Seite 1
Engelsgesicht Eines der düsteren Kapitel der ungarischen Geschichte begann durch die Ungeschicklichkeit einer ...
10 downloads
214 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Seite 1
Engelsgesicht Eines der düsteren Kapitel der ungarischen Geschichte begann durch die Ungeschicklichkeit einer Kammerzofe. Ein junges Ding, gerade Achtzehn, musste das pechschwarze Haar der Gräfin Elisabeth Bathory frisieren und ondulieren. Wie immer saß die Gräfin auf einem Stuhl. Wie immer schaute sie in den vor ihr hängenden Spiegel, um jede Bewegung der Zofe zu verfolgen. Sie war nicht nur eigen, sie war auch eine Perfektionistin. Keine Falte sollte die glatte Haut ihres Gesichts stören. Um das zu erreichen, war sie bereit, alles zu tun. Sie kannte den genauen Weg noch nicht, doch in ihren Träumen hatte sie sich stets als die perfekte Frau gesehen, die all ihre Leidenschaften bis zum Ende ausreizte. Aber sie ahnte, dass das Schicksal bereits seinen Finger nach ihr ausgestreckt hatte und die Lösung dicht bevorstand. Da verrutschte der Zofe der Kamm. Eine unkontrollierte Bewegung, und die Zinken fanden ihren Weg nicht nur durch das Haar, sie kratzten auch über die empfindliche Kopfhaut der Gräfin hinweg. Der Schmerz setzte sofort ein. Gleichzeitig stieg die blanke Wut in der Bathory hoch. Sie sah ihr Gesicht noch im Spiegel rot anlaufen, die Reaktion erfolgte reflexhaft. Sie riss den Arm in die Höhe. Die Zofe konnte nicht mehr ausweichen, und so klatschte der Handrücken in ihr Gesicht. Er traf die Nase an einer empfindlichen Stelle. Adern platzten, und plötzlich spritzte das Blut hervor. Die Gräfin saß wie versteinert auf ihrem Frisierstuhl. Sie schaute in den Spiegel. Die Lippen waren zu einem Lächeln verzerrt, und sie genoss es, dass ihre Zofe unter Schmerzen litt. Das junge Ding war erstarrt. Vor Überraschung und Schmerz. So schaffte die Zofe es nicht, schnell genug zur Seite zu gehen. Das Blut traf nicht nur den Fußboden, es spritzte auch auf den linken nackten Arm der ungarischen Gräfin. Dort blieb der Lebenssaft liegen. Zuerst noch ruhig, dann begann er, sich zu verteilen. Er breitete sich an den Seiten aus, verfolgt von den Blicken der Gräfin, die nichts sagte und auch weiterhin ihre Lippen fest zusammenkniff. »Bitte«, flüsterte die Zofe, »bitte - ich ... ich ... habe es nicht gewollt, Frau, Gräfin. Ich möchte mich entschuldigen. Ich bin untröstlich. 0 Gott, was habe ich nur getan!« »Halt dein Maul!« »Ja, natürlich.« »Ein Tuch!« »Sofort, Frau Gräfin.« Die Zofe bewegte sich hektisch und schnell. Sie hoffte darauf, nichts mehr falsch zu machen, denn sie kannte die Ungeduld ihrer Herrin und besonders deren Jähzorn, vor dem sich alle Bediensteten fürchteten. An diesem Tag hielt die Gräfin ihre Gefühle im Zaum. Zumindest sah es so aus. Sie blieb aufrecht vor dem Spiegel sitzen, ohne etwas zu sagen. Sie schaute nur auf das klebrige Blut an ihrem Arm, und ihr Blick hatte etwas Wissendes und auch Nachdenkliches bekommen. Als ihr das Tuch gereicht wurde, nickte sie sogar dankbar, was die Zofe wiederum verwunderte. Das junge Mädchen hielt sich im Hintergrund. Es war recht stämmig und hatte große Brüste. Auf den Wangen zeichneten sich dunkle Flecken ab, in den Augen blitzten Tränen. Unterhalb der Nase hatte das ausgelaufene Blut das Gesicht verschmiert.
Seite 2
Die Gräfin tupfte das Blut von ihrer Haut ab. Sie ließ sich dabei Zeit. Eine derartige Sorgfalt verwunderte die Zofe, aber sie traute sich auch nicht, der Gräfin ihre Hilfe anzubieten. Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte sie es auch durch. So gut wie möglich reinigte sie ihren Arm. Ein kurzer Blick reichte ihr aus, um das Tuch der Zofe wieder zurückzugeben. »Hol weiches Wasser!«, befahl sie dann. »Sofort, Frau Gräfin!« Diensteifrig verließ die Zofe den Raum. Sie zitterte und betete, dass man ihr nichts tun würde, als sie im Nebenraum aus der großen Schale Wasser in eine kleine füllte. Es war ein besonderes Wasser. Angereichert mit einigen Essenzen, die es weich machten und der Haut eines Menschen sehr gut tun sollten. Die Schale in beiden Händen haltend, um nur keinen Tropfen zu verschütten, kehrte sie in das Frisierzimmer zurück. Das weiche Tuch lag schon bereit. »Bleib hier!« »Gern, Frau Gräfin!« Die Bathory tunkte das Tuch in die Flüssigkeit. Danach wischte sie mit der angefeuchteten Stelle genau über die kleine Region auf ihrem Arm hinweg, die vom Blut der Zofe berührt worden war. Sehr genau sah die Bathory hin. Sie atmete dabei scharf ein und aus. Ihr Blick flackerte ein wenig, dann wischte sie auch die letzten Spuren weg, ließ den Arm sinken und drückte sich gegen die gepolsterte Rückenlehne des Stuhls. Sekunden vergingen. Die Zofe stand im Hintergrund. Sie schaute in den Spiegel und beobachtete die Gräfin. Seit einem halben Jahr arbeitete sie bei der Bathory. Kennen gelernt hatte sie die Person nie so richtig, deshalb wusste sie nicht die Reaktion der Adeligen einzuschätzen. Sie blieb sehr ruhig, zu ruhig, sogar gelassen, und sie lächelte sich selbst zu. Danach schaute sie wieder auf ihren linken Arm. Sie strich mit der rechten Hand über eine bestimmte Stelle. Immer und immer wieder, wie jemand, der etwas prüft. »Komm her zu mir!« Die Zofe setzte sich augenblicklich in Bewegung. Sie verfolgte auch den Zeigefinger der Gräfin, die ihr genau zeigte, wo sie stehen bleiben sollte. »Gut. Jetzt schau dir meinen linken Arm an!« »Ja, gern!« »Was siehst du?« Die Zofe war durch die Frage verunsichert worden. »Ich weiß nicht genau, aber ... nun ja ... das Blut ist weg, Frau Gräfin. Sie haben es geschafft.« »Ja, ich habe es geschafft!« Die Bathory bestätigte durch die Wiederholung die Aussage der jungen Frau noch einmal. »Ich habe es sogar ganz geschafft!« »Sicher, Frau Gräfin!« »Hör auf! Rede nicht so, du kleine Schlampe. Nichts weißt du, gar nichts, verstanden?« »Ja.« Elisabeth Bathory lächelte hintergründig. »Aber vielleicht wirst du etwas merken. Komm näher. Schau dir meinen linken Arm genau an. Besonders die Stelle, die von deinem Blut benetzt wurde. Lasse dir ruhig Zeit dabei.« »Natürlich.« Die Zofe wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie war durcheinander, und sie kannte den Plan der Gräfin auch nicht. Aber sie würde sich hüten, dem Befehl nicht nachzukommen. Der Jähzorn dieser Frau war ihr nur zu gut bekannt. »Was siehst du?«
Seite 3
»Es ist wunderbar, Frau Gräfin. Ihr Arm - Sie haben ihn besser gereinigt, als ich es je gekonnt hätte.« Die Worte wollte die Bathory nicht hören. Sie blickte nach links. Dort drang helles Tageslicht durch das Fenster in den Raum. Nach einem scharfen Atemzug fragte sie: »Sonst siehst du nichts, kleine Schlampe? Gar nichts?« »Nein, ich ... « »Die Haut! Schau dir die Haut genau an!« »Ja, ja ... « Sie senkte den Kopf. Aber sie fand einfach nichts heraus. Es war auch kein Blutspritzer mehr zu sehen, aber sie wusste auch, dass sie einen Kommentar abgeben musste. »Sie ist so wunderbar, so rein ... « »Weiter, weiter ... !«, forderte die Bathory. »Mehr kann ich nicht sagen!« Die Mundwinkel der Gräfin verzogen sich. »Dann wirst du es fühlen müssen, zum Teufel. Los, fühle mit deinen Fingern über meine Haut. Danach sag mir die Wahrheit.« »Gern, Frau Gräfin, gern!« Die Zofe hatte einen roten Kopf bekommen. Dass ihre eigene Nase schmerzte, daran dachte sie nicht. Eine wie sie war es gewohnt, den untersten Weg zu gehen und zu leiden. Außerdem musste sie froh sein, eine Anstellung im Schloss bekommen zu haben. Anderen Mädchen erging es schlechter. Die Finger zitterten schon, als sie über die bestimmte Stelle am Arm der Gräfin hinwegglitten. Die Zofe wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Die Haut war wie immer und ... »Ist sie nicht schön, Ilona?« fragte die Gräfin. »Ja, das ist sie.« »Weiter, weiter ... !« »Sie ist sogar wunderschön, Frau Gräfin. Sie haben die Haut eines jungen Mädchens.« Genau das hatte Elisabeth hören wollen. Wobei es ihr nicht reichte. »Sonst fällt dir nichts auf?« »Nein, ehrlich nicht. Ich wüsste nicht, was mir sonst ... ich meine, verstehen Sie mich recht. Ich bin vielleicht auch zu dumm, um etwas zu merken. Verzeihen Sie.« Die Bathory schloss für einen Moment die Augen. »Sie ist weicher und straffer geworden. Schöner, Ilona, viel schöner. Es ist die Haut eines jungen Mädchens.« »Ja, Frau Gräfin, das ist sie.« Die Bathory nickte. »Bist du dir denn sicher, Ilona?« »Ja, das bin ich!« Die Zofe war sich nicht sicher, doch sie war schlau genug, um zu wissen, dass ein Widerspruch bei der Gräfin keinen Sinn hatte. »Das habe ich hören wollen. Und es ist nur diese Stelle, an der mich dein Blut erwischt hat.« »Ich glaube schon, Frau Gräfin.« »Was heißt hier glauben? So ist es nun mal. Dein Blut, Ilona, hat meine Haut jünger gemacht. Genau das ist der Weg, verstehst du? Durch dein Blut erlebte meine Haut die Verjüngung. Zwar nur an dieser Stelle, aber das ist erst der Anfang.« Sie drehte den Kopf und sah ihre Zofe an. »Du verstehst nichts, wie?« »Nein, leider nein.« Die Bathory grinste kantig. »Dein Blut, Ilona. Es hat für die Veränderung an meiner Haut gesorgt. Ich sage dir, das ist erst der Anfang. Der Anfang von dem, was ich mir immer gewünscht habe. Jung zu bleiben, und jetzt weiß ich es auch, wie ich es schaffen kann. Du hast mir den Weg gewiesen.« Ihr Blick nahm einen schon verklärten Ausdruck an, als sie sagte: »Dein Blut, meine Liebe. Dein wunderbares Blut hat mir die Lösung gebracht. Und weißt du auch, was das bedeutet? Kannst du dir das vorstellen?«
Seite 4
Es lag keine Drohung in den Fragen. Trotzdem konnten sie Ilona nicht gefallen. Mit sicherem Instinkt wusste sie, dass mehr dahinter steckte. Sie wollte auch nichts falsch machen und schüttelte einige Male den Kopf. »Dabei ist es so einfach«, flüsterte die Bathory. »Ganz einfach. Ich brauche Blut. Viel Blut. Blut, in dem ich baden kann. Ich brauche dein Blut - alles. Ich brauche das Blut der anderen jungen Mädchen, damit ich mich darin baden kann, um nicht zu verwelken. Ist das nicht eine Lösung für mich?« Ilona war nicht mehr in der Lage, etwas zu erwidern. Allmählich jedoch dämmerte ihr, in welch einer Gefahr sie steckte, und sie merkte, dass es ihr schwer fiel, Luft zu holen. Ihr Körper war plötzlich von unsichtbaren Fesseln umgeben, die auch ihr Inneres nicht ausgelassen hatten. Die Gräfin verlangte unbedingten Gehorsam. Der endete erst mit dem Tod der Person, und genau so sah Ilona das auch. Plötzlich war ihr alles klar, und sie schüttelte den Kopf. Auf den etwas derben Gesichtszügen breitete sich die Angst aus. »Bitte nicht, Frau Gräfin, bitte nicht!« »Doch, Ilona, doch. Vergiss nie, dass du mir gehörst. Allein bist du nichts, gar nichts. Du gehörst mir mit Leib und Seele. Alles andere interessiert mich nicht. Mit Leib und Seele. In diesem Fall vor allen Dingen mit dem Leib!« Die Zofe sagte nichts. Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie schaute nur auf die Gräfin, die sich jetzt von ihrem Stuhl erhob. Dabei klebte ein seltsames Lächeln auf ihren Lippen, und die Augen hatten einen bösartigen Ausdruck angenommen. Ilona wäre gern weggelaufen. Auf der anderen Seite war ihr klar, dass eine Flucht nichts brachte. Hier im Schloss war sie immer eine Gefangene. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Augen brannten, als wären sie mit einer ätzenden Flüssigkeit gefüllt worden. Die Angst war wie eine unsichtbare Peitsche, die auf sie niederschlug, und schon jetzt duckte sie sich. Die Bathory griff zum Klingelband. Sie tat es langsam und kontrolliert, dann aber zerrte sie fest daran. Der Klang der Glocken war nicht im Frisierzimmer zu hören, sondern in einem anderen Raum, in dem ihre Diener warteten. Und die wussten, was sie zu tun hatten. Keine Sekunde zögern, sofort bereitstehen. Sie rissen die Tür auf und blieben in devoter Haltung stehen. Die Gräfin hatte sich ihre persönlichen Leibwächter genau ausgesucht. Es waren junge, kräftige Männer aus dem nahen Ort, die alles für sie taten. »Packt sie!« Ilona wurde zwar nicht überrascht, doch sie war trotzdem nicht in der Lage, sich zu wehren. Die Griffe der beiden Männer waren einfach zu hart. Die Arme wurden ihr auf den Rücken gedreht. Der Schmerz ließ sie aufschreien, und sie drückte ihren Oberkörper nach vorn. In dieser devoten Haltung blieb sie vor der Adeligen stehen. »Ihr werdet sie in den Keller bringen und sie dort ausbluten lassen. Ihr werdet ihr Blut auffangen und mir eine Wanne damit füllen. Dann werdet ihr losziehen und mir andere Frauen holen. Junge Frauen. Ich will die Wanne bis zum Rand gefüllt haben. Habt ihr das verstanden?« »Ja, Frau Gräfin!« »Dann ist es gut. Ich will, dass die Wanne bei Anbruch der Dunkelheit mit Blut gefüllt ist. Wenn nicht, werde ich euch köpfen lassen. Und jetzt führt sie ab!« Ilona hatte alles gehört, jedes Wort. Sie konnte zunächst nicht fassen, dass sie gemeint war. Erst als die beiden sie herumrissen, war ihr alles klar. »Nein!«, schrie sie, »nein!« Ihre Stimme kannte sie selbst nicht wieder. Sie flehte, sie bettelte um ihr Leben. Sie wollte vor der Gräfin in die Knie fallen, doch die hatte sich bereits abgedreht.
Seite 5
Für sie war Ilona schon Vergangenheit. Nicht aber ihr Blut. Und sie würde viel, sehr viel Blut brauchen. Als sie allein war, küsste sie die Stelle ihrer Haut am Arm, die ihr besonders frisch und jugendlich erschien. Dann lachte sie, und dieses Lachen sollte noch oft aus ihrem Mund erschallen, bis zu ihrem grausamen Ende. Da aber war die Bathory längst in die Annalen der Geschichte als Blutgräfin eingegangen ...
»Nett haben Sie es hier, Purdy, wirklich nett.« Ich schaute mich um und lächelte ihr zu, als sie auf den Besucherstuhl deutete, der für mich bereitstand. »Hören Sie auf, John. Keine falschen Komplimente.« »Wieso denn? Das Büro ist hell, die Blumen frisch, so sieht es bei mir nicht aus.« Ich beugte mich den Maiglöckchen entgegen, die aus einer Vase hervorschauten. Purdy Prentiss lachte. »Ja, ja, der gute Geisterjäger. Immer zu Scherzen aufgelegt.« »Das habe ich ehrlich gemeint.« »Die Blumen hat mir gestern eine Mitarbeiterin geschenkt. Außerdem haben wir Mai, und da gehören sie einfach dazu. Oder finden Sie nicht, John?« »Aber immer doch.« »Wunderbar. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre gute Glenda Perkins ebenso denkt.« »In ihrem Büro schon.« »Dann müssen Sie mal Blumen kaufen oder sich die Blumen von Glenda besorgen lassen.« »Das lohnt nicht. Ich bin wenig im Büro. Wäre ich Staatsanwalt, so wie Sie Staatsanwältin sind, lägen die Dinge ganz anders. Aber ich bin zumeist unterwegs.« »Weiß ich. Deshalb habe ich es schon als kleinen Glücksfall empfunden, dass wir uns hier treffen. Aber setzen Sie sich. Was kann ich zu trinken anbieten?« »Nichts, bitte.« »Ho, das ist selten.« »Ich stehe nicht auf Wasser.« »Da haben Sie Recht. Und Alkohol gibt es bei mir nicht.« Sie selbst ließ sich auf ihren lederbedeckten Stuhl fallen und streckte beide Beine von sich. Purdy Prentiss war schon eine ungewöhnliche Frau. Nicht allein wegen ihres Berufes, nein, sie hatte zudem eine Vergangenheit wie nur ganz wenige Menschen. Sie stammte aus Atlantis, das heißt, sie hatte auf diesem Kontinent schon einmal gelebt. Erst vor kurzem waren die Erinnerungen über sie hineingebrochen. Da war es dann auch zum Kontakt mit Eric La Salle gekommen, einem Kämpfer und Bodyguard, der ebenfalls schon einmal auf dem versunkenen Kontinent gelebt hatte. Beide hatten sich gesucht und gefunden. Sie waren so etwas wie ein Traumpaar geworden und lebten auch zusammen. Ob sie hin und wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt wurden, damit musste ich rechnen, denn ich glaubte daran, dass mein Besuch bei Purdy etwas damit zu tun hatte. Denn auch ich kannte mich auf dem versunkenen Kontinent aus, angetrieben durch Zeitreisen (siehe Sinclair Taschenbuch 73 220: »Die Vollstrecker«). Purdy Prentiss war die am besten aussehende Staatsanwältin, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Auch jetzt, wo sie ihre >Dienstkleidung< trug, sah sie gut aus.
Seite 6
Das graue, gut geschnittene Kostüm, die weiße Bluse darunter. Das helle Haar, das glatt an den Seiten des Kopfes herabhing und gleichzeitig duftig geföhnt war. Helle Augen schauten mich über den Schreibtisch hinweg an, und ich sah auch die kleinen Grübchen in den Wangen, die sich dann veränderten, wenn Purdy Prentiss lächelte. »An was denken Sie jetzt, John?« Ich wiegte den Kopf. »So genau kann ich das nicht sagen, Purdy, aber ich denke, dass mein Besuch bei Ihnen auch einen gewissen Ärger bedeuten kann.« »Tatsächlich?« »Atlantis?« Jetzt lächelte sie breit. »Falsch, absolut falsch.« »Oh, da bin ich fast enttäuscht. Sagen Sie nicht, dass Sie nichts mehr mit Atlantis zu tun haben.« »Nein, nein, das will ich nicht abstreiten, doch es ist in der letzten Zeit ruhig geblieben. Glücklicherweise, denn ich habe auch hier genügend Arbeit.« »Wie Eric La Salle?« »Genau.« »Wie geht es ihm?« »Gut. Er ist leider nur immer unterwegs, aber ich will mich nicht beklagen. Das bringt der Job eben mit sich.« »Bei Job sind wir sicherlich beim Thema - oder?« Purdy lächelte mich strahlend an. »Sie haben es erfasst, John, wir sind beim Thema.« Nach dem letzten Wort verschwand ihr Lächeln. Ein sorgenvoller Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Als sie mich dann anschaute, hatte sie auch die ansonsten glatte Stirn in Falten gelegt. »Es geht da um einige schlimme Fälle, von denen ich gehört habe. Selbst bin ich nicht involviert, das kann ich auch nicht als Staatsanwältin. Aber ich kann Dinge in Bewegung bringen, wenn mir etwas zu Ohren kommt, das aus bestimmten Gründen vor der Presse geheim gehalten worden ist, was ich im Übrigen als sehr positiv empfinde.« »Sie machen es spannend.« »Es ist mehr schlimm.« »Okay, um was geht es?« »Um junge Frauen, sage ich mal. Und auch um zwei tote junge Frauen.« »Ermordet, nehme ich an.« »Ja - leider«, gab sie leicht stöhnend zu und richtete ihren Blick gegen die Decke. Plötzlich war die Lockerheit verschwunden. Purdy regte sich innerlich auf. Ich sah auch den Schweißfilm auf ihrer Stirn. Sie fächerte sich Luft zu und sagte mit leiser Stimme: »Die Frauen sind nicht nur ermordet worden, man fand auch keinen Tropfen Blut mehr in ihren Körpern.« »Bitte?« »Ja, John, Sie haben richtig gehört. Die Körper der beiden waren einfach blutleer.« »Verdammt«, flüsterte ich. »Sagen Sie nicht, dass es sich dabei im Vampirbisse handelt!« »Nein, das nicht. Sie sind nicht von einem Vampir gebissen worden. Man hat ihnen die entsprechenden Wunden zugefügt und sie praktisch ausbluten lassen.« Jetzt bildete sich auch bei mir ein leichter Film aus Schweiß. Ich schaute Purdy Prentiss an, die jedoch nichts sagte und die Lippen zusammengekniffen hielt. »Wo ist das passiert?« »Nicht hier in London. Auf dem Lande, in Kent. Praktisch in der Einsamkeit zwischen Canterbury und Dover. Es ist furchtbar, aber leider eine Tatsache.«
Seite 7
»Von der Sie erfahren haben?« »Ja.« »Und was ist mit der normalen Polizei?« »Die steht, wie man immer so schön sagt, vor einem Rätsel, John. Man hat gewisse Dinge einfach laufen lassen. Man hat auch versucht, zu vertuschen, weil man keinen Erfolg erreichte. Man sprach von bizarren Selbstmorden und stellte sie in einen Zusammenhang mit einer dieser widerlichen Satanssekten. Ihre Kollegen aus Canterbury haben viel versucht, aber nichts erreicht. Der Fall wurde zwar nicht zu den Akten gelegt, aber auch nicht mehr intensiv bearbeitet, weil die Leute einfach nicht von der Stelle kamen.« »Wo passierten die Taten denn genau?« Purdy Prentiss räusperte sich. »Der Ort heißt Wingmore.« »Kenne ich nicht.« Sie lachte mich an. »Ich habe ihn auch nicht gekannt. Bis mir eine Freundin davon berichtet hat, die in der Nähe einige Tage Urlaub machte. Sie hat es erfahren, und ich setzte mich dann später mit den Kollegen von Canterbury in Verbindung, die mir auch Kopien der Ermittlungsunterlagen schickten, einschließlich der entsprechenden Fotos. Ich habe schlucken müssen, John.« »Das glaube ich Ihnen. Wie lange liegen die Morde zurück?« »Die Ermittlungen wurden vor knapp einer Woche eingestellt. Ich allerdings habe das Gefühl, dass es weitergeht. Dass die beiden ersten toten Frauen nur der Anfang gewesen sind. Ich bin davon überzeugt, dass mehr hinter den Morden steckt, als sie Kollegen vermuten.« »Also keine Taten, die auf ein Ritual hindeuten?« Sie wiegte den Kopf. »Doch, John, aber anders.« »Sorry.« Ich gestattete mir ein Lächeln. »Aber das verstehe ich leider nicht.« »Magie?« Sie hatte das Wort mehr als Frage ausgesprochen, und da war sie bei mir an der richtigen Stelle. »Sie denken, dass es um das Blut der jungen Frauen geht?« »Genau das denke ich. Blut ... «, sie winkte ab. »Ich will gar nicht erst bei Goethe beginnen, der von einem besonderen Saft gesprochen hat, aber ich kann mir auch vorstellen, dass es eine Art von Vampirismus ist, der sich dort ausgebreitet hat. Bitte, es muss nicht sein, aber ich schließe es auch nicht aus.« »Ja, sonst säße ich nicht hier.« »Nun ja, so schlimm ist es auch nicht. Ich dachte mir nur, dass jemand wie Sie den Fall von hinten aufrollen kann. Gewissermaßen auch inoffiziell. Außerdem frage ich Sie: Welcher normale Verbrecher raubt seinen Opfern schon das Blut?« »Da haben Sie Recht.« »Eben. Deshalb gehe ich davon aus, dass mehr hinter diesen schrecklichen Taten steckt.« Ich schaute sie an, und Purdy hielt meinem Blick stand. »Könnte es sein, dass Sie schon einen Verdacht haben oder sich der in eine bestimmte Richtung bewegt?« »Nein, leider nicht. Wenn das der Fall wäre, hätte ich Sie nicht zu bemühen brauchen, John. Ich selbst bin noch nicht in Wingmore gewesen, doch ich stelle mir vor, dass es auch für Sie nicht einfach sein wird, mit den Menschen, die dort leben, zurechtzukommen.« »Was macht Sie dabei so sicher?«
Seite 8
»Meine Gespräche mit den Kollegen aus Canterbury. Sie stießen zwar nicht eben auf einer Mauer des Schweigens, aber die Einwohner waren schon recht stumm, wenn es um den Fall an sich ging. Da hat niemand etwas gesehen oder wollte nichts gesehen haben. Hinzu kommt noch etwas, das eine gewisse Bedeutung haben kann, aber nicht haben muss. In der Nähe des Ortes oder schon dazu gehörend gibt es ein altes Museum. Sehr klein, auch nicht bekannt, aber irgendein Spinner hat dort Gegenstände gesammelt, die nicht eben als appetitlich anzusehen sind.« Sie legte wieder ihre Stirn in Falten. »Es sind die Folterinstrumente unserer glorreichen Vorfahren.« »Auch das noch.« »Daumenschrauben, Streckbänke, eine Eiserne Jungfrau. Also alles, was man sich vorstellen kann.« Das passte mir natürlich nicht. Ich fragte: »Haben die Kollegen auch dort nachgeschaut?« »Das taten sie. Es wurden keine Spuren gefunden. Kann sein, dass sie auch nicht gründlich genug gesucht haben, aber das will ich nicht unterstellen.« »Sie halten es für wichtig, Purdy.« Die Staatsanwältin reckte sich leicht. »Es ist alles wichtig, was dort passiert. Jede Tat, jeder Bewohner, jeder Mensch, und auch sogar der Pfarrer.« »Wie kommen Sie auf den?« »Die Kollegen hatten einfach das Gefühl, dass er mehr weiß, aber nichts zugeben wollte. Er hielt sich sehr bedeckt.« »Mal sehen, wie er reagiert, wenn ich zu ihm komme.« »Aber Vorsicht, John.« »Klar doch.« Purdy Prentiss öffnete eine Schublade an ihrem Schreibtisch. »Möchten Sie die Fotos sehen, die man mir übermittelt hat?« »Ja.« »Sie müssen hart im Nehmen sein.« Damit hatte sie nicht Unrecht, denn was ich sah, als die Bilder auf dem Schreibtisch lagen, das schlug mir schon im ersten Moment auf den Magen. Es waren Aufnahmen, wie man sie nur in den Polizeiberichten sieht. Klar und kalt. Ich sah den blanken Realismus. Ohne es bewusst zu wollen, ballte ich meine Hände zu Fäusten. Auf eine genaue Beschreibung möchte ich verzichten. Es sei nur so viel gesagt, dass die beiden jungen Frauen, die die Zwanzig gerade erreicht hatten, nackt gewesen waren. »Wo fand man sie?« »Eine im Ufergestrüpp eines nahen Bachs. Die andere lag unter einem Baum.« »Beide stammten aus Wingmore?« »Nein, nur eine. Die zweite Tote kam aus einem Nachbarort. Die Mädchen sind wohl Freundinnen gewesen.« Ich schob die Fotos zur Seite und fragte: »Sind die Eltern auch vernommen worden?« »Selbstverständlich. Nur hat es nichts gebracht. Sie wussten nichts. Wer ist schon darüber informiert, was die erwachsenen Söhne oder Töchter treiben?« »Da muss ich Ihnen zustimmen.« »Eben, John.« Purdy lächelte nun, doch es war kein echtes Lächeln. »Ich frage Sie noch einmal. Nehmen Sie den Fall an? Auch wenn er mehr inoffiziell ist?«
Seite 9
»Natürlich.« »Danke, das habe ich mir gedacht. Aber ich werde sicherheitshalber noch mit Sir James reden.« »Das steht Ihnen frei.« Ich dachte über meine nächsten Worte kurz nach. »Bestehen Sie denn darauf, Purdy, dass ich den Fall allein angehe, oder soll Suko mit von der Partie sein?« »Das steht Ihnen frei. Ich kenne euch ja und denke, dass es besser ist, wenn ihr euch gegenseitig Rückendeckung gebt.« »Danke.« »Ich habe zu danken, John. Ich freue mich auch, dass Sie Zeit gefunden haben, und ich kann nur hoffen, dass ich Sie nicht von einem anderen wichtigen Fall abgehalten habe.« »Nein, nein, das hier hat Vorrang. Da brauche ich mir nur die Bilder anzuschauen.« »Stimmt.« Es war genug gesagt worden. Ich hatte auch nicht vor, die Unterlagen durchzuackern. Ich gehöre zu den Menschen, die sich lieber selbst ein Bild von den Dingen machen und dann praktisch aus dem Bauch heraus entscheiden. Purdy Prentiss hakte sich bei mir ein und brachte mich bis zur Tür. »Bitte, John, setzen Sie alles daran, um diesen verdammten Killer zu fangen. Vielleicht auch die Killer, wenn es dabei um eine schwarzmagische Satanssekte geht. Ich will sie einfach haben. So etwas darf nicht noch einmal passieren.« »Da laufen Sie bei mir offene Türen ein.« Zum Abschied umarmte sie mich noch. Sehr nachdenklich verließ ich das Büro. Mir wollten die Fotos nicht aus dem Kopf. Die Mädchen mussten wahnsinnige Schmerzen erlitten haben. Welcher Mensch war zu solch grausamen Taten fähig? Oder war es kein Mensch? War es eine andere Person? Ein Dämon? Ein dämonischer Helfer? Die Fragen schwirrten durch meinen Kopf, doch Antworten fand ich leider nicht. Die würde ich erst in Wingmore finden. Das jedenfalls war meine Hoffnung. Es war schon später Nachmittag, als ich ins Büro zurückkehrte, wo Suko auf mich wartete. Glenda hatte etwas früher Feierabend gemacht, weil sie noch etwas erledigen wollte. »Na, Alter, wie war's bei der schönen Purdy?« Suko hatte die Frage locker und mit einem Grinsen auf den Lippen gestellt. Als er jedoch mein Gesicht sah, verging ihm das Grinsen, und er fragte nur knapp: »Ärger gehabt?« Ich ließ mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Im Büro war es warm geworden, denn die Sonne draußen meinte es schon jetzt im Mai besonders gut mit den Menschen. »Wir werden wohl einige harte Tage vor uns haben, Partner.« »Wieso?« Ich erzählte ihm das, was ich wusste. Und da konnte auch mein Freund Suko nicht mehr lächeln ...
Es war nicht nur innen in der kleinen Kirche recht kühl, auch außerhalb der Mauern boten die jetzt dicht belaubten Bäume Schutz gegen die Strahlen der Sonne, sodass es stets ein wenig feucht auf dem Boden war und Moos sich nicht nur auf dem Untergrund hatte ausbreiten können.
Seite 10
Seine weiche Schicht klebte auch auf den Mauern der kleinen Kirche, in der Pfarrer Cliff Lintock seinen Rundgang machte wie jeden Tag um diese Zeit. Er war ein gewissenhafter Mensch. Er schaute stets nach, ob sich etwas in der Kirche verändert hatte, und er fühlte sich in diesem Halbdunkel irgendwie geborgen. Die dunklen Bankreihen, die grauen Wände, die wenigen Bilder, der schmucklose Altarstein, das große Kreuz dahinter, die kleine Orgel an der Seite - das alles war ihm so vertraut, es gehörte einfach zu Cliff Lintocks Leben wie seine Frau und seine neunzehnjährige Tochter Silvia. An sie hatte er in der letzten Zeit öfter denken müssen. Silvia lebte, die anderen beiden Mädchen nicht. Sie waren Bekannte von Silvia gewesen, und als man sie kurz hintereinander gefunden hatte, da war der gesamte Ort in tiefe Agonie gefallen. Die Bewohner waren sprachlos gewesen. Niemand hatte überhaupt so richtig begreifen können, was hier eigentlich vorgefallen war. Zwei junge tote Frauen. Aber noch schlimmer war beinahe, wie sie ums Leben gekommen waren. Ausgeblutet ... Immer wenn Pfarrer Lintock daran dachte, rann ein kalter Schauer über seinen Rücken. Er konnte es nicht begreifen. Sein Gehirn weigerte sich einfach, dies zu fassen, und er merkte, wie die äußere Kälte auch nach innen drang und ihn leicht vereiste. Wenn er allein war, musste er daran denken. In der letzten Zeit war er oft allein gewesen, denn seine Frau Lisa hatte ihn verlassen. Sie hatte einfach nicht mehr gewollt. Es war ihr zu fade geworden, zu langweilig, und sie war ihren eigenen Weg gegangen. Das hatte sie ihm zum Abschied erklärt, der schon einige Wochen zurücklag. In dieser Zeit hatte er keine einzige Nachricht von ihr erhalten. Er wusste nicht einmal, ob sie noch auf der Insel war. Das Festland hatte sie schon immer gelockt. Ob sie dort allerdings ihre Erfüllung finden würde, stand für Cliff Lintock in den Sternen. Kurz vor der Abreise hatte er aufgrund ihrer persönlichen Veränderung geraten, zu einem Psychotherapeuten zu gehen, um sich von ihm beraten zu lassen. Er war ausgelacht worden, und seine Frau hatte sich wieder in ihr Zimmer verkrochen, um dort allein sein zu können. Bis sie dann so Knall auf Fall verschwunden war, was im Ort natürlich für Gerede gesorgt hatte. Aber ihm war noch Silvia geblieben, auch wenn sie eine Generation trennte und Silvia es ebenfalls langweilig in Wingmore fand. Besonders den Job in der Bäckerei fand sie zum Kotzen. Irgendwann wollte auch sie aus Wingmore verschwinden, das hatte sie ihrem Vater schon angekündigt. In der letzten Zeit allerdings nicht. Ob das mit dem Abtauchen der Mutter zusammenhing, wusste der Pfarrer nicht. Es konnte sein, aber er wollte sie auch nicht fragen. Silvia sollte selbst das Vertrauen zu ihm aufbauen. Cliff Lintock hatte die letzte Reihe erreicht, sah, dass auch hier alles in Ordnung war, und drehte sich um, weil er die beiden Pulte rechts und links der Eingangstür kontrollieren wollte. Dort lag das Informationsmaterial bereit. Kleine Broschüren, deren Inhalte sich mit kirchlichen Themen beschäftigten. Auch ein Blatt für die Jugend oder mehr oder weniger wichtige Informationen. Auch über die Kathedrale von Canterbury, denn die Stadt lag nicht eben weit von Wingmore entfernt. Es war alles in Ordnung in der Kirche. Lintock hätte zufrieden sein können. Er war es trotzdem nicht, denn in seinem Innern hatte sich eine Unruhe ausgebreitet, die ihm überhaupt nicht gefiel. Er konnte keinen konkreten Grund nennen, er dachte nur daran, dass diese beiden schrecklichen Morde passiert waren und dass möglicherweise noch welche folgen würden. Das wäre fatal gewesen, aber selbst die Polizisten hatten nichts ausgeschlossen. Es stand für sie nicht einmal fest, ob sich die beiden jungen Mädchen selbst das Leben genommen hatten oder ob sie umgebracht worden waren.
Seite 11
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Polizisten festgekettet, aber nach ihm ging es nicht. Die Beamten hatten nichts herausfinden können und den Fall erst einmal auf Eis gelegt. Dass die Presse nicht eingeweiht worden war, empfand der Pfarrer als einzigen Vorteil in dieser ansonsten schlimmen Zeit. Es gab zwei Eingänge. Der eine, der offizielle und einen anderen an der Seite. Dass die Morde hier bei ihm passiert waren, hatte für ihn auch einen kleinen Vorteil. Es kamen wieder mehr Menschen in den sonntäglichen Gottesdienst. Manchmal fragte Lintock sich, ob sich auch der Mörder darunter befand. Man konnte den Menschen eben nur auf die Stirn schauen und nicht dahinter. Lintock wollte die Kirche durch die Seitenpforte verlassen und in sein Haus gehen. Das war ihm vom Bistum zur Verfügung gestellt worden. Ein kleines Haus, das immer verwunschen wirkte, weil sich Efeu an den Mauern hochreckte. Er würde sich ein Abendbrot zubereiten und einige Sätze mit seiner Tochter sprechen, falls sie kam, um ihn zu besuchen. Oft war sie direkt nach Geschäftsschluss weg und tauchte erst irgendwann am frühen Morgen wieder auf. Lintock hatte es aufgegeben, sie nach dem Ziel zu fragen. Sie musste selbst wissen, ob sie eine Antwort geben wollte oder nicht. Bisher hatte sie ihm keine gegeben. Cliff Lintock war 50 Jahre alt. Ein hochgewachsener, asketisch wirkender Mann mit grauen Haaren, die flach auf dem Kopf lagen. Dadurch wirkte seine Stirn sehr hoch. Beim Lesen musste er eine Brille aufsetzen, ansonsten waren seine Organe noch völlig okay. Wenn eben möglich, trieb er Sport, in einem Zimmer seines Hauses standen die entsprechenden Geräte, und hin und wieder joggte er auch. In der letzten Zeit nicht. Da hatte er einfach den Wunsch verspürt, im Ort bleiben zu müssen. Als könnte er verhindern, dass etwas passierte. Der Pfarrer machte sich auf den Rückweg. Wie so oft würde er sich am Abend zwei Spiegeleier in die Pfanne schlagen und Brot dazu essen. Danach wollte er noch an seiner Predigt arbeiten und sich dabei in den Garten setzen, denn das Wetter lud dazu ein. Die Sonne meinte es in diesem Mai schon besonders gut, denn es gab bereits Temperaturen wie im Hochsommer. Manchmal fragte er sich auch, ob er die Ruhe und diese relative Eintönigkeit, verbunden mit dem Alleinsein, tatsächlich bis an sein Lebensende würde aushalten können. Wahrscheinlich nicht. Wenn er am Ende des Jahres nichts mehr von seiner Frau gehört hatte und auch Silvia ihm immer mehr entglitten war, würde er versuchen, eine andere Stelle zu bekommen. Weit weg von Wingmore. Langsam ging er den Weg zurück. Vor dem Altar musste er nach links abbiegen, um die Seitenpforte zu erreichen. Der Duft von Maiglöckchen drang in seine Nase. Eine ältere Frau hatte mehrere gefüllte Vasen neben den Altar gestellt. Mai - ein wunderschöner Monat. Im Prinzip, und er hatte ihn auch so in vielen vergangenen Jahren erlebt. Nun war alles anders geworden. Da hatte Lintock erleben müssen, dass das Leben zwei Seiten besaß, die verdammt unterschiedlich waren. Der Pfarrer hatte sich schon nach links gedreht, als er das typische Geräusch hörte, das immer dann entstand, wenn die Seitenpforte aufgedrückt wurde. Sie kratzte immer leicht über den Boden hinweg, und Cliff Lintock blieb sofort stehen. Er war gespannt, wer ihn da besuchen wollte. Der Weg durch die Pforte war eigentlich nicht der normale. Aber sie lag von außen her auch gut geschützt. Hin und wieder gab es Menschen, die heimlich zum Pfarrer kommen wollten. Warum er gerade in diesem Fall Herzklopfen bekam, darüber wunderte er sich schon. Er ging auch ein wenig zur Seite, um in den Schatten einer grauen Säule zu treten. Die Tür fiel nicht wieder zu, weil sie von einer Person offen gehalten wurde. Der Pfarrer konnte nicht sehen, wer auf der Schwelle stand. Die Person zögerte auch, die Kirche zu betreten.
Seite 12
Einige Sekunden verstrichen, bis Lintock plötzlich eine Flüsterstimme hörte. »Sind Sie da, Herr Pfarrer?« Er wartete noch mit einer Antwort. Dass die Stimme einer Frau gehört hatte, war ihm nicht entgangen, nur hatte er die dazugehörige Person nicht identifizieren können. Deshalb wollte er noch abwarten. »Sind Sie da?« »Sie können kommen.« Er hatte etwas lauter gesprochen und die andere Person wohl ein wenig erschreckt, weil sie zunächst keine Antwort gab. Dann die nächste Frage der Frau. »Wo sind Sie denn?« »Moment, ich komme.« Er verließ den Schutz der Säule, trat so in das Dämmerlicht und wandte sich auch der Pforte zu. Dort malte sich eine Gestalt ab. Da aus dem Hintergrund die Helligkeit in die kleine Kirche hineinfiel, war sie recht gut zu erkennen. Cliff Lintock kannte sie auch. Es war Diana Crane, die oft mit seiner Tochter Silvia zusammen gewesen war. Im Ort galt sie als verrückt und leicht überdreht. Sie war einfach anders und hatte ihr Haar hellblau gefärbt. In Strähnen hing es an ihrem Kopf herab. Bekleidet war sie mit einer hellblauen Jeans, Turnschuhen und einem weißen T-Shirt, das bis über ihre Hüften hing. »Du kannst ruhig kommen, Diana, oder soll ich zu dir kommen, sodass wir uns draußen unterhalten?« »Auch nicht übel.« »Gut. Wo?« »Auf der Bank?« »Einverstanden.« Lintock lächelte. Die Bank stand an einem relativ einsamen Platz und war von drei Seiten durch recht hohe Hecken geschützt. Als Lintock vorging, zog sich Diana Crane zurück. Sie wartete an der Kirchenmauer auf ihn und schaute den Pfarrer etwas von unten her an. Diana war ein hübsches Mädchen. Besonders fielen ihre hellgrünen Augen auf. Auch die wenigen Sommersprossen in ihrem Gesicht störten da nicht. Mit dem volllippigen Mund konnte sie wunderbar lächeln, das hatte sie schon als Kind geschafft. Aber sie war kein Kind mehr, und sie lächelte auch nicht. »Gut, dann wollen wir mal.« Dagegen hatte Diana nichts einzuwenden. Neben dem Pfarrer ging sie her. Die Bank stand in dem kleinen Garten, der zum Haus gehörte. Er rahmte es praktisch ein und war auch so etwas wie ein Schutz. Diana sagte kein Wort. Mit gesenktem Kopf ging sie neben Cliff Lintock her. Sie wirkte wie eine Person, die ziemlich erschöpft war und sich nur noch mühsam aufrecht hielt. Das Thema sprach der Pfarrer nicht an. Diana hatte ihn besucht und nicht umgekehrt. Sie würde ihm schon sagen, wo sie der Schuh besonders heftig drückte. Als sie die Bank erreicht hatten und von drei Seiten durch die Hecke geschützt waren, ließ sich Diana mit einem Seufzen auf die hölzerne Sitzfläche fallen. Sie schloss für einen Moment die Augen, und wieder beobachtete sie der Pfarrer von der Seite her. Es dauerte ungefähr eine Minute, bis Diana die Augen wieder öffnete. Ihren Nebenmann schaute sie nicht an. Auch nicht, als Cliff Lintock zu sprechen begann. »Dass du bedrückt bist und Sorgen hast, sehe ich dir an. Du bist zu mir gekommen und jetzt möchte ich dich direkt fragen: Wo drückt dich der Schuh?«
Seite 13
Diana Crane lächelt etwas gekünstelt. »Wo mich der Schuh drückt, das ist zu einfach gefragt.« »Aber immerhin ein Anfang.« »Stimmt. Ich weiß auch nicht, ob ich hier richtig bei Ihnen bin, aber ich hoffe es.« Sie räusperte sich. »Jeder von uns weiß ja, was hier in Wingmore passiert ist.« »Du denkst an die beiden Morde?« »Woran sonst?« Sie hörte sich zwar salbungsvoll an, aber der Pfarrer gab die Antwort trotzdem. »Da hat uns der Herrgott wohl eine schwere Prüfung auferlegt und uns gezeigt, dass das Leben nicht nur seine schönen und sonnigen Seiten hat.« »Herrgott? Nein ... « Lintock horchte auf. »Weißt du mehr?« »Das kann sein.« »Bitte, ich höre.« »Ein Gott ist es nicht. Höchstens ein Götze. Es ist etwas ganz anderes. Es ist sie. Es ist das Engelsgesicht, das uns heimgesucht hat.« Lintock verstand nichts mehr. Er schüttelte den Kopf. Ihm wollte auch keine Erwiderung einfallen. Unter dem Begriff >Engelsgesicht< konnte er sich nichts vorstellen. »Sie wissen nichts«, sagte Diana. »Das stimmt leider.« »Aber andere wissen Bescheid. Sie sagen es nur nicht, Mr. Lintock. Es bleibt im Geheimen und ist doch so präsent. Selbst die schnüffelnden Bullen haben nichts finden können.« »Das ist klar. Sonst hätten sie Wingmore nicht verlassen. Deinen Worten allerdings entnehme ich, dass du eventuell mehr über diesen Begriff weißt. Oder nicht?« »Ich weiß wenig, Mr. Lintock, aber ich habe es auch nicht nur einfach so dahingesagt.« »Das dachte ich mir.« Diana stemmte die Ellenbogen auf die Schenkel, stützte ihr Kinn gegen die Handballen und schaute nach vorn genau auf zwei Birken, deren Stämme hell glänzten. »Es ist nicht vorbei, Mr. Lintock, noch lange nicht. Es ist, wenn ich das sagen darf, so etwas wie ein Anfang gewesen. Es wird weitergehen, immer weiter, und ich glaube kaum, dass ihm jemand entkommen kann.« Der Pfarrer hütete sich davor, die Worte zu ernst zu nehmen und zu tief gehen zu lassen. »Entschuldige, aber du sprichst noch immer in Rätseln.« »Der Tod und das Grauen haben hier in Wingmore Einzug gehalten«, sagte sie mit leiser Stimme. »Das Grauen ist längst da. Viele wissen davon, aber nur wenige kennen es. Das Grauen hat ein Aussehen und ... « »Ist es das Engelsgesicht?« Diana nickte sehr andächtig. »Sie haben Recht, Mr. Lintock, es ist das Engelsgesicht.« »Und weiter?« »Es wird den Ort beherrschen. Besonders die jungen Menschen. Sie wissen Bescheid, und die älteren sagen nichts. Sie kennen sich nicht aus, und sie wollen außerdem ihre Ruhe haben.« »Das ist nun mal so.« »Aber es ist falsch!«, stieß sie hervor. »Es ist auch falsch, dass die Bullen so schnell aufgegeben haben.«
Seite 14
»Haben sie nicht. Es ist nur eine Pause in den Ermittlungen vor Ort eingetreten. So jedenfalls habe ich es gehört. Kann sein, dass ich mich irre, aber ... « »Vergessen Sie es, Mr. Lintock. Hier wird nichts mehr so sein wie früher. Gar nichts.« Der Pfarrer nickte. »Wenn du das so sagst, dann möchte ich dir das auch glauben, Diana. Trotzdem fällt es mir schwer. Es gibt wohl keine Beweise für deine Aussagen. Oder beziehst du dich dabei nur auf die beiden Toten?« »Nein, auf keinen Fall. Sie waren einmal wichtig, doch jetzt haben die Lebenden Priorität.« »Das haben sie immer.« Diana Crane räusperte sich. »Ich werde damit aufhören, nur allgemein darüber zu reden, denn bisher habe ich Ihnen die Beweise vorenthalten, Mr. Lintock.« »Keine Sorge, ich bin ein geduldiger Mensch.« »Damit muss es bald vorbei sein.« »Das sehe ich ebenfalls ein.« Bisher hatten beide direkt nebeneinander gesessen. Das änderte sich nun, denn Diana Crane drehte sich dem Pfarrer zu. Aus ihrem Mund drang kein Wort. Die Lippen lagen aufeinander, und die Augen hatten einen starren Ausdruck bekommen. Cliff Lintock sagte nichts mehr. Er musste das Feld jetzt der jungen Frau überlassen, die beide Arme senkte und den Saum ihres T-Shirts an verschiedenen Stellen anfasste. Sie hatte es mit einer bestimmten Bewegung getan, und dem Pfarrer schoss durch den Kopf, dass sie es möglicherweise ausziehen könnte. Genau das tat sie. Es ging alles schnell. Plötzlich hatte sie das Shirt über den Kopf gestreift, und Lintock schaute auf die nackte Haut der jungen Frau und auf die beiden etwas zu den Seiten hingewachsenen Brüste, deren Spitzen wie dunkle Knospen aussahen. Auch Pfarrer sind nur Menschen oder Männer, zudem saß Diana dicht vor ihm. Trotzdem glitt sein Blick rasch nach unten, und seine Augen weiteten sich. Es war furchtbar, was er da zu sehen bekam. Der Körper der jungen Frau war mit mindestens sechs langen Schnittstellen bedeckt, deren Wunden in einem dunklen Rot schimmerten und kaum verheilt waren. Lintock schwieg. Nicht aber Diana Crane. »Sehen Sie jetzt, was ich meine?«, fragte sie mit tonloser Stimme ... Ja, er sah es, aber er konnte es nicht fassen. Cliff Lintock hatte das Gefühl, einen Schlag zugleich in das Gesicht und in den Magen erhalten zu haben. Ihm blieb einfach die Luft weg. Er war nicht mehr in der Lage, Atem zu schöpfen. Er zitterte. Es war ein schlimmer Anblick, den das T-Shirt bisher verborgen hatte. Trotz der Wärme wurde ihm kalt. Er selbst hatte die beiden toten Mädchen nicht gesehen. Aber diejenigen, die sie gefunden hatten, und ihre Beschreibungen hatten sich im Ort blitzschnell herumgesprochen. So wusste er, wie die Leichen ausgesehen hatten. Sie waren über und über mit Schnittwunden bedeckt gewesen. Es sollte sogar kein Tropfen Blut in ihnen gewesen sein, das jedenfalls war gesagt worden. Stiche durchdrangen das Herz des Pfarrers. Er spürte, wie es ihm schwindelig wurde. »Sehen Sie es, Herr Pfarrer?« »Ja. Wie kann ich daran vorbeischauen?« »Es geht weiter. Auch bei mir. Und nicht nur bei mir. Auch bei anderen. Bei Frauen, bei sehr jungen Frauen, die dem Teenie-Alter gerade entwachsen sind. Ihr Blut ist das beste. Es ist so frisch und wunderbar, Herr Pfarrer.«
Seite 15
Lintock war plötzlich schweißnass. Sein Herz schlug hart und schnell. »Du sprichst von jungen Frauen, Diana?«, hörte er sich flüstern. »Ja.« »Meine Tochter Silvia ist auch jung.« »Ich weiß.« Er schnappte nach Luft. »Du kennst sie. Du kennst sie sogar gut. Kannst du mir sagen, was mit ihr ist?« »Die Gefahr ist überall, Mr. Lintock. Es gibt keinen Ort, an dem man sich vor ihr verstecken kann.« »Gefahr - Gefahr!«, stieß er hervor. »Von welcher Gefahr sprichst du konkret?« Diana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen streifte sie ihr T-Shirt wieder über, zupfte Falten zurecht und gab erst dann die leise Antwort: »Es ist das Engelsgesicht. Was sonst?« Da war er wieder! Dieser verdammte Ausdruck, mit dem der Pfarrer wenig anfangen konnte. »Viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Lintock!« »Doch«, sagte er und dachte dabei auch an seine Tochter. Mit der rechten Hand umfasste der Pfarrer hart die Schulter der jungen Frau. »Du kannst mehr sagen. Du kannst mir erklären, wer sich dahinter verbirgt und wie das verdammte Engelsgesicht aussieht.« Er schüttelte sie durch und stand dicht davor, die Beherrschung zu verlieren. »Alles musst du mir sagen, auch im Namen meiner Tochter. Alles!« »Sie tun mir weh!« Lintock ließ nicht ab. Erst als Diana Crane hochsprang und sich seine Hand von ihrer Schulter löste, da wurde ihm bewusst, dass er sich beinahe vergessen hätte. »Entschuldigung, Diana, entschuldige. Aber ich bin eben auch nur ein Mensch. Pfarrer sind nichts anderes. Ich habe es nicht gewollt, aber die Angst um ... « »Schon gut.« Sie rieb ihre Schulter, zog die Nase hoch und wischte über ihre Augen. Dann nahm sie wieder Platz. »So genau weiß ich es auch nicht, Mr. Lintock. Es gibt dieses verdammte Engelsgesicht. Ich habe es gesehen, aber ich kann es nicht fassen, verstehen Sie.« »Nein.« »Es ist ... « »Beschreibe es, Diana. Los, raus damit. Gib mir eine Beschreibung. Es kann ja sein, dass ich es kenne.« »Das glaube ich nicht.« »Du musst es trotzdem versuchen«, bedrängte er sie. »Ich sehe nur ihr Gesicht. Es ist so schön. Es ist so glatt und eben. Völlig entrückt. Und ich sehe ihren Körper, den sie in Blut wäscht. In unserem Blut ... « Lintock konnte sich nicht mehr halten. »Aber du musst doch wissen, wer dir das verdammte Blut abgenommen hat? Wer brachte dir die Schnitte denn bei?« »Das war sie!« »Und weiter!« »Ich schlief doch. Sie kam wie ein Alptraum. Sie war einfach nicht zu hören. Sie durchbrach die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Und dann schlug sie zu.« »Du hast also im Schlaf geblutet?«, flüsterte Lintock erstaunt. Er konnte es nicht fassen. »Während du geschlafen hast, ist sie gekommen. Das ... das glaube ich nicht.«
Seite 16
»So war es bei den anderen beiden auch!«, schrie Diana. »So und nicht anders. Sie hat das Blut gebraucht, um schön zu bleiben. Oder um noch schöner zu werden. Das ist ihr Motiv. Unser Blut gibt ihr die Schönheit oder gibt sie ihr zurück. Ich weiß es nicht.« Jetzt war es der Pfarrer, der die Hände vors Gesicht schlug und den Kopf schüttelte. Dabei stöhnte er. »Das ist einfach Wahnsinn!«, keuchte er in seine Handflächen hinein. »Nein, das will ich nicht akzeptieren. Und du bist nicht die Einzige?«, fragte er trotzdem. »So ist es.« »Wer noch? Nenn mir die Namen! Bitte, ich will Namen hören. Du brauchst keine Rücksicht zu nehmen, Diana.« »Alle«, gab sie leise zur Antwort und starrte dabei auf einen imaginären Punkt. »Was heißt alle?« »Junge Frauen, deren Blut noch nicht verbraucht ist. Damit erhält sie sich die Schönheit. Ich habe mit keinem darüber gesprochen. Sie hätten mir doch nicht geglaubt. Aber zu Ihnen habe ich Vertrauen, Mr. Lintock. Sie haben auch eine Tochter. Sie werden begreifen können, was das alles bedeutet.« »Ja, ja ... «, sagte er nach einer Weile. »Das sollte ich begreifen. Aber ich habe keinen Zugang mehr zu meiner Tochter. Sie geht ihre eigenen Wege. Sie ist in der Nacht oft weg, und so kann es sein, dass dies mit dem verdammten Blut in einem Zusammenhang steht. Ich glaube das sogar, obwohl ich es mir nicht vorstellen kann.« »Es ist eine andere Macht!«, erklärte Diana. »Eine Kraft, gegen die wir nicht ankommen. Zumindest ich nicht. Vielleicht Sie, Mr. Lintock. Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Ich habe Ihnen auch die Beweise gezeigt. Sie müssen mir glauben, dass ich mir die Schnitte auf keinen Fall selbst zugefügt habe. Ich bin keine Masochistin. Es hat alles seinen verdammten Grund. Und es ist noch nicht zu Ende. Das Engelsgesicht braucht Blut, viel Blut ... « Weitere Worte ließ sie unausgesprochen. Sie drehte sich mit einer scharfen Bewegung um und ließ den Pfarrer allein auf der Bank zurück. Cliff Lintock dachte nicht daran, ihr zu folgen. Er starrte ihr nach, er wollte trotzdem so viel tun, und er war nicht einmal in der Lage, sich zu erheben. Wie festgeklebt saß er auf der Gartenbank, den Blick nach innen gerichtet. Nach einer Weile bewegte er den Kopf. Sein Atem ging schwer. Sein Körper war von kaltem Schweiß bedeckt. Plötzlich kam ihm die Umgebung bedrohlich vor. Da boten die Bäume keinen Schutz mehr, sondern strahlten Gefahr aus. Er hatte etwas über das Böse gehört. Es war nicht konkret zu ermitteln gewesen, aber es war trotzdem vorhanden. Wieder sah er Diana vor sich sitzen und auch die Schnitte auf ihrer nackten Haut. Plötzlich überkam ihn Schüttelfrost. Aber nicht nur wegen Diana. Er dachte auch an seine Tochter Silvia, die ebenfalls so verdammt jung war. Ruckartig stand er auf. jetzt hatte er es plötzlich eilig, in sein Haus zu kommen. Wie immer duckte er sich unter dem Efeu über der Tür, dann betrat er die angenehme Kühle seines Hauses und eilte sofort zum Telefon, um mit Silvia zu sprechen. Er wollte sie an ihrem Arbeitsplatz in der Bäckerei anrufen. Die Chefin meldete sich und erklärte ihm, dass Silvia nicht zur Arbeit gekommen war. »Warum nicht?« »Sie hat sich zwei Tage Urlaub genommen, Herr Pfarrer. Wussten Sie das nicht?« Cliff Lintock wollte sich nicht blamieren. »Doch, doch, ich habe es gewusst. Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein. Entschuldigen Sie die Störung.« Sehr rasch legte er auf und fühlte sich selbst wie ein Eiswasser gebadet ...
Seite 17
Blut! Welch ein Geruch - welch ein Genuss! Die Frau stöhnte leise vor sich hin und schloss die Augen, obwohl es dunkel um sie herum war. Nichts sollte sie stören. Nichts sollte sie ablenken. Sie wollte sich einzig und allein dem ganz großen Genuss hingeben. Der Geruch machte sie besonders an. Es war für sie kein normaler Blutgeruch. Hier ging es um etwas anderes. Dieses Aroma brachte ihr eine andere Botschaft mit. Wenn sie es durch den offenen Mund und durch die Nase einatmete, dann hatte sie einfach das Gefühl, die Jugend zu trinken. Oder einen gewissen Teil davon. Sie wurde erfrischt. Das menschliche Blut sorgte in ihrem Innern für eine Erneuerung. Und natürlich auch außen. Ein Wunder. Ein wirkliches Wunder, immer die Haut einer jungen Frau zu behalten. Nicht mit der Haut zu altern. Keine Falten zu bekommen. Keine hängenden Fettgewebe. Immer straff und stramm zu sein und von allen bewundert zu werden. Ein Traum? Nicht mehr, aber auch nicht neu. Vor langer Zeit schon hatte es eine andere Person versucht und war ihren Weg gegangen. Elisabeth Bathory, die ungarische Adelige, die in die Geschichte des Landes auch als die Blutgräfin eingegangen war. Dank der alten Überlieferungen, die man nur richtig lesen musste, konnte man ebenfalls diesen Zustand erreichen. Die Frau wollte nicht nur die glatte Haut auf ihrem Körper behalten, für sie war auch das Gesicht wichtig, in dessen Haut sie keine Falten und Unebenheiten sehen wollte. Straff musste sie sein, glatt und auch hell. Ein besonderes Gesicht erhalten. Das Gesicht eines Menschen, aber auch das eines anderen, eines Engels. Engelsgesicht! Das war das Ziel. Das war die große Leidenschaft. Ein Engelsgesicht. Kaum zu beschreiben in seiner absoluten Schönheit. Einfach wunderbar und auch rein. Ohne einen hässlichen Fleck oder Pickel. In einer ätherischen Schönheit strahlend. Erst wenn das erreicht war, dann konnte sie zufrieden sein. Sie war es noch nicht. Sie musste weitermachen. Das erste Blut hatte nicht ausgereicht. Es war viel zu wenig gewesen, und sie sah es nicht mehr als einen Anfang an. Das große und berühmte Ende würde noch kommen, da war sie sich sicher. Nackt und mit leicht angezogenen Knien hockte sie in der schmalen Wanne. Es war ein enges Zimmer ohne Fenster. Düster, verliesartig. Es gab kein elektrisches Licht. Wenn sie Helligkeit schaffen wollte, musste sie eine Kerze anzünden. Dann erst wurde der Spiegel an der Wand sichtbar, in den sicherlich auch ihr großes Vorbild, die Gräfin, schon hineingeschaut hatte. Die Frau bewegte ihre Hände. Sie tauchte sie in das Blut hinein, in dem sie saß. Wasser hätte geplätschert, bei dieser Flüssigkeit war das nicht der Fall. Sie vernahm andere Geräusche, wenn sie sich bewegte. Ein leises Klatschen oder Schmatzen, und sie merkte, wie e s an ihren Händen herablief, als sie die Arme anhob.
Seite 18
Das Gesicht war für die Frau wichtig. Noch einmal tunkte sie die Hände in das Blut und wischte dann über ihr Gesicht hinweg. Sie kreiste mit den Spitzen der Finger auf ihrer Stirn. Sie fuhr damit die Wangen hinab. Sie berührte das Kinn, dann die Haut am Hals und schließlich strich sie über ihre festen Brüste hinweg, die in den letzten Tagen viel straffer geworden waren. Auch dafür war das Blut gut, nicht nur gegen die Falten im Gesicht. Die Frau lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen, um sich voll und ganz auf das Blut konzentrieren zu können, das jetzt an ihrer Haut entlang hinabrann. Lisa - ich heiße Lisa. Ein Name, der unbedingt passte, denn er leitete sich von Elisabeth ab. Auch das stimmte also. Irgendwie war alles perfekt geworden, und sie fühlte sich dabei als die legitime Nachfolgerin der echten Blutgräfin. Wer konnte schon sagen, ob sie es nicht auch tatsächlich war? Diese Seelenverwandtschaft war einfach unwahrscheinlich, da war der Name beinahe Nebensache. Lisa - Elisabeth? Der Name war gefunden, aber es reichte nicht aus. Das wusste sie. Lisa brauchte mehr Blut, viel mehr, und sie war sicher, dass sie es bekommen würde. Ein Lächeln verzog ihre Lippen, als sie an die jungen Dinger dachte, die aus ihrem Bann nicht mehr wegkamen. Sie waren bereit, ihr das Blut zu geben. Lisa hatte sie überzeugen können. Es war doch so einfach in dieser Gesellschaft, in der die jungen Mädchen und auch Männer Idolen nacheiferten, die es nur in den Werbespots gab. Dort waren sie entsprechend gestylt worden. Da hatten findige Marketingleute genau den Geschmack der zahlungswilligen jungen Leute getroffen und die entsprechenden Figuren gebastelt, die immer top und gut drauf waren. Die nur Fun kannten, natürlich auch im Beruf, der immer gut war und überhaupt nicht stresste, denn dagegen gab es ja die entsprechenden Mittel. Jugend, Schönheit, gut aussehen. Genau das war es, das Lisa herausgefunden hatte und auch für sich ausnutzte. Sie wollte schön sein, aber sie hatte auch den anderen Schönheit versprochen. Schönheit auf einem ungewöhnlichen Weg. Genau das hatte die jungen Dinger so gereizt, und sie waren alle zu ihr gekommen, um zu erleben, wie man auch in den späteren Jahren schön und leistungsfähig blieb. Dabei waren sie ihr in die Falle gelaufen. Alle! Und keine hatte sich gewehrt! Lisa lachte glucksend, als sie daran dachte. Es war schon der reine Wahnsinn gewesen, wie leicht die jungen Dinger zu beeinflussen gewesen waren. Einmal kurz die Schönheit angesprochen, und schon vergaßen sie alles. Sie gaben sogar ihr Blut. Man musste ihnen nur weismachen, dass es letztendlich wieder an sie zurückgegeben wurde, um damit ihre Schönheit aufbauen zu können. Alle waren sehr gläubig. Genau das brauchte Lisa. Sie hatte die jungen Dinger so stark in ihren Bann gezogen, dass der Tod der beiden ersten einfach wie ein Betriebsunfall hingenommen worden war. Aufhören hatten die anderen nicht wollen. Ganz im Gegenteil, sie waren noch wilder geworden. Zu wenig Blut. Es war zu wenig. Es deckte gerade den Boden der schmalen Wanne. Sicherlich hatte die Gräfin damals in viel mehr Blut gebadet, und genau das wollte auch Lisa erreichen. Die Zeichen waren gesetzt. Ihre Mädchen würden für sie alles tun und ihr bald die nächste Ladung bringen. Die Frau bewegte sich in der Wanne. Wieder erklang dabei ein ungewöhnliches Geräusch. Das seltsame Klatschen der Flüssigkeit, die gegen die Innenwände schlug. Das Geräusch konnte nur deshalb entstehen, weil das Blut eben schwerer als Wasser war. Lisa erhob sich. Beide Hände hatte sie dabei auf den schmalen Rand der Wanne gestützt. So kam sie langsam in die Höhe und blieb noch in der Lache stehen. Sie achtete darauf, dass das Blut an ihrem Körper entlang nach unten floss. Jede dünne Bahn vollzog sie nach. Wieder zeichnete sie mit den Handflächen die Kurven ihres Körpers nach. Sie hörte, wie die roten Tropfen in die Menge zurückklatschten, und stieg schließlich mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Wanne.
Seite 19
Die Wanne stand in ihrem privaten Raum. Nur sie kannte ihn. Einen Besucher ließ sie da nicht hinein. Lisa wusste nicht, in welcher Umgebung die Blutgräfin damals gebadet hatte. Sie konnte sich allerdings vorstellen, dass dies nicht in den offiziellen Baderäumen geschehen war und sie sich ebenfalls einen Raum ausgesucht hatte, zu dem nur sie Zutritt gehabt hatte. Womöglich auch ein Verlies. Das hatte sich Lisa ebenfalls geschaffen. Sie wollte sich ganz dem Flair der Vergangenheit hingeben, so wie es auch im siebzehnten Jahrhundert gewesen war. Ihre Füße bewegten sich über einen kalten Steinboden hinweg auf die einzige Lichtquelle zu. Es brannte nur der Docht einer kleinen Kerze. Wenn Lisa in der Wanne saß und ihr Bad genoss, wollte sie so wenig Licht wie möglich haben. Erst später, wenn sie ihr Bad beendet hatte, sollte die Beleuchtung so gut sein, dass sie sich im Spiegel betrachten konnte und dann auch zufrieden war. Diese Überraschung wollte sie sich nicht nehmen lassen. Das Licht der Kerze flackerte leicht, als sie in seine Nähe kam. Die Flamme war von einem Luftzug berührt worden, den sie verursacht hatte. Er beruhigte sich nur langsam. Da hatte die Frau bereits nach einer zweiten Kerze gegriffen, deren Docht sie an der ersten anzündete. Es wurde heller. Sie musste zwinkern, weil das Licht ihren Augen zu nahe gekommen war. Schnell trat sie zur Seite, um wieder nach einer Kerze zu greifen. Sie stellte sie in bestimmte Öffnungen, sodass sie einen Halbkreis bildeten und ihren Schein gegen die Fläche eines an der Wand hängenden Spiegels schickten, in dem sich nicht nur das Licht der Kerzen fing, sondern sich auch der Umriss ihres Körpers abzeichnete. Lisa trat nicht näher an den Spiegel heran. Sie hatte noch etwas anderes vor. Das Blutbad war vorbei, und sie konnte mit den Resten des Bluts am Körper nicht herumlaufen. Es trocknete ein, es bildete Krusten. Aus diesem Grunde wollte sie es abwaschen, und dazu musste sie die Dusche benutzen, die sich ebenfalls in ihrem geheimnisvollen Raum befand. Es war die einzig moderne Errungenschaft, die sie sich in ihrem Verlies gönnte. Ansonsten wollte sie der Blutgräfin sehr nahe kommen. Lisa hatte einfach bei ihren Bädern das Gefühl, von einem anderen Geist umschwebt zu sein. Er war ihr fremd und doch so nahe. Wenn man sie gefragt hätte, dann hätte sie vom Geist der Bathory gesprochen. Vielleicht war etwas von ihr aus der Hölle zurückgekehrt. Der Körper war auf jämmerliche Art und Weise vergangen. Man hatte sie einmauern lassen. Sie steckte in einem Verlies fest, in dem es nur eine kleine Öffnung gegeben hatte, durch die ihr Speisen und Getränke gereicht wurden. Vier Jahre hatte sie darin ausgehalten, dann war sie elendig gestorben. So sollte es ihr nicht ergehen. Auf keinen Fall. Es waren andere Zeiten. Sie würde das, was die Bathory begonnen hatte, auf ihre Weise und auch besser fortführen. Im Licht der Kerzen stieg sie in die Dusche und drehte das Wasser auf. Es floss aus dem breiten Duschkopf auf sie nieder. Die zahlreichen Tropfen gerieten in den Widerschein der Kerzen und bekamen eine völlig andere Farbe. Sie sahen plötzlich wertvoll aus. Wie goldene und leicht feurige Tropfen fielen sie nach unten und bildeten einen Mantel um den nackten Körper der Frau. Sie genoss die Dusche. Trotzdem tat es ihr irgendwie leid, denn sie hatte das Gefühl, einen Teil ihres neuen Ichs wegzuspülen. Wieder strich sie mit den Handflächen über ihren Körper hinweg. Es war eine Stimulanz, die sie mochte. Wunderbar. Alles im grünen Bereich. Das Blut verschwand, und so glitten die Hände einzig und allein über ihre glatte Haut hinweg. Ja, die Haut war glatt. Sie war einfach super. Sie war so eben. Sie war nicht mehr unrein. Das Blut hatte bereits seine Wirkung erreicht und die Veränderung der Haut auf den richtigen Weg geschickt. Irgendwann stieg sie aus der Dusche und ging mit nassen Füßen zu einem in der Nähe stehenden Stuhl, über dessen Lehne ein großes Badetuch hing. Es war rot. Es war flauschig. Es schmeichelte ihrer Haut, wenn sie sich abtrocknete.
Seite 20
Lisa ließ sich Zeit dabei. Jede Bewegung wirkte irgendwie einstudiert. Sie kam jetzt gut mit sich selbst zurecht. Immer wieder glitt ihr Blick zum Spiegel hin, dessen Fläche allerdings zu weit entfernt lag, als dass sie sich gut hätte erkennen können. Das lange schwarzbraune Haar war ebenfalls noch nass. Es machte ihr nichts aus. Sie würde es später trocknen. Erst einmal war es wichtig, dass sie vor den Spiegel trat und sich selbst darin betrachtete. Und zwar vom Kopf bis zu den Füßen. Der erste Blick sorgte für keine hundertprozentige Zufriedenheit. Da brauchte sie einen zweiten und auch dritten, und sie musste dabei näher an den Spiegel herantreten. Erst als sich die Flammen der Kerzen kaum mehr bewegten und das Badetuch um ihre Füße herum lag, da konnte sie sich so anschauen, wie sie es wollte. Das Gesicht - der Körper, es war beides ein Traum. Glatt, jung. Wie regeneriert, aber trotzdem noch nicht so perfekt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie brauchte noch viel mehr Blut. Das Gesicht sah bisher am besten aus. Es brachte tatsächlich etwas Engelhaftes rüber, aber es war auch noch nicht perfekt. Sie würde daran arbeiten. Zeit hatte sie genug. Sie glaubte auch - es konnte auch Einbildung sein -, dass sich ein Schatten über ihr Gesicht gelegt hatte. Der Schatten, der von irgendwoher gekommen war und den sie nicht greifen konnte. Die Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Lisa war stolz auf ihren Mund. Andere Frauen ließen sich die Lippen mit Collagen aufspritzen, das hatte sie nicht nötig. Ihre sahen von Natur aus so lockend und schon provozierend aus. Lisa legte den Kopf zurück. Die Region am Hals war für sie sehr wichtig. Dort bildeten sich oft die meisten Falten, und da schaute sie sehr genau hin. Obwohl sie auch diese Region immer wieder mit dem Blut der jungen Frauen bestrichen hatte, war sie auf keinen Fall zufrieden. Es waren doch einige Falten geblieben, und sie mussten weg. Ihr Blick glitt mehr nach unten. Der Spiegel war groß genug, um auch die Sicht auf die Oberschenkel zuzulassen. Genau dort gab es ebenfalls Problemzonen. Ein Begriff wie >Orangenhaut< zuckte durch ihren Kopf. Damit hatten alle Frauen zu kämpfen, wenn die Jugend vorbei war. Gerade die Innenseiten der Schenkel wurden davon in Mitleidenschaft gezogen. So war es auch bei ihr gewesen! War - wohlgemerkt. Lisa lächelte zum ersten Mal freudig erregt, als sie sich leicht drehte und ihre Schenkel begutachtete. Die Orangenhaut war noch da, aber nicht mehr in dieser Menge. An einigen Stellen wirkte sie bereits wie glatt gestrichen. Das war der erste große Erfolg. Und Lisa war überzeugt, dass andere folgen würden. Sie lächelte sich selbst zu. Dann spitzte sie den Mund zu einem Kuss. Eine derartige Geste der Zufriedenheit hatte sie sich schon lange nicht mehr gegönnt. Sehr tief atmete sie durch. Der Blutgeruch war vorhanden. Er blieb auch weiterhin, und sie schmeckte ihn auf ihrer Zunge. Für sie war es ein guter Geschmack. Ein Hinweis auf die nahe Zukunft, die sie in einer wahren Euphorie erleben würde. Schon jetzt sah man ihr das wahre Alter nicht an. Sie hatte der Natur ein Schnippchen schlagen können und würde dies auch weiterhin tun. Mit diesem Gedanken drehte sie sich vom Spiegel weg und ging zur schmalen Tür. Sie musste zweimal den Schlüssel drehen, um sie zu öffnen. Dann verließ sie ihre Welt, um hineinzutreten in die normale, in der sie die Früchte der anderen ernten wollte ...
Seite 21
Zweimal hatte bei Cliff Lintock das Telefon geklingelt, doch er hatte beide Male nicht abgehoben. Er wollte nicht gestört werden. Er wollte und musste mit sich allein sein. Nur so konnte er es schaffen, sich den neuen Tatsachen zu stellen, die wie ein Sturmwind über ihn hinweggefegt waren. Der Pfarrer hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und an den Schreibtisch gesetzt. Es war zu seinem Lieblingsplatz geworden. Hier saß er jeden Abend und dachte über sich und auch seine Frau nach, die einfach verschwunden war. Noch vor Tagen hatte er darüber nachgegrübelt, welche Fehler ihm unterlaufen waren. Das kam ihm jetzt nicht mehr in den Sinn. Für ihn waren andere Dinge wichtiger. Zwei junge Mädchen. Oder junge Frauen. Er lachte, als er daran dachte. Nein, Diana Crane und Silvia, seine Tochter, waren noch nicht erwachsen, auch wenn es nach dem Gesetz so erschien. Eigentlich hätten sie noch unter seinen Schutz gehört. Aber sie waren flügge geworden und hatten sich von ihrem Elternhaus abgeseilt. Den Erfolg hatte er bei Diana sehen können. Und sie war nicht die einzige. Jetzt ging es auch um seine Tochter, obwohl er den Beweis dafür noch nicht besaß. Aber der Pfarrer wollte ihn bekommen. Er würde ihn sich holen, und das noch in dieser Nacht. Diesmal würde er sich nicht ins Bett legen und warten, bis seine Tochter nach Hause kam. Er würde aufbleiben und gegen die Gefahr des Einschlafens ankämpfen. Am Schreibtisch sitzen und dort wachen. Es war längst dunkel geworden. Das Telefon meldete sich auch nicht mehr. So blieb der Pfarrer in der Stille sitzen. Wartend, auch horchend. Es passierte nichts. Seine Tochter kehrte nicht zurück. Kurz vor Mitternacht schlief Cliff Lintock für einen Moment ein, so glaubte er, doch als er erwachte und einen Blick auf die Uhr warf, da stellte er fest, dass er fast zwei Stunden in dieser unnatürlichen Haltung geschlafen hatte. An seinem Oberkörper schmerzten verschiedene Stellen. Die Muskeln waren dort angespannt, und etwas mühsam richtete er sich auf. Während des Schlafs hatte er mit dem Oberkörper auf der Schreibtischplatte gelegen. Eine nicht sehr gesunde Haltung, aber das war nichts im Vergleich zu dem Gedanken, der ihm als erster durch den Kopf huschte. Wo ist Silvia? Lintock blieb noch sitzen. Er zwinkerte. Seine Sicht war schlecht. Trotz des weichen Lichts blendete ihn die eingeschaltete Schreibtischleuchte. Er streckte die Hand aus, hob seine Brille von der Platte hoch und setzte sie auf. Jetzt sah er besser! Im Zimmer hatte sich nichts verändert. Im Haus ebenfalls nicht. Nach wie vor war es ruhig. Aber es konnte durchaus sein, dass Silvia schon nach Hause gekommen war. Cliff Lintock stand auf. Er verzog dabei das Gesicht, weil die Muskeln wieder schmerzten, doch er riss sich zusammen, drehte sich um und ging mit noch steifen Schritten zur Tür. Als er sie geöffnet hatte, fiel sein erster Blick in den schmalen Flur, der natürlich leer war. Für den Pfarrer war die Treppe wichtig. Sie war schmal und führte hinauf in die erste Etage. Dort waren die Wände bereits schräg, und dort befand sich auch das Zimmer seiner Tochter, in das sie in der Nacht hinschlich. Bevor er die Stufen hochging, schaute er sich die Garderobe an. Es konnte sein, dass ein Kleidungsstück seiner Tochter dort hing, aber da hatte sich nichts verändert. War sie nicht da?
Seite 22
Der Pfarrer wollte den Beweis und stieg die alten Holzstufen hoch. In der Mitte waren sie zum Glück durch einen Teppich bedeckt, so wurden die Schritte ein wenig gedämpft. Lintock bemühte sich, sehr leise zu sein. Das Haus war ihm vertraut, schließlich wohnte er schon lange zwischen diesen vier Wänden, aber in dieser Nacht kam es ihm schon fremd vor. So düster und auch unheimlicher. In der ersten Etage blieb er stehen. Die warme Luft am Tag hatte die Region hier oben aufgeheizt. Für ihn war die Luft sehr stickig und schwül. Am liebsten hätte er Durchzug gemacht, doch er wollte sich zunächst durch nichts ablenken lassen. Er wischte statt dessen den Schweiß von seiner Stirn und setzte den Weg fort. Es war nicht weit bis zum Zimmer seiner Tochter. Die Tür war geschlossen. Er wusste, dass Silvia nie von innen abschloss. Daran hatte sie sich bestimmt auch in dieser Nacht gehalten. Die Klinke schickte ihm ein mattes Glänzen entgegen. Es verschwand, als der Mann seine Hand darum gelegt hatte. Er drückte sie, hielt noch den Atem an und schob die Tür dann auf. Durch zwei schräge Fenster fiel am Tag das Licht und hatte Platz genug, um sich auszubreiten. In der Nacht war es dunkel, und trotzdem konnte er die Umrisse der Fenster gut erkennen. Sie sahen aus wie gemalt, und der Blick durch die Scheiben fiel auf den Nachthimmel, der sogar sternenklar war. Silvia lag in ihrem Bett! Schon beim Eintreten hatte der Pfarrer es bemerkt. Dazu brauchte er seine Tochter nicht erst zu sehen. Es hatte ihm gereicht, ihre Atemzüge zu hören. Jetzt hätte er eigentlich zufrieden sein müssen. Er war es auch auf der einen Seite, auf der anderen jedoch fühlte er sich wie unter einem unerklärlichen Druck. Spannung hielt ihn im Griff. Auch als er die Tür wieder geschlossen hatte, war nichts passiert. Seine schlafende Tochter hatte das Eintreten des Mannes nicht bemerkt. Der Pfarrer war von Geburt an ein ordentlicher Mensch. Das hatte seine Tochter nicht von ihm geerbt. Ihr Zimmer sah jedes Mal anders aus. Nicht etwa, weil sie die Möbel umgestellt hätte, nein, sie war unordentlich, und so sah er auch jetzt ihre Kleidung am Boden liegen. Zwei Stühle standen im Weg, die Lintock umgehen musste. Über einer Lehne hing ein dunkler BH. Neben dem Bett blieb Lintock stehen und schaute auf seine Tochter nieder. Sie lag auf dem Rücken und hatte den Kopf ein wenig zur Seite gedreht. Die Arme waren leicht zu den Seiten hin gestreckt und angewinkelt. Aus dem offenen Mund strömte der Atem. Die geschlossenen Augen gaben dem Gesicht einen entspannten Ausdruck. Die dünne Decke hatte Silvia trotz der Schwüle im Raum bis zum Hals hochgezogen. Neben ihr auf dem Nachttisch lag die sportliche Armbanduhr, deren Ziffern in einem magischen Grün leuchteten. Der Pfarrer beugte sich über seine Tochter, um das Gesicht aus der Nähe zu betrachten. Silvia hatte die gleiche Haarfarbe wie ihre Mutter. Ein etwas schmutziges Blond, worüber sie nie begeistert gewesen war und immer davon gesprochen hatte, sich die Haare färben zu lassen. Cliff Lintock wunderte sich darüber, welch unwichtige Dinge ihm da durch den Kopf schossen. Auch wenn das Verhältnis zu seiner Tochter in der letzten Zeit abgekühlt war, sie lag ihm trotz allem am Herzen. Er wollte, dass es ihr gut ging und sie nie in Schwierigkeiten geriet. Der Pfarrer schaute auf das Gesicht seiner Tochter und hatte das Bild der Freundin vor Augen. Einen nackten, mit Schnitten bedeckten Oberkörper. Eigentlich ein schreckliches Bild, und jetzt stand er vor dem Bett seiner Tochter und spürte die Angst, die in ihm hoch kroch. Der Schweiß war nicht mehr zu stoppen. Er merkte, wie das Blut hinter seinen Schläfen hämmerte, und er fürchtete sich davor, ein ähnliches Bild zu sehen wie schon einmal. Noch war Silvias Körper bedeckt. Er schluckte. Die Hand zuckte vor. Finger berührten den Rand der Decke. Sie wollten sie anheben, aber Lintock schaffte es nicht. Er war einfach zu schwach. Er wollte alles wissen, und trotzdem fürchtete er sich vor der Wahrheit, die so grausam werden konnte.
Seite 23
Dann fiel ihm ein, dass es im Zimmer zu dunkel war, um etwas Genaues zu erkennen. Er brauchte Licht, und sein Kopf drehte sich leicht nach links, dem Nachttisch entgegen. Dort lag nicht nur die Uhr. Es stand auch die kleine Lampe auf der Platte. Ein einfaches Gerät. Bestehend aus einer Kugel und aus einem Metallarm. Um sie einzuschalten, musste er an einem herabhängenden Band ziehen. Alles war so einfach und leicht, in diesem seinem Fall aber ungemein schwer. Noch ein Blick auf Silvia. Sie hatte ihre Haltung nicht verändert. Sie musste in einem Tiefschlaf liegen und regelrecht erschöpft sein. Wovon? Von der Blutabgabe? Ihn schauderte, als er daran dachte. Auf der anderen Seite gab es ihm die Kraft, endlich das zu tun, was nötig war. Mit zwei Fingern zog er an dem Band! Das leise Klicken war genau zu hören, und einen Moment später erhellte sich die Kugel. Das Licht breitete sich aus und fiel auch über das Gesicht der jungen Frau. Es störte sie nicht, denn sie zwinkerte nicht einmal mit den Augen. Auch die Lippen bewegten sich nicht. Der Schlaf war in der Tat mehr als fest. Lintock ließ einige Sekunden vergehen. Seine rechte Hand zuckte schon, aber noch wagte er es nicht, die Decke wegzuziehen. »Herr im Himmel«, flüsterte er, »mach, dass es nicht wahr ist. Bitte ... « Ob sein Gebet erhört wurde, wusste er nicht. Er konnte nur noch hoffen. Der Pfarrer zog die Decke zurück! Bis auf einen schmalen Slip war Silvia nackt! Das interessierte ihn nicht. Er dachte ganz anders, und seine Augen suchten nach bestimmten Hinweisen. Plötzlich weiteten sich seine Augen, während seine Mundwinkel zu zucken begannen. Ja, da waren die Schnitte. Er sah das gleiche Phänomen wie bei Diana Crane ...
Cliff Lintock stand noch immer gebückt am Rand des Betts. Direkt nach der Entdeckung war er sich vorgekommen wie in einen Eispanzer eingepackt, aber dieses imaginäre Eis schmolz sehr schnell und schuf einer Hitzewelle Platz. Der Pfarrer war noch durcheinander. Er wünschte sich die verdammten Schnittstellen mit den dünnen Krusten darüber weg. Das war nicht möglich. Es gab sie. Es war keine Einbildung, und sie verteilten sich vom Hals an bis hin zur Hüfte. Silvia musste wahnsinnig viel Blut verloren haben, das jedenfalls stellte er sich vor und wunderte sich darüber, dass sie noch ihrem normalen Leben nachging. Lintock merkte, wie er zitterte. Am liebsten wäre er weggerannt, doch das war nur ein flüchtiger Gedanke. Als Pfarrer war er daran gewöhnt, hilfsbereit zu sein, und hier ging es sogar um sein eigen Fleisch und Blut. Er schluckte seinen bitteren Speichel hinab und kümmerte sich um das Gesicht. Beim ersten Hinschauen sah es völlig normal aus, aber auf den zweiten Blick sah er den Strich mit der Kruste auf der Stirn. Er lief waagerecht von links nach rechts und von einem Ende einer Braue bis zum anderen.
Seite 24
Auch dort also ... Der Pfarrer richtete sich auf. Dass sein Rücken dabei schmerzte, nahm er mehr nebenbei wahr. Jetzt war nur Silvia wichtig. Er musste sie retten. Auf seine Frau konnte er nicht mehr zählen. Ab jetzt war er gefordert. In den Sekunden hatte er nach vorn geschaut, und sein Blick war dabei über die dunkle Scheibe des Fensters gestreift. Dahinter lag der Ausschnitt des Himmels mit den paar Sternen, die sich dort in einem gewissen Ausschnitt verteilten. Manchmal konnte der Blick in den Himmel einem Menschen Hoffnung geben. Auch Lintock hatte das schon erlebt. In dieser Nacht nicht. Da glaubte er eher daran, dass der Himmel über ihm zusammengebrochen war. Der Pfarrer senkte den Blick wieder und konzentrierte sich auf das Gesicht der Tochter. Es hatte sich etwas verändert. Die Augen standen offen. Silvia starrte ihren Vater an! Es war wieder ein Schock für ihn. Im ersten Augenblick wusste er nicht, was er unternehmen sollte. Wieder wallte es kalt und heiß in ihm hoch. Silvias Blick blieb starr auf das Gesicht ihres Vaters konzentriert. Auch ihre Augenfarbe stimmte mit der ihrer Mutter überein. Sie war recht blass. Manche sprachen sogar von Farblosigkeit, und auch jetzt sahen sie aus, als wären sie rein künstliche Gebilde. Der Pfarrer starrte fassungslos auf seine Tochter hinab. Sie zeigte jetzt eine Reaktion, die ihm nicht gefiel, denn sie zuckte spöttisch mit den Lippen. »Endlich bist du wach!« Lintock atmete auf, und auch der seltsame Schwindel war vorbei. »Ja, denn du hat mich geweckt.« »Das wollte ich auch!« Silvia lachte ihn scharf an. »Was willst du eigentlich, Vater? Willst du sehen, wie deine erwachsene Tochter fast nackt aussieht? Betätigt sich der Herr Pfarrer als geiler Spanner?« »Hör auf!«, fuhr er sie an. »Wie kannst du so etwas nur sagen? Ich mache mir Sorgen um dich. Verdammt große Sorgen sogar. Es ist einfach grauenvoll, das alles zu sehen. Bitte, ich bin gekommen, um ... « Sie ließ ihn nicht ausreden. »Geh, Vater, verschwinde endlich.« Silvia griff zur Decke und zog sie wieder über sich. Bestimmt nicht aus dem normalen Schamgefühl heraus. Ihr ging es mehr darum, die Wunden zu verbergen. »Nein, ich bleibe!« »Sehr schön. Und dann?« »Ich will es wissen, Silvia. Ich will alles wissen. Ich will von dir erfahren, was du mit deinem Oberkörper gemacht hast. Verstanden? Nicht mehr und nicht weniger.« Sie lachte ihn an. Der Klang dieses Lachens erschreckte ihn. Er hörte sich böse an. »Nichts willst du, Vater, gar nichts. Kümmere dich nicht um mich, sondern bleibe bei deinem eigenen Kram. Mehr kann ich dir nicht sagen, und das will ich auch nicht. Ich gehe meinen Weg. Bleib du in deiner verdammten Kirche.« Vater und Tochter hatten sich schon oft gestritten. Lintock hatte auch immer Verständnis für seine Tochter gehabt, auch wenn harte Worte gefallen waren. Nie aber hatte sie die Kirche beleidigt. Dass dies nun passiert war, erschreckte ihn schon. »Die Kirche ist die einzige Institution, die einem Menschen Kraft gibt, Silvia. Das habe ich dir oft genug gesagt. Daran solltest du dich auch halten oder hättest dich daran halten sollen, dann wäre das mit dir nicht passiert.«
Seite 25
Sie richtete sich auf. Dabei zog sie die Decke mit und presste sie gegen ihre Brust. “Ich will, dass du aus meinem Zimmer verschwindest, Vater. Es ist einzig und allein mein Weg, den ich gehe. Du hast damit nichts zu tun.« Er dachte gar nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisen und fragte nur: »Ach - dein Weg?« »Ja!« »Nein, es ist nicht nur deiner.« Silvias Augen verengten sich. Die Bemerkung des Vaters hatte sie irritiert. »Wie kommst du darauf?« »Es ist ganz einfach. Es gibt jemand, der ist anders und auch schlauer als du. Der weiß genau, dass dieser Weg, den du und die andere Person eingeschlagen habt, ins Verderben führt. Lass es dir gesagt sein. Kehre um. Noch ist es nicht zu spät!« Daran dachte sie nicht und fragte mit leiser Stimme: »Wer soll denn die andere Person sein, die du mir als Vorbild genannt hast?« »Deine Freundin Diana Crane.« Sie lachte. Sie riss dabei weit den Mund auf. »Lächerlich, Vater, das ist einfach lächerlich ... « »Sie war bei mir. Es war kein Zufall. Sie hat mich bewusst besucht. Diana wusste sich keinen Rat mehr, was ich auch gut verstehen kann. Sie zeigte mir ihre Wunden, sie war völlig am Ende. Sie hat sich auf einen Weg begeben, den auch du gehst. Aber es gibt keine Rückkehr mehr, Kind. Wenn du den Weg weitergehst, dann wird er im Verderben enden.« Silvia gefielen die Worte ihres Vaters nicht. »So kannst du in der Kirche labern, aber nicht mit mir. Da gibt es genügend Idioten, die dir zuhören. Ich habe mich für ein eigenes und auch besonderes Leben entschlossen. Das solltest du endlich einsehen.« »Du bis noch immer meine Tochter!« »Darauf pfeife ich!« Silvias Gesicht verzerrte sich vor Wut. Ein Beweis, wie ernst es ihr war. Das wollte Cliff Lintock auf keinen Fall akzeptieren. »Ich lasse es nicht zu, dass irgendwelche Kräfte dein Leben zerstören. Hast du das begriffen?« »Habe ich. Aber mein Leben wird nicht zerstört.« Sie schüttelte den Kopf. »Es wird nur in eine andere Richtung gelenkt, und zwar in eine bessere.« »Indem du dir die Schnitte und Verletzungen beigebracht hast. Da kannst du mir nichts von einem neuen Leben erzählen, Silvia. Das ist unmöglich, verdammt!« »Oh, der Herr Pfarrer flucht.« »Ja, denn er ist auch nur ein Mensch.« Silvia grinste scharf. »Als Mensch solltest du dich nicht um Dinge kümmern, die zu hoch für dich sind. Verdammt noch mal, wann wirst du das begreifen?« Er ging nicht darauf ein und fragte: »Warum hast du dich verletzt? Was hast du deinem Körper damit angetan? Weshalb diese Schnittwunden?« »Das ist einzig und allein meine Sache, Vater. Und auch die der anderen. Es gibt eben Dinge, von denen hast du keine Ahnung. Bleib in deiner Welt und lass mir die meine.« »Das werde ich nicht.« Silvia schwieg. Sie hatte wohl bemerkt, wie ernst es ihrem Vater mit seiner Aussage war. Deshalb schoss sie die nächste Frage ab, die sie sich bisher nicht zu stellen getraut hatte. »Willst du wirklich sterben, Vater, oder noch weiterhin am Leben bleiben?«
Seite 26
Lintock schüttelte den Kopf. Er glaubte, sich verhört zu haben. »Was hast du gesagt? Sterben? Ich ... ich ... soll sterben?« »Nein - eigentlich nicht. Oder doch, wenn du gewissen Mächten in die Quere kommst.« »Mächten?«, flüsterte er. »Ja, Mächten!«, höhnte sie zurück. »Starke Mächte. Sehr starke sogar. Getauft mit Blut. Blutmächte, wenn du so willst. Ich an deiner Stelle würde es mir überlegen.« Der Pfarrer wollte es noch immer nicht wahrhaben. “Hast du eigentlich vergessen, dass ich noch immer dein Vater bin?« »Nein, habe ich nicht. Aber ... « »Ich lasse kein Aber gelten!«, schrie er. »Nicht mehr, hast du verstanden? Das ist vorbei. Endgültig. Ich gehöre weder zu dir noch zu meiner Mutter. Ich gehöre einer anderen, und mit ihr werde ich den Weg gehen.« Der Pfarrer hatte allmählich das Gefühl, etwas Klarheit zu bekommen. Das ganze Benehmen seiner Tochter deutete auf einen bestimmten Beweis hin. »Bist du etwa in einer Sekte? Bist du, meine Tochter, in deren Fänge geraten?« »Quatsch!« »Doch. So muss es sein. Wer als normaler Mensch lässt sich schon derartige Verletzungen beibringen? Das muss einfach so gewesen sein. Du steckst mitten in einer verdammten Sekte. Das ist ... das ... kann ich nicht zulassen. Ich werde dafür sorgen, dass man dich behandelt, Silvia. Du musst zu einem Kollegen von mir gehen, der zugleich als Sektenberater seinen Dienst tut. Er, du und ich, wir schaffen es gemeinsam. Wir fangen mit dir und Diana an. Ich schwöre dir, dass ich die Dinge ändern werde. Ich lasse nicht zu, dass jemand wie du mir aus den Fängen gerät. Das glaube mal.« Silvia hatte zugehört, ohne etwas zu sagen. Auch als ihr Vater nicht mehr sprach, schwieg sie. Sie kniete sich auf das Bett und schaute in die Augen des Pfarrers. Er schaffte es, dem Blick standzuhalten. Und er hatte dabei den Eindruck, tief in den Schächten der Pupillen etwas Böses lauern zu sehen. Das machte ihm klar, dass ihm Silvia endgültig entglitten war und es schwer sein würde, sie wieder in die normale Welt zurückzuholen. Sie schüttelte den Kopf. Sie lächelte sogar - und lenkte ihren Vater damit bewusst ab. Er konnte nicht reagieren, denn alles ging blitzschnell. Als er die Arme hochriss, war es schon zu spät. Da klatschte die Decke nicht nur gegen sein Gesicht, sie senkte sich auch über seinen Kopf hinweg, und so stand er im Dunkeln. Unbeweglich zunächst, denn er hatte einen Schock bekommen. Silvia wollte die Gelegenheit nutzen. Ihr Vater konnte nichts sehen, das war ihr Glück. Sie sprang aus dem Bett und griff zugleich nach einer kleinen Statue, die nicht weit entfernt stand. Es war ein Bär aus Stein, der wie von selbst in die rechte Hand hineinrutschte. Mit dem Gegenstand in der Hand fuhr sie herum. Sie riss den Arm hoch und sah, dass ihr Vater versuchte, sich von der langen Decke zu befreien. Er stellte sich dabei etwas ungeschickt an, und deshalb hing die Decke noch über seinem Kopf. Deutlich zeichnete er sich ab. Silvia schlug zu! Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass es sich dabei um ihren Vater handelte. Hier musste einfach gehandelt werden. Der Pfarrer schaffte es nicht mehr, sich rechtzeitig genug zu befreien. Der harte Gegenstand erwischte seinen Kopf. Ein dumpf klingender Laut war zu hören, möglicherweise auch ein Schrei, dann zuckte die Gestalt noch einmal und sackte zusammen. Neben dem Bett blieb sie liegen. Unter der Decke rührte sich nichts mehr.
Seite 27
Silvia Lintock atmete einige Male tief durch. In ihr war nicht die geringste Spur von Bedauern vorhanden. Ihr Vater hatte sich uneinsichtig gezeigt und sich damit selbst alles verstellt. Aus diesem Grunde würde sein weiteres Schicksal anders aussehen, als er es sich vorgestellt hatte. Silvia konnte nur nichts allein entscheiden. Sie musste abwarten. Die Nacht würde erst vergehen. Dann musste Lisa Bescheid wissen. Vielleicht konnte sie auch sein Blut gebrauchen. Möglich war alles. Wichtig war nur, dass ihr Vater noch lebte, denn mit einem Toten konnte Lisa nichts anfangen. Er blutete nicht mehr. Bei ihr musste das Blut frisch und dampfend sein, wie sie einmal gesagt hatte. Sie pfiff leise durch die gespitzten Lippen, als sie sich bückte und die Decke von der Gestalt wegzog. Sie befürchtete, zu fest zugeschlagen zu haben, aber das konnte sie vergessen. Ihr Vater lebte. Er war nicht tot. Trotz der schützenden Decke war auf dem Kopf eine Platzwunde entstanden. Die konnte er locker verkraften. Nachdenklich schaute Silvia auf die reglose Gestalt nieder. »Du weißt viel. Eigentlich schon zu viel. Und Diana ist eine verdammte Verräterin, die unsere Sache in den Schmutz gezogen hat. Auch sie wird bestraft werden müssen.“ In der Nacht war es nicht mehr möglich. Sie musste bis zum anderen Morgen abwarten und vor allen Dingen hören, was Lisa, das Engelsgesicht, zu alldem sagte. Erst dann konnte eine Entscheidung getroffen werden. Aber günstig sah es für den Pfarrer nicht aus ...
Suko und ich hatten uns sehr früh auf den Weg gemacht. Die Strecke war nicht unbedingt weit, aber wir konnten dabei nicht nur auf dem Motorway bleiben und mussten quer durch das Gelände, und da konnte man eben nicht so schnell fahren. Wingmore war ein Kaff. Zumindest auf der Karte. Wir waren auf die M20 gefahren und näherten uns dem Ziel von Süden. Trotz des schönen Wetters waren nicht zu viele Touristen unterwegs. Es gab genügend Platz auf der Autobahn, und wir konnten uns während der Fahrt die Provinz Kent ansehen. Sie war irgendwie etwas Besonderes. Irgendwie verwunschen, aber nicht bedrückend wie in Cornwall oder anderen Provinzen. Der Raps leuchtete in strahlendem Gelb, auf den Wiesen grüßten die Blumen, und auch die Bäume hatten ihr Kleid inzwischen erhalten. In den Hecken schimmerten die Buschrosen, die ebenfalls schon in voller Blüte standen. Eigentlich viel zu früh, aber das warme Wetter hatte dafür gesorgt. Wir waren eigentlich recht schweigsam gewesen, und Suko hatte sogar ein wenig geschlafen, während ich gefahren war, aber mit seiner Bemerkung überraschte er mich trotzdem. »Irgendwie habe ich Hunger, John.« »Ach. Hast du nichts zum Frühstück bekommen?« »Doch, aber das ist lange her.« »Lange dauert es nicht mehr.« »Halte trotzdem vorher an.« Wir waren auf keinen besonderen Zeitpunkt fixiert. So suchten wir nach einem Ort, in dem es auch ein nettes Lokal gab, wo wir etwas essen konnten. Suko schaute auf der Karte nach und sprach den Namen Elham leise aus.
Seite 28
»He, da sind wir doch bald da. Daran erinnere ich mich. Das ist der letzte Ort vor Wingmore.« »Ist er!« »Dann können wir auch weiterfahren.« »Okay, bis dahin halte ich es aus.« Ich schielte ihn von der Seite her an. »Oder hattest du einen bestimmten Grund, in Elham zu stoppen?« »Nein, eigentlich nicht.« »Soll ich dir das glauben?« Suko wand sich. Er grinste schief. »Als ich mit Shao über unsere Fahrt sprach, erklärte sie mir, dass in Elham jemand lebt, den sie aus dem Internet kennt. Eine Bekannte, die ein Lokal führt. Ich dachte mir, dass wir dort einmal halten.« »Weiß sie schon Bescheid?« Er nickte etwas verschämt. »Ich glaube, sie hat eine E-Mail erhalten. Shao wollte auch den Grund unseres Besuchs andeuten.« »Daher weht also der Wind. Okay, dann werden wir die Lady mal suchen. Wie heißt sie?« »Gitta.« Ich lachte. »Ist das alles?« »So nennt sich das Bistro. Es liegt übrigens in der Ortsmitte und müsste leicht zu finden sein.« »Na dann suchen wir mal.« Aus den blühenden Rapsfeldern hervor wuchs in den nächsten Minuten Elham hervor. Ein kleiner malerischer Ort, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, über der der seidig blaue Himmel so schwerelos zu schweben schien. Der Mittag war noch nicht angebrochen. Die Sonne stand nicht zu hoch, aber sie vergoldete bereits die kleinen Häuser und fing sich in manch blanken Fensterscheiben. Gittas Bistro gab es tatsächlich. Es lag auch in der Ortsmitte, wo wir zwar keinen Marktplatz entdeckten, sich die Straße aber verbreitete, sodass wir auch parken konnten. »Zufrieden?«, fragte ich beim Aussteigen und schaute Suko an. »Sehr sogar.« Er ging vor. Das Lokal, mehr ein modernes Bistro, war in einem alten Haus untergebracht. Modern allerdings waren die beiden Tische mit den acht Stühlen, die vor dem Bistro standen und von zwei Sonnenschirmen geschützt wurden. An den Rändern der Schirme flatterten kleine Wimpel im leichten Wind, und eine dunkelhaarige Frau war damit beschäftigt, die Tische abzuwischen. Sie war älter als Shao und ziemlich gut beieinander. Bekleidet war sie mit einer hellen Bluse und einem schwarzen Rock, der kräftige Waden freiließ. Als die Frau unsere Schritte hörte und die Schatten über einen Tisch fielen, drehte sie sich um. Ein kurzes Stutzen nur, dann ein breites Lächeln. »Sie sind es!« »Genau«, sagte Suko. »Und herzliche Grüße von Ihrer Chat-Freundin Shao.« »Das ist ja wunderbar. Kommen Sie, setzen Sie sich.« Gitta sprach schnell und mit einem harten Akzent. Ein Zeichen dafür, dass sie aus den südlichen Regionen Europas stammte. Ich tippte auf Italien. »Zu essen werden Sie auch bekommen. Setzen Sie sich. Ich bringe Ihnen zunächst eine große Flasche Wasser.«
Seite 29
»Danke.« Wir nahmen Platz, Gitta verschwand und Suko grinste mir zu wie damals Stan Laurel dem Oliver Hardy, wenn dem guten Stan mal ein Coup gelungen war. »Hier kann man es aushalten«, lobte ich. »Das wusste ich.« Es war ein friedlicher Ort und verschönt durch die späte Morgensonne. Zu viele Fahrzeuge waren auch nicht unterwegs. Wir saßen so, dass wir auf gegenüberliegende Häuser blicken konnten, die allesamt dicht beisammen standen. Geschäfte, wie eine Metzgerei, ein Bäckerladen und eine Apotheke waren zu sehen, und es gab auch genügend Passanten auf den Gehsteigen. Das Wasser war wunderbar kühl, hatte nicht zu viel Kohlensäure und erfrischte. Dann tischte Gitta auf. Es gab italienische Wurst - Mortadella und Salami -, es gab auch Brot und sogar noch Kuchen. Da hätte mehr als die doppelte Anzahl von Personen satt werden können. »Wollen Sie uns mästen, Gitta?«, fragte ich. »Shao meinte, dass Sie hungrig sein werden.« »Damit hat sie bestimmt an Suko gedacht und nicht an mich. Aber wenn ich das so sehe, wird es mir ebenfalls schmecken.« »Dachte ich mir.« Gitta blieb an unserem Tisch sitzen. Ich war für sie nicht so interessant. Sie unterhielt sich lieber mit Suko, wobei dann Shao das Thema der beiden war. Manchmal bekommt man beim Essen Hunger. So erging es mir, und die Wurst war wirklich köstlich. Auch der Kaffee schmeckte ausgezeichnet, und ich erfuhr auch, dass Gitta irgendwann nach London kommen wollte, um ihre Internet-Freundin zu besuchen. So locker wie Gitta sprach, war sie nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ihr noch etwas auf dem Herzen brannte, aber sie konnte es nicht länger für sich behalten. »Sie sind ja Polizisten«, sagte sie. »Oder ist das ... « »Das sind wir schon.« Suko lächelte. »Auch wenn wir nicht so aussehen wie die aus dem Fernsehen.« »Das hat Shao auch gesagt. Urlaub wollen Sie hier ja auch nicht machen, denke ich.« »So ist es.« »Es geht um die toten Frauen aus Wingmore, nicht?« Die Stimme der Frau hatte jeden fröhlichen Klang verloren. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unbegreiflich und schrecklich, dass so etwas überhaupt hat passieren können.« Suko gab ihr Recht. »Manchmal bekommt die Welt eben einen Riss. Dann schlägt das wahre Leben zu.« »Und Sie wollen die Täter fassen?«, fragte sie. »Wir werden es versuchen«, sagte ich. »Das haben die anderen auch nicht geschafft. Ich denke, dass es verdammt schwer sein wird, Mr. Sinclair.« Die letzte Antwort der Frau hatte mich misstrauisch gemacht. »Hört sich an, als wüssten Sie mehr?« »Nein.«
Seite 30
Die Antwort war mir zu schnell gekommen. »Bitte, Gitta, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Auch für Gerüchte. Oft sind darin Spuren verborgen, die ans Ziel führen. Das haben wir nicht zum ersten Mal erlebt. Elham ist nur ein paar Meilen von Wingmore entfernt. Man wird sich hier auch die entsprechenden Gedanken gemacht haben.« »Worauf Sie sich verlassen können!« »Und? Was ... « »Mr. Sinclair«, sagte sie. »Ich kann hier nichts in die Welt setzen, für das ich keine Beweise habe. Ich möchte auch nicht, dass Sie mich auf meine Aussagen festnageln, aber ich sage Ihnen unter allen Vorbehalten, dass hier schon seltsame Dinge passiert sind.« »Sie meinen hier im Ort?« Gitta nickte gewichtig. Um Suko kümmerte sie sich nicht, der endlich dazu kam, sein zweites Frühstück einzunehmen. »Es hängt mit den Veränderungen einiger Personen zusammen, die sowohl in Elham als auch in Wingmore wohnen. Dabei geht es immer um junge Frauen. Also um Frauen, die so jung waren wie die beiden Ermordeten. Ich selbst habe keine Tochter in dem Alter, doch ich habe von anderen Müttern gehört, dass diese Töchter sich veränderten.« »Wie machte sich das bemerkbar?« »Sie hielten nicht mehr die Familie aufrecht. Hört sich komisch an, ist aber so. Natürlich sind sie in dem Alter erwachsen, aber sie gingen ihre eigenen Wege. Nur junge Frauen, keine Männer. Das schien, als hätten sie sich zu einem Bund zusammengeschlossen.« »Können Sie das genauer definieren?« »Nein ... « Ich hakte nach. »Kann es sich um eine Sekte gehandelt haben?« »Das denke ich nicht.« »Was macht Sie so sicher?« Gitta rückte ihren Stuhl etwas zur Seite, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. »Ich habe das Glück, ein Bistro betreiben zu können. Es ist ein etwas mediterranes Lokal, das auch von einem jüngeren Publikum besucht wird. Einige der jungen Frauen waren schon als Gäste bei mir. Ich sage Ihnen, dass jeder Mensch mehr oder minder neugierig ist. Bin ich auch, aber das, was ich aus den Gesprächen aufgeschnappt habe, das behielt ich für mich. Es waren auch nur Fragmente, doch die Worte konnten schon stören.« »Was haben Sie denn gehört?« »Zunächst einmal, dass es den jungen Frauen um Schönheit ging.« »Was nicht unnormal ist.« »Stimmt. Aber in diesem Fall haben sie des Öfteren von einem Engelsgesicht gesprochen.« Suko hatte gut zugehört. Kaum war dieser Name gefallen, da ließ er seine Kaffeetasse sinken, drehte den Kopf und schaute Gitta an. »Engelsgesicht?«, fragte er. »Ja. In Verbindung mit einer perfekten Schönheit. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Die jungen Frauen jedenfalls waren begeistert. Aber in diesem Zusammenhang ist auch ein paar Mal das Wort >Blut< gefallen, und da habe ich schon aufgehorcht.« »Nur Blut oder ... « »Ich weiß es nicht, Mr. Sinclair. Es fiel mir allerdings auf. Wer spricht schon über dieses Thema?« Sie lachte und trank ebenfalls einen Schluck Kaffee. »Zumindest keine Frauen, wenn sie zusammen sind. Aber die haben sich davon nicht abhalten lassen. Das Engelsgesicht, Blut und auch der Begriff perfekte Schönheit fiel des Öfteren. Ich weiß nicht, wo da der Zusammenhang zu den beiden toten Frauen ist, aber verhört habe ich mich nicht.«
Seite 31
»Das glauben wir Ihnen gern«, sagte ich. »Wenn wir mal die Toten außen vorlassen, können Sie sich dann eine Verbindung vorstellen zwischen Schönheit und Jugend?« Gitta schob die Unterlippe vor. Dicht darunter wuchsen um eine kleine Warze herum einige dunkle Haare. »Das kann man sich ja immer«, gab sie zu, »aber Sie denken sicherlich an einen bestimmten Fall, kann ich mir vorstellen.« »Nein, noch nicht«, sagte Suko. »Wir suchen den Weg.« »Kennen Sie Lisa Barton?« Wir schüttelten die Köpfe. »Sie ist für die Schönheit zuständig hier in der Gegend.« Suko und ich schauten sie wohl so dumm an, dass sie lachen musste. »Ja, sie hat einen kleinen Laden in Wingmore. Kosmetik und Schönheit. Beauty ... « »Eine Farm?« »Nein, Mr. Sinclair. Nur ein Geschäft. Sie betreibt es allein. Sie verkauft, berät und behandelt. Wir sind hier nicht alle vom Weltlichen ab. Es gibt genügend Personen, die zu ihren Kundinnen zählen, das kann ich Ihnen sagen.« »Nur Jüngere?« »In der Regel.« »Also die Frauen, die hier in den beiden Orten wohnen und so um die Zwanzig herum sind«, fasste Suko zusammen. »Ja, das kann man sagen. Wenn Sie mich jetzt danach fragen, ob auch die beiden Ermordeten Kundinnen von Lisa waren, dann muss ich leider passen. Aber meine weiblichen Gäste sind bestimmt schon bei ihr einkaufen gewesen oder haben sich behandeln lassen.« »Waren Sie schon mal dort?«, wollte ich wissen. Gitta senkte den Kopf. Die Frage schien ihr unangenehm zu sein. »Na ja, einmal habe ich sie besucht. Ich habe eine relativ unreine Gesichtshaut schon von Kindheit an. Ich kaufte bei ihr ein Mittel, aber es hat nicht viel geholfen. Einen zweiten oder dritten Besuch habe ich mir dann verkniffen.« »Wegen des Mittels?«, fragte Suko. »Nein. Ich mag den Laden nicht.« »Was ist der Grund?« »Puh.« Sie stieß die Luft aus. »Das ist nicht einfach zu sagen, Mr. Sinclair. Vielleicht werden Sie mich auch auslachen, aber ich habe meine eigenen Vorstellungen von einem Kosmetikgeschäft. Der Laden gefiel mir überhaupt nicht. Wenn Sie diese Geschäfte aus London kennen, werden Sie mir zustimmen, aber es hat wohl keinen anderen Platz für sie gegeben. Sie musste sich ihr Geschäft in einem Haus einrichten, in dem sich zugleich ein Foltermuseum befindet. Ein Teil des Hauses war frei, und das Museum selbst wird so gut wie nicht besucht. Es liegt einfach zu abgelegen. Touristen fahren daran vorbei. Es wird auch kaum Reklame dafür gemacht. Wenn, dann müsste man alles auf eine andere Art und Weise aufziehen.« Ich hatte eigentlich über diese Verbindung schmunzeln wollen, doch dann dachte ich an die beiden Toten. Da verging mir selbst das leichte Schmunzeln. »Aber sie kennen Lisa Barton?«, fragte Suko. Mit beiden Händen winkte die Frau ab. »Bitte, nageln Sie mich da nicht fest. Ich kenne sie nicht. Ich habe sie nur gesehen, ich habe auch mit ihr gesprochen, aber kennen ist einfach zu viel gesagt. Außerdem ist sie mir nicht sympathisch.« »Warum nicht?«
Seite 32
»Tja - Suko, warum nicht? Das ist nun mal so mit uns Menschen. Man sieht sich. Dann stimmt die Chemie entweder oder sie stimmt nicht. Bei uns war sie nicht vorhanden. Außerdem ist sie eine Frau, die wohl jüngere Menschen beeindrucken kann, aber keine, die mit beiden Beinen im Leben steht. Sie ist einfach zu glatt, verstehen Sie?« »Eine Geschäftsfrau«, sagte ich. »Immer sehr freundlich und so ... « »Das ist es nicht, Mr. Sinclair. Ich denke mehr an ihr Aussehen. Sie ist zu glatt. Sie sieht für ihr Alter zu jung aus, viel zu jung, und das ist einmal anders gewesen, als sie nach Wingmore kam. Da sah man ihr das wahre Alter an.« »Können Sie sich da festlegen?«, fragte ich. Gitta tupfte Schweiß von der Stirn. »Schlecht, Mr. Sinclair. Sehr schlecht. Ehrlich.« »In etwa. Sie sind eine Frau, Gitta. Sie schaffen das.« »Ha, ha, hören Sie mit den faden Komplimenten auf. Ich denke mal so zwischen Vierzig und Fünfzig.« »Das ist nicht alt.« »Aber jung auch nicht mehr.« »Und wie wirkt sie jetzt?«, fragte Suko. Da brauchte Gitta nicht lange zu überlegen. »Um bestimmt zwanzig Jahre jünger.« »Das ist viel.« »Sage ich auch, Suko, und ich behaupte weiterhin, dass dies nichts mit den normalen Mittelchen und Pasten zu tun hat, die man in solchen Läden kaufen kann.« Sie hatte bisher normal gesprochen, aber jetzt senkte sie ihre Stimme. »Für mich geht das schon nicht mehr mit rechten Dingen zu. So ehrlich bin ich.« »Dann haben Sie sich schon Gedanken über den Fall gemacht, wie wir hören.« »Das ist normal.« »Und die jungen Frauen hatten nichts anderes zu tun, als in den Laden zu stürmen.« »Sie waren oder sind ihre besten Kundinnen. Verzückt von der Schönheit. Aber zwei von ihnen sind tot. Als wir das hörten, da verfielen wir in eine regelrechte Agonie. Wir können nur von Glück sagen, dass nichts an die Presse gedrungen ist. Da haben die Leute vom Land und die Polizisten schon zusammengehalten.« Ich gab ihr durch mein Nicken Recht. Nach einem Schluck Kaffee fragte ich: »Sie trauen dieser Lisa also nicht, wenn ich das richtig sehe, Gitta.« »So und nicht anders ist es. Ich traue ihr nicht über den Weg. Die hat was vor. Die ist auch nicht normal. Wer richtet sich schon ein Geschäft mit der Schönheit in einem Foltermuseum ein, auch wenn das durch einen anderen Eingang zu erreichen ist. Ich jedenfalls würde das nicht tun. Um kein Geld der Welt.« Sie hatte gesprochen, und für uns sollte es auch so etwas wie ein Abschluss sein, doch es passierte etwas, das unseren Abschied noch hinausschob. Zuerst bildete sich auf Gittas Stirn eine steile Falte. Wir waren nicht mehr interessant für sie, denn sie schaute an uns vorbei auf die Straße, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. Da wir nicht eben blind waren, richteten wir unsere Blicke ebenfalls dorthin. »Was haben Sie?«, fragte Suko. Gitta hob den rechten Arm etwas an. »Die junge Frau dort, die ihr Rad schiebt.« »Und?« Um ihre Lippen zuckte ein dünnes Lächeln. »Das ist Susan Fenner.« »Aha.«
Seite 33
Gitta nickte. »Sie werden mit dem Namen wenig anfangen können, ich um so mehr. Susan hat zu den jungen Frauen gehört, die sich mal bei mir trafen und so begeistert von der Schönheit waren.« Wir waren zwar nicht alarmiert, aber hellwach. Ich fragte: »Könnte sie herkommen?« »Ich kann es versuchen.« Gitta beließ es nicht bei den Worten. Sie stand auf und lief hinter meinem Stuhl her. Die Straße hatte sie noch nicht betreten, als sie Susan zuwinkte, die zufällig in unsere Richtung schaute und daher sofort wusste, wer gemeint war. »Komm doch mal her, Susan.« Sie zögerte noch. »Warum denn?« »Ich will dich nur etwas fragen. « Die junge Frau mit den blonden Haaren, den hellblauen Caprihosen und dem grauen Shirt schaute kurz auf ihre Uhr, hob dann die Schultern und setzte sich in Bewegung. Das Rad schob sie neben sich her. Als sie den Bordstein erreicht hatte, kickte sie den Ständer an der Seite aus. »Was ist denn?« »Die beiden Herren hier sind Freunde von mir und hätten mal an dich eine Frage.« Es war wohl die falsche Ansprache gewesen, denn Susan zeigte sich stur. »Sorry, aber ich wüsste nicht, was ich hier mit irgendwelchen Fremden zu bereden hätte.« »Es ist nicht schlimm und ... « »Nein, verdammt!« Sehr schnell war sie sauer geworden, und das geschah bestimmt nicht grundlos. Sie fasste auch wieder nach ihrem Rad und wollte den Ständer hochkicken, als Suko mit einer raschen Bewegung aufstand. Er ging nur zwei Schritte weiter, dann hatte er sie erreicht. Sehr dicht blieb er vor ihr stehen, und Susan Fenner rührte sich nicht mehr von der Stelle. Ich sah, dass mein Freund seinen linken Arm etwas nach vorn geschoben und die linke Hand etwas angehoben hatte. Mit den Fingern umfasste er das Gelenk der Frau. Wahrscheinlich brauchte er keinen großen Druck auszuüben, der leichte reichte aus, um Susan still werden zu lassen. Auch ich brauchte nur Sekunden, um sie zu erreichen. Aus der Nähe sah ich, dass in ihren Augen Angst flackerte. Ich wusste nicht, vor wem sie sich fürchtete, und ich sprach sie auch nicht an, sondern beobachtete sie sehr genau. Mein Interesse galt ihrem Ausschnitt. Das T-Shirt schloss nicht direkt unter dem Hals ab. Es besaß einen Ausschnitt wie einen Halbmond, und die noch nicht sonnenbraune Haut war mit zahlreichen blassen Sommersprossen bedeckt. Aber auch mit Schnitten! Sofort standen wieder die Bilder der Toten vor meinem geistigen Auge. Auch die Haut dort hatte diese Schnitte gezeigt, nur waren sie hier noch frischer und deutlicher. Zudem recht lang, denn sie versteckten sich sogar unter dem Stoff. Zwei von ihnen liefen von verschiedenen Seiten schräg aufeinander zu. Ich war wirklich keiner, der eine bestimmte Situation ausnutzt, einen Ausschnitt aufzieht, um in deren Tiefe nach der Brust einer Frau zu schauen. In diesem Fall war es notwendig. Susan wehrte sich weder verbal noch körperlich. Ich sah nicht nur die beiden Schnitte. Da sie keinen BH trug, fielen mir auch die anderen auf, die über ihren Brüsten und auch gar darunter und seitlich davon entlang liefen. Das reichte mir aus. Ich ließ den Stoff los, trat etwas zurück und schaute Susan ins Gesicht.
Seite 34
»Wer hat Ihnen die Schnitte zugefügt?« »Der Kerl tut mir weh!« »Wer war es?« »Ich!« »Warum?« »Nein! Nein, nein, nein!« Sie schrie plötzlich los, und Suko hielt sie nicht mehr fest. Susan stolperte so hart und schnell nach hinten, dass sie sich nicht mehr fangen konnte. Zusammen mit ihrem Rad landete sie auf dem Boden. Ich nutzte die Überraschung, half ihr hoch und fragte dabei: »Wollen Sie nach Wingmore?« »Ja.« Susan erschreckte sich über die eigene Antwort. Da sie schon stand, schaffte sie es auch, sich sofort von mir zurückzuziehen. Sie schob das Rad vor, dann stieg sie in den Sattel und fuhr schnell davon. Gitta stand da und schüttelte den Kopf. »Was ist das denn gewesen, Mr. Sinclair?« »Nein«, sagte ich zu ihr, »vergessen Sie es. Wir müssen nur so rasch wie möglich los.« Ich griff nach meiner Geldbörse. »Was haben wir zu zahlen?« »Nichts.« »Warum nicht?« »Ich hatte ja mit Shao eine E-Mail ausgetauscht. Sie wird das Frühstück übernehmen.« »Nobel, nobel«, sagte ich und nickte Suko dabei zu. »Hast du es gewusst, Alter?« »Nein, aber so ist sie nun mal.« »Von dir hat sie das aber nicht - oder?« Da schaute Suko mich an, als wollte er mir das Frühstück wieder aus dem Magen prügeln ...
Für den Pfarrer Cliff Lintock war es hageldicht gekommen. Der Schlag hatte ihn in die Bewusstlosigkeit geschleudert. Da waren zunächst die Lichter für ihn ausgegangen. Für wie lange, das wusste er nicht, denn zwischendurch war er wieder aus seinem Zustand erwacht. Viel besser ging es ihm da auch nicht. Er hatte Schmerzen im Kopf gespürt. Sie waren allerdings nie so ganz in sein Bewusstsein gedrungen. Für ihn hatten sie sich angefühlt wie in Watte eingepackt. Auch Geräusche waren ihm aufgefallen. Fremd und zugleich bekannt. Da hatte er geglaubt, das Geräusch eines Motors zu hören. Aber er wurde nicht gefahren. Auch flüsternde Stimmen waren wie Wellen an seinem Kopf vorbeigerauscht, um irgendwo in der Ferne zu entschwinden. Angst war in ihm hochgekrochen. Eine starke Beklemmung, die ebenfalls nicht mehr in sein Bewusstsein tief eindrang, weil er es wieder verloren hatte. Als letzten Ton oder Laut hatte er noch die Stimme einer Frau wahrgenommen. Worte, die in einem Lachen geendet hatten. Verstanden aber hatte er davon nichts. Lintocks zweites Erwachen gestaltete sich intensiver und auch echter. Jetzt tauchte er wieder aus der Tiefe empor, als wären Hände dabei, ihn nach oben zu drücken.
Seite 35
Auf keinen Fall ging es ihm besser. Die Realität war rau und zudem mit Schmerzen angefüllt. Die Angst empfand er als eine Botschaft. Im Kopf breitete sich ein Gefühl aus, das er in seinem bisherigen Leben noch nicht erlebt hatte. Es war ein gewaltiger Druck, in den hinein immer wieder die Speerspitzen der Schmerzen zuckten. Aber er konnte atmen und auch stöhnen. Er hörte sich selbst zu und versuchte dabei, wieder in die normale Welt einzutauchen und sich dort zurechtzufinden. Trotz der Schmerzen funktionierten sein Verstand und auch seine Gefühle, der Tastsinn eingeschlossen. Als erstes bewegte er seinen rechten Arm. Nein, das ging nicht. Da war der Wunsch mehr der Vater des Gedankens. Den Arm bekam er nicht zur Seite gedrückt. Er blieb - ebenso wie der linke - auf seinem Bauch liegen, was natürlich einen Grund hatte. Ihm waren die Hände auf dem Bauch gefesselt worden. Es war eine Tatsache, leider kein Irrtum. Auch wenn dies nur intervallweise in sein Bewusstsein hineindrang. Man hatte ihn im Haus niedergeschlagen, danach gefesselt und anschließend irgendwohin gefahren. Aber wohin? Es gehörte zu den Eigenschaften des Pfarrers, auch in extremen Situationen nicht so schnell die Nerven zu verlieren. Das war auch hier der Fall. Er schaffte es, ruhig nachzudenken. Da tauchte das Bild seiner Tochter auf. Was er in ihrem Zimmer erlebt und auch durchlitten hatte, lief noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Lintock musste zugeben, dass er dabei nur zweiter Sieger geblieben war. Silvia hatte gewonnen, und sie hatte sich eiskalt gegen ihren Vater gestellt. Das zu wissen, bedrückte ihn. Es machte ihn traurig, und er konnte sich auch nicht vorstellen, weshalb sie so reagiert hatte. Es musste mit ihrem neuen Leben zusammenhängen und auch mit dem, was ihrer Freundin Diana Crane widerfahren war. Schnitte im Gesicht. Schnitte am Körper. All dies hatte sich auf der Haut sehr deutlich abgezeichnet. Eine Selbstverstümmelung, für die der Pfarrer, dem das Leben heilig war, kein Verständnis aufbringen konnte. Aber es war geschehen, und er musste sich damit abfinden. Er wusste, dass das Leben nicht immer so ablief wie man es sich wünschte. Das war ihm zwar schon immer klar gewesen, mit dieser Deutlichkeit aber hatte er es zuvor noch nie erfahren. Zudem war sein ureigenster persönlicher und familiärer Bereich davon betroffen. Die Hände hatte man ihm vor dem Körper zusammengebunden. Es verstand sich, dass auch seine Fußknöchel gefesselt waren. Besondere Fesseln, wie auch an den Händen. Kein Draht, auch kein Band. Dafür dicke Klebestreifen, die man auch um Pakete drückte, um dort Lücken zu schließen. Er lag auf dem Rücken. Er spürte den Wind. Er roch das Gras. Er nahm den Duft der Blumen auf. Er wurde von weichem Wind gestreichelt und hatte dabei das Gefühl, den Staub der Blüten auf den Lippen zu spüren. Noch flogen die Pollen, auch wenn es so warm wie im Hochsommer war. Deshalb hatte man ihn auch nach draußen geschafft. Bisher hatte der Pfarrer seine Augen geschlossen gehalten, weil er sich zunächst mit all seinen Sinnen auf das Erwachen hatte konzentrieren wollen. Nun öffnete er die Augen. Viel zu sehen war nicht. Über ihm malte sich das Bild aus Ästen ab. Er selbst lag am Rand einer Wiese. Die Sonne schien bereits wieder, er musste zum Glück nicht hineinschauen, und er hörte jetzt einen bestimmten Laut, der gleich blieb. Es war das Plätschern von Wasser. In der Nähe rann es entlang, und für den Mann gab es nur eine Erklärung. Er wusste jetzt, dass man ihn in die Nähe des Bachs geschafft hatte. Auch dort standen Bäume. Wenn auch nicht so dicht, sodass sie einen Wald hätten bilden können. Er schaute nur nach oben gegen das Geäst. Rechts und links wurde ihm der Blick von den Grashalmen genommen, die ständig gegen seine Haut kitzelten.
Seite 36
Ich liege auf einer Weise nahe des Bachs, dachte er. Und man hat mich gefesselt. Es ist also keine Idylle. Und es gibt Menschen, die mich in diese Lage gebracht haben. Als er daran dachte, spürte er weitere Schmerzen. Die neuen waren seelischer Art, weil er daran dachte, dass seine eigene Tochter daran beteiligt gewesen war. Sein Fleisch und Blut. Ein Mensch, dem er immer sehr nahe gestanden hatte. Warum diese Kehrtwendung? Warum stellte sie sich gegen den eigenen Vater? Er bekam auch das Summen der Insekten mit, doch es war keine Musik, die ihn beruhigt hätte. Sie verstärkte seine Kopfschmerzen noch. Er konnte sie einfach nicht mehr hören und hätte einiges gegeben, wenn die Laute verschwinden würden. Seine Lage wurde ihm wieder deutlicher bewusst. Auf seinem Gesicht und eigentlich auf dem gesamten Körper klebte der Schweiß. Der Pfarrer stellte sich immer stärker die Frage, weshalb man ihn in die freie Natur gelegt hatte. Die andere Seite, zu der auch seine Tochter gehörte, musste mit ihm etwas vorhaben. Er stand den anderen im Weg. Er war gewissermaßen ein Zeuge und sehr unbequem. Der Pfarrer wusste aus Krimis, was mit unbequemen Zeugen geschah. Man liquidierte sie. Sie wurden getötet. Aus dem Weg geschafft. So konnte er sich vorstellen, dass sein Schicksal ebenso aussah. Aber die eigene Tochter? Immer wieder kam ihm der Gedanke an Silvia. Er konnte und wollte nicht glauben, dass sie daran teilnahm. Warum auch? Welchen Grund sollte es für sie geben? Das war der reine Wahnsinn. Warum sollte eine Tochter ihren eigenen Vater töten? Gut, es hatte zwischen ihnen hin und wieder Auseinandersetzungen gegeben, aber das war normal. Das passierte in anderen Familien ebenfalls, nicht nur ihm. Wenn Silvia so reagierte, dann musste es einfach andere Gründe geben, die viel tiefer lagen und auch vielschichtiger waren. Er musste sich jetzt eingestehen, dass er das Leben seiner Tochter kaum kannte. Irgendwo hatte er das Gleiche schon einmal mit seiner Frau erlebt. Es veränderte sich etwas. Lintock hörte es. Andere Geräusche wehten zu ihm herüber. Er glaubte, Stimmen gehört zu haben, und wenig später vernahm er auch den Klang eines Motors. Es war kein Auto, das sich seiner Stelle näherte. Diesen Klang kannte er sehr gut. So fuhr ein Motorroller, und wahrscheinlich wurde er von seiner Tochter gelenkt. Das Knattern kam ihm bekannt vor. Es hätte ihn auch gewundert, wenn sie nicht gekommen wäre. Lintock blieb liegen. Spannung stieg in ihm auf. Sein Herz klopfte schneller. Der Motor des Rollers verstummte. Es wurde wieder still. Aber der Motor war in seiner Nähe zur Ruhe gekommen. Beim Aufrichten hätte er das Fahrzeug sicherlich sehen können. Der Pfarrer blieb trotzdem liegen. Es würde zu Veränderungen kommen, das stand für ihn fest. Ohne Grund hatte man ihn hier nicht in der freien Natur liegen lassen. Jemand kam. Die Schritte im Gras klangen beim Aufsetzen dumpf, und das Geräusch nahm etwas zu, als die Person seine Nähe erreichte und Sekunden danach stehen blieb. Von oben her schaute sie auf den liegenden Mann hinab. Der Pfarrer blickte hoch - und sah das Gesicht seiner Tochter! Er hatte ja damit gerechnet. Trotzdem war es für ihn eine Überraschung, denn bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte er es eigentlich nicht so recht akzeptieren können. Irgendwie fühlte er sich verraten und so verdammt allein gelassen. Silvia lächelte. Es gefiel ihrem Vater nicht. Es war das Lächeln einer Teufelin. Es war so kalt und auch gemein. Silvia wirkte auf ihn wie eine Fremde, aber er schaffte es einfach nicht, diese Person zu hassen.
Seite 37
»So sieht man sich wieder, Vater ... « Auch diese Worte stießen ihn ab. So sprach man nicht mit einem nahen Verwandten, doch damit hatte eine wie Silvia keine Probleme mehr. Sie war einen anderen Weg gegangen. Da brauchte er nur in ihr Gesicht zu sehen, in dem die Augen gefüllt mit einem Fanatismus waren, den er nicht verstand. Es war nicht einfach für Lintock zu sprechen. Der Hals war trocken. Er räusperte sich, und erst dann gelang es ihm, einige Worte zu sagen. »Was ist nur aus dir geworden, Kind? Was ... ?« »Hör auf, Vater. Hör auf mit deiner verkorksten Moral. Fang hier nicht an zu predigen. Du stehst nicht auf einer Kanzel, von der du auf zahlreiche Idioten schaust.« »Das kannst du nicht sagen, Silvia«, flüsterte er, entsetzt über ihre Antwort. Silvia nickte gelassen. »Doch, Vater, ich kann. Ich kann es wirklich. Du wirst es erleben. Ich bin einen anderen Weg gegangen. Du hättest auf deinem bleiben sollen und mich nicht daran hindern sollen. So haben sich unsere Wege gekreuzt. Genau das ist dein Fehler gewesen. Neugierde ist nie gut. Ich und meine Freundinnen werden nicht mehr zu einer Umkehr bereit sein.« »Was ist nur in euch gefahren? Was tut ihr? Warum habt ihr euch abgewendet vom Antlitz Gottes?« »Hör auf!«, schrie Silvia und trat wütend mit dem rechten Fuß auf. »Ich habe es nie gesehen. Ich will es auch nicht sehen. Es gibt andere Dinge, die wichtiger sind.« »Meinst du?« »Davon bin ich überzeugt!« Cliff Lintock hatte in seinem beruflichen Leben schon oft versucht, Menschen zu überzeugen und sie von einem Weg abzubringen, der einfach falsch war. Er sah auch ein, wenn Dinge aus dem Ruder gelaufen waren, und genau das war hier der Fall. Sie waren aus dem Ruder gelaufen. Er würde mit seiner Tochter nie mehr so reden können wie früher und wie es eigentlich normal gewesen wäre. Etwas anderes hielt sie erfasst. Eine fremde und unheimliche Macht, die sich in sie eingeschlichen hatte. Oft genug hatte er vom Teufel gesprochen. Er glaubte nicht direkt an ihn. Er hatte das einfach nur übernommen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, wie der Teufel aussah. Für ihn war er immer abstrakt gewesen, aber jetzt musste der Teufel oder auch sein Geist in Silvia gefahren sein, denn von ihr strahlte etwas Teuflisches aus. »Neugierde muss bestraft werden, Vater. Du hättest nicht in mein Zimmer kommen dürfen. Manchmal muss auch eine Tochter die Geheimnisse für sich behalten.« »Du tust dir nichts Gutes, Kind! Du bist auf dem falschen Weg. Lass es dir noch einmal gesagt sein.« Die Worte gefielen Silvia nicht. Ihr Mund verzog sich, das Gesicht erhielt einen hasserfüllten Ausdruck. Sie hob den rechten Fuß an. Es sah so aus, als wollte sie ihren Vater treten. Das verkniff sie sich, denn hinter ihrem Rücken waren Stimmen aufgeklungen, die auch dem Pfarrer nicht entgangen waren. Nur Frauenstimmen. Die Personen unterhielten sich. Sie sprachen halblaut, sie lachten mal, und Lintock konnte sich vorstellen, dass er alle kannte. Silvia hatte sich umgedreht und winkte ihren Freundinnen zu. Darauf hatten sie nur gewartet. Sie kamen näher. Der nach oben schauende Pfarrer sah, dass seine Tochter nicht mehr allein war und jetzt von den anderen umringt wurde. Es schauten keine fremden Gesichter zu ihm herab. Er kannte sie alle, obwohl sie nicht nur aus Wingmore stammten. Doris, Elena, Diana, die den Blick zur Seite gedreht hatte, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, auch Susan aus dem Nachbarort sah er und Gwen, die Irin.
Seite 38
Sie alle waren Freundinnen. Sie alle bewegten sich altersmäßig in einem Spielraum von zwei bis drei Jahren, und er sah bei allen diesen gnadenlosen Glanz in den Augen, abgesehen vielleicht von Diana Crane, die noch immer nicht zu ihm hinschaute. Seine eigene Tochter war die Anführerin. Sie breitete die Arme aus. »Ich habe euch nicht zu viel versprochen, meine Lieben. Hier liegt er. Hier genau liegt der Mann, der versucht hat, uns zu stoppen. Schaut ihn euch an. Es ist doch lächerlich. Eine Figur, die aber sehr wertvoll für uns werden kann.« »Blut?«, fragte Susan. »Genau.« »Lisa wird es uns vergelten«, flüsterte Gwen. »Wir brauchen nicht mehr viel Blut. Wir haben ihr schon einiges gegeben. Jetzt ist er an der Reihe.« »Aber es stammt nicht von uns«, warf Elena ein. »Nicht von jungen Frauen. Sie wird es merken.« »Abwarten!«, erklärte Silvia. »Wenn wir mit seinem Blut bei ihr sind, werden wir sie fragen. Erst einmal muss es so weit sein. Habt ihr die Gefäße dabei?« »Sie stehen im Gras.« »Gut, dann fangen wir an!« Wie das aussah, zeigte Silvia wenig später. Sie kniete sich auf den Boden vor die ausgestreckten Beine ihres Vaters. Dann griff sie in die Tasche der grünen Jacke und holte ein Messer hervor. Es war kein normales Messer, sondern eine Rasierklinge. Mit diesem Messer konnten die feinen Schnitte durchgeführt werden, die sich auch in den Gesichtern der Mädchen abzeichneten, da sie sich selbst zur Ader gelassen hatten. Lintock verkrampfte sich. Er hatte den Plänen der jungen Frauen zugehört und konnte nicht fassen, dass all dies in die Tat umgesetzt werden sollte. Es überstieg sein Begriffsvermögen. Diese jungen Frauen waren nichts anderes als Blutsammlerinnen. Das zu begreifen, war für ihn einfach unmöglich. Über die Länge seines Körpers hinweg blickte er in die bewegungslosen Augen seiner Tochter. Nein, von ihr konnte er keine Gnade erwarten. Auf keinen Fall. Sie gehörte zu den Menschen, die sich einmal dazu entschlossen hatten, etwas durchzuziehen, wovon sie überzeugt waren. Auf Recht und Gesetz pfiffen sie. Silvia hatte das Rasiermesser ausgeklappt. Ein Sonnenstrahl fing sich auf der Klinge, als sie bewegt wurde. Der Reflex huschte gegen das Gesicht des Pfarrers. Zugleich spürte er an seinen Füßen den Ruck, als Silvia ihm die Fesseln durchschnitt. Er war frei. Zumindest an den Füßen. Er spürte auch, wie das Blut endlich strömen konnte, und hatte das Gefühl, dass sich seine Knöchel verdickten. »Die Hände bleiben gefesselt, Vater! Nicht dass du dir falsche Hoffnungen machst.« »Ich hätte es dir auch nicht zugetraut, Silvia.« »Das hört sich schon besser an. Selbst du lernst, wie ich hören kann. Sehr gut.« Sie stand auf und gab Diana ein Zeichen. »So, meine Liebe, du kannst mithelfen. Du hast ihn ja in dein Herz geschlossen und bist sogar freiwillig zu ihm gegangen. Was glaubst du, was Lisa dazu sagen wird? Das ist, als hättest du versucht, ihr Engelsgesicht zu zerstören. Ich bin gespannt.« »Nein, nein, Silvia. Du hast mir versprochen, nichts zu sagen. Das hast du doch.« »Es kommt darauf an, wie du dich verhältst. Kommst du etwas vom Weg ab, dann ... « Sie lachte und schlug Diana auf die Schulter. »Und jetzt hilf mir, ihn aufzurichten. Er wird es allein nicht schaffen. Wir wollen auch nicht zu lange warten.« Vier Frauenhände verteilten sich an den Schultern des Pfarrers. Sehr sicher griffen sie zu, und in ihnen steckte auch die Kraft, den Körper anheben zu können.
Seite 39
Lintock spürte den plötzlichen Ruck und in den nächsten Augenblicken nichts mehr. Die Welt um ihn herum war in einem Kreisel oder Sog untergegangen. Es war nichts mehr möglich. Er sah weder ein Oben noch ein Unten. Der Schwindel, dieses Abtauchen, das plötzliche Wegsein, der Wunsch, wieder bewusstlos zu werden, das alles ließ ihn vergessen, wo er sich befand. Hinzu kamen die Schmerzen, die seinen Kopf malträtierten. Er hatte es noch längst nicht überstanden. Der verdammte Schlag gegen den Kopf hatte bei ihm einiges durcheinander gebracht. Aber er merkte schon, dass er nicht in einer sitzenden Haltung blieb, sondern auf die Beine gezerrt wurde. Allein konnte er nicht stehen bleiben. Er wurde festgehalten. Er hörte auch die Stimmen um sich herum, ohne zu erfahren, was sie sprachen. Noch immer kam er sich vor wie auf dem schwankenden Floß, das durch wildes Wasser trieb. Die Stiche durchzuckten seinen gesamten Kopf, in dem sich ein dumpfes Gefühl ausgebreitet hatte. Jemand war von hinten dicht an Lintock herangetreten. Er spürte die Hände am Kragen des Hemds. »Ja, das Hemd!«, sagte Silvia. »Reiß es ihm vom Körper. Los, mach schon, Diana.« Die Angesprochene gehorchte. Sie wusste sehr gut, was sie ihrer Freundin schuldig war. Mit wenigen Rucken zerrte sie das Hemd aus dem Hosenbund, dann wanderten die Hände auf Lintocks Brust zu, und mit den nächsten Rucken wurden die Knöpfe aufgefetzt, die wie kleine Perlen zur Seite sprangen. Der Pfarrer stand mit nacktem Oberkörper vor den Frauen. Er merkte auch den Wind, der über seine Haut strich, und erschauerte. Er öffnete auch die Augen, denn der Schwindel hatte nachgelassen. Jetzt tobten nur noch die Schmerzen durch seinen Kopf, die so stark waren, dass er das Gesicht verzog. Lintock riss sich nur mühsam zusammen. Am liebsten wäre er zusammengesunken, aber hinter ihm stand jemand, der ihn festhielt. Die Hände blieben weiterhin gefesselt. Er konnte nicht ausweichen. Er musste einfach nach vorn schauen, wo die Frauen einen Halbkreis aufgebaut hatten, bis auf eine, die ihn festhielt. Es musste Doris sein, denn sie sah er zwischen den anderen nicht. Seine eigene Tochter war ein Stück nach vorn gegangen. Das Rasiermesser hielt sie aufgeklappt in der Hand. Ihre Blicke tasteten dabei den Körper des Pfarrers ab. Es waren nicht die Blicke einer Tochter, die ihren Vater liebt. So wie sie schaute ein eiskaltes Luder, das unter Strom stand. Lintock konnte nicht mehr hinsehen. Er drehte den Kopf nach rechts und sah am Boden die Gefäße stehen, in denen sein Blut gesammelt werden sollte. Sie sahen aus wie übergroße Tassen und waren von innen nicht gesäubert worden, sodass an den Innenseiten noch Blut klebte. Der Pfarrer konnte das Zittern nicht unterdrücken. Wieder war ihm so kalt geworden. Er verkrampfte sich, obwohl noch nichts mit ihm geschehen war. Sein Puls raste, und dann hörte er den scharfen Ruf seiner Tochter. »Diana!« »Ja, ja ... « »Nimm das Messer. Ich habe dich bestimmt, den Anfang zu machen. Du kennst die Gründe.« »Sicher!« »Dann los! Aber mach es richtig. Wir werden zuschauen. Einen Fehler, und wir werden uns dich vornehmen. Dann wirst du ausbluten, meine Teure, klar?« Dianas Antwort bestand aus einem Nicken. Sie wirkte überfordert. Der Blick irrte hin und her. Sie zitterte und hatte Mühe, die Klinge aus dem Griffholz zu ziehen. »Geh schon!« Diana gehorchte wie ein Roboter. Sie brauchte sich nicht weit vorzubewegen, aber es kostete sie große Überwindung.
Seite 40
In dieser Zeit fühlte sich der Pfarrer stärker als Diana. Im Gegensatz zu ihr schaute er ihr ins Gesicht, und er sah, dass sie dem Blick nicht standhalten konnte. Sie schlug die Augen nieder, ging aber weiter. Sie hob den Kopf erst wieder an, als sie direkt vor ihm stand. Diana weinte, das war zu sehen. Die Augen hatten sich mit Wasser gefüllt. Sie schluckte auch, aber sie hielt die Lippen weiterhin geschlossen. »Ich ... ich kann nicht anders«, flüsterte sie. »Es ist so schlimm. Sonst nehmen sie mich. Tut mir leid.« »Ich weiß Bescheid.« Diana weinte jetzt stärker. Sie hob die rechte Hand an. Der Pfarrer sah das Messer, das sich seiner Brust näherte. Er hörte das Schluchzen und sah, dass die Tränen jetzt über Dianas Gesicht strömten. »Nur nicht so zimperlich!«, hetzte Silvia. »Denk lieber an dich, Diana. Das ist besser.« Sie hatte es gehört. Die Lippen zuckten, der Pfarrer verkrampfte sich, als er das Messer dicht unter dem Hals an seiner Brust spürte. Es war eine kühle Berührung gewesen, die schlagartig verschwand, als Diana das Messer von oben nach unten zog und er plötzlich den heißen und stechenden Schmerz spürte. Die Wunde war da, und der Pfarrer sah das Blut als langen, trägen Streifen ...
Der Rest der Fahrt war ein Kinderspiel. Noch leichter als das, was hinter uns lag. Wir konnten zudem auf der Straße bleiben und rechneten eigentlich damit, Susan Fenner auf ihrem Rad zu überholen. Seltsamerweise trat das nicht ein. »In Luft wird sie sich nicht aufgelöst haben«, meinte Suko. »Demnach muss es eine Abkürzung geben.« »Bestimmt. Als Radfahrer würde ich auch lieber durch blühende Felder fahren als auf der Straße zu bleiben.« Die schöne Landschaft war geblieben. Weiche Hügel und Senken. Voll ergrünt. Man hätte zum Poeten werden können, doch das wahre Gefühl bei mir stand dazu im krassen Gegensatz. Der äußere Eindruck täuschte. Hinter dieser Fassade verbarg sich etwas Schreckliches. Zwei Leichen hatte diese Welt freigegeben, in der alles andere reagierte als die normale Moral und Ethik. Wahrscheinlich war der Fixpunkt die Frau, die Lisa hieß und einen Kosmetikladen in Verbindung mit einem Foltermuseum betrieb. Eine Mischung, die uns bisher auch noch nicht untergekommen war. Man lernt eben nie aus. Natürlich schlug meine Phantasie Purzelbäume, wenn ich mir vorstellte, was in diesem Museum mit seinen ausgestellten Instrumenten alles passieren konnte. Wer da zum Beispiel auf die Streckbank gelegt wurde, der hatte keine Chance zur Gegenwehr, wenn ihm das Blut abgezapft werden sollte. Alles war möglich, nur wünschte ich es mir nicht. Wir sahen unser Ziel bereits vor uns. Zumindest die Dächer der Häuser schoben sich vor die unteren Strahlen der Sonne, als Suko nach links deutete. Da er auf dieser Seite saß, konnte er die Umgebung besser im Auge behalten. »Was ist?« »Eigentlich nichts, John. Ich wollte dich nur auf den Bach aufmerksam machen.« »Gibt es dafür einen Grund?«
Seite 41
»Ich bin mir noch etwas unsicher«, murmelte Suko. Wenn er so sprach, stimmte etwas nicht. Ich fuhr noch langsamer. Suko reckte den Kopf. Er wollte das Ufer absuchen. Sehr schnell sagte er dann: »Halt mal an!« Ich stoppte. »Da liegt ein Fahrrad.« »Und?« Er zuckte mit den Schultern. »Ist das normal?« »Lass uns nachschauen.« Wir stiegen beide aus. Ohne uns abgesprochen zu haben, bewegten wir uns recht leise. Das Plätschern des Bachs war zu hören. Mir kam seine Melodie nicht munter und frisch vor. Eher das Gegenteil davon. Ziemlich bedrohlich, als wollten die Wellen zusätzlich etwas verbergen. Die Straße war nicht breit. Schon nach einem langen Schritt stand Suko im Gras - und duckte sich sofort zusammen. Ich wusste nicht, was er gesehen hatte, aber ich folgte sofort seinem Beispiel. Jetzt gab uns das hohe Gras eine leichte Deckung. Wir konnten über die Halme hinwegschauen, sahen auch den Bach durch sein Bett strömen, und ich entdeckte auch das Rad, aber noch mehr. Andere Räder, auch das von Susan Fenner, einen Motorroller sah ich ebenfalls und nahm diese Dinge nur als Begleiterscheinungen wahr, denn die Menschen, die sich zwischen Bach und Straße aufhielten, waren wichtiger. Sechs junge Frauen und ein Mann! Der Mann war ein Gefangener. Zwar stand er auf seinen eigenen Füßen, aber in einer Haltung, die ich keinesfalls als normal betrachten konnte. Die Frauen hatten sich vor ihm aufgebaut und so etwas wie eine Mauer gebildet. Der nackte Oberkörper des Mannes irritierte mich. Im Augenblick konnte ich mir nicht vorstellen, was hier ablief. Da war Suko mit seinen Gedanken schon weiter. »Es ist möglich, dass man ihn zur Ader lassen will!«, flüsterte er mir zu. Der alte Begriff verdeutlichte nur, dass ihm Blut abgenommen werden sollte. Und es war auch eine junge Frau da, die vor ihn trat. Der kleine idyllische Fleck verlor seinen Reiz endgültig, als wir die Klinge des Messers in der Sonne blitzen sahen. Und das Messer befand sich nicht mehr weit von seiner Brust entfernt. »Nur nicht so zimperlich. Denk lieber an dich, Diana. Das ist besser!« Die Worte galten der Frau mit dem Messer. Sie verfehlten ihren Zweck nicht, denn jetzt setzte die Frau das Messer an die Brust des Mannes. Sie führte den Schnitt! Genau das war für uns das Startsignal! Wir waren zur gleichen Zeit gestartet, aber nur ich rief etwas: »Seid ihr wahnsinnig geworden?« Meine Stimme hallte hinein in diese kleine Mauer aus Menschen, in die sofort Bewegung kam. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie fuhren herum, und ich kümmerte mich nicht um sie, das war Sukos Sache. Ich lief auf den Mann zu, der bereits einen Messerschnitt erhalten hatte. Er zeichnete sich auf seiner nackten Brust ab. Aus dem unteren Ende rann ein Blutstreifen hervor, der in Höhe des Bauchnabels im Hosenbund versickerte. Die Frau mit dem Messer tat nichts. Unser plötzliches Eingreifen hatte sie völlig überrascht. Der Begriff >wie vom Blitz getroffen< passte, denn sie bewegte sich um keinen Millimeter. Sie hatte sich nach meinem Ruf nur gedreht und sah, wie ich auf sie zulief. Der rechte Arm mit dem Messer war nach unten gesunken. Von der Klinge fielen letzte Blutstropfen ins Gras.
Seite 42
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie richtig bei der Sache war. Ihr Gesicht sah so fremd und starr aus, und sie glotzte mich an, aber sie starrte trotzdem ins Leere. Bevor sie >erwachte< und das Messer wieder einsetzen konnte, war ich bei ihr und schnappte mit beiden Händen zu. Ihr rechtes Handgelenk wurde hart umklammert. Ich riss den Arm hoch, drehte ihn, hörte den Aufschrei und sah, wie das aufgeklappte Rasiermesser zu Boden fiel und im hohen Gras verschwand. Ich ließ die Frau los, die einige kleine Schritte nach hinten wankte. Suko hatte alles im Griff. Vielmehr seine Beretta, die er gezogen hatte. So konnte ich mich um den Verletzten kümmern. »War es der erste Schnitt?« »Ja, auf dem Rücken ist nichts.« »Okay, einen Moment noch.« Ich bückte mich und hob das ausgeklappte Rasiermesser hoch. Damit löste ich die Handfesseln des Mannes, der auch einen Schlag gegen den Kopf abbekommen hatte, denn in der Kopfmitte waren die Haare an einer Stelle blutverklebt. Er schwankte. Er sah aus, als würde sein Kreislauf jeden Augenblick zusammenbrechen, und ich sorgte dafür, dass er sich ins Gras setzte. »Ihnen wird nichts mehr passieren, das schwöre ich!« »Passen Sie auf, Mister. Diese Frauen sind gefährlich. Selbst meine eigene Tochter.« Ich ging darauf nicht näher ein, denn die sechs anderen waren wichtiger. Sie alle hielten die verdammten ausgeklappten Rasiermesser in den Händen, abgesehen von einer Person. Deren Messer hatte ich behalten und es zusammengeklappt. Danach war es in meiner Tasche verschwunden. Suko stand vor ihnen, sodass er jede der Frauen genau im Auge behalten konnte. Er sah alles andere als freundlich aus, aber die Frauen ließen sich auch nicht einschüchtern. Sie dachten nicht daran, die Messer fallen zu lassen. »Ich denke, dass es Zeit ist für eine Erklärung, Ladies«, sagte ich bissig. »Was ich da gesehen habe, ist kein Spaß. Und wenn ich mir die Gefäße auf dem Boden anschaue, habe ich das Gefühl, dass Sie angetreten sind, um Blut zu sammeln. Ein verdammtes Spiel, würde ich mal sagen. Nicht normal.« Sie schwiegen. Die Blicke sprachen Bände. Sie waren feindlich und böse. Wenn sie dazu in der Lage gewesen wären, sie hätten uns ebenfalls mit ihren Messern aufgeschnitten. »Sie haben uns gar nichts zu sagen. Hauen Sie von hier ab. Verschwinden Sie!« Eine junge Frau mit fahlblonden Haaren hatte gesprochen. Das Gesicht war gerötet. Sie trug eine hellblaue dünne Jacke über dem T-Shirt und schien auch so etwas wie eine Anführerin zu sein. »Verschwinden?«, höhnte ich. »Genau!« »Nach dieser Folter?« »Es ist keine Folter gewesen. Es gehört dazu!« »Ahhh«, sagte ich gedehnt. »Verstehe jetzt alles. Es gehört ebenso dazu wie die beiden Morde an euren Bekannten. Wie?« »Sie wurden nicht ermordet!« »So?« »Hauen Sie ab!« Eine andere Erklärung wollte man uns nicht geben. Wir spürten den Hass, der uns entgegenströmte, schon körperlich, aber wir waren derartige Situationen gewohnt und behielten den Überblick. »Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?«
Seite 43
»Sie ist meine Tochter!«, erwiderte der Mann halblaut hinter mir. »Ja, die eigene Tochter wollte zuschauen, wie man mir das Blut nahm. Welch eine verdammte Welt!« Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte schon nachfragen, ob es stimmte, als mein Blick wieder auf das Gesicht der jungen Frau fiel. Ja, es war die Wahrheit. Das triumphierende Lächeln wies darauf hin. Ebenfalls der Glanz in den Augen. Hier taten sich Abgründe auf, die schließlich im Tod der beiden Frauen geendet waren. Ich sah wieder die Fotos vor mir. Es hatte sich bei mir alles eingeprägt, und jetzt fielen meine Blicke auf die Gesichter der anderen hier. Schnitte zeichneten sich dort ab. Zum Teil schon verheilt und deshalb auch nicht so gut zu sehen. Andere, die von einer dünnen und dunkleren Kruste bedeckt waren, traten schon deutlicher hervor. Damit stand für mich fest, dass sich alle hier in den tödlichen Kreislauf begeben hatten, aus dem sie letztendlich nicht mehr herauskamen. »Wer seid ihr überhaupt?«, fuhr mich die Blonde an. »He, woher kommt ihr?« »Das sind die beiden, die ich schon in Elham gesehen und von denen ich dir erzählt habe, Silvia«, flüsterte Susan Fenner so scharf, dass wir es ebenfalls hörten. »Wer schickt euch?« »Niemand.« »Dann haut ab!«, schrie Silvia. »Es ist mir scheißegal. Wir lassen uns nicht stören. Es ist auch nicht verboten, Messer zu tragen. Habt ihr verstanden?« »Aber es ist verboten, andere damit zu verletzen!«, erklärte Suko halblaut. »Verletzen? Wen haben wir denn verletzt?« »Willst du uns verarschen?«, fragte ich. »Ich habe keinen verletzt.« »Auch deinen Vater nicht?« »Frag ihn doch!« »Wollen Sie reden, Mister? Von Ihrer Aussage hängt schon einiges ab, denke ich.« Es war die Zeit der Spannung. Ich war auch zur Seite getreten und hatte mich so hingestellt, dass ich den Mann und auch die sechs Frauen unter Kontrolle halten konnte. Der Mann überlegte. Er hatte sein Taschentuch auf die Wunde gedrückt. Er focht einen innerlichen Kampf aus, und er sah sich auch den Blicken der anderen ausgesetzt. »Nein, ich werde nichts sagen!«, erklärte er. Ich wunderte mich schon. Auf der anderen Seite mischte seine Tochter mit. Da war er wohl von einem Sturm der Gefühle hin- und hergerissen worden. Trotzdem fragte ich: »Sie haben sich das gut überlegt?« »Das habe ich.« Silvia lachte. »Da sehen Sie, was Sie mit Ihrer dummen Fragerei erreicht haben. Nichts, gar nichts. Hier ist auch nichts passiert, was zwei Fremde hätte interessieren können. Ein Rasiermesser darf jeder Mensch besitzen. Haut ab aus unserem Dunstkreis. Einen besseren Rat kann ich euch nicht geben.« Das würde ich natürlich nicht tun, aber ich setzte mich schon in Bewegung und ging auf die Sprecherin zu. Es war kein weiter Weg, und ich zögerte auch nicht.
Seite 44
Silvia erwartete mich. Sie wich keinen Schritt nach hinten. Sie war und blieb auf mich fixiert, während ich mehr ihren rechten Arm im Auge behielt. Es konnte sein, dass die Hand plötzlich in die Höhe schnellte, um mir das Messer in die Kehle zu stoßen. Das tat sie nicht, sie zitterte nur leicht. Ich blieb dicht vor ihr stehen. »Es stimmt, jeder kann ein Rasiermesser bei sich tragen, aber nicht jeder ist gleich. Es kommt immer darauf an, welche Gründe man hat. Will man sich nur rasieren, ist das schon okay, aber andere Menschen umzubringen oder sich selbst etwas damit anzutun, fällt schon aus dem Rahmen. Ich kann Ihnen jetzt noch einen Rat geben. Hören Sie auf. Machen Sie kehrt. Was immer Sie vorhaben, es kann nicht gut enden!« Silvia hatte mir zugehört und dabei den Kopf ein wenig in den Nacken gedrückt. Die Lippen waren zusammengepresst. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie mich mit ihren scharfen Blicken getötet. »Spar dir deine Belehrungen, Arschloch. Was hier läuft, ist zu hoch für dich. Viel zu hoch.« »Hier läuft Blut!« Sie lachte. »Viel mehr als das. Es ist der Beginn. Der Beginn des Großen. Des ... « »Engelsgesichts?« Meine Frage hatte ihr die nächsten Worte von den Lippen gerissen. Ein Teil der Sicherheit verschwand. Der Blick flackerte jetzt, und die rechte Hand mit dem Messer zuckte. Bisher hatte sie sich in der Gewalt gehabt. Darauf konnte ich jetzt nicht mehr vertrauen. Ich ging auf Nummer sicher und umfasste ihr rechtes Gelenk mit einem schnellen Griff. Dann drückte ich den Arm zurück. »Was ist mit dem Engelsgesicht?«, fragte ich sie. »Schönheit? Jugend für immer? Oder ähnlich? Ihr seid jung. Ihr habt es nicht nötig. Aber wohl eine andere Person, die euch in ihren Bann gezogen hat mit ihren obskuren Ansichten und Ideen.« Mit ihrer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Plötzlich spie sie mir ins Gesicht. Der Speichel traf mich an der Stirn. Eine Wutwelle zuckte in mir hoch. Ich rammte die Frau zurück, sodass sie auf den Rücken fiel und erst mal im Gras liegen blieb. »Es gibt einige Dinge, die ich hasse. Dazu gehört das Anspucken eines Menschen. Trotzdem, es wäre fatal, wenn ihr den Weg weitergeht.« Ich schaute die Frauen der Reihe nach an, die starr wie Statuen auf dem Fleck standen. In ihren Augen suchte ich nach einer Zustimmung, doch auch da lag ich falsch. Sie blickten ins Leere, und zwei von ihnen drehten den Kopf zur Seite, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Dazu gehörte auch Susan Fenner. Silvia stand wieder auf. Jetzt strahlte sie vor Hass. »Das hast du nicht umsonst getan!« Sie beherrschte sich nicht mehr und fuchtelte mit dem Messer. »Wir treffen uns wieder, Arschloch! Das schwöre ich dir! Dann -«, sie holte saugend Luft, »- dann werde ich dir deine verdammte Kehle durchschneiden.« »Versuch es.« Sie schaute zu, wie ich mir mit einem Taschentuch den Speichel von der Stirn wischte. Dabei grinste sie mich an. Es hatte ihr Spaß gemacht, mich anzuspucken. »Ja, Silvia, Sie haben Recht. Man trifft sich im Leben immer zweimal wieder.« Die Frau schwieg. Sie schaute mich an. Sie dachte über meine Worte nach, aber sie gab mir keine Antwort. Mit einer scharfen Bewegung drehte sie sich um und wandte sich an ihre Freundinnen. »Wir gehen!«, rief sie. »Hier stinkt es nach Fäkalien!« Auch wenn sie uns damit gemeint hatte, mich konnte es nicht jucken. Irgendwie musste eine Person wie sie ja ihren Frust loswerden. Mit wütenden Schritten stampfte sie zur Seite, und die anderen fünf Frauen folgten ihr gehorsam. Den Schluss machte eine Person mit blau gefärbten Haaren. Es sah aus, als wollte sie etwas sagen. Sie verkniff sich die Worte, presste die Lippen zusammen und folgte den anderen ...
Seite 45
Der verletzte Mann saß noch immer an der gleichen Stelle. In der rechten Hand hielt er sein Taschentuch. Im Stoff malte sich das Blut ab. Die Blutung selbst hatte er stoppen können. Oder fast. Nur noch kleine Perlen quollen an den Seitenrändern hervor. »Danke«, sagte er. »Ich danke Ihnen.« »Hätte man Sie getötet?«, fragte Suko. »Ich weiß es nicht.« »Aber man wollte Ihr Blut?« »Ja, das war so vorgesehen.« »Können Sie uns denn aufklären, um was es hier eigentlich geht, Mister?« Er wartete noch mit der Antwort. »Müsste ich das denn?«, fragte er dann leise. »Es wäre besser.« Er senkte den Blick und starrte das Blut auf seinem Taschentuch an. »Ich weiß es nicht. Ach ja, ich heiße Cliff Lintock. Meine Tochter haben Sie ja erlebt. Außerdem bin ich der Pfarrer hier in Wingmore. Aber ich weiß nicht, ob ich es noch lange bleiben werde. Ich glaube nicht. Ich werde wohl um meine Versetzung bitten.« Ich nickte ihm zu. »Das kann ich verstehen.« Danach gab ich unsere Namen bekannt. Der Pfarrer hörte zu und fragte: »Aus dieser Gegend stammen Sie aber nicht?« »Nein, wir kommen aus London.« »Was führt Sie her? So wie Sie auftraten, kann es kein Zufall gewesen sein.« »Da haben Sie Recht.« »Presse?« Ich lachte leise. »Nein, dann hätten wir uns wohl anders verhalten. Gefällt Ihnen Scotland Yard besser?« Er zuckte kaum zusammen und schien nicht weiter überrascht zu sein. »Polizei? Ja, das hatte ich mir schon gedacht. Wirklich, keine Lüge. So wie Sie sich benommen haben.« »Meinen Sie das negativ?« »Überhaupt nicht. Sie hatten alles im Griff. Nur ich habe es nicht geschafft.« Er schüttelte den Kopf und bereute es sehr schnell, denn wieder verschafften sich die Schmerzen freie Bahn, und wir hörten auch sein Stöhnen. »Bitte«, sagte ich, »bewegen Sie sich vorsichtig. Es tut nicht gut, Herr Pfarrer.« »Ja, ja, aber ich kann nicht ewig und drei Tage hier sitzen bleiben.« »Kommen Sie, wir helfen Ihnen hoch.« Suko streckte ihm die Hand entgegen. Der Mann stand langsam auf. Und er bewegte sich auch kaum anders, als wir zum Wagen gingen. Er sprach nicht. Wir hörten wieder den Bach, der durch das schmale Bett plätscherte, wir spürten die warmen Strahlen der Sonne, und trotzdem war uns kalt geworden, denn was diese Frauen getan hatten, das war nicht zu entschuldigen. Sie würden auch noch weitergehen, viel weiter sogar. Im Auto sagte er uns, wohin wir ihn bringen sollten. Während der Fahrt weinte er. Wahrscheinlich nicht um sich, sondern um seine Tochter, die den Weg ins Verderben eingeschlagen hatte. Für uns war es verständlich. Wir führten ihn in sein Haus. Ich tat dies. Suko ging vor. Er schaute sich schon im Haus um, doch das Misstrauen war nicht berechtigt. Es gab keinen, der auf uns wartete.
Seite 46
»Es wäre besser, wenn Sie sich in ärztliche Behandlung begeben würden«, riet ich dem Pfarrer, als wir sein Arbeitszimmer betreten hatten und er sich auf einen Stuhl hinter dem Schreibtisch setzte. Er konnte ihn kippen und lehnte sich nach hinten. So blieb er in dieser Haltung sitzen. »Nein, Mr. Sinclair. Ich nehme ein paar Tabletten gegen die Kopfschmerzen, das reicht. Wenn Sie so nett sein würden. Sie stehen im Bad, in dem blauen Spiegelschrank.« Ich fand das Bad, auch die Arznei, und kehrte zudem mit einem Glas Wasser zu ihm zurück. »Danke«, flüsterte er, »danke.« Wir hätten ihn allein lassen können, damit er seine Ruhe hatte. Das taten wir nicht, denn der Pfarrer war das einzige Bindeglied zwischen uns und den Frauen. Er musste einfach mehr wissen, sonst hätten sie sich nicht um ihn gekümmert. Er merkte auch, dass uns etwas auf dem Herzen brannte, und zeigte ein schwaches Lächeln. »Ich weiß, dass Sie mehr erfahren wollen.« »Können Sie uns denn auch helfen?«, fragte Suko. »Das weiß ich nicht. Es kommt darauf an, was Sie alles erfahren wollen.« »Was Ihnen möglich ist. Und vor allen Dingen nur dann, wenn Sie es auch schaffen.« Er schaute zu uns hoch. »Das glauben Sie mal nur. Ich will, dass es aufhört. Zudem ist meine eigene Tochter mit dabei. Das kann ich nicht begreifen.« »Was sagt denn Ihre Frau dazu?«, fragte Suko leise. Lintock zuckte zusammen, als hätte er Schmerzen. Es waren wohl seelische, wie seine Antwort uns aufklärte. »Meine Frau hat mich verlassen. Sie ist weg. Einfach so. Sie hat wohl das Leben hier nicht mehr ausgehalten. Ich werde auch verschwinden.« »Und Silvia?« »Ist sie noch zu retten, Suko?« Der Inspektor zuckte die Achseln. »Was glauben Sie denn persönlich?« »In der Nacht habe ich noch daran gedacht und auch damit gerechnet. Jetzt nicht mehr. Sie steckt nicht nur zu tief drin, sie ist sogar die Anführerin, wie ich sehen konnte. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn ich verblutet wäre.« »Das glaube ich nicht«, sagte Suko. »Die wirkliche Anführerin ist eine andere Person.« »Die kennen Sie?«, flüsterte der Pfarrer erstaunt. »Wir haben von ihr gehört!« »Wer ist es denn?« Diesmal sprach ich. »Sie heißt wohl Lisa Barton und besitzt hier in Wingmore ... « »Ja, natürlich«, unterbrach mich der Pfarrer. »Sie hat einen Kosmetikladen. Verrückt ist das.« »Warum?« »Gehen Sie mal durch den Ort. Schauen Sie sich die Leute an. Da werden Sie kaum jemand finden, der in einem solchen Geschäft einkauft. Das ist etwas für die Großstadt, aber nicht für ein Kaff wie Wingmore.« »Dennoch ist sie hier«, sagte Suko. »Ja, es scheint ihr zu gefallen.« »Nicht nur das. Es steckt auch etwas anderes dahinter. Davon sind wir überzeugt. Sie werden die Frau doch kennen, Mr. Lintock.« »Klar. Nur nicht aus der Kirche. Da hat sie sich noch nie zuvor blicken lassen.« »Was sagen Sie sonst von ihr?«
Seite 47
»Ich habe dort auch nicht eingekauft. Meine Frau schon und natürlich meine Tochter. Ich habe nie mit der Besitzerin des Ladens gesprochen, aber ich weiß, was andere über sie sagen.« Ich lächelte. »Da sind wir gespannt.« »Auf Klatsch und Tratsch?« »Aber immer doch.« Der Pfarrer sammelte sich und sagte dann: »Zum einen ist sie schon älter, aber sie sieht nicht so alt aus. Das Gesicht ist völlig anders. Ich habe sie natürlich nicht nackt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, dass ihr Körper nicht zu dem Gesicht passt. Es ist so jugendlich frisch. So sieht man mit über vierzig nicht aus.« »Wird sie deshalb Engelsgesicht genannt?«, fragte ich. »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Den Namen höre ich wirklich zum ersten Mal.« Er räusperte sich. »Irgendwo trifft er auch zu, wenn man den Aussagen der Frauen glauben darf. Sie sind nicht neidisch, zumindest nicht offen. Sie wundern sich nur darüber, wie es diese Lisa geschafft hat, so auszusehen und das Aussehen auch zu halten. Das ist schon ein kleines Phänomen.« »Woher wissen Sie das alles?« »Von meiner Frau, als sie noch hier bei mir war. Sie war von Lisa Barton ebenfalls angetan.« »Wurde denn nie gefragt, wie sie das geschafft hat?« Der Pfarrer schaute uns erstaunt an, bevor er auflachte. »Und ob man sie gefragt hat. Darin schließe ich meine Frau ein. Aber die Barton hat ihren Mund gehalten. Sie hat geschwiegen. Die hätte sich eher die Zunge abgebissen. Etwas hat sie trotzdem rausgelassen«, er lachte kratzig. »Sie hat erzählt, dass sie irgendwann einmal ihr Geheimnis lüften würde. Und dann wäre die Überraschung bei allen Menschen hier in Wingmore riesengroß.« Ja, das konnten wir uns vorstellen. Eine gewaltige Überraschung, die auch etwas mit dem Blut zu tun hatte, das den Menschen so brutal abgenommen wurde. »Mehr weiß ich nicht.« »Danke, das ist schon genug«, sagte ich. Suko war noch nicht fertig. »Und es stimmt, dass wir ihr Geschäft in einem Haus finden, in dem auch ein Foltermuseum untergebracht ist?« »Ja.« »Warum?« »Es ließ sich nicht vermeiden. Es war nur dieser eine Laden frei. Früher war dort eine Metzgerei untergebracht worden, aber die Besitzer sind Pleite gegangen.« »Danke für die Auskünfte.« Lintock legte seine Hände und auch die Arme auf den Schreibtisch. »Was werden Sie jetzt tun? Was haben Sie vor?« »Wir werden uns auch weiterhin um die Dinge kümmern, Mr. Lintock. Auch um Ihre Tochter.« Als ich sie erwähnte, zuckte er zusammen. Er hatte Mühe, Tränen zu unterdrücken. »Glauben Sie nicht, dass es bereits zu spät ist und ich sie verloren geben muss wie meine Frau?« »Man muss immer alles versuchen. Für Silvia und auch für die anderen Frauen.« »Ja, ja«, murmelte er. »Aber ich hätte es wohl nicht geschafft, denke ich. Nein, das hätte ich nicht.« »Was auch nicht Ihre Aufgabe ist, Mr. Lintock, denn um solche Dinge kümmern wir uns.« »Ja.« Er nickte und putzte dann seine Nase.
Seite 48
Für uns gab es nicht mehr viel zu besprechen. Wir ließen uns noch erklären, wo wir das Haus finden konnten, dann verabschiedeten wir uns von Cliff Lintock, der versprach, für sein Tochter und uns zu beten ...
Das Geschäft war klein. Es war in einem alten Haus untergebracht. Es war auch relativ dunkel zwischen den mit gefüllten Regalen bedeckten Wänden. Dieser Kosmetikladen zeigte nicht die Helligkeit und kühle Eleganz wie die gestylten Geschäfte in den großen Städten. Hier sah alles sehr kleinbürgerlich und auch miefig aus, was zu dem gesamten Eckhaus passte. Es war schon sehr alt. Auch etwas schief, und das Museum konnte durch einen Seiteneingang betreten werden. In der kalten Jahreszeit war es geschlossen. Es wurde nur von Juni bis September geöffnet. Bis zu diesem Termin war noch etwas Zeit. Es gab schon Touristen, die sich dann hier nach Wingmore verirrten. Zumeist waren es Jugendliche, die das Museum besuchten, um mal den alten Schrecken zu erleben, denn hier war es anders als im London Dungeon, wo die Szenen der blutigen Geschichte Großbritanniens hautnah und mit Akteuren erlebt werden können. Im Foltermuseum waren nur die Instrumente ausgestellt, die man damals benutzt hatte, um Menschen zu Geständnissen zu zwingen. Zudem war das Innere des Museums ausgebaut wie eine Höhle. Auch wenn diese Höhle verrottet aussah, die Instrumente waren es nicht. Sie wurden zweimal im Jahr überholt und waren noch funktionstüchtig. Lisa Barton hielt sich nicht allein im Laden auf. Eine Kundin war bei ihr, die sich beraten lassen wollte. Sie hatte den Weg bereits zum dritten Mal in das Geschäft gefunden und konnte sich auch jetzt nicht entscheiden. Sie stand auf Gesundheitstees, die hier auch verkauft wurden, und sie musste immer wieder den Blick auf das Gesicht der Inhaberin richten. »Habe ich etwas an mir?«, fragte Lisa. Sie lächelte schon im Voraus, weil sie genau wusste, was kommen würde. »Nein, Lisa, Sie haben nichts an sich. Oder doch. Die ... die zeitlose Schönheit.« »Oh - danke. « »Und so möchte ich auch werden. In zwei Jahren bin ich vierzig. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann ... « »Ah, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Andere in Ihrem Alter wären froh, wenn sie Ihr Aussehen hätten.« »Das sagen Sie nur so.« »Bestimmt nicht.« Lisa konnte perfekt lügen. Ihre Kundin konnte mit dem Aussehen wirklich nicht zufrieden sein, denn sie wirkte recht verhärmt. Spuren, die auch das Leben hinterlassen hatten. Nun versuchte sie, durch Gesundheitstee etwas von ihrer alten Frische zurückzubekommen. »Ich will Sie auch nicht länger aufhalten, Lisa. Diese beiden Tees nehme ich mit.« »Schön. Zu einer Creme kann ich Sie nicht überreden?« »Nein, Lisa. Später, wenn Sie mir das Geheimnis Ihrer Jugend verraten. Dann schlage ich zu.« »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Möglicherweise haben Sie schon in der nächsten Woche Glück.«
Seite 49
Jetzt strahlte die Kundin. »Das wäre ja prima. Bekommen Sie dann neue Ware?« »Nein, wo denken Sie hin? Ich erhalte keine neue Ware. Ich erstelle sie selbst, und ich selbst habe auch das Rezept erfunden. Sie müssen sich schon darauf verlassen.« »Und ob ich mich darauf verlassen werde.« Die Kundin blieb in Hochstimmung. Sie zahlte den Betrag und verließ schon leicht beschwingt das Geschäft. Lisa Barton schüttelte nur den Kopf. Nie würde die Kundin so aussehen wie sie. Auch die Sache mit dem Rezept hatte sie sich ausgedacht. Auf keinen Fall würde sie das Geheimnis preisgeben. Es blieb bei ihr so sicher. Der Laden war mit einem Schaufenster ausgerüstet. Durch die Scheibe fiel Lisas Blick auf die Straße. Im Moment näherte sich kein Kunde, so hatte sie Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. An der schmaleren Wand links von der Tür hing ein fast bodenlanger Spiegel. Für Lisa Barton war er sehr wichtig. So oft wie möglich schaute sie hinein. Sie war ein Narziss wie es keinen zweiten auf dieser Welt gab. Auch jetzt blieb sie vor dem Spiegel stehen. Sie hatte das Licht eingeschaltet, so wurde die helle Fläche von zwei verschiedenen Seiten angeleuchtet, und Lisa konnte sich von Kopf bis Fuß betrachten. Der Kopf war wichtig. Besonders das Gesicht. Ihr Gesicht. Das wunderbare Etwas. Die Frau trug ein blutrotes langes Kleid, das beinahe wie ein Bademantel geschnitten war. Darunter war sie nackt, aber sie ließ das Kleid an, als sie vor dem Spiegel stand. Nur den Ausschnitt schob sie dabei etwas zu den Seiten hin weg. Makellos! Ein anderer Vergleich fiel ihr zu dem Gesicht nicht ein. Es war ohne Makel. Die dunklen Haare standen in starkem Kontrast zu der hellen Haut. Sie waren nicht schwarz, sondern hatten einen braunen Farbton, in den sich ein rötlicher Schimmer mischte. Wenn Licht auf das Haar fiel, warf es an bestimmten Stellen Reflexe. Lisa Barton hob ihre Arme an, um die Hände in Höhe des Gesichts zu bringen. Sie streckte die Finger aus, damit die Kuppen über die Haut gleiten konnten. Sie tat es mehrmals am Tag und konnte sich daran berauschen, wenn die Finger die Straffheit spürten. Das war die Haut eines jungen Mädchens und nicht die einer reifen Frau. Und es würde so bleiben, wenn genügend Blut als Nachschub kam. Aber das war kein Problem. Noch am heutigen Tag würde wieder mehr Blut in der Wanne schwappen, denn ihre Fans würden kommen. Sie lachte, als sie daran dachte, und ließ die Handflächen über die Wangen nach unten gleiten. Sie streiften auch den Hals, dessen Haut noch nicht so glatt war, aber das würde sich ändern. Die Haut am Körper war schon perfekt. Dafür hatten eben die Blutbäder gesorgt. »Ich bin wie sie!«, flüsterte sich Lisa im Spiegel zu. »Ich bin wie mein großes Vorbild.« Und dann sprach sie den Namen dieser Person mit einem leisen Stöhnen aus. »Elisabeth Bathory ... die Blutgräfin, die es auch geschafft hatte.« Das Blut der jungen Mädchen machte die Haut alterslos. Aber Lisa bedauerte, dass sie nicht die gleichen Chancen hatte wie ihr großes Vorbild. Sie hatte auch nicht die Macht der Bathory, die eine Adelige gewesen war. Ihr Einfluss war leider begrenzt. Zudem hockte sie hier in diesem Kaff fest. Wenn alles vorbei war und wenn der letzte Tropfen Blut aus den Körpern der jungen Frauen geflossen war, dann wollte sie ihre Zelte hier abbrechen. Sie hatte schon vorgehabt, es zu tun, als man die beiden toten jungen Frauen gefunden hatte. Dann hatte sie es sich überlegt. Wer etwas wusste, der hatte dicht gehalten. Nichts war an die Öffentlichkeit gelangt, und so konnte sie noch tun und lassen, was sie wollte. Und sie würde weitermachen, bis alles perfekt war. Was mit den jungen Frauen geschah, war ihr gleichgültig. Sie waren nur Mittel zum Zweck. Wenn die Körper nichts mehr hergaben, würde man die Leichen finden. Blutleer, wie die beiden ersten ...
Seite 50
Sie trat vom Spiegel zurück. Zuletzt hatte sie noch ihr Haar gerichtet. Ein Kunde war nicht gekommen und auch nicht in Sicht. Deshalb dachte sie drüber nach, den Laden schon jetzt zu schließen und sich ganz ihrem Blutzauber der Jugendlichkeit hinzugeben. Lisa Barton ging zur Tür. Sie trat nach draußen und blieb auf der untersten der beiden Treppenstufen stehen. Da sie in einem Eckhaus lebte, konnte sie nach rechts und nach links schauen. An der linken Seite befand sich das Schaufenster des Ladens, an der rechten das alte und dicke Mauerwerk. Dahinter befanden sich die Räume des Museums. Der Eingang lag ein Stück weiter. Lisa Barton wollte wieder zurück in ihren Laden gehen, als sie die jungen Frauen sah. Sie kamen im Pulk, das ärgerte sie. Röte schoss ihr ins Gesicht. Die Verbindung zwischen den Frauen und ihr sollte nicht zu publik werden, denn in einem Kaff wie diesem lauerten die Augen und Ohren überall, auch wenn man sie nicht sah. Silvia Lintock hatte die Spitze übernommen. Sie saß auf ihrem Roller und hatte Lisa auch als erste erreicht. Die Barton sah sofort, dass etwas nicht stimmte. »Was ist euch passiert?« »Nicht hier auf der Straße.« »Wollt ihr schon jetzt hinein?« »Ja, wir müssen.« Es drängte die Frau tatsächlich, das sah Lisa mit einem Blick. Sie wollte ihnen den Eintritt auch nicht verwehren und schuf Platz, damit die Besucherinnen der Reihe nach den Laden betreten konnten, in dem es jetzt recht eng wurde. Lisa schloss von innen ab. Sie hängte das Schild >closed< so hin, dass es von außen auch gesehen werden konnte, sagte kein Wort, ging hinter den Verkaufstresen und öffnete dort eine Tür, die zu ihren Privaträumen führte. »Los, da hinein!« Es waren keine hellen Räume. Kleine Zimmer, durch deren ebenfalls kleine Fenster nur wenig Licht fiel. Hinzu kamen die dunklen Möbel. Da wirkten die Räume mehr wie kleine Höhlen. Lisa lehnte sich lässig gegen eine Kommode und verschränkte die Arme vor den Brüsten. Im Dämmerlicht wirkte ihr Gesicht zu blass. Da erinnerte die Haut an die Farbe von kaltem Fett. Die Besucherinnen hatten sich ihre Plätze ausgesucht. Aus Mangel an Sitzgelegenheiten hockten sie auf dem Boden, bis auf eine. Silvia Lintock stand, und ihr überließen die anderen auch das Reden. So forsch sie auf dem Weg zum Geschäft noch gewesen war, das war jetzt vorbei. Sie wirkte unsicher und nervös und traute sich auch nicht, das erste Wort zu sagen. »Was war denn los? Warum kommt ihr alle zusammen und außerhalb der festgesetzten Zeit?« »Wir wussten uns keinen Rat mehr.« »Ach.« Lisa lächelte spöttisch. »Wieso das nicht?« Silvia wandte sich. Sie wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte. Lisa war jemand, die Niederlagen nicht leiden konnte. Sie sah sich stets auf der Siegerstraße, und das sollte auch in Zukunft so bleiben. Sie ließ ihre Blicke über die anwesenden Frauen gleiten, um danach wieder in Silvias Gesicht zu schauen. Ihr Nicken war die Aufforderung, endlich etwas zu sagen. »Sie sind uns auf der Spur!« Das Engelsgesicht blieb ganz ruhig. Die Frau verengte nur ein wenig die Augen. »Darf ich fragen, wer euch auf der Spur ist? Und vor wem ihr Angst habt?« Da Silvia mit dem Reden schon begonnen hatte, überließ man ihr auch weiterhin das Feld. »Es sind zwei Männer«, erklärte sie. »Wir ... wir kennen sie nicht. Fremde.«
Seite 51
Lisa Barton sprach das aus, was sie dachte. »Sind die Typen von der Polizei?« »Keine Ahnung.« Silvia schaute sich unsicher um. Aber die anderen stimmten weder zu, noch lehnten sie ab. Deshalb sagte sie: »Es kann alles möglich sein, muss aber nicht. Gesehen haben wir sie nie zuvor. Nur Susan hat sie in Elham entdeckt. Da saßen sie in einem Bistro und unterhielten sich mit der Besitzerin.« »Über uns?« Silvia warf Susan einen auffordernden Blick zu. Susans Augen senkten sich, sie wollte nicht reden, aber es war besser, wenn sie es tat. »Ich glaube schon, dass sie über uns gesprochen haben«, gab sie mit leiser Stimme zu. »Sie haben mich ja auch gefragt.« Ruckartig hob sie den Kopf. Bei den nächsten Worten wurde ihre Stimme lauter und klang auch schriller. »Aber ich habe ihnen nichts gesagt, gar nichts, verstehst du, Lisa? Ich habe uns nicht verraten.« Das Engelsgesicht blieb glatt, selbst beim Lächeln. »Keine Sorge, Susan, was hättest du auch verraten können? Es hätte auch keinen Grund gegeben, etwas zu sagen. Wir haben uns geschworen, für uns zu bleiben. Da sind die anderen nicht mehr wichtig. Stimmt das so?« Alle nickten ihr zu. Lisa zeigte sich zufrieden, denn ihr Lächeln blieb. »Wir haben uns eine gemeinsame Aufgabe gestellt, und die werden wir bis zum Ende durchführen. Jeder will anders werden, und wir haben es verdient. Ich profitiere von euch, ihr werdet von mir profitieren. Eine bessere Einteilung kann man sich nicht vorstellen.« Sie sprach, aber mit ihren Gedanken war sie dabei ganz woanders. Blitzschnell hatte sie ihre Pläne umgestoßen. Was noch Zeit gehabt hätte oder für was man sich hätte Zeit nehmen können, musste nun verändert werden. Sie hatte es nicht zugegeben und würde es auch nicht zugeben, aber sie schätzte die beiden Männer schon als gefährlich ein und hatte sich entschlossen, an diesem Tag alles zum Abschluss zu bringen. Das gab sie nicht bekannt. Statt dessen blieb ihr Lächeln, und ihre Stimme klang wieder sanft. »Ist das alles, was euch misstrauisch gemacht und euch zu mir geführt hat?« Silvia schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Was ist denn noch passiert? Komm, rück raus damit!« »Es ist zu einem direkten Kontakt gekommen«, erklärte Silvia. »Wir alle haben die beiden Männer erlebt.« »Jetzt wird es spannend.« »Sie haben uns überrascht, als wir meinen Vater ... verdammt noch mal, wir wollten sein Blut. Wir wollten es dir bringen. Als Probe oder so. Wir wollten die Dinge beschleunigen. Verstehst du das nicht?« »Nein, liebe Silvia«, flüsterte das Engelsgesicht. »Das verstehe ich nicht. Aber ich denke, dass du mich bald aufklären wirst. Darauf kann ich doch hoffen - oder?« »Klar.« »Dann hören wir gern zu!« Silvia Lintock war klar, dass sie ehrlich sein musste. Sie konnte jetzt mit keinen Ausreden mehr kommen. Das würde Lisa sofort merken. Und so berichtete sie alles, was sie erlebt hatten. Detailgetreu. Sie ließ nichts aus, und sie wartete darauf, dass sie unterbrochen wurde, doch das tat die andere nicht. Lisa hörte zu. Es war ihr auch äußerlich keine Regung anzusehen. Das Gesicht blieb glatt, aber im Innern hatte sie sich schon längst entschieden. Sie würde es tun. Durchziehen. Konsequent. Heute noch.
Seite 52
Sie brauchte das Blut, um stark zu werden. Stärker als die normalen Menschen, und es war ihr egal, ob sie sechs Leichen hinterließ. Die jungen Frauen gehorchten ihr. Sie waren durch die Werbung so verblendet, dass sie nach Schönheit gierten. Eine wie Lisa nutzte das eiskalt aus. Diesmal würde sie den Blutfluss auch nicht mehr stoppen. Sie kannten ja die Symptome von den anderen beiden. Irgendwann würden die Frauen lethargisch werden und gar nicht mehr daran denken, was sie taten. Wurde der Blutverlust zu hoch, waren sie schwach. Das konnte von einer Person wie Lisa dann sofort ausgenutzt werden. »Jetzt weißt du alles«, sagte Silvia Lintock. Ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne an die Ohren der Frau, die sich zunächst von ihren eigenen Gedanken befreien musste. Lisa Barton nickte. Und dieses Nicken galt allen Frauen. »Ja, ich weiß alles, und ich bin sehr froh, dass du mir die Wahrheit über euch gesagt hast, Silvia. Das zeigt mir, welches Vertrauen ihr in mich setzt. Ich werde euch nicht enttäuschen.« Silvia und auch die anderen waren froh, derartige Worte zu hören. Sie atmeten auf, und die ängstliche Starre wich aus ihren Gesichtern. »Dann werden wir nicht bestraft?«, traute Elena sich zu fragen. »Nein, meine Kleine, nein. Warum solltet ihr denn durch mich bestraft werden?« Elena drehte den Kopf. Es war niemand da, der an ihrer Stelle antworten wollte, deshalb musste sie auch die Antwort geben. »Nun ja, weil wir uns doch so verhalten haben ... « »Das kann doch jedem mal passieren. Wichtig ist, dass wir hier zusammenhalten.« Auf diese Worte hatten die sechs Frauen gewartet, und für Lisa Barton waren sie so etwas wie ein Abschluss. Sie lächelte nicht nur, die nickte ihren Freundinnen auch zu und breitete zugleich die Arme aus. »Wir werden jetzt gehen, meine Lieben. Ich habe den Laden abgeschlossen. Wenn Kunden kommen, werden sie wieder gehen müssen. Alle, die wir hier sind, werden wir unsere große Stunde erleben. Heute noch, das verspreche ich euch ... «
Wir hatten den Wagen an einer zentralen Stelle in Wingmore abgestellt und waren zu Fuß weitergegangen. Das Foltermuseum und das Geschäft waren in einem Eckhaus untergebracht. Lange brauchten wir nicht zu suchen, denn das Haus stach von den anderen ab, weil es irgendwie düster wirkte. Man hatte es zwar nicht schwarz angestrichen, aber im Laufe der langen Jahre war seine Fassade eingedunkelt. Ein düsteres Braun, das auf den Besucher schon beim Hinschauen abstoßend wirkte. Wir sahen nur kleine Fenster und einen Eingang, der an der Seite lag. Die Tür war aus dicken Holzbohlen angefertigt und lief in der oberen Hälfte bogenförmig zusammen. Wir gingen noch nicht hin, sondern näherten uns zunächst dem Geschäft der Lisa Barton. Bisher hatten wir nur von ihr gehört, sie aber nicht zu Gesicht bekommen. Sie nannte sich selbst Engelsgesicht. Auch wenn wir sie irgendwann in der Masse sahen, würde sie uns auffallen, denn ein solches Gesicht vergaß man nicht. Es fiel eben auf, weil es zu künstlich wirkte. Das Geschäft war geschlossen und auch abgeschlossen, wie wir feststellten. Vor dem Laden standen die Beweise. Der Roller und auch die Räder der jungen Frauen. Zwar konnten wir in den Laden hineinschauen, der für ein Kosmetikgeschäft recht düster war, aber es hielt sich niemand dort auf. Weder die Chefin noch die sechs jungen Frauen. Zudem hatten wir keinen Grund, die Tür aufzubrechen. Wir mussten es auf eine andere Art und Weise versuchen.
Seite 53
Suko war von der kleinen Türtreppe weg an das Schaufenster herangetreten. »Willst du sie sehen, John?« Ich drehte mich um. Suko wies mit dem rechten Zeigefinger auf das Plakat, das innen an der Scheibe klebte. Mit halb lauter Stimme las er den Text vor. »So schön kann bald jede Frau werden. Jugendlich und alterslos.« Suko lachte. »Was sagst du dazu, John?« Ich war neben ihm stehen geblieben. »Perfekt. Sie ist auf den Zug der Zeit aufgestiegen. Der Jugendwahn breitet sich immer stärker aus. Er wird noch von Wissenschaftlern angeheizt, die schon erklären, was alles möglich sein wird in der nächsten Zukunft.« Es blieb nicht nur beim Text. Zum ersten Mal sah ich Lisa Barton, wenn auch nur als Bild auf einem Plakat. Das war also das Engelsgesicht, das sich dort abzeichnete. Ich ließ mir Zeit. Sehr genau betrachtete ich es und musste zugeben, dass Lisa wirklich perfekt aussah. Es kam wohl dem Gesicht sehr nahe, das sich viele Frauen wünschen, auch wenn sie es aufgrund ihres Alters nicht nötig hatten. Das perfekte Gesicht! Wirklich das perfekte Gesicht? Ich hatte da meine Zweifel. Diese Glätte gefiel mir nicht. Es war zu perfekt. Es fehlte darin das Leben oder die Spuren, die das Leben hinterlassen hatte. Für mich war es ein Machwerk. Eine moderne Schöpfung des Dr. Frankenstein. Ohne Nähte und ohne Narben der Zeit in der Haut. Das Gesicht wurde von langen braunen Haaren umrahmt, die in Wellen frisiert worden waren. Ein üppiger Mund lockte und heizte dank seiner Form so manche Phantasie an. Die Augen schimmerten in einem geheimnisvollen Dunkel, und darin schimmerte eine gefährliche Lockung. Es war nur das Gesicht und ein Teil des Oberkörpers zu sehen. Der Rest zerfloss und wurde eins mit dem soßigen Hintergrund des Plakats. Der Betrachter sah, dass die Frau ein rotes Kleid trug, dessen Farbe mich an menschliches Blut erinnerte. »Dein Kommentar, John?« Ich verzog die Mundwinkel. »Okay, ich bin keine Frau, aber ich kann mir denken, dass manche Frauen, wenn sie das Bild sehen, sich stark zu ihr hingezogen fühlen. Animation ist alles. So kann man aussehen, wenn man zu Lisa geht und sich von ihr behandeln lässt.« »Mit Blut?« »Vielleicht Eigenblut.« »Glaube ich nicht. Da ist sie raffinierter. Sie wird sich das Blut schon besorgen.« Damit waren wir wieder beim Thema. Blut besorgen. Es hatte schon zwei Tote gegeben, und jetzt stand zu befürchten, dass sich diese Zahl noch verdreifachte. Die sechs Frauen waren zu ihrem großen Vorbild gegangen, und ich war davon überzeugt, dass sie ihr von ihren Erlebnissen berichtet hatten. Lisa Barton würde über uns Bescheid wissen, aber sie würde es nicht schaffen, uns einzuordnen. Das war nicht möglich, denn mit uns hatte sie noch nie Kontakt gehabt. »Wie dem auch sei«, sagte Suko. »Wir müssen versuchen, in den Laden hineinzukommen.« Er hatte natürlich Recht, doch er fand nicht meine völlige Zustimmung. »Das wird ein Problem werden«, erklärte ich ihm. »Ich weiß nicht, ob der Laden unbedingt wichtig ist.« »Ach - was dann?«
Seite 54
»Das Haus. Kannst du dir einen besseren Ort vorstellen, um Blut abzuzapfen als ein Foltermuseum, das geschlossen ist? Es ist doch toll. Da gibt es die richtige Atmosphäre. Es ist alles passend. Ich glaube bestimmt, dass es vom Laden her oder von einem der hinteren Räume, die sicherlich auch vorhanden sind, einen Zugang zu den Räumen des Foltermuseums gibt.« »Gut gedacht«, lobte mich Suko. »Und den Zugang sollen wir finden.« »Nicht unbedingt.« »Wieso das nicht?« »Es gibt auch einen Eingang zum Museum.« »Gratuliere, John. Den habe ich auch schon gesehen. Willst du die Tür aufbrechen?« »Nein. Ich hole mir einen Schlüssel.« Jetzt hatte ich Suko sprachlos gemacht. Das wiederum zeigte mir, dass er das kleine Schild an der rechten Türseite nicht gelesen hatte. Es war möglich, eine Führung auch außerhalb der Öffnungszeiten zu bekommen. Da musste man sich nur an einen gewissen Dick Potter wenden, der wohl in der Nähe wohnte. Seine Adresse jedenfalls stand auf dem Schild. Suko ärgerte sich, dass er diese Information übersehen hatte. Ich tröstete ihn. »Wir sind eben nicht so perfekt wie eine gewisse Lisa Barton.« »Aber auf eine andere Art und Weise schon.« »Meinst du?« »Lass uns gehen, Suko. Ich habe das Gefühl, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen ... «
Natürlich war Lisa Barton vorausgegangen. Silvia Lintock ging direkt hinter ihr. Sie spürte plötzlich eine schmale Hand an ihrer. Als sie den Kopf drehte, sah sie das Schimmern der blauen Haarfarbe und ein ängstliches Gesicht. »Es wird doch alles gut ablaufen?«, fragte Diana Crane mit leiser Zitterstimme. »Bestimmt.« »Auch für mich?« »Ich habe dich doch nicht verraten.« »Danke.« Vom Laden aus war es durch eine Tür in die Privaträume der Lisa Barton gegangen. Jeder Mensch richtet sich nach seinen eigenen Bedürfnissen ein, da machte auch Lisa keine Ausnahme. Aber bei ihr war es etwas anderes. Sie lebte recht spartanisch und benötigte nicht viel. Zwei Zimmer, dazu ein Minibad mit Dusche und Toilette, das war alles. Und auch die Möbel hatte sie sparsam verteilt. Alte Stücke, die auch gut auf einem Flohmarkt hätten verkauft werden können. Eine Wand hatte Lisa frei gelassen. Bewusst, denn dort verbarg sich der Eingang zu ihrem wahren Reich. Die gute alte Tapetentür half da mit. Man musste schon wissen, an welcher Stelle Druck ausgeübt werden musste, um die Tür zu öffnen. Lisa kannte sich da aus. Sie legte die Hand gegen die bestimmte Stelle. Es ertönte ein leises Knacken, dann schwang die Tür wie von Geisterhand gezogen nach innen. Aus dem Ausschnitt drang ihnen die Dunkelheit entgegen wie eine feuchte Wolldecke, in der sich ein bestimmter Geruch festgesetzt hatte. Jede der Frauen konnte ihn riechen.
Seite 55
Es war der Geruch nach Blut! Keiner sagte etwas. Doch durch den Geruch erhöhte sich die Spannung bei ihnen. Keine mehr war locker. Sie standen verkrampft zusammen. Wie eine Herde Schafe, die vor einem Gewitter Schutz suchten. Lisa Barton drehte den Kopf. »Ich gehe vor«, erklärte sie ihren Schützlingen. Damit waren die Frauen zufrieden. Allein hätten sie sich kaum getraut, obwohl ihnen dieser Raum bekannt vorkam. Lisa schob sich über die Schwelle und tauchte ein in die stickige Dunkelheit des Blutzimmers. Sie war jetzt nicht mehr zu sehen und nur zu hören. Sie kannte sich aus und bewegte sich mit einer traumwandlerischen Sicherheit. Sie stieß nirgendwo an, und dann flackerte plötzlich nah einem ratschenden Geräusch eine kleine Flamme auf, die auf ein Ziel zubewegt wurde und an einem Docht ihre Nahrung fand. Die erste Kerze brannte. Sie gab noch nicht viel Licht ab. Das änderte sich, als mehrere Dochte der Reihe nach Feuer fingen und den Raum in ein unruhiges und unheimliches Licht tauchten. So hell, dass auch die Gegenstände nicht mehr verborgen blieben. Der Spiegel, die Wanne, mehrere Gefäße ringsum, eine schmale Dusche und kleine Hocker. Über allem hing der Geruch des Blutes. Er schien in Dämpfen aus der Wanne in die Höhe zu steigen, denn ihr Boden war mit der dunklen Flüssigkeit gefüllt. Hin und wieder huschte der Reflex eines Kerzenlichts darüber hinweg, dann war plötzlich die rötliche Farbe zu sehen. Lisa Barton blieb vor der Wanne stehen. Sie war jetzt in ihrem Element. Obwohl sich in ihrem Gesicht nichts mehr bewegte, sorgte das Wechselspiel aus Licht und Schatten schon für einen unheimlichen Ausdruck auf den Wangen und der Stirn. Das Gesicht schien ein fremdes Leben angenommen zu haben. Als sie lächelte, kam es den Frauen vor, als würden sie von einer Halloween-Fratze angegrinst. Lisa winkte mit beiden Händen. »Kommt her!«, flüsterte sie. »Kommt alle in mein Reich! Heute ist der große Tag gekommen. Ich habe ihn vorgezogen. Heute werdet ihr erleben, wie es ist, Schönheit zu gewinnen. Sich durch das eigene Blut zu regenerieren. Für euch wird endlich der absolute Traum in Erfüllung gehen.« Sie hatte genug gesprochen und wartete darauf, dass die sechs Frauen den Raum betraten. Wieder musste Silvia den Anfang machen, was sie gern tat. Es war wie bei einer Schafherde. Sie war kaum vorgegangen, da setzten sich auch die anderen in Bewegung und schoben sich hinter Silvia Lintock über die Schwelle hinweg. Es wurde eng. Der Blutgeruch drückte gegen die Frauen. Wenn sie atmeten, hatten sie das Gefühl, die Luft trinken zu können. Nicht jede der Frauen nahm es wie eine balsamähnliche Sauerstoffdusche wahr. Es war zuerst Diana Crane, die leicht schwankte und sich an Silvia festhalten musste. Auch Elena ging es nicht gut, und Doris gab ein Stöhnen von sich. Sie mussten sich erst an die neue Umgebung gewöhnen, aber das würden sie schaffen, da gab es keine Probleme. Sie verteilten sich. Worte wurden nicht gewechselt. Jede von ihnen kannte dieses Ritual. Lisa beobachtete die Frauen wie eine Königin die Untertanen. Dieser Vergleich gefiel ihr gut. Mit jeder Sekunde, die verging, wuchs auch ihr Ego. Auf einmal hatte sie das Gefühl, nicht mehr Lisa Barton zu sein. Ihr normaler Geist floh, um einem anderen Platz zu schaffen. Aus den unendlichen Tiefen des Raumes oder auch der Hölle hatte sich ein anderer Geist auf den Weg gemacht, um sie zu treffen. Es war der oder die dunkle Seele einer gewissen Gräfin Bathory, die diese >Verjüngungskur< erfunden hatte.
Seite 56
Lisa Barton stand zwar mit beiden Beinen auf dem Boden, sie hatte trotzdem das Gefühl, einfach abzuheben und wegzufliegen. Hinein in die Vergangenheit, in der es einfacher gewesen war, seinen Bedürfnissen und Plänen nachzukommen, wenn man die entsprechende Macht dazu besaß. Die Blutgräfin hatte ihre Bediensteten ausgeschickt, um sich die jungen Weiber im gesamten Land zu holen. Unmengen von Blut waren vergossen worden, und Unmengen von Leichen hatte die Bathory hinterlassen. Im Anfang waren die toten Frauen noch begraben worden. Später, als es dann immer mehr geworden waren, hatte die Gräfin sie einfach in die Verliese ihres Schlosses werfen oder wie Abfall auf Feldern ablegen lassen, als Beute für hungrige Wölfe. Es war ihr Fehler gewesen. Zu viele Leichen, zu wenige Tiere, die so hungrig waren. Andere Menschen hatten die Frauenleichen gefunden und damit das Ende der Gräfin und deren Verbündeten eingeleitet. Ihre Helfer waren von der Ordnungsmacht auf grausame Art und Weise getötet worden. Sie selbst aber hatte man am Leben gelassen. Die Bathory war eingemauert worden. Man hatte ihr ein besonderes Verlies gewidmet. Sie erhielt ihr Essen und Trinken durch eine schmale Öffnung. Nach vier Jahren war sie dann gestorben oder elendig krepiert. Diesem Schicksal würde Lisa Barton entgehen. Sie wollte siegen, und sie würde siegen. Aber sie brauchte auch die entsprechende Umgebung. Bis auf eine Kleinigkeit hatte Lisa versucht, sie so zu gestalten wie es damals gewesen sein konnte. Die Nähe zum Foltermuseum war natürlich perfekt. Dass es einen Zugang zu diesem Raum gab, wussten nur wenige. Von diesem Raum aus gab es die geheime Tür, die in die Räume des Museums führte, in dem sich oft Menschen aufhielten, wenn es geöffnet war. Etwa eine Minute war Lisa in ihre gedankliche Welt eingetaucht. In dieser Zeit hatten die Frauen genau gewusst, was zu tun war. Wie schon bei den vorherigen Malen hatten sie ihre Plätze eingenommen. Einige von ihnen saßen, andere standen noch, wie Silvia und Gwen, eine puppenhaft aussehende junge Frau mit einem sehr runden Gesicht und lockigen rötlichen Haaren. Die Chefin war zufrieden. Sie deutete es durch ein Nicken an und lächelte dabei. Es gefiel ihr nicht, dass die Tür zu ihren Wohnräumen noch geöffnet war. Sie ging hin und schloss sie leise. Dieses dabei entstehende Geräusch hatte für sie etwas Endgültiges. Wenn der Plan funktionierte, würde keine der Frauen mehr lebend den Raum hier verlassen. Dann musste sie sich nur noch in der Nacht um den Abtransport der sechs Leichen kümmern. Wie damals die Bathory! Sie drehte sich wieder um. Die Flammen züngelten zumeist steil in die Höhe. Nur einige von ihnen bewegten sich leicht und sorgten für schattenhafte Geister, die durch den Raum huschten und an den Wänden oder der Decke ihre Ziele fanden. »Jetzt sind wir da!«, flüsterte sie ihren Freundinnen zu. »Die große Zeit ist für uns alle angebrochen. Ich finde es so ... so ... ja, mir fehlen sogar die Worte. Wir werden es allen zeigen. Ihr gebt euer Blut. Wir mischen es, und ihr bekommt es als Regenerationsblut wieder zurück, um so den Keim für das bleibende gute Aussehen zu legen. Ich danke euch, dass ihr den Weg mit mir gegangen seid, aber nun haben wir das Ende erreicht und zugleich einen Anfang.« Was sie damit meinte, bewies sie in den nächsten Sekunden. Mit einer geübten Bewegung streifte sie das Kleid ab und ließ es an ihrem Körper entlang nach unten rutschen. Vor den Füßen blieb es liegen, und sie stand jetzt nackt vor den Frauen. »Wartet noch einen Moment. Kommt dann dicht zu mir. Bis an die Wanne heran ... «
Seite 57
Keine gab ihr Antwort. In den zwölf Augen allerdings las sie die große Zustimmung. Dann stieg sie in die Wanne mit dem Blut ...
Dick Potter hieß der Mann, der den Schlüssel außerhalb der Öffnungszeiten verwahrte. Wir trafen ihn in seinem Garten an. Dorthin waren wir geschickt worden, als wir uns nach ihm erkundigt hatten. Potter war schon älter, aber noch sehr gut dabei. Er hatte sich vorgenommen, zwei Sträucher auszugraben, was nicht einfach war, denn das Wurzelwerk saß sehr tief in der Erde und hatte sich dort regelrecht festgeklammert. Wir blieben vor einem weiß angestrichenen Zaun stehen und schauten ihm einige Zeit zu. Als er uns nicht sah, machten wir uns durch einen Ruf bemerkbar. Potter schaute hoch, legte die Stirn in Falten und fragte: »Meinen Sie mich?« »Ja, Mr. Potter«, sagte ich. Er wischte mit einem Tuch Schweiß aus seinem Gesicht weg und strich sein graues Haar zurück. Er kam langsam näher und schob dabei seine Holzlatschen über den Boden. Das Misstrauen war nicht aus seinem Gesicht gewichen. Er schüttelte auch den Kopf, als er vor dem Zaun stehen blieb, und fragte: »He, was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.« »Aber Sie sind für uns der richtige Mann, denn Sie besitzen den Schlüssel zum Museum.« »Stimmt. Und?« »Wir möchten dort hinein.« Er lachte uns aus. Er schüttelte auch den Kopf, aber sein Lachen brach ab, als er auf unsere Ausweise schaute, die wir ihm locker hinhielten. »Ach - Polizei. Tut mir leid. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.« »Das wissen wir«, stimmte Suko zu. »Es geht auch nicht um Sie, sondern einzig und allein um das Museum.« Potter wunderte sich noch immer. »Wollen Sie es etwa besichtigen?« »So ähnlich.« »Okay, das ist erlaubt außerhalb der Zeiten. Aber da muss ich mit Ihnen gehen. Sie brauchen sich nur umzuschauen, wie es hier aussieht. Ich bin voll in der Arbeit und denke, dass wir in einer Stunde darüber reden sollten.« »So lange können wir nicht warten«, erklärte Suko. »Ach, hören Sie doch auf. Das ist ... « »Eine Polizeiaktion«, sagte ich. »Wir brauchen den Schlüssel, und Sie werden ihn uns geben. Es sei denn, Sie wollen, dass wir die Tür aufbrechen. Bitte, Mr. Potter, wir haben wirklich nicht viel Zeit. Tun Sie uns den Gefallen und holen Sie den Schlüssel. Und stellen Sie bitte auch keine weiteren Fragen.« Das war deutlich genug. Obwohl freundlich gesprochen, hatten ihn meine letzten Worte schon eingeschüchtert. »Wenn das so ist«, murmelte er, »werde ich den Schlüssel holen.« »Danke.«
Seite 58
Wir warteten am Zaun auf ihn und bemerkten, dass uns andere Nachbarn beobachteten. Niemand traute sich jedoch an uns heran, um Fragen zu stellen. Die Leute blieben in ihren Gärten oder Vorgärten und taten sehr beschäftigt. Potter war im Haus verschwunden. Im ersten Stock bewegte sich hinter dem Fenster eine Gardine. Für einen Moment zeichnete sich dort die Gestalt einer Frau ab, die sofort wieder verschwand, als sie sah, dass sie bemerkt worden war. Potter kehrte zurück. Den Schlüssel hielt er vor uns verborgen in seiner Faust, die er erst öffnete, als er vor dem Zaun anhielt. Die Tür sah zwar alt aus, aber das Schloss war modern, das hatten wir schon gesehen. Entsprechend modern und auch flach war der Schlüssel. »Bitte!«, sagte Potter kratzig und drückte mir den Schlüssel in die Hand. »Wir bringen ihn auch wieder zurück! « »Das hoffe ich doch.« Er schaute mich aus seinen grauen Augen an. »Verraten Sie mir noch, was Sie dort suchen?« »Einen Geist, Mr. Potter.« Die Antwort befriedigte ihn nicht, und er drehte sich wortlos von uns weg. Bei uns drängte mal wieder die Zeit. Irgendwie passte plötzlich alles zusammen. Der verdammte Aderlass in einer unheimlichen Atmosphäre, die wie aus der tiefen Vergangenheit aufgetaucht war, als die Folter leider zum täglichen Leben gehört hatte. Bald standen wir wieder vor der Tür des Museums. Für Schlösser und Schlüssel war mein Freund Suko zuständig. Er schloss auch auf und musste den Schlüssel zweimal drehen, damit die Tür geöffnet werden konnte. Wie es sich gehörte und auch zu einem alten Verlies passte, gab sie Geräusche ab, die schon jetzt unheimlich klangen. Natürlich war das Licht nicht eingeschaltet. Wir schauten hinein in eine Welt, die mit schwarzer Watte gefüllt zu sein schien. Kein Laut drang uns entgegen, bis auf Sukos leise Stimme. »Das mag zwar alles hier alt sein und auch schaurig, aber Licht wird es bestimmt geben.« Er überwand die Schwelle, fuhr mit der Handfläche über die Wand an der rechten Seite und lachte leise auf, als er das Ziel gefunden hatte. »Sogar zwei Schalter - phänomenal ... « Es gab Licht, es wurde auch heller, aber nicht so hell, wie wir es uns gewünscht hätten. Wenn wir ehrlich waren, konnten wir hier nur von einem düsteren Glosen sprechen. Nicht unbedingt rötlich wie in einer Geisterbahn, mehr fahl, aber der Eindruck blieb schon bestehen. Das Licht verteilte sich vor uns. Ein Teil fiel auch über eine Treppe hinweg, die kurz nach dem Eingang begann. Als ich die Tür geschlossen hatte, stand Suko bereits auf der ersten Stufe der ausgetretenen Steintreppe und drehte sich zu mir hin. »Alles okay«, sagte ich. »Du kannst gehen.« Ich ließ ihm auch weiterhin den Vortritt. Die Stufen führten uns in die erste Etage, und genau hier eröffnete sich uns eine andere Welt, die aus der Vergangenheit hervorgeholt worden war. Zwar gab das Licht auch in diesem Bereich seinen Schein ab. Es reichte sogar weit bis in den Hintergrund, wo eine zweite Treppe noch eine Etage höher führte, aber alles blieb in einem diffusen Halbdunkel, was genau zu dieser Atmosphäre passte. Winzige Staubkörner tanzten im fahlen Lichtschein. Manche flirrten wie kleine Diamantsplitter. Die Luft war verbraucht. Sie kam mir stickig vor. Klar, vor der Eröffnung zur offiziellen Führung würde hier noch gelüftet und geputzt werden, aber die Erbauer hatten sich alle Mühe gegeben und auch das Innere des Hauses so aussehen lassen wie ein echtes Verlies.
Seite 59
Die Wände waren verkleidet, als bestünden sie aus dicken und unebenen Steinquadern. Dafür hatte eine entsprechende Kunststoffmasse gesorgt, die wirklich täuschend echt aussah. Damit arbeiteten auch die Bühnenbildner beim Film, wenn sie etwas nachbauten. Es gab bestimmte Ecken, die durch kleine Scheinwerferstrahlen von der Decke her angeleuchtet wurden. Zum Beispiel fiel das Licht auf eine Eiserne Jungfrau, deren Metall deshalb einen bestimmten Glanz erhielt. Es war ein widerliches Foltergerät. Sie bestand aus einer Rüstung, die innen mit zahlreichen Nägeln bestückt war. Das Gerät stand offen. Uns gelang der Blick hinein, was mir nicht ausreichte, denn ich wollte wissen, ob die Nägel echt oder nur Imitationen waren. Sie waren fest, was ich schon beim ersten Ertasten spürte. Die Eiserne Jungfrau stand an der Seite und auch nicht weit von der zweiten Treppe entfernt. Ich hatte auch von hier einen guten Überblick und sah eine Streckbank, Daumenschrauben und eine Feuerstelle, die mich an einen Grill erinnerte. Nur lagen darauf keine Würstchen oder Steaks, sondern Instrumente, die die Menschen damals das Fürchten gelehrt hatten. Der Anblick der Zangen, mit denen den Leuten die Nägel bei lebendigem Leib ausgerissen worden waren, ließ mich erschauern. Ich ging weiter. Von einem Holzgitter umgeben standen die Knochenbrecher, Keulen und Hämmer. Damit hatte man auf die Opfer eingeschlagen. Ich sah auch eine nachgebaute Schmiede, in denen die Folterinstrumente heiß gemacht worden waren. Ringe, die wie Hundehalsbänder mit innen liegenden Stacheln aussahen, entdeckten wir ebenso wie Lanzen und Hellebarden. Es gab auch einen Käfig, der von der Decke herabhing. Ein viereckiger Würfel aus Eisenstäben, in den der bedauernswerte Mensch einfach hineingequetscht worden war. Suko hatte sich die ausgestellten Folterinstrumente ebenfalls angeschaut und zugleich nach einer zweiten Tür gesucht, die eine Verbindung zwischen dem Museum und dem Geschäft ermöglichte. Leider hatte er keine gefunden, aber es gab noch eine zweite Etage. Ich ging den Weg hinauf. Unter meinen Füßen befanden sich Holzstufen, aus denen blanke Nägelköpfe hervorschauten. Auch eine Etage höher brannte Licht. Wieder nur diffus und passend zur Umgebung. Es war sehr still in meiner Umgebung. Beim Gehen dämpfte ich meine Schritte. Hier oben war die Abteilung Henker und Hinrichtungsarten untergebracht. Da stand der Henker mit seinem gewaltigen Beil, von dessen Klinge noch das Blut tropfte. Vor seinen Füßen lagen ein Körper und der dazugehörige Kopf. Nicht weit entfernt hingen zwei Gehängte in der Schlinge, und wieder ein Stück weiter war eine Frau auf ein Nagelbrett gespannt. Ich bewegte mich an den nachgebildeten Gegenständen vorbei und suchte die Wände ab. Der Gedanke, hier im Museum eine Verbindungstür zu finden, ließ mich einfach nicht los. Ich wollte nicht glauben, dass es zwischen den beiden verschiedenen Objekten hier im Haus keine Verbindung gab. Ich klopfte die Wände ab. Auch hier waren sie künstlich geschaffen worden, doch hinter dem Kunststoff gab es die normale Steinwand oder auch harte Mauer. So sehr ich auch suchte, ich hatte kein Glück. Hier war alles kompakt und dicht. Waren wir auf der falschen Fährte? Zu viel Zeit wollten und konnten wir uns auch nicht lassen. Wenn wir nichts fanden, dann mussten wir eben auf andere Art und Weise versuchen, hinter das blutige Geheimnis der Lisa Barton zu kommen. Ich machte mich wieder auf den Rückweg. Mittlerweile war ich in Schweiß gebadet. Die Luft war einfach zu alt und verbraucht. Da hatte auch das kurze Öffnen der Tür nichts gebracht. Ich hatte damit gerechnet, von Suko empfangen zu werden, doch er rührte sich nicht. Er drehte mir den Rücken zu und stand vor der Mauer, als hätte er etwas gefunden. »Was ist denn?«
Seite 60
»Komm mal her. Ich denke, dass wir hier die Verbindung haben. Eine alte Türe, aber irgendwie überklebt mit diesem komischen Gestein. Das Echo des Klopfens hörte sich anders an. Ich muss nur noch herausfinden, wie man die Tür öffnet.« »Wunderbar.« Ich ließ die letzte Stufe hinter mir zurück und blieb stehen, weil ich meinen Freund nicht stören wollte. Suko kämpfte sich regelrecht vor. Stück für Stück suchte er die Tür ab und gab auch den entsprechenden Druck. Plötzlich brach das künstliche Gestein an einer bestimmten Stelle zusammen. Das hörte sich an, als wäre Styropor geknickt. Es war ein Loch entstanden, in das Suko seine Hand hineinschob. »Okay, da ist die Klinke, John.« Es dauerte nicht einmal zwei Sekunden, da zog Suko die Tür auf. Er konnte sie zu sich heranziehen. Sie schabte über den Boden. Einige Styroporteile landeten vor Sukos Füßen. Zum Glück gab es keine lauten Geräusche. Ich wartete noch, bis Suko die Tür aufgezogen hatte. Diesmal leuchtete er mit seiner Lampe nach vorn und meldete mir sofort, was er sah. »Da ist eine Treppe.« »Na, wunderbar.« Plötzlich sah ich wieder Land. Ich war beinahe euphorisch, trat schnell nach vorn und übersah den >Grill< zwar nicht, aber ich stieß mit den Beinen gegen die über den Rand hervorstehenden Foltergeräte. Sie bewegten sich, rutschten von der Kante und prallten mit harten und scheppernden Geräuschen zu Boden. Verdammt auch. Ich hätte mir selbst in den Hintern treten können, doch das nutzte auch nicht. Der Lärm hatte sich ausbreiten können, und ich dachte daran, dass mein Freund Suko die Tür leider zu einem unrechten Zeitpunkt geöffnet hatte. Das Geräusch verklang. Wir blieben beide stehen und warteten gespannt ab, was in den folgenden Minuten passieren würde ...
Die Königin. Die Königin des Blutes. So und nicht anders sah sich Lisa Barton selbst. Sie war in die Wanne gestiegen. Zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Bein. Jetzt stand sie in diesem Gefäß und spürte das Blut, das bis hoch zu ihren Fußknöcheln gestiegen war und dort eine Grenze bildete. Es war noch nicht genug. Es war erst der Anfang. Es würde und musste noch mehr fließen, um den Pegel steigen zu lassen. Sie schaute sich um, bevor sie in den Knien einknickte. Alle sechs Augenpaare waren auf sie gerichtet. Das Licht der Kerzen gab ihnen ein fremdes Aussehen, als hätten sich die Geister eines Schattenreichs in ihren Pupillen versammelt. Geister - ja, das war es. Lisa Barton glaubte daran. Ihrer Meinung nach hatte der Geist der Elisabeth Bathory seine Welt verlassen und ein neues Zuhause gefunden. Er steckte jetzt in ihr. Er war es, der sie so verändert hatte. Es gab diese wunderbare Seelenverwandtschaft, die kein anderer Mensch außer ihr erlebte.
Seite 61
Lisa Barton ... War dieser Name nicht Beweis genug? Da gab es eine Verbindung zwischen dem Namen der Blutgräfin und dem ihren. Elisabeth gleich Lisa. Barton gleich Bathory. Das war für sie der Fingerzeig des Schicksals. Elisabeth hatte sich sie ausgesucht. Eine Person wie sie war nicht zu töten. Während das Engelsgesicht daran dachte, sank sie allmählich in die Knie, wobei sie sich noch mit den Händen an den oberen Rändern der Wanne abstützte. Lisa fand im Blut ihren Platz! Ihr nacktes Gesäß berührte den Boden, und sie schob sich dann langsam zurück, bis sie mit dem Rücken die obere Seite der Wanne erreichte und sie als Stütze nahm. Die noch leicht geknickten Beine streckte sie aus. Die Wanne war nicht zu lang. Sie konnte ihre Füße gegen das andere Ende stemmen. Lisa schloss die Augen. Sie wollte sich dem Gefühl hingeben, in der langen Blutpfütze zu sitzen. Es war noch sehr wenig, aber nicht mehr lange, das stand fest. Ihre Zehen schauten wie bleiche Knochen aus der Flüssigkeit hervor, und mit seiner Höhe bedeckte das Blut soeben mal ihre Hände. Sie bewegte die Arme. Wasser plätschert, Blut nicht. Es schwappte. Es floss auch über die Beine hinweg und lief in zittrigen Streifen an der Außenhaut entlang. Für Lisa Barton war es ein unbeschreibliches Gefühl, das sie auch mit keiner anderen Person teilen wollte. Sie brauchte diese Minuten, um ganz sie selbst zu werden oder um den Geist der Gräfin richtig aufnehmen zu können, damit sie die große Botschaft begriff. Sie lächelte wieder. Nur die Lippen hatten sich dabei in die Breite gezogen. Ansonsten erschien keine einzige Falte an ihrem Mund. Die Haut war einfach zu straff und bereits zu künstlich, was ihr überhaupt nichts ausmachte. Sie liebte die Umgebung. Sie liebte das Blut, und sie liebte sich selbst. Lisa bewegte abermals die Arme. Sie zog ihre Hände aus dem Blut hervor und tat das, worauf sie schon lange gewartet hatte und das die anderen Zuschauer auch sehen wollten. Mit dem Blut an ihren Händen strich sie durch ihr Gesicht. Es war so wunderbar, so glatt, so eben. Die rote Flüssigkeit verteilte sich auf dem Gesicht wie Schminke. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Haut noch straffer wurde und das Leben in ein einziges Jubelfest verwandelte. Sechs Frauen schauten ihr zu. Die vier Sitzenden waren mit den Stühlen näher herangerückt. Nur Silvia und Gwen standen noch. Niemand störte sich an diesem dumpfen Geruch. Keinem war es peinlich und widerwärtig, dieser Person zuzuschauen, die auch weiterhin das Blut in ihrem Gesicht verteilte. Es rann daran herab. Es erreichte auch den Mund. Lisa öffnete die Lippen und leckte es weg. Sie schluckte es hinab und stöhnte wohlig. Dann ließ sie ihre Arme wieder sinken. Die Hände verschwanden in der roten Flüssigkeit. Lisa streckte sich noch einmal, bevor sie sich mit einer ruckartigen Bewegung hinsetzte und die angewinkelten Arme mit den Ellenbogen auf die Wannenränder legte. »Ihr habt es gesehen«, sprach sie ihre Zuschauerinnen an. »Ihr habt alles sehen können, und ihr müsst einfach erlebt haben, wie gut es mir dabei ging.« »Haben wir«, flüsterte Silvia. Genau die Antwort hatte das Engelsgesicht hören wollen. »Habt ihr auch die Sehnsucht in euch gespürt?«
Seite 62
Alle nickten. »Dann ist es jetzt soweit«, sagte Lisa. »Holt eure Messer hervor und gebt mir das, was mir zusteht. Wir haben oft genug darüber gesprochen. Nun sind wir am Ziel ... « Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Jede der Frauen wusste genau, was hier zu tun war. Fünf Hände bewegen sich. Fünf Rasiermesser wurden hervorgeholt und langsam aufgeklappt. Kleine, nicht sehr lange, aber scharfe Klingen fingen das Licht der Kerzen ein, als wären sie schmale Spiegel. Lisa hatte zugeschaut, aber sie war nicht zufrieden. Es waren nur fünf Messer gezogen worden und keine sechs. Diana stand da und hatte die Arme ausgebreitet. »Was ist los mit dir?« Die Angesprochene schluckte, als hätte sie Mühe, Tränen zu unterdrücken. »Ich besitze kein Messer.« »Was? Warum nicht?« »Es wurde mir genommen.« »Von wem?« Diana schämte sich. Sie senkte den Kopf. »Es ... es fällt mir schwer, aber ich ... es war einer der Männer. « »Ach!« Lisas Mund blieb offen. Wenig später fragte sie: »Das hast du dir so einfach gefallen lassen?« »Eine Gegenwehr war nicht möglich.« »Sind die beiden so stark?« »Sie waren bewaffnet. Einer von ihnen, der Chinese, hat uns mit einer Pistole bedroht.« Das Engelsgesicht ärgerte sich darüber, dass es erst jetzt informiert wurde. Offen zeigte Lisa ihr Gefühl nicht, aber sie dachte auch weiter. Nicht jeder Mensch lief bewaffnet durch die Gegend. Offiziell eigentlich nur eine Gruppe. Polizisten, Bullen, die zwar abgezogen waren, was aber nichts heißen musste. Bestimmt waren sie klammheimlich wieder in den Ort zurückgekehrt. Sie würden weiterhin suchen und nachforschen. Bullen konnten manchmal verdammt zäh sein. Um so wichtiger war es, noch schneller zu reagieren und keine Zeit zu verlieren. »Hast du keine andere Waffe?« »Nein!« »Dann besorg dir eine. Es ist wichtig, dass ich auch an dein Blut herankomme.« »Ja, Lisa, das werde ich tun. Wo denn?« »Schau in meinem Büro nach. Aber beeil dich. In der Schublade in der Theke findest du eine Schere. Die kannst du nehmen. Komm schnell zurück.« »Sicher!« Diana war froh, dass Lisa so und nicht anders reagiert hatte. Da hatte sie wenigstens noch eine Chance, denn sie wollte dabei sein, um alles in der Welt. Während sie hinauslief, hörte sie noch die Stimme des Engelsgesichts. »So, wir fangen jetzt an ... «
Seite 63
Der Pfarrer Cliff Lintock hatte den Besuch der beiden Polizisten zwar verdaut, aber nicht vergessen. Seine Gedanken drehten sich einfach ständig darum, und er hatte auch erlebt, dass ihm die eigenen Grenzen aufgezeigt worden waren. Das konnte er nicht hinnehmen. Er war immer ein Mann der Tat gewesen. Auch wenn das Schicksal mit Knüppeln auf ihn eingeschlagen hatte, irgendwann gab es einen Punkt, an dem man sich entscheiden musste. Entweder gab man sich einen Ruck oder man gab auf. Lintock wollte sich einen Ruck geben. Es blieb nicht bei der Theorie, er gab sich den Ruck, und er setzte seinen Plan sofort in die Tat um. Trotz der Wunde an seiner Brust trat er unter die Dusche. Er hatte einfach den Wunsch, die nahe Vergangenheit abspülen zu müssen. Einfach weg in den Abfluss. Die Wunde auf seiner Brust brannte, was ihn jedoch nicht an seinen Plänen hinderte. Er machte weiter. Er seifte sich ein. Er wollte, dass alles weggewischt wurde. Danach trocknete er sich ab. Die beiden Polizisten hatte er jetzt vergessen. Das Wasser schien sie aus seiner Erinnerung gelöscht zu haben. Jetzt ging es um eine andere Person. Als er an Silvia dachte, begann er zu zittern. Sie hatte sich nicht gescheut, ihren eigenen Vater mit einem Messer verletzen zu wollen. Okay, sie hatte es nicht getan und letztendlich ihre Freundin Diana vorgeschickt, aber sie hätte mitgemacht, und das wollte Lintock nicht in den Kopf. Er wusste auch nicht, ob er seine Tochter dafür verdammen sollte. Eigentlich ja, doch wenn er näher darüber nachdachte, dann war es nicht möglich. Er wollte ihr noch immer eine Chance geben, denn Silvia hatte bestimmt nicht nur aus Eigennutz gehandelt. Man musste sie angetrieben haben, eine andere Möglichkeit sah er nicht. Bestimmt stand sie unter einem wahnsinnigen Druck. Es gab Spuren, Hinweise. Sogar sehr konkrete, und der Pfarrer war davon überzeugt, dass er sie finden würde. Die Wunde auf seiner Brust war nicht so lang, als dass er sie nicht durch Pflaster hätte abdecken können. Zwei reichten sogar aus. Danach streifte er ein frisches Hemd über, zog auch eine andere Hose an und verließ sein Haus. Er besaß keine Waffe. Seine >Waffen< waren das Wort Gottes und auch das Kreuz. Hätte er jedoch eine besessen, er hätte sie auch mitgenommen, um die Person zu stellen, die hinter allem steckte. Lisa Barton, das Engelsgesicht! Allein dieser Name störte ihn. Sie war alles andere als ein Engel. Er sah in ihr mehr einen weiblichen Teufel, versehen mit den Segnungen der Hölle. Welch ein Abgrund tat sich da auf! Bei ihr hatte die Hölle bewiesen, wie sehr sie einen Menschen verändern konnte. Das Böse war in der Welt vorhanden. Es musste sich nicht immer als bocksfüßige Gestalt mit einem langen Schwanz am Rücken zeigen. Es konnte auch die Seele einer Frau beherrschen. Der Pfarrer eilte durch den Ort wie jemand, der nicht dazugehörte. Er hatte keinen Blick für irgendwelche Häuser und auch keinen für die Menschen, die sich im Freien befanden. Er sah auch nicht die Blicke, die ihm nachgeworfen wurden. Sein Ziel stand fest. Es war der verdammte Laden dieser Barton. Es war nicht weit von seinem Haus bis zum Geschäft. Aber die Zeit wurde ihm lang. Er schwitzte, weil er so schnell lief. Ihn trieb die unsichtbare Peitsche der Angst voran. Er wollte noch etwas retten, er wollte seine Tochter nicht im Sumpf des Bösen einfach untergehen lassen. Schwer atmend und nass geschwitzt erreichte er das Eckhaus. Sofort sah er, dass er mit seinen Vorstellungen richtig gelegen hatte, denn die Räder und auch der Roller vor dem Laden waren einfach nicht zu übersehen. Ebenso wenig wie das Schild mit dem Hinweis, dass der Laden geschlossen war. Auf Lintocks Gesicht erschien ein zähes Lächeln. Es war klar, was das bedeutete. Sie hatten sich zu ihrer Herrin und Meisterin gegeben, um mit dem Blut zu spielen oder was auch immer.
Seite 64
Der Pfarrer ging die beiden Stufen der kleinen Treppe hoch und blieb dicht vor der Tür mit Glaseinsatz stehen. Durch ihn schaute er in den Laden hinein. Es konnte ja sein, dass sich jemand in diesem Halbdunkel aufhielt. Leider ein Irrtum. Es gab weder die Besitzerin zu sehen noch eine der jungen Frauen aus Wingmore. Das Geschäft war leer. Und jetzt? Der Pfarrer überlegte fieberhaft. Er würde hineingehen. So oder so. Die Tür aufbrechen, das war eine Möglichkeit. Er dachte auch darüber nach, wie er es am besten anstellte, ohne dass es groß auffiel, doch dann kam ihm das Schicksal zu Hilfe. Lintock hatte weiterhin in das Geschäft geblickt. Zum Glück, denn so sah er die Bewegung im Hintergrund. Jemand kam und ging bis zur Verkaufstheke vor. Es war eine Frau, so viel stand für Lintock fest. Doch erst als sie noch näher gekommen war, identifizierte er die Person. Diana Crane hatte den Verkaufsraum betreten. Augenblicklich schoss ihm das Blut ins Gesicht. Wieder sah er sich vor ihr stehen und spürte den Phantomschmerz an seiner Brust, den er als echt empfunden hatte, als die Frau ihn mit dem Messer berührt hatte. Sie verhielt sich wie jemand, der etwas sucht. Nur konnte er nicht sagen, wonach sie Ausschau hielt. Jedenfalls hatte sie keinen Blick für das Fenster oder die Tür übrig. Sie war für den Pfarrer eine Chance. Er wollte, dass sie ihm die Tür öffnete, und der Gedanke war kaum in ihm hochgezuckt, als er gegen die Tür schlug. Das musste Diana hören, und das hörte sie auch! Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie hatte sich gebückt, jetzt schaute sie hoch, blickte auch zur Tür hin und sah den dahinter stehenden Pfarrer, der ihr zuwinkte. Diana rührte sich nicht. Sie war überrascht und wirkte auf den Pfarrer wie jemand, der aus seinen Träumen gerissen worden war. Er klopfte noch einmal, und Diana ging auch einen kleinen Schritt nach vorn, aber nicht weiter. Auf der Stelle machte sie kehrt. Lintock sah noch das Entsetzen in ihrem Blick, dann rannte sie wieder nach hinten und war so schnell wie ein Spuk verschwunden. Nein, Lintock schrie nicht. Es war ihm danach zumute, doch er riss sich zusammen. Für einen Moment bewegte er sich nicht. Nur die Gedanken huschten durch seinen Kopf. Eines stand schon jetzt für ihn fest. Er würde nicht aufgeben und den Weg auch nicht zurücklaufen. Er sah die Gefahr zwar nicht, er spürte sie tief in seinem Innern, und er konnte nicht zulassen, dass seiner Tochter etwas geschah und sie ganz und gar dem Bösen verfiel. Cliff Lintock reichte ein Blick, dann stand der Plan für ihn fest. Er musste sich nicht weit bewegen, um an das erste Fahrrad zu gelangen. Mit beiden Händen riss er es in die Höhe, ging damit noch zurück, um Anlauf nehmen zu können, dann wuchtete er das Rad vor. Genau in die Fensterscheibe hinein, die in einem Regen von Glas und Splittern zusammenbrach. Jetzt hatte er freie Bahn!
Seite 65
Es gab keine Person, die sich geweigert hätte. Alle wollten das große und endgültige Erlebnis hinter sich bringen und den schönen Schein für immer behalten. Fünf Frauenhände hielten fünf Rasierklingen fest. Finger umfassten die Holzgriffe. Köpfe waren gesenkt, und die Blicke konzentrierten sich auf die Stellen, aus denen sehr bald das Blut rinnen würde. Die Sitzenden waren aufgestanden. Sie hielten direkten Kontakt zur Wanne und hatten sich darüber gebeugt. Ebenso wie Silvia und Gwen, die schon immer gestanden hatten. Die ersten Schnitte wurden durchgeführt. Nicht in den Gesichtern, zunächst waren die Arme an der Reihe. Kein Schrei des Schmerzes drang durch den verliesartigen Raum. Es war höchstens mal ein heftiger Atemzug zu hören, ansonsten rissen sich die Frauen zusammen und verbissen ihre Schmerzen. Aus sechs Wunden rann das Blut und fand seinen Weg. Es sickerte über die senkrecht gehaltenen Arme hinweg. Es floss dabei den Händen entgegen, den Fingern, sammelte sich dort für einen Moment, während sich die Frauen weitere Schnitte zufügten. Das gesammelte Blut tropfte nach unten und pitschte hinein in die andere, schon vorhandene Flüssigkeit. Das Engelsgesicht schaute nur zu. Die Augen glänzten. Jeder Tropfen, der ihren Körper oder das Blut berührte, war für sie die reinste Wohltat. Sehr genau spürte sie die Frische. Es war nicht zu vergleichen mit dem älteren Blut, das schon in der Wanne stand. Es sah auch anders aus. Es war heller und irgendwie lebendiger. »Ja«, flüsterte die Barton stöhnend, »ja, macht weiter. Lasst nicht nach. Es ist so wunderbar. Es tut so gut. Und auch ihr werdet davon profitieren, glaubt es mir. Der Preis des Blutes ist die Schönheit, die euch allen gegönnt sein soll. Herrlich ... phantastisch. Ich kann es genießen. Es ist göttlich ... « Die Worte verhallten nicht ungehört. Sie glichen einer Energie, die eine bestimmte Maschine antrieb, und die langsamen Bewegungen der Frauen veränderten sich. Sie wurden hektischer. Sie waren nicht aufzuhalten. Jedes Fließen, jeder Tropfen kam für sie einem Erfolgserlebnis gleich. Wenn es Lisa Barton gut ging, dann würde es auch ihnen gut gehen. So und nicht anders dachten sie einfach. Lisa Barton hatte ihre Haltung nicht verändert. Sie saß noch immer, aber sie bewegte sich hin und wieder. So drehte sie im Sitzen den Körper, damit auch verschiedene Stellen von den Blutstropfen erwischt wurden, um an der Haut herab rinnen zu können. Lisa konnte sich nicht daran erinnern, dass es ihr jemals besser gegangen wäre. Sie fühlte sich durch das frische Blut wie beflügelt. Manchmal schloss sie sogar die Augen und öffnete sie auch wieder schnell, als könnte sie nicht fassen, dass dies alles Wahrheit war. Sie musste sich dann immer wieder davon überzeugen, was sie sehr gern tat. Sie streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben. Sie fing das rinnende Blut auch damit auf, und sie blickte immer wieder ihre Werkzeuge an. Noch war bei keiner von ihnen eine Schwäche zu entdecken. Lisa hoffte, dass sie lange genug durchhielten. Tot würden später nicht alle sein, davon ging sie aus. Dann musste sie eben den Rest erledigen. Überdeutlich war das Klatschen der Tropfen zu hören, wenn sie Haut oder Blut trafen. Für Lisa Barton war es eine himmlische Musik, die plötzlich abriss, weil ein fremdes Geräusch an ihre Ohren drang. Ein seltsames Scheppern. Nicht hier und auch nicht vorn im Geschäft, sondern an einer anderen Stelle, die versteckt hinter der Wand lag und von diesem Raum nicht einsehbar war. Aus dem Museum!
Seite 66
Diesmal schoss ihr das Blut von innen her in den Kopf. Sie brauchte wirklich nicht lange nachzudenken, um zu wissen, was dort hinter der verdammten Wand geschehen war. Jemand war es gelungen, in das geschlossene Museum einzudringen. Sie wusste, dass es hin und wieder Führungen gab, aber nicht heute. Das Geräusch brachte sie mit einem ganz anderen Grund in Zusammenhang. Im Ort hielten sich zwei verdammte Bullen auf. So sehr sie diese Männer auch hasste, sie wusste auch, dass sie nicht dumm waren. Sie hatten eine Spur gefunden. Ruckartig stand sie auf! Es war ein überraschender Schuss in die Höhe, mit dem auch ihre Freundinnen nicht gerechnet hatten. Zwei stieß sie dabei durch diese Bewegung zur Seite. Im Stehen gab sie ihre Befehle. »Silvia, sieh nach! Lauf zu der Tür. Da ist sie - da!« Lisa deutete mit dem rechten Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle der Wand. «Du brauchst dich nur dagegen zu lehnen, dann gibt sie nach.« »Gut, aber ... « »Kein Aber. Schau nach, was da los ist. Wir alle haben es doch gehört!« Silvia wagte keinen Widerspruch mehr. Auch sie blutete aus zahlreichen Wunden. Die Selbstverstümmelung hatte sie schon Kraft gekostet, und sie lief längst nicht mehr so kraftvoll und geschmeidig wie sonst. Sie taumelte ein wenig. Trotzdem hatte sie Glück. Der Schwung reichte aus, um die Tür nach außen zu wuchten. Zugleich passierte noch etwas anderes. Vorn im Verkaufsraum ertönte ein Krachen und Splittern, als wäre dort durch äußeren Einfluss eine Scheibe zu Bruch gegangen. Was da genau abgelaufen war, bekamen die Frauen nicht mit. Dafür erschien eine schreiende und auch entsetzte Diana Crane. Sie fuchtelte mit beiden Händen herum und schrie immer nur den einen Satz: »Der Pfarrer ist da! Der Pfarrer ist da ... !«
Zunächst passierte nichts. Doch auch in diesem Zeitraum blieb unsere Spannung bestehen. Suko hatte den Zugang gewaltsam geöffnet, und im Licht meiner kleinen Leuchte sah ich eine staubige Holztreppe. Wäre sie öfter benutzt worden, hätte ich einen Fußabdruck sehen müssen. Das war nicht der Fall. Vor uns lagen die Stufen staubig, alt und auch irgendwie riechend. Versteckte Türen und geheime Treppen passten zu derartigen Häusern. Das war sicherlich auch früher so gewesen. Die Treppe war nicht ins Leere gebaut worden. Sie endete vor einer geschlossenen Holztür. Für uns war sie nichts anderes als der Durchgang ins Nebenhaus. Die Tür war nicht dick und vor allen Dingen nicht schalldicht. Dass sich dahinter etwas abspielte, hörten wir sehr deutlich, und wir rechneten damit, die Frauen zu finden, denn es waren weibliche Stimmen, die wir hörten. Suko schaute zurück. Ich hatte meine Lampe wieder verschwinden lassen. Das Licht von oben reichte aus. Darin malten sich die Stufen so deutlich ab, dass wir nicht in die Gefahr liefen, beim Weg nach unten zu stolpern. »Hart oder behutsam, John?« Es war klar, was Suko damit meinte. Ich plädierte für die erste Möglichkeit, schloss dabei die zweite aber nicht aus. Zunächst den Versuch unternehmen, die Tür behutsam zu öffnen, und anschließend in den Raum hineinstürmen.
Seite 67
Mein Freund war einverstanden. Er hatte es nicht weit. Drei Stufen, dann war er am Ziel. Dann passierte es. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Mit großer Wucht stieß jemand sie nach außen und damit hinein in diesen Treppenbereich. Ich hatte das Gefühl, den Ausschnitt einer Bühne zu sehen, auf dem sich einiges abspielte. Im Hintergrund war das Flackerlicht mehrerer Kerzen zu sehen. Es schuf helle und schattige Zonen, sodass ich von der Umgebung nicht viel erkannte. Wichtig zunächst war ein bestimmter Akteur oder eine Akteurin, Silvia Lintock nämlich. Sie stürmte über die Schwelle, sie war zu einer Furie geworden. Sie drehte durch, und sie hielt ein verdammtes Rasiermesser in ihrer rechten Hand. Suko stand ihr am nächsten, und ihn griff sie auch an. Die rechte Hand der jungen Frau schien sich in einen Flügel verwandelt zu haben. Sie hieb damit gegen meinen Freund. Ihre rechte Hand hackte dabei vor und zurück, als wollte sie immer wieder auf ihn eindreschen. Ihr Gesicht war verzerrt, sie bewegte sich zuckend, unkontrolliert, denn sie wollte Suko so schnell wie möglich aus dem Weg schaffen. Er trat zu. Ich hatte nicht sehen können, ob er getroffen worden war; möglich war es. Blut sah ich an seinem Körper nicht. Also hatte man ihm auch keine Wunden zugefügt. Der Tritt war gut gezielt. Silvia Lintock verlor den Kontakt mit dem Boden. Sie kreiselte zurück und fand auf der recht schmalen Stufe keinen Halt mehr. Mit dem Rücken prallte sie gegen die Wand. Aus ihrem Mund drang ein wütender Schrei, dann presste sie die freie Hand auf die Magengegend, wo Suko sie erwischt hatte. Aber sie gab nicht auf. Die Stufen hochstolpernd, wollte sie sich eine bessere Ausgangsposition verschaffen. Somit geriet sie in meine Nähe. Ich sah, dass die Klinge blutig war, und wollte Silvia darauf ansprechen, als ich ihren wütenden Schrei hörte. Jetzt war ihr bewusst, dass sie in der Falle steckte. Sie schnappte nach Luft. Ihr Blick irrte zwischen Suko und mir hin und her. Sie konnte sich nicht entscheiden, wen von uns sie als ersten angreifen sollte. Aus dem anderen Raum am Ende der Treppe hörten wir wütende Schreie. Eine Frau brüllte dort, dass der Pfarrer da sei. Wir konnten uns darum nicht kümmern, denn Silvia war wichtiger. Sie hatte bei Suko keinen Erfolg erzielt und sich jetzt mich ausgesucht. Wie von einem Faden gezogen, kroch sie die Treppe hoch. Ich hörte ihren Atem, der mehr ein Keuchen war, und dann war sie einfach nicht mehr zu halten. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Fratze. Die Augen hatte sie weit aufgerissen, der Mund bildete eine Höhle in ihrem Gesicht, und der Blick war nicht mehr mit dem eines normalen Menschen zu vergleichen. Ich hätte sie längst mit einer Kugel stoppen können, aber ich wollte sie nicht töten oder verletzen. Das hätte bei ihren zuckenden Bewegungen durchaus der Fall sein können, denn sie gab nie ein richtiges Ziel ab. Suko kannte die Regeln. Er kümmerte sich um die anderen Frauen und ging in die Höhle des Löwen hinein. Mehr sah ich nicht, denn ich musste Silvia Lintock meine gesamte Aufmerksamkeit widmen. Sie war einfach nicht zu halten. Aus ihrem Mund hallte mir ein Brüllen entgegen, während sie mit einem letzten Sprung auch die letzte Stufe hinter sich ließ. Sie führte das gefährliche Messer im Halbkreis, hatte sich abgestoßen und visierte dabei meine Kehle an. Es war nicht so schnell gegangen. Ich hatte mich auf sie einstellen können und hielt eine der Stangen in den Händen, die auf dem Kohlegrill gelegen hatten. Andere waren durch meine ungeschickte Bewegung zu Boden gefallen und hatten für den Lärm gesorgt.
Seite 68
Silvia war wie von Sinnen. Bei ihr musste etwas ausgehakt sein. Sie sah die Stange nicht, die ich hochschwang, und so kam es wie es kommen musste. Bevor die verdammte Klinge in meine Nähe geriet, hatte ich schon ausgeholt. Silvia sprang in den Schlag hinein. Ich hörte noch den Aufprall, dann nahm ich ihren Schrei wahr, sie geriet ins Stolpern und fiel zu Boden. Direkt vor meine Füße. Es musste sie einfach sehr hart getroffen haben, aber sie befand sich in einem Zustand, in dem sie das nicht wahrhaben wollte und auch nicht merkte. Den Schmerz in ihrem Körper ignorierend, kam sie wieder hoch. Diesmal nur nicht so schnell. Sie hob auch den Kopf an, ich sah ihr fremd gewordenes Gesicht und schüttelte den Kopf. »So nicht, Mädchen!« Danach schlug ich zu. Ich hatte die Beretta genommen. Diesmal traf ich sie so, wie ich es haben wollte. Der Schlag gegen den Kopf raubte ihr das Bewusstsein. Ich sah noch, wie sie die Augen verdrehte, dann kippte sie zurück, und ich fing sie auf, bevor sie hart irgendwo auf- oder gegenschlug. Das Rasiermesser nahm ich ihr ab, klappte es zusammen und steckte es in die Tasche. Jetzt besaß ich schon zwei dieser Messer. Es wäre mir lieber gewesen, alle sechs zu haben. Was nicht war, konnte ja noch kommen. Der Weg nach unten war wieder frei. Und dort war es alles andere als ruhig, denn das Drama näherte sich dem Höhepunkt ...
Innerhalb weniger Sekunden hatte Suko das Verlies erreicht, das sich Lisa als ihr Hauptquartier ausgesucht hatte. Der Inspektor war ein Mann, der einiges hinter sich hatte. So leicht konnte er auch nicht geschockt werden. In diesem Fall allerdings brauchte er schon eine gewisse Zeit, um seine Überraschung zu überwinden. Was er sah, war verrückt. Es war außerhalb des menschlichen Denkens. Fünf Frauen. Vier davon mit Rasiermessern bewaffnet. Und sie sahen ebenso aus wie Silvia, denn auf ihren Armen waren die frischen Schnitte zu sehen. Auch die Gesichter hatten sie nicht verschont. Da die Wunden noch frisch waren, sickerte aus ihnen das Blut, und es hatten sich auch noch keine Krusten bilden können. Nur eine Frau war davon verschont geblieben. Sie hatte sich in die Ecke zurückgezogen, die Hände halb erhoben und zu Fäusten geballt. Die Worte, die sie vor kurzem noch geschrien hatte, drangen jetzt in Fragmenten nur flüsternd aus ihrem Mund. Suko verstand das Wort >Pfarrer<, das sie ein paar Mal aussprach. Er musste sich um sie nicht kümmern. Die vier bewaffneten Frauen wirkten wie weibliche Teufel, wobei eine fünfte alles übertraf. Sie trug keine Waffe bei sich, und sie stand auch nicht mit den anderen zusammen. Sie hatte ihren Platz in der Badewanne gefunden. Der Boden der Wanne war mit Blut bedeckt, und die Anführerin stand mit beiden Füßen darin. Wunden wies ihr Körper nicht auf. Von verschiedenen Stellen rann Blut daran herab und hinterließ zittrige Streifen.
Seite 69
Im Licht der Kerzen war sie nicht zu klar zu sehen, aber Suko fiel das glatte Gesicht auf, das mehr einen künstlichen Ausdruck erhalten hatte, was nicht unbedingt an den Blutflecken und Blutspritzern lag, die ein Muster hinterlassen hatten. Sie war böse. Sie war die Chefin. Sie war Lisa Barton, das Engelsgesicht, aber auch sie konnte noch überrascht sein, denn sie starrte Suko an wie einen Geist. Nur sah er keine Angst in ihren Augen. Hinter ihm befand sich die offene Tür. Aus dem Museum hörte er ebenfalls fremdartig klingende Geräusche, um die er sich nicht weiter kümmerte. Das hier war das Zentrum, das hier war wichtig, und er ließ sich auch nicht durch die schlechte Luft ablenken. Ihm war klar, dass diese Person Macht über die anderen Frauen ausübte. Sie würden alles tun, was Lisa befahl. Sogar die Selbstverstümmelung hatten sie auf sich genommen, denn ihre Aktionen waren nichts anderes als das gewesen. Es war nicht viel Zeit vergangen seit Sukos Ankunft. Es kam ihm trotzdem anders vor, auch aufgrund der zahlreichen Eindrücke, die ihn überrascht hatten. Dann hörte er eine Männerstimme, die aber nicht John Sinclair gehörte. Der Mann meldete sich von einem zweiten Eingang her, hinter dem wohl wieder eine andere Welt lag. »Seid ihr denn wahnsinnig!«, keuchte er. »Um Himmels willen, seid ihr denn alle wahnsinnig? Das darf nicht wahr sein! Ihr könnt euch doch nicht verstümmeln! Das ist gegen das Leben. Das ist ein Affront gegen Gott!« Schon an der Stimme hatte Suko den Pfarrer erkannt. Lintock verließ seine dunkle Insel und bewegte sich in den Schein der leicht flackernden Flammen hinein. Er sah aus wie jemand, der aus der Kältekammer in einen heißen Ofen hineintrat. Die Augen starrten voller Entsetzen, das Gesicht war totenbleich, er schüttelte fassungslos den Kopf und verharrte dann. »Keine Sorgen, Mr. Lintock, das bekommen wir in den Griff«, erklärte Suko. Ob der Pfarrer zugehört hatte, war nicht klar. Jedenfalls drehten sich dessen Gedanken um eine andere Person. »Wo?«, keuchte er, »wo ist meine Tochter? Wo ist sie?« Die Frage klang wie ein Aufschrei. »Habt ihr sie schon getötet? Oder hat sie sich selbst umgebracht? Verflucht noch mal, ich will wissen, wo sie ist!« Suko gab ihm die Antwort mit ruhiger Stimme. »Sie ist in das Museum gelaufen.« »Warum?« »Ist nicht wichtig.« »Doch! Denn ich ... « »Sie wird überleben, Mr. Lintock.« Suko kümmerte sich nicht mehr um den Mann, denn eine andere Person stand längst auf seiner Liste. Es war das in der Wanne stehende Engelsgesicht. »Nicht wahr, Lisa Barton, sie wird überleben.« Die Nachfolgerin der ungarischen Blutgräfin antwortete nicht. Sie lächelte plötzlich, und Suko hatte den Eindruck, es mit einer Wahnsinnigen zu tun zu haben. Dieses Lächeln war nicht normal. Man konnte es als faunisch und hintergründig bezeichnen. Es machte ihr auch nichts aus, sich nackt zu zeigen. Sie bewies zudem, was sie eigentlich vorhatte, und fing wieder damit an, mit den Handflächen das Blut auf ihrem Körper zu verteilen. Es war plötzlich ruhiger geworden. Niemand sprach. Auch der Pfarrer hielt sich zurück. Er und auch Suko spürten, dass die nächsten Minuten dem Auftritt der Lisa Barton gehörten. »Ich bestimme die Regeln!«, erklärte sie mit scharfer und flüsternd gesprochener Stimme. »Ich lasse mir meine Welt nicht zerstören, versteht ihr? Ich will es nicht. Ich bin mächtig, und wir alle zusammen sind noch mächtiger. Es ist mir scheißegal!«, schrie sie, »wessen Blut fließt. Das Blut gehört mir, nur mir!« Sie schlug mit der flachen Hand zweimal gegen ihr Schlüsselbein.
Seite 70
»Sie werden kein Blut mehr bekommen!«, erklärte Suko. »Das Spiel ist vorbei. Zwei Tote reichen. Zwei junge Frauen in der Blüte des Lebens. Sie werden sich damit abfinden müssen, dass es für Sie kein Blut mehr gibt.« Lisa lachte schrill. »Wer sagt das? Du? Sagst du das, verdammter Chinese?« »Genau.« Lisa lachte ihm ins Gesicht. »Weißt du, was meine Freundinnen mit dir machen? Schau auf ihre Messer. Damit werden sie dich erstechen. Darauf kannst du dich verlassen. Du wirst keine Chance haben!« Sie reckte ihr Kinn vor. »Und dieser verdammte Pfarrer auch nicht!« Lintock hatte zugehört. Leicht geduckt stand er auf seinem Platz zwischen den Kerzen. »Krank!«, keuchte er ihr zu. »Sie sind krank, Lisa Barton.« »Krank? Nein, nein, ich bin völlig gesund. Ich bin etwas Besonderes und Großes. Ich will sein wie mein Vorbild, und das habe ich schon so gut wie erreicht.« »Wer ist es?«, fragte Suko. In der Wanne stehend breitete sie die Arme aus wie ein Guru, der seine Gemeinde begrüßen wollte. »Bathory!«, rief sie in den Raum hinein. »Elisabeth Bathory. Eine Adelige, die in Ungarn gelebt hat. Es liegt schon einige Jahrhunderte zurück, aber ihr Schatten reicht weit, sehr weit sogar. Bis hinein in unsere Zeit. Er hat mich getroffen, und ich fühle mich in seiner Nähe wohl.« »Ich kenne die Frau nicht!«, erklärte der Pfarrer. »Aber ich«, sagte Suko. »Die Bathory wurde auch die Blutgräfin genannt. Sie war ebenso schlimm wie der Vlad Dracula. Sie berauschte sich am Blut junger Mädchen und Frauen. Sie glaubte fest daran, dass nur deren Blut ihr die Frische und die Schönheit erhalten würden. Soviel zu dieser Bathory.« »0 nein!« Der Pfarrer stöhnte auf. »Jetzt verstehe ich. Jetzt ist mir vieles klar. Sie hat hier das Gleiche vor - oder?« »So ist es!« Lisa lachte leise. »Ihr seid schlau, Kompliment. Nicht jeder kennt die Gräfin. Kompliment.« »Dann ist dir auch bekannt, dass sie nicht überlebt hat und wie man sie letztendlich vom Leben in den Tod beförderte. Sie verreckte in einem Verlies, gegen das dieses hier noch der reinste Luxus ist. Elisabeth hat es nicht geschafft, und du, Lisa Barton, wirst es auch nicht schaffen. Das verspreche ich dir.« Lisa gab die Antwort auf ihre Weise. Sie stieg aus der Wanne. Sie ließ sich nicht beirren. Ihr blutbeschmierter Körper bot ein schreckliches Bild. Sie hatte sich jedoch keine Wunden zugefügt, im Gegensatz zu den Frauen, die ihrer perversen Idee gefolgt waren. Neben der Wanne blieb sie stehen. »Ich bin schon zu weit«, flüsterte sie in den Raum hinein. »Viel weiter als die meisten. Elisabeth ist tot, ihr Geist jedoch nicht. Er ist über mich gekommen. Ich habe ihn gespürt. Er hat mich gestreift, und ich nahm ihn auf. Es war einfach so wunderbar für mich. Ich war endlich in der Lage, hinein in ein neues Leben treten zu können. Die Türen standen weit, weit offen, und ich habe die Chance genutzt. Keiner hält mich auf - mich nicht!« »Sie kommen hier nur noch als Gefangene weg!«, versprach Suko. »Sie haben zu viel Unheil angerichtet. Es hat zwei Tote gegeben und ... « »Ha!«, schrie sie in Sukos Worte hinein. »Habe ich das tatsächlich? Habe ich Unheil angerichtet, oder habe ich euch nicht eine Botschaft gebracht, auf die ihr schon lange gewartet habt? Los, meine Freundinnen, los, sagt es! Seid ehrlich. Wie steht ihr zu mir! Schaut mich an. Wie habe ich mich gehalten? Keine Falten im Gesicht, ein straffer Körper, das alles werdet ihr erleben, wenn ich euer Blut mixe und es euch mit auf den Weg in die Zukunft gebe. Es werden andere Zeiten für euch anbrechen, glaubt es mir. Oder wollt ihr sie nicht?«, schickte sie sofort eine Frage hinterher.
Seite 71
»Doch, wir wollen es!« »Gut, Susan, gut. Was ist mit euch anderen? Auf welcher Seite steht ihr? Wem glaubt ihr mehr?« Sie bewegte ihre Hände. »Los, sagt es. Sprecht es aus!« »Wir glauben dir!« Susan Fenner hatte sich zur Sprecherin der fünf Frauen gemacht. Das hatte Lisa nur gewollt. Sie drehte leicht ihren Kopf, um Suko anzuschauen. »Hast du es gehört? Sie stehen auf meiner Seite. Daran wird auch das Erscheinen eines Bullen und einen Popen nichts ändern. Ich freue mich schon darauf, wenn ich euch tot sehen kann. Meine Lieblinge tun mir den Gefallen!« Es war eine Aufforderung zum Mord, die auch der Pfarrer gehört hatte. Im Gegensatz zu Suko behielt er nur mühsam seine Fassung. Sein Weltbild war ein völlig anderes und nach den Lehren der Bibel ausgerichtet. So etwas jetzt hören zu müssen, das brachte ihn völlig aus der Fassung. Er dachte auch nicht daran, dass jemand wie Suko die Lage trotz allem recht gut im Griff hatte, er wollte nur eines. Die Befreiung. Dabei verlor er einfach die Übersicht. »Neiiiiin!« Es war kein Ruf, es war ein Schrei und zugleich das Startsignal. Er sah die Frauen und auch Lisa vor sich, die er auf dem direkten Weg erreichen wollte. Dabei hielt ihn nichts mehr! Suko gestand sich den Fehler ein. Er hätte mehr auf Lintock achten sollen. Es war zu spät, denn der Pfarrer ließ sich nicht mehr stoppen. Es war einfach zu viel für ihn gewesen. Er konnte sich die zynischen und menschenverachtenden Reden nicht mehr anhören und deshalb nahm er auf nichts mehr Rücksicht, auch nicht auf sich selbst. Er wollte Lisa. Er wollte ihr an die Kehle, und genau das wusste sie zu verhindern. »Schnappt ihn!« Es war ein gekreischter Befehl, der ihren fünf Mitstreiterinnen galt, die sofort handelten. Sie hatten schon auf dem Sprung gestanden und nur darauf gewartet. Nichts hielt sie mehr auf. Suko erhielt einen Stoß und geriet für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Bevor er sich wieder fangen und um Lisa kümmern konnte, war diese bereits zur Seite gehuscht und hatte sich der offenen Tür mit der Treppe dahinter genähert. Keiner achtete mehr auf sie, und sie konnte plötzlich sehr schnell laufen. Cliff Lintocks Felle schwammen davon. Er brüllte noch hinter ihr her, dann waren die Frauen bei ihm. Sie wollten sich nicht mehr aufhalten lassen. Sie hackten mit ihren verdammten Rasiermessern zu. Der Pfarrer war recht groß, und so reckten sie die Arme, um die Schläge von oben nach unten zu führen. Der Pfarrer hatte seine Arme in die Höhe gerissen. So versuchte er, seinen Kopf zu schützen. Aber die Messer trafen ihn. Sie schlitzten seine Kleidung auf. Er spürte sie auf der Haut. Erste Wunden entstanden, aus denen das Blut floss, dann aber war Suko bei den Frauen. Eine wollte ihn angreifen. Suko konnte nur durch eine blitzschnelle Drehung ausweichen. Den zurückschnellenden Arm fing er ab, drehte ihn und hörte den irren Schrei durch den Raum hallen. Er schleuderte die Frau von sich, die sich am Boden überschlug und dabei Kerzen umriss. Einige Flammen erloschen, andere züngelten weiter, aber das Material war zu feucht, um Feuer fangen zu können. Der Pfarrer war in die Knie gesackt. Er schrie und jammerte zugleich. Er schlug mit den Händen um sich, um den auf und niederzuckenden und blitzenden Klingen zu entgehen. Suko griff zu einem anderen Mittel.
Seite 72
Er fasste den Stab an, und dann war nur ein Wort wichtig, dass er recht leise rief. Nur so konnte er den Pfarrer vor weiteren Schäden bewahren und wurde auch selbst bei seinem Eingreifen nicht von den Messern getroffen. »Topar!«
Ich hatte alles gesehen und auch gehört. Es war mein Glück, dass ich mich zurückgezogen hatte und praktisch noch hinter dem Ende der Treppe an der Mauer stand. So konnte ich vom Verlies aus nicht entdeckt werden. Die Situation stand auf des Messers Schneide. Lisa dachte gar nicht daran, aufzugeben. Sie gehörte zudem zu den Personen, die keine Furcht zeigten, weil sie voll und ganz auf das baute, was auch die verdammte Blutgräfin ausgemacht hatte. Sie würde kämpfen, und sie tat es. Die Lage eskalierte. Ich riskierte einen Blick um die Ecke. Es war Bewegung in die Szene gekommen. So rasch wie möglich zog ich mich zurück, weil ich Lisa Barton erkannt hatte. Nackt und auch mit blutbeschmiertem Körper hatte sie sich zur Flucht entschlossen. Tief in ihrem verdammten Herzen war sie feige. Falls sie ein Herz hatte und keinen Stein. Wie eine Horror-Figur kam sie mir vor, als sie die Stufen der Treppe nahm. Ihr Fluchtweg war gut gewählt. Die anderen waren beschäftigt. Sie atmete heftig, und zwischendurch hörte ich immer wieder ein hässliches Lachen. Ich sah sie erst, als sie die Treppe hinter sich gelassen hatte und in den Folterraum lief. Mich hatte sie nicht entdecken können, weil ich im toten Winkel stand. Ich ließ sie zwei Schritte weiterlaufen, dann trat ich aus meinem Schutz hervor und sagte nur ein Wort. »Stopp!« Dieses Wort war für Lisa Barton der berühmte unsichtbare Schlag ins Gesicht. Zwar war sie voll und ganz auf ihre Flucht konzentriert gewesen, aber die fremde Stimme hatte sie aus ihren Träumen gerissen. Sie blieb stehen. Sie ruderte dabei mit den Armen, wie jemand, der auf einer glatten Fläche leicht ausgerutscht war und nun um Gleichgewicht ringt. So schaurig die Umgebung hier in der alten Folterkammer auch war, Lisa übertraf sie mit ihrem Aussehen bei weitem. Ich bekam es zu sehen, als sie sich auf der Stelle drehte. Wir starrten uns an. Nein, sie war keine Puppe, die man mit Blut bestrichen hatte. Sie blutete auch nicht aus sich heraus, wie ich es vor ein paar Monaten bei der Steinfigur der Bernadette erlebt hatte, an diesem verdammten Körper klebte das Blut fremder Menschen. Als ich sie zum ersten Mal in voller Größe sah, da durchfloss mich ein kaltes Gefühl. Es war nicht einmal eine Hassreaktion. Es war einfach nur dieser menschliche Schauder, weil ich nicht fassen konnte, dass jemand diesen Weg beschritt. Ich hatte verdammt viel erlebt. Es war auch alles auf irgendeine Weise okay gewesen, wenn es sich dabei um dämonische Feinde gehandelt hatte. Das war bei Lisa nicht der Fall. Sie war trotz allem noch ein Mensch und hatte nur den falschen Weg eingeschlagen.
Seite 73
Den Schreck hatte sie überwunden und stellte mir auch eine sehr menschliche Frage. »Du bist der zweite Bulle, wie?« »Gut geraten!« »Willst du mich aufhalten?« »Das ist mein Beruf. Ich bin dafür verantwortlich, dass Mörder oder Mörderinnen hinter Gitter kommen. Und Sie, Lisa, haben den Tod der beiden Frauen auf dem Gewissen. Sie haben sie nicht selbst getötet, das will ich gar nicht behaupten, aber Sie haben dafür gesorgt, dass sie so aus dem Leben geschieden sind. Sie haben einfach zu viel Blut verloren. Sie konnten nicht überleben.« »Ihr Pech!« »Ich wusste, dass Sie es so sehen würden. Aber Ihr Weg ist beendet, Lisa!« Ich hatte mich nicht aufgeregt. Ich hatte ruhig gesprochen, obwohl es in mir anders aussah. Und ich hatte es mit meinen Worten geschafft, ihren Panzer der Sicherheit etwas bröckeln zu lassen. Es war plötzlich still zwischen uns. Nur aus dem Raum weiter unten hörte ich Geräusche, von denen ich mich nicht ablenken ließ. Lisa hatte längst ihre Freundin Silvia entdeckt, die leblos auf dem Boden lag. »So bin ich nicht, Bulle. Keine Sorge, ich bin anders.« »Weiß ich. Du bist feige!« Ich wollte sie provozieren, und ich schaffte es auch. Sie sah aus, als wollte sie mich anspringen, dann aber zog sie sich mit einer blitzschnellen Bewegung zurück. Ich hatte meine Beretta weggesteckt, denn auch Lisa war nicht bewaffnet gewesen. Das änderte sich in den folgenden Sekunden. Bevor ich mich versah, hatte sie sich eine Waffe geschnappt. Es war eine Folterlanze, die sicherlich im Feuer noch heiß gemacht wurde, bevor sie in Aktion trat. Als sie die Waffe festhielt, da sah ich zum ersten Mal eine Regung in ihrem Gesicht. Hass strahlte mir entgegen. Ein menschenverachtender Hass, und sofort griff sie an. Sie stürmte auf mich zu. Die Distanz war nicht groß. Sie hätte mich rammen können, aber sie tat etwas ganz anderes. Sie schleuderte die Waffe nach vorn, um mich in Höhe des Gürtels zu treffen. Ich wich aus. Dennoch erwischte die Lanze meine Kleidung. Sie rammte durch meine Jacke an der Seite. Es riss mich durch ihr Gewicht in die Schräglage, und ich musste sie los werden. Als ich zugriff, trat mich Lisa. Der Fußtritt schleuderte mich auf die andere Seite. Die Lanze hatte nicht nur die Jacke aufgerissen, sondern auch die Tasche an der linken Seite. Zusammen mit dem Futter. Und durch diese Lücke war das Messer gefallen. Lisa Barton sah es. Und sie griff zu. So schnell, dass ich es nicht verhindern konnte. Aus ihrem Mund drang dabei ein schriller Triumphschrei. Sie zog sich zurück, um aus meiner Reichweite zu entkommen. Ich lag halb und saß halb am Boden. Eine nicht eben günstige Lage, aus der ich zuschaute, wie sie die Klinge aus dem Holzgriff zog und dabei vor Freude bibberte. »Kehle ... ich schneide dir die Kehle durch!« Sie fuchtelte mit dem Messer und visierte mich an. Das Engelsgesicht war noch immer ein Mensch, aber sie fühlte anders. In ihr musste ein Tier ausgebrochen sein, das sie in einen wahren Blutrausch versetzt hatte. Möglicherweise war sie wirklich vom elenden Geist der Bathory erwischt worden. Mit dem Messer in der Hand stürzte sie mir entgegen. Ich war durch die verdammte Behinderung noch nicht dazu gekommen, meine Pistole zu ziehen und wehrte mich zunächst mit den Füßen, die ich von links nach rechts schlug.
Seite 74
Damit geriet ich zwischen Lisas Beine. Sie stolperte, aber sie fiel auch hin. Ich riss die Arme hoch, winkelte sie an und versuchte, die Frau mit den Ellenbogen abzuwehren. Es gelang mir zwar, aber es gelang mir nicht völlig, denn die scharfe Klinge schlitzte den Jackenärmel auf, auch das Hemd darunter und hackte in die Haut. Ich stand unter einem derartig starken Stress, dass ich den Schmerz nicht spürte. Für mich ging es jetzt um das reine Überleben, denn Lisa sollte nicht gewinnen. Sie holte wieder aus. Da traf sie meinen rechten Fuß. Der Tritt brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte zurück. Es dauerte, bis sie sich gefangen hatte, und in dieser Zeit zog ich meine Beretta. Mit einer raschen Drehung fuhr Lisa Barton herum. Sie sah mich, aber sie sah auch meine Waffe. Sie senkte den Blick, sah das kleine Loch der Mündung, und dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, Bulle, du hältst mich nicht auf. Nicht mich. Nicht Lisa Barton. Ich gewinne immer, verstehst du?« »Gewonnen hat auch die Blutgräfin nicht!« »Darin unterscheide ich mich von ihr.« Plötzlich hatte sie kein Interesse mehr, mich anzugreifen. Sie schritt einfach zurück, und wenn sie so weiterging, würde sie den Ausgang erreichen. Entkommen lassen wollte ich sie nicht. Ich kam nur nicht so schnell auf die Beine, weil die Lanze in meiner Kleidung feststeckte und mich behinderte. »Keinen Schritt mehr!« »Leck mich, Bulle!« Ich brauchte keinen zweiten Befehl mehr zu geben. Lisa wollte es nicht anders. Sie drehte sich um. Sie rannte weg. Ich schoss! Es war genügend Helligkeit vorhanden, um auch zielen und das Ziel treffen zu können. Die Kugel schlug von hinten her in ihren rechten Oberschenkel hinein. Mitten im Lauf war Lisa erwischt worden. Zuerst hatte es ausgesehen, als würde sie noch weiterlaufen. Nach einem Schritt klappte sie zusammen und landete auf dem Boden. Lisa entkam mir nicht mehr. Ich erhielt die Zeit, mich von der verdammten Lanze zu lösen. Dabei riss ich noch ein Stück meiner Jacke ab, aber das war nicht tragisch. Ich ging auf Lisa zu. Noch immer misstrauisch, denn die Mündung der Waffe zeigte schräg nach unten. Sekunden später schon war mir klar, dass dieser Fall anders ausgegangen war und nicht meinen Wünschen entsprach. Ich würde Lisa Barton nicht mehr hinter Gitter bringen können. Sie lag auf dem Bauch. Ich schaute auf ihren Rücken. Aber ich sah auch die dunkle Flüssigkeit in Höhe der Kehle. Sie breitete sich in zwei Richtungen hin aus. Die rechte Hand war zusammen mit dem angewinkelten Arm unter dem Körper verborgen. Als ich Lisa drehte, sah ich den Grund. Sie hatte keine Chance mehr gesehen und sich selbst die Kehle durchgeschnitten. Ihr Gesicht hatte sich dabei kaum verändert. Es war bleich und wächsern. Die Schönheit war dabei so weit entfernt wie die Erde von der Sonne ...
Seite 75
»Bei dir ist auch alles in Ordnung, John?« Ich drehte mich, als ich Sukos Stimme hörte. Er war die Treppe hochgekommen und sah recht mitgenommen aus. »Bis auf einen Kratzer schon.« »Und Lisa?« »Hat sich selbst gerichtet. Du kannst es dir anschauen, wenn du willst.« »Nein, nein, lass mal. Ich muss mich um die anderen Frauen kümmern. Sie brauchen ärztliche Behandlung, und ich habe schon alles in die Wege geleitet.« »Gut.« Ich warf einen Blick auf Lisa. »Weißt du was, Suko?« »Nein.« »Manchmal verstehe ich die Menschen nicht.« Er lachte. »Da bist du nicht der Einzige. Ich bezweifle auch, dass man die Menschen je verstehen wird ... «
ENDE
Seite 76