positives Lungenbronchogramm
Klinik Klinische Symptome Diese treten unmittelbar nach der Geburt oder innerhalb der ersten 3–4 h post partum auf: 4 Tachypnoe >60/min, 4 Nasenflügeln, 4 exspiratorisches Stöhnen, 4 sternale und interkostale Einziehungen, 4 abgeschwächtes Atemgeräusch, 4 Mikrozirkulationsstörungen mit blass-grauem Hautkolorit, 4 Temperaturinstabilität, 4 evtl. Zyanose (bei insuffizienter Behandlung). Bei der röntgenologischen Untersuchung des Thorax finden sich typische Veränderungen des RDS. Unter zunehmender Verdichtung des Lungenparenchyms mit Auslöschung der Herz- und Zwerchfellkonturen entwickelt sich eine sog. »weiße Lunge« (. Abb. 83.6).
Kausale Behandlung: Sur factant-Substitution In den letzten Jahren ist mit der Substitution mit natürlichem und synthetischem Surfactant ein entscheidender Fortschritt in der Behandlung des Atemnotsyndroms Frühgeborener erzielt worden. Natürliche Surfactant-Präparate werden durch Lavage von Kälber- und Rinderlungen (Alveofact, Infasurf) oder Homogenisierung von Rinderlungen (Surfactant-TA, Survanta) oder Schweinelungen (Curosurf) extrahiert oder aber wurden für klinische Studien aus dem menschlichen Fruchtwasser isoliert. Die Präparate unterscheiden sich in der Zusammensetzung der Phospholipidfraktionen sowie im Apoproteinmuster. Synthetische Surfactant-Präparate sind apoproteinfrei. Um die Adsorption und Ausbreitung von Dipalmitoylphosphatidylcholin (DPPC) zu verbessern, wurden dem Präparat Exosurf ein Alkohol (Hexadecanol) und ein Detergenz (Tyloxapol) beigefügt. Die einzelnen, in kontrollierten und/oder randomisierten Studien untersuchten Präparate, ihre Zusammensetzung und Dosis sind in . Tabelle 83.4 zusammengefasst. Unmittelbar nach intratrachealer Applikation natürlicher Surfactant-Präparate konnte bei Frühgeborenen mit manifesten RDS in allen kontrollierten Studien eine – wenn auch recht unterschiedliche – Verbesserung der Oxygenierung und der Beatmungssituation erzielt werden. Synthetische Präparate zeigen im
1094
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Tabelle 83.4. Natürliche und synthetische Surfactant-Präparate, die in kontrollierten und randomisierten Studien untersucht wurden: Herkunft, Zusammensetzung, Dosierung, Volumina und Anzahl der repetitiven Dosen Präparat
Herkunft
Zusammensetzung Phospholipide
Apoproteine
Dosis (Phospholipide) [ml/kg KG]
Volumen [ml/kg KG]
Anzahl der Dosen
Surfactant TA
Rind
84 %*
SP-B, C (1 %)
100
4
4
Survanta
Rind
84 %*
SP-B, C (1 %)
100
4
4
Infasurf
Kalb
95 %
SP-B, C (1 %)
90–100
3
3
Alveofact
Rind
88 %
SP-B, C (1 %)
50
1,2
4
AmnionflüssigkeitSurfactant
Mensch
85 %
SP-A, B, C (5 %)
60
3
4
Curosurf
Schwein
99 %
SP-B, C (1 %)
100–200
1,25–2,5
3
ALEC
Synthetisch
DPPC, PG
Keine
100**
2
4
Exosurf
Synthetisch
DPPC***
Keine
67,6
5
2–3
* Die Endkonzentration ist mit synthetischen DPPC, Tripalmitin und Palmitinsäure angereichert; SP-A, B, C Sur factant-Proteine A, B, C; DPPC Dipalmitoylphosphatidylcholin; PG Phosphatidylglycerol. ** Gesamtdosis pro Patient. *** Zusätzliche Inhaltsstoffe: Hexadecanol, Tyloxapol.
83
. Tabelle 83.5. Empfehlungen zur postnatalen Surfactant-Behandlung Zeitpunkt
4 Prophylaktische Behandlung im Kreißsaal nur für Frühgeborene <28 Gestationswochen nach postpartaler Stabilisierung (Voraussetzung: erfahrenes Reanimationsteam) 4 Frühe Sur factant-Substitution bei Frühgeborenen <32 Gestationswochen mit klinischen Zeichen des RDS, maschineller Beatmung und einem O2-Bedarf von >40 % 4 Spätere Surfactant-Behandlung bei etwas »reiferen« Frühgeborenen mit RDS, maschineller Beatmung und einem O2-Bedarf von >50–60 %
Dosis
4 Initialdosis für die prophylaktische Behandlung mit natürlichen Surfactant-Präparaten ca. 100 mg/kg KG 4 Initialdosis für die Behandlung des manifesten RDS 100 bis maximal 200 mg/kg KG
Mehrfachbehandlung
4 Innerhalb von 48 h wiederholte Surfactant-Gaben bei erneutem O2-Anstieg >30 % und maschineller Beatmung (Kumulative Dosis: 400 mg/kg KG)
Applikation, Therapievoraussetzungen
4 Unabhängig von der Art der Surfactant-Präparation muss der behandelnde Kinderarzt mit allen Aspekten der intratrachealen Surfactant-Applikation, der maschinellen Beatmung sowie allen anderen Maßnahmen der neonatologischen Intensivmedizin vertraut sein
Vergleich zu natürlichen Surfactant-Präparationen eine wesentlich langsamere Verbesserung des pulmonalen Gasaustausches und des Beatmungsverlaufs. Sowohl nach prophylaktischer als auch nach therapeutischer Surfactant-Gabe konnte die Pneumothoraxinzidenz um 50–70 % und die Sterblichkeit um ca. 40 % reduziert werden. Alle anderen akuten und chronischen mit Atemnotsyndrom assoziierten Komplikationen wurden durch eine Surfactant-Therapie nicht beeinflusst. Direkte Vergleichsstudien zwischen natürlichen und synthetischen Surfactant-Präparaten belegen eine bessere klinische Wirksamkeit natürlicher Präparate. Die Metaanalyse von 7 randomisierten Vergleichsstudien zwischen natürlichen Surfactant-Präparationen und dem synthetischen Präparat Exosurf zeigt eine eindeutige Reduktion der Pneumothoraxinzidenz und der Sterblichkeit nach Behandlung
mit natürlichen Surfactant-Präparaten. Exosurf wurde daher in nahezu allen Ländern vom Markt genommen. Eine Vergleichsstudie zwischen dem natürlichen Surfactant-Präparat Curosurf und dem synthetischen Surfactant ALEC wurde frühzeitig abgebrochen, nachdem eine deutlich erhöhte Sterblichkeit der mit ALEC behandelten Frühgeborenen beobachtet worden war. Auch ALEC steht nicht mehr als Therapeutikum zur Verfügung. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine Surfactant-Behandlung Frühgeborener <28 Gestationswochen in der frühen Phase des Atemnotsyndroms einer Therapie in einer späteren Erkrankungsphase überlegen ist. Generell sollten alle Frühgeborenen <32 Gestationswochen nach suffizienter kardiorespiratorischer Stabilisierung zu einem Zeitpunkt mit Surfactant behandelt werden, an dem die ersten klinischen Zeichen eines RDS nachweisbar sind (. Tab. 83.5).
1095 83.3 · Das Frühgeborene
83
»Sur factant-Non-Responder«
Pathogenese und Pathophysiologie
Eine Reihe von Grunderkrankungen können den Effekt einer Surfactant-Therapie negativ beeinflussen. So muss bei Frühgeborenen mit struktureller Lungenunreife oder Lungenhypoplasie, z. B. nach längerem vorzeitigem Blasensprung, sowie bei Kindern mit konnataler und neonataler Pneumonie mit einem fehlenden oder deutlich geringeren Therapieerfolg gerechnet werden. Aber auch die perinatale Hypoxie, Hypothermie und nicht zuletzt die systemische Hypotension haben unmittelbaren Einfluss auf die initiale Wirksamkeit der Surfactant-Behandlung. Eine nur transitorische Verbesserung der Oxygenierung und des Gasaustausches wird bei Frühgeborenen beobachtet, die im Rahmen eines hämodynamisch signifikanten persistierenden Ductus arteriosus ein intraalveoläres Ödem entwickeln.
Bei reifen Neugeborenen setzt mit ansteigenden O2-Partialdrücken nach der Geburt eine Konstriktion des Ductus arteriosus und nachfolgend der Verschluss ein. Der Ductus arteriosus Frühgeborener reagiert schwächer auf die postnatalen Kontraktionsreize; wesentliche Faktoren dürften die unreife Muskulatur des Ductus und der persistierende vasodilatatorische Effekt -hoher Prostaglandinkonzentrationen (PGE2) bei Frühgeborenen sein. Bei ausbleibendem Ductusverschluss entwickelt sich in der akuten Phase des RDS ein Shunt zwischen pulmonaler und systemischer Zirkulation (Rechts-links-Shunt). Mit Rückbildung des RDS sinkt der pulmonale Gefäßwiderstand ab; in dieser Phase kann sich ein hämodynamisch signifikanter Links-rechts-Shunt über den PDA entwickeln. Die Folge ist eine akute pulmonale Überflutung mit hämorrhagischem Lungenödem und akuter kardialer Insuffizienz. Die Beatmungssituation der Patienten verschlechtert sich akut, durch Intensivierung der Beatmung und Erhöhung der inspiratorischen O2-Konzentration nimmt die Lungenschädigung zu (bronchopulmonale Dysplasie). Auch bei protrahierter Manifestation eines PDA können u. a. ein interstitielles Lungenödem und Veränderungen der Organperfusion (Nieren, Magen-Darm-Trakt) auftreten.
Nebenwirkungen Unmittelbare Nebenwirkungen einer Behandlung mit natürlichem Surfactant-Präparaten sind – von Fehlern bei der Anpassung der maschinellen Beatmung abgesehen – bisher nicht beschrieben worden. ! Cave Nach Applikation natürlicher Surfactant-Präparate kann eine ungenügende Adjustierung des Beatmungsdrucks zur akuten Überblähung des Lungenparenchyms (»Hyperexpansion«) und dadurch zu schwerwiegenden Ventilations- und Zirkulationsstörungen führen.
Andere Indikationen für eine Sur factant-Therapie Neben dem neonatalen Atemnotsyndrom ist eine Surfactant-Behandlung auch bei Erkrankungen vorstellbar, in deren Verlauf ein sekundärer Surfactant-Mangel auftritt. Derzeit laufende kontrollierte randomisierte Studien evaluieren den Einfluss einer Surfactant-Behandlung bei konnataler Pneumonie, Mekoniumaspirationssyndrom und Zwerchfellhernie.
Prävention Die sog. Lungenreifungsbehandlung durch Betamethason oder andere Glukokortikoidderivate kann die Inzidenz und den Schweregrad des RDS Frühgeborener durch eine Enzyminduktion vermindern. Betamethason sollte möglichst 48 h vor der Geburt der Schwangeren verabreicht werden. Pränatale Kortikosteroide in Kombination mit der postnatalen Surfactant-Therapie (natürliches Surfactant) reduzieren die Sterblichkeit sowie die Inzidenz pulmonaler und extrapulmonaler Komplikationen (Hirnblutung). Als weiterer bedeutsamer Faktor in der Prävention des RDS ist eine schonende Geburtseinleitung und optimale primäre Reanimation der Risikokinder anzusehen. 83.3.2 Persistierender Ductus ar teriosus (PDA)
C.P. Speer i Ein hämodynamisch wirksamer persistierender Ductus arteriosus stellt das häufigste kardiovaskuläre Problem Frühgeborener dar.
Klinik Ein PDA manifestiert sich häufig zwischen dem 3. und 5. Lebenstag mit folgender Charakteristik: 4 präkordiale Hyperaktivität, 4 systolisches Herzgeräusch, gelegentlich kontinuierlich (ca. 20 % der Frühgeborenen mit hämodynamisch signifikantem PDA haben kein Geräusch!), 4 Pulsus celer et altus (»springende Pulse«), Tachykardie, 4 Verschlechterung der Beatmungssituation, evtl. feinblasige Rasselgeräusche, 4 evtl. Hepatomegalie, 4 renale Ausscheidungsstörungen, 4 Zirkulationsstörungen. Ein mehr als 7 Tage bestehender hämodynamisch signifikanter PDA ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Entwicklung einer bronchopulmonalen Dysplasie. Die klinische Verdachtsdiagnose wird durch die Thoraxröntgenaufnahme, die zweidimensionale Echokardiographie und den direkten Shuntnachweis mit Hilfe der Dopplertechnik und Farbdoppler verfahren bestätigt.
Therapie Die wesentlichen Therapieprinzipien bei symptomatischem PDA sind: 4 Flüssigkeitsrestriktion, 4 Prostaglandinsynthesehemmer (Indometacin), 4 operativer PDA-Verschluss. Durch die Hemmung der Prostaglandinsynthese wird der gefäßerweiternde Effekt von Prostaglandin E2 antagonisiert. Kontraindikationen der Indometacin-Behandlung sind: Thrombozytopenie, Serumkreatinin >1,8 mg/dl und Oligurie. Etwa 40 % aller mit Indometacin behandelten Frühgeborenen sprechen auf diese konservative Behandlung nicht an.
1096
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
83.3.3 Neonatale chronische Lungenkrankheit
oder bronchopulmonale Dysplasie (BPD) P. Groneck 1967 beschrieb Northway erstmalig eine Gruppe von Frühgeborenen, die nach maschineller Beatmung wegen eines Atemnotsyndroms keine Besserung der Lungenfunktion zeigten. Die Kinder blieben über lange Zeit respiratorabhängig und waren schlecht von der Beatmung zu entwöhnen oder starben unter der Beatmung. Diese vorher nicht beobachtete chronische Lungenkrankheit wurde als bronchopulmonale Dysplasie (BPD) bezeichnet. Anfangs wurde die BPD ausschließlich aufgrund radiologischer Veränderungen diagnostiziert. Später wurden v. a. klinische Befunde (O2-Bedarf und Atemnotsymptomatik) sowie ein Zeitfaktor für die Diagnosestellung herangezogen. Von einer milden BPD spricht man, wenn mit einem postnatalem Alter von 28 Tagen Sauerstoff erforderlich ist, um die pulsoxymetrische Sauerstoffsättigung >90% zu halten. Persistiert dieser Sauerstoffbedarf bis zum postkonzeptionellen Alter von 36 Wochen, so liegt eine moderate BPD vor. Bei einer schweren BPD besteht zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit einer Atemhilfe (CPAP oder maschinelle Beatmung) oder ein erhöhter Sauerstoffbedarf (FIO2>0,35).
Pathogenese
83
Die BPD ist eine chronische Lungenkrankheit Frühgeborener. Grundvoraussetzung für die Entstehung ist die Unreife der Lunge, die sowohl die anatomischen Stukturen als auch funktionelle Systeme betrifft: Das Surfactant-System, Enzyme zur O2-Detoxifikation (Superoxiddismutase, Katalase, Glutathionperoxidase) sowie notwendige Faktoren zur Epithelregeneration (Vitamin A). Bestimmte, meist nicht vermeidbare Noxen wie erhöhte O2Zufuhr, mechanisches Beatmungstrauma, eine pränatale Chorioamnionitis, insbesondere Infektionen mit Ureaplasma urealyticum, postnatale pulmonale und systemische Infektionen, hohes Flüssigkeitsangebot, eine pulmonale Hyperperfusion bei offenem Ductus arteriosus u. a. führen zu einer akuten Lungenläsion. Dabei besteht zumeist eine gesteigerte pulmonale mikrovaskuläre Permeabilität, wahrscheinlich aufgrund einer persistierenden Entzündungsreaktion. Die Folge ist eine abnorme Lungenentwicklung mit einer Beeinträchtigung der Alveolarisierung und Vaskularisierung der sich entwickelnden Lunge. Bei anhaltender Exposition gegenüber den Noxen wird der normale Gewebereparaturprozess in der Lunge gestört, es kommt zur Ausbildung einer interstitiellen Fibrose und eines Lungenemphysems. Die Pulmonalgefäße sind durch diesen Umbauprozess ebenfalls betroffen, sie sind rarefiziert und zeigen eine Mediahypertrophie. Die Folge kann ein ausgeprägter pulmonaler Hypertonus sein. Für die Entwicklung einer BPD ist häufig ein Atemnotsyndrom in den ersten Lebenstagen verantwortlich, aber keine unabdingbare Voraussetzung. Ein Teil der sehr unreifen Frühgeborenen entwickelt eine BPD auch bei initial offenbar gesunder Lunge. Eine pränatale fetale Inflammationsreaktion im Rahmen einer Chorioamnionitis, postnatale systemische Infektionen oder ein persistierender Ductus arteriosus können dabei ursächlich beteiligt sein. Unterschiedliche therapeutische Praktiken (Flüssigkeitszufuhr, Indikation zur mechanischen Beatmung) haben einen deutlichen Einfluss auf die Inzidenz der BPD.
. Abb. 83.7. BPD Stadium IV nach Northway: diffus über beide Lungen verteilte ausgeprägte zystische Aufhellungen sowie streifig-fleckförmige Verdichtungen
Klinik Kinder mit einer BPD zeigen die folgenden klinischen Symptome: 4 Sie lassen sich schwer von der Beatmung entwöhnen. 4 Sie haben nach der Extubation eine persistierende Atemnot mit anhaltendem O2-Bedarf, sternalen und kostalen Einziehungen und einer Tachypnoe. 4 Oft besteht eine kardiopulmonale Instabilität mit Neigung zu häufigen O2-Sättigungsabfällen und Bradykardien. 4 Es findet sich ein typisches radiologisches Bild in Form von fleckig-steifigen röntgendichten Veränderungen in Abwechslung mit Regionen erhöhter Strahlentransparenz oder zystisch-emphysematösen Bereichen. Die Veränderungen werden nach Northway in verschiedene Stadien (I‒IV) eingeteilt (vgl. . Abb. 83.7).
Prävention Prinzipiell ist die Prävention der BPD erstes Ziel. Wichtige Maßnahmen sind in der Übersicht aufgeführt. Allgemeine Maßnahmen zur Prävention der bronchopulmonalen Dysplasie 5 Pränatale Steroidbehandlung. 5 Frühzeitige Surfactant-Therapie bei Vorliegen eines Atemnotsyndroms. 5 Frühzeitige Behandlung eines klinisch relevanten offenen Ductus arteriosus. 5 Vermeidung einer Flüssigkeitsüberladung. 5 Niedrigste mögliche Beatmungsunterstützung zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustauschs. 5 Falls möglich, frühzeitige Extubation und CPAPBehandlung. 5 Gewährleistung einer ausreichenden Ernährung (parenteral/enteral) sowie Versorgung mit Spurenelementen 6
1097 83.3 · Das Frühgeborene
83
O2-Gabe und Vitaminen. Die intramuskuläre Verabreichung von Vitamin A in einer Dosis von 5000 IE 3-mal/Woche führt zu einer mäßiggradigen, aber signifikanten Senkung der BPD-Rate. 5 Lichtschutz von parenteral zugeführten Lipidlösungen, um die Bildung toxischer Lipidhydroperoxide zu vermeiden. 5 Die Bedeutung der Behandlung einer pulmonalen Ureaplasmenbesiedlung bei der Geburt auf die Entwicklung einer BPD ist noch nicht endgültig geklärt. Bei Besiedlung und anhaltenden pulmonalen Problemen des Kindes ist eine Behandlung mit Erythromycin zu erwägen. 5 Die prophylaktische Behandlung mit Coffein ab dem 3. Lebenstag zur Therapie von Apnoen senkt signifikant das Risiko, eine BPD zu entwickeln
Therapie Flüssigkeitreduktion. Bei klinischen Symptomen einer BPD sollte eine Reduktion der Flüssigkeitszufuhr angestrebt werden. Diuretika. Diuretika verbessern die Lungenfunktion und den Gasaustausch bei Frühgeborenen mit Symptomen einer BPD. Die Wirkung beruht offenbar auf einer Verminderung des Lungenwassers. Die Wirkung hält für ca. 8 Wochen an. Aufgrund der Kalziurie ist die Anwendung von Furosemid jedoch problematisch, da sich eine Nephrokalzinose entwickeln kann. Dexamethason. Unter einer Behandlung mit Dexamethason
kommt es zu einer Verminderung des pulmonalen Wassergehaltes, zu einem Anstieg der Compliance und zu einer Verbesserung des Gasaustausches. Die Therapie ermöglicht innerhalb von 2–5 Tagen bei der Mehrzahl der behandelten beatmeten Patienten eine Extubation. Der Effekt ist möglicherweise bedingt durch eine Abnahme der pulmonalen Entzündungsreaktion sowie der mikrovaskulären Permeabilität der Lunge. Dexamethason hat eine Fülle von Nebenwirkungen und ungünstigen Langzeiteffekten. Insbesondere sind die Auswirkungen auf die Lungenentwicklung und die Hirnentwicklung nicht geklärt. Alarmierend sind die bisherigen Ergebnisse von Nachuntersuchungen Frühgeborener, die eine sehr frühe oder sehr lange postnatale Kortikosteroidtherapie erhalten haben: Es wurde ein deutlich erhöhtes Risiko für eine beeinträchtige neurologische und kognitive Entwicklung festgestellt. Offenbar werden die kurz- bis mittelfristigen Vorteile einer postnatalen Glukokortikoidtherapie mit langfristigen erheblichen Nachteilen erkauft. Glukokortikoide sollten daher postnatal nur noch in lebensbedrohlichen Situationen eingesetzt sowie die Dosis und die Therapiedauer deutlich reduziert werden. Inhalative Steroide werden zur Prophylaxe einer BPD nicht empfohlen. Bei manifester Erkrankung kann die topische Steroidbehandlung erwogen werden.
Bronchodilatatoren Bei pulmonaler Obstruktion oder radiologischem Nachweis emphysematöser Veränderungen können inhalative oder systemische Bronchodilatatoren eingesetzt werden.
Bei etablierter BPD, insbesondere bei schweren Verläufen, besteht eine deutliche Mediahypertrophie der Pulmonalgefäße. In dieser Situation sollte O2 nicht zu niedrig dosiert werden, um die Entwicklung bzw. Zunahme einer pulmonalen Hypertonie zu vermeiden (SO2 >92 %, pO2 >55 mm Hg). Eine ausreichende O2-Zufuhr ist ebenfalls erforderlich für eine befriedigende Gewichtszunahme. Die regelmäßige echokardiographische Überwachung zur Beurteilung des Lungengefäßwiderstandes ist notwendig.
Prognose In den meisten Fällen kommt es zu einer Reparatur der pulmonalen Veränderungen, erkennbar am Rückgang der Atemnotsymptomatik und des O2-Bedarfs. Nur wenige Kinder benötigen auch zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik noch O2 und erhalten eine entsprechende häusliche Therapie, die in der Regel nicht länger als 3–6 Monate erforderlich ist. Einzelne Kinder lassen sich nicht von der Beatmung entwöhnen oder müssen nach Spontanatmungsphasen reintubiert werden und versterben an der Beatmung. Kinder mit BPD sind stark anfällig für eine RSV-Bronchiolitis, auch im Rahmen einer nosokomialen Infektion im Krankenhaus. Diese Infektion kann bei BPD-Patienten zu einem lebensbedrohlichen Krankheitsbild führen. Weiterhin haben Kinder mit BPD nicht selten ein hyperreagibles Bronchialsystem und erkranken innerhalb der ersten 2 Lebensjahre häufig an einer obstruktiven Bronchitis. Störungen der Lungenfunktion (reversible oder fixierte Obstruktionen, erhöhtes intrathorakales Gasvolumen) sind bis ins Erwachsenenalter nachweisbar. In der Regel sind die Kinder jedoch körperlich später gut belastbar und in der Lage, Sport zu treiben. 83.3.4 Retinopathia praematurorum (ROP)
P. Groneck Definition und Pathogenese Die »retinopathy of prematurity« (ROP) ist eine multifaktorielle vasoproliferative Netzhauterkrankung, deren Inzidenz und Schweregrad mit zunehmender Unreife ebenfalls zunimmt. 10 % der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1750 g, aber fast 80 % aller Kinder unter 1000 g entwickeln irgendeine Form dieser Erkrankung. Dies führt bei 1 % bzw. 5 % zu einer erheblichen Visuseinschränkung. Die ROP ist die häufigste Ursache von Blindheit bei Kindern unter 6 Jahren. Risikofaktoren für die ROP-Entwicklung sind, neben der Unreife, postnatale Situationen, die entweder mit einer retinalen Minderperfusion oder einem erhöhten retinalen O2-Angebot einhergehen: Hyperoxie, beatmungsbedingte Hypokapnie, Hypotension bei Sepsis, rezidivierende Apnoen, persistierender Ductus arteriosus, Hyperkapnie. Die Erkrankung ist intensivmedizinisch relevant, da die Vermeidung bzw. adäquate Behandlung dieser Situationen für die Entstehung der Retinopathie von Bedeutung ist. Die genannten Risikofaktoren beeinträchtigen die Perfusion der Retina, die bei sehr unreifen Frühgeborenen noch nicht vollständig vaskularisiert ist. Die Gefäßversorgung der Netzhaut entwickelt sich ab der 16. Woche von der Optikusscheibe aus und ist erst am Termin abgeschlossen.
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Bei der Pathogenese der Erkrankung werden unterschieden 4 Eine Phase des primären Insults (relative retinale Hyperoxie), die zu einer Vasokonstriktion mit Stillstand der Gefäßentwicklung führt (Verminderung der Expression retinaler Wachstumsfaktoren wie VEGF und IGF-1). 4 Eine Phase der relativen retinalen Ischämie, auf die durch erneute Produktion von VEGF und IGF-1 eine Neovaskularisierung folgt. Die Gefäße wachsen in den Glaskörper ein, aufgrund einer vermehrten Permeabilität kann es zu Blutungen und Ödembildung kommen. 4 Eine Phase der Narbenbildung. Mit den Gefäßzellen kommt es zur Neubildung von Fibroblasten mit kontraktilen Elementen. Diese neovaskulären Elemente durchsetzen den Glaskörper, durch narbige Kontraktion kann die Retina, an denen das Gewebe anheftet, abgehoben werden. Bei völliger Ablösung der Netzhaut und massiver narbiger Kontraktion bildet die Retina ein retrolental gelegenes tunnelartiges Gebilde, das mit Narbengewebe durchsetzt ist.
Diagnose
83
Typische klinische Symptome zeigen sich nicht während der ROP-Entwicklung. Aus diesem Grund sind v. a. bei kranken, intensivbehandelten Frühgeborenen regelmäßige ophthalmologische Kontrolluntersuchungen des Augenhintergrundes notwendig. Der Zeitpunkt des Auftretens hängt von der retinalen Gefäßentwicklung und somit vom postkonzeptionellen Alter ab. Der Median des Auftretens der ersten Veränderungen ist die 34. Woche, der ersten Proliferationen die 36. Woche. Um eine Retinopathie nicht zu übersehen, sollte die Erstuntersuchung bei Kindern unter 1000 g im Alter von 6 Wochen oder in der 32. Woche p.c. erfolgen, bei Kindern zwische 1000– 1500 g im Alter von 4 Wochen. Kontrolluntersuchungen werden je nach Befund alle 7–14 Tage durchgeführt, bis die Netzhautvaskularisierung abgeschlossen ist.
Verlauf und Prognose Die meisten Kinder mit leichtgradigen Erkrankungen zeigen eine Regression. Bei ausgeprägter Fibroplasie ist die Prognose schlecht. Das Risiko für eine Erblindung beträgt bei Frühgeborenen unter 750 g 5–9 %, unter 1000 g 2 % und über 1000 g 0,1 %.
Prävention und Therapie Eine sicher wirksame Prävention der ROP besteht nicht. Notwendig ist die Überwachung der O2-Zufuhr. Sie erfolgt bei kleinen Frühgeborenen vorzugweise über den transkutan gemessenen pO2. Anzustreben ist ein pO2 <80 mm Hg. Die Messung der SaO2 mit Hilfe der Pulsoxymetrie ist für die Erfassung der Hyperoxie nicht gut geeignet. Weiterhin ist von Bedeutung die Vermeidung einer Hyperoxie bei O2-Zufuhr im Rahmen von Apnoe-assoziierten Hypoxien sowie die Vermeidung von Hypokapnie bei der maschinellen Beatmung. Therapeutisch wird die Lasertherapie angewendet. Ziel der Photokoagulation ist die Zerstörung des angiogenen Granulationsgewebes zur Unterbindung der Gefäßneubildung. Die Behandlung vermindert die Wahrscheinlichkeit eines Visusverlustes um über 50 %.
83.3.5 Hirnblutungen des Frühgeborenen
P. Groneck Die intrazerebrale Blutung ist eine typische und häufige Komplikation der Frühgeburtlichkeit. Inzidenz und Schweregrad sind direkt abhängig von der Reife der Kinder, sie wird bei 20 % der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g beobachtet. Die typische Hirnblutung Frühgeborener entsteht in der germinalen Matrix, einer subventrikulär gelegenen, gelatinösen, gefäßreichen Zone über dem Kopf des Nucleus caudatus. Diese Region ist Ausgangspunkt der Migration zerebraler Neuroblasten auf die Hirnoberfläche. Weiterhin stellt sie ein Grenzgebiet der vaskulären Versorgung der vorderen und mittleren Hirnarterie dar.
Subependymale Hämorrhagie Nach einer Endothelläsion im Bereich des Gefäßnetzes der germinalen Matrix kommt es zur Blutung, die subependymal begrenzt bleiben kann (subependymale Hämorrhagie, SEH, Grad 1 nach Papile und Burstein).
Intraventrikuläre Hämorrhagie Die Ruptur des über dem Kopf des Nucleus caudatus liegenden Ependyms führt zu einer intraventrikulären Ausdehnung der Blutung (intraventrikuläre Hämorrhagie, IVH, Grad 2). Bei intraventrikulärer Ansammlung großer Mengen an Blut mit deutlicher Dilatation des Ventrikels liegt eine Grad-3-Blutung vor.
Intraparenchymatöse Hämorrhagie Größere Ventrikelblutungen behindern den venösen Abfluss und können zu einem begleitenden hämorrhagischen venösen Infarkt führen (intraparenchymatöse Hämorrhagie (IPH), Grad 4 (. Abb. 83.8). Bei einer Ventrikelblutung ist daher der begleitende Infarkt in der Regel einseitig auf der Seite der ausgedehnteren Blutung zu finden.
Komplikationen Die Folge der Hirnblutung ist eine Destruktion der germinalen Matrix mit möglicher Läsion der glialen Präkusorzellen. Bei intraventikulärer Blutung kann es zu einer Behinderung des Liquorabflusses oder der Liquorresorption kommen. Die resultierende Ventrikeldilatation kann sich wieder zurückbilden, stabil persistieren oder progressiv weiterentwickeln. Ein solcher posthämorrhagischer Hydrozephalus mit Druckentwicklung muss chirurgisch drainiert werden.
Pathogenese Für die Entstehung einer Hirnblutung sind verschiedene Faktoren von Bedeutung: 4 postnatal: 4 zerebrale Hyper- und Hypoperfusion, 4 prä- und perinatal: 4 Zytokinexposition bei Chorioamnionitis mit möglicher Endothelschädigung, 4 anatomische und unreifeassoziiert: 4 entwicklungsbedingte, besondere Anfälligkeit der Gefäße der germinalen Matrix für Noxen.
1099 83.3 · Das Frühgeborene
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Postnatale Ursachen von Hirnblutungen bei Frühgeborenen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Zerebrale arterielle Hyperperfusion Inadäquate Katecholamintherapie Rapide Volumenexpansion Massive Hyperkapnie Erhöhter venöser Gefäßdruck Pneumothorax Erhöhtes intrathorakales Gasvolumen bei inadäquater Beatmung Zerebrale Hypoperfusion Hypotension Hypokapnie Bolusinjektion von Anästhetika bei Hypovolämie Zerebrales Stealsyndrom durch Links-rechts-Shunt bei offenem Ductus arteriosus
Eine zerebrale Hypoperfusion führt zu einer ischämieinduzierten Läsion der Matrixgefäße. Durch postnatale Faktoren induzierte Hirnblutungen hängen z. T. von der Qualität der neonatologischen Versorgung ab, sie sind aufgrund der Fortschritte in der neonatologischen Therapie in den letzten Jahren seltener geworden.
Prä- und perinatale Faktoren Neuere Untersuchungen sprechen dafür, dass eine pränatale Zytokinexposition im Rahmen einer Chorioamnionitis zu einer Schädigung der Gefäße in der germinalen Matrix führt und dadurch eine Hirnblutung auslösen kann. Die Mechanismen sind noch nicht hinreichend geklärt.
Klinik
. Abb. 83.8a, b. Sonographische Darstellung einer massiven Ventrikelausgussblutung im sagittalen Längsschnitt bei einem extrem unreifen Frühgeborenen (a Grad 3) sowie einer Ventrikelblutung mit begleitendem hämorrhagischem Infarkt im Hirnparenchym (b sagittaler Längsschnitt, Grad 4)
Postnatale Faktoren Aufgrund der Gefäßarchitektur liegt eine gesteigerte Vulnerabilität der Mirkovaskulatur im Bereich der germinalen Matrix sowohl bei Hypotension als auch bei Hypertension vor. Obwohl auch bereits bei Frühgeborenen eine Autoregulation vorhanden ist, kann dieser Kompensationsmechanismus bei einzelnen sehr kranken Kindern beeinträchtigt sein. Eine zerebrale Hyperperfusion kann zu einer mechanischen Ruptur der Matrixgefäße führen. Neben einer gesteigerten Perfusion auf der arteriellen Seite ist ein erhöhter venöser Druck ebenfalls von Bedeutung. Die postnatalen Ursachen sind in der folgenden Übersicht zsammengefasst:
Schwere Hirnblutungen (Grad 3 und 4) führen bei sehr kleinen Frühgeborenen praktisch immer zu klinischen Symptomen. Diese zeigen sich an 4 einer plötzlichen Änderung der Hauptperfusion (»septisches Aussehen«), 4 einer plötzliche Änderung des respiratorischen Status mit erhöhtem O2-Bedarf, Apnoen oder erhöhtem Ventilationsbedarf bei beatmeten Patienten, 4 Instabilität des Blutdrucks, 4 bei massiven Blutungen füllige oder gespannte Fontanelle, Krampfanfälle, 4 Abfall des Hb/Hkt, 4 muskuläre Hypotonie und Hypomotorik. Bei entsprechenden Syptomen gehört die zerebrale Sonographie zur Notfalluntersuchung; bei fehlender Blutung müssen andere Ursachen für die Zustandsverschlechterung gesucht werden. Eine weitergehende bildgebende Diagnostik ist nicht indiziert. 80–90 % der Hirnblutungen treten innerhalb der ersten 48 h nach der Geburt auf.
Therapie und Prävention Eine kausale Therapie gibt es nicht. Symptomatisch erfolgt eine Stabilisierung des Kreislaufs und die Transfusion von Erythrozytenkonzentrat. Ein hoher Qualitätsstandard der neonatalen Versorgung ist Grundvoraussetzung für die Prävention potenziell vermeidbarer Hirnblutungen. Die pränatale Behandlung
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
mit Glukokortikoiden ist eine wichtige präventive Maßnahme. Die frühzeitge prophylaktische Behandlung mit Indomethacin (7 Kap. 83.3.2: »Behandlung des Ductus arteriosus«) führt zu einer signifikanten Senkung der Rate an schweren Hirnblutungen, überraschenderweise jedoch nicht zu einer Verminderung der neurologischen Spätfolgen. Ein verzögertes Abnabeln (»late clamping«, Abnabelung ca. 30 s nach Entwicklung des Kindes) führt ebenfalls zu einer Verringerung der Rate an schweren Hirnblutungen und ist als präventive Maßnahme zu empfehlen.
mit HC ist die Dilatation passager und es kommt innerhalb von 4 Wochen zum spontanen Stillstand oder zur Rückbildung der Ventrikelerweiterung. 35 % zeigen eine progressive Zunahme der Ventrikeldilatation (Druck-HC).
Verlauf und Prognose
Kopfumfangszunahmen über 2 cm/Woche sind Ausdruck eines Druckhydrozephalus.
Die anfänglich echodichte Blutung wird im Verlauf zunehmend echoärmer als Zeichen der Liquefizierung, bis sie nicht mehr darstellbar ist. Zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus sind bei den meisten Frühgeborenen nach Hirnblutungen vom Grad 1 oder 2 keine Residuen nachweisbar. Bei ca. 30 % der Patienten mit Ventrikelblutung kommt es zu einer Ventrikeldilatation; Blutungen im Parenchymbereich hinterlassen eine porenzephale Zyste. Die Prognose der Hirnblutungen bei Frühgeborenen hängt v. a. vom Vorhandensein einer Parenchymläsion ab. Während die Wahrscheinlichkeit einer neurologischen Folgeschädigung bei einer 1.- oder 2.-gradigen Blutung nur geringfügig gegenüber Kindern der gleichen Reife ohne Blutung erhöht ist (5–15 %), nimmt die Rate bei Grad-3-Blutungen deutlich zu (35 %) und ist nahezu die Regel bei Kindern mit Hirnparenchymläsionen (90 %). 83.3.6 Posthämorrhagischer Hydrozephalus (HC)
P. Groneck Entstehung Liquor wird in den Plexus chorioidales der Seitenventrikel und des Daches des 3. Ventrikels produziert. Der Liquor fließt über die Foraminae Monroi in den 3. Ventrikel, weiter über den Aquädukt in den 4. Ventrikel und die Foraminae Luschka und Magendie in die Cisterna magna. Von dort erfolgt eine Verteilung über die Hemisphären sowie den Spinalkanal und eine Reabsorption in den Blutstrom. Der Mechanismus der Liquorreabsorption ist noch nicht eindeutig geklärt, insbesondere sind bei Säuglingen keine Pacchionischen Granulationen in der Arachnoidea nachweisbar. Die täglich produzierte Liquormenge beträgt ca. 10 ml/kg KG, der normale Hirndruck liegt bei 4–5 cm H2O. Nach einer Ventrikelblutung kann die Liquorzirkulation entweder durch Verlegung der ableitenden Wege (obstruktiver HC) oder durch Resorptionsbehinderung aufgrund einer blutungsbedingten sterilen Arachnoiditis in der hinteren Schädelgrube oder der Hirnkonvexität beeinträchtigt sein (HC aresorptivus, kommunizierender HC). Die Zuordnung kann durch die Ultraschalluntersuchung erfolgen. Bei Obstruktionen lässt sich oft der verlegende Clot nachweisen, bei kommunizierendem HC liegt eine deutliche Dilatation des 4. Ventrikels vor. Nach einer Ventrikelblutung kommt es bei 1/3 der Patienten zu einer zunehmenden Ventrikeldilatation als Ausdruck eines Hydrozephalus. Die Wahrscheinlichkeit einer HC-Entwicklung sowie das Ausmaß der Dilatation hängen v. a. von der Menge des intraventrikulär vorhandenen Blutes ab. Bei 65 % der Kinder
Klinik und Therapie Um die Entwicklung eines progressiven Druckhydrozephalus frühzeitig zu erkennen, sind nach einer Ventrikelblutung folgende regelmäßige Untersuchungen notwendig:
Kopfumfangskurve
Sonographie Sonographische Kontrolluntersuchungen, je nach Befund 1- bis 2-mal pro Woche. Ausdruck eines Druck-HC sind zunehmende Dilatation mit Verlust der »Taillierung« der Seitenventrikel im Koronarschnitt, die Seitenventrikel wirken »balloniert«.
Klinische Druckzeichen Füllige, gespannte oder vorgewölbte Fontanelle. Zunehmende Dehiszenz der Schädelnähte. Bei stark erhöhtem Druck Sonnenuntergangsphänomen. Bei klinischen Symptomen von Hirndruck erfolgt die Anlage eines Ventrikelkatheters mit Rickham-Reservoir oder einer Ableitung nach außen. Das Reservoir erlaubt eine 1- bis 2-malige sterile Punktion täglich, die Punktionsmenge beträgt 10 (– 15) ml/ kg KG/Tag. Bei der Ableitung nach außen in ein geschlossenes System können häufiger kleinere Mengen bei gleicher Gesamtmenge drainiert werden, allerdings ist die Möglichkeit einer Infektion höher. Die Punktionsmenge wird nach dem Fontanellenbefund und der Entwicklung der sonographischen Ventrikelweite gesteuert. Bei persistierender Punktionsnotwendigkeit über 4 Wochen wird ein ventrikuloperitonealer Shunt angelegt. Da hohe Liquoreiweißwerte (bei Blutungen bis zu 300 mg/dl) zu einer Okklusion des Ableitungsventils führen können, wird vor der definitiven Versorgung in der Regel ein Wert unter 100 mg/dl angestrebt. 83.3.7 Periventrikuläre Leukomalazie (PVL)
P. Groneck Als PVL wird eine Nekrose mit nachfolgender zystischer Umwandlung der weißen Substanz lateral der Seitenventrikel bezeichnet, die durch eine Ischämie im Grenzgebiet vaskulärer Versorgungsgebiete entsteht. Es ist eine typische Läsion Frühgeborener mit einem Maximum um die 28. Schwangerschaftswoche (SSW). Die Inzidenz beträgt bei Frühgeborenen unter der 32. SSW zwischen 3 und 9 %. Die Diagnose wird durch die zerebrale Ultraschalluntersuchung gestellt (. Abb. 83.9). Eine zerebrale Ischämie kann bei Frühgeborenen durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt sein, die pränatal, perinatal oder postnatal ihren Ursprung haben. Pränatale Ursachen sind zirkulatorische Beeinträchtigungen aufgrund maternaler Blutungen während der Schwangerschaft, Komplikationen bei Zwillingsgravidität oder einer Chorioamnionitis. Postnatal kann eine PVL bei schweren kardiorespiratorischen Beeinträchtigungen auftreten. Dazu gehören u. a. ein persistierender Ductus arteriosus,
1101 83.3 · Das Frühgeborene
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Da die Herzauswurfleistung bei Neugeborenen im Wesentlichen durch die Herzfrequenz bestimmt wird, kommt es bei solchen Ereignissen stets zu einer beträchtlichen Verminderung der Hirnperfusion mit einem erhöhten Risiko für ischämische Hirnläsionen sowie für eine Retinopathie (ROP). Neben dieser unreifebedingten Genese von Apnoen können prolongierte Atempausen jedoch auch Symptome einer Grunderkrankung sein (symptomatische Apnoen). Insbesondere bei systemischen Infektionen kommt es häufig zur Beeinträchtigung der Atemregulation. Prinzipiell sind Apnoen solange verdächtig auf eine Sepsis, bis diese klinisch, laborchemisch oder kulturell ausgeschlossen werden kann.
Pathogenese . Abb. 83.9. Periventrikuläre Zystenbildung nach Leukomalazie im posterioren Trigonumbereich, darunter Anschnitt des Seitenventrikels sowie als echodichte Struktur der Plexus chorioideus
Blutdruckabfälle im Rahmen einer Sepsis oder eine Hirnminderdurchblutung.
Klinik Akut zeigt die PVL selten klinische Symptome. Eine muskuläre Hypotonie und Hypomotorik wird nur bei ausgedehnten Befunden beobachtet und findet sich auch bei kranken Frühgeborenen ohne PVL. In den meisten Fällen von prä- und perinatal entstandener PVL sind die Kinder asymptomatisch. Die klinische Spätfolgen der PVL sind eine spastischen Diplegie, bei ausgedehnteren Befunden kommt es oft zu einer Beeinträchtigung der Funktion der oberen Extremität und des Intellekts. 83.3.8 Frühgeborenenapnoe
P. Groneck Frühgeborene, insgesondere sehr unreife Kinder mit einem Geburtsgewicht <1000 g, zeigen nach der Geburt über eine lange Zeit eine ausgeprägte kardiorespiratorische Instabilität. Ohne dass oft eine wesentliche andere Grundkrankheit vorliegt, kommt es zu rezidivierendem plötzlichen Auftreten von Apnoen, Bradykardien und Hypoxämien. Aufgrund der Unreife zentraler Steuerungsstrukturen sind Apnoen bei Frühgeborenen regelhaft zu beobachten und somit physiologisch (Frühgeborenenapnoen). Sie werden jedoch pathologisch durch ihre Dauer oder die begleitende Bradykardie und Hypoxämie. Apnoen mit relevanten Bradykardien und Hypoxämien sind behandlungsbedürftig. > Definitionen bei Frühgeborenenapnoe
4 Apnoe – Atempause >20 s oder – Atempause <20 s mit begleitender Bradykardie/
Von unreifebedingten Frühgeborenenapnoen kann erst nach Ausschuss symptomatischer Apnoen gesprochen werden. Die möglichen Ursachen symptomatischer Apnoen, Bradykardien und Hypoxämien sind in der Übersicht aufgeführt. Ursachen symptomatischer Apnoen 5 Sepsis (besonders bei neu auftretenden Apnoen) 5 Persistierender Ductus arteriosus (oft auch subklinisch, daher ist eine Echokardiographie sinnvoll; Apnoen sind manchmal Symptom bei Wiedereröffnung eines bereits verschlossenen PDA) 5 Apnoen als Symptom einer beginnenden respiratorischen Insuffizienz bei Atemnotsyndrom oder Pneumonie 5 Die Bedeutung einer Anämie als Ursache für Apnoen ist noch nicht eindeutig geklärt 5 Zentrale Atemregulationsstörung bei Asphyxie, Hirnblutung, Hirnmissbildung 5 Gastroösophagealer Reflux 5 Obere Luftwegsobstruktion bei Choanalstenose, nasaler Stenose oder Stimmbandlähmung (Meningomyelozele) 5 Fütterungsbedingte Bradykardien durch Vagusreiz bei Magendehnung oder Hypoxien durch Atmungsunterbrechung während des Trinkens
Frühgeborenenapnoen. Frühgeborenenapnoen sind komplexer
Genese. Zugrunde liegt eine Kombination unreifebedingter Ursachen ganz verschiedener Organsysteme: des Atemzentrums, der oberen Luftwege, des Thorax und der Lunge. Zentrale Unreife. Die Neurone des Atemzentrums in der Medulla oblongata zeigen bei Frühgeborenen eine veminderte Myelinisierung sowie eine verminderte Anzahl von Synapsen und Dendriten. Funktionell weist das Atemzentrum bei Frühgeborenen eine verminderte CO2-Reaktivität auf. Im Gegensatz zum reifen Neugeborenen reagiert das Frühgeborenen auch auf eine Hypoxie, nach einer kurzen Hyperpnoe, mit einer Apnoe.
Hypoxämie
4 Bradykardie – Abfall <80/min oder – Herzfrequenzabfall von mehr als 1/3 des Ausgangswerts 4 Hypoxämie – SaO2-Abfall <80 %, mindestens für 4 s
Obere Luftwege. Das Offenhalten der oberen Luftwege ist ein ak-
tiver Prozess. Bei schwachem Gegenzug des M. genioglossus nach vorn können die oberen Luftwege bei Zwerchfellzug kollabieren. Thorax. Bedingt durch die geringe Mineralisierung der Rippen
ist der Thorax instabil. Dieses bedingt eine erhebliche Steigerung
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
der Atemarbeit. Bei Zwerchfellermüdung können Apnoen auftreten, die als zentral bedingt imponieren. Es besteht ebenfalls eine bemerkenswerte Parallelität zwischen der Dauer des Auftretens von Apnoen und der Thoraxstabilität im Laufe des Wachstums kleiner Frühgeborener. Lunge. Eine subklinische neonatale chronische Lungenkrankheit geht oft mit einem interstitiellem Ödem einher. Dadurch kann eine regionale Hypoventilation mit intrapulmonalem Rechts-links-Shunt hervorgerufen werden. Die Folge sind rezidivierende Hypoxien. Zentral bedingte Schwankungen des Atemminutenvolumens bei periodischer Atmung können ebenfalls zu einer intermittierenden Hypoventilation führen.
Diagnose Mit Hilfe der gleichzeitigen Registrierung von thorakaler und nasaler Atmung, Herzfrequenz, und O2-Sättigung (Oxykardiorespirographie) können bei Frühgeborenen die oben beschriebenen verschiedenen Formen der Atemregulationsstörung dargestellt werden. Zentrale Apnoe. Thorakale Atmungsaktivität und nasaler Luft-
stom sistieren parallel, Herzfrequenz und O2-Sättigung fallen anschließend ab.
83
Obstuktive Apnoe. Thorakale Atmungsaktivität hält an, nasaler Luftstom sistiert, Herzfrequenz und O2-Sättigung fallen ab. Gemischte Apnoe. Erst obstuktive, dann zentrale Apnoe oder
umgekehrt. Primäre Hypoxämie. Primärer Abfall der O2-Sättigung, dann
ggf. Abfall von Herzfrequenz und unregelmäßige Atmung. Aufgrund der Häufigkeit von Apoen, Bradykardien und Hypoxämien bei Frühgeborenen müssen die Vitalparameter dieser Kinder in der Regel über lange Zeit auf einer Intensivstation überwacht werden. Da die unterschiedlichen Ursachen auch eine differenzierte Therapie erforden, sollte stets versucht werden, die Natur der Atemregulationsstörung genau zu diagnostizieren. Im Rahmen des üblichen Monitorings wird mit Hilfe der Impedanzmethode nur die thorakale, nicht aber die nasale Atmung registriert. Daher sind obstuktive Apnoen oft nicht leicht zu diagnostizieren. Sie können sich hinter isolierten Hypoxien und/oder Bradykardien verbergen.
Therapie Zur Behandlung des Apnoe-Bradykardie-Hypoxämie-Syndroms Frühgeborener stehen, je nach der vorherrschenden Ursache, verschiedene Optionen zur Verfügung. Differenzialtherapeutische Maßnahmen bei Frühgeborenenapnoen 5 Bei allen Formen der Apnoen: taktile Stimulation – Taktile Maßnahmen wie Streicheln oder sanftes Schütteln führen in den meisten Fällen zur Wiederaufnahme der Atmung 5 Zentrale Apnoen: Atemstimulation durch Methylxanthine oder Doxapram 5 Obstruktive Apnoen: Nasen-CPAP 6
5 Pulmonale/thorakale Ursachen: Nasen-CPAP, Methylxanthine, geringfügige Anhebung der inspiratorischen O2-Konzentration (5 %) 5 Periodische Atmung: geringfügige Anhebung der i nspiratorischen O2-Konzentration 5 Bei Versagen dieser Maßnahmen ist eine maschinelle Beatmung er forderlich.
Weiterhin hängt die Wahl der Therapiemaßnahme von der Häufigkeit und Schwere der Atemregulationsstörung ab. Wenn bei schweren Apnoen wiederholt eine Maskenbeatmung zur Behandlung der Bradykardie und Hypoxie notwendig ist, besteht in der Regel die Indikation zur maschinellen Beatmung. Prinzipiell würde eine prolongierte maschinelle Beatmung zu einer erheblichen Besserung der kardiorespiratorischen Instabilität bei kleinen Frühgeborenen führen. Diese Maßnahme ist jedoch mit einem hohen Risiko für eine bronchopulmonale Dysplasie belastet (7 Kap. 83.3.3). Es gibt derzeit keine sicheren Angaben, wieviele und welcher Schweregrad von Apnoen toleriert werden können, und somit keine klaren Indikationen, wann die konservative Behandlung beendet und eine maschinelle Beatmung erfolgen soll. Folgende therapeutische Maßnahmen werden bei Frühgeborenenapnoen angewendet: 4 Methylxanthine (Theophyllin, Coffein): Durch zentrale Stimulation kommt es zum Anstieg der Atemfrequenz. Weitere Effekte: gesteigerte Zwerchfellkontraktilität, Bronchodilatation, Diurese, verbesserte CO2-Antwort. 4 Doxapram: Bei zentralen Apnoen und nicht ausreichender Wirkung von Coffein kann die Gabe von Doxapram (zentrales Analeptikum) indiziert sein. 4 Nasen-CPAP: CPAP, über einen Nasen- oder Rachentubus angewandt, verhindert den Alveolarkollaps im Endexspirium, verbessert die regionale Verteilung der Ventilation und erhöht die funktionelle Residualkapazität. Durch Öffnung der oberen Luftwege werden gemischte und obstruktive Apnoen wirksam behandelt. Weiterhin werden pulmonal bedingte Ursachen von Atemregulationsstörungen therapeutisch beeinflusst. 4 O2-Gabe: Die geringfügige Anhebung der inspiratorischen O2-Konzentration um 5 % vermindert die Häufigkeit von pulmonal bedingten Hypoxämien und beeinflusst die periodische Atmung. Diese Maßnahme führt in der Regel nicht zu einer Hyperoxie. Eine große Hyperoxiegefahr besteht jedoch, wenn während einer Hypoxämie O2 in erhöhter Konzentration zugeführt wird, um die O2-Mangelsituation so kurz wie möglich zu halten. Diese Maßnahme kann zu einer reaktiven Hyperoxie mit der Gefahr der Ausbildung einer Retinopathie führen und sollte daher mit großer Vorsicht erfolgen. 83.3.9 Grundzüge der mechanischen Beatmung
bei Neugeborenen P. Groneck Ziel der mechanischen Beatmung ist die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaustausches für O2 und CO2 mit einem
1103 83.3 · Das Frühgeborene
Minimum an mechanischer und O2-toxischer Schädigung für die Lunge. Insbesondere bei Frühgeborenen stellt die Beatmung einen wichtigen Risikofaktor für die Ausbildung einer bronchopulmonalen Dysplasie dar. Die Beatmung muss angepasst werden an: 4 das Alter und die Größe des Kindes, insbesondere an das Lungenvolumen sowie die altersabhängig unterschiedlichen Atemfrequenzen, 4 die Schwere der zugrundeliegenden Erkrankung, 4 die Art und intrapulmonale Ausdehnung der Erkrankung. Die Oxygenierung und die Elimination von CO2 werden von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst und daher getrennt behandelt.
Oxygenierung Bei der Beatmung ist die Versorgung des Blutes mit O2 abhängig 4 von der Höhe der eingeatmeten O2-Konzentration (FIO2 1,0=100 % O2), 4 von der Höhe des Diffusionsdrucks, der durch den mittleren Atemwegsdruck beeinflusst wird. Der mittlere Atemwegsdruck wird bestimmt durch die Fläche unterhalb der Beatmungskurve (Druck-Zeit-Kurve). Diese Kurve lässt sich auf einem Monitor mittels eines Druckwandlers bei jedem Beatmungsgerät darstellen und ist nützlich bei der Beatmungssteuerung. Faktoren, die in den mittleren Atemwegsdruck eingehen, sind: 4 PEEP, 4 Spitzendruck (PIP), 4 Inspirationszeit (IZ), 4 Atemfrequenz, 4 Gasfluss [l/min]. Dieser bestimmt die Anstiegssteilheit der Beatmungsdruck-Zeitkurve sowie die Ausbildung eines Platteaus im Spitzendruckbereich. Ein Plateau bedeutet eine bessere intrapulmonale Gasverteilung, jedoch auch eine höhere Barotrauma-Gefahr. Insbesondere Frühgeborene sollten, wenn möglich, ohne oder mit sehr kurzem Plateau beatmet werden. Durch Erhöhung bzw. Verlängerung aller dieser Variablen wird der mittlere Atemwegsdruck erhöht. Viele dieser Maßnahmen haben jedoch ebenfalls einen Einfluss auf die CO2-Elimination, eine gleichsinnige Verbesserung beider Anteile des Gasaustausches ist jedoch oft notwendig und erwünscht. i An erster Stelle der Maßnahmen zur Verbesserung der Oxygenierung steht die Erhöhung der FIO2, dann folgen Adjustierungen des mittleren Atemwegsdrucks mit einer Erhöhung des PIP und des PEEP.
Die Erhöhung des mittleren Atemwegsdrucks führt nur bis zu einem gewissen Grad zu einer Verbesserung der Oxygenierung (sog. optimaler mittlere Atemwegsdruck, dieser liegt bei ca. 14 cm H2O bei einem schweren Atemnotsyndrom), bei Erhöhung über diesen Wert überwiegt wieder der Überblähungseffekt mit Kompression des Herzens.
CO2-Elimination CO2 ist ein rasch diffundierendes Gas, aus diesem Grund hängt die CO2-Elimination von der Menge des pro Zeiteinheit in der
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Alveole verfügbaren Atemgases und damit von der Höhe des Atemminutenvolumens ab. Die CO2-Elimination wird bei Druck-Zeit-gesteuerten Respiratoren bestimmt durch 4 den PIP (der PIP bestimmt das Tidalvolumen), 4 die Atemfrequenz (AF). Bei volumengesteuerten Geräten wird die CO2-Elimination über das Atemminutenvolumen reguliert, das gezielt eingestellt werden kann.
Lungenmechanik Für die optimale Anpassung der Beatmung ist die Abschätzung der zugrundeliegenden Lungenmechanik des behandelten Patienten notwendig, besonders bei Verwendung druckgesteuerter Beatmungsgeräte. Die Lungendehnbarkeit = Compliance gibt die Änderung des Lungenvolumens pro verwendeten Beatmungsdruck an. Wird ein normales Atemzugvolumen. (VT=5 ml/kg KG) bei einer gesunden Lunge verabreicht, so beträgt wegen der guten Lungendehnbarkeit der Atemwegsdruck (= notwendiger Beatmungsdruck) ca. 10–14 cm H2O. Wird das gleiche Volumen einem Patienten mit niedriger Compliance verabreicht, so steigt wegen der Steifheit der Lunge der Atemwegsdruck erheblich höher an (z. B. 20–25 cm H2O). Aus diesem Grund ist das Monitoring des Tidalvolumens tubusnah mittels eines Pneumotachographen eine wichtige Maßnahme zur Dosierung des Beatmungsdrucks bei druckkontrollierter Beatmung. Die Resistance gibt an, wie hoch der notwendige Druck ist, um ein Atemgas mit einer konstanten Flussrate durch die Luftwege zu bewegen Bei Erkrankungen, die mit einem hohen Atemwegswiderstand und somit einer hohen Resistance einhergehen, sind oft hohe Beatmungsdrucke notwendig, um das erforderliche Gasvolumen in einer bestimmten Zeit in die Lunge zu bringen. Das Produkt aus Compliance und Resistance gibt die Zeitkonstante an: T=RuC
T ist ein Maß für die Zeit, in der es zu einem Druckausgleich zwischen Munddruck und Alveolardruck gekommen ist. Bei niedriger Compliance und normaler Resistance ist das Produkt ebenfalls niedrig, d. h. die Zeitkonstante ist kurz. Der Druckausgleich zwischen Mund und Alveole erfolgt rasch, In- und Exspiration sind bereits nach sehr kurzer Zeit beendet. Bei hoher Resistance und normaler Compliance ist die Zeitkonstante lang, d. h. das Atemgas braucht lange zur Füllung und Entleerung der Lunge. Beatmungsbeispiel RDS Beim Atemnotsyndrom ist die Zeitkonstante niedrig (C stark erniedrigt, R nur gering erhöht). Somit ist eine Beatmung mit hohen Atemfrequenzen (kurze In- und Exspiration) möglich. Die funktionelle Residualkapazität (FRC) ist niedrig, daher ist die Anwendung von PEEP sinnvoll. Der Beatmungsdruck wird bei druckgesteuerten Geräten soweit erhöht, bis ein Tidalvolumen von 4–5 ml/kg KG erreicht ist. Die FIO2Anpassung erfolgt nach der pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffksättigung (SO2 90–95%). 6
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Beatmungsgeräteinstellung 5 5 5 5 5 5
Inspirationszeit: 0,35 s Exspirationszeit: 0,65 s, I : E-Ratio 1 : 2 Atemfrequenz 60/min PEEP: 4–5 cm H2O Beatmungsspitzendruck: je nach V T (s. oben), z. B. 18–25 cm H2O 5 Gasflow: 4–5 l/min
Druck-Zeit-gesteuerte Continuous-flow-Geräte Dieser Gerätetyp wird vorwiegend in der Neonatologie verwendet. Die Inspiration erfolgt, bis ein vorgegebener Druck innerhalb einer vorgegebenen Zeit erreicht ist, unabhängig vom zugeführten Volumen. Continuous flow bedeutet, dass im Schlauchsystem ständig ein Gasfluss vorliegt, auch wenn keine Inspiration erfolgt. Auf diese Weise sind neben den verabreichten maschinellen Atemzügen spontane Atemzüge möglich (intermittierend mandatorische Beatmung, IMV). Neuere Geräte enthalten eine Triggerfunktion durch spontane Atemaktivität. 83.4
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Lungenerkrankungen des Neugeborenen C.P. Speer
83.4.1 Transitorische Tachypnoe Die transitorische Tachypnoe (synonym: transientes Atemnotsyndrom des Neugeborenen, »fluid lung« = Flüssigkeitslunge) entwickelt sich in den ersten Lebensstunden nach der Geburt überwiegend bei reifen Neugeborenen oder relativ »reifen« Frühgeborenen. Charakteristisch ist die deutlich beschleunigte Atemfrequenz mit minimalen Einziehungen und gelegentlich auftretender leichter Zyanose. Die Erkrankung bildet sich in der Regel innerhalb der ersten 2–3 Lebenstage spontan zurück.
Pathogenese Die transitorische Tachypnoe wird vermutlich durch eine verzögerte Resorption der kindlichen Lungenflüssigkeit über die pulmonalen Lymph- und Blutgefäße oder aber einen vermehrten pulmonalen Flüssigkeitsgehalt ausgelöst. Prädisponierende Faktoren, die mit einer normalen Flüssigkeitsresorption interferieren oder aber zu einer Erhöhung des pulmonalen Flüssigkeitsgehalts führen, sind Sectio ceasarea, perinatale Asphyxie, exzessive mütterliche Analgesie, Oxytocin und vermehrte Flüssigkeitszufuhr bei der Mutter, verspätetes Abnabeln u. a.
Klinik Die Neugeborenen fallen durch eine kurze Zeit nach der Geburt einsetzende Tachypnoe (bis zu 120 Atemzüge/min) auf, die nur von geringen Einziehungen und wechselndem ausgeprägtem inspiratorischem Stöhnen begleitet ist; die Lungen sind häufig überbläht. Bei Hypoxämie ist in der Regel eine Zufuhr von 30–40 % O2 in der Inspirationsluft ausreichend, um eine suffiziente Oxygenierung zu erzielen. Das Thoraxröntgenbild zeigt typischerweise
vermehrte zentrale Verdichtungen mit einer peripheren Überblähung der Lunge und mitunter interlobären Flüssigkeitsansammlungen oder kleinen Pleuraergüssen. Gelegentlich entwickelt sich auf dem Boden einer massiven pulmonalen Überblähung eine pulmonale Hypertonie mit Rechts-links-Shunt, die in das gefürchtete Krankheitsbild der persistierenden pulmonalen Hypertonie (PPH) einmünden kann.
Diagnose Die Diagnose der transitorischen Tachypnoe basiert häufig auf dem Ausschluss anderer akuter pulmonaler Erkrankungen und wird oft erst retrospektiv gestellt. Neonatale Pneumonien, insbesondere mit E-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B, können initial unter einer identischen Dynamik verlaufen.
Therapie Bei Atemfrequenzen >80/min wegen Aspirationsgefahr keine orale Ernährung, intravenöse Flüssigkeitszufuhr, bei Bedarf O2-Gabe; häufig ist eine kurzzeitige antibiotische Behandlung indiziert. 83.4.2 Mekoniumaspirationssyndrom Nach der Aspiration von Mekonium entwickelt sich eine pathogenetisch komplexe Erkrankung, die durch eine akute Atemnotsymptomatik der überwiegend übertragenen oder reifen hypotrophen Neugeborenen und einen entsprechenden radiologischen Lungenbefund charakterisiert ist. Mekoniumhaltiges Fruchtwasser ist bei 10–18 % aller Geburten nachzuweisen.
Inzidenz Die Inzidenz des schweren Mekoniumaspirationssyndroms liegt zwischen 0,2–6 erkrankten Neugeborenen/1000 Lebendgeborenen. Es bestehen erhebliche geographische und regionale Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit.
Ätiologie/Pathogenese Mekonium besteht aus eingedickten intestinalen Sekreten und Zellen sowie löslichen und zellulären Fruchtwasserbestandteilen. Die wasserlöslichen Festsubstanzen bestehen u. a. aus Mukopolysacchariden, Plasmaproteinen, Proteasen, konjugiertem Bilirubin, die fettlöslichen Bestandteile u. a. aus Bilirubin, Bilirubinoiden, freien Fettsäuren, Cholesterin und Glykolipiden. Mekonium wird bereits ab der 10. – 16. Gestationswoche im fetalen Gastrointestinaltrakt gefunden. Aufgrund einer intestinalen Hypomotorik wird nur selten ein Mekoniumabgang bei Frühgeborenen beobachtet. Die Häufigkeit des Auftretens von mekoniumhaltigem Fruchtwasser ist direkt mit der Reife der Neugeborenen verbunden und mit höheren Serumspiegeln des properistaltischen Hormons Motilin assoziiert. Bei fehlenden Hinweisen auf eine intrauterine oder subpartale Gefährdungssituation dürfte ein Mekoniumabgang v. a. ein reifeabhängiges Phänomen reflektieren. Eine akute intrauterine oder subpartale kindliche Hypoxie kann, gerade in den letzten Gestationswochen, einen vorzeitigen Mekoniumabgang auslösen, der besonders bei einem Oligohydramnion ein sehr zähes »erbsbreiartiges« Fruchtwasser hinterlassen kann. Der Abgang von partikelhaltigem und dickflüssigem Mekonium prädisponiert zur Entstehung eines Mekoniumaspirationssyndroms und zu komplizierten Erkrankungsverläufen.
1105 83.4 · Lungenerkrankungen des Neugeborenen
83
. Abb. 83.10. Pathogenetische Sequenz der Mekoniumaspiration. Neben mechanischen Faktoren, die zu einer schweren Beeinträchtigung der Lungenfunktion beitragen, begünstigt die chemische pulmonale Entzündungsreaktion die Entwicklung von Hypoxie und Azidose
Pathophysiologie
Prävention
Im Verlauf einer intrauterinen oder subpartalen Hypoxie, die zu einer Vasokonstriktion mesenterialer Gefäße, Darmischämie, konsekutiver Hyperperistaltik und Sphinkterrelaxation führt, tritt ein frühzeitiger Mekoniumabgang auf. Die Aspiration von Mekoniumpartikeln kann durch eine hypoxieinduzierte vorzeitige Atemtätigkeit, die ein bestimmtes Muster aufweist, bereits in utero erfolgen; häufiger findet die Aspiration von Mekonium jedoch unmittelbar nach der Geburt statt. Bei mehr als 50 % aller Neugeborenen mit mekoniumhaltigem Fruchtwasser lassen sich Mekoniumbestandteile im Trachealaspirat nachweisen, die bei der Mehrzahl der Kinder folgenlos eliminiert werden. Größere Mekoniumpartikel, die mit den ersten Atemzügen in die kleineren Luftwege gelangen, führen zu einer partiellen Bronchusobstruktion und Verlegung der Alveolen. Die Folgen sind die Ausbildung von Atelektasen, überblähten emphysematösen Arealen (»air trapping«) und extraalveoläre Luftansammlungen (interstitielles Emphysem, Pneumothorax, Pneumomediastinum etc. (. Abb. 83.10). Die konnatale Listerioseinfektion kann eine Ursache für den vorzeitigen Mekoniumabgang bei Frühgeborenen sein. Durch im Mekonium enthaltene Substanzen (z. B. Fettsäuren) entwickelt sich innerhalb von 24–48 h eine chemische Pneumonie. Darüber hinaus führen verschiedene Proteine und Phospholipasen zu einer direkten Inaktivierung des Surfactant-Systems. Häufig bilden sich intrapulmonale Shunts und eine durch eine Konstriktion der Lungengefäße bedingte persistierende pulmonale Hypertonie aus, die zur Wiederherstellung fetaler Zirkulationsverhältnisse führen kann.
Durch sorgfältiges fetales Monitoring sind die Warnzeichen der intrauterinen Hypoxie meist zu erkennen. Bestehen Hinweise auf eine kindliche Gefährdung, so ist die sofortige Geburtsbeendigung obligat. Bei allen Geburten, die durch mekoniumhaltiges Fruchtwasser auffallen, sollte umgehend ein erfahrener Kinderarzt zur Versorgung des Neugeborenen hinzugezogen werden. Beim Abgang von mekoniumhaltigem Fruchtwasser müssen Geburtshelfer oder Hebamme bereits vor dem ersten Atemzug des Neugeborenen, d. h. unmittelbar nach der Geburt des kindlichen Kopfes, Mekonium aus dem Oropharynx entfernen. Findet sich bei einem klinisch auffälligen Neugeborenen während der laryngoskopischen Inspektion des Kehlkopfs Mekonium unterhalb der Stimmbänder, so sollte es unverzüglich mit
Klinik Das klinische Bild wird vom Schweregrad der intrauterinen Asphyxie und dem Ausmaß der Mekoniumaspiration bestimmt. Die Neugeborenen fallen unmittelbar nach Geburt durch schwere Atemdepression, Schnappatmung, Bradykardie, Hypotonie und Schocksymptome auf; die Haut ist mit Mekonium bedeckt, Fingernägel und Nabelschnur können grünlich verfärbt sein. Neugeborene mit Spontanatmung weisen eine Tachypnoe, ausgeprägte Dyspnoezeichen und evtl. eine Zyanose auf. Die Thoraxröntgenaufnahme zeigt dichte fleckige Infiltrate neben überblähten Arealen, abgeflachte Zwerchfelle und häufig extraalveoläre Luft (. Abb. 83.11).
. Abb. 83.11. Radiologische Veränderungen bei einem schweren Mekoniumaspirationssyndrom. Neben verdichteten dystelektatischen Arealen finden sich typische überblähte Lungenanteile
1106
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
einem dicklumigen Katheter oder evtl. direkt über einen Endotrachealtubus abgesaugt werden. Bei größeren Mengen erbsbreiartigen Mekoniums in den Luftwegen sollte eine Bronchiallavage durchgeführt werden. Tierexperimentelle Untersuchungen und einzelne klinische Erfahrungsberichte aus jüngster Zeit weisen darauf hin, dass eine Bronchiallavage mit einer verdünnten Lösung einer natürlichen Surfactant-Präparation (5 mg Phospholipide/ml) zu einer deutlichen Verbesserung der Oxygenierung und Ventilation führt. Auf eine primäre Maskenbeatmung sollte – wenn möglich – verzichtet werden.
Therapie Die z. T. außerordentlich schwierige Behandlung der Hypoxämie bei Neugeborenen mit Mekoniumaspirationssyndrom kann eine konventionelle Beatmungstherapie, die Hochfrequenzoszillationsbeatmung, die Surfactant-Substitutionstherapie und den Einsatz von Stickstoffmonoxid (NO) einschließen. Als Ultima-ratio-Therapie ist eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) zu erwägen. Einzelheiten der Therapie sind den Lehrbüchern der Neonatologie zu entnehmen. 83.4.3 Pneumothorax
83
Ein spontaner asymptomatischer Pneumothorax tritt bei ca. 0,5–1 % aller Neugeborenen auf. Die Pneumothoraxinzidenz bei maschinell beatmeten Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom betrug vor Einführung der Surfactant-Therapie 15–30%. Inzwischen wird diese Komplikation bei 3–6% aller beatmeten Frühgeborenen beobachtet.
Ätiologie Ein symptomatischer Pneumothorax kann bei einer Reihe pulmonaler Erkrankungen von Früh- und Neugeborenen auftreten: Atemnotsyndrom, Mekoniumaspiration, Lungenhypoplasie, kongenitale Zwerchfellhernie, transitorische Tachypnoe, Aspirationspneumonie, Staphylokokkenpneumonie mit Pneumatozele, lobäres Emphysem, weiterhin nach Thorakotomie, nach unsachgemäßer Reanimation und bei maschineller Beatmung.
Pathogenese Ein hoher intraalveolärer Druck, der durch erhöhten Spitzendruck und positiven endexspiratorischen Druck (PEEP) bei maschineller Atmung oder aber bei tachypnoischen spontan atmenden Kindern durch einen erhöhten sog. »Auto-PEEP« entsteht, kann besonders in ungleich belüfteten Lungenarealen zu einer Überblähung von Alveolen und nachfolgender Ruptur der Alveolarwand führen. Die extraalveoläre Luft kann durch das interstitielle Gewebe und entlang der perivaskulären Gefäßscheiden sowie der peribronchialen Lymphgefäße zu entweichen. In Abhängigkeit von der Ausbreitung der Luft ist mit einer Reihe von Komplikationen zu rechnen: interstitielles Emphysem, Pneumomediastinum, Pneumothorax, Pneumoperitoneum, Pneumoperikard und subkutanes, zervikales oder thorakales Emphysem. Ein Spannungspneumothorax entwickelt sich bei einer druckwirksamen Ansammlung von Luft im Pleuraspalt. Ein einseitiger Spannungspneumothorax führt nicht nur zu einer schweren Ventilationsstörung der betroffenen, gelegentlich kollabierten Lungenseite, sondern durch die Mediastinalverlagerung auch der kontralateralen Lunge.
Daneben wird durch Kompression der V. cava oder Torsion der großen Gefäße der venöse Rückfluss erheblich beeinträchtigt. Bei der Entstehung des interstitiellen Emphysems scheinen nicht nur physikalische Faktoren von Bedeutung zu sein, sondern auch pulmonale Entzündungsvorgänge und proteolytische Lungengerüstschädigungen, die u. a. nach pränatalen Infektionen beobachtet wurden.
Klinik Die klinischen Leitsymptome des gefürchteten Spannungspneumothorax sind plötzlich einsetzende Atemnot, Zyanose, Hypotension, Schocksymptome, Bradykardie, Thoraxasymmetrie, Verlagerung der Herztöne und seitendifferentes Atemgeräusch. Gerade bei kleinen Frühgeborenen kann die Diagnose eines Spannungspneumothorax schwierig sein, da bei maschinell beatmeten Patienten nicht immer ein fehlendes oder abgeschwächtes Atemgeräusch nachweisbar ist. Bei linksseitigem Spannungspneumothorax sind die Herztöne nach rechts verlagert.
Diagnose, Therapie In lebensbedrohlichen Situationen darf keine Zeit durch Anfertigung einer Röntgenaufnahme vergehen, vielmehr ist eine sofortige Pleurapunktion mit Entlastung des Pneumothorax durchzuführen. Anschließend wird eine Pleuradrainage unter optimalen Bedingungen gelegt. Die Transillumination des Thorax mit einer fiberoptischen Kaltlichtlampe erlaubt eine rasche Identifizierung des illuminierten lufthaltigen Pleuraraums. 83.4.4 Lobäres Emphysem Das kongenitale lobäre Emphysem ist durch eine Überblähung einer oder mehrerer Lungenlappen charakterisiert; meistens sind die Oberlappen oder der rechte Mittellappen betroffen. Etwa 10 % der betroffenen Kinder haben zusätzlich ein Vitium cordis oder andere Fehlbildungen.
Ätiologie Als Ursachen des lobären Emphysems, das mit zunehmender Überblähung normales Lungengewebe komprimiert, werden Störungen im Aufbau der Bronchialwand (z. B. Fehlen des bronchialen Knorpels), intraluminale Bronchusobstruktionen (eingedicktes Sekret, Schleimhautfalten) oder extraluminale Bronchusobstruktionen (z. B. Kompression durch aberrierende Gefäße) gefunden.
Klinik, Therapie Häufig entwickelt sich die klinische Symptomatologie, gekennzeichnet durch eine progrediente Tachypnoe und anderen Dyspnoezeichen, innerhalb der ersten Lebenswochen. Einige Neugeborene erkranken allerdings unmittelbar postpartal an einer akuten progredienten Atemnotsymptomatik. Bei diesen Kindern ist eine sofortige Bronchoskopie und/oder Resektion des betroffenen überblähten Lungenteils lebensrettend. Bei vital milder, aber progredienter Symptomatik, ist eine chirurgische Therapie angezeigt. Nur bei asymptomatischen Kindern kann, unter regelmäßiger Kontrolle, auf eine invasive Behandlung verzichtet werden, da sich ein lobäres Emphysem gelegentlich zurückbildet.
1107 83.4 · Lungenerkrankungen des Neugeborenen
83
de Thoraxdysplasie) zu einer Lungenhypoplasie. Auch andere Fehlbildungen wie die Zwerchfellhernie und Chylothorax können über eine Kompression des Lungengewebes die normale Wachstumsdynamik nachhaltig beeinträchtigen.
Klinik, Diagnose Die schwere Lungenhypoplasie manifestiert sich entweder unter dem Bild einer Asphyxie oder aber einer schwersten respiratorischen Insuffizienz. Die hypoplastischen Lungen lassen sich häufig auch unter intensiven Beatmungsmaßnahmen nicht wirksam eröffnen. Häufig treten bilaterale Pneumothoraces auf; einige Patienten entwickeln auf dem Boden einer primären pulmonalen Hypertonie eine persistierende fetale Zirkulation. Bei ausgeprägten Formen der Lungenhypoplasie ist die Prognose infaust. Die Thoraxröntgenaufnahme zeigt typischer weise schmale Lungen mit einem glockenförmigen Thorax (. Abb. 83.12). Die Diagnose ist allerdings häufig nur zu vermuten und wird an Hand anamnestischer Risiken sowie des postpartalen Verlaufs nicht selten retrospektiv gestellt. Post mortem kann durch Bestimmung des Lungengewichts sowie mit Hilfe morphometrischer Techniken die Verdachtsdiagnose verifiziert werden.
Therapie
. Abb. 83.12. Radiologischer Befund einer ätiologisch ungeklärten Lungenhypoplasie bei Frühgeborenen der 34. Gestationswoche
Nur bei weniger ausgeprägten Formen der Lungenhypoplasie kann durch differenzierte Beatmungstechniken, Einsatz von Stickstoffmonoxid NO und ggf. Surfactant-Substitution (sekundärer Surfactant-Mangel) eine nachhaltige Stabilisierung der Lungenfunktion erzielt werden. Als vielversprechender theoretischer Ansatz in der Behandlung der Lungenhypoplasie stellt sich momentan die sog. »liquid ventilation«, eine Beatmung mit flüssigen Perfluorcarbonen, dar. 83.4.6 Zwerchfellhernie (Enterothorax)
83.4.5 Lungenhypoplasie
Inzidenz Eine Lungenhypoplasie ist entweder Ausdruck einer gestörten Organanlage oder einer Ausreifungsstörung der fetalen Lunge, die durch verschiedene mit der normalen Lungenentwicklung interferierende Faktoren ausgelöst werden kann.
Die Inzidenz einer Zwerchfellhernie beträgt ca. 0,25/1000 Lebendgeborene, 80–90 % der Hernien treten auf der linken Seite auf.
Ätiologie, Pathogenese
Ein Zwerchfelldefekt kann zu einer Verlagerung sämtlicher Bauchorgane in die Thoraxhöhe führen (. Abb. 83.13). Dieses Krankheitsbild ist der dringlichste Notfall in der Neugeborenenchirurgie. Infolge der Lungenkompression und Herzverlagerung kann sich eine schwerste, rasch progrediente, respiratorische und kardiozirkulatorische Insuffizienz mit persistierender fetaler Zirkulation entwickeln.
Eine Anlagestörung der Lunge wird bei seltenen Chromosomenaberrationen beobachtet. Wesentlich häufiger entwickelt sich eine Lungenhypoplasie im Rahmen fetaler Grunderkrankungen oder Störungen, die mit der normalen Ausbildung der Alveolen interferieren. Ein Mangel an Fruchtwasser, der zu einem Verlust intraalveolärer Flüssigkeit in der vulnerablen Phase der Lungenentwicklung (vor der 26. Gestationswoche) führt, kann eine schwere Lungenhypoplasie nach sich ziehen. Eine bilaterale Nierenagenesie (Potter-Sequenz), Anhydramnie bei vorzeitigem Blasensprung oder Fruchtwasserverlust nach Amniozentese sind als Ursache der Lungenhypoplasie definiert. Aber auch fehlende intrauterine Atembewegungen der Feten, wie sie bei neuromuskulären Erkrankungen, Myasthenia gravis, Anenzephalie u. a. Erkrankungen beobachtet werden, können die normale Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Eine Kompression der fetalen Lunge nach Malformation des Thorax führt bei verschiedenen Skeletterkrankungen (u. a. asphyxieren-
Pathogenese
Klinik Die Leitsymptome der Zwerchfellhernie sind: 4 zunehmende Atemnot, 4 Zyanose, 4 Schocksymptome, 4 Verlagerung der Herztöne, 4 asymmetrisch vorgewölbter Thorax ohne Atemexkursion, 4 fehlendes Atemgeräusch, 4 evtl. Darmgeräusche im Thorax, 4 eingesunkenes »leeres« Abdomen.
1108
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Therapie Die primäre antibiotische Behandlung muss gegen die potenziellen Mikroorganismen gerichtet sein (Kap. 83.8: »Therapie der neonatalen Sepsis«). Bei Atem- und/oder Kreislaufinsuffizienz der erkrankten Neugeborenen wird die erforderliche Supportivtherapie durchgeführt. Chlamydien- und Ureaplasmapneumonien werden mit Erythromycin behandelt, Pneumocystispneumonien mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol. 83.4.8 Persistierende pulmonale Hyper tonie
(persistierende fetale Zirkulation)
. Abb. 83.13. Beidseitiger Zwerchfelldefekt mit intrathorakal gelegenem Magen rechts und Darmanteilen links, massive Verlagerung des Herzens nach rechts
83
Die persistierende pulmonale Hypertonie (PPH; Synonym: persistierende fetale Zirkulation, PFC) ist ein lebensbedrohliches Krankheitsbild, das auf dem Boden eines anhaltend erhöhten pulmonalen Gefäßdrucks durch einen signifikanten RechtslinksShunt über das offene Foramen ovale und über den persistierenden Ductus arteriosus sowie durch intrapulmonale Shunts (ohne Hinweise auf eine strukturelle Herzerkrankung) gekennzeichnet ist.
Therapie
Ätiologie
Da mit zunehmender Luftfüllung des intrathorakal gelegenen Darms Lunge, Herz und Mediastinum verdrängt werden und somit eine Spannungssymptomatik entstehen kann, ist eine primäre Maskenbeatmung nicht angezeigt. Die Neugeborenen werden umgehend intubiert, erhalten eine offene Magensonde und werden bereits im Kreißsaal auf die betroffene Seite gelagert.
Die PPH tritt überwiegend bei reifen und übertragenen Neugeborenen auf. Nach intrauteriner und subpartaler Hypoxie oder mütterlicher Aspirin- und Indometacin-Einnahme während der Schwangerschaft wurde eine Verdickung und Ausdehnung der Gefäßmuskulatur bis in kleine Pulmonalarterien hinein beschrieben. Am häufigsten entwickelte sich eine PPH sekundär bei Neugeborenen nach Mekoniumaspiration. Weitere Erkrankungen, in deren Folge sich eine PPH entwickeln kann, sind die subpartale und postnatale Hypoxie, die neonatale Sepsis mit E-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe B und Listerien, die Zwerchfellhernie, die Lungenhypoplasie, Pneumothorax, Hyperviskositätsssyndrom, Hypoglykämie und Hypothermie sowie ein Atemnotsyndrom. Die PPH ist nicht selten idiopatisch. Die Prävalenz der Erkrankung wurde auf 1 Neugeborenes/1000 Lebendgeborene geschätzt.
Prognose Die Prognose der Zwerchfellhernie wird entscheidend vom Grad der Lungenhypoplasie, der optimalen Erstversorgung, der chirurgischen Therapie und der anschließenden intensivmedizinischen Behandlung beeinflusst. Die Diagnose kann bei bereits zum Untersuchungszeitpunkt vorliegendem Enterothorax pränatal gestellt werden. 83.4.7 Neonatale Pneumonien Eine neonatale Pneumonie entwickelt sich auf dem Boden einer intrauterinen, sub- oder postpartalen Infektion mit mütterlichen oder nosokomialen Erregern, u. a. durch Aspiration infizierten Fruchtwassers. Pathogenese, Risikofaktoren und Erregerspektrum werden in 7 Kap. 83.8 (Neugeborenensepsis) abgehandelt. Beatmete und intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene sind besonders durch eine Pneumonie mit Pseudomonas- oder Klebsiella-spp. gefährdet. Chlamydien und Ureaplasmen kommen ebenfalls als Erreger von Pneumonien Frühgeborener vor. Seltener treten Mykoplasmen als Erreger auf. i Bei langzeitbeatmeten Frühgeborenen, die über längere Zeit antibiotisch behandelt wurden, ist immer an eine Pilzpneumonie, insbesondere mit Candida spp., zu denken.
Klinik Die klinische Symptomatik einer in den ersten Lebenstagen oder auch später auftretenden neonatalen Pneumonie verläuft häufig unter dem Bild eines progredienten Atemnotsyndroms mit Tachypnoe, Einziehungen und Nasenflügeln.
Pathophysiologie Bei intranataler oder postpartaler Hypoxie entwickelt sich rasch eine metabolisch-respiratorische Azidose. Die normalerweise durch Anstieg des paO2 und Abfall des paCO2 unmittelbar nach der Geburt einsetzende Dilatation der Lungenarterien bleibt aus; die Azidose induziert über eine pulmonale Vasokonstriktion eine pulmonale Hypertonie, die über das Foramen ovale, den Ductus arteriosus Botalli und intrapulmonale Shunts die Entwicklung eines persistierenden Rechts-links-Shunts nach sich zieht. Es kommt zu einem zunehmenden O2-Mangel des arteriellen Bluts, der mit der postnatal einsetzenden Vasodilatation interferiert (. Abb. 83.14). Bei einigen dieser Patienten liegen bereits pulmonale Gefäßveränderungen im Sinne einer Mediahypertrophie vor, die Ausdruck einer chronischen intrauterinen Hypoxie sein könnten (primärer pulmonaler Hochdruck; andere Kinder haben als Grunderkrankung eine mehr oder weniger ausgeprägte Lungenhypoplasie). Potente Stimuli der pulmonalen Vasokonstriktion sind Leukotriene und weitere Lipidmediatoren, deren Freisetzung bei allen sekundären Formen der PPH durch Hypoxie, Infektionen und die im Verlauf verschiedener Grunderkrankungen einsetzenden Entzündungsreaktion gefördert wird.
1109 83.4 · Lungenerkrankungen des Neugeborenen
. Abb. 83.14. Circulus vitiosus der perinatalen Hypoxie
Klinik Die Neugeborenen erkranken in der Regel innerhalb der ersten 12 Lebensstunden. In Abhängigkeit von der Grunderkrankung stellen entweder die Zyanose (Polyzythämie, idiopatische PPH u. a.) oder die schwere Atemnotsymptomatik mit Zyanose (Mekoniumaspiration, Zwerchfellhernie u. a.) im Vordergrund. Die Patienten können innerhalb kurzer Zeit ein Multiorganversagen oder eine Myokardischämie entwickeln. Die klinische Verdachtsdiagnose einer PPH kann durch die prä- und postduktale O2-Differenz und nicht zuletzt durch die Echokardiographie (einschließlich Dopplerdiagnostik) bestätigt werden. Der Röntgenthoraxbefund ist bei einigen Erkrankungen unauffäl-lig (Asphyxie, Hyperviskositätssyndrom etc.), bei anderen zeigt er die typischen Veränderungen der Grunderkrankung.
83
Zusätzlich werden das kurzzeitig wirksame und gut steuerbare Prostacyclin, auch in inhalativer Form, eingesetzt. Als vielversprechender neuer therapeutischer Ansatz ist die inhalative Behandlung mit NO (Stickstoffmonoxid) anzusehen; NO führt zu einer selektiven Vasodilatation der Pulmonalgefäße in den ventilierten Lungenarealen. In allen Studien konnte eine deutlich verbesserte Oxygenierung unter NO-Therapie beobachtet werden. Ebenso war die Notwendigkeit, NO-behandelte Neugeborene mit pulmonaler Hypertonie einer extrakorporalen Membranoxygenierung zu unterziehen, in allen Studien deutlich reduziert. Die Rate an akuten pulmonalen und extrapulmonalen Komplikationen sowie neurologischen und auditiven Langzeitfolgen unterschied sich nicht zwischen der Gruppe NO-behandelter Neugeborenen und unbehandelten Kontrollpatienten. Eine initiale Konzentration von 20 ppm iNO, die kontinuierlich reduziert werden soll, führt in der Regel zu einer effektiven Vasodilatation, ohne eine potenziell gefährliche Methämoglobinämie zu induzieren. Inhalatives NO sollte nicht mit anderen selektiven Vasodilatatoren kombiniert werden. Derzeiteit verfügen nur einige Neonatalzentren über diese Therapiemöglichkeit. Neugeborene, die auf keine dieser Maßnahmen ansprechen, werden einer Hochfrequenzoszillationsbeatmung zugeführt. Kann mit diesen Maßnahmen keine ausreichende Oxygenierung erreicht werden, so kann der Patient mit einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) behandelt werden. Die international anerkannten Kriterien für eine ECMOTherapie sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst: International anerkannte Kriterien für eine ECMO-Therapie 5 5 5 5
Gestationsalter >34 Wochen Geburtsgewicht >2,0 kg KG Keine Gerinnungsstörung Fehlendes Ansprechen auf alle erwähnten therapeutischen Maßnahmen 5 Modifizierter Oxygenierungsindex (Ol) von 25–40 – Ol = mittlerer Atemwegsdruck [cm H2O]×FIO2 ×100/paO2 [mm Hg]
Therapie
Prognose
Zu einer optimalen Behandlung gehört – wenn immer möglich – eine Korrektur der Grundproblematik sowie eine gezielte Supportivtherapie und Behandlung aller im Verlauf der Erkrankung aufgetretenen Komplikationen, wie z. B. Hypotension, myokardiale Dysfunktion, Azidose. Die Kinder müssen sediert und ggf. relaxiert werden. Der entscheidende therapeutische Ansatz ist eine suffiziente maschinelle Beatmung mit ausreichender Oxygenierung sowie eine moderate Alkalisierung des Blutes (Natriumbikarbonatinfusion). Bei besonders schweren Verläufen kann durch eine milde Hyperventilationsbehandlung mit Senkung des pCO2 auf >35 mm Hg die Vasokonstriktion pulmonaler Gefäße möglicherweise aufgehoben werden. Die früher geübte Hyper ventilationstherapie mit pCO2<25 mm Hg gilt wegen erheblicher pulmonaler und zerebraler Nebenwirkungen heute als obsolet.
Die neonatale Sterblichkeit der PPH liegt bei 20–30 %. In den wenigen Langzeituntersuchungen der überlebenden Kinder wird deutlich, dass nur ca. 40 % diese Erkrankung unbeschadet überstehen; die restlichen Patienten weisen neurologische Folgeschäden in unterschiedlichster Ausprägung auf. Bei 20 % der Kinder wurde ein neurosensorischer Hörverlust diagnostiziert. 83.4.9 Lungenblutung Eine akute, von den Alveolen ausgehende Lungenblutung, tritt überwiegend bei Frühgeborenen und hypotrophen Neugeborenen auf, die an verschiedensten Erkrankungen der Neonatalperiode leiden. Während bei mehr als 10 % verstorbener Neugeborener eine Lungenblutung autopisch diagnostiziert wird, entwickelt sich
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
dieses lebensbedrohliche Ereignis bei weniger als 5 % aller Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von >1500 g auf, die an einem Atemnotsyndrom erkrankt sind.
Ätiologie Prädisponierende Faktoren für eine Lungenblutung sind eine neonatale Streptokokkenpneumonie, die perinatale Asphyxie, Hypothermie, Azidose, Hypoglykämie, Gerinnungsstörungen, Herzversagen, PDA, schwere Erythroblastose, Surfactant-Therapie und O2-Toxizität.
Klinik Akute Blutung aus Mund, Nase und den Atemwegen mit rasch progredientem Kreislauf- und Atmungsversagen. In den Thoraxröntgenaufnahmen zeigt sich eine zunehmende Verdichtung der Lunge.
Therapie Unverzügliche Stabilisierung der Beatmungs- und Kreislaufsituation mit allen zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Maßnahmen sowie – wenn immer möglich – Behandlung der Grundstörung. Die durch die Lungenblutung induzierte Inaktivierung des endogenen Surfactant-Systems kann durch hohe Dosen natürlicher exogener Surfactant-Präparate wirksam behandelt werden.
83
. Abb. 83.15. Beidseitiger ausgeprägter Pleuraerguss. Nach Punktion Nachweis von mehr als 90% mononukleären Zellen (Lymphozyten). Diagnose: linksseitiger Chylothorax
83.4.10 Chylothorax
orale Ernährung mit mittelkettigen Triglyzeriden reduziert die Chylusproduktion. Bei den meisten Formen eines Chylothorax kann man von einer sich selbst begrenzenden Erkrankung ausgehen. Selten werden Versuche chirurgischer Korrekturmaßnahmen oder intraperitoneale Shuntableitung, allerdings mit unsicherem Ausgang nötig.
Unter Chylothorax wird eine Ansammlung von chylöser Flüssigkeit im Pleuraraum verstanden (. Abb. 83.15).
83.4.11 Obstruktion der oberen Atemwege
Epidemiologie Ein angeborener Chylothorax ist ein seltenes Ereignis; häufiger werden erworbene Ansammlungen chylöser Flüssigkeit nach kardiochirurgischen Eingriffen beobachtet. Als Folge parenteraler Langzeiternährung über einen zentralen Venenkatheter wurden Thrombosierungen der oberen Hohlvene und sekundärem Chylothorax beschrieben.
Ätiologie, Pathogenese Die Ursache für die Entstehung eines angeborenen Chylothorax ist unklar; es wird ein angeborener Defekt des Ductus thoracicus vermutet. Bei Neugeborenen mit Down-, Noonan- und Turner-Syndrom sowie bei Hydrops fetalis tritt gelegentlich ein Chylothorax auf; ebenso wurde nach Geburtstraumata die Entwicklung chylöser Effusionen beobachtet.
Angeborene Obstruktionen der oberen Luftwege gehen häufig mit akuter unmittelbar postpartal auftretender Atemnot einher.
Ätiologie, Pathogenese und Therapie Da Neugeborene für eine suffiziente Ventilation auf eine ungehinderte Nasenatmung angewiesen sind, führen sämtliche anatomische und funktionelle Obstruktionen der oberen Luftwege zu einer akuten Atemnotsymptomatik.
Choanalatresie, Pierre-Robin-Sequenz
Die Neugeborenen fallen unmittelbar postnatal oder innerhalb der ersten Lebenstage durch mehr oder minder ausgeprägte Zeichen der Atemnot auf. Vor Beginn einer oralen Ernährung enthält die serumähnliche Pleuraflüssigkeit mehrere Tausend Leukozyten/Pl, mehr als 90 % sind mononukleäre Zellen (Lymphozyten). Nach Milchernährung nimmt die Pleuraflüssigkeit eine weißliche, typisch chylöse Farbe an.
Trotz deutlicher Atemexkursionen unmittelbar nach der Geburt können Neugeborene mit Choanalatresie oder Pierre-Robin-Sequenz (Mikrognathie, Glossoptose, Gaumenspalte) kein adäquates Atemzugvolumen aufbauen. Diese bedrohliche Situation ist durch Einführen eines passenden Guedel-Tubus häufig akut zu beheben. Die Bauchlage kann das Zurückfallen der Zunge bei Neugeborenen mit Pierre-Robin-Sequenz häufig verhindern und die Luftnotsymptomatik verbessern. Eine frühe, dem individuellen Befund angepasste kieferorthopädische Behandlung mit einer speziellen Gaumenplatte, die einen posterioren Bügel oder Sporn zur Verhinderung der Glossoptose aufweisen sollte, sowie selten chirurgische Maßnahmen können langfristig zu einer Ausheilung der Fehlbildung führen.
Therapie und Prognose
Larynx- und Trachealatresien
Die kontinuierliche Ableitung der chylösen Flüssigkeit führt bei den meisten Kindern zu einer Ausheilung. Es treten aber z. T. erhebliche Eiweißantikörper- und Lymphozytenverluste auf. Eine
Beide Fehlbildungen verlaufen meist letal. Der kongenitale laryngeale Stridor auf dem Boden einer Laryngomalazie heilt bei den meisten Kindern im Verlauf des 1. Lebensjahres aus.
Klinik und Diagnostik
1111 83.5 · Bluterkrankungen
83
Subglottische Stenose Schwieriger gestaltet sich die Behandlung einer kongenitalen oder häufig durch prolongierte Intubation oder Intubationsschäden erworbenen subglottischen Stenose. Bei dieser Problematik können langwierige tracheale Dilatationen, Lasertherapien oder auch laryngotracheale Rekonstruktionen angezeigt sein. 83.5
Blutvolumen Das Blutvolumen reifer Neugeborener beträgt etwa 85 ml/ kg KG; Plazenta und Nabelgefäße enthalten ca. 20–30 ml/ kg KG Blut. Eine späte Abnabelung kann zu einem vorübergehenden Anstieg des neonatalen Blutvolumens innerhalb der ersten Lebenstage führen (7 Kap. 83.5.3: »Polyzythämie, Hyperviskositätssyndrom«), eine zu frühe Abnabelung zu einer Anämie. Um diese Komplikationen zu vermeiden, sollte die Abnabelung ca. 30 s nach der Geburt er folgen.
Bluterkrankungen C.P. Speer
83.5.1 Fetale Erythropoese
83.5.2 Neonatale Anämie
Physiologische Besonderheiten Die Erythropoese, die am 20. Gestationstag beginnt, findet in der Fetalzeit überwiegend in Leber und Milz statt. Erst im letzten Trimenon wird das Knochenmark zum Hauptbildungsort der Erythropoese. Die Hämoglobinkonzentration steigt von 8–10 g/ dl im Alter von 12 Gestationswochen auf 16,5–20 g/dl im Alter von 40 Gestationswochen an. Nach einem kurzen postpartalen Anstieg der Hämoglobinkonzentration innerhalb von 6–12 Lebensstunden fällt sie kontinuierlich auf 10 g/dl im Alter von 3–6 Monaten ab. Frühgeborene unterhalb der 32. Gestationswoche haben niedrigere Ausgangshämoglobinkonzentrationen und erfahren einen schnelleren Abfall der Hämoglobinkonzentration; der Tiefpunkt ist 1–2 Monate nach der Geburt erreicht. Während dieser physiologischen Anämisierung lässt sich kaum Erythropoetin im Plasma nachweisen.
Besonderheiten fetaler Erythrozyten Fetale und neonatale Erythrozyten weisen eine kürzere Überlebenszeit (70–90 Tage) und ein größeres mittleres korpuskuläres Volumen auf (MCV 110–120 fl) als Erythrozyten Erwachsener. In den ersten Tagen nach der Geburt besteht in der Regel eine Retikulozytose von 50–120 Promille. Die Erythrozyten enthalten überwiegend fetales Hämoglobin F, das aus zwei D-Ketten und zwei JKetten besteht. Unmittelbar vor der Geburt setzt bei einem reifen Neugeborenen die Synthese von E-Hämoglobinketten und damit adultem Hämoglobin ein (zwei D-Ketten und zwei E-Ketten). Zum Zeitpunkt der Geburt enthalten die Erythrozyten reifer Neugeborener 60–90 % fetales Hämoglobin; diese Konzentration sinkt bis zum Alter von 4 Monaten auf <5 % ab.
Eine Anämie Neugeborener ist durch Hämoglobinkonzentrationen (Hb) von <14 g/dl sowie einen Hämatokrit (Hkt) von <40 % charakterisiert. Sie kann durch akuten oder chronischen Blutverlust, eine verminderte Bildung sowie durch eine immunologisch vermittelte oder nicht immunologisch bedingte Hämolyse der Erythrozyten verursacht sein (. Tab. 83.6). Nach einem akuten Blutungsereignis sind die Hämoglobinkonzentration und der Hämatokrit Früh- und Neugeborener häufig normal und fallen erst im Rahmen der Hämodilution kontinuierlich ab. Das zirkulierende Blutvolumen kann jedoch bereits während der Blutungsereignisse bedrohlich vermindert sein. Ein chronischer Blutverlust kann u. a. durch fetomaternale Transfusion zustande kommen, die bei ca. 50 % aller Schwangerschaften beobachtet wird; der fetale Blutverlust kann erheblich sein. Die Diagnose einer fetomaternalen Transfusion wird durch den Nachweis von HbF-haltigen kindlichen Erythrozyten im mütterlichen Blut erbracht.
Klinik Leitsymptome der akuten Blutungsanämie sind Blässe, Tachykardie, schwache oder nicht tastbare periphere Pulse, Hypotension, Tachypnoe und bei massivem Blutverlust Schnappatmung und Schock. Die klinischen Symptome bei chronischem Blutverlust sind Blässe bei erhaltener Vitalität, Tachykardie und normaler Blutdruck. Häufig besteht eine Herzinsuffizienz mit Hepatomegalie. Die gelegentlich nachweisbare Splenomegalie ist Ausdruck der extramedullären Blutbildung. Selten entwickelt sich ein Hydrops fetalis. Eine neonatale Anämie, die durch eine verminderte Bildung von Erythrozyten verursacht wird, wie z. B. bei Black-
. Tabelle 83.6. Ätiologie der neonatalen Anämie Blutverlust
Verminderte Blutbildung
Hämolyse
4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4
4 4 4 4 4 4
Fetomaternale Blutung Plazenta prävia Vorzeitige Plazentalösung Fetofetale Transfusion Nabelschnureinriss Vasa prävia Neonatale Blutung: intrakraniell, gastrointestinal u. a. 4 Frühgeborenenanämie
Konnatale und perinatale Infektionen Blackfan-Diamond-Anämie Konnatale Leukämie Frühgeborenenanämie
Rh-Erythroblastose AB0-Erythroblastose Andere Blutgruppeninkompatibilitäten Erythrozytenmembrandefekte Erythrozytenenzymdefekte Selten: Hämoglobinopathien
1112
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
fan-Diamond-Anämie, ist durch niedrige Retikulozytenzahlen und Fehlen von Erythrozytenvorstufen im Knochenmark charakterisiert. Häufigste Ursachen für eine immunologisch vermittelte Hämolyse der Neugeborenen sind Inkompatibilitäten zwischen mütterlicher und kindlicher Blutgruppe (7 Kap. 83.5.5: »Rh-Erythroblastose«, 7 Kap. 83.5.6: »AB0-Erythroblastose« etc.). Nichtimmunologische Erkrankungen, die mit einer Hämolyse einhergehen, sind Defekte der Erythrozytenmembran (hereditäre Sphärozytose), Erythrozytenenzymdefekte (Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase- und Pyruvat-Kinase-Mangel), seltene Hämoglobinopathien sowie die D-Thalassämie.
Therapie i Neugeborene mit ausgeprägtem akutem Blutverlust (hämorrhagischer Schock, »weiße Asphyxie«) werden notfallmäßig ohne vorherige Kreuzprobe mit Erythrozytenkonzentrat der Blutgruppe Null Rhesus negativ (CMV-negativ) transfundiert.
83
Bei allen anderen Indikationen ist vor der Transfusion eine kindliche Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe durchzuführen. Bei Verdacht auf Störung der Erythropoese und hämolytische Anämien ist vor Gabe von Blutprodukten kindliches Blut für die entsprechende Spezialdiagnostik abzunehmen (7 Kap. 83.5.6: »Rh-Erythroblastose« u. a.). Eine klinisch signifikante Anämie Frühgeborener wird durch Transfusion von bestrahltem CMVnegativen Erythrozytenkonzentrat behandelt.
Erythropoetin Eine Erythropoetin-Therapie kann, wie in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien belegt, die Spätanämisierung Frühgeborener zu einem gewissen Grad verhindern. Da noch eine Reihe klinisch relevanter Fragen der Erythropoetin-Substitution ungeklärt sind (optimaler Zeitpunkt des Behandlungsbeginns, Dosis, Therapiedauer, optimale Eisensubstitution u. a.), kann diese Therapie derzeit noch nicht als Standardtherapie empfohlen werden. 83.5.3 Polyzythämie, Hyper viskositätssyndrom Unter einer Polyzythämie (synonym: neonatale Polyglobulie) wird ein venöser Hämatokrit >65 % (Hämoglobin >22 g/dl) verstanden, der unter dem Bild eines Hyperviskositätssyndroms zu einem Anstieg der Blutviskosität, zur vaskulären Stase mit Mikrothrombosierung, zu Hypoperfusion und zur Ischämie von Organen führen kann.
Ätiologie Etwa 3–5 % aller Neugeborenen weisen nach der Geburt einen Hkt von >65 % auf. Risikokollektive sind reife oder postmature hypotrophe Neugeborene (intrauterine Wachstumsrestriktion, chronische fetale Hypoxie), Patienten nach fetofetaler oder maternofetaler Transfusion, Neugeborene nach später Abnabelung, Kinder diabetischer Mütter, Nikotinabusus während der Schwangerschaft, Neugeborene mit Hyperthyreose oder Kinder mit angeborenen Erkrankungen (adrenogenitales Syndrom, Trisomie 21, Beckwith-Wiedemann-Syndrom). Bei einem Hkt-Wert von >65 % steigt die Blutviskosität exponentiell an.
Klinik Die klinische Symptomatik ist außerordentlich vielfältig und reflektiert die Mikrozirkulationsstörungen und manifesten Durchblutungsstörungen der betroffenen Organsysteme. Die Neugeborenen fallen häufig durch ihr plethorisches oder auch blass-graues Hautkolorit und eine Belastungszyanose auf. Daneben finden sich Hyperexzitabilität, Myoklonie, Hypotonie, Lethargie und zerebrale Krampfanfälle. Bei einigen Kindern steht die kardiopulmonale und renale Symptomatik im Vordergrund: 4 Atemnotsyndrom, 4 persistierende pulmonale Hypertonie mit PFC-Syndrom, 4 Herzinsuffizienz, 4 Oligurie, 4 Hämaturie 4 Nierenversagen. Die Neugeborenen können foudroyante Verlaufsformen einer nekrotisierenden Enterokolitis sowie einen Ileus entwickeln. Daneben treten z. T. gravierende Thrombozytopenien, Hypoglykämien, Hypocalzämien und ausgeprägte Hyperbilirubinämien auf.
Therapie Beim Auftreten erster Symptome muss unverzüglich eine partielle modifizierte Austauschtransfusion durchgeführt werden. Zur Senkung des Hkt auf 55 % wird kindliches Blut gegen Plasma oder eine Albuminlösung ausgetauscht (Hämodilution). 83.5.4 Pathologische Hyperbilirubinämie Die Besonderheiten des Bilirubinstoffwechsels Neugeborener sind in den Lehrbüchern der Pädiatrie dargestellt. Neben Erkrankungen, die mit einer gesteigerten Hämolyse einhergehen, können pathologische Erhöhungen des indirekten Bilirubins bei angeborenen Defekten der Glukuronidierung, bei erhöhtem Bilirubinanfall durch vermehrten Erythrozytenabbau sowie durch eine vermehrte enterale Rückresorption von Bilirubin erfolgen. Die wesentlichen Ursachen sind in . Tabelle 83.7 dargestellt. 83.5.5 AB0-Erythroblastose Mit einer ABO-Unverträglichkeit ist bei ca. 1 von 200 Neugeborenen zu rechnen. Im Gegensatz zur Rh-Inkompatibilität tritt die AB0-Erythroblastose häufig in der ersten Schwangerschaft auf. Mütter mit der Blutgruppe 0 haben natürlich vorkommende Anti-A- und Anti-B-Antikörper (Isoagglutinine), die zur Gruppe der IgM-Antikörper gehören und deshalb nicht die Plazenta passieren. Dennoch bilden einige Schwangere plazentagängige IgG-Antikörper, die gegen die kindliche Blutgruppeneigenschaft A, B oder AB gerichtet sind. Die mütterliche IgG-Antikörperbildung kann vermutlich durch exogene Ursachen, wie z. B. Darmparasiten, stimuliert werden. Als weitere Ursache wird der Übertritt kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Zirkulation vermutet, da die Antigenität der kindlichen Blutgruppeneigenschaften erst gegen Ende der Schwangerschaft voll ausgebildet ist. So erklärt sich der im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität milde Verlauf der hämolytischen Erkrankung beim ersten Neugeborenen sowie die Tatsache, dass
1113 83.5 · Bluterkrankungen
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. Tabelle 83.7. Ätiologie der indirekten Hyperbilirubinämie (Erhöhung des unkonjugierten Bilirubins) Erkrankungen bzw. Störungen Mit gesteigerter Hämolyse
Ohne Hämolyse
Blutgruppeninkompatibilität: 4 Rh, AB0, Kell, Duffy u. a.
Verminderte Bilirubinkonjugation: 4 Physiologischer Ikterus 4 Muttermilchikterus 4 Kinder diabetischer Mütter 4 Crigler-Najjar-Syndrom, (genetisch bedingter Glukuronyltransferasemangel) 4 Gilbert-Meulengracht-Syndrom (verminderte Bilirubinaufnahme in die Leberzelle) 4 Hypothyreose 4 Medikamente (Pregnandiol)
Neonatale Infektionen (bakteriell, viral) Genetisch bedingte hämolytische Anämien: 4 Enzymdefekte: – Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase, Pyruvatkinase 4 Membrandefekte: – Sphärozytose u. a. 4 Hämoglobinopathien (homozygote α-Thalassämie)
Vermehrter Bilirubinanfall: 4 Polyzythämie 4 Organblutungen, Hämatome Vermehrte enterale Rückresorption von Bilirubin: 4 intestinale Obstruktion 4 unzureichende Ernährung (verminderte Peristaltik)
Frühgeborene nur extrem selten an einer AB0-Inkompatibilität erkranken. Der Schweregrad der hämolytischen Erkrankung Neugeborener nimmt bei nachfolgenden Schwangerschaften in der Regel nicht zu. Der Grund liegt vermutlich in einer Suppression der IgG-Antikörperbildung durch die natürlich vorkommenden IgM-Anti-A- oder Anti-B-Antikörper.
Klinik Die Neugeborenen weisen meistens nur eine geringgradige Anämie auf; es besteht nur selten eine Hepatosplenomegalie; die Kinder entwickeln keinen Hydrops. Im peripheren Blut finden sich neben Retikulozyten und Erythroblasten als Ausdruck der
. Tabelle 83.8. Unterschiede zwischen der Rh- und AB0-Inkompatibilität Inkompatibilität Rh
AB0
Erkrankung bei der 1. Schwangerschaft
Selten
Häufig
Frühzeitige Anämisierung des Kindes
+
+
Hyperbilirubinämie während der ersten 24 h post partum
++
+
Erythroblasten
+++
+
Sphärozyten
±
++
Retikulozyten
++
+ bis ++
Direkter Coombs-Test (Kind)
+++
– bis ±
Indirekter Coombs-Test (Mutter)
+++
±
gesteigerten Erythropoese Sphärozyten, die infolge der komplementvermittelten Hämolyse durch Fragmentation entstehen. Erkrankte Neugeborene sind lediglich durch die Hyperbilirubinämie und das damit verbundene Risiko einer Bilirubinenzephalopathie gefährdet.
Diagnose und Therapie Die wesentlichen diagnostischen Merkmale der AB0-Inkompatibilität im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität sind in . Tabelle 83.8 zusammengefasst. Durch eine rechtzeitig begonnene und konsequent durchgeführte Phototherapie können bei den meisten Kindern kritische Bilirubinserumkonzentrationen vermieden werden. Eine Austauschtransfusion ist nur extrem selten durchzuführen. Durch zirkulierende Antikörper kann sich in den ersten Lebenswochen eine in der Regel blande verlaufende Anämie entwickeln. 83.5.6 Rh-Erythroblastose Etwa 15 % der europäischen Bevölkerung sind Rh-negativ, ca. 5 % der amerikanischen schwarzen Bevölkerung. Vor Einführung der Anti-D-Prophylaxe betrug die Prävalenz der Rh-Inkompatibilität 45 erkrankte Kinder pro 10.000 Lebendgeborene. Die Erkrankungshäufigkeit konnte um weit mehr als 90 % reduziert werden.
Ätiologie, Pathogenese Das erythrozytäre Rhesus-Antigensystem besteht aus 5 Antigenen: C, D, E, c und e; d hat keine antigenen Eigenschaften. Bei ca. 90 % der Rhesusinkompatibilität sensibilisiert das D-Antigen des Fetus die Rh(d)-negative Mutter, die in der Folge IgG-Antikörper (Anti-D-Antikörper) bildet. Da in der Frühschwangerschaft nur ausnahmsweise kindliche Erythrozyten in den Kreislauf der Mutter gelangen, bildet die Mutter keine oder nur geringe Mengen an Anti-D-Antikörpern.
1114
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Das erste Kind bleibt entweder gesund oder entwickelt nur eine hämolytische Anämie und/oder Hyperbilirubinämie, vorausgesetzt, dass eine frühere Sensibilisierung durch Aborte oder Bluttransfusionen ausgeschlossen ist. Unter der Geburt und bei der Plazentalösung kann eine größere Menge kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Blutbahn übertreten. Die Rh-Erythroblastose bei unterlassener Rh-Prophylaxe manifestiert sich typischerweise während der zweiten und weiteren Schwangerschaften mit zunehmendem Schweregrad der fetalen Erkrankung, die in einen Hydrops fetalis einmünden kann.
Klinik In Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung bestehen: Eine mehr oder weniger ausgeprägte Anämie, ein Icterus praecox (Gesamtbilirubin >7 mg/dl innerhalb der ersten 24 Lebensstunden), ein Icterus gravis (Gesamtbilirubin) >15 mg/dl bei reifen Neugeborenen), und als Ausdruck der extramedullären Blutbildung eine Hepatosplenomegalie. Als Zeichen der gesteigerten Hämatopoese sind Erythroblasten und Retikulozyten im peripheren Blut in großer Zahl nachweisbar.
Hydrops fetalis
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Bei schwerer fetaler Anämie (Hämoglobin <8 g/dl) können sich eine intrauterine Hypoxie und Hypoproteinämie infolge einer verminderten Albuminsynthese entwickeln. Veränderungen der Zellpermeabilität und Verminderungen des onkotischen Drucks führen zu generalisierten Ödemen, Höhlenergüssen (Aszites, Pleuraerguss, Perikarderguss), Hypervolämie und Herzinsuffizienz. Beim generalisierten Hydrops kann bereits ein intrauteriner Fruchttod oder eine irreparable zerebrale Schädigung auftreten.
ver direkter Coombs-Test zu finden (Nachweis von inkompletten, an kindliche Erythrozyten gebundene Antikörper). Unmittelbar nach der Geburt kann die Konzentration des indirekten Bilirubins stark ansteigen; daher sind engstmaschige Bilirubinbestimmungen erforderlich.
Intrauterine Therapie des Fetus Bei ausgeprägter fetaler Anämie ist eine intrauterine Transfusion in die kindliche Bauchhöhle oder neuerdings durch Kordozentese in die Nabelvene möglich; bei ersten Zeichen eines Hydrops fetalis ist eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch Sectio caesarea erforderlich.
Phototherapie Bei leichten Verläufen (einer Rh-Inkompatibilität) kann eine Phototherapie u. U. in zwei Ebenen zur Behandlung der Hyperbilirubinämie ausreichen. Durch sichtbares Licht (Wellenlänge 425–475) wird das in der Haut vorhandene Bilirubin zu nicht toxischen Bilirubin-Isomeren umgeformt und mit der Galle und dem Urin ausgeschieden. Die Indikation für den Beginn einer Phototherapie hängt von Gestationsalter, Lebensalter, Höhe der Bilirubinkonzentration, Dynamik des Bilirubinanstieges sowie vom Ausmaß der Anämie und anderen Risikofaktoren ab.
Austauschtransfusion Zur Vermeidung der Bilirubinenzephalopathie wird nach wie vor eine Austauschtransfusion reifer Neugeborener bei Bilirubinserumkonzentrationen von >20 mg/ dl empfohlen; bei schweren Grunderkrankungen (Asphyxie, neonatale Sepsis, hämolytische Anämie u. a.) sowie eine Hyperbilirubinämie in den ersten 3 Lebenstagen liegt die Austauschgrenze in dieser Gruppe niedriger.
Diagnose Im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge wird bei allen Frauen im Verlauf der Schwangerschaft nach irregulären Antikörpern gesucht, um Inkompatibilitäten in Rh-, Duffy-, Kell- oder anderen Blutgruppensystemen zu erkennen. Mit dem indirekten Coombs-Test werden plazentagängige IgG-Antikörper nachgewiesen. Bei vorhandenen Antikörpern ist eine engmaschige fetale Ultraschalldiagnostik unabdingbar. Da keine Korrelation zwischen der Konzentration vorhandener Antikörper und dem Schweregrad der möglichen kindlichen Erkrankung besteht, ist bei vorhandenen Antikörpern ggf. eine sequentielle Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) zur Bilirubinbestimmung indiziert. Das Ausmaß der Hämolyse lässt sich durch spektrophotometrische Analyse der optischen Dichte (450 nm) des Fruchtwassers ablesen (Liley Diagramm). Durch Zuordnung in 3 Gefahrenzonen können der kindliche Zustand beurteilt und entsprechende therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Nach der Geburt sind beim Neugeborenen unverzüglich folgende Bestimmungen durchzuführen: 4 Hämoglobinkonzentration, 4 Serumbilirubinwert, 4 Blutgruppenbestimmung, 4 Coombs-Test, 4 Retikulozytenzahl, 4 Blutausstrich. Bei Neugeborenen mit Rh-Erythroblastose ist, neben den beschriebenen hämatologischen Auffälligkeiten, immer ein positi-
Für Frühgeborene gelten besondere Austauschgrenzen: 5 Frühgeborene mit einem Gewicht von >1500 g: >15 mg/dl, 5 Frühgeborene >1000 g: >10 mg/dl.
Der Blutaustausch erfolgt mit kompatiblem Spendervollblut in 5–20 ml Portionen über einen Nabelvenenkatheter; durch diese Maßnahme wird das 2- bis 3-fache Blutvolumen eines Neugeborenen ausgetauscht, d. h. ca. 90 % der kindlichen Erythrozyten werden neben mütterlichen Antikörpern und verfügbarem Bilirubin eliminiert.
Mögliche Komplikationen Als Komplikationen der Blutaustauschtransfusion können Infektionen (u. a. Sepsis), Katheterperforation, Pfortaderthrombose, Hypotension, Azidose, nekrotisierende Enterokolitis und Elektrolytentgleisungen auftreten. Nach einem Blutaustausch besteht häufig eine Anämie und Thrombozytopenie; durch eine zusätzliche, kontinuierlich durchgeführte Phototherapie kann die Zahl von mehrfachen Austauschtransfusionen gesenkt werden.
Prävention Durch Gabe eines Anti-D-Immunglobulins innerhalb von 72 h nach der Geburt kann die Sensibilisierung einer Rh-negativen Mutter durch die Rh-positiven fetalen Erythrozyten häufig vermieden werden. Die Anti-D-Prophylaxe muss bei Rh-negativen Frauen auch nach Aborten, Amniozentesen oder un-
1115 83.5 · Bluterkrankungen
sachgemäßer Transfusion mit Rh-positivem Blut durchgeführt werden. Zu der ersten Schwangerschaft kann eine maternale Immunglobulinprophylaxe in der 28. Gestationswoche und unmittelbar postnatal die Sensibilisierung auf weniger als 1 % reduzieren. Nach bisherigen Kenntnissen scheint die im letzten Trimenon durchgeführte Anti-D-Prophylaxe beim Neugeborenen keine klinisch signifikante Hämolyse auszulösen.
Prognose Trotz adäquater Initialbehandlung entwickeln die Kinder aufgrund der noch vorhandenen Anti-D-Antikörper häufig eine über mehrere Wochen anhaltende Spätanämie. Bei erhöhten Retikulozytenzahlen und asymptomatischem Kind ist keine weitere Therapie erforderlich. Stellen sich eine persistierende Tachykardie sowie andere Zeichen der chronischen Anämie ein, so ist eine weitere Transfusion indiziert. Selten wird eine Pfortaderthrombose nach Austauschtransfusion beobachtet; diese schwerwiegende Komplikation ist therapeutisch nicht zu beeinflussen. 83.5.7 Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie Unkonjugiertes, nicht an Albumin gebundenes Bilirubin kann aufgrund seiner lipophilen Eigenschaften leicht in das zentrale Nervensystem eindringen. Es hemmt den neuronalen Metabolismus (eine Hemmung der oxidativen Phosphorylierung) und hinterlässt eine irreversible Schädigung im Bereich der Basalganglien, des Globus pallidus, des Nucleus caudatus (Kernikterus), des Hypothalamus, einiger Kerngebiete von Hirnnerven und auch der Großhirnrinde. Bei einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke (schwere Anämie, Hypoxie, Hydrops) kann auch an Albumin gebundenes Bilirubin in das Hirngewebe übertreten.
Pathogenese Die Entstehung einer Bilirubinenzephalopathie wird von folgenden Faktoren beeinflusst: Lebensalter und Reifegrad der Kinder, Überschreiten der Albuminbindungskapazität durch zu hohe Bilirubinspiegel, Verminderung der Bindungskapazität bei Hypalbuminämie, Verdrängung des Bilirubins durch Gallensäuren, freie Fettsäuren (Hypoglykämie!) oder Medikamente und Veränderungen bzw. Schädigung der Blut-Hirn-Schranke nach Asphyxie, Hypoxie, neonataler Meningitis und anderen Erkrankungen.
83
83.5.8 Weitere hämolytische Erkrankungen Blutgruppenunverträglichkeiten gegen andere Erythrozytenantigene [c, E, Kell (K), Duffy u. a.] sind für weniger als 5 % aller hämolytischen Erkrankungen der Neonatalperiode verantwortlich. Der direkte Coombs-Test ist bei diesen Unverträglichkeiten immer positiv. Kongenitale Infektionen mit verschiedenen Erregern sowie neonatale Infektionen können eine nichtimmunologische Hämolyse induzieren. Die homozygote D-Thalassämie kann sich ebenfalls unter dem Bild einer schweren hämolytischen Anämie mit Hydrops fetalis präsentieren; auch bei dieser und den folgenden Erkrankungen ist der direkte Coombs-Test negativ. Hämolytische Anämie und ausgeprägte Hyperbilirubinämie mit Gefahr der Bilirubinenzephalopathie werden bei Neugeborenen mit hereditärer Sphärozytose oder angeborenen Enzymdefekten, wie dem Pyruvatkinase- oder Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel beobachtet. 83.5.9 Neonatale Thrombozytopenie Die wesentlichen maternalen und kindlichen Ursachen und Erkrankungen, die eine neonatale Thrombozytopenie (<150.000 Thrombozyten/Pl) auslösen können, sind in der folgenden Übersicht dargestellt. Ursachen der neonatalen Thrombozytopenie 5 Mütterliche Ursachen: – idiopathisch thrombozytopenische Purpura der Mutter – Lupus erythematodes der Mutter – Medikamente während der Schwangerschaft – Thrombozyteninkompatibilität: Alloimmunthrombozytopenie 5 Kindliche Ursachen: – konnatale Infektionen: Toxoplasmose, Röteln, Zytomegalie, Herpes simplex, Lues – neonatale Infektionen: Sepsis neonatorum – disseminierte intravaskuläre Gerinnungsstörung nach Asphyxie, Schock etc. – nekrotisierende Enterokolitis – Austauschtransfusion – selten: aplastische Anämie, kongenitale Leukämie, Wiskott-Aldrich-Syndrom, Riesenhämangiom u. a. – Retardierung – Polyzythämie
Klinik und Therapie Die Frühsymptome der Bilirubinenzephalopathie sind: Apathie, Hypotonie, Trinkschwäche, Erbrechen, abgeschwächte Neugeborenenreflexe und schrilles Schreien. Danach fallen die Neugeborenen durch eine vorgewölbte Fontanelle, eine opisthotone Körperhaltung, muskuläre Hypertonie und zerebrale Krampfanfälle auf. Überlebende Kinder weisen häufig eine beidseitige Taubheit, choreoathetoide Bewegungsmuster sowie eine mentale Retardierung auf.
Therapie Keine therapeutische Maßnahme kann diese irreversible Schädigung rückgängig machen. In der heutigen Zeit sollte diese vermeidbare Komplikation aber nicht mehr auftreten.
Im Rahmen einer aktiven idiopatischen thrombozytopenischen Purpura (ITP oder eines Lupus erythematodes) können die maternalen Autoantikörper durch diaplazentaren Übertritt beim Neugeborenen eine Immunthrombozytopenie induzieren. Bei Müttern, die sich gegen Medikamente sensibilisiert haben, wurde nach Anlagerung des Antigen (Medikament-) Antikörperkomplexes an fetale Blutplättchen von der Entwicklung einer Thrombozytopenie berichtet. Bei der neonatalen Alloimmunthrombozytopenie handelt es sich um eine fetomaternale Thrombozyteninkompatibilität. Unter den kindlichen Ursachen ist das Wiskott-Aldrich-Syndrom hervorzuheben. Aufgrund eines intrinsischen Thrombozyten-
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
defekts ist die Überlebenszeit der Blutplättchen deutlich vermindert. Die Thrombozyten sind bei dieser Erkrankung deutlich kleiner als bei allen anderen Formen der neonatalen Thrombozytopenie. Die Inzidenz der Alloimmunthrombozytopenie wird mit 2000‒3000 : 1 Neugeborenen angegeben. Verantwortlich für die mütterliche Sensibilisierung ist in mehr als 75 % der Fälle das plättchenspezifische Antigen PLA1, das bereits in der 19. Schwangerschaftswoche von den fetalen Thrombozyten exprimiert wird. 98 % der Bevölkerung besitzen PLA1-positive Thrombozyten.
Klinik Klinisch symptomatische Neugeborene mit Thrombozytopenie fallen durch Petechien, Purpura und gelegentlich Schleimhautblutungen auf. Neben renalen und gastrointestinalen Blutungen ist die gefürchtete Komplikation eine innerhalb der ersten Lebenstage auftretende Hirnblutung. Einige Neugeborene sind auch bei ausgeprägten Thrombozytopenien symptomlos. Die Diagnose wird durch Nachweis spezifischer Thrombozytenmerkmale und Antikörpernachweis bei Mutter und Kind gestellt.
Therapie
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Thrombozytenzahlen von <50.000/Pl oder klinische Blutungszeichen erfordern eine sofortige Transfusion eines Thrombozytenkonzentrats. Bei der Alloimmunthrombozytopenie stellt jedoch die Selektion geeigneter Thrombozytenspender ein logistisches Problem dar, da 98 % der Bevölkerung PLA1-positive Thrombozyten besitzen und somit als Spender ausscheiden. Eine Thrombozytentypisierung potenzieller Spender ist nur in wenigen Blutbanken vorhanden. Als idealer Spender kompatibler Thrombozyten kommt daher nur die Mutter in Frage. Das Verfahren der Thrombozytenisolierung durch Zellseparation wird auch unmittelbar nach der Geburt von den Müttern gut toleriert. 83.5.10 Koagulopathien In der Neonatalperiode werden nicht selten Störungen der plasmatischen Blutgerinnung beobachtet; sie können Ausdruck eines angeborenen Mangels an Gerinnungsfaktoren (Hämophilie u. a.), eines Vitamin-K-Mangels oder einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung (DIC) sein. Neugeborene weisen erniedrigte Plasmakonzentrationen nahezu aller Gerinnungsfaktoren auf; besonders die Synthese der Vitamin-K-abhängigen Faktoren II, VII, IX und X ist gestört. i Es gibt keinen diaplazentaren Übertritt von Gerinnungsfaktoren.
83.6
Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts P. Groneck
83.6.1 Ösophagusatresie Die Ösophagusatresie ist mit 1:3000 Geburten nicht selten. Anatomisch besteht eine Unterbrechung des Organs mit proximalem und distalem Blindsack und zumeist einer tracheoösophagealen Fistel. Die häufigste Form dieser Malformation geht mit einer Fis-
. Abb. 83.16. Kontrastmittelfüllung des oberen Blindsacks bei einem Neugeborenen mit Ösophagusatresie
tel zwischen distalem Blindsack und der Trachea einher (85 %), gefolgt von einer Form ohne Fistel, jedoch mit oft größerem Abstand zwischen beiden Blindsäcken.
Diagnose und Klinik In der Schwangerschaft findet sich bei der Ultraschalluntersuchung häufig ein Polyhydramnion, da das Kind kein Fruchtwasser schlucken kann. Weiterhin lässt sich bei wiederholten Untersuchungen der Magen nicht darstellen, oder es findet sich ein dilatierter oberer Blindsack im Thorax. Nach der Geburt kommt es zur Ansammlung von oropharyngealen Sekreten, die nicht verschluckt werden können und sich aus dem Mund entleeren. Husten und Atemnotsymptome sind weitere frühe Auffälligkeiten. Das Kind erbricht sofort oder hustet beim ersten Trinken. Eine über die Nase eingeführte, nicht zu dünne Magensonde (Gefahr des Aufrollens im Blindsack) stößt nach ca. 11–13 cm auf einen Widerstand. Über die Sonde kann Luft als Kontrastmittel gegeben werden. Radiologisch findet sich im Thorax-Abdomen-Röntgenbild ein luftgefüllter oberer Blindsack mit Darstellung der Magensonde im Blindsack. Bei Bedarf kann eine vorsichtige Kontrastmittelfüllung mit Isovist durchgeführt werden. Prinzipiell sollte jede Röntgenthoraxerstaufnahme bei Neugeborenen mit liegender Magensonde erfolgen, um sofort eine Aussage über die Kontinuität des Ösophagus treffen zu können. Bei einer Ösophagusatresie ohne Fistel (zweithäufigster Typ) ist das Abdomen luftleer (. Abb. 83.16).
1117 83.6 · Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts
83
Therapie Wenn die Diagnose pränatal bekannt ist, sollte keine Maskenbeatmung oder Anlage eines Nasen-CPAP erfolgen, um den Magen nicht zu überblähen: Einführen eines Absaugkatheters in den oberen Blindsack und Anwendung eines Dauersogs zur Sekretentfernung; Hochlagerung des Oberkörpers zur Verhinderung des Reflux von Magensekreten über die Fistel in die Trachea. Wenn das Kind beatmet werden muss, ist eine Bauchlage sinnvoll, damit der Magen komprimiert wird und sich nicht so leicht mit Luft füllt; Flüssigkeitstherapie und Ernährung über eine Dauertropfinfusion. In der Regel erfolgt die operative Behandlung am 1. Lebenstag. Wenn das Kind krank ist oder eine schwere Aspiration vorliegt, kann die Operation unter den oben genannten Maßnahmen einige Tage verschoben werden. Bei sehr schlechtem Zustand: Ausschließliche Anlage einer Gastrostomie zur Magendekompression als Erstmaßnahme. Postoperativ erfolgt eine Beatmung, Antibiotikabehandlung und intravenöse Ernährung. Über eine Duodenalsonde kann ab dem 4. Tag vorsichtig Nahrung gegeben werden. 10 Tage nach der Operation erfolgt eine radiologische Kontrastmitteldarstellung der Anastomose, anschließend kann der Nahrungsaufbau begonnen werden. Viele Kinder haben eine residuale Striktur, die eine Bougierung erfordert, sowie über längere Zeit eine Störung der Ösophagusmotilität und Schluckprobleme. Weiterhin liegt sehr häufig eine tracheale Instabilität vor, im Extremfall kann es zu einem Trachealkollaps mit Apnoen kommen. 83.6.2 Intestinale Obstruktionen Alle intestinale Atresien und Obstruktionen anderer Genese können pränatal ebenfalls zu einem Polyhydramnion führen. Die klinischen Hauptsymptome nach der Geburt hängen von der Höhe der Obstruktion ab. Atresien im Bereich des Duodenums und des oberen Jejunums führen zum meist galligen Erbrechen relativ kurz nach der Geburt. Atresien im unteren Dünndarm und Kolon haben als Leitsymptom ein geblähtes Abdomen und fehlenden Abgang von Mekonium. In der Regel wird bei reifen Neugeborenen innerhalb der ersten 24 h Mekonium abgesetzt. Abgang von Mekonium schließt jedoch eine Obstruktion im Oberen MagenDarm-Trakt nicht aus. Die Erstuntersuchung besteht in einer Abdomenübersichtsaufnahme. Nach der Geburt füllt sich der Magen und Darm rasch mit Luft und erreicht innerhalb von 24 h das Kolon. Bei einer intestinalen Atresie oder einer anderen Durchgängigkeitsstörung sistiert die Gasfüllung vor der Obstruktion. Ein Kontrasteinlauf zeigt bei Dünndarmatresie oder Mekoniumileus ein Mikrokolon. Eine Analatresie ist von außen bei der körperlichen Untersuchung sichtbar.
Duodenalatresie Bei dieser Fehlbildung lassen sich bei der pränatalen Ultraschalluntersuchung oft zwei flüssigkeitsgefüllte Blasen im Bereich des Magens bei fehlender Darstellung des Restdarms nachweisen. Neben der Atresie können eine Duodenalstenose, ein Pancreas anulare oder eine Malrotation zu Obstruktionen in diesem Bereich führen. Häufig sind diese Fehlbildungen mit einer Trisomie 21 verbunden, klinisch muss nach entsprechenden Symptomen gesucht werden.
. Abb. 83.17. Typisches luftleeres Abdomen mit Darstellung zweier isolierter Luftblasen (sog. Double-bubble-Phänomen) im Magenfundus und Bulbus duodeni bei Duodenalatresie
Postnatal tritt sehr frühzeitig Erbrechen auf, auch schon ohne Fütterung. Je nach Höhe der Unterbrechung ist das Erbrochene gallig. Das Abdomen ist oft eingefallen. Die Röntgenaufnahme des Abdomens ist typisch, es zeigen sich bei Duodenalatresie 2 luftgefüllte Hohlräume (Magen und Bulbus duodeni, »Doublebubble-Phänomen«) bei luftleerem Abdomen. Bei einer Duodenalstenose oder Malrotation ist zumeist noch etwas Luft distal der Enge zu finden (. Abb. 83.17). Die fehlende Flüssigkeitzufuhr und das Erbrechen können rasch zu einer Dehydratation und metabolischen Alkalose führen. Als Erstbehandlung wird eine Magensonde gelegt, um das Sekret abzusaugen; weiterhin Anlage eines venösen Zugangs zur Flüssigkeitstherapie, Ernährung und evtl. Korrektur von Elektrolytstörungen. Die chirurgische Behandlung (Duodenojejunostomie oder Duodenoduodenostomie) wird in der Regel frühzeitig durchgeführt. Postoperativ liegt häufig eine Motilitätsstörung des Duodenums vor, die den oralen Nahrungsaufbau verzögern kann. Über den offenen Pylorus können größereSekretmengen in den Magen zurückfließen und sich über die Magenablaufsonde entleeren.
Malrotation Dieser Fehlbildung liegt embryologisch eine inkomplette Darmdrehung zugrunde. Anstatt im rechten Unterbauch kommt das
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Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Zökum meist im rechten Oberbauch zu liegen, verwächst mit der seitlichen Bauchwand und obstruiert über Ladd-Bänder komplett oder meist partiell das Duodenum. Weiterhin ist bei dieser Fehlbildung die Fixation des Mesenteriums gestört. Anstelle der üblichen, posterioren Fixation von links kranial nach rechts kaudal liegt ein schlecht fixiertes Mesenterium commune vor, das leicht torquieren kann (Volvulus). In solchen Fällen entsteht rasch über eine Abdrosselung der mesenterialen Blutgefäße ein ausgedehnter Darminfarkt. Je nach Grad der duodenalen Obstruktion und der Beeinträchtigung der mesenterialen Perfusion resultiert bei der Malrotation keine Symptomatik (manchmal Zufallsbefund), eine intermittierende oder permanente duodenale Obstruktion mit galligem Erbrechen oder eine lebensbedrohliche Situation mit akutem Abdomen bei Volvulus. i Galliges Erbrechen bei Neugeborenen ist ein Hinweis auf eine mechanische Obstruktion und erfordert immer eine sorgfältige Diagnostik einschließlich des Ausschlusses einer Malrotation, um die Entwicklung eines Volvulus zu verhindern.
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Röntgenologisch finden sich im Abdomenübersichtsbild Befunde einer meist inkompletten duodenalen Obstruktion und einer pathologischen Darmgasverteilung distal der Stenose. Der Kontrasteinlauf zeigt ein malpositioniertes Zökum im rechten oder mittleren oberen Abdomen, bei der Kontrastmitteldarstellung von oral her lässt sich die Fehlposition des Duodenums darstellen. Bei einem Volvulus ist das Abdomen oft luftleer. Dieses Krankheitbild manifestiert sich als lebensbedrohliche Situation mit akutem Abdomen, Hämatemesis und Schock. Mit massiver Flüssigkeitssubstitution und Notfalloperation wird versucht, den ischämischen Darm noch zu retten.
Dünndarmobstruktion Die Ursachen einer Dünndarmobstruktion bestehen in einer angeborenen Atresie oder Obstruktion durch Mekonium. Je nach Höhe der Obstruktion resultiert galliges Erbrechen oder ein innerhalb der ersten 12–48 h nach der Geburt auftretendes geblähtes Abdomen mit fehlendem Mekoniumabgang.
trächtigt, was den Nahrungsaufbau stark verzögert und über längere Zeit eine parenterale Ernährung erfordert.
Mekoniumobstruktion Eingedicktes Mekonium kann zu einer vollständigen Verlegung des Darms führen.
Mekoniumpfropfsyndrom Von einem Mekoniumpfropfsyndrom spricht man, wenn die Obstruktion im Kolon gelegen und durch rektale Spülungen zu mobilisieren ist. Ein Kontrasteinlauf sichert die Diagnose (Fehlen von Mikrokolon, Nachweis von Mekoniumpartikeln) und wirkt gleichzeitig therapeutisch.
Mekoniumileus Ein Mekoniumileus ist durch diese konservativen Maßnahmen nicht zu beheben, die Obstruktion liegt in der Regel im Bereich des distalen Ileums. Die Symptomatik ist typisch für die zystische Fibrose (CF), jedoch präsentiert sich nur ein Teil der Neugeborenen mit CF nach der Geburt mit einem Mekoniumileus. Die mukösen Drüsen dieser Kinder produzieren ein extrem zähes Mekonium, das eine höhere Konzentration an Proteinen enthält. Der erhöhte Nachweis von Albumin im Stuhl wurde einige Zeit als Suchtest für die CF verwendet, hat sich jedoch wegen der bei Frühgeborenen häufig falsch-positiven Resultate nicht durchsetzen können. Der Mekoniumileus bei CF kann kompliziert sein durch eine pränatale Perforation mit Mekoniumperitonitis, im Röntgenbild finden sich dann intraabdominelle Kalzifizierungen. Durch die gesunkene Mortalität sehr kleiner Frühgeborener stellen heute Kinder mit extrem niedrigem Geburtsgewicht (<1000 g) und gleichzeitiger schwerer intrauteriner Wachstumsrestriktion (<3. Perzentile) eine wesentliche Gruppe der Patienten mit Mekoniumileus dar, ohne dass eine CF vorliegt. Die Ursache liegt neben der Unreife wohl in einer intestinalen Hypomotorik, bedingt durch mesenteriale Hypoperfusion bei chronischer intauteriner Hypoxie im Rahmen der Dystrophie. 83.6.3 Bauchwanddefekte
Dünndarmatresie Die Dünndarmatresie geht, im Gegensatz zu den Atresien des oberen Magen-Darm-Trakts, nicht gehäuft mit weiteren Fehlbildungen oder einer chromosomalen Anormalie einher. Von der Entstehung her liegt in der Regel eine frühe intrauterine Perfusionseinschränkung eines Darmanteils vor. Postnatal finden sich in der Abdomenübersichtsaufnahme stark dilatierte Dünndarmschlingen und ein luftleeres Rektum. Die Aufnahme im Hängen zeigt Flüssigkeitsspiegel in den dilatierten Schlingen. Beim Kontrasteinlauf ist ein Mikrokolon darstallbar. Kritisch ist bei der intestinalen Obstruktion die konstante Darstellung einer isolierten geblähten Darmschlinge. Die fehlende Dekompression kann dabei zu einer Beeinträchtigung der vaskulären Versorgung des dilatierten Darmanteils führen; es resultieren eine Beeinträchtigung der Mukosaintegrität sowie ein massiver Volumenverlust in den Darm. Präoperativ ist daher bei allen Kindern mit intestinalen Obstruktionen und Darmblähung eine reichliche Volumenzufuhr mit Vollelektrolytlösung notwendig, um Flüssigkeitverluste in den »3. Raum« zu ersetzen. Postoperativ ist aufgrund des Lumenunterschiedes zwischen proximalem und distalem Anteil die Darmmotilität stark beein-
Bauchwanddefekte umfassen die Omphalozele und die Gastroschisis. Sie treten bei etwa 1 von 4000 Geburten auf, mit einer höheren Inzidenz der Gastroschisis. Bei der Omphalozele liegt der Abdominalwanddefekt periumbilikal, die aus dem Abdomen heraustretenden Darmschlingen sind von einem Bruchsack umgeben und die Nabelschnur setzt an der Spitze des hernierten Darms an. Die Fehlbildung stellt eine Persistenz der physiologischen Herniation des fetalen Darms dar, die sich üblicherweise bis zur 10. Woche wieder zurückbildet. Bei der Gastroschisis liegt der Bauchwanddefekt lateral vom normal ansetzenden Nabel und die Darmschlingen liegen frei in der Amnionhöhle. Die Diagnose beider Erkrankungen erfolgt oft schon pränatal. Da der Darm physiologischerweise in der Frühschwangerschaft herniert ist, kann die Ultraschalldiagnose allerdings erst nach der 14. Woche gestellt werden. Bei Bauchwanddefekten (wie bei Neuralrohrdefekten und Ösophagus- oder Duodenalatresie) finden sich im maternalen Blut erhöhte Werte für D1-Fetoprotein (AFP), das vom Feten produziert wird und diaplazentar in das mütterliche Blut übertritt.
1119 83.6 · Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts
Nach der Geburt können sich in seltenen Fällen differenzialdiagnostische Schwierigkeiten zwischen beiden Bauchwanddefekten ergeben, wenn der Herniensack der Omphalozele präoder perinatal rupturiert ist. In solchen Fällen muss der genaue Ansatz der Nabelschnur aufgesucht werden. Im Gegensatz zur Gastroschisis ist die Omphalozele häufig mit Begleitfehlbildungen assoziiert (ca. 40 %, oft gastrointestinal oder kardial) sowie mit einer chromosomalen Aberration verbunden (nicht selten Trisomie 18). Die Erstmaßnahmen bei Bauchwanddefekten sind in der folgenden Übersicht dargestellt:
83
Darmbakterien. Die bakterielle Besiedlung des Darms ist eben-
falls von Bedeutung. Die Epidemiologie mit gruppenweisem Auftreten der Erkrankung und das klinische septische Krankheitsbild legen eine Infektion als beteiligten Faktor nahe. Bei einer NEC lassen sich häufig bakterielle Erreger, v. a. gramnegative Keime wie Klebsiella, Enterobacter, Escherichia coli oder Pseudomonas aus der Peritonealflüssigkeit, der Blutkultur oder aus dem Stuhl isolieren. Andere Fälle gehen mit einer Sepsis durch Staphylokkokus epidermidis oder einer Rotavirus-Infektion einher. Die Pneumatosis als pathognomonisches Zeichen entsteht durch intraluminale Ausbreitung der bakteriellen H2-Bildung im Rahmen der Kohlenhydratvergärung des Darminhalts.
Erstmaßnahmen bei Bauchwanddefekten 5 Versorgung auf steriler Unterlage und mit sterilen Handschuhen 5 Kind nach der Geburt sofort in Seitenlage bringen, bei Gastroschisis ist ein Abknicken der mesenterialen Gefäßversorgung unbedingt zu vermeiden, ggf. Lösung einer Torsion, keinen Zug auf den Darm ausüben 5 Steriles Abdecken der Darmschlingen bzw. des Bruchsackes mit angefeuchteten Bauchtüchern (warme NaCl-0,9%-Lösung) 5 Bei Atemstörung keine Maskenbeatmung, sondern primäre Intubation zur Vermeidung der Darmüberblähung 5 Anlage einer großlumigen Magensonde zur Dekompression, Sonde offen lassen 5 Anlage einer Infusion (Vollelektrolylösung, Glukosezusatz nach Bedarf )
Orale Ernährung. Die orale Ernährung ist ein weiterer pathogenetischer Faktor. Eine NEC tritt praktisch nur bei oral ernährten Neugeborenen auf. Eine zu rasche Steigerung der Nahrung (>20 kcal/kg KG/Tag) kann bei der bestehenden Unreife des Verdauungsapparates zu einer Verbesserung der Wachstumsbedingungen von Bakterien mit nachfolgender bakterieller Überwucherung führen. Bei Fütterung mit Frauenmilch kommt eine NEC seltener vor als bei Ernährung mit einer Kuhmilchpräparation. Mesenteriale Hypoperfusion. Eine mesenteriale Hypoperfusion
mit nachfolgender Ischämie kann zu einer NEC führen. Allerdings ist die postasphyktische Genese einer NEC selten. Wahrscheinlich ist die Ischämie ein sekundäres Ereignis, möglicherweise hervorgerufen durch die infektionsbedingte Produktion vasokonstriktorischer Mediatoren.
Klinik und Diagnostik Die Plazenta sollte in einem sterilen Gefäß zur operativen Versorgung mitgebracht werden, da bei großen Defekten ein passagerer Verschluss der Bauchwand mit Amnion erfolgen kann. 83.6.4 Nekrotisierende Enterokolitis (NEC) Die NEC ist eine akut auftretende entzündliche Erkrankung des Dünn- und Dickdarms, welche im Verlauf zu einem septischen Krankheitbild mit disseminierten Darmnekrosen führt. Die Ursache ist multifaktoriell. Die NEC ist die häufigste Ursache gastrointestinaler Notfallsituationen Neugeborener; betroffen sind v. a. Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g. Neben einzelnen sporadischen Fällen wird häufig ein gruppenweises Auftreten der Erkrankung beobachtet.
Pathogenese Verschiedene Faktoren sind für die Genese der Erkrankung verantwortlich: 4 Unreife der intestinalen Abwehrmechanismen, 4 bakterielle Überwucherung des Darms, 4 orale Ernährung, 4 Hypoxie-Ischämie des Darms. Zur Unreife der lokalen Abwehr tragen eine verminderte Ausstattung mit sekretorischem IgA auf der Darmschleimhaut, eine geringe Menge an intestinalen T-Lymphozyten und ein relativ hoher pH-Wert der Magensäure bei. Die geringe Darmmotilität begünstigt die Bakterienadhäsion.
Kinder mit NEC zeigen folgende Symptome: 4 geblähtes, meist druckschmerzhaftes Abdomen, 4 Absetzen blutiger Stühle, 4 Erbrechen oder Nahrungs- und Seketrückstau im Magen, 4 häufig lokalisierte Resistenz im Abdomen palpabel, 4 evtl. livide oder rötliche Verfärbung der darüberliegenden Bauchhaut, 4 bei fortschreitender Erkrankung mit diffuser Peritonitis gesamte Bauchhaut glänzend und ödematös, 4 Fehlen von Darmgeräuschen. Neben den lokalen Befunden finden sich Symptome einer systemischen Infektion: 4 Temperaturinstabilität, 4 Apnoen, 4 Muskelhypotonie, 4 Hypomotorik bis Lethargie, 4 Hypotension, 4 Azidose, 4 dissiminierte intravasale Gerinnung mit Thrombopenie. Röntgendiagnostik. Radiologisch findet sich in den frühen Sta-
dien der Erkrankung eine lokalisierte oder generalisierte Dilatation von Darmschlingen sowie eine Verdickung der Darmwand. Das typische Zeichen einer NEC ist die Pneumatosis intestinalis mit einer perlschnurartigen Ansammlung von Gasblasen in der Darmwand. Bei Ausbreitung dieser Gasansammlung über die Mesenterialgefäße in die Lebervenen lässt sich intrahepatische Luft nachweisen.
1120
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
eine Mitbeurteilung des klinischen Befundes durch einen Kinderchirurgen notwendig, um rechtzeitig die Indikation zum operativen Vorgehen stellen zu können. Eine Operationsindikation ist gegeben bei Perforation, klinischen Peritonitissymptomen oder deutlichen Pneumatosiszeichen. Ein toxisches Krankheitbild erfordert eine notfallmäßige operative Therapie.
Postoperative Probleme bei NEC
83
. Abb. 83.18. Massive Darmdilatation, schaumiger Darminhalt sowie perlschnurartige Ansammlung von Gasblasen in der Darmwand (Pneumatosis intestinalis) bei einem Neugeborenen mit nekrotisierender Enterokolitis
Eine Perforation des Darms führt zum Auftreten freier Luft im Abdomen. Das Pneumoperitoneum stellt sich in Rückenlage oft als rundliche strahlentransparente Figur in Bauchmitte dar; die Perforation lässt sich meist besser bei einer Aufnahme in Linksseitenlage als sichelartige Luftdarstellung über der Leber nachweisen (. Abb. 83.18). Die Erkrankung verläuft progressiv; von Bell ist der Verlauf in 3 Stadien beschrieben worden: 4 Verdacht auf NEC (Stadium 1): Systemische Symptome (s. oben) und Distension des Darms (A ohne, B mit blutigen Stühlen). 4 Definitive NEC (Stadium 2): Zunahme der systemischen Symptome, Ileus, als diagnostisches Symptom Nachweis einer Pneumatosis intestinalis. (A ohne, B mit deutlichem abdominellen Lokalbefund: Abwehrspannung, Bauchwandinfiltration, abdominelle Resistenz, Aszites). 4 Fortgeschrittene NEC (Stadium 3): Schwere systemische Infektionssymptome, sehr krankes Kind, deutliche Zeichen der Peritonitis, (A ohne, B mit Darmperforation).
Therapie Die Behandlung der NEC hängt von der Schwere der Erkrankung ab. Bei Patienten im Stadium 1 nach Bell erfolgt eine konservative Behandlung mit Nahrungspause (keine oralen Medikamente), Magenablaufsonde und breiter antibiotischer Therapie. Die Flüssigkeits- und Elektrolyttherapie ist von besonderer Bedeutung, da es zu erheblichen Verlusten von Flüssigkeit in den Darm kommen kann (sog. 3. Raum). In der Regel ist die Gabe isotoner Elektrolytlösung erforderlich. Beim Stadium 1B oder Ileussymptomatik ist unbedingt
Intraoperativ werden die gangränösen Darmbereiche reseziert, in vielen Fällen jedoch Organabschnitte mit noch unklarer Erholungsprognose belassen. Der postoperative Nahrungsaufbau des Neugeborenen mit NEC muss daher berücksichtigen, dass größere Bereiche der Darmwand noch entzündlich verändert sein können, dass im weiteren Verlauf aufgrund von Narbenbildungen lokale Strikturen und Stenosen auftreten können, und dass sich nach ausgedehnten Darmresektionen ein Malabsorptionssyndrom entwickeln kann (Kurzdarmsyndrom). Das Risiko für die Ausbildung eines solchen Kurzdarmsyndroms hängt ab von der Menge und anatomischen Struktur des verbliebenen Restdarms, es ist hoch bei Resektion von über 50 % der Darmlänge. Dies entspricht einer Restdarmlänge bei reifen Neugeborenen von 70–150 cm (normale Darmlänge 140–300 cm) und von 40–50 cm bei Frühgeborenen in der 26. Schwangerschaftswoche (ca. die Hälfte der Länge reifer Neugeborener). Von besonderer Bedeutung für die Darmfunktion ist der Verbleib der Ileozäkalklappe, bei Verlust kommt es zu einer weiteren Verkürzung der Transitzeit sowie verstärkten Flüssigkeits- und Nahrungsverlusten. Weiterhin dient diese Struktur als Barriere zwischen dem sterilen Dünndarm und dem bakteriell besiedeltem Dickdarm. Eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms führt zu einer chronischen Entzündung der Darmwand mit weiterer Beeinträchtigung der resorptiven Funktion. Wenn postoperativ die Darmmotilität wieder in Gang kommt, können bei sehr kurzem Darm große Mengen Flüssigkeit und Elektrolyte verloren gehen, die ersetzt werden müssen. Nach Normalisierung der Darmmotilität wird mit der Zufuhr von oraler Nahrung begonnen. In der Regel wird eine verdünnte Semielementardiät verabreicht. 83.7
Neugeborenenkrämpfe P. Groneck
Im Gegensatz zu Krampfanfällen bei älteren Säuglingen und Kindern sind Krampfanfälle beim Neugeborenen in der überwiegenden Mehrzahl nicht idiopathisch – und damit wahrscheinlich genetischer Ursache – sondern beruhen auf einer akuten zerebralen Funktionsbeeinträchtigung. Die Inzidenz wird mit 0,5 % aller Neugeborenen angegeben. Die klinische Diagnose neonataler Krämpfe ist nicht immer einfach, aus diesem Grund ist immer eine genaue Beobachtung und Beschreibung der registrierten Phänomene erforderlich. Die meisten Neugeborenenkrämpfe sind wahrscheinlich zu kurz, um zu iktogenen Schäden zu führen (Dauer in 97 % der Fälle unter 10 min). Dies ist erst bei einem Status epilipticus zu befürchten, d. h. bei einem Krampfanfall von >30 min Dauer oder bei intermittierender Krampfaktivität über 1 h.
1121 83.8 · Sepsis des Früh- und Neugeborenen
83
Klinik Klinisch können spezifische Typen neonataler Anfälle unterschieden werden. Klonische Krämpfe. Rhythmische Zuckungen auf einer oder beiden Körperseiten (fokal oder generalisiert) mit einer Frequenz von 1–2/s, wobei Hin- und Rückbewegung eine unterschiedliche Geschwindigkeit aufweisen (meist schnelle Hin- und langsamere Rückbewegung). Sie gehen in der Regel mit einer EEG-Veränderung einher und können Ausdruck einer strukturellen Hirnläsion oder einer metabolischen Störung (Hypoglykämie) sein. Muskelkloni im Rahmen einer Hyperexzitabilität sind keine Krampfanfälle, sondern ein oszillatorisches Zittern; Hin- und Rückbewegung sind gleichschnell.
. Tabelle 83.9. Ursache von Neugeborenenkrampfanfällen Akute metabolische Störungen
4 4 4 4 4
Asphyxie ZNS-Infektion
4 Meningitis 4 Enzephalitis
Hirnblutung, Hirnfehlbildungen Angeborene Stoffwechselerkrankungen
4 Aminoazidopathien 4 Organoazidurien
Benigne Neugeborenenkrämpfe
4 Familiär 4 »Fifth-day-fits« (Krämpfe am 5. Lebenstag)
Tonische Krämpfe. Fokale tonische Anfälle manifestieren sich
als einseitige anhaltende tonische Beugung oder Streckung einer Extremität, des Halses oder Rumpfes. Bei der generalisierten Form betreffen diese Bewegungen beide Körperseiten, z. T. mit Streckung der Beine und Beugung der Arme. Fokale tonische Krämpfe gehen, im Gegensatz zu der generalisierten Form, mit EEG-Veränderungen einher. Myoklonische Krämpfe. Plötzlich einschießende rasche Kontrak-
tion eines Beugemuskels, entweder fokal oder multifokal, d. h. asynchrone alternierende Myoklonien unterschiedlicher Körperteile. Myoklonische Krämpfe gehen in der Regel nicht mit EEGVeränderungen einher. Im Schlaf werden fokale Myoklonien bei Neugeborenen, insbesondere bei Frühgeborenen, sehr häufig gesehen. Diese Schlafmyoklonien sind physiologisch und kein Ausdruck einer Hirnfunktionsstörung. Subtile Krämpfe. Hierzu gehören orale Automatismen, stereotype komplexe Bewegungsmuster wie Pedalieren der Beine und tonische Augendeviationen. Selten können sich Krämpfe auch als Apnoe präsentieren, die dann in der Regel mit einer Tachykardie einhergeht (differenzialdiagnostisch wichtiges Kriterium zu anderen Apnoeformen!). Subtile Krämpfe sind nicht selten mit anderen Krampfphänomenen assoziiert.
Ätiologie und Diagnostik Sehr verschiedene Grundkrankheiten können sich mit Krämpfen in der Neugeborenenperiode präsentieren (. Tab. 83.9). Die Prognose der Kinder wird in der Regel durch diese zugrundeliegenden Erkrankungen bestimmt. Die basale Diagnostik bei Neugeborenenkrämpfen umfasst neben der klinischen Untersuchung und der Anamnese bestimmte Laboruntersuchungen (Blutzucker, Elektrolyte, Kalzium, Blutbild, Blutgasanalyse, CRP, IgM, Urinstatus), die Sonographie des Kopfes und das EEG. Weitere Untersuchungen erfolgen entsprechend spezifischer Auffälligkeiten.
Therapie i Bei Neugeborenenkrämpfen müssen Diagnostik und Therapie parallel erfolgen.
Da die Hypoglykämie sofort behandelbar und ihre Folgen schwerwiegend sind, erfolgt als erste Maßnahme die Bestimmung des Blutzuckers als kapillärer Schnelltest und sofort nach Blutabnahme die Verabreichung von Glukose 10 % i. v., 2 ml/kg KG. Unter der Glukosezufuhr sollte der Krampfanfall beobachtet und
Hypoglykämie Hypokalzämie Hyponatriämie Hypernatriämie Hypomagnesiämie
Pyridoxinabhängige Krämpfe Angeborene paroxysomale Erkrankungen Neurokutane Syndrome Toxine
4 4 4 4
Bilirubin Heroin Kokain Lokalanästhetika
beschrieben werden: Krampftyp, ein- oder beidseitig, vegetative Symptome, Dauer. Anschließend Blutabnahme für die Bestimmung von Kalzium, Natrium, Magnesium und Kalium. Wenn der Krampfanfall nicht innerhalb von einigen Minuten sistiert, werden intravenös Antikonvulsiva verabreicht (Mittel der ersten Wahl ist nach Ansicht einiger Autoren Phenobarbital, dann Phenytoin, Clonazepam, Diazepam, Lorazepam). Die antikonvulsive Behandlung erfordert obligatorisch eine Überwachung von Herzfrequenz, Atmung und Oxygenierung. Bei Hypokalzämie muss Kalziumglukonat 10 %, 0,5 ml/kg KG sehr langsam i. v., zugeführt werden. Manchmal ist die Hypokalzämie von einer Hypomagnesiämie begleitet (Bestimmung von Mg2+ im Blut), Behandlung mit Magnesiumsulfat 15–30 mg/ kg KG. Bei persistierenden Krämpfen Gabe von Pyridoxin 50– 100 mg i. v. 83.8
Sepsis des Früh- und Neugeborenen C.P. Speer
Die neonatale Sepsis stellt nach wie vor eines der Hauptprobleme der Neugeborenenmedizin dar. Es handelt sich um eine disseminierte mikrobielle Erkrankung, die durch die klinischen Symptome einer systemischen Infektion und die Septikämie, d. h. den kulturellen Nachweis pathogener Erreger in der Blutkultur charakterisiert ist. Im Rahmen des septischen Schocks kann sich ein Multiorganversagen ausbilden. 10–25 % der Patienten sterben an den Komplikationen dieser oftmals foudroyant verlaufenden Infektion, bis zu 1/4 der Kinder entwickelt als Folge einer zu spät diagnostizierten Sepsis eine
1122
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Tabelle 83.10. Wesentliche Symptome der neonatalen Sepsis Temperaturinstabilität
Hyper-, Hypothermie
Atemstörungen
Tachypnoe, Dyspnoe, Apnoe
Gastrointestinale Symptome
Trinkschwäche, Erbrechen, abdominelle Distension
Zirkulatorische Insuffizienz
Periphere Mikrozirkulationsstörungen, Blässe, grau-marmoriertes Hautkolorit, septischer Schock, Multiorganversagen, DIC
Neurologische Störungen
Hyperexzitabilität, Lethargie, Krampfanfälle
. Tabelle 83.11. Früherkennung und Warnzeichen neonataler Infektionen 4 Geburtshilfliche Risikofaktoren 4 Klinische Zeichen
eitrige Meningitis. Besonders kritisch ist die Situation auf neonatologischen Intensivstationen; hier kann bei 25 % der Kinder im Verlauf der Intensivtherapie eine Sepsis nachgewiesen werden.
Verlaufsform der Sepsis
83
Die neonatale Sepsis manifestiert sich in zwei Verlaufsformen: Die früh einsetzende Form zeichnet sich durch den Krankheitsbeginn in den ersten Lebenstagen, das typische Erregerspektrum (s. unten) und die fulminante Verlaufsform aus. Häufig entwickelt sich die systemische Infektion auf dem Boden einer neonatalen Pneumonie. Bei vielen Kindern sind geburtshilfliche Risikofaktoren vorhanden: Vorzeitiger Blasensprung, Amnioninfektionssyndrom, Fieber, Bakteriämie der Mutter und Frühgeburtlichkeit. Die spät einsetzende Form tritt in der Regel nach dem 5. Lebenstag auf; der klinische Verlauf kann entweder foudroyant oder langsamer fortschreitend sein; die Neugeborenen erkranken häufig an einer Meningitis. Die Erreger stammen häufig aus dem postnatalen Umfeld. Besonders intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene sind gefährdet, an einer späteinsetzenden nosokomialen Sepsis zu erkranken.
Klinik Die klinische Symptomatik der Neugeborenensepsis ist uncharakteristisch und variabel; bleiben die oftmals diskreten klinischen Zeichen unerkannt, so kann sich innerhalb kurzer Zeit das Vollbild des septischen Schocks entwickeln (. Tab. 83.10). Einer der wichtigsten Hinweise ist das von einer erfahrenen Kinderkrankenschwester registrierte »schlechte Aussehen« des Neugeborenen. Neben Störungen der Temperaturregulation und der Atmungsfunktion werden gastrointestinale Symptome beobachtet. Phasenweise nachweisbare Veränderungen des Hautkolorits weisen auf die im Rahmen der Bakteriämie auftretende Mikrozirkulationsstörung hin. Daneben können Hyperexzitabilität, Hypotonie, Apathie und zerebrale Krampfanfälle auftreten. Petechien, verstärkte Blutungsneigung, Hypotension und septischer Schock entwickeln sich im Verlauf der Erkrankung. ! Cave Bei klinischen Warnzeichen muss solange der Verdacht auf eine neonatale Sepsis bestehen, bis das Gegenteil bewiesen ist, d. h. eine Infektion ausgeschlossen wurde oder eine andere Ursache für die Verschlechterung des kindlichen Zustands gefunden wurde. Der Verlauf der Neugeborenensepsis wird entscheidend vom Zeitpunkt der Diagnose bzw. des Behandlungsbeginns beeinflusst.
4 Entzündungsparameter
4 Leukozytosen 4 Gesamtzahl aller neutrophiler Granulozyten 4 I/T-Quotient 4 CRP 4 Elastase-α1-Pl 4 Interleukin-6
4 Erregernachweis
Diagnostik Untersucht werden Blutkulturen (aerob, anaerob), ggf. Liquorkulturen, Urinstatus und -kultur, Haut- und Schleimhautabstriche und Magensekret. Bei jedem isolierten Erreger ist eine Resistenztestung durchzuführen. Verschiedene Entzündungsparameter können als Warnzeichen einer neonatalen Infektion angesehen werden und zur Früherkennung der neonatalen Sepsis beitragen (. Tab. 83.11).
Differenzialdiagnose Verschiedene Erkrankungen Früh- und Neugeborener können sich unter nahezu identischer Symptomatologie manifestieren wie die neonatale Sepsis. Bei Frühgeborenen kann eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe B unter dem Bild eines Atemnotsyndroms verlaufen. Weitere Erkrankungen sind: 4 akute pulmonale Erkrankungen des Neugeborenen, 4 persistierende fetale Zirkulation, 4 Hyperviskositätssyndrom, 4 kardiale Erkrankungen, 4 nekrotisierende Enterokolitis, 4 zerebrale Blutungen, 4 metabolische Störungen, 4 intrauterine Infektionen u. a.
Therapie Bei der Frühsepsis wird von vielen klinischen Gruppen an einer Kombinationsbehandlung mit Ampicillin und einem Aminoglykosid (z. B. Gentamycin) festgehalten; alternativ wird eine empirische Therapie mit Ampicillin und einem Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) praktiziert. Beide Therapiekonzepte wurden von der American Academy of Pediatrics empfohlen. Der Hauptgrund für die Gabe von Ampicillin ist die unzulängliche Aktivität der Cephalosporine gegen Listeria monocytogenes und Enterokokken. Bei Verdacht auf eine StaphylokokkenInfektion muss die verwendete Kombination um ein Staphylokokken-wirksames Mittel erweitert werden. Ergeben sich aufgrund bakteriologischer Untersuchungen der Mutter Hinweise auf einen seltenen Erreger der Frühsepsis (Klebsiella, Pseudomonas, Serratia etc.), sollte eine Kombinationstherapie mit einem Cephalosporin und einem Aminoglykosid gewählt werden. Vor einigen Jahren wurde im Rahmen einer Standardtherapie mit Cefotaxim eine rasche Selektion von Cefotaxim-resistenten Enterobacter-Species (Enterobacter cloacae) nachgewiesen;
1123 83.9 · Metabolische Störungen
diese Erreger waren auch gegen neuere Cephalosporine resistent. Eine Anwendung von Cephalosporinen sollte daher nur unter strenger Indikationsstellung erfolgen. 83.8.1 Meningitis
83
poglykämierisiko bei dystrophen Neugeborenen (5–15 %) und bei Frühgeborenen. Weitere Risikofaktoren für eine Hypoglykämie sind: 4 Hypothermie, 4 Hypoxie, 4 mütterlicher Gestationsdiabetes, 4 Diabetes mellitus, 4 Polyzythämie.
Die neonatale Meningitis ist eine mikrobielle Infektion der Hirnhäute, des Gehirns und häufig auch der Ventrikel; sie wird durch die typischen Erreger neonataler Infektionen verursacht.
Pathogenese
Pathogenese, Risikofaktoren
Hypoglykämien bei Neugeborenen können folgende Ursachen haben:
Die bekannten geburtshilflichen, pränatalen und postnatalen Risikofaktoren der neonatalen Sepsis lassen sich uneingeschränkt bei der Meningitis Neugeborener nachweisen. Neugeborene mit Liquor-Shunt-Systemen sind besonders gefährdet, über eine Bakteriämie eine Ventilinfektion zu entwickeln; der häufigste Erreger ist Staphylococcus epidermidis.
Klinik Die klinischen Zeichen der neonatalen Meningitis sind unspezifisch und in der Regel nicht von den Symptomen der Neugeborenensepsis zu unterscheiden. Als zusätzliche Symptome können Berührungsempfindlichkeit, spärliche Spontanbewegungen und schrilles Schreien hinzukommen. Eine gespannte Fontanelle, die opisthotone Körperhaltung oder gar Nackensteifigkeit treten insgesamt selten und erst im fortgeschrittenen Stadium der Meningitis auf. Krampfanfälle werden bei ca. 15 % der erkrankten Neugeborenen beobachtet. Aufgrund der uncharakteristischen Symptomatologie sollte bei jedem Patienten, bei dem eine neonatale Sepsis zu vermuten ist, eine Liquoruntersuchung erfolgen. Bei ausgeprägter Instabilität der Kinder kann man jedoch gezwungen sein, die erforderliche Lumbalpunktion erst nach Therapiebeginn durchzuführen. Die Besonderheiten der Liquordiagnostik im Neugeborenenalter sind an anderer Stelle ausgeführt. Wiederholte Sonographien und eventuell NMR-Untersuchungen werden zur Erfassung von Komplikationen durchgeführt.
Therapie Die Prognose der neonatalen Meningitis wird entscheidend vom Therapiebeginn und der Wahl der Antibiotika bestimmt; die antibiotische Behandlung muss sich gegen das besondere Spektrum der zu vermutenden Erreger neonataler Infektionen richten (s. oben). Eine zuverlässige Liquorgängigkeit sowie eine ausreichende Dosierung der Antibiotika sind unbedingt zu beachten; die Dosierung der verschiedenen Präparate liegt in der Regel höher als bei der neonatalen Sepsis. 83.9
Metabolische Störungen
Unzureichende Glukosezufuhr. Der Glukoseverbrauch über-
steigt die Glukosezufuhr bzw die Glukoseproduktion. Der Glukosebedarf von Neugeborenen beträgt 4–8 mg/kg KG/min und ist damit deutlich höher als bei Erwachsenen. Gleichzeitig haben Neugeborene nur einen geringen Glykogenvorrat (1 % des Körpergewichts). Deshalb kommt es bei Ausbleiben einer exogenen Glukosezufuhr rasch zu Hypoglykämien. Dies ist die häufigste Ursache von Hypoglykämien beim Neugeborenen. Hyperinsulinismus. Ein Hyperinsulinismus liegt bei Kindern dia-
betischer Mütter (transient), beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom und bei der Nesidioblastose (diffuse Inselzellhyperplasie) vor. Kongenitale Stoffwechseldefekte. Aminosäurestoffwechselstö-
rungen (z. B. Ahornsirupkrankheit) stören die Glukoneogenese. Glykogenspeicherkrankheiten, Galaktosämie und Fruktoseintoleranz verringern die Verfügbarkeit von Glukose aus Glykogen. Typischerweise treten hier rezidivierende oder persistierende Hypoglykämien auf. Polyglobulie. Die Ursache der Hypoglykämien bei Polyglobulie
ist nicht bekannt.
Klinik Die Symptome der Hypoglykämie sind unspezifisch (s. Übersicht), deshalb muss die Hypoglykämie in die Differenzialdiagnose vieler Symptome des Neugeborenen einbezogen werden. Symptome der neonatalen Hypoglykämie 5 5 5 5 5 5 5 5
Zittrigkeit Krampfanfälle Apnoen Zyanose Trinkschwäche Apathie Muskuläre Hypotonie Tachypnoe
K. Bauer Diagnose 83.9.1 Hypoglykämie Die Hypoglykämie ist die häufigste metabolische Störung bei Neugeborenen. Eine symptomatische Hypoglykämie ereignet sich bei 1–3 von 1000 Neugeborenen. Deutlich höher ist das Hy-
Die laborchemische Definition der Hypoglykämie beim Neugeborenen ist schwierig, da Neugeborene auch bei niedrigen Blutzuckerwerten häufig asymptomatisch sind. Sie hängt außerdem von der Reife und vom Alter des Neugeborenen ab (. Tab. 83.12).
1124
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Tabelle 83.12. Laborchemische Definition der Hypoglykämie Zeit postnatal [h]
Glukose (im Plasma) [mg/dl] (mmol/l)
Reifgeborene
1–3
<35 (1,9)
Reifgeborene
4–24
<40 (2,2)
Reifgeborene
>24
<45 (2,5)
Frühgeborene
<24
<25 (1,4)
Frühgeborene
>24
<45 (2,5)
Risikokinder sollten 1 h postpartal eine Blutzuckerbestimmung erhalten und danach dreistündliche Blutzuckerkontrollen für die nächsten 24 h. Bei persistierender Hypoglykämie sollten nach einem angeborenen Stoffwechseldefekt gesucht und Insulin, Kortisol und Wachstumshormon bestimmt werden.
Prophylaxe und Therapie
83
Neugeborene mit einem besonderen Risiko für eine Hypoglykämie sollten baldmöglichst postnatal Glukose erhalten. Bei Neugeborenen, die enterale Zufuhr vertragen, kann dies als Frühfütterung mit Maltodextrin (25 g Glukose/100 ml) erfolgen, dabei ist anfangs vor jeder Mahlzeit eine Blutzuckerkontrolle erforderlich. Frühgeborene, die nur eine geringe enterale Zufuhr vertragen, sollten eine kontinuierliche Infusion einer 10 %igen Glukoselösung mit 3 ml/kg KG/h erhalten. Bei einer Hypoglykämie mit klinischer Symptomatik ist eine intravenöse Gabe von 2 ml/ kg KG Glukose 10 % über 10 min, direkt gefolgt von einer Glukoseinfusion mit 8 mg Glukose/kg KG/min erforderlich. Das therapeutische Vorgehen ist in der folgenden Übersicht zusammengefasst: Prophylaxe und Therapie der neonatalen Hypoglykämie 5 Prophylaxe bei asymptomatischen Risikoneugeborenen – Hypotrophe/hypertrophe Reifgeborene: Frühfütterung mit Maltodextrin (25 g Glukose in 100 ml), 8 Mahlzeiten a 5 ml/kg KG – Frühgeborene: – Infusion von 10 %-iger Glukose 3 ml/kg KG/h 5 Therapie der symptomatischen Hypoglykämie – Glukose 10 %-Bolus: 2 ml/kg KG i. v. – dann Glukoseinfusion: 8 mg/kg KG/min
Prognose Wenn die Hypoglykämie nur kurz dauert, ist die Prognose gut. Prolongierte oder tiefe Hypoglykämien sind mit neurologischen Folgeschäden assoziiert.
mer Unreife als Folge einer gestörten Glukosehomöostase vor. Wesentlich seltener ist der transiente neonatale Diabetes mellitus.
Diagnose Laborchemisch besteht eine Hyperglykämie bei einem Nüchternblutzucker von >126 mg/dl (bzw. >7 mmol/l). Klinische Symptome sind Polyurie, Glukosurie und Dehydratation. Bei der symptomatischen Hyperglykämie besteht keine Ketonurie.
Therapie Die Therapie der symptomatischen Hyperglykämie besteht in einer Reduktion der Glukosezufuhr und einer vorsichtigen Rehydratation. Beim neonatalen Diabetes mellitus ist eine Insulintherapie erforderlich. 83.9.3 Hypokalzämie Die Ursache für die frühe Hypokalzämie (Lebenstag 1–3) ist das plötzliche Ausbleiben der hohen intrauterinen Kalziumzufuhr. Ein erhöhtes Risiko für eine frühe Hypokalzämie besteht bei Neugeborenen diabetischer Mütter, bei Sepsis und nach Asphyxie. Die frühe Hypokalzämie ist meist asymptomatisch. Die späte Hypokalzämie (nach dem 3. Lebenstag) kann durch hohe Phosphatzufuhr mit der Nahrung bei verfrühter Kuhmilchfütterung oder durch Vitamin-D-Mangel verursacht werden. Sie ist wesentlich seltener als die frühe Hypokalzämie, dafür aber häufig symptomatisch.
Diagnose Laborchemisch liegt eine Hypokalzämie vor, wenn das Serumkalzium weniger als 1,8 mmol/l bzw. das ionisierte Kalzium weniger als 0,63 mmol/l beträgt. Die klinischen Symptome der Hypokalzämie sind unspezifisch (Zittrigkeit, Tremor, Hyperexzitabilität oder Krampfanfälle). In die Differenzialdiagnose müssen Hypoglykämie und Hypomagnesiämie einbezogen werden. Bei Neugeborenen mit einem erhöhten Risiko für eine frühe Hypokalzämie sollte das Serumkalzium anfangs täglich kontrolliert werden.
Therapie Bei klinischer Symptomatik langsame intravenöse Gabe von 0,5 ml/kg KG Kalziumglukonat 10 % (1 ml Kalziumglukonat 10 %=0,22 mmol Ca2+). Vorsicht: Schnelle intravenöse Kalziumgabe führt zur Bradykardie und paravenöse Kalziumgabe zu schweren Gewebenekrosen. Persistiert die Symptomatik trotz Kalziumsubstitution, kann eine Hypomagnesiämie vorliegen. Bei asymptomatischer Hypokalzämie Erhöhung der täglichen Kalziumzufuhr um 5 ml/ kg KG Kalziumglukonat 10 %. 83.9.4 Hyponatriämie
83.9.2 Hyperglykämie Eine symptomatische neonatale Hyperglykämie kommt bei Sepsis, Asphyxie, postoperativem Katabolismus oder extre-
Bei der Differenzialdiagnose der Ursachen einer Hyponatriämie ist es wichtig festzustellen, ob die Hyponatriämie mit einer Gewichtszu- oder -abnahme einhergeht.
1125 83.9 · Metabolische Störungen
83
83.9.5 Hypernatriämie Ursachen der Hyponatriämie 5 Hyponatriämie mit Gewichtszunahme (Verdünnungshyponatriämie) – iatrogene Überwässerung – inadäquate, zu hohe ADH-Sekretion nach Asphyxie, Hirnblutung, Sepsis, Meningitis 5 Hyponatriämie mit Gewichtsabnahme (Natriumdefizit) – gesteigerte Natriurese – gestörte tubuläre Natriumrückresorption bei sehr unreifen Frühgeborenen – Diuretikatherapie – adrenogenitales Syndrom – erhöhte extrarenale Natriumverluste – Erbrechen, Diarrhö – Magenablaufsonde – mangelnde Zufuhr – verzögerter oraler Nahrungsaufbau – elektrolytarme Infusionslösungen
Das adrenogenitale Syndrom ist eine seltene Ursache der Hyponatriämie im Neugeborenenalter. Es handelt sich um einen angeborenen Enzymdefekt mit verminderter Bildung von Mineralokortikoiden. Gleichzeitig besteht eine Hyperkaliämie und bei Mädchen eine Virilisierung des Genitals.
Klinische Symptome Muskuläre Hypotonie, Apnoen, Apathie, Hyperexzitabilität, Krampfanfälle. Bei gleichzeitigem Gewichtsverlust häufig Zeichen der Dehydratation (verringerter Hautturgor, Oligurie, Tachykardie)
Diagnose Serumnatrium <130 mmol/l. Zusätzlich sollten Kalium, Chlorid, Kreatinin im Serum und Natrium, Kalium, Chlorid und Kreatinin im Urin bestimmt werden. Damit ist die Berechnung der fraktionellen Natriumexkretion möglich. Zusätzliche wertvolle Hinweise liefern der Gewichtsverlauf und die Flüssigkeitsbilanzierung.
Therapie Bei Verdünnungshyponatriämie ist die adäqute Therapie die Flüssigkeitsrestriktion und nicht eine zusätzliche Natriumsubstitution. Besteht dagegen ein Natriumdefizit, so erfolgt ein Ausgleich dieses Defizits nach der folgenden Formel:
Eine Hypernatriämie entsteht durch erhöhten Wasserverlust oder eine zu hohe Natriumzufuhr. Ursachen der Hypernatriämie beim Neugeborenen 5 Erhöhter Wasserverlust (hypertone Dehydratation) – hoher transepidermaler Wasserverlust bei unreifen Frühgeborenen – geringe Konzentrationsfähigkeit der unreifen Niere – osmotische Diurese bei Glukosurie – Diarrhö 5 Zu hohe Natriumzufuhr – iatrogen bei Infusionstherapie – durch falsche Zubereitung von Säuglingsnahrung (zu hohes Pulver-Wasser-Verhältnis)
Diagnose Serumnatrium >150 mmol/l. Bei ausgeprägter hypertoner Dehydratation Kreislaufschock, Krampfanfälle, Apathie, Koma.
Therapie Bei Dehydratation mit Kreislaufschock rascher Ausgleich des intravasalen Volumenmangels durch isotone Kochsalzlösung. Die anschließende Rehydratation und Senkung des Serumnatriums soll dann langsam erfolgen, um die Entstehung eines Hirnödems zu vermeiden. 83.9.6 Hyperkaliämie Verschiedene Ursachen der Hyperkaliämie sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt. Ursachen der Hyperkaliämie 5 Überhöhte Zufuhr – Fehlinfusion – Bluttransfusion – Blutaustauschtransfusion 5 Verschiebung aus dem Intrazellulärraum – extrem unreife Frühgeborene – Azidose – Ausgedehnte Gewebenekrosen 5 Veminderte renale Ausscheidung bei Niereninsuffizienz – Adrenogenitales Syndrom
[Nasoll (mmol) – Naist (mmol)]ukg KG u0,5a Anmerkung: a Frühgeborene und Neugeborene haben einen größeren Extrazellulärraum (ca. 500 ml/kg KG) als Erwachsene, deshalb wird der Faktor 0,5 anstelle von 0,3 zur Berechnung des Extrazellulärvolumens aus dem Gewicht benutzt.
Der Natriumtagesdarf eines Neugeborenen beträgt 2–4 mmol/ kg KG.
Bei extrem unreifen Frühgeborenen kann sich, ohne das Vorliegen einer Azidose oder Oligurie, in den ersten 12 Lebensstunden rasch eine lebensbedrohliche Hyperkaliämie entwickeln. Die Ursache dieser Verschiebung von Kalium aus dem Intra- in den Extrazellulärraum ist unbekannt. Innerhalb der nächsten 24 Lebensstunden normalisieren sich die kaliumwerte dann spontan wieder.
Diagnose Serumkalium >6 mmol/l in einer nicht hämolytischen Blutprobe. Häufig asymptomatisch, besonders unreife Frühgeborene sind
1126
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
noch bei hohen Kaliumwerten von >7 mmol/l asymptomatisch. Klinische Symptome sind muskuläre Hypotonie, Darmatonie oder Herzrhythmusstörungen. Typische EKG-Veränderungen sind schmale, spitze T-Welle, ST-Senkung und QRS-Verbreiterung.
Therapie Die Therapie der Hyperkaliämie muss rasch erfolgen und engmaschig überwacht werden. Therapie der Hyperkaliämie 5 Beenden jeglicher Kaliumzufuhr, auch Bluttransfusionen stoppen 5 Anheben des Serumkalziums (antagonisiert die elektrophysiologischen Effekte der Hyperkaliämie) – Gabe von Kalziumglukonat 10 % 0,5–1 ml/kg KG langsam i.v. 5 Alkalisierung (vorübergehende Senkung des Kaliums, Wirkeintritt nach 30 min) – NaHCO3 8,4%-Kurzinfusion 1–2 ml/kg KG 5 Glukose-Insulin-Infusion (vorübergehende Senkung des Kaliums, Wirkeintritt nach 30 min) – 0,5 g/kg KG Glukose + 0,1 lE/kg KG Altinsulin über 1 h infundieren 5 Peritonealdialyse
83 83.9.7 Hypokaliämie Eine Hypokaliämie entsteht meist durch mangelnde Zufuhr oder gesteigerte Verluste (Diuretikatherapie, Erbrechen, Diarrhö, Drainageverluste).
Diagnose Serumkalium <3,6 mmol/l. Symptome entstehen erst relativ spät (muskuläre Hypotonie, Darmatonie, Herzrhythmusstörungen). Typische EKG-Veränderungen sind flaches (negatives) T, ST-Senkung und U-Welle.
83.10.1
Beur teilung der Schmerzintensität bei Neugeborenen
Eine wirksame Schmerztherapie kann nur dann erfolgen, wenn Ärzte und Schwestern Schmerzreaktionen von Neu- und Frühgeborenen erkennen und beurteilen können. Akuter Schmerz lässt sich bei reifen Neugeborenen an typischen physiologischen, metabolischen und Verhaltensveränderungen gut erkennen (. Tab. 83.13). Sehr viel schwieriger zu erkennen ist akuter Schmerz bei Frühgeborenen, da ihre sichtbaren Schmerzreaktionen schwächer ausgeprägt sind. In der klinischen Praxis ist die Verhaltensbeobachtung entscheidend für das Erkennen von Schmerzen. In die Beurteilung von Schmerzreaktionen sollten folgende Fragen einbezogen werden: 4 Welches Gestationsalter hat das Neugeborene? – Je unreifer ein Neugeborenes ist, desto weniger ausgeprägt sind seine Schmerzreaktionen. 4 In welchem Bewusstseinszustand ist das Neugeborene? – Schlafende oder sedierte Neugeborene haben wesentlich weniger ausgeprägte Schmerzreaktionen, obwohl sie Schmerzen empfinden. 4 In welchem Allgemeinzustand ist das Neugeborene? – Schwerkranke Neugeborenen haben wesentlich schwächer ausgeprägte Schmerzreaktionen. 4 Hat das Neugeborene tatsächlich Schmerzen, oder ist es aus anderen Gründen unruhig? – Mögliche Ursachen von Unruhe sind Hyperkapnie bei unzureichender Beatmung, Tubusobstruktion durch Sekret, schlechte und deshalb unbequeme Lagerung oder ein Infusionsextravasat. 4 Bestehen belastungsverstärkende Faktoren (Lärm, Licht, häufige Störungen), die reduziert werden können? 4 Hat das Neugeborene bereits sedierende/analgetische Medikamente erhalten? – Sedierung kann Schmerzreaktionen deutlich abschwächen, ohne den Schmerz zu lindern. – War die bisherige Schmerztherapie adäquat?
Therapie Das Kaliumdefizit lässt sich am Serumkalium nur ungenau ablesen, da Kalium ganz überwiegend intrazellulär vorkommt. Die Substitution muss wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen langsam erfolgen (maximale Zufuhr 0,5 mmol/kg KG/h). Der Kaliumtagesbedarf des Neugeborenen liegt bei 1–2 mmol/ kg KG. 83.10 Analgesie bei Früh- und Neugeborenen
K. Bauer Neugeborene und Frühgeborene verspüren Schmerz, weil sich die neuroanatomischen Grundlagen der Schmerzleitung bereits im 2. Schwangerschaftsdrittel entwickeln. Deshalb ist bei schmerzhaften Maßnahmen bei Früh- und Neugeborenen eine adäquate analgetische Therapie indiziert.
. Tabelle 83.13. Schmerzreaktionen bei Neu- und Frühgeborenen Veränderung physiologischer Parameter
4 4 4 4
Veränderung metabolische Parameter:
4 Hyperglykämie 4 Proteinkatabolismus
Veränderung des Verhaltens
4 Schmerzschrei – Ungerichtete Grobmotorik – Ausweichbewegungen 4 Schmerzmimik: – Stirnrunzeln – Zukneifen der Augen – Vertiefung der Nasolabialfalte – Anspannen der Lippen
Anstieg der Herzfrequenz Blutdruckanstieg Anstieg der Atemfrequenz Abnahme der O2-Sättigung
1127 83.10 · Analgesie bei Früh- und Neugeborenen
83.10.2
Analgetische Therapie für wenig schmerzhafte diagnostische und therapeutische Eingriffe bei Neugeborenen
Bei wenig schmerzhaften diagnostischen und therapeutischen Eingriffen wie Blutentnahme (kapillär, venös, arteriell), Lumbalpunktion oder Anlage eines intravenösen Zugangs sind gerade für Frühgeborene die damit verbundenen an sich schmerzlosen Manipulationen viel destabilisierender als der kurze Schmerz. Deshalb sollten solche Eingriffe auf das notwendige Mindestmaß beschränkt und den Frühgeborenen möglichst lange ungestörte Ruhepausen gegönnt werden (»minimal handling«). Zur Analgesie können eine nicht pharmakologische Schmerztherapie oder die topische Applikation von Lokalanästhetika eingesetzt werden.
Nicht pharmakologische Schmerztherapie Zur nicht pharmakologischen Schmerztherapie gehören Schnullernlassen und orale Saccharosegabe. Schnullernlassen. Durch Schnullernlassen beruhigen sich Früh-
und Neugeborene bei einer kapillären Fersenblutentnahme schneller, jedoch ist die analgetische Wirkung gering. Orale Saccharosegabe. Saccharose ist ein wirksames Analgeti-
kum bei einer kapillärer Blutentnahme aus der Ferse oder bei einer periphervenösen Blutentnahme. Die wirksame Einzeldosis für Neugeborene beträgt 0,24 g (2 ml einer 12 %igen Lösung) und sollte etwa 2 min vor dem Schmerz durch langsames Einträufeln aus einer 2-ml-Spritze direkt in den Mund oder in einen Flaschensauger verabreicht werden. Die Wirkung wird über Endorphinrezeptoren vermittelt, die durch die intensive Süße stimuliert werden.
Topische Applikation von Lokalanästhetika Die topische Applikation einer eutektischen Mischung von Lokalanästhetika (EMLA) als Öl-in-Wasser-Emulsion mit 2,5 %igem Lidocain und 2,5 %igem Prilocain wird bei Kindern zur Lokalanästhesie bei Blutentnahmen, beim Legen von intravenösen Zugängen und bei der Lumbalpunktion erfolgreich eingesetzt. Die normale Dosis für Kinder beträgt 1–2 g und wird 1 h vor dem Eingriff unter einem Okklusivverband am geplanten Punktionsort aufgebracht. Bei Neu- und Frühgeborenen hat die topische Applikation von Lokalanästhetika bei Blutentnahmen und Lumbalpunktion keine sichere Wirkung. 83.10.3
Schmerztherapie bei kleinen operativen Eingriffen
Für kleine operative Eingriffe (Zirkumzision, Thoraxdrainage, Venae sectio) ist die topische Anwendung von Lokalanäthestetika nicht ausreichend. Die richtige Analgesie bei der Zirkumzision ist eine Leitungsanästhesie des N. dorsalis penis. Bei Anlage einer Thoraxdrainage und bei Venae sectio sollte eine lokale Infiltrationsanästhesie mit Lidocain vorgenommen werden, zusammen mit einer i. v.-Injektion, z. B. von Morphin (0,1 mg/kg KG) als systemische Analgesie/Sedierung.
83.10.4
83
Indikationen für Opioidanalgetika (Morphin und Fentanyl) in der Neonatologie
Die Opioidwirkung ist bei Neugeborenen extrem variabel, da sich die Verteilung der Opiatrezeptoren, die Entwicklung des schmerzleitenden Systems und der Opioidmetabolismus mit zunehmendem Gestationsalter und postnatalen Alter ändern. Die Halbwertszeit von Opioidanalgetika ist bei Frühgeborenen länger als bei Reifgeborenen und bei Reifgeborenen wiederum länger als bei Erwachsenen. Dosisangaben können deshalb nur Hinweise für den Therapiebeginn sein, danach muss individuell nach Wirkung dosiert werden. Opioidanalgetika sollen bei Früh- und Neugeborenen nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden. Sichere Indikationen sind die postoperative Schmerztherapie, die Therapie starker akuter Schmerzen, wie sie z. B. beim Legen einer Thoraxdrainage auftreten, die Analgesie während ECMO-Therapie und die Analgesie/Sedierung bei sterbenden Neugeborenen. Problematisch ist der Einsatz von Opioidanalgetikainfusionen wegen mechanischer Beatmung, da es keine Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit von Opioiden in dieser Indikation bei Neugeborenen gibt.
Morphin Der Morphinmetabolismus bei Neugeborenen und Frühgeborenen ist extrem variabel. Schon Frühgeborene mit einem Gestationsalter von 24–25 SSW glukuronidieren Morphin, wenn auch nur sehr langsam. Deshalb liegt die Halbwertszeit von Morphin bei Frühgeborenen in den ersten Lebenstagen bei 9–11 h und bei Reifgeborenen bei 7–8 h. Die Halbwertszeit nimmt mit zunehmendem postnatalen Alter ab und erreicht in den ersten Lebensmonaten Erwachsenenwerte. Das Auftreten von Nebenwirkungen ist bei Neugeborenen genauso häufig wie bei Erwachsenen.
Morphininfusion Die Morphininfusion sollte auf der Neugeborenenintensivstation nur mit größter Zurückhaltung eingesetzt werden, da die Auswirkungen auf die zerebrale Entwicklung unbekannt sind, die Pharmakokinetik extrem variabel ist und Toleranzentwicklung auftritt. Die Toleranzentwicklung und die Entwicklung einer körperlichen Abhängigkeit beginnt nach etwa 10 Tagen Morphintherapie. Sie entwickelt sich bei Dauerinfusion schneller als bei intermittierenden Bolusgaben. Die einzig sichere Indikation für die Morphininfusion ist die kurzdauernde postoperative Analgesie. Die Sicherheit und Wirksamkeit der Morphininfusion zur Sedierung/Analgesie bei mechanischer Beatmung von Neu- und Frühgeborenen ist nicht hinreichend bewiesen, um einen routinemäßigen klinischen Einsatz zu empfehlen (. Tab. 83.14).
Fentanyl Fentanyl, ein synthetisches Opioidanalgetikum, ist das derzeit gebräuchlichste intravenöse Medikament bei der Anästhesie von Frühgeborenen, und deshalb hat auch sein Einsatz in der Neonatologie deutlich zugenommen (. Tab. 83.15). Die Halbwertszeit von Fentanyl ist mit 6–32 h bei Neugeborenen verlängert und zeigt eine hohe interindividuelle Variabilität im Vergleich zur Halbwertszeit von 4–7 h bei älteren Kindern. Die Nebenwirkungen sind denen von Morphin ähnlich,
1128
Kapitel 83 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Tabelle 83.14. Wirkcharakteristika von Morphin bei Neugeborenen Bolusgabe Indikation
Akute, starke Schmerzen, postoperative Analgesie
Einzeldosis
0,05–0,2 mg/kg KG alle 2–6 h, langsam i.v. geben
Wirkeintritt
3–5 min
Wirkdauer
40–90 min, bei Frühgeborenen auch deutlich länger
Nebenwirkungen
Atemdepression, Blutdruckabfall, Darmmotilitätsstörungen, Harnverhalt
Vergleich
Wirkeintritt langsamer, Wirkdauer länger als bei Fentanyl
Antidot
Naloxon
Dauerinfusion Indikation
Enge Indikationsstellung, kurzfristig zur postoperativen Analgesie
Dosierung
Aufsättigungsdosis 50 g/kg KG, gefolgt von Infusion mit: 10 μg/kg KG/h Frühgeborenes <37. SSW 10–20 μg/kg KG/h Reifgeborenes <7 Tage 20–40 μg/kg KG/h Reifgeborenes >7 Tage
83
. Tabelle 83.15. Wirkcharakteristika von Fentanyl Bolusgabe Indikation
Akute starke Schmerzen, postoperative Analgesie
Einzeldosis
2–4 μg/kg KG alle 2–4 h, langsam i.v. geben bei kleineren operativen Eingriffen 2–10 μg/kg KG
Wirkeintritt
Sofort
Wirkdauer
20–40 min
Halbwertzeit
6–32 h
Nebenwirkungen
Atemdepression, Thoraxrigidität, Glottisspasmus, Bronchospasmus, Blutdruckabfall, Darmmotilitätsstörungen
Vergleich
Weniger sedierend und schlafinduzierend als Morphin, kürzer wirksam, weniger kardiovaskuläre Nebenwirkungen, schnellere Toleranzentwicklung
Antidot
Naloxon
Infusion Indikation
Dosierung
Kurzfristig zur postoperativen Analgesie, ECMO-Therapie 1–5 μg/kg KG/h
allerdings sediert Fentanyl weniger und weist geringere kardiovaskuläre Nebenwirkungen auf. Eine spezifische Nebenwirkung von Fentanyl ist das Auftreten von Muskelrigidität, die auch bei Neugeborenen zu Brustkorbstarre und Laryngospasmus führen kann. Toleranz und Abhängigkeit entwickeln sich wegen der kurzen Wirkdauer von Fentanyl bereits nach einer Therapiedauer von nur 3–5 Tagen. Um Entzugssymptome wie Kreislaufinstabilität, Temperaturschwankungen, Agitation, Schreien und Unruhe, Trinkschwäche, Erbrechen und Durchfall zu vermeiden, ist ein mehrtägiges Ausschleichen von Fentanyl erforderlich.
Fentanylinfusion Fentanyl ist das Opioidanalgetikum der Wahl für die intraoperative Anästhesie Neugeborener, besonders in der Herzchirurgie, da es nur geringe Nebenwirkungen auf das Herzkreislaufsystem hat. Indikationen auf der Neugeborenenintensivstation sind die postoperative Analgesie Neugeborener, die ECMO-Therapie und das PFC-Syndrom, da Fentanyl den pulmonalen Gefäßwiderstand senkt. Die Fentanylinfusion wird häufig mit einer Benzodiazepininfusion kombiniert, da Fentanyl nur eine geringe sedierende Wirkung hat. Die Sicherheit und Wirksamkeit von Fentanyl zur Analgesierung/Sedierung beatmeter Frühgeborener ist nicht nachgewiesen.
Literatur 1. American Academy of Pediatrics (1997) Guidelines for perinatal care, 4th edn. AAP/ACOG, Elk GroveVillage/IL 2. British Paediatric Association, Royal College of Obstetrics and Gynaecology (1997) Resuscitation of babies at birth. BMJ Publishing Group, London 3. European Resuscitation Council (1998) Guidelines for resuscitation. Elsevier, Amsterdam 4. Fanaroff AA, Marin RJ (1997) Neonatal-perinatal medicine, 6th edn (vol I, II). Mosby, St. Louis 5. Greenough A, Roberton NRC, Milner AD (1996) Neonatal respiratory disorders. Arnold, London 6. Halliday HL, Mc Clure BG, Reid M (1998) Handbook of neonatal intensive care, 4th edn. Saunders, London Philadelphia 7. Higgins RD et al. (2006) Hypothermia and perinatal asphyxia: executive summary of the national institute of health and human development workshop. J Pediatr 148: 170–175 : Dieses Konsensus-Statement beschreibt den derzeitigen Stand der Hypothermiebehandlung als eine »Therapie in Entwicklung«, deren endgültiger Stellenwert derzeit noch nicht angegeben werden kann. Neugeborene mit moderater hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie profitieren von dieser Therapie, bei schwerer Enzephalopathie ist die Behandlung nicht von Vorteil. 8. Mercer JS et al. (2006) Delayed cord clamping in very preterm infants reduces the incidence of intraventricular hemorrhage and late onset sepsis: a randomized, controlled trial. Pediatrics 117: 1235–1242 : Diese Studie zeigt, dass ein verzögertes Abnabeln bei kleinen Frühgeborenen (Abnabelung ca. 30 s nach Entwicklung des Kindes, Kind dabei unter Plazentaniveau) eine effektive Präventionsmethode der Hirnblutung ist. 9. Moss RL et al. (2006) Laparotomy versus peritoneal drainage for necrotizing enterocolitis and per foration. N Engl J Med 354: 2225– 2234
1129 Literatur
: Diese Untersuchung belegt, dass bei NEC mit Darmperforation die geltende Standardprozedur, nämlich die chirurgische Eröffnung des Abdomens mit Resektion des nekrotischen Darms und Anlage eines Anus praeter, zu keinen besseren Resultaten führt als die Insertion eines peritonealen Drainagekatheters. Vor einer generellen Änderung des Konzepts sollten jedoch Nachuntersuchungsergebnisse der neuromentalen Entwicklung abgewartet werden. 10. Obladen M (2002) Neugeborenenintensivpflege, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio 11. Philip AGS (1996) Neonatology, 4th edn. Saunders, Philadelphia London 12. Saugstad OD, Ramji S, Vento M (2005) Resuscitation of depressed newborn infants with ambient air or pure oxygen: A meta-analysis. Biol Neonate 87: 27–34 : In dieser Metaanalyse werden die Ergebnisse von 5 randomisierten Studien berichtet, in denen eine postpartale Reanimation von depremierten Neugeborenen entweder mit Raumluft (21 % O2) oder 100 % Sauerstoff verglichen wurde. Die Sterblichkeit der Neugeborenen, die mit 21 % stabilisiert wurden, war im Vergleich zur Gruppe Neugeborener, die 100 % O2 exponiert waren, deutlich reduziert. Darüber hinaus stabilisieren sich Neugeborene unter einer Reanimation mit Raumluft schneller. Diese wichtige Arbeit stellt die weitverbreitete Praxis, Neugeborene mit 100 % O2 zu reanimieren, in Frage. 13. Schmidt B et al. (2006) Caffeine therapy for apnea of prematurity. N Engl J Med 354: 2112–2121 : Methylxanthine reduzieren bei sehr kleinen Frühgeborenen die Frequenz von Apnoen und vermindern die Notwendigkeit einer maschinellen Beatmung. In dieser kontrollierten, randomisierten Multicenterstudie wurde der Effekt einer postnatalen 10-tägigen Coffein-Therapie auf pulmonale und extrapulmonale Komplikationen untersucht. Die Coffein-Therapie reduziert sowohl die Rate der bronchopulmonalen Dysplasie als auch das Auftreten eines persistierenden Ductus arteriosus. Da die Langzeitrisiken dieser Therapie derzeit noch unbekannt sind, kann diese Intervention trotz der eindrucksvollen Kurzzeiteffekte nicht als Routinemaßnahme empfohlen werden. 14. Speer CP (2004) Reanimation des Neugeborenen. In: Reinhard D (Hrsg) Therapie der Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 4–13 15. Taeusch HW, Ballard RA (1998) Avery‘s diseases of the newborn, 7th edn. Saunders, Philadelphia London 16. Volpe JJ (2001) Neurology of the newborn. Saunders, Philadelphia London
83
84 Pädiatrische Intensivmedizin P.C. Rimensberger
84.1
Einleitung
84.2
Allgemeine Aspekte der pädiatrischen Intensivmedizin
84.3
Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen für die Betreuung –1132
84.3.1 84.3.2 84.3.3 84.3.4 84.3.5 84.3.6 84.3.7 84.3.8
Größenverhältnisse, Proportionen –1132 Respirationstrakt –1133 Herz und Kreislauf –1138 Wasser- und Elektrolythaushalt –1141 Blutvolumen und Hämoglobingehalt –1144 Enterale und parenterale Ernährung auf der Intensivstation –1144 Sedierung und Analgesie –1146 Morbiditäts- und Mortalitätsscores –1147
84.4
Kardiopulmonale Reanimation im Kindesalter
84.4.1 84.4.2 84.4.3 84.4.4
Grundüberlegungen –1147 Ursachen des Herz-Kreislauf-Stillstands –1148 Allgemeine Maßnahmen der Reanimation –1148 Spezielle Situationen bei der Reanimation –1149
84.5
Spezifische Pathologien/Situationen
84.5.1 84.5.2 84.5.3 84.5.4 84.5.5 84.5.6
Atemnot und akute respiratorische Insuffizienz –1151 Kardiopulmonale Interaktionen (spezielle Situationen) –1155 Pädiatrische Sepsis –1155 Dehydratation –1157 Neurologische Probleme auf der Intensivstation –1157 Metabolische Probleme –1162
Literatur
–1132❚
–1164
–1147
–1151
–1132
1132
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
84.1
Einleitung
Dieses Kapitel soll einen verständlichen Überblick geben über Besonderheiten der intensivmedizinischen Betreuung des Kindes, insbesondere des Kleinkindes, im Vergleich zur Intensivmedizin beim Erwachsenen. Es werden deshalb nicht alle Aspekte der pädiatrischen Intensivmedizin im Sinne eines eigenständigen Lehrbuchs beleuchtet. In einem ersten Teil (7 Kap. 84.2–84.4) werden allgemeine Themen und Aspekte inklusive die kardiopulmonale Reanimation behandelt, in einem zweiten Teil (7 Kap. 84.5) werden spezifische pädiatrische Krankheitsbilder und ihre Therapie diskutiert. 84.2
Allgemeine Aspekte der pädiatrischen Intensivmedizin
i Kinder, insbesondere Kleinkinder, sind nicht einfach »kleine Erwachsene«, sondern unterscheiden sich wesentlich von Erwachsenen in anatomischen, physiologischen, pharmakokinetischen und -dynamischen, metabolischen sowie anderen entwicklungs- und wachstumsspezifischen Gegebenheiten.
84
Bei der Betreuung von Kindern werden vom Intensivmediziner aber nicht nur spezielle Kenntnisse in jenen Bereichen gefordert, die in der Ausbildung zum Kinderarzt üblicherweise abgedeckt werden, sondern auch Erfahrung in z. T. anderen diagnostischen und interventionellen Techniken und im »kindsgerechten« Einsatz derselben. Aber nicht nur der »kindsgerechte« Ansatz im Sinne von Techniken spielt eine zentrale Rolle, sondern auch der Einbezug des täglichen gewohnten Umfeldes des Kindes. Die intensivmedizinische Betreuung des kritisch kranken und evtl. vital bedrohten Kindes muss deshalb die Familie immer einbeziehen. Diese muss im Rahmen einer Krisensituation, die in mehreren Phasen ablaufen kann, oft zusätzlich betreut werden. Die einzelnen Phasen sind: 4 intiale Schock- und Angstphase, welche Familienangehörige paralysieren kann; 4 Phase der Ablehnung, häufig begleitet von Wutgefühlen, Selbstvorwürfen und Selbstschuldzuweisungen; 4 Phase der Akzeptanz, evtl. mit aufkommenden Gefühlen der Hilflosigkeit und/oder einem Rückzug bzw. einer Abkapselung; 4 je nach Outcome eine Trauerphase.
Eine erfolgreiche Krisenintervention bedingt als erstes das Erkennen einer elterlichen Stresssituation und ihrer Bedürfnisse und in der Folge eine spezifische Betreuung, welche oft nur als Teamarbeit mit Psychologen, Sozialarbeitern und betreuendem Pflegepersonal zu bewältigen ist. Eine offene und ehrliche Kommunikation, korrekte Information über bevorstehende Untersuchungen und erhobene Befunde sowie der tägliche Kontakt und die Diskussion mit den Eltern in verständlicher Sprache sind jedoch die Grundsteine in jeder Situation. Ethische Entscheidungen sind fast täglich zu treffen. Ein Patientenwille steht, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nie zur Verfügung, ein mutmaßlicher »best interest« ist meist schwer zu eruieren, da der »best interest« des Kindes nicht unbedingt mit dem »best interest« seiner Eltern übereinstimmen muss. Häufig erhält daher die Diskussion um die zu erwartende Lebensqualität eine zentrale Rolle, obwohl dieser Begriff sehr verschieden ausgelegt werden kann und teilweise, je nach sozioökonomischem Umfeld, verschiedene Qualitätsmaßstäbe zur Entscheidungshilfe angewendet werden müssen. 84.3
Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen für die Betreuung
84.3.1 Größenverhältnisse, Propor tionen Beim Kleinkind ist die Körperoberfläche im Vergleich zum Körpergewicht relativ groß. Dieses Verhältnis ist beim Säugling am ausgeprägtesten, welcher durch einen großen Kopf und ein großes Abdomen, aber einen kleinen Thorax und kleine Extremitäten gekennzeichnet ist. Diese proportionalen Unterschiede zum Erwachsenen wirken sich in verschiedenen Belangen aus, z. B.: 4 Wärmeabgabe, 4 Abschätzung der Ausdehnung von Verbrennungen, 4 Dosierung von Medikamenten. i Der Intensivmediziner oder Anästhesist muss beurteilen können, ob ein Kind in Größe und Gewicht seinem Alter entspricht.
Das Hinzuziehen von Wachstumskurven kann hilfreich sein, es können aber auch einfache Faustregeln genutzt werden (. Tab. 84.1). Die Körperoberfläche kann aus Normogrammen abgelesen (. Abb. 84.1) oder nach folgender einfacher Formel berechnet werden [nach 19]:
. Tabelle 84.1. Gewichts- und Größenregel Alter
Gewicht [kg]
Gewichtsregel
Größe [cm]
Größenregel
Neugeborenes
3–3,5
50
5 Monate
7
Geburtsgewicht ×2
65
1 Jahr
10
Geburtsgewicht ×3
75
2 Jahre
12
Geburtsgewicht ×4
85
5 Jahre
18
Geburtsgewicht ×6
110
Verdoppelt
10 Jahre
32
Geburtsgewicht ×10
140
Verdreifacht
1,5-fach
1133 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
84
. Abb. 84.1. Normogramm nach Crawford zur Bestimmung der Körperober fläche aus Gewicht und Länge. Der Schnittpunkt der Verbindungslinie zwischen Gewicht und Länge ergibt die Körperober fläche
l [cm] · m [kg] 3600 KOF: Körperober fläche [m2] l: Größe [cm] m: Masse [kg]
KOF [m2] =
√
84.3.2 Respirationstrakt
Der kindliche Larynx: Intubation und endotrachealer Tubus Der Larynx des Kleinkindes ist charakterisiert durch 3 spezifische anatomische Gegebenheiten:
4 höhere Lage als beim Erwachsenen (auf Höhe C3 beim Säugling und Kleinkind, auf Höhe C4/C5 beim Erwachsenen),
4 große, U-förmige Epiglottis, 4 engste Stelle auf Höhe des Ringknorpels (Krikoid), d. h. infraglottisch und nicht auf Höhe der Stimmbänder wie beim Erwachsenen oder beim Kind ab etwa 12 Jahren. Des Weiteren hat das Kleinkind eine relativ große Zunge sowie einen großen Hinterkopf. Diese Gegebenheiten führen zu folgenden Konsequenzen während der Intubation: 4 Die Einsicht in den Larynx ist bei der Intubation erschwert. 4 Bei der Laryngoskopie ermöglicht der gerade Spatel (Miller) bei Kindern den besseren Einblick als der gebogene (Macintosh), die Epiglottis wird mit dem geraden Spatel nach Möglichkeit aufgeladen. 4 Eine Schulterunterlage oder eine Position des Kopfes in Reklination (Schnüfflerstellung) ist nicht notwendig, eine Position in neutraler Stellung erleichtert im Allgemeinen die Intubation.
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Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.2. Größe und Länge des Endotrachealtubus Alter Neugeborenes Neugeborenes 3 Monate
84
Körpergewicht [kg] 1,0–3,5
Tubusgröße
Länge ab Lippe [cm]
Länge ab Nase [cm]
3,0
8,5
10,5
>3,5
3,5
9
11
6,0
3,5
10
12
1 Jahr
10
4,0
11
14
2 Jahre
12
4,5
12
15
3 Jahre
14
4,5
13
16
4 Jahre
16
5,0
14
17
6 Jahre
20
5,5
15
19
8 Jahre
24
6,0
16
20
10 Jahre
30
6,5
17
21
12 Jahre
38
7,0
18
22
14 Jahre
50
7,5
19
23
Ab 16 Jahren
60
8,0
20
24
4 Die richtige Wahl der Tubusgröße sollte einen dichten Sitz im Krikoid gewährleisten, wo sich die engste Stelle des kindlichen Larynx befindet. Auf Tuben mit Cuff wurde deshalb bis vor kurzem i. Allg. verzichtet, dies insbesondere auch wegen der Furcht vor der Entwicklung einer subglottischen Stenose nach der Extubation. Dies war zu Zeiten der alten High-pressure-Cuffs gerechtfertigt; mit der heutigen Materialqualität (Low-pressure-Cuffs) wird diese Komplikation kaum mehr angetroffen [7]. Die Wahl eines Tubus mit Cuff ist anzuraten 4 bei vorhandenem Aspirationsrisiko (bei Verletzung im Nasen-Rachen-Raum); 4 in Situationen, in welchen die Beatmung schwierig sein kann und hohe Beatmungsdrücke erforderlich sind (z. B. ARDS, Lungenvolumenrecruitment) oder in welchen eine volumenkontrollierte Beatmung nach wie vor indiziert ist (pulmonale Hypertension mit hohem Risiko hämodynamisch signifikanter Krisen nach Operation eines kongenitalen Herzfehlers); 4 zur Durchführung korrekter Lungenfunktionsmessungen.
Bei der Wahl eines endotrachealen Tubus mit Cuff ist jedoch Vorsicht geboten, da nicht alle derzeit auf dem Markt erhältlichen Tuben den spezifischen Anforderungen beim Kleinkind genügen. Bei den meisten Tuben dehnt sich der Cuff zu weit nach proximal aus und kommt somit auf Höhe der Stimmbänder zu liegen (. Abb. 84.2).
Die richtige Tubusposition (Tubusspitze) befindet sich in der Mitte zwischen Glottis und Karina (bei Säugling und Kleinkind
in der Regel 2 cm oberhalb der Karina, bei Schulkindern 3 cm oberhalb; . Tab. 84.2). Zu beachten ist, dass eine Reklination des Kopfes beim Kleinkind wegen des hoch liegenden Rotationspunktes (C3) – im Gegensatz zum Erwachsenen – zu einer höheren Tubuslage führt! Obwohl bei Kindern nasale Tuben im Allgemeinen bevorzugt werden, weil die Fixation zuverlässiger möglich und die Pflege einfacher ist, wählt man in Notfallsituationen jedoch die leichter auszuführende orale Intubation. Intubationshilfen (MagillZange, Drahtführung) sind bei der oralen Intubation des Kindes kaum notwendig und erhöhen lediglich die Verletzungsgefahr. Der Larynx steht beim Neugeborenen höher als beim Erwachsenen, die Zunge ist relativ groß. 5 Eine Flexion des Kopfes führt bei Neugeborenem und Kleinkind zu einer tieferen, eine Reklination zu einer höheren Tubuslage. 5 Kinder unter 10 Jahren sind in der Regel mit Tuben ohne Cuff zu intubieren.
Besonderheiten bei der Beatmung (Atemwege, Lungenvolumina, Atemmechanik und Beatmungssysteme). Das respiratorische System des Neugeborenen, des Säuglings und auch noch
des Kleinkindes ist charakterisiert durch: 4 einen kleinen Atemwegsdurchmesser, 4 relativ weiche (hohe »chest-wall compliance«), elastische und instabile Thoraxwand. Dies führt zu: 4 einem unproportional höheren Anstieg der Atemwegswiderstände bei jeglicher Mukosaschwellung im Vergleich zum Erwachsenen [2];
1135 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
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misch relativ hoch, mit Glottisverschluss (Generation eines intrinsischen PEEP) am Ende der Exspirationsphase. Klinische Konsequenzen für die Beatmung
. Abb. 84.2. Pädiatrische Endotrachealtuben mit Cuff verschiedener Herstellermarken. Beachte, dass im Vergleich zur schwarzen Marke (Teil des Tubus, der ab Höhe der Stimmbänder endotracheal zu liegen hat; 1) die meisten Cuffs sich über die erlaubte Distanz von der Tubusspitze ausdehnen und somit in den Bereich der Stimmbänder zu liegen kommen. Die Cuffs der Tuben 2 und 3 dehnen sich bis in den Larynx aus; bei Korrektur der Tubusposition entsprechend den schwarzen Marken kommen sie zu tief zu liegen, mit dem Risiko einer einseitigen Intubation. Tubus 5 hat keine Tiefenmarkierung als Intubationshilfe, und der lange Cuff birgt das Risiko, sich in den Bereich der Stimmbänder auszudehnen. Einzig Tubus 4 weist ein anatomisch korrektes Design mit korrekter Cuffgröße und -platzierung sowie einer korrekten Tiefenmarkierung auf (Bild mit frdl. Genehmigung von M. Weiss und A. Gerber, Kinderanästhesieabteilung, Kinderspital Zürich)
4 einer Tendenz zur Thoraxdistorsion mit Einwärtsbewegung des Rippenthorax während der Inspirationsphase (= sichtbare interkostale Einziehungen als Zeichen der Atemnot) bei erhöhter Atemarbeit; deshalb muss das Zwerchfell zusätzliche Arbeit übernehmen, um den drohenden Lungenvolumenverlust wettzumachen – dies resultiert in paradoxen thorakoabdominalen Bewegungsmustern während der Atmung und einer inadäquat hohen Atemarbeit [9] mit entsprechend hohem Ermüdungsrisiko; 4 tiefer »outward-recoil« des Thorax aufgrund seiner elastischen Eigenschaften mit erhöhter Tendenz zur Atelektasenbildung am Ende der Exspirationsphase (. Abb. 84.3); beim Neugeborenen und Säugling ist somit die »closing capacity« größer als die funktionelle Residualkapazität – um dieser Kollapstendenz entgegenzuwirken, halten das Neugeborene und der Säugling ihre funktionelle Residualkapazität dyna-
5 Eine geringe Schleimhautschwellung kann bereits zu hohen Resistenzen der Atemwege führen und verlangt eine stark erhöhte Atemarbeit. 5 Vermehrte Atemanstrengungen führen zu Einziehungen (subkostal, interkostal und xiphoidal) sowie zu vermehrter diaphragmatischer Aktivität (paradoxe thorakoabdominale Atembewegungen); dies sind klassische klinische Zeichen eines Atemnotsyndroms beim Kleinkind und müssen frühzeitig erkannt werden (7 Kap. 84.4). 5 Bauchlage stabilisiert den Thorax teilweise und ist deshalb beim Kind mit Atemnotzeichen zu versuchen. 5 Verteilungsstörungen (wegen Atelektasenbildung) mit tiefen pO2-Werten können schon früh im Verlauf einer Erkrankung der Atemwege auftreten.
Praktische Konsequenzen für den Intensivmediziner 5 Eine Intubation erhöht drastisch die Atemwegswiderstände, verhindert aber auch die physiologisch intrinsische PEEP-Generierung, d. h. dass intubierte Säuglinge (insbesondere Neugeborene) immer beatmet werden müssen (Druckunterstützung mit entsprechend sensiblem Triggersystem). Ebenfalls muss ein minimaler PEEP von 3–5 cm H2O gewählt werden. Cave: Keine Kleinkinderbeatmung ohne PEEP! 5 Ein kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck (CPAP) kann die Oxygenation durch Erhöhung der funktionellen Residualkapazität deutlich verbessern sowie die Atemarbeit reduzieren. Bei Säuglingen (bis zum 1. Lebensjahr) eignen sich die nasalen CPAP-Systeme mit kleinen Nasentuben, welche auch in der Neonatologie üblich sind, bei Kleinkindern werden Nasenmasken oder Gesichtsmasken mit möglichst kleinem Totraumvolumen zur CPAP-Applikation vorgezogen.
Beatmungssysteme zur Handbeatmung. Generell sollten Beat-
mungssysteme für Kinder einen möglichst kleinen Totraum aufweisen. Für die manuelle Beatmung eignen sich deshalb halboffene Anästhesiesysteme ohne Rückatmungsventile (modifizertes Jackson-Rees-System oder Mapleson C; . Abb. 84.4) am besten
. Abb. 84.3. Funktionelle Residualkapazität bei Neugeborenem und Säugling. (Mod. nach [34])
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Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
Als Alternative exisitieren Self-inflating-Systeme mit Exspirationsventil, welche für den Ungeübten leichter zu gebrauchen sind, aber ohne Reser voir höchstens eine O2-Konzentration von 40% erlauben! Mit Reser voir wird eine O2-Konzentration von 100% erreicht. Bei Neugeborenen und Säuglingen sind Beutel mit einem Inhalt von 0,5 l ausreichend, bei Kleinkindern mit einem Inhalt von 1 l, ab einem Körpergewicht von 15 kg mit einem Inhalt von 2 l. Für weitere detaillierte Angaben über diese Systeme sei auf einschlägige Anästhesiefachbücher ver wiesen. Maskenbeatmung. Eine korrekte Technik erlaubt praktisch
. Abb. 84.4. Gebräuchliche Handbeatmungssysteme. Links: Ambubeutel (»self-inflating«) mit Sauerstoffreservoir. Rechts: Modifiziertes Jackson-Reese System
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und sind sehr verbreitet. Beide sind sog. Non-rebreathing-Systeme, wobei bei unsachgemäßem Gebrauch ein »rebreathing« der Ausatmungsgase auftreten kann. Der kontinuierliche Frischgaszufluss am T-Stück dient während der Exspirationsphase zur Auswaschung des gleichzeitig als Inspirations- und Exspirationsschenkel dienenden Circuit. Die Frischgaszufuhr (100% Sauerstoff ) muss deshalb genügend hoch sein und soll als Grundregel dem 2-Fachen des Minutenvolumens entsprechen; dies verhindert auch eine Einmischung von Raumluft während der Inspiration. Aus technischen Gründen ist aber der Gasfluss in diesen T-Stück-Systemen limitiert zwischen minimal 3 l/min und maximal 10 l/min (die Anwendung bei einem Körpergewicht über 20–25 kg ist deshalb nicht zu empfehlen).
immer eine adäquate Beatmung mit der Maske. Einige weitere Aspekte sind dabei zu beachten: 4 Material: weiche, durchsichtige Silikonmaske oder Maske mit Luftkissen (möglichst kein »leak«). Ein Sauerstofffluss von 4–6 l/min ist ausreichend und vermindert das Risiko unbeabsichtigt hoher Atemwegsdrücke oder einer übermäßigen Insufflation des Magens (Aspirationsrisiko!). Die kleinstmögliche Maske wird bevorzugt (Totraum). 4 Position: den Kopf nur leicht nach hinten strecken, Unterkiefer nach oben drücken (Neugeborenes in Neutralstellung). Bei einer extremen Retroflexion des Kopfes kommt es zur Obstruktion der oberen Luftwege. 4 Maskenhandhabung: Die Maske wird mit der linken Hand mit Daumen und Zeigefinger gehalten. Der Mittelfinger liegt auf der Mandibula und ermöglicht es, diese hochzuheben. Cave: Externe Kompression der Atemwege mittels Druck auf die Halsweichteile! 4 Hilfsmittel: Oropharyngeale oder nasopharyngeale Tuben sind oft zur Behebung einer Atemwegobstruktion (zurückfallende Zunge) nützlich. 4 Beatmung: Wenn möglich, sollte synchron bei noch erhaltener, aber insuffizienter Spontanatmung beatmet werden, d. h. es ist genau zu beobachten, wann das Kind ein- und wann es ausatmet.
. Tabelle 84.3. Medikamente zur Intubation Name
Dosis
Wirkungsdauer
Mögliche Nebeneffekte/Bemerkungen
Midazolam (Dormicum)
0,1–0,2 mg/kg KG i.v.
2h
Apnoe
Morphin oder Fentanyl
0,1 (–0,2) mg/kg KG i.v.
60–120 min
5–10 µg/kg KG
30–60 min
Zentral Atemdepression, Bronchopasmen, Bradykardie
Succinylcholina
1,5–2 mg/kg KG (Neugeborene/Säuglinge) 1 mg/kg KG (Kinder >1 Jahr)
3–10 min
oder Atracurium (Tracrium)
0,5–0,6 mg/kg KG
15–30 min
oder Vecuronium (Norcuron)
0,1 mg/kg KG
20–30 min
oder Pancuronium (Pavulon)
0,1 mg/kg KG
60–90 min (bei Niereninsuffizienz bis mehrere Stunden)
Muskelläsion mit Hyperkaliämie Maligne Hyperthermie Bradykardie, später Tachykardie (evtl. ventrikuläre Extrasystolen, Knotenrhythmus)
Keine pharmakokinetischen Daten beim Neugeborenen
a Bei Kindern immer Prämedikation mit Atropin (0,02 mg/kg KG) wegen des Risikos von Bradyarrhythmien.
1137 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
Medikamente zur Intubation. Praktisch ohne Ausnahme braucht das Kind (auch das Neugeborene) zur Intubation ausreichende Sedation, Analgesie und Muskelrelaxation. Eine Übersicht über die gebräuchlichen Medikamente gibt . Tabelle 84.3. ! Cave Propofol, ein Hypnotikum, wird regelmäßig im Operationssaal für die Kurzzeitanästhesie eingesetzt und bewährt sich ebenfalls auf der Intensivstation während Kurzeingriffen. Aufgrund von berichteten schweren Komplikationen beim Kleinkind ist jedoch nach wie vor von einer Dauersedation mit Propofol abzuraten [30].
84
Respiratorisches Monitoring Blutgasanalyse. Als Alternative zur arteriellen Blutgasanalyse,
welche aus technischen Gründen beim Kleinkind nicht immer möglich ist, kann bei guter peripherer Durchblutung eine kapilläre Blutentnahme durchgeführt werden. Bei Neugeborenem und Säugling erfolgt dies nach sorgfältiger Hyperämisierung mit Punktion an der inneren oder äußeren Fersenkante, beim Kleinkind mittels Punktion an der Fingerspitze. Die Interpretation (insbesondere des pO2-Wertes) muss jedoch mit gewisser Vorsicht erfolgen, da diese Werte bei schlechter peripherer Durchblutung und geringem Herzminutenvolumen eher den zentralvenösen Werten entsprechen.
Beatmung mit Beatmungsgeräten. Moderne Beatmungsgeräte
für Erwachsene sind für den Einsatz beim Kind und Kleinkind grundsätzlich unter folgenden Bedingungen geeignet: 4 Ein genügend sensibles Triggersystem (Fluss- oder Drucktriggerung) und ein möglichst kleines Totraumvolumen sind zu beachten. Generell ist eine Tidalvolumenmessung (Flussmesser) möglichst nahe am endotrachealen Tubuskonnektor vorzuziehen [3, 5]. Für Säuglinge und Neugeborene sind Beatmungsgeräte mit kontinuierlichem Flow vorzuziehen. Dies erlaubt es, die Triggersysteme empfindlicher zu gestalten, CPAP am Beatmungsgerät ohne allzu starke Erhöhung der Atemarbeit zu ermöglichen und Schlauchsysteme kontinuierlich zu »flushen« um eine CO2-Akkumulation im Y-Stück (Totraumvolumen) möglichst zu verhindern. 4 Obwohl in der pädiatrischen und Neugeborenenintensivpflege seit Jahren vorwiegend druckkontrolliert beatmet wird, spricht nichts gegen eine volumenkontrollierte Beatmung. Aktuell werden zunehmend druckregulierte, volumenkontrollierte Beatmungsmodi eingesetzt und als sog. Selbstentwöhnungsmodi gepriesen. Nebst dem Effekt, dass der Intensivmediziner mit diesem Beatmungsmodus eine Senkung des Spitzen- bzw. Plateaudrucks bei unverändertem Tidalvolumen bei Besserung der Lungenkrankheit (Verbesserung der Compliance des respiratorischen Systems) beobachten kann und sich so bewusst wird, dass an eine Extubation gedacht werden kann, gibt es keine dokumentierten Vorteile dieses Beatmungsmodus im Vergleich zur klassischen druck- oder volumenkontrollierten Beatmung. 4 Assistierte Beatmungsformen sind auch beim Kind zu bevorzugen. Allerdings können Probleme mit zu sensibel eingestellten Triggersystemen bei Tubusleckage oder Wasserakkumulation im exspiratorischen Schenkel des Schlauchsystems auftreten. Diese Konditionen können ein »autotriggering« mit folgender Hyperventilation des Patienten verursachen. 4 Bezüglich der optimalen »lungenpotektiven« Tidalvolumina und PEEP Einstellungen gelten die gleichen Richtlinien wie bei der Erwachsenenbeatmung. Grundeinstellung der Beatmungsparameter 5 Tidalvolumen: 8 ± 2 ml/kg KG (= gerade genügend, um ein leichtes Anheben des Thorax zu erkennen) oder Spitzen-/Plateaudruck: 15–25 cm H2O, entsprechend der Compliance des respiratorischen Systems (meistens genügend, um das empfohlene Tidalvolumen zu erreichen) 5 PEEP: minimal 4–5 cm H2O 5 Atemfrequenz: Säugling 30–40/min, Kleinkind 20–30/min, Schulkind 12–20/min I5 Inspirationszeit: 0,5–1,0 s
Pulsoxymetrie. Die Pulsoxymetrie erlaubt eine gute kontinuierliche Überwachung der arteriellen O2-Sättigung und Abschätzung des PaO2 unter Hinzuziehung der Sauerstoffdissoziationskurve. Nicht zu vergessen sind dabei jedoch die Einflüsse von fetalem Hämoglobin, pathologischen Hämoglobinen (Hämoglobinopathien) und einer evtl. vorliegenden Anämie. Pulsoxymetrisch bestimmte Sättigungswerte <70% sind nicht immer zuverlässig und sollten mittels oxymetrisch gemessener O2-Sättigung kontrolliert werden. i Der Einsatz der Pulsoxymetrie kann beim Kind durch Bewegungsartefakte und/oder eine periphere Minderdurchblutung limitiert sein. CO2-Monitoring. Grundsätzlich stehen 2 nicht-invasive Me-
thoden zum CO2-Monitoring zur Verfügung: die transkutane Messung des CO2-Partialdrucks (ptcCO2) und die endexspiratorische CO2-Konzentration. Der ptcCO2 korreliert recht gut und praktisch unabhängig von der peripheren Durchblutung mit den arteriellen Werten. Dies erlaubt nach erfolgter »Kalibrierung« mit einer arteriell oder kapillär entnommen Blutgasanalyse zumindest eine gute nicht-invasive Trendüberwachung. Die endexspiratorische CO2-Konzentration erlaubt dies ebenfalls, die Werte korrelieren aber nur bedingt mit den arteriellen Werten in Abhängigkeit von anatomischem und funktionellem Totraum. Wegen der Vergrößerung des Totraums wurde diese Methode bei Kleinkindern und Säuglingen mit kleinem Atemzugvolumen relativ beschränkt angewendet. Neuere Mainstream-Sensoren weisen jedoch heutzutage kleine Totraumvolumina von nur 1 ml auf, die Methode wird derzeit für die Intensivpflege des Neugeborenen reevaluiert [31]. Minimales Zusatzmonitoring während mechanischer Beatmung. Prinzipiell ist ein minimales Monitoring der Beatmungs-
parameter am Beatmungsgerät notwendig. Als absolutes Minimum sollte die Fluss-Zeit-Kurve dauernd überwacht werden, um bei den relativ hohen Atemfrequenzen den Aufbau eines in der Regel unerwünschten intrinsischen PEEP frühzeitig erkennen zu können (. Abb. 84.5).
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Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Abb. 84.5. Flow-Zeit-Kurve. Die linke Kurve zeigt eine Flow-Termination vor erneuter Inspiration, während der Exspirations-Flow in der rechten Kurve vor erneuter Inspiration nicht die Nulllinie erreicht
84.3.3 Herz und Kreislauf
Besonderheiten im Neugeborenenund Säuglingsalter
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Während der Transition des fetalen Kreislaufs, d. h. nach Abfall des Lungengefäßwiderstands und erfolgter Erhöhung des pulmonalen Blutflusses mit konsekutiver Erhöhung der linksventrikulären Vorlast, schließt sich das intraaurikuläre Foramen ovale, was zu einer Separierung des Lungen- vom Systemkreislauf führt – unter der Voraussetzung, dass sich der Ductus arteriosus unter dem Einfluss des hohen lokalen PaO2-Wertes und der abfallenden Plasmakonzentration von Prostaglandin E2 ebenfalls geschlossen hat. Mit dieser Separierung des systemischen Kreislaufs erhöht sich der periphere Gefäßwiderstand und somit die Nachlast für den muskulär wenig ausgebildeten linken Ventrikel, welcher wegen der noch bestehenden Prädominanz des rechten »hypertrophen« Ventrikels eine flache, noch nicht konzentrische Form aufweist. Dies führt dazu, dass der systemische Ventrikel, welcher nach Umstellung des Kreislaufs seine Pumpleistung nahezu verdoppeln muss, im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter noch wenig compliant ist und sich deshalb schlecht an Vorlastveränderungen anpassen kann. Der Herzmuskel weist zudem eine limitierte inotrope Reserve auf, und zwar wegen des noch hohen Anteils nichtkontraktiler Elemente. Dies bedeutet, dass das Myokard des Neugeborenen an der Grenze seiner Kapazität arbeitet. Eine Nachlasterhöhung (Zunahme des Systemwiderstands) kann deshalb schnell zu einer Verminderung des Herzminutenvolumens führen. Das Herzminutenvolumen muss demzufolge mittels Frequenzsteigerung erhöht werden; dieser Effekt ist aber limitiert. Mit dem Wachstum adaptiert sich das Herz des Kleinkindes an die neuen Füllungsverhältnisse, und der linke Ventrikel nimmt zunehmend eine konzentrische Form an. Als praktische Konsequenzen ergeben sich bei Neugeborenem und Säugling: 4 Die Vorlastreserve ist stärker limitiert als beim Erwachsenen. 4 Eine Nachlasterhöhung wird aufgrund der verminderten Inotropiereserve und der verminderten ventrikulären Compliance schlechter toleriert. 4 Eine verminderte ventrikuläre Compliance lässt den intraventrikulären Druck schon bei geringer Volumenbelastung schnell ansteigen, d. h. höhere Füllungsdrücke müssen erreicht und oft toleriert werden, um eine adäquate ventrikuläre Füllung zu erreichen. 4 Die geringe Inotropiereserve limitiert den Effekt inotroper Substanzen. Das heißt, dass der Steigerung des Schlagvolu-
mens schnell Grenzen gesetzt sind und dass in dieser Situation eine Steigerung der Herzfrequenz (medikamentös oder in der postoperativen Situation nach herzchirurgischem Eingriff üblicherweise mittels epikardialem Schrittmacher) dienlich sein kann. 4 Substanzen mit einer theoretisch kombinierten β1-(inotroper und chronotroper Effekt) und β2-Aktivität (Vasodilatation), aber fehlender α-Aktivität (Vasokonstriktion), z. B. Dobutamin, gelten somit als ideale inotrope Substanzen. Der positiv chronotrope Effekt kann jedoch den Einsatz von Dobutamin in gewissen Fällen limitieren. Als gute und zunehmend beliebte Alternative eignen sich Phosphodiesteraseinhibitoren (Amrinon, Milrinon oder Enoxomin), da diese Substanzen sowohl einen vasodilatativen als auch einen inotropen Effekt aufweisen. i Die diastolische Dehnbarkeit wie auch die systolische Kontraktionsleistung des Myokards sind bei Neugeborenem und Säugling im Vergleich zum älteren Kind und zum Erwachsenen eingeschränkt.
Blutdruck und Blutdruckmessung Blutdruckwerte variieren mit dem Alter des Kindes. Altersspezifische Normwerttabellen sind deshalb zur adäquaten Interpretation des gemessenen Blutdruckwertes hilfreich [27]. Praktische Grundregeln zur Beurteilung des Blutdrucks zwischen dem 1. und 16. Lebensjahr 5 Normaler systolischer Blutdruckwert =90 mm Hg + (2× das Alter in Jahren) 5 Untere (5. Perzentile) akzeptable systolische Blutdruckgrenze =70 mm Hg +(2× das Alter in Jahren) 5 Obere akzeptable systolische Blutdruckgrenze =110 mm Hg +(3× das Alter in Jahren)
Die nicht-invasive Blutdruckmessung ist bei Neugeborenem und Säugling mit der üblichen auskultatorischen Methode nach Korsakow äußerst schwierig oder gar unmöglich. Oszillometrische Blutdruckmessgeräte mit Verwendung einer korrekten Manschettengröße erlauben aber eine meist zuverlässige Messung, der Blutdruck wird aber im Allgemeinen im Vergleich mit invasiv gemessenen Werten eher leicht überschätzt. Arterielle Katheter werden auf pädiatrischen Intensivstationen häufig eingesetzt. Wegen der kleinen Kathetergröße kann ein »dumping« der Pulsdruckkur ve bestehen, in diesem Fall kann nur der Mitteldruck als zuverlässige Parameter verwendet werden. Bei der Wahl des zu punktierenden Gefäßes müssen
1139 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
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Gefäßmissbildungen (z. B. Koarktation der Aorta) oder einem Zustand nach erfolgtem gefäßchirurgischem Eingriff im Rahmen eins palliativen Eingriffs bei kongenitaler Herzmissbildung (z. B. Blalock-Taussig-Shunt zwischen A. subclavia und Pulmonalarterie bei kritischer Pulmonalstenose oder -atresie) Rechnung getragen werden. Klassische Punktionsstellen sind die Aa. radialis, femoralis oder dorsalis pedis. Ebenfalls eignet sich die A. axillaris.
4 Pulmonalklappe: 2. Interkostalraum am linken Sternumrand, evtl. ausstrahlend Richtung Klavikula und/oder nach unten in den 3. – 5. Interkostalraum parasternal links; 4 Mitralklappe: Herzspitzenbereich, evtl. mit Ausstrahlung in den axillären Bereich; 4 Aortenklappe: 2. Interkostalraum rechts mit Ausstrahlung suprasternal und in den Halsbereich.
! Cave Die A. brachialis sollte wegen des ungenügenden Kollateralkreislaufs im Ellbogenbereich nicht punktiert werden.
Herzgeräusche werden nach der Intensität (Graduierung 1–6; ab Grad 4 ist ein präkordiales Schwirren palpabel), dem zeitlichem Auftreten im Verhältnis zur Herzphase und der Dauer beurteilt. Wichtig ist zudem eine Charakterisierung des 2. Herztons (P2), welcher klassischerweise eine klare Atemvariabilität aufweisen sollte (gespalten in der Inspirationsphase, nicht gespalten in der Exspirationsphase).
Normale Blutdruckwerte schließen beim Kind einen Schockzustand nicht aus, ebenfalls kann der Schockindex nicht zur Definition eines hypotensiven Schocks herangezogen werden. Ein Schockzustand wird beim Kind deshalb häufig erst spät erkannt, wenn es zur akuten hämodynamischen Dekompensation kommt. Diese kann sehr abrupt auftreten, weil das bis anhin gesunde Kind einen Schockzustand erstaunlich lange gut kompensieren kann. Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, einen Schockzustand im noch kompensierten Stadium frühzeitig zu erkennen. Eine kühle Peripherie, eine verzögerte Rekapillarisierungszeit (normal maximal 3 s), eine leichte Tachykardie, evtl. auch das Vorhandensein einer nicht erklärten Tachypnoe sowie das Auftreten einer initial oft nur wenig ausgeprägten metabolischen Azidose sollten als Zeichen eines noch kompensierten Schockzustands frühzeitig erkannt werden, bevor es zur schnell lebensbedrohlichen Dekompensation kommt. Normale Blutdruckwerte schließen beim Kind einen Schockzustand nicht aus; der Schockindex ist beim Kind unbrauchbar. Ein kompensierter Schockzustand muss frühzeitig erkannt und aggressiv behandelt werden. Eine kühle Peripherie, verzögerte Rekapillarisierung, leichte Tachykardie und Tachypnoe können auf einen noch kompensierten Schockzustand hinweisen. Das zusätzliche Vorhandensein einer metabolischen Laktatazidose, wenn auch wenig ausgeprägt, ist ein dringendes Alarmzeichen einer drohenden Dekompensation.
Herzgeräusche Herzgeräusche können beim Kind, im Gegensatz zum Erwachsenen, insbesondere nach der Neugeborenenperiode bis ins Vorschulalter häufig auskultiert werden; die meisten sind jedoch klinisch unbedeutend (akzidentelle Herzgeräusche). Ein unauffällige Anamnese (keine Herzfehler oder Kardiomyopathien in der Familie, normale perinatale Adaptation, keine Hinweise für eine kongenitale Infektion oder einen maternellen Medikamentenabusus, fehlende spezifische oder unspezifische Symptome einer Herzinsuffizienz, anderweitige fehlende Abnormalitäten/Missbildungen, keine familiäre Belastung mit plötzlichem Kindstod, keine Hinweise für ein rheumatisches Fieber) und ein normaler klinischer Status lassen bereits mit größter Wahrscheinlichkeit einen strukturellen Herzfehler ausschließen. Die Herzauskultation (. Abb. 84.6) erfolgt standardmäßig an 4 Punkten: 4 Trikuspidalklappe: 4.–5. Interkostalraum am rechten Sternumrand, evtl. ausstrahlend in den xiphoidalen Bereich;
Grundregeln zur Beurteilung von Herzgeräuschen 5 Harmlose (akzidentelle) Herzgeräusche sind nie lauter als 3/6, und ein präkordiales Schwirren kann nie palpiert werden. 5 Eine Geräuschänderung bei Lagewechsel (Aufsitzen) spricht für ein akzidentelles Geräusch. 5 Ein isoliertes kurzes systolisches Geräusch ist normalerweise ein Austreibungsgeräusch. 5 Normale Herztöne (insbesondere ein atemvariabler P2) sprechen eher gegen ein organisches Herzgeräusch. 5 Rein diastolische oder kontinuierliche diastolische Herzgeräusche sind prinzipiell nicht harmlos.
(Unspezifische) Zeichen der Herzinsuffizienz beim Kind Neben den klassischen Zeichen der Herzinsuffizienz, welche identisch sind wie beim Erwachsene, muss beim Kind nach sog. unspezifischen Symptomen anamnestisch und mittels klinischer Untersuchung gefahndet werden. Klassische unspezifische Symptome, die den Kinderarzt an eine Herzinsuffizienz denken lassen, sind: 4 erhöhte Ruhefrequenz (>160/min im Säuglingsalter, >120/ min im Vorschulalter), 4 verzögerte Kapillarfüllung, kühle Extremitäten, evtl. periphere Zyanose, 4 Tachydyspnoe bis Orthopnoe mit den klassischen Zeichen der Ateminsuffizienz beim Kind (inter- und subkostale Einziehungen, Nasenflügeln), 4 Bronchoobstruktion mit verlängertem Exspirium und exspiratorischem Pfeifen (häufig als Asthma fehlgedeutet und entsprechend inadäquat behandelt), 4 Trinkschwäche, insbesondere im Säuglingsalter, evtl. assoziiert mit schlechter Gewichtszunahme (erhöhte Atemarbeit bei zu geringer Kalorienzufuhr), 4 Schwitzen bei geringster Anstrengung (z. B. beim Trinken).
Tachykardie und Arrhythmien Tachykardien sind beim Kind selten, werden relativ gut toleriert und bestehen häufig sekundär zur Kompensation eines kleinen Herzzeitvolumens (. Tab. 84.4). Eine spezifische Therapie ist, außer bei Vorliegen einer Tachyarrhythmie (supraventrikuläre oder ventrikuläre Tachykardie, das äußerst seltene Vorhofflattern oder -flimmern, tachykarder Knotenersatzrhythmus),
1140
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
84
. Abb. 84.6a–f. Lokalisation und Dauer von organischen Herzgeräuschen in der Herzphase. a–c Austreibungsgeräusche: a holosystolisches Geräusch bei Aortenstenose (c Ejektionsklick). b Pulmonalstenose mit abgeschwächtem P2-Segment. c Systolikum einer funktionellen Pulmonalstenose mit weit gespaltenem 2. Herzton und Betonung von P2 sowie diastolischem Ventrikelfüllungsgeräusch (z. B. großer Vorhofseptumdefekt). d Regurgitationsgeräusche: mit dem 1. Herzton einsetzendes, holosystolisches Geräusch (z. B. Ventrikelseptumdefekt, Mitralinsuffizienz). e, f Systolisch-diastolische Geräusche: e kontinuierliches systolisch-diastolisches Geräusch (z. B. offener Ductus arteriosus Botalli), f systolisches und diastolisches Geräusch (z. B. kombinierter Aortenklappenfehler)
Sinusarrhythmien können beim Kind sehr ausgeprägt sein, mit . Tabelle 84.4. Altersabhängigkeit der Herzfrequenz (Defintionen) Herzfrequenz
Neugeborenes
Kind
Tachykardie
>220
>180
Bradykardie
<80
<60
nicht angezeigt. Eine schnelle Orientierung bezüglich des Typs der tachykarden Herzrhythmusstörung (ventrikulär oder supraventrikulär) erlaubt die Beurteilung des QRS-Komplexes (QRS >0,1 s?). i Eine Arrhythmiebehandlung muss prinzipiell mit einem Kardiologen abgesprochen werden und wird als Notfalltherapie nur eingesetzt bei vorliegender hämodynamischer Instabilität. Bei Vorhandensein einer symptomatischen Tachyarrhythmie bewährt sich ein pragmatisches Vorgehen gemäß . Abb. 84.7.
deutlicher respiratorischer Variablität. Bei Absinken der Herzfrequenz in Ruhe kann es sogar zur atrioventrikulären Dissoziation kommen (Vorhof- und Kammerfrequenz mit praktisch gleicher Frequenz, aber voneinander unabhängig) oder zum Phänomen eines wandernden Schrittmachers (ein anderer, tiefer gelegener Schrittmacher im Vorhof übernimmt die Frequenz bei tiefer Sinusknotenfrequenz). All diese Varianten der Sinusarrhythmie sind harmlos. Das Verschwinden der Sinusarrhythmie bei körperlicher Anstrengung oder evtl. nach Atropin-Gabe bestätigt die Diagnose. Bradyarrhythmien, mit Ausnahme eines vorübergehenden artrioventrikulären Blocks Grad I, der manchmal im Schlaf bei gesunden Kindern beobachtet werden kann, sind noch seltener, und einzig ein artrioventrikulärer Block Grad III (kompletter Block), ob isoliert oder in Kombination mit einem kongenitalen Herzfehler, bedarf bei Auftreten von Schwindelzuständen oder Synkopen, einer mittleren Herzfrequenz <50/min, dem Auftreten ventrikulärer Pausen >3 s oder dem Auftreten ventrikulärer Extrasystolen oder einer Tachykardie
1141 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
84
. Abb. 84.7. Einfacher Therapiealgorithmus bei symptomatischer Tachyarrhythmie
unter Belastung der Versorgung mit einem artrioventrikulären Schrittmacher. i Bei neu aufgetretener Herzrhythmusstörung (ob tachykard oder bradykard) müssen, abgesehen von der postoperativen Phase nach Korrektur eines kongenitalen Herzfehlers, eine Myokarditis, eine Kardiomyopathie verschiedener Ätiologie sowie ein Herztumor ausgeschlossen werden.
84.3.4 Wasser- und Elektrolythaushalt
Körperzusammensetzung und Flüssigkeitsumsatz Das Extrazellulärvolumen (EZV) ist beim Neugeborenen im Vergleich zum Erwachsenen doppelt so groß (40% des totalen Körperwassers beim Neugeborenen gegenüber 20% beim Erwachsenen) und während der ersten 12 Lebensmonate ab, um am Ende des 1. Lebensjahres Erwachsenenwerte zu erreichen. Ebenfalls nimmt der totale Wasserbestand im Verlauf des 1. Lebensjahres ab (80% des Körpergewichts beim Neugeborenen, 60% des Körpergewichts ab dem 2. Lebensjahr; . Abb. 84.8). Der Wasserbedarf des Kleinkindes ist, bezogen auf das Körpergewicht, größer als beim Erwachsenen: Säuglinge benötigen täglich 1/6 des Körpergewichts oder 160 ml/kg KG/Tag (»Schoppenregel«), Erwachsene jedoch nur etwa 1/24. Bei parenteraler Flüssigkeitszufuhr ist der Normalbedarf mit 120 ml/kg KG/Tag beim Säugling deutlich geringer. Als Grundregel gilt, dass der parenterale Bedarf 2/3 des enteralen Bedarfs entspricht. Dies ist bei Berechnung des Flüssigkeitstagesbedarfs zu berücksichtigen, insbesondere bei kombinierter enteraler und parenteraler Flüssigkkeitszufuhr, z. B. beim Nahrungsaufbau (. Tab. 84.5).
. Abb. 84.8. Veränderung der Zusammensetzung der Körper flüssigkeiten mit dem Wachstum
Die tägliche Wasseraufnahme des Menschen regelt sich normalerweise durch das Durstgefühl in Abhängigkeit von Plasmaosmolalität und -volumen. Insensible Wasserverluste über die Haut oder den Atemtrakt sind abhängig von verschiedenen fixen Faktoren wie Körperoberfläche und Hautbeschaffenheit (z. B. immature Epidermis beim Frühgeborenen), Respiration (z. B. hohes Atemminutenvolumen), Körpertemperatur, Umgebungstemperatur und -feuchtigkeit. Sensible Wasserverluste werden hauptsächlich über das Urinvolumen kontrolliert, das hauptsächlich durch die Sekretion von antidiuretischem Hormon (ADH) und antinatriuretischem Peptid (ANP) geregelt wird. ADH wird v. a. bei reduziertem Plasmavolumen ausgeschüttet, ANP bei erhöhtem Extrazellulärvolumen. Der Säugling hat eine beschränkte Kapazität, Wasser auszuscheiden, und zwar aufgrund noch vorhan-
1142
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.5. Normaler intravenöser Flüssigkeitsbedarf Nach Körpergewicht
Nach Körperoberfläche Pro Tag
Pro Stunde
Pro Tag
10 kg
4 ml/kg KG
100 ml/kg KG (unter 12 Monaten 120 ml/kg KG)
1600–1800 ml/m2
10–20 kg
40 ml + 2 ml/kg KG (pro kg >10 kg)
1000 ml + 50 ml/kg KG (pro kg >10 kg)
1800 ml/m2
>20 kg
60 ml + 1 ml/kg KG (pro kg >20 kg)
1500 ml + 20 ml/kg KG (pro kg >20 kg)
1800 ml/m2
Beim Neugeborenen bis zum 3. Lebenstag sowie beim Frühgeborenen gelten besondere Regeln.
dener renaler Unreife. Ebenfalls können beim Säugling relativ hohe ADH-Basiswerte gemessen werden. Besonderheiten des Wasserhaushalts bei Säuglingen und Kleinkindern
84
5 Es besteht eine erhöhte Anfälligkeit für eine Dehydratation, und zwar aufgrund erhöhter metabolischer Rate, hohen insensiblen Verlusten und einer verminderten Fähigkeit, den Urin zu konzentrieren. 5 Eine Volumenüberlastung mit konsekutivem Hyponatriämierisiko ist eine klassische Komplikation der Volumentherapie beim Kleinkind. Eine Ödembildung tritt beim Intensivpatienten ebenfalls häufig auf, insbesondere beim intubierten Patienten infolge Nichtberücksichtigung der verminderten insensiblen Flüssigkeitsverluste und bei nichtrestriktiver Flüssigkeitszufuhr gemäß den genannten Richtlinien. Bei Säugling und Kleinkind müssen in der Flüssigkeitsbilanz auch sämtliche intravenös verabreichten Medikamente sowie Venen- und/oder Arterienflushs eingerechnet werden.
Störungen im Elektrolythaushalt Die wichtigsten und am häufigsten anzutreffenden Elektrolytstörungen beim Kind sind Störungen im Natriumhaushalt. Es werden deshalb hier nur diese besprochen und ansonsten auf 7 Kap. 20 verwiesen. Natrium. Natrium ist das wichtigste Kation des Extrazellulär-
raums. Der tägliche Bedarf beträgt etwa 2–4 mmol/kg KG. Störungen des Natriumchloridhaushalts lassen sich in die Dehydratation (extrazellulärer Salz- und Wasserverlust) und die Hyperhydratation (extrazellulärer Salz- und Wasserüberschuss) einteilen. In beiden Situationen bleibt die gemessene Serumnatriumkonzentration im Normalbereich, sofern der Wasserüberschuss dem Natriumüberschuss bzw. der Wasserverlust dem Natriumverlust entspricht. Bei gleichzeitigem Auftreten einer Hyponatriämie oder einer Hypernatriämie, den häufigsten Elektrolytstörungen beim Kind, ist der Wasserhaushalt ebenfalls gestört. Urinuntersuchungen (Urin-Spot mit Bestimmung des Urinnatriumgehalts und der Fraktion des filtrierten Natriums: FNaE) können in diesen Situationen wertvolle ätiologische Hinweise geben und gehören zur Standarduntersuchung bei Vorliegen eines pathologischen Serumnatriumwertes beim Kind. Die
ausgeschiedene Fraktion des filtrierten Natriums (FNaE) berechnet sich nach folgender Formel (Normalwert: <1,5%): FNaE = Clearance Na · 100 Clearance KR = Urin – Na · V · Plasma – KR · 100 Plasma – Na Urin – KR · V
i Urinnatriumkonzentrationen <25 mmol/l sind vereinbar mit einer Reduktion des effektiven zirkulierenden Volumens (prärenale Ursache), Urinnatriumkonzentrationen >25 mmol/l sind vereinbar mit einer tubulären Dysfunktion, dem Gebrauch von Diuretika oder einem SIADH (Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion; [17]). Hyponatriämie. Häufige Ursachen einer Hyponatriämie (Serumnatriumwert <135 mmol/l) sind in . Tabelle 84.6 zusammengestellt. Bei rascher Entwicklung einer Hyponatriämie, insbesondere ohne begleitende Dehydratation, besteht ein großes Hirnödemrisiko. Relativ akut auftretende Symptome (spezifische Anamnese für ein Trauma) – wie Kopfschmerzen, Übelkeit, zerebrale Krampfanfälle oder Koma – sind klassische Leitsymptome. Bei Bestätigung einer Hyponatriämie erübrigt sich eine kraniale Computertomographie, weil diese nur einen unnötigen Zeitverlust darstellt, eine Therapie muss jedoch sofort eingeleitet werden. i Eine schwere symptomatische akute Hyponatriämie (Serumnatriumwert <120 mmol/l) erfordert eine schnelle Korrektur mit Natriumgabe in Form einer 3%igen Natriumchloridlösung bis zu einem Natriumwert von 125 mmol/l. Ab diesem Wert wird eine langsame Korrektur weitergeführt, v. a. mittels Flüssigkeitsrestriktion.
Bei einer chronischen Hyponatriämie, welche meist asymptomatisch verläuft, ist hingegen eine schnelle Korrektur von Beginn an kontraindiziert. In dieser Situation besteht ein erhebliches Risiko, durch die schnellen extra- und intrazellulären Salz- und Wasser verlagerungen zentrale pontine Hirnläsionen (Myelinose) zu provozieren [26]. Sowohl das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) mit pathologischer Wasserretention als auch das Syndrom des zerebralen »saltwasting« (CSW) mit Hyponatriämie und erhöhter Salzausscheidung kommen im Kindesalter in der eigentlichen Definition nur sehr selten vor. Als SIADH taxierte Störungen sind in der Regel iatrogen durch Zufuhr von zuviel freiem Wasser induziert [16, 17] oder
1143 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
84
. Tabelle 84.6. Ursachen der Hyponatriämie Gesamtkörpernatrium vermindert, Hypotone Dehydratation
Gesamtkörpernatrium normal
Gesamtkörpernatrium erhöht, Hypotone Hyperhydratation
Natriumverlust größer als Wasserverlust, Volumenmangel
Reine Wasserretention
Wasserretention größer als Natriumretention, Ödembildung
Schwere akute und chronische Lungenkrankheit
Herzinsuffizienz
Mineralokortikoidmangel
Inadäquate Vasopressionsekretion (SIADH)
Nephrotisches Syndrom
Salzverlustniere bei schwerer akuter Pyelonephritis
Erhöhte Empfindlichkeit des Osmorezeptors
Leberzirrhose mit Aszites
Entlastung einer obstuktiven Uropathie
Glukokortikoidmangel
Niereninsuffizinienz (mit Oligurie)
Nierenversagen mit Salzverlust
Hypothyreose
Polyurische Phase eines akuten Nierenversagens
Wasserintoxikation (Süßwassertrinken, Infusion hypotoner Infusionslösungen nach Operationen)
–
Tubulopathie (Zystinose)
Medikamente
–
Nephronophthise
–
–
Diuretika
–
–
Erbrechen
–
–
Gastroenteritis
–
–
Intestinale Fisteln
–
–
Verlust in den dritten Raum
–
–
Schrankenstörung bei Sepsis, Peritonitis, Verbrennungen
–
–
Nach Operationen mit mangelndem Volumen-(Natrium-)ersatz
–
–
Renal:
Extrarenal:
werden als solches bei vorliegender Hyponatriämie mit normalem Extrazellulärvolumen wegen kreislaufinduzierter pathologischer Vasopressinsekretion fehlinterpretiert. Die Diagnose eines CSW ist eine Ausschlussdiagnose. Intrazerebrale Läsionen sowie eine pathologische Natrium- und Chloridausscheidung müssen vorliegen. »Physiologische« Ursachen einer erhöhten Natriumund Chloridausscheidung – wie die Zufuhr von zuviel Wasser und Salz (expandiertes Extrazellulärvolumen), Diuretikatherapie oder ein Nierenversagen mit hoher Unrinproduktion (»high output renal failure«) – müssen primär ausgeschlossen werden [24]. i Auch beim Kind sollten isotonische Kochsalzlösungen zur Volumenerhaltungstherapie eingesetzt werden. latrogen induzierte Hyponatriämien können so weitgehend vermieden werden. Hypernatriämie. EineHypernatriämie(Natriumwert>145 mmol/l) entsteht v. a. bei reduzierter Wasserzufuhr respektiv bei erhöhtem Wasserverlust. Ein erhöhter Wasserverlust wird insbesondere bei
enormen insensiblen Verlusten (z. B. beim Frühgeborenen aufgrund seiner relativ großen Körperoberfläche im Vergleich zur Körpermasse, beim Verbrennungspatienten, beim hochfebrilen Kleinkind oder beim Kind mit einem Atemnotsyndrom) oder bei erhöhten gastrointestinalen Verlusten im Rahmen einer Gastroenteritis häufig unterschätzt. Irritabilität, Lethargie und Koma sind die Hauptsymptome einer schnell auftretenden Hypernatriämie. Diese führt zur Verschiebung von Körperwasser vom Intrazellulärraum in den Extrazellulärraum, d. h. zur Zellschrumpfung. Dies kann zu einem akuten Schrumpfen des Hirns führen, was Scherkräfte im Bereich der Meningen bewirkt und mit einem erheblichen Blutungsrisiko einhergeht. Ebenfalls wurden Sinus-venosus-Thrombosen und demyelinisierende Läsionen beschrieben. i Eine schwere Hypernatriämie (Natriumwert >155 mmol/l) ist beim Kind mit einer hohen Mortalität und beim Neugeborenen mit einem verminderten neurologischen Outcome (nach hypernatriämieinduzierter Hirnblutung) verbunden.
1144
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
Die Therapie zielt auf die Korrektur des Natriumspiegels und des zirkulierenden Volumens bei bestehendem Defizit an freiem Körperwasser. Letzteres ist jedoch schwierig zu eruieren (intrazellulärer Wassermangel!), weil klinische Zeichen nur eine Abschätzung des extrazellulären Volumens erlauben. Folgende Formel ist zur Berechnung der notwendigen Flüssigkeitsmenge zur Korrektur einer Hypernatriämie hilfreich [17]: Flüssigkeitsmenge zur Korrektur einer Hypernatriämie Defizit an freiem Wasser [ml] = 4 ml u Körpergewicht [kg] u angestrebter Abfall des Serumnatriumspiegels [mmol/l] Eine Korrektur sollte langsam erfolgen, d. h. maximal 1 mmol/h, bei schwerer Hypernatriämie (Natriumwert >170 mmol/l) sollte der Wert in den ersten 48–72 h nicht unter 150 mmol/l korrigiert werden.
Treten im Verlauf einer Korrektur Krampfanfälle auf (Hirnödem), sollte die Korrekturgeschwindigkeit reduziert und allenfalls vorübergehend eine hypertone Kochsalzlösung eingesetzt werden, um den Serumnatriumspiegel wieder leicht anzuheben. Eine Korrektur kann bei entsprechendem neurologischem Zustand des Kindes auch oral erfolgen. 84.3.5 Blutvolumen und Hämoglobingehalt
84
Das Blutvolumen ist bei Neugeborenen und Säuglingen mit etwa 80 ml/kg KG relativ groß (beim Neugeborenen kann dies stark variieren – von 50 bis 100 ml/kg KG, je nach Volumen der transplazentaren Transfusion bei Geburt) und sinkt im Verlauf des ersten Lebensjahres bis auf 65 ml/kg KG ab. Der Hämoglobingehalt – normalerweise bei Geburt wegen der tiefen intrauterinen arteriellen Sauerstoffsättigung des Fetus hoch (15–20 g/dl) – sinkt beim Säugling in den ersten 3 Monaten bis auf Werte von 8–12 g/ dl (Trimenonanämie), um dann bis Mitte/Ende des 1. Lebensjahres wieder auf Werte von 10–15 g/dl anzusteigen (. Tab. 84.7).
Prinzipien und Indikationen der Transfusionstherapie Indikationen. Bei Vorliegen einer Anämie stellt sich neben der Frage nach der Ätiologie die Frage, ob eine Bluttransfusion indiziert ist. Beim kritisch kranken Kind soll dies unabhängig vom Alter beurteilt werden – einzig auf der Basis, ob ein ausreichendes Sauerstoffangebot (DO2) gewährleistet werden kann. Es müssen deshalb schwer zu erfassende Faktoren, wie die Sauerstoffex-
traktion und das Herzminutenvolumen, bei dieser Entscheidung berücksichtigt werden. In Situationen mit möglicherweise kritischem DO2 (evtl. indirekt bestätigt durch das Vorhandensein einer metabolischen Azidose bei klinisch als »adäquat » beurteilter peripherer Durchblutung) sollten Hämoglobinkonzentrationen von 12 g/dl angestrebt werden; bei Patienten mit zyanotischem Herzfehler und Sauerstoffsättigungswerten <85% ist ein noch höherer Hämoglobinwert von 15–16 g/dl wünschenswert. Bei sonst gesunden Patienten mit akutem Blutverlust ist mit einem reduzierten DO2 ab einem Hämatokrit (Hkt) von 30% (Hämoglobinwert 10 g/dl), bei chronischer Anämie ab einem Hkt von etwa 25% (Hämoglobinwert 8 g/dl) zu rechnen. Eine Transfusion von Erythrozytenkonzentraten ist jedoch mit Ausnahme der oben erwähnten speziellen Situationen auch beim kritisch kranken Patienten bei einem Hämoglobinwert >8 g/dl kaum gerechtfertigt. Zwei einfache Transfusionsformeln helfen bei der Abschätzung des Transfusionsbedarfs: 4 6 ml Vollblut/kg KG erhöhen den Hämoglobinwert um 1 g/dl; 4 3 ml Erythrozytenkonzentrat/kg KG erhöhen den Hämoglobinwert um 1 g/dl. Auswahl des Blutkomponentenprodukts. Im Allgemeinen gel-
ten die gleichen Richtlinien bezüglich der Transfusionskomponententherapie wie beim Erwachsenen: 4 Transfusionen von Vollblutkonserven sind nicht mehr gebräuchlich. 4 Erythrozytenkonzentrate sollten während der Transfusion gefiltert werden (Leukozytenfilter). 4 Bei kleinen Kindern (unter 10 kg KG) oder bei großen Transfusionsmengen sollten die Erythrozytenkonserven mindestens auf Raumtemperatur oder höher erwärmt werden. »Fresh frozen plasma« (FFP) wird insbesondere beim Kleinkind bei hohen Körperflüssigkeitsverlusten (z. B. postoperative Thoraxdrainage, Aszitesdrainage) als Produkt der ersten Wahl eingesetzt – einerseits zur Kompensation der Flüssigkeitsverluste, andererseits um gleichzeitig die Blutkoagulationsfaktoren zu ersetzten, welche bei hohem Drainagevolumen ebenfalls verloren gehen. Damit kann zudem, jedoch allenfalls mit kleinen zusätzlichen Mengen an konzentriertem Albumin (langsam zu infundieren, insbesondere bei Säugling und Neugeborenem wegen der hohen Osmolarität der Lösung), der Albumingehalt aufrechterhalten werden. Als Zielgröße ist zur Aufrechterhaltung eines adäquaten kolloidosmotischen Druckes ein Albuminwert von 30 g/l anzustreben.
84.3.6 Enterale und parenterale Ernährung . Tabelle 84.7. Normale hämatologische Werte
auf der Intensivstation
Alter
Hämoglobin [g/dl]
Hämatokrit
Neugeborenes
14–20
0,45–0,65
Säugling ca. 2–4 Monate
8–12
0,25–0,40
Säugling ab 4–5 Monaten
10–15
0,30–0,45
Kleinkind
12–15
0,35–0,45
Eine adäquate Ernährung ist beim Kind essenziell, um den Energiebedarf für den metabolischen Grundumsatz (Energieverbrauch bei Ruhe), körperliche Aktivität und ein normales Wachstum sicherzustellen. Der metabolische Grundumsatz stellt normaler weise die größte Komponente (60–70%) des Energieverbrauchs bei Neugeborenem und Säugling dar (etwa 50–55 kcal/kg KG/Tag bzw. etwa 200–220 kJ/kg KG/Tag; bei Er wachsenen etwa 25 kcal/kg KG/Tag bzw. etwa 100 kJ/kg KG/ Tag). Der Zusatzenergieverbrauch bei körperlicher Aktivität,
1145 84.3 · Anatomische und physiologische Besonderheiten des Kindes und deren Konsequenzen
. Tabelle 84.8. Energiebedarf nach Alter bzw. Gewicht Alter/Gewicht
Energiebedarf
Neugeborenes
100–120 kcal/kg KG/Tag
<10 kg KG
100 kcal/kg KG/Tag
10–20 kg KG
1000 kcal/Tag + 50 kcal/kg KG/Tag für jedes kg über 10 kg KG
>20 kg KG
1500 kcal/Tag + 20 kcal/kg KG/Tag für jedes kg über 20 kg KG
welche insbesondere nach dem 1. Lebensjahr schnell zunimmt, beträgt beim Kleinkind fast das Doppelte des Energieverbrauchs eines Er wachsenen. Der normale Energiebedarf in Abhängigkeit von Alter bzw. Körpergewicht ist in . Tabelle 84.8 angegeben. i Der Energiebedarf in kcal ist etwa gleich groß wie der Wasserbedarf in ml.
Der metabolische Grundumsatz nimmt deutlich zu mit der Körpertemperatur (+ 10% pro 1°C über 37°C) und unter Stress (Trauma, Sepsis, postoperativ), nimmt jedoch ab unter Sedations- und Schmerztherapie (5–10%) und bei Muskelparalyse (bis 20%; [28]). Dies sind klassische Variabeln beim Intensivpatienten, die täglich in Erwägung gezogen werden müssen. Eine Senkung von Fieber bis evtl. zur Induktion einer Hypothermie zur Senkung der metabolischen Rate und/oder zur Reduktion des Gewebesauerstoffverbrauchs (VO2) kann in einigen Situationen durchaus gerechtfertigt sein (z. B. bei Verbrennungspatienten [13, 32], oder postoperativ nach herzchirurgischem Eingriff). Aktuell evaluieren mehrere kontrollierte randomisierte Studien den Effekt einer Hypothermiebehandlung auf den Outcome bei Kindern mit Schädel-Hirn-Trauma oder mit akuter hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie. Faktoren, die den Energiebedarf beim kritisch kranken Kind erhöhen 5 Unzureichende Aufnahme (Anorexie, Flüssigkeitsrestriktion, Nichts-per-os-Verordnungen) 5 Verminderte Absorption (Ileus, Durchfallerkrankungen, Magenrest bei verringerter Magenpassage) 5 Erhöhte Verluste (Durchfall, große Verbrennungsoberfläche, Drainageverluste) 5 Erhöhte metabolische Bedürfnisse (Fieber, Sepsis, Verbrennung) 5 Erhöhte Aktivität (Atemarbeit) 5 Vorbestehende konsumierende Erkrankungen (zystische Fibrose, chronische Herzinsuffizienz etc.)
Das kritisch kranke Kind, wie auch der Erwachsene, benötigt wegen des vorhandenen Hypermetabolismus und einer verminderten Kapazität der Substratverwertung (Substratoxidation) mit dem Risiko einer sich schnell entwickelnden katabolen Stoffwechsellage [6] eine erhöhte Energiezufuhr. Optimal wäre deshalb die tägliche Messung des totalen Energieverbrauchs mittels indirekter Kalorimetrie sowie der Stickstoffausscheidung (als
84
Marker der Proteinoxidation; [16]). Die indirekte Kalorimetrie ist jedoch umständlich und insbesondere bei intubierten Patienten wegen häufig vorhandener Tubusleckage mit vielen Fehlerquellen behaftet [8]. Praktische und pragmatische Regeln für die Energiezufuhr 5 Man rechnet mit einem um 10–15% erhöhten Energieverbrauch bei jedem sedierten Intensivpatienten (Ausnahme: Verbrennungspatienten: + 50–100%). 5 Das spontanatmende, nicht sedierte Kind mit einem Atemnotsyndrom verbraucht etwa 20–30% mehr Energie. 5 Aminosäuren können nur dann zur Proteinsynthese genutzt werden, wenn genügend Energie aus nichtproteinhaltigen Quellen zugeführt wird (d. h. pro 1 g Aminosäuren 20–30 kcal Energie aus nichtproteinhaltigen Quellen). I5 In der Regel wird bei Kindern eine Glukosezufuhr von 6–10 mg/kg KG/min gut toleriert, kann aber bei eingeschränkter Glukosetoleranz (im Rahmen einer Sepsis oder eines schweren Traumas, postoperativ) zur Hyperglykämie führen. 5 Die Fettzufuhr wird schrittweise von 1–3 g/kg KG/Tag in 1-g-Schritten (beim Neugeborenen von 0,5–3 g/kg KG/ Tag in 0,5-g-Schritten) aufgebaut. Eine Reduktion der Fettzufuhr wird im Allgemeinen nur bei Vorliegen einer schweren Sepsis oder eines systemischen inflammatorischen Syndroms (SIRS) empfohlen. In der Regel ist es ratsam, bei erhöhtem Wert des C-reaktiven Proteins die Fettzufuhr auf maximal 1 g/kg KG/Tag zu reduzieren (>10 mg/l).
Auswirkungen einer Unterernährung beim kritisch kranken Kind 5 5 5 5 5
Verzögerte oder schlechte Wundheilung Verminderung der körpereigenen Abwehrkräfte Erhöhtes Infektrisiko Wachstumsstillstand Erhöhte Mortalität
Enterale Ernährung, Sondenernährung Wenn immer möglich, sollte ein enteraler Ernährungsaufbau, auch über Magensonde, so früh wie möglich angestrebt werden. Das Vorhandensein von Darmgeräuschen erlaubt einen Ernährungsbeginn (außer nach abdominalchirurgischem Eingriff mit Eröffnung des Darmlumens) auch bei noch vorhandenem Magenrestinhalt, welcher beim gesunden Kind je nach Alter bis zu 50 ml betragen kann. Neugeborene werden wenn möglich mit Muttermilch oder klassischen Säuglingsmilchzubereitungen via Sonde ernährt, für Kleinkinder und Kinder bis ins Schulalter exisitieren spezifische Sondenernährungsprodukte, welche meist mit dem Beinamen »Junior« auf dem Markt sind. Hochgradig hydrolisierte Produkte (sog. Semielementardiäten) sind nur nach spezifischer Verordnung eines Kinderarztes oder eines pädiatrischen Gastroenterologen bei bewiesener Kuhmilcheiweißallergie oder bestehender Malabsorption einzusetzen.
1146
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.9. Richtwerte zum Kohlenhydrat-, Eiweiß- und Fettbedarf bei parenteraler Ernährung von Säuglingen und Kindern Alter/Gewicht
Glukosebedarf
Aminosäurebedarf
Fettbedarf
Neugeborenes
6–10 mg/kg KG/min
2,5–3 g/kg KG/Tag
Bis 3 g/kg KG/Tag
<10 kg KG
8–10 mg/kg KG/min
2–3 g/kg KG/Tag
2–3 g/kg KG/Tag
6–8 mg/kg KG/min
1,5–2 g/kg KG/Tag
1,5–2 g/kg KG/Tag
6 mg/kg KG/min
1,0–2 g/kg KG/Tag
1–2 g/kg KG/Tag
10–20 kg KG >20 kg KG
Bei langfristig notwendiger Sondenernährung – z. B. bei neurogenen Schluckstörungen, Missbildungen des Ösophagus, des Magens oder des Darmes sowie bei chronischen Ernährungsproblemen (notwendige hyperkalorische Ernährung, z. B. bei zystischer Fibrose) – ist eine Ernährung via Gastrostomie oder Jejunostomie zu erwägen. Jejunalsonden, welche chirurgisch üblicherweise in Kurznarkose eingelegt werden, erlauben die kontinuierliche Sondierung mit reduziertem Risiko der Aspiration von Mageninhalt (z. B. bei ausgeprägtem gastroösophagealem Reflux).
Parenterale Ernährung
84
i Beim Kind ist bei zu erwartenden enteralen Ernährungsschwierigkeiten oder bei einer Kontraindikation zur enteralen Ernährung an eine parenterale Ernährung viel frühzeitiger zu denken als beim Erwachsenen (beim Neugeborenen nach 1–2 Tagen, beim Kleinkind nach spätestens 3–4 Tagen).
Eine parenterale Ernährung beim Kleinkind erfordert wegen der Verwendung oft hochkonzentrierter Glukoselösungen (Glukose >10%) in der Regel einen zentralvenösen Zugang. Die Prinzipien der parenteralen Ernährung sind die gleichen wie beim Erwachsenen, allerdings sind beim Kind eine höhere Kalorien-, Eiweißund Fettzufuhr notwendig (. Tab. 84.9). 84.3.7 Sedierung und Analgesie
Sedierung In erster Linie werden Benzodiazepine (Midazolam, Lorazepam) und Chloralhydrat in der pädiatrischen Intensivmedizin eingesetzt und häufig mit Opiaten zur Analgesie kombiniert. Midazolam hat eine relativ kurze Halbwertszeit und eignet sich deshalb in Dosen von 0,1–0,2 mg/kg KG/h (max. 0,3 mg/ kg KG/h) zur kontinuierlichen Sedation mittels Dauerinfusion und bewährt sich auch für die Behandlung von zerebralen Krampfanfällen (insbesondere beim Status epilepticus). Wegen der aktiven Metabolite mit teilweise langer Halbwertszeit besteht ein gewisses Risiko der Übersedation oder einer gewissen Latenz (bis 24 h und mehr in Extremfällen) zwischen Absetzten und Erwachen des Kindes, dies insbesondere beim Neugeborenen. Als Alternative und insbesondere zur Kurzzeitsedation kann Chloralhydrat in einer Dosis von 25–50 mg/kg KG eingesetzt werden, und zwar oral, per Sonde oder rektal. Als uner wünschte Nebenwirkung, wie eigentlich bei allen Sedativa, kann zeitweise ein Blutdruckabfall beobachtet werden. Mit ei-
ner verlängerten Wirkung ist bei Patienten mit Leberinsuffizienz zu rechnen. ! Cave Eine Bolusgabe von Midazolam kann zu hämodynamischer Instabilität führen und sollte deshalb beim septischen Patienten, wenn auch im noch kompensierten Schockstadium, nur mit größter Vorsicht verwendet werden. Postoperativ unmittelbar nach herzchirurgischem Eingriff sind Bolusgaben obsolet [23]. Generell empfiehlt es sich, unabhängig von der verwendeten pharmakologischen Substanz, bei der Sedation des hämodynamisch potenziell unstabilen Kindes auf Bolusgaben zu verzichten
Analgesie Die Erkennung von Schmerzen beim Kleinkind braucht teilweise viel Fingerspitzengefühl. Ein Kind mit Schmerzen muss nicht unbedingt unglücklich erscheinen oder weinen, es kann hingegen einen gestressten, ängstlichen Eindruck vermitteln. Ebenfalls ist es ein Irrtum zu glauben, dass ein schlafendes Kind keine Schmerzen haben kann. Üblicherweise müssen zur Erfassung des Schmerzes indirekte Parameter – wie erhöhte Herzfrequenz, erhöhter Blutdruck, Unruhe und andere mehr – herangezogen werden. Hilfreich können sog. »pain scales« zur Erfassung möglicher Schmerzen sein – nicht nur bei Kindern, die sich noch nicht verbal ausdrücken können, sondern auch bei größeren Kindern (. Abb. 84.9). Visuell gestaltete Skalen (abgestuft vom traurigen bis zum lächelnden Gesicht) bewähren sich sehr gut beim ansprechbaren Kind [13]. Opioide, insbesondere Morphin, als Dauerinfusion sind klassische Schmerzmedikamente in der pädiatrischen Intensivmedizin. Bei größeren, intubierten Kindern werden Dosen von 40– 80 Pg/kg KG/h gut vertragen, beim intubierten Säugling reichen oft kleinere Dosen von 10–20 Pg/kg KG/h. Beim größeren, nicht intubierten Kind werden Dosen von 40–80 Pg/kg KG/h normalerweise ohne Zeichen einer Atemdepression gut vertragen, bei nicht beatmeten Säuglingen muss die Dosis jedoch drastisch auf <20 Pg/kg KG/h gesenkt werden. i Fentanyl, seitens der Hämodynamik sehr gut verträglich, kann als Alternative verabreicht werden, eine gewisse Zurückhaltung ist jedoch wegen berichteter akuter Thoraxrigidität nach Fentanyl-Bolusgaben beim Kind jeglichen Alters gerechtfertigt. Propofol, ein Hypnotikum, wird regelmäßig im Operationssaal für die Kurzzeitanästhesie eingesetzt und bewährt sich ebenfalls auf der Intensivpflegestation während Kurzeingriffen.
1147 84.4 · Kardiopulmonale Reanimation im Kindesalter
84
. Abb. 84.9. Modifizierte »Face Pain Scale – Revised«. (Nach [13], weitere Informationen unter www.painsourcebook.ca)
! Cave Aufgrund von berichteten schweren Komplikationen beim Kleinkind ist jedoch nach wie vor von einer Dauersedation mit Propofol abzuraten [30].
84.3.8 Morbiditäts- und Mor talitätsscores Zunehmend werden auch in der Kinderintensivmedizin Scoresysteme zur Schweregradbeurteilung und zur »outcome prediction«, letztendlich aber auch zur Qualitätskontrolle eingesetzt. Scoresysteme, wie APACHE-II oder -III und SAPS II, die zur Schweregradbeurteilung beim Erwachsenen üblicherweise eingesetzt werden, oder der TISS-28 als therapeutischer Score eignen sich jedoch beim Kind nicht. Das Mortalitätsrisiko verhält sich proportional zur Anzahl der versagenden Organe: 5 ca. 1% bei Versagen eines Organs, 5 ca. 10% bei Versagen von 2 Organen, 5 ca. 50% bei Versagen von 3 Organen, 5 >75% bei Versagen von 4 Organen [29]. Diese einfachen Grundregeln bewähren sich im klinischen Alltag, insbesondere auch als Hilfe beim täglichen Elterngespräch.
Die Definition des Organversagens beruht auf physiologischen Variabeln, deshalb erlaubt die Erfassung individueller physiologischer Parameter eine Verfeinerung der genannten Regeln. Für das Kind wurden altersspezifische Mortalitätsscores entwickelt, wie der PRISM-III (Pediatric Risk of Mortality; [21]), der PIM bzw. neuerdings der PIM2 (Pediatric Index of Mortality; [25]), anzuwenden beim Kind und beim Säugling ab dem 28. Lebenstag, der CRIB (Clinical Risk Index for Babies) oder der SNAP (Score for Neonatal Acute Physiology), anzuwenden bei Neugeborenen mit weniger als 1500 g Geburtsgewicht [20]. Der TISS-Score existiert mittlerweile in mehreren adaptierten Varianten und kann auch beim Kind hilfreich sein, insbesondere zur Beurteilung des Pflegeaufwandes und -bedarfs eines Patienten. Mortalitätsscores für das Kindesalter 5 PRISM: Datenerfassung (18 Variablen, maximaler und minimaler pathologischer Wert) innerhalb der ersten 24 h auf der Intensivstation 5 PRISM III: Datenerfassung (23 Variablen, maximaler und minimaler pathologischer Wert), innerhalb den ersten 12–24 h nach Aufnahme auf die Intensivstation [21] Nachteile des PRISM und des PRISM III: keine Erfassung vorbestehender Grunderkrankungen, eine teure Lizenz muss gekauft werden 6
5 PIM2: Er fassung von physiologischen Daten (7 Daten) sowie Kategorisierung in »high risk« oder »low risk« vorbestehender Erkrankungen, erhoben beim ersten Kontakt (oder innerhalb der ersten Stunde nach erstem Kontakt) des Intensivmediziners mit dem Patienten [24] Vorteile des PIM: einfache Datenerfassung, vorbestehende Erkrankungen werden erfasst, das Programm steht gratis zur Verfügung. Krankheitsbilderspezifische Scores existieren in großer Zahl (z. B. Meningokokkensepsis-Score, Pädiatrischer Traumascore, Lung Injury Score), ihre Verlässlichkeit, den bestmöglich Outcome vorauszusagen, bleibt jedoch z. T. fragwürdig.
84.4
Kardiopulmonale Reanimation im Kindesalter
84.4.1 Grundüberlegungen Um schnell und effizient eine Kinderreanimation durchführen zu können, müssen die pathophysiologischen Mechanismen, welche beim Kind zum Herz-Kreislauf-Stillstand führen können, bekannt sein. ! Ist der Herz-Kreislauf-Stillstand einmal eingetreten, sinken die Chancen einer erfolgreichen Reanimation praktisch auf Null. Bei einem Reanimationserfolg sind praktisch in allen Fällen neurologische Langzeitschäden zu befürchten [22].
Der Erkennung von häufig unspezifischen Symptomen kommt eine große Bedeutung zu, der Erfolg der Reanimation beim Kind liegt in der Prävention des Herz-Kreislauf-Stillstands. Der primäre Herzstillstand als Folge einer Herzrhythmusstörung, ein klassisches Ereignis beim erwachsenen Patienten, ist beim Kind äußerst selten. Der sekundäre Herzstillstand, charakterisiert durch eine Bradykardie, gefolgt vom akuten Sinusstillstand, ist hingegen viel häufiger und direkte Folge einer primären respiratorischen Störung oder eines Kreislaufversagens mit – meist hypoxiebedingter – intrazellulärer Azidose. Der Atemstillstand tritt also in der Regel vor dem Herz-Kreislauf-Stillstand auf. Unterschiede in der Entstehung des Herzversagens zwischen Kindern und Erwachsenen 5 Kinder: Ateminsuffizienz/-stillstand – Hypoxie/Anoxie – Herzstillstand 5 Erwachsene: Herzversagen/-stillstand – Anoxie – Atemstillstand
1148
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
Trotz einer Vielzahl verschiedener möglicher Ursachen eines HerzKreislauf-Stillstands beim Kind muss die genaue Ursache zur Initiation einer effektiven Reanimation nicht unbedingt bekannt sein. Reanimationsbemühungen zielen frühzeitig auf eine Verbesserung der zellulären Sauerstoffversorgung ab, weil nur dies schnell zu einer Erholung des Herz-Kreislauf-Systems führen kann.
Es hat sich gezeigt, dass bei schon allgemein schlechter Prognose (kaum je neurologisch intaktes Überleben nach Out-of-hospitalHerz-Kreislauf-Stillstand beim Kind [22]) nach 20 min erfolgloser kardiopulmonaler Reanimation oder mehr als 2 Dosen Adrenalin (hochdosierter Bolus von 1 Pg/kg KG) ’die Reanimation eingestellt werden sollte.
i Eine Sicherung der Atemwege mit effizienter alveolärer Oxygenation und Ventilation ist deshalb das oberste und erste Prinzip einer jeglichen Reanimation beim Kind.
Sicherung der Atemwege und endotracheale Intubation
84.4.2 Ursachen des Herz-Kreislauf-Stillstands Die beiden häufigsten Ursachen des akuten Atem-Herz-Kreislauf-Stillstands beim Kind sind: 4 akute Atmeninsuffizienz, v. a. bei Infektion oder akuter Verlegung der oberen Atemwege, 4 Schockzustand verschiedener Ätiologie, doch meistens im Rahmen einer Sepsis. In beiden Situationen kommt es zu einem möglicherweise schnell progressiven kombinierten kardiopulmonalen Versagen und letztendlich zum Herzstillstand. Spezifische Therapiemaßnahmen dieser Krankheitsbilder werden in 7 Kap. 84.5 in den entsprechenden Abschnitten diskutiert. 84.4.3 Allgemeine Maßnahmen der Reanimation
84
i Während jeder Reanimation eines Kindes mit Herz-Kreislauf-Stillstand (Pulslosigkeit) muss frühzeitig die Frage gestellt werden, wann es sinnvoll und im Interesse des Kindes ist, eine erfolglose Reanimation abzubrechen.
Die Sicherung der Atemwege ist immer das oberste und erste Prinzip einer erfolgversprechenden Reanimation beim Kind. Die richtige Technik bei Maskenbeatmung sowie der Gebrauch von Hilfsmitteln (oropharyngealer Tubus) erlauben in fast allen Fällen, auch bei hochgradiger Obstruktion der oberen Atemwege (Epiglottitis, Krupp-Syndrom, Laryngotracheomalazie, Fremdkörperaspiration), eine ausreichende Oxygenation zu gewährleisten und Zeit zu gewinnen, um den Erfahrensten intubieren zu lassen. ! Cave Es ist gefährlicher, ein Kind zu intubieren als es mit der Maske zu beatmen.
Herz-Kreislauf-Unterstützung und Volumensubstitution Sofern beim hämodynamisch instabilen Kind (auch im noch kompensierten Schockzustand) innerhalb von 2 Versuchen kein intravenöser Zugang gelegt werden kann, muss eine intraossärer Zugang gewählt werden. Legen eines intraossären Zugangs Die klassische Punktionsstelle für die intraossäre Infusion ist die anteriomediale Dreiecksfläche des proximalen Tibia6
. Tabelle 84.10. Dosierungen der gebräuchlichsten Medikamente im Rahmen der kardiopulmonalen Reanimation Medikament
Dosierung
Bemerkungen
Adenosin
0,1–0,2 mg/kg KG Maximaldosis: 12 mg
Schnelle Bolusgabe
Atropin
0,02 mg/kg KG pro Dosis Minimaldosis: 0,1 mg maximaler Bolus: 0,5 mg beim Kind, 1,0 mg beim Erwachsenen
Kalziumchlorid 10%
20 mg/kg KG pro Dosis
Langsam i.v.
Dopamin
2–20 µg/kg KG/min
Adrenerger Effekt ab 15–20 µg/kg KG/min
Epinephrin (Adrenalin) 4 Bei Bradykardie
4 Dauerinfusion
i.v./i.o.: 0.01 mg/kg KG = 0,1 ml/kg KG (1 : 10000) Endotracheal: 0,1 mg/kg KG = 0,1 ml/kg KG (1 : 10000) Erstdosis i.v./i.o.: 0,01 mg/kg KG = 0,1 ml/kg KG (1 : 10000) Endotracheal: 0,1 mg/kg KG = 0,1 ml/kg KG (1 : 1000) Folgende Dosen i.v./i.o./endotracheal: 0,1 mg/kg KG = 0,1 ml/ kg KG (1 : 1000); maximal bis 0,2 mg/kg KG 0,1–1,0 µg/kg KG/min
Lidocain
1 mg/kg KG (i.v. als Bolus); Dauerinfusion: 20–50 µg/kg KG/min
Natriumbikarbonat
1 mEq/kg KG pro Dosis oder 0,3×kg KG×Basendefizit (erlaubt vollständige Korrektur des Basendefizits)
4 Bei Asystolie oder Pulslosigkeit
Langsam i.v. als Kurzinfusion (Cave: hohe Osmolarität; 4,2%ige Lösung bei Neugeborenen und Säuglingen); nur bei sichergestellter Ventilation wegen erhöhter CO2-Produktion
1149 84.4 · Kardiopulmonale Reanimation im Kindesalter
schafts (1 cm medial und 1 cm distal der Epiphysenfuge). Es wird eine 13- oder 18-G-Nadel mit Stilett verwendet. Bei der Punktion wird ein plötzliches Einbrechen in den Knochenmarkraum verspürt; die Nadel sollte nun fest sitzen und nicht mehr beweglich sein. Nach einer Kontrollaspiration (Knochenmark) kann über diesen Zugang eine vollständige, schnelle Volumenreanimation oder Medikamentenadministration entsprechend einer großkalibrigen intravenösen Leitung durchgeführt werden. Eine regelmäßige Kontrolle der muskulären Tibialoge ist unabdingbar (Cave: Extravasationsrisiko bei akzidentellem Durchbrechen der posterioren Kortikalis).
84
Cave: Bei Intubation besteht wegen der hämodynamisch potenziell instabilen Lage (auch beim noch kompensierter Schockzustand) und unter dem vasodilatativen Effekt von verabreichten Sedativa und Analgetika ein enormes Risiko einer akut auftretenden Hypotonie mit akutem Herz-Kreislauf-Stillstand. Dies ist ein klassischer Fall bei der Intubation eines Kindes mit septischem Schockzustand (z. B. mit instabiler Meningokokkensepsis) durch den Unerfahrenen vor Transport des Kindes.
Verbrennungen, Inhalationsverletzungen und Rauchvergiftung Die Dosierungen der gebräuchlichsten Medikamente im Rahmen der kardiopulmonalen Reanimation sind . Tabelle 84.10 zu entnehmen. 84.4.4 Spezielle Situationen bei der Reanimation
Anaphylaktische Reaktion Häufigste Ursachen einer akuten allergischen Reaktion sind Pencillin, Latex, Kontrastmittel und spanische Nüsse. Maßnahmen bei anaphylaktischer Reaktion 5 Bei Zeichen der Atemwegsobstruktion: Adrenalin (10 Pg/kg KG i.m.), evtl. Salbutamol per Inhalation; sofern erfolglos: Intubation 5 Bei Pulslosigkeit: sofortige kardiopulmonale Reanimation, Adrenalin (10 Pg/kg KG) sowie Volumenbolus von 20 ml/kg KG 0,9%ige NaCl-Lösung 5 Eine Allergieabklärung ist nach einer anaphylaktischen Reaktion auf jeden Fall dringend zu empfehlen
Hypovolämischer und/oder septischer Schock Häufigste Ursachen eines hypovolämischen Schocks beim Kleinkind sind akute oder subakute Flüssigkeitsverluste bei Dehydratation bzw. nach Trauma oder eine Sepsis. Maßnahmen bei hypovolämischem und/oder septischem Schock 5 Verabreichung von 100% Sauerstoff 5 Intubation bei eingetrübtem (»Glasgow Coma Scale« <8) oder schwer verletztem Kind oder bei Bedarf von großen Mengen an Volumenersatz (>40 ml/kg KG) 5 Verabreichung von 100% Sauerstoff 5 Intubation bei eingetrübtem (»Glasgow Coma Scale« <8) oder schwer verletztem Kind oder bei Bedarf von großen Mengen an Volumenersatz (>40 ml/kg KG) 5 Volumengabe: 40 ml/kg KG (kumulatives Volumen!) mittels einer kristalloiden oder kolloiden isotonen Lösung 5 Bei persitierender Hypotonie empfiehlt sich die Gabe eines Adrenalinbolus 6
i Bei ausgedehnten Körperverbrennungen bzw. Verbrennungen oder Verbrühungen im Gesichts- oder Oberkörperbereich beim Kind muss immer auch an mögliche Inhalationsverletzungen (durch Rauch oder Hitze) gedacht werden.
Eine Verabreichung von 100% Sauerstoff ist in jedem Fall indiziert, die Atemwege müssen frühzeitig gesichert werden, weil ein evtl. erst später auftretendes Larynxödem die Atemwege schnell obstruieren kann. Ebenfalls muss nach Zeichen einer Kohlenmonoxyd- (CO-) oder Zyanidvergiftung bewusst gesucht werden. Hinweis auf eine CO-Vergiftung kann das Vorliegen einer Tachypnoe oder einer Azidose bei guter Oxygenation (normale transkutane Sauerstoffsättigung) sein. Die Messung des O2-Sättigungswertes mit einem CO-Oxymeter ist absolut notwendig. Bei Vorliegen einer CO-Vergiftung (HbCO-Wert >15%) ist eine sofortige Therapie mit 100% Sauerstoff indiziert. (Die Indikation zur hyperbaren Sauerstofftherapie wird beim Kind restriktiv gestellt weil oft schwierig zu organisieren, mit zu vielen Risiken verbunden und bezüglich Outcome-Daten bewiesenermaßen nur effektvoll beim komatösen Patienten.) Das Risiko einer Zyanidvergiftung ist relativ groß bei einer Rauchintoxikation. Eine Antidottherapie sollte deshalb schnell, sicher aber bei vorhandener metabolischer Azidose, eingeleitet werden (Hydroxocobalamine 50 mg/kg KG in isotonischer Glukoselösung und 4 ml/kg KG Na-Thiosulfate 10% als Kurzinfusion über 3 bis 5 min). Ein hypovolämischer Schockzustand ist das zweite große Risiko für einen Verbrennungspatienten. Beim Kind mit einer relativ größeren Körperoberfläche im Vergleich zum Erwachsenen ist die Gefahr des Volumenverlusts noch ausgeprägter (. Tab. 84.11; 7 Kap. 72.1.3). Die Volumentherapie besteht aus dem Erhaltungsbedarf und dem Ersatz des zu erwartenden Flüssigkeitsverlusts pro 24 h gemäß den in folgender Übersicht aufgeführten Richtlinien. Volumentherapie bei pädiatrischen Verbrennungspatienten 5 Für die ersten 24 h nach dem Unfall – Erhaltungsbedarf: 1800 ml/m2 Körperober fläche – Verlustersatz: 4–6 ml u kg KG u Prozent verbrannter Körperoberfläche, wobei die Hälfte dieser Menge in den ersten 8 h verabreicht wird 6
1150
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.11. Modifizierte Neunerregel beim Kind zur Abschätzung der betroffenen Körperoberfläche bei Verbrennungsunfällen Körperpartie Kopf und Hals
Erwachsener [%]
Kind [%]
9
18
Pro Arm
18
18
Brustkorb
18
18
Rücken
18
18
Pro Bein
18
14
1
0–1
Genitalien
5 Für die zweiten 24 h nach dem Unfall – Erhaltungsbedarf: 1800 ml/m2 Körperober fläche – Verlustersatz: 2–3 ml u kg KG u Prozent verbrannter Körperober fläche 5 Für die dritten 24 h nach dem Unfall – Erhaltungsbedarf: 1800 ml/m2 Körperober fläche – Verlustersatz: 1 ml u kg KG u Prozent verbrannter Körperober fläche
84
Die genannten Formeln können nur als grobe Richtlinien aufgefasst werden, da auch hier oder mit anderen gebräuchlichen Formeln nach wie vor ein großes Risiko der Hyper- oder Hypohydratation besteht, beide mit einem beträchtlichen Mortalitätsrisiko verbunden. Jede Hydratationstherapie erfordert deshalb eine mehrmals tägliche Beurteilung des Hydratationszustands mit Messung des Zentralenvenendrucks, der Urinausscheidung und wiederholten Blutgasanalysen. Als Schlusspunkte einer guten Hydratationstherapie sollten, in Abwesenheit einer Glukosurie, eine Urinausscheidung von 0,5–1,0 ml/kg KG/h, ein Basendefizit von weniger als –2 und ein systolischer Blutdruck bei Kleinkindern von mindestens 70–90+2u das Alter des Patienten angestrebt werden. Dopamin in geringer Dosierung (5 Pg/kg KG/min) soll evtl. frühzeitig eingesetzt werden und scheint insbesondere beim Kleinkind einen positiven Effekt auf die Urinausscheidung zu haben. In einer zweiten Phase (d. h. sobald wie möglich) ist eine erhöhte Kalorienzufuhr vom 1,5-Fachen des metabolischen Grundumsatzes mit einer reichlichen Proteinzufuhr von 2,5– 3 g/kg KG/Tag sicherzustellen. Die Ernährung sollte, wenn immer möglich, enteral erfolgen. Der Verlustersatz erfolgt intial mit Kristalloidlösungen und sobald wie möglich mit »fresh frozen plasma« (FFP) und evtl. zusätzlich mit 20%iger Albuminlösung – je nach gemessenem Serumalbuminwert (Zielgröße: Serumalbuminwert etwa 30 g/l). Ein chirurgisches Débridement wird frühzeitig empfohlen.
Ertrinkungsunfall mit oder ohne Hypothermie Ein Ertrinken läuft klassischerweise in 2 Phasen ab: 4 Das Kind sinkt ohne jegliche Verzweiflungsbewegungen ab (nicht wie im Film normalerweise gezeigt) und ohne
Atembewegungen, und zwar wegen des vorhandenen sog. »Diving-Reflexes« (Apnoe, Bradykardie, periphere Vasokonstriktion; [10]). 4 Atembewegungen erfolgen erst nach dieser ersten Phase bei Ansteigen des CO2- und Abfallen des O2-Partialdrucks. Diese Atembewegungen können dann erst sekundär zur Wasseraspiration führen [14]. i Wird das Ertrinkungsopfer frühzeitig erfolgreich reanimiert, ist dennoch mit sekundären Folgen des Ertrinkens zu rechnen.
Neben den Auswirkungen einer möglichen hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie ist in der Frühphase nach Reanimation v. a. mit einem Lungenödem zu rechnen, und zwar wegen der Absorption von Wasser in den Blutkreislauf mit erhöhtem zirkulierenden Blutvolumen und erhöhtem intrapulmonalen Shunt (aufgrund regionaler Hypoxie – Flüssigkeit in den Atemwegen und Surfactantinaktivierung, gefolgt von Atelektasenbildung), welcher zur systemischen Hypoxie führt mit in der Folge myokardialer Depression und einer pulmonalen Hypertension. Ein ARDS kann sich in wenigen Stunden ausbilden. i Eine frühzeitige Reanimation mit Schwerpunkt auf der Sicherstellung der Atemwege und Lungeninsufflation ist deshalb entscheidend zur Verbesserung der Prognose. Erfolgt die künstliche Beatmung bereits während des Rettungsvorgangs noch im Wasser, kann die Überlebenschance (neurologisch intaktes Überleben) um ein Vielfaches verbessert werden. Akzidentelle Hypothermie. Die akzidentelle Hypothermie ist
definiert als Abfall der Körpertemperatur durch äußerliche Einwirkung. Dies kann auftreten beim Ertrinkungsunfall, aber auch bei körperlicher Inaktivität bei tiefen Lufttemperaturen. Die Erfassung der Umstände, welche zur Körperunterkühlung geführt haben, ist in der Reanimationssituation entscheidend, insbesondere wenn der Abbruch einer erfolglosen Reanimation diskutiert werden muss. Die Fragen, die sich v. a. stellen, sind: 4 Ist der Herz-Kreislauf-Stillstand vor dem Abfall der Körpertemperatur aufgetreten und somit die Hypothermie v. a. eine Sekundärerscheinung? Diese Situation ist mit einer äußerst schlechten Prognose assoziiert (d. h. kein neurologisch intaktes Überleben nach erfolgreicher Reanimation zu erwarten). 4 Kam es sehr schnell zu einem Körpertemperaturabfall? Dies ist der Fall beim Ertrinkungsunfall in kaltem, insbesondere fließendem Wasser. Intaktes Überleben kann bei schwerer Unterkühlung (Körpertemperatur <33°C) in dieser Situation beobachtet werden. 4 Besteht eine assoziierte Grunderkrankung (metabolisches oder endokrinologisches Grundleiden, Trauma, Intoxikation)? Eine Reanimation muss erfolgen, bis zumindest eine Körpertemperatur von 32°C erreicht wird, nach dem Motto: »No one is dead unless warm and dead.« Die Körpererwärmung muss in einer ersten Phase schnell erfolgen, entweder mittels extrakorporellem Kreislauf oder mit warmen Peritonealspülungen, evtl. zusätzlich mit Warmluftgeneratoren, warmen intravenösen Flüssigkeitsgaben und Magenspülungen (. Abb. 84.10). Während der Körpererwärmung tritt
1151 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
84
i Sowohl die frühzeitige Erkennung als auch die korrekte Beurteilung von Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege oder neurologischer Probleme, welche eine sofortige Intervention verlangen, sind von entscheidender Bedeutung und tragen wesentlich dazu bei, Morbidität und Mortalität zu vermindern.
In einer initialen Phase des Handelns steht immer das übergeordnete Prinzip der adäquaten Sauerstoffversorgung des Gehirns. Die Grundzüge der Erstmaßnahmen, analog zur Situation beim Erwachsenen, beinhalten somit die 3 Punkte des ReanimationsABC: 4 Freilegung und Stabilisation der Atemwege (»airway«), 4 Sicherstellung einer adäquaten Atmung (»breathing«), 4 Aufrechterhaltung einer adäquaten Hämodynamik (»circulation«).
. Abb. 84.10. Algorithmus zur schnellen Entscheidungshilfe bei der Reanimation eines hypothermen Kindes
eine periphere Vasodilatation mit venösem Blutpooling auf. Eine Volumentherapie von bis zu 40 ml/kg KG ist notwendig. Ein Kammerflimmern muss defibrilliert werden, gefolgt von einer Volumenbolusgabe von mindestens 20 ml/kg KG (Kristalloid, keine Glukose!). Auf eine Reanimation beim hypothermen Patienten darf bei einem Blutglukosespiegel von >20 mmol/l (sofern keine Glukose zugeführt wurde – diese kann wegen peripherer Glukoseintoleranz beim hypothermen Patienten nicht metabolisiert werden) sowie bei einem pH-Wert <6,5 als Ausdruck einer irreversiblen Gewebeanoxie verzichtet werden. Der Serumkaliumspiegel sollte nicht zur Entscheidungshilfe herangezogen werden. 84.5
Spezifische Pathologien/Situationen
84.5.1 Atemnot und akute respiratorische
Insuffizienz Akute respiratorische Probleme gehören zu den häufigsten Indikationen für eine Verlegung eines kritisch erkrankten Neugeborenen oder Kindes auf eine Intensivstation. Häufigste Ursachen der akuten respiratorischen Insuffizienz (ARI) beim Kind sind fulminat verlaufende entzündliche Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege, wobei die gegenüber dem Erwachsenen enorme Schleimhautschwellung in den relativ kleineren Atemwegen eine wichtige Rolle spielt. > Definition der akuten respiratorischen Insuffizienz (ARI) Versagen der Lungenfunktion (Aufnahme von O2, Abgabe von CO2), bedingt durch 4 »lung failure« (Versagen der gasleitenden und gasaustauschenden Strukturen), charakterisiert durch arterielle Hypoxämie, 4 »pump failure« (Versagen des neuromuskulären Apparats), charakterisiert durch Hyperkapnie und Azidämie, 4 »lung and pump failure« (globale respiratorische Insuffizienz).
Ein Transport des erkrankten Kindes kommt erst infrage, nachdem alles unternommen wurde, um eine optimale Sauerstoffversorgung des Gehirns sicherzustellen. Studien zeigen, dass bis zu 50% aller kritisch erkrankten Kinder während des Transports auf irgendeine Art eine Atemunterstützung benötigen und dass zusätzliche Maßnahmen (Intubation, mechanische Beatmung, Erhöhung des Sauerstoffangebots, Refixation und/ oder Reposition eines endotrachealen Tubus) auf dem Transport nicht selten notwendig werden, in den meisten Fällen aber mit einer guten Vorbereitung des Transports und einer adäquaten Einschätzung des Krankheitsverlaufs vermieden werden können.
Klinische Zeichen und Beurteilung des Schweregrads der akuten respiratorischen Insuffizienz Eine drohende respiratorische Dekompensation beim Kind ist in der Regel früh erkennbar – zu einem Zeitpunkt, an welchem sich das respiratorische System noch in einem kompensierten Zustand (normale Blutgaswerte) befindet. Das Kind präsentiert als klassisches Frühzeichen der drohenden ARI ein abnormales Atemmuster, welches charakterisiert ist durch das Vorliegen einer Tachypnoe, einer Bradypnoe oder kurzen Atempausen und/ oder Zeichen einer vermehrten Atemarbeit (Nasenflügeln, interkostale und juguläre Einziehungen). Andere wichtige Zeichen sind das Vorhandensein von Stöhnen, Stridor und »wheezing«. Diese spezifisch respiratorischen Zeichen sind oft begleitet von allgemeinen (Schwitzen etc.), kardiovaskulären (Tachykardie, paradoxer Puls etc.) und neurologischen (Somnolenz, Agitiertheit, Koma, Krämpfe etc.) Zeichen, diese müssen in die klinische Beurteilung einbezogen werden. Insbesondere das Ausmaß einer Erschöpfung wegen erhöhter Atemarbeit wird leider oft unterschätzt. Blutgasanalysen können in solchen Situationen hilfreich sein, wenn auch erkannt werden muss, dass Blutgasresultate nicht ohne Berücksichtigung des klinischen Bildes und dessen Pathogenese interpretiert werden sollten. So kann z. B. ein normaler pCO2-Wert im akuten Asthmaanfall das Warnzeichen eines drohenden Atemstillstandes sein. i Ein agitiertes Kind ist oft weniger beunruhigend als ein ruhiges Kind.
1152
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
Medikamente zur Intubation. In lebensbedrohlichen Situationen muss die endotracheale Intubation auch ohne Medikation durchgeführt werden. Beim noch ansprechbaren Patienten sind eine vorsichtige, jedoch ausreichende Sedation, Analgesie und Muskelrelaxation jedoch notwendig. Die einzige Ausnahme bildet die Situation des »difficult airway« mit im Voraus zu erahnender schwieriger Intubation (Epiglottitis, Obstruktion der oberen Atemwege, Anomalien der oberen Atemwege inklusive Makroglossie; . Tab. 84.13), in welcher eine Intubation unter Spontanatmung (Inhalationsnarkose) vorgezogen und nur vom Erfahrensten durchgeführt werden sollte.
Klinische Zeichen der akuten respiratorischen Insuffizienz (ARI) 5 5 5 5 5
Tachypnoe oder Bradypnoe/Apnoe Nasenflügeln, inspiratorische Einziehungen Verminderte oder fehlende Atemgeräusche Tachykardie/paradoxer Puls Agitiertheit oder Lethargie/Somnolenz
Blutgaswerte bei akuter respiratorischer Insuffizienz (ARI) 5 pO2 <60 mm Hg 5 pCO2 >45 mm Hg 5 pH <7,3 bei normalen Bikarbonatwerten
i Eine korrekte Maskenbeatmung mit 100% O2 erlaubt auch in kritischen Situationen praktisch immer, auf Hilfe zu warten.
Therapie des akuten Asthmaanfalls Erstmaßnahmen zur Behandlung der akuten respiratorischen Insuffizienz (ARI) Im Vordergrund der Erstbehandlung respiratorischer Notfälle im Kindesalter stehen das Sicherstellen freier Atemwege, die Sauerstoffzufuhr und die wohldosierte (medikamentöse) Beruhigung. Die endotracheale Intubation wird häufig als einzige Lösung angesehen, um eine akute respiratorische Insuffizienz richtig zu behandeln. Dabei wird jedoch vergessen, dass korrekt ausgeführte Erstmaßnahmen, wie Sauerstoffapplikation und Maskenbeatmung, mindestens so effektvoll sind, um das primäre Ziel der adäquaten Sauerstoffversorgung des Gehirns sicherzustellen.
84
Sauerstofftherapie. O2 (via Nasenkatheter, Maske etc.) ist das Medikament der 1. Wahl zur Behandlung der ARI (. Tab. 84.12). Es gibt keine Reanimationssituation, in welcher 100% O2 kontraindiziert wäre! Zu beachten ist jedoch, dass die alleinige O2Therapie eine alveoläre Hypoventilation (CO2-Retention) nicht verbessern kann.
Die Abschätzung der Schwere eines Asthmaanfalls erfolgt mittels klinischem Asthmascore, der in . Tabelle 84.14 dargestellt ist. Einen Therapiealgorithmus bei akutem Asthmaanfall zeigt . Abb. 84.11.
Nur ungefähr 1–3% der Kinder mit akutem Asthmaanfall müssen intubiert und beatmet werden. Die Indikation ist sehr vorsichtig zu stellen. Wegen der erheblichen Intubationsrisiken (Verschlechterung des Bronchospasmus, Laryngospasmus) sollte ein Kind im Status asthmaticus nur vom Geübten intubiert werden. Unter mechanischer Beatmung besteht ein erhebliches Risiko für ein Barotrauma (Pneumothorax, Pneumomediastinum) wegen schnell erreichten hohen Atemwegsdrücken. Eine ausreichende Sedation und die initiale Gabe von Muskelrelaxanzien sind deshalb obligat.
Bronchiolitis/RSV-Bronchopneumonie Die Bronchiolitis ist eine klassische Erkrankung des Säuglings, welche durch eine virale Infektion – meist RSV (»respiratory syncitial virus«), aber auch andere Viren – verursacht wird. Wegen
. Tabelle 84.12. Sauerstofftherapie – verschiede Applikationsformen Applikationsart
FIO2
Patient
Bemerkungen
Nasenkatheter
0,22–0,50
N, S, K, E
FIO2 nicht messbar, Raumluft wird beigemischt; Fluss 0,5–6 l/min
Einfache Sauerstoffmaske
0,22–0,50
S, K, E
Raumluft wird beigemischt; Fluss 4–6 l/min
Sauerstoffmaske mit Reservoir
0,21–1,0
K, E
100% O2 nur erreichbar, wenn keine Raumluft beigemischt wird; Fluss 4–10 l/min
Sauerstoffzelt
0,21–1,0
N, S, K <10 kg KG
Fluss >10 l/min, um CO2 auszuwaschen
N Neugeborenes; S Säugling; K Kind; E Erwachsener.
. Tabelle 84.13. Differenzierung zwischen Obstruktionen der oberen und unteren Atemwege Obere Atemwege
Untere Atemwege
Stellung
Schnüfflerposition
Patient lehnt über
Atemgeräusche
Verlängertes Inspirium (Stridor)
Verlängertes Exspirium (»wheezing«)
1153 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
84
. Tabelle 84.14. Klinischer Asthmascore. (Mod. nach [33]) 0 Punkte
1 Punkt
2 Punkte
Farbe
Rosig (Raumluft)
Rosig (FIO2 0,4)
Zyanotisch (FIO2 0,4)
»Wheezing«
Abwesend
Hörbar mit Stethoskop
Hörbar ohne Stethoskop
Lufteintritt
Normal
Vermindert
Nicht hörbar
Einziehungen
Keine
Leicht
Schwer
Bewusstsein
Unauffällig
Agitiert (oder ruhig)
Komatös
Score-Bewertung: 2 – leicht, 4–5 – mittelschwer bis schwer (Blutgasanalyse, sofern keine Verbesserung unter Therapie), 7 – Atemversagen.
ödem- und sekretbedingter Obstruktion der kleinen peripheren Atemwege kommt es v. a. zu einem akut obstruktiven Syndrom mit Überblähungszeichen im Röntgenbild des Thorax. Die klinische Symptomatik ist gekennzeichnet durch ein verschieden stark ausgeprägtes akutes Atemnotsyndrom (Tachypnoe, interkostale Einziehungen, Nasenflügeln, oft eine deutliche Zyanose). Typischerweise treten oft Apnoen auf und können das einzige Frühsymptom sein. Das Neuauftreten von Apnoen in dieser Altersklasse, v. a. im Winter von Oktober bis April oder bei positiver Anamnese eines Schnupfens in der Familie oder wenn der Säugling den Tag in einem Kinderhort verbringt, sollte einen RSV-Infekt vermuten lassen. Die Diagnose wird mittels Antigennachweis im Nasen-Rachen-Sekret (Sekretaspiration mit Sonde im Nasen-Rachen-Raum notwendig) gestellt. Schnelltests stehen zur Verfügung.
Inhalierbare Bronchodilatatoren können bei vorhandenem exspiratorischen »wheezing« versuchsweise eingesetzt werden, sollten aber bei ausbleibendem klinischem Effekt nicht wiederholt angewendet werden. Paradoxe Reaktionen auf diese Therapie mit Verschlechterung der Atemnot wurden wiederholt beschrieben. Bei ausgeprägter Atemnot, drohender Erschöpfung oder vorhandener Hypoxie ist ein frühzeitige CPAP-Applikation (Nasen-CPAP mit kleinen Nasentuben oder einer Beatmungsmaske) mit genügend hohem Atemwegsdruck von 8–12 cm H2O oder allenfalls eine nicht-invasive druckassistierte Beatmung (hoher PEEP-Wert von etwa 8–2 cm H2O mit nur geringer Druckunterstützung von 5 bis max. 10 cm H2O) meist sehr erfolgreich und kann eine Intubation häufig verhindern. Schwere Verlaufsformen mit ARDS sind in der Literatur beschrieben, werden aber heutzutage mit dem Einsatz von weniger aggressiven Beatmungsmethoden kaum mehr beobachtet. Wie bei jedem Atemnotsyndrom beim Kind muss auf eine ausreichende Hydratation geachtet werden (120% des Erhaltunsbedarfs). Antivirale Therapien (Ribavirin per inhalationem) haben sich nicht bewährt. Die prophylaktische Gabe von monklonalen Antikörpern (Palivizumab) kann nur bei Hochrisikokindern (Säuglinge unter 12 Monaten mit sauerstoffbedürftiger chronischer
. Abb. 84.11. Therapiealgorithmus bei akutem Asthmaanfall
Lungenkrankheit, evtl. Säuglinge mit kongenitalem Herzvitium oder bekannter Immundefizienz) im Verlauf der ersten RSV-Saison empfohlen werden. > »Difficult airways« Krupp-Syndrom/stenosierende Laryngotracheitis, Epiglottitis, Tumor oder Missbildung der Atemwege, Postextubationsstridor, Laryngotracheomalazie.
Eine Obstruktion der oberen Luftwege ist die häufigste Ursache einer Atemnot beim Kleinkind. Die Differenzialdiagnose hängt von der Lokalisation der Obstruktion ab (z. B. bei extrathorakaler Lokalisation inspiratorischer Stridor), anmanestischen Angaben über die Art des Auftretens (z. B. akut bei Fremdkörperaspiration oder spasmodischen Krupp, subakut mit schnell
1154
84
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Abb. 84.12a, b. Tracheobronchogramm eines einjährigen Kindes mit Tracheobronchomalazie. a Ohne CPAP-Anwendung. b Mit CPAP (10 cm H2O). (Bild mit frdl. Genehmigung von Quen Mok, Great Ormond Street Hospital for Children, London)
zunehmender Verschlechterung bei Epiglottitis oder stenosierender Laryngotracheitis oder chronisch mit zunehmender Verschlechterung bei Missbildung der Atemwege) sowie der klinischen Beobachtung (z. B. bellender Husten bei spasmodischem Krupp, Speichelfluss und fehlender Husten bei Epiglottitis oder Stridor, v. a. bei Aufregung bei bestehender Laryngo- oder Tracheomalazie). i Bei akuter schwerer Atemnot mit Hypoxie ist normalerweise eine Intubation indiziert. Dabei handelt es sich um eine risikoreiche Intervention, diese sollte immer vom Erfahrensten durchgeführt werden.
Im Allgemeinen empfiehlt sich eine Intubation in Inhalationsnarkose bei erhaltener Spontanatmung während der Anästhesieeinleitung alternativ eine intravenöse Kurzanästhesie mit Propofol. Der Einsatz von Muskelrelaxanzien (mit Ausnahme von kurzwirkendem depolarisierendem Succinylcholin) gilt als gefährlich und wird daher nicht empfohlen. Wichtig ist es, bei eventuellem Misslingen der Intubation den Patienten schnellstmöglich wieder aufwachen zu lassen und auf Hilfe warten zu können. Eine vorübergehende Druckbeatmung mittels Gesichtsmaske ist bei obstruktiven Erkrankungen der oberen Atemwege auch bei schwersten Formen fast immer möglich und erlaubt vorübergehend eine adäquate Oxygenierung. Epiglottitis. Dank der Hämophilus-Impfung beim Säugling zur Meningitisprävention sieht man in unseren Breitengraden praktische keine Epiglottitiserkrankungen mehr. Wegen der aktuell
abnehmenden Durchimpfungsrate ist jedoch mit einem Wiederauftreten dieses Krankheitsbildes in Zukunft zu rechnen. Der Patient mit einer Epiglottitis präsentiert ein toxisches Erscheinungsbild, Speichelfluss, Dysphagie (trinken ist unmöglich) und hohes Fieber. Husten und Sprechen werden wegen der Schmerzen vermieden. Jeder Stress inklusive weiterer Untersuchungen sollten vermieden werden. Eine Intubation ist zur Sicherung der Atemwege immer für 24–48 h notwendig. Die Extubation erfolgt, sobald eine hörbare Tubusleckage vorhanden ist. Eine intravenöse antibiotische Therapie über 10 Tage wird mit einem Cephalosporin der 3. Generation sofort eingeleitet und später gemäß der Resistenzlage adaptiert. Krupp-Syndrom. Ein spasmodisches Krupp-Syndrom (nach alter Nomenklatur auch Pseudo-Krupp genannt) sowie eine bakterielle stenosierende Laryngotracheomalazie (äußerst selten) beginnen typischerweise mit einem leichten Infekt der oberen Luftwege, häufig mit Rhinitis, leichtem Husten (bellender Charakter) und heiserer Stimme. Die Therapie basiert auf O2-Gabe, Kaltluft- und/oder Wasserdampfverneblung sowie einer leichten Sedierung, sofern dies notwendig erscheint. Bei schwerer Ausprägung der Atemnot bewährt sich eine Kortikosteroidtherapie (Dexamethason 0,6 mg/kg KG als einmaliger Bolus i.v.) oder die Inhalation von topischen Steroiden und/oder die wiederholte Inhalation von Adrenalin. Bei Erfolglosigkeit dieser Therapie kann eine positive Druckbeatmung mit Nasen-CPAP oder nicht-invasiver Druckbeatmung versucht werden. Eine Intu-
1155 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
bation erübrigt sich somit in fast allen Fällen. Eine antibiotische Therapie ist nur bei einer purulenten Laryngotracheitis gerechtfertigt (klassische Erreger: Staphylococcus aureus, Haemophilus influenzae, Streptokokken). Zur Intubation gelten die gleichen Bemerkungen und Vorsichtsmaßnahmen wie beschrieben (7 s. oben: »Epiglottitis«). Als Tubusgröße wird normalerweise eine Größe unter der dem Alter entsprechenden gewählt, eine Tubusleckage muss vor Extubation vorhanden sein. Eine bronchoskopische oder laryngoskopische Evaluierung (Suche nach einer Granulombildung) kann bei fehlendem Tubusleck nach 4–5 Tagen indiziert sein. Postextubationsstridor. Ein Stridor nach Extubation, auch nach
einer Intubation von kurzer Dauer, kann beim Kleinkind von Zeit zu Zeit beobachtet werden. Dabei handelt es sich um eine subglottische Verengung der auf dieser Höhe schon engen Atemwege aufgrund einer Ödembildung, einer Inflammation oder wegen Granulationsgewebe. Normalerweise ist ein gutes Ansprechen auf eine Steroidtherapie zu beobachten (Dexamethason 0,6 mg/kg KG über 48 h). Granulationsgewebe muss allenfalls bronchoskopisch entfernt werden. Selten ist eine stenosierende Narbenbildung nach Intubation zu beobachten, was mit dem Wachstum des Kindes zu zunehmender Atembehinderung führen kann. Eine Tracheostomie kann meist mittels Krikoidsplitoperation verhindert werden; diese erlaubt es, einen größeren Durchmesser der Atemwege in diesem Bereich zu schaffen. Missbildungen der Atemwege. Missbildungen der Atemwege
können im Rahmen von angeborenen Missbildungen und Syndromerkrankungen auftreten oder erworben werden (Tumorerkrankungen). Die Abklärung muss durch einen Kinderfacharzt in Zusammenarbeit mit dem Kinderchirurgen und ggf. einem Genetiker erfolgen. Tracheo(broncho)malazie. Die im Säuglingsalter relativ häufig
vorhandene Tracheomalazie ist charakterisiert durch eine mangelhafte Ausbildung der trachealen Knorpelspangen. Dies führt insbesondere zu einer Instabilität der Tracheahinterwand mit Kollaps bei forcierter Exspiration (deutlich hörbarer exspiratorischer Stridor bei Husten, Schreien oder starker Erregung). Obwohl eine Tracheobronchomalazie isoliert vorkommen kann, ist sie oft mit kongenitalen Herz- und Gefäßmissbildungen assoziiert (z. B. vaskuläre Ringe bei doppeltem Aortenbogen oder Pulmonalarterienschlinge) oder mit dem Syndrom einer fehlenden Pulmonalklappe. Diese müssen deshalb bewusst gesucht und ausgeschlossen werden. Die Therapie ist primär konservativ, mit Ausnahme der Gefäßmissbildungen, welche kardiochirurgisch angegangen werden müssen. Bei ausgeprägter Kollapstendenz mit wiederholten obstruktiven Apnoeepisoden oder Hypoxämien war früher die Indikation zur Stentimplantation oder Tracheostomie gegeben, häufig genügt aber auch bei diesen schweren Formen die vorübergehende Anwendung eines kontinuierlich positiven Atemwegdrucks mittels nasalem CPAP (. Abb. 84.12). Die Langzeitprognose ist jedoch gut, weil mit zunehmendem Alter die weichen Knorpelspangen stabiler werden.
84
84.5.2 Kardiopulmonale Interaktionen
(spezielle Situationen) Atembedingte intrathorakale Druckschwankungen wirken sich in verschiedener Weise auf das Blutgefäßsystem und die globale Herzfunktion aus. Betroffen sind: 4 Herzfrequenz, 4 Vorlast, 4 Kontraktilität, 4 Nachlast. Zusätzlich muss bedacht werden, dass eine Veränderung des intrathorakalen Drucks die rechts- und die linksventrikuläre Pumpfunktion in gegensätzlicher Richtung beeinflussen kann. Akutes Lungenödem bei Obstruktion der oberen Atemwege.
Wegen des kleinen Durchmessers der kindlichen Atemwege kann schon eine relativ leichte Obstruktion der oberen Atemwege (z. B bei Vorliegen eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms, einer Fremdkörperaspiration, einem Krupp-Syndrom, einer Epiglottitis, einer subglottischen Postextubationsstenose sowie auch bei schwerer obstruierender Tonsillen- und/oder Adenoidhyperplasie) zu einer starken Erhöhung der Atemwegsresistenz führen. Um ein adäquates Atemzugvolumen aufrechterhalten zu können, müssen deshalb stark negative intrathorakale Druckwerte erzeugt werden. Dies kann zur Lungenödembildung führen [15]. Ein stark negativer intrathorakaler Druck erhöht die linksventrikuläre Nachlast und den systemvenösen Rückfluss. Dies führt zu einer akuten Verminderung des Herzminutenvolumens und einem erhöhten pulmonalen Blutvolumen mit Erhöhung des pulmonalkapillären Drucks. Eine hypoxie- und hyperkapniebedingte Vasokonstriktion der Pulmonalgefäße kann den pulmonalkapillären Druck weiter erhöhen. Die primäre Therapie zielt auf eine Verminderung der intrathorakalen Druckschwankungen und eine Korrektur der Hypoxie und der respiratorisachen Azidose mittels nicht-invasiver oder invasiver positiver Druckbeatmung. Der Gebrauch von Diuretika und/oder vasoaktiven Substanzen ist nicht indiziert. Asthmaanfall. Beim schweren Asthmaanfall können negative,
subatmosphärische intrathorakale Drücke sowohl während der Inspiration als auch während der Exspiration (persistierende inspiratorische Muskelaktivität, um einen Atemwegskollpas während der Exspiration zu verhindern) ebenfalls zur Lungenödembildung führen [15]. 84.5.3 Pädiatrische Sepsis Zur Vereinfachung der Diskussion von Infektionskrankheiten und Sepsis kann man Säuglinge und Kinder außerhalb des Neugeborenenalters in 2 Altersgruppen unterteilen: 5 Jahre oder älter als 5 Jahre. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, weil bei Kindern unter 5 Jahren mit einer Sepsis häufig kein klar lokalisierbarer Infektherd zu finden ist. Die antibiotische Therapie muss deshalb auf die möglichen Erreger abgestimmt sein. Die häufigsten Erreger in dieser Altersklasse sind Haemophilus influenzae B, Streptococcus pneumoniae und Neisseria meningitidis. Klinische Zeichen einer Sepsis sind hohes Fieber, Tachykardie, Tachypnoe und eine verminderte periphere Durchblutung.
1156
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
Petechien, Bewusstseinseintrübung und zerebrale Krampfanfälle können auftreten. Spezifische Meningitiszeichen können beim Kind unter 2 Jahren fehlen, eine Lumbalpunktion ist deshalb nach Schocktherapie, sofern notwendig, und nach Absicherung normaler Blutgerinnungstests und Thrombozytenzahlen in dieser Altersgruppe indiziert. i Eine Purpura fulminans, klassisch beschrieben bei der Meningokokkensepsis, kann auch bei Streptokokken- oder Staphylokokkeninfekten angetroffen werden.
84
Die Meningokokkensepsis ist nach wie vor die gefürchtetste Krankheit beim Kind und mit einer Mortalität von etwa 5–10% behaftet. Eine aggressive Schocktherapie und die frühzeitige antibiotische Behandlung mit Ceftriaxon haben die Mortalität stark gesenkt. Ein großes Problem bleiben aber die z. T. schnell auftretenden Nekrosen der Extremitäten im Rahmen der foudroyant verlaufenden Purpura fulminans bei bestehender Gerinnungsstörung, charakterisiert u. a. durch einen massiven Abfall des Protein-C-Spiegels. Trotz positiver Protein C-Sepsisstudie bei der Erwachsenensepsis ist es derzeit noch zu früh, Protein C-Präparate standardmäßig beim Kind einzusetzen, und zwar aus folgenden Gründen: 4 Es ist nicht klar, welches Präparat (aktiviertes Protein C oder Protein C-Konzentrat) gewählt werden sollte. 4 Einige Beobachtungen sowie die erst kürzlich publizerten Resulate der »open-label« Enhance-Studie signalisieren ein erhöhtes Hirnblutungsrisiko im Rahmen einer Therapie mit aktiviertem Protein C [11]. 4 Es existiert noch keine randomisierte Studie mit Protein CKonzentrat. Beim Kind über 5 Jahren ist eine Sepsis ohne klar zugrunde liegende Erkrankung oder Ausgangsherd (z. B. Osteomyelitis, Endokarditis etc.) äußerst selten und tritt praktisch nur beim immunkomprimierten Patienten auf. Staphylokokken, gramnegative Bakterien und Pseudomonas sind die häufigsten mit einer Sepsis assoziierten Erreger in dieser Patientengruppe. Eine Meningokokkeninfektion kann ebenfalls vorkommen.
Septisch-toxischer Schockzustand Trotz vieler Ähnlichkeiten zwischen Erwachsenen und Kindern beim septischen Schocksyndrom sind gewisse Eigenheiten beim Kind zu kennen. Einerseits ist das Erregerspektrum wie oben beschrieben verschieden, andererseits ist der Verlauf beim Kind häufig extrem schnell, und der Schockzustand wird wegen noch normaler Blutdruckwerte (kompensierter Schock) verkannt. Eine schlechte periphere Perfusion mit kalten Extremitäten und einer Marmorierung der Haut kann beim Kind bei noch normalen Blutdruckwerten beobachtet werden. Eine vorhandene Tachypnoe (wegen bereits vorliegender metabolischer Azidose) oder leichte Tachykardie (zur Kompensation des Herzminutenvolumens bei verminderter myokardialer Kontraktilität oder vermindertem »preload«) sollte jedoch an einen noch hämodynamisch teilweise kompensierten Schockzustand denken lassen. Eine aggressive Schocktherapie muss zu diesem Zeitpunkt sofort begonnen werden, auch wenn gemessene Blutruckwerte noch »normal« sind!
Therapiekonzepte beim septisch-toxischem Schockzustand Die Therapie des septischen Schocks beruht auf 3 Pfeilern: 4 Endorganunterstützung (Sicherstellung einer möglichst adäquaten Endorganperfusion mit entsprechendem O2-Angebot), 4 frühzeitige aktive Atemunterstützung bei erhöhter Atemarbeit (15–30% höherer Sauerstoffverbrauch), 4 antibiotische Therapie. Adjuvante Zusatztherapien – wie Nierenersatzverfahren, Hämo-
filtration, Plasmaaustausch, Steroide (Hydrokortison) bei akuter Nebenniereninsuffizienz – müssen in jedem Fall einzeln diskutiert werden. i Initial ist eine rasche und effiziente Reanimation von entscheidender Bedeutung.
Bei vorliegender intravaskulärer Hypovolämie bzw. einer insuffizienten Organperfusion (Laktazidose) – dies ist praktisch bei jedem Kind mit einer schweren Sepsis der Fall – ist eine schnelle Volumengabe entscheidend und reduziert das Mortalitätsrisiko drastisch. So konnte eine Studie klar zeigen, dass Kinder, welche mehr als 40 ml/kg KG innerhalb der 1. Stunde erhielten, eine deutliche erhöhte Überlebensrate aufwiesen [4]. Oft sind intiale Volumengaben von 60–100 ml/kg KG notwendig. Bei schlechtem Ansprechen auf die initiale Volumentherapie, bei persistierender arterieller Hypotonie mit warmer Peripherie und ausgeprägter systolo-diastolischer Druckdifferenz empfiehlt sich eine Low-dose-Noradrenalingabe (0,1 Pg/kg KG/min), bei blassem Kind mit kühler Peripherie und kleiner systolodiastolischer Druckdifferenz sollte zusätzlich zu Noradrenalin eine inotrope Substanz eingesetzt werden (Dopamin 5–10 Pg/kg KG/ min oder Dobutamin 5–10 Pg/kg KG/min oder Adrenalin in geringer Dosis von 0,05–0,1 Pg/kg KG/min). Es liegen keine dokumentierten Daten vor, welche eine Überlegenheit der einen oder anderen Kombination von vasoaktiven Substanzen zeigen konnten. Bei refraktärem Schock ist Vasopressin (0,001 Pg/kg KG/min) zur Anhebung des Blutdruckwertes effizient, eine kontrollierte Studie ist jedoch bisher nicht veröffentlicht. Die Interpretation der O2-Sättigungskurve (Pulsoxymeter) erlaubt einen Hinweis auf den Volumenstatus. Eine ausgeprägte respiratorische Variabilität bis hin zum Pulsus paradoxus (außer bei vorliegender Obstruktion der oberen Atemwege, Asthma oder einer Perikardtamponade) ist Hinweis auf eine persistierende Hypovolämie. Eine Messung des zentralen Venendrucks (ZVD) erlaubt eine relativ zuverlässige Beurteilung des Volumenstatus. Ein ZVD von 10–15 mm Hg sollte angestrebt werden. Eine Nachlastreduktion kann in einer 2. Phase zur Erhöhung des Herzminutenvolumens bei persitierender myokardialer Dysfunktion sinnvoll sein, da die Kontraktilitätsreserve beim Kleinkind relativ gering ist und es nicht sinnvoll ist, das Herz des Kleinkindes, insbesondere des Säuglings, zu belasten. Nitroprussitnatrium und besonders Phosphodiesteraseinhibitoren genießen deshalb zunehmende Beliebtheit in der Sepsistherapie. Hämofiltration. In der praktischen Erfahrung bewährt sich eine
frühzeitige Hämofiltration, v. a. um bei Oligurie/Anurie und der in der Menge kaum zu reduzierenden Volumenzufuhr (Medikamente) die Volumenbilanz in den Griff zu bekommen. Ebenfalls kann auf diese Weise frühzeitig mit einer parenteralen Ernährung mit korrekter Kalorienzufuhr begonnen werden. Bisher
1157 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
84
. Tabelle 84.15. Schweregradbeurteilung der Dehydratation Leicht
Mittel
Schwer
Verlust von Körpergewicht
Bis 5%
Bis 10%
Bis 15%
Flüssigkeitsdefizit
60–80 ml/kg KG
80–120 ml/kg KG
120–150 ml/kg KG
Hautturgora
Normal
Vermindert
Stehende Hautfalten
Schleimhäutea
Feucht bis trocken
Trocken
Trocken
Hautfarbe
Blass
Grau
Graumarmoriert
Augen
Eingesunken
Eingefallen
Urinausscheidung
Oligurie
Oligurie bis Anurie
a Bei einer hypotonen oder hypertonen Dehydratation können diese Zeichen nicht dem effektiven Dehydratationsgrad entsprechen.
gibt es keine eindeutigen Studien, die zeigen konnten, dass eine Hämofiltration aus anderen Gründen die Outcome-Resultate verbessern könnte. 84.5.4 Dehydratation Eine Dehydratation im Rahmen eines »Brechdurchfalls« (Gastroenteritis und/oder Enterokolitis) ist beim Kind im Vorschulalter ein häufiges Krankheitsbild und führt bei schwerer Ausprägung (mit oder ohne Schockzustand) häufig zu einer Hospitalisation auf der Intensivstation. Neben der Einschätzung des Dehydratationsgrades (. Tab. 84.15), welche die Planung einer kontrollierten Rehydratation erlaubt, sind eine Blutgasanalyse sowie eine Bestimmung der Elektrolyte (Natrium, Kalium) sofort bei Aufnahme durchzuführen. i Neben einer metabolischen Azidose können häufig massive Elektrolytstörungen mit Hyokaliämie, Hyper- und Hyponatriämie diagnostiziert werden.
Nach initialer Schocktherapie muss, sofern notwendig, die Flüssigkeitszufuhr für die nächsten 36–48 h (Rehydratationsphasen 1 und 2) berechnet werden. Diese basiert auf 3 Pfeilern: 5 Erhaltungsbedarf (1800 ml/m2/24 h oder 100 ml/kg KG/ 24 h pro kg KG von 1–10 kg KG + 50 ml/kg KG/24 h pro kg von 10–20 kg KG + 20 ml/kg KG/24 h pro kg >20 kg KG), 5 Ersatz der erlittenen Verluste gemäß Schätzung des Dehydratationsgrades, 5 Kompensation der laufenden Verluste.
Beispiel für Volumensubstitution Körpergewicht 22 kg –10u100 ml +10u50 ml +2u20 ml =1540 l/24 in Form einer Mischlösung aus 0,3%iger NaCl-Lösung und 5%iger Glukose-Lösung im Verhältnis 1 : 1. 4 Erlittene Verluste: gemäß geschätzter Dehydratation, 1/3 in den ersten 8 h, Rest in den ersten 36–48 h (als 0,9%ige NaCl-Lösung).
4 Laufende Verluste: Kompensation im Verhältnis 1 : 1 gemäß den gemessenen Verlusten + 100 ml/m2/24 h pro Grad Fieber über 37,5°C. 4 Kontrollen: Elektrolytkontrolle und pH-Status 4- bis 6stündlich. 4 Therapieziel: Urinmenge von mindestens 0,5–1 ml/kg KG/h. i Eine Volumentherapie beim Kind erfolgt immer mit isotoner Kochsalzlösung, nie mit einer Glukoselösung – auch bei vorhandener Hypernatriämie.
84.5.5 Neurologische Probleme
auf der Intensivstation Klassischerweise werden Kinder mit traumatischen Hirnläsionen, Bewusstseinseintrübung bis zum Koma verschiedener Ätiologie oder mit Status epilepticus oder nach generalisiertem Krampfanfall mit postiktaler Bewusstseinseintrübung oder therapiebedingter Ateminsuffizienz auf der Intensivstation hospitalisiert, primär zur neurologischen Überwachung sowie zur Unterstützung der vitalen Funktionen.
Koma Ein komatöser Zustand kann bedingt sein durch: 4 eine organisch-anatomische (strukturelle) Läsion im Bereich der Großhirnhemisphären oder des Hirnstamms (Hirnblutung, traumatische Hirnläsion mit oder ohne Hirnödem, Missbildung), 4 einen metabolischen oder toxischen Effekt. Zur Beurteilung des Schweregrades der Bewusstseinseintrübung (Komatiefe) wird, wie auch bei Erwachsenen, die »Glasgow Coma Scale« (GCS; . Tab. 84.16) angewandt, diese muss jedoch beim Kleinkind unter 5 Jahren modifiziert werden. Anstelle der verbalen Antwort wird der Gesichtsausdruck auf schmerzvolle Stimulation geprüft. i Bei einem GCS <8, fehlenden Schutzreflexen oder einer Hypoventilation (pCO2>60 mm Hg) ist die Indikation zur Intubation zur Sicherung der Atemwege bzw. zur Atemhilfe gegeben.
1158
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.16. Glasgow Coma Scale für Kinder (Auswertung . Tab. 84.17) Augenöffnen >1 Jahr
<1 Jahr
4 Punkte
Spontan
4 Punkte
Spontan
3 Punkte
Auf Anruf
3 Punkte
Auf Schreien
2 Punkte
Auf Schmerz
2 Punkte
Auf Schmerz
1 Punkt
Keine Reaktion
1 Punkt
Keine Reaktion
Beste motorische Antwort >1 Jahr
<1 Jahr
6 Punkte
Befolgt Aufforderungen
6 Punkte
Spontane Bewegungen
5 Punkte
Gezielte Abwehr
5 Punkte
Gezielte Abwehr
4 Punkte
Zurückziehen auf Schmerzen
4 Punkte
Zurückziehen auf Schmerzen
3 Punkte
Flexion auf Schmerzen
3 Punkte
Flexion auf Schmerzen
2 Punkte
Extension auf Schmerzen
2 Punkte
Extension auf Schmerzen
1 Punkt
Keine
1 Punkt
Keine
Beste verbale Antwort >5 Jahre
84
2–5 Jahre
0–2 Jahre
5 Punkte
Orientiert
5 Punkte
Verständliche Worte
5 Punkte
Plappernde Sprache
4 Punkte
Verwirrt
4 Punkte
Unverständliche Worte
4 Punkte
Schreien, aber tröstbar
3 Punkte
Unzusammenhängende Worte
3 Punkte
Persistierendes, untröstbares Schreien
3 Punkte
Persistierendes, untröstbares Schreien
2 Punkte
Unverständlich
2 Punkte
Stöhnen oder unverständliche Laute
2 Punkte
Stöhnen oder unverständliche Laute
1 Punkt
Keine
1 Punkt
Keine
1 Punkt
Keine
Die Notfalltherapie beim Koma unklarer Ätiologie zielt in erster Linie auf eine Kreislaufstabilisierung und eine gute zerebrale Sauerstoffversorgung. Entsprechend der Ätiologie ist erst dann eine spezifische Therapie angezeigt. Beim Schädel-Hirn-Trauma gelten die gleichen Richtlinien wie beim Erwachsenen, bei einer intrakraniellen Blutung oder einem progressiven Hydrozepahlus ist ein notfallmäßiger neurochirurgischer Eingriff zur Dekompensation zu diskutieren, bei einer Infektion des Zentralnervensystems ist eine schnelle und adäquate Antibiotikatherapie einzuleiten, bei einer metabolischen Enzephalopathie sollte schnell eine gute zerebrale Substratversorgung gesichert werden, weiterhin sind zusätzliche Entgiftungsmaßnahmen angezeigt. i Beim unklaren Koma des Kleinkindes ist immer, vor allen anderen Maßnahmen, eine Glukosegabe (1–2 ml Glukose 10%/kg KG) gerechtfertigt.
Zerebrale Krampfanfälle Bei etwa 50% der Kinder, welche einen prolongierten Krampfanfall bis zum Status epilepticus erleiden, besteht eine unauffällige Anamnese ohne Hinweise auf eine akute Hirnläsion, eine
metabolische Krankheit oder eine bekannte chronische Epilepsie bzw. chronische Enzephalopathie. In etwa 75% der beobachteten Krampanfälle kann ein Fieberanstieg als möglicher auslösender Faktor gefunden werden. i Mit neurologischen Langzeitschäden ist bei Krampfanfällen zu rechnen, die länger als 30–60 min andauern, wobei generalisierte Krampfanfälle die schlechtere Prognose als partielle oder fokale Krampfanfälle sowie kleinere Kinder die schlechtere als große Kinder aufweisen.
Als Hauptursache einer schlechten Prognose ist eine auftretende Hypoxie (Behinderung der Spontanatmung durch Sekrete und Speichelfluss, insuffiziente Atmung oder zentrale Ateminsuffizienz) mit Abfall des Hirnglukosespiegels und Anstieg des Lakatatspiegels mit metabolischer Azidose verantwortlich. Eine ausgeprägte Hypoxämie, evtl. in Kombination mit einer Azidose, führt zur Verminderung der myokardialen Kontraktilität und demzufolge vermindertem Herzminutenvolumen. Eine respiratorische Insuffizienz, Erbrechen und Aspirationsereignisse, ein neurogenes Lungenödem sowie eine neurogene Dysfunktion des respiratorischen Zentrums können auch noch nach dem Krampf-
1159 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
anfall in der postiktalen Phase auftreten und durch eine antiepileptische Therapie noch verstärkt werden. Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, dass Kinder wegen einer Atemdepression erst in der postiktalen Phase intubiert werden müssen. Im Prinzip ist zwischen 2 großen Gruppen von Krampfanfällen zu unterscheiden: 4 Fieberkrämpfe (v. a. beim Kleinkind ab etwa 6. Lebensmonat bis zum 5. Lebensjahr im Rahmen eines febrilen Infekts auftretend), 4 fokale oder generalisierte epileptischen Anfällen.
84
. Tabelle 84.17. Einteilung des Schädel-Hirn-Traumas nach Schweregrad aufgrund der Glasgow Coma Scale für Kinder (. Tab. 84.16) Schweregrad
Punktwert in der GCS für Kinder (. Tab. 84.16)
Schwer
<9
Mittel Leicht
9–14 15
Fieberkrämpfe. Die meisten Fieberkrämpfe treten in den ersten
Stunden eines Fieberanstiegs (manchmal sogar kurz vorher) auf. Es wird zwischen 2 Formen unterschieden, dem unkomplizierten und dem komplizierten Fieberkrampf: 4 Unkomplizierte Fieberkrämpfe (generalisierte tonisch-klonische Anfälle, maximale Dauer 15 min, innerhalb 24 h kein weiterer Anfall, postiktal keine neurologischen Ausfälle) sind an und für sich harmlos und benötigen keine weitere Abklärung. Eine antiepileptische Therapie in Form von rektal zu applizierendem Diazepam wird den Eltern nach Hause mitgegeben, eine präventive antikonvulsive Therapie ist nicht indiziert. 4 Der komplizierte Fieberkrampf (fokaler Anfall oder generalisierter Anfall von mehr als 15 min Dauer, postiktal neurologische Ausfälle) bedingt eine weitere Abklärung mit Blutstatus (Blutzucker, Elektrolyte inklusive ionisiertes Kalzium), EEG im freien Intervall sowie bei fokalen Anfällen eine notfallmäßige Schädelcomputertomographie (Schädel-CT) oder heutzutage zunehmend eine Magnetresonanzuntersuchung (MRT) zum Ausschluss einer akuten Blutung (vaskuläre Missbildungen), eines raumfordernden Prozesses (Hydrozephalus oder Tumor) oder einer entzündlichen Krankheit (Meningoenzephalitis). Eine Lumbalpunktion ist nach Erhalt eines normalen CT- oder MR-Resultats durchzuführen. Die Augenhintergrunduntersuchung ist beim nichtkomatösen Kleinkind oft äußerst schwierig durchzuführen und deshalb häufig nicht verlässlich, um einen erhöhten intrakraniellen Druck auszuschließen. Die Notfalltherapie eines Fieberkrampfes besteht in der rektalen Gabe von Diazepam (5 mg bei <10 kg KG, 10 mg bei >10 kg KG; kann evtl. nach 5–10 min wiederholt werden). Alternativ können andere Benzodiazepinpräparate i.v. verabreicht werden (Lorazepam 0,05–0,1 mg/kg KG oder Midazolam 0,1–0,2 mg/ kg KG als Bolus i.v.). Bei Therapieresistenz wird Phenobarbital (20 mg/kg KG i.v. als Kurzinfusion über 30 min intial, dann 10 mg/kg KG) oder Phenytoin (10–20 mg/kg KG i.v. als Kurzinfusion über 20 min). Phenytoin hat eine sehr lange Halbwertszeit von über 70 h und ist daher nicht unbedingt als Ersttherapie zu empfehlen. ! Cave Alle antikonvulsiven Notfallmedikamente haben einen atem- und kreislaufdepressiven Effekt. Entsprechende Vorsichtsmaßnahmen müssen deshalb getroffen werden und Sauerstoff sowie ein Atembeutel in Griffnähe sein. Eine Intubation ist jedoch praktisch nur bei fehlenden Schutzreflexen indiziert. Epileptische Krampfanfälle und Status epilepticus. Ein neuaufgetretener epileptischer Anfall beim Kind bedingt, wie der
komplizierte Fieberkrampf, eine ausgedehnte Abklärung mit Blutbild, Blutgasanalyse, Elektrolytbestimmung und metabolischer Basisabklärung (Glukose, Natrium, Kalium, Phosphat, Kalzium, Magnesium, Harnstoff, evtl. Ammoniak), EEG und bildgebenden Verfahren. Die Therapie zielt in erster Linie auf eine Sicherstellung der vitalen Funktionen und ein Unterbrechen des Krampfanfalls, bevor weitere Abklärungen veranlasst werden können. Die antikonvulsive Therapie erfolgt – identisch zum Vorgehen bei Erwachsenen – mit Benzodiazepinen und Phenobarbital oder Phenytoin. Beim therapieresistenten Staus epilepticus wird das Barbituratkoma kaum mehr notwendig, weil mittels Midazolam-Dauerinfusion (0,1–0,3 mg/kg KG/h) oder Disoprivan (Propofol: 2–10 mg/kg KG/h; nicht zu empfehlen beim Kleinkind als Langzeittherapie) die elektrische Krampfaktivität meist unterdrückt werden kann. Eine Kombination von Midazolam und Disoprivan erlaubt es, die Disoprivan-Dosis möglichst klein (1–2 mg/kg KG/ h) zu halten. Da selten ein Pyridoxin-(Vitamin-B6-)Mangel einem Krampfleiden zugrunde liegen kann, empfiehlt es sich, eine Dosis Vitamin B6 zu verabreichen. Die weitere Langzeittherapie muss den Neurologen oder Eptileptologen überlassen werden.
Schädel-Hirn-Trauma Eine Einteilung nach Schweregrad aufgrund der Glasgow Coma Scale (. Tab. 84.16) ist wesentlich für das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen (. Tab. 84.17). Diagnostik. Die klinische Untersuchung beruht in in erster Linie
auf einer Schnellbeurteilung der vitalen Zeichen (ABC der Reanimation) und der regelmäßigen und wiederholten Beurteilung des Bewusstseins (GCS!), der Testung der Pupillenmotorik und Hirnstammreflexe, der Beurteilung des Tonus, der Suche nach fokalen Zeichen sowie der Untersuchung des Augenhintergrundes (Cave: Stauungspapillen können in der Frühphase des Hirnödems noch fehlen). Daneben ist ein Schädel-CT bei jedem Patienten mit längerer Bewusstseinsstörung (GCS <15) oder fokalen neurologischen Symptomen absolut notwendig. Es ist jedoch zu bedenken dass fehlende Zeichen für ein Hirnödem bei einem Schädel-CT, das kurz (innerhalb der ersten 4–6 h) nach dem Unfallereignis angefertigt wurde, die nachträgliche Bildung eines Hirnödems nicht ausschließen. Deshalb ist eine weitere engmaschige neurologische Überwachung bei einem GCS <15 auch bei »normalem« Schädel-CT-Befund notwendig. Überwachung. Bei schwerem Schädelhirntrauma (GCS <9) ist
ein spezifisches Monitoring auf der Intensivstation mit Hirn-
1160
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
. Tabelle 84.18. Richtwerte der Interessengruppe Pädiatrische Intensivmedizin Schweiz [32] zur Erhaltung des zerebralen Per fusionsdruckes Altersgruppe (Jahre)
ICP <20
ICP >20
0–1
45–50
>50–60
1–7
50–55
>55–65
7–13
55–60
>65–70
60–65
>70–75
>13
84
Anzustrebender CPP (MAP – ICP) [mm Hg]
druckmessung (ICP) notwendig für eine gezielte Hirndrucktherapie. Weitere anerkannte Indikationen zur invasiven Hirndruckmessung sind das Vorhandenseins eines ausgeprägten Hirnödems (lokal oder diffus) oder ein »midline shift« im Schädel-CT, Flexions- oder Extensionshaltung sowie eine ein- oder beidseitige vorhandene Pupillendilatation. Eine Hirndruckmessung mittels eines chirurgisch eingelegten Ventrikelkatheters ist die beste Wahl, weil eine Liquordrainage bei erhöhtem Hirndruck möglich ist. Die Hirndruckmessung mittels subduraler oder intraparenchymaler Drucksonde ist deshalb weniger zu empfehlen, obwohl i. Allg. eine relative gute Korrelation zwischen zumindest der intraparenchymalen (Camino-Katheter) und der intraventrikulären Druckmessung besteht. Eine kontinuierliche Anzeige der Druckkurve ist wichtig, da die alleinige Angabe des Messwerts eine Fehlfunktion oder eine Fehlplatzierung der intraparenchymalen Sonde nicht ausschließen kann, was zu therapeutischen Fehlentscheidungen führen könnte. Weiteres Monitoring umfasst Pulsoxymetrie, invasive Blutdruckmessung, zentralvenöse Druckmessung, evtl. Bulbus-jugularis-Sättigung, SvjO2 (sicher indiziert bei erhöhtem intrakraniellem Druck unter Hyperventilationstherapie oder Barbituratkoma) zur Beurteilung der zerebralen Sauerstoffextraktion als Marker der zerebralen Oxygenation. Die zerebrale Blutflussmessung mittels transkraniellen Dopplers oder die Beurteilung des Hirnstoffwechsles mittels »near infrared spectroscopy« (NIRS), die direkte Messung des Sauerstoffpartialdrucks im Gewebe (pTiO2) oder die Mikrodialyse ist vorläufig v. a. Forschungszwecken vorbehalten. Die ICP-Messung mit Berechnung des zerebralen Perfusionsdrucks (CPP=MAP–ICP) bleibt somit das Standardverfahren zur Therapieüberwachung. Therapie. Oberstes Ziel der Therapie ist das Verhindern von Se-
kundärschädigung des Gehirns durch Hypoxämie, Hypoperfusion oder erhöhten Hirndruck. Nach Erstmaßnahmen wie Sicherstellen der Atemwege (Intubationsindikation bei GCS <9 oder persistierender Hypoxie) und Stabilisierung des Kreislaufs und Anstreben einer normovolämen Kreislaufsituation mit isotonen oder hypertonen Infusionslösungen; Prinzipien der Schockbehandlung 7 Kap. 84.3.3 zielt die weitere Therapie auf die Aufrechterhaltung eines akzeptablen CPP (altersabhängige Normwerte zeigt . Tabelle 84.18) mit in erster Linie dem Versuch, einen erhöhten Hirndruck (ICP >20) zu senken und – sofern der anzustrebende CPP nicht erreicht werden kann – mit Erhöhung des arteriellen Perfusionsdrucks mittels Katecholaminen (Noradrenalin).
Wichtige Zusatzmaßnahmen. Es besteht das Grundkonzept,
beim Schädel-Hirn-Trauma kein freies Wasser in Form von Glukoselösungen zuzuführen. Trotzdem muss bei einem Kind mit verminderten Energiespeichern und hohem Risiko, bei Fasten eine Ketoazidose zu entwickeln, eine adäquate Glukosezufuhr erfolgen zur Aufrechterhaltung eines normalen Blutglukosespiegels. Urinproben werden regelmäßig auf Ketonkörper gescreent. Sofern notwendig, muss Glukose zugeführt werden unter Aufrechterhaltung der Tonizität (Natriumkonzentration) in der Infusionslösung. Eine Sedation und Analgesie erfolgt mit Midazolam 0,1– 0,3 mg/kg KG/h und Morphin (10–30 Pg/kg KG/h). Als gute Alternative zu Morphin können Sufentanil oder Remifentanil mit dem Vorteil einer kurzen Halbwertszeit empfohlen werden. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Opioide mit Ausnahme der leider sehr teuren Substanz Remifentanil den Hirndruck leicht erhöhen können. Disporivan (Propofol) sollte beim Kind nur mit Vorsicht angewandt werden [30], hat aber den Vorteil, eine bessere intermittierende neurologische Beurteilung zu erlauben wegen seiner kurzen Halbwerstzeit. Eine Krampfprophylaxe kann mittels Phenobarbital (i.v. Bolus 10 mg/kg KG, Erhaltungstherapie 5 mg/kg KG alle 12 h) erfolgen, ist jedoch umstritten und die Datenlage derzeit unklar. Bei muskelrelaxiertem Patienten ohne kontinuierliches EEG-Monitoring besteht aber eine eindeutige Indikation. Erweiterte therapeutische Maßnahmen bei persistierend erhöhtem ICP und/oder ungenügendem CPP. Als weitere den
Hirndruck senkende Therapie bei persistierend erhöhtem ICP oder ungenügendem CPP wird eine Erhöhung der Serumosmolarität angestrebt. Für die Akuttherapie wird eine Osmotherapie (Manitol 0,25–1 g/kg KG i.v.) verwendet. Über 48–72 h wird versucht, mit einer kontinuierlichen Infusion einer hypertonen Elektrolytlösung (z. B. NaCl 3%) die Zielwerte einer Serumnatriumkonzentration von 145–155 mEq/l und einer Serumosmolarität von 300–320 mmol/l zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Einen Therapiealgorithmus zeigt . Abb. 84.13. Bei liegendem Ventrikelkatheter zur ICP-Messung kann eine Liquordrainage erfolgen. Die dekompressive Kraniektomie wird in letzter Zeit auch beim Kind häufiger angewendet mit teilweise eindrücklichen Einzelerfahrungen, es bestehen aber derzeit keine klaren Indikationsrichtlinien. Ein Barbituratkoma (Thiopental: Bolus 3–5 mg/kg KG, Dauerinfusion 1–3 mg/kg KG/h) kann zur Behandlung eines persistierend erhöhten ICP ebenfalls eingeleitet werden, eine Überwachung der Bulbus-jugularis-Sättigung (SvjO2) sollte jedoch erfolgen. Die Hyperventilation hat ihren Platz behalten bei akuter Erhöhung des ICP als Notfallmaßnahme, ansonsten kann höchstens eine milde Hyperventilation zur Hirndrucksenkung empfohlen werden (paCO2 4–4,5 kPa). Die Hypothermie (angestrebte Körpertemperatur 35–36°C) mittels Ganzkörperkühlung (Kühlmatte) bietet eine weitere Therapieoption an bei persistierend erhöhtem ICP, die Datenlage bezüglich des Outcomes bleibt aber weiterhin unklar. Eine Relaxation mittels Pancuronium (sofern keine Kontraindikation vorliegt) kann in seltenen Fällen mit erhöhtem ICP notwendig werden.
1161 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
84
. Abb. 84.13. Algorithmus zur Behandlung des erhöhten Hirndrucks gemäß den Richtlinien der Interessengruppe Pädiatrische Intensivmedizin Schweiz. (Nach [32])
1162
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
84.5.6 Metabolische Probleme Angeborene Stoffwechselkrankheiten (in der Regel Enzymopathien) sind insgesamt selten, müssen jedoch beim Kleinkind, insbesondere beim Neugeborenen und beim Säugling, mit unklarer Anamnese und akuter Erkrankung immer differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
Stoffwechselnotfall ! Cave Eine Stoffwechselentgleisung ist immer eine Notfallsituation und erlaubt nicht immer eine ausgeklügelte Labordiagnostik, welche häufig nur in Speziallabors durchgeführt werden kann. Therapeutische Schritte müssen deshalb schon vor der endgültigen Diagnosestellung eingeleitet werden.
Was jedoch beim Kind bereits an Information zur Verfügung steht, sind die Erkenntnisse aus dem standardmäßig durchgeführten Screening-Programm nach der Geburt. Diese Suchtests decken jedoch nicht in allen Ländern die gleichen Krankheiten ab. Üblicherweise werden folgende Krankheiten gescreent: 4 Phenylketonurie, 4 Galaktosämie, 4 Ahornsirupkrankheit, 4 Histidinämie, 4 Homozysteinurie, 4 Hypothyreose (TSH-Bestimmung).
84
Zur Vereinfachung und besseren Orientierung können die Stoffwechselkrankheiten nach verschieden Gesichtspunkten eingeteilt werden. Am besten eignet sich eine Aufteilung nach klinischen Manifestationen, die 3 wichtigsten seien hier aufgezählt: 4 Intoxikationsphänomene: Diese Gruppe betrifft das Neugeborene wegen wegfallender plazentarer Entgiftung nach der Geburt. Nach der Geburt kommt es innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen zu einer akut progredienten klinischen Symptomatik mit Apathie, Koma, Muskeltonusveränderungen, Erbrechen und Trinkschwäche. Diese Symptome werden oft als Neugeborenensepsis verkannt. Die Krankheit kann sich auch nach einem freien Intervall von einigen Monaten manifestieren, und zwar bei auftretenden Unregelmäßigkeiten bei der Nahrungsaufnahme, z. B. im Rahmen eines ersten banalen viralen Infekts oder eines »Brechdurchfalls« oder bei Einführung von proteinreicher oder fruktosehaltiger Beikost. In dieser Gruppe finden sich Stoffwechselkrankheiten aus allen 3 Hauptgruppen, d. h. Defekte im Proteinabbau (z. B. Harnstoffzyklusdefekte, Organoazidopathien und Aminoazidoapthien), Defekte in der Fettsäureverwertung (Oxidationsstörungen langkettiger Fettsäuren) und Defekte im Kohlenhydratstoffwechsel (z. B. Galaktosämie oder hereditäre Fruktoseintoleranz). Diese letzteren sind charakterisiert durch eine Verschlechterung der Symptome nach Galaktose- und Laktosezufuhr bzw. Fruktosezufuhr. In der Anamnese muss also gezielt nach Nahrungsgewohnheiten und Einführung einer neuen Kost gefragt werden. 4 Hypoglykämie nach Nüchternperiode (reduzierte Fastentoleranz):
Bei dieser Gruppe kommt es bei unzureichender Nahrungszufuhr (oft im Rahmen eines banalen Infekts) mit kataboler
Stoffwechsellage zu symptomatischen Hypoglykämien (evtl. zerebralen Krampfanfällen) mit vitaler und neurologischer Langzeitgefährdung. 4 Störung im mitochondrialen Energiestoffwechsel: Das Leitsymptom dieser Gruppe ist die Laktazidose. Stark energieabhängige Organe (Hirn, Leber, Niere, Muskel) sind am meisten betroffen, entsprechend sind die klinischen Manifestationen charakterisiert durch das Auftreten von Zeichen einer Enzephalopathie, Hepatopathie, Tubulopathie, muskulären Hypotonie und/oder Kardiomyopathie. Bei klinischem oder anamnestischem Verdacht auf eine Stoffwechselkrankheit (unklare Apathie bis Koma, sepsisartiges klinisches Bild, neu aufgetretene zerebrale Krampfanfälle) sollte folgende 4 Fragen beantwortet werden: 4 Besteht eine Hypoglykämie? 4 Besteht eine Laktatazidose? 4 Besteht eine Hyperammoniämie? 4 Besteht eine Ketoazidose? i Das Vorhandensein von Hypoglykämie, Laktazidose, Ammoniakerhöhung, positivem Ketostix im Urin oder einer pathologischen Anionenlücke [(Na+ + Ka+)–(Cl– + HCO3–) >16 mmol/l] in der Blutgasanalyse sollte an eine mögliche Stoffwechselerkrankung denken lassen.
Als Grundregel bewährt sich bei Verdacht auf eine dekompensierte Stoffwechselerkrankung, nach unbedingt zu erfolgender Blutentnahme von 2 ml Serum und 2 ml EDTA-Plasma sowie, wenn möglich, einer Urinprobe, jede Zufuhr von Protein, Fett, Galaktose und Fruktose zu stoppen und nur noch Glukose oder mit Maltodextrin gesüßten Tee (kein normaler Zucker!) zuzuführen. Ziel ist es, eine anabole Stoffwechsellage herbeizuführen (Glukosezufuhr von initial mindestens 10 mg/kg KG/min, dann 15–20 mg/kg KG/min unter Zufuhr von Insulin in einer Dosis von 0,1 IE/kg KG/h) und die Verlegung in ein spezialisiertes Stoffwechselzentrum zu veranlassen. Diese Praktik der hohen Glukosezufuhr muss einzig bei weiterer Verschlechterung der Laktazidose oder auftretender Hyperglykämie unter Glukosezufuhr infrage gestellt werden. Dies deutet auf das Vorliegen einer Mitochondriopathie hin, dann sollte die Glukoszufuhr auf 6–8 mg/kg KG/min reduziert werden. Notfalltherapieschema bei Stoffwechselnotfall 5 Glukosezufuhr: 15 g/kg KG/Tag = 10 mg/kg KG/min = 60 kcal/kg KG/Tag – reicht aus bei reduzierter Fastentoleranz (Nüchternhypoglykämie) – ist ungenügend bei Intoxikationssituation – ist zuviel bei einer Störung im mitochondrialen Energiestoffwechsel 5 Cave: Laktatazidose
Entgiftungsschema 5 Eine Entgiftungstherapie ist einzig indiziert bei ausgeprägter Hyperammoniämie. 5 Ammonium >200 Pmol: Argininhydrochlorid (L-Arginin) 2 mmol/kg KG über 1–2 h, dann 2 mmol/kg KG/24 h; Natriumbenzoat 250 mg/kg KG über 1–2 h, dann 250 mg/kg KG/24 h 6
1163 84.5 · Spezifische Pathologien/Situationen
5 Ammonium >400 Pmol: Hämofiltration + L-Carnitin (100 mg/kg KG/24 h i.v.) + Korrektur der metabolischen Azidose mit Natriumbikarbonat
i Die Erstversorgung der akuten Stoffwechselentgleisung beinhaltet die Sicherstellung der Energiezufuhr durch hochdosierte Glukoseinfusion (mindestens 10 mg/kg KG/ min).
Diabetische Ketoazidose Der Diabetes mellitus Typ 1 wird oft erst im Rahmen einer ersten diabetischen Entgleisung mit oft ausgeprägter Ketoazidose diagnostiziert, obwohl anamnestisch schon seit mehreren Tagen oder sogar Wochen klare Hinweise (Polydyspie, Polyurie, Gewichtsabnahme und allgemeine Müdigkeit) auf eine diabetische Stoffwechsellage bestanden. Zur Bestätigung der Diagnose müssen eine Hyperglykämie (kann wenig ausgeprägt sein) und eine metabolische Azidose vorhanden sein sowie Ketonkörper im Urin nachgewiesen werden. i Die initiale Reanimation zielt neben allgemeinen Maßnahmen, wie Sicherung der Atemwege beim komatösen Patienten, auf eine Rehydratation ab, da diese Kinder häufig schwer dehydriert sind (osmotische Diurese wegen Glukosurie) oder sich sogar in einem hypovolämischen Schockzustand befinden können.
Rehydratationsschema bei Hypovolämie/Dehydratation im Rahmen einer diabetischen Ketoazidose 5 Initial und nur bei hypovolämischem Schockzustand: 20 ml/kg KG 0,9%ige NaCl-Lösung oder 10 ml/kg KG Albumin 5% als intravenöser Bolus 5 Volumendefizittherapie neben einer normalen Erhaltungstherapie: Defizit in Liter = geschätzte Dehydratation in % u Körpergewicht in kg. Das Ausmaß der Dehydratation kann gemäß . Tabelle 84.15 und aufgrund der anamnestischen Angabe des kurzfristigen Körpergewichtverlusts recht zuverlässig abgeschätzt werden. Der Erhaltungsbedarf ist in . Tabelle 84.5 angegeben. Zur Dehydratations- und Erhaltungstherapie wird bei einem Plasmaglukosewert >12 mmol/l nur isotone NaCl-Lösung eingesetzt. Erst ab einem Glukosewert <12 mmol/l wird auf eine Mischinfusion aus 0,45%iger NaCl-Lösung und 5%iger Glukoselösung im Verhältnis 3 : 1,5 umgestellt. Eine NaCl-Konzentration von 0,45% ist derjenigen von 0,3% wegen des erheblichen Risikos eines schnellen Abfalls der Plasmanatriumkonzentration mit erheblichem Hirnödemrisiko vorzuziehen. Die Elektrolyte müssen in dieser Rehydratationsphase mindestens 2-stündlich kontrolliert werden. 5 Elektrolytsubstitution: Eine Kaliumsubstitution sollte möglichst früh erfolgen (außer bei Anurie), zumindest aber bei Beginn einer Insulintherapie. Kalium ist hauptsächlich ein intrazelluläres lon, und der Gesamtkörperkaliumgehalt ist immer 6
84
. Tabelle 84.19. Insulindosierungsschema Blutglukosewert [mmol/l]
Insulindosis [IE/kg KG/h]
Infusionsgeschwindigkeit [ml/h] bei 0,1 IE/ml
>12
0,08
8
7–12
0,06
6
4–7
0,04
4
3–4
0,02
2
0
0
<3
massiv erniedrigt, auch wenn häufig normale oder sogar erhöhte Plasmakaliumwerte initial gemessen werden können. Bei Anstieg des pH-Wertes im Rahmen der Volumensubstitutionstherapie beginnt der extrazelluläre Kaliumgehalt wegen Verschiebung in den Intrazellulärraum abzufallen, dies wird noch verstärkt durch die Insulingabe. Kaliumsubstitutionen von mehr als 8–12 mmol/kg KG/Tag sind keine Seltenheit. Als einfache Regel bewährt sich die Gabe von 20 mmol pro 500 ml Volumen, aufgeteilt in 50% KCl (7,45%ig) und 50% KH2PO4 (13,6%ig). 5 Korrektur des Basendefizits: Von einer Korrektur des Basendefizits mit Bikarbonatgaben ist prinzipiell abzuraten (Risiko eines schnellen Kaliumshift bei Korrektur des pH-Wertes). Bei persistierender metabolischer Azidose sollten nochmals eine Volumensubstitution mit 0,9%iger NaCl-Lösung oder Kolloiden durchgeführt und die Insulindosis (evtl. unter zusätzlicher Glukosezufuhr) erhöht werden. Eine Bikarbonatgabe ist allenfalls bei einem pH-Wert <7,0 und bei persistierender Herz-Kreislauf-Insuffizienz (persistierender Schockzustand) zur Verbesserung der Myokardkontraktilität zu rechtfertigen.
Insulintherapie. Die Insulintherapie sollte erst nach einer allge-
meinen Schocktherapie und nach Beginn der Rehydratationstherapie begonnen werden. Eine kontinuierliche Low-doseInsulintherapie wird gewählt (es besteht keine Indikation zur Bolusgabe). Es empfiehlt sich die Zubereitung einer Insulinlösung von 0,5 IE/ml (kurzwirkendes Insulin) in 0,9%iger NaClLösung. Diese Insulinlösung wird über ein Y-Stück mit einer Spritzenpumpe verabreicht und sollte nie in einen hängenden Infusionsbeutel gegeben werden. Die initiale Infusionsgeschwindigkeit dieser Lösung (0,5 IE/ml) beträgt 0,1 IE/kg KG/h (. Tab. 84.19 zur weiteren Dosisanpassung). Bei Kleinkindern können 0,05 IE/kg KG/h ausreichend sein, in dieser Altersklasse sollte bei einem Blutglukosewertabfall von mehr als 5 mmol/l/h auf diese tiefe Dosis umgestellt werden. Bei zu schnellem Glukoseabfall (<5 mmol/h) sollte die Insulintherapie nie, außer bei drohender Hypoglykämie (Blutzuckerwert <3 mmol/l), vollständig gestoppt werden, hingegen wird mehr Glukose zugeführt (der Diabetiker braucht Insulin).
1164
Kapitel 84 · Pädiatrische Intensivmedizin
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XVI
Vergiftungen
85
Akute Vergiftungen
–1167
85 Akute Vergiftungen L.S. Weilemann
85.1
Allgemeine Aspekte
85.2
Grundlagen von Resorption und Elimination
85.2.1 85.2.2 85.2.3
Orale Intoxikationen –1168 Inhalative und perkutane Intoxikationen –1169 Andere Intoxikationswege –1170
85.3
Klinik und Diagnostik
85.3.1 85.3.2 85.3.3 85.3.4
Klinische Symptomatologie –1170 Zentralnervöse Störungen –1171 Labordiagnostik –1172 Toxikologische Diagnostik –1172
85.4
Therapie
85.4.1 85.4.2 85.4.3 85.4.4 85.4.5
Sicherung der Vitalfunktionen –1173 Primäre Giftelimination –1173 Sekundäre Giftelimination –1174 Antidotbehandlung –1175 Allgemeine Intensivtherapie –1176
85.5
Suizidale und parasuizidale Handlung
85.6
Drogenintoxikationen Literatur
–1168
–1170
–1173
–1179
–1178
–1177
–1168
1168
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
85.1
Allgemeine Aspekte
Die Behandlung von Patienten mit akuten exogenen Intoxikationen stellt nach wie vor einen beachtlichen Anteil der Arbeitsbelastung medizinischer Kliniken dar, wobei allerdings der Anteil intensivtherapiebedürftiger Intoxikationen rückläufig ist. Der reduzierte prozentuale Anteil intensivmedizinisch behandelter Intoxikationen ist Ausdruck einer Selektion schwerster Fälle, bei denen aufwendige Verfahren wie Beatmung und extrakorporale Elimination indiziert sind. Analysen von intensivtherapiebedürftigen akuten peroralen Vergiftungen zeigen, dass weniger die neurologische Symptomatik als vielmehr schwerste hämodynamische und metabolische Entgleisungen Bild und Therapiekonsequenz der Intoxikationen prägen.
Häufigkeitsverteilungen
85
Betrachtet man die Häufigkeitsverteilung verschiedener Noxen bei klinisch behandelten Vergiftungen, so ergibt sich folgendes Bild: 4 Arzneimittel dominieren mit 80% der Fälle, gefolgt von Pflanzenschutzmitteln, Reizgasen sowie gewerblichen und chemischen Noxen mit einem Anteil von jeweils unter 10%. 4 Bei weitem die Mehrzahl der zu behandelnden Intoxikationen ereignet sich durch perorale Aufnahme, wobei im Erwachsenenalter die Vergiftungen in suizidaler Absicht an erster Stelle stehen. Eine Zunahme inhalativer Intoxikationen ist dennoch zu verzeichnen, wobei diese ausnahmslos akzidentell bedingt sind. Der Anteil perkutaner Vergiftungen liegt bei etwa 4–8%. Vorherrschend sind akzidentelle Intoxikationen, wobei intensivmedizinisch zu behandelnde Fälle selten sind.
Perorale Arzneimittelvergiftungen Schlüsselt man den großen Anteil peroraler Arzneimittelvergiftungen weiter auf, so ergibt sich folgendes Ursachenspektrum für stationär behandelte und damit potenziell intensivpflichtige Intoxikationen: Hypnotika dominieren, gefolgt von Psychopharmaka. Erst dann folgen Analgetika und gleichauf eine Reihe sonstiger Arzneimittel, wobei E-Blocker- und Digitalisvergiftungen zahlenmäßig den größten Anteil stellen. Die Aufgliederung von Vergiftungen und deren klinische Beurteilbarkeit werden dadurch kompliziert, dass Kombinationsvergiftungen entweder durch Einnahme von Mischpräparaten oder durch gleichzeitige Einnahme verschiedener Noxen häufig sind. i In mindestens 50% der klinisch behandelten Vergiftungsfälle ist mit einer Kombinationsvergiftung zu rechnen; die gleichzeitige Einnahme einer Überdosis von Arzneimitteln und Alkohol in einer das Vergiftungsbild mitbestimmenden Dosis ist bei mindestens 20% der Fälle nachweisbar.
Die präklinische und klinische Bedeutung der Intoxikationen hinsichtlich Differenzialdiagnose und Differenzialtherapie wird sichtbar, wenn der Anteil bewusstloser intoxikierter Patienten an der Gesamtzahl der Komata nicht traumatischer unklarer Genese erfasst wird: Unabhängig von regionalen Gegebenheiten zeigt sich, dass Intoxikationen sowohl klinisch als auch präklinisch an erster Stelle nicht traumatisch bedingter Komata stehen. Dieses Wissen um die Häufigkeitsverteilung erleichtert die Differenzialdiagno-
se und ist für das initiale differenzialtherapeutische Vorgehen bedeutungsvoll. 85.2
Grundlagen von Resorption und Elimination
85.2.1 Orale Intoxikationen Das Ausmaß einer Vergiftung lässt sich nie allein aufgrund der absolut eingenommenen Menge eines Stoffes prognostizieren. Entscheidend sind vielmehr die tatsächlich resorbierte Menge und die sich daraus ergebenenden toxikologisch relevanten Blutwerte und Gewebespiegel.
Giftresorption Hierfür sind zum einen patientenbezogene Individualfaktoren maßgebend, zum anderen die pharmakokinetischen Eigenschaften der Noxen. Patientenbezogene Individualfaktoren sind: 4 Ingestionslatenz, 4 Füllungszustand des Magens, 4 Gesundheitszustand des Patienten. Zu diesen patientenbezogenen Individualfaktoren kommt dann das Resorptions- und Verteilungsverhalten der Noxe hinzu, das bei akuten Vergiftungen im Vergleich zur »normalen« Pharmakokinetik und Pharmakodynamik sehr verändert sein kann. Bei einer solch speziellen Toxikokinetik spielen oft ganz einfache Mechanismen eine Rolle. So ist bekannt, dass durch die gleichzeitig mit der Hypnotikaintoxikation auftretende Darmatonie die Substanzen nicht in vollem Umfang resorbiert werden, und somit Maßnahmen zur Resorptionsverhinderung auch noch nach vielen Stunden sinnvoll sein können. Andere Substanzgruppen, wie z. B. Alkylphosphate, werden zwar relativ rasch resorbiert, lagern sich jedoch im Fettgewebe ab, um von dort rückresorbiert zu werden. So bestimmen der Individualzustand des Patienten einerseits und die speziellen Eigenschaften des Pharmakons mit der veränderten Toxikokinetik andererseits Ausmaß und Schwere der Vergiftung.
Giftelimination Die Elimination eines Giftstoffes aus dem Organismus erfolgt grundsätzlich durch renale Ausscheidung und/oder metabolischen Abbau. Höchste Aktivität arzneimittelabbauender Enzymsysteme hat die Leber, die einen ganz entscheidenden Anteil am Eliminationsprozess aufweist. Die Substanzen werden in der Regel zu Metaboliten abgebaut, wobei aktive und/oder toxische Metaboliten gebildet werden können.
Toxikokinetik Das traditionelle pharmakokinetische Modell wird von der semiempirischen Vorstellung der Kompartimentsysteme getragen. Dabei sind die Kompartimente oft fiktiv und stimmen nicht mit den physiologisch-anatomischen Gegebenheiten überein.
Plasmaclearance Bei dem einfachen Einkompartimentenmodell wird die Plasmaclearance einer Substanz aus applizierter Dosis und der Fläche unter der Plasmakonzentrationszeitkurve berechnet. Die Plasmaclearan-
1169 85.2 · Grundlagen von Resorption und Elimination
ce ist die Summe der Einzelclearances aller Organe, die eine Substanz aus dem Organismus eliminieren. Sie gibt das Plasma- und Blutvolumen an, das pro Zeiteinheit von der Substanz befreit wird. Diese totale Plasmaclearance berechnet man aus applizierter Dosis und der Fläche unter der Plasmakonzentrationskurve.
Verteilungsvolumen Auch das Verteilungsvolumen ist eine fiktive Größe, in die applizierte Dosis und Konzentration eingehen. Hieraus folgt, dass trotz identischer Clearances die Halbwertszeiten verschiedener Medikamente aufgrund unterschiedlicher Verteilungsvolumina erheblich differieren können. Diese Grundtatsachen belegen, dass eine Substanz mit hoher Clearance und großen Verteilungsvolumina, wie z. B. ein trizyklisches Antidepressivum, die gleiche Halbswertszeit besitzen kann, wie eine Substanz mit sehr geringer Clearance und geringem Verteilungsvolumen, wie beispielsweise Pyrazolon. Die Kenntnis solcher Beziehungen ist essentiell für den sinnvollen Einsatz primärer und insbesondere sekundärer Gifteliminationsverfahren. 85.2.2 Inhalative und perkutane Intoxikationen Die Bewertung von inhalativen und perkutanen Vergiftungen ist nicht einfach, da es sich meist um Gemische gesundheitsschädlicher Stoffe handelt und – ähnlich wie bei akuten peroralen Intoxikationen – wiederum individualspezifische Gegebenheiten zum Tragen kommen wie Alter, Geschlecht, Konstitution, Hautbeschaffenheit, Atemvolumina, um nur einige zu nennen. Diese können insbesondere die initiale Bewertung erschweren. Als Bewertungsgrundlage können neben speziellen, oft kasuistisch geprägten Publikationen die maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen gesundheitsschädlicher Stoffe (MAK-Werte) herangezogen werden.
MAK-Werte MAK-Werte werden folgendermaßen bestimmt: 4 epidemiologisch durch den Vergleich der am Arbeitsplatz auftretenden Konzentrationen mit der Häufigkeit entsprechender Gesundheitschädigung, 4 durch Tierversuche,
85
4 durch Analogieschlüsse aufgrund anderer theoretischer Überlegungen. Diese Werte müssen ständig den neuesten Erkenntnissen angepasst werden und werden daher auch laufend überarbeitet. Die Ergebnisse werden in den sogenannten MAK-Listen publiziert. Die MAK-Listen enthalten darüber hinaus besondere Kennzeichnungen für höchstzulässige Konzentrationen, bei deren kurzfristiger Überschreitung bereits mit schweren Vergiftungen zu rechnen ist. Natürlich sind solche Angaben nur bedingt auf akute Intoxikationen anzuwenden; mangels anderer Wertungsgrundlagen sind sie dennoch hilfreich.
Perkutane Giftaufnahme Die leichte Aufnahme von Substanzen durch die intakte Haut ist ebenfalls in den MAK-Listen aufgeführt und bewertet. i Die Aufnahme von Substanzen durch die Haut ist besonders zu beachten, da viele Substanzen perkutan aufgenommen gefährlicher sind als inhalativ.
Dies gilt beispielsweise für chlorierte Kohlenwasserstoffe und Nitroverbindungen. Bei manchen Stoffen muss, auch ohne resorptive Wirkung, infolge stark entzündlicher und ätzender Wirkung auf die Haut mit schweren Schäden gerechnet werden, wie z. B. bei organischen Peroxiden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass z. B. viele in Wasser gelöste Pflanzenschutzmittel nicht durch die Haut resorbiert werden, jedoch in organischem Lösungsmittel durchaus vital bedrohliche Vergiftungen infolge nahezu vollständiger Resorption auslösen können.
Reizgasvergiftungen Von größter klinischer und intensivmedizinischer Relevanz sind die sogenannten Reizgasvergiftungen. Die Symptomatologie der Reizgasintoxikationen ist abhängig von der Wasser- und Lipidlöslichkeit der verschiedenen Gase und vom Ort der Schädigung. Grundsätzlich subsummiert man unter dem Begriff der Reizgase Substanzen, die nach Inhalation zur lokalen Schädigung des Respirationstraktes führen können. Die toxische Wirkung der Reizgase beruht dabei auf einer Schädigung der Alveolarmembran der Kapillarwände sowie ei-
. Tabelle 85.1. Wirkung häufig vorkommender Reizgasintoxikationen Ammoniakgas
Chlorgas Schwefelwasserstoff
Nitrose Gase
Ort der Schädigung
Oberer Respirationstrakt: 4 Pharynx 4 Larynx 4 Trachea
Mittlerer Respirationstrakt: 4 Bronchien 4 Bronchiolen
Terminaler Respirationstrakt: 4 Bronchiolen 4 Alveolen
Latenz bis Wirkungseintritt
4 Sofortwirkung
4 Minuten bis Stunden
4 Stunden bis Tage
Symptomatik der Vergiftung
4 4 4 4
4 4 4 4
4 4 4 4 4
Löslichkeit der Reizgase
4 wasserlöslich; abnehmend
Kratzen im Pharynx Husten Glottisödem inspiratorischer Stridor
Husten, schleimiger Auswurf Bronchokonstriktion Bronchospasmus Lungenödem mit Latenz
4 ±
Atemnot Zyanose Husten schleimiger Auswurf Lungenödem mit Latenz
4 lipidlöslich; zunehmend
1170
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
ner Zerstörung des respiratorischen Epithels, z. T. hämorrhagischer Exzitation in die Alveolen und das Lungeninterstitium. Die Schwere der Intoxikation wird durch Konzentration der Gifte in der Einatmungsluft und durch die Expositionsdauer bestimmt. Gut wasserlösliche Reizgase schlagen sich frühzeitig im Flüssigkeitsgehalt des oberen Respirationstraktes nieder. Wegen der guten Wasserlöslichkeit entfalten sie ihre Wirkung im mittleren Respirationstrakt, und die kaum wasserlöslichen aber gut lipidlöslichen Reizgase schädigen die Bronchiolen und Alveolen mit dem Bild einer chemischen Pneumonitis. Die Wirkung häufig vorkommender Reizgasintoxikationen ist in . Tabelle 85.1 dargestellt. 85.2.3 Andere Intoxikationswege
4 Wieviel? 4 Wie? 4 Warum?
Telefonische Giftinformation Bei Intoxikationsverdacht bieten die telefonischen Giftinformationszentralen differenzialdiagnostische und differenzialtherapeutische Hilfe an. Die meisten Giftinformationszentren in Deutschland sind, mit der jeweiligen Ortsvorwahl, unter der einheitlichen Rufnummer 192 40 zu erreichen (z. B. Mainz: 0 6131192 40). Bundeseinheitliche Telefonnummer der Giftinformationszentralen Ortsvorwahl +192 40.
85
Im Vergleich zur peroralen und perkutanen und inhalativen Vergiftung spielen andere Wege quantitativ eine weit geringere Rolle. Beim intramuskulären Weg gilt besonders zu beachten, dass im Schockzustand die Substanz verzögert wirksam wird und daher mit Vergiftungserscheinungen oft erst nach erfolgreicher Schockbehandlung gerechnet werden muss. Der direkteste Weg für eine Vergiftung ist die intravasale Verabreichung, die in der Regel meist rasch eine klinische Symptomatik hervorruft. Der intravenöse Weg spielt hauptsächlich bei Drogenmissbrauch eine Rolle. Seltenere Vergiftungen werden durch rektale Verabreichung hervorgerufen, bei der es meist nur zu Reizerscheinungen ohne systemische Wirkung kommt. Vorwiegend im Rahmen akzidenteller Intoxikationen kommt es auch zu okkulären Vergiftungen. Resorptive Intoxikationen sind hier so gut wie nie zu erwarten, jedoch z. T. schwere lokale Schädigungen. 85.3
Klinik und Diagnostik
85.3.1 Klinische Symptomatologie Die wesentlichen 4 Möglichkeiten für die Diagnostik außerhalb der Klinik haben – mit Einschränkung – auch Gültigkeit für die Erkennung von Vergiftungen in der Klinik. Diese Maßnahmen sind: 4 Inspektion, 4 Befragen, 4 telefonische Giftinformation, 4 klinischer Befund.
Inspektion der Umgebung des Patienten
Klinischer Befund Die Deutung der Befunde wird durch die Vielzahl der in Frage kommenden Noxen erschwert. Es gibt jedoch Symptome, die bei Arzneimittelintoxikationen besonders häufig vorkommen und damit charakteristisch für spezielle Vergiftungen sind, v. a. wenn 2 oder mehrere dieser Symptome gleichzeitig auftreten. Typische Symptome bei akuten Vergiftungen 5 5 5 5 5 5
Akute gastrointestinale Störungen Auffälliger Foetor Hautläsionen Arrhythmien Zentralnervöse Symptome (diese werden wegen ihrer Bedeutung gesondert abgehandelt)
Diese typischen Vergiftungssymptome kommen bei 90% aller klinisch behandelten Vergiftungsfälle vor.
Akute gastrointestinale Erscheinungen Akute gastrointestinale Erscheinungen wie Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen und Durchfälle, die auch blutig sein können, kommen bei einer Vielzahl von Noxen vor. Typisch für solche Intoxikationen ist die Kombination von Zeichen einer akuten Nieren- oder Leberzellschädigung. Hierzu zählen insbesondere Vergiftungen mit chlorierten Kohlenwasserstoffen, Pilzen sowie Paracetamol.
Der erste Schritt ist die Inspektion der Umgebung des Erkrankten; leere Arzneimittelpackungen, Flaschen oder Gläser mit verdächtigem Inhalt liefern häufig den entscheidenden Verdacht auf das Vorliegen einer Vergiftung. Suspekte Materialien sind in jedem Fall für die toxikologische Analyse zu asservieren.
Auffälliger Foetor
Befragung des Patienten oder der Umgebungspersonen
Hautveränderungen
Die Befragung konzentriert sich auf die »6 W«: 4 Wer? 4 Was? 4 Wann?
Ein auffälliger Foetor ex ore oder ein auffälliger Geruch des Erbrochenen kann den Erfahrenen auf die Möglichkeit einer Vergiftung hinweisen und ist darüber hinaus differenzialdiagnostisch zum Ausschluss endogener Komata verwertbar.
Charakteristische Hautläsionen, wenn auch nicht pathognomonisch, finden sich bei Schlafmittelvergiftungen, und zwar bei allen Hypnotika und Psychopharmaka. Nicht nur Säuren und Laugen, sondern auch Kohlenwasserstoffe können akut zu Hautläsionen führen. Solche Hautveränderungen können bei
1171 85.3 · Klinik und Diagnostik
85
. Tabelle 85.2. EKG-Veränderungen und Arrhythmien bei Vergiftungen Bradykardie, AV-Block
Sinus- oder supraventrikuläre Tachykardie
Ventrikuläre Tachykardie
4 Digitalis 4 Insektizide 4 Lithium
4 4 4 4 4
4 4 4 4 4 4
Adrenergika Anticholinergika Benzodiazepine Ethanol Theophyllin
Amphetamine Digitalis Kokain Theophyllin Trizyklische Antidepressiva Phenothiazine
. Tabelle 85.3. Agitiertheit, Psychosen, Delir im Rahmen häufig vorkommender akuter Vergiftungen
. Tabelle 85.4. Substanzen oder Erkrankungen, bei denen es gehäuft zu Hypo- oder Hyperthermie kommen kann
Substanzen
Manifestation
Hypothermie
Hyperthermie
Amantadin
Agitiertheit, Delirium
Amphetamin
Agitiertheit, Angst, Psychose
Anticholinergica
Delirium, Halluzinationen
4 4 4 4 4
Antihistaminika
Visuelle Halluzinationen
Atropin
Unruhe, Angst
Biogene Drogen
Halluzinationen, Psychose
Digitalis
Delirium, Psychose
Disulfiram
Delirium, paranoide Psychose
Ethanol
Agitiertheit, Haluzinationen, Delirium
4 Direkt zentral – Anticholinergika – Antihistaminika – Antipsychotika – Trizyklische Antidepressiva 4 Anstieg des Metabolismus – Salicylate – Schilddrüsenhormone – Pentachlorphenol 4 Muskuläre Hyperaktivität – Amphetamine – Alkohol – Lithium – LSD – Trizyklische Antidepressiva
Ecstasy
Psychosen
Lidocain
Agitiertheit, Verwirrtheit
Lithium
Delirium
LSD
Halluzinationen, Psychose
Marihuana (THC)
Angst, Halluzinationen
Nasale Drogen (Oxymetazolin, Xylometazolin)
Halluzinationen
Procain
Angst, Psychose
Salicylate
Agitiertheit, Verwirrtheit, Halluzinationen
Theophyllin
Angst, Agitiertheit
Hypoglykämie Alkohole Hypnotika Narkotika Phenothiazine
85.3.2 Zentralner vöse Störungen Zentralnervöse Störungen durch Intoxikationen können als zentralnervöse Dämpfung in Form von Bewusstseinsstörungen über Somnolenz, Sopor bis zum Koma oder auch als Exzitation in Form von Unruhe, Verwirrtheit, Rausch und Erregungszuständen bis hin zu generalisierten Krampfanfällen auftreten. Auch ist das Bild periphernervös vielseitig, wenngleich bei akuten Intoxikationen nicht so ausgeprägt wie bei chronischen. i Für die Deutung zentralnervöser Symptome ist es wichtig zu wissen, dass Exzitationserscheinungen nicht nur in der Aufwachphase, wie bei der klassischen Barbituratvergiftung, vorkommen, sondern dass Hypermotorik und tonische Krämpfe bei bestimmten Substanzen auch auf dem Höhepunkt der Vergiftung auftreten können.
Vorliegen resorptiver Vergiftungserscheinungen diagnostisch ver wertbar sein. Schließlich können Einstichstellen bei Verdacht auf Drogenintoxikation differenzialdiagnostisch weiterhelfen.
Hierzu zählen insbesondere: 4 Diphenhydramin, 4 Isoniazid (INH), 4 trizyklische Antidepressiva.
Herzrhythmusstörungen
Bei diesen Substanzen ist das Auftreten von generalisierten Krämpfen sehr charakteristisch. Agitiertheit, Psychosen und delirante Zustände sind häufig im Rahmen von Intoxikationen anzutreffen. Eine Zusammenfassung zeigt . Tabelle 85.3. Insbesondere im Rahmen der Differenzialdiagnose des Komas unklarer Genese kommt den Tempera-
Arrhythmien sind besonders dann auf Vergiftungen verdächtig, wenn sie unter Berücksichtigung von Alter und Vorgeschichte uner wartet auftreten. EKG-Veränderungen sind darüber hinaus im Rahmen der klinischen Diagnostik ver wertbar (. Tab. 85.2).
1172
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
turregulationsstörungen eine besondere Bedeutung zu. Hypound Hyperthermien sind in . Tabelle 85.4 zusamengefasst. 85.3.3 Labordiagnostik Neben dem direkten Giftnachweis kommt auch der klinisch-chemischen Untersuchung eine nicht zu unterschätzende differenzialdiagnostische Bedeutung zu. Bei somnolenten, soporösen oder komatösen Patienten sollten die in der Übersicht genannten Laboruntersuchungen veranlasst werden.
. Tabelle 85.5. Wegweisende Laborveränderungen bei bestimmten Vergiftungen Laborparameter
Substanz
Hyperglykämie
4 4 4 4 4
Hypoglykämie
4 Orale Antidiabetika 4 Insulin 4 Salicylate
Hyperkaliämie
4 4 4 4
α-Adrenergica Digitalis Lithium Fluoride
Metabolische Azidose (ohne Schock)
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
β-Adrenergika Alkohole Formaldehyd Salicylate Theophyllin INH Colchicin Zyanide Koffein Kohlenmonoxid
Laboruntersuchungen bei Vergiftungsverdacht 5 Basisprogramm: – Blutbild mit Hämoglobin, Hämatokrit und Thrombozytenzahl – Gerinnungsstatus – Blutzucker – Serumnatrium und -kalium – Serumkreatinin und -harnstoff – Leberenzyme – Urinsediment Zum Ausschluss metabolischer bzw. endokrinologisch bedingter Bewusstseinsstörungen wird dann ein erweitertes Basisprogramm durchgeführt: 5 Erweitertes Basisprogramm: – Blutgasanalyse – Ammoniak – Laktat – Cholinesterase
85 Von besonderer differenzialdiagnostischer Bedeutung sind Blutglukose, Serumkalium und metabolische Azidose. Intoxikationen, die eine deutliche Abweichung von den Serumnormalwerten hervorrufen können, sind in . Tabelle 85.5 zusammengefasst.
Aceton Koffein LSD Theophyllin Eisen
diazepinen, aber auch bei den trizyklischen Antidepressiva, z. T. erhebliche Empfindlichkeitsunterschiede der einzelnen Medikamente innerhalb der Gruppen bestehen. Entscheidend ist dabei auch die therapeutische Obergrenze einzelner Gruppenvertreter. Für weiterreichende therapeutische Verfahren, wie z. B. extrakorporale Elimination, sind immer quantitative Serumanalysen ausschlaggebend.
Quantitative Analysen 85.3.4 Toxikologische Diagnostik
Immunologische Schnelltests Für Positiv-Negativ-Ergebnisse stehen Tests zur Verfügung, die als immunologische Verfahren auf einer Antigen-AntikörperReaktion beruhen. Gebräuchlichstes System ist das sog. EMIT (»encyme multiple immuno assay technique single test system« der Fa. Merck). Derzeit stehen EMIT-Tests zum Nachweis folgender Medikamentengruppen im Serum und Urin zur Verfügung: 4 Barbiturate, 4 Benzodiazepine, 4 Methaqualon, 4 Opiate/Opioide, 4 Drogen, 4 Amphetamine, 4 Ethanol. Die Empfindlichkeit der Urintests ist größer als die der Serumtests. Die Ergebnisse der Serumuntersuchungen müssen immer kritisch bewertet werden, da v. a. bei Barbituraten und Benzo-
Der quantitative Nachweis von Giften erfordert eine größere apparative Ausstattung und kann nur in speziell eingerichteten toxikologischen Labors durchgeführt werden. Die zur Verfügung stehenden Verfahren sind: 4 Photometrie: Photometrische Verfahren werden gewöhnlich zur Bestimmung von Paraquat, Diquat, Salicylaten, Paracetamol und Carboxyhämoglobin eingesetzt. 4 Atomabsorptionsspektrometrie: Die Atomabsorptionsspektrometrie wird zum quantitativen Nachweis von Schwermetallen eingesetzt, v. a. von Blei, Quecksilber, Thallium, Zink, Kupfer und Kadmium. 4 Gaschromatographie: Die Gaschromatographie ist das häufigste Verfahren zur Trennung und Bestimmung verdampfbarer Stoffe. Hiermit wird gewöhnlich die weitaus größte Zahl der Substanzen aus folgenden Gruppen bestimmt: 4 Schlafmittel, 4 Psychopharmaka, 4 Analgetika, 4 Opiate und Opioide, 4 Weckamine, 4 Kardiaka, 4 Antihypertensiva.
1173 85.4 · Therapie
Die Gaschromatographie (GC) ist – in Verbindung mit Massenspektrometrie (MS) – ein sehr empfindliches Verfahren, mit dem v. a. unbekannte Substanzen identifiziert werden können. Diese Methode (GC-MS) setzt jedoch große Erfahrung und einen erheblichen apparativen und personellen Aufwand voraus.
Gasspürgeräte Gasanalytik und Untersuchung der Luft spielen im klinischen Bereich eine eher untergeordnete Rolle. Mit dem Gasspürgerät (Dräger) ist es jedoch möglich, bei Verdacht auf Ingestion organischer Lösemittel diese Substanzen im Asservat oder der Atemluft nachzuweisen. Auch bei Vergiftungen mit Reinigungsmitteln ist die Bestimmung von Trichlorethylen oder Tetrachlorethylen möglich. Von Bedeutung sind die Dräger-Gasspürgeräte auch bei Vergiftungen im Zusammenhang mit Bränden, da mit einem entsprechenden Röhrchen Kohlenmonoxid in der Ausatemluft nachgewiesen werden kann und weiterhin auch der Nachweis von Zyaniden möglich ist. Hierzu wird 1 ml Blut mit 1 ml 10%iger Schwefelsäure vermischt; das bei dieser Mischung entstehende Gas kann mit einem Zyanidspürröhrchen erfasst werden. Da apparative Ausstattung und Methoden, je nach toxikologischem Labor, stark variieren, sollten mit dem betreffenden Labor Absprachen getroffen werden, um ausreichende Mengen des zu untersuchenden Materials (Asservat, Serum, Urin) bereitstellen zu können. 85.4
Therapie
85.4.1 Sicherung der Vitalfunktionen Am Anfang werden lebensrettende Sofortmaßnahmen zur Verhütung und/oder Behandlung von Störungen der Vitalfunktionen eingeleitet, ergänzt durch Maßnahmen zur Vermeidung von Komplikationen und Organschäden durch die Gifteinwirkung. Es muss v.a. eine pulmonale Aspiration verhindert werden, denn trotz niedriger Letalität der Intoxikationen (<1%) gehört die schwere Aspirationspneumonie zu den Haupttodesursachen. Die häufigsten Störungen der Vitalfunktionen und Komplikationen bei Vergiftungen sind: 4 zentrale Störungen der Atemfunktion, z. B. Atemlähmung, 4 Verlegung der oberen Luftwege und Bronchien, 4 pulmonale Aspiration von Fremdmaterial, 4 Störungen des pulmonalen Gasaustauschs, 4 Störungen des O2-Transportes, 4 Störungen der Kreislauffunktion, 4 lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen, akute Herzinsuffizienz, Schock. 85.4.2 Primäre Giftelimination i Im Mittelpunkt spezifischer Therapiemaßnahmen außerhalb und innerhalb der Klinik steht die Verhinderung der Resorption des Giftes.
Hierzu können die im Folgenden genannten Maßnahmen durchgeführt werden.
85
Giftaufnahme durch Inhalation Die Patienten müssen schnellstmöglich aus der giftigen Umgebung gerettet werden; dies erfolgt in der Regel durch die Feuerwehr unter schwerem Atemschutz. Bei schweren CO-Vergiftungen sollte bereits während des Transports im Notarztwagen mit der kontrollierten Hyperventilation mit Zufuhr von 100% O2 begonnen werden.
Transkutane Vergiftung Kontaminierte Kleidungsstücke müssen sofort entfernt werden, die Haut wird ausgiebig gereinigt.
Perorale Intoxikationen Bis in die jüngere Vergangenheit waren Magenspülung und/oder provoziertes Erbrechen Standard primärer Giftelimination bei allen Patienten mit akuter oraler Vergiftung. Hier hat sich ein deutlicher Wandel vollzogen, sodass diese beiden Verfahren nicht mehr als »golden standard« bezeichnet werden können. Die Studienlage macht deutlich, dass eine Resorptionsverhinderung überwiegend durch die alleinige – quantitativ ausreichende – Gabe von Carbo medicinalis zu erzielen ist. Darüber hinaus zeigen die Studien, dass die Magenspülung dem provozierten Erbrechen nicht überlegen ist. Basierend auf den vorliegenden Untersuchungen lauten entsprechend die Empfehlungen der nationalen und internationalen Gesellschaften: Sowohl für das Auslösen von Erbrechen als auch für die Magenspülung gilt ein Zeitfenster von 1–2 h zwischen Ingestion und Therapiebeginn. Das Auslösen von Erbrechen und die Magenspülung außerhalb dieses Zeitfensters sind nur noch ganz wenigen speziellen Indikationen vorbehalten. Dies gilt insbesondere für die Magenspülung.
Das provozierte Erbrechen sollte prinzipiell auch im Erwachsenenbereich durch die Gabe von Ipecacuanha-Sirup hervorgerufen werden. Kontraindikationen für provoziertes Erbrechen 5 Säuren und Laugen 5 Organische Lösemittel 5 Substanzen, die schnell zu einer Bewusstseinseintrübung führen können, wie z. B. trizyklische Antidepressiva, bei denen ein rascher Wechsel von Wachheit zu Eintrübung möglich ist
i Grundsätzlich gilt für das provozierte Erbrechen: Der Patient muss ansprechbar und kooperativ sein. Indikation zur Magenspülung außerhalb des 1- bis 2-h-Fensters. Beim Vorliegen einer Intoxikation mit hochtoxischen Sub-
stanzen und gleichzeitiger schwerer klinischer Symptomatik – insbesondere Bewusstseinseintrübung bis zur Bewusstlosigkeit – ist eine Individualentscheidung zur Magenspülung auch außerhalb des 1- bis 2-h-Fensters möglich. Dies gilt insbesondere bei gleichzeitig vorliegender Magen-Darm-Atonie und/oder
1174
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
Ingestion von Retardpräparaten. Hier ist eine Magenspülung vor der Kohlegabe unter Umständen sinnvoll. Carbo medicinalis. Universaladsorbens ist Carbo medicinalis.
tik, Metabolismus, Verteilungsvolumen und Elimination der zu entfernenden Substanz. Die Indikation zur extrakorporalen Entgiftung sollte sich immer auf die in der Übersicht dargestellten Fakten stützen.
Die Aktivkohle hat alle anderen Adsorbenzien verdrängt, auch wenn die Adsorptionskapazität für verschiedene Substanzen unterschiedlich ist. Kohle wird z. B. nach der Magenspülung über eine nasogastrale Verweilsonde instilliert.
Indikationsstellung zur extrakorporalen Entgiftung 5 Klinisch-internistischer und klinisch-neurologischer Befund – bestehende oder trotz Therapieeinleitung zunehmende respiratorische Insuffizienz – bestehende oder trotz Therapieeinleitung zunehmende hämodynamische Insuffizienz – bestehende oder trotz Therapieeinleitung zunehmende neurologische Symptomatik, in erster Linie Komavertiefung 5 Neurologische Zusatzuntersuchungen – Elektroenzephalogramm mit Vorliegen medikamentös bedingter spezifischer Veränderungen, z. B. Burstsuppression-Muster bei Hypnotikaintoxikationen – neurologisch-elektrophysiologische Untersuchungen, wie z. B. repetitive Muskelreizung bei Organophosphatintoxikationen – kritische Blutkonzentrationen; Angaben hierzu bei Giftinformationszentralen Sind mindestens 2 der genannten Voraussetzungen er füllt, ist die Indikation als gesichert zu betrachten.
Die empfohlene Aktivkohledosierung bei schweren Vergiftungen beträgt 1 g/kg KG.
Wache und kooperative Patienten können die Kohlesuspension natürlich auch trinken. Im Anschluss an die Kohlegabe muss dafür gesorgt werden, dass die an Kohle adsorbierte Substanz den Magen-Darm-Trakt auch wieder verlässt; dies gilt insbesondere bei großen Giftmengen und/oder wenn zu erwarten ist, dass die Adsorptionskapazität der Kohle begrenzt ist und das Gift durch Umverteilungs- und Rückdiffusionsphänomene wieder in den Magen-Darm-Trakt zurückgelangt. Sollte die Kohle nicht ausgeschieden werden, kann der Transport am besten mit hyperosmolarer Lösung (Sorbit) forciert werden. Die hyperosmolaren Lösungen werden zum einen über eine Magensonde, zum anderen als Einlauf zugeführt. Substanzen, bei denen die Kohlegabe nicht sinnvoll ist
85
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Benzin/Petroleum Waschmittel/Tenside Lithium Ethylenglykol und Derivate Säuren und Laugen Thallium Methanol/Ethanol Blausäure Lösungsmittel
85.4.3 Sekundäre Giftelimination Als sekundäre Giftelimination werden Maßnahmen zur Entfernung von Giftsubstanzen aus dem Blut nach der Resorption bezeichnet. Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz solcher Detoxifikationsverfahren ist die Kenntnis von Resorptionskine-
Vorausgesetzt werden muss immer eine vorherige ausreichende primäre Giftelimination, die durch extrakorporale Verfahren keinesfalls ersetzt werden kann. Als Maß für die Leistungsfähigkeit der Eliminationsmechanismen gilt die Plasmatoxinclearance. Eine nennenswerte Verkürzung der Giftverweildauer im Organismus, angegeben als Eliminationshalbwertszeit, erfolgt nur, wenn das angewendete Detoxifikationsverfahren eine zusätzliche Leistung in der Größenordnung der endogenen Plasmaclearance erbringt. Folgende Möglichkeiten der sekundären Giftelimination sind sinnvoll: forcierte Diurese, Hämodialyse, Hämoperfusion. Eine Übersicht gibt die . Tabelle 85.6. Forcierte Diurese. Die forcierte Diurese ist ein Behandlungsverfah-
ren zur sekundären Giftentfernung, bei der die renale Elimination bestimmter Schadstoffe durch Hemmung der passiven tubulären Rückdiffusion gesteigert wird. Alkalisierung der Tubulusflüssigkeit kann die Ausscheidung einiger Substanzen steigern. Für die Wirksamkeit einer forcierten Diurese gelten folgende Voraussetzungen:
. Tabelle 85.6. Sekundäre Gifteliminationsverfahren Verfahren
Prinzip
Notwendige Eigenschaft der Substanz
Forcierte Diurese
Verstärkung der Toxindissoziation im Primärharn
Wasserlöslich, nicht eiweißgebunden, überwiegend renale Elimination
Hämodialyse
Diffusion durch semipermeable Membran, Konzentrationsgefälle
Hohe Plasmakonzentration, wasserlöslich, nicht eiweißgebunden
Hämoperfusion
Adsorption an Aktivkohle oder Kunstharz
Vor allem für lipophile Toxine geeignet
1175 85.4 · Therapie
. Tabelle 85.7. Gifte, bei denen Hämodialyse oder Hämoperfusion indiziert sind. Die Indikation erfolgt immer unter Berücksichtigung des klinischen Bildes Indikation für eine Hämodialyse
Indikation für Hämoperfusion
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 Herbizide (Paraquat/Diquat) 4 Insektizide (Organophosphate) 4 Phenytoin 4 Psychopharmaka 4 Sedativa 4 Theophyllin
Arsen Chinin Ethanol Ethylenglykol Kalzium Lithium Propanol Quecksilber Salicylate Thallium
4 die renale Ausscheidung muss Haupteliminationsvorgang sein, 4 die Substanz muss ausgiebig rückresorbiert werden können, 4 die tubuläre Rückresorption muss pH-abhängig sein. Als gesicherte Indikation zur forcierten Diurese unter den oben genannten Voraussetzungen gelten schwere Vergiftungen mit 4 Acetylsalicylsäure, 4 Barbital, 4 Phenobarbital, 4 Lithium, 4 das Auftreten einer Rhabdomyolyse bei noch erhaltener Nierenfunktion.
85
4 Je besser das Toxin an Kohle oder Kunstharz adsorbiert wird, um so höher ist die Effektivität, 4 die Beschaffenheit der Beschichtung der Kartusche ist von Bedeutung, 4 es muss ein ausreichend hoher Blutfluss gewährleistet sein, damit genügend Toxine adsorbiert werden können. Komplikationen können sowohl kartuschen- als auch katheterbe-
dingt sein; am häufigsten werden genannt: 4 Abfall der Thrombozytenzahl, 4 Gerinnungsstörungen, 4 Thrombosierungen, 4 Blutungen, 4 Blutdruckabfall. Hyperventilationsbehandlung. Organische Lösemittel – und
hierzu gehören im Wesentlichen die halogenierten Kohlenwasserstoffe – können beschleunigt pulmonal abgeatmet werden. Im Anschluss an die sorgfältige primäre Giftelimination kann eine Hyperventilation folgendermaßen provoziert werden: 4 bei respiratorpflichtigen Patienten forcierte Beatmung durch 2- bis 4-fache Steigerung des Atemminutenvolumens, 4 bei noch spontan atmenden Patienten, je nach Klinik, Anreicherung der Atemluft mit ca. 5–8% CO2 über eine Nasensonde oder Intubation und kontrollierte maschinelle Hyperventilation. Die Hyperventilationsbehandlung sollte prinzipiell unter kontrollierten Bedingungen stattfinden; wichtig sind insbesondere Kontrollen des Säure-Basen-Status, der Blutgase sowie der Herztätigkeit (EKG).
Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Giftelimination mehr durch die Alkalisierung des Urins als durch vermehrtes Flüssigkeitsangebot gesteigert wird.
85.4.4 Antidotbehandlung
Hämodialyse. Der Einsatz der Hämodialyse ist insbesondere
Die Umwandlung von Giften in schwer resorbierbare oder mindertoxische Substanzen kann durch chemische oder physikalische Umwandlung geschehen. In diesem Zusammenhang sind z. B. Glaubersalz und Polysiloxan von Bedeutung. Ein Beispiel für eine physikalische Umwandlung ist die Kombination von Magensaft, Waschmittel und Polysiloxan als Entschäumer.
dann sinnvoll, wenn bei einer schweren Intoxikation eine zusätzliche Niereninsuffizienz vorliegt. Hierbei kann die Hämodialyse auch als ergänzendes Verfahren zu den unten angegebenen extrakorporalen Maßnahmen eingesetzt werden, wobei sich in der Regel eine zusätzliche Eliminationssteigerung erzielen lässt. Substanzen, die durch eine Hämodialyse bei schweren Vergiftungen gut eliminierbar sind und damit möglicherweise eine Indikation zum Einsatz dieses extrakorporalen Verfahrens darstellen, sind in der linken Spalte von . Tabelle 85.7 dargestellt. Hämoperfusion. Die Hämoperfusion ist das wichtigste und effektivste extrakorporale Eliminationsverfahren. Die Indikation muss jedoch streng gestellt werden und ersetzt in keinem Fall die initiale Resorptionsverhinderung. Sie ist ein Verfahren, bei dem Blut in einem extrakorporalen Kreislauf direkt über Kohle oder Harzgranula geleitet wird, um toxische Substanzen zu eliminieren (7 Kap. 60). Als mögliche Indikationen zur Hämoperfusion gelten insbesondere Intoxikationen mit den Substanzgruppen, die rechts in . Tabelle 85.7 aufgeführt sind. Die Effektivität der Hämoperfusion hängt von 3 Faktoren ab:
Neutralisierende Antidote
Adsorbierende Antidote Universaladsorbens ist die Aktivkohle, die durch physikalische Adsorption die Giftaufnahme verhindert. Sie ist bei akuten peroralen Intoxikationen eines der wichtigsten therapeutischen Mittel und kann durch ihre große Oberfläche beträchtliche Giftmengen adsorbieren. Andere Adsorbenzien wie Bentonit, Paraffinöl oder Polystyramin sind nach neueren Erkenntnissen der Aktivkohle an Wirkung unterlegen, weisen aber mehr Nebenwirkungen auf und werden daher nicht mehr eingesetzt.
Antidote nach Resorption Andidote im engeren Sinne sind Substanzen, die die Toxizität resorbierter Gifte über einen der folgenden Wirkmechanismen vermindern oder aufheben: 4 Bildung chemischer Komplexe mit verminderter oder fehlender Toxizität, z. B. Komplexbildner,
1176
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
4 Umwandlung zu Derivaten mit verminderter oder fehlender Toxizität, z. B. durch N-Acetylcystein, 4 Verdrängung am Rezeptor, z. B. Flumazenil, Naloxon, 4 Antikörperbindung, z. B. Digitalisantitoxin.
. Tabelle 85.8. Alphabetisches Verzeichnis relevanter Intoxikationen, bei denen ein Antidot verfügbar und bei entsprechender Indikation sinnvoll ist Intoxikation
Antidot
Alkylphosphate
Atropinsulfat, Obidoxim
Aluminium
Deferroxamin
Amanitin
Penicillin G und Silibinin
Ameisensäure
Folsäure
Antihistaminika
Physostigminsalicylat, wenn anticholinerge Prägung
Arsen
DMPS
Atropin
Physostigminsalicylat
Baclofen
Physostigminsalicylat
Belladonna
Physostigminsalicylat
Benzodiazepine
Flumazenil, Biperiden
Blausäure
4 DMAP + Natriumthiosulfat (oder sicherer: Hydroxycobalamin)
Blei
Ethylendiamintetraacetat oder DMPS, wenn nicht ver fügbar, dann D-Penicillamin
Insbesondere Patienten mit schweren Schlafmittelvergiftungen bedürfen einer sorgfältigen Beobachtung hinsichtlich möglicher Hautläsionen. die sog. Barbituratblasen können nicht nur bei Barbituratintoxikationen, sondern bei allen Schlafmittelvergiftungen auftreten. Nicht selten sind auch tiefere Gewebeschichten betroffen, und es werden Fälle von massiver Rhabdomyolyse beobachtet.
Carbamate
Atropinsulfat
Chloroquin
Diazepam
Chrom
DMPS
Codein
Naloxon
Cumarinderivate
Vitamin K
Infektionsprophylaxe
Dextropropoxyphen
Naloxon
Digitalis
Digitalisantitoxin
Dioxine
Polyethylenglykol-400 (äußerlich)
Eisen (III)
Deferoxamin
Ethylenglykol
Ethanol
Flusssäure
Kalziumglukonat
Gold
DMPS, D-Penicillamin
Heroin
Naloxon
Isoniazid
Pyridoxin
Kobalt
DMPS
Kupfer
D-Penicillamin
Lost
Natriumsulfat
Methämoglobinbildner
Methylenblau, Toluidinblau
Methadon
Naloxon
Rein quantitativ spielen solche Antidote im Alltag der Humantoxikologie eine eher untergeordnete Rolle, weil wirksame und komplikationsarme Gegenmittel nur für eine begrenzte Anzahl von Noxen zur Verfügung stehen. Die immer wieder erhobene Forderung, dass für jedes Gift ein Gegengift vorhanden sein soll, erwies sich bisher als völlig unrealisierbar. Dennoch gibt es eine Reihe äußerst wirksamer Medikamente, die gerade bei schweren Vergiftungen wesentlicher Bestandteil der Behandlung sind (. Tab. 85.8). 85.4.5 Allgemeine Intensivtherapie Zusammen mit den modernen extrakorporalen Eliminationsverfahren stellen Intensivtherapiemaßnahmen, unter dem besonderen Aspekt der akuten exogenen Intoxikation, einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Prognose vergifteter Patienten dar. Basis der Intensivtherapie – wie zuvor der Sofortbehandlung – ist die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen. Die Behandlung des Grundleidens – hier der Vergiftung – erfordert darüber hinaus eine Reihe spezieller Maßnahmen und Überlegungen. Verschiedene Behandlungsansätze sollen nachfolgend unter dem Aspekt der Vergiftung erörtert werden.
Prophylaxe von Hautschäden
85
Im Vordergrund stehen allgemeine hygienische Maßnahmen. Prophylaktische Antibiotikagaben sind bei Vergiftungen nicht indiziert.
Temperaturregulation Hypothermie und Hyperthermie sind bei Schlafmittelvergiftungen häufig zu beobachten. Während Barbituratintoxikationen vorwiegend durch Hypothermie charakterisiert sind, kommen insbesondere bei Methaqualon- und Diphenhydraminintoxikationen Hyperthermien vor. Hypothermien bis 31 C haben im Sinne der Vita minima eher einen protektiven Effekt. Schwere Formen der Hypothermie sind dagegen trotz relativ guter Prognose behandlungsbedürftig. Hypothermie. Bei leichteren Formen der Hypothermie geschieht
die Erwärmung passiv, d. h. in erster Linie durch Wärmedecken. Bei schwersten Formen der Unterkühlung muss die Erwärmung auch aktiv erfolgen. Dies ist mit angewärmten Infusionen nur unzureichend möglich; eine Wiedererwärmung erfolgt z. B. durch warme Magenspülungen oder durch die bei solchen Patienten meist stattfindende extrakorporale Gifteliminationen mit Erwärmung des extrakorporal zirkulierenden Bluts.
6
1177 85.5 · Suizidale und parasuizidale Handlung
85
Hämodynamische Störungen . Tabelle 85.8. (Fortsetzung) Intoxikation
Antidot
Methotrexat
Leucovorin
Opiate/Opioide
Naloxon
Organische Lösemittel
Polyethylenglykol-400 (äußerlich)
Die Veränderung der Hämodynamik bei Patienten mit exogenen Intoxikationen durch Hypnotika und Psychopharmaka sind im Wesentlichen auf drei Pathomechanismen zurückzuführen: 4 Hypovolämie, 4 Störung der zentralen und peripheren Kreislaufregulation, 4 direkte kardiotoxische Einwirkung.
Paracetamol
N-Acetylcystein
Hypovolämie. Mögliche Ursachen einer Hypovolämie bei Into-
Parathion
Atropin, Obidoxim
Pentazozin
Naloxon
Phenole
Polyethylenglykol-400 (äußerlich)
Plutonium
DMPS
Psychopharmaka mit extrapyramidaler Symptomatik
Biperiden
Quecksilber
DMPS
Reizgasinhalation
Dexamethason
Schaumbildner
Polisiloxan
Silber
DMPS
Thallium
Eisen (III)hexacyanoferrat (II)
Trizyklische Antidepressiva
Physostigminsalicylat (nur bei Krämpfen und/oder Herzrhythmusstörungen)
Zink
D-Penicillamin
Zyanide
Dimethylaminophenol, dann Natriumsulfat
DMPS: 2,3-Dimercapto-1-propansulfonsäure.
Hyperthermie. Die Behandlung der Hyperthermie kann mit ve-
getativer Blockade erfolgen und, ebenfalls passiv, durch Oberflächenkühlung (kühle Umgebungstemperatur, Aufdecken, Ventilator, Eiswasser). Auch hier ist eine Gegenregulation mit Hilfe des extrakorporalen Eliminationsverfahrens möglich.
Künstliche Ernährung In der Initialphase nach Vergiftung, insbesondere nach primärer Entgiftungsbehandlung, wird die Nahrungszufuhr intravenös erfolgen müssen. Sobald die Primärmaßnahmen einschließlich der forcierten Diarrhoe abgeschlossen sind, kann mit einer Sondenernährung begonnen werden.
Bilanzierung Die Bilanzierung erhält ihre spezielle Bedeutung durch das häufige Auftreten von Gefäßpermeabilitätsstörungen und Störungen der Mikrozirkulation bei Schlafmittelvergiftungen. Bromcarbamide und Methaqualon sind hier als Substanzgruppen zu nennen. Hirnödem und Lungenödem sind häufige Komplikationen, deren Auftreten durch eine sorgfältige Bilanz des Elektrolyt- und Wasserhaushalts verhindert werden soll.
xikationen sind mangelhafte Flüssigkeitszufuhr im Koma sowie Flüssigkeitsverluste durch Erbrechen und Sequestration von Plasma in das Haut-Muskel-Gewebe. Mit Steigerung des Plasmavolumens durch Volumeninfusion kommt es regelmäßig zu einem Anstieg des Herzindex. Erstmaßnahme bei Schock durch Schlafmittel- und Psychopharmakaintoxikationen ist bei normorhythmischen Patienten die Volumengabe. Störungen der Kreislaufregulation. Bei Schlafmittelvergiftungen kann, neben dem Volumenmangel, auch eine Störung der Kreislaufregulation (Fehlen einer sympathoadrenergen Gegenregulation mit Tachykardie und Widerstandssteigerung) und der kardialen Pumpleistung (relativ hohe Füllungsdrücke trotz Hypovolämie) vorliegen. Ein ähnlich komplexes Bild hämodynamischer Störungen wie bei Schlafmittelvergiftungen findet sich bei Patienten mit Überdosierung trizyklischer Antidepressiva (Amitryptilin und Imipramin). Nach Volumensubstitution ist der 2. Schritt zur Kreislaufstabilisierung die Gabe von Katecholaminen, z. B. Dopamin.
Myokardfunktion Bei Intoxikationen mit trizyklischen Antidepressiva und Hypnotika gibt es echokardiographische Hinweise für myokardiale Kontraktilitätsstörungen. Hieraus ergibt sich als 3. Schritt die Indikation für Katecholamine, z. B. für Dobutamin.
Respiratortherapie Ursache für eine Hypoxie bei Vergiftungen kann eine zentrale Atemdepression oder auch eine pulmonale Insuffizienz sein. Dabei spielen sowohl funktionelle als auch morphologische Läsionen des Lungenparenchyms eine Rolle. Der Aspiration kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Das drohende Lungenversagen steht im Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen und rechtfertigt den frühzeitigen Einsatz der Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck (PEEP) bei Patienten mit drohendem ARDS. 85.5
Suizidale und parasuizidale Handlung
Während die Suizidrate relativ stabil ist, nimmt die Zahl der Versuche allerdings zu und liegt um ein Vielfaches über der Suizidrate. In der Suizidforschung gilt das Interesse sowohl dem perisuizidalen Verhalten wie auch der Wahl der ver wendeten Mittel. Ab den 1960er-Jahren ist der Anteil überwiegend »weicher Mittel« bei Suizidversuchen wie Hypnotika, Psychopharmaka zusammen mit Alkohol auf 80% angestiegen. Die »harten Methoden« wie Schnitte, Ertränken, Erhängen, Erschießen und Stürze sind zurückgegangen, stehen aber nach wie vor bei den Suiziden an erster Stelle.
1178
Kapitel 85 · Akute Vergiftungen
In engem Zusammenhang mit dem gewählten Mittel ist die Frage des Risikos zu sehen. Hier muss das subjektive von dem objektiven Risiko unterschieden werden. Vom medizinischen Standpunkt aus kann eine Intoxikation objektiv harmlos sein, der intoxikierte Patient war jedoch bei der Suizidhandlung subjektiv von der Gefährlichkeit des Medikamentes überzeugt. Suizid und Suizidversuch gehören nicht unbedingt und direkt zusammen. Manche Autoren belegen den als »cry for help« bezeichneten Suizidversuch auch mit dem Terminus Parasuizid. In jedem Fall von Suizidversuch und parasuizidaler Handlung sollte vor Entlassung des Patienten ein Psychiater hinzugezogen werden. 85.6
Drogenintoxikationen
Vergiftungen durch Drogen können entweder durch Überdosierung auftreten oder durch Komplikationen im Zusammenhang mit der Drogeneinnahme. Hierzu zählen auch schwere Entzugssymptome. Um Drogenzwischenfälle einzuordnen, ist eine Systematisierung der derzeit relevanten Drogen sinnvoll. Prinzipiell unterscheidet man:
4 Downers, 4 Uppers, 4 Halluzinogene. Die Wirkprofile einzelner Substanzen sowie die Leitsymptome sind in . Tabelle 85.9 zusammengestellt. Ein zusätzliches Problem im Zusammenhang mit Drogenintoxikationen entsteht durch die Tatsache, dass eine Reihe moderner Drogen heute synthetisch hergestellt werden bzw. herzustellen sind. Man spricht in diesem Zusammenhang von Designerdrogen. Die bedeutendste Designerdroge ist ohne Zweifel Ecstasy, gefolgt von Crack. Bei Ecstasy handelt es sich um Amphetaminderivate, von denen der auch quantitativ bedeutsamste Abkömmling das MDMA ist. Wegen der notfallmedizinischen Relevanz sind die Profile von Ecstasy und Crack in . Tabelle 85.10 zusammengefasst sowie wegen der ähnlichen Wirkung und klinischen Bedeutung die biogene Droge Datura mit in die Tabelle aufgenommen. Die besondere Notfallrelevanz von Ecstasy ergibt sich vorrangig durch die Tatsache, dass Ecstasy als Tanz-, Disco- oder Rave-Droge im Gebrauch ist und es durch Flüssigkeitsverlust und/oder mangelnde Flüssigkeitsaufnahme zu den in der Übersicht dargestellten Störungen kommen kann.
. Tabelle 85.9. Systematisierung der Drogen Systematik
Wirkprofil
Substanz
Leitsymptome
Uppers
Sympathomimetische Aktivierung (Kreislauf, Bewusstsein, Organe), euphorisierend, aktivierend
Kokain/Crack, Amphetamine, Ecstasy
Tachykardie, Hypertonie, Tremor, Agitation, Rhythmusstörungen, Gefäßspasmen, Organinfarkte, Krampfanfälle
Downers
Zentrale Dämpfung (Bewusstsein, Kreislauf ), euphorisierend, sedierend
Opiate (Heroin), Cannabis sativa, γ-Hydroxybuttersäure (GHB)
Kreislaufdepression, Bewusstseinseintrübung, Koma, Atemstillstand
Halluzinogene
Unterschiedliche Wirkung auf Organfunktionen, echte Halluzinationen
LSD und Phenzyklidin, Magic Mushrooms, Datura species
Realitätsverlust, Panikattacken, Horrortrips, Psychosen
85
. Tabelle 85.10. Profil moderner Drogen Ecstasy
Crack
Datura
Gruppe
Upper
Upper
Halluzinogen
Wirkstoff
Methoxylierte Amphetaminderivate – MDMA = 3,4-Methylendioxymetamphetamin
Kokainhydrochlorid
Scopolamin, Hyoscyamin
Synonyme
Adam, Eve, Love, Mitsubishi etc.
Koks, Schnee, Lines, White-Lady u. a.
–
Mechanismus
Indirekte Sympathomimetika, Aktion im serotonergen System
Indirektes Sympathomimetikum (Hemmung der präsynaptischen Transmitterwiederaufnahme)
Anticholinergika mit starkem halluzinogenen Potenzial
Intoxikation/ Gefahren
Sympathomimetische Effekte, Flashbacks, anhaltende Psychosen, Dehydratation (Disco), direkte Organtoxizität (ZNS, Leber), unüberschaubare Präparate
Sympathomimetische Effekte, Gefäßspasmen und Organinfarkte, Psychosen
Anticholinerges Syndrom, Horrortrips, Psychosen, stark schwankende Wirkstoffgehalte
1179 Literatur
Notfallrelevanz von Ecstasy 5 5 5 5 5 5 5
Exsikkose Elektrolytentgleisung Rhythmusstörungen Bewusstseinsstörung Rhabdomyolyse Nierenversagen Leberschäden
Therapie. Die Therapie der Drogenintoxikationen und -zwischenfälle ist überwiegend symptombezogen. Ein Antidot steht zur Verfügung bei: 4 anticholinergem Symdrom: Physostigminsalizylat, 4 Opiat-/Opioidintoxikationen: Naloxon. i Schwere sympathomimetische Nebenwirkungen bis hin zu Gefäßspasmen und Organinfarkten sollten wegen möglicher Dominanz der α-Rezeptoren-Wirkung (krisenhafte Hochdruckentgleisung) nicht mit β-Blockern therapiert werden, sondern mit Nitroprussidnatrium.
Literatur 1. AACT/EAPCT (1997) Position statements ond gastrointestinal decontamination. J Toxicol 35/7: 695–7652 : Enthält die Leitlinien zur primären Giftelimination. 2. Franz HE, Hörl WH (Hrsg) (1997) Blutreinigungsverfahren. Technik und Klinik, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart New York : Gibt einen Überblick zu den wichtigsten extrakorpoiralen Verfahren allgemein und bei Intoxikationen. 3. Heinemeyer G, Fabian U (1997) Der Vergiftungs- und Drogennotfall, 3. Aufl. Ullstein Mosby, Berlin Wiesbaden : Enthält genaue Hinweise zum Wirkmechanismus der Antidote. 4. Mutschler E (2001) Arzneimittelwirkungen: Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. 8. Aufl. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart : Standardwerte zur Pharmakologie der Arzneimittel inklusive unerwünschter Arzneimittelwirkungen 5. Weilemann LS, Reinecke HJ (1996) Notfallmanual Vergiftungen. Intoxikationen schnell erkennen, sicher nachweisen und gezielt behandeln. Thieme, Stuttgart New York 6. Mühlendahl K, Oberdisse U, Bunjes R (2003) Vergiftungen im Kindesalter. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart : Wichtige Hinweise zu Intoxikationen im Kindesalter
85
Anhang Laborwerte
86
Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
–1183
86 Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter J. Geisel
86.1
Rationelle Labordiagnostik
86.2
Präanalytik
86.2.1 86.2.2 86.2.3
Auswahl der Parameter –1182 Probenentnahme –1182 Fehlermöglichkeiten –1183
86.3
Befundinterpretation
86.3.1 86.3.2 86.3.3 86.3.4
Referenzbereiche –1184 Sensitivität, Spezifität, prädiktiver Wert –1184 Kritische Differenz –1184 Plausibilität –1184
86.4
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter Literatur
–1182
–1182
–1185
–1184
–1185
1184
Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
86.1
Rationelle Labordiagnostik
Rationelle Labordiagnostik bedeutet, die erforderlichen diagnostischen Maßnahmen mit optimiertem Aufwand, d. h. auch unter Berücksichtigung der Kosten, durchzuführen. Für den Einsatz jeder Laboruntersuchung bedarf es einer Rechtfertigung, d. h. es ist eine Indikation zu stellen. Routinemäßig durchgeführte Untersuchungen erfüllen diese Voraussetzungen typischerweise nicht. Die Laboruntersuchungen sind auch im Kontext mit anderen Untersuchungsverfahren, wie z. B. EKG, bildgebenden Verfahren, zu sehen. Die synoptische Interpretation aller Befunde, einschließlich der Anamnese, ist Voraussetzung für eine rationelle Labordiagnostik. Als sinnvoller Beitrag für eine rationelle Labordiagnostik kann die Stufendiagnostik eingesetzt werden. Hier bilden Basisuntersuchungen die Grundlage für eine spezialisierte und damit oftmals teure Diagnostik. Liegen in der 1. Stufe der Diagnostik keine auffälligen Laborergebnisse vor, erübrigt sich in vielen Fällen eine weiterführende Diagnostik. Der hohe Anteil von unauffälligen Ergebnissen in der Spezialdiagnostik zeigt uns, dass eine Vorselektion in vielen Fällen nur unzureichend umgesetzt wird. Andererseits ist die Stufendiagnostik nicht unkritisch zu sehen. Verlängert sich z. B. der stationäre Aufenthalt durch eine sequenzielle Diagnostik, bedeutet dies primär eine Kosteneinsparung im Laborbereich, gleichzeitig entsteht dem Krankenhaus jedoch ein finanzieller Schaden. 86.2
Präanalytik
Die präanalytische Phase umfasst alle Einflüsse, die vor der eigentlichen Messung einwirken. Folgende Teilschritte sind von besonderer Bedeutung für die Präanalytik:
86
86.2.1 Auswahl der Parameter Die Auswahl der Parameter ist abhängig von der Indikationsstellung und unterliegt dabei einer ständigen Veränderung. Innovative Parameter werden eingeführt, nicht mehr aussagekräftige Parameter sollten umgehend aus dem Programm entfernt werden. Um dies zu erreichen, bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung des klinisch tätigen Arztes mit den Laborparametern. Häufig werden nicht mehr relevante Parameter mit konsequen-
ter Hartnäckigkeit weiter angefordert. So hat z. B. die Diagnostik des Herzinfarktes durch die Einführung des Troponins eine diagnostische Revolution erfahren. Gleichzeitig hat dies aber vielfach nicht zu einer Änderung im Anforderungsverhalten der CK und CK-MB geführt. Teilweise gehören heute sogar noch die unspezifischen Organmarker ASAT (GOT) und LDH zum Untersuchungsprogramm. Dies ist nur ein Beispiel und könnte um viele weitere ergänzt werden. i Die Diagnostik im Intensivbereich erfolgt in vielen Fällen standardisiert über Profile oder diagnostische Pfade. Hier ist die Chance zu nutzen, in Zusammenarbeit mit dem Laborarzt, geeignete diagnostische Parameter zusammenzustellen.
86.2.2 Probenentnahme
Entnahmegefäße Die Blutentnahme erfolgt heute nahezu ausschließlich mit konfektionierten Entnahmegefäßen. Die Farbkodierung des Laboranforderungsscheins hat häufig seine Grundlage in der Farbkodierung der Entnahmegefäße und erleichtert so, das richtige Entnahmegefäß für die richtige Bestimmung auszuwählen. Bei ordnungsgemäßem Gebrauch garantieren die Blutentnahmesysteme einen hohen Infektionsschutz. In . Tabelle 86.1 werden gebräuchliche Entnahmevoraussetzungen für die venöse Blutentnahme und deren Einsatz zusammengefasst. Der Einsatz von Li-Heparin-Plasma für klinisch-chemische Parameter ist heute sehr verbreitet. Der große Vorteil gegenüber Serum liegt in der Vermeidung von Nachgerinnungen, einem Problem, das besonders häufig im Intensivbereich bei heparinisierten Patienten auftritt. Neben diesen Standardentnahmegefäßen für die venöse Blutentnahme sind insbesondere Entnahmegefäße für Kapillarblut, arterielles Blut, Sputum und Urin im Einsatz.
Probenidentifikation Die exakte Beschriftung des Probenmaterials ist Grundlage jeglicher Untersuchungen im Labor. Vielfach werden heute zur Kennzeichnung des Patientenmaterials Barcode-Etiketten eingesetzt, die von dem Anforderungsschein des Labors abgezogen werden. Diese Etiketten bieten nur wenig Raum, um den Patientennamen in Klarschrift zu schreiben.
. Tabelle 86.1. Entnahmegefäße und Zusätze für Laboruntersuchungen Zusatz
Material
Einsatz
Li-Heparin
Plasma
Klinische Chemie
Gerinnungsaktivatoren bei Kunststoffröhrchen
Serum
Immunologie, Medikamentenanalyse, Serologie, Kreuzprobe
Na-Zitrat
Plasma
Gerinnungsuntersuchungen
EDTA
Vollblut
Hämatologie
Na-Fluorid
Plasma
Laktat, Glukose
Ohne Zusatz
Vollblut
Blutgruppenbestimmung
1185 86.2 · Präanalytik
! Cave Für den Arzt, der die Blutentnahme durchführt, besteht an dieser Stelle ein hohes Risiko für eine Patientenverwechselung.
Im Labor erfolgt die Identifikation des Patientenmaterials primär über das Barcode-Etikett der Probengefäße, und die Analyse findet direkt aus dem Abnahmegefäß statt. Verwechselungen seitens des Labors sind daher heute nahezu ausgeschlossen.
Blutentnahme Die Standardblutentnahme erfolgt üblicherweise morgens in der Zeit zwischen 7 und 9 Uhr am nüchternen Patienten. Die standardisierte Abnahmezeit ist für die Verlaufsbeurteilung von Relevanz, im Intensivbereich aber natürlich von untergeordneter Bedeutung. Das Material der Wahl ist in der Regel Venenblut. Die Auswahl der Entnahmegefäße ist vorgegeben durch die durchzuführenden Untersuchungen (. Tabelle 86.1). Für eine normale Blutentnahme, bestehend aus Blutbild, klinischer Chemie, Medikamentenanalyse und Gerinnung, sind somit häufig 4 Entnahmegefäße notwendig. Bei der Blutentnahme ist auf eine kurze Stauzeit zu achten. Bereits ab einer Stauzeit von 1 min ist eine Hämokonzentration nachzuweisen. Bei der Reihenfolge der Entnahmeröhrchen ist zu beachten, dass zunächst Röhrchen ohne Zusatz zu entnehmen sind. Das Gerinnungsröhrchen sollte nie als erstes Röhrchen entnommen werden, da einerseits durch die Punktion freigesetztes Gewebsthromboplastin aspiriert werden kann und zum anderen eine vollständige Füllung des Gefäßes erschwert wird. Patienten im Intensivbereich haben häufig einen zentralen Zugang. Wird diese naheliegende Möglichkeit der Blutentnahme genutzt, sind feste Vorgaben einzuhalten. Es wird empfohlen, den Zugang vor der Entnahme 2-mal mit 5 ml physiologischer Kochsalzlösung zu spülen und anschließend die ersten 2 ml des aspirierten Blutes zu verwerfen. Erst dann kann die eigentliche Blutentnahme er folgen.
Der Zeitpunkt der Entnahme besitzt im Intensivbereich besonders für die Medikamentenbestimmung eine große Bedeutung. Proben für die Bestimmung von Medikamentenspiegeln werden meist kurz vor der morgendlichen Einnahme entnommen. Bei manchen Medikamenten ist es notwendig, Tal- und Bergspiegel zu kontrollieren. Der Talspiegel wird vor der nächsten Applikation und der Bergspiegel in der Regel 30‒60 min nach Beendigung einer venösen Gabe kontrolliert. Abweichungen von dieser allgemeinen Regel können sich durch das pharmakokinetische Verhalten der Substanz ergeben.
Probentransport Generell hat der Probentransport so zu erfolgen, dass sich die Probe möglichst wenig verändert. Nicht zentrifugierte Serumröhrchen, aber auch Gerinnungsröhrchen und Urin sollten dem Labor innerhalb von1 h zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung gestellt werden. Zur Bearbeitung von Liquor sind noch kürzere Transportzeiten einzuhalten. Im Intensivbereich ist jedoch weniger die Problematik der Haltbarkeit des Probenmaterials von Bedeutung als vielmehr eine möglichst kurze Bearbeitungszeit. Innerhalb der Zeit bis zur Befunderstellung bildet der Transport eine nicht zu vernachlässigende zeitliche Kompo-
86
nente. Ein moderner und rascher Probentransport kann z. B. heute durch eine Rohrpostanlage erreicht werden. Eine Transportgeschwindigkeit von 5 m/s ermöglicht einen Transport auch über Strecken von mehreren Kilometern Länge innerhalb von 5 min. Patientenmaterialien sind als potenziell infektiös anzusehen. Die Proben sind daher entsprechend den örtlichen Vorgaben in stabilen, fest verschlossenen Probengefäßen zu transportieren. In Einzelfällen müssen für bestimmte Untersuchungen spezielle Transporthilfen für den gekühlten, aber auch gewärmten Transport benutzt werden. 86.2.3 Fehlermöglichkeiten Durch moderne Labororganisationsformen und Maßnahmen zur Qualitätssicherung sind die Fehlermöglichkeiten im Laborbereich weitgehend minimiert worden. Das Laborergebnis und dessen Beurteilung werden heute zunehmend von Faktoren beeinflusst, die unabhängig vom Labor sind. Die Faktoren, die Einfluss auf das Ergebnis nehmen können, sind in Einflussgrößen und Störfaktoren zu unterscheiden.
Einflussgrößen Einflussgrößen führen zu qualitativen und quantitativen Veränderungen des zu messenden Analyts. Das Ergebnis ist dabei messtechnisch richtig. Im Folgenden werden einige häufige Fehlermöglichkeiten aufgelistet: 4 Patientenvorbereitung: Die Patientenvorbereitung ist abhängig von den zu untersuchenden Parametern. So führt z. B. die Bestimmung von Glukose und Triglyzeriden beim nicht nüchternen Patienten zu erhöhten Werten. 4 Artifizielle Hämolyse: Eine artifizielle Hämolyse kann durch zu dünne Entnahmekanülen oder zu starken Unterdruck im Entnahmeröhrchen verursacht sein. Hämolysen können aber auch durch nicht sachgemäßen Transport von Blutproben, z. B. Transport in der Rohrpost ohne Stoßdämpfung, verursacht sein. Insbesondere erhöhte Kalium- und LDH-Konzentrationen im Plasma/Serum sind die Folge. 4 Unzureichende Adaptierung an die Ruhelage: Abhängig von der Körperlage kommt es zu Wasserverschiebungen. Längeres Stehen führt so zur Hämokonzentration. Neben diesen allgemeinen Regeln erfordern einzelne Parameter besondere Beachtung. So erfordert die Bestimmung von Katecholaminen eine Ruheadaption von mindestens 30 min. 4 Tagesrhythmik: Kortisol ist ein typischer Parameter, der einer ausgeprägten zirkadianen Rhythmik folgt. Aber auch zahlreiche andere Parameter unterliegen einer zirkadianen Rhythmik. 4 Zu spätes Abseren: Bestandteile der Erythrozyten, wie z. B. LDH, ASAT (GOT), Kalium, werden freigesetzt und führen zu erhöhten Werten. Der Zellstoffwechsel der Erythrozyten führt zur Abnahme der Glukose und dem Anstieg von Laktat. 4 Zeitpunkt der Blutentnahme zum Krankheitsverlauf: Für die Beurteilung von Laborergebnissen ist es bedeutsam, zu wissen, wann Veränderungen im Krankheitsverlauf auftreten können. So steigt das Troponin etwa 3 h nach einem
1186
Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
Herzinfarkt an und erreicht erst wieder normale Konzentration nach 5‒6 Tagen. 4 Körperliche Aktivität: Zahlreiche Parameter, wie z. B. CK, Proteinurie, Stresshormone, werden durch körperliche Aktivität beeinflusst. 4 Einschleppung/Verdünnung: Insbesondere durch Blutentnahmen aus zentralen Zugängen kann es zu Einschleppungen, besonders häufig von Kalium und Glukose, und zu Verdünnungen kommen. 4 Kapilläre Blutentnahme: Kapilläre Blutentnahmen unterliegen einer höheren präanalytischen Variabilität. Zu festes Drücken während der Blutentnahme führt zum Austritt von Gewebsflüssigkeit und hat somit einen verdünnenden Effekt. 4 Diagnostik/Therapie: Durch diagnostische Eingriffe können gezielt einzelne Parameter beeinflusst werden. So führt z. B. die Mammapalpation zu erhöhten Prolaktin-Spiegeln und die Palpation der Prostata zu erhöhten PSA-Spiegeln im Serum. Der Einfluss der Therapie auf einzelne Parameter ist ebenfalls zahlreich und vielschichtig. Werden z. B. Blutproben für die Medikamentenbestimmung zum falschen Zeitpunkt entnommen, können lebensbedrohliche Intoxikationen vorgetäuscht werden.
bereichs. Zahlreiche, v. a. durch immunologische Methoden bestimmte Parameter besitzen methodenabhängige Referenzbereiche. Bei der Befundinterpretation sind bekannte Einflussfaktoren, wie z. B. Alter, Geschlecht, zu berücksichtigen. Zu unterscheiden von Referenzbereichen sind Risikobereiche, wie sie z. B. für die Lipoproteine und Homocystein definiert sind, und therapeutische Bereiche, wie sie z. B. bei der Bestimmung der Medikamentenspiel eingesetzt werden. 86.3.2 Sensitivität, Spezifität, prädiktiver Wert Zur Befundinterpretation sind Kenntnisse über die Sensitivität, Spezifität und den prädiktiven Wert notwendig. > Definition Die Sensitivität gibt an, wie viel Prozent der Kranken ein pathologisches Testergebnis haben. Die Spezifität beschreibt, wie viel Prozent der Gesunden ein normales Testergebnis haben. Der prädiktive Wert gibt an wie hoch der Anteil der Kranken bei pathologischem Testergebnis (positiver prädiktiver Wert) bzw. wie hoch der Anteil der Gesunden bei unauffälligem Testergebnis (negativer prädiktiver Wert) ist. Der prädiktive Wert schließt also neben der Sensitivität und Spezifität die Prävalenz der Erkrankung im untersuchten Kollektiv mit ein.
Stör faktoren
86
Störfaktoren interferieren mit der Messung und führen zu falschen Messergebnissen. Durch methodische Weiterentwicklungen der Testkits und verbesserte Geräteanalytik hat die Bedeutung von Störfaktoren abgenommen. Folgende Störfaktoren sind in der Analytik häufig anzutreffen: 4 Hämolyse, Ikterus, Lipämie: Die durch Hämolyse, Ikterus und Lipämie verursachte Eigentrübung des Plasmas/Serums kann insbesondere photometrische Messmethoden stören. Treten Messstörungen auf, sind entsprechende Maßnahmen seitens des Labors zur Beseitigung des Effekts zu ergreifen. 4 Antigenüberschuss: Bei immunologischen Messmethoden kann trotz zunehmender Antigenkonzentration das Messsignal abnehmen (Heidelberger-Kurve). Dieser Effekt tritt v. a. dann auf, wenn der Analyt in sehr hohen Konzentrationen vorliegt. In der Regel löst eine Verdünnung der Probe dieses Problem. 4 Substraterschöpfung: Liegen sehr hohe Enzymkonzentrationen vor, wird das Substrat so rasch verbraucht, dass falsch-niedrige Ergebnisse resultieren. Moderne Analysegeräte erkennen meist diese Schwierigkeit. Durch eine Wiederholungsmessung mit reduziertem Probenvolumen kann dieses Problem in den meisten Fällen beseitigt werden. 86.3
Befundinterpretation
86.3.1 Referenzbereiche Referenzbereiche spiegeln die Analytkonkonzentrationen in einem gesunden Vergleichskollektiv wider. Üblicherweise erfasst der Referenzbereich nur 95% des gesamten Konzentrations-
Die Kenntnis von Sensitivität und Spezifität für die Befundinterpretation sei am Beispiel des Troponins ausgeführt. Fachgesellschaften (ESC/ACC-Leitlinien) empfehlen heute, erhöhte Troponin-Konzentration über die 99. Perzentile von Gesunden festzulegen (99%-Spezifität). Die Sensitivität der Troponin-Bestimmung in der Diagnostik des Herzinfarkst ist abhängig vom Zeitpunkt der Bestimmung. In den ersten 6 h nach Aufnahme liegt die Sensitivität bei etwa 60%, zwischen 6 und 12 h bei etwa 80% und nach 12 h bei über 90%. 86.3.3 Kritische Differenz Die kritische Differenz beschreibt, wie groß die Differenz zwischen 2 Messungen sein muss, damit von einem signifikanten Unterschied auszugehen ist. Die kritische Differenz wird über die Standardabweichung der Methode definiert und erfordert mindestens einen Unterschied vom 3-fachen Wert der Standardabweichung. Entsprechend den Vorgaben der Bundesärztekammer ist z. B. für die Bestimmung des PSA ein Variationskoeffizient für die Methode von 10% festgelegt. Wurde bei der 1. Untersuchung ein Wert von 3,5 ng/ml gemessen, kann der 2. Wert zwischen 2,45 und 4,55 ng/ml variieren, ohne dass von einem signifikanten Unterschied auszugehen ist. 86.3.4 Plausibilität Die Plausibilitätskontrolle ist insbesondere geeignet, zufällige Fehler zu erkennen. Die Plausibilitätskontrolle basiert im Wesentlichen auf folgenden Überprüfungen: 4 Extremwerte: Nicht mit dem Leben zu vereinbarende Extremwerte sind verdächtig für zufällige Fehler (z. B. Fehlpipettierung durch
1187 Literatur
Fibringerinnsel) oder bedeutsame Einflussgrößen (z. B. Abnahme aus zentralem Zugang). Extremwerte müssen analytisch überprüft werden. 4 Befundkonstellationen: Laborergebnisse sind nicht isoliert zu beurteilen, sondern alle erhobenen Ergebnisse sind stets im Verbund zu betrachten. Idealerweise erfolgt dies durch den Laborarzt unter Kenntnis der Diagnosen. 4 Verlaufskontrolle: Die Verlaufskontrolle ist in der Plausibilitätsprüfung von herausragender Bedeutung. Anhand der Vorergebnisse können die aktuellen Ergebnisse auf Plausibilität überprüft werden. Patientenverwechselungen sind allein durch die Verlaufskontrolle ausfindig zu machen. 4 Erwartete Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung: Die Kenntnis der Fragestellung der Untersuchung liefert wichtige Unterstützung in der Plausibilitätsprüfung. 86.4
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
> Hinweis In . Tabelle 86.2 sind Referenzbereiche wichtiger Laborparameter gelistet. Erfolgt keine besondere Kennzeichnung, werden Referenzbereiche für Erwachsene aufgelistet. Fehlen Referenzbereiche für Frauen, sind diese identisch mit denen für Männer. Referenzbereiche können in Abhängigkeit von der verwendeten Methode unterschiedlich sein. Es ist daher notwendig, die Referenzbereiche der entsprechenden Laboratorien zu berücksichtigen. Soweit möglich, werden bei den Bestimmungsmethoden für Enzyme die entsprechenden Methoden der International Federation of Clinical Chemistry (IFCC) berücksichtigt.
Literatur 1. Thomas L (2005) Labor und Diagnose: Indikation und Bewertung von Laborbefunden für die medizinische Diagnostik, 6. Aufl. TH-BooksVerlags-Gesellschaft, Frankfurt/Main : Standardwerk in der Labordiagnostik. Auf 2016 Seiten sind alle wichtigen Themen der Labordiagnostik dargestellt. Besonders hervorzuheben ist der klinsche Bezug in jedem Kapitel, aber auch viele pathobiochemische und methodische Details werden im Text besprochen. Trotz des Umfangs des Buches ermöglicht die konsequente Gliederung ein rasches Orientieren und effizientes Nachschlagen. 2. Neumeister B, Besenthal I, Liebich H, Böhm BO (2003) Klinikleitfaden Labordiagnostik, 3. Aufl. Urban & Fischer, München Jena : Der bereits in der 3. Auflage erschienene Klinikleitfaden Labordiagnostik ist ein kompaktes praxisnahes Nachschlagewerk für die wichtigsten Laborparameter. Die Kapitel sind sehr übersichtlich dargestellt und geben einen umfassenden Überblick. Der Klinikleitfaden Labordiagnostik ist als Taschenbuch konzipiert und bietet für den Interessierten einen hervorragenden Einstieg in die Thematik.
86
% % %
25–45 2–10 <1
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
MCHC
Retikulozyten
Thrombozyten
Leukozyten
Stabkernige neutrophile Granulozyten
Neutrophile Granulozyten
Eosinophile Granulozyten
Basophile Granulozyten
Lymphozyten
Monozyten
Methämoglobin
Carboxyhämoglobin (COHb)
6
aPTT (aktivierte partielle Thromboplastinzeit)
CP
%
<2
E
MCH
Gerinnung
%
<5
E
MCV
26–361
<3
50–75
<5
4,4–11,3
s
%
%
%
×109/l
× 109/l
%
0,5–1,51 201–379
g/dl
pg
fl
%
33–36
28–33
80–96
35–45
38–49
E
Hämatokrit
g/dl
12,3–15,3
14–17,5
1012/l
Konventionelle Einheit
E
4,1–5,1
F
Hämoglobin
4,5–5,9
M
E
Material
86
Erythrozyten
Hämatologische Parameter
Analyt
. Tabelle 86.2. Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
0,6206
0,062
1
0,621
x Faktor
<0,5
2,0–7,0 <0,35 <0,1 1,2–3,4 0,1–0,6
109/l 109/l 109/l 109/l 109/l
20–22
1,7–2,0
80–96
8,68–10,87
M
109/l
mmol/l
fmol
µm3
mmol/l
Alternative Einheit
7,64–9,50
F
Reagens
1Abhängig vom
Raucher: <10%
1Mikroskopische Zählung
Erläuterungen
1188 Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
CP
CP
CP
CP
CP
CP
CP
CP
CP
CP
CP
TPZ (Thromboplastinzeit, Quick-Wert)
INR
TZ (Thrombinzeit)
Fibrinogen
Reptilase
Antithrombin III
Protein C (Aktivität)
Protein S (Aktivität)
D-Dimer
APC-Resistenz
Anti-Xa-Aktivität
S/P
S/P
Kalium
Chlorid
%
%
%
mg/l
ratio
IE/ml
min
80–1201
70–1401
70–1401
<0,31
>2,01
<0,11
2–61
95–105
3,6–4,8
mmol/l
mmol/l
mmol/l
s
12–201
135–145
mg/dl
180–3501
%
Konventionelle Einheit
s
F
16–241
0,85–1,15
70–1301
M
x Faktor Alternative Einheit
M F
1Nach Ivy
1abhängig vom Reagens
LMWH-Therapie: 0,2–0,8;
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Reagens
1Abhängig vom
Erläuterungen
1189
6
S/P
Natrium
Elektrolyte und Elemente
Blutungszeit
Material
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
86
S/P
Eisen
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
ALAT (GPT)
γ-GT
CHE
GLDH
Alkalische Phosphatase
LDH
HBDH
CK
CK-MB
Amylase
Pankreas-Amylase
Lipase
6
S/P
ASAT (GOT)
Enzyme (37°C)
µg/dl
59–158
S/P
Phosphat – anorganisch
10–35
<45
10–501
<641
<98 <215
<1281 <2251
U/l
U/l
U/l
U/l
<1001
<531
<601
U/l
<1901 <241
U/l
U/l
U/l
U/l
KU/l
U/l
U/l
U/l
mmol/l
mmol/l
<182 <167
<5,0
<7,0
5,3–12,9
10–35
10–501
0,7–1,05
37–145
mg/dl
2,6–4,5
S/P
Magnesium
1,15–1,35
mmol/l
S/P
2,20–2,65
Kalzium – ionisiert
Konventionelle Einheit
S/P
F
Kalzium – gesamt
M
Material
86
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
0,179
0,3229
2,431
4,01
4,01
x Faktor
µmol/l
mmol/l
mg/dl
mg/dl
mg/dl
Alternative Einheit
<
<
11–28
0,84–1,45
1,7–2,55
4,6–5,4
8,8–10,6
M
6,6–26
F
1Kolorimetrischer Test
G–7 Substrat
1EPS-Methode,
G–7 Substrat
1EPS-Methode,
der Gesamt-Ck
1Bei Herzinfarkt 6–25%
1IFCC-Methode
1IFCC-Methode
1IFCC-Methode
1IFCC-Methode
Pyridoxalphosphat
1IFCC-Methode mit
Pyridoxalphosphat
1IFCC-Methode mit
Luftkontakt vermeiden, Kalzium gesättigtes Heparin
Erläuterungen
1190 Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
<200
S/P
S/P
S/P
S/P
S/P
P
P
P
Triglyzeride
Cholesterin
LDL-Cholesterin
HDL-Choleterin
Lipoprotein(a)
Homocystein1
Ammoniak1
Laktat
S/P
S/P+U-24
S/P
S/P
Kreatinin
Kreatininclearance
GFR* (MDRD-Formel)
GFR* (Cockroft-Gault-Formel) 80-140
80-140
98–156
<1,2
10–50
95–160
ml/min
ml/min
ml/min
mg/dl
mg/dl
mg/dl
µg/dl
µmol/l
mg/dl
mg/dl
mg/dl
mg/dl
mg/dl
88,4
0,167
0,111
0,587
0,02586
0,02586
0,02586
0,0114
59,485
17,104
17,104
0,05551
x Faktor
µmol/l
mmol/l
mmol/l
µmol/l
mmol/l
mmol/l
mmol/l
mmol/l
µmol/l
µmol/l
µmol/l
mmol/l
Alternative Einheit
<106
1,7–8,4
<2,2
16–53
>0,9
<4,0
<5,2
<2,3
<420
<3,4
1,7–20,5
3,1–6,1
M
<80
<340
F
*Glomeruläre Filtrationsrate; Dosisanpassing bei Niereninsuffizienz (www.dosing.de)
*Glomeruläre Filtrationsrate; Berechnung aus Kreatinin (S/P), Alter und Geschlecht
Jaffé-Reaktion, kinetisch
1Material kühlen
hab 1 h zentrifugieren
1Material kühlen und inner-
Risikobezogene Zielwerte
Risikobezogene Zielwerte
Risikobezogene Zielwerte
Risikobezogene Zielwerte
Risikobezogene Zielwerte
Erläuterungen
1191
6
S/P
Harnstoff
<20
27–90
<12
<30
>35
<160
<200
<0,9
mg/dl
<7,0
S/P
Harnsäure
Niere/Urin
mg/dl
<0,2
mg/dl
S/P
0,1–1,2
Bilirubin – direkt
mg/dl
Konventionelle Einheit
S/P
<5,7
F
Bilirubin – gesamt
55–110
M
S/P
Material
Glukose
Stoffwechselparameter
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
86
mmol/l mg/dl
g/dl
46–168 40–140
0,9–3,0
U
U, U-24
U, U-24
U, U-24
U, U-24
S
U, U-24
U, U-24
U, U-24
U, U-24
U-24
U-24
U-24
U-24
Leukozyten
Albumin
Protein
pH
Spezifisches Gewicht
Osmolalität im Serum
Osmolalität im Urin
Natrium
Kalium
Chlorid
Phosphat
Harnstoff
Harnsäure
Amylase
Glukose
mg/24 h
0,25–6,4
U-24
U-24
U-24
D-Aminolävulinsäure
Porphobilinogen
Porphyrin – gesamt
6
mg/dl
6–201
U-24
<100
µg/24 h
mg/24 h
U/l
<4601
0,1–1,7
mg/dl
mmol/l
mmol/l
mosmol/kg
mosmol/kg
37–92
20–80
54–150
50–1200
280–300
1,015–1,025
g/ml
mg/l
<801
4,8–7,4
mg/l
Zellen/µl
Zellen/µl
<20
<10
<5
ng/ml
U
0,6–1,2
Erythrozyten
Konventionelle Einheit
S/P
F
Cystatin C
M
Material
86
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
1,2
4,42
7,626
x Faktor
nmol/24 h
µmol/24 h
µmol/24 h
mg/24 h
U/24 h
g/24 h
g/24 h
g/24 h
mmol/24 h
mmol/24 h
mmol/24 h
mg/24 h
mg/24 h
Alternative Einheit
<120
0,5–7,5
2–49
20–901
<410
0,2–1,0
<35
0,4–1,3
110–250
25–125
30–300
<1351
<30
M F
Lichtschutz
Lichtschutz
Lichtschutz
×0,0555 entspricht mmol/l
EPS-67-NP Methode
×0,595 (µmol/l), ×5,95 (mmol/24 h)
×0,167 (mmol/l), ×16,7 (mmol/24 h)
×0,323 (mmol/l), ×32,3 (mmol/24 h)
1Trichloressigsäure-HCIMethode
Erläuterungen
1192 Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
pg/ml
pg/ml
<125
<100
S
S
S/P
S/P
S/P
P
S
S
S
S
S
S
S
Transferrin
Ferritin
Toponin T
Troponin I
proBNP
BNP
Myoglobin
IgG
IgA
IgM
IgE
C3-Komplement
C4-Komplement 10–40
90–180
<24
40–230
70–400
700–1600
<72
<*
<0,03
34–300
200–360
mg/dl
mg/dl
µg/dl
mg/dl
mg/dl
mg/dl
ng/ml
ng/ml
ng/ml
ng/ml
mg/dl 0,126
x Faktor
IU/ml
µmol/l
Alternative Einheit
<100
25–45
M F
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
Referenzbereich – methodenabhängig
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
*Methodenabhängig, definiert über 99%-Perzentile einschl10% VK
99%-Perzentile einschl. 10% VK
Referenzbereich – methodenabhängig
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
Erläuterungen
1193
6
mg/dl
30–200
S
Haptoglobin
<58
mg/dl
20–60
g/l
S
35–53
Coeruloplasmin
g/l
Konventionelle Einheit
S
10–120
F
Albumin
66–83
M
S/P
Material
Proteine
Proteine
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
86
S
S
S
α1-Antitrypsin
α2-Makroglobulin
β2-Mikroglobulin
P/S
S
S/P
CRP
Procalcitonin
Interleukin-6 (IL-6)
AB
AB
AB
AB
pO2
O2-Sättigung
Standardbikarbonat
Basenabweichung
6
S
T4
µg/dl
ng/ml
0,6–1,81
S
T3
4,5–10,9
µU/ml
0,35–4,5
mmol/l
mmol/l
%
mm Hg
mm Hg
pg/ml
ng/ml
mg/l
mm/1 h mm/1 h
mg/l
mg/dl
mg/dl
Konventionelle Einheit
S
–2 bis+3
21–26
94–98
32–43
<201 <301
F
86
TSH
Hormone
35–46
AB
pCO2 71–104
7,37–7,45
AB
<6
<0,5
<5
<151 <201
0,8–2,4
130–300
110–280
M
pH
Säure-Basen-Status
CB
Blutkörperchensenkungsreaktion (BSR)
Entzündungsparameter
Material
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
12,87
1,536
0,1333
0,1333
x Faktor
nmol/l
nmol/l
kPa
kPa
Alternative Einheit
58–140
0,9–2,8
9,5–13,9
4,6–6,1
M
4,3–5,7
F
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
CRM 470 Standardisierung
1über 50 Jahre
1unter 50 Jahre
Referenzbereich – methodenabhängig
CRM 470 Standardisierung
CRM 470 Standardisierung
Erläuterungen
1194 Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
S
S
S
S
S
fT3
fT4
Kortisol
Prolaktin
Parathormon
1,2–2,1
L
L
Erythrozyten
Laktat
S
S
E
E
E
Digitoxin
Theophyllin
Cylosporin – monoklonal
Cylosporin – polyklonal
Mycophenolat
µg/ml ng/ml
ng/ml
µg/ml
100–2501
400–5001
2,5–4,51
ng/ml
ng/ml
mmol/l
µl
8–20
10–25
0,8–2,0
<4
5,55
1,31
1,28
9,008
0,05551
0,106
21,2
0,0276
12,87
1,536
x Faktor
µmol/l
nmol/l
µmol/l
mg/dl
mmol/l
pmol/l
mU/l
µmol/l
pmol/l
pmol/l
Alternative Einheit
44–111
13–33
1,0–2,6
10,8–18,9
2,2–4,2
1,5–6,5
<360
0,19–0,691
11,5–23,2
3,5–6,5
M
<620
F
indikationsabhängig
1Erhaltungstherapie,
indikationsabhängig
1Erhaltungstherapie,
indikationsabhängig
1Erhaltungstherapie,
therapeutischer Bereich
therapeutischer Bereich
therapeutischer Bereich
150–80% der Blutglukose
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
18 Uhr, Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
Referenzbereich – methodenabhängig
Erläuterungen
1195
6
S
Digoxin
Pharmaka
negativ
L
Leukozyten
mg/dl
40–761
L
Glukose
mg/dl
pg/ml
ng/ml
15–45
L
15–65
<17
µg/dl
7–251
pg/ml
Konventionelle Einheit
ng/dl
<30
F
0,89–1,8
2,3–4,2
M
Proteine
Liquoruntersuchungen
Material
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
Referenzbereiche wichtiger Laborparameter
86
E
E
E
S
S
S
S
S
S
Tacrolimus
Sirolimus
Everolimus
Amikacin
Gentamicin
Netilmicin
Tobramicin
Vancomicin
Lithium 0,3–1,3 mmol/l
µg/ml
14–281
3,5–7,02
5–102
20–401
µg/ml µmol/l
<22
5–101
µg/ml
0,69
<32
5–121
<4,32
<22
5–101 µg/ml
µg/ml
<52
1Maximum, 2Minimum
1Maximum, 2Minimum
1Maximum, 2Minimum
1Maximum, 2Minimum
1Maximum, 2Minimum
(Everolimus, Ciclosporin, Steroid), indikationsabhängig 20–301
1Tripelkombination
indikationsabhängig
1Erhaltungstherapie,
Erläuterungen
1Tripelkombination
11–211
F
µg/l
µmol/l
M
3–81
2,14
Alternative Einheit
(Sirolimus, Ciclosporin, Steroid), 2Dualkombination (Sirolimus, Steroid), indikationsabhängig
µg/l
x Faktor
12–202
4–121
Konventionelle Einheit ng/ml
F
5–151
M
86
Abkürzungen: M Männer, F Frauen, S Serum, P Plasma, E EDTA-Blut, CB Zitratblut, CP Zitratplasma, U Urin, U-24 24-h-Urin, L Liquor, AB arterielles Blut.
Material
Analyt
. Tabelle 86.2. (Fortsetzung)
1196 Kapitel 86 · Referenzbereiche klinisch wichtiger Laborparameter
1197
A
Stichwortverzeichnis A α2-Agonisten 317 – CBF 1013 – CMRO2 1013 – ICP 1013 A. brachialis 135 – Punktion bei Kindern 1139 A. carotis 1001 A. femoralis 135 A. mesenterica superior, Verschluss 596 A. radialis 135 AB0-Inkompatibilität 1113 Abacavir 855 abdominalchirurgischer Eingriff – organsupportive Therapie 950 Abdominaltrauma 871 – perforierendes 913 – stumpfes 913 – Versorgungsstrategie 873 Absaugsystem 827 ABSI (»abbreviated burn severity index«) 55 Abstandquadratgesetz, Strahlenschutz 184 Abszess – Computertomographie 219 – perirenaler 216 Acarbose 731 ACE-Hemmer 977 – Myokardinfarkt 418 – Ileustherapie 954 Acetylcystein 563 Acetylsalicylsäure (Aspirin) 291, 294, 999 ACS (»advanced cardiac life support«) 377 – erweiterte Maßnahmen 379 ACS (s. Kompartmentsyndrom, abdominelles) Actilyse, intrazerebrale Blutung 649 »acute inflammatory demyelinating polyneuropathy« (AIDP) – Ätiologie 698 – Komplikationen und supportive Therapie 698 – Prognose 698 – Symptomatik 698 – Therapie 698 Addison-Krise 640 Adenosin 1148 ADH 1021 – ADH-Sekretion, inadäquate (SIADH) 1012 Adipositas – Body-Mass-Index (BMI) 250 – Clearance 250 – Pharmakokinetik 250
– Plasmaproteinbindung 250 – Prognose einer Intensivbehandlung 124 – Verteilungsvolumen 250 Adrenalin 973, 976, 1154 – Anaphylaxie 1075 – Reanimation 379 – Neugeborenenreanimation 1089 – Sepsis 802 adrenokortikale Achse 258 AECOPD, NIV 508 Aggressivität 667 – von Angehörigen 22 Agitiertheit, Vergiftungen 1171 AIDP (s. »acute inflammatory demyelinating polyneuropathy«) aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) 284, 286 Aktivkohle 1175 Akut-Phase-Proteine 573, 778 Akut-Phase-Reaktion 776 Albumin 291, 749, 801 – Anaphylaxie 1073 ALEC 1094 ALI (»acute lung injury«) 476 – nach Lungenresektion 993 Alkalose 744 – Ätiopathologie 747 – chloridresistente 747 – chloridsensitive 747 – respiratorische 745, 752 Alkoholabusus 19 Alkoholentzugsdelir 675 – Symptome 668 Alkoholentzugssyndrom (AES) 319 – Benzodiazepine 321 – Carbamazepin 322 – Clomethiazol 321 – Differenzialdiagnose 320 – Neuroleptika 321 – Symptome 668 – Stadienverlauf 320 Alkylphosphate, Antidot 1176 Allen-Test 135 Alter – Intensivtherapie 123 – Pharmakokinetik 251 Aluminiumvergiftung, Antidot 1176 Alveofact 1094 Amanitinvergiftung, Antidot 1176 Amantadin 1171 Ameisensäure, Antidot 1176 Aminoglykosid 1122 Amiodaron 977 – Reanimation, kardiopulmonale 380
Ammoniakgas 1169 Amnionflüssigkeit-Surfactant 1094 Amphetamin 1171 – Amphetaminderivate 1178 Ampicillin 1122 Amprenavir 856 Amputationen 874 Amylase 230 – Pankreatitis 571 Amyloidangiopathie 651 Analgesie – Früh- und Neugeborenes 1126 – Kind 1146 Analgosedierung – Anforderungen an Pharmaka 304 – Applikationstechniken 305 – Auswahl der Pharmaka 305 – Barbiturat 309 – Benzodiazepinantagonisten 309 – Benzodiazepin 308, 309 – Clonidin 317 – Dexmedetomidin 317 – Diazepam 308 – Elimination 306 – Fentanyl 314 – Indikationen 307, 318 – Inhalationsanästhetika 313 – Ketamin 312 – Laborparameter 307 – Leitlinien 305 – Metabolisierung 306 – Methohexital 309 – Midazolam 308 – Morphin 314 – Muskelrelaxanzien 317 – nach neurochirurgischen Eingriffen 1012 – Neuroleptika 312 – Neuromonitoring 307 – Nichtopioide 315 – Objektivierung 306 – Opiatantagonisten 314 – Opioide 313 – Pharmaka 307 – Piritramid 315 – Propofol 310 – Regionalanästhesieverfahren 316 – Remifentanil 315 – Schemata 318 – Schmerzscore 307 – Sedierungsscore 307 – Sufentanil 314, 315 – Therapiekonzepte 304 – Überwachung 306 Anämie 231, 1114 – neonatale 1111 Anamnese, psychopathologisch 670
Anaphylaxie – allgemeine Maßnahmen 1075 – Anaphylaxis factitia 1072 – Diagnose 1074 – Differenzialtherapie 1077 – idiopathische 1072 – Klinik 1074 – medikamentöse Therapie 1076 – Nachbehandlung 1076 – Nahrungsmittel 1073 – Narkosezwischenfall 1073 – Prophylaxe 1073, 1076 – Therapie 1074 Anastomoseninsuffizienz, nach thoraxchirurgischen Eingriffen 993 Aneurysma – Aorta ascendens 1000 – Aortenbogen 1000 – »clipping« 1019 – »coiling« 1019 – intraoperative Ruptur 1020 – Nachblutung 1019 – zerebrales 617, 652 Angehörige 22 – Aggressivität 22 – Gesprächsführung 23 – Informationsblatt 23 – Gesprächsführung 23 Angina pectoris 455 – instabile 411, 423 – präklinische Maßnahmen 424 – ohne Risikomerkmale 425 – rezidivierende 419 Angiographie 612 – gastrointestinale Blutung 582 Angiom, arteriovenöses 617 Angstminderung 364 Angststörungen – organische 667 – Ätiopathogenese 671 – Definition 670 – Epidemiologie 670 – Formen 670 – Teufelskreismodell 671 – Pharmakotherapie 674 Anionenlücke 228, 724, 746, 748 Anpassungsstörungen 672 Anthrax 840 Anti-D-Immunglobulin 1114 Antibiotika (-therapie) – Auswahl 787, 784 – Cycling 786 – Dauer 785 – Dosierung 785 – Katheterinfektion 817 – Leitlinien 786 – Mono- vs. Kombinationstherapie 785 – Prophylaxe, perioperative 787 – Restriktion 786
1198
Stichwortverzeichnis
– Resistenzentwicklung 784 – Strategien 786 Anticholinergika 1171 Antidepressiva 673 Antidote – absorbierende 1175 – neutralisierende 1175 – Resorption 1175 Antifibrinolytika 279 – Aprotinin (Trasylol) 294 – Tranexamsäure (Cyklokapron) 294 – ε-Aminokapronsäure 294 Antigenzufuhr, Unterbrechung 1075 Antihistaminika 1171 – Antidot 1176 Antikoagulanzien – Acetylsalicylsäure 294 – aktiviertes Protein C (Drotrecogin alpha) 293 – Danaparoid (Orgaran) 293 – Desmopressin (Minirin) 293 – Fondaparinux 294 – Heparine 291 – Hirudin 293 – orale 292 – Protamin 293 – Thrombozytenaggregationshemmer 291 – Vitamin K (Konakion) 293 Antikoagulation 294 – Nierenersatzverfahren 295, 768 Antikörperspezifitätsindex (ASI) 619 Antimykotika – Prophylaxe 788 Antithrombin III (AT III) 284, 287 Anus praeter 916 ANV (s. Nierenversagen, akutes) Aorta – Verletzung 908 – Dissektion 456 – Ersatz 1000 – Ruptur 909 APACHE (»Acute Physiology and Chronic Health Evaluation«) 55 APACHE-II-Index 62, 851 – HIV-infizierter Patient 851 APACHE III 59, 82 apallisches Syndrom 638, 711 Apgar-Schema 1085 Apneusis 1010 Apnoe 1102 – Frühgeborenes 1101 Apnoetests 1033 Apoplex, nach herzchirurgischem Eingriff 983 Apoptose 865 APP (Perfusion der Abdominalorgane) 962 Aprotinin (Trasylol) 294, 980 Arachidonsäuremetaboliten 776 Arbeitsplatzmethode 100 – nach Lungenresektion 993 – akutes Nierenversagen 758
– nach kardiochirurgischen Eingriffen 983 – Röntgendiagnostik 195 aPC (s. Protein C, aktiviertes) ARDS (»acute respiratory distress syndrome«) 476 – CT-Befunde 199 – Röntgendiagnostik 198 Arenaviridae 843 Arginin, Reanimation379 ARI (»acute respiratory injury«) 1151 – klinische Zeichen 1152 Arrhythmien 1139 – bei Vergiftungen 1171 Arsen, Antidot 1176 Arzneimittelinteraktionen (s. auch Pharmaka) 251 Arzneimittelvergiftungen, perorale 1168 Arzneimittelwirkungen, unerwünschte 251 – Innenohrschaden 125 Arzt-Patient-Beziehung 4 Asphyxie – Anästhetika 1090 – Differenzialdiagnose 1090 – Klinik 1090 – Vagusreiz 1090 – Pathophysiologie 1089 – Risikofaktoren 1089 – Zielorgane 1090 Aspiration 549 – Röntgendiagnostik 205 – Pneumonie 485, 779 Asthma-Anfall (AA) – Beatmung 509 – Sekretmobilisation 509 – Tracheotomie 509 – Kind, Therapie 1152 Asthma bronchiale (s. auch Atemwegserkrankung, akute obstuktive) 500 – Adrenalin 504 – Bronchodilatatoren 504 – Differenzialdiagnose 500 – Entlassungskriterien 510 – Epidemiologie 500 – Epinephrin 504 – Hauptcharakteristiken 502 – Inhalationstherapie 510 – Magnesium 504 – NIV 508 – Scores 1153 – Schwangerschaft 504 – Sedativa 504 – Therapie 502 Asystolie 420, 1148 Atelektase 203 – Röntgendiagnostik 201 Atemapparat, Ursachen eines Versagens 472 Atemfrequenz 132 Atemfunktion – Überwachung 156 – Pulsoxymetrie 157 Ateminsuffizienz, schlaffe 698
Atemmuster – Normalisierung 364 – pathologisches 1010 Atemnotsyndrom – Beatmungsbeispiel 1103 – Frühgeborenes 1092 – klinische Symptome 1093 – radiologische Veränderungen 1093 – Therapie 1093 Atempumpe, Versagen 514 Atemtherapie 715, 716 – Sekretlösung 363 – Sekrettransport 363 Atemtypen 637 Atemwege 1075 – Druck 1010 – freimachen und -halten 375 – Fremdkörperaspiration 375 – Missbildungen 1155 – obere – Anatomie 326 – Obstruktion 1110, 1155 – Obstruktion, Anaphylaxie 1074 – schwierige 328 – Management 331 – Sicherung 1009, 1017, 1025, 1148 – Stenosen – Bronchoskopie 354 – Verletzungen, Bronchoskopie 355 Atemwegserkrankung, akute obstruktive – Aufnahme ins Krankenhaus 501 – Diagnostik 501 – Kriterien zur Aufnahme auf die Intensivstation 502 – Kriterien zur stationären Aufnahme 502 – Therapie 502 – Beatmungsparameter 506 – Differenzialtherapie 506 – Sauerstofftherapie 506 Atemwegswiderstand (s. auch Resistance; R) 472 Atmung 364, 1010 – ataktische 1010 – Störungen 689 Atracurium 1136 Atropin 1148, 1171 – Antidot 1176 – Reanimation 380 – Test 1033 AT III (s. Antithrombin III) Aufklärung 10, 13, 14 – Dokumentation 14 – rechtliche Erfordernis – Verletzungen 11 Ausbildung, studentische 116 Auskultation 132 Austauschtransfusion, Frühgeborenes 1114 Autoaggression 667 Automatismen, spinale 1033
AV-Block 420 AV-Knoten-Reentry-Tachykardien 435 – Myokardinfarkt 416, 418 Azidose 744 – Ätiopathologie 747 – Vergiftungen 1172 – Hyperchlorämie 747 – metabolische 745, 751 – renale 747 – respiratorische 745, 752 Azidose/Alkalose, TISS-28 Score 58
B β-Blocker 977 – hypertensiver Notfall 457 – Myokardinfarkt 418 β-Laktamantibiotika 785 – Anaphylaxie 1072 Baclofen, Antidot 1176 Bakteriämie 795 – fehlender Nachweis 774 – sekundäre 816 Balint-Gruppe 25 Ballongegenpulsation, Druckkurvenverlauf 974 Ballonokklusionskatheter, Katheter 146 Ballonpumpe, intraaortale 189 – Fehllage 190 – Komplikationen 190 Barbiturate 309, 1012 – Barbituratkoma 1016 – Barbiturattherapie – Hochdosis 631 Barotrauma 201 – pulmonales 936 basale Stimulation 713 Basenüberschuss 748 »baserate« (Basisfallpreis) 92 »base excess« (BE) 748 »basic life support« (BLS) 375 Basismonitoring, zerebrales 170 BATNA 106 Bauchlagerung – akutes Lungenversagen 478 – ICP 1009 Bauchtrauma – Diagnostik 912 – operative Therapie 916 – präklinisches Vorgehen 912 – Schussverletzung 915 – Stichverletzung 915 – Therapie 913 – bei penetrierendem Bauchtrauma 915 – bei stumpfem Bauchtrauma 916 – Prognose 917 Bauchwanddefekte 1118 – Erstmaßnahmen 1119
1199 Stichwortverzeichnis
Beatmung 514, 1010, 1037 – assistierte – Trigger 518 – assistierte maschinelle 515 – assoziierte – Lungenschaden durch Scherkräfte 519 – Organschäden 519 – Überdehnung der Lunge 519 – beatmungsassoziierte Pneumonie 519 – beim Transport 46 – Beutel-Masken-Beatmung, Neugeborenes 1088 – BIPAP (»biphasic positive airway pressure«) 516 – DRG 93 – druckkontrollierte 514 – druckunterstützte (»pressure support«; PS) 516, 528 – Einstellung 520 – Entwöhnung (s. auch Weaning) 523, 671 – Formen 514 – infektiöse Komplikationen 519 – intermittierende maschinelle Ventilation (IMV) 528 – invasive – Vor- und Nachteile 533 – Differenzialtherapie 537 – »inversed ratio ventilation« (IRV) 515 – lungenprotektive – akutes Lungenversagen 478 – maschinelle – Indikationen 514 – Nebenwirkungen 518 – Risiken 518 – Unterstützung der Ventilation 514 – Nebenwirkung an der Organfunktion 518 – nicht-invasive 532 – Algorithmus 537 – Beatmungsgeräte 532 – Beatmungshelm 535 – Beatmungsverfahren 532 – Beatmungszugang 534 – bei postoperativer Oxygenierungsstörung 990 – COPD 522 – Differenzialtherapie 537 – Durchführung 532 – Indikationen 536 – Maskentypen 534 – personeller Aufwand 535 – Praxis 535 – relative Kontraindikationen 508 – Vor- und Nachteile 533 – Pneumonierisiko 820 – positiv endexspiratorischer Druck (PEEP) 520 – »pressure support ventilation« (PSV) 533 – »proportional assist ventilation« (PAV) 517, 533
– Sinusitis 519 – synchronisierte intermittierende (SIMV) 515 – volumenkontrollierte 514 – Wahl des Verfahrens 520 Beatmungseinstellung – akutes Lungenversagen 520 – COPD 522 – obstruktive Ventilationsstörung 521 Beatmungsfilter 827 Beatmungsgerät – Einstellung – Früh- und Neugeborenes 1104 – Kind und Kleinkind 1137 – Transport 47 Beatmungsparameter, Grundeinstellung 1137 Beatmungspneumonie 486, 779 – Definition 487 – nosokomiale (VAP) 489 – Prinzipien der Therapie 490 Beatmungsschläuche 827 Beatmungssystem, Infektionen 820 Beatmungsverfahren 1011 – COPD 522 – druckkontrolliertes 1010 – Entwöhnung 528 – volumenkontrolliertes 1010 – Wahl 521 Beatmungszubehör – Wiederaufbereitung 827 Beckentrauma, Begleitverletzungen 873 Beckenverletzung 872 Bedürfnismodell 29 Befähigung, Weiterbildung 118 Behandlungsfehler 11, 12 – Klassifizierung 67 – Definition 67 Behandlungspflicht, (ärztliche) Grenzen 5, 15 Beinahe-Ertrinken 938 – Flussdiagramm 941 – klinische Versorgung 940 – neurologische Störungen 939 – präklinische Maßnahmen 940 – Prognose 941 – Therapie 940 Beinaheereignisse (»near miss«) 66, 70, 71, 74 – Definition 67 Beinvenenthrombose, tiefe 299 Belastung – Personal 101 – psychische – bei Angehörigen 22 – Belastungsfaktor Intensivstation 18 – Mitarbeiter 24 Belastungsreaktion – akute 672 Belastungsstörung – posttraumatische 672, 984 Belladonna, Antidot 1176 »benchmarking« 71
Benzodiazepine 308, 321, 929 – Alkoholentzugsdelir 675 – Antidot 1176 – CMRO2 1013 – Einteilung 673 – Entzugssyndrom 322 – Hirndurchblutung 1013 – Kind 1146 – klinische Bewertung 309 – Status epilepticus 663 Beschaffungskommission 100 »best alternative to a negotiated agreement« 106 Betreuer 14 Betreuungsrechtsänderungsgesetz 7 Betreuungsverfügung 6 Betten 40 – Hygiene 40 Beurteilung der ossären Strukturen – Röntgendiagnostik 211 Beutel-Masken-Beatmung, Neugeborenes 1088 Bewegungstherapie – basale Stimulation 366 – Hypertonus, muskulärer 366 – vestibuläre Stimulation 366 Bewertungsrelation 91 Bewusstsein(slage) – falsche Einschätzung 19 – Beurteilung 636 – störung/-trübung 646 Biguanide 731 Bikarbonat 228 – diabetische Ketoazidose 725 Bildgebungsverfahren (s. auch Röntgendiagnostik) – Computertomographie 181 – Grundausstattung für die Intensivstation 179 – Lumineszenzradiographie, digitale 180 – Multislice-CT 181 – Radiographie, digitale 180 – Röntgendiagnostik 179 – Ultraschallgeräte 180 Bilirubin 229 – Enzephalopathie 1115 biogene Drogen 1171 Biot-Atmung 1010 Biotransformation, hepatische, Pharmaka 245 Bioverfügbarkeit, Pharmakokinetik 243 BIPAP 528 Blasenkatheter, suprapubischer 821 – Infektionsweg und Keimspektrum 821 Blasenrehabilitation – Querschnittslähmung 692 – Blasenverweilkatheter Blausäure, Antidot 1176 Blei, Antidot 1176 Blockierung
A–B
– atrioventrikuläre 433 – sinuatriale 432 Blutdruck – Kind 1138 – arterieller 132, 134 – mittlerer arterieller (MAP) 153 – Messung – beim Kind 1138 – nicht-invasive 134, 1138 – arterielle 134 – indirekte 134, 135 – invasive 135 – Senkung – medikamentöse 1017 Blutersatz, Hirntod 1037 Blutflusses, zerebraler – Messung 173 Blutgasanalyse 228 – arterialisiertes Kapillarblut 161 – arterielle 132, 160 – beim Kind 1137 – Blutgasüberwachung, kontinuierliche arterielle 137 – Einfluss der Temperatur 161 – Normalwerte 161 – Proben 161 – Probenentnahme 160 – arterielle 132 Blutglukose – Erhöhung (s. Hyperglykämie) 236 – Kontrolle – Intensivpatienten 732 Blutkultur 774 Blutstillung (s. Hämostase) Blutstuhl 580 Bluttransfusion 276 Blutung – gastrointestinale 581 – hypertensive 651 – intraabdominelle – Computertomographie 220 – intrakranielle 1018 – intraventrikuläre 616 – intrazerebrale 615, 646, 651, 1018 – obere gastrointestinale 580, 584, 587 – retroperitoneale – Computertomographie 220 – subarachnoidale 646, 654 (s. Subarachnoidalblutung) – untere gastrointestinale 580, 582, 587 – Usachen, nichtraumatische 273 Blutungsstillung 282 Blutverlust, Neugeborenes 1112 Blutvolumen – Neugeborenes 1111, 1144 – Säugling 1144 Blutvolumen – intrathorakales (ITBV) 154 – pulmonales thermales (PTV) 154
1200
Stichwortverzeichnis
Blutzucker – Monitoring 236 – Blutzuckerbestimmung (s. Überwachung) 236 Bottom-up Analyse 90 Botulismus 702 BPD (s. bronchopulmonale Dysplasie) Bradyarrhythmie 1140 Bradykardie 688, 978, 1025, 1140, 1148 – Frühgeborenes 1101 – Neugeborenes 1088 Brandgasvergiftung 922 Brandverletzter/-verletzung – akute Behandlung 923 – Elektrolyte 930 – Ernährung 930 – Intensivtherapie 929 – Therapie 924 – Transfusion 929 – Vitamine und Spurenelemente 930 Brescia-Cimino-Fistel 765 Bronchiolitis 1152 Bronchitis, chronische – akute Exazerbation 500 bronchoalveoläre Lavage (BAL) 356 Bronchodilatatoren – Asthma bronchiale 504 – COPD-Exazerbation 505 Bronchopneumonie, Röntgendiagnostik 204 bronchopulmonale Dysplasie 1096 Bronchoskopie – Atemwege, Verletzungen 355 – Atemwegsstenosen 354 – Beatmungsprobleme 354 – Fremdkörper 354 – geschützte Bürste 357 – Hämoptysen 354 – Indikationen 354, 355 – Infektionen 820 – Komplikationen 356 – Kontraindikationen 356 – periphere Lungenbiopsien 357 – Röntgenthoraxveränderung 354 – Techniken der Materialentnahme 356 – transbronchiale Nadelpunktion (TBNA) 357 – Tubusprobleme 354 – Untersuchungsgang 356 – Zangenbiopsien 357 – zur Sekretmobilisation 992 Bronchuseinriss, Bronchoskopie 355 Budd-Chiari-Syndrom 561 Bulbus-Vv.-jugularis-Katheter 1014 Bunyaviridae 843 Burn-out-Syndrom 24 Bypassoperation, Langzeiterfolg 984
C C-reaktives Protein (CRP) 573 – Trauma 780 CA-MRSA, Pneumonie 485 Caisson-Krankheit 935 Candidainfektion/Candidose – Diagnostik 787, 788 – Epidemiologie 787 – Nachweis im Urin 822 – systemische 684 – Therapieoptionen 787, 788 Cannabis 1178 Captopril 648 Carbamate, Antidot 1176 Carbamazepin 322 – Dosierungsempfehlung 322 Carbo medicinalis 1174 CARS (s. »compensatory antiinflammatoric response syndrome«) Casemix-Index 92 CBF (s. zerebraler Blutfluss ) CDC-Guidelines 37 Cheyne-Stokes-Atmung 1010 Child-Pugh-Klassifikation 249 Children's Coma Scale 881 Chinindihydrochlorid, Malaria 842 Chinolone, Anaphylaxie 1072 Chlamydien 683 Chloralhydrat, Kind 1146 Chlorgas Schwefelwasserstoff 1169 Chloroquin, Antidot 1176 Choanalatresie 1110 Cholangitis 559 – sekundär sklerosierende 559 Choledocholithiasis, Ultraschall 212 Cholestase 124 – antibiotikainduzierte 560 – Manifestationsformen 558 – medikamentös induzierte 559 – Pathophysiologie 558 – sepsisinduzierte 558, 559 Cholezystitis – akalkulöse 560, 594 – akute 212 – Computertomographie 220, 221 – Ultraschall 212 – gangränöse – Ultraschall 212 Cholezystokinin, Ileustherapie 954 Cholezystolithiasis, Ultraschall 212 Cholinesterase 229 Chrom, Antidot 1176 »chronic obstructive pulmonary disease« (s. COPD) Chylothorax, Früh- und Neugeborenes 1110 Cilostazol (Pletal) 291
CIRS (Critical Incident Reporting System) 73 CK-MB 981 Clichy-Kriterien 564 Clindamycin 850 Clomethiazol 321 – Alkoholentzugsdelir 675 – Dosierungsempfehlung 322 Clonazepam 664 – Grand-mal-Anfall 661 Clonidin 317, 648, 929, 977 – Alkoholentzugsdelir 675 – CBF 1013 – CMRO2 1013 – Dosierungsempfehlung 317, 321 – hypertensiver Notfall 457 – ICP 1013 Clopidogrel 291 – Myokardinfarkt 416 Clostridium-difficile-Infektion – Diagnose 827 – Infektionsweg 825 – Therapie 827 CMV-Enzephalitis 684 CMV-Infektion 493 CMV-Pneumonie 493 CMV- und Pneumozystispneumonie, Röntgendiagnostik 204 CO2-Elimination – Neugeborenes 1103 CO2-Konzentration, endexspiratorische 1137 CO2-Lücke (CO2-gap) 164 CO2-Monitoring, beim Kind 1137 CO2-Reagibilität – bei Schädel-Hirn-Trauma 1007 Cobatrice 8 Cockroft-Formel 759 Codein, Antidot 1176 Coma vigile 638, 710 »compensatory antiinflammatoric response syndrome« (CARS) 775, 797 Compliance (C) 472 Computertomographie 181 – abdominelle 553 – Abszess 219 – Blutung, intraabdominelle 220 – Blutung, retroperitoneale 220 – Cholezystitis 220, 221 – Darmischämie 218 – Dünndarmobstruktion 217 – Fehllage von Drainagen 207 – hypovolämischer Schock 220 – Ileus, paralytischer 217, 218 – Indikationen 206, 207 – Inkarzeration 218 – Kolitis 219 – Läsionen der Thoraxwand 207 – Lungenembolie, akute 207 – Mediastinalerweiterung 207 – Milz 221 – Pankreatitis, akute 221 – pulmonale Erkrankungen 207 – Strangulationsobstruktion 218
– Trauma 605 – vaskuläre Pathologie 207 – Wertigkeit 206 Continuous-flow-Geräte 1104 COPD (»chronic obstructive pulmonary disease«) s. auch Atemwegserkrankung, akute obstruktive 500 – Entlassungskriterien 510 – Inhalationstherapie 510 – initiale Beatmungsparameter 506 – nichtpharmakologische Differenzialtherapie 506 – NIV in der Postextubationsphase 509 – NIV und Weaning vom Respirator 509 – Sauerstofftherapie 506 COPD, akute exazerbierte (AECOPD) – adjunktive Therapiemaßnahmen 509 – Algorithmus zur Therapie 507 – Antibiotikatherapie 505 – Beatmung 507 – Bronchodilatatoren 505 – Glukokortikosteroide 505 – Helium-Sauerstoff-Therapie 509 – invasive mechanische Beatmung 509 – NIV 508, 563 – Prognose 501 – Sekretmobilisation 509 – Therapie 505 – Tracheotomie 509 Cormack-Einteilung 330 »corporate identity« 104 Coumarinnekrose, Hämostase, Komplikation 300 Coumarinderivate – Antidot 1176 – Myokardinfarkt 417 Coumarintherapie – ICB 651 CPAP 990 – Applikation 1153 – kardiales Lungenödem 538 – Masken 990 CPIS (Clinical Pulmonary Infection Score) 488 CPP (s. zerebraler Perfusionsdruck) Crack 1178 Creatinkinase (CK) 230, 410 Critical-illness-Myopathie (CIM), histologischer Befund 704 Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) 473, 704 – Diagnostik 703 – Pathogenese 703 CIRS (s. Critical Incident Reporting System) Crixivan 856 CRP (s. C-reaktives Protein) CT-Severity-Index 223 Curosurf 1094
1201 Stichwortverzeichnis
Cushing-Antwort 1017 Cushing-Trias 629 CVVHDF (kontinuierliche venovenöse Hämodiafiltration) 767 CVVHD (»continuous veno-venous hemodialysis«) 767 CVVH (»continuous veno-venous hemofiltration«) 767
D D-Dimere 287 Danaparoid (Orgaran) 293 Dapsone 850 Darmatonie – Motilinanaloga 952 – peridurale Blockade 952 Darmdekontamination, selektive 827 Darmischämie 955 – Computertomographie 218 – nicht-okklusive 599 Datura (species ) 1178 Deafferenzierung 1025 Defibrillation 377 Dehydratation 640, 722, 723, 1011 – Schweregradbeurteilung 1157 – Volumensubstitution 1157 Dehydrobenzperidol (DHBP) 313 Dekompressionskrankheit 934, 935 Dekompressionstherapie, abdominelle 552 Dekompressionstrepanation 631, 888 Dekubitus – Prophylaxe 360 – Risiko 360 Delavirdine 855 Delegation 33 Delir – akute Vergiftung 1171 – Definition 319 Deming-Zyklus 80 Denguefieber 845 Depression 19 – Ätiopathogenese 669 – Definition 669 – Epidemiologie 669 – Pharmakotherapie 674 – Symptomatik 669 Desinfektionsplan 41 Desmopressin 293, 1021, 1037 Dexamethason 682, 1097, 1154 Dexmedetomidin 317 – Dosierungsempfehlung 317 Dextran, Anaphylaxie 1073 Dextropropoxyphen, Antidot 1176
DGAI (Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin) – Empfehlungen 111 Diabetes insipidus 1012 – Hirntod 1036 Diabetes mellitus 1038 – postoperative Therapie und Risiken 732 Diabetiker – perioperative Betreuung 731 diabetische Ketoazidose (DKA) – diagnostisches Vorgehen 724 – Therapie 724 Diagnostik, rationelle 99 Diagnostik, radiologische – abnorme Flüssigkeitsansammlungen 194 – am Krankenbett 182 – Befundung 181 – Dokumentation 181 – häufige Aufnahmefehler 182 – klinische Informationen 179 – Konferenz 181 – Lagekontrolle von Kathetern, Tuben, Drainagen etc. 184 – Notfallanforderungen 181 – Pleuraerguss 194 – Zusatzaufnahmen 182 Dialyse – Membrane 768 – Prinzip 766 Diät – immunmodulierende 262 – stoffwechseladaptierte 262 Diazepam 664 – Dosierungsempfehlungen 308 – Grand-mal-Anfall 661 DIC – Diagnose 297 – Algorithmus 297 – Komplikationen 298 – Therapie 298 Didanosin 855 »difficult airway« 1153 Diffusionsstörung 471 Digitalis 1171, Antidot 1176 Dihydralacin 648, 1065 Dilatation, vaskuläre 196 – Röntgendiagnostik 196 Dilatationstracheotomie, perkutane (PDT) 1009 – Komplikationen 342 – Kontraindikation 337 Dioxine, Antidot 1176 Dipalmitoylphosphatidylcholin 1093 Diphtherie 839 Dipyridamol, Antikoagulation 294 Disulfiram 1171 Diurese – forcierte 1174 – TISS-28 Score 58 Diuretika 1097 – ANV 763
DKA (s. diabetische Ketoazidose) Dobutamin 972, 976 – Sepsis 802 Dokumentation, Mängel 11, 15 Dopamin 972, 976, 1148 – ANV 762 – Sepsis 802 – Dopamin (D2)Rezeptorantagonisten – Ileustherapie 953 Dopexamin, Sepsis 803 Dopplersonographie 1035 – transkranielle 1021 Physostigmin, Dosierung 322 Katheterperiduralanästhesie, Dosierung 316 Downer 1178 Doxapram 1102 Drainagelagerung 363, 364 DRG (»diagnosis related groups«) 91, 92 – Erlöse, Intensivstation 100 – Beatmung 93 – Bewertungsrelation 91 – Funktion 92 – intensivmedizinische Komplexbehandlung 93 – Kodierung 92 – OPS 8–980 93 – Prozeduren 92 – Relativgewicht 91 – Scoresystem 60 Drogen, Systematisierung 1178 Drogenintoxikationen, Leitsymptome 1178 Drotrecogin α, Sepsis 805 Druck – intrakranieller (s. ICP) – pulmonalarterieller (PAP) 151 – rechtsatrialer (RAP) 151 – rechtsventrikulärer (RVP) 151 – zentralvenöser (ZVD) 150, 989 Druckerhöhung, intraabdominelle (IAH) 962 Druckgradient (pTP) 472 Druckmessung – epidurale 628 – subdurale 628 – invasiv arteriell 137 – Fehlerquelle 137 Drucksteigerung – Ursachen, intrakranielle 627 Druckunfallkrankheit 935 Drug monitoring, therapeutisches 856 Ductus arteriosus (PDA), persistierender 1095 Dünndarm (s. Duodenum) Duodenum – Blähung, Röntgendiagnostik 209 – Blutung 587 – Computertomographie 217 – Obstruktion 1118 – Duodenalatresie 1117, 118 Duplexsonographie, Leber 214 Duraerweiterungsplastik 631
B–E
Durchblutungsstörungen, intestinale 592 Durchgangssyndrom 319 – nach Lebertransplantation 1047 Dysplasie, bronchopulmonale 1096 Dystelektase 202
E ε-Aminokapronsäure 294 Echokardiographie 971, 989 – Endokarditis 447 – Lungenarterienembolie 463 – transösophageale – Perikardtamponade 402 – Röntgendiagnostik 402 – transthorakale – Perikarderguss 400 – Perikardtamponade 400 ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) – Inhalation von NO 479 – Therapiekriterien 1109 Ecstasy 1171, 1178 – Notfallrelevanz 1179 EDTA-assoziierte Pseudothrombopenie 286 EEG 132, 1034 Efavirenz 855 Einklemmung – Foramen magnum 639 – transtentorielle 639 Einmalmaterial 100 Einwilligung des Patienten 10 – Einwilligungsunfähigkeit 6 Eisen (III)-Vergiftung, Antidot 1176 EKG 132 – Ableitungssystem 133 – Elektroden 133 – Monitor 132, 133 – Überwachung 134 – EKG-Veränderungen – bei Vergiftungen 1171 – bei Infarkt 408 Eklampsie 1058, 1066 – Behandlung 458 – Differenzialdiagnose 1067 – drohende 1066 – Prophylaxe 1067 – Therapie 1067 Elektroenzephalographie (s. EEG) Elektrokardiographie (s. EKG) Elektrolythaushalt – Störungen 1142 – bei Paralyse 696 – neurochirurgischer Patient 1011 Eliminationsverfahren, extrakoporale 755
1202
Stichwortverzeichnis
Emphysem – interstitielles 193 – lobäres 1106 Empyem 347 – radiologische Diagnostik 204 – subdurales 679, 680 Enalapril 977 Enalaprilat, hypertensiver Notfall 458 Endokarditis – Bildgebung 447 – Blutkultur 446 – Diagnose 446, 447 – Duke-Kriterien 447 – Echokardiographie 447 – Erregerspektrum 446 – infektiöse 446, 448 – antimikrobielle Therapie 449 – chirurgische Therapie 450 – intensivmedizinische Überwachung und Therapie 448 – Komplikationen 449 – Monitoring 450 – Klinik 446 – Laborbefunde 446 Endoskopie, gastrointestinale Blutung 582 Endotrachealtubus 185, 327 – Größe und Länge 1134 – pädiatrische 1135 Energiebedarf 1145 Energiestoffwechsel 237 Energieverbrauch (»energy expenditure«, EE) 237 enterale Ernährung, TISS-28 Score 58 Enteroanastomosen 916 Enterokokken – Enterococcus faecalis 39 – Enterococcus faecium 39 – Vancomycin-resistente 784 – Vorkommen 36 Enterokolitis, nekrotisierende 1119 Enterothorax 1107 Enteroviren, neurotrope 685 Entgiftung, extrakorporale 1174 Entlastungstrepanation 650 Entspannungsverfahren 21 Entwöhnung, Beatmung 528, 1011 – Atemarbeit 525 – BIPAP 528 – endotrachealer Tubus 524 – erforderliche Atemarbeit 523 – Ernährungsregime 524 – Grundlagen 523 – hämodynamische Konsequenzen 525 – Konzepte 526 – Kriterien 526 – Mechanik des respiratorischen Systems 523 – metabolisches Gleichgewicht 523 – Respirator (Weaning) 703
– schwierige 525 – NIV 539 – sonstige Faktoren 524 – Synchronisation 525 – technische Einflüsse 524 Entzugserscheinungen/ -symptome 19 – Pharmakotherapie 675 Entzugssyndrome – Amphetamintyp 669 – Barbiturate 669 – Benzodiazepine 669 – Cannabistyp 669 – Epidemiologie 668 – Kokaintyp 669 – Morphin-/Opiattyp 669 – Symptomatik 668 Entzündungsreaktion – Komponenten der posttraumatischen 865 – systemische 864 Enzephalitis – akute disseminierte Enzephalomyelitis 685 – Ätiologie 610 – CT-Befund 610 – Herpesviren 684 – Viren 685 Enzephalopathie 561 – hepatische 561, 563, 565 – hypertensive 455 – hypoxisch-ischämische 1090 – septische 638, 641 Enzymdiagnostik 228 Enzyminduktion 243 Epiduralhämatom, Computertomogramm 887 Epiglottitis 1154 Epinephrin – Asthma bronchiale 504 Epivir 855 Epstein-Barr-Virus, neurologische Komplikationen 684 Erbrechen – galliges 1118 – provoziertes 1173 Ereignismonitoring 74 Ergebnisqualität 81 – Ausprägung 82 Ergotherapie, Behandlung von Wahrnehmungsstörungen 368 Erit 855 Ernährung 827 – enterale 261 – Diarrhö 265 – Kind 1145 – Komplikation 265 – Praxis 265 – Ernährungssonden – Fehllage 190 – Komplikationen 190 – Ernährungstherapie – Grundlagen, pathophysiologische 256 – Störungen der Homöostase 256 – Indikation 263
– Kind 1144 – Monitoring 235 – metabolisches 267 – orale 261 – parenterale 262, 264, 1146 – Nebenwirkungen 267 – Postaggressionssyndrom 264 – Spurenelemente 263 – stoffwechseladaptierte Diät 262 – Substrate 261 – Vitamine 263 Ernährungszustand 261 – Abschätzung des Kalorienbedarfs 261 – Einschätzung 259 – Subjective Global Assessment (SGA) 260 Erreger, multiresistente 39, 784 Erregungszustände 667 Ersatzrhythmen, junktionale 420 Erstattung, Kosten 91 Ertrinken – klinisches Erscheinungsbild 938 – Pathophysiologie 938 – sekundäres 939 – Ursachen und Abläufe 938 – Ertrinkungsunfall – Kind 1150 Erythromycin, Ileustherapie 952 Erythropoese, fetale 1111 Erythrozyten – fetale 1111 – Erythrozytenkonzentrate – bei kardiochirurgischen Patienten 981 – Sepsis 804 – Transfusion 981 – kompatible Blutgruppen 288 ESBL (s. »extended spectrum beta lactamases«) Esketamin 929 Esmolol 648 Essigsäure 924 Esstherapie 364 Esstraining 365 Ethambutol 833 Ethanol 1171 Ethicus-Studie 7 Ethylenglykol, Antidot 1176 Etomidat 647, 1012 European Stroke Initative (EUSI) 651 EVLW (extravaskuläres Lungenwasser) 154 – klinische Bedeutung 155 – Steuerung der Flüssigkeitstherapie 155 Exosurf 1093, 1094 Exsudat 347 extended-spectrum-β-Laktamase (ESBL) 39, 40 Extremitäten, Verletzungen 874
F Facharztstandard 11 Faktorenkonzentrat, Volumenersatz 278 Faktor VII 652 Faktor VIII 284 Faktor XIII 284 Fallschweregrad (»patient clinical complexity level«; PCCL) 92 Farbdoppleruntersuchung, Leber 214 Fasziitis, nekrotisierende 835, 836 Favistan 739 Faziooraltrakttherapie (F.O.T.T.) 365 Fehler (s. auch Behandlungsfehler) 66 – Analysen 74 – Definition 67 – diagnostischer; Klassifizierung 67 – Ereignissammlung 70 – Erfassungsbogen 72 – Erfassungssysteme 68 – Kultur 102 – Risikomanagement 69 – Monitoring 69, 74 – Patensammlung 71 – Statistik, Qualitätssicherung 71 – Vorgehen bei schweren Schäden 75 Fentanyl 314, 929, 1136, 1146 – Dosierung 314 – Früh- und Neugeborenes 1127 Fettleibigkeit (s. Adipositas) FFP (gefrorenes Frischplasma) 290 Fiberbronchoskope 357 fiberoptischer Thermodilutionskatheter 147 Fibrinogen(präparat) 278, 287, 290 Fibrinogen (Faktor I) 284 Fibrinolyse – Alteplase (t-PA) 415 – Fibrinolysesystem 285 – Indikation 414 – Katheterintervention 422 – Kontraindikaitonen 414, 415 Fick’sches Prinzip 152 Fieber – Denguefieber 845 – südamerikanisches hämorrhagisches 844 – virales hämorrhagisches 843 Fieberkrampf 1159 Filoviren 843, 844 Fistel, pleurale 993 Flächendesinfektion 40 »flapping tremors« (Asterixis) 638 Flaviviridae 843
1203 Stichwortverzeichnis
Flüssigkeitsansammlungen – in der Pleura 346 – Ultraschall 216 Flüssigkeitsbedarf – normaler intravenöser 1142 – Ursachen 1142 Flüssigkeitsmanagement – neurochirurgische Patient 1011 Flüssigkeitssequestration 549 Flusssäure, Antidot 1176 Foetor 1170 Fondaparinux 294 Frakturen – Anhaltswerte für Blutverluste 273 – panfaziale 900 Fremdkörper, Bronchoskopie 354 Frischplasma (s. auch FFP) 563 – Volumenersatz 278 Frontobasisfrakturen 900 Frühgeborenes – Hirnblutung 1098 – Prognose 1091 – Temperaturregulation 1085 – Wärmeschutz 1086 – Frühgeborenenapnoe – Definition 1101 – differenzialtherapeutische Maßnahmen 1102 – Pathogenese 1101 Frührehabilitation – Atemtherapie 363 – Behandlung von Rumpf und oberer Extremität 368 – Bewegungstherapie 366 – Ergotherapie 368 – Esstherapie 364 – Esstraining 365 – Förderung der persönlichen Selbstständigkeit 368 – Frühreha-Barthel-Index 709, 710 – Kontrakturprophylaxe und -behandlung 369 – Lagerung 360 – Logopädie 369 – neurologische und neurochirurgische 708 – Physiotherapie 368 – Schlucken 364 – Schlucktherapie 364 – Therapieansätze in der neurologischen Frührehabilation 712 – Therapie neuropsychologischer Defizite 369 Frühsommermeningoenzephalitis – Symptomatik 685 – Therapie 685 Führungsstäbe 327 funktionsbezogene Kommunikation 105 Furosemid 1017 – hypertensiver Notfall 458
G γ-Glutamyl-Transferase (γ-GT) 229 γ-Hydroxybuttersäure (GHB) 311, 321 – Dosierungsempfehlung 312, 321 Gallenblase – Ultraschall 211 – Sludge 560 Ganzkörperwaschung 714 Gasblasen, Pathophysiologie 934 Gasbrand 836 Gasembolie, arterielle 934, 935, 936 Gasspürgeräte 1173 Gastritis, hämorrhagische 585 Gastroparese 548 – Definition 548 – diabetische 731 – klinische Folgen 548 Gastroschisis 1118 Gasverteilung im Dünnund Dickdarm, Röntgendiagnostik 209 GCS (s. Glasgow Coma Scale) Gefäßchirurgie – Intensivtherapie 998 – postoperative Überwachung 998 Gefäßdilatation (s. Dilatation, vaskuläre) Gefäße, Ultraschall 217 Gefäßstenosen, sonographische Befunde 615 Gefäßverletzungen 874 Gefäßwiderstand – pulmonaler 151 – systemischer 151 – Gefäßwiderstandindex, systemischer (SVRI) 153 Gegenpulsation (s. auch IABP) 973 Gelatine, Anaphylaxie 1073 Gelbfieber 844 Gerinnung 231, 233, 282 – Blutgerinnung 232, 277 – Herzoperation 980 – Einzelfaktorenbestimmung 286 – Globaltest 286 – plasmatische 283, 286 – Inhibitoren 284 – thrombozytäre 285 Gerinnungsanalysen 287 Gerinnungsfaktoren F. VII, VIII und IX 290 – Substitution 563 Gerinnungshemmertherapie, Myokardinfarkt 416 Gerinnungslabor 285 Gerinnungsstörungen, Hirntod 1037, 1038 Gerinnungssystem 282
Gesamtclearance 248 Gesichtsmaske 326 Gesichtsschädel – kombinierte WeichteilKnochen-Verletzungen 900 – Trajektoriensystem 895 – Frakturen, Einteilung 895 Gesichtsweichteile – Schürfwunden 894 – Verletzungen 894 Gewebethromboplastin 283 Gewebsplasminogenaktivator (t-PA) 285 glomeruläre Filtrationsrate (GFR) – -MRD-Formel zur Errechnung 759 – Nierenversagen, akutes 759 GHB (s. γ-Hydroxybuttersäure) Giftaufnahme, perkutane 1169 Giftelimination 1168 – primäre 1173 – sekundäre 1174 Giftinformation, telefonische 1170 Giftresorption 1168 Glasgow Coma Scale (GCS) 55, 57, 636, 880, 940, 1008, 1157 – für Kinder 1158 – vor Sedierung 56 Glasgow Outcome Scale 891, 1008 Gleichstromgeneratoren 180 Glukagon 257 Glukokortikoide 257 – COPD-Exazerbation 505 – erhöhter intrakranieller Druck 632 Glukoneogenese 259 – hepatische 257 Glukosemetabolismus, Postagressionsstoffwechsel 235 Glukosezufuhr, unzureichende 1123 Glykoproteinrezeptorantagonisten, Myokardinfarkt 417 Gold, Antidot 1176 Gonadotropine 234 gramnegative Keime, Vorkommen 36 Grand-mal-Anfall – Benzodiazepinen 661 – Notfallbehandlung 660 – tonisch-klonischer 660 Grand-mal-Status, praktisches Vorgehen 664 Grenzverweildauer 92 Guedel-Tubus 326 Guillain-Barré-Polyneuritis 621 Guillain-Barré-Syndrom (GBS) 1033 – diagnostische Kriterien 700 – Intensivbehandlung 125 – Komplikationen 699 – Krankheitsbilder 697 – supportive Therapie 699
E–H
H H1/H2-Blocker 1078 Haftpflichtversicherung 10 Haftung 12 Halbwertszeit, Pharmakokinetik 246 Halluzinogene 675, 1178 Halluzinose, organische 667 Haloperidol 929 Hämatemesis 580 Hämatochezie 580 Hämatokrit – Kinder 1144 Hämatom – chronisch subdurales 606 – epidurales 605 – subdurales 605, 886 – traumatisches intrazerebrales 888 Hämatothorax 144, 347, 905 Hämoclip 585 Hämodiafiltration 766 Hämodialyse 766 – intermittierende 767 – Transport 49 – Vergiftungen 1175 Hämodilution 1021 Hämofiltration 766, 875, 1156 – kontinuierliche 767 – Transport 49 Hämoglobin – Kleinkind 1144 – Neugeborenes 1144 – Puffersystem 745 – Sauerstoffbindungskurve 162 – Säugling 1144 Hämoglobingehalt, Neugeborene und Säuglinge 1144 Hämolyse 1063 hämolytisch-urämisches Syndrom – Auslöser 834 – Behandlung 835 – Diagnose 835 – Epidemiologie 834 – Klinik 835 – Pathogenese 834 – Prävention 835 Hämoperfusion 767 – Vergiftungen 1175 Hämophilie 295 – Hämophilie A, klinische Charakterisierung 296 Hämoptysen 354 – Bronchoskopie 354 hämorragischer Schock, Einschätzung 273 Hämorrhagie – intraparenchymatöse 1098 – intraventrikuläre 1098 – subependymale 1098 Hämostase 282 – Gefäßwand 283 – Gerinnungsanamnese 285 – Gerinnungslabor 285
1204
Stichwortverzeichnis
– Komplikationen 299 – sekundäre 283 – Thrombozyten 283 Hämostasestörung 287 – erworbene 296 – Verbrauchskoagulopathie (DIC = disseminierte intravasale Koagulation) 297 – Hämophilie 295 – Sepsis 296 – Thrombophilie 296 Hämotherapie 288 – Albumin 291 – allergische Transfusionsreaktionen 289 – autoimmunhämolytische Anämie (AHA) 289 – bakterielle Verunreinigungen 289 – Bestandteile, zelluläre 288 – Erythrozytenkonzentrate 288 – FFP (gefrorenes Frischplasma) 290 – Gerinnungsfaktorenkonzentrate 289 – hämolytische Reaktion vom Soforttyp 289 – Kälteagglutininen 289 – kardiovaskulär vorgeschädigte Patienten 289 – Leukozytenkonzentrate 289 – nichthämolytische Transfusionsreaktionen 289 – PPSB 290 – rekombinanter aktivierter Faktor VII 290 – sonstige Hämotherapeutika 291 – Thrombozytenkonzentrate 289 – transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRALI) 289 Handbeatmung – Kind 1135 – Handbeatmungssysteme 1136 Händedesinfektion 37, 41 Händereinigung 41 Hantaviren 844 Harnstoff 230, 756 – Harnstoff-N 237 – Harnstoffclearance, verschiedene Nierenersatzverfahren 766 – Harnstoffexkretion, fraktionelle 760 Harnwegsinfekt 778 – Diagnose 821 – Hygiene 36 – Infektionsweg und Keimspektrum 821 – katheterassoziierter 820, 828 – nosokomialer820 – Screening 821 – Therapie 822 Hautdesinfektion 41 HCN-Vergiftungen 922
»health care asscociated pneumonia« 485 Helicobacter-pylori-Eradikation 586 HELLP-Syndrom 1058, 1066, 1063 Henderson-HasselbalchGleichung 744, 745, 746 Heparin 291, 999 – Antagonisieren der Wirkung 293 – Myokardinfarkt 417 – Heparin-induzierte Thrombopenie (HIT) 299 Hepatitis – ischämische 559 – hypoxische 559 – Hepatitisserologie 561 hepatorenales Syndrom (HRS) 564, 565 Hepatosplenomegalie 1114 Herdenzephalitiden – embolische 681 – metastatische 681 – septische 680 Herniation – des Herzens 992 – subfalxiale 639 Heroin, Antidot 1176 Herpes-simplex-Enzephalitis (HSE) 683 Herz-Kreislauf-Funktion, Lagerung 361 Herz-Kreislauf-Stillstand, Ursachen 1148 Herz-Kreislauf-Therapie, herzchirurgische Eingriffe 971 Herz-Kreislauf-Unterstützung 1149 Herzdekompensation, klinische Zeichen 1050 Herzdruckmassage, externe 376 Herzfrequenz, Altersabhängigkeit 1140 Herzfunktion, linksventrikuläre 972 Herzgeräusche 1139 Herzindex (CI) 151 Herzinsuffizienz – akute – auslösende Komorbiditäten 390 – Behandlungsziele 390 – Diagnostik 389 – Entlastung des Herzens 391 – Epidemiologie 388 – Folgetherapie 397 – hypertensive 393 – Klinik 389 – Pathophysiologie 388 – Pharmakotherapie 391, 392 – positiv-inotrope Stimulation 392 – Prognose 397 – Therapie 390 – Überwachung 397 – Untersuchungsbefunde 389 – Ursachen 388
– chronische – akute Dekompensation 391 – kausale Therapieansätze 391 – diastolische 393 – high-output- 396 – Kind 1139 – Rechtsherz – akute 994 Herzkontusion 907 Herzmarker 411 – Zeitverläufe des Auftretens 410 Herzmassage, Neugeborenes 1088 Herzminutenvolumen 151 – Fick’sches Prinzip 152 – kontinuierliche Messverfahren 152 – Thermodilution 152 Herzrhythmusstörungen (s. auch Sinusbradykardie, s. auch Tachyarrhythmie) 432, 442 – abnorme Automatie 430 – atriale Tachykardien 436 – atrioventrikuläre Blockierungen 433 – AV-Knoten-Reentry-Tachykardie 435 – bradykarde 419, 430, 431 – Diagnostik 431 – Differenzialdiagnostik im Oberflächen-EKG 432 – getriggerte Aktivität 430 – Hirntod 1036 – Klinik 430, 432 – kreisende Erregung (»reentry«) 430 – nach Thorakotomie 995 – sinuatriale Blockierungen 432 – Sinusbradykardie 432 – Sinustachykardie 435 – tachykarde 420, 430, 431 – abnorme Automatie 430 – Therapie – Vorhofflattern 434 – Vorhofflimmern 433 Herzruptur 908 Herzschrittmacher – Fehllage 190 – Komplikationen 190 Herzstillstand – primärer 1147 – sekundärer 1147 Herztamponade 908 Herztransplanation (HTX) 393, 1050, 1051 – Indikationen 1050 – Komplikationen 1051 – Kontraindikationen 1050 – postoperative Überwachung und Therapie 1050 – Vorbereitung präoperativ 1050 Herzverletzungen 907 Herzversagen, Kind 1148 Herzzeitvolumen 132, 153 – Messung 156
Herz und Kreislauf, Neugeborenen- und Säuglingsalter 1138 HIE (s. hypoxisch-ischämische Enzephalopathie) High-flow-CPAP-System 524 Hinterhauptkopfschmerzen 653 Hirnabszess – Ätiologie 610 – CT-Befund 610 – Diagnostik 679 – Erreger 680 – Symptomatik 679 Hirnblutung, Frühgeborenes 1098, 1099 Hirndruck 58 – Algorithmus 1161 – Diagnostik 614 – Krise, Behandlung 647 – TISS-28 Score 58 Hirndurchblutung 1006, 1012, 1019 – arterielle 1009 – Messung 1015 Hirngewebe-pO2 172 Hirninfarkt – Computertomogramm 649 – Diagnostik 648 – ischämischer 607, 646, 647 Hirnkontusion 606 Hirnmassenblutung, CT-Befund 609 Hirnödem 563, 1007 – CT 611 – intrakranielles, Drucksteigerung 890 – Therapie, Meningitis 678 – vasogenes 628, 1007 – zytotoxisches 628, 1007 Hirnparenchym, Proteine 618 Hirnschädigung – akute schwere 1032 – diffuse 880 – fokale 880 Hirnschwellung 647 – posttraumatische 628 Hirnstammläsion, Ätiologie 611 Hirnstoffwechsel 1015 Hirntod 1032 – Definition 1032 – Hirntodalgorithmus 1032 – Hirntoddiagnostik 614, 641, 1032, 1036 – Hirntodfeststellung 1032 – Hirntodkriterien 641 – Hirntodsyndrom 641 – Pathogenese 639 – pathophysiologische Konsequenzen 1036 Hirntrauma, Spätfolgen 607 Hirnvenenthrombosen 612 Hirudin 292, 293 HIV – antiretrovirale Therapie 853 – Behandlung von Frauen 853 – Behandlung von Säuglingen, Kleinkindern und Kindern 853
1205 Stichwortverzeichnis
– gastrointestinale Komplikationen 852 – HIV-Exposition 859 – Mortalität auf der Intensivstation 848 – neurologische Erkrankungen 852 – neurologische Komplikationen 851 – Postexpositionsprophylaxe 858, 859 – Prävention 858 – Resistenzentwicklung gegen antiretrovirale Therapie 854 – respiratorische Komplikationen 848 – Übertragung auf der Intensivstation 858 Hivid 855 Hochfrequenzgeneratoren 180 Höhenödem 198 Hohlorganverletzung 916 Homöostasestörung – endokrine Besonderheiten des Intensivpatienten 258 – Hypothalamus-HypophysenAchse 257, 258 – perioperative 256, 258 – Sepsis/SIRS 258 – sympathoadrenale Achse 257, 258 Hormonhaushalt 233 Hunt-Hess-Skala 1019 Hydratation 1153 Hydrokortison – Sepsis 805 – Hydrokortison-Substitution – Herzoperation 979 Hydroxybutyrat-Dehydrogenase (HBDH) 229 Hydroxyethylstärke (HES) 801 – Anaphylaxie 1073 Hydrozephalus 616, 655 – aresorptivus 655 – posthämorrhagischer 1100 Hygiene 37 – Händedesinfektion 37, 41 – Händehygiene 37 – Händereinigung 41 – Hygienebarriere 37 – Hygienemaßnahme 36 – unnötige 43 – Plastiküberschuhe 37 Hyoscyamin 1178 Hypalbuminämie, metabolische Alkalose 751 Hyperämie, zerebrale 1022 Hyperammoniämie, Entgiftungstherapie 1162 Hyperbilirubinämie – Atiologie, indirekte 1113 – konjugierte 558 – Neugeborenes 1112 Hyperchloridämie, 751 Hyperglykämie 1024 – bei Vergiftungen 1172 – Intensivtherapie 124
– ketoazidotisches/hype, rosmolares Koma 640 – neonatale 1124 Hyperhydratation, ANV 761 Hyperinsulinismus 1123 Hyperkaliämie 227 – bei Vergiftungen 1172 – neonatale 1125 – Nierenversagen, akutes 761 Hyperkalzämie 227, 641 Hyperkapnie 1017, 1033 – NIV 536 – permissive 1011 Hypernatriämie 226, 640 – Kind 1143 – Korrektur 1144 – neonatale 1125 Hypernatriurie 1012 Hyperphosphatämie 228 – Nierenversagen, akutes 761 Hypersekretion 689 Hypersomnie, prolongierte 638 Hypertension 976 – intrakranielle 628 – intraabdominelle (IAH) – Definition 962 – Therapie 965 hypertensiver Notfall (s. auch Hypertonie) 454 – Angina pectoris 455 – Aortendissektion 456 – Ätiologie 454 – Autoregulation der Hirndurchblutung 455 – β-Blocker 457 – Clonidin 457 – Differenzialtherapie 457 – Enalaprilat 458 – essenzieller 454 – Furosemid 458 – Linksherzversagen 455 – Medikamente 457 – Myokardinfarkt 455 – Nifedipin 457 – Nitroglyzerin 457 – Nitroprussidnatrium 458 – Pathophysiologie 455 – Phäochromozytom 454 – renale 454 – Störungen der Autoregulation 455 – Therapie 456 – Urapidil 457 Hyperthermie 1171 Hyperthyreose 738 Hypertonie 454, 688, 1021, 1063 – chronische 1058, 1066 – essenzielle 454 – intrakranielle 1022 – persistierende pulmonale 1108 – Phäochromozytom 454 – renale 454 – schwangerschaftsinduzierte 1065, 1066 – spontane 651 Hypertonus, muskulärer 366
Hyperventilation 1010 – Beendigung 1024 – ICP 1007 – Indikation 1024 – intrakranieller Druck 630 – Therapie 630 – Vergiftung 1175 Hyperviskositätssyndrom, Neugeborenes 1112 Hypervolämie 1021 Hypnotika, Entzug 675 Hypoglykämie 236, 638, 640, 723, 842 – Diagnostik und klinisches Bild 729 – Einteilung der Symptomatik 730 – gegenregulatorische Antwort 729 – Neugeborenes 1123 – neuroglukopenisches Symptome 730 – Prognose 731 – Ursachen 728, 729 – Vergiftung 1172 Hypokaliämie 227, 640, 700 – neonatale 1126 Hypokalzämie 640 – neonatale 1124 – Nierenversagen, akutes 761 Hypomagnesiämie 228 Hypomotilität, intestinale 950 Hyponatriämie 226, 640, 1011 – Kind 1142 – neonatale 1124, 1125 – Ursachen 1143 Hypotension 976 Hypothalamus-HypophysenAchse 258 Hypothermie 939, 1016, 1171 – akzidentelle 1150 – Neugeborenes 1086 – Definition 942 – erhöhter intrakranieller Druck 632 – Hirntod 1037 – klinische Maßnahmen 944 – Notfallmaßnahmen 942 – Pathophysiologie 942 – Prognose 945 – Stadieneinteilung 942 – therapeutische 563, 1091 – Flussdiagramm 943 – Therapie 1087 Hypothyreose 640 Hypotonie 688 – orthostatische 688 Hypoventilation 471 Hypovolämie 549, 1025, 1177 – Sepsis 799 hypovolämischer Schock, Computertomographie 220 Hypoxämie 471, 640 – anämische 163 – ARI (akute hypoxämische Insuffizienz) 538 – Frühgeborenes 1101
H–I
– Algorithmus zur NIV 538 – hypoxische 163 – lebensbedrohliche 374 – Mechanismen 470 – perinatale 1109 – primäre 1102 – toxische 163 – zerebrale 172, 1013 – zytopathische 799 hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) 1091 hypoxisch-pulmonale Vasokonstriktion (HPV) 471 HZV, Herzzeitvolumen (s. auch Herzminutenvolumen) – Lithiumdilution 155 – Pulskontur 154 – Messung 152 – HZVPC 154
I »inversed ratio ventilation« 515 IABP (intraaortale Ballonpumpe), Transport 49 IAH (intraabdominelle Hypertension) 962 – Definition 962 ICB (s. intrazerebrale Blutung) ICP (s. intrakranieller Druck) Icterus praecox 1114 idiopathische Thrombozytopenie (ITP) 298 Ikterus 559, 561, 1063 Ileus – Ätiologie 549 – Definition 549 – Ileuseinleitung 330 – mechanischer 950 – CT-Darstellung 950 – Therapie 951 – paralytischer – Computertomographie 217, 218 – Röntgenaufnahme 951 – Therapie 951 – Pathophysiologie 549 – Komplikationen 550 – therapeutische Maßnahmen 551 – Ursachen 549 Imaginationsverfahren 21 IMC (»intermediate care station«) 110, 113 Immunantwort, angeborene 775, 776 Immundepression 776, 780 Immunglobuline, Erkrankungen des Nervensystems 619 Immunmonitoring 776 Immunreaktion, angeborene 777, 779, 780 Immunsuppression 779
1206
Stichwortverzeichnis
Impressionsfraktur – geschlossene 886 – offene 885 Indinavir 856 Infarkt – ausgedehnter 421 – hämorrhagischer 609 – zerebraler 615, 648 Infarktsymptomatik, klinische 408 Infasurf 1094 Infektion – bakterielle 776 – katheterassoziierte 814, 815, 816, 817, 818 – nach herzchirurgischen Eingriffen 984 – nosokomiale 812, 813, 814 – Überwindung 776 Infektionsprävention – Robert Koch-Institut (RKI) 37 – Prävention device-assoziierte nosokomiale 829 Inflammationssyndrom (s. auch systemisches inflammatorisches Response-Syndrom) 864 – EKZ-assoziiertes 983 – Kodierung 94 – schweres 774 – SIRS/Sepsis 999 – SIRS-Zeichen 775 – systemisches 979 Infusionsbehandlung, neurochirurgischer Patient 1011 Infusionslösung, unsterile 816 Infusionstherapie – polytraumatisierter Patienten 866 – Transport 48 Inhalationsanästhetika, Dosierungsempfehlung 313 Inhalationstrauma 922, 1149 Inkarzeration, Computertomographie 218 Innenohrschäden als Folge von Pharmakotherapie 125 Inodilatator 973, 1000 Insekten, Anaphylaxie 1073 Inspektion 132 inspiratorisches Reservevolumen (IRV) – druckgesteuerte Beatmung 1011 Insuffizienz, respiratorische (s. auch ARI) 989, 1151 – Formen 989 – Therapie 990 Insulin – Dosierungsschema für Kinder 1163 – Freisetzung 257 – Mangel 722 – Substitution, diabetische Ketoazidose 725 – Therapie – diabetische Ketoazidose 1163 – Sepsis 804
Intensivbehandlung – Kosten 91 – Organisation 98 – Zuständigkeit 110 Intensivbehandlungssyndrom (»ICU-Syndrom«) 319 intensivmedizinisches Konsil 110 Intensivmedizinische Komplexbehandlung, DRG 93 Intensivpflege – Empfehlung DGAI, DKG 28 – Handlungskompetenz 30 – Methodenkompetenz 31 – Personaleinsatzplanung 32 – Personalmanagement 32 – Persönlichkeitskompetenz 31 – Pflegeverständnis 29 – psychosoziale Kompetenz 32 – Schlüsselqualifikation 30 Intensivtherapie – Begrenzung 111 – Folge 124 – Indikationsstellung 110 – Lebensqualität 122 – Outcome 122 – physische Langzeitfolgen 123 – Prognose 122 – psychische Langzeitfolgen 125 – Sterblichkeit 122 Intensivtransportprotokoll 50 Interaktionen, pharmakodynamische 251, 252 – pharmakokinetische 251, 252 – pharmazeutische 252, 253 Interhospitaltransfer/-transport) 50 Intermediate-Care- oder Wachstationen 110, 111 Intermittierende maschinelle Ventilation (IMV) 528 Intoxikation 747 – inhalative 1169 – orale 1168 – Sedativa 1034 intraabdominelle Gasansammlungen, Röntgendiagnostik 209 Intraabdominelle Verkalkungen, Röntgendiagnostik 211 Intraaortale Ballonpumpe (IABP) 49 Intrakranielle Druckmessung 49 intrakranieller Druck (ICP) 49, 132, 170, 1006, 1018 – akuter Anstieg 1006, 1017 – Durchführung der Intubation 1009 – erhöhter 1010 – Indikationen zur ICP-Messung 629 – klinische Manifestationen 628 – Messung 628, 884, 1006 – Parenchymdruckmessung 628 – persistierend erhöhter 1160 – Raumforderung 627
– Therapie 629 – Ventilation 627 intraossärer Zugang 379 intrapulmonaler Rechts-linksShunt 471 intrazerebrale Blutung (ICB) 647 – Hämatomausräumung 652 – nicht-operative 652 – spontane 651 intrinsiche Aktivität, Pharmakaeffekte 242 Intubation 827, 1154 – endotracheale 1148 – Atemweg, schwieriger 328 – Durchführung 329 – endotracheale Tuben 327 – Führungsstäbe 327 – Guedel- und Wendel-Tuben 326 – Ileuseinleitung 330 – Lagerung 329 – Laryngoskope 327 – Masken 326 – Präoxygenierung 329 – Spatel 327 – fiberoptische 330 – Intubationsschäden 332 – Intubationstraumata durch Bronchoskopie 355 – Intubationszange 327 – Kind 1133 – Kommunikation 20 – Medikamente 1136, 1152 – nasotracheale 330 – Neugeborenes 1088 – orotracheale 330 invasive Blutdruckmessung, Punktionstechnik 135 Invirase/Fortovase 856 Ioniogramm, normales 750 Ipecacuanha-Sirup 1173 Irrtum (»mistake«) 67 Ischämie 272 – akute mesenteriale 595 – mesenteriale 592, 598 – nicht-okklusive mesenteriale (NOMI) 597 Ischämie-Reperfusions-Syndrom 865 Isoliereinheit 38 Isoniazid 833 – Antidot 1176 Isoniazid (INH) 682 ITH (Intensivtransporthubschrauber) 50 ITW (Intensivtransportwagen) 50
J JCAHO (Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations) 66 – Patientenschaden 71
Jochbeinfrakturen – Diagnostik 896 – Symptomatik 896 – Therapie 897 Jugularvenenkompression 1009
K Kaffeesatzerbrechen 580 Kaletra 856 Kalium 226, 227 – Kaliumsubstitution, diabetische Ketoazidose 725 Kalorienbedarf, Abschätzung des 261 Kalorienzufuhr – enterale 264 – orale 264 – parenterale 264 – postoperative Phase 264 Kalorimetrie, indirekte 237 Kalottenfrakturen 885 Kältezittern 1014 Kalzium 227 – Reanimation, kardiopulmonale 380 Kalziumanatagonisten 1021 – ANV 762 – traumatische Subarachnoidalblutung 1016 Kalziumchlorid 1148 Kammerflattern 374, 441 Kammerflimmern 420, 441 Kanülenmanagement 365 Kapnometrie – erhöhter petCO2 160 – erniedrigter petCO2 160 – Messprinzip 159 – Messprobleme 159 kardiales Lungenödem – CPAP 538 – NIV 538 Kardiochirurgie, Komplikationen 981 Kardioversion 378, 978 Katecholamine 257 – ANV 762 – verminderte Ansprechnbarkeit 1076 Katheter 815 – arterieller 135, 1138 – Ballonokklusionskatheter 146 – Durchflussrate 138 – Fehllage – extravasale Fehllage 188 – wandständige Katheterspitze 188 – fiberoptischer Thermodilutionskatheter 147 – Hirn-ptiO2 172 – Infektion 145
1207 Stichwortverzeichnis
– Katheterlabor, klinische Maßnahmen vor Eintreffen 415 – Katheterplexusanästhesie, Dosierungsempfehlung 317 – Kathetersepsis – Diagnose 816 – Therapie 817 – Katheterzentrum/Krankenhaus mit Kathetermöglichkeit 415 – Komplikationen 188 – kontinuierlicher Herzminutenvolumenkatheter 147 – linksatrialer 971 – Maßeinheiten 138 – nicht-getunnelter zentralvenöser 815 – peripherer arterieller 815 – Pflege 138 – Schrittmacherkatheter 147 – Thermodilutionskatheter 147 – zentralvenöser, Lagekontrolle 186 Keimnachweis 775 Kernikterus 1115 Ketamin 312 – CBF 1013 – CMRO2 1013 – Dosisempfehlung 312 – ICP 1013 Ketoazidose 747 – diabetische 722, 723, 725, 727, 1163 Ketose 722 Kinder – Gewichts- und Größenregel 1132 – Sedierung und Analgesie 1146 KISS (Krankenhaus-InfektionsSurveillance-System) 37, 83, 824 Klappenverletzungen 908 Koagulopathie 561 – Neonatalperiode 1116 – septische 296 Kobalt, Antidot 1176 Kodierrichtlinien 91 Kohlegabe 1174 Kohlendioxidpartialdruck pCO2 228, 749 Kohlenmonoxid 1149 – Vergiftung 922 Kohlensäure-BikarbonatPuffersystem 744 Kohortenisolierung 38 Kokain 1178 – Kokainentzugssyndrom 675 Kolitis – Computertomographie 219 – fulminante 826 – Infektionsweg 825 Kolonblähung, Röntgendiagnostik 210 Kolonkontrastmitteleinlauf 553 Koloskopie 553 Koma
– – – – – – –
Definition 636 diabetisches 722, 724 Diagnostik 636 Differenzialdiagnose 712 hepatisches 640 hyperosmolares 723 hyperosmolares, nicht-ketoazidotisches 722, 726 – Kind 1157 – Kleinkind 1158 – Komanachweis 1033 – nicht-metabolisches 723 – Pathogenese 636 – Therapie 637 – ungeklärter Genese 611 – urämisches 640 Kommunikation 119 – Belastung 18 – mit Patienten 19 – Technik 105 – zwischenmenschliche 104 Kommunikationskultur 69 Kompartimentmodell, Pharmaka 245 Kompartmentsyndrom, abdominelles (ACS) 550, 957, 962 – Definition 962 – Diagnostik 964 – Pathophysiologie 963 – Risikofaktoren 963 – Therapie 965 Kompetenz 118 – Weiterbildung 118 Kompetenzabsprache 13 Komplementfaktoren, aktivierte 777 Konfliktbedingungen 106 Konfliktdiagnose 105 Konfliktlösung 106 Konfliktmanagement 105 – Konzession 106 Konfliktstadien 106 Konflikttypen 105 Konsil, intensivmedizinisches 110 Konsildienst, psychosomatischer 25 Kontaktatmung 716 kontinuierlicher Herzminutenvolumenkatheter 147 Kontraktilitätsindex, inksventrikulärer 153 Kontrastmittel – Anaphylaxie 1073 – Vorgehen bei bekannter Allergie 1076 Kontusionsblutung 888 Kopfschwarte, Verletzung 885 Kornealreflex, Fehlen 1033 Koronararterienverletzung 908 Koronarsyndrom, akutes – Einteilung 408 – EKG-Infarktdiagnostik 409 – Erstickungs-T 409
– Herzrhythmusstörung 409 – Lokalisationen und die betroffenen Ableitungen 409 Körpererwärmung 1150 Körpermaße 250 Körperoberfläche, Bestimmung 1133 Körperverletzung 13 – fahrlässige 11 Körperzusammensetzung und Flüssigkeitsumsatz, Neugeborenes 1141 Kortikosteroide 1025, 1078 Kortisol 234 Kosten – Definition 90 – Erstattung 91 Krampfanfall 1020 – epileptischer 1159 – klonischer 1121 – myoklonischer 1121 – subtiler 1121 – tonischer 1121 – zerebraler 660, 1158 Krampfprophylaxe 1016 Kraniotomie, elektive 1017 KISS (s. Krankenhaus-InfektionsSurveillance-System) Krankenhaushygiene (s. auch Hygiene) 36 – Robert Koch-Institut (RKI) 37 Krankenhausinfektion (s. auch nosokomiale Infektion) 36 – Erregerreservoir 36 Kreatinin 230, 756 Kreatininclearance – endogene – Näherungsformel nach Cockroft u. Gault 247 – totale 248 Kreislaufstillstand – Diagnosestellung 374 – kardiale Störungen 374 – respiratorische Störungen 374 – zirkulatorische Störungen 374 Kreislaufunterstützung, mechanische 396 Krim-Kongo-Virus 844 Krise, thyreotoxische 737, 738, 739 Kritikkultur 69, 71 kritisches Ereignis 66 Krupp-Syndrom 1154 Kryopräzipitat 278 Kryptokokkenmeningitis 684 KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) 81 Kunstherz (»assist device«) 393 Kupfer, Antidot 1176 Kurzdarmsyndrom 1120 Kussmaul-Atmung 723
I–L
L L-Carnitin 739 Labetalol 648 Labordiagnostik – Befundinterpretation 1186 – Fehlermöglichkeiten 1185 – Probenentnahme 1184 – Probentransport 1185 – rationelle 1184 Laborparameter – Gastrointestinaltrakt 231 – Harnwege 231 – Herz und Kreislauf 230 – Leber 230 – Muskulatur 230 – Niere 231 – Referenzbereiche 1187, 1188 Lagerung 827, 1009 – Angstreduktion 363 – Dekubitalulzera 360 – erhöhter Hirndruck 361 – Förderung von Vigilanz 362 – Gelenkbeweglichkeit 36 – Lagerungsmaterial 361 – Lagerungstechniken 713 – Muskeltonus 361 – Rückenlage 362 – Seitenlage 361 – Sitz 362 – spezielle 363 – Stellung des Kopfes 361 – Therapieziele 360 – Thoraxdehnbarkeit 364 – Umlagern 362 – Verbesserung der Atemfunktion 360 Laktat, Schock 274 Laktat-Dehydrogenase (LDH) 229 Laktatazidose 722, 723, 727, 747 – Assoziation spezifischer Nukleosidanalogakombinationen 853 – Klinik und Diagnostik 727 – Therapie 728 – unter antiretroviraler Therapie 854 – Ursachen 727, 728 Laktatdehydrogenase-(LDH-) Spiegel, erhöhter 849 Lambert-Eaton-Syndrom 702 Lamivudine 855 langzeitbeatmeter Patient 123 Langzeitfolgen der Intensivtherapie 123, 124 Lappenatelektase 202 Laryngoskop 327 Larynx, kindlicher 1133 Larynxmaske 328 Larynxödem 1149 – Anaphylaxie 1074 Lassafieber 844 Latexallergie, Anaphylaxie 1073 Lauge, Definition 744 LBP 775
1208
Stichwortverzeichnis
Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen – Diagnostik 897 – Le-Fort-I-Fraktur 898 – Le-Fort-II-Fraktur 898 – Le-Fort-III-Fraktur 899 – Symptomatik 897 Lebendspende 1042 Lebensqualität (»quality of life«; QOL) 122 Leberersatz, extrakorporaler 566 Leberfunktion, Folgen der Intensivtherapie 124 – Leberinsuffizienz 249 Leberhämatom, Ultraschall 214 Leberinsuffizienz – Child-Pugh-Klassifikation 249 – Dosisanpassung 248, 249 Leberkoma 1043 Leberparameter, Gerinnung 231 Leberresektionen, anatomische 916 Lebertransplantat, Ultraschall 214 Lebertransplantation (LTX) 565, 1043 – Abstoßungsreaktionen 1046 – Blutungskomplikationen 1047 – Infektionen 1045 – Kontraindikationen 1043 – neurologische Komplikationen 1047 – Nierenfunktionsstörungen 1047 – postoperative Therapie 1044 – präoperative Vorbereitung 1043 – pulmonale Komplikationen 1046 – Transplantatfunktion 1044 Leberunterstützungstherapie, extrakorporale 567 Lebervenenthrombose, Ultraschall 214 Leberverletzung 916 Leberversagen 854 – akut-auf-chronisches 564, 565 – akutes 560, 561, 562 Lecithin/Sphingomyelin-Quotient 1092 Leistungserfassung 84 Leiter einer Intensivstation, Qualifikation 102 Leitlinien Analgosedierung 305 Leptospirose 682 Leucovorin 850 Leukenzephalitis, akute hämorrhagische 685 Leukenzephalopathie (PML), progressive multifokale 684 Leukomalazie, periventrikuläre 1100 Leukozytenkonzentrate 289 Levosimendan 973 Liaisondienst 25 LiDCO-System (s. auch Lithiumdilations-HZV) 155 Lidocain 664, 1148, 1171
Liegedauer, Verkürzung 98 Linksherzversagen 421 Lipase 230 – Lipaseaktivität – Pankreatitis 571 Lipidsenker, Myokardinfarkt 418 Liquor – Glukose und Laktat 622 – Proteine 618 – Referenzwerte 619 Liquordiagnostik 617, 619 Liquordrainage 630 Liquorentstehung 618 Liquorfistel 886 Liquorrhö, Antibiotika 886 Liquorzellzahl 620 – Liquorzellzytologie 620 Liquorzirkulationsstörung 616, 655 LIS (s. »lung injury severity«) Listerienmeningoenzephalitis – Diagnostik 681 – Symptomatik 681 – Therapie 681 Lithium 1171 Locked-in-Syndrom 638 LOD («logistic organ dysfunction system«) 55 Logopädie 369 Lokalanästhetika, topische Applikation 1127 Lopinavir/Ritonavir 856 Lorazepam 664 – Grand-mal-Anfall 661 Lost, Antidot 1176 Low-output-Syndrom 999 – nach herzchirurgischem Eingriff 972 LSD 1171, 1178 Luftansammlungen – freie intraperitoneale 208 – pathologische 191 – in der Pleura 346 Luftwege, Obstruktion, obere 1153 Lumbalpunktion 617, 622 – Abszess- und Empyemdiagnostik 680 Lumineszenzradiographie, digitale 180 Lundberg-Wellen 626 »lung injury severity« (LIS) 55 Lungenabszess, radiologische Diagnostik 204 Lungenarterienembolie 462 – Beinvenen-Duplexsonographie 463 – D-Dimer-Test 463 – Diagnostik 462, 463 – bei Schwangeren 464 – Echokardiographie 463 – Epidemiologie 462 – instabile Verhältnisse 464 – Klinik 462 – Klinische Wahrscheinlichkeit 463
– Magnetresonanztomographie 463 – Perfusions-VentilationsSzintigraphie 463 – Pulmonalisangiographie 463 – Risikofaktoren 462 – Risikostratifizierung 464 – Spiral-Computertomographie 463 – Therapie 464 Lungenblutung 1109 Lungenembolie (s. auch Lungenarterienembolie) 462 – akut, Spiral-CT 207 – nach SHT 1023 Lungenhypoplasie 1107 Lungenkapillarenverschlussdruck, Schock 274 Lungenkontusion 905 Lungenmechanik, Neugeborenes 1103 Lungenödem 842 – akutes 1155 – Therapiealgorithmus 392 – akutes kardiogenes – Akuttherapie 394 – Kausaltherapie 395 – Pharmakotherapie 394, 395 – hydrostatisches 195 – nach Lungentransplantation 1053 – neurogenes 198 – postobstruktives 198 – Röntgendiagnostik 195 Lungenreifungsbehandlung 1095 Lungenspende 1038 Lungentransplantation (LTx) 1052, 1053 – Grunderkrankungen bei 1052 – Indikationen 1052 – Komplikationen 1053 – Kontraindikationen 1052 – postoperative Überwachung und Therapie 1053 Lungenversagen 1010 – hypoxämisches akutes, NIV 537, 538 – nach kardiochirurgischen Eingriffen 983 Lungenversagen, akutes (s. auch ARDS) 476 – Beatmung, lungenprotektive 478 – Computertomogramm 477 – ECMO 479 – Einstellung der Beatmung 478 – Ernährung 479 – erweiterte Therapiemaßnahmen 479 – Flüssigkeitsmanagement 478 – Glukokortikoidee 479 – Klinik 477 – Lagerungstherapie 478 – medikamentöse Therapie 479 – Pathophysiologie 476 – Schweregrade 476
– Therapie 478 – Ursachen 476 – symptomatische Therapie 478 – Zeitpunkt der Therapie 478 Lungenwasser, extravaskuläres (EVLW) 154 Lyme-Borreliose 682
M Mafenid 925 Magen, Stressläsion 584 Magenbeatmung 376 Magenspülung, Indikation 1173 »magic mushrooms« 1178 Magnesium 228 – Asthma bronchiale 504 – Reanimation, kardiopulmonale 380 – Therapie 1065 – Präeklampsie 1067 – Überdosierung 1067 Magnesiumsulfat 977 Magnetresonanztomographie 608 – Akutindikationen beim Intensivpatienten 611 – Kontraindikationen 611 – Technik 611 MAK-Werte 1169 Makrophagenprodukte: Procalcitonin s. auch PCT 777 Makrozirkulation 270 Malaria – Diagnose 842 – Epidemiologie 841 – Erreger 841 – Klinik 841 – Pathogenese 841 – Prävention 843 – Therapie 842 Malformationen 646 Mallampati-Klassifikation 329 Malrotation 1117 Mannit – ANV 763 – Reboundphänomen 631 Marihuana 1171 MARS 566 Maskenbeatmung (s. auch Beatmung), Kind 1136 Massenverschiebung, intrakranielle 639 Massivtransfusion 277, 288 Medianus-SEP 1034 Mediastinalemphysem 193 Mediatorenblockade 575 Mediaverschluss 616 Medical Chart Review 73 Medikamente, vasoaktive, TISS-28 Score 58
1209 Stichwortverzeichnis
Medikamente – Anaphylaxie 1072 – Bevorratung 100 medikamenteninduzierte Thrombozytopenie 232 Medikamentenvernebler 827 Megakolon, toxisches 826 Mekoniumaspiration – Inzidenz 1104 – Klinik 1105 – Pathophysiologie 1105 – Prävention 1105 – Ätiologie/Pathogenese 1104 Mekoniumileus 1118 Mekoniumpfropfsyndrom 1118 Meläna 580 Melatoningabe 668 Membranen, hyaline 1092 Meningeosis carcinomatosa 612 Meningeosis carcinomatosa/ blastomatosa 621 Meningitis – bakterielle 621, 678 – Erreger 678 – Erregeridentifikation 678 – Hirnödemtherapie 678 – Magnetresonanztomographie 610 – nach SHT 1023 – neonatale 1123 – purulente 678 – Therapie 678 – tuberkulöse 621 – virale 621 Meningokokkenmeningitis 778 Meningokokkensepsis 1156 Menschenrechte, Sterbender 32 Mesenterialarterienembolie 599 – akute 593 Mesenterialarterienthrombose 592, 593, 594, 599 – Klinik 593 – Pathophysiologie 593 Mesenterialarterienverschluss – akuter 596 metabolische Azidose, akutes Nierenversagen 761 Methadon, Antidot 1176 Methamizol 739 Methämoglobinbildner, Antidot 1176 Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) – Hygienemaßnahmen 38 – MRSA-Pneumonie 491 – Nasenabstrich 39 – Resistenz 40 Methodenfreiheit 12 Methohexital 309 – Dosierungsempfehlung 310 Methotrexat, Antidot 1177 Methylendioxymetamphetamin 1178 Methylxanthin 1102 Midazolam 664, 1136, 1146
– Dosierungsempfehlung 309, 321 – Grand-mal-Anfall 661 Mikroangiopathie, zerebrale 608 mikrobiologisches Labor 37 Mikrodialyse 1015 – erfassbare Parameter 175 – zerebrale, Funktionsprinzip 174 Mikrozirkulation 270 Milrinon 976 Milz – Computertomographie 221 – Ultraschall 216 Milzruptur – Ultraschall 216 Milzverletzung 872, 916 Mitarbeiter – Einführung von neuen Mitarbeitern 105 – Gruppenbesprechungen 104 Mittelgesichtsfrakturen 896 – geschlossene 898 – laterale 896 Mittelgesichtsverletzung 870 MODS (Multiple Organ Dysfunction Score; s. Multiorgandysfunktionssyndrom) 55 MOF (»multiple organ failure«) 55 Monitoring (s. auch Überwachung) – Blutzucker 236 – metabolisches 237, 267 – nach thoraxchirurgischem Eingriff 989 Monro-Kellie-Doktrin 641 Monro-Kellie-Hypothese 1006 Morphin 314, 1136, 1146 – Dosierungsempfehlung 314 – Früh- und Neugeborenes 1127 – Wirkcharakteristika beim Neugeborenen 1128 Mortalitätsrate, standardisierte (SMR) 60 Mortalitätsscores – Kindesalter 1147 Motilinanaloga bei Darmatonie 952 MR-Angiographie 612 MRSA (s. Methicillin-resistente Staphylococcus aureus) – Hygienemaßnahmen 38 MRT-Indikationen – spinale 612 Mukormykose – rhinozephale 684 Multiorgandysfunktionssyndrom (MODS) 797, 798, – Pathogenese 798 Multiorganversagen (MOV) 923 – Risikofaktoren 866 multiple Sklerose 621 Multislice-CT 181 Mund-Nasen-Maske 534 Mund-zu-Mund-Beatmung 375 Mund-zu-Nase-Beatmung 375
Muskelrelaxanzien 317, 318 – Nebenwirkungen 318 Mutismus, akinetischer 638 Muttermilch 1145 Myasthenia gravis – exazerbationsinduzierende Substanzen 701 – Symptomatik 700 – Therapie 701 Myelinolyse, zentrale pontine 611 Mykoplasmen 683 »myocardial stunning« 972 Myokard, Ventrikel – Ruptur der freien Wand 421 Myokardfunktion, Vergiftungen 1177 Myokardinfarkt 455 – ACE-Hemmer 418 – akuter 732 – chirurgische Revaskularisation 423 – Analgesie 414 – antiischämische medikamentöse Therapie 414 – Acetylsalicylsäure (Aspirin) 418 – Basismaßnahmen 424 – Behandlungsstrategie 412, 423 – β-Blocker 418 – Coumarinderivate 417 – Echokardiographie 411 – EKG-Veränderungen 408 – Erkennung und Behandlung von Komplikationen 419 – Fibrinolyse 413 – Gerinnungshemmertherapie 414, 416 – Glykoproteinrezeptorantagonisten 417 – Heparin 417 – intensivmedizische Betreuung im Katheterlabor 416 – intensivmedizische Betreuung nach Übernahme aus dem Katheterlabor 416 – Katheterintervention 413 – vs. Fibrinolyse 412 – Kathetervorbereitung 424 – Katheter oder Bypassoperation 424 – klinische Maßnahmen 424 – Krankenhaus mit Kathetermöglichkeit 415 – Krankenhaus ohne Kathetermöglichkeit – Transport zur Katheterintervention 416 – Lipidsenker 418 – Nachsorge 425 – nach Bypassoperation 981 – optimale Glykämiekontrolle 417 – postinterventionelle Übernahme 425 – Prähospitalphase 414 – präklinische Maßnahmen 424 – Reperfusionsstrategien 412
L–N
– Röntgenuntersuchung des Thorax 411 – Sekundärprävention 417, 419, 425 – Serummarker 410 – ST-Hebung – mit ST-Hebung (STEMI) 408, 412 – ohne ST-Hebung (NSTEMI) 411, 423 – Transport 413 Myokardprotektion 972 Myopathien 696 – primäre 702 Myxödemkoma – Ätiologie/Pathophysiologie 739 – Befunde 740 – Behandlung 741 – Diagnostik 740 – Therapie 740
N N. facialis, Verletzung 894 Nackenkopfschmerzen 653 Nackensteifigkeit 653 Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) 1014 Narkosezwischenfälle, anaphylaktoide 1073 Nasen-CPAP 1102, 1154 Nasenbeinfrakturen – Symptomatik 896 – Diagnostik 896 – Therapie 896 Nasenmaske 534 Natrium, Wasser- und Elektrolytstoffwechsel 226 Natriumbikarbonat 1148 – Dosierung 752 – Neugeborenenreanimation 1089 – Reanimation, kardiopulmonale 380 Nebenniereninsuffizienz 234, 562 Nelfinavir 856 Neopterin 777 Neostigmin – Kontraindikationen 554 – pharmakologische Dekompressionstherapie 554 Netzwerk von Krankenhäusern 112 Neugeborenes – Beatmung 1102 – Beurteilung der Schmerzintensität 1126 – Lungenerkrankungen 1104 – Neugeborenenkrämpfe 1120, 1121 – Neugeborenenreanimation, Maßnahmen 1087
1210
Stichwortverzeichnis
– Schutz vor Unterkühlung 1085 – Temperaturregulation 1085 Neunerregel 1150 – modifizierte beim Kind 1150 Neuroborreliose, akute 621 Neuroleptika 312, 321 – Alkoholentzugsdelir 675 – Dosierungsempfehlung 313, 321 – klinische Einteilung 673 – Wirksamkeit und Nebenwirkungsspektrum 673 neurologische Rehabilitation 709 Neuromonitoring 1014 – erweitertes 885 Neuropathie 696 Neuroprotektion 1016 Neurosonographie, auf der Intensivstation 613 Neurosyphilis 682 Neurotuberkulose 681 Neutrophilenprodukte 778 Nevirapin 855 nicht-invasive Beatmung (NIV) 532 – »do not intubate« (DNI) oder »do not resuscitate« (DNR) 540 – Abbruchkriterien 509 – COPD-Exazerbation (AECOPD) 508 – hypoxämische Verlaufsform der ARI 537 – immunsupprimierter Patient 540 – kardiales Lungenödem 538 – Lungenversagen, hypoxämisches akutes 538 – perioperative Phase 538 – perkutan endoskopische Gastrostomie (PEG) und Bronchoskopie 540 – Postextubationsphase 539 – schwierige Entwöhnung 539 nicht-okklusive mesenteriale Ischämie (NOMI) 594, 596, 597, 598 Nichtopioide 315 Nieder-T3-Syndrom – Ätiologie 736 – Diagnostik 736 – Therapie 736 Niedrigdrucktamponade 399 Nieren, Ultraschall 214 Nierenersatzverfahren 563 – Dosisanpassung 248 – Pharmaka 246 – Transport 49 – extrakorporales 764 – Antikoagulation 768 – Definition und Prinzipien 766 – Differenzialindikation 768 – Zugangsmöglichkeiten 765 Nierenfunktion – Folgen der Intensivtherapie 124 – Grundlagen 756
Nierengefäße, Ultraschall 215 Niereninfektion, Ultraschall 215 Niereninsuffizienz – Dosisanpassung 247, 249 – Pharmaka 246 Nierentransplantation (NTx) 1047 – Komplikationen 1048 – postoperative Überwachung und Therapie 1048 – präoperative Vorbereitung 1048 Nierentrauma, Ultraschall 216 Nierenversagen 561 – HELLP-Syndrom 1068 – nach herzchirurgischen Eingriffen 982 – nach kardiochirurgischen Eingriffen 982 – Präeklampsie 1068 Nierenversagen, akutes (ANV) 755 – Ätiologie 756, 759 – Definition/Prinzipien der extrakorporalen Verfahren 766 – Diagnostik 759 – Dialyseindikationen 764, 768 – Dopamin 762 – GFR 759 – Hyperhydratation 761 – extrakorporale Verfahren 764 – intrinsisches 757, 758 – ischämisches 758 – Katecholamine 762 – Komplikationen 761 – Parameter zur Differenzierung 760 – Pathophysiologie 756 – postrenales 757, 759 – prärenales 756, 757 – Prävention 762 – Prognose 763 – Therapie 762 – toxisches 758 – Ultraschall 215 – Verlauf 761 Nifedipin 648 Nimodipin 655 – SAB 654 Nitrit-Teststreifen 822 Nitroglyzerin, hypertensiver Notfall 457 Nitroprussidnatrium, hypertensiver Notfall 458 Nitrosegase 1169 NIV (s. nicht-invasive Beatmung) No-blame-Kultur 69 NO-Therapie 1109 – NOMI (s. nicht-okklusive mesenteriale Ischämie) – Begleiterkrankung 593 »non-occlusive disease« 955 Nonitoring, Fehler (s. auch Fehlermonitoring) 68 Noradrenalin 976, 1156 – Sepsis 802 Norvir 856
Notfall-TIPS 586, 587 Notfallkoffer 47 Notfalltasche 47 Notfallthorakotomie 871 Notlaparotomie 914
O O2 (s. auch Sauerstoff ) 151 O2-Gabe 1088, 1102 O2-Sättigung, pulmonalarterielle 152 O2-Sättigung, Normalwerte 161 O2-Vorrat, Berechnung 48 Oberbauchschmerz, HELLP-Syndrom 1062 Oberkörperhochlagerung 630 Oberkörpertieflage 1009 Obstruktion – intestinale 1117 – biläre, Ultraschall 212 Octreotid, Ösophagusvarizenblutung 586 Ödem – alveoläres – CT-Befunde 197 – Röntgendiagnostik 197 – Höhenödem 198 – hydrostatisches – Differenzialdiagnose 200 – interstitielles – Röntgendiagnostik 197 – Permeabilitätsödem 197 – postischämisches 650 – raumforderndes 650 – Reexpansionsödem 198 offene Weichteilverletzungen, Frakturen 874 Ogilvie-Syndrom 951 – herzchirurgische Operationen 983 Okklusionsdruck, pulmonalarterieller (PAOP, PCWP) 151 Okklusivhydrozephalus 655 Ökonomie, Score 60 OLTx 1043 Omphalozele 1118 Opiatantagonisten 314 Opiate/Opioide 314, 1178 – Antidot 1177 – Entzugssyndrom 322, 675 – Früh- und Neugeborenes 1127 – Hirndurchblutung 1013 – ICP 1013 – intestinale Pseudoobstruktion 554 OPS 89, 80, 91 – DRG 93 Orbitafrakturen 899 Organentnahme 1042 Organisationsmängel 11 Organisationsverschulden 13
organisches Psychosyndrom 19 organische Lösemittel, Antidot 1177 Organspender – Herzen 1038 – intensivmedizinische Behandlung 1035 – Leber 1038 – Lunge 1038 – Nieren 1038 – Pankreas 1038 Organversagen – Definition 1147 – posttraumatisches 865 – Prävention 875 Ornithose, ZNS 683 Osmodiuretika (Mannit) 630, 1018 Osmolalität 226 Osmoregulation 227 Osmotherapie 1018 Ösophagusatresie 1116 Ösophagusmotilität, verminderte 548 Ösophagusvarizenblutungen, Therapieverfahren 586 Outcome-Evaluation 59 Oxygenierung 46 – Komplikationen 173 – Neugeborenes 1103 – Therapie eines erniedrigten ptiO2 173 – Transport 46 – Überwachung der zerebralen 172 – zerebrale 170 Oxygenierungsstörung 49 – akutes Lungenversagen 477 Oxygraphie 160 Oxymetazolin 1171 Oxymetrie, jugularvenöse 170 – Artefakte 171 – Komplikationen 171 – Kontraindikationen 171 – Stellenwert 171
P PAK (s. Pulmonalarterienkatheter) Palpation 132 Pancuronium 1136 Panikattacke 671 Pankreas – Ultraschall 216 – Verletzung 916 Pankreassekretion, Hemmung 574 Pankreastransplantation (PTx) 1049 – Komplikationen 1049 – postoperative Überwachung und Therapie 1049
1211 Stichwortverzeichnis
Pankreatitis 854 – akute 570, 571, 572, 573, 574, 575 – chirurgische Therapie 958 – Computertomographie 221 – enterale Ernährung 960 – prophylaktische Antibiotikatherapie 959 – biliäre 961 – chirurgische Therapie 961 – minimal-invasives Vorgehen 961 – hämorrhagische 780 Papageienkrankheit 683 Papaverin 597, 598 Papillarmuskelabriss 421 Paracetamol – Antidot 1177 – Intoxikation 561, 564 – Nephrotoxizität 561 Paralyse 696 Parathion, Antidot 1177 Parenchymdruckmessung 628 Parese – akute schlaffe 696 – Algorithmus, schlaffe 698 paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) 296 Patientendatenmanagmentsystem (PDMS) 85 patientenkontrollierte Analgesie (PCA) 992 Patientenmanager 99 Patientensicherheit (»patient safety«), Definition 67 Patiententestament 14 Patientenverfügung 6, 14 Patientenwille 6 »patient clinical complexity level« (PCCL) 92 PCR (s. Polymerasekettenreaktion) Procalcitonin (PCT) 778, 795 – Herzoperationen 779 PDA (s. persistierender Ductus arteriosus) PDCA-Zyklus 80 PDMS 105 PEEP 1009 – hämodynamische Nebenwirkungen 1010 Pentamidin-Isothionate 850 Pentazozin, Antidot 1177 Penumbra 647 Peptide, natriuretische, ANV 762 Perfusion, zerebrale 1035 Perfusionsdruck (CPP) 976 – zerebraler 170, 626, 1023, 1160 Perfusionsszintigraphie (SPECT), zerebrale 1035 Periduralanalgesie (PDA) 992 Perikarderguss 397 – Ätiologie 398 – Computertomographie 402 – Diagnostik 400, 403 – Echokardiographie 400
– – – – – –
EKG 400 Folgetherapie 404 klinische Präsentation 399 Pathophysiologie 398 Prognose 404 Rechtsherzkatheterisierung 402 Perikardiozentese 402, 404 Perikarditis 399 – infarktbegleitende 419 – exsudative 399 – exsudativ-konstriktive 399 Perikardpunktion 402, 403 Perikardtamponade 397 – Computertomographie 402 – Echokardiogaphie, transthorakale 400 – Echokardiographie, transösophageale 402 – Klinik 399 – medikamentöse Therapie 404 – Pathophysiologie 398 – Perikardiozentese 404 – Rechtsherzkatheterisierung 402 – Röntgendiagnostik 402 – Therapie 402 – Überwachung 404 perirenaler Abszess, Ultraschall 216 Peritonitis 598 – diffuse 955 – Primärtherapie 957 – Therapie 955 – sekundäre 955 – Mortalität 955 perkutane Dilatationstracheotomie nach Ciaglia 338 Permeabilitätsödem 197 – Alveolarschaden 198 – Differenzialdiagnose 200 persistierender Ductus arteriosus (PDA) – Klinik 1095 – Pathogenese und Pathophysiologie 1095 – Therapie 1095 Personal – Belastung 101 – Intensivstation 100 – Personalschlüssel 100 – Pflegepersonal 33 – Teamarbeit 119 – Versorgungsqualität 101 Personalschleuse 37 PET – Anwendung 612 – Technik 612 Pflege, therapeutische, aktivierende 713 Pflegevisite 33 pH-Wert 228, 744 Pharmaka – Biotransformation, hepatische 245 – Elimination 244 – extrarenale Clearance (Clextraren) 245
– freier, nicht proteingebundener Anteil 244 – Gesamtkörper-Clearance (Cltot) 244, 245 – Interaktionen 251 – Ionenkanäle angreifende 242 – Kompartimentmodell 245 – Metabolisierung 244 – Nierenersatztherapie 246 – Nierenfunktion, Abschätzung 246 – Niereninsuffizienz 246 – Proteinbindung 244 – renale Clearance (Clren) 245 – Rezeptortheorie 242 – Wirkmechanismen 242 Pharmakaeffekte – Affinität 243 – Dosis-Wirkungs-Kurve 243 – effektive Dosis (ED50) 243 – Gegenregulation, physiologische 243 – Gewöhnung 243 – intrinsiche Aktivität 242 – Schwellendosis 243 – Tachyphylaxie 243 – therapeutische Breite 243 Pharmakodynamik 242 Pharmakokinetik 243, 245 – Adipositas 250 – alte Patienten 251 – Bioverfügbarkeit 243 – Blut-Hirn-Schranke 243 – Halbwertszeit 246 – kontextsensitive 246 – Resorption 243 – Verteilung 243 Phenobarbital 664 Phenole, Antidot 1177 Phenprocoumon (Marcumar) 292 Phenytoin 664 – Status epilepticus 663 Phenzyklidin 1178 Phosphat 227, 749 Phosphatsubstitution, diabetische Ketoazidose 725 Phosphodiesterasehemmer 973 – Sepsis 803 Phototherapie – Rh-Inkompatibilität 1114 physiologische Scores 54 Physiotherapie 714 – als psychische Unterstützung 21 – Ossifikationen 368 – Schädigung des oberen Motoneurons 368 – Tixotropie 368 Physostigmin 322 PiCCO-System 154 PiCCOplus-Monitor 153 Pierre-Robin-Sequenz 1110 Pilzpneumonie, Röntgendiagnostik 204 Piritramid 315, 929 – Dosierungsrichtlinien 315
N–P
Pitressin 1021 Plasmapherese 767 – Behandlung 297 Plateauwellen 626 Plattenatelektase 202 Plazentalösung, vorzeitige 1066 Pleuradrainage – All-in-one-Wegwerfsystem 349 – Drainagesysteme 348 – Empyem 347 – Entfernen der Drainagen 350 – Exsudat 347 – Fehllagen 190 – Hämatothorax 347 – Indikationen 347 – Infektion 350 – Komplikationen 190, 350 – Mehrflaschensysteme 349 – Pneumothorax 347 – Reexpansionslungenödem 350 – Technik 348 – Transsudat 347 – Trouble-Shooting 350 – Verletzungen 350 Pleuraerguss – abgekapselter Erguss 195 – Exsudat 346 – Interlobärer Erguss 194 – radiologische Befunde 194 – radiologische Diagnostik 204 – subpulmonaler Erguss 194 – Transudat 346 Plutonium, Antidot 1177 plötzlicher Herztod 374 Pneumocystis-carinii-Pneumonie 848 – Diagnostik 849 – klinische Symptomatik 849 – Therapie 850 – Überleben 851 Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie (PCP) 492 Pneumohydroperikard 399 Pneumomediastinum 193, 201 Pneumonektomie, Thoraxröntgenaufnahme 994 Pneumonie 36, 46, 482, 778 – ambulant erworbene 482 – schwere Verlaufsform 483 – Diagnosestellung 482 – Antibiotikatherapie 494 – Aspirationspneumonie 485 – atypische 482 – beatmungsassoziierte 486, 519, 819, 827 – Bronchopneumonie 204 – CA-MRSA 485 – »clinical pulmonary infection score« 488 – CMV-Infektion 204, 493 – Computertomographie 204 – Definition 483 – «health care-asscociated pneumonia« 485 – HIV-Infektion 492 – iatrogene Immunsuppression 493
1212
Stichwortverzeichnis
– Klassifikation 819 – Kriterien 483 – nach Lungentranplantation 1054 – nach neurochirurgischen Eingriffen 1008 – nach Stammzelltransplantation 496 – nach thoraxchirurgischen Eingriffen 992 – neonatale 1108 – Neutropenie 494 – nosokomiale 482, 819 – Acinetobacter baumannii 491 – Definition 486 – Diagnostik 487 – diagnostische Unsicherheit 489 – Differenzialdiagnose 488 – Epidemiologie 487 – ESBL-bildende GNEB 491 – mikrobiologische Diagnostik 488 – MRSA 491 – multiresistenter P. aeruginosa 491 – Pathogenese 487 – Pilze 491 – Prognose 490 – radiologische Diagnostik 489 – Risikofaktoren 487 – Stenotrophomonas maltophilia 491 – Therapie 490 – Therapieversagen 491 – Organtransplantation 493 – Pathophysiologie 482 – Pilzpneumonie 204 – Pneumozystispneumonie 204 – Prävention 827 – primäre 482 – Prophylaxe 715 – Pseudomonas-aeruginosaPneumonie 204 – Risikofaktoren 485 – Risikofaktor Transport 46 – Röntgendiagnostik 203 – schwere ambulant erworbene – Ätiologie 483 – Definition 483 – Epidemiologie 483 – initiale Therapie 485 – Intensivbehandlung 484 – Kriterien 483 – mikrobiologische Diagnostik 484 – Prognose 484 – Therapie 485 – sekundäre 482 – Therapieversagen 486 – Therapie der schweren Sepsis 485 – typische 482 – unter Immunsuppression 482, 492
– »ventilator-associated pneumonia« (VAP) 486 Pneumoretroperitoneum, Röntgendiagnostik 209 Pneumothorax 144, 201, 346, 347, 473, 905 – anteromedialer Pneumothorax 193 – atypische Lokalisationen 193 – Differenzialdiagnosen 191 – Früh- und Neugeborenes 1106 – radiologische Befunde 191, 193 – Spannungspneumothorax 192 – Untersuchungstechnik 191 – Ursachen 191 Polyglobulie 1123 Polymerasekettenreaktion (»polymerase chain reaction«; PCR) 622 Polyneuritis, akute 697 Polyneuropathie, chronische 700 Polyradikuloneuropathie (s. auch »acute inflammatory demyelinating polyneuropathy«; AIDP) – akute entzündlichdemyelinisierende 697 Polytrauma – antiinfektiöse Therapie 867 – Behandlungsphasen 869, 870 – Entzündungsmarker 865 – Intensivtherapie 866 – operative Therapie 868 – Pathophysiologie 864 – Primärversorgung 869 – Schädel-Hirn-Trauma 867 – Stufenkonzept der operativen Versorgung 870 – Versorgung – Schockraumalgorithmus 914 Polyurie 1037 Polyzythämie, Neugeborenes 1112 Porphyrien, akute hepatische 700 portale Hypertension, Ultraschall 214 Portalvenenthrombose, Ultraschall 214 positiv endexspiratorischer Druck (PEEP) 520 Postaggressionsstoffwechsel 234, 236, 256 – Glukosemetabolismus 235 Postaggressionssyndrom 259, 261 Postagladin E1 598 Postagressionsstoffwechsel 235 Postextubationsphase 540 – NIV 539 Postextubationsstridor 1155 Postreanimationsphase 381 posttraumatisches Stresssyndrom, Langzeitfolge 126 posttraumatische Belastungsstörung (PTB) 22, 24 – Prävention 672 – Symptomatik 672 – Therapie 672
Potenziale – akustisch evozierte (AEP) 1034 – evozierte 1015 – somatosensibel evozierte (SEP) 1034 PPSB 290 PPSB-Konzentrat 278 Prä-MDC 92 Präeklampsie 1058 – Algorithmus 1064 – Ätiologie/Pathogenese 1059 – Behandlung 1064 – Betreuung des Neugeborenen 1069 – Diagnostik 1061, 1062 – Differenzialdiagnostik 1061, 1062 – Einfluss auf den Feten 1069 – Epidemiologie 1058 – intensivmedizinische Bedeutung 1059 – klinische Manifestationen 1064 – Komplikationen 1064 – Laborparameter 1063 – Prävention 1063 – Risikofaktoren 1059 – schwere 1058 – Screening 1061 – Symptome 1062 präkordialer Schlag 377 Prednison 850 »pressure support ventilation« (PSV) 533 Primaquine 850 Procain 1171 Procalcitonin (PCT) 794 »process control charts« 74 progressive Muskelrelaxation nach Jacobson 21 Prometheus 567 Promitprophylaxe, Dextran-Infusionen 1078 Propofol 310, 929, 1137, 1146 – CBF 1013 – Dosierungsempfehlung 311 – ICP 1013 – Propofol-Infusionssyndrom 310 »proportional assist ventilation« (PAV) 517, 533 Propranolol, thyreotoxische Krise 738 Propylthiouracil 739 Protamin 293 Proteaseinhibitoren 856 Protein – C-reaktives 794 – aktiviertes Protein C (aPC) 284, 805 Proteinbedarf 236 Proteinbindung, Einflussfaktoren 244 Proteinurie 1063 Prothrombinzeit (PTZ) 286 Prothrombin (Faktor II) 284 Protonenpumpenhemmer 585, 586
Prozessqualität 81 Pseudomonas-aeruginosaPneumonie, Röntgendiagnostik 204 Pseudoobstruktion – intestinale 552, 553 – des Kolons 951 psychiatrische Vorerkrankung des Patienten 19 Psychopharmaka – Antidot 1177 – Einsatz auf der Intensivstation 672 – Psychopharmakotherapie, allgemeine Regeln 674 Psychosen, akute Vergiftungen 1171 Psychosyndrom – akutes organisches 319, 666 – chronisches hirnorganisches 667 – organisches 667 – Pharmakotherapie 674 Psychotherapie 21 PTB (s. posttraumatische Belastungsstörung) Puffersysteme 744, 745 Pulmonalarterienkatheter (PAK) 815, 970 – Druckkurvenverlauf während des Einschwemmens 149 – Einführungstechnik 147 – Fehllage 189 – Indikationen 146 – Interpretation hämodynamischer Messwerte 150 – Kathetertypen 146 – Komplikationen 148, 189 – Punktionsorte 147 – Transport 49 pulmonaler Gasaustausch, Versagen 514 pulmonaler Rechts-links-Shunt 471 Pulmonaliskatheter 989 – TISS-28 Score 58 Pulsdruckvariation (PPV) 154 Pulskonturanalyse, transkardiopulmonale 971 – arterielle 152, 153 pulslose elektrische Aktivität 374 pulsloser idioventrikulärer Rhythmus 374 Pulslosigkeit 1148 Pulsoxymetrie 132 – Alarmgebung 158 – beim Kind 1137 – erhöhte FIO2 158 – Kalibrierung 158 – Messgenauigkeit 158 – Messprinzip 157 – Messwert 157 – peripheres Messorgan 158 – Zusammensetzung des Blutes 158
1213 Stichwortverzeichnis
Pulsus paradoxus 400 Pumpversagen, myokardiales 374 Pupillenreaktion, Fehlen 1033 Purpura fulminans 1156 Pyelonephritis, Ultraschall 216 Pyrazinamid 682, 833
Q Qualitätsbesprechung 71 Qualitätsindikatoren 80 Qualitätsmanagement (QM) 80 Qualitätssicherung 59, 71 – (Fehlerkultur) 68 – Definition 80 – Fehlerstatistik 71 Qualitätsverbesserung 80 Qualitätszirkel 70, 81 Quecksilber, Antidot 1177 Querschnittslähmung 1033 – Begleitverletzungen 690 – Diagnostik 690 – Klassifikation 691 – Klinik 688 – neurologische Standardklassifikation 690 – Pathophysiologie 688 – Statistik 688 Querschnittsyndrom, akutes 612 Querschnittverletzung, Prognose 693 Quick 284 Quick-Test 286 Quick-Wert 233 Quotient, respiratorischer (RQ) 237
R Rachenreflex, Fehlen 1033 Radiographie, digitale 180 Ramsay-Score 307 Rasteraufnahmetechnik, Röntgenaufnahmen, am Krankenbett 182 Rauchvergiftung 1149 Raumdesinfektion 40 Reaktion, anaphylaktische 1149, 1072 Reanimation, kardiopulmonale 374 – Adrenalin 379 – Alternativen zur endotrachealen Intubation 378 – Amiodaron 380 – Arginin 379 – Atropin 380
– Basismaßnahmen (»Basic Life Support«, BLS) 375 – Basismaßnahmen am erwachsenen Patienten 376 – Beatmungsbeutel-MaskenSystem 376 – Defibrillation 377 – Effektivitätskontrolle 376 – Einstellen der Reanimationsmaßnahmen 382 – erweiterte Maßnahmen (»Advanced Cardiac Life Support«, ACLS) 377 – externe Herzdruckmassage 376 – Fehler und Gefahren der Atemspende 376 – Fremdkörperaspiration 375 – Früh- und Neugeborenes 1085 – hypothermes Kind 1151 – innerklinische 381 – Intraossärer Zugang 379 – Kalzium 380 – Kardioversion 378 – Kind 1147, 1148, 1149 – Komplikationen der – freimachen der Atemwege 375 – Koordinierung der Maßnahmen 380 – Magenbeatmung 376 – Magnesium 380 – Medikamente 379, 1148 – Mund-zu-Mund-Beatmung 375 – Mund-zu-Nase-Beatmung 375 – Natriumbikarbonat 380 – Pharmakotherapie 378 – Postreanimationsphase 381 – präkordialer Schlag 377 – Sauerstoff 379 – Sotalol 380 – Theophyllin 380 – Thoraxkompression 375 – Vasopressin 379 – Verzögerung 374 – Zugangswege für die Medikamentenzufuhr 378 Receiver-operating-characteristic(ROC-)Kurve 62 Rechts-links-Shunt, akutes Lungenversagen 477 Rechtsherzinsuffizienz 974 Rechtsherzversagen 422, 974 – akutes 397 – Diagnostik und Überwachung 974 – Therapieoptionen 975 – Therapiestrategien 974 Recruitment, alveoläres 1011 Reexpansionslungenödem 198, 350 Reflex – okulokardialer 1033 – okulozephaler 1033 – vestibulookulärer 1033 Reflux, gastroduodenaler 549 Refluxerkankung 548
– Definition 548 – Pathophysiologie 548 Regionalanästhesieverfahren 316 Regulation – Osmo/Wasser 226 – Volumen/Natrium 226 Rehabilitation – Medikamente 712 – neurologische 708 – Rehabilitationsteam 360 Reinfarkt 419 Reinigungsplan 41 Reizgas – Antidot 1177 – Inhalation 1177 – Vergiftungen 1169 rekombinanter aktivierter Faktor VII 290 rekombinanter aktivierter Faktor VIIa, rFVIIa 278 rekombinantes aktiviertes Protein C (Drotrecogin-α) 486 »relationship behaviour« 103 Relativgewicht 91 Remifentanil 315, 929 – Dosierungsempfehlungen 315 Remifentanil-Propofol-Sedierung – Transport 48 Renin-Angiotensin-AldosteronSystem (RAAS) 227 Repithel 925 Rescriptor 855 Residualkapazität, funktionelle 1135 Resistenzraten – E. coli 38 – E. faecium 38 – K. pneumoniae 38 – P. aeruginosa 38 – S. aureus 38 – SARI 38 respiratorische Insuffizienz 1068 – extrapulmonale Ursachen 473 – hyperkapnische 472 – Behinderung der Atemexkursion 473 – hypoxische 470 – Pathophysiologie 470, 532 – respiratorische 514 – schwere 514 respiratorische Störungen 374 Respiratortherapie bei Vergiftungen 1177 Retinopathia praematurorum – Definition 1097 – Diagnose 1098 – Pathogenese 1097 – Prävention und Therapie 1098 – Prognose 1098 – Verlauf 1098 Retroperitoneum, Verletzungen 871 Retrovir 855 Rezeptortheorie, Pharmaka 242 Rh-Erythroblastose 1113
P–R
Rh-Inkompatibilität 1113 Rhythmen, idioventrikuläre 420 Rhythmusstörungen – tachykarde supraventrikuläre 421 – ventrikuläre 420 Rickettsien 683 Rifampicin 682, 833 Rippenfrakturen 904 Risk Assessment (s. auch Risikomanagement) 74 Risiko, forensisches 10 Risiko-Nutzen-Abwägung 4 Risikoaufklärung 14 Risikofaktoren, Erregerspektrum 823 Risikofrühgeborene, Prävention 1092 Risk Management 10, 13 Risikomanagement 74, 76 – Fehlerkultur 69 Ritonavir 856 – RKI-Guidelines 37 ROC-Kurve (»receiver operating characteristic«) 62 Röntgenaufnahmen – am Krankenbett 182 – Film-Folien-Kombination 182 – Rasteraufnahmetechnik 182 Röntgendiagnostik – Abdomenaufnahme 184, 208 – ARDS 195 – Aspiration 205 – Atelektase 201 – Beurteilung der ossären Strukturen 211 – Bronchopneumonie 204 – CMV-Pneumonie 204 – Einfluss der maschinellen Beatmung 201 – Gasverteilungsmuster 208 – Gasverteilung im Dünnund Dickdarm 209 – intraabdominelle Verkalkungen 211 – Kolonblähung 210 – Lungenödem 195 – Pilzpneumonie 204 – Pneumonie 203 – Pneumoretroperitoneum 209 – Pneumozystispneumonie 204 – Pseudomonas-aeruginosaPneumonie 204 – pulmonale Verdichtungen 201 – Thoraxaufnahme 184 – Weichteilbeurteilung im Abdomen 211 Rückenmarkläsion/-verletzung 473, 1024 – Frührehabilitation 692 – Intensivstation 691 – Notfallmanagement 691 – präklinische Versorgung 691 – Therapie 692 RUMBA-Regel 80 Ruptur, tracheobronchiale 993
1214
Stichwortverzeichnis
S SAB (s. Subarachnoidalblutung) Salicylate 1171 Salmonella typhi 834 Salzverlustsyndrom, zerebrales 1012 Salzwasserertrinken 938 SAPS-II-Score (Simplified Acute Physiology Score) 54, 55, 56, 57, 82, 100 – Personal 100 SAPS III 55, 60 Saqinavir 856 Sauerstoff (s. auch O2) – Angebot – an die Organe 162 – Berechnung 990 – Gesamtkörper 151 – Bindungskurve 161, 162 – Gehalt – arterielle Berechnung 990 – arterieller 151 – gemischtvenöser 151 – im Blut 162 – kritisches Angebot 164 – Partialdruck (pO2) 161, 228 – Partialdruckdifferenz, alveoloarterielle 163 – physikalisch gelöster 162 – Reanimation, kardiopulmonale 379 – Sättigung – des Blutes 161 – gemischtvenöse 971 – partielle arterielle (pSaO2) 157 – pulmonalarterielle (gemischtvenöse) 151 – zentralvenöse 971 – Verbrauch – Gesamtkörper 151 – zerebraler 1007 Sauerstoffbrille 990 Sauerstoffmaske 990 Sauerstoffsonde 990 Sauerstofftherapie, s. auch HBO – hyperbare 937 – Kind 1152 Säuglingsmilchzubereitungen 1145 Säure-Basen-Haushalt – Definitionen 744 – intrazellulärer 753 – Kompensationsmechanismen 745 – pulmonal 745 – renal 745 – Pathophysiologie 746 – physiologische Grundlagen 744 – Stewart-Modell 749 – Störungen 752 – Überwachung 228 – Verschiebungen 745
Säuren, Definition 744 Schädel-Hirn-Trauma 607, 870, 886 – »neuroprotektive« Medikamente 890 – älteres 612 – Beatmung 1024 – Behandlungskonzepte 890 – computertomographische Klassifikation 880 – CT 605, 606 – Definition 878 – Epidemiologie 878 – Ernährung 1024 – Erstversorgung 881, 883 – im Krankenhaus 882 – extrakranielle Komplikationen 879 – ICP-Messverfahren 885 – Intensivtherapie 1022 – Kind 1159 – Klassifikation und Einteilung 879 – leichtes und mittelschweres 882 – medikamentöse Behandlung 881 – Monitoring 884, 890 – operative Behandlung 885 – orientierende neurologische Untersuchung 882 – neuroradiologische Diagnostik 883 – pathophysiologisches Konzept 878 – schweres 883 – Sichtung, Transport 882 – spezielle Pathophysiologie 1021 – Stabilisierung der Vitalfunktionen 881 – Übergabe des Patienten durch den Notarzt 882 – Unfallursache 878 – Untersuchung der Bewusstseinslage 880 – Untersuchung 881 – Verletzungsschwere 880 – Verweilkatheter 884 – Wundversorgung/ Wundbehandlung 882 Schädelbasisfraktur, Operationsindikationen 886 Schadensereignis 66 Schaumbildner, Antidot 1177 Schilddrüsenfunktionsstörungen 738 Schilddrüsenhormone 234 – Substitution 740 Schlaf-Wach-Rhythmus, gestörter 18 Schlafstörungen – Häufigkeit und Ursachen 667 – therapeutische Ansätze 668 Schlaganfall – Akutversorgung, Erstdiagnostik 647
– allgemeine Maßnahmen 646 – Aufnahme auf die Intensivstation 646 – Blutdruckbehandlung 647, 648 – CT 608 – ischämischer 646 – Lysetherapie 649 Schlagarbeitsindex – linksventrikulärer 151 – rechtsventrikulärer 151 Schlagvolumen 151 – Schlagvolumenindex (SVI ) 151, 153 Schlagvolumenvariation (SVV) 154 Schlangengift, Anaphylaxie 1073 Schleimhautdesinfektion 41 Schlucken 364 Schlucktherapie 364 Schmerzreaktion, Neu- und Frühgeborenes 1126 Schmerztherapie – Früh- und Neugeborenes 1127 – nach thoraxchirurgischen Eingriffen 992 Schock 271, 797 – anaphylaktischer (s. Schock, anaphylaktischer) – dekompensierter 272 – hämorrhagischer (s. Schock, hämorrhagischer) – hypovolämischer 1149 – Index 274 – irreversibler 272 – kardiogener (s. Schock, kardiogener) – Laboruntersuchung 275 – Laktat 274 – Leberfunktion 271, 559 – Lungenkapillarenverschlussdruck 274 – Multiorgandysfunktion 797 – neurogener (s. Schock, neurogener) – Nierenfunktion 271 – Reperfusion 272 – Säure-Basen-Haushalt 271 – septischer 774, 797, 799, 1149 – septisch-toxischer 1156 – spinaler 1025 – Venendruck, zentral 274 – Zeichen 272 – Zentralisation 270 Schock, anaphylaktischer 1072 Schock, hämorragischer 272 – Blutdruck, arteriell 274 – Differenzialdiagnose 275 – endexspiratorischer pCO2 275 – Hämatokrit 275 – Herzfrequenz 273 – Herzzeitvolumen 275 – Klassifikation 273 – Laktat und avDO2 274 – Schockindex 274 – Urinausscheidung 275 – zentralvenöse O2-Sättigung 275
– – – – – – – – – –
Azidosetherapie 279 Behandlung 275 Blutgerinnung 277 Einschätzung 272 Fibrinogen 278 Frischplasma 278 Gasaustausch, pulmonal 279 Kryopräzipitat 278 PPSB-Konzentrat 278 rekombinanter aktivierter Faktor VIIa, rFVIIa 278 – Substanzen, kardiovaskuläre 279 – Thrombozytenkonzentrat 277 – Volumenersatz 276 Schock, hypovolämischer 1149, 1163 Schock, kardiogener 275, 388, 421 – »assist device« 396 – Behandlung 395 – Impellaturbine 396 – Kausaltherapie 396 – Kreislaufunterstützung, mechanische 396 – Mikroaxialturbine 396 – Pharmakotherapie 395 – positiv-inotrope Stimulation 395 – Therapiealgorithmus 392 Schock, neurogener 275 Schrittmacherkatheter 147 Schrittmacherstimulation 974 Schussverletzung 886 Schwangerschaftshypertonie 1058 Schwartz-Bartter-Syndrom 1012 Scopolamin 1178 Scoresystem 54, 57 – DRG-System 60 – Intensivmedizin 55 Scribner-Shunt 765 SCUF-Ultrafiltration (»slow continuous ultrafiltration«) 767 Secalealkaloide, erhöhter intrakranieller Druck 632 Sedation–Agitation Scale 307 Sedativa, Entzug 675 Sedierung – Kind 1146 – Sedierungsscore 307 Seitenlage 361, 713 Sekretmanagement/-transport – Atemtherapie 363 – nach thoraxchirurgischen Eingriffen 991 – physiotherapeutische Maßnahmen 991 Seldinger-J-Draht 338 Seldinger-Technik 139 Selen, Sepsis 805 Sensitivität 61 Sepsis/SIRS 94 – additive Pharmakotherapie 267 – adjunktive Therapiemaßnahmen 804
1215 Stichwortverzeichnis
– Antibiotikatherapie 800 – Besonderheiten in der Ernährung 266 – Biomarker 794 – Definition 774, 793 – Diagnose 793 – disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) 799 – Epidemiologie 792 – Erregerspektrum 795 – Fokussanierung 800 – Früh- und Neugeborenes 1121 – Früh- und Spätletalität 792 – Hämostasestörungen 296 – Immunantwort 796 – Kalorienbedarf 266 – kardiovaskuläres System 797 – Langzeitüberleben und Lebensqualität 793 – metabolische Besonderheiten 259 – Mikrozirkulationsstörung 799 – neonatale 1122 – pädiatrische 1155 – Pathophysiologie 796 – prognostische Faktoren 792 – Risikofaktoren 792 – Therapie 799 – Vasodilatation 798 – Volumenbedarf 801 – ZVK-assoziierte 826 Sepsisbündel 806 Septikämie nach SHT 1023 Sequential Organ Failure Assessment (s. SOFA) Serummarker, infarkttypische Herzmarker 410 Shaldon-Katheter 765 SHT (s. Schädel-Hirn-Trauma) Shuntperfusion, intrapulmonale 477 Sicherheitstaxonomie 66 Signale, zellgebundene und intrazelluläre 776 Silber, Antidot 1177 Silbernitrat 925 Simulationstraining 118 Sinusarrhythmien 1140 Sinusbradykardie 419 – Therapie 432 Sinusitis, CT 611 Sinustachykardien 435 Sinusvenenthrombose 609 – CT-Befund 609 – MRT 609 SIRS (s. systemisches inflammatorisches Response-Syndrom) »small volume resuscitation« 276 SMR (Mortalitätsrate, standardisiert) 60 SOFA (Sequential Organ Failure Assessment) 55, 82 Sofortreaktion, anaphylaktische/ anaphylaktoide 1075 Somatostatin 587 – Ösophagusvarizenblutung 586 Somnolenz 636
Sondenernährung, Kind 1145 SOP (»standard operating procedures«) 98 – Erstellung 98 Sopor 636 Sorgfaltspflicht 11, 12 – Leitlinien 12 Sotalol, Reanimation, kardiopulmonale 380 Sozialkompetenz, Personal 104 Spalthauttransplantation 926 Spannungspneumoperikard 399 Spannungspneumothorax 144, 192, 905, 906 Spatel 327 SPECT – Anwendung 612 – Technik 612 Spektroskopie, Nahe-Infrarot 171 Spezifität 61 Splenektomie 916 Splenomegalie, Ultraschall 216 Spontanatmungsversuch, Weaningprotokoll 527 Stammganglienblutung, raumfordernde hypertensive 609 Standardbikarbonat 748 Staphylokokken – Staphylococcus aureus 36 – Vorkommen 36 Status epilepticus 1159 – Barbiturate 663 – Differenzialdiagnose 663 – Epidemiologie 663 – Pathogenese 663 – Therapie 663 – Stufenschema 664 Stauung, pulmonalvenöse 196, 197 – CT-Befunde 197 – Röntgendiagnostik 197 Stauungspapille 628 Stavudine 855 Stenose, subglottische 1111 Sterbebegleitung, – Stellungnahme der Bundesärztekammer (BÄK) 5 Sterbehilfe 5 – Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin 5 Stichverletzungen – Behandlungsalgorithmus für abdominelle 915 Stickstoffhaushalt 236 Stickstoffmonoxid (NO) 979 Stimulation, orofaziala 365 Stoffwechsel 234 – Stoffwechseladaptation 235 – stoffwechseladaptierte Diäten 262 – Stoffwechseldefekt, kongenitaler 1123 – Stoffwechselentgleisung, Kind 1162
– Stoffwechselnotfall, Therapieschema 1162 Strafverfahren 11 Strahlenschutz 184 Strangulationsobstruktion, Computertomographie 218 Streptokinase 292 Streptomycin 833 Stressblutungsprophylaxe 583, 584 – medikamentöse 585 Stressulkusprophylaxe 820, 827 Strukturqualität 81 Stumpfinsuffizienz nach thoraxchirurgischen Eingriffen 993 Stupor 636 Subarachnoidalblutung (SAB) 653, 1019 – Ätiologie 609 – Diagnostik 653 – digitale Subtraktionsangiographie 654 – Hunt-Hess-Skala 1019 – Mortalität 1020 – Therapie 654 – transkranielle Dopplersonographie 654 – Vasospasmen 654 Subduralhämatom, akutes 887 Subjective Global Assessment (SGA) 260 Subtraktionsangiographie, digitale 612 Succinylcholin 1136 Sufentanil 314 – Dosierungsempfehlungen 315 Suizid 1177 Suizidalität in der Anamnese 670 Supervision 25 Surfactant TA 1094 – Behandlung, Empfehlungen 1094 – Mangel 1093 – Präparate 1094 – Therapie 1095 – Atemnotsyndrom Frühgeborenes 1092, 1093 Survanta 1094 Surveillance 37 Süßwasserertrinken 938 Sustiva 855 sympatoadrenale Achse 258 Syndrom, hepatorenales 757 systemisches inflammatorisches Response-Syndrom (»systemic inflammatory response syndrome; SIRS) 864, 979 – EKZ-assoziiertes 983 – Kodierung 94 – schweres 774 – SIRS/Sepsis 999 – SIRS-Zeichen 775
S–T
T T-Stück-Versuch, Weaningprotokoll 527 Tachyarrhythmie (s. auch Kammertachykardien und Herzrhythmusstörungen) 433 – akzessorische Leitungsbahnen 437 – AV-Knoten-ReentryTachykardien 435 – Differenzialdiagnose 431 – Sinustachykardien 435 – supraventrikuläre 433, 437 – Therapiealgorithmus 1141 – ventrikuäre 439 – Vorhofflattern 434 – Vorhofflimmern 433 Tachykardie 439, 977, 1139, 1140 – atriale 436, 438 – bei herzchirurgischen Patienten 978 – Differenzialdiagnose 432 – Kammerflattern 441 – Kammerflimmern 441 – monomorphe ventrikuläre 439 – polymorphe ventrikuläre 440 – supraventrikuläre 421, 435 – Torsade-de-pointes 441 – ventrikuläre 420, 441, 978 Tachyphylaxie, Pharmakaeffekte 243 Tachypnoe, transitorische 1104 »task behaviour« 103 Tauchunfall – Definition 934 – normobare Sauerstoffgabe 936 – Pathogenese 935 – Pathophysiologie 934 – Symptomatik 934, 935 – Therapie 936, 937 – Flussdiagramm 937 Teerstuhl 580 Telemetrie 105 Teleradiologie 182 Temperatursteuerung 1013 Tenofovir 855 Tensilontest 701 Terlipressin 587 – Ösophagusvarizenblutung 586 Tetanus 837 Thallium, Antidot 1177 THAM (Trispuffer) 631 – Dosierung 752 Theophyllin 1171 – Reanimation, kardiopulmonale 380 therapeutische Breite, Pharmakaeffekte 243 Therapie, organsupportive 950 Thermodilution 153, 989 – transkardiopulmonale 971 – Thermodilutionskatheter 147
1216
Stichwortverzeichnis
Thermoregulation, fehlende 688 Thiamazol 739 Thiopental 647, 664 Thorakozentese 347 thoraxchirurgischer Eingriff, Komplikationen 988 Thoraxverletzungen 871 Thoraxdehnbarkeit, Lagerung 364 Thoraxdrainage 49 – Transport 49 Thoraxdrainage s. auch Pleuradrainage 346 Thoraxtrauma/-verletzung – Diagnostik 904 – Läsionen des Herzens 908 – operatives Vorgehen 872 – penetrierendes 907 – stumpfes 904, 907 Thoraxwandinstabilität 904 Thrombelastogramm 981 Thrombinzeit (TZ) 286 Thrombolytika – Alteplase (Actilyse) 292 – Streptokinase 292 – Tenecteplase (Metalyse) 292 – Urokinase 292 Thrombopenie 286, 1063 Thrombophilie 296 – Diagnostik 287, 288 Thrombophlebitiden 296 Thromboplastinzeit 286 – aktivierte partielle (aPTT) 233 Thrombose – Risikofaktoren 294 – Prophylaxe 294, 296 – querschnittsgelähmter Patient 692 – venöse – Nierentransplantation 1049 thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP, Moschkowitz-Syndrom) 298 Thrombozyten 283 Thrombozytenaggregation 283 Thrombozytenaggregationshemmer 291 Thrombozytenfunktion 283 Thrombozytenkonzentrat 277, 289, 563 Thrombozytenzahl, Einflussfaktoren 286 Thrombozytopenie 231 – medikamenteninduziert 232 – neonatale 1115 thrombozytopenieassoziiertes Multiorganversagen (TAMOF) 298 Thrombozytosen 286 Thyreostatika 739 Thyreotoxikose 640 thyreotoxische Krise 737, 738, 739 – β-Blocker 738 Thyreotropin 736 Thyroxin 736 Ticlopidin 291
TISS-28 Score 55, 58 TISS-Score 100 – Personal 100 TISS-Werte 57 TISS (Therapeutic Intervention Scoring System) 55 Todesnachricht 24 Todeszeitpunkt, Definition 1035 Tollwut 685, 839 Tonometrie 163, 164 Top-down-Analyse 90 Torsion Lungenlappen 993 Totalatelektase 202, 991 Tötung, fahrlässige 11 Toxikokinetik 1168 Toxoplasmose, zerebrale 684 Trachea, Identifikation 337 Trachealkanüle, Lagekontrolle 186 Trachealreflex, fehlender 1033 Trachealruptur 906 Trachealstenosen 343 Tracheo(broncho)malazie 1155 Tracheobronchialbaumverletzung 906 Tracheotomie 336, 1009, 1025 – Beatmung 338 – Drucknekrosen 338 – Indikation 337 – Methode 336 – perkutane Dilatationstracheotomie nach Ciaglia 338 – perkutane nach Frova 342 – Punktionsort 338 – Seldinger-Technik 337 – Technik nach Griggs 339 – translaryngeale nach Fantoni 340 – Zeitpunkt 336 TRALI (transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz) 289 Tranexamsäure (Cyklokapron) 294 Transaminasen 1063 Transaminasen (GOT, GPT) 229 Transfusion – intrauterine 1114 – Kind 1144 – polytraumatisierter Patienten 866 Transfusionsgesetz 290 Translokation – bakterielle 549, 554, 555 – Darmbakterien 867 Transplantat, Ultraschall 215 Transplantationsgesetz 1042 Transport – Atmung 46 – Beatmung 46 – Infusionstherapie 48 – Intensivpatient 46 – kreislaufwirksame Medikamente 48 – Medikamentenausstattung 47 – Risikofaktoren 46 – Überwachung 48 – Vorbereitung 47
Transportausrüstung 46 Transportbeatmungsgerät 47, 48 Transportmechanismen – Diffusion 764 – Konvektion 765 – Osmose 765 – Ultrafiltration 765 Transporttrauma 46 Transsudat 346, 347 Trauer 23 TRH-Test 736 Triglyzeride – langkettige (LCT) 236 – mittelkettige (MCT) 236 Triiodthyronin 736 Trimethoprim-Sulfamethoxazol 850 Trimetrexat 850 Triple-H-Therapie, 650, 655, 1021 trizyklische Antidepressiva, Antidot 1177 Troponine, kardiale 410 Troponin I 981 Tuberkulose – Behandlung 832 – Diagnose 832 – Epidemiologie 832 – Erreger 832 – Klinik 832 – Pathogenese 832 – Prävention 833 Tuberkulostatika 833 Tubusgröße, Kind 1134 Tubuskompensation, automatische 528 Tubusposition, Kind 1134 Typhus abdominalis 833
U Überdosierung 252 Übernahmeverschulden 12 Überwachung (s. auch Monitoring) 132 – Basismonitoring 132 – blutbildendes System 231 – Blutzucker 236 – Gerinnung 231 – Hormonhaushalt 233 – nach thoraxchirurgischem Eingriff 988 – physiologische Variablen 132 – Säure-Basen-Haushalt 228 – Stoffwechsel 234 – Transport 48 – Wasser- und Elektrolytstoffwechsel 226 Überwässerung 640, 1011 Ulkusblutung – Blutstillung 585 – Forrest-Klassifikation 582 – Rezidivblutung 585 Ultrafiltration 767
Ultraschall (s. auch Sonographie) – Computertomographie 217 – Gallenblase 211 – Gefäße 217 – Geräte179, 180 – Leber 213 – Milz 216 – Nieren 214 – Pankreas 216 – Pneumocystis-carinii-Infektion 213 – ultraschallgesteuerte Aspiration und Drainage 217 – ultraschallgesteuerte Aspiration und Drainage 217 – Ultraschallmessung, transösophageale 156 Umweltschutz 44 unerwünschtes Ereignis (»adverse event«), Definition 67 Unterernährung, Auswirkungen 1145 Unterkieferfrakturen – Diagnostik 895 – Einteilung 895 – Symptomatik 895 – Therapie 895 Unterkühlung – Definition 942 – im Kreißsaal 1086 – klinische Maßnahmen 944 – Notfallmaßnahmen 944 – Pathophysiologie 942 – Schutz 1086 Uppers 1178 Urämie, Nierenversagen, akutes 761 Urapidil 648 – hypertensiver Notfall 457 Urinkultur 822 Urinnatriumkonzentration 1142 Urokinase (u-PA) 285, 292 Urosepsis 822
V v.-Willebrand-Erkrankung 295 v.-Willebrand-Faktor 284 v.-Willebrand-Faktor-Aktivität 287 V. jugularis 819 V. subclavia 818 Vagusmanöver 435 Valproinsäure, Status epilepticus 663 Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) 39 – Resistenz 40 Varizellenenzephalitis 684 Vasodilatation, selektive pulmonale 975 Vasokonstriktion, mesenteriale 598
1217 Stichwortverzeichnis
Vasopressin 279, 976 – Reanimation, kardiopulmonale 379 – Sepsis 804 Vasospasmus, zerebraler 1020 Vecuronium 1136 »vegetative state« 710 Venendruck, zentraler 132, 137 – Schock 274 Venenkanullierung, periphere 137, 138 Venenkatheter 137 – Infektionen 814 – peripherer815 – zentraler 970 Venenkatheter, zentraler 138 – beschichtete Katheter 140 – Indikationen 139 – Infekthäufigkeit 140 – Kathetertypen 139 – Komplikationen 145 – Material 139 – peripher inserierter 815 – Punktionsorte 141 – Punktionstechnik 139, 140, 141 – V. jugularis interna 142 – V. basilica 141 – V. femoralis 141 – V. jugularis externa 141 – V. jugularis interna 141 – V. subclavia 141 – V. jugularis externa 142 – V. jugularis interna 142 – V. ubclavia 143 – V. femoralis 144 – Thrombogenität 140 Venenthrombose, Wahrscheinlichkeit 462 venöse Beimischung (QVA/QT ) 471 Ventilation 1010 – »inversed ratio ventilation« 515 – »pressure support ventilation« (PSV) 533 – »proportionate assist ventilation« (PAV) 533 – assistierte maschinelle 515 – BIPAP (»biphasic positive airway pressure«) 516 – intermittierende maschinelle Ventilation (IMV) 528 – »proportional assist ventilation« (PAV) 517 – synchronisierte intermittierende (SIMV) 515 – Unterstützung 514 – vollständige Unterstützung 514 Ventilations-PerfusionsVerhältnis 471 Ventilations-PerfusionsVerteilungsstörung 471 Ventilation (s. auch Beatmung) – AMV, »assist control« (A/C) 515 – partielle Unterstützung 515
»ventilator-associated pneumonia« (VAP) 486 Ventilatoren, portable – Vergleich 533 Ventrikeldrainage, externe 653 Ventrikeldruck, rechter (RVP) 151 Ventrikeldruckmessung 628 Ventrikelkatheter 630 Ventrikelseptumdefekt 421 Ventrikelseptumruptur 908 Venturi-Maske 990 Verbrauchskoagulopathie (disseminierte intravasale Koagulation; DIC) – nach SHT 1023 – Hämostasestörung, erworbene 297 Verbrennung 1149 – Analgosedierung 929 – Ernährung 929 – Expositionsmethode 926 – Infektionsprophylaxe 930 – Notfallversorgung 922 – Okklusionstherapie 924 – Operationsindikationen 923 – Prognose 921 – Substitution von Spurenelementen und Vitaminen 930 – Therapie 924 – operative 926 – Verbrennung I. Grades 920 – Verbrennung II. Grades 921 – Verbrennung III. Grades 921 – Verbrennungsausmaß 921 – Intensivtherapie 928 – Verbrennungstiefe 920 – Verbrennungszentrum, Zuweisung 923 – Verbrennungszonen 921 – Volumenbedarf 923 – Volumentherapie bei Kindern 1150 Verdichtung – diffuse pulmonale 206 – fokale pulmonale 206 Verdünnungshyponatriämie 1125 Verfahren, extrakorporale – Intoxikationen 769 Vergiftungen – Antidotbehandlung 1175 – hämodynamische Störungen 1177 – Häufigkeitsverteilungen 1168 – Intensivtherapie 1176 – Klinik und Diagnostik 1170 – Therapie 1173 – Respiratortherapie 1177 – Vergiftungsverdacht, Laboruntersuchungen 1172 Verlegung – Probleme 112 – Verlegungsfehler, Vermeidung 99 Verletzungen – übersehene 874
– vermeidbares unerwünschtes Ereignis – Schaden (»preventable adverse event«) (Definition) 67 Versorgungskette, krankenhausübergreifend 112 Versorgungsqualität, Personal 101 Verweildauer 98 »video-assisted thoracoscopic surgery« (VATS) 988 Videx 855 Vigilanz 646 Viracept 856 Viramune 855 Viread 855 Virostatika 563 Virusenzephalitis, Herpes-simplex- 621 Virushepatitis, fulminante 561 Visite, tägliche 104 Vitamin B6 682 Vitamin K 293 Vollhauttransplantation 928 Volumen – globales enddiastolisches (GEDV) 154 – intrathorakales thermales (ITTV) 154 Volumenersatz – Bluttransfusion 276 – Kristalloide oder Kolloide 276 – Massivtransfusion 277 – «small volume resuscitation« 276 – Thrombozytenkonzentrat 277 – venöser Zugang 276 – Volumentherapie – beim polytraumatisierten Patienten 866 – verzögerte 276 – Zielkriterien 277 Volumenmangel 999 Volumenregulation 227 Volumensubstitution 1149, 1157 Volumina, intrathorakale 132, 154 Vorerkrankung 123 – Prognose einer Intensivbehandlung 124 Vorhofdruck, rechter (RAP) 150 Vorhofflattern 421, 434 Vorhofflimmern 421, 438, 977 – Behandlung 977 – Prävention 977 Vorhofstimulation 979 Vormundschaftsgericht 7 Vorsorgevollmacht 6, 7 VRE (s. Vancomycin-resistente Enterokokken)
T–X
W Wachkoma, Remissionszeichen 710 Wachstation 111 Wachstumshormon 234 Wachstumskurven 1132 Warfarin-Natrium (Coumadin) 292 Wasser- und Elektrolythaushalt, Kind 1141 Wasser- und Elektrolytstoffwechsel 226 Wasseraufnahme, Kind 1141 Wasserbedarf, Kleinkind 1141 Wasserhygiene 43 Waterhouse-FriedrichsenSyndrom 298 Weaning (s. auch Beatmung) 363 Weaningprotokolle 526 – Kompensation der zusätzlichen Atemarbeit 527 – Spontanatmungsversuch 527 – T-Stück-Versuch 527 Wedgedruck 146 Wedgeposition 146 Weichteilbeurteilung im Abdomen, Röntgendiagnostik 211 Weichteilinfektionen, schwere 835 Weiterbildung – ärztliche 117 – Befähigung 118 – Kompetenz 118 – Weiterbildungsordnung Fachkrankenpflege 29 Wendel-Tubus 326 Wiederwärmung 945 – Verfahren 944 Win-win-Situation 106 Wirbelsäulenverletzungen 871 – Badeunfälle 939 Wirkungsmechanismen von Pharmaka 242 Wolff-Parkinson-White-Syndrom 438 Wundinfektion – Diagnostik und Therapie 824 – Epidemiologie 823 – postoperative 822, 823, 825 – Prävention 824 – Risikofaktoren 823 – Surveillance 824 Wundverband, synthetischer 926
X Xylometazolin 1171
1218
Stichwortverzeichnis
Y Y-Prothese, abdominelle 1001
Z Zäkostomie 554 Zalcitabine 855 zentral-anticholinerges Syndrom (ZAS) 322 zentraler Venenkatheter (ZVK; s. Venenkatheter, zentraler) Zentralisation 270 zerebraler Blutfluss (CBF) 1007, 1013 zerebraler Perfusionsdruck (CPP) 1018 – CPP-Management 631 – ungenügender 1160 Zeugen Jehovas, Hämotherapie 288 Ziagen 855 Zidovudin 855 Zink, Antidot 1177 Zirkulation, persistierende fetale 1108 Zivilprozess 13 Zivilverfahren 10, 11, 13 ZNS-Erkrankungen – Aspergillose 684 – bakterielle 679 – Infektionen 620 – opportunistische 686 – opportunistische 684 – Viruserkrankung 683 – ZNS-Syndrome, tuberkulöse 682 Zusatzentgelte 92 ZVK (s. Venenkatheter, zentraler) Zwangseinweisung, Voraussetzungen 670 Zwerchfelldefekt, beidseitiger 1108 Zwerchfelldysfunktion 125 Zwerchfellhernie 1107 Zwerchfellruptur 906 Zwischenfall (»critical incident«) 11 – Definition 67 Zyanide – Antidot 1177 – Vergiftung 1149 Zyanwasserstoff, Vergiftung 922 Zytokine 573, 775, 777, 794 Zytomegalie, Enzephalitis 684