Anne de Groot
Engel am Abgrund Irrlicht Band 049
Dina blickte durchs Fenster. Jäher Schreck zeichnete sich auf ihrem...
17 downloads
1002 Views
430KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Anne de Groot
Engel am Abgrund Irrlicht Band 049
Dina blickte durchs Fenster. Jäher Schreck zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie warf sich herum und hämmerte wie wild gegen die Scheibe. »Umkehren«, schrie sie. »Du sollst umkehren!« Doch die Kutsche fuhr unbekümmert weiter. Der Kutscher schien nichts gehört zu haben. »Dina, was hast du denn? Warum regst du dich so auf?« fragte Nathalie verstört. »Zu spät!« Dina sank auf den Sitz zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Die Todesschlucht«, stammelte sie. »Ich will sie nicht sehen. Der Abgrund, die Kutsche – es war schon dunkel, und sie verfehlte den Weg. Man hat nur noch Trümmer gefunden.« Sie ließ die Hände sinken und starrte Nathalie aus geweiteten, angsterfüllten Augen an. »Nath, sag mir, spürt man etwas, wenn man in einen Abgrund stürzt? Spürt man den Schmerz? Wie lange dauert es, bis man nichts mehr fühlt? Minuten oder Sekunden?« Felsbrocken säumten den Weg, und plötzlich wuchs ein dunkles Holzkreuz auf. Einen Moment lang sah man weißschimmernde Steine halb von wildem Gestrüpp überwuchert. Wie die Leiber der Toten, dachte Nathalie schaudernd. Und auf den Steinen hockten große schwarze Vögel, die beim Nahen der Kutsche mit wildem Kreischen aufflogen. Eine unheilvolle flatternde Wolke verdunkelte für Sekunden den Himmel.
Das stetige sanfte Rumpeln der Kutsche war einschläfernd wie ein Wiegenlied. An dem kleinen Fenster wanderte die Landschaft vorbei. Die Wälder leuchteten in den glutroten Goldfarben des Herbstes. Geraldine, Komteß von Trontheim warf einen Blick auf ihre Begleiterin. Nathalie hatte die Augen geschlossen. Die langen schwarzen Wimpern warfen gezackte Schatten auf die blassen Wangen. Wie müde sie aussieht, dachte Geraldine gerührt und mitleidig. Kein Wunder, wir sind ja auch seit drei Tagen unterwegs, und die Betten in den Gasthöfen waren nicht immer komfortabel. Sie selber fühlte sich nicht müde, im Gegenteil. Hellwach war sie, überwach, voller Spannung und ruheloser Erwartung. Eine Mischung aus Freude und Furcht bedrängte sie. Wie mag sie nur sein, die Fremde, die Stiefmutter, sann Geraldine. Stiefmutter – was für ein häßlicher Ausdruck, aber bestimmt werde ich sie niemals Mutter nennen, das kann niemand von mir verlangen, auch Papa nicht. Die Kutsche hielt mit sanftem Ruck. Nathalie schrak auf, blickte sich fremd um, fand dann Geraldines Augen. »Sind wir da?« »Noch nicht, aber bald.« Siegriff nach Nathalies Arm und drückte ihn vor Erregung. »Fang bloß nicht an zu heulen«, sagte Nathalie mit leisem Spott. »Ich heule nicht, bestimmt nicht«, beteuerte Geraldine, während ihr wie zum Hohn die hellen Tränen aus den Augen sprangen. »Hier, nimm meins!« Gutmütig drückte Nathalie ihr ein Spitzentüchlein in die Hand, blickte dann diskret durchs andere
Seitenfenster. »Ein schöner Park«, bemerkte sie. »Riesig sieht er aus. Gehört das alles euch?« »Alles«, lächelte Geraldine unter Tränen, »gehört uns, ist meine Heimat Verstehst du jetzt, warum ich so oft Heimweh hatte? Ich habe unsern Park vermißt, die Wälder ringsum.« Nathalie seufzte leise. Eine Falte grub sich zwischen ihre dunklen, feingeschwungenen Brauen. Die schweren Lider mit den langen dunklen Wimpern flatterten unruhig. »Hoffentlich wird dein Vater nicht ärgerlich, wenn du mich einfach mitbringst«, sagte sie besorgt. »Du hättest ihn vorbereiten sollen.« »Unsinn!« Dinas liebliches Gesicht rötete sich. »Schloß Trontheim ist meine Heimat, ich kann mitbringen, wen ich will«, erwiderte sie mit einem Trotz, der in krassem Widerspruch zu ihren engelhaften Zügen stand. »Und du bist meine beste Freundin.« »Ich bin Nathalie Mereau und du die Komteß von Trontheim«, widersprach Nathalie. »Zwischen uns liegen Welten. Ich habe weder adelige Verwandte vorzuweisen noch Reichtum. Dein Vater wird sich fragen, warum du gerade mich zur Freundin gewählt hast.« »Zur besten Freundin«, sagte Dina mit Nachdruck. »Dabei kennen wir uns erst kurze Zeit«, schränkte Nathalie ein. »Ich mochte dich sofort«, lächelte Dina. »Welche Mühe hast du dir gegeben, mir Französisch beizubringen. In dem halben Jahr mit dir habe ich mehr gelernt, als all die Jahre zuvor.« »Dafür wurde ich ja bezahlt.« Nathalie sagte es ohne Bitterkeit, aber in ihren dunklen Augen war ein eigenartiger Ausdruck von Kälte und Stolz. »Wir sind da, endlich!« Geraldine raffte den Saum ihres langen dunkelblauen Samtkleides und stieg die Stufen hinab. Dann rückte sie ihr blaues Samtbarett zurecht und winkte
Nathalie, ihr zu folgen. »Schloß Trontheim!« Ihre Stimme bebte vor Stolz und innerer Bewegung. »Da sind auch Papa und Matt!« Sie hob die Röcke und lief wenig damenhaft die Freitreppe hinauf, um sich ihrem Vater in die Arme zu werfen. Nathalie folgte ihr langsam. Ihr Blick streifte die Fassade des imposanten Gebäudes, das aus bräunlichem Sandstein errichtet war und bis zur halben Höhe von wildwucherndem Efeu malerisch umkränzt wurde. In den geschliffenen Scheiben der unzähligen Fenster brach sich das Licht der Sonne, und es erschien Nathalie, als blickte sie das Schloß aus hundert feindlichen Augen an. Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, ein unbestimmtes Unbehagen. Eine innere Stimme schien sie plötzlich zu warnen, umzukehren, solange sie konnte. Trotzdem ging sie weiter, gegen ihren inneren Widerstand, gegen die Furcht, die in ihr aufstieg und doch völlig unbegründet war. Niemand ahnte, warum sie wirklich hier war. »Das ist meine Freundin Nathalie«, hörte sie Dinas mädchenhafte Stimme. »Nathalie Mereau!« Sie nahm ihren Arm und zog die Widerstrebende an ihre Seite. »Nath, das ist mein Papa und unser lieber guter alter Matt. Eigentlich heißt unser Diener Matthias, aber für mich war er immer nur Matt.« »Fräulein Mereau?« Der Graf nahm flüchtig ihre Hand. Sein Gesicht war eine Schattierung blasser geworden, und sie hatte das Gefühl, als ob seine Hand leicht bebte. »Wie nett, eine Freundin Dinas kennenzulernen«, hieß er sie mit gepreßter Stimme willkommen. »Hoffentlich kommt Ihnen mein Besuch nicht ungelegen?« sagte Nathalie in höflichem Tonfall, sah ihm dabei fest in die Augen und bemerkte, wie er nervös ihrem Blick auswich. »Gehen wir doch hinein«, tat er hastig. »Nora möchte dich gern kennenlernen.«
Mit steifen, würdigen Schritten ging Matthias ihnen voraus und öffnete die Türen. Er trug eine grauweißgestreifte Weste zum weißen Hemd und schwarzen Hosen. Sein silbernes glattes Haupthaar reichte ihm bis zu den Schultern. Wie bei vielen hageren Männern seines Alters war sein Rücken leicht gekrümmt, was ihm eine übertrieben devote Haltung gab. Nathalie war im Moment viel zu erregt, um viel von ihrer neuen Umgebung wahrzunehmen. Sie spürte, daß ihre Schnürstiefel in dicken Teppichen versanken, warf einen flüchtigen Blick auf imposante Gemälde an den mit dunklem Holz getäfelten Wänden und fand sich dann in einem eleganten Salon wieder, mit kostbaren englischen Möbeln aus der Tudorepoche, Sesseln mit handgestickten Gobelins, die sich um ein Intarsientischchen gruppierten und einem englischen Marmorkamin mit Zinnreliefs. In dem Kamin flackerte ein behagliches Feuer, dessen Wärme die Dame im Lehnstuhl offensichtlich genoß, denn sie hatte den Stuhl ganz dicht herangerückt. »Nora, hier bringe ich dir Geraldine, meine Tochter«, sagte Graf Trontheim. Sein schöngeschnittenes Gesicht war noch immer bleich, doch das konnte auch eine ganz erklärliche Ursache haben. Immerhin war es die erste Begegnung seiner Tochter mit seiner zweiten Frau. Frau Nora hatte sich erhoben. Sie war zierlich und schlank wie eine Nippesfigur. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber ihr tiefbraunes Haar, das im Nacken zu einem Knoten geschlungen war, zeigte noch keinen Silberfaden. Die beiden Damen begrüßten sich mit etwas gezwungener Freundlichkeit. In Dinas Gesicht stand deutlich Überraschung geschrieben. Sie hatte sich Nora ganz anders vorgestellt, eine blendende Schönheit, die ihrem Vater den Kopf verdreht hatte. Statt dessen fand sie eine recht unscheinbare Person, die man beim besten Willen nicht als hübsch bezeichnen konnte.
Und so eine Person hatte den Platz ihrer blendend schönen Mutter eingenommen? Nein, sie verstand ihren Vater wirklich nicht. Schon allein, daß er nach drei Jahren Witwenschaft wieder geheiratet hatte, war ihr unbegreiflich gewesen. »Vielleicht möchten sich die jungen Damen frisch machen?« meinte die Gräfin mit ihrer leisen, doch angenehmen Stimme. »Ich werde Nanni Bescheid sagen, daß sie das Gastzimmer neben deinem Zimmer richtet.« »Hoffentlich mache ich Ihnen keine Ungelegenheiten«, murmelte Nathalie. »Sicher nicht!« Nora lächelte, und für einen kurzen Moment strahlten ihre braunen Augen so auf› daß sie fast hübsch wirkte. »Für Dina wird es nett sein, Gesellschaft zu haben. Wenn man so abseits lebt wie wir, ist man für jede Gesellschaft dankbar, nicht wahr, Gernot?« Sie schickte ein schüchternes, fast entschuldigendes Lächeln in Richtung ihres Gatten, als hätte sie mit ihren Worten zuviel gesagt und entschwand dann wie ein Geist. »Gehen wir also nach oben«, seufzte Dina. Sie hatte das Samtbarett abgenommen und lockerte mit den gespreizten Fingern ihr weißblond schimmerndes Lockenhaar, das wie ein Heiligenschein ihr zartes engelhaftes Gesicht umschmeichelte. »Ich bin nach dieser langen Reise ziemlich erledigt.« »Das glaube ich dir gern!« Graf Gernot blickte sie mit schmerzlichem Lächeln an. »Aber jetzt hast du ja Zeit, dich zu erholen. Mit Nora wirst du dich bestimmt gut verstehen. Sie ist eine herzensgute Seele.« »Das ist sie sicher«, sagte Dina höflich. »Komm, Nath!« Die jungen Damen waren gerade aus der Tür heraus, als der Graf seine Tochter zurückrief. Sekundenlang umarmte er sie stumm und preßte sie fest an sich.
»Ich bin froh, daß du wieder bei mir bist«, flüsterte er dann erstickt. »Das wollte ich dir nur noch sagen.« »Ich bin auch froh, sehr froh sogar!« Dina drückte ihr Gesicht gegen sein Jackett und schluchzte auf. »Aber ich habe mir meine Heimkehr anders vorgestellt, ganz anders. Warum mußtest du diese fremde Frau heiraten? Sie ist so ganz anders als Mama war.« »Eine Frau wie deine Mutter findet man kein zweites Mal«, sagte der Graf, aber seine Stimme klang spröde, als dächte er an ganz etwas anderes. »Für einen Mann meines Alters ist es schwer, allein zu sein«, fuhr er etwas sicherer fort. »Vielleicht habe ich mit Absicht eine Frau gewählt, die so ganz anders ist als deine Mutter.« Dina hob ihr schönes, tränennasses Gesicht zu ihm auf. »Aber so, wie du Mama geliebt hast, kannst du Nora doch nicht lieben?« fragte sie leidenschaftlich. »So nicht, ganz sicher nicht.« Graf Trontheim lächelte traurig und abwesend. »Die Liebe, mein Kind, hat viele Gesichter. Später, wenn du älter bist, wirst du mich verstehen.« Er blickte durch die offenstehende Tür und stellte fest, daß Dinas Freundin diskret weitergegangen war. »Dieses Fräulein Mereau…«, fragte er halblaut mit leiser Unruhe in der Stimme, »kennst du es schon länger?« »Nur einige Monate. Nathalie war bei uns im Internat, sie unterrichtete Französisch. Später werde ich dir ausführlich erzählen. Du hast doch nichts dagegen, daß ich Nathalie mitgebracht habe?« »Nein«, kam es zögernd und wenig überzeugend von seinen Lippen. Er löste die Hände von ihren Schultern. »Wir sehen uns dann gleich beim Dinner.« Dina fand die Freundin in der Halle, wo sie in die Betrachtung eines Porträts versunken war. Das Bild zeigte eine wunderschöne blonde Frau im tiefdekolletierten
champagnerfarbenen Abendkleid. Die Art, wie sie mit schwellenden Lippen lächelte, hatte etwas Leichtfertiges. Doch von ihrer strahlenden Anmut ging so viel Charme aus, daß der Betrachter gefesselt war. »Meine Mutter«, sagte Dina. »Du siehst ihr sehr ähnlich.« »Findest du?« Dina seufzte mit drolliger Miene. »So hübsch wie Mama werde ich bestimmt niemals.« Nathalie atmete schwer. Noch immer hing ihr Blick an dem Bild, als könnte sie sich nicht davon lösen. »Es ist ganz anders als die übrigen Bilder hier«, sagte sie gepreßt. »Sehr alt kann es noch nicht sein. Weißt du, wer das Bild gemalt hat?« »Ach, irgend so ein junger, umherziehender Maler«, antwortete Dina gleichgültig. »Aber du hast recht. Sehr alt ist das Bild noch nicht. Der Maler hat es kurz vor Mamas Tod vollendet.« Kurz vor ihrem Tod? Nathalie erschauerte. Ein Eishauch hatte ihr Herz berührt. Tausend Fragen bedrängten sie, doch sie mußte vorsichtig sein. Wenn sie zuviel fragte, würde man mißtrauisch werden. Sie mußte ganz allein das Geheimnis ergründen. Eines Tages, dachte Nathalie mit wundem Herzen und stiller Verzweiflung, eines Tages werde ich die Wahrheit wissen, alles werde ich wissen und dafür sorgen, daß der Schuldige seine gerechte Strafe bekommt. Sie folgte Geraldine die teppichbelegten Stufen hinauf, die auf eine Galerie mündeten, die die Halle hufeisenförmig umschloß. Dina blieb einen Moment stehen und neigte sich über das Mahagonigeländer. Ihr süßes Gesicht leuchtete. »Hier habe ich immer als Kind gehockt, wenn in der Halle ein Fest war«, meinte sie träumerisch. »Alles konnte ich von hier oben sehen, die Musiker in ihren Fräcken, die schönen
Damen in ihrem Schmuck, den herrlichen Prachtgewändern. Mama kam mir immer wie die Schönste vor. Und wie sie tanzen konnte, leicht, graziös, einfach himmlisch!« Dina lächelte traumverloren. »Jetzt bin ich selber alt genug, Feste zu feiern. Sicher wird Papa einen Ball für mich geben, zu meiner Rückkehr.« Sie nahm Nathalies Arm und ging weiter. »Unsere Zimmer sind im rechten Flügel«, erklärte sie. »Wir sind da ganz unter uns. Niemand wird uns stören. Mein Vater wohnt im linken Flügel. Eine Menge Räume stehen im Moment leer. Doch wenn wir Gäste haben, wird es manchmal sogar noch recht eng.« »Das müßten dann aber sehr viele Gäste sein«, meinte Nathalie spottend. »Was glaubst du wohl«, lächelte Dina, »fünfzig bis hundert sind es manchmal. Ach, ich liebe Feste. Ich habe dann immer das Gefühl, unser Schloß würde erst richtig zu leben beginnen. So, zuerst zeige ich dir meine Räume.« Dina blieb stehen und öffnete die Mahagonitür. Ein bezaubernd eingerichtetes Damenzimmer nahm sie auf, die zierlichen Möbel in Rosenholz, die Teppiche in weichen, hellen Farben. Die Spitzengardinen verzauberten die Fenster, die Sesselchen waren im Biedermeierstil. »Mein Schlafgemach.« Mit drolligem Lächeln öffnete Dina eine Glastür und ließ Nathalie in ein elegantes Boudoir mit Rokokomöbeln sehen und einem riesigen Himmelbett mit blauem Baldachin. Jeder Raum war mit einem Kamin ausgestattet, in dem ein behagliches Feuer brannte. An den Wänden mit den goldenen Seidentapeten waren künstlerisch geformte Petroleumlampen angebracht. Die vielen Kerzenleuchter waren mit frischen Kerzen versehen.
»Phantastisch«, sagte Nathalie tief beeindruckt. »Ich bin zum erstenmal in einem Schloß, aber ich muß sagen, so läßt es sich leben.« »Deine Räume sind auch nicht schlechter«, lächelte Dina. »Du sollst dich ja wohl bei uns fühlen. Verstehst du jetzt, warum ich so froh bin, daß du mit zu uns gekommen bist? Allein ist man hier doch ziemlich verloren.« Zusammen gingen sie ins Nebenzimmer, das einen ebenso gemütlichen Salon hatte, doch die Möbel waren aus heller, ungeheizter Eiche und die Sessel rustikal bezogen. Das Feuer in dem Kachelkamin war noch jung und hatte den Raum noch nicht erwärmt. Auch das Schlafzimmer war in schlichten schönen Farben gehalten, was Nathalies Geschmack viel mehr entsprach als der überladene Luxus in den Räumen der Komteß. »Hier werde ich mich bestimmt sehr wohl fühlen«, sagte Nathalie freundlich. Sie blickte sich suchend um. »Ich möchte mich gern zum Dinner umkleiden. Hast du eine Ahnung, wo meine Reisetaschen geblieben sind?« »Sie müßten doch längst hier oben sein«, verwunderte sich Dina. »Ich werde Matt sofort Bescheid sagen, daß er dir deine Sachen bringt.« »Es eilt ja nicht!« Allein geblieben wanderte Nathalie durch die Räume und versuchte, sich einzugewöhnen. Sie öffnete den Eichenschrank und fand eine vollständig eingerichtete Bar mit Rot- und Weißwein und französischem Likör. Da sie nach der langen Fahrt sehr durstig war, goß sie sich ein Glas Rotwein ein. Der Wein war herb und erfrischte sie. Mit dem Glas in der Hand wanderte sie ins Schlafzimmer und warf einen sehr sehnsüchtigen, verzichtenden Blick auf das gemütlich aussehende Himmelbett.
Sich jetzt ausstrecken können, die Augen schließen und für einige Minuten vergessen können, was einen bedrückte! Mit der freien Hand berührte sie die honigfarbene Seide des Himmels, strich über die beigefarbenen Seidenkissen, die einen sanften Lavendelduft ausströmten. Als sie in den Wohnraum zurückging, fand sie ihre Reisetaschen, wie mit Zauberhand hingestellt. Mit einem tiefen Seufzer öffnete Nathalie ihr enges Jäckchen, das ihr den Atem nahm, und verwünschte für einen Moment die Mode, die es den Frauen vorschrieb, Wespentaille zu tragen, öffnete die Reisetasche mit ihren Kleidern und fischte ein bequemes lindgrünes Hauskleid aus Wolle hervor. Soweit sie sich erinnerte, hatte es obenauf in ihrer Tasche gelegen. Daß sie es jetzt ganz zuunterst fand, erstaunte sie, doch sie dachte weiter nicht darüber nach. In der Eile des Packens vergaß man oft, wohin man die Sachen gab. In der anderen Tasche waren ihre Schriften, die geliebten Bücher, die Briefe Pierres, die so selten kamen und dann doch so ausführlich waren, daß sie halben Romanen glichen. Als Nathalie diese Reisetasche mit ihren ganz persönlichen Sachen öffnete, erschrak sie heftig. Sie waren völlig durcheinander geraten, ein vollkommenes Chaos. War es möglich, daß das Rütteln der Kutsche daran schuld war? Nein, dachte Nathalie. Nein, das ist doch nicht möglich. Selbst das heftigste Rütteln konnte die Schriften, Bücher und Briefe nicht so durcheinander bringen. Alles sah aus, als hätte eine ungeduldige Hand darin gewühlt, um etwas zu suchen, aber was? Sekundenlang stockte ihr der Atem. War es möglich, daß man ihre Sachen durchstöbert hatte? Eisiges Entsetzen überlief sie. Sie wußte plötzlich, daß sie in Gefahr war.
Man mißtraute ihr. Wenn man ihre Sachen durchsuchte, so bedeutete das, man ahnte, warum sie hier war. Pierres Briefe! fiel es ihr heiß auf die Seele. Wenn sie die Briefe gefunden hatten, wußten sie alles. Nervös begann sie nach den Briefen zu kramen. Sie hatte sie mit einem roten Band zusammengebunden. Da war das schmale Päckchen! Das rote Band, es war nicht anders geknotet als sonst? Aber jedenfalls waren die Briefe da, alle vier Briefe. Sie waren drei Jahre alt. Seitdem hatte sie nichts mehr von Pierre gehört. Langsam beruhigten sich ihre Nerven. Ich bin einfach übermüdet, sagte sich Nathalie. Vielleicht war wirklich das Rütteln der Kutsche an der Unordnung schuld. Sie ging in das Boudoir und versteckte die Briefe unter der Matratze, zog das Bettuch wieder glatt und atmete tief auf. Sie schlüpfte dann in das bequeme Hauskleid und setzte sich im Schlafzimmer vor den Spiegeltisch, um ihr Haar zu bürsten. An der Tür klopfte es. »Ja, bitte«, rief Nathalie. Geraldine tänzelte herein. Auch sie hatte es sich bequem gemacht. Das weiche himmelblaue Wollkleid ließ sie wie ein Kind erscheinen, die ungebärdigen blonden Locken hatte sie in zwei brave Zöpfe geflochten. »Deine Sachen wird Nanni nachher einräumen«, sagte Dina munter, nahm ihr die Bürste aus der Hand. »Laß mich das machen. Du hast so herrliches Haar! Überhaupt bist du sehr hübsch mit diesen schwarzen Haaren und den grünen Augen, die hübscheste Frau, die ich kenne.« »Außer dir natürlich«, meinte Nathalie mit leisem Spott. Dina lachte. »Na, so ganz häßlich bin ich nicht.« Sie neigte sich, daß ihre Köpfe in gleicher Höhe waren. »Neben dir wirkt mein Haar noch heller«, lächelte sie. »Ein fabelhafter Kontrast.
Gunthers Haar ist fast so dunkel wie deins. Ich bin gespannt, wie er dir gefällt.« »Warum sollte er mir gefallen? Die Hauptsache ist doch, er gefällt dir«, spottete Nathalie. »Seid ihr eigentlich schon lange verlobt?« »Schon eine Ewigkeit«, seufzte Dina. »Wir waren schon als Kinder einander versprochen.« Sie zog die hübsche Stirn kraus. »Was meinst du, werden unsere Kinder vielleicht rothaarig?« »Wenn das deine einzige Sorge ist…«, lachte Nathalie hellauf. »Bei einem Mädchen können rote Haare ja sehr hübsch wirken«, sagte Dina, »aber bei einem Jungen?« »Was bist du doch für ein Kindskopf«, rief Nathalie kopfschüttelnd aus. »Das wichtigste ist doch, ihr habt euch lieb und versteht euch.« »Wir verstehen uns blendend«, versicherte die Komteß. »Gunther macht mir immer so reizende Geschenke. Diese Kamee«, sie zeigte auf die Brosche an ihrem Kleid, »ist auch von ihm.« »Wie glücklich mußt du sein«, sagte Nathalie leise. »Es muß schön sein, einen Menschen zu haben, den man lieben kann. Du liebst ihn wohl sehr, deinen Verlobten?« »Ich bete ihn an«, entgegnete Dina in gleichgültigem Ton, der ihre Worten Lügen strafte. »Da er bald mein Gatte sein wird, muß ich ihn ja lieben.« »Da ist es dir sicher schwergefallen, so lange von ihm getrennt zu sein?« »Was meinst du?« Dina ließ die Bürste sinken. Ihre blauen Augen zeigten einen verwirrten Ausdruck. »Warum sollte mir das schwergefallen sein? Ich wußte doch, daß wir eines Tages wieder vereint sein werden.«
»Aber du mußt doch Sehnsucht nach ihm gehabt haben«, beharrte Nathalie. »Wenn man einen Menschen liebhat, so sehnt man sich doch danach, bei ihm zu sein, Tag und Nacht.« »Ich werde ja noch Zeit genug haben, bei ihm zu sein«, erwiderte Dina gleichmütig. »Ein Leben lang! Ehrlich gesagt, große Sehnsucht habe ich nie nach ihm gehabt. Gunther ist immer ernst, genau wie mein Vater. Und ich lache gern und bin fröhlich. Wenn man aber erst verheiratet ist, beginnt der Ernst des Lebens und man muß in dunklen Kleidern würdevoll daherschreiten.« Dina zog eine so komische Grimasse, daß Nathalie hellauf lachen mußte. »Dich in dunklen Kleidern würdevoll daherschreiten zu sehen, wird bestimmt ein Erlebnis«, scherzte sie. »Als wenn du nicht genau wüßtest, daß dunkle Kleider zu deinen hellen Haaren bezaubernd aussehen. Muß ich mich wohl zum Dinner umziehen?« »Heute nicht. Wir sind ja unter uns und können es uns bequem machen. Ach, Nath, ich finde es herrlich, daß du mit mir gekommen bist. Bestimmt werden wir viel Spaß zusammen haben. Morgen, noch vor dem Frühstück, reiten wir zusammen aus, dann zeige ich dir unseren Besitz.« »Eine besonders gute Reiterin bin ich nicht«, gab Nathalie zu bedenken. »Wenn schon! Ich werde ein ganz lammfrommes Tier für dich aussuchen, am besten einen Schimmel. Auf einem Schimmel müßtest du wundervoll aussehen.« Noch eine ganze Weile plauderten die Freundinnen in der leichtfertigen Art, und Nathalie spürte, wie gut ihr das tat, wie sich ihre Nerven entspannten. Dina kam ihr wie ein Kind vor, wie ein liebliches, unbeschwertes Kind, und es bedrückte sie, daß sie ihr so viel verheimlichen mußte.
Was auch immer geschehen ist, dachte Nathalie, Dina darf nicht darunter leiden. Dina ist so schuldlos, wie ein Schmetterling, der, auch wenn er giftige Blüten berührt, nichts von ihrem Gift in sich aufnimmt. Sie hatte Dina liebgewonnen. So ein Sonnengeschöpf wie Dina mußte man einfach gern haben, liebhaben und wünschen, daß sie immer so heiter und unbeschwert bleiben würde wie jetzt. Der flackernde Schein der Kerzen in den kostbaren Silberleuchtern machte die Gesichter weich. Auf dem blendendweißen Damasttuch schimmerte edles Porzellan. Das schwere Silberbesteck trug das Wappen der Trontheims, einen springenden Hirsch. Matthias servierte die ausgesucht köstlichen Speisen. Er trug jetzt ein silbergraues Wams aus Samt und graue Kniehosen. »Werden Sie länger hierbleiben, Fräulein Mereau?« fragte Graf Trontheim. »Ich hoffe recht lange«, antwortete Dina für die Freundin. »Nathalie hat ja nichts zu versäumen, und ich brauche ganz dringend eine Gesellschafterin.« Graf Trontheim griff nach seiner Serviette und tupfte sich die Lippen ab. »Haben Sie keine Angehörigen mehr?« wandte er sich an Nathalie. Nathalie blickte ihn an. »Ich habe noch einen Bruder«, bemerkte sie leichthin. »Aber wo er steckt, weiß im Moment niemand. Ich habe lange nichts von ihm gehört.« Ein Klirren hinter ihr ließ sie herumfahren. Matthias hatte die Salatschüssel fallen lassen, bückte sich mit blutrotem Gesicht und begann, die Scherben aufzusammeln. »Matthias«, rief der Graf in scharfem, rügendem Ton. »Ich bin über den Teppich gestolpert, entschuldigen Sie bitte«, murmelte der Diener.
Nathalie spürte etwas Warmes, Weiches um ihre Beine streichen. Sie erschauerte und sah eine Katze unter dem Tisch hervorkommen, die jetzt anfing, die Reste der süßen Salatsoße aufzulecken. »Lissy, geh weg«, scheuchte der Diener sie halblaut und ärgerlich. »Ach, ist die schön! Schwarz wie ein Teufel.« Entzückt klatschte Dina in die Hände. »Laß sie ruhig hier, Matt! Sie tut doch keiner Menschenseele etwas. Sieh nur, wie hungrig sie ist! Komm her zu mir, komm! Du kriegst auch etwas Feines.« Dina steckte ein Stück Forelle in die Serviette und lockte die Katze damit. Nathalie, die neben ihr saß, wich erschrocken zurück, als Lissy so dicht bei ihr auftauchte und nach dem Leckerbissen schnappte. Sie war weiß im Gesicht geworden und spürte, wie sich ihr Haar vor Widerwillen sträubte. Plötzlich sprang Lissy auf ihren Schoß. Mit entsetztem Schrei fuhr Nathalie hoch und warf dabei ihren Stuhl um. Dina wollte sich ausschütten vor Lachen. »Oh, Nath«, prustete sie. »Lissy ist doch kein Ungeheuer, sondern ein süßes schwarzes Kätzchen. Sag bloß, hast du Angst vor Katzen?« »Ich mag sie nicht besonders«, antwortete Nathalie mit weißen Lippen. »Als ich noch ein Kind war, ist mir mal eine Katze in den Nacken gesprungen und hat mich schlimm gekratzt. Seitdem fürchte ich mich vor Katzen, auch wenn ich weiß, daß es albern ist.« »Matthias, bringen Sie bitte die Katze hinaus«, ordnete Gräfin Nora mit ihrer gütigen Stimme an. »Solche Tiere haben auch nichts bei Tisch zu suchen.« Der Graf war unwillig. »Es ist nicht meine Schuld. Sie muß sich hereingeschlichen haben«, verteidigte sich der Diener.
Nathalie fühlte noch die Anstrengungen der Reise und hatte überdies von dem ungewohnt reichlichen Weingenuß einen schweren Kopf. Sie verabschiedete sich bald. Matthias geleitete sie mit dem brennenden Kerzenleuchter nach oben. Er zündete in ihrem Zimmer die Petroleumlampe an und zeigte ihr, wie man den Docht auf Sparflamme drehte. »Wenn Sie in der Nacht Licht brauchen, müssen sie nur größer drehen«, riet er ihr. »Ich wünsche dem gnädigen Fräulein eine angenehme Nacht!« »Danke!« Nathalie wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte, dann machte sie sich für die Nacht zurecht, zog das weiße Batisthemd mit den geklöppelten Spitzen an und schlüpfte aufatmend unter die Bettdecke. Ach, herrlich war es, die Glieder, befreit vom einengenden Mieder, ausstrecken zu können. Sie kuschelte sich in die weichen warmen Kissen zurecht und spürte, wie wohlige Mattigkeit sich in ihr ausbreitete. Schon ist es, sich mal verwöhnen zu lassen wie eine Prinzessin, dachte sie. Auf die Dauer könnte ich natürlich so ein Drohnendasein nicht ertragen. Ich bin einfach zu sehr daran gewöhnt, Pflichten zu haben und für meinen Lebensunterhalt zu sorgen. Jetzt wollte sie aber erst mal gründlich ausschlafen und an nichts mehr denken. Sie drehte die Lampe ganz klein, blickte zur Balkontür hin und sah, daß sie einen Spalt offenstand. Der leichte Nachtwind blähte die schleierartigen Vorhänge und brachte Kühle in den Raum. Eine Weile noch ließ sie die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen. Sie dachte über die Menschen nach, die sie hier kennengelernt hatte, und fand sie alle sympathisch. Oh, Pierre, dachte sie dann, wenn du wüßtest, daß ich hier bin, würdest du es gutheißen?
Sie wußte, daß er hier gewesen war, eine Zeitlang hier gelebt hatte. Wenn sie es nicht durch seine Briefe erfahren hätte, würde das Bild es ihr verraten haben, das Bild, das ihr Bruder Pierre mit so viel Liebe gemalt hatte. Wo mochte Pierre jetzt sein? Ob er überhaupt noch lebte? Furcht und Schmerz stiegen in ihr auf. Drei Jahre sind eine furchtbar lange Zeit. Niemals hätte Pierre sie so lange ohne Nachricht gelassen. Es mußte ihm etwas zugestoßen sein. Nathalie schloß mit tiefem Seufzer die Augen. Sie wollte, durfte jetzt nicht mehr an all das denken, was ihr Herz bedrückte, sonst würde sie überhaupt keinen Schlaf finden. Und sie brauchte doch alle Kraft für ihre schwere Aufgabe. Nathalie mußte wohl eingeschlafen sein, ohne es zu merken, denn plötzlich schrak sie aus schwerem Schlummer hoch. Im ersten Moment wußte sie gar nicht, wo sie sich befand, was sie geweckt hatte. Verwirrt rieb sie sich die Augen und versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es mußte mitten in der Nacht sein. Schwaches Mondlicht erhellte den Raum. Der Wind war stärker geworden und brachte einen Schwall kalter Luft durch die offenstehende Balkontür. Eigenartig! durchzuckte es Nathalie. Als ich einschlief, war die Balkontür doch nur einen Spalt offen. Hat der Wind sie so weit aufgestoßen? Vielleicht hat mich das Knarren der Tür geweckt? Nathalie richtete sich auf. Sie wollte aufstehen und die Tür schließen, als sie einen seltsamen Laut hörte. Es klang wie das Wimmern eines Kindes. Nein, dachte Nathalie erschrocken, während es ihr eiskalt über den Rücken lief. Ich träume das nur, ich bilde es mir nur ein. Wie sollte ein kleines Kind hierherkommen?
Mit angespannten Sinnen lauschte sie in die Dunkelheit. Jetzt war es wieder still. Doch dann plötzlich klangen wieder die wimmernden, klagenden Laute auf. So mochten arme Seelen schreien, die keine Ruhe fanden. Nathalie stockte der Atem vor Entsetzen, sekundenlang setzte ihr Herzschlag aus, um dann heftig und wild und unerträglich schmerzhaft gegen ihre Rippen zu hämmern. Geister! durchzuckte es sie. Aber es gibt doch keine Geister. Jedenfalls glaube ich nicht daran. Sie zog sich die Decke über die Ohren und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch selbst durch das dicke Polster bildete sie sich ein, das entsetzliche Wimmern zu hören. Nein, dachte sie, von Grauen geschüttelt. Das halte ich nicht aus, das ist unerträglich! Ich muß wissen, woher diese furchtbaren Geräusche kommen. Ich kann doch nicht einfach liegenblieben und mir die Ohren zuhalten. Es muß doch eine ganz natürliche Erklärung dafür geben. Entschlossen richtete sie sich auf, schraubte den Docht der Lampe höher, und sogleich verschwanden die Schatten und machten dem traulich schimmernden Lieht Platz. Wie still es plötzlich wieder war, so still, daß Nathalie ihren eigenen Atem hören konnte und das Säuseln des Windes. Vielleicht hatte sie wirklich nur geträumt, sich das alles eingebildet. Es gab solche Träume, in denen man glaubte, völlig wach zu sein. Jetzt hörte sie ja nichts mehr. Sie konnte sich beruhigt hinlegen und einschlafen. Doch da, was war das? Sie erstarrte, hörte ein Kratzen, als ob scharfe Nägel über eine Holzwand scharren würden. Nathalie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Eisiges Entsetzen durchströmte sie. Nein, das war kein Traum. Da war jemand im Nebenzimmer. Da waren auch wieder die klagenden, nerven zermürbenden Schreie, schauerlich zu dieser mitternächtlichen Stunde.
Kein Zweifel, es kam aus dem Nebenzimmer. Nathalie versuchte mit aller Gewalt, die Furcht in sich niederzukämpfen. Du bist doch sonst nicht so ein Hasenfuß, redete sie sich gut zu. Wenn tatsächlich irgendwelche Geister im Nebenzimmer ihr Unwesen treiben, so möchte ich ihnen doch wenigstens guten Tag sagen und sie bitten, ein wenig leiser zu sein. Sie raffte sich auf, machte einige Schritte auf die Tür zu und konnte es doch nicht verhindern, daß sie vor Angst bebte. Die Beine wollten ihr kaum gehorchen. Trotzdem zwang sie sich weiterzugehen, steckte dann vorsichtig den Kopf durch die Verbindungstür und blickte in den Raum. Er war genauso, wie sie ihn verlassen hatte. Im Kamin glimmte noch ein Rest des Feuers. Die eleganten Möbel standen still in dem Halbdunkel. Niemand war zu sehen, weder Mensch noch Geist. Beruhigt ging sie weiter, ein wenig schwankend, jeden Moment darauf gefaßt, daß etwas Entsetzliches passieren würde. Da, wieder das scharfe, unheimliche Kratzen. Ihre Nerven erbebten. Wild blickte sie sich um. Sie war nahe daran, hysterisch aufzuschreien. Sollte sie nicht zu Dina laufen und sie wecken? Aber dazu mußte sie über den dunklen Flur. Und Dina würde sie wahrscheinlich nur auslachen. Nein, sie mußte selbst und allein diesem Spuk auf die Spur kommen. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. »Ist da jemand?« fragte sie mit vor Entsetzen bebender Stimme. Sie zuckte zusammen, als zur Antwort ein klagender, wimmernder Laut ertönte. Nein, das war kein Mensch, kein Wesen aus Fleisch und Blut, dachte sie erschauernd. Aber vielleicht war es ein Tier?
Das Geräusch war aus der Nähe des großen Schrankes gekommen. Mit furchtsamen Schritten ging sie darauf zu, hörte, wie das Kratzen und Jammern lauter wurde, stürzte dann in jähem Impuls auf die Schranktür zu und riß sie auf. Ein dunkler Schatten warf sich auf sie. Ein Schmerz zuckte über ihren nackten Arm. Sie schrie auf, wich zurück, taumelte gegen den Tisch. Mit lautem Krachen fiel eine Blumenvase auf den Boden, und halb ohnmächtig vor Schmerz und Furcht sah sie gerade noch, wie der dunkle Schatten blitzartig durch die Balkontür entschwand. Die Katze! durchzuckte es plötzlich Nathalie in jäher Erkenntnis. Es war die schwarze Katze Lissy gewesen. Noch immer in Panik, schloß sie die Balkontür mit einem Knall, hörte, wie sich mit leisem Knarren die Tür öffnete und fuhr erschrocken herum. Auf der Schwelle erschien Dina. In dem langen weißen Nachtgewand und den gelösten Haaren sah sie wie ein Engel aus. Der Schein einer Kerze erhellte ihre anmutigen Züge. »Nath, was ist mit dir?« rief Dina besorgt. »Bist du gefallen?« »Oh, Dina, es war so schrecklich!« Aufschluchzend lief Nathalie auf die Freundin zu, zog sie ins Zimmer und schloß fest die Tür. »Die Schreie haben mich geweckt«, berichtete sie überstürzt. »Zuerst, dachte ich, es wäre ein kleines Kind, das so schreit, oder ein Geist.« Sie lachte nervös auf. »Aber es gibt ja keine Geister. Es war die schwarze Katze. Sie saß im Schrank. Jemand muß sie in den Schrank gesperrt haben.« Dina blickte auf die Scherben am Boden. »Du hast die Blumenvase umgestoßen«, stellte sie fest. »Von dem Krach muß ich aufgewacht sein.«
»Das tut mir leid«, stammelte Nathalie. »Ich muß gegen den Tisch gestoßen sein, und da ist die Vase wohl heruntergefallen. Ich habe einen furchtbaren Schreck gekriegt, als die Katze plötzlich auf mich lossprang.« »Was für eine Katze?« fragte Dina verwundert. »Die Katze, die im Schrank saß. Es war wohl Lissy. Davon rede ich doch die ganze Zeit.« Dina ging auf den Schrank zu und leuchtete hinein. »Hier ist keine Katze«, sagte sie ruhig. »Nein, jetzt nicht mehr! Sie ist ja auch weggelaufen, auf den Balkon. Das arme Tier hat wohl selber eine Todesangst ausgestanden, da im dunklen Schrank. Geschrien hat sie, ganz furchtbar war das.« »Meine Güte, Nath, beruhige dich doch«, sprach Dina sanft auf sie ein. »Du bist ja außer dir, zitterst am ganzen Körper. Komm, sei ganz still! Es ist ja wieder gut!« Dina führte die Freundin ins Boudoir, half ihr, ins Bett zu steigen und deckte sie liebevoll zu. »Du sagtest, die Katze war im Schrank?« forschte sie dann liebevoll. »Ja, stand der Schrank denn offen?« »Nein, das ist es ja! Der Schrank war fest verschlossen, und die Katze konnte nicht heraus. Deswegen hat sie so geschrien. Jemand muß sie in den Schrank gesperrt haben!« »Wer sollte denn so etwas Törichtes tun?« »Das weiß ich doch nicht. Vielleicht war es auch ein Versehen.« »Armes Ding!« Dina lächelte, fuhr ihr mit sanfter, streichelnder Bewegung über die Wange. »Schrecklich, solche Alpträume zu haben, und dann gleich in deiner ersten Nacht.« Nathalie richtete sich auf. Ihre Blicke irrten über Dinas schöne, unbewegte Züge. »Du glaubst mir nicht? Aber ich habe nicht geträumt, ich schwöre es dir. Ich war hellwach! Ich wäre doch nicht wach geworden, wenn ich nicht dieses
Schreien und Kratzen gehört hätte.« Nathalie erschauerte. »Ich bin wirklich nicht ängstlich, aber es klang entsetzlich.« Dina blickte zum Fenster hin. »Der Mond scheint«, sagte sie leise. »Es ist Vollmond. Bist du vielleicht mondsüchtig, Nath?« »Du glaubst mir also nicht?« Enttäuscht ließ Nathalie sich in die Kissen fallen. »Ich hätte es mir denken können. Alles klingt ja auch so unwahrscheinlich.« »Es gibt solche Träume«, sagte Dina, »da glaubt man, alles wirklich zu erleben.« »Aber es war wirklich! Es war reine Wirklichkeit«, ereiferte sich Nath, streckte ihren Arm aus und zeigte auf die blutige Schramme. »Hier, sieh nur, hier hat mich das Biest gekratzt!« Dina starrte stumm auf die Wunde. »Du könntest dich ja auch an einem feinen Nagel geritzt haben«, erwiderte sie. Ihre Augen zeigten einen grüblerischen Ausdruck. »Nathalie, glaubst du an Geister?« fragte sie plötzlich. »Unsinn! Geister gibt es nicht. Wer glaubt denn im neunzehnten Jahrhundert noch an Geister?« »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…«, seufzte Dina. »Aber Geister gehören ganz sicher nicht dazu.« Nathalie wollte lachen, doch als sie Dinas ernste Miene sah, wurde sie unsicher. »Glaubst du etwa daran?« Dina neigte sich dicht zu ihr. Ein flackernder Glanz war plötzlich in ihren Augen. Ihr heißer Atem streifte Nathalies Wange. »Man sagt«, flüsterte sie tonlos, »daß jemand, der eines gewaltsamen Todes stirbt, im Grab keine Ruhe findet, daß er so lange herumirren muß, bis sein Tod gesühnt ist.« »Aber Dina, dabist doch alles Unsinn! Wer behauptet denn so etwas?«
Dina richtete sich auf und starrte blicklos auf irgendeinen Punkt an der Wand. »Die Leute«, murmelte sie. »Auch meine Mütter ist eines gewaltsamen Todes gestorben.« »Dina!« Entsetzt blickte Nathalie die Freundin an. »Willst du damit sagen, deine Mutter sei ermordet worden?« Dina warf den Kopf auf eine Art zurück, als müßte sie schwere Gedanken abschütteln. »Sie ist verunglückt«, antwortete sie dann in normalem Tonfall. »Aber ich sollte dir jetzt nicht solche Geschichten erzählen. Du hast gerade genug ausgestanden, du Arme.« Als sie sich wieder über Nathalie neigte, hatte ihr schönes Gesicht wieder das liebliche, herzerwärmende Lächeln. »Ich sollte mich wirklich schämen, dir solche Schauergeschichten zu erzählen. Verzeih mir, Liebes! Wirst du jetzt schlafen können, oder soll ich noch bei dir bleiben?« »Ich kann ganz sicher schlafen, geh nur!« Nathalie lächelte schuldbewußt. »Tut mir leid, daß ich dir Umstände gemacht habe.« »Ach, das ist doch nicht weiter schlimm. Wir können ja morgen ausschlafen. Nath, darf ich dir einen Gute-Nacht-Kuß geben?« Nathalie nickte, spürte gleich darauf den kühlen Druck ihrer Lippe auf der Wange. »Schlaf gut, liebste Freundin«, hauchte Dina. »Ich bin so froh, daß du bei uns bist.« Sie ist wirklich sehr lieb und anhänglich, dachte Nathalie gerührt. Mein Gott, hoffentlich hält sie mir auch die Freundschaft, wenn sie erfährt, warum ich wirklich hier bin – daß ich nur aus purer Berechnung Freundschaft mit ihr geschlossen habe. Wenn sie es erfährt, hoffentlich ist sie dann auch großherzig genug, zu verstehen und zu verzeihen. Ich möchte nicht gern ihre Freundschaft verlieren.
*
Die jungen Damen hatten verschlafen und waren erst am Vormittag zum Frühstück gekommen. Da es für den Morgenritt zu spät geworden war, schlug Geraldine einen Spaziergang durch den Park vor. Das Wetter war ideal. Eine milde Herbstsonne schenkte dem buntgefärbten Laub der Bäume goldenen Glanz, ließ die endlos scheinenden grünen Rasenflächen olivfarben schimmern. Drei Gärtner waren damit beschäftigt, Laub zu fegen und die verblühten Rosen abzuschneiden. »Habt ihr eigentlich viele Bedienstete?« fragte Nathalie. Sie hatte die junge Freundin eingehakt. Langsam gingen sie dahin. Die langen engen Röcke ihrer Kleider verboten von selbst größerer Schritte. Nathalie wirkte in dem grünen Tuchkleid sehr damenhaft, fast wie eine Gouvernante. Nur das beigefarbene Spitzengeriesel des Kragens und der Manschetten milderten die Strenge ihres Aufzugs und natürlich ihr klares, jugendliches Gesicht, die lebhaften grünen Augen, deren ungewöhnlicher Glanz durch den Farbton ihres Kleides noch verstärkt wurde. Auf dem sorgfältig frisierten lackschwarzen Haar thronte ein keckes grünes Hütchen, während Dinas Blondhaar offen auf die Schultern des tiefblauen verspielten Samtkostüms fiel und im Glanz der Sonne wie aus Silber gesponnen schien. »Eine ganze Menge«, antwortete Dina gleichgültig. »Die meisten kenne ich nicht einmal.« Sie atmete tief auf. »Ist die Luft nicht herrlich? Ich könnte stundenlang so weiterwandern, natürlich nur mit dir, Nath. Allein herumzulaufen würde mir keinen Spaß machen.« »Ich mag den Herbst nicht besonders«, sagte Nathalie. »Aber hier in eurem Park ist auch der Herbst schön.« Sie bückte sich
und hob ein Ahornblatt auf. »Welch eine verschwenderische Fülle von Farben«, meinte sie träumend. »Ist es nicht eigenartig und wundervoll, daß die Natur, kurz vorm Sterben, solche Farbenpracht hervorzaubert?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Ganz plötzlich wuchs vor ihnen ein Pavillon auf, ganz mit Rosenranken überwuchert. Hier und da leuchtete noch eine vergessene Rose blutrot. Die bräunlichen Glasscheiben der Fenster schimmerten golden. Nathalie war stehengeblieben. »Bezaubernd!« entfuhr es ihr. »So richtig ein Ort zum Träumen. Kann man hineingehen?« Sie blickte die Freundin bittend an. »Wozu? Drinnen ist doch nur altes Gerumpel«, entgegnete Dina kurz, fast schroff. »Wir benützen den Pavillon schon seit Jahren nicht mehr. Meine Mutter war sehr gern dort und hat sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hingegeben.« »Was hat sie denn dort gemacht?« Nathalie versuchte, in das Innere des Pavillons zu blicken, aber die getönten Scheiben machten es unmöglich. »Mama hat sich dort ein Atelier eingerichtet und gemalt«, gab Dina zur Auskunft. »Aber eine große Künstlerin war sie nicht. Mein Vater hat sie oft mit dieser Leidenschaft aufgezogen, und dann konnte Mama sehr böse werden. Stundenlang konnte sie sich damit beschäftigen, eine bunte Blume zu malen. Früher als ich klein war, habe ich oft bei ihr gesessen und ihr zugesehen. Aber ich achtete nicht auf das, was sie malte. Ich sah nur ihr Gesicht an. Niemals war ihr Gesicht so entspannt und glücklich, als wenn sie ihre dummen kleinen Bilder malte. Die Bilder sind noch alle dort drinnen. Ganze Wände hat sie damit tapeziert.« »Ich würde sie gern sehen«, sagte Nathalie. »Ach, jedes kleine Kind malt genausogut«, versetzte Dina in ungeduldigem Tonfall. »Du würdest nur darüber lachen.«
»Ich würde sie trotzdem gern sehen«, beharrte Nathalie. »Gut, wenn du unbedingt willst.« Dina warf ihr einen eigenartigen Blick zu, schritt dann in ihrem gewohnten Elan auf die Tür zu. Nathalie konnte nur noch schwer ihre Erregung verbergen. Sie war sich sicher, in diesem von Rosen überwucherten Pavillon eine Spur des Geheimnisses zu finden. Hatte Pierre nicht den Rosenpavillon in seinen Briefen erwähnt? Allerdings hatte er ihn anders beschrieben, romantischer. »Ein Ort, umweht von Blütenduft, wo sich zwei liebende gleichgesinnte Seelen finden können«, hatte Pierre geschrieben. Er mußte den Rosenpavillon gemeint haben. Und die gleichgesinnte Seele? »Die Tür ist verschlossen«, sagte Dina, sichtlich erleichtert, nachdem sie einige Male an der kunstvoll geformten, schmiedeeisernen Klinke gerüttelt hatte. »Aber es muß doch einen Schlüssel geben?« »Mein Vater wird ihn haben«, seufzte Dina. »Aber ich wage es nicht, ihn darum zu bitten. Ich glaube, Papa hat den plötzlichen Tod meiner Mutter noch immer nicht überwunden.« »Er scheint doch mit seiner Frau Nora recht zufrieden zu sein.« »Nora!« Geraldine fuhr herum. In ihren Augen blitzte es böse auf. »Wer ist schon Nora!« sagte sie heftig. »Wie kann sich jemand für ein armselig bescheidenes Veilchen erwärmen, wenn er eine Rose besessen hat. Du hast doch das Bild meiner Mutter gesehen. Sag ehrlich, kann Nora sich auch nur im geringsten mit ihr messen?« »Wenn man nur die äußere Schönheit sieht, sicher nicht.« »Gibt es wirklich Männer, die bei einer Frau auch etwas anderes suchen?« spottete Dina.
»Ich hoffe doch«, antwortete Nathalie ernst. »Es muß doch auch Männer geben, denen Herzensgüte und Intelligenz wichtiger sind als sein süßes Gesicht.« »Da hältst du die Männer für klüger, als sie sind«, sagte Dina finster. »Wenn ich häßlich wäre und hinken würde, glaubst du, mein Verlobter würde sich dann den Teufel um meine schöne Seele kümmern?« »Du übertreibst!« Mit herzlichem Lächeln drückte Nathalie ihren Arm, zog sie weiter. »Ich bin ganz sicher, daß dein Gunther auch dein freundliches, liebevolles Wesen gern hat, genauso wie dein hübsches Gesicht.« »Vergiß nicht meinen Vater!« spottete Dina bitter. »Ohne Papas Reichtum würde mir weder äußere noch innere Schönheit nützen. Wäre ich die Tochter eines armen Pächters, würde mich Gunther nicht eines Blickes würdigen.« »So darf man es auch nicht sehen«, erwiderte Nathalie ernsthaft. »Auch Reichtum und Milieu prägen eine Persönlichkeit. Wenn du die Tochter eines Pächters wärst, dann wärst du eine ganz andere Person. Aber du bist die Komteß von Trontheim, und als solche hat dein Verlobter dich kennen- und liebengelernt. Würdest du denn deinen Gunther lieben, wenn er ein armer Pächter wäre?« »Gott bewahre!« entfuhr es Dina. »Als Pächtersfrau müßte ich mich ja im Haus und Feld totschuften. Sieh dir nur meine kleinen weißen Hände an, sie sind für solche schwere Arbeit überhaupt nicht geeignet.« »Du hast mich also schon verstanden.« »Sehr gut«, seufzte Dina und zog das Näschen kraus. »Aber trotzdem fehlt mir etwas, wenn ich Gunther sehe. Man müßte doch Herzklopfen haben, oder sich himmelhochjauchzend fühlen, wenn man weiß, der Liebste kommt.«
Sie blieb stehen und starrte die Freundin mit funkelnden Augen an. »Sag mir, Nath, gibt es die Liebe denn nur in Romanen? Ist sie nur eine Einbildung der Poeten?« Ein Schatten fiel über Nathalies Gesicht. »Ich weiß es nicht, Kleines«, antwortete sie leise. »Hast du noch nie einen Mann geliebt, mit Herzklopfen und so?« »Nein«, entgegnete Nathalie spröde, »noch nie.« »Dabei bist du eine so schöne Frau.« »Ich habe mal einen Menschen sehr liebgehabt«, sagte Nathalie mit schmerzlichem Lächeln, »aber das war eine ganz andere Art Liebe, nicht die Liebe, wie du sie meinst.« Dina fragte nicht weiter. Schweigsam gingen die jungen Damen den Weg zurück. Der leichte Wind ließ goldfarbene Blätter auf sie herabregnen. Unter ihren Füßen raschelte das Laub. Auch dessen Blätter waren einmal leuchtend bunt oder goldfarben gewesen. Wie vergänglich war doch die Schönheit! Vor dem Schloßportal parkte eine Kutsche mit vier unruhig tänzelnden Füchsen. Auf den schwarzen Türen war ein Wappen eingraviert, das Abbild eines edlen Falken. »Mein Verlobter macht uns die Ehre seines Besuches«, stellte Dina mit freudlosem Lachen fest. »Er hat wirklich keine Zeit verloren. Beeilen wir uns, ihn zu begrüßen.« Nach all dem hatte Nathalie erwartet, Dina würde ihren Verlobten sehr kühl begrüßen. Doch sobald sie die Halle betraten, schien sie wie verwandelt. »Gunther, Liebster, wie schön dich zu sehen«, rief sie mit jubelndem Lachen und lief auf den hochgewachsenen Mann zu, der sie mit etwas überraschtem Gesichtsausdruck in seinen Armen auffing. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte Gunther, Graf von Werth, ein wenig steif. Über Dinas Schulter hinweg fing er
Nathalies Blick auf und senkte vor dem spöttischen Gefunkel in ihren Augen den Kopf. »Wer ist das?« fragte er halblaut und betroffen. »Willst du mich nicht der jungen Damen vorstellen, Liebling?« Nathalie wußte nicht, wen sie nach Dinas Schilderung erwartet hatte. Auf keinen Fall diesen gutaussehenden dunkelhaarigen Mann mit den scharfgeschnittenen intelligenten Zügen. Sie hatte nicht erwartet, daß ihr bei seinem Anblick die Kehle plötzlich so trocken würde, als hätte sie tagelang gedürstet, und der Herzschlag hart und unregelmäßig in ihr zu rasen begann. »Meine Freundin Nathalie«, hörte sie Dinas liebliche Stimme. »Ich hoffe, ihr werdet euch gut verstehen.« »Das hoffe ich auch!« Sie spürte seinen Händedruck, hart, fordernd, für Sekunden versank ihr Blick in dem hellen Abgrund seiner Augen, Augen, grau wie heißes flüssiges Erz, an dem man sich verbrennen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde verschwand die Umwelt wie ein Traum beim Erwachen. Sie sah nur noch seine Augen und wußte, daß sie verloren war. »Wir sind alle glücklich über Dinas Heimkehr«, hörte sie den Grafen Trontheim sagen. »In zwei Wochen werden wir einen Ball geben. Es wäre die passende Gelegenheit, eure Verlobung bekanntzumachen.« »Dann wird es aber höchste Zeit, die Schneiderinnen zu bestellen«, plapperte Dina. »Ich brauche unbedingt ein neues Ballkleid. Etwas ganz Phantastisches muß es werden. Papa, bekomme ich zu meiner Verlobung Mamas Schmuck? Oder hast du ihn etwa Nora geschenkt?« Graf Trontheims Gesicht war totenbleich geworden. »Nora macht sich nichts aus Schmuck«, entgegnete er beherrscht. »Du kannst dir aussuchen, was du zu deinem Kleid brauchst.
Aber ich finde, der schönste Schmuck eines jungen Mädchens ist seine Jugend.« »Oh, die Saphirohrringe würden mir schon gefallen«, lachte Dina. »Natürlich müßte ich mein Haar hochstecken, damit es richtig zur Geltung kommt. Nathalie wird mich frisieren. Sie ist die geschickteste Gouvernante, die ich jemals gehabt habe.« Nathalie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Was war nur in Dina gefahren? Noch nie hatte sie Gouvernante zu ihr gesagt. Bisher waren sie Freundinnen gewesen. Doch wahrscheinlich konnte man einem Grafen von Werth nicht erklären, daß man eine so mittellose Person, wie sie es war, zur Freundin hatte. Nun, wenn Dina es so wollte, würde sie eben die Rolle der Gouvernante spielen. »Ich werde auch nach meiner Heirat nicht auf Nathalie verzichten können«, vernahm sie Dinas eigensinnige Stimme. »Sie muß immer bei mir bleiben.« So also ist es gemeint, dachte Nathalie beglückt. Herzenskind, Dina, sie sorgt sich schon jetzt um meine Zukunft. Wie lieb von ihr. Aber leider wird das nicht möglich sein. So lange werde ich nicht bleiben können. Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht wollen. Dieser Graf Gunther löst eine solche Unruhe in mir aus, daß es für mich besser ist, seine Nähe zu meiden. Habe ich nicht Probleme genug? Ich will mich nicht noch tiefer in Herzensdinge verstricken lassen. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, daß ihr Blick immer wieder verstohlen zu Gunther wanderte. Glückliche Dina, dachte Nathalie mit plötzlicher Melancholie. Sie entschuldigte sich und ging nach oben. Auf der Treppe glaubte sie, den durchdringenden Blick seiner Augen zu spüren. Um ihre erregten Sinne abzukühlen, trat Nathalie auf den Balkon. Jeder Raum hatte einen kleinen Balkon, von einem
kunstvoll geschmiedeten Eisengitter eingefaßt. Zwischen den buntgefärbten Blättern der Bäume, die sich schön lichteten, glaubte sie das kuppelartige Dach des Pavillons zu entdecken. Wie bringe ich es nur fertig, in den Pavillon zu gelangen, überlegte sie. Dina war wenig geneigt, mir dabei zu helfen. Verstehen kann ich es ja. Alles dort erinnert sie an ihre verstorbene Mutter. Dina mußte ihre Mutter sehr geliebt haben. Aber ich bin sicher, im Pavillon eine Spur zu finden, grübelte Nathalie. Etwas, das mich dem Geheimnis ein wenig näherbringt. Was hat Pierre genau über diesen Pavillon geschrieben? Sie ging zu dem Himmelbett, um die Briefe Pierres hervorzuholen. Ihre Hand glitt unter die Matratze, doch sie fand die Briefe nicht gleich. Sie mußten verrutscht sein, oder nicht? In jäher Panik warf Nathalie die Kissen auf den Boden, wuchtete die schwere Matratze hoch und erstarrte. Die Briefe waren fort! Das ist doch nicht möglich, dachte Nathalie entsetzt und erschrocken. Noch einmal untersuchte sie peinlich genau das Bett. Doch die Briefe blieben verschwunden. Nanni wird sie beim Aufräumen gefunden und woanders hingelegt haben, beruhigte sie sich. Sie mußte das Stubenmädchen doch gleich einmal fragen. Nathalie zog an der goldenen Klingelschnur und lief dann erregt von einem Raum in den anderen. Sie war viel zu nervös, um sich setzen zu können. Minuten später erschien Nanni. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, und der gefaltete Rock saß straff über ihren kräftigen Hüften. »Gnädiges Fräulein wünschen?« knickste sie höflich.
Nathalie bat sie, mit ins Boudoir zu kommen. »Ich hatte ein Päckchen unter die Matratze gelegt und kann es nicht wiederfinden«, erklärte sie dem Mädchen. »Hast du es vielleicht woanders hingelegt?« Mit runden Augen starrte Nanni auf die Unordnung. »Nein«, antwortete sie dann erstaunt. »Ich habe nichts weggelegt oder gefunden. War etwas Wertvolles darin?« »Für mich war es sehr wertvoll«, betonte Nathalie, die nur mühsam ihre Erregung bändigen konnte. »Bist du ganz sicher, daß du nichts gefunden hast?« »Nein, bestimmt nicht, ich schwöre es«, beteuerte Nanni mit weinerlicher Stimme. »Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte das Päckchen gestohlen? Ich bin schon jahrelang im Schloß, und noch nie ist etwas gestohlen worden.« »Aber ich glaube das doch gar nicht«, sagte Nathalie mit ungeduldigem Seufzer. »Es hätte ja auch für dich überhaupt keinen Wert gehabt.« »Vielleicht haben Sie es selber woanders hingelegt.« »Wahrscheinlich«, gab Nathalie nach. »Es ist gut, du kannst gehen.« »Erst bringe ich noch das Bett in Ordnung.« Im Nu hatte sie mit kräftigen Armen das Bett behaglich zurechtgemacht. Noch einen scheuen Blick auf die junge Dame werfend, wollte sie verschwinden, doch Nathalie hielt sie zurück. »Sprich bitte zu niemandem darüber«, bat sie und lachte in gespielter Verlegenheit. »Es braucht ja nicht jeder zu wissen, daß ich ein so schlechtes Gedächtnis habe.« Nanni verschwand sichtlich erleichtert. Ganz entnervt sank Nathalie auf einen der zierlichen Gobelinsessel. Kann ich es womöglich doch vergessen haben, wohin ich die Briefe gelegt habe? überlegte sie. Das gibt es doch nicht, ich weiß doch noch, was ich tue, dachte sie dann.
Jemand muß die Briefe entwendet haben. Ein plötzlicher Gedanke ließ sie wieder hochfahren. Sie trat an den Bücherschrank und stellte eine leichte, flüchtige Unordnung fest. Jemand war in ihrem Zimmer gewesen, hatte in ihren Sachen gewühlt und dann schließlich gefunden, was er suchte. Pierres Briefe! Wer konnte es gewesen sein? Nathalie wußte es nicht. Sie konnte nur Vermutungen anstellen. Doch sie wollte auch keinen verdächtigen, ohne auch nur einen handfesten Beweis zu haben. Aber eines wurde ihr jetzt mit tödlicher Sicherheit klar. Sie hatte Feinde hier im Schloß. Von jetzt an mußte sie bei ihren Nachforschungen doppelt vorsichtig sein. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, alles Dina zu erzählen. Doch wahrscheinlich würde Dina ihr das Verschwinden der Briefe genausowenig glauben wie den nächtlichen Besuch der Katze. Nathalie blickte sich scheu um. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, Lauerte nicht irgendwo ein verborgenes Augenpaar? Angst kroch ihr den Rücken hoch. Hier ist doch niemand, redete sie sich gut zu. Ich bilde mir das alles nur ein. Meine Nerven sind überreizt, kein Wunder, nach all den Aufregungen! Ich muß mich wirklich mehr zusammennehmen, befahl sie sich. Wenn ich schon beim kleinsten Anlaß anfange hysterisch zu werden, wie soll ich dann jemals meine Aufgabe erfüllen? Nathalie erhob sich. Sie ging an den Barschrank und goß sich einen Sherry ein. Nein, mit Dina konnte sie nicht sprechen. Dina würde ihr übelnehmen, daß sie ihr nicht sofort alles erzählt hatte. Sie würde ihre Freundschaft für Berechnung halten, und das wäre wirklich schlimm, denn sie hatte Dina gem.
In kleinen Schlucken trank sie das Glas leer, fühlte sich gleich darauf besser. Ihr scharfer, klarer Verstand begann wieder zu arbeiten. Kein Zweifel, man hat mir die Briefe gestohlen, überlegte sie ganz nüchtern. Sie wissen jetzt, warum ich wirklich hier bin. Ich werde weiterhin so tun, als hätte ich von nichts eine Ahnung. Aber ich werde sie zwingen, ihre Maske fallen zu lassen. Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich Gewißheit über Pierres Schicksal habe.
*
Der junge Morgen war kühl. Nebelschwaden wogten wie gesponnene Schleier über den weiten Rasenflächen. Der matte Glanz der aufgehenden Sonne schenkte ihnen einen Hauch von Gold. Naß von Tau war noch alles, und als Nathalie durch einen schmalen Weg ritt, sprühte Feuchtigkeit über ihr Gesicht. Sie fühlte sich wunderbar an diesem Morgen, hatte lange und ruhevoll geschlafen, traumlos und erquickend und war voller Unternehmungsgeist. Auf dem breiten Rücken der Schimmelstute Ada saß sie bequem wie auf einem Schaukelstuhl. Das rhythmische Wiegen und Schaukeln wirkte beruhigend. Das schwarze, elegante Reitkleid hatte Dina ihr geliehen, sie hatten ja ungefähr die gleiche Figur. Lässig im Damensattel sitzend, brauchte sie kaum etwas zu tun. Ada folgte ganz von selbst den Spuren der anderen Pferde. Dina ritt an der Spitze. Ihr karmesinrotes Reitkleid hob sich wirkungsvoll von dem dunklen Fell ihres Rappen ab. Die Flut
blonder Haare quoll unter dem kecken roten Hütchen hervor und reichte ihr bis zum Gürtel. Auch Gunther von Werth ritt einen Rappen. Es war ein besonders großes, kräftiges Tier voller Temperament. An den ungeduldig zitternden Flanken spürte man, daß Artifex diese langsame Gangart gar nicht behagte, daß er darauf brannte, seine ganze gebändigte Kraft in einem wilden Ritt auszutoben. Der im französischen Stil angelegte Park war auch jetzt im Herbst eine Pracht. Verspielte Springbrunnen plätscherten, zwischen immergrünen Sträuchern verborgen, zierliche Holzbrücken spannten sich über künstlich angelegte Bäche, in dessen hellen, glasklaren Wasser bunte Kieselsteine schimmerten. Ach, so viel Wunderschönes gab es zu sehen! Nathalies Augen waren wie gefangen von all der Pracht ringsum. Fast vergaß sie ein wenig die Probleme, die ihr am Herzen lagen. Sie sah, daß Dinas Jupiter mit elegantem Satz einen Graben nahm. Graf Gunther blickte sich zu Nathalie um. »Nehmen Sie lieber die Brücke«, riet er freundlich. »Vom Springen hält Ada nicht viel.« »Ich auch nicht«, gab Nathalie heiter zurück. Sie lenkte den Schimmel auf die Holzbrücke zu, die den breiten Graben überspannte. Unter den schweren Huftritten Adas ließ das Holz ein bedrohliches Knarren hören. Die Stute erschrak, machte einen mächtigen Satz nach vorn und brach aus. Nathalie waren die Zügel entglitten. Sie krallte sich an der Mähen des Tieres fest, versuchte verzweifelt, Halt zu gewinnen. Instinktiv neigte sie tief den Kopf über den Nacken des wild dahergaloppierenden Schimmels. Hinter sich hörte sie Schreie, den dumpfen Hufschlag der Pferde.
Alles ging so rasend schnell, daß Nathalie keine Zeit hatte zu überlegen. Alles Denken in ihr wurde von der panischen Angst ausgelöscht, jeden Moment herunterzufallen. Jetzt war Artifex mit ihnen auf gleicher Höhe. Gunther streckte sich weit vor, um nach Adas Zügeln zu greifen. Da stieg der Schimmel mit erschrockenem Wiehern. Nathalie stürzte und fiel rücklings auf den Boden. Für Sekunden verschwamm ihr alles vor Augen. Ein rasender Schmerz durchzuckte ihren Rücken. Sie stöhnte auf. »Nathalie!« Gunthers besorgtes Gesicht neigte sich über sie. »Sind Sie verletzt, Nathalie?« »Nein, ich glaube nicht«, flüsterte sie. »Es tut nur so weh.« »Was ist denn nur in Ada gefahren?« rief Dina zornig. »Ich werde versuchen, sie wieder einzufangen. Sie bekommt eine ordentliche Tracht Prügel, darauf kann sie sich verlassen.« »Ada kann doch nichts dafür«, stammelte Nathalie mühsam. Sie spürte, wie Gunther einen Arm unter ihren Nacken schob. »Versuchen Sie aufzustehen«, bat er. »Ich helfe Ihnen.« Sie gehorchte. Von seinem starken Arm gestützt, versuchte sie, sich aufzurichten. Doch kaum berührte ihr linker Fuß den Boden, als sie mit einem Schmerzensschrei zusammenbrach. »Mein Fuß«, wimmerte sie. »Jedenfalls ist Ihrem Rücken nichts passiert. Setzen Sie sich mal, ja, so.« Nathalie sah, wie er sanft ihren Rocksaum hochstreifte. »Was machen Sie?« fragte sie matt, noch immer von Schmerzen gepeinigt. »Der Fuß ist verrenkt«, erklärte der Graf. »Aber keine Angst, das werden wir gleich haben.« Geschickt fing er an, die Schnüre ihres Stiefelchens aufzubinden. Als er versuchte, den Schuh von ihrem Fuß zu ziehen, stöhnte Nathalie vor Schmerzen auf.
»So geht es nicht«, hörte sie ihn sagen. Er hatte plötzlich ein dolchartiges Messer aus seinem Gürtel gezogen. »Der Stiefel wird dran glauben müssen, tut mir leid«, sagte er in gespielter Munterkeit und begann dann vorsichtig, das Leder aufzuschneiden. »Der Fuß ist aus dem Gelenk gesprungen«, stellte er fest. »Sie werden jetzt einen Moment sehr tapfer sein müssen. Schreien Sie ruhig, wenn es weh tut.« Noch während er sprach, hatte er nach dem verletzten Fuß gegriffen. Ein rasender Schmerz, zuckte durch ihren Fuß. Doch Nathalie schrie nicht. Sie biß so heftig die Zähne in die Lippen, daß sie bluteten. »Schon vorbei!« lachte er. »Nun, war es sehr schlimm?« Mit sanften Fingern hob er ihr Kinn, blickte ihr in die schwimmenden Augen. »Tapferes Mädchen«, sagte er leise. Ein heißer Glanz war plötzlich in seinen Augen, und dann spürte sie die Berührung seiner Lippen auf den ihren. Ganz sanft und zart war sein Kuß. »Verzeih«, bat er leise. »Ich konnte nicht anders.« »Es ist schon viel besser«, flüsterte Nathalie, ganz im Bann seiner grauen, glänzenden Augen. »Ich habe schon keine Schmerzen mehr.« Hufschlag dröhnte auf. »Ich habe sie«, rief Dina. »Sie werden den Fuß einige Tage schonen müssen«, sagte Gunther im normalen Tonfall. Doch seine Augen ließen sie noch immer nicht los. Der heiße Glanz in seinen Augen machte sie ganz benommen. Er half Nathalie beim Aufstehen. Für den Bruchteil einer Sekunde drückte er sie heftig an sich. »Immer möchte ich dich so halten, immer«, murmelte er. »Eines Tages…« Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich Dina zu. »Wie konnte das
nur passieren? Deine Freundin hätte sich das Genick brechen können.« »Ich begreife es auch nicht.« Dina glitt aus dem Sattel, lief auf Nathalie zu und umarmte sie zärtlich. »Hast du dir sehr weh getan, du Arme? Ich habe Ada ordentlich eins mit der Peitsche übergezogen. Das wird sie lehren, einfach so durchzugehen!« »Ach, Ada kann doch nichts dafür«, lächelte Nathalie mühsam. »Ich bin eben noch zu ungeschickt. Entschuldigt bitte! Jetzt habe ich euch den ganzen schönen Ausritt verdorben.« »Mach dir doch darüber keine Sorgen«, lächelte Dina. »Die Hauptsache ist doch, dir ist nichts passiert.« »Das würdest du nicht sagen, wenn es dein Fuß wäre, der sich ausgerenkt hätte«, spottete Graf Werth. »Oh, das habe ich nicht gewußt!« Überrascht blickte Dina auf. »Tut es noch sehr weh, Nath?« »Einige Tage wird sie den Fuß noch schonen müssen. Am besten, ich nehme Fräulein Mereau zu mir aufs Pferd. Sie kann unmöglich allein reiten.« »Wie gut, daß wir dich dabei hatten«, sagte Dina. »Ich reite vor und bringe die Pferde in den Stall. Sei bitte recht vorsichtig, Gunther! Ich möchte nicht, daß noch etwas passiert.« »Ich werde schon aufpassen.« »Ja, bei dir ist Nath in den besten Händen«, lachte Dina, saß geschickt auf, nahm die Zügel Adas und ritt, noch immer lachend, davon. Nathalie blickte sehr verstört nach. Dieses spöttische Lachen paßte so gar nicht zu Dina. Ob sie etwas gemerkt hatte? Ob sie gesehen hatte, daß der Graf sie geküßt hatte? Aber nein! Sie war zu weit weg gewesen. Sie konnte es nicht gesehen haben.
Und wenn auch, war es nicht ein harmloser, fast brüderlicher Kuß gewesen? Daß sie mehr bei diesem Kuß empfunden hatte, daß er ihr ganzes Innere zum Schwingen gebracht hatte, ging niemanden etwas an. »Nathalie!« Bei dem weichen, zärtlichen Klang seiner Stimme fuhr sie herum. Sie sah, daß er auf sie zuging und streckte abwehrend die Hände aus. »Nein«, flüsterte sie heiser. »Nein!« »Deine Lippen lügen«, sagte er rauh. »In deinen Augen lese ich etwas ganz anderes.« »Sie dürfen nicht so mit mir reden«, wisperte sie schwach. »Wir dürfen nicht…« »Warum nicht?« Er stand dicht vor ihr, aber er berührte sie nicht. Er sah sie nur an. Der Blick seiner Augen war wie eine heiße, leidenschaftliche Umarmung. »Ich habe die ganze lange Nacht wach gelegen«, sagte er schwer. »Ich habe das Morgengrauen abgewartet und bin hinausgegangen. Ich sah, wie der Himmel sich smaragdgrün färbte, und ich mußte an deine Augen denken. Immerzu mußte ich daran denken, daß ich dich heute wiedersehen würde.« »Wie können Sie so etwas sagen, als Dinas Verlobter…« Nathalie wünschte sich, fortlaufen zu können, weit fort vor dem zärtlichen Klang seiner Stimme, vor den heißen fordernden Augen, die ihr Herz in Flammen setzten. »Noch bin ich nicht mit Dina verlobt«, erwiderte er leise. »Aber Sie sind ihr versprochen, und Dina ist meine Freundin! Wir dürfen ihr nicht weh tun.« »Dina ist ein Kind, ein schönes, heiteres, bezauberndes Kind«, sagte Gunther. »Schon immer war es abgemacht, daß Dina und ich heiraten würden. Was hätte ich auch dagegen haben sollen? Alles paßte
glänzend zusammen, und schon als kleines Mädchen versprach Dina, eine Schönheit zu werden.« Er schloß sie so plötzlich in die Arme, daß sie sich nicht wehren konnte. »Jetzt ist alles verändert«, flüsterte er rauh. »Alles in mir brennt vor Sehnsucht nach dir, Nathalie! Als ich dich gestern sah, war es mir, als träfe mich ein Blitzschlag, der mein Herz in Flammen setzte. Ich sah dich die Treppe hinaufgehen und hatte nur noch den Wunsch, dich zurückzuhalten, dich in meinen Armen zu halten, so wie jetzt.« »Das ist Wahnsinn!« Sie erschauerte in seinen Armen. »Wir wissen doch nichts voneinander. Für dich bin ich eine Fremde. Wir dürfen nicht einfach unseren Gefühlen nachgeben. Vielleicht ist es nur eine flüchtige Leidenschaft.« »Es ist Liebe«, entgegnete er ernst. Er küßte sie voll verzehrender Glut. Unter diesen Küssen vergaß Nathalie alles. Sie vergaß, daß Dina ihre Freundin war, sie vergaß ihren schmerzenden Fuß. Für Sekunden hatte die Welt den Atem angehalten. »Wir müssen zurück«, drängte Nathalie endlich. »Wenn wir zu lange ausbleiben, wird sich Dina Sorgen machen.« »Mein Gott!« Gunther lachte, und sein schönes Gesicht wurde ganz hell und strahlend bei diesem Lachen. »Dina habe ich ganz vergessen. In deiner Nähe könnte ich die ganze Welt vergessen. Sag mir noch schnell, daß du mich liebst.« »Ich liebe dich sehr!« Sie berührte mit weichen Lippen seine Wange. »Aber ich weiß, daß nichts daraus werden kann. Ich bin nicht reich, nicht adelig. Ich bin nur eine schlichte kleine Lehrerin, eine Gouvernante, wenn du so willst. Ich kann dir nichts geben, außer meiner Liebe.« »Und das nennst du nichts?« lachte er glücklich. »Wenn ich Reichtum wollte, könnte ich ja Dina heiraten. Wenn wirklich äußere Dinge so wichtig wären, wozu hätte man dann ein Herz
in der Brust? Ich hatte ja nie eine Ahnung, wie es ist, sich zu verlieben, wiedergeliebt zu werden. Ich habe ja nie gewußt, welche Macht ein grünschillerndes Augenpaar über mein Herz gewinnen kann. Nein, jetzt, wo ich dich gefunden habe, Nathalie, kann ich keine andere mehr heiraten. Es wäre ein Verbrechen gegen mein eigenes Herz.« Mit starken Händen umfaßte er ihre schmale Taille, hob sie hoch und setzte sie in den Sattel. Geschmeidig saß er auf, hielt sie mit dem linken Arm und nahm mit dem rechten die Zügel. Artifex setzte sich in Trab. Dina liebt ihn nicht, dachte Nathalie. Ich weiß, daß sie ihn nicht liebt. Wie kann sie diesen wundervollen Mann nicht lieben? Wie kann sie dieser kraftvollen Ausstrahlung widerstehen? Ich kann es nicht. Wenn er mich nur ansieht, werde ich schwach und wünsche mir nur noch, seine Arme um mich zu spüren. Könnten wir doch fortreiten, weit fort, in eine andere Welt, wo es keine Dina gibt, die ihm versprochen ist, keinen Pierre, den ich suchen muß. Pierre, wie würde er sich freuen, wenn er wüßte, daß ich mein Glück gefunden habe. Wie glücklich würde er sein, wenn er mich an der Seite eines solchen Mannes geborgen wüßte. Das Leben schenkt einem nichts, hatte Pierre einmal zu ihr gesagt, man muß sich alles erkämpfen, auch das Glück, das Glück vor allem. Wo war Pierre jetzt? Hatte er das Glück gefunden? Lebte er noch? Nathalie wußte es nicht. Aber sie ahnte, daß sie der Wahrheit auf der Spur war. Sie ahnte, daß sie auf Schloß Trontheim alles über das Schicksal ihres Bruders erfahren würde. Von hier hatte sie das letzte Lebenszeichen Pierres erhalten.
*
Als Nathalie Schritte hörte, klappte sie hastig ihr Tagebuch zu und legte den Gänsekiel beiseite. Dina trippelte ins Boudoir. Über dem hohen Stapel Bücher, den sie auf den Armen trug, konnte man nur noch ihre hübschen blauen Augen sehen. »Oh«, stöhnte sie mit lachendem Übermut. »Hätte nie geglaubt, daß geistige Kost so schwer sein kann. Aber keine Angst, Nath, es sind auch einige leichte französische Romane dabei, ganz pikant. Bei der Lektüre wirst du dich bestimmt nicht langweilen.« Dina ließ die Bücher vorsichtig aufs Bett gleiten, setzte sich dann zu ihr, war wie immer reizend anzusehen, streifte mit ihren Augen Federkiel und Tintenfaß. »Du hast geschrieben?« »Nur in meinem Tagebuch«, gestand Nathalie. »Was hast du denn nur zu berichten?« forschte Dina neugierig. »Hier passiert doch kaum etwas.« »Es muß ja auch nicht immer etwas passieren«, sagte Nathalie. »Aber ich gebe gern meine Gedanken und Eindrücke weiter. Versteh doch, Liebes, für mich ist das hier alles ja eine völlig fremde Welt.« »Willst du nicht doch mitkommen? Das Wetter ist herrlich! Ich würde dir so gern mein zukünftiges Reich zeigen«, sagte Dina in spottendem Ton. »Ein andermal. Es ist besser, ich schone meinen Fuß noch einige Tage.« »Tut es noch weh?« Nathalie schüttelte verneinend den Kopf. »Die kühlen Umschläge haben gutgetan. Aber viel herumlaufen kann ich noch nicht. Ich wäre euch nur eine Last.«
»Wie du willst.« Dina neigte sich über sie und küßte ihr schnell die Wange. »Gunther wird sicher enttäuscht sein, wenn du nicht mitkommst. Wie findest du ihn eigentlich?« Dina fragte es leichthin, doch Nathalie glaubte, eine verborgene Spannung aus ihrer Stimme herauszuhören. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann, wie verräterisches Rot ihr in die Wangen stieg, und konnte nur hoffen, Dina hätte es nicht bemerkt. »Ich finde ihn sehr nett«, flüsterte sie gepreßt. Armselig kamen ihr diese Worte vor, aber was hätte sie sagen sollen? Sie konnte nicht ruhig und gleichgültig über Gunther sprechen. Allein schon die Erwähnung seines Namens versetzte sie in Erregung. Ihr Herz drängte danach, über ihn zu reden. Schwer fiel es ihr, unsagbar schwer, all ihr Fühlen und Denken fest in sich zu verschließen. Aber gerade mit Dina konnte sie nicht darüber sprechen. Auch wenn sie wußte, daß Dina den Grafen nicht liebte, sie kam sich trotzdem wie eine Verräterin vor. Ich habe unsere Freundschaft verraten, dachte sie bedrückt. Ich habe sie nicht gewollt, diese Liebe, die mein Herz überschwemmt hat, wie ein Strom ein ausgetrocknetes Land. Wird Dina mir jemals verzeihen? »Ich habe das Gefühl, Gunther mag dich auch«, sagte Dina zögernd, während ihr Blick an Nathalies Zügen hing, als wollte sie jede Regung feststellen. »So, jetzt muß ich mich aber beeilen. Die anderen warten schon.« Nathalie stand am Fenster und sah zu, wie die gräfliche Prachtkutsche den Schloßhof verließ. Es war am frühen Nachmittag. Die Herrschaften wollten auf Schloß Werth bis nach dem Dinner bleiben. Mindestens für sechs Stunden würde sie allein bleiben.
So eine günstige Gelegenheit kommt nicht wieder, überlegte Nathalie ganz kühl. Ich werde mir den Pavillon einmal von innen ansehen. Mit ihrem Fuß hatte sie ein wenig übertrieben. Er schmerzte kaum noch beim Auftreten. Wenn sie ihn nicht allzusehr belastete, würde es schon gehen. Rasch kleidete sie sich an, wählte ein dunkles, unauffälliges Gewand, trat dann auf den Flur und lauschte. Das Schloß lag wie ausgestorben. Freiwillig würden die Dienstboten ihre Räume im Souterrain nicht verlassen, das wußte sie. Bestimmt saßen sie jetzt gemütlich bei Kaffee und Kuchen und genossen die Freistunden. Leise wie ein Schatten bewegte sich Nathalie über den Flur, kam an der Halle vorbei und gelangte in den linken Flügel, wo die gräflichen Herrschaften ihre Räume hatten. Wenn man mich hier entdeckt, bin ich verloren, dachte sie, während ihr Herz vor Erregung zu hämmern begann. Aber wer sollte mich jetzt sehen? Sie sind ja alle fort. Wo mag nur das Zimmer des Grafen sein? Aufs Geratewohl drückte sie die Klinke zu einer Tür nieder, die Tür gab nach und Nathalie stand auf der Schwelle eines eleganten, prachtvollen Gemachs, das ganz in hellen, schmeichelnden Farben gehalten war. Es war das Zimmer einer Dame. Flüchtig streifte ihr Blick die zierlichen cremefarbenen Möbel im Rokokostil, sah auf dem blauseidenen Sofa die angefangene Stickerei eines Gobelins und wußte, daß es Noras Zimmer sein mußte. Gräfin Nora beschäftigte sich gern mit Handarbeiten. Graf Gernot wird das Zimmer neben ihr haben, vermutete sie ganz richtig. Sie öffnete die nächste Tür und betrat den Raum. Die dunklen schlichten Möbel im englischen Stil verrieten eine herb männliche Note. Über dem Marmorkamin lächelte ihr aus schwerem Goldrahmen Geraldine entgegen. Aber nein,
das war nicht Geraldine, es mußte ein Porträt ihrer Mutter sein. Diesen abwesenden, träumerischen Blick hatte Dina nie gehabt, ebensowenig wie das melancholische Lächeln. Graf Gernot muß seine erste Frau noch immer lieben, grübelte Nathalie. Sonst hätte er ihr Bild nicht noch immer in seinem Zimmer hängen. Mit flüchtigem Bedauern dachte sie an Nora. Es mußte nicht leicht für sie sein, gegen die mächtige Erinnerung der ersten Frau zu kämpfen, oder wollte Nora gar nicht kämpfen? Machte es ihr nichts aus, nur Ersatz zu sein? Nur schwer löste sie ihre Blicke von dem Bild. Sie wußte, daß Pierre es nicht gemalt hatte, nicht gemalt haben konnte. Er hatte Latitia anders gesehen, fröhlicher, glücklicher! Er hatte sie mit den Augen der Liebe gesehen. Hatte diese Liebe ihn ins Verderben gestürzt? Mit einem Seufzer schüttelte Nathalie alle schweren Gedanken ab. Sie war nicht hier, um sich über ein Bild den Kopf zu zerbrechen. Sie mußte den Schlüssel finden. »Den Schlüssel zum Pavillon wird mein Vater haben«, hatte Dina gesagt. Wo mochte er ihn versteckt haben? Nathalies Blicke durchforschten das Zimmer, blieben an dem mächtig ausladenden Schreibtisch aus dunklem Holz hängen. Ein Mann, der seine Frau so sehr geliebt hatte wie Graf Gernot, würde ganz gewiß ihren Lieblingsplatz öfter aufsuchen und den Schlüssel dazu sorgfältig in Verwahrung halten. Vielleicht lag er in der Schublade? Es widerstrebte Nathalie, in den Sachen eines anderen Menschen herumzuschnüffeln. Aber hatte sie eine andere Wahl? Schließlich ging es um das Schicksal ihres Bruders. Da war es unsinnig, solche Skrupel zu haben. Vorsichtig zog sie die Lade auf. Zum Glück war sie unverschlossen. Sie sah eine Menge Schriften, eine ganze
Reihe gespitzter Federkiele, aber keinen Schlüssel. Enttäuscht wollte sie die Lade wieder schließen, als ihr Blick auf ein schmales schwarzes Kästchen fiel. Schon hielt sie es in der Hand, öffnete den Deckel und sah überrascht einen vergoldeten Schlüssel mit kunstvoll ziseliertem Griff. Erregung stieg in ihr auf. Das mußte der Schlüssel zum Pavillon sein, da war sie ganz sicher. Hastig verbarg sie ihn in der Tasche ihres dunklen Kleides und ging wieder hinaus. Sie durfte jetzt keine Zeit verlieren. Unbemerkt gelangte Nathalie aus dem Schloß. Sie zog den verletzten Fuß ein wenig nach, aber viel Beschwerden hatte sie beim Laufen nicht mehr. Der Tag war kühl und klar. Kaum ein Windhauch bewegte die Zweige der Bäume. Unter ihren Füßen raschelte goldfarbenes Laub. Hin und wieder löste sich eines der bunt gefärbten Blätter vom Baum, um langsam, wie träumend durch die Luft zu schweben. Als Nathalie den Rosenpavillon erreicht hatte, blickte sie scheu um sich. Niemand war zu sehen, keine Menschenseele. Sie mußte sich beeilen. Im Herbst kam die Dunkelheit schnell. Sie nahm den Schlüssel und steckte ihn ins Schloß, und der Schlüssel paßte. Er ließ sich zwar nur schwer bewegen, wie bei Schlössern, die selten benutzt wurden, und sie brauchte ziemlich viel Kraft, ihn herumzudrehen. Schnell nahm sie den Schlüssel wieder heraus, drückte die Klinke nieder und stellte mit leisem Triumph fest, daß die Tür nachgab. Sie trat ein und schloß die Tür hinter sich. Zuerst konnte Nathalie kaum etwas erkennen. Die getönten Fensterscheiben verwandelten das Tageslicht in ein dunkles goldgetränktes Halbdunkel. Doch schnell hatten sich ihre
Augen an die Dämmerung gewöhnt, sie blickte sich um und erstarrte. Der große, kuppelartige Raum war so verwüstet, als hätten Vandalen darin gehaust. Eine kostbare französische Vitrine lag halb zerhackt auf dem Boden. Aus dem Renaissancesessel quoll die Füllung heraus. Das zierliche Sofa war in zwei Teile gespalten, und der Boden war mit Papieren übersät, zerknüllte Zeichnungen, zum Teil zerrissen und beschmutzt, als wären rohe Stiefel darüber getrampelt. Fassungslos stand Nathalie vor diesem Chaos. Wer mochte das alles angerichtet haben? Sie bückte sich und hob eine der Zeichnungen auf. Sie sah eine Rose, naiv gemalt aber doch sehr hübsch. In dem hintersten Winkel des Raumes entdeckte sie eine Staffelei. Sie ging darauf zu und erkannte die angefangene Zeichnung einer Frau. Fasziniert und erschreckt starrte sie auf das angefangene Bild und wußte sogleich, wen es darstellen sollte. Diese lachenden blauen Augen gehörten der Gräfin Latitia, doch der schöne Mund war hier wie eine offene Wunde gemalt, aus dem linken Mundwinkel schien ein dünner Faden Blut zu rinnen. Wie gebannt starrte Nathalie auf diesen Mund, der einen so schreienden Gegensatz zu den lachenden Augen bildete. Grauen kroch ihr über den Rücken, durchrann sie eiskalt. Wer hat das getan? dachte sie verstört. Wer hat dieses Bild so schamlos verwüstet? Sie wußte sofort, daß ihr Bruder dieses Bild zu malen begonnen hatte. Sie erkannte den kühnen Schwung seiner Linien. In Pierres Malkunst lag nichts Steifes, Gezwungenes. Erinnerungen bedrängten sie. Sie sah sich mit ihrem Bruder Pierre in dem bescheidenen Atelier hoch über den Dächern von Paris. Sie hatte an der Sorbonne studiert und den kleinen Haushalt geführt. Pierre hatte gemalt. Viel hatten sie nicht zum Leben gehabt, aber es war eine herrliche Zeit gewesen. Dann
war Pierre fortgegangen, um das Land seiner verstorbenen Mutter kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln. Mit Porträtaufträgen an den Fürstenhäusern Deutschlands hatte er sich und Nathalie über Wasser gehalten. So mußte er auch nach Schloß Trontheim gekommen sein. Und hier endete seine Spur. Von Schloß Trontheim war sein letzter Brief gekommen. Seitdem hatte Nathalie nichts mehr von ihm gehört. Nathalie fröstelte. Noch immer war diese Kälte in ihr, dieses Entsetzen, als hätte sie einer öffentlichen Hinrichtung beigewohnt. Drei lange Jahre hatte sie nichts von Pierre gehört. Vor einiger Zeit hatte sie von einer Freundin erfahren, daß die Komteß Geraldine von Trontheim in einem Schweizer Internat war. Da war ihr die Idee gekommen, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Mit ihren glänzenden Zeugnissen war es ihr ein leichtes gewesen, die Stellung als Französisch-Lehrerin in dem exklusiven Schweizer Internat zu bekommen. So hatte sie Geraldine kennengelernt. Nathalie erschauerte. Sie löste den Blick von dem Bild und dachte darüber nach, daß Pierre hier gestanden haben mußte, genau an dieser Stelle, und die Gräfin Latitia hatte ihm Modell gestanden. Sie waren allein gewesen. Als hier noch Ordnung geherrscht hatte, mußte der Pavillon bezaubernd gewesen sein, ein romantischer Schlupfwinkel für Liebende. Pierre war leicht entflammbar gewesen, eine leidenschaftliche Natur, und die Gräfin Latitia war von einer Schönheit gewesen, die die Männer bezauberte. Waren die beiden ein Liebespaar gewesen? Ich darf mich nicht in Träume verlieren, rief Nathalie sich zur Ordnung. Ich muß mich umsehen. Vielleicht finde ich einen
Hinweis, eine Spur. Es sieht Pierre so gar nicht ähnlich, ein unfertiges Bild zurückzulassen. Vielleicht mußte er ganz plötzlich fliehen, oder… Nein, sie weigerte sich weiterzudenken. Der Gedanke war zu schrecklich. Sie konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Suche. Langsam schritt Nathalie durch den Raum, doch sie fand nichts, was einen Hinweis auf Pierres Verschwinden geben konnte. Doch dann fiel ihr auf, daß in der Mitte des Raumes der Boden eigenartig vibrierte, so, als wäre ein Hohlraum darunter. Eigenartig, dachte sie. Diese Art Pavillons haben doch meistens kein Kellergewölbe. Sie räumte die Blätter beiseite und betrachtete die Dielenbretter genauer. Und sie machte eine erstaunliche Entdeckung. In der Mitte des Raumes waren die Dielenbretter rechteckig eingekerbt, etwa in der Größe einer Tür. Eine Bodentür, durchzuckte es Nathalie. Sie ging in die Knie und begann, mit den Händen die Einkerbung abzutasten, stieß plötzlich auf etwas Hartes und sah einen Messingring, groß wie eine Kinderhand. Erregung durchflutete sie. Sie trat beiseite und zog an dem Messingring. Zuerst bewegte er sich nicht, schien an den Boden festgeschmiedet. Nathalie verdoppelte ihre Kräfte, und da erklang ein gespenstisches Knarren. Stück für Stück hob sich der Boden. Sie hatte eine verborgene Tür entdeckt. Nathalie brauchte alle Kraft, die Tür hochzustemmen. Sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach und ihr den Rücken herunterrann. Doch sie gab nicht auf. Mit wildhämmernden Pulsen und trockener Kehle stemmte sie die Falltür hoch und blickte in einen gähnenden Abgrund. Sie schaute in die Schwärze hinab, versuchte etwas zu erkennen. Dumpfer Modergeruch schlug ihr entgegen, und der
entsetzliche Gedanke durchzuckte sie, daß man hier bequem einen Menschen verschwinden lassen konnte, ohne daß jemals eine Spur von ihm entdeckt werden würde. Sie tastete mit den Händen hinein, fühlte glitschige Steine und zog erschauernd die Hände zurück. Nein, da ist kein Keilergewölbe, überlegte sie. Wahrscheinlich ein unterirdischer Gang. Wohin mag er führen? Zum Schloß? Wenn ich doch eine Fackel hätte oder wenigstens eine Kerze, dann könnte ich nachsehen. Aber für heute war es zu spät, mehr zu unternehmen. Es dunkelte schon. Wenn man sie hier entdeckte, war alles verloren. Sie mußte zum Schloß zurück. Nathalie schloß die Falltür, deckte die Papiere darüber und machte, daß sie hinauskam. Nachdem sie den Schlüssel wieder an seinen Platz gelegt hatte, suchte sie ihr Bett auf. Ihr Fuß schmerzte wieder heftiger. Sie machte sich einen kalten nassen Umschlag und griff nach einen von Dinas Romanen. Sie versuchte zu lesen. Doch immer wieder irrten ihre Gedanken ab und kreisten um den unterirdischen Gang, den sie entdeckt hatte. Welche Geheimnisse mochte er bergen? Bei dem Gedanken, ganz allein dort hinabzusteigen, schauderte ihr, und eisiges Entsetzen durchströmte sie. Nein, ich kann das nicht, niemand kann das von mir verlangen, dachte sie feige, selbst Pierre nicht. Es ist ja auch gar nicht sicher, daß ich dort eine Spur von ihm finden werde. Aber es wäre wirklich eine ideale Stelle, ein Verbrechen zu vertuschen und einen unerwünschten Nebenbuhler verschwinden zu lassen. Sie mußte einfach den Gang erforschen! Nathalie hörte, wie jemand an der Tür zum Salon klopfte. Es war Nanni, sie brachte das Essen und zündete die Petroleumlampe an.
Sie besah sich auch Nathalies verletzten Fuß und meinte erstaunt, er wäre viel dicker als am Mittag. »Sie sind doch wohl nicht herumgelaufen?« fragte sie mißtrauisch. »Keine Spur«, log Nathalie. »Ich habe gelesen und mir ein paar richtig faule Stunden gemacht.« »Das ist richtig. Besser, Sie schonen den Fuß, um so schneller wird er heil.« Nanni zog die Samtvorhänge zu. »Wie lange bist du denn schon hier?« »Fast drei Jahre!« »Eine lange Zeit.« Nathalie wollte nicht weiter fragen. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte. Die kleine Nanni konnte nichts über ihren Bruder wissen. »Man hat mich geholt, weil ich die Komteß pflegen sollte. Sie war damals sehr krank«, plapperte Nanni. »Krank?« wiederholte Nathalie befremdet. Sie konnte sich die lebenssprühende Dina kaum krank vorstellen. »Sie hatte ein schlimmes Fieber im Kopf«, erzählte Nanni mit wichtiger Miene. »Aber kein Wunder. Die Frau Gräfin war ja so schrecklich ums Leben gekommen. Und die Komteß hat sehr an ihrer Mutter gehangen.« »Wie ist die Gräfin denn ums Leben gekommen?« fragte Nathalie. »Das wissen Sie nicht?« Nanni trat dicht an ihr Bett. Ihr naives Gesicht zeigte einen sensationslüsternen Ausdruck. »Sie ist mit ihrer Kutsche in die Schlucht gestürzt«, raunte sie. »Wochenlang hat man hier in der Gegend von nichts anderem gesprochen. Seit der Zeit nennt man den alten Steinbruch die Todesschlucht.« »Furchtbar«, flüsterte Nathalie erbebend. Ein wahnwitziger Gedanke tauchte in ihrem Kopf auf, den sie sofort zu verdrängen suchte. Sie bat Nanni, sie allein zu lassen und das Essen mitzunehmen. Sie fühlte sich jetzt einfach nicht mehr imstande, auch nur einen Bissen herunterzubekommen.
Grübelnd lag sie auf ihrem Lager, tief eingesponnen in ihre düsteren Gedanken. Die Stille im Schloß bedrückte sie, die Schatten machten ihr Angst. Sie hatte das Gefühl, als würde in jedem Winkel ihres Zimmers das Unheil lauern, und verwünschte Nanni, die sie mit ihren Greuelgeschichten so erschreckt hatte. Als sie Dinas leichte Schritte hörte, atmete sie auf. Sie freute sich auf ein leichtes Gespräch mit der Freundin. Dina würde es sicher gelingen, sie aufzuheitern. »Bist du noch wach, Nath?« fragte Dina halblaut durch die geöffnete Tür. »Hellwach«, lächelte Nathalie. »Komm doch herein.« »Es ist spät geworden.« Dinas Stimme klang müde. Sie trat durch die Verbindungstür und setzte sich zu Nathalie auf den Bettrand. Ihr süßes Gesicht war blaß und zeigte tiefe Spuren der Erschöpfung. Zwischen den schlanken Fingern drehte und wendete sie nervös ihr Hütchen. »Dina!« Alarmiert richtete Nathalie sich auf und blickte sie an. »Dina, ist etwas geschehen?« »Ja«, sagte Dina tonlos. »Es ist etwas geschehen.« Ihr Atem ging heftig und um ihren jungen Mund zuckte es, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Gunther weigert sich, sich offiziell mit mir zu verloben.«
*
Im ersten Moment fühlte Nathalie nur Zorn. Gunther, wie konnte er es wagen, dieses junge, feinsinnige Geschöpf zu kränken. Wie konnte er es wagen, ihre beste Freundin zu verletzen.
Männer! dachte sie verächtlich. Takt und Feingefühl kann man von ihnen nicht erwarten. Doch dann traf sie ein anderer Gedanke, wie ein Schlag. War sie nicht genauso schuldig? Hatte sie nicht als erste Dina verraten? »Ich begreife es einfach nicht«, sagte Dina und betrachtete das Hütchen in ihren Händen, als fragte sie sich, wie es dahin gelangt. »Es kam wohl zu plötzlich. Ich habe mich wohl immer zu sicher gefühlt. Jetzt ist mir, als stünde die ganze Welt kopf.« »Du tust mir leid«, murmelte Nathalie gepreßt und kam sich wie eine Verräterin vor. »Aber bisher hatte ich immer den Eindruck, du liebst den Grafen nicht. Ich glaubte…« »Was ist das – Liebe?« fragte Dina wie ein Kind. Sie blickte Nathalie an. Im Schein der Lampe wirkten ihre Augen sehr blau, aber undurchsichtig wie Glasmurmeln. »Ich mag Gunther«, sprach sie langsam weiter. »Er ist mir vertraut wie ein Bruder. Schon als kleines Mädchen wußte ich, daß ich einmal Gunthers Frau sein würde. Auch er wußte es. Es war alles so selbstverständlich, verstehst du?« »Ich verstehe sehr gut«, flüsterte Nathalie mühsam. Ich bin schuld, schrie es in ihr. Wenn ich nicht gekommen wäre, würde Dina heute glücklich sein. Alles habe ich ihr zerstört. »Ich muß etwas trinken.« Geraldine stand auf und verschwand im Nebenzimmer. Sie kam mit zwei gefüllten Weingläsern zurück. Der Wein schimmerte rot wie Rubin in den Kristallgläsern – rot wie Blut. »Nein, Liebe war es wohl nie zwischen uns«, sagte Dina. In ihrem schönen, engelhaften Gesicht war plötzlich ein harter Zug. »Wenn Gunther tot zu meinen Füßen läge, ich glaube, ich könnte nicht mal eine Träne vergießen. Aber daß er es war, der sich von mir abgewandt hat, das vergesse ich ihm nie!«
»Was hat er gesagt?« Nathalie nippte von dem Rotwein und hatte das entsetzliche Gefühl, Blut auf den Lippen zu haben. Herzblut! »Er muß doch irgend etwas erklärt haben.« »Gunther hat gesagt, er habe nur schwesterliche Gefühle für mich«, berichtete Dina mit spöttischem Auflachen. »Und mich zur Frau zu nehmen, käme ihm wie Blutschande vor.« »Wenn er wirklich so empfindet…« »Nein«, unterbrach sie Dina hart. »Oh, nein! Das alles wußte Gunther schon früher. Wenn du mich fragst, es steckt eine andere Frau dahinter. Aber ich werde es herausbekommen, und dann…« »Was hast du vor?« fragte Nathalie erbebend. »Vielleicht werde ich sie umbringen, alle beide«, antwortete Dina in leichtem Plauderton. »Schließlich hat man meine Ehre verletzt. Ich bin eine von Trontheim. Wer es jemals gewagt hat, die Ehre eines Trontheims anzutasten, mußte diesen Frevel immer mit dem Tod bezahlen.« »So kenne ich dich ja gar nicht, so rachsüchtig«, murmelte Nathalie verstört. Pierre, dachte sie. Oh, mein Gott, was haben sie mit dir gemacht? Wenn du die Ehre der Trontheims angetastet hast, wenn du Schuld auf dich geladen hast, darf ich nicht mehr hoffen, dich lebend wiederzusehen. »Ich nenne es Gerechtigkeit«, sagte Dina. »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« »Aber wenn Gunther sich verliebt hat, ich meine richtig verliebt«, wandte Nathalie verstört ein, »so kann er im Grunde doch nichts dafür. Niemand kann etwas für seine Gefühle. Warum versuchst du nicht, ihn zu verstehen?« »Von mir aus kann er sich verlieben in wen er will«, versetzte die Komteß eigensinnig. »Ich habe auch nichts dagegen, wenn er seine Abenteuer hat, solange es diskret geschieht. Aber er darf nicht sein Wort mir gegenüber brechen.«
»Dina, was bist du doch für ein Kind«, warf Nathalie mit schmerzlichem Lächeln ein. »Du kannst dir doch nicht wirklich einen Mann wünschen, der mit dem Herzen bei einer anderen Frau ist.« »Das stört mich nicht. Von mir aus können wir wie Bruder und Schwester zusammen leben. Aber ich werde es nicht zulassen, daß ich vor der Gesellschaft als verlassene Braut dastehe.« »Und wenn du einen Mann kennenlernen würdest, in den du dich verliebst?« »Dann mache ich es genauso.« »Das ist unmoralisch«, empörte sich Nathalie. »Davon verstehst du nichts.« Dina stand auf und ging langsam durch den Raum. »In unserer Gesellschaft ist es einfach nicht möglich, nach der Neigung seines Herzens zu heiraten«, erklärte sie. »Mein Vater hat keinen Sohn, er braucht Gunther als Nachfolger. Wenn die Grafschaften Werth und Trontheim vereinigt würden, würden sie mächtig wie ein kleines Fürstentum sein. Gunther weiß das alles genau. Ich begreife nicht, was ihm so plötzlich in den Kopf gestiegen ist. Er muß verhext sein.« Sie ging auf Nathalie zu und starrte ihr ins Gesicht. »Glaubst du, daß jemand Gunther so verhext hat, daß er seine Pflichten und Versprechungen darüber vergißt?« »Unsinn!« Nathalie wich diesen brennenden Blicken aus. Dina kam ihr plötzlich fremd vor, fast unheimlich. Niemals hätte sie diesem kindlich bezauberndem Wesen solch kalte Berechnung zugetraut. Aber können nicht auch oft Kinder grausam und egoistisch sein? Dina war erzogen worden, daß sie alles bekam, was sie haben wollte. Auch wenn sie ihn nicht liebte, wenn es ihr nur um das gesellschaftliche Ansehen ging, freiwillig würde sie nicht auf ihn verzichten.
»Es gibt keine Hexen, das weißt du sehr gut«, sagte sie mühsam. »Woher willst du überhaupt wissen, daß eine andere Frau dahintersteckt?« Dina zuckte die Achseln. »Das sieht man ihm an. Er ist ganz verändert. Er hat so etwas Strahlendes an sich, das er früher nicht hatte. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wer dahintersteckt. Aber ich werde es herausbekommen.« Dinas Miene entspannte sich, wurde wieder heiter, unbeschwert. »Jetzt haben wir aber genug über diese dumme Sache geredet«, seufzte sie lächelnd. »Es wird sich schon alles einrenken. Sei mir nicht böse, daß ich dich so lange aufgehalten habe. Ich bin ja so froh, daß du da bist, daß ich jemanden habe, mit dem ich über alles reden kann. Schlaf gut, Nath!« »Schlaf du auch gut«, wünschte Nathalie erleichtert, »und grüble nicht zuviel.« »Sicher nicht.« Dina ging auf die Verbindungstür zu, wandte sich noch einmal um und sagte heiter: »Unser Fest findet trotzdem statt. Jetzt gerade! Und ich werde mich so schön machen, daß alle anderen vor Neid erblassen. Vielleicht lerne ich sogar auf dem Fest Gunthers große Liebe kennen. Auf so einem Fest kann allerhand passieren. Man könnte ihr Rotwein über das Kleid schütten, oder auf ihre Schleppe treten, daß sie hinfällt und alle über sie lachen. Oh, mir wird schon etwas furchtbar Teuflisches einfallen.« Lachend ging sie hinaus. Sie ahnt nichts, dachte Nathalie erschüttert. Mein Gott, in was habe ich mich da verrannt? Wie ist es mir nur eingefallen, mich in den Grafen Werth zu verlieben, ausgerechnet in ihn? Habe ich nicht Probleme genug? Muß mein eigenes törichtes Herz auch noch neue schaffen?
*
»Blau ist meine Farbe«, rief Dina fröhlich. »Ungefähr so soll der Ausschnitt sein«, sagte sie zu den Näherinnen, »ein weißes Seidenvolant als schmeichelnden Abschluß, und die Taille sehr eng. Für den Rock will ich mindestens acht Meter Stoff haben, verstanden?« »Sehr wohl, Komteß«, knicksten die kleinen Näherinnen. »Für Fräulein Mereau nehmen wir die meergrüne Seide. Sie trifft genau den Ton ihrer Augen.« Sie schob die widerstrebende Freundin vor den Spiegel und hielt ihr den Stoff vor. »Nun, habe ich recht gehabt? Du wirst in dieser Seide wundervoll aussehen.« »Eigentlich möchte ich nicht…« »Aber ich möchte«, lachte die Komteß. »Ich brauche dich einfach, Nathalie. Wir beide werden einen wundervollen Kontrast abgeben. Aber die Spitze an deinem Ausschnitt darf nicht weiß sein. Zu Grün paßt beige besser. Haben Sie alles notiert, Frau Bergengrün?« wandte sie sich an die elegant gekleidete, ältere Besitzerin des Ladens. »Gewiß, gnädiges Fräulein Komteß. Die Damen werden zufrieden sein.« Mit vielen Verneigungen leitete sie die Damen zur Tür hinaus. Vor dem Modesalon wartete die gräfliche Kutsche mit den unruhig tänzelnden Braunen davor. Sobald sie Platz genommen hatten, setzte sie sich in Bewegung. »So ein Kleid kann ich nie bezahlen«, sagte Nathalie mit schlechtem Gewissen. »Das brauchst du auch nicht, es ist ein Geschenk von mir.« Dina lehnte den blonden Kopf gegen die Polster. Sie sah sehr zufrieden aus.
»Du sollst aber nicht so viel Geld für mich ausgeben«, entgegnete Nathalie unbehaglich. »Warum denn nicht? Es macht mir doch Spaß«, lächelte Dina. »Versteh doch, Nath, es ist mein erster großer Ball. Und es ist reiner Egoismus von mir, dich dabei haben zu wollen. Neben deiner dunklen Schönheit kommt meine blonde Lieblichkeit erst so richtig zur Geltung.« Nathalie verzog den Mund. »Rede nicht so frivol. Das paßt nicht zu dir.« »Aber ich meine es ernst. Es ist reiner Selbstzweck von mir. Schließlich muß ich einen Mann zurückerobern, der sich in irgendein albernes Lärvchen verguckt hat.« Dina schüttelte spöttisch lächelnd den Kopf. »Nie hätte ich geglaubt, daß ich eines Mannes wegen solche Anstrengungen unternehmen würde. Ist es nicht eigenartig, Nath? Damals, als ich mich Gunthers noch sicher fühlte, habe ich mir nicht viel aus ihm gemacht. Aber jetzt erscheint er mir plötzlich begehrenswert.« Dina neigte sich zu ihr und starrte ihr ins Gesicht. »Sag ehrlich, findest du nicht auch, daß Gunther blendend aussieht?« Nathalie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. »Ja, er sieht ganz gut aus«, preßte sie hervor, so gleichgültig wie sie es nur fertigbrachte. »Wir werden ein schönes Paar abgeben, meinst du nicht auch?« Nathalie nickte. Warum quält sie mich so, dachte sie gepeinigt. Aber Dina wußte ja nichts von ihr und Gunther, oder doch? Manchmal, in gewissen Augenblicken hatte sie das Gefühl, daß Dina etwas ahnte. Aber sicher war es nur ihr schlechtes Gewissen, das sie bedrängte, Dina konnte nichts wissen. Niemand wüßte von ihrem Herzensgeheimnis. Sie hatte mit niemanden darüber gesprochen. Nur ihrem Tagebuch hatte sie es anvertraut.
Dina neigte sich an ihr vorbei und blickte durchs Fenster. Wie Schreck zuckte es plötzlich über ihr Gesicht. Sie warf sich herum und hämmerte wie wild gegen die Scheibe. »Umkehren!« schrie sie auf. »Du sollst umkehren!« Doch die Kutsche fuhr unbekümmert weiter. Der Kutscher schien sie nicht gehört zu haben. »Dina, was hast du denn? Warum regst du dich so auf?« fragte Nathalie verstört. »Zu spät!« Dina sank auf dem Sitz zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. »Die Todesschlucht«, stammelte sie. »Ich will sie nicht sehen. Der Abgrund, die Kutsche, es war schon dunkel und sie verfehlte den Weg. Man hat nur noch Trümmer gefunden.« Sie ließ die Hände sinken und starrte Nathalie aus geweiteten, angsterfüllten Augen an. »Nath, sag mir, spürt man etwas, wenn man in einen Abgrund stürzt? Spürt man den Schmerz? Wie lange dauert es, bis man nichts mehr fühlt? Minuten oder nur eine Sekunde?« »Ich glaube, es geht sehr schnell«, antwortete Nathalie. Sie hatte tröstend den Arm um die Freundin gelegt. Doch ihre Blicke hingen wie gebannt am Fenster. Felsbrocken säumten den Weg, und plötzlich wuchs ein dunkles Holzkreuz auf. Die Kutsche fuhr so dicht am Abgrund entlang, daß man in die gähnende Tiefe blicken konnte. Einen Moment lang sah man weißschimmernde Steine, halb von wildem Gestrüpp überwuchert. Wie die Leiber von Toten, dachte Nathalie schaudernd. Und auf den Steinen hockten große schwarze, unheimlich aussehende Vögel, die beim Nahen der Kutsche mit wildem Kreischen aufflatterten. Eine schwarze, unheilvolle, flatternde Wolke verdunkelte für Sekunden den Himmel. »Was sind das für Vögel?« flüsterte Nathalie erschauernd.
Zitternd drängte Dina sich an sie. »Das sind keine Vögel«, raunte sie mit bebender, schreckerfüllter Stimme. »Das sind die schwarzen Seelen der Verbrecher, die keine Ruhe finden.« »Was redest du da?« »Du kannst es ja nicht wissen«, raunte Dina. »Hier war früher eine Hinrichtungsstätte. Man hat die Verbrecher einfach in die Schlucht gestürzt. Bequem, nicht wahr? Man brauchte nicht mal einen Galgen. Man konnte den Strick sparen.« »Sag doch nicht so schreckliche Sachen«, flüsterte Nathalie entsetzt. »Aber es ist wahr.« Dina umklammerte Nathalies Arm. Ihr Griff war so fest, daß er schmerzte. »Niemand wagt es, bei Dunkelheit hierherzugehen«, raunte sie. »Die Geister der Toten würden ihn holen. Meine Mutter wollte es nicht glauben. Sie lachte über solche Geschichten. Doch eines Tages, als sie hier vorbeifuhr, ist die Kutsche in den Abgrund gestürzt.« Dinas Atem flog. Ihre Augen waren fast schwarz vor Erregung. »Erst am anderen Morgen fand man die Trümmer überall verstreut. Und meine Mutter war tot, tot und alle mit ihr!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Nathalie durchrann es eiskalt. Sie hatte das Gefühl, einer der Felsbrocken käme auf sie zu. Gleich darauf war der Spuk vorbei. Birken säumten den Weg. Der Wald nahm sie auf. »Alle mit ihr«, klang es in ihr nach. Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte sie. Was hatte Dina mit ihren Worten gemeint. Hatte die Gräfin Latitia nicht allein in der Kutsche gesessen? War jemand bei ihr gewesen? »War deine Mutter allein in der Kutsche?« fragte sie stockend. Dinas Kopf ruckte hoch. »Warum fragst du danach?« »Du sagtest, alle wären mit ihr tot gewesen.«
In Dinas Gesicht zuckte es. »Ich meinte den Kutscher und die Pferde«, erwiderte sie erstickt. »Es muß furchtbar für dich gewesen sein«, sagte Nathalie mitfühlend. »Es war furchtbar für uns alle, grauenvoll war es«, flüsterte Dina. »Manchmal träume ich nachts davon. Und im Traum erlebe ich alles, alles genauso, wie es meine Mutter erlebt haben muß. Bitte, laß uns nicht mehr darüber reden.« Dina setzte sich aufrecht hin, wischte sich mit fast zorniger Entschlossenheit die Tränen ab. Nathalie schwieg. Die Gedanken wirbelten hinter ihrer Stirn. Ihr ganzer Kopf schmerzte von diesen Gedanken. Hatte Dina die Wahrheit gesagt? War ihre Mutter wirklich allein in der Kutsche gewesen? Jede Frau hätte sich gefürchtet, bei Dunkelheit diesen Weg zu nehmen. Hatte die Gräfin mehr Mut besessen als andere Frauen? Oder war sie nicht allein gewesen? Es war doch gar nicht üblich, daß eine Frau allein bei Dunkelheit losfuhr, überlegte Nathalie. Warum hat der Graf sie nicht begleitet, oder der Diener Matthias? Sie konnte Dina nicht danach fragen. Sie hatte ja gesehen, wie allein der Anblick der Schlucht die Komteß aufregte. Drei Jahre waren seit dem Unglück vergangen. Drei lange Jahre, und genau zu dem Zeitpunkt waren Pierres Briefe ausgeblieben. Der Gedanke ließ Nathalie nicht los. Sie spürte, spürte es instinktiv, daß zwischen dem Tod der Gräfin Latitia und Pierres Verschwinden ein Zusammenhang sein mußte. Alles fügte sich zusammen wie ein Mosaik, bei dem nur noch einige Steinchen fehlten. Wenn ein Mensch verschwand, so hinterließ er doch Spuren. Man konnte ein Menschenleben nicht spurlos auswischen!
Die Kutsche hielt vor dem Hauptportal. Die Mädchen schürzten die Röcke und eilten die Freitreppe hoch. Matthias hielt das schwere Hauptportal für sie geöffnet. Seine hellen, fast farblosen Augen starrten Nathalie auf eine Art an, die ihr Schauer über den Rücken jagte. Er mag mich nicht, dachte sie hellsichtig. Und auch mir ist dieser Mensch unheimlich. Nathalie durchquerte die Halle, blieb vor dem Porträt Latitias stehen. Ihr lebendiges, tiefes Lächeln schien sie zu verspotten. »Wenn du doch reden könntest«, sprach sie halblaut zu dem Bild. »Bestimmt könntest du mir viel erzählen. Bestimmt könntest du mir eine einzige brennende Frage erwidern: Wo ist mein Bruder Pierre?« Das gemalte Gesicht gab keine Antwort. Latitia lächelte noch immer, doch das Lächeln schien einem anderen Betrachter zu gelten, nicht ihr.
*
Matthias hatte Mühe, die Balkontür zu schließen, so heftig stieß der Wind dagegen. Klatschend schlug der Regen gegen die Scheiben. Das Heulen des Sturms klang wie der Klagegesang verlorener Seelen. »Ein richtiges Unwetter«, murmelte Matthias. Er warf einen Blick auf Nathalie, die neben dem Kamin saß und in einem Buch blätterte. »Soll ich noch einmal nachlegen, gnädiges Fräulein?« fragte sie der Diener. »Nicht nötig, ich gehe gleich zu Bett.« Als sich der Diener noch immer nicht entfernte, blickte Nathalie befremdet von ihrem Buch hoch. »Ist noch etwas?«
Matthias starrte auf das aufgeschlagene Buch. Es war ein Buch über Malerei. »Interessieren Sie sich für Malerei?« fragte Matthias mit seiner sonderbar ausdruckslosen Stimme. »Sehr«, nickte Nathalie. »Mein Bruder ist Maler.« »Ach!« Der Diener fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Täuschte sie sich oder war sein Gesicht eine Spur blasser geworden? Es mochte aber auch an dem matten Licht der Kerzen liegen. In ihrem Schein wirkte alles anders. »Vor einigen Jahren war ein Maler hier im Schloß«, sagte Matthias plötzlich. »Er hieß auch Mereau.« Nathalie war so überrascht, daß sie im ersten Moment keine Worte fand. »Das könnte mein Bruder gewesen sein«, brachte sie dann hervor. »Der Name Mereau ist ja ziemlich häufig«, schränkte Matthias ein. »Aber wenn Ihr Herr Bruder auch Maler war…« »Er hieß mit Vornamen Pierre.« »Ja, das könnte sein«, sagte der Diener schwerfällig. »Ich erinnere mich nicht so genau. Was für ein eigenartiger Zufall. Haben Sie denn nichts von seinem Aufenthalt gewußt?« Ein lauernder Blick traf sie, der ihr ein leises Unbehagen vermittelte. Sie wußte, daß sie jetzt auf der Hut sein mußte. »Mein Bruder zog von Schloß zu Schloß«, antwortete sie schnell. »Wo er sich immer aufhielt, weiß ich nicht genau. Ich habe auch jetzt keine Ahnung, wo er sein kann. Wissen Sie vielleicht, wohin er sich gewandt haben könnte?« Der Diener zuckte die Achseln. In seinem Blick lag eine gläserne Starrheit. »Er hat die Gräfin Latitia gemalt«, sagte er ausdruckslos. »Als das Bild fertig war, ist er abgereist.« Er trat an den Kamin und griff nach dem Schürhaken, zerteilte dann des Rest des glimmernden Holzstückes, daß Funken aufstoben.
»Hat er nicht gesagt, wohin er als nächstes wollte?« Nathalie konnte nur noch schwer ihre Aufregung verbergen. »Bitte, versuchen Sie doch, sich zu erinnern. Vielleicht hat mein Bruder doch irgendeine Bemerkung fallenlassen.« »Ich weiß nur, daß er ins. Ausland wollte, nach Rom.« »Nach Rom?« Nathalie spürte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann. Hoffnung durchflutete sie. Wenn Pierre nach Rom gegangen war, konnte man sein langes Schweigen verstehen. Und falls er geschrieben hatte, konnten die Briefe verlorengegangen sein. Ja, das war gut möglich! So viele Dinge waren möglich. Auch sie erinnerte sich, daß Pierre mal davon gesprochen hatte, nach Rom zu gehen. Und sie suchte ihn hier! War sie vergeblich nach Schloß Trontheim gekommen? Matthias legte den Schürhaken beiseite. Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht gerötet. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf«, murmelte er, »so erwähnen Sie vor den gräflichen Herrschaften besser nicht, daß Sie die Schwester des Malers sind.« »Warum nicht?« »Es gab Unstimmigkeiten zwischen dem Grafen und ihm.« Der Diener trat zu ihr und senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Die Gräfin Latitia hat sich sehr gut mit dem Maler verstanden.« Dann ging er langsam auf die Tür zu. »Soll ich Ihnen jetzt Ihren Tee bringen?« »Ja«, sagte Nathalie mechanisch. Die Gedanken jagten sich hinter ihrer Stirn. Wußte der Graf wirklich nicht, daß sie Pierres Schwester war? Pierres Briefe waren verschwunden. Wenn der Graf sie hatte, wußte er alles. Wer konnte sonst noch an den Briefen interessiert sein? Matthias brachte den Tee in einem Silberkännchen. Er stellte das kleine Tablett auf ihren Nachtschrank. Mit seinem
weichen, lautlosen Schritt kam er zu ihr in den Salon zurück, verneigte sich und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie ging ins Schlafzimmer und begann, sich auszukleiden. Während sie mechanisch die gewohnten Handgriffe erledigte, arbeitete ihr Verstand fieberhaft. Ich traue diesem Diener nicht, dachte sie erregt. Er hat etwas Falsches im Blick. Von Anfang an habe ich ihm mißtraut. Nathalie fror plötzlich. Sie fror vor Angst und innerer Verzweiflung. Was sie längst geahnt hatte, Matthias hatte es bestätigt. Zwischen Pierre und der Gräfin Latitia hatten zarte Bande bestanden. »Wer die Ehre der Trontheims verletzt, muß sterben«, klangen Dinas Worte in ihr nach. Nein, sie glaubte nicht, daß Pierre abgereist war. Sie hatte keine Hoffnung mehr, daß er noch lebte. Hatte der Graf ihn ermordet? Nathalie schauderte vor diesem Gedanken zurück. Der Graf sieht nicht wie ein Mörder aus, dachte sie bebend. Aber ist ein eifersüchtiger, in seiner Ehre verletzter Mann nicht zu allem fähig? Vielleicht hat man sie beide umgebracht, durchzuckte es sie. Und dann hat man die Kutsche die Schlucht hinabgestürzt, um einen Unglücksfall vorzutäuschen. Mein Gott, in welche Phantastereien verliere ich mich da? fragte sie sich erschrocken. Ich muß vernünftig bleiben, sonst verliere ich noch den Verstand! Noch immer tobte draußen das Unwetter. Der Sturm war heftiger geworden, rüttelte mit wütender Kraft an den Türen und ließ Regen gegen die Scheiben prasseln. Nathalie kroch zitternd ins Bett. Es war kalt geworden im Raum. Dankbar erinnerte sie sich an den heißen Tee, den Matthias ihr gebracht hatte. Sie goß eine Tasse voll und trank
ihn in winzigen Schlucken. Für ihren Geschmack war er zu stark gesüßt, aber die Wärme tat ihr trotzdem gut. Schläfrig wurde sie davon. Sie spürte eine wohlige Ermattung, und alles, was sie bedrängte, alle schweren trüben Gedanken schienen leichter zu werden. Ein schweres Bedürfnis nach Schlaf überkam sie. Einige Stunden alles vergessen, dachte sie. Morgen will ich über alles nachdenken, morgen! Sie drehte den Docht der Lampe kleiner, vergrub den Kopf in das Kissen und schlief fast augenblicklich ein. Nathalie schlief unruhig in dieser Nacht. Schwere Alpträume verfolgten sie. Einmal sah sie sich an der Todesschlucht stehen. Sie starrte in den Abgrund und sah eine weiße Gestalt, die ihr winkte. Es war die Gräfin Latitia. Sie erkannte sie sofort. Latitia trug das tiefausgeschnittene champagnerfarbene Kleid, in dem Pierre sie gemalt hatte. Ich muß zu ihr, dachte Nathalie im Traum. Ich muß sie fragen, wo Pierre geblieben ist. Plötzlich spürte sie, wie sie das Gleichgewicht verlor, wie sie fiel und fiel. Latitia war verschwunden. Sie hörte das Gekreisch der schwarzen Vögel, die sich auf sie stürzten, mit ihren scharfen Schnäbeln nach ihr hackten. Sie hörte sich schreien und erwachte – in Schweiß gebadet. Ihre Kehle fühlte sich trocken und rauh an. Hatte sie wirklich im Traum geschrien? Ein scharfer kalter Luftzug streifte ihr Gesicht. Verwirrt richtete sie sich auf, blickte zur Balkontür hin. Sie stand weit offen und knarrte gespenstisch in den Angeln. Der Sturm mußte sie aufgestoßen haben. Die weißen Gardinen bewegten sich in einem gespensterhaften Tanz. Ich muß die Tür schließen, dachte Nathalie vage. Doch sie konnte sich nicht dazu aufraffen, ihr Bett zu verlassen. Von eigenartiger Trägheit gefangen, starrte sie auf die weißen, tanzenden Vorhänge.
Der Sturm zerriß die Wolkendecke am Himmel. Hin und wieder blitzte der Mond auf und verbreitete ein unwirkliches Licht. Und plötzlich sah sie Latitia! Sie stand in dem dunklen Rechteck der Tür. Im Mondlicht schimmerten ihre hellen Locken, gleißte das champagnerfarbene Kleid. Doch das bleiche Gesicht wirkte leblos wie eine Todesmaske, ihr roter Mund war wie eine offene blutende Wunde. Grauen überflutete Nathalie. Wie gebannt starrte sie auf die Gräfin. Als sie sich bewegte, wollte sie schreien, doch nur ein Krächzen kam von ihren Lippen. Latitia schwebte am Fenster vorbei, dann war die Erscheinung plötzlich verschwunden. Was hatte das zu bedeuten? Vor Angst und Entsetzen wie gelähmt, starrte Nathalie auf die Stelle, wo die Gräfin verschwunden war. Die Wand mußte sie verschluckt haben. Sie war so plötzlich verschwunden wie ein Geist, der zerfließt. Oder war sie gar nicht hier gewesen? Hatte sie sich das nur eingebildet? Hatten die wehenden Gardinen ihr eine Halluzination vorgegaukelt? Vielleicht träume ich immer noch, dachte Nathalie. Es gibt keine Geister, und die Gräfin Latitia ist tot. Wie sollte sie in mein Zimmer gelangen? Was sollte sie ausgerechnet in meinem Zimmer suchen? Noch immer stand das weiße, totenstarre Gesicht vor ihren Augen, der rote, blutende Mund. Genauso hatte sie auf dem unfertigen Bild im Pavillon ausgesehen. Ob das ein Fingerzeig war? Nein, ich werde nicht nach Rom gehen, dachte Nathalie in jähem Entschluß. Ich werde weitersuchen, weiterforschen. Ich
bin sicher, daß das Erscheinen der Gräfin ein Hinweis ist, selbst wenn es nur ein Traumgebilde war.
*
Die farbenprächtig gekleideten Musiker spielten ein Menuett von Mozart. Es war ein herrliches Bild, die Damen in ihren kostbaren Kleidern, wie sie sich zierlich drehten und wendeten und die weiten Röcke rauschen ließen. Geraldine sah bezaubernd aus in ihrem neuen blauen Kleid. Ihr kunstvoll frisiertes Blondhaar ließ nur einige Korkenzieherlocken frei. An ihren Ohren schimmerten Saphire und ein schlichtes edles Saphirkollier betonte ihren schlanken Hals. Lächelnd, anmutig schwebte sie über das Parkett. Wenn sie Nathalie begegnete, zwinkerte sie ihr zu, als wollte sie ihr sagen: Ist das nicht ein wundervoller Spaß? Plötzlich fand Nathalie sich an der Seite Gunthers. Er nahm ihre Hand und preßte sie. Während sie die vorgeschriebenen Schritte tanzten, raunte er: »Ich muß mit dir sprechen, unbedingt.« Schon war sie bei einem anderen Tänzer. Doch noch immer spürte sie Gunthers Blick. Einen Herzschlag lang tauchten ihre Blicke ineinander, selbstvergessen, träumend, und Nathalie spürte, wie ein heißer Strom zu ihrem Herzen floß. Ich liebe ihn, dachte sie erbebend. Aber was soll daraus werden? Dina gibt ihn nicht frei. Ich muß ihm sagen, daß wir kein Recht haben, unserem Gefühl zu folgen. »Endlich!« Gunther war es gelungen, Nathalie zum Tanz aufzufordern. »Endlich habe ich dich einige Minuten für mich«, flüsterte er mit heißem Blick.
Sie tanzten wie im Traum. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Wie auf Wolken tanzten sie und hielten mit ihren Augen, ihren Blicken zärtliche Zwiesprache. »Wenn ich dich sehe, möchte ich dich küssen, immerzu«, flüsterte er. »Sag mir, daß du mich liebst!« »Muß ich es dir erst noch sagen?« wisperte sie, ganz im Bann seiner grauen, heißen Augen. »Wenn uns jemand hört…« »Was gehen uns die anderen Menschen an«, lächelte er. »Sind wir nicht Gestrandete auf einer einsamen Insel, die Liebe heißt?« »Aber wir sind nicht allein«, beharrte sie. »Wenn Dina etwas merkt…« »Dina hat dich gern. Sie wird dir dein Herzensglück nicht mißgönnen. Aber du hast recht, Nathalie, wir dürfen nichts überstürzen. Wir müssen die anderen erst langsam damit vertraut machen, daß wir zueinander gehören. Könnte ich dich nicht einmal allein sehen?« drängte er. »Ich habe dir so viel, so unendlich viel zu sagen. Jetzt haben die Trontheims doch genug mit ihren Gästen zu tun. Könntest du nicht morgen früh allein ausreiten? Wir treffen uns dann an der Schlucht.« »An der Todesschlucht?« fragte sie erschauernd. »Ich, weiß, ein schöner Ort ist es gerade nicht. Aber du bist doch nicht abergläubisch?« Er neigte sich vor und streifte mit heißen Lippen ihre Wange. »Unsere große Liebe wird die Geister schon vertreiben«, raunte er. »Ich bin um acht Uhr dort und werde auf dich warten.« Sekundenlang preßte er sie fest an sich. Seine grauen Augen bettelten und flehten. »Wirst du kommen, Nathalie?« »Ich werde kommen«, flüsterte sie, dann endete der Walzer in einem Akkord. Mit einer Verneigung nahm Gunther ihren Arm und führte sie auf ihren Platz zurück.
Nathalie hatte keine Lust mehr, noch länger aufzubleiben. Sie konnte jetzt einfach nicht mehr mit irgendeinem anderen Mann tanzen und gleichgültige Worte wechseln. In einem günstigen Augenblick verließ sie den Saal und floh auf ihr Zimmer. Sie wollte allein sein, an Gunther denken, sich noch einmal die Worte ins Gedächtnis rufen, die er zu ihr gesagt hatte. Noch einmal wollte sie die köstlichen Momente ihres Beisammenseins nacherleben und vergessen, daß es keine Hoffnung für ihre Liebe gab. Vorsichtig streifte sie das Prachtgewand von den Schultern, löste die Häkchen, das Mieder, und schlüpfte in das weiße, durchscheinende Batistnachtgewand. Sie wollte noch in ihr Tagebuch schreiben und dann früh schlafen. Als sie das in Leder gebundene Tagebuch aus dem Schreibtisch holen wollte, fiel ihr ein Bündel Briefe in die Hand, Pierres Briefe, das sah sie auf den ersten Blick. Fassungslos blickte sie auf das schmale Päckchen. Ihre Gedanken überstürzten sich. Wie kamen die Briefe in den Schreibtisch? Hatte sie sie selber dorthin gelegt und es dann vergessen? Aber wieso fielen sie ihr dann erst heute in die Hände? Nein, jemand mußte die Briefe entwendet haben! Aber wer? Wer konnte ein Interesse daran haben, Pierres Briefe zu lesen? Graf Gernot, Matthias oder Dina? Vielleicht alle drei? Dina bestimmt nicht, grübelte sie. Dina weiß ja von nichts. Und Graf Gernot? Sie konnte sich kaum vorstellen, daß er in ihr Zimmer schlich und Briefe stahl. Es konnte nur Matthias gewesen sein, vielleicht auch Nanni, im Auftrag des Grafen? Wenn ich doch jemanden hätte, dem ich mich anvertrauen könnte, dachte Nathalie gequält. Ob ich mit Gunther spreche?
Morgen früh werde ich ihn sehen, dachte Nathalie. Nur einige Stunden noch und er wird mich in den Armen halten und anhören. Von diesem Gedanken getröstet, ging sie zu Bett. Sie versuchte, alles Bedrückende zu vergessen und nur noch an den Liebsten zu denken. Mit seinem Namen auf den Lippen schlief sie ein. Die Tür knarrte beim öffnen. Erschrocken blieb Nathalie stehen und lauschte auf den dunklen Flur hinaus. Aber alles blieb still. Im Schloß schienen noch alle im tiefsten Schlaf zu liegen, was erklärlich war. Bis in die frühen Morgenstunden hatte das Fest gedauert. Nathalie zog sich die Kapuze des langen dunklen Mantels über den Kopf und schlich leise die Treppe hinab. Auch in der Halle war keine Menschenseele. Einsam lächelte Gräfin Latitia von der Wand herab. Gerade wollte sie die Halle verlassen, als sie von oben ein Geräusch hörte. Erschrocken blickte sie auf. Doch alles blieb still. Sie mußte sich getäuscht haben. Es war sieben Uhr in der Frühe. Draußen herrschte ein milchiges Halbdunkel, das sich schwer auf ihre Lungen legte. Nebelschwaden! Sollte sie nicht lieber umkehren? Bei diesem Nebel würde Gunther sicher nicht ausreiten. Wenn er aber doch kam, war er sicher enttäuscht, sie nicht zu finden. So ein kleiner Morgenspaziergang konnte ja auch nicht schaden. In einer halben Stunde konnte die Welt schon heller sein, das ging manchmal blitzschnell. Nathalie eilte über den Parkweg. Sie konnte nur zehn Meter weit sehen. Die Welt ringsum schien wie ausgestorben. Jeder Laut wurde von der dichten Nebelwand verschluckt. Selbst das Geräusch ihrer eigenen Schritte klang dumpf und seltsam unwirklich.
Ein unheimliches Gefühl breitete sich in ihr aus. Als plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihr aufwuchs, schrie sie auf. Doch dann erkannte sie, daß es nur eine der Skulpturen war, kein Wesen aus Fleisch und Blut. »Ich muß mich wirklich mehr zusammennehmen«, sagte sie laut und ärgerlich. »Wie kann man nur so hysterisch sein!« Tapfer lief sie weiter, beschleunigte noch ihren Schritt. Sie verwünschte den Park, der so endlos schien, dessen verschlungene Wege wie ein Labyrinth waren. Schon fürchtete sie, sich verlaufen zu haben. Doch da sah sie das kleine Tor, das in die hohe Mauer eingelassen war. Sie hatte es geschafft. Jetzt kamen noch etwa zweihundert Meter Wald. Nathalie durchquerte ihn, ohne nach rechts und links zu sehen. Sie wußte nicht, wie lange sie schon gelaufen war. Allmählich wurde es heller, der Nebel durchsichtiger. Dann war sie auf der Straße. Ob Gunther schon dort ist? fragte sie sich. Ihr Herz begann vor Erregung und Vorfreude schneller zu klopfen. Der Boden unter ihre Füßen wurde steiniger, und sie wußte, daß sie in der Nähe der Todesschlucht war. Schwer atmend erreichte Nathalie das Holzkreuz. Gunther war noch nicht da. Sicher war es noch zu früh. Sie lauschte, ob sie den Hufschlag eines Pferdes hörte, doch alles blieb still. Ein unerklärlicher Drang trieb sie, sich über die Mauer aus Geröll zu neigen. Ein kleiner Stein löste sich, rollte hinab und schlug dumpf auf. Nathalie erinnerte sich an Dinas Geschichten, an ihren eigenen, schrecklichen Traum. Sie starrte in den Abgrund und sah die Nebelschleier wie Geister tanzen, sah die hellen Steine aufschimmern. Oder waren es gar keine Steine, sondern die verblichenen Knochen der Verbrecher, die man hier hinabgestürzt hatte?
Ein Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest. Wenn hier die Kutsche der Gräfin Latitia hinabgestürzt war, mußte es noch Spuren geben. Sicher hatte man versucht, alle Trümmer zu entfernen, aber bei dem Gewirr dort unten konnte man leicht etwas übersehen haben. Sie ließ noch einen Stein hinunterrollen, wartete auf das zornige Gekreisch der Krähen. Doch alles blieb stumm. Die Krähen waren nicht da. Wahrscheinlich hatten sie ihre Schlafplätze in den Wäldern. Ohne es selbst zu wollen, ging Nathalie weiter, fand einen schmalen Weg und begann hinabzusteigen. Der Weg war so steil, daß sie sich an dem wilden Gestrüpp festhalten mußte. Einmal wäre sie fast gestürzt, konnte noch im letzten Moment einen stacheligen Strauch fassen und spürte einen heißen Schmerz. Die scharfen Stacheln hatten ihr den Handteller aufgerissen. Aber zurück konnte sie jetzt nicht mehr, wollte es auch nicht. Der Drang nachzuforschen war stärker als ihre Angst. Sie glitt mehr als daß sie ging, durchlebte tausend Ängste, stieß gegen einen Marmorblock und konnte nicht weiter. Sie war auf dem Boden der Schlucht angelangt. Als sie hochblickte, erschauerte sie vor Grauen, konnte es sich kaum vorstellen, daß sie es geschafft hatte, den steilen Abhang unbeschadet hinunterzukommen. Dann blickte sie sich um. Der Boden war übersät mit bizarr geformten Marmorblöcken, dazwischen Gestrüpp. Es war jetzt so hell, daß sie alles gut erkennen konnte. Langsam ging sie umher, suchte mit den Blicken den Boden ab, stöhnte plötzlich entsetzt auf, als jemand sie festzuhalten suchte. Als sie sich umblickte sah sie, daß sich der Saum ihres Mantels in einer Dornenranke verfangen hatte.
Sie fand ein zerbrochenes Wagenrad, zwischen den Speichen wuchs giftiger Fingerhut, die roten Blüten leuchteten wie Blutstropfen, und erschauernd fragte sie sich, ob dieses Rad wohl von der gräflichen Kutsche stammen mochte. Sie entdeckte noch eine Menge wertlosen Plunders zwischen dem Geröll, einen zerbrochenen Blechtopf, der ein schepperndes Geräusch von sich gab, als sie mit dem Fuß dagegentrat, ein abgerissenes Hanfseil, ein zerfetztes Barett, wie es die Kutscher tragen. Schon wollte sie enttäuscht den Rückweg antreten, als einige Meter vor ihr etwas geheimnisvoll aufblinkte. Es mochte eine Glasscherbe sein, die durch die zaghaften Sonnenstrahlen Glanz bekam, oder ein schillernder Kiesel. Nathalie bückte sich nach dem schimmernden Gegenstand und fand eine kleine, vergoldete Dose, mit einem Brillanten geschmückt. Pierres Schnupftabakdose, durchfuhr es sie in eisigem Entsetzen. Sie brauchte gar nicht nach den verschlungenen Initialen »PM« zu suchen. Sie erkannte die Dose auf den ersten Blick. Es war ein Erbstück ihres Vaters. Pierre hatte sie immer bei sich getragen. Fassungslos und verzweifelt starrte sie auf die kleine Dose, während ihr Tränen in die Augen sprangen. Pierre ist tot, war alles, was sie denken konnte. Hatte man ihn die Schlucht hinabgestürzt wie einen Verbrecher? Welche Schuld konnte Pierre auf sich geladen haben? War er durch seine Liebe zu Latitia schuldig geworden, zum Ehebrecher? Sie ließ die Dose in ihre Manteltasche gleiten. Plötzlich klang ein unheimliches Poltern auf. Sie blickte hoch und sah voll Entsetzen, wie ein großer Felsbrocken den Abhang hinunterstürzte, direkt auf sie zu.
Instinktiv warf sie sich zur Seite. Gleich darauf ein dumpfes Krachen, Erde und Geröll spritzten hoch. Sie spürte einen scharfen Schmerz an der Schläfe und erkannte voll Grauen, daß der Felsblock nur einige Handbreit von ihr entfernt lag. Er hätte mich zerschmettert, dachte sie bebend. Nur weg von hier. Von Angst gejagt, begann sie den Aufstieg, mit Händen und Füßen kroch sie den schmalen Weg hoch. Nur nicht umblicken, befahl sie sich. Wenn ich mich umblicke, stürze ich todsicher ab. Mühsam arbeitete sie sich weiter, Zentimeter um Zentimeter. Die Arme begannen ihr zu erlahmen, aber sie gab nicht auf. Sie wußte, daß unten der sichere Tod auf sie wartete, und dieses Wissen gab ihr Kraft. Sie hörte einen Schrei. Jemand rief ihren Namen. »Nathalie!« Dann spürte sie noch, wie starke Hände nach ihren Armen griffen, sie hochzogen. »Nathalie, mein Gott!« Verschwommen sah sie Gunthers Gesicht über sich. Zärtlich und fest hielt er sie in den Annen und streifte mit warmen, lebensvollen Lippen ihre Wange, ihr Haar. »Nathalie, was ist denn nur geschehen?« fragte er drängend. »Was hast du dort unten gemacht?« Sie war noch nicht fähig, Antwort zu geben. Noch immer zitterte der ausgestandene Schrecken in ihr nach. Erst jetzt wurde ihr mit aller Deutlichkeit klar, wie gefährlich, wie wahnwitzig ihr Unternehmen war. »Gut, daß du da bist!« Sie schlang die Arme um ihn und weinte leise. »Es war schrecklich, fast hätte mich ein Felsbrocken getroffen.« »Du blutest ja!« Besorgt griff er nach einem Taschentuch und tupfte die kleine Wunde an der Schläfe ab. »Warum bist du nur da hinuntergestiegen? Was hast du dort gesucht?«
»Bist du schon lange hier, Gunther?« »Nur einige Sekunden.« »Was meinst du, kann sich so ein Felsbrocken von allein lösen?« »Ich verstehe nicht. Glaubst du etwa…?« Er brach ab und blickte ihr erschrocken ins Gesicht. »Ich wollte nur wissen, ob du jemanden gesehen hast, als du kamst. Ob jemand vor dir hier gewesen ist.« »Ich habe keine Menschenseele gesehen. Wer sollte auch zu dieser frühen Morgenstunde hierhergehen«, meinte er kopfschüttelnd, blickte sie dann in wachsender Sorge an. »Bist du auch in Ordnung, Liebling? Gestürzt bist du nicht? Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.« »Du glaubst wohl, ich phantasiere…«, hielt sie ihm mit trübem Lächeln vor. »Aber in letzter Zeit sind mir so viele seltsame Dinge passiert, daß ich schon langsam anfange, an Gespenster zu glauben. Möglich, daß der Stein sich gelöst hat, als ich hinuntergeklettert bin. Möglich ist aber auch, daß jemand ihm einen Stoß gegeben hat, um mich zu treffen.« »Nathalie, was bildest du dir ein!« rief er entsetzt. »Wer sollte so etwas Furchtbares tun? Komm, gehen wir schnell weg von hier. Dieser Ort bringt dich ganz durcheinander.« Nur einige Meter entfernt hatte er Artifex angepflockt. Er setzte Nathalie in den Sattel, löste die Leine und schwang sich hinter sie. Artifex fiel in schnellen Trab. Die Strahlen der Sonne ließen die Nebelschleier zerfließen. Es war schön, so in den jungen, taufrischen Tag hineinzureiten, Gunthers Atem an der Wange zu spüren, seine Arme zu spüren, die sie fest und zuverlässig hielten. Ihm kann ich vertrauen, grübelte Nathalie. Er ist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann, oder nicht?
Warum hat er mich ausgerechnet zur Todesschlucht bestellt, schoß es ihr durch den Kopf. Warum ist er zu spät gekommen, oder war ich zu früh? Ich begreife nicht, daß sich ein so schwerer Stein von selbst lösen kann. Aber sicher, möglich ist alles. Warum sollte auch ausgerechnet Gunther es getan haben, er hat doch überhaupt kein Motiv! »Hast du den Maler gekannt, der das Bild der Gräfin Latitia gemalt hat?« fragte sie ihn plötzlich. »Ich habe ihn einige Male gesehen«, entgegnete er erstaunt. »Weswegen fragst du danach?« »Er war mein Bruder«, antwortete Nathalie. »Ach! Das habe ich nicht gewußt. Weiß Dina davon?« »Nein, ich möchte auch nicht, daß sie es erfährt, noch nicht.« Nathalie erzählte ihm alles, rückhaltlos, und bat ihn, sich zu erinnern, wann er Pierre das letzte Mal gesehen hatte. »Das weiß ich noch ziemlich genau«, erwiderte Gunther. »Ich besuchte die Trontheims an dem Tag, an dem das Bild in die Ahnengalerie gehängt wurde. Alle bewunderten das gelungene Porträt. Auch Dina war ganz begeistert. › Schade, daß Sie schon abreisen wollen, Pierre‹, sagte sie zu dem jungen Maler. ›Sie könnten doch noch ein Bild von mir malen.‹ Doch Graf Gernot war nicht damit einverstanden und hatte gemeint, ihr Porträt habe noch gut zehn Jahre Zeit.« »Wie war die Atmosphäre zwischen ihnen«, forschte Nathalie. »Gereizt? War Graf Gernot eifersüchtig auf meinen Bruder?« »Liebes, ich fürchte, du hast dich da in etwas hineingesteigert, was absolut undenkbar ist«, erwiderte Gunther schroff. »Selbst wenn die Gräfin ein wenig mit deinem gutaussehenden Bruder geflirtet hat, hätte sie sich doch niemals auf mehr eingelassen. Ein Maler und eine Gräfin,
dazwischen liegen Welten. Und Gräfin Latitia war sehr standesbewußt.« »Auch zwischen uns liegen Welten«, entgegnete Nathalie eigensinnig. »Liebst du mich nicht trotzdem?« »Das ist etwas ganz anderes. Ich bin nicht verheiratet.« »Darf man nicht lieben, wenn man verheiratet ist?« »Seinen Ehepartner, ja!« »Und wenn man dort keine Liebe findet? Wenn man sich unverstanden fühlt?« widersprach Nathalie leidenschaftlich. »Die Gräfin ist sehr früh mit dem Grafen Trontheim verheiratet worden. Niemand hat danach gefragt, ob sie ihn auch liebt. Weil sie sich im innersten Herzen einsam fühlte, hat sie zu malen begonnen. Doch alle haben ihr Hobby belächelt, es nicht ernst genommen. Erst bei meinem Bruder fand sie Verständnis. Für mich ist es ganz natürlich, daß sie sich in Pierre verliebt hat. Er war der erste Mensch, der sie verstand.« »Du hast dir da einen ganzen Roman zusammengedichtet«, spottete Gunther. »Leider hat er kein glückliches Ende.« Nathalie seufzte. »Die Gräfin Latitia ist tot, und mein Bruder ist verschollen.« »Vielleicht ist er wirklich nach Rom gegangen. Warum sollte Matthias das erfinden?« Sie blickte sich zu ihm um. In ihren grünen Augen brannte Erregung. »Und Pierres Schnupftabakdose? Wie konnte ich sie in der Todesschlucht finden?« »Vielleicht hat er sie der Gräfin geschenkt, als Andenken.« »Ein Erbstück verschenkt man nicht. Außerdem ist eine Schnupftabakdose kein Geschenk für eine Dame.« »Wie dickköpfig du bist«, tadelte er sanft. »Laß doch die dunklen Gedanken. Wir wollten doch über uns sprechen. Seit Tagen sehne ich mich danach, dich allein zu sehen.« Er ließ Artifex anhalten, sprang ab und half ihr aus dem Sattel. Die Leine des Rappen schlang er um einen
Birkenstamm, faßte dann Nathalie um die Schultern. »Gehen wir doch ein Stück.« »Auch für unsere Liebe gibt es keine Hoffnung«, sagte Nathalie nach einer Weile mit leiser Trauer in der Stimme. »Dina besteht auf der Heirat mit dir, unter allen Umständen.« »Sie kann mich nicht zwingen«, entgegnete er entschieden. »Wie kann ich ein Mädchen zur Frau nehmen, das ich nicht einmal begehre? Auch Dina hat kein Gefühl für mich, höchstens schwesterliche Zuneigung. Ich begreife nicht, warum sie trotzdem an dieser geplanten Verbindung festhalten will.« »Vielleicht will sie nicht als verlassene Braut dastehen?« »Unsinn! Sie ist eine reiche Erbin, außerdem sieht sie blendend aus. Es wird ihr nicht schwerfallen, einen anderen Bewerber zu finden.« Gunther blieb stehen, legte ihr die Hände auf die Schultern und blickte sie ernst an. »Was zwischen uns ist, Nathalie, kann uns niemand nehmen. Unsere Liebe ist mir wichtiger als alles andere in der Welt. Und für das Wichtigste in seinem Leben muß man kämpfen können.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie zärtlich. »Alles ist meine Schuld«, sagte Nathalie bedrückt. »Wäre ich nicht gekommen…« Mit einem heißen, langen Kuß nahm er ihr die Worte fort. »Wir können uns nicht gegen unser Schicksal auflehnen, Liebes«, widersprach er ihr. »Und Dina?« Sie blickte ihn an. In ihren wunderschönen grünen Augen stand Angst. »Dina wird mir das nie verzeihen.« »Unsinn! Sie wird einen anderen Mann finden und ihr werdet die besten Freundinnen bleiben.« »Nimmst du es nicht zu leicht? Dina ist sehr stolz.«
»Und du sollst es nicht zu schwer nehmen«, bat er liebevoll. »Dina spricht nur in den höchsten Tönen von dir. Sie wird deinem Lebensglück nicht im Weg stehen wollen. Vielleicht kannst du sie schon behutsam vorbereiten.« »Nein! Zuerst muß ich das Schicksal meines Bruders aufklären«, wehrte sich Nathalie. »Eher finde ich keinen Frieden.« »Du willst nach Italien gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht daran, daß mein Bruder abgereist ist. Zumindest hätte er mir dann eine Nachricht zukommen lassen.« »Warum sprichst du nicht offen mit dem Grafen Trontheim?« »Was würde das nützen?« antwortete sie seufzend. »Wenn er Pierre auf dem Gewissen hat, würde er mich doch nur betrügen und belügen. Wahrscheinlich würde er mich sogar aus dem Schloß weisen, und ich könnte gar nichts mehr unternehmen.« »Ich weiß nicht, die Sache gefällt mir überhaupt nicht.« Gunther nahm sie um die Schultern und ging mit ihr den Weg zurück. »Die Trontheims genießen hohes Ansehen in der Gesellschaft. Noch niemals hatte es einen Skandal oder ähnliches in ihrer Familie gegeben. Ich kann mir kaum vorstellen, daß der Graf eines Verbrechens fähig wäre.« »Wie konnte das Unglück überhaupt geschehen?« fragte Nathalie nach einer Pause. »Es war allen unbegreiflich. Von der Kutsche muß sich ein Rad gelöst haben. Genaueres hat man nie erfahren.« »Und wer hat sie gefunden?« »Grat Trontheim selber. Er hatte mit Dina seinen Morgenritt gemacht. Für Dina war es ein schwerer Schock. Tagelang lag sie im schweren Nervenfieber und war nicht ansprechbar.« »Dann verstehe ich nicht«, sagte Nathalie langsam, »wieso man sich keine Sorgen gemacht hat, daß die Gräfin in der Nacht nicht nach Hause kam.«
»Das ist allerdings seltsam.« Betroffen blieb Gunther stehen. »Doch möglicherweise hatte sie vor, bei einer Freundin die Nacht zu verbringen. Ja, so muß es gewesen sein.« Ob der verunglückte Kutscher Familie gehabt hat? überlegte Nathalie. Wenn ja, dann müßte seine Frau doch wissen, ob er für längere Zeit fortbleiben wollte. Ich werde unseren Kutscher mal danach fragen. »So viele dumme Fragen hinter einer so bezaubernden Stirn«, lächelte Gunther. »Laß uns lieber von unserer Zukunft sprechen!« »Wir haben keine«, sagte Nathalie leise. »Solange das Verschwinden meines Bruders nicht aufgeklärt ist, kann ich nicht an mein eigenes Glück denken.« Er nahm sie fest in die Arme, preßte sie voll überströmender Liebe an sich. »Versprich mir, daß du nichts Unüberlegtes tun wirst, Liebste! Ich will dich nicht verlieren.« »Ich werde schon auf mich aufpassen.« Sekundenlang überließ sie sich seinen Zärtlichkeiten, gab sich ganz dem berauschenden Glück hin, zu lieben, wiedergeliebt zu werden. Sie spürte, wie dieser kurze kostbare Moment ihr neue Kraft schenkte, und sie ahnte, daß sie in Zukunft all ihre Kraft gebrauchen würde.
*
Im Schloß waren immer noch Gäste. Viele von ihnen promenierten im Park und erholten sich an der kühlen, belebenden Luft. Nathalie eilte zu den Ställen. Sie hoffte, den Kutscher dort zu treffen, und ihre Hoffnung trog sie nicht. Der stämmige ältere Mann war gerade dabei, Jupiter mit einem Strohbündel
trockenzureiben. Bei Nathalies Anblick leuchteten seine Augen freudig auf. »Soll ich Ihnen ein Pferd satteln, gnädiges Fräulein?« »Nein, vielen Dank!« Sie blickte auf Jupiter, dessen Fell schweißnaß war. »Wer hat den Rappen denn so gehetzt?« fragte sie. »Keine Ahnung! Ich fand ihn so vor dem Stall! Wahrscheinlich Graf Gernot. Er ist ein temperamentvoller Reiter. Aber Jupiter braucht das. Sehen Sie nur, wie seine Augen vor Vergnügen funkeln! Der scharfe Ritt hat ihm gutgetan.« »Wie heißen Sie eigentlich?« »Ich bin der Franz, wenn Sie erlauben!« »Wie hieß denn Ihr Vorgänger, kannten Sie ihn?« »Meinen Sie den, der verunglückt ist?« Franz wandte sich wieder dem Rappen zu, rieb mit gleichmäßigen Bewegungen sein Fell ab. »Das war der Ferdinand Heiers, elf Kinder hat er zurückgelassen. Aber der Graf sorgt gut für sie. Er hat eben ein gutes Herz, unser gnädiger Herr.« Vielleicht hat er nur ein schlechtes Gewissen, durchzuckte es Nathalie. Jedenfalls wußte sie jetzt den Namen des verunglückten Kutschers. Sobald sie Gelegenheit fand, wollte sie die Witwe aufsuchen und befragen. Sie machte einen Umweg zum Schloß und gelangte zum Dienstboteneingang. Er führte in den Keller, vorbei an den riesigen Küchenräumen, wo man schon wieder eifrig bei der Arbeit war, den Lunch vorzubereiten. Ein köstlicher Duft nach Gebratenem stieg Nathalie in die Nase. Eine brennende Öllampe erhellte den dunklen Flur. Sie kam an eine vergitterte Tür und sah, daß sie einen Spalt breit offenstand. Sie ging einige Schritte in den Keller hinein und blickte sich um. Auch hier brannte eine Öllampe. Am Ende des
langgestreckten Kellergewölbes entdeckte Nathalie eine große eiserne Tür. Wohin mag sie führen? fragte sie sich, griff nach der Klinke, drückte sie herunter, zu ihrem Erstaunen gab die Tür nach. Dahinter war nichts als tiefste Finsternis. Nathalie eilte zurück, nahm die Öllampe von der Wand und leuchtete in das Dunkel hinein. Sie sah grobe Stufen in Stein gehauen und von Moos überwuchert, die tief hinunterführten. Der Boden unten war ungepflastert und schimmerte feucht. Der unterirdische Gang, durchzuckte es sie. Bestimmt führt er zum Pavillon. Sie schloß die Tür wieder, hängte die Lampe an ihren Platz zurück, wollte gerade gehen, als sie das Geräusch von Schritten hörte. Erschrocken verbarg sie sich neben einem Weinfaß. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als die Schritte näher kamen, immer näher. Für Sekunden trat die gebeugte Gestalt des Dieners in ihr Blickfeld, ging an ihrem Versteck vorbei. Sie wartete noch einen Augenblick, dann huschte sie leise wie eine Katze aus ihrem Versteck und schlich lautlos zum Ausgang. Bevor sie in die Halle trat, streifte sie den Kapuzenmantel ab und verbarg ihn in einem Winkel des Flures. Sie öffnete leise die schwere Tür. Stimmengewirr schallte ihr entgegen. Die Gäste standen in Reisekleidung zusammen und tranken Champagner. Sie blickte sich um und sah Dina in einer Gruppe junger Herren, die ihr eifrig den Hof zu machen schienen. Der Fürst von Croy unterhielt sich mit dem gräflichen Paar. Aber immer wieder flog sein Blick zu dem bezaubernden blonden Mädchen mit dem klingenden Lachen.
»Fürst von Croy scheint sich für die junge Trontheim zu interessieren«, raunte eine weibliche Stimme neben ihr. »Ich denke, sie ist dem Grafen Werth versprochen?« Das dickliche, unschöne Mädchen, wahrscheinlich die Tochter der Sprechenden, lachte mit einer Spur von Neid auf. »Wer nimmt schon einen Grafen, wenn er einen Fürsten kriegen kann?« »Ich habe fest damit gerechnet, daß man die Verlobung der Komteß bekanntgeben würde«, bemerkte die Mutter. »Der arme Graf kann einem leid tun«, sagte das dicke Mädchen gehässig. »Die Komteß ist eben genau wie ihre Mutter. Sie hat den Grafen Trontheim doch auch nur seines Geldes wegen geheiratet.« »Nathalie, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Plötzlich stand Dina vor ihr und blickte sie lächelnd an. »Hast du verschlafen? So lange warst du doch nicht auf. Warum hast du dich denn so schnell in der Nacht verdrückt?« »Ich hatte Kopfweh«, log Nathalie. »So ein Pech«, bedauerte Dina. »Ich habe mich herrlich amüsiert. Noch jetzt tun mir die Füße weh vom Tanzen.« Sie hakte Nathalie ein und zog sie mit sich. »Komm, ich möchte dich dem Fürsten Croy vorstellen.« Sie neigte ihre Lippen zu Nathalies Ohr und flüsterte verschmitzt. »Mein neuester Verehrer! Wenn er zwanzig Jahre jünger wäre, könnte er mir vielleicht gefallen.« Sie lachte und drückte Nathalies Arm. »Trotzdem macht es Spaß, von einem Fürsten verehrt zu werden. Gunther ist vor Eifersucht fast zersprungen. Er hat sich ganz früh verabschiedet. Und ein Gesicht hat er gezogen!« Sie lachte übermütig. »So als wäre ihm die Petersilie verhagelt. Aber das geschieht ihm ganz recht. Wer es wagt, mich zu kränken, kriegt es doppelt und dreifach zurück. Gunther wird sich sehr anstrengen müssen, mich zu versöhnen.«
Vielleicht liegt ihm gar nichts daran, wollte Nathalie sagen. Doch im letzten Moment hielt sie die unvorsichtigen Worte zurück. Sie durfte Dina nicht mißtrauisch machen. Offensichtlich dachte sie nicht daran, Gunther freizugeben. Selbst die Aussicht, Fürstin zu werden, schien sie nicht zu reizen. Sie mußte doch mehr für Gunther empfinden, als ihr selbst bewußt gewesen war.
*
Seit Tagen suchte Nathalie nach einem Grund, ins Dorf zu gehen, um die Familie des verunglückten Kutschers zu besuchen. Endlich kam ihr ein Zufall zur Hilfe. Gräfin Nora fühlte sich schon am Morgen unpäßlich. Sie hustete stark und war totenblaß im Gesicht. Nach dem Lunch ging sie nicht wie üblich mit den anderen in den Salon, um den Mokka zu nehmen, sondern bat den Grafen, sie zu entschuldigen. »Du bekommst mir doch hoffentlich keine Influenza?« meinte der Graf besorgt. »Leg dich lieber hin und kurier deinen Husten aus.« »Das wird das beste sein«, seufzte die Gräfin. »Am Ende stecke ich euch alle noch an. Geraldine, könntest du für mich ins Dorf fahren und die Essenskörbe verteilen?« »Ich?« Dina machte kein begeistertes Gesicht. »Ich kenne die Leute doch gar nicht.« »Ich kann dich ja begleiten«, bot Nathalie sich an. »Also gut. Wann sollen wir fahren?« »Am besten gleich. Es wird früh dunkel. Wenn ihr gleich fahrt, seid ihr bei Dunkelheit zurück.«
»Aber unseren Mokka werden wir doch noch trinken können«, begehrte Dina auf. Schweigend wandte Nora sich ab. »Warte, ich begleite dich nach oben«, sagte der Graf, sie fürsorglich stützend. Dina warf ihnen einen spöttischen Blick nach. »So ein Theater«, murrte sie. »Wie kann man eine kleine Erkältung nur so dramatisieren?« »Gräfin Nora sieht wirklich sehr elend aus«, entgegnete Nathalie. »Das sieht sie doch immer.« Dina setzte sich an das Marmortischchen und goß den Mokka in die kleinen silbernen Tassen. »Wer weiß, vielleicht hat sie die Schwindsucht.« »Dina!« Erschrocken über den leichtfertigen Ton der Freundin, starrte sie Dina an. »Wie kannst du nur etwas so Schreckliches sagen?« »Hast du denn noch nicht bemerkt, wie bleich Nora immer ist?« fragte Dina. »Und jetzt fängt sie auch noch an zu husten. Papa sollte mit ihr verreisen, am besten nach Italien. Da ist das Klima nicht so feucht und kühl wie hier.« Italien? Nathalie stockte der Atem. Warum ausgerechnet Italien, dachte sie. Weiß Dina etwas? »Wir hatten mal einen Maler hier«, fuhr Dina fort. »Weißt du, der Mamas Bild gemalt hat. Der hat mir von Italien vorgeschwärmt. Er wollte unbedingt nach Rom. Nun ja, alle Maler zieht es nach Rom. Übrigens hieß er auch Mereau, genau wie du. Drollig, nicht wahr?« »Der Name ist in Frankreich ziemlich häufig«, preßte Nathalie hervor. Sie weiß etwas, durchzuckte es sie dabei. Hat Matthias sie verraten? Hatte sie es schon immer gewußt? In banger Spannung wartete sie darauf, daß Dina weitersprechen würde. Sie beobachtete ihre Züge, doch Dinas Miene blieb heiter und gelassen.
»Am besten, wir machen uns gleich auf den Weg.« Nein, ich habe mich getäuscht, grübelte Nathalie, als sie sich den dunklen Kapuzenmantel überwarf. Dinas Bemerkung war nur so dahingesagt. Wenn sie etwas wüßte, hätte sie es mir längst erzählt. Ihr offenes freundliches Wesen ist ja gar keiner Verstellung fähig! Später, bei den Besuchen, zeigte sie wieder ihr wahres, gütiges Herz! Ohne Scheu betrat sie die ärmlichen Hütten, plauderte mit den Frauen, schenkte den Kindern Bonbons und strich ihnen freundlich übers Haar. Zuletzt kamen sie an eine Kate, die ziemlich abseits lag. Das Strohdach kauerte sich an den Waldrand. Dina blickte auf den Zettel, der an den Korb geheftet war. »Hier wohnen die Heiers«, murmelte sie. »Mein Gott, ist mir übel!« Sie ließ sich auf den Sitz zurückfallen und legte die Hand über die Stirn. »Kopfschmerzen habe ich auch«, stöhnte sie. »Hoffentlich hat die verteufelte Nora mich nicht angesteckt.« »Aber eben ging es dir doch noch ganz gut«, wandte Nathalie betroffen ein. »Ja, schon. Aber so eine Erkältung trifft einen wie der Blitz. Nathalie, tu mir die Liebe und geh allein zu den Heiers.« »Kommen Sie doch rein, Fräulein!« Frau Heiers öffnete die Tür zur Kate. »Es ist schwer, die Kinder ganz allein großzuziehen, ohne Vater«, beklagte sie sich ein wenig später, während sie die Sachen aus dem Korb holte und auf den Tisch legte. »Jetzt sind nur noch fünf zu Hause, die anderen sind schon im Dienst.« »Es muß schlimm sein, den Mann durch einen Unglücksfall zu verlieren«, bemerkte Nathalie. »Schlimm?« Frau Heiers wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und starrte Nathalie an. »Die Kleine da hat ihren Vater nicht mal gekannt. Ich dachte, ich verlier’ den Verstand, als man mir Ferdinand brachte. ›Meta, mach dir keine Sorgen,
wenn ich ein paar Tage länger fortbleibe‹, hat er mir gesagt. ›Vielleicht muß ich eine weite Tour machen.‹ Und am anderen Morgen brachte man ihn dann.« Sie trat auf Nathalie zu. Der Blick ihrer dunklen Augen brannte vor Qual, »Wissen Sie, was die Leute hier im Dorf gesagt haben?« preßte sie mit bebender Stimme hervor. »Sie haben gesagt, mein Ferdinand sei betrunken gewesen, und er habe die Gräfin auf dem Gewissen. Dabei hat er keinen Tropfen Branntwein angerührt, wenn er fahren mußte. So gemein reden die Leute.« »Hat der Graf Trontheim denn auf das Gerede gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Der Graf, das ist ein wirklich nobler Herr, Ferdinand hat keine Schuld, sagte er zu mir. ›Es war ein Unglück, so was kann schließlich jedem passieren.‹ Und er hat auch für uns gesorgt, all die Jahre. Die Frau, die er jetzt hat, das ist auch eine feine Frau, eine gute Seele. Warum ist sie heute nicht selber gekommen?« »Die Gräfin Nora hat sich stark erkältet«, erklärte Nathalie. »Warten Sie mal!« Frau Heiers verschwand in der Kammer und kam mit einem Beutelchen zurück, »Lassen Sie ihr mal diesen Tee kochen, der ist gut gegen Husten. Das Rezept habe ich noch von meiner Großmutter. Ich habe die Kräuter selber gesammelt.« »Vielen Dank! Frau Nora wird sich sicher über Ihr Geschenk freuen!« Sehr nachdenklich ging Nathalie zur Kutsche zurück. Wie vertrauensvoll ihr die Frau alles erzählt hatte. Sie fühlte sich richtig beschämt, auch wenn sie erfahren hatte, was sie wissen wollte. Ein unbehagliches Gefühl blieb doch in ihr zurück. Sie stieg in die Kutsche, stellte den leeren Korb ab und legte den Teebeutel hinein. »Das dauerte ja eine Ewigkeit«, ließ sich Dina mürrisch vernehmen. »Hat die Frau wieder lamentiert?«
»Nein, sie war sehr freundlich. Ich finde, die Frau ist sehr tapfer. Schließlich ist sie doch mit den vielen Kindern ganz auf sich allein gestellt.« Dinas Blick fiel auf den Beutel im Korb. »Was ist das denn?« »Hustentee für Gräfin Nora.« »Wirf das Zeug bloß weg«, sagte Dina voller Abscheu. »Die Frau hat die Kräuter selbst gesammelt. Vielleicht hilft der Tee? Man könnte es doch wenigstens probieren.« »Was die mit ihren schmutzigen Fingern gesammelt hat?« Nathalie konnte über Dinas kindische Unvernunft nur lachen. »Sei doch nicht so schlecht gelaunt, Liebes«, sagte sie zärtlich. »Mir kannst du doch nichts vormachen, Dina! Du willst dein gutmütiges Herz hinter groben Reden verstecken. Aber ich durchschaue dich. Ich kenne dich besser, als du dich selber kennst.« »Wirklich?« Dina wandte den Blick ab. »Wenn du dich nur nicht täuschst«, murmelte sie. »Manchmal habe ich das Gefühl, mich selber nicht zu kennen. Ich sage Dinge, die ich gar nicht meine. Hinterher tut es mir dann leid.« »Du bist eben noch sehr jung«, entgegnete Nathalie voller Nachsicht. »Man braucht viel Zeit, seine Persönlichkeit zu entdecken und weiterzuentwickeln.« »Magst du mich eigentlich?« fragte Dina mit abgewandtem Blick. »Ich habe dich gern, sehr gern, das weißt du doch«, lächelte Nathalie. »Ich hoffe, wir werden immer gute Freundinnen bleiben.« »Ich habe ja sonst niemanden mehr, außer dir«, sagte Dina leise. »Meine Mutter ist tot, mein Vater ist nur mit Nora beschäftigt. Auch Gunther hat mich enttäuscht. Und meine anderen Freundinnen…« Sie seufzte und schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf. »Sie sagen mir Schmeicheleien, aber sobald ich ihnen den Rücken zukehre, reden sie über mich. Sie sind
verlogen und neidisch. Du bist die einzige, der ich vertrauen kann.« Langsam wandte sie den Kopf und starrte Nathalie an.
*
Kaum hatte Nanni ihre Arbeit beendet und Nathalies Zimmer verlassen, als Matthias eintrat. Seine Gestalt erschien noch gebückter als sonst. »Diesen Brief hat gerade die Postkutsche gebracht«, sagte er, ihr ein Silbertablett entgegenhaltend. »Für mich?« Erstaunt griff Nathalie nach dem länglichen Umschlag, blickte auf den Absender. »Pierre Mereau, Roma, Villa Voghese«, las sie laut und fassungslos. »Pierre hat geschrieben, er hat wirklich geschrieben.« Sie blickte auf Matthias. »Nachricht von meinem Bruder!« rief sie glücklich. »Hoffentlich sind es erfreuliche Nachrichten«, sagte Matthias, und seine blassen Lippen verzogen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Dann verneigte er sich und ging hinaus. Aufgeregt griff Nathalie nach dem Federmesser und schlitzte den Umschlag auf, las dann mit wildpochendem Herzen die wenigen Zeilen: Nathi, geliebtes Schwesterchen! Du wirst Dich wundern, so lange nichts von mir gehört zu haben. Aber ich hatte ja keine Ahnung, wo Du Dich aufhältst. Endlich ist es mir gelungen, Deine Adresse zu erfahren. In Rom traf ich unsern alten Freund Jean-Bernhard, dem Du ja deine Adresse geschrieben hast. Schon seit drei Jahren lebe ich in Rom, und es gefällt mir gut. Das süße Leben – hier nimmt mich voll in Anspruch. Die Fürstin Voghese hat Gefallen an meiner Malkunst gewonnen
und mich beauftragt, ihr Porträt zu malen. Ich lebe also wie die Made im Speck und wünsche mir, du könntest an meinem Glück teilhaben. Laß alles liegen und stehen, nimm die nächste Postkutsche und eile zu Deinem Dich sehnsüchtig erwartenden Bruder Pierre. Nathalie ließ den Briefbogen sinken. Eine vage Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Nach all den Jahren hatte Pierre nicht mehr zu schreiben? dachte sie. Aber die Hauptsache ist ja, er lebt und es geht ihm gut. Und er wünscht, daß ich zu ihm komme, auf der Stelle. Ich werde Nanni bitten, mir beim Packen zu helfen. Pierre lebt! jubelte sie. Alle Sorge und Herzensnot waren umsonst. Gunthers Vermutung war doch richtig. Sicher war die Schnupftabakdose ein Abschiedsgeschenk Pierres an die Gräfin. Noch einmal las sie den Brief. Das ist nicht Pierres eleganter, flüssiger Stil, dachte sie plötzlich. Auch die Schrift kam ihr fremd vor, so unbeholfen und steif. Aber vielleicht hatte Pierre in höchster Eile geschrieben? Trotzdem verspürte sie ein leises Unbehagen. Wieso schrieb Pierre erst jetzt, nach so langer Zeit? Wieso schrieb er, ich hatte keine Ahnung, wo Du dich aufhältst? Pierre hatte es doch gewußt, daß sie in Paris gewesen war. Aber daß sie Paris verlassen hatte, konnte er nicht einmal ahnen. Eigenartig, überlegte Nathalie betroffen. Hier stimmt doch etwas nicht. Ein vager Verdacht setzte sich in ihr fest, ließ ihr keine Ruhe. Sie holte Pierres frühere Briefe hervor und verglich sie mit dem jetzigen. Sie verglich Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe.
Es schien die gleiche Schrift zu sein, aber es war nicht Pierres Schrift. Der Brief war eine Fälschung! Je länger sie verglich, desto sicherer wurde sie in ihrem Verdacht bestärkt. Hier hatte jemand sehr geschickt versucht, Pierres Handschrift nachzuahmen. Auf den ersten Blick erkannte man die Fälschung nicht. Doch manchmal waren die Buchstaben verzerrt und überschrieben. Pierres Schrift war flüssig und leicht. Aber diesem Brief hier sah man die mühselige Arbeit an. Nathalie stiegen die Tränen in die Augen. Wer treibt ein so makabres Spiel mit mir? fragte sie sich verzweifelt. Wer ist so gemein und skrupellos, solche trügerischen Hoffnungen zu erwecken? Deswegen also hatte man ihr die Briefe entwendet. Man wollte in aller Ruhe Pierres Schriftzüge kopieren, um sie von hier fortzulocken. Warum wollten alle sie glauben machen, daß Pierre in Italien war? Haben sie Angst, daß ich was entdecke? Ja, genauso und nicht anders konnte es sein, mußte es sein. Man wollte sie aus dem Wege haben. Was aber werden sie tun, wenn ich nicht gehe? Nathalie erschauerte. Angst stieg in ihr hoch. Sie blickte sich um und sah, daß der Raum voller Schatten war. Es war dämmerig geworden. Vom Kamin her leuchtete der Glutschein des Feuers. Wie still es ringsum war. Nur das Knacken der Holzscheite war zu hören, und ihr eigener, heftiger Atem. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie wollte Menschen sehen, mit jemanden reden. Ob Dina in ihrem Zimmer war? Sie trat auf den Flur, klopfte an die Zimmertür der Komteß, doch erhielt keine Antwort. Ziellos ging sie weiter und glaubte plötzlich von unten Stimmen zu hören, Dinas Lachen und eine
vertraute dunkle Stimme, bei deren Klang ihr Herzschlag zu jagen begann. Gunther, dachte sie. Könnte ich mich jetzt in deine Arme werfen und mir alles vom Herzen reden, was mich bedrückt! Leise ging Nathalie über die Galerie, hielt dann an und blickte in die Halle. Bei dem Bild, das sich ihr bot, stockte ihr der Atem vor Entsetzen. Gunther hielt Dina in den Armen und küßte sie.
*
Nathalie preßte die Hand vor den Mund, um nicht laut aufschreien zu müssen. Wie gebannt starrte sie auf die beiden, während sie noch immer hoffte, sie hätte sich getäuscht. Es konnte ja auch ein brüderlicher Kuß gewesen sein. Doch Gunthers zärtliche Stimme zerstörte auch diese Hoffnung. »Dina, mein Engel, hast du wirklich geglaubt, ich könnte dich aufgeben?« hörte sie ihn sagen. »Mußte ich das nicht?« versetzte Dina in schmollendem Ton. »Du hast dich geweigert, die Verlobung bekanntzugeben.« »Ich hatte meine Gründe dafür«, antwortete der Graf. »Hab noch ein wenig Geduld, Liebes! Es gibt da noch eine Angelegenheit, die ich ordnen muß.« »Eine andere Frau?« »Vielleicht?« Er lächelte. »Aber sie ist unwichtig für unser Glück. Es wird nicht mehr lange dauern, Dina, das verspreche ich dir.« Nathalie zog sich zurück. Sie hatte genug gehört. Alles in ihr brannte vor Qual.
Und ich habe an ihn geglaubt, dachte sie wie zerrissen vor Schmerz. Ich habe seinen Küssen geglaubt, seinen Liebesbeteuerungen. Mein Gott, wie dumm war ich doch. Wie unglaublich dumm und verblendet. Wie konnte ich auch nur einen Moment annehmen, daß Gunther es ehrlich mit mir meinte? Wie sie in ihr Zimmer gelangt war, wußte Nathalie nicht. Welchen Grund konnte Gunther gehabt haben, ihr seine Liebe vorzuheucheln? Voller Grauen erinnerte sie sich plötzlich an die Todesschlucht. Gunther hatte sie an den Platz bestellt. Hatte er die Absicht gehabt, sie umzubringen? Aber er hatte doch gar kein Motiv! Es sei denn, er steckte mit ihren Feinden unter einer Decke. Wahrscheinlich hatte man gerade ihn ausgesucht, sie zu beseitigen, weil niemand ihn solch einer Tat verdächtigen würde. Man würde es wie einen Unglücksfall erscheinen lassen, wie damals das Unglück mit der Kutsche. Und Dina, arme, bezaubernde, kindliche Dina, würde an der Seite eines Mannes leben, ohne zu wissen, daß er ein Mörder war. Gunther, ein Mörder? Nathalie vergrub das Gesicht in den Händen. Heiße Tränen netzten ihre Handflächen. Ich liebe ihn doch, schrie es in ihr. Wenn er mich töten will, so soll er es tun. Lieber tot sein, als ein Leben lang mit dieser entsetzlichen Qual dahinzuvegetieren. Dina ist die einzige, die mir helfen kann, grübelte Nathalie. Sie muß mir einfach helfen, Pierres Verschwinden aufzuklären. Sie wird verstehen, warum ich so lange geschwiegen habe. Vielleicht wird sie mir böse sein. Aber wenn sie mich wirklich gern hat, wird sie mir verzeihen.
Sie muß verstehen, daß ich nicht anders handeln konnte. Wenn alles aufgeklärt ist, werde ich abreisen. Ich werde mir eine Stelle als Gouvernante suchen und versuchen, Gunther zu vergessen. Ein neues, ganz anderes Leben wird mir dabei helfen. Nathalie setzte sich in das Zimmer der Komteß und wartete. In dem Damenzimmer war es behaglich warm. Das flackernde Kaminfeuer warf einen rötlichen Schein über die zierlichen Möbel aus Rosenholz. Das gelbliche Licht der Öllampe ließ die Seidentapeten golden schimmern. Endlich hörte sie Dinas leichten Schritt. Die Tür ging auf, und die Komteß eilte ins Zimmer, verhielt bei Nathalies Anblick abrupt den Schritt. Es zuckte in ihrem Gesicht. »Was machst du hier?« schrie sie auf. »Ich habe auf dich gewartet.« »Mein Gott! Ich habe mich fast zu Tode erschrocken, als ich dich hier sitzen sah!« sagte Dina mit unsicherem Lachen. »Ich glaubte, du wärst schon zu Bett gegangen. Warum bist du nicht zum Dinner gekommen?« »Ich habe keinen Hunger«, antwortete Nathalie. »Du sprichst so seltsam!« Dina trat näher und starrte ihr ins Gesicht. »Was ist mit dir, Nath? Du bist bleich wie der Tod. Hoffentlich wirst du nicht krank?« »Nein«, flüsterte Nathalie gepreßt. »Ich fühle mich ganz wohl. Aber ich muß mit dir reden, und davor habe ich ein wenig Angst.« »Angst, vor mir?« lachte Dina ein wenig schrill. »Oh, Nath!« Sie ging zu ihr und blickte sie mit dunklen Augen an. »Mir kannst du alles sagen, das weißt du doch. Bin ich nicht deine beste Freundin?«
Nathalie senkte den Blick. Eine helle Träne glänzte an ihren Wimpern auf. »Ich habe deine Freundschaft nicht verdient«, sagte sie leise. »Ich habe dich getäuscht, von Anfang an.« »Unsinn, das glaube ich nicht. Du bist doch gar keiner Verstellung fähig«, sagte Dina sanft. »Welchen Grund solltest du wohl gehabt haben?« »Mein Bruder Pierre«, sagte Nathalie mit schwerem Seufzer. »Nur seinetwegen bin ich dir nach Schloß Trontheim gefolgt.« Dina starrte sie an. In ihren Augen flackerte Unruhe. »Pierre Mereau?« flüsterte sie tonlos. »Ich verstehe. Wenn er dein Bruder war, verstehe ich alles. Du hast gehofft, ihn auf Schloß Trontheim zu finden, nicht wahr?« »Von hier kam Pierres letztes Lebenszeichen.« »Wieso hast du geglaubt, er wäre noch immer hier?« fragte sie mit einem unmerklichen Beben in der Stimme. »Ich weiß, daß er damals abgereist ist. Er wollte nach Italien.« »Ich glaube einfach nicht an seine Abreise.« Erregt stand Nathalie auf und begann zu erzählen. Sie sprach von dem Fund, den sie in der Todesschlucht gemacht hatte, von dem gefälschten Brief. »Bitte, Dina, glaube nicht, daß ich deinen Vater verdächtigen will. Aber ich werde den Gedanken nicht los, daß er etwas mit dem Verschwinden meines Bruders zu tun hat.« »Glaubst du, er hat ihn umgebracht?« Dina starrte sie an. »Welchen Grund sollte er dafür gehabt haben?« »Nein, Dina! Bitte, ich will niemanden beschuldigen. Dazu habe ich kein Recht, Weißt du, was ich vermute?« Sie nahm die Freundin bei den Schultern und blickte sie in verzweifelter Qual an. »Ich vermute, deine Mutter war damals bei dem Unglück nicht allein in der Kutsche. Mein Bruder Pierre war bei ihr.« Dinas Gesicht war bleich geworden. Sie preßte die Lippen fest zusammen.
»Das ist eine sehr kühne Vermutung«, preßte sie endlich hervor. »Willst du meiner Mutter unterstellen, intime Beziehungen zu deinem Bruder gehabt zu haben, zu einem einfachen Maler?« Sie machte sich von Nathalie los und ging mit erregten Schritten durch den Raum. »Soweit würde sich eine Gräfin Trontheim niemals vergessen«, sagte sie kalt. »Und wenn es Liebe war?« flüsterte Nathalie mit schwankender Stimme. »Dina, sind wir nicht schwach und hilflos, wenn uns die Liebe überfällt?« »Vielleicht ist es wahr«, sagte Dina mit einer Stimme, die wie zerbrochen klang. »Jetzt, wo du es aussprichst, wird mir so manches klar. Stundenlang hockten sie zusammen im Pavillon. Und wenn ich kam, hatte ich das Gefühl zu stören. Meine Mutter war damals wie verwandelt. Sie lachte öfter als sonst. Und wenn sie mich umarmte, tat es weh. Wenn sie mich küßte, brannten ihre Lippen wie Feuer auf meiner Wange.« Dina ging ans Fenster und starrte hinaus. »An dem Abend vor dem Unglück kam sie noch in mein Zimmer«, sprach sie tonlos weiter. »Wunderschön sah sie aus in ihrem grünen Reisekleid. Ihre Augen glänzten wie im Fieber und ihre Wangen brannten in einem fremden Rot. ›Willst du noch fort, so spät am Abend?‹ habe ich sie gefragt. Meine Mutter hat nur gelächelt, auf eine ganz merkwürdige, entrückte Art. ›Es ist nie zu spät fortzufahren‹, hat sie gesagt. ›Manchmal muß man einfach seinem Herzen folgen. Wenn du älter bist, wirst du mich verstehen.‹« Dina wandte sich langsam um. In ihrem blassen Gesicht brannten die Augen wie schwarze Flammen. »Am anderen Morgen war sie tot. Wir sahen die zertrümmerte Kutsche in der Todesschlucht. Mehr weiß ich nicht. Ich bin wie von Sinnen fortgelaufen. Ich war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Wochenlang war ich krank. Danach
hat mein Vater mich in das Schweizer Internat geschickt. Er hoffte, ich würde dort leichter vergessen.« Dina seufzte tief auf. Ihre Miene entspannte sich. »Die Zeit heilt ja alle Wunden«, sagte sie matt. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Nathalie. Aber mehr weiß ich wirklich nicht.« »Willst du mir wirklich helfen?« flehte Nathalie verzweifelt. »Dann sag mir, wo man meinen Bruder begraben haben könnte. Wo könnten die Sachen geblieben sein, die er bei sich hatte. Ohne seine Farben, seine Staffelei und Leinwand wäre er doch niemals abgereist, oder seine Reisetasche. Irgend etwas muß doch von ihm zurückgeblieben sein. Ein Mensch kann doch nicht einfach spurlos verschwinden!« Erschrocken preßte Dina ihr die Hand auf die Lippen. »Nicht so laut! Wenn dich jemand hört. Du darfst dich nicht so aufregen, Nath!« »Ja, ja, ich bin ja schon ruhig.« Nathalie weinte. »Du kannst das alles nicht verstehen, Dina. Aber mein Bruder war wie ein Vater für mich. Wir haben unsere Eltern sehr früh verloren, mußten dann zu einem Onkel, der gut für uns sorgte. Aber er konnte uns das Elternhaus nicht ersetzen. Pierre war fast zehn Jahre älter als ich. Er hat mich beschützt und geliebt. Er war immer für mich da, verstehst du? Erst als ich erwachsen war und selbständig, hat er mich allein gelassen. Aber er schrieb mir. Er schrieb mir alles, was ihm am Herzen lag. Sein letzter Brief kam von hier, von Schloß Trontheim.« »Warum hast du mir das alles nicht längst erzählt«, tadelte sie Dina. »Ich wollte dich nicht damit belasten.« Nathalie wischte sich mit verzweifelter Geste über die Augen. »Verzeih mir, Dina! Verzeih mir, daß ich aus kühler Berechnung deine Freundschaft gesucht habe. Später habe ich dich dann ehrlich gern gewonnen, das mußt du mir glauben.«
Plötzlich ruckte Dinas Kopf hoch. »Die Katakombe«, flüsterte sie in jäher Erregung. »Wenn es eine Spur von deinem Bruder gibt, können wir sie nur in der Katakombe finden.« »Du meinst, den unterirdischen Gang?« fragte Nathalie erschauernd. »Weißt du denn davon?« »Ich habe im Pavillon eine Falltür entdeckt.« Dina stürzte an ihren Schrank und riß einen dunklen Kapuzenmantel heraus, warf ihn der Freundin zu. »Zieh ihn über! Wir werden auf der Stelle nachsehen.« »Jetzt?« Erschrocken preßte Nathalie den Mantel an sich. »Aber es ist doch völlig dunkel.« »Dort unten ist es immer dunkel«, tat Dina ihren Einwand ab. Dina warf sich einen Mantel über, zog die Kapuze tief ins Gesicht. »Wir gehen am besten durch den Weinkeller«, flüsterte sie Nathalie zu. Hintereinander schlichen sie die Treppe hinab. In der Halle brannten nur noch die Wandlampen. Das Feuer im Kamin war fast erloschen. Leise klang das Spiel des Cembalos auf. Die gräflichen Herrschaften waren im Musikzimmer, und Nora spielte auf ihrem Lieblingsinstrument. Als sich die schwere Eichentür der Halle hinter ihnen schloß, erstarb jeder Laut. Nathalie hatte Mühe, den flinken Schritten Dinas zu folgen. Sie spürte den erregten Schlag ihres Herzens, hielt den Atem an, als Dina die schwere Eisentür aufstieß, die gespenstisch in den Angeln knarrte. Dina blieb stehen und atmete tief auf. Sekundenlang wartete sie, aber nichts rührte sich. Mit einer stummen Handbewegung forderte sie Nathalie auf, ihr zu folgen. An der Mauer blakte die Öllampe. Dina nahm sie herunter und leuchtete ihnen. Wie Gnome hockten die Weinfässer in der Dunkelheit. Ein süßlicher Geruch stieg Nathalie in die Nase: Dann standen sie vor der Eisentür.
»Der Schlüssel steckt«, raunte Dina triumphierend. Die Kapuze war ihr vom Kopf geglitten. Das gelöste Blondhaar gleißte wie ein Heiligenschein um ihr Gesicht. Vorsichtig drückte sie die Klinke nieder und zog die Tür auf. »Geh hinunter«, befahl Dina. »Ich halte dir die Lampe, damit du sehen kannst. Paß auf, daß du nicht auf den Stufen ausrutschst, sie sind glitschig.« Dumpfer Modergeruch schlug Nathalie entgegen. Sie streckte die Arme aus, fand Halt an den Steinwänden und tastete sich langsam Stufe für Stufe hinunter. Endlich fühlte sie sandigen Boden unter ihren Füßen. Sie wandte sich zu Dina um. »Ich bin unten«, rief sie leise. »Du kannst kommen!« »Nimm erst die Lampe, sonst kann ich ja nichts sehen!« tönte Dinas Stimme eigenartig dumpf von oben. Nathalie streckte die Hände aus, reckte sich, so hoch sie konnte, und bekam die Öllampe gerade noch zu fassen. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, dann rasselte ein Schlüssel im Schloß. »Dina«, flüsterte sie erschrocken. »Hat man uns eingeschlossen?« Keine Antwort. Sie hob die Lampe ein wenig und beleuchtete die grünschimmernden Stufen, die kahlen, aus rohem Stein gehauenen Wände. »Dina«, rief sie furchtsam. »Dina, wo bist du denn? Sag doch etwas!« Ihre Stimme klang unheimlich hohl von den Wänden wider, doch kein Laut gab ihr Antwort. Dina war verschwunden. Ob sie jemanden gehört hatte und in den Keller zurückgeflüchtet war? Ein eisiges Frösteln lief Nathalie über den Rücken. Die Hand, mit der sie die Lampe hielt, bebte so heftig, daß die Lampe fast
ihrer Hand entglitten und um ein Haar auf dem feuchten Boden gelandet wäre. Ein Gedanke zuckte durch ihren Kopf, so entsetzlich, daß sie davor zurückschrak: Hatte Dina sie vorsätzlich hier allein gelassen? Nein, dachte Nathalie, fast empört über sich selber. Gleich, jeden Moment würde Dina kommen und sie würden gemeinsam über ihre Ängste lachen. Fast beschwörend starrte sie zu der dunklen, eisernen Tür hinauf. Aber sie öffnete sich nicht. Sie hatte nicht einmal eine Klinke. Es würde ihr nicht möglich sein, sie selber zu öffnen. Trotzdem stieg Nathalie die Stufen hinauf, klopfte erst leise gegen die eiserne Festung und rief Dinas Namen. Hämmerte mit der Faust dagegen und schrie. »Dina!« schrie sie wie von Sinnen. »Dina, öffne doch die Tür! Du kannst mich doch nicht hier allein lassen, Dina, bitte!« »Dina, bitte!« klang es wie ein Hohngelächter von den Wänden wider. Dann erstarb alles in Schweigen. Dina antwortete nicht. Wenn sie noch da war, mußte sie doch ihre Stimme hören, trotz der Eisentür. Sie mußte sich doch denken, daß Nathalie sich Sorgen machte. Eine kalte Ruhe überkam Nathalie. Nein, sie glaubte jetzt nicht mehr an einen Zufall, an ein Mißgeschick. Dina hatte sie in diese Falle gelockt, und sie war töricht und vertrauensvoll hineingestolpert. Hatte Dina sie getäuscht? War all ihre Freundlichkeit nur Heuchelei gewesen, nur ein Vorwand, um sie in Sicherheit zu wiegen? Hörte sie nicht Schritte? Nathalie hob hoffnungsvoll den Kopf. Doch da war nichts als das wilde Klopfen ihres Herzens. Sie hatte sich getäuscht. Es war totenstill ringsum. Die Stille eines Grabes.
Soll dieser unterirdische Gang mein Grab werden? dachte Nathalie erschauernd. Grauen stieg in ihr auf. Mühsam erhob sie sich, griff nach der Lampe und stellte fest, daß sie noch eine Weile brennen würde. Sie machte einige zögernde Schritte und hielt dabei die Lampe hoch. Der Gang war höchstens zwei Meter breit und hoch. Die aus rohen Steinen gefügten Wände waren stellenweise von grünlich schimmerndem Moos überzogen. Der Boden unter ihren Füßen war weich und glitschig. Einmal wäre sie fast gefallen, suchte mit der freien Hand Halt, spürte, wie auch ihre Hand an der feuchten Wand ausglitt und stöhnte entsetzt auf. Sie hatte das Gefühl, ein nasses, glitschiges Tier berührt zu haben. Nathalie blieb stehen und rang nach Atem. Sie brauchte einige Minuten, sich zu fassen, schritt dann mit dem Mut der Verzweiflung weiter. Der Gang mußte doch enden! Plötzlich machte er einen scharfen Knick. Nathalie spürte, wie etwas ihr Gesicht streifte. Sie blickte hoch und sah eine riesige Spinne, die mit langen haarigen Beinen direkt über ihrem Kopf dahinkroch. Entsetzt stolperte sie weiter, zog sich die Kapuze dicht über den Kopf. Auf einmal blieb sie stehen. Ein gespenstisches Glucksen war zu hören. Kein Zweifel, hier mußte irgendwo Wasser sein. Vielleicht eine unterirdische Quelle? dachte sie hoffnungsvoll. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Schritt. Der Gang gabelte sich mit einemmal. Welchen Weg sollte sie wählen? Mit angespannten Sinnen lauschte sie. Dann wählte sie den Weg, aus dem das Geräusch glucksenden Wassers drang. Eine Quelle muß auch nach
draußen führen, überlegte sie dabei. Wenn ich ihrem Lauf folge, muß ich ins Freie gelangen! Der Boden wurde so schlammig, daß jeder Schritt mühsam würde. Voller Abscheu merkte sie, wie sich der zähflüssige Schlamm um ihre Schuhe schloß. Ein unbeschreiblicher Gestank quoll ihr entgegen und würgte sie im Hals. Das Glucksen wurde lauter, ein leises, hohles Rauschen klang auf. Ein breiter Graben versperrte ihr den Weg. Sie hob die Lampe und blickte in träg dahinfließendes brackiges Wasser. Der Gestank wurde unerträglich. Abwässer, durchzuckte es sie. Sie war von Ekel geschüttelt. Hastig warf sie sich herum, wollte zurück, als etwas an ihren Füßen vorbeihuschte. Im Schein der Lampe flüchtete ein grauer, langgestreckter Schatten. Nathalie schrie auf, hätte fast vor Schreck die Lampe fallen lassen. Sie hatte eine Ratte gesehen. Sie spürte, wie kalter Schweiß ihr den Rücken herunterrann. Schritt für Schritt wankte sie zurück und hatte das entsetzliche Gefühl, daß ihre Beine jeden Moment nachgeben würden. Endlich hatte sie den anderen Gang erreicht. Hier hielt sie einen Moment an. Ihr Herz schlug so heftig, als wollte es ihr den Brustkorb zerreißen. Wie lange mochte sie schon unterwegs sein, eine Stunde oder zwei? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Aber an dem schwächer werdenden Schein der Lampe sah sie, daß das Öl bald aufgebraucht sein würde. Der Gang war breiter geworden. Plötzlich stieß sie auf eine eiserne Tür, die in die Mauer eingelassen war. Dahinter mußte ein Raum sein! Sie leuchtete mit der Lampe hinein und sah ein Verlies wie ein dunkles Loch, ohne jeden Schimmer von Tageslicht. Ein Kerker! durchfuhr es Nathalie erschauernd. Welcher arme Mensch mochte hier in Ketten gelegen haben und seine
verzweifelten Schreie gegen die stummen Wände geschrien haben? Sie wollte schon weitergehen, als sie sah, daß hier der Stein, der wohl zum Sitzen gedient haben mochte, nicht flach auf dem Boden stand, sondern aufrecht. Wie gebannt starrte sie hin. Warum hat man ihn wie einen Grabstein aufgestellt? überlegte sie. Liegt hier ein Mensch begraben? Schon griff ihre Hand nach der verrosteten Klinke der Gittertür. Zu ihrem Erstaunen gab sie nach. Sie zog daran, mit einem durchdringenden Kreischen ging die Tür auf. Sie kämpfte mit sich, ob sie hineingehen sollte. Doch sie glaubte, auf dem Schein eine Eingravierung zu entdecken. Von der Tür aus konnte sie sie nicht lesen. Dafür war das Licht der Lampe zu schwach. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, betrat sie den Kerker, näherte sich dem Stein und ließ das Licht der Lampe voll darüberfallen. Ein tiefes, etwa zehn Zentimeter großes Kreuz war in den Stein gemeißelt, darunter die Anfangsbuchstaben eines Namens. Sie bückte sich, um die Initiale lesen zu können, und es traf sie wie ein Schlag. PM – die Druckbuchstaben starrten ihr entgegen. Sie stand am Grab ihres Bruders. Ein gräßliches Rasseln in ihrem Rücken ließ sie herumfahren, Sie sah entsetzt, wie sich die Tür, wie von Geisterhand getrieben, schloß. »Nein!« schrie sie auf. »Nein, nein!« »Nein, nein!« gellte es wie ein schauriges Echo von den Wänden wider. Die Lampe war zu Boden gefallen, gab nur noch ein schwaches Glimmen von sich.
Nathalie tastete mit den Händen die Tür ab, suchte nach der Klinke, vergeblich. Die Tür war nur von draußen zu öffnen. Welcher Leichtsinn, dachte sie verzweifelt. Warum habe ich nicht darüber nachgedacht, daß die Tür zufallen könnte. Warum habe ich nichts dazwischengelegt? »Nur Ruhe!« befahl sie sich laut, und ihre Stimme klang ihr selbst fremd in den Ohren. So rauh und ohne Klang, von Angst durchbebt war sie. Aber wenigstens war es doch eine menschliche Stimme, Sie lebte noch. Und solange man lebt, darf man nicht aufgeben, mahnte sie sich selbst. Sie schlug die Hände vors Gesicht und jammerte weinend auf. Sie weinte so lange, bis ihr die Kehle wund war von all den Tränen, bis ihre Augen trocken blieben und brannten. Als sie die Hände von den Augen nahm, war es stockfinster im Raum, Sosehr sie auch ihre Augen anstrengte, ringsum war nichts als tiefste, schwärzeste Nacht. Hat man auch Pierre hier eingeschlossen und elendig zugrunde gehen lassen? durchzuckte es sie. Wie still es war, totenstill! Die Stille brauste ihr in den Ohren, und sie fragte sich, wie viele verzweifelte Menschen hier vor ihr gestanden hatten, wie viele Todesschreie von den gnadenlos dicken Mauern verschlungen worden waren. In panischem Entsetzen warf sie sich gegen die Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen, bis sie vor Schmerz brannten und schrie, schrie wie ein Mensch in höchster Todesnot, schrie, bis ihr die Stimme versagte, und nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle drang. Am Ende ihrer Kraft, sank sie auf dem Boden zusammen, kauerte sich unter den Mantel wie ein gequältes, gefangenes Tier und versank in dumpfes Grübeln. Alle Hoffnung, jemals wieder hier herauszukommen, war in ihr erloschen.
*
Golden tauchte die Sonne aus den Wolkenschleiern und überschüttete die Welt mit ihrem Glanz. In schnellem Galopp hielt Graf Werth auf Schloß Trontheim zu. Seine schwarzgekleidete Gestalt schien mit dem Rappen wie verwachsen. In seinen grauen Augen lag grüblerischer Ernst. Als er in den Schloßhof einbog, sah er gerade die gräfliche Kutsche abfahren. Der Kutscher hieb auf die Pferde ein, daß sie in schnellem Trab davonzogen. Auf der Freitreppe stand Dina und blickte der Kutsche nach. In dem fußlangen himmelblauen Kleid und den gelösten Locken sah sie wie ein Engel aus. Bei Gunthers Anblick zuckte es wie ein Schreck über ihr Gesicht. Sie machte eine Bewegung, als ob sie fliehen wollte, doch dann riß sie sich zusammen, eilte die Freitreppe hinab und wartete lächelnd, bis er abgestiegen war. »So lieber Besuch am frühen Morgen?« meinte sie mit ihrer süßen Stimme. Gunther ging auf sie zu. Die Schritte seiner Stiefel knirschten im Kies. »Wer hatte es denn da eben so eilig?« fragte er befremdet. »Nathalie mußte ganz plötzlich abreisen«, lächelte Dina. »Sie wollte nach Italien, sie hat Nachricht von ihrem Bruder bekommen. Franz bringt sie gerade zur Postkutsche.« »Nathalie?« fragte er fassungslos. »Einfach fort, ohne mir eine Nachricht zu geben?« »Warum sollte sie dir eine Nachricht geben?« fragte Dina kindlich, doch der lauernde Blick in ihren Augen entging ihm nicht.
Wortlos wandte er sich um, sprang mit einem Satz in den Sattel des Rappens und gab ihm die Sporen. »Gunther!« Dina raffte die Röcke und lief ihm nach. »Gunther, wohin willst du?« schrie sie auf. »So warte doch!« Er kümmerte sich gar nicht um sie. Nathalie, hämmerte es in ihm. Warum tust du mir das an, Nathalie! Du kannst mich doch nicht einfach verlassen. Ich liebe dich doch. Du kannst doch nicht vergessen haben, wie sehr ich dich liebe. Plötzlich sah er die Kutsche. Sie stand an der Todesschlucht. Der Kutscher war abgesessen und hob eine schwere Kiste heraus. Beim Anblick des Grafen ließ er vor Schreck die Kiste fallen. »Was machst du da?« Gunther sprang ab, trat drohend auf ihn zu. Franz wurde abwechselnd rot und blaß. »Ich soll das hier hinunterwerfen«, stammelte er. »Es ist nur altes Gerümpel, hat die Komteß gesagt.« Gunther riß die Kutschentür auf und blickte hinein. Nur ein Koffer stand dort. Von Nathalie keine Spur. »Wo ist Fräulein Mereau!« herrschte er den Kutscher an. Er stürzte auf ihn zu, nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn derb. »Antworte!« schrie er auf. »Wo ist Nathalie! Was hast du mit ihr gemacht?« »Fräulein Mereau hat die Postkutsche genommen, ganz früh am Morgen«, stammelte der verstörte Franz. »Die Komteß hat das gesagt.« Mit einem wilden Griff öffnete der Graf die Kiste. Kleidungsstücke quollen heraus. Grüne Seide schimmerte. Es war das Kleid, das Nathalie beim Fest getragen hatte.
Gunther richtete sich auf, aschfahl im Gesicht. »Nathalies Sachen«, sagte er rauh, während es ihm eiskalt bis zum Herzen strömte. Was hatte das zu bedeuten? Konnte es nicht nur eine schreckliche Bedeutung dafür geben? Sie hatten Nathalie umgebracht und ließen ihre Sachen in der Todesschlucht verschwinden, um alle Spuren zu verwischen. Ich bin zu spät gekommen, schrie es in ihm. Bin ich wirklich zu spät gekommen? Wenn sie Nathalie etwas angetan haben, werden sie mir dafür bezahlen, dachte er in glühendem Zorn, Sie werden mir dafür büßen, so wahr ich lebe! »Faß an«, befahl er dem Kutscher. Gemeinsam wuchteten sie die Kiste in die Kutsche zurück. »Du bringst die Sachen jetzt auf der Stelle nach Schloß Werth, verstanden?« »Ja, aber, die Komteß hat mir doch befohlen…« »Jetzt befehle ich dir! Und gnade dir Gott, wenn du nicht tust, was ich sage. Von jetzt an stehst du in meinen Diensten.« »Wie der Herr Graf befehlen.« Franz wagte vor dem zornigen, fast gewalttätigen Ausdruck in den grauen Augen keinen Widerstand mehr. Er kletterte auf den Kutschbock und schlug auf die Füchse ein. Gunther jagte zum Schloß zurück. Doch irgendein Instinkt ließ ihn Artifex vor dem Parktor halten und an einen Baum anpflocken. Zu Fuß ging er weiter, vermied die Wege und schlich wie ein Dieb durch die Büsche. Kurz vor dem Pavillon hörte er Schritte. Hastig verbarg er sich hinter einer Skulptur und erblickte Komteß Dina, die mit einer brennenden Öllampe auf den Pavillon zuschritt. Wozu trägt sie am hellichten Tag eine brennende Lampe bei sich? fragte er sich voller Mißtrauen. Er wartete einige Minuten lang und näherte sich dann vorsichtig dem Pavillon.
Die Tür stand einen Spalt offen. Er blickte hinein und stellte verwundert fest, daß Dina verschwunden war. Zögernd trat er ein. Unter seinen Füßen raschelte Papier, er blickte sich um, und dann sah er das Loch im Boden. Jetzt wußte er, wohin Dina verschwunden war. Er neigte sich über die Falltür, zündete ein Schwefelholz an und leuchtete hinein. Ein unterirdischer Gang, durchzuckte es ihn. Warum war Dina dort hinuntergegangen? Was suchte sie in dieser Finsternis? Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf. Er warf das abgebrannte Schwefelhölzchen fort und stieg vorsichtig die glitschigen Stufen hinab.
*
Die Sonne scheint, dachte Nathalie, halb wachend, halb träumend. Ich bin aus meinem schweren, grauenvollen Alptraum erwacht. Ich sehe die Sonne wieder. Sie richtete sich auf, spürte dabei den Schmerz in ihren Gliedern und blinzelte in dieses matte, tröstliche Licht, das sie für die Sonne hielt, das nach all der Dunkelheit so tröstend und beglückend war, wie das heiße pulsierende Leben selber. Das Licht aber war hinter den Gitterstäben. Taumelnd stand Nathalie auf. Ein so heftiger Schmerz raste durch ihre Beine, daß sie fast aufgeschrien hätte. Ein schwaches Stöhnen entrang sich ihren Lippen, sie ging mühsam auf die Gittertür zu und hielt sich mit den Händen an den Stäben fest. Das Licht schwankte vor ihren Augen. Dann erkannte sie eine Gestalt. »Dina«, flüsterte sie, und ein heißes Schluchzen drängte sich in ihre Kehle. »Bist du endlich gekommen, Dina? Warum hast
du mich allein gelassen, Dina? Es war furchtbar hier, in der Dunkelheit. Dina, mach doch bitte die Tür auf.« »Weißt du, in welchem Raum du dich befindest?« fragte Dina. Doch ihre Stimme klang ganz fremd, ganz verändert. Alles Liebenswürdige war daraus verschwunden. Sie sprach hart und kalt wie eine Marionette, die kein Herz hat. »Hast du die Inschrift auf dem Stein gelesen?« fuhr Dina gnadenlos fort. »Es ist ein Grabmal, das Grabmal deines verbrecherischen Bruders Pierre.« »Aber Pierre war doch kein Verbrecher«, flüsterte Nathalie mit schwankender Stimme. »Er war der liebste, gütigste Mensch, den ich kannte.« »Er hat meine Mutter gemordet«, sagte die Komteß kalt. »Nein, das ist nicht wahr, das kann nicht sein!« rief Nathalie verzweifelt. Sie preßte ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe. »Mein Bruder würde niemals einem anderen Menschen etwas antun. Du mußt dich irren, Dina.« »Ich irre mich nicht.« Dina lachte so schneidend, daß es Nathalie wie ein Messerstich ins Herz drang. »Dein Bruder war ein Verbrecher. Gewissenlos hat er sich das romantische Herz meiner Mutter zunutze gemacht, skrupellos hat er sie verführt, ohne daran zu denken, daß er eine ganze Familie ins Unglück stürzt. Die Ehre der von Trontheims ist unantastbar, aber dein Bruder hat diese Ehre beschmutzt. Er hat meine Mutter zur Ehebrecherin gemacht.« »Vielleicht haben sie sich geliebt«, wandte Nathalie bebend ein. »Ein Menschenherz ist machtlos der Liebe gegenüber, versteh das doch.« »Verblendet war sie«, stieß Dina in aufflammender Wut hervor. »Mein Vater hätte ihr in seiner großen Güte verziehen, nachdem ich ihren Betrug entdeckt hatte. Aber sie wollte nicht mehr seine Frau sein. Sie wollte mit deinem Bruder fliehen. Ein ganz neues Leben wollte sie anfangen, diese Närrin. Nicht
einen Augenblick dachte sie an uns, an meinen armen Vater, an die Schande und Schmach, die sie seinem Namen antat.« Dina seufzte qualvoll auf. In ihrem schönen Gesicht zuckte es. »Ich habe sie angefleht, bei uns zu bleiben«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort. »Auf den Knien habe ich vor ihr gelegen und sie angefleht, uns das nicht anzutun, das meinem gütigen Vater nicht anzutun. Aber alles war umsonst.« Dina ließ die Lampe so weit sinken, daß ihr Gesicht im Schatten lag. »An diesem Tag ist etwas in mir zerbrochen«, fuhr sie tonlos fort. »Ich haßte den Mann, der uns das angetan hatte. Ich haßte auch meine Mutter und wollte sie zwingen, bei uns zu bleiben.« »Dina, was hast du getan?« entfuhr es Nathalie entsetzt. »Dir werde ich es erzählen«, fuhr die Komteß mit fremder Stimme fort. »Denn du wirst keine Gelegenheit haben, mich jemals zu verraten.« Sie lachte freudlos auf. »Vielleicht glaubst du mir nicht, wenn ich dir sage, daß ich sie wirklich nicht umbringen wollte. Ich habe nur versucht, ihre Flucht zu verhindern. Nur darum habe ich die Hinterräder der Kutsche so weit beschädigt, daß sie bei der geringsten Belastung auseinanderbrechen mußten.« »Mein Gott!« Nathalie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte entsetzt auf. »Du hast drei Menschen auf dem Gewissen«, stammelte sie. »Wie konntest du so etwas tun?« »Es war ein Unglücksfall«, sagte Dina hart. »Ich konnte nicht voraussehen, daß die Kutsche in die Todesschlucht stürzen würde. Das Schicksal hat sie zum Tode verurteilt, nicht ich.« Pierre ist tot! Minutenlang konnte Nathalie an nichts anderes denken. Sie weinte und vergaß, in welcher Lage sie sich selber befand. Es war ihr in diesem Moment gleichgültig. »Niemand durfte wissen, daß dein Bruder meine Mutter in der Kutsche begleitet hatte«, fuhr Dina fort. »Es hätte Gerede
gegeben. Vielleicht hätten die Leute sogar erfahren, daß die beiden zusammen fliehen wollten, und die Ehre der Trontheims wäre für immer beschmutzt gewesen.« »Sei still! Was geht mich eure Ehre an«, schluchzte Nathalie auf. »Wie kann das wichtiger sein als das Glück zweier Menschen.« »Sie hatten kein Recht zu diesem Glück. Es war ein gestohlenes Glück, verstehst du das nicht?« Dina starrte sie durch die Gitterstäbe an. Es war ein böser, fast irrer Blick. »Du, Nathalie Mereau, bist genau wie dein Bruder«, flüsterte sie heiser. »Ich wußte sofort, was du vorhattest, von Anfang an. Auch dein Bruder hatte diese verfluchten grünen Augen. An deinen Augen habe ich dich erkannt. Zuerst hatte ich noch Mitleid mit dir. Ich habe mit allen Mitteln versucht, dich aus dem Schloß zu graulen, dir den Aufenthalt hier so unerträglich zu machen, daß du von selber gehst. Warum hast du nicht auf diese Warnungen gehört, Nathalie?« »Du warst das also?« Von Grauen geschüttelt starrte Nathalie in das zerrissene, fast häßlich wirkende Gesicht, über das die gelbliche Flamme der Lampe zuckte. »Du mußt zugeben, daß ich mir viel Mühe gemacht habe«, lachte die Komteß voller Hohn. »Es war gar nicht so einfach, das fauchende Ungetüm von Katze in einen Schrank zu sperren, oder den Geist meiner Mutter zu spielen. Ich wußte auch, wie schreckhaft die Stute Ada ist. Alles war von mir geplant.« »Du bist kein Mensch, du bist ein Ungeheuer«, flüsterte Nathalie erbebend. »Als ich in der Todesschlucht war, wolltest du mich umbringen.« »Ja«, sagte Dina heiser. »An dem Tag wollte ich das! Ich wollte deinen Tod. Ich wollte, daß du genau an der Stelle umkommst, wo dein verbrecherischer Bruder umgekommen ist. Hast du dir wirklich eingebildet, ich hätte nichts von dir
und Gunther gewußt? Hinter meinem Rücken hast du dich in Gunthers Herz geschmeichelt, hast ihn mit deinen grünen Augen um den Verstand gebracht. Oh, ich wußte genau, daß er wie besessen von dir war. Seit er dir in die Augen gesehen hatte, zählte ich nicht mehr.« »Wenn du mir meine Liebe vorwerfen willst«, weinte Nathalie, »dann sag mir ehrlich, hast du jemals Gunther geliebt, wie eine Frau ihren Mann lieben soll?« »Nur Narren lieben«, zischte Dina haßerfüllt. »Liebe macht schwach, das habe ich bei meiner Mutter erfahren. Trotz allem hätte ich dich noch gehen lassen, obwohl du deines Verrates wegen tausend Tode verdient hättest. Durch Matthias habe ich dir den gefälschten Brief schicken lassen. Wenn du danach abgereist wärst, Nathalie, ich hätte dich nicht zurückgehalten, denn irgendwie warst du mir lieb geworden.« »Wenn wirklich auch nur eine Spur von menschlichem Gefühl in dir ist«, flüsterte Nathalie drängend, verzweifelt, »so laß mich jetzt gehen. Ich verspreche dir, niemandem zu erzählen, was ich weiß. Wenn der Himmel eine Rache für gerecht halten wird, so überlaß ich ihm, über dich zu richten.« »Es tut mir leid«, erwiderte Dina mit falschem Bedauern. »Aber du mußt hier bleiben. Du wolltest doch immer zu deinem geliebten Bruder Pierre. Jetzt bleib auch bei ihm. Leb wohl, Nathalie! Hoffentlich mußt du nicht zu lange leiden.« »Dina, geh nicht fort!« schrie Nathalie verzweifelt auf. »Dina!« Sie sah, wie Dina plötzlich zurückwich, sich gegen die Wand preßte. »Gunther«, flüsterte sie tonlos, entsetzt. »Ich habe alles mit angehört«, sagte Gunther, Graf von Werth, zutiefst entsetzt. Er blieb vor Dina stehen, einen schrecklichen Ausdruck in den Augen. »Geh!« preßte er
zwischen den Zähnen hervor. »Geh, ehe ich vergesse, daß du eine Frau bist.« Wortlos schlüpfte Dina an ihm vorbei, verschwand wie ein Schatten. Dann hörte man sie lachen, ein so grauenvolles Lachen, daß ihnen das Blut in den Adern gefror. »Sei ganz ruhig, Nathalie, Liebes«, sagte Gunther sanft. »Ich hole dich.« Er tastete nach der Klinke, stieß die Tür auf. Halb besinnungslos fiel Nathalie ihm in die Arme. Sekundenlang drückte er sie stumm an sich, fühlte die Wärme ihres Körpers, und heiße Dankbarkeit durchströmte ihn. Sie lebte noch! Er war nicht zu spät gekommen. In diesem Augenblick zählte nichts anderes für ihn als dieses Wissen, sie nicht für immer verloren zu haben. »Liebe!« höhnte Dinas Stimme entfernt. »Eure Liebe wird euch umbringen, alle beide.« Dina lief wie gehetzt. Ich darf sie nicht entkommen lassen, schrie es in ihr. Wenn sie frei sind, werden alle erfahren, was ich getan habe. Alle werden erfahren, warum ich es getan habe. Die Ehre der Trontheims wird für immer beschmutzt sein. Sie hastete die glitschigen Stufen hinauf, rutschte aus und fiel hin. Ein rasender Schmerz zuckte durch ihren Fuß, doch in ihrer Erregung achtete sie nicht darauf. Der Wille, zu fliehen, die beiden dort unten zu vernichten, war stärker. Die letzten Meter waren furchtbar. Endlich hatte sie es geschafft, sich auf den Boden des Pavillons zu ziehen. Die Lampe entglitt ihren Händen und stürzte um. Sie schlug die Falltür zu und lauschte voll bösen Triumphes auf das Geräusch. Hier würden sie nicht mehr herauskommen. Oder doch? Gunther ist stark, sagte sie sich. Für ihn ist es ein leichtes, die Tür hochzuheben. Ich müßte einen schweren Gegenstand darüberschieben.
Mit irren Blicken sah sie sich um. Doch sie fand nichts. Alles war zerstört. Das hier hatte ihr Vater, angerichtet, nachdem er von dem Treuebruch seiner Frau erfahren hatte. Wie ein Berserker hatte er hier gewütet. Dann hatte er sich in sein Zimmer eingeschlossen. Am selben Tag hatten Latitia und Pierre beschlossen, von hier zu fliehen. Dina setzte sich auf die Falltür. Ich muß sie bewachen, durchzuckte es ihr wirres Hirn. Solange ich hier bleibe, können sie nicht heraus. Zuerst bemerkte sie gar nicht, daß sich das Feuer der zerbrochenen Lampe gierig in das angehäufte Papier fraß, es auflodern ließ. In Sekundenschnelle griff das Feuer um sich. Erst als Dina husten mußte, als Rauch in ihre Kehle drang, wurde ihr klar, daß sie dem Ersticken nahe war, daß sie selbst in Lebensgefahr schwebte. Sie versuchte aufzustehen und sank mit einem Schrei zusammen. Der verletzte Fuß schmerzte furchtbar. Ob er gebrochen war? Mit höllischem Krachen zerbarst eine Fensterscheibe. Das Feuer loderte hell auf, griff nach Dinas Kleidern. Aufschreiend versuchte sie, auf Händen und Füßen die Tür zu erreichen, als ein herabstürzender Balken ihr den Weg versperrte, als Staub und Mörtel auf sie niederprasselten und ihr die Besinnung raubten.
*
Unwillig über die Störung blickte Graf Gernot von seinen Schriftstücken auf. »Was gibt es, Matthias?« fragte er ungehalten. »Der Pavillon brennt!« schrie der Diener verstört. »Sehen Sie selber, gnädiger Herr! Kommen Sie auf den Balkon!« Graf Gernot folgte ihm langsam. Nebeneinander standen sie und sahen zu, wie die Flammen gen Himmel zuckten. »Wie konnte das nur geschehen?« flüsterte der Diener verstört. »Herr Graf, müssen wir nicht etwas unternehmen?« »Bei dieser feuchtkalten Witterung wird das Feuer nicht um sich greifen«, murmelte Graf Gernot. »Wenn der Pavillon zerstört wird, so soll es wohl so sein. Ich wünschte nur, all meine dunklen Erinnerungen würden mit verbrennen.« »Aber wir können doch nicht einfach nur zusehen. Wie leicht kann das Feuer auf die Bäume übergreifen.« »Du hast recht, Matthias.« Mit einem tiefen Seufzer streifte der Graf seine Lethargie ab. »Ruf die Dienerschaft zusammen. Sie sollen mit Eimern eine Kette bilden. Das Wasser nehmen wir aus dem Brunnen.« Kühl und beherrscht gab der Graf seine Anweisungen. Er selber blieb auf dem Balkon und sah den Arbeiten der Leute zu. Plötzlich gellte ein Schrei auf, so furchtbar, daß ihm das Blut in den Adern gefror. Etwas Furchtbares ist geschehen, dachte er. Gott, gib mir die Kraft, es zu ertragen! Er ging in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch, stützte den Kopf in die Hände und wartete. Nach einer Ewigkeit hörte er Noras schnellen Schritt. Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter, federleicht, und doch hatte er das Gefühl, sie bürdete ihm eine schwere Last auf. »Wir haben Dina verloren, Liebster«, sagte sie traurig. »Du mußt jetzt sehr stark sein, sehr tapfer! Du mußt wissen, daß ich zu dir halte, immer. Wir werden alles gemeinsam tragen.«
So schonend sie konnte, erzählte Nora von den furchtbaren Geschehnissen. Graf Gunther war es endlich gelungen, die Falltür aufzubrechen. Er hatte Dina gefunden und ins Freie gebracht. Aber für Dina war alle Hilfe zu spät gekommen. Sie war in den dichten Rauchschwaden erstickt. Nathalie hatte man auf ihr Zimmer gebracht. Sie hatte einen Nervenschock erlitten. Graf Gunther wich nicht von ihrer Seite. Sobald Nathalie transportfähig war, wollte er sie nach Schloß Werth bringen. Graf Gernot weinte, als er erfuhr, was seine Tochter getan hatte. »Schon damals ahnte ich so etwas«, flüsterte er, von Kummer überwältigt. »Ich ahnte, daß Dina bei dem Unglück mit der Kutsche ihre Hand im Spiel hatte. Aber ich wollte es niemals wahrhaben. Ich habe sie fortgeschickt und gehofft, sie würde Vergessen finden. Dann kam sie zurück und brachte Nathalie Mereau mit. Hätte ich doch nur offen mit Nathalie gesprochen!« klagte er sich an. »Ich war einfach zu feige dazu. Ich hatte Angst, unser ganzes unheilvolles Geheimnis könnte ans Tageslicht kommen. Auch ich bin schuld, genauso schuldig wie Dina. Aber konnte ich ahnen, daß der Haß Dina jemals so weit treiben würde?« »Dina war wie verblendet in ihrem Haß«, sagte die Gräfin bekümmert. »An dem Tag, als ihre Mutter sie verließ, ist das Gute in ihr gestorben. Sie hat mit den Menschen gespielt, wie ein grausames Kind mit seinen Puppen spielt, und alles, was sie liebte und festhalten wollte, ist ihr zwischen den Händen zerbrochen.« »Nora, meine Frau!« Er nahm ihre schmale Hand und preßte seine nassen, brennenden Augen darauf. »Jetzt habe ich nur noch dich«, flüsterte er erstickt, das Herz von brennendem
Weh zerrissen. »Daß es dich in meinem Leben gibt, dafür kann ich dem Schicksal nicht genug danken.«
*
Gunther ließ die Zügel locker. Er wußte, daß Artifex auch allein den Weg finden würde. Mit dem linken Arm hielt er Nathalie umfangen, und als er spürte, wie vertrauensvoll ihr Kopf an seiner Schulter lehnte, stieg ein Glücksgefühl in ihm auf. »Verzeih mir, daß ich jemals an deiner Liebe gezweifelt habe«, murmelte sie bedrückt. »Schon verziehen!« Er lachte und drückte sie voll überströmender Zärtlichkeit an sich. »Weißt du, ich habe lange über deine Geschichte nachgedacht. Und dann kam mir der Verdacht, daß Dina ihre Hand im Spiel hatte. Um sie in Sicherheit zu wiegen, habe ich mit ihr geflirtet. Ich hoffte, sie würde mir dann erzählen, was sie vorhatte. Doch ich hatte wohl ihre Raffinesse unterschätzt. Sie hat mein dummes Spiel gleich durchschaut. Ein sehr geschickter Lügner bin ich wohl nicht.« Sie hatten die hohe Mauer von Schloß Werth erreicht. Gunther saß ab und half ihr aus dem Sattel. Nathalie blickte ihn an, und in ihren grünen Augen war so viel tiefe Hingabe, daß es ihn bis ins Innerste rührte. »Ich möchte mit dir glücklich sein«, sagte sie leise. »Und ich auch mit dir«, sagte er und schloß sie leidenschaftlich in die Arme.
ENDE