Höllenjäger Band 8 Welten am Abgrund von Des Romero
Die Schwärze des Alls spiegelte sich im Helmvisier des Raumreisen...
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Höllenjäger Band 8 Welten am Abgrund von Des Romero
Die Schwärze des Alls spiegelte sich im Helmvisier des Raumreisenden. Einige weit entfernte Sterne zitterten als unstete Lichtpunkte auf der mattierten Oberfläche. Es war ein schlichtes Bild, das trotz allem erfüllt war von der Majestät der kosmischen Weiten und einem allumfassenden Frieden, der bezeichnend war für die Tiefen des Leerraums. Mit allen Sinnen, die er in der hermetisch versiegelten Welt seines Schutzanzugs entfalten konnte, nahm der Astronaut die Ruhe und Schönheit des Augenblicks in sich auf, um sie wie einen Schatz zu hüten. Er wusste, dass beides nicht von Dauer sein würde. Später, sollte er sein Zuhause noch einmal wieder sehen, wollte er die kostbaren Erinnerungen erneut hervorholen und sich an ihnen erfreuen. Vielleicht würde es das Einzige sein, woran er sich dann noch erfreuen konnte, wenn er inmitten der rauchenden Ruinen seiner Heimatwelt stand. Ein gleißender, gelb-orangefarbener Lichtschweif riss die friedvolle Dunkelheit auf der Helmsichtscheibe auseinander. Der Blick des Raumsoldaten verließ ruckartig den imaginären Punkt jenseits der Horizontlinie des Planetoiden-Außenpostens Gattarragg und heftete sich auf die weite Ebene voraus. Die wimmelnden Flecken in der kargen Landschaft markierten das Heer der Oloiden. Über ihm kreuzte ein Kampfgleiter, der eine einsame Vorhut bildete von dem, was sich noch in den Eingeweiden des Mutterschiffs befand. Bald würde ein bissiger Schwarm von Kleinstraumschiffen mit Lasergeschützen und Raketen durch die Reihen der Abd-Naal mähen. Wer nach diesem Angriff noch lebte, der würde den Oloiden-Kriegern in die Hände fallen. Es war besser, einen raschen und heldenhaften Tod zu suchen... Anto-Dschagerass brauchte nicht hinter sich zu schauen, um sich von der Präsenz seines zehntausend Mann starken Bataillons zu überzeugen. »Für Kanddarr!«, rief er in sein Helmmikrofon und jeder Soldat konnte es im selben Moment hören. Gleichzeitig wurden zehntausend Flugaggregate aktiviert. Völlig lautlos in der dünnen Atmosphäre des Planetoiden ergoss sich der Tross von der leichten Anhöhe in die Ebene. Hoch über den Köpfen der Krieger funkelten winzige Lichter wie Nadelstiche in schwarzem 4
Brokat. Die Flotte der Kampfgleiter hatte sich ausgeschleust, um die Vorhut zu verstärken. Das einzelne Schiff gab währenddessen ununterbrochen Laser- und Raketensalven ab und pflügte erbarmungslos durch die Truppen der Abd-Naal. Natürlich hielten diese weiterhin unbeirrbar an ihrem Kurs fest, der sie dem Feind entgegen trieb. Wenn die Sturmspitzen sich erst vermischt hatten, konnten die Kampfpiloten nicht mehr viel ausrichten, ohne ihre eigenen Leute zu vernichten. Die Frage war, ob sie sich davon abhalten ließen. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass die Oloiden in ihrem religiösen Wahn mehr als unberechenbar waren. Oft schon war es vorgekommen, dass sie zahlreich den Untergang gesucht hatten, nur um eine Masse Abd-Naal mit sich zu reißen. Anto-Dschagerass konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Oloiden das eigene Leben wenig bedeutete und sie es bedingungslos den Zielen und dem Wohl der Gemeinschaft unterordneten. So, wie es Insekten taten, die kein Ego kannten und keine Identität hatten. Wie hatte alles angefangen? Woraus war dieser viel zu lange andauernde Konflikt entstanden? Hatte wirklich alles mit dem drohenden Kollaps dieses Sterns begonnen, dessen Namen er hatte vergessen wollen? Es spielte keine Rolle mehr! Alles, was zählte, war der Krieg! Wer suchte jetzt noch nach den Gründen? Wer wollte jetzt noch eine Beilegung des Kampfes? Jede Bemühung um Aufnahme von diplomatischen Verhandlungen konnte doch nur als Schwäche ausgelegt werden. Eine solche Blöße würde sich keine Partei freiwillig geben. Es war das Kriegerherz, das aus Anto-Dschagerass sprach. Es waren dies die bescheidenen philosophischen Ansätze eines Mannes, dessen Geschäft der Tod war und nicht das Leben. Und es waren nur wenige Sekunden, in denen er sich in solchen Gedanken verlor, denn da hatte sein Bataillon bereits die feindlichen Linien erreicht. Automatisch hatten die Abd-Naal ihre Nahkampfwaffen gezogen. Dazu gehörten Vibrationslanzenstöcke und -klingen, rotierende Mehrklingenmesser an der Oberseite der Unterarme sowie kurzläufige GasHochdruck-Karabiner. »Fresst das, ihr Bastarde!« 5
Unter den wütenden Hieben Anto-Dschagerass' verloren die zuvorderst anstürmenden Oloiden Arme, Beine oder größere Stücke ihres Körpers. Der Abd-Naal fräste sich unerbittlich eine blutige Schneise mitten durch die Angreifer. Die ihm nachfolgenden Kämpfer peitschte sein entschlossenes Vorgehen zu noch mehr Grausamkeit an. Wie wertloses Vieh wurden die von dem beherzt ausgeführten Angriff überraschten Oloiden abgeschlachtet. Doch die Grausamkeit in der Schlacht war beileibe kein Privileg der Abd-Naal. Die Oloiden verstanden sich mindestens ebenso gut darauf, den Gegner rücksichtslos niederzumetzeln. Die eigenen Verluste beim ersten Aufeinandertreffen kompensierten sie mühelos. Gleichzeitig verlieh ihnen die heranjagende Flotte der Kleinstzerstörer weiteren Auftrieb. In den hinteren Reihen der Abd-Naal schlugen Raketengeschosse ein, fetzten die Körper wie Papier auseinander und ließen das Fleisch als Ascheflocken zu Boden sinken. Immer mehr verkeilten sich die Truppen ineinander. Immer schwieriger wurde es für die Kampfgleiter, feindliche Ziele anzuvisieren, ohne eigenes Menschenmaterial zu zerstören. Eine gewisse Befriedigung machte sich bei Anto-Dschagerass bemerkbar.
Da habe ich ja nicht mal so verkehrt gelegen. Die Schwarzhäutigen werden vorsichtiger, wollen keine eigenen Verluste riskieren.
Auf seinen Befehl hin waren die Flanken vorgestoßen und hatten sich zangenförmig um den Gegner geschlossen. Das schränkte das Wirkungsfeld für Raketen- und Laserbeschuss zusätzlich ein, schwächte die Abd-Naal allerdings am Boden, da die massive Angriffsformation auseinander gezogen wurde.
Wir werden sehen, ob die daraus entstehenden Vorteile diesen Nachteil aufwiegen können. Anto-Dschagerass hatte so manche
Schlacht gegen die Oloiden geschlagen. Die Ausgangssituationen waren stets gleich - wie beim Schach. Dann jedoch war jede Variation der Züge von höchster Bedeutung. Nicht immer war ein erfolgreicher Zug in dem einen Kampf auch ein ebensolcher im nächsten. Von daher kam Anto-Dschagerass gut damit klar, wenn eine seiner Entscheidungen tausend Abd-Naal und mehr das Leben kostete; schließlich waren 6
die Verluste in diesem Fall nicht seinem Fehlurteil zuzuschreiben, sondern seiner erfahrungsbasierten Lageeinschätzung. Der Unterschied bestand eigentlich nur in der Betrachtungs- und Argumentationsweise. Es war stets und überall von Vorteil, sich auf in der Vergangenheit bewährte Methoden zu beziehen, als das schlichte Eingeständnis eines Irrtums abzugeben. Gleich neben Anto-Dschagerass wurde einem Abd-Naal der Oberkörper von der linken Schulter bis zur rechten Hüfte abgetrennt. Grotesk langsam drifteten die Körperhälften unter der geringen Anziehungskraft von Gattarragg voneinander weg. Überall lagen oder trieben jetzt abgeschnittene Extremitäten herum. Die meisten davon in dem dunkelblauen Stoff der Abd-Naal-Druckanzüge. Verdammte bucklige Brut!, stachelte der Heerführer sich selbst an und spielte dabei auf die gedrungenen Körper der Oloiden an, die in starkem Kontrast zu den schlanken, hoch gewachsenen Abd-Naal standen. Die Vibrationslanze führte er mit der Linken im Halbkreis durch den Pulk seiner Gegner, während das Mehrklingenmesser am Oberarm seiner Rechten wie ein Rotor weitere Angreifer zerstückelte. Die Waffen auf beiden Seiten des Schlachtfeldes waren unter der Vorgabe konstruiert worden, nicht zu verletzen, sondern zu töten. Dies geschah mit einer Effektivität, die den Unterlegenen fast immer derart verstümmelte, dass seine Überlebenschancen selbst bei sofortiger medizinischer Behandlung bei Null standen. Siegen oder untergehen, dachte Anto-Dschagerass ohne Bitterkeit.
Unser Truppentransporter ist weit. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeit. Und die Oloiden schöpfen aus dem Vollen. Ihr Mutterschiff ist keine einzige Astronomische. Einheit entfernt und kann Soldaten und schweres Gerät ohne Ende ausspucken. Er stellte die oberste Heeresleitung keineswegs in Frage. Wenn sie der Meinung war, ein Bataillon ohne Rückendeckung auf einem Stützpunktplanetoiden aussetzen zu müssen, um einen raschen Vergeltungsschlag für den Überfall auf die ortsansässige Kommandantur durchzuführen, dann mochten dies andere verantworten. Er selbst sah sich als ausführendes Werkzeug. Er brachte nicht den Krieg, er war der Krieg! Der Grund oder die Motivation spielten in seinen Überle7
gungen lediglich eine untergeordnete Rolle. Einmal in Gang gesetzt, ließ er sich so schnell nicht mehr aufhalten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob das schon immer so gewesen war - diese absolute Kompromisslosigkeit! Es war, als wäre er für die Konfrontation geschaffen worden - in all ihren blutigen Facetten! Es war in ihm! Es beherrschte ihn! Der Kampf war die Programmierung, die alle anderen Befehlsketten in seinem Gehirn außer Kraft setzte. Normal war dieser Zustand nicht. Hatte man mit ihm experimentiert? Hatten die Wissenschaftler einen Kämpfer züchten wollen, der in seinem Tun nicht mehr von Angst, Zweifeln und Selbstsüchten befangen war? Und wenn ja, gab es dann noch weitere seines Schlages? Anto-Dschagerass war sich durchaus bewusst, dass es nur sehr wenige seiner Sorte gab, die sich durch unnachgiebige Härte dem Feind und sich selbst gegenüber auszeichneten. Wenn er also das Produkt eines Experimentes war, wieso hatte man es dann nicht fortgesetzt und sogar ausgedehnt und lauter Krieger ohne Gewissen herangebildet? Wo befand sich der Fehler in seiner Analyse? Möglich auch, dass man ihn dementsprechend konditioniert hatte, dass er aus eigenem Antrieb die Antworten auf diese Fragen einfach nicht finden konnte. Irgendetwas in ihm war blockiert. Doch er wusste nicht zu sagen, worum es sich genau bei dieser Blockade handelte oder wie sie aufzuheben war. Anto-Dschagerass hatte eine weite Breche in die Oloiden-Soldaten geschlagen. Erst jetzt reagierte er auf den Lärm in seinem Helmempfänger, der klar ohne jegliche atmosphärische Störungen an seine Ohren drang. »Rantt! Gorm! Was ist da los?«, wandte er sich schneidend an seine Flügelleutnants. »Rechte Flanke ist abgeschnitten! Die Oloiden drängen uns nach außen! Vermutlich, um uns vor die Geschütze ihrer Kampfflieger zu treiben!« Damit hatten sie natürlich rechnen müssen. Die Zangenformation barg immer das Risiko der Separation vom Haupttross. »Wir können euch nicht helfen! Erwehrt euch so gut es geht eurer Haut! - Gorm! Was gibt es bei dir?« 8
»Die Situation ist ähnlich! Nicht mehr lange und wir stehen hier mutterseelenallein auf dem Präsentierteller!« »Die Order für Leutnant Rantt gilt auch für dich! Viel Erfolg!« Anto-Dschagerass wechselte den Kanal und ging auf Sprechverbindung mit dem Offizier der Nachhut. »Die Schwarzen decken uns mit massivem Sperrfeuer ein, Kommandant! Unsere Reihen lichten sich rapide! Diese Gleiter sind zu wendig für die Boden-Luft-Abwehr!« »Schwärmt aus, Laddvigg! Keilformation vier über! Und dann stoßt dem Feind den Dolch ins Herz!« ›Vier über‹ hieß im Soldatenjargon, eine Angriffswelle über der bereits bestehenden zu bilden. Unter Zuhilfenahme ihrer Flugaggregate konnten die Abd-Naal auf zwei Ebenen gleichzeitig vorstoßen. ›Vier‹ gab die Höhe in Metern über der ersten Kampfwelle an. Es war die Mindestdistanz, aus der den am Boden befindlichen Kriegern durch die Abstrahltriebwerke der Flugtornister kein Schaden drohte. Major Laddvigg zeigte sich wenig begeistert und antwortete verhalten und seltsam betont »Ver – standen«. Seine Zurückhaltung war für Anto-Dschagerass durchaus verständlich. Solange die Kameraden sich meterhoch in der Luft befanden, waren sie dankbare Ziele für die Waffen der Oloiden. Der Konturenschirm - ein energetisches Neutralisationsfeld für Laser- und Projektilgeschütze - war zwar äußerst wirksam, konnte jedoch massiertem Punktbeschuss nur kurze Zeit standhalten. Der sich an den Flug anschließende Sturz in die gegnerischen Linien war dann Teil zwei des Selbstmordkommandos. Die Überlebenschance eines solchen Manövers lag bei sechs Prozent. Doch alles das waren Dinge, an denen sich Anto-Dschagerass nicht aufhalten konnte. Die Männer und Frauen seines Bataillons hatten lediglich zu funktionieren und Befehle auszuführen. Einen Kummerkasten für Zartbesaitete hatte die Armee noch nicht eingeführt. Der Freiraum, den er sich geschaffen hatte, wich zurück; unzählige Oloiden drängten nach, schlachteten Abd-Naal um Abd-Naal herzlos ab, als hätten sie es nicht mit lebendigen, denkenden Wesen zu tun, sondern mit scheußlichem Unkraut, dessen Wurzeln in Form abnormen Wucherungstriebes ein für allemal ausgemerzt werden mussten. 9
Das Grauen des Gemetzels legte in dem Kommandeur einen Schalter um, der auch ihn nur noch zu einem funktionierenden Element dieser Kriegsmaschinerie machte. Zu einem Element allerdings, das unter seinem stoischen Ausführungszwang weder Freund noch Feind unterschied und als fleischgewordener Stahl - oder verhielt es sich genau umgekehrt? Hatte das Nichtmenschliche in ihm die physische Gebrechlichkeit einfach abgestreift? - ein personifiziertes Duplikat akkurater Auslöschung widerspiegelte. Sehr viel später fand Anto-Dschagerass sich kauernd an einem einzelnen Felsen wieder. Einsames Gestein umwoben mit der Präsenz eines einsamen Mannes, dessen leerer Blick die Toten streifte, die nicht als Individuum, sondern nur als Masse sichtbar wurden, aufgehäuft und einfach nur achtlos ins Nirwana entsorgt. Die Oloiden hatten diesen Kampf eindeutig für sich entschieden. Kein Abd-Naal war mehr am Leben. Und ob es Respekt vor dem Feind war oder schlicht Verachtung, der Anto-Dschagerass es zu verdanken hatte, nicht getötet worden zu sein, um auf einem abgestorbenen Außenposten auf Rettung zu hoffen oder quälend langsam dahinzusiechen - letztendlich spielte es keine Rolle. Ein anderer würde seine Aufgabe übernehmen. Es gab immer einen anderen, vielleicht auch einen fähigeren. Wenn sich seine Leute nun doch hierhin verirren sollten und ihn mitnahmen, würde ein neues Kapitel in diesem Jahrhundertkrieg aufgeschlagen werden. Die Protagonisten wären dann andere. Der Hass und die Verbissenheit aber änderten sich nie. Fast musste Anto-Dschagerass schmunzeln. In dem Kämpfer schlummert ein Poet, dachte er. Seine Augen versanken in dem satten Schwarz zwischen den Sternen und ein feiner Schauer rann über seinen Rücken.
Doch mit Worten werden keine Schlachten geschlagen... Es war mehr eine Bitte, denn ein Befund. * 10
Andächtig und äußerst behutsam strichen meine Fingerkuppen über die Ränder des Buchdeckels, als könnte jede allzu hastige Bewegung, jeder unbedachte Druck das Werk zerstören oder zumindest beschädigen. Die Absurdität meines Tuns sickerte wie durch Kaffeesatz in mein Bewusstsein: träge durch die verklebte Masse meiner Gedanken und ohne die kochende Intensität des ersten Aufgusses. Alles nur Illusion! Ich stand zwischen den Regalen der Bibliothek meines Vaters Edward. Sie befand sich in unserer wunderschönen Renaissance-Villa in Kensington. Nur wenn ich das Haus verließ, um der Beklemmung zu entkommen, die die Wände von Zeit zu Zeit ausatmeten und um einfach nur die klare Luft in meinen Lungen zu spüren, die wärmenden Strahlen einer verschämten Frühlingssonne, wurde mir schlagartig klar, dass die Hoffnung, die ich genährt und liebevoll aufgezogen hatte, dass alles das, was in meiner Vorstellung existierte und mich an eine unbeschwerte Vergangenheit erinnerte, nicht mehr war, als das filigrane Gebilde einer Seifenblase, die, einmal angeeckt, schlicht und ergreifend zerplatzte und den Panzer der geträumten Wirklichkeit brutal zerfetzte. Alles nur Illusion...?! War dieses Buch, das ich einem unglaublich wertvollen Schatz gleich in den Händen hielt, tatsächlich nicht vorhanden? Und die Bibliothek? Das Haus...? Natürlich konnte ich all das berühren, spüren. Aber war damit bereits der Beweis erbracht für die Existenz dieser Dinge? Konnte ein menschlicher Geist, dem die immensen Beschränkungen der materiellen Welt auferlegt waren, den Unterschied zwischen Wahrheit und Trugschluss erkennen? Fehlte ihm letztlich nicht die nötige Distanz, die eine objektive Bewertung erst ermöglichte? Ich beschäftigte mich mit der Frage, welches Weltbild sich die frisch geschlüpfte Made unter den Essensresten im Hausmüll machte. Wie reagierte sie auf den Lichteinfall, wenn der Deckel des Treteimers sich öffnete? Wie erklärte sie sich Geräusche von außerhalb ihrer finsteren Welt, die aus sich beständig erschöpfenden Nahrungsmittelvorräten bestand? Wusste die Larve um die Augen, die sie beobachteten und 11
konnte sie die spitzen Schreie interpretieren, die ihr Anblick bei einem Menschen auslöste? Natürlich nicht! Was wusste diese instinktgesteuerte Fressmaschine schon von Menschen und ihren Mülleimern? Wenn ich jedoch dem übermächtigen Instinkt einen kaum sichtbar glimmenden Funken Verstand zuordnete, der ab und an den Versuch unternahm, hinter die Berge aus Essen zu sehen und über den Horizont des Sättigungstriebes hinauszublicken, dann sah die Made genau dasselbe wie ich: einen begrenzten Lebensraum, den wir nach unseren Wünschen nutzten und gestalteten, der andererseits jedoch Gesetzen unterlag, denen wir uns bedingungslos unterordnen mussten - weil es keine Alternative gab! Um an der Erkenntnis des Ausgeliefertseins nicht zu zerbrechen, schusterten wir uns eine Wirklichkeit zurecht, die unseren eigenen Vorstellungen von ihr eher entsprach als das Original. So lebten wir also in einer Scheinwelt, der wir den wissenschaftlich hergeleiteten Stempel ›Einzig existierende Wahrheit‹ aufgedrückt hatten. Damit lebte es sich ganz gut. Bis diese Traum-Realität von der IstRealität verdrängt wurde. Das war der Augenblick, der den Müllbeutel mit Insektenspray einnebelte, ihn aus dem Eimer heraus zog und verknotete, von allem abschottete und schließlich recycelte. Die Priester hatten es gut gemeint, mir mein vertrautes Umfeld zurückzugeben - wie auch immer sie das angestellt hatten - doch konnte ich mich nicht wie ein Ertrinkender am Strohhalm meiner Erinnerungen festklammern. Die Vergangenheit war abgehakt. Es hatte umwälzende Veränderungen gegeben, die ich nicht ignorieren konnte, um mich von den angenehmen Bückblenden eines sorgenfreien Lebens einlullen zu lassen. Wieder waren es die Priester, die mein eingleisiges Denken erweiterten und auf die Möglichkeiten hinwiesen, die Erfahrungen der Vergangenheit für den Aufbau der Zukunft zu gebrauchen. Sicher, da war was dran und es war der einzige Grund, warum ich mich jetzt hier in der Bibliothek meines Vaters aufhielt. Lange Zeit vorher schon hatte ich all die aufbrechenden Emotionen, die der vertraute Anblick ausgelöst hatte, abgearbeitet, war mit ihnen ins Reine ge12
kommen, so dass sie keine Belastung mehr darstellten, sondern willkommene Ergänzung meiner selbst waren. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch und behandelte es diesmal nicht so, als könnte es von einem Moment auf den anderen einfach zu Asche zerfallen. Es war fest. Es war stabil. Es ließ sich aufschlagen, durchblättern, drehen und aus jeder erdenklichen Perspektive begutachten. Ich zog daher für mich den Schluss, dass es auch existierte. So wie die Bibliothek. So wie die Villa. So wie die blassgelben, weiten Ebenen von Col'Shan-duur, die sich mir offenbarten, wenn ich einen Fuß vor die Tür setzte. WELTEN AM ABGRUND las ich den Titel auf dem Rücken des Einbands und wusste im gleichen Augenblick, dass ich ihn früher schon einmal - gemessen an meiner subjektiven, nur für mich geltenden Zeitrechnung - hervorgeholt hatte. Und richtig: Mit dem Lesen der ersten Worte spulten sich vor meinem geistigen Auge Kolonnen an Informationen ab, die ich damals gierig aufgesogen hatte. Ägypter, Inkas, Römer und Mongolen wurden plötzlich wieder lebendig. Die Schilderung nahm mich heute wie gestern gefangen. Die Erzählperspektive ließ mich keine Sekunde daran zweifeln, dass der Autor dieser Schrift ein Mensch mit tiefsten Einblicken in die Grundstrukturen des Lebens und des Seins gewesen sein musste. Seine Beschlagenheit, seine Interpretation, Rückschlüsse und umfassenden Erklärungen hätten die Geschichtsschreibung des einundzwanzigsten Jahrhunderts zwangsläufig in die Steinzeit zurückgebombt. Mir fiel kein treffenderer Vergleich ein. Der Inhalt dieses Buches war hochexplosiver Zündstoff - gerade in einer Zeit, die glaubte, alle Rätsel gelöst und den Gipfel der Technologie erklommen zu haben. Ich klappte das Buch zu und war mir nicht sicher, ob mich gerade ein wehmütiger Gedanke an die Erde gestreift hatte, die Erde, die so, wie ich sie kannte, nicht mehr existierte. Der Schrein - mein großväterlicher Freund, unsichtbar, doch um so besser hörbar und in seiner befremdlichen Nichtmenschlichkeit gleichzeitig mehr Mensch als die Priester, deren Intellekt und Feingeist durch ihre grobschlächtigen Körper einen als Tragödie zu bezeichnenden Bruch erlebten - hatte 13
mich anhand einer episodenhaften Darstellung mit den neuen Verhältnissen auf meinem Mutterplaneten vertraut gemacht. Amalnacron war nach wie vor existent - allerdings in wesentlich perfiderer Form, als noch vor der großen Veränderung. Ich hatte erlebt, wie das Plasma, das den Endzustand seiner Verpuppung dargestellt hatte, zu einer entarteten und rein instinktgetriebenen Masse purer Fresslust degeneriert war. Es besaß nun keinen lenkenden Verstand mehr, was aber seiner Gefährlichkeit keinen Abbruch tat. Schon gab es auf der Erde Gruppierungen, die gezielt die Verbreitung der Urmasse steuerten. Ich gab mich nicht der Illusion hin, dass Amalnacron damals in dem Plasma aufgegangen war. Es war lediglich seine neue Zustandsform auf dieser Ebene der materiellen Welt. Das unbegreifliche Wesen, das alle in Ermangelung einer zutreffenderen Bezeichnung schlechthin als Dämon titulierten, hielt sich gleichzeitig in verschiedenen Arealen auf. Seine Präsenz erstreckte sich ebenso auf die Realitäten der Stofflichkeit wie auf jene der Astralwelten. Der Schrein hatte mir nach Rücksprache mit den Priestern die Abhängigkeiten der einzelnen Zustandsformen erklärt. Zähneknirschend hatte ich zur Kenntnis nehmen müssen, dass die materielle Welt der Menschen die niedrigste Entwicklungsstufe im Kosmos darstellt. - Meine Güte! Musste es tatsächlich die niedrigste sein? Ging nicht irgendwas dazwischen? Etwas, das ein klein wenig würdevoller war für die Krone der Schöpfung? Schon okay, ich hatte ja gefragt. Nun, über der stofflichen Ebene gab es die Astralwelten. Dort fand man das vor, was allenthalben als Himmel und Hölle bezeichnet wurde. Einträchtig existierten sie nebeneinander, wobei dieser Himmel immer noch sehr weit von dem Schöpfer, von Gott, entfernt war. Sehr, sehr weit. Die Hölle befand sich umgekehrt unerfreulich nah an dem, was landläufig personifiziert und als Teufel bezeichnet wurde. All das war real! All das existierte direkt neben unserer sicht- und greifbaren Realität, die alles als Hirngespinst deklarierte, was eben nicht sicht- und greifbar war. Ein amüsantes Dilemma - wenn man nicht gerade davon betroffen war! 14
Über den Astralwelten folgten die Kausalebenen und genau bis zur Superkausalebene, die den fünften echten Abschnitt über der fragwürdigen irdischen Unterebene darstellte und deren Substanz nicht einmal mehr fünfzig Prozent der Stofflichkeit der materiellen Existenzebene ausmachte, reichte der unentrinnbare Einfluss der negativen Mächte. Bis zu dieser Grenze kämpfte das Böse verbissen um jede Seele. Der ganz große Nachteil der vom Körper befreiten Seelen lag darin, dass sie es aus eigener Kraft niemals schaffen würden, über die Superkausalebene hinauszukommen. Irgendein Gesetz verhinderte das. Irgendeine Regel, vielleicht eine irrwitzige Abmachung oder ein schlechter Kompromiss, sah vor, dass die Lebewesen, die das Universum bevölkerten, stets den Kreislauf der Wiedergeburt durchlaufen mussten. Immer und immer wieder. Ohne Ende und ohne das Wissen darum. Das Rad der Reinkarnation war ein ausgeklügelter Mechanismus, der sich selbst in Gang hielt und sein eigener Motor war. Ein Perpetuum mobile, wenn man so wollte. Meine erste Frage dazu hatte gelautet, wozu der ganze Aufwand denn nötig war. Was bezweckten die negativen Kräfte - so wurden sie von den Priestern bezeichnet, die niemals Satan, Dämon oder ähnliche Begriffe benutzten - mit diesem gigantischen Reinkarnationskreislauf? Ich kam mir im Anschluss wie ein dummer Schuljunge vor. »Die inkarnierten Seelen liefern dem Gegner neue Nahrung und stärken seine Macht«, hatte Gon'O'locc-uur mich belehrt. »Es sind die Taten der beseelten Körper, die durch ihr Karma ständig neue negative Werke tun. Die Seele wird unterdrückt vom Ego. Das Ego arbeitet einzig für die Gegenseite, denn es ist der Ausdruck eurer gelebten Triebhaftigkeit, eurer Sehnsüchte und eurer Ängste. Der Mensch strebt nach Besitztum. Hat er dann schließlich, was er sich wünscht, beschleicht ihn die Furcht vor dem Verlust. Verlustängste sind letztlich Ausdruck eurer größten Schwäche. Aus Angst und Gier resultieren die gravierendsten karmischen Belastungen. Sie sind eure schwerste Bürde und zur selben Zeit der größte Lohn für die negativen Mächte.« Ich schüttelte den Kopf. Die Lektionen, die mir erteilt wurden, waren immer noch schwer zu schlucken. Ob und wann ich sie verdaut haben würde, stand noch in den Sternen. 15
Meine Gedanken bewegten sich oft um dieses Thema, dem ich neuerdings eine zentrale Bedeutung beimaß. War nicht alles in diesem Universum vollkommen unbedeutend und nebensächlich? Beschäftigten wir uns nicht tagein, tagaus mit erbärmlichen Nichtigkeiten, die wir in den Status höchster Dringlichkeit erhoben? Ich musste kurz lachen, weil mir im selben Moment der Grund für dieses erstaunliche Verhalten einfiel: Wir hatten ja nichts anderes zu tun! Es gab schließlich keine Probleme, wenn wir sie nicht selbst erzeugten! Und da wir von den ursächlichen Gegebenheiten unseres Seins nicht die Spur wussten, produzierten wir am laufenden Meter Konflikte, konstruierten Gesetze, um diese Konflikte zu bereinigen und tüftelten ständig an noch aufwändigeren Maßnahmen, unser ohnehin beschränktes Dasein weiter einzuengen. Findige Menschen verkündeten anschließend, dass umfangreiche Veränderungen zur Erleichterung des Lebens und Erweiterung des individuellen Freiraums durchgesetzt werden konnten und ernteten dafür von betrogenen Menschen für eine offensichtliche Lüge tosenden Applaus. Je länger ich mich mit den Alltäglichkeiten meines zurückliegenden Lebens beschäftigte, umso unwirklicher erschienen sie mir. Waren die Jahre auf der Erde nur ein Traum gewesen? Wenn ich noch länger auf Col'Shan-duur verweilte, würde ich irgendwann diese Frage nicht mehr beantworten können. Jedenfalls nicht wahrheitsgemäß. Mein neues Zuhause seit mehr als zehn Jahren hatte sowieso mehr vom Pinselstrich eines surrealistischen Malers, als der Erde - wie fremd sie mir mit der Zeit auch erscheinen mochte - jemals anhaften konnte. Wie sollte ich also in Zukunft aus der Unwirklichkeit heraus die Wirklichkeit beschreiben können? Barg der Ansatz nicht schon die fundamentale Konsequenz des Scheiterns in sich? Aus meiner Warte war es gar nicht möglich, wirkliches Sein zu erfahren, sondern lediglich eine Sammlung wertloser Unwahrheiten anzuhäufen, die ich wie Mammon bewachen konnte oder schlicht davon schleuderte. Was ich nicht besaß, konnte ich nicht verlieren!
Richard, wehte es freundlich durch meine verworrenen Gedanken und löste einige der Knoten, die ich selbst nicht mehr entwirren konn16
te. Kannst du uns bitte im Versammlungssaal aufsuchen? Wir möchten
gerne etwas mit dir besprechen.
Einerseits war ich froh über den Aufruf, riss er mich aus der Sackgasse, in der sich mein Verstand verfranst hatte. Andererseits liebte ich es, mich auf ausweglose Verwirrspielchen einzulassen, um den Grad meiner geistigen Widerstandsfähigkeit zu erhöhen und den Schmerzpegel meiner Selbstzerfleischung auszuloten. Aber das ließ sich nachholen. An einem Ort wie diesem gab es nicht die Ausrede, keine Zeit zu haben. Ich hatte alle Zeit der Welt. Im ureigensten Sinne. »Im Versammlungssaal also«, murmelte ich vor mich hin und verließ die Villa. Ich hatte ohnehin das Gespräch mit den Priestern suchen wollen, um in Erfahrung zu bringen, was meinen weiteren Lebensweg anbelangte, sprich: die Höllenjäger-Geschichte und das ganze Drumherum. Da sich die Ereignisse nun mal nicht drängen ließen, hatte ich gewartet, bis sie sich bei mir meldeten. Anscheinend war das der Startschuss gewesen. Möglich, dass jetzt etwas Farbe in die Eintönigkeit meines Tagesablaufs kam. * Was der Rat vollmundig als Versammlungssaal anpries, war eine halbkugelförmige Absenkung im Boden, die gelb phosphoreszierte. Der einzige Unterschied zu den Wohnwaben bestand in ihrer Größe: hier hatten alle Mitglieder des Priestervölkchens bequem Platz, auch wenn Bequemlichkeit keine Tugend war, die in irgendeiner Form gepflegt wurde. Ich trottete die sanfte Steigung herab. Es waren bereits alle Priester - ob klein oder groß - eingetroffen. Wichtige Entscheidungen oder Ankündigungen wurden stets im großen Rahmen und von allen gemeinschaftlich vorgenommen. Mein Blick wanderte durch die Reihen der Anwesenden und als ich zwischen den ZweimeterfünfzigDreibeinen Jokk-Ar Le-Ong-Sha'am-O entdeckte, ging ich grinsend auf ihn zu. 17
»Alles senkrecht, Shorty?«, klopfte ich dem abgebrochenen Biesen auf die Schulter. Er war einer der wenigen, die unter der Zwei-MeterGrenze lagen - er war sogar nur einszwanzig - und damit körperlich noch Kinder waren. Mittlerweile gingen wieder drei Priester schwanger. Nach den Verlusten beim Initiierungsritual, die unter anderem auf das Konto des Vaters meines kleinen Freundes gegangen waren, würde das Volk nach und nach wieder auf die stattliche Zahl von fünfundzwanzig aufgestockt werden. Mehr wurden es nie. Wie das alles miteinander zusammenhing, entzog sich noch meiner Kenntnis; meinen diesbezüglichen Fragen waren die Priester ausgewichen. Ich hatte den Eindruck, dass sie es mir nicht sagen konnten, weil sie es selbst nicht wussten. »Könntest du freundlicherweise deine Anzüglichkeiten unterlassen, Richard?«, blaffte mich Sha'am-O an. »Der Herr ist aber heute sehr empfindlich«, entgegnete ich und guckte von oben auf den Haarkranz meines ehemaligen Mentors Philip Ravenmoor, dessen Geist und Seele nun im Körper eines Priesterjungen steckten. Die feinen Härchen vibrierten leicht und hatten sich mir zugewandt. Es waren Sinnesorgane, die den Priestern die Orientierung in der materiellen Welt ermöglichten. Mir fiel es beim Anblick der unförmigen Kreatur immer noch sehr schwer, darin Ravenmoor zu sehen, den hoch gewachsenen Höllenjäger, dessen Charisma mich beeindruckt hatte. Er schien immer Herr der Lage gewesen zu sein, hatte sich auf Dinge verstanden, die ich erst noch mühsam würde lernen müssen. Was augenblicklich neben mir stand, beeindruckte mich wenig, außer als biologische Kuriosität. Philip selbst konnte mit seinem Zustand auch kaum zufrieden sein. Ich merkte es ihm zeitweise an. »Ich habe dich nur etwas aufmuntern wollen«, fügte ich erklärend hinzu und hoffte, damit sein aufgebrachtes Gemüt zu beschwichtigen. »Unterdrücke künftig diesen Drang!«, kam es schärfer zurück, als ich es von Ravenmoor gewohnt war. Aufmerksam geworden nahm ich die sonderbare Stimmung auf, die mich umgab. Ich freue mich, dich zu sehen, Richard, begann der Älteste, der geduldig gewartet hatte, bis die lockere Konversation zwischen mir und Philip beendet war. Gewöhnlich verständigten sich die Priester 18
untereinander über den mentalen Weg; bei mir machten sie da keine Ausnahme. Mir selbst fiel es nicht immer leicht, meine Gedanken so zu fokussieren, dass sie klar und deutlich verständlich den Empfänger erreichten. Ich gab mir meistens alle Mühe, würde jedoch noch reichlich üben müssen. Teilweise verfiel ich in alte Gewohnheiten und sprach meine Gedanken laut aus. »Ich danke dir für die Einladung.« Schwupps, da war es wieder passiert. Ich sammelte mich und schob hinterher: Auch ich war im Begriff, mich an den Rat zu wenden,
um einige grundsätzliche Dinge zu erörtern. Wir werden dir sehr gerne für alle deine Belange zur Verfügung stehen. Na, das war doch mal ein Wort.
Womit kann ich euch jetzt dienen?, fragte ich respektvoll, weil ich wusste, dass die Priester darauf großen Wert legten. Deine Zeit ist endlich gekommen, kam der Älteste ohne Umschweife direkt zur Sache. Du bist physisch und psychisch so weit ge-
nesen, dass wir dich deiner eigentlichen Aufgabe zuführen können. Die Komplettierung deines transgenetischen Codes genießt hierbei absolute Priorität. Gon'O'locc-uur hat mich über die zu erwartenden Gegebenheiten auf der Erde informiert. Es dürfte nicht besonders schwierig sein, den Splitter einzusammeln. Ich würde meine Heimat wieder sehen! Gut, sie hatte sich verändert, doch tat dies meiner tiefen Sehnsucht keinen Abbruch. Du wirst nicht zur Erde aufbrechen, tönte es in meinem Kopf. »Nicht... zur Erde?« Ich war verblüfft. Nein - schlimmer! Ich war schockiert! Das sonderbare Gefühl, das ich kurz zuvor wahrgenommen hatte, bestätigte sich. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es ebenso Auslöser von Philips Gereiztheit war. Warum auch immer. Inzwischen hatte ich mich schon fast daran gewöhnt, ständig als letzter eingeweiht zu werden.
Deine Reise wird dich sogar sehr weit von ihr fortführen. Fast dreißig Millionen Lichtjahre.
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Was sollte das denn nun? Nicht nur, dass ich mir eine solche Strecke überhaupt nicht vorstellen konnte - selbst die Entfernung zum nächsten Stern mit einem Abstand von viereinhalb Lichtjahren war von den Menschen niemals überwunden worden - mir wollte ebenso wenig einleuchten, warum wir uns nicht um die nahe liegenden Dinge kümmerten und das Codefragment im ehemaligen Dänemark an uns nahmen.
Wir verstehen deine Verwirrung und fühlen deine Enttäuschung. Doch sei versichert, dass alles seinen Sinn hat. Um diesen zu verstehen und dich auf deinen Auftrag vorzubereiten, musst du die Geschichte jenes Volkes erfahren, zu dem du alsbald aufbrechen wirst. Das hörte sich nach einer Lehrstunde an. Traf sich gut, ich hatte nichts Eiliges zu erledigen. Der gelbe Schein in der Höhlung wurde abgedimmt. Mitten zwischen den Umstehenden baute sich ein Tachyonenschirm auf.
Was du gleich sehen wirst, entstammt dem Kollektivgedächtnis unseres Volkes. Wir versuchen, die Inhalte in dir verständlicher Art und Weise zu projizieren. Viele Informationen werden dir auf deinem späteren Weg nützlich sein. Wortlos setzte ich mich auf den Boden. Wenn das hier länger dauerte, wollte ich mir nicht unbedingt die Beine in den Bauch stehen. Ich nahm mir dennoch fest vor den Rat daran zu erinnern, mir für künftige Versammlungen eine Sitzgelegenheit zur Verfügung zu stellen. Als Mensch hat man halt so seine Bedürfnisse. Schon jagten sich die ersten Bilder auf der Projektionsfläche. Nach anfänglichen Abstimmungsschwierigkeiten bei der Laufgeschwindigkeit stabilisierte sich die Darstellung. Heimkino der Superlative, witzelte ich vor mich hin. Die Ironie war das einzig Vertraute, was ich von der Erde hatte hinüber retten können nach Col'Shan-duur, diesem Sammelsurium von Fremdartigkeiten. Und es war die Ironie, die ich wie ein verhätscheltes Haustier hegte und pflegte. Konzentriert verfolgte ich die Vorstellung und als der Schirm schließlich verlosch, weihte mich der Älteste in die weitere Vorgehensweise der Priester ein. Mein anfängliches Erstaunen ging über in Ver20
ständnislosigkeit und endete in einem beklemmenden Bauchgefühl. Was man da von mir verlangte, ging beträchtlich über das hinaus, was ich zu leisten bereit war. Einlenken konnte in diesem Fall auch nicht die Betonung der angeblichen Ungefährlichkeit des Unternehmens. Unsicher und rein instinktiv warf ich einen Seitenblick auf Ravenmoor/Sha'am-O, um seiner Miene irgendeinen brauchbaren Ausdruck zu entnehmen, der mich entweder in meinen Bedenken bestärkte oder eben dazu aufforderte, den neuen, unbekannten Weg einzuschlagen. Ich Blödmann!, verdrehte ich die Augen und wandte mich flugs ab von dem feinen Haargespinst auf dem kahlen Körper, das mich anstelle eines Gesichts erwartete. Da kann ich eher einen Teller Spaghetti
um Rat fragen.
Die Situation hatte nichts Komisches. Ich machte mir lediglich etwas vor. Die Priester räumten mir eine Art Bedenkzeit ein, ließen jedoch unmissverständlich durchklingen, dass sie mich schnellstmöglich für meinen Auftrag zu konditionieren gedachten. Ich hatte keine Wahl. Es geschah so und so nach dem Willen der Priester und die Dringlichkeit der Aufgabe stand kristallklar vor mir. Nun ging es nur noch darum, ob ich freiwillig oder unter Zwang handeln wollte. In der Meditation, so sagten sie mir, konnte ich die Blockaden meines Egos auflösen. Dafür räumten sie mir Zeit ein. Nur dafür. Nicht zum Austüfteln einer Option. Der Druck in meiner Magengegend schwoll weiter an. *
Vergangenheit - Der Beginn »Ich bin ein großer Freund von Terraforming.« »Das weiß ich. Konzentriere dich jetzt.« »Man hat das gute Gefühl, etwas Großartiges zu erschaffen.« »Sicher. Vergiss bitte nicht zu ziehen.« »Es ist ein berauschender Schöpfungsakt.« »Würdest - du - bitte - deinen - Zug - machen...« 21
Tok-Jebb wischte die ausschweifenden Gedanken beiseite. Er geriet leicht ins Schwärmen und schmückte seine Betrachtungen philosophisch aus, um im Kreise von Freunden oder auch Kollegen eine Gesprächsgrundlage zu schaffen. Jetzt allerdings verfolgte er mit seiner Schwärmerei einen anderen Zweck: er wollte Zeit schinden für seinen nächsten Spielzug. Dschi-Dschai war in seiner Grundstruktur ein simples Spiel. Es bestand aus einem holografischen Kubus, in den weitere Würfel eingearbeitet waren, die nach exakten Proportionalitätsvorgaben immer kleiner wurden. Man startete auf der untersten Ebene, dem kleinsten Würfel und musste diesen ›bevölkern‹. Das hieß konkret, ihn mit kleinen eigenständigen ›Programmen‹ ausstatten, die eine funktionale Welt schufen. Es gab dabei zwei Schwierigkeiten, die den eigentlichen Reiz des Spiels ausmachten: Zuerst waren da Myriaden an Einstellungsmöglichkeiten für die autarken Programme, die letztlich darüber entschieden, ob der selbst geschaffene Kosmos ›überlebensfähig‹ war. Des Weiteren gab es einen oder mehrere Gegenspieler, die ebenfalls auf der unteren Ebene ihre Welt aufbauten und die Prozesse des anderen störten. Es galt also, stetig die Balance zu halten zwischen durchdachter Expansion und effektiver Abwehr. Gelangte ein Spielpartner frühzeitig auf den nächst höheren Kubus, konnte er geschickt den Aufstieg der Nachfolgenden blockieren. Das Erreichen des äußeren Würfels markierte das Ziel und verlieh dem Gewinner den Titel ›Bewahrer des Universums‹. Tok-Jebb stand momentan vor der Wahl, einige hartnäckige Angriffsprogramme abzuwehren oder die Schlussphase der Besiedlung seines Würfels einzuleiten. Der nächste Spielzug war von entscheidender Bedeutung und konnte unter Umständen alles zunichte machen, was er sich bisher aufgebaut hatte. »Werde ich es noch erleben, dass du in irgendeiner Form reagierst?«, erkundigte sich Suk-Negesch. Deutlich war in dem Hologramm ein blinkendes Rechteck zu sehen, das jenen Ort darstellte, an dem Angriffs- und Abwehrprogramme aufeinander prallten. »Ich konzentriere mich. Das wolltest du doch.« 22
Die beiden Männer saßen sich nicht in der üblichen Weise gegenüber, sondern Kopf an Kopf. Für den einen Spieler wirkte es demnach immer so, als würde der andere über ihm an der Decke schweben und zwar mit dem Kopf nach unten. Zwischen den Männern, also jeweils über ihren Köpfen, leuchtete der dreidimensionale Würfel, das Spielfeld. Da dieses Spielfeld aus der Sitzposition des Einzelnen nicht einsehbar war, wurde es zusätzlich direkt vor den Spieler projiziert. Die Steuerung erfolgte über zerebrale Weichen und Berührungssensoren. »Die Projektion ist kein vollwertiger Ersatz für das Original-Holo«, warf Tok-Jebb ein, als er der Meinung war, Suk-Negesch könnte ihn erneut zu schnellerem Handeln auffordern. »Es gibt auf diesem Schiff keine bessere Lösung. Der Raum ist begrenzt. Sei froh, dass der Kommandant uns gestattet hat, DschiDschai mitzunehmen.« »Er hält uns sowieso für wunderlich. Aber auch für hoch qualifiziert. Welche Alternative hätte er gehabt?« Suk-Negesch überging die Frage. »Da!«, sagte er. »Die Passivkontrolle hat sich abgeschaltet. Meine Programme sind in deine Welt eingefallen.« Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, Tok-Jebbs Abwehr unter seiner Angriffswelle wegpurzeln zu sehen. »Das sieht schlecht für dich aus.« Spielstand bei minus zwei sichern, teilte Tok-Jebb dem Computer mit. »Hast du keine Lust mehr?« »Ich bin nicht in der richtigen Stimmung. Das nächste Mal fangen wir an derselben Stelle wieder an - dann aber vor deinem Angriff.« Beiläufig beschäftigte Tok-Jebb sich mit einigen Routineeinstellungen an seiner Konsole, bevor er sich aus dem Sitz heraus schälte, um hundertachtzig Grad drehte und direkt neben Suk-Negesch fallen ließ. »Was ist mit dir los?«, platzte er ohne Vorwarnung heraus. Suk-Negesch schaute verdutzt. »Wovon redest du?« »Leugne es nicht. Ich habe es schon vor unserem Abflug bemerkt. Du benimmst dich sonderbar.« 23
»Bist du verrückt? Wie kannst du so etwas behaupten? Ich bin Leiter des wissenschaftlichen Stabs der...« »Das Spiel«, unterbrach Tok-Jebb die Ausführungen seines Vorgesetzten. »Ich meine das Spiel.« Es folgte keine Erwiderung. Da war nur lauerndes Schweigen. Tok-Jebb nahm dies als Aufforderung, fortzufahren. »Du bist sehr häufig mit Dschi-Dschai beschäftigt. Oft auch allein. Wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.« »Und? Was schließt du daraus?« In der Frage schwang Unsicherheit mit, vielleicht auch eine Befürchtung, die bisher unausgesprochen geblieben war. »Ich weiß es auch nicht so genau«, gestand Tok-Jebb schließlich ein. »Ich habe mir zwar meine Gedanken gemacht, bekomme aber kein passendes Gesamtbild.« »Du hast aber doch eine Vermutung.« Suk-Negesch wagte einen Vorstoß. Er fühlte sich ertappt. Weglaufen half nichts mehr. »Sprich sie aus.« »Du bist auf der Flucht!«, stieß Tok-Jebb hervor und war irgendwie erleichtert, diesen nagenden Verdacht nach all den langen Wochen des Zweifelns nun endlich hervorgebracht zu haben. »Du flüchtest dich in das Spiel. Es wirkt auf mich, als versuchtest du, der realen Welt aus einem mir unerfindlichen Grund zu entkommen! - Suk, wir arbeiten bereits Jahre gemeinsam. Ich kenne dich besser als die meisten anderen. Willst du mir nicht sagen, was du verschweigst?« »Wozu benötigst du die Gewissheit für deine Ahnungen? Was interessiert dich mehr: Die Befriedigung deines Wissensdurstes oder das Verlangen, einem langjährigen Arbeitskollegen zur Seite zu stehen?« »Natürlich möchte ich dir gerne helfen, wenn das in meiner Macht steht...« Suk-Negesch warf ihm einen scharfen Blick zu. »Das kannst du am besten, indem du keine weiteren Fragen stellst und mich bei meinen Forschungen unterstützt. So wie gewohnt.« »Hast du denn kein Vertrauen? Möchtest du die Last auf deinen Schultern denn nicht lieber teilen?« 24
»Da ist keine Last!«, erfolgte Suk-Negeschs Antwort scharf und sie war gleichzeitig der beste Beweis für die enthaltene Lüge. Hatte es jetzt noch Sinn und Zweck, seinem Mitarbeiter etwas vorzumachen? »Du hast Recht, Tok«, kam es kleinlaut zurück. Der Wissenschaftler wirkte in sich zusammengesunken. Auf seinem Monitor blinkte immer noch das Auswahlrechteck mit der Angriffsanzeige; das Bild war eingefroren, als wartete es sekündlich auf die Fortführung der Sequenz. »Was ist es?«, drängte Tok-Jebb sanft, der spürte, dass der Mann neben ihm noch eines Anstoßes bedurfte, bevor die ganze Wahrheit über seine Lippen rann. »Hat es mit unserer Mission zu tun?« Die Mission! Vor zwei Wochen waren sie von Naal, ihrer Heimatwelt, gestartet. Das riesige Modulraumschiff, das aus scheibenförmigen, aneinander gesetzten Segmenten zusammengestellt war, die ihm ein kugelförmiges Aussehen verliehen, hatte die unterschiedlichsten Welten angesteuert, Meteoriten untersucht, Bodenproben aufgesammelt und tausende Messungen vorgenommen. Einzig Suk-Negesch und eine Handvoll Eingeweihter wussten, dass das Schiff sein eigentliches Ziel noch nicht erreicht hatte. Dieses Ziel lag fünfzig Lichtjahre von Naal entfernt. Keine nennenswerte Distanz für die hoch entwickelten Magnetkrafttriebwerke. Je mehr sie sich ihm jedoch genähert hatten, desto öfter hatte Suk-Negesch die Sicherheit der Scheinwelt DschiDschais gesucht. Suk-Negesch flüsterte etwas, was Tok-Jebb nicht verstand und sich daraufhin zu ihm herunter beugte. Sein Vorgesetzter wandte ihm das Gesicht zu. Die Hautfalte längs unter den Augen vibrierte leicht. Die Augen selbst hatten viel von ihrem eigentlichen Glanz eingebüßt und boten nunmehr einen eher schwachen Kontrast zur blauroten Haut. Ohne auf die letzte Frage seines Fachkollegen einzugehen, sagte Suk-Negesch lediglich: »Tok - ich habe Angst!« * Der Privatraum Suk-Negeschs war, wie alles auf dem Forschungsschiff, schlicht und schmucklos. Die Einrichtung war ausgelegt auf die Missi25
on, nicht auf die Bequemlichkeit der Besatzung. Es gab eine Ruhenische, zwei Sitzgelegenheiten, einen Arbeitstisch und Arbeitskonsolen. Nahrung wurde über ein in die Wand eingelassenes Versorgungsmodul bereitgestellt. Auf Knopfdruck lieferte es geruchs- und geschmacksneutrale Breie, deren angereicherte Inhaltsstoffe die Männer und Frauen an Bord mit allem Lebensnotwendigen versorgten. Die Kultur der Abd-Naal - so nannte sich dieses Volk in Anlehnung an die Mutterwelt Naal - kannte nicht die Lockungen verschwenderischen GenussStrebens und luxuriösen Lebenswandels. Insofern stellte die spartanische Schiffsausstattung auch kaum eine Zumutung oder gar Einschränkung der individuellen Gewohnheiten dar. Alles war vielleicht nur eine Idee schlanker. »Setz dich«, bot Suk-Negesch seinem Mitarbeiter einen Platz vor einer Computerkonsole an. Identifizierung!, forderte der Computer über die Zerebralweiche des Chefwissenschaftlers und erhielt auf demselben Wege die Codeeingabe. »Ich bin wirklich gespannt, was du mir zeigen willst«, gab TokJebb zu. Das Geständnis seines Vorgesetzten hatte ihn verwirrt und im selben Atemzug noch neugieriger gemacht. Wovor fürchtete sich dieser Mann?
Außensektor, Quadrant Epsilon, Vergrößerung achttausend, Anflugwinkel zweiundzwanzig Grad, wies Suk-Negesch das Programm an. Auf dem Schirm erschien der Randbereich der heimatlichen Spiralgalaxis. Eine imaginäre Kamera zoomte mit Höchstwerten ein. Es erschienen Dutzende Koordinatensysteme, die am Betrachter vorbei flogen und zielstrebig den ausgewählten Quadranten ins Visier nahmen. In einer weiten Schleife näherte man sich einem roten Stern, bis die Aufnahme erstarrte und die Sonne den Großteil des Monitors ausfüllte. »Ogg-Virr III«, las Tok-Jebb die Anzeige ab. Es klang enttäuscht. »Ogg-Virr III«, wiederholte Suk-Negesch. In seiner Stimme lag leiser Schauder und vorerst brachte er kein weiteres Wort heraus. Es war, als sähe er sich seiner Nemesis gegenüber, die allein durch ihre geballte Präsenz jede weitere Lautäußerung erstickte. 26
»Ich sehe keine Ortungsdaten«, wunderte sich Tok-Jebb und suchte einen neuen Ansatz, um der Angelegenheit möglicherweise doch noch einen Reiz abzugewinnen. »Sie sind verschlüsselt«, murmelte Suk-Negesch, wie aus Angst, das Gestirn könnte ihn hören. Seine Augen waren starr auf den Monitor gerichtet. Beinahe unbewusst gab er die Codefreigabe ein. Am unteren Bildschirmrand flammte eine Kolonne aus Texten und Zahlenwerten auf. »Dreihundertzwanzig Millionen Kilometer Durchmesser«, staunte Tok-Jebb. »Einen so großen Stern habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.« »Es gibt Überriesen, die das tausendfache seines Volumens haben«, erklärte der Chefwissenschaftler nüchtern und machte damit unmissverständlich klar, dass nicht die Größe Ursache seiner tief empfundenen Furcht war. »Dann weiß ich nicht, was so Besonderes an ihm ist.« Suk-Negesch musste krampfhaft an sich arbeiten, den Blick von dem roten Glutball zu lenken, als fürchtete er, dass die Sonne hinter seinem Rücken gegen ihn agierte. Eindringlich sah er dann seinen Mitarbeiter und geschätzten Kollegen an. »Tok, dieser Stern wird explodieren.« Jetzt war es heraus. Der Bann war gebrochen. Triumphierend nahm Suk-Negesch die Bildschirmdarstellung ins Visier und fühlte nun keinerlei Beklemmung mehr beim Anblick des roten Riesen. »Eine Supernova? In unmittelbarer Nähe von Naal? Das ist eine Katastrophe!« Tok-Negesch war bemüht, sich zu beherrschen. »Dann ist unser Forschungsauftrag eine einzige Farce! Alle Messungen und Proben nur Täuschung! - Warum nur?« »Nein, nein, du irrst«, wiegelte Suk-Negesch ab. »Ich musste aus der Nähe das spektroskopische und photometrische Verhalten des Sterns einer genauen Prüfung unterziehen. Die Mineralproben werden für andere Zwecke benötigt, die noch zu vage sind, als dass ich sie dir mitteilen könnte. Wenn vor Ort nun die letzten Messungen vorgenommen werden und sich mein Verdacht erhärtet beziehungsweise zu 27
hundert Prozent bestätigt, wird die Regierung augenblicklich handeln. Sie werden einen Plan in Kraft setzen, der das Überleben unseres Volkes gewährleistet.« »Vielleicht erweist sich deine Vermutung ja im Nachhinein als Trugschluss«, verlieh Tok-Jebb seiner geheimen Hoffnung Ausdruck. »Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie du annimmst.« Man konnte Suk-Negesch nicht unbedingt als unsensibel bezeichnen, doch in diesem Moment zerstörte er die Hoffnung seines Fachkollegen vollständig. »Wir beschäftigen uns nicht mit der Frage, ob dieser Stern explodieren wird, sondern wann! Das Pulsationsmuster aus Kontraktion und Expansion beunruhigt mich schon seit über einem Jahr. Die nur für diese Erscheinung freigesetzten Energien sind enorm. Um letztendlich einen halbwegs definierten Zeitpunkt nennen zu können, muss ich die Element-Reaktionen im Innern der Sonne messen. Ist das Gleichgewicht gestört, wird eine Kernreaktion ausgelöst, die in einer Gravitationsimplosion endet.« »Mein Gott!«, stöhnte Tok-Jebb. »Die Stoßwelle wird mit Temperaturen von mehreren Millionen Grad Celsius alles im Umkreis von Dutzenden Lichtjahren verbrennen! Auch Kanddarr! Und Naal!« »Wenn die Supernova uns nicht vernichtet, dann das durch den Gravitationskollaps entstehende Schwarze Loch. So oder so gibt es keine Alternative, kein Entrinnen.« Je mehr Suk-Negesch die Angst vor der Katastrophe abgestreift hatte, desto mehr war sie auf Tok-Jebb übergegangen. Nun war er es, der schweigend den Monitor sezierte, auf dem in unumstößlicher Selbstgefälligkeit Ogg-Virr III thronte. * Das Modulschiff hatte achtzig Sonden ausgeschleust, die rund um den roten Riesenstern Parkpositionen einnahmen. Stunde um Stunde förderten sie Unmengen an Daten, die sie in die Schiffsdatenbanken funkten und die dort ausgewertet wurden. Suk-Negesch gönnte sich während dieser aufregenden Zeit nicht eine Minute Schlaf. Er überflog 28
Protokolle, Messwerte, Prognosen, erstellte auf Basis der neuen Werte eigene Kalkulationen oder gab Kriterien vor, an Hand derer die Positroniken Ereignisverläufe hochrechnen sollten. Stets an seiner Seite befand sich sein engster Mitarbeiter Tok-Jebb, der eigentümlich bedrückt wirkte und dessen Stimmung sich zu verschlechtern schien, je mehr Informationen die Sonden einspeisten. »Deine Vorahnungen werden sich bestätigen«, resümierte er müde. Seines Erachtens bedurfte es keines weiteren Beweises mehr; die Datenflut war erdrückend, die gravitative Instabilität des Sterns fast spürbar. »Ich brauche hundertprozentige Sicherheit!«, entgegnete SukNegesch entschlossen. Er war höchst engagiert bei dieser Sache, zeigte wachen Verstand und wirkte physisch kaum ausgelaugt. »Ein Prozent Ungewissheit und die Regierung wird keinen Finger rühren. Was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht auseinander zu legen.« Nein, das brauchte er sicher nicht. Tok-Jebb nahm die Last der Verantwortung wahr wie ein tonnenschweres Gewicht, das ihn in massiven Grund und Boden stemmen wollte. Wenn sie so kurz vor dem Ziel versagten, würde ihr Volk in absehbarer Zeit nur noch vage Erinnerung sein. Wenn er sich vorstellte, Mitverursacher am Untergang einer ganzen Zivilisation zu sein, dann wollten ihm schier die Sinne schwinden. Eine solche Bürde konnte kein Wesen alleine tragen, ohne daran zugrunde zu gehen. Tok-Jebb zog es vor, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und etwas Schlaf zu suchen. Kurze Zeit später - er hatte sich doch gerade erst in seine Ruhenische begeben und die Augen geschlossen, oder sollte er sich tatsächlich so sehr geirrt haben? - erwachte er unsanft aus traumlosem Schlaf. Ein tiefes Grollen drang aus der Zentrumsspindel des Modulschiffes in die Kammer. Gleich darauf vibrierten die Wände und ein singender Ton wurde hörbar, der sich in höchste Frequenzbereiche hoch schraubte. Wir kehren um!, schoss es Tok-Jebb durch den Kopf. Sie haben
den Magnetkraftantrieb gestartet.
In der Tat wurden die Magnetfeldtriebwerke nur für interstellare Entfernungen eingesetzt. Innerhalb von Planetensystemen erwiesen 29
sie sich aufgrund ihrer Beschleunigungswerte und Kraftemissionen als untauglich; hier wurde auf konventionelle Plasmastrahlantriebe zurückgegriffen. Sofort war Tok-Jebb hellwach, rannte aus seinem Privatzimmer und schnurgerade in die Expressröhre, die ihn auf direktem Weg zum Haupttrakt der wissenschaftlichen Abteilungen führen würde. Noch bevor sich das Schichtgleitschott wieder hinter ihm geschlossen hatte, erreichte er Suk-Negesch. Der Mann saß apathisch vor einer Reihenschaltung von Bildschirmen, die endlose Zahlenwerte ohne Unterbrechung herunterspulten. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Tok-Jebb bei seinem Vorgesetzten, der auch dann noch nicht reagierte, als er den Druck der Hand seines Kollegen schon fast schmerzhaft auf der Schulter spüren musste. Es dauerte noch mehrere Sekunden, bis er zur Besinnung kam. »Was sagen die Auswertungsergebnisse?«, fragte Tok-Jebb weiter, obwohl auch ihm allzu deutlich bewusst war, dass er lediglich zwei und zwei zusammenzuzählen brauchte. Es war jedoch jenes winzige Quäntchen an Unsicherheit, das den irrigen Funken von Hoffnung aufglimmen ließ. Hoffnung, der kosmischen Katastrophe doch noch entkommen zu können. »Ich habe es wieder und wieder durchrechnen lassen. Alle Ergebnisse x-mal überprüft und dann noch mal und noch mal. Mir hätte bei der Komplexität der Aufgabe ein Fehler unterlaufen können...« Er seufzte, als wünschte er sich, nur allein auf Grundlage seiner eigenen Forschungen und Berechnungen entscheiden zu können und genau diesen einen schicksalsträchtigen Fehler begangen zu haben, um wenigstens die letzten Jahre seines Lebens nicht in Todesangst verbringen zu müssen. »Doch die Angaben der Positroniken sind bestechend in ihrer mathematischen Exaktheit.« »Ich hatte den Eindruck, du würdest die Berechnungen wiederholen, weil sich möglicherweise irgendwo eine Unstimmigkeit eingeschlichen hat.« 30
»Nein. Ich bin mir absolut sicher. Ich habe einfach nur da gesessen und ins Leere gestarrt. Habe versucht, in all dem Durcheinander einen Sinn zu erkennen...« »Dann ist das Schiff auf deine Anweisung hin gestartet?« »So ist es. Es gibt hier nichts mehr zu tun. Es gibt keine Fragen mehr und wir haben alle Antworten im Gepäck.« »Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Tok-Jebb bemerkte, dass seine Stimme zitterte. »Oh, mach dir keine Sorgen. Für dich und mich noch sehr viel, Tok. Für Naal jedoch erheblich weniger. Dreihundertfünfzig bis vierhundert Jahre. Dann wird alles sehr schnell gehen.« »Um Himmels willen! Was sollen wir denn jetzt bloß tun?« TokJebb wandte sich zur Seite. Die Hautfalte in seinem Gesicht sonderte ein trübes Sekret ab. »Mir ist da ein Gedanke gekommen«, erwiderte Suk-Negesch findig. »Er ist noch verschwommen und unausgereift, doch wenn er erst klare Formen angenommen hat, dann wirst du begreifen, weshalb wir Erz- und Mineralproben aufgesammelt haben.« * Ich hatte mich zur Meditation in die elterliche Villa zurückgezogen, saß in dem Sessel in der Bibliothek, die mir ein angenehmes Gefühl von Heimat vermittelte. Weit reisten meine Gedanken zurück zu jenem Tag, da mein Vater mir genau an jener Stelle eine Geschichte aus der Vergangenheit der Loge der Höllenjäger erzählt hatte. Die Bilder, die meine Phantasie damals erschaffen hatte, waren noch lebendig in mir; die tragische Geschichte von Aria und Esoch, denen ein grausames Matriarchat das einzige Kind entrissen hatte, brachte immer noch eine Saite in mir zum Klingen. Unbehaglich fühlte ich mich, wenn ich mir ins Gedächtnis rief, dass selbst in dieser Jahrzehntausende zurück liegenden Epoche das Wirken der Wesenheit namens Amalnacron deutlich sichtbar gewesen war. Seine Spur zog sich quer durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Wahrscheinlich hatte er die Saat des Bösen 31
bereits ausgestreut, als der Mensch nicht mehr war, als ein Samenkorn auf Gottes Acker. Meine Meditation entsprach eher einem Brüten. Ich konnte nicht abschalten. Die Gedanken jagten sich, teils zusammenhanglos, verästelten sich unüberschaubar und nahmen mir die innere Ruhe, die für eine Meditation unabdingbar ist. Da hörte ich die Stimme in meinem Kopf.
Darf ich hereinkommen?
Das war Philip. Ich antwortete ihm, ebenfalls telepathisch.
Tu dir keinen Zwang an. Heute ist Tag der offenen Tür.
An und für sich war es eine reine Geste der Höflichkeit, dass Ravenmoor um Einlass bat. Er hätte ohne Mühe einfach das Haus betreten können. Ich für meinen Teil sah allerdings keinerlei Veranlassung, dieses Verhalten in irgendeiner Weise zu honorieren. Durch die verschlossene Tür der Bibliothek hörte ich das Schlurfen in der Vorhalle, mit dem sich mein ehemaliger Mentor in seinem schwerfälligen Körper näherte. Er hatte mich über meinen Gedankenimpuls lokalisiert und drückte mit seinen Strünken vorsichtig die Tür auf. »Machs nicht so spannend und komm rein.« Ich saß mit dem Rücken zum Eingang, das Licht war gedämpft und ich hatte nur kurz den Kopf nach hinten bewegt, um meinen Gast in Augenschein zu nehmen.
Je mehr du dich von deinem Schock erholst, desto streitlustiger wirst du.
»Wundert dich das? Der T'ott'amh-anuq ist gescheitert. Ich habe absolut nichts erreicht, obwohl ich mich für meine neue Aufgabe zerrissen habe. - Und würdest du mir den Gefallen tun und bitte laut sprechen. Das mentale Quatschen macht mich mürbe; ich bekomme Kopfschmerzen davon.« »Du wirst noch viel an dir arbeiten müssen, Richard.« »Bist du jetzt in schulmeisterlicher Punktion unterwegs? Wieso weiß hier jeder was ich tun muss, wie ich mich zu verhalten habe? Große Aufgaben warten auf mich, große Pläne gilt es zu erfüllen. Manchmal wünschte ich, das ganze Universum würde mich mal am Arsch lecken.« 32
Ravenmoor/Sha'am-O gab keine Erwiderung. »Also, im übertragenen Sinn«, fügte ich etwas freundlicher hinzu. War da gerade ein Schmunzeln, das meinen Geist streifte? »Richard, ich betrachte dich als Freund. Und das nicht nur, weil du Edwards Sohn bist. Ich mag dich wirklich. Deshalb musst du mir glauben, dass ich nichts von dir verlange, was dir schaden würde. Ich will dir helfen, deine schwere Aufgabe zu erfüllen. Wenn du dich erst weiterentwickelt hast, wird sie dir auch wesentlich leichter fallen und du wirst das, was dich nun noch belastet, freudig in Angriff nehmen.« Jetzt war ich es, der keinen Kommentar abgab. Ich ließ Philip reden. Sicher auch eine Möglichkeit, mit der fremden Stimme vertraut zu werden. Ohne Eile rückte ich den Sessel herum, so dass ich meinen Gesprächspartner direkt ansehen konnte. »Die Priester wissen ganz genau um deine Schwierigkeiten. Sie wissen aber auch, dass du an deiner Aufgabe wachsen wirst. Dazu bedarf es eines Rucks von deiner Seite. Du hast doch selbst erfahren, wie alles um uns herum in Veränderung begriffen ist. Es gibt keinen Stillstand. Das Festhalten an Vergangenem bremst die Entwicklung. Wer krampfhaft das mühsam Erreichte festhalten - konservieren - will, der wird am Leben scheitern. Gegen Stromschnellen kannst du nicht ankämpfen. Das Leben ist so eine Stromschnelle. Lass dich von ihr mitreißen, anstatt dagegen anzuschwimmen.« »Mustergültig aus der Taschenfibel ›Retter des Weltalls‹ vorgetragen«, konnte ich mir eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. »Du müsstest doch immer noch Mensch genug sein um zu wissen, dass der Abgrund zwischen Theorie und Praxis am schwersten zu überbrücken ist.« »Das habe ich auch nicht vergessen. Ich sehe allerdings keine Möglichkeit, dir dein weiteres Fortkommen zu erleichtern, wenn du dich dagegen sträubst.« »Mir wäre schon sehr damit geholfen, wenn ich etwas Genaues über meinen Status als Höllenjäger erfahren würde. Wie sieht es damit aus? Wann werde ich ein vollwertiges Mitglied, wie immer ihr das auch nennt?« 33
Philip ließ sich ein paar Augenblicke mit der Antwort Zeit. Mir schien es erst, als suchte er die richtigen Worte, um mich weiter hinzuhalten. Gleich darauf wurde mir dann aber klar, dass er nur seinen Ärger niedergerungen hatte und nun mühsam beherrscht zu mir sprach. »Willst du eine Urkunde? Glaubst du, du machst ein HöllenjägerDiplom? Einen Weiterbildungskurs mit Abschlusszeugnis? Ist es das, was dir vorschwebt?« »Warum nicht!«, gab ich scharf zurück. »Es muss doch etwas geben, was den Layshi-Pan von anderen unterscheidet! Etwa so, wie den Maurer vom Maler, den Gärtner vom Frisör...« »Was unterscheidet diese Leute denn?« Ravenmoor klang belustigt. »Sie sind allesamt Menschen! Der Beruf steht nur auf einem Blatt Papier, das gar nichts bedeutet. Der Beruf hat nichts zu tun mit der Qualität des Menschseins. Er ist nur ein weiteres Unterscheidungsmerkmal, das der Mensch sich ausgedacht hat, um seinem Zwang nach immer neuen Spezifikationen zu gehorchen. - Es ist vollkommen sinnlos! Höllenjäger zu sein ist kein Beruf, Richard! Es ist eine Berufung!« Das leuchtete mir zwar irgendwo ein, jedoch fiel mir sofort ein Widerspruch auf. »Sagtest du nicht selber, du hättest dich auf Col'Shan-duur Prüfungen unterziehen müssen? Waren das nicht deine Worte? Wie passt das zusammen?« Es war nicht das erste Mal, dass Philip in meiner Gegenwart ein Seufzen ausstieß, das seine Erklärungsmüdigkeit zum Ausdruck brachte. Es war eben nur das erste Mal in diesem Körper und mit dieser ungewohnten Stimme. »Ich habe zu dir von Prüfungen gesprochen, das ist wahr. Ich habe dir auch erklärt, keine Erinnerung an die Vorgänge zu haben, die sich hier abspielten. Darauf möchte ich momentan aber nicht näher eingehen. Wichtig ist Folgendes: Die Prüfungen der Layshi-Pan sind kein Hindernisparcours. Es gilt nicht, eine bestimmte Punktzahl zu erreichen und Bestzeiten vorzulegen. Es gibt kein Zeitlimit, keine Stoppuhr und keine grauen Eminenzen...« 34
»Ich verstehe nicht...« Meine erste ehrliche, echte Äußerung. Keine versteckte Ironie, kein Zynismus. »Das glaube ich dir gerne. Du hast ja nicht einmal bemerkt, dass deine Prüfungen schon lange begonnen haben. Seit deiner Geburt bereitest du dich auf deine Aufgabe vor. Alles, was du tust und je getan hast war allein auf diesen einen Zweck ausgerichtet. Die Prüfung hat keinen Anfang und kein Ende. So, wie du unvorbereitet ins Leben entlassen wirst, um das Leben zu erlernen. Und erst, wenn dein Leben vorüber ist, hast du das Leben selbst verstanden.« »Das heißt - ich bin ein Höllenjäger...?« »Das bist du. Das warst du schon immer.« Sha'am-O/Ravenmoor musste wohl mein ungläubiges Gesicht gesehen haben, denn süffisant fügte er hinzu: »Wenn du dein Höllenjäger-Dasein gleichsetzt mit der Erlangung bestimmter... nun, sagen wir: Fertigkeiten, so wirst du diese im Laufe deiner Tätigkeit noch erlernen. Das verspreche ich dir.« Er spielte auf die Spinnenkrabben an. Ich erinnerte mich deutlich an den Angriff der Viecher, als es uns durch die entartete Siegelkammer in eine fremde Dimension verschlagen hatte. Philip hatte sie über Mudra-Techniken abwehren können. Ebenso die aggressiven Schlinggewächse, die uns die Rückkehr zur Erde hatten verwehren wollen. Ja, mein kurzer Freund hatte Recht: genau so etwas stellte ich mir unter meinem Höllenjäger-Dasein vor. Na ja, den Zahn hatte er mir jetzt gezogen. Ich würde mich noch eine Weile in Geduld üben müssen. War ich schließlich schon gewohnt. »Geht's dir jetzt besser?« Aus Sha'am-Os Haarkranz neigten sich einige Strähnen mir zu. »Schwer zu sagen«, legte ich mich nicht fest. »Deine Erläuterung war zwar erschöpfend, doch auch unbefriedigend. Ich hatte mir halt die Prozedur ganz anders vorgestellt.« »Du hattest Erwartungen, die nicht erfüllt wurden. Richte demnach dein Streben nicht auf die Zukunft aus, sondern auf die Gegenwart. Sie ist als einzige der drei bekannten Zeitformen permanent vorhanden. Nur sie kannst du erleben. Vergangenheit und Zukunft brauchen dich nicht zu kümmern, auch wenn du ihrer bewusst sein solltest.« 35
»Da ist noch etwas anderes, mit dem ich nicht klar komme«, begann ich die Verarbeitung eines neuerlichen Problempunkts. »Du meinst das Seelenimplantat«, las Philip meine Gedanken. »Die Priester haben dich nach der Vorführung über ihre weiteren Planungen unterrichtet. Deine Seele wird einem verstorbenen Abd-Naal eingepflanzt, während dein eigener Körper auf Col'Shan-duur zurückbleibt und in Stase gehalten wird.« »So haben sie es mir erklärt.« »Womit genau kommst du dabei nicht klar?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Hast du 'ne Macke?«, platzte es aus mir heraus. »Die pflücken mich auseinander, packen mich irgendwo rein, schnippeln mich später wieder raus und setzen die Einzelteile dann zusammen!« Ich riss die Augen weit auf und stierte den Zwerg vor mir an. »Siehst du nicht ebenfalls den Hauch eines Kritikansatzes bei dieser Methode?« Da war er zurück, mein innig verehrter Sarkasmus. Nein, hallte es trocken zwischen meinen Schläfen wider. Die Im-
plantation birgt keine Risiken. Mir sind zumindest keine bekannt.
»Oh, da bin ich wirklich beruhigt. Wie konnte ich bloß annehmen, dass ihr mich vorsätzlich in Gefahr bringt, wo ihr alle es doch so fürchterlich gut mit mir meint!« »Spare deinen Spott und konzentriere dich auf deine Aufgabe. Du wolltest Prüfungen? Hier sind sie! Worüber regst du dich eigentlich auf?« Wieder eine Sache, die ich in dieser Form nicht erwartet hatte. Ich musste wohl erst noch die Lektion verinnerlichen, mich nicht auf zukünftige Ereignisse zu fixieren und dafür die Dinge im Auge halten, die direkt vor mir lagen. - Lebendige Gegenwart, du hast einen neuen Fan. »Dann lass es uns hinter uns bringen, bevor mich der Schneid verlässt.« Meine Stimme klang fest und sicher. Erstaunlich, wie sie genau das Gegenteil von dem ausdrückte, was gerade in mir vorging. »Das ist mal ein Wort! Die Priester werden deine vorzeitige Besinnung sicher begrüßen.« »Den Begeisterungstaumel kann ich mir lebhaft vorstellen«, witzelte ich. 36
Wir verließen die Bibliothek, dann das Haus. Einträchtig gingen wir nebeneinander. Laurel und Hardy hätten bei unserem Anblick ihre helle Freude gehabt. Für mich war es ähnlich dem Gang zum Schafott. Nein, nicht übertreiben. - Es kam der Unruhe gleich, die jeden vor einem chirurgischen Eingriff erfasst, den er erstmals über sich ergehen lassen musste. Wie fühlte sich eine Seelenimplantation an? Das führte mich bereits zur nächsten schwerwiegenden Frage: Wie würde ich mich danach zurechtfinden - ein halbes Universum entfernt von allem und jedem, den ich kannte? Meine Nackenhaare stellten sich auf. Eisige Kälte durchströmte meinen Körper. Ganz von selbst richteten sich meine Gedanken auf einen Punkt der nahen Zukunft, an dem alles schief gegangen war, was auch nur entfernt schief gehen konnte. Es war mir nicht möglich, den Kopf davon frei zu bekommen. Und daran sollte sich auch erst mal nichts ändern. *
Vergangenheit - Der Konflikt Mit bloßem Auge war das Schiff der Gesandtschaft von Dschondoii im Orbit um Naal zu erkennen, eine gigantische Stahlkonstruktion, ein unförmiges Monstrum, das in keiner Weise den Aufwand rechtfertigte, lediglich zwei Diplomaten über eine Strecke von knapp acht Lichtjahren zu transportieren. Pug-Orpp, höchster gewählter Regierungsvertreter der Abd-Naal, stand am Panoramafenster im obersten Stockwerk eines der drei himmelhohen Gebäude, die den triangulären, administrativen Turmkomplex bildeten und blickte nicht ohne Sorge zu diesem zweifelhaften Monument außerhalb der Planetenatmosphäre. Lange ist es her, dass die Oloiden uns einen Besuch abstatteten, sinnierte er. Bisher haben wir uns eigenständig um unsere Belange
gekümmert. Das wird sich wohl künftig ändern.
Es lag nicht lange zurück, das Dschondoii um einen Gesprächstermin gebeten und sogar angeboten hatte, ranghohe Volksvertreter 37
nach Naal zu entsenden. Die Abd-Naal hatten dankend eingewilligt und jetzt, wenige Tage nach Beschlussfassung, kreuzte dieser Stahlgigant um Kanddarrs Zentrumswelt. Setzen die Oloiden von vornherein auf Abschreckung?, führte PugOrpp seine Gedankengänge fort. Ein Volk, das derart innig den Aller-
höchsten verehrt - warum braucht es Pauken und Trompeten, um auf sich aufmerksam zu machen? Predigen sie denn nicht gerade Bescheidenheit und Aufopferung dem Herrn gegenüber? Der Regierende straffte sich. Da kann man mal sehen, wie die Interessenschwerpunkte sich plötzlich verlagern, wenn... »Entschuldige die Störung«, wurde Pug-Orpp in seinen Überlegungen unterbrochen. Die Stimme kam vom anderen Ende des kreisförmigen Saales. Sie gehörte dem 1. Staatssekretär. »Wirst du zum Empfang auf dem Raumhafen erscheinen?« »Selbstverständlich, Vankk. Ich war einen Moment in Gedanken...« »Deine Fähre hat bereits angedockt.« »Dann wollen wir keine weitere Zeit verschwenden.« Pug-Orpp drehte sich auf dem Absatz herum. »Wenn der Ausschleusungsvorgang der Oloiden ebenso schnell wie ihr Transportschiff groß ist, bleibt uns sowieso nicht allzu viel Zeit.« Der Flug von den Regierungstürmen zum Space Port dauerte nur wenige Minuten. Trotzdem musste sich Pug-Orpp beeilen, wenn er rechtzeitig zum Empfang anwesend sein wollte. Der erste Kontakt nach langen Jahren sollte nicht von der Unhöflichkeit einer Verspätung überschattet werden. Durch die getönte Rundum-Verglasung konnte Pug-Orpp das Oloiden-Shuttle anfliegen sehen. Der massige, kegelförmige Leib erstrahlte im hellen Glanz der tief stehenden Sonne. An den Planken waren gut sichtbar Schriftzeichen oder Symbole angebracht; Pug-Orpp hatte sich nie mit der Sprache dieser Rasse beschäftigt und konnte daher den Sinn der Lettern nicht erfassen.
Heißt bestimmt so viel wie ›Göttliche Himmelfahrt‹ oder ›Lobpreisung des Herrn‹, scherzte der Regierungsvertreter vor sich hin, be-
dauerte aber schon im nächsten Moment seine unausgesprochenen 38
Gedanken; er hatte kein Recht, andere Denkweisen zu verhöhnen. Aufs hohe Ross hatte er sich zeitlebens nicht setzen wollen. Pug-Orpps Fähre flog bis zur äußersten Abgrenzung. Bisher hatte er die Barkasse der Oloiden nur aus der Entfernung gesehen, doch je näher es dem Landeplatz kam, desto mehr zeigte sich der Regierende beeindruckt. Dieser Transporter war ein Koloss, der einen Durchmesser von fünfzig und mehr Metern haben mochte. Das schwerfällig wirkende Boot drehte sich im Sinkflug um neunzig Grad, so dass seine Kegelspitze in den Himmel wies. Die Gegenschubtriebwerke ließen es langsam und gemächlich auf der Spezial-Panzerung des Landefeldes aufsetzen. Das Donnergrollen der verdrängten Luftmassen mischte sich mit dem Getöse der Triebwerke zu einem infernalischen Crescendo. Als das Schiff zum Stillstand gekommen war, beruhigte die Atmosphäre sich allmählich, liefen die Triebwerksgeneratoren leiernd aus und es kehrte angenehme Stille ein. An der Unterseite des Kegelraumers, der in etwa dreißig Metern Höhe über dem Erdboden von Gravitationsprojektoren ausbalanciert wurde, öffnete sich ein Schott, durch das zwei winzige Gestalten traten und auf einem blassblauen Strahl nach unten getragen wurden. PugOrpp fuhr ihnen in Begleitung seiner Ordonnanz auf einer Gleiterplattform entgegen, um den hohen Besuch würdig in Empfang zu nehmen. Jeder Meter, den die Plattform zurücklegte, offenbarte neue Details des Diplomatenduos von Dschondoii. Prunkvolle Gewänder aus schillernden Stoffen, die in mehreren Lagen übereinander angeordnet waren, eigenwillige funkelnde Zepter und ausladende, nach hinten gewölbte Kopfbedeckungen - ganz so, wie Pug-Orpp es sich vorgestellt hatte. Er wäre vermutlich enttäuscht gewesen, wenn es sich anders verhalten hätte. Die Oloiden waren gerade aus dem Transportstrahl herausgetreten, da erreichte sie auch schon die Gleiterplattform. »Im Namen des Volkes von Naal, meinen Repräsentanten, den Regierungsräten und mir selbst heiße ich euch auf unserer wunderschönen Welt willkommen.« Pug-Orpp wartete, bis das Übersetzungsmodul schwieg und bedeutete den Ankömmlingen, die Plattform zu besteigen. 39
»Bist du alleine gekommen?«, sprang der Translator wieder an, dass Pug-Orpp im ersten Moment zusammenzuckte, obwohl er mit einer Erwiderung hatte rechnen müssen. »Wo sind die anderen deiner Regierung?« Der Angesprochene sammelte sich wieder. Als die ein gutes Stück kleineren, schwarzhäutigen Oloiden aufgestiegen waren, entgegnete er bedauernd: »Es waren nicht alle Mitglieder verfügbar und für andere wichtige Aufgaben vorgesehen. Aber ihr werdet sie alle kennen lernen und mit ihnen sprechen können.« »Gut«, folgte es einsilbig. Sie wirken ernst und angespannt, machte Pug-Orpp eine persönliche Notiz in seinem Gedächtnis. Ihre Anwesenheit wird nicht allein
begleitet vom Austausch üblicher Formalitäten und Freundlichkeiten. Sie haben ein dringendes Anliegen. Nicht mehr lange und sie werden mit der Sprache herausrücken. Genau vor diesem Augenblick ist mir bange. *
Die Quartiere der Oloiden-Delegation befanden sich im selben Turm wie der vorbereitete Besprechungssaal, nur einige Stockwerke tiefer gelegen. Zusätzlich zu den eingeplanten Räumlichkeiten mussten sechs weitere bereitgestellt werden, da die Diplomaten ihren halben Hofstaat mitgebracht hatten. So jedenfalls erschien es Pug-Orpp, der annähernd fassungslos den immensen Aufwand zur Kenntnis nahm, den die Gesandten Dschondoiis für ihren Kurzaufenthalt betrieben. Wieso wollen sie auf diese profane Art Beachtung finden?, stutzte Pug-Orpp und kehrte augenblicklich den erfahrenen, politischen Taktiker heraus. Das Begleitpersonal erfüllt keinerlei Funktion, ist nur be-
langlose Staffage. Nirgendwo Militär oder Schutzbeauftragte. Will man uns etwas vorgaukeln und von den wahren Gegebenheiten ablenken? Will man uns in dem Glauben bestärken, es lediglich mit einer unorganisierten, einfältigen Religionsgemeinschaft zu tun zu haben? Pug-
Orpp trat einen Schritt von der Galerie zurück, von der aus er einen umfassenden Ausblick auf die Stadt, das Land und den Raumhafen 40
hatte. Unablässig verkehrten kleinere Lastengleiter zwischen den Regierungstürmen und dem Oloiden-Kreuzer.
Ich möchte gar nicht wissen, was unsere schwarzen Gäste da hin und her schleppen. Ehrlich gesagt sähe ich sie lieber heute als morgen wieder abreisen. Doch die Verhandlungen sind zu wichtig. Kurz darauf betrat Pug-Orpp den Sitzungssaal. Dieser war nicht sonderlich groß und bot höchstens achtzig Leuten Platz, was mehr als ausreichend war. Einige Regierungsräte waren bereits anwesend und grüßten. In der Mitte der kreisförmig angeordneten Sitzreihen befand sich ein erhöhtes Podest, das dem Sitzungsredner vorbehalten war. Pug-Orpp wollte dort eine kurze Begrüßungsrede halten und machte sich mit der Steuerung vertraut, falls es erforderlich sein sollte, das Podest an den Reihen der versammelten Parlamentarier vorbeizulenken. Er vergaß im Anschluss auch nicht, selber einen kritischen Blick in die Gästeloge zu werfen, um auszuschließen, durch einen dummen Fauxpas oder ein Versäumnis den Unmut der Diplomaten zu provozieren. Die Herrschaften aus Dschondoii waren überpünktlich. Die AbdNaal nahmen ohne Groll zur Kenntnis, dass die Oloiden es vorzogen, selbst auf Gast-Terrain nach den eigenen Regeln zu spielen; eine zügige Abwicklung der Diskussionspunkte hatte allem Anschein nach oberste Priorität. Pug-Orpp hieß die weit gereisten Delegierten nochmals und in aller Öffentlichkeit willkommen, garnierte seine Worte mit gefälligen Phrasen und stellte die wichtigsten Personen der Naal-Regierung vor. Dann wollte er seiner eigenen Neugier keinen Aufschub mehr bewilligen und bat die beiden Oloiden um eine flüchtige Vorstellung ihrer Person und - wesentlich wichtiger - den Grund ihrer Anreise. Von ihrer Loge aus konnten die Oloiden frei sprechen und wurden in jedem Winkel des Saales in gleicher Lautstärke gehört. »Mein Name ist Ont, der meines Begleiters Bar.« Die Mimik in dem schwarzen Gesicht war nicht zu deuten, die physiognomischen Merkmale eines Oloiden kaum bekannt. Die Ausdruckslosigkeit, die PugOrpp konstatierte, mochte einem Oloiden als wahrer Schwall an Emo41
tionen erscheinen. »Wir sind Repräsentanten des höchsten Würdenträgers Dschondoiis.« Die Abd-Naal sparten sich die Frage, warum gerade diese Person nicht anwesend war, schließlich wollte man die Gäste nicht in Verlegenheit bringen.
Vielleicht geht ihrem Besuch doch nicht die hohe politische Brisanz voraus, die ich anfangs vermutet habe, gab sich Pug-Orpp nachdenklich einer heimlichen Vermutung hin. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass das Volk von Naal seit zwei Dekaden erhebliche Anstrengungen unternimmt, um dem Gravitationskollaps von Ogg-Virr III entgegenzuwirken.« Das ist euch zu Ohren gekommen?, grübelte Pug-Orpp, der das Podest verlassen und seinen Platz im Rund eingenommen hatte. Wie
groß sind eure Ohren, dass ihr über Lichtjahre hinweg horchen könnt?
Es deutete alles darauf hin, dass die Aktivitäten der Abd-Naal ausspioniert worden waren. Der Ernst der Lage steigerte sich. Es blieb abzuwarten, was die Oloiden als Nächstes präsentierten. »Ihr versucht, den Ausbruch der Supernova zu verhindern. Ihr versucht, das Werk des Allerhöchsten, des Schöpfers von Himmel und Erde, zu vereiteln!« Das war es also! Die Bombe war geplatzt! Pug-Orpp konnte nicht recht glauben, was er da gerade gehört hatte. Und als Ont nicht erkennen ließ, dass er weiter zu sprechen gedachte, ergriff der Abd-Naal das Wort. »Ich verstehe euren Kritikpunkt nicht. Es liegt uns fern, dem göttlichen Willen entgegen zu handeln. Wir sind nur bestrebt, den Erhalt unserer Rasse zu sichern. Ist das so falsch...?« »Es widerspricht den kosmischen Gesetzen!«, erhielt er barsch zur Antwort. Ihr folgte ein allgemeines Raunen. Ihr meint eure Gesetze, sagte Pug-Orpp zu sich selbst, dann fuhr er fort: »Seht ihr denn nicht die Notwendigkeit? Euer Volk ist genauso zum Untergang verurteilt. Die Explosion wird alles im Umkreis Dutzender Lichtjahre vernichten. Das könnt ihr unmöglich ignorieren!« 42
»Wir ignorieren nicht die Fakten, wir akzeptieren sie. Wenn es dem Herrn gefällt, uns aus seinem Schöpfungswerk zu entfernen, dann wollen wir freudig seinen Willen erfüllen.« »Das ist doch Irrsinn!«, ließ sich Pug-Orpp zu einer aus eigenen Reihen mit Beifall bedachten vorschnellen Äußerung hinreißen. »Wir sind uns ebenfalls des Allmächtigen bewusst, doch reicht unsere Hingabe nicht bis zur völligen Selbstaufgabe! Ich bitte, diesen unseren Standpunkt zu berücksichtigen!« »Für unser Volk ist euer Wollen ohne Belang«, betonte diesmal Bar und kennzeichnete erstmals die scharfe Grenze zwischen Oloiden und Abd-Naal. »Ihr könnt unser Angebot annehmen oder es ausschlagen.« »Angebot?«, lachte Pug-Orpp künstlich. »Welches Angebot? Gemeinsam mit euch auf das Ende zu warten?« »Gemeinsam mit uns den Willen Gottes zu erfüllen«, korrigierten Ont und Bar wie aus einem Mund. »Diese Option ist inakzeptabel!«, erwiderte der Regierende hart und brauchte bei dieser Entscheidung nicht die Zustimmung der Ratsmitglieder einzuholen. »Wir verstehen sehr wohl eure Haltung und respektieren sie. Es ist jedoch absolut erforderlich, dass ihr auch für uns Verständnis aufbringt. Das Kanddarr-System braucht unseren Schutz und diesen werden wir ihm nicht verweigern!« »Wir bedauern zutiefst eure Uneinsichtigkeit«, stellte Ont klar. »Es ist euch sicher klar, dass dieses Verhalten Konsequenzen nach sich zieht.« »Willst du uns drohen?«, fragte Pug-Orpp lauernd, der betroffen die Starrsinnigkeit und den fundamentalen Fanatismus der Oloiden registrierte. Er hätte eine derartige Argumentationskette nie für möglich gehalten. Sie war bestechend in ihrer Einfachheit und gerade deshalb war sie auch enorm gefährlich. »Es wurde mir vom höchsten Würdenträger gestattet, eine Warnung auszusprechen«, stellte der Diplomat richtig. »Nicht mehr, aber auch nicht weniger.« Es folgten einige Momente Pause, in denen sich das Gemurmel und laute Flüstern ausweitete. »Ich denke, ich sollte nun wieder nach Dschondoii zurückkehren und euch Zeit zum Nach43
denken einräumen.« Es sollten versöhnliche Worte sein, eine Art Friedensgeste. Leider zeigte sie nicht die erwartete Wirkung. »Es gibt in dieser Situation für die Abd-Naal nichts weiter zu überlegen! Unsere Entscheidung steht fest! Unser Glauben mag in seiner Ausprägung dem euren nicht standhalten zu können, unser Selbsterhaltungstrieb gleicht diese Unzulänglichkeit allerdings mehr als aus. Berichte dies auf deiner Welt. Und gebt uns Kenntnis von eurer Entscheidung.« Ohne Hast erhoben sich die Delegierten und wandten sich grußlos zum Gehen. Ont blieb noch einmal stehen und wandte sich Pug-Orpp zu, der ebenfalls aufgestanden war und außer sich vor Verblüffung, Enttäuschung und Entrüstung den entschwindenden Gästen nachblickte. »Ihr werdet nicht lange warten müssen«, sagte Ont vieldeutig. * Voller Stolz wanderten die Augen Suk-Negeschs von der Aussichtskanzel des Personengleiters über die kilometerlangen Fabrikanlagen des kultivierten Außenpostens Solonn. Was die Abd-Naal in den vergangenen zwanzig Jahren geschaffen hatten, mutete gegenwärtig als beispiellos an und rang Wissenschaftlern, Ingenieuren und Politikern gleichermaßen höchsten Respekt ab. Anerkennend klopfte er seinem Uraltmitarbeiter Tok-Jebb auf die Schulter. »Terraforming vom Feinsten. Sattes Grün, eine reiche Atmosphäre und dazwischen eine Konstruktionsstätte, deren Fertigstellung ich nie für möglich gehalten hätte. Tok, wir haben alles erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Ich blicke wieder optimistisch in die Zukunft.« Suk-Negesch und Tok-Jebb waren zu Fossilien der wissenschaftlichen Abteilung gealtert, doch stets mit gesundem Enthusiasmus bei der Arbeit, die allseits geschätzt und anerkannt wurde. »Bereiten dir die Oloiden keine Sorgen?«, wunderte sich Tok-Jebb. »Ihr Fundamentalismus erschreckt mich.« 44
»Lass dich davon nicht stören. Religiöser Wahn hat noch niemanden weiter gebracht.« »Aber er hat schon vieles zerstört«, wandte Tok-Jebb ein, der bemerkte, dass der greise Suk-Negesch mehr Augen für die faszinierende Umgebung hatte, als Ohren zum Zuhören. Aus dem tiefen Innern der Gigant-Fabrik schwebte langsam und kontrolliert ein Generator an die Oberfläche Solonns, der die Ausmaße einer Kleinstadt hatte. Nicht nur Hunderttausende Abd-Naal, sondern auch Millionen Fertigungsroboter hatten bei der Herstellung dieser Turbine mitgewirkt. »Unsere Messungen und Bodenproben damals haben sich bezahlt gemacht«, schwärmte Suk-Negesch. Seine Fingerspitze deutete zitternd auf das Maschinenteil, das nun ein gutes Stück aus dem Produktionsschacht herausragte und die komplette Anlage verdunkelte. »Die Erzvorkommen dieses und der umliegenden Systeme bewegen sich in astronomischen Bereichen. Wenn die erste Materiezapfanlage erst ihre Arbeit aufgenommen hat, werden wir über kurz oder lang den Verbrennungsmechanismus von Ogg-Virr III regulieren können. Die Gravitationskomponenten werden sich angleichen und die Katastrophe wird nicht stattfinden.« »Du wusstest von Anfang an, wofür die Eisenerze einmal wichtig sein würden, nicht wahr?«, fragte Tok-Jebb lächelnd. »Dieser aberwitzige Plan war schon immer da oben in deinem Kopf.« Natürlich, stimmte ihm Suk-Negesch unhörbar zu. Seit ich das Un-
gleichgewicht der Kernverschmelzung analysierte. Der Druck nach außen würde immer weiter wachsen bis zum großen Knall. Der nach innen gerichtete Druck lässt den Elektronen keinen Freiraum mehr; sie zerstören sich selbst. Wenn wir die Sternsubstanz in der von mir errechneten Größenordnung abzapfen, können die Kernfusionsreaktionen eingedämmt werden. Ja, das war seine Theorie. Ihre Bestätigung würde er jedoch nicht mehr erleben. Die letzte Zapfanlage würde erst in über zweihundert Jahren ihren Dienst aufnehmen; erst dann würden alle Maschinen gemeinsam ein umfassendes Netz um Ogg-Virr III bildeten. Gebannt beobachtete Suk-Negesch, wie ein Pulk von Lastenkähnen sich um den Generator gruppierte. Das Gravitations-Umkehrfeld 45
des Planetoiden Solonn erleichterte den Schleppern die Arbeit, unter Zuhilfenahme ihrer Traktorstrahlprojektoren die Maschine zur Teleportstation zu transportieren. Diese Station war ein Ringsegment von tausend Kilometern Durchmesser, das den Generator in Nullzeit zur nächsten Empfangsstelle transmittierte.
Weiter geht die Reise zu den Konstruktionsmonden im System Trem, vervollständigte Suk-Negesch und spürte ein Gefühl von Erha-
benheit in sich aufkommen. Wehmütig gedachte er der großen Taten und Erfolge, deren Zeuge er leider nicht mehr werden würde, die ihn trotz allem mit Stolz und Ehrfurcht vor der überwältigenden Leistung seines Volkes erfüllten. Er verlor nicht einen einzigen Gedanken an die fatalistischen Oloiden... * Über dem triangulären Turmkomplex braute sich ein Gewitter zusammen. Dunkle Wolken schichteten sich auf, quollen ineinander wie schwarze Tinte, die in eine klare Flüssigkeit geschüttet wurde. Der Wind riss sie mit sich, um die zerstobenen Schleier an anderer Stelle neu aufzubauen. Kalter Regen fiel in dicken Tropfen herab, während es am Horizont wetterleuchtete; verhaltenes Donnergrollen zog auf die Regierungsgebäude zu. Wenige Monate war es her, dass die Delegation der Oloiden Naal aufgesucht hatte. Pug-Orpp und die Ratsmitglieder hatten lange auf die Entscheidung der Schwarzhäutigen gewartet und irgendwann sogar die Hoffnung geäußert, die Angelegenheit würde im Sande verlaufen. Das hatte sie nicht getan. Mehr denn je gewann Pug-Orpp, der alles andere als ein Schwarzseher und positiv eingestellt war, die Erkenntnis, dass die neuerliche Landung eines Diplomatenschiffes an einem Tag wie diesem nur ein schlechtes Omen sein konnte. Er verzichtete darauf, die Botschafter in Empfang zu nehmen und begab sich frühzeitig in den Sitzungssaal. 46
Wieder waren es Ont und Bar, die nach geraumer Zeit den Saal betraten. Pug-Orpp vermutete, dass der höchste Würdenträger bei den bevorstehenden kritischen Verhandlungen auf bekannte Gesichter setzte. Doch wer, außer einem Oloiden, konnte die schwarzen Gesichter schon voneinander unterscheiden? Die Besucher nahmen in der für sie vorgesehenen Loge Platz. Keine der beiden Parteien hielt sich mit Floskeln und Schönrederei auf; es ging direkt zur Sache. »Eure Bemühungen, die Vorsehung zu umlaufen, sind ungebrochen«, begann Ont. »Wir gehen daher davon aus, dass alle weiteren Versuche, euch umzustimmen, fruchtlos sind.« »Woher auch immer ihr eure Informationen haben mögt«, antwortete Pug-Orpp, »liegen uns das Wohl und der Erhalt unserer Rasse weiterhin am Herzen. Daher muss ich mit Ja antworten.« Die Oloiden zeigten nicht im Mindesten Überraschung oder Empörung, sofern ein Abd-Naal eine in diese Richtung geartete Reaktion überhaupt als solche hätte identifizieren können. »Seid ihr lediglich von Dschondoii aufgebrochen, um bestätigt zu bekommen, was ihr sowieso schon wisst? Da hätten wir sicherlich eine weniger formelle Lösung gefunden.« »Es ist nicht die Art unseres Volkes, gravierende Beschlüsse per Funk weiterzugeben. Wir betrachten die persönliche Begegnung als ehrlicher und respektvoller. Unsere Anwesenheit« - er schloss seinen Begleiter Bar in die Geste ein - »drückt unsere Achtung vor den AbdNaal aus.« Jetzt bin ich aber platt, zeigte sich Pug-Orpp erstaunt. Was mögen
die zwei noch in ihrer Trickkiste haben?
»Ihr beschämt uns und macht uns zur selben Zeit stolz, euch empfangen zu dürfen«, sagte er demütig - und voreilig! Denn Ont hatte den wichtigsten Teil seiner Ansprache noch offen gelassen. »Es ist unsere traurige Pflicht«, setzte Ont an, »den höchsten Würdenträger darüber in Kenntnis zu setzen, dass sein Entgegenkommen missbraucht wurde und die Verhandlungen gescheitert sind.« »Was heißt denn ›Entgegenkommen missbraucht‹?«, wurde PugOrpp laut. »Es wird doch wohl...« 47
Ont schnitt ihm das Wort ab. »Wir hätten euch nicht aufsuchen sollen, doch es fehlte uns die Einsicht über den Starrsinn der Abd-Naal. Der höchste Würdenträger wollte von Beginn an auf jegliche Kommunikation verzichten, doch eine kleine Gruppe seiner nächsten Repräsentanten vertraute auf euren guten Willen. Auch dieses Vertrauen wurde bitter enttäuscht.« »Ihr verlangt, nach euren Maximen zu leben und unsere Kultur aufzugeben!«, erregte sich Pug-Orpp. Das Raunen in den Reihen schwoll an. »Ihr fordert nur, wollt unsere Unterwerfung und werft uns zum guten Schluss noch Starrsinn vor! Dieses Verhalten ist ungeheuerlich!« Der Regierende konnte nicht mehr an sich halten. Der religiöse Wahn der Oloiden brachte ihn in Rage. »Ihr seid nicht nur starrsinnig«, bemerkte Ont gelassen, »ihr seid verblendet. Worte bringen uns an diesem Punkt nicht weiter.« »Willst du etwa eine militärische Lösung vom Zaun brechen?!« »Wir werden Mittel und Wege finden, der Vorsehung zu ihrem Recht zu verhelfen.« »Bist du der Anwalt Gottes, dass du dich in seine Belange einmischst?« »Er hat uns erwählt, als seine Werkzeuge seinen Willen durchzusetzen.« Ont hat Recht, musste Pug-Orpp zugeben. Worte bringen uns
nicht weiter. Vielleicht ist es ja auch Vorsehung, dass wir nicht dieselbe Sprache sprechen und uns lediglich über technische Hilfsmittel verständigen können.
Weitaus gefasster wandte sich der Abd-Naal an die dschondoiische Delegation: »Geht mit Gott und kehrt in eure Heimat zurück. Wir wissen nicht, wie unsere gemeinsame Zukunft aussieht und es bleibt uns nur zu hoffen, dass es eine friedliche ist, in der wir freundschaftlich koexistieren können.« Sein Innerstes war aufgewühlt und kurz nach Ont und Bar verließ auch Pug-Orpp den Sitzungssaal, um seine Privaträume aufzusuchen. Er brauchte jetzt Ruhe, eventuell auch Schlaf. Danach ließ sich alles wesentlich leichter angehen. 48
Ein gewaltiger Donnerschlag riss den Begierenden nur unwesentlich später aus seinem Dämmerschlaf. Anfangs noch überzeugt, vom Gewitter aufgeschreckt worden zu sein, revidierte er diese Ansicht, als auf dem Korridor vor seiner Tür hektische Betriebsamkeit aufkam. Sofort war er auf dem Flur und hielt einen vorbei rennenden Mann fest. »Was ist passiert?«, fragte Pug-Orpp überspannt. »Wozu die Aufregung?« »Die Oloiden!«, keuchte der Mann, der die Uniform des Sicherheitsdienstes trug. »Ihr Shuttle ist explodiert! Es wurde abgeschossen!« * Pug-Orpp hatte umgehend eine Krisensitzung einberufen. Während all des Redens und Lamentierens war unablässig versucht worden, das Mutterschiff der Oloiden anzufunken. Vergeblich! Nach dem Anschlag hatte es beigedreht und war verschwunden. Es herrschte einhelliger Konsens darüber, was die Besatzung zu Hause berichten würde. Die Situation musste eskalieren - und die amtierende Regierung trug maßgeblich die Schuld daran! Denn bereits nach dem ersten Besuch der Oloiden und Bekannt werden ihrer Bedingungen hatte es bestätigte Gerüchte über die Bildung einer Kontra-Regierung gegeben. Diese revolutionäre Bewegung mit chauvinistischen Grundzügen war nicht weiter beachtet worden. Genau dieser Umstand hatte sich nun gerächt! Es galt als bewiesene Tatsache, dass die Kontras das feige Attentat zu verantworten hatten. Die außenpolitischen Konsequenzen lagen fern jeder Einschätzung. Stunden des Debattierens hatten Pug-Orpp schließlich ermattet seine Privaträume aufsuchen lassen. In seinem Kopf war ein gewaltiges Durcheinander; Logik und Intuition führten ein kräftezehrendes Tauziehen miteinander. Der Regierende konnte und wollte sich nicht mehr mit der Angelegenheit befassen. Die Beratschlagung war an einem Punkt angelangt, der nur noch stark emotional geprägt war und kühlen Sachverstand schmerzlich vermissen ließ. 49
Es wird Krieg geben!, bohrte sich die Erkenntnis in sein Denken
und nistete sich darin ein. Als er förmlich in seine Ruhenische fiel, weil er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, dämmerte es PugOrpp, das die Vorsehung vielleicht wirklich nicht zu überlisten war. Die Bedrohung durch die Supernova würden sie abwenden können - und damit gleichzeitig eine andere Art des Untergangs heraufbeschwören. Der Krieg gegen die Oloiden würde das Leid des Volkes von Naal Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, in die Länge ziehen. War es da nicht vernünftiger, einen schnellen und gnädigen Tod durch einen explodierenden Stern vorzuziehen? Die Frage würde er sich heute nicht mehr beantworten können, denn übergangslos glitt er hinüber in tiefen Schlaf. Ruhe hingegen sollte er fortan keine mehr finden. * Mir schlotterten die Knie. Ich gab das nicht gerne zu, zumal ich wusste, dass meine Gedanken und Ängste wie ein aufgeschlagenes Buch vor Ravenmoor lagen. »Ich kenne mich hier nicht aus«, wandte ich ein und sagte es an sich nur, um die unangenehme Stille zwischen mir und meinem kindlichen Begleiter zu brechen. Seit der Höllenjäger sich in dem Körper des Priesterjungen befand, empfand ich unerklärliche Ressentiments für ihn. »Gon'O'locc-uur wird uns führen«, erklärte Philip mir wortkarg. »Mich führt er nicht!« »Es reicht, wenn ich seine Anweisungen entgegennehme.« »Hast du das gehört?«, rief ich nach dem ›Schrein‹, so hatte er sich mir damals vorgestellt. Ich hatte ihn in seiner Eigenschaft als genügsamen Großvater kennen gelernt, was mir anfangs ziemlich auf die Nerven gegangen war, ihm jedoch in letzter Instanz die nötigen Sympathiepunkte bei mir eingebracht hatte. »Aber mein lieber junger Freund«, tönte es wohlwollend von überall her, »du wirst dich doch jetzt nicht fürchten.« 50
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Ich könnte natürlich noch kotzen...« »Bitte, bitte, was sind denn das für Töne«, ließ der Schrein mich sanfte Kritik spüren. »Dir will doch niemand ein Leid zufügen. Deine Zeit ist nun mal gekommen. Du solltest die Hilfe, die du geben kannst, nicht verweigern.« Ich sah über die Schulter zurück und wusste doch genau, dass die Villa bereits außer Sichtweite war. Sie war nicht nur ein Ort, an den ich mich gerne zurückzog, sondern auch ein Ankerpunkt für einen Entwurzelten wie mich. Ich brauchte ein gewisses Maß an Geborgenheit und das Einzige, was Ravenmoor/Sha'am-O nun tat, war, mich aus dieser Geborgenheit herauszureißen, ins Niemandsland zu führen und dann ins All zu schleudern. Konnte man es mir verdenken, dass ich ihm insgeheim Schuppen auf seinen Haarkranz wünschte...? »Gon'O'locc-uur hat alles im Griff«, fand Philip fade Worte, mich zu beruhigen. »Dem entgeht nichts. Der schickt dich los und holt dich auch wieder zurück.« »Hör auf den Kleinen, mein junger Freund. Du kannst dich mir anvertrauen, ja, das kannst du.« Ich wollte noch etwas darauf sagen, doch Ravenmoor stoppte meinen Schritt mit einem Tentakel und ich verschluckte den Satz. »Hier müssen wir rein«, gab er bekannt. Verdutzt sah ich mich um. Hatte ich was an den Augen? »Hier ist nichts, wo man rein kann.« »Die Wucherungen haben das Sektorenschott verdeckt. Schrein?« Gon'O'locc-uur reagierte ohne Verzögerung auf das Kommando. »Bleib stehen«, wies Philip mich an, der bemerkte, dass ich vor dem auseinander klaffenden Untergrund zurückwich. »Ist gleich vorbei.« Das Geräusch von Stahlplatten, die eine Ewigkeit nicht mehr bewegt worden waren und wegbrechender Erdmassen bestärkte mich in der Überzeugung, mich auf ein Wagnis einzulassen, das offensichtlich nur sehr wenige vor mir eingegangen waren. Wenn ich überhaupt einen Vorgänger hatte. 51
Ohne Unterlass betete ich vor mir selbst die Erklärungen der Priester zum Reinkarnationsimplantat herunter. Stoisch trieb ich die Worte durch jede Faser meines Selbst, bis ich sie dergestalt verinnerlicht hatte, dass ich am liebsten zum nächsten Abhang gelaufen wäre, um mich freudig in die Tiefe zu stürzen. Worauf ich mich einließ, war der blanke Wahnwitz. Nie zuvor - da war ich mir sicher - hatte ein Mensch etwas Vergleichbares getan, hatte sich einem nur entfernt ähnlichen Eingriff ausgesetzt. Übelkeit stieg in mir auf; mein Magen rumorte. Ich wünschte mir eine scheußliche Grippe herbei und dazu etwa zweiundvierzig Grad Fieber. »Alter vor Schönheit«, wies Ravenmoor auf den hell erleuchteten Schacht zu meinen Füßen. In meiner puren Begeisterung konnte ich selbstverständlich nicht anders, als seiner charmanten Aufforderung nachzukommen. Ich ging einen Schritt vor und fühlte die Sicherheit des polarisierten Gravitationsfeldes unter mir. Langsam und kontrolliert schwebte ich abwärts. Auf schnellstem Weg in die Höhle des Löwen! * Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt - an diesem Ort, nicht weit entfernt von nirgendwo - wurde ich bereits erwartet: StakkAr Vel'Enan-Jai sowie Vukk-Ar Soi'Sann-Zuul betätigten auf ihre eigene, unvergleichlich plumpe Art diverse Kontrollen an Regelgeräten, deren Funktionsweise mir wahrscheinlich bis zum Sankt-NimmerleinsTag verschlossen bleiben würde. Der Älteste - besaß er überhaupt einen Namen? - ließ sich nicht blicken. Nun, man musste schließlich nicht jede Kleinigkeit gleich zur Chefsache machen; es ging ja nur um meinen Hals. Danke für dein rasches Erscheinen, begrüßte mich Zuul. »Wie seid ihr rein gekommen?«, stellte ich meine Frage laut. Der Zugang, den Ravenmoor und ich genommen hatten, war unangetastet gewesen. Außerdem bezweifelte ich, dass die grobschlächtigen Riesen, die selbst den größten Basketball-Spieler noch um mindestens zwei 52
Köpfe überragten und dabei doppelt so breit waren, überhaupt durch den Schacht gepasst hätten; er war wohl für eine nicht ganz so aus der Form geratene Spezies konstruiert worden.
Es gibt andere Wege, Richard. Wege, die dir allerdings nicht zugänglich sind.
Ich sah hinab auf Sha'am-O und zog eine Braue hoch. Der knickte zwei seiner Schrumpelärmchen ab, während er auf dem dritten stand und ahmte in typisch menschlicher Manier eine Geste des Bedauerns nach. »Das war mal eine erschöpfende Auskunft«, ließ ich ihn wissen. »Ich bin nicht allwissend, nur weil ich in einem Priester stecke«, entgegnete er schnippisch. Sicher nicht. Ich badete mein Umfeld auch nur aus dem Grund in meinem Sarkasmus, um ein Gegengewicht zu den nagenden Zweifeln und Ängsten zu schaffen, die mich ansonsten aufgezehrt hätten. Gedulde dich noch ein wenig, war es wieder Zuul, der seine Gedanken in meinen Kopf projizierte. Wir nehmen zusätzliche Sicher-
heitsüberprüfungen vor. Das Risiko soll so klein wie möglich gehalten werden. Es beruhigt mich, dass wir in dieser Hinsicht die gleichen Interessen vertreten, antwortete ich mental.
Ich war also noch nicht an der Reihe und hatte Zeit, mich umzusehen. Der Schacht, der uns herab geführt hatte, endete gut fünf bis sechs Meter über dem Boden in einem weitläufigen Raum, eher einer Halle. Ihre besten Zeiten hatte sie allem Anschein nach hinter sich, denn Boden, Decke und Wände zeigten sich in stumpfem Glanz. Hätten mich nicht gravierendere Dinge beschäftigt, ich wäre schnell mit einem Staubtuch rum gegangen. Große Bereiche der Halle lagen im Halbdunkel oder waren gar nicht zu erkennen. Jai und Zuul hatten auf eine vollständige Ausleuchtung verzichtet und nur dort für Licht gesorgt, wo sie arbeiteten. Mir entgingen trotzdem nicht die angewinkelt in die Wände eingelassenen ›Kammern‹, die sich wie Perlen an einer Schnur aufreihten und ein gespenstisches Saumband bildeten. Sie waren durchaus der Größe eines Menschen angepasst und in Anbetracht der Umstände, meines 53
finsteren Gemüts und meines mitgenommenen Nervengeflechts erweckten sie auf mich den Eindruck von Särgen. Locker bleiben, redete ich mir zu. Alles nur Einbildung. Vukk-Ar Soi'Sann-Zuul hatte meine Gedanken aufgeschnappt.
Es gibt keinen Grund für deine Unruhe...
»... sagte der Habicht zur Feldmaus.« Jetzt war es Stakk-Ar Vel'Enan-Jai, der sich mir zuwandte und seinen Amtsbruder alleine die Einstellungen ausführen ließ. Der Priester spreizte seine drei Beine ab, so dass sein Haarkranzgeflecht, das sämtliche Sinnesorgane beinhaltete, ungefähr auf Höhe meines Gesichts war - wobei er saß und ich aufrecht stand! Er hatte meine Vorliebe, dem Gesprächspartner vis-à-vis zu sitzen, nicht vergessen. Die Möglichkeit, mental über jedwede Distanz zu kommunizieren, fand nicht meine volle Bewunderung. War irgendwie wie telefonieren. Und irgendwie unpersönlich. Andersherum auch wieder viel zu persönlich, denn mit den Gedanken gab man auch sein Innerstes preis. Hinsichtlich der Verständigung war ich recht konservativ eingestellt. »Hast du Fragen zu der Prozedur?«, sprach mich Jai an. »Der gesamte Vorgang ist für mich ein einziges Fragezeichen«, gab ich zu. »Ihr habt es mir nach dem Bildvortrag zwar erklärt, aber es gibt meines Erachtens einige Ungereimtheiten: Oder sagen wir besser: Verständnisschwierigkeiten.« »Verzeih. Es war uns nicht bewusst, dass dich die Implantation so ausnehmend beschäftigt und belastet.« »Ihr habt gesagt, die karmischen Gesetzmäßigkeiten nicht aushebeln zu können«, überging ich Jais Feststellung. »Ein Seelentransfer kann immer nur von einer verstorbenen Person in einen freien Körper erfolgen.« »Das sind die Gegebenheiten.« Stakk-Ar Vel'Enan-Jai bediente sich nun permanent des gesprochenen Wortes. Unter normalen Umständen hätte ich das entsprechend zu würdigen gewusst, jetzt aber schwirrten mir gewichtigere Dinge im Kopf herum. »Werde ich sterben? - Ich meine, muss ich...« »Ja«, lautete Jais knappe Antwort. Sie ließ keinerlei Deutung offen, keinen Raum für Interpretation; makellos in ihrer Präzision und für 54
mich gleichermaßen endgültig und damit erschreckend. Siedend heiß schoss mir das Blut hoch. Meine Gesichtsfarbe schlug innerhalb eines Sekundenbruchteils von Blass nach Krebsrot um. »Dann wollt ihr mich tatsächlich ins Jenseits befördern?«, platzte es aus mir heraus. »Ich habe euch nicht falsch verstanden? Ihr habt das auch so gemeint?« »Das haben wir.« Ich wurde stumm wie ein Fisch und vergaß sogar, die Lider zu öffnen und zu schließen. »Aus unserem Gespräch ist dir im Gedächtnis geblieben, dass selbst wir die karmischen Gesetze nicht verändern können. Dazu zählt der Kreislauf der Wiedergeburt, den jedes Lebewesen ab einer bestimmten Entwicklungsstufe durchlaufen muss. Er ist eine Art Naturkonstante, an die wir gebunden sind. Was wir mit dir vorhaben, ist ein Kunstgriff, der die Gebote beachtet, jedoch geringfügige Ergänzungen hinzufügt.« »Was soll ich mir darunter vorstellen?« Stakk-Ar Vel'Enan-Jai brauchte nicht zu überlegen. »Der Mensch ist ein erdgebundenes Lebewesen, Richard. Aus eigenem Antrieb kann er die Schwerkraft nicht überwinden und sich gleich einem Vogel durch die Luft bewegen. An diese Gesetzmäßigkeit ist er gebunden, kann sie allerdings umgehen, indem er Flugzeuge baut und sich in ihnen fortbewegt.« Ich nickte. Hörte sich plausibel an. Was das im Detail für mich bedeutete, blieb mir trotzdem schleierhaft. »Du hast die Kammern weiter hinten in der Halle bemerkt...?« Die Särge!, stellte ich richtig. Nach dem, was mein korpulenter Hirte gerade von sich gegeben hatte, konnten es nur Särge sein. »Sie dienen der Konservierung deines entseelten Körpers und sind losgelöst von der Raumzeit...« »Bitte keine höhere Physik!« »... das heißt, dein Körper kann nicht mehr auf die Veränderungskonstanten dieses Universums reagieren.« »Du willst sagen, er kann nicht verwesen, ja?« »Korrekt.« 55
»Was geschieht außerdem?« »Das so genannte Inkarnationsimplantieren ist nur in einem Fötus oder soeben verstorbenen Lebewesen möglich. Der gewählte Körper darf nicht mehr - beziehungsweise noch nicht - beseelt sein. In deinem Fall wählen wir die erste Variable. Denn du musst am Ort des Geschehens unmittelbar einsatzfähig sein.« »Ihr habt das schon oft gemacht, nicht wahr? Also, dieses Implantieren...« Ich deutete in den halb verdunkelten Hallenbereich; die Kammernschienen durchweg leer, doch das mochte nichts bedeuten. »Es war dereinst eine oft praktizierte Maßnahme, um die Mobilität der Layshi-Pan auf den mannigfaltigen, verschachtelten Ebenen dieser Realität zu gewährleisten. Von diesen Zeiten habe ich selbst aber keine Kenntnis; es ist lebendige Überlieferung. Das morphogenetische Feld kann sie für dich sichtbar machen, wenn du möchtest.« »Später«, winkte ich ab, auch wenn die Geschichte der Höllenjäger mich naturgemäß brennend interessierte. So wie alles, was aus grauer Vergangenheit seinen Einfluss auf die Gegenwart beibehalten hatte. »Ich bin hier, um einen Job zu erledigen. Und ich finde, wir sollten langsam Dampf machen.« »Die Schlacht ist in vollem Gange«, meldete sich Vukk-Ar Soi'Sann-Zuul. »Es wird sehr viele Tote geben.« Das kommt immerhin unserer Mission sehr entgegen, dachte ich in typisch britischer, schwarzhumoriger Weise. Mir war nicht klar, was er beobachtete und wie er es tat. Ich sah keine Bildübertragungsgeräte, Okulare oder Teleskope. »Suche dir bitte eine Kammer aus. Du hast die freie Wahl.« Prima. Bei Kinkerlitzchen darf ich immer selber entscheiden. Das, was ich dachte und das, was ich sagte waren dabei zweierlei: »Habt ihr was in Beigebraun?« Ich erwartete keine Erwiderung, marschierte schnurstracks auf den zuvorderst installierten Sarkophag zu. Wie von Geisterhand erhellte sich meine Umgebung dort, wo ich ging. Und es blieb auch hell. Der Sarg war offen. Es gab keine Abdeckung oder eine Glashaube. Ich spürte den Widerstand in mir, mich in dieses Ding hineinzulegen. Nach flüchtigem Zögern überwand ich mich und kletterte in meinen 56
Sarg. Mein Zynismus war noch da, hatte sich aber klein in einer Ecke zusammengerollt. Wie es aussah, traute er der Sache ebenso wenig wie ich. Ich legte mein Leben in die Hände von Gestalten, denen ich sonst nicht mal eine Scheibe Brot anvertraut hätte. Günstigstenfalls. »Geht es dir gut, Richard?« Es war Jais Stimme. Himmel, tat es gut, in dieser Situation nicht alleine zu sein, jemanden in der Nähe zu wissen und ihm zuhören zu können, wie er versuchte, die Last der Sorgen und Ängste von einem zu nehmen. Ich packte alle meine Vorurteile der mentalen Verständigung gegenüber in eine Kiste, um sie auf dem tiefsten Grund des Ozeans zu versenken. »Dann mach dich bereit zum Sterben.« Schweinebacke!, fluchte ich und nahm mir fest vor, meine Vorurteilssammlung zu bewachen wie ein ausgehungerter Pitbull. Falls ich mich irgendwann in meinem Leben einmal gefragt haben sollte, wie denn nun das Sterben wohl aussehen mochte, hatte ich hier und heute die beste Gelegenheit, es erschöpfend zu beantworten. Die anfänglichen Symptome ähnelten auffällig denen einer Vollnarkose. Ich dämmerte ziemlich schnell weg. Mein Bewusstsein war vollständig ausgeschaltet. Und doch drangen unbestimmbare Wahrnehmungen auf mich ein. Diffuses Licht, das sich spiralförmig durch einen schwarzen Tunnel wand. Ein Rauschen, das sich zu einem Brausen verdichtete. Sah ich? Hörte ich? Befand ich mich hi einem Traum? Auch dort sah und hörte man, ohne jedoch Augen und Ohren zu benutzen. Ein Sog erfasste mich. Falsch - kein Sog! Ich bewegte mich aus eigener Kraft immer und immer schneller. Mein einziges Ziel war das Erreichen des Tunnelendes. Alle meine Anstrengungen waren darauf ausgerichtet und trotzdem konnte ich zu keiner Sekunde sicher sagen, dass es auch mein Wille war, der dies bewerkstelligte. Ich wusste nicht einmal, was ich war. Mein Körper war zurückgeblieben in der materiellen Welt. Meine gegenwärtigen Erfahrungen waren mit nichts daraus zu vergleichen. Wieder steigerte sich das Tempo. Mein dringendes Verlangen, die andere Seite endlich zu erreichen, wurde unstillbar. 57
Der neblige Schein gewann zunehmend an Intensität. Schon erwartete mich strahlend helles Weiß, das die Schwärze unnachgiebig verdrängte und meinen gesamten Wahrnehmungsbereich beanspruchte. Wie vom Katapult geschnellt stürzte ich in den grellen Schlund und... * ... fand mich wieder in einem blutigen Krieg! »Tats-Lobodsch! Komm zu dir!« Jemand rüttelte mich heftig durch. In meinen Ohren dröhnten die Einschläge der Granaten und Luftminen. »Mein Gott! Steh bitte auf! Du darfst nicht tot sein! Du darfst nicht!« Was redete der Kerl da? Ich blinzelte gegen das helle Licht, das sich nur langsam verflüchtigte und blendende Reflexe auf meiner Netzhaut hinterließ. »Hilfe! Helft mir! Es hat Tats-Lobodsch erwischt!« Hatte es das? Ich spürte rein gar nichts, nur eine allgemeine Gliederschwäche, etwas Schwindel. Als ich den Irrtum aufklären und nach dem Mann greifen wollte, der mich verzweifelt in den Armen hielt, bemerkte ich erst die Starre, die von mir Besitz ergriffen hatte. Kälte strömte durch meinen Körper und lahmte jeden Muskel. Selbst das Sprechen blieb mir verwehrt. Ich hörte sirrende Laserschüsse, weitere Granateneinschläge, Schreie und das geräuschvolle Vorbeijagen schwerer Kampfgleiter. »Keine Panik! Wir sind schon da!« Das galt dem Soldaten, der sich über mich gebeugt hatte. Ich wurde von mehreren Händen gepackt und auf eine GravoBahre gehievt. Nicht weit entfernt schwebte ein Gleiter wenige Handbreit über dem Boden. Es war ein Sanitätsschiff. »Flickt ihn wieder zusammen«, gab mein namenloser Retter dem medizinischen Personal mit auf den Weg. »Er hat tapfer gekämpft und in dieser Schlacht sind bereits genug Abd-Naal gestorben.« 58
Er hatte Recht. Die Kämpfe forderten stets höhere Verluste. AbdNaal und Oloiden rüsteten permanent auf, konzentrierten alle ihre Anstrengungen auf den Krieg und investierten ihr Wissen und ihre Schaffenskraft einzig in die Entwicklung neuer und noch schrecklicherer Waffen. Ich starrte geistesabwesend an die Decke des Gleiters. Sie war grau und verkratzt. Dann ging es rasend schnell aufwärts. Der Gleiter ruckte unter leichtem Laserbeschuss umher, blieb jedoch auf Kurs und steuerte eines der Trägerschiffe im Orbit von Solonn, dem Fabrikplanetoiden, an. Gleich würden wir in Sicherheit sein. Unsere Großkampfschiffe waren noch nie direkt von den Oloiden angegriffen worden. Noch niemals in dem mittlerweile einhundert Jahre währenden Krieg! Meine Lebensgeister erwachten sehr langsam. Ich vermied jede Anstrengung und freute mich nur darauf, bald zu Hause bei meiner Familie zu sein. * Anto-Dschagerass hatte keine Augen mehr für das sich entfernende Sanitätsboot. Er befand sich mitten in einer Hölle aus Tod und Gewalt. Der Auftrag seiner Truppen war die Sicherung der Fabrikanlagen von Solonn, die zum Ziel der dschondoiischen Angriffe geworden waren. An verschiedenen Stellen war es zur Kernschmelze gekommen. Aus den Tiefen der Produktionsschächte loderten Flammensäulen bis hoch in die Atmosphäre des Planetoiden. Dicker Qualm zog über verbrannte Vegetationsstreifen. Das Atmen in dieser von Giftgas, Radioaktivität und beißendem Rauch durchsetzten Luft war lange schon nicht mehr möglich. Die Befreiungstruppen kämpften nicht nur gegen einen sich verbissen zur Wehr setzenden Gegner, ihnen waren zusätzlich noch die Einschränkungen ihres Raumanzugs auferlegt. Der Helm gewährleistete nicht die volle Sicht und die Luft der Druckanzüge schmeckte - je nach Belastungsgrad der internen Systeme - metallisch und zäh. 59
Der Wiederaufbau dieser Anlage wird langwierig, wenn nicht gar unmöglich, konstatierte Anto-Dschagerass. Es ist zwar nur noch eine Frage der Zeit, bis die Oloiden zurückgedrängt sind, aber die Schäden sind erheblich. Die Kernbrände könnten die gesamte Fabrik zerstören.
Der Bataillonskommandant aktivierte seinen Rückentornister und stieg ein paar Meter auf. Der Wind hatte sich gedreht und trieb die Rauchschwaden von ihm weg, so dass er sich halbwegs orientieren konnte und den Vormarsch seiner Kompanien im Blickfeld hatte. Für einen Moment erschien das Bild Tats-Lobodschs in seinen Gedanken. Der Leutnant der Vorhut hatte in unmittelbarer Nähe eines Detonationsherdes gestanden und war wie eine Feder im Sturmwind davon geschleudert worden. Anto-Dschagerass empfand für den Soldaten nicht nur militärische Kameradschaft, sondern auch so etwas wie freundliche Gefühle von Respekt und Anerkennung. Anders war seine Reaktion auf den reglos Daliegenden nicht zu erklären gewesen. Er brauchte in diesem Krieg jeden verfügbaren Mann, besonders Männer mit der außergewöhnlichen Befähigung eines Tats-Lobodsch: unerbittlich und hart gegen den Feind und sich selbst, widerstandsfähig bis in die Fingerspitzen. Tats-Lobodsch konnte einem Kampf die Wende geben, den andere bereits aufgegeben hatten. Trotz allem hätte er tot sein müssen! Anto-Dschagerass gab sich da keinen Illusionen hin, auch wenn ihn dieser Verlust taktisch wie menschlich hart getroffen hätte. Sein Schreien und Zerren an dem Kameraden hätten an der Endgültigkeit seines Zustands nichts ändern dürfen. Der Schutzanzug war an der linken Hüfte bis in die Achselhöhle aufgerissen gewesen und nur noch bedingt funktionsfähig. Abgesehen davon hätte die Druckwelle der Explosion ausgereicht, einen Mann zu töten. Und doch lebte er. Der Krieg wird es ihm danken, versteinerten sich seine Züge beim Anblick einer Oloiden-Einheit, die ihn als Ziel ausgewählt hatte. Die
letzte Schlacht ist noch nicht geschlagen.
Grimmig stürzte er sich den Feinden entgegen. *
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Seit fünf Tagen lag ich in einer Ruhenische der Krankenstation unseres Trägerschiffes. Die Ärzte hatten mich dekontaminiert, meine Lungen von Gasablagerungen gereinigt und den Riss an meiner linken Körperhälfte verschweißt. Es war höchste Zeit, dass ich etwas zu tun bekam, um nicht weiter den Bettlägerigen mimen zu müssen. Ich zog sogar ernsthaft in Erwägung, den Besuch bei Frau und Kind zu verschieben und zurück an die Front zu gehen. Tausende Kilometer unter mir lag ein verwüsteter Planetoid, auf dem für unabsehbare Zeit keine Generatoren für Materiezapfanlagen mehr hergestellt werden würden. Weitere Übergriffe dieser Art aus Dschondoii mussten unter allen Umständen verhindert werden, wollte man den 350-Jahres-Plan nicht aufs Spiel setzen. Durfte ich mich in dieser heiklen Situation von persönlichen Emotionen leiten lassen? Musste nicht die Familie zurückstehen vor den Belangen einer ganzen Nation, eines ganzen Volkes? Ich war mir nicht schlüssig. Da war plötzlich etwas - vor drei Tagen hatte ich es erstmals verschwommen wahrgenommen - das mich einfach nicht mehr losließ. Ein unspezifisches Gefühl, eine Ahnung mehr, die mir suggerierte, eine offen stehende Aufgabe bewältigen zu müssen. Natürlich - der Krieg! Aber das war es nicht. Eher mit Beklemmung hatte ich diese Feststellung getroffen, denn sie passte nicht in mein Verhaltensmuster. Ich gab so gut wie nichts um Intuition, schon gar nicht, wenn die Richtung nicht vorgegeben war; die Irritation ließ sich nicht kategorisieren. Das war meinem rationalen Verstand schon Grund genug, sie zwar nicht zu leugnen, aber immerhin zu ignorieren. Gleichwohl gab es eine verstandesmäßige Komponente in mir, die es schier unmöglich machte, diese Ahnung, war sie auch noch so diffus, unbeachtet zu lassen. Vielleicht war der Widerstreit, in dem mein bewusstes Selbst sich verfangen hatte, der Auslöser dafür, die bevorstehenden Schlachten einige Tage zu verschieben und heim zu fliegen. Möglich, dass ich nur Ablenkung brauchte und die Nähe von Janhajarr und meinem Sohn Lutho. 61
Das Trägerschlachtschiff würde noch eine knappe Woche in diesem Sektor verbleiben, doch für Truppen- und Verwundetentransporte standen immer Fähren bereit. Morgen schon konnte ich wieder auf Naal sein. * Nicht ganz sechzehn Stunden dauerte der Flug von Solonn nach Naal. Am Raumhafen hatte ich direkten Anschluss an den Gravo-Bus, der mich in unmittelbarer Nähe meines Zuhauses absetzte. Es war schön, frische saubere Luft zu atmen, den blauen Himmel zu sehen und die wärmende Sonne zu spüren. Nur schwer konnte ich mir die Auswirkungen eines Angriffs der Oloiden vorstellen, der meine Heimat in eine Trümmerwüste verwandeln würde; ich hoffte inständig, dass es nie dazu kam. Doch als Soldat musste ich natürlich auch diese Möglichkeit einkalkulieren. Unsere Wohnung lag im oberen Drittel eines vierzigstöckigen Rundbaus, dessen Einzelgeschosse treppenförmig versetzt waren und somit Raum schufen für große Terrassen oder individuell bepflanzbare Gärten. Das Gebäude bestand aus zwei Hälften, um in diesem verkehrsreichen Teil der Stadt eine zusätzliche Flugschneise bereit zu halten. Die Segmente wurden im Abstand von jeweils fünf Etagen durch Plexiglasröhren mit Gleitbändern verbunden. Ich betrat einen der vierzehn Magnetaufzüge und stieg im einunddreißigsten Stock aus. Als ich dann vor der Tür meiner Wohnung stand, zögerte ich noch, den Identifizierungsscan zu aktivieren. Elf Monate war es her, dass ich Frau und Kind das letzte Mal leibhaftig gegenüber gestanden hatte. Die letzte Videoübertragung lag ebenfalls gut zwei Monate zurück. Im Kampfgebiet war der Funkverkehr nur auf die Truppenteile beschränkt, Verbindungen nach außerhalb strikt untersagt. Janhajarr und Lutho wussten nicht einmal, ob ich überhaupt noch am Leben war. Wie würden sie reagieren, wenn ich plötzlich in der Tür stand? Seltsam, bewertete ich die Absonderlichkeit meines Verhaltens, als ich unschlüssig im Flur verharrte. Unerschrocken wirft man sich im 62
Kampf dem Feind entgegen, doch bei der eigenen Familie verlässt einen der Mut. Ob es anderen Heimkehrern ähnlich erging? Untereinander redeten wir zwar über unsere Angehörigen, auch über Trennungsschmerz und Ähnliches. Dass allerdings der entscheidende Faktor das Wiedersehen war, hatten wir wohl übersehen... Die Partikeltür floss auseinander und setzte sich hinter mir wieder zusammen. Der erste Schritt war getan. Der zweite wurde mir noch in derselben Sekunde abgenommen. Lutho spurtete aus einer Ecke, die meinem flüchtigen Blick entgangen war, auf mich zu und sprang mir in die Arme. »Vater! Vater! Du bist es! Du bist wieder da!« »Das bin ich, Lutho. Und ich freue mich sehr, dich zu sehen.« Ich drückte den kleinen Mann und strich über seinen kahlen Schädel. »Deine Hautfärbung verschiebt sich allmählich ins Bläuliche«, teilte ich ihm anerkennend mit. »Findest du?«, stieß er aufgeregt hervor, um dann stolz hinzuzufügen: »Ich werde langsam erwachsen, Vater.« »Übertreibs nicht und lass dir noch ein wenig Zeit...« »Mit wem sprichst du denn da, Lutho?« Das war Janhajarr. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte. »Vater ist da!«, löste sich Lutho aus meiner Umarmung und schoss in Richtung der Reinigungszelle, in der meine Frau eine Ultraschalldusche nahm. Kurz darauf trat sie mir entgegen. Sie trug keinen Faden Kleidung am Leib. In ihren strahlend gelben Augen lag eine Mischung aus Unglauben und Verlockung. Ich liebte das satte Rotblau ihrer Haut, das Ausdruck physischer und psychischer Ausgeglichenheit war. An der Straffung ihres Brustbeutels erkannte ich sofort ihre Aufregung. »Tats...«, flüsterte sie. Und noch mal: »Tats.« Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Schweigend schmiegte sie sich an mich, bis unsere Levz - die unterhalb der Augen und zwei Fin63
gerbreit über dem Mund befindlichen Gesichtsfalten - miteinander verschmolzen. Mir waren alle Facetten tief gehender Emotionen bekannt - sei es Hass, Zorn, Freude oder Trauer. Das Gefühl hingegen, einen geliebten Menschen zu spüren, sich mit ihm zu vereinigen, war das intensivste. Ein unaussprechliches Erlebnis höchster Glückseligkeit und inneren Friedens. Nichts anderes war mit ihm vergleichbar und machte sich dagegen eher ärmlich und unbedeutend aus. Die Liebe hatte längst jenen Gipfel erreicht, an dessen Fuß der Mensch als Ganzes noch nach einem Aufstieg suchte. Später, nachdem ich mich frisch gemacht hatte, saßen wir gemeinsam beim Essen. »Geht es euch gut?«, versuchte ich den Beginn einer Konversation. Janhajarr sah mich an, als hätte ich einen pietätlosen Scherz zum Besten gegeben. Sie enthielt sich jedoch dessen, was sie ursprünglich sagen wollte. »Naal ist keine schöne Welt mehr«, sah sie mich durchdringend an. »Sie wird immer dunkler und kälter. Nur der Krieg zählt. Die Kontra-Regierung erhält immer mehr Zulauf. Tagtäglich gibt es neue Hiobsbotschaften von Angriffen der Oloiden auf harmlose Transport- und Passagierschiffe.« »Das ist mir bekannt«, sagte ich verstehend. »Mir war nur nicht klar, dass ihr die Auswirkungen des Krieges so deutlich im Alltag spürt.« »Vielleicht warst du zu lange fort«, bemerkte Janhajarr. Der unausgesprochene Vorwurf war nicht zu überhören. »Und ich werde wieder fortgehen«, wollte ich gleich zu Beginn keine falschen Hoffnungen aufkommen lassen. »Aber noch bin ich hier. Lass uns nicht von Vergangenem reden.« Ihr Blick streichelte gütig mein Gesicht; sie hatte ebenfalls kein Interesse an einem Streit. »Es ist nur die Ungewissheit«, lenkte Janhajarr ein. »Die Angst nicht zu wissen, ob du das nächste Mal für immer gehst.« 64
»Vater kommt immer wieder zu uns zurück!«, bekräftigte Lutho im Brustton der Überzeugung. »Ich verspreche, mein Bestes dafür zu geben«, nickte ich meinem Sohn aufmunternd zu. Der Kleine strahlte mich an, griff nach dem Katscho-Panzer auf seinem Teller und schabte ihn mit der Zahnleiste aus. »Dieser verdammte Krieg. Er fordert so viel von uns und bringt doch nur Leid und Tod.« Janhajarr schluckte einen Bissen hinunter und sah sehr ernst zu mir herüber. »Wir beide sind während des Krieges aufgewachsen; wir haben nie etwas anderes kennen gelernt. Und nun soll unserem Sohn dasselbe widerfahren. Vielleicht sogar seinen Kindern und...« »Wir können uns die Zeit nicht aussuchen, Liebste. Wir können nur versuchen, uns ihren Anforderungen zu stellen und sie zu meistern.« »So einfach, meinst du, ist das, ja?« Bemerkte ich da aufkochenden Zorn bei meiner Frau. »Du machst das, was man von dir verlangt. Wenn sie kämpfen wollen, kämpfst du einfach mit. Ist schließlich Schicksal, oder? Wenn sie verlangen, deine Familie im Stich zu lassen, machst du natürlich auch das. Klaglos und ohne Murren. Schließlich ist die Zukunft vorherbestimmt. Du kannst sie sowieso nicht ändern!« »Es ist nicht ganz so, wie du...« »Dann entscheide doch einmal in deinem Leben etwas alleine!«, fuhr Janhajarr mich an. »Draußen laufen genug Verrückte herum, die gerne Krieg spielen! Die Gen-Fabriken produzieren Soldaten am Fließband! Niemand hat dich gezwungen, da mitzumachen!« Lutho warf uns beiden noch je einen irritierten Blick zu, rutschte von seinem Stuhl und trippelte zu seinen Spielsachen. »Glaubst du, ich mache das aus Spaß?« Jetzt war es an mir, meine Stimme von ›gefährlich leise‹ bis ›befehlerisch laut‹ zu erheben. »Ich tue das für mein Volk! Weil es jeden Kämpfer braucht! Und ja falls du das fragen wolltest - ich tue das genauso für dich und Lutho!« »Das ist doch Blödsinn!«, schrie sie mich an. »Du biegst dir doch bloß deine Ausreden zurecht!« »Wenn du es als Ausrede betrachtest, dass ich die Zukunft unserer Heimat sichern will, dann muss ich dir vollkommen Recht geben! 65
Vielleicht wird auch Lutho nie etwas anderes als den Krieg sehen. Aber es werden Generationen kommen, die in Frieden leben werden. Aber sie werden nur dann den Frieden erleben, wenn dieser Krieg, den du für deine persönliche Misere verantwortlich machst, den Boden für den Frieden geebnet hat...!« In Janhajarrs Augen lag etwas Verächtliches, als sie ihre Ruhe und Gelassenheit wieder gefunden hatte. »Du hörst dich an wie diese Propagandisten in den Medien. Wahrscheinlich glaubst du sogar, was du da sagst. Doch übersiehst du dabei den Widerspruch in deinen Worten. Krieg bringt keinen Frieden. Ebenso bringt der Frieden keinen Krieg hervor. Nur aus Krieg erwächst auch Krieg. Mehr und immer mehr. Das Elend wird immer größer, doch niemand will die Wahrheit sehen. Und so klammert ihr euch fest an dem Strohhalm dessen, was ihr am Ende eurer Schlachten zu erreichen hofft. All eure Mühen richten sich auf die Zerstörung. In eurer Blindheit erwartet ihr, dass in verbranntem Boden neue Saaten keimen. Mord und Totschlag als Fundament für den Frieden...« Die Verachtung war aus ihren Zügen gewichen. Nun war es eher Trauer, die sich darin spiegelte und die Bereitschaft, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Zaghaft kam sie um den Tisch herum auf mich zu. Ich wollte aufstehen, doch sanft drückte sie mich zurück. Ihre Arme schlangen sich um mich. »Ich liebe dich doch so sehr«, klang es halb erstickt in mir nach. »Du sollst immer bei mir und Lutho bleiben. Was haben wir denn noch, wenn du eines Tages nicht mehr heimkehrst?« Ihre Worte und ihre Leidenschaft bewegten mein Herz. Was sollte ich dieser Frau darauf antworten? Die Ziele, für die ich mich einsetzte, lagen unerreichbar weit. Noch einmal hundert Jahre mochten vergehen, bis die aus Verzicht geborene Gleichgültigkeit unseren Pathos und Nationalstolz zu Nichtigkeiten degradierte. Doch noch war es nicht so weit. Noch konnte ich dafür kämpfen, dass unserer Rasse nicht die letzte Würde genommen wurde - unsere Selbstachtung! 66
Ich hielt es für angebracht, keine feierlichen Sprüche aus dem Soldatenkodex zu zitieren, sondern meiner Frau die gleiche Ehrlichkeit entgegenzubringen, die sie auch mir zuteil hatte werden lassen. »Ich bin für die Armee geboren«, sagte ich schnörkellos. »Egal, welche Motive ich noch angeführt habe, bin ich mit Leib und Seele Soldat. Das ist meine Bestimmung. Und nur das will ich sein.« Der liebevolle Druck um meinen Körper verschwand augenblicklich, Janhajarr und ich wechselten kein weiteres Wort mehr an diesem Abend. In unserer gemeinsamen Ruhenische lagen wir die ganze Nacht über allein nebeneinander. Beim Frühstück sah mich Janhajarr kaum an und wenn unsere Blicke sich begegneten, wich sie rasch aus. So unterhielt ich mich spärlich mit Lutho und wartete leicht angespannt, der bedrückten Stimmung auf irgendeine Weise entgehen zu können. Die Erlösung kam über Tel-Visio. Ich erhielt die Meldung, mich im Truppenlazarett zur Nachuntersuchung einzufinden. An der Haustür zog mich Janhajarr zu sich herum und gab mir einen nicht ganz so flüchtigen Kuss, wie ich ihn erwartet hatte. »Komm bitte gleich wieder zurück, Tats, ja?« Ich drückte mein Levz auf ihre Stirn und winkte Lutho zu, der sich in seinem Spiel nicht stören ließ. Einen langen Moment sah ich Janhajarr in die Augen. Als sich die Partikeltür hinter mir verfestigte, ging ich schnellen Schrittes den Flur entlang zum Aufzug und drehte mich auch kein einziges Mal mehr um. Meiner Frau hatte ich nur die halbe Wahrheit gesagt. Sicher, ich musste an die Front und ich handelte aus Überzeugung. Doch da war mehr! Deutlich hatte ich am Vortag bemerkt, wie etwas nach mir gegriffen hatte, wie um auf sich aufmerksam zu machen. Irgendetwas wollte mich von Naal wegholen, rief mich zu sich. Ich konnte es nicht beschreiben, nicht packen und schon gar nicht identifizieren! Unzweifelhaft war es jedoch identisch mit jener Ahnung, die mich auf der Krankenstation hoch über Solonn befallen hatte. Nur wirkte sie hier es erschien mir absurd! - weiter entfernt, dafür ungleich drängender. Mir blieb keine Wahl! Ich musste Naal verlassen. Umgehend. 67
Noch einmal dachte ich an Janhajarr, an Lutho - und es kam mir vor wie feige Flucht! * Schnell hatte mich die Routine des Militäralltags wieder. Je weiter ich mich von Naal und Kanddarr entfernte, desto weniger Platz nahmen Frau und Sohn in meinen Gedanken ein. Ich war sicher, dass sie meine Beweggründe niemals verstehen und eines Tages mit dem Warten aufhören würden. Die Erfüllung meines Lebens bestand nicht in der Gründung einer Familie, auch wenn ich das vor vielen Jahren gedacht hatte. Die Familie hatte mich im Gegenteil von der Erkundung meines Daseins ferngehalten. Janhajarr hatte mir Liebe gegeben und Lutho hatte ich mit Liebe beschenkt - doch wurde mir schließlich klar, dass ich beides nicht gesucht hatte. Die innige Zuwendung zu einem Menschen trieb in die emotionale Abhängigkeit und trübte den Blick für das Wesentliche. Ich wollte nicht weiter mit diesem Kompromiss leben. Das Gespräch mit Janhajarr hatte mir unmissverständlich gezeigt, dass zwischen uns zu viele Brücken eingestürzt und die verbliebenen zu marode waren, um überzusetzen. Die Distanz löste die Unsicherheit in mir gegenüber den geliebten Personen auf. Vielleicht war ich Lutho ein besserer Vater und Janhajarr ein besserer Mann, wenn ich sie aus der Entfernung liebte. Das Gefühl war unbeschreiblich viel ehrlicher. Die Nähe brachte einzig Entfremdung.
Das Bedürfnis, euch zu vermissen, ist stärker als jenes, bei euch zu sein, brachte ich mein Beziehungsdilemma auf den Punkt.
Unbeweglich starrte ich für einige Augenblicke auf den Monitor der Außenerfassung. Kanddarr war längst von der Schwärze des Raumes verschluckt worden. Ein Teil meiner Identität war auf Naal geblieben, dem Planeten, dem mein ganzes weiteres Bestreben galt. Doch ich war nicht mit leeren Händen gegangen. Mich erfüllte der Stolz meiner Rasse, den ich hinaustrug aufs Schlachtfeld und für den ich stets aufs Neue mein eigenes Leben einsetzte. Es war gut, ein Stück Heimat in sich zu tragen, denn ich würde Naal nicht mehr wieder sehen. 68
Mein neues Ziel hieß Trem. Ein Flottenverband sollte die Konstruktionsmonde für Materiezapfanlagen sichern und vor Angriffen schützen. Es lag weit außerhalb jeglicher Vermutung, dass es zu Kampfhandlungen kommen würde. Spähereinheiten der Oloiden waren bisher an allen wichtigen Produktionsknotenpunkten gesichtet worden. Mein stummer Abschied von Naal würde ein Abschied für immer sein. * Im selben Moment, als der Verband aus elf Trägerschlachtschiffen den Transmitterring im System Trem passierte, schlug das Alarmsystem an! Anto-Dschagerass erwachte mit einem Schrei. Der Alptraum - der sich permanent wiederholende Alptraum - war mit dem Aufbranden des Alarms zusammengefallen. Doch der Bataillonskommandant benötigte nur Sekundenbruchteile, sich zu orientieren. »Brückenoffizier! Meldung!«, bellte er los. Die hoch sensible Audioerfassung leitete automatisch weiter, egal von wo aus er sprach. »Brücke an Kommandant! Fremdobjekt ist mit uns durch die Teleportstation gegangen...!« »Was ist es?« »Analyse läuft! Wir...« Der Zweite Offizier brach mitten im Satz ab, als das Schiff heftig erschüttert wurde! Auf einen Gedankenbefehl Anto-Dschagerass' flammten die Konsolenschirme seiner Privatkabine auf. Es erschienen eine Weitwinkelaufnahme und mehrere Detailausschnitte. Als der Kommandant die Lage mit eiskalter Präzision erfasste, erreichte den Verband eine weitere Druckwelle, so stark, dass die Materialbelastung sich als lang gezogenes Ächzen bemerkbar machte. Sechs weitere Erschütterungen folgten im Abstand von nur jeweils einem Augenzwinkern. Dann war es vorbei. »Die visuelle Außenüberwachung zeigt...«, kam es hektisch von der Brücke, doch Anto-Dschagerass schnitt dem Sprecher das Wort ab. 69
»Ich habe es gesehen. Löse den Verband auf!«, gab er befehlsgewohnt durch. »Volle Gefechtsbereitschaft!« »Ich verstehe nicht. Die Gefahr ist nicht mehr akut.« »Führe den Befehl aus, Lom-Yessrebb! Ich komme hoch!« Der Abd-Naal unterbrach die Verbindung. Mit wenigen Handgriffen hatte er seine Deckkombination angelegt und trat vor das Schott seines Zimmers. Elende schwarze Brut!, liefen die Monitoraufzeichnungen vor seinem geistigen Auge ab. Die Erschütterungen des Kampfverbandes waren von einer Detonationswelle ausgelöst worden, die große Teile des Teleportrings zerstört hatte. Dass die Oloiden dafür verantwortlich waren, lag auf der Hand. Es musste ihnen gelungen sein, ihre Baumminen unbemerkt an den passierenden Verband anzukoppeln. Gemäß ihrer Programmierung hatten sie selbsttätig das Ziel anvisiert und waren explodiert. Der Verlust der Transmitterstation schränkte die Mobilität der elf Einheiten erheblich ein. Der Rückflug auf konventionellem Weg würde mehr als einen halben Tag dauern. Obwohl Anto-Dschagerass mit seinen Anweisungen an das Brückenpersonal offen gelegt hatte, dass er weitere hinterlistige Attacken des Gegners erwartete, machte die nächste böse Überraschung die vorangegangene zu einem harmlosen Auftaktgeplänkel! * Die kleinen weißen Punkte, die sich aus dem Schattenriss eines Materiezapfers lösten und in halsbrecherischem Flug auf unseren Verband zusteuerten, entpuppten sich als Phalanx mittelschwerer oloidischer Zerstörer. Gerade noch klang der Befehl des Oberkommandierenden Anto-Dschagerass in meinen Ohren nach, den Pulk unserer eigenen Schiffe aufzulösen, wobei ich nicht der Einzige gewesen war, der die Anordnung schulterzuckend zur Kenntnis genommen hatte. Dann tauchte wie aus dem Nichts der Feind auf - und ich konnte einfach nicht anders, als in meinem Innern diesem Teufelskerl Respekt zu zollen, der eine ähnliche Situation vorausgesehen, zumindest erwartet hatte. 70
Der Objektscan, den mir mein Navigator zeigte, beunruhigte mich nicht weiter. Fünfzig oder sechzig Zerstörer wollten es mit elf Trägerschlachtschiffen aufnehmen. Ein unausgewogenes Verhältnis. Die Oloiden konnten uns nur geringen Schaden zufügen, würden allerdings im Gegenzug vollständig aufgerieben werden. Was also hatte die dschondoiische Brut tatsächlich vor? »Was macht unser Kommandoschiff?«, erkundigte ich mich beim Funkoffizier. »Meldungen über den Stillen Kanal?« »Ja, Tats-Lobodsch. Zwei Trägerschiffe rücken vor. Der Rest nimmt Distanzkurs von drei Lichtsekunden zum Kommandoschiff ein. Triebwerksautomatik ausgeführt.«
Er steuert uns über die Zentralbiotronik. Also wittert er Gefahr. Dass die Oloiden uns erwartet haben, obwohl wir nur auf Patrouillenflug sind, zeigt ihren Durchsetzungswillen. Sie wollen alles vernichten, was wir zur Rettung von Ogg-Virr III aufbieten. Hundert Jahre waren nicht genug, ihre eiserne Entschlossenheit zu brechen. Kommt nun die große - die letzte - Offensive? Die vorgelagerten Trägerschlachtschiffe schleusten eine Flotte Kleinstkampfgleiter und Ortungsbojen für die Geschütztürme aus. Die dschondoiischen Zerstörer waren für die Gleiter nur durch massiven, konzentrierten Beschuss zu vernichten. Damit die feuerstarken Geschütztürme der Großkampfschiffe der Abd-Naal die relativ kleinen Ziele punktgenau anvisieren konnten ohne eigene Verluste zu riskieren, übernahmen die Ortungsbojen die Synchronisation der Peilungsoptiken. Schon waren die Kontrahenten in erste Gefechte verwickelt. Gleißende Strahlbahnen zerrissen das All; eine Unzahl winziger Feuerblumen zerstob und jede einzelne war das Ergebnis eines direkten Treffers oder der Vernichtung eines Schiffes. »Phasenschildaktivierung über Stillen Kanal«, meldete mein Funker. Dieser hyperenergetische Schutzschild fraß enorme Mengen an Energie und wurde so selten wie möglich zugeschaltet.
Bis auf das Gefecht beim Materiezapfer ist weit und breit alles ru-
hig. Meine Nerven redeten da eine ganz andere Sprache; sie waren
zum Zerreißen gespannt. Die Untätigkeit machte mich nervös, weil ich 71
nicht wusste, worauf ich wartete. Worauf wir alle warteten. Das Verhalten der Oloiden war ebenso waghalsig wie undurchsichtig. Sie nahmen scheinbar wie selbstverständlich den Verlust einer Zerstörerflotte in Kauf. Das musste doch einen gewichtigen Grund haben! Jeden meiner Herzschläge lang wartete ich darauf, endlich aus dieser unerträglichen Spannung erlöst zu werden, um wie ein Pfeil von der Sehne schnellen zu können - mitten ins Fleisch von Dschondoii! Die Zeit schien für mich ein Vakuum geschaffen zu haben, in dem ich für mich ganz allein existierte und die Sekunden sich zu Minuten und Stunden dehnten. Ich hörte nur das Rauschen meines eigenen Blutes, wie es durch meine Adern schnellte und einen mächtigen Druck erzeugte, der sogar meine Sicht verschleierte. So nahm auch nur ich den Ruf wahr, der wohl auch nur mir galt und gar nicht von anderen gehört werden konnte. Irgendetwas versuchte sich mir - mittlerweile zum dritten Mal - mitzuteilen. Der Effekt dieser Kontaktaufnahme entbehrte jeglichen Vergleichs mit den vormaligen. Seine Intensität überstieg annähernd das Maß dessen, was ein Lebewesen zu ertragen in der Lage war. Was ist das nur?, hämmerte es in meinem Schädel. Ich verkrampfte mich unter fast spastischen Zuckungen. Verlor ich nicht nur den Verstand, sondern dazu noch die Kontrolle über meinen Körper...? »... START!« Irgendjemand zerrte an mir. Das Wort, das urplötzlich gleich einem Orkan in meine Oase der Lautlosigkeit eingebrochen war, verstand ich nur zur Hälfte; zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt. »KATAPULTSTART!«, wiederholte sich der Schrei. Und noch bevor mein wattiertes Bewusstsein die Bedeutung dieses Wortes richtig entschlüsselt hatte, haute es mich von den Beinen zwischen zwei Konsolenschränke. Die Gravitationskompensation hatte unter dem plötzlichen Volllastschub des Schiffes den Geist aufgegeben und brauchte mehrere Sekunden zur Neujustierung. »Verflucht!«, hielt ich mir die Rippen und hoffte, die Wundnaht hielt. »Wozu dieses Manöver?« 72
»Autoimpuls der Zentralbiotronik«, erhielt ich zur Antwort. »Du warst kurzzeitig nicht ansprechbar, als die Meldung übertragen wurde.« »Dschondoiische Ultraellipsoide!«, meldete der Offizier aus der Navigation. »Angriffsvektoren vierundzwanzig, einhundertneun und zweihundertvierzig!«
Der Himmel stehe uns bei!
Ein Ultraellipsoid hatte das Volumen von mehr als dreißig unserer Trägerschlachtschiffe. Seine Bewaffnung bestand aus Hochenergiekomponenten und einem Arsenal konventioneller taktischer Raketen, Torpedos, Minen und eventuell einigen schrecklichen Dingen, die noch niemand in Aktion gesehen hatte. Es war nicht bekannt, über wie viele dieser Kampfstationen die Oloiden verfügten, da sie nur äußerst selten in eine Schlacht eingegriffen hatten. Dass sie jedoch ausgerechnet bei den Konstruktionsmonden von Trem derart massiert auftauchten, ließ einzig den Schluss zu, Dschondoii wollte eine endgültige Entscheidung in diesem endlosen Krieg mit aller Gewalt erzwingen. »Da haben wir keine Chance und...« Ich verhielt. Es gab kein Zurück! Der Transmitterring war irreparabel beschädigt. Rechtzeitige Unterstützung konnten wir nicht bekommen. Bis Verstärkung eintraf, waren unsere stolzen Schiffe lediglich ausglühende, leere Hüllen. Der Andruck normalisierte sich und ich ging zur Navigationskonsole um nachzusehen, wohin unser Katapultstart uns führte. Viel Auswahl hatten wir nicht. Doch von den wenigen Möglichkeiten ausgerechnet den Frontalkurs auf einen Ultraellipsoiden zu wählen, empfand ich als Husarenstreich! Das Konterfei unseres Feldherrn Anto-Dschagerass füllte mit einem Mal den Hauptmonitor aus. Es würde auf allen Schiffen unseres Verbandes zu sehen sein. »Wir machen Front gegen den Feind und räumen ein für alle Mal mit dem Mythos des Übermächtigen auf!« Der Wahnsinnige meint was er sagt! Sollte ich ihn bewundern oder hassen? Flüchtig rief ich mir die Schlacht unserer vorgelagerten Schiffe mit den mittelschweren Oloiden-Zerstörern ins Gedächtnis. Sicher war die Entscheidung schon gefallen. 73
»Ein konzentrierter Angriff unter Phasenschildschutz auf ein isoliertes gegnerisches Schiff birgt die Chance eines Sieges. Die Waffensysteme werden von der Zentralbiotronik koordiniert.« Sein Blick hielt uns unerbittlich fest. »Vergesst nicht, weshalb wir hier sind! Uns obliegt der Schutz dieses Systems. Wir werden uns nicht zurückziehen, bis dieser Abschnitt gesichert und wieder fest in der Hand der AbdNaalist!« Die Außenbeobachtung zeigte den sich aufblähenden Glutball einer kleinen Kunstsonne. Unter den blauweißen Energielanzen eines Ultraellipsoiden war die mehrere hundert Kilometer große Materiezapfanlage zerplatzt wie dünnes Glas. Jahrzehntelange Arbeit im Bruchteil eines Augenblicks ausgelöscht. Bevor der Hauptmonitor das Bild wechselte, sahen alle das zur Grimasse verzerrte Gesicht Anto-Dschagerass'. Er fasste in drei Worten zusammen, was jeder dachte: »Jetzt erst recht!« * Die elf Trägerschlachtschiffe hatten die Formation einer Pfeilspitze angenommen; sie sollte zum Symbol jenes Dolchstoßes werden, die den Feind unmittelbar ins Herz traf. Anto-Dschagerass stand wie in Fels gemeißelt am Kommandostand. Eine Zerebralweiche verband ihn mit der zentralen Biotronik, die die Steuerung des gesamten Manövers übernommen hatte und alle Schiffe des Kampfverbandes kontrollierte und koordinierte. »Wir sind in Schussweite des Ellipsoiden«, bemerkte der Zweite Offizier. »Ausfächern!« Es war Gedankenbefehl und Information für die Brückenbesatzung in einem. Der Tross wirbelte auseinander. Die trotz ihrer Größe recht wendigen Schiffe trudelten um ihre eigene Achse und zirkelten in genau berechnetem Winkel aus der Formation heraus. Gleichzeitig öffneten sich Außenschotts und Hangars und spieen Tausende Kampfjäger, Torpedoboote und autark operierende Waffensysteme aus. Letztere waren robotgesteuerte Angriffsarsenale, die zum einen wegen ihrer Größe 74
und Geschwindigkeit überaus schwer abzuschießen waren, zum anderen über Hochenergie-Offensivgeschütze verfügten, die in Personenschiffen keinen Platz gefunden hätten. Die Speisung erfolgte über Magnetkraftkonverter, deren Leistungsvolumen schier unerschöpflich war. Die Höllenhunde sind von der Kette gelassen, betrachtete AntoDschagerass zufrieden den wütenden Schwarm, der sich auf den Ultraellipsoiden stürzte. Die Trägerschiffe gingen erneut auf Parallelkurs und blieben dicht hinter ihrer Vorhut. Ein blauer Energiediskus wurde von den Oloiden abgefeuert und brach ohne merkliche Verzögerung die Mauer der Angreifer auf. Dutzende Jäger und Schiffe wurden durch den direkten Kontakt augenblicklich zerstört; ihre Detonationsenergie riss dicht fliegende Piloten samt ihrer Maschinen gleichfalls in den Untergang. Das Dunkel des Alls wurde aufgerissen von den feuerspuckenden Geschützen der ersten Angriffswelle. Einzelne Strahlenschüsse waren in diesem Meer gebündelter Energien nicht mehr auszumachen, das sich in Richtung des dschondoiischen Ellipsoiden ergoss. Auf diese Entfernung konnten die Optiken der Raumüberwachung keine Treffer lokalisieren. Alleine die Energiepeilung ermittelte geringfügige Fluktuationen an Bord des übergroßen Feindschiffes. »Da werden wir wohl oder übel noch was nachlegen müssen«, kommentierte Anto-Dschagerass entschlossen. Ohne äußere Regung verfolgte er auf dem Hauptmonitor zwei weitere Einschläge der Energiediskusse, die tiefe Brechen durch den dahin schießenden Angriffswall pflügten. »1,5 Millionen Kilometer Distanz«, informierte Lom-Yessrebb den Kommandanten. »An alle Schiffe: Bei Distanz 800.000 Deaktivierung der Zentralsteuerung! Jeder Captain handelt von da an eigenverantwortlich!« »1,2 Millionen Kilometer«, las der Zweite Offizier weiter die Messdaten ab. Der Ultraellipsoid eröffnete ein verheerendes Streufeuer. Im Nu waren mehrere Hundert Abd-Naal-Jäger zerstört. Viele andere würden ihre Schutzschirme nicht mehr lange aufrecht halten können. 75
»Eine Million Kilometer.« Es machte keinen Sinn, noch mehr Soldaten zu opfern. AntoDschagerass vertraute auf seinen Instinkt und die Robotarsenale, die sich durch nichts von ihrer Programmierung abbringen ließen. Und die lautete: lokalisieren und eliminieren! Sie würden den dschondoiischen Titanen in schwere Gefechte verwickeln und damit den Freiraum schaffen, den die Trägerschlachtschiffe benötigten, um den Schutzschirm zu knacken und die Panzerung des Ellipsoiden aufzusprengen. »800.000 Kilometer.« Die Zentralbiotronik schaltete ab. Automatisch übernahmen wieder die internen Computersysteme; der Übergang verlief absolut nahtlos. Die Schiffe bewegten sich auf nicht zu berechnenden Flugbahnen. Eine geordnete Formation war nicht zu erkennen. Taktische Vorausberechnungen für die Feuerleitstelle waren für die Oloiden nahezu unmöglich. Trotzdem eröffneten sie ein fulminantes Feuerwerk, legten einen Ring lodernder Vernichtung und lichteten die Reihen der Angreifer ein ums andere Mal. Voller Genugtuung beobachtete Anto-Dschagerass die Explosionsherde auf den Staffelschirmen des Ultraellipsoiden. Schicht um Schicht würden die Robotfestungen abtragen, bis nur mehr blanker Stahl blieb, den sie zerfetzen konnten. Dunkle Verfärbungen zeigten die immense Belastung an, die die Schilde bewältigen mussten. Allerdings erreichten ein paar der selbsttätig operierenden Waffensysteme die Grenzen ihrer Phasenschildneutralisation. Brach der Schirm, würde die hoch verdichtete Panzerung im nächsten Sperrfeuer zerschmelzen. Bis dahin ist der Sieg errungen, war sich Anto-Dschagerass sicher. Unter Dauereinsatz der Geschützbatterien donnerten die Schlachtschiffe der Abd-Naal über den Ellipsoiden hinweg. Die Größe des Raumers beeindruckte aus der Nähe wesentlich mehr. Kanddarr besaß keine Schiffe von diesen Ausmaßen. In dem Inferno aus Lichtblitzen, verpuffenden Energien und sich jagenden Schatten konnte man schnell die Orientierung verlieren. Dazu kam eine mittlere Geschwindigkeit von vierzigtausend Sekundenkilometern. Nur ein Kommandierender mit großer Routine konnte hier die Übersicht behalten. 76
Fast gleichzeitig flogen die Trägerschiffe ein Wendemanöver, warfen sich todesmutig dem unaufhörlichen Schwall aus Energieblitzen und hochfrequentem Projektilbeschuss entgegen. Die Phasenschilde verloren rapide an Stabilität. Das Energieniveau zeigte dramatische Verbrauchsspitzen. Anderthalb bis zwei Minuten, überschlug Anto-Dschagerass. Und
der Ellipsoid ist Geschichte.
Unter den gegebenen Bedingungen bedeutete das jedoch eine halbe Ewigkeit. »Zufallsvektoren generieren!«, gab er an alle Schiffe durch. Nach dem Prinzip des willkürlichen Kurswechsels sollte auch weiterhin gewährleistet werden, den Energiekanonen kein allzu leichtes Ziel zu bieten. Drei Robotarsenale brachen auseinander. Fünf andere verloren ihre Hüllenintegrität. Nur nicht die Nerven verlieren, redete der Kommandant sich zu und wusste genau, dass seine innere Gelassenheit der Erfahrung aus unzähligen Kämpfen entsprang. ›Siegen oder untergehen‹ hieß die Parole. Wer sich diese simple Denkweise zu eigen machte und Tag für Tag lebte, der kannte keine Furcht vor dem Tod. »Phasenschildschutz bei sechzig Prozent«, machte Lom-Yessrebb Meldung. Auf den zehn anderen Schiffen würde es ähnlich aussehen. Beim Anflug auf den stählernen Giganten hatten sie jede Menge Artillerie zu kompensieren. Doch sie hatten auch jede Menge auszuteilen. Wenn die Generatoren nicht vorzeitig ausbrannten, konnten sie die Schlacht für sich entscheiden. »Einer von uns ist auf Linearkurs.« In der Stimme des Zweiten Offiziers schwang Besorgnis mit. Auf einen berechenbaren Kurs ließen sich leicht Geschütze einschwenken. »Tats-Lobodsch«, grollte Anto-Dschagerass. Seine Zerebralweiche hatte die angeforderten Daten von der Biotronik bereits übermittelt. Da ließ sich jedoch nicht mehr verhindern, dass ein Energiediskus den Phasenschild des Trägerschiffes zertrümmerte und dabei einen tiefen Riss in die Außenhaut fräste. 77
»Dieser verdammte Idiot!« Anto-Dschagerass wandte sich dem Hauptmonitor zu und leitete einen erneuten Frontalangriff ein. Um Tats-Lobodsch wollte er sich nach dem Kampf kümmern. Ein Blick auf die Emissionsanzeige zeigte beim Ellipsoiden nur noch zwei annähernd intakte Staffelhüllen. Diese mussten beim kommenden Angriff fallen, sonst konnte es in der Tat zu spät sein für eine neuerliche Attacke.
Zeigt den schwarzen Bastarden die Zähne, meine Höllenhunde.
Die Arsenale kannten natürlich kein Aufgeben. Einige waren nicht mehr als glutgischtende Trümmerhaufen. Doch so lange sie funktionsfähig waren, feuerten sie unerbittlich ihre todbringenden Salven ab. Verstärkend kamen nun die gebündelten Energiestrahlen der Trägerschlachtschiffe hinzu. Die Energiebatterien erhöhten die Abschussfrequenz, je näher sie dem Feindschiff kamen. Und dann fiel der Staffelschutzschirm unwiederbringlich zusammen! Die schweren Kampfschiffe zogen senkrecht nach oben, vollführten eine enge Schleife und feuerten aus sämtlichen Winkeln auf den schutzlosen Ultraellipsoiden. Sogleich gingen sie in den Sturzflug über und zerstrahlten mit computergelenkter Präzision Geschütztürme, Abstrahlläufe, Torpedoschächte und Energiekuppeln. Im Anschluss wurden die Triebwerkssegmente bombardiert, bis aus einem unüberwindlich anmutenden Gegner eine wehr- und bewegungslose Attrappe geworden war, die nur noch auf den Todesstoß wartete. »Ich habe keinen Annäherungsalarm gehört«, gab AntoDschagerass zu bedenken, nachdem sein Triumph als gesichert galt. »Befinden sich die anderen Ultraellipsoiden außer Reichweite?« »Sie haben abgedreht. Noch während des Gefechts. Es hat ihnen anscheinend gereicht, die Materiezapfanlage zu zerstören.« So sieht es wenigstens aus, dachte Anto-Dschagerass bei sich. Er hatte die Gefahr in seinem Rücken keinen Moment lang vergessen.
Doch wenn ein überlegener Gegner sich zurückzieht, kann nur eine Teufelei dahinter stecken.
»Danke, Lom-Yessrebb«, sagte er daher nur. »Gib Tats-Lobodsch Bescheid, dass ich ihn sehen will. Persönlich! In meiner Unterkunft!« 78
Wie nebenher und mit gleicher Kälte fügte er hinzu: »Und lass den Oloiden-Kahn sprengen. Wir haben keinen Platz für Gefangene.« * Was immer diese unerklärlichen Anfälle in mir auslöste - diesmal kamen sie entschieden im ungünstigsten Augenblick. Und unerfreulich heftig. Sie fielen exakt zusammen mit der Loskopplung von der Zentralbiotronik. Der Gedanke, wieder Steuermann meines Schiffes zu sein, Verantwortung für tausende Besatzungsmitglieder zu tragen und gleichzeitig einen verwegenen Angriff zu fliegen entfernte sich rasend schnell aus dem Zugriff meines Bewusstseins und war bald nicht mehr als ein dumpf verhallendes Echo. Dröhnend erscholl der Ruf in mir. Mit dem Sprung durch den Transmitterring war ich der Quelle erheblich näher gekommen. Fremde Erinnerungen tanzten einen schwindelerregenden Reigen in meinem Verstand. Ich sah - oder vielleicht bildete ich es mir auch nur ein eigenwillige Kreaturen, grobschlächtig und plump dem Äußeren nach und aus nur drei tentakelartigen Auswüchsen bestehend. Bedrohlich und von erschreckender Schönheit zugleich. Dann war da dieser Name, der gegen die Verteidigungslinien meines Geistes anrannte, den ich nur unter immer größer werdenden Mühen abwehren konnte und es - irgendwann? - schließlich aufgab. Dieser Name, schoss die siedende Erkenntnis angstgeschwängert durch meine Venen, dessen eigentümliche Sprechmelodie in so starkem Gegensatz zu allem mir Bekannten war, besaß einen untrennbaren Bezug zu mir. Wieder rief etwas nach mir. Etwas, das zu mir wollte, das zu mir gehörte. Es rief meinen Namen.
Richard! Richard Jordan! Du bist mir so nah! Komm zu mir! Ich warte auf dich! Ich erfasste die Botschaft. Die Sprache der Gedanken war eine universelle; sie wurde überall im Kosmos verstanden. Nur ihr Inhalt bereitete mir gewisse Schwierigkeiten. 79
Wer rief nach mir? Wo wurde ich erwartet? War ich - Ridsch-Artt Dschord-Enn? Der Traum zerplatzte und spie mich rüde in die Wirklichkeit - meine Wirklichkeit - aus. »Phasenschild ausgefallen!«, rief mein Zweiter Offizier. »Einschlag in Sektionen 23 bis 30, Decks 7 bis 16!« Unsere Biotronik hatte bei diesem schweren Treffer automatisch einen Ausweichkurs berechnet und taktische Gegenmaßnahmen eingeleitet. Trotzdem war ich erschrocken über die erheblichen Schäden an dem Schiff. Durch meine geistige Abwesenheit waren wer weiß wie viele Abd-Naal ums Leben gekommen. Ich würde für den Vorfall Rechenschaft ablegen müssen. Doch wie konnte ich mich in Zukunft vor solchen Aussetzern schützen? »Ultraellipsoid kampfunfähig!«, tönte es von der Waffenkonsole zu mir herüber. »Ist wieder alles in Ordnung, Tats-Lobodsch?«, erkundigte sich der Zweite Offizier. »Ich empfehle, eine Krankenstation aufzusuchen. Wenn dein Zustand weiter...« »Schon gut!«, winkte ich ab. »Ich bin unterwegs. Du hast das Kommando.« Noch bevor ich die medizinische Abteilung erreichte, wurde mir mitgeteilt, mich unverzüglich zum Kommandoschiff und zum Oberkommandierenden Anto-Dschagerass zu begeben. Trotz meines guten, militärisch-freundschaftlichen Verhältnisses zu dieser Ikone des Krieges war mir durchaus bewusst, dass ich in eine äußerst ernste Situation geraten war. Mein offensichtliches Versagen während der Schlacht, die zur Schau getragene Inkompetenz meinerseits als kommandierender Offizier und Vorgesetzter, musste ein Nachspiel haben. Da gab es kein Vertun. Allerdings war ich mir nicht mehr so sicher, ob meine Leitmotive noch mit denen der Abd-Naal in Einklang zu bringen waren... * 80
»Ich kann immer noch nicht glauben, was ich da gesehen habe.« Anto-Dschagerass drehte mir den Rücken zu, als musste er sich sammeln oder einen verräterischen Gesichtsausdruck verbergen. Dann wandte er sich mir langsam zu. »Was ist nur in dich gefahren?« Verlangte er nach einer Antwort oder durfte ich es als metaphorische Pause werten? Ich bemerkte den sarkastischen Unterton meiner Gedanken, eine Eigenschaft, die nicht der wahren Natur meines Charakters entsprach. Anders herum konnte man sich an sie gewöhnen. »Du setzt nicht nur leichtfertig ein Schiff der Abd-Naal aufs Spiel, sondern handelst unüberlegt und fahrlässig während eines Angriffsmanövers!« »Das Manöver an sich war bereits extrem riskant«, gab ich trocken zurück und spürte einen Stich in der Magengrube, mit dem sich etwas meldete, das zutiefst erschrocken diese Äußerung aufgeschnappt hatte. »Was fällt dir ein?!«, erregte sich Anto-Dschagerass; sein Levz schimmerte feucht. »Überlege dir jedes weitere Wort, Tats-Lobodsch. Du stellst unsere Kameradschaft auf eine harte Probe. Denke an die vielen Leben von Männern und Frauen, die dein törichtes Handeln hätte fordern können.« »Du hättest sie alle in den Tod geschickt, weil du partout gewinnen wolltest!«, schrie ich meinen Vorgesetzten an. »Es war die einzige Möglichkeit, überhaupt jemanden zu retten!«, versetzte er in gleicher Lautstärke. »Es war eine Flucht nach vorn und ich würde sie nächstes Mal wieder wagen!« Versuchte sich dieser Mann in einer Rechtfertigung? Mir gegenüber? Ich war beeindruckt. »Dein Ruf eilt dir voraus, Anto-Dschagerass. Ein anderer an deiner Stelle hätte einen Angriff wie diesen nicht einmal theoretisch durchspielen dürfen, ohne in der Öffentlichkeit gelyncht zu werden.« »Es herrscht Krieg!«, fuhr er mich weiter an. »Nicht die Schönheit des Sieges zählt, sondern der Sieg überhaupt. Was weiß man auf Naal schon vom Kämpfen? Nur die wenigsten haben sich freiwillig für den Dienst am Volk entschieden. Das Gros der Soldaten kommt von den Bändern der Klon-Fabriken. Wer will also darüber entscheiden, was 81
richtig ist und was nicht? Wir können stundenlang das Für und Wider diskutieren, doch im Ernstfall hast du lediglich Bruchteile von Sekunden! Verstehst du das?!«
Er bemüht sich tatsächlich, mir seinen Standpunkt klarzumachen. Fast tut es mir leid, seine Anstrengungen ins Leere laufen zu lassen. »Hätten die beiden anderen Ellipsoiden nicht abgedreht, wäre deine Heldentat als jammervoller Akt geistiger Umnachtung abgetan worden. Aber das hättest du kaum mehr erlebt; du wärst ja draufgegangen.« »Du bist impertinent!«, brüllte Anto-Dschagerass los, unterließ dann aber weitere Wutausbrüche. »Und mir gefällt nicht der Spott in deinen Augen.« Bemerkte er, dass ich nicht mehr derselbe war? Mir selbst schien Tats-Lobodsch Lichtjahre entfernt, obwohl wir in einem gemeinsamen Körper hausten. Je öfter ich still den Namen wiederholte, desto befremdlicher schien er mir. Beinahe schon hätte ich den Oberkommandierenden zurechtgewiesen, mich mit meinem wirklichen Namen anzusprechen: Ridsch-Artt Dschord-Enn! Ich hatte es gelassen, wollte mich erst an die neue Situation gewöhnen und schließlich mein Gedächtnis nach Erinnerungen durchforsten, die mir auf meinem weiteren Weg nützlich sein könnten. Erinnerungen, die zu Ridsch-Artt Dschord-Enn gehörten, aber nicht zu Tats-Lobodsch. »Ich will jetzt nur eins von dir wissen«, riss mich AntoDschagerass aus meinen Überlegungen. »Stehst du noch auf meiner Seite? Kann ich mich weiter auf dich verlassen...?« Die Antwort, die er hören wollte, lag auf der Hand. »Ich werde den Vorfall vergessen und ein medizinisches Gutachten erwirken, das dich vom Vorwurf der Inkompetenz befreit.« Er meinte es gut, hegte sogar eine Art Brudergefühl für mich. Einen Mann, der sich entgegen seiner Gepflogenheiten derart weit öffnete, durfte man normalerweise nicht enttäuschen. »Nein!«, schlug ich die Warnungen meines Gewissens in den Wind. »Ich kann dir nicht weiter folgen.« Als Anto-Dschagerass seine Überraschung - diesen demütigenden Schlag ins Gesicht - überwunden glaubte, wechselte seine Haltung, 82
wurde steif und förmlich: »In diesem Fall kann ich dir nicht helfen. Deckoffizier!«, rief er akzentuiert. Die Audiosensoren leiteten unverzüglich die Anfrage weiter. »Zwei Posten zu mir zur Gefangenenüberführung!« Mir stockte der Atem. »Du willst mich festnehmen lassen?« Nun war ich es, den die Überraschung überwältigte. »Mit welcher Begründung?« »Insubordination und Befehlsverweigerung.« »Das ist schlichtweg eine Unterstellung!«, erboste ich mich. »Das ist Auslegungssache!«, donnerte es zurück. »Und ich lege es so aus!« »Du lieferst mich ans Messer!« »Ich tue das zu deinem eigenen Schutz.« Dummes Zeug, dachte ich. Du legst mir nur einen großen Stein in
den Weg. Wie soll ich unter solchen Umständen meine neue Aufgabe bewältigen? Ein Signalton vom Korridor kündigte das Eintreffen der Wachsoldaten an. »Bringt ihn zum Zellenblock. Ich möchte über den Vollzug der Inhaftierung unterrichtet werden.« Die Uniformierten machten eine Geste der Bestätigung und nahmen mich in ihre Mitte. Sie setzten voraus, dass ich ihnen anstandslos folgte.
Naal, oh Naal, was ist nur aus dir geworden? Wiege des Friedens und der Forschung, so wendest du dich nun gegen dein Volk. * Anto-Dschagerass fand keine Ruhe. Die Auseinandersetzung mit TatsLobodsch bewegte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. So sehr er sich auch bemühte, fand er keine halbwegs einleuchtende Erläuterung für den Sinneswandel seines Kameraden und Waffenbruders in vielen Schlachten. Er musste dann wohl doch eingenickt sein, denn ein böser Traum schleuderte ihn brutal ins Wachsein zurück. Sein böser Traum. Seine 83
Nemesis. Verborgen zwischen den verschlungenen Pfaden des Schlafes, gefräßig und erschreckend wie ein Raubtier und gleichsam ein trügerisches Phantom suchten den Feldherrn dunkle Ereignisse einer längst vergessenen Vergangenheit heim. Er konnte nicht wissen, dass seine Situation jener von Tats-Lobodsch nicht unähnlich war, doch blieb es Anto-Dschagerass versagt, sie zu akzeptieren, geschweige denn zu meistern. Was war in seiner Vergangenheit geschehen, das ihn mit immer neuen Alpträumen quälte, ohne deren Ursache begreifen zu können? Ein schwarzer Schlund öffnete sich in der Phase der Unbewusstheit, schleuderte bizarre Bilder und Gesichter und Geschehnisse unablässig gegen seinen wunden und wehrlosen Verstand. Wie sollte er einen Gegner besiegen - oder sich ihm zumindest stellen - der nicht auf der gleichen Daseinsebene existierte, der eigentlich ein Hirngespinst darstellte? Oft schon hatte er sich dieselben Fragen gestellt. Es war das einzige, was er tun konnte - abgesehen von den Medikamenten, die er einnahm und die schon kaum mehr Wirkung zeigten. Missmutig sprach er in die internen Audiokanäle: »Meldung Zellenblock! Ich wollte über die Inhaftierung von Kommandant TatsLobodsch informiert werden!« Die akustische Übertragung beinhaltete eine Signalwelle, die den Sprecher eindeutig identifizierte. »Hier Offizier zur Wache Bak-Reggd, Anto-Dschagerass! Davon ist mir nichts bekannt.« »Zwei Posten waren vor kurzem unterwegs zu dir!«, wurde der Oberbefehlshaber unangemessen laut. Sofort besann er sich: »Vergiss meinen Anruf. Ich kümmere mich selbst um die Angelegenheit.« Wenn Tats-Lobodsch seine Eskorte überwältigt hatte, versteckte er sich im günstigsten Fall irgendwo auf dem Schiff. Es würde nicht lange dauern, bis man ihn gefunden hatte. Daher zog AntoDschagerass eine andere Variante in Erwägung. »Brückenoffizier! Ist in der letzten Stunde ein Beiboot, ein Jäger oder ein schwerer Kreuzer ohne Genehmigung gestartet?« 84
»Selbstverständlich nicht!«, ließ Lom-Yessrebb keine Zweifel aufkommen. »Es ist überhaupt nur Kommandant Tats-Lobodsch abgeflogen. Er hat einen schnellen Kampfkreuzer genommen, da seine Fähre einen Defekt aufwies.« »Wie lange ist das her?«, erkundigte sich Anto-Dschagerass gefährlich leise. »Eine halbe Stunde. - Ist mit diesem Flug etwas nicht in Ordnung gewesen?« Anto-Dschagerass überging die Frage und schoss den nächsten Befehl ab: »Überspiele die Flugkoordinaten auf meinen Angriffsjäger. Du übernimmst während meiner Abwesenheit das Schiff und die Flotte!« »Verstanden. Koordinaten werden überspielt.«
Du hast mich einmal vorgeführt und zum Narren gemacht, TatsLobodsch! Du hast die Hand, die ich dir reichte, ausgeschlagen! Ich werde dich hetzen und zur Strecke bringen und mich vom Makel der Schande reinwaschen! *
Kadd-Kullbd war ein außergewöhnlich stämmiger Vertreter der AbdNaal. Möglich, dass er deshalb als Fabrik-Manager auf Solonn eingesetzt worden war; seine bloße Präsenz strahlte ungemeine Autorität aus. Unter den oftmals widrigen Klima- und Gravitationsverhältnissen auf dem noch jungen terrageformten Planetoiden war eine starke Führungspersönlichkeit unerlässlich, um Disziplin und Moral aufrechtzuerhalten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hingegen fühlte sich Kadd-Kullbd niedergeschlagen, schwach und hilflos. Er steckte in einem Schutzanzug und begutachtete von einer erhöhten Stelle die Schäden des Fabrikkomplexes. Die Angriffe der Oloiden hatten gravierende Zerstörungen angerichtet. Der Manager überlegte, ob es nicht sinnvoller war, die Anlage an anderer Stelle neu zu errichten. Die Behebung der Verwüstungen mochte ebenso lange dauern wie eine Neuinstallation. An diversen Gebäuden loderten Kernbrände, die sich unerbittlich weiter vorfraßen und die er mit seiner 85
Mannschaft nicht löschen konnte. Unterstützung von Naal war erst in einigen Tagen zu erwarten. Einige der benötigten technischen Hilfsmittel mussten erst generalüberholt werden, technisches Personal war Mangelware. Wenigstens solches, das sich freiwillig an einen heiß umkämpften Kriegsschauplatz getraute. Lange Jahre waren die Produktionsstandorte der Materiezapfanlagen geheim gewesen. Selbst auf Naal hatte es nur wenige Eingeweihte gegeben, die die exakten Systempositionen kannten. Als dann trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen Aufklärungsschiffe der Oloiden gesichtet worden waren, hatte man gezögert, größere Truppenverbände zur Sicherung auszuschicken und damit die Verteidigung Kanddarrs empfindlich zu schwächen. Der Angriff auf ein schutzloses Naal hätte dem Krieg die Basis genommen und Dschondoii einen schnellen Triumph gebracht. All diese Überlegungen gingen Kadd-Kullbd durch den Kopf.
Wir sind nicht für den Krieg geschaffen, sagte er sich resignierend
und blickte in den schwarzen Himmel über Solonn, der vor kurzem noch eine atembare Atmosphäre besessen hatte. Ganz gleich, in wel-
che Richtung wir uns bewegen, sind unsere Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Ogg-Virr III wird explodieren und die Oloiden werden uns überrennen. Also hätten wir dann hundert Jahre damit zugebracht, unseren eigenen Untergang zu beschleunigen, statt ihn zu verhindern. Er lachte unwillkürlich freudlos in sich hinein. Das Leben war schon paradox.
Er wandte sich zum Gehen und stieg in den kugelförmigen EinMann-Transporter. Eigentlich handelte es sich um eine mobile Reparaturmaschine, die aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit nicht zur Fortbewegung eingesetzt wurde. Kadd-Kullbd aber hatte Zeit, sehr viel Zeit. Ihm waren die Hände gebunden, bis das technische Personal aus seiner Heimat eintraf. Im gemächlichen Schwebeflug hatte er sich einen groben Überblick verschafft und sich alles genauestens ansehen können. Noch immer spürte er die Beklemmung, die sich wie eine Klammer um seinen Herzmuskel gelegt hatte. Sein ganzes Wissen, all seine Kraft und sein Engagement hatte er Solonn geschenkt. Er hatte 86
alles, was er besaß, in dieses Projekt investiert - und nun war es verloren! Kadd-Kullbd fühlte sich ausgebrannt. Die Oloiden hatten nicht nur die Fabrik zerstört, sie hatten ihn zerstört. Er bezweifelte, ob er stark genug war, einen neuen Anfang zu machen. Wenn die Hilfsgüter und Rettungskräfte nicht zum vereinbarten Zeitpunkt eintrafen, war sowieso jede weitere Überlegung vergeudet. Der Kernbrand würde den Planetoiden unaufhörlich zersetzen, bis nichts mehr übrig war. Für jeden einzelnen Abd-Naal bedeutete dies das Todesurteil. »Zentrale an Kadd-Kullbd!«, tönte es aus dem Empfänger des Kugelgleiters und aus der Helmmembran des Fabrik-Managers. »Ich bin dran! Was gibt's?« »Gravitationsmessungen bestätigen die Annäherung zweier sehr großer Schiffe! Mit etwas Glück sind das die angeforderten Hilfstruppen.« Das waren gute Neuigkeiten, gestand sich Kadd-Kullbd ein und seine Stimmung bekam leichten Auftrieb. »Hoffen wir, dass es sich nicht um einen Konvoi nach Trem handelt. Die werden dumm aus der Wäsche schauen, wenn wir ihnen sagen, dass der Transmitterring sich abgeschaltet hat.«
Möchte zu gerne wissen, welches Problem es mit der Gegenstelle gibt, formulierte er ergänzend.
Der Empfänger verstummte nach einer Abmeldung und KaddKullbd startete sein Gefährt. Nach einigen Minuten Schleichflug kam ein neuerlicher Funkspruch von der Zentrale. »Die Fernortung hat feindliche Schiffe ausgemacht!« Nicht schon wieder! Was wollten die Oloiden denn noch? Reichte die angerichtete Zerstörung ihnen noch nicht? »Da haben wir nicht viel zu erwarten«, meinte der Fabrik-Manager gelassen. »Und wenn es wirklich nur zwei Schiffe sind...« »Ultraellipsoiden!«, keuchte es am anderen Ende der Verbindung. Kadd-Kullbd stoppte den Gleiter und sprang ins Freie. Wie auf einen geheimen Befehl hin suchte er das Firmament ab und entdeckte auch wirklich zwei kleine leuchtende Punkte, die rasch an Größe gewannen. Blauweiße Flammenbälle rasten von den Lichtpunkten ausge87
hend Solonn entgegen. Beim Einschlag der ersten vier bildete sich ein breiter Riss in dem Planetoiden, der sich von einem Äquator bis zum anderen erstreckte. Bei der nächsten Salve brach er in zwei Teile auseinander, um beim finalen Beschuss pulverisiert zu werden. Auf Kommandoebene der Ultraellipsoide wurden nur wenige Worte gewechselt. »Neuer Kurs: Naal.« * Anto-Dschagerass zündete die Brennstoffzelle seines Jagdraumers und sprengte förmlich durch das offene Schott des Hangars in den freien Weltraum. Die Abflugkoordinaten einschließlich Bahnvektor des Fluchtschiffes blinkten auf der verdunkelten Sichtscheibe des Jägers. Der zu allem entschlossene Kommandant war über eine Zerebralweiche an die Bordbiotronik angeschlossen; seine Anweisungen würden ohne messbaren Zeitverlust ausgeführt werden. Die Plasmatriebwerke beschleunigten den Raumer mit 120 Kilometern pro Sekundenquadrat. Fünf Minuten später überflog er den Sektor, in dem sich die Kleinkaliber beider Flotten gegenseitig vernichtet hatten. Anto-Dschagerass hatte diesem Gebiet keine weitere Beachtung zukommen lassen, als keine Funkmeldungen seiner Piloten mehr eingegangen waren. Seine derzeitigen Beobachtungen bestätigten die als sicher angenommene Vermutung, dass sie allesamt getötet und ihre Schiffe vernichtet worden waren. Der Fall war somit erledigt. Der Jäger wurde von einigen Stößen erschüttert, die von treibenden Wrackteilen, vielleicht sogar zerrissenen Leichen, verursacht wurden. Ohne den eigentlichen Kurs aus den Augen zu verlieren, manövrierte Anto-Dschagerass weiter außerhalb. Ich bin dir dicht auf den Fersen!, stachelte er sich selbst an. Deine
Stunden sind gezählt, Tats-Lobodsch!
Die Geschwindigkeit des Kampfraumers betrug mittlerweile 80.000 Sekundenkilometer. Wenig später schaltete Anto-Dschagerass auf Magnetkrafttriebwerk um und verschwand in der Raumzeit. 88
Daher konnte er nicht mehr wahrnehmen, dass sich aus dem Trümmerfeld zerstrahlter Raumschiffe ein unförmiger Brocken löste. Es war ein schwer beschädigtes Oloidenschiff, das sich zwischen den umherdriftenden Trümmern versteckt hatte und praktisch unsichtbar gewesen war. Anfangs träge, dann unter wachsendem Schub wechselte es die Richtung und ließ den Raumschiffsfriedhof hinter sich. »Halte die nötige Distanz und beanspruche die Triebwerke nicht mehr als nötig. Wir werden jedes Quäntchen Energie brauchen, wenn wir die beiden Schiffe gestellt haben.« Der Kommandant des dschondoiischen Schiffes trug die Abzeichen höchster kirchlicher Würdenträger. »Der Zielpunkt scheint Ogg-Virr III zu sein, Kardinal«, meldete ein Lotse. »Ja, Ogg-Virr III«, sinnierte der Kirchenvertreter. »Sie ist der Grund unseres Konflikts. Sie ist die Ursache. Kämpfen wir nicht nach dem Willen des Einen, sterben wir in der Supernova. Wollen wir die Explosion verhindern, sterben wir von eigener Hand. Abd-Naal gegen Oloiden. Oloiden gegen Abd-Naal. Wir mögen die Wege des Herrn nicht begreifen, doch müssen wir die Harmonie in der Zielstrebigkeit neidvoll anerkennen.« »Führen dann nicht alle seine Wege zum selben Ziel?«, regte ein Protokoll-Offizier einen Gedanken an. Seine Aufgabe war es, wie auf allen Schiffen, philosophische Betrachtungen der Kardinale aufzuzeichnen und weit von der Heimat entfernt die dogmatischen Grundsätze Dschondoiis aufrechtzuerhalten. Die Protokolle wurden in den Freizeiten über die interne Kommunikation verlesen. »Das tun sie«, bestätigte der Kommandant. In seinem schwarzen Gesicht rührte sich kein Muskel. »Wäre dieser Krieg also nicht überflüssig?« »Dein Einwand zeigt mir, dass du deinen Kopf zum Denken benutzt. Du bist unsicher, aus den falschen Gründen zu kämpfen, weil der Allmächtige trotzdem erreicht, was er wollte. Du glaubst, es wäre vorteilhafter, am Leben zu bleiben, statt einen sinnlosen Tod zu sterben...« 89
Trotz des kreiselnden Schleifgeräuschs des Schiffsantriebs konnte man die atemlose Spannung in der Kommandozelle hören. Im Tonfall des Kardinals hatte etwas zur Vorsicht gemahnt. »Nein, ich war eher der Meinung...« »Lass dich nicht beirren!«, wies der Oloide den Einwand ab. »Beide Wege sind richtig. Doch Er hat sich für den ersten entschieden, den Weg der Nova. Wir zeigen unseren Respekt und unsere Ehrfurcht vor dieser Entscheidung, wenn wir sie gegen den Willen der Abd-Naal durchsetzen.« »Ist es nicht möglich, dass Er den Tod von Ogg-Virr III zu verhindern sucht und damit die Abd-Naal zu Werkzeugen seines Willens macht. Das nämlich würde bedeuten...« »... dass wir gegen den Herrn sündigen und seinen Willen vereiteln«, vervollständigte der Kardinal. Während er den Geschmack dieser Aussage prüfte, war die Zentrale vornehmlich erfüllt vom dumpfen Wummern und Schleifen der Triebwerksgeneratoren. Sie würden einige Zeit durchhalten; wie lange, war ungewiss. »Lasst uns erst den beiden Abd-Naal-Kreuzern ins Ogg-VirrSystem folgen und aufdecken, was sie planen, so nahe der Trophäe des Krieges. Wir sollten alle unsere Kräfte dazu verwenden, diesen grausamen Gegner zur Strecke zu bringen. Jeder tote Abd-Naal mag einem Oloiden das Leben schenken. Seht es so. Im Anschluss treffen wir uns zum Gebet, um den Herrn um Gnade zu bitten, falls wir ihn tatsächlich aus Unwissenheit erzürnt haben...« * Meine Mission hatte ich plötzlich gestochen scharf und schleierlos vor mir stehen sehen! Das Fragment meines transgenetischen Codes versuchte seit geraumer Zeit Kontakt zu mir aufzunehmen. Woher ich diese Erkenntnis so schlagartig erhalten hatte, mochte lediglich in der Tatsache begründet liegen, dass ich nicht mehr Tats-Lobodsch war, sondern Ridsch-Artt Dschord-Enn. Tats-Lobodsch war vor vielen Tagen bereits auf Solonn gefallen. Er war ein Toter gewesen, als Richard Jordan - als ich - in ihn eingedrungen war. 90
Mein Gehirn veranstaltete eine Achterbahnfahrt durch neue alte Erinnerungen! Die Erde! Col'Shan-duur! Die Priester! Ravenmoor! Das Reinkarnationsimplantat! 29.000.000 Lichtjahre hatten sie mich quer durchs Universum gescheucht! Ich mochte mich gegenwärtig nicht damit auseinandersetzen, warum mein Gedächtnis mich so lange im Stich gelassen hatte. Die Gründe hierfür stellten sich nach meinem Ermessen in vielfältiger Natur dar. Vielfältig genug, um die Erörterung auf einen Zeitpunkt zu verlegen, in dem ich nicht gerade einen meiner Bewusstseinssplitter suchte und gleichzeitig um mein Leben bangen musste. Der Ruf war an mich ergangen! Das Fragment, das mir durch das Wirken des J'ott'at-oyyocch-anuq - der bezaubernden Französin Dominique Beaumont, für die ich tiefe Gefühle empfunden hatte - entrissen worden war, sehnte sich nach der erneuten Vereinigung. Instinktiv wusste ich, dass, wenn ich nahe genug bei ihm war, es sich ganz von selbst in meine Seele schmiegen würde. Mein Auftrag war dann erfüllt. Mir war zwar nicht klar, wie die Priester mich unmittelbar nach der Verschmelzung zurückzuholen gedachten, doch ich brachte ihnen bedingungsloses Vertrauen entgegen. Ging auch nicht anders in meiner Lage. Die Sonne Ogg-Virr III war gerade mal eineinhalb Lichtjahre vom System Trem entfernt. Auf einem unbewohnten Planeten in ihrer Nähe hatte sich mein Code-Fragment manifestiert. So intensiv wie bei der Schlacht um Trem hatte ich seine Nähe bisher noch nie gefühlt. Einen besseren Wegweiser konnte es nicht geben. Der Magnetkraftantrieb des Kleinraumers brachte mich ruhig und sicher durch die Raumzeit und würde den Austrittsvektor exakt für die berechneten dreidimensionalen Koordinaten wählen. So ließ ich die letzte Stunde noch einmal Revue passieren. Die Wachen zu überwältigen - arglos und überlegen, wie sie sich gegeben hatten - war ein Leichtes gewesen. Zudem hatten sie meiner Gefechtsausbildung nichts entgegenzusetzen gehabt; wenn überhaupt, so hatten sie nur wenige Erfahrungen im Kampf Mann gegen Mann sammeln können. 91
Von da an aber lief meine Zeit ab. Anto-Dschagerass würde schnellstens Bescheid wissen über meine Desertion. Ja - kein anderer Begriff beschrieb den Tatbestand besser. Ich war ein Deserteur und konnte allein mit Dreistigkeit jetzt noch siegen und dabei meinen Rang innerhalb der Flotte ausspielen. Nicht in dieser Reihenfolge, doch militärisch forsch hatte ich meinen Wunsch nach einem schnellen Kampfgleiter beim Deckoffizier der Hangarebene vorgebracht. Nur mein scharfer Tonfall und der Blick auf meine Abzeichen hatten ihn davon abgehalten, auf der Brücke nach einer Abflugerlaubnis zu fragen. Natürlich war ich nicht blauäugig genug anzunehmen, dass er dieses Versäumnis nicht gleich nach dem Start des Jägers nachholen würde. Dann jedoch konnte es mir egal sein. Dann war ich sowieso eine Art Vogelfreier und praktisch zum Töten freigegeben. Die Magnetfeldgeneratoren liefen aus und schalteten sich ab. An dem vertrauten Bild der unendlich langsam an meinem Cockpit vorbeiziehenden Sterne änderte sich nichts, außer dass ich beim Übergang in die gewohnte Raumzeit den Eindruck hatte, jemand hätte eine absolut identische Folie dieses Weltraumausschnitts über den bereits vorhandenen gelegt und auf diese Weise ein leichtes Konturflimmern verursacht. Als mich das ruckartig anspringende Plasmatriebwerk in die Sitzschale presste, konnte ich bereits mein Ziel mit bloßem Auge in all seiner Pracht deutlich sehen. Rot strahlend wies mir die Riesensonne den Weg. Die Massescanner zeigten mir den einsamen Planeten, bei dem sich mein Bewusstseinsfragment befand. Wir waren wie zwei positive Pole, die sich gegenseitig anzogen. Wenn ich eine stabile Umlaufbahn erreicht hatte, würde alles andere automatisch ablaufen... Da dröhnte der Annäherungsalarm in meinen Ohren los! Ich brauchte nicht erst auf den Ortungsschirm zu gucken, um zu wissen, dass Anto-Dschagerass mich gefunden hatte. Schneller, als ich es eingeplant hatte. Eine halbe Minute mehr!, presste ich meine Zahnleisten zusammen, dass meine Kieferknochen knackten. Nur eine verdammte halbe
Minute mehr...
Ich schaltete die Funkübertragung hinzu.
92
»Hör mich an, Anto-Dschagerass! Wenn du mir die Möglichkeit gibst, werde ich dir alles erklären.« Welch ein erbärmlicher Versuch, Zeit zu schinden. Entsprechend blieb der Funk auch still; mein Verfolger gab keine Antwort. Aber er eröffnete auch nicht das Feuer. Noch nicht! Jede Gelegenheit, die sich mir bot, wollte ich nutzen, um diesen Planeten näher zu kommen. Wieso auch immer konnte der Codesplitter wohl keine größeren Entfernungen zurücklegen. Unablässig hörte ich sein Rufen. Unablässig forderte er von mir, ihn endlich aufzunehmen. 700.330 Kilometer galt es noch zu bewältigen. Bei konventioneller Geschwindigkeit eine Sache von ein paar Minuten. Ich startete also weiter durch, hielt den namenlosen Planeten im Auge und die Ortungsschirme, auf denen das Verfolgerschiff die Distanz mehr und mehr verkürzte.
Er will die Jagd auskosten, will mich in trügerischer Sicherheit wähnen.
Zuerst glaubte ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Doch hinter Anto-Dschagerass erschien urplötzlich ein weiteres Schiff, das allerdings nicht den Flottenidentifikationscode besaß. Noch befand es sich außerhalb der sensorischen Erfassung des Annäherungsalarms. Das ist ein Oloidenkreuzer!, staunte ich nicht schlecht. Was hat
das denn zu bedeuten?
Meine Aufmerksamkeit zerstreute sich in zu viele unterschiedliche Richtungen. Ich war gezwungen, gleich drei Ziele im Auge zu behalten und bei Bedarf noch die Waffenkonsole zu bedienen. Irgendwie rückte meine Hoffnung in weite Ferne, dieser Tag könnte noch ein einigermaßen gutes Ende nehmen... * Anto-Dschagerass reagierte mit der ihm eigenen Routine. Sein Schiff brach aus der verlängerten Linie der Kursbahn des Oloidenraumers aus. Während dieser abbremste, um sich einen Überblick zu verschaffen, beschleunigte der Abd-Naal-Kommandant mit Höchstwerten. 93
Die Entfernung zu dem Planeten, den ich Code I getauft hatte, war immerhin auf 450.000 Kilometer geschmolzen. Fast vermeinte ich, dass mich mein Fragment ansprang, so wie ein treuer Hund, der sich über Herrchens Rückkehr freute. In meinem Kopf war kaum noch Platz für die Beobachtung der Kontrollen und Schirme, derart füllte mich das Rufen aus. Vor dem Bug meines Jägers flammten zwei Energiestrahlen auf, schossen vorbei und verloren sich im All. Gleichzeitig schlug der Funk an. »Stoppe dein Schiff, Tats-Lobodsch! Sofort! Sonst wird der nächste Schuss treffen!« Augenblicklich gab ich Gegenschub, verlangsamte den Jäger und brachte ihn zum Stehen - 83.000 Kilometer von Code I entfernt! Ich rechnete mir bessere Chancen aus, Anto-Dschagerass' Anweisungen Folge zu leisten, statt in der Hoffnung weiterzufliegen, es schon irgendwie unbeschadet zu schaffen. Da konnte ich nur verlieren. Gerade bei einem Gegner wie ihm. Ich wendete mein Schiff. Natürlich konnte ich weder den AbdNaal-Zerstörer entdecken noch das dschondoiische Baumschiff. Trotzdem hatte ich ein eigenartiges Gefühl, nur auf elektronische Anzeigen zu reagieren, ohne wirklich etwas zu sehen. Das entsprach exakt dem Verhalten eines Wesens, das es gewohnt war, sich auf seine eigenen fünf Sinne zu verlassen. Dass diese aufgrund der unüberschaubaren Raumgeometrie versagen mussten, fand noch keinen direkten Zugang zu meinem Verstand. Verlor ich die Fähigkeiten Tats-Lobodschs, je mehr ich zu Richard Jordan wurde? In diesem Fall reduzierte sich meine Handlungsspanne beträchtlich. Möglicherweise verlor ich den vollständigen Bezug zu meiner Umgebung, würde nicht einmal mehr in der Lage sein, dieses Schiff zu bedienen. »Ich werde dich nicht töten wie einen gewöhnlichen Fahnenflüchtigen! Nach allem was war, empfinde ich immer noch einen Funken Respekt für dich!« Die leicht verzerrte Stimme aus dem Funkempfänger ließ nicht erkennen, in welchem Erregungszustand sich der Sprecher befand. Ich gab mich keinen Illusionen hin: Anto-Dschagerass sah in mir einen nahezu gleichwertigen Kämpfer. Er würde mit kom94
promissloser Härte auf jede unvorhergesehene Aktion meinerseits reagieren. »Du willst ein... Duell?«, fragte ich ungläubig. Ich zündete die Manövrierdüsen am Bug, um mich unauffällig rückwärts bewegen zu können. Die Energieemissionen waren geringfügig; Anto-Dschagerass würde ihnen keine Beachtung schenken. Allerdings war auch die Schubleistung entsprechend, die mich eher wie eine sanfte Feder im Wind Richtung Code I führte. Immerhin aber war ich in Bewegung. Jeder zurückgelegte Kilometer war wertvoll. »Ich gestehe dir einen Tod in Ehre zu!« Ich brauchte mehr Zeit. Außerdem machte ich eine in höchstem Maße beunruhigende Entdeckung. »Vielleicht solltest du dir besser Gedanken um die Absichten der Oloiden machen. Die magnetische Feldaktivität nimmt rapide zu. Sie fahren ihre Energiekanonen hoch!« »Ich sehe es. Um dieses Problem kümmere ich mich nach der Bereinigung unserer Angelegenheiten.« »Die werden uns beide abschießen!«, schrie ich aufgebracht, besonders im Hinblick auf meine stattliche Geschwindigkeit von 3250 Stundenkilometern. Ich wäre länger als einen halben Naal-Tag bis Code I unterwegs. Anto-Dschagerass schaltete ab. Seine Zieleinrichtungen nahmen mich ins Visier. Die Energiemeiler der Schwarzhäutigen standen um Haaresbreite vor der Eruption. Sie hatten den Finger quasi am Abzug und brauchten nur noch abzudrücken. Ihre Leitstrahlen hatten meinen Jäger erfasst. Die Salven konnten mich nicht verfehlen.
Nachdenken! Du musst nachdenken!
Ich ließ mir auf dem Ortungsschirm eine Gesamtansicht des Sektors zeigen. Unsere Schiffe befanden sich an den Eckpunkten eines imaginären Dreiecks, das eine mittlere Kantenlänge von 1,1 Millionen Kilometern hatte. Eine andere Anzeige bestätigte die Bereitschaft der Hochenergiegeschütze. Meine Mission wäre in jedem Fall gescheitert, wenn ich ohne das Codefragment heimkehrte oder an Ort und Stelle abgeschossen wurde. Was hatte ich also zu verlieren? 95
Viel weniger jedenfalls als die Piloten jener Schiffe, die mich und sich selbst in Schach hielten. Und so setzte ich alles auf eine Karte! * Schrill heulte das Plasmatriebwerk auf, als ich einen Alarmstart hinlegte und in der katapultartigen Vorwärtsbewegung hochzog und wendete. Unter mir kreuzten sich die Bahnen vernichtender Laserbündel. Anto-Dschagerass und die Oloiden hatten gleichzeitig gefeuert und mich nur wegen meiner intuitiven Brachialattacke verfehlt. Das konnte man schon nicht mehr als Glück bezeichnen. Die heckwärts gerichteten Optiken übertrugen eine Explosion und auf meinem Ortungsschirm verlosch das dschondoiische Schiff. Jetzt gab es nur noch Anto-Dschagerass und mich! Ich flog manuell einen Zickzackkurs, wollte mich nicht auf computergenerierte Zufallsberechnungen verlassen. Sicher kannte ein Bluthund wie Anto-Dschagerass eine Taktik, auch sie auszutricksen. Bis an die Grenzen der Materialbelastung peitschte ich den Jäger voran. Die Kilometerdistanz bis Code I verringerte sich in Tausenderschritten. Ich ignorierte den Annäherungsalarm und die Erfassung durch feindliche Zielvorrichtungen. Das Fragment war alles, woran ich momentan dachte. Und es war zum Greifen nahe. Ohne zu bremsen wollte ich über die Oberfläche des atmosphärelosen Planeten preschen und den Bewusstseinssplitter aufnehmen. Ein harter Schlag erschütterte meinen Kreuzer, stieß mich aus der Flugbahn, so dass ich sekundenlang unkontrolliert Code I entgegentrudelte und mein Schiff sich um die Längsachse drehte. Er hat mich getroffen!, dröhnte es in meinem Schädel. Ist viel
schneller als ich!
Es gelang mir, den Kurs zu stabilisieren und einigen unpräzisen Schüssen auszuweichen. Anto-Dschagerass hatte mich nicht töten wollen. Nicht sofort jedenfalls. Sonst wäre jetzt bereits alles vorbei. Rasend schnell näherte sich die schwarzbraune Planetenkugel. Wo genau sich das Fragment befand, konnte ich nicht orten und nur hof96
fen, dass es sich im richtigen Moment an mich heften würde. Der Vorgang an sich barg einige Unwägbarkeiten, an die ich mich besser nicht verzettelte. Anto-Dschagerass fiel zurück, erhöhte jedoch den Salventakt und verlangte mir eine schier übermenschliche Reaktionsfähigkeit ab. Mein Levz war nicht mehr feucht, sondern nass. Gehirn und Körper arbeiteten auf Hochtouren, versuchten ihre Aktionen optimal zu koordinieren. Der Stress ließ mich funktionieren wie eine Maschine. Der fällt immer weiter zurück, beobachtete ich misstrauisch. Als ich den Planeten halb umrundet hatte, verschwand das Ortungsecho meines Verfolgers. »Komm her, du feiger Hund!«, polterte es gleich darauf aus dem Funkempfänger. »Komm her und stell dich zum Kampf!« Warum folgt er mir nicht mehr? Bestimmt hat sein Raumschiff einen Treffer der Oloiden kassiert. Ich wollte den Gedanken festhalten, doch ein heftiger Schauer erfasste mich. Nur für einen Lidschlag, doch unglaublich intensiv. Und in diesem Augenblick fiel mir die Ruhe in meinem Kopf auf, der zuvor noch vom drängenden Rufen des Codesplitters erfüllt gewesen war. Das war's also gewesen. Der ›verlorene Sohn‹ war heimgekehrt. »Ich weiß, dass du mich hören kannst!«, wetterte AntoDschagerass weiter. »Hast du nicht mal genug Mumm in den Knochen, um mir zu antworten?« Ein abfälliges Lachen folgte.
Er will mich provozieren, ihn anzugreifen. Er kann mich nicht jagen, also lockt er mich.
»Ich wusste es, Tats-Lobodsch. Von Anfang an habe ich es gewusst: Du hast keinen Stolz und keine Ehre!« Ich leitete ein Gegenschubmanöver ein, als der Raumzerstörer wieder auf dem Ortungsschirm erschien. Reglos verharrte er im Raum. Er war sehr nahe an Code I herangekommen. Unsere Entfernung voneinander betrug nicht einmal mehr 50.000 Kilometer. Meine Bordsensoren registrierten am Schiff des Flottenkommandanten irreparable Triebwerksschäden und den Totalausfall der Steuerungsaggregate. Die Plasmatanks waren fast bis zur Neige ausgebrannt und die MagnetfeldGeneratoren liefen nur noch mit 30-prozentiger Auslastung. 97
Mein eigener Jäger zeigte kein bedeutend besseres Bild. Doch ich hatte heute bereits einen großen Sieg errungen und den Splitter meines transgenetischen Codes eingefangen. Auf dieser Welle der Euphorie wollte ich weiter reiten. Entschlossen lehnte ich mich im Pilotensitz zurück und sagte grimmig: »Lass es uns jetzt zu Ende bringen...!« * Woran würde ich merken, dass die Priester mich heimholten? Woher würden sie wissen, wann es so weit war? Beinahe bereute ich es, mich auf einen direkten Kampf mit AntoDschagerass eingelassen zu haben. Ich war zwar technisch leicht im Vorteil, doch ein Fuchs wie er konnte das durch seine Erfahrung locker wettmachen. »Siehst reichlich lädiert aus«, spottete ich, um meine Bedenken zu überspielen. »Überlege es dir lieber noch mal...« »Schweig!«, fuhr er mich an. »Stirb wenigstens mit Anstand!« Wann, zum Teufel, wollten die Priester endlich eingreifen? Unsere Zieloptiken rasteten ein. Irgendwie war klar, dass es keinen Gewinner in diesem Duell geben konnte. Wir würden uns unweigerlich gegenseitig auslöschen. Einen ›Streifschuss‹ konnte es bei der Wahl dieser Kaliber nicht geben. Im selben Sekundenbruchteil brüllten unsere Energiegeschütze auf! * »Wir können von Glück sagen, dass wir so glimpflich davongekommen sind.« Lorr-Lokk warf einen Blick in die Runde seiner Kollegen. Ihnen stand die Angst vor einem Angriff der dschondoiischen Ultraellipsoiden noch deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie hatten Todesängste ausgestanden in ihrer kleinen Kontrollstation auf dem Trem-Mond. Selbst nach zwei Tagen schlugen vereinzelt noch Bruchstücke der zerstörten 98
Materiezapfanlage ein. Einige groß genug, den Überwachungsposten unter sich zu begraben. »Die Vernichtung des Materiezapfers kurz vor Fertigstellung ist allerdings ein außerordentlicher Rückschlag innerhalb der Gesamtkonzeption. Naal muss darüber informiert werden, dass die Ausführung des 350-Jahres-Plans kritisch ist.« »Willst du das übernehmen?«, erwiderte Tandt-Harrsh höhnisch. »Willst du Pug-Orpp mitteilen, dass er und alle Bürger auf Naal die kommenden Generationen schon mal auf den drohenden Untergang vorbereiten sollen?« »Aber das können wir doch nicht verschweigen!«, empörte sich Lorr-Lokk und stellte sofort unmissverständlich klar: »Ich werde umgehend die Regierung informieren! Außerdem muss der Transmitterring repariert werden. Dafür brauchen wir jede Unterstützung, die wir kriegen können.« Er betrat einen Nebenraum und ließ betroffen schweigende Männer zurück, die sich auszumalen versuchten, welche Konsequenzen sein Funkspruch nach sich ziehen würde. Kurze Zeit später kam Lorr-Lokk nachdenklich wieder in den Kontrollraum. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Ich bekomme keine Verbindung mit Naal.« »Sicher ein Störfeld, das die Frequenz blockiert«, erhielt er zur Antwort. »Nein, nein. Der Richtstrahl geht glasklar raus. Im Empfänger ist nur nichts zu hören. Kein Rauschen, keine Unterbrechung. Nichts. Es ist fast so, als wäre Naal nicht mehr da oder nicht in der Lage zu antworten.« »Komm her!«, überging Tandt-Harrsh die letzte Bemerkung und winkte den Kollegen zu sich. »Wir haben erhebliche Energietransmissionen geortet. Anderthalb Lichtjahre von hier, in unmittelbarer Nähe von Ogg-Virr III.« »Sind da nicht in kurzem Abstand voneinander drei Schiffe hingeflogen?« 99
»Ja, zwei von unserer Flotte und eins von diesen schwarzhäutigen Bestien.« »Ob die keine anderen Sorgen haben?« Es sollte abwertend klingen. »Kann ich dir nicht sagen. Auf jeden Fall ist jetzt keins von ihnen mehr da. Sie haben sich, wie es scheint, gegenseitig abgeschossen.« »Um die Oloiden ist's nicht schade, aber unsere Leute hätte ich für vernünftiger gehalten.« Lorr-Lokk seufzte. »Die Arbeit muss weitergehen. Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll...« »Großer Gott!«, stöhnte Tandt-Harrsh auf und aller Augen waren auf ihn gerichtet. Er fingerte an Amplitudenreglern und justierte blitzschnell eine Unmenge unübersichtlicher Einstellungen. »Was soll die Aufregung?«, beschwerte sich Lorr-Lokk, der anscheinend wieder seinen gewohnten Tagesrhythmus aufnehmen wollte. »Es war alles umsonst.« Tandt-Harrsh wirkte erschüttert. »Es hat alles keine Bedeutung mehr.« »Was hat keine Bedeutung mehr...?« »Ogg-Virr III. Es geht zu Ende. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen Massen- und nach innen gerichteter Gravitation bricht zusammen. - Gütiger Himmel! Es geht alles so irrsinnig schnell!« »Soll das heißen, der Stern wird explodieren?« Lorr-Lokks rotblaue Haut bekam wie die seiner Kollegen eine ungesunde Färbung. »Der gravitative Kollaps ist nicht mehr aufzuhalten! Ogg-Virr III wird seine Hülle absprengen und für sehr kurze Zeit sehr hell leuchten. Es wird einzig ein Kern von enormer Dichte übrig bleiben.« »Ein Schwarzes Loch«, hauchte Lorr-Lokk ehrfürchtig. »Wann ist es so weit?«, fragten jetzt die anderen. Die Stimmen zitterten. Der erste Schock war noch nicht überwunden, da wurden sie schon mit dem nächsten konfrontiert. »Sag uns bitte: wie lange noch?« Tandt-Harrsh holte tief Luft. »Keine Minute mehr...« * 100
Hast du ihn? Ein sphärisches Rauschen war vorerst die einzige Antwort.
Ist er wieder in seinem Körper? Angespanntes Schweigen. Schließlich löste Vukk-Ar Soi'Sann-Zuul den Bann: Die Reimplanta-
tion ist erfolgreich verlaufen!
Ravenmoor/Sha'am-O rannte auf seine unvergleichliche Weise auf die Kammernische zu, in der Richard Jordan gerade anfing sich zu recken und zu strecken. »Grüß dich, Kumpel. Willkommen in der Zitadelle.« * Das Erwachen in meinem Körper war glücklicherweise nicht mit denselben Begleitumständen verbunden wie mein Ausflug in den toten Tats-Lobodsch. Ich wusste, wer ich war. Und ich wüsste, wo ich war. Dem Geschmack in meinem Mund nach zu urteilen, wüsste ich auch, wohin ich mich gleich begeben würde. Matt tastete ich nach den Rändern meines Sargs, um mich daran hochzuziehen. Ich unterdrückte ein Ächzen, da mir in den Sinn kam, dass Schneewittchen meines Wissens auch keins von sich gegeben hatte. Und das arme Ding war wesentlich länger eingemottet gewesen. Ihr einziger Vorteil mir gegenüber bestand jedoch in der nicht ganz unwichtigen Feststellung, dass sie beim Aufstehen in sieben freundliche Gesichter geblickt hatte. Ich sah nicht ein einziges. Stattdessen drehten und wanden sich die Fäden aus Ravenmoors Härchenkranz vor meiner Nase. Es erforderte einen großen Teil meiner Willenskraft der Versuchung zu widerstehen, mich wieder hinzulegen. Ich erwiderte Sha'am-Os Begrüßung nicht, schwang, so gut es ging, meine Beine aus der Ruhekammer und kam wackelig zum Stehen. Aus müden Augen schaute ich den Stöpsel an. »Macht die Geisterbahn heute später auf oder hast du frei?«, pöbelte ich. 101
»Dir wurde das Talent verliehen, die Schönheit des Augenblicks mit wenigen unbedachten Worten zu ruinieren«, zeigte sich Ravenmoor ein wenig beleidigt. »War nicht böse gemeint«, versuchte ich zu kitten. »Doch! Das war böse gemeint!« »Ich bin noch nicht ganz wieder da, Philip«, ging ich mit meinen peinlichen Entschuldigungen in die nächste Runde. »Hast du mal ein Pfefferminz?« An Gaumen und Zunge klebte etwas von der Sorte, was sich immer morgens nach dem Aufwachen dort befand. Ravenmoor marschierte durch die weitläufige Halle Jai und Zuul entgegen und würdigte mich keiner Silbe mehr. Gemächlich trottete ich hinterher. Das Leben hatte mich wieder. Und langsam floss es auch in meine Adern zurück. Ich fühlte mich vollständig wiederhergestellt und konnte mir überhaupt nicht vorstellen, vor zehn Minuten noch am anderen Ende einer fremden Galaxis in einem fremden Körper gewesen zu sein. Das Mysterium von Zeit und Raum hatte lange nicht alles offen gelegt, was es zu entdecken und zu erforschen gab. Doch hatte ich das tiefe Empfinden, auf den Spuren großartiger Rätsel zu wandeln - und ihrer Lösung! »Hallo Zuul. Hallo Jai.« Wir sind hocherfreut, dich zu sehen, sagten sie gleichzeitig. Du
bist wohlauf und hast keinen gesundheitlichen Schaden genommen. Nein, dachte ich und versuchte, meine Gedanken abzuschirmen. Aber das kommt noch, wenn ihr weiter so geschwollen daherredet.
»Brauchst du nach den Anstrengungen Erholung?«, benutzte Stakk-Ar Vel'Enan-Jai seine Sprechmembranen. »Ich brauche vor allen Dingen ein paar Antworten. Ich erinnere mich an ein Feuergefecht und war nahe dran, pulverisiert zu werden. Warum habt ihr so lange gewartet, bis ihr mich zurückgeholt habt?«
Die Einstellungen an diesen Maschinen sind sehr komplex. Wir waren zwar über jeden deiner Schritte informiert, konnten jedoch nur mit gewisser zeitlicher Verzögerung handeln. Dass sich die Lage derart zuspitzen würde, war nicht kalkuliert und hat uns Sorgen bereitet. Die Gefahr, in der du dich befunden hast, war durchaus real. Bei kommenden Missionen werden wir vorsichtiger agieren müssen. 102
»Da freue ich mich jetzt schon drauf«, gab ich bissig zurück. »Was mir ebenso wenig gefallen hat, war der Zustand der Unbewusstheit in Tats-Lobodschs Körper. Auch das hätte zu ungeahnten Komplikationen führen können.«
Daran ist leider nichts zu ändern. Die Seelenimplantation lässt sich vergleichen mit einer Organverpflanzung. Der Körper muss sich erst an den neuen Mitspieler gewöhnen, bevor beide miteinander harmonieren können. Es ist ein Vorgang der Anpassung, der Gewöhnung... Ich ließ es dabei bewenden.
Dürfen wir dir jetzt vielleicht jemanden vorstellen?
Ich konnte nicht ganz folgen. Wen wollten sie mir vorstellen? Ich kannte die Horde doch allesamt. Oder hatten wir während meiner Abwesenheit Besuch bekommen? Das wäre dann in höchstem Maße außergewöhnlich. Meine Neugier wuchs. Eventuell waren ja Echnaton und Nofretete auf ihre ganz spezielle Art und Weise wieder reingeschneit. Oder ein paar der anderen Inkarnationen, die sich schon mal gerne im Zentrumsbereich Gon'O'locc-uurs aufhielten. Bisher hatte ich mich bedingt durch die Regenerationsphase nicht mit ihnen beschäftigen können. Ich beschloss, das unbedingt nachzuholen. »Kein Problem. Bringt mich hin.« »Er ist bei mir, mein lieber junger Freund«, hörte ich plötzlich Großvater Schrein. »Du wirst überrascht sein, ihn zusehen.« »Ich kenne ihn?«, wunderte ich mich. »Sicher, Richard. Er ist ebenfalls begierig, dich wieder zu sehen.« Forsch klopfte ich Ravenmoor aufs Dach. »Ab nach oben«, forderte ich ihn auf. Zumindest ich musste wieder durch die Röhre hoch schweben. Die Priester schienen ja andere Möglichkeiten zu haben. »Geh du mal«, zeigten die hundertzwanzig Zentimeter sich bockig. »Ich komme später nach.« »Halt die Fühler trocken«, flachste ich rum, trat unter die Deckenöffnung und tauchte alsdann in den Schacht ein. * 103
Es war stets aufs Neue ein erhabenes Gefühl, sich im Herzen Gon'O'locc-uurs aufzuhalten. Unter den Kuppeldom schmiegten sich die sanft klingenden Harmonien einer wohlgefälligen Architektur in Verbindung mit einer angenehmen Komposition aus Farben, Düften und Klängen. Ich fragte mich, was wohl ein Lebewesen mit mehr als nur fünf Sinnen wahrnehmen würde und war einerseits traurig, diese Erfahrung nicht selbst machen zu können. Nicht weit entfernt stand jemand. Nur eine einzige Person. Erwartungsvoll sah sie mich an, bewegte sich jedoch keinen Meter auf mich zu, sondern schien mich eher zu studieren. Es war ein Mann, wahrscheinlich nicht viel älter als ich. Markantes, spitz zulaufendes Gesicht, auf dem sich Krater und tiefe Furchen zeigten. Das Haar war voll und weiß. Darauf zeigten sich schwarze Strähnen. Die Kleidung des Mannes sah arg ramponiert aus. Insgesamt wirkte alles an ihm schmutzig. Der schwarze Ledermantel war abgegriffen, wies zahlreiche Kratzspuren und abgeschabte Stellen auf. »Kennen... wir uns?«, reichte ich ihm zögerlich meine Hand. Abschätzend begutachtete er mich aus der Nähe. Oder war es eher abfällig? Das zurückhaltende Schmunzeln auf seiner Miene ließ sich schwer deuten. »Richard Jordan also«, sagte er mit Tiefbass und machte keinerlei Anstalten, meine ausgestreckte Hand zu ergreifen. »Oder soll ich besser sagen: Tats-Lobodsch?« Er kostete meine Verwirrung sichtlich aus. Ich zog die Hand fort, als hätte ich mich verbrannt. Wer war dieser Mann, der mich kannte, den ich hingegen noch niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte? »Schrein?«, fragte ich ins Leere. »Oh«, bot sich mein Gegenüber an, »unser gemeinsamer Freund hat sich auf meine Bitte hin zurückgezogen. Er hat vollstes Verständnis dafür, wenn alte Kameraden unter sich sein wollen.« Dämmerte mir da etwas? Alte Kameraden? Das konnte doch nur bedeuten... »Anto-Dschagerass!«, schoss ich erschrocken meine Vermutung ab. Sein verhaltenes Grinsen zeigte mir, dass ich ins Schwarze getrof104
fen hatte. Aber wie war das möglich? Der Mann vor mir war kein AbdNaal. Und er war nicht aus einem der Sarkophage gekrochen. Woher aber war er dann gekommen? »Du hast dich auch ganz schön verändert«, schien er meine Gedanken zu lesen. »Eigentlich solltest du nun tot sein.« »Möchtest du das gleich hier nachholen?«, fand ich meine Sprache wieder. »Nein«, antwortete er entschieden. »So, wie die Dinge nun liegen...« Er wurde abrupt unterbrochen. »Ich weise euch darauf hin, dass ich Maßnahmen zur Abschottung des Zentrumsbereichs getroffen habe«, hörten wir die Stimme des Schreins. »Gon'O'locc-uur, ich hatte dich instruiert, uns alleine zu lassen!«, entgegnete Anto-Dschagerass scharf. Er schien den Schrein nicht erst seit heute zu kennen, so viel war sicher. »Col'Shan-duur wird angegriffen«, fuhr der unsichtbare Sprecher ungerührt fort. »Das Fressplasma bahnt sich seinen Weg ins Innere der Zitadelle.« Amalnacrons Vermächtnis!, durchfuhr es mich siedendheiß. Auch Anto-Dschagerass verlor jeglichen amüsierten Ausdruck. »Ich weiß«, flüsterte er tonlos. »Es ist wegen mir hier.«
Ende
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