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Stanley Cohen
Engelsgesicht THRILLER EB-08
Prolog Der alte Mann stand auf und schob den Stuhl zurück. »Es wird Zei...
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Stanley Cohen
Engelsgesicht THRILLER EB-08
Prolog Der alte Mann stand auf und schob den Stuhl zurück. »Es wird Zeit, Steve, Mutter und ich gehen jetzt.« »Warum hast du's denn so furchtbar eilig, Papa? Jetzt seid ihr gerade eine Stunde hier und wollt schon nach Hause!« »Es ist schon nach zehn, und ich muß morgen früh um sieben im Laden sein.« Er sah seine Frau an. »Trink deinen Tee aus, Anna, und dann gehen wir. Vielen Dank für den Tee und den Kuchen, Steve.« »Bitte, Papa! Bleibt doch noch ein Stündchen.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Bis wir zu Fuß zu Hause sind, ist es spät. Wirklich, wir müssen jetzt gehen, Steve.« »Zu Fuß?- Kommt gar nicht in Frage.« Der alte Mann sah zuerst zu der jungen Frau mit dem kastanienbraunen schulterlangen Haar und dann wieder zu seinem Sohn hin. »Wir gehen zu Fuß, Steve. Wir sind immer zu Fuß gegangen, wenn wir bei dir waren.«
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»Sonntags nachmittags ja..Aber nicht um zehn Uhr nachts. Es gibt ja genügend Taxis.« »Ich komme mit runter und besorge euch eins, das dauert höchstens eine Minute. Wenn du nicht willst, daß Barbara allein hier oben bleibt, kann sie ja mit runterkommen.« »Wir gehen zu Fuß! Das ist mein Viertel. Wenn ich in meinem Viertel nachts nicht mehr zu Fuß gehen kann, ziehe ich weg.« »Um das mal richtigzustellen, das ist ja gar nicht dein Viertel. Dein Viertel ist die Seventh Street und die Second Avenue. Das ist immerhin zehn Blocks weiter, Papa. Was dazwischenliegt, ist ganz schön runtergekommen.« Er zögerte. »Und die Seventh Street ist auch nicht mehr das, was sie früher mal war.« »Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Der alte Mann lächelte. »Mein Sohn ist Polizist bei der Kripo. Und möchte wohl mit einem Mann Schwierigkeiten bekommen, dessen Sohn bei der Polizei ist?« Die Mutter stand vom Tisch auf. »Du kennst ihn ja, Steve. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat...« »Verdammt noch mal«, Steve fuhr sich mit der Hand durch das widerspenstige dunkelblonde Haar. »Man sollte glauben, daß meine Eltern mittlerweile wissen, was hier los ist. Ich habe euch doch die ganzen Geschichten erzählt. Kommt jetzt. Ich bring' euch runter.« Er wandte sich zu Barbara. »Schließ die Tür hinter uns ab. Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, dann bin ich eben mit nach Hause gefahren.«
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Barbara lächelte. »Gute Nacht, Mr. K. Gute Nacht, Mrs. K. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Im Fahrstuhl sprachen sie kein Wort, weil noch zwei Leute mitfuhren. Als sie durch die Empfangshalle gingen, fragte Steves Mutter: »Wirst du Barbara heiraten?« »Weiß ich nicht, Mama. Ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht. Wir kennen uns ja kaum.« »Kaum kennen nennst du das? Wir kommen am Sonntagmorgen hierher... Sie war die Nacht über bei dir...« »Vielleicht mag sie das einfach. Wie kommst du auf die Idee, daß sie verrückt aufs Heiraten ist? Sie hat schon gemerkt, daß es kein Zuckerlecken ist, mit einem Polizisten. Du hast ja gesehen, was beim ersten Versuch rauskam.« »Ich mag die Frau«, sagte der alte Mann mit Nachdruck. »Du solltest sie vom Fleck weg heiraten. Sie ist eine gute Katholikin, und sie mag ukrainisches Essen.« Steve lachte und nahm seinen Vater in die Arme. »Ich weiß deinen Rat zu schätzen, und ich will darüber nachdenken. Okay? - Aber ich bin jetzt fünfunddreißig, und das ist alt genug, um solche Dinge selbst zu entscheiden. Ich möchte nicht noch einmal einen Fehler machen. Kommt, ich rufe euch ein Taxi. Und ich bezahle.« »Wenn ich wirklich ein Taxi wollte, könnte ich es auch selbst bezahlen. Aber wir laufen lieber!« »Papa, ich möchte nicht, daß ihr hier zu Fuß geht. Nicht in dieser Gegend -«
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»Ich glaube, auch ich bin alt genug, um so etwas selbst zu entscheiden.« »Ich wollte euch doch damit nicht...« »Wir gehen zu Fuß!« Er warf seinem Sohn, der ihn um einen Kopf überragte, einen trotzigen Blick zu. »Es ist so warm heute abend. Viel zu warm für ein Taxi.« »Mama, kannst du ihm nicht was sagen?« »Er läßt sich doch von niemandem etwas sagen -« Die alte Frau seufzte. Sie wäre nur zu gern im Taxi gefahren. »Ich hol' jetzt einen Wagen und bring' euch dann nach Hause. Es dauert nur drei Minuten.« »Geh wieder rauf. Ich will nicht, daß du das Mädchen so lange allein läßt.« Der Alte sah seinen Sohn streng an. Stefan warf einen Blick zum erleuchteten Fenster hinauf, wo seine Wohnung lag, dann wandte er sich wieder seinem Vater zu. »Mein Gott, was für ein Dickschädel du doch bist! Na gut-« Er nahm zuerst seine Mutter und dann seinen Vater liebevoll in die Arme und küßte sie. »Ihr bleibt aber auf der Fourth Avenue, hört ihr! Geht nicht auf die Third Avenue. Die ist voll von Drogensüchtigen. Und tut mir einen Gefallen: geht nur da lang, wo die Straße beleuchtet ist und wo Menschen sind. Okay?«
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Teil 1
1. Kapitel Die erste Nachricht kam über die 911 herein. Die Anruferin wollte anonym bleiben. Sie wolle nur berichten, was sie gesehen habe, und sonst gar nichts, sagte sie klar und deutlich. »Wir haben nicht gesehen, wie's passiert ist. Wir gingen da vorbei. Wären wir mal lieber auf der anderen Seite geblieben. Ich mag diese überdachten Bürgersteige sowieso nicht. Die sind so dunkel! Na ja, jetzt weiß ich, was einem da alles passieren kann... Egal, da lagen sie jedenfalls. Und um sie herum alles voller Blut. Die sind nicht ausgerutscht und hingefallen oder so. Nicht beide auf einmal. Nicht mit diesem ganzen Blut überall... Auf jeden Fall hielten wir an und gingen ein Stück zurück, bis zu diesem Telefon hier. Ein Glück, daß es eins war, wo man wählen kann, ohne einen einzigen Pfennig, weil wir sonst...« Der Polizist unterbrach die Frau und fragte, wo sie sich genau befand. »Dieser überdachte Bürgersteig da, in der Nähe von der neuen Kirche, auf der — na, Sie wissen schon, welche ich meine.« »Seventh Street, aber auf welcher Höhe?« »Zwischen Third und Second Avenue. Mehr zur Third Avenue hin. Da gibt's eine andere Straße dicht an der Kirche. Eine sehr kleine Straße. Hat irgendeinen ausländischen Namen, den man gar nicht aussprechen kann. Wissen Sie jetzt, wo's ist?« »Ja, danke. Wir schicken sofort einen Streifenwagen hin. Würden Sie bitte warten, bis wir da sind?« 6
»Den Teufel werd' ich tun.« Es klickte in der Leitung. Der Funkruf ging sofort raus. »Code A 1034. Überfall, vielleicht Messerstecherei, wahrscheinlich Mord. Beeilt euch!« Der erste blau-weiße Funkwagen war innerhalb von Minuten am Tatort. Blinklicht. Heulende Sirene. Inzwischen war über die Notrufnummer 911 noch ein weiterer Anruf gekommen. Zwei farbige Schüler, die gerade aus Mc Sorley's Old Ale House, einer Kneipe gegenüber dem überdachten Bürgersteig kamen. Die beiden hatten die Seventh Street überquert und wollten in die Holzpassage einbiegen, als sie es sahen. Sie waren in die Kneipe zurückgelaufen, um die Polizei sofort zu informieren. Die Tür des Streifenwagens öffnete sich, und ein Polizist sprang heraus. Er lockerte den Revolver, der im Halfter auf der Hüfte steckte, aber er zog ihn nicht. Er sah sich um. Ein paar Fußgänger standen am Straßenrand. Neugierige, die durch das Heulen der Sirene und durch das Blinklicht aufmerksam geworden waren. Der Wagen befand sich zwischen dem Polizisten und dem Tatort. Da alles ruhig schien, ging er hinüber. Und dann sah er die beiden am Boden liegen. Er eilte um die Holzbarriere herum und kniete sich hin, um einen nach dem anderen zu untersuchen. Er zitterte, als er zum Wagen zurücklief. »Mein Gott, das ist vielleicht ein Blutbad!« sagte er zu seinem Kollegen, der am Steuer sitzen geblieben war. Über Funk rief er nach einem Krankenwagen. Seine Stimme zitterte. »Lassen Sie auch den hier zuständigen Inspektor kommen. Es sieht schlimm
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aus. Wirklich schlimm. Möglicherweise Doppelmord.« Kurz darauf traf ein zweiter Streifenwagen ein und stellte sich neben den anderen. Minuten später folgte ein dritter. Die sechs Polizisten hatten einen kleinen Kreis gebildet und sprachen miteinander. In Minutenschnelle hatte sich um sie eine große Menschenmenge gebildet. Immer noch drehten sich die Blinklichter auf den Dächern der Streifenwagen. Einer der Beamten ging zum Kofferraum seines Wagens und nahm ein Seil heraus. Der Tatort war leicht abzusichern. Man brauchte nur den Eingang und den Ausgang des überdachten Bürgersteigs mit dem Seil abzusperren. Ein Krankenwagen bog von der Second Avenue in die Seventh Street ein und stellte die Sirenen ab, als er zum Stehen kam. Drei weiß gekleidete junge Männer liefen zu den Polizisten hinüber und von dort gleich weiter zur Absperrung. Einer von ihnen kniete sich hin und untersuchte die leblosen Körper, die, wie in einer schrecklichen letzten Umarmung verschlungen, dalagen. Er richtete sich langsam wieder auf und steckte das Stethoskop in seine weiße Kitteltasche. Dann gingen er und seine beiden Begleiter zu den Polizisten zurück. Es gab keine Eile mehr. Er mußte sie lediglich informieren. Währenddessen war noch ein Funkwagen eingetroffen, mit Blinklicht, aber ohne Sirene. Ein Beamter im Rang eines Sergeant, erkennbar an den Schulterstreifen, stieg aus. Er gesellte sich zu den Polizisten und Sanitätern. Nach wenigen Worten ging er zu der überdachten Passage, blieb einen Moment am Geländer stehen und betrachtete von dort aus 8
die Toten. Dann ging er zurück, um seinen Leuten genaue Anweisungen zu geben. Die beiden Beamten, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, würden den Fall bearbeiten. Als erstes mußten die Leichen durchsucht werden. Vielleicht konnte man ihre Identität feststellen. Mit aller Sorgfalt mußte vorgegangen werden, denn die beiden Opfer sollten genauso liegenbleiben, wie man sie vorgefunden hatte, um die Arbeit der Gerichtsbeamten, die später am Tatort eintreffen würden, nicht zu beeinträchtigen. Den anderen Beamten wurde Anweisung gegeben, in der Zuschauermenge nach Zeugen zu suchen. Einer wurde auch zum Telefonieren losgeschickt. »Wir geben über den Fall vorerst nichts mehr durch«, sagte der Sergeant. »Sonst haben wir alle Reporter hier, die uns bei den Ermittlungen über die Schulter schauen. Sie verständigen bitte als erstes Ihr Revier. Die sollen ein paar Ermittlungsbeamte herschicken. Als nächstes rufen Sie CB und verlangen die Mordkommission, Manhattan Süd. Wir brauchen den Einsatzwagen und die Kollegen von der Spurensicherung!« Der Polizist drängte sich durch den ständig wachsenden Kreis Neugieriger zu dem nächsten Telefon, um die Anweisungen des Sergeants auszuführen. Die anderen bemühten sich um erste Zeugen in der Menge. »Hat irgend jemand etwas gesehen, von dem er glaubt, daß es in einem Zusammenhang mit der Tat stehen könnte? War jemand unter Ihnen in der Nähe, als es geschah?... Haben Sie gesehen, wie jemand weglief? Oder einfach schneller als normal ging, als ob er es besonders eilig hätte, von hier 9
fortzukommen?... Oder etwas anderes Ungewöhnliches?... Lassen Sie sich Zeit. Wenn Ihnen etwas einfällt, sagen Sie es uns. Oft sind auch die kleinsten Einzelheiten schon wertvoll für uns...« Die Fragen, in die Menge der Schaulustigen geworfen, bewirkten nichts. Nur bedauerndes Schulterzucken, Gleichgültigkeit und sogar abfällige Bemerkungen einzelner - Geflüster hinter vorgehaltener Hand. Das Wort »Polizistenschwein« fiel. Ein grinsender Halbwüchsiger, offensichtlich unter Drogeneinfluß, drängte sich vor. Ob das die Art sei, wie die Polizei mit den Morden in den großen Städten aufräumen wolle. Der Polizist zwang sich zur Ruhe: »Haben Sie irgendwelche konkreten Vorschläge, wie man's besser machen kann? Wenn ja, höre ich mir das gern an, wenn nein, ... wir müssen schließlich mit irgend etwas anfangen.« Der Sergeant hatte sich inzwischen die beiden Jungen vorgenommen, die angerufen hatten. Sie genossen es, im Mittelpunkt zu stehen, umgeben von Funkwagen, auf denen die orangefarbenen Einsatzleuchten blinkten. Sie fühlten sich als Helden der Stunde. Sie sprachen mit dem Beamten und mit dem Arzt, der den Tod der Opfer festgestellt hatte. Aber sie wußten nicht mehr, als sie der Polizei bereits am Telefon gesagt hatten. Sie waren aus der Kneipe gekommen, hatten die beiden Leichen gesehen und waren schnell ins Lokal zurückgerannt, um anzurufen. Sie hatten' nichts gesehen, was mit der Tat in direktem Zusammenhang stand. Ein Wagen der Mordkommission Manhattan Süd fuhr vor. Zwei Beamte stiegen aus. Nachdem sie sich kurz über den Stand der Ermittlungen informiert 10
hatten, besichtigten Sie den Tatort. Sie ließen sich von dem jungen Arzt die Art der Verletzungen beschreiben, die den beiden Überfallenen zugefügt worden waren, dann gingen sie zu den Opfern hinüber und untersuchten sie genauer. Das gleiche wie immer. Mord auf der Straße. Doppelmord sogar. Keinerlei Anhaltspunkte. Niemand kannte die Opfer. Niemand hatte den Mörder gesehen. Oder die Mörder. Wieder so ein hoffnungsloser Fall. Der Wagen mit den Gerichtsbeamten war eingetroffen. Zwei Männer stiegen aus, begannen Fotos zu machen und inspizierten den Tatort nach möglichen Spuren. Auf die winzigsten Kleinigkeiten kam es an. Weniger als fünfunddreißig Minuten waren vergangen, seit der erste Anruf auf der 911 hereinkam. Einer der Ermittlungsbeamten ging zum Telefon und rief seinen Inspektor an. Dann drängte er sich gemeinsam mit seinen Kollegen in die Menge und stieß auf ein paar Polizisten. Die Befragung war bisher völlig unergiebig gewesen. Vielleicht würde es etwas bringen, schnell noch die nähere Umgebung zu erkunden. Sie gingen zu ihren Wagen zurück und holten starke Suchleuchten aus dem Kofferraum. Dann durchbrachen sie den Kreis der Neugierigen und begannen, die Eingangsflure der nächstgelegenen Häuser zu inspizieren. Sie leuchteten in jede Ecke, und in die Hinterhöfe. Und sie durchstöberten so gut es ging auch einzelne Müllberge. Der nächste Wagen näherte sich dem Tatort, ein Fahrzeug, das durch das abmontierbare PolizeiBlinklicht auf dem Wagendach als Dienstauto zu erkennen war. Das Auto rangierte neben den anderen Funkwagen ein, und drei Beamte in Zivil stiegen 11
aus: ein Lieutenant und zwei weitere Ermittlungsbeamte von Manhattan Süd. Die beiden Beamten von Forensic waren gerade fertig geworden und verließen den Tatort. Sanitäter kamen mit fahrbaren Bahren. Der Sergeant hatte sie bisher zurückgehalten, um die Spurensicherung nicht zu stören. Jetzt sollten sie die beiden Opfer ins Leichenschauhaus bringen. Als der alte Mann mit den Füßen voran in den Wagen geschoben wurde, glitt die Decke etwas zur Seite und gab sein Gesicht frei. »He!« rief einer aus der Menge der Neugierigen. Sofort gab der Kommissar den beiden Sanitätern ein Zeichen, noch etwas zu warten. Die beiden hielten an und musterten interessiert den jungen Mann, der gerufen hatte, ein Angehöriger der spanischsprechenden Minderheit, mit schwarzem krausem Haar und bleistifthaft dünnem Oberlippenbart. »Wißt ihr überhaupt, wer der Tote ist?« fragte er. Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Kennen Sie den Mann?« »Ich glaube schon.« Der Ausländer betrachtete nochmals eingehend das bleiche Gesicht des Toten und die blutverschmierte Schnittwunde an der Gurgel. Er wandte sich angeekelt ab. Er hatte genug gesehen. »Ich weiß, wer das ist: Der alte Schneider, der seinen Laden da drüben, die Straße weiter runter, hat.« Der junge Mann wies mit seinem Arm in die angegebene Richtung. Einer der Ermittlungsbeamten hatte sofort sein Notizbuch aus der Tasche gezogen und schrieb mit. »Wie heißt der Tote?« fragte der Lieutenant. »Den Namen kann niemand aus12
sprechen. Fängt mit einem »K« an.« Er zögerte einen Moment. »He, Mensch, wie komm' ich jetzt an meinen Anzug ran, können Sie mir das verraten? Ich hab' ihm meinen neuen Anzug zum Ändern gegeben.« »Warum sollten Sie Ihren Anzug denn nicht wiederbekommen? Der Schneider hat doch sicher einen Zettel mit Ihrem Namen auf dem Anzug festgesteckt.« »Der macht nie einen Namen an die Anzüge. Hören Sie mal. Ich muß den Anzug wiederhaben. Der hat mich fast einen Wochenlohn gekostet.« »Haben Sie denn keine Quittung bekommen?« »Nur eine Nummer. Und was mach' ich, wenn er den Zettel mit der Nummer zum Arbeiten vom Anzug abgemacht hat? Können Sie mir nicht eine amtliche Quittung geben?« »Ich werde veranlassen, daß ein Schild ins Schaufenster der Schneiderei gehängt wird. Dort können Sie und die anderen Kunden lesen, wann der Laden zur Abholung der Kleidungsstücke geöffnet ist. Vorläufig wird da nichts angerührt. Gehen Sie in den nächsten Tagen mal am Laden vorbei. Sie werden Ihren Anzug wiederbekommen.« Für den Lieutenant war damit das Gespräch beendet. Er nickte seinen Leuten zu, damit sie weitermachten. Als die Leichen eingeladen wurden, fuhr der Krankenwagen ab. Der Lieutenant wechselte noch ein paar Worte mit den beiden Leuten von der Kripo, dann ging auch er zu seinem Wagen und verließ den Tatort. Nach und nach verlief sich die Menge. Es gab keinen Krankenwagen mehr und keine Fotografen. Die Sache begann, langweilig zu werden. Die übrigen Polizisten und die Kriminalbeamten 13
waren in der Nähe eines der Wagen zusammengekommen. Da wurde eine Nachricht über Funk durchgegeben. Einer der Polizisten setzte sich und nahm das Mikrofon, um zu antworten. Noch während er seine Meldung durchgab, hatte sein Kollege am Steuer Platz genommen und fuhr los. Die letzten Gaffer kehrten zu ihren Tischen im Mc. Sorleys zurück. Vier Beamte in Zivil waren jetzt noch da, und vier in Uniform. Die drei Autos wurden abgeschlossen. Dann machten sich zwei auf den Weg zum Laden des alten Mannes, der auf der Seventh Street in östlicher Richtung lag. Die übrigen durchsuchten in Zweiertrupps weiter die nähere Umgebung. Die eigentliche Spurensuche würde erst bei Tagesanbruch durchgeführt werden können. Als alle Beamten außer Sichtweite waren, kamen drei Jungen aus einem Hauseingang hervor, zwei weiße und ein schwarzer, alle so zwischen acht und elf Jahren. Sie schlichen zu einem der Funkwagen, äugten durchs Fenster, flüsterten etwas, lachten, schauten sich um. Sie wollten sichergehen, daß niemand ihnen zusah. Es waren dann die beiden Weißen, die auf den rechten Hinterreifen des Polizeiwagens deuteten. Und der Schwarze, bei weitem der kleinste der Gruppe, kniete sich neben das Hinterrad. Er zog ein kleines Werkzeug aus der Tasche und löste den Verschluß des Ventils. Die Luft zischte aus dem Reifen und die drei Jungen rannten so schnell sie konnten in Richtung Copper Square und von dort nördlich auf die Third Avenue, in eine Richtung also, die keiner der Polizisten genommen hatte. Ihre schnellen Schritte auf dem Pflaster und ihr 14
atemloses aufgeregtes Kichern hallten durch die Straßen. Im gleichen Moment schien auch schon der Funkwagen auf eine Seite zu fallen. Zwei der uniformierten Beamten hatten den Taras Chevchenko-Platz überquert, der jenseits der Neuen Ukrainischen Kirche lag. Sie gingen nun auf der Sixth Street entlang, jeder auf einer Straßenseite, die Lampen in der Hand. Es war fast Mitternacht. Die Straße war still. »Was sucht ihr denn da?« Der Polizist hob den Blick. Auf der obersten Stufe einer Treppe, die zu einem der alten rotbraunen Sandsteinhäuser führte, saßen zwei Negerkinder, ein Junge und ein Mädchen. Es war der Junge, der den Beamten angesprochen hatte, er mochte vielleicht neun oder zehn Jahre alt sein. Das Mädchen sah um einiges älter aus. Der Polizist ging die ersten Stufen hoch, dann blieb er stehen. »Was sucht ihr?« wiederholte der Junge seine Frage. »Wie lange sitzt ihr beide schon hier auf der Treppe?« »Was soll'n die Frage?« »Wart ihr so um halb elf schon hier draußen?« »Wir sitzen schon 'ne ganze Weile hier«, sagte das Mädchen. »Habt ihr irgend jemand Verdächtigen hier vorbeilaufen sehen? Einen Mann, der sich irgendwie auffällig benahm? Vielleicht mit einem Messer in der Hand? Oder jemand, der etwas weggeworfen hat? Irgend so was ähnliches... ?« »Warum wollt ihr das wissen? Was sollen die blöden Fragen?« 15
Der Beamte zögerte. »Weil auf der Seventh Street jemand erstochen worden ist. Wer auch immer es getan hat, er könnte hier vorbeigerannt sein. Vielleicht habt ihr was gesehen? Sie sind bestimmt schnell gelaufen. Auf jeden Fall müssen sie's eilig gehabt haben. Vielleicht haben sie auch was weggeworfen, gerade als sie hier vorbeikamen.« »Was sollen die denn weggeworfen haben?« »Ein Messer oder eine leere Brieftasche oder ein Notizbuch. Irgend was in der Art. Habt ihr jemanden bemerkt? Oder etwas gefunden?« Der Polizist spürte, daß die Kinder ihm etwas verheimlichen wollten. »Wir haben nix und niemanden gesehen!« sagte der Junge. »Habt ihr aber nicht vielleicht was gefunden?« »Wir haben auch nix gefunden«, sagte der Junge hastig. Das Mädchen grinste. Der Polizist rief nach seinem schwarzen Kollegen. Der überquerte sofort die Straße und blieb vor der Treppe stehen. »Was gibt's, Toby?« Der Beamte deutete auf die beiden Kinder. »Habt ihr was gesehen, Kinder?« fragte der schwarze Polizist. »Oder was gefunden? Ihr müßt es uns sagen, wenn ihr was gesehen habt.« »Wir wissen nix, Mensch«, sagte der Junge. »Ich hab's diesem Wichser da doch schon gesagt. Wir haben nix gesehen.« Das Mädchen mußte wieder kichern. Der Schwarze wechselte einen raschen Blick mit seinem Kollegen. Dann wandte er sich wieder den Kindern zu. »Jetzt hört mir mal gut zu. Auf der Seventh Street sind zwei alte Leutchen erstochen worden, und wir müssen herausfinden, wer's getan hat, bevor uns die nächste Leiche aufs Pflaster ge16
legt wird. Und wenn ihr beide irgend jemanden gesehen habt, oder was gefunden habt, wenn ihr irgend etwas wißt, dann müßt ihr's ausspucken. Der nächste, der erstochen wird, könnte vielleicht jemand sein, der euch irgendwie nahesteht.« »So 'ne Scheiße. Du stellst uns ja genau die gleichen dummen Fragen, die uns der Typ da auch schon gestellt hat. Ich hab's schon mal gesagt, wir wissen nix.« Eine Schwarze, die vor die Tür getreten war, hatte gerade noch den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen. Sie warf dem Jungen einen mißbilligenden Blick zu. »Gib dem Officer die Brieftasche, die du gefunden hast.« »Ich weiß nix... was für 'ne Brieftasche denn?« Die Frau beugte sich vor und versetzte dem Jungen eine schallende Ohrfeige. »Gib ihm die Brieftasche! Wird's schon?« Der Junge begann zu wimmern, so wuchtig war der Schlag gewesen. »Scheiße, das tut weh! Was willst du überhaupt, verdammt noch mal?« »Ich sagte, gib ihm die Brieftasche. Und red' ja nicht so mit mir.« Der Junge stand auf und mühte sich ab, eine abgegriffene lederne Brieftasche aus der Hosentasche zu ziehen. Er hielt sie dem Polizisten hin. Der nahm sie und machte sie auf. »Wo hast du das Ding gefunden?« fragte der Schwarze. »Da hinten.« Der Junge deutete auf ein paar überquellende Mülltonnen, die auf dem Bürgersteig standen. »Wann hast du sie gefunden?« 17
»Ist noch nicht lange her... Ich hab' kein Geld rausgenommen. War auch keins drin.« »War's schon nach halb elf, als du sie gefunden hast?« »Er hat sie erst viel später reingebracht, um sie mir zu zeigen«, sagte die Frau. »Du hast also nicht gesehen, wie jemand die Brieftasche weggeworfen hat. Ist das richtig?« »Das ist es doch, was ich die ganze Zeit sage.« »Vorhin hast du mir noch weismachen wollen, du hättest nichts gefunden... Und du hast keinen gesehen, der die Brieftasche weggeworfen haben könnte?« »Wie oft fragen Sie mich das noch?« »Das könnte was sein«, sagte Toby zu seinem Kollegen, als er die Brieftasche genauer untersuchte. »Wasyl Kornienko, 62 Seventh Street.« Er schob den Finger in ein anderes Fach und brachte eine dunkelblaue Visitenkarte mit goldgeprägter Schrift zum Vorschein. »Hier, sieh dir das an: Stiftung für die Altersversorgung von Polizeibeamten. Stefan Kornienko. Komm, das müssen wir klären.« Der schwarze Polizist streckte den Arm aus und fuhr dem Jungen freundlich, fast zärtlich über das struppige Haar. »Wenn dir zufällig doch noch was einfällt, meldest du dich bei uns. Okay?« »Verpißt euch«, rief ihnen der Junge hinterher. * Stefan Kornienko fuhr aus dem Schlaf hoch. Er wälzte sich auf die andere Seite und öffnete seine Augen. Das Klopfen an der Tür hörte nicht auf. Fünf oder sechs Mal, in kurzen Abständen. Dann einige Sekunden Pause. 18
Er stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete das leuchtende Ziffernblatt des Radioweckers. Er dachte nach. Es fiel ihm nichts ein, weshalb jemand um zwei Uhr morgens an seine Tür klopfen sollte. Wer und warum? Wenn es sich um jemanden handelte, der nicht im gleichen Haus wohnte, dann hätte ihn der Portier im Hauseingang gar nicht erst hinaufgelassen. Es mußte also ein Mieter sein. Er kannte ein paar Nachbarn, aber nicht gut genug, um von ihnen zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geholt zu werden. Nicht einmal jemand, der in derselben Etage wohnte, hätte so was gemacht. Nur ein einziges Mal war Stefan Kornienko nachts herausgeklopft worden. Es war früh am Abend. Die Mieter auf seiner Etage hatten ein kleines Fest improvisiert. Er hatte sich gut amüsiert, fühlte sich wohl mit den anderen und hatte auch ihnen ihre anfängliche Zurückhaltung nehmen können. Als sie nämlich erfuhren, daß er Polizist sei, waren sie plötzlich ziemlich reserviert. Aber er konnte das Eis brechen. Er ließ einfach seinen bewährten Spruch los: »Ist doch nicht weiter schlimm. Wie oft haben Sie schon einen ukrainischen Polizisten von ein Meter fünfundneunzig kennengelernt?« Aber dies hier war anders. Ein höfliches, aber beharrliches Klopfen, mitten in der Nacht. Das war keine Einladung zu einer Party. Barbara, die neben ihm lag, war nun auch aufgewacht. Sie setzte sich auf. »Steve? Was ist das?« »Jemand klopft an die Tür, und ich weiß nicht, wer.« Sie warf einen Blick auf den Radiowecker. »Du machst wohl Spaß.« 19
Wieder das Klopfen. Er neigte sich zu ihr, küßte sie auf die Schulter. Dann ließ er die Hand über ihre nackte Hüfte gleiten. »Überall würde ich sagen, laß ihn klopfen, der wird schon wieder aufhören - aber nicht in diesem gottverdammten New York.« Stefan lauschte noch eine Weile. »Sei mal eine Minute mucksmäuschenstill.« Er schlüpfte aus dem Bett und holte seinen Revolver. Geräuschlos durchquerte er den dunklen Raum. Er betrat das Wohnzimmer und blieb ohne Licht anzumachen in der Mitte des Raums stehen, den Blick auf die Tür gerichtet. Wieder das Klopfen. Sechs Mal. »Wer ist da- was woll'n Sie?« »Steve, ich bin's, Nick. Mach auf!« Sein Boß, der Leiter seiner Gruppe. Wenn Nick ihn für einen nächtlichen Einsatz brauchte, würde er ihn anrufen, nicht zu ihm ins Haus kommen. War vielleicht einem der Kameraden etwas zugestoßen? »Nick, was machst du hier mitten in der Nacht?« »Steve, bitte, mach auf.« »Wie bist du überhaupt hier raufgekommen? Der da unten soll keinen hochlassen und immer zuerst anrufen.« »Er hat uns zu dir rauffahren lassen, Steve, bitte -« Nicks Stimme klang irgendwie anders als sonst. Stefan hatte plötzlich das Gefühl zu schweben. Etwas wie Schwindel überkam ihn. Was war nur geschehen? »Ich zieh mir nur rasch was über, Nick. Einen Augenblick.« Stefan rannte ins Schlafzimmer, schlüpfte schnell in seine Hosen und kam zurück. Immer noch hielt er den Revolver in seiner Hand. Er schob 20
den Riegel beiseite und öffnete die Tür. Nick stand im Flur, Nick und zwei Kollegen von seiner Einsatzgruppe, Angie Trotta und Red Hendon. Stefan sah Nick an. Nick hatte Tränen in den Augen.
2. Kapitel Kornienko starrte an die alte, von kleinen Rissen durchzogene Decke im Schlafzimmer seiner Eltern. Lang ausgestreckt auf dem Bett der Eltern liegend, wanderten seine Gedanken zurück zur vergangenen Nacht. Er konnte sich nicht daran erinnern, je auch nur eine Träne in Nicks Augen gesehen zu haben. »Es ist natürlich immer noch drin, daß sich der Zeuge geirrt hat«, sagte Nick. »Aber an und für sich haben die Kollegen vom elften Revier saubere Arbeit geleistet. Sie haben alles abgecheckt. Jetzt brauchen sie dich nur, damit du...« Nick tat sich schwer, die richtigen Worte zu finden. »... die beiden identifizierst. Als sie mich zu Hause anriefen, hab' ich ihnen gesagt, wir holen dich ab und begleiten dich zum Bellevue, ... und bleiben bei dir für alle Fälle.« Diese eigenartigen Gerüche im Zimmer. In der ganzen Wohnung. Der Duft der Eltern. Eine Mischung aus Gerüchen, die Stefan Kornienko in seine Kindheit zurückversetzten. Wie viele Jahre er in dieser Wohnung verbracht hatte! Früheste Erinnerungen. Mottenkugeln. Feuchtigkeit. Diese bestimmte Seife. Kohl, der im Kochtopf vor sich hin dünstet. Der Geruch nach Leuchtgas, bevor das Feuer im Ring aufzuckte. Die Eltern. - Der besondere Duft ihrer Haare
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in den Kissen unter seinem Kopf. Mief. Der leichte Modergeruch, der im Wohnzimmer hing. * »Ich möchte vorübergehend zum Elften versetzt werden, damit ich den Fall selbst in die Hand nehmen kann«, sagte Stefan zu Nick, als sie das Leichenschauhaus verließen. In dem Moment, immer noch zitternd vor Grauen, vor Übelkeit, die ihm beim Anblick der entblößten Köpfe seiner Eltern erfaßt hatte, fühlte er nur Wut, keine Trauer. Nur ein unbändiges Verlangen nach Rache. Der erste flüchtige Blick machte ihn taumeln, obwohl er innerlich auf alles vorbereitet war. Die anderen mußten ihn stützen. Dann löschte Haß alle anderen Gefühle in ihm aus. »Nick? Du kannst das für mich hinbiegen, mit einem einzigen Anruf. Ich muß ins Elfte!« »Wir sprechen noch drüber.« »Wir sprechen ja drüber. Jetzt. Hilfst du mir nun oder nicht?-« »Ich werde mich für dich informieren, und dann sprechen wir später noch mal drüber.« »Wann, Nick?« »Steve, wir wissen, wie dir zumute ist. Du mußt dir zuerst mal ein paar Tage Urlaub nehmen. So lange du willst. Vergiß den Job.« »Ich sagte, wann?« »Vielleicht nächste Woche. Vielleicht Dienstag, Mittwoch. Irgendwann nächste Woche -« »Du kümmerst dich gleich drum, machst du das?« Stefan starrte die Messinglampe an der Zimmerdecke an. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie ihm unerreichbar hoch erschienen war. Er konnte sich auch an den Tag erinnern, als er end-
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lich an die Lampe tippen konnte, ohne sich auf irgend etwas stellen zu müssen. »Mit dir soweit alles okay?« fragte Angie ihn, als sie zu dem Apartmenthaus zurückgekehrt waren. »Hör mal, warum soll ich nicht bei dir bleiben, bis es hell wird? Ich müßte höchstens schnell zu Hause anrufen und Rosie Bescheid sagen. Keine große Sache. Wirklich nicht.« »Du brauchst dir wegen mir keine Sorgen zu machen«, hatte Stefan geantwortet. Und dann, leiser hinzugefügt: »Barbara ist oben.« Während der Fahrt vom Leichenschauhaus nach Hause hatte er mit steinerner Miene im Wagen gesessen. Er konnte nicht weinen. Seine Gedanken konzentrierten sich auf diese Bestie, die es getan hatte. Er würde es erleben, daß man sie faßte. Als Stefan die Wohnungstür aufschloß und eintrat, erhob sich Barbara von der Couch. Sie suchte verzweifelt seinen Blick. Sie las in seinen Augen die schreckliche Wahrheit. Barbaras Augen füllten sich mit Tränen, und sie konnte kaum ein Wort herausbringen. »Oh, Steve!« In diesem Augenblick brach Stefan endlich in ein krampfartiges Weinen aus. Barbara hielt seinen Kopf fest an sich gedrückt, die ganze Nacht über, bis es hell wurde. Es gab kurze Momente, wo er still neben ihr lag. Dann kehrte das Schluchzen zurück, das seinen mächtigen Leib schüttelte. Stefan dachte an diese lange Nacht zurück. Und wieder wurden seine Augen feucht. Er drehte sich um und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen des Vaters. Dann stand er auf, ging kreuz und quer durch die Wohnung, stöberte in Schränken und 23
Schubladen herum und betrachtete alles, was es an wertlosen Schätzen darin gab. Er sah sich im Zimmer um. Die dunklen schweren Möbel mit ihren durchsichtigen Schonbezügen, ein abgenutzter Orientteppich, der Tisch mit Sockel und der gehäckelten Decke darauf, die Lampe mit den Fransen Er ging ins Speisezimmer. Stefan dachte an die unzähligen Male, die er hier gegessen hatte. Als Kind glaubte er, jeder einzelne dieser schweren Stühle wöge mindestens tausend Pfund. Er trat vor die chinesische Vitrine und betrachtete die Sammlung buntbemalter Eier, die ihn als Kind so fasziniert hatte. Einige dieser Eier waren von seiner Schwester Irene bemalt worden, aber die meisten hatte sein Vater als Erinnerung an besonders festliche Anlägse gekauft. Stefan fiel plötzlich der Tag wieder ein, als er ein neues Ei fallen ließ, das sein Vater gerade erworben hatte. Bevor der Junge überhaupt weinen konnte, hatte sein Vater gesagt: »Das ist nicht das einzige Ei auf der Welt. Davon gibt's noch viel mehr.« Sein Vater hatte nicht gewollt, daß Stefan mit dem Komplex groß wurde, auch er sei einer dieser ungeschickten, tollpatschigen Ukrainer. Seine Mutter hatte die stinkenden Reste des Eis aufgewischt, und Stefan hatte sich gewundert. Warum nur bliesen seine Leute ihre Eier nicht aus, bevor sie sie bemalten? Alle anderen taten das doch. Stefan wanderte weiter durch die Wohnung der Eltern. Alles atmete noch ihre Gegenwart. So als lebten sie -»Stefan, warum willst du Polizist werden?« »Warum um Himmels willen denn nicht, Papa?- Gut bezahlt, gute Konditionen, ein Beruf mit guten Zukunftsaussichten...« »Aber kann das ein guter Beruf 24
sein, wenn man Tag für Tag mit einer Waffe rumläuft?« »Es ist ein guter Job. Polizisten helfen den Leuten. Sie schützen sie. Gibt es überhaupt einen schöneren Beruf?« Stefan stand auf der Schwelle zum Kinderzimmer, das er mit seiner Schwester Irene geteilt hatte. Es sah immer noch genau so aus wie damals. Die Betten waren bezogen. Er hätte jederzeit zu seinen Eltern zurückkommen können. Sie hatten ihm sogar nach seiner Scheidung vorgeschlagen, zu ihnen zu ziehen. »Spar doch lieber das Geld, Junge, bis du jemand anderen gefunden hast!« Dann ging Stefan ins Badezimmer und trat vor den Spiegel. Das breite, bleiche Gesicht, typisch für die Kornienkos. Ihm schien, als werde er in jedem Spiegel, in den er von nun an sah, seinen sanften Vater erblicken; Vater, wie er in seiner Schneiderei hinter dem Ladentisch stand; Vater im Wohnzimmer, wie er eine ukrainische Zeitung las; Vater, wie er mit seinen Landsleuten auf einer schattigen Bank im Tompkins Square Park saß; Vater, wie er zu ihm, seinem Sohn mit Liebe und Bewunderung aufblickte. Sein Sohn, der Officer. Und später dann sein Sohn, der Kriminalbeamte. Vom Bad ging er weiter in die Küche. Es war später Nachmittag, und er hatte noch nichts gegessen. Im Kühlschrank fand er eine sorgfältig abgedeckte Terrine mit Kohlsuppe, Vaters Lieblingsgericht. Stefan füllte die Suppe in einen Kochtopf und stellte ihn auf den Herd. Er atmete den leichten Gasgeruch ein, bevor der blaue Ring der Flamme aufzuckte, und blieb vor dem Herd stehen bis die Suppe heiß genug war. Stefan 25
nahm sich ein paar Scheiben Pumpernickel aus dem Brotkasten und goß sich ein großes Glas kalte Milch ein. Er aß zu Mittag. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück und öffnete das Fenster. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Der Blick ging auf die Seventh Street. Von der Fensterbank aus beobachtete er das Treiben auf der Straße. So hatten sie Jahr für Jahr dagesessen. Allerdings war die Straße ganz anders als früher. Stefan konnte sich noch an die Zeit erinnern, als hier nur Ukrainer und ein paar Polen gewohnt hatten. Immer noch waren die meisten Leute hier Ukrainer. Aber die Straße war doch mehr und mehr zu einem Schmelztiegel geworden. »Papa, warum ziehst du hier nicht weg? Seventh Street ist nicht mehr das, was es mal war.« »Hier fühle ich mich zu Hause. Hier wohnen meine Freunde.« »Nur einen Block weiter - St. Marks ist viel besser als Seventh. Sicherer vor allem.« »Da gibt's zu viele Polen.« Ob das nun stimmte oder nicht, war an sich belanglos. Seventh Street war nun mal Vaters Welt. Einen Häuserblock weiter westlich wurde die wunderschöne neue Kirche gebaut, Vaters ganzer Stolz. Die St. George''s Ukrainian Catholic Church. Einen Block weiter in entgegengesetzter Richtung lag die Schneiderei, sein Leben. Etwas entfernt, in östlicher Richtung, gab es das Restaurant Odessa und den Tompkins Square Park, wo sich Vater allabendlich nach dem Geschäft für ein, zwei Stunden mit seinen Freunden traf, um ein Schwätzchen zu halten oder manchmal auch Karten zu spielen. Ja, das Leben seines Vaters hatte sich auf der Seventh Street ab26
gespielt. Und nun hatte er auch in der Seventh Street seinen unerwarteten und gewaltsamen Tod gefunden. Nach vierzig Ehejahren. Die Totenmesse würde in der neuen Kirche abgehalten werden, und es war auch ein Bestattungsinstitut von der Seventh Street, das ihn begraben würde. Einen Steinwurf von der alten Kirche entfernt, oder was davon noch übrig war, hatte man den Vater ermordet. Zeit seines Lebens war er in diese Kirche gegangen, und nun sollte sie Platz machen für ein neues Pfarrhaus. Für die Dauer der Bauarbeiten war der Bürgersteig mit einem Dach versehen worden. Kornienko beobachtete den Verkehr auf der Straße. Wenig Autos,wenig Fußgänger, trotz des relativ warmen Samstagnachmittags. Einige der Fußgänger dort unten waren Landsleute. Ein paar kannte er. Ob sie wohl darüber sprachen? Es sah fast so aus. Der eine oder andere blieb stehen, sah und deutete zur Wohnung hinauf, wo Stefan auf dem Fenstersims saß. Er ging in den Flur und rief das elfte Polizeirevier an. Er verlangte Kommissar Fenrich. »Ah, hallo, Kornienko«, meldete sich Fenrich. »Gibt's was Neues bei den Ermittlungen, Lieutenant?« »Bis jetzt nichts. Sie haben doch gerade erst vor ein paar Stunden angerufen, Kornienko. Ich hab' Ihre Nummer und weiß, wo ich Sie im Dienst erreichen kann. Sie wissen doch, daß ich Sie anrufe, sobald wir irgendwas haben.« »Hoffentlich stört es Sie nicht, daß ich Sie schon wieder belästige. Ich bin nur im Moment nicht zu Hause.«
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»Das ist schon okay. Rufen Sie an, wann Sie wollen.« »Haben Sie schon was unternommen wegen meiner Versetzung? Sie wissen doch - worauf ich Sie heute morgen ansprach...« Schweigen. »Rufen Sie mich irgendwann nächste Woche mal an. Nach der Beerdigung. Ich denke, dann kann ich Ihnen schon was Genaueres sagen.« Es hörte sich sehr geduldig an, wie Fenrich das sagte, und sehr verständnisvoll. »Sieht's denn so aus, als ob mein Antrag durch geht?« »Sprechen wir nächste Woche drüber, okay?« »Danke, Lieutenant.« * Die beiden blumenübersäten Särge hatte man in einer Ecke des eichengetäfelten Raums aufgestellt. Die Deckel waren geschlossen. Davor stand ein Betschemel. Die Stühle waren so angeordnet, daß die beiden Gruppen sich ansehen mußten. Kornienko hatte in der ersten Reihe Platz genommen, Barbara saß neben ihm. Seine Schwester Irene und sein Schwager Joe, der eine Zahnarztpraxis in Queens hatte, saßen auf der anderen Seite. Die erste Stunde gehörte der Familie. Sie waren nicht viele. Vladik, der Bruder des Vaters und seine Frau Vera; die beiden Schwestern der Mutter, die eine verheiratet, die andere Witwe; ein paar Kusinen, Nichten und Neffen. Das war alles. Gegen acht kamen die Nachbarn, die Freunde. Die meisten unter ihnen alte Leute, ruhig und freundlich. Man sah ihnen an, daß sie aus der Ukraine kamen, auf zehn Meter Entfernung. Die Frauen hatten schwarze Tü28
cher um Kopf und Schultern geschlungen, die Männer trugen dunkle Anzüge. Sie traten zu Stefan und Irene, gaben ihnen die Hand und sagten ein paar Beileidsworte in gebrochenem Englisch. Dann gingen sie zum Betschemel, knieten sich hin. In ihren Augen standen Tränen, und man sah ihnen die Erschütterung an. Sie bekreuzigten sich. Nach dem Gebet nahmen sie in den Stuhlreihen Platz. Der Raum füllte sich. Es wurde kaum gesprochen. Nur hin und wieder unterbrach ein Schluchzen das Schweigen. Eine Frau, sie war Nachbarin der Eltern gewesen, wurde plötzlich weiß wie die Wand und fiel ohnmächtig zu Boden, als sie vom Beten vor den beiden Särgen aufstand. Die anderen kümmerten sich um sie. Der Priester kam, und man sang die Parastas, die Totenklage. Immer wieder drangen gedämpfte Schreie an Stefans Ohr. Um zehn war die Trauerfeier zu Ende. Irene lud Stefan ein, den Abend mit ihr und Joe in Queens zu verbringen. Stefan lehnte ab. Er wollte lieber Barbara bitten, bei ihm zu bleiben. Er schlief unruhig in der Nacht. Ein paar Mal wachte er auf und starrte ins Dunkel, versuchte die Phantasiegestalten seiner Alpträume zu vertreiben. Er hielt ein Tier in seinen bloßen Händen, ein Tier ohne Gesicht, und dann hatte er plötzlich dem Wesen beide Fäuste ins Maul gestoßen und ihm den Schädel zerfetzt. Barbara lag zusammengerollt auf der Seite und konnte nicht einschlafen. Sie wollte für ihn da sein, wenn er sie brauchte. »Alles in Ordnung, Steve?« fragte sie, nachdem er sich im Traum aufgebäumt hatte. »Nein«, sagte Stefan nur. Es war schon hell draußen, als er endlich in einen tiefen Schlaf sank. 29
Die Beileidsbesuche am Sonntag waren auf zehn Uhr früh festgesetzt. Sie würden bis abends zehn Uhr dauern. Stefan hatte in seinem Stuhl vom Vortag Platz genommen. Vielleicht lag es daran, daß der erste große Schmerz überstanden war, vielleicht auch nur, weil ein neuer Tag begonnen hatte: er brachte es fertig, die Eintretenden mit einem leisen Lächeln zu begrüßen und ihnen mit ein paar Worten für ihr Kommen zu danken. Joe und Irene erschienen, und dann Onkel Vladik und Tante Vera. Vera setzte sich neben Stefan und nahm seine Hand. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Ich habe ohne dich zu fragen mit dem Bestattungsinstitut gesprochen. Irgend jemand mußte es ja tun. Ich war der Meinung, daß du und Irene jetzt andere Sorgen habt.« »Ich habe mich schon gefragt, wann der Mann sich bei mir sehen läßt«, sagte Stefan. »Also deshalb habe ich noch nichts gehört. Danke, daß du mir das abgenommen hast.« »Es war eine Reihe von Dingen zu regeln.« Vera wandte sich jetzt auch Irene zu. »Ich hoffe, es ist alles in eurem Sinn.« »Du hast es bestimmt richtig gemacht«, sagte Stefan. »Manches hätte sicher besser sein können, aber bestimmt auch schlechter -« »Es ist schon alles richtig so, wie du es gemacht hast.« »Billig war es nicht. Aber was ist schon billig? Sie wollten zuerst mehr nehmen. Ich sagte nein. Aber am Ende konnten wir uns einig werden. Sie sind sehr nett gewesen, das muß ich schon sagen.« 30
»Es war sehr lieb von dir, dich dieser Dinge anzunehmen«, sagte da Irene. »Alles ist soweit in Ordnung. Geld müßte auch genug da sein.« Stefan sah ihr nach, wie sie zu Vladik am Ende der Stuhlreihe ging und neben ihm Platz nahm. Woher wußte sie nur, daß genug Geld da war? Nun, es beruhigte ihn, denn wenn die Tante das sagte, mußte es stimmen. Vera kannte sich aus in finanziellen Dingen. Sie war eine Kämpfernatur, sozusagen der Motor in Vladiks Immobilienbüro. Vladik würde immer weich werden, und für einen Ukrainer hätte er sein letztes Hemd ausgezogen. Tante Vera sah darauf, daß unter dem Strich etwas übrigblieb. Statt Kindern schenkte sie Vladik Erfolg. Stefan war sie früher manchmal wie ein Eisberg vorgekommen. Jetzt war er dankbar, daß sie sich mit kühlem Kopf um alles kümmerte. Der Tag verging quälend langsam. Stefan bekam von allen Freunden und Bekannten der Eltern aufrichtige Trostworte zu hören. Und jeder hatte über Wasyl und Anna etwas Gutes zu sagen. Mit seinen Gedanken war Stefan bei seinem Traum von der vergangenen Nacht. Es war Nachmittag geworden, als Barbara kam und sich zu ihm setzte. Sie betrachtete Stefan und nickte höflich, als ein Freund von Wasyl zu ihnen kam, ein netter gedrungener Mann mit weißem Haar, der mit bewegter Stimme von den Jahren sprach, die er und Wasyl als Landsleute in New York miteinander verbracht hatten.
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Als der Weißhaarige Stefans Hand wieder losließ und zu Irene hinüberging, sagte Barbara leise: »Ich glaube, du hast gar nichts von den wunderbaren Dingen, die er erzählt hat, mitbekommen. « »Doch, ich habe zugehört!« Nun kam ein bärtiger Alter auf sie zu, drückte Stefans Hand und begann auch zu erzählen. Stefan hörte schweigend zu und nickte nur dann und wann mit dem Kopf. Zwischendurch waren sie ins Leshoko's gegangen, um ein Sandwich zu essen. Sogar das Restaurant schien ruhiger als sonst. Das ganze Viertel trug Trauer, so jedenfalls kam es Stefan vor. Abends hatte sich Mazilli mit Angie angesagt und noch ein paar Leute von Stefans Einsatzgruppe. Als Mazilli auf ihn zuging, um ihm die Hand zu drücken, fragte Stefan: »Hast du schon Bescheid vom Elften?« Mazilli schüttelte den Kopf. »Ist wenigstens sichergestellt, daß ich nachher wieder bei euch anfangen kann?« Angie nahm Stefans Hand. »Nimm's nicht so schwer. Du mußt versuchen, es zu verkraften. Ich weiß, es ist verflucht schwer.« Der Priester kam. Wieder wurde der Parastas gesungen, und endlich war die Zeit um. Stefan fragte Barbara, ob sie nicht in ihrer eigenen Wohnung übernachten wolle. »Mir geht's schon wieder einigermaßen«, sagte er. »Ich hab' es unter Kontrolle. Mach dir wegen mir keine Sorgen.« »Warum soll ich nicht bei dir bleiben? Es macht mir wirklich nichts aus. Kein Mensch erwartet, daß ich morgen ins Büro komme.« »Aber ich bin o. k. Es wird schon gehen.« 32
»Steve, ich würde so gern bei dir sein, heute nacht. Ich hätte wirklich ein besseres Gefühl dabei.« »Na gut.« Stefan sah erleichtert aus. * Der blonde Junge stand ruhig da und beobachtete die zwei Puertoricaner, die sich unter der Motorhaube eines alten Autos zu schaffen machten. Eine winzige Glühbirne, mit der die Batterie verbunden war, diente als einzige Lichtquelle. Nachdem der Junge ihnen ein paar Minuten zugesehen hatte, kam er zu dem Schluß, daß die beiden ziemlich schwachsinnig sein mußten. Überall in dieser Gegend war es das gleiche. Nichts als ein Haufen armseliger Wichser, die nichts Besseres zu tun hatten, als an alten Autowracks herumzubasteln. Sogar nachts waren sie noch draußen. Tagsüber, nachts, die ganze Zeit, nichts als Autos. Der blonde Junge konnte das einfach nicht verstehen. Wenn es so eine klapprige Rostlaube nicht mehr tat, warum ließen die Idioten sie dann nicht einfach stehen und organisierten sich eine neue? Es gab doch genug Autos. Ganz nette sogar. Ja, er selbst würde ihnen sogar eins klauen. Natürlich nur für gutes Geld, versteht sich. Die einzige Schwierigkeit war, daß er noch nicht selbst fahren konnte. Er war noch nicht alt genug und hatte deshalb auch noch keinen Führerschein. In dem Moment drehte sich einer der Puertoricaner um und sah ihn an. »Willst du was?« Statt einer Antwort zog der blonde Junge seine rechte Hand aus der Hosentasche und zückte mit einer unglaublich schnellen, katzenhaften Bewe33
gung das Messer. »Von euch Scheißern gar nichts. Als ob ihr irgendwas hättet, was mich interessieren könnte.« Der Puertoricaner wirkte irritiert. »Bist einer von der schnellen Truppe, wie?« Sein Freund kam nun auch unter der Motorhaube hervor. Er griff nach einer Brechstange und wandte sich dem Jungen mit dem Messer zu. »Komm, mach keinen Mist.« Während die Aufmerksamkeit des Jungen sich nun auf den Mann mit der Brechstange konzentrierte, hatte der andere Puertoricaner schon ein Eisenrohr von einem halben Meter Länge gepackt. Der Junge ging in die Hocke, das Messer vorgestreckt und fixierte die beiden. Die versuchten, ihn einzukreisen. »Du machst uns mit dem Messer an. Ist wohl 'ne Schuhnummer zu groß für dich, Kleiner. Nichts für Kinder wie dich.« Der Junge wartete, bis die Lücke zwischen den beiden Männern groß genug war. Er hechtete hindurch, seine blonde Mähne flog. Er war zwanzig Meter gelaufen, als er stehenblieb und sich noch mal umdrehte. Er ließ das Messer einschnappen und schob es in die Hosentasche. »Ihr Wichser könnt das Auto doch gar nicht reparieren«, schrie er. »Ihr seid ja viel zu bescheuert dazu. Schmeißt die Karre da in den Fluß und organisiert euch 'ne andere.« Da holte der eine Puertoricaner aus und schleuderte das Rohr auf den Jungen. Er verfehlte ihn nur um Handbreite. Der Junge sah, wie das Rohr auf ihn zusauste und auf dem Bürgersteig aufkam. »Scheiße!« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging wei34
ter. »So 'ne Arschlöcher«, murmelte er vor sich hin. Er war an der Avenue B angekommen und ging weiter in südlicher Richtung, überquerte die Tenth Street, die am Nordrand des Parks entlangführte und bog in den Park ab. Hübsch ruhig hier. Er folgte dem Pfad, der die Grünflächen diagonal durchschnitt, Richtung Seventh Street und Avenue A. Der Teil des Parks, wo sich die alten Leute der Gegend ihre Zeit vertrieben. Vielleicht kam ihm einer dieser Greise entgegen. Jemand, der eine Abkürzung nahm. Er bog in die verschlungenen Wege ein, die zu den Bänken führten und zu den festeingelassenen Betontischen mit Schachbrettmuster. Leer, nirgends war einer zu sehen, weit und breit keine Menschenseele. Tagsüber war das ganz anders. Da saßen sie hier wie die Hühner auf der Stange. Und ein Bulle war auch immer da. Einer, der sein Motorrad in der Nähe abstellte, um mit den alten Männern Schach zu spielen. Der blonde Junge verließ den Park und bog in die Seventh Street ein. Ein Häuserblock, ein zweiter und noch einer. Er überquerte den Teil des Bürgersteigs, der wegen Bauarbeiten überdacht war. Etwas zu dunkel, um sicher zu sein, aber es sah nicht so aus, als hätten sie das Blut vom Pflaster weggewischt. Er passierte den Coover Square, bummelte die Fourth Avenue entlang, Richtung Tenth Street. Der Broadway lag bereits hinter ihm, als auf dem Bürgersteig ein Mann auf ihn zukam. Er betrachtete die langsam größer werdende Gestalt des Mannes. Mann?- Nein, das war kein Mann. Nicht viel älter als sein Bruder vielleicht. Ein Junge. 35
Er schlüpfte in einen Hauseingang und wartete, bis der Junge ankam. »He, du, haste Geld?« Der Angesprochene tat so, als hätte er nichts gehört und wollte einfach an ihm vorbeigehen. »Bleib stehen, wenn ich mit dir rede!« Er ließ seine Hand in die Tasche gleiten. Mit einem metallischen Klicken schoß die blanke Messerscheide hervor. »Ich fragte, ob du Knete hast. Oder wie wär's mit deiner Uhr?« »Laß mich in Ruhe.« Der Junge sprang einen Schritt zurück, drehte sich schnell um und rannte fort. Er stand da und sah ihm nach. »Ich krieg' dich schon!« rief er ihm nach. Aber statt dessen stand er nur da und sah, wie der Junge um die nächste Ecke verschwand. Er ließ das Messer einschnappen und steckte es in die Hosentasche zurück. Ich hab's verpatzt, dachte er. Hätte ihn in den Hauseingang drängen müssen, wo er mir nicht mehr entwischen kann. Nicht weiter schlimm. Der Typ hatte wahrscheinlich sowieso nichts dabei. Bei den Alten lohnte es sich viel eher. Wie bei den beiden letzte Nacht. Er machte kehrt und ging Richtung Third Street. Auf der Third angekommen, wandte er sich nach Norden. »He, Quick!« Es war Squirrel. Auf der anderen Straßenseite. Squirrel kam über die Fahrbahn gelaufen. »He, Quick, hast du was Bestimmtes vor?« »Ich lauf nur 'n bißchen durch die Gegend.« »Kann mir schon denken, was das heißt. Schon jemanden hochgenommen?«
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»Heute läuft nix... Heute mag ich's cool. Ganz cool, Mann.« »Ja, ja schon gut. Wie wär's... kommst du mit zur Fourteenth ein Eis holen?« Quick dachte kurz nach. »Gute Idee. O. k. Gehn wir.« * Stefan Kornienko warf sich im Schlaf auf die andere Seite. Sein Arm fiel auf Barbara. Ohne aufzuwachen, ohne sich seiner Handlungen bewußt zu werden, wälzte er sich hinter sie und spürte ihr Gesäß an seinen Schenkeln. Er begann, ihren Busen zu liebkosen. Er vergrub sein Gesicht wohlig in ihrem duftenden Haar. Barbara drehte sich auf den Rücken und streckte ihre Beine aus, reagierte auf seine Berührungen. Sie öffnete ihren Schoß, wand sich erregt unter der Zärtlichkeit seiner Hände. Dann öffnete sie die Augen und blickte ihn an. Auch er war inzwischen wachgeworden. Sie preßten sich aneinander. »Was ist, Steve?« »Ich will dich.« »Jetzt?« »Ja, jetzt gleich!« Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände. Sie küßte ihn. »Oh, Steve.« Sie tastete nach dem Saum ihres Nachthemds und zog sich aus. Dann lag sie in seinen Armen.
3. Kapitel Der Priester begann die Vitschnaia Pamiat zu singen, und die Trauergemeinde antwortete mit 37
dem Refrain. Der eichengetäfelte Andachtsraum war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Auch im Flur, der auf die Seventh Street hinausführte, standen Dutzende von Menschen, die zum Teil nichts mehr vom eigentlichen Gottesdienst mitbekommen konnten. Stefan hatte wieder seinen Platz in der ersten Reihe eingenommen, Barbara saß neben ihm, Irene und Joe auf der anderen Seite. Vladik und Vera auch. Stefan schien gefaßt. Er nahm an dem Gottesdienst mit einem vollkommen abwesenden Gesichtsausdruck teil. Barbara sah ihn hin und wieder an, verwirrt durch seine Teilnahmslosigkeit. Er war anders als sonst. Sie kannte ihn als religiösen Menschen. Als der Priester die Messe beendet hatte, stellten sich alle, bis auf die nächsten Angehörigen, um die beiden Särge herum und küßten das vom Priester herumgetragene Kreuz, um auf diese Weise noch einmal von Anna und Wasyl Abschied zu nehmen. Stefan und die anderen nahen Verwandten in der ersten Reihe küßten das Kreuz erst zum Schluß. Dann wurden die Särge im Leichenwagen zur Kirche gebracht, in der die eigentliche Bestattung vor sich gehen sollte. Stefan stand auf. Barbara begleitete ihn zu der schwarzen Limousine, die vor dem Beerdigungsinstitut wartete. Der Rest der Familie bestieg den zweiten Wagen. Die anderen Trauergäste würden die Strecke zu Fuß zurücklegen. Der Gottesdienst dauerte eine Stunde. Schweigend ließ Stefan über sich ergehen, was für das Seelenheil seiner Eltern gesagt wurde, die Gebete, die Choräle, die Predigt. Der Priester zelebrierte die Messe auf ukrainisch. Stefan betrachtete die mäch38
tigen Pfeiler, die Bildtafeln. Wasyls ganzer Stolz, die neue Kirche. Stefan saß da, in Gedanken versunken. Irene begann, über ihre Eltern zu sprechen. Plötzlich brach ihre Stimme, und sie begann zu weinen. Stefan tastete nach ihrer Hand. Er berührte zart ihr Gesicht und wischte ihr die Tränen ab. Sie waren unterwegs zum Friedhof St. Andrews in Bound Brook, New Jersey. Zwei Limousinen und zwei Busse mit Trauergästen. Die letzten Worte am Grab. Stefan standen Tränen in den Augen. Er mußte tief durchatmen, um nicht ganz die Fassung zu verlieren. Vor seinen Augen die tief ausgehobenen Graböffnungen. Noch hingen die Särge darüber. Die Worte des Priesters vermischten sich für Stefan mit dem Schluchzen der Trauernden zu einem einzigen monotonen Geräusch. Als der Geistliche das Leben und Wirken des toten Paares schilderte, wurde Stefan von einer heißen Welle des Schmerzes ergriffen. »Jeder in der Gemeinde von St. George kannte Wasyl und Anna Kornienko...« Jemand drückte Stefan und Irene ein paar Orchideen in die Hand. Sie warfen sie ins Grab und hörten, wie die Blüten auf die Sargdeckel fielen. Die anderen Trauergäste traten nun auch an den Rand des Grabes und ließen ihre Blumen auf die Särge gleiten. Dann die ersten Schaufeln Erde. Der Priester machte den Anfang. Stefan blieb vor dem Grab stehen, bis die Trauergäste sich nach und nach verliefen. Sein Blick war auf den Mann in dem kleinen Bulldozzer gerichtet, der die Särge mit Erde bedecken würde. Stefan nickte, dann folgte er Irene, die hinter der Menge der anderen zurückgeblieben war. 39
Der Leichenschmaus fand in der Nähe des Friedhofs statt, die ganze Trauergemeinde nahm daran teil. Als Stefan und Barbara den Saal betraten, wurde bereits das Essen serviert. Stefan bemerkte, daß Tante Vera mit einem Herrn des Bestattungsinstituts verhandelte. Ein Mann stand dabei, wahrscheinlich war er der Verantwortliche für diese kleine Feier. Stefan ließ Barbara stehen und ging zur Toilette. Er wollte für einen Augenblick allein sein. Er betrachtete sich im Spiegel, beugte sich über das Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sein Blick fiel auf ein Heftchen Streichhölzer, das auf dem Waschbeckenrand lag. Es war blau und mit goldener Schrift bedruckt: Richard und Marcia. Unter den beiden Namen war ein Datum eingraviert. Der Saal war am Vortag für eine Hochzeitsfeier benutzt worden. Er kehrte zu den anderen zurück. Die Leute saßen da und aßen. Es gab Hühnchen, Kartoffeln, Kohlrouladen, Würstchen, Sauerkraut und Brot. Dazu Säfte und Likör. Vor allem gab es Wodka. Seine Tante Serafina kam zu ihm. Sie war die verwitwete Schwester seiner Mutter. »Stefan, setz dich. Du mußt was essen.« Einfache, schlichte Worte, aber die Art, wie sie es sagte, drückte viel mehr aus. Das Begräbnis war vorüber. Er mußte seinen Schmerz überwinden. Das Leben ging weiter. Stefan legte der stämmigen, weißhaarigen Frau den Arm um den Hals und drückte sie an sich. Tante Serafina wußte, was' es bedeutet, einen Angehörigen zu verlieren. Nach ihrem Mann hatte sie zwei Söhne zu Grabe getragen. Jetzt die Schwester und den Schwager. 40
»Ist schon gut, Teta«, sagte er. »Du hast recht. Ich werde was essen.« * Maureen Blanton ging in die Küche und holte sich noch eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Sie riß die Lasche ab und warf sie in den überfüllten Abfalleimer. Dann kehrte sie zum Fernseher zurück und sah sich eine Weile das Programm an, bis sie aufstand und etwas anderes einstellte. Sie war glücklich, daß heute wieder Montag war. Montag war Maureens Lieblingstag. Der Tag mit den besten Fernsehsendungen. Im Vergleich dazu waren die Wochenenden eine Zumutung. Zwei Tage mit den unmöglichsten Programmen. Ein Werbespot wurde eingeblendet. Maureen nahm die Programmzeitschrift, die auf den Boden geglitten war, und las. Der TV Guide. Sie blätterte die ersten Seiten auf und betrachtete die Fotos der Fernsehstars. Der TV Guide war die einzige Zeitschrift, die Maureen las. Maureen kaufte das Blatt regelmäßig, wenn sie ihren wöchentlichen Einkauf machte. Ja, der TV Guide war unheimlich wichtig. Ähnlich wichtig wie das Dosenbier und der kleine Schwarzweißapparat. Es waren diese drei Dinge, die Maureen den Gedanken an morgen einigermaßen erträglich erscheinen ließen. Johnny schlief noch. Wann der Junge wohl aufstehen würde? Es war immerhin schon zwei Uhr nachmittags. Leider ging er nicht zur Schule. Da war er ganz anders als sein Bruder Paul. Er war nicht dazu zu bewegen, in die Schule zu gehen, ums Verrecken nicht. Alle hatten es aufgegeben. In der Schule hatte man es aufgegeben. Die Fürsorge41
rin hatte es aufgegeben. Seit ein paar Jahren ging das jetzt schon so. Johnny trieb sich herum. Wo wohl das Geld herkam, das er heimbrachte? Er mußte es gestohlen haben. Oder er klaute irgendwelche Waren und machte sie dann zu Geld. Warum sonst war er Stammgast beim Jugendgericht? Das war nicht so angenehm. Aber das Geld wurde ausgegeben, genau wie das vom Sozialamt. Und Johnny verstand es, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn er einmal ertappt wurde. Maureen blickte da nicht ganz durch. Wenn der Junge stahl, warum wurde er dann freigesprochen? Wahrscheinlich war's also doch kein Diebstahl. Sie mußte lächeln, wenn sie an die Schau dachte, die ihr Sohn immer vor Gericht abzog. Ein netter, lieber kleiner Junge. Und so höflich, so gesittet. Immer versprach er, es nie wieder zu tun. Ein gutaussehender Junge. Besonders, wenn er lachte. Genau wie sie einmal ausgesehen hatte, als sie so jung war wie er. Maureen nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierdose. Sie erinnerte sich an ihre Jugend in Brooklyn und starrte auf die Dose. Die Brauerei lag in der Nähe ihres Elternhauses. Und sie war wirklich ein hübsches Mädchen. Sehr hübsch sogar. »Maureen Fitzgerald, wenn du etwas älter bist, wirst du Schönheitskönigin«, hatte der Vater gesagt. Maureen konnte sich noch gut an die Stimme ihres Vaters erinnern, obwohl er jung gestorben war. Sie war damals erst zwölf gewesen. Sie mochte die Art, wie Vater mit ihr gesprochen hatte. Sie mochte sein breites Lachen. Und sie mochte es, daß er sie für was Besonderes hielt. Und dann war alles ganz anders gekommen. Nur mit der Mutter allein. Das 42
war etwas anderes. »Maureen, du gehst nicht aus, heute abend. Diese Jungen sind kein Umgang für dich. Rumtreiber, einer wie der andere...« Aber Maureen liebte es, sich herumzutreiben. Der saubere Geschmack des eiskalten Biers. Die Autos. Sie liebte den Geruch der Nacht und die Freiheit. »Nur weil du den Körper einer Frau hast...« Maureen mochte es nicht, wenn ihre Mutter das sagte. Mutter hatte zwar recht. Sie hatte den Körper einer Frau. Aber sie haßte es, das immer wieder zu hören. Sie haßte die Vorhaltungen der Mutter. Für ihre Mutter waren die Freunde und Freundinnen eine einzige Verbrecherbande. Von Mal zu Mal kam Maureen später nach Hause. Sie hoffte, Mutter würde schlafen, wenn sie besonders spät kam, aber das funktionierte nicht. Es funktionierte nie. »Maureen, mit diesen Leuten gehst du nicht wieder aus. Das lasse ich nicht zu.« - »O doch, das werde ich.« - »Bitte, Liebling, es ist nicht gut für dich. Die haben keinen guten Einfluß auf dich.« Sie hörte sich das unbeeindruckt an. Es gab schließlich auch andere Bemerkungen, andere Kommentare, von anderen -. »Fitz, du hast die süßesten Brüste von Greenpoint.« Sie war zwei Wochen überfällig, als die Mutter merkte, daß keine Binden im Papierkorb lagen. »Wer ist es?«- »Weiß nicht.« »O mein Gott, wenn dein Vater das noch erlebt hätte... Weißt du wirklich nicht, wer's gewesen ist?« - »Natürlich weiß ich, wer's war. Hubert Blanton. Ich bin ziemlich sicher, daß es Hubert Blanton war.« - »Hat der Arbeit?« »Der geht noch zur Schule, Mutter.«- »Er muß sich jetzt einen Job besorgen, sag ihm das. Es ist die einzige Lösung.« 43
Und seine Eltern waren einverstanden. Der Junge würde die Verantwortung tragen müssen. Maureen nippte an ihrem Bier. Die Hochzeit war gar nicht so übel gewesen. Ein ordentliches Besäufnis... Aber danach ging's bergab. Cindy kam zur Welt, ein Jahr darauf Paul. Dazwischen ein Job nach dem anderen. Und eine Schlägerei nach der anderen. Dieser Säufer! Dann die Stellung bei einer Spedition in Lower East Side, Manhattan. Umzug. Ein neuer Anfang. Der Lohn war besser. Alles war besser. Als sie Johnny zur Welt brachte, wohnten sie schon in Manhattan. Ein Mund mehr, den sie zu ernähren hatten. Nichts war besser als vorher. Das Geld war knapp. Sie waren vierzehn Jahre verheiratet, als Maureen vor Gericht ging. Er hatte sie wieder mal grün und blau geschlagen. Sie kam von der Gerichtsverhandlung heim und wurde von ihrem Sohn empfangen. Wie ein richtiger kleiner Engel sah der Kleine aus. »Haben sie Papa eingebuchtet?« »Nein!« - »Und wo ist er jetzt?« - »Er ist weg. Ganz einfach.« Wie lange war er eigentlich schon weg? Maureen erinnerte sich nicht mehr genau. Fünf oder sechs Jahre. Vielleicht war er nach New Jersey gegangen oder nach Ohio oder zur Hölle, wo er hingehörte. Nicht, daß es ihr was ausmachte, aber dem Jungen fehlte wahrscheinlich der Vater. Obwohl er oft genug mit angesehen hatte, wie der sie schlug. Er wußte auch, daß der Vater trank, daß er besoffen nach Hause kam und dann auf die Kinder eindrosch. Wie konnte Johnny diesen Scheißkerl vermissen? Nein, sie würde Johnny nie verstehen.
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Nie wollte sie ihren Mann wiedersehen. Das wußte sie ganz genau. Nicht nach all dem, was er ihr angetan hatte. Er hatte ihr Leben verpfuscht. Natürlich würde sie mit Leichtigkeit wieder was aus sich machen können. Schließlich war sie erst sechsunddreißig. Und zugenommen hatte sie auch nur wenig. Die berühmten Fitzgerald-Titten standen immer noch genauso wie früher. Sie konnte wieder ganz die Alte werden. Aber wofür denn? Bestimmt wollte sie sich nicht nach einem Job umsehen. Dann würden die womöglich noch das Fürsorgegeld streichen. Und außerdem, sie wußte ja, daß sie nie einen Job finden konnte, bei dem sie es länger als eine Woche aushielt. Maureen holte sich noch eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und fing an, sich mit der Frau auf der Mattscheibe zu unterhalten: »So und nun? Was wirst du jetzt machen? Ist doch echt totaler Quatsch.« Die sahen alle so gut aus. Super Kleidung. Tolle Frisuren. Das Make-up- eine Wucht. Und dann immer diese aufregenden, richtig spannenden Probleme. »Ja, Süße, wie willst du damit fertigwerden?« Sie selbst, Maureen Fitzgerald, hatte längst nicht so beneidenswert filmreife Probleme. Nein. Und Paulden konnte sie auch nicht besser verstehen als Johnny. Der Junge ging auf die Technical High School in Brooklyn. Tagaus, tagein. Bei jedem Wetter. Paul war da. Immer zuverlässig, ehrgeizig. Und dann büffelte er auch noch zu Hause. Es war richtig unheimlich. Maureen erinnerte sich noch daran, wie Paul ihr früher ständig seine Zeugnisse gezeigt hatte. »Paul«, hatte sie dann gesagt. »Hast du wirklich gut gemacht.« Und dann hatte er ihr gezeigt, wo sie 45
das Zeugnis unterschreiben mußte. Später hatte er ihr keins mehr vorgelegt. Oder doch? - Sie wußte es nicht mehr. Wahrscheinlich war er dazu übergegangen, die Dinger selbst zu unterschreiben. Aber auf jeden Fall mußte er nach wie vor ein sehr guter Schüler sein. Er arbeitete immer bis spät in die Nacht. Und morgens stand er wieder auf der Matte, sehr früh sogar, und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Weite Fahrt, bis nach Brooklyn] »Johnny, meinst du nicht, du solltest zur Abwechslung auch mal wieder zur Schule gehen und etwas Vernünftiges lernen, wie Paul?« Wie oft hatte sie ihn das gefragt. »Scheiß drauf«, war der einzige Kommentar ihres Jüngsten. Wenn sie ehrlich war, liebte sie es, wenn er das sagte. Er hatte dann immer einen Ausdruck im Gesicht- einfach umwerfend. Der Junge sah eben zu gut aus. Sie hätte natürlich streng sein sollen, wenn er so was sagte. Aber sie konnte einfach nicht ernst bleiben dabei. Immer war es dasselbe. Was dann wohl Paul dachte, wenn er sie so grinsen sah?- Na, ja, der würde sowieso bald ausziehen. Das war ihr ziemlich klar. Immerhin wurde er bald siebzehn. Schließlich war Cindy auch fortgegangen, als sie so alt war. Cindy mußte jetzt so an die neunzehn sein. Maureen nahm noch einen Schluck Bier. »So läßt du mit dir umspringen von deinem Alten?« fragte sie die Frau im Fernsehen. »Meine Güte, dann bist du aber wirklich dümmer als du aussiehst in deinen tollen Fummeln.« Maureen fuhr hoch. Johnny stand vor ihr. Merkwürdig, sie hörte nie, wenn der Junge ins Zimmer kam. Seine leichten Segeltuchschuhe machten jeden 46
seiner Schritte fast unhörbar. »Gibt's was zu essen?« fragte er. »Geh in die Küche.« Maureen starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Johnny schlich in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er fand Wurst und Weißbrot und machte sich ein Sandwich. Der Werbespot. Maureen stand auf und kam zu ihm. »Squirrel war da. Er hat nach dir gefragt.« »Was wollte er?« »Dich sehen.« »Und, was hast du ihm gesagt?« »Daß du noch schläfst.« Maureen warf die leere Dose in den Mülleimer und holte sich eine neue aus dem Kühlschrank. »Bist du eigentlich oft mit ihm zusammen?« »Nicht oft. Warum?« »Der hat's doch faustdick hinter den Ohren.« »Wer denn nicht? Ist doch keiner anders hier. Der bringt's doch noch gar nicht.« »Warum nennen sie dich Quick?« »Weil ich der Schnellste bin.« »Bei was denn, Quick?« »Bei allem.« »Oh.« Maureen nahm den ersten Schluck aus der Dose und ging zurück zum Fernseher. * Die beiden Kripoleute hatten den obersten Treppenabsatz erreicht. Das Haus in der Seventh Street. Sie klopften an und warteten. Sie klopften noch einmal. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Eine zierliche alte Frau, sehr blaß, mit grauem Haar, sah die beiden ängstlich an. »Ja-?«
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»Oh, entschuldigen Sie die Störung, bitte. Wir sind vom elften Revier. Es tut uns leid, daß wir Sie belästigen müssen. Aber es ist wegen der beiden Morde, die Freitag nacht hier passiert sind. Und wir möchten Ihnen gern ein paar Fragen dazu stellen.« Sie hielten der Frau ihre Dienstmarken durch den Türspalt entgegen. »Können wir reinkommen?« »Ja-?« Sie starrte auf die beiden Ausweise, reagierte aber nicht weiter. »Ich fragte, ob wir reinkommen können.« Der Polizist wechselte einen ratlosen Blick mit seinem Kollegen. Dann wandte er sich wieder der alten Frau zu. Er deutete auf das Foto seines Ausweises. »Wir sind Kriminalbeamte, Ma'am. Polizei.« Die Frau sah auf die Fotos, dann wieder auf die Männer. »Können wir reinkommen?« Der Beamte deutete auf die Tür. Endlich löste die Frau die Kette, und die beiden traten ein. »Vielen Dank. Wie ich schon sagte, wir ermitteln wegen der Morde letzten Freitag. Die Sache ist ganz in der Nähe der Kirche passiert. Sie haben sicher davon gehört.« Die Frau zuckte die Schultern. »Ja?-« »Verstehen Sie denn kein Englisch?« Er betrachtete sie prüfend. Die Frau starrte ihn unverwandt an. Der Polizeibeamte sprach jetzt ganz langsam: »Istsonst -jemand- da?« Ihr Blick blieb unbewegt. »Ist sonst jemand in der Wohnung?« rief der Mann so laut, daß man es in allen Zimmern hören konnte. Schweigen. Die beiden Polizisten sahen sich an. »Laß uns bloß machen, daß wir hier rauskommen. Die Frau versteht nichts. Rein gar nichts.« Er wandte sich zu der Alten und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Der andere nickte. Er suchte 48
den Blick der Frau. »Haben Sie vielen Dank. Danke.« Die Männer zwängten sich durch die Tür. »Vielen Dank, Ma'am.« Sie schwiegen, bis sie die Treppen hinunter und wieder auf der Straße waren. »Nichts. Den Tag können wir abschreiben. Jede Wohnung in der ganzen Straße haben wir abgeklappert. Und nichts ist dabei rausgekommen.« »Du vergißt, daß viele uns gar nicht erst aufgemacht haben. Bestimmt waren die meisten auf der Beerdigung. Laß uns den Rest für den Kollegen aufheben, der sich mit den Leuten verständigen kann. Vielleicht hätte die Alte was gewußt.« »Komm. Wir gehen ins Mc Sorley's, ich geb' ein Bier aus. Wir haben schon zwei Stunden mehr gemacht als vorgesehen.« »Der Boß sagt, Kornienko ruft dauernd an. Allein Sonntag zwei Mal.« »Wo wir jetzt schon nichts erreichen. Stell dir vor, was wir rauskriegen, wenn erst mal Gras über die ganze Sache gewachsen ist.« »Wenn du mich fragst, es war ein Fixer. Ein Typ, der unbedingt Geld für den nächsten Schuß brauchte. Wer soll's denn sonst gemacht haben? Vielleicht kriegen die Kollegen vom Drogendezernat was raus. Oder die von Manhattan Süd.« »Ich frage mich nur, ob die anderen mehr Erfolg hatten.« * Quick stand im dritten Stock eines geräumten Hauses und beobachtete, was sich gegenüber in der Wohnung tat. Eleventh Street. Er wußte genau, wer da drüben wohnte. Ein krausköpfiger Puertoricaner und seine Frau. Einmal war er schon in der Wohnung gewesen und hatte einen hübschen Fernseher 49
mitgehen lassen. Inzwischen hatten die bestimmt einen neuen. Der Typ arbeitete Nachtschicht, aber seine Alte mußte um diese Zeit noch zu Hause sein. Alle Lampen waren an. Letztes Mal hatte sie kurz nach ihrem Mann die Bude verlassen. Vielleicht würde sie jetzt wieder ausgehen. Er hatte den Fernseher in einer Pfandleihe in der Wester Street zu Geld gemacht. »Bring mir von den Dingern, soviel du kriegen kannst«, hatte der Mann gesagt. »Wenn die funktionieren, zahl' ich dir fünfzehn Dollar pro Gerät. Aber Farbfernseher, kein Schwarzweiß.« Nun, diesmal würde er die Glotze behalten. Es war zu mühsam, Fernseher zu klauen, Fernseher und den anderen Kram, und es dann irgendwo an den Mann zu bringen. Das war viel zuviel Aufwand. Man mußte die schweren Dinger die Feuerleiter runterschleppen. Dann quer durchs Viertel tragen, bis zur Hester Street. Das war nun endgültig vorbei. Viel leichter, sich das Geld direkt zu holen. Auf der Straße. Quick schaute zu, wie die Regentropfen ein Muster aufs Straßenpflaster malten. Er liebte es, wenn's regnete. Außerdem waren dann wenig Leute unterwegs. Niemand kümmerte sich bei diesem Wetter um den anderen. Die Leute schlössen ihre Fenster. Und der Regen verschluckte die Geräusche der Schritte. Bei der Pladderei war auch die Feuerleiter ein idealer Weg. Niemand hörte ihn, wenn er mit seinen Segeltuchschuhen an den Fenstern vorbeikletterte. Er stand über die Fensterbrüstung gebeugt. Der Regen war stärker geworden. Er dachte daran, wie 50
oft er die beiden da drüben schon beobachtet hatte, wenn sie zusammen waren. Manchmal hatte er gesehen, wie der Kerl sich zur Arbeit fertig machte. Mit dem Paket Butterbrote unterm Arm. Und wie sie kurz darauf auch die Wohnung verließ. Weiß der Teufel, wo sie hinging, während der Mann sich den Arsch abschuftete. Der Mann hatte die Wohnung kurz vorher verlassen. Bald würde garantiert auch die Frau aus dem Haus kommen. Wahrscheinlich gleich. Quick fuhr zusammen, konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Drüben im Fenster. Da stand sie. Sie zog sich ihre Bluse aus und dann die Jeans. In Slip und BH ging sie in der Wohnung herum. Wäre nicht übel, sie mal umzulegen und ihr ein paar nette Nummern beizubringen. Solche, wie er sie in dem Laden auf der Third Avenue gesehen hatte. Klasse Schnecke-Inzwischen hatte sie sich eine neue Bluse angezogen, und einen Rock. Also würde sie ausgehen, ganz sicher. Er sah, wie sie das Licht ausknipste und rausging. Er wartete, bis sie auf dem Vorplatz erschien. Pünktlich. Sie trug einen leichten Regenmantel und öffnete den Schirm, während sie die paar Stufen vor der Haustür hinunterstieg. Dann ging sie in Richtung First Avenue und war wenig später um die Ecke verschwunden. Ob er ihr nachgehen sollte? Er war neugierig, womit sie sich die Zeit vertrieb. Wenn sie einen anderen Stecher hatte, konnte er sie ein bißchen erpressen. Leichtes Geld. Aber Quick beschloß, doch lieber sein ursprüngliches Vorhaben auszuführen. Schnell lief er die Treppen hinunter, in den Hinterhof des Hauses, in dem er wohnte, und wo er sein Brechei51
sen und die Wäscheleine unter einem Haufen Ziegelsteine versteckt hatte. Dann ging er zurück. Gleichmäßig rauschte der Regen. Laut genug. Genau richtig. Geräuschlos erklomm er die Leiter. Er versuchte, das Fenster zu öffnen. Es war verschlossen. Sie waren also klüger geworden seit dem letzten Mal. Er schob die Schneide des Brecheisens in den Schlitz und versuchte, das Fenster auszuhebein. Der Rahmen bewegte sich nicht. Er versuchte es zuerst vorsichtig, dann mit aller Kraft. Nichts. Das Fenster gab nicht nach. Ein Blick auf die Straße. Niemand zu sehen, und niemand würde es hören. Der Regen war einfach lauter. Er holte mit dem Brecheisen aus und schlug die Scheibe ein. Dann griff er durch die Öffnung und schob das Fenster hoch. Quick stieg ein. Der neue Fernseher stand im Wohnzimmer. Genau am gleichen Platz wie der alte. Ein tragbarer Farbfernseher. Super! Da mußte er sich nicht beim Tragen einen abbrechen. Quick erinnerte sich noch sehr gut. Er wollte mal einen großen mitnehmen. Das Ende vom Lied war, daß er ihn mitten im Wohnzimmer auf dem Teppich stehenlassen mußte. Er zog den Stecker heraus und riß die Schnur ab, die zur Fensterantenne führte. Er packte das Gerät mit beiden Armen und wollte gerade zum offenen Fenster gehen, als er sich mit dem Fuß in einer Schnur verfing und die Tischlampe umriß. »Estrellüa?« Er erstarrte, hielt den Atem an. Eine Stimme aus dem Raum nebenan. Die Stimme einer alten Frau. Das hatte er nicht erwartet. Letztes Mal war keiner 52
dagewesen. Er hatte die Zimmer durchsucht, damals, ehe er mit dem Fernseher verschwand. »Estrellita?« Er setzte den Fernseher auf einem Eßzimmerstuhl ab. »Estrellita? Eres tu?« Er zog das Messer aus der Tasche. Ließ es aufschnappen. »Estrellita?« Er stand da, ohne sich zu rühren. Das Messer zum Zustechen bereit. »Eres tu, Estrellita?... Estrellita? Quien estä ahi?« Auf Zehenspitzen ging er in den Flur, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Jetzt hörte er nichts mehr. Es gab drei Türen, alle drei standen weit offen. Das Schlafzimmer und das Bad. Auf dem Bett im zweiten Schlafzimmer war eine Gestalt zu erkennen. Die Frau. Sie lag, hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie zitterte am ganzen Körper und gab irgendein eigenartiges Geräusch von sich, er wußte nicht, was es bedeuten konnte. Ein paar Herzschläge lang betrachtete er sie. Lauschte auf das Gurgeln der Alten. Dann eilte er ins Wohnzimmer zurück, ließ sein Messer einschnappen, ergriff den Fernseher und lief zum Fenster. Er band die Wäscheleine am Geländer der Feuerleiter fest, das andere Ende verknotete er um den stählernen Bügel des Fernsehers. Er stellte sich auf die Plattform, trat auf die Leine und hob den Fernseher über das Geländer. Er gab ein Stück von der Leine nach, bis das Gerät den Estrich im Hof berührte. Dann warf er den Rest der Schnur hinab. 53
Er ergriff sein Brecheisen und kletterte schnell die Feuerleiter hinunter. Er hob den Fernseher auf und ging noch einmal in das Haus. Niemand zu sehen. Er ging lässig, ohne sichtbare Eile. Die Wäscheleine und das Brecheisen hatte er sich in den Gürtel gesteckt, beides war jetzt von der dunklen Nylonjacke verdeckt. Quick verbarg die Leine und das Brecheisen, bevor er sein Haus betrat. Mit fast gelangweilter Miene überquerte er die Schwelle der Wohnung. Er würde den Fernseher seiner Mutter schenken. Sie saß vor dem Schwarzweißgerät. Nach einer Weile blickte sie auf. »Johnny, wo hast du den her?« »Der ist für dich.« Er setzte das Gerät ab, zog den Stecker des alten Fernsehers heraus und brachte ihn aus dem Zimmer. Er stellte den neuen Apparat hin, schloß ihn an. Er lächelte auf seine lässige Art, als er das Gesicht seiner Mutter aufleuchten sah. Ein gestochen scharfes Bild, gute Farben. Maureen Blanton schaltete sofort das Programm ein, das sie bisher angesehen hatte. »Wunderbar«, hauchte sie. Sie war so überwältigt, daß sie ihren Blick nicht vom Bildschirm lösen konnte. Sie nahm ihr Bier in die Hand und trank einen Schluck aus der Dose. In dem Moment kam Paul aus seinem. Zimmer, wo er sich seine Studierecke eingerichtet hatte. Ein Blick auf den Fernseher. Der nächste Blick zu Quick. Er runzelte unwillig die Stirn. »Wo, zum Teufel, kommt das Ding her?« »Ich hab's gekauft.« »Du hast's gekauft, ja? Mit was denn? Wo denn? Du gehst einfach los und kaufst um Mitternacht einen Farbfernseher, ist ja interessant.« 54
»Ich hab' ihn bei einem Trödler in der Hester Street gekauft.« »Wie hast du ihn denn hergebracht? Hast du ihn quer durch Manhattan getragen? Wer's glaubt, wird selig.« »Ich hab' ein Taxi genommen. Stell dir mal vor.« »Du lügst, wenn du nur den Mund aufmachst. Wo hast du ihn geklaut?« Quieks Hand glitt blitzschnell in die Tasche. Er ließ sein Messer aufspringen. »Nenn mich noch mal einen Lügner.« »Du bist schlimmer als ein Lügner. Du bist ein Dieb. Steck das Messer weg, bevor ich's dir wegnehme.« »Ich laß mich doch von dir nicht anmachen. Ich will dir nicht einen verpassen müssen.« Quick verbarg die Klinge in der Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger blitzte die Spitze. »Gib's mir.« Paul streckte die Hand aus. »Ich hab' dich gewarnt!« Quick stand bewegungslos da. »Ich sage, gib mir das Messer!« Paul wollte Quieks Handgelenk packen, aber der war schneller. Er ritzte den Unterarm seines Bruders mit einer blitzartigen Bewegung. Der Schnitt füllte sich mit Blut. »Du Schwein! Du Arschloch! Sieh mal, was du gemacht hast.« Paul ging mit beiden Fäusten auf den Bruder los. Quick stand gebeugt da, mit gespreizten Beinen, das Messer zum Stich bereit. »Hast du noch nicht genug?« Paul machte einen Schritt zurück und starrte den Jüngeren ungläubig an. Dann wandte er sich zu 55
seiner Mutter um. Sie saß vor dem Fernseher, regungslos. Er zog tief die Luft ein und lief mit einem heiseren Aufschrei ins Bad. Maureen sah ihm nach. »Streitet euch nicht so laut!« zischte sie. »Verdammt noch mal!« Sie griff nach der Bierdose und trank.
4. Kapitel Elftes Revier. Die Wände waren in zwei verschiedenen Grüntönen gestrichen. Dunkelgrün bis zur Brusthöhe, darüber hellgrün. Diese Farben fand man fast überall in den Polizeirevieren von New York City. Irgendwann mal hatte irgendein ganz Schlauer im alten Hauptpräsidium ein Memorandum verfaßt, in dem auf wissenschaftliche Untersuchungen verwiesen wurde, die besagten, grün sei die Farbe, die »beruhigend für die Augen, entspannend für den Geist und der Arbeitsleistung der Beamten förderlich« sei. Es gab vier Schreibtische, alle mit Akten überhäuft. Außerdem fand sich im Raum noch ein Schwarzes Brett, sowie eine Art Käfig für Festgenommene. Daneben lag die Männer-Toilette. Eine hölzerne Barriere trennte den Arbeitsbereich der Polizisten von dem Vorraum, in dem ein paar Bänke standen. Die Fenster waren verdreckt. Keiner der Polizisten konnte sich erinnern, daß die Scheiben je gesäubert worden waren. In der einen Ecke des Raums gab es eine Tür. Sie führte zu Kommissar Fenrichs kleinem Büro. Es wurde respektvoll auch das Studierzimmer genannt. 56
Fenrich hatte das Treffen für 7 Uhr 30 in der Frühe anberaumt. Er schätzte, daß sie nicht länger als eine halbe Stunde brauchen würden. Er wollte keine unnötige Zeit verlieren. Um acht begann der Dienst. Die Zeiger rückten auf 7 Uhr 25. Es war warm im Raum. Kaffeeduft stieg den Männern in die Nase. Vier Beamte vom Elften, drei weitere von der Mordkommission Manhattan Süd. Sechs Beamte vom Fünfzehnten, wo Kornienko war, hatten sich freiwillig für die Ermittlungen gemeldet. Die Männer hatten sich da hingesetzt, wo es Platz gab, auf den Fenstersims, auf Schreibtische. Sie unterhielten sich und tranken ihren Kaffee. Kornienko lehnte an dem hölzernen Geländer. Er hielt seinen Plastikbecher in der Hand. Die drei Kripoleute von seinem Revier saßen in seiner Nähe auf der Schreibtischkante. Es war genau 7 Uhr 30, als Kommissar Fenrich aus seinem Büro kam. Er warf einen Blick in die Runde, begrüßte seine Männer und die, die dazugekommen waren. Als er Kornienko erblickte, stutzte er für einen Moment. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber natürlich erkannte er ihn sofort. Die überdurchschnittliche Größe, das breite Gesicht, das unbändige Haar. »Tag, Kornienko«, sagte er. »Freut mich, Sie hier zu sehen. Sie sollen wissen, daß wir unser Bestes geben. Wir werden alles tun, um ihn zu fassen, das können Sie uns glauben.« »Danke, Lieutenant. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich einfach gekommen bin. Ich habe diese Woche frei, und ich möchte die Zeit nutzen.« »Wir freuen uns über jede Hilfe, die wir kriegen können«, sagte Fenrich. Aber man konnte doch den kritischen Unterton heraushören. Damit wandte 57
Kommissar Fenrich sich den anderen Männern zu. »Gibt's irgendwas Neues in der Sache?« Schweigen. Einer sah betreten den andern an. Diejenigen, die Kornienko noch nicht kannten, musterten ihn eingehend. Dann meldete sich Sal Corbeletta zu Wort, einer der Kriminalbeamten vom Elften. »Paul, alles deutet darauf hin, daß wir es mit einem Süchtigen zu tun haben. Und genau darauf sollten wir unsere Fahndung aufbauen.« Er sah sich in der Runde um. »Ich wette meinen Wochenlohn drauf«, fuhr er fort. »Nehmen wir mal die Tatsachen: Der Überfall ist in unmittelbarer Nähe der Kirche durchgeführt worden, gegenüber vom Mc. Sorleys, einen Steinwurf vom Cooper Square entfernt. So was macht nur ein Fixer. Es ist der verzweifelte Versuch, an ein paar Dollar ranzukommen, alles nur für einen armseligen Schuß. Wer sonst würde an so einer Stelle das Risiko auf sich nehmen?« Fenrich wandte sich wieder seinen Leuten zu: »Sind alle dieser Meinung?« Er redete wie ein Lehrer. »Vieles spricht dafür, aber es ist noch zu früh, um die Fahndung so stark einzugrenzen.« Es war Albert Lamson, efn schlanker, dunkelhäutiger Mann von der Mordkommission Manhattan Süd, der offiziell für die Aufklärung des Falls verantwortlich war. Er sprach sehr ruhig. »Haben das alle gehört?« fragte Fenrich. »Was Sal sagt, klingt sehr wahrscheinlich, aber wir dürfen uns nicht auf vage Vermutungen verlassen. Das können wir uns einfach nicht erlauben ...« Er sah sich die Unterlagen an. Und dann begann er zu erklären, wie sie vorzugehen hatten. Fenrich führte nochmals aus, daß der Fall offiziell vom elften Revier aufge58
nommen worden war, daß man ihn aber der Zuständigkeit halber an die Mordkommission Manhattan Süd abgegeben hatte. Die Männer vom Elften würden weiterhin mithelfen, wenn es aber Festnahmen gab, dann würden die weiteren Untersuchungen von Manhattan Süd durchgeführt werden. »Und wir werden jeder noch so kleinen Spur nachgehen«, sagte er. »Wir alle wollen den Kerl hinter Gittern sehen, wo er hingehört.« Er blätterte die Mappe mit den Berichten durch. »Dazu kann ich nur sagen, bitte, gehen Sie auch den kleinsten Einzelheiten nach. Das hier ist noch viel zu oberflächlich. Wir brauchen Details. Unter Ihren vielen Notizen könnte sich eine heiße Spur befinden, und wir übersehen sie womöglich. Übrigens, noch was, schreiben Sie deutlicher. Wenn ich Ihre Berichte schon nicht getippt kriege... Schließlich will ich's auch lesen können. Und ausführlich. Lassen Sie nichts weg, weil es Ihnen vielleicht unwichtig erscheint. Das dauert nur ein bißchen länger, hat dafür aber Hand und Fuß.« Er wartete einen Moment. »Noch irgendwelche Fragen?« »Wieviel Geld hatten die Opfer bei sich?« fragte Lamson. Fenrich warf Kornienko einen fragenden Blick zu. »Sie sagten, zwischen fünfzig und hundert Dollar. Richtig?« Stefan dachte nach. Er hatte seinem Vater, so lange er denken konnte, ins Gewissen geredet, nicht immer sein ganzes Vermögen mit sich herumzutragen, sondern es lieber zur Bank zu bringen. Mit Erfolg, soweit er wußte. Oder war Vater an jenem Abend ausgerechnet rückfällig geworden und hatte nur deshalb dem Mörder Widerstand geleistet, weil 59
er eine größere Summe bei sich trug? Unwahrscheinlich. Stefan wußte, daß sein Vater das Geld auf die Bank brachte. Anderseits, Wasyl Kornienko war nicht der Mann, der sich Geld von einem Straßenräuber wegnehmen ließ, nein, nicht einmal zehn Dollar. Sein Sohn war schließlich bei der Polizei. »Hör gut zu, was ich dir sage, Papa. Wenn du je überfallen wirst, gib ihnen alles, was sie haben wollen. Hast du das verstanden?« Und wie reagierte der Vater darauf? - »Laß das mal meine Sorge sein, Stefan.« »Ich glaube, ich lag schon ganz richtig mit meiner ersten Schätzung«, sagte Kornienko. »Er wird nicht mehr als fünfzig bis hundert Dollar bei sich gehabt haben. Freitag war zwar für gewöhnlich der beste Tag im Geschäft, aber trotzdem, fünfzig bis hundert ist realistisch.« »Noch eine Frage«, sagte Lamson. »Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber wir müssen alles in Betracht ziehen - irgendeine Möglichkeit, daß es sich um einen Racheakt handelt?« Konnte es jemanden geben, der seinem Vater den Tod wünschte? Stefan zwang sich, in aller Ruhe darüber nachzudenken. Er wußte, sie gehörte zu den Routinefragen, die jeder Kriminalbeamte stellen mußte, wenn er in einem Mordfall ermittelte. Peinlich genau mußte vorgegangen werden. Trotzdem, die Antwort war nein. Denkbar, daß der Vater oder die Mutter Mitwisser von irgend etwas geworden waren, das sie nicht hätten sehen oder hören dürfen. Denkbar, daß Gangster hinter ihnen her waren und sie deshalb ausschalten wollten. Denkbar, aber von so geringer Wahrscheinlichkeit. Die beiden hatten immer ein 60
einfaches Leben geführt, sie beschränkten sich auf den engen Kreis der Nachbarn in der Seventh Street. Außerdem, wären sie Zeugen eines Verbrechens geworden, so hätten sie ihm das mit Sicherheit mitgeteilt. »Ich würde sagen, nein.« »Sonst noch Fragen?« Alle schwiegen, und Fenrich legte sich seine Notizen zurecht. Er nahm die Einteilung seiner Männer und der Freiwilligen vor. Die bereits begonnene Befragung der Anwohner würde fortgesetzt und ausgeweitet werden. Fenrich vergaß nicht, den Freiwilligen seinen Dank auszusprechen. Die Routinefragen, die zur Fahndung gehörten, waren zeitraubend und knifflig. Sie kannten sich in ihrem Gebiet besser aus, und sie kannten ihre Pappenheimer. Sehr gut, daß die Leute vom Elften dadurch entlastet wurden und sich dem Zusammensetzen der gefundenen Mosaiksteinchen widmen konnten. Die meisten würden Spätschicht machen. Kommissar Fenrich nahm den großformatigen Stadtplan zur Hand und erläuterte die Grenzen des Gebiets, das durchkämmt werden sollte. Er würde die Beamten der Spätschicht informieren, wenn sie zum Dienst antraten. Die Spätschicht begann um 16 Uhr. Fenrich hatte die Männer eine halbe Stunde früher zu sich bestellt; er wollte sie zur weiteren Befragung in die Häuser schicken. Er hatte einen genauen Plan. Später, wenn es allmählich dunkel wurde, sollten die Beamten Streife gehen. Sie kannten die Stellen, an denen die Drogensüchtigen mit ihren Dealern zusammenkamen. Sie kannten die Süchtigen, ihre Freunde, ihre Familien. Sie kannten die Szene.
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Wally Mead, ein stämmiger Mann mit Glatze, war einer der Beamten, die von der Mordkommission Manhattan Süd dazugekommen waren. Er beugte sich zu Lamson vor. »Was ist mit dem los?« flüsterte er dem Kollegen zu. »Was meinst du damit?« Mead hob das Kinn. Er deutete auf Kommissar Fenrich, der die Grenzen des Suchgebiets mit roten Fähnchen markierte. »Wann hat er's denn übernommen?« »Zum Teufel, ich verstehe deine Frage nicht.« »Wer leitet denn nun die Aktion, du oder er? Seit wann muß ich mir von so einem Bürohengst aus einer anderen Dienststelle sagen lassen, wie ein Mord aufgeklärt werden soll?« »Reg dich ab. Wir können froh sein, daß der Mann sich so einsetzt.« Lamson grinste. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.« »Noch Fragen, Mead?« Fenrich wippte auf den Zehenspitzen. »Nein, Lieutenant, 'tschuldigung.« Das Meeting war zu Ende. Kornienko blieb sitzen. Einige seiner Kollegen traten auf ihn zu und murmelten Beileidsworte. Kornienko sah zu, wie der Raum sich leerte. Alle gingen, bis auf Fenrich, der ihn erwartungsvoll ansah. Kornienko stand auf und trat zu ihm. »Lieutenant -« »Danke, daß Sie heute rübergekommen sind, Steve. Ihre Hinweise könnten sich als sehr wertvoll erweisen. Ich bin zuversichtlich, daß wir den Täter fassen.«
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»Lieutenant, es tut mir leid, wenn ich Ihnen und meinem Boß auf die Nerven gehe. Mazilli hat Sie ja schon angerufen. Sie wissen also, worum es geht. Ich möchte aktiv an dem Fall mitarbeiten, bis er aufgeklärt ist. Sind Sie einverstanden mit meiner zeitweiligen Versetzung in Ihr Revier?« »Ich hatte Nick Mazilli gebeten, sich heute früh bei Ihnen zu melden«, sagte Fenrich. »Der Districtcommander erwartet Sie um elf in seinem Büro. Er möchte mit Ihnen darüber sprechen.« * Kornienko blickte schon wieder auf seine Uhr. Elf Uhr dreißig. Er war noch nie mit Bernie Hartman, dem Districtcommander, zusammengetroffen. Aber er wußte vom Hörensagen einiges über ihn. Er galt allgemein als anständiger Typ. Geradeheraus. Kein Arschkriecher, der sich durch jahrzehntelanges Buckeln hochgedient hatte. Kornienko war allerdings nicht klar, wie jemand es überhaupt schaffte, die Karriereleiter in der Polizeihierarchie zu erklimmen. Schon der Aufstieg zum Sergeant schien ihm fast unmöglich. Er hatte bereits ein paar Mal den Anlauf genommen und die Prüfung versucht, als einer von 5000 New Yorker Kriminalbeamten. Wie sollte man sich die Zeit zur Vorbereitung auf die Prüfung nehmen, wenn man regelmäßig seinen Dienst versehen und zugleich auch ein Minimum an Privatleben haben wollte? Wer allein lebte, brauchte Zeit zum Einkaufen und all diesen Mist. Wäscherei, Aufräumen, Putzen- und dann noch täglich büffeln? Wahrscheinlich hätte er wieder heiraten sollen. Ein verheirateter Polizist brauchte sich um diese Privat63
dinge keine Sorgen zu machen. Höchstens Rechnungen bezahlen. Was die schmutzigen Hemden anging, das erledigte dann die bessere Hälfte. Wirklich? Kornienko schüttelte den Kopf, als er sich bewußt wurde, welche Richtung seine Gedanken genommen hatten. Er war alles andere als einer dieser Chauvis. Er dachte an seine erste Ehe. Sie hatten sich die Arbeit geteilt. Trotzdem war die Ehe kaputtgegangen. Ein paar Wochen Nachtschicht, und aus war's mit der Liebe. Und das, obwohl er gutes Geld dafür bekommen hatte. Erst viel später hatte er verstanden, daß sie nicht die richtige Frau für ihn gewesen war. Gut sah sie aus. Fast zu gut. Toll im Bett, wenn ihr danach war. Allerdings, die ukrainische Küche konnte sie nicht leiden. Das hätte ihn eigentlich mißtrauisch machen sollen. Barbara. Wie wär's, wenn wir heiraten? Du kümmerst dich ums Haus, damit ich Zeit habe, mich auf die Prüfung zum Sergeant vorzubereiten? Barbara würde ja sagen, mit Ehering oder auch ohne. Sie war etwas ganz Besonderes. Ein heiteres Gefühl, eine Ahnung von Glück überkam ihn, als er an sie dachte. Wie auch immer, der Termin für die nächste Prüfung stand fest. Und er wußte, daß er's nochmal probieren würde. Büffeln und nochmals büffeln, das war die Devise in den Wochen vor der Prüfung. Und es war fast schon wieder soweit. Abgesehen von diesem verdammten Examen, hatte er alles, was er brauchte, um zum Sergeant aufzusteigen. Seit Jahren war er innerhalb seiner Dienstgruppe die Nummer eins. Kein einziger Verweis in der Personalakte. Er war einer der wenigen Beamten, die im Fall Knapp nicht umgefallen waren. Die 64
meisten hatten in der Bestechungsaffäre die Hand aufgehalten, auch gute Freunde, denen er das nie zugetraut hätte. Nicht nur, daß seine Weste weiß war. Es gab auch Belobigungen, die in seiner Akte vermerkt waren. Für mutigen Einsatz. Kornienko hatte nie ganz verstanden, weshalb man ihn für etwas Selbstverständliches auszeichnete. Er hatte nur getan, was sein Gefühl ihm eingab. Instinktiv. Er war in das verlassene Haus gestürmt, den Revolver in der Hand. Er hatte einen flüchtigen Mörder gestellt. Schußwechsel. Handgemenge. Handschellen und Ende. Erst als alles vorüber war, wurde ihm bewußt, daß er seinen Kopf riskiert hatte. Es war das erste und einzige Mal gewesen, daß er auf einen Menschen geschossen hatte. Gott sei Dank hatte er den Kerl nicht getötet. Ein entsetzlicher Gedanke, eines Tages jemanden umlegen zu müssen. Auch wenn es nur Notwehr war, wie damals. Diesmal war alles anders. Wieder war da ein Killer. Eine Bestie. Aber diesmal war es nicht die Pflicht, die ihn antrieb. Würde er anders fühlen? Würde er ihn töten wollen, wenn er ihm plötzlich gegenüberstand? Er würde darüber nachdenken müssen. Vielleicht kam so eine Situation ja nie. Nein, er wollte sich nicht den Kopf über Dinge zerbrechen, die wahrscheinlich nie eintreten würden. Aber wenn es doch soweit käme- was dann? Kornienko ließ den Blick über die grüngestrichenen Wände wandern. Er bemühte sich, nicht mehr darüber nachzudenken. Es machte ihn ganz verrückt. Er fühlte sich aufgewühlt, sein Puls ging schneller. Er blickte durchs Fenster. Saubere Scheiben. Für Manhattan Süd 65
wurde etwas mehr Aufwand getrieben. Die Kollegen hatten es gut. Die Dienststelle war im gleichen Gebäude untergebracht wie die Polizeiakademie und die Mordkommission. Und deshalb wurden die Fenster geputzt. Es gab bessere Büromöbel. Alles war einen Strich teurer, hübscher, ansprechender. Ob sie auch besseren Kaffee bekamen? Wahrscheinlich. Ein wichtiger Punkt, fand Kornienko. Er sah nochmals auf die Uhr. Zwanzig vor zwölf. Ein Mann kam auf ihn zu. Schlips und Weste trug er lässig. Es mußte Bernie Hartman sein. Freundliches Lächeln. Ohne Zweifel der Mann, der einem klar die Meinung sagte. Wie konnte jemand, der so geradeheraus war, so hoch kommen? »Kornienko?« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Chief Hartman. Tut mir leid, ich habe Sie so lange warten lassen. Kommen Sie.« Kornienko folgte ihm ins Büro und nahm vor dem Schreibtisch Platz. Er blickte sich um. Ein paar gerahmte Fotos, Zeugnisse, Auszeichnungen. Auch ein paar Bilder. Alles unaufdringlich. Dort einige Gruppenaufnahmen. Hartman und seine Männer. Hartman mit John Lindsay. Hartman mit irgendwelchen berühmten Leuten. Hartman deutete auf das Telefon. »Sie sind Kollege und wissen, wie's bei uns zugeht. Ich bin gerade erst fertig geworden. Ein Gespräch nach dem anderen. Ich will Sie nicht mit Entschuldigungen überhäufen. Aber Sie sollen wissen, daß ich es gern vermieden hätte, Sie warten zu lassen.« »Ich kenne das«, sagte Kornienko. »Und dann macht's auch nichts, daß ich warten mußte. Ich bin nicht im Dienst. Ich habe Zeit.« 66
»Sie sind immerhin noch besser dran, als einer, der neulich bei mir einen Termin hatte. Der mußte nicht nur warten. Der stellte nach einiger Zeit auch noch fest, daß ich schon weg war. Er war ganz schön wütend.« Kornienko nickte. »Wer nicht selbst bei der Polizei ist, hat keine Ahnung, was man so um die Ohren hat.« Hartman schob die Papiere auf der Schreibtischplatte ordentlich zusammen. War nicht gerade leer, der Tisch, aber zwischen all dem Papierkram gab es Platz zum Arbeiten. »Kornienko, wir alle fühlen mit Ihnen. Wir können gut verstehen, wie Ihnen zumute ist. Es überrascht mich deshalb auch nicht, daß Sie aktiv an der Fahndung teilnehmen wollen. Sie sind sehr tüchtig, das weiß ich von Ihren Kollegen, und das sehe ich in Ihrer Akte. Ich habe nur Gutes über Sie gehört.« »Danke, Sir.« Was hatte Hartman vor? Warum schmierte er ihm Honig um den Mund? »Wir behandeln den Fall mit dem gleichen Nachdruck, als wenn ein Polizistenmord passiert wäre. Nicht nur die Beamten, die unmittelbar an der Fahndung beteiligt sind, sondern auch meine Vorgesetzten, bis ganz nach oben, Kornienko. Um Ihnen einen Begriff zu geben, wie ernst der Fall von uns genommen wird, wir haben sogar noch Verstärkung von anderen Revieren angefordert. Ein paar Freiwillige, die das Netz enger spannen können. Wir kriegen den Täter, und wir werden an ihm ein Exempel statuieren. Wir kriegen den Mann, koste es, was es wolle.« »Ich weiß das sehr zu schätzen, Sir. Wirklich.« »Nun zu Ihrem Versetzungsantrag, Kornienko.« 67
»Jawohl, Sir.« »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was es für Auswirkungen haben kann, wenn Sie sich an der Fahndung nach dem Täter beteiligen?« »Ich verstehe nicht ganz...« »Dann werd' ich's Ihnen sagen. Niemand hier zweifelt an Ihrem Engagement, den Fall aufzuklären' und den Täter dingfest zu machen. Wir müssen den Fall wie kühle Profis durchziehen. Bei Ihnen aber sind zu viele Gefühle im Spiel. Verständlicherweise. Die New Yorker Polizei ist beispielhaft, was die Verläßlichkeit ihrer Leute angeht, und so soll es auch in Zukunft bleiben. Niemand von uns darf sich hinreißen lassen, von den klaren Richtlinien für die Verbrechensbekämpfung abzuweichen, weil er innerlich zu viel Anteil nimmt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Fall der juristische Aspekt. Wenn wir den Täter haben, dann soll er schließlich auch verurteilt werden können. Es wäre schlimm, wenn er infolge eines Formfehlers der Polizei wieder freikommt. Stimmen Sie mir da zu?« Kornienko nickte. »Natürlich.« Er fühlte sich in die Enge getrieben. »Nun, nehmen wir einmal an, wir fassen den Täter. Gute, solide Arbeit. Es wird Anklage erhoben. Der Verteidiger findet heraus, daß Sie an den Ermittlungen beteiligt waren. Was, glauben Sie, wird er tun?« »Was kann er denn tun?« »Er kann ein Revisionsverfahren anstrengen. Er bringt Sie vor die Jury, Kornienko. Er wird versuchen, einen Interessenkonflikt zu konstruieren. Und der Verteidiger hat seinen großen Auftritt.«
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»Sir, wenn ich was sagen darf. Das Risiko ist ziemlich klein, glaube ich.« »Wie die Dinge einmal liegen, dürfen wir überhaupt kein Risiko eingehen. Aber gut, ich gebe zu, die Chancen, daß der Verteidiger damit durchkommt, sind dünn. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der viel brenzliger ist. Nehmen wir einmal an, Sie stellen den Kerl. Der Mann zieht das Messer. Sie müssen sich verteidigen. Notwehr. Sie machen alles, wie's sein muß. Aber der Mann läßt Ihnen keine Wahl. Sie müssen ihn umlegen. Sie blasen ihm den Schädel weg. Die Presse macht sich über die Sache her. Für die doch gefundenes Fressen! Was glauben Sie, was das für einen Aufstand gibt?« »Das würde niemals geschehen.« »Woher wollen Sie das wissen? So was kann immer passieren.« »Na gut, dann wäre die Sache wenigstens ausgestanden.« »Sehen Sie, Steve, weil Sie so denken, sollten Sie die Finger von dem Fall lassen. Sie stecken zu tief drin. Und noch etwas, was Sie noch nicht bedacht haben: Sie gehen das Risiko ein, daß Sie hinterher wegen überzogener Notwehr oder Totschlag vor Gericht gestellt werden.« »Das Risiko nehme ich auf mich.« »Sie vielleicht, aber ich nicht. Ich will den Täter hinter Schloß und Riegel haben. Ich will keinen Freispruch, nur weil von unserer Seite irgend etwas falsch angepackt wurde.« »Ich verspreche Ihnen, ich werde jeden Kontakt mit Verdächtigen vermeiden. Aber ich möchte bei der Befragung mitwirken, bei den ersten Ermittlungen. 69
Ich weiß, wieviel Kleinarbeit dahintersteckt. Ich will einfach nur helfen, einen Beitrag leisten.« »Sie helfen uns am besten, wenn Sie sich aus der Sache raushalten. Stehen Sie uns zur Verfügung, wenn bei der Fahndung Fragen auftreten, die den Alltag und die Gewohnheiten Ihrer Eltern betreffen. Lamson leitet die Ermittlungen. Ein guter Mann. Mit Erfahrung. Sie, Steve, halten sich raus. Sie befragen auch keine Nachbarn. Man klopft an, und man kann nie wissen, wer einem die Tür aufmacht. Vielleicht ist es der Täter.« Kornienko blieb schweigend sitzen und sah Hartman an. »Ihr Revier hat Ihnen eine Woche Urlaub gegeben, Kornienko. Überlegen Sie sich mal, warum. Sie sollen wieder etwas zu sich kommen. Allein sein oder mit Ihren Angehörigen. Zeit haben. Die familiären Dinge regeln. Sie haben keinen Urlaub bekommen, damit Sie im Elften, statt im Fünfzehnten Dienst tun.« »Jawohl, Sir.« »Noch eins, was ich Ihnen sagen wollte.« Hartman blickte ihm direkt in die Augen, ernst und offen. Wie beim Gespräch vorher. »Sie wirken bei der Fahndung nach dem Mörder Ihrer Eltern nicht mit. Das ist ein Befehl... Wenn Sie den mißachten, kriegen Sie Ärger mit uns, fürchte ich. Verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Wir kriegen den Täter, Steve. Ganz bestimmt. Wir haben daran genausoviel Interesse wie Sie.« Hartman stand auf. »Ich hoffe, daß wir bei unserem nächsten Treffen über angenehmere Dinge sprechen können.«
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»Ja, Sir. Danke, daß Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.« Kornienko schlenderte die Second Avenue entlang. In südlicher Richtung. Es war heiß und schwül. Unangenehm. Kornienko war beeindruckt von Hartman. Jemand, der nicht um den heißen Brei herumredete. Und er war klug. Es gab nichts, was sich seinen Argumenten entgegenhalten ließ. Die Polizei mußte auf Nummer Sicher gehen, wenn sie nach einem Mörder fahndete, sie konnte sich nicht darauf verlassen, daß der Sohn der Ermordeten die Nerven behielt, wenn er dem Täter gegenüberstand. Hartman war ein vorbildlicher Kriminalbeamter. Nett, aber hart. Ein guter Typ, ein Mann mit Klasse. Aber zum Teufel mit Hartman. Zum Teufel mit den Risiken und mit dem Revier, mit dem Verteidiger, mit der Presse. Und überhaupt mit allem. Er würde sich aus diesem Fall nicht raushalten. Das war sicher, so sicher, wie heute abend die Sonne unterging.
5. Kapitel Wegen Todesfall geschlossen; Abholung der Aufträge werktags von 13 bis 16 Uhr, bis 31. August. Tel. ED 3-4773. Die Tafel war ziemlich groß, der Text in drei Schriftblöcke aufgeteilt: Englisch, Spanisch, Ukrainisch. Sauber gedruckt, schwarze Schrift auf weißem Kar-
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ton. Die mußte ein Profi gemacht haben. Tante Veras Telefonnummer war angegeben. Vera hatte alles voll unter Kontrolle. Was hätten sie nur ohne Vera angefangen? Stefan betrat den Laden. Und da saß sie in einem schlichten Kostüm. Klein, ganz Geschäftsfrau mit ihrer Hornbrille. Sie las die New York Times. »Teta«, murmelte Stefan leise. »Du beschämst mich.« Er ging zu ihr und gab ihr einen Kuß. Sie lächelte. Es war das erste Mal, daß er sie küßte und Teta zu ihr sagte. »Ich habe Zeit.« Sie schien es zu genießen, daß er sie so nannte. »Du und Irene, ihr beide habt wahrhaftig genug zu tun. Ich hoffe, die Tafel ist richtig so. Die Polizei hat mir gesagt, was drauf stehen muß.« »Es ist bestimmt gut so. Mit wem hast du gesprochen?« »Ich hab' das Elfte angerufen. Sergeant Hollender.« »Denn kenn' ich nicht.« Stefan ließ seinen Blick durch den kleinen Laden schweifen. Ihm war, als müßte sein Vater im nächsten Moment aus dem Hinterzimmer kommen. Das Bild des alten Mannes hinter der kleinen Singer Nähmaschine tat sich vor ihm auf: Wie er sich mit irgendeinem eintönigen Kleidungsstück abplagte. Wenn er als kleiner Junge in die Schneiderwerkstatt kam, hatte sein Vater meistens hinter der Maschine gesessen, den rechten Fuß auf dem Pedal. Später dann, als frischgebackener Polizist, hatte er den Laden aufgesucht, um seinem Vater die schmucke blaue Uniform vorzuführen. Die Uniform und den Revolver. »Stefan, weißt du denn auch, wie man mit so einem Ding
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umgeht?« - »Ach, ich mag keine Waffen... Stefan, würdest du jemals auf jemanden schießen?« »Natürlich nicht. Sie soll ja nur abschrecken. Gibt uns Autorität. Sie ist mehr ein Symbol, finde ich.« »Ach, ich mag keine Waffen...« Stefan blickte auf. Tante Vera saß vor ihm. »Sind schon Leute dagewesen, die ihre Sachen holen wollten?« »Dieses Hotel von der 29. wollte einige Pagenuniformen abholen, als ich gerade aufmachte. Ich glaube, die wußten noch gar nichts. Sonst niemand. Es wird noch eine Weile dauern, bis es sich rumgesprochen hat. Dann werden sie schon kommen.« Stefan setzte sich vor eine der Nähmaschinen. Er ließ den Finger über die Spule gleiten. »Ich glaube, wir sollten Anrufe an den nächsten Abenden in der Wohnung deiner Eltern empfangen«, empfahl Vera. »Ihre Freunde werden vorbeikommen wollen. Und auch jemand von der Familie. Das ist der Ort, wo sich alle zunächst hinwenden werden.« »Ich werde ab halb acht in der Wohnung sein.« Stefan nickte. »Später könnt ihr, Irene und du, die Leute in deiner Wohnung empfangen.« Stefan antwortete nicht darauf. »Was das Geld angeht«, fuhr Vera fort, »brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Es wird sogar noch was übrigbleiben für dich und Irene.« »Meinen Anteil kannst du der Wohlfahrt geben, armen Landsleuten. Oder, nein, besser der Kirche.« »Dein Vater würde glücklich sein, wenn du es nimmst, Stefan.« »Vater hätte sicher nichts dagegen, daß ich der Kirche was spende. Bestimmt werden sie ihn dann irgendwo als Stifter erwähnen.« 73
»Es wird sowieso eine Weile dauern, bis das Geld verfügbar ist«, sagte Vera. »Wir haben ihn ja nie soweit bringen können, daß er seinen letzten Willen aufschreibt.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »So gibt es also kein Testament, und alles läuft übers Nachlaßgericht. Ich habe unseren Anwalt gebeten, sich darum zu kümmern.« Sie sprach sehr sachlich über diese Dinge, aber ihre Stimme klang besonders sanft, anders als sonst. »Wenn du mich dazu brauchst, sag mir Bescheid«, meinte Stefan. »Du solltest schon mal darüber nachdenken, was du aus der Wohnung haben willst, und natürlich auch Irene. Es hat ja keinen Sinn, wenn wir die Wohnung ewig behalten. Es wird am besten sein, wir schaffen die Sachen raus und kündigen sofort den Mietvertrag.« Wieder hatte Vera diese mütterlich sanfte Stimme. In Gedanken sah Stefan die alte Wohnung vor sich und ging von Raum zu Raum. Was würde er haben wollen? Bestimmt nicht die dunklen, schweren Möbel. Das alles gehörte irgendwie in die Seventh Street. Und nur dahin. Vielleicht ein paar Sachen aus der Vitrine. Ein paar bemalte Eier. Und etwas vom Porzellan. Nur zur Erinnerung. Er blickte Vera an. »Ich kann's immer noch nicht glauben, daß sie tot sind.« »Sie sind tot«, Veras Stimme brach. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Stefan sah, wie sie ein Taschentuch hervorholte und sich Augen und Nase abtupfte. Hatte er sie je weinen sehen? Er konnte sich nicht erinnern. Tante Vera, der Fels in der
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Brandung. »Wir kriegen den Mörder«, sagte er. »Ganz bestimmt, Teta.« Es war zehn Uhr abends, als er die Wohnung seiner Eltern verließ. Immer noch war es heiß draußen. Er trug ein dunkles Sporthemd über der Hose. Das Hemd war der sommerliche Standarddreß der Beamten, die ihren Dienst in Zivilkleidung versahen. Das überfallende Hemd verdeckte den Revolver, den sie im allgemeinen umgebunden hatten, und es verriet allen Leuten, daß sie es mit einem Polizisten zu tun hatten. Er beschloß deshalb, morgen ein helles Hemd zu tragen. Er würde es in die Hose stecken. Die Pistole könnte er auch im Wadenhalfter tragen. Es dauerte ein bißchen länger, wenn man die Waffe herausziehen mußte. Aber Momente, wo man wirklich blitzschnell sein mußte, hatte Stefan in all den Jahren noch nicht erlebt. Viel wichtiger war es, daß er sich nicht allein schon durch seine Kleidung als Polizist zu erkennen gab. Er hatte ein paar seltsam angenehme Stunden hinter sich. Die Frauen hatten sich in der Küche und im Speisezimmer zusammengefunden. Er war mit den Männern im Wohnzimmer gewesen. Zwei drollige, dicke Ukrainer hatten sich neben ihn aufs Sofa gesetzt, einer links, einer rechts. Und dann hatten die beiden Geschichten erzählt, Anekdoten aus den vielen gemeinsamen Jahren mit Wasyl Kornienko, ihrem Freund und Nachbarn. Sie verschluckten sich fast vor Lachen. Sie saßen da und schlugen ihm vor Vergnügen aufs Knie. Hin und wieder lehnten sie sich zurück und brüllten vor Ausgelassenheit. Sie streckten dabei ihre Beine 75
von sich, bis ihre weißen Socken sichtbar wurden. Sie sprachen warm, voller Liebe und Zuneigung für die Eltern. Einer der Besucher war der alte Grodek, der Metzger des Viertels. »Grodek hat das beste Fleisch.« Das war Vaters ständige Rede gewesen. »Grodek kenne ich noch von früher.« Stefans Mutter fand das auch. Aber manchmal kaufte sie auch ihr Fleisch im Supermarkt, wo es billiger war. Sie achtete darauf, daß ihr Mann die Tüten nicht zu sehen bekam. »Grodek ist gut für die Feiertage«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Was für ein Unterschied. Aber sieben Tage in der Woche können wir uns das nicht leisten.« Die Stunden im Kreis seiner Landsleute vergingen Stefan wie im Flug. Und er genoß es. Aber dann ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er nicht jeden Abend in Zukunft so verbringen wollte. Er mußte die Zeit nutzen. Er brannte darauf, in der Nachbarschaft des Hauses herumzuspionieren. Er wollte alles genau kennenlernen, so wie nur ein Polizist es kann. Was ihn interessierte, war die Szene nach zehn. Vorher war sicher nicht viel los. Es war wichtig, daß er die Spur bald aufnahm. Die Chancen, den Mörder zu finden, verringerten sich von Tag zu Tag. Wenn es Zeugen gab, dann vergaßen sie, was sie gesehen oder gehört hatten. Wer erinnerte sich schon daran, was vor drei oder vier Wochen gewesen war? Er war vor dem verbretterten Teil des Bürgersteigs angekommen und blieb stehen. Ein Schauder durchfuhr ihn. Obwohl er wußte, daß er durch mußte, konnte er sich nicht dazu überwinden. Noch 76
nicht. Sicher war das Blut noch zu sehen. Er überquerte die Straße und blieb auf der anderen Seite stehen. Er musterte die Passage. Ein finsteres Loch. Warum, in Gottes Namen, wurden überdachte Bürgersteige nicht beleuchtet? Eine strenge Verordnung brauchte man. Auflagen für genügende Ausleuchtung. Es war wirklich nicht schwer, sich vorzustellen, daß die Leute lieber auf die andere Straßenseite gingen, auch wenn es regnete, nur, um nicht nachts durch diese Höhle laufen zu müssen. Warum waren sie nicht auf der anderen Seite gegangen? Warum hatten sie die dunkle Passage benutzt? Sie könnten noch am Leben sein. Stefan zitterte. Er seufzte. Er ließ den Blick zur Kirche schweifen. Der Eingang war durch ein hohes Gitter gesichert. Geöffnet nur zu den Gottesdiensten. Ja, Seventh Street hatte ein anderes Gesicht bekommen. Alles war anders geworden. Sogar die Kirche mußte vergittert werden, damit keiner etwas klauen konnte. Was, zum Teufel, nützt einem dieses Gotteshaus, verdammt nochmal, wenn man nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit reingehen und auf seine Knie fallen kann, um zu beten? Stefan ging ein Stück weiter. Da, das Mc Sorley's — er öffnete die Tür und betrat den angenehm kühlen Raum. Hier gab's eine Klimaanlage. Stefan stellte sich an die Bar und ließ sich ein Bier geben. Er stützte sich auf seine Ellenbogen und schaute sich um. Kaum etwas hatte sich verändert. Ein bißchen verstaubt, altmodisch vielleicht. Größtenteils junge Leute. Er nahm einen Schluck, dann ging er mit dem Glas in der Hand in die angrenzende Stube. 77
Er ließ seinen Blick über die kleinen Tische schweifen. Ja, immer noch alles beim alten, auch hier. Er kehrte zur Bar zurück und trank aus. Stefan wollte gerade zur Tür gehen. »He, Sie da, bezahlen wollen Sie wohl nicht?« Sofort ging er schuldbewußt zur Bar zurück. »Oder sind Sie vielleicht Polizist?« »Ist es dann gratis?« pflaumte Stefan zurück. Er erwiderte das Lächeln des Barkeepers. Vielleicht wollte ihn der Mann nur auf den Arm nehmen. Oder hatte er ihm wirklich angesehen, daß er von der Polizei war? Wahrscheinlich. Er zog sein Geld aus der Tasche und legte einen Dollarschein auf die Theke, ließ das Wechselgeld liegen, grüßte und verließ das Lokal. Er stand unentschlossen vor der Tür und sah sich um. Der Mann, der seine Eltern auf dem Gewissen hatte, hielt sich vermutlich im näheren Umkreis auf. Vielleicht wohnte er schon im nächsten Häuserblock. Aber wo nur? Er ging zur Third Avenue. Vor einer Telefonzelle blieb er stehen und rief im Elften an. »Hier elftes Revier, Polizist Fletcher.« »Hier spricht Steve Kornienko. Welche Kollegen gehen heute abend auf Streife?« »'n Abend, Steve. Alles soweit o. k. ?« Der Typ kannte ihn gar nicht. »Wer hat Dienst?« wiederholte Stefan seine Frage. Der andere zögerte kaum merklich. Bestimmt wußte er nicht, wie er reagieren sollte. »Dawson und Gravinelli«, sagte er schließlich. »Kennen Sie die?« »Nein. Irgendwas Neues im Fall meiner Eltern?«
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»Leider nein, Steve. Wünschte, ich könnte Ihnen 'ne bessere Auskunft geben.« »Und Sie haben Telefondienst«, sagte Kornienko, nur um irgendwas zu sagen. »Irgend jemand muß es ja tun.« »Ich weiß. Ich sitze immer wie auf Kohlen, wenn sie mich auf dem Revier festnageln.« »Wenn's regnet, ist es gar nicht so übel. Da bin ich nicht so gern unterwegs«, sagte Fletcher, »aber heute wär ich lieber draußen.« »Ja, ja«, beendete Steve das Gespräch. »Nehmen Sie's nicht zu schwer. Alles Gute dann, und vielen Dank. Bis bald.« Er legte auf. Ein merkwürdiger Kerl, dieser Fletcher. Auf der Wache rumzusitzen, nur weil's draußen regnet... Er ging die Third Avenue entlang in nördlicher Richtung. Er entdeckte den Streifenwagen sofort. Ein grüner Plymouth Satellite. Ein Zivilwagen. Aber jeder New Yorker Polizist konnte das auf Anhieb erkennen. Das Auto parkte gegenüber einem kleinen Restaurant, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Dawson und Gravinelli genehmigten sich um diese Zeit wahrscheinlich einen Kaffee. Stefan ging auf den Wagen zu. Aber dann fiel ihm wieder das Gespräch mit Hauptkommissar Hartman ein. Er mußte den beiden aus dem Weg gehen. Eine komische Vorstellung. Er war Polizist und mußte sich vor den anderen verstecken. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er mußte sich von jetzt an daran halten. Wenn er sich entschlossen hatte, eigenmächtig Nachforschungen anzustellen, entgegen seinen Anordnungen, dann mußte das heimlich geschehen.
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Er wollte gerade die Straße überqueren, als die beiden Polizisten aus dem Restaurant kamen, und ein Gefühl der Verlegenheit überkam ihn. Dawson hatte ihn offensichtlich erkannt. »Guten Abend, Kornienko.« Das war Gruß und Mahnung zugleich. Er wollte Stefan damit wohl wissen lassen, daß er ihn ertappt hatte. »Alles klar, Kornienko?« fragte Gravinelli. »Gibt's was Neues, heute abend?« Stefan blickte den Kollegen an. Gravinellis Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Dawson dagegen hatte er noch nie gesehen. »Nichts«, erwiderte Dawson. »Sagen Sie, was hat Sie hierher verschlagen?« Er wollte vermeiden, daß Stefan noch mehr fragte, hielt es aber für angebracht, ein paar unverfängliche Floskeln zu tauschen. »Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sagte Kornienko. »Ich wohne Fourth Avenue Ecke Fourteenth Street. War in der Wohnung meiner Eltern. Hab' dort ein paar Freunde zu Besuch gehabt, die meinen Vater von früher her kannten.« »So spät noch?« fragte Dawson. »Ich hab' noch ein Bier im Mc Sorley's getrunken.« »Wohnen Sie in dem Wolkenkratzer an der Ecke?« fragte Gravinelli. Diese Frage kam etwas zu hastig. Es fiel Stefan auf, daß der Kollege den Verdacht eines Verhörs etwas verwischen wollte. Stefan hatten die Fragen auch wirklich verletzt. »Ja«, sagte er nur. »Schöne Gegend«, Gravinelli lächelte ihn an. »Ein paar Kollegen wohnen dort. Ich war ein oder zweimal da.« »Na ja, man kann's ganz gut aushalten...« 80
»Wie wär's mit einem Kaffee?« fragte Dawson viel freundlicher als bei der Begrüßung. »Haben Sie nicht gerade einen getrunken?« »Das macht doch nichts. Mit Ihnen trinken wir auch einen zweiten.« »Nett von Ihnen, aber ich will Sie nicht aufhalten. Sie haben bald Feierabend.« »Nein, nicht vor eins«, erwiderte Gravinelli. »Wir halten Ausschau nach ein paar lieben alten Stammkunden. Vielleicht erfahren wir von denen was Neues. Können wir Sie nach Hause bringen?« »Danke, nein. Macht ihr mal. Ich hab's ja nicht mehr weit. Und ich geh' gern zu Fuß.« »Also dann«, Gravinelli nickte ihm freundlich zu und stieg in den Wagen. Dawson folgte ihm. Stefan blieb stehen und blickte den beiden nach, bis die Rückleuchten des Autos kaum noch zu sehen waren. Er ging die Third Avenue weiter, Richtung Norden. Als er die Kreuzung Eleventh Street erreicht hatte, blieb er stehen. Ein paar Blocks vor ihm lag eine der schlimmsten Straßen der ganzen Gegend. Genau das richtige, um die Suche zu beginnen. Er bog in die Straße ein. Mit jedem Schritt mehr heruntergekommen und mehr Müll. Stefan mußte über die Gegensätze New Yorks nachdenken. Er betrachtete die Fassaden der Häuser auf beiden Straßenseiten. Da kam man aus einem Wolkenkratzer, in dem die Wohnungen 900 Dollar Miete kosteten. Und man brauchte nur fünfzig Schritte weiter nach links oder rechts zu gehen und befand sich plötzlich in einer Gegend, wo man von Glück sagen konnte, wenn man sie lebend wieder verließ. Und die Menschen, die hier und da wohn81
ten, waren so verschieden wie Afrikaner und Eskimos. Und jeder tat so, als ob es den anderen nicht gäbe. Die ungefähr 22000 Polizisten, die in New York herumliefen, waren immer noch zu wenig, um dafür zu sorgen, daß die sich nicht gegenseitig die Kehle durchschnitten. Meist war das einzige, was sie tun konnten, die Opfer zu registrieren. Er kreuzte die Second Avenue, dann die First, schließlich die Avenue A. Inzwischen war die Gegend so finster, daß wohl nur Selbstmörder freiwillig hier spazierengingen. Irgendwo schlug es ein Uhr. Eine schwüle, düstere Nacht. Die Straße war aufgerissen. Bauarbeiten. Man konnte kaum durchgehen. Viele Wohnungen waren leer. Bei manchen Häusern war schon mit dem Abriß begonnen worden. Stefan sah nicht den Schmutz, den Zerfall, die Fäulnis. Er sah nur die Vorteile, die ihm dieses Viertel bot. Hier war sein Jagdgrund. Hier mußte sich der Kerl rumtreiben. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Er mußte über den Vergleich lächeln. Und er mußte noch mehr grinsen, als er zwei schwitzende Puertoricaner in T-Shirts über einen alten Chevrolet gebeugt sah. Die Motorhaube war geöffnet. Eine einzige Lampe hatten sie daran befestigt. Das Kabel führte über den Bürgersteig in eine der Wohnungen. Das alles um ein Uhr?-Er war zwischen Avenue A und Avenue B, als ihm eine schwankende Gestalt entgegenkam. Der typische Gang eines Drogensüchtigen. Ein junger Mann, der offensichtlich nach dem nächsten Schuß lechzte. Wie verloren er wirkte! Ein Fisch auf dem Trockenen. Dem mußte es wirklich ganz schön dreckig gehen. 82
Entweder hatte er einen Dealer verpaßt oder kein Geld, um das Zeug zu kaufen. Wie die meisten erfahrenen New Yorker Polizisten, hatte Stefan gelernt, zwischen Fixern zu unterscheiden, die gerade ihren Schuß bekommen hatten, und solchen, die zu ihrem Dealer unterwegs waren. Aber auch Typen, die aus irgendeinem Grund keinen Stoff bekamen, waren ihm nur zu bekannt. Und die irrten dann völlig außer sich durch die Gegend. Ein Fixer, der seinen Junk dabeihatte, ging mit raschen Schritten, um sich schnell den nächsten Schuß setzen zu können, ebenso der, der sich gerade mit neuem Stoff versorgt hatte. Beide hatten es eilig, in ihre eigenen vier Wände zu kommen. Die, die zu ihrem Dealer unterwegs waren, hatten im allgemeinen unruhig flackernde Augen. Voller Angst waren sie, daß sie jemand aufhalten könnte. Der Mann, der Kornienko entgegentorkelte, gehörte eindeutig zu den Verzweifelten. Ein Fixer, der ganz unten war, ohne Aussicht auf einen Schuß. Er kratzte sich, als habe er eine schlimme Hautkrankheit. Das Gesicht war eingefallen, hager. Das Haar hing ihm völlig zerzaust über Stirn und Augen. Er trug ein zerknittertes, ausgefranstes langes Hemd, das ihm unordentlich aus der Hose hing. Kornienko vertrat ihm den Weg. »He, du, mit dir will ich mal ein Wörtchen reden.« Sie standen vor einem dieser wie ausgestorben wirkenden Häuserkomplexe. »Hm? Mach mich nicht an. Hab's eilig.« Stefan packte den Schwankenden bei den Armen, die sich dünn und zerbrechlich anfühlten. Völlig 83
kraftlos, der Kerl. Er hob den jungen Mann buchstäblich hoch und hievte ihn die drei oder vier Stufen hoch bis zum Eingang des leerstehenden Hauses, vor dem sie sich gerade befanden. »Ich sagte, ich will mit dir reden.« »Mensch, laß mich los!« Seine Augen flackerten ängstlich. »Mach 'ne Fliege. Du verschwendest nur deine Zeit. Ich hab' nix. Hab' keine Kohlen. Hab' gar nix. Echt. Raffst du das nicht?« »Doch. Hab' ja Augen im Kopf«, erwiderte Stefan. »Wenn du mir erzählst, was ich wissen will, springt vielleicht was für dich raus.« »Bist du etwa 'n Bulle? Ich brech' zusammen. Was willst du schon für mich tun, he?« »Damit könntest du richtig liegen, daß ich von der Polizei bin, meine ich.« »Ich weiß nichts, Mann. Bin völlig schimmerlos. Echt!« Kornienko versetzte ihm einen kräftigen Schlag vor die Brust. Der Mann taumelte zur Seite. »Reg dich ab. Du wartest, bis du gefragt wirst, verstanden?« Der Fixer war wieder hochgekommen und zwinkerte nervös mit den Augen. »Ich flipp' gleich weg. Du motzt hier rum und schlägst auf einen ein... Da kannst du ganz schön Knies kriegen mit den Bullen.« »Ich wollte nur, daß du mal aufpaßt. Wenn man bedenkt, wo du dich hier rumtreibst, und um welche Zeit... Na, und dein mieser Zustand... da kannst du 84
froh sein, daß du mich hier getroffen hast. Wirklich, ich bin sozusagen der netteste, den du hier überhaupt erwarten konntest.« »Mich nervt hier keiner an. Geht über deinen Horizont, was? Jeder Arsch kann doch sehen, daß ich nix hab'. Also schieß los. Frag. Und dann mach 'ne Biege.« »Was weißt du über den Doppelmord auf der Seventh Street letzten Freitag?« »Was für'n Doppelmord? Ich glaub', mich tritt 'n Pferd. Ich weiß nicht mal was von einem Freitag.« »Wo warst du letzten Freitag so gegen halb elf abends?« »Das is' 'ne ganze Woche her. Wie soll ich das wissen?« Kornienko packte ihn bei seinem schmutzigen Hemdkragen. »Das ist keine Woche her, sondern erst vier Tage. Nimm dich gefälligst zusammen und sag's. Wo warst du Freitag? Versuch, dich zu erinnern.« »Ich weiß nix davon.« Der junge Mann wurde von einem Augenblick zum andern wieder von einem Schüttelfrost gepackt, und seine Zähne schlugen aufeinander. Kornienko sah, daß der Fixer die Wahrheit sagte. »Nun mal zu, mein Freund. Wir nehmen stark an, daß es einer von euch war, der den Mord begangen hat. Und das wird eine Menge Wind machen, das verspreche ich dir. Euch Fixern machen wir die Hölle heiß. Du hast vielleicht gedacht, der Stoff ist jetzt schon ziemlich teuer. Wenn wir euch den Hahn zudrehen, dann kriegst du überhaupt nichts mehr. Wir trocknen das ganze Viertel aus. Dann haben wir 85
euch viel besser unter Kontrolle. Und können euch besser vernehmen. Willst du das? Du tust dir keinen Gefallen, wenn du mir nicht etwas hilfst.« »Ich hab' Null Ahnung, Mann. Sag' ich doch.« »Vielleicht hast du was gehört. Vielleicht haben die andern darüber gesprochen. Denk mal gut nach.« »Schnallst du das nicht? Hab' nix gehört.« »Wen kennst du, der gut mit dem Messer dabei ist? Na, fällt dir was ein?« »Hm, hm«, er schüttelte den Kopf. »Keiner. Von uns hat keiner 'n Messer. Echt nicht. Zahlt sich nicht aus. Viel zu gefährlich. Echt. Plötzlich wachste im Knast wieder auf. Nee, Messer, nix für uns. Aber ich kann dir sagen, wer eins hat. Die ganz jungen.« »Meinst du jemand Bestimmten?« »Nein.« Kornienko lockerte seinen Griff um den Kragen des Fixers. »Gebongt?« »Ja.« »Dachte, du brennst darauf, mir was Gutes zu tun. War wohl 'n Scherz, was?« »Gib mir einen guten Tip, und du verdienst dir einen flotten Hunderter. Wiewär's?« »Wenn ich 'ne Info hab', spuck ich's aus. Wo trifft man sich wieder?« »Du siehst mich eher wieder, als du denkst. Ich komme regelmäßig durch diese Straßen. Und ich bin leicht wiederzuerkennen.« »Krieg' ich 'n paar Eier? So als Vorschuß, mein' ich?« Kornienko sah den Mann an. Diese glasigen, tiefliegenden Augen. Dieser weggetretene Blick. Der Mann war jung, aber seine Augen waren alt. Sogar im Dunkeln unverkennbar die Augen eines 86
Süchtigen. Ein Mensch, der furchtbar litt. »Ob ich 'n paar Eier krieg', Alter. Ich bin trocken, schnallst du das nich... ?« Kornienko zog sein Geld aus der Hosentasche. Er fischte eine Fünfdollarnote aus dem Bündel und gab sie dem Fixer. »Gib's nicht alles auf einmal aus.« Der junge Mann hatte den Schein blitzschnell geschnappt. Er sah Stefan strahlend an. Seine Augen glänzten. Es schien ihm direkt besserzugehen. Er schüttelte dankbar Stefans Hand. »He, bist bärenstark. Echt. Für dich laß ich sogar meine Connections spielen. Da kannste drauf bauen. Echt. Bin dein Mann.« Damit hastete er, so schnell er das mit seinem Torkelgang zustande brachte, davon. Kornienko trat vor das Haus und blickte ihm nach. Wie konnte ein Mensch nur so runterkommen. Aber das war dessen Problem, nicht seins. Er hatte die fünf Dollar investiert, weil er hoffte, sein Problem dadurch eher zu lösen. Die Wahrscheinlichkeit allerdings, daß es eine reine Fehlinvestition war, das wußte er, war groß. Aber fünf Dollar mußte man schon mal riskieren. Ein gutbezahlter Spitzel war der beste Freund eines Polizisten. Plötzlich wurde Stefan bewußt, wie müde er war. Der Wecker hatte sehr früh geklingelt. Zuerst das Treffen im Elften. Dann das Fingerhakeln mit Hartman. Und all das nach dem Wochenende, das ja auch nicht gerade ohne gewesen war. Bei dem Gedanken an die letzten Tage schauderte es ihn. Alles kam ihm unwirklich vor. Aber es war nur zu real. Er bog nach Westen ab, wo seine Wohnung lag. Er würde sich mal ausschlafen. Als er Avenue A erreicht hatte, fiel ihm der Zeitungskiosk ein, der nachts geöffnet hatte. 87
Nur ein paar Häuserblocks weiter. Er beschloß, sich noch eine Zeitung zu kaufen. Wenig später war er dort und griff sich eine Zeitung vom Stapel. Er zog sein Papiergeld aus der Tasche und kramte dann nach den Münzen. Als er sah, daß er nicht genügend Kleingeld hatte, zog er doch einen Dollarschein aus dem Bündel und legte ihn auf den Glasteller. Der Zeitungsverkäufer zählte ihm das Wechselgeld in die Hand. Stefan wollte gerade gehen, als er den Jungen mit seinen Turnschuhen auf der anderen Seite des Kiosks entdecke. Der Junge mochte vielleicht vierzehn oder fünfzehn sein, hatte langes blondes Haar und lehnte an der Theke. Er aß irgend etwas. Kornienko war sich bewußt, daß der Junge ihn beobachtet hatte, als er das Geld aus der Tasche zog. Er nickte dem Verkäufer zu. »Gute Nacht.« Ein oder zwei Häuserblocks weit war er gegangen, als er das Wetzen weicher Sohlen hinter sich auf dem Straßenpflaster hörte. Er fuhr herum. Es war der blonde Junge, der am Kiosk gestanden hatte. Er überholte Stefan. Stefan ging weiter und blickte dem Jungen nach. Offensichtlich war er einen halben Block vor ihm stehengeblieben. Twelfth Street. Kornienko bog in westlicher Richtung ab. Ein paar Minuten später das gleiche Geräusch weicher Schuhsohlen. Der blonde Junge kam wieder angerannt. Sein langes Haar flog. Er schoß an ihm vorbei, verschwand im Dunkeln. Merkwürdig, wie der sich aufführte. Was sollte das? Auf halbem Weg zwischen First und Second Avenue war es besonders finster. Da trat der Junge aus einem Hauseingang und blieb genau vor Stefans Füßen stehen. Der Junge hielt beide Hände in den 88
Hosentaschen. Er sah Stefan an. »Geben Sie mir was von dem Kies, den Sie in der Tasche haben.« »Wieso sollte ich dir Geld geben wollen? Wenn du welches willst, geh doch arbeiten.« Stefan ließ den Jungen nicht aus den Augen. Immer noch hielt der Bengel die Hände in den Taschen. Konnte dieses Kind ernsthaft was vorhaben? Das würde ja heiter werden. Da hatte der Junge sich aber den Richtigen ausgesucht. Stefan stemmte die Arme in die Hüften. Das nächste würde der Griff nach der Waffe sein. Er war schnell. Keine Frage. Aber es war vollkommen unwahrscheinlich, daß dieses Kind ernsthaft einen Überfall plante. Er beobachtete jede Bewegung des Jungen. Der zog seine Hände aus den Taschen und grinste. »Nur ein paar Dollar, na?« »Vergiß es«, sagte Stefan. Aber dieser kleine Schnorrer sah doch richtig süß aus, wenn er einen so anlächelte. »Nur einen Dollar.« Der Junge lächelte noch breiter. »Tu was, dann verdienst du was«, Kornienko lächelte zurück. Netter Junge. Jetzt lief er fort. Was, zum Teufel, sollte das eigentlich? Er trat zur Seite und sah dem Burschen kopfschüttelnd nach. Man traf wirklich nur Verrückte in New York. * Quick drehte sich noch mal nach dem großen Mann um, der eben Richtung Fourth Avenue weiterging. Zu stark, zu groß, um es zu versuchen, zumindest von vorn, nein. Nicht mal für das Bündel Geld, das der Mann in der Tasche trug. Wahrscheinlich war's gar nicht so viel. Sicher alles Eindollarnoten. Ganz abgesehen von dem Gesichtsausdruck, den dieser 89
Typ hatte. Einer, mit dem's nicht easy war. Andererseits, auch solchen Mackern ließ sich beikommen. Wenn man's nur richtig anging. Von hinten. Ohne daß sie was merkten.
6. Kapitel Barbara Whitsell hatte sich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch erhoben und sich hinter die Kundin gestellt, um ihr beim Ausfüllen des Darlehensantrags zu helfen. Die Frau, eine Chinesin, bedankte sich. Barbara begleitete sie aus der niedrigen Absperrung hinaus, mit der ihr Arbeitsplatz im Großraumbüro der Bank umgeben war. Es war nicht Vorschrift, die Kunden herauszubringen, wenn einmal das Gespräch beendet war, aber Barbara tat es gern. Die Zweigstelle der Bank lag in Chinatown. Fast alle Kunden waren Chinesen. Barbara hatte die Erfahrung gemacht, daß Chinesen sehr auf solche kleinen Gesten achteten. Sie war die einzige weiße Angestellte in der Bank. In den neun Jahren, die sie mittlerweile schon hier arbeitete, hatte sie gelernt, wie man diese Leute behandelt. Sie war immer besonders freundlich und höflich. Und die Kunden mochten sie, wie auch die Kollegen. Nachdem sie sich von der Chinesin verabschiedet hatte, wandte Barbara sich dem nächsten Kunden zu, einem jungen Mann. Sie benutzte die chinesische Grußformel, die sie gelernt hatte. Er antwortete mit einem Lächeln. Es war sein zweiter Besuch. Es ging um ein kleines Darlehen zur Modernisierung der elterlichen Bäckerei in der Pell Street. Sie hatte ihn schon beim letzten Mal gefragt, wohin die 90
Ware geliefert wurde. Hauptsächlich verkauften sie fortune Cookies. Der Chinese versicherte Barbara, daß der Betrieb bis weit über den Nordosten hinaus liefern würde. Barbara führte ihn zum Schreibtisch und setzte sich. Während sie den schriftlichen Antrag las, holte er eine Tüte hervor und reichte sie ihr. »Fortune Cookies«, sagte er lächelnd. »Für Sie.« Barbara hatte schon welche gegessen, und sie wußte, daß es sich dabei um ein chinesisches Gebäck handelte, das Glück bringen sollte. Sie hatte die Stellung in dieser Bank gleich nach ihrer Ankunft in New York angetreten. Aus Tarrytown war sie nach New York gezogen, nachdem sie die Schule beendet hatte, weil sie nicht mehr bei den Eltern leben, sondern unabhängig sein wollte. Zuerst war New York das große Abenteuer gewesen, die große, weite Welt. Aber schon nach ein paar Jahren war Barbara klargeworden, wie hart man hier arbeiten und kämpfen mußte, wenn man auch nur das Notwendigste zum Leben haben wollte. Ihre Eltern waren inzwischen pensioniert und nach Florida gezogen. Es gab also keinen sicheren Hafen mehr, in den man zurückkehren konnte, um Ruhe und Geborgenheit zu finden. Keine Mutter, bei der man sich ausweinen konnte, wenn es einem schlechtging. Wie auch immer, Barbara liebte New York in jenen ersten Jahren, besonders das Village mit seinen urigen kleinen Geschäften, mit den Künstlern, mit all den verrückten Dingen, die es in Tarrytown nicht gab. Barbara machte sich vor, daß sie eines Tages von einem Mann zum Traualtar geführt werden würde, der ihr Sicherheit geben konnte, und durch 91
den sie in die Gesellschaft eingeführt würde. Reichtum, Stil. Vielleicht ein Bankier. Oder ein Börsenmakler. Wall Street. Oder vielleicht mit einem angesehenen Beruf wie Rechtsanwalt oder Arzt. Vielleicht würden sie später in einem Vorort leben, die Welt der Clubs kennenlernen, dort, wo eine Frau ihren eigenen kleinen Zweitwagen hatte und drei Kinder sorglos großzog. Nein, es wäre nicht übel, dann der Stadt den Rücken zu kehren. Sie war sicher, daß man sich daran nicht nur gewöhnen konnte, sondern es sogar lieben würde. Den Tag damit verbringen, Tischdecken aus Damast fein säuberlich zusammenzulegen, alles passend einzukaufen und sich einfach darum zu kümmern, daß man sich wohlfühlte. Ein Haus mit einer weitgeschwungenen Auffahrt... In den ersten Jahren in New York hatte sich Barbara auf die Annäherungsversuche der Männer eingelassen, die in dieses Bild zu passen schienen. Aber alle suchten nur ein Abenteuer und waren längst verheiratet. Mehrere Jahre hindurch machte sie eine schlechte Erfahrung nach der anderen. Bis sie anders wurde. Sie wurde so, wie die anderen im Village, ausgeflippt, mit Afro-Look, verrückten Klamotten. Sie fand ihren Weg. Die Welt der Freaks, Parties, Nacht für Nacht. Sie begann, dieses ganz neue Lebensgefühl in einer aufregenden Stadt wie New York zu lieben. Sie war mittendrin. Leben. Marihuana. Erfahrung. Rausch. Aber all das brachte schließlich auch Unerfreuliches mit sich. Die anderen wollten sie zuerst nur überreden, dann zwingen, stärkere Sachen zu nehmen. Barbara hatte Angst. Würde sie je wieder den Weg zurück finden? Normal sein? War das 92
wirklich ihr Traum vom Leben? Die Männer waren entweder schwul oder süchtig und total flippig. Im Grunde konnte man nichts mit ihnen anfangen und schon gar nicht auf sie zählen oder ernsthaft eine feste Beziehung mit ihnen eingehen. Barbara war fast dreißig, als sie aus dem Drogentaumel wieder auftauchte. Sie begann, die Welt in klaren Farben zu sehen. Nüchterner. Sie, Barbara Whitsell, war nicht der Nabel dieser Welt. Sie war eine kleine Bankangestellte, die sich ihren Lebensunterhalt in der fünftgrößten Stadt der Erde verdiente. Sie war allein. Ganz auf sich gestellt. Die Eltern waren mehr als tausend Meilen von ihr entfernt und lebten von ihrer bescheidenen Pension. Und sie selbst würde womöglich niemals heiraten. Als ihr diese Wirklichkeit bewußt wurde, war sie tief erschüttert. Sie wußte, sie brauchte Hilfe, aber von ihrem kleinen Gehalt konnte sie sich keine Therapie leisten. Sie ging schließlich in Begegnungsgruppen. Diskussionen, Berührung mit anderen, Gefühlsausbrüche. Sie lernte. Es half ihr. Sie kam wieder klar mit ihrem Leben. Und die Arbeit begann, einen wichtigen Platz in ihrem Denken einzunehmen. Sie stürzte sich in ihren Beruf. Sie stieg die Karriereleiter hoch. Bald war sie verantwortlich für die Darlehensvergabe in der Zweigniederlassung. Eine erfolgreiche junge Frau. Männer? Barbara sah das inzwischen ganz unverkrampft. Vielleicht würde es einen geben. Vielleicht nicht. So was konnte man nicht erzwingen. Bis es einmal soweit war, mußte sie auf sich allein bauen. Sie wollte ihr Leben genießen. Ja, sie lebte schließlich jetzt und heute.
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Der junge Chinese verabschiedete sich, nachdem sie ihm die Zusage für das Darlehen gegeben hatte. Ihr Blick fiel auf den Beutel mit Gebäck. Fortune Cookies. Das erste gemeinsame Essen mit Stefan fiel ihr ein. Ein Mittagessen in einem chinesischen Restaurant. Sie hatte Stefan durch Zufall kennengelernt. Es war nach einem Kinobesuch mit einem Freund. Auf dem Nachhauseweg waren sie von einer Gruppe Jugendlicher überfallen worden. Der Freund, ein Künstler, hatte den Rowdies Widerstand geleistet. Daraufhin wurde er niedergeschlagen. Mit einer Eisenstange waren sie auf ihn losgegangen. Die Kerle nahmen ihm die Brieftasche ab, und dann rissen sie Barbara die Handtasche weg. Der Freund saß auf dem Pflaster und hielt sich den blutenden Kopf. Es hatte einige Zeugen gegeben. Aber die Leute schauten einfach weg. Sie gingen weiter, als ob nichts wäre. Am Tag darauf erschien Stefan in der Bank und nahm das Protokoll auf. Sie merkte sofort, daß sich der Polizist in sie verliebt hatte. Er saß vor ihrem Schreibtisch, stellte in knappem Ton seine Fragen, notierte ihre Antworten in sein kleines Notizbuch. Er sah sie genau an, und Barbara wurde warm ums Herz bei diesem beharrlichen Blick. Es gab etwas in seinem breitflächigen, ehrlichen Gesicht, das sie einfach faszinierte. Dabei war er nicht das, was man einen gutaussehenden Mann nennen konnte: Das Gesicht etwas zu blaß, , die Partie um den Mund zu kräftig. Er hatte eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und diese kleinen Ohren... lustige kleine Ohren, verglichen mit diesem riesigen Kopf. Barbara mußte lächeln, als sie daran dachte, wie Stefan sie gefragt 94
hatte: »Wann kann ich Sie wiedersehen, Miss Whitsell?« »Wann immer Sie wollen«, hatte Barbara geantwortet. Sie wollte schließlich unbedingt helfen, daß diese Leute gefaßt wurden. »Oh, nein. Ich meine- nicht im Dienst«, hatte er schnell hinzugefügt. Die Einladung kam so überraschend, daß es Barbara die Sprache verschlug. Ein Kripokerl?- Eine Bulle?- Schließlich hatte sie sich soweit wieder gefangen, daß sie antworten konnte. Ja, sie sei einverstanden. »Also gut. Ich lade Sie zum Mittagessen ein.« »Und wann?« »Heute. Jetzt gleich. Es ist gerade fünf Minuten vor zwölf.« »Ist das nicht etwas ungewöhnlich?« »Ja, schon«, war sein einziger Kommentar. Die für ihn so typische Wortkargheit. Immer wieder mußte sich Barbara dieses Bild vor Augen führen. Sein Zwinkern, als er ihr versicherte, auch Polizisten würden zu Mittag essen, mit dem Segen ihrer Vorgesetzten sogar, und daß sie sich beim Essen genauso benahmen, wie andere Menschen auch. So hatte es angefangen. Sie gingen durch Chinatown und betraten ein Restaurant. Sie aßen mehrere Gänge. Eine festliche Sache. Zum Schluß hatte es Fortune Cookies gegeben. Barbara schälte das Papier von ihrem Gebäck ab und las. »O Gott! - hier steht: Hüte dich vor fremden Riesen. Was soll ich denn jetzt machen?« Und Stefans Stirn zog sich nachdenklich zusammen, als er seinen Zettel las. »Jetzt bin ich aber gespannt, was auf meinem steht«, sagte er. »Ich habe diese Woche einen 95
Pechtag nach dem anderen. Mich würde jetzt gar nichts mehr wundern...« Aber bei ihm stand etwas ganz anderes: Koste behutsam die zarte Frucht der Zuneigung. Nie würde sie vergessen, wie er sie ansah. Dieses Grinsen, das auf seinem Gesicht lag. Noch beim Mittagessen fragte er sie, ob sie abends mit ihm ausgehen würde. Barbara wußte nicht recht, was sie ihm antworten sollte. Der Mann war Polizist. Ein merkwürdig aussehender Polizist ukrainischer Herkunft. Warum war er nicht ein Bankier aus Scarsdalel Aber ihr fiel einfach keine Ausrede ein. Er lud sie in ein ukrainisches Spezialitätenrestaurant auf der Second Avenue ein. Sie sollte von Anfang an wissen, wie er lebte, was ihm etwas bedeutete. Nach ein paar Drinks kam das Essen. Barbara probierte alles, und es schmeckte ihr sehr, was er bestellte. Die Piroggen, fand sie, schmeckten wie Ravioli ohne Tomatensoße. Sie mochte die Kohlrouladen, die sie auch schon einmal vorher gegessen hatte. Und die Kielbasa waren scharf und würzig. Es war ein denkwürdiger Abend gewesen. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Er war offenbar Polizist geworden, um wirklich etwas für die Menschen zu tun. Er wollte die Guten vor den Bösen schützen. Und ob sie es sich eingestand oder nicht, da gab es eine Spannung zwischen ihnen. Es war etwas Wichtiges mit ihnen geschehen, schon an diesem Abend. Nach dem Essen hatte er sie nach Hause gebracht. Ob er nicht noch etwas in ihrer Wohnung trinken wolle, fragte sie. Sie hatte sich beim Essen fest vorgenommen, eine solche Einladung nicht auszusprechen, aber als sie vor ihrem Haus stan96
den, verwarf sie alle guten Vorsätze. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen. Er gefiel ihr, da gab es diesen berühmten Funken zwischen ihnen, und sie hatte lange keinen Mann mehr gehabt... Sie war selbst überrascht, wie schnell er sie erobert hatte. Als er ging, war es heller Tag geworden. Er fuhr nach Hause, um sich zu rasieren und umzuziehen. Von dort aus mußte er zum Dienst. Mit tiefen Ringen unter den Augen erschien Barbara an jenem Morgen in der Bank. Ihre Haut war gerötet und hatte Flecken. Seine Bartstoppeln hatten das Gesicht gereizt. Und sie fragte sich, ob die anderen ihr etwas ansehen würden. In den Monaten, die nun folgten, vergaß sie ihre Träume von dem Rechtsanwalt, dem Arzt, dem Bankier. Sie war glücklich wie noch nie. Es war die beste Beziehung, die sie je gehabt hatte, und sie akzeptierte das ohne wenn und aber. An die Zukunft dachte sie nicht weiter. Sie liebte ihn. Es war das erste Mal, daß sie sich ihrer Gefühle zu einem Mann ganz sicher war. Für sie war er der sanfte Riese. Sie zerschmolz förmlich, wenn sie ihn mit seinen Eltern zusammen sah. Wie liebevoll sie miteinander umgingen; die Eltern waren so klein und zerbrechlich, und der Sohn war so groß. Wahrscheinlich mußte es irgendwann einmal in der Familie einen viel größeren Mann gegeben haben. Er behandelte seine Eltern mit Liebe und Respekt. Er beschützte sie. Er paßte auf sie auf. Und er kümmerte sich darum, daß es ihnen an nichts fehlte. Welch gute Eltern mußten sie für ihn gewesen seinNur so war die Selbstsicherheit und Ausgeglichenheit zu erklären, die Stefan ausstrahlte. Barbara war auch gern mit ihm allein. Er hatte ein bemerkens97
wertes Gespür dafür, was sie sich wünschte, und was sie nicht haben wollte. Er wußte, wann sie nur umarmt, wann sie geküßt, wann sie genommen werden wollte. Sie brauchte ihm nie etwas zu sagen. Er verstand sie auch so. Er selbst war ein sehr beständiger Mensch. Es gab keine Launen im Leben von Stefan Kornienko. Er war voller Entschlußkraft und Zielstrebigkeit, aber er war auch arglos. Nie mißtraute er einer Situation. Stefan war anständig. Was er tat, tat er aus lauteren Motiven. Er war der Mann, der eher untertrieb. Er sagte nie >vielleicht< oder wahrscheinliche wenn er eigentlich etwas anderes meinte. Und er war ein guter Liebhaber. Sie dachte daran, wie glücklich es sie machte, wenn er ihren Kopf in seine großen Hände nahm, wenn er ihre Stirn küßte, ihre Augen, ihre Ohren. Kaum zu glauben, wie zärtlich diese riesigen Hände sein konnten. Er wußte genau, wo er sie berühren mußte. Sie liebte es, hinterher ihren Kopf auf seiner behaarten Brust zu betten, oder, wenn er auf dem Bauch lag, sein Gesicht in die Kissen vergraben, auf seinen Schultern. Wie gern sie den Duft seines herben, männlichen Parfüms einsog! Barbara konnte die Frau nicht verstehen, die so einen Mann in die Wüste geschickt hatte. Dann wieder bekam sie Zweifel, ob sie sich so festlegen durfte. Stefan war Polizist. Nur ein ganz gewöhnlicher Polizist. Nichts mehr. Das Examen?- Es war nicht anzunehmen, daß er es diesmal bestehen würde. Nein, er war nicht der Mann, der ihr jemals ein Häuschen in Scarsdale kaufen konnte. Das stand fest. Wie es wohl sein würde, das Leben als Ehefrau ei98
nes Polizisten? Er selbst hatte das Thema schon angeschnitten. »Was würdest du sagen, wenn ich ein paar Wochen lang Nachtdienst machen müßte?« hatte er sie gefragt. »Ich würde mich auf die Nacht freuen, wenn du wieder bei mir bist«, hatte sie spontan geantwortet. Aber ein Nachgeschmack von Angst war doch zurückgeblieben. Es war nicht gut, wenn sie sich dieser Beziehung mit Haut und Haaren hingab. Besser, wenn die Sache etwas an der Oberfläche trieb... falls das überhaupt noch möglich war. Und dann der Alptraum am vergangenen Freitag. Zuerst war sie einfach nur dankbar gewesen, daß sie bei ihm sein konnte in diesen schweren Stunden. Sie war sicher gewesen, ihn trösten zu können. Aber dann hatte sie einsehen müssen, daß sie ihn noch kaum kannte. Barbara warf einen Blick auf ihre Uhr. Er mußte jeden Augenblick zurück sein. Sie sah auf, und da kam er gerade auf sie zu. Der Ausdruck seiner Augen war starr. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Das Gesicht verkrampft. Unpersönlich. Verschlossen. Sie gingen in das Cafe gegenüber. Es war kein Tisch frei. Sie mußten warten. Schweigen. Endlose Minuten. Endlich, nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, fragte sie ihn, was er die letzten Tage so gemacht hätte. »Ich hatte ziemlich viel zu tun.« »Du hast gearbeitet? Aber ich dachte doch...« »Ich habe trotzdem gearbeitet.« Seine Stimme klang schroff. »Wirklich?« Er antwortete nicht.
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»Steve, du weißt doch, daß du dich aus der Sache raushalten sollst. Sie haben's dir ausdrücklich gesagt, und du mußt dich daran halten. Laß sie doch machen.« »Ich werde sehr viel zu tun haben in der nächsten Zeit. Kann sein, daß ich mich die folgenden Tage nicht bei dir melde.« »Steve, warum kommst du heute abend nicht mit zu mir?« Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Ich sagte schon, ich hab' zu tun.« Sie musterte ihn von der Seite, sagte aber nichts darauf. Sie sprachen kaum noch miteinander. Sie wußte, es war zwecklos, weiter in ihn zu dringen. Im Moment gab es nur eins für ihn. Er begleitete sie zur Bank zurück. »Ich muß tun, was ich tun muß«, sagte er zum Abschied. Er sah sie an. »Ich hoffe, du verstehst mich.« »Ich werd's versuchen«, gab sie leise zurück. »Mehr kann ich nicht dazu sagen. Ich fürchte nur, du machst einen furchtbaren Fehler, wenn du das tust, was du meinst, tun zu müssen.« Er ging zur nächsten Telefonzelle und rief die Mordkommission Manhattan Süd an. Er verlangte Charlie Savage. »Ist nicht da«, sagte der Beamte, der den Anruf entgegennahm. »Einen Moment bitte«, Stefan mußte ein paar Minuten warten. »Savage kommt heute nacht erst spät rein. Um eins. Bis früh neun Uhr ist er da. Soll ich ihm was ausrichten?« »Ist nicht nötig. Ich ruf wieder an.« Kornienko legte auf. Alles lief wie geplant. 100
* Quick stand im düsteren Flur eines verlassenen Hauses. Avenue A. Gegenüber war ein Metzgerladen. Es war schon geschlossen. Aber drüben waren noch im vorderen und hinteren Bereich Lichter an. Quick konnte das durchs Schaufenster genau erkennen. Er konnte sogar sehen, wie der Metzger hin und her ging. Quick warf einen Blick in beide Straßenrichtungen. Früher Abend. Aber der leichte Nieselregen hatte die Bürgersteige wieder mal wie leergefegt. Genau, wie er es liebte. Sogar die Autofahrer konnten bei so einem Wetter weniger sehen. Er umklammerte den Griff seines Messers in der Hosentasche. Sein Vater hatte solch ein Messer besessen. »Zahlt sich aus, so ein niedliches, kleines Spielzeug mit sich rumzutragen«, hatte der Vater damals zu ihm gesagt. »Du fährst einen Laster. Du sitzt allein hinter'm Steuer. Es ist Nacht. Du hältst unterwegs an. Legst dich schlafen. Beruhigt.« Es war eines der wenigen Male, daß Quick seinen Vater in nüchternem Zustand gesehen hatte. Er war zu Hause und guter Laune. Er würde nie vergessen, wie der Vater neben ihm auf dem Sofa saß. »Sieh mal«, hatte er gesagt und das Messer aus der Tasche gezogen. »Nichts ist zu sehen. Du läßt es aufschnappen, und da ist sie.« Er wies auf die Klinge, voller Stolz. Er ließ das Messer aufschnappen und klappte es wieder zusammen. Auf, zu, auf, zu. Ein metallisches Klicken. Die glitzernde Klinge, lang, spitz, bedrohlich - und faszinierend. »Jawohl«, sagte Hubert Blanton. »So ein Messer ist was Feines. Man kann's für alles mögliche benut-
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zen.« Quick konnte den Blick nicht vom Messer wenden. »Laß mich mal probieren.« »O. k. Ist gar nicht schwer. Man hält's so.« Quick hielt den Griff fest umklammert. Er drückte auf den Knopf. Fühlte, wie das Messer in seiner Hand aufsprang. »Ich will auch so eins.« »Dazu bist du noch zu klein. Warte, bis du ein Mann bist.« »Hast du das Messer schon benutzt?« »Natürlich. Oft.« »Bei einem Streit?« »Na ja, ab und zu mal. Wenn du das Messer ziehst, hört jeder auf zu streiten und fängt an zuzuhören.« »Hast du schon mal jemanden... verletzt?« »Ein paar Mal«, hatte der Vater geantwortet. Und dann, weil Quick so fasziniert zusah, hatte er einen Wetzstein genommen und die Klinge geschliffen. »Das mußt du von Zeit zu Zeit polieren. Siehst du, so macht man es. Dann bleibt es schön und scharf.« Als Quick zwölf war, hatte er sein erstes Messer. Der Vater war schon seit Jahren fort. Aber die Episode mit dem Messer hatte sich in Quieks Gedächtnis fest eingeprägt. Als er das richtige entdeckte, wußte er, er mußte es haben. Es lag im Schaufenster einer Pfandleihe in der Hester Street. Ein Traum von einer Waffe. Er stahl das Geld für das Messer aus dem Portemonnaie seiner Mutter. Sie hatte es immer im Küchenschrank liegen. Später fand er sogar noch den Wetzstein, den der Vater vergessen hatte. Er erinnerte sich noch genau, wie er es ihm vorgemacht hatte. Quick verbrachte Stunden damit, die Klinge zu schärfen. Und immer wieder prüfte er, 102
ob das Messer scharf genug war. Er fuhr sich damit über den Flaum des Unterarms, und er sah mit Begeisterung zu, wie die Härchen sauber abrasiert wurden. Er dachte an die Worte seines Vaters, wie man damit umgehen solle. Wenn man beim Streit mit einem Gegner das Messer zog, war man im Vorteil. Der andere wurde ruhig, hörte zu. Quick machte die Probe aufs Exempel. Er war im letzten Schuljahr. Er nahm sich die Streber vor, die Jungen mit Brille. Er lauerte ihnen auf, wenn sie zur Toilette gingen oder auf ihrem Heimweg. Er bedrohte sie mit dem offenen Messer und nahm ihnen das Geld ab. Einer der Bestohlenen war mutig genug, ihn beim Rektor anzuzeigen. Quick wurde ins Rektorat bestellt und verwarnt. Die Lehre, die er daraus zog, war, daß er es eben immer noch nicht klug genug angestellt hatte. Daraufhin wurde er brutaler, schüchterte seine Opfer mehr ein. Wenn er jetzt jemanden überfiel, ritzte er ihn leicht in den Arm oder hielt ihm die blanke Schneide einfach an die Kehle. Er drohte ihnen, daß er das nächste Mal fest zuschneiden würde, wenn sie es wagten, ihn zu verpfeifen. Allerdings sprach sich schnell herum, wer Quick war. Die meisten mieden ihn. Quick beschloß, den Kreis seiner Opfer auf ältere Schüler mit mehr Geld auszuweiten. Auch das funktionierte. Oft waren sie einen Kopf größer als er und mehrere Jahre älter. Quieks Methode war einfach. Es gab vier Grundregeln. Das Opfer mußte allein sein. Man mußte als erster angreifen. Sehr schnell sein. Der andere müßte in Todesangst versetzt werden. Ein unfehlbares System. Nach und nach 103
wurde Quick klar, daß er fast jeden auf diese Weise hochnehmen konnte. Was die Zeugnisse anging, so war es in der siebten Klasse sehr schlecht gelaufen. Quick interessierte die Schule nicht mehr. Schule war nichts für ihn. Nichts mochte er, was es hier zu lernen gab. Deshalb ging er einfach nicht mehr hin. Es gab ein paar halbherzige Versuche der Schulverwaltung, ihn zur weiteren Teilnahme am Unterricht zu veranlassen. Halbherzig, weil man Quick im Grunde nicht mehr in der Schule haben wollte. Es war schon schwer genug, den gutwilligen Schülern etwas beizubringen. Man wollte nicht noch Zeit und Energie darauf verschwenden, einen Wilden zu zähmen. Seitdem Quick nicht mehr zur Schule ging, trieb er sich auf den Straßen herum. Meistens nachts, wenn es dunkel war. Er ließ alles mitgehen, was nicht niet- und nagelfest war. Von der Radkappe bis zur Handtasche. Ladendiebstahl wurde eine seiner Spezialitäten. Sogar Einbruch. Ein paar Mal wurde er geschnappt. Als er aber sah, wie leicht es war, die Absolution des Jugendamtes zu bekommen, fühlte er sich immer mehr zu neuen und kühneren Taten ermutigt. Er konnte fast alles tun, was er wollte. Es gab keine Strafe. Und wenn er einmal gefaßt wurde, blieb immer noch sein entwaffnendes Lächeln und das Versprechen, es nie wieder zu tun. Das nette Lächeln half garantiert. Quick fand es köstlich, daß die verdammten Nigger eingelocht wurden, während er immer wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. So verging ein Monat nach dem anderen. Sein Ideenreichtum wuchs in dem Maße wie sein Selbstvertrauen.
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Da der Regen inzwischen schwächer geworden war, beschloß Quick, sofort zuzuschlagen. Nach seinen Erfahrungen gab es gleich wieder Fußgänger auf den Bürgersteigen, wenn das Wetter sich besserte. Er wartete ab, bis kein Auto mehr kam und überquerte die Straße. Er drückte die Klinke des Metzgerladens herunter, obwohl er genau wußte, daß noch geschlossen war. Er stellte sich vors Schaufenster und preßte seine Nase an die Scheibe. Er beobachtete, wie der alte Mann im hinteren Teil des Ladens arbeitete. Der vordere Verkaufsraum war dunkel. Er klopfte an die Scheibe. Der alte Mann sah nur kurz auf und setzte seine Arbeit fort. Quick klopfte zum zweiten Mal, diesmal lauter. Der alte Grodek legte das Tuch aus der Hand und schlurfte zur Ladentür. Er tippte auf das Schild. Geschlossen. »Lassen Sie mich rein«, rief Quick. »Geschlossen!« Grodek deutete dabei erneut auf das Schild. »Sie müssen mich reinlassen.« »Komm morgen wieder, mein Junge.« »Ich will nur ein paar Würstchen kaufen.« Quick sah den Alten flehend an und lächelte. »Am Ende des Blocks ist noch offen.« Grodek deutete stadteinwärts. »Meine Mutter hat gesagt, ich darf nur bei Ihnen kaufen. Die wird sauer, wenn ich die Würstchen von woanders bringe. Sie wußte nicht, daß Sie schon geschlossen haben.« Grodek zögerte. »Es dauert doch nur ganz kurz. Ich hab' das Geld dabei.« Quick zog einen Dollarschein aus der Ta105
sche und hielt ihn an die Scheibe. Er mußte grinsen, als er sah, wie es hinter Grodeks Stirn arbeitete. »Scheiße.« Jemandem mit viel Geld würde er sofort öffnen! Grodek schloß auf und ließ Quick herein. »Nun?« »Für einen Dollar Hot Dogs!« Grodek knipste die Deckenbeleuchtung an und ging um die Theke. Er hob eine Kette Frankfurter aus dem Kühlfach, schnitt drei Stück ab und legte sie auf die Waage. Er nahm sie wieder fort, noch ehe der Zeiger der Waage zum Stehen gekommen war. Er hatte sowieso einen Standardpreis für Hot Dogs. Drei Stück einen Dollar. »Bitte.« Quick nahm die eingewickelten Würstchen entgegen und gab Grodek den Dollar. Er sah, wie der Alte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche zog, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Grodek fügte den Dollarschein hinzu und schob das Bündel in die Hosentasche zurück. Quick hob die Nase und schnupperte. »Nach was riecht es so gut bei Ihnen?« »Kielbasa.« »Was ist das?« »Eine Art Würstchen.« »Kann ich die mal sehen?« Grodek zuckte die Schultern. »Komm.« Er schaltete die Deckenbeleuchtung aus und war schon zum hinteren Teil des Geschäfts unterwegs, als er ein metallisches Klicken hinter sich hörte. Er drehte sich um. Quick stand hinter ihm, das offene Messer in der Hand. Grodek war so erschrocken, daß er zu-
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rücktaumelte und an die Tür des Kühlschranks stieß. Quick setzte ihm die Klinge an die Gurgel und drückte den Kopf des Alten gegen den Kühlschrank. Grodek begann zu zittern. »Das Geld her.« Der alte Mann starrte ihn an. »Kornienko«, stammelte er. »Was heißt das?« Grodek war bleich wie die Wand. Er antwortete nicht. »Das Geld.« Quick verschärfte den Druck des Messers. »Los. Oder soll ich dir den Hals rasieren?« Mit einer unendlich langsamen Bewegung holte der alte Mann sein Geld aus der Tasche. Quick riß; es ihm aus der Hand. Er verstärkte nochmals den Druck der Klinge. »Wenn du singst, komm' ich wieder und schneide dich in Stücke. Verstanden?« »Du hast das Geld«, sagte Grodek. »Mehr habe ich nicht. Und jetzt geh!« Quick fuhr mit der Klinge auf dem Adamsapfel des Alten entlang. »Ob du mich verstanden hast?« Grodek atmete schwer. »Ja. Bitte.« »Gefällt dir mein Messer?« »Ja.« »Glaubst du auch, daß es scharf ist?« »Ja.« »Schärfer als alle Messer, die du hier im Laden hast?« »Ja.« »Soll ich's dir beweisen?« »Bitte geh.«
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»Ich werd's dir zeigen.« Mit einer raschen Bewegung ließ Quick die Schneide über das Handgelenk des Alten gleiten. Quick hatte die Klinge schon wieder an Grodeks Kehle, als sich der Schnitt mit Blut füllte. »Scharf?« »Ja.« »Ich geh' jetzt. Du willst doch sicher nicht, daß ich wiederkomme, oder?« »Nein.« Quick gab den Hals des Alten frei. Er drückte die Spitze des Messers gegen seinen Bauch. »Ich kann dir natürlich auch die Eingeweide aufschlitzen, wenn du nicht gern die Kehle durchgeschnitten kriegst.« Auf Grodeks Stirn stand der kalte Schweiß. Er hielt die Augen geschlossen. Mit einem Satz war Quick an der Ladentür. »Ich hab' dir die Würstchen wieder auf die Theke gelegt. Den Scheiß kannst du selber fressen.« Er öffnete die Tür und trat in den Regen hinaus. Zwei Minuten später war er im Tompkins Square Park. Er lief den Weg entlang und fand einen Baum, wo er sich unterstellen konnte. Er tastete nach dem Geldbündel in seiner Hosentasche. Einwanderer waren die idealen Opfer. Besonders die alten. * Grodek hatte sich auf einen Stuhl sinken lassen. Er vergrub sein Gesicht in den Armen. Ein paar Sekunden lang saß er so reglos da. Dann begann er zu weinen. Wenn der Junge seine Drohung wahrmachte... Nein, er würde den Überfall nicht melden.
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Aber was, wenn er immer wiederkäme, immer und immer wieder?-Trotzdem, er würde schweigen. * Kornienko schlenderte die Avenue C entlang. Finsterer und dreckiger ging's nicht. Das Ende der Welt. Leichter Regen. Genug, um die Leute von den Straßen zu vertreiben. Es wurde neblig. Er blinzelte ins Straßenlaternenlicht. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Kurz vor Mitternacht. Er mußte noch etwas warten. Sein Blick wanderte die zerfallenen Fassaden entlang. Ein abbruchreifer Block neben dem anderen. Menschen wohnten hier nicht mehr. Er vergeudete nur seine Zeit. Diese Straße wirkte auf ihn wie eine Geisterstadt. Zumindest bei Regen. Er bog in die Eleventh Street ein und ging Richtung St. Marks Church. Kein Fußgänger war zu sehen. Stefan ging es durch den Kopf, daß höchstens ein Volltrottel sich bei Dunkelheit in diesen Teil der Eleventh Street wagen würde. Oder sonstwohin in diese Gegend. Merkwürdig. Die Gehsteige waren neu gepflastert worden. Stefan sah das zum ersten Mal. Neue Fußgängerwege auf der Seventh Street. Man baute hier neue Gehsteige vor die Häuser, von denen die meisten doch nur Ruinen waren und leerstanden. Die Straßenmitte war aufgerissen. Wahrscheinlich würde hier auch ein neues Pflaster herkommen. Ruinen, wie nach einem Krieg. Kornienko fielen die Fotos der zerstörten Städte aus dem Zweiten Weltkrieg ein. Vor dem Wiederaufbau. Köln, Dresden-da hatte es genauso ausgesehen wie hier. Es waren die frischgepflasterten Gehsteige, die so gar nicht zu dem Bild der Zerstörung paßten. Die Stadtplaner hatten mal wieder zugeschla109
gen. Vielleicht würde es in fünfzig Jahren auf der Eleventh Street auch schöne, neue Häuser geben. Vielleicht. Inzwischen würden die Gehsteige wieder kaputt und ein oder zwei Mal wieder erneuert worden sein. Er hatte die Avenue A erreicht. Zwei Männer standen an der Ecke. Kornienko sah sie genauer an. Polizisten, die verzweifelt versuchten, nicht wie Polizisten auszusehen. Kornienko kannte die beiden nicht, aber er spielte mit dem Gedanken, eine Unterhaltung mit ihnen anzuknüpfen. Er könnte sie fragen, ob es schon etwas Neues gab. Das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Polizisten war groß, auch wenn man sich nicht kannte. Wahrscheinlich würden sie ihm antworten. Aber was, wenn sich einer als Muster der Pflichterfüllung profilieren wollte? So ging er weiter in Richtung Third Avenue und betrat eine Kneipe, die rund um die Uhr geöffnet hätte. Um die Zeit totzuschlagen. Er bestellte sich einen Kaffee und betrachtete die Gäste, die kamen und gingen. Nichts. Niemand, der so aussah, als ob er der Täter sein könnte. Es war nach eins, als er das Deli wieder verließ. Er ging Richtung Twentyfirst Street und bog dann nach Osten ab. Zehn Minuten später hatte er das Gebäude der Mordkommission Manhattan Süd erreicht. Er betrat den Vorraum und zückte seinen Ausweis, deutete auf die Treppe und sagte: »Mordkommission.« Der diensthabende Beamte ließ ihn durch. Er erkannte Kornienko nicht. Mit raschen Schritten ging dieser die Treppe hinauf. Er fand Charlie Savage telefonierend an seinem Schreibtisch. Er winkte Kornienko zu, wirkte angenehm überrascht und 110
bedeutete ihm, sich zu setzen. Stefan kam herein, ließ sich auf einen Stuhl fallen und hörte zu, wie Savage redete. Dieser Kollege war einer von den gewissenhaften. Ein Gentleman, ein guter Polizist. Immer ordentlich. Auch im Hochsommer noch in Schlips und Kragen. Sorgfältig, systematisch, geduldig. Als Kornienko anfing, waren sie Kollegen gewesen. Damals im 49. Revier in der Bronx. Zwei Jahre waren sie zusammen Streife gefahren. Ihr größter Erfolg in den zwei Jahren war die Überführung eines Brandstifters gewesen. Ein Hausbesitzer hatte sein Miethaus in Brand gesteckt, um die Versicherung zu kassieren. Bei dem Brand waren Mieter ums Leben gekommen. Nach zwei Jahren im Funkwagen hatten ihre Wege sich getrennt. Sie versuchten, in Kontakt zu bleiben, aber sie sahen sich kaum. Savage legte den Hörer auf die Gabel. »Nur ein paar Tatsachen mehr. Ein Beweis, und wir können loslegen.« Er fluchte. Er öffnete eine Mappe und deutete auf das Bild eines Mannes, der aus dem Mittleren Osten stammen mußte. »Hier, sieh dir den an.« Auf dem Foto war außerdem eine hübsche junge Frau abgebildet. Beide mußten wohl so um die zwanzig Jahre alt sein. Der Mann hatte einen Bart, sah unsympathisch und irgendwie undurchsichtig aus. Das Mädchen dagegen wirkte freundlich. Sie lächelte offen und nett. »Kannst du mir sagen, was die Frau von diesem fiesen Typen wollte? Ich verstehe das nicht. Als sie ihm den Laufpaß gab, hat er sie mit dem Messer bearbeitet. Er wird jetzt in Chicago sein. Ich muß ihn haben. Kann dir gar nicht sagen, wie fertig mich die
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Geschichte macht. Aber mir fehlen Beweise. Kann ihn nicht festnageln.« Charlie klappte die Mappe wieder zu. Er blickte Stefan an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er war sehr ernst geworden. »Ich hab' gehört, was passiert ist. Ich kann dir nicht sagen, wie...«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Es tut mir so leid für dich. Mein Gott!« »Danke, Charlie.« »Entschuldige. Ich konnte nicht kommen. Unmöglich. Hab' eine schlimme Woche hinter mir. Als deine Eltern beerdigt wurden, hielt ich mich gerade in Chicago auf - es ging um den Fall hier.« »Schon in Ordnung, Charlie.« »Wir kriegen den Mann für dich, Steve. Er ist bei uns die Nummer eins. Lamson ist voll dahinter. Wir kriegen ihn.« »Ich will die Akte sehen. Ich will wissen, was es bis jetzt gibt.« »So ähnlich hab' ich mir das vorgestellt.« Charlie ließ seinen Blick über die leeren Tische schweifen. »Na ja, wenigstens hast du dir die richtige Zeit ausgesucht. Woher wußtest du denn, daß ich Dienst habe?« »Hab' vorher angerufen.« »Das dachte ich mir. Haben die da unten dich nichts gefragt?« »Hab' ihm keine Zeit dazu gelassen.« »Das wundert mich. Alle sind über dein Gespräch mit Hartman informiert.« »Ja, ich weiß.« »Und du tust dich trotzdem um?«
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»Nur ein bißchen.« Er sah Charlie an. »Wie sollte ich nicht? Würdest du's nicht auch machen?« Savage dachte eine Minute nach. »Wahrscheinlich ja. Aber paß auf, Steve, daß du nicht die Finger in die Tür kriegst.« »Laß mich die Akte sehen.« »Okay. Wenn's sein muß. Aber ich sag' dir jetzt schon, es steht nichts drin. Ich bin auf dem Laufenden. Es steht nichts drin, was von irgendeinem Nutzen wäre.« »Wenn nichts drinsteht, dann kann's ja wohl nichts schaden, wenn ich mal reinschaue.« Savage stand auf, ging zum Aktenschrank, zog eine Schublade auf und nähme die dicke Mappe heraus. Er gab sie Komienko. Obenauf lag wie üblich das Formblatt UF-61. Der Polizist, der zuerst am Tatort erschienen war, hatte es ausgefüllt. Kornienko überflog die Zeilen. Als nächstes kamen einige Seiten mit Fotos der Leichen. Einen Moment lang wünschte er, er könnte sie sich ansehen, mit Abstand, so wie sonst, wenn es um einen Fall ging. Aber er wußte, daß er nie dazu fähig sein würde. Hastig blätterte er diese Seiten durch. Fast bereute er schon, überhaupt gekommen zu sein. Er dachte an das traurige Gesicht Mazillis. Die Identifizierung der Leichen im Schauhaus. Er merkte, wie ihm übel wurde. Doch dann blätterte er weiter. Zusammenfassung der Fakten. Er zwang sich, reinzuschauen. Die Berichte der Polizisten, die durch die Häuser gegangen waren, um mögliche Zeugen aufzutun. Er las das Protokoll, das Wally Mead aufgenommen hatte. Die Vernehmung des Jungen, der die Brieftasche in 113
einer Mülltonne gefunden hatte. Hier könnte man ansetzen. Er las es wieder und wieder. Irgend etwas kam ihm eigenartig vor. Er las die übrigen Protokolle. Die meisten waren handgeschrieben. Unzählige Seiten. Lange, ausführliche Berichte über die Gespräche, die seine Kollegen vom Revier mit den Bewohnern der umliegenden Häuser geführt hatten. Nach einer Weile zog er den Bericht, der die Unterschrift von Wally Mead trug, wieder hervor. Er verglich den Bericht mit der ersten Vernehmung des Jungen, die von zwei anderen Kollegen durchgeführt worden war. Irgend etwas war verdächtig an der Aussage. Unwahrscheinlich, daß der Junge die Brieftasche mitten in der Nacht in einer Mülltonne gefunden hatte. Raymond mußte gesehen haben, wie jemand das Beweisstück fortwarf. Stefan hob den Blick. Charlie war in seine Akte vertieft. Ob man sich mit ihm darüber unterhalten konnte? Merkwürdig, daß Charlie die Unstimmigkeit beim Vergleich der Vernehmungsprotokolle nicht aufgefallen war. Er stand auf. Im Geiste wiederholte er die Hausnummer in der Sixth Street, wo Raymond Campbell wohnte.
7. Kapitel Harry Wanciak war fünfundfünfzig. Aber er fühlte sich jung, jung genug, um aufs neue in den Hafen der Ehe einzulaufen. Er war gesund, voller Lebenskraft. Er war stark. Er mußte stark sein. Das gehörte zum Beruf des Polsterers, den er ausübte. Und er hatte noch seine Träume und geheimen Sehnsüchte. Frauen -welch ein Wunder der Natur. Ein Segen 114
des Himmels. Harry Wanciak zählte sich nicht zum alten Eisen. Ganz im Gegenteil. Natürlich hatte er das obligatorische Jahr abgewartet, ehe er Marina Romanowitsch zu umwerben begann. Ein Jahr Trauer für seine geliebte Frau, die viel zu jung gestorben war. Marina war erst fünfzig. Sie war ohne langes Hin und Her auf Harrys Antrag eingegangen. Ihr verstorbener Mann war ungleich älter gewesen als sie. Joe Romanowitsch war schon einige Jahre tot. Die Idee, wieder zu heiraten, dazu noch einen viel jüngeren und aktiveren Mann, gefiel Marina. Ähnlich wie Harry, fühlte auch sie sich jung und zu frischen Taten aufgelegt. Sie konnte sich noch recht gut an die Reaktion der Nachbarn erinnern, als sie ihren so viel älteren Joe geheiratet hatte. Damals war gemunkelt worden, es ginge ihr nur ums Geld. Vielleicht hatten sie gar nicht so unrecht damit gehabt. Ihre Beziehung zu dem alten Joe hatte sie nicht voll ausgefüllt, in vielerlei Hinsicht nicht. Dafür brauchte sie sich aber nicht um die materiellen Dinge zu sorgen. Und mit den Nachteilen hatte sie sich abgefunden. Harry Wanciak warb fast ein Jahr um sie. Dann hatte er sie gefragt, ob er über Nacht bei ihr bleiben könnte. Sie sagte ja. Schließlich waren sie moderne Menschen. Und der Hochzeitstermin stand schon fest. Sie standen beide mitten im Leben. Die Welt hatte sich geändert. Und sie gingen mit der Zeit. Warum länger warten? Er war ziemlich überrascht, daß sie nichts dagegen hatte. Nun, Marina Romanowitsch hatte wirklich gar nichts dagegen. Sie war sogar sehr einverstanden. Es war ein Uhr morgens, als er die Wohnung seiner Zukünftigen verließ. Spät. Aber was machte das. Morgen 115
war Samstag. Er konnte ausschlafen. Harry hatte das Gefühl, er könnte Bäume ausreißen. Welch ein denkwürdiger Abend! Es war der schönste Tag in seinem ganzen Leben gewesen. Er wußte genau, daß er mit dieser Frau glücklich werden würde. Er ging die Seventh Street entlang und hatte die Kreuzung der Avenue B passiert. Er genoß die warme Sommernacht. Überrascht schaute er auf, als ihm ein Fixer, ein dunkelhaariger, junger Mann den Weg vertrat. Er kannte die Sorte, ja, er glaubte sogar, das Gesicht des Kerls wiederzuerkennen. Nichtstuer, drogensüchtig wahrscheinlich. Mehr und mehr trieben sich diese Leute im Viertel herum. »Geh weg«, sagte Wanciak. Er schob die Hand des jungen Mannes fort, die sich um seinen Arm gelegt hatte. »Wenn du mir nicht was gibst, sieht's schlecht aus für dich, Alter«, sagte der Fixer. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand. Wanciak war überrascht. Angst hatte er eigentlich nicht. Der junge Mann war klein, ausgemergelt, am Ende seiner Kräfte. Und er wirkte unsicher, sogar mit dem Messer. Der war krank, keine Frage. Ein Süchtiger in abgerissenen Jeans, verschmiertem T-Shirt. Total ausgelatschte Sandalen. Ein Gammler. »Ich sagte, gib mir Geld!« »Nichts da«, kam es wütend von Wanciak. »Wenn du das nicht steckst, polier' ich dir die Schnauze!« »Steck das Messer weg und verschwinde.« Wie ein Blitz zuckte der Gedanke an den Doppelmord durch seinen Kopf. Dann, als er die schmächtigen Arme des Mannes musterte, verwarf er diese Idee wieder. So ein wankendes Wrack konnte niemandem ge116
fährlich werden. Er trat einen Schritt zurück, aus der Gefahrenzone heraus. Er wollte einfach weitergehen, als ein Fenster im gegenüberliegenden Haus aufgerissen wurde. »Hilfe!« Die Stimme einer Frau, »Polizei!« Beide blickten nach oben. Eine ältere Frau stand, wild um sich schlagend, am Fenster im ersten Stock. »Verdammte Seuche!« Der junge Mann wollte losrennen. Angst stand in seinen Augen. Aber er verfing sich mit den Sohlen seiner Sandalen in einer Fuge des Asphalts, stolperte und stürzte. Im Fallen streifte er Wanciaks Schenkel. Die Hose wurde aufgeschlitzt. Ein Stich ins Bein. Wanciak schrie auf vor Schmerz. Er ging in die Knie, umklammerte sein Bein. Inzwischen hatte sich der Fixer wieder aufgerappelt. Er rannte in Richtung Avenue A davon, das Messer hielt er nach wie vor umklammert. Die Frau im 1. Stock schrie immer noch: »Polizei! Polizei!« Weitere Fenster wurden geöffnet. Immer mehr Leute lehnten sich neugierig hinaus. Wanciak war aufgestanden. Er hielt die Hand fest auf sein blutendes Bein gepreßt. Er humpelte hinter dem Flüchtenden her und schrie: »Haltet ihn! Haltet ihn!« Ed Lacey und Toby Starnes, die beiden Polizisten vom elften Revier, hatten ihren blau-weißen Streifenwagen in zweiter Reihe vor dem Zeitungskiosk in der Avenue A abgestellt. Lacey hatte sich gerade Zigaretten gekauft. Lacey war ein großer Mann. Ruhig. Im Football-Team auf der High School hatte er als Verteidiger gespielt. Er kehrte vom Zeitungsstand zurück, die Zigaretten in der Hand, als der 117
junge Mann um die Ecke geschossen kam. Die beiden prallten zusammen. Der Fixer fiel zu Boden. »Ja, holla! Wen haben wir denn da?«'sagte Lacey. Er betrachtete den jungen Mann, der sich am Boden wälzte. Und dann kam Wanciak um die Ecke, humpelnd, schreiend, fluchend. Der junge Mann nutzte die Sekunde der Ablenkung, um das Messer unter ein geparktes Auto zu werfen. Lacey hatte es nicht gesehen, aber die Handbewegung bemerkt. »Was hast du denn da weggeworfen?« Sein Blick wanderte von dem jungen Mann zu Wanciak, dessen Hosenbein blutdurchtränkt war. »Er hat ein Messer«, stöhnte Wanciak. »Was für ein Messer?« Stritt der Fixer ab. »Der hat sie ja nicht alle.« »Schauen wir doch mal unter dem Wagen nach, was du da weggeworfen hast«, sagte Lacey. Er nahm den Fixer unsanft am Arm und riß ihn hoch. »Wenn's ein Messer war, bist du dran.« Er drückte den jungen Mann gegen die Hauswand. »Nimm die Hände hoch. Leg sie gegen die Mauer.« Der Zeitungsverkäufer war aus dem Kiosk gekommen. Auch ein paar andere Schaulustige hatten sich inzwischen eingefunden. Starnes kam herbeigelaufen und beugte sich über Wanciaks Bein. »Oh, das sieht nicht schön aus.« Er kniete sich hin, um die Wunde aus der Nähe zu betrachten. Es schien aber nicht so, als sei die Arterie getroffen. »Wie ist das passiert?« »Er wollte mein Geld.« »Und wie hat er das gemacht... da unten?« Der Polizist wies auf das Bein.
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»Er wollte weglaufen und ist ausgerutscht. Er hat mich im Fallen verletzt.« Lacey hatte den Fixer nach Waffen durchsucht. »Schau mal unter dem grünen Wagen nach«, sagte er zu Starnes. »Er hat was unter den Wagen geworfen. Vielleicht das Messer.« Starnes fand das Messer. Er nahm es vorsichtig an der Spitze und zog es unter dem Wagen hervor. Es war ein mittelgroßes Federmesser mit feststehender Klinge. Die Scheide war blutverschmiert. Er hielt dem Fixer das Messer vor die Augen. »Na? Ist das deins?« »Ich seh's zum ersten Mal«, sagte der junge Mann. »Das werden wir noch feststellen«, erwiderte Lacey. Er löste die Handschellen aus seinem Gürtel und ließ sie um die Handgelenke des Fixers schnappen. Starnes trug das Messer zum Wagen. Er riß einen Bogen Papier von seinem Notizblock, faltete ihn und wickelte das Messer hinein. Dann legte er es auf den Boden. »Das Bein sieht nicht gut aus«, sagte er zu Lacey gewandt. »Ich werd' einen zweiten Streifenwagen rufen, für dich und den Kerl. Inzwischen bring' ich den Verletzten ins Krankenhaus. Ich werde ihn verhören. Wir sehen uns dann im Revier. Ich bring' das Messer mit.« »Okay. Gute Idee.« Starnes sah ihn von der Seite an. »Denkst du dasselbe wie ich?« Lacey nickte. »Ja, er könnte es sein.« »Was ist, wenn er's ist? Paßt alles zusammen.« »Hätte nichts gegen den Ruhm einzuwenden«, sagte Lacey. Starnes half Wanciak, im Fond des Wagens Platz zu nehmen. Er fuhr los und nahm das 119
Mikrofon. Code A1085. Überfall und versuchter Raub. Eine Festnahme. Ein Verletzter. Seventh und A. Lacey hatte kaum eine Minute mit dem Festgenommenen dagestanden und gewartet, als er Hilferufe hörte. Sie kamen aus dem nahe gelegenen Tompkins Square Park. Er wollte losrennen, wie immer, wenn jemand um Hilfe rief. Aber er hatte ja den dicken Fisch an seiner Seite, den dicksten seit langem. Vielleicht der Mörder von Kornienkos Eltern. Und er, Lacey, war der Mann, der den Kerl festgenommen hatte. Ja, er würde sich die Lorbeeren verdienen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte zu erkennen, was drüben im Park vor sich ging. Ob er den Fixer an ein Verkehrsschild fesseln sollte? Der Wagen, den sein Kollege gerufen hatte, würde innerhalb von ein oder zwei Minuten eintreffen. In der Zeit konnte nicht viel passieren. »He, Sie werden im Park gebraucht. Raffen Sie das nicht?« Der Fixer sah in lauernd an. »Da sollten Sie hinlaufen, nicht hier mit mir die Zeit totschlagen.« »Danke für den guten Tip.« Der zweite Wagen kam. Zwei Beamte sprangen heraus. Sie kamen zu Lacey. »Drüben im Park scheint noch was im Gang zu sein«, sagte Lacey. »Geht hin und schaut mal nach. Ich bleibe solange mit - unserem Freund hier.« Die beiden Polizisten rannten über die Straße in den Park. Schon nach zwei Minuten waren sie wieder zurück. Zwei Saufbrüder waren wegen einer Flasche Whisky in Streit geraten. Einer der beiden mußte wohl mit der halbausgetrunkenen Flasche im Arm eingeschlafen sein. Und der andere versuchte, 120
sie ihm wegzunehmen. Natürlich mit dem Ergebnis, daß der wieder aufwachte. Als der Polizist ankam, wollte jeder der Eigentümer der Flasche sein. Dabei war sie inzwischen so gut wie leer. Als die beiden Polizisten aus dem Park zurückkehrten, kam noch ein Streifenwagen vorgefahren. Verstärkung. Lacey schob den Fixer in den ersten Wagen und setzte sich neben ihn in den Fond. Er war aufgeregt. Viel mehr als sonst. Er und Starnes waren im Fall Kornienko die ersten am Tatort gewesen. Sie waren es auch, die die Brieftasche gefunden hatten, mit deren Hilfe überhaupt erst die Opfer identifiziert werden konnten. Zwar sah dieses Bürschchen, das hier neben ihm auf der Rückbank hockte, nicht gerade aus wie jemand, der fähig war, kaltblütig ein wehrloses altes Ehepaar zu ermorden, aber Drogensüchtige, die kein Geld für den nächsten Schuß hatten, waren zu allem fähig. Was, wenn dieser hier der Richtige war? * Angel Somosa saß zusammengekauert, den Rücken an der Wand, auf dem Boden der Zelle. Er fühlte sich hundeelend. Und es ging ihm mit jeder Sekunde schlechter. Er brauchte einen Schuß. Er brauchte ihn mehr denn je. Wenn er nicht bald was bekam, kriegte er einen richtigen Flattermann. Die Angst vor Entzug jagte ihm eine Gänsehaut ein. Wieder mal Pech gehabt. Er hatte den Mann nicht verletzen wollen. Nur etwas Geld wollte er haben. War es denn seine Schuld, daß er an diesem verflixten Bürgersteig stolpern mußte? Was er auch begann, er machte es falsch.
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Er betrachtete seine Armbeugen. Ganz schön viele Einstiche. Wurde immer schwieriger, sich einen Schuß zu setzen. An manchen Stellen ging's gar nicht mehr. Alles war entzündet. Besonders in der Beuge. Nicht mal auf dem Handrücken gab's noch viel Platz. Der war auch ziemlich zerstochen. Er wälzte sich auf die Seite. Das Innere des Reviers war zu überblicken. Polizisten am Telefon. Polizisten, die auf der Schreibtischkante saßen. Polizisten, die Kaffee aus Plastikbechern nippten. Sie unterhielten sich oder rannten hin und her. Das Geräusch, das Angel Somosa aus den Diensträumen entgegenwogte, schien immer lauter zu werden. Es war was los im Elften. Somosa war der Fang des Jahres. Alles paßte zusammen. Der Mann war süchtig. Bewaffneter Überfall. Ein älteres Opfer. Wieder ein Freitagabend. Wieder ein Ukrainer. Ein Einwanderer. Hinzu kam, daß Somosa auf dem Revier kein Unbekannter war. Sein Strafregister war so lang, daß man es zusammenfalten mußte, um es in der Schublade unterzubringen. Aber bisher waren es mindere Delikte gewesen. Vielleicht waren beim Umstieg auf Heroin der letzte Rest von Selbstkontrolle, seine letzten Hemmungen flötengegangen. Gleich nach der Ankunft auf dem Revier waren seine Personalien aufgenommen worden. Man hatte Angel Somosa seine Rechte vorgelesen. Langsam und deutlich, im Beisein mehrerer Zeugen. Dann war er einer genauen Durchsuchung unterzogen worden. Schließlich war er in der Zelle gelandet. Keiner der Polizisten hatte sich, während der Festgenommene durchsucht wurde, an den Kleiderberg getraut, der da auf dem Boden zusammengeknäult 122
lag. Die Sachen waren so verlaust, daß einer der Polizisten scherzhaft meinte, sie sähen selbst so lebendig aus, als könnten sie aufstehen und losmarschieren. Die Mordkommission war verständigt worden. Ein Team von Beamten, das in Manhattan Süd Nachtdienst tat, war herübergefahren, und die beiden Männer waren sofort von der Aufregung, die hier herrschte, angesteckt worden. Man beschloß, Lamson zu Hause anzurufen und von der Festnahme zu verständigen. Niemand hatte Somosa bisher wegen des Falls Kornienko befragt. Der Überfall auf Wanciak genügte, um ihn erst mal festzuhalten. AI Lamson wohnte in Forest Hills. Es war drei Uhr nachts, als er im Revier eintraf. Nachdem er sich über den Fall informiert hatte, ging er zu Somosa. Lamsons Blick war auf den Festgenommenen gerichtet, der mit geschlossenen Augen auf dem Boden seiner Zelle lag. Der Mund stand offen. Somosa zitterte wie Espenlaub. Krampfartig wand sich sein Körper hin und her. Ein Wrack. War das der Mann, der Kornienkos Eltern ermordet hatte? Starnes kam und brachte das Messer. Lamson stand da, prüfte das kleine Messer, das Starnes ihm in dem zusammengefalteten Stück Papier vorlegte, und kratzte sich den Schädel. Lamson ließ Somosa aus der Zelle holen und in den Vernehmungsraum führen. Er las ihm noch einmal seine Rechte vor, in Gegenwart von einigen Polizisten. Dann begann das Verhör. Lamson ging ruhig und methodisch vor. Er ließ sich von Somosa den Hergang des Überfalls beschreiben. Was Somosa sagte, entsprach im wesentlichen der Darstellung, die Wanciak zu Protokoll ge123
geben hatte. Als nächstes fragte Lamson nach allgemeineren Dingen. Er wollte etwas über Somosas Leben wissen, über seinen persönlichen Hintergrund. Er erfuhr, daß der junge Mann in der Bronx wohnte. Nach und nach brachte Lamson das Gespräch auf den Fall Kornienko. Es dauerte eine ganze Weile, bis Somosa die Bedeutung der Fragen begriff. Er riß die Augen auf und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Scheiße. Nein! Damit hab' ich nichts am Hut. Da haben Sie sich aber verdammt getäuscht. Habe noch nie einen umgelegt. Echt. Brauchte nur Kohlen.« »Wo waren Sie vergangenen Freitag um 22 Uhr 30?« »Freitag? Das ist doch schon 'ne ganze Woche her. Ich weiß nie, was ich 'ne Woche vorher gemacht habe. Ich will einen Anwalt.« »Warten Sie«, Lamson dachte nach. Er überlegte sich eine Reihe von Fragen, die nichts mit dem Fall Kornienko direkt zu tun hatten. Nebenan war Starnes mit der Ausfüllung des Formblatts UF-61 beschäftigt. Das Protokoll der Festnahme. Lacey hatte das Messer und andere Gegenstände, die man bei Somosa gefunden hatte, auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Er füllte ein Papier aus, auf dem die einzelnen Stücke registriert wurden, und steckte die Gegenstände in separate Umschläge. Morgen würde er sie zum Labor bringen. Für die Analyse. Zu den Beweismitteln gehörte ein verbogener Löffel, eine Nadel, ein schmutziges Schuhband, das einmal weiß gewesen war. Wenn an einem der Gegenstände Spuren von Heroin gefunden wurden, kam es zusätzlich noch zu einer Anklage wegen Drogenmißbrauchs. Er nahm sich Stück für Stück 124
vor. In der Brieftasche fanden sich ein paar Zettel mit unleserlichen Notizen. Kein Geld. Es gab eine Mitgliedskarte der Sozialversicherung. Auf dem Führerschein, dessen Gültigkeit längst abgelaufen war, stand die Adresse. Eine Straße in der Bronx. Bei den Notizen lag eine polizeiliche Vorladung zur Einvernahme wegen eines minderen Delikts. Lacey las sich die Vorladung zwei oder drei Mal durch. Etwas störte ihn daran. Aber er kam nicht gleich darauf. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und begann zu lachen. Die anderen sahen auf. »Was ist denn los?« fragte Starnes. Lacey ging zur Tür des Vernehmungsraums und rief nach Lamson. »Der Bursche, den wir uns da gepackt haben, kann's nicht gewesen sein. Hier!« Er deutete auf die Vorladung. »Seht euch das Datum an. Den Kerl haben wir letzten Freitag festgenommen und ins Revier gebracht. Ruhestörung und Widerstand. Als der Mord an Kornienkos Eltern begangen wurde, war er hier, bei uns!« Lamson konnte seine Enttäuschung nicht ganz verbergen. »Ich hatte sowieso gewisse Zweifel. Mit dem Messer, das er mit sich rumgeschleppt hat, konnte er den Mord gar nicht verübt haben. Aber vielleicht kann er uns sonst weiterhelfen. Er kennt ja schließlich die Leute von der Szene. Wir werden ihm sagen, daß wir ihn auf freien Fuß setzen, wenn er uns ein paar Tips gibt.« Lacey biß sich auf die Lippen. »Sie wollen den Mann laufenlassen, den ich festgenommen habe?« »Wenn er uns hilft, den Mörder zu erwischen, warum nicht?« Lacey stand da, wischte sich nervös 125
über die Stirn. Er sah plötzlich wieder die Leichen mit den durchgeschnittenen Kehlen vor sich, das viele Blut in der Passage. »Sie haben recht, Lamson. Wir müssen's probieren.« Lamson beschloß, noch einen Augenblick dazubleiben und sich zu entspannen. Und er wollte seine Gedanken ordnen, bevor er wieder nach Hause fuhr. Er zündete sich eine Zigarette an und drehte den Becher mit dem lauwarmen Kaffee in seiner Hand. Langsam ging er zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Auf der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes spiegelte sich schon das erste Morgenlicht. Ihm taten die Knochen weh, die Sehnen, die Gelenke. Man hatte ihn aus dem tiefsten Schlaf gerissen. Wenn es wenigstens zu irgend etwas geführt hätte wenigstens zu einem neuen Ansatzpunkt. Etwas, dem man hätte nachgehen können. Aber es war klar, Somosa wußte nichts. Er wußte nicht einmal, daß der Mord, den man ihm anhängen wollte, stattgefunden hatte. Es gab so viel, was einen hinderte, die Fälle auch abzuschließen. In zwanzig Jahren Polizeidienst war Lamson skeptisch geworden. Meist scheiterte es an den Beweisen. Vergleichsweise leicht war es, den Täter ausfindig zu machen. Es gab fast immer Zeugen oder Indizien, die zu ihm führten. Meist gab es auch eine Art unsichtbarer Kette zwischen Täter und Opfer: Das Motiv. Aber dies alles genügte noch längst nicht für eine Verurteilung des Schuldigen. Dann gab es noch die Fälle, wo man den Täter nicht kannte, aber doch Hinweise bekam, in wel126
chen Kreisen man ihn zu suchen hatte. »Ich habe zwei Männer wegrennen sehen, Herr Kommissar. Einer war groß, der andere klein.« - »Wie groß?« »Na ja, groß eben.«- »Wie war der Mann angezogen?«- »Darauf habe ich nicht geachtet.«- »War's ein Weißer oder ein Farbiger?« -»Weiß ich nicht mehr.« Aber immerhin, das war schon eine Spur. Wenn man ganz sicher war, daß man den Schuldigen eingebuchtet hatte, aber die Indizien reichten nicht aus, kam der Einwegspiegel dran. »Sehen Sie sich die Männer da drüben an. Erkennen Sie den Täter wieder?«- »Ich glaube, es ist der zweite von rechts.«— »Glauben Sie's nur, oder sind Sie sicher?«- »Ich bin fast sicher. Nein, warten Sie. Es war der Mann ganz links. Ja, der ganz links.« Der Fall Kornienko lag anders. Ganz anders. Mußte man bei den anderen Fällen Angst haben, die Fäden des Spiels entwunden zu bekommen, so wartete man hier wie vor einem geschlossenen Vorhang im Theater. Das Stück hatte noch nicht begonnen, und es war nicht sicher, daß es je beginnen würde. Ein Mord auf offener Straße. Ein Mord ohne Zeugen. Keine Spuren. Nichts. Die Akte Kornienko wurde dicker, so viel Protokolle und Aussagen lagen schon drin. Alles zusammen ergab Null. Eine dicke, fette Null. Wieder einmal fragte sich Lamson, wie in seinen ersten Berufsjahren so oft, was wohl überhaupt einem Kripomann der New Yorker Polizei den Mut gab, jeden Morgen zu seiner Dienststelle zu tigern. Warum wandten sich die cleveren, begabten Männer, die in den Revieren und in der Mordkommission arbeiteten, nicht anderen Berufen zu, wo sie das gleiche Geld mit weniger Anstrengung, 127
vor allem aber mit weniger Frustration verdienen konnten? Er ließ die noch glimmende Kippe in den letzten Schluck Kaffee fallen und wartete, bis es nicht mehr zischte. Es gab keinen Grund, hier noch länger herumzuhängen. Er hatte Order gegeben, Somosa ins Bellevue Hospital zu bringen. Der arme Kerl war zu schlecht dran und deshalb haftunfähig. Er blickte auf seine Uhr. Zeit, sich von all dem loszureißen. In fünf Minuten begannen die netten Kolleginnen, die die Falschparker aufschrieben, ihren Dienst. Er hatte nur noch ein paar Minuten. Dann war seine Parkuhr abgelaufen. Und er wollte nicht unbedingt riskieren, für nichts und wieder nichts einen Strafzettel von einer Hostesse angehängt zu bekommen.
8. Kapitel »Bist du Raymond?« »Ja, stimmt«, sagte der etwa Zehnjährige. »Woher weißt du denn das? Bist wohl 'n Bulle, was?« »Kann schon sein.« »Ganz schön bescheuert, wenn du einer bist. Siehst aber gar nicht so aus, wie die sonst aussehen.« »Warum? Wie sieht denn ein Bulle deiner Meinung nach aus?« »Die andern beiden, das waren normale Bullen. Mit Uniform und so'm Scheiß. Der andere Typ war so angezogen, wie normale Leute auch. Sah aber auf hundert Meter wie'n Bulle aus.« »Du magst keine Polizisten, wie?« »Da kannst'e einen drauf lassen.« »Warum nicht?« 128
»Weil sie einen für nichts und wieder nichts einbuchten.« »Das ist doch Unsinn, Raymond.« »Is gar kein Unsinn. Wenn man schwarz is, wird man eingelocht, einfach so. Kümmern sich 'nen Scheiß um einen.« »Das ist doch totaler Unsinn. Wenn Polizisten jemanden verhaften und einsperren, hat das immer einen Grund.« »So'n Quatsch. Das kann ich mir nicht länger anhören. Laß mich doch von dir nich bekloppt anmachen. Is mir zu öde. Echt.« »Laß uns erst mal weiterreden.« »Da drüben sind meine Kumpels. Die warten auf mich. Schmeißen gerade den Ball rüber. Außerdem müssen die ja nicht unbedingt spitzkriegen, daß ich mit so einem überhaupt rede.« »O.k. Du hast vorhin gesagt, die sperren einen nur ein, weil er schwarz ist.« »Du hast's geschnallt.« »Raymond, hast du eine Ahnung, wieviel farbige Polizisten wir in New York haben?« »So'ne Scheiße. Das sind die miesesten.« »Na gut, Raymond. Ich muß dich jetzt mal was fragen. Ist irgend jemand, den du kennst, schon mal auf offener Straße mit dem Messer angegriffen worden? Oder hast du mal so was läuten gehört?« »Nee.« »Was macht dein Vater beruflich, Raymond?« »Hab' keinen.« »Und wie steht's mit deiner Mutter?« »Die ist Putzfrau. Arbeitet in einem Bürohaus.« »Erzähl mal ein bißchen mehr über sie!« 129
»Die nervt auch nur rum.« »Ist deine Mutter schon mal überfallen worden? Du weißt schon, auf der Straße und so ?« »Nee.« »Jetzt nimm mal an, sie wäre doch überfallen worden. Und es gibt jemanden, der weiß, wer der Täter war. Soll der's der Polizei sagen, oder bist du dafür, daß der Mann, der Frauen umbringt, einfach immer so weitermacht?« »Meiner Mutter tut keiner was.« »Das haben andere Jungen auch geglaubt, deren Mütter dann überfallen wurden. Und jetzt hör mal gut zu, Raymond. Die Brieftasche, die du letzten Freitag gefunden hast, die gehörte einem Mann, der umgebracht wurde. Er wurde nicht nur niedergeschlagen und beraubt, er wurde einfach umgebracht. Verstehst du, was das bedeutet? Und nicht nur den Mann hat einer getötet, auch seine Frau. Ich kannte die beiden. Und du hast den Typ gesehen, der die Brieftasche weggeworfen hat. Sag mir, wer's war.« »Verdammt noch mal. Ich hab' niemand gesehen. Wirklich nicht. Hab' das Ding einfach gefunden. Hab' ich den anderen Bullen doch schon gesagt. In der Brieftasche war keine einzige Kröte. Ich hab' nix genommen.« »Ich glaube dir, daß du nichts geklaut hast. Weil nämlich der, der die Leute umgebracht hat, schon das Geld rausgenommen hat. Und dann hat er sie erst weggeworfen.« »Genau. War kein Geld drin.« »Niemand beschuldigt dich, daß du's rausgenommen hast, Raymond. Weißt du, die beiden Men130
schen, die der Mann umgebracht hat, waren mein Vater und meine Mutter. Ich muß rauskriegen wer's war. Sag mir, wen du gesehen hast. Du mußt ihn gesehen haben, als er die Brieftasche wegwarf. Sonst hättest du das Ding nämlich so spät im Dunkeln gar nicht gefunden. An den Mülltonnen hättest du nichts sehen können. Jedenfalls hättest du's nicht rein zufällig gefunden. Raymond, gib's zu. Du hast den Kerl gesehen.« »He, das stinkt mir jetzt. Echt. Hab' niemand gesehen. Klar? Hab's gefunden. Basta.« Stefan packte den Jungen bei den Schultern. »Er hat den beiden die Gurgel aufgeschlitzt. Der Mann, der die Brieftasche weggeworfen hat, hat sie umgebracht. Verstehst du? Meinen Vater und meine Mutter. Sag mir sofort, wer's war.« »Laß' mich los, du. Ich weiß gar nicht, was du willst. Hab' niemand was wegwerfen sehen.« Stefan warf einen Blick zu den Freunden von Raymond, die inzwischen aufgehört hatten zu spielen und dem Gespräch der beiden lauschten. Er wandte sich wieder dem Jungen zu: »Raymond, du weißt ganz genau, wer die Brieftasche weggeworfen hat. Willst du den Mann vielleicht decken, weil er ein Schwarzer ist?« »'s war kein Schwarzer.« Raymond erstarrte. »Also war's ein Weißer. Wie sah er aus, Raymond? Kennst du den Mann? Hast du ihn je vorher gesehen oder nur dieses eine Mal?« »Ich hab' nix gesehen«, beharrte Raymond weiter. Stefan las in den Augen des Jungen, daß er die Antwort kannte. Aber er war nicht bereit, sein Wissen preiszugeben. Noch nicht. Wenn er ihn jetzt zu 131
sehr bedrängte, würde Raymond sich ganz in sein Schneckenhaus zurückziehen und gar nichts mehr sagen. Er setzte sich auf die Treppenstufe. »Raymond, versprichst du mir was?« »Was?« »Daß du drüber nachdenkst, wer die beiden Ermordeten waren.« »Ich geh' jetzt spielen«, kam es statt einer Antwort von dem Jungen, und damit lief er zu seinen Freunden. Stefan sah, wie die drei sich unterhielten. Zwei oder drei Mal schaute Raymond über die Schulter. Stefan stand langsam auf und ging die Sixth Street entlang, Richtung Second Avenue. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, die Sache zu Ende zu führen. Heute war schon Samstag. Montag mußte er wieder zum Dienst im Fünfzehnten antreten. Er würde mit anderen Fällen eingedeckt sein, mit anderen Problemen. Der Junge war der Schlüssel. Die einzige Spur. Diesmal hatte sich Komienko nicht als Polizist ausgegeben. Das nächste Mal, wenn er mit dem Jungen sprach, würde er mehr Druck ausüben müssen. Und das ging nur, wenn er als Kriminalbeamter auftrat. Genau das, was der Boß ihm ausdrücklich verboten hatte. * Times Square am Samstagabend. Quick kam aus der Untergrundbahn. Er stieg von der Rolltreppe und blickte sich um. Neonreklamen, Menschen. Pulks von Autos, die sich auf dem Broadway und auf der Seventh Street entlangwälzten. Er wartete ein paar Minuten, dann entschied er sich, Richtung Norden zu laufen. Der Bürgersteig wimmelte nur so von Leuten. Und deshalb sah Quick das Geschäft 132
mit den Hemden erst, als er schon fast vorbei war. Er ging zurück und blieb vor dem Schaufenster stehen. Ein Hemd in der Auslage gefiel ihm sofort. Er hockte sich hin, um es aus der Nähe zu betrachten. Schließlich betrat er den Laden. »Ich möchte so ein Hemd, wie's im Fenster liegt.« »Welches denn?« »Das schwarzrot gestreifte mit Autos und Mädchen drauf.« »Aha.« Der Verkäufer ging zu einem Regal und zog die kleinste Größe heraus. »Kleiner hab' ich's leider nicht. Könnte etwas zu groß für dich sein.« »Es paßt«, sagte Quick. »Ich nehm's.« »Macht achtzehn Dollar plus Mehrwertsteuer.« Der Verkäufer wies darauf hin, in der Gewißheit, daß sein junger Kunde sich das Hemd doch nicht leisten konnte. »Gut«, sagte Quick und zog die Brieftasche aus der Hose. Er nahm zwanzig Dollar heraus und gab sie ihm. Der Verkäufer machte große Augen, als der das dicke Bündel Geldscheine sah. Quick steckte die Brieftasche wieder ein. Während der Verkäufer das Wechselgeld heraussuchte, nestelte er die Nadeln aus dem Hemd. Er zog es sich über sein schwarzes T-Shirt und stopfte es in die Hose, ohne seinen Gürtel zu öffnen. Er ließ das Wechselgeld lässig in die Hosentasche gleiten und verließ das Geschäft. Sein nächstes Ziel war ein Porno-Shop. Hinter der Eingangstür saß ein Mann hinter einem Tisch. Er stand auf. »He, bist du schon achtzehn?« »Klar.« »Hast du 'nen Ausweis?« 133
»Brauch' keinen Ausweis.« »Aber sicher brauchst du 'nen Ausweis. Mir ist neulich schon die Polente auf die Pelle gerückt, weil ich einen Minderjährigen reingelassen habe. Raus mit dir, Bürschchen.« Quick schob die Hände in seine Hosentaschen. Der Mann war groß, stämmig, glatzköpfig. Er kaute auf einem Zigarrenstummel herum. Quick taxierte die Kundschaft. Ein Mann, ein paar Teenager. Jungen, so um die achtzehn. »Und wenn ich was kaufe?« fragte er. »Raus.« »Sie können sich Ihre Hefte in den Arsch stecken«, preßte Quick wütend hervor. Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus. Vielleicht war es das beste, wenn er abbog und zur Eighth Avenue rüberging. Die Porno-Shops auf der Eighth Avenue ließen jeden rein, und wenn er noch einen Schnuller im Mund hatte. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, daß er drüben seiner Schwester Cindy in die Arme lief. Die Eighth war Cindys Standard-Strich. Quick legte heute keinen gesteigerten Wert darauf, sie zu sehen. Der nächste Laden, der Quick auffiel, war auf Filme spezialisiert. Für 25 Cents konnte man sich Pornos ansehen, in extra Kabinen. Quick dachte nicht lange nach. Er schlüpfte durch die offene Tür. »Bist du auch alt genug?« Der Mann am Eingang war ein mickriges Kerlchen mittleren Alters. Mit einer Schürze, aus deren riesigen Taschen die Dollarbündel nur so herausquollen. »Na klar.« »Siehst aber nicht so aus.«
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Quick ließ den Mann links liegen. Er ging in den Laden hinein, schlenderte an den Regalen mit Zeitschriften entlang. Dann entdeckte er die Kabinen. Er zog seine Brieftasche heraus, nahm sich einen Dollarschein und ging wieder zu dem Mann am Eingang. »Bitte wechseln.« Der Mann nahm den Dollar und gab Quick vier 25Centstücke. Sein breites Grinsen verfolgte den Jungen bis zu den Kabinen. Der Flur davor lag im Halbdunkel, aber die bunten Fotos an den Türen konnte man deutlich genug erkennen. Die meisten der Kabinen waren leer. Die, wo jemand drin war, konnte man an dem zugezogenen Vorhang und an der rotglühenden Lampe über dem Türrahmen erkennen. Quick betrachtete die Fotos ganz genau, von der ersten bis zur letzten Kabine. Dann kehrte er zu einem Bild zurück, das aus dem Film mit dem Titel Schwesters Lieblingsbruder stammte. Ein junger Mann war darauf abgebildet und ein Mädchen in aufreizender Pose. Quick kümmerte sich nicht darum, daß über der Kabine das Lämpchen leuchtete. Er riß einfach den Vorhang beiseite und betrat den kleinen Raum. Auf dem Stuhl saß ein dicker Kerl von etwa neunzehn Jahren. Sein Gesicht sah aus wie ein Streuselkuchen, über und über mit Pickeln übersät. »He, du, das ist meine«, schimpfte er zu Quick. »Such dir gefälligst 'rte andre.« »Reg dich ab. Wir können uns den Film doch zusammen reinziehen. Die in den anderen interessieren mich Null.«
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»Ich hab bezahlt. Also ist es meine Kabine. Mach 'ne Fliege!« »Teilen wir uns doch den Scheiß«, Quick war ganz in seinem Element. Er lächelte den Dicken an und klimperte mit seinen Münzen. »Ich hab' gesagt, verschwinde, oder ich schmeiß' dich raus, du kleiner Wichser.« Quick hatte das Messer schon in der Hand. Er führte es gegen den Fleischwulst, der über dem Gürtel des Jungen hing. »Sag das nochmal.« Der Dicke stand an die Wand der Kabine gequetscht. »Also gut. Kannst bleiben, wenn du willst. Ich hab's ja nicht so gemeint.« »Gib mir dein Geld.« »Ich ruf den Typ, der vorne sitzt.« Quick verstärkte den Druck der Messerspitze auf dem Bauch. »Noch ein Ton, und ich schlitz' dich auf wie 'nen Sack. Möchtest du mal spüren, wie scharf es ist?« Er drehte das Messer und machte einen flinken Schnitt über das T-Shirt des Jungen. Der Stoff klaffte auf, der Schnitt füllte sich mit Blut. Quick hob das Messer und setzte die Spitze auf den Bauch seines Opfers. »Her mit der Knete!« Der Junge tastete nach dem Schnitt, der quer über seinen Bauch lief. Er begann zu zittern. »Laß das, bitte«, stammelte er. Er rutschte vornüber und fiel auf die Knie. Quick hatte das Messer schnell wegziehen müssen, um den Jungen, der zu Boden sackte, nicht aufzuspießen. Er packte die zitternde Gestalt bei den Schultern und suchte nach der Brieftasche, die der Junge in der Gesäßtasche seiner Jeans stecken hatte. Als er das Leder beim ersten Griff nicht he136
rausbekam, schlitzte er die Tasche auf. Er nahm das Geld, verließ die Kabine und rannte aus dem Laden. Der fette Junge kam aus der Kabine gestolpert, kreidebleich, blutverschmiert und verschwitzt. »Haltet ihn! Er hat mein Geld geklaut. Dieb. Haltet den Scheißkerl.« Aber Quick war schon in der Flut der Passanten untergetaucht. Er schwamm mit dem Strom mit bis zur nächsten Kreuzung. Er bog nach links ab, Richtung Eighth Avenue. Schließlich fand er eine Nische zwischen zwei Hauseingängen. Er huschte hinein und holte die Geldscheine aus der gestohlenen Brieftasche. Es war nicht viel. Er warf das Ding fort. Das Hemd war zu auffällig. Er zog es aus, rollte es zusammen und band es sich um die Hüften. Sie konnten ihn in diesem Aufzug zu leicht erwischen. Außerdem war's zu heiß mit zwei Hemden. Seine Gedanken wanderten zu dem Film zurück, den er in der Kabine hatte sehen wollen. Es waren nur wenige Sekunden gewesen. Schade. Vielleicht gab's den gleichen auf der Eighth Avenue. Es war ihm inzwischen schon egal, ob er dort seiner Schwester oder ihrem Macker über den Weg lief. Er bog in die Eighth Avenue ein. Als er eine Imbißstube entdeckte, wo man Pizza und Soft-Eis haben konnte, ging er hinein. Er hatte Hunger. * Kornienko saß über seine Tasse Kaffee gebeugt. Es war stickig in dem Coffee Shop, und sehr heiß. Er sah auf die Uhr. Mitternacht durch. Barbaras Bild tauchte vor seinen Augen auf. Ihre Nacktheit, ihre wunderbaren, vollen Brüste. Ich brauche diese 137
Frau, dachte er, und sie braucht mich. - Raymond Campbell. Er mußte den Jungen zum Sprechen bringen. Das war im Moment das wichtigste. Gleich morgen würde er's versuchen. Bis dahin... Er träumte von Barbara und von ihrer Zärtlichkeit. Es war eine harte Woche gewesen. Jeden Tag sechzehn Stunden unterwegs. Er hatte mit Dutzenden von Stadtstreichern gesprochen, mit Wermutbrüdern, mit Fixern und mit Dealern. Er hatte Fünfdollarnoten verteilt, auch ein paar Zehndollarscheine, um die Typen zum Sprechen zu bringen. Das Ergebnis war gleich Null. Die einzige Spur hieß Raymond Campbell. Er verließ den Coffee Shop und ging in Richtung von Barbaras Wohnung. Ihr Haus war ganz in der Nähe, im Village. Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht traf er unterwegs noch einen Fixer, der ihm einen Tip geben konnte. Wenn nicht- nun ja, er freute sich auf Barbara. Er spürte die Müdigkeit in den Knochen. Ob sie schon im Bett war? Er hatte einen Schlüssel. Er würde geräuschlos die Wohnungstür öffnen und auf Zehenspitzen bis zum Schlafzimmer gehen. Und dann würde er zu ihr ins Bett springen. Nein. Er verwarf den Plan. Das hatte er einmal gemacht. Kurze Zeit, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Barbara war aus dem Tiefschlaf hochgefahren und hatte sich in die Zimmerecke geflüchtet. In dieser Gegend von Manhattan war es völlig unangebracht, jemanden auf diese Weise zu überraschen. Dazu passierte viel zuviel. Nein. Das würde er nie wieder machen! Er ging in eine Telefonzelle und wählte Barbaras Nummer. Der Ruf ging durch, fünf Mal, zehn Mal. Nichts. Er drückte auf die Gabel, wählte noch mal, 138
sehr sorgfältig, um sicherzugehen, daß er nicht eine falsche Nummer erwischte. Er ließ wieder läuten, bestimmt ein Dutzend Mal. Nichts. Sie mußte ausgegangen sein. Seit ein paar Tagen hatten sie sich nicht mehr gesehen. Wo sie wohl war?- Er verließ die Telefonzelle. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Wenig später stand er schon vor der Haustür. Er schloß auf, durchquerte die Halle und ging die Treppe hinauf. Vor Barbaras Tür angekommen, blieb er stehen. Er klopfte laut und deutlich. Drinnen rührte sich nichts. Er schloß auf und trat ein. Er ließ sich in einen Sessel sinken. Natürlich konnte er nicht erwarten, daß eine Frau Abend für Abend zu Hause blieb. Und doch war es ein enttäuschendes Gefühl, in die leere Wohnung zu kommen. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte alles so gemacht, wie er es ihr erklärt und gezeigt hatte. Alle Lampen brannten, der Fernseher war angestellt. Ein Mann, der vor der Tür steht, muß den Eindruck haben, es wäre jemand drinnen. Der Strom ist schließlich im Mietpreis enthalten. Energiekrise hin, Energiekrise her, das Wichtigste ist, du überlebst. Er fühlte sich verschwitzt und beschloß zu duschen. Er zog sich aus, ging ins Bad, ließ das heiße Wasser laufen. Es tat gut, sich davon berieseln zu lassen. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Couch. Er würde fernsehen, bis Barbara kam. Er war schon eingeschlafen, als die Tür aufging. Der Mann, der mit Barbara eintrat, sah gut aus. Etwas zu gut vielleicht. Schnurrbart, Knebelbart, Maßanzug. Barbara schien erstaunt und sogar et139
was verärgert, als sie Stefan auf dem Sofa sitzen sah. Er sprang auf und ließ sich mit dem unerwarteten Freund von ihr bekanntmachen. Der Mann lehnte dankend ab, als sie ihm einen Drink anbot. Wenige .Minuten später hatte er die Wohnung wieder verlassen. »Wer ist der Typ?« fragte Stefan. »Ich hätte ihn dir schon früher vorgestellt, wenn du dich mal gemeldet hättest.« »Ich hab' eine harte Woche hinter mir, Barbara. Ich hatte das Bedürfnis, dich zu sprechen. Tut mir leid, daß ich nicht eher Zeit dazu gefunden habe. Wenn du böse bist, gehe ich.« »Bleib da«, meinte sie nur. Es klang wieder sehr freundlich. »Wenn du jetzt weggehst, das macht alles nur noch schlimmer.« Sie trat auf ihn zu und lächelte ihn an. »Magst du eine Tasse Kaffee?« Er nickte. »Könnte nichts schaden.«
9. Kapitel Angel Somosa rieb sich die Augen. Der große Raum, der sich vor ihm auftat, kam ihm merkwürdig bekannt vor. Möglich, daß er sich schon ein paar Tage hier befand. Es war hell. Und es war kühl. Und trotzdem gab es Sonnenschein. Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen. Er lag in einem Bett. Er tastete nach dem sauberen Laken. Das Bett hatte er schon einmal gesehen. Aber wann? Sein Blick wanderte den rechten Arm hoch. Kein Tropf mehr, 140
keine Pflaster. Kein Galgen und keine Plastikflasche mit umgedrehter Beschriftung. Weg. Alles war weg. Die Erinnerung kam wieder wie momentkurze Blitze, die Dunkel in die letzten Tage und Stunden brachten, teilweise zumindest. Er lag in einer Krankenstation, ohne jeden Zweifel. Außer seinem Bett gab es noch drei andere Plätze. Aber die waren leer. Warmes Wasser. Angel erinnerte sich, in einer Badewanne gesessen zu haben. Zwei Männer hatten ihn mit vereinten Kräften gehalten und abgeschrubbt. Er war untergetaucht, mit Seifenwasser übergössen worden. Und dann wieder mit klarem Wasser abgebraust, heiß und wohltuend. Er glaubte noch, das Bürsten auf der Haut zu spüren, das Prickeln auf dem Rücken. Er ließ die Hand über die Knöpfe seines Pyjamas fahren. Alles war sauber, weiß und duftig. Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Scheibe war sauber. Ja, eine geputzte Scheibe. Draußen war ein Gitter angebracht. Er drehte den Kopf. Ein paar Schritte entfernt stand ein farbiger Polizist. Blaue Uniform. Zwei Krankenschwestern betraten den Raum. Sie schoben einen Wagen vor sich her. Er stützte sich auf und schaute ihnen entgegen. »Der Arzt sagt, Sie könnten schon ein Frühstück vertragen«, sagte die ältere Krankenschwester. »Haben Sie Appetit auf ein Frühstück?« Angel fand die Frage etwas verwirrend. Essen. Ein Frühstück. Nicht nur eine Scheibe Brot, sondern ein richtiges Frühstück. Er spürte förmlich, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Ja«, murmelte er. »Ich habe Appetit.« Er kniff die Augen zusammen und sah zu, wie die jüngere Schwester ein versiegeltes Päckchen aus einem seitlichen Fach des 141
Wagens zog. Sie stand zur Seite gebeugt da. Gute Figur. Langes Haar, voll, gepflegt, glänzend. Sein Herz schlug schneller, als sie ans Bett trat und ihm das Tablett mit dem Frühstück auf die Knie stellte. Er war fest entschlossen, sie zu berühren. Er streckte die Hand aus und streichelte ihren Arm. »Wenn ihnen schlecht wird, zwingen Sie sich nicht, weiterzuessen«, sagte die ältere Schwester. Er sah den beiden nach, wie sie zur Tür gingen. Die jüngere schob den Wagen. Er schlitzte die Folie auf, mit der das Frühstück versiegelt war. Zwei weiche Eier. Toast. Ein großer Becher Milch. Heißer Kaffee. Ein Becher Orangensaft. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so ein Frühstück zu sich genommen hatte. Er biß vom Toast ab und klopfte die Eier mit dem Löffel auf. Mit dem Stück Brot fing er das heruntergelaufene Eigelb auf. Er sah sich um, nahm den Teller und leckte ihn sauber. Er trank die Milch. Er wischte sich den Mund mit dem Pyjamaärmel ab. Dann trank er den Kaffee aus und schließlich den Orangensaft. Das zweite Stück Toastbrot, das dritte. Er fischte sich die beiden Zuckerwürfel und schob auch sie in den Mund. Das Tablett war leer. Etwas wie Schwindel überkam ihn. Er lehnte sich zurück und holte tief Luft. Er rülpste. Erleichterung. Der Schwindel wich. Angel Somosa war jetzt richtig wach. Er richtete sich auf und schob die Beine über die Bettkante. Er setzte sich auf den Bettrand. Im Nachtschränkchen fand er ein Paar nagelneuer Filzpantoffeln. Er schob die Füße hinein. Die Dinger paßten. Er zog die Schublade auf. Seine Brieftasche lag darin. Im Fach 142
darunter waren seine Jeans und sein T-Shirt, beides frisch gewaschen und gebügelt. Er ließ die Pantoffeln stehen und ging barfuß den Gang zwischen den Betten entlang. Er blieb vor dem farbigen Polizisten stehen, der ihm den Weg versperrte. An der Tür stand ein zweiter. »Was haben Sie mit mir vor, Officer?« »Keine Ahnung. Bin gerade erst zum Dienst eingeteilt worden«, kam es gelangweilt zurück. »Was für ein Tag ist heute?« »Sonntag.« »Was haben Sie mit mir vor? Wie lange muß ich noch hierbleiben?« Der Polizist betrachtete ihn prüfend. Ihm war klar, daß der Kranke keine Ruhe geben würde, wenn er keine Auskunft bekäme. »Wie heißen Sie?« »Somosa. Angel Somosa.« Der Beamte ging zu einem Tischchen, das neben der Tür stand. Er ließ den Finger über eine Liste mit Namen wandern. »Angel Somosa. Bewaffneter Raub. Sie werden als nächstes förmlich vernommen. Entweder kommt der Staatsanwalt ins Krankenhaus, oder Sie werden vor Gericht gebracht. Wahrscheinlich kommen Sie vor Gericht. Sie können ja schon aufstehen.« »Für wann ist die Vernehmung angesetzt?« »Ich frage den Arzt, sobald er kommt. Vielleicht weiß der es.« Der Polizist sagte es laut und deutlich. Schluß mit der Fragerei. Somosa ging zu seinem Bett zurück. Er setzte sich auf die Bettkante und begann, mit den Zehen zu spielen. Er dachte über die Fragen nach, die der Kriminaltyp ihm auf dem Revier ge143
stellt hatte. Mitten in der Nacht war das. Doppelmord. Messer. Die junge Krankenschwester kam zurück. Angel ließ seine Füße los. Sie nahm das leere Tablett. Er sah ihr nach und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Als sie den Raum verlassen hatte, zog er wieder eine Schublade auf und nahm seine Brieftasche heraus. Er fand die Visitenkarte, die der Beamte ihm gegeben hatte. Albert Lamson. Mordkommission. Zonel, Manhattan Area. Er nahm das Kärtchen in die Hand, stand auf und ging wieder zu dem Polizisten, der immer noch stur, mit verschränkten Armen, dastand. »Rufen Sie den Kriminaler an, er soll kommen.« »Wozu das denn?« »Sagen Sie ihm, er soll kommen. Ich will ihn sprechen.« »Mitten am heiligen Sonntag? Hat das nicht bis morgen Zeit?« »Sagen Sie ihm, ich kenne den Mann, den er sucht.« Der Polizist nahm die Visitenkarte. »Werd' sehen, was ich tun kann.« * Kornienko hatte Barbaras Wohnung verlassen und befand sich auf dem Weg zur Sixth Street. Zehn Uhr morgens. Wie schön die Nacht gewesen war! Alles war wieder in Ordnung. Der Typ, der Barbara nach Hause gebracht hatte, war ein früherer Freund, der nach Los Angeles gezogen war. Jetzt mischte er im Filmgeschäft mit. Stefan hatte sich anfangs den Kopf darüber zerbrochen, ob Barbara mit dem da was im Sinn hatte. Ein Klugscheißer aus Kalifornien. Es gab ja Frauen, die standen auf so was. Er, Stefan, war schließlich nur ein Polizist, der 144
es nicht mal zum Sergeant gebracht hatte und es sicher nie schaffen würde. Er war erleichtert, als Barbara ihm klipp und klar sagte, daß sie kein Interesse an dem andern hätte. Nein, sie hatte nicht vor, nach Kalifornien zu ziehen. Sie mußte lachen, als er sie das fragte. Ein früherer Freund, weiter nichts. Im Grunde hatte dieser kleine Zwischenfall ihnen beiden gezeigt, wie sehr sie schon zusammengehörten. Wenn sie sich das überhaupt vorstellen konnte, mit einem einfachen Polizisten verheiratet zu sein... vielleicht würde er sie fragen. Es war ihm mit ihr doch sehr ernst. Er hatte die Sixth Avenue erreicht. Er fand Raymond Campbell, wo er ihn vermutet hatte. Vor dem Haus. Aber der Junge lief fort, als er Kornienko von weitem erblickte. Nun ja, er hatte nichts anderes erwartet. Er betrat den Hausflur, las die Namen auf den Briefkästen und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Er klopfte. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Eine Kette wurde sichtbar. Und der Kopf einer stämmigen Negerin, die ihr Haar in ein weißes Tuch gebunden hatte. »Sind Sie Mrs. Campbell?« »Ja.« Er zeigte ihr seine Dienstmarke. »Kornienko vom fünfzehnten Revier, Kriminalpolizei. Ich ermittle wegen eines Mordes, der Freitag vor einer Woche in der Seventh Street verübt wurde. Kann ich reinkommen?« Sie starrte auf seine Dienstmarke, musterte sein Gesicht. Dann klinkte sie die Kette aus und ließ ihn eintreten. Er blickte sich in der Wohnung um. Einfache Möbel, aber alles sehr ordentlich. Die Frau war gerade beim Saubermachen. In der Woche putzte 145
sie in einem Bürohaus, sonntags kam die eigene Wohnung dran. Sie war eine selbstsicher wirkende Frau mittleren Alters. Stark gebaut, ans Arbeiten gewöhnt. Und sie schien ihr Leben so zu akzeptieren, wie es war. Während Kornienko sie betrachtete, ging die Zimmertür auf. Ein Mädchen, das er auf zwölf Jahre schätzte, kam herein. Sie hielt einen Putzlappen in der Hand. Wahrscheinlich die Tochter, von der im Protokoll die Rede gewesen war. Kornienko entschuldigte sich, daß er nicht innerhalb der Woche, sondern an einem Sonntag kam. Er versicherte der Mutter, daß ihrem Sohn kein Vorwurf gemacht wurde, weil er die herrenlose Brieftasche an sich genommen hatte. Er schilderte ihr die Gefahr für alle Bewohner des Viertels, wenn der Mörder weiterhin frei herumlief. Der Mann würde neue Verbrechen begehen, ohne jeden Zweifel. Und zum Schluß sagte er auch der Frau, daß er der Sohn der beiden Ermordeten sei. »Ist das wahr? Waren das Ihre Eltern?« stammelte Mrs. Campbell. »Ja«, Kornienko nickte. »Sie wohnten auf der Seventh, zwischen First und A« Er deutete hinaus. »Ich bin dort aufgewachsen. Bin erst vor ein paar Jahren umgezogen. Mein Vater hatte die Änderungsschneiderei zwischen First und Second.« »Ich kenne den Laden«, sagte die Frau. Er sprach weiter, legte ihr seine These dar, daß Raymond den Täter gesehen haben mußte. »Der Junge schämt sich wahrscheinlich, Spitzeldienst für die Polizei zu tun. So was findet man sehr oft bei Kindern seines Alters. Ich mache ihm da gar keinen Vorwurf. Zuerst hab' ich gedacht, er will den Täter 146
decken, weil's vielleicht ein Schwarzer war. Aber seit gestern weiß ich, es war ein Weißer.« Er berichtete ihr von seiner Unterhaltung mit Raymond. Der Junge hatte sich verplappert. »Sie und ich, wir wissen beide, in welcher Gefahr die Leute dieses Viertels sind, solange der Mörder nicht gefaßt ist. Raymond muß mir sagen, was er weiß. Und Sie, Mrs. Campbell, sollten versuchen, ihn dazu zu bewegen, das endlich zu sagen.« Die Frau gab ihrer Tochter ein Zeichen. »Hol Raymond«, kommandierte sie mit fester Stimme. »Sag ihm, er soll sofort kommen.« Das Mädchen huschte hinaus. Mrs. Campbell wandte sich wieder zu Kornienko. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Sie machte frischen Kaffee und goß Stefan einen Becher voll ein. Dann schenkte sie auch sich selbst ein. Sie saßen am Tisch und sprachen über das Verbrechen, über die beiden Ermordeten, über die Brieftasche. Die Wohnungstür ging auf und Raymond trat ein,, gefolgt von seiner Schwester. »Was is denn nun schon wieder?« Er musterte Kornienko mit einem finsteren Ausdruck im Gesicht. »Du hältst deinen Mund und antwortest. Nichts weiter!« herrschte seine Mutter ihn an. »Verdammt noch mal. Ich hab' alles ausgespuckt, was ich weiß. Diese Idioten von Bullen haben mir das Ding doch schon abgenommen. Vor Ewigkeiten schon. Was soll das denn jetzt noch?« »Raymond«, Kornienko sah den Jungen freundlich an, »wie hast du die Brieftasche überhaupt gefunden?«
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»Saß auf der Treppe. Und da hab' ich se gesehen. Lag im Müll.« »Wo du gesessen hast, da ist es nachts dunkel. Da kann man doch gar keine Brieftasche im Müll erkennen. Es sei denn, man sieht, wie ein anderer sie gerade wegwirft. Ist es dein Freund gewesen? Willst du's mir deshalb nicht sagen?« »Hab' nix mitgekriegt. Echt.« »War jemand bei dir, als du die Brieftasche gefunden hast?« »Nee.« Kornienko und Raymonds Mutter wechselten einen raschen Blick. »War's ein Schwarzer, der die Brieftasche weggeworfen hat, Raymond?« »Wie kommen se denn auf so 'ne Idee, daß es ein Schwarzer war, meine ich?« »Weil es nun mal meistens Schwarze sind, die Brieftaschen klauen, Raymond. Wir werden die ganzen Häuser hier durchkämmen und jeden Schwarzen in die Zange nehmen, der hier wohnt. Wir werden die so lange verhören, bis wir den Mörder haben.« Kornienko warf einen kurzen Blick auf Mrs. Campbell, die ihn voller Verwirrung von der Seite ansah. »Typisch«, schrie Raymond aufgebracht. »Die Bullen schieben's immer auf uns. Die Schwarzen kommen in 'n Knast und die, die's waren, machen munter weiter. Klar. Scheißbullen!« »Und wer macht weiter? Wer ist der Schuldige, kannst du mir das sagen?« »Scheiße, woher soll ich das wissen?« »Du hast doch gesagt, ein Schwarzer war's nicht.« 148
»War's auch nicht. Raff das doch mal.« »Also ein Weißer. Wer, Raymond?« »Oh, so 'ne Rumnerverei. Ich hab' den Mann nicht gesehen. Ich weiß es nicht.« Kornienko sah die Mutter des Jungen an: Sie gab mit einem leichten Nicken zu erkennen, daß sie inzwischen begriffen hatte und einverstanden war. »Warum sagst du mir nicht, was du weißt, Raymond? Hast du Angst, daß dir deine Freunde Vorwürfe machen, wenn du den Typ verpfeifst?« »Hm.« »Aber deine Freunde brauchen es ja gar nicht zu erfahren, wenn du mir was sagst. Du wirst es ihnen nicht sagen, und ich auch nicht. Raymond, erinnerst du dich noch, was ich dir über die beiden Ermordeten erzählt habe? Wer sie waren? Und daß sie ganz gemein erstochen worden sind?« Die Mutter mischte sich ein. »Sag uns jetzt, wer die Brieftasche weggeworfen hat. Los!« Der Junge zögerte. »Stell dir mal vor, der Mann hätte deine Mutter abgemurkst«, drängte Kornienko weiter. »Willst du dann immer noch, daß er frei rumläuft?« »Wenn so ein Scheißkerl meiner Mutter ein Haar krümmt, kriegt er's mit mir zu tun.« In der trotzigen Stimme des Jungen klang durch, daß er unsicher geworden war. »Hast du Angst vor dem Mann? Schweigst du, weil du Angst hast?« »Ich und Angst - vor dem schon lange nicht.«
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»Sag jetzt sofort dem Mann, wer die Brieftasche weggeschmissen hat. Na, wird's schon?« Mrs. Campbell hatte die Arme in die Seiten gestemmt. »Weiß nicht, wie er heißt.« Kornienko holte tief Luft. »Du hast ihn also schon mal gesehen.« »Er kommt oft in den Park«, sagte Raymond. Von einer Sekunde zur anderen schien die innere Sperre gebrochen. Raymond würde reden. »Wie sieht der Mann aus, Raymond? Wie groß ist er?« »Mann, sagen Sie? Scheiße. Daß ich nicht lache. Der hat doch noch Windeln an. Ist doch noch 'n Kind.« »Wie?« Kornienkos Gedanken überstürzten sich. Ihm wurde fast übel. »Ein Kind, was für ein Kind?« Durch Raymonds Bemerkung hatte alles eine völlig neue Dimension bekommen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie ein Kind mit dem Messer auf zwei hilflose Alte einstach. Er versuchte, sich das auszumalen, aber es gelang ihm nicht. »Es ist der Junge, der so oft in den Park kommt«, sagte Raymond. »Wie alt ist der Junge?« »'n bißchen älter als ich. Vielleicht vierzehn, fuffzehn. Ist bekannt im Park. Haben alle geschnallt, wie tierisch gefährlich der ist. Echt.« Vor Kornienkos geistigem Auge zogen die Bilder der Leichen vorbei. Die Fotos, die er flüchtig in der Ermittlungsakte gesehen hatte. Die furchtbaren Sekunden, als der Mann im Leichenschauhaus die Decken von den starren Körpern weggezogen hatte. Ein Kind hatte das getan? Wie konnte Gott ein 150
Kind erschaffen, das zu so etwas fähig war? Er spürte, wie seine rechte Hand sich zu einer Faust verkrampfte. »Wie sieht der Junge aus, Raymond?« hörte er sich fragen. »Hast du nicht gesagt, es wäre kein Schwarzer?« »Nein. So 'n Scheiß. Es ist einer von eurer Sorte. Lange blonde Haare.« »Wie groß?« »'n bißchen größer als ich.« Raymond spreizte Daumen und Zeigefinger auseinander. »So, ungefähr.« Ein Kind- ein Mörder? Kornienko versuchte, sich noch einmal den Mord, wie er rekonstruiert worden war, vorzustellen. Sein Vater hatte den Jungen wahrscheinlich nicht für voll genommen. War ja nur ein Kind. Wieviel Geld hatte sein Vater wohl bei sich gehabt? Fünfzig Dollar? Hundert? Und was war dann passiert? Wie hatte sich seine Mutter verhalten, als ihr Mann angegriffen wurde? Er wollte alles wissen, jede noch so kleine Einzelheit. »Er ist größer«, meinte nun plötzlich Raymonds Schwester mit einem schuldbewußten, blöden Grinsen im Gesicht. Der Junge zuckte die Schultern. »Kann sein.« »Du hast ihn also auch gesehen«, sagte Kornienko, zu dem Mädchen gewandt. Sie stand da und druckste herum. »Ich hab' nicht gesehen, wie er die Brieftasche weggeworfen hat, aber ich weiß, wer's gewesen ist. Ich kenn' ihn eben.« »Warum hast du nicht schon früher den Mund aufgemacht«, herrschte die Mutter sie an. »Hat mich ja keiner gefragt.«
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Kornienko betrachtete die beiden. »Ist der Junge dünn oder eher dick?« »Dünn«, sagte Raymond sofort. »Ich sag' doch, es ist ein Kind.« »Weißt du, wo er wohnt?« »Hier irgendwo. Treibt sich immer im Park rum.« »Was weißt du sonst noch über ihn? Trägt er normalerweise ein Messer bei sich?« »'s wird gesagt, daß er ein Messerstecher ist. Ja, sicher. Hat eins, das ist mindestens so lang.« Er hielt die Hände auseinander. Kornienko schätzte den Abstand auf 15 Zentimeter. »Weißt du sonst noch was, Raymond?« »Nee, hab' Ihnen alles gesagt.« Raymonds wütender, aufsässiger Tonfall hatte einer leisen, zaghaften Kinderstimme Platz gemacht. Kornienko spürte, daß er den Jungen nun auf seiner Seite hatte. Kornienko ging auf der Sixth Street entlang. Er war auf dem Weg nach Hause. Ein Kind. Vierzehn oder vielleicht fünfzehn Jahre alt. Größe etwa 1 Meter 55. Vielleicht auch 1 Meter 60. Gewicht 40 bis 45 Kilo. Schulterlanges blondes Haar. Treibt sich oft im Tompkins Square Park herum, wo er nach alten Leuten Ausschau hält. Er blieb stehen und kehrte um. Der Park. Vielleicht konnte er den Jungen dort aufspüren. Es war Sonntag. Schönes Wetter. Die Ukrainer würden vor den Steintischen sitzen und Schach spielen. Die Kinder spielten Ball. Ein Kind. Die Erinnerung an den Jungen, der ihn in der Twelfth Street angebettelt hatte, überkam ihn. Schulterlanges blondes Haar. Die Beschreibung paßte. 152
Er lief durch den Park, kreuz und quer. Er traf Landsleute. Er traf Schwarze. Er traf Spanier, Mexikaner, Puertoricaner. »Stefan! Stefan!« Kornienko blieb wie angewurzelt stehen. Grodek, der alte Grodek, kam ihm nachgelaufen. Der Metzger. Der Freund seines Vaters. Der Alte stand vor ihm, rang nach Atem. »Stefan«, sagte der alte Grodek, »ich habe versucht, dich anzurufen. Ich muß mit dir sprechen, Stefan. Dringend.« * AI Lamson wartete im Vorraum, vor dem schweren Eisengitter. Er unterhielt sich mit den Polizisten. Sie sprachen angeregt über Baseball. Der Arzt ließ sich offensichtlich Zeit. Lamson hatte seine Waffe entsichert und abgegeben. Das war Vorschrift. Es ärgerte ihn, daß ihn der Arzt so lange warten ließ. Und es ärgerte ihn, daß er überhaupt die Genehmigung des Arztes brauchte, um mit Somosa zu sprechen. Ärzte! Im Vergleich zu den eingebildeten Weißkitteln waren die Beamten vom Department of Correction lockere, herzliche Typen. Lamson verstand, warum sie sich so wohlgelaunt gaben. Das war der Ausgleich für ihren sturen Job. Gefängnisbeamter in New York. Das war keine Stellung, nach der sich irgend jemand die Finger leckte. Er war ganz froh, daß der Anruf so spät gekommen war. »Du und die Jungens, ihr wart gerade weg, da kam der Anruf«, hatte ihm seine Frau gesagt. Gut so. Seine Kinder hätten es ihm übelgenommen, wenn er den versprochenen Besuch im Baseballstadion sausen ließ. 153
Und deshalb hatte er von dem Anruf erst erfahren, als er mit seinen beiden Söhnen zurückkam. Dann fuhr er zum Bellevue Hospital. Zwar war gerade das Abendessen fertig, aber er konnte auch später essen. Somosa hatte einen Tip für ihn. Er mußte mit ihm sprechen, bevor der Typ es sich anders überlegte. Aus den Augenwinkeln betrachtete er den jungen Arzt, der den Gang entlang direkt auf ihn zukam. Weißgestärkter Kittel, das Stethoskop in der Tasche. Herr Doktor auf dem Weg zu seiner ersten Million. Nach ein oder zwei Jahren im Bellevue Hospital hatte der Kerl ausgesorgt. Finanziell, und auch was die Weiber anging. Die Krankenschwestern hielten still. Sowieso. Und wenn der Arzt dann auch noch einigermaßen aussah, war das Ganze höchstens noch eine Frage der Potenz. Und der hier sah gut aus. Ein Schwarzer. Afrofrisur, Schnauzbart. Dunkle, ernste Augen. Selbstsicherer Gang. Aggressiv. »Sind Sie Officer Lamson?« »Ja.« »Sie möchten mit Angel Somosa sprechen?« »Ja.« »Hätte das nicht noch zwei oder drei Tage Zeit?« »Der Mann hat mich um ein Gespräch gebeten, nicht umgekehrt. « »Das weiß ich, aber es wäre trotzdem besser, wenn man ihn noch ein oder zwei Tage in Ruhe läßt. War in miserabler Verfassung, als er gestern früh eingeliefert wurde. Wir haben ihn an den Tropf hängen müssen, Spritzen noch und noch.« »Ich habe nicht vor, Somosa zu verhören. Aber es sieht ganz danach aus, als ob er sich was von der Seele reden will. Es geht um den Doppelmord, und Somosa ist unser einziger Anhaltspunkt. Seine Aussage kann 154
entscheidend sein. Sie wollen doch sicher nicht, daß noch mehr Menschen ermordet werden, nur weil...« »Also gut. Fassen Sie sich so kurz wie möglich.« Lamson war sauer. Seine Vorurteile, was Ärzte anging, waren wieder mal bestätigt worden. Keiner, der im Gespräch mit Nichtmedizinern nicht das letzte Wort behielt. Einer der Beamten brachte ihn zu Somosa. Der lag da, mit geschlossenen Augen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Als er Schritte hörte, blickte er auf. »Tag, Somosa, wie geht es Ihnen heute?« Lamson beugte sich zu ihm hinunter. »Mies geht's mir. Wenn Sie mich fragen, Methadon ist große Scheiße.« »Sie wollten mich sprechen.« »Ja. Sie fahnden doch nach einem Messerstecher, nach einem Süchtigen, und sie haben gesagt, ich soll anrufen, wenn mir was einfällt. Jetzt ist mir was eingefallen. Dieses verlassene Haus, wo wir uns immer treffen- kennen Sie das? Vor einer Woche oder so war der Typ, den Ihr sucht, in genau dem Haus. Ein Typ mit einem Messer.« »Wie heißt der Mann?« »Sie haben gesagt, Sie können was für mich tun. Erst will ich wissen, was für mich dabei rausspringt.« »Ich kann Ihnen nichts versprechen, Somosa. Aber ich kann ein gutes Wort für Sie einlegen. Wenn Sie reden, ist das in jedem Fall ein Vorteil für Sie.« »Ich wollte dem Alten doch gar nichts tun. Echt. Ich bin nicht so einer, der den Leuten die Gurgel aufschneidet. Diese Frau fing an zu schreien. Und da 155
hab ich's mit der Angst bekommen. Bin losgerannt und hingefallen. Es war ein Unfall.« »Ich sag' Ihnen doch gerade, Somosa. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen, aber ich kann Ihnen wahrhaftig keine Straffreiheit versprechen... Und jetzt sagen Sie mir, was Sie wissen.« Somosa schloß die Augen und schien nachzudenken. »Der Mann hat ein Messer, mindestens fünfzehn Zentimeter lang. Ist aber keiner von uns, und ich kenne ihn nicht. Er ist nur im gleichen Haus. Macht einen Fischzug nach dem anderen. Bringt mächtig was auf die Seite dabei.« »Hört sich nicht schlecht an. Wie heißt er?« »Weiß seinen Namen nicht.« »Und wie sieht er aus?« »Langes blondes Haar.« »Ja, und weiter?« »Groß und schlank. Bart. Die Arme sind tätowiert.« »Und wie groß ist er? So groß wie ich?« »Größer. Ach ja, und dann trägt er noch diese Stiefel mit hohen Absätzen.« »Wieviel größer als ich?« »Jede Menge.« »Wie alt?« Somosa dachte einen Augenblick nach. »Fünfundzwanzig bis fünfunddreißig, so rum!« »Sonst noch was? Wie kleidet er sich?« »Hat die Cowboymasche drauf.« »Hat er einen Spitznamen?« »Wir nennen ihn Onkel, weil er nur ab und zu mal bei uns vorbeikommt. He, Sie haben versprochen, daß Sie was für mich tun, Officer.«
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»Ich will zuerst mal sehen, ob ich den Mann finden kann. Heben Sie meine Karte gut auf. Und rufen Sie an, wenn Ihnen noch was einfällt.« Lamson verließ das Krankenhaus. Von der nächsten Telefonzelle aus rief er das Drogendezernat Manhattan Süd an. Er gab die Beschreibung des Verdächtigen durch. »Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte der Beamte. »Aber ich weiß nicht, wohin ich ihn stecken soll. Rufen Sie morgen wieder an. Vielleicht finde ich bis dahin was raus.« »Der Mann, den wir suchen, ist Tatverdächtiger im Fall Kornienko«, sagte Lamson. »Wie steht's denn mit den Ermittlungen?« »Sieht schlecht aus. Der Mann, den ich Ihnen eben beschrieben habe, ist der einzige, den wir bisher haben.« »Ich will sehen, was ich tun kann. Werde auch mit den Kollegen sprechen. Wir tun unser möglichstes.« Lamson legte auf und ging zu seinem Wagen. Immerhin, jetzt gab es einen Verdächtigen. Gott sei Dank! Es war noch nicht dunkel. Er würde nach Hause fahren und zu Abend essen. Ein Bier oder zwei. Fernsehen. Vielleicht gab's was Gutes. Vielleicht einen Krimi, wo mal wieder einer zeigte, wie man so knifflige Fälle löst.
10. Kapitel Bernie Hartman, Chef von Manhattan Süd, war kurz vor acht in seinem Büro erschienen. Montag morgen. Hartman ließ Kriminalsergeant Shumlin kommen und beauftragte ihn, die Männer für zehn 157
Uhr zum Lagebericht zusammenzurufen. Er wollte wissen, was sich im Fall Kornienko getan hatte. Fenrich vom Elften sollte antanzen, und alle, die mit der Sache noch befaßt waren. Nachdem der alte Shumlin das Büro verlassen hatte, bestellte sich Hartman einen Kaffee. Er schlug die New York Times auf und begann zu lesen. Es war genau zehn, als Fenrich zur Tür hereinkam, gefolgt von AI Lamson, Wally Mead und Lieutenant Jasper, Lamsons unmittelbarem Vorgesetzten. Hartman deutete auf die Zeitung. »Haben Sie das schon gelesen?« Die Männer nickten. »Außerdem ist im Radio ein Bericht über den Fall Kornienko gekommen«, sagte Hartman. »Hat einer von Ihnen die Sendung gehört?« Fenrich und Jaspar nickten. Es war nicht ungewöhnlich, erklärte Hartman, daß die Zeitungen das Problem der Straßenkriminalität aufgriffen. Er erfuhr, daß in der Radiosendung die Polizei stark angegriffen worden sei. Warum taten die Beamten nichts? Eine junge Politesse betrat den Raum, um den Männern Kaffee zu bringen. Sie gab sich keine Mühe zu verbergen, daß sie das sehr ungern tat. »Was gibt's Neues in den Ermittlungen?« fragte Hartman. »Wir haben einen Verdächtigen«, meinte Lamson bedächtig. »Wir haben einen Tip bekommen. Und zwar von einem Mann, den die Kollegen Freitag nacht festgenommen haben. Der Verdächtige ist als Dealer bekannt. Mehrere Festnahmen. Aber keine Verurteilung. Spritzt auch selbst. Seine Kundschaft hat er in 158
der Third Avenue. Der Mann führte ein Messer bei sich. Wir haben vor, ihn uns heute nachmittag nochmal vorzunehmen. »Halten Sie mich auf dem laufenden, was draus wird«, sagte Hartman. Dann meldete Mead sich zu Wort: »Freitag nacht dachten wir schon, wir hätten unsern Mann in der Falle. Der Fixer, der uns den Tip gegeben hat. Es paßte alles wunderbar zusammen, aber dann stellte sich heraus, er kann's nicht gewesen sein.« Hartman holte weiter aus. Zwei hilflose alte Menschen waren auf brutale Weise umgebracht worden. Eltern eines Polizisten. Derartige Vorkommnisse führten dazu, daß in der Öffentlichkeit das ganze Problem der Straßenkriminalität neu aufgerollt wurde. Für die Medien ein gefundenes Fressen. Sowohl in dem Zeitungsartikel als auch in der Radiosendung war eine Aufklärung des Falls verlangt worden. Man mußte den Täter packen, und zwar so schnell wie möglich. Egal wie. Wenn der Kerl wieder zuschlug, würde ein Donnerwetter über die Polizei niederprasseln. Ob Kornienko in der vergangenen Woche bei den Ermittlungen in Erscheinung getreten sei, fragte Hartman. Nein, keiner hatte ihn gesehen. »Er ist heute früh planmäßig wieder zum Dienst erschienen«, sagte Hartman. »Ich hab' extra nachfragen lassen. Ein zuverlässiger Beamter, aber im vorliegenden Fall natürlich emotional belastet. Haben Sie ein Auge auf ihn! Passen Sie auf, daß er nichts macht, was er nachher bereut. Verstanden?«
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Das Meeting war zu Ende. Es hatte nur zwanzig Minuten gedauert. Vierzehn Häuserblocks weiter nördlich saß Kornienko an seinem Schreibtisch. Er ging die Akten durch, die sich in einer Woche angesammelt hatten. Die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Raymond Campbell. In Gedanken ging er alle Fragen und Antworten nochmal durch. Der Täter war ein blonder Junge. Schulterlanges Haar. Der alte Grodek hatte ihm den Schnitt an seinem Arm gezeigt. Der Mann hatte Tränen in den Augen gehabt, als er ihm von dem Überfall erzählte. »Haare wie ein Mädchen, Stefan.« Aber er hatte sich nicht wie ein Mädchen benommen, sondern wie ein richtiger, eiskalter Killer. Er hatte Grodek die Klinge auf die Gurgel gesetzt. Was Raymond Campbell gesagt hatte, stimmte mit dem Bericht des alten Mannes überein. Kornienko hatte den Rest des Sonntags im Park verbracht, um nach der kleinen Bestie Ausschau zu halten, die seine Eltern auf dem Gewissen hatte. Man mußte den Kerl so schnell wie möglich hinter Schloß und Riegel bringen. Mit jedem geglückten Überfall würde der Junge frecher werden. Es war nur eine Frage der Zeit, und er würde das ganze Viertel in Angst und Schrecken versetzen. Die Presse würde dafür sorgen, daß die Sache bekannt wurde. Stefan dachte darüber nach, wie er seine Kenntnisse in den Polizeiapparat einfließen lassen konnte. Unglaublich, aber wahr: er mußte dem Chef vorenthalten, daß er, Stefan Kornienko, an die entscheidenden Informationen herangekommen war. Er schielte zu den Kollegen, die an ihren Schreibti160
schen saßen. Sie hatten es gut mit ihm gemeint, als sie ihn heute morgen besonders freundschaftlich empfingen. Kornienko war ganz verlegen geworden. »Es ist besser, du bringst erst mal deinen Papierkram in Ordnung, anstatt dich gleich in den Außendienst zu stürzen.« »Bleib an deinem Schreibtisch, dann kommst du auf andere Gedanken.« Es war Nick Mazilli, sein Vorgesetzter, der immer wieder darauf herumritt. Dann war da noch Angie Trotta. Angie ahnte, womit sich Stefan in der vergangenen Woche die Zeit vertrieben hatte. Aber Stefan war entschlossen, ihm keine Einzelheiten auf die Nase zu binden. Angie hatte eine leicht aufbrausende Art, er wäre imstande, mitten im Büro einen lautstarken Streit mit ihm vom Zaun zu brechen. Es war gegen halb elf, als Angie an seinen Schreibtisch trat. »Komm mit, Kleiner, 's gab ein paar heiße Anrufe heute. Laß den Papierkram liegen.« Kornienko sprang auf. Die Aussicht, hier rauszukommen, war verlockend. Er haßte seinen Schreibtisch, besonders jetzt. Man hatte viel zuviel Zeit zum Nachdenken. Sie gingen das Stück zu Fuß. Lexington, dann Thirtyseventh, und wieder links ab. Hier lagen vornehme Stadthäuser. Angie war schon zum zweiten Mal hier. Weil die Häuser ähnlich aussahen, vergewisserte er sich durch einen Blick in sein Notizbuch, daß er die richtige Nummer erwischt hatte. Kornienko klingelte. »Kommen Sie nur herein, meine Herren.« Der Mann, der ihnen öffnete, war ziemlich exzentrisch angezogen. Alles auf Show: Lackschuhe, seidenes Halstuch, das in einem roten Hemd steckte. Er 161
mußte so um die sechzig sein, stattlich, sah recht gut aus. Graues Haar, ordentlich frisiert. Geld. »Setzen Sie sich, bitte. Kann ich Ihnen Kaffee anbieten?« Die beiden lehnten dankend ab. Der Mann erkundigte sich, ob die Polizei schon seinen Hund wiedergefunden hätte. Ob inzwischen vielleicht ein Anruf gekommen wäre, fragte Stefan. Jemand, der eine Belohnung für den Hund verlangte? Nein, der Mann schüttelte den Kopf. Niemand hatte sich gemeldet. Dann seien die Aussichten, den Hund wiederzubekommen, ziemlich dünn, erwiderte Stefan. Wahrscheinlich war das Tier von einem Hundefänger gestohlen worden, der den Hund längst weiterverkauft hatte. Es gab einen gut florierenden Markt dafür. »Bitte, verstehen Sie doch, meine Herren, es handelt sich nicht um eine Promenadenmischung, sondern um einen wertvollen Rassehund. Das Tier hat bei verschiedenen Ausstellungen den ersten Preis gemacht. Der Hund ist ein paar tausend Dollar wert. Also, ich wäre froh, wenn ich so einen Stammbaum hätte.« »Wir können uns vorstellen, was der Verlust des Hundes für Sie bedeutet, Sir.« »Ein Tier, das sehr sensibel ist. Es braucht viel Zuwendung.« Der Mann zupfte sich das Seidentuch zurecht. »Warum verständigen Sie nicht alle besseren Tierärzte. Die könnten Ihnen doch Meldung machen, wenn...« »Das haben wir schon veranlaßt«, unterbrach ihn Angie. »Ich hoffe sehr, daß was dabei herauskommt«, fügte Stefan freundlich hinzu.
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Sie gingen hinaus. Und als sie wieder auf der Straße waren, fragte Kornienko verständnislos, warum die Polizei soviel Aufhebens um einen verschwundenen Hund machte. »Weil dieser Typ Beziehungen hat. Hat was mit Oel zu tun. Ist da dick im Geschäft«, sagte Angie. »Das große Geld, verstehst du? Hast du dich mal ein bißchen in der Bude umgesehen?« »Die Leute werden auf offener Straße umgebracht, und wir vertun unsere Zeit mit der Suche nach einem Hund. Nicht zu fassen!« »Reg dich ab«, beruhigte Angie. »Du siehst das viel zu verbissen. « Die nächste Adresse war Park Avenue Ecke 36th Street. Ein Wolkenkratzer. Sie wurden vom Portier in Uniform empfangen und telefonisch angemeldet. In der Wohnung im achtzehnten Stock empfing sie eine dicke, kleine Dame, verwitwet, ziemlich alt. Bei ihr war eingebrochen worden: Den ganzen Schmuck hatte man gestohlen. Kornienko ging die Standardfragen durch. Angie schrieb die Antworten der Frau auf. Ob es eine Liste des gestohlenen Schmucks gab? Jawohl, es gab eine. Der Wert der einzelnen Stücke? Ob denn nur der wirkliche Wert von Interesse sei? Angie warf Stefan einen fragenden Blick zu. Was, zum Teufel, meinte Sie denn damit? »Wirklich?« fragte er. »Weil, müssen Sie nämlich wissen, einige der Stücke einen unermeßlichen Erinnerungswert für mich haben. Es waren zum großen Teil Geschenke, die ich von meinem verstorbenen Mann bekommen habe. Von Beginn unserer Ehe an.« »Uns geht es mehr um den Preis der Stücke, den man im Geschäft dafür zahlt«, er-
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klärte Kornienko. Sie dachte nach. »Mindestens zweitausend Dollar, alles zusammen. « Die beiden brachten die Vernehmung schnell zu einem Ende. »Viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen«, sagte Kornienko. »Aber wir werden alles tun, was uns möglich ist.« Sie ließen den Wolkenkratzer hinter sich, gingen zur Lexington Avenue zurück und betraten ein kleines italienisches Restaurant. Angies Stammlokal. Stefan war froh, daß er sich im Laufe der Jahre an italienisches Essen gewöhnt hatte. Man konnte nicht mit Angie Dienst machen, wenn man es nicht mochte. Angie war überzeugt, daß jeder Mensch schwerwiegende Mangelerscheinungen bekam, wenn er nicht mindestens zwei Mal am Tag irgendein Nudelgericht aß. Und Stefan wunderte sich, wieviel Pasta Asciutta Angie vertilgen konnte, ohne je ein Gramm Fett anzusetzen. Sie gaben ihre Bestellung auf. Dann erhob sich Stefan. »Ich will mal schnell Barbara anrufen«, sagte er und ging in die Telefonbox des Restaurants. Er rief die Mordkommission Manhattan Süd an und atmete erleichtert auf, als er hörte, daß Charlie Savage da war, wenn auch unter einer anderen Nummer. »Ich brauche deine Hilfe, Charlie. Ich glaube, wir haben ihn.« Schweigen. Und gleich darauf: »Ruf mich nach drei noch einmal an. Ich versuche inzwischen, mit Lamson ein Meeting für heute abend gleich nach Feierabend zu arrangieren. Ich möchte zuerst mit ihm sprechen.« »Sieh zu, daß Mead nicht dabei ist.«
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Savage lachte. »Du hast es erfaßt, 'nen Röntgenblick, wie?« »Ich werde schließlich dafür bezahlt, daß ich's erfasse«, konterte Stefan. Er kehrte zu seinem Tisch zurück. Angie saß schon über die Spaghetti gebeugt und zelebrierte mit Löffel und Gabel gekonnt deren Einfuhr in seinen Mund. »Wie geht's Barbara?« fragte er, genüßlich kauend. »Prächtig.« Lamson und Mead waren zur Ecke Jerome Avenue / 230th Street gefahren. Sie parkten und betraten das alte Mietshaus. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Mead drückte auf die Klingel. Schon nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür. Die Kette blieb vorgezogen. Sie erschraken beinahe, denn sie hatten nicht gehört, daß jemand zur Tür gekommen war. Der Mann entsprach der Beschreibung. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er. »Sind Sie Ace Brodnax?« fragte Lamson. »Ja«, kam zögernd die Antwort. Lamson zeigte ihm seine Dienstmarke. »Wir sind von der Mordkommission Manhattan Süd. Wir führen einige Verhöre durch und würden auch Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« »Höre ich recht, Mordkommission?« »Ja.« »Möchten Sie reinkommen?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, gern.« »Bitte.« Brodnax hakte die Kette aus und öffnete die Tür. Er ging voraus.
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»Sieht 'n bißchen unordentlich aus, hier.« Er deutete auf zwei Stühle. »Setzen Sie sich. Legen Sie das Zeug, das draufliegt, ruhig auf den Boden.« Der Raum war ein einziges Chaos. Aber es war nichts zu sehen, was irgendwie auf den ersten Blick verdächtig gewesen wäre. Der Kerl war ein Profi. Ganz offensichtlich. Er ließ keine Beweisstücke herumliegen. Brodnax flezte sich auf ein Sofa. Die Beine legte er auf das Kissen neben ihm. Er trug zerschlissene Jeans und ein dunkelgrünes T-Shirt. »Okay. Was gibt's denn? Dann schießen Sie mal los.« Lamson musterte ihn aufmerksam, bevor er die erste Frage stellte. Brodnax war Buffalo Bill in T-Shirt. Hochgeschossen, schlank, aber sehr muskulös dabei. Bart. Die Arme waren tätowiert, das schulterlange, glatte, blonde Haar war hinten zusammengenommen. »Ist das Ihre Wohnung?« fragte Lamson. »Gehört meiner Freundin.« »Ist sie zu Hause?« »Sie arbeitet.« »Was arbeitet sie?« »Na ja, Sie wissen schon, ... Sie würden's wohl einen Hostessenjob nennen.« »Wo?« »Seventh Street.« »Sind Sie schon lange mit ihr zusammen in dieser Wohnung?« »Ziemlich lange.« »Was arbeiten Sie?« »Zur Zeit ohne Job.« »Kommen Sie öfter mal nach Lower Manhattan rein?« 166
»Ja, manchmal schon.« »Zwischen Third Avenue und Seventh Street?«. »Auch das. Man kommt so herum.« »Der Fall, um den es geht, ist ein Doppelmord. Das Verbrechen fand Freitag vor einer Woche statt, gegen halb elf Uhr abends. Wissen Sie noch...« »Sagten Sie Freitag nacht vor einer Woche?« »Ganz recht.« »Ist ja zu komisch. Da habt ihr mir aber eine leichte Frage gestellt. Da habe ich zufällig mit meiner Freundin Geburtstag gefeiert, hier in ihrer Wohnung. Wir waren zu acht.« Er lachte. »Man könnte sagen, es gibt sieben Zeugen. Wir fingen zeitig an und konnten gar nicht mehr genug kriegen. War 'ne heiße Party übrigens.« »Wer waren die Gäste?« »Soll ich sie Ihnen sofort sagen?« »Wenn's Ihnen nichts ausmacht.« Brodnax nannte ein paar Namen, und Mead notierte die Adressen auf seinem Block. Alle aus den Bronx. Es gab zwei, an deren Namen sich Brodnax nicht erinnern konnte. Bekannte von Bekannten. Aber wenn die Polizei es unbedingt wissen wollte, er konnte es noch herausfinden. Lamson beschrieb den Tathergang genauer. Dann gab er Brodnax seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch was einfällt, oder Sie hören was... Bitte rufen Sie mich an.« »Aber gewiß doch. Mit Freuden.« Sie standen auf. Ob er keine Cowboystiefel hätte, fragte Mead. »Unter dem Stuhl, auf dem Sie gesessen haben«, sagte Brodnax. Mead sah darunter. Die Stiefel hatten hohe Absätze und Ornamente. 167
Sie stiegen in den Wagen und fuhren los, Richtung Manhattan. Lamson saß auf dem Beifahrersitz und grübelte. Es würde nicht leicht sein, Ace Brodnax was nachzuweisen. Es würde Tage dauern, die Zeugen aufzutreiben. Und es würde noch länger dauern, das Alibi zu widerlegen. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß ein gewiefter Profi wie Brodnax ihnen eine Story auftischte, die sich bei näherer Prüfung als total falsch erwies. Er machte sich damit schließlich von den sechs Zeugen abhängig. Das konnte man vielleicht mit zwei oder drei guten Freunden machen, die einem verpflichtet waren. Aber bei so vielen war das doch ziemlich unwahrscheinlich. Trotzdem, sie mußten Brodnax im Auge behalten, sehr genau sogar. Er war, soweit Lamson wußte, der einzige Verdächtige, der bisher im Netz hängengeblieben war. »He«, brach Mead das Schweigen. »Warum fahren wir eigentlich nach Manhattan zurück? Wo wir schon in den Bronx sind, könnten wir mit den Zeugen doch gleich sprechen, die er uns genannt hat.« »Gute Idee«, sagte Lamson. »Das machen wir. Aber davor gehen wir irgendwohin, wo wir erstmal einen Drink bekommen. Ich erkläre dir bei der Gelegenheit auch, warum wir die Protokolle, die wir über die Vernehmungen schreiben, gleich wieder in den Papierkorb werfen müssen. Brodnax ist nicht unser Mann.« Es waren fast nur junge Leute, die in Reynold's Restaurant verkehrten. Die Bar war bis auf den letzten Stuhl besetzt, und viele standen auch dichtgedrängt. Es war ein beliebtes Lokal, besonders am 168
späten Nachmittag, um noch schnell vor dem Nachhausefahren einen Cocktail zu nehmen, oder für die Kollegen von Manhattan Süd. Die meisten kamen donnerstags, wenn es Geld gegeben hatte. Ja, in der Bar war was los, aber der Speiseraum mit den Tischen wirkte dafür regelrecht verlassen. In zwei Stunden würden die ersten zum Essen kommen. Eine Kellnerin ging zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen hindurch, um zu kontrollieren, ob auch alle Bestecke und Teller an ihrem Platz waren. Kornienko war der einzige Gast, der hier schon saß. Er hatte sich einen gemütlichen Ecktisch ausgesucht und ein Glas Bier bestellt. Aber bisher hatte er kaum einen einzigen Schluck getrunken. Er war nervös. Immer wieder schaute er auf die Uhr. Sein Gesicht hellte sich erst auf, als er Lamson und Savage auf seinen Tisch zukommen sah. Sie warteten, bis die Kellnerin die Bestellung aufgenommen hatte. Sobald sie wieder allein waren, lächelte Lamson Kornienko an. »Hoffentlich haben Sie nicht gedacht, wir versetzen Sie.« »Nein, nein. Ich habe fest damit gerechnet, daß Charlie sich der Sache annimmt«, sagte Stefan. »Ich mußte es einfach riskieren. Auf diese Weise oder eben anders. Der Kerl muß zahlen!« . »Gut! Da sind wir einer Meinung. Und was ich Ihnen noch sagen wollte, falls Sie insgeheim doch Blut und Wasser schwitzen wegen der Geschichte, ich hätte nicht anders gehandelt als Sie. Keiner, den ich kenne, hätte das. Und nun schießen Sie mal los. Ich will den Typ nämlich genausogern hinter Gittern haben wie Sie.« 169
Ruhig und der Reihe nach legte Stefan die Gründe dar, warum er Raymond Campbell aufgesucht hatte. Er berichtete von den zwei Gesprächen mit dem Jungen, von der Mutter. Und er erzählte von dem alten Grodek. Was die beiden Zeugen gesagt hatten, paßte eindeutig zusammen. Und es gab einen dritten, nämlich ihn selbst. Der Junge mit dem Engelsgesicht war ihm auf der Twelfth Street begegnet. Und er hatte ihn angesprochen, wahrscheinlich ähnlich wie seine Eltern. Bestimmt hatte der Junge vorgehabt, ihn auch zu überfallen. Mußte wohl Angst bekommen haben. »Klingt logisch«, meinte Lamson. Er kniff die Augen zusammen. »Was ich mir nur nicht erklären kann: Wie wird so ein Kind zu einem brutalen Verbrecher? Wie soll man sich das erklären? Der Junge mordet und hat wahrscheinlich nicht mal eine Ahnung, was er da tut.« »Mir macht ganz was anderes Sorgen«, mischte sich jetzt auch Savage in die Unterhaltung. »Sobald wir den Jungen hinter Gittern haben, gibt's einen Mordsaufstand in der Presse. Die werden alles in ihrer Macht stehende tun, um zu verhindern, daß diese Bestie dahin kommt, wo sie hingehört. Dann heißt es wieder, die Polizei ist schlecht, die Polizei ist unfähig. Die böse Polizei hat ein Kind ins Gefängnis gesteckt.« »Konzentrieren'wir uns erst mal auf das, was wir jetzt als nächstes tun müssen«, warf Kornienko ein. »Was haltet ihr davon, wenn ich gleich mal den Campbell Jungen vernehme?« schlug Lamson vor. »Ich bringe den Bericht ins Revier. Mein Grund hin-
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zugehen ist der gleiche wie deiner. Ist doch klar, ich hatte so was im Urin.« »Im Moment ist keine gute Zeit«, meinte Kornienko. »Die Mutter ist jetzt arbeiten. Sie putzt in einem Bürohaus. Der beste Zeitpunkt ist nachmittags, wenn der Junge aus der Schule kommt und die Mutter noch zu Hause ist.« »Weißt du, Steve, ich hab's dem Jungen auch nicht abgenommen, daß er die Brieftasche auf dem Müll gefunden hat. Aber ich hab' ihn einfach nicht zum Reden gekriegt.« »Ich hab' eben ein bißchen mehr Glück gehabt«, lächelte Kornienko. Sie beschlossen, daß Lamson am nächsten Morgen Mead telefonisch informieren sollte. Mead und Lamson würden dann zu Raymond Campbell fahren und seine Aussage aufnehmen. Danach mußten die beiden den alten Grodek aufsuchen. Der würde bestätigen, daß er zunächst natürlich Steve Kornienko von dem Überfall berichten wollte. Und Kornienko, so würde dann Lamson bezeugen, hätte Grodek an die Polizei verwiesen. Steve würde mit dem alten Mann sprechen und ihn bitten, seine Aussage bei Lamson zu wiederholen. Sobald die Informationen offiziell in den Polizeiapparat eingespeist waren, konnten sie endlich mit der Jagd nach dem blonden Jungen beginnen. Lamson lehnte sich zurück und grinste. »Die nächste Runde bezahle ich«, sagte er. Auch er schien irgendwie erleichtert. Savage blickte auf seine Uhr. »Ich finde, wir sollten jetzt was essen«, meinte er. »Kein Grund zur Hetze. Meine Alte war-
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tet nicht auf mich, sie ist mit dem Füttern der Kinder beschäftigt.« Kornienko stand auf. »Laßt es euch schmecken.« »Wo willst du denn hin?« »Ich geh' mal in den Tompkins Square Park.« Er verschwand so schnell, daß die beiden Freunde nichts mehr dazu sagen konnten.
11. Kapitel Lamson und Mead warteten geduldig, bis der Metzger die alte Frau bedient hatte. Grodek und seine Kundin hatten Ukrainisch gesprochen; Lamson hatte nur ein paar Zahlen verstehen können. Es mußte um den Preis fürs Fleisch gehen. Grodek hatte schnell nachgegeben. Anders als sonst. Er war nervös, seit er die beiden Beamten hinter der Frau entdeckt hatte. »Sind Sie Mr. Grodek?« fragte Lamson, als die Kundin endlich den Laden verlassen hatte. Der Alte nickte. Dann deutete er zum Hinterzimmer. »Gehen wir dort rein.« Er lief zur Ladentür und drehte das Schild um. Geschlossen. Er knipste die Deckenbeleuchtung aus und gab den beiden Polizisten ein Zeichen, ihm zu folgen. »Hat Steve uns angemeldet?« »Ja.« »Würden Sie uns bitte den Überfall noch mal schildern?« Grodek holte tief Luft und wurde etwas blaß. Er beschrieb, wie der Junge ihm die Klinge an die Kehle gesetzt hatte. Dabei deutete er auf den Schnitt an seinem Arm. Während er sprach, irrte
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sein Blick ständig zwischen den beiden Männern und der Ladentür hin und her. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, Mr. Grodek«, sagte Lamson. »Sie tun genau das Richtige. Sie informieren die Polizei. Mit Ihrer Hilfe werden wir den Burschen aus dem Verkehr ziehen. Bis er hinter Schloß und Riegel sitzt, empfehle ich Ihnen, Ihren Laden besser zur üblichen Zeit zu schließen. Und bleiben Sie nicht im Geschäft, um noch etwas zu erledigen. Wenn wir den Jungen haben, sagen wir Ihnen Bescheid.« Der alte Mann dankte ihnen. Es war ihm anzusehen, daß er immer noch große Angst hatte. Sie fuhren ins Revier zurück. »Die Beschreibung, die Grodek gegeben hat, stimmt genau mit dem überein, was Raymond Campbell im Gespräch mit Kornienko ausgesagt hat«, meinte Mead. »Richtig«, erwiderte Lamson. »Wie wissen jetzt, nach wem wir zu suchen haben. Wir haben eine Beschreibung des Verdächtigen. Und so müßte es ein Kinderspiel sein, den Burschen sehr bald aufzugreifen.« Im Büro angekommen, setzte sich Lamson sofort an seinen Schreibtisch und rief die Jugend-Abteilung an. »Und Sie haben keinen Namen?« »Nein«, sagte Lamson. »Aber der Junge ist von seinem Aussehen her so auffällig, daß Sie ihn eigentlich sofort identifizieren können müßten.« »Warten Sie. Ich verbinde Sie mit dem Zuständigen fürs Elfte. Versuchen Sie's nachher auch noch beim Ermittlungszentrum für Bandenkriminalität.«
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Er mußte nur einen Moment warten. Dann meldete sich der Sachverständige. Lamson erklärte ihm, worum es ging. »Der Name ist nicht bekannt?« »Nein.« »Ohne Namen ist es vollkommen sinnlos. Unsere Informationen sind unter dem jeweiligen Namen gespeichert.« »Danke.« Lamson legte verärgert auf. Er rief das Ermittlungszentrum für Bandenkriminalität an. Und er gab den Steckbrief des Gesuchten durch. »Hat der Junge einen Spitznamen?« »Vermutlich ja, aber den kennen wir nicht.« »Ich spreche mit meinen Leuten, dann rufe ich Sie zurück. Wenn Sie in der Zwischenzeit den Namen oder Spitznamen des Verdächtigen erfahren sollten, sagen Sie bitte sofort Bescheid. Das würde die Sache erheblich erleichtern.« »Einverstanden.« Lamson legte auf und ging zu Mead. »Ich hatte gehofft, die kennen den Jungen, aber es sieht so aus, als hätte ich mich getäuscht. Fahren wir gleich mal zum Elften. Und denk dran, wenn jemand fragt, wir bearbeiten den Fall Grodek. Mit Raymond Campbell haben wir noch nicht gesprochen. Klar?« »Ja. Aber hör mal, es ist schon Viertel vor zwölf«, meinte Mead. »Machen wir erst mal ein Mittagspäuschen.« Lamson betrachtete den dicken Bauch seines Kollegen. Dann grinste er. »Was sein muß, muß sein! Unsere Freunde im Elften sind jetzt sowieso schon beim Mittagessen. Ich werd' Fenrich anrufen und ihm sagen, daß wir um eins dort sind.« 174
Als Lamson und Mead im elften Revier eintrafen, rief Fenrich sofort alle Leute zusammen. Lamson berichtete über Grodeks Aussage. Dann kam er auf die Beschreibung des Täters zu sprechen. Er erwähnte Raymond Campbell. Bei der Vernehmung des Jungen, so sagte er, hatte er den Eindruck gewonnen, daß Raymond nicht ganz die Wahrheit sagte. Er mußte etwas gesehen haben. Gut möglich, daß er den Täter kannte und ihn aus irgendeinem Grund deckte. Schließlich konnte er doch die Brieftasche nicht so einfach im Dunkeln gesehen haben, rein zufällig. Sie beschlossen, Raymond erneut zu vernehmen. Und zwar am Nachmittag, wenn er aus der Schule kam. Ein Beamter wurde eingeteilt, der den alten Grodek abends von seiner Metzgerei bis nach Hause begleiten sollte. Ob einer der Polizisten in diesem Viertel je einen Jungen gesehen hatte, der im Aussehen so etwa dem entsprach, was der Alte beschrieben hatte? Keinem der Leute kam er bekannt vor. Fenrich gab Dave Gravinelli den Auftrag, die Beschreibung des Tatverdächtigen mit jenen Beamten abzuchecken, die bei der Besprechung nicht anwesend gewesen waren. Er schlug außerdem vor, die Leute unten zu befragen. Die Jugendlichen wurden meist dort vernommen. Fenrich begleitete Lamson und Mead einen Stock tiefer. Sie sprachen mit dem wachhabenden Beamten. Nein, der verantwortliche Captain sei nicht anwesend. Womit man den Kollegen denn behilflich sein könnte? Fenrich stellte Lamson und Mead vor. Mordkommission. Er erklärte, daß die beiden hinter 175
einer Spur her seien. Lamson beschrieb noch einmal den Jungen. Nein, einen Namen hatten sie nicht, nur das. »Ich will sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte der Sergeant. »Ich werd' mich mit den Kollegen mal drüber unterhalten. Wenn der Junge schon was auf dem Kerbholz hatte, und sich in unserem Gebiet rumtreibt, kennen sie ihn garantiert.« Zwei Streifenbeamte, die im Gang herumstanden und sich bisher unterhalten hatten, kamen dazu. »Sie sagen, Sie fahnden nach einem etwa Fünfzehnjährigen mit langem blondem Haar?- Entschuldigen Sie, aber wir haben das mitgehört. Also, Sie suchen einen Jungen mit Messer?« »So ist es«, sagte Lamson. »Hört sich verdammt noch mal nach Johnny Blanton an. Stimmts?« Der Polizist sah seinen Kollegen fragend an. Der dachte einen Augenblick nach. »Meinst du Quick? War ihm schon zuzutrauen, diesem Sauhund.« * Maureen Blanton zog ihren zweirädrigen Einkaufswagen hinter sich her. An der Kreuzung zur Avenue A blieb sie stehen. Warum kaufte sie eigentlich nicht auf der First Avenue ein, oder auf der Secondl Die Geschäfte dort waren doch viel besser. Mehr Auswahl. Die Bedienung netter. Die Kunden 'ne Spur feiner. Überhaupt. Warum hatte sie nicht mit besseren Leuten zu tun? Man sollte eben nie unter seine Klasse gehen. Das hatte Vater auch immer gesagt. Wenn man von der Wohlfahrt lebte, bedeutete das noch längst nicht, daß man nur noch mit dem Ab176
schaum verkehren mußte. Nein, nein. Die Geschäfte auf der Avenue A hatten wirklich nicht das Sortiment, das Maureen zusagte. Da kauften nur die Ärmsten ein. Billiges Zeug. Ramsch. Puertoricaner und Neger natürlich. Allerdings, auf der First Avenue einzukaufen, das bedeutete, zwei lange Häuserblocks weit zu laufen. Außerdem, die nahmen hier die Wohlfahrtsgutscheine recht gern. Es gab nie Schwierigkeiten. Maureen war bekannt. Sie war eine gute Kundin. Die Ladeninhaber wußten, die Scheine waren nicht gestohlen. Es gab also keinen zwingenden Grund, so weit zu gehen mit dem schweren Zeug. Bier wog 'ne ganze Menge. Zwei Sechserpacks allein waren schon so schwer, daß man ins Schwitzen kam. Vier von der Sorte ließen sich nur noch mit Einkaufswagen transportieren. Den hatte Johnny ihr vor kurzem besorgt. Zum Glück! Ja, auf der Avenue A konnte sie alles bekommen, was sie brauchte. Bier, Fernsehzeitung, die nötigsten Lebensmittel. Nein, kein Grund, diesen beladenen Karren so weit zu ziehen. Der Weg war einfach zu weit. Sie war zum Supermarkt auf der Avenue A unterwegs, als ihr die Fensterfront der Van-American Bar and Lounge ins Auge fiel. Sie ging hin und drückte ihre Stirn gegen die Scheibe. Drinnen war es dunkel. Sie beschattete ihre Augen mit der flachen Hand. Ich könnte mir ja schnell noch ein Bier genehmigen, dachte sie. Ich geh' einfach rein und bestell' mir eins. Warum eigentlich nicht? Ich würd' zur Abwechslung mal an der Bar sitzen. Ein hübsches Gefühl. Wie eine richtige Lady. Wenigstens für den Moment. Es war lange her, daß Maureen einen 177
Drink an einer Bar genommen hatte. Und das nach dem Einkaufsbummel, wie eine richtige Dame. Sie stieß die Schwingtür auf. Es gelang ihr, den Wagen durch die Lücke zu bugsieren. Sie ließ ihn einfach am Eingang stehen und ging zur Bar. Es war Nachmittag. Die Tische waren leer. Drei oder vier Hocker weiter saß eine Frau. Sie kehrte Maureen den Rücken zu. Ein Stück daneben standen ein paar Männer. Alles ältere Semester. Der Barkeeper kam, ein stämmiger Weißer, mehr als lässig angezogen, mit schmutziger Schürze. Maureen bestellte sich ein Bier. Der Barkeeper brachte ihr Flasche und Glas. Er goß ihr ein. Sie nahm einen Schluck. Köstlich. Bier schmeckte ja noch viel besser, wenn man es an einer Bar trank. »Maureen Blanton!« Die Frau hatte sich ihr zugewandt. Irgendwie kam sie Maureen bekannt vor. Wie eine gute Freundin eigentlich, aber sie konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern, und auch nicht, wo sie sich kennengelernt hatten. Nein, keine Ahnung, wo sie die hinstecken sollte. »Maureen, wie geht's dir denn, altes Haus? Mein Gott, muß ja Jahre her sein. Wann haben wir uns bloß zuletzt gesehen?« Die Frau glitt vom Hocker und kam auf sie zu, ein volles Glas Bier in der Hand. Sie setzte sich neben Maureen. »Weißt du, wie lange das her ist? Ich glaube, es war auf dieser Riesenparty, als wir das letzte Mal zusammen waren. Na ja, Mac ist bald darauf abgehauen, auf Nimmerwiedersehn. Keine Ahnung, wo der steckt.« »Ist das wirklich so lange her?« 178
Langsam dämmerte es ihr. Sie und Hubert waren mit dieser Frau und ihrem Mann Mac befreundet gewesen. Mac war Fernfahrer, genau wie Hubert. Peinlich war nur, daß ihr der Name nicht einfiel. Sie waren damals sehr oft zusammengewesen. Richtige Freundinnen. Inzwischen hatte die andere sich eine neue Frisur zugelegt. Andere Farbe und so. Oder war es das Make-up? Irgendwie war sie verändert. »Und wie geht's bei dir zu Hause?« fragte die Frau. »Geht so.« »Noch mit Hubert zusammen?« »Nein. Wir haben uns getrennt. Ist schon sechs Jahre her.« »Tut mir leid. Hab' ich mir aber beinah' gedacht. Ihr habt ja ständig Streit gehabt.« Sie tranken ihr Bier und sprachen über alte Zeiten und was seither so alles passiert war. Die Freundin sagte, sie sei heilfroh, daß sie keine Kinder habe. Vor allen Dingen, wenn man allein lebte. Ohne Mann. Sie arbeitete als Serviererin in einem Restaurant, aber im Augenblick hatte sie Urlaub. Sie wartete gerade auf einen Freund, einen Fernfahrer, der sie hier abholen wollte. »Vielleicht hat Frank seinen Freund dabei. Hast du heute abend schon was vor? Wenn nicht, komm doch mit. Franks Freund ist nett. Wirst du gleich sehen.« »Also, ich weiß nicht...« Maureen fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Du, die beiden planen eine kleine Party. Vielleicht wird's sogar 'ne große Party, wer weiß. Ich versteh' allerdings nicht, daß die nicht schon da sind.« 179
»Ich weiß wirklich nicht.« Maureen sah die Freundin ratlos an. Sie dachte an ihren Kleiderschrank. Alles nur Lumpen. Was sollte sie denn anziehen auf so einer Party?- Wann war sie überhaupt zum letzten Mal zu so was eingeladen worden? »Also echt, Maureen. Es wird so toll heute abend. Du mußt mitkommen. Es sei denn, Franks Freund hat schon 'ne andre mitgebracht.« Mädchen. Einladung. Party. Seit damals nicht, als sie noch in Greenpoint war und Maureen Fitzgerald hieß. »Na hört sich ja nicht übel an.« Sie fuhr sich wieder durchs Haar. Den Kopf hielt sie etwas schief und lächelte ihre Freundin an. Die andere winkte auf einmal. »He, Frank! Hier bin ich!« Maureen hatte sich umgewandt. Zwei Männer hatten die Bar eben betreten. Groß beide. Gutaussehende Kerle. Maureen zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Die Männer kamen näher. Der, der voranging, kam direkt auf ihre Freundin zu. »Entschuldige, daß wir so spät sind«, sagte er. »Wir wurden drüben aufgehalten.« Er stellte seinen Fuß auf die Stütze des Barhockers und kniff der Frau ins Bein. »Gut siehst du aus, Mädchen. Deine Bluse ist große Klasse. Und was drin ist, sowieso.« Er wandte sich zu Maureen. »'ne Freundin von dir, was?« Die Frau nickte. »Alte Freundin. Wir kennen uns seit Ewigkeiten. Maureen, das ist Frank. Von dem ich dir erzählt habe. Du weißt schon. Frank, das ist Maureen.« »Tag, Maureen«, sagte Frank.
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Er drehte sich zu seinem Freund um. »Chris, mein Mädchen, Isobel, kennst du ja schon. Und die, die neben ihr sitzt, heißt Maureen.« Chris blickte kurz zu Isobel. Dann wieder zu Maureen. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Bin ich froh, daß Frank mich überredet hat, mitzukommen.« Isobel. Jetzt dämmerte es ihr endlich. Natürlich. Isobel Mac Dougall. Isobels Mann hieß Holly, er hatte den Spitznamen Mac. Früher war Isobel dunkelblond gewesen, jetzt waren die Haare rot. Viel mehr als für Isobel interessierte Maureen sich aber für Chris. Sie genoß seine bewundernden Blicke. Ja, er warb um sie. Maureen rutschte auf ihrem Barhocker hin und her. Sie glättete die überhaupt nicht vorhandenen Fältchen auf ihrem Rock. Wie schäbig ich aussehe, dachte sie. Sie haßte die alte Bluse, die sie anhatte. Sie haßte ihren ausgeleierten BH. Aber dagegen war nichts zu machen, jedenfalls im Moment nicht. Sie streckte sich und drückte ihren Busen heraus. Und sie registrierte das Aufleuchten in Chris' Augen. Ihre schönen Fitzgerald-Titten. Sie fühlte sich gut. Ausgelassen. Sie war wieder Maureen Fitzgerald. Sie war in Brooklyn, und es war wieder was los. Sie war glücklich. Frank bestellte eine Runde Bier für alle. Die beiden Frauen saßen auf ihren Hockern. Die Männer standen und stützten sich auf die Lehnen. Chris berührte wie zufällig Maureens Schultern. Sie konnte die Wärme seiner Hand spüren. Und sie konnte ihn nun aus der Nähe betrachten. Er hatte dunkles Haar und makellose weiße Zähne. Irgend etwas an ihm erinnerte sie an Hubert. An den Hubert, in den sie sich verliebt hatte. Außer, daß Chris älter war. Er 181
war ein Mann. Hubert war ein Teenager gewesen, damals. Sie unterhielten sich, und die Männer sparten nicht mit Komplimenten und Andeutungen. Maureen sah, wie sich Frank und Isobel zublinzelten. Sie waren begeistert, wie gut sie sich mit Chris verstand. Kein Zweifel. Das war genau das richtige. Besser hatte es gar nicht kommen können. Das würde eine heiße Party werden. Eine sehr heiße Party. Die zweite Runde Bier kam. Frank rückte mit seinem Plan heraus. Ein Freund hatte ihm den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, weil er ein paar Tage unterwegs war. Er und Chris mußten nur noch ein paar Besorgungen machen, Bier und etwas zu essen einkaufen, dann würde man sich wieder an dieser Bar treffen und zusammen dorthin fahren. »Wie wär's mit fünf? Das wird eine lustige Unternehmung. Und es ist nicht so weit.« Maureen warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Fast drei. Irgendwie würde sie es schon schaffen. Sie brannte darauf, bei dieser Party mit dabeizusein. »Ich habe noch was zu erledigen«, sagte sie, »aber ich werde pünktlich hier sein. Wenn ich doch ein paar Minuten zu spät komme, wartet ihr auf mich, ja, Chris?« wandte sie sich direkt an ihren neuen Flirt. »Du mußt kommen, unbedingt.« Chris warf ihr einen verführerischen Blick zu. »Ich versprech's dir. Keine Sorge. Bis gleich.« Sie schwebte zur Tür, und sie wußte, daß die drei ihr nachsahen. Der Einkaufswagen? Nein, dachte sie. Nicht jetzt. Den hole ich danach ab. Als erstes werde ich den Scheck einlösen. Dann geh' ich zur Four182
teenth Street. Danach hole ich den Wagen, und dann kaufe ich die Lebensmittel ein. Sie löste den Scheck ein. Zeitraubendes Anstehen. Aber immerhin. Unruhig sah sie auf die Uhr. Typisch, sonst waren kaum Leute da. Sie brauchte nicht sehr lange zu suchen, bis sie das richtige Geschäft fand. Auf der Fourteenth Street gab es eine ganze Reihe von Läden, die Reizwäsche verkauften. Maureen erstand einen BH und einen Slip. Schwarz, mit Spitze. * Lamson und Mead waren von ihrem Besuch bei Raymond Campbell zurückgekehrt. Verglichen mit dem früheren Gespräch, das sie mit dem Jungen gehabt hatten, war es wirklich ein Unterschied wie Tag und Nacht gewesen. Der Junge war hilfsbereit, gab jede Auskunft, war höflich. Kornienko hatte ihn förmlich umgedreht. Durch diese offizielle Vernehmung war Kornienko aus dem Schneider. Aber noch viel wichtiger war, daß Johnny Blanton wirklich der Täter zu sein schien, dem die beiden Morde anzulasten waren. Schwer zu glauben, aber die Zeugenaussagen waren eindeutig. Johnny Blanton hatte nicht nur diese Bluttat auf dem Gewissen, sondern es war ziemlich klar, daß er auch den alten Grodek beraubt hatte. Sicher war der Metzger nur wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen. Der Junge mußte gefaßt werden, bevor er das nächste Verbrechen beging. Bei der Festnahme würden sie eine Reihe von Vorschriften beachten müssen. Schließlich war Johnny noch ein Kind. Ein Kind zu fassen, einzubuchten, war mit das Schwierigste überhaupt. 183
Lamson warf einen Blick auf Mead, der auf seine Schreibmaschine einhämmerte. Die Protokolle über die Vernehmung von Campbell und Grodek mußten fertiggemacht werden. Als nächstes würden sie Johnny Blantons Adresse herausbekommen müssen. Man würde den Jungen festnehmen und zum Revier bringen, dann würde man ihn erst vernehmen. Lamson hatte begonnen, im polizeiinternen Telefonverzeichnis nach der Nummer der Abteilung für Jugenddelikte zu suchen. In dem Moment klingelte das Telefon. Ein Beamter von der Mordkommission in der Bronx meldete sich. Er gab durch, was die Beamten dort bei der Vernehmung der Zeugen herausbekommen hatten, die von Ace Brodnax benannt worden waren. »Nicht gerade sehr vielversprechend. Das Alibi steht. Wir haben mit zwei Zeugen gesprochen, beide sagen, daß sie an dem fraglichen Abend mit Brodnax gefeiert haben. Beide Zeugen haben Vorstrafen, okay. Aber die Aussagen sind stimmig.« Lamson bedankte sich. Dann wählte er die Abteilung für Jugenddelikte, die Youth Records, an, um die Adresse von Johnny Blanton herauszubekommen. »Vorname des Vaters?« »Hab' ich nicht«, sagte Lamson. »Mädchenname der Mutter?« »Auch nicht.« »Dann dauert's ein paar Minuten. Ich rufe gleich zurück.« Lamson hatte kaum aufgelegt, als das Telefon wieder klingelte. Er nahm ab. Diesmal war es Steve Kornienko. »Hast du den Namen?« »Johnny Blanton. Spitzname ist Quick.« 184
»Wo wohnt er?« »Die Anschrift wird gerade nachgesehen, bei Youth Records.« »Ruf mich im Büro an, wenn du sie hast. Ja?« »Steve, kannst du nicht mal auf mich hören? Halt dich da raus. Du tust dir selbst keinen Gefallen.« »Ruf mich an, sobald du's weißt.« »Ich bin bestimmt gleich weg. Bin fertig für heute.« »Ich kenn' dich besser. Du wirst schon da sein. Und du wirst mich anrufen. AI. Das bist du mir schuldig.« * Maureen Blanton rubbelte sich das Haar trocken und betrachtete versonnen den Strudel, der sich aus dem dreckigen Badewasser bildete, nachdem sie den Stöpsel gezogen hatte. Sie wäre gern noch stundenlang in der Wanne geblieben. Es war so angenehm, so entspannend. Aber dazu war jetzt keine Zeit. Im Gegenteil, sie mußte sich beeilen. Sie rubbelte das Haar noch einmal kurz durch. Das Handtuch war inzwischen genauso naß wie ihr Haar. Sie hörte auf. Es hatte keinen Zweck mehr. Sie trocknete sich ab, nahm den Föhn, stellte ihn an und betrachtete sich dabei im Spiegel. Wie gern hätte sie einen richtig großen Spiegel im Bad gehabt. Oder überhaupt irgendwo in der Wohnung. Ja, das müßte sie unbedingt Johnny sagen. Sie wollte einen haben. Er würde ihn schon irgendwie besorgen. Er hatte ihr ja schließlich auch den Föhn organisiert. Anschließend legte sie das Gerät aus der Hand. Ihr Haar war noch nicht ganz trocken. Nun, Chris sollte sehen, daß sie gebadet hatte. Er sollte es riechen. Spüren. Wissen. Nackt verließ sie das Badezimmer. Sie lief an Pauls Zimmer vorbei. Sie 185
blickte hinein. Er saß am Tisch und arbeitete. Dabei aß er eine Scheibe Brot. Er blickte auf, und sie sah die Überraschung in seinem Gesicht. Nachmittags hatte sie bisher noch nie gebadet. Meistens wartete sie bis elf Uhr nachts damit, wenn nichts Vernünftiges mehr im Fernsehen lief. Nur noch Nachrichten - Sie ging in ihr Zimmer und streifte sich den neuen BH über. Er stand ihr sehr gut, fand sie. Sie spürte, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten. Sah super aus. Sie ging zum Kleiderschrank und nahm einen Rock heraus. Neu war er nicht gerade. Aber es gab nichts anderes. Chris würde sowieso nicht auf den Rock schauen. Sie betupfte ihren Hals und ihre Handgelenke mit etwas Eau de Cologne, das Johnny ihr gekauft hatte. Am Tag, nachdem sie beide im Fernsehen die tolle Werbung dafür gesehen hatten. Charly hieß es. Sie betrachtete sich im Spiegel. Hübsch. Genauso aufreizend, wie das Mädchen im Fernsehspot. Man sah einer eben an, ob sie Rasse hatte. Die Männer achteten auf so was. Sie nahm ihre kleine Handtasche und ging in Pauls Zimmer hinüber. »Du wirst es nicht glauben«, sagte sie, »aber heute abend geh' ich groß aus.« »Wohin denn?« »Zu so einer Art Party. Glaub' ich. Na ja, weiß nicht so genau, was das werden soll. Jedenfalls hab' ich heute eine gute alte Freundin von früher wiedergetroffen, weißt du. Und die hat mich eingeladen, mitzukommen.« Paul lächelte. »Bis dann. Falls ich noch wach bin.«
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»Es wird wahrscheinlich sehr spät. Liebling. Aber mach dir keine Sorgen, ja?« Sie sah ihm an, daß er sich mit ihr freute. »Gut.« »Ist ja auch egal wie spät. Mach dir keine Sorgen, wenn ich erst morgen zurückkomme oder übermorgen. Die sprachen nämlich von so was. Die Party findet außerhalb von New York statt. Ich weiß nicht wo. Es ist im Grunde eine Wochenendparty, nur daß das Wochenende eben Dienstag beginnt.« Sie strahlte ihren Sohn an. Sie war stolz auf die nette Umschreibung, die sie da gefunden hatte. »Du machst dir selbst dein Abendessen, ja? Schatz. Ich hab' Hot Dogs gekauft. Deine Lieblingssorte.« »Schon gesehen. Hör mal, mach dir um mich keine Sorgen«, er lächelte ihr aufmunternd zu. »Viel Spaß. Wir kommen hier schon allein zurecht, wirklich.« »Sag auch Johnny Bescheid.« »Wenn ich ihn heute noch sehe, ja. Sonst kann ich ihm einen Zettel hinlegen.« »Also gut, mein Schatz. Ich muß jetzt.« Sie ging aus dem Zimmer, verließ die Wohnung und marschierte los. Es war schon nach fünf. Ein paar Minuten drüber. Ob ich besser rennen soll? Nein, lieber nicht. Sonst komme ich noch ins Schwitzen. Wäre zu schade, nach dem schönen Bad. Sie betrat die Bar. Von der Freundin und den beiden Männern keine Spur. Sie ging zwischen den Tischen entlang. Nichts. Die Stühle an der Theke waren leer. Nein, sie waren nicht da. Vielleicht waren sie schon weg? Dabei hatte sie ihnen doch ge-
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sagt, daß sie bestimmt kommen würde. Es war erst Viertel nach fünf oder etwas später. Ob Isobel auf der Toilette war? Sie ging hin und öffnete die Tür zu dem kleinen gekachelten Raum. Sie rümpfte die Nase. Die Tür zum Klo war offen. Nichts. Wo konnten sie nur sein? Wo war Isobel? Wo waren die beiden Männer? Warum hatten sie nicht gewartet? Eine Träne trat ihr ins Auge. Sie war so enttäuscht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Diese miesen Scheißkerle! Nachdem sie sich vorm Spiegel die Träne vom Gesicht gewischt hatte, ging sie zur Bar zurück. Sie trat an die Theke. »Haben Sie vielleicht meine Freunde gesehen?« Es war der Barkeeper, der sie auch schon mittags bedient hatte. »Sie wissen schon, das Mädchen und die beiden Männer von heute vormittag.« »Die sind noch nicht wieder hiergewesen. Wenn Sie das meinen.« »Danke.« Vielleicht hatten sie sich einfach nur verspätet. Maureen ging hinaus und nahm neben dem Eingang Aufstellung. Sie spähte auf die Straße hinaus. Fünf Minuten waren vergangen, als der Zugwagen eines Sattelschleppers aus den Reihen der anderen Autos ausscherte und in zweiter Reihe parkte. Chris. Sie sah, wie er die Tür zum Fahrerhäuschen öffnete und auf die Straße hinuntersprang. Sie mußte tief Luft holen, so aufgeregt war sie. Er kam auf sie zu. »Da bist du ja.« »Hab' dir doch gesagt, daß ich komme.« »Tut mir leid. Wir sind etwas spät. Aber dafür haben wir jetzt alles. Auf los, gehts los.« Sein Blick glitt an ihren Hüften hinauf und heftete sich auf die Rundung ihrer Brüste. 188
»Bist du soweit?« »Von mir aus können wir.« »Dann komm.« Er ging mit ihr zum Zugwagen. »Wir haben leider keinen PKW organisieren können, aber Franks Wagen hat's in sich, das sag ich dir. Aircondition und so. Alle Schikanen. UKW und CBFunk, alles, was du willst.« Er öffnete die Tür und schwang sich in die Kabine. Er reichte ihr den Arm und zog sie hinauf. »Macht dir doch nichts, wenn ich dich auf den Schoß nehme, oder?« Frank saß am Steuer, Isobel in der Mitte. Die beiden strahlten. Hinter den Sitzen waren ein paar große braune Tüten mit Lebensmitteln verstaut. Obenauf lag eine durchsichtige Packung Kartoffelchips. Maureen machte es sich auf dem Schoß des Mannes bequem. »Mir macht's nichts aus. Wenn's dir nichts ausmacht.« Chris grinste. »Ausnahmsweise habe ich nichts dagegen.« Er umfing sie mit beiden Armen. Seine Hände faltete er auf ihrem Schoß. Er wandte sich an Frank. »Denn man los, Kumpel.« * Lamson und Mead hatten den Treppenabsatz erreicht. Lamson klopfte an die Tür. Ein dunkelblonder Junge öffnete. »Wohnt hier Johnny Blanton?« fragte Lamson. »Ja.« »Ist er hier?« »Mein Bruder ist nicht zu Hause. Wieso-?« Sie zeigten dem Jungen ihre Dienstmarken. »Können wir reinkommen?« »Bitte.«
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Er ließ sie eintreten und führte sie ins Wohnzimmer. »Weißt du, wo dein Bruder ist?« »Nein.« »Weißt du, wann er zurückkommt?« »Nein. Auch nicht.« »Wie heißt du?« »Paul Blanton.« »Wo sind deine Eltern? Ist einer von beiden da?« »Meine Mutter ist ausgegangen. Mein Vater, ... der ist vor ein paar Jahren ausgezogen.« »Wann kommt deine Mutter zurück?« »Sie ist erst vor einer halben Stunde weg.« Er blickte die beiden Polizisten einfältig an. »Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Sie ist auf einer Party.« »Können wir hier auf deinen Bruder warten?« »Können Sie, aber es ist möglich, daß Sie lange warten müssen.« »Was heißt lange?« »Manchmal kommt er gar nicht nach Hause.« »Wo geht er dann hin?« Paul zögerte. »Zu Freunden, glaube ich.« »Wir warten trotzdem.« Paul versuchte, aus den Mienen der beiden schlau zu werden. »Sie wollen wirklich warten? Was hat er denn diesmal verbrochen? Hat er jemanden umgebracht?« Mead warf Lamson einen beziehungsvollen Blick zu. Der reagierte nicht. »Wir haben ein paar Fragen an deinen Bruder«, sagte er. Er ließ sich auf dem Sofa nieder. »Wir haben viel Zeit.« Er merkte, wie verwirrt der Junge war. *
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Quick ging die Eighth Avenue entlang. Er war auf der Suche nach seiner Schwester Cindy. Unvermittelt hatte ihn die Sehnsucht gepackt. Das Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Zu sehen, wie es ihr ging. Seit Cindy von zu Hause ausgezogen war, hatten sie sich nur wenige Male getroffen. Wann war das eigentlich gewesen? Quick erinnerte sich nicht mehr. Zwei Jahre? Drei? Er wollte sie wiedersehen. Mit ihr reden. Sie war hübsch. Hübscher, als alle Mädchen, die er kannte. Und sie behandelte ihn wie einen Freund. Sie redete vernünftig mit ihm, anders als seine Mutter. Scheiße. Mutter sprach nie mit ihm, sie sprach immer nur zu ihm. Wenn sie überhaupt Zeit für so was hatte. Meist saß sie vor dem Fernseher, die Bierdose in ihrer Hand. Und dann lauter dämliche Fragen. »Johnny, kannst du mir das besorgen?« Und er besorgte ihr alles, was sie haben wollte. Er wollte ihr und sich selbst beweisen, daß er alles haben konnte. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem letzten Gespräch, das er mit Cindy geführt hatte, bevor sie auszog. Sie wollte einfach raus. Sie wollte Geld verdienen, hatte sie gesagt. Richtig Kohle. Er hatte sie gefragt, wie. Ich verkaufe, was ich habe, hatte Cindy geantwortet. Sie hatte gelacht dabei. Quick verstand das damals noch nicht richtig. Inzwischen konnte er sich nur zu gut zusammenreimen, was sie damals gemeint hatte. Er hatte sie ein Jahr danach beobachtet, wie sie auf den Strich ging. Auf der Eighth Avenue. Eine richtige kleine Bordsteinnutte. Ein Mädchen, das auf- und abwanderte und jeden Mann ansprach. Das war Cindy. Einmal hatte er gesehen, wie sie mit einem fetten, alten Kerl weg191
ging. Sie waren sich sehr schnell einig geworden. Und Quick fand diesen Typ so ekelhaft. Am liebsten hätte er dem fetten Schwein das Messer in den Leib gestoßen und ihn in Stücke geschnitten. Er hätte ihn bestrafen sollen, für das, was er Cindy antat. Allerdings schien es ihr auch noch Spaß zu machen. Quick hatte gewartet, bis sie wieder an ihre Ecke zurückkam. Dann war er zu ihr gegangen. Sie war sehr überrascht gewesen, als sie ihn sah. Überrascht und erfreut. Sie lud ihn zu einer Pizza mit Cola ein. Und sie sprachen über Gott und die Welt. Er konnte sich noch haargenau an das Gespräch mit ihr erinnern. An jedes Wort. »Wieviel nimmst du?«- »Ganz schön viel, manchmal fünfzig Dollar.« - »Fünfzig, nur dafür, daß er mit dir schläft?«- »Genau.«- »Geht das schnell?«- »Ziemlich.«-»Wieviel Kunden hast du pro Tag?«- »So einige.«- »Und, macht's dir Spaß?«- »Wenn ich ans Geld denk, macht's mir einen Riesenspaß.« - »Du mußt ja unheimlich viel verdienen.« -»Es geht. Vor allem kann ich mehr davon behalten als die anderen Mädchen hier auf der Straße. Es gibt sogar welche, die müssen alles abgeben. Ganz schön blöd.«- »Wie, du behältst nicht alles?«- »Nein, nicht alles.«- »Wem gibst du denn was davon?« - »Cecil.« - »Wer ist das?« - »Mein Freund. Na, sagen wir, mein Manager. Ich glaube, das verstehst du noch nicht.« Sie meinte natürlich ihren Zuhälter. Dieser schwarze Scheißer. Er hatte ihn ein paar Mal vorbeifahren sehen, in seinem weißen Cadillac. Einmal war Quick extra in die Eighth Avenue gegangen, um seine Schwester wiederzusehen. Der Neger war in dem weißen Wagen vorgefahren. Sie war ausges192
tiegen, und der Neger hatte gewartet, bis sie den ersten Mann angesprochen hatte. Dann erst war er davongebraust. Ein Typ mit breitkrempigem, weißem Hut. Quick fand, der Mann hatte keinen Anspruch auf das Geld, das Cindy verdiente. Sie war es doch, die die Kerle mit Geld anmachte. Sie legte sich mit ihnen ins Bett. Nicht der Neger. Also hätte sie auch das Geld behalten müssen. Er hatte beschlossen, dem Kerl aufzulauern. Ja, eines Tages... Er war an der Ecke angekommen, wo er Cindy das letzte Mal getroffen hatte. Er lehnte sich an einen geparkten Wagen. Sie würde bald da sein. Seit dem letzten Mal waren Monate vergangen. Er wußte, sie würde sich genauso freuen wie er. Rate mal, Cindy, wer jetzt auch 'nen Haufen Geld verdient?- Ich. Richtig Knete. Inzwischen verdiene ich mehr als du, Cindy. Fünfzig Dollar wären keine große Sache für mich. Ich verdiene so viel, daß ich mindestens drei Mal am Tag mit dir schlafen könnte. Wie wär's denn?- Hm? Eine Möglichkeit, über die sich nachzudenken lohnte. Sie konnte ihm zeigen, wo's langging. Genau, wie in diesem Film. Ihr kleiner Bruder. Besser Cindy, als irgendeine fremde Zicke. Cindy war hübsch. Cindy war aufregend. Er erinnerte sich an einen Abend, als sie ihn umarmt hatte. Es war nur kurz gewesen. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen, und er hatte ihre Brüste an seinen Wangen gespürt. So weich, so voll... Der weiße Cadillac ! Kein Zweifel, das war der verdammte Typ. Er trug einen grauen Hut, keinen weißen. Aber er war's. Und sie saß drin. Der Wagen rauschte vorbei und hielt an einer Ecke des Blocks.
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Cindy stieg aus. Sie steuerte sofort auf den nächsten Mann zu, der ihr entgegenkam. Quick rannte los. Im Näherkommen sah er, daß sie mit einem großgewachsenen Mann sprach. Der Kerl trug einen Maßanzug. Gut angezogen. Aber ein Schwarzer. Verdammt nochmal. Nein, nicht mit dem! »Cindy!« Sie drehte sich um. Sie schüttelte mit dem Kopf, warf ihm einen finsteren Blick zu. »Cindy!« Der Schwarze sah sich nach Quick um. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. »Das bist du, Cindy, ja?« »Stimmt genau.« »Und wer ist das? Dein kleiner Bruder?« »Auch richtig.« »Könntest du ihm wohl sagen, daß er mal für 'ne Weile verduftet?« Sie sah Quick an und lächelte. »Johnny, könntest du nicht etwas später wiederkommen? Sagen wir in einer Stunde? Dann bin ich da.« Quick starrte sie an. Sie meinte das ernst. »Ich freue mich, daß du vorbeigekommen bist«, sagte sie. »Aber jetzt geht's nicht. Etwas später. O. K. ?« Quick durchzuckte der Gedanke, dem Schwarzen jetzt und hier einfach die Gurgel durchzuschneiden. Ob das seine Schwester beeindrucken würde? Aber er hielt die Hände weiter in den Taschen vergraben. »Gut«, sagte er. »Bis dann.« Er überquerte die Straße und beeilte sich, Richtung Stadt weiterzukommen. Plötzlich sah er den Eingang der Untergrundbahn. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging er die Treppe hinunter. Er drängte sich durch das Gewühl von Menschen und sah sich um. Da, das 194
Schild Coney Island. Da war er noch nie gewesen. Er ging zu dem Schaffner. »He, Sie, wie komme ich von hier nach Coney Island!«
12. Kapitel Quick erschrak, als der Zug aus dem Tunnel herausschoß. Die plötzliche Helligkeit des Tageslichts schockierte ihn. Quick hielt einen Griff mit beiden Händen umklammert. Was war mit dem Zug los? Er sah sich ängstlich um. War irgendwas schiefgelaufen? Er musterte die Gesichter der anderen Fahrgäste. Die schienen nichts Auffälliges daran zu finden. Dann mußte das wohl der normale Weg sein. Was für ein Erlebnis! Quick kam es vor, als würde er in einer Rakete ins All geschossen. Er mußte lächeln. Noch nie hatte er in einem Zug gesessen, der draußen fuhr. Er genoß es, die vorbeifliegenden Häuser und die Menschen darin zu sehen. Wie lange die Fahrt nach Coney Island wohl noch dauerte? Er fragte den Mann, der neben ihm in seiner Tageszeitung blätterte. Der deutete auf das Gewirr von schwarzen und roten Linien an der Wand. Er legte seinen Finger auf einen Punkt. »Wir sind jetzt hier und fahren hier entlang. Bis Stillwell Avenue, Coney Island. Klar?« Die Leute stiegen ein und aus. Quick setzte sich. Lustig, daß man bis in die Wohnzimmer sehen konnte. Die Wohnungen lagen im dritten oder vierten Stock, und so konnte man reinsehen. Oder auch in die Küche. Man konnte beobachten, was sie gerade machten. Die einen saßen am Tisch und aßen. Wie eine Kette von Blitzlichtaufnahmen. Andere 195
stützten sich auf die Fensterbretter und starrten hinaus. Wenn der Zug hielt, blickte Quick den Leuten nach, die ein- und ausstiegen. Unten gab's Straßen, Autos, Fußgänger. Es gab Geschäfte. Die Autos mußten warten, wenn die Bahn kam. Man befand sich über allem Geschehen, man konnte sich frei fühlen. Und alles war in Bewegung, rasend schnell. Als der Zug in Stillwell Avenue, Coney Island einfuhr, stieg Quick aus. Er folgte einfach dem Strom der anderen. Irgendwo da vorn war das Riesenrad. Quick sah auf die Stadt zurück. Manhattan. Er wurde nach vorn gerissen. Der Geruch von Popcorn. Ganz anders war es hier als am Times Square. Total anders, fand Quick. Größer. Freier. Geheimnisvoller. Diese verschiedenartigen Gerüche. Ja, er hatte Hunger. Er ließ sich auf der Straße entlangtreiben. Er tauchte förmlich in die Düfte ein, die von allen Seiten her zu ihm herangetragen wurden. Da war Nathan's. Fast kam die Kneipe ihm wie ein alter Bekannter vor, inmitten von all dem Fremden. Das beste Essen vom Times Square. Er bahnte sich einen Weg durch das volle Restaurant und studierte die Speisetafeln. Unzählige Mengen von Meeresfrüchten. Fisch. Quick schüttelte sich. Daß irgend jemand auf der Welt Fisch essen konnte! Zu seinem Erstaunen hatte Nathan's in Coney Island riesigen Zulauf. Er bestellte sich zwei Hot Dogs und eine Cola. Er aß schnell, im Stehen. Gute Hot Dogs. Genausogut, wie die am Times Square. Dann zog es ihn schnell wieder auf die Straße. Er sah sich den Himmel an. Es begann dunkel zu werden. Das Gewühl der Menschen war inzwischen noch dichter 196
geworden. Musik wehte heran. Farbige Lichter zuckten. Man konnte wie betrunken von allem werden. Coney Island. Warum war er nicht schon viel früher hierher gefahren? Er ließ sich treiben, den Lichtern und dem Lärm der Stadt zu. Merkwürdig, kaum ein Mensch in Coney Island, der nicht irgendwas zu essen in der Hand hielt. Hot Dogs, Soft Ice, Zuckerwatte, eine Tüte Popcorn. Von überall her verlockende Gerüche. Quick kaufte sich eine Portion Zuckerwatte. Es war einfach zu verführerisch. Von der Berg- und Talbahn waren Schreie zu hören. Schreie, Lachen und etwas, das sich anhörte wie ein Donnern. Das war die Achterbahn. Das Brausen und Tosen der Autos über die Schienen. Angstschreie, Jubelschreie. Schreie aus allen Himmelsrichtungen. Leute auf der Bahn, Leute, die Schlange standen, um einmal mitzufahren. Auch ihn faszinierte sie. Quick ging näher. So eine hatte er noch nie gesehen. Wie es wohl wäre, da mitzufahren. Auch das würde er einmal ausprobieren müssen. Er ging weiter. Kinderkarussells. Kleine Feuerwehrautos, die auf einer hölzernen Scheibe in der Runde fuhren. Ein quirliges Hin und Her. Kinder mit ihren Großeltern. Autoscooter. Blech, das sich ineinander verkeilte. Ein paar Meter weiter die Geisterbahn. Gleich dahinter hörte das Lichtmeer auf. Eine Sache, die Quick neugierig machte. Er ging weiter. Wo war der Rummelplatz zu Ende? Dann die Promenade. Und hinter der Promenade der Strand. Mehr Strand. Und Wasser. Wasser, mit Menschen drin, die badeten. Wieder etwas Neues. Quick konn197
te nicht schwimmen. Irgendwann erinnerte er sich, hätte er an einem Schwimmkurs teilnehmen können. Er hatte verzichtet. Es kam ihm idiotisch vor, damals. Schwimmen - was für Idioten. Heute dachte er nicht anders darüber. Ein paar hundert Meter weiter rechts war eine Mole zu erkennen, die weit ins Meer hinausragte. Eine Mole mit Anglern. Dahinter Boote, die stillzustehen schienen. Und so weit er sehen konnte, Meer. Quick fand das Meer faszinierend. Wie tief mochte das Wasser wohl sein, da wo die Boote lagen? Ob Paul oder Cindy schon in Coney Island gewesen waren? Mutter ganz sicher. Sie kam ja aus Brooklyn. Richtig. Sie hatte ihm sogar von Coney Island erzählt. Jetzt erinnerte er sich. Cindy. Ob sie wohl schon zurück war? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich verdiente sie sich gerade die nächsten fünfzig Dollar. Das große Geld. Viele Menschen. Alte Menschen. Kinder. Schwarze. Weiße. Chinesen. Eine Weile ging er auf der Promenade. Er betrachtete das Wasser. Als er etwas später wieder zum Himmel aufsah, war es Abend geworden. Er ging jetzt ein Stück unter der Promenade lang. Nicht übel hier unten. Dunkel. Ein gutes Plätzchen, um sich zu verstecken. Quick kam an einem Muschelstand vorbei. Er sah, wie die Leute rohe Muscheln aßen. Ihm wurde übel. Wie konnten die nur so was Schleimiges in den Mund nehmen. Er machte kehrt. Das Riesenrad. Ja. Er würde jetzt das Riesenrad ausprobieren. Er wollte da drin sitzen. Von oben den ganzen Platz überblicken können. Er hastete in den Vergnügungspark zurück, magisch angezogen von der leuchtenden Riesen198
scheibe. Erwartungsvoll reihte er sich in die Schlange der Wartenden ein, kaufte ein Ticket und setzte sich in eine Gondel. Ein Mann kam, schnallte ihn fest. Das Rad setzte sich sachte in Bewegung, ganz langsam schwebten sie nach oben. Als alle Gondeln beladen waren, ging es richtig los. Er war da, wo er hinwollte. Er befand sich in schwindelerregender Höhe, hatte die ganze Gegend unter sich. Aber als es plötzlich immer schneller ging, wechselte seine Begeisterung in pure Angst. Er wollte raus. Sofort! Er schrie nach unten. »Aufhören! Laßt mich raus!« »Was hast du denn?« fragte der Junge, der neben ihm saß. »Sind doch sowieso nur drei oder vier Runden. Das ist doch gar nichts!« Quick schämte sich. Er schwieg. Als die Gondel zum Stehen gekommen war, und er aussteigen konnte, stahl er sich schnell davon. Er schlich an der Berg- und Talbahn vorbei. Er schüttelte den Kopf, als er die Menschen vor Angst und Lust schreien hörte. Geisteskranke. Er ging weiter und kam zu einer Reihe von Ständen, die vollkommen anders waren, als diese blöden Räder und Bahnen. Mehr nach seinem Geschmack. Vor einem Schießstand blieb er stehen und sah eine Weile zu. Gewehre. Das Klingeln, wenn etwas getroffen worden war. Welche Geschwindigkeit, welche Kraft die Kugeln hatten! Es klingelte, und das Zeug fiel um, kaum eine Sekunde später, als auf den Abzug gedrückt wurde. Das war vielleicht schnell! Nachdem er gesehen hatte, wie die anderen schössen, ließ er sich auch ein Gewehr geben. Er wußte jetzt, wie's ging. Er zog eine Fünfdollarno199
te aus der Tasche. Den kleinsten Schein, den er hatte. Er legte an und schoß das Magazin leer. Nichts. Er starrte den Mann an. »Was muß ich machen, damit ich treffe?« »Schon mal ein Gewehr in der Hand gehabt?« fragte der Schießbudenbesitzer. »Nein.« »Das Gewehr ist etwas zu schwer für dich. Konzentrier dich auf den kleinen Schlitz hier. Genau das, was du dadurch siehst, kannst du treffen. Siehst du?« Er lud das Gewehr und gab es Quick zurück. »Ziel erst mal auf etwas, das sich nicht bewegt.« Quick bezahlte für die nächste Runde. Dann startete er seinen nächsten Versuch. Ja, Schießen war schön. Und allmählich ging's auch besser. Er traf eine Blechente. Ein Signal ertönte. Hübsch. Als die ersten fünf Dollar verbraucht waren, zog Quick seine Brieftasche aus der Hose. Er bemerkte, daß vier Jungen herumstanden und ihn beobachteten. Sie waren vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er. Größer. Alle hatten dunkles Haar. Sie standen hinter ihm und lachten ihn aus. Ob er den Besitzer des Schießstandes arm machen wolle. Quick gefiel ihre Art nicht. Und der Blick, den die Typen auf seine Brieftasche geworfen hatten, und ihre Bemerkungen darüber, gefielen ihm noch viel weniger. Als er die zehn Dollar am Stand ausgegeben hatte, reichte es ihm fürs erste. Vielleicht würde er später wiederkommen und noch ein bißchen schießen. Jetzt wollte er lieber irgend etwas anderes machen. Er ließ sich mit der Menge treiben. Bei einer Automatenhal200
le wechselte er wieder etwas Geld. Fünf Dollar. Als er sich umdrehte, standen hinter ihm die vier Jungen. Er fing an zu spielen. Natürlich kamen die vier auch herein und sahen ihm zu. Und obwohl er über ihr dummes Geschwätz fast selbst lachen mußte, fühlte er sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Sie rissen einen Witz nach dem anderen. Er beendete sein Spiel am Flipper, nahm die Münzen, die noch auf der gläsernen Abdeckplatte lagen, und ließ sie in seine Tasche gleiten. Sehr eilig ging er zur Tür. »Wo willst du hin?« fragte einer. »Sind wir vielleicht keine guten Zuschauer gewesen?« kam es von einem anderen. »Wir können natürlich auch mucksmäuschenstill sein, wenn du spielst. O ja, das machen wir. Du spielst, und wir stehen dabei und sagen keinen einzigen Ton.« »Wir schweigen wie ein Grab«, kicherte der Junge, der dünn wie eine Bohnenstange war. Eine unangenehme Stimme hatte er. »Wir bringen dir Glück, aber du mußt spielen. Na los.« Quick war so schnell weg, daß keiner der Jungen ihm folgen konnte. Er tauchte in der Menge unter und änderte ein paar Mal die Richtung, bis er ganz sicher war, daß die vier seine Spur verloren hatten. Dann kaufte er sich ein Soft-Eis und beschloß, zur Promenade zurückzugehen. Er wollte doch noch mal das Meer sehen. Es war ein schwüler Abend. Er überquerte die Promenade und lief an den Strand. Immer noch badeten Menschen. Quick aß sein Eis und spazierte an den Paaren vorbei, die sich im Sand rekelten. Vielleicht gab's noch was Interessantes zu sehen. Er blickte aufs Meer hinaus. Eine ganze Weile stand er so da. Windstille. Der Mond spiegelte sich in der 201
glasklaren Fläche. Er genoß das Plätschern des Wassers dicht an seinen Füßen, und er dachte an Cindy. Er stellte sich vor, wie sie den Schwarzen umarmte. Und er versuchte, sich auszumalen, daß sie in so einem Film mitspielte, so einer, wie er ihn in den Sex Shops gesehen hatte. Aber es gelang ihm nicht. Nur ihre Stimme. Die Erinnerung an ihre Stimme überwältigte ihn. Sie nahm ihn ernst. Sie ließ ihn spüren, daß sie ihn mochte. Und wie sie ihn umarmt hatte. Ihr Körper an seinen gepreßt. Nur einen Moment lang, aber es war ihm immer noch, als fühlte er ihn, als könne er ihren süßen Duft einatmen. Nein, das würde er nie vergessen. Er schlenderte über den Sand und freute sich an den kleinen Wellen, die das Ufer netzten. Plötzlich mußte er mal. Er suchte eine Stelle, wo er sich ungestört fühlte, öffnete den Reißverschluß und begann zu pinkeln. Sie kamen wie aus dem Nichts. Alle vier. Bevor er überhaupt reagieren konnte, waren sie schon über ihm. Sie zwangen ihn zu Boden, knieten sich über ihn. Eine Hand schob sich in Quieks hintere Hosentasche und kam mit der Brieftasche wieder hervor. Einer der vier gab ihm einen festen Tritt in den Bauch. Ein anderer warf ihm eine Handvoll Sand ins Gesicht. Das Kichern des Dünnen. Ein klatschendes Geräusch, als seine geleerte Brieftasche auf den Sand fiel. Sie rannten weg. Und schon nach wenigen Sekunden waren sie im Dunkel verschwunden. Quick sprang auf die Beine, rang nach Atem, massierte sich den Bauch und steckte das leere Geldmäppchen ein. Er fühlte sich hundeelend. Sie hatten ihn bestohlen, sie hatten ihn total ausget202
rickst. Er wischte sich den Sand und die Tränen aus dem Gesicht. Er mußte einen Polizisten finden. Jawohl, die Bullen sollten Jagd auf diese Scheißkerle machen. Dazu waren sie ja schließlich da. Er befand sich genau unter der Promenade, stand einen Moment still da und hörte auf die Schritte über seinem Kopf. Ein eigenartiges Trippelgeräusch, das sich mit den anderen Lauten vermischte. Dann tauchte er unter der Promenade auf und ging auf die Hauptstraße zu. Er entdeckte zwei Polizisten. Einer war ein Schwarzer. Quick blieb stehen und beobachtete eine Weile, wie die beiden sich unterhielten. Dann drehte er sich um und ging zurück, mitten hinein ins Geschehen. Er ging langsam, ohne Ziel, blieb vor jeder Attraktion stehen, lauschte den Schaustellern, die ihre Reißer anpriesen und beobachtete, wie die Leute ihnen zuhörten und gleich darauf begeistert zur Kasse drängten. Quick mußte wieder an die Sekunden des Überfalls denken. Hätte er sie nur einen Moment früher gehört, wäre alles ganz anders gelaufen. Er hätte ihnen schon gezeigt, was Sache ist. Er ging zur Promenade zurück, wanderte bis zum Ende, machte kehrt. Schließlich fand er eine leere Bank und setzte sich. Wie er das Meer genoß, trotz allem! »So allein?« Die Stimme eines Mannes. Quick blickte auf. Ein Typ stand hinter ihm, drauf und dran, sich hinzusetzen. Spitzbauch, graues Haar, helle Jacke, weißes Sporthemd, dunkle Hose. »Was?« »Ob du allein bist.« Der Mann setzte sich neben ihn. 203
»Sieht man doch.« »Ich meine, ob du dich einsam fühlst.« »Ich fühle mich nie einsam.« »Ich hab' dich beobachtet, wie du die Promenade rauf- und runtergegangen bist. Ich hatte den Eindruck, du bist einsam.« »Ich wollte 'n bißchen laufen.« »Auf der Suche nach was?« Quick sah dem Mann in die Augen. Er begann zu verstehen, was der Kerl von ihm wollte. »Weiß noch nicht.« »Ich bin auch auf der Suche«, sagte der Mann. »Warum suchen wir nicht zusammen?« Er sah aufs Meer hinaus. »Wunderschöner Abend, nicht?« »Ja.« »Wo wir gerade von schönen Dingen sprechen. Woher hast du nur dieses wunderbare Haar?« »Null Ahnung. Lag schon in der Wiege damit.« »Wie wär's mit uns beiden?« »Weiß nicht so recht.« »Hm?« »Hängt davon ab, wieviel Sie springen lassen wollen.« Quick sah sein Gegenüber genauer an, taxierte ihn von oben bis unten. Der Mann war erregt. Kein Zweifel. »Geld ist nicht das Problem, mein Junge. Wie heißt du eigentlich?« »Warum?« »Ich will dich doch mit deinem Namen ansprechen können.« »Sie brauchen mich überhaupt nicht mit Namen ansprechen.«
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»Na gut. Wenn's dir so lieber ist, verstehe. Äh... ich wohne nicht weit von hier. Warum fahren wir nicht zu mir? Danach bringe ich dich wieder hierher oder sonst wohin.« »Gut.« Der Mann stand auf. »Gehen wir?« Quick nickte. Er erhob sich. Den Mann mochte er nicht. So ein geiler Fettsack. »Weißt du, daß du wirklich wunderschön bist?« fragte der Mann. Sie gingen über die Bohlen der Promenade. Der Mann streckte seine Hand aus und fuhr Quick zärtlich übers Haar. Quick antwortete nicht. Er konnte es nicht ausstehen, daß der Typ ihn berührte. Aber er schwieg. Sie waren vor dem Wagen des Mannes angekommen. Der Mann schloß auf. Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Zündschloß steckte. Sie stiegen ein. Er startete den Motor. Der Wagen setzte sich in Bewegung. »Wohnst du in Brooklyn?« »Nein.« »Wo wohnst du dann?« »Warum?« »Du möchtest mir das auch nicht sagen.« »Nein.« »Ich kann dich verstehen«, sagte der Mann. »Ich versteh nur zu gut, daß du mir's nicht sagen willst. Alles klar.« Das Singen der Reifen auf dem Pflaster. »Ich wohne hier im schönsten Teil von Brooklyn«, sägte der Mann in das Schweigen hinein. »Wirst du gleich sehen. Wir sind fast da.« Quick biß sich auf die Lippen. 205
Zwei oder drei Minuten verstrichen. Der Mann verlangsamte die Fahrt. »Da drüben wohne ich.« Quick sah sich um. Der Mann bog von der Hauptstraße ab. Wieder eine Kreuzung. Links. Eine Bungalowsiedlung, sehr nobel, parkartig angelegt, kam in Sicht. »Wir sind da«, sagte der Mann. Er hielt an. »Das dort ist meine Tür«, sagte er. »Ich gehe vor. Warte ein paar Minuten, und komm dann nach. Sei schön leise. Ich laß die Tür offen. Einverstanden?« Er stieg aus und verschwand in seinem Bungalow. Als Quick die Tür aufstieß, empfing ihn der Mann schon im Flur. »Komm rein.« Und dann: »Gefällt es dir bei mir? Ich hab' dir ja gesagt, daß ich es hübsch habe.« »Stimmt«, sagte Quick flapsig. »Ich hab' das vorhin nicht gesagt, um dir zu schmeicheln. Ich finde dich wirklich wunderschön.« Er streichelte Quieks Wange. »Jetzt kann ich dich wenigstens richtig ansehen. Im Licht.« Quick stand da, die Hände in den Taschen. Die Finger des Mannes durchpflügten das blonde Haar. »Magst du mich denn auch ein wenig?« fragte der Mann. Quick antwortete nicht. »Was muß ich tun, damit du mich magst?« »Sie sagten, Sie wollen sich den Spaß etwas kosten lassen.« »Schade, daß du von Geld sprichst. Wirklich jammerschade!« »Wieviel?« 206
»Du kriegst mehr, als du brauchen kannst, mach dir deswegen keine Sorgen.« Der Mann dachte nach. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. Er war enttäuscht. »Na gut, du kleiner Scheißer. Wenn du's so willst, sollst du's auch so haben. Ein klares Geschäft. O.k.? Kenn' ich, hab' ich auch schon gemacht. Ich dachte nur, du wärst anders. Also fangen wir an.« »Ich will die Knete vorher.« »Wie, du willst das Geld vorher? Ich gebe dir zehn Dollar vorher, und nachher, je nachdem, wie du warst.« Der Schwule ging zum Stuhl, wo seine Jacke hing und zog die Brieftasche heraus. Noch bevor er sich umwenden konnte, war alles vorbei. Er stöhnte laut auf, als er den ersten Stich empfing. Quick holte aus, stach noch einmal zu. Dann ein drittes Mal. Der Mann drehte sich wie ein Korkenzieher und sackte in sich zusammen. Er rührte sich nicht mehr. Quick kniete sich auf den Boden und wand ihm die Brieftasche aus den Fingern. Er steckte sie in seine Gesäßtasche, stand auf und betrachtete einen Moment lang die starren Gesichtszüge des andern. Dann berührte er leicht mit den Fingern den leblosen Körper vor ihm. Er wischte die Klinge an einem Sessel sauber und ging zur Tür. Geräuschlos durchquerte er den Garten. Er lief um das Geviert auf das Lichtermeer der Hauptstraße zu. Als es hell genug war, blieb er stehen, zog die Scheine aus der Brieftasche und steckte sie in die eigene. Die fremde warf er ins Gebüsch. Er ging die Straße entlang, bis er ein Einkaufszentrum erreich207
te. Die Geschäfte waren schon geschlossen, nur ein Restaurant hatte noch offen. Er ging auf die Toilette, betrat eine Kabine, riegelte ab und erleichterte sich. Dann zog er die Brieftasche hervor und zählte das Geld. Er mußte schmunzeln. Schnell steckte er es wieder in seine Tasche. Er ließ das Messer aufschnappen und reinigte es unter dem fließenden Wasser. Mit dem Toilettenpapier wischte er es trocken. Er würde die Klinge einölen müssen, sobald er nach Hause zurückgekehrt war. Er wollte das Restaurant schon verlassen, als sein Blick zufällig auf die Speisekarte fiel. Eigentlich hatte er Hunger. Quick schwang sich auf einen Hocker an der Bar und bestellte sich ein Stück Kuchen und ein Glas Milch. Er zahlte mit einem Fünfdollarschein, den er vorsichtig unter der Theke aus seiner prallgefüllten Brieftasche nestelte. Dann fragte er den Mann, der ihn bedient hatte, nach der nächsten U-Bahnstation. * Das Sommerhaus lag an einem Strand irgendwo im Süden. Chris war eingeschlafen, und Maureen kuschelte sich dicht an ihn. Sie liebkoste mit den Fingerspitzen die Muskeln auf seinem Rücken. Ihr Blick glitt zu den Holzbalken an der Decke des kleinen Raumes. Sie fühlte sich großartig. Wie lange war es schon her, daß sie mit einem Mann geschlafen hatte? Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann es das letzte Mal gewesen war. Chris hatte sie spüren lassen, daß sie immer noch eine sehr begehrenswerte Frau war. Maureen gefiel das Häuschen, das er und sein Freund besorgt hatten. Es hatte irgendwie Klasse. Holzgetäfelte Wände, hübsche Möbel. Es gab ein Bad, sogar eine Du208
sche. Maureen setzte sich im Bett auf. Ihre Kleider lagen unordentlich auf dem Boden, daneben die leeren Bierflaschen. Sie lächelte, als sie Chris leise schnarchen hörte. Sie mochte ihn. Langsam ließ sie ihre Hand zwischen seine Beine gleiten. Da ging die Tür auf. »Hört sich hier so ruhig an«, sagte Frank, der seinen Kopf hereinsteckte. »Ist es jetzt auch«, sagte Maureen lächelnd. »Vorhin war er noch ganz schön lebendig.« »Komm, wir gehen schwimmen.« »Hab' doch keinen Badeanzug mitgebracht.« Maureen hätte nicht einmal zu sagen gewußt, ob sie überhaupt einen besaß. »Wir ziehen auch nichts an«, sagte Frank. »Jedenfalls nicht um diese Zeit. Sieht uns doch keiner. Schling dir ein Handtuch um die Hüften bis zum Wasser. Und dann hüpfst du einfach rein, so, wie du bist.« »Ziehst du denn auch nichts an?« Er machte die Tür ein Stück weiter auf. »Seh' ich etwa so aus, als hätte ich was an, hm?« »Ach du meine Güte. Nein, ich glaube nicht.« »Los, komm jetzt. Weck Chris auf. Und dann los.« Maureen schob ihre Hand sanft auf Chris' Schulter. Als er nicht reagierte, schüttelte sie ihn. »Liebling.« * Lamson warf einen Blick auf seine Uhr. Kurz nach eins. Sie würden ihn gleich ablösen. Schade. Er hätte Quick gern selbst festgenommen. Der große Bruder war wohl besser geraten. Saß im Zimmer und paukte. Kam raus, holte sich ein Glas 209
Milch aus dem Kühlschrank, und büffelte weiter. Gegen zwölf war er endlich ins Bett gegangen. Machte ihm anscheinend nichts aus, daß zwei Polizisten im Wohnzimmer saßen. Er schien überhaupt sehr solide zu sein. Sagte, er müsse fit sein, wenn die Schule morgen früh begann. Ein Junge, wie er im Buche stand. Die meisten Eltern träumten von so was. Ernsthaft, strebsam, jemand, der sich ausdrücken konnte. »Lernst du für den Sommerkurs?« hatte er den Jungen gefragt. Und sofort hatte Paul ihm von dem Stipendium erzählt, das er bekommen hatte. Er tippte Mead auf die Schulter. Der drehte die Johnny Carson-Show leiser. »Geh zur nächsten Telefonzelle und ruf die Ablösung an.« Mead stellte den Fernseher ab. »Bin schon unterwegs.« * Quick kam die Eleventh Street entlang, er war auf dem Weg nach Hause. Er wußte nicht, wie spät es war. Immerhin war es aber schon mitten in der Nacht, denn die Puertoricaner fummelten inzwischen nicht mehr an ihren Autos herum. Also reichlich nach Mitternacht, schätzte er. Er kam vor seinem Haus an und ging die Stufen hinauf. Vor der Wohnungstür blieb er stehen und suchte nach seinem Schlüssel. Dann schloß er auf. Er sah die beiden Polizisten erst, als es schon zu spät war. Sie hatten ihn in der Zange. Aber was sollte schon sein ? So schnell konnten die ja noch gar nichts wissen. Die waren bestimmt auf irgend
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etwas anderes aus, was gar nichts mit ihm zu tun hatte. »Bist du Johnny Blanton?« »Ja.« Quick strahlte die beiden an. »Komm bitte mit aufs Revier. Wir haben ein paar Fragen an dich.« »Na gut. Wenn's denn sein muß.« Quick zuckte mit den Schultern. »Worum geht's denn?« »Erst mal möchten wir wissen, wo deine Mutter ist.« »Wo wohl? Im Bett. Die pennt doch längst.« »Dort ist sie eben nicht. Sie ist nicht einmal zu Hause. Verstehst du?« »So'n Quatsch. Die ist doch immer zu Hause.« »Nun, heute eben nicht. Sie ist ausgegangen.« »Wohin denn?« »Wir dachten, du wüßtest das.« »Ist mein Bruder hier?« »Ja, der ist hier. Der muß auch aufs Revier mitkommen. Soll dabeisein, wenn wir dir die Fragen stellen.« »Ich werde ihn wecken.« Quick war schon zum Schlafzimmer unterwegs. Es war genau das Zimmer, wo die Feuerleiter vorbeiführte. »Nein, du bleibst schön, wo du bist«, wies ihn der Polizist zurecht. »Das mach' ich schon.« Ein Beamter blieb bei Quick zurück. Der andere ging los, um Paul zu wecken. Paul lag auf dem Bett, er hatte nur leichte Shorts an. »Mein Sohn, aufstehen!« Der Polizist tippte dem Jungen auf die Schultern. Paul blinzelte verschlafen ins Licht. »Was ist denn?« »Dein Bruder ist eben nach Hause gekom211
men. Wir müssen ihn gleich aufs Revier mitnehmen. Da deine Mutter nicht hier ist, mußt du auch mitkommen.« Paul musterte den Beamten beim Licht der Deckenlampe. Er stützte sich auf. »Was ist mit den anderen beiden Polizisten? Sie waren doch vorhin noch gar nicht hier.« »Die sind gegangen. Wir haben sie abgelöst.« »Und warum muß ich mitkommen? Der kennt das doch schon alles.« »Da hast du sicher recht, mein Sohn. Aber wir müssen deinem Bruder ein paar sehr wichtige Fragen stellen. Und es ist Vorschrift, daß einer von der Familie dabeisein muß, wenn ein Minderjähriger vernommen wird. Wir haben damit noch nicht begonnen. Sobald wir auf dem Revier sind, werden wir euch beiden erklären, welche Rechte ihr habt.« Paul sprang aus dem Bett und zog schnell seine Jeans an. Als er in seine Schuhe schlüpfte, warf er dem Polizisten einen genervten Blick zu. Sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer. »Wir sind soweit.« »Wir müssen den Jungen erst mal nach Waffen durchsuchen.« Er wandte sich an Quick. »Johnny, stell dich an die Wand und heb die Hände hoch. Handflächen an die Wand.« Quick zögerte und grinste den Beamten an. »Mach schon, na los. Hierher die Hände.« Quick gehorchte. Der Beamte durchsuchte ihn. Er fand das Messer in der Hosentasche des Jungen und zog es heraus. Er blickte seinen Kollegen an. »Waffe gefunden. Muß ins Protokoll. « Er griff nach seinem Gürtel, an dem Handschellen hingen. »Ist wohl sicherer«, sagte er und legte Quick die Handschellen an. 212
»Wir werden eurer Mutter eine Nachricht hierlassen«, sagte der andere Polizist. Er sah Paul an. »Kannst du mir mal bitte ein Blatt Papier geben?« »Papier hab' ich im Schlafzimmer.« »Dann hol's mir, bitte.« Paul kam mit einem Notizblock zurück. Er gab ihn dem Beamten. Der nahm seinen Kugelschreiber und notierte in Druckbuchstaben folgende Nachricht: Mrs. Blanton, wir haben Ihren Sohn Johnny zum Verhör mitgenommen, nach Manhattan South Headquarters in 230East 21st Street. Ihr Sohn Paul ist als Zeuge mitgekommen. Kommen Sie bitte ebenfalls aufs Revier, oder rufen Sie unter der Telefonnummer 933-9290 an. Kriminalbeamte E. Felson und R. Rawlings H/Z # 1 Er warf einen Blick in die Runde. Den Block lehnte er gut sichtbar gegen die Tischlampe. Die Fernsehzeitung legte er daneben, damit der Block nicht rutschen konnte. »Gehen wir«, sagte er. Sie führten Quick die Treppe hinunter. Paul folgte ihnen lustlos. Der grüne Plymouth stand nur einen Steinwurf weit von ihnen entfernt. Sie stiegen ein und fuhren los. * Kornienko stand am Fenster in einer gegenüberliegenden Wohnung. Das Haus sollte demnächst abgerissen werden. Es gab keine Türen und Fenster mehr. Er sah zu, wie der Wagen mit den Polizisten und Quick wegfuhr. Stundenlang hatte er in der Wohnung auf der Lauer gelegen und auf diesen Augenblick gewartet. Er hatte Lamson und Mead 213
ankommen sehen, und er hatte das Eintreffen der Ablösung mitverfolgt. Eine Stunde danach war Johnny Blanton endlich aufgetaucht. Kornienko hatte das Gesicht des Jungen betrachten können. Ja, es war der, der ihn in der Twelfth Street angemacht hatte, um Geld zu bekommen. Kornienko verließ das düstere Haus und machte sich auf den Heimweg. Wo steckte bloß die Mutter von Quick? Der andere Junge mußte wohl der ältere Bruder sein. Er verstand nur nicht, warum sie den auch mitgenommen hatten. War er als Komplize verdächtig? Oder sollte er als Zeuge dabeisein und die Mutter vertreten? Diese Zeugenschaft konnte sich aber als recht problematisch erweisen, fand er, wahrscheinlich war der Junge noch nicht volljährig. Kornienko runzelte die Stirn. Bei der Vernehmung und Strafverfolgung jugendlicher Täter gab es einen Haufen von Fußangeln. Wahrscheinlich hatten sich die beiden Kollegen bereits in einer verfangen. Trotzdem war er erst mal erleichtert. Johnny Blanton war in Handschellen abgeführt worden. Er würde in Untersuchungshaft kommen. Kornienko freute sich auf sein Bett. Heute würde er endlich mal wieder einigermaßen beruhigt schlafen können.
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Teil 2
13. Kapitel Lamson war fest eingeschlafen. Mead hatte ihn zum Revier in der 21st Street gebracht, auf dem es sogar einen Schlafraum für die Beamten gab, die nachts dort Stellung zu halten hatten. Er wollte unbedingt dabeisein, wenn sie ihn brachten. Da nahm er die kleinen Unbequemlichkeiten gern in Kauf, mal nicht im eigenen Bett zu schlafen. Er wachte auf, als jemand ihn sanft an der Schulter rüttelte. Rawlings stand vor ihm. »Wir haben ihn.« Lamson wälzte sich auf die andere Seite. »Wir spät ist es?« »Halb drei.« Schlaftrunken richtete er sich auf und rieb sich mit beiden Händen die Augen. »Ist die Mutter auch da?« »Die ist immer noch nicht zurück. Wir haben aber den Bruder dabei.« »Habt ihr Quick gefragt, ob er weiß, wo seine Mutter abgeblieben ist?« »Ja, aber der sagt, er hätte keine Ahnung.« »So'n Mist. Dann weiß also keiner, wann die Frau gedenkt zurückzukommen.« »Der Bruder sagt, es kann Tage dauern.« »Habt ihr Quick auf Waffen durchsucht?« »Na klar.« »Hatte er ein Messer bei sich?« »Und was für eins.« »Ich komm' sofort. Brauch' nur ein paar Minuten, bis ich wach bin.« Lamson stand auf und wankte zum 215
Waschraum. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann spülte er den Mund. Sein Schädel brummte wie nach einer durchzechten Nacht, die Glieder schmerzten. Er starrte in den Spiegel. So ähnlich mußten sich Ärzte fühlen, die mitten in der Nacht herausgeklingelt wurden und manchmal sogar mit nur einer Stunde Schlaf auskommen mußten. Verständlich, daß sie sich das gut bezahlen ließen. Er trocknete sich sein Gesicht ab, kämmte das Haar einmal durch und zog sich an. Dann verließ er den Raum und betrat gleich darauf das Dienstzimmer. Die beiden Kollegen, die Quick festgenommen hatten, saßen am Tisch, links und rechts von den beiden Jungen. Quick begrüßte ihn mit einem siegessicheren Grinsen. Der Bruder schien bemüht, seine Müdigkeit zu verbergen. Lamson ging zur Kaffeemaschine und goß sich einen Becher Kaffee ein. Sam Holman, der diensthabende Beamte, kam auf ihn zu. »Als erstes mußt du die beiden in den besonderen Vernehmungsraum für Jugendliche bringen. Sonst kannst du den Prozeß gleich vergessen«, sagte er zu Lamson. »Die Anwälte warten ja nur auf solche kleinen Formfehler. Hast du überhaupt schon die Staatsanwaltschaft angerufen?« »Nein.« »Du sprichst kein Wort mit den beiden, bevor nicht der diensthabende Anwalt da ist. Klar?« »Danke, daß du mich erinnerst. Ich schlafe ja noch halb.« Lamson ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich in den Stuhl. Er blieb ein paar Minuten 216
schweigsam dort sitzen und schlürfte seinen Kaffee. Holman war inzwischen zu Felson und Rawlings gegangen, die ihren Bericht niederschrieben. Lamson konnte nicht genau hören, was die drei miteinander redeten. Er sah, wie Felson aufstand und den beiden Jungen ein Zeichen gab. Quick und Paul gingen voran, Felson folgte ihnen. Sie verschwanden in dem Vernehmungsraum für Jugendliche. Quick blickte ihn an. Er schien vollkommen ruhig zu sein. Lamson goß sich einen zweiten Becher Kaffee ein. Es bestand kein Grund zur Eile. Sollte Quick doch ruhig im eigenen Saft schmoren. Er trank aus und holte sich noch einen Kaffee. Als sein zweiter Becher leer war, rief er das Büro der Staatsanwaltschaft an. Er ließ sich mit dem diensthabenden Staatsanwalt verbinden und trug sein Anliegen vor. »Und Sie wollen den Jungen nur in Gegenwart des Bruders vernehmen?« »Ich sehe keine andere Möglichkeit.« »Wie alt ist der Bruder denn?« »Siebzehn.« »Und die beiden Jungen sagen, sie wissen nicht, wann die Mutter zurückkommt?« »Der ältere meint, wie ich schon sagte, es kann Tage dauern.« »Aufenthaltsort des Vaters unbekannt, sagten Sie?« »Der ist schon vor Jahren verschwunden.« »Keine Verwandten, die irgendwie erreichbar wären?« »Die Jungen behaupten, sie hätten keine Verwandten. Oder nein, es gibt eine Schwester. Das Mädchen geht anscheinend auf den Strich. Aber die beiden Brüder wissen nicht, wo sie wohnt. 217
Angeblich hat sie sich die Eighth Avenue als Betätigungsfeld ausgesucht. Aber das Mädchen ist auch erst neunzehn. Ich glaube, wir müssen uns an den Bruder halten. Das ist wahrscheinlich auch die vernünftigste Lösung.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wir können ihn nicht ohne einen Haftgrund festhalten. Aber wir werden einen Teufel tun und ihn wieder laufen lassen. Die Sache wird knifflig. Das sehe ich jetzt schon.« »Die Sache ist immer knifflig, wenn es sich um einen Jugendlichen handelt«, sagte Lamson. »Was muß sonst noch bedacht werden?« »Ich schicke Ihnen sofort jemanden, der bei der Vernehmung dabeisein wird. Fangen Sie auf keinen Fall an, bevor unser Mann nicht bei Ihnen ist.« »Verstanden«, sagte Lamson verärgert. Er legte auf und ging wieder zur Kaffeemaschine. Er goß sich etwas aus der Kanne nach. Das Zeug war reines Gift, das war sicher. Aber es machte wach. Immerhin! Lamson wurde allmählich frischer. Er fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser. Ich hätte vielleicht doch besser Arzt werden sollen, dachte er. Der Beamte der Staatsanwaltschaft, der nach Manhattan South Headquarters beordert worden war, hieß Bertram Girard. Er war alles andere als verschlafen. Er wollte richtig loslegen heute nacht. Obwohl es inzwischen drei Uhr geworden war, schien er ausgesprochen unternehmungslustig. Er trug einen gutgeschnittenen, grauen Anzug, eine gestreifte Krawatte und hielt einen ledernen Aktenkoffer in der Hand, als er die Diensträume in der East 21st Street betrat. Klein von Gestalt, stämmig, 218
mit dichtem, dunklem Haar und einer dicken Hornbrille, fühlte er sich offensichtlich auf dem Revier wie zu Hause. Er ging schnurstracks in Holmans Büro und stellte sich vor. Die beiden kamen zu Lamson. Spät in der Nacht, aber der Assistant District Attorney, der Vertreter des Anwalts, war voll da, ging es Lamson voller Anerkennung durch den Kopf. »Ein recht interessanter Fall«, sagte Girard. Die Bemerkung kam nüchtern und geschäftsmäßig. »Doppelmord, und als Tatverdächtiger ein Jugendlicher. Bei der Gelegenheit werden wir gleich einmal die neuen Bestimmungen für Jugendliche durchexerzieren. Bevor wir mit dem Jungen sprechen, möchte ich mir die Akte mal ansehen und mich kurz über den Fall unterrichten.« Er wandte sich an Holman. »Geben Sie den Jungen was zu trinken, ich sehe inzwischen mit Lamson die Untersuchungsunterlagen durch.« »Mach' ich«, sagte Holman und ging zu den beiden Jungen hinüber. Lamson gab dem Staatsanwalt die Akte. Er stand dabei, als Girard die Fotos der Leichen betrachtete. Der wirkte außerordentlich gelassen, ja unbeteiligt. Er las mit großer Sorgfalt die Protokolle, und Lamson hatte den Eindruck, daß Girard in diesen paar Minuten wie ein Computer alles Wissenswerte speicherte. Ein erstaunlicher Mann, fand er. »Wie kommt's, daß der Campbell-Junge auf einmal so auskunftsfreudig geworden ist?« fragte Girard, als er die Akte durchhatte.
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»Das hat uns auch etwas gewundert, um ehrlich zu sein«, sagte Lamson. »Wir hatten allerdings von Anfang an den Verdacht, daß er den Täter beobachtet haben mußte. Wir sind einfach am Ball geblieben, und das war gut so. Denn er war unsere einzige Hoffnung. Die Mutter war auf unserer Seite, das hat sicher auch geholfen. Richtig umgefallen ist er erst, als wir behauptet haben, wir verdächtigten einen Schwarzen. Da war er plötzlich ganz wild darauf, uns klarzumachen, daß es kein Schwarzer, sondern ein Weißer gewesen ist. Und zwar ein weißer Jugendlicher.« »Kannte er Quick?« »Die meisten Leute im Viertel kennen Quick vom Sehen. Was die Kinder angeht, so meiden sie den Jungen. Ist ihnen zu gefährlich.« Girard ließ den Daumennagel über den Stapel von Protokollen gleiten. »Bringen wir's hinter uns.« Neben der Tür war ein Schild angebracht, aus dem hervorging, daß dieser Raum vom Obersten Gericht zur Vernehmung von Jugendlichen bestimmt worden war. Lamson und Girard setzten sich an den Konferenztisch, der den größten Teil des Raumes einnahm. Quick lümmelte sich verschlafen auf seinem Stuhl. Paul neben ihm war vollkommen wach, jetzt, wo etwas passierte. Felson, der die beiden Jungen beaufsichtigt hatte, stand nun auf und ging hinaus. Die beiden sollten nicht das Gefühl haben, daß man sie einschüchtern wollte. Der Raum war angenehm hell, indirekte Beleuchtung. »Es geht um eine sehr ernste Angelegenheit, Johnny«, begann Lamson. Er sprach extra ruhig und deutlich. »Bevor wir dir die Fragen stellen, die du 220
beantworten sollst, werden wir uns vergewissern, daß du und dein Bruder Paul über eure Rechte informiert seid, insbesondere über dein Recht, die Aussage zu verweigern. Verstehst du, was ich sage?« »Na klar«, sagte Quick. Er saß bequem da, zurückgelehnt. Die Litanei, die jetzt beginnen würde, kannte er schließlich zur Genüge. »Und du, Paul, wie steht's mit dir? Hast du verstanden, daß wir Johnny jetzt über seine Rechte belehren wollen, bevor die eigentliche Vernehmung beginnt?« »Ja«, sagte Paul. »Also, Johnny, du hast das Recht zu schweigen. Du hast das Recht, die Antwort auf alle meine Fragen zu verweigern. Verstehst du das?« »Bin ja nicht taub.« Lamson runzelte mißbilligend die Stirn. »Es geht hier um eine sehr ernste Sache, Johnny.« Er beugte sich über das Formular, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Alles, was du sagst, kann bei Gericht gegen dich verwendet werden. Hast du das verstanden?« »Ja.« »Du hast das Recht, dich mit einem Anwalt zu beraten, bevor du hier eine Aussage machst. Der Anwalt darf während jeder Vernehmung anwesend sein. Bei dieser und bei allen künftigen. Verstehst du das?« »Ja.« Paul lehnte sich aufmerksam vor.
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»Wenn du kein Geld für einen Anwalt hast, wird dir einer gestellt. Die Kosten trägt die Staatskasse. Verstanden?« »Ja.« »Warten Sie mal bitte«, sagte da Paul. Er wandte sich an seinen Bruder. »Wär's nicht besser, du sagst gar nichts, bevor wir nicht einen Anwalt haben?« »Ich brauch' doch keinen Anwalt. Die können mir nichts. Und außerdem, jedesmal, wenn ich so einen hatte, haben die mich festgenagelt. Die reiten einen doch nur rein.« »Morgen früh kriegst du sowieso einen Anwalt«, sagte Girard. »Ob du nun willst oder nicht.« »Willst du nicht doch lieber warten?« fragte Paul nochmal. »Weshalb denn? Nein. Auf keinen Fall. Bringen wir's hinter uns.« »Können wir dann beginnen?« fragte Lamson zu Quick gewandt. »Von mir aus.« Quick nickte entschlossen mit dem Kopf. Seine blonden langen Haare flogen bei der Bewegung. Lamson sah nun den Bruder an. »Und du, bist du einverstanden, daß wir deinen Bruder jetzt vernehmen?« »Wenn er's so haben will -« »Ich will wissen, ob du einverstanden bist. Du scheinst mir nicht ganz sicher zu sein.« »Doch, ich bin mir sicher.« Lamson warf dem Vertreter der Staatsanwaltschaft einen fragenden Blick zu. Ein kritischer Moment. Der nickte. Lamson wandte sich wieder an Quick. »Du hast gesagt, daß du auf die vorherige Beratung 222
durch einen Anwalt verzichtest. Ich wiederhole, du hast das Recht, die Antwort auf alle Fragen zu verweigern, bis du Gelegenheit bekommst, dich mit einem Anwalt zu beraten. Hast du das verstanden?« »Ja.« »Nachdem ich dich nun über deine Rechte belehrt habe, Johnny, bist du bereit, meine Fragen zu beantworten, ohne daß ein Anwalt zu deiner Verteidigung anwesend ist?« »Sag' ich doch die ganze Zeit.« Lamson blickte zu Paul. Der hatte die Arme verschränkt. Seine Miene signalisierte Gleichgültigkeit. Dann sah er wieder zu Johnny. »Nun, hier habe ich ein Formular, Johnny. Auf diesem Formular sind alle Fragen vermerkt, die ich dir gestellt habe. Ich möchte jetzt, daß du und dein Bruder das Formular nochmals sorgfältig durchlest. Wenn du den Inhalt aller Fragen verstanden hast, und wenn du aussagen willst, unterschreib es da, wo ich mit dem Bleistift ein Kreuzchen gemacht habe. Du, Paul, kannst hier unterschreiben. Habt ihr das alle beide verstanden? Ich sage euch nochmal ausdrücklich, ihr braucht nicht zu unterschreiben, wenn ihr nicht wollt.« Quick schnappte sich den Kugelschreiber, den Lamson ihm hinhielt und setzte gleich seine Unterschrift unter das Formular. Paul sah die Männer fragend an. »Unterschreib den Wisch«, sagte Quick. »Mach' ich auch«, gab Paul zurück. Paul unterschrieb. Lamson nahm die Formulare und reichte sie Holman, der sie in Johnnys Akte zu den anderen Unterlagen steckte. 223
Lamson wandte sich an Johnny. »Bist du jetzt bereit, meine Fragen zu beantworten?« »Verdammt noch mal, wie oft wollen Sie mich das noch fragen?« »Ich möchte, daß du genau nachdenkst, bevor du eine Antwort gibst. Freitag nacht vor einer Woche wurde ein Verbrechen verübt. Du hast dich zur Tatzeit in der Gegend befunden, wo es verübt wurde.« »Wo soll das denn gewesen sein?« »In der Seventh Street, vor der großen Kirche.« »Das kann ich nicht gewesen sein. Ich gehe nie in die Kirche.« »Ich hab' ja auch gar nicht behauptet, daß du in die Kirche gehst. Ich habe nur gesagt, daß vor der Kirche ein Verbrechen verübt worden ist. Jemand ist überfallen worden, und wir glauben, daß du der Täter bist. Hast du dich am Freitag vor einer Woche auf der Seventh Street aufgehalten?« »Wo soll das gewesen sein?« »Auf der Seventh Street, in der Nähe der Third Avenue. Vor dieser großen neuen Kirche. Kennst du die?« »Ja, ich glaub', ich weiß von welcher Sie reden.« »Warst du da, Freitag vor einer Woche?« »Mensch, is doch schon so lange her, 'ne ganze Woche. Woher soll ich das denn wissen?« »Und in der Sixth Street? Bist du in der Sixth Street gewesen?« »Ich denk', es is in der Seventh Street passiert?« »Ich möchte jetzt wissen, ob du an dem fraglichen Tag in der Sixth Street gewesen bist.« »Weiß ich nich, kann sein. Is es verboten?«
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»Du warst auf der Sixth Street. Das wissen wir schon.« »Woher denn?« »Jemand hat dich gesehen.« »Na und? Ich kann überall in der Gegend gewesen sein.« Er dachte einen Moment nach. »Wer sagt das, daß ich in der Sixth Street gewesen bin?« »Irgend jemand. Du wirst ihn noch früh genug kennenlernen.« »So? Es is nich verboten, auf der Straße rumzulaufen.« »Aber es ist verboten, Raubüberfälle zu begehen.« »Wer sagt denn, daß ich jemanden überfallen habe?« »Ich sage das. Ich glaube, daß du an jenem Abend auf der Seventh Street einen Raubüberfall begangen hast.« »Ich dachte, Sie sagten vorhin, jemand hat mich in der Sixth Street gesehen. Und jetzt sagen Sie, ich bin in der Seventh gewesen. Was meinen Sie denn nun?« »Ich stelle fest, daß dich jemand in der Sixth Street gesehen hat. Und ich behaupte, daß du den Raubüberfall in der Seventh Street begangen hast.« »Ich erinnere mich nich, in der Seventh Street 'nen Überfall gemacht zu haben.« »Erinnerst du dich an andere Überfälle, die du begangen hast?« Quick grinste. Das Spiel begann, ihm Spaß zu machen. »Ich hab' nich gesagt, daß ich mich erinnern kann, irgendeinen irgendwo überfallen zu haben.«
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»Willst du damit sagen, daß du dich nie daran erinnerst, wenn du jemanden beraubt hast?« fragte Lamson. »Einfach so?« »Wer sagt, daß ich jemanden überfallen hab'?« »Ich. Du hast auf der Seventh Street einen Überfall begangen.« Quick grinste. »Vorhin sagten Sie, jemand hat mich auf der Sixth Street gesehen.« »So ist es.« »Warum sagen Sie dann, ich hab' den Überfall auf der Seventh auf 'm Gewissen?« »Weil's stimmt.« »Ja, aber nur, weil mich einer auf der Sixth geseh'n hat? Was hat das mit der Seventh zu tun?« »Jemand hat gesehen, wie du die Brieftasche in der Sixth Street weggeworfen hast.« »Was für 'ne Brieftasche denn?« Das fröhliche Grinsen war plötzlich von Quieks Gesicht wie weggewischt. »Die Brieftasche, die du beim Raub in der Seventh Street an dich gebracht hast.« Quick fixierte den Polizisten mit einem eiskalten Blick. »Wer sagt, daß ich in der Sixth Street eine Brieftasche weggeworfen hab'?« »Der Zeuge, der die Brieftasche hinterher aufgehoben und bei einem Polizisten abgeliefert hat.« Lamson sah kurz zu Paul, in dessen Gesicht sich Abscheu und Peinlichkeit widerspiegelte. »Wer war das?« Quick gab sich keine Mühe, seine Rachegelüste zu verbergen. »Ich sage dir, es gibt diesen Zeugen, Johnny, ich habe ihn bestimmt nicht erfunden. Wir haben den Zeugen, und wir haben die Brieftasche.« 226
»Sagen Sie mir, wer mich geseh'n hat.« »Das tut jetzt gar nichts zur Sache. Wir wissen, daß du die Brieftasche bei dir getragen hast, und daß du sie auf der Sixth Street auf den Abfallhaufen vor einem Haus geworfen hast. Und jetzt sei bitte so gut, und sag uns, wie du an die Brieftasche gekommen bist, sonst sitzen wir morgen früh noch hier. Lamson blickte zu Girard, der den Kopf schüttelte, nur um anzudeuten, daß er sich entspannen und vor allem vorsichtiger fragen sollte. Lamson zwang sich zur Ruhe. »Es hat keinen Sinn, daß du um die Sache herumredest, Johnny. Früher oder später wirst du uns erklären müssen, wie du an die Brieftasche gekommen bist. Besser, du sagst es gleich.« Quick war der Schweiß auf die Stirn getreten. Er schien nun doch etwas Angst zu haben. Lamson war nicht abzuschütteln. »Johnny, warum hast du das getan?« »Was getan?« »Du weißt sehr gut, wovon ich spreche.« Lamson schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Warum hast du es so getan, auf diese Weise?« Noch ehe Girard den Polizeibeamten zur Mäßigung ermahnen konnte, kam Quieks Antwort. »Ich hab' denen ja gar nichts getan.« Lamson lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete tief durch. »Denen?- Ich hab' nichts davon gesagt, daß es mehrere waren, Johnny. Nun weißt du anscheinend, worüber wir reden. Das hast du gesagt. Und du weißt, daß wir wissen, daß du's getan hast.« Quick saß da und brütete vor sich hin. Er
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wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine schwärzliche Schmutzspur blieb zurück. »Sag uns jetzt, warum du's getan hast, Johnny.« »Was getan?« »Warum du diese beiden alten Leute einfach erstochen hast. Im dunklen, überdachten Gang.« Man sah Paul an, wie entsetzt er war. Sein Blick wanderte in Panik zwischen seinem Bruder und Lamson hin und her. »Raus mit der Sprache, Johnny!« Lamson sprach mit Nachdruck. »Wenn Sie's unbedingt wissen wollen«, antwortete Quick. »Ist mir doch scheißegal. Ich hab' ja nichts Schlimmes gemacht. Ich wollte den beiden nur das Geld abnehmen. Und plötzlich schlug der Alte auf mich ein. Ich mußte mich doch wehren.« »Und die Frau hat auch auf dich eingeschlagen?« »Die auch, ja. Die ging auf mich los.« »Weshalb hattest du denn ein Messer dabei, wenn du den beiden nur das Geld abnehmen wolltest?« »Ich wollte gar nichts damit machen. Wollte denen nur 'n bißchen Angst machen. Damit sie mir das Geld geben. Wenn sie's mir gegeben hätten, war nichts passiert. Aber dann hat der Typ einfach auf mich losgedroschen. Wirklich. So war's.« Lamson sah zu Paul hinüber, der kreidebleich geworden war. »Johnny«, sagte Lamson, »bist du dir darüber im klaren, was du gerade gesagt hast? Du hast gerade erzählt, daß du das alte Ehepaar umgebracht hast, weil sie dir das Geld nicht geben wollten. Du hast sie einfach erstochen.« »Aber die haben mich doch zuerst angegriffen. Die haben angefangen, nich ich.« 228
»Johnny, du hast einem alten Ehepaar in einem unbeleuchteten Durchgang den Weg vertreten. Du hast ihnen mit dem Messer gedroht. Du hast sie aufgefordert, dir ihr ganzes Geld zu geben. Als sie sich weigerten, kam es zum Kampf. Und zum Schluß waren die beiden tot. Es kommt nicht darauf an, wer wen zuerst angegriffen hat. Du sagst, du hattest ein Messer, du wolltest ihr Geld, und du hast die beiden umgebracht. Verstehst du, was das bedeutet?« Lamson warf einen Blick zu Girard, der nickte. »Na und?« Quick sah ihn trotzig an. * Das Singen der Reifen war beängstigend. Quick lag gefesselt auf dem Rücksitz des Wagens. Mühsam richtete er sich auf. Links und rechts Wasser. Sie fuhren über eine riesige Brücke mit Pfeilern, Verstrebungen, Geländer, in alle möglichen Richtungen. Er kniete sich hin und blickte aus dem Rückfenster. Die Fahrbahn war aus Stahl. Daher machten die Reifen auch dieses eigenartige Geräusch. Die Skyline von Manhattan blieb immer weiter hinter dem Wagen zurück. Was für eine Brücke das wohl war, die sie jetzt überquerten?- Mußte wohl die an der Fiftyninth Street sein. Quick war noch nie über diese Brücke gefahren. Was wohl auf der anderen Seite lag? Queens vielleicht, oder Brooklyn. Wo brachten sie ihn nur hin? Er hatte die ganze Zeit auf dem Rücksitz gelegen. Was hätte er auch tun sollen? Schließlich hatten sie ihm die Arme auf dem Rücken gefesselt, diese Scheißkerle. Aber die konnten ihn doch mal...! In ein paar Tagen war er sowieso wieder draußen. 229
Vielleicht sogar noch eher. Wie immer. Auch das Knien war auf die Dauer zu anstrengend. Quick versuchte, sich hinzusetzen. Das war bequemer. Außerdem konnte man so noch besser sehen. Die beiden Polizisten waren dieselben, die ihm in der Wohnung aufgelauert hatten. Draußen begann es schon hell zu werden. Quick liebte die frühen Morgenstunden. Er blieb nicht oft so lange auf, aber wenn, dann genoß er es. Morgens war alles noch frisch, es war kühl in Manhattan und still. Wenn man von den Müllmännern absah. Arme Typen. Die mußten den ganzen Scheiß von den Leuten zusammenkarren. Die, die den Dreck machten, schliefen um diese Zeit noch. Sie hatten inzwischen die Brücke wieder verlassen. Straßen, Geschäfte, Kreuzungen. Ob das Brooklyn war? Quick erinnerte diese Gegend an die Viertel, die er auf der Fahrt nach Coney Island zu sehen bekommen hatte. Oder konnte das Queens sein? Ach, die sahen wahrscheinlich ziemlich gleich aus. Die Bauten wurden flacher. Alles kleine Häuser, Wohnblocks. Dann kamen sie an eine Stelle, wo die Straße steil anstieg. »He, vergiß nicht, an der Wachbude zu halten«, sagte ein Polizist zum andern. Der Wagen hielt vor einem grauen Gebäude. Ein uniformierter Beamter trat ans Wagenfenster. Die beiden Polizisten erklärten ihm etwas, und der Beamte steckte den Kopf in den Wagen, um einen Blick auf Quick zu werfen. Sie wurden auf einen Platz neben dem Gebäude gewiesen. Einer der Polizisten stieg aus und ging in das Gebäude. Der Motor des Wagens orgelte im Leerlauf. Nach ein oder zwei Minuten kam der Mann zurück. Sie müßten 230
nun eine Viertelstunde warten, sagte er. Der Polizist am Steuer stellte den Motor ab und begann mit seinem Kollegen eine langweilige Unterhaltung über allen möglichen Scheiß, fand Quick. Die Alte von dem einen machte immer so 'nen tollen Kuchen, aber diesmal hatte er angebrannt geschmeckt. Der andere strich gerade sein Haus, erzählte er. Und die Mutter seiner Alten mochte die Farbe nicht. War das zum Kotzen langweilig! Ein Polizeiwagen kam und parkte in der Lücke neben ihnen. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus. Der Typ, der vor Quick saß, stieg aus und ging zu dem anderen Wagen. Dann verschwanden alle im grauen Gebäude. Quick reckte den Hals. Durch eins der Fenster konnte er sie sehen. Anscheinend prüften sie irgendwelche Unterlagen. Dann kamen alle drei Männer zurück. Der Polizist, der den Wagen gefahren hatte, öffnete die hintere Tür. »Komm, Johnny. Es geht los.« Er half dem Jungen auszusteigen und löste die Handschellen. Einer der Männer, die mit dem zweiten Wagen gekommen waren, legte ihm gleich wieder neue an. Quick wurde zu dem anderen Wagen geführt und von einem Polizisten wieder auf den Rücksitz geschoben. Die beiden, die Quick hergebracht hatten, fuhren fort. Und dann startete auch der zweite Wagen. Als sie den höchsten Punkt der breiten Straße erreicht hatten, wurde Quick klar, daß sie schon wieder über eine Brücke fuhren. Unter ihnen weit und breit nichts als Wasser. Weiter vorn war eine Insel zu sehen. Rikers Island'? Mußte es wohl sein. Quick grinste. Na endlich war er auch mal hier. Rikers Island. Links die Skyline der Stadt, 231
weit weg, rechts die Lichter vom Flugplatz La Guardia. Auf der Insel flache, langgestreckte Gebäude, die Fassaden waren mit Flutlicht angestrahlt. Quick warf nochmal einen Blick auf das Wasser, das sie umgab. Nachdem sie zwischen einigen Gebäuden hindurchgefahren waren, stoppte der Wagen, und der Polizist auf dem Beifahrersitz gab über Funk etwas durch. Die beiden Männer stiegen aus dem Auto und halfen Quick vom Rücksitz. Sie führten ihn zum Haus. Ein Polizist öffnete ihnen von innen, und sie liefen durch einen endlos langen Korridor, von dem links und rechts zahllose Türen abgingen. Schließlich betraten sie einen kleinen Raum, und einer der Beamten nahm Quick die Handschellen ab. »So, als erstes zieh dich aus, ich muß dich durchsuchen. Los, mach schon.« »Ich soll mich ganz nackt ausziehen?« »Ganz recht. Los. Beeil dich!« Quick gehorchte. Er sah, wie einer der Polizisten die Kleidung nahm und sie durchsuchte. »Nichts drin«, sagte Quick. »Die im Revier haben schon alles rausgenommen, was ich hatte.« »Ich seh's mir noch mal an«, sagte der Polizist. »Hier, zieh das an.« Er gab Quick einen Bademantel. »Komm mit.« Sie gingen wieder einen langen Korridor entlang. Links und rechts vergitterte Zellen. Obwohl es dunkel war, konnte Quick erkennen, daß einige leer waren. In anderen saßen irgendwelche Typen. Am Ende des Korridors wurden sie von einem farbigen Beamten in Empfang genommen, der gerade Schicht hatte.
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»Johnny, ich bin Captain Archer«, sagte der Mann. »Und das ist Officer Murphy.« Er deutete auf den Beamten, der Quick eben gebracht hatte. »Er wird sich um dich kümmern. In ein paar Stunden wirst du wieder in die Stadt gefahren zur förmlichen Vernehmung. Danach kommst du wieder her. Und was ich noch sagen wollte, Johnny. Es gibt keine Probleme hier, wenn du dich anpaßt. Wir werden gut miteinander auskommen, wenn du tust, was dir gesagt wird. Wenn du allerdings Ärger machst, kann es ungemütlich werden. Haben wir uns verstanden?« Quick strahlte ihn an. »Jawohl, Sir.« Der Captain nickte Murphy zu. »Okay, gehen wir«, sagte Murphy. Quick wurde in einen kleinen gefliesten Raum gebracht. Und wieder mußte Quick sich ausziehen. Als er nackt vor dem Officer stand, fragte der: »Wann hast du zum letzten Mal gebadet?« Quick zuckte die Schultern. »Weiß nicht.« Murphy fuhr mit den Fingerspitzen mehrmals über den Rücken des Jungen. Dicke Stücke einer Schmutzkruste lösten sich von Quieks Haut. Er zeigte Quick den Dreck. »Sieh dir das an. Das wird ab sofort anders«, sagte er. »Solange du hier bist, wirst du täglich duschen. Geh jetzt in die Duschkabine und wasch dich mit der gelben Seife. Auch das Haar. Und zwar sauber. Wenn du fertig bist, spülst du dich ab und wäschst dich noch mal. Dann spülst du dich wieder ab. Viel Seife, hab' ich gesagt. Und nun los!« Quick ging unter die Dusche. Er betrachtete ratlos die beiden Knöpfe. Er hatte noch nie in seinem Le233
ben geduscht. Zu Hause gab es eine Badewanne, und die haßte er. Er war noch immer in die Betrachtung der blitzenden Knöpfe vertieft, als sich Murphys Hand an ihm vorbeischob. Murphy drehte das Wasser auf. Zuerst das kalte. Quick sprang schnell zur Seite, als er es abbekam. Dann rieselte es warm auf ihn herunter. Nicht übel. Er bückte sich nach der Seife. Draußen stand immer noch Murphy. Irgendwie mochte Quick die Art, wie der Officer mit ihm umging. Muskeln wie ein Boxer. Oder wie ein Footballspieler. Und ein nettes Gesicht hatte er, mit seinem dunklen Schnauzbart und dem langen Haar, für einen Polypen jedenfalls. Er duschte, bis Murphy ihm zunickte. »Gut«, er drehte das Wasser ab. Und Quick stieg folgsam aus dem Becken. Der Officer reichte ihm ein Handtuch, und Quick trocknete sich ab, besonders die Haare rubbelte er, die strähnig und wild um den Kopf hingen. Er bekam ein Paar Boxershorts und streifte sie über. Murphy gab ihm eine leichte Leinenjacke, die ihm bis zu den Schenkeln reichte. »Hier, nimm die. Du wirst jetzt noch vom Arzt untersucht. Danach kannst du dich wieder richtig anziehen.« Sie verließen den Duschraum und kamen an einer großen Panzerglasscheibe vorbei. Dahinter entdeckte Quick viele Jungen, die hin und her liefen, mit grünen Plastikbechern in den Händen. Offensichtlich der Speisesaal. Vorher hatte Quick niemanden da drin gesehen. Es war dunkel hinter der Scheibe gewesen. Jetzt Tische mit Frühstück drauf. Milch. Orangen. Toast. Nur zwei Beamte als Aufpasser. Einige Jungen brachten Teewagen durch eine andere Tür herein, angefüllt mit Plastiktellern. 234
Und dann bemerkte Quick, daß alle Jungen Neger waren und ein paar auch Puertoricaner. Er blieb stehen, um sich das alles genauer anzusehen. »Los, Johnny!« sagte Murphy. »Frühstück gibt's später. Jetzt kommt erst mal die Untersuchung dran. Hier lang, Johnny.« Sie waren vor einer Stahltür angekommen. »Krieg' ich denn jetzt kein Frühstück, so wie die Typen da?« Murphy antwortete nicht. Da war ein Summen der Tür zu hören, und schon glitt sie fast geräuschlos zur Seite. Quick sah sich um. Dann blickte er wieder auf die Tür. Alles automatisch. Ganz schön edel hier, fand er. Sie betraten nun einen neonerleuchteten Gang. Am Ende davon wieder eine Stahltür. Quick entzifferte die Aufschrift: Arzt. Summen. Die Tür öffnete sich und verschwand in der Wand. Sie traten ein. Der Geruch von Äther. Quick lächelte. Er mochte Untersuchungen. Er mochte Krankenschwestern, und sie mochten ihn auch immer. Es war ein zu schönes Gefühl, wenn eine vor ihm stand und sagte: »Dieses Fläschchen macht du mir voll, hörst du.« * Lamson wachte auf, zum zweiten Mal schon. Diesmal stand Mead vor ihm, die Hand fest auf seiner Schulter. »Kornienko will dich sprechen. Ich hab' ihm gesagt, du schläfst, aber er läßt nicht locker. Ich hab' ihm auch gesagt, daß wir Quieks Geständnis haben, aber er läßt sich nicht abschütteln.« »Wie spät ist es denn?« »Kurz nach acht.«
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»Dann muß ich ja sowieso aufstehen.« Lamson glitt von der Pritsche und zog seine Hosen an. Gleich darauf stand er an seinem Schreibtisch neben dem Telefon. Er drückte auf den Leuchtknopf und nahm ab. »Steve?« »AI. Wie weit seid ihr?« »Das hat dir Wally doch schon gesagt. Der Junge hat gestanden.« »Ja, schon. Was sagt er über die Tat selbst?« »Er versucht's mit Notwehr. Aber im Grunde hat er alles genau erzählt. Jede Einzelheit.« »Meinst du, das Geständnis ist ganz o. k. ?« »Müßte eigentlich. Na, will ich doch stark hoffen. Wir haben sonst nichts. Als Zeugen nur Raymond Campbell. Und das war's dann auch schon.« »Wer war bei der Vernehmung sonst noch dabei?« »Von der Familie, meinst du?« »Ja.« »Sein älterer Bruder.« »Und die Mutter?« »Keiner weiß, wo die abgeblieben ist. Anscheinend ist sie auf irgendeiner Party. Die Jungen wußten nicht, wo. Auch nicht, wann sie zurückkommt.« »Und wer war sonst noch dabei?« »Einer von der Staatsanwaltschaft, der den Fall übernimmt. Heißt Bert Girard. Und dann noch Sergeant Holman von den Manhattan South Headquarters.« »Wo ist der Junge jetzt?« »Im Jugendgefängnis auf Rikers Island. Wir wollten kein Risiko eingehen, weißt du. Die offizielle Vernehmung wird noch heute vormittag stattfinden. Sie fahren Quick dafür wieder nach Manhattan rein.« »Und was ist mit Grodek?« 236
»Das ist eine andere Geschichte. Nicht viel drin. Damit warten wir besser noch.« »AI, ihr müßt aufpassen, daß euch der Bursche nicht durch die Maschen schlüpft. Bleibt ja bei der Stange.« »Girard sagt, die Anklage hält. Ich hab' selbst mit ihm gesprochen, bevor er ging. Steve, wirklich, wir sind mit dem Jungen streng nach den Vorschriften vorgegangen. Die erste Vernehmung war vollkommen o.k. Was willst du mehr? Wir machen alles Menschenmögliche. Wir wollen ihn doch selbst haben, Steve.« »AI?« »Ja?« »Haltet den Jungen fest. Der darf nicht mehr frei herumlaufen, hörst du?« »Steve, ich weiß, wie's in dir aussieht. Du mußt Vertrauen haben.« Kornienko legte auf. Er wandte sich zu Angie Trotta und Nick Mazilli. »Der Junge hat ein Geständnis abgelegt, letzte Nacht.« »Hab' ich mitbekommen«, sagte Mazilli. »Freut mich. Besonders für dich.« »Der Bursche plädiert auf Notwehr. Der Scheißkerl. Kannst du dir das vorstellen? Meine Eltern sollen ihn angegriffen haben...« Kornienko konnte nicht weiterreden. »Steve«, Mazilli sprach beruhigend auf seinen Kollegen ein. »Ich mach' dir jetzt 'nen guten Vorschlag. Nimm dir heute frei. Die Sache mit den Stunden läßt sich regeln. Da drehen wir schon was.« »Danke«, sagte Kornienko. * 237
Paul lag auf der Seite und starrte auf den Radiowecker. Der Sekundenzeiger zog gemächlich seine Kreise auf dem Zifferblatt. Es kam ihm ziemlich komisch vor, noch immer im Bett zu liegen. Kein einziges Mal in den vergangenen Jahren war er zu spät zur Schule gekommen. Aber heute war ein besonderer Tag. Sie hatten seinen kleinen Bruder festgenommen. Wegen Mord. Paul hatte Kopfschmerzen. Zu wenig Schlaf. Und dann der Schreck. Um fünf Uhr früh war er von der Vernehmung nach Hause zurückgefahren und hatte sich gleich ins Bett gelegt. Aber er konnte nicht einschlafen. Er lag die paar Stunden wach und dachte über Johnnys Geständnis nach. Und er dachte an die beiden Alten, die nun tot waren. Die schon irgendwo in ihren Gräbern lagen. Paul stellte den Alarm ab, den er für halb neun einprogrammiert hatte. Die Polizisten hatten ihm gesagt, daß die offizielle Vernehmung von Johnny um zehn Uhr im Gericht stattfinden würde. Er würde hingehen, und zwar rechtzeitig. Irgend jemand von der Familie mußte ja dasein. Und er wußte nicht einmal, wo Maureen war, und wann sie zurückkommen würde. Da war noch das Problem der Verteidigung. »Soll ich meinem Bruder einen Anwalt besorgen?« hatte Paul den Polizisten gefragt, der ihn heimfuhr. Der Mann hatte offenbar nicht gewußt, was er dem Jungen antworten sollte. »Kennst du denn einen Anwalt, der das machen würde?« »Nein.« »Wenn du ihm keinen Anwalt besorgst, bestellt das Gericht einen Pflichtverteidiger.« 238
»Was ist denn besser, ein eigener Anwalt oder ein Pflichtverteidiger?« »Schwer zu sagen. Das hängt ganz vom Anwalt ab.« »Wie wird so ein Anwalt denn bezahlt? Wir haben kein Geld, um einen zu bezahlen.« »Wenn das Gericht einen Anwalt für deinen Bruder bestellt, zahlt der Staat die Kosten. Wenn man einen eigenen Anwalt hat, dann weiß ich es nicht. Kommt darauf an, woher du ihn hast.« Paul spürte sehr wohl, daß der Beamte sich irgendwie im Zwiespalt befand. Der Mann gab sich zurückhaltend, anderseits klang in den Antworten durch, daß er sich in gewisser Weise für eine korrekte Beratung verantwortlich fühlte. Paul konnte den Polizisten verstehen. Er stand im Grunde auf der anderen Seite. Und er selbst, ja, er mußte schließlich zu seinem Bruder halten. »Was würden Sie an meiner Stelle tun?« fragte Paul. »Ich würde wahrscheinlich einen eigenen Anwalt nehmen«, kam die zögernde Antwort. »Da kann man wenigstens selbst jemanden aussuchen, zu dem man Vertrauen hat. Wenn das Gericht den Anwalt stellt, muß man nehmen, was man bekommt.« »Und wie findet man einen eigenen Anwalt?« »Am besten, du erkundigst dich im Bezirksbüro der Rechtsberatungsstelle und versuchst da dein Glück. Da muß übrigens eins ganz in der Nähe sein.« »Und wie steht's mit der Bezahlung?« »Wie ich schon sagte, das hängt von euch ab.« Bei diesen Worten fischte der Polizist eine Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie an. Für ihn war die 239
Unterhaltung damit beendet. Paul stand auf und frühstückte. Kurz darauf verließ er die Wohnung und ging auf die Avenue A ins nächste Lebensmittelgeschäft, das ein Münztelefon hatte. Das Buch mit den Gelben Seiten fehlte. Ganz genau wußte er sowieso nicht, wo er nachsehen sollte. Er kannte sich mit diesen Dingen nicht besonders gut aus, weil sie zu Hause kein Telefon hatten. »Wo haben Sie das Branchentelefonbuch?« fragte er die rothaarige, verhärmt wirkende Besitzerin des Ladens. »Da hinten hab' ich eins. Ich hol' dir das Buch«, sagte sie und schlurfte ins Hinterzimmer. Paul folgte ihr zu dem alten Schreibtisch. Sie gab ihm das Buch. »Danke«, sagte er. »Darf ich mich einen Moment hinsetzen?« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Na, mach schon«, meinte die Frau nur und ging wieder nach vorn in den Laden, aber nicht, ohne ihn nochmals mißtrauisch prüfend zu mustern. Paul wartete bis sie ging. Sie war wie so viele andere in dieser Gegend: Sie hielt jeden Fremden für einen potentiellen Verbrecher. Jeder war eine Gefahr für sie, konnte es sein. Paul schlug die Seiten auf. Endlich fand er das Bezirksbüro, das ihm der Beamte genannt hatte. Es war auf der First Avenue, also nur zwei Blocks weiter. Paul dankte der Frau und machte sich auf den Weg. Fünf Minuten später stand er vor der Hausnummer, die er sich aus den Gelben Seiten herausgeschrieben hatte. Außerdem stand es auch am Fenster angeschrieben. Durch die Scheiben konnte man Schreibtische und Regale mit Büchern erkennen. Er wollte die Tür öffnen, aber sie war verschlossen. 240
Schließlich entdeckte er den Zettel, der an die Innenseite der Glastür geheftet war. Komme gegen elf zurück.
14. Kapitel In God We Trust, wir glauben an Gott, so lautete die goldgeprägte Inschrift auf der holzgetäfelten Wand des Gerichtssaals. Der Stenograph und Protokollführer saß an einem der Tische, die vom Zuschauerraum am leichtesten einsehbar waren. Ein rotbackiger Mann mit einem winzigen Schnurrbart. Er las die Times. Das kleine Gerät, das er beim Stenographieren verwenden würde, stand dicht dabei auf einem wackeligen Tischchen. Neben ihm saßen zwei Anwälte, die in eine Unterhaltung vertieft waren. Der Gerichtsdiener durchquerte den Raum, blieb mal hier, mal da stehen und benahm sich ansonsten so, als gehöre ihm alles hier. Jedenfalls hatte er alles unter Kontrolle. Die Reihen waren noch nicht vollbesetzt, wahrscheinlich würden auch nicht viele kommen, um die Verhandlung zu verfolgen. Hauptsächlich waren Leute mit Kindern da. Eine Negerin hielt ihr schlafendes Baby fest an sich gedrückt. Eine hübsche Puertoricanerin hatte Mühe, ihr unruhiges lockenköpfiges Kind neben sich zu behalten. Kornienko hatte sich in die letzte Reihe auf den letzten Platz gesetzt. Wenn es irgend ging, wollte er unbemerkt bleiben. Es war nicht gut, wenn Lamson ihn sah, obwohl er wahrscheinlich nichts sagen würde. Die anderen Kollegen würden ihn wohl kaum erkennen. Zur Not müßte er die Sache eben ausba241
den. Kornienko wußte, daß es unbesonnen und leichtsinnig war, aber er konnte nicht anders. Er mußte einfach dabei sein. Unbesonnen war außerdem nicht das richtige Wort. Mehr noch stimmte >leichtsinnig<, vielleicht sogar >äußerst riskant<, oder einfach nur >dumm<, wenn man bedachte, daß Hauptmann Hartman ihm entschieden nahegelegt hatte, sich unter allen Umständen aus der Sache rauszuhalten. Aber das war ihm alles egal. Wenn Mazilli ihm nicht freigegeben hätte, nun, er hätte sich eben freigenommen. In jedem Fall hätte Angie ihm die Stange gehalten. Und er wäre so oder so im Gerichtssaal gewesen. Eigentlich konnte ja gar nichts schiefgehen. Es gab einen Zeugen, der dafür geradestand, daß Quick sich zur Tatzeit in dem Straßengeviert aufgehalten hatte, wo das Verbrechen geschah. Bei der Festnahme des Jungen war eine Waffe gefunden worden, die auf jeden Fall als Mordwaffe in Frage kam. Und der Kerl hatte ein Geständnis abgelegt. Andererseits, es gab die Smoking Gun-Fälle. Eindeutige Fälle, die aber doch mangels Beweisen niedergelegt wurden. Die Wartezeit machte Stefan nervös. Von Zeit zu Zeit beugte er sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien und fuhr sich mit den Fingern durchs dicke braune Haar. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß der Polizist sich auf gar nichts verlassen konnte. Das einzige, was ihn im Grunde zu interessieren hatte, war die Festnahme. Danach konnte alles passieren, wirklich alles. Er konnte sich an mehrere Fälle erinnern, einige von ihm selbst und ein paar von den Kollegen, wo die Anklage wieder fallengelassen wurde. Gute, 242
todsichere Fälle waren es gewesen. Aber wer konnte vorher wissen, wie ein Richter die ganze Sache sieht? Oder wie er an diesem einen Tag gerade gelaunt ist? Wie er die Nacht vorher geschlafen hat... oder wie er mit dem Anwalt klarkommt? Aber im Grunde glaubte Stefan nicht, daß hier etwas schiefgehen würde. Es gab einen Zeugen, der sogar vereidigt werden konnte. Der Junge war gefaßt worden... Kornienkos Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder hoffte er von neuem, immer wieder begann er zu zweifeln. Kein Wunder, daß so viele Kollegen zu trinken anfingen oder umschulten. »Aber Euer Ehren, was für Beweise wollen Sie denn noch?«- Der nach endloser Sucherei endlich Gefaßte wird freigesprochen mangels Beweise. Kornienko blickte sich um. Viele Familien. Ob wohl jemand von denen selbst ein Kind hatte, das im Gefängnis saß? Und wenn, was hatte es angestellt? Was mußte das für ein Gefühl sein, wenn man den ganzen langen Vormittag darauf wartete, daß das eigene Kind von einem Polizisten reingeführt wurde. Vielleicht Anklage wegen Brandstiftung oder Diebstahl oder- Mord? Nein, er konnte sich das einfach nicht vorstellen. Aber er wußte, wie es war, wenn man darauf wartete, daß ein Minderjähriger reingebracht wurde, der Mörder war. Mörder seiner, Stefans, Eltern. Da kam Lamson den Mittelgang entlang, seine Akten in der Hand. Die, die Stefan teilweise schon kannte. Er holte tief Luft. Gott sei Dank, Lamson hatte ihn nicht bemerkt. Er sah, wie der Kollege zum Gerichtsdiener ging. Er reichte ihm die Akten, dann nahm er auf der Bank Platz, die den Polizisten vorbehalten 243
war. Ein blonder Schopf. Der Junge stand auf, beugte sich vor, sprach mit Lamson. Paul Blanton. Kornienko hatte ihn letzte Nacht nur von weitem gesehen. Aber er mußte es sein. Er sah, wie der Junge sich wieder umwandte und sich hinsetzte. Er saß allein. Anscheinend war die Mutter immer noch nicht aufgetaucht. Ein Mann von gedrungener Gestalt betrat den Saal. Gut angezogen. Er trug einen Aktenkoffer. Sein Gang war elastisch, irgendwie wahnsinnig energiegeladen. Wahrscheinlich war das Bert Girard. Der Mann begrüßte Lamson und ging dann zum Mitteltisch, wo er sich einen Moment lang mit dem Gerichtsdiener unterhielt. Er nahm die Akte, die Lamson mitgebracht hatte und blätterte sie schnell durch. In dem Augenblick ging an der Stirnseite des Saals die Tür auf. Eine große blonde Frau im Richtertalar trat ein. Der Gerichtsdiener gefror förmlich in Habachtstellung. »Das Gericht eröffnet die Sitzung. Erheben Sie sich!« Der Mann stand mit dem Gesicht zum Publikum. Es war etwas Oberlehrerhaftes in seiner Art. »Alles aufstehen!« wiederholte er, obwohl fast alle schon längst standen. Die Richterin erklomm die Stufen des Podiums und nahm auf der Richterbank Platz. »Alles setzen!« tönte der Gerichtsdiener nun. Kornienko widerte diese Art an. Der Kerl spielte sich auf, als ob ohne ihn das Rechtssystem der Vereinigten Staaten zusammenbräche. Er stand da, mit einer Miene, die ausdrücken sollte, daß er etwas sehr Bedeutendes zu sagen hatte. Im Stehen konnte Kornienko alles gut überblicken. Brüsk wandte er sich ab, als er bemerkte, daß Lamson ihn entdeckt 244
hatte. Sonst war aber anscheinend keiner da, den er kannte. Stefan blickte sich um. Er wußte, was jetzt kam. Alles reine Routine. Wie oft hatte er einen Festgenommenen vorgeführt. Für ihn kam's diesmal wirklich nur auf den Ausgang der Geschichte an. Ein Polizist stand auf, ging durch die Seitentür hinaus. Stefan wurde es heiß. Wenig später führte man Quick in den Gerichtssaal. Er hatte ein blödes Grinsen im Gesicht und sah so aus, als würde er das alles auf die leichte Schulter nehmen, als solle er nur wegen eines Dummejungenstreichs verhört werden. Kornienko sträubten sich beim Anblick des Jungen die Haare. Der Polizist hatte Quick fest im Griff und stellte ihn vor die Richterin. Der Gerichtsdiener trat vor, als befände er sich auf der Bühne vor einem großen Publikum. Er las mit erhobener, feierlicher Stimme, so daß ihn noch die Leute aus der letzten Reihe gut verstehen konnten. »Die Bürger des Bundesstaates New York gegen John Blanton.« Quick stand da und strahlte die Richterin an. Sie blickte auf ihre Akten hinunter und achtete nicht auf Quieks Grinsen. Sie runzelte beim Lesen die Stirn. Nach einer Weile sah sie auf und wandte sich an einen der Beamten. »Wer übernimmt die Verteidigung?« »Bisher keiner, Euer Ehren.« Die Richterin blickte zu dem Tisch hinüber, wo die beiden Anwälte saßen. »Mr. Greenhouse, Sie sind Mitglied der Rechtsanwaltskammer?« »Ja, Euer Ehren.«
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Kornienko warf einen Blick auf Greenhouse, den jüngeren der beiden Männer. Er hatte rotes krauses Haar und einen roten Schnurrbart. »Ich bestelle Sie hiermit zum Pflichtverteidiger des Angeklagten«, sagte die Richterin. »Vielen Dank, Euer Ehren. Könnte ich wohl kurz mit meinem Mandanten sprechen, bevor Sie mit der Verhandlung fortfahren?« »In Ordnung. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Ihnen notwendig erscheint.« Die Richterin gab dem Gerichtsdiener ein Zeichen. Der wies den Beamten, der Quick eben hereingeführt hatte, an, ihn aus dem Saal und in die Zelle zurückzuführen. Greenhouse folgte den beiden. Er strich sich mehrmals nachdenklich mit seinen Händen über den Bart. Kornienko rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Die Zeit verstrich quälend langsam. Er kannte die Richterin, wenn er auch noch nie persönlich mit ihr zu tun gehabt hatte. Aber sie hatte den Ruf, streng zu sein. Ja, sie hatte einen wirklich guten Ruf. Trotzdem würde er erst aufatmen, wenn es vorüber war, wenn er genau wußte, daß der Junge die gerechte Strafe bekam. Wie lange wollte der Rothaarige denn noch mit Quick sprechen? Inzwischen hatten einige weitere Polizisten den Saal betreten und sich zu den anderen gesetzt. Eine hübsche, junge Frau, Vertreterin der Staatsanwaltschaft, war hinzugekommen. Wahrscheinlich sollte sie Girard assistieren. Girard war über seine Akten gebeugt, sein Tisch stand der Richterin unmittelbar gegenüber. Die Richterin erschien Kornienko etwas gelangweilt, während sie in den Unterlagen las. Lamson saß ruhig da und wartete. 246
Kornienkos Gedanken schweiften wieder ab. Er sah Quick vor sich, wie er die Richterin angefeixt hatte. Fast wirkte es wie der Versuch, mit ihr zu flirten. Und dann hatte Stefan die Vision, daß er Quick an seinen langen Haaren faßte und ihm kräftig ins Gesicht schlug. Immer wieder. Zuerst nur mit der Handfläche, dann mit dem Handrücken, bis seine Hände selbst, wie auch das Gesicht des Jungen von den Schlägen schmerzhaft gezeichnet waren. Er hatte noch nie ein Kind geschlagen. Er hatte überhaupt noch nie irgend jemanden geohrfeigt. Aber dieses Bild ließ sich einfach nicht verdrängen. Er konnte förmlich spüren, wie er zuschlug. Kornienko fuhr hoch, als Greenhouse lächelnd in den Saal zurückkehrte. Sein Anblick gab ihm einen Stich. Das Recht konnte so perfekt verdreht werden! Ja, es war Wachs in den Händen eines gerissenen Rechtsanwalts. Die Möglichkeit war immer gegeben, daß die Polizei reinfiel. Und es war unverkennbar, daß Greenhouse siegessicher und zuversichtlich an die Sache heranging. Er versuchte, den Rechtsanwalt einzuschätzen. Dem Äußeren nach zu schließen voller Kampfgeist und ein Mann, der gewohnt war zu gewinnen. Seine Kleidung? Marineblauer Blazer, zerknitterte sandbraune Hosen, hellblaues Hemd, gestreifte Krawatte. Was bedeutete das schon? Die Frage war, wie gut er war. Konnte er es mit Girard aufnehmen? Und wie gut war Girard? Kornienko sah, wie Greenhouse zum Gerichtsdiener ging. Der nickte und begab sich zu dem Beamten, der den Jungen vorher abgeführt hatte, nun hinausging und wenig später mit Quick zurückkehrte. Greenhouse stellte sich zu 247
dem Jungen. Er nahm ihn beim Arm, sanft, aber mit Autorität. Er wies Quick an, dem Gerichtsdiener zuzuhören. Dieser begann: »John Blanton, Sie werden des Totschlags beschuldigt, strafbar nach Paragraph...« Greenhouse hatte sich zu Quick gebeugt. Er flüsterte ihm etwas zu. Wahrscheinlich sagte er ihm, wie er sich bei der Verhandlung zu verhalten hatte. Der Junge nickte. Greenhouse schien zufrieden. Der Gerichtsdiener wiederholte die Anklageformel. Als er mit der Verlesung fertig war, wandte er sich an Greenhouse. »Verzichtet die Verteidigung auf die formelle Belehrung des Mandanten?« »Ich verzichte«, sagte Greenhouse, ohne den Griff um Quieks Arm zu lockern. »Junger Mann«, die Richterin blickte Quick unbewegt an. »Sie werden des Totschlags in zwei Fällen beschuldigt. Die Anklage geht davon aus, daß Sie Mr. und Mrs. Wasyl Kornienko am Abend des vierten August gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig überfallen und getötet haben. Die Tat fand auf der Seventh Street statt, vor der St. George's Ukrainian Church. Bekennen Sie sich schuldig?« Kornienko überkam ein Frösteln, als die Richterin die Namen seiner Eltern nannte. »Euer Ehren«, sagte Greenhouse schnell. Er preßte jetzt seine Hand um Quieks Oberarm. »Die Verteidigung plädiert auf unschuldig. Ich beantrage hiermit Freilassung gegen Kaution.« Die Richterin blickte zu Girard. »Möchte die Anklage dazu Stellung nehmen?« »Jawohl, Euer Ehren«, sagte Girard. »Wir beantragen, daß der Angeklagte in Untersuchungshaft 248
bleibt. Und wir sind strikt gegen eine Kaution. Es liegt ein Geständnis vor, Euer Ehren. Es gibt einen Zeugen, der bekundet hat, daß der Angeklagte sich zur fraglichen Zeit in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat. Bei der Festnahme letzte Nacht trug der Angeklagte ein Messer bei sich, das als Tatwaffe in Frage kommt. Außerdem besteht die Gefahr, daß er bei einer Freilassung gegen Kaution flieht und...« »Euer Ehren, ich verstehe nicht, wie die Staatsanwaltschaft Fluchtgefahr begründen will«, unterbrach ihn in diesem Moment Greenhouse. Er flüsterte Quick etwas zu, ließ dann den Arm des Jungen los und ging zu der Richterin. »Euer Ehren, mein Mandant ist noch ein Kind. Der Junge ist mitten in der Nacht festgenommen worden. Man hat ihn stundenlang am Schlafen gehindert. Bis zu den frühen Morgenstunden wurde er auf dem Revier vernommen ohne Anwesenheit eines Elternteils.« Kornienko wurde es heiß. Er lehnte sich noch weiter nach vorn und ließ sich kein Wort entgehen. Der Rothaarige zog eine Schau ab, eine Supernummer,- wirklich! Dieser "Scheißkerl setzte alles dran, den Fall zu gewinnen. Seinen ganzen Ehrgeiz setzte der ein, um dieses kleine Monster wieder auf freien Fuß zu setzen. Freilassung gegen Kaution, das war ja zum Lachen! Kornienko stand auf. So leise wie möglich. Er ging den Mittelflur entlang und nahm in der zweiten Reihe Platz. Er blickte zu Lamson, der ihn hatte kommen sehen. Mit finsterem Ausdruck in den Augen und ungläubigem Stirnrunzeln - oder war da auch so etwas wie Angst in ihnen zu lesen?- verfolgte er jede Bewegung Kornienkos.
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»Nur der ältere Bruder meines Mandanten war bei der Vernehmung anwesend«, fuhr Greenhouse fort. Er deutete auf Paul. »Sie sehen, daß er auch nicht viel älter ist und wohl kaum das, was man sich unter elterlicher Aufsichtspflicht vorstellt. Mein Mandant hat mich über eine Reihe von Bedingungen informiert, unter denen das angebliche Geständnis abgegeben wurde. Die Vernehmung fand unter Voraussetzungen statt, die, und da bin ich mir vollkommen sicher, daß Euer Ehren mir zustimmen werden, in höchstem Maße fragwürdig sind. Und deshalb wiederhole ich meinen Antrag, den Angeklagten mit sofortiger Wirkung gegen Kaution freizulassen. Wenn überhaupt eine Kaution notwendig ist.« »Euer Ehren«, sagte Girard entschlossen. »Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Anhörung des Angeklagten fand unter Beachtung aller Vorschriften statt. Ich selbst war dabei. Die Aussage fand in dem hierfür vorgesehenen Raum statt. Der ältere Bruder war zugegen. Weder der Angeklagte noch sein Bruder wissen, wo die Mutter ist, oder wann sie in die Wohnung zurückkehren wird. Sogar jetzt noch nicht. Sie ist immer noch nicht da. Sie konnten keinen anderen Angehörigen benennen, den wir zur Vernehmung hätten hinzurufen können. Beide, Johnny wie auch Paul, sind ausführlich über ihre Rechte belehrt worden. Und Johnny Blanton hat sich ausdrücklich bereiterklärt- ja, sogar förmlich darauf gedrängt-, die Fragen der Polizei ohne Anwesenheit seiner Mutter zu beantworten. Und sein Bruder war auch damit einverstanden. Es wurde keinerlei Druck auf die Jungen ausgeübt. Und wie ich schon erklärt habe, 250
Euer Ehren, wir haben beides, Tatsachen und einen Zeugen, die das Geständnis des Angeklagten untermauern, das uns vom Angeklagten selbst und freiwillig gemacht wurde.« Die Richterin blickte auf ihre Schriftstücke. Und Kornienko fragte sich ungeduldig, worauf zum Teufel sie nur so lange wartete.. Sie schien irgendwie unentschlossen. Kornienko rutschte auf das vorderste Ende seines Stuhls und umklammerte die Rückenlehne der Vorderreihe. Endlich sah die Richterin auf. Sie wandte sich Girard zu. »Ich muß der Anklage recht geben.« Ihr Blick wanderte zu Quick. »Der Angeklagte ist zwar noch minderjährig, aber der Vorwurf der Anklage ist viel zu schwerwiegend, als daß wir ihn so leichtnehmen können.« Kornienko atmete auf. Die erste Hürde war genommen. »Euer Ehren«, sagte Girard, »der Angeklagte, so jung er ist, steht nicht das erste Mal vor Gericht. Er ist ein alter Bekannter beim Jugendgericht. Er hat sich eine ganze Reihe schwerwiegender Rechtsbrüche zuschulden kommen lassen. Zudem handelt es sich um einen Jungen, der von den Eltern nicht hinreichend beaufsichtigt wird. Wie wir es hier ja bestätigt sehen. Wo ist die Mutter? Wir wissen es nicht. Wir konnten es trotz aller Bemühungen nicht herausfinden, auch nicht, wann sie zurückkommt. In Anbetracht all dessen und des schweren Verbrechens, das hier verhandelt wird, beantrage ich, daß die Kaution sehr hoch angesetzt wird. Wir sind der Überzeugung, daß ernste Fluchtgefahr besteht, und was noch viel schwerer wiegt, unserer Meinung nach besteht bei Freilassung eine große Gefahr für die Gesellschaft, der...« 251
»Euer Ehren, Gefahr?« warf da Greenhouse ein, »Gefahr für die Gesellschaft? Euer Ehren, welche Beweise liegen für solche Behauptungen vor? Die Staatsanwaltschaft will auf Gedeih und Verderb ein Kind hinter Gitter bringen.« Kornienko betrachtete den Gesichtsausdruck der Richterin, als sie Quick musterte. Bestimmt lächelte der Junge wieder. Aber ihre Miene blieb unbewegt. Kornienko lehnte sich weiter vor. »Euer Ehren«, fuhr Greenhouse fort, »wir haben es hier offensichtlich mit einem Fall zu tun, wo eine Freilassung ohne Kaution geboten ist. Wir können ihn zu seiner Familie zurücklassen. Sie wird dafür sorgen, daß John zur Verhandlung erscheint, wenn es soweit ist.« »Ich glaube, da täuschen Sie sich«, sagte die Richterin, noch bevor Girard Einwände erheben konnte. »Nicht nur handelt es sich hier um einen sehr ernsten Fall, sondern wir haben es mit einem Angeklagten zu tun, auf dessen Konto noch andere Rechtsbrüche gehen. Von der Familie, die sich nach Ihren Ausführungen so gut um den Jungen kümmert, sehe ich niemanden, außer dem minderjährigen Bruder. Ich betrachte aber einen Siebzehnjährigen nicht als angemessene Aufsichtsperson.« »Euer Ehren«, sagte Girard, »die Staatsanwaltschaft beantragt Festsetzung einer Kaution in Höhe von fünfzigtausend Dollar.« »Das ist zu hoch«, erwiderte die Richterin. »Ich setze die Kaution auf zwanzigtausend Dollar fest. Der Angeklagte bleibt im Jugendgefängnis, wenn die Kaution nicht erbracht wird. Ich vertage die Verhandlung auf den elften nächsten Monats.« 252
»Euer Ehren, ist kein früherer Termin möglich?« fragte Greenhouse. »Wir möchten einen Termin beantragen, der sehr viel früher ist.« »Viel früher?« Die Richterin sah zu Girard hinüber. »Wäre die Anklage mit einem früheren Termin einverstanden?« »Keine Einwendungen, Euer Ehren.« »Wir wär's mit nächstem Montag?« Sie blickte von einem zum andern. Die beiden schwiegen. »Termin zur Verhandlung wird für nächsten Montag festgesetzt«, sagte sie und blickte auf ihre Papiere. Dann schob sie diese auf dem Tisch zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Die Verhandlung des Falles John Blanton war für heute beendet. Kornienko lehnte sich wieder zurück und verfolgte aufmerksam, was nun geschah. Insgesamt hatte die Sache keine zehn Minuten gedauert. Der Stenotypist beendete seine Arbeit. Er hatte alles aufgezeichnet. Kornienko tauschte einen Blick mit Lamson, aber er konnte nicht ergründen, was in dem Kollegen vorging. Greenhouse wirkte nach wie vor sehr zuversichtlich. Er schien genau zu wissen, daß er gute Chancen hatte, den Fall zu gewinnen, wenn er es geschickt anstellte. Quick grinste. Als sich zufällig sein und Kornienkos Blick trafen, verminderte sich das Lächeln merklich. Ob er ihn wiedererkannt hatte? Ob er sich an ihr mitternächtliches Treffen auf der Twelfth Street erinnerte? Quick wandte sich ab. Kornienko starrte immer noch auf den Jungen, seine Hand hatte sich zur Faust geballt. Der Polizist kam und führte den Jungen aus dem Gerichtssaal. Greenhouse kehrte zum Tisch zurück, wo inzwischen ein neuer Verteidiger Platz genommen hatte. 253
Girard kam den Mittelgang entlang, mit der Aktentasche in einer Hand. Polizisten liefen hin und her. Es ging weiter mit den Verhandlungen. Als Kornienko sich erhob, um zu gehen, trat der Gerichtsdiener gerade an die Balustrade. In seinem üblichen anmaßenden Ton sagte er: »Ruhe bitte!« Kornienko ging zur hinteren Tür. Er hörte noch, wie der nächste Fall ausgerufen wurde, dann trat er in die schwüle Augusthitze hinaus. Er schlug die Richtung Chinatown ein. * Barbara hatte ihn schon von weitem erkannt. Sie lächelte. Wie ungeduldig er darauf wartete, daß sie endlich frei hatte! Sie wandte sich dem Ehepaar zu, das ihr gegenüber Platz genommen hatte. Sie mußte die Kunden zu Ende bedienen, und es wartete sogar danach noch einer. Sie saß da und beantwortete die Fragen, die der Chinese stellte. Seine Frau saß still neben ihm. Von Zeit zu Zeit blickte Barbara nervös zu Kornienko. Sie hatte ihn seit dem Abend nicht mehr gesehen, als er auf sie in der Wohnung gewartet hatte. Letzten Sonnabend war das gewesen. Er hatte immer noch diesen gehetzten Ausdruck in den Augen. Sie fragte sich, wann er wohl endlich wieder der alte sein würde. Ob überhaupt jemals... Er stand ganz ruhig da, ohne ihr irgendwelche Zeichen zu machen oder ihr bei der Arbeit zuzusehen, aber seine bloße Anwesenheit machte sie nervös. Trotzdem, sie bemühte sich, alle Fragen des kleinen Chinesen mit Geduld und Freundlichkeit zu beantworten. Und sie gab ihm und seiner Frau nicht das Gefühl, sich besonders beeilen zu müssen. 254
Keiner ihrer Kollegen kümmerte sich um Steve, weil sie ihn alle kannten und wußten, daß er zu Barbara gehörte. Sie schenkte Mr. Hing ein freundliches Lächeln, während sie seinem gebrochenen Englisch zuhörte. Er war reizend, mit seinem runden, strahlenden Gesicht, und sie hätte sich gerne länger mit ihm unterhalten, wenn Steve nicht plötzlich aufgekreuzt wäre. Aber nun war er einmal da. Als die Chinesen sich verabschiedet hatten, ging Barbara zu ihm. »Tag, Steve. Was gibt's?« »Kannst du dich für 'nen Moment freimachen und gleich mit mir was essen gehen?« »Warum hast du nicht vorher angerufen? Du siehst aus, als ob irgendwas passiert ist.« »Sie haben den Jungen vergangene Nacht geschnappt. Er hat gestanden. Heute morgen war die erste Verhandlung. Ich war da.« »Und wie ist's gelaufen?« »Gut. Aber das war ja nur die erste Verhandlung. Wann kannst du hier weg?« »Ich sagte doch schon, warum hast du nicht angerufen? Ich bin zum Mittagessen mit einem Abteilungsleiter der Bank verabredet, Steve. Außerdem hab' ich noch einen Kunden. Und der wartet schon 'ne Weile.« »Kannst du das Essen mit dem Abteilungsleiter nicht absagen?« »Doch, ich denke schon. Das läßt sich irgendwie machen. Aber besser wäre es wirklich gewesen, du hättest dich gemeldet. Den Kunden muß ich noch bedienen. Bis gleich.« Wieder war es ein Chinese, der sich nach einem Kredit erkundigte. Barbara stellte schon nach weni255
gen Routinefragen fest, daß er kreditwürdig war. Sie blickte sich nach Steve um, der sich endlich hingesetzt hatte und nun eine Zeitschrift vom Tisch nahm. Sie lächelte in sich hinein. Ob er wohl Chinesisch lesen konnte? Als das kurze Gespräch beendet war, rief Barbara den Abteilungsleiter an und erklärte ihm, warum sie die Verabredung mit ihm nicht einhalten konnte. Dann ging sie zu Steve. Der sprang auf. »Gehen wir rüber, da ist's doch ganz gemütlich«, schlug er vor. »Mir steht heute nicht der Sinn nach Reis mit Stäbchen.« Sie betraten den Coffee Shop. Nach fünf Minuten wurde ein Tisch in einer Nische frei. Stefan klärte seine Freundin kurz über die letzten Ereignisse auf. Er kam als erstes auf die Nacht zu sprechen, die er in dem verlassenen Haus in der Eleventh Street verbracht hatte, dann auf die Informationen, die er von Lamson bekommen hatte und schließlich auf die Gerichtsverhandlung. »Ich kann mir vorstellen, wie erleichtert du jetzt bist«, sagte Barbara. »Du hast Schlimmes durchgemacht. Jetzt, wo der Junge hinter Schloß und Riegel ist, kannst du vielleicht eher drüber wegkommen, Steve.« Sie blickte ihn fragend an. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Er schwieg. Immer noch war der Ausdruck von Haß in seinen Augen, den sie in jener Nacht zum ersten Mal an ihm wahrgenommen hatte. »Sie sind tot, Steve. Nichts kann sie zurückbringen. Er ist gefaßt und sitzt hinter Gittern, Liebling. Du hast alles getan, was du tun konntest, du hast den Fall im Grunde geklärt. Du warst es, der den Campbell Jungen zum Sprechen brachte.« Barbara legte 256
ihm die Hand auf den Arm. »Wann wirst du die ganze schreckliche Sache hinter dir lassen, Steve?« Sie sah ihn aufmerksam an, studierte sein Gesicht bis in die letzte Einzelheit. Alles war noch darin zu lesen. Nein, er war noch längst nicht soweit, sich davon zu befreien. »Wenn der Junge verurteilt ist«, antwortete Steve. »Und was ist, wenn das Urteil nicht so ausfällt, wie du es erwartest?« »Weißt du, was ein Taxi von mir bis zur Wohnung meiner Eltern kostet? Eineinhalb Dollar vielleicht, mit Trinkgeld.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nein, Steve. Nein, das kannst du dir nicht immer wieder antun, das kannst du nicht.« Sie blickte ihn traurig an. Er war wie besessen von dem Gedanken, daß seinen Eltern Gerechtigkeit widerfuhr. Und das konnte Wochen dauern oder Monate oder wer weiß wie lange. Wenn nicht eine ganze Ewigkeit . * Am Astor Place stieg Kornienko aus der U-Bahn. Er hatte Barbara zur Bank zurückgebracht und sich entschlossen, Tante Vera im Laden zu besuchen. Er wollte auch ihr alles erzählen, was sich inzwischen ereignet hatte. Sie konnte dann allen anderen darüber berichten. Er bog um die Ecke. Ein Stück mußte er zu Fuß gehen und begann wieder, über den überdachten Bürgersteig und die Seventh Street nachzugrübeln. Dann war er auf dem Cooper Square. Er zitterte innerlich. Zwei Wochen waren vergangen seitdem. Wenigstens mit dem Teil der Geschichte mußte er doch allmählich fertig werden. Vielleicht war er schon in der Lage, hindurchzuge257
hen. Er mußte sich einfach zusammennehmen. Er bog in die Seventh Street ein. Die Überdachung war fort. Stefan ging an die Stelle, wo sie sich befunden hatte und blickte sich um. Die alte Kirche, in der er das Beten gelernt hatte als kleiner Junge, war verschwunden, zusammen mit der Überdachung. Übrig war nichts als Schutt und Ziegelsteine. Er mußte an die Zeit denken, als sein Vater mit ihm in die Messen gegangen war. Seine Kehle war wie zugeschnürt. * Ein paar Häuserblocks weiter, in einem Haus auf der Eleventh Street lag Paul Blanton auf seinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er starrte auf die Zimmerdecke. Einen Tag hatte er in seinem Kurs versäumt, und er war fix und fertig, weil er die letzte Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Er dachte an die Schule. Ein Jahr noch. Dann mußte er es irgendwie schaffen, sich fürs College einzuschreiben. Er würde alles tun, wirklich alles, was er nur tun konnte, um der Eleventh Street zu entkommen.
15. Kapitel Quick stand am Fenster und sah auf die wunderschöne Brücke hinaus. Helluva Bridge! Ein riesiges Ding. Eines Tages würde er in einer Superkiste über diese Brücke fahren. Vielleicht in einem Cadillac, wie ihn dieser Typ von Cindy, dieser Nigger, besaß. Quick starrte noch eine Weile auf die Brücke, dann ging er zu seinem Bett und setzte sich darauf. War eigentlich ganz gemütlich hier. Er ließ 258
seine Finger über das weiche, saubere Bettuch gleiten. Es gab einen Schrank, wo er die Kleidung hätte reintun können, wenn er welche gehabt hätte. Er betrachtete den Tisch und den Stuhl davor. Und es gab eine Toilette und einen Ausguß, viel besser als zu Hause. Und dann erst die Panzertür. Er war fasziniert davon, von der Art, wie sie brummte, wenn sie aufging, nur durch den Fingerdruck eines Wächters von dessen Stube aus. Das alles sah wirklich so aus, als ob es kein Kinderspiel wäre, hier auszubrechen. Aber was sollte er noch lange darüber nachdenken? Er würde bestimmt nicht lange genug auf Rikers Island bleiben, um sich ernsthaft darum sorgen zu müssen. Als er nach der Verhandlung ins Gefängnis zurückgebracht wurde, hatten die Jungen schon beim Mittagessen gesessen und waren fast fertig. »Willst du was essen?« hatte der Wächter gefragt, als sie an der Glaswand vorbeigingen, hinter der man die Jungen sehen konnte. »Bin nur müde, hab' keinen Hunger«, hatte Quick geantwortet. »Wie du willst, aber bis zum Abendessen gibt's nichts mehr. Du kannst reingehen und dir was zu essen holen, wenn du willst.« »Ich sagte schon, bin nicht hungrig, nur müde.« Quick hatte keine Lust gehabt, in diesen mit Niggern vollgestopften Raum zu gehen, nur um sich was zu essen zu holen. Die waren außerdem schon fast fertig. Wahrscheinlich wäre sowieso nichts mehr dagewesen. »Dann komm«, hatte der Wärter ungeduldig gesagt. »Du kannst dich jetzt etwas ausruhen. Heute 259
nachmittag hast du ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter. Danach gibt's Abendessen.« Sie waren den langen Korridor entlanggegangen und zu dem Raum gekommen, wo die Tür offenstand. Nummer achtzehn. »Das ist sie«, der Wärter deutete hinein. »Das ist deine.« Quick hatte die Zelle betreten und sich neugierig umgeblickt. Er prüfte die Federung des Bettes und ging dann zum Fenster. Am Rahmen befand sich ein Knopf. Quick drehte daran, und schon öffneten sie die Lamellen der Jalousie. »Was für eine Brücke ist das?« fragte er und deutete auf eine Hängebrücke, die allerdings ziemlich weit weg war. »Die Bronx Whitestone Bridge.« »Sieht aber gar nicht so weiß aus.« »Wenn man näher dran ist, sieht sie schon etwas weißer aus. Und jetzt hör mal zu. Bevor ich gehe, gibt's da noch ein paar Punkte, die ich dir erklären muß. In punkto Kleidung hast du die Wahl. Du kannst die blaue von uns anziehen oder deine eigenen Sachen. Die meisten Jungen tragen die blaue und heben ihre eigene auf. Hängt ganz von dir ab. Auf jeden Fall kriegst du von uns jeden Tag ein Paar frische Unterhosen, und jeden Abend wird geduscht. Vorschrift. Willst du die blaue?« Quick dachte an die Jungen, die er in dem Speisesaal gesehen hatte. Die meisten hatten wirklich die dunkelblauen Hosen und die blauen Hemden an. »Ich trage meine eigenen.« »Wie ich schon sagte, hängt ganz von dir ab. Und du kannst dich jederzeit doch noch für die blaue entscheiden. Du kannst auch deinen Alten sagen, daß sie dir mehr mitbringen, wenn du willst. Noch 260
was. Ich erwarte von dir, daß du dich hier mit niemandem anlegst. Und zwar gilt das für die Jungs und für die Beamten. Dann hast du 'ne gute Zeit hier. Und wie der Captain dir vielleicht schon gesagt hat, als du hier ankamst: Wir lassen keinen Scheiß durchgehen. Verstanden? So; wie's also mit uns klappt, liegt ganz bei dir.« »Ich werd' schon keine Probleme machen.« Quick probierte wieder mal sein Lächeln aus. Etwas, das er selten bei Negern machte. War im Grunde ja reine Verschwendung. »Nun, das ist klug von dir«, sagte der Wärter. »Jetzt kannst du dich 'n bißchen hinlegen. Nachher kommt jemand und bringt dich zum Sozialarbeiter.« »Jawohl, Sir«, sagte Quick. »Ahm, Sir, darf ich fragen, wie Sie heißen?« Er lächelte immer noch. Er wollte doch zu gern diesen Idioten auch zum Lächeln kriegen. Für einen Nigger war er im Grunde gar nicht so übel. »Paxton. Officer Paxton.« »Danke, Officer Paxton.« Quick strahlte immer noch, aber Paxton blieb kühl. »Ich hätte noch eine Frage, Officer Paxton.« »Ja?« »Officer Murphy, was macht der heute?« »Den hast du sicher kennengelernt, als du gestern hier eingeliefert worden bist. Murphy hat diese Woche Nachtschicht. Nächste Woche ist er wieder tagsüber da.« Der Beamte ging in den Flur und gab dem Mann im Kontrollraum ein Zeichen. Mit einem Summen und einem leichten metallischen Klick ging die Tür zu.
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Quick starrte eine ganze Weile auf die Brücke hinaus. Was er nun eigentlich von Rikers Island halten sollte, wußte er selbst noch nicht so recht. Es wimmelte hier ja nur so von diesen Niggern. So ziemlich jeder Typ war einer. Und genauso die Wärter. Sogar dieses hohe Tier von heute morgen. Nein, er war wirklich ganz und gar nicht sicher, was er davon halten sollte, daß die ihm hier so auf die Pelle rückten, und er konnte nichts dagegen tun. Er mußte an den Vormittag auf dem Gericht denken. Das war schon etwas anderes. Er mochte den rothaarigen Fuchs von einem Rechtsanwalt. Ganz schön klever, dieser Saukerl. Quick griff in seine Hosentasche und zog das Kärtchen wieder heraus, das der Anwalt ihm gegeben hatte: Jonathan A. Greenhouse. Verrückter Name, aber der Typ war verdammt gut. »Ich hätte den beiden Alten ja kein Haar gekrümmt, wenn die nicht auf mich losgegangen wären«, hatte er Greenhouse klarzumachen versucht. Und der Anwalt hatte nur gesagt: »Du hast zu reden, wenn du gefragt wirst, verstanden? Du sprichst mit niemand, wenn du nicht unbedingt mußt. Gib denen nicht freiwillig irgend etwas in die Hand. Antworte nur, wenn du unbedingt mußt. Und faß dich kurz. Ja oder nein. Dann werden viele Fragen erst gar nicht gestellt. Ist das klar? Wenn nicht, dann sag's gleich. Okay. So, und jetzt sagst du mir, was im einzelnen auf dem Revier passiert ist. Das ist alles, was ich im Moment wissen will.« Er saß schon ein paar Minuten auf der Bettkante. Er streckte sich. Wo zum Teufel blieb eigentlich seine Mutter? Daß sie einfach so wegging, war ja das Allerneuste. Auf einmal fiel ihm sogar sein Vater wieder 262
ein. Wo konnte der nur stecken. »Halt dir die Nigger vom Leibe«, hatte der einmal zu ihm gesagt, »keiner von denen taugt was.« Dann kam ihm sein Bruder Paul in den Sinn. Was der wohl letzte Nacht gedacht hatte? Paul hatte so ausgesehen, als ob er sich gleich in die Hose scheißen würde vor lauter Angst, als er hörte, daß er, Quick, die zwei alten Leute erstochen hatte. Er war sich nie ganz sicher, ob man Paul trauen konnte, aber eins war ganz sicher, er war todmüde. Quick drehte sich auf die Seite und schlief auf der Stelle ein. * »Komm schon rein, Johnny. Und setz dich.« Quick betrachtete den großen schwarzen Kerl, der im Stuhl vor ihm saß. Aha, auch ein Neger. Sogar der Sozialarbeiter war also ein Neger. Und dazu noch so ein riesengroßer Scheißer. Er hatte bisher gar nicht gewußt, daß es überhaupt schwarze Sozialarbeiter gab. Die meisten, mit denen er bisher immer so zu tun gehabt hatte, waren Frauen. Alles, was er bei denen machen mußte, war nett zu lächeln, und schon fingen die an, ihm zu sagen, wie lieb und nett er doch im Grunde sei. Er hätte doch noch das ganze Leben vor sich, um anständig zu werden, und all den Quatsch, den Sozialarbeiter nun mal so drauf hatten. Er ließ sich in den Stuhl fallen. »Mein Name ist Weston Mac Kenzie. Du siehst so aus, als seist du gerade erst aufgewacht.« »Stimmt. Ich war die ganze Nacht auf. Und ich bin vorhin erst wieder hierher gebracht worden. Die haben mich nicht gerade lange schlafen lassen.« »Du hast heute morgen deine erste Verhandlung gehabt, stimmt's?« 263
»Ja.« Quick betrachtete Mac Kenzies braunes Gesicht, die dichten schwarzen Kraushaare und den dünnen Oberlippenbart des Mannes. »Du hast einen Verteidiger zugeteilt bekommen?« »Ja.« Er starrte Mac Kenzies Bart immer noch an. Irgendwie kam der Kerl ihm bekannt vor, sah aus, wie einer aus dem Fernsehen. Wie hieß er noch? Nur daß er eben schwarz war. »Hast du das Gefühl, du hast es gut mit ihm getroffen?« Quick "grinste. »Na ja, der war gar nicht so übel. Würde sogar sagen, der war der beste, den ich je hatte.« »Der beste, den du je hattest? Willst du damit sagen, daß du schon so viele Anwälte gehabt hast?« »Na ja, ein paar schon. Hauptsächlich vor dem Jugendgericht. Da hat mich die Polizei immer hingeschleppt. Wegen der einen oder anderen Sache. War nie was Schlimmes. Die haben mich auch nie eingebuchtet. Hatte nur immer Schiß, daß die mich hochgehen lassen, die Anwälte meine ich. Aber der hier, der hat's drauf, echt.« »Dann bist du also zufrieden. Du bist korrekt behandelt worden, als sie ihn dir gegeben haben?« »Ja. Sieht alles gut aus. Müßte bald wieder aus dem Kasten hier raus sein. Bin ja schließlich unschuldig.« »Johnny, verschwende deine Zeit nicht damit, mich auf die eine oder andere Weise zu überzeugen, was deinen Fall betrifft. Das ist nicht meine Sache. Klar? Das muß das Gericht entscheiden.
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Wenn du nichts Schlimmes angestellt hast, dann werden die das schon rausfinden. Mein Job ist, rauszukriegen, wie du die Zeit hier so verdaust.« »Ach, ich wollte schon immer mal nach Rikers Island. Sieht ja nicht übel aus. Viel besser, als ich gedacht habe.« »Johnny, was sagst du da? Du wolltest schon immer mal herkommen?« »Na wissen Sie, ich hab' schon 'ne Menge darüber gehört, und wie ich schon sagte, ich wollte es mal mit eigenen Augen sehen.« »Schon irgendwelche sonst gesehen?« »Nein, ich sag' Ihnen doch, ich hab' noch nie was getan. Und bin noch nie eingebuchtet worden.« »Sonst noch welche, die du gern sehen würdest?« »Weiß nicht. Momentan fällt mir nichts ein. Warum?« »Weil, Johnny, ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß du schon 'ne ganze Menge Festnahmen hinter dich gebracht hast, und wenn du so weitermachst, und du auch noch 'n paar Gefängnisse sehen willst, von innen, meine ich, du deinen Wunsch bestimmt noch erfüllt kriegst. Meinst du, die sehen alle so aus, wie das hier?« »Könnte ich mir vorstellen, ja.« »Dann stehen dir aber noch ein paar ganz gewaltige Schocks und Enttäuschungen bevor. Das hier ist nur ein Untersuchungsgefängnis. Man kann es nicht als richtiges Gefängnis bezeichnen. Wirklich nicht! Du wirst dich noch umschauen, da wünschst du dir, du wärst tot.«
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»Scheiße noch mal, damit können Sie mir doch keine Angst machen. Außerdem werde ich keinen Schock kriegen, weil ich nichts getan hab'. So.« »Wenn du nicht was getan hast, warum dann all diese Verhaftungen?« »Scheiße. Das weiß ich doch nicht. Ich kümmer' mich um meine Angelegenheiten, und die Bullen machen mich einfach an und schleppen mich vors Jugendgericht.« »Diesmal ist es gar kein Jugendgericht, Johnny. Du bist nicht gut informiert. Nach der neuen Gesetzverordnung hast du für alles geradezustehen, genau wie ein Erwachsener, der ein Verbrechen begangen hat. Verstehst du, was das heißt?« »Blödsinn. Ist doch alles der gleiche Quatsch. Mein Anwalt hat gesagt, er wird alles tun, um den Fall ans Jugendgericht zu übergeben. Hat er heute morgen gesagt.« »Johnny, du solltest besser anfangen, dich mit den Tatsachen vertraut zu machen. Denk mal drüber nach, 'n bißchen wenigstens, ja? Erzähl mir mal was über deine Familie.« »Was wollen Sie denn da wissen?« »Alles, was du mir anvertrauen willst.« »Na ja, ich hab' 'nen Bruder und 'ne Schwester.« »Ist das alles, was du mir erzählen willst?« »Fragen Sie mich lieber, was Sie wissen wollen.« »Ist dein Vater bei euch?« »Nein. Der ist vor fünf oder sechs Jahren oder so ausgezogen.« »Kannst du dich noch gut an ihn erinnern?« »Klar.« »Mochtest du ihn?« 266
»Er hat mir 'ne Menge Dinge beigebracht.« »Ob du ihn mochtest.« »Ach, der war ganz in Ordnung. Konnte allerdings ziemlich ungemütlich werden. Zum Beispiel, wenn er 'n paar Bier zuviel gekippt hat.« »Ungemütlich, dir gegenüber?« »Ja, und mit allen.« »Du sagst, er hat dir 'ne Reihe von Dingen beigebracht. Was denn zum Beispiel?« Quick sah wieder seinen Vater vor sich, wie er das Messer über den Wetzstein zog. »Och, weiß nicht mehr. Eben das eine oder andere.« »Nun sag doch mal. Was denn zum Beispiel?« drang Mac Kenzie weiter in den Jungen. Quick zuckte die Schultern und blickte den Mann direkt an. Ihm fiel sonst nichts ein. »Und wie steht's mit deiner Mutter?« »Wie meinen Sie die Frage?« »Wenn ich recht verstehe, wohnst du bei deiner Mutter.« »Ja. Also, der neuste Stand der Dinge ist, daß sie gestern abend auf 'ne Party gegangen ist. Ich glaub', sie kommt bald zurück.« »Magst du deine Mutter?« »Die ist ganz in Ordnung. Sie trinkt etwas zu viel Bier. Und dann will sie immer das eine oder andere haben. Und ich versuch' dann eben, es ihr zu besorgen.« »Was zum Beispiel will sie denn besorgt bekommen?« »Weiß nicht. Das eine oder andere eben. Einmal wollte sie 'ne Flasche Parfüm.« 267
»Und wie besorgst du ihr die Sachen? Wie bezahlst du sie?« Quick grinste. »Mit 'm Geld, das ich mir verdiene.« »Was für eine Art von Arbeit machst du denn?« Quick grinste noch breiter. »Na ja, eben Gelegenheitsjobs und so.« »Erzähl mir mal was von diesen Gelegenheitsjobs.« »Nein, ich erzähl' Ihnen lieber was von meinem Bruder.« »Du möchtest mir nichts über deine Gelegenheitsjobs sagen?« »Nein.« Das schlechte Gewissen stand Quick förmlich auf der Stirn geschrieben. »Darüber gibt's nix zu sagen.« Mac Kenzie sah den Jungen einen Moment lang nachdenklich an. »Also gut. Dann erzähl mal was über deinen Bruder. Ich glaube, er ist ein paar Jahre älter als du, stimmts?« »Ist 'n Streber. Lernt den ganzen Scheißtag über.« »Findest du das so schlecht?« »Mich könnten Sie jedenfalls nich mit zehn Pferden dazu kriegen.« »Magst du deinen Bruder?« Quick zögerte und blickte nachdenklich an die Wand. »Weiß nich.« »Versuch doch mal, dir darüber klarzuwerden und erzähl's mir.« »Da gibt's nix zu sagen.« »Da gäb's wahrscheinlich 'ne ganze Menge, wenn du einfach mal anfangen würdest, was zu erzählen. Aber o. k. Reden wir über deine Schwester.« »Die geht auf 'n Strich, Eighth Avenue.« 268
»Und wie findest du das?« Quick zuckte die Schultern. »Sie sagt, sie verdient ordentlich Knete dabei.« »Ich hab' aber den Eindruck, du findest irgendwas daran nicht so gut.« Quick blickte weg, dann sah er den Mann ihm gegenüber wieder an. Wut und Haß brannten in seinen Augen. »Ich kann ihren Macker nich verknusen. Nich so viel«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Was gefällt dir nicht an ihm? Daß er ihr Zuhälter ist?« »Ich finde, sie sollte ihm nich das ganze Geld geben. Das gehört ihr. Nich ihm.« »Aber es scheint doch noch was zu geben, was dich stört.« Quick sah Mac Kenzie an. Aber er antwortete nicht. »Weil er ein Schwarzer ist vielleicht? Er ist doch ein Schwarzer? Die meisten Zuhälter in der Gegend sind Schwarze.« Quick starrte ihn an und schwieg nach wie vor. »Du hast Schwierigkeiten mit Schwarzen?« Der Junge blickte in Mac Kenzies tiefschwarzes Gesicht. »Wenn du die hast, Johnny, dann solltest du besser versuchen, damit fertigzuwerden. Oder du versuchst zur Abwechslung mal was anderes. Weil du viel Zeit mit einer Menge von meiner Sorte verbringen wirst, wenn du so weitermachst. Auf beiden Seiten des Gesetzes wimmelt es nur so von Schwarzen, Leute, die im Knast sitzen und die Beamten, die mit ihnen zu tun haben. Die Art, in der du 269
jetzt dein Leben fristest, bringt dich jedenfalls dahin, daß du dir nicht aussuchen kannst, mit wem du es zu tun hast.« Quick blickte weg. Das alles interessierte ihn im Moment nicht. Er wußte, er würde schon bald wieder hier rauskommen. »Willst du noch mehr darüber reden?« fragte Mac Kenzie. Er betrachtete Quieks Gesichtsausdruck. Der Junge schien tief in Gedanken versunken zu sein. Nach längerem Schweigen fragte er Quick: »Johnny, beantworte mir nur das eine: Wen magst du am liebsten in deiner Familie, deinen Vater, deine Mutter, deinen Bruder oder deine Schwester?« »Meine Schwester«, sagte Quick wie aus der Pistole geschossen. Und sofort mußte er wieder daran denken, wie zärtlich Cindy zu ihm immer gewesen war. Er konnte sich noch daran erinnern, nach welchem Parfüm sie roch. »Deine Schwester? Warum?« »Da gibt's keinen besonderen Grund. Es is eben so.« Kurze Pause. Mac Kenzie nickte und zog die Augenbrauen leicht hoch. »Okay, Johnny. Wir müssen jetzt aufhören. Nur noch eins: Ich gehe davon aus, daß du noch nie unter einem Dach mit lauter Fremden gelebt hast. Meinst du, du wirst große Probleme haben? Und denk dran, die meisten Jungen sind Schwarze.« »Scheißfrage. Ich werd' schon irgendwie damit klarkommen. Basta.«
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»Kann sein, daß die dich auch nicht mehr mögen, als du sie. Und zwar aus genau demselben Grund.« »Dann können sie mir gestohlen bleiben.« »Mit der Einstellung, mein Lieber, fällst du ganz bestimmt auf die Nase. Das bringt dich kein bißchen weiter. Die sind viele, und du bist allein.« »Ich kann auf mich selbst aufpassen. Außerdem bin ich sowieso nicht lange hier.« »Mach dir das Leben nicht schwerer als nötig. So lange du hier bist wenigstens nicht. Nun, was die Hausordnung betrifft: Meinst du, du wirst mit den Beamten klarkommen?« »Hab' ja keine andere Wahl.« »Wie ich schon sagte, du kannst dir das Leben leichtmachen oder auch sehr schwer. Die leichte Methode ist auf jeden Fall die bessere und klügere, um hier klarzukommen.« »Ich versteh' mich sogar schon ganz gut mit Officer Paxton«, sagte Quick lächelnd. Aber er merkte sofort, daß Mac Kenzie damit nicht sonderlich zu beeindrucken war. Mac Kenzie griff zum Telefonhörer. »Mac Kenzie am Apparat. Wir sind soweit.« Er legte auf und wandte sich wieder an Quick: »Wenn du mich sprechen willst, brauchst du's denen nur zu sagen. Dann komme ich. Oder, wenn ich nicht kann, irgendein anderer. Dafür sind wir nämlich hier. Klar?« Quick zuckte die Schultern und sagte strahlend: »Ja, ja, ich werde mich schon melden, wenn was ist.« Officer Paxton erschien im Raum. »Es ist Zeit fürs Abendessen, Johnny. Ich bring' dich jetzt in den 271
Tagesraum und zeig' dir alles.« Wieder das Summen der Türen. Sie verließen das Sprechzimmer des Sozialarbeiters. Quick sah, wie der uniformierte Beamte im Kontrollraum auf die verschiedenen Knöpfe drückte. Es gab eine riesige Schalttafel mit vielen winzigen Lämpchen. Rikers Island war offenbar ein Spinnennetz aus Gängen und Zellen, die voneinander durch automatische Gittertüren abgeschottet waren. Die Erkenntnis traf Quick wie ein Schlag. Er würde mit all den anderen Jungen in diesen großen Käfig gesteckt werden, den Tagesraum, wie Paxton ihn nannte. Er, der einzige Weiße zwischen hundert schwarzen Affen. Und nun war er drauf und dran, den weißen Affen spielen zu müssen. Plötzlich raste sein Puls wie verrückt. Fast wurde ihm schwindlig. Aber er merkte gleichzeitig, wie leer sein Magen war. »Warten Sie«, sagte Quick. »Warten, worauf denn?« fragte Officer Paxton. »Ich will da nicht rein.« »Aber warum denn nicht?« »Hab' keinen Hunger.« »Dann ißt du eben nichts.« »Aber ich will lieber in meine Zelle.« »Hör mal zu, mein Junge. Du mußt dich an den Tagesablauf hier gewöhnen.« Es war klar, daß Quick Angst hatte. »Willst du nicht mit Mac Kenzie noch mal darüber sprechen? Dafür ist er doch da, daß man ihm von. diesen Problemen erzählt.« Sie standen vor der Tür. Quick warf einen Blick in die Runde. Nein, er hatte keine Lust, sich wieder mit Mac Kenzie an einen Tisch zu setzen. Dem hatte er 272
ja gerade erklärt, daß er mit den Jungen klarkommen würde. Er warf einen Blick auf Paxton. Der Mann stand einfach da und beobachtete ihn mit völlig unbewegter Miene. Der Beamte wartete ab, was Quick als nächstes tun und wie er mit dieser Situation zurechtkommen würde. Quick holte tief Luft. »Sagen Sie, die sollen die Tür aufmachen.« Paxton drehte sich um und gab ein Zeichen zum Kontrollraum hin. Und schon glitt die Tür leise auf. »Na, geh schon!« sagte Paxton. Quick trat über die Schwelle. Paxton folgte ihm. »So, Jungens, es gibt einen Neuen hier. Sein Name ist Johnny.« Er deutete zur Ecke des großen Raums, wo ein uniformierter Beamter am Tisch saß. »Johnny, das ist Officer Canzelli.« »Na, wen haben wir denn da?« flachste ein großer, muskulöser Schwarzer mit einem breiten Kamm in der Afrofrisur. »Ist er nicht zucker?« pflaumte ein anderer. »Guckt euch mal diesen süßen kleinen Lockenschopf an. Richtig niedlich.« »Haste auch deinen Föhn mitgebracht?« fragte ein Puertoricaner mit dicken Brillengläsern. Der Junge zwinkerte seinen Kumpeln zu, und wie auf Kommando prusteten alle los. Quick rührte sich nicht vom Fleck. Er stand vor den Jungen, die plötzlich etwas wie einen Halbkreis um ihn herum gebildet hatten. »He, du, Spaghettifresser, warum hast du' uns nicht gesagt, daß wir so ein niedliches Schneckchen in den Bau kriegen? Die ist ja direkt was zum Angraben.«
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»So, Schluß jetzt mit dem Scheiß«, donnerte Canzelli. Quick warf einen Blick auf den Beamten. Der Mann war fett wie eine Wachtel und hatte ein bleiches Gesicht. »Mensch, das hättest du uns doch sagen müssen, Spaghetti, echt«, pflaumte der Junge mit der Afrofrisur weiter. »Ich hab' gesagt, Schluß jetzt!« schrie Canzelli. Die Jungen waren noch etwas näher gekommen. Quick schob die Hände in die Hosentaschen, aus alter Gewohnheit. Er zuckte zusammen, als ihm wieder bewußt wurde, daß er kein Messer mehr bei sich trug. »Wo ist dein Teller?« fragte ein kleiner Junge, der Quick bisher nicht weiter aufgefallen war. »Sie müssen dir 'nen Teller geben. Sag' dem Officer, er soll dir einen geben.« Quick wandte sich zu Paxton um, der hinter ihm stand. Er versuchte es mit einem Lächeln. Aber Paxton blieb ernst. »Officer Paxton, wo krieg' ich 'nen Teller her?« »Ich sorge schon dafür, daß du einen bekommst«, sagte Paxton. In diesem Augenblick wurde der Essenwagen hereingerollt. Der Duft nach einer warmen Mahlzeit erfüllte im Nu den Raum. Quick lief förmlich das Wasser im Mund zusammen. Jetzt war es ihm egal, daß er in Gegenwart von Schwarzen und Puertoricanern essen mußte. Als er sah, daß die anderen Jungen eine Schlange bildeten und sich anstellten, begab er sich ans Ende. * 274
»Okay, Maureen, du bist am Zug«, sagte Chris. »Wie, ich schon wieder?« »Na mach schon«, sagte Frank. »Bin ja echt gespannt, was du als nächstes ausziehst. Viel Auswahl haste nich mehr. Kann man nich sagen.« »Ich versteh' ja die Regeln gar nicht, von eurem komischen Spiel«, erwiderte Maureen. Sie nahm einen Schluck aus der Dose. Das Bier lief über ihr Kinn und floß langsam an ihrem Hals hinunter bis in den BH. »Das zischt mal wieder«, sagte Chris grinsend. »Jetzt versteh' ich endlich, was mit dem Tropfen auf dem heißen Stein gemeint ist.« Dröhnendes Gelächter bei den Männern. Isobel kicherte albern. »Wenn ihr alle so lacht, kann ich mich gar nich konzentrieren«, maulte Maureen. Sie schwankte etwas und holte tief Luft. Sie starrte auf die drei Karten in ihrer Hand. »Zeigen«, forderte Chris auf. Er legte drei Neunen auf den Tisch. »Scheiße«, kam es von Isobel. Sie nahm sich einen Ohrring ab und gab ihn Frank. »Zehn«, sagte Chris und deckte auf. Maureen wunderte sich. »Was is' los? Hab' ich schon wieder verloren?« Chris grinste. »Sieht fast so aus, Mädchen.« »Na, was kriegen wir denn jetzt zu seh'n, Maureen?« grölte Frank. »Äpfel oder Pflaumen?« Maureen griff wieder nach ihrer Bierdose. »Ich... ich zieh mich nich weiter aus.« »Sei bloß nich zickig. Richtig mädchenhaft stellst du dich an«, sagte Frank. »Is doch keine große Sa275
che. Mensch, Maureen, letzte Nacht sind wir alle zusammen nackt baden gegangen.« »Aber das war im Dunkeln. Und ich hatte 'n Handtuch um.« »Laß jucken, Maureen«, drohte Frank jetzt humorlos. Sie mußte es wohl oder übel tun. Maureen blickte einen nach dem andern an. Frank machte ihr irgendwie Angst. Sie hatte ihn eigentlich von Anfang an nicht besonders gemocht. Er war so ein brutaler Typ. Ein richtiger Fernfahrer. Chris fand sie riesig nett. Aber Frank war der, der bestimmte. Und jetzt mußte sie weiterspielen. Sie verschränkte ihre Arme und öffnete langsam und aufreizend den BH. Sie ließ ihn hinuntergleiten und setzte sich aufreizend hin. Ihre Brüste hoben sich. Wenn sie's schon machen mußte, dann sollten die Männer ihre altbewährten Fitzgerald-Brüste wenigstens richtig bewundern. Frank blickte sie an, sprachlos. Darin nickte er Chris zu. »Da wir morgen früh schon wieder nach New York zurück müssen, machen wir heute abend noch mal 'nen kleinen Partnertausch.« Frank starrte bei diesen Worten immer noch auf ihren Busen. »Das gehört zum Spiel.« »Nein!« Maureen griff nach Chris' Arm. »Schatz, ich bin nur wegen dir mitgefahren. Wirklich. Wenn ich gewußt hätte, daß...« Chris zuckte die Schultern. »Ich glaub', wir haben keine andere Wahl, Süße. Frank hat uns in seinem Wagen mitgenommen. Und wir wollen doch mit ihm auch wieder zurück in die Stadt.« 276
Er wartete einen Moment. »Komm, Maureen, sei doch kein Spielverderber. Wir wollten doch mal 'ne richtig tolle Party haben, stimmt's?« Maureen hatte das Gefühl, daß Chris bei diesen Worten kaum das Grinsen unterdrücken konnte. Aber sie war sich nicht ganz sicher. Ihr Blick irrte hilflos zu Isobel. »Verdammt noch mal, Maureen«, lachte die Frau. »Bis gestern nachmittag kanntest du noch keinen von beiden.« Maureen blickte von einem zum andern. Alle starrten sie an. Und es gab keinen Zweifel, sie mußte mitspielen. Chris und Isobel nickten sich lächelnd zu, in stillem Einverständnis. »Ich brauch' jetzt noch ein Bier«, murmelte Maureen. Ihr war übel. Eine Party war eben eine Party. Sie sah Frank an und verschränkte die Arme, bis die Brüste sich berührten. Sie versuchte, so sexy auszusehen, wie sie nur konnte. * »Hast du mit irgend jemandem hier über die Sache gesprochen?« »Nein, mit niemand.« Quick betrachtete seinen Anwalt aufmerksam. Er fand, daß der Mann irgendwie faszinierend aussah mit seinem roten Haar und den vielen kleinen Sommersprossen, die über sein ganzes Gesicht verteilt waren. Der buschige Bart bedeckte die volle Oberlippe. »Ich bin heute abend extra hierhergekommen, um dir noch mal genau dasselbe zu sagen, wie schon heute vormittag. Du mußt dich daran halten, was ich sage. Ist das klar?« »Ja. Ich glaub' schon.« »Ich kann dir natürlich nicht verbieten, mit irgend jemandem über irgendwas zu reden. Du kannst ja 277
nicht wie ein Taubstummer durch die Landschaft rennen, aber deshalb ist es gerade so wichtig, daß du weißt, was du sagen kannst und was nicht. Nehmen wir mal an, jemand fragt dich, ob du was essen willst, dann kannst du natürlich eine Antwort geben, versteht sich von selbst. Oder, ob du mitspielen willst oder beim Unterricht, den ihr Jungens habt. All das. Ganz logisch. Aber du sagst keinen Ton, wenn es um deinen Fall geht. Nichts. Kein Sterbenswörtchen. Du redest überhaupt nicht über die Zeit, bevor du hierher kamst. Oder wie du so lebst. Ist das klar?« »Ja.« »Das gilt für die Jungen, für die Wärter, für die Sozialarbeiter, die Besucher. Das gilt für jeden. Wenn du nur den leisesten Zweifel hast, sag lieber gar nichts. Außer, ich bin dabei. Wenn überhaupt, dann nur ja oder nein. Verstanden?« »Ja.« »Was tust du, wenn ein Junge dich in ein Gespräch über alles, was ihr schon so Tolles angestellt habt, verwickeln will? Wie reagierst du dann?« »Meine Güte. Ich werd' das schon machen. Ich sag' ihm, er soll seine blöde Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken.« »Eben nicht. Du verziehst dich. Du läßt ihn einfach stehen. Oder du bringst das Gespräch auf ein anderes Thema. Sprich mit ihm zum Beispiel über Baseball.« »Ich mag Baseball nicht.«
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»Dann such' dir meinetwegen ein anderes Thema aus. Aber laß dich nicht aushorchen, weder von den Jungen, noch von den Wärtern. Kapiert?« »Ja.« Greenhouse betrachtete Quick prüfend. »Sag mir jetzt noch einmal ganz genau, wie es letzte Nacht auf dem Revier zuging, als du das Geständnis gemacht hast. Du hast gesagt, AI Lamson hat auf den Tisch gehauen.« »Der hat das immer wieder gemacht«, log Quick. »Ich hatte Angst, der würde mich schlagen.« »Verscheiß mich nicht«, sagte Greenhouse. »Dazu ist der viel zu clever. Der weiß genau, was er zu tun oder zu lassen hat. Immer schön bei der Wahrheit bleiben. O. k?« Quick lehnte sich zurück. »Vielleicht hat er's eben nur ein paar Mal gemacht.« »Ich denke, du hast mir erzählt, daß er dir die Rechte vorgelesen hat und dich gefragt hat, ob du 'nen Anwalt willst, bevor du auf seine Fragen antwortest. Und daß er auch deinen Bruder gefragt hat, und der hätte dafür gestimmt, daß ihr wartet. Richtig?« »Ja.« »Aber die haben nicht gewartet?« »Nein.« »Weil du nicht wolltest?« »Ich fand's Quatsch. War doch total unnötig.« »Was Dümmeres hab' ich noch nie gehört.« »Die Anwälte, die ich bisher immer gehabt habe, die hatten doch keinen blassen Schimmer.« Quick lächelte. »Die waren eben nicht so wie Sie.« »Du redest schon wieder Mist«, sagte Greenhouse. »Noch eine Frage. Du hast mir erzählt, Lamson hat 279
zu Beginn des Verhörs nicht gesagt, um was es überhaupt geht.« »Nein. Er hat nur gesagt, es wäre was sehr Ernstes. Ich hatte keinen Schimmer, was der wollte. Ich hatte das längst vergessen, was auf der Seventh Street los war.« »Hab' ich dich nach irgendeiner Sache in der Seventh Street gefragt? Was ist mit dir los? Jetzt paß aber mal auf!« »Ich sag's doch nur Ihnen.« »Was hab' ich dir die ganze Zeit übers Beantworten von Fragen gepredigt? Egal, wer sie stellt.« »Also gut«, seufzte Quick.
16. Kapitel Kornienko war in Gedanken weit fort. Er beschäftigte sich mit Quick, mit der Festnahme, dem gestrigen Tag und was noch vor ihnen lag. Er hörte Angie nicht zu, der schier endlose Monologe über billige italienische Restaurants hielt, die es in Queens gab, über die Supermärkte, in die seine Frau normalerweise ging und über Sport und Gott und die Welt. Er hörte auch nicht, daß etwas über Funk durchkam, und das war ihm bisher noch nie passiert. Überfall in einem Lebensmittelgeschäft auf der Second Avenue, zwischen Thirtyseventh und Thirtyeighth Street. Aber Angie hatte den Funkspruch mitbekommen. »Mensch, das ist ja genau hier«, rief er aufgeregt aus. »Nächster Block!« Er lenkte den Wagen aus dem Verkehrsstrom auf die rechte Straßenseite.
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»Da vorne! Das Geschäft mit der roten Fassade, das muß es sein.« »Fahr näher ran«, sagte Kornienko. Er war jetzt wieder voll bei der Sache. Er hatte seinen Revolver schon gezogen, die andere Hand lag am Türgriff. Der Wagen stand noch nicht, als Kornienko schon die Tür aufriß und raussprang. »He, Steve, verdammt noch mal, warte!« schrie Angie ihm nach, der den Wagen erst noch abstellen mußte. Auch er zog nun die Waffe und lief seinem Kollegen nach. Er erreichte ihn erst an der Ecke, kurz vor dem Geschäft. Steve hatte sich hingekniet und spähte durchs Schaufenster. Als Deckung benutzte er eine Pyramide aus Delikatessen, die im Ladeninnern zur Dekoration aufgeschichtet war. »Der Bursche bedroht den Besitzer mit der Pistole«, flüsterte Kornienko. »Der Mann holt jetzt die Scheine aus der Kasse und steckt sie in eine Papiertüte.« Ein paar Sekunden verstrichen. »Den kauf ich mir!« Er sprang auf und lief zur Tür. »Warte lieber noch 'ne Minute«, flüsterte Angie ihm hinterher. Aber Stefan hatte bereits die Ladentür aufgerissen und zielte, mit beiden Händen die Pistole weit von sich streckend, auf den Rücken des Mannes. »Polizei! Keine Bewegung«, schrie er. Der Ladenbesitzer ließ sich augenblicklich auf den Boden hinter der Theke fallen. »Nicht schießen«, rief der Mann erschrocken aus und drehte sich vorsichtig um, ohne allerdings die Waffe fallen zu lassen. Es war ein Weißer, mittelgroß, um die vierzig, schätzte Kornienko. Er trug ein
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Hemd mit Blumenmuster und auffallend schmutzige Hosen. »Das genügt«, sagte Kornienko. »Leg sie auf den Ladentisch, und mach' die Beine breit.« Angie sah, wie der Mann die Pistole senkte. Irgend etwas roch faul an der Sache. Und plötzlich wußte Angie auch, was es war. Der Mann war nicht ein bißchen nervös. Angie kroch unterhalb der Brüstung des Schaufensters bis zum anderen Ende. Er richtete sich langsam auf und sah im Schatten eines Regals einen hageren Mann in T-Shirt stehen, der auf Kornienko zielte. Mit zwei Sprüngen war Angie vor der offenen Ladentür. Er gab einen Schuß auf den hageren Mann ab. Der schmiß sich auf den Boden hinter der Theke und feuerte in Richtung Straße zurück. Die Scheibe splitterte. Auf der Straße schrie eine Frau. Angie zielte und schoß ein zweites Mal. Die dritte Kugel durchschlug eine Dose Mehl und traf den hageren Mann in den Bauch. Angie sah, wie der Getroffene zusammenbrach. Kornienko war inzwischen dem Komplizen, der vor der Kasse stand, bis auf Armeslänge nahegekommen. »Leg die Waffe auf den Tisch, wird's bald? Los!« Der Mann zitterte, als sein Blick auf den Verletzten fiel, der sich vor Schmerzen am Boden wand. »Bitte«, wandte er sich an Kornienko. »Ich mach' ja alles, was Sie sagen. Bitte nicht schießen, okay?« Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. »Ich leg' die Waffe jetzt auf den Tisch, wie Sie's gesagt haben. So.« 282
Angie konnte immer noch nicht den Mann auf dem Boden liegen sehen. Er schlüpfte durch die Tür, die Waffe immer schußbereit. Der Verletzte lag hinter dem Regal. »Hol schon mal deine Marke raus«, rief er Kornienko zu. »Die Kollegen auf Streife müssen jeden Moment kommen.« Der Einbrecher, der vor der Ladenkasse stand, hatte seine Pistole auf den Tisch gelegt. Er hob zitternd die Arme. Kornienko fegte die Waffe vom Tisch, sie fiel hinter die Theke. Er ergriff den Mann am Arm und schleuderte ihn auf den Boden. »Schön hinlegen. Auf den Bauch. Beine spreizen!« Er zog seine Marke heraus. Mit der linken Hand hielt er sie hoch in Richtung Tür. Seine Waffe blieb auf den am Boden Liegenden gerichtet. Er wandte keinen Blick von ihm. Auch Angie hatte in der Zwischenzeit seine Erkennungsmarke gezogen. Mit einer kräftigen Handbewegung wischte er die Büchsen vom Ladentisch, die ihm immer noch die Sicht versperrten. Der Verletzte lag im Gang zwischen zwei Regalen, umgeben von zerplatzten Packungen mit Keksen und Bonbons. Sein Blick war glasig, und der Mann hielt die Hände auf die Wunde gepreßt. »Polizistenschwein!« japste er, als er merkte, daß Angie sich über ihn beugte. Angie stieß den Revolver des Verletzten mit dem Fuß zur Seite. »Das Rumspielen mit der Waffe überläßt du besser uns, du kleiner Scheißer«, sagte er. Er betrachtete die Wunde, und sein Blick wurde weicher. »Wir bringen dich so schnell wie's geht ins Krankenhaus.« Hinter der zersplitterten Scheibe tauchte 283
jetzt das Blau von Polizeiuniformen auf. »Wir sind Polizisten!« rief Angie. »Alles unter Kontrolle. Kornienko und Trotta vom fünfzehnten Revier. Ist alles in Ordnung.« »Wir sind Polizisten!« rief nun auch Kornienko. Die beiden anderen ließen Kornienko und Angie nicht aus den Augen. Ihre Pistolen waren auf die beiden Kollegen gerichtet. »Keiner macht eine Bewegung! Wir werden uns erst mal überzeugen, was hier eigentlich los ist!« »Nicht schießen, Jungens«, schrie Angie verzweifelt. »Menschenskinder. Wir sind Polizisten. Vom fünfzehnten.« Einer der beiden uniformierten Polizisten hatte inzwischen Kornienko erkannt. »Den großen hab' ich schon mal gesehen«, rief er seinem Kollegen zu. »Ist 'n Ziviler vom fünfzehnten.« Die beiden steckten ihre Waffen ins Halfter zurück und betraten den Laden. Der Besitzer kam hinter der Theke hoch. Er war noch kreidebleich. »Danke«, stöhnte er erleichtert auf. »Ich danke Ihnen. Mein Gott, so was könnte ich wirklich nicht jeden Tag durchstehen. « »Wir brauchen schnell einen Krankenwagen«, sagte Angie. »Ich hab' einen von den Typen erwischt. Sieht nicht gut aus.« Einer der beiden uniformierten Polizisten verließ den Laden, um über Funk einen Krankenwagen anzufordern. Zwei weitere Kollegen erschienen. Kornienko bückte sich und wuchtete den Mann hoch, den er auf den Boden geworfen hatte. Er zwang ihn, sich über die Ladentheke zu beugen und durchsuchte ihn nach Waffen. Er fand nichts. Der Mann war schon älter, schätzungsweise Ende vierzig, wenn nicht darüber. Der andere mußte viel jün284
ger sein, hätte sein Sohn sein können. »Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern«, begann Kornienko. »Sie haben das Recht...« »Sie vergeuden Ihre Zeit mit dem Scheiß«, unterbrach ihn der Mann. »Ich sage sowieso keinen Ton ohne meinen Anwalt.« * Die meisten Gäste waren schon gegangen. Es war kühl in dem kleinen Restaurant. Kühl und still. Kornienko und Angie saßen in der hintersten Nische und starrten in ihre Gläser. Angie nahm einen Schluck. »Ich glaub', ich brauch' noch eins«, sagte er und trank wieder. »Zuerst impfen sie es einem auf der Akademie ein und nachher in den Wiederholungskursen. Man hört sich das an und denkt sich, na schön, wenn es einmal ernst wird, dann weiß ich, wie ich mich zu verhalten habe. Und im Jahr drauf hörst du wieder dasselbe, und du weißt wieder, du wirst es so machen, falls mal so ein Moment kommt. Und die Jahre vergehen. Du glaubst gar nicht mehr, daß du je in die Verlegenheit kommst, und plötzlich passiert's. Du mußt die Waffe ziehen. Und es ist wie ein Wunder. Es läuft alles genauso ab, wie sie's dir eingebleut haben, auch wenn du fünfzehn Jahre lang geglaubt hast, das geht todsicher in die Hose.« Er leerte sein Glas, es war schon sein zweites. »Ich hab' den Kerl angeschossen. Ich weiß, ich mußte es tun. Ich hab' ihm ein richtiges Loch in den Bauch geschossen. Ich hab's echt nicht gern getan, das kannst du mir glauben. Fünfzehn Jahre ist es her, daß ich Polizist geworden bin, und es ist das erste Mal, daß ich auf
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einen geschossen habe. Hast du das Loch gesehen?« »Hör mal, du kannst nicht andauernd darüber nachdenken. Das war ja schließlich kein unschuldiger Engel. Der gute Junge hatte eine geladene Achtunddreißiger dabei. Und da gab's nur eins, er oder du. Also hör auf, dir Gedanken zu machen.« »Anders herum, Steve. Er oder du!« »Dann werde ich wohl mal die nächste Runde zahlen«, lächelte Stefan. »Steve, ist dir eigentlich klar, daß du heute beinahe umgelegt worden wärst? Weißt du das eigentlich? Du bist da reingestürmt, als wär's dein allererster Einsatz. Ganz schön lebensmüde!« »Mensch, Angie, so schlimm war's ja nun auch wieder nicht.« »Machst du Witze? Steve, es war sogar sehr schlimm. Du hast dir nicht mal die Zeit genommen, dir den Laden von innen anzusehen, bevor du reingerannt bist. Du hast ja gar nicht geschnallt, daß da noch einer war. Der hätte dir mit Leichtigkeit eine verpassen können.« »Okay, okay. Wir hätten uns das von draußen besser ansehen sollen.« »Wir hätten... Steve, ja, verdammt richtig. Du bist eine Gefahr für uns beide, zur Zeit. Und das mach' ich nicht mit. Echt, Steve, das find' ich nicht gut. Du mußt endlich mal mit der ganzen Geschichte fertigwerden. Wenigstens so, daß du voll bei der Sache bist, wenn wir beide im Einsatz sind.« »Angie«, Kornienko blickte seinen Freund an. »Du hast ja recht.
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Natürlich muß ich versuchen, drüber hinwegzukommen. Ich weiß eben nur nicht, wie; das ist das Problem.« Angie blickte betreten zu Boden. »Na klar, ich weiß ja. Ich bin sicher... Es ist furchtbar.« »Hör mal, worüber regst du dich eigentlich so auf? Haben uns doch heute direkt 'nen Orden verdient. Und es ging ja ganz leicht. Wir hatten Glück. Vielleicht, wer weiß, befördern die uns sogar noch wegen dieser Glanzleistung.« »Aber genausogut ist es auch möglich, daß wir beim nächsten Mal eben kein Glück haben«, sagte Angie leise. »Was ist eigentlich mit dem Typen, den sie ins Bellevue Hospital geschafft haben? Du sagst, der kommt durch?« Kornienko bemühte sich, das Thema zu wechseln. »Ja, er wird's überleben, sagt der Arzt.« Angie hob sein Glas. »Was ist, Steve? Meinst du, wir kriegen noch was zu trinken?« * Maureen Blanton schloß die Wohnungstür auf und trat in den Flur. Ihr Gang wirkte beschwingter als sonst, auf ihrem Gesicht lag ein besonderes Leuchten, und sie lächelte zufrieden in sich hinein. Richtig übermütig fühlte sie sich, ja, zum Bäume ausreißen. Sie blieb vor dem Fernseher stehen und schaltete das Gerät ein. Als sie sah, daß gerade Werbung auf der Mattscheibe gebracht wurde, wandte sie sich ab und ging in den Flur. Sie kam am Zimmer von Paul vorbei. Die Tür war offen. Sie blickte hinein und ent287
deckte Paul, der auf dem Bett lag und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte. Er starrte an die Decke. »Bin wieder da«, sagte sie fröhlich. »War's schön?« fragte Paul, ohne sich nach ihr umzuwenden. »Sehr schön sogar, muß ich schon sagen. Es war so 'ne Art Wochenendparty, nur eben mitten in der Woche. Fernfahrer haben 'nen anderen Rhythmus als alle anderen Leute. Du erinnerst dich vielleicht. Dein Vater war ja auch einer.« »Ja.« »Waren richtig nette Leute, echt. Diese Isobel kannte ich ja schon von früher her, als dein Vater noch hier war. Und durch sie hab' ich die anderen kennengelernt. Werden bestimmt bald mal wieder durch New York kommen.« »Wie nett für dich.« »Komisch, wie? Du liegst da so... Tust du denn heute nichts?« Er gab keine Antwort. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte Maureen. »Mir geht's gut.« »Mußt du denn nicht lernen?« bohrte sie weiter. Paul schwieg. »Wie lief's denn so ohne mich? Irgendwas Besonderes passiert?« Paul richtete sich auf und schwang seine Beine über die Bettkante. Er sah seiner Mutter in die Augen. »Johnny ist Dienstag nacht verhaftet worden, weil er ein altes Ehepaar erstochen hat.« »Mein Gott, Junge, was sagst du da? Du machst wohl Witze.« »Es ist mein Ernst.«
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»Aber das ist doch total verrückt. So was würde Johnny nie tun.« »Er hat's selbst zugegeben.« »Das glaub' ich nicht. Hat er dir das gesagt?« »Er hat es der Polizei gesagt, als sie ihn Dienstag nacht festgenommen haben und aufs Revier brachten. Ich war dabei, als er es gestand.« »Die haben ihn bestimmt gezwungen, so was zuzugeben. Er hätte so was nie gemacht. Außerdem weiß jedes Kind in der Stadt, wie verdorben die Bullen hier sind.« »Die haben ihn zu gar nichts gezwungen. Er hat's gestanden, weil er's getan hat.« »Gut, gut. Ich glaub' dir kein Wort von all' dem. Keinen Moment.« Maureen blickte ihren Sohn an, als nähme sie es ihm übel, daß er so etwas überhaupt sagen konnte. »Und ich kann gar nicht glauben, daß du es tust.« »Verstehst du denn nicht? Ich war dabei, wie er's den Polizisten gesagt hat. Ich weiß, daß er's getan hat.« »Ach was, ich glaub' es dir nicht. Und ich werd' es nie glauben. Wie spät ist es eigentlich?« Sie warf einen Blick auf den Radiowecker, den Johnny vor einiger Zeit angeschleppt hatte. Für Paul. »Vier Uhr fast.« Sie wandte sich um und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank nahm sie sich eine Dose Bier. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück und ließ sich in ihren Lieblingssessel vor dem Fernseher fallen. Sie trank hastig ein paar Schlucke von dem herrlich kalten, erfrischenden Bier und lehnte sich zurück. Damit konnte wieder einmal ihre angeregte
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Unterhaltung mit den Gestalten auf der farbigen Mattscheibe beginnen. Paul kam noch mal zu ihr. »Ich glaube, du mußt auf dem Revier anrufen. Du mußt ihnen sagen, daß du zurück bist.« Maureen sah ihn nur kurz an und widmete sich dann wieder dem Film. * Jonathan Greenhouse hatte in Yale studiert. Er war einer der erfolgreichsten Studenten in der Schwimmannschaft gewesen und überhaupt von jeder Sportart begeistert. Von Yale war er zur University of Pennsylvania gegangen, wo er Jura studierte. Als frischgebackener Rechtsanwalt kehrte er dann in seine Heimatstadt New York zurück und hatte sofort eine Stellung in der Anwalts-Sozietät angenommen, der sein Vater angehörte. Es war ein altrenommiertes Anwaltsbüro auf der Wall Street, eine Firma, die nicht über Mangel an Klienten zu klagen hatte. Nach ein paar Monaten hatte Jonathan Greenhouse die Stellung satt. Zuviel Bürokram, fand er. »Manche Akten waren so dick, daß ich sie nicht mal aus dem Regal heben konnte. Das ist nichts für mich. So viel Sitzfleisch habe ich nicht«, erklärte er seinen Freunden, die es nicht verstehen konnten, daß er diese gute Stellung so schnell wieder aufgab. Nein, für Jonathan Greenhouse war dort einfach nicht genug los. Es gab für ihn keine Herausforderung wie früher beim Sport. Da konnte man gewinnen, die anderen im fairen Wettkampf schlagen. Er wollte kämpfen, die Zähne zusammenbeißen, den ganzen Willen zusammennehmen und die Sache durchstehen. So oder so. Er wollte mitdrehen, mitmischen, etwas bewirken, verändern. Er wollte mittendrin 290
sein. Greenhouse hatte sich aufs Strafrecht gestürzt. Er blickte zum Fenster hinaus, während ihn das Taxi in die Seventh Street brachte. Die Scheibe war heruntergedreht. Und die heiße feuchtschwüle Luft strömte ins Wageninnere und legte sich schwer auf die Lungen. Greenhouse mußte daran denken, wie kühl das Wasser in Maine gewesen war. Dort gab es Wälder, Grün, frische Luft. Was New York brauchte, war vor allem eine Verordnung, daß die Taxis mit Klimaanlage ausgerüstet sein mußten. Er warf einen Blick auf das Kofferradio, das der Taxifahrer am Armaturenbrett befestigt hatte. Die Nachrichten wurden auf spanisch gebracht. Greenhouse blickte auf seine Armbanduhr. Kurz nach halb sechs. Er dachte über Johnny Blanton und seinen Bruder Paul nach. Was würde ihn wohl erwarten, wenn er in die Wohnung kam? Ob die Mutter inzwischen aufgetaucht war? Ob überhaupt jemand in der Wohnung war? Er konnte ja nicht anrufen, weil die Familie kein Telefon hatte. Also war er einfach so losgefahren und konnte nur hoffen, daß er Glück hatte. Bestimmt war das jetzt die beste Zeit. Da aßen die meisten Abendbrot. Außerdem wollte er diesen Besuch gern noch vor dem Dunkelwerden hinter sich bringen und trotzdem etwas Zeit haben, um mit der Familie zu reden. Er brauchte schließlich ihre Mitarbeit, ihre Unterstützung, um den Jungen herauszuboxen. Aber er war weiß Gott nicht scharf drauf, in dieser Gegend nachts noch herumzulaufen und nach einem Taxi zu suchen. Der Kerl, der ihm mit dem Messer auflauerte, konnte ja nicht wissen, 291
daß sein Opfer auf der Seite der »Unterdrückten«, der Schwachen war. Das Taxi fuhr rechts heran. Greenhouse zahlte und stieg aus. Als der Wagen fortfuhr, blickte der Anwalt sich in der Gegend um. Ja, er hatte schon recht gehabt. Es war bestimmt besser, hier noch im Hellen herauszukommen. Er betrachtete die Fassade des Hauses und betrat den Hausflur. Auf einem der Briefkästen stand der Name Blanton. Blanton 3 A. Dritter Stock. Er tastete nach dem Loch in der Wand, Da war früher einmal eine Klingel gewesen. Er stieß einen leeren Milchkarton zur Seite und stieg die Treppe hoch. 3 A. Er klopfte an die schäbige Tür. »Wer ist da?« Greenhouse lächelte. Die Stimme einer Frau. Also war die Mutter zurückgekommen. Er klopfte noch mal. »Ich fragte, wer da ist!« Er klopfte wieder. »Mrs. Blanton?« Er hörte, wie Schritte sich der Tür näherten. »Mrs. Blanton«, rief er noch mal. »Ja?« »Mrs. Blanton«, sagte er durch die geschlossene Tür. »Mein Name ist Greenhouse. Ich bin der Verteidiger Ihres Sohnes.« »Sie sind was?« Die Tür ging einen Spalt auf. Maureen Blanton erschien dahinter. Nachdem sie den Mann vor ihr von oben bis unten gemustert hatte, lächelte sie. Offensichtlich war sie beeindruckt von dem, was sie sah. »Sie sagten, Sie sind Johnnys Rechtsanwalt?«
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»Ganz recht. Kann ich reinkommen?« Er prägte sich ihr Gesicht ein. Sie sah gar nicht übel aus, wenn sie lächelte. Noch ziemlich jung, jünger, als er erwartet hatte. Nicht gerade sehr fein, aber irgendwie hatte sie eine sagenhafte Ausstrahlung. Sicher war sie als junges Mädchen von allen Kerlen umschwärmt worden und hatte immer als die Schönste von allen in ihrem Viertel gegolten. »Bitte.« Sie machte die Kette los und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.« Immer noch lächelte sie und starrte ihn an. Besonders sein rotes Haar und der Bart schienen es ihr angetan zu haben. »Vielen Dank.« Sie hatte eine hautenge schwarze Bluse an. Und er fand, daß ihr Körper fast noch anziehender war als ihr Gesicht. Vielleicht fing sie schon an, etwas in die Breite zu gehen, aber sie hatte sicher noch ein paar gute Jahre vor sich, wenn man auf diesen Typ von Frau stand. Er folgte ihr ins Wohnzimmer. »Ist Ihr Sohn Paul zu Hause, Mrs. Blanton?« »Ja. Ist er.« Sie lächelte immer noch. »Könnten Sie ihn vielleicht dazu rufen?« »Natürlich. Paul!« Sofort kam Paul ins Wohnzimmer. »Guten Tag, Mr. Greenhouse.« »Wie geht's, Paul?« »Danke.« Paul zuckte die Schultern. »Besser als Johnny, vermutlich. « »Wollen Sie sich nicht setzen?« Maureen deutete auf das Sofa. »Ja, gern. Danke.« Greenhouse ging etwas unentschlossen im Raum umher und ließ sich schließlich auf einem Stuhl nieder, in der Hoffnung, daß keiner 293
gemerkt hatte, daß er absichtlich nicht auf etwas Gepolstertem sitzen wollte. Gut möglich, daß es hier Flöhe gab. »Mrs. Blanton, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns ohne den Fernseher unterhalten?« Sie strahlte ihn an. »Ich hab' den Film sowieso schon mal gesehen.« Sie erhob sich und stellte das Gerät ab. Dann setzte sie sich lächelnd wieder hin. »Mrs. Blanton, Ihr Sohn Paul hat Ihnen vermutlich schon gesagt, daß Johnny während Ihrer Abwesenheit verhaftet worden ist. Man beschuldigt ihn, zwei alte Leute beraubt und ermordet zu haben.« »Ja, hat er mir gesagt, als ich heute nachmittag zurückgekommen bin. Kaum bin ich mal von zu Hause weg, sehen Sie, da passiert so was. Tz, tz, ich muß sagen, mein Johnny, der hält mich immer in Atem.« Ein blasierter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Ich bin übers Wochenende in Jersey gewesen, an der Küste, müssen Sie wissen. Mit Freunden. So 'ne Art Wochenendparty, nur eben in der Woche. Meine Freunde sind nämlich stark eingespannt, beruflich meine ich. Ihr Wochenende beginnt manchmal erst Dienstag.« Greenhouse starrte die Frau entgeistert an. Nein, das konnte er nicht fassen. »Mrs. Blanton, sind Sie sich im klaren darüber, daß ihr Sohn angeklagt ist, und was ihm vorgeworfen wird?« »Die Polizei nimmt meinen Jungen alle paar Wochen mal fest. Wegen irgend etwas. Aber die behalten ihn nie lange eingesperrt. « »Aber Mrs. Blanton, diesmal sieht die Sache ein bißchen anders aus. Jetzt geht es um Mord. Ihr Sohn wird beschuldigt, zwei alte Leute umgebracht 294
zu haben. Und man hat vor, ihm eine langjährige Gefängnisstrafe aufzudonnern. Vielleicht sogar lebenslänglich. Haben Sie das überhaupt verstanden?« »Ja, schon, aber ich glaub's einfach nicht, daß er was in der Art tun könnte. Johnny macht so was nicht. Der ist zufällig ein guter Junge, müssen Sie wissen. Er hat mir diesen Fernseher geschenkt, sehen Sie, nur weil er wußte, wie sehr ich mir so einen wünsche.« »Oh, ja? Wie hat er das denn gemacht?« »Woher soll ich das wissen? Aber immer, wenn ich was brauche, besorgt Johnny es mir. Ich glaube, er hat einen Job, seit er nicht mehr auf die Penne geht.« »Wissen Sie denn nicht, was er so den ganzen Tag lang tut?« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, nein. Möchten Sie ein Bier?« Er starrte sie fassungslos an. Das konnte doch nicht wahr sein. Kein Zweifel, sie meinte das ernst. »Nein, danke.« »Na gut, aber ich trink' eins. Paul, bringst du's mir?« Während Paul in die Küche ging, blickte Greenhouse sich in dem Raum um. Und plötzlich entdeckte er neben dem Sessel, in dem Maureen saß, auch die vielen leeren Bierdosen. Ach so, dachte er, dann ist ja alles klar. Deshalb also dieser schleppende Tonfall. »Hören Sie mir jetzt bitte mal aufmerksam zu, Mrs. Blanton. Es gibt ein neues Gesetz in New York. Nach diesem Gesetz können Jugendliche, die einen Mord begangen haben, zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werden. Wir müssen damit 295
rechnen, daß Johnny für mehrere Jahre, vielleicht für sehr viele Jahre in den Knast muß. Ist Ihnen klar, was ich damit sagen will?« »Sagten Sie nicht, Sie sind Anwalt?« »So ist es.« »Dann sorgen Sie doch einfach dafür, daß mein Johnny schnell wieder aus dem Knast kommt. Die anderen Anwälte haben das immer geschafft.« »Natürlich werd' ich das versuchen. Aber diesmal liegen die Dinge ganz anders. Und ich brauche unter allen Umständen Ihre Hilfe.« »Wozu denn das?« Geschickt öffnete Maureen ihr Bier und machte gierig ein paar Züge. »Ich brauch' Sie als Zeugin. Wenn Sie überzeugt davon sind, daß Johnny es nicht gewesen sein kann, müssen Sie mir helfen, das auch dem Gericht klarzumachen.« Maureen schien durch ihn hindurchzublicken. Dann rülpste sie, hielt sich aber die Hand dabei vor den Mund. »Johnny ist ein guter Junge.« Maureen griff erneut zur Dose. »Der kann keiner Fliege was zuleide tun.« »Wenn Sie wollen, daß das Gericht das glaubt, dann müssen Sie tun, was ich Ihnen sage. Und außerdem müssen Sie unter allen Umständen nüchtern zur Verhandlung kommen, Mrs. Blanton.« Maureen warf ihm einen tiefgekränkten Blick zu. »Wollen Sie damit sagen, daß ich betrunken bin oder so?« Greenhouse schloß für einen Augenblick die Augen. Die letzten Worte hatte sie regelrecht gelallt. Und trotzdem behauptete sie tatsächlich, sie sei nüchtern. Mit der war nichts. Die konnte er in den Wind schreiben. O je, wenn er diese Frau vor 296
Gericht brachte, schadete er Johnny mehr, als er ihm nützen könnte. Gefundenes Fressen für jeden Anwalt. Greenhouse wandte sich Paul zu. Na, der Junge sah wenigstens vernünftig aus. Obwohl er einen apathischen Ausdruck drauf hatte. Als ob ihm alles vollkommen gleichgültig sei. »Paul, ich brauche auch deine Hilfe.« »Wozu denn?« »Du spielst eine besonders wichtige Rolle in diesem Fall. Du bist der Bruder des Angeklagten. Und du bist so ziemlich in seinem Alter. Jedenfalls fast. Und wahrscheinlich kennst du ihn besser als sonst irgend jemand weit und breit.« »Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich ihn überhaupt kenne.« »Was willst du denn damit sagen?« »Ich war dabei, als er gestanden hat. Bis dahin dachte ich noch, ich kenne ihn einigermaßen.« Greenhouses Magen schoß Purzelbäume. Ihm wurde übel. Die beiden sagten Dinge, die er ganz und gar nicht hören wollte. »Paul, allein die Tatsache, daß du dabei warst, als Johnny gestanden hat, ist eine große Chance. Das ist sogar sehr wichtig. Wenn ich recht informiert bin, hat der Beamte, der deinen Bruder vernommen hat, mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Und du hast außerdem noch deinem Bruder geraten, mit der Aussage zu warten, bis er einen Verteidiger hat. Und trotzdem ließ die Polizei ihn aussagen. Das sind die Punkte, auf die es ankommt.« »Worauf es ankommt, Mr. Greenhouse, ist, daß Johnny zwei Menschen ermordet hat. Warum sollte ich ihm da aus der Patsche helfen? Sobald er frei297
gelassen ist, begeht er doch sowieso den nächsten Mord. Vielleicht hat er es beim nächsten Mal sogar auf mich abgesehen.« »Paul«, schrie Maureen aufgebracht. »Das würde Johnny nie tun!« »Ach nein?« Paul hob den Arm und zeigte ihnen den langen Schnitt, der zwar allmählich heilte, aber immer noch sehr deutlich zu sehen war. »Das soll mein Johnny getan haben?« Maureen starrte ungläubig auf den Arm. »Genau hier, jawohl. Und du warst dabei. An dem Abend, als er den Fernseher angeschleppt hat. Ich fragte ihn, wo er das Ding her hat. Aber du warst ja mal wieder viel zu beschäftigt mit irgend so einem Film.« »Wann denn nur«, murmelte Maureen. »Ich kann mich nicht erinnern, daß er das gemacht hat. Na ja, ist ja nur 'ne kleine Schramme. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Du weißt genau, daß Johnny nie so was machen würde.« Paul blickte weg und schwieg. Offensichtlich hatte er eingesehen, daß es überhaupt keinen Zweck hatte, mit seiner Mutter darüber zu reden. Dann sah er Greenhouse an. »Ich finde wirklich, Johnny gehört ins Gefängnis, Mr. Greenhouse. Ehrlich.« »Paul«, schrie Maureen wieder und warf ihrem Sohn einen wütenden Blick zu. »Hast du sie nicht mehr alle?« Greenhouse war es flau geworden. Er sah seine Felle wegschwimmen. So klar hatte er schon alles geplant. Maureen Blanton und ihr Sohn Paul gewissermaßen als Schlüsselfiguren im Gerichtssaal. Wie in einem gut inszenierten Theaterstück. »Die Bürger 298
des Staates New York gegen Johnny Blanton.« Und nun kam er sich plötzlich vor wie ein Trainer, dessen Stürmer kurz vor dem Anpfiff für den Rest des Spiels vom Platz gerufen worden sind. Die ganze Sache schrie förmlich danach, noch mal zum Angriff überzugehen. »Paul, ich beginne zu glauben, daß dein Bruder ein sehr kranker Junge ist. Er braucht ärztliche Hilfe. Wirst du mit mir zusammen dafür sorgen, daß er die bekommt?« »Er hat doch Hilfe bekommen, vom Jugendgericht, von Sozialarbeitern ... zwei Jahre lang. Und es hat gar nichts genützt. Alles, was die tun, ist doch immer wieder, daß sie ihn freilassen.« Greenhouse betrachtete die beiden. Was der Junge da sagte, war Gift. Ja, es war wirklich höchste Zeit, daß er machte, daß er hier raus kam. Er mußte die ganze Sache unbedingt ganz neu durchdenken. Langsam erhob er sich. »Ich glaube nicht, daß wir heute mit diesem Thema weiterkommen. Ich werde weiter an dem Fall arbeiten, Mrs. Blanton. Kommenden Montag findet die Vorverhandlung statt. Ich lasse vorher noch von mir hören, falls es was Neues gibt.« Erst jetzt wurde Greenhouse bewußt, mit welch einem Aufwand dieses >Von-sich-hörenlassen< verbunden war. Wieder würde er ein Taxi nehmen müssen, wieder nur hoffen können, daß sie da waren. Maureen brachte ihn zur Tür. »Vielen Dank, daß Sie vorbeigekommen sind.« Sie lächelte ihn an. »Was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte, haben Sie das ganze Jahr über so niedliche Sommersprossen oder nur im Sommer?« 299
Greenhouse konnte es kaum glauben. Diese Frau mußte total verrückt sein. »Hauptsächlich im Sommer«, stieß er endlich mühsam hervor. »Und haben Sie davon ganz viele und am ganzen Körper?« Mein Gott. »Ich glaube schon. Warum?« »Ach, interessiert mich nur so. Aber die sehen wirklich richtig süß aus.« »Danke«, er wandte sich zur Tür, verneigte sich und verließ die Wohnung. Nur schnell weg von hier! Draußen holte er einmal tief Luft und blickte nach oben, wo die Wohnung der Blantons lag. Er schüttelte den Kopf. Die Sachlage hatte sich total geändert. Wie nur konnte er diesen Fall durchstehen, ohne überrannt zu werden? * Bevor Kornienko das Haus betrat, holte er sich noch eine New York Post vom Zeitungskiosk. In der Wohnung angekommen, legte er sich auf die Couch. Er überflog einige Zeilen des Blattes und merkte dabei, wie müde er eigentlich war. Eigentlich hatte er seiner Schwester Irene versprochen, sich noch in den Zug zu setzen und nach Queens zu fahren, um mit ihr und ihrem Mann zu Abend zu essen. Aber er hatte mit Angie so viel getrunken, daß er es nicht einmal mehr schaffen würde, die Wohnung zu verlassen. Auf Seite drei der Zeitung stach ihm plötzlich ein Artikel ins Auge. Ein Mann war tot aufgefunden worden mit zahlreichen Stichwunden, und er mußte sich in seiner eigenen Wohnung in Brooklyn befunden haben, als es geschah. Seine Leiche war von der Ehefrau aufgefunden worden, die soeben von einem Besuch bei der Tochter in South Carolina zurückgekehrt war. 300
Die pathologische Untersuchung hatte ergeben, daß der Mann seit 36 Stunden tot war. Der Mörder hatte die Klinge an einem Sessel saubergewischt, bevor er die Wohnung verließ. Ein Lieutenant vom 64. Revier hatte den Fall aufgenommen. Die Brieftasche des Opfers fehlte, aber ansonsten sei nichts in der Wohnung zerstört oder mitgenommen worden. Nichts deutete darauf hin, daß ein Kampf stattgefunden habe. Zur Zeit gäbe es noch keine Spuren. Auf einem Foto war die Witwe abgebildet. Kornienko las den Artikel mehrmals durch. Er hatte sofort an Quick denken müssen. Wenn das Ganze in Lower East Side passiert wäre, dann hätte er drauf wetten können, daß es der Junge war. Aber in einer Wohnung in Brooklyn, das war sehr unwahrscheinlich. Konnte er womöglich in Brooklyn gewesen sein, bevor er Dienstag nacht festgenommen wurde? Und wie hätte er es überhaupt anstellen müssen, in eine bestimmte Wohnung hineinzukommen, in der sich dazu noch nur ein einziger Mann befand. Schließlich gab es keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung beim Einbruch in die Wohnung. Auch kein Kampf. Nein, das konnten sie ihm wirklich nicht auch noch anhängen. Außerdem war Quick mehr auf Straßenraub spezialisiert. Und der Junge war schließlich nicht der einzige Mörder, der in New York herumlief. Mord war ein uraltes Geschäft. Und wie viele betrieben es mit zunehmendem Erfolg! Er wurde ja schon hysterisch, was Quick anging. Nachdem er den kurzen Artikel noch mal gelesen hatte, blätterte er zur nächsten Seite um. 301
17. Kapitel Cindy wachte auf. Sogleich umfing sie Stimmengewirr. Das widerwärtige Kreischen und Keifen der Mädchen. Immer hatten sie etwas zu streiten. Cindy schloß die Augen. Da war nichts zu machen. Wieder mal hatten sie sie geschnappt, sie saß in der Zelle, zusammen mit zwanzig oder mehr Weibern. So ein Lärm! So ein widerlicher Gestank! Cindy haßte das alles. Sie haßte die Reden, die sie führten; sie haßte es, auf dem Boden zu schlafen. Sie haßte überhaupt alles, was mit Knast zu tun hatte. Im ersten Jahr auf dem Strich war sie ständig geschnappt und eingelocht worden, mindestens ein oder zweimal im Monat. Und oft hatte sie — wie diesmal auch - in der Zelle die ganze Nacht über darauf warten müssen, daß sie vernommen wurde. Wenn sie Glück hatte, kam sie abends noch dran. Mit der Zeit war sie natürlich etwas klüger geworden und hatte gelernt, den Polypen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte ein Näschen dafür bekommen, wann die wieder mal eine Razzia planten. An solchen Tagen war sie dann eben nicht Anschaffen gegangen. Aber sie war leichtsinnig geworden. Und schon saß sie wieder drin. In diesem Käfig, 'ne ganze Nacht lang und wartete. Wie lange lag die letzte Festnahme zurück? Ungefähr fünf oder sechs Monate? Aber es geschah ihr ganz recht. Sie war drauf und dran gewesen, überzuschnappen und sich einzubilden, sie war 'ne Luxusnutte, und ihr könnte so was überhaupt nicht mehr passieren. Sie wußte jetzt schon, wie die Verhandlung ablaufen würde. 302
War ja immer dasselbe. Ihr Rechtsanwalt würde seine Nummer abziehn. Und Scarlett, mit ihrer dämlichen Perücke über dem häßlichen, schwarzen Gesicht, würde wieder mal aufgedonnert angerauscht kommen und auf Dame machen. Sie würde in der ersten Reihe sitzen, mit dem Zaster in der Tasche, um sie, Cindy auszulösen. Oh, wie sie es haßte, diese Scarlett um Geld bitten zu müssen. Und wie die einen dann immer von oben bis unten ansah, bevor sie die Scheine hinblätterte. Was zum Teufel bildete sich diese alte Schlampe eigentlich ein? Sie war Cecils Lieblingsmatratze, weiter nichts. Endlich, der Wagen mit dem Kaffee kam. Cindy erhob sich wie die anderen Mädchen. Sie liefen ans Gitter, drängelten, ließen sich einen Becher Kaffee reichen und ein Brötchen. Wie Affen im Zoo benahmen sie sich, schoß es Cindy durch den Kopf. Wie sie ihre Hände ausstreckten, bettelnd, irgendwie gierig, wie die Tiere nach einem Leckerbissen winselten, nach Erdnüssen oder so was ähnlichem. Aber eigentlich sollte sie nicht so hart mit sich selbst sein- und mit den anderen. Schließlich benahmen sich die Leute im Nathans auch nicht anders, mit ihren Kröten in den Händen, wenn sie sich um eine Curry-Wurst oder um Pommes frites drängelten. Cindy nahm den Plastikbecher und das Brötchen und setzte sich wieder an ihren Platz. Oh, der Kaffee tat gut. Und erst das Brötchen! Wann hatte sie zuletzt gegessen? Gestern abend jedenfalls nicht. Normalerweise holte sie sich immer noch was, bevor sie Schluß machte. Aber diesmal war nichts draus geworden. Die hatten sie ja mitgenommen. »Cynthia Blaine?« rief die Polizistin. »Cynthia Blai303
ne?« Cindy fuhr hoch. Immer mußte sie den Namen erst zweimal hören, bevor sie kapierte, daß sie gemeint war. Cynthia Blaine war ihr Nuttenpseudonym. Trotzdem, sie mochte den Namen. Ein Klassename! Und gar nicht mal so abwegig. Cindy Blanton -Cynthia Blaine — das zerging doch auf der Zunge! Sie stand auf und ging zur Zellentür. Die Polizistin sah sie an und nickte. Dann hakte sie ihren Namen auf der Liste ab. »Jacqueline Jones?« »Hier bin ich, Schätzchen.« Eine große, bildhübsche Negerin erhob sich und stolzierte auf ihren hochhackigen Schuhen affektiert nach vorn. Cindy musterte die andere von oben bis unten. Die sah aus wie 'ne echte Professionelle. Die tat was für ihr Geld, 'n gutes Pferdchen, wie Cecil sagen würde. Die Polizistin rief jetzt fünf Mädchen an die Tür. »Die für Sie zuständigen Beamten haben Ihre Vorführung zur förmlichen Vernehmung angeordnet. Folgen Sie mir.« Cindy kannte den Weg, die anderen auch, in- und auswendig. Am Ende des Korridors wurden sie von den beiden Polizisten erwartet, die sie in der Nacht festgenommen hatten. »Morgen, Mädchen«, sagte der eine. Dann blickte er zu Cindy. Man merkte, daß er sie mochte. »Hallo, Cynthia.« Cindy warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Morgen, Tony.« »Mensch, Cynthia, ich tu' meine Arbeit«, er blickte sie fest an, »genau wie du.« Er musterte ein Mädchen nach dem anderen und hakte in Gedanken ab. Ja, es waren alle da. »O.k., gehen wir.« Sie betraten den Gerichtssaal. Die Polizisten ließen die Mädchen auf der linken Seite Platz nehmen. Die 304
Anwaltstische standen auf der rechten Seite. Die Beamten setzten sich auf die Polizistenbank. Vom Richter noch keine Spur. Cindy schaute sich um. Da, Scarlett saß in der ersten Reihe. Ihre Blicke trafen sich. Scarlett hatte ein gehässiges Grinsen im Gesicht. Schnell wandte Cindy sich wieder um. Ein Stück weiter lag eine Ausgabe der Daily News. Irgend jemand mußte sie liegengelassen haben. Cindy lief schnell hin und nahm die Zeitung an sich. Es tat gut, sich die Zeit ein bißchen zu vertreiben, bis es losging. Natürlich! Tony war sofort aufgesprungen. »Is schon gut, Tony. Ich lauf dir ja nicht weg«, murmelte sie. Sie ging zu ihrem Platz zurück und überflog die ersten Schlagzeilen. Sie wollte wenigstens nach außen hin so tun, als hätte sie mit all' dem nicht das geringste zu tun. Meistens las sie nur die fettgedruckten Überschriften. Was war das? Cindy tanzten die Buchstaben vor Augen. Ihr Blick war an dem Namen hängengeblieben: Johnny Blanton. Sie las den Artikel einmal. Erst beim zweiten Mal begann sie zu begreifen. TEENAGER ERMORDET BRUTAL ALTES EHEPAAR Johnny Blanton, 15, wohnhaft in 619, Eastllth Street, Lower Last Side, Manhattan, wurde gestern in den frühen Morgenstunden in der Wohnung seiner Mutter festgenommen. Der Junge soll am 4. August gegen 22 Uhr 30 Wasyl Kornienko,69, und seine Frau Anna, 64, beraubt und erstochen haben. Cindy schwirrte der Kopf. Nein, nein...
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Die Polizei spricht von einem der brutalsten und blutigsten Gewaltverbrechen, die je in diesem Stadtteil registriert worden sind. Cindys Hände zitterten. Ihr war übel. Johnny Blanton ist ins neue Jugendgefängnis Juvenile Offenders' Detention Center auf Rikers Island eingeliefert worden. Johnny saß im Gefängnis! Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Mehrmals mußte sie ganz tief durchatmen, um zur Ruhe zu kommen. Sie mußte sich zusammennehmen und kühlen Kopf bewahren. - Eines der brutalsten und blutigsten Gewaltverbrechen, die je in diesem Stadtteil... Sie fuhr aus ihren Gedanken auf, blätterte zur ersten Seite zurück. Donnerstag. Die Zeitung war gerade einen Tag alt. Bestimmt hatte sich das Mißverständnis inzwischen aufgeklärt. Das ganze war ein Irrtum. Es mußte einfach ein Irrtum sein! Ihr kleiner Bruder, der süße, blonde Engel. Er konnte unmöglich ein solches Verbrechen begehen. Das war ja beinahe zum Lachen. Nein, unmöglich, unmöglich! »Die Sitzung ist eröffnet. Bitte erheben Sie sich!« Cindy blickte auf. Der Gerichtsdiener leierte die Eröffnungsworte herunter. Der Richter war zu seinem Tisch unterwegs. Er fixierte Cindy. So ein geiler Wichser! Man konnte in seinen Gedanken lesen wie in einem offenen Buch. Die Kerle waren doch alle gleich. Er setzte sich und würde gleich so tun, als wäre er der liebe Gott persönlich und in der Lage, über alles und jeden Recht zu sprechen. Daß sie nicht lachte! Und dabei träumte der doch nur davon, mal mit einer von ihnen 'ne Nummer zu drehen. Und nicht immer mit seiner Ollen zu Hause ins 306
Bett gehen zu müssen. Mensch, Alter, mußt nur auf die Eighth Avenue kommen und fünfzig Eier mitbringen. Dann bist du dabei. Ich mach's dir, daß dir Hören und Sehen vergeht... Wenn die Verhandlung doch nur bald vorüber wäre! Über alles andere wollte sie jetzt gar nicht nachdenken. Sie wollte nur raus hier, und zwar schnell. Cindy lehnte sich vor, sobald der Richter an seinem Tisch saß, und machte dem Polizisten ein Zeichen, der sie festgenommen hatte. »Tony«, versuchte sie sich bemerkbar zu machen. Sofort stand er auf und kam zu ihrem Platz. »Was is los?« Die Verhandlung würde sowieso erst in zwei oder drei Minuten beginnen. »Tony, du mußt mir helfen.« »Na, was ist denn?« »Sieh mal, kannst du nicht irgendwie dafür sorgen, daß ich als erste drankomme? Bitte. Ich muß hier raus.« »Wieso denn so eilig?« »Mein kleiner Bruder ist in Schwierigkeiten. Ich hab's eben in der Zeitung gelesen. Tony, ich muß raus hier. Bitte.« Er sah sie prüfend an. Dann nickte er. »Will mal sehen, was sich tun läßt.« Tony ging zum Gerichtsdiener und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Gerichtsdiener zog ein Schriftstück aus dem Aktenstapel und nickte dem Polizisten zu. Tony wandte sich an den Rechtsanwalt und sprach auch mit ihm. Er kehrte an seinen Tisch zurück. Der Richter räusperte sich und gab dem Gerichtsdiener ein Zeichen. Dieser stand auf. »Cynthia Blaine.« Cindy erhob sich und trat vor den Richter. Auf einmal stand auch der Verteidiger neben ihr, dieser 307
schmierige Typ, der alle Nutten von Cecil vor Gericht vertrat. Sein Toupet sah so unecht aus, daß Cindy immer drüber lachen mußte, genauso über seine extrem hohen Absätze. Sie zupfte ihn am Ärmel. »Tun Sie was, daß ich hier sofort rauskomme«, flüsterte sie ihm zu. »O. k. ?« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Wär gar nicht übel, wenn wir uns an einem der nächsten Abende mal wieder zusammentun würde, Cynthia.« Dieser geile Kerl! »Dafür hab' ich im Moment echt keine Nerven. Bring mich erst mal hier raus«, sagte Cindy. Um ihn nicht allzusehr zu verärgern, fügte sie beschwichtigend hinzu: »Mach was mit Cecil aus, ja?« Der Gerichtsdiener hatte mit seinem Gequassel begonnen. Sie kannte den Quatsch in und auswendig. »Schuldig«, unterbrach sie ihn einfach, bevor er ihr überhaupt anbieten konnte, sich irgendwie zu rechtfertigen. Sie sah, wie ihr Verteidiger zum Richter trat und leise auf ihn einsprach. Der Richter hörte zu und nickte. Er warf ihr einen Blick zu und sagte: »Hundert Dollar.« Der Gerichtsdiener stand auf. »Sie haben dreißig Tage, um diese Strafe zu zahlen. Wenn Sie den Termin nicht einhalten, ergeht Haftbefehl. Sie haben das Recht...« »Wir zahlen sofort«, unterbrach ihn Cindy schnippisch. »Wie Sie wollen.« Er ging zu" seinem Tisch zurück und bereitete den nächsten Fall vor. Cindy wandte sich an Scarlett, die immer noch dasaß und sie unbeirrt mit ihrem feisten Lächeln ans308
tarrte. Sie hatte etwas Katzenhaftes an sich, fand Cindy. »Ich brauch' hundert«, sagte sie. »Wie du schon gehört hast. Los.« Scarlett wühlte in ihrer Handtasche und brachte zwei fünfzig Dollarnoten zum Vorschein. Sie gab Cindy das Geld. Cindy bezahlte und wartete ungeduldig auf ihre Quittung. Vergeßt nie die Quittung, hatte Cecil ihnen eingebleut. Sie nahm den Wisch entgegen und ging zu Scarlett zurück. Sie setzte sich neben sie. »Ich brauch' noch mehr, Scarlett.« »Was redest du da? Hast wohl noch nicht genug Zaster gekriegt? Raus kommst du schon mal. Dann kannste gleich wieder an die Arbeit, aufholen, was du gestern geschwänzt hast.« Sie grinste Cindy gehässig an. »Wenn du schön brav bist, Schätzchen, kriegste noch was für die Fahrt zur Eighth Avenue. Das ist aber wohl das Höchste der Gefühle.« »Ich brauch' aber noch mehr, Scarlett. Komm. Du hast doch noch das Geld, das ich gestern eingenommen habe.« »Da mußte schon mit Cecil sprechen«, sagte Scarlett mit ihrer zickigen, gezierten Stimme und tat so, als wäre sie höchst interessiert, nur ja nichts von der Verhandlung zu verpassen, die inzwischen wieder begonnen hatte. »Scarlett, deine dummen Sprüche kannst du dir sparen. Gib mir den Kies. Ich rede schon noch mit Cecil. Da kannst du Gift drauf nehmen. Und wenn du noch weiter Ärger machst, sorge ich dafür, daß
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Cecil dich schwarze Schreckschraube rausschmeißt. Ist das klar?« »Dich haben sie wohl gebissen, du...« Scarlett sah sie wütend an. »Du störst die Verhandlung.« »Ich werde gleich noch viel mehr stören. Wenn du keine riesengroße Szene willst, gib mir das Geld.« Der Gerichtsdiener warf den beiden einen verärgerten Blick zu und runzelte die Stirn. »Ruhe!« Scarlett stieß einen zornigen Seufzer aus. Sie holte einen Zehndollarschein aus der Tasche und hielt ihn Cindy hin. »Mehr.« Cindy riß ihr das Geld aus der Hand. Scarlett zögerte. »Ich sagte: mehr. Sehr viel mehr!« Scarlett zog einen Zwanziger hervor. »Noch mehr.« Cindy nahm den Schein an sich. Scarlett brachte noch einen Zwanziger zum Vorschein. »Das ist alles«, sagte sie. »Wenn du mehr willst, mußt du schon zu Cecil gehen.« »Danke«, fauchte Cindy. Sie stopfte die Scheine in ihre Handtasche. »So'n Aufstand wegen lächerlicher fünfzig Mäuse. Eine Nummer, und die Kasse stimmt wieder.« Sie stand auf und versetzte Scarlett einen kräftigen Rippenstoß. Die kippte nach vorn und ächzte. »Paß auf, daß dir deine Perücke nicht verrutscht«, sagte Cindy und winkte der andern zu. »Du alte, ausgeleierte Zicke«, zischte Scarlett, diesmal so deutlich, daß der Richter es hören mußte. Cindy verließ den Saal hocherhobenen Hauptes. Fünf Minuten später saß sie in einem Taxi, das sie zur Eleventh Street bringen sollte. Sie atmete einmal tief durch. 310
»Wohnen Sie in der Eleventh?« fragte der Fahrer Cindy sah, wie er sie im Rückspiegel betrachtete. Junger Typ. Sah eigentlich gar nicht übel aus für einen Taxifahrer. »Früher mal«, sagte sie. »Und wo wohnen Sie jetzt?« »Ganz einfach besser.« »East Side? West Side?« »West Side.« »Aha. Ich muß schon sagen, Sie sind echt scharf. Wollen wir uns nicht mal zu 'nem Drink treffen?« »Wenn Sie fünfzig Dollar haben.« »Ach so ist das... Meine Alte hätte was dagegen, wenn ich das Geld dafür ausgebe.« Er dachte nach. »Wie läuft's denn so?« Cindy gab keine Antwort mehr und war erleichtert, daß er nicht weiter nachhakte. Der Wagen hielt vor dem Haus in der Eleventh Street. Cindy stieg aus und gab dem Fahrer einen Zehndollarschein. »Einen Dollar Trinkgeld.« Sie steckte das Wechselgeld ein und lächelte ihm noch einmal zu. »Ich finde Sie nach wie vor Spitze«, sagte er und grinste. Er nickte ihr noch einmal zu und fuhr weg. Cindy blickte sich um. Sah schon manches anders aus nach zwei Jahren. Aber das Haus war immer noch das alte. Sie zog den Schlüssel aus dem Portemonnaie. Er lag tatsächlich noch drin. Sie hatte ihn nie benutzt. Und sie hatte sich auch gar nicht vorstellen können, daß sie ihn jemals wieder brauchen würde. Sie ging die Treppenstufen zur Haustür hinauf und betrat den Flur. Dann rannte sie in den dritten Stock. Auf einmal hatte sie es sehr eilig. Der Schlüssel paßte. 311
Sie öffnete die Tür und betrat die Wohnung. Ihre Mutter saß wie immer in ihrem Stuhl im Wohnzimmer. Und wie immer guckte sie in die Glotze. »Cindy!« Maureen fuhr hoch und starrte ihre Tochter an wie ein Gespenst. »Was machst du denn hier?« »Ich hab heute früh das von Johnny gehört. Wie geht's ihm? Geht's ihm gut?« »Glaub' schon.« Maureen nickte. »Du glaubst? Was soll denn das heißen, du glaubst?« »Na ja, ich weiß es eben nicht ganz genau, wie's ihm geht. Hab' ihn ja nicht gesehen. Ich glaub', es geht ihm ganz gut. Meistens ist es so.« »Bist du denn nicht bei ihm gewesen?« »Wie soll ich denn da hinkommen? Du weißt doch, so ein Taxi kann ich mir nicht leisten. Nicht von dem bißchen, das die uns geben. Ich brauch' das fürs Essen. Und für das Nötigste in der Wohnung.« »Dann hättest du ja einen Bus nehmen können.« »Ich weiß doch nicht, wie man im Bus dahin kommt.« »Meine Güte, hättest jemanden fragen können.« Maureen hatte es sich wieder in ihrem Sessel bequem gemacht und starrte weiter auf die Mattscheibe. Dann, für einen Augenblick, widmete sie noch einmal ihre Aufmerksamkeit der Tochter. »Warum soll ich extra zu dieser schrecklichen Insel fahren? Der Junge kommt doch sowieso in ein paar Tagen wieder nach Hause. Kommt er doch immer, wenn die ihn mal geschnappt haben. Echt.«
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»Mutter, es geht um Mord. Das ist wohl ein bißchen was anderes, oder?« »Glaub' ich sowieso keine Sekunde, daß mein Johnny so was gemacht hat.« »Glaub' ich ja auch nicht. So was würde er nie machen. Auch wenn er immer ein Messer mit sich rumträgt. Darum müssen wir hin, Mutter. Er braucht uns jetzt.« »Die lassen ihn doch sowieso gleich wieder raus. Außerdem kann der Junge ganz gut auf sich selbst aufpassen. Kann er echt.« »Ich werde ihn heute noch besuchen, Mutter. Kommst du mit? Das Taxi bezahle ich.« Maureen sah wieder fern. »Kein Grund, daß wir beide da aufkreuzen. Außerdem mag ich Gefängnisse nicht. Macht mich ganz deprimiert. Du bist ja dran gewöhnt.« Cindy mußte sich zusammennehmen, um nicht laut loszuschreien. »Der Junge braucht Sachen. Was, wenn ich das nicht in der Zeitung gelesen hätte, hm? Ganz zufällig. Dann hätte er keinen von uns zu sehen gekriegt.« Maureen schwieg. »Wie reagierte er denn, als die kamen?« fragte Cindy. »Es hieß, die haben ihn hier abgeholt.« »Paul hat nichts davon erzählt.« »Warst du denn nicht da, als die Bullen ihn abgeholt haben?« »War unterwegs.« Maureen schüttelte den Kopf. »Wo?« »Ein paar Freunde haben mich auf so 'ne Art Party eingeladen. Weißt du, für mehrere Tage. Wochenendparty, aber eben mitten in der Woche. Na ja, 313
du weißt ja, was für verrückte Zeiten die Fernfahrer haben.« Maureen blitzte ihre Tochter triumphierend an. »Und du hast bis jetzt gar nichts für Johnny unternommen?« »Ich weiß doch sowieso, die schicken ihn nach Hause. Irgendeinen von diesen Tagen.« Cindy kochte vor Wut. »Du alte Schlampe!« Maureen blickte sie grinsend von oben bis unten an. »Sieh mal einer an. Und das mußt gerade du sagen.« Cindy war sprachlos. Sie sah ihre Mutter feindselig an. Bemüht, wieder etwas ruhiger zu werden, murmelte sie nur leise: »Ich werde 'ne Kleinigkeit essen und mich 'n bißchen frischmachen. Und dann fahre ich zu Johnny. Gibt's etwas Kaffee?« »Glaub' schon. Muß noch was in der Kanne sein. Aber keine Ahnung, wie alt der ist.« »Ich mach' mich erst mal etwas frisch. Am liebsten würde ich baden. Gibt's so was wie ein frisches Handtuch?« »Also, weißt du... Im Badezimmer das ist frisch«, sagte Maureen beleidigt. »Außerdem gibt's noch ein anderes im Schrank. Du weißt ja, wo alles ist. Hast ja schließlich mal hier gewohnt.« »Danke.« Cindy ging durch den Flur ins kleine Badezimmer. Alles war wie früher. Tatsächlich, alles lag hier noch an seiner alten Stelle und sah auch noch genauso aus. Sie warf einen prüfenden Blick in die Badewanne, die mit ihren vier kleinen Füßen richtig nostalgisch aussah. Irre sauber! Bestimmt hatte Paul das letzte Bad genommen. Er machte die Wanne immer so sauber, daß es blitzte. Netter Jun314
ge. Anständig. Aus dem würde wenigstens mal was werden. Er hatte zumindest Ansätze dazu. Cindy drehte den Hahn auf und steckte den Stöpsel in den Ablauf. Das Plätschern des Wassers - wie früher. Als sie noch Kinder waren. Sie tastete nach dem Frottiertuch. Oh, das war noch ganz feucht. Schnell holte sie sich ein frisches aus dem Schrank im Flur. Ob Paul sich noch immer um die Wäsche kümmerte? Alles neben der Schule? Wahrscheinlich. Und was tat ihre Mutter? Sie saß vor der Mattscheibe und soff Bier. Cindy ging ins Bad zurück. Sie zog das geblümte Kleid aus, den BH und den winzigen schwarzen Slip. Cindy liebte die warme Jahreszeit. Im Sommer brauchte man nur irre wenig anzuziehen, und vor allem auch nur wenig auszuziehen. Alles ging einfach schneller. Sie stand vor der Badewanne und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Brüste waren ganz ordentlich. Ihr Kapital, sozusagen. Und das hatte sie Maureen zu verdanken. Für ihre sechsunddreißig hatte Mutter wirklich super affengeile Titten, das mußte man zugeben. Cindy betrachtete ihre Füße, während sie auf dem Klodeckel saß, um ihre Sandalen auszuziehen. Geschwollene, dreckige, häßliche Füße. Vom vielen Stehen, vom vielen Laufen. Vom Strich. Was sollte man da machen? Sie stand auf, stieg in die Wanne und ließ sich ins warme Wasser gleiten. Wie gut das tat, sich den Gefängnisschmutz abzuspülen und den ganzen Dreck von der Arbeit vorher. Schade, daß man sich nicht die letzten beiden Jahre, die Nächte und die miesen Tage mit den Kerlen einfach abwaschen konnte. Oder konnte man vielleicht doch? Irgendwie war es doch reine Willenssache. 315
Sie schloß die Augen und ließ sich noch tiefer ins Wasser gleiten. War das schön! Wie oft hatte sie hier gebadet, bevor sie mit siebzehn fortging, um das große Geld zu machen. Plötzlich hörte Cindy Schritte, sie öffnete ihre Augen und sah Maureen, die neben der Wanne stehengeblieben war und sie musterte. »Ist gerade Werbung oder so?« fragte sie ihre Mutter. »Nein, im Moment gibt's nichts, was mir gefällt.« Maureen setzte sich auf den Klodeckel. »Nun erzähl mal, wie's dir so geht«, forderte sie Cindy auf. »Und was machen die Geschäfte?« Cindy warf ihrer Mutter einen prüfenden Blick zu. War die Frage ernst gemeint? Konnte eine Mutter so was fragen? Was sollte eine Mutter überhaupt fragen, die wußte, daß ihre Tochter auf der Eighth Avenue anschaffen ging? Und was sollte eine Tochter auf so was antworten? Cindy tat jetzt ihre giftige Frage von eben fast leid. »Läuft alles ganz gut«, sagte sie. »Das freut mich. Ich denke, du kannst auf dich selbst aufpassen.« »Ja, allerdings. Wie geht's Paul?« Maureen zuckte die Schultern. »Immer das gleiche. Er büffelt die ganze Zeit. Ehrlich gesagt, mir ist es schleierhaft, wie er das aushält.« »Der weiß genau, was er tut. Will's mal zu was bringen... Kannst du mir nicht ein paar Sachen von Johnny zusammenpacken? Die würde ich ihm mitnehmen.« »Die geben ihm doch bestimmt was zum Anziehen.«
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»Kann schon sein. Aber vielleicht hat er lieber die eigenen.« »Wenn du meinst. Du hast da mehr Erfahrung in solchen Dingen.« Sie stand auf und ging aus dem Badezimmer. Cindy hätte diese letzte Bemerkung ihrer Mutter zur Weißglut getrieben, wenn sie nicht ihren Gesichtsausdruck dabei gesehen hätte. Maureen hatte das ohne jeden Hintergedanken gesagt. »Hast du Shampoo?« rief sie ihrer Mutter nach. Maureen kam noch mal zurück und nahm eine Plastikflasche vom Regal über dem Waschbecken. Sie reichte sie Cindy. »Das hier ist sehr gut«, sagte sie. »Habe die Werbung dafür gesehen. Johnny hat's mir besorgt.« * Während sie darauf wartete, daß man Johnny brachte, vertrieb sich Cindy die Zeit und betrachtete zwei Jungs, beide schwarz, die mit ihren Müttern sprachen. Einer der Jungen war klein und sah richtig schmächtig aus; er machte auf Cindy den Eindruck, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Was der wohl angestellt hatte, daß er hier nach Rikers Island gekommen war? Der andere war groß und muskulös. In seiner buschigen Afrofrisur steckte ein Kamm. Der sah so aus, als ob man ihm alles, wirklich alles zutrauen konnte. Als Johnny reinkam, stand sie auf und breitete die Arme aus. Er kam auf sie zugelaufen in seinen marineblauen Hosen und dem blauen T-Shirt. Die letzten Schritte rannte er richtig, er schlang seine Arme um ihren Hals und schmiegte sich fest an sie.
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»Johnny«, hauchte sie. »Johnny, was machst du denn hier?« »Scheiße, das weiß ich doch nicht«, murmelte Johnny mit tränenerstickter Stimme und preßte sich so eng an sie, als ob er ein schutzbedürftiges, kleines Kind sei. »Sind die auch nett mit dir?« »Ja, ja, schon.« Irgendwie hatte sie ein komisches Gefühl, wie er sie so hielt, wie er sich mit dem ganzen Körper an sie preßte. Fast hatte sie den Eindruck, als wäre er erregt; ja, tatsächlich. Sie schob ihn ein wenig von sich und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Komm her, Johnny, setz dich zu mir und laß uns mal ein bißchen reden. Ich hab' dir ein paar Sachen mitgebracht. Bin zu Hause vorbeigefahren, um dir was zum Anziehen zu besorgen.« Sie reichte ihm das Paket, und er setzte sich hin. Er durchwühlte die Sachen. »Toll, daß du mir was mitgebracht hast. Dann brauch' ich wenigstens nicht andauernd diese ekelhaften Klamotten tragen wie die andern Typen.« Er zog ein schwarz-rot bedrucktes Hemd heraus und hielt es hoch. Autos und Frauen mit sehr roten Lippen. Er strahlte. »Genau das wollte ich so gern hier haben. Hab' es neulich in einem Laden am Times Square gekauft.« »Kann ich mir vorstellen, daß dir das gefällt.« »Ja, genau das richtige für diese Idioten hier.« Cindy reichte ihm eine Plastiktüte. »Hab' dir auch was Süßes mitgebracht. Hoffentlich schmecken sie dir.« Er nahm die Tüte und leerte sie auf dem Tisch aus. »Hm, die sind ja super. Danke.« Er riß eine Pa318
ckung mit Keksen auf und schob sich gleich zwei in den Mund. »So, nun schieß mal los. Sind die wirklich nett zu dir? Und was machst du so den ganzen Tag?« Quick warf einen Blick zu den andern Jungs, die Besuch hatten »Nichts als Nigger hier. Und ein paar Puertoricaner. Außer mir gibt's nur noch einen weißen Jungen«, raunte er ihr verstohlen zu. Cindy machte eine Kopfbewegung zu dem kleinen Neger hin. »Weshalb sitzt der denn hier?« »Der und ein anderer haben Feuer gelegt. Sechs Tote.« »Mein Gott! Und warum haben die das gemacht?« fragte Cindy erschüttert. »Sagen, sie haben Feuer gemacht, um sich zu wärmen, und dann ist es ihnen aus der Kontrolle geraten.« »Ein Feuer zum Wärmen? Im August?« »Die sind schon 'ne ganze Weile hier, 'n paar Monate schon. Auf jeden Fall behaupten die das.« Quick zuckte die Schultern. »Und weshalb haben die dich hierher gebracht?« »Greenhouse hat mir gesagt, ich soll nicht drüber reden.« Er warf Cindy einen Blick zu und schaute gleich wieder weg. »Soll mit keinem drüber reden.« »Greenhouse? Wer ist das?« »Mein Anwalt.« »Kann der denn was?« »Scheint so. Kommt mir besser vor als alle andern, die ich bisher hatte.« »Und er hat dir gesagt, du sollst mit keinem drüber reden?« Sie lächelte ihren Bruder an. »Na ja, der 319
Rat ist nicht übel. Keine Frage. Aber das hat natürlich mit mir nichts zu tun. Mit deiner Schwester wirst du wohl reden können.« Er zuckte wieder die Schultern. »Nein, mit keinem.« »Hat er gesagt, er kriegt dich hier raus?« »Er will's versuchen. Er sagt, er glaubt, er kann mich hier rausholen.« »Wie sind die Bullen denn gerade auf dich gekommen?« »Die behaupten, einer hätte ausgesagt, daß er mich da in der Nähe gesehen hat.« »Weiß der Anwalt, daß du's nicht getan haben kannst?« »Hat mich ja gar nicht gefragt.« »Der weiß bestimmt schon, daß du's auf keinen Fall getan haben kannst. Warst du denn wirklich in der Nähe? Hast du vielleicht was gesehen oder so?« »Du, der hat mir gesagt, ich soll nicht drüber reden.« »Auch, wenn du gar nichts damit zu tun hast?« Quick schwieg. Cindy sah ihren Bruder befremdet an. Er hatte so einen eigenartigen Ausdruck im Gesicht, wie er auf den Boden starrte. So etwas wie ein schlechtes Gewissen. »Du hast es nicht getan, Johnny, stimmts?« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Johnny? Du hast doch nichts damit zu tun, oder? Johnny?« Er blickte immer noch nach unten. Und schwieg. »Johnny, sag's mir. Hast du was mit der Sache zu tun?«
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Er schaute auf. »Hab' dir doch schon gesagt, er hat mir verboten, mit irgend jemandem drüber zu reden.« »Das gilt aber nicht für mich, Johnny. Also, sag schon.« »Mensch, nicht so laut.« Johnny sah sich verstohlen um. Sie griff ihn so fest am Arm, daß er aufschrie. »Johnny!« sagte Cindy drohend. »Hast du irgendwas damit zu tun? Hast du was mit dem Mord an diesen beiden alten Leuten zu tun?« Er blickte sie schweigsam an, aber in seinen Augen lag etwas, das sie noch nicht kannte. Härte. Brutale Härte. Und sie schienen durch Cindy hindurchzublicken. Schwindel überkam sie. Wie heute morgen, als sie den Artikel zum ersten Mal gelesen hatte. Er ging schnell wieder vorüber, aber ihr war auf einmal übel, kotzübel. »Johnny, was hast du mit dem Mord an den beiden Alten zu tun?« »Ich hab' nichts Schlimmes gemacht.« »Was willst du damit genau sagen?« »Es war Notwehr. Dieser alte Arsch ist auf mich losgegangen.« »Auf dich losgegangen? Du hast es also getan? Allein? Du willst sagen, du hast sie umgebracht? In der Zeitung steht, er war neunundsechzig Jahre alt. Und die alte Frau?« Cindy starrte ihren süßen, kleinen Bruder völlig entgeistert an. Ihr kleiner, blondgelockter Bruder, der wie ein goldiger Engel aussehen konnte. »Der hätte mich nicht angreifen sollen, der alte Sack.« »O Gott! O Gott! O Gott!« stöhnte Cindy. 321
»Er ist schuld. Ich wollte ihm nur etwas Geld abnehmen. Und dann ist der losgegangen auf mich.« Cindy lehnte sich zurück. Bilder aus der Kindheit zogen vor ihrem geistigen Auge vorüber. Was für ein lieber, kleiner Kerl er gewesen war! »Ich sag' dir doch, Cindy, er war's, er hat Schuld, glaub mir doch!« Sie konnte sich noch daran erinnern, wie er in den Windeln gelegen hatte, und wie er laufen lernte. Nie machte er kleine, zögernde Schritte, von Anfang an war er gerannt. Sie sah ihn noch vor sich, wie er durchs Wohnzimmer gesaust war. Sein fast weißes Haar. Fast durchsichtig. Die Kehle schnürte sich ihr zu. Mit aller Macht mußte sie das Würgen unterdrücken. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Cindy, du mußt mir glauben. Gerade du. Bitte.« »Was du jetzt tun mußt, ist, auf deinen Anwalt zu hören, verstehst du, Johnny? Tu alles, was er sagt. Ich muß gleich gehen. Muß zurück zur Arbeit. Sag mir nur noch schnell, wie's dir hier geht. Ist das Essen in Ordnung?« »Ja, ist ganz o. k. Nicht übel. Besser als zu Hause,« »Und die behandeln dich gut?« »Ja.« »Und was macht man hier so den ganzen Tag?« »Die lassen uns im Hof Ball spielen und so'n Scheiß. Und dann lassen sie uns lernen. Und...« »Hör mal, Johnny. Ich muß los. Mach immer, was die sagen und was der Anwalt sagt. Versprichst du mir das?« »Kommst du wieder und besuchst mich?«
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»Wenn ich kann, komm' ich.« Sie erhob sich. »Ich muß jetzt gehen.« Mit rotverweinten Augen blickte Johnny sie an. »Cindy, kann ich dich noch mal umarmen?« bettelte er. »Na klar.« Sie zog ihn an sich. Und diesmal war alles anders. Diesmal preßte er sich nicht wieder so fest an sie. Sie küßte ihn leicht auf die Lippen und gab ihn wieder frei. »Paß gut auf dich auf, Liebling«, murmelte sie erschüttert. Sie drehte sich um und eilte zur Tür, ohne sich noch mal umzudrehen. Sie kauerte sich in die Ecke des Taxis, das sie zurück in die Stadt brachte. Immer noch würgte es in ihrer Kehle, obwohl sie sich übergeben hatte, bis nur noch Galle hochkam. Plötzlich war auch Johnny ein total hoffnungsloser Fall geworden. Im Grunde war ihre ganze Scheißfamilie hoffnungslos verdorben. Maureen war das Letzte. Und Hubert Blanton, wo auch immer der Kerl steckte, war das Letzte. Wie der es hatte fertigbringen können, so ein lebensuntüchtiges, hilfloses Etwas wie Maureen mit drei kleinen Kindern alleinzulassen! Einfach sitzenlassen- Und sie selbst, Cindy, war das Letzte: Ein mieses kleines Flittchen auf der Eighth Avenue. Paul, ja der war vielleicht noch die einzige Ausnahme. Paul, der würde es möglicherweise schaffen. Wenn der nur sein Leben in die Hand nahm und so schnell wie er konnte die Kurve kratzte, raus aus diesem Pestloch. Hoffentlich, ja hoffentlich machte er das. Wie sehr sie sich wünschte, daß wenigstens einer von ihnen was Anständiges wurde. Cindy dachte zurück an den Tag, als sie Johnny anvertraute, daß sie vorhatte, wegzugehen und das 323
große Geld zu machen. Das große Geld! Siebzehn, und sie kannte sich schon aus. »Eins will ich gleich von Anfang an klärstellen«, hatte sie damals zu Cecil gesagt, der sie in seine Wohnung im Central Park West mitgenommen hatte. »Ich tu's nur, um Geld zu verdienen. Ich bin nicht wie deine anderen Nutten. Klar?« »Überlaß das man alles mir«, war sein Kommentar gewesen. »Wir sind Partner, wenn es das ist, worauf du hinauswillst. Okay? Ich kümmer' mich ums Geschäftliche. Und je mehr du anschaffst, um so mehr verdienst du auch.« Cindy konnte sich noch sehr genau daran entsinnen, wie er sie angegrinst hatte. Und so verging ein Monat nach dem anderen. Die vielen Nächte im Kittchen, die Nummern, die sie abzog, der Gestank in den heruntergekommenen Hotelzimmern, die schmierigen, geilen Kerle. Und ihre Hauptmahlzeiten nachts um vier in dem kleinen dreckigen Schnellimbiß... »Was ist mit meinem Geld, Cecil?« »Du bist Spitze, Mädchen. Hübsches Sümmchen, sieh mal, das ist dein Konto, das ich extra für dich eingerichtet habe. Hier, der Auszug, siehst du? Auf deinen Namen. Du hast schon über zweitausend Dollar auf deinem Konto.« »Zweitausend? Wo zum Teufel ist der Rest?«- »Mensch, Cindy, du hast sehr gut verdient. Aber du mußt auch mal an deine Unkosten denken. Die Wohnung, der Rechtsanwalt, die Strafen, und all der andere Kram. Ich geb' dir Geld für alles, was du brauchst.« »Ich will das Sparbuch. Gib her. Ich will's selbst führen.« — »O nein, Süße. Wir sind Partner. Wie's abgemacht war. Ich kümmer' mich um die finanziellen Dinge. Wie's abgemacht war. Na los. Stell dich nicht 324
so an. Ich lad' dich zur Feier des Tages mal zu einem hübschen Essen ein. Na, wie wär's? Irgendwas ganz Schickes. Was hältst du von einem französischen Restaurant? Und zwar, bevor du zur Arbeit gehst. Nun sei nicht so zickig. Sei ein Schatz, und laß uns von was anderem reden. Und mach mich nicht weiter an, sonst werd' ich echt sauer.« Zwei vertane Jahre. Alles umsonst. Ja, alles umsonst. Und nun passierte auch noch das mit Johnny. Das war nun wirklich das Allerletzte. Cindy mußte an die Mädchen denken, die süchtig waren. Es gab eine Menge davon unter den Nutten. Da ging's ihr noch besser. Denn davon hatte sie immer sicheren Abstand gehalten. Nein, mit Rauschgift hatte sie nichts am Hut. Aber wer weiß, vielleicht waren die gar nicht so dumm. Eins war jedenfalls sicher: Cecil mußte ihr das Sparbuch geben. Oder sie würde ihn hochgehn lassen, bei der Sitte oder so. Und sie wußte genau, wie sie das anstellen konnte... Und wenn der Schuß nach hinten losging? Cindy stieg auf der Eighth Avenue aus. Sie reichte dem Fahrer eine Zehndollarnote und gab ihm außerdem noch fünf Dollar Trinkgeld. Einfach so. Sie wollte sehen, wie dem Typ die Augen aus dem Kopf fielen. Und es wirkte, der konnte sich gar nicht einkriegen. Sie ging Richtung Stadt. »Cynthia!« Sie drehte sich um. Ach, der schon wieder. Fett und um die fünfzig. Und geil auf sie. »Such' dich die ganze Zeit«, rief er ihr schon aus einiger Entfernung zu. »Und ich frage mich, wo du eigentlich steckst. Könnte wetten, daß ich schon mindestens fünf Mal die ganze Straße rauf- und runtergerannt bin.« 325
Cindy lächelte. »Nett, dich zu sehen. Weißt du, ich hab' 'n bißchen nachgedacht. Und ich bin zu dem Entschluß gekommen, daß ich heiraten will. Hättest du Lust zu heiraten?« Der Kerl starrte sie an, als sei sie übergeschnappt. »Was redest du da?« »Ich sagte, ich will heiraten. Hast du Interesse?« »Hab' Interesse daran, mein freies Stündchen mit dir zusammen zu verbringen. Das ist alles«, knurrte er irritiert. »Dann verpiß dich. Wichs dir selbst einen ab.« Cindy drehte sich um und lief weiter. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und blickte sich noch einmal um. Er stand immer noch da, mit einem am Boden zerstörten Ausdruck im Gesicht sah er ihr nach. Sie grinste ihm zu und ging weiter. Das war ganz schön leichtsinnig. Sie wußte selbst nicht, warum sie so reagiert hatte. Mit dem war's leichtverdientes Geld. Immerhin fünfzig Dollar. Die schnellsten fünfzig Mäuse in der ganzen Stadt. Und der hätte ihr sogar mehr gegeben, wenn sie ihn drum gebeten hätte. Was, zum Teufel, war bloß mit ihr los? Cindy blieb vor einem Restaurant stehen, war noch eins von den besseren in dieser miesen Straße. Da, ein Schild auf der Scheibe: Kellnerin gesucht. Cindy guckte durchs Fenster. Sah ganz ordentlich aus. Klimaanlage, sauber. War bestimmt kein übler Job, wenn man Sinn für so was hatte.
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18. Kapitel »Hallo Bert, ich bin Steve Kornienko.« Girard legte seinen Kugelschreiber hin und lächelte dem großen Mann zu, der eben auf ihn zukam. »Ach so, Tag Steve.« Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum, um Kornienko die Hand zu geben. »Freue mich, Sie kennenzulernen.« Er blickte Kornienko an, musterte das breite, offene Gesicht des Ukrainers. Er konnte sich noch an das Gesicht erinnern. Er hatte den Polizisten bei der Vernehmung gesehen. »Wie sieht's denn so aus?« fragte Kornienko. »Sieht gar nicht übel aus. Mit dem neuen Gesetz sollte es uns möglich sein, diesen Johnny Blanton für einige Jahre hinter Gitter zu bekommen.« »Wie viele Jahre?« »Für Mord? Und dann noch Doppelmord? Würde sagen, da liegen die Chancen ziemlich hoch, daß die meisten Richter sehr strenge Maßstäbe ansetzen. Könnte bis zu lebenslänglich sein.« »Und Sie glauben nicht, daß Greenhouse uns mit irgendeinem Trick 'nen Strich durch die Rechnung macht?« »Wüßte nicht, was der sich da einfallen lassen könnte. Das Gericht hat immerhin schon mal befunden, daß das Geständnis des Jungen gültig ist. Haben Sie ja selbst bei der Verhandlung miterlebt. Und wir haben die Aussage des Campbell-Jungen, die ja bezeugt, daß Johnny sich zur Tatzeit in der Gegend aufgehalten hat, und - was noch schwerer wiegt daß er die Brieftasche weggeworfen hat, die Ihrem
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Vater gehörte. Ich will heute am späten Nachmittag noch mal zu den Campbells gehen.« »Hab' mich eben nur ein bißchen umgehört. Und alle sagen, daß dieser Greenhouse mit allen Wassern gewaschen ist. Anscheinend hat er 'ne Menge Tricks auf Lager. Einige haben den schon bei Verhandlungen gesehen, und der muß Leute rausgepaukt haben, wo's keiner für möglich hielt. Macht mich ganz schön nervös, wenn ich ehrlich bin.« »Kann ich mir nur zu gut vorstellen, Steve.« Girard nickte. »Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Ängste. Aber ich bin- überzeugt, wir stehen ganz gut da.« Kornienko suchte den Blick von Girard. »Bert, lassen Sie diese kleine Bestie nicht wieder unter die Leute!« »Steve, es geht nicht nur darum, daß Johnny Blanton hinter Gitter muß, das versteht sich von selbst. Zufällig bin ich auch noch genauso ehrgeizig wie Jon Greenhouse. Und ich will den Fall gewinnen.« * Girard nannte dem Taxifahrer die Adresse in der Sixth Street. Sobald der Wagen losfuhr, holte er aus seinem Aktenkoffer die Unterlagen heraus, unter denen sich alle Protokolle der Vernehmungen von Raymond Campbell befanden. Die zehn- bis fünfzehnminütige Fahrt war seine letzte Gelegenheit, nochmals schnell einen Blick auf die Aussagen zu werfen. Mit den Jahren hatte Girard sich angewöhnt, jede Minute, die ihm irgendwie blieb, zu nutzen. Das war schon beim Studium so gewesen. Das Maximum an Leistung in einem Minimum an Zeit. Das war seine Devise. Seine Kollegen konnten das 328
nicht verstehen. Man lebt doch nicht nur für die Arbeit, sagten die einen. Wer sich im Job kaputtmacht, ist selber Schuld, die andern. Ich werd' schon mal vom Wochenende zwei Stündchen fürs Private abzwacken, hatte er darauf oft ironisch reagiert und hinzugefügt: »Irgendwann werdet ihr mir's vielleicht noch mal danken, wenn ich einen in den Knast kriege, den ihr verhaftet habt.« Girard war selbst Polizist gewesen. Er kannte die Sorgen. Er hatte von der Pike auf gelernt. Und er hatte weiß Gott wie oft erlebt, daß sie einen Schuldigen geschnappt hatten, endlich, nach langer Sucherei, und daß er ihnen schließlich wieder durchs Netz schlüpfte, nur weil man nicht genügend handfeste Beweise hatte. Ja, das Finden war wirklich noch das leichteste. Aber sie zu verknacken, das war eine ganz andere Sache. Eigentlich jeder, der schwieg und sich an die Anweisungen seines Verteidigers hielt, hatte beste Chancen, wieder freizukommen. Der Täter war immer im Vorteil. Das Gesetz war auf der Seite des Schuldigen. Aber genau das machte ihn von Anfang an rasend. Er wollte etwas dafür tun, daß jemand, der schuldig war, auch schuldig gesprochen wurde. Nein, er wäre niemals in der Lage gewesen, Verteidiger zu werden. Er könnte keinen verteidigen, wenn er das Gefühl hätte, der Typ wäre schuldig. Im Grunde seines Herzens war er eben immer noch ein Polizist. Und wenn er vor Gericht ging, dann nur als Kläger. Er hatte Mrs. Campbell angerufen, bevor er aus dem Büro ging. Und er hatte ihr noch einmal erklärt, wie wichtig Raymonds Aussage vor Gericht sei. Und nachdrücklich hatte er immer wieder betont, 329
daß sie, seine Mutter, unbedingt mit dabeisein mußte. Raymond war ja noch ein Kind. Der Gerichtssaal und all die Leute, die auf ihn einredeten, konnten einen Jungen in dem Alter schon ziemlich einschüchtern. Ihre Anwesenheit würde dem Kind nicht nur mehr Selbstsicherheit geben, und ihn auf diese Weise zu einem besseren Zeugen machen, es würde auch auf die Geschworenen und den Richter einen sehr viel besseren Eindruck machen, wenn sie bei der Aussage ihres Sohnes dabeisaß. »Wie lange wird's dauern?« hatte ihn Mrs. Campbell gefragt. »Nicht lange. Nur ein kurzer Besuch. Ein paar Minuten - vielleicht dreißig, oder höchstens eine Stunde. Nur, um mich bei Ihnen und Raymond etwas bekanntzumachen.« »Ich meine doch nicht heute. Ich meine diese Sache beim Gericht, über die Sie gerade sprachen.« »Ich glaube nicht, daß Sie und Raymond mehr als drei Tage auf dem Gericht sein müssen. Vielleicht sogar nur einen Tag. Es ist nur etwas schwierig, vorauszusehen, an welchem Tag Ihr Sohn mit seiner Aussage dran ist.« »Ich hoffe, es dauert nicht zu lange. Es ist nicht, daß ich meine Pflicht als gute Bürgerin nicht einhalten will. Ich werde kommen und all das. Aber, wissen Sie, ich bin auf meine Arbeit angewiesen, jeden Tag, wissen Sie, und ich arbeite nachts. Und da brauche ich tagsüber meinen Schlaf.« »Mrs. Campbell, wir werden dafür sorgen, daß Sie wegen dieser Sache keinen Ärger kriegen. Und natürlich auch, daß Sie Zeugengeld bekommen und die Stunden eines möglichen Lohnausfalls bezahlt kriegen. Darüber brauchen Sie sich wirklich keine 330
grauen Haare wachsen zu lassen. Wichtig ist nur, daß Sie wissen, wie dringend Ihre Anwesenheit auf dem Gericht ist, und die Ihres Sohnes selbstverständlich. Dieser Junge schikaniert die ganze Nachbarschaft und bringt die Leute einfach auf offener Straße um. Und all das in Ihrer Nähe. Dieser Johnny Blanton muß aus dem Verkehr gezogen werden und hinter Gitter...« Girard blickte auf. Das Taxi bog rechts ab in die Sixth Street. Er legte den Ordner zurück in seinen Aktenkoffer und ließ die Schlösser zuschnappen. Er lehnte sich vor, um die Hausnummern besser lesen zu können. Die Campbells lebten in einem einigermaßen guterhaltenen und gepflegten Haus zwischen First und Second Avenue. Auf der Straße wimmelte es nur so von spielenden Kindern, schwarzen und weißen. Gummibälle flogen von einer Straßenseite auf die andere. Vor dem Gebäude befand sich eine ganze Batterie von Mülltonnen und Abfall, der daneben lag, weil er nicht mehr hineinpaßte. Dort mußte es auch gewesen sein, wo Quick die Brieftasche weggeworfen hatte. Mrs. Campbell öffnete die Tür und ließ Girard eintreten. Sie schickte ihre Tochter los, um so schnell wie möglich Raymond herzubringen. Nachdem die Tochter fort war, sagte Mrs. Campbell: »Ich will ja gern helfen, wenn ich kann. Aber ich kann mir nicht leisten, bei der Arbeit zu fehlen. Wir leben von meinem Job. Aber ich find's richtig, daß der Junge hinter Gitter gehört, der das getan hat. Besonders seit ich den Sohn kennengelernt habe, finde ich's richtig.« »Sohn? Welchen Sohn?« fragte Girard irritiert.
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»Na, der Sohn von diesen beiden alten Leuten, die neulich nachts umgebracht wurden.« »Den haben Sie kennengelernt? Wann denn?« »Der ist doch mehrmals hier gewesen. War der erste, der Raymond zum Reden gebracht hat.« »Oh?« Girard schoß durch den Kopf, wie intensiv Kornienko noch vor einer Stunde auf ihn eingeredet hatte. Natürlich hatte der Mann an dem Fall gearbeitet. So jemand war gar nicht in der Lage, sich einfach rauszuhalten. Aber das war gefährlich. Ja, das konnte sich sogar zu einem riesengroßen Problem entwickeln. Ein Loch in der Mauer. Greenhouses Lächeln fiel ihm wieder ein. Er konnte schon förmlich hören, wie Greenhouse dem Gericht erzählte, daß Steve Kornienko, der Sohn der beiden Opfer, den zehnjährigen Zeugen beeinflußt hatte. Das allein konnte schon reichen, um die ganze Jury in Aufruhr zu versetzen. Lamson mußte doch wissen, daß Kornienko es gewesen war, der den Jungen zum Reden gebracht hatte. Warum hatte er es ihm nicht gesagt? Aber eine noch viel schwerwiegendere Frage war, wer es noch wußte, und wie sie es verhindern wollten, daß es sich herumsprach. »Mrs. Campbell, Lamson und Mead von der Kripo waren auch bei Ihnen, und Ihr Sohn hat den beiden Beamten erzählt, was er gesehen hat. Ist das richtig?« »Wie waren die Namen gleich?« »Al Lamson und Wallace Mead. Lamson ist schlank, hat schwarzes Haar und eine ausgesprochen tiefe Stimme. Mead ist ein bißchen dicker und hat graues Haar.« »Ja, die waren hier und haben mit Raymond gesprochen.« 332
Wie sollte er jetzt vorgehen? Jetzt kam's auf jedes Wort an. Und ein Wort zuviel konnte schon gefährlich sein. Aber es gab keinen Weg dran vorbei. Girard zupfte an seinem Kragen, der völlig durchschwitzt war. Diese Hitze. »Mrs. Campbell, denken Sie doch einfach nur noch daran, daß die beiden Beamten Lamson und Mead bei Ihnen waren. Vergessen Sie, daß Steve Kornienko in dem Fall mitgemischt hat. Ja?« Sie sah ihn verständnislos an. »Wissen Sie, die einzigen, die wirklich an dem Fall arbeiten sollen, sind Lamson und Mead, Mrs. Campbell. Steve Kornienko ist auf eigene Faust losgezogen und hat Recherchen angestellt. Sozusagen als Privatmann. Außerhalb seiner Arbeitszeit. Verstehen Sie?« Girard blickte die Frau an. Hoffentlich hatte sie das so weit kapiert, daß er nicht noch mehr sagen mußte. »Ich glaub' schon«, sagte sie endlich. »Ist aber ein netter Mann, stimmt's?« Es war wichtig, daß die Frau einen guten Eindruck von Kornienko hatte. »Hm, hm«, sie nickte. Girard holte tief Luft. Er war nun vollends ins Schwitzen gekommen. Hoffentlich hatte sie das verstanden. Aber wie sollte man das bloß dem Jungen verklickern? Schließlich war der erst zehn. Er mußte es der Mutter überlassen, daß sie es Raymond klarmachte. Er konnte es sich nicht leisten, einen Zeugen zu beeinflussen. »Wann, Mrs. Campbell, meinen Sie, wird Ihr Sohn nach Hause kommen?«
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»Eigentlich müßte der Bengel längst hier sein.« Sie ging zum Fenster und spähte auf die Straße. »Da sind sie ja...« Eine Minute darauf konnte Girard schon die Schritte der beiden Kinder hören, die die Treppe hochrannten. Mrs. Campbell ging zur Tür und öffnete ihnen. Raymond Campbell blickte zu Girard, der sitzengeblieben war. »Und was is nun schon wieder los?« »Raymond, das ist Mr....« Sie zögerte und blickte Girard fragend an. »Tut mir leid, wie war noch mal Ihr Name?« »Girard. Raymond, ich bin Mr. Girard von der Staatsanwaltschaft. Ich bin für den Fall Johnny Blanton zuständig, der ja bald vor Gericht verhandelt wird. Verstehst du, was ich sagen will?« »Weiß nicht so genau. Bin doch'n Kind. Erst zehn Jahre.« »Na ja, deine Aufgabe ist auch ganz einfach. Alles, was du tun mußt, wenn du vors Gericht kommst, ist, daß du aussagen mußt, wie du die Brieftasche gefunden hast in jener Nacht, und daß du die Person beschreibst, die du gesehen hast, und die die Brieftasche weggeworfen hat.« »Trotzdem, ich weiß gar nicht mehr so richtig. War ja dunkel. Vielleicht war's der gar nicht. Ist auch schon so lange her.« »Raymond, du wiederholst einfach, was du der Polizei schon längst gesagt hast.« Girard blickte zu Raymonds Schwester, die neben ihnen stand und genau zugehört hatte. Leise lächelnd hatte sie den Worten ihres Bruders gelauscht, »'s war doch dunkel da draußen. Da konnte
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man keine Sau seh'n«, sagte Raymond jetzt. »Weiß echt nich, wer das war, den ich geseh'n hab'.« »Raymond, es war aber genau deine Beschreibung, nach der die Polizei vorgegangen ist, und Johnny wurde nur durch dich gefunden und festgenommen. Und er war's auch, er hat ja gestanden. Er hat zugegeben, daß er's getan hat.« »Is mir doch null wichtig. Keine Ahnung. Weiß Null. Das is alles.« »Wenn der Junge selbst gestanden hat und sagt, er war's«, warf jetzt Mrs. Campbell ein, »warum sollst du trotzdem vors Gericht?« »Das kann ich Ihnen genau sagen, Mrs. Campbell. Sein Anwalt plädiert auf unschuldig. Deshalb brauchen wir noch mal den Zeugen.« »Obwohl er's gesagt hat?« »So läuft das nun mal auf dem Gericht. Aber der Anwalt kommt damit nicht durch, zumindest nicht, wenn Ihr Sohn aussagt. Das ist dann eine zusätzliche Tatsache, die nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden kann.« »Bin kein Spitzel«, sagte Raymond. Girard maß den Jungen mit einem kritischen Blick. Wieder mal das alte Problem. Wie oft kippten die Zeugen um, wenn sie vor Gericht aussagen sollten. »Raymond, dieser Junge hat zwei Leute brutal erstochen. Verstehst du das denn nicht? Wir brauchen deine Hilfe, um ihn ins Gefängnis zu bringen, bevor er weitere Leute umbringt.« »Und was, wenn er rauskommt? Dann is er hinter mir her, mit seinem Messer. Oder der schickt mir seine Freunde auf den Hals, wenn er eingelocht ist. Scheiße, bin doch nich lebensmüde. Stell' mich 335
doch nich da hin und sage, der is es, der hat's getan. Bin kein Polizeispitzel.« Girard wischte sich die kleinen Schweißtropfen von seiner Stirn. Er hatte anfangs mal darüber nachgedacht, daß der Junge umkippen und die Aussage vor Gericht verweigern könnte. Aber schließlich hatte er diese Befürchtung verworfen, weil Raymond erst zehn war, ein Kind, das sich noch keine Sorgen um solche Dinge machte. Er hatte anscheinend Johnny Blantons Ruf unterschätzt. Was die Leute für eine Angst vor dem Jungen hatten! »Raymond, die werden dich ja nicht fragen, ob er es getan hat. Alles, was die wissen wollen, ist, ob er die Brieftasche weggeworfen hat, die du der Polizei gegeben hast. Das ist alles. Nichts weiter. Und Raymond, du mußt die Wahrheit sagen. Das ist Gesetz. Du kannst in große Schwierigkeiten kommen, wenn du nicht die Wahrheit sagst, hörst du.« »Kann ich ja sagen, aber ich bin mir nich sicher, ob er's is.« »Raymond, hast du mit ein paar Freunden über die Sache gesprochen?« »Kann schon sein.« »Und haben die dir geraten, du sollst vorsichtig sein?« »Kann schon sein.« »Raymond, du mußt vor Gericht erscheinen, wenn wir's dir sagen. Und wie ich schon sagte, wenn du lügst, kannst du in große Schwierigkeiten kommen. Hast du das ganz bestimmt verstanden?« »Kann schon sein. Und was ich auch verstanden habe, ist, ich bin nich sicher, wen ich gesehen habe, als er die Brieftasche wegschmiß. « 336
Girard fühlte sich wie in Schweiß gebadet. Die Hitze und Schwüle erschienen ihm plötzlich unerträglich. Er blickte die Mutter des Jungen an. »Mrs. Campbell, ich denke, Sie sehen selbst, was hier Sache ist. Sie müssen uns jetzt helfen.« »Na ja, wenn er doch aber nicht gesehen hat, wer die Brieftasche weggeworfen hat?« murmelte sie. Er hatte sich in der Frau getäuscht. Das war die andere Möglichkeit gewesen, die er in Betracht gezogen, aber sofort wieder fallengelassen hatte. »Mrs. Campbell, als er von der Polizei vernommen wurde, hat Ihr Sohn gesagt, daß jeder in der Umgebung, besonders im Tompkins Square Park Johnny Blanton kennt. Hört sich das vielleicht wie eine Zeugenaussage von jemandem an, der nicht sicher ist, wen er gesehen hat?« »Trotzdem hat er's eben vielleicht nicht sehen können.« Die Frau drehte ihr Gesicht, das einen schuldbewußten Ausdruck hatte, von ihm weg. Girard wandte sich an Raymonds Schwester. »Ich glaube, du hast der Polizei erzählt, daß du ihn auch erkannt hast.« »Ich weiß überhaupt nichts davon«, sie kicherte unsicher. Furcht stand ihr im Gesicht geschrieben. »Gar nichts davon«, stieß sie noch einmal hervor. Girard blickte wieder zur Mutter. »Mrs. Campbell?...« Der schuldbewußte Ausdruck in ihren Augen hatte flammendem Zorn Platz gemacht. Für sie schien die Sache abgeschlossen. »Wenn sie sagen, sie sind nicht sicher, dann ist das so. Ich kann mir nicht erlauben, daß die Kinder mit Angst in die Schule ge-
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hen müssen. Oder in den Park. Oder sonstwohin auf den Straßen hier...« Girard ging die Sixth Street entlang, Richtung Second Avenue. Möglicherweise fand er auf der Third ein Taxi. Was die Campbell-Familie anging, nun, er war fest entschlossen, sie allesamt in den Gerichtssaal zu bekommen, und wenn er sie hinprügeln oder sie schreiend an den Haaren reinzerren mußte... Mit einem bißchen Geduld und Technik würde er sie schon zum Reden bringen. Aber Greenhouse würde sie ins Kreuzverhör nehmen und seine Nummer mit ihnen abziehen. Und was, wenn die ganze Geschichte mit Kornienko dabei herauskam? Auch darüber würde er noch nachdenken müssen... * »Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich finde, Sie sind ein Narr«, sagte Alex Leone. »Wenn Sie diesen Fall vor Gericht bringen, Girard, sind Sie von allen guten Geistern verlassen.« Girard starrte seinen Vorgesetzten an. Das war einer der Momente, wo er diesen Kerl regelrecht haßte. »Bitte, bitte«, Leone hob abwehrend die Hände, »es ist Ihr Bier, ich könnte sagen, es ist allein Ihr Bier. Und wenn Sie Ihren Kopf hinhalten wollen, bitte nur zu. Tz, tz, ich könnte diese Position einnehmen. Aber ich will's nicht. Weil das ganze Fiasko ein schlechtes Licht auf uns wirft.« »Alex, kann ich auch mal was sagen? Wo wir gerade von Fiasko sprechen: Ich habe dabeigesessen, als Johnny Blanton sein Geständnis abgelegt hat. Und ich habe eine Menge Zeit damit zugebracht, 338
mir die Fotos der Opfer anzusehen. Alex, dieses Kind ist ein Ungeheuer. Wie im Gruselfilm. Der sieht zuckersüß aus, der Bengel, aber glauben Sie mir, er ist das Übelste, was man sich nur vorstellen kann.« »Sie machen sich Sorgen um das falsche Ungeheuer. Das Monster, das Sie schlachten wird, ist Jonathan Greenhouse. Bert, ich habe diesen Jungen bei der Arbeit gesehen, und der kann was. Sie sagten doch, die Richterin ist auf unserer Seite?« »Ist sie auch. Deshalb hat sie die Kaution ja so happig festgesetzt. « »Aber warum, zum Teufel, hat sie dann diesen rothaarigen Wunderknaben an den Fall rangelassen?« »Wie soll ich denn das wissen? Vielleicht hat sie einfach nicht drüber nachgedacht. Oder sie hat's getan, ehe sie kapiert hat, wie die Dinge liegen. Vielleicht hat sie - ach, ich weiß auch nicht, was sie sich dabei gedacht hat.« »Bert, Sie sitzen ganz schön tief in der Patsche. Sie standen von Anfang an nicht besonders gut da, aber seit dem Mist mit dem Campbell-Jungen heute nachmittag haben Sie gar nichts mehr in der Hand. Wenn Sie sich einbilden, unser Wunderknabe läßt Sie in diesem Fall gewinnen, und dann noch bei dem Geständnis unter äußerst fragwürdigen Umständen und einem Zeugen, der Schiß gekriegt hat, dann benehmen Sie sich wirklich wie ein Anfänger. Und was ist mit Steve Kornienkos Einmischen, um die Dinge noch ein bißchen komplizierter zu machen, als sie schon sind?« Wieder fühlte Girard, wie ihm der Schweiß ausbrach und langsam den Rücken hinunterlief. Ihm gegenüber der Chef, der ihn schulmeisterte. Eine ekelhafte 339
Situation. Seine Kleidung kam ihm vor, wie eine zweite, nasse Haut, die nun kalt an ihm klebte. Er musterte Leone- diesen Fettwanst, und wie er in seinem bequemen Lederstuhl thronte, das schwarze, pomadige Haar, das weiße Hemd, die Seidenkrawatte, die tiefliegenden Mausaugen hinter der dicken grauen Brille. Leone mußte ihm, Girard, ständig das Gefühl geben, ein dummer, kleiner Junge zu sein. Und das genau war's, wofür er seinen Chef zuweilen aus tiefstem Herzen haßte. Aber anderseits hatte er alle Achtung vor dem Mann, denn er war wirklich fähig. Das mußte man ihm lassen. Und dann das feine Gespür! Ja, richtig hellseherisch war er veranlagt. »Was ich ja zu gern wüßte«, fuhr Leone fort, »was in Gottes Namen in Sie gefahren ist, als sie zuließen, daß der Junge weiter vernommen wurde, obwohl sein Bruder dagegen war. Nun sieht's wieder mal so aus, als wären Sie einfach darüber weggegangen. Was meinen Sie, was für einen Strick Ihnen Greenhouse daraus dreht, hm?« »Chef, Sie hätten mal dabei sein müssen. Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen soll. Mir war klar, daß das unsere einzige Chance ist. Wir konnten ihn festnageln oder eben nicht. Der Junge wollte ausspucken, das lag förmlich in der Luft. Und wenn ein Rechtsanwalt dabeigewesen wäre, hätte der das natürlich zu verhindern gewußt. Ist doch klar. Ohne das Geständnis hätten wir Null. Wie die Dinge jetzt liegen, haben wir immerhin was. Nicht so viel, wie's mir lieb wäre, aber immerhin...« Leone lehnte sich nach vorn. Er stützte seinen Kopf in die Hände. Irgendwas in seinem Gesicht war 340
weicher geworden. »Es ist ein sehr unglücklicher Fall«, sagte er. »Sie haben eben Pech gehabt, spätestens, seit Greenhouse die Verteidigung übergeben wurde.« »Da sagen Sie mir nichts Neues«, stöhnte Girard. »Es ist eine Schande, daß sie nicht einen von den Lackaffen genommen hat, statt diesen Supermann«, grübelte Leone. »Ist eben der Salat, daß dieser Kerl gerade neulich im Gericht sitzen mußte.« »Ist jetzt zu spät, sich darüber noch graue Haare wachsen zu lassen. Womit wir uns jetzt konzentriert befassen müssen, ist die Tatsache, daß wir einen fünfzehnjährigen Mörder in Haft sitzen haben, und wie wir vorgehen müssen, um den Jungen für mindestens die nächsten Jahre hinter Gitter zu bekommen.« Leone schien einen Moment angestrengt nachzudenken. »Greenhouse hat vermutlich keinen blassen Schimmer, auf wie wackligen Beinen unsere Zeugenaussage steht, stimmt's?« Girard zuckte die Schultern. »Ich wußte's ja selbst bis vor einer guten Stunde nicht.« »Um genau zu sein, weiß er ja nicht mal, wer unser Zeuge ist. Geh' ich recht in der Annahme... ?« »Ja.« »Aber blöd ist er nicht. Er weiß, daß wir ein Geständnis haben. Und wenn es auch nicht ganz astrein ist, immerhin hat das Gericht es anerkannt. Und er weiß, wir haben irgendeinen Belastungszeugen, der bereit ist, auszuspucken. Ich hab's so im Urin, daß der auf Sie zukommen wird, um mit Ihnen was auszuhandeln. Wenn das der Fall ist, zeigen Sie 341
sich offen, aber geben Sie nicht zu viel nach. Auf Kompromisse müssen Sie sich schon einlassen, wie die Dinge liegen. Hören Sie sich ruhig an, was er Ihnen anzubieten hat. Feilschen Sie mit ihm. Bringen Sie ihn dahin, daß er Ihnen fahrlässige Tötung anbietet. Ich fürchte, das ist das einzige, was wir aus der Sache rausholen können.« »Und was, wenn er nicht kommt?« »Ich freß einen Besen, wenn er's nicht tut! Der weiß genau, daß der Junge schuldig ist.« Girard schwieg. Er blickte zu Boden, wollte Leone nicht in die Augen sehen. »O k. ?« fragte sein Chef sanft. Girard schaute auf. »Weiß noch nicht, ob ich mich auf diesen Handel einlassen kann. Er wird vermutlich versuchen, den Fall doch noch mal vors Jugendgericht zu bringen. Und ich sehe nicht ein, daß wir da mitmachen müssen. Das wäre doch zum Totlachen, wie gut der Junge dabei wegkäme. Ich glaube, ich muß die Sache durchfechten bis zum bitteren Ende. Für so einen widerlichen Mord muß dieser Johnny büßen, und zwar nach dem neuen Gesetz. Wir alle wissen, daß er's getan hat, und er muß zur Verantwortung gezogen werden.« »Wenn ich Sie so reden höre - wie ein Naivling. Bilden Sie sich wirklich ein, daß Sie dem Jungen vorsätzlichen Mord nachweisen können? Am Ende werden Sie gar nichts mehr in der Hand haben. Am Ende werden Sie Ihr niedliches, kleines Ungeheuer auf freiem Fuß haben.« Girard blickte aus dem Fenster. »Tun Sie mir den Gefallen, und reiten Sie uns nicht alle rein«, sagte Leone. 342
»Chef, darf ich Sie mal was fragen? Die Opfer waren die Eltern von einem Polizisten. Was meinen Sie, wird die Presse dazu sagen, wenn wir uns auf einen Handel einlassen?« »Und was wird die Presse sagen, wenn wir den Jungen laufenlassen? Was vor allem werden Sie denen sagen? Wollen Sie der Richterin den schwarzen Peter zuschieben?« Girard verließ das Büro seines Chefs und ging zur Toilette. Vor einem Spiegel blieb er stehen und betrachtete sich prüfend. Sein Anzug sah unmöglich aus, total zerknittert. Und dabei war es ein guter. Er hatte ganz schön was hinblättern müssen bei Bamey's. Aber jetzt sah er wirklich so aus, als hätte er ihn irgendwo auf dem Krabbeltisch im Ausverkauf erstanden. Was sollte das alles ihn nach so einem Tag noch anmachen? Was er jetzt brauchen konnte, war ein Drink. Er verließ das Haus und ging zum Stark's Pub, wo er sich einen Scotch nach dem anderen genehmigte, während er bemüht war, seine Gedanken zu ordnen. Das Protokoll des Geständnisses von Johnny hörte sich gut an. Trotzdem würde Greenhouse alles versuchen, um es platzen zu lassen. Aufhänger würde der Bruder sein, der ja zunächst protestiert hatte. Wenn Greenhouse das gelingen würde, sähe es bös aus. Ein Jammer, daß es in Manhattan nicht üblich war, solche Vernehmungen mit Video aufzuzeichnen. In der Bronx taten sie das. Und zwar mit viel Erfolg. Dann konnten die Geschworenen sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von der Sache machen, selbst sehen und hören, wie's nun wirklich 343
zugegangen war. Aber natürlich hätten sie dann auch gesehen, wie Lamson auf den Tisch schlug. Greenhouse würde auch dazu einiges einfallen. Er mußte an den großen Ukrainer denken. Kornienko wollte Gerechtigkeit. Kein Wunder! Seine Eltern waren auf offener Straße hingeschlachtet worden. Er mußte auch an Raymond Campbell denken. Steve hatte den Jungen dahin gebracht, daß er den Mund auftat. Man hatte das Geständnis und die Aussage von Raymond. Eigentlich sah das auf den ersten Blick ganz gut aus. Aber, wie anzunehmen war, hatten die Freunde des Jungen auf ihn eingeredet und ihn dazu gebracht zu kuschen. Und seine Mutter ließ das zu. Unter Strafandrohung konnte man Raymond vorladen und zur Aussage zwingen. Aber wenn der Junge sich dumm stellte, konnte man nur noch dabei zusehen, daß alles wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Eine Art Tanz auf dem Drahtseil, das Ganze. Er dachte an sein Gespräch mit dem Chef. Eine neue Hitzewelle überflutete ihn. Konnte es nicht sein, daß Leone einfach überängstlich war? Oder hatte er mal wieder den richtigen Riecher und die Sachlage einfach nüchtern eingeschätzt? Schon ziemlich häufig hatte der Mann recht behalten. Sollte er verhandlungsbereit sein, wie Leone ihm riet, oder sollte er die Geschichte auf Biegen und Brechen durchziehen? Besser den Spatz in der Hand...? Er trank das Glas aus, zahlte für die Drinks und hastete ins Büro zurück. Freitag abend, neunzehn Uhr. Es begann ruhig zu werden in dem Gebäude. 344
Er schlenderte an Leones Zimmer vorbei und warf einen Blick hinein. Leone war schon weg. Er ging zurück in sein Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Eine Menge Notizen hatten sich angesammelt. Greenhouse hatte angerufen. Er nahm den Zettel, die Telefonnummer war angegeben. Ob Greenhouse noch in seinem Büro saß? Um diese Zeit? Er nahm den Hörer und wählte. »Jonathan Greenhouse.« »Mr. Greenhouse?« »Am Apparat.« »Jon, hier ist Bert Girard. Sie hatten um Rückruf gebeten.« »Oh, nett, daß Sie anrufen. Ich habe mich gemeldet, weil ich es für eine gute Idee hielte, wenn wir beide uns mal zusammentun, und zwar vor der Verhandlung Montag morgen.« »Wenn Sie möchten, gern. Kommen Sie doch Montag morgen zuerst bei mir vorbei.« »Ist das nicht ein bißchen knapp? Wir müssen ja schon um neun im Gerichtssaal sein.« »Ich finde das nicht zu knapp. Wie wär's in meinem Büro um halb neun? Wird ja nicht lang dauern.« »Also gut, ich werde um halb neun bei Ihnen sein.« Greenhouse schien etwas verärgert. »Hatte eigentlich gedacht, wir könnten uns morgen mal zusammensetzen.« »Lassen wir es bei Montag. Ich hab' am Wochenende keine Zeit.« »Okay. Dann bis Montag.« Girard legte auf. Hatte er überzogen mit seiner kühlen Masche? Zumindest konnte Greenhouse dann
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nach ihrem Gespräch auf keine dummen Gedanken kommen und noch irgendwie tricksen. Aber er hatte sich auf diese Weise natürlich auch kein Hintertürchen mehr offengelassen. Vielleicht wäre ein Treffen am Samstag doch keine üble Idee gewesen. Aber nun war's zu spät. Ihm war schon wieder heiß geworden, trotz Klimaanlage. Scheißspiel, das ganze Geschäft!
19. Kapitel Quick starrte an die Decke. Er wartete auf das Wecksignal. Er hatte nicht gerade viel geschlafen. Mußte immerzu darüber nachdenken, ob's richtig gewesen war, die Katze aus dem Sack zu lassen und Cindy auf die Nase zu binden, daß er die beiden Alten erledigt hatte. Nicht, daß er irgendwas Schlimmes getan hätte, dessen er sich zu schämen brauchte, verdammte Scheiße noch mal. Das wollten sie ihm ja alle nur einreden. Dieser alte Macker war schließlich auf ihn losgegangen. Es war nur eben so, daß Greenhouse ihm gesagt hatte, er solle mit keinem drüber reden. Mit keinem! Aber Cindy war anders. Das war eine Ausnahme, hatte sie ja selbst gesagt. Und wenn's keine gewesen wäre, hätte sie ihm das nie einzureden versucht. Er wollte auch unbedingt, daß sie Bescheid wußte. Damit sie es verstand. Außerdem brauchte er jemanden, mit dem er mal drüber reden konnte. Und er wußte niemanden, mit dem er's lieber getan hätte. Sie war was ganz Besonderes. Er vertraute ihr. Warum auch nicht. Schließlich vertraute sie ihm auch. Sogar schon vor zwei Jahren, als er erst drei346
zehn war, und sie beschlossen hatte, das große Geld zu verdienen und 'ne Biege zu machen. Wem hatte sie's erzählt? Nicht Paul, schon gar nicht Maureen. Er war's, dem sie's vertickt hatte. Trotzdem, vielleicht war's hirnrissig gewesen, ihr die Sache zu verklären. Sie hatte so komisch geguckt, als sie's gehört hatte. Und dann hatte sie's auch so verdammt eilig gehabt, rauszukommen. Total ausgeklinkt! Na ja, jetzt konnte er's auch nicht mehr ändern. War eben tote Hose. Er hatte sich drauf verlassen, daß sie ihn verstand und nicht auf einmal mit so 'ner abgemackerten Tour anfing. Echt. Womöglich hatte sie jetzt sogar Bange vor ihm? Mensch, bloß nich. Immerhin hatte sie ihm einen Kuß gegeben. Und der war nicht ohne... Genauso toll, wie er's in Erinnerung hatte. Er fuhr voll auf Cindy ab, das stand fest... Die Klingel. Sogar wenn er förmlich drauf wartete und drauf vorbereitet war, läutete dieses Scheißding so laut, daß es ihn direkt aus dem Bett schmiß. Vielleicht gab's was Leckeres zum Frühstück... Quick stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, der mitten im Tagesraum stand. Er wartete auf den Frühstückswagen. Vor sich hatte er den grünen Plastikbecher. Einige unter den Jungen rannten durch den Raum, spielten Fang mich, boxten sich, neckten sich. Diese Kinder! Richtige Babies. Was sollten die nur hier in Rikers? Aber manche waren's nicht mehr. Manche hatten's echt drauf. Er hatte ziemlich Abstand gehalten von denen, obwohl er ja immerhin schon 'ne Reihe von Tagen hier war. Er wollte lieber allein sein. Er hatte auch bei diesen bekloppten Ballspielen nicht mitgemacht. 347
Hatte er nie gelernt. Und wie kam er dazu, vor denen 'ne schlechte Figur zu machen? Basketball, hatte er noch nie gespielt. Was sollte das denn auch? O. k., der Ball mußte ins Netz, mußte gefangen und geworfen werden, na und? Deshalb hatte er sich einfach hingesetzt und zugesehen, mit verschränkten Armen. So konnte er am besten feststellen, wer schlecht spielte. Sollten die ruhig sehen, daß er was andres zu tun hatte, als sich mit ihnen abzugeben. Außerdem hatten die ihn eigentlich gar nicht gebeten, mitzuspielen. Er war der einzige weiße Affe in diesem Affenkäfig. Das machte ihn nun auch nicht gerade beliebter. Hatte er längst gerafft. Er war Schneewittchen mit dem langen, blonden Haar. Besonders die Größeren hänselten ihn deswegen. Und ohne das Messer in der Tasche war er auch nicht unbedingt darauf aus, sich mit denen anzulegen. Viel easier war's, sich hinzusetzen und zuzusehen. Einen mochte er ganz gern. Der Typ hieß Matches. Er konnte sich nicht helfen, aber den mochte er, vielleicht, weil der ihn irgendwie ins Herz geschlossen hatte. Netter, kleiner Junge. Besonders, wenn man bedachte, daß es ein Puertoricaner war. Winziges Kerlchen. Aber eins mußte man ihm lassen: er war keine schwarze Sau. Wenigstens hatte er keinen verlausten, ekelhaften Angeberkamm im Filzhaar stecken. Der hatte Haare, richtige Haare, und nicht so 'ne Wolle aufm Kopf. Und immer hatte er ein Lachen drauf, immer war er irgendwie angetörnt. 348
Wie konnte der nur durch seine wahnsinnig dicken Brillengläser was sehen? Und er hatte sie andauernd auf der Nase. Na ja... Quick stand auf und ging zu dem Wagen. Er rannte nicht. Er nahm sich Zeit. Ein paar Verrückte waren aufgesprungen, um ja als erste anzustehen. Dann wieder gab es welche, die so ins Quatschen oder Herumturnen vertieft waren, daß sie zunächst gar nicht merkten, daß das Essen kam. Die mußten sich ganz hinten aufreihen. Quick musterte einen nach dem anderen. Die Reihe war lang. Er stand so in etwa in der Mitte. Matches hatte es doch tatsächlich fertiggebracht, direkt hinter ihm zu stehen. »Hallo, Johnny«, grinste Matches. Quick lächelte zurück. »Is was?« »Hast deine Tasche auf dem Tisch liegenlassen. Die brauchste doch, Mensch.« »Wo du recht hast, haste recht.« Quick rannte zu seinem Tisch zurück. Als er sich wieder an seinen Platz vor Matches stellen wollte, trat ihm ein größerer Schwarzer in den Weg. »Hast wohl 'n Rad ab, Süßer, was? Laß den bloß nich wieder rein, Matches. Geh du man schön ans Ende, Tussi.« »Logo, der gehört an den Schwanz«, tönte es von hinten. »Er war vor mir«, verteidigte ihn Matches. »Du hast wohl nich alle, Rosey... Wir sprechen uns noch.« »Leck mich...«, sagte Matches mutig grinsend. Quick wußte überhaupt nicht, was das alles sollte. Die Reihe war gar nicht lang, und es ging zügig 349
vorwärts. Und sonst hatten die sich auch nicht so angestellt. Nie rannten die, um irgend etwas zu bekommen. Es gab ja immer so viel, daß man sich sogar noch nachholen konnte. Quick warf einen Blick auf den Wärter. Der Kerl saß an seinem Tisch und hatte alles genau im Auge. Quick kam dran und nahm ein Tablett. Seinen Plastikbecher stellte er schon mal drauf. Drei Jungen standen hinter dem Wagen und gaben das Essen aus. Einer kippte ihm trockene Maisflocken auf einen Teller. Nachdem er mehr daneben geworfen hatte, als rein, sagte er: »'tschuldige. Hab' ich echt nicht mit Absicht gemacht.« Er grinste. Der hatte es tatsächlich nicht getan, um ihn zu ärgern. Quick ging nicht weiter drauf ein. Er rückte ein Stück weiter zum Nächsten, der die Teller nahm und wässrig verdünnte Rühreier dazugab. »Die will ich nich«, sagte Quick. »Bestimmt nich?« »Nee, ich mag keine Eier, und besonders solche nich«, schüttelte sich Quick. Er ging ein Stück weiter und bekam von dem dritten Jungen zwei Scheiben halbverbrannten Toast. Quick nahm sich ein Glas Milch, eine Banane, einen großen Suppenlöffel und eine Papierserviette. Er blickte sich im Raum um. Wo würde Matches hingehen? Der kam auf ihn zu und hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte sein Tablett voll, von allem etwas genommen. »Willst du etwa diese Eier essen«, fragte Quick. »Verdammt, ja, ich freß alles«, sagte Matches. »Nich, als ich zuerst herkam. Aber jetzt.« Sie gingen zu dem großen Tisch. Quick setzte sich ans Ende. Ein Stück von den anderen entfernt. 350
Matches ließ sich neben ihn nieder. »Der Junge eben, wie nannte der dich? Rosey?« fragte Quick. »So heiß' ich auch«, sagte Matches. »Rosario. Rosario Onofrio.« Quick sammelte die verschütteten Flocken mit dem Löffel wieder ein und gab sie auf seinen Teller. Er dachte über Matches' richtigen Namen nach. Er warf einen Blick auf den Puertoricaner, der gerade einen riesigen Bissen Ei in den Mund schob. »Und wie heißt dein Freund, der, mit dem du das Feuer gelegt hast?« »Hay-sue.« »Hay-sue? Meinst du, Jesus?« »Er ist oben.« Matches machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Decke. »Die lassen uns nicht zusammen.« »Hab' ich gestern im Besucherzimmer gesehen. Spanier? Er sah mehr wie...« Quick schaute sich schnell um. Die andern waren, voll und ganz mit sich selbst beschäftigt. »Bißchen von beidem«, sagte Matches. »Und wieso habt ihr das überhaupt gemacht? Habt ihr Kies dafür gekriegt oder so?« »Nee«, Matches schüttelte energisch den Kopf. »Nur so. Hatten einfach Lust, 'n Feuer zu machen. Im Keller gab's 'n Haufen Holz und andres Gerumpel. Dann nix wie raus. Und da hat's schon wie bekloppt gebrannt. Echt Wahnsinn!« »Kanntest du welche von denen, die's erwischt hat?« »'n paar.« Matches steckte den letzten Bissen Rührei in seinen Mund und begann, seinen Brei umzurühren. 351
Quick stand auf. »Ich hol' mir noch 'ne Banane.« »Bringste mir eine mit?« Quick ging zum Wagen und kam mit einer einzigen zurück. »Mehr war nich mehr da. Teilen wir.« Der Wärter war aufgestanden und kam auf den Tisch zu. »So«, sagte er. »Schluß für heute. Räumt auf. Der Unterricht fängt in zehn Minuten an.« »Oh, so 'n Scheiß«, murmelte einer der Jungen. »Heute ist Sonnabend. Sonnabend is frei.« »Ihr habt Sonntags frei. Was war letzten Sonnabend, he? Und all die anderen Sonnabende, die du inzwischen schon hier bist. Weißte wohl nich mehr, was?« »Trotzdem, da müßte frei sein.« »Los jetzt. Keine Müdigkeit vorschützen. Zehn Minuten habt ihr Zeit, hier alles pikobello abzuräumen. Und bringt den Wagen raus. Nun macht schon, 'n bißchen plötzlich.« Sch.. .ei.. .ße!« Der Wagen fürs Mittagessen war immer noch nicht da. Die Jungen tobten durch den Tagesraum. Einer machte den Fernseher an. Fummelte so lange an den Programmen rum, bis er eine Show mit Diskomusik drin hatte. Die Jungen im Saal reagierten blitzschnell. Alles begann wie verrückt zu dem schnellen Rhythmus zu tanzen. Quick hatte sich hingesetzt und schaute ihnen zu. Wie die sich bewegen konnten! Fast alle machten mit, nur ein paar standen etwas außerhalb und glotzten. Sogar Matches tanzte mit. Ein hingebungsvolles Lächeln auf seinem Gesicht. Um ihn 352
herum nur größere, kräftige Kerle, die ihm hin und wieder einen Puffer gaben, aber irgendwie nett. Alle mochten Matches, der Quick in gewisser Weise an seinen Freund Squirrel erinnerte. Schon drei Tage dieser Scheißunterricht. Wozu dieser ganze Quatsch? Wenn man sich da nur irgendwie drücken könnte! Wozu hatte er wohl Schluß gemacht damit! Er konnte lesen und rechnen. Was sollte er sonst noch Wichtiges lernen können. Blödsinn. Geschichte - puh, war ihm doch viel zu ätzend. New York? Was ihn interessierte an der Stadt, kannte er sowieso. Und dann auch noch dieser Lehrer! Noch so 'n schwarzer Gorilla. Der hatte es nötig, ihm Fragen zu stellen und irgendwelche Dinge von ihm zu verlangen. Schließlich war die Show zu Ende, die Jungen hörten auf zu tanzen, und fast im selben Moment erschien der Wagen mit dem Essen. Quick stellte sich diesmal fast ganz hinten an. Er hatte überhaupt keine Eile. Es gab wieder so 'nen komischen Fraß, Mischung aus Hamburgern mit fast nur Mehl drin, das sah er sofort, Bratkartoffeln, Mais, Brot und die übliche Milch. Als er sein Tablett voll hatte, blickte er sich suchend um. Er wollte sich wieder zu Matches setzen und ging zu dem Tisch, wo sein neuer Freund saß. Die Jungen, die allesamt um Matches versammelt waren, blickten ihn erwartungsvoll und irgendwie anders als sonst an. Was war los? Als er den Tisch schon fast erreicht hatte, hörte er Matches gerade noch sagen: »... daran seht ihr, daß er Mumm hat.« Matches blickte zu Quick. »Stimmt's, Johnny?« »Redet ihr über mich?« Quick setzte sich hin. 353
»Sag' gerade, daß du 'ne Menge draufhast«, sagte Matches. »Woher willste denn das wissen? Du kennst mich doch gar nicht weiter.« »Hier bleibt nix geheim!« sagte da einer der Jungen. »Was ich gern wüßte, hast du noch 'n paar andere kaltgemacht? Außer den beiden, mein' ich?« Quick sah den Jungen schweigend an. Er dachte an die Anweisungen von Greenhouse. »Ach, Scheiße. Der hat doch sonst nix gebracht«, murrte der Junge. »Nix, was ich dir auf die Nase binden würde«, gab Quick zurück. »Willste eine mit mir rauchen?« fragte Matches. Quick blickte auf. Er hatte seit dem Mittagessen in einer Ecke des Hofes gesessen und den anderen beim Football zugesehen. Ein paar andere spielten Basketball. »Rauchen? Was denn?« fragte er Matches. »Hab' 'n paar Ziesis ergattert.« Matches schlug sich auf die Hosentasche. »Von Logan, als der gerade nich guckte.« »Du meinst den Polizisten?« Quick blickte sich ängstlich um. »Is schon gut. Der hat keinen Schimmer, wer sie genommen hat. War ihm auch egal, sowieso. Hab' nur 'n paar. Waren nich mehr drin. Willste nun?« »Und wo sollen wir hin?« »Dahin. Komm, hier um die Ecke.« Matches zog ihn mit sich.
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Dann nahm er zwei Kippen aus seiner Tasche und zündete sie an. Eine davon gab er Quick. Quick nahm sie und steckte sie in den Mund. Er zog und mußte husten. Ganz schön stark. Er hatte eine Weile schon keine mehr geraucht. Er schaute Matches genau zu und nahm dann noch mal einen kräftigen Lungenzug. Er verschluckte sich und seine Augen füllten sich mit Tränen War schon zu lange her. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie an der Mauer aus. Er wartete darauf, daß der Hustenreiz aufhörte. »Rauchste denn nich?« fragte Matches erstaunt. »Hab's aufgesteckt. Machen so lahm, und ich bin gern schnell.« »Mensch, verdammte Seuche. Vergeude die bloß nich.« Matches hob die Kippe von Quick auf und steckte sie in die Packung zurück. »Raucht dein Alter?« »Hab' keinen«, sagte Quick. »Ich auch nich. Und deine Alte? Haste eine?« Quick nickte. »Ich auch. Hat sie 'nen Job?« Quick schüttelte den Kopf. »Meine auch nich. Lebt auf Stütze, he?« »Stimmt...« Quick warf einen Blick auf seinen neuen Freund. Alles war irgendwie gleich. »Haste 'nen Bruder oder 'ne Schwester?« Quick lächelte. »Müßtest mal meine Schwester sehen. Scharfe Torte, sag' ich dir.« »Ich hab' vier Schwestern und vier Brüder.« 355
Quick versuchte sich auszumalen, wie die wohl lebten. »Wo wohnt ihr?« wollte Matches wissen. »Eleventh Street. Avenue B and C.« »Aha, mitten drin. War ich noch nie. Ich wohne in der Bronx. 208th Street. Gibt 'ne Menge Ungeziefer da.« Quick betrachtete Matches lächelnd. Überall dasselbe. »Woll'n wir Frisbee spielen?« fragte Matches. »Frisbee? Was zum Teufel is'n das? Hört sich mühsam an.« »Nein, Mensch. Frisbee ist toll. Ich bring's dir bei. Brauchst 'ne ruhige Hand.« Schon war Matches aufgesprungen und um die Ecke gerannt. Ein paar Sekunden später war er wieder da, mit einer runder Plastikscheibe in der Hand. »Das is Frisbee.« »Ach, die Dinger. Hab' ich schon gesehn.« »Na, denn man los.« »Bin mir eigentlich nich sicher, ob ich echt Lust hab', damit einen drauf zumachen.« Quick erhob sich. Wenn man ein ruhiges Händchen dafür brauchte, war's allerdings genau das richtige für ihn. Sein Messer fiel ihm ein, und wie blitzschnell er es aufschnappen lassen konnte und zustechen... »So mußt du werfen«, erklärte Matches und machte ihm die Bewegung genau vor. »Mit dem Handgelenk. Und du fängst mit der gleichen Hand.« Er warf die Scheibe mit einer eleganten Drehung. Quick fing sie auf und warf sie zurück. Er sah zu, wie das Ding in einem leichten Bogen direkt zu Matches segelte. Sie gingen noch ein Stück weiter auseinander, bei jedem Wurf etwas mehr, und 356
Quick war fasziniert von dem Spiel. Wie er es steigen lassen konnte und fallen, wie er es so werfen konnte, daß es fast in der Luft stand. Seine Augen begannen zu leuchten. Er konnte die Scheibe jetzt total beherrschen. Scheiße noch mal, er hatte wirklich super Handgelenke. Das war genau das richtige Spiel für ihn. Die Scheibe sein Sklave. »Also echt. War das wirklich das erste Mal?« schrie Matches verblüfft. Quick mochte die Art, wie Matches ihn ansah. Der Kleine bewunderte ihn. Der gehörte schon richtig zu ihm. Er holte weit aus und warf. Und das Ding flog, segelte richtig. Sie standen jetzt schon sehr weit auseinander. Und der Wurf war einfach sagenhaft. Sanft und sicher landete die Scheibe in Matches Hand. Quick bemerkte, daß inzwischen einige Jungen nähergekommen waren. Sie waren extra stehengeblieben, um ihm zuzusehen. * Barbara ging die enge Wendeltreppe zum Dachgarten der Cedar Tavern hoch. Als sie in den großen Raum kam, der immer noch hellerleuchtet war von der warmen Nachmittagssonne, die durch das Glasdach hereinfiel, entdeckte sie sofort Stefan. Er saß ihr zugewandt an einem kleinen Tisch, mit dem Rücken zur Wand. Seine Hände hatten ein halbvolles Glas Bier umfaßt. Er schaute auf, als sie näherkam. Als sie vor ihm stand, sprang er auf und gab ihr einen Kuß. »'tschuldige, habe mich ein bißchen verspätet.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Sieht so aus, als hättest du mir schon eins voraus.« 357
»Zwei«, sagte er. »Wie dem auch sei, ich brauch' jetzt unbedingt auch eins.« Sie gab der Kellnerin ein Zeichen und deutete auf Stefans Bier. Die Frau nickte. Barbara wandte sich wieder zu Stefan um und sah ihn lächelnd an. »Ich hoffe, du hattest 'nen besseren Tag als ich, Liebling.« »Hab' im Laden gesessen. Vera hatte heute mal frei.« Sie blickte in seine Augen, und es gab ihr einen Stich. Wie sollte er denn über die ganze Sache wegkommen, wenn er nichts Besseres zu tun hatte, als den lieben langen Tag in dem winzigen, armseligen Laden zu sitzen, wo ihn alles, wirklich alles an seinen Vater erinnern mußte? Es ging ihm nicht die Spur besser. Immer noch der gleiche Ausdruck in den Augen. »Aber ich dachte doch, ihr wärt euch einig gewesen, daß es nicht unbedingt nötig ist, den Laden auch sonnabends geöffnet zu haben.« »Hab' eben meine Meinung geändert. Manche können nur Sonnabend kommen.« Die Kellnerin brachte ihr das Bier. Barbara nahm einen kräftigen Schluck. Nach dem anstrengenden, heißen Tag war das genau das richtige. Sie warf Stefan einen prüfenden Blick zu. Ob er wohl jemals wieder der werden würde, in den sie sich so sehr verliebt hatte? Was sollte sie ihm jetzt noch sagen? Es nützte doch nichts, immer und immer wieder damit anzufangen. Keiner konnte das von ihr verlangen. Er mußte selbst damit fertigwerden. Letztlich war es sein Problem, wenn sie auch ziemlich stark davon betroffen war. Seine Zeit, sein Leben, sein Glück! Vielleicht sollte sie lieber von was Posi358
tivem reden. »Da hast du eigentlich recht. Manche können ja nur sonnabends. Und ich finde es richtig nett von dir, daß du Vera mal ein bißchen entlastet hast.« Sie trank. »Sind viele gekommen, um ihr Zeug abzuholen?« »Einer.« »Für den war's bestimmt wahnsinnig wichtig. Is denn noch viel da, was abgeholt werden muß?« »Nicht sehr viel.« Er betrachtete Barbara. »Hatte auch einfach das Gefühl, ich mußte mich da reinsetzen. Warum soll ich dir was vormachen.« Sie blickte in ihr Bierglas und befahl sich selbst, nichts zu erwidern. Es war wirklich sein Problem! Sie mußte einfach aufhören, den Psychiater zu spielen. Aber irgend etwas mußte sie doch einfach sagen! »Ich glaube, ich verstehe.« Er trank sein Bier aus. »Ich brauch' noch eins.« Er hielt das Glas hoch und machte der Kellnerin ein Zeichen. »Was möchtest du heute abend machen«, fragte Barbara. »Zuerst brauch' ich mal ein paar Flaschen Bier.« »Weißt du, es ist schon fast sieben. Warum essen wir nicht was?« »Erst mal das Bier.« Er betrachtete sie, und sein Gesicht bekam einen etwas weicheren Ausdruck. Er lächelte. Sie sog das Lächeln förmlich in sich auf. Das erste seit einer endlosen Weile. Wie sie das genoß! Vielleicht war das immerhin schon mal ein Anfang. Wenn sie sich auch nicht zu früh freuen wollte. »Ich liebe dich«, hauchte sie, über sich selbst überrascht. 359
Er hielt ihren Blick fest, und sein Lächeln wurde noch breiter. * Wie entspannt sie sich fühlte, als sie unter der Dusche stand und das Wasser warm auf sie herabrieselte. Sie hätte ewig so dastehen können. Aber Steve lag nebenan, und er hatte eine Menge getrunken. Wenn sie sich zuviel Zeit ließe, würde er eingeschlafen sein, bevor sie kam. Sie stieg aus dem Becken und griff sich das Handtuch. Schnell rubbelte sie sich das kurze Haar so trocken, daß sie den Föhn nur noch kurz brauchte. Als sie ihn ins Regal zurücklegen wollte, fiel ihr auf, daß es draußen regnete. Es hatte gerade angefangen. Sie ging ins Schlafzimmer zurück. Steve lag im Bett. Das Laken hatte er fest um sich gewickelt und bis zum Kinn hochgezogen. Er schlief noch nicht, nein, er war sogar hellwach und hörte Musik aus ihrem Radiowecker. Sie zog ihren Bademantel aus und hing ihn über den Stuhl. Dann sprang sie nackt ins Bett und schlüpfte bei ihm unters Laken. Wie warm sein Körper sich anfühlte. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und rückte so nah an ihn heran, wie es nur ging. Er schien kaum wahrzunehmen, daß sie bei ihm war. Er starrte an die Decke. Sie strich mit der Hand leicht über seinen Körper, küßte ihn auf den Mund, die Augen, den Hals. Er legte seinen Arm um sie, hatte aber immer noch den Blick stur auf die Decke gerichtet. »Was ist denn«, fragte Barbara leise. »Ach, ich denke an den Termin zur Vorverhandlung Montag morgen, und das bringt mich zur Weißglut.« 360
Er richtete sich auf. »Dieser Rechtsverdreher von Greenhouse führt irgendwas im Schilde. Der wird alles dransetzen, um diesen Schlächter wieder auf freien Fuß zu setzen. Warum nur? Warum kann er wollen, daß dieses brutale Kind wieder auf der Straße herumläuft? Er weiß doch ganz genau, daß Johnny es getan hat.« Sein Gesicht hatte sich vor Wut richtig verzerrt. »Meine Eltern sind tot, unter der Erde, und der Kerl will das kleine, blonde Biest wieder laufenlassen. Warum? Was ist das für eine gräßliche Welt, in der wir leben? Total verdreht alles.« Sie blickte ihm nach, wie er aus dem Bett sprang und in die Küche lief. Sie hörte, wie sich die Kühlschranktür öffnete. Sie hörte das Plopp, als er die Bierdose aufmachte. Mit dem Bier in der Hand kam er zurück. Er setzte sich auf die Bettkante und trank und sagte keinen Ton. Als die Dose leer war, stellte er sie auf dem Nachttisch ab, neigte sich zu Barbara und gab ihr einen Kuß. »Es tut mir so leid mit heute abend.« Er blickte sie zärtlich an. »Ist schon gut«, sagte sie. »Wirklich.« »Laß uns doch noch ins Kino gehen. Vielleicht hilft mir das, auf andere Gedanken zu kommen.« »Jetzt?« »Es ist ja erst zehn. Oder ein bißchen später. Laß uns doch ins Kino um die Ecke gehen. Die zeigen immer was Gutes.« »Es regnet.« »Dann nehmen wir eben einen Regenschirm, wenn du willst.« 361
»Also gut. Gehen wir!« Sie stand auf und zog ihre Sachen wieder an. Sie sah, wie er sich die Pistole um die Wade schnallte, wie er es immer tat. Es erinnerte sie wieder einmal daran, daß sie mit einem Polizisten ging. Sie liefen durch den leichten Nieselregen zum Kino auf der Twelfth Street. Es gab einen Film von Woody Allen. Warum nicht? Sie gingen hinein und fanden zwei Plätze nebeneinander. Steve stimmte in das Gelächter der anderen mit ein. Und Barbara war einfach glücklich, daß sie ihn wieder einmal so fröhlich erlebte. Obwohl sie den Film schon mal gesehen hatte, wurde sie von dem besonderen Witz Woody Aliens erneut gefangengenommen. Plötzlich wurde sich Barbara bewußt, daß sie allein gelacht hatte. Steve saß schweigsam neben ihr. Sie blickte hin und mußte lächeln. Steve war friedlich eingeschlafen, der Kopf zur Seite geneigt. * Cindy hatte die Ellenbogen auf die Theke gestützt. Sie saß auf dem Barhocker in ihrem Stammlokal und starrte aus dem Fenster. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und die Straße war um diese Zeit wie ausgestorben. Vor ihr stand der Teller mit ihrem üblichen Essen: Hamburger und Pommes Frites. Sie hatte ihn kaum angerührt. Der Kaffee kam. »Essen Sie nichts mehr, Schätzchen?« fragte die Kellnerin, die Hand schon am Teller. »Lassen Sie mir nur den Kaffee hier«, gab Cindy zur Antwort. »Gießen Sie mir noch was ein?«
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Sie sah zu, wie die Kellnerin das Essen fortnahm und ging. Die Frau leerte die Reste im Mülleimer und stellte den Teller zu dem anderen schmutzigen Geschirr. Sie war untersetzt und klein, mit einer zerknitterten, fleckigen Schürze um die Taille. Rote Hände vom vielen Abwaschen, abgehetzt von den sechs oder sieben Stunden Nachtschicht. Immer mußte alles ganz schnell gehen. Wer wollte schon freiwillig Kellnerin werden? Und das alles für die paar Kröten, die sie von den Nutten um die Ecke bekam. Wer machte so was schon? Cindy fiel das Restaurant auf der Eighth Avenue wieder ein. Sie war reingegangen, um sich bei der Frau, die gestern gerade dort arbeitete, nach der ausgeschriebenen Stelle zu erkundigen. Die Frau hatte sie von oben bis unten angesehen. Sie hatte Cindy sofort als Strichmädchen erkannt. »Wie, Sie wollen einen Job«, fragte sie. »Das wäre wohl kaum das richtige für Sie.« »Und warum nicht?« »Zu schlecht bezahlt.« »Wieviel denn?« »Hundert die Woche plus Trinkgeld.« »Hundert die Woche?« Das, was sie für zwei Nummern bekam. Sie konnte das in einer Stunde verdienen, was die hier in sieben ganzen Nächten bekamen. Und wo sie gerade an gute Geschäfte dachte, sie konnte eigentlich noch einen gebrauchen. Sonnabend nachts war's gar nicht so einfach. Die Freier zogen zu Hause ihre Nummern ab mit ihren Alten. Und wenn es dann noch regnete, blieben sogar die Ewiggeilen der Straße fern. Einen einzigen Kunden 363
in 'ner ganzen Nacht. Der Geizkragen wollte's für die Hälfte haben. Fünfundzwanzig miese Dollar hatte er ihr gegeben. Besser als gar nichts. Aber nicht viel besser. Cecil würde nicht gerade zufrieden sein. Besonders nach der Szene mit Scarlett und den fünfzig Dollar. Die anderen würden schon drüber reden, hatte er wütend gesagt, daß sie nicht den nötigen Respekt vor ihm hätte. Und für Scarlett. Nein, das wollte er nicht haben, daß eins seiner Mädchen so über die Stränge schlug. Das schadete seinem Ruf. Es täte ihm ja sehr leid mit ihrem kleinen Bruder, aber bei Geld höre seine Geduld auf. So was solle nie wieder passieren. Nie wieder! Er hoffe, sie habe verstanden. Sie betrachtete ihre Beine. Der Rock war supermini. Barfuß bis zum Schenkel nannten das die Mädchen. Sonst ging sie nie so kurz, aber sie wollte Cecil beweisen, daß sie wirklich ihr Bestes tat. Nein, sie haßte es eigentlich, sich in so kurzem Rock auf die Straße zu wagen. Sie wollte ja nicht wie die anderen aussehen. Aber für heute abend war's genau das richtige. Sie mußte Cecil gnädig stimmen. Er sollte nicht so sauer auf sie sein. Jeder ist mal wütend. Aber sie wollte das nicht. Sie hatte ja gesehen, was passierte, wenn er sich sehr ärgerte. Sie hatte die Mädchen hinterher kaum wiedererkannt. Sie starrte in den Spiegel gegenüber der Theke. »Ladies und Gentlemen, das Mädchen, das sie hier sehen, ist nicht die Superklassenutte. Sie war's mal, aber sie ist's nicht mehr. Aber dieses Mädchen hat doch noch das gewisse Etwas, Ladies und Gentlemen. Sie hat einen fünfzehnjährigen Bruder, der ein 364
Mörder ist. Wie finden Sie das, Ladies und Gentlemen?« Ja. Wie fanden sie das? Sie dachte kurz über Johnny nach und fragte sich, wann, falls überhaupt, sie ihn wohl wiedersehen würde. Aber das war gar nicht ihr großes Problem. Jedenfalls im Moment nicht. Ihr großes Problem war, daß es schon auf vier Uhr morgens zuging, daß die Nacht miserabel gewesen war, und daß ihr Zuhälter stinksauer reagiert hatte, weil sie mal ein bißchen aus der Reihe getanzt war. Und daß er ihr drohte. Sie konnte sich noch sehr gut an die Zeiten erinnern, als sie sonst was drum gegeben hätte, sein bestes Pferd im Stall zu bleiben. Aber das war schon eine Weile her, und im Moment ging's eigentlich nur noch darum, ihre heile Haut zu retten. Die Kellnerin kam herüber und goß ihr etwas Kaffee nach. »Wollen Sie noch was, Schätzchen?« »Ja«, sagte Cindy. »Geben Sie mir ein Stück von dem Apfelkuchen.«
20. Kapitel Als Bert Girards Stimme hörte, blickte er von seiner Times auf. Er sah auf die Uhr. Pünktlich acht Uhr dreißig. Greenhouse war im Vorzimmer und flirtete offensichtlich mit Bettina Diamond, seiner, Berts, rechten Hand. Girard fragte sich, ob Bettinas Sex-Appeal, der ihn von Anfang an so gefangengenommen hatte, auch bei Greenhouse wirkte. Dieses Mädchen hatte eine unglaubliche Ausstrahlung, fand er. Und es war auf keinen Fall ihr Aussehen. Ihr dunkles, lockiges Haar war total widerspenstig und lag nie so, wie es sollte. Es sah auch 365
jedesmal anders aus. Ihre Augen lagen etwas zu tief, und ihr Gesicht war auch alles andere als toll. Sogar ihre Figur war unproportioniert. Zuviel Busen und zu schmale Hüften. Aber wenn sie lächelte und sich in ihren weiten Bauernröcken und den weichen Blusen bewegte, meistens ohne BH, konnte sie mit ihm tun, was sie wollte. Und sie wußte das. Einmal hatte er sich einen Ausrutscher geleistet und ihr ein ziemlich eindeutiges Angebot gemacht. Er hatte es mit einem Scherz versucht, es in ein nettes, harmloses Kompliment verpackt. Aber sie hatte nur zu gut verstanden. »Was soll das, Mr. Girard? Sie sind verheiratet«, sagte sie in ihrem jüdischen Brooklyn-Akzent. »He. Hab' doch nur Spaß gemacht. Sie reagieren aber humorlos, Mädchen.« »Da mögen Sie recht haben«, sagte sie. »Aber es ist sowieso egal. Bin im Moment nicht zu haben. Vielleicht später mal. Wer weiß?« Und dieses »Wer weiß« hatte ihn in einer ständigen Hochstimmung gehalten. Er hoffte, er war bereit, er wartete ständig auf ein Zeichen von ihr, und all das, obwohl er wußte, daß sie es nie soweit kommen lassen würde. Sie öffnete die Tür. »Mr. Greenhouse ist da.« »Sehr schön. Bringen Sie ihn rein.« Er stand auf und begrüßte Greenhouse, bot ihm einen Sessel an und setzte sich ihm gegenüber. »Nettes Mädchen, das Sie da haben«, brach Greenhouse das Schweigen. Girard warf einen Blick zur Tür. Bettina saß schon wieder an ihrem Schreibtisch. »Kluges Mädchen. Hat einen Super-Abschluß im College gemacht.
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Studiert Jura in Abendkursen... Hatten Sie ein nettes Wochenende?« »Ja, und Sie?« »Nur Streß. Meine Frau hatte die ganze Familie eingeladen. Sie wissen ja, wie das ist. Worüber wollten Sie mit mir reden?« Greenhouses Miene wurde geschäftsmäßig. »Bert, ich habe mich sehr intensiv mit dem JohnnyBlanton-Fall beschäftigt. Ich glaube, ich könnte uns 'ne Menge Ärger ersparen.« »Aha?« »Zunächst mal, wir wissen beide, daß das Geständnis auf ziemlich wackligen Füßen steht. Ist irgendwie aus Versehen passiert. Es sei denn, Sie wissen etwas, was ich nicht weiß.« Girard musterte Greenhouse einen Moment lang schweigend. Der Bursche versuchte, die Sache gleich von Anfang an an sich zu reißen. »Vielleicht kommt es Ihnen so vor, weil Sie nicht dabeiwaren. Aber Jon, ich war da. Und ich kann Ihnen sagen, die Aussage steht. Es ist vielleicht nicht das, was Sie unter einem Bilderbuchgeständnis verstehen, aber es genügt für den Augenblick vollkommen. Das Gericht hat das Geständnis bereits akzeptiert. Und erinnern Sie sich, Johnny Blanton gestand ja nicht nur uns, sondern auch seinem Bruder gegenüber. Außerdem haben wir zusätzlich noch Zeugenaussagen, die das Ganze untermauern.« »Nun sagen Sie mir mal eins, Bert. Wenn Sie da waren, wie konnten Sie dann stillschweigend mitansehen, daß ein Jugendlicher ohne die Anwesenheit seiner Eltern aussagt? Ein achtzehnjähriger Bruder ist noch lange kein Ersatz. Außerdem, der Bruder 367
wollte ja einen Anwalt. Sehen Sie denn das nicht? Sie haben dabeigesessen und einfach zugelassen, daß ein Kind auf seine Rechte verzichtet.« »Also erst mal ist Johnny Blanton kein Kind mehr. Und zweitens, er wollte ja unbedingt ein Geständnis ablegen. Und das ist sein gutes Recht. Das können nicht einmal Sie ihm nehmen.« »Sicher. Mitten in der Nacht, mit einem Polizisten, der's auf ihn abgesehen hat und auf den Tisch haut.« »Jon, wir haben ein gutes Geständnis. Und es ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Und außerdem sitzen wir hier in meinem Büro. Sie sollten sich Ihr Plädoyer für nachher aufsparen.« »Wenn ich mir Lamson nach vorne hole und ihn ins Kreuzverhör nehme und ihn bitte, den Geschworenen zu erzählen, ob er auf den Tisch gehauen hat, was wird er dann wohl darauf antworten?« »Egal, was er antwortet. Es wird nicht ausreichen, um die Gültigkeit des Geständnisses in Frage zu stellen. Kommen Sie, Herr Anwalt...« Greenhouse hatte sein Du-wirst-schon-noch-deinFett-abkriegen-Lächeln drauf. »Bert, wenn wir beide so auseinandergehen, dann sollten Sie doch besser in Betracht ziehen, daß dies nicht mein erster Fall ist. Sie und ich, wir wissen, daß ich Sie hochgehen lassen kann, und zwar ohne große Anstrengung.« »Sind Sie nur hierher gekommen, um mir das zu sagen? Lassen Sie uns mal zur Sache kommen, Jon. Wir müssen gleich los. Weshalb hatten Sie das Treffen vorgeschlagen?« »Ich wollte Ihnen nur klarmachen, daß Sie so baden gehen. Jedenfalls, wenn Sie keine weiteren Zeugen 368
haben. Es genügt doch völlig, wenn ich die Geschworenen etwas verunsichere. Dann werden die niemals ein Kind verurteilen. Das wissen Sie genausogut wie ich. Und deshalb wollte ich Ihnen vorschlagen, ob wir nicht das Geständnis ganz aus der Sache rauslassen. Da könnte man unter ganz anderen Vorzeichen den Fall aufziehen.« »Sie reden ins Blaue, Herr Rechtsanwalt. Und wir beide wissen das. Aber ich bin ja offen. Wenn Sie herkamen, um mir ein Angebot zu machen, werde ich es mir natürlich anhören, ist ja das mindeste. Aber ich sage Ihnen gleich, es muß gut sein. Das Geständnis steht. Und ich will, daß hier auch Gerechtigkeit geübt wird und der Junge dahin kommt, wo er hingehört.« »Gerechtigkeit? Was ist denn das überhaupt? Wir sprechen über einen Jungen, der Hilfe braucht. Sie und ich wissen, daß Johnny nie eine Chance in dieser Welt hatte.« »Mag sein. Und ich habe auch nicht das geringste dagegen, daß der Junge jede erdenkliche Hilfe bekommt. Ich will bloß nicht, daß er frei auf den Straßen herumläuft und Leute umbringt, während wir uns Gedanken darüber machen, wie man dem armen Kind helfen kann.« »Gut, da haben Sie bestimmt recht. Aber ich laß Ihr Geständnis platzen, und dann läuft der Junge wieder frei herum. Was wir also brauchen ist ein Kompromiß, der die Leute vor dem Jungen schützt und meinem Klienten auch irgendeinen Bonbon gibt.« »Und was ist dieser nette kleine Bonbon, an den Sie denken?« »Das Jugendgericht.« 369
»Und das wollten Sie mir vorschlagen? Jon, das neue Gesetz ist Johnny wie auf den Leib geschrieben.« »Sie haben mich falsch verstanden. Ich will keinen Freispruch vor dem Jugendgericht. Ich denke an fahrlässige Tötung. Das wäre ein fairer Kompromiß. Es läßt Ihnen Ihre geliebte Gerechtigkeit und meinem Klienten eine Chance, die Hilfe, die er so dringend braucht.« »Fahrlässige Tötung am Jugendgericht? Das wollen Sie mir anbieten?« »Drei bis fünf Jahre. Was ist so schlimm daran? Wenn wir den Fall beim Schwurgericht lassen, kriegt er drei bis zehn Jahre für fahrlässige Tötung. Es sei denn, Sie wollen den Jungen auf vorsätzlichen Mord anklagen, dann bekäme er fünf oder neun bis lebenslänglich. Haben Sie das etwa vor, Bert? Damit kommen Sie niemals durch. Sie könnten alles verlieren.« »Das bezweifle ich.« »Bert, Sie müssen Vorsatz beweisen, wenn Sie ihn auf Mord festnageln wollen. Glauben Sie allen Ernstes, ich lasse das zu?« »Ich werde auf Totschlag plädieren und dann auf fahrlässige Tötung einschwenken, wenn's sein muß. Was ist denn daran so schlecht?« »Das kann ein ganz gewaltiges Eigentor werden, und Sie wissen das. Sind Sie denn so sicher, wie die Geschworenen reagieren werden? Ich glaube, Sie sollten sich mein Angebot doch noch mal durch den Kopf gehen lassen.« Girard blickte weg. Er mußte an Leone denken, wie er jetzt in seinem Büro saß, nur ein paar Türen wei370
ter links. Leone hatte die Frage ja auch schon aufgeworfen, wie man Vorsatz würde nachweisen können. »Ich kann mir beim besten Willen keinen besseren Handel vorstellen«, hätte Leone garantiert darauf reagiert. Drei bis fünf Jahre höchstens für Mord an zwei alten Leuten auf offener Straße? Drei bis fünf beim Jugendgericht hieß ein Jahr, vielleicht achtzehn Monate, höchstens. Mit Hafturlaub. Danach kam dann der moderne Strafvollzug, offenes Gefängnis. Halb drinnen, halb draußen. Und schon war er wieder auf der Straße. War das Recht? Er dachte daran, daß Raymond Campbell dem Gericht von den Besuchen Kornienkos erzählen könnte. Und daß er womöglich daran festhielt zu behaupten, daß er überhaupt nicht wisse, wen er beim Wegwerfen der Brieftasche gesehen habe. »Es gibt noch einen Aspekt«, unterbrach Greenhouse seine Gedanken. »Die Kosten nämlich. So ein Prozeß kostet viel Geld. Überlegen Sie mal, wieviel Sie sparen könnten, sparen für sehr viel bessere Zwecke.« »Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, Herr Rechtsanwalt. Ja?« »Dann sind wir uns also einig? Fahrlässige Tötung beim Jugendgericht?« »Wir sehen uns bei Gericht.« Girard blickte dem Rechtsanwalt nach, wie er hinausging und im Vorzimmer noch ein paar Worte mit Bettina Diamond wechselte. Er lächelte ihr zu und sie nickte lächelnd zurück. Girard fragte sich, worüber die beiden wohl sprachen und fühlte den Anflug von Eifersucht dabei. *
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Der Gerichtssaal war noch ziemlich leer, als Stefan Kornienko eintrat. Im Zuschauerraum saßen zwei junge Männer, ein Schwarzer und ein Weißer. Wahrscheinlich Journalisten. Vorne standen ein paar Beamte und unterhielten sich leise. Ganz vorne saß eine Frau alleine. Kornienko setzte sich in die zweite Reihe, hinter die Frau. Ob das wohl Quieks Mutter war? Mußte sie wohl sein. War noch ziemlich jung, wenn man bedachte, daß sie schon so große Kinder hatte. Sehr auf jung getrimmt vor allem. Das war ein Aufzug fürs Gericht... Wollte sie mit all dem Make-up und diesem hautengen schwarzen Oberteil vielleicht das Gericht beeinflussen oder den Richter anmachen? Er starrte sie immer noch an, als sie sich umblickte. Sie sah ihn an und fing an zu lächeln, beinahe verführerisch. Er blickte schnell weg. War der Frau eigentlich nicht klar, worum es hier ging? Die Tür öffnete sich, und AI Lamson betrat den Saal. Er nickte Kornienko zu und setzte sich. Kornienko schlug die Zeitung auf und versuchte, sich zu entspannen. »Mein Sohn steht wegen Mord vor Gericht.« Kornienko blickte auf. Sie lächelte ihn immer noch an. »Aber er kann's nicht gewesen sein«, fuhr sie fort. »Er hat noch nie so was gemacht.« Stefan starrte sie an. »Wenn er's nicht war, weshalb hat er denn dann gestanden?« »Weiß ich wirklich auch nich. Die von der Polizei müssen ihn gezwungen haben oder so, würde ich sagen. Aber auf jeden Fall weiß ich, er war's nicht.
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Nicht Johnny. Die schicken ihn bestimmt wieder vors Jugendgericht, wie immer.« Kornienko preßte die Lippen aufeinander. Mit dieser Frau zu reden, war wirklich das Blödeste, was ihm einfallen konnte. Er stand auf und ging aus dem Gerichtssaal. Als er im Korridor war, hielt er Ausschau nach einem Trinkwasserbecken. Er hielt seinen Mund über den Strahl und trank. Er kehrte in den Saal zurück, nahm aber an einer anderen Stelle, ein paar Sitze von Maureen entfernt, Platz. Sie drehte sich nach ihm um, sagte jedoch nichts mehr. Girard, gefolgt von Greenhouse, kam herein. Er legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und ging zu Lamson. Greenhouse nahm an einem anderen Tisch Platz und öffnete seine Tasche. Die Stenographin trat ein, mit der Maschine unter dem Arm. Kornienko blickte zu Girard und Lamson hinüber. Sie sprachen eine Weile miteinander. Plötzlich sprang Lamson auf und begann, mit den Händen wie wild zu gestikulieren. Girard zuckte die Schultern. Beide waren ihm zugewandt, und Kornienko war gar nicht glücklich über das, was er in ihren Augen sah. Das konnte nur eins bedeuten. Er war wie erstarrt. Er sprang auf. Gerade in dem Augenblick wurde Quick hereingebracht und neben Greenhouse gesetzt. Quick blickte sich um und bemerkte seine Mutter. Er begrüßte sie mit einem Grinsen. Als Lamson bemerkte, daß Kornienko auf ihn zukam, und einsah, daß er ihn nicht mehr durch Handzeichen davon abbringen konnte, machte er eine Kopfbewegung Richtung Korridor. Kornienko faßte Lamson am Arm. »Die wollen sich arrangieren, ja?«
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»Steve, reg dich nicht auf. Wir hatten keine andere Wahl.« »Keine andere Wahl? Was heißt das? Was wollen diese Arschlöcher denn noch außer einem Geständnis?« »Steve, hör mir mal zu. Ich weiß, wie schlimm das für dich ist. Aber die haben trotzdem eingesehen, daß sie keine andere Wahl haben. Das Geständnis steht auf mehr als wackligen Füßen. Zu viel, was nicht stimmt. Außerdem ist der Campbell Junge umgefallen. Die Freunde auf der Straße haben uns das eingebrockt. Hat ganz einfach Schiß gekriegt, der Junge. Und jetzt sagt er, er hätte nicht erkennen können, wer die Brieftasche weggeschmissen hat. Und seine Mutter steht natürlich voll auf seiner Seite. Ist ja klar! Das ganze Beweisgebäude wackelt, Steve. Die wollen nicht riskieren, daß der Junge freigesprochen wird. Sie wollen wenigstens irgendeine Strafe für Johnny.« »Das kann ich nicht glauben, AI. Es war doch der Campbelljunge selbst, dem wir zu verdanken haben, daß wir überhaupt auf Johnny gekommen sind.« »Was gleich das nächste große Problem aufwirft, Steve. Was passiert, wenn die Verteidigung herausfindet, daß du die ersten Informationen von dem Jungen bekommen hast? Ein imponierend großer, ja vielleicht sogar furchteinflößender Polizist, der dem armen, eingeschüchterten Kind auch noch erzählt, daß er der Sohn der Ermordeten ist. Steve, du mußt dir das mal von dieser Warte aus betrachten.« 374
»Aber die Aussage stimmte. Sie führte zu dem Mörder, der sogar gestanden hat. AI, was für einen Handel haben die vor? Fahrlässige Tötung?« »Die Verteidigung wird auf fahrlässige Tötung plädieren, und wir werden den Fall ans Jugendgericht weitergeben.« »Jugendgericht? Da kriegt er ja nur ein paar Monate statt Jahre. Wenn überhaupt. Dann kommt der Junge womöglich noch vor heute nacht wieder auf die Straße. Dieses kleine Monstrum gehört hinter Gitter, AI, und zwar für den Rest seines Lebens.« »Was soll ich dazu sagen, Steve?« »AI, ich werde mir das nicht still mit ansehen. Hörst du das?« Lamson zögerte. »Willst du da wieder rein? Oder nicht?« »Laß uns noch mal reingehen. Ich will nicht eine Minute von all dem versäumen, das kannst du mir glauben, AI.« »Geh'n wir besser getrennt rein«, sagte Lamson. »Muß ja nicht sein, daß wir noch unnötig auffallen. Ich gehe zuerst, o. k. ? Und du kommst gleich nach.« Girard war gerade aufgestanden, als Kornienko wieder an seinem Platz war. »Euer Ehren«, sagte Girard, »gestatten Sie, daß wir nach vorn kommen?« Der Richter, ein sehr großer, stattlicher Mann mit Glatze und einem Schnurrbart, nickte. Girard und Greenhouse gingen nach vorn. Die Stenographin ergriff ihr Gerät und lief hinter den beiden her. Sie stand dabei, als Girard und Greenhouse auf den Richter einredeten. Nach ein paar Minuten 375
nickte der Richter und sagte etwas. Die drei gingen zu ihren Plätzen zurück. »Nehmen Sie bitte ins Protokoll auf« sagte der Richter zu der Stenographin, »daß Staatsanwalt, Verteidigung und Gericht einvernehmlich von fahrlässiger Tötung ausgehen. Das Verfahren wird aus diesem Grund an das zuständige Jugendgericht verwiesen.« Kornienko holte tief Luft, ihm war, als zerrisse es ihn. Er blickte sich um. Die beiden Reporter bekritzelten eifrig ihre Notizblöcke. Die Stenographin überlas nochmal, was sie aufgezeichnet hatte. Greenhouse ergriff seine Aktentasche. Er sagte irgend etwas zu Quick, bis dieser schließlich von dem Beamten wieder die Handschellen angelegt bekam. Girard verließ den Saal durch die Tür an der Stirnseite, Lamson folgte ihm. Kornienko drehte sich der Magen um, als er Quick ansah. Quick blickte sich mit einem triumphierenden Lächeln im Saal um und zwinkerte seiner Mutter zu. Plötzlich hatte Quick ihn entdeckt, und sofort verschwand das Grinsen um seinen Mund. Etwas wie Überraschung stand in seinem Gesicht geschrieben, als hätte er Kornienko erkannt und frage sich, was der hier wolle. Sie blickten sich sekundenlang fest an. Quick lächelte nicht mehr. Der Beamte führte Quick aus dem Saal. Die Mutter stand auf und ging. Kornienko saß immer noch. Kaum wurde ihm bewußt, daß die nächste Vernehmung bereits begonnen hatte. Er hatte nur Quick vor Augen, wie er frech und siegessicher gegrinst hatte. Er hatte Lam376
son gesagt, daß er nicht ruhig mit ansehen könne, wie dieser Mörder frei auf der Straße herumlief. Und das Jugendgericht kam für ihn einem Freispruch gleich. Das war ein und dasselbe. Und Anna und Wasyl Kornienko waren tot. Der nächste Angeklagte wurde hereingeführt. Ein Mann, kein Kind. Offensichtlich ein Verbrecher. Aber er hatte sich ordentlich zurecht gemacht fürs Gericht. Trotzdem, das Verbrechergesicht blieb. Kornienko erhob sich und ging auf den Korridor. Er blickte sich suchend nach Lamson um. Es konnte nicht sein, daß dieser einfach so das Gericht verlassen hatte, ohne noch ein Wort mit ihm zu reden. Das war nicht seine Art. Nach ein paar Minuten sah er, wie Lamson und Girard auf ihn zukamen. Girard streckte seine Hand aus. »Ich weiß, wie sie empfinden müssen, Steve. Und ich akzeptiere Ihre Haltung selbstverständlich. Aber so schlimm, wie Sie vielleicht denken, sieht die Sache gar nicht aus. Wie die Dinge stehen, kriegt der Junge die Höchststrafe verpaßt, aber wenn wir ihn nicht ans Jugendgericht weitergegeben hätten, hätten wir Freispruch riskiert. Dort wird der Fall dann wenigstens als Raubmord behandelt, hier wäre das höchste der Gefühle fahrlässige Tötung gewesen. Kommt von der Strafe her so ziemlich aufs gleiche raus. Nur, daß hier einfach das Risiko zu groß war, daß er uns durchs Netz schlüpft. Man weiß ja nie, wie die Geschworenen reagieren.« »Wie lange wird Johnny Blanton wirklich im Knast sitzen?« fragte Kornienko beherrscht.
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»Wie lange?« Girard zögerte. »Na ja, achtzehn Monate bestimmt, aber danach ist er immer noch...« »Achtzehn Monate? Das ist nicht genug«, unterbrach ihn Stefan. Er war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. »Das werde ich nicht hinnehmen, damit kann ich nicht leben. Ich hab' 'ne bessere Idee.« Er warf Lamson einen Blick zu. »Packen wir doch noch mit der Sache von Grodek, dem Fleischer, aus. Dann kommt noch räuberische Erpressung und Körperverletzung hinzu. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir diese Bestie nicht wieder dahin kriegen, wo sie hingehört, nämlich ans Schwurgericht.« Girard blickte Lamson an. »Sie haben mir neulich, als ich zur Vernehmung von Johnny kam, davon erzählt. Sie sagten, der Alte würde sich höchstwahrscheinlich weigern, auszusagen. Wir kamen zu dem Schluß, daß es besser sei, nur mit dem herauszurücken, was wir fest in der Hand haben und uns nicht auf einen Zeugen zu verlassen, der im letzten Moment umkippt.« »Vielleicht können wir den alten Mann umstimmen«, sagte Lamson. »Ich hab' ja bisher nicht gedacht, daß wir auf ihn zurückgreifen müssen. Ich werde Mead anrufen und ihm vorschlagen, daß wir uns im Leshko's treffen. Wir werden noch heute mit dem Fleischer sprechen. Und dann werden wir weiter sehen. Steve, die Vorverhandlung gegen Johnny vor dem Jugendgericht findet schon heute nachmittag statt.« »Ich werde dort sein«, sagte Kornienko. Kornienko hatte im Warteraum Platz genommen und war in die Betrachtung der Leute versunken, 378
die geschäftig zwischen den Büros und Diensträumen hin- und herliefen. Die Verhandlungen beim Jugendgericht waren nicht öffentlich. Nur die unmittelbar am Prozeß Beteiligten und die Angehörigen der Angeklagten wurden in den Gerichtssaal gelassen. Er mußte an Angie denken und fragte sich, wie der wohl seinen Tag verbrachte. »Ich muß zu der Verhandlung«, hatte er zu seinem Kollegen gesagt. »Laß dir was einfallen.« »Und wie soll ich das tun?« »Ist mir in dem Fall scheißegal, Angie. Nur, laß dir was einfallen, ja?« Er hatte Maureen Blanton gesehen, wie sie in den Saal ging und versuchte, jeden mit ihrem auffälligen Make-up anzumachen, mit ihrem aufreizenden Gang und dem schwarzen engen Oberteil. Neben ihr war ein junges Mädchen gegangen. Vielleicht zwanzig oder so. Ob das Quieks ältere Schwester war? Mußte wohl. Die beiden Frauen konnten als Schwestern durchgehen. Das Mädchen sah nett aus dafür, daß sie auf der Eighth Avenue anschaffte. Grodek, der Fleischer fiel ihm ein. »Er beharrt immer noch darauf, daß er mit der ganzen Sache nichts zu tun haben will, Steve«, hatte Lamson ihm gesagt, bevor er im Gerichtssaal verschwand. »Der hat's auf die Weinerliche versucht. Wir haben alles versucht, Steve, alles, was uns einfiel. Ich habe ihn angefleht. Es nützte alles nichts. Quick hat den armen Mann so eingeschüchtert; der hat eine Heidenangst. Es gibt keine Möglichkeit, ihn umzustim-
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men. Wir müssen uns wohl oder übel mit dem begnügen, was wir haben.« Kornienkos Gedanken wanderten zu dem Abend zurück, als er die Freunde seiner Eltern in deren Wohnung empfangen hatte. Wie konnte dieser Mann, der seinen Vater wie einen Bruder geliebt hatte, so feige sein und sich weigern, mit dem was er wußte, herauszurücken? Er mußte an den Nachmittag im Tompkins Square Park denken, als Grodek ihn gerufen hatte und ihm von der Sache mit Quick erzählte. Er hatte jetzt noch die vor Schrecken und Entsetzen weit aufgerissenen Augen des Alten vor sich. Angst vor einem fünfzehnjährigen, blonden Jungen! Er mußte selbst zu dem Mann gehen. Grodek hatte Lamson und Mead abgewimmelt, aber vielleicht hatte er mehr Glück, weil er der Sohn von Wasyl Kornienko war. Als sich die Tür des kleinen Gerichtssaals öffnete, konnte Kornienko hineinspähen. Er sah den Richter, einen kleinen Mann mit Eulengesicht, fast kahl und mit dicken Augengläsern. Quieks Mutter kam heraus, und sie ging hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei, als sie bemerkte, daß er demonstrativ wegschaute und nicht ihr Lächeln erwiderte. Die Tochter folgte ihr auf dem Fuße. Gleich darauf erschien Lamson. »Der Richter hat den nächsten Termin in zwei Wochen angesetzt«, sagte Lamson. »Er will ein medizinisch psychologisches Gutachten über Johnny Blanton. Greenhouse hat beantragt, daß der Junge mit seiner Mutter nach Hause gehen kann, aber der Richter hat zum Glück abgelehnt. Greenhouse hat 380
außerdem eine niedrigere Kaution beantragt, und die wurde auch abgelehnt. Ich glaube, der Mann weiß, was er von dem Engelchen zu halten hat. Ich könnte mir denken, Johnny kriegt die Höchststrafe aufgebrummt.« »Was drei bis fünf bedeutet, stimmt's?« »Richtig.« »Mit achtzehn Monaten sicher, Wochenendurlaub und so?« Lamson zuckte die Schultern. »So will es das Gesetz.« »AI, wie ich dir schon sagte, das nehme ich nicht einfach so hin. Was können wir rausholen, wenn wir's mit bewaffnetem Raub, Erpressung, Körperverletzung zusätzlich versuchen?« »Drei bis zehn höchstens, wenn er schuldig befunden wird.« »Wir müssen es versuchen.« * Steve wartete, bis Grodek seine Kundin zu Ende bedient hatte. Er konnte nicht verstehen, wieso es so lange dauerte, ein Hühnchen zu verkaufen. Aber Grodek beeilte sich auch nicht sonderlich. Er wußte offensichtlich nur zu genau, weshalb Kornienko gekommen war. Und Steve konnte dem Alten schon am Gesicht ablesen, daß es diesmal sehr schwierig werden würde. Sobald die Frau den Laden verlassen hatte, drehte Grodek sich um und ging ins Hinterzimmer. Steve folgte ihm. Der Alte drehte sich um. Angsterfüllt blickte er Kornienko an. »Es hat keinen Zweck, Stefan. Bitte. Laß mich.« »Aber wir brauchen Sie, Mr. Grodek. Es ist unsere einzige Möglichkeit, den Jungen hinter Gitter zu kriegen.« 381
»Für wie lange denn, Stefan?« »Bis zu zehn Jahren.« »Und vielleicht weniger? Nein, Stefan. Der kommt zurück. Bitte, Stefan. Es geht nicht.« »Wir werden aufpassen, Mr. Grodek, das verspreche ich Ihnen. Wir werden ihn beobachten, so daß er Sie nicht mehr belästigen kann. Verstehen Sie denn nicht? Sie sind unsere letzte Chance. Die allerletzte.« »Stefan, das einzige, was ich weiß, ist, daß er hierher zurückkommt. « Der alte Mann schlotterte am ganzen Leib. »Mr. Grodek, ich sagte doch schon, ich verspreche Ihnen, daß wir ihn davon abhalten werden, nochmals diesen Laden zu betreten. Wir werden ihm auf Schritt und Tritt folgen und ihn ständig unter Beobachtung halten.« »Ihn beobachten? Wie wollt ihr denn das machen? Jede Minute, an jedem Tag? Und nachts, immer und immer?« Der alte Fleischer hatte plötzlich einen anderen Gesichtsausdruck bekommen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Stefan«, schluchzte er, »bitte, bitte! Es bringt dir deine Eltern doch auch nicht mehr zurück. Laß mich in Ruhe. Ich habe Angst. Verstehst du das denn nicht? Wenn er Geld will, gebe ich ihm Geld. Ich habe Angst vor ihm, ganz einfach Angst.« »So können Sie doch nicht leben, Mr. Grodek. Helfen Sie uns, den Jungen hinter Gitter zu kriegen.« Der alte Mann preßte seinen Kopf an Stefans Brust. »Bitte, laß mich.« Stefan legte seine Arme um Grodeks Schultern. Wie der Mann zitterte! Der Geruch seines Haares 382
erinnerte Kornienko an seinen Vater. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Eine Frau hatte den Laden betreten. Sie sah Kornienko und den alten Mann hinten im anderen Raum stehen. Sie war sprachlos. »Da ist eine Kundin, Mr. Grodek. Geht's wieder?« »Ja«, sagte der Alte mit tränenerstickter Stimme. »Dann gehe ich jetzt.« »Ja.« Kornienko durchquerte den Laden. »Er kommt sofort«, sagte er zu der Frau. »Was ist denn los?« fragte sie. »Er hat sich über etwas aufgeregt. Es wird schon wieder werden.« Kornienko verließ den Laden, überquerte die Straße und ging in den Tompkins Square Park. Er setzte sich zu den alten Ukrainern und begrüßte die, die er kannte mit einem leichten Nicken. Er sah den beiden Schachspielern zu, einem alten Mann aus der Ukraine und einem Polizist, dessen Motorrad ein Stück weiter abgestellt war. Nach einer Weile stand Kornienko wieder auf. Vom Zusehen bekam er auch keinen klareren Kopf. Er machte sich auf den Heimweg.
21. Kapitel Quick betrat den Tagesraum, gefolgt von zwei anderen Jungen, die, genau wie er, auch gerade vom Jugendgericht nach Rikers gebracht worden waren. Die beiden waren neu hier, und sie hatten Angst. Totale Newcomers. Sie waren zum ersten Mal aufgegriffen und verhaftet worden. Die Nacht vorher hatten die beiden einen Taxifahrer überfallen, mit einer Pistole, die Ladehemmung hatte. 383
»Habt ihr 'nen guten Anwalt?« hatte Quick sie schon auf der Fahrt hierher gefragt. »Scheint ganz in Ordnung zu sein«, sagte der Kleinere. »Wie sah er denn aus?« »Ziemlich klein, fett, 'n Weißer.« »Und was hat er gesagt, was ihr tun sollt?« »Hat gesagt, wir soll'n die Klappe halten und ihn machen lassen.« »Hört sich nicht übel an. Tut alles, was er sagt«, riet Quick den beiden. »Schon mal hier gewesen?« »Nein.« »Ist ganz nett hier, wenn man mal alles kennt. Essen ist o. k. Bin schon 'ne Weile hier. Im Grunde is es besser als zu Hause. Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr zu mir kommen. Ich werd' schon für euch sorgen. Okay?« Er grinste die beiden Neger an, wie ein Politiker, der sich im Wahlkampf befindet. Matches kam auf ihn zugerannt. »Na, wie war's?« »Ungefähr so, wie ich dachte.« Die Jungen standen herum und warteten auf das Essen. Einige hatten jetzt Quick gesehen und waren hinzugekommen, sogar ein paar von den Obermackern. Alle wollten hören, wie die Sache ausgegangen war. »Wann ist die nächste Verhandlung?« fragte einer. »In 'n paar Wochen. Sie stellen mich vors Jugendgericht, aber das war mir ja klar.« »Du pustest die beiden alten Leute um, und die bringen dich Arsch vors Jugendgericht?« »Genau, wie ich gesagt hab'.«
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»Scheiße. Immer dasselbe. Das machen die nur, weil du 'n verdammter Weißer bist.« »Weil ich 'nen guten Anwalt habe«, sagte Quick ohne zu zögern. »Und wann genau biste wieder fällig?« fragte Matches. »In zwei Wochen. Dazwischen wollen die, daß ich mich mit 'nem Irrenarzt unterhalte. Immer der gleiche Scheiß. Ich geb' dem genau die gleichen Antworten, die ich immer drauf hab', wenn ich beim Jugendgericht bin.« »Hoffentlich hab' ich auch so 'nen Dusel. Falls überhaupt.« Matches mußte schlucken. »Bin schon viel zu lange hier.« »Hier habe ich zwei neue Freunde, die ich euch vorstellen will«, sagte Quick. »Das hier ist Georgie und das ist Tiger. Gibt's denn hier nix zu essen? Ich hab' Kohldampf.« * Das Telefon klingelte. Kornienko saß am offenen Fenster, die Füße auf dem Fensterbrett, und starrte auf den Berufsverkehr unter sich auf der Fourth Avenue. Er ließ es mehrmals klingeln, bevor er den Hörer abhob. »Steve, hier spricht Charlie Savage. Ich bin gerade mit Al Lamson zusammen, im P.J. Reynolds. Wir trinken ein Bier. Willst du nicht dazukommen?« »Gibt's was Neues?« »Wir basteln da so an einer Idee herum. Komm ruhig mal rüber.«
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Kornienko ging zu Fuß. Das Restaurant war nur ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt. Er bezweifelte, daß die ihm was Interessantes zu erzählen hatten. Savage hätte dann schon andere Andeutungen gesagt und nicht so was von Ideen und Herumbasteln gesagt. Er machte sich nicht mehr viele Illusionen. Alles schien so verfahren und wie gegen ihn verschworen. Das miese Geschäft mit dem Schwurgericht, dann Jugendgericht und dann noch der Besuch bei Grodek. Ein trauriger Tag. In der Bar war was los. Wie beim letzten Mal auch schon. Savage und Lamson saßen wieder an dem Tisch ganz hinten im Eßraum. Weil's dort ruhiger war, wie sie sagten. Sie hatten sich auf ihre Ellenbogen gestützt, das Bier vor der Nase und schienen tief in ein Gespräch versunken. Beide blickten auf, als sie ihn kommen hörten. Sie sahen ihm ruhig, ja fast gleichmütig entgegen. Savage machte der Kellnerin ein Zeichen. »Ein Bier, Steve? Oder irgendwas anderes?« »Ich nehme ein Bier.« »Warst du bei Grodek?« fragte Lamson. »Ja.« »Und du hast die gleiche Antwort bekommen wie wir auch?« vermutete Lamson. »Leider.« »Quick hat's ganz schön drauf, die Leute einzuschüchtern«, meinte Lamson. Kornienko schwieg. Savage legte seine Hand auf Kornienkos Arm. »Steve, wir wollten, daß du herkommst, weil wir deine Freunde sind. Und in unserer Branche sind wir meistens unsere einzigen Freunde. Wir arbeiten in einem dreckigen Geschäft, und manchmal bleibt 386
uns nur noch der Zynismus, um zu überleben. Aber wenn man selbst in die Mühle gerät wie du, dann hilft das alles nichts mehr. Steve, wir wissen, wie beschissen es dir geht. Wir möchten dir helfen, mit der ganzen Angelegenheit irgendwie Frieden zu schließen, damit du endlich wieder zur Ruhe kommst. Bitte, Steve.« »Charlie, ich kenn' das ja alles. Hab' das schon zigtausendmal erlebt«, sagte Kornienko. »Aber diesmal hat's mich erwischt. Und ich kann mich nicht damit abfinden.« »Der Junge kriegt schon seine Strafe«, sagte Savage. »Du mußt nur Geduld haben. Paß mal auf. Dieser wildgewordene kleine Mistkerl ist zu weit gegangen, um so noch lange zu überleben. Wenn der durchhält, sagen wir ein Jahr oder anderthalb, und dann rauskommt, dann dreht der doch sofort wieder ein Ding. Und dann, das kann ich dir sagen, dann findet der schon noch seinen Meister. Dann wird er festgenagelt. Und zwar richtig.« »Da kannst du sicher sein, daß den einer festnagelt«, sagte Kornienko. Er blickte Lamson und Savage an. Die beiden hatten genau verstanden. »Steve«, sagte Lamson, »vergeude doch deine Zeit nicht mehr mit diesen Dingen. Du und ich, wir beide wissen ganz genau, der Junge wird keine einundzwanzig. Setz' dich nur hin und warte ab.« »Ich kann aber nicht einfach warten. Es geht nicht.« »Du mußt diesen üblen Kerl endlich aus dem Kopf kriegen. Laß die Dinge laufen. Ich verspreche dir, es passiert mit dem Jungen, was passieren muß.« Korrtienko sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen. 387
»Steve, das hört sich nicht gut an, was du sagst«, sagte Lamson. »Du scheinst unbedingt selbst die Rechnung bezahlen zu wollen, für ihn.« »Steve, wir haben zusammen gearbeitet«, sagte jetzt Savage. »Und du bist ein echter Profi. Was ein echter Profi ist, der kann warten und beobachten. Egal, wie lange. Natürlich weißt du das. Deshalb behalte kühlen Kopf und warte drauf, bis der kleine Scheißer sich selbst in den Arsch beißt.« Kornienko musterte die beiden. Es brachte überhaupt nichts, mit den beiden noch länger zu diskutieren oder ihnen womöglich noch auf die Nase zu binden, was er zu tun gedachte. Sogar gefährlich konnte das werden. Was, wenn sie unter Eid aussagen mußten, worüber sie mit ihm, Kornienko, gesprochen hatten? Man konnte ja nicht wissen, was noch alles auf ihn zukam. Es war sehr unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Er wandte sich an Savage. »Du glaubst also allen Ernstes, irgendeiner wird ihn für mich festnageln, so oder so. Und ich müsse nur geduldig warten?« »So ist es, Steve.« Savage nickte. Kornienko schwieg einen Moment. »Ich muß den Kerl wirklich aus meinem Kopf kriegen.« Er merkte, wie erleichtert die beiden Freunde sich anblickten. »Hoffentlich meinst du das ernst, alter Freund«, sagte Savage. »Denn was ich da eben von dir hören mußte, hat mir gar nicht gefallen. Ich hab' schon angefangen, mir Gedanken darüber zu machen, wie das aussieht, wenn ich einen von meinen besten Leuten 388
verliere.« Er hob sein Glas, um Kornienko zuzuprosten, nickte lächelnd und nahm gleich mehrere Schluck auf einmal. Kornienko sah zu, wie Lamson das gleiche tat und sein Glas hob. Er ließ nun auch nicht länger auf sich warten und trank. »Vielen Dank, Jungs.« »Steve«, sagte Savage, »eins habe ich gelernt in all den Jahren: Es macht sich immer bezahlt, wenn man das System für sich arbeiten läßt.« Kornienko blickte auf. Savage würde gleich wieder ins Reden verfallen und einen seiner Vorträge halten. Das konnte man an seinem Gesichtsausdruck sofort erkennen. Er war ganz in seinem Element. Steve mußte an die Zeit zurückdenken, als er noch mit Savage zusammengearbeitet hatte. Wie viele Stunden hatte er damit zugebracht, dem Kollegen zuzuhören und mit ihm ein Bier nach dem anderen zu trinken! »Keiner will einen Unschuldigen verknacken«, fuhr Savage fort. »Und immer, wenn's so aussieht, als könnte es womöglich wieder passieren, oder schlimmer, wenn es schon passiert ist, dann werden die Gesetze noch ein bißchen mehr zu Gunsten des Schuldigen gelockert. Nur um die vielleicht Unschuldigen zu schützen, verstehst du? Darum ist unser Job so beschissen, unsere Tätigkeit manchmal so sinnlos und sind die Polizisten oft so zynisch. Wir brechen uns einen ab, um so einen Hurensohn zu fassen, und was ist dann? Das Gesetz macht's sozusagen unmöglich, daß der Kerl auch verurteilt wird. Die Frage ist doch nur, ob er schuldig ist oder nicht 389
schuldig. Verstehst du das, Steve? Menschenkinder, wenn einer unschuldig ist, dann will ihn doch sowieso niemand haben. Oder? Wir jedenfalls nicht. Und im Normalfall wissen wir ganz genau, ob er's getan hat oder nicht. Und das wiederum wirft eine andere Frage auf: Was heißt das, nicht schuldig? Nicht schuldig ist der Kerl, solange wir ihm nicht hundertprozentig nachweisen können, daß er's war. Nur einfach zu wissen, daß er schuldig ist, das reicht noch längst nicht. Nein. Das ist allen vollkommen egal. Was uns zu dem juristischen System und dem Gericht bringt. Die Richter verlangen, daß Ermittlungen vorliegen. Wenn wir wissen, daß der Betreffende es war, aber noch nicht genügend Beweise haben, dann sagen sie, na schön, wir geben Ihnen noch etwas Zeit, aber nicht viel. Wir nennen das, dem Einspruch wird stattgegeben. Wenn wir damit nicht einverstanden sind, dann riskieren wir alles. Dann kommt es zur Verhandlung.« Savage machte eine kurze Pause und trank von seinem Bier. »Und so geht's in die Arena. Das Gericht bestellt einen Anwalt für den Angeklagten. Die Leute sind doch zu blöd, um überhaupt zu begreifen, was ein Anwalt ist. Und erst recht wissen die, die ihn brauchen, nicht, wie sie ihn bezahlen sollen. Also zahlt die Staatskasse. Wir senden den Staatsanwalt. Das Spiel beginnt. Und der Klügere gewinnt das Rennen. Was die meisten Leute nicht begreifen, ist die Tatsache, daß dieses ganze Theater mit dem eigentlichen Fall kaum noch was zu tun hat. Es geht ja nur um formell schuldig oder nicht schuldig. Hast du
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jemals einen Geschworenen sagen hören, dieser Mann ist unschuldig? Und es ist ein Spiel mit gezinkten Karten. Der Angeklagte ist immer im Vorteil. Es fängt doch schon damit an, daß wir nicht alle Beweise vorlegen können, die wir haben. Die meisten werden nicht zugelassen, weil irgendeine Formvorschrift nicht erfüllt ist. Der Verteidiger nimmt die Zeugen ins Kreuzverhör, schießt sich auf die Beweise ein. Es genügt, daß ein Geschworener Zweifel bekommt, und der Fall ist gestorben. Ein Zeuge wird eingeschüchtert, bis er keinen Ton mehr rauskriegt. Der Täter wird freigesprochen. Er hat schon längst gestanden. Er hat vor der Polizei verkündet, jawohl, ich hab's getan. Trotzdem, er verläßt den Saal als freier Mann. Hab' ich alles schon erlebt. Alles. Und was macht der arme Polizist, der den Fall von Anfang an bearbeitet hat? Und der nach vielem Abstrampeln den Kerl gekriegt hat? Der sitzt da und sagt zu sich selbst, ist mir doch scheißegal. Ist mir so wurscht, ob der nun ins Kittchen kommt oder gleich wieder einen umlegt. Nach mir die Sintflut. Ist doch nur ein Job, nichts weiter. Ich tu's doch nur um der paar Kröten willen. Er resigniert, er wird zynisch. Aber das ist noch längst nicht das Ende vom Lied. Der Typ ist nämlich in einem Teufelskreis. Und wenn der Polizist bedenkt, weshalb ein Verbrecher wieder auf freien Fuß gesetzt wird, dann wird er einsehen, daß es an dem miesen System liegt.« Savage nahm noch einen Schluck. »Die Typen, die wir geschnappt haben, und die wegen eben dieses Systems wieder freikommen, die stellen ja gleich wieder was an und wieder und so weiter. Und ir391
gendwann kommen sie unter die Räder. Das steht fest. So oder so. Oft wird uns die Arbeit ja von ihresgleichen abgenommen. Kommt alles vor, wissen wir alles. Nein, das System ist nicht perfekt, aber die Welt auch nicht. Also müssen wir geduldig abwarten und Tee trinken. Mit der Zeit regelt sich tatsächlich alles von selbst.« Savage warf einen Blick auf Kornienko und schaute dann schnell wieder weg. »Wir leben eben nicht in einer perfekten Welt. Und manchmal trifft's einen von uns.« »Die meisten da draußen sind aber gar nicht so übel«, sagte Kornienko. »Wie viele müssen denn erst dran glauben, bevor das System, von dem du sprichst, die Klappe hinter einem Mörder zumacht?« »Darüber werden ja die meisten Polizisten Zyniker«, antwortete Savage. »Man muß sehr viel Geduld aufbringen.« Kornienko sah Savage an, der eine Reaktion von ihm zu erwarten schien. Dann blickte er zu Lamson. »Steve«, sagte Lamson, »mir ist vollkommen klar, daß du uns gar nicht zugehört hast.« »Die Leute haben Besseres verdient, eine bessere Rechtsprechung«, sagte Kornienko. »Und wenigstens etwas Schutz.« »Dafür sorgt das System schon«, kam es wieder von Savage. Kornienko sagte nichts mehr. Er starrte nur seine beiden Freunde an. Und die warfen ihm einen prüfenden Blick zu und zuckten die Schultern. * Greenhouse griff nach der Flasche Wein, die auf dem Tisch stand. Die junge Frau, die ihm gegenüber saß, war auffallend hübsch, mit kurzem dunklem Haar und grünen, leuchtenden Augen. Er füllte 392
ihr Glas und goß dann sich selbst ein. »Du hast dich aber ganz schön verändert seit unserer Zeit an der Uni«, sagte sie. »Ist dir das eigentlich bewußt? Was ist aus all deinem enormen Idealismus geworden, über den du dich so gern und reichlich ausgelassen hast? Die Unschuldigen und Schwachen wolltest du schützen. Den Armen, den Habenichtsen Hilfe zukommen lassen. Johnny Blanton hat den Mord gestanden. Die Art, wie du dein Vorgehen in diesem Fall beschreibst, widerspricht meiner Meinung nach ganz gewaltig deinen guten Vorsätzen. « Greenhouse hob ein Stück Petersilie, das auf die rosarote Tischdecke gefallen war, auf und legte es auf den Teller zurück. »Warum sagst du das? Ich will dem Kind helfen. Ich werde dafür sorgen, daß Johnny in eine Besserungsanstalt kommt, in der ein sehr gutes Resozialisierungsprogramm angewandt wird, das mit ausgezeichneten Ergebnissen arbeitet. Die drehen den Jungen um. Aus ihm könnte noch mal so was wie ein anständiger Bürger werden.« »Glaubst du das allen Ernstes? Meinst du, das ist eine realistische Einschätzung der Sachlage? In einem Jahr willst du aus dem Jungen einen braven Steuerzahler machen?« »Sieh mal, ich habe mich nicht um den Fall gerissen. Das Gericht hat ihn mir sozusagen oktroyiert. Also, das ist mein Job. Ich bin Verteidiger, und ich bin's so gut ich kann. Meine Aufgabe ist bestimmt nicht, den Zeigefinger zu erheben und dem Jungen eine Moralpredigt zu halten. Dafür sind andere da. Ich kann mich auch nicht mit moralischen Fragen über Schuld und Unschuld auseinandersetzen. 393
Wenn ich damit anfinge... Ich tue also genau das, wofür ich da bin. Komm schon, du weißt das ja alles selbst.« Sie nahm das Weinglas in die Hand und blickte es gedankenverloren an. Sie trank. »Du hast ja recht. Ich weiß das selbst. Und ich kann dir kaum sagen, wie froh ich bin, daß ich mich nicht fürs Strafrecht entschieden habe.« »Und meinem Mandanten, willst du dem keine Chance geben?« »Ich fürchte, in dem Moment habe ich auch mal an die anderen acht Millionen Menschen in dieser Stadt gedacht.«
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Teil 3
22. Kapitel Untersuchungsbericht des Psychiaters Bezirk Manhattan An das Jugendgericht der Stadt New York Aktenzeichen: F1C239F/79 Code: QBF2039 Datum der Untersuchung: 24.8. 1978 Name des Patienten: John Blanton Geburtsdatum: 11. 7.1963 Bei dem Patienten handelt es sich um John Blanton, einen fünfzehnjährigen Jungen, der sich der fahrlässigen Tötung an zwei älteren Menschen schuldig gemacht hat. Vorher stand der Patient schon eine Reihe von Malen vor dem Jugendgericht. Die Anklagepunkte umfaßten Einbruch, Besitz verbotener Waffen, bewaffneter Raub und andere Delikte. In Übereinstimmung mit dem Gesetz gegen Schwerverbrechen hat das Gericht die Erstellung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verfügt. Das Gutachten soll zugleich über die soziale Orientierung des Patienten Auskunft geben. John Blanton ist von kleiner Statur, er wirkt schwächlich und zart. Der Gesamteindruck ist der eines Kindes. Er trägt das Haar schulterlang. Er ist blond. Sein eher zarter Körperbau, das Haar und die Bewegungen lassen ihn fast mädchenhaft erscheinen. Zugleich ist der Junge jedoch in jeder Situation bestrebt, seinem Spitznamen »Quick« ge395
recht zu werden. Er trägt leichte Segeltuchschuhe, wirkt ständig gespannt, wie zum Sprung bereit, angriffslustig, sowohl mit den Händen als auch mit den Füßen. Gegenüber dem Unterzeichner des Berichts gab sich John Blanton auskunftsfreudig und kooperativ. Er machte voll und ganz den Eindruck, daß es nicht die erste Untersuchung dieser Art ist, derer sich unterzieht. Er gab sich treuherzig und versuchte, seinen Charme einzusetzen, um die Sympathie des Befragenden zu erringen und das Ergebnis der Untersuchung in seinem Sinne zu beeinflussen. Er lächelte sehr viel. Erwies im Gespräch daraufhin, daß er in Notwehr gehandelt habe, als er seine Opfer tötete, und fügte hinzu: »Ich habe mich für schuldig auf fahrlässige Tötung bekannt, weil mir mein Anwalt dazu geraten hat. Er meinte, daß er so am meisten für mich rausholen kann. Er ist ein sehr cleverer Mann. Er kriegt mich wahrscheinlich raus. Er weiß ja auch, daß ich wirklich nichts Schlimmes gemacht habe, und er wird schon dafür sorgen, daß der Richter das auch so sieht.« Zur Familie des Patienten: John ist in Brooklyn geboren. Die Familie zog nach Manhattan, als er noch ein kleines Kind war. Der Vater war Fernfahrer. Er verließ seine Familie vor sechs fahren. Die Familie lebt gegenwärtig von der Wohlfahrt. Seinen Vater betreffend erinnert John sich hauptsächlich, daß er in betrunkenem Zustand häufig auf die Mutter einschlug und daß er eine Vorliebe für Messer hatte. Seine Mutter ist Alkoholikerin, die den ganzen Tag nichts anderes tut als fernzusehen. John wird von 396
seiner Mutter nicht beaufsichtigt. Er wird nicht erzogen. Soweit sich die Mutter den Wünschen des Sohnes widersetzt, ködert er sie mit Geschenken. Zum Beispiel mit einem Fernseher. John hat einen älteren Bruder und eine Schwester. Er mißtraut seinem Bruder, der offenbar sehr fleißig und motiviert für seine Ausbildung arbeitet. Die stärkste Bindung hat John an seine Schwester, bei der es sich um eine Prostituierte handeln soll. Gleichwohl sind Johns Gefühle für die Schwester gespalten. Geschwisterliche Zuneigung mischt sich mit der Suche nach einem Mutterersatz, sowie einer regen sexuellen Fantasie, besonders aufgrund ihrer Tätigkeit. Zur Krankengeschichte: Es finden sich bei John keine ernsthaften organischen Erkrankungen oder Verletzungen. John nimmt keine Drogen. Nur mit Marihuana hat er zu Zeiten Erfahrungen gemacht. Seit zwei Jahren geht der Junge nicht mehr zur Schule, und er ist vom Typus her ein Einzelgänger. Er verbringt seine Zeit auf der Straße bis in die späten Nachtstunden hinein. Für gewöhnlich schläft er bis nachmittags. Wie oben erwähnt, gibt es eine lange Liste von Festnahmen wegen verschiedener Delikte. Zur Intelligenz des Patienten: Aus den vorgenommenen Tests ergibt sich ein I. Q. von 102. Kein Hinweis auf Psychosen. Die Schreib- und Lesekenntnisse entsprechen dem Niveau der fünften Schulklasse. Psychologische Beurteilung: John Blanton ist zu vernünftigen Entschlüssen und Handlungen fähig, die seinem Alter entsprechen. Keine Halluzinatio397
nen, keine Wahnideen oder depressiven Anzeichen. Bemerkenswert ist, daß jedes psychologische Einfühlungsvermögen in das Denken anderer Menschen fehlt. John ist nicht in der Lage, Reue, Gewissensbisse, Einsicht zu empfinden. Die psychosexuelle Ichfindung ist gestört. Er reagiert empfindlich schnell mit Wutausbrüchen, was offensichtlich auch im vorliegenden Fall der Auslöser war. Diagnose: Aggressives, unsoziales Verhalten eines Jugendlichen. (308.4). Zusammenfassung: Wir haben es mit einem Jugendlichen von normaler Intelligenz zu tun. Eine Psychose liegt nicht vor. Er hat sich zu fahrlässiger Tötung bekannt. Er kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen, die sozialpathologisch geprägt sind. Er hat keinen Vater. Die Mutter ist weder willens noch in der Lage, die notwendige Sorgfalt bei der Erziehung ihres Sohnes walten zu lassen. Sie ist Alkoholikerin. John ist organisch gesund. Keine Verletzungen, keine Wachstumsstörungen. In psychiatrischer Behandlung ist er bisher noch nicht gewesen. John verfügt über ein außerordentlich unsoziales Verhaltenundist unfähig zur Einfühlung in das Denken und Empfinden anderer. Er ist auch zur Reue nicht fähig. Empfehlung: In Bezugnahme auf das oben Erwähnte empfiehlt es sich, den Patienten in eine festeingefügte, geordnete Gemeinschaft einzugliedern, wo eine psychotherapeutische Behandlung möglich ist. Ohne eine solche Behandlung ist davon auszugehen, daß es zu weiteren Straftaten kommt. Dr. Harris Weingarten * 398
Quick war vollkommen außer Atem, so war er gerannt. Die Seitenstiche waren so schmerzhaft geworden, daß er stehenbleiben mußte, um sich einen Moment auszuruhen. Er entdeckte ein Schnellimbiß und lief hin. Hier war es ruhig. Nur ein Gast, der an der Theke seinen Kaffee schlürfte. Und der war in ein Gespräch mit dem Koch vertieft, der eine weiße Papiermütze auf dem Kopf trug. Zwei Serviererinnen saßen an einem Tisch, rauchten, waren damit beschäftigt, Zucker in die Dosen nachzufüllen. »Gibt's hier 'ne Toilette?« keuchte Quick. Der Koch sah Quick von oben bis unten an und wies ihm mit dem Zeigefinger den Weg. »Geradeaus und dann rechts«, sagte er. Quick schloß sich in der Kabine ein. Er ließ sich auf den Klodeckel sinken und verschnaufte. Es war nicht gerade sehr bequem, fand er. Ein mieses Fleckchen, um sich auszuruhen. Er lauschte seinem Herzschlag. Allmählich verschwand auch das Stechen in der Seite. So kaputt war er noch nie gewesen. Und so lange und so schnell war er noch nie in seinem Leben gerannt. Aber es ging ihm ja schon wieder besser, 's war aber wirklich allerhöchste Eisenbahn gewesen, da rauszukommen. Als er die Toilette verließ, erschrak er. Ein zweiter Gast hatte die Imbißstube betreten. Ein Polizist. Quick fröstelte. Konnte der 's schon wissen? 's war doch erst 'n paar Minuten her. Ob er lieber auf die Toilette zurückgehen sollte? Warten, bis der Bulle wieder raus war? Zum Glück hatte er wenigstens eins von seinen eigenen Hemden an und nichts von den Fetzen, die sie in Rikers trugen. Da blickte der Polizist in seine Richtung. Quick hielt den Atem an. Nein, er hatte nicht reagiert. Der Bulle 399
unterhielt sich weiter mit dem Mann an der Theke. Verdammt noch mal, das war Glück. Der Typ wußte noch nichts. Noch nicht. Quick ging auf die Straße und lief ruhig weiter, bis er außer Sichtweite der Imbißstube war. Dann rannte er wieder. Einen Block weit und noch einen. Er verlangsamte sein Tempo und entdeckte einen schmächtigen, dunkelhaarigen Jungen, der ihm entgegenkam. Quick blieb stehen und packte ihn am Arm. »He, du da, sag mal, wo die U-Bahnstation ist.« Der Junge machte sich von Quick los. »Pfoten weg, Wichser.« Quick beschwichtigte ihn mit einem Lächeln, dem besten, das er drauf hatte. »Komm, sag schon. Du mußt mir helfen. Ich muß weg, bevor die Bullen mich erwischen.« »Oh!« grinste der Junge. Er deutete hinter sich. »Noch drei Blocks.« Quick versetzte dem Jungen einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und grinste. Und schon war er weg. Die beste und vor allem schnellste Möglichkeit, von den Puertoricanern Hilfe zu bekommen, war, zu sagen, daß die Bullen hinter einem her sind. Die hatten ja selbst immer was auf dem Kerbholz. Er fing an, die Puertoricaner richtig gern zu haben. Die erinnerten ihn alle irgendwie an Matches. Und an Squirrel. Eigentlich müßte er den doch auftreiben können. Er rannte die Treppe zur U-Bahn hinunter und studierte den Stadtplan, der an der Wand hing, minutenlang. Schließlich lehnte er sich an eine Säule und tat so, als warte er auf jemanden. Auffallend wenig Leute hier unten. Wahrscheinlich, weil Samstag war. Aber immer noch genug, um sich gut de400
cken zu können. Er wartete auf den besten Moment. Jetzt. Drei Fahrgäste hatten sich vor der Kasse angestellt. Und es war kein Kontrolleur da. Er duckte sich und schlüpfte durch das Drehkreuz hindurch, wie er es schon so oft getan hatte. Er hörte noch, wie jemand hinter ihm herrief. Aber das war immer so. Und es stellte überhaupt keine Gefahr dar. Als er den Bahnsteig erreichte, fuhr gerade der Zug ein. Kurz bevor sich die Türen schlössen, sprang er hinein. * Ihr Abflußspezialist von der Second Avenue stand in großer Reklameschrift auf dem Kleinlastwagen, der in der Eleventh Street parkte. Darunter die Zeilen Service rund um die Uhr und die genaue Anschrift auf der Second Avenue, sowie eine Telefonnummer. Fernell Hudson von der Kriminalpolizei saß hinten im Wagen auf einem hochbeinigen Schemel und visierte durch einen Schlitz den Hauseingang mit der Nummer 619. Er war hier, seit es dunkel zu werden begann. Alles hatte sehr schnell gehen müssen, nachdem sie über Funk informiert worden waren. Er trug einen dreckigen Overall mit breitem Ledergürtel, an dem verschiedene Werkzeuge hingen, die ein Klempner eben so braucht. Die Waffe steckte im Wadenhalfter. Mit seinem Parkplatz hatte er ein Mordsglück gehabt. Und er hatte den Wagen direkt neben einen Hydranten abstellen können, wo die meisten ihre Autos nicht gern parkten. Es war der ideale Platz jedenfalls, um die 619 unter Kontrolle zu haben. Nur auf der anderen Straßenseite und zwei Häuser wei401
ter. Gerade richtig. Nachdem er hier angekommen war, hatte er sich im Laderaum zu schaffen gemacht, um nicht weiter aufzufallen. Als er sicher sein konnte, daß er sich niemandem verdächtig gemacht hatte, stieg er auf seinen Beobachtungsposten und wartete. Er dachte darüber nach, wie man ihm den Flüchtigen beschrieben hatte: Es war noch ein Kind. Und von Kindern wußte man aus Erfahrung, daß sie für gewöhnlich erst mal schnurstracks nach Hause liefen. Ja, das war jedenfalls das, was immer wieder festgestellt werden konnte. Deshalb hatte man nicht nur eine allgemeine Suchaktion gestartet, sondern ihn auch hierher geschickt. Das schien am vernünftigsten. Aber bis jetzt war der Junge noch nicht aufgetaucht. Und der wäre wirklich leicht zu erkennen. Langes, blondes Haar? Meine Güte, das fiel auf, wie der Weihnachtsmann mitten im Sommer. Klar wie Bohnensuppe. Sobald der Junge käme, würde er, Hudson, einen Funkspruch durchgeben, und schon wären die Kollegen da, um Johnny festzunehmen. Hudson rutschte auf seinem Schemel hin und her. Gab's was Gemütlicheres? Er machte ein Streichholz an, um auf die Uhr sehen zu können und nahm sich eine Zigarette. Eigentlich könnte die Ablösung bald kommen. Er hatte die Nase voll. Quick stand im Schatten. Er blickte aus dem Fenster des ersten Stocks. Er war in dem verlassenen Haus, das sich gegenüber von seinem eigenen befand. Und er wollte gern rüber. Sein Messer, ja, das brauchte er ganz dringend. Und außerdem hatte er keine Ahnung, wo er sonst hin sollte.
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Aber er war nicht so blöd, einfach harmlos nach Hause zu rennen. Schließlich konnten die ihn dort schon erwarten. Und er dachte ja gar nicht daran, denen gleich wieder in die Arme zu laufen, die sie bestimmt liebevoll für ihn aufhielten. Nein. Erst mußte er vollkommen, ja vollkommen sicher sein, daß keine Gefahr bestand. Und wenn er die ganze Nacht hier warten mußte. Denn, wenn die ihn diesmal erwischten, würden sie ihn irgendwohin, weit weg von New York, verfrachten. Und darauf hatte er echt keinen Bock. Echt nicht. So stand er nun schon eine ganze Weile. Seitdem es dunkel zu werden begann. Mußte schon ein paar Stunden her sein. Er konnte Maureen sehen, drüben hinter dem Fenster, wie sie vor ihrem neuen Fernseher saß und ihr Schaefers schluckte. Und ein paar Mal sah er auch Paul, der durch den Raum schlurfte. Alles sah aus wie immer. Ob wohl einer von den Bullen dabei war? Konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Aber der könnte ja auch irgendwo im Hausflur lauern. Oder womöglich sogar auf der Straße. Die mußten ja längst wissen, daß er abgehauen war. Schon nachmittags. Er ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Alles wirkte normal. Nichts Ungewöhnliches. Aber es war auch nicht so, daß gar nichts losgewesen wäre. Ein paar Leute gingen spazieren, Kinder spielten rum. Und schon wieder diese idiotischen Puertoricaner, die unter der Motorhaube rumfummelten. Diesmal war's 'ne andere Karre. Er entdeckte den kleinen Lastwagen, der auf der Straße parkte und kicherte in sich hinein. Der Arsch parkte genau vor dem 403
Hydranten. Aber der würde sowieso keine Knolle kriegen. Diese Hosenscheißer von Bullen hatten ja gar nicht den Mumm, hier, in dieser Straße Terror zu machen. Plötzlich sah er das Licht, das aus dem schmalen Rückfenster des Autos schien. Saß da hinten einer drin? Einfach nur so? Wahrscheinlich hatte da so'n Typ 'ne zombige Tante angegraben. Und machte mit der rum. War ja rattenscharf, die Idee! Sicher hatten die gerade 'n kleines Päuschen zwischen zwei Nummern eingelegt. Den Stecher würde er ja zu gern mit seiner Käthe mal am Werke sehen. Wäre nicht übel, einfach runterzugehen und durchs Fenster zu spannen. Das Ganze mal in live, und nicht immer nur im Film. Verdammt noch mal, ja! Aber die würden's bestimmt raffen, wenn er sich da auf die Stoßstange stellte, und ihm Ärger machen. Und außerdem hätte er ja sowieso nichts im Dunkeln sehen können. Das höchste der Gefühle wäre, zuzuhören. Was zu essen wäre prima, dachte Quick. Seit mittags hatte er nichts mehr in den Magen bekommen. Hm, Hot Dogs, vielleicht oder 'n Stück Pizza. SoftEis. Aber dazu brauchte er Geld. Vielleicht würde Maureen ihm was geben. Müßte sie eigentlich. Er brachte ihr schließlich immer so viel mit. Und wenn er erst sein Messer hätte... im Grunde hatte er's dann nicht einmal mehr nötig, die Mutter um Knete anzuhauen. Eine Möglichkeit war immer die Feuerleiter im Hinterhof. Von da aus käme er superleicht in sein Zimmer. Aber was würde, wenn die Bullen da hinten warteten? Und konnte man Paul trauen? Woher konnte man wissen, wie der darauf reagieren würde, wenn sein kleiner Bruder plötzlich zum 404
Schlafzimmerfenster hereingeschneit käme. Der hatte wahrscheinlich noch nicht mal geschnallt, daß er, Quick, 'ne Fliege gemacht hatte. Das Geräusch von Schritten auf der Straße. Ein Mann, ein Schwarzer, dunkel gekleidet, Overall, breiter Ledergürtel mit Werkzeug, das daran hing. Schwer, genau zu erkennen. Er ging bis zu dem Kleinlastwagen, blickte sich noch mal um. Quick war gespannt, was nun passieren würde. Der Mann ging zur Tür hinten und klopfte ans Fenster. Die Tür ging auf, der Mann kletterte in den Laderaum. Quick wunderte sich. Was zum Teufel ging da vor sich? Vielleicht hatten die 'ne scharfe Käthe da drin. Hatte er ja vorher schon vermutet. Warum sonst konnte so'n Typ in den Laderaum klettern und die Tür hinter sich zumachen? War doch viel zu spät zum Arbeiten! Und es mußte ja noch jemand drin sein, sonst hätte er das Licht doch nicht kurz aufglimmen sehen. Mehrmals, als rauche jemand eine nach der andern. Die mußten 'ne Schnecke drin haben. Was sonst konnten die machen als bumsen? Da. Die Tür öffnete sich schon wieder, und ein Mann kletterte raus. Das war doch ein anderer. Der Typ schlug die Richtung ein, aus der der andere gekommen war. Bullen! Das mußten Bullen sein. Wer denn sonst? Quick blickte dem Mann nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Diese Schweine! Saßen hier in diesem Wagen und warteten darauf, daß er auftauchte. Er zog sich vom Fenster zurück und lief die Treppen hinunter. Schon war er auf der Straße. Er kannte 405
hier jede Ecke, jedes Kellerloch. Er überquerte auf leisen Segeltuch-Sohlen die Tenth Street und tauchte ins Dunkel des Tompkins Square Parks ein. Er mußte Squirrel finden und sich Geld von ihm pumpen. Squirrel hing immer im Park rum, wenn das Wetter gut war, bis spät in der Nacht. Besonders Sonnabend nachts. Squirrel würde ganz schön Augen machen, wenn er ihn, Quick, so plötzlich wiedersah. Mit dem Nach-Hause-kommen, das mußte er sich wohl oder übel erst mal aus dem Kopf schlagen. Wenigstens, bis er sicher sein konnte, daß die es langsam aufgegeben hatten, auf ihn zu warten. Und das konnte dauern! Aber im Grunde war's ihm auch scheißegal. Es war ihm eben auch was viel Besseres eingefallen, wo er tausendmal lieber hinging. * Barbara nahm Kornienkos Hand und drückte sie. Es war ein wundervoller Tag gewesen. Es war besser. Viel besser. Sie blickte sich im U-Bahnwagen um, musterte die Gesichter der Mitfahrenden. Schweigsame Leute. Viel Reklame an den Wänden. Und Graffiti. Einer der neueren Wagen, und schon waren die Sprüher wieder am Werke gewesen. Hatte bereits 'ne ganze Menge Sprüche und Bilder abbekommen. Ekelhaft. Und nun würde er für die nächsten fünfzig Jahre hin und her fahren, durch die Stadt, beschmiert, wie er war. Sie blickte zu Steve auf. Endlich zeigte sich in seinem Gesicht so etwas wie Aufatmen nach der langen Anspannung und Wut. Ja, die Härte war fort, die sich in ihm aufgestaut hatte während der vergangenen, langen Monate. Vielleicht war das über406
standen. Johnny Blanton war verurteilt worden und sollte in eine Jugendhaftanstalt außerhalb New Yorks geschickt werden. Aufgrund der Empfehlung, die das medizinisch-psychiatrische Gutachten enthielt, hatte der Richter verfügt, daß der Junge sich einem Resozialisierungsprogramm unterziehen mußte. Wenigstens, bis er so weit war, daß er überhaupt die Bedeutung seines Verbrechens verstehen konnte. »Das bedeutet, daß er schon in einem Jahr wieder auf freiem Fuß sein wird«, hatte Steve dazu gesagt. »Möglich, daß sie ihn länger dabehalten. Achtzehn Monate, vielleicht sogar zwei Jahre, oder drei. Aber genauso ist es denkbar, daß er in nur einem Jahr wieder hier ist. Und der weiß bestimmt, wie er den Leuten was vormachen kann, daß sie ihn früher gehen lassen.« »Aber ich muß mich wohl damit abfinden«, hatte er weiter gesagt. »Ich kann ja nichts daran ändern. Vielleicht schaffe ich's sogar, wenn ich den Jungen nie mehr zu Gesicht kriege.« Barbara mußte daran zurückdenken, wie er an jenem Nachmittag ihr Gesicht in seine Hände genommen hatte. »Ich weiß, wie schlimm ich in den letzten Monaten gewesen bin«, hatte er geflüstert. »Ich werde mich bessern. Okay? Hat ja keinen Sinn, ewig so weiterzumachen.« Sie waren den ganzen Nachmittag über im Bett geblieben. Und es war herrlich gewesen. Das Gewicht seines Körpers auf dem ihren. Die Zärtlichkeit seiner Berührungen. Schier endlos schienen sie sich zu lieben. Wie damals, in ihrer ersten Nacht. Ihren Kopf auf seiner Brust gebettet, war sie eingeschla407
fen, bis er sie mit einem liebevollen Klaps wieder aufweckte. »Komm, wir müssen aufstehen. Sonst kommen wir zu spät zu Irene und Joe.« Sie hatten den Zug nach Queens genommen, um mit Steves Schwester und seinem Schwager zu Abend zu essen. Wie sehr sie den Abend genossen hatte! Steve wurde wirklich wieder der alte. Er beugte sich zu ihr und sagte: »Wenn wir aussteigen, laß uns noch schnell ein Eis essen.« »Na gut«, lächelte sie. »Irene kocht schon ganz gut, aber an unsere Mutter reicht sie nie und nimmer ran.« »Deine Mutter war Spitze, das stimmt.« »Irene nimmt zuviel Zwiebeln und Knoblauch. Für meine Begriffe immer eine Spur überwürzt. Ich kann das nicht zu oft so essen.« »Aber Joe scheint's zu schmecken. Wahrscheinlich kocht sie seinetwegen so scharf.« »Und er ist Zahnarzt. Wie fändest du das, wenn du morgens als erste dran bist?« Sie betrachtete ihn von der Seite und bemerkte das leichte Zwinkern in seinen Augen. »Gehen wir heute abend wieder zu mir?« fragte Steve. »Och, ich dachte, ich mache morgen Frühstück. Hab' schon alles eingekauft. Extra deine Lieblingssachen, wie du's von zu Hause her kennst.« »Gut, gehen wir morgen früh zu dir. Ich gebe dir ein T-Shirt von mir, ein sauberes.« »Wenn's wirklich sauber ist...« grinste sie und blickte ihn glücklich an. Aber plötzlich wurde ihr bewußt, daß sein Gesichtsausdruck von einer Sekunde auf die andere gewechselt hatte. 408
»Ich hab' morgen früh noch was Bestimmtes vor«, sagte er. »Hat's was mit mir zu tun?« Er war sehr ernst. »Es ist was, was man normalerweise im Knien tut.« Verstohlen blickte er sich im Abteil um. Mit leicht zitternder Stimme fragte er schließlich: »Kannst du dir vorstellen, mit einem Polizisten verheiratet zu sein?« Barbara blickte ihn an, und Tränen schössen ihr in die Augen. »Ist nichts Tolles«, sagte er. »'s gibt was Besseres. Das kann ich dir jetzt schon versprechen. Aber das weißt du ja längst.« Nun war es ausgesprochen, und sie war überwältigt. »Soll das ein Heiratsantrag sein, Steve?« »Ich wollte dich eigentlich morgen früh fragen. Will dir 'n bißchen Zeit lassen, um darüber nachzudenken.« »Ich weiß aber schon, was ich antworten werde.« »Trotzdem möchte ich, daß du in Ruhe drüber nachdenkst. Du mußt wirklich nicht gleich antworten.« »Und wann genau willst du mich morgen früh fragen? Willst du mich vielleicht in meinem T-ShirtNachthemdchen aufwecken, mir einen Klaps auf den nackten Hintern geben und mich dann fragen, oder was?« »Beim Brunch. Komm jetzt, wir müssen raus. Und ich will immer noch mein Eis.« Sie stiegen aus, überquerten die Fourteenth am University Place und gingen einen Block weiter bis zu dem beliebten Eisladen. Vier Mädchen standen hinter der Theke und hatten alle Hände voll zu tun, um Eis auszugeben und das Geld zu kassieren. Die 409
beiden stellten sich an. Schließlich bekamen sie ihre Eistüten. Steve machte sich mit Genuß über seine zwei Kugeln her, die er sehr schnell essen mußte, weil das Eis schon zu schmelzen begann. Plötzlich wurde Barbara bewußt, daß irgend etwas geschehen war. Steve hörte auf zu essen und stand da wie vom Donner gerührt. Sie blickte in sein Gesicht, weil sie sich fragte, was auf einmal mit ihm los war. Aus seinen Augen sprach etwas Wildes, ja beinahe Verrücktes. Was war passiert? Sie folgte seinem Blick und sah, daß er einen Jungen am anderen Ende der Theke fixiert hatte, der in diesem Moment von einer Verkäuferin sein Eis entgegennahm. Steve war erstarrt. Er hatte etwas Lauerndes im Blick, wie ein Jagdhund kurz vor dem Absprung. Der Junge war schmächtig, hatte langes blondes Haar. Er trug dunkelblaue Hosen, Segeltuchschuhe und ein buntbedrucktes Hemd. Konnte er das sein? »Steve«, flüsterte sie, »ist er das?« Kornienko achtete gar nicht auf sie. Er machte einen Schritt auf den Jungen zu, einen zweiten. Der Junge leckte an seiner Eistüte. Kornienko ging noch einen Schritt weiter auf ihn zu. Der Junge drehte sich um und wollte zur Tür. In dem Moment entdeckte er Kornienko, blickte ihn eine Sekunde lang überrascht an. Er schien unsicher zu sein, zögerte, doch er drehte sich gleich wieder um. Kornienko hatte seinen linken Arm nach dem Jungen ausgestreckt. Zögernd ging er weiter. »Johnny«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Warte einen Moment. Ich will mit dir sprechen. Ich tu' dir ja nichts. Warte, bitte.«
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Der Junge hatte sehr langsam die Schwelle überquert. Er war rückwärts gegangen. Er sah, wie Kornienko noch einen Schritt auf ihn zugetan hatte. Plötzlich holte er aus und warf Kornienko das Eis ins Gesicht. Wie ein Blitz rannte er los, Richtung Thirteenth Street. Kornienko reagierte sofort. Er ließ seine Eistüte fallen und setzte dem Jungen nach. Barbara lief zur Tür auf den Bürgersteig hinaus und blickte den beiden nach. Steve war nur ein paar Meter hinter dem Jungen. Der machte aber plötzlich eine totale Drehung, lief weiter, auf die Straße, zwang ein Auto zur Vollbremsung und war schon auf der anderen Seite. Kornienko blieb ihm auf den Fersen, aber als sie zur Thirteenth kamen, hatte der Junge schon einen ziemlich großen Vorsprung. Sie rannten um die Ecke und waren Barbaras Blicken entschwunden. Barbara stand auf dem Bürgersteig vor dem Eisladen. Sie war wie gelähmt. Was sollte sie tun? Ein paar Leute im Laden und auf der Straße hatten zufällig die Szene mitverfolgt. Als sie das Eis über ihre Finger rinnen spürte, begann sie wieder an ihrer Waffel zu lecken. Und dann, plötzlich, wußte sie, was sie zu tun hatte. Wie hatte sie nur so lange zögern können? Sie warf das Eis in einen Abfalleimer, rannte über die Straße auf eine Telefonzelle zu. Bevor sie überhaupt zu wählen begonnen hatte, hörte sie das Quietschen von Reifen und Hupen von einigen Autos. Sie blickte auf. Da war wieder der Junge, und da war auch Steve, der immer noch hinter ihm her war. Sie waren um 411
den Block gelaufen und rannten jetzt auf dem Mittelstreifen der Fourteenth Street entlang in Richtung Union Square Park. Sie hielt den Atem an, als der Junge wieder mitten durch den dichten Verkehrsstrom auf die andere Straßenseite lief. Kornienko hinterher. Sie rannte sofort aus der Zelle hinaus, um genau zu sehen, was nun geschah. Plötzlich schien Steve zu fallen, kurz vorm Bürgersteig. Sie rannte etwas näher heran und blickte über die Straße zu ihm hin. Was war passiert? Er lag dort, hielt sein Bein und wälzte sich hin und her, solche Schmerzen schien er zu haben. Der Junge war verschwunden. Sie lief so schnell sie konnte zum Telefon zurück und wählte. »Neun-einseins«, antwortete eine teilnahmslose Stimme. »Von wo rufen Sie an?« »Mein Name ist Barbara Whitsell. Ich bin an der Ecke Broadway/ Fourteenth Street. Ich war bis eben mit Steve Kornienko zusammen, er ist bei der Kripo, fünfzehntes Revier. Er war nicht im Dienst. Aber er hat Johnny Blanton entdeckt, der heute aus dem Gefängnis ausgebrochen sein muß. Verstehen Sie mich?« Barbara wartete ein paar Sekunden. »Hallo?« »Wir haben ein Fahndungsersuchen nach Johnny Blanton. Fünfzehn, männlich, Weißer, Körpergröße ein Meter fünfundfünfzig, langes, blondes Haar -« »Ja, das ist er. Genau. Er war eben noch hier.« »Können Sie mir genau sagen, wo das ist?« »Steve, oh, äh, Kornienko ist hinter dem Jungen hergelaufen.
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Fourteenth Street Richtung Union Square Park. Ich glaube, dort müßte er jetzt etwa sein. Jedenfalls ist er entkommen.« »Wir schicken sofort Wagen los. Würden Sie bitte dort warten, bis die Polizei da ist, falls weitere Fragen kommen?« »Natürlich, ja, ich warte hier.« Sie hängte ein und lief auf die Straße. Steve war verschwunden. Obwohl sie Angst hatte, abends den Park zu betreten, weil er so spärlich erleuchtet war, rannte sie über die Straße ein Stück in den Park hinein. Sie entdeckte Kornienko mitten auf der Wiese. Er stand gegen eine Büste gelehnt und versuchte, den Jungen zu entdecken. »Steve!« rief sie. Er hatte sie erkannt und humpelte ihr entgegen. »Hast du gesehen, wohin er gerannt ist?« Sein Gesicht und seine Stimme waren schmerzverzerrt. »Nein. Aber ich habe Neun-Elf angerufen. Geht's einigermaßen?« »Die müßten sofort hier sein. Ich bin gestolpert. Ein Loch in der Straße. Hab' mir das Schienbein am Bordstein aufgestoßen. Als ich hinfiel, hab' ich ihn aus den Augen verloren. Der ist bestimmt in die nächste U-Bahn gerannt. Hätte ihn schon in der Eisdiele packen sollen. Da hätte ich ihn gehabt.« »Wie geht's dir denn?« fragte sie wieder besorgt. »Gleich besser.« Das Heulen einer Sirene war zu hören. Steve holte die Dienstmarke aus seiner Tasche. Seine Handflächen waren aufgeschürft und bluteten. Das Hemd war vorne mit Eis bekleckert und hinten dreckig vom Fallen. Seine Hosen waren zer-
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rissen. Er humpelte auf den Funkwagen zu und hielt seine Dienstmarke hoch. Sie beobachtete aus kurzer Entfernung, wie er mit den Polizisten redete und in verschiedene Richtungen deutete. Sie stiegen aus dem Auto aus, verschlossen es und liefen auf den Eingang der UBahn zu. Ein zweiter Funkwagen kam angerast. Mit heulenden Sirenen und Blaulicht. Steve winkte sie heran, sprach mit den beiden Beamten und schickte sie zu einem anderen U-Bahn Eingang. In wenigen Minuten waren vier weitere Fahrzeuge angekommen. Steve versammelte nun die acht Kollegen und sprach mit ihnen. Sie machten sich in verschiedenen Richtungen auf die Suche. Vier Polizisten stiegen wieder in ihre Wagen und fuhren davon. Als Kornienko zu ihr zurückkehrte, konnte er schon etwas besser laufen. »Glaube nicht, daß die ihn finden«, sagte er. »Quick ist verflixt schnell. Und der kennt sich bestens aus auf den Straßen.« »Vielleicht haben sie Glück.« »Ich hätte ihn beinahe gehabt, Barbara. Das war auf dem University Place. Er mußte langsamer laufen, weil eine Gruppe von Fußgängern ihm den Weg versperrten. Aber ich hab's nicht ganz geschafft. Vielleicht, wenn ich nicht dieses blöde Ding da am Bein hätte.« Er deutete auf die Pistole am Schienbein und fuhr sich danach mit den Fingern durchs Haar. Mit einem Seufzer bückte er sich und betastete die Wunde am Bein. »Der ist schnell. Der ist wirklich verdammt schnell.« Steve betrachtete Barbara. »Komm, ich ruf dir ein Taxi. Ich muß was tun.«
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»Und was ist mit deinem Bein? Ist es denn wieder einigermaßen? Solltest du nicht besser zum Arzt oder so?« »Nein, ist schon gut. Hör mal, ich muß los.« »Liebling, warum läßt du die nicht machen? Das ist doch nicht dein Fall!« »Wenn nicht meiner, wessen denn dann?« Sie blickte ihn an. Sogar in dem schlechten Licht konnte sie erkennen, daß der Ausdruck in seinem Gesicht wieder da war. Und zwar schlimmer als je zuvor. Sein ganzes Gesicht hatte etwas Raubtierhaftes, Wildes. So schlimm hatte sie es noch nie gesehen. »Okay«, sagte sie. »Ich freue mich, wenn ich was von dir höre.« »Geh auf die andere Straßenseite. Da findest du bestimmt ein Taxi. Ich rufe an. Wenn ich mich beeile, wer weiß, vielleicht hab' ich Glück.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit des Parks. Ihr war übel, als sie ihm nachblickte. Wieder war es, als entglitte er ihr. Wie lange würde es diesmal dauern? * Nur so eine Vermutung. Und offensichtlich eine falsche. Quick war nicht im Park. War ja auch kein guter Platz, im Grunde genommen. Aber er hatte wenigstens sichergehen wollen. Er hatte die Polizisten durch jeden Winkel der Grünanlage geschickt. Zu den U-Bahnausgängen, zur Fourteenth und Sixth Avenue. Sie waren in ihren Wagen viel schneller als Quick und konnten ihn möglicherweise dabei erwischen, wie er ankam. Vielleicht hatten sie 415
ihn gekriegt. Vielleicht aber auch nicht. Er hatte sie gebeten, sofort zurückzukommen, wenn es doch der Fall war. Wie lange war das jetzt her? Zwanzig Minuten? Dreißig? Zwei der Teams waren immer noch zu Fuß unterwegs. Ihre Autos parkten noch an der gleichen Stelle. Kornienko hatte nicht den Vorschlag gemacht, daß einer von den Beamten sich das Haus an der Nordseite des Parks vornehmen sollte. Das wollte er selbst machen. Auch wieder so eine Vermutung. Oder vielleicht war's auch mehr ein Fantasiegebilde. Er sah sich im Geiste, wie er Quick in die Enge trieb und zu Boden schlug. Aber das kleine Gebäude wäre bestimmt kein gutes Versteck gewesen. Er hatte vor einigen Jahren hier gewohnt, deshalb kannte er die Fourteenth und den Union Square Park. Er war hier spazieren gegangen, war mit dem Auto viel umhergefahren, hatte jeden UBahneingang schon zigtausend Mal benutzt. Allerdings war er nie zu diesem Haus gegangen, und er kannte nicht den Hof dahinter. Hier standen Picknicktischchen. Und es gab einen Spielplatz. Ein paar Sandkästen. Die Stelle am Schienbein begann schmerzhaft zu pochen. Er war ziemlich hart aufgeprallt. Aber es hätte viel schlimmer ausgehen können. Er hätte sich das Bein brechen können. Aber es war nur abgeschürft, und mit dem Schmerz ließ es sich leben und laufen. Er wandte sich um. Quick war dort entlang gerannt. Er versuchte, sich in Quick zu versetzen. Was hätte er an seiner Stelle gemacht? Nein, es war ein aussichtsloses Unterfangen. Er war völlig hilflos. Quick konnte überall sein. Er blickte sich um. 416
Der kleine Park war nur spärlich beleuchtet. Ein Stück total dunkler Fläche inmitten hellerleuchteter Straßen mit viel Verkehr. Nur ein totaler Idiot würde sich hier freiwillig aufhalten, zumindest in der Nacht. Aber sollte doch irgend so ein Lebensmüder kommen und über ihn herzufallen versuchen! In der Stimmung, in der er im Moment war, konnte es der letzte, der allerletzte Überfall sein, den der Typ machte. In diesem Moment sah Kornienko, daß zwei Polizisten zu ihrem Auto zurückkehrten. Er ging auf sie zu. »Na, irgendwas gesehen?« »Nichts«, sagte der eine. »Wir haben alle möglichen Leute angesprochen. Nichts. Glaube nicht, daß der Junge den Bahnsteig betreten hat.« Der andere Beamte setzte sich ins Auto und nahm das Funkgerät. Er rief seinen Kollegen und sagte ihm etwas. »Wir haben einen Einsatz«, sagte einer zu Kornienko. »Samstag nacht, elftes Revier«, sagte er und zuckte die Schultern. »Sie wissen ja, was das bedeutet. Aber wir geben es an die anderen Reviere weiter.« »Wir kriegen den schon wieder«, sagte der andere. »Hört sich so an, als ob der sich nicht lange verstecken kann.« Der Wagen fuhr los. Steve überquerte die Fourteenth Street und ging zu den Telefonzellen. Er rief sein Revier an. »Was gibt's Neues mit Johnny Blanton? Der muß wohl gerade irgendwo ausgebrochen sein. Anscheinend heute.« »Johnny Blanton? Lassen Sie mich mal nachsehen. Warten Sie bitte eine Sekunde.« Lange Pause. »Hier steht's. John Blanton. Ausgebrochen um fünfzehn Uhr. Die Fahndung ist haupt417
sächlich auf das elfte Revier ausgerichtet. Besonders wird das Haus des Entflohenen überwacht. Beschreibung wie folgt: männlich, weiß, fünfzehn Jahre, schulterlanges blondes Haar, hundertzehn Pfund, ein Meter fünfundfünfzig, zuletzt gesehen mit blauen Hosen, Segeltuchschuhen und einem buntbedruckten Hemd.« »Das ist alles, was Sie haben? Nichts darüber, wo der Junge ausgebrochen ist?« »Nein, das ist alles, was hier steht.« »Versuchen Sie, was Näheres in Erfahrung zu bringen. Ich ruf wieder an.« Er legte auf und rief die Mordkommission Manhattan Süd an. Zone eins. Die Nummer kannte er inzwischen auswendig. »Kann ich bitte Al Lamson sprechen?« »Ist im Moment nicht da.« »Dann bitte Charlie Savage?« »Auch nicht.« »Dann geben Sie mir bitte Lamsons Privatnummer. Warten Sie. Ist schon gut. Ich habe die Nummer selbst. Er hat sie mir gegeben.« Er legte auf und wählte Lamsons Nummer. »Hier spricht Kornienko«, sagte er, nachdem sich Lamson selbst gemeldet hatte. »Was ist heute passiert?« »Oh, guten Tag, Steve. Habe bei dir zu Hause versucht anzurufen. Aber du warst nicht da. Aber anscheinend hast du's schon gehört.« »Nicht genau. Aber ich hab' ihn gesehen.« »Wen?« »Quick.« »Du hast Quick gesehen? Wo?« »Zuletzt im Union Square Park, vor weniger als einer Stunde. Aber es sieht fast so aus, als sei der 418
uns mal wieder entwischt. Wie ist es denn passiert?« »Er war immer noch in Rikers. Sollte erst nächste Woche in die andere Anstalt gebracht werden. Montag, glaub' ich. Er spielte heute nachmittag im Hof, warf Frisbee mit ein paar anderen, soviel ich weiß. Er sprang nach diesem Ding, stieß mit einem von den größeren Jungen zusammen, schlug mit dem Kopf gegen einen Baum. Dann klagte er über Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Schwester, die gerade Dienst hatte, hat den Doktor angerufen, und der beschloß, daß der Junge ins Krankenhaus müsse. Zum Röntgen und so'n paar anderen Tests.« »Haben die ihm denn keine Handschellen angelegt? War denn etwa kein Beamter dabei, und zwar die ganze Zeit?« »Wie's so geht, Steve. Die Röntgenassistentin hat den Jungen vor den Schirm gestellt, und ist dann rausgegangen, um das Foto zu machen. Du weißt ja, wie diese Röntgenräume sind. Die Typen, die röntgen, bleiben nicht im Raum. Na ja, und dann war also noch eine zweite Tür in dem Raum. Der Beamte fragte, ob die abgeschlossen sei, und die Assistentin sagte ja. Aber sie war nicht. Als die Frau zurück zu Quick ging, war der schon über alle Berge. Er hatte es geschafft, durch die Tür zu entschlüpfen und muß ohne weiteres den Weg aus dem Krankenhaus herausgefunden haben.« »Was ist unternommen worden, um den Jungen wieder hinter Gitter zu kriegen? Wie ich sehe, bist du zu Hause.« »Nerv mich nicht, Steve. Ich bin gerade im Moment hier angekommen, und ich war da, seit wir es erfah419
ren haben. Wir haben die Drähte glühen lassen. Die Fahndung nach dem Jungen ist raus. Und sein Haus wird überwacht, rund um die Uhr.« »Du meinst, das reicht?« »Steve, ich weiß, was in dir vorgeht. Aber du darfst einfach nicht erwarten, daß jeder Beamte hier bei uns gleich alles hinschmeißt, was er angefangen hat, nur um Quick wiederzuholen. Es gibt in dieser tollen Stadt hunderttausend Flüchtige, nach denen gefahndet werden müßte. Weißt du das zufällig? Und wenn wir jedem von denen die Aufmerksamkeit angedeihen lassen, die du uns in deinem Fall vorschreiben willst, dann brauchten wir mehr Polizisten als Bürger in dieser Stadt. Hör mal, du mußt jetzt Ruhe bewahren. Wirklich, reg dich ab, Steve. Er ist ein Junge, den man ziemlich leicht erkennen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, und wir haben ihn wieder.« »Mit nichts weiter als dieser mickrigen Wache vor dem Haus? Und einem Steckbrief an alle Reviere? AI, das funktioniert doch nie. Der ist wieder da, wo er sich auskennt, wie in seiner Westentasche. Der kennt jedes Fleckchen, das er betritt. Er weiß genau, wo er sich verstecken muß, damit ihn keiner findet. Wie lange wollt ihr denn die Leute vor seinem Haus warten lassen, daß er kommt? Ein paar Tage? Eine Woche. Ich muß dich da mal was fragen: Er hat doch eine Schwester, die auf der Eighth Avenue auf den Strich geht. Richtig? Beschattet ihr die wenigstens auch?« »Wir haben die Kollegen von der Sitte darauf angesetzt, daß die nach Quick Ausschau halten.«
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»Nach Quick? Wie wär's denn mal zur Abwechslung mit ihr?« »Die nehmen wir uns auch noch vor.« »Was meinst du damit? Habt ihr bisher noch nichts in der Richtung unternommen?« »Wir werden es tun. Wir müssen erst mal irgendeinen von der Familie zur West Thirtieth mitnehmen, damit der ein Foto des Mädchens raussucht, aus dem Nuttenalbum, meine ich. Damit wir wissen, wie das Mädchen aussieht. Wir wissen ihr Nuttenpseudonym nicht. Und das brauchen die von der Sitte.« »Und das habt ihr alles noch nicht gemacht?« »Wir werden, Steve, wir werden. Vielleicht schon morgen. Meine Güte, Steve, es ist ja gerade mal erst ein paar Stunden her. Und jetzt haben wir Mitternacht. Samstag, verstehst du? Die anderen sitzen an ihren Jobs. Die können sie nicht auf einmal liegenlassen. Das ist wirklich nicht unser einziger Fall. Wie ich dir schon gesagt habe, wir kriegen ihn. Aber du mußt uns schon ein oder zwei Tage Zeit lassen.« »Das ist nach meinem Geschmack viel zu lange.« »Steve, verdammt noch mal. Du müßtest dich mal reden hören. Du hörst dich genauso an wie vor vierzehn Tagen im Reynolds. Wir kriegen ihn! Okay? Und wirklich, Steve, es wäre sehr gut, für dich sehr gut, wenn du dich mal ein bißchen beruhigst... Steve?« Aber Kornienko hatte schon aufgelegt. Er rief die Auskunft der Polizei an und ließ sich die Nummer der Sittenpolizei auf der West Thirtieth Street geben. Er wählte die Nummer.
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»Alle Männer sind momentan im Einsatz«, sagte der Mann in der Zentrale, nachdem Kornienko erklärt hatte, wer er war. »Ich halte hier nur die Stellung am Telefon. Sie können eine Nachricht hinterlassen und einer von den Leuten ruft Sie dann zurück. Oder Sie melden sich morgen früh noch mal.« »Ich brauche sofort Ihre Hilfe.« »Es ist aber im Moment keiner da. Sie können kommen und hier warten, wenn Sie wollen. Warten, bis einer mal vorbeischaut. Aber ich hab' keine Ahnung, wann einer kommt.« Kornienko hängte ein. Er erinnerte sich noch genau, wie die Schwester aussah. Schließlich hatte er sie neulich bei der Verhandlung gesehen. Er ging zur U-Bahn und nahm den Zug Richtung Stadt.
23. Kapitel »Cindy!« Sie hatte gerade die Eighth Avenue überqueren wollen, als sie seine Stimme hörte. Sie hielt an und blickte sich um. »Was machst du denn hier, Johnny?« »Ich konnte nicht nach Hause. Die sitzen da und warten darauf, daß ich komme. Deshalb wollte ich zu dir. Warum siehst du mich so komisch an?« »Dreimal darfst du raten. Ich dachte, du wärst eingelocht. Wie biste denn rausgekommen?« »Hab' mir den Kopf gestoßen, beim Spielen heute nachmittag. Und da haben die mich ins Krankenhaus geschleppt, zum Röntgen und so. Und da hab' ich 'ne Biege gemacht. Dachte, wenn ich denen erzähle, mir tut der Kopf so weh, dann machen die 422
irgendwas in der Richtung. Und dann kann ich's dreh'n.« »Und, ist dein Kopf in Ordnung?« »Na klar.« »Die suchen dich bestimmt überall.« Cindy blickte sich unruhig um. »Du mußt weg von der Straße.« »Ich weiß. Kann ich nicht zu dir?« Mein Gott. Das war genau das, was sie im Moment am besten brauchen konnte. »Also, das ist keine so tolle Idee.« »Cindy, du mußt mir helfen.« Seine Stimme klang weinerlich. »Cindy, die haben mich diesmal nicht rausgelassen. Die wollten mich irgendwo anders hinbringen. Das wäre ganz schlimm!« »Und wie lange, hast du gedacht, willst du bei mir bleiben?« »Weiß ich nich. So lange es geht. Bis die aufhören vor unserem Haus rumzuhängen.« »Du kannst nich so lange bleiben. Sobald die rauskriegen, daß ich deine Schwester bin, stellen die uns allen beiden nach. Und ich will nich auch noch in Schwierigkeiten kommen, weil ich dich versteckt und gedeckt habe.« Sie blickte sich wieder um. »Hab' selbst schon genug trouble.« Cindy fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. »Scheiße!« Und dann. »Komm. Heute nacht meinetwegen. Wir geh'n zusammen hin. Aber du kannst jetzt nich hierbleiben. Du gehst hinter mir. Nich neben mir. Nur für den Fall...« Sie drehte sich um und marschierte los.
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Nachdem sie einen Block weit gegangen war, blieb sie stehen und sah sich um. Johnny war ihr in vorsichtiger Entfernung gefolgt. Er gab sich den Anschein, als betrachte er die Auslagen der Geschäfte. Als er bemerkte, daß sie stehengeblieben war, hielt er auch an und guckte in ein Schaufenster. Sie mußte lächeln und ging weiter. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß sie ihn verlor. Oder daß er sich irgendwie auffällig verhielt. Er wußte genau, was er tat. Sie kam zur Fortyeighth, bog links ab, lief ein paar Schritte weiter und wartete, um zu sehen, ob er ihr immer noch folgte. Sie ging weiter, Richtung Tenth Avenue. Fünf Minuten später hatte sie die Wohnung erreicht. Sie wartete im Hausflur auf ihn. Als sie ihn sah, machte sie die Tür auf. »Ich wohne im zweiten Stock«, sagte sie. »Nur für den Fall... du wartest hier, bis ich dich rufe. Dann komm hoch. Wenn ich in ein paar Minuten nich gerufen habe, bedeutet das, daß irgendwas nich in Ordnung ist. Dann haust du ab, so schnell du kannst.« Sie rannte die Stufen, bis zum zweiten Stock hoch. Als sie gerade die Tür zu ihrer Wohnung aufschloß, öffnete sich langsam die Tür ihr gegenüber. Sie erstarrte vor Schreck. Der Nachbarjunge, gerade neun Jahre alt, kam heraus und lächelte ihr zu. Wo konnte der um diese Zeit noch hingehen? Auf die Straße, zum Spielen? Aber es war doch ein Uhr nachts. »Haste 'n bißchen Geld für mich?« fragte das Kind. »Heute nich, 'n andermal. O.k. ?« Cindy zitterte immer noch. 424
Erst nachdem der Junge die Treppe hinuntergesprungen war, drehte sie sich zur Tür und schloß auf. Sie wartete noch ein paar Sekunden, betrat dann vorsichtig die Wohnung. Alles war so wie immer. Sie lief ins Wohnzimmer, in die beiden Schlafzimmer, schließlich guckte sie noch in die Küche und ins Bad. Sie zog sogar den Duschvorhang zur Seite, um ganz sicherzugehen. Erst als sie sich vergewissert hatte, daß keine Polizei in der Wohnung sein konnte, lief sie wieder auf den Hausflur hinaus und rief leise Quieks Namen. Sie lauschte auf seine Fußschritte, als er die Treppe heraufgerannt kam. »Das is also meine Wohnung«, sagte sie und führte ihn hinein. »Hier- mein Schlafzimmer. Und da wohnt 'ne Kollegin von mir«, sie deutete auf eine zweite Tür. »Du kannst im Wohnzimmer schlafen. Entweder in 'nem Sessel oder auf 'm Fußboden. Ich muß jetzt wieder los. Falls du schon pennst, wenn ich zurückkomme, brauchst du keine Angst zu haben. Wir reden morgen weiter über alles. Ich versuche, die Kollegin von mir zu finden, damit sie auch Bescheid weiß und keinen Schreck kriegt, wenn sie dich hier vorfindet. Alles klar?« »Cindy, wie läuft's denn so heute nacht? Machste ordentlich Knete?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sonnabends läuft's nie gut. Aber ich muß trotzdem raus und sehen, was sich tun läßt.« »Bringst du die Typen hierher?« »Nein. Hier leb' ich. Hier wird nich gearbeitet. Bis nachher.« Cindy verließ die Wohnung und ging zurück zur Tenth. Von dort aus nahm sie ein Taxi zur Seventh und ließ sich vor dem Taft absetzen. Hier 425
würde sie mal ein Weilchen ihr Glück versuchen. Wenn der gute alte Tony auf sie angesetzt war, dann suchte der bestimmt erst mal nur auf der Eighth. Quick stand auf der Schwelle zum Schlafzimmer seiner Schwester. Er betrachtete das ungemachte Bett. Irgendwie war er verdammt enttäuscht. Er hatte sich die Wohnung ganz anders vorgestellt und eher ein supertolles Liebesnest erwartet. Aber hier war's ja gar nicht besser als zu Hause. Die Wohnung war schäbig. Sein Blick fiel auf die Tapete, die sich schon abzulösen begann. In einer Ecke hing sie sogar ganz runter. Der Rolladen vor dem Fenster war kaputt. Im Zimmer gab's sonst nur noch einen Kleiderschrank und zwei Stühle, die über und über mit Kleidern vollgehängt waren. Und dann dieser Fußboden! Na ja, immerhin etwas besser als zu Hause. Der Teppich reichte durchs ganze Zimmer, sah aber auch schon ziemlich abgetreten aus. Er schlenderte zu einem der Stühle und nahm einen BH von der Lehne. Seide mit schwarzer Spitze. Auch der Slip war schwarz. Er berührte den Slip, streichelte über die Seide. Schließlich nahm er ihn und hielt ihn auf Armeslänge von sich, etwa in der Höhe, wo er bei Cindy sitzen mußte. Er legte seinen Kopf schief und versuchte sich vorzustellen, wie es aussähe, wenn Cindy jetzt so vor ihm stünde. Er streichelte noch mal über den Stoff und legte den Slip zurück. Er war erregt, seine Jeans spannten. Er ging zur Kommode und zog eine Schublade auf. Noch mehr Anziehsachen. Alles mögliche. Er musterte alles genau, berührte die Sachen, zog sie heraus und warf sie wieder zurück. In der nächsten 426
Schublade gab es Schlüpfer, Strümpfe, Blusen, Hemdchen, Strapse, Unterkleider, BHs. Die Slips fand er am aufregendsten. Er zog ein Höschen aus dem Stapel und ließ das seidenweiche Material durch seine Finger gleiten. Schließlich hielt er es gegen das Licht. So winzig, so hauchdünn, wie nichts! Er legte es in die Schublade zurück und schloß sie mit der einen Hand. Mit der anderen tastete er nach seiner Hose und preßte sie auf sein Glied. Wenn jetzt Cindy da wäre... Er könnte jetzt mal so richtig... Er ging zum Kleiderschrank, dessen Türen offenstanden und warf einen Blick auf die Kleider und Röcke, die darin hingen. Er berührte wieder ein Stück nach dem anderen. Dann schlenderte er zum Bett. Cindys Bett! Er setzte sein Knie auf die Matratze. Seine Hände hatten sich langsam an dem Reißverschluß seiner Hose zu schaffen gemacht. Mit rhythmischen Bewegungen rieb er über sein Glied, das sich hart durch den dünnen Stoff abzeichnete. Er drehte sich um und ließ sich auf das Bett fallen, den Kopf in Cindys Kissen vergraben. Er öffnete den Reißverschluß. Cindy lag neben ihm im Bett. Und er wollte ihr zeigen, was er schon alles gelernt hatte. Schließlich hatte er die vielen Peep-Shows und Pornofilme nicht umsonst gesehen. Er wußte, was Sache war. Ja, er stellte sich alles vor. Alles und Cindy. Sein Atem ging schneller. Cindy mußte geradezu überwältigt sein von ihrem kleinen Bruder. Total überrascht! Und er konnte es lange hinauszögern. Er konnte irre lange... Der beste Fick aller Zeiten...
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Endlich stand er auf und ging ins Bad. Er suchte ein Handtuch oder ein bißchen Klopapier oder so was. Das war ja super! Was es hier alles für Döschen, Fläschchen, Sprays und Tuben gab. Und alles lag im Regal und auf dem Brett über dem Waschbecken unordentlich verstreut. Er nahm sich eins nach dem anderen vor und betrachtete jedes Stück ganz genau. Was die Mädchen so alles brauchten! Er warf einen Blick in die Badewanne. Mensch, war die saumäßig dreckig! Ganz anders, als die zu Hause. Die schrubbte allerdings Paul auch immer sehr gewissenhaft aus. Aber dafür hatte die hier auch eine Dusche. Dann mußte sie nicht so blitzblank sein. Waren ja nur die Füße drin, sonst nix. Der Warmwasserboiler hing drüber. Es gab sogar einen Duschvorhang. Quick lächelte zufrieden in sich hinein. Das andere Schlafzimmer sah eigentlich genauso aus wie Cindys. Das Bett war nicht gemacht. Überall lagen Klamotten rum. Wie die Schnecke wohl aussah? Er lief in die Küche. Teller mit Essensresten waren eilig in die Spüle gestellt worden. Auf dem Boden Schaben. War doch überall dasselbe. Er mußte daran denken, wie Matches ihm davon erzählt hatte. Zu komisch! Eigentlich hatte er einen wahnsinnigen Kohldampf. Quick guckte in den Kühlschrank. Wurst, etwas Brot. Er aß. Das machte aber Durst. Es gab Milch im Kühlschrank, die reizte ihn nun aber gar nicht. Schaefers-Bier. Warum eigentlich nicht? Wenn Maureen immer so viel davon schluckte, mußte es doch ziemlich gut sein. Außerdem hatte er es auch schon probiert und fand es nicht mal übel.
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Er holte sich eine Flasche, öffnete sie und warf den Verschluß in den Ausguß. Hastig trank er. Schmeckte ja widerlich. Und bitter. Aber nun mußte er es auch austrinken. Nach ein paar Schlucken begann es schon etwas besser zu schmecken. Schön kalt. Und auch wenn es nicht halb so gut war wie Cola oder so, bekam man's doch runter. Er führte die Flasche wieder an den Mund und irgendwie fand er's doch eklig. Aber er kam langsam auf den Geschmack. Er trank aus. Er brachte immer das zu Ende, was er mal angefangen hatte. Wohin mit der leeren Flasche? Ihm war übel. Vielleicht hatte er einfach zu schnell getrunken. Sein Blick fiel auf die Küchenschabe, die sich kaum bewegte. Er streckte die Hand, in der er die Flasche hielt, senkrecht über den Käfer, zielte und ließ die Flasche fallen. Volltreffer. Nur, daß die blöde Pulle dabei kaputtgehen mußte. Er würde die Scherben wegwischen. Schließlich wollte er ja nicht, daß Cindy sauer auf ihn war. Er hatte doch vor, ein Weilchen bei ihr zu bleiben. Er fand irgendwo einen alten Handfeger, oder was noch davon übrig war und eine ausgelesene Zeitung und wischte die Bescherung auf. Der Mülleimer stand unter dem Spülbecken, wie zu Hause. Quick betrachtete den saubergewischten Boden. Zufrieden mit seiner Arbeit verließ er die Küche. Im Wohnzimmer schaute er sich erst mal den Sessel näher an, in dem er schlafen durfte. Er setzte sich rein. Also in diesem kleinen, schäbigen Dreckding konnte er ganz bestimmt kein Auge zutun. Zu kurz, und dann war die Sitzfläche noch nicht mal gerade. Na ja, dann würde er eben jetzt noch nicht schlafen, 429
sondern noch etwas auf Cindy warten. Aber wo würde sie ihn sonst schlafen lassen? Er stand wieder auf und ging zur Wohnungstür. Was konnte er tun, wenn er hörte, daß die Bullen kamen? Er mußte unbedingt rauskriegen, wo er hinlaufen konnte, wenn die einen Durchsuchungsbefehl hatten. Er ging in Cindys Zimmer und blickte aus dem Fenster. Hier gab's schon mal keine Feuerleiter. Und im anderen Schlafzimmer? Ja, da war sie. Klasse! Er machte das Fenster auf. Auf dem Sims standen ein paar Blumentöpfe. Er ließ das Fenster ein Stück offen, so daß er im Notfall schnell rauskommen würde. Er hatte nicht vor, sich von denen erwischen zu lassen. Nicht den geringsten Bock, von New York weggebracht zu werden. Egal, was Greenhouse gesagt hatte. »Du hast ein Schwein gehabt, Johnny! Ein richtiger Glückspilz bist du. War ein Super-Handel, das sag' ich dir.« Quick hatte seinen Ohren nicht getraut. »Super? Der Richter hat was von drei bis fünf Jahren gesagt. Ich dachte, Sie kriegen mich raus hier.« »Johnny, hör mal zu. Ich sage dir, es ist ein sehr gutes Geschäft gewesen, was ich da für dich rausgeholt habe. Ich hab's immerhin geschafft, daß dein Fall vors Jugendgericht gekommen ist. Wenn er beim Schwurgericht geblieben war, hättest du echt lange sitzen müssen. Vielleicht sogar lebenslänglich. So wie die Dinge jetzt liegen, kannst du schon in einem Jahr wieder nach Hause. Jedenfalls, wenn du clever bist.« »Aber, daß ich weg aus New York muß... daß Sie da nix gegen gemacht haben...«
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»Es ist ja kein richtiges Gefängnis, Johnny. So eine Besserungsanstalt ist mehr wie eine Schule. Ist ganz nett da, kannst du mir glauben. Wirklich, Johnny. Und, mein Junge, die helfen dir. Johnny, hör mal zu...« Helfen, so'ne Scheiße. War ihm doch egal, was dieser rothaarige Idiot ihm da erzählte. Er wollte sich von keinem irgendwohin schicken lassen. Plötzlich wurde ihm ganz anders, fast schwindlig. Ja, er war betrunken. Betrunken von diesem Sauzeug Schiefers. Aber zum Teufel, konnte man davon besoffen werden? Maureen trank doch den ganzen Tag nix anderes. Na, wenn schon. Er würde sich irgendwo bequem hinsetzen, den Kopf anlehnen und auf Cindy warten. Nicht schlafen, nur warten. Vielleicht würde er seine Augen schließen, aber nicht schlafen... Es war ein langer Tag gewesen. Die standen früh auf in Rikers. ... Aber Cindy würde ja gleich kommen... * Kornienko nahm die Bahn von Grand Central nach Times Square. Er wußte, daß Johnnys Schwester auf der Eighth Avenue anschaffte. Aber wo da? Die Straße war lang. Vor oder hinter der Fortysecond? Wahrscheinlich vor. Die Gegend ums Theater. Eighth hinter der Fortysecond war ganz schlimm. Der Abschaum. Und schließlich hatte er sie ja auf dem Jugendgericht gesehen. Und sie war schon eine von den besseren. Aber im Grunde war alles, was auf der Eighth Avenue rumlief nicht gerade Spitzenklasse. Er ging die Fortysecond Richtung Eighth und hielt die Augen auf. Der Block war wirklich heruntergekommen. Viel schlimmer, als er ihn 431
in Erinnerung gehabt hatte. In den letzten Jahren war er nicht mehr oft hier gewesen. Er war ein richtiger East-Side-Polizist geworden und hatte völlig vergessen, wie abgewrackt alles westlich vom Broadway war. Steve war sicher, daß er Johnnys Schwester erkennen würde. Wenn er sie so irgendwo auf der Straße getroffen hätte vielleicht nicht, aber auf dem Strich schon. Die Mädchen fielen einfach auf, wenn sie arbeiteten. Außerdem gab es gar nicht mal so viele. Aber was wollte er eigentlich tun, wenn er sie gefunden hatte? Viele Möglichkeiten fielen ihm da nicht ein. Das sicherste war wohl, sie aus einiger Entfernung zu beobachten und ihr später nach Hause zu folgen. Er mußte sich auch über die Möglichkeit Gedanken machen, daß sie ihn bemerkte und sofort als Polizist erkannte. Was würde er dann tun? Sie war ja keine Anfängerin, und Nutten hatten gewöhnlich einen wahrhaft sechsten Sinn für so was. Die wußten genauso schnell, daß sie's mit Bullen zu tun hatten wie umgekehrt, er und seine Kollegen sofort die Sorte Frauen ausmachten. Aber vielleicht kam sie doch nicht drauf, denn immerhin hatte er ja ganz normale Sachen an. Und außerdem hatten Polizisten auch nicht allzu häufig ihr ganzes Hemd mit Eis bekleckert. Und wenn doch, nun ja, dann mußte er das Risiko eben in Kauf nehmen. Er war an der Kreuzung Eighth Avenue angekommen und bog Richtung Norden ab. Obwohl es schon spät war, liefen und standen hier noch Mädchen rum. Welcher Idiot wollte sich um diese Zeit noch mit diesen Straßennutten vergnügen? Und mit ihr in eins von diesen stinkenden, dreckigen, dunk432
len Hotels gehen? Der blöde Kerl konnte von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut auch wieder da raus kam. Da waren zwei Mädchen, die die Straße runterflanierten. Aber keine von beiden konnte die sein, die er neulich auf dem Jugendgericht gesehen hatte. Er ging bis zur Kreuzung Fiftysecond, überquerte die Straße und schlenderte auf der anderen Seite zurück. Er sah noch ein paar andere Mädchen, aber keine sah so aus wie Cindy. An der Fortysecond angekommen, wechselte er wieder auf die andere Straßenseite und paßte ganz genau auf. Aber nichts. Nachdem er noch mal die gleiche Tour gelaufen war, gab er auf. Er wollte erst mal mit den Kollegen von der Sitte sprechen. Allmählich war es sowieso zu spät, um noch viel erwarten zu können. War schon erheblich weniger los. Wenn sie sich heute überhaupt auf der Straße aufgehalten hatte, konnte sie ja schließlich längst Schluß gemacht haben. Unterwegs kam er an einem rund um die Uhr geöffneten Horn and Hardart vorbei. Er beschloß, noch schnell einen Kaffee zu trinken. Aber er hielt sich nicht lange auf, sondern setzte seinen Weg fort. Das alte Gebäude sah aus wie eine Festung. Er war seit Jahren nicht mehr drin gewesen. Aber er wußte noch, wo er langgehen mußte. Er holte seine Dienstmarke aus der Tasche und zeigte sie dem Beamten am Eingang, ohne sich lange aufzuhalten. Er wollte vermeiden, daß ihm Fragen gestellt wurden. Er hatte nicht die geringste Lust, sich in eine Wohin-und-Warum-Diskussion mit dem Kerl einzulassen.
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Mit raschen Schritten lief er die Treppe hinauf. Sein Bein tat ihm inzwischen fast nicht mehr weh. Im dritten Stock war kaum etwas los. In der Anmeldung fand er einen Beamten, einen typischen Schreiberling, der an seinem Schreibtisch hockte und die Sunday News las. Er ging zu dem Mann und zeigte ihm seine Dienstmarke. Der Beamte blickte gelangweilt von seiner Zeitung auf. »Womit kann ich Ihnen helfen?« Ziemlich irritiert musterte er die Eisflecken auf Kornienkos Hemd. »Mein Name ist Steve Kornienko. Ich glaube, wir haben vorhin telefoniert.« »Ja. Wie ich Ihnen schon sagte, von den Jungs ist im Augenblick keiner da. Wir haben zwei Teams draußen auf Schicht. Sie können gern hier warten, aber es ist gut möglich, daß die heute nacht gar nicht mehr reinkommen.« »Ich möchte ja nur mal einen Blick auf die Fotos werfen. Ich hab' das Mädchen, das ich suche, schon gesehen«, sagte Kornienko. »Ich werde sie sofort wiedererkennen, wenn ich sie treffe. Aber ich muß sie im Buch finden, damit ich auch ihr Nuttenpseudonym weiß. Und natürlich brauch' ich ihre Adresse.« Der Mann nickte. »Bloß dürfen Sie nicht glauben, was da drin steht. Ich meine, Sie wissen doch, daß die uns nie ihren richtigen Namen und die echte Adresse geben.« »Ich paß schon auf!« sagte Kornienko geduldig. »Aber lassen Sie mich trotzdem mal einen Blick reinwerfen. Vielleicht hab' ich Glück.« »Bedienen Sie sich. Sie liegen da drüben.« Er führte Kornienko zu einem Tisch in einem riesigen 434
Raum. Eine Reihe dicker Alben stand daneben in einem Regal. »Sagten Sie nicht, das Mädchen arbeitet auf der Eighth Avenue!« »Ja.« »Dann probieren Sie's mal mit den beiden hier«, der Beamte zog zwei Wälzer aus dem Regal. »Danke.« Kornienko zog sich einen Stuhl heran und knipste die Lampe am Tisch an. Der Beamte schlurfte an seinen Platz zurück, und Steve begann zu blättern. Schon nach ein paar Seiten entdeckte er ein Foto von Cindy. Das mußte sie sein. Cynthia Blaine. Blaine... Blanton. Er hätte wetten können, daß sie's war, aber um ganz sicherzugehen, blätterte er noch weiter. Es dauerte nicht lange. Keins von den andern sah Johnnys Schwester ähnlich. Er schrieb sich Namen und Adresse auf, West Fortyfourth. Er notierte sich auch den Namen des Beamten, der mit Cindy bisher hauptsächlich zu tun gehabt hatte. Tony Catgnani. Er ging zu dem Beamten zurück. »Hat Tony Catgnani heute nacht Dienst?« »Tony C? Muß ich mal nachseh'n.« Der Mann fuhr mit dem Finger die Liste entlang. »Hat übers Wochenende frei. Tritt Montag früh an zur Sechs-biszwei-Schicht. Wenn Sie morgen noch mal reinsehen wollen, da sind ziemlich viele von den Jungs wieder da. Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen.« »Mal sehen, ob ich's einrichten kann. Danke.« Kornienko ging die breite Treppe wieder hinunter, nickte dem Beamten am Eingang zu und verließ das Gebäude. Er kehrte zur Eighth Avenue zurück und 435
bog in die Fortyfourth Street ein. Cynthia Blaines Adresse stellte sich als Stundenhotel heraus. Eins von der Sorte, wo nur auf Klingeln hin aufgemacht wurde. Gar nicht so dumm, der Polizei diese Anschrift aufzubinden. Die hatten sie wahrscheinlich gerade geschnappt, als sie reingehen wollte. Er überquerte die Straße und beschloß, hier eine Weile auf das Mädchen zu warten. Nachdem er fast eine Stunde so dagestanden hatte, gab er auf. Wenn sie drin gewesen wäre, als er kam, dann müßte sie inzwischen längst fertig geworden sein. Keine von denen nahm sich übermäßig viel Zeit. Und nun war's wirklich schon so spät, daß er sich kaum vorstellen konnte, daß da noch was lief. Halb fünf war's immerhin schon und die Straße wie ausgestorben. Er ging zu einer Telefonzelle und rief das elfte Revier an. »Hier spricht Steve Kornienko vom Fünfzehnten. Gibt's was Neues im Fall Blanton?« »Einen Augenblick, ich verbinde«, antwortete der Beamte. Der wachhabende Polizist meldete sich. Steve wiederholte seinen Namen und sein Anliegen. »Oh, guten Abend, Steve«, sagte der Mann. Offensichtlich hatte er ihn erkannt und wußte, wie wichtig für Kornienko die Sache war. »Nichts Neues. Tut mir leid.« »Wie lange soll die Überwachung der Wohnung noch aufrecht erhalten werden?« »Keine Ahnung. Hängt ganz von Lieutenant Fenrich ab.« »Ich ruf morgen wieder an.« 436
»O. k., Steve.« Kornienko legte auf. Als er ein freies Taxi sah, hielt er es an und stieg ein. Er wollte endlich nach Hause. * Quick wachte auf, als die Tür geöffnet wurde. Er wandte den Kopf und blickte neugierig über die Rücklehne des Sessels, in dem er ziemlich unbequem, fast im Sitzen, eingeschlafen war. Es war die andere. Sie war sehr schlank, hatte lange, glatte blonde Haare, viel länger als seine eigenen. Sie trug hautenge Jeans mit hohen Absätzen. Und überhaupt konnte er sofort fachmännisch feststellen, daß sie 'ne super Puppe war. Sie hatte ihn nicht bemerkt, warf ihre Schultertasche auf den kleinen Tisch im Flur, ging in die Küche und kam mit einer Flasche Schaefers wieder heraus. Immer noch nicht war sie auf Quick aufmerksam geworden. Sie ging ins Schlafzimmer. Cindy hatte ihr offensichtlich nichts gesagt. Er blieb mucksmäuschenstill in seinem Sessel sitzen. Ob sie wohl noch mal rauskommen würde? Er konnte hören, wie sie in ihrem Zimmer rumhantierte. Wie sie die Flasche aufmachte, wie die Bügel auf der Kleiderstange quietschten, wie sie das Radio voll aufdrehte. Die Musik erinnerte ihn an die Jungens in Rikers Island, und wie sie zu der Fernsehsendung getanzt hatten. Auf einmal roch er Haschisch. Er überlegte, ob er auf Zehenspitzen zur Tür schleichen sollte, um hineinzuspannen. Aber es war wohl besser, hier sitzen zu bleiben. Die Zeit verging, und immer noch drang der Geruch von Haschisch zu 437
ihm rüber. Als sie schließlich wieder auftauchte, war sie nackt. Sie ging mit ihrer Flasche Bier ins Bad. Quick bekam Herzklopfen. Er hörte, wie die Bierflasche lautstark irgendwo abgestellt wurde, wahrscheinlich auf dem Waschbeckenrand oder auf dem Klodeckel. Da die Tür zum Bad offen war, schlich er rüber. Sie stand vor dem Spiegel und rollte ihr Haar auf. Quick konnte sie genau sehen und musterte sie kritisch. Sie sah auf jeden Fall so gut aus wie Cindy. Sie beugte sich vor, um die Dusche anzustellen. Quick hielt den Atem an, als er die Brüste runterhängen sah. So wirkten sie viel größer. Die Käthe war einfach Spitze. Als sie hinter den Vorhang verschwand, ging Quick zurück in seinen Sessel. Das Prasseln des Wassers gegen den Plastikvorhang. Die fetzige Musik aus ihrem Schlafzimmer. Plötzlich verstummte das Plätschern. Er stand auf, leise. Er konnte nun gar kein Geräusch mehr aus dem Bad hören. Die Musik übertönte alles. Jetzt mußte sie rauskommen. Quick stellte sich ganz lässig hin, die Hände in den Hosentaschen. Er wollte sehr cool wirken. Sofort sah sie ihn und erstarrte vor Schreck. Sein Lächeln wurde noch breiter. »Hallo«, sagte er. Sie drehte sich um und rannte zurück ins Badezimmer. Er hörte, wie sie den Riegel vorschob. Quick ging hinüber zur Tür. »Is schon gut.« »Wenn du nich sofort aus der Wohnung verschwindest, schrei ich das ganze Haus zusammen. Dann reiß ich die Fenster auf und ruf nach den Bullen. Hast du mich verstanden?«
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»Du brauchst keine Angst haben. Ich bin doch nur Cindys Bruder. Anscheinend hat sie dir nicht gesagt, daß ich hier bin.« »Cindys Bruder?« Pause. »Wie heißt du?« »Johnny.« »Johnny, und weiter?« »Blanton.« »Der Riegel wurde zur Seite geschoben, und sie steckte ihren Kopf raus. »Bist du wirklich Johnny?« »Ja.« »Was machst du denn hier?« »Wollte Cindy mal wiederseh'n.« Sie schloß die Tür wieder. »Dachte, du wärst im Gefängnis, weil du jemanden umgebracht hast. Oder so was ähnliches.« »Bin rausgekommen.« »Hat sie mir aber gar nich erzählt.« »War ja auch erst heute«, sagte Quick. Er mochte ihre Stimme, die Art, wie sie sprach. Schleppend und sehr sexy. Und irgendwie ungewöhnlich. Sie kam aus dem Süden. Das war's. »Und du bist wirklich Johnny?« »Ja doch.« Die Tür ging wieder auf, und sie kam mit einem Badetuch über dem Busen verknotet heraus. Aber es war ziemlich klein und verdeckte nicht gerade viel. Sie musterte ihn von oben bis unten. »So, dann bist du also Cindys Bruder Johnny.« Sie grinste. »Du hast mir einen irrsinnigen Schrecken eingejagt. Ist dir das klar? Wirklich. Hatte doch keine Ahnung, wer da so plötzlich in unserer Wohnung auftaucht.« Quick wurde ganz heiß bei ihrem Anblick. Er starrte auf ihre nackte Brust und auf das kleine Stück 439
blondgelockten Haars zwischen den Beinen. Und barfuß war sie gar nicht so groß. Sogar kleiner als er. Er war wirklich begeistert von ihr und vor Erregung ganz atemlos. »Kann dir gar nicht sagen, wie erschrocken ich war, als du plötzlich hier standst«, sagte sie. »Fühlte mich gerade so richtig super, und auf einmal warst du da. Ich hab' gedacht, ich seh' nich richtig. Meine Güte. Aber jetzt geht's schon wieder. Besonders jetzt, wo ich sehe, was für ein süßer Kerl du bist. Das hat mir Cindy ja gar nicht gesagt.« Wie gerne hätte er sie berührt. Sie stand so da, als ob es ihr sogar gefiele. Er streckte die Hand aus. Doch noch bevor er ihre nackte Brust erreicht hatte, hielt er inne. Er sah sie an. Sie lächelte. »Na los.« Er griff zu, zaghaft zuerst, dann fester. Es war genauso, wie er es sich immer erträumt hatte. War zart und gleichzeitig fest. Er fühlte, wie ihm sein Herz bis zum Halse klopfte. »Schon mal so was gemacht?« fragte sie. »Na klar, schon oft.« Er massierte die Brust weiter. Es faszinierte ihn, wie die Warze sich steif aufrichtete, als sei sie jetzt erst zum Leben erwacht. Das Geräusch eines Schlüssels im Schloß. Schnell zog er seine Hand weg, und beide drehten sich zur Tür um. Cihdy hatte eine Zeitung in der Hand. Die Sunday News. »Du stehst auf Seite 5«, sagte sie und blickte von einem zum andern.
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24. Kapitel Kornienko wälzte sich auf die andere Seite, als das Telefon klingelte und warf erstmal einen Blick auf seine Uhr. Schon nach elf. Er nahm den Hörer ab. »Hallo.« »Habt ihr ihn gestern schon gekriegt?« Es war Barbara. »Nein. Soweit ich weiß, nicht. Heute früh hab' ich's noch nicht versucht. Wie schön, daß du anrufst. Ich wollte gar nicht so lange schlafen.« »Wann bist du denn ins Bett gegangen?« »Muß so gegen vier gewesen sein.« »Und was machen wir nun mit unserem Brunch?« »Barbara, ich hab' den Brunch nicht vergessen. Und auch alles andere nicht, was ich gestern abend gesagt hab', bevor wir ihn sahen. Nichts hat sich zwischen uns geändert. Der Brunch muß nur eben warten, bis wir den Jungen haben. Dann holen wir ihn nach. Aber ich muß wissen, daß du verstehst, warum ich das tu', was ich tun muß.« »Ich versteh' es ja, mein Liebling. Aber ich denke natürlich genauso, wie deine Kollegen und Vorgesetzten, Steve. Du solltest dich aus dem Fall raushalten, weil du innerlich viel zu sehr an der ganzen Sache beteiligt bist, du könntest da in was reingeraten, was die Festnahme und die Verurteilung nur noch mehr erschwert. Und du könntest sogar selbst 'ne Menge Ärger kriegen und in große Schwierigkeiten kommen.« Sie zögerte und sagte mit leiser Stimme: »Wenn nicht noch irgendwas viel Schlimmeres geschieht.« Er schwieg.
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»Es tut mir leid, Steve«, sagte sie. »Ich hätte dir das nicht sagen sollen. Es ist nur, weil ich so ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache habe, vorher schon und jetzt wieder. Jetzt noch viel mehr, seit er ausgebrochen ist.« »Laß uns lieber weiter über den Brunch sprechen. Ich muß wissen, wie deine Antwort ausfallen wird.« »Liebling, ich hab' dir doch gesagt, daß ich dich liebe. Ich liebe dich! Du weißt, was meine Antwort ist.« Er holte tief Luft. »Ich ruf dich sobald wie möglich wieder an. Ich melde mich, wenn's was Neues gibt.« »Steve...« Ihre Stimme war sehr weich. »Bitte paß auf dich auf, ja?« »Ich versprech's dir«, sagte er. Er legte auf und rief das Revier an, um zu hören, ob sie Johnny gekriegt hatten. Aber es gab keine erfreulichen Neuigkeiten. Er legte auf und ging unter die Dusche. Während das warme Wasser auf ihn herunterprasselte, überlegte er, welche Strategie er weiter anwenden sollte. Quick war kein typischer Fall. Die meisten Jugendlichen liefen sofort nach Hause, wenn sie irgendwo ausgebrochen waren, egal, ob sie wegen Einbruchs oder wegen Mord gesucht wurden. Manchmal kam auf dem Weg dorthin noch eine Straftat hinzu. Aber trotzdem, sie liefen nach Hause, setzten sich vor den Fernseher, als ob nichts gewesen wäre. Wo sonst sollten sie auch hin? Aber Quick hatte das nicht gemacht. Das wenigstens hatten sie ja unter Kontrolle. Zuerst in der Wohnung, und als er nicht kam, hatten sie einen Wagen hingestellt. Und er war immer noch nicht gekommen. Und er hätte schon längst da sein müs442
sen. Er kam ja nur von Queens. Also mußte er clever genug gewesen sein, genau aus diesem Grund nicht nach Hause zu gehen. Hatte er vielleicht erkannt, daß in dem Klempnerauto Polizisten saßen? Wahrscheinlich hatte er einfach genug Köpfchen. Aber er mußte doch irgendwohin gehen. Immerhin war er ja erst fünfzehn. Der ist bestimmt zu seiner Schwester gelaufen, schoß es Kornienko durch den Kopf. Ja, das war's, der Junge mußte bei seiner Schwester stecken. Das war die einzig logische Antwort. Die Kollegen von der Sitte kannten seine Schwester, aber nur als Cynthia Blaine. Und sie wußten nicht, wo sie lebte, wie sie's ja von den meisten Mädchen nicht wußten. Mit ihnen umzugehen, war für die Kollegen reine Routine. Regelmäßige Razzia, Festnahme, eine Nacht im Gefängnis, Geldstrafe und wieder Freilassung. Die von der Sitte kannten in den seltensten Fällen die richtigen Namen und Adressen der Mädchen. Deshalb konnten die ihm im Moment eigentlich auch nicht weiterhelfen. Höchstens ihn wissen lassen, wo er sie normalerweise finden konnte, in welche Hotels sie immer ging und so weiter. Da nicht einmal die Kollegen wußten, daß Cynthia eigentlich Cindy Blanton war, war er also im Moment der einzige Polizist in der ganzen Stadt, der ihre wahre Identität kannte. Er hätte jetzt eigentlich Lamson anrufen können, selbstverständlich sogar sollen. Die Mordkommission hätte sich dann sicher mit den Kollegen von der Sitte zusammengetan, und gemeinsam hätten sie das Mädchen wahrscheinlich viel schneller gefunden. Und mit ihrer Hilfe auch Quick. Aber er hatte 443
sich nun mal gerade entschlossen, dieses Wissen für sich zu behalten. Lamson würde das schon früh genug selbst rausfinden, wahrscheinlich Montag. Wenn sie den Bruder und die Mutter zur Sitte brachten, damit sie Cindy in den Büchern raussuchten. So hatte er jedenfalls einen Tag Vorsprung. Und vielleicht hatte er Glück. Zurückhalten von Informationen nannte man das. Aber das Risiko würde er eingehen. Dieser Schreibtisch-Beamte von letzter Nacht würde seine Stippvisite bei den Kollegen höchstwahrscheinlich gar nicht erwähnen. Und wenn, war's auch nicht weiter schlimm. Was hatte er denn schon gefragt? Er hatte sich ein paar Alben vorgenommen und nach einem der Polizisten gefragt. Da ließ sich immer irgendeine Erklärung finden. Außerdem, wer sollte sich schon groß nach ihm erkundigen? Auf alle Fälle würde er sich aber bei der Sitte nicht mehr sehen lassen. Hatte ja auch alles erfahren, was ihn interessierte. Aber jetzt wollte er sich erst mal über die nächsten Schritte Gedanken machen. Keine Müdigkeit vorschützen! Wie konnte er Cynthia Blaine finden? Sonntags war nichts los. Möglich, daß sie nicht mal ihre Wohnung verließ. Wenn sie doch zu den Unermüdlichen gehören sollte, dann wäre es natürlich leicht, sie zu entdecken. In dem Fall würde sie fast allein auf der Eighth Avenue auf- und abspazieren. Ja, und wieder die Frage, was er tun sollte, wenn er sie gesehen hätte. Er mußte es unbedingt vermeiden, daß sie in ihm den Polizisten erkannte. Nun, da gab's nur eins, er mußte so aussehen wie alle Kerle, die auf der Eighth rumliefen. Was anderes blieb ihm gar nicht übrig. Vielleicht wäre eine Einkaufstasche gut. 444
Eine Kamera hatte er nicht. Auch keine Attrappe, die viele Kollegen gern benutzten, um sich als Touristen zu tarnen. Also warum keine Einkaufstasche? War mal was anderes. In diesem Moment fiel ihm noch etwas anderes ein. Quick war nun schon einen Tag verschwunden. Und irgendwo mußte er ja schließlich geschlafen haben. Wenn er bereits bei Cindy aufgetaucht war, mußte sie längst auf die Idee gekommen sein, daß die Polizei auch nicht lange auf sich warten ließe und relativ schnell ihre Adresse rausbekäme. Deshalb ging sie sicher nicht auf die Eighth Avenue, sondern irgendwo anders hin, wo sie so schnell keiner finden konnte. Wahrscheinlich im Gebiet um Seventh Avenue/Times Square. Das war nicht Eighth, aber doch ein Pflaster, wo sie sich auch auskannte. Konnte natürlich auch sein, daß sie so gerissen war, sich noch ein Stück weiter von ihrem gewöhnlichen Strich zu entfernen. Vielleicht Lexington oder Parkl Das war nun die Preisfrage. Er würde auf der Eighth anfangen und dann weitersehen. Steve stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, rasierte sich und ging ins Schlafzimmer zurück. Aus dem Kleiderschrank holte er seinen dunkelblauen Anzug. Er mußte wieder an die Trauerfeier für seine Eltern denken, da hatte er ihn zuletzt getragen. Ein weißes Hemd, sein bester Schlips - im Grunde fand er es gar nicht witzig, den ganzen Tag in seinen besten Sachen herumzulaufen. Aber die machten eben am meisten her, und so konnte ihn wirklich keiner erkennen. Die Pistole schob er in sein Halfter.
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Als erstes ging er in ein Warenhaus in der Fourteenth und erstand die Einkaufstasche. In einem Kiosk kaufte er eine Ausgabe der News. Auf dem University Place angelangt, setzte er sich in ein Cafe und schlug die Zeitung auf. Mußte ja was über Quieks Flucht drinstehen. Aber als er es schließlich fand und durchlas, bereute er schon, daß ihn seine Neugierde dazu getrieben hatte. Der Artikel war sehr ausführlich. Ausführlicher, als ihm lieb war. Die Namen seiner Eltern waren wieder aufgeführt. Anna und Wasyl Kornienko. Datum und alle Einzelheiten des Mords. Seine Hände begannen zu zittern. Er mußte einfach die Schwester finden. Er mußte Quick finden. Und zwar vor den anderen. Er aß das Gebäck, das er sich bestellt hatte und trank seinen Kaffee aus. Dann machte er sich auf den Weg zur U-Bahnstation Ecke Sixth Avenue/Fourteenth Street und nahm den Zug Richtung Zentrum. »Wir müssen unbedingt dein Haar schneiden lassen, Johnny.« * »Nein, auf keinen Fall!« Quick hob schützend die Hände über seinen Kopf. »Johnny, hör mal. Wenn du weiter so aussehen willst, dann kriegen die dich sofort. Sieh dir doch an, was da in der Zeitung steht. Schulterlanges Haar. Zuletzt gesehen in einem farbig bedruckten Hemd. Jeans. Wenn du dir das Haar schneiden läßt und was anderes anziehst, haste vielleicht 'ne Chance. Weil die nämlich vor allem auf dein Haar achten. Also echt, wenn du die nicht abschneidest, kannste die ganze Sache vergessen.« 446
»Und woher soll ich andere Sachen kriegen?« »Wir kaufen dir was. 's gibt 'n paar Läden, die heute aufhaben.« Sie blätterte hastig in der Zeitung. »Hier. Siehste, Macy's hat geöffnet.« »Und wer soll mein Haar schneiden? Hat doch kein Scheiß-Friseur auf, heute.« »Ich mach' das.« Quick wandte sich um und blickte zu Cindys Freundin, T. J., die am Tisch saß und ein Stück Buttercremetorte aß. Sie hatte einen seidenen Morgenrock an. Er käme sich wie ein kleines Kind vor, wenn sie ihm die Haare schnitte. Und das wollte er nun ganz und gar nicht. Er hatte da so vollkommen andere Ideen, was man miteinander tun könnte. Eher so, wie letzte Nacht. Er wollte seine Hände wieder nach ihrer Brust ausstrecken und sie streicheln. »Du wirst mir nich die Haare schneiden«, sagte er. »Auf keinen Fall. Du nich und überhaupt keiner. Und außerdem haste doch keinen blassen Schimmer davon, wie man das macht. « »Ich hab' immerhin fünf Brüder«, gab sie zurück. »Und ich hab' denen alle vier Wochen die Haare geschnitten.« T. J. grinste. »Meine Mutter sagte immer, Thelma Jean, sagte sie, du schneidest den Jungen sofort die Haare, oder du setzt heute abend keinen Fuß vor die Tür. Hast du mich verstanden?« T. J. machte die Stimme ihrer Mutter nach und sprach mit dem starken Akzent des Südens. »Hab' sogar meinem Alten früher ein, zwei Mal die Haare geschnitten.« Ihr Lächeln war auf einmal wie weggeblasen, und sie warf Cindy einen eigenartigen Blick zu. »Aber das war auch alles. Der alte Dreck447
sack fummelte immer so an mir rum, während ich schnitt. Das hat mich echt angemacht, kann ich euch sagen. War ein Grund, warum ich von zu Hause weg bin. Der hat mich nie in Ruhe gelassen.« Sie wandte sich wieder an Quick und lächelte ihn an. »Aber mit dir is das ja was ganz anderes. Wo du so ein süßer Schnuckelschatz bist und dazu auch noch Cindys Bruder und so. Also du kannst alles mit mir machen, wenn ich dir die Haare schneide.« Quick blickte sie an. »Vielleicht laß ich's mir von dir fitschen. Werd's mir überlegen.« »Dachte ich mir's doch, daß ich dich scharf aufs Haareschneiden machen kann«, sie warf Cindy einen zwinkernden Blick zu. »Warum tust du's nich gleich? Dann hast du's hinter dir«, sagte Cindy. »Danach, und wenn wir 'n paar Sachen für dich geholt haben, mußt du sowieso woanders hin. Langes Haar oder kurzes, wenn die Bullen dich hier vorfinden, wissen die natürlich sofort, wer du bist.« »Wohin soll ich denn gehen? Ich kann doch nicht nach Hause!« »Jedenfalls hier kannste nich bleiben. Das is klar. Kapierste das denn nich? Kannst überall hin. Nur hier nich und zu Hause nich. Auf der Straße erkennen die dich nich, wenn die Haare ab sind und du was anderes anhast.« T. J. kam aus ihrem Zimmer zurück, mit einer Schere und einem Kamm in der Hand. Über dem Arm hing ein Handtuch. »Is jetzt zwei Jahre her, daß ich zuletzt jemandem die Haare geschnitten hab'«,
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lachte sie vergnügt. »Komm her, Johnny, nimm diesen Stuhl.« Widerstrebend stand Quick auf und ging zu ihr. Er setzte sich. Sie legte ihm das Handtuch um die Schultern, kämmte sein Haar, hob es und ließ es wieder fallen. »Tolles Haar haste, Johnny«, sagte sie. »Hab' mich auch soeben entschlossen: Will's nicht ab haben.« »Das Haar wird geschnitten!« befahl Cindy. T. J. ließ den Kamm weiter durch die blonde Mähne gleiten. Dann ergriff sie eine Strähne mit zwei Fingern und schnitt sie ab. Quick rührte sich nicht. Er saß da mit eingezogenen Schultern. Die Augen geschlossen. Und er lauschte auf das Geräusch der Schere nah an seinem Ohr. »Besser, wir verlieren keine Zeit«, sagte Cindy, nachdem sie eine Weile zugesehen hatte. »Ich geh' inzwischen schon mal los und kauf 'n Paar Sachen.« Quick blickte auf, ein kleines Lächeln im Gesicht. »Johnny, welche Größe brauchst du?« fragte Cindy. »Die kleinste Herrengröße beim Hemd. So wie das, das ich anhab'.« »Und wie is' es mit Hosen? Welche Größe?« Er zögerte einen Moment. »Sechzehn.« »Haste denn Geld«, fragte T. J. und blickte Cindy an. »'n bißchen. Hab' Scarlett gestern ausnahmsweise mal gesehen.«
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Sie ging ins Schlafzimmer und kam mit ihrer Tasche zurück. »Bis gleich.« Sie hörten, wie Cindy die Treppe hinunterlief. T. J. stand hinter Quick, und schnitt die letzten Strähnen ab. Eine nach der anderen hatte sie auf den Tisch neben sich gelegt. Jetzt schob sie alles zusammen auf einen Haufen und hob es auf. »Sieh dir mal an, was ich hier hab'«, sagte sie. »Was meinst du, wie viele Mädchen dich glühend darum beneiden?« Sie ging in die Küche und warf das Haar in den Mülleimer. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm aufs neue hinter dem Stuhl Aufstellung. Sie arbeitete mit der Geschicklichkeit eines Profis. »Nicht zu kurz«, bettelte Quick. Er kam sich vor, als würde sie ihn skalpieren. »Ich werd's schon hinkriegen. Du willst doch nicht, daß die dich wieder einlochen, oder?« Sie kam um den Stuhl herum, und da sie sich leicht zu ihm herunterbeugen mußte, berührte ihr Busen fast sein Gesicht. Er griff danach, als sie direkt vor ihm stand und schloß die Hand um ihre rechte Brust. »Stillhalten«, kommandierte T. J. »Sonst wird's schief. Das willste doch nich, oder?« Sie ließ sich nicht weiter durch ihn stören und schnitt ruhig und mit sicherer Hand. »Halt den Kopf gerade.« Quick bearbeitete ihre Brüste jetzt mit beiden Händen. Wirklich unvorstellbar, wie toll sich das anfühlte, dachte er. Er konnte den Busen unter der dünnen Seide genau spüren. Auch der Stoff war so schön weich und glatt. Trotzdem wollte er auch mal 450
an T. J.'s nackte Brustwarzen fassen. Er schmuggelte seine Hand unter den Morgenrock. Wie rosig die war. Sie schnitt unbeirrt weiter. »T.J.?« »Was is, Schätzchen?« Er stockte. Wie sollte man das sagen? Er spürte, daß er rot wurde. Aber er mußte doch einfach fragen. »Was is, Schätzchen?« fragte sie nochmal. »Was wolltest du mich fragen?« »T. J. Darf ich dich bumsen?« Sie lachte. »Hab' mich schon gewundert, daß das nich viel früher kam.« »Ja? Machste das?« Sie fuhr ihm spielerisch durchs Haar. »Haste denn fünfzig Eier?« »Ich dachte... Ich meine, ich bin doch Cindys Bruder. Das is doch was anderes.« »Da mach' ich keine Unterschiede, mein Schätzchen.« »Ich hab's im Moment nich flüssig. Aber ich kann das Geld besorgen und komm' nochmal her.« Sie brach wieder in Lachen aus und strich ihm übers Haar. »Johnny, süß wie du bist, wirst du, wenn's soweit ist, über Mädchenmangel nich zu klagen haben. Kannst so viele haben, wie du willst. Laß dir das von 'ner weisen Frau gesagt sein.« »Was meinst du damit, wenn es mal soweit ist?« Sie zuckte die Schultern. »Eben, wenn deine Zeit gekommen is'. Wenn du 'n bißchen älter bist.« 451
»Meine Zeit is' längst da. Haste das noch nich gerafft?« Er kniff mit aller Kraft in ihre Brüste. Sie sprang zurück und schrie auf vor Schmerz. »Was soll das, du kleines Dreckstück. Was willst...« Er stand auf und schlug ihr mit aller Macht ins Gesicht, so daß sie zur Seite taumelte. »Was haste eben gesagt?« Er knallte ihr noch eine. »Hm?« Sie preßte ihre Hand aufs Gesicht. »Johnny, was zum Teufel is denn in dich gefahren? Ich hab' das doch gar nich so gemeint.« Sie warf einen Blick über die Schulter, so als überlege sie, wo sie hinrennen konnte. Sie hatte Angst, und das gefiel ihm. Sie trat einen Schritt zurück und hielt sich krampfhaft den Morgenrock zu. Mit der einen Hand wischte sie sich die Tränen aus den Augen. »Soll ich nun weitermachen oder nich«, fragte sie. Er sagte nichts, lächelte nur und blickte sie stur an. Jetzt wußte sie endlich, wer hier das Sagen hatte. »So kannste nich rumlaufen. Is erst halb fertig. Ich mach's dir zu Ende, aber du mußt wieder lieb sein, hörst du?« »Na los, schneid den Rest auch noch weg.« Er betrachtete ihr Gesicht. Sie versuchte mit aller Macht, ganz cool zu wirken. Aber ihr stand die Angst doch in den Augen geschrieben. Es machte ihm einen ganz irren Spaß, jemanden zum Zittern zu bringen. Und zwar ganz plötzlich, ohne Vorankündigung. Aber irgendwie mochte er sie ja gern. Er fand sie immer noch ganz schön scharf. Und er mußte sie unbedingt bumsen.
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Sie ging um ihn herum und schnitt auf der anderen Seite weiter. Sie wollte schnell fertig werden. »Ich besorg' mir die fünfzig und komm' dann wieder her«, sagte er. Sie schwieg. »Abgemacht? Okay? Hör zu, wenn ich mit dir spreche.« »Laß uns von was anderem reden, im Moment, meine ich. Jetzt is erst mal dein Haar dran.« »Du solltest dir aber lieber jetzt schon Gedanken drüber machen.« »So. Fertig. Sieht richtig gut aus. Echt. Mal sehen, was Cindy dazu sagt. Die kommt ja gleich wieder.« T. J. drehte sich um und ging in ihr Zimmer. Quick zog sich das Handtuch von den Schultern und warf es in den Wäschekorb, der an der Wand stand. Er ging ins Bad, um sich im Spiegel zu begutachten. Das, was er da sah, schockierte ihn. Er sah so fremd aus. Ein Gesicht, das er überhaupt nicht kannte. Er kam sich nackt vor. Ein Totenschädel. Das Haar war weg. Weg! T. J. kam mit einem Bündel Kleidung überm Arm ins Bad. »Ich muß hier mal für ein paar Minuten rein.« »Du hast es zu kurz geschnitten, verdammte Seuche. Du hast ja alles abgeschnitten!« »Sieht gut aus, wenn ich's dir sage. Es is nich' zu kurz. Und außerdem. Je kürzer, desto besser für dich. Ich muß jetzt echt hier rein.« Er ging raus und hörte, wie sie die Tür hinter sich abschloß. In der Küche mußte es noch was von der Buttercremetorte geben, von der T. J. vorhin gegessen hatte. Er nahm sich ein Stück und biß rein. 453
Schmeckte toll! Aus dem Kühlschrank holte er sich noch etwas Milch. Er nahm einen Schluck gleich aus der Packung und ging ins Wohnzimmer zurück. T. J. kam aus dem Bad. Sie hatte hochhackige Stiefel an, hochgekrempelte Jeans, hauteng natürlich, und eine Bluse. Ihren Morgenrock brachte sie in ihr Zimmer zurück. Mit ihrer Schultertasche stand sie vor der Tür. »Ich muß jetzt los«, verkündete sie. »Willste nich auf Cindy warten?« »Nich nötig.« Quick sprang auf und rannte zur Wohnungstür. Er vertrat ihr den Weg- »Du wartest, bis Cindy zurückkommt.« Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und ging ins Wohnzimmer, fischte sich die Sonntagsausgabe der News und begann sie durchzublättern. Nach einer Weile schob sie die Zeitung beiseite und stand auf. »Hör mal, ich sollte jetzt wirklich los, du, echt.« »Du bleibst hier, bis Cindy zurückkommt.« Quick lehnte immer noch grinsend an der Wohnungstür. »Na schön, dann werd' ich wenigstens mal meine Blumen gießen. Is schon 'ne Weile her, daß ich denen Wasser gegeben hab'. Sind wahrscheinlich schon total vertrocknet.« Quick erinnerte sich nur zu gut an die Blumentöpfe neben der Feuerleiter. »Erst, wenn Cindy da is.« »Was hat denn das nun schon wieder mit meinen Blumen zu tun, hm?« Er stand da und grinste. »Warum läßt du mich denn nich raus? Ich muß doch anschaffen. Was meinste, was mir alles an Geld verloren geht.« »Cindy kommt ja gleich wieder.« 454
»Was hat denn das mit mir zu tun? Hör mal, haste Angst, daß ich dich den Bullen verpfeife? Daß ich denen sage, du bist hier? Also echt, das war ja das Letzte.« »Kannst gleich geh'n«, sagte Quick und sah sie so an, daß sie keine weitere Frage zu stellen brauchte. Er würde sie nicht gehen lassen, bevor er nicht selbst hier raus konnte. Seufzend ließ sich T. J. im Sessel nieder und begann gelangweilt in der Zeitung zu blättern. * Quick betrachtete sich in der Schaufensterscheibe. Er sah so fremd aus. Braune Hosen, schlichtes blaues Hemd, das Haar kurzgeschoren. Sie hatte es viel zu kurz geschnitten! Dafür sollte sie ihm noch büßen. Egal, wie Cindy die Frisur fand. »Irre, Johnny, du siehst ja ganz anders aus«, hatte sie gesagt. »Die Frisur steht dir wirklich super, ein toller Schnitt. Und die Sachen sitzen wie angegossen. Wenn du dich nich zu auffällig verhältst und keine Dummheiten machst, kommen die nie drauf, daß du's bist. Kannste Gift drauf nehmen, echt!« »Aber wo soll ich denn hin?« »Jedenfalls hier kannste nich bleiben. Das is unmöglich. Kannste dir das nich selbst denken?« Sie hatte ja recht. Sie hatte recht mit den kurzen Haaren und überhaupt. Aber trotzdem wußte er immer noch nicht, wo er hingehen sollte, und dabei fiel ihm eben nur seine Wohnung ein und Cindys. Immerhin hatte er fünf Dollar, die sie ihm geschenkt hatte. Natürlich nicht genug für ein anständiges Messer, aber besser als gar nichts. Wenigstens
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konnte er sich was zu essen kaufen, wenn er Hunger bekam. Cindy war schon Klasse. Wieviel die ihm geschenkt hatte, die Klamotten, das Geld... Sobald Cindy mit den Sachen zum Anziehen zurückgekommen war, hatte er 'ne Fliege gemacht. Nichts wie weg! Eigentlich waren sie alle zur gleichen Zeit aus dem Haus gegangen. Unten auf der Straße war er sofort zur anderen Seite übergewechselt und bis zur Tenth Avenue gerannt. Damit ja keiner Cindy mit ihm zusammen sehen konnte. Sie hatte das so gewollt. Und sie hatte ja recht. Er ging Richtung stadteinwärts, bog auf die Fortysecond ab und kam an seinem Lieblings PornoLaden vorbei, der, in den sie ihn immer reinließen, ohne Probleme zu machen. Er betrat den Laden und legte seinen Fünfdollarschein auf die Theke. »Für wieviel brauchste denn, Kleiner?« fragte der Mann und klimperte mit dem Wechselgeld in seinen riesigen Taschen. Quick zögerte einen Moment. »Acht.« Der Mann gab ihm das Wechselgeld. Quick wanderte an den einzelnen Kabinen vorbei und betrachtete die Bilder, die vor jeder angebracht waren. Ein Mädchen gefiel ihm besonders. Sie hatte lange, glatte, blonde Haare. Er ging hinein und schob die Münze in den Schlitz. Ja, der Film war nicht übel, sogar richtig fetzig. Sie war super, und er fuhr echt voll auf sie ab. Sie sah ein bißchen wie T. J. aus. Er steckte eine Münze nach der andern ein, bis er nichts mehr hatte. Ihr Macker hatte auch lange, glatte, blonde Haare. Als der Apparat ausging, lief Quick schnell noch mal zu dem Mann an der Kasse und holte sich ein paar 456
Münzen. Immer wenn es gerade am spannendsten ist, war das Geld durchgerasselt. Er sah sich den Film zu Ende an und verließ den Laden. Etwas von den fünf Dollar mußte er sich schließlich aufheben, um was essen zu können. Er überquerte die Fortysecond Street, Als er auf der Eighth Avenue eine Pfandleihe entdeckte, lief er näher heran und blickte ins Schaufenster. Neben einem Fotoapparat und lauter anderem Krimskrams entdeckte er zwei Messer. Hübsche Messer. Quick ging rein. Der Mann hinter dem Ladentisch war klein und fett. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und hatte eine so unwahrscheinlich künstliche Frisur, daß Quick immer wieder fasziniert hinsehen mußte. Das Toupet hing wie eine tote Katze schlaff mitten auf seinem Kopf. Es war braun. Und es paßte überhaupt nicht zu dem eigenen, grauen Haar, das ihm immerhin noch an den Seiten wuchs. »Womit kann ich dir helfen, mein Sohn?« »Ich brauch' ein neues Messer.« »Und an was für eins dachtest du?« »Kann ich mal seh'n, was Sie so haben?« »Hast du denn überhaupt Geld? So'n Messer ist nicht billig.« »Ich hab' 'ne Masse Geld«, sagte Quick. Er mochte den Mann nicht. Der nahm ihn überhaupt nicht für voll, behandelte ihn wie ein Kind, das noch viel zu klein ist, um sich ein Messer zu kaufen. Quick blickte sich im Laden um. Vielleicht konnte er den Kerl dazu kriegen, daß der eine Reihe von Messern anschleppte, dann würde er sich das beste greifen und es gleich schon mal a"n dem Typ ausprobieren. 457
Er ging auf die Glasvitrine mit den Messern zu. »Zeigen Sie mir ein Springmesser. Das brauch' ich.« Der Mann sah ihn kopfschüttelnd an. »Was willst du denn mit so einem Ding?« Oh, er konnte die Visage von dem Kerl immer weniger ausstehen. »Ich brauch' es zur Selbstverteidigung.« »Da kriegst du nur 'ne Menge Schwierigkeiten, laß dir das gesagt sein. Messer sind kein Spielzeug.« »Zeigen Sie mir das Messer. Und lassen Sie das mit den Schwierigkeiten mal getrost meine Sorge sein, ja?« Der Mann schloß die Vitrine auf, schob die Glastür beiseite und griff nach einem Messer. Er legte es auf die Vitrine. »Wenn du das willst, es kostet zwanzig Dollar. Hast du denn so viel?« Quick nahm das Messer, wog es in der Hand. Er drückte auf den Knopf. Fühlte sich gut an. Er sah dem Mann in die Augen. Mit dem konnte er leicht fertig werden. Echt easy. Der Typ hatte ja jetzt schon Angst. Genau in dem Augenblick, in dem Quick auf den Verkäufer zutreten wollte, bimmelte es an der Ladentür. Irgend jemand war in das Geschäft gekommen. Er drehte sich um und sah eine alte Frau mit violett gefärbtem Haar. Sie kam auf den Mann zugeschlurft. »Ich bin wegen meinem Radio gekommen. Ich hab' jetzt das Geld.« »Willst du nun das Messer, mein Junge?« fragte der Verkäufer ihn. »Ich möchte noch ein anderes in der Art sehen.«
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»Dann gib' mir das da zurück. Du kannst dir immer nur eins ansehen.« »Na, dann will ich mir das hier eben in Ruhe ansehen.« Der Mann wandte sich der alten Frau zu. »Welches Radio? Haben Sie Ihren Schein mitgebracht?« Sie griff in ihre Einkaufstasche und brachte einen zerknitterten Bon zum Vorschein. Der Mann warf Quick einen prüfenden Blick zu, nahm den Schein und ging zögernd in eine andere Ecke des Ladens. Quick rannte sofort los. Das Messer steckte in seiner Tasche. Er hörte noch, wie der Mann ihm hinterherschrie, als er schon längst auf der anderen Straßenseite und im Gewühl verschwunden war. * Das war sie. Kein Zweifel. Kornienko stand dicht beim Eingang des Coffee Shops und blickte sich nach einem günstigen Platz um. Sie saß an der Theke und aß. Als er näher kam, blickte sie auf und lächelte ihm zu. Er nickte freundlich und erwiderte das Lächeln. Er fand eine Nische und setzte sich so, daß sie ihn sehen konnte. Die Einkaufstasche legte er auf den Platz neben sich. Sie lächelte nach wie vor zu ihm rüber. Er sah, wie sie die Tasche registrierte und dann wieder zu ihm blickte. Sie lächelte die ganze Zeit. Offen und fordernd. Das mit der Tasche mußte eingeschlagen haben. Ihre Blicke waren wirklich mehr als eindeutig. Für was für einen Kauz mußte sie ihn wohl halten, wie er so dasaß mit der Krawatte, dunklem Anzug und offensichtlich gerade von einem Einkaufsbummel kommend? Und 459
das alles in der Gegend von Times Square um ein Uhr morgens. Aber sie hatte es trotzdem auf ihn abgesehen, ganz eindeutig. Also hatte sie ihm den Trick abgenommen. Eine untersetzte Kellnerin kam auf ihn zu und fragte ihn nach seinen Wünschen. Er bestellte sich Kaffee und ein Stück Obstkuchen. Es sollte was sein, was er sofort bekommen konnte. Er wollte Cindy ja auf den Fersen bleiben, auch wenn sie schon gleich ginge. Die Kellnerin kam und brachte ihm beides. Er aß den Kuchen schnell auf. War nicht mal übel. Er hatte seit dem Frühstück noch nichts gegessen. Er bestellte die Rechnung und einen zweiten Kaffee, hob seinen Kopf und grinste Cindy zu, die ihn nach wie vor fixierte. Sie hatte so richtig das typische Nuttenlächeln drauf. Er nickte und zwinkerte ihr zu. Er nippte an seinem Kaffee. Wann würde sie wohl gehen? Anscheinend hatte sie längst aufgegessen und saß nun nur noch so rum. Ach, deshalb. Nun war alles klar. Sie wartete darauf, daß er ging. Sie wollte ihn nicht hier in dem Lokal anmachen. Er stand auf und ging zur Kasse. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, daß sie auch ihren Bon nahm und ihm folgte. »Darf ich Sie einladen?« fragte er. Das war immerhin etwas, was ein Polizist nie tun würde. »Och, das müssen Sie aber nich.« »Ist schon gut. Geben Sie mir Ihren Bon.« Er strahlte sie an. »Danke. Das ist aber nett von Ihnen.« Sie reichte ihm den Bon. Er zahlte, und sie verließen den Coffee Shop. 460
»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf«, wollte sie wissen. »Pennsylvania.« Der Trick bei der Sache war, daß man jede Antwort geben konnte, aber ohne eine Sekunde zu zögern. »Und seit wann sind Sie hier?« »Heute erst angekommen. Ich bin Geschäftsmann. Muß morgen zu meinen Händlern.« »Was für 'ne Branche?« »Hab' 'nen Laden. Ich muß hier Ware aussuchen.« »Was für einen Laden denn?« »Damenoberbekleidung. Warum wollen Sie das alles so genau wissen?« »Och, nur so. Hatten Sie 'nen netten Abend?« Endlich! »Ach, geht so. 'n bißchen langweilig. Aber sonst ganz o.k.« Sie warf einen Blick auf seine Einkaufstasche. »Also haben Sie eingekauft.« »Wollte 'n paar Sachen für meine Familie kaufen, Kleinigkeiten, wie das so ist. Aber viel Glück hab' ich nicht gehabt. War ja fast alles zu. Logisch für sonntags.« »Wie ich sehe, sind Sie extra bis zur Fourteenth Street gefahren, um einzukaufen.« Was meinte sie damit. Er wußte nicht so recht, was er darauf antworten sollte. »Ihre Einkaufstasche ist von May's, und das liegt auf der Fourteenth Street«., sagte sie. »So weit bin ich gar nicht herumgekommen. Die Garderobenfrau im Hotel hat sie mir gegeben.« »In welchem Hotel wohnen Sie?« »Gleich gegenüber.« Er deutete auf die andere Straßenseite. 461
»Und Sie hatten einen langweiligen Abend, sagten Sie?« »Jedenfalls sehr ruhig.« Er ging auf ihre vielsagende Art, ihn anzusehen, ein. »Das läßt sich ändern. Da bin ich ganz sicher.« »Heute nacht nicht mehr. Aber kann man Sie an den nächsten Abenden vielleicht wieder hier in der Gegend treffen? Ich meine, heute bin ich nicht mehr sehr fit, und ich habe einen anstrengenden Tag vor mir.« Er wollte zwar wie ein Tourist wirken, aber nicht wie ein Vollidiot, der von nichts 'ne Ahnung hat. »Was haben Sie nur gegen heute nacht?« »Zu spät. Morgen ist auch noch ein Tag - und eine Nacht. Ich bin ja noch 'ne Weile hier. Finde ich Sie wieder?« Ihr Lächeln erlosch. »Vielleicht.« »Oder kann man Sie anrufen?« »Nein. Aber ich werde wahrscheinlich hier in der Gegend sein. Wer weiß, vielleicht wird aus uns beiden doch noch mal was...« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ich halt' morgen abend die Augen auf. Okay?« Und nach einer Pause. »Ich bin eigentlich auch müde. Ist schon spät.« »Wie heißen Sie?« »Cynthia.« »Dann bis morgen, Cynthia. Ich werd' hier nach Ihnen Ausschau halten, genau an dieser Stelle. Aber ein bißchen früher.« »Okay.« Sie trat aus dem Lokal und hob die Hand, um ein Taxi heranzuwinken.
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Der entscheidende Moment. Die ganze Sache hing von den folgenden Sekunden ab. Er mußte sehr schnell handeln. Er ging ein paar Schritte auf das Hotel zu und wartete ab. Sobald sie im Taxi saß, rannte er auf die Straße und hielt das nächste an. Es war mehr als knapp. Er durfte keine Zeit damit verlieren, dem Taxifahrer irgendwelche fadenscheinigen Erklärungen zu geben. Er holte seine Dienstmarke aus der Tasche, zeigte sie dem Fahrer und gab ihm genaue Anweisungen. Erst mal tief Luft holen. Was, wenn nicht zufällig noch ein Taxi gekommen wäre... ? Der Fahrer warf ihm einen überraschten Blick zu und sagte grinsend: »Ich kann's ja kaum glauben. Endlich. Da fahre ich nun schon fast dreißig Jahre und hab' noch keine richtige Verfolgungsjagd erlebt. Hach, das hatte ich mir immer erträumt, daß mal so'n Polizist bei mir einsteigt und sagt, nun los, hinterher.« Fortyninth Street, Eleventh Avenue, nach einem Block ab in die Fortyeighth. Er sah, wie sie aus der Taxe stieg, zahlte und die Stufen zu ihrem Haus hochging. Sie hielten in einiger Entfernung. Er sprang raus, warf dem Fahrer ein paar Dollar auf den Sitz und lief auf das Gebäude zu. Sandsteinfassade, Feuerleitern. War wichtig zu wissen, wo die lagen. Schließlich ging er in den Hausflur. Er fand ein Papierschildchen mit dem Namen Blanton drauf. Daneben stand noch ein anderer Name, Gilroy. Sie hatten das Schild provisorisch an einen der Briefkästen angeklebt. Apartment 3 D. Immerhin war sie so klug gewesen und hatte ihr Nuttenpseudonym nicht angegeben. Aber er war trotzdem überrascht, daß sie ihren Namen an dem 463
Briefkasten gelassen hatte, wo sie sich doch denken konnte, daß man nach Quick suchte. Und er war sicher, daß sie ihn versteckt hielt. Oder war der Junge doch nicht bei ihr aufgetaucht? Er ging durch die Schwingtür mit dem undurchsichtigen Glas. Komisch, daß die Scheiben noch ganz geblieben waren, wo doch der Rest ziemlich verwahrlost aussah. Das Haus mußte früher mal bessere Zeiten erlebt haben, der Flur war sehr repräsentativ. Und jetzt, Ungeziefer, Müll im Treppenhaus, leere Bierdosen, verfaulte Orangenschalen. Er ging die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Hier waren keine Schilder angebracht. Er lief hinunter in den ersten. 2 A und 2C. Aha. Im Erdgeschoß überprüfte er auch die Nummern. Richtig, 1A und IB. "Er hastete die Stufen zum zweiten Stock wieder hoch und horchte an der Tür, von der er meinte, daß es die 3 D sein mußte. Er konnte nichts hören. Wie sollte er die Tür aufkriegen? Er holte seine Pistole aus dem Wadenhalfter und schob sie in die Jackentasche. Er klopfte an die Tür. Ein paar Sekunden verstrichen. »Wer ist da?« Es war ihre Stimme direkt hinter der Tür. Er hatte sie nicht herankommen hören. »Entschuldigung.« Er versuchte seine Stimme zu verstellen. »Ich hab' Sie gerade nach Hause kommen hören. Ich wohne in der übernächsten Wohnung. Ich habe ein Paket für Sie angenommen. Und das wollte ich Ihnen jetzt gerne bringen.« Sein Puls raste. Wenn sie nun alle Nachbarn kannte? »Was für ein Paket denn?« »Ein kleines.« Ob sie jetzt endlich aufmachte? Er hörte, wie sie den Riegel zurückschob, und als sich 464
die Tür einen Spalt öffnete, warf er sich mit voller Wucht dagegen. Die Kette brach aus der Halterung. Sobald er in der Wohnung war, holte er seine Dienstmarke aus der Tasche und blickte sich um. Sie war barfuß, aber immer noch angezogen. Als sie erkannte, wer es war, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, der eben noch panische Angst gezeigt hatte in Abscheu und Wut. »Sie! Das hätte ich wissen müssen. Was wollen Sie hier? Sie haben kein Recht, hier einfach so einzudringen.« »Ich hab' schon ein Recht. Wo ist er?« »Von wem reden Sie denn?« »Ich will wissen, wo er ist!« Mit den Worten rannte Kornienko an ihr vorbei, stürmte ins Schlafzimmer, vor dessen Fenster sich die Feuerleiter befinden mußte. Der Duft nach Haschisch hing im Raum. Er knipste das Deckenlicht an und sah einen blonden Schopf unter der Bettdecke hervorgucken. Er riß die Decke zur Seite. Ein nacktes Mädchen. Sie war sofort hellwach, sah den Mann über ihr und fing an zu schreien. Er warf die Decke wieder über sie. »'tschuldigung. Polizei.« Er ging zu Cindy zurück. »Wo ist Ihr Bruder Johnny?« »Wo wohl? Im Gefängnis.« Er stand dicht vor ihr und blickte auf sie herunter. »Ihre Märchen können Sie einem andern erzählen. Wenn Sie sich keine Probleme einhandeln wollen, sagen Sie's mir besser. Wo steckt er?« »Hab' ich Ihnen schon mal gesagt. Im Gefängnis.« »Er ist nicht mehr im Gefängnis. Und wenn er nicht hier ist, wissen Sie garantiert, wo er abgeblieben 465
sein kann. Ich sage Ihnen, ersparen Sie sich den Ärger, und raus mit der Sprache.« »Sie meinen, er ist nicht im Gefängnis?« »Sie wollen mir weismachen, daß Sie nichts davon wissen? Sie wissen doch ganz genau, daß Ihr Bruder aus dem Krankenhaus abgehauen ist.« »Was für ein Krankenhaus? Ist er krank? Weshalb war er denn im Krankenhaus? Haben die ihn verletzt?« Er sah ihr an, daß sie Theater spielte. Er blickte ins Wohnzimmer und sah die Zeitung auf dem Tisch liegen. »Das ist die News von heute morgen. Da steht es drin.« »Ich hab's nicht gesehen«, log sie unbeirrt weiter. Das blonde Mädchen war aus ihrem Schlafzimmer getreten. Sie trug einen Morgenmantel. »Wer zum Teufel sind Sie?« Er zeigte ihr seine Polizeimarke. »Ich suche nach Johnny Blanton. Wenn Sie wissen, wo er sich aufhält, und wenn Sie es der Polizei vorenthalten, machen Sie sich strafbar. Ist er hier oder haben Sie ihn irgendwo gesehen?« Sie zuckte die Schultern. »Sie meinen Cindys Bruder, der im Gefängnis ist?« Auch die Blonde log. Er blickte sich im Wohnzimmer um und sah Johnnys buntbedrucktes Hemd auf dem Boden liegen. Es war das, was er anhatte, als sie sich in der Eisdiele gegenübergestanden hatten. Und auch im Gericht hatte er es getragen. Er sah die beiden Mädchen an, die merkten, was er für eine Entdeckung gemacht hatte. Cindy senkte schuldbewußt den Blick, die andere spielte am Gürtel ihres Morgenmantels herum. Er hob das Hemd 466
vom Boden auf. »Wollen Sie etwa behaupten, das Hemd gehört Ihnen?« Er legte es über eine Stuhllehne. Die beiden schwiegen. »Ich werde mich jetzt mal in der Wohnung umsehen!« Denkbar, daß der Junge sich in einem der Zimmer verbarg und nur auf den richtigen Moment wartete, um loszurennen. Zwei Fluchtmöglichkeiten gab es. Die Wohnungstür und das Fenster, das zur Feuerleiter führte. Er mußte aufpassen, daß Quick keine Möglichkeit zum Weglaufen hatte. Er war nicht in der Stimmung, noch einmal bei einer Verfolgungsjagd den kürzeren zu ziehen. Diesmal nicht! Nein. Es durfte gar nicht erst zu einer kommen. Er war nicht richtig dafür angezogen, das kam noch hinzu. Zwei Zimmer hatte er noch nicht durchsucht. Eins war sicher das Bad, das andere höchstwahrscheinlich ein weiteres Schlafzimmer. Eine Küche gab es auch noch, aber er bezweifelte, daß man aus der rauskonnte. Die beiden Mädchen verfolgten sein Tun mit unbewegten Gesichtern. Er wollte sich zuerst die Küche vornehmen und ging auf sie zu, dabei immer die Mädchen aus den Augenwinkeln beobachtend. Auf einmal kam ihm der Gedanke, daß Quick da drinnen auf ihn wartete, mit dem aufgeschnappten Messer, sprungbereit, ein in die Ecke getriebenes Tier, das sich auf den Jäger stürzen würde, sobald er sich ihm näherte. Er zog die Pistole aus der Tasche. »Ist es wirklich nötig, daß Sie hier mit der Pistole rumfummeln?« fragte die Blonde. »Johnny ist nicht hier, falls das der Grund sein sollte«, kam es von Cindy. Zur Abwechslung schien sie mal die Wahrheit zu sagen. Aber er wollte doch auf 467
Nummer sicher gehen. Wie konnte er sich auf irgendwelche vagen Gefühle verlassen? Die Küche war schnell durchgecheckt. Er öffnete die Schränke, warf einen Blick in den Vorratsraum, nichts. Er ging ins Wohnzimmer zurück. »Er ist nicht da«, sagte Cindy wieder. Er ging zur Badezimmertür und öffnete sie, riß den Duschvorhang zur Seite. Nichts. Hier gab es keine Türen und Schränke, in denen Johnny sich hätte verbergen können. Er inspizierte den Wandschrank im Flur, die Pistole immer schußbereit. Nichts. »Ich sage Ihnen, er ist nich hier«, sagte Cindy. Er achtete gar nicht auf sie, ging in das andere Schlafzimmer und durchsuchte es. Wieder blickte er auch in den Schrank. Nichts. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Ich sagte Ihnen doch, daß er nich hier ist«, sagte Cindy. »Wo ist er hingegangen ? Er war hier. Da liegt sein Hemd.« »Es ist meins. Er hat das gleiche. Hab' es ihm gekauft, weil er es so toll fand.« Schon wieder log sie. »Ich werde es mitnehmen und nachprüfen lassen, wessen Hemd es ist«, sagte er. Während er mit ihr sprach, blickte er sich weiter im Raum um. »Ich sage Ihnen, er war nich hier«, sagte die Blonde. »Sie sagt die Wahrheit.« »Wollen Sie sich wirklich da mit reinziehen lassen?« Kornienko blickte die Blonde ernst an. Er bekam genau mit, wie sie unsicher einen Schritt zurück machte. Und sein Blick fiel auf den Wäschekorb. Er ging mit großen Schritten darauf zu und warf einen Blick hinein. Da, Quieks blaue Hosen und darunter 468
ein Handtuch, das mit blonden Haaren übersät war. Er sah zu den Mädchen auf. »Und das?« Die beiden waren blaß geworden. »Ich hab' heute morgen T. J.'s Haare geschnitten«, sagte Cindy. Ohne auf ihre Worte einzugehen, zog er die beiden Sachen aus dem Korb heraus. »Wissen Sie, wie lange Sie dafür im Knast sitzen dürfen? Sie reiten sich immer tiefer rein, ist Ihnen das klar? Und das Hemd da. Ist doch alles eindeutig. Also, wo ist er?« fragte er streng, bewußt mit einer Stimme, die die beiden Mädchen einschüchtern sollte. Und es funktionierte. Cindy zitterte am ganzen Leibe und war den Tränen nahe. »Wo ist er?« fragte Kornienko noch mal. »Ich weiß nich, wo er ist«, stammelte Cindy. »Ich schwöre, ich weiß es echt nich. Er war hier, kam hierher, aber wir haben ihm gesagt, daß er nich hierbleiben kann und haben ihn weggeschickt. Wir wollen ja keinen Ärger kriegen. Er ist weg.« »Aber erst haben Sie ihm die Haare geschnitten und ihm neue Sachen zum Anziehen gekauft. Richtig?« Sie antwortete nicht. Sie blickte ihn nur an. Tränen Hefen ihr über die Wangen. »Hat er gesagt, wo er hin will?« »Nein. Ich schwöre, nein. Er hat nur gesagt, daß er nich nach Hause kann.« Er war zufrieden mit der Antwort, denn er spürte, daß sie endlich die Wahrheit sagte. Und er wollte ihr ja nichts. Sie sollte ihm nur dazu dienen, Quick so schnell wie möglich zu finden. »So, ich werde Ihnen mal sagen, wie Sie sich am besten aus der ganzen Sache raushalten können. 469
Damit Sie keinen Ärger kriegen. Beide nicht. Wollen Sie's hören?« Cindy weinte immer noch. Die Blonde schien zwar Angst zu haben, aber sie war etwas gefaßter als ihre Freundin. Sie antworteten nicht. »Sie können sich eine Anklage wegen Begünstigung am besten ersparen, wenn Sie sich vernünftig verhalten, wenn er wieder hier auftaucht. Tun Sie sich selbst den Gefallen. Rufen Sie sofort die Polizei an. Sie können ganz schön lange sitzen wegen der Sache.« Er holte sich das buntbedruckte Hemd vom Stuhl. »Ich weiß jetzt also schon mal, daß er kurze Haare hat. Was hat er an?« »Weiß ich nich mehr«, schluchzte Cindy. »Erzählen Sie mir doch nicht so was. Sie haben ihm die Sachen gekauft. Was hat er an? Na los, denken Sie daran, was Sie sich einhandeln, wenn Sie ihn decken.« »Grüne Hosen und ein weißes Hemd.« Log sie schon wieder? Er war nicht sicher. Aber ein weißes Hemd, das hörte sich unwahrscheinlich an. »Ich nehme die Sachen mal mit«, sagte er und griff nach der Kleidung und dem Handtuch. Er verließ die Wohnung. Auf der Straße angekommen, ließ er die letzten Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen. Er hatte so ziemlich alle Bestimmungen verletzt, die es gab. Das einzige Lorbeerblatt, das er sich geholt hatte, war, daß er den Mädchen geraten hatte, sofort bei der Polizei anzurufen, wenn Quick wieder auftauchte. Er konnte 'ne Menge Ärger kriegen... Wo mochte Quick wohl hingegangen sein, wenn er sich zu Hause nicht blicken lassen durfte? Und zu 470
Cindy konnte er auch nicht mehr. Daß er selbst, Kornienko, auf die Idee mit Cindy gekommen war, war nicht übel. Aber jetzt fiel ihm auch nichts mehr ein. New York war groß. Er nahm ein Taxi zu Barbara. Er schloß beide Sicherheitsschlösser auf. Er hatte ja einen Zweitschlüssel. Aber er kam nicht hinein. Die Kette war vorgehängt. Er klopfte mehrmals, als sich immer noch nichts rührte, fester. Endlich hörte er, wie sich die Schlafzimmertür öffnete. »Barbara, ich bin's, Steve. Laß mich rein«, flüsterte er durch den Türspalt. Sie hängte die Kette aus. »Was willst du denn hier, mitten in der Nacht? Weißt du, wie spät es ist?« »Neben der Tatsache, daß ich dich einfach sehen wollte?« Er lächelte. Sie sah zum Anbeißen aus in ihrem süßen Nachthemd, noch halb verschlafen. »Außerdem muß ich dir was zeigen.« »Was denn?« Sie starrte auf das Bündel, das er unter den Arm geklemmt hatte. Er hielt es triumphierend hoch. »Das sind Hemd und Hose von Quick, und zwar die, die er letzte Nacht anhatte. Und das ist ein Handtuch, in dem sich sein Haar befindet, lauter kleine blonde abgeschnittene Löckchen. Hat zwar einen ganzen Tag gedauert, aber immerhin hab' ich endlich seine Schwester aufgetan und bin ihr bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Er ist da gewesen. Sie haben ihm was anderes zum Anziehen besorgt und haben ihm die Mähne abrasiert, dann haben sie ihn wieder weggeschickt. Barbara, die Polizisten im Dienst schaffen das nicht so schnell. Kannst du mich jetzt ein bißchen besser verstehen?« 471
»Auf jeden Fall verstehe ich diesen Teil der Geschichte. Ich weiß, daß du ein fabelhafter, fähiger Polizist bist.« »Barbara, ich krieg' ihn.« »Wirst du die Sachen als Beweisstücke aufs Revier bringen?« Er zögerte. »Ich weiß noch nicht, wie ich das anstellen soll. Vielleicht, wenn's soweit ist.« Er versuchte zu übersehen, wie blaß Barbara geworden war.
25. Kapitel Kornienko erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und holte sich vom Automaten einen Kaffee. Er hatte nicht gut geschlafen. Quieks Sachen, sein Hemd, die Hosen und das Handtuch, waren immer noch in seiner Wohnung. Er hatte fast die ganze Nacht wachgelegen und mit sich gekämpft, ob er Lamson die Beweisstücke aushändigen sollte. Er würde erhebliche Schwierigkeiten bekommen, wenn sich herausstellte, daß er die Sachen zurückbehalten hatte. Und es gab eigentlich auch gar keinen vernünftigen Grund für seine Handlungsweise. Aber er hatte sich trotzdem dagegen entschieden, nur einem Fantasiegebilde gehorchend. Er war wie besessen von der Idee, Quick zu finden, und zwar ohne Zeugen, ihm gegenüberzustehen, es zu einer Konfrontation kommen zu lassen. Nur sie beide. Weiter dachte er gar nicht. Er konnte sich nur diesen allerersten Moment vorstellen. Nein, er hatte nur vor Augen, wie sie sich ansehen würden. Er mußte Quick als erster finden. Allein. Ein lappiges Jahr in einer Besserungsanstalt war überhaupt kei472
ne Bestrafung, und schon gar nicht für den brutalen Mord an Anna und Wasyl Kornienko. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und versuchte, sich wieder auf die Berichte zu konzentrieren, die er fertigmachen mußte. Er überlas das bisher Geschriebene. Nein, das konnte man vergessen. Er hatte viel zuviele Tippfehler drin. Angie arbeitete am Schreibtisch neben ihm wie ein Besessener, aber er achtete nicht auf ihn. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Wie Quick jetzt wohl mit seinem kurzen Haar aussah? Eigentlich war er richtig froh, daß er den Jungen nicht bei Cindy aufgespürt hatte. Dann wären sie nicht allein gewesen. »He, Steve! Hast du so was schon mal gesehen?« rief Angie herüber. Kornienko fuhr aus seinen Gedanken auf. Vor Angies Schreibtisch standen zwei Polizisten, und sie alle starrten wie gebannt auf einen riesigen Berg Schmuck. »Erinnerst du dich an den Einbruch, den wir vor ein paar Wochen aufgenommen haben ? Park Avenue?« fragte Angie. »Könnte doch sein, daß davon einiges aus der Quelle stammt, oder?« Kornienko stand auf. Er war froh über jede Ablenkung. Irgendwie mußte er den Dienst ja rumkriegen. Er beugte sich über den Schreibtisch und betrachtete den Schmuck genauer. Ein Stück fiel ihm besonders auf. Es war eine große, rosafarbene Kamee, die von einem Kranz Perlen umfaßt war und an einer goldenen Kette hing. Er hob sie auf und sah sie sich genauer an. »Wenn irgendwas von dem Einbruch stammen sollte, den wir zusammen aufge473
nommen haben, dann weiß ich genau, existiert eine Liste, in der jedes einzelne Schmuckstück aufgeführt und näher beschrieben ist. Die sollten wir uns mal vornehmen.« Er ging zum Aktenschrank und kam mit den Unterlagen zurück. »Richtig, jetzt erinnere ich mich auch«, sagte Angie. »Hat die Frau selbst noch reingebracht, stimmt's?« Kornienko begann in dem Ordner zu blättern. Gleich hinter dem UF-61-Bericht war die Liste eingeheftet. Sorgfältig mit der Hand geschrieben auf sehr gutem Papier. »Hier, ich glaube, ich hab's. Ich erinnere mich, daß sie von dem Medaillon gesprochen hat; ihr Mann hatte es ihr geschenkt. Er fand, daß das Portrait in der Mitte ihr sehr ähnelt, als sie noch ein junges Mädchen war.« Angie beugte sich über das Medaillon. »So was. Ich sehe da überhaupt keine Ähnlichkeit. Du?« »Wo kommt das Zeug her?« fragte Kornienko einen der Polizisten. »Das haben letzte Nacht unsere Jungens aufgetan. Einer ihrer Informanten hat's ausgespuckt. Für nichts und wieder nichts. Wollte wohl mit dem Kerl abrechnen. Muß über irgendwas maßlos sauer gewesen sein. Jedenfalls war's ein Volltreffer.« Der Polizist räusperte sich. »Das alles haben die in der Wohnung von diesem Kerl gefunden. Wir dachten jedenfalls, es ist gut, euch mal das Zeug zu zeigen, falls ihr eine Idee habt, wo's herkommt. Anscheinend hatten wir 'nen guten Riecher.« »Sie ist ein nettes altes Mädchen«, sagte Angie. »Die steht ganz bestimmt hinter uns, wenn es zur Verhandlung kommt. Die ist mutig.«
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»Wir müssen sie vor allem erst mal herholen, damit sie sich den Schmuck ansehen kann«, sagte Kornienko. Lieutenant Mazilli kam herbeigeschlendert und begutachtete nun auch den Haufen von Ketten, Broschen, Armbändern und Ringen. »Heiße Ware, was?« grinste er. »Sieht so aus, als sei zumindest ein Teil davon Schmuck aus einem unserer ungelösten Fälle«, erwiderte Kornienko. »Kommt jedenfalls der Beschreibung sehr nahe.« »Steve, Angie«, sagte Mazilli. »Wir haben gerade einen netten, kleinen Mord auf der Twentyfifth, zwischen Second und Third. Muß wohl ziemlich schlimm aussehen.« Er reichte Steve einen Zettel. »Fahrt mal hin und seht euch das an.« Die Leiche lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Der Mann mußte so um die siebzig sein, sah zerbrechlich aus. Ziemlich klein. Seine Glatze wies schwere Verletzungen auf. Er hatte Pyjama und Hausschuhe an. Sie standen vor der Leiche und betrachteten sie. Irgendwie erinnerte der Kopf des Mannes Steve an seinen Vater. Wieder so ein vollkommen sinnloser Mord; wieder die üblichen gehetzten Routinearbeiten, 'zig seitenlange Berichte, die geschrieben wurden, die in den Aktenschränken der Polizei verschwanden. Wieder ein Fall, der höchstwahrscheinlich nie aufgeklärt werden würde. Aber diesmal war Kornienko nicht in der Lage, Mitleid für das Opfer zu empfinden. Statt dessen mußte er an seinen Vater denken. Und an Johnny Blanton, der mit dieser Sa-
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che hier sicher nichts zu tun hatte. Der Mord an seinem Vater jedenfalls durfte nicht ungelöst bleiben. »Er hat hier allein gelebt«, sagte einer der Polizisten zu Steve und Angie. »Wir erhielten die Nachricht von seiner Nachbarin, einer alten Frau, die gegenüber wohnt. Sie erzählte uns, daß die beiden heute morgen zum Frühstück verabredet waren. Und als er nicht bei ihr auftauchte, sei sie rübergegangen, habe geklopft und geschellt. Er habe nicht aufgemacht. Sie müssen sehr gut befreundet gewesen sein, und sie war sicher, daß er sie nicht versetzt hatte und woanders hingegangen sein konnte. Deshalb hat sie sich große Sorgen gemacht, befürchtete wohl, daß er wieder einen seiner Herzanfälle erlitten habe. Oder einen Schlaganfall oder so was.« »So alte Leute sollten nicht allein wohnen«, sagte Angie. »Nachdem wir hier vor der Tür standen«, fuhr der Beamte fort, »und keiner aufmachte und auch keiner ans Telefon ging, haben wir uns von der Alten gegenüber einen Schlüssel geben lassen. Den hatte sie für den Notfall immer in Verwahrung. Na ja, als wir den Mann fanden, dachten wir, wir holen euch besser sofort her.« Kornienko blickte sich in der großen Wohnung um. »Irgendwelche Anzeichen auf einen Kampf, der hier stattgefunden haben könnte?« »Eigentlich nicht. Mit Ausnahme der Wunde an seinem Kopf.« »Sind Türen aufgebrochen worden?« »Wir haben uns noch nicht so genau umgesehen, aber bisher haben wir nichts Auffälliges entdecken
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können. Sind ja auch noch nicht lange hier. Haben uns erst mal mit der Frau unterhalten.« »Sieht trotzdem nach Einbruch aus. Fehlt was?« »Vorstellbar. Die Vitrine im Speisezimmer ist offen und leer. Die alte Dame hat gesagt, daß er dort jede Menge Silber drin hatte.« »Spurensicherung verständigt?« »Ja. Die müssen jeden Moment kommen.« »Die Quetschungen, die der Mann abgekriegt hat, sehen schlimm aus«, sagte Angie. »Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er sich die hier auf dem Teppich zugezogen hat, falls er gefallen ist. Sieh dir mal den Boden an.« »Komm, wir gucken uns mal 'n bißchen um«, schlug Kornienko vor. Sie durchstreiften die weitläufige Wohnung. Im Arbeitszimmer waren die Schubladen einer Kommode aufgezogen und nicht wieder verschlossen worden, auch die Schranktür stand offen. Sie zogen alle Schubladen auf und inspizierten die einzelnen Gegenstände, immer darauf bedacht, der Spurensicherung nicht mit neuen Fingerabdrücken die Arbeit zu erschweren. Im Schlafzimmer lag eine Hose auf dem Bett. Die Taschen waren nach außen gezogen, und auch die Kleidungsstücke im Schrank waren dieser Prozedur unterzogen worden. Schließlich fanden sie das Fenster. Die Wohnung lag im dritten Stock, und das Dach des gegenüberliegenden Hauses grenzte direkt an alle Fenster der einen Seite dieser Wohnung. Der Verschluß des Fensters war aufgebrochen worden. Der Rahmen auf der Außenseite zeigte deutlich Spuren eines Brecheisens. 477
»Das war's dann wohl«, sagte Kornienko und warf Angie einen Blick zu. »Stimmst du mir zu?« »Raubmord mal wieder«, preßte Angie hervor. »Sechs von der Sorte täglich. Irgendwie kotzt es mich ganz schön an.« »Sieht so aus, als sei der Typ vom Dach gegenüber hier durchs Fenster reingekommen«, meinte Kornienko zu den Polizisten. »Er muß von dem alten Mann überrascht worden sein, und hat ihm eins über den Schädel gehauen. Würde sagen, das ist ein wunderschöner Fall für unseren Gerichtsmediziner.« »Wahrscheinlich können wir der Mordkommission ein paar gute Tips geben, wenn wir schon mal Vorarbeit leisten.« Angie nickte Steve zu. »Da magst du recht haben. Fangen wir an.« * Cindy rekelte sich auf dem Bett. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie Maureen Blanton spielen. Sie schaltete den Fernseher ein, zwar nur ein Schwarzweiß-Gerät, aber besser als gar nichts. Sie probierte ein anderes Programm. Um was zu trinken war's eigentlich noch zu früh. War ja noch nicht mal Mittag. Aber spater, nach dem Essen, dann wollte sie weiter Fernsehen und ein paar Schaefer's trinken. Sie mußte lächeln: Sie hatte angeblich krampfartige Schmerzen im Unterleib. Natürlich hatte sie niemals vorher Probleme mit ihren Tagen gehabt. Nun, für alles gab's ein erstes Mal. Für sie jedenfalls 'ne super Ausrede, mal für eine Weile nicht auf die Straße zu müssen.
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Wo Johnny wohl die letzte Nacht verbracht hatte? Irgendwie war sie sich bei ihm ganz sicher, daß er allein zurechtkam. Man brauchte sich um ihn nie ernsthafte Sorgen zu machen. War ein ganz schön cleveres Bürschchen. Der kannte sich aus auf den Straßen und so. Und mit seinem neuen Haarschnitt und den anderen Anziehsachen erkannte ihn so schnell auch keiner. Auch wenn die jetzt wußten, daß er keine lange Mähne mehr hatte. Sie hatte wirklich alles für Johnny getan, was in ihrer Macht stand. Ansonsten hatte sie wirklich selbst schon genug Probleme, konnte sich nicht noch mehr aufhalsen. Für ihn auch noch ins Kittchen zu gehen, war wohl 'n bißchen zu viel verlangt. Sie hatte auch schon mehr Nächte in dem Loch verbracht als ihr lieb war. Und eins wußte sie ganz genau: sie war weiß Gott nicht verrückt darauf, da auch nur eine einzige mehr freiwillig abzusitzen, geschweige denn, dem Knast einen längeren Besuch abzustatten. Vielleicht wäre es auch gar nicht schlecht, wenn die Bullen ihn mal für 'ne Weile in so 'ne Besserungsanstalt, oder wie die das nannten, schickten. Wer weiß, möglich, daß man aus dem Jungen noch was halbwegs Anständiges machen konnte. Wenn es stimmte, was in der Zeitung stand, müßte er ja auch gar nicht so lange drin bleiben. Nur was, wenn er mindestens so verdorben, wie er jetzt war, wieder auf die Straße gelassen wurde? Möglich, daß er total verkorkste. Eins war jedenfalls sicher, sie würde der Polizei nicht Spitzeldienste leisten und ihren kleinen Bruder verpfeifen. Eigentlich sollte sie mal nach Maureen sehen. Aber es war ja möglich, daß die Bullen da immer noch 479
die Stellung hielten, und denen wollte sie nicht unbedingt in die Arme laufen. Und wenn man es recht bedachte, zum Teufel mit Maureen. Die war ja zu blöd, um überhaupt zu raffen, wie mies sie dran war, sie und Johnny und alle. Sie hatte den Jungen auf dem Gewissen, das war klar. Und dann dieser verrückte Bulle letzte Nacht. Der mit seiner blöden Ich-bin-nur-so'n-einsamerProvinzler-Masche, und So-hübsche-Mädchenzahlen-nicht-selbst. Tja, und dann steht der mit der Pistole vor der Tür und hebt förmlich die Tür aus den Angeln. Dieser Scheißkerl! Wie ein Verrückter war er bei ihnen in die Wohnung eingedrungen und hatte mit seiner Pistole rumgefummelt, daß einem angst und bange werden konnte. Der war ja ganz schön scharf drauf, Johnny zu kriegen. Echt reif für die Klapsmühle, der Bulle! Irgendwas war faul an der Sache. Mit dem Typ stimmte doch was nicht. Und wieso war der total allein aufgetaucht. Die kamen doch sonst immer zu zweit. Also so was hatte sie echt noch nie erlebt. Sie versuchte, sich wieder auf den Film im Fernsehen zu konzentrieren. Wer konnte sich nur so einen Mist ansehen? Sie stellte ein anderes Programm ein. * »Ich muß mal kurz telefonieren«, sagte Kornienko. Er klopfte Angie auf die Schulter und ging in den hinteren Teil des Coffeeshops. Mazilli hatte angeordnet, daß sie an dem neuen Fall dranbleiben sollten, um den Jungs von der Mordkommission zur Hand zu gehen. Genau, wie Angie es vorausgesagt hatte. Die Bearbeitung dieses Mordes war für ihn 480
eine mehr als willkommene Beschäftigung, weil es ihn vom Grübeln ablenkte, aber wiederum auch nicht vollen Einsatz und Initiative erforderte. Was er nicht gerade so toll fand, war das penible Berichteschreiben, das damit auf ihn zukam, aber irgendwie mußte er seine Dienststunden ja absitzen. Und er kam auf andere Gedanken. Sie hatten schon den ganzen Vormittag damit zugebracht, nach möglichen Zeugen zu suchen. Sie hatten Wohnung für Wohnung abgeklappert, und er mußte immer wieder daran denken, was er tun würde, wenn sie endlich mit ihrer Tour fertig wären, und er sich weiter auf die Suche nach Quick begeben konnte. Er war sich noch nicht ganz sicher, wo er anfangen sollte. Möglicherweise wäre es am sinnvollsten, in der näheren Umgebung von Quieks Zuhause zu beginnen. Die meisten Jugendlichen zog es dorthin zurück, wo sie sich am besten auskannten. Ansonsten käme nur noch die West Fortyeighth in Frage, die Gegend, wo seine Schwester wohnte. Aber Cindy schien ausnahmsweise die Wahrheit gesagt zu haben, als sie ihm erzählte, daß sie Quick verboten hatte, ihr wieder über den Weg zu laufen. Außer diesen beiden Möglichkeiten blieb nur noch der Straßendschungel von Manhattan, New York, Amerika, der Welt. Quick war alles andere als auf den Kopf gefallen, der käme überall zurecht. Kornienko ließ eine Münze in den Fernsprecher gleiten und rief die Mordkommission an. Er verlangte Lamson zu sprechen. Als man ihm sagte, daß Lamson nicht in seinem Büro sei, ließ er sich mit Charlie Savage verbinden. »Gibt's was Neues?« fragte er Savage. 481
»Lamson hat die Mutter mit zur Sitte genommen, und sie in die Alben gucken lassen. Sie hat Cindy rausgesucht. Damit ist also diese Sache schon mal erledigt. Die Fahndung nach der Schwester läuft. Und die Jungens werden sie unter Beobachtung halten. Ich wette, die finden sie, sobald sie nur einen Fuß auf die Straße setzt.« »Und sonst?« »Mehr hab' ich im Moment nicht für dich, Steve.« »Gut, ich ruf wieder an«, sagte Kornienko. Er kehrte zu Angie zurück und aß seinen Hamburger, den die Kellnerin in der Zwischenzeit serviert hatte. * Quick rekelte sich noch ganz schlaftrunken. Er fühlte sich schon viel besser. Bei Cindy hatte er überhaupt nicht gut schlafen können. Der Sessel war unbequem gewesen und erst recht der Fußboden. Aber sein Bett hier war Spitze. Und da es draußen ziemlich warm war, hatte er gar keine Decke gebraucht. Aber auch das war kein Problem. Er konnte sich jederzeit eine organisieren und ein Kopfkissen dazu, so daß er es hier eine Weile besten aushalten würde. Er hatte'ne Menge Knete. So konnte er sie sogar neu kaufen. Die Idee war ihm gekommen, als er die Matratze auf einem Haufen Sperrmüll sah. Das war am St. Mark's Place gewesen. Das Ding war so gut wie neu. Hatte nur die eine Seite 'n bißchen verbrannt. Aber die konnte er ja auf die Erde legen. Er hatte sie genau inspiziert und für gut befunden, als es noch hell war. Im Dunkeln war er dann zurückgekommen und hatte die Matratze bis zu dem verlassenen Haus geschleppt. Durch die Hinterhöfe, über 482
die Treppen, das war echt 'ne ganz schöne Arbeit gewesen. Richtig rangeklotzt hatte er. Aber es hatte sich echt gelohnt. Nun konnte er wenigstens schlafen. Hinterher war er noch ins Zentrum gefahren, in Cindys Gegend, und hatte gespannt, was so lief. Er stand auf und trat ans Fenster. Drei Stockwerke unter ihm parkte immer noch der Kleinlastwagen. Aber das machte nichts. Er liebte sein neues Quartier. Er konnte hier in aller Seelenruhe rumhängen, konnte sogar gegenüber die Wohnung sehen, Maureen, Paul und so. Und er konnte das Geschehen auf der Straße mitverfolgen. Er fand es sogar irre toll, von hier aus zu beobachten, wie die nach ihm Ausschau hielten. Diese Vollidioten! Und das stärkste war ja, daß er nie auch nur einen Fuß auf die Eleventh Street zu setzen brauchte, um hier hoch zu kommen. Er ging ein Stockwerk tiefer und urinierte. Das war Teil seines wohldurchdachten Plans. Im dritten war sein Hauptquartier, sein Ausguck und sein Schlafzimmer. Im zweiten die Toilette. Er wollte schließlich nicht, daß es oben stank. Er würde Klopapier kaufen müssen, für alle Fälle. Er hatte richtigen Hunger! War ja auch Zeit, sich was zu essen zu organisieren. Und er konnte sich kaufen, was immer er wollte, denn er hatte Geld, mengenweise. Nach dem Frühstück könnte er vielleicht 'n bißchen durch die Straßen bummeln, hier und da was kaufen. Das Kopfkissen, die Decke, Klopapier. Er machte sich auf den Weg. Es war nicht allzuschwer gewesen, an die Knete zu kommen. Er hatte in einer der Seitenstraßen von Cindys Wohnung rumgehangen, bis er endlich das geeignete Opfer ausgesucht hatte. Der Typ war 483
richtig. Und die Zeit war richtig. Wie die Straße hieß, wußte er gar nicht mehr genau, sie ging aber von der Eleventh Avenue ab. Es war schon dunkel, eine Laterne brannte nicht. Er hatte dem alten Mann den Weg versperrt. »Geld her!« Der Typ hatte ihn angestarrt, na ja, wie man eben einen dummen, kleinen Jungen anglotzt, der sich 'nen blöden Scherz erlaubt. Aber das hatte sich schnell geändert. Als er dem Alten das Messer an die Kehle« setzte, fing er an zu zittern, wurde richtig lebendig, der Typ. Fast hundert Dollar. Wie bei den beiden Alten auf der Seventh Street. Die Alten waren sowieso die besten. Waren einfach ergiebiger. Aber aufpassen mußte er trotzdem. Der hier brachte es fertig und ging zu den Bullen. Er würde 'ne kleine Pause einlegen, bis sich die Wogen wieder glätteten. Und er konnte ja ein neues Hemd kaufen. Vielleicht auch einen Hut. Tarnung war nicht zu unterschätzen. Er ging die East Tenth entlang, Richtung Avenue A und weiter zum St. Mark's. Den ganzen Weg über dachte er darüber nach, was er essen wollte, und vor allem wo. Auf dem Gehsteig gab's jede Menge Sperrmüll. Das meiste war unbrauchbar. Aber da, ein Stuhl, der könnte doch was sein. Er hob ihn herunter und betrachtete ihn kritisch von allen Seiten. Nicht übel. Plastikbespannung, teilweise schon 'n bißchen abgenutzt. Aber trotzdem... »Willste den Stuhl, Junge?« Er fuhr herum. In der Haustür stand ein Mann. »Was soll ich denn mit so'm Ding?« fragte Quick. »Du siehst ihn dir an. Du willst ihn, also nimm ihn doch.«
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»Ich will ihn gar nich.« Er schmiß den Stuhl wieder zu dem anderen Gerumpel und ging weiter. Konnte ja immer noch wiederkommen, wenn es dunkel war. Gebrauchen konnte er den Stuhl schon. Seine neue Behausung sollte ja gemütlich werden. Er blickte sich noch einmal um. Der Mann beobachtete ihn immer noch. Er wollte nicht, daß der dachte, er wäre so 'ne Gammeltype. Einer, der's nötig hat. Mensch, er hatte doch Geld. Er ging weiter und drehte sich nicht wieder um. Was ging ihn der Typ an? Vor einem netten kleinen Restaurant blieb er stehen. Er betrat es und setzte sich an einen runden Glastisch. Der Stuhl war genau wie der, den er eben gesehen hatte. Die Kellnerin gab ihm lächelnd die Karte, 'ne spitze Tussi! Er überflog, was es so alles gab und winkte die Kellnerin heran. »Einen Hamburger und eine Cola, bitte.« Ganz schön teuer, fast vier Dollar für beides. Aber dafür gab's auch Pommes frites dazu. Und bestimmt war's auch besser als woanders. Und er wollte was Gutes. Er hatte ja genug Asche. Er blickte der jungen Frau hinterher, und irgendwie erinnerte sie ihn an T.J. Was die für Brüste hatteund wie irre sie sich anfühlten! Einmal bei der hier voll zupacken. Es gab etwas, das er bald tun wollte, sehr bald, und er fragte sich, wann er wohl Gelegenheit dazu bekäme. * Kornienko rief wieder die Mordkommission an. Diesmal wurde er mit Lamson verbunden. »Hier Steve. Wie stehen die Aktien?« »Nichts, worauf man stolz sein könnte«, sagte Lamson. »Es wird nach der Schwester gefahndet, aber 485
das hat Charlie dir ja schon erzählt. Ich denke, die müßten wir bald haben. Ach so, und dann ist letzte Nacht in der West Fortyninth Street jemand überfallen worden. Hörte sich nach Quick an. Springmesser und so. Außerdem war die Beschreibung auch ziemlich auf ihn zugeschnitten. Allerdings soll der Täter kurze Haare gehabt haben. Kannst du dir vorstellen, daß Quick sich die hat schneiden lassen?« »Möglich ist es schon. Alles ist möglich. Was hatte der Junge denn an?« »Da sind die Angaben etwas vage. Wenn es Quick war, hat er den alten Mann jedenfalls ziemlich geschockt. Kann man sich ja vorstellen. Und dann war's auch noch dunkel. Also, alles, was wir haben, ist, daß es helle Kleidung gewesen sein soll. Der Mann sagte, er erinnere sich an ein blaues Hemd. Wir haben den Wagen immer noch in der East Eleventh stehen. Aber inzwischen sieht's fast schon so aus, als ob der Junge nicht mehr auftaucht. Jetzt wollen wir uns auch noch West Side vornehmen. Könnte mir vorstellen, daß Quick bei seiner Schwester gelandet ist, wenn wir nur wüßten, wo die wohnt. Hast du 'ne Ahnung?« »Wenn ich was erfahre, ruf ich sofort an.« Kornienko war froh, daß Lamson ihm nicht in die Augen blicken konnte. »Ich melde mich wieder.« Er legte auf. West Side. Quick machte Krawall in West Side. Und sie hatte doch gelogen. Quick schlief in ihrer Wohnung. Na ja, wenigstens wußten die Kollegen noch nicht, wo ; sie wohnte. Er fand schnell ein Taxi. »West Forty-eighth.« Die Fahrt schien endlos zu dauern. Kein Wunder, Berufsverkehr. Er rutschte ungeduldig auf dem Sitz hin und 486
her. Endlich war er vor ihrer Wohnung. Er überquerte die Straße und verbarg sich hinter einem geparkten Lastwagen. Der wäre ideal gewesen, zumal hinten die Türen offen standen. Von dort aus hätte man das Haus bestens unter Kontrolle gehabt. Aber durch die Scheiben des Führerhauses konnte man alles auch ganz gut sehen. Er hatte schon jahrelang nicht mehr so was gemacht. Im Grunde war's noch etwas zu hell. Er hätte besser noch warten sollen, bis die Nacht hereinbrach. Er fragte sich, wer im Moment wohl in der Wohnung sein könnte, wenn überhaupt. Eigentlich bezweifelte er, daß jemand da war. Die beiden Mädchen waren bestimmt unterwegs und Quick garantiert auf den Straßen. Ja, der Junge lungerte irgendwo in dieser Gegend herum und hielt schon wieder fröhlich nach neuen Opfern Ausschau. Und wenn Quick nun doch in der Wohnung war, jetzt, in diesem Augenblick? Und zwar allein? Die Vorstellung, daß er den Jungen allein in der Wohnung überraschen könnte, machte ihn trunken vor Freude. Konnte es überhaupt einen besseren Ort geben, als diesen hier, um den Jungen zu erwischen? Blieb nur das Problem, wie er reinkommen sollte. Wenn er klopfte und Quick drin war, wüßte der doch sofort, daß er es war, oder zumindest Polizei. Der wäre blitzschnell aus dem Fenster, die Feuerleiter runter und weg. Er konnte sich natürlich auch nach dem Hausmeister umsehen, irgendwo würde man den ja finden. Aber in dem Fall mußte er sich als Polizist ausweisen und Spuren hinterlassen. Also schied diese Möglichkeit aus.
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Es gab nur einen Weg. Er überdachte kurz-, was passieren könnte, wenn die Sache schiefging. Wäre gar nicht so leicht, sich da rauszureden. Praktisch unmöglich. Aber das Risiko mußte er einfach in Kauf nehmen. Es war die beste Idee, die er hatte. Ja, er würde es machen. Er ließ den Blick über die Straße schweifen. Noch zu hell. Ein bißchen dunkler mußte es schon sein. Und wo er war, konnte er auch nicht länger bleiben. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, er mußte seinen Posten aufgeben und die halbe Stunde totschlagen. Er schlenderte Richtung Eleventh Avenue. Er ging bis zur Ecke, nicht weiter als einen Katzensprung, blieb stehen und wandte sich um. Von hier aus konnte er nach wie vor die Haustür sehen. Er lehnte sich gegen die Schaufensterscheibe eines Frisiersalons, als warte er auf jemanden. Es kam ihm endlos vor, bis es endlich dunkel wurde. Kornienko begann unruhig auf und abzugehen. Er fand selbst, daß er sich irgendwie auffällig verhielt, aber zumindest ging keins der Fenster von Cindys Wohnung hier auf die Straße. Endlich war es dunkel genug. Länger brauchte er nicht zu warten. Er ging zu dem Haus zurück, warf schnell einen Blick nach links und nach rechts und huschte unbeobachtet zur Feuerleiter. Nochmal blickte er sich um, blieb ohne sich zu regen ein paar Minuten still im Schatten der Hauswand stehen und wartete, ob es auf dem winzigen Stück Straße, das von hier aus einsehbar war, ruhig genug war. Es kam niemand vorbei. Er stellte sich 488
auf die Zehenspitzen, reckte die Arme. Zur untersten Stufe fehlte ein Meter. Er rätselte, wie er hinaufreichen sollte. Hinten im Hof lagen neben dem anderen Gerumpel ein paar leere Mülltonnen. Er trug sie zur Feuerleiter und stülpte sie um. So, jetzt konnte er problemlos die erste Sprosse erreichen. Er stieß sich mit den Beinen an der Hauswand ab und schwang sich hinauf. In den Wohnungen brannte Licht, in allen drei Stockwerken. Wenn er sehr leise war, konnte er im Dunkeln unbemerkt die unteren Wohnungen passieren. Er erklomm Stufe für Stufe. Das Fenster mit den Blumentöpfen. Das war es. Er warf einen Blick in das kleine Schlafzimmer. Hier war jedenfalls keiner, aber er konnte Radiomusik hören, oder der Fernseher war an. Für ihn ideal, dann würde niemand hören, wie er das Fenster öffnete. Die Sache lief beinahe zu glatt. Er stieg noch zwei Sprossen weiter hinauf und griff nach dem Fenster. Die Ellenbogen auf dem Fensterbrett abgestützt, versuchte er die Scheibe zu heben. Es ging ganz leicht. Es war immer noch unverschlossen. Warum machten die Mädchen nicht von innen zu? Ganz schön leichtsinnig! Sein Blick fiel auf die beiden Reihen Blumentöpfe. Wahrscheinlich war das der Grund. Er setzte sich auf das Fensterbrett. Wenn Quick überhaupt drin war, wo hielt er sich dann wohl auf? Und wo stand der Fernseher? Hörte sich nach dem anderen Schlafzimmer an. Er kniete sich hin, hob das Fenster noch ein Stück höher. Nichts. Hier war keiner. Aber wenn Quick ihn nun entdeckte oder schon längst entdeckt hatte und nun gegen die Wand gelehnt nur darauf wartete, daß er, Kornienko, hereinsprang, um ihm das Mes489
ser in den Bauch zu rennen. Ohne seinen Kopf in das Zimmer zu stecken, konnte er jedenfalls nichts erkennen. Er mußte rein. Er bog nochmal den Kopf zur Seite und versuchte, im Dunkel des Zimmers etwas zu sehen. Es war niemand da. Teppichboden. Er zögerte. Dann ließ er ein Bein ins Innere des Raumes gleiten. Langsam kam er auf dem Boden auf. Kein Mensch konnte das gehört haben. Ein Bein hatte er drinnen, eins draußen. Noch konnte er zurück. War Quick hier? Jemand mußte jedenfalls da sein. Der Fernseher, lief, und die beiden Mädchen waren um diese Zeit sicher nicht mehr in der Wohnung, sondern arbeiteten schon. War Quick vielleicht doch hier im Raum, lag auf der Lauer, wie ein Raubtier zum Sprung bereit, und er hatte den Jungen nur noch nicht entdeckt ? Würde er gleich ein Messer in das Bein gerammt bekommen? Er zog seine Pistole aus dem Halfter und entsicherte sie. Und er holte sein anderes Bein nach. Nun stand er im Zimmer und konnte sich in Ruhe umsehen. Er holte tief Atem. Auf Zehenspitzen durchquerte er das Schlafzimmer. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Hier blieb er einen Augenblick stehen. Nur der Fernseher lief, sonst konnte er nichts hören und sehen. Er schlich sich weiter bis zu dem anderen Schlafzimmer. Und er blickte sich in der Wohnung um. Kein Mensch zu sehen. In der Küche war es dunkel. Ein Licht brannte im Bad, die Tür stand offen. Immer noch hielt er seine Pistole fest umklammert. Den Sessel konnte er nicht genau erkennen. Ob da jemand drin saß? Sie lag auf dem Bett und schlief. Und sie war allein in der Wohnung. Quick war of490
fensichtlich nicht hier. Steve schob die Waffe in den Halfter zurück und blieb in der Tür stehen, betrachtete die Schlafende. Sie hatte sich auf die andere Seite gewälzt und gähnte. Dann stützte sie sich auf die Ellenbogen und guckte weiter fern. Nach ein paar Minuten warf sie den Kopf zurück auf ihr Kissen und blieb so eine Weile mit geschlossenen Augen liegen. Ein hübsches Mädchen, der Morgenrock war ihr ein wenig von den Schultern gerutscht. Sie warf sich auf den Rücken, Sekunden verstrichen. Gähnend öffnete sie die Augen und starrte ihn an, ohne zu verstehen. Sie fuhr hoch, zog den Morgenrock zurecht. »Was tun Sie hier?« »Wo ist Ihr Bruder?« »Wie sind Sie hier reingekommen?« »Wo ist Johnny?« »Ich weiß es nich. Hab' ich Ihnen doch gestern schon gesagt. Wann wollen Sie mich endlich in Ruhe lassen? Wie sind Sie überhaupt reingekommen? Und wenn Sie ein Polizist sind, was ich nicht glaube, dann sagen Sie mal, wo Ihr Kollege ist?« »Unten.« Steve zog seine Polizeimarke aus der Tasche und hielt sie ihr hin. »Johnny hat wieder einen Raubüberfall begangen. Nur zwei Häuserblocks von Ihrer Wohnung entfernt, Cindy. Wenn der Mann sich gewehrt hätte, wäre er von Ihrem Bruder umgebracht worden. Das steht fest. Nun sagen Sie schon, wo er ist.« »Ich glaube Ihnen kein Wort. Wenn Sie von meinem Bruder sprechen, hört es sich an, als wäre er ein
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Ungeheuer, eine Bestie. Was er braucht, ist Hilfe. Er ist doch noch ein Kind.« »Die beiden alten Leute, die er umgebracht hat, waren meine Eltern.« Sie war so erschüttert, daß sie nichts antworten konnte. Sie senkte den Blick. »Wo ist er?« »Ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht.« Sie hatte Mühe, zu sprechen. Sie war sehr blaß geworden, fast grün im Gesicht, als sei ihr übel. »Wie ich Ihnen gestern sagte, wir haben ihn weggeschickt und gesagt, daß er nicht wieder hierher zurückkommen kann.« »Wann haben Sie genau zum letzten Mal mit ihm gesprochen?« »Gestern nachmittag, so zwei oder drei Uhr.« »Und wann genau haben Sie ihn weggeschickt? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Ja, dann. Es war bestimmt nicht später als drei.« »Wie kommt es dann, daß der Junge in der darauffolgenden Nacht um ein Uhr in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft einen Raubüberfall verübt hat?« »Ich weiß es nich.« »Ich glaube, Sie lügen. Ich glaube, daß er wieder herkommt, und daß Sie das auch wissen.« Sie blickte ihn trotzig an. »Wir haben ihm gesagt, daß er gehen soll. Ich lüge gar nich! Ich schwöre Ihnen, daß ich nich lüge. Echt.« Er glaubte ihr. Aber wenn Quick sich letzte Nacht hier rumgetrieben hatte, war er wahrscheinlich immer noch in der Gegend und möglicherweise würde er wieder herkommen, ohne daß Cindy es vermuten konnte. Und er wollte Quick allein treffen. Die Schwester war für ihn im Grunde uninteressant. Das beste wäre, draußen nach Quick Ausschau zu 492
halten. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zur Tür und verließ die Wohnung. Er eilte die Treppen hinunter. Die Straße war menschenleer. Er überquerte sie und ging zu dem dort immer noch parkenden Lastwagen. Er erklomm die Ladefläche. Er wachte auf, als die Tür des Führerhauses zuknallte. Der Motor sprang an. Viel zu schlaftrunken, um einen klaren Gedanken zu fassen, kroch er über die Ladefläche und schwang sich hinunter. Nicht gerade sanft kam er auf den Händen auf. Er sprang auf die Füße und ging in Richtung Eleventh Avenue davon. Er lief bis zur nächsten Straßenecke, lehnte sich wieder gegen das Schaufenster, und blickte auf seine Uhr. Fast halb drei. Er hatte Stunden auf dem Lastwagen zugebracht, die ganze Zeit auf die Haustür gestarrt. Irgendwann mußte er eingenickt sein. Ob er Quick verpaßt hatte? Das würde er wahrscheinlich nie herausfinden. Als ein Taxi um die Ecke bog, hob er die Hand und hielt es an. Er ließ sich zu seiner Wohnung bringen. Dort zog er sich schnell aus und ließ sich erschöpft auf sein Bett fallen. Er war sicher, daß das Telefon klingelte, aber er war noch viel zu verschlafen, um zu verstehen, warum. Oder war es die Klingel ? Er blinzelte zum Fenster. Es war immer noch dunkel draußen. Das letzte Mal, als er nachts aufgeweckt wurde, standen Mazilli und die Jungs vor der Tür, um ihm die Nachricht wegen seiner Eltern zu bringen. Aber das war ja längst vorbei. Das konnte nicht noch einmal geschehen.
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Es klingelte wieder. Es war eindeutig das Telefon. Nicht die Haustür. Er knipste das Licht an und blickte auf seine Uhr. Noch nicht mal sechs. Er hechtete zur anderen Seite des Bettes und nahm ab. »Ja?« »Stefan? Stefan? Bist du es? Stefan, hier spricht Grodek, der Fleischer.« »Mr. Grodek? Was ist los?« »Stefan! Er war wieder da. Heute nacht. Der Junge. Er ist wiedergekommen.«
26. Kapitel Ein Hut. Und vielleicht eine Sonnenbrille. Und vor allen Dingen durfte er nicht einfach so rumlaufen. Er mußte sich irgendwo hinsetzen, wo Quick ihn nicht sofort bemerken würde. Ein Hut wäre bestimmt nicht schlecht. Er hatte keinen auf, als der Junge ihm in der Eisdiele über den Weg gelaufen war. Auch nicht bei den Gerichtsverhandlungen. Er könnte sich auf eine Bank im Tompkins Square Park setzen, einen Hut auf dem Kopf, mit einer Zeitung in der Hand. Und ebenso aussehen, wie die Ukrainer, die sich dort Tag für Tag aufhielten. Und früher oder später würde Quick auftauchen. Der Überfall auf Grodek bewies, daß der Junge wieder in seinem alten Viertel aktiv wurde. Also würde er auch durch den Park kommen. Er vertraute bestimmt darauf, daß kein Polizist ihn mit dem kurzen Haar erkennen würde. Wenn er nicht in der Zwischenzeit doch noch Kontakt mit seiner Schwester aufgenommen hatte. Sie hätte ihm natürlich gesagt, daß die Polizei informiert sei über sein Aussehen. Aber genausogut war es möglich, daß Cindy 494
nicht gelogen hatte, als sie ihm erzählte, sie hätte Quick in den Wind geschickt. Und es konnte sein, daß Quick sich auch daran hielt. Die Polizei jedenfalls würde den Jungen drüben in West Forties suchen. Er hatte Quick nach wie vor ganz für sich allein. Er mußte ihn nur finden. Vielleicht hatte er Glück. Wenn das Herumsitzen im Park sich als sinnlos erwies, konnte er sich einen Wagen mieten und kreuz und quer durch die Gegend fahren. In einem Auto würde Quick ihn niemals erkennen. Und er mußte schließlich irgendwo stecken. Der Überfall auf Grodek bewies das ja. Die Sache auf West Fortyninth hatte der Junge auch zu verantworten. Das war klar. Kein Zweifel. Er hatte zu dem Zeitpunkt garantiert noch in der Nähe von Cindys Wohnung rumgelungert und sich ein bißchen Geld organisiert, ehe er sich wieder den heimatlichen Gefilden zuwandte. Aber jetzt war er zurück. Wer weiß, vielleicht würde Quick noch mal bei Grodek auftauchen. Vielleicht wäre es sinnvoll, sich in der Metzgerei aufzuhalten und dort auf ihn zu warten. Aber nein, das war zu unwahrscheinlich. Der Junge war viel zu clever für so was. Außerdem, wenn er dort tatsächlich auftauchte, dann wären sie nicht allein. »Sagen Sie mir genau, was passiert ist, Mr. Grodek. Jede Einzelheit muß ich wissen.« »Stefan, was soll ich dir noch erzählen. Er ist zurückgekommen. Genau, wie ich es erwartet habe. Wir alten Leute, glaub' mir, wir wissen so was.« »Wann ist er denn genau gekommen?« »Gerade als ich den Laden schließen wollte. Er setzte mir wieder das Messer an die Kehle, und da 495
hab' ich ihm alles Geld gegeben.« »Wieviel haben Sie in der Kasse gehabt?« »Wieviel? Ich weiß nicht genau, wieviel. Vielleicht zweihundert. Vielleicht etwas mehr.« »Und sein Haar war sehr kurzgeschnitten?« »Zuerst hab' ich ihn gar nicht erkannt. Sehr kurzes Haar. Aber als ich sein Messer sah, wußte ich Bescheid.« »Und was hatte er an?« »Darauf hab' ich nicht geachtet.« »Versuchen Sie sich zu erinnern, Mr. Grodek. Sie müssen doch irgendwas gesehen haben. Welche Farbe hatte sein Hemd?« »Blau, glaube ich.« »Blau?« »Ich glaube.« »Hellblau? Dunkelblau?« »Blau. Kein sehr dunkles Blau.« »Und seine Hose?« »Stefan, darauf habe ich nicht geachtet, die hab' ich gar nicht gesehen. Stefan...« »Lassen Sie sich die Sache nicht zu nahe gehen, Mr. Grodek.« * Kornienko warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Zwanzig vor fünf. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und wandte sich an Angie. »Ich mach' Schluß für heute.« »Dann bis morgen«, sagte Angie und blickte sich prüfend im Raum um, ob irgend jemand bemerken würde, daß Steve früher ging. »Du bist erst in zwanzig Minuten fertig.« »Ich mach' trotzdem Schluß.« »Also dann, bis morgen.« 496
»Vielleicht.« »Vielleicht? Was zum Teufel soll das denn schon wieder heißen?« »Mir ging's schon mal besser als im Moment. Wer weiß wie's morgen ist. Klar?« Angie starrte ihn nur wortlos an. Er ignorierte Angies fragenden Blick und verschwand, ohne sich noch mal umzudrehen. Er lief stadteinwärts. Es stimmte schon, daß es ihm nicht besonders gutging. War ja auch ein anstrengender Tag, besonders eine harte Nacht gewesen. All die Stunden auf dem Laster, um drei war er erst nach Hause gekommen, und dann noch Grodeks Anruf um sechs. Ab acht Dienst, Fahrt in die Stadt. Die Mordsache, der alte Mann. Die Vernehmung der Nachbarn. Es war ein aufreibender Tag gewesen. Kurz vor Dienstschluß waren sie aufs Revier zurückgekehrt. Das mühselige Niederschreiben der Berichte. Er ging ins Kaufhaus May's und kaufte einen Hut, wählte absichtlich einen aus, wie ihn die alten Männer im Park trugen: schmale Krempe, altmodische Form. Dann ging er zu einem Zeitungsstand und nahm sich eine Daily News vor. Mit der zusammengefalteten Zeitung in der Rechten spazierte er in den Park auf der Höhe Seventh Street/ Avenue A. Er suchte sich eine Bank aus, die den Blick quer durch den Park freigab. Es war schwül. Kein Lüftchen regte sich. Er schlug die Zeitung auf und hielt sie so, daß er unauffällig über ihren Rand hinwegsehen konnte. So hatte er alles gut im Blick. Schließlich begann er etwas zu lesen. Schon nach kurzer Zeit flimmerte es vor seinen Augen, die Zeilen verschwammen. Seine Lider wurden schwer 497
und schwerer. Er ließ die Hände sinken, die Zeitung fiel auf seine Knie. Ich darf nicht einschlafen, dachte er. Höchstens ganz kurz. Er könnte ja nach Quick gleich noch Ausschau halten... Er fuhr hoch und blickte auf seine Uhr. Er hatte fast zwanzig Minuten geschlafen. Er nahm die Zeitung wieder auf und tat so, als lese er. Ob Quick wohl kommen würde? Vielleicht war er gerade in den paar Minuten vorbeigeschlichen, während er schlief. Vielleicht hatte der Junge ihn sogar gesehen und beobachtet. Vielleicht hatte er ihn ausgelacht und war weitergegangen. Alles war möglich. Aber immerhin hatte ihn das kurze Nickerchen etwas erfrischt. Jetzt konnte er auch die kommenden Stunden überstehen und die Augen offenhalten. Im Park war ganz schön was los. Viele Spaziergänger. Gut möglich, daß Quick die Gelegenheit nutzte, um sich unter die Menge zu mischen. Und was dann ? Sollte er ihm folgen? Sehen, wohin er ging? Ihn überwältigen, fesseln, und ihn irgendwohin schleppen, wo sie keiner entdecken konnte? An eine Stelle, wo sie ganz allein waren. Aber wohin? Vielleicht in eins von diesen Abbruchhäusern in der Eleventh Street. Dahin, wo Quick wohnte. Oder irgendwo anders hin, wo es dunkel war. Er würde das alles vom Moment abhängig machen. Es hatte gar keinen Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln. Aber war diese ganze Idee von ihm überhaupt sinnvoll? Wenn er Quick allein fassen wollte, mußte er ihn überraschen. Ihm auflauern. Irgendwo auf ihn warten. Vielleicht da, wo Quick sein Versteck hatte, wo auch immer das war. Er mußte den Jungen zuerst sehen und dann... 498
Acht Uhr. Er war nun lange genug hiergeblieben. Er legte die Zeitung beiseite und überquerte die Straße. Im Leshko's drängte er sich an den Leuten vorbei, die an der Theke standen, suchte die Toilette auf und erleichterte sich. Dann kehrte er zu seiner Bank im Park zurück. Zum Zeitunglesen war es inzwischen schon zu dunkel geworden. * Es hatte nicht übel in dem Restaurant gerochen, er hatte Hunger, aber keine Zeit zum Essen. Vielleicht etwas später. »Ich würde mir gern mal eine von diesen Taschenlampen ansehen«, sagte Quick und deutete in eine Ladenvitrine. Der Verkäufer nahm die Taschenlampe heraus und gab sie ihm. »Wieviel?« Er knipste sie an und aus und prüfte die Stärke der Lampe. »Ein Dollar neunundvierzig plus Steuer.« Quick wog die Lampe nachdenklich in der Hand. »Und wie macht man neue Batterien rein?« »Gar nicht. Das ist nicht möglich. Das Ding hat eine feste Batterie drin, die sehr lange Stoff gibt. Aber wenn der mal zu Ende ist, dann wirfst du das Ding weg.« »Scheißding«, murmelte Quick. Der Verkäufer verzichtete auf einen Kommentar. »Haben Sie auch so eine, die klein ist, und die man in die Tasche stecken kann? Ich meine, ein anderes Modell?« »Nein, andere führen wir nicht. Nur das, was du hier siehst.« »Dann nehm' ich die da. Kommt ja nicht so drauf an. Hab' genug Knete.« Quick nahm aus seiner neuen Brieftasche einen Fünfdollarschein. Er lächelte, als er bemerkte, was 499
für Stielaugen der Verkäufer machte. Es war bestimmt 'ne kleine Ewigkeit her, daß dieser Typ mal einen Jungen in seinem, Quieks, Alter gesehen hatte, der so ein dickes Bündel Geldscheine in einer eleganten Brieftasche mit sich herumtrug. Er verließ den Laden und klopfte sich auf die Hosentasche, in der die Lampe steckte. Die brauchte er ganz dringend für seine neue Behausung, wenn es dunkel war. Er ging Richtung Eighth Avenue. Wär doch nicht übel, sich mal wieder 'nen flotten Porno reinzuziehen. Vielleicht auch 'ne richtige Peep Show. Könnte sich dieselbe wie neulich zu Gemüte führen. Und beim Glotzen mußte er unbedingt weiter über sein momentan größtes Problem nachdenken, nämlich wie er bei T. J. ins Schlafzimmer kommen konnte, ohne daß Cindy es schnallte. * Fast zehn Uhr, und er hatte einen irren Hunger. Ihm lief förmlich das Wasser im Mund zusammen, bei dem Gedanken an Leshko's auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Die machten bald zu, genau wie das Odessa. Kaum noch Leute im Park. Es gab auch nur wenige Verrückte, die sich um diese Zeit noch hierher wagten. Nein, die hatten wirklich allen Grund dazu, sich den dunklen Parkanlagen fernzuhalten. Eigentlich war es genau die richtige Zeit für Quick, um hier aufzutauchen. Kornienko sah noch einmal zu den beiden Restaurants hinüber, löste schließlich aber seinen Blick. Er mußte Quick kriegen, durfte kein Risiko eingehen. Essen konnte er immer noch. 500
* Barbara griff nach dem Telefonhörer und rief bei Steve an. Sie ließ es bestimmt ein Dutzend Mal läuten. Als sich niemand meldete, legte sie auf. * Quick stand auf dem Bürgersteig gegenüber von Cindys Wohnung. Er blickte in das schmale Gäßchen, das die eine Seite des Hauses begrenzte. Er brauchte sein Seil und das Eisen. Wenn er die Sachen hätte, wäre es überhaupt kein Problem. * Mitternacht vorbei. Halb eins. Und der Park war fast leer. Er hatte nun schon über zwei Stunden so unbequem dagesessen. Den Hut bis über die Augen, den Kopf leicht vornübergebeugt, als schliefe er. Und vor allem wollte er vermeiden, so groß auszusehen. Längst hatten die Anwohner des Viertels, die alten Ukrainer, die Schachspieler, den Park verlassen. Eigentlich genau mit dem Einsetzen der Dämmerung. Die paar Leute, die später noch hier durchkamen, waren meistens in Gruppen, gingen schnell. Und die wenigen, die allein durch die Grünanlagen gingen, warfen nervöse Blicke um sich, beeilten sich und waren darauf gefaßt, jeden Moment loszurennen, wenn's nötig wurde. Am Nordrand des Parks trieben sich ein paar Jugendliche herum. Neger. Tenth Street und Avenue B. Kornienko konnte sie nicht sehen, aber er hörte ihr auf volle Lautstärke gestelltes Kofferradio. Rockmusik. Er stellte sich vor, daß die Bier tranken und die leeren Dosen mit den Füßen egal-wohin beförderten. Wahrscheinlich ließen sie auch einen Joint rumgehen. 501
Die Musik schien näherzukommen, und schon sah Kornienko die vier Gestalten, die auf ihn zumarschierten. Einer hatte ein riesengroßes transportables Radio um die Schulter hängen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Sie hatten ihn längst auf seiner Bank entdeckt und musterten ihn sehr genau. Kornienko setzte sich aufrecht hin und schob den Hut zurück. Als sie bei ihm angekommen waren, trennten sie sich und bildeten eine Art Halbkreis um ihn. »Also, könnt ihr mir mal sagen«, meinte einer der Jugendlichen zu den anderen, »was dieser Typ hier mitten in der Nacht verloren hat?« »Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten«, gab Kornienko zurück, »was ihr auch besser tun solltet.« »Und was ist, wenn uns deine doch interessieren?« Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihre Hände waren tief in den Hosentaschen vergraben, und zwei von ihnen hatten eine leicht gebeugte Körperhaltung angenommen. Er stand auf. Sie mußten sehen, daß er mindestens einen Kopf größer war als sie. »Verpißt euch, alle!« Als einer von ihnen noch einen Schritt weiter auf ihn zukam, hielt er es nicht länger aus. Er griff nach seinem Revolver. »Wenn ihr noch weiter rumnerven wollt, kommt nur einen Schritt näher. Ihr könnt mir glauben, ich bin nicht zimperlich. Macht 'ne Fliege, sonst leg' ich euch alle miteinander um.« »He, Mensch, bist du 'n Bulle?« »Du hast's erraten.« 502
»Is ja schon gut, Mensch, reg dich ab. Wir tun ja keinem was. Brauchst keinen umzulegen. Echt nich. Wir laufen hier nur so'n bißchen rum. Nur so eben. Machen 'n bißchen Spaß. Weiter nix.« »Dann verpißt euch, alle vier, 'n bißchen plötzlich.« »So 'ne Scheiße«, stöhnte einer der Jungen, während sie langsam rückwärts vor Kornienko zurückwichen und nach einem gewissen Sicherheitsabstand sich wie auf Kommando umdrehten und in Richtung Avenue A losrannten. »Je größer die sind, desto frecher werden die Bullen noch«, konnte Kornienko gerade noch hören. Er ließ sich wieder auf der Bank nieder. Es würde schon einen Moment dauern, bis er sich etwas abgeregt hatte. Nur ein Verrückter, Lebensmüder konnte hier ja auch um diese Zeit rumsitzen. Der Tompkins Square Park blieb seinem Ruf treu. Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Wieder nahm er seine unbequeme Schlafhaltung ein. Er würde Quick noch eine Stunde geben, vielleicht auch 'n bißchen mehr. * Kornienko stand von seinem Schreibtisch auf und holte sich einen Becher Kaffee. Er konnte gar nicht genug von dem Zeug in sich reinschütten, um endlich einigermaßen wach zu werden. Er war bis nach drei im Park geblieben und hatte immer wieder ein paar Minuten zugegeben, in der Hoffnung, Quick würde doch noch auftauchen. Schließlich hatte er es aufgegeben und war in einen Coffeeshop gegangen, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Einen
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Hamburger hatte er noch bekommen, und um vier war er dann endlich ins Bett gefallen. Angie war zur Abwechslung mal ausgesprochen ruhig, statt wie sonst mit ihm über dies und jenes zu schwatzen. Er saß über seinen Schreibkram gebeugt und arbeitete still vor sich hin. Nur ab und zu warf er einen Blick zu Steve rüber. Nachdem Kornienko zu seinem Platz zurückgekehrt war, rief er die Mordkommission an und ließ sich mit Lamson verbinden. »Gibt's was Neues?« »Tut mir leid. Nicht gerade viel. Eins vielleicht. Wir ziehen den Mann von der Eleventh Street ab. Ich sehe wenig Hoffnung, daß der Junge nach fünf Tagen dort nun plötzlich doch noch auftaucht. Und immerhin sind es drei unserer Jungs, die wir damit voll beschäftigt haben. Mehr können wir im Augenblick für die Sache nicht tun, meine ich.« »Na gut.« »Das hört sich ja nicht mal enttäuscht an, Steve.« »Ich nehm's eben, wie es ist.« »Du siehst es ein, daß wir nicht länger unsere Leute da ihre Zeit vertun lassen! Hm?« »Na sicher.« »Außerdem glauben wir, daß der Junge sich in einem neuen Revier festgesetzt hat. West Forties. Wir konzentrieren jetzt die Fahndung auf dieses Gebiet.« »Hört sich vernünftig an.« »Sag mir mal eins, Steve. Wo hast du bisher gesucht?« »Wie kommst du denn darauf, daß ich... ?« »Steve, verscheißern kann ich mich auch alleine, ja? Wo hast du dich umgesehen?«
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»Hier und da eben. So viel habe ich eigentlich nicht unternommen. « »Gibt's nichts, was du uns sagen kannst?« »Wenn ich was hätte, würde ich's schon an euch weitergeben.« »Steve, hör mal. Wenn du ihn als erster findest, mach ja keine Dummheiten. Hörst du?« »Mach dir darüber mal keine Sorgen, AI.« »Wir wissen alle, wie's dir gehen muß. Wir würden bestimmt genauso empfinden. Aber wenn du irgendwas anstellst, Steve, können wir dir trotzdem nicht weiterhelfen.« »AI, ich sagte doch, mach dir darüber keine Sorgen. Okay? Ich kenne mich mit dem Gesetz schon einigermaßen aus. Kannst du mir glauben.« Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, starrte er gedankenversunken auf sein Blatt Papier, das in der Schreibmaschine steckte. Vier Uhr. Er stand auf und ging an Angies Schreibtisch vorbei. Im Türrahmen blieb er stehen. »Ich fühl' mich nicht gut. Ich halt's hier nicht mehr aus. Muß nach Hause.« Aber er drehte sich dabei nicht um. Er konnte Angie nicht in die Augen blicken. Er verließ das Gebäude und begab sich zum University Place. In dem Büro einer Leihwagenfirma erkundigte er sich nach dem billigsten Wagen, den sie zur Verfügung hätten. Er bekam einen zweitürigen Toyota mit Knüppelschaltung. »Wie lange brauchen Sie ihn?« »Ich weiß noch nicht genau. Vielleicht nur heute.« Er fuhr aus der Garage, bog auf die Twelfth ab und hielt sich östlich. Er fuhr langsam, den Blick auf die Bürgersteige gerichtet. Schließlich bog er in die Avenue C. ab, umrundete den Block und fuhr die 505
Eleventh zurück. Er kam an Quieks Haus vorbei. Wie schon so oft, ließ er seinen Blick über die Fassaden der Häuser gleiten. Schlimme Gegend. Einige Häuser waren ausgebrannt, in anderen die Fensterscheiben eingeworfen, Fenster und Türen zugenagelt. Müll und Unrat türmte sich auf den Gehsteigen. Und trotzdem waren die Straßen keineswegs wie ausgestorben. Es war viel los hier. Am Straßenrand parkten Autos, dichtgedrängt und auf beiden Seiten. Quieks Haus war eins der schlimmsten, obwohl es noch von oben bis unten bewohnt war. Nahe der Kreuzung Avenue B stand ein alter Chevrolet, die Motorhaube war geöffnet. Zwei Jungen waren über den Kotflügel gebeugt, schraubten am Motor herum. Er fuhr langsam bis zur Third Avenue und kehrte auf der Tenth Street zurück. Er fuhr nun am Nordrand des Tompkins Square Park entlang. Vor den Village East Towers bog er nach rechts in die Avenue C ab. Zurück auf der Seventh, an der Südseite des Parks entlang. Er überquerte Avenue A, kam an dem Bestattungsinstitut vorbei, das die Beisetzung seiner Eltern besorgt hatte. Die Wohnung von Vater und Mutter, die immer noch leerstand. Der Laden, geschlossen, und schließlich die neue Kirche. Wo die alte gestanden hatte, gab es jetzt einen Parkplatz. Vor weniger als sechs Wochen stand die überdachte Passage noch hier. Fünf Uhr. Er hatte im besten Fall drei Stunden, in denen es noch einigermaßen hell war. Danach war er auf die Straßenbeleuchtung angewiesen. Trotzdem waren die Nachmittags- und Abendstunden die besten. Quick war ein Raubtier, das tagsüber schlief und erst bei 506
Anbruch der Dunkelheit auf die Jagd ging. Es geschah so gegen acht Uhr. Er sah Quick, wie er über die Tenth Street schlenderte, auf der Höhe Avenue A und Avenue C. Kornienko schien es, als sei der Junge von einer Sekunde auf die andere auf der Straße erschienen, als habe er nur mal wieder eine Vision. Er hatte die beiden Straßenseiten voll unter Kontrolle gehabt, und die Linke war menschenleer gewesen. Er hatte die rechte überblickt, ein paar Fußgänger. Und als er wieder auf die linke sah, kam plötzlich Quick auf ihn zugelaufen, mit einem Paket unterm Arm. Sein Haar war wirklich sehr kurz, und er hatte ein helles, bedrucktes Hemd an, aber es war auf alle Fälle Quick. Er stieg auf die Bremse. Sekunden später begann hinter ihm ein wütendes Hupkonzert. Der richtige Moment war versäumt. Er hatte den Jungen gesehen, aber der lief auf der anderen Straßenseite. Wie sollte er dem Jungen folgen? Beide Seiten waren zugeparkt, es gab keinen Platz, wo er den Wagen hätte lassen können, um die Verfolgungsjagd aufzunehmen. Er schlug verzweifelt mit der Faust gegen das Armaturenbrett. Nun hatte er endlich mal Glück gehabt, und dann dies... Er trat aufs Gas und raste über die Kreuzung. Ein Hydrant kam in Sicht. Er hätte rechts ranfahren können, die Lücke war groß genug. Aber war das klug? Inzwischen hatte Quick einen riesigen Vorsprung. Es war bestimmt besser, um den Block zu fahren. Er bog in die Avenue C ein, fuhr bei Rot über die Kreuzung, zwang einen anderen Wagen zur Vollbremsung. Er jagte um den Block. Als er wieder auf der Tenth Street ankam, war von Quick keine Spur mehr zu sehen. 507
Wo war Quick langgegangen? Weiter Richtung Westen? Vielleicht. Eher nordwärts? Unwahrscheinlich. Das führte ihn zu nah an die Eleventh Street, an die Wohnung. Südlich? Dann hätte er ihn ja gesehen. Vielleicht noch weiter auf der Tenth Richtung Westen. Irgendwohin mußte er schließlich gegangen sein. Er konnte ja nicht einfach wie vom Erdboden verschluckt sein. Er fuhr die Tenth entlang, blickte auf beide Straßenseiten abwechselnd. Hier war Quick nicht. Er ballte seine Hände zu Fäusten, beugte sich übers Lenkrad. Er hätte schreien können vor Frust. Quick hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Neun Uhr. Eine Stunde war vergangen, seit er den Jungen entdeckt hatte. Kornienko war wie ein Wilder durch die Straßen der Lower East Side gekurvt. Allmählich hatte er sich wieder etwas beruhigt. Nun war er wieder zu der Stelle zurückgekehrt, wo er Quick gesehen hatte. War der Junge vorher von einem parkenden Auto verdeckt gewesen und deshalb so urplötzlich vor ihm aufgetaucht? Auf einmal stellte Steve fest, daß hier eins der Häuser unbewohnt war, direkt an der Stelle, wo Quick erschien. Ob der Junge da rausgekommen war? Er beschloß, den Wagen zu parken und sich die Sache mal näher anzusehen. Er fand eine Lücke vor dem Hydranten, die einzige, die es weit und breit gab. Wenn der Mietwagenfirma ein Strafmandat ins Haus flatterte, konnte ihm das doch egal sein. Er lief das Stück bis zu der düsteren Fassade des total heruntergekommenen Hauses. Viel war nicht mehr davon übrig. Drinnen war es ziemlich dunkel. Ob Quick diese Ruine als Unterschlupf ge508
wählt hatte? Oder hatte er auf diese Weise einen versteckten Zugang zur Eleventh Street'? Aber warum sollte er unbedingt dorthin wollen? Er hielt es offensichtlich ganz gut ohne sein Zuhause aus. Was war überhaupt mit den ganzen Ruinen, die auf der Eleventh Street standen? Er stieg die Stufen zum Haus hoch. Es war dunkel, viel zu dunkel, um ohne Tageslicht etwas erkennen zu können. Er hatte ja nicht einmal eine Taschenlampe bei sich. Aber wenn der Junge hier wirklich rausgekommen war, würde er sicher auch wieder zurückkehren. Also war das hier eine ideale Stelle, um zu warten: Wenn Quick kam, waren sie ausgesprochen allein hier. Er entdeckte eine Stelle, von der aus er den Eingang sehr gut überwachen konnte und setzte sich hin, den Rücken an die Mauer gelehnt. Kornienko hob den Kopf. Es hatte zu regnen begonnen, und er hörte, wie die ersten Tropfen auf den Bürgersteig prasselten. * Quick hatte einen Platz in der Ecke des Wagens ergattert. Er saß ruhig da und blickte die Mitfahrenden an. Das Restaurant auf der Avenue B war keine gute Idee gewesen. Ihm hing der Magen schief. Der Hamburger war der schlechteste, den er je gegessen hatte, und die Pommes f rites waren auch nicht besser. Da würde er nie wieder hingehen. Er war schon einmal dagewesen, und damals schmeckte es nicht ganz so mies. Aber diesmal, echt, der letzte Dreck. Man mußte den Koch gewechselt haben oder so. Er hievte die Tüte mit seinem Seil und dem Brecheisen auf seinen Schoß. Vorher hatte das
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neue Hemd dringelegen, das er inzwischen angezogen hatte. Als der Zug langsam in die Station einfuhr, blickte er auf. Noch eine, dann war er da. * Cindy stand im Eingang eines Geschäfts auf der Lexington Avenue und starrte in den Regen hinaus. Nutte zu sein, war schon schlimm. Aber Nutte und Regen, das war echt das Letzte. Sie haßte es, im Regen rumzustehen, die Kleider wurden naß, ach, überhaupt alles. Als vor ein paar Stunden jemand an ihre Wohnungstür geklopft hatte, war sie sicher gewesen, daß wieder dieser verrückte Bulle aufgetaucht war. Sie konnte und wollte ohne Kette nicht öffnen, und die war noch nicht repariert. Deshalb hatte sie an der Tür gelauscht und schließlich gefragt, wer dort sei. »Also doch. Du bist zu Hause. Hab' ich's mir doch gedacht, Schätzchen.« Es war Scarlett. »Ich bin krank.« »Laß mich rein.« Sie machte die Tür auf. »Ich kann im Moment nich anschaffen gehen, echt nich. Ich bin krank.« »Cecil hat seit vier Tagen schon keinen Nickel mehr von dir gesehen, Liebling. Tz, tz. Das geht doch nicht. Du hast anscheinend nicht genug Respekt vor deinem Boß, he? Stell dir mal vor, Cecil müßte extra vorbeikommen, dann bist du wirklich krank, Schätzchen.« »Scarlett, ich kann nich da raus. Ich...«
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»Wir wissen alles über deinen Bruder. Brauchst mir nix zu erzählen. Du wechselst ganz einfach zur East Side rüber, und da hast du bestimmt keine Probleme...« Der Regen war stärker geworden. Sie bemerkte einen Mann mit Schirm, der auf sie zukam. Ein möglicher Freier? Die mit Schirm waren meist leicht zu haben. Gut erzogen, freundlich. Keine Perversionen. Bürgerlich. Richtig lieb. Cindy schob ihr Bein etwas vor und befeuchtete ihre Lippen. Aber sie hatte sich zu früh gefreut. Bevor er nahe genug an ihren Ladeneingang gekommen war, war schon ein anderes Mädchen auf ihn zugetreten. Und er schüttelte sie ab. Der Mann ging weiter, an Cindy vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie wußte, daß es keinen Sinn haben würde, ihn weiter zu bedrängen. Was war nur los ? Das konnte mal wieder 'ne ruhige Nacht werden. »Cynthia?« Sie fuhr herum. Es war Tony, ihr Leib- und MagenPolizist, der plötzlich wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht war. »Was willste?« »Komm. Du bist festgenommen.« »Weshalb denn?« »Wie wär's mit Herumlungern auf der Straße?« »Warum gerade ich? Ich tu' doch gar nichts. Warum nich den kleinen Engel da drüben auf der anderen Straßenseite. Haste nich gesehen, wie sie den armen Kerl mit Regenschirm angemacht hat?«
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»Ich nehme eben viel lieber dich. Wo warst du die ganze Zeit, nebenbei gefragt? Wir suchen dich schon seit drei Tagen.« * T. J. schloß die Wohnungstür auf und betrat den Flur. Es war kein Laut zu hören. Komisch, war Cindy nicht da? Sie ging zum Schlafzimmer der Freundin und machte das Deckenlicht an. Hatte Cindy nicht gesagt, daß sie heute nicht anschaffen ginge? T. J. schüttelte verständnislos den Kopf und holte sich aus der Küche ein Schaefers-Bier. Sie hebelte die Kappe ab, warf sie in den Mülleimer und ging in ihr Zimmer, das Bier in der Hand. Sie trank aus der Flasche. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, drehte sie sich einen Joint, legte sich gemütlich aufs Bett und nahm ein paar Züge, legte den Joint auf den Aschenbecher und stand wieder auf. Mit dem Bier lief sie ins Badezimmer. Zwanzig Minuten später war sie fertig, machte das Licht aus und legte sich ins Bett. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie die Schranktür quietschen hörte. Unmöglich, und doch war es so. Sie setzte sich auf, und obwohl es sehr dunkel im Zimmer war, konnte sie sehen, daß sich die Schranktür bewegte. Sie schrie. Die Tür flog auf, und zum Vorschein kam Cindys Bruder. »Reg dich ab«, sagte er und grinste sie an. »Ich bin's, Johnny.« »Mein Gott! Was fällt dir ein, mich so irre zu erschrecken? Also, das is echt 'ne Unverschämtheit, du. Hau ab, sag' ich dir, und zwar 'n bißchen plötzlich. Sonst schrei' ich das ganze Haus zusammen, echt.« 512
»Ich hab' die fünfzig. Wie abgemacht. Erinnerst du dich nich?« »Is mir scheißegal, was wir ausgemacht haben, echt. Hau ab.« Quick kam auf sie zu und setzte sich auf die Bettkante. »Ich sagte, ich hab' die fünfzig. Und wir haben abgemacht, daß ich wiederkomme.« Das Klicken eines Messers. Sie spürte, wie die kalte Klinge an ihrem Hals entlangfuhr. »Johnny, nimm sofort das Ding weg.« »Ja oder nein?« Er verstärkte den Druck der Klinge auf ihrer Haut. »Steck das Messer weg und abgemacht. Okay, Liebling? Ich hab' dir ja immer schon gesagt, wie süß ich dich finde. Erinnerst du dich nich mehr daran? Also, steck's weg. Bitte.« Er ließ das Messer einschnappen und nahm es in die linke Hand. Mit der rechten begann er ihre Brust zu streicheln. »Du wirst sehen, wie gut ich bin, T. J. Ich weiß genau, wo's langgeht. Wirst ganz schön Augen machen.« »Laß nur das Messer weg, dann is' schon alles o. k.«
27. Kapitel Es hatte aufgehört zu regnen. Nur ganz allmählich wurde es heller. Purpurrot färbte die Morgendämmerung den Himmel, dann grau. Kornienko konnte von seinem Platz aus das Treiben auf dem Bürgersteig und der Straße beobachten, und er selbst blieb trotzdem unbemerkt von den Fußgängern, sogar, wenn sie dicht an ihm vorbeigingen. Er 513
hatte die ganze Nacht durchwacht. Quick war nicht aufgetaucht. Sonne. Es würde ein warmer, schwüler Tag werden. Besonders schlimm mittags. Er hätte gern die Jacke ausgezogen, aber wie wäre dann die Pistole verborgen geblieben? Sein Wadenhalfter lag weit weg in der Wohnung. Langsam stand er auf. Der Rücken schmerzte wie sein ganzer Körper vom stundenlangen, unbequemen Sitzen. Sein Po war eingeschlafen. Er streckte Arme und Beine, um sie etwas zu lockern. Draußen auf der Straße war schon viel Verkehr. Sogar ein paar Leute gingen nur wenige Schritte von ihm entfernt an der Fensteröffnung vorbei. Keiner blickte hindurch. Die hatten es viel zu eilig; sie waren unterwegs zur Arbeit oder zur Schule, die ihnen vielleicht eines Tages dazu verhelfen würde, einen oder zwei Block weiter westlich zu ziehen. Ein Süchtiger wankte vorbei, ein Weißer mit Bart, Ende zwanzig, wahrscheinlich, aber er sah aus wie ein Sechzigjähriger. Er hatte bestimmt gerade einen Schuß bekommen, einen, der jeden Normalsterblichen sofort umgepustet hätte, war total stoned, das stand fest. Heroin. Der Typ zögerte, blickte sich um. Er entdeckte Kornienko und lächelte schwach, überrascht, dort drinnen jemanden zu sehen. Er hob seinen Arm, um Steve zu grüßen. Dieser gab ihm ein Zeichen, er solle weitergehen. Der Fixer stutzte, wankte ein wenig und tat dann, wie ihm geheißen. Kornienko blickte sich in dem Haus um. Alle Türen waren abmontiert. Er schlenderte von Raum zu Raum, ging durch das, was früher mal das Treppenhaus gewesen sein mußte, in die nächste Woh514
nung. Er entdeckte eine Türöffnung, die aus dem Gebäude hinaus in einen winzigen Innenhof führte. Direkt anschließend daran befand sich ein Haus, das auf die Eleventh Street ging. Er blickte an der Fassade dieses Hauses hoch. Einige Wohnungen schienen bewohnt zu sein, aber die meisten waren eindeutig leer. Und wenn man sich hier umblickte, sah es jedenfalls so aus, als sollten die Berge von Unrat nach und nach bis über das Dach aufgehäuft werden. Ein Tummelplatz für Ratten. Eins stand fest. Hier irgendwo mußte Quieks Schlupfwinkel sein. Dies hier war für den Jungen heimatlicher Boden. Quick kannte bestimmt jeden Winkel. Er mußte sich zwar verstecken, aber immerhin war er noch ein Kind, das nach Hause wollte, oder wenigstens in die Nähe, wo es sich sicher fühlte. Und hier konnte er das. Zumal Quick wohl wußte, daß kein normaler Mensch, wenn er nicht unbedingt mußte, dieses Dreckloch betrat. Wenn Quick hier war, dann würde er, Steve, ihn auch finden. Er blickte sich noch einmal um. Die Hitze nahm ihm fast den Atem. Unerträglich. Er zog sich die Jacke aus. Er löste die Krawatte und steckte sie in die Hosentasche, zog das Hemd aus der Hose und ließ es überhängen, damit es die Pistole verdeckte. Als er das Auto erreichte, war er überrascht, daß er keinen Strafzettel bekommen hatte. Wo waren die Jungs? Oder hatte er einfach Glück gehabt? Er verstaute Schlips und Jacke im Kofferraum und machte sich auf den Weg zurück zu dem Haus, ohne eigentlich zu wissen, nach was er suchen sollte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß er etwas finden würde. 515
* Cindy kauerte im Fond des Polizeiwagens und blickte gelangweilt hinaus. Die zwei Bullen vorn kamen ihr bekannt vor, aber natürlich lange nicht so wie Tony. Fast jedesmal, wenn sie sie geschnappt hatten, war Tony derjenige welcher gewesen. Er war schon ziemlich so was wie ein alter Freund. An einen von den beiden Bullen konnte sie sich erinnern, der war mal mit Tony zusammen Streife gefahren. Die wechselten anscheinend immerzu. Alle Knochen taten ihr weh nach dieser Nacht im Kittchen. Mußte schon was Besseres geben, als bei Cecil anschaffen zu gehen. Echt. Irgendwo in der Stadt gab's ja schließlich auch Mädchen, die besser verdienten und schicker wohnten und überhaupt... Welche eben, die nicht andauernd von den Bullen aufgegriffen wurden und sich in Gefängnissen die Nacht um die Ohren schlagen mußten. War doch echt 'ne Sauerei in diesen Löchern... Ja, solche Mädchen gab's, die super Geld machten und tolle Apartments hatten. Luxusnutten. Aber wie sollte sie es anstellen, dazuzugehören? Wie Cecils Klauen entkommen? Und vor allem mit heiler Haut? Wie hatte sie überhaupt jemals auf seine beschissenen Versprechungen reinfallen können ? Das war mal 'ne echt gute Frage. Und wer, bitte, konnte ihr helfen, bei wem konnte sie sich mal 'nen guten Rat holen? Daß die Bullen sie in die Stadt fuhren, hatte garantiert was mit Johnny zu tun. Was die Gesetze gegen Prostitution anging, da kannte Cindy sich aus. Da konnte ihr keiner was vormachen. Tony hatte überhaupt keinen Grund gehabt, sie festzunehmen. Sie 516
hatte keinen Freier und nix. Außerdem hatte er sich ja irgendwie selbst verquatscht mit seiner Bemerkung, daß er sie schon drei Tage lang suche. Also, da war nichts mit Herumlungern und so. Aber er hatte ihr keine Erklärungen gegeben. Außer dem üblichen Bla-bla, er täte ja schließlich nur seinen Job, und ihm bliebe auch nichts anderes übrig. »Wo bringt ihr mich denn eigentlich hin?« hatte sie die beiden Beamten, die vorn saßen, gefragt, als sie sie ins Auto verfrachteten. »Ich denke, wir gehen nach oben in den Gerichtssaal?« »Wir haben Anweisung, Sie zum Revier in der Twentyfirst Street zu bringen.« »Wozu?« »Die wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen?« »Worüber denn?« fragte sie. Als ob ich es nicht selbst wüßte, dachte sie im stillen. »Das werden Sie dort schon noch früh genug erfahren.« Der Wagen stoppte. Sie waren in der Twentyfirst Street. Cindy sah mindestens ein halbes Dutzend blau-weiße Streifenwagen, die parkten. Sie brachten Cindy in den ersten Stock und zu einem schwarzhaarigen Polizisten. Sein hageres Gesicht war mindestens zur Hälfte durch einen dunklen Bart verdeckt. Er hatte sehr sympathische braune Augen. Als er aufstand und sie lächelnd begrüßte, mußte Cindy unwillkürlich denken, daß er für einen Bullen ausgesprochen nett und herzlich war. »Tag, Cindy«, sagte er. »Mein Name ist AI Lamson.« Er wandte sich an die beiden Beamten und nickte ihnen zu. »Danke, Jungs.« In dem Moment kam ein zweiter Polizist auf sie zu, einer, den sie
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sofort innerlich ablehnte. Ein dicker Typ mit einem ekelhaft sarkastischen Lächeln im Gesicht. »Das ist mein Kollege Wallace Mead«, stellte Lamson vor. »Geh'n wir in einen Raum, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.« Sie führten Cindy in ein kleines Zimmer mit einem Tisch und mehreren Stühlen. »Weshalb halten Sie mich eigentlich hier fest?« fragte Cindy. »Außerdem kann ich mir wohl kaum vorstellen, daß ich irgendeine Frage ohne meinen Anwalt beantworte.« »Cindy, ich glaube, Sie wissen ganz genau, worüber wir mit Ihnen reden wollen. Wir hoffen sehr, daß Sie uns helfen. Wenn Sie das tun, nun ja, eine Hand wäscht die andere, wie man so schön sagt.« »Was soll denn das heißen? Weshalb sollten Sie mir helfen müssen? Ich habe doch gar nichts gemacht. Weshalb haben Sie mich überhaupt 'ne ganze Nacht lang in dieses miese Rattenloch gesteckt? Sagen Sie mir jetzt sofort, weshalb Sie mich hier festhalten oder lassen Sie mich gehen. Jetzt gleich.« »Wir möchten uns nur mit Ihnen unterhalten.« Lamsons Gesichtsausdruck hatte sich merklich verändert, er sah jetzt richtig respekteinflößend aus. »Wenn Sie nicht mit uns reden wollen, werden wir Sie liebend gern an unsere Kollegen bei der Sitte weiterreichen, und dann können die mit Ihnen anstellen, was ihnen ursprünglich vorschwebte. Aber ich hoffe doch, daß wir uns noch einig werden, Cindy. Besser für Sie wäre es jedenfalls.«
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Sie holte tief Luft. Wie sie diese Bullen haßte! Aber der Typ nahm kein Blatt vor den Mund. Sprach offen aus, wie die Dinge lagen. »Also, was wollen Sie wissen, von dem Sie annehmen, ich wüßte es?« »Cindy, wir suchen Ihren Bruder Johnny, und es ist sogar in seinem eigenen Interesse, daß wir ihn so schnell wir möglich finden. Es ist ganz offensichtlich, daß der Junge die Hilfe braucht, die wir ihm in einer guten Jugendhaftanstalt geben könnten. Außerdem ist er stark gefährdet.« »Was heißt das?« Cindy mußte bei der Bemerkung Lamsons sofort an den riesigen Polizisten denken, der offensichtlich so wild hinter ihrem Bruder her war, daß er sogar in ihre Wohnung eingedrungen war. »Also, erst mal ist er in Gefahr, noch weitere Verbrechen zu begehen, die die ganze Sache komplizieren würden. Und nebenbei gesagt würde er damit seinen großen Vorteil verspielen, den er sich mit dem äußerst milden Urteil eingehandelt hat. Im übrigen wissen wir, daß er inzwischen einen neuen Überfall begangen hat.« »Haben Sie mir schon mal gesagt.« Cindy zuckte mit den Schultern. »Was soll ich getan haben?« »Na ja, nicht Sie. Dieser riesige Polizist, der neulich in meine Wohnung kam. Der hat mir das gesagt. Aber ich hab's ihm nicht geglaubt.« »Cindy, was für ein großer Polizist ist zu Ihnen gekommen? Und in die Wohnung?« Lamson warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu.
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»So ein großer eben, mit dunkelblondem Haar. Ich würde sagen, reichlich über eins achtzig groß. Sagte was davon, daß seine Eltern diejenigen waren, die mein Bruder umgebracht hat.« Cindy beobachtete genau, wie Lamson darauf reagierte. Warum blickte er den andern so komisch an? »Cindy, sagen Sie, wann war das? Wann war er in Ihrer Wohnung?« »Wissen Sie denn überhaupt, wen ich meine?« »Ja, sicher.« »Is er denn wirklich 'n Polizist?« »Ja.« »Die Sache mit seinen Eltern...« Cindy wurde plötzlich übel. »Ich meine...« Sie schluckte. »... is die wahr?« »Ja, ist sie. Der Name des Polizisten ist Steve Kornienko. Und es waren seine Eltern, die... Cindy, wann genau war er in Ihrer Wohnung? Versuchen Sie, sich zu erinnern.« »Sonntag nacht, ziemlich spät. Ja, sehr spät. Äh, es muß so gegen zwei Uhr morgens gewesen sein. Also zuerst, da hat er mich auf der Straße angesprochen und den Typ aus der Provinz markiert, na, Sie wissen schon, eben einer, der mal was erleben will. Großstadt und so... Dann muß er mir bis nach Hause gefolgt sein. Weil das nächste was er machte nämlich war, daß er mir die Tür eintrat.« Sie blickte Lamson in die Augen. Die Sache war wirklich ernst, viel schlimmer, als sie gedacht hatte. Lamson legte dem anderen Beamten den Arm auf die Schulter. »Ruf sofort mal das Elfte an. Sieh zu, ob Kornienko da ist. Wenn ja, ich will mit ihm sprechen. Leg mir 520
das Gespräch dann bitte an meinen Schreibtisch.« Lamson drehte sich wieder zu Cindy um. »Und was geschah dann?« »Was is hier eigentlich los?« fragte sie. »Sie müssen mir das schon sagen. Dieser große Polizist, der arbeitet auf eigene Rechnung, stimmt's?« »Ich kann Ihnen nur eins sagen, Cindy. Es ist in erster Linie in Johnnys Interesse, wenn Sie uns jetzt alles sagen, was Sie wissen.« »Dieser Polizist kam wieder. Montag abend, so zwischen acht und neun. Ich weiß nich mal genau, wie er eigentlich reingekommen is. Sicher über die Feuertreppe. Auf jeden Fall lag ich im Bett, war eingeschlafen, und plötzlich denk' ich, ich glaub, mein Hamster bohnert, jedenfalls steht der da vor mir, steht da, einfach so...« »Cindy, ist Ihr Bruder bei Ihnen aufgetaucht?« Sie begann zu zittern. »Sie müssen ihm helfen, echt.« »Dann müssen aber erst mal Sie uns helfen. War er da?« »Ja.« »Wo wohnen Sie?« »WestFortyeighth.Fourthirtyfive.Zwischen Ninth und Tenth.« »Ist er jetzt dort?« »Nein.« »Noch eine wichtige Frage. Könnte es sein, daß Ihr Bruder sich das Haar hat schneiden lassen?« »Aber das wissen Sie doch schon.« »Wie soll ich das denn wissen?«
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»Der Polizist, dieser Kornienko. Er weiß es.« Sie warf Lamson einen verwunderten Blick zu. Anscheinend wußte der's echt nicht. »Cindy, sagen Sie uns alles. Alles, von dem Sie meinen, daß es für uns von Bedeutung sein könnte. Und dann fahren wir in Ihre Wohnung und schauen uns dort mal um. Einverstanden?« »Dieser Typ is hinter Johnny her, hat's auf ihn abgesehen, stimmt's?« Ohne auf ihre Frage zu antworten, wandte Lamson sich an den anderen. »Nimm die Aussage des Mädchens zu Protokoll. Ich bin gleich wieder da. Rufe mal Hartman an. Wir brauchen Verstärkung. Wir benötigen sozusagen 'ne halbe Armee in West Forties. Wir müssen unbedingt einen von beiden finden, bevor die beiden sich über den Weg laufen.« * Quick stand unter der Dusche. Er genoß es, wie das warme Wasser über seinen Körper strömte. Inzwischen liebte er Duschen direkt, seit er in Rikers gewesen war, wo sie ihn gezwungen hatten, sich regelmäßig dieser Prozedur zu unterziehen. Ein Plus für Rikers, daß sie ihm beigebracht hatten, sich richtig zu waschen. Und das fand er selbst nun echt super. Der Gedanke, schon wieder die Unterhosen anzuziehen, war ziemlich widerwärtig. Seit letztem Sonnabend, seit er abgehauen war, trug er sie. Im Grunde konnte er doch einfach ohne gehen, bis sich eine Gelegenheit ergab, neue zu kaufen. Und da es niemanden gab, er sie ihm waschen konnte, würde er eben die neuen ein paar Tage tragen, und dann wieder eine neue anziehen. Mindestens, bis er 522
nach Hause konnte. Wenn überhaupt jemals wieder. Aber wenn nicht, wo sollte er eigentlich hin? Darüber müßte er auch noch mal in Ruhe nachdenken. Zu gerne wäre er ja bei Cindy und T. J. geblieben. Aber die Schwester hatte schon recht. Das ging nicht. Zu schade! T. J. war nämlich was ganz Besonderes. Echt. Sie hatte ihm wirklich geholfen beim ersten Mal. Sie wußte genau, wie's ging. Also, die war genau so'n steiler Zahn, wie die aus der Peep-Show. Ach, Scheiße. Sie war viel besser! Beim zweiten Mal hatte sie ihm überhaupt nichts mehr vormachen müssen. Da wußte er, was er zu tun hatte. Sie war auch ganz schön baff. Das hatte er sofort gesehen. Und beim dritten Mal. Tja, da hatte er's ihr echt gezeigt. Da mußte sie wirklich geschnallt haben, daß seine Zeit nun echt gekommen war, daß er kein kleiner Hosenscheißer mehr war. Nicht mal 'n richtiger Macker hätte ihr's besser machen können.' »Oh, mein Gott, Johnny«, sagte sie immer wieder. Er fand es richtig super, wie sie das andauernd murmelte. Och, er mochte sie echt, diese T. J. Zu gern wäre er gleich wieder zu ihr ins Bett gekrochen. Auf der Stelle hätte er sie noch mal gebumst. Oder einfach nur fest an sie gepreßt dagelegen. Sie war schon 'ne tolle Schnecke. Und sie roch geil. Aber da gab's nix. Er mußte raus hier. Und zwar schnell. Cindy war überhaupt nicht aufgetaucht. Und das war ein schlechtes Zeichen. Es war echt Zeit, 'ne Fliege zu machen und nach Hause zu gehen. Außerdem konnte ein bißchen Schlaf auch nicht schaden. 523
* Komienko durchfuhr es heiß, als er den Abdruck der Tennissohlen entdeckte. Genau auf der untersten Treppenstufe. Und weiter oben waren noch mehr zu erkennen. Das war's Diese kleinen Schuhabdrücke waren absolut eindeutig. Und der Ort einfach zu ideal, als daß er sich hätte täuschen können. Die oberen fünf Stufen fehlten. Wie kam Quick da hoch? Komienko betrachtete das Geländer. Rostig, an vielen Stellen kaputt. Unten hatte es sich von der Wand gelöst, aber oben schien es einigermaßen stabil zu sein. Er faßte das Geländer prüfend an, rüttelte etwas daran, es schien zu halten. Aber ob es sein Gewicht weiter oben auch noch halten konnte, wenn er nur darauf angewiesen war ? In dem Augenblick entdeckte er einen winzigen Mauervorsprung, eine Art Sockel, auf den man bestimmt einen Fuß setzen konnte, wenn man sich dabei gleichzeitig am Geländer festhielt. Auf diese Weise konnte man sich zu der nächsten noch existierenden Stufe hinaufziehen. Aber das Problem war, daß Quick erheblich weniger wog, als er. Steve probierte es noch einmal. Es schien zu halten. Und er mußte da einfach hochkommen. Er setzte einen Fuß auf den Sockel, griff nach dem Geländer und zog sich hinauf. Es hielt. Er hatte es geschafft. Ob Quick schon dort oben war? Er konnte leicht hochgekommen sein, ohne daß sie sich zwangsläufig hatten begegnen müssen. Vielleicht wartete er aber auch schon auf ihn, mit gezücktem Messer, sprungbereit... Komienko schob sein Hemd beiseite und tastete nach seiner Pistole. Er zog sie und hielt 524
sie entsichert in seiner Hand, während er weiterging. Der erste Stock war genauso angelegt wie das Erdgeschoß. Er schlich von Zimmer zu Zimmer, immer auf der Hut, daß sich in irgendeiner Ecke womöglich Quick verstecken konnte. Die Abdrücke von Tennissohlen häuften sich. Sie führten zu einem Fensterloch, von dem aus man die Eleventh Street phantastisch überblicken konnte. Der Ausguck war sozusagen genau gegenüber von Quieks Wohnung. Als Steve in den zweiten Stock kam, wehte ihm der Gestank von Fäkalien und Urin entgegen. Ein schneller Blick, und er stellte fest, daß es frisch war. Alles übersät von Klopapier. Steve schaute hinauf. Es gab noch einen Stock. Die Matratze lag auf dem Boden eines Zimmers, von dem aus man wiederum auf die Eleventh Street blicken konnte. Auf der Matratze lag ein leichtes Bettuch, am oberen Ende ein Kopfkissen. Beides sah neu aus. Neben dem Bett stand ein Gartenstuhl, davor eine Obstkiste. In der Kiste befanden sich ein Sechserpack Cola -eine Flasche fehlte-, Schokolade, eine Rolle Klopapier und ein blaues Hemd. Mr. Grodek hatte doch erzählt, daß Quick ein blaues Hemd trug. Aber als er selbst ihn gesehen hatte, auf der Tenth Street, hatte der Junge ein bedrucktes Hemd angehabt. Kornienko blickte sich genau in Quieks Unterschlupf um. An der Wand stand die Flasche Cola, die in der Kiste fehlte. Bonbonpapier lag hier und da. Und das war's. Quick würde wiederkommen. Er hatte nichts weiter zu tun, als zu warten. * 525
»Wie Sie sehen«, sagte Cindy, »ist Johnny nich mehr hier. Ich wünschte, er wär's, aber er ist es eben nich.« »Sie sagen, er ist Samstag abend auf der Eighth Avenue aufgetaucht?« fragte Lamson. »Ja.« »Und Sie brachten ihn so gegen zehn Uhr hierher?« »Ja, und er ist über Nacht geblieben, und Sonntag hat T. J. ihm die Haare geschnitten, und ich hab' ihm 'n paar neue Anziehsachen gekauft, ein paar dunkle Hosen, braun, und ein blaues Hemd, 's muß so ungefähr zwei oder drei Uhr nachmittags gewesen sein, als er gegangen ist, und er ist nicht wieder hier aufgetaucht seitdem. Und wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist der große Polizist am Sonntag gekommen. Er nahm die alten Sachen von Johnny mit und das Handtuch mit den abgeschnittenen Haaren. Na ja, und dann ist der Typ Montag abend wieder hergekommen. Seitdem hab' ich keinen von den beiden wiedergesehen. Und als Johnny wegging, sah er wirklich so aus, wie ihn der Polizist gemalt hat.« »Fällt Ihnen noch irgend etwas anderes ein?« »Nein... Hören Sie, Sie müssen ihn als erster finden. Sie müssen.« »Wir werden's versuchen.« Lamson warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu. »Fällt dir noch was ein?« Der Dicke schüttelte den Kopf. Lamson griff in seine Tasche und zog die Visitenkarte heraus. Er reichte sie Cindy. »Wenn Ihnen doch noch irgendwas in den Sinn kommt, was wichtig sein könnte, rufen Sie da an. 526
Ja? Und wenn's nur eine Kleinigkeit ist.« Er nickte dem Kollegen zu, und die beiden wandten sich zur Tür. Cindy folgte ihnen und schloß hinter ihnen ab. »Johnny war letzte Nacht hier«, sagte T. J. leise. »Die ganze Nacht über.« »Wa-a-as?« »Bis eben war er da. Wette, es is noch keine halbe Stunde her.« »Is das dein Ernst?« »Als ich gestern abend nach Hause kam, muß Johnny schon in meinem Kleiderschrank gesessen haben. Ich lag gerade so schön im Bett, da hörte ich die Tür knarren und heraus kam dein süßer, kleiner Bruder. Hatte nix Eiligeres zu tun, als mir's Messer an die Kehle zu setzen und zu sagen, daß er mit mir bumsen wollte -« Cindy fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was würde der Junge als nächstes anstellen?« »Und er hat mich gebumst«, erzählte T. J. weiter. »Drei Mal in einer Nacht. Oder sogar vier Mal? Ich sag' dir, der hat's drauf. Meine Güte. Hat einen Ständer nach dem andern gekriegt. Und weißt du, was er dann gemacht hat? Er hat mir fünfzig Eier auf den Tisch gelegt.« Cindy fühlte sich ziemlich mies. Der Junge war fünfzehn. »Und warum hast du das nich gesagt, als die hier waren?« »Weiß ich auch nich. War auch echt nich sicher, ob du das wolltest. Mußte dich doch erst fragen, ob's dir recht is, daß ich das ausspucke.« Cindy rannte zur Tür, riß sie auf und lief die Treppe hinunter. * 527
Hauptmann Hartman hatte Lamson in jeder Hinsicht Rückendeckung gegeben. Sechs Leute von der Kripo waren vom Elften zu Lamson beordert worden und standen diesem voll und ganz zur Verfügung. Sechs weitere von Kornienkos Revier und vier von der Mordkommission, Lamson und Mead nicht gerechnet. Mehr Funkwagen denn je waren in vollem Einsatz und bereit, jeden Moment zuzuschlagen. Alle hatten sie einen Steckbrief von Quick bei sich und einen Abzug von Steves offiziellem Dienstfoto. Charlie Savage hatte die Koordination am Telefon übernommen. Und alle Beamten führten Funkgeräte bei sich. Ausgangspunkt des Einsatzes war Eleventh Avenue, Ecke Fortyeighth Street. Von dort aus würden die Männer mit der Suche nach möglichen Zeugen, mit Befragungen und dem Durchsuchen von leerstehenden Häusern beginnen. Außergewöhnlich schnelles Vorgehen war ihnen von ihrem Vorgesetzten eingetrichtert worden, denn man mußte unter allen Umständen vermeiden, daß irgendein Unglück geschah. Zwei Beamte gingen in eine Bar auf der Fortyeighth und hielten dem Barkeeper die Fotos vor die Nase. »Dieser hier«, sagte der Mann. »Ist der groß, auffällig groß?« »Eins fünfundneunzig«, gab der Polizist zurück. »Der kommt mir ein bißchen bekannt vor, irgendwie. Glaube, der hing hier rum, muß ein paar Tage her sein, draußen vor dem Fenster.« »Wann war das genau?« »Ist wie gesagt schon ein paar Tage her. Anfang der Woche.« »Haben Sie ihn heute vormittag gesehen?«
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»Wir öffnen ja gerade erst Bei uns gibt's kein Frühstück.« Der Beamte reichte ihm eine Karte. »Wenn Sie einen von den beiden sehen, rufen Sie bitte sofort die Nummer an, die hier drauf steht. Ich lasse Ihnen sogar Kopien von den Fotos da. Es ist nämlich äußerst wichtig. Okay?« »Ja, klar«, murmelte der Barkeeper. »Mach ich doch gern.« * Kornienko trat einen Schritt vom Fenster weg. Er konnte von hier aus den kleinen Innenhof zwischen den beiden leerstehenden Häusern überblicken. Quick stand dort unten. Steve spürte, wie seine Hände zu zittern begannen, und es überlief ihn heiß. Der Junge war aus dem Haus gekommen, in dem er, Steve, die ganze Nacht gehockt hatte. Quick sah von hier oben irgendwie wie ein kleiner, schmächtiger Junge aus. Richtig unschuldig wirkte er. Er bewegte sich da unten, als sei alles seins: die herumliegenden Mülltonnen, die Ziegelsteine, der Unrat. Wie selbstverständlich spazierte er durch dies alles hindurch und betrat das Gebäude, in dem Steve auf ihn wartete. Kornienko nahm im Raum, in dem Quick schlief, Aufstellung, ein paar Schritte von der Türöffnung entfernt. Er lehnte sich an die Wand, stand im Halbschatten, so daß Quick ihn erst würde erkennen können, wenn er bereits im Zimmer war. Wenn der Junge einmal die Tür passiert hätte, gäbe es kein Zurück mehr, und sie beide wären allein. Er wartete. Einige Minuten mußten verstrichen sein. Oder kam es ihm nur so lange vor? Quick hätte jedenfalls schon längst hier sein müssen. Was konnte 529
ihn aufgehalten haben? Steve hielt den Atem an und horchte, ob da noch keine leisen Schritte auf Segeltuchschuhen die Treppenstufen hochkamen. Vielleicht hatte Quick irgend etwas vergessen und war noch mal... Da, die Bodenbretter im Flur knackten. Schritte direkt vor der Tür. Quick blickte nicht einmal in seine Richtung, als er den Raum betrat. Er ging schnurstracks auf seine Obstkiste zu, nahm sich eine Tafel Schokolade und riß die Verpackung auf. Er kniete sich auf seine Matratze, drehte sich um und setzte sich hin. Dann blickte er auf. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Er legte die Schokolade fort und sprang auf die Füße. Kornienko machte einen vorsichtigen Schritt auf den Jungen zu. Er stand jetzt zwischen der Tür und Quick. Nun war der Augenblick doch noch gekommen. Er beobachtete, wie Quick immer wieder zur Richtung Tür schaute. Es war der einzige Fluchtweg aus dem Raum. »Wer sind Sie eigentlich, wollte ich schon immer mal wissen«, sagte Quick. »Erinnerst du dich zufällig an die beiden, die du auf der Seventh Street umgelegt hast?« »Was is mit denen?« »Was ist mit denen? Das kann ich dir sagen. Das waren mein Vater und meine Mutter.« »Sie meinen diesen alten Mann? Hab' dem doch nur 'n bißchen Geld abnehmen wollen, mehr hab' ich gar nich gemacht. Und dann is der Alte auf mich losgegangen. Ich hab' nix Schlimmes gemacht.« »Und die Frau auch?« »Ja, die auch.« 530
»Und du hast gar nichts Schlimmes gemacht?« »Nein.« »Du hast was Schlimmes gemacht. Und das wirst du auch verantworten müssen. Du kannst nicht davor wegrennen.« »Was wollen Sie denn dagegen tun, he?« Quick steckte seine Hände in die Taschen. »Ich werde dafür sorgen, daß du bezahlst.« Steve trat einen Schritt weiter auf den Jungen zu. »Zahlen, daß ich nich lache!« Quieks Hände tauchten wieder aus den Taschen auf, und mit einer blitzschnellen Handbewegung war auch schon das Messer aufgeschnappt und auf Kornienko gerichtet. »Sie werden gar nichts tun können.« »Diesmal wird dir das Messer nicht helfen. Du befindest dich vor mir, nicht hinter mir.« Er ging noch einen Schritt weiter auf Quick zu, den Blick auf das Messer gerichtet. Er wollte diesen häßlichen, widerlichen Jungen endlich packen, aber vorher mußte er ihm das Messer aus der Hand schlagen. Er sehnte sich geradezu danach, die Sache hinter sich zu bringen und endlich mit dem Jungen das zu tun, was er verdiente. Ordnung auch in seinem eigenen Inneren herzustellen. Aber dieses Messer hier, das war da, das konnte man nicht einfach ignorieren. Er konnte seine Pistole ziehen und diese kleine Bestie einfach umlegen. Er hätte sogar in Notwehr gehandelt. Eigentlich erforderte es sozusagen die Situation, daß er am Ende wirklich ziehen mußte. Aber er wollte es mit den Händen machen. Mit seinen Händen. Den Händen! Quick war in die Hocke gegangen. Er hielt das Messer tief, beschrieb einen Kreis mit der Messer531
spitze. »Na los. Hast doch gesagt, du würdest schon dafür sorgen, daß ich zahle. Komm.« Kornienko hielt den Blick weiter auf das Messer gerichtet. Er trat noch einen Schritt weiter auf Quick zu. Er konnte seine Pistole ziehen, noch ging es, aber er tat es nicht. Quick war jetzt kaum einen Meter von ihm entfernt. Dies war der Moment. Alles andere in seinem Leben war völlig bedeutungslos geworden. Er stand aufrecht da. Quick sprang auf ihn zu. Er holte mit seinem rechten Bein aus. Seine Schuhspitze traf Quick am Kinn und ließ ihn zurücktaumeln. Als er sah, wie der Junge fiel, überkam Steve ein Gefühl der Erleichterung. Das hier war bei weitem die schnellste und gelungenste Tat in seinem ganzen Leben. Als die Zeit da war, hatte er getan, was er tun mußte. Er stürzte sich auf Quick, der wie betäubt am Boden lag. Mit voller Wucht trat er auf Quieks Handgelenk und schlug ihm das Messer aus der Hand. Er warf die gefährliche Waffe weit hinter sich. Er sah, wie sich Quieks Augen öffneten, der Junge war plötzlich wieder voll da. Er hielt Quieks rechte Hand am Boden. Aber der andere Arm des Jungen hob sich, drosch und kratzte abwechselnd auf seinem Rücken. Er hob seine Hand, um Quick ins Gesicht zu schlagen, als er bemerkte, daß der Junge nach der Pistole griff, die unter seinem Hemd im Halfter hing. Kaum hatte Quick die Waffe gezogen, schlug Steve sie ihm auch schon aus der Hand, so daß sie weit durch den Raum flog. Er packte den Jungen am Kragen und drückte ihn zu Boden. Er holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. 532
Quick starrte ihn trotzig an. Wieder schlug er ihm ins Gesicht, mit der flachen Hand, darauf mit dem Handrücken. Wieder und wieder... Picknicks und Familientreffen und die Nachmittage im Tompkins Square Park und das Nachhausekommen nach der Schule, Abendessen und das Bewußtsein geliebt zu werden und Feiertage, Ferien und in die Kirche gehen und die Momente voller Zärtlichkeit, Verstehen, sich gegenseitig helfen, füreinander da sein, und Stolz, solch ein Stolz und die Bewunderung, und am Ende dieser Freitag abend und der Tee und das Gebäck, Stefan, vielen Dank für den Tee und den Kuchen, und das Klingeln an der Tür, nachts, und das Leichenschauhaus und das Erwachen... Der Kopf des Jungen schien nicht mehr angespannt und voll innerer Abwehr auf jeden Schlag zu warten. Er war irgendwie schlaff geworden und ergeben. Aber immer noch fuhr Steve fort zu schlagen, seine Hände schmerzten. Quieks Gesicht war geschwollen und rot, seine Nase blutete, die Augen hatte er geschlossen. Aber Mama und Papa waren tot! Lieber Gott! Stärker schlagen! Wieder und wieder und wieder... Genug. Er zog seine rechte Hand zurück und öffnete die vollkommen verkrampften Finger seiner rechten, indem er Quieks Hemd losließ. Er stand auf. Wie verschwitzt er war! Und sein Gesicht tränenübernäßt. Mit den Ärmeln wischte er sich übers Gesicht, erst die eine Seite, dann die andere. Er hielt den Blick fest auf Quick gerichtet, der immer noch atmete, immer noch am Leben war, nur das Gesicht, aber sonst wirkte der Junge so, als schliefe er sanft.
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Steve lief auf seine Pistole zu, bückte sich und hob sie auf. Er steckte sie wieder in das Halfter zurück. Danach ging er zum Fenster und blickte auf die Eleventh Street hinunter. Alles war wie immer, ein Donnerstagvormittag im September. Irgendeiner. Aber für ihn selbst war nichts wie sonst. Der Dämon, der ihn besessen hatte, war ausgetrieben. Und er hatte nicht töten müssen, um sich innerlich davon zu befreien. Er hatte selbst im Grunde damit gerechnet, und er war auch kurz davor gewesen. Aber Gott hatte ihm beigestanden. Gott hatte ihn davor bewahrt. Aber wie sollte er jetzt in die Welt da draußen zurückkehren? Er hatte sich beim Aufgreifen und Unschädlichmachen von Quick nicht unbedingt an die Richtlinien gehalten. Er setzte sich und lehnte sich an die Wand gegenüber von Quick. Wie konnte er das erklären? Gefühle? Er hatte sich ganz schön reingeritten. Er hätte Quick umlegen können, und das wäre in Ordnung gewesen. Oder er hätte sich unter Kontrolle haben können, nachdem er den Jungen festgenommen hatte, und ihn unversehrt abliefern können. Wenn er sich unter Kontrolle hätte haben können. Aber es war zu spät. Die Dinge gehörten schon der Vergangenheit an. Und er saß echt in der Klemme. Das Ganze konnte im Grunde nur so ausgehen, daß er am Ende mehr Zeit im Knast zubringen würde als Quick, und zwar, weil er auf ihn eingeschlagen hatte. Er mußte sich etwas ausdenken, mußte irgendeine Idee haben. Wie schlimm war der Junge verletzt? Würde er wieder in Ordnung kommen? Würde er womöglich bleibende Schäden davontragen? Wenn der Junge in Ordnung war, hatten ihm die Schläge 534
gutgetan? Würde er sich lange genug an sie erinnern, um nie wieder jemanden umzubringen? Warum muß ein Menschenleben so billig bezahlt werden? Er starrte auf den ruhig daliegenden Quick und fühlte, wie sehr er diesen Jungen haßte, der seine Eltern auf dem Gewissen hatte. Und er haßte ihn für das, was er aus ihm, Steve, gemacht hatte. Quick war schuld, daß er selbst sich wie ein wildes Tier aufgeführt hatte, und er verabscheute sich dafür. Er hätte es niemals für möglich gehalten, daß er zu so etwas überhaupt fähig war. Wie er auf diesen Menschen eingeschlagen hatte... Wie brutal er mit einem Wehrlosen hatte umgehen können. Wie besinnungslos. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Quick war ja schon überwältigt, unter Kontrolle. Aber er hatte es dennoch getan. Was er jetzt brauchte, war eine Idee, er mußte da irgendwie mit heiler Haut rauskommen. Wenn er versuchen würde, sich aus dem Staube zu machen, den Jungen hier liegenzulassen? Sollten die Jungs ihn doch selbst finden. Aber würde Quick ihnen nicht erzählen, was geschehen war, und würden sie ihm nicht sogar glauben? Er hatte mit seinen Handflächen geschlagen. Es war unwahrscheinlich, daß Narben bleiben würden oder irgend etwas gebrochen war. Er könnte einfach nach Hause fahren und sagen, daß er krank sei. Ja, die Hände würde er in Eiswasser kühlen, damit sie abschwollen und dieBeweisstücke, das Hemd, die Hose und das Handtuch von Quick verschwinden lassen. Aber die Schwester könnte natürlich auf die Idee kommen und der Polizei von seinem Überfall erzählen. Wür535
den sie ihr glauben? Wahrscheinlich. Nein, es gab keinen sauberen Weg aus der ganzen Sache. Er brauchte Hilfe. Lamson, Savage. Sie waren seine Freunde. Und sie würden ihn verstehen, bestimmt. Eine andere Möglichkeit, ein für allemal das Ganze hinter sich zu bringen, gab es nicht. Es würde eine Menge Ärger geben. Er warf einen Blick auf Quick und merkte, daß der Junge mit den Augenlidern flatterte. Er würde losgehen und seinen alten Freund Charlie Savage anrufen... Charlie, ich hab' diese Bestie von Jungen für euch gekriegt, aber jetzt brauch' ich deine Hilfe. Charlie, ich hab' Mist gebaut, sitz' ganz tief drin. Du mußt mir helfen. Er stand auf und ging zur Türöffnung. Er blickte noch einmal zu Quick, der reglos dalag, dann verließ er den Raum. Er lief die Treppe hinunter und auf die Eleventh Street. Dicht bei der Avenue B gab es eine Telefonzelle. Er ging auf sie zu, blieb einen Moment stehen, um den zwei Puertoricanern bei ihrer Bastelei an dem alten Chevy zuzusehen. Der Wagen parkte am Straßenrand, und der eine Junge war tief über den Kotflügel gebeugt, der andere lag auf seinem Rücken, halb unter dem Auto. Kornienko stand zögernd da und sah den beiden Jungen zu. Er war froh über jede Ablenkung, denn irgendwie hatte er Angst anzurufen. Was, wenn weder Savage, noch Lamson da waren? Er brauchte sofort Hilfe. Er durfte keine Zeit verlieren. Er ging zum Telefon und hob den Hörer ab. Doch bevor er die Nummer zu Ende gewählt hatte, hörte er einen der beiden Puertoricaner nach ihm rufen. Was zum Teufel sollte das? Er drehte sich um, und 536
schon spürte er einen heftigen Schmerz in seiner Seite. Er schrie auf und tastete nach der Stelle, die so, ungeheuer weh tat, und Blut strömte über seine Hand. Quieks Augen vor ihm blitzten, und sein übel zugerichtetes, verschwollenes kleines Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er sah, wie das Messer ein zweites Mal auf ihn zuschoß, rasend schnell. Er schlug mit seinen Händen um sich, mit seinem Bein stieß er dem Jungen voll gegen die Brust, aber er konnte das Messer nicht mehr abwehren. Die Klinge schnitt tief in seinen Oberarm. Mit all seiner Kraft trat er Quick mit dem Knie in den Bauch. Der Junge taumelte und fiel auf den Bürgersteig. Steve warf sich auf ihn, bekam das Handgelenk zu fassen. Er versuchte, das Messer aus der stahlharten Faust des Jungen zu winden. Es gelang ihm nicht, aber wenigstens konnte er den Arm des Jungen mit der gefährlichen Waffe unter Kontrolle halten. Er lag jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf Quick. Und er begann um Hilfe zu schreien. Einer der beiden Puertoricaner kam zu ihnen herübergelaufen. Ein paar Schritte vor den beiden blieb er zögernd stehen. »He, Donnerwetter, der hat aber ganz schön zugestochen, was? Hab' gesehen, wie der auf Sie losgegangen ist, und ich konnte mich gar nich einkriegen, echt.« »Das Telefon, verdammt noch mal! Geh zum Telefon und ruf die Neun-eins-eins an! Die sollen einen Wagen schicken! Mach schon, schnell!«
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»Sie bluten ja wie blöde, Mann«, murmelte der Puertoricaner noch, ging aber tatsächlich zur Telefonzelle. »Sag denen auch, sie sollen einen Krankenwagen mitschicken. Schnell!« Als der Puertoricaner endlich wirklich in der Zelle stand und telefonierte, kam auch der zweite angelaufen und gaffte genauso blöd wie der erste. »Nimm' ihm das Messer aus der Hand«, stöhnte Kornienko. Quick begann sich zu rühren, bäumte sich wie wild unter ihm auf und versuchte ihn abzuwerfen. Aber noch konnte er ihn halten. Er sah zu, wie der Junge sich nur zögernd näherte, die ölverschmierten Hände an den Hosenseiten abwischte und sich zu ihnen hinkniete. Der Puertoricaner wollte schon nach dem Messer greifen, aber zog sofort seine Hand zurück, als Quick drohend mit der Klinge nach ihr zielte, obwohl Kornienko mit letzter Anstrengung seinen Arm fest umklammert hielt. »Nimm's ihm ab«, rief Steve nochmals aus. »Mach schon.« Er spürte, daß ihn seine Kräfte verließen. Der Puertoricaner zögerte einen Moment. Schließlich zog er eine Kneifzange aus seiner Tasche. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, gelang es ihm, Quieks Daumen zu packen und mit der Zange so fest zuzudrücken, daß Quick vor Schmerz aufschrie und sich zu wehren begann, so gut es ging. Aber der Junge hielt den Daumen weiter in der Zange und drückte den Finger so weit zurück, den Druck immer weiter verstärkend, daß Quick endlich das Messer losließ. Der Puertoricaner hob die blutige Waffe auf. Plötzlich spürte Kornienko, daß 538
Quieks andere Hand sich an seinem Rücken zu schaffen machte. »Nimm die Pistole, die unter meinem Hemd ist«, sagte er zu dem Jungen. »Na los. Ist schon o. k. Ich bin Polizist. Nimm sie, bevor er sie kriegt. Im Halfter, auf meinem Rücken.« Der Puertoricaner tastete sich an Steves Gürtel entlang. Er fand die Pistole und zog sie aus dem Halfter. Nun waren beide Waffen außer Reichweite von Quick. Steve schloß die Augen. Er fühlte sich total erschöpft, lag nunmehr kraftlos auf Quick, sackte förmlich in sich zusammen, ohne jedoch den Griff um die Faust des Jungen zu lockern. Der Puertoricaner war vom Telefon zurückgekehrt. »Sie kommen, sind schon unterwegs.« Quick strampelte wie verrückt unter Kornienko. »Laß mich los. Du Scheißkerl, geh von mir runter! Du verschmierst mir ja das ganze Gesicht mit deinem ekelhaften Blut.« Kornienko hob den Kopf. »Ihr beiden, geht nicht weg, ja?« Er hatte Mühe zu sprechen. »Und wenn ihr seht, daß ich ohnmächtig werde, haltet den Jungen fest. Bis die Polizei hier ist. Der darf uns nicht noch einmal entkommen.« »Keine Sorge, Freund. Das machen wir schon.«
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Epilog Lamson stellte seine Kaffeetasse hin und wählte Girards Nummer. »Gibt's schon einen Termin für die Vorverhandlung?« »Montag in einer Woche«, sagte Girard. »Irgendwas Neues in der Sache?« »Allerdings. Quick wollte wieder Greenhouse als Verteidiger haben, und das Gericht hat dem Antrag zugestimmt. Greenhouse hat mich gestern abend noch angerufen.« »Soll ich mal raten, was er wollte? Wette, der hat Ihnen wieder einen kleinen Handel vorgeschlagen.« »Was sonst?« »Und was haben Sie dazu gesagt?« »Hab' ihm gesagt, daß wir uns vor Gericht sehen. Natürlich fing er wieder mit dem üblichen Quatsch an, der Junge brauche Hilfe und so. Als er endlich merkte, daß ich gar nicht zuhörte, kam er mit massiven Drohungen. Er sagte, er hätte eine Reihe von Fotos, aus denen klar hervorginge, wie Kornienko den Jungen zugerichtet habe. Mit diesen Beweisstücken, meinte er, könne er jede Anklage aus den Angeln heben.« »Und was haben Sie ihm darauf geantwortet?« »Hab' ihm gesagt, wenn er sich so gerne über Fotos unterhielte, dann könnten wir ihm ein paar von Quieks Opfern mitbringen. Die hätten nämlich auch ganz nett ausgesehen. Das fände die Jury sicher sehr beeindruckend. Hab' ihn auch daran erinnert, daß er sein Licht nicht so unter den Scheffel stellen solle, er kenne doch das Gesetz viel besser, als er mir vormachen wolle. Und daß wir zusätzlich zu allem andern ja auch noch versuchten Mord hätten. 540
Und wo wir gerade beim Gesetz wären, ganz abgesehen von dem, was vorher geschehen war. Es ist und bleibt ein verdammt kaltblütiger Mordversuch. Ein sagenhaft brutaler Überfall von hinten mit einer tödlichen Waffe. Und das Ganze diesmal auch noch vor zwei Zeugen.« »War ja auch wirklich nett von den beiden, daß die gerade zur Stelle waren und Steve helfen konnten.« »Ich will Ihnen mal was sagen, AI. Hab' sofort gemerkt, daß die beiden Jungen Quick von früher her kannten, mit langen und mit kurzen Haaren, und die hassen ihn wie die Pest. Über die brauchen wir uns ausnahmsweise mal keine Sorgen zu machen. Die springen als Zeugen nicht im letzten Moment ab. Nie und nimmer.« »Und wie sieht also Ihr Schlachtplan aus?« »Diesmal ziehe ich die Sache durch. Die Anklage lautet auf Mord und versuchten Mord. Und ich werde die Höchststrafe beantragen, die wir nach dem neuen Jugendgesetz kriegen können. Und das ist lebenslänglich.« »Und wie stehen die Chancen, daß Sie damit durchkommen?« »Hören Sie, AI, Sie und ich wissen, daß es keine Garantie für irgendwas in dieser Stadt gibt, was die Rechtsprechung betrifft. Aber ich kann einfach nicht glauben, daß es in New York einen einzigen Richter oder eine Jury gibt, die Quick nicht lange, lange hinter Gittern sehen wollen, nachdem sie einmal den ganzen Fall kennen. Mordversuch mit zwei Augenzeugen? Und das zusätzlich zu Verurteilung wegen Totschlags, oder wie Sie es nennen wollen? Und Flucht aus der Haft? Wollte, Sie hätten das Gesicht 541
des Richters gesehen, als er bei der formellen Vernehmung die ganze Latte von Vorstrafen und Anklagepunkten durchgelesen hat. Und bedenken Sie, wie die Presse diesmal mitzieht. Irgendwie gibt es inzwischen Zeitungsfritzen, die es nicht normal finden, daß ein Jugendlicher reihenweise die Leute abmurkst und dann verkündet, das Leben sei nun mal so und überhaupt, er sei ja in einem Milieu aufgewachsen, wo es anders gar nicht geht. Nein, diesmal mach' ich mir keine Sorgen.« »Sie wissen, Bert, Steve hat eine schlimme Zeit hinter sich.« »Und die ist noch nicht zu Ende. Er hat immer noch den Untersuchungsausschuß vor sich, wenn er aus dem Krankenhaus kommt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Hartman eine zu strenge Verurteilung zuläßt. Er wird die Hand über ihn halten. Zitieren Sie mich bitte nicht, aber das mit Hartman weiß ich aus sicherer Quelle.« »Ich hoffe, daß er gut bei wegkommt«, sagte Lamson. »Genug ist genug. Ach übrigens, wußten Sie, daß er heiraten wird?« »Na klar. Hab' sie im Krankenhaus kennengelernt. Ein reizendes Mädchen.« In diesem Augenblick: Der Polizist stieg von seinem Motorrad. Ecke East Tenth Street und Avenue C. Er betrachtete nachdenklich den braunen Toyota, der vor dem Hydranten geparkt war. Er zögerte einen Moment, ob er dem armen Kerl ein Strafmandat verpassen 542
sollte. Er war ja eigentlich gar nicht so. Schließlich zog er aber doch seinen Block aus der Tasche und schrieb den armen Sünder auf. Er steckte den Block wieder ein, das Mandat hinter die Scheibenwischer und machte sich auf den Weg in den Tompkins Square Park. Mal sehen, ob er nicht an diesem schönen Vormittag einen von den netten, alten Ukrainern auftreiben könnte, um eine Partie Schach zu spielen.
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