Katharina Gröning Entwicklungslinien pädagogischer Beratungsarbeit
Katharina Gröning
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Katharina Gröning Entwicklungslinien pädagogischer Beratungsarbeit
Katharina Gröning
Entwicklungslinien pädagogischer Beratungsarbeit Anfänge – Konflikte – Diskurse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16999-6
Inhalt
Einleitung 1. Die Beratungsstellen der ersten Frauenbewegung vom Kaiserreich bis zur Machtergreifung 1933 1.1 Rechtsschutz für Frauen – die Gründung von Rechtsschutzvereinen und Rechtsschutzstellen der Frauenbewegung 1.2 Die Auskunftsstellen für Frauenberufe – Wurzeln der Berufsberatung in Deutschland 1.3 Die Sexualberatungsstellen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform 1.4 Die Beratungstätigkeit der sozialistischen Frauen 1.5 Theoretische Schlussfolgerungen 2. Psychopathie, Erbhygiene, Eugenik, Minderwertigkeit und Menschenökonomie. Eine Ideengeschichte von Beratung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2.1 Psychopathie 2.2 Minderwertigkeit 2.3 Menschenökonomie 3. Die Institutionalisierungsgeschichte der Erziehungsberatung in Deutschland 3.1 Funktionen und Aufgaben der Erziehungsberatung nach Freudenberger 3.2 Die Psychopathenfürsorgestellen als Analysator der Institutionalisierung der Erziehungsberatung 3.3 Das Verhältnis von Konstitutionsforschung, ärztlicher Profession und Institutionalisierung von Jugendsichtungsstellen und „Psychopathenfürsorge“ 3.4 Die Erziehungsberatung und die Entstehung des Heilpädagogischen Systems 3.5 Frühe Konflikte um die der Erziehungsberatung. August Aichhorns Ansatz
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3.6 Alfred Adler und die individualpsychologischen Beratungsstellen 3.7 Der Sonderweg der Jugendberatungsstellen 3.7.1 Die Schülerselbstmorde im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 3.7.2 Hugo Sauers einsamer Kampf um die Institutionalisierung einer freien Jugendberatung in Deutschland 3.7.3 Das Konzept der Jugendberatungsstellen 3.8 Erziehungsberatung in der NS-Zeit 3.9 Das Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie 4. Die Berufsberatung 4.1 Die Berufsberatung zwischen volkswirtschaftlicher Steuerung und pädagogischer Beratung 4.2 Die Berufsberatung im Schnittpunkt gegensätzlicher Interessen und Entwürfe 4.3 Berufsberatung als Teil einer ökonomischen und rationalen Lebensführung – zu Paul Oestreichs Menschenökonomie (1916) 4.4 Aloys Fischers Ansatz zur Berufswahl und Berufsberatung aus pädagogischer Sicht 4.5 Berufsberatung und Psychotechnik 4.6 Die Zentralisierung der Berufsberatung durch das Reichsarbeitsamt und die Idee der Berufslenkung 5. Die Sexualreformbewegung und Sexualberatungsstellen 5.1 Die Sexualreformbewegung und ihre Beratungskonzepte 5.2 Die Beratungsstellen der Gesellschaft für Sexualreform (Gesex) in Berlin 5.3 Die Sexualberatung als pädagogische Beratung 5.4 Erbhygiene, Rassenhygiene und die Sexualberatung 5.5 Die Eheberatung 5.6 Eheberatung unter dem Dach der Kirche 5.7 Von der Eheberatung zur Sexualüberwachung – Verstaatlichte Beratung für Paare im NS 6. Entwicklungslinien der Pädagogischen Beratung nach 1945 6.1 Die Erziehungsberatung nach 1945 6.2 Wege der Erziehungshilfe 1940 und 1952
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6.3 Der Wiederaufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland und seine Bedeutung für die Wege der Erziehungsberatung 6.4 Die Child Guidance Kliniken 6.5 Die Berufsberatung nach 1945 6.5.1 Der DVB – Deutscher Verband für Berufsberatung e.V. 6.6 Die Sexualberatung nach 1945 6.7 Die gesunde Familie – der Kongress der IPPF 1957 in Berlin 6.8 Die Pro Familia in Hessen 6.9 Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung 7. Beratungsdiskurse in der Pädagogik von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart 7.1 Pädagogische Beratung als Hilfe zur Mündigkeit – das Projekt der 1960er Jahre 7.2 Pädagogische Beratung als kritische Bildungsberatung 7.3 Die 1970er Jahre – Pädagogische Beratung und Pädagogische Psychologie 7.4 Ein zweiter Versuch einer Konzipierung und Bestimmung von Pädagogischer Beratung durch das Funkkolleg Beratung in der Erziehung 8. Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Theoriebildung und die Praxis der pädagogischen Beratung 8.1 Die feministische Therapie, ein neues Beziehungsangebot für Frauen 8.2 Die Beratung nach § 218 StGB 8.3 Gewalt gegen Frauen 8.4 Beratung im Frauenhaus 8.5 Feministische Institutionskulturen und ihre Auswirkungen auf beraterische und helfende Professionen 8.6 Weitere Einflüsse der Frauenberatung auf die pädagogische Beratung 8.7 Die Bedeutung der feministischen Beratung für die Erziehungswissenschaft 9. Weitere Einflüsse und Diskurse 9.1 Die Therapiekritik und die Forderung nach einer alltagsorientierten, pädagogischen Beratung
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9.2 Der Einfluss des Lebensweltkonzeptes und der Alltagstheorie auf die pädagogische Beratung 9.3 Das Problem der Sozialberatung und die Professionalität der Sozialpädagogischen Beratung 9.4 Der Einfluss systemischer Konzepte auf die pädagogische Beratung 9.5 Ausblick: Fragestellungen und Probleme einer interdisziplinären Beratungswissenschaft
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Literatur
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Einleitung
Die vorliegende Schrift stellt einen ersten Entwurf zu den Entwicklungslinien der pädagogischen Beratung dar. Vorgegangen wurde dabei vor allem im Sinne einer Nachzeichnung historischer Entwicklungen und Institutionalisierungsprozesse, d. h. die Argumentation differenziert Epochen und Konjunkturen pädagogischer Beratung, und zwar vom Beginn der nachweisbaren Institutionalisierung von Beratung im Kaiserreich bis zur Gegenwart. Es wurde der Versuch unternommen, möglichst kontinuierlich und übersichtlich zu schreiben, d. h. es gibt keine Auslassungen, die bei der Reflexion von Professionalisierungsgeschichte und Institutionalisierungsgeschichte eigentlich üblich bzw. häufig sind. Weder ist die NS-Zeit ausgespart worden, noch die Nachkriegszeit, obwohl sich der Diskurs um pädagogische Beratung eigentlich erst seit den 1960er Jahren abzeichnet. Die gewählte Herangehensweise macht es erforderlich, vor allem die frühen Entwicklungen der pädagogischen Beratungsformen ideengeschichtlich und institutionell nachzuvollziehen. Folgt man allein dem Diskurs der Erziehungswissenschaft zu ihrer eigenen Beratungsform im Feld der Kinder- und Jugendarbeit oder der Erziehungsberatung, so erhält man den Eindruck einer sehr kurzen und keineswegs überzeugenden Konjunktur. Die pädagogische Beratung taucht in den 1960er Jahren durch eine Schrift von Müller und Mollenhauer professionell unter der Überschrift von Beratung als Aufklärung auf, erhält ihren Höhepunkt während der Konjunktur der Bildungsreform und der Modernisierung von Bildung und Erziehung in den 1970er Jahren und kann sich bei der Umsetzung neuer Schulformen als Bildungsberatung und sozialpädagogischer Beratung einer kurzen Aufmerksamkeit in der Erziehungswissenschaft erfreuen. Dann verschwindet die pädagogische Beratung so wie auch die Bildungsreform weitgehend verschwindet und sich ein fünfgliedriges Schulsystem wieder einmal politisch durchsetzt. Vorsichtige Verbindungen zur Erziehungsberatung, die als heilpädagogische Beratung weit weg von der Erziehungswissenschaft zu existieren scheint, unternimmt eigentlich nur Hornstein (1977) in seinem Aufsatz im Band des Funkkolleg „Beratung in der Erziehung“, jedoch auch hier dominieren klinische und psychologische Beratungsverständnisse, auch wenn ein Anlass für die Rezeption und Reflexion von Beratung in der Erziehung, in der Konjunktur der amerikanischen Counseling Theorien liegt, die von Junker (1977) im gleichen Band gewürdigt werden. Die Erziehungswissenschaft hat bis heute keine hinreichende Bearbeitung des Themas pädagogische Beratung geleistet. Weder ist die Gründungsphase der Beratungsstellen im Kaiserreich und in der Weimarer 9
Republik erforscht und aus der Perspektive einer sozialwissenschaftlich fundierten Erziehungswissenschaft reflektiert worden, noch ist das Schicksal von Erziehungsberatung, Berufs(wahl)beratung und Sexualberatung, hier vor allem der sexualpädagogischen Beratung in der NS-Zeit, ein Thema für die Erziehungswissenschaft. Die Beratung scheint ganz weit weg von der Pädagogik institutionalisiert zu sein. Der bescheidene Fokus auf Bildungsberatung und Schullaufbahnberatung, den die Erziehungswissenschaft in den 1970er Jahren im Rahmen des Funkkollegs einnimmt, ist kaum ein überlebensfähiger Torso, denn die großen Beratungsformen haben sich längst institutionalisiert. Die Impulse der amerikanischen Counseling Theorie kommen zu früh bzw. treffen nicht auf eine sich etablierende Beratungsprofession, sondern auf Professionen und Institutionen, die sich zwar beratend nennen, aber doch zumeist klinisch und therapeutisch verstehen und so versandet der Versuch, eine pädagogische Beratung zu bestimmen. Eigentlich wird diese erst durch die Professionalisierung von nicht klinischen Beratungsformen wie Supervision wieder für die Pädagogik interessant. Und noch etwas: zweimal übersieht die Erziehungswissenschaft den großen Beitrag, den die Frauenbewegung bei der Professionalisierung der Beratung innehatte – einmal in der Zeit des Kaiserreichs und dann wieder bei der Professionalisierung der Beratung durch die feministische Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren. Pädagogische Beratung – ihre Anfänge – ihre Konfliktlinien Erziehungsberatung, sexual(pädagogische) Beratung und schließlich die Berufs(wahl)beratung sind Beratungsformen für Kinder, Jugendliche und Eltern, sowie für junge Erwachsene, die wegen ihrer Zielgruppen und des eindeutig pädagogischen Bezuges im Sinne einer hohen Nähe zur Bildung, zur Erziehung, zur Aufklärung und zum Lernen zu Recht als pädagogische Beratungsformen bezeichnet werden können. Erziehungsberatung ist sicherlich genauso eng mit Eltern- und Familienbildung verknüpfbar, wie mit Psychotherapie und Psychiatrie. Sexualberatung ist zum einen Sexualaufklärung, zum anderen verbunden mit Sexualpädagogik und Prävention und schließlich ist Berufsberatung ohne Schulbezug und Bezug zur Allgemeinbildung wie auch zur Berufspädagogik eigentlich schlecht denkbar. Obwohl natürlich alle drei Beratungstypen den gesamten Lebenslauf im Auge haben, so sind sie doch gerade in der Lebensphase Kindheit und Jugend fest institutionalisiert und damit im pädagogischen Raum angesiedelt. Am deutlichsten werden Jugendliche von der Berufsberatung erfasst. Alle Schulabgänger kommen in einem Alter ab 14 Jahren mit ihr ein- oder mehrmals in Berührung.
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Trotz dieser hohen Affinität zwischen Berufsberatung, Sexualberatung und Erziehungsberatung und Pädagogik werden alle drei Beratungsformen heute kaum von Pädagoginnen und Pädagogen ausgeübt oder als pädagogische Beratungsformen angesehen. Für die Berufsberatung gilt, dass sie lange eine geschlossene Beratungsform mit eigenen Ausbildungsstätten der Bundesanstalt für Arbeit war. Bedeutend für diese Entwicklung sind die starke Verstaatlichung der Berufsberatung und ihr besonderes Verhältnis zur Zuweisung von Ratsuchenden in den Arbeitsmarkt. Die Berufsberatung ist sicherlich die am stärksten bürokratisierte und volkswirtschaftlich beeinflusste Beratungsform in der pädagogischen Beratung. Dass sie sich heute individualisiert und biografisiert, das heißt in Form von Karriereberatung, Bildungs-Coaching und Supervision oder im Rahmen der Jugendberufshilfe neue Wege in der Berufsberatung gesucht werden, eröffnet für die Pädagogik nicht nur neue Chancen, sondern auch einen Raum über diesen Beratungstypus aus pädagogischer Sicht zu reflektieren. Dies steht allerdings erst am Anfang. Heute ist Berufsberatung zumeist Employability, d. h. eine Verhaltensbeeinflussung von Jugendlichen für den Arbeitsmarkt. Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten zumeist im Rahmen standardisierter Programme, nicht im Rahmen von Beratung. Für die Erziehungsberatung gilt, dass Pädagogen und Pädagoginnen hier als Berufsgruppe gar nicht und als Personen kaum vorkommen, vielmehr ist die Erziehungsberatung in ihrem Kernbereich eigentlich Einzel-, Spiel- und Familientherapie bzw. psychologische Beratung für Erziehende und Familien. Erziehungsberatung ist zudem gegenüber der Familienbildung unabhängig und zumeist nicht einmal vernetzt. Ist die Berufsberatung die am stärksten verstaatlichte Form der pädagogischen Beratung, so gilt für die Erziehungsberatung, dass sie die am stärksten psychiatrisierte Beratungsform ist. Für die Ehe- und Sexualberatung ist wiederum typisch, dass sich die Pädagogen und Pädagoginnen vorwiegend im Präventionsbereich, in der Sexualpädagogik sowie im Bereich der Schwangerschaftskonfliktberatung aufhalten. Hier kommt ihnen eine gewisse Affinität der Pädagogik mit aufklärenden und gesellschaftskritischen Beratungsformen zu Gute, zu denen auch die feministische Beratung gehört. In der Eheberatung sind Pädagoginnen und Pädagogen dagegen selten. Diese marginale Stellung der Pädagoginnen und Pädagogen in der pädagogischen Beratung hat Auswirkungen für das Berufsfeld Beratung in der Pädagogik insgesamt und lässt sich eigentlich nur historisch verstehen. Dazu ist die vorliegende Arbeit ein erster Versuch, eine Skizze mit dem Ziel Entwicklungslinien und Standorte pädagogischer Beratung nachzuzeichnen. Die Lage der Literatur
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und der Stand der Forschung sind zum Thema Geschichte der Erziehungsberatung, der Berufsberatung und der Ehe- und Sexualberatung teilweise gegeben, teilweise extrem verkürzt. Ist ein Forschungsstand vorhanden, so handelt es sich um einzelne herausgehobene Projekte. Hervorzuheben sind hier Arbeiten aus dem Bereich der Geschlechterforschung, der Psychiatrieforschung oder auch der Professionsforschung. Jedoch fehlen Arbeiten, die Erziehungsberatung, Ehe- und Sexualberatung, und schließlich Berufsberatung in ihren Anfängen und frühen Entwicklungslinien miteinander vergleichen und in Beziehung setzen. Gleichzeitig fehlt eine Reflexion und Bewertung dieser drei Beratungsfelder in professionssoziologischer Hinsicht. Für die Situation der Beratungsstellen heute ist zudem zu diskutieren, welche Auswirkungen die Professionsbestrebungen der in den Beratungsstellen tätigen Berufsgruppen auf die Vernetzung von Beratungsstellen bzw. umgekehrt auf ihre Verinselung haben. Profession und Institutionalisierung sind hier besonders wichtige Stichworte. Hinsichtlich der Forschungslage im Einzelnen gilt, dass für das Thema der Sexual- und Eheberatung für die Zeit der Weimarer Republik als auch für den Nationalsozialismus mit der Dissertationsschrift von Kristine von Soden (1988) zum Thema: „ Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik“ und mit der Studie von Gabriele Czarnowski (1991): „Das kontrollierte Paar“ zwei sehr systematische und ausführliche Monografien vorliegen, die ein fundiertes Bild über die Professionalisierungsentwicklung, Institutionalisierung, Beratungsverständnisse und vor allem das Verhältnis von Beratung und Politik für das Arbeitsfeld Sexual- und Eheberatung geben. Beide Studien sind aus der Perspektive einer kritischen Erziehungswissenschaft bzw. aus der Perspektive kritischer, feministischer Sozialforschung verfasst. In diesen Kontext gehört auch die Dissertationsschrift von Louisa Sach (2006) über Ilse Szagunn und die evangelischen Eheberatungsstellen während der NS-Zeit und im Nachkriegsdeutschland, sowie die Forschungsarbeit zur Biografie von Helene Stöcker und den Bund für Mutterschutz und Sexualreform von Gudrun Hamelmann (1992). Schließlich ist die Studie von Johannes Donhauser (2007) zum Gesundheitsamt in der NS-Zeit für das Thema Eheberatung bedeutend. Dabei stellt sich die hauptsächliche Entwicklungslinie im Bereich der Eheund Sexualberatung als Konflikt zwischen erbhygienischer Kontrolle und Eugenik auf der einen Seite und Traditionen und Kulturen emanzipatorischer Sexualreform, vor allem in der Zeit der Weimarer Republik, auf der anderen Seite dar. Wie in keinem Arbeitsfeld ist die Institutionalisierung der Sexualberatung als Ausdruck der Sexualreformbewegung auf der einen Seite zu sehen, auf der anderen Seite ihre Einvernahme in rassenhygienische Programme und Konzepte zu
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beklagen – und zwar lange vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten (vgl. von Soden 1988). Dort wo Menschen am verletzlichsten und beschämbarsten sind, ist, foucaultianisch gesprochen, der Ort von Macht und Politik. Für die Forschungslage bedeutend sind zudem die aktuellen Forschungsarbeiten von Dagmar Hänsel zur kritischen Geschichte der Heilpädagogik aus der Sicht der Schultheorie. Hänsel wählt einen netzwerk- professions- und akteurstheoretischen Forschungsbezug, der Entwicklungstrends einerseits systemtheoretisch fasst, andererseits die professionellen Mythen aufnimmt. Für Hänsel sind die Publikationen der Heil- und Sonderpädagogen in der Weimarer Republik zu ihrem Gegenstand durch und durch interessengeleitet und orientiert an der Profilierung und Unabhängigkeit der jeweiligen Profession (vgl. Hänsel 2008). Hänsels wissenschaftlicher Fokus lässt dann auch Publikationen, die im Umfeld der Beratungsverbände erschienen sind, wie „100 Jahre Erziehungsberatung“ und „Berufsberatung einst und jetzt“ eher in einem kritischen Licht erscheinen, da diese Publikationen die Annahme einer „Stunde Null“ in den Mittelpunkt ihrer Reflexion stellen. Sie alle gehen davon aus, dass Gleichschaltung, Lenkung, Rassenhygiene und Selektion in der NS-Zeit begonnen haben und einhergegangen sind mit der Deinstitutionalisierung der Beratung. Nach 1945 habe die Beratung dann durch die Alliierten eine Neubestimmung erfahren und sei dem internationalen Diskurs angeschlossen worden. Entgegen dieser Schreibweise zur Geschichte der Ehe-, Sexual- und Erziehungsberatung ist beachtenswert, dass sich der rassenhygienische Zweig der Sexualberatung als Eheberatung und Ehefähigkeitsberatung bereits früh in den Gesundheitsämtern des Kaiserreichs und der Weimarer Republik institutionalisieren konnte (Czarnowski 1991). Ähnliches gilt auch für die Erziehungsberatung, für ihre Wurzeln in den Jugendsichtungsstellen und für ihr Konzept der heilpädagogischen Beratung. Die Position, dass allein die NS-Zeit wie eine Art Unglück die rassistischen und eugenischen Einstellungen und Ressentiments im Bereich der Eheberatung, der Sexualberatung und der Erziehungsberatung befördert habe, und dass diese am Ende der NS-Zeit genauso sang- und klanglos wieder verschwunden seien wie sie zu Beginn der NS-Zeit aufgetaucht sind, ist schwer aufrechtzuerhalten, wenn die Forschungslage genauer betrachtet wird. Auch im Bereich der Beratung existiert der Mythos der Stunde Null (z. B. vgl. BKE, 100 Jahre Erziehungsberatung, Klug/Menne 2006). Vielmehr muss eingeräumt werden, dass es, getragen von ganzen Berufsgruppen, ein selektierendes, erbhygienisches und instrumentelles Denken gab, welches in Begriffen wie Minderwertigkeit und Psychopathie seinen aggressiven Ausdruck fand. Dieses Denken gilt ganz besonders für die Eheberatung und für die Erziehungsberatung,
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während sich die Berufsberatung zwar mit anderen, nämlich psychotechnischen Mitteln, jedoch mit ausgewiesener Allokationsfunktion von einer demokratischen personenzentrierten Beratung in ihren Anfängen, zur technisch verstaatlichten Zuweisung in der Weimarer Republik bis zur antidemokratischen Berufslenkung in der NS-Zeit entwickelt hat. So wie Ehe- und Sexualberatung sich in einer Doppelstruktur zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, spiegelt sich das Dilemma von Lenkung, Strafe, Vermessung und Kontrolle auf der einen Seite und Beratung als Sorge und als hermeneutischer Prozess des Verstehens, Unterstützens und Haltens auf der anderen Seite, auch in der Geschichte der Erziehungsberatung. Allerdings verläuft die Institutionalisierung und Konzeptualisierung der Erziehungsberatung hier nicht als Widerspruch zwischen einem quasi verstaatlichten Beratungsangebot auf der einen Seite und einem von einer sozialen Bewegung getragenen Angebot auf der anderen Seite. Vielmehr zeigen sich große Unterschiede in der Institutionalisierung und Praxis der Erziehungsberatung zwischen Deutschland und Österreich, sowie ein Konflikt zwischen dem Konzept der heilpädagogischen Beratung in den Jugendsichtungsstellen und heilpädagogischen Beratungsstellen, die als Vorläufer der Erziehungsberatung gelten und der Jugendberatung, bzw. dem Versuch der Institutionalisierung einer Jugendberatung durch Persönlichkeiten wie Hugo Sauer (1923) und Organisationen wie den Bund entschiedener Schulreformer. Während in Österreich Personen wie Viktor Frankl (2002), August Aichhorn und Alfred Adler (1972) die Erziehungsberatung prägen, wird sie in Deutschland zu einem Spezialgebiet der Psychiatrie konkreter der sich etablierenden Kinder- und Jugendpsychiatrie und einem heilpädagogischen System, welches sich hoch selektiv in den Schulen institutionalisieren kann und vor allem Kinder aus armen Verhältnissen, Kriegswaisen und traumatisierte Kinder trifft. Gleichzeitig wird die Erziehungsberatung zur Schöpfung einzelner herausgehobener Personen, die meist in hohen Ämtern und Würden als Medizinalräte oder Schulärzte die Erziehungsberatung ehrenamtlich oder neben ihrer eigentlichen Aufgabe betreiben. Mit wenigen Ausnahmen sind alle diese Personen Ärzte. Für die Geschichte der Erziehungsberatungsstellen ist die Dissertationsschrift von Sophie Freudenberger von 1928 eine wichtige Quelle, auch wenn die Verfasserin des Buches über „Erziehungs- und heilpädagogische Beratungsstellen“ aus einer traditionellen individualpsychologischen Position heraus geforscht hat und eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der Erziehungsberatung nur in Teilen leistet, teilweise sogar vermeidet. Sophie Freudenberger ist begeisterte Anhängerin eines individualpsychologischen Ansatzes in der Erziehungsbe-
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ratung nach Alfred Adler, sie ist ihrem Mentor, Leonard Seif, der 1922 eine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle in München eingerichtet hat, treu ergeben und grenzt sich deutlich von der Psychoanalyse Sigmund Freuds und ihrem Einfluss auf die Erziehungsberatung ab (vgl. z. B. Freudenberger 1928: 70-78 und 88-90). Entsprechend hadert sie auch mit August Aichhorn und seiner Theorie der Erziehungsberatung, wohin gegen sie gegenüber der deutschen Praxis, die Erziehungsberatung vor allem als Konstitutionsforschung zu betreiben, unkritisch und blind ist. Freudenberger liefert aber für die Forschung zur Erziehungsberatung nicht nur eine erste Systematik und Empirie, sie kommentiert ebenso Institutionalisierungsprozesse, Konfliktlinien und Begründungen der Erziehungsberatung in einer Ausführlichkeit, die es Leserinnen und Lesern ermöglicht, die verschiedenen Positionen inhaltlich nachzuzeichnen. Es gelingt Freudenberger ein deutliches Bild der Gründungsphase der Erziehungsberatung zu zeichnen, und sie macht Leserinnen und Leser vertraut mit dem Denken ihrer Zeit. Anders als aus heutiger Perspektive formuliert, ist die Institutionalisierung der Erziehungsberatung bei Freudenberger keine demokratische, fortschrittliche, moderne oder gar reformpädagogische Antwort auf die Hochkonjunktur der schwarzen Pädagogik zu Beginn des letzten Jahrhunderts (vgl. Keupp 1998: 14), sondern eine Antwort auf gesellschaftliche Zustände, die Freudenberger als Kulturkrise (1928: 5) bezeichnet. Diese Sichtweise erklärt auch die Dominanz der Psychiatrie in der Erziehungsberatung und die relativ untergeordnete Stellung der Psychoanalyse. Der Begriff der Kulturkrise bezeichnet auch etwas anderes als Beratung als Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierung wie es z. B. Großmaß (1998) formuliert und ebenso unterscheidet sich diese Perspektive von der Beschreibung von Erziehungsberatung als Gegenbewegung zum Konzept vom Erziehung als Strafe (BKE), auch wenn dies, zumindest teilweise, für die individualpsychologischen und für die psychoanalytischen Beratungsstellen reklamiert werden kann. Ebenso hat nach Freudenberger die Institutionalisierung von Erziehungsberatung als psychoanalytische Erziehungsberatung in Deutschland so nicht stattgefunden. Sie vermerkt in ihrer ersten Systematik, dass es in Deutschland keine psychoanalytischen Beratungsstellen gäbe! (Freudenberger 1928: 24). Die psychoanalytische Ausrichtung sei auf die Erziehungsberatungsstellen in Österreich beschränkt geblieben, so Freudenberger. Tatsächlich ist in Deutschland die Institutionalisierung der Erziehungsberatung viel stärker von der Heilpädagogik und der Idee der Selektion bestimmt, wie dies in Begriffen wie Jugendsichtungsstellen und Psychopathenberatungsstellen deutlich wird. Dies ist eine politische bzw. staatliche Antwort auf die Kulturkrise, von der Freudenberger zu Beginn ihres Buches spricht. Der österreichische Weg scheint sowohl
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hinsichtlich der Jugendberatung als auch hinsichtlich der Erziehungsberatung weniger verstaatlicht, weniger selektionsorientiert und mehr psychodynamisch orientiert gewesen zu sein. In der gegenwärtigen Literatur (z. B. Abel 1988), lassen sich bezüglich der Geschichte der Erziehungsberatung verschiedene Diskurstraditionen ausmachen. Zum einen wird die Erziehungsberatung als Prozess ihrer Institutionalisierung beschrieben. Sie erscheint als Abfolge der Einrichtung von Jugendsichtungs- und heilpädagogischen Beratungsstellen im Zeitraum von 1903 bis in die späten 1920er Jahre. Professionell betrachtet erscheint diese Institutionalisierung gleichzeitig als Konjunktur einer speziellen heilpädagogischen Sichtweise. Hierzu liegt mit der Dissertationsschrift von Michael Kölch (1996) eine psychiatriekritische Arbeit vor, die den psychiatrischen Diskurs zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Beziehung zur Institutionalisierung der Erziehungsberatung, speziell der so genannten Psychopathenfürsorge, setzt. Es gelingt Kölch aufzuzeigen, wie sehr das eugenische Denken auf der einen Seite, und die sich in der Weimarer Republik entwickelte sozialstaatliche Sichtweise beide für die Institutionalisierung von Beratung verantwortlich waren, und es auf der anderen Seite gelingt ihm ebenfalls aufzuzeigen, dass die Probleme der Kinder, vom nächtlichen Einnässen bis hin zum Schuleschwänzen und zur Hyperaktivität ganz ähnliche Probleme waren, wie heute. Wie auch in der Eheberatung, sind es die sich differenzierenden und gesellschaftlich aufstrebenden medizinischen Professionen, die das Feld der Erziehung besetzen und mit dem eigenen ärztlichen bzw. klinischen Blick sichten und selektieren. Sie prägen die Erziehungsberatung als medizinisch akzentuierte Heilpädagogik mit einer starken Ausrichtung am Pathologischen. Als Profession sind diese Professionellen verbunden mit der sich etablierenden sonderpädagogischen Sichtweise, wie dies in der Biografie des Lehrers und späteren Kinderpsychotherapeuten Carl Tornow (vgl. Hänsel 2008) sichtbar wird. Ein sehr schönes Beispiel für die Okkupation sozial motivierter erzieherischer Hilfe liefert Freudenberger (1928: 31-32) mit der Schilderung über die Beratungsstelle für schwierige Schülercharaktere in Stuttgart. Deren Träger sei zunächst das Hilfswerk der Lehrerschaft höherer Schulen gewesen. Das Ziel war die Unterstützung Not leidender Schüler in der Inflationszeit. Der Hilfsverband der höheren Schulen Württembergs war indessen bald überzeugt von der Notwendigkeit der psychischen und körperlichen Untersuchung der Schüler und fand mit Dr. G. A. Roemer einen entsprechenden Gründer und Leiter. Neben ausgedehnter medizinischanthropologischer Untersuchung führte Dr. G. A. Roemer Rohrschachttests und Tiefentests zur Erforschung des Charakters durch. Seine Arbeit dehnte sich auch
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auf Eignungstests für Industrie und Wirtschaft aus, was sich zur damaligen Zeit einer hohen Beliebtheit (vgl. dazu das Kapitel zur Psychotechnik) erfreute. Eine Gesellschaft für Persönlichkeitsforschung wurde 1926 gegründet, die dann zum Träger der Schülerberatungsstelle wurde. Gegenstand der Beratungsstelle wurde immer mehr Begabungsforschung und die Entwicklung von Prognosen hinsichtlich Schullaufbahn und Schulbesuch. Die Schülerberatungsstelle verwissenschaftlichte sich, Forschung und Beratung werden, wie an anderen Beratungsstellen auch, verknüpft und die Beratung selbst wird zum einen funktional und instrumentell auf ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel bezogen, hier Schullaufbahn, zum anderen verändert sie sich zu einer Art Eintrittsangebot für die Untersuchung und Erforschung von Schülern. Mit der Beratung werden vor allem Probanden gewonnen, deren Forschungsergebnisse ausgewertet werden können, diese Konzeption trifft auch auf die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg, die von Homburger 1917 gegründet wurde und auf die Jugendsichtungsstelle in Frankfurt/Main zu, gegründet 1916 von Walter Fürstenheim. In einem von Heinrich Meng (1959) herausgegebenen Buch zu August Aichhorn, unter dem Titel „Psychoanalyse und Erziehungsberatung“, setzt Aichhorn sich in einem Vortrag mit dem Titel „Die Verwahrlosung und die Wissenschaft“ mit dieser deutschen Psychiatrie und Heilpädagogik kritisch auseinander und kritisiert ihre Verwurzelung in der psychiatrischen und kriminologischen Disziplin. Die theoretische Konsequenz ist nach Aichhorn, dass die deutsche Heilpädagogik die Phänomene der Verwahrlosung und Erziehungsschwierigkeiten nicht wirklich erforschte, sondern ableitete, die praktische Konsequenz sei die Verteilung der Kinder in Fürsorgestellen und Maßnahmen und die Transformation der Erziehungsberatung in Sichtung (Aichhorn 1972, .S. 159-160). Ein weiteres wichtiges Feld mit ähnlichen Problemen und Widersprüchen in der Geschichte ihrer Institutionalisierung ist schließlich die Berufsberatung. Auch hier spielt das Vermessen und Erforschen von Personen eine wichtigere Rolle, als sie zu beraten. Entstanden durch die bürgerliche Frauenbewegung im 19. Jahrhundert als Auskunft für berufssuchende Frauen (Ostendorf 2000), wird die Professionalisierung und Institutionalisierungsgeschichte der Berufsberatung von folgenden Konfliktlinien geprägt: Zum einen spiegelt sich hier das Problem von Beratung und Institutionalisierung wider, denn durch die Einrichtung des Reichsarbeitsamtes in der Weimarer Republik entsteht ein einzigartiges Monopol auf Berufsberatung. Gleichzeitig werden innerhalb dieser monopolisierten Beratung die Berufslenkung und die Arbeitsvermittlung zum dominierenden Ziel, gegenüber der Berufsfürsorge und der Beratung. Die Berufsberatung wird Teil der Arbeitsvermittlung und von anderen möglichen Verknüpfungen, wie zum
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Beispiel der Bildungsberatung, gekappt. Bis weit in die 1990er Jahre hatte die Bundesanstalt für Arbeit auch die alleinige Verantwortung für die Ausbildung von Berufsberatern inne. Eine zweite Konfliktlinie um das Thema Beratung und Professionalisierung entsteht im Bereich der Berufsberatung durch die Hochkonjunktur der Psychotechnik, einer speziellen Wissenschaftsauffassung und Wissenschaftspraxis in der jungen und ebenfalls aufstrebenden Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem entwickelten Instrumentarium, insbesondere der Eignungsdiagnostik. In der Literatur wird die Psychotechnik als Vorläuferin der Arbeitspsychologie beschrieben. Sie bedient sich vor allem empirischer Messverfahren zur Messung von Eignung, Belastbarkeit und Empfindlichkeit hinsichtlich Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatz. Die Berufsberatung erlebt so den Konflikt zwischen Beratung und Berufslenkung wie auch den Konflikt zwischen personenzentrierter Beratung und funktionaler Diagnose, ein geradezu klassischer Konflikt im Arbeitsfeld Beratung. Betrachtet man die Entwicklung der Beratung in der NS-Zeit, so zeigen sich Zuspitzungen und Zentralisierungsprozesse. Wie die Eheberatung im Bereich der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik wird die Berufsberatung im Nationalsozialismus zentralisiert, während die Sexualberatungsstellen zerschlagen bzw. als Eheberatungsstellen unter der Perspektive einer nationalsozialistisch bestimmten Erbhygiene und Rassenpflege weitergeführt werden. Nach Einschätzung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung werden die Erziehungsberatungsstellen deprofessionalisiert. Insgesamt ist im Umgang gerade der Verbände mit der NS-Zeit ein größeres Forschungsdefizit zu beklagen, vor allem fehlen konsequente Schlussfolgerungen aus dem durchaus vorhandenen Material. Für die Wiedereinrichtung der pädagogischen Beratung nach 1945 sind dies sehr unterschiedliche Voraussetzungen, die die Arbeit der Beratungsstellen nach 1945 stark beeinflussen Insgesamt sind die Anfänge der pädagogischen Beratung ein spannendes, theoretisch wie politisch sehr konfliktreiches Stück Wissenschafts- und Professionalisierungsgeschichte. Sie spiegeln das Problem des modernen Denkens, zum einen als Fortschritt der instrumentellen Vernunft im Sinne des Denkens einer Epoche. Daneben stehen ebenfalls Denk- und Diskurstraditionen des hermeneutischen Verstehens, der Emanzipation und der Menschen-, Frauen- und Kinderrechte. Hinsichtlich der Institutionalisierungsgeschichte der Beratungsstellen zeigt sich diese als Ausdruck von Professionspolitik auf der einen Seite und Verstaatlichung der Beratung auf der anderen Seite in relativer Unabhängigkeit von den Bedürfnissen der Klienten. Auch wenn die Gründer und Pioniere der Beratungsstellen von sich behaupten mögen, dass sie vorwiegend advokato18
risch und im Dienste ihrer Klienten gehandelt hätten, so kann durch die starke Verknüpfung der Beratung mit der Forschung und der Einleitung von Maßnahmen angenommen werden, dass fürsorgliche und moralische Prinzipien kaum leitend waren. Sehr deutlich wird, dass die Klienten zumeist Objekt der Wissenschaft waren, wenn sie als Ratsuchende in die Beratungsstellen gingen. In wenigen Fällen, wie z. B. in Heidelberg, haben wir es mit direkter Zwangsberatung zu tun. In den folgenden Abschnitten wird der Versuch unternommen, die für die einzelnen Beratungsfelder relevanten Einflüsse darzustellen. An erster Stelle stehen dabei der erbhygienische, später rassenhygienische Diskurs, die Psychotechnik und die Eugenik. In den weiteren Abschnitten wird der Versuch unternommen die Institutionalisierung der pädagogischen Beratung aus einer historischen Perspektive nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt der vorliegenden „Entwicklungslinien“ liegt sicherlich auf der Zeit von 1900-1933. die Nachkriegszeit und die 1950er Jahre werden vor allem unter der Perspektive der Restaurierung tradierter Diskurse und Konzepte kritisch diskutiert. Zwischendurch werden in die Reflexionen Porträts und Personen eingeführt, sofern sie für den Institutionalisierungsdiskurs oder für die Ideengeschichte eine wichtige Bedeutung haben. Die Abschnitte ab den 1960er Jahren werden in 10 Jahres-Epochen dargestellt. Dabei wird der Beitrag der Frauenbewegung in die Zeitabschnitte der 1970er, der1980er und der 1990er Jahre eingearbeitet. Der Abschluss der Arbeit bildet einen Ausblick über beratungswissenschaftliche Fragestellungen innerhalb der pädagogischen Beratung. Dieses Buch wendet sich vor allem an die Studierenden der Erziehungswissenschaft in den Universitäten und Fachhochschulen. Es handelt sich nicht um einen Ratgeber in Sachen Beratungsmethoden und Beratungstechnik, sondern um die Reflexion zumeist sehr verdeckter und impliziter Professionskonflikte. Angesprochen sind dementsprechend vor allem Studierende, die planen, sich im Feld der pädagogischen Beratung zu professionalisieren. Ich widme dieses Buch auf Wunsch meiner Tochter meinen geliebten Kindern Vikas und Jessica.
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1. Die Beratungsstellen der ersten Frauenbewegung vom Kaiserreich bis zur Machtergreifung 1933 Ideengeschichtlich und institutionell ist die Geschichte einer aufklärenden und emanzipatorischen Beratung eng verknüpft mit der Praxis der ersten Frauenbewegung in Deutschland, obwohl dies in der Beratungswissenschaft kaum eine Rolle spielt. An herausragender Stelle der Beratungstätigkeiten der ersten Frauenbewegung stehen Persönlichkeiten wie Helene Stöcker, die Gründerin des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform, Josefine Ley-Rathenau, die Begründerin der Berufsberatung und Marie Stritt, die die erste Rechtsschutzstelle für Frauen in Dresden ins Leben gerufen hatte (Schröder 2001: 63) und gleichzeitig Mitverfasserin des von Gertrud Bäumer und Helene Lange herausgegebenen Handbuches der Frauenbewegung ist. Diese drei Beratungsfelder lassen sich historisch eindeutig und konzeptionell abgegrenzt von den sozialen Hilfstätigkeiten und der Fürsorge definieren. An vielen Punkten verschmilzt Beratung jedoch mit sozialer Arbeit und Fürsorge und hat weniger einen aufklärenden, sondern vielmehr einen helfenden deutlich normativen Charakter. Im folgenden werden Sexualberatung des Bundes für Mutterschutz, die Berufsberatung der deutschen Frauenbewegung und die Rechtsschutzstellen systematisiert und hinsichtlich der Beratung konkretisiert, wobei das Beratungskonzept, die Beratungshaltung und der Beratungskontrakt besonders diskutiert werden. So gut wie es geht, wird versucht, diese Beratung von den „sittlichen“ Bestrebungen der Frauenbewegung abzugrenzen und in Zusammenhang mit den jeweiligen politischen Ansprüchen der Beraterinnen zu bringen.
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1.1 Rechtsschutz für Frauen – die Gründung von Rechtsschutzvereinen und Rechtsschutzstellen der Frauenbewegung Im Januar 1894 wurde in Dresden der erste Rechtsschutzverein für Frauen von Adele Gamper und Marie Stritt gegründet – und zwar, wie Marie Stritt (1901: 123) schreibt, auf Initiative von Emily Kempin, der ersten habilitierten Juristin in der Schweiz, die zeitlebens um ihr Recht auf Berufsausübung kämpfte und daran schließlich zerbrach. Der Rechtsschutzverein für Frauen in Dresden wollte „dem dringenden Bedürfnis“ von Frauen nach Rechtsberatung Rechnung tragen und Frauen und Mädchen aller Stände Gelegenheit bieten, sich in Rechtsschutzfragen unentgeltlich Rat zu holen. Nach Schröder (2001: 65) kann von einer Rechtsschutzbewegung gesprochen werden, denn die von den Rechtsschutzvereinen angebotene Beratung für Frauen fand einen breiten Zulauf. Die Vereine vernetzten sich mit niedergelassenen Rechtsanwälten, um bei Bedarf Rechtsschutz sicherzustellen. Im Durchschnitt, so Stritt (1901: 126) kämen acht bis neun Frauen in die zweimal wöchentlich angebotene Sprechstunde. Die ratsuchenden Frauen rekrutierten sich aus allen Ständen, wobei die große Mehrheit die so genannten unterbemittelten Stände waren. An erster Stelle stehen nach Marie Stritt Ehestreitigkeiten mit 24.% der Fälle, gefolgt von Schuldforderungen (13 %), Mietangelegenheiten (12 %) und Ansprüche nicht ehelicher Kinder mit 8,5 %, weitere Beratungsanlässe seien, Erbangelegenheiten, Beleidigungen etc, die jedoch nur gering ins Gewicht fallen. In der überwiegenden Zahl der Fälle erteilt der Verein eine einmalige Auskunft und sieht seine Tätigkeit mediatorisch darin, Prozesse zu verhindern. Stattdessen wird praktisch Hilfe geleistet, indem durch persönliche und schriftliche Intervention durch einen Rechtsanwalt, Streitigkeiten geschlichtet, ein Vergleich und Ausgleich angestrebt wird und ggf. im Auftrag der Klientin Eingaben und Gesuche verfasst und eingereicht werden. Im Falle von Finanznot übernimmt der Rechtsschutzverein für Frauen die Anwaltskosten. Vieles von dem, was Marie Stritt über die Beratung in den Rechtschutzstellen weiterhin aussagt, erinnert an die Beratungsform der Mediation. „Zunächst sind, wie die Erfahrung sehr bald lehrte, bei den meisten in den Sprechstunden vorkommenden Fällen fachjuristische Kenntnisse nicht unbedingt erforderlich. Der gesunde Menschenverstand, der weitere Horizont, das Übergewicht ihrer höheren Bildung und ihrer größeren gesellschaftlichen Freiheit, die durch fleißiges Selbststudium erworbene Gesetzeskenntnis und die reiche praktische Erfahrung der Dienst tuenden Frauen genügen meistens, um sich der oft ganz unglaublichen Unwissenheit und Hilflosigkeit der Geschlechtsgenossinnen aller Stände in Bezug auf die einfachsten Rechtsverhältnisse und Rechtsanwendungen hilfreich zu erweisen.“ (Stritt 1901: 127)
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Dass Frauen Frauen beraten, ist für Stritt selbstverständlich, da dieses Beratungsverhältnis vertrauter sei. Stritt (1906: 127) spricht von einem unter Frauen noch seltenen, weil nie geweckten und gepflegten Solidaritätsbewusstsein, welches wiederum ein außerordentlich positives erzieherisches Moment darstelle, und zwar für die Beraterinnen genauso wie für die Ratsuchenden. Es handele sich nicht um ein soziales Wohltätigkeitsunternehmen, sondern um ernste soziale Pflichten, die Frauen an Frauen zu erfüllen hätten. All dies fiele beim Besuch eines professionellen Anwalts weg. Stritt verknüpft die Beratungserfahrungen interessanterweise mit den Reformbestrebungen der Frauenbewegung und kommt in dieser Konzipierung einem ganz aktuellen Beratungstypus nahe, den Beratungen in kommunalen Gleichstellungsstellen. „Vor allem aber würde den auf diesem Gebiete arbeitenden Frauen dadurch die Gelegenheit genommen, die gründlichen Einblicke in das moderne Frauenleben aller Stände zu tun, zur richtigen Kenntnis und zu einem Überblick der wirklichen Verhältnisse zu gelangen, die die einzig sicheren und verlässlichen Wegweiser für alle Reformbestrebungen bilden. Die Rechtsschutztätigkeit bietet nach dieser Richtung reichste Gelegenheit und ein unerschöpfliches Material, wodurch ihre große Bedeutung auch für alle anderen Gebiete der Frauenbewegung am besten erhärtet wird. Die dabei in erster Linie in Betracht kommen sind das Erziehungs- und das Rechtsgebiet.“ (Stritt 1901: 127/128) Marie Stritt nennt die Ursachen der Rechtsunsicherheit von Frauen als Konsequenz von Erziehungsmängeln, die vernachlässigte Schulung der logischen Urteilskraft, die systematisch genährte Unselbstständigkeit, Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Neben der Kritik, dass gerade junge Mädchen sich leichtgläubig um Geld und Integrität bringen ließen, problematisiert Stritt die schwierige gesetzliche Stellung der Ehefrauen in ihrer Zeit und fordert Reformen: des gesetzlichen Güterrechts, welches den Männern die Verfügung über Einkünfte und Vermögen der Frauen gibt, des Elternrechts, um die Machtlosigkeit der Frauen gegenüber ihren eigenen Kindern zu beenden, Reformen bei der Ehescheidung, Verbesserung der Stellung nicht ehelicher Kinder und lediger Mütter. Die Tätigkeit in den Rechtsberatungsstellen für Frauen habe die Beraterinnen, so Stritt, dahingehend sensibilisiert, dass eine grundlegende und umfassende Rechtsreform unausbleiblich ist. Nach Angaben von Marie Stritt folgten viele Frauenvereine dem Vorbild der Dresdner Beratungsstelle und gründeten Rechtschutzstellen für Frauen in folgenden Städten: Leipzig, Berlin, Breslau, Wien, Königsberg, Hamburg, Frankfurt/M., München, Kiel, Mannheim, Danzig, Hannover, Heidelberg, Mainz, Halle, Köln, Stuttgart, Dessau, Magdeburg, Brünn teils als eigenständige Vereine, teils als Abteilungen des Allgemeinen deutschen Frauenvereins und ähnlicher Organisationen. Marie Stritt erwähnt schließlich eine gute Zu-
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sammenarbeit mit niedergelassenen Anwälten und die Weiterbildung der Beraterinnen durch Anwälte. 1.2 Die Auskunftsstellen für Frauenberufe – Wurzeln der Berufsberatung in Deutschland Der Bund deutscher Frauenvereine hat 1898 die erste Auskunftsstelle für Fraueninteressen in Berlin eingerichtet. Bis dahin hatte der Bund deutscher Frauenvereine eine Kommission „zur Förderung der praktischen Erwerbsarbeit und wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Frau“, die Vorsitzende der Kommission war Jeanette Schwerin. In ihren Anfängen hat die Auskunftsstelle für Fraueninteressen schriftliche Fragen, bevorzugt zur Berufswahl, beantwortet. Josephine LevyRathenaus, die von Beginn an die Leiterin der Auskunftsstelle in Berlin war, war zunächst für ganz Deutschland tätig, weshalb ausschließlich schriftlich Anfragen beantwortet werden konnten, die „Fraueninteressen und Frauenbestrebungen“ über Ausbildungsmöglichkeiten, und Erwerbsaussichten in allen den Frauen zugänglichen Berufen betrafen. Um sachgerecht Auskünfte zu erteilen, hat LevyRathenau einen umfassenden, auf empirischen Erhebungen basierenden Katalog über Berufe, Ausbildungen und Erwerbstätigkeit für Frauen ausgearbeitet. Die Auskunftserteilung war für Mitglieder des Bundes deutscher Frauenvereine unentgeltlich, es musste lediglich das Porto bezahlt werden. Für Nichtmitglieder wurde eine Verwaltungspauschale von 50 Pfennig erhoben. Nach und nach erfolgten in ganz Deutschland, analog zum Konzept der Rechtsschutzstellen für Frauen, Auskunftsstellen für Frauenberufe. In dem von Josephine Levy-Rathenau (1912) publizierten Buch „Die deutsche Frau im Beruf“ nennt die Verfasserin insgesamt 72 Auskunftsstellen unter verschiedener Trägerschaft, von eigens gegründeten, der Frauenbewegung zugehörenden Vereine wie Verein Frauenwohl, Verein für Fraueninteressen, Frauenbildung – Frauenstudium über die kirchlichen Träger (evangelischer und katholischer Frauenbund) bis hin zu Berufsorganisationen wie Lehrerinnenverband oder Fröbelverband (vgl. Levy-Rathenaus 1912: 268 ff, Lange/Bäumer 1906: 186 ff). Im Herbst 1912 wurden die Auskunftsstellen zu einem Kartell der Auskunftsstellen zusammengefasst und das Berliner Büro erhielt die Bezeichnung Frauenberufsamt. Dieses Frauenberufsamt beantwortete weiterhin schriftliche Anfragen und versorgte die dem Kartell zugehörigen Auskunftsstellen mit dem nötigen Hintergrundwissen und Material. Sprechstunden unterhielten die Auskunftstellen, während das Frauenberufsamt quasi die Hintergrundarbeit leistete, die vor allem aus empirischen Befragungen von Arbeitgebern und öffentlichen Organisationen bestand. Die Auskunftsstellen für Frauenberufe hatten einen deutlich erwerbs24
fördernden und gleichzeitig Interessen vertretenden Anspruch. Sie ermittelten, wie sie sagten, die „mit den Berufs- und Erwerbsverhältnissen des weiblichen Geschlechts zusammenhängenden sittlichen, hygienischen und wirtschaftlichen Bedingungen“, bearbeiteten das gewonnene Material und leiteten es an die Organisationen der Berufsberatung weiter. Das Frauenberufsamt war zudem verantwortlich für die Ausbildung der Beraterinnen und war mit den Arbeitsämtern (Arbeitsnachweisen) und mit Berufsvereinen im Ausland vernetzt. Das Kartell der Auskunftstellen der Frauenberufe hatte zudem den Anspruch, die Qualität der Beratung sicherzustellen, es sollte eine dauernde, sachkundige Beratung vorgehalten werden (Levy-Rathenau 1912a: 187). Ferner sollte die Berufsberatung ausgebaut werden, wozu Vernetzungen zu Schulen, zu den Arbeitsnachweisen und zu den Berufsorganisationen angestrebt wurden. Levy-Rathenaus (1912b: 187) beschreibt folgende Ziele der Auskunftsstellen: x Verbreitung der Idee der gemeinnützigen Berufsberatung für Frauen, x Einwirkung auf Behörden zur Unterstützung der Beratung, x Veranstaltungen und Konferenzen zur Erörterung von Sachfragen, Aufklärung, x Herausgabe von Material, sogenannten Wegweisern, Merkblättern etc., x Bekämpfung der Missstände, z. B. irreführende Inserate, Anpreisung von Nebenerwerb etc., x Publikationen. Mit dem Merkblatt für die Berufswahl für die weibliche Jugend betonen die Auskunftsstellen den Stellenwert des Berufs für Frauen, die Berufseignung, die Bedeutung der gründlichen Qualifikation für den Beruf und warnen vor nicht sittlichen und ausbeutenden Arbeitsstellen, sie bieten auch Begleitung bei einer Stelle im Ausland an und empfehlen die Beratung durch die Auskunftstellen vor dem Stellenantritt. Die Auskunftsstellen für Frauenberufe praktizieren ein überaus erfolgreiches dezentrales und regionales Beratungsangebot, welches zudem unabhängig, vertraulich und aufklärend ist. Ab 1917 wird ihr Beratungsangebot zunehmend von den jeweiligen Staatsregierungen übernommen. Mit der Gründung der Weimarer Republik verstaatlicht sich die Berufsberatung und wird zur allgemeinen Pflicht. Sie wird zudem mit den Arbeitsnachweisen verknüpft und mit der Gründung des Reichsarbeitsamtes zentralisiert, was dazu führt, dass ab 1933 die Berufsberatung zur Berufslenkung durch die DAF wird.
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1.3 Die Sexualberatungsstellen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform Auf einem ähnlich hohen institutionellen Niveau organisierte sich in Deutschland die Sexualberatung, vor allem die Beratungsstellen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform. 1905 gründete Helene Stöcker den Bund für Mutterschutz und Sexualreform, der seine erste Beratungsstelle 1924 in Hamburg und eine zweite 1926 in Berlin eröffnete. Wie schon die Rechtsschutzstellen und die Auskunftstellen, verpflichtete sich der Bund für Mutterschutz und Sexualreform einer demokratischen und gesellschaftskritischen Auffassung von Beratung und formulierte, dass die Beratungsstelle zur persönlichen Aussprache und zur Beratung diene und der Bund eine kleine „Rettungsinsel“ im Meer eines patriarchalischen Geschlechtslebens bilden wolle (v. Soden 1988: 110). Die Sprechzeiten der Beratungsstelle waren wöchentlich und die Stelle wurde sowohl von einer Ärztin, als auch von einer Sozialberaterin professionell betreut. Ärzte und Juristen arbeiteten ehrenamtlich mit. Die Beratungsstelle des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform arbeitete im Gegensatz zu den anderen Beratungsstellen der Frauenbewegung stadtteilorientiert, wie von Soden (1988: 110) betont, da es sich beim Stadtteil um einen verelendeten und verarmten Stadtteil handelte, waren die sozialen und sexuellen Probleme entsprechend groß. Ob es hier mit den amtlichen Beratungsstellen (Jugendamt, Psychopathenfürsorgestelle etc), die ebenfalls in diesem Stadtteil gut ausgebaut waren, eine Zusammenarbeit gab, ist nicht überliefert. Die große Nachfrage nach Sexualberatung führte aber auch zu Kooperationen mit der AOK in Hamburg, mit niedergelassenen Ärzten und Juristen, die, wie von Soden (1988: 125) schreibt, die Stellen deutlich und engagiert unterstützten. Ein zentrales Thema der Sexualberatung des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform war das Thema der unerwünschten Schwangerschaft bzw. des Schwangerschaftsabbruchs. Die Beraterinnen und die Träger der Beratungsstellen des Bundes für Mutterschutz betonen die Ernsthaftigkeit des Konflikts und sagen, dass niemals oberflächliche Gründe, Bequemlichkeit, Eitelkeit und ähnliches ein Motiv für den Schwangerschaftsabbruch darstellten, sondern dass die Frauen ernsthafte gesundheitliche und soziale Gründe hatten. Immer wieder wird in der Dissertation von Kristine von Soden (1988) die Wohnungsnot als zentrales Problem erwähnt. Eine 1925 durchgeführte Statistik besagt, dass der überwiegende Teil der Ratsuchenden verheiratet war, die Mehrheit der ratsuchenden Frauen war zwischen 30 und 50 Jahre alt, die Mehrheit der ratsuchenden Männer zwischen 20 und 30 Jahre. Frauen kamen vor allem wegen Schwangerschaften, zwei Drittel wegen schon bestehender Schwangerschaft, davon 41 % der Frauen mit dem Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch. Nur bei gesundheitlichen Indikationen erhielten die ratsuchenden Frauen eine Überweisung in 26
die Klinik zum Schwangerschaftsabbruch. Bei sozialen Notlagen wurde über das Abtreibungsverbot und die Risiken einer illegalen Abtreibung sowie über die Verhütung nach erfolgter Geburt aufgeklärt. Hinsichtlich der Verhütungsmittel wurden Frauen vor allem Pessare empfohlen. Die Beratung wurde mit einer Überweisung zu einem niedergelassenen Arzt gekoppelt, der das Pessar anpasste. Der Bund für Mutterschutz übernahm die Kosten für ein Pessar bei wirtschaftlicher Notlage, die Pessare wurden über die AOK ausgeliefert. Eine Minderheit von Ratsuchenden nahm eine allgemeine Sexualberatung, eine Kinderwunschberatung, eine Beratung im Kontext von Geburt und Wöchnerinnenfürsorge und ähnliche Beratungen in Anspruch. Die Beratung des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform war kostenlos, lediglich Gutsituierte zahlten eine Gebühr von 30 Pfennig. Die meisten Ratsuchenden entstammten der Arbeiterschaft. Die Beratung des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform war der Beratung der Gesex sehr ähnlich. Kristine von Soden (1988: 118f) erwähnt eine Beratungsstelle in der Landschaft der Sexualberatung, die in Berlin Kreuzberg nur für Frauen angeboten wurde. Diese wurde von Elsa Hermann geleitet, der Autorin des Buches „Die neue Frau“ und erst später (1931) in Berlin eröffnet. Die Beratungsstelle verstand sich als Frauenberatungsstelle und bot Beratung sowohl zu geschlechtlichen Fragen an, Auskünfte zum Ehe- und Familienrecht und psychotherapeutische Hilfe. Das Beratungsprinzip lautete „von Frau zu Frau“. Die Beratung erfolgte anonym ohne Aktenführung und Statistik. Die Ratsuchenden brauchten nur eine Nummer zu ziehen, unter der sie geführt werden konnten (v. Soden 1988: 119). 1.4 Die Beratungstätigkeit der sozialistischen Frauen Anders als in der bürgerlichen Frauenbewegung hatte die Beratungstätigkeit in der sozialistischen Frauenbewegung zunächst eine starke agitatorisch akzentuierte Funktion. Sie sollte die Ratsuchenden dazu bringen, sich der Sozialistischen Bewegung anzuschließen. Während sich die sozialistischen Frauen bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend mit Agitation befassten, Frauenkonferenzen einberiefen und ihre Bewegung organisierten, kann mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein Aufruf für die Einrichtung von Auskunfts- und Fürsorgestellen nachgewiesen werden, und zwar fünf Jahre vor Gründung der Arbeiterwohlfahrt. Am 24. August 1914 rief Luise Zietz ihre Genossinnen auf, persönlich „Fühlung aufzunehmen mit den Hilfesuchenden und ihnen kameradschaftlich beizustehen“. „Angesichts der unsäglichen Not und des furchtbaren Jammers, die der Krieg über die Arbeiterfamilien bringt, gilt es, den verzweifelten Frauen, den verwaisten Kindern, den Kranken, Notleidenden mit Rat und Tat beizustehen“ 27
(Blos 1930: 84). Eingebunden in die Ortsgruppen der Sozialdemokratie, sollten die Genossinnen Auskünfte erteilen, sich in der kommunalen Fürsorgearbeit und der Kinderfürsorge engagieren und eine Kranken- und Wöchnerinnenhilfe organisieren (Blos 1930: 84 ff). Dabei entwirft Luise Zietz diese Arbeit als psychosoziale Beratung. In den Arbeiter- und Parteisekretariaten sollen die Frauen Auskünfte erteilen und Schriftstücke anfertigen. Gegenstand sind die Anfertigung von Anträgen zur sozialen Unterstützung, zur Stundung von Zahlungsverpflichtungen und die Verteilung von Geldern und Spenden. Gleichzeitig sollten die Frauen den Ratsuchenden „warmherzigen Zuspruch“ gewähren, „Trost zusprechen“, „Mut machen“ und sie vor allem vor „verzweifelten Schritten bewahren“, (Blos 1930: 85). Über die erfolgte Institutionalisierung sagt die Verfasserin nichts, konzipiert ist die Beratungsarbeit jedoch im Kontext sozialistischer Selbsthilfe und ehrenamtlicher Arbeit. 1919 als das deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg zerstört, politisch instabil und wirtschaftlich fragil ist, gründete Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt, die Ende der 1920er Jahre mit 2000 Ortsausschüssen die Idee der Arbeiterselbsthilfe praktisch umsetzt. Ines Schroeder zählt neben den klassischen Fürsorgetätigkeiten auch mittlerweile professionelle Beratungstätigkeiten im Rahmen der Sexualberatung und der Beratung von Wöchnerinnen auf. Diese erfolgen nach dem Vorbild der Beratungsstellen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform. Durchschlagend ist bei der Beratungsarbeit der sozialistischen Frauen aber der Gedanke der Fürsorge und der Hilfe. Beratung ist eine fernere Funktion und wird als psychosoziale und allgemeine soziale Beratung verstanden. Obwohl in anderen Teilen der Schrift zur Frauenfrage um Sozialismus die Widersprüche der sozialistischen Frauen mit den Männern ihrer eigenen Organisation und die Probleme um die politische Emanzipation insgesamt immer wieder aufscheinen, wird der Geschlechterkonflikt weitgehend zugedeckt. Dies wirkt sich auf das Beratungsverständnis in der Weise aus, dass dieses vorwiegend als wohlfahrtliches und fürsorgliches Konzept verstanden wird, und zwar im Rahmen der staatsbürgerlichen Arbeit der Frau, wie Schroeder (2001: 178) es ausdrückt. 1.5 Theoretische Schlussfolgerungen Die Beratungsstellen der Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert beginnen mit ihrer Arbeit noch vor der Jahrhundertwende, lange vor der Weimarer Republik und lassen sich bis zur Machtergreifung und dem Beginn des NS-Regimes in unterschiedlicher Ausprägung nachweisen. Sie werden sowohl vom so genannten gemäßigten Flügel der Frauenbewegung angeboten, hier sind die Berufsberatung und die allgemeine Auskunftsstelle des Bundes der Frauenvereine hervorzuhe28
ben und als Institutionen und Institutionennetzwerk nachweisbar. Zu den Aktivitäten der radikalen Frauenbewegung gehört die Einrichtung von Mädchen- und Jugendberatungsstellen im Rahmen des Konzeptes von Hugo Sauer (1923). Dies wird in der vom Bund für Mutterschutz und Sexualreform herausgegebenen Zeitschrift „Die neue Generation“ (1929) erwähnt. Leider ist hierzu die Quellenlage dürftig und weiterer Forschungsbedarf nötig. Die Radikalen waren ebenfalls auf dem Feld der Beratung sehr aktiv. Die Sexualberatung und die Beratung im Rahmen der Rechtsschutzstellen ist ihrem Flügel zuzuordnen. Die Rechtsschutzstellen wurden vielfach von den örtlichen Frauenwohlvereinen getragen. Diese Initiative geht auf Minna Cauer zurück, die 1888 den Verein „Frauenwohl“ gründete, welcher sich vor allem um die rechtliche Gleichstellung der Frauen und das Frauenstimmrecht in Deutschland kümmerte. Und selbstverständlich ist der “Bund für Mutterschutz und Sexualreform“, der 1905 gegründet und unter Vorsitz von Helene Stöcker (1869-1943) geleitet wurde, bei den Radikalen einzuordnen. Sexualberatung und Rechtsberatung für Frauen sind institutionell in großem Umfang nachweisbar. Die Beratungsstellen der sozialistischen Frauenbewegung sind Teil der Arbeiterselbsthilfe und gehen später in die Arbeiterwohlfahrt ein. Hier steht, ähnlich wie bei den Sexualberatungsstellen, die Abwendung des sexuellen Elends im Mittelpunkt.
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2. Psychopathie, Erbhygiene, Eugenik, Minderwertigkeit und Menschenökonomie. Eine Ideengeschichte von Beratung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Die Entwicklung der Naturwissenschaften, der Vererbungslehre, der Anthropologie und Eugenik, der Kriminologie und Psychiatrie, die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methoden, Beobachtung und Experiment verknüpfte sich mit politischen Haltungen in breiten Teilen der Gesellschaft im deutschen Kaiserreich, die von Czarnowski (1991) zu Recht als rassenhygienisch bezeichnet werden und mit den Professionalisierungsinteressen aufsteigender Professionen (Hänsel 2008). An erster Stelle standen Medizin und Naturwissenschaft, welcher später die Psychologie und schließlich die Heilerziehung und Sonderpädagogik als eigene Profession folgen sollten. Um die theoretischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen von pädagogischer Beratung, so wie sie sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik entwickelt hat, zu unterscheiden, müssen Diskurs, Politik, konkrete Institutionalisierung und die Professionen und ihre Interessen unterschieden werden. Dies ist zwar in der vorliegenden Skizze nicht vollständig zu leisten, aber doch so, dass die Entwicklungslinien der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Fürsorge und schließlich der Beratungsformen und diskursive Fragen deutlich und nachvollziehbar werden. Insgesamt gilt es nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand als anerkannt, dass eugenisches und rassenhygienisches Denken in bürgerlichen und auch sozialistischen Kreisen in der Weimarer Republik weit verbreitet war (Weidling 1987: 352). Vor allem die positive Eugenik war in die Vorstellungen vom gesellschaftlichen Fortschritt fest eingeschweißt. So schreibt zum Beispiel Jürgen Reyer (2003: 40) in seiner Auseinandersetzung um Eugenik und Pädagogik über die alte Eugenik, dass sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gestalt eugenischer Bewegungen in ganz Europa in Erscheinung trat. Eugenisches Programm war die „Veredelung des Menschen“, denn die Eugenik wurzelte zwar in einem darwinistischen Denken, sie verband ihren Determinismus aber mit dem Glauben an einen gesellschaftlichen Fortschritt. Ein zentrales Denkmodell der alten Eugenik war, dass die natürliche Selektion der Arten nicht mehr richtig funktionierte, je zivilisierter Gesellschaften würden. Zur Fortpflanzung kämen auch solche Individuen, deren Erbmaterial nicht gut genug sei, um eine Elternschaft zu rechtfertigen. Die Kontrolle der Fortpflanzung und die Verhinderung der Weitergabe von schlechtem Erbmaterial könnte helfen, die sozialen Probleme der Zeit zu lösen. Wie von Soden (1988) 31
und Reyer (2003: 40 ff) schreiben, steht das Denken des englischen Geistlichen und Nationalökonomen Thomas Robert Malthus im Zentrum von eugenischen Positionen in Europa. Malthus sprach den Sozialreformen jede Wirkung ab, da vor allem die Armen die Neigung hätten, über ihre ökonomischen Verhältnisse hinaus Kinder zu bekommen, für die sie dann nicht sorgten. Malthus ging von zyklischen Überbevölkerungskrisen aus, da das Nahrungsangebot nicht so schnell wüchse wie die Bevölkerung. Geburtenkontrolle stand deshalb bei Malthus an herausgehobener Stelle seiner Positionen. Aber welche Geburten sollten nun nicht mehr stattfinden, verhindert werden und wie? Für Malthus kamen nur die Erziehung und die Enthaltsamkeit in erster Linie solche Kreise der Bevölkerung in Frage, die sich eben nicht leisten könnten, Kinder zu haben. Vor allem kritisierte Malthus die Sozialreformen, weil sie die ärmeren Bevölkerungsschichten geradezu anreizten, mehr Kinder zu bekommen als diese ernähren könnten. Jürgen Reyer schreibt dazu (2003: 44), dass Darwin vom Werk Malthus beeindruckt gewesen sei. Zu diesem bevölkerungspolitischen Denken, welches eine rigide Sozialpolitik und eine kontrollierende und autoritäre Erziehung geradezu rechtfertigte, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Erkenntnisse über die „kulturelle Unveränderbarkeit der Keimbahnen“ (Reyer 2003: 45). Darwin habe, so Reyer weiter, erst zehn Jahre später in seiner Publikation „Der Kampf ums Dasein“, die These über die Verdrängung und die Konkurrenz um die Nahrung in den Mittelpunkt der Verhaltensweisen der Arten gestellt und dies erst sehr langsam auf den Menschen übertragen. Da seien ihm die Zeitgenossen schon davongelaufen (Reyer 2003: 45). Vor allem die These, dass in modernen Gesellschaften der natürliche Selektionsdruck zurückginge und diese damit der Entartung preisgegeben seien, beförderte zunächst diskursiv weitreichende Überlegungen wie durch Lenkung, Erziehung und Kontrolle die Minderwertigen an der Fortpflanzung gehindert werden könnten. Der Begriff Eugenik wurde in diesem Zusammenhang von Francis Galton, einem Verwandten Darwins, geprägt. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts institutionalisierte sich das eugenische und sozialhygienische Denken der geistigen Eliten in Europa zunehmend in sozialhygienischer Forschung und Lehre. Als „Vater“ der Sozialhygiene gilt Alfred Grotjahn (vgl. Sach 2006: 27). Hygiene meint zunächst die Fernhaltung der den Körper schädigenden Einflüsse und die Vervollkommnung der Konstitution, so Sach (2006: 28). „Zu den sozialhygienischen Methoden gehörte die ärztliche Überwachung, die Kontrolle gesundheitsgefährdender Gruppen, die Vermittlung von Behandlung und die Erforschung von Krankheitsdispositionen. Durch intensive Erziehung sollte der sozialhygienische Standard gehoben und Krankheiten vorgebeugt werden. Eine Zuspitzung der Sozialhygiene ist die Rassenhygiene, der Begriff wurde nach Sach (2006: 28) von Alfred Ploetz geprägt, der 1905 eine 32
Gesellschaft für Rassenhygiene gründete. Hier wurde der Gedanke der Entartung zum Konzept. Psychische Erkrankungen, geistige Behinderungen und Kriminalität all dies wurde erblichen Faktoren, die eben unbeeinflusst von der Kultur sich immer wieder durchsetzten, zugeschrieben. Die konsequente Anwendung von eugenischen Programmen zur Verhinderung der Geburt von erbminderwertigen Individuen würde dann, so die Vertreter der Rassenhygiene, die Volksgesundheit verbessern und die sozialen Probleme lösen. Zur Rassenhygiene gehörte die positive Eugenik im Sinne einer „Aufartung der Vitalrasse“ (Sach 2006: 28), das bedeutete, dass „erbreine“ Personen möglichst viele Nachkommen haben sollten, während die negative Eugenik dafür Sorge trug, dass sich die „erbminderwertigen“ Individuen nicht vermehren konnten. Louisa Sach bemerkt in ihrer Dissertation, dass sich die Rassenhygieniker in Deutschland als Rassenanthropologen verstanden haben. Der französische Adlige Gobineau habe bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Auffassung vertreten, dass die weiße Rasse allen anderen überlegen sei und deshalb das Recht habe, über sie zu herrschen. Während aber die Rassenhygiene nur als ein besonderer und radikaler Zweig der Sozialhygiene gelten kann, gehört die Eugenik und Fortpflanzungshygiene zum Kern der sozialhygienischen Auffassung. Sie mündeten dann in die Praxis der Erbgesundheitspflege, die in den Eheberatungsstellen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik Praxis war. Hinsichtlich des Diskurses treten neben den dominierenden „hygienischen Diskurs“ die Eugenik bzw. der eugenische Diskurs und das technizistische instrumentelle Denken im Bereich der Produktion und der Ökonomie, was wiederum die Berufsberatung beeinflusst. Von Dominik Schrage (2004) ist diese Art des Denkens als instrumentelle Vernunft beschrieben worden, die sich im Bereich der Produktion als Taylorismus und Fordismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Das eugenische Denken beherrschte die Mehrheit der medizinischen Fachgesellschaften ebenso wie das Denken in sozialhygienischen Kategorien, die in erbhygienische Konzepte und später in rassenhygienische Programme mündeten. Wird das Verhältnis von Diskurs und Politik betrachtet, so zeigt sich hinsichtlich der Beratung eine hohe Anschlussfähigkeit von eugenischem, technischem und erbhygienischem Denken mit den politischen Strategien des Staates, und zwar sowohl des Kaiserreiches als auch des Weimarer Staates. Dass das eugenische und erbhygienische Denken die Kinder besonders betroffen hat, zeigt Kölch (1996) an der Geschichte der Psychopathenfürsorgestellen in Berlin während der Weimarer Republik auf. Die selektierende und kontrollierende Arbeit dieser Fürsorgestellen, Sichtungsstellen und heilpädagogischen Beratungsstellen gegenüber behinderten und schwer erziehbaren Kindern, kann als Ausdruck einer von der Vererbungslehre bestimmten Anthropologie bewertet werden, der zum Beispiel den Begriff und die Bedeutung des Traumas völlig in 33
den Hintergrund drängte. Dabei ist erstaunlich, wie wenig Einfluss die Auswirkungen der Industrialisierung, den politischen Umbrüchen und dem Ersten Weltkrieg als gesellschaftliche Faktoren auf die Diagnose und Theorie vor allem von Ärzten und Naturwissenschaftlern zugebilligt wurde. Zwischen den rassenhygienischen Programmen im NS-Staat und dem eugenischen und erbhygienischen Denken in der Weimarer Zeit liegt, so auch Czarnowski (1991: 18), nur ein quantitativer Unterschied. Das Ausmaß der Gewalt und des Zwangs, das der nationalsozialistische Staat ausübte, unterschied sich von den Appellen und den Sanktionen bzw. Anreizen der Weimarer Republik. Auch die Institutionen zur Erfassung und Kontrolle der Menschen nehmen in der NS-Zeit zu, sie stellen jedoch nach Czarnowski keinen wirklichen Bruch zum Denken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik dar. Dass zwischen der Weimarer Zeit und NS-Zeit eine diskursive Kontinuität konstatiert wird, hat eine hauptsächliche Ursache in den Professionalisierungsbestrebungen, die sowohl von Kristine von Soden (1988) für die Medizin, von Dagmar Hänsel (2008) für die Heilpädagogik, aber auch von Dietrich Geuter (1984) für die Psychologie benannt werden. 2.1 Psychopathie Für die Institutionalisierung der Erziehungsberatung benennt Kölch (1996) vor allem die Entstehung und Differenzierung des psychiatrischen Denkens als bedeutend. Für Kölch ist Psychiatriegeschichte Gesellschaftsgeschichte (1996: 15). Er reflektiert in einem ersten Kapitel seiner Dissertationsschrift, die Entwicklung des Verhältnisses von jenen, die als Deviante etikettiert sind, mit denjenigen, die sich als integriert verstehen. Dabei hebt er zum einen die Entwicklungslinie eines instrumentellen und utilitaristischen Denkens hervor, in Menschen mit heterogeneren Verhaltensweisen vor allem „Gesellschaftsfeinde“ zu sehen, eine Denkweise, die Kölch dem 18. Jahrhundert zuordnet. Bis zur französischen Revolution und den ihr folgenden Epochen der Aufklärung seien psychisch Kranke, sofern ihnen überhaupt ein öffentliches Interesse entgegengebracht worden war, verwahrt worden. Meist war die Familie Auffangbecken für deviantes Verhalten. Diesen Aspekt thematisiert auch August Aichhorn in seiner Abhandlung über die Verwahrlosten und die Wissenschaft (Aichhorn 1959). Kölch folgt weitgehend der Argumentation Foucaults, wenn er betont, dass Menschen mit deviantem Verhalten, wenn sie nicht als eine öffentliche Gefahr oder ein Ärgernis angesehen wurden, wenig Interesse entgegengebracht wurde. In die Zuständigkeit des Arztes gelangten diese Personen durch die Zuordnung von seelischen Störungen als Krankheit. Mit dieser Zuordnung entwickelte sich dann auch die Psychiatrie, 34
die von Anfang an als Ordnungspsychiatrie quasi staatliche Aufgaben wahrnahm. Kölch hebt hervor, dass gerade in Deutschland zwischen jenen, die in den Anstalten selbst arbeiteten und jenen, die an Universitäten lehrten und forschten, sich unterschiedliche Auffassungen zu den Seelenstörungen entwickelten (vgl. Kölch 1996: 19). In kurzen Zeitabständen hätten sich immer neue psychiatrische Krankheitskonzepte abgelöst, die mehr auf eine Unsicherheit der Wissenschaft im Umgang mit den psychischen Störungen hindeuteten und nach sich zogen, dass sich das Fach immer wieder veränderte. In Bezug auf diese Konjunkturen hebt Kölch besonders den Diskurs um die Psychopathie hervor, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine besondere Konjunktur erfuhr und sich als kompatibel mit den eugenischen und rassenhygienischen Denkweisen erwies. Im Konstrukt der Psychopathie spiegelt sich also staatlicher Zugriff auf die Kranken im Sinne der Ordnungspsychiatrie und eine Kompetenz und Machtzuwachs des ärztlichen Berufsstandes. Wird das Verhältnis von Diskurs und Politik für die Beratung in der Epoche der Weimarer Republik betrachtet, so zeigt sich einerseits eine gewisse Anschlussfähigkeit zwischen eugenischem, technischem und erbhygienischem Denken mit dem politischen Verhalten des Staates, und zwar sowohl des Kaiserreichs wie auch des Weimarer Staates und des NSStaates. Vor allem in bestimmten Beratungsfeldern, wie der so genannten Psychopathenfürsorge in den Berliner Beratungsstellen (vgl. Kölch 1996), dominieren gegen die Ratsuchenden gerichtete Beratungsstrategien und Beratungsangebote, die letztlich berufsethische Regeln verletzen. Andererseits ist die Verstaatlichung der Beratung nicht ausschließlich repressiv. Im Bereich der Berufsberatung, aber auch der amtlichen Erziehungsberatung, muss den staatlichen Organen der Weimarer Republik auch ein ernsthaftes Bemühen um Problemlösungen großen Ausmaßes bescheinigt werden. Anders als im Bereich der Berufsberatung verhindert der Weimarer Staat die Entstehung von freien Erziehungsberatungsstellen nicht, auch die Sexualberatungsstellen institutionalisieren sich in der Weimarer Republik, und im Bereich der Berufsberatung erscheint das Verhalten des Staates, die Berufsberatung zu zentralisieren, in gewisser Weise rational angesichts der großen Probleme von Massenarbeitslosigkeit und Berufslosigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges. 2.2 Minderwertigkeit 1907 publiziert Alfred Adler einen Aufsatz über Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für die Philosophie und Psychologie und reflektiert die Verwendung des Organminderwertigkeitsbegriffs unter der Perspektive der Individualpsychologie. Bei der Entstehung von Neurosen, für die sich Adler besonders interes35
siert, seien minderwertige, das heißt unterdurchschnittlich entwickelte oder übersteigerte und dysfunktionale Organe und der seelische Umgang des Ichs mit diesen angeborenen Defekten entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Das minderwertige Organ (Adler 1973: 46) erschwere die Einfügung in das Leben. Seelische Schwierigkeiten entstünden, und mit ihnen seelische Haltungen und Charakterzüge besonderer Art, Vorzüge, genau wie Nachteile. Eine besondere Bedeutung hat bei Adler die Überkompensation der Organminderwertigkeit. Adler führt dazu eine Reihe von Künstlern an, die ihre Kunst einsetzten um ihre Organminderwertigkeit zu kompensieren, Schauspieler die eigentlich stottern, Künstler mit Sehleiden und anderen Gebrechen, Musiker mit Ohrenleiden (Adler 1973: 51-52). Auch wenn Alfred Adlers Erkenntnisinteresse ein psychodynamisches ist, so sind doch die umstandslose Benutzung und die hohe Bedeutung des Organminderwertigkeitsbegriffs in der Individualpsychologie bedeutend und als Ausdruck eines biologischen und triebtheoretisch bestimmten Menschenbildes bezeichnend. Im Unterschied zu den sich etablierenden Kinder- und Jugendpsychiatrien verwendet Adler den Begriff der Organminderwertigkeit jedoch psychodynamisch und nicht klassifizierend oder selektierend im Sinne des Abnormen. Es bleibt aber die semantische Übereinstimmung, d. h. der Minderwertigkeitsbegriff in der Individualpsychologie bzw. an einer wichtigen Stelle in ihrer Theorie mit den selektierenden und sozialhygienischen Konzepten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie. In der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Theorie steht der Minderwertigkeitsgedanke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre an einer herausgehobenen Stelle und ist keinesfalls auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt. Vor allem Werner Villinger (vgl. Holtkamp 2002: 6473) beschäftigt sich intensiv mit der Entwicklung einer kinderpsychiatrischen Nosologie, in der deren Mittelpunkt das Konzept des Abnormen und entsprechend dem Brauchbarkeitskonzept, welches Villinger an Menschen anlegt, deshalb Minderwertigen steht. Der Begriff der Minderwertigkeit entsteht quasi durch die Verknüpfung der ärztlichen Nosologie über die geistigen und seelischen Störungen des Kindes- und Jugendalters mit der Brauchbarkeit und dem Nutzen dieser „psychopathischen, schwachsinnigen oder abnormen Kinder“ und Jugendlichen für die Gesellschaft und ihrer Erziehbarkeit und Bildbarkeit. Villinger entwickelte kein lediglich abgestuftes System der Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters, sondern Kategorien der Bildungsfähigkeit und Brauchbarkeit (Holtkamp 2002: 65) dieser Kinder. Umgekehrt definierte er sie als Belastung für den Volkskörper, den zu schützen er als seine Aufgabe ansah. Vor allem die Verknüpfung der kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitslehre mit der Dissozialität, der Unerziehbarkeit und der Schwersterziehbarkeit mündete in Wertigkeitsklassifizierungen, die entsprechenden Unterbringungsmaßnah36
men und -formen entsprachen. Die „Reinigung des Volkskörpers“ von dem Unbrauchbaren und Unnützen, die Villinger vertrat, zeigt die Verknüpfung zwischen dem Minderwertigkeitsgedanken und der Rassenhygiene auf, die dann praktisch die Sterilisationen und Unfruchtbarmachungen der kinder- und jugendpsychiatrisch auffälligen Kinder rechtfertigte. 2.3 Menschenökonomie Der Begriff der Menschenökonomie entsteht im 19. Jahrhundert und geht auf utilitaristische Ideen im Kontext von volkswirtschaftlichen Denkweisen zurück. Aus der Theorie der „Menschenökonomie“ entsteht später die Humankapitaltheorie. Der Begriff der Menschenökonomie wurde vom Philosophen und Soziologen Rudolf Goldscheid (1870-1931) geprägt und geht auf ihn zurück. Goldscheid plädierte in seiner Arbeit "Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie" von 1908 für eine allumfassende Regulierung des menschlichen Lebens und forderte eine genaue Erhebung von Kosten und Nutzen des Menschen. Diese Ökonomisierung und die Reduktion des Menschen auf seinen volkswirtschaftlichen Nutzen befremdet aus heutiger Sicht, da sie Menschen wie Sachen behandelt und ihnen nicht Würde, sondern Wert zuspricht (Dörner 1994). Aus heutiger Sicht würden wir die Menschenökonomie in der gleichen Richtung wie die Rassenhygiene verorten. Die Theorie der Menschenökonomie war jedoch ursprünglich gegen die Rassenhygieniker angelegt (Bröckling 2003), die biologisch von überflüssigen und unwerten Menschen ausgingen. Paul Oestreich (1916) stellt gegenüber Goldscheid beim Gedanken an den Wert eines Menschen die Bildung in den Mittelpunkt seiner Argumentation, wenn er sich auf Goldscheids Ansatz des Entwicklungswertes von Menschen beruft und mit der Theorie der Menschenökonomie einen demokratischen Bildungsbegriff zu rechtfertigen versucht. Goldscheid verpflichtet jedes Individuum dazu, das Beste aus sich zu machen, also entwicklungsökonomisch zu leben und sich fortwährend zu fragen: „Verwerte ich hier meine Lebenskraft, verwerte ich hier meine qualifizierte Arbeitskraft mit dem höchsten möglichen evolutionistischem Nutzeffekt?“ (Oestreich 1916: 806) Ähnlich argumentiert auch Oestreich, wenn er sagt: „Der Persönlichkeitsbegriff muss verinnerlicht werden, dem durch- und nicht verbildeten Menschen in Beruf und Staat das Bürgergefühl des Mitwirkers erwachsen, dann ist es keine Utopie mehr, dass die Masse aus Persönlichkeiten besteht und selbst zur Persönlichkeit wird“ (Oestreich 1916: 806).
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Im Mittelpunkt dieses Ziels steht Bildung in einem neuen Einheitsschulsystem und ein entwickelter Sozialstaat.
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3. Die Institutionalisierungsgeschichte der Erziehungsberatung in Deutschland
1928 publizierte die Ernährungsberaterin und Individualpsychologin Sophie Freudenberger ihre Dissertationsschrift zur Institutionalisierung von Erziehungsberatungsstellen in Deutschland. Diese Arbeit stellt einen qualifizierten empirischen Fundus zur Frage von Verbreitung, Konzeptionen und Entwicklung der Erziehungsberatung dar und gibt einen Überblick sowohl über die Anzahl der Erziehungsberatungsstellen im Jahr 1928 als auch über deren inhaltliche Ausrichtung. Freudenberger differenziert in amtliche Erziehungsberatungsstellen, in halbamtliche und in freie Erziehungsberatungsstellen. Sie differenziert ebenfalls nach Erziehungs- und Jugendberatungsstellen und hat ein eigenes Kapitel zur Bedeutung der Erziehungsberatung für erziehungsschwierige und verwahrloste Kinder verfasst. Die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen führt sie dabei auf Erziehungsschwierigkeiten als Ausdruck sozialer Probleme zurück. Freudenberger nennt vier Faktoren: die sozialen Probleme breiter Bevölkerungsschichten, Störungen des familialen Zusammenlebens, Individualisierungs- und Urbanisierungstendenzen und dogmatische Theorien zur Erziehung. An erster Stelle stehen die Armuts- und sozialen Probleme breiter Bevölkerungskreise (Freudenberger 1928: 3), wie x die berufsbedingte Abwesenheit von Müttern und die mangelnde Betreuung von Kindern, die außerhalb der Schule zunehmend sich selbst überlassen bleiben, x die Belastung berufstätiger Mütter, die neben der Erwerbsarbeit den Haushalt versorgen, x die daraus folgende Einbeziehung der Kinder in die häuslichen Arbeiten und die Erziehung der jüngeren Kinder, x geringer Verdienst, Arbeitslosigkeit und Krankheit eines Elternteils oder beider Eltern und die dadurch bedingte Not, die sich auf die Kinder in Form von frühen Entsagungen und Mangel an Ernährung, Kleidung und Gesundheit auswirkt, x die Kriegsfolgen wie auch die wirtschaftlichen Folgen der Inflationszeit für die Kinder, x Wohnungsnot und der damit einhergehende Mangel an genügenden Schlafgelegenheiten für die Kinder.
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An zweiter Stelle nennt Freudenberger das gestörte Gemeinschaftsleben in bürgerlichen Familien: x Mannigfaltigste Interessen, vor allem außerhalb der Familie, x Überwindung bisheriger Bindungen und Suche nach neuen Formen und Lebensstilen (Sinnkrise), x Wandlung in Wissenschaft und Technik, x Aufstiegs- und Selbstständigkeitswillen vor allem der Frauen, Jugend und des Proletariats und entsprechende Klassenkämpfe. An dritter Stelle nennt Freudengberger das liberale Denken der Epoche und die Selbstverantwortung als zentralen Wert sowie die großstädtischen Siedlungsformen und an vierter Stelle die konkurrierenden und sich widersprechenden Anschauungen über die Erziehung. Die Kinder seien im Laufe der Jahre gleichzeitig erzieherischen Einwirkungen ausgesetzt, die aus verschiedenen, oft mit einem gewissen Fanatismus vertretenen Anschauungen heraus erwachsen seien. Gleichzeitig ist Sophie Freudenberger bei aller Bedeutung ihrer Arbeit einer theoretischen Richtung in der Erziehungsberatung, der Individualpsychologie zuzuordnen, aus deren Perspektive sie die Strömungen der Erziehungsberatung beurteilt. Dabei fällt auf, dass sie die Konstitutionsforscher und die Institutionalisierung der Jugendsichtungsstellen und der heilpädagogischen Beratung akzeptiert, während die Psychoanalyse vorwiegend kritisch beurteilt wird. Vor allem die Arbeit von August Aichhorn wird bei Freudenberger hinterfragt. Lediglich am Rande erwähnt Freudenberger die Arbeit von Hugo Sauer und seinen Kampf um eine freie Jugendberatung. 3.1 Funktionen und Aufgaben der Erziehungsberatung nach Freudenberger x Wegweiser und Integrationsfunktion einschließlich Diagnostik und Eignungsprüfung im Rahmen der Schullaufbahnberatung, x helfen, schützen und fördern – fürsorgliche Aufgaben im Rahmen der Jugendhilfe, x heilende Fürsorge im Rahmen der Heilpädagogik und schließlich Bildung und Qualifizierung der Erzieher. Für die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen macht Freudenberger zum einen Differenzierungsprozesse im Bildungssystem, vor allem die Einrichtungen von Hilfsschulen, Förderschulen und Begabtenklassen verantwortlich. Dabei zählt sie die differenzierten Schulformen ohne Wertung auf, die Hilfsschule tritt 40
quasi gleichwertig neben die Begabtenklasse. Für die Erziehungsberatung wird eine wegweisende Integrationsfunktion konstatiert (Freudenberger: 7, 13). Freudenberger nennt auch die Eignungsprüfung in der Erziehungsberatungsstelle (tritt die Frage nach einer Auswahl unter den mannigfaltigen Erziehungs- und Schulformen an sie heran, so fehlt ihnen häufig der Gesamtüberblick und in schwierigen Fällen die Möglichkeit der Untersuchung und Eignungsprüfung des Kindes) (Freudenberger 1928: 7). Den Beruf des Erziehungsberaters sieht sie entsprechend an dieser Stelle. Er verknüpft die Erziehungsberatung mit Schullaufbahnberatung, führt die entsprechenden Eignungstests durch und gibt den Eltern Empfehlungen. Auf die „Spezialisierung“ der pädagogischen Berufe antwortet die Erziehungsberatung mit Wegweiser- und Integrationsfunktion, wobei Freudenberger bemerkt, dass nur an wenigen Stellen eine Zentralisierung der Funktion Schullaufberatung in den Erziehungsberatungsstellen stattfinde (Freudenberger: 14). Bezogen auf die Schullaufbahnberatung gilt, wie auch in der heilpädagogischen Beratungsstelle der Selektionsgedanke. So stellt Freudenberger (Freudenberger: 31) die Beratungsstelle von Schulrat Fuchs in Berlin vor, über die sie schreibt: „Schulrat Fuchs befasst sich entsprechend seiner Lebensarbeit – Erforschung und Förderung des Hilfs- und Sonderschulwesens – in seiner Beratungsstelle hauptsächlich mit der Auskunfts- und Ratserteilung betreffend die Wahl der Schullaufbahn, die Unterbringung von Kindern in Hilfsschulen, Anstalten, Schwerhörigen- Stotterer- und Schwachsinnigenkursen und -klassen.“ Freudenberger bemerkt, dass in dieser Beratungsstelle ca. 200 Fälle pro Jahr gesichtet werden, und die Beratungsstelle die private Initiative des Leiters sei. Die Behörde stelle lediglich den Raum zur Verfügung. Diese Tatsache stützt die These von Dagmar Hänsel, dass insbesondere die Professionalisierungsinteressen der Lehrer und Hilfsschullehrer für die Institutionalisierung des Hilfsschulwesens in Deutschland mitverantwortlich gewesen seien. Von dieser Funktion, die typischerweise einhergeht mit dem Aufbau und der Durchsetzung eines hoch selektiven Schulsystems und Sonderschulwesens, unterscheidet Freudenberger die amtlichen und halbamtlichen Erziehungsberatungsstellen, die entweder in das Jugendamt eingegliedert oder an das Jugendamt angegliedert sind. Die Ratsuchenden seien hier eher Organe der Jugendfürsorge, Schulbehörden und Ärzte, Eltern und Kinder kämen als Privatpersonen nur in geringer Zahl (Freudenberger: 22). Zu den Funktionen der Beratungsstellen im Kontext der Jugendfürsorge gehören die allgemeine Gesundheitsfürsorge (Mütter- und Säuglingskurse und -beratung, sowie Schulgesundheitsfürsorge und ärztliche Jugendfürsorge, die Berufsberatung und die Jugendpflege). Auch hier spricht Freudenberger kritiklos von der Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit „Hygienische und bevölkerungspolitische Motive führten zur Einbeziehung 41
immer neuer, untereinander eng verknüpfter Gebiete in die Beratungs- und Fürsorgetätigkeit“ (Freudenberger 1928: 8). Den in der Beratung tätigen Ärzten attestiert sie Opferbereitschaft und soziale Gesinnung und betont, dass mit dem Ausbau der Jugendfürsorge auch der Psychiater in Beratung und Behandlung schwer erziehbarer und verwahrloster Jugendlicher seine eigene soziale Aufgabe fand (Freudenberger: 8). Charakterisiert man die amtlichen und halbamtlichen Erziehungsberatungsstellen genauer, so lässt sich im Gegensatz zur auf die Schule und die Schullaufbahn bezogenen funktionalen Beratung eine im weitesten Sinne sozialplanerische Tätigkeit ausmachen. Die Beratungsstellen der Jugendämter helfen eben nicht bei Erziehungsschwierigkeiten, sondern steuern, koordinieren und regen staatliche Maßnahmen an. Beispiele dieses Typus der Erziehungsberatungsstellen sind die sozialpädagogische Elternberatungsstelle in Nürnberg und die Jugendsichtungsstelle Frankfurt. Beide Beratungsstellen haben einen ärztlichen Leiter. In Nürnberg ist dieser Psychiater zugleich Schularzt für die Nürnberger Hilfsschulen und zuständig für die schwierigen und anomalen Kinder in den Regelschulen. Gleichzeitig ist der Leiter der Beratungsstelle Berater für die Einrichtungen psychopathischer Kinder und für die Fürsorgeerziehungsheime (Freudenberger: 24). Die Verknüpfung zwischen Jugendamt Schule und Psychiatrie sieht Freudenberger unkritisch. Sie gebe dem Leiter der Erziehungsberatungsstelle die Möglichkeit alle Kinder, die irgendwelche Erziehungsschwierigkeiten bereiten, zu untersuchen. Die hohe Bedeutung, die dann die Einleitung von Maßnahmen hat, wird deutlich, wenn Freudenberger schreibt, dass das Gutachten des Leiters der sozialpädagogischen Elternberatungsstelle maßgebend ist für die Wahl der Anstalt. Freudenberger nennt Vorzüge der Verknüpfung von öffentlicher und freier Beratung. Der Leiter der sozialpädagogischen Elternberatungsstelle untersucht im Jahr 800-900 Kinder. Ähnlich arbeitet die Jugendsichtungsstelle in Frankfurt/M. unter der Leitung des Medizinalrates Dr. Fürstenheim. Auch hier kommen die meisten Kinder, nämlich 75 %, auf Veranlassung des Jugendamtes. Die Stelle versorgt 750 Kinder im Jahr. Die Jugendsichtungsstelle versteht sich als pädagogisch-diagnostische Stelle und sieht sich als zuständig bei Kindern, „deren Veranlagung fragwürdig und im Dienst der Schullaufbahn-, Erziehungs-, Berufs- und Unterbringungsberatung zu ermitteln notwendig ist“. Die Beratungsstelle versteht sich als zentrale Beratungs- und Auskunftsstelle für Erziehungsfragen, deren Ziel auch die fördernde Beratung von gut entwickelten Kindern bei guter Entwicklungsprognose ist, obwohl die Mehrheit der Klientinnen und Klienten körperlich und intellektuell geschädigt und die übrigen verwahrlost, nervös, schwer erziehbar etc. seien (Freudenberger: 26). Wichtig ist auch hier der Professionsbezug. Freudenberger betont, dass sich Fürstenheim in seiner Selbstauskunft als Konsti42
tutionsforscher (!) versteht, der den Zusammenhang von Körperbau, Charakter und Veranlagung erforschen wolle und dass das in der Jugendsichtungsstelle gewonnene Material zu Forschungszwecken gesammelt und verwertet würde. Seit 1927 ist in die Jugendsichtungsstelle eine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle eingegliedert worden, die die Nachbetreuung und Nachsorge der Kinder übernimmt. Fürstenheim hat als Leiter der Jugendsichtungsstelle große Ambitionen. Zum einen ist die Jugendsichtungsstelle Frankfurt/M. mit der ärztlichen und pädagogischen Ausbildung vernetzt, zum Zweiten sollen pädagogisch-psychologisch-medizinische Untersuchungsstellen an jeder Schule, sowie eine Zentralstelle zur Dokumentation und wissenschaftlichen Durcharbeitung des Materials, eingerichtet werden. Bewertet man diesen Beratungstypus insgesamt, so zeigen sich gewisse Übereinstimmungen mit den erbhygienischen und selektierenden Ansätzen und Konzepten, die die Eheberatung und die Berufsberatung prägen. Die Verknüpfung von Beratung und Zwang wird noch einmal durch die Schilderung der Arbeit in der Heilpädagogischen Beratungsstelle in Heidelberg hervorgehoben. Hier arbeitet die Beratungsstelle nicht nur direkt mit dem Jugendamt, Jugendgericht und Schulbehörden zusammen, die psychiatrische, heilerzieherische und diagnostische Beratung und Untersuchung kann sogar zwangsverordnet werden. Das Jugendamt beschließt die Untersuchung und empfiehlt den Eltern, die Kinder selbst zu bringen. Im Weigerungsfalle werden sie von einem Kontrollbeamten vorgeführt (Freudenberger: 27). Ganz von selbst habe sich die Heilpädagogische Beratungsstelle deshalb auch zur Sichtungsstelle für die Fürsorgeerziehung entwickelt. Sie prüft die Voraussetzung und die Eignung für Anstalts- und Familienerziehung, für die jugendgerichtliche oder die als Erziehungsbeistand und Lehrlingsaufsicht wirkende so genannte formlose, jugendamtliche Schutzaufsicht. Im Bericht des Gerichtswesens hat die heilpädagogische Beratungsstelle die Funktion der Mitüberwachung und arbeite im Bereich der Einschulung bzw. Überweisung in die Hilfsschule mit den Schulen zusammen. Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg hat in dem von Freudenberger untersuchtem Zeitraum im Kalenderjahr 1927 492 Kinder untersucht. Homburgers heilpädagogische Beratungsstelle weist, wie die Beratungsstelle der Heil- und Pflegeanstalt in Tübingen, eine große Übereinstimmung mit der Kategorie der heilenden Fürsorge auf. In diese Beratungsstellen kommen die so genannten Psychopathen. Beratungsfragen sind vor allem Unterbringung in Sonderschulen und Anstalten. Nach Freudenberger gibt es, neben der Beratungsstelle in Tübingen, Stellen in Bielefeld, Bonn, Leipzig, Kiel, Chemnitz. Hervorgehoben wird in Bielefeld die Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke (wahrscheinlich Bethel). Zu dieser Verknüpfung von Beratung mit der so genannten Psychopathenfürsorge hat sich vor allem Kölch (1996) geäußert. 43
3.2 Die Psychopathenfürsorgestellen als Analysator der Institutionalisierung der Erziehungsberatung In kritischer Absicht und im Kontext einer stark an Foucault orientierten Psychiatriekritik reflektiert Michael Kölch (1996) in seiner Dissertationsschrift Diskurs und Institutionalisierung der Psychopathenfürsorge und der Beratungsstellen für psychopathische Kinder in der Weimarer Republik. Mit seiner Arbeit kann die von Sophie Freudenberger noch kritiklos und empathisch bearbeitete deskriptive Darstellung der ersten Erziehungsberatungsstellen in Deutschland theoretisch kontrastiert werden, weshalb der Arbeit von Kölch an dieser Stelle ein breiterer Raum eingeräumt werden soll. Für die Zeit des deutschen Kaiserreiches, so Kölch (1996: 35) ließe sich noch nicht von prinzipieller Ausgrenzung und Absonderung auffälliger und erziehungsschwieriger Kinder sprechen, sondern eher von Versuchen der Kontrolle. Diese Versuche seien jedoch zum einen deutlich schicht- und klassenbetont, zum anderen in gesellschaftspolitischer Absicht gewesen. Da weder gesetzlich, noch infrastrukturell Bedingungen für eine weitergehende Betreuung, Behandlung und Absonderung dieser Kinder gegeben waren, fielen sie noch nicht unter eine vollkommene Medikalisierung und Überwachung. Anders herum, so Kölch (1996: 35), seien die Grundlagen für einen weiteren Ausbau der Psychopathenbetreuung einschließlich ihrer Selektion bereits hier gelegt worden. Wie auch Hänsel (2008) konstatiert, ist für diesen Prozess des Überwachens und Medikalisierens die ärztliche Beschäftigung mit den verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen von großer Bedeutung. Das Eindringen der Ärzteschaft in die Pädagogik wird, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, als zentraler Faktor für die Überweisung von Kindern und Jugendlichen in die speziellen Maßnahmen und Einrichtungen der Fürsorgeerziehung und der Sonderpädagogik angesehen. Vor allem Hänsel hat in ihren Arbeiten zu den Professionalisierungsinteressen der Hilfsschullehrer aber mit dem Vorurteil aufgeräumt, als seien Pädagogen und Sozialpädagogen an diesem Prozess nicht oder nur randständig beteiligt gewesen. In die gleiche Richtung argumentiert Kölch, der auch hinsichtlich der Berufsidentität von Pädagogen, die Hinwendung zu einem psychiatrischen und erbhygienischen Denken als großen Einflussfaktor ansieht. Von großer Bedeutung ist für Kölch weiterhin die Politik der Ärzteschaft (Kölch 1996: 35), Psychiater als Berater den Jugendämtern in quasi amtlicher und teilamtlicher Funktion fest zu installieren. Diese Angliederung der Ärzte an die Jugendämter machte sie zu einer Art Spinne im Netz. So war der ständige Zustrom neuer Probanden für die medizinische Forschung gesichert und die Institutionalisierung der Beratungsstellen verstärkte sich durch den großen Zu44
strom von Kindern und Jugendlichen. Gegen die quasi amtsärztliche Begutachtung und Zuweisung kamen Eltern und Kinder nicht an. Bezogen auf die Einrichtung der Beratungsstellen wurde nur vordergründig die Notlage von Kindern und Jugendlichen zu Beginn der Institutionalisierung der Beratungsstellen erwähnt, sehr schnell wurde mit dem Begriff der Verwahrlosung eine innere Not der Kinder und Jugendlichen konstatiert, der abgeholfen werden müsse. Verwahrlosungsforschung schien das Gebot der Stunde. Kölch bemerkt, dass auf diese Weise die Nachkriegszeit mit ihrer brutalen Not und sozialen Ungerechtigkeit zu einer Zeit mutierte, in der man es vor allem „mit einer Masse problematischer Kinder“ zu tun hatte: „Die Deutungstendenz der Zeit ging nun dahin, die Verwahrlosung eben nicht allein den äußeren Umständen zuzuschreiben, sondern ihr eine innere Komponente zu adjuzieren, die wiederum ärztlicher Versorgung bedürftig war. Die Umbauvorgänge, die gesellschaftlich und staatlich nach 1918 notwendig waren, boten Chancen zur Etablierung, auch im Gebiet der Kinderpsychiatrie und Psychopathieforschung.“ (vgl. dazu Kölch 1996: 36) 3.3 Das Verhältnis von Konstitutionsforschung, ärztlicher Profession und Institutionalisierung von Jugendsichtungsstellen und „Psychopathenfürsorge“ Michael Kölch hat in seiner Dissertation zur Psychopathenfürsorge besonders das Zusammenspiel zwischen Jugendämtern und Psychiatern und auf der Ebene der Berufsgruppen zwischen Ärzten und Fürsorgerinnen beschrieben. Er beschreibt die Beratung als Form des Zugriffs auf erziehungsschwierige und auffällige Kinder und Jugendliche. Für diesen Zugriff auf die Kinder ist die Deutung ihrer Probleme als konstitutionell erforderlich. Kölch beschreibt gerade in Berlin ein sehr dichtes Netz spezifischer Institutionen zur Betreuung für die so genannten psychopathischen Kinder und Jugendlichen und seine Ausdehnung und Differenzierung in der Weimarer Republik. Das Spektrum der Hilfs- und Betreuungsmöglichkeiten reichte, so Kölch (1996: 172) von eher sehr offenen Einrichtungen und Angeboten über das Betreuungsangebot durch Fürsorger und Fürsorgerinnen bis hin zu einer stationären Aufnahme in der Psychiatrischenund Nervenklinik der Charité. Mit der Etablierung der Konstitutionsforschung als Zweig der psychiatrischen Kinder- und Jugendforschung schließt sich zudem der Kreis der Einvernahme der erziehungsschwierigen Kinder. Die Konstitutionsforschung wird in Berlin in einem speziellen Ambulatorium für Konstitutionsmedizin durchgeführt. Mit der Institutionalisierung der Beratungsstellen für Psychopathen und dem zugehörigen Angebot an verschiedenen Formen der Für45
sorge und Selektion verändert sich der Blick auf die erziehungsschwierigen Kinder. Nicht mehr deren Umfeld, deren Beziehungsnetzwerk und die traumatischen Erfahrungen in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit werden zum Gegenstand der Reflexion, sondern das nicht angepasste Kind selbst wird zum Problem. Mit dieser Forschungseinrichtung ist die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen als Teil der Sozialpolitik genauso ausgeblendet wie ein möglicher Verstehenszugang zu den Konflikten und Problemen der Kinder und Jugendlichen aus kindheitstheoretischer, entwicklungspsychologischer oder familiendynamischer Sicht. Geradezu beeindruckend ist in den 1920er Jahren deshalb der quantitative Ausbau der Psychopathenfürsorgestellen. 1928 verkündete das Landesjugendamt Berlin, dass sich in jedem Bezirk eine Fürsorgestelle für „geistig abnorme Kinder und Jugendliche“ befinden sollte. Diese Psychopathenfürsorgestellen waren eingebettet in ein institutionelles Geflecht der Jugendfürsorge, welches Kölch (1996: 173, 174) als recht undurchschaubar bezeichnet. Kölch verweist weiterhin darauf, dass das RJWG keine besonderen Regelungen für die so genannten psychopathischen Kinder erlassen hatte, die rechtliche Grundlage für Selektion und Maßnahmen war entsprechend unklar. Schon die Einrichtung der Psychopathenfürsorgestellen erfolgte ohne speziellen gesetzlichen Auftrag. Die Beratungsstellen, so Kölch, hätten Kinder in Heimen untergebracht, jedoch nicht unter den Regelungen der Fürsorgeerziehung und damit ohne gesetzliche Legitimation und wahrscheinlich ganz allein auf die ärztliche Initiative hin, die auch Freudenberger in ihrem Buch von 1928 als maßgeblich für die Schicksale der Kinder bezeichnet. Die hauptsächliche Tätigkeit der Beratungsstellen lag nicht im Vollzug des formalen juristischen Prozesses der gesetzlichen Jugenderziehungsmaßnahmen begründet. Sie waren demnach keine Funktion in den Jugenderziehungsmaßnahmen. Vielmehr sollten sie inhaltliche Aufgaben der Jugendwohlfahrt wahrnehmen. Sie waren die Stellen und gleichzeitig die Strategie zur speziellen Diagnostik und Förderung derjenigen, bei denen man annahm, dass Verwahrlosung eine physische Wurzel habe. Verwahrlosung nicht allein äußeren Umständen zuzuschreiben, sondern sie zumindest teilweise anlagemäßig-genetisch begründet zu sehen, sah man zwar als erwiesen an, aber die genauen Umstände hielt man für noch nicht endgültig und umfassend geklärt. Die Beratungsstellen sollten die wissenschaftlichen Theorien bestätigen und damit Erkenntnisse psychiatrischer Forschung nutzbar machen für die Gesellschaft.
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3.4 Die Erziehungsberatung und die Entstehung des Heilpädagogischen Systems In einem Rückblick für die Bundeskonferenz der Erziehungsberatungsstellen zum Thema „100 Jahre Erziehungsberatung in Deutschland“, reflektiert Hans Peter Klug (2006) die geschichtliche Entwicklung der Erziehungsberatungsstellen und benennt folgende Institutionalisierungskontexte sowie folgende historische Situation: „Was war das für eine Zeit, in der Erziehungsberatung – im Sinne einer institutionellen Erziehungsberatung – dann immer häufiger zu finden war?“ fragt Klug (2006: 2). Die Gesellschaft sei sehr stark autoritär geprägt gewesen, tradierte Werte und Verhaltensnormen waren wichtig und es galt als oberstes Erziehungsziel die Anpassung des Kindes an die vorgegebene Ordnung, „wenn es sein musste“, auch durch systematisches und hartes Strafen. Klug erwähnt, dass 1887 in der „Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens“ exemplarisch formuliert wurde: „Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d. h., es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen …“ (Keupp 1998: 13). Keupp illustriert dies mit einem Zitat aus einem 1896 erschienenen Buch von Adolf Matthias. Dort heißt es unter der Überschrift „Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin?“: „Bei kleinen Kindern, die Mienen, Worte und Gebärden noch nicht recht verstehen, wirke man durch die Rute, durch Prügel; wenn‘s not tut, durch recht gründliche Prügel.“ In seinem Beispiel hat die Mutter ihren Jungen achtmal hintereinander an einem Vormittag verprügelt, um den „Willen fügsam“ zu machen und den „Sinn zu beugen“. Matthias fasst zusammen: „Hätte die Mutter sieben-, nicht achtmal geschlagen, so wäre es Rohheit und Grausamkeit gewesen; das achte Mal machte die Strafe zur Wohltat und Milde für alle Zeit“ (Keupp 1998: 14). Dieser Ratgeber erschien 1911 in der elften Auflage. Hans-Peter Klug verortet die Gründung der Erziehungsberatungsstellen in der Zeit, in der diese misshandelnde schwarze Pädagogik immer noch die alltägliche Erziehungspraxis darstellt und nennt auch die Bedingungen der Schule und der Kindergärten. „Es war eine Zeit, in der in einem Kindergarten 50 bis 60 Kinder in einer Gruppe von einer Schwester betreut wurden und diese kommandierte: „Ärmchen verschränken, Kopf in die Höh‘, gerade sitzen, Schwester ansehen!“ „Als natürliche Orte der Erziehung galten Familie und Schule. Versagten diese und Kinder und Jugendliche wurden auffällig, so wurden sie gesichtet“ (Geib u. a. 1994: 24). Es ist dieser Kommentar von Geib, der zunächst stutzig macht, denn er zeigt die Institutionalisierung der Erziehungsberatung nicht als Bruch mit der schwarzen Pädagogik, sondern als deren institutionalisierte Fortsetzung, eine These bzw. Schlussfolgerung, die Hans-Peter Klug dann aber nicht wirklich
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verfolgt, denn sie hätte die Erziehungsberatungsstellen in ein schwieriges Licht gerückt. Zur Institutionalisierung der Erziehungsberatung schreibt Klug, dass 1883 Max Taube, Leiter der Leipziger Ziehanstalt, begann, Pflegemütter unehelicher Kinder in Erziehungsfragen zu beraten. Im Sinne der Auffassung, dass eine gute Idee sich durchsetzt, werden dann die Institutionalisierungsschritte der Erziehungsberatungsstellen aufgezählt. 1903 wurde in Hamburg vom Kriminalpsychologen Walter Cimbal eine heilpädagogische Beratungsstelle gegründet. 1906 begann Fürstenheim mit der Medico-pädagogischen Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztlich erziehliche Behandlung in Berlin eröffnet und 1916 gründete er in Frankfurt/M. ebenfalls eine „Jugendsichtungsstelle“. 1917 gründete Homburger die heilpädagogische Beratungsstelle in der Ambulanz der Uni-Klinik Heidelberg, 1919 wurde die heilpädagogische Beratungsstelle in Berlin durch den „Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e.V. eingerichtet und schließlich nennt Klug die individualpsychologische Beratungsstelle in München durch den Psychiater Leonard Seif. Diese Beratungsstellen, so Klug, seien aus dem Gesundheitswesen entstanden, weshalb Ärzte in der Regel die Leitung innegehabt hätten und den Beratungsstellen eine stark medizinisch orientierte Konzeption zugrunde lag (Vossler 2005: 3 nach Klug 2006: 2). Mit dieser Aussage wird ein Stück vorsichtige Kritik am professionellen Profil der Erziehungsberatung geübt, wobei der Lobbyismus und die Beeinflussung der Jugendhilfe durch die Ärzteschaft wie auch die Verknüpfung der Beratung mit der Konstitutions- und Charakterforschung kaum wirklich problematisiert werden. Die Geschichte der Erziehungsberatung wird hier wieder, wie sehr oft (vgl. Presting 1991) als Geschichte der Heilpädagogik verortet und unkritisch mit der Heilpädagogik verknüpft. Eine kritische Auffassung zu diesem Zusammenhang formulieren Hänsel (2008) und Geuter (1984) wie auch Kölch (1996), Czarnowski (1991) und von Soden (1988). Wie diese Autorinnen und Autoren diskutiert Hänsel die Entwicklung der Beratungsstellen in der Weimarer Republik und im NS-Staat als Institutionalisierung eines erbhygienischen und selektierenden Denkens. Als Schulforscherin, die sich in ihrem Lebenswerk vor allem kritisch mit der Institutionalisierung eines fünfgliedrigen Schulsystems mit den so genannten Förderschulen früher Hilfs- und Sonderschulen befasst hat, geht Hänsel mit der deutschen Heilpädagogik in eine kritische Auseinandersetzung. Die Bedeutung des heilpädagogischen Diskurses für die deutsche Erziehungsberatung sieht Hänsel sehr stark durch die Professionalisierungsinteressen der Lehrer und Hilfsschullehrer und zwar sowohl in der Weimarer Republik wie auch im NS-Staat mitgeprägt. Neben den Ärzten mit ihrem beschriebenen erbhygienischen Denken, waren es nach Hänsel die Hilfsschullehrer, die die Heilpädagogik mit der Einrichtung und 48
Überweisung von Erziehungsschwierigen und auffälligen Kindern in die Sonderschulen vorangetrieben hätten. Verfolgt man die erziehungswissenschaftlichen Diskurse über die pädagogische Beratung seit den 1960er Jahren, insbesondere die Arbeiten von Müller/Mollenhauer und die Arbeiten von Hans Bude, dann ist die heilpädagogische Haltung eine Figur aus Lenkung, Fürsorge und Fernhalten von der Gesellschaft, die die erziehungswissenschaftliche Kritik besonders herausgefordert hat. Zwar lässt sich der Heilpädagogik kein Bezug zur Kindereuthanasie und zum Konstrukt des unwerten Lebens vorwerfen, jedoch baut ihre Profession auf den teilweise unhaltbaren Konstruktionen von Psychopathie, Charakteranomalität und Organminderwertigkeit auf und verbindet diese mit Funktionen von Verwahren, Lenken und Selektieren. Die Heilpädagogik hat sich damit deutlich als Ordnungspädagogik erwiesen, mit einer hohen Affinität zur instrumentellen Vernunft und zu einem Utilitarismus, der erziehungsschwierige Kinder als Last wahrnimmt. So hat die Heilpädagogik vor allem eine Funktion für die Gesellschaft eingenommen, die vor den Langsameren, Gebrechlichen und Lernbehinderten geschützt werden will. Zwar sollen diese Personen nicht mehr sterben, weil sie als psychopathisch gelten, sollen aber in einem möglichst geschlossenen System von Schonräumen leben, die schwer zu verlassen sind. Das heilpädagogische Denken des Schutzes und der Lenkung hat in der Erziehungswissenschaft immer wieder zu großen Kontroversen geführt und ist hochgradig strittig, denn unausweichlich ist die heilpädagogische Konzeption für die Klienten identitätsgefährdend, da sie im anerkennungstheoretischen Sinne weder Selbstachtung, noch Selbstvertrauen, noch Wertschätzung bereithält. Den Klienten und Klientinnen werden Rechte vorenthalten. Ihre Eigenschaften werden als Ausdruck von Minderwertigkeit und Pathologie beschrieben und schließlich ist die Zuwendung, die man ihnen zuteil werden lässt, doppelbödig und beschämend. Dagmar Hänsel betont, dass das erste Problem der Heilpädagogik darin besteht, dass sie in der medizinischen Tradition verhaftet geblieben ist und sich von der Erziehungswissenschaft als Fach abgegrenzt hat, um ihr Professionalisierungsinteresse zu schützen. Die Heilpädagogik stellt entsprechend ein geschlossenes Feld dar. Den hohen medizinischen und psychiatrischen Bezügen stehen sehr geringe sozialwissenschaftliche Traditionen gegenüber. Der Grundsatz von „Heilen und Bilden“, den Alfred Adler 1914 in seiner gleichnamigen Publikation prägte, wird zu Lasten der Bildung zusätzlich außer Kraft gesetzt. Mit der disziplinären Trennung von Erziehungswissenschaft und Heilpädagogik wird, neben dem pädagogischen Grundsatz der Bildung, auch der pädagogische Grundsatz der Erziehung verletzt. Mündigkeit, Selbstbestimmung, Identität und Anerkennung als Ziele und Fundamente der Pädagogik gelten in den heilpädagogischen Traditionen eben nur sehr eingeschränkt. Die Probleme der Erziehungsberatung 49
sind, folgt man den historischen Quellen, Gehorsamsverweigerung, Rebellion, Trotz. Die Ursachen werden in Verwahrlosung, Verwöhnung, Organminderwertigkeit, Psychopathie und Anomalität gesehen. Der Fokus auf das Organische sei zudem, so Dagmar Hänsel (2008: 55), ein besonderes Problem, welches aus der gleichen Forschungstradition hervorgegangen sei, die für die Heilpädagogik eben typisch gewesen ist, die Forschung an Hirnverletzten. 1988 hat sich die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung in Frankfurt/M. im Rahmen einer wissenschaftlichen Jahrestagung mit dem Thema „Erziehungsberatung im Nationalsozialismus“ auseinandergesetzt. Ergebnis ist ein eindrücklicher und überaus lesenswerter Sammelband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, von denen hier nur einige aufgeführt werden können, die sich eng mit dem Thema der Institutionalisierung, der Akteure und der Geschichte der Deutschen Erziehungsberatung befassen. Dabei fallen verschiedene Phänomene und Probleme auf, die sich im Sinne einer Schlussfolgerung wie folgt zusammenfassen lassen. Sophie Freudenberger wiederum betont in ihrer Dissertationsschrift an verschiedenen Stellen das soziale Engagement einzelner Ärzte, Vereine oder Gruppen, die private Initiativen gründen, um das „Leben der heranwachsenden Jugend „schützend und fördernd“ zu umgeben. Auch Kölch betont die Bedeutung von privaten Initiativen und sozialem Engagement. Dass die Psychopathen schließlich als ein gesellschaftliches Problem angesehen wurden, und dass für diese Gruppe Hilfesysteme und Netzwerke geschaffen wurden, daran hätte privates Engagement großen Anteil (1996: 177). So nennt Kölch den „Deutschen Verein zur Fürsorge Jugendlicher Psychopathen“, den er als ausschlaggebend für die Institutionalisierungsprozesse der Fürsorgestellen bezeichnet. Kölch spricht von einer Verwebung der freien Wohlfahrtspflege mit der staatlichen Sozialpolitik, aus der sich wiederum eine Durchdringung der gesetzlichen Institutionen mit Interessen privater Organisationen ergeben hätte. Diese Lobbypolitik und die Ausstattung der privaten Initiativen mit moralischem und politischem Gewicht und Gestaltungsmacht im Fürsorgesystem, verhalf dem Deutungsmuster Psychopathie zu einer großen gesellschaftlichen Akzeptanz. „Da die freie Wohlfahrt die öffentliche bedingte und umgekehrt, ist die Fürsorge für solche Problemkinder nachvollziehbar und die Errichtung der Psychopathenfürsorgestellen bei den Bezirksjugendämtern verständlich. Vielmehr erscheint das Entstehen der Beratungsstellen aus einem solchen Prozess heraus zwingend, sollten doch die Jugendämter den ‚Mittelpunkt der gesamten Jugendwohlfahrtsarbeit bilden’. Also mussten sie den Interessen der an der Jugendwohlfahrt beteiligten Parteien Rechnung tragen und ihren Aufgabenbereich auf alle
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relevanten Gebiete darunter die Psychopathenfürsorge, ausdehnen.“ (Kölch 1996: 177) Betrachtet man das bürgerliche Engagement in diesem Feld, dann zeigt sich die Erziehungsberatung in einem ihrer hauptsächlichen Bereiche anders als zum Beispiel bei der Sexualreformbewegung, eben nicht als eine Selbsthilfe- oder Genossenschaftsbewegung bzw. als bürgerschaftliches Engagement mit dem Ziel einer Reform. Das so gelobte private Engagement ist vielmehr einer anderen Politik als der Reform geschuldet. Die privaten Vereinigungen haben anscheinend gezielt Einfluss auf den Staat genommen, ihre Amtsautorität und gesellschaftliche Stellung gebraucht, um Denkweisen und Haltungen durchzusetzen, und sich des Staates bedient, um ihre Forschungsarbeiten und Professionen voranzutreiben. Dies ist zumindest eine Facette im Arbeitsfeld Beratung. Allerdings ist dies nicht gültig für die gesamte Erziehungsberatung. Sowohl im Bereich der psychoanalytischen Erziehungsberatungsstellen, von denen es in Deutschland jedoch keine wirklich gab, es gab hier nur Ideen und Konzepte, als auch im Bereich der Jugendberatung, haben sich neben den beschriebenen heilpädagogischen Beratungsstellen andere Praxen und Konzepte institutionalisieren können, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. 3.5 Frühe Konflikte um die der Erziehungsberatung. August Aichhorns Ansatz „Nur wenn alle andere Hilfe versagt, wird die Einweisung in eine geeignete Anstalt veranlasst. Das bedeutet dann nicht selten einen tiefen Eingriff in das Schicksal eines Kindes. In diesem Belange wird die Erziehungsberatung zu allerletzt eine Sichtungsstelle. Niemals kann das aber ihre Hauptaufgabe sein.“ (Aichhorn 1972: 25) In einem Vortrag über Verwahrlosung und Wissenschaft setzt sich August Aichhorn kritisch mit der Auffassung von Erziehungsberatung im Sinne der Sichtungsstellen auseinander und wirft der zeitgenössischen Erziehungsberatung und seinen Kollegen Fürstenheim, Homburger und Cimbal deutlich einen falschen Ansatz vor. Dabei entfaltet Aichhorn seine Argumentation historisch und beginnt bei der Kritik am kriminologischen Diskurs im 19. Jahrhundert. Er konstatiert, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst das Vergeltungsprinzip im Umgang mit Straffälligen aufgelöst wurde und schrittweise eine menschlichere Umgangsform mit Strafgefangenen institutionalisiert wurde. Insbesondere sollten die psychologischen Extremsituationen in den Zuchthäusern in Bezug auf
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Hygiene, Ernährung und Arbeit verbessert werden und den wichtigsten menschlichen Grundbedürfnissen Rechnung getragen werden. Mit der Auflösung des Vergeltungsprinzips, so Aichhorn, entstand dann auch wissenschaftliches Interesse an den Strafgefangenen. Die Disziplinen, die sich nun mit den Strafgefangenen beschäftigten, ordnet Aichhorn der Kriminalanthropologie, der Kriminalpsychologie und der Kriminalbiologie zu. Erkenntnisinteresse der Kriminalanthropologie war zunächst die Frage nach der möglichen Verbindung von Physis und Kriminalität, die in teilweise absurden Theorien über den Zusammenhang von Statur und Hässlichkeit mit Kriminalität gipfelte, auch Kriminalität und Rasse sei Gegenstand dieser Kriminalanthropologie gewesen. Es ist leicht zu erkennen, dass Begriffe wie Organminderwertigkeit und Konstitutionsforschung hier ihren Ursprung hatten. Die Kriminalpsychologie, welche sich zeitgleich mit der Kriminalanthropologie entwickelt habe, nehme auch einen Zusammenhang von Kriminalität und Vererbung an und gehe von angeborener Kriminalität aus. Kriminalität wird in Zusammenhang mit angeborenem Schwachsinn, Abnormität, Wahn und schließlich Neurose gebracht. Aichhorn nennt zudem den Begriff der Milieuverwahrlosung im Kontext der Kriminalpsychologie, was auf eine sozialwissenschaftliche Begründung von Kriminalität hinweist. Schließlich diskutiert er die Kriminalbiologie, die als vorwiegend medizinische Forschung den kriminologischen Diskurs der Weimarer Zeit, insbesondere von 1920-1930, mitgeprägt habe. Die Medizin knüpfe an die Forschungstraditionen von Kriminalanthropologie und Kriminalbiologie an und übernehme hinsichtlich des Wesens und der Entwicklung der kriminellen Persönlichkeit deren Erkenntnisinteresse und Forschungsmethoden. Die kriminelle Persönlichkeit würde erfasst, vermessen und typisiert und in Bezug auf das Verhältnis von Kriminalität und Lebenslauf auch längsschnittuntersucht. In Bezug auf die Probleme von Kindern und Jugendlichen, so Aichhorn, sei bedeutsam, dass die Forschung über Kinder- und Jugendkriminalität zum einen sehr spät eingesetzt habe, zum anderen hätten sich ihre Protagonisten jener Theorien bedient, die schon da waren und nichts Neues entwickelt. Die Erforschung der Verwahrlosung sei nicht neue Wege gegangen, sondern habe ihre Methoden aus den traditionellen Ansätzen übernommen und lediglich vordergründig angepasst. Vor allem die Übernahme des kriminalbiologischen Diskurses und seine Bedeutung für die heilpädagogischen Beratungsstellen verletze das ethische Mandat, welches für die Erziehungsberatung verbindlich ist und stelle eine methodische Sackgasse dar.
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Schaut man sich die Theorie der Verwahrlosung von Aichhorn an, so steht in deren Mittelpunkt die Psychoanalyse des Über-Ichs und des Schuldgefühls, wobei Aichhorn anhand von Fällen illustriert, in welche Gewissenskonflikte Kinder und Jugendliche geraten und wie aus bewussten Schuldgefühlen Verhalten wie Lügen und Verleugnen wird, aus unbewussten Schuldgefühlen Kriminalität, bevorzugt Stehlen und Schwänzen. Methodisch steht bei Aichhorn, neben der psychoanalytischen Diagnose, vor allem die Arbeit mit den Eltern, die das Über-Ich des Kindes prägen. Eindeutig sind, bezogen auf die erziehungsberaterische Diagnose, Parallelen zu Freuds berühmtem pädagogischem Fall, dem „kleinen Hans“ zu erkennen. Jedoch findet sich auch die Arbeit mit den Eltern schon im „kleinen Hans“. Abgesehen davon spricht Aichhorn mit einer Güte und Wärme von den Kindern und Jugendlichen, denen er hilft, dass es leicht fällt, ihn als großen Hermeneutiker und Humanisten zu klassifizieren. In Bezug auf seine Haltung und Ethik steht er dem großen humanistischen Psychologen wie Carl Rogers in nichts nach. 3.6 Alfred Adler und die individualpsychologischen Beratungsstellen Über die Individualpsychologie sagt Sophie Freudenberger (1928: 79), dass sie sich von der Psychoanalyse zum einen durch die bewusste Orientierung an Werten, im Gegensatz zur naturalistischen Einstellung der Psychoanalyse, unterscheide. Zum Zweiten hebt sie die „ausschließlich finale Betrachtungsweise von Verhalten und Symptomen in der Individualpsychologie“ hervor und schließlich betont Freudenberger, das Konzept der Organminderwertigkeit für die individualpsychologische Erziehungsberatung. „Die Individualpsychologie ging aus von der Organminderwertigkeitslehre. Das Kind erlebt die Wertigkeit und Tauglichkeit seines Organismus“ (Freudenberger 1928: 79). Betrachtet man das Theoriegebäude der Individualpsychologie, so ergeben sich folgende Säulen: Erstens ist mit der so genannten finalen Betrachtungsweise die Funktion eines Verhaltens angesprochen. Freudenberger teilt die Kritik der Individualpsychologie an der Psychoanalyse. Das Gewicht auf die Ursachen zu legen, was für Freudenberger heißt, kausal zu denken, sei einseitig. Vor allem die Adlersche Sichtweise, dass alles Lebendige einem Ziel und einem Zweck entgegengeht, wird von Freudenberger hervorgehoben. Danach ist menschliches Verhalten in seinem Wesen nur verstehbar, wenn man es als ziel- und zweckgerichtet, also final, betrachtet. Die Motive für das Verhalten eines Kindes liegen nicht einfach in der Vergangenheit, sondern immer auch in der Zukunft. Die
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Individualpsychologie geht davon aus, dass ein und dieselbe Ursache zu den verschiedensten Verhaltensweisen führen kann. An herausgehobener Stelle steht bei Adler das Konzept der Organminderwertigkeit als Schlüssel und Zugang zum Verstehen von Problemen des Kindes. Jeder Mensch ist bei seiner Geburt ein Mängelwesen und unreif, so seine Annahme. Neben der allgemeinen Mangelhaftigkeit und Abhängigkeit des Kindes kommt ggf. eine ausgesprochen sichtbare Benachteiligung im Sinne der Minderwertigkeit eines Organs hinzu. Man kann Adler zu Gute halten, dass er hier die narzisstische Ebene anspricht und weniger die Triebbefriedigung und die Konflikte um die Triebbefriedigung für Erziehungsprobleme verantwortlich macht, als vielmehr Kränkung und Kompensationsversuche des Kindes. Vor allem, so Freudenberger, bei länger währendem Minderwertigkeitsgefühl wolle das Kind zum Gefühl der Vollwertigkeit zurückkehren. Aus der Organminderwertigkeit ergäbe sich dann ein gesteigertes Streben nach Macht. Zur Bedeutung der Umwelt für die Erziehungsschwierigkeiten sagt Freudenberger, dass nicht die absoluten Werte der Organe des Kindes ausschlaggebend seien, sondern ihre relativen und deren Verhältnis zur Umgebung. Insgesamt kann man wohlwollend begründen, dass mit dem Ansatz der Finalität und der Organminderwertigkeit systemische und narzisstische Dimensionen der Erziehungsschwierigkeiten angesprochen sind, die die Vertreter der Psychoanalyse, u. a. August Aichhorn, so nicht formuliert haben. Andererseits sind Begriffe wie Minderwertigkeit, Streben nach Macht oder auch Funktion eines Verhaltens sehr deutlich wertend und vertragen sich schlecht mit Grundsätzen der Beratung. Die Individualpsychologie geht weiterhin von einer Ganzheit der Person aus. In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie, die mit naturwissenschaftlichen und experimentellen Methoden Einzelaspekte der menschlichen Person untersuchte, verstand der Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler, den Menschen als Ganzheit. Ähnlich wie die Gestaltungstheoretiker der 1920er Jahre, Koffka und Wertheimer, verstand er das Symptom eingebunden in Kontexte und die Beziehung zwischen dem Ganzem und dem Teil als konstitutiv. Unter den Psychoanalytikern gilt Adler als Materialist und Sozialist. Er lehnte die Vererbungs- und Konstitutionslehren ab, interessierte sich aber dafür, warum Menschen in einer relativ homogenen Umwelt (z.B. in derselben Familie) sich sehr verschieden entwickeln können. Nach Adler erklären sich z.B. die individuellen Unterschiede der Menschen dadurch, dass jeder aufgrund seiner sozialen Situation, vor allem seiner Position in der Geschwisterreihe, eine für ihn typische Art des Kompensierens ausbildet. Diese Art des Kompensierens nannte er Leitlinie.
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Der Mensch gilt Adler als grundsätzlich soziales Wesen. Da er als Einzelner nicht überleben kann, ist er auf andere angewiesen. Dieses Wissen um die Angewiesenheit nennt Adler das angeborene Gemeinschaftsgefühl, welches zwar konstitutiv ist, aber der Entwicklung bedarf (Freudenberger 1928: 81). Ein reifer Umgang mit den Schwächen wäre es dann, wenn der Mensch zur Erkenntnis kommt, dass er seine subjektive oder objektive Organminderwertigkeit auf eine menschenwürdige Weise ausgleichen kann, wenn er mit anderen zusammenarbeitet und die Lebensaufgaben gemeinsam löst. Minderwertigkeit kann also durch Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ausgeglichen werden. „Wenn alle psychischen Phänomene, Ausdrucksformen, Handlungen, Leistungen, Begabungen und so weiter, antwortende Stellungnahmen der Persönlichkeit sind, so ist auch die Korrektur oder Umwandlung möglich. An dieser Stelle ist die Wurzel des großen erzieherischen Optimismus der Individualpsychologie. Wenn alle Charakterfehler, Fehlleistungen und Unterbegabungen die Folge von kindlichen Irrtümern, falschen Selbsteinschätzungen sind, so ist grundsätzlich jedes nicht schwachsinnige oder geisteskranke Kind zum leistungsfähigen und -freudigen Menschen zu erziehen oder nach zu erziehen.“ (Freudenberger 1928: 82). Leistungsmut und Gemeinschaftsgefühl stehen entsprechend im Mittelpunkt der individualpsychologischen Erziehungsberatung, die methodisch vor allem aus Ermutigung besteht. Freudenberger stellt den Leistungsgedanken an einen herausgehobenen Platz. Leistungsmut, Leistungsschulung, Bekämpfung des Aberglaubens der Unterbegabung, vermitteln von Erlebnissen der Vertrauenswürdigkeit sind wichtige Säulen ihrer Beratungsvorstellung. Strafen werden dagegen abgelehnt, ebenso wie die Liebesprämie oder der Liebesentzug. Die Individualpsychologie übte auf die deutsche Erziehungsberatung einen relativ großen Einfluss aus. Sie bildete vor allem nach 1936 den Kern der Neuen Deutschen Seelenheilkunde am neu gegründeten Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin. Die Neue Deutsche Seelenheilkunde grenzte sich einerseits von der als „jüdisch“ bezeichneten Psychoanalyse Sigmund Freuds ab, andererseits repräsentierte sie eine moderne psychotherapeutisch orientierte Richtung im Umgang mit „Kinderneurosen“ und seelischen Störungen des Kindes- und Jugendalters. Diese sollte vor allem der „erbwertigen Jugend“ zu Gute kommen. Dass die Individualpsychologie in Deutschland auf die Erziehungsberatung einen so großen Einfluss ausübte, dürfte indessen eher Netzwerkgründe, denn geistesgeschichtliche Gründe haben. Alfred Adler war verbunden mit Leonard Seif, dem Begründer der Erziehungsberatungsstelle in München. Seif wiederum
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war Ausbilder und Lehrer von Mathias Hermann Göring, dem Leiter des Deutschen Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin (vgl.: Baumann 1989: 157). 3.7 Der Sonderweg der Jugendberatungsstellen In seinen Lebenserinnerungen – was nicht in meinen Büchern steht – geht der Arzt und Logotherapeut Viktor Frankl nur kurz auf die Jugendberatungsstellen ein, die ihn u. a. in der Pädagogik bekannt gemacht haben. Die Jugendberatungsstellen zeigen aber auf, dass es im Bereich der Erziehungsberatung, ähnlich wie bei der Ehe- und Sexualberatung, Flügel, Positionen und Konflikte unter den Professionellen gab. „Ich organisierte zuerst in Wien und dann, nach Wiener Muster, in sechs anderen Städten, so genannte Jugendberatungsstellen, in denen Jugendliche in seelischer Not unentgeltlich beraten wurden. Als Berater stellten sich mir Männer wie August Aichhorn, Erwin Wexberg, und Rudolf Dreikurs ehrenamtlich zur Verfügung. Aber auch Charlotte Bühler erklärte sich, wie alle anderen, dazu bereit, Ratsuchende in der Wohnung zu empfangen. 1930 organisierte ich erstmalig eine Sonderaktion zur Zeit der Zeugnisverteilung, was zur Folge hatte, dass in Wien nach vielen Jahren erstmalig kein einziger Schülerselbstmord zu verzeichnen war. Das Ausland begann sich für diese Arbeit zu interessieren und ich wurde zu entsprechenden Vorträgen eingeladen. In Berlin traf ich mich zu einem ausgiebigen Gespräch mit Wilhelm Reich, der sich für die Jugendberatung interessierte und, um mit mir meine Erfahrungen mit den in diesem Rahmen anfallenden Sexualproblemen zu diskutieren, mich stundenlang in einem offenen Auto durch Berlin kutschierte.“ (Frankl 1995: 47/48) Wie sich das Interesse an der Jugendberatung in Deutschland ausgewirkt hat, ist in Frankls Autobiografie nicht zu finden. Deutlich ist nur, dass Viktor Frankl mit demjenigen Mann, der sich seit 1914 für eine Jugendberatung stark gemacht hat, wohl nicht in Kontakt gekommen ist. Über Jugendberatungsstellen in Deutschland äußert sich jedoch auch Sophie Freudenberger 1928 (S. 42-44). Sie unterscheidet die Jugendberatungsstellen von den Erziehungsberatungsstellen, weil hier nicht die Eltern, sondern die Jugendlichen selbst beraten werden. Jugendberatung wendet sich an Jugendliche, die „dem Volksschulalter entwachsen sind“. Und die ihrer Idee nach nicht unter das Dach der öffentlichen Jugendfürsorge fallen, weil sie zum einen ein privater „Helferdienst seien“ – dies deutet ebenfalls Frankl an, wenn er sagt, dass Ratsuchende in der Privatwohnung der
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Beraterinnen und Berater empfangen werden. Die Ähnlichkeit zwischen Erziehungsberatung und Jugendberatung macht Freudenberger an zwei Kriterien fest, zum einen ginge es um ähnliche Probleme, wie Verelendung, Verwahrlosung und Verzweifelung, zum anderen würden nachträglich auch Eltern oder die „Lehrherren“ in die Beratung einbezogen, um zwischen den Jugendlichen und den Eltern oder dem Ausbilder zu vermitteln. Freudenberger erwähnt das Projekt von Hugo Sauer, der in Deutschland seit 1914 mit der Idee einer unabhängigen quasi ehrenamtlichen Jugendberatung werbe. „Sauer will, dass die Jugendberatung ehrenamtlich und privat von erfahrenen, liebevollen Helfern in der eigenen Wohnung ausgeübt wird. Deren Adressen sollen die Jugendlichen durch öffentliche Anschläge in den Fortbildungsschulen, Fabriken, kurz an allen Orten, wo viele Jugendliche aus- und eingehen, erfahren. Sauer versuchte seit 1914 im Publikum, in der Presse und bei den Behörden für diesen Gedanken zu werben, und immer wieder zu begründen, warum die bisherigen Einrichtungen, Elternhaus, Schule und Kirche nicht mehr genügen, um die Not der Jugend zu steuern. Er drang mit seinen Gedanken nur schwer durch.“ (Freudenberger 1928: 42/43) Die Jugendberatung scheiterte, so Freudenberger, obwohl sie einige Kennzeichen professioneller Beratung hatte, die Verschwiegenheit, die Qualifikation und Unabhängigkeit von den Fürsorgestellen, den psychiatrischen Systemen und der Ordnungsverwaltung. Freudenberger gibt an, dass das Scheitern vor allem durch die mangelnde Bekanntgabe bedingt gewesen sei und empfahl den Gewerkschaften, Jugendverbänden und Volkshochschulen, sich dieses Themas mehr anzunehmen. In Berlin werden nach einem Versuch mit 80 ehrenamtlichen Beraterinnen und Beratern in Kreuzberg, Mosstraße 13, immerhin 100 – 110 Jugendliche erreicht, während in Nürnberg die Jugendberatung stagnierte. Der Initiator, Professor Schandel, versuchte hier ebenfalls mit 20 ehrenamtlichen Beratern und Beraterinnen zu arbeiten. Schließlich erwähnt Freudenberger noch eine Beratungsstelle in Breslau, die von 200 Jugendlichen frequentiert wurde, wovon 70 % der Schulentlassenen „mit beruflichen, finanziellen, häuslichen und sexuellen Nöten“ sind. Am Rand erwähnt Freudenberger, dass in Darmstadt eine Beratungsstelle sehr stark vernetzt mit dem Jugendamt und den Jugendheimen arbeitet. Die Darmstädter Jugendberatung würde sich vor allem an männliche Jugendliche wenden, eine Beratungsstelle für weibliche Jugendliche sei von einem Verein der Freundinnen junger Mädchen nach dem Vorbild Hugo Sauers geplant. Freudenberger zeigt auf, dass die Darmstädter Beratungsstelle mit einer Klientenzahl von
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1.913 im Jahre 1923 zu den stark frequentierten Beratungsstellen gehört, allerdings ist hier durch die starke Anbindung an die Fürsorgestellen wieder nicht von Freiwilligkeit auszugehen, sondern zumeist werden die Jugendlichen gebracht und die Jugendberatungsstelle übernimmt die Schutzaufsicht (Freudenberger 1928: 44). 3.7.1
Die Schülerselbstmorde im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Neben Viktor Frankl gehen die Individualpsychologen um Alfred Adler in „Heilen und Bilden“ gleich in mehreren Beiträgen auf die Schülerselbstmorde im Kaiserreich und in der Weimarer Republik als Auslöser und wichtige Faktoren für die Einrichtung einer anderen Jugendberatung ein. Sophie Freudenberger hingegen sagt in ihrem Buch über die Erziehungsberatungsstellen nichts dazu, obwohl sie sich sonst ausführlich mit allen möglichen Problemen der Erziehungsberatung befasst. In der Literatur spielen Schülerselbstmorde in dieser Zeit eine nicht unwichtige Rolle, vor allem im Zusammenhang mit Beschämung und Erniedrigung, im Zusammenhang mit Schulproblemen und in Zusammenhang mit schweren Adoleszenzkrisen werden sie von Kinderärzten und Psychiatern erwähnt oder hervorgehoben. Es hat den Anschein, als sei der Schülerselbstmord Ausdruck seiner Zeit, etwa wie heute die Drogenprobleme, Ausdruck schwerer adoleszenter Krisen, in der Weimarer Republik vor allem der männlichen Jugend. Während die etablierte Psychiatrie den Suizid unter Schülern noch im Sinne der Konstitutionslehre als psychopathologische Konstitution interpretierte, sahen die Befürworter der Jugendberatungsstellen in den Schülerselbstmorden vor allem eine adoleszente Krise, bedingt durch hohen gesellschaftlichen Druck und entsprechende Sensibilität im Jugendalter. Vor allem die Schule geriet unter Druck. Insbesondere Furtmüller weist auf die Familiendynamik, den elterlichen Erwartungsdruck und das Dreieck zwischen Elternhaus, Kind und Schule hin. Diese psychodynamische Sichtweise, vertreten durch die Individualpsychologie, wird jedoch von vielen konservativen Heilpädagogen und Ärzten bestritten. Vor allem die Vertreter der Konstitutionslehre gehen von angeborener Psychopathologie und damit angeborener Selbstmordneigung aus. So wendete sich Dr. Theodor Heller, der ärztliche Direktor der Erziehungsanstalt in Wien Grinzing, gegen die Ansätze der psychoanalytischen Erziehungsberatung. In seinem 1925 erschienen „Büchlein“ zur Psychologie und Psychopathologie des Kindes sagt er zum Thema Schülerselbstmord:
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„Das traurigste Kapitel der psychopathischen Konstitutionen betrifft zweifellos den Selbstmord von Kindern und Jugendlichen. Wir haben erst kürzlich in Wien ein derartig tragisches Geschehen miterlebt und finden es durchaus begreiflich, dass allenthalben tiefes Mitleid mit dem jungen Mann bekundet wurde, der vorschnell seinem Leben ein Ende bereitet hatte, wobei immerhin die Befürchtung zur Geltung kam, es sei die Schule gewesen, die diesen katastrophalen Ausgang verschuldet habe, womit wieder eingewisses Misstrauen auflebte, das ein großer Teil des Publikums höheren Schulen schon seit Jahrzehnten entgegengebracht hatte.“ (Heller 1925: 54) Heller klärt demgegenüber das Publikum über die wirklichen Ursachen der Schülerselbstmorde auf, sowie deren Psychopathologie. Würde man, so Heller, die Jugendlichen rechtzeitig als Psychopathen erkennen, so mancher Selbstmord könnte vermieden werden (Heller 1925: 55) 3.7.2
Hugo Sauers einsamer Kampf um die Institutionalisierung einer freien Jugendberatung in Deutschland
In der Zeitschrift „Entschiedene Schulreform“ von 1923, publizierte Hugo Sauer seine Vorstellung der Arbeit von Jugendberatungsstellen. Das 95 Seiten umfassende Heft beginnt mit einer Statistik über die Selbstmorde von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum 30. Lebensjahr. Erfasst sind der Staat Preußen, die Provinz Brandenburg und Berlin Stadt. Nach dieser Statistik begehen im Zeitraum von 1915 bis 1921 durchgängig in der Altersgruppe der 10- bis 15jährigen ca. 100 bis 120 Personen einen Suizid. Bei den 15- bis 20jährigen sind es 650 bis 850 Personen und bei den 20- bis 30jährigen ca. 1.400 1.915 und 1920 ca. 2.500 Personen. In der Stadt Berlin begehen mehr Mädchen und Frauen Selbstmord als Jungen und Männer (Sauer 1923: 12). In dem hier untersuchten siebenjährigen Zeitraum begingen demnach in Preußen 488 Knaben und Mädchen unter 15 Jahren Selbstmord, davon im Stadtkreis Berlin 40, in der Provinz Brandenburg ohne Berlin 98. Für diese Kategorie unter 15 Jahren, deren Vorhandensein an sich schon ergreifend ist, ist die von einzelnen Autoren gelegentlich schon gebrauchte Bezeichnung Kinderselbstmorde auch amtlich erforderlich (...). Besonders rührend, wenn auch wohl allgemein unbekannt, ist die Tatsache, dass das zarte Alter von 5 – 10 Jahren in dieser Kategorie während der sieben Jahre in Preußen 16, in Berlin 3 in Brandenburg 4 Selbstmörder aufweist (Sauer 1923: 12). In Anlehnung an verschiedene Quellen argumentiert Sauer, dass in Preußen durch die Selbstmorde von Jugendlichen quasi alle zwei Jahre eine Kleinstadt
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verschwinde. Sauer wendet sich in seiner Schrift vor allem der Tabuisierung des Themas zu. Alljährlich um die Osterzeit (die Zeit der Zeugnisse) pflege man zu lesen, dass die Gründe für die Jugendselbstmorde den Eltern und Lehren ein Rätsel seien. Sauer nennt die Gruppe der Schüler, die aus Scham und Kummer und wegen nicht erbrachter Leistungen einen Suizid vornimmt, die erste Gruppe und unterscheidet sie von der Jugendkriminalität und der Jugend in Fürsorge. Auch diese Jugendlichen seien in erhöhtem Maße selbstmordgefährdet. Er hebt vor allem Eigentumsdelikte hervor und die Konsequenz die Fürsorgeerziehung, deren Maßnahmen Sauer anhand eigener Erfahrungen beschreibt. „Im Frühsommer 1923 war ich bei einem ländlichen Besitzer einige Schnellzugstunden von Berlin als Sommergast. Im Jahr zuvor erschien eines Tages ein Junge bei ihm und bat um Arbeit. Er war fleißig und bescheiden. Nach einigen Tagen wurde er nach seinen Papieren befragt und gestand, einem Mühlenbesitzer, der einige Fußstunden weit wohnte und bei dem er verdingt war, wegen unmenschlicher Misshandlung entlaufen zu sein. Er erklärte mit aller Bestimmtheit lieber in den Tod zu gehen, als zu dem Müller zurückkehren zu wollen. Der Besitzer telefonierte dem Gendarmen, der am anderen Morgen sechs Uhr den Jungen zur Anstalt zurücktransportierte. Ob er wieder zum Müller kam entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls brachte dieser Vorfall den sehr gewinnsüchtigen und geizigen Besitzer auf die Idee, ebenfalls für wenig Geld sich eine so billige Arbeitskraft zuzulegen. Aus eigener Anschauung kann ich bezeugen, dass dieser Junge es sehr schlecht getroffen hatte. Er war auch zweimal ausgerissen und beide Male vom Gendarmen – sicher nicht sänftiglich – wieder zurückgebracht worden. Er sah klein und schwächlich aus, arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend, auch sonntags und ersetze so einen erwachsenen Knecht.“ (Sauer 1923:. 20) Hugo Sauer nennt jedoch nicht nur die verelendete Jugend als Adressat für die Jugendberatung. An anderer Stelle geht er, bedingt durch Krieg und Revolution, auf die außergewöhnlich hohe Zahl an Fürsorgezöglingen ein, die wiederum darauf hinweist, dass das System der Jugendsichtung in den 1920er Jahren bereits griff. Einhunderttausend Fürsorgezöglinge, fünfzigtausend vor den Jugendgerichten, eine Million unehelicher Kinder, 250.000 Kinder in der Armenpflege und 150.000 Kinder die Rentenversicherung beziehen, also Halb- bzw. Vollwaisen sind. Sauer spricht von der Not der Kinder und Jugendlichen und hält ein emphatisches Plädoyer für die Jugendberatung. Die Situation der arbeitenden Jugend beschreibt er in den Zeiten der großen Inflation als dramatisch, sind doch gerade Jugendliche der Lohndrückerei besonders ausgesetzt. Und schließlich nennt Sauer die Schüler von Lyzeen und Gymnasien, also die Angehörigen der
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höheren Klassen, als Adressaten. Hier ist es vor allem der Leistungsdruck des sozialen Aufstiegs, aber auch Fragen von Sexualität und Intimität, die diese Jugendlichen zu Adressaten für die Jugendberatung machen, die nach Sauer eines ganz besonderen Konzeptes bedarf (Sauer 1923: 22). Eine dritte Gruppe beschreibt Sauer als Jugend in Not und geht hier zum ersten Mal auf die Lage der Mädchen und jungen Frauen ein. „Es gibt in Berlin große Läden, in denen fast sämtliche Angestellten Lehrfräuleins sind. Die kosten nur wenig und wenn es denen nicht passt, wirft man sie eben vor die Tür, vor der schon Hunderte neue stehen, um als Lehrfräulein angenommen zu werden“ (Sauer: 23). Sauer führt aus, dass die Entlohnung der jungen Frauen so niedrig ist, dass es oft nicht für das Nötigste reicht und nennt heimliche Prostitution als eine Folge dieser geringen Löhne. Sauer nennt Kinderarbeit, wie z.B. das Einsammeln von Müll, vor allem aber das Sammeln von Papier und Metall (Sauer 1923: 24/25). 3.7.3
Das Konzept der Jugendberatungsstellen
„Überall da, wo die minderjährige Jugend lernt und arbeitet, in allen Klassenzimmern, Kontoren, Fabrik- und Arbeitsräumen hängt ein Verzeichnis von gereiften und erprobten, im Leben stehenden Männern und Frauen aller Stadtviertel und Stände aus, die sich sämtlich zur Beratung zu bestimmter Zeit erklären“ (Sauer 1923: 31). Kein Zweifel, Hugo Sauer will die Jugendberatung als allgemeine Beratung und will möglichst alle Jugendlichen erreichen. „Wer der Jugend helfen will, muss der Gesamtheit den einzelnen Jugendlichen helfen wollen, und zwar beizeiten mit Rat und wo dies nötig ist, tatkräftiger Vermittlung, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“(Sauer: 30). Sauer will die Jugendberatung in ganz Deutschland und für beide Geschlechter und für Jugendliche aller Stände. Die Beratung soll freiwillig sein und Sauer begründet den Beratungsbedarf der Jugendlichen nicht nur mit ihrer Lebenslage, sondern mit den spezifischen Reifungskrisen des Jugendalters. „Wie viel Versuchungen aller Art sind diese zu frühzeitig im Leben stehenden jungen begehrlichen, aber noch nicht charakterfesten und unausgereiften Geschöpfe ausgesetzt?“ (Sauer 1923: 31) Hugo Sauer will die Beratung ferner präventiv und vergleicht sie mit „einer im Fall einer drohenden Gefahr erbetenen Impfung.“ Neben diesen Kennzeichen, Allgemeinheit, Präventionsansatz und Beratung durch erfahrende und verständige Persönlichkeiten, die ehrenamtlich arbeiten, legt Sauer Wert auf Anonymität der Beratung. Die Jugendlichen sollen nicht gezwungen sein, ihren Namen zu
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nennen. Sie sollen nicht registriert wenden und über sie sollen keine Dossiers angelegt werden. Zudem nennt Sauer „keine Barschheit“, also eine wertschätzende Ansprache und einen Versuch die Jugendlichen zu verstehen. „Der reife Mensch, dem nichts Menschliches fremd ist, hilft verstehend und gütig dem ihn besuchenden jungen, noch unerfahrenen Menschen durch Rat und Tat.“ Nach Sauer sollen die Berater und Beraterinnen welterfahren und mitfühlend sein, warmherzig und kompetent. Sie sollen den Ratsuchenden den Rücken stärken, ihnen Mut machen und zusprechen. Hugo Sauer hält Pfarrer und Lehrer für ungeeignet Jugendliche zu beraten, weil sie viel zu normativ aufträten. Er will „unverbrauchte“, also neutrale Berater, die es mit der Anonymität und dem Takt gegenüber den Jugendlichen ernst meinen. Ab Seite 40 seiner Schrift schildert er nun seinen zähen und wenig Erfolg versprechenden Kampf gegen die Bürokratie des Kaiserreiches und später der Weimarer Republik. Es wird deutlich, dass das Beratungswesen im Kaiserreich, wie in der Weimer Republik, sich schon zu sehr auf den Staat, die Lenkung und die Selektion eingestellt hatte, als dass die Idee einer allgemeinen anonymen und personenzentrierten Beratung sich politisch hätte durchsetzen können: „Hier ein knapper Dank, dort ein Versprechen gelegentlicher Prüfung, weiter nichts. Mehr Erfolg versprach eine Korrespondenz mit der Jugendfürsorge in Hamburg, der eine Rücksprache im Jahr 1918 folgte. Im Jahre 1923 erneuerte ich meine Bemühungen, ohne nach einem längeren Briefwechsel und Einsendung des erbetenen Materials zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen zu sein. Das preußische Kultusministerium schrieb nach einem vergeblichen Bittgang am 28 September 1917, ‚…dass Ihre Vorschläge auf Veranlassung des Herrn Ministers von einer in der praktischen Jugendpflege erfahrenden Persönlichkeit geprüft wurden. Dabei haben sich erhebliche Bedenken gegen die Durchführbarkeit geltend gemacht, die ich Ihnen auf Wunsch mitzuteilen gern bereit bin...’“ (Sauer 1923: 40). Es ist geradezu phänomenal mit welcher Zähigkeit Sauer den Kampf um die Jugendberatungsstellen aufnimmt, getrieben immer wieder von Ereignissen, die sein Gewissen und sein Mitgefühl in hohem Maße berühren und die er dem Publikum mitteilt, wie das Beispiel des kleinen Jungen, der sich wegen 50 Pfennig nicht nach Hause traut und dem beide Füße in einer Winternacht, die er draußen verbringt, abfrieren. Sauer zeigt aber auch auf, dass es nicht die mangelnde Nachfrage ist, die die Jugendberatung zum Scheitern bringt, wie Freudenberger dies in ihrem Buch behauptet, sondern der Kampf mit der Bürokratie. So redet Sauer vor mehreren Gremien und stellt sich der Verwaltung, die Bedenken gegen eine freie Jugendberatung formuliert:
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Wie wird sich die Kirche dazu stellen? Leidet nicht die Autorität von Elternhaus und Schule? Sollen Jugendliche wirklich zu Fremden gehen?
Sauer erhält aber auch viel Zuspruch. Vor allem Lehrer schließen sich der Forderung nach Jugendberatung an. Die Umsetzung zeigt sich aber schwierig. So laufen die Plakatierungen für die Jugendberatung schlecht. Die Wegweiser zu den meist in privaten Wohnungen untergebrachten Jugendberatungen fehlen und schließlich wird zunächst nur Geld für die männliche Jugend zur Verfügung gestellt (Sauer: 61). Zur Geschlechterdimension der Jugendberatung äußert sich Sauer, nachdem mehrere Versuche, eine gendergerechte Beratung einzurichten, fehlgeschlagen waren, wie folgt: Er fordert zunächst eine Beraterin und einen Berater in jedem Stadtteil, er bemerkt, dass mehr Mädchen und junge Frauen in die Beratung kommen als Jungen, was aber nicht zur Einrichtung von Jugendberatungsstellen für Mädchen geführt hat. Sauer zieht wegen der möglichen Fragen zur Sexualität, die eine wichtige Gruppe der so genannten ernsten Beratungen darstellen, Beraterinnen die verheiratet sind oder verwitwet. Über die Institutionalisierung der Jugendberatung in Berlin schreibt er, dass die Nachfrage in starkem Maße abhängig ist von bestimmten feststehenden Konjunkturen, wie zum Beispiel der Zeugnisvergabe und von Publikationen über die Arbeit in den örtlichen Zeitungen und Nachrichten. Als Beratungsanlässe nennt Sauer Berufsnot und Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Jugendliche sprechen wegen Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung vor (50 % der Ratsuchenden kommen wegen dieser Anliegen (Sauer 1923: 73)). Als ein weiterer Grund und Beratungsanlass werden die speziellen Probleme des Jugendalters genannt. „In der Hauptsache wird die Jugendberatungsstelle aufgesucht von Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die sich in Pubertätsnöten befinden (S. 73). Ein weiterer Kreis von ratsuchenden Personen ist gebildet aus Mädchen, bei denen der Eintritt der Menstruation sich ungewöhnlich lange verzögert“. Sauer beschreibt hier die Konflikte, in die die Mädchen geraten und nennt vor allem Konflikte in der Familie an erster Stelle, da eine nicht menstruierende junge Frau nicht zu verloben ist und ihrer Familie zur Last fällt. Sauer berichtet, dass er in diesem Fall mit den Eltern spricht und durch Vermittlung zu Ärzten und zur Berufsberatung/ Lehrstellenvermittlung Abhilfe schafft. Insgesamt zeigt Hugo Sauers Kampf um die Jugendberatung, ähnlich wie bei den Auskunftsstellen für Fraueninteressen und bei der Sexualberatung, Anfänge von freien, nicht bürokratisierten und nicht an eine staatliche oder kirchli-
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che Autorität gebundenen Beratungsformen auf, die aus heutiger Sicht Empowermentcharakter haben. 3.8 Erziehungsberatung in der NS-Zeit 1988 hat sich die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung in Frankfurt/M. im Rahmen einer wissenschaftlichen Jahrestagung mit dem Thema Erziehungsberatung im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Ergebnis ist ein eindrücklicher und überaus lesenswerter Sammelband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, von denen hier nur einige aufgeführt werden können, die sich eng mit dem Thema der Institutionalisierung, der Akteure und der Geschichte der deutschen Erziehungsberatung befassen. Dabei fallen verschiedene Phänomene und Probleme auf, die sich im Sinne einer Schlussfolgerung wie folgt zusammenfassen lassen (vgl. Cogoy, Kluge, Meckler 1989). Eine Konfliktlinie ist die Auseinandersetzung um die Psychoanalyse, die in Deutschland im Rahmen der Institutionalisierung der Erziehungsberatung wenig Anerkennung erfahren hat. Nicht nur die bereits zitierte Sophie Freudenberger lehnt die Psychoanalyse in ihrem Buch als eine Theorie der Erziehungsberatung offen ab. Auch andere, führende Akteure wie Leonard Seif oder Walter Fürstenheim, verstehen ihre Praxis als Gegenprogramm zur psychoanalytischen Erziehungsberatung, so wie sie z. B. August Aichhorn praktiziert hat. So ist Fürstenheim ein deutlicher Konstitutionsforscher mit stark naturwissenschaftlicher Ausrichtung, während Seif nicht nur der Individualpsychologie anhängt, sondern sie auch so akzentuiert, dass sie mit der Erziehungsberatung in der NS-Zeit vereinbar ist. Eine zweite Konfliktlinie ist die um das Verhältnis von Erziehen und Verwahren. Die Erziehungsberatung hat sich hier als Ausgangsort einer Zuweisung in die Verwahrung von Kindern entpuppt. Die verantwortlichen Ärzte in den Erziehungsberatungsstellen haben zu einem erheblichen Teil Kategorisierungen von Kindern vorgenommen, die die praktische Konsequenz hatten, dass ihnen zum einen Erziehung und Fürsorge verweigert wurden, oder sie lediglich auf schmalem Niveau verwahrt und schließlich der Euthanasie anheim gegeben worden sind. Im System der Euthanasie hatte die Erziehungsberatung ihren Platz, wenn auch nicht an zentraler Stelle. Diese Tatsache ist nach 1945 weitgehend verschwiegen und zugedeckt worden. Eine dritte Konfliktlinie ist schließlich die um die Spaltung von Erziehung und Bildung auch in der Erziehungsberatung. Mit ihrer selektiven Ausrichtung und ihrer erbhygienischen theoretischen Grundlage haben sich die deutschen Erziehungsberatungsstellen sehr weit von der Erziehungswissenschaft und der 64
Bildung entfernt. Die Hinwendung zu den Child Guidance Kliniken nach dem Zweiten Weltkrieg hat diese Tradition verfestigt. Die Erziehungsberatung verblieb zunächst im kinderpsychiatrischen System. Mit der deutschen Erziehungsberatung hat sich, wie mit der Heilpädagogik, ein System in die allgemeine Pädagogik eingeschlichen, welches weitgehend ohne Bildung und ohne Aufklärung auskommt. Die mangelnde Repräsentanz von Pädagoginnen und Pädagogen in der Beratung hat auch hier eine ihrer Ursachen. Erziehungs- und bildungswissenschaftlich ausgebildete Experten sind hier immer noch fremd. Theoretisch ist an die Stelle des Konzeptes von Verwahren nach 1945 zunächst das Konzept der Fürsorge getreten. Als Leitbild ist der Begriff der Fürsorge in der Erziehungswissenschaft äußerst umstritten, gilt er doch als ein Schlüsselbegriff für eine repressive Pädagogik, die sich vor allem als lenkend und führend versteht. In dem von Renate Cogoy, Brigitte Meckler und Irene Kluge herausgegebenen Band zur Erziehungsberatung im NS-Staat befassen sich zwei Aufsätze mit einzelnen Beratungsstellen. Ruth Baumann, die über die erbbiologische Selektion in Hamburg schreibt und eine Autorengruppe, die eine Fallstudie über die Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt/M. angefertigt hat. Ruth Baumann beschreibt vor allem das Prinzip der „sparsamen Verwahrung“. An herausragender Stelle für die repressive Entwicklung in der Erziehungsberatungsstelle Hamburg und ihre fließenden Übergänge in die Kindereuthanasie steht die Person eines Dr. Villinger, der 1926 als Psychiater beim Jugendamt Hamburg eingestellt wurde und sich in verschiedenen Publikationen als Protagonist des Verwahrens profilierte. Ruth Baumann argumentiert, dass mit dem Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses Personen wie Villinger die gewünschte rechtliche Grundlage zur Sterilisation von Kindern und Erwachsenen erhielten. Die Erziehungsberatung der NS-Zeit bewertete Kinde, bzw. fragte nach ihrem Wert, für das nationalsozialistische Volksganze. Der biologische Wert der Kinder wurde in sechs Gruppen eingeteilt, die von wertvoll bis nicht erziehungsunfähig reichten. Dabei werden jene Kinder, die als unterwertig oder nicht erziehungsfähig galten, in Zöglingsheimen untergebracht und schließlich der Euthanasie überantwortet. Wertige Kinder dagegen kamen in therapeutische Heime, wobei die Kategorisierung der Wertigkeit zumeist von der sozialen Herkunft der Kinder stark mit beeinflusst war (Baumann 1988: 157). Die Erziehungsberatungsstellen, die im Nationalsozialismus der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt unterstellt waren (NSV), wurden so ein Instrument zur Erfassung der Schäden, besonders der Frühschäden aller förderungswürdigen aber auch gefährdeten Kinder. Schließlich merkt Baumann an, dass der Leiter der Erziehungsberatung Hamburg von 19261934, Dr. Villinger, sich nach 1945 zu einem Protagonisten für die Child Guidance Kliniken entwickelte, wodurch, wie die Autorin sagt, soziale Probleme wieder aus ihrem gesellschaftlichen Kontext gelöst und Kinder behandelt und 65
objektiviert wurden. Mit dem Aufbau der Child Guidance Kliniken blieb die Erziehungsberatung im psychiatrischen System verhaftet. Mit ihrer Publikation wählt Ruth Baumann einen akteurstheoretischen Ansatz, der über die teilweise recht anonymisierenden Publikationen zur Geschichte der deutschen Erziehungsberatung hinausweist. Zumeist werden Erziehungsberatungsstellen als eine Abfolge von Institutionalisierungen und als strukturelle Antwort auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse dargestellt. Die Einbeziehung der Akteursebene und das Nennen von konkreten Namen, verweist auf einen Versuch der Praktikerinnen der Erziehungsberatung, ihre Institutionen stärker unter einer handlungstheoretischen Perspektive zu begreifen. Dieser Faden ist in der von Cogoy, Meckler und Kluge (1989) herausgegebenen Publikation insgesamt deutlich und soll weiter verfolgt werden. Noch eindrücklicher im Sinne einer akteurs- und netzwerktheoretischen Perspektive als die Hamburger Fallstudie ist jene, die von einer Autoren- und Autorinnengruppe angefertigt wurde, die sich mit der Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt/M. in der NS-Zeit befasst hat. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, gründete der Mediziner Dr. Walter Fürstenheim 1917 die Jugendsichtungsstelle und untersucht in den folgenden Jahren jährlich ca. 800 bis 900 Kinder und Jugendliche. Fürstenheim war Konstitutionsforscher mit einem deutlichen Ressentiment gegen die Psychoanalyse und einer stark an der Konstitutionstheorie orientierten wissenschaftlichen Haltung. „Dr. Fürstenheim (Jg. 1879), war als Arzt und Wissenschaftler einer biologistisch-psychiatrischen Tradition verpflichtet. Es war sein Bestreben, Erziehungsberatung aus dem „Richtungsfanatismus psychoanalytischen Fahrwassers“ herauszulösen und auf die Basis von wissenschaftlichen Gutachten zu stellen, die die Veranlagung, und auf dieser Grundlage die Entwicklungschancen des Individuums, herauszuarbeiten hatten. Die Entwicklung des Gesichteten vorauszusagen war sein wissenschaftliches und ärztlich-praktisches Anliegen, um so frühzeitig angemessene Maßnahmen einleiten zu können oder nicht Erfolg versprechende zu unterlassen.“ (Buhlert u. a. 1989: 196) Bildbarkeit und Erziehbarkeit von Kindern waren demnach schon weit vor dem Nationalsozialismus eine strittige Frage zwischen den Vertretern der Erziehungsberatung. Zu den Besonderheiten gehört es, dass Walter Fürstenheim selbst jüdischen Glaubens war und unter das Gesetz zur Herstellung des deutschen Berufsbeamtentums fiel. Er wurde 1933 zwangsweise in den Ruhestand versetzt und emigrierte nach England. Es ist bekannt, dass in der NS-Zeit die Beratungsziele der Jugendsichtungsstellen sich noch einmal verschärften, nicht die Zuweisung in die Maßnahmen des selektierenden Bildungs- und Fürsorgesystems, sondern die Sterilisation wurden zum zentralen Beratungsziel. Die Jugendsichtungsstelle Frankfurt geht zunächst institutionell auf in die Fürsorgestelle für 66
Gemüts- und Nervenkranke des Gesundheitsamtes. Den Rahmen der Arbeit bestimmt zunehmend das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Die Gutachten im Rahmen der Sterilisationsverfahren stehen im Mittelpunkt der Arbeit. „Diese Sterilisationsverfahren werden auch bei Hilfsschülern in solcher Zahl durchgeführt, dass sich das Stadtgesundheitsamt am 9.4.1936 bemüßigt fühlt in einem Zeitungsartikel die Bevölkerung dahin gehend zu informieren, dass das Gerücht, wonach alle Hilfsschüler unfruchtbar gemacht werden, nicht zutrifft (Buhlert u. a. 1989: 197). Walter Fürstenheim hatte, beabsichtigt oder auch nicht, mit seinen Gutachten der Sterilisation gerade sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher einen wichtigen Vorschub geleistet. Buhlert u. a. legen neben der Beschreibung der Arbeit als Aussonderung und Trennung der Abnormalen von den Minderwertigen eine erste Netzwerkanalyse vor, indem sie zum einen die Aufwertung der ehemaligen Jugendsichtungsstelle und späteren Fürsorgestelle hervorheben, die in den 1930er Jahren ähnlich viele Gutachten und Sichtungen durchführt wie zur Zeit Walter Fürstenheims. Schließlich nennen die Autorinnen und Autoren jedoch auch Namen vor allem der in der Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke tätigen Ärzte (Gerum, Hahn, Hannappel, Ritter). Es gehört zu den offenen Forschungsaufgaben, die Beteiligung der Jugendsichtungsstelle Frankfurt an der Kindereuthanasie zu klären. Die Autoren merken jedenfalls an, dass die Leiterin der Frankfurter Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke seit 1939 alle Akten, die seit Gründung der Jugendsichtungsstelle von 1917 hier aufbewahrt werden „in Ordnung bringt“ (Buhlert u. a. 1989: 198). Nach 1945 übernimmt eine Frau Dr. Hannappel dann den Aufbau der Jugendgesundheitsfürsorge in Frankfurt/M. Ein kurzer Kompetenzkonflikt mit dem neu gegründeten Jugendamt um die Jugendsichtung entsteht. Im Großen und Ganzen setzt sich die selektierende Arbeit der Stelle jedoch auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der neu gegründeten Republik ungebrochen fort. Beratung und Begutachtung von auffälligen Kindern, sowie die laufende Überwachung der Hilfsschulen, stehen an oberster Stelle der Arbeit. Carola Hannappel publiziert noch bis in die 1970er Jahre über Erziehungsberatung (Hessisches Ärzteblatt Heft 3, 1973). Dr. Dr. Ritter verblieb bis zu seinem Tod im Dienst der Stadt Frankfurt, seine Mitarbeiterin, Dr. Eva Justin, die 1944 über Zigeunerkinder promoviert hatte, deren Sterilisation sie offen befürwortete und die 1944 in Auschwitz ermordet wurden, verblieb bis 1966 in der Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt/Main (vgl. dazu auch Klee 2007, S. 294). Der Kompetenzstreit zwischen dem Jugendamt und dem Gesundheitsamt um die Arbeit der Jugendsichtungsstelle legt offen, dass Robert Ritter für die Berufsberatung von Jugendlichen und die Beratung der städtischen Jugendheime zuständig gewesen ist. Wer war nun Dr. Dr. Robert Ritter oder Prof. Dr. Robert Ritter? Laut Peukert (1989: 117) spielte Robert Ritter als ärztlicher Leiter im 67
Jugendkonzentrationslager Moringen bei Kassel eine zentrale Rolle. Entstanden sei es aus einem, wie Peukert sagt, polykratischem Kompetenzkonflikt zwischen HJ, SS und Justiz. 1942 habe es 489 Jugendliche, 1944 bereits 1231 Jugendliche umfasst. Ritter betrieb im Jugendkonzentrationslager Moringen rassenhygienisch motivierte Studien. Über ihn sagt Peukert, (1989: 118), dass er in der NSForschung die abenteuerliche These vertreten hat, dass es die „Beimischung von Zigeunerblut sei, die zu Kriminalität und Verwahrlosung führte. In Württemberg, in einem so genannten Zigeunerdorf, habe Ritter anhand unzuverlässiger Akten versucht, dies nachzuweisen. Er folgerte, so Peukert, dass es nötig sei, die „Zigeunermischlinge“ auszusondern, um die Utopie einer kriminalitätsfreien Gesellschaft zu realisieren (Peukert 1989: 118). Robert Ritter wurde von 1947 an Leiter der Frankfurter Erziehungsberatungsstelle. Die ethisch motivierte Arbeit der Frankfurter Erziehungsberaterinnen und Erziehungsberater (vgl. Buhlert et al. 1989) ist neben der hohen deskriptiven Qualität des vorliegenden Berichtes für die These innerhalb der Landschaft der Erziehungsberatungsstellen und des Bundesverbandes BKE bedeutend, dass es in der Erziehungsberatung eine „Stunde Null“ gegeben habe und mit den Alliierten die Konzeption der Child Guidance Klinken auch in Deutschland zum Tragen gekommen sei. Diese Thesen gingen von einem Missbrauch der Erziehungsberatung durch die Nationalsozialisten aus. Die Kontinuität zwischen der Konstitutionsforschung und der rassenhygienischen Politik des NS-Staates wurde geleugnet. So gehen Geib u. a. Vertreter der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung eher von einem Missbrauch der Erziehungsberatung durch die Nationalsozialisten aus. „Die Erziehungsberatung wurde jedoch auch missbraucht. So kam es 1932 zu einer Verordnung über Jugendwohlfahrt, die, um Kosten zu sparen, u. a. die Entlassung „unerziehbarer Jugendlicher“ aus der Fürsorgeerziehung vorsah“, (Geib u. a. 1994: 26; Abel 1998: 28). Diese Haltung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung steht zu mindestens in deutlichem Gegensatz zu den Erkenntnissen von Cogoy u. a. von 1989. Diese eher glättende und verdeckende Geschichtsschreibung setzt sich auch für die Zeit nach 1945 fort. Verwirrend ist, dass der Kongress über die „Erinnerungen einer Profession von 1989“ einen wichtigen Erkenntnisfortschritt in der Bearbeitung der Geschichte der Erziehungsberatung gegeben hat. Von diesem Erkenntnisfortschritt ist wenige Jahre später nichts mehr zu spüren. Die Publikationen zur Geschichte der Erziehungsberatung des gleichen Berufsverbandes Bundeskonferenz für Erziehungsberatung sparen die Erkenntnisse ihres eigenen Kongresses aus – mit deutlichen professionellen Konsequenzen. 1945 führten Ernährungsmangel, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit vielfach zur Verwahrlosung von Kindern. Hilfen waren dringend notwendig. Es gab wohl 68
nur noch 13 Erziehungsberatungsstellen in der Bundesrepublik und in Westberlin. „Nach dem Vorbild der US-amerikanischen ‚Child guidance clinics‘ wurden in Großstädten Beratungsstellen mit multidisziplinärem Team eingerichtet, mit denen die Besatzungsmacht im Sinne der Reduktions-Bemühungen Einfluss auf das deutsche Erziehungswesen nehmen wollte“ (Vossler 2005: 5). 1953 gab es schon 157 Stellen nach dem amerikanischen Vorbild und 1962 waren es 324. Träger der Einrichtungen waren vor allem die Kommunen, Kirchen und freie Verbände (Lexikon der Pädagogik, Band 1, 1971: 398). Detlef Peukert (1989: 111-124) nennt in seinem Beitrag über Rassismus als Bildungs- und Sozialpolitik den Nationalsozialismus zum Ersten etwas nicht gänzlich Neues und Anderes, sondern als eingebettet in die Ideen- und Geistesgeschichte, die sozialen Netzwerke und die Politik des 20. Jahrhunderts. Seit 1848 seien die deutschen Eliten einen anderen Weg gegangen als in den Europäischen Nachbarstaaten. Diese These des Deutschen Sonderweges verknüpft er mit zwei weiteren Faktoren. Als einen zweiten, nämlich strukturgeschichtlichen Faktor, nennt Peukert die zersplitterten und rivalisierenden Gruppen, Apparate und Cliquen innerhalb des NS-Staates, die jeder auf seine bzw. ihre Weise, Eigeninteressen verfolgen und nach Vorteilen für die eigene Gruppe streben. Peukert gebraucht hier den Begriff des Chaos und der Unübersichtlichkeit und bezieht sich auf die Uneinheitlichkeit der nationalsozialistischen Ideologie, ihre Flügel und Fraktionen, sowie die Uneinheitlichkeit der NS-Bewegung, die er eben aus alten und neuen Eliten, aus Verlierern und Aufstrebenden zusammengesetzt beschreibt (1989: 114). Er nennt schließlich drittens ein Großgruppenund institutionsdynamisches Phänomen, das der kumulativen Radikalisierung. Durch die Konkurrenz der Gruppen, durch Instanzenchaos und Rivalität habe sich immer die radikalste, in vielen Fällen schlimmstmögliche Lösung durchgesetzt. Mit dieser Neubestimmung des Fokus auf Gruppen in der NS-Forschung wird die sozialstrukturalistische Theorie oder auch Ideologietheorie ergänzt. Für die Geschichte des Beratungswesens in Deutschland geraten nun stärker die Professionen, die Institutionalisierungen und die Netzwerke in den Fokus der wissenschaftlichen Interpretation. Mit Peukert lässt sich z. B. erklären, warum die deutsche Erziehungsberatung sich anders entwickelte als die Erziehungsberatung in Österreich. Der deutsche Sonderweg zeigt sich im gesamten Beratungswesen durch die Verhaftung der Eliten in erb- und rassenhygienischem Denken, durch Ideen der Menschenökonomie und der Idee der „Selektion des Schlechten“. Die Antwort auf die Frage, warum sich in Deutschland neben der Strömung der Selektion und Sichtung vor allem die Individualpsychologie als „Neue deutsche Seelenheilkunde“ durchsetzen konnte, lautet dann ganz profan, weil es hier bestimmte Netzwerke und persönliche Verknüpfungen gegeben hat und weil die Zentralisierung der Psychologie in Deutschland auch auf die dem NS-System 69
nicht unbedingt nahe stehenden Personen eine große Faszination ausübte. Man ging nach Berlin an das Deutsche Institut und machte Kompromisse bzw. sah nicht hin. 3.9 Das Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie Das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, auch Matthias Göring-Institut genannt, war eine nationalsozialistische Forschungsund Ausbildungseinrichtung, die von den Nationalsozialisten mit dem Ziel gegründet worden war, eine neue Seelenheilkunde zu entwickeln. Ein sehr guter Überblick über dieses Institut findet sich bei Regine Lockot (1985). Vor allem die Person von Matthias Heinrich Göring, ein Vetter Hermann Görings, ist dafür mitverantwortlich, dass zwar einerseits die Psychoanalyse als jüdisch und das Triebleben bzw. die Sexualität übersteigernd diskreditiert wurde. Trotzdem gab es Bestrebungen mit einer bereinigten Psychoanalyse einen Deutschen Weg zur modernen Seelenheilkunde zu entwickeln. Dafür steht u. a. der Name des Psychoanalytikers Harald Schultz-Hencke. Das Institut wurde 1936 gegründet, und zwar maßgeblich aus dem Bestand des alten Berliner Psychoanalytischen Institutes. Das neue Institut übernahm die Räume und die verbliebenen Mitarbeiter des alten Psychoanalytischen Instituts. Als Mitglieder des neuen Instituts konnten die Psychoanalytiker auch ihre private Praxis offiziell weiter führen und firmierten als Abteilung A. Für die Erziehungsberatung interessant ist, dass es eine eigene und auch bedeutende Abteilung zur Heilerziehung, geleitet von Adolf von Weizsäcker, gab. Eng verknüpft war das Institut mit der Deutschen Arbeitsfront DAF. Es unterhielt zudem eine Abteilung zur Betriebspsychologie. Das Institut unterhielt Beziehungen zu diversen offiziellen Stellen, darunter dem Amt für Berufserziehung und Betriebsführung der Deutschen Arbeitsfront und bildete behandelnde wie beratende Psychologen aus. Nach dem Krieg wurde das Institut für Psychopathologie und Psychotherapie (IPP) gegründet und damit die Arbeit des Göring-Institutes fortgesetzt. Für das Göring-Institut interessierte sich, von rechtfertigenden Darstellungen der Beteiligten abgesehen, lange Zeit niemand mehr. Die Bedeutung, die das Institut für die Erziehungsberatung hatte, liegt zum einen in der Biographie von Matthias Göring mitbegründet. Matthias Göring war adlerianisch geprägt und hatte bei Leonard Seif (München) seine Lehranalyse absolviert. Er gründete 1929 die Erziehungsberatungsstelle in Wuppertal. Gleichzeitig rief er eine Wuppertaler Studiengruppe für Psychotherapie ins Leben. Göring ist sicherlich wichtig für die Bedeutung der Psychologie und Beratung im NS-Staat. Auch hier 70
spielen die These und der Forschungsansatz von Peukert eine Rolle, dass es nicht eine breit angelegte Strategie war, welche die Beratung im Nationalsozialismus bedeutend machte, sondern netzwerk- und gruppenspezifische Zufälle. Matthias Göring dürfte vor allem aufgrund seiner verwandtschaftlichen Beziehungen beauftragt worden sein, an der Entwicklung einer Neuen deutschen Seelenheilkunde mitzuarbeiten. Er wurde 1933 bereits kurz nach seinem Parteieintritt in die NSDAP Vorsitzender der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Hervorzuheben ist unter Professionalisierungsgesichtspunkten, dass das Institut bereits beratende Psychologen weiterbildete und somit zur Professionalisierung der Psychologie einen wichtigen Beitrag leistete. 1939 wurde das Institut von der DAF übernommen (vgl. Lockot 1985).
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4. Die Berufsberatung
Unter Beratungsforschern und -forscherinnen ist es heute Konsens, die Anfänge der Berufsberatung in der bürgerlichen Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts zu verorten. Ausgehend von der Forderung nach Chancengleichheit in der Berufsausbildung und Berufstätigkeit war es der „Bund deutscher Frauenvereine“, der 1898 den Begriff „Berufsberatung“ prägte und 1902 mit der „Auskunftsstelle für Frauenberufe“ die erste Berufsberatungseinrichtung schuf. Die Leiterin der Einrichtung, Josephine Levy-Rathenau, machte sich für weitere unabhängige Beratungsstellen stark, die auch Lehrstellen vermitteln sollten (vgl. Ostendorf 2000). Die Wiederentdeckung der Bedeutung der Frauenbewegung für die Berufsberatung im Kontext kritischer Geschlechterforschung ist ausdrücklich zu begrüßen und schließt eine wichtige Forschungslücke im ohnehin unübersichtlichen Arbeitsfeld der pädagogischen Beratung. Allerdings stellt die Position von Ostendorf (2000 und 2005) nur eine Stimme in einem mehrstimmigen Chor von Positionen zur pädagogischen Beratung und ihrer Entwicklung im Bereich der Berufsberatung dar. Neben der feministischen Position von Ostendorf ist die Position von Müller-Kohlenberg bedeutend, der als Funktionär des Verbandes Berufsberatung die Entwicklungslinien der Berufsberatung eher als Konflikt zwischen einer akademisch ausgebildeten Mittelschicht und ihren Aufstiegsbestrebungen auf der einen Seite und dem Kampf um eine allgemeine Beratung, auch und vor allem für die Jugendlichen der unteren Gesellschaftsklassen, ansieht. Sowohl die Position von Ostendorf als auch die von Müller-Kohlenberg sehen in der Verstaatlichung der Berufsberatung in der Weimarer Republik einen entscheidenden Wendepunkt für ihr Selbstverständnis und ihre Konzeption. Für Ostendorf ist der Eintritt des Staates in die Berufsberatung das faktische Ende der geschlechtersensiblen Beratung. Müller-Kohlenberg (1983) teilt den Eintritt des Staates in die Berufsberatung in zwei Aspekte und zwei zeitliche Phasen. Die Berufsberatung festigte sich im Laufe der 1920er Jahre und mündete zunächst in die Professionalisierung der Berufsberatung, die, wie Müller Kohlenberg anmerkt, in den 1920er Jahren häufig auch durch Lehrer und Berufsschullehrer durchgeführt wurde (Müller Kohlenberg 1983: 129). Gleichzeitig schälte sich auch im Laufe der 1920er Jahre eine Strömung heraus, die die Beratung volkswirtschaftlich auffasste und den Beruf vorwiegend als Pflicht gegenüber dem Volksganzen betonte.
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4.1 Die Berufsberatung zwischen volkswirtschaftlicher Steuerung und pädagogischer Beratung Nach Krämer (2001) institutionalisierte sich die Berufsberatung neben der Frauenbewegung ebenfalls über die für die Jugendpflege zuständige „Zentralstelle für Volkswohlfahrt“. Die Gründung des Ausschusses für Berufsberatung im Rahmen dieser Zentralstelle für Volkswohlfahrt brachte wiederum den Aufbau einer öffentlichen Berufsberatung hervor. Mit dieser Institutionalisierung wird die Tendenz zu Eignungstests und die Berücksichtigung der Interessen des Arbeitsmarktes in der Berufsberatung deutlich. Die Jugendlichen sollten nach Eignung und Interesse unter Berücksichtigung des Arbeitsmarktes ins Berufsleben eingegliedert werden. Dazu Krämer: „Die Vorstellung des Ausschusses, dass Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung zusammengehörten, wurde noch während des Ersten Weltkrieges von Bayern aufgegriffen. Hier kam es am 18. Dezember 1917 zur ersten staatlichen Verordnung über die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung. Die geplanten Berufsberatungsstellen sollten in den bestehenden Arbeitsämtern eingerichtet werden“ (vgl. Krämer 2001, IBV Nr. 16: 1097). Neben dieser Entwicklungslinie zwischen einer sozialen Bewegung und Verstaatlichung der Beratung, wie sie in anderen Typen pädagogischer Beratung ebenfalls vorkommt, sollen einige weitere Facetten der Geschichte der Berufsberatung aufgezeigt werden. Über die Berufsberatung sagt Sophie Freudenberger (1928: 10), dass diese sich von einer Einrichtung der Wirtschaftsfürsorge hin zu einer pädagogischen und jugendfürsorgerischen Aufgabe verändere. Sie hebt dabei hervor, dass die Berufsberatung allen Jugendlichen bei der Schulentlassung zu Teil wird, den Mittelschülern schon während der Schulzeit. Auch in der Volksschule würde die Berufswahl systematisch durch Fragebögen und berufskundliche Vorträge vorbereitet. Sie wendet sich, so Freudenberger, gleichzeitig an Eltern und an die Jugendlichen. Sophie Freudenbergers Euphorie hinsichtlich der Entwicklung der pädagogischen (bei ihr fürsorgerischen) Beratung, ihre Zuordnung der Beratung unter das Dach der Jugendfürsorge und der sozialen Hilfsbereitschaft spiegelt die Anfänge eines sozialpolitischen und sozialstaatlichen Denkens, welches von vielen der damaligen Zeitgenossen Freudenbergers auch unabhängig von ihren jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkten geteilt wurde, heute jedoch durchaus kritischer und komplexer bewertet wird. Nicht nur Vertreter einer konservativ liberalen Richtung sehen heute in der allumfassenden Daseinsfürsorge des Staates Risiken für die gesellschaftliche Entwicklung, auch Vertreter sozialdemokratischer Positionen sehen, anders als früher in der allumfassenden Staatstätigkeit, ein strukturelles Risikopotenzial nicht nur für die Eigeninitiative und eine soziale Marktwirtschaft, sondern auch im Sinne antidemokratischer, büro74
kratisierender und selektierender Ausuferung. Einiges hat auch die Sozialdemokratie von der foucaultianisch inspirierten Kritik am Staat rezipiert. Im Sinne einer Mikrophysik der Macht wird eine ausschließlich rationale und zum Nutzen des Gemeinwesens ausgerichtete Lebensführung abgelehnt. Von einer Kritik am Sozialstaat sind viele Befürworter des Beratungswesens in der Weimarer Republik jedoch weit entfernt, der Staat schien ihnen als Begrenzung und Gegengewicht zur widersprüchlichen kapitalistischen Gesellschaft, die soziales Elend, Not und nicht zuletzt Kriege und soziale Unruhen produzierte. Auf Beratung als Teilsystem eines fürsorgenden und versorgenden Staates ruhte die Hoffnung ganzer Gruppen, wie noch aufzuzeigen sein wird. Ganz offensichtlich begrüßt Freudenberger die Ausweitung der fürsorgerischen pädagogischen Beratung, ohne die selektierenden und allokativen Dimensionen zu sehen. Die Allokationsfunktion der Berufsberatung entgeht ihr völlig und wird durch den von ihr gewählten Begriff der Wirtschaftsfürsorge unkenntlich gemacht. Mit der Zuordnung der Berufsberatung in die Pädagogik, die Freudenberger als Entwicklung beschreibt, sieht sie einen hohen Anspruch, den die Berufsberatung erfüllen müsse. „Je individueller die Berufsberatung arbeitet, d. h. je mehr sie dem einzelnen Jugendlichen nicht nur den passenden Beruf, sondern auch die geeignetste Lehrstelle vermitteln will, desto größer und schwieriger wird ihre pädagogische Aufgabe“ (Freudenberger 1928: 10). Freudenberger nennt als Ziel der Berufsberatung die Berufsverankerung des jungen Menschen und nennt Faktoren, die die Erfüllung dieser Aufgabe erschweren (entseelte Arbeit, kapitalistische Ausbeutung, Zwang zur Erwerbsarbeit). Sie beschreibt also Risiken und Gefährdungspotenziale für junge Menschen, denen die Berufsberatung vorsorglich zu begegnen hatte. Berufsverankerung bedeutete Integration der Jugendlichen in die Gesellschaft und bildete damals wie heute die Basis rationaler Lebensführung. Mit dieser pädagogischen Definition der Berufsverankerung junger Menschen und der Zuordnung der Berufsberatung zur Pädagogik steht Freudenberger gegen die dominierenden Schlagwörter einer eher ökonomisch orientierten und volkswirtschaftlich inspirierten Beratung, die die Berufsberatung in ihrer Geschichte deutlich geprägt hat und bis heute prägt. So nennt Lothar Müller-Kohlenberg (1983: 122) Schlagworte, die mit der Berufsberatung in der Weimarer Republik verbunden wurden und ihre Ziele und Erwartungen markieren. Er zeigt damit die andere Seite dieser Beratungsform auf und benennt Konfliktlinien, die diesen Beratungstypus prägen. An erster Stelle steht das Wort vom „richtigen Mann am richtigen Platz“, das heißt eine Allokationsfunktion der Berufsberatung ist hier unübersehbar. An weiterer Stelle stehen Erwartungen und Ziele, die die Berufsberatung auch erfüllen sollte. Die Rede ist vom „Aufstieg der Begabten“ und „dem Tüchtigen freie Bahn“ und 75
schließlich nennt Müller-Kohlenberg die „Berufslenkung durch Berufsberatung und Arbeitseinsatz“ als Beratungsziel und Beratungskonzept für die NS-Zeit. 4.2 Die Berufsberatung im Schnittpunkt gegensätzlicher Interessen und Entwürfe In Bezug auf die historischen Entwicklungslinien spricht Müller-Kohlenberg als Trend zunächst die Entkopplung der Berufswahl von Stand und Klasse als Prozess des 19. Jahrhunderts an. „Beruf wird nicht mehr als treue Einordnung in die ständischen Verhältnisse begriffen“ (Müller-Kohlenberg 1983: 123), sondern zunehmend dynamisch verstanden. Nicht mehr ausschließlich Stand und Herkunft, Vorschriften und Vorurteile über die künftige Lebensart, sondern Eignung schälte sich sehr langsam als Kriterium der Berufswahl heraus. Diese große Entwicklungslinie betrachtet Müller-Kohlenberg, unabhängig von der konkreten wirtschaftlichen Lage und Konjunktur, also unabhängig auch von historischen Ereignissen des Krieges und der Weltwirtschaftskrise. Diese Faktoren können zwar die langfristige Entwicklung beeinflussen, aber nicht gänzlich umdrehen. Die Entwicklung hin zur Industrialisierung trifft auf andere Ereignisse und mit dieser Entwicklung verwobene weitere Dynamiken. Ganz richtig nennt MüllerKohlenberg in diesem Zusammenhang die „Auskunftsstellen“ der bürgerlichen Frauenbewegung und ihren Kampf um den Beruf. „Die rechte Frau auf der rechten Seite ist die Grundbedingung zu einer gedeihlichen Fortentwicklung der weiblichen Berufsarbeit, ...“ (Müller-Kohlenberg 1983: 124). Er ordnet die Auskunftstellen der bürgerlichen Frauenbewegung anders als Ostendorf (2000) jedoch nicht einer Emanzipationsbewegung zu, sondern dem Trend zu einer Akademisierung der Berufsberatung. Er nennt weitere Akademische Auskunftsstellen an den einzelnen Universitäten, die sich vernetzen und in Berufe vermittelten, die ausschließlich einen Hochschulabschluss voraussetzen. Ihre Zielgruppe, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, seien Absolventen der Universitäten gewesen, die nicht über die nötigen Verbindungen verfügten und nicht aus Akademikerkreisen stammten. Müller-Kohlenberg (1983: 125) hebt dagegen die Berufsbedingungen in den breiten Bevölkerungsschichten hervor, die zu einer dringenden Forderung nach Berufsberatung Anlass gaben. Zum einen hätte sich im Bereich des Handwerks durch deren vorherrschende Arbeitsbedingungen ein Nachwuchsmangel aufgetan (Ausbeutungsstelle statt Ausbildungsstelle). Zum Zweiten hätten Arbeitereltern zumeist das vorherrschende Interesse gehabt, ihre Kinder sehr schnell in Lohnverhältnissen zu sehen, um das Familieneinkommen entweder zu entlasten oder aufzubessern. Eine Berufsausbildung erschien entweder überflüssig oder uner76
schwinglich. Berufsberatung, so Müller-Kohlenberg, entsprach in erster Linie der Interessenlage einer wachsenden Mittelschicht, die aufstiegsorientiert und unabhängig von Besitz und Herkunft vor allem auf ihre berufliche Leistungsfähigkeit setzte. 4.3 Berufsberatung als Teil einer ökonomischen und rationalen Lebensführung – zu Paul Oestreichs Menschenökonomie (1916) 1916 entwirft der Sozialpolitiker Paul Oestreich in einem Aufsatz im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik zum Thema „Menschenökonomie – die Frage der Berufsberatung“ einen neuen modernen Lebenslauf, der sich aus der Perspektive des Autors nicht nur an den Anforderungen einer modernen Gesellschaft zur Überwindung des Elends orientiert, sondern zugleich neue Biografien, vor allem für Arbeiterkinder, entwirft. An zentraler Stelle steht dabei die Schulreform (Einheitsschule), eine der Begabung und ausschließlich der Begabung geschuldete Berufseinmündung und eine entwickelte staatliche Fürsorge hinsichtlich der Gesundheit und der sozialen Probleme. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, ist gleichzeitig die neue Zeit nach dem Kaiserreich spürbar und es wird deutlich, wie der Sozialpolitiker Paul Oestreich sich die neuen Lebensläufe in einem demokratischen Gemeinwesen vorstellt. Geprägt von mehr Gleichheit, mehr Sicherheit, Stabilität und Rationalität kommt der Berufsberatung als Beratung, die alle Jugendlichen erfasst und verbindlich ist, hier eine besondere Funktion bei der Neuverteilung von Chancen zu. Dabei entwirft Oestreich die Beratungsbeziehung als pädagogische Szene, den Berater als emphatisch, freundlich und personenbezogen. Berufsberatung ist bei Oestreich die Beratung von Eltern und Jugendlichen zusammen. Das Beratungskonzept ist jenes einer aufklärenden Sozialberatung, die über Rechte und Pflichten, über Perspektiven und Möglichkeiten informiert und sich auf rechtsstaatliche Grundsätze berufen muss. Es geht Oestreich bei der Berufsberatung, wie Müller-Kohlenberg es beschrieben hat, um die Abschaffung von Standesprivilegien im Bereich der Berufswahl. Ausführlich erklärt er das Elend der Nichteignung und der Berufswahl ausschließlich auf der Basis von Stand und Klasse. „Ein ganz nervöser Jüngling von fahrigem Wesen darf z. B. keinesfalls Lehrer werden, ein Jähzorniger oder leicht zu Beeinflussender nicht Richter, ein Gedächtnisschwacher ohne Initiative nicht Arzt, ein schwankender Phantast nicht Leiter eines Großbetriebs“ (Oestreich 1916: 811). Oestreich koppelt die Beratung an die Statistik und möchte sie verwissenschaftlicht sehen, zudem sollte die körperliche Eignung für den Beruf mittels eines „tüchtigen Arztes“ festgestellt werden. Den Berufsberater entwirft Oest77
reich pädagogisch geradezu ideal als einen feinen liebenswürdigen Menschen von umfassender Bildung. Über die Beratung selbst sagt er, dass diese zunächst die Motive der Eltern und Schüler zu verstehen habe, dass Beratung im wesentlichen Berufsaufklärung ist und dass neben der körperlichen auch die seelische Eignung für den Beruf festgestellt werden müsse. Ganz eindeutig entwirft Oestreich die Beratung als taktvolle, wertschätzende Szene, bevorzugt ein familienbezogenes Setting und nennt Respekt des Beraters für die Lage der Eltern und des Jugendlichen. Die Berufsberatung, so wie der Sozialpolitiker und entschiedene Schulreformer Paul Oestreich (1878-1959) sie 1916 skizziert hat, wäre demnach ein Typus der personenorientierten sachlichen Intensivberatung, in deren Mittelpunkt die Berufsaufklärung, das reflexive Gespräch mit allen Beteiligten und ein Aushandlungsprozess zwischen den Möglichkeiten, Interessen und Neigungen hinsichtlich der Berufswahl steht. Die Berufsberatung ist im Sinne der Menschenökonomie ein Teil der Hilfe zum verantwortlichen und rationalen Leben. Faktisch hat sich die Berufsberatung jedoch funktional entwickelt, wobei diese Entwicklung auch von der Verwissenschaftlichung der Beratung beeinflusst wurde. 4.4 Aloys Fischers Ansatz zur Berufswahl und Berufsberatung aus pädagogischer Sicht In seinem 1983 publizierten Aufsatz hebt Müller-Kohlenberg die Rolle des Pädagogen Aloys Fischer vorsichtig und kritisch hervor. Aloys Fischer gilt in der Pädagogik als einer der großen Pioniere der Beruflichen Bildung und der Berufspädagogik. Es wird jedoch nicht nur bei Müller-Kohlenberg, sondern an verschiedenen Stellen deutlich, dass Fischer die Berufsberatung vor allem volkswirtschaftlich und damit instrumentell und funktional denkt. Auch ist sein Verhältnis zur Psychologie und zur Psychotechnik vorsichtig zu beurteilen. Ähnlich wie Carl Tornow in der Erziehungsberatung, kann Aloys Fischer für die Berufsberatung als Pädagoge gelten, der die pädagogische Substanz der Beratung ihrer Allokationsfunktion untergeordnet hat, eine Tendenz, die leider auch bei Freudenberger immer wieder zu spüren ist. Aloys Fischer (1880 – 1937) war seit 1915 außerordentlicher Professor für Philosophie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und leitete von 1918-1921 die Akademische Beratungsstelle für geistige Berufe an der Universität München. Er verfügte somit neben seiner Tätigkeit als Theoretiker und Forscher auch über Feldkompetenz, weil er neben der Leitung auch die Beratung durchführte. Aloys Fischer hat in vielen Arbeiten die heute verwirklichten Grundstrukturen der beruflichen Schulen vorgedacht. Er forderte die Durchlässigkeit zwischen beruflichem Schulwesen und 78
allgemeinen Bildungseinrichtungen und die Anerkennung der beruflichen Bildung. Aloys Fischer hielt in Treue zu seiner jüdischen Frau Paula und wurde deshalb im Jahr 1937 nach § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch den nationalsozialistischen Staat zwangsemeritiert und zur Aufgabe aller beruflichen Ämter und zur Entfernung aus dem Universitätsdienst durch Emeritierung gezwungen. Als Berufspädagoge ist sein Wirken unumstritten und seinem persönlichen Mut und seiner Moral gehört Respekt nachfolgender Generationen. Trotzdem bleibt die Auseinandersetzung mit seinem Beratungsansatz nötig. Lothar Müller-Kohlenberg nennt Fischer einen einflussreichen Verfechter einer Erziehung zum Beruf, wobei Fischer den Beruf als Pflicht gegenüber dem Volksganzen angesehen habe und entsprechend buchstabierte. Beratung war im Sinne dieser staatszentrierten Auffassung dann auch eine „vordringliche Staatsaufgabe“ (Müller-Kohlenberg 1983: 128). Dem akademischen Senat der Universität München habe Fischer 1918 eine Denkschrift zur Errichtung einer akademischen Beratungsstelle vorgelegt, deren Aufgabenbeschreibung für die weitere Entwicklung der Berufsberatung wegweisend sein sollte. Dazu gehören nach Müller-Kohlenberg: das Studium des akademischen Arbeitsmarktes, die Aufklärung der Studierenden über die Wirtschaftsseite und andere Faktoren der akademischen Berufe. Die Einzelberatung der Studierenden, die ohne Berufsziel an die Hochschule kommen, sowie die Mitwirkung bei der Beschaffung von Anfangsstellen (Müller-Kohlenberg 1983: 128) nennt Müller Kohlenberg ebenfalls. Im Mittelpunkt der berufspädagogischen Auffassung Fischers stand das Konzept der Berufseignung, welches am besten mit Mitteln positiver Diagnostik festzustellen sei. Dazu bedurfte es nach Fischer einer engen psychologischen Personalpolitik und entsprechender Betriebsführung, sowie auf dem Gebiet der Wissenschaft einer engen Verflechtung der Methoden der Psychologie mit der Berufspädagogik. Aus der Beratung wurde so die Eignungsfeststellung, wodurch gleich mehrere problematische Entwicklungen im Arbeitsfeld Beratung befördert wurden. Zum einen wurde die Berufsberatung zum Anwendungsfeld der Psychotechnik, zum Zweiten wurde sie eine Funktion der Berufslenkung. „Das Problem der Berufseignung wurde, bestimmend für die Entwicklung von Methoden und Arbeitsmitteln, von Arbeitsplanung und Ansätzen zu einer Erfolgskontrolle der Berufsberatung in den 1920er Jahren. Die Eignungsfeststellung stand zunehmend im Mittelpunkt der berufsberaterischen Bemühungen um öffentliche Anerkennung, um Förderung der Zusammenarbeit mit Schule, Eltern, den Ausbildungsbetrieben und Wirtschaftsorganisationen.“ (Müller-Kohlenberg 1983: 128) 79
4.5 Berufsberatung und Psychotechnik Für die Professionalisierung der Berufsberatung ist ganz offensichtlich die Bedeutung der Psychologie als Wissenschaft, genauer ein Zweig der Psychologie, die so genannte Psychotechnik, ein wesentlicher Faktor, der dafür mitverantwortlich ist, dass sich Berufsberatung zu einem funktionalen Beratungstypus entwickelt hat. Der Begriff der Psychotechnik gilt heute als veraltet und ist weitgehend ungebräuchlich. Im Sinne einer Professionskritik findet sich vor allem bei Geuter (1984) einiges zum Thema Psychotechnik. Auch Dominik Schrage (2002, 2004) vom Bielefelder IWT hat in verschiedenen Publikationen das wissenschaftliche Selbstverständnis, die Ansätze und die Methoden der Psychotechnik beschrieben. Historisch wird die Bedeutung der Psychotechnik dem Taylorismus zugeordnet. Schrage nennt die Psychotechnik eine Spielart der instrumentellen Vernunft (vgl. Schrage 2002). „Diese Richtung der angewandten Psychologie strahlte von Amerika aus, wo Anfang des 20. Jahrhunderts der Ingenieur Frederick Winslow Taylor die Auffassung vertrat, dass in der Industrie, außer der Entwicklung der bestmöglichen Maschinen, auch die Auswahl und Schulung der bestmöglichen Arbeiter erforderlich sei.“ (vgl. Lammers 2003: 2): Nach Lammers (2003) sind vier Kriterien abgrenzbar, die den Taylorismus wissenschaftlich prägen: 1. Bestimmung der Arbeitsabläufe durch Zeitstudien, Ausschaltung überflüssiger Bewegungen („the one best way“). 2. Schaffung von angepassten Arbeitsgeräten und -bedingungen, Minimierung von Zeit- und Kraftverlusten. 3. Schulung und Weiterbildung geeigneten Personals („der rechte Mann am rechten Platz“). 4. Ermittlung des individuellen Arbeitspensums und der nötigen Arbeitspausen, 5. Verhinderung der vorzeitigen Erschöpfung der Arbeiter. Nach Lammers (2003: 5) werden diese Prinzipien während des Krieges etwa aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen in Rüstungsunternehmen angewendet. Nach dem Ersten Weltkrieg finden psychotechnische Maßnahmen weitere Verbreitung, weil der Krieg eine große Zahl von Kriegsinvaliden zurückgelassen habe. Das tayloristische Prinzip sei auf fruchtbaren Boden gefallen und fände vorwiegend bei der stark reduzierten Armee und in Verkehrsbetrieben wie der Reichsbahn, Anwendung.
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„Besonders die Grundlagen der Ermittlung geeigneter Arbeitskräfte (Eignungsuntersuchungen) und die Schulung entsprechend begabter Personen (Fortbildungskurse), stellen hierbei das Zentrum deutscher psychotechnischer Forschung und Anwendung in Industrie und später auch in der Schule, dar“ (Lammers 2003: 7). Zusätzlich tritt schon früh die Berufsberatung als psychotechnisches Arbeitsfeld in Erscheinung (Müller-Kohlenberg 1983: 129). Auch Geuter (1984) argumentiert, dass sich zeitgleich mit der Entwicklung der Berufsberatung auch innerhalb der Psychologie die psychotechnische Eignungsdiagnostik entwickelte und auf die Berufsberatung einen großen Einfluss ausübte. Die Bestimmung von Arbeitsfähigkeiten, Arbeitsleistung, die Untersuchung der Arbeitshaltung und der Arbeitsbereitschaft hätten dabei im Vordergrund gestanden (Geuter 1984, Kap. 3). Mit der Karriere des Taylorismus, auch in der deutschen Industrie, wurden neue Arbeitstugenden und Arbeitskompetenzen wie Stressresistenz, Monotonieunempfindlichkeit, Konzentration etc. gefragt. Die Auswahl von entsprechenden Arbeitskräften überwucherte demnach die Berufsberatung (Geuter 1984: 147). Auch Geuter (1984: 214) betont die Rolle von Aloys Fischer, der im Bereich der Berufsberatung einen gesellschaftlichen Bedarf an praktischen Psychologen reklamierte. Auch durch dessen Engagement habe sich, so Geuter, der Einsatz von praktischen Psychologen als dominante Berufsgruppe in der Berufsberatung verwirklicht. Anders als Paul Oestreich es sich gewünscht hat, hat sich die Berufsberatung nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik als eine Funktion der Kapitalverwertung institutionalisiert. Rationalisierung der Arbeit im Sinne des Taylorismus und Rationalisierung der Qualifikation im Sinne einer Auslese erfuhren in dieser Epoche eine hohe Bedeutung. Die Auslese und Zuweisung von Arbeitskräften hatte gerade nach dem Ersten Weltkrieg, bedingt durch die Kriegsheimkehrer, den Status eines dringenden sozialpolitischen Problems. Mit der Psychotechnik als besondere Methode in der Industrie wurde eine instrumentelle Kultur gerade für die Schulabgänger und Jugendlichen befördert, denen eigentlich etwas anderes zu Teil werden sollte, wenn man sich an Freudenberger und ihre Vorstellung der Beratung als Hilfe bei der Berufsverankerung junger Menschen oder den Entwurf von Oestreich ansieht. Für den Professionalisierungsaspekt der Berufsberatung ist schließlich noch erwähnenswert, dass auch Geuter in Bezug auf die praktischen Psychologen betont, dass diese um ihren Platz in der Beratung kämpfen mussten. Durch die Dominanz der psychotechnischen Verfahren erschien es genauso richtig, Ingenieure oder Angehörigen anderer technischer Berufe, mit der Berufsberatung und Berufsauslese zu betrauen. Den Psychologen kam schließlich die Rolle der Gutachter und die Rolle der Prüfer zu. Ähnlich wie schon der Amtsarzt in den Arbeitsämtern, war ihre Stellung die eines Experten, der vor allem bei größeren Problemen und komplexeren 81
Aufgaben hinzugezogen wurde. Schließlich betont Geuter, dass die Professionalisierung der praktischen Psychologen außerhalb des Beratungswesens im Bereich der Wehrmachts- und Heerespsychologie erfolgt ist. 4.6 Die Zentralisierung der Berufsberatung durch das Reichsarbeitsamt und die Idee der Berufslenkung Geuter (1984) beschreibt die schrittweise Durchsetzung der Psychologie im Bereich der Berufsberatung in Phasen. So sollen vor allem Lehrer gegen eine selbstständige Berufsberatung unabhängig von den Schulen gewesen ein. Wobei bereits 1925 die Zusammenarbeit zwischen Schule und Berufsberatung gesetzlich geregelt war. Jedoch konnten erst in den 1950er Jahren mit der Institutionalisierung des Psychologischen Dienstes bei der Arbeitsverwaltung die Psychologen die Berufsberatung quasi für sich reklamieren und ihre Profession neben den arbeitsamtseigenen Berufsberatern behaupten. In der NS-Zeit stiegen die Eignungsdiagnostik und noch mehr die Charakterologie in der Berufsberatung auf, die zunehmend eine Berufslenkung wurde. Die Berufsberatung hatte die Aufgabe, den beruflichen Nachwuchs im Sinne einer Berufslenkung zu beeinflussen, was zu einer Zentralisierung der Eignungsdiagnostik bei den Arbeitsämtern führte (Geuter 1984: 277). Während der Zeit des Nationalsozialismus verwandelte sich die Berufsberatung in eine Berufsnachwuchslenkung (Hartwig 1948: 27). Neben den auch von Hartwig (1948) angeführten persönlichen Berufswahlmotiven nennt er vor allem den Einfluss politischer und militärischer Stellen auf die Berufswahl. Vor allem von der „Kriegswirtschaft“ wurden Nachwuchszuteilungen gefordert. Das Reichsarbeitsministerium stellte Nachwuchspläne auf und erließ eine Reihe von Maßnahmen wie die Sicherstellung des Nachwuchses für die Eisen- und Metallwirtschaft, das Baugewerbe, einschließlich einer geldlichen Ablösung für solche Betriebe, die sich nicht an der Ausbildung beteiligen konnten: „Unternehmer, deren persönliche oder betriebliche Verhältnisse eine angemessene Einstellung von Lehrlingen nicht zuließen, waren verpflichtet, eine entsprechende geldliche Ablösung zur Förderung der Lehrlingsausbildung an die Reichsanstalt zu entrichten.“ (Hartwig 1948: 28). Betriebe konnten ferner zur Ausbildung verpflichtet werden. Gleichwohl musste das Arbeitsamt der Ausbildung zustimmen. Ab 1938 galt eine Genehmigungspflicht auch für Personen unter 25 Jahren, und zwar sowohl im Bereich der Ausbildung, der Praktika als auch für Volontariate (Hartwig 1948: 29). Die Berufsberatung hatte das Recht, ein persönliches Erscheinen von schulentlassenen Jugendlichen anzuordnen. Die schulentlassenen Jugendlichen wurden der Berufsberatung von den Schulen gemeldet (Meldezwang). In Bezug auf die Frage der Vergeschlechtlichung der 82
Berufsberatung und der Nachwuchslenkung merkt Hartwig an (1948: 33), dass die Mädchen bevorzugt in die Landwirtschaft abkommandiert wurden und hier den Arbeitskräftebedarf sicherstellten. Die Überlastung der Landwirtschaft sollte durch die Mithilfe der weiblichen Jugend gemildert werden (Hartwig 1948: 33). Die Schülerinnen höheren Alters sollten bevorzugt sozialen und erzieherischen Berufen zugeführt werden. Eine Tätigkeit im Haushalt wurde nur genehmigt, wenn sie mit einer Ausbildung verbunden war.
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5. Die Sexualreformbewegung und Sexualberatungsstellen
In seinem 1891 publizierten Roman „Frühlingserwachen“ erzählt Frank Wedeking in gesellschaftskritischer Absicht die Geschichte von Wendla, Melchior und Moritz, drei 14-15jährigen Jugendlichen, denen ihre sexuellen Gefühle zum Verhängnis werden, weil sie auf Kulturen höchster sexueller Repression stoßen. Melchior, Sohn einer liberalen Mutter, verfasst nicht nur für seinen Freund Moritz ein Büchlein mit dem Titel „Der Beischlaf“, sondern nimmt zu Wendla eine intime Beziehung auf. Wendla stirbt, ohne ihre Schwangerschaft wirklich zu verstehen, an den Folgen einer Abtreibung, Moritz erschießt sich, nachdem das Büchlein über den Beischlaf bei ihm gefunden wurde und Melchior tritt die Reise in eine Besserungsanstalt an. Als Helene Stöcker 1905 den Bund für Mutterschutz gründet, gilt ihr Kampf jenen gesellschaftlichen Strukturen, die den Tod von jungen Mädchen wie Wendla in Frank Wedekings Roman verursachen. Sexuelle Tabuisierung, verbunden mit schwerster Repression und Kriminalisierung vorehelicher und nicht zum Zweck der Fortpflanzung bestimmter Sexualität, lassen vor allem für die Frauen keinen Ausweg. Seit 1900 war der Handel mit „Gegenständen“, die zum unzüchtigen Gebrauch bestimmt sind, verboten und konnte mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden. Dieses Verbot erstreckte sich auch auf die Beratung, auf die Anpreisung, öffentliche Ausstellung oder Ankündigung (vgl. Rackelmann 2006: 59, von Soden 1988). Nach den Recherchen von Kristine von Soden (1988) starben jährlich ca. 50.000 Frauen an den Folgen unsteril durchgeführter Abtreibungen und 19.000 Frauen verübten Selbstmord. Wie das Ende des Zweiten Weltkriegs, so wird auch das Ende des Ersten Weltkriegs zur Stunde der Frauen. Das eheliche wie das politische Patriarchat lässt sich so nicht mehr aufrechterhalten. Das Frauenwahlrecht wird politisch durchgesetzt und die revolutionäre Stimmung im Übergang zur Weimarer Republik beflügelt die Frauenbewegung wie die Jugendbewegung in Deutschland und Europa. Frauen fordern Rechte und vor allem sexuelle Selbstbestimmung, Entkriminalisierung der Verhütung und Geburtenplanung und Schutz für nicht verheiratete Mütter und Kinder. Jugendliche suchen ihre Emanzipation in Peer Groups, die seit dem zu einem wichtigen Übergangsphänomen in der Adoleszenz geworden sind. Schließlich propagierte auch die Arbeiterbewegung, so zerstritten sie auch sein mochte, die „kameradschaftliche“ freie Form des Zusammenlebens, die Gleichberechti-
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gung der Geschlechter und ein neues modernes Frauenleitbild. Die Enttabuisierung des weiblichen Körpers drückte sich in veränderten, gesünderen Kleidungsstücken ohne Korsagen aus. Neben diesen wichtigen sozialen Bewegungen ist für die pädagogische Beratung die Sexualreformbewegung von besonderer Bedeutung. Nach Rackelmann (2006) unterhielten die Sexualreformorganisationen auf ihrem Höhepunkt 400 Sexualberatungsstellen und hatten mehr als 110.000 Mitglieder. Ähnlich wie Gabriele Czarnowski für die NS-Zeit, reflektiert auch Kristine von Soden den diskursiven Kontext der Sexualreformbewegung, zeichnet die Konfliktlinien nach und setzt sich kritisch auseinander mit dem Denken der Zeit (Czarnowski 1991, v. Soden 1988). 5.1 Die Sexualreformbewegung und ihre Beratungskonzepte Im Mittelpunkt des Buches von Soden (1988) steht die These von der Enttabuisierung des Sexuellen durch die Sexualreformbewegung und ihre Kontrastierung mit der Eheberatung. Schwerpunktmäßig liegt die Forschung auf der Beschreibung der Institutionalisierungsprozesse und ist geprägt von der Analyse der Pionierjahre der Sexualreformbewegung. Dabei werden drei diskursive Konfliktlinien besonders benannt: 1. Die Diskussion um die Verhütung und die Position der Sexualberatung als Verteilungsstelle von Verhütungsmitteln, 2. die Sexualberatungsstellen als Aufklärung über sexuelle Differenz, 3. die Vermittlung von Frauen in Schwangerschaftskonflikten zu medizinisch qualifizierten Ärzten zur Vornahme einer Abtreibung. Die Beratung innerhalb der Sexualreformbewegung erfolgte als sexuelle und medizinische Aufklärung, als Vergabe von Verhütungsmitteln und als Beratung bei ungewollter Schwangerschaft, d. h., vorwiegend Vermittlung von ärztlich durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen. Die Ziele der Sexualberatung im Kontext der Sexualreformbewegung waren neben Geburtenkontrolle und sexueller Aufklärung auch politische Emanzipation und Anerkennung sexueller Differenz. Eine der schillernsten Figuren der Sexualreformbewegung war neben Max Hodan und Magnus Hirschfeld sicherlich Wilhelm Reich, dessen Anliegen nicht die sexuelle Emanzipation von Frauen oder Geburtenkontrolle war. Reich war der Auffassung, dass Sexualunterdrückung im Dienste der politischen Repression stand. Er verknüpfte Sexualität und Politik und gründete 1929 die sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung (Sexpol). Die Beratungsziele dieser linken Sexualreformbewegung werden politischer und antikapi-
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talistischer, aus der Sexualreformbewegung wird eine proletarische Sexualreformbewegung. Gleichwohl verweisen die Ziele der Sexualreformbewegung wie: x Freie sexuelle Jugendaufklärung und Erziehung, x Mutter- und Säuglingsfürsorge, x Verteilung von Verhütungsmitteln, x kostenloser Schwangerschaftsabbruch, x Sexualberatungsstellen, x Wohnraumpolitik, x Einrichtung von Sexualwissenschaften, x Abschaffung der Strafe für sexuelle Differenz, auf eine bedeutende Veränderung in der Demokratisierungsbewegung der Weimarer Republik. Diese Radikalisierung in der Sexpol wird dann verständlicher, wenn für die Entwicklung der Beratungsstellen andere, der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik entgegengesetzt, Beratungsstellen mit berücksichtigt werden (vgl. das Kapitel zur Eheberatung). 5.2 Die Beratungsstellen der Gesellschaft für Sexualreform (Gesex) in Berlin Es geht auch in der Beratungsstelle um einen Austausch von Standpunkten. So berichtet Rackelmann aus den Lebenserinnerungen von Ernest Borneman, der in der Beratungsstelle Berlin-Charlottenburg, Schlossstraße, ehrenamtlich arbeitete. Die Beratungsstellen standen unter ärztlicher Leitung, die Beratung kostete eine RM. Verhütungsmittel wurden an Mitglieder der Sexualreformbewegung kostenlos, an Nichtmitglieder zum Einkaufspreis abgegeben. Pessare wurden ärztlich angepasst. Bei Schwangerschaftskonflikten wurde an liberale Ärzte weiter verwiesen, die sich strafbar machten. Ernest Borneman schreibt: „An zwei Nachmittagen (…) pilgerte ich zur Klinik und empfing (…) Patienten meines Alters, die Sexualprobleme hatten. Das waren ausnahmslos die folgenden vier: Empfängnisverhütung, Masturbation, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung. Mit der ihm eigenen Autorität (…) hatte er mir und den anderen Jugendhelfern eingebläut, dass wir in den letzten beiden Fällen nie etwas sagen durften, sondern die Patienten zu ihm und den anderen Ärzten schicken mussten. Über Masturbation und Empfängnisverhütung dagegen durften wir frei und unüberwacht alle Lektionen weitergeben, die Reich und seine Kollegen uns eingeprägt hatten…“ (Borneman 1981: 27 und Rackelmann, 2006: 76)
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Die Beratungsstellen seien vorwiegend von Frauen und Jugendlichen besucht worden. Mit ihrem Publikationsorgan „Die Warte“ wurde ein Diskurs sexueller Emanzipation aufrechterhalten, auch wenn die gesamte Sexualreformbewegung einschließlich ihrer Zeitschrift von der KPD funktionalisiert wurde. Im März 1933 flieht Reich aus Deutschland, nachdem ihm die Zerstörung der Sittengesetze und die Verführung der Jugend vorgeworfen wurden. Bis zum Sommer 1933 werden alle Sexualberatungsstellen geschlossen. Die deutsche Sexualreformbewegung wird zerschlagen. 1935 hört nach dem Tod von Magnus Hirschfeld auch die Weltliga für Sexualreform auf zu existieren. 5.3 Die Sexualberatung als pädagogische Beratung Betrachtet man die Sexualberatung der Weimarer Republik unter der Fragestellung einer pädagogischen Beratung, so lässt sich hier eine Art Anfang der pädagogischen Beratung lokalisieren. Dabei sticht die Sexualberatung noch einmal besonders hervor, weil sie gleich mehrere Kriterien der Beratung als Aufklärung erfüllt, wie sie zum Beispiel von Mollenhauer und Müller in den 1960er Jahren formuliert worden sind, obwohl beide Erziehungswissenschaftler sich mit den Wurzeln der Pädagogischen Beratung in der Weimarer Republik nicht befasst haben. x Im Mittelpunkt der Sexualberatung stehen Information und Aufklärung der Ratsuchenden, d. h., es ist ein Zuwachs an Bildung, Wissen und alltäglicher Kompetenz, der in der Beratung vermittelt werden soll. Wir finden hier die Konzeptvorstellungen der von Thiersch formulierten Alltagstheorie, die Beratung soll helfen, dass Ratsuchende ihren Alltag „gelingender“ gestalten können. x Ein zweiter, nicht minder wichtiger konzeptioneller Baustein ist die Anerkennung der Person des Ratsuchenden als Träger von unveräußerlichen Rechten. Die Rechtlichkeit des Beratungsverhältnisses fungiert als Kompass in der Beratung und steht in striktem Gegensatz zu einem Anspruch auf Lenkung des Klienten „zum Besseren“. Die pädagogische Beratung ist also bewusst nicht „edukativ“, sondern emanzipatorisch, sie ist nicht expertenfixiert, sondern alltagsbezogen. x Die Beratung ist Ausdruck einer sozialen Bewegung. Neben Professionellen werden auch Laien nach Einweisung und Training als Berater beschäftigt. Die Laienberater werden vor allem für die pädagogischen Dimensionen der Sexualberatung benötigt. Sie sollen Identifizierung anbieten, Schamgefühle verhin88
dern und die Niedrigschwelligkeit sicherstellen. In der Pädagogischen Beratung spielt die Verknüpfung mit der Selbsthilfe, die Einbettung in soziale Aktionen und in den Alltag in den Feldern der Armutsberatung, der Selbsthilfe, z. B. im Gesundheitswesen und bei Erkrankungen, in der Frauenberatung, in der Aidsberatung eine große Rolle. In der neueren Diskussion wird dieser Ansatz als Empowerment beschrieben. Das Gesprächsverhalten, die Beratungstechnik steht nicht im Mittelpunkt der Beratung. Die Technik des Gesprächs ist, so zeigt sich im zitierten Brief, eher sokratisch als klinisch oder hermeneutisch. Von besonderer Bedeutung ist die Interessengleichheit und die Rationalität, d. h. der professionsethische Aspekt. Beratung und Ratsuchender stehen nicht in einer strukturellen Spannung oder in einem Interessensgegensatz zueinander, das heißt es gibt keinen heimlichen Kontrakt zwischen dem Berater und seiner Institution. Fasst man diese Kriterien zusammen, haben wir es bei der Sexualberatung in der Weimarer Republik mit einer besonderen Form der Beratung als Kritische Aufklärung zu tun. 5.4 Erbhygiene, Rassenhygiene und die Sexualberatung Gleich zu Beginn der 1920er Jahre formierten sich zumeist von Ärzten getragene Beratungsinstitutionen, die unter dem Angebot der Eheberatung und Gesundheitsberatung, ebenso der Erziehungsberatung, ganz andere Ziele verbanden. Im Zentrum ihrer Beratungsvorstellungen standen rassenhygienische und die Klienten lenkende Auffassungen. In gewisser Weise lassen sich hier schon Ideen erkennen, die dann in der NS-Zeit zum Gesetz zur Verhütung von erbkrankem Nachwuchs beigetragen haben dürften. Diese Strömungen organisierten sich unter dem Dach von Eheberatungsstellen, die ihre Beratungsdienstleistungen nicht nur ausschließlich auf die Ehe bezogen sehen wollten, sondern mit der Beratung eigene, vom Klienten und seiner moralischen Schutzbedürftigkeit unabhängige Ziele verfolgten, die im Dienste von Auslese standen. Neben dem Aspekt der konzeptionellen Anschlussfähigkeit von Eheberatung mit den rassenhygienischen Programmen der NS-Zeit, lässt sich hier jedoch noch ein zweiter wichtiger Aspekt von Beratung erkennen, der auch nach 1945 für die Gestaltung der Beratungsbeziehungen, für die Selbstverständnisse der Professionellen und für die beraterischen Widersprüche in hohem Maße verantwortlich sein dürfte. Das spezielle Beratungshandeln der frühen Ehe- und Gesundheitsberatung, ebenso wie der Erziehungsberatung, lässt sich, so soll gezeigt werden, unter das von Foucault beschriebene Prinzip des ärztlichen Blicks subsumieren: der Arzt sieht die Krankheit durch den Patienten (vgl. Foucault 1982). Diese, die moralische 89
Schutzbedürftigkeit des Klienten negierende professionelle Umgangsform, begründet ein spezielles strukturelles Gewaltverhältnis, welches die Geschichte der Erziehungsberatung, der Eheberatung, der Mütterberatung und der Gesundheitsberatung mitprägt. 5.5 Die Eheberatung Khristine von Soden nennt in ihrem Buch über die Beratungsstellen der Weimarer Republik quasi als Kontrastierung zur Sexualberatung, die Einrichtung von Eheberatungsstellen, die eher einem klinisch-medizinischen Kontext entstammten. Sie führt an, dass vor allem national denkende Kreise in der Ärzteschaft Befürchtungen hinsichtlich der Erbgesundheit des Deutschen Volkes hatten. Die Bedeutung des Sozialdarwinismus erfuhr im Kaiserreich eine Art Höhepunkt. Neben der Tabuisierung der Verhütung durch den Unzuchtparagrafen war es das Interesse für das Deutsche Reich genügend erbgesunden Nachwuchs sicherzustellen. Diese Kontrolle über die Erbgesundheit sollte in den Händen von medizinisch kontrollierten Eheberatungsstellen liegen. Im Mittelpunkt dieser Beratung stand die Ausstellung eines Ehefähigkeitszeugnisses. Die Berater sollten vor allem mit Hilfe von so genannten Sippschaftstafeln (heute Genogramme) die Erbgesundheit von Heiratskandidaten prüfen. Nach Prüfung von Stammbaum und Herkunft, sowie medizinischer Untersuchung, konnte ein Ehefähigkeitszeugnis ausgestellt werden, welches bei den Standesämtern vorgelegt werden sollte. Die Bevölkerung hat allerdings auf die Einrichtung der Eheberatungsstellen mit Verweigerung reagiert. Wir haben hier einen anderen Beratungstypus, der sich durch folgende von Foucault beschrieben Kriterien auszeichnet und der im Sinne des Entwurfes von Foucault als pastoraler Beratungstypus beschrieben werden soll. x Der Berater hat vor allem mit seiner Institution einen Kontrakt. x Der Ratsuchende ist im klassischen Sinne Klient, das heißt er wird geführt, das Beratungsziel steht fest, ebenso wie die Mittel, die zum Ziel hinführen. x Die Beratung beschämt den Klienten durch ihre Selektionsrationalität, wodurch zwischen Ratsuchendem und Berater ein konstitutives Spannungsverhältnis begründet wird. x Der amtliche Charakter der Beratung durchdringt die Beratungssituation, schafft Doppelstrukturen und schüchtert ein.
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5.6 Eheberatung unter dem Dach der Kirche In ihrer Dissertation über die Ärztin und Bevölkerungspolitikerin Ilse Szagunn, die eine zentrale Rolle in den evangelischen Eheberatungsstellen spielt, hat Louisa Sach (2006: 151ff) die Entstehung der Evangelischen Eheberatungsstelle Friedenau in Berlin recherchiert und gibt an, dass es in Berlin fünf evangelische Eheberatungsstellen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gegeben hat. Diese evangelischen Beratungsstellen haben sich deutlich von den Beratungsstellen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform und auch von den Beratungsstellen der Gesex unterschieden. Sach zeigt auf, dass das Preußische Wohlfahrtsministerium bereits in einem Erlass von 1926 den Eheberatungsstellen vor allem eugenische Funktionen zugedacht hatte, um der Gefahr der Erzeugung eines minderwertigen Nachwuchses zu begegnen. Wie auch Donhauser (2007) in seiner Studie zu den Gesundheitsämtern im NS, so zeigt Sach (2006) gleichermaßen in ihrer Dissertation auf, dass bereits vor und während des Ersten Weltkrieges rassenhygienische Bewegungen die Idee hatten, über die Eheberatungsstellen und die Ehegesundheitszeugnisse eine positive Rassenhygiene zu betreiben. Der Preußische Staat leistete ihnen dabei Hilfe, indem der Wohlfahrtsminister eine positive Haltung zu den Gründungen von amtlichen Eheberatungsstellen einnahm, die als eugenische Beratungsstellen unter dem Dach der Eheberatung praktizieren sollten. Eine wichtige Rolle bei der Institutionalisierung der Evangelischen Eheberatungsstellen hat der Bevölkerungswissenschaftler und Arzt Hans Harmsen gespielt, der eine pointierte, rassenhygienische Position vertrat. Die positive Verankerung der Sexualberatungsstellen in der deutschen Bevölkerung und die große Nachfrage nach Verhütungsmitteln und Sexualaufklärung bezeichnete er als die Psyche der Jugend zerstörend. Aufgabe der Kirche sei es deshalb, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nach Sach (2006: 153) forderte Harmsen wiederholt „rassenhygienische evangelische Sexualberatungsstellen“. Der Ausschuss für Rassenhygiene und Bevölkerungswesen des Preußischen Landesgesundheitsrates (PLGR) erarbeitete ein Konzept von persönlicher Gesundheitsberatung, welches sich unmittelbar an die Volksschule anschließen sollte. „In dem Moment, wo sich der Geschlechtstrieb rege, habe Eheberatung in Form von Pubertätsberatung zu beginnen. Diese solle dann in die Heiratsberatung übergehen, die den Gesundheitszustand vor der Ehe feststellte“ (Sach 2006: 153). Erst nachgelagert sollte für die Erwachsenen eine Ehestands- und Familienberatung institutionalisiert werden, die sich mit Eheproblemen befasst. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr es dem Preußischen Landesgesundheitsrat um eine pädagogische Einflussnahme auf die Jugend ging. Ilse Szagunn hat sich nach der Forschungsarbeit von Sach (2006, Kap. 2) schon in der Weimarer Republik im Bereich der Jugendberatung an Schulen profiliert. Anders als Hugo Sauer vertritt 91
sie eine ordnungspolitische und konservativ normative Auffassung von Beratung als Form der Lenkung. Mit dem Typus der evangelischen Eheberatungsstelle sollte nun eine eigene sittlich-religiöse Eheberatung angeboten werden, die die rassen- und erbhygienischen Aspekte der amtlichen Eheberatungsstellen einbezog, aber darüber hinaus die psychischen und psychosozialen Probleme von Ratsuchenden einbezog. Louisa Sach zeigt auf, dass die Evangelische Kirche so identifiziert mit dem erbhygienischen Aspekt der Eheberatung war, dass es Überlegungen gab, die Vererbungslehre ins theologische Studium zu integrieren, damit die Pfarrer Brautleute mit beraten konnten (Sach 2006: 154). Ab 1927 hat die Vereinigung evangelischer Frauenverbände begonnen Evangelische Eheberatungsstellen einzurichten, die der „immer stärker um sich greifenden Verwirrung des Ehe- und Sexuallebens“ Einhalt gebieten sollten (Sach 2006: 154). Die Evangelischen Eheberatungsstellen verknüpften konzeptionell die Seelsorge mit der Gesundheitsberatung, deren rassenhygienische Konzipierung unzweifelhaft ist. Dies zeigt sich schon in der Tatsache, dass die Innere Mission als Vorläufer der Diakonie einen ständigen Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege hatte. Die Schließung der Mehrheit der Evangelischen Eheberatungsstellen ist nach Sach übrigens kein Ausdruck ihrer Opposition zum NSStaat gewesen, sondern hatte ausschließlich finanzielle Gründe. Ab 1936 nannten sich die Evangelischen Eheberatungsstellen in Abgrenzung zu den Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege „Evangelische Ehehilfe und Vertrauensstellen“ (Sach 2006: 155). Ilse Szagunn, über die Louisa Sach (2006) ihre Dissertation verfasst hat, hat mit der Evangelischen Eheberatung einen besonderen Beratungstypus konzipiert: die Beratung in Ehekrisen stand an erster Stelle. Sie war konzipiert als ärztliche Aufklärung und ärztlicher Rat in schwierigen sozialen Situationen (Langzeitarbeitslosigkeit, Gewalt, Alkoholismus), Beratung in Schwangerschaftskonfliktsituationen bei unehelicher, vorehelicher und gefährdeter Schwangerschaft und schließlich Beratung in eugenischen Fragen. Die eugenische Beratung bestand vor allem aus einer Aufklärung über die nationalsozialistische Ehe- und Sterilisationsgesetzgebung. Vor 1933 hat Szagunn wohl im Sinne des preußischen Gesundheitsrates rassenhygienische Aufklärung betrieben. Louisa Sach zeigt auf, dass dem Beratungsverständnis von Szagunn als Funktionärin im Kontext der Evangelischen Eheberatung ein pädagogisches Beratungsverständnis der Erziehung zur Ehefähigkeit, welches sie nutzte, um an der Umsetzung der nationalsozialistischen Sterilisations- und Rassenpolitik mitzuwirken (Sach 2006: 157).
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5.7 Von der Eheberatung zur Sexualüberwachung – Verstaatlichte Beratung für Paare im NS In der NS-Zeit wurde das Ehefähigkeitszeugnis verbindlich und an positive Sanktionen wie Ehestandsdarlehen geknüpft. Die Beratung zentralisierte sich zu einer zentralen Erbgesundheitsdatei mit Sitz in Berlin (Czarnowski 1991). Im Mittelpunkt dieser Politik stand die Institution des Gesundheitsamtes. Erb- und Rassenpflege, so Czarnowski (1991: 153) wurde einschließlich Eheberatung zu einem eigenen „Fürsorgezweig mit Beratungsstelle“, die regelmäßige Sprechstunden abhielten. Die Arbeit der Beratungsstellen zielte auf die Ermittlung des „Erbwertes“ einer Person und hatte die Aufgabe, diesen zu erforschen (Czarnowski 1991: 154). Erbgesunde Personen sollten gefördert, erbkranke und gefährdete Personen zur Sterilisation überredet werden. Die Beratungsstelle arbeitete mit Anreiz- und Sanktionssystemen, die Czarnowski wie folgt aufzählt: Ehestandsdarlehen, Siedlerstellen, Kinderbeihilfen, Ausbildungsbeihilfen, Adoptionsvermittlung und/oder Einbürgerung. Umgekehrt konnten die in der Beratungsstelle tätigen Ärzte Ehehindernisse aufstellen und das Verfahren zur Unfruchtbarmachung erbkranker Personen einleiten. Neben der Verfolgung von Personen mit Erbeigenschaften, die im „Widerspruch zum Volksganzen“ lagen, geht die Anordnungsbefugnis des Amtsarztes als Leiter der Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege einher, Kastrationen von homosexuellen Männern zu befürworten, sowie von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien. Ferner lag die Erfassung der Früh- und Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüche bei der Beratungsstelle. Beratung im Gesundheitswesen und Sexualberatung war im Nationalsozialismus Bestandteil einer extremen Bevölkerungspolitik, vor allem in Bezug auf die Bekämpfung der „Abtreibungsseuche“. Man versprach den Ratsuchenden in Schwangerschaftskonflikten Rat und Hilfe, arbeitete aber gleichzeitig mit der Kriminalpolizei zusammen, um illegale Abtreibungen zu bekämpfen. Czarnowski weist darauf hin, dass 1942 zehn Millionen Karteikarten zur Erfassung der gesunden Bevölkerung vorhanden waren. Die Umsetzung der rassistischen NS-Bevölkerungspolitik knüpfte laut einer Studie von Donhauser (2007) zum Gesundheitsamt im Nationalsozialismus, deutlich an einen, wie Donhauser es nennt, Wertewandel an, der sich, wie er sagt, bereits in den beiden Jahrzehnten vor der Machtergreifung entwickelt hatte (Donhauser 2007: 99). Die NS-Gesundheitspolitik setzte, wie auch die Erziehungsberatung, auf den Ideen der sozialhygienischen Bewegung auf. Die Verknüpfung von Fürsorge und Beratung mit sozialhygienischen Programmen mündete in die Institutionalisierung von amtlichen Beratungsstellen, wie z. B. die Eheberatung, die Mütterberatung und die Sexualberatung als Funktion in die Gesundheitsämter der NS-Zeit. Auch die Erziehungsberatung war in die Ge93
sundheitsämter integriert. Donhauser zeigt ebenfalls auf, dass, bedingt durch die Verankerung der Eugenik, im Wertesystem vieler europäischer Gesellschaften nach 1945 eine Kontinuität zu den selektierenden Auffassungen vorhanden ist. Eugenische Forderungen seien keine deutsche Besonderheit gewesen. Die Verbindung der deutschen Rassenhygiene mit der amerikanischen Eugenik sei ein Faktor zur Etablierung der Eugenik als international anerkannte Wissenschaft. In Bezug auf die Beratung ist anzumerken, dass die Beratungsgegenstände des Gesundheitsamtes im NS im Kern eine rassenhygienisch ausgerichtete angewandte Eugenik darstellten, die letztlich auch Schwangerschaftskonflikte und sexuelle Differenz umfasste. Beratung als Anwendungsform dieser Eugenik findet sich, wie schon von v. Soden nachgewiesen hat, bereits zu Beginn der 1920er Jahre.
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6. Entwicklungslinien der Pädagogischen Beratung nach 1945
Ein erster Zugang, um die Beratung nach 1945 einzuschätzen, betrifft die Frage, ob in der Nachkriegszeit z. B. im Sinne der Reeducation Programme der Alliierten wirklich neue Konzepte im Feld der pädagogischen Beratung entstanden sind oder ob die Erziehungsberatung, die Sexualberatung und die Berufsberatung sich nicht durch ideengeschichtliche und konzeptionelle Kontinuität sowohl zur Weimarer Republik als auch zur NS-Zeit auszeichnen. Das würde bedeuten, dass die Berufsberatung in der neuen Bundesrepublik weiterhin eine Praxis der Berufslenkung geblieben ist, die Erziehungsberatung im Konzept der „neuen deutschen Seelenheilkunde“ stagnierte und die Sexualberatung aus der Sozialhygiene und Erbpflege nicht herausgekommen ist. Auf der Ebene der Institutionalisierung wäre zu untersuchen, ob die Erziehungsberatung sich als unabhängige Beratungsstelle außerhalb der Psychiatrie und des Heilpädagogischen Systems etablieren konnte, die Berufsberatung außerhalb des Monopols der Arbeitsämter und die Sexualberatung außerhalb des Gesundheitsamtes bzw. der Medizin. Diese institutionelle Unabhängigkeit wäre ein wichtiger Garant für den Aufbau einer Beratungsethik ebenso wie für die Professionalisierung der Beratung. Ein dritter Faktor ist schließlich eben jene Frage nach den Professionen. Zu fragen ist, ob die Beratung eine Stufe unter der Behandlung verbleibt bzw. lediglich Funktion in einem staatlichen Verwaltungssystem ist und damit letztlich semiprofessionell und abhängig, oder ob Beraten zur eigenen Profession wird. Schließlich ist für die Bewertung der Zeit nach 1945 wichtig, inwieweit internationale Diskussionen und Konzepte auf die Institutionalisierung und Konzipierung von Beratung Einfluss hatten und inwieweit die NS-Zeit kritisch reflektiert wurde. Das vorliegende Kapitel differenziert sich wieder in die Reflexion des Beratungsdiskurses und seiner theoretischen Bezüge, zum Zweiten in Beschreibungen der Institutionalisierungsprozesse und schließlich in Reflexionen zu den sich konstituierenden Beratungsnetzwerken und Professionen. Zunächst einmal muss, nach kritischer Sichtung der Geschichte der pädagogischen Beratung in Deutschland, eingeräumt werden, dass es im Bereich der Beratung keine Stunde Null gegeben hat und kein demokratisches Beratungswesen aus den Trümmern der Nazizeit aufgestiegen ist, auch wenn vereinzelt Beratungsstellen nach 1945 unter tatkräftiger Hilfe von Personen, denen eine Verstrickung mit dem NS-System nicht nachgewiesen werden kann, entstanden sind.
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Dies ist aber eher die Ausnahme. Weder in den neu gegründeten Gesundheitsämtern, noch in der Arbeitsverwaltung oder in den Jugendämtern der jungen Bundesrepublik, weder in der Erziehungsberatung, noch in der Eheberatung, der Mütterberatung oder anderer Beratungsformen kann eine Aufarbeitung und wirkliche Neugestaltung der Beratungsangebote nachgewiesen werden – mindestens bis in die 1960er Jahre. Für die Mehrheit der Beratungsangebote gilt zunächst Kontinuität – bis auf wenige Ausnahmen. Besonders schockierend sind die Entdeckungen von Geuter (1984), der über die Professionalisierung der Psychologie im NS umfassend gearbeitet hat oder von Buhlert u. a. (1989), die z. B. die Geschichte der Frankfurter Erziehungsberatungsstelle rekonstruiert haben. Im Sinne von netzwerktheoretischen und professionstheoretischen Ansätzen hat auch Regine Lockot (1985) die große Bedeutung des Berliner Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie als Netzwerk von Beratern in der NS-Zeit benannt. Die Mehrheit der Berater wurde an diesem, nach seinem Leiter benannten „Matthias Heinrich Göring-Institut“ in Berlin, während der Nazizeit im Sinne der neuen deutschen Seelenheilkunde ausgebildet. Diese Berater haben später in den Beratungsstellen der jungen Bundesrepublik eine wichtige Rolle gespielt. Dazu gehören der Gründer des Hannoveraner Institutes für Psychagogik, Carl Tornow oder die Erziehungsberaterinnen und -berater in der Münchener Erziehungsberatungsstelle von Leonard Seif, der 1949 verstarb, wie Lene Credner, Kurt Seelmann, Modesta und Christel Timme oder Karoline Schmidt (vgl. Seif 1952, Lockot 1985: 352-354). Neben dieser Gruppe der Mitläufer, sind Personen wie Werner Villinger und Robert Ritter, die wirklich NS-Größen waren und an der Euthanasie und Menschenforschung direkt und aktiv beteiligt waren, nach 1945 teilweise bis in die 1960er Jahre aktiv in der Erziehungsberatung und in den Gesundheitsämtern tätig gewesen und haben hier ihre Sichtungsvorstellungen und Sozialhygienekonzepte weiter vertreten können (Buhlert u. a. 1989, Blandow 1989). Die Netzwerke zerbrachen in den 1960er Jahren, weil spätestens hier auch die jüngeren Berater und Nachfolger der ersten Generation der am Matthias Heinrich Göring-Institut ausgebildeten beratenden Psychologen in den Ruhestand gingen und verstarben. 6.1 Die Erziehungsberatung nach 1945 Gemeinhin wird die Erziehungsberatung nach 1945 als Neubeginn und Überwindung der NS-Zeit angesehen. Vor allem das Konzept der Child Guidance Klinik, so wird suggeriert, sei nach 1945 die konzeptionelle Grundlage der Erziehungsberatung geworden. Damit habe sich die Erziehungsberatung aus den engen sozial- und erbhygienischen Konzepten der Weimarer Republik, ebenso 96
wie aus der Dominanz der Konstitutionsforschung und Psychopathenfürsorge zur Zeit der Gründungen der Beratungsstellen befreit und zu einer modernen interdisziplinären Beratungsform entwickelt, in deren Mittelpunkt die psychologische Beratung und Hilfe für Familien und Kinder steht. Neben der Übernahme der Child Guidance Konzeption seien der institutionelle Wiederaufbau der Erziehungsberatung vorrangig gewesen, um für die sozialen Nöte ein entsprechendes Angebot zu schaffen. So argumentiert Hans Peter Klug in seinem Rückblick auf einhundert Jahre Erziehungsberatung, dass 1945 „Ernährungsmangel, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit vielfach zur Verwahrlosung von Kindern“ geführt hätten. Hilfen seien dringend notwendig gewesen. In Bezug auf die arbeitenden Erziehungsberatungsstellen habe es nur noch 13 Einrichtungen in der Bundesrepublik und in Westberlin gegeben. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen ‚Child Guidance Clinics‘ seien in den Großstädten Beratungsstellen mit multidisziplinärem Team eingerichtet worden. Mit Hilfe dieser Einrichtungen hätten die Alliierten im Sinne der Reedukations-Bemühungen Einfluss auf das deutsche Erziehungswesen nehmen wollen“ (Vossler 2005: 5 nach Klug 2006: 3). 1953 habe es schon 157 Stellen nach dem amerikanischen Vorbild gegeben, 1962 seien es 324 gewesen. Träger der Einrichtungen waren vor allem die Kommunen, Kirchen und freie Verbände (Lexikon der Pädagogik, Band 1, 1971: 398 zit. nach Klug 2006: 4). Geht man von einer ideengeschichtlichen und inhaltlichen Neubestimmung der Erziehungsberatung aus, so müssten in den Publikationen der Nachweis geführt werden, dass sich die Anforderungen an die Erziehungsberatung ebenso wie ihre Antworten auf die pädagogischen Fragen und die seelischen Probleme von Kindern verändert haben, ebenso müsste sich nachvollziehen lassen, dass die psychologisch-psychoanalytischen Strömungen der Erziehungsberatung deutlicher zusammengeführt wurden. Dies müsste sich vor allem an einer Neubewertung des Traumas bei der Entstehung von seelischen Störungen im Kindesalter und an einer kindheitstheoretischen Fundierung der Erziehungsberatung aufzeigen lassen. Dies ist bei der Nachzeichnung der Institutionalisierung der Erziehungsberatung in Deutschland nicht der Fall. Vielmehr besteht der Verdacht, dass die Erziehungsberatung in pädagogischen und kindheitstheoretischen Vorstellungen verhaftet geblieben ist, die direkt dem Konzept der Neuen Deutschen Seelenheilkunde und dem Matthias Göring-Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie entsprechen oder hier äußerst kompatibel sind. Dies ist zuallererst das individualpsychologische Konzept der Verwöhnung als Ursache von Erziehungsproblemen. Es drängt sich aber nach der Auswertung der Literatur die Erkenntnis auf, dass, wie Holtkamp (2002: 110) es formuliert, die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens, der in der deutschen Kinderund Jugendpsychiatrie lange dominant war, auch in der Erziehungsberatung nach 1945 zentral geblieben ist. 97
6.2 Wege der Erziehungshilfe 1940 und 1952 Drei Jahre nach dem Tod von Leonard Seif wurde der Sammelband „Wege der Erziehungshilfe“mit Beiträgen von Leonard Seif, Lene Credner, Kurt Seelmann, Alice Lüps, Christel Timme, Modesta Timme, Karoline Schmidt, Maria Hettrich, M. Wunderle, und Grete Schmidt neu aufgelegt. Die Mehrheit der Autorinnen und Autoren, wie die Herausgeberin Lene Credner und die Autoren Kurt Seelmann, Alice Lüps, Modesta Timme, Christel Timme und Karoline Schmidt, waren Mitglieder des Berliner Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie (vgl. Lockot 1985: 352-354). Die Ärztin Lene Credner schreibt in ihrem Geleitwort ähnlich enthusiastisch über Leonard Seif wie schon 1928 Sophie Freudenberger, voller Respekt und Verehrung für Person und Lebenswerk. Die Nazi-Zeit und die Erziehungsberatung im Rahmen des Ansatzes der Neuen Deutschen Seelenheilkunde erwähnt sie nicht. Lene Credner bezieht sich in Bezug auf ihre wissenschaftliche Positionierung und die Positionierung im Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie, das sie nur am Rand und sehr positiv erwähnt (Seif 1952: 11), vor allem auf die Verwurzelung der Münchener Beratungsstelle in der Denktradition von Alfred Adler. Dieser Name durfte, so Credner, nach 1940 nicht mehr erwähnt werden und suggeriert damit die Unterdrückung der Adlerianischen Position in der NS-Zeit. Dies ist so nicht richtig (Lockot 1985: 48-50). Neben der Psychoanalyse von C. G. Jung mit seiner Archetypenlehre ist die Individualpsychologie Adlers eine anerkannte Richtung im Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie gewesen und galt wegen der Bedeutung der Organminderwertigkeitslehre und des Gemeinschaftsgefühls als kompatibel mit der Neuen Deutschen Seelenheilkunde. Da Regine Lockot der Gesellschaft für Individualpsychologie und damit auch der Person von Leonard Seif, in ihrem Buch zur Psychoanalyse und NS einen Abschnitt widmet, soll dieser hier ausführlicher eingearbeitet werden, um die Arbeit der Münchener Erziehungsberatungsstelle und die Publikation „Wege der Erziehungshilfe“ einordnen zu können (vgl. zur Geschichte der Individualpsychologie in Deutschland auch Bruder-Bezzel 1999). Leonard Seifs Position ist nicht eindeutig, zwar ist er nicht ein so glühender Nationalsozialist wie Walter Cimbal, er ist jedoch, wie Lockot anmerkt, Mitglied des NS-Ärztebundes, der NSV und publiziert Schriften zur Erziehungsberatung in der NS-Bibliografie (Lockot 1985: 328). M. H. Göring hatte in den späten 1920er Jahren die Lehranalyse bei Seif absolviert und blieb mit ihm befreundet. Göring gründete 1929 eine Erziehungsberatungsstelle in Wuppertal nach Münchener Vorbild. In seiner Publikation vertritt Seif eine gemeinschaftsbezogene Auffassung von Erziehung und nennt drei Aufgaben der Gemeinschaft: die heimatlicher Verbundenheit, die Sorge um das tägliche Brot und die Sorge um die 98
Nachkommenschaft. Gemeinschaft sei Arbeit und Liebe (Seif 1952: 22). Sätze wie der „Der Einzelne ohne oder gar gegen die Anderen ist nichts“ (Seif 1952: 22). Seif ist deutlich kein Anhänger irgendwelcher Vererbungslehren, sondern ordnet, wie auch Credner, die seelischen Störungen der Kindheit zu. Als günstiges Erziehungsklima nennt er Vertrauen, Liebe und Ermutigung des Erziehers, ohne allerdings die moralische Qualität dieser Erziehung zu nennen, er scheint sie der natürlichen Gemeinschaft zuzuordnen. In Bezug auf die Nervösen spricht Seif davon, dass diese kein Gemeinschaftsgefühl entwickelt hätten und Gemeinschaftsaufgaben nicht lösen könnten oder wollten. „Will man sich ein richtiges Urteil über ihn (den Nervösen [K.G.]) bilden, so ist es wichtig zu beobachten, wie er sich zu seinen Lebensaufgaben in der Gemeinschaft einstellt, wie er sich da benimmt. Tut er mit, wird er ängstlich, zögert er, löst er seine Aufgaben nur teilweise, gebraucht er Ausreden, wirft er die Flinte ins Korn und weicht aus, um sich auf gemeinschaftsfeindlichen Umwegen den Schein einer persönlichen Überlegenheit zu erlisten? (Seif 1952: 23). Eine Analyse der Auffassungen von Leonard Seif zeigt ihn als starken Verfechter eines Gemeinschaftsgedankens, der eher einer nationalistischen und traditionellen Auffassung von Erziehung entspricht, Individualisierung kommt entweder nur negativ vor oder als Selbstständigkeit, die der Gemeinschaft, die bei Seif „keine Herde“ ist (Seif 1952: 21), nützen soll. Diese im Grundlagenteil der Publikation vertretene Auffassung radikalisiert sich allerdings in den Kapiteln zur Praxis der Erziehungshilfe. Hier steht der Gedanke der Verwöhnung im Mittelpunkt. Aufschlussreich dazu ist vor allem der Beitrag von Modesta Timme und Karoline Schmidt. Sie sind Heimleiterinnen in Schwalenberg Lippe, einem Kinderheim zur Behandlung von Kinderneurosen im Rahmen der Neuen Deutschen Seelenheilkunde. Timme und Schmidt erzählen eher anekdotenhaft den Fall von Seppl und seiner Mutter: Der siebenjährige Seppel sei hübsch, aufgeweckt und wird von seiner Mutter gebracht. Die Familie hat gerade den Vater verloren, auf welche Weise wird nicht erwähnt und Seppl macht in die Hose, ist unverträglich mit den Geschwistern, unruhig und macht die Hosen schmutzig. Die Mutter wird von der Münchener Beratungsstelle an das Heim verwiesen und gibt den Jungen in das Heim, da sie arbeiten gehen muss. Seppl wird als verwöhnt beschrieben, er mogelt bei den Hausaufgaben, er trödelt, er quengelt. Die Heimleiterinnen diagnostizieren einen Wunsch nach kindlicher Versorgung und Konkurrenz zum Bruder, der erst zwei Jahre alt ist, Seppl über sich: ich bin ein schwarzes Schwein und soll verkauft werden. Da kauft mich der König und wundert sich, was für ein schönes Schwein das ist (Timme und Schmidt 1952: 208). Alles was Seppl tut, wie z. B. Schaukeln und Summen wird mit nachsichtigem Spott kommentiert oder ignoriert, die Erziehung zur Gemeinschaft stellt sich in der Praxis als Konditionierung zum Gehorsam und zur Anpassung dar. Die Heimleiterinnen sind über99
zeugt, dass die Begleitung durch die Erziehungsberatungsstelle der Mutter hilft, ihre „wohlmeinende Verwöhnung“ aufzugeben, die dem Jungen mehr geschadet als genutzt habe. Sie sagen, es ginge nach eineinhalb Jahren in allem wesentlich besser, geben aber nicht an, wie sich Seppls Symptome verändert haben, z. B. das Einnässen/Einkoten, das Schaukeln etc. Timme und Schmidt erklären weiterhin, dass die Begleitung durch eine Erziehungsberatung ein Glücksfall und die Ausnahme ist, in der Regel lernten sie nur einen Elternteil flüchtig kennen und die Beratung der Familie bleibt ganz aus. Insgesamt werden von Timme und Schmidt zwei Deutungsmuster, bezogen auf die Probleme und Störungen der Kinder, formuliert: eine familiendynamische Deutung, das Kind als Schwarzes Schaf und Sündenbock (Timme/Schmidt 1952: 210) und eine Deutung, dass die Erziehungsfehler der Eltern vor allem in der Verwöhnung des Kindes liegen. Wie sehr die Erziehungsberatung mit Kontrolle und Bewertung vor allem der Mütter im Zusammenhang steht, wird im Kapitel von Alice Lüps über Hausbesuche deutlich (vgl. Lüps 1952: 136-151). Die aufsuchende Therapeutin inspiziert die Wohnung, achtet ob es zu sehr oder zu wenig aufgeräumt ist, registriert Streit und Konflikte in der Ehe oder ob die Mutter früh morgens einen Roman liest mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der sie ein erstes explorierendes anamnetisches Gespräch über das Kind und den familialen Kontext seiner Probleme führt. Bei der Mutterschelte wird Alice Lüps leidenschaftlich: „Wenn man aber in einer Wohnung, so oft man um die Mittagszeit hinkommt, das Bett in der Küche, wo die Mutter hantiert, noch nicht gemacht findet, auf dem Tisch Flickzeug, Frühstücksgeschirr, einen Roman, und vieles andere liegen sieht, so können uns die Erklärungen der Mutter, warum sie gerade heute noch nicht fertig ist, nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Mutter das Leben mit seinen Aufgaben nicht meistert und auch ihrer 14jährigen Tochter nicht das nötige Beispiel sein kann. Ein Strauß vom letzten Sonntagsausflug, oder gepflegte Blumen am Fenster dagegen, lassen uns annehmen, dass auch hier die Menschenpflanzen mit Verständnis behandelt werden. Die Kleidung gibt nicht nur über den Geschmack Aufschluss, sondern auch über Sorgfalt oder Unachtsamkeit. Wenn wir zum Beispiel eine Mutter in hellblauer Seidenbluse beim Waschen antreffen, so können wir uns vorstellen, dass sie vielleicht wenig Sorgfalt in der Erziehung ihrer Kinder zeigen wird (Lüps 1952: 139). Anders z. B. als bei Aichhorn kommt in den „Wegen der Erziehungshilfe“ die psychodynamische ebenso wie die soziale Perspektive wenig vor: Bindung, Ängste, Schuldgefühle, die bei Aichhorn z. B. eine zentrale Rolle spielen, kommen in den Beschreibungen der Autoren genauso wenig vor wie Reflexionen über Armut, materielle Mängel, Kriegsfolgen, Vaterlosigkeit und Verelendung. Die entsprechenden Auswirkungen auf das Erziehungsklima in der Nachkriegssituation werden aus dem Bewusstsein der Erziehungsberater konsequent ausgeblendet. Die Erziehungsberatung hält fest am 100
kleinen familialen Modell mit traditioneller Rollenteilung und patriarchalischer Grundstruktur. Blaming the Mother wird zum zentralen Diagnosekriterium, vor allem bei den Erziehungsberaterinnen im Kontext der Individualpsychologie. Kriegstraumatisierung, Not und Kriegsfolgen spielen in dem 1952 herausgegebenen Band überhaupt keine Rolle. Kinder werden unruhig, nässen ein oder onanieren, weil Geschwister geboren werden, Mütter zu verwöhnend sind und zu wenig Grenzen gesetzt werden, die wiederum nicht wirkungsvoll sind. 6.3 Der Wiederaufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland und seine Bedeutung für die Wege der Erziehungsberatung Die Gründung der Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie fand 1950 statt, und zwar unter der Leitung von Werner Villinger und Hermann Stutte, die auch in den folgenden Jahren die Fachgesellschaft und ihre Ausrichtung prägen sollten. In dem von Castell (2003) und herausgegebenen Band zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1937 bis 1961 wird zum einen deutlich, welche Ideengeschichte die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland während der NS-Zeit und in der deutschen Nachkriegsgesellschaft prägte und zum Zweiten, wie das Verhältnis von Pädagogik und Psychiatrie sich gestaltete. Werner Villinger war bereits 1946 zum ordentlichen Professor und Leiter der Nervenklinik der Phillips Universität Marburg ernannt worden. Er blieb dort auch nach seiner Emeritierung 1956 noch bis 1958 tätig. In seinem letzten Amtsjahr war Werner Villinger zudem Rektor der Phillips Universität Marburg. Er verstarb 1961. Im Nachkriegsdeutschland bemühte sich die psychiatrische Community, Villinger als Begründer der Kinderpsychiatrie in Deutschland und als großartigen Wissenschaftler zu rehabilitieren. Erst seit den 1990er Jahren wird die Geschichte der Kinderpsychiatrie im Nachkriegsdeutschland kritischer gesehen und Forschungslücken geschlossen. 1950, anlässlich des ersten Kongresses für Kinder- und Jugendpsychiatrie, handelte ein Referat (vgl. Castell et al. 2003: 97) von den Pädagogischen Dimensionen der Kinderpsychiatrie. Walter Gerson referierte über die kinderpsychiatrischen Aufgaben innerhalb der Jugendfürsorge und forderte sogleich Sondererziehungsheime (Castell 2003: 100) für psychiatrisch auffällige Jugendliche. Gerson kritisierte die mangelnde psychiatrische Kompetenz von Heimleitern und Pädagogen und sprach sich für eine enge Verknüpfung zwischen Kinderpsychiatrie, Pädagogik und Fürsorgesystem aus. Die Umsetzung dieser Forderung sollte der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch gelingen. Die Geschichte der Fachgesellschaft, die Castell u. a. (2003) bis 1961 nachzeichnet, zeichnen sich vor allem in den 1950er Jahren durch eine Verwerfung der Traumatheorie aus, sowie durch 101
den Rückgriff auf eine triebtheoretisch akzentuierte Psychoanalyse, auf hirnorganisch bedingte Störungen und eine deutliche Akzentuierung auf Konstitution und individuelle Erkrankung. Wie wichtig den Kinderpsychiatern und der neuen Fachgesellschaft die Erziehungsberatung quasi von Beginn an war und wie gut die Kinderpsychiater in der Erziehungsberatung repräsentiert waren, zeigt, dass es zum Abschluss dieser ersten Tagung von 1950 Tätigkeitsberichte verschiedener Leiter bzw. Mitarbeiter und Erziehungsberatungsstellen gab. So berichtete Förster über die Erziehungsberatung in Marburg, Hannappel über Frankfurt/M., Kujath über die Berliner Beratungsstelle, Leiter über die Kasseler Beratungsstelle und Albrecht über die Hamburger Erziehungsberatung. Kujath stellte eine Statistik vor, nach der 40 – 50 % der Kinder milieugeschädigt seien, 15 % Hilfsschüler, 5-10 % Psychopathen, 15 % Bettnässer etc. Bereits 1952 auf dem zweiten Kongress der Fachgesellschaft in der Nachkriegszeit trat Werner Villinger dafür ein, die schlechte Reputation der deutschen Kinderpsychiatrie durch das Konzept der Child Guidance Bewegung zu verbessern. Die große Beliebtheit von Child Guidance in England und Amerika führe dazu, dass auch die Psychiatrie und der Psychiater mehr Wertschätzung erfahren könne (Castell u. a. 2003: 101). Villinger konzentrierte sich auf die Professionalisierung der Kinderpsychiatrie nach 1945 mittels verschiedener Strategien, die die Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie lange prägen sollten: x Eine Internationalisierung und Verbindung mit der Child Guidance Konzeption der angelsächsischen kinderpsychiatrischen Tradition, auf diese Weise konnte auch der Geruch der Konstitutionsforschung und die rassenhygienischen Wurzeln der neu gegründeten Fachgesellschaft verdeckt werden, x eine Verknüpfung mit der Pädagogik, vor allem über die Fürsorgesysteme und die Erziehungsberatung, x ein starkes Festhalten am Konzept der Sondererziehung den Aufbau einer eigenen disziplinären Richtung zwischen Pädagogik und Psychiatrie – der Psychagogik. 6.4 Die Child Guidance Kliniken Der Institutionalisierung der deutschen Erziehungsberatung nach 1945 liegt unter anderem das angelsächsische Modell der Child Guidance Kliniken zugrunde, ein hoch professionalisiertes kinderpsychiatrisches Angebot mit starkem klinischem Akzent. Dagmar Hänsel, die 2008 ein Buch über den Heilpädagogen und Begründer der sonderpädagogischen Erziehung in Deutschland Carl Tornow publiziert hat, zeigt die Bedeutung der Child Guidance Konzeption für die Wiederein102
setzung einer segregierenden Sonderpädagogik nach 1945 auf. Dass der Begründer der Hilfs- und Sonderschulen Carl Tornow auch einer der wichtigsten Psychagogen und Erziehungsberater der Nachkriegszeit war und mit dem Aufbau des heutigen Donald Winnicott Institutes ab 1950 befasst war, wird von Hänsel sorgfältig analysiert. Die Absicht der Verfasserin ist es, die Wiedereinsetzung des sonderpädagogischen Systems zu rekonstruieren und ihre wissenschaftlichen und politischen Voraussetzungen offen zu legen. Gleichwohl bietet das Buch von Hänsel eine Fülle Überschneidungen zum Arbeitsfeld der pädagogischen Beratung und steuert wichtige Argumente und Informationen zur Erziehungsberatung nach 1945 bei. Interessant ist, dass ausgerechnet Werner Villinger, den das Personenlexikon zum Dritten Reich einen Funktionär des NS-Ärztebundes und Richter am Erbgesundheitsobergericht in Hamm/Westfalen nennt (vgl. Klee 2007: 641), und der bis 1936 insgesamt 2.854 Bewohner als Erbkranke, im Zusammenhang mit seiner Leitung der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bei Bielefeld, angezeigt hat, dieser Werner Villinger, der ab 1941 Facharzt im Kontext der T4-Gutachten war, nach 1945 sein selektierendes und rassenhygienisches Konzept unter dem Dach der Institution der Child Guidance Kliniken fortsetzen konnte. Villinger erhielt, wie Klee aufzeigt, zudem 1952 das große Bundesverdienstkreuz und wurde zu einer Art Leitfigur der deutschen Kinderund Jugendpsychiatrie in der Nachkriegszeit. Nach Klee war Villinger auch Begründer der Lebenshilfe für geistig behinderte Kinder (1958) und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (2007: 641). Villinger publiziert nach einer Forschungsreise in die Tavistock-Klinik nach England eine Reihe von Beiträgen zur Child Guidance Kliniken und hebt deren Einheit von Beratung mit Forschung und Lehre hervor (Hänsel 2008: 221). So entstehen in Deutschland immer mehr Erziehungsberatungsstellen nach dem Vorbild der Child Guidance Kliniken. Hänsel nennt die Erziehungsberatung ein expandierendes Berufsfeld und hebt hervor, dass Villinger die Child Guidance Klink in der Tradition der kinderpsychiatrischen Beobachtungsstation in den Fürsorgeanstalten der NS-Zeit denkt. Wie schon in der Weimarer Republik und in der NSZeit, wird ein interdisziplinäres Team unter ärztlicher Leitung gefordert. Die Erziehungsberatung wird so zu einer Funktion der Kinderpsychiatrie. Die allgemeine Erziehungswissenschaft kann letztlich bis heute keinen Fuß in die Tür der Erziehungsberatung setzen. Die Kinder werden zwar nicht mehr primär als „erbminderwertig“ und von „schlechter charakterlicher Anlage“ dargestellt. Die Kategorisierung wie abwegig oder andersartig, als sozial anormal, sind aber im Nachkriegsdeutschland gängig. Die pädagogische Beratung nach 1945, bis weit in die 1960er Jahre, bleibt so geprägt von einem klinischen und psychiatrischen Denken mit hoher Selektionsfunktion. Wie Dagmar Hänsel aufzeigen kann, werden umstandslos nach 1945 die segregierenden Institutionen wieder geschaf103
fen, allerdings wird im Unterschied zur NS-Zeit die Kontrolle über die „Nervösen“ und „Psychopathen“ nicht mehr wenigen Wärtern überlassen, sondern es werden große interdisziplinäre Teams mit akademischer Ausbildung und deutlich psychiatrischer Prägung hier eingesetzt. In seiner Arbeit zur Bedeutung von Werner Villinger hebt auch dessen Biograf Martin Holtkamp (2002: 115) Villingers große Bedeutung bei der Institutionalisierung der Erziehungsberatungsstellen in Deutschland, vor allem in Hessen, hervor. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Public Health Office habe Villinger dafür gesorgt, dass überall in Hessen, finanziert von den amerikanischen Besatzungsmächten, Erziehungsberatungsstellen entstanden sind, und zwar in Verbindung mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ebenfalls habe Villinger die Arbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung gegründet und ihr vorgesessen (Holtkamp 2002: 115). Villinger entwickelte für die Erziehungsberatung denn auch schnell ein psychiatrisches Diagnoseschema, welches die Einteilung der Kinder in folgende Diagnosen vorsah: Erziehungs- und Verhaltensschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen, Gewohnheitsneurosen, Schwachsinnszustände, Sprachstörungen, sexuelle Auffälligkeiten, organische Krankheitszustände, Frühkriminalität und gerichtliche Fragen, psychiatrische Unauffälligkeit und Sonstiges (Holtkamp 2002: 115). Villinger etabliert, ähnlich wie schon Homburger 1917, in Heidelberg die Erziehungsberatungsstelle wieder unter ärztlicher Dominanz. Martin Holtkamp schreibt dazu, dass es deshalb 1950 zwischen dem Psychologen Robert Scholl und Villinger zu einem Disput in der Zeitschrift „unsere Jugend“ gekommen sei. Zunächst habe Villinger, so Holtkamp (2002: 116), noch zu einer gemeinsamen Tätigkeit von Psychologen und Psychiatern für die Jugendfürsorge geworben, allerdings habe er durch verschiedene Eingaben den Versuch unternommen, die Psychologie einer Erziehungsberatung auf den Status der Hilfswissenschaft für die Medizin zu senken. Diese Professionskämpfe gehen einher mit dem psychiatrischen Kontrollanspruch gegenüber den in die Erziehungsberatungsstellen überwiesenen Kinder und dem Festhalten an einem Konzept der Ordnungspsychiatrie. Villinger entwickelte ebenfalls verschiedene Aktivitäten in Richtung Heilpädagogik. Martin Holtmann beschreibt Villinger als aktiven und gewieften Funktionär und Aktivisten, dem es im Nachkriegsdeutschland bis Ende der 1950er Jahre gelungen ist, sowohl kinder- und jugendpsychiatrisch, heilpädagogisch und erziehungsberaterisch die Entwicklung in der jungen Bundesrepublik zu beeinflussen und weitgehend an die Traditionen von Beobachtung und Selektion anzuknüpfen. Die Position des Arztes ist dabei zunächst diejenige einer Ordnungsposition, nicht einer therapeutischen oder gar pädagogischen Position. Villinger ist im Netzwerken und Bünde schmieden so erfolgreich, dass bereits 1949 der Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium Redeker vor der hessischen Naziclique warnt (Holtkamp 2002: 126). Auch 104
wenn Villinger nicht als ein aktiver Anhänger des Euthanasieprogramms T4 bezeichnet werden kann, so hat er sich, wie Holtkamp (2002: 41) sagt, doch problemlos in den nationalsozialistischen Staat eingefügt. Den Prozess der Aufarbeitung des Nazi-Regimes hat er Dank seiner Kontakte überlebt, wodurch es ihm gelungen ist, seine Sichtungs- und Selektionsvorstellungen nach 1945 auf die Erziehungsberatung zu übertragen. Auch wenn Villinger nachweislich nur zögerlich an den Massenmorden beteiligt war, so hat er vor allem in Kategorien seiner eigenen Karriere gedacht. Inhaltlich hatte seine Dominanz die Konsequenz, dass Traumatheorie, die reformpädagogischen Ansätze der Weimarer Republik und hermeneutisch fundierte Krankheitstheorien und Pädagogiken lange aus der Erziehungsberatung herausgehalten werden konnten. Erst Ende der 1950er Jahre wird das Verfahren gegen Villinger wieder aufgerollt. Er leugnet bis zuletzt seine Verantwortung und stürzt im August 1961 bei einer Wanderung in der Nähe von Innsbruck in den Tod. 6.5 Die Berufsberatung nach 1945 Die Geschichte der Berufsberatung in der Deutschen Nachkriegszeit wird heute aus der Perspektive verschiedener Diskurse rekonstruiert. An herausgehobener Stelle steht der von Helga Ostendorf (2000, 2005) entworfene Zugang, die Berufsberatung aus der Geschlechterforschungsperspektive zu verstehen. Ostendorf wählt dabei einen neoinstitutionalistischen Zugang im Sinne der Erziehung des Volkes durch eine Institution. Ihr besonderer Fokus liegt auf der Vergeschlechtlichung der Berufsberatung. Die Dissertation von Christine Trambusch (2000) fokussiert dagegen vor allem die Arbeitsmarktinstrumente. Sie beschreibt historisch ausführlich die Epochen der deutschen Arbeitsmarktpolitik bis in die 1990er Jahre. Die Institutionalisierungsperspektive der Bundesanstalt für Arbeit steht auch bei Trambusch (2000: 325 ff) an herausgehobener Stelle. Für die deutsche Nachkriegsgesellschaft rezitiert sie vor allem den Konflikt um die Strukturreform der Arbeitsverwaltung 1952. Im Mittelpunkt dieser Reform stand ein Konflikt zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern auf der einen Seite und dem Bundesarbeitsministerium auf der anderen Seite um die paritätische Besetzung der Arbeitsverwaltung und die Rolle des Staates. Hier ging es vor allem um die Selbstverwaltung, denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren sich einig, dass eine zu starke Verstaatlichung der Arbeitsverwaltung und zu rigide Lenkung den Wiederaufbau der Bundesrepublik erheblich stören würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Trambusch (2000: 329) schlossen die Alliierten schnell an die Weimarer Strukturen der Arbeitsverwaltung an und verhängten rigide Kontrollvorschriften gegenüber den Arbeitnehmern. Lohnstopp, Registrie105
rungszwang, Einstellungs- und Kündigungszwangsmaßnahmen wurden zu den empfindlichsten Instrumenten, um den Arbeitsmarkt zu steuern und übten auf die Beschäftigten vor allem Zwang aus. Diese Politik bewirkte nicht nur eine deutliche Lenkung der Arbeitslosen und Arbeitskräfte, sondern rief erheblichen Ärger bei den Arbeitgebern und den Gewerkschaften hervor, die sich an die NS-Zeit und an die Verstaatlichung der Arbeitspolitik erinnert fühlten. 1949 war bereits aus dem Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Arbeitsverwaltung die „Verwaltung für Arbeit“ mit Sitz in Frankfurt/M. und später das Bundesarbeitsministerium hervorgegangen, welches in der Tradition der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 arbeitete. Trambusch schreibt in ihrer Dissertation, dass diese Weimarer Tradition der Zentralisierung und Verstaatlichung in der Arbeitsverwaltung sich quasi bis 1996 fortsetzten konnte, obwohl mit der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes 1969 zum ersten Mal eine aktive Arbeitsmarktpolitik institutionalisiert werden konnte und damit einer deutlicheren Verknüpfung von Arbeitsmarktpolitik, Bildung und Qualifizierung der Weg geebnet wurde (2000: 340). Beratung schien hier aber auch nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung wurde zwar 1952 in die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung umbenannt, die Verstaatlichung der Arbeitspolitik und mit ihr eine abwartende und bürokratische Haltung setzte sich in der deutschen Arbeitspolitik aber fort. Die Bundesanstalt glich einem unbeweglichen Tanker, nicht zuletzt durch den hohen Einfluss, den die jeweiligen Bundesregierungen auf das Arbeitsamt ausüben konnten (Haushaltsrecht, Ernennung des Präsidenten), die Alliierten selbst schufen die Voraussetzung für die Erhaltung der alten Strukturen, indem sie die staatlichen Ebenen in Form von Landesarbeitsämtern aufwerteten. In Bezug auf die Berufsberatung setzte sich nach Kriegsende die rigide Nachwuchslenkung, die unter dem AVAVG institutionalisiert war, ungebrochen fort. In einer Schrift von 1948 expliziert der Abteilungsleiter des Arbeitsministeriums NRW Dr. Adolf Hartwig u. a. die Prinzipien der Arbeitsmarktpolitik der Nachkriegszeit und stellt in seiner Schrift eine deutliche Kontinuität zur Weimarer Republik her. Die Berufsberatung wird hier der Arbeitsvermittlung völlig untergeordnet. Kriegsbedingt seien in Bezug auf die Vermittlung in den Arbeitsmarkt nicht nur die Schulabgänger und Schulabgängerinnen zu berücksichtigen, sondern auch ältere Jahrgänge. Die hohe Arbeitslosigkeit bedrohte die Berufseinmündung und die Ausbildung. Es verwundert deshalb nicht, dass Hartwig (1948: 34) ein rigides und vorwiegend an volkswirtschaftlichen Interessen ausgerichtetes Vorgehen des wieder eingesetzten Arbeitsamtes verteidigt. Hartwig erwähnt zudem die vielen jugendlichen Flüchtlinge, die auf sich gestellt in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollen. Er argumentiert zudem, dass 106
die Berufsberatung beim Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft mithelfen solle. Hartwig hat vor allem das duale Ausbildungssystem und die Lehrberufe im Auge, für welche die Jugend gewonnen werden soll. Er betont die Lenkungs- und Steuerungsfunktion der Berufsberatung auch unter demokratischen Verhältnissen mit dem lakonischen Satz, dass, so sehr sich der deutsche Mensch nach Freiheit sehne, so würde der Nachdenkliche doch einsehen, dass die Wucht der die Zukunft überschattenden Aufgaben die zentrale Steuerung der Arbeitsprobleme aus einer übergeordneten Sicht unentbehrlich macht (Hartwig 1948: 35). Dieser Zwang der ökonomischen Verhältnisse, den Hartwig hier für die Berufsberatung reklamiert, hat zur Verfestigung von geschlechtlichen und sozialen Unterschieden in der Berufsberatung geführt, die auch heute noch, wie Helga Ostendorf (2000, 2005) nachweisen kann, gültig sind. Der Berufsberatung kommt eine Schlüsselstellung bei der Verfestigung tradierter sozialer und geschlechtlicher Arbeitsmarktstrukturen zu. Über die Verknüpfung mit dem Bezug von Fördermitteln oder Hilfen ist die Allokationsfunktion der Arbeitsverwaltung ungebrochen. In einer kleinen Schrift zur Psychologie des Berufs- und Wirtschaftslebens von 1958, knüpft Walter Moede an die rigiden Vorstellungen von Berufsberatung als Berufslenkung der NS-Zeit, aber auch an die Psychotechnik der Weimarer Republik an und schreibt eine utilitaristische Beratungstradition fort. Im Mittelpunkt der Auffassung von Moede steht zunächst einmal die Wertigkeit des künftigen Personals (Eigenwertigkeit, Umweltwertigkeit und Entwicklungswertigkeit) bei der Berufsberatung (vgl. Moede 1958: 31). Die Berufspsychologie habe die Aufgabe, diese Wertigkeit zu bestimmen. Moede bezieht sich also noch 1958 auf die Psychotechnik als Methode der Begutachtung. Seine Schrift strotzt vor Vorurteilen und Ressentiments gegenüber den Ratsuchenden, ohne dass er dies zur Kenntnis nimmt, eine Vorstellung vom Lebenslauf, vom Berufszyklus, von Adoleszenz sucht man in dem Text vergeblich. So wird das Beratungsverständnis der Berufsberatung in den 1950er Jahren deutlich, wenn er z. B. sagt: „Wir kennen die verschiedenartigen Entwicklungstypen, vor allem die Frühreifen, die Blender, die durch gute Anfangsleistungen und Anfangsverhalten auffallen, dann aber nachlassen oder gar verkümmern...“ (Moede 1958: 32). In einem zweiten Schritt stellt er mehrere Diagnosen und Beratungskonzepte kurz vor, so wie sie in der Berufsberatung zur Anwendung kommen. Unter biografischer Methode versteht Moede die Arbeit mit Genogrammen auf der Basis der Vererbungslehre: „Die biografische Methode. Bei dieser wird der Erbgang analysiert, die Familie beschrieben, die hauptsächlichen Daten des Arbeits- und Lebensschicksals werden festgestellt und ausgewertet. Der Lebensgang kann durch Erbgut, wie durch Umwelt- oder Milieuwirkung bestimmt sein“....(Moede 1958: 33). 107
Die Aussprache, die Moede ebenfalls als Methode der Personalbegutachtung unter das Dach der Berufsberatung stellt, versteht er mehr im Hinblick auf ein Verhör, in welcher der zu untersuchende Jugendliche dem Berufsberater zu berichten hat und sich der Exploration stellen muss (Moede 1958: 33). Die dritte Methode nennt Moede schließlich die Leistungs-, Verhaltens- und Handlungsuntersuchungen, die dem heutigen Assessment entsprechen. Leistung und Verhalten sollen nach Güte, Tempo, Art, Spontaneität und Antriebsstruktur vom Berufsberater studiert werden. Messung, Beobachtung und Einfühlung seien dabei die gleichwertigen Hilfsmittel. Die vierte Methode der Beratung ist schließlich der Eindruck. Dieser kann z. B. über Handschriftenproben gewonnen werden, wie Moede ausführt, wobei auch körperbauliche, physiognomische und pantomische Eigenschaften begutachtet werden sollen. Berufsberater haben sich in den 1950er Jahren bis weit in die 1960er Jahre auf praktisch-psychologische und psychotechnische Untersuchungsmethoden bezogen. Moede nennt, neben den bereits aufgezählten biografischen, fragetechnischen Methoden, der Assessmentmethode, sowie dem Gesamteindruck nun noch die „ergothymische Methode“. Diese besteht aus der Exploration der Lebensweise und des Stils eines Ratsuchenden. Moede schlägt eine Art Habitusanalyse vor. Neben der Exploration der Lebenslage der Eltern und Großeltern sollen Freizeitverhalten, Kleidung, Freundeskreis, Wohnweise und Alltagsverhalten der Jugendlichen einbezogen werden: Bücher, Bilder, Filme, die Angabe des Berufsund Lebensideals und schließlich die Frage: „Was möchten Sie sein, wenn sie noch einmal ein Leben zu leben haben, sollen sie in einer Synthese dann zu einem Persönlichkeitsbild geformt werden?“ In Ergänzung mit einer ärztlichen Untersuchung und mittels Intelligenztests könne dann die Berufseignung ermittelt werden. Schließlich erwähnt Moede noch die psychometrische und charakterologische Personalbegutachtung als subjektive Methode der Erfassung einer zu beratenden Person (Moede 1958: 38). In seiner Zusammenfassung zur Berufsberatung nennt Moede schließlich zwei Maßstäbe und Ziele der Eignungsfeststellung: Die Eignung für bestimmte Berufe, die wohl am ehesten dem alten Prinzip der Berufsberatung „der richtige Mann am richtigen Platz“ entspricht und die Bestenauslese. Beides, Eignung und Bestenauslese sind Aufgaben der Berufsberatung (Moede 1958: 39), wobei Moede reklamiert, dass die Personalbegutachtung durch die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wissenschaftlicher und objektiver ist als die betrieblichen Bewerbungsgespräche. Schließlich zeigt sich trotz aller Objektivität bei Moede am Schluss des Kapitels zur Berufsberatung dann doch noch der soziologische Rahmen der Beratung: „Die Tätigkeit des Berufsberaters beschränke sich nicht nur darauf, dem gesunden Jugendlichen einen guten und passenden Berufsvorschlag zu machen, sei es dass er ihm eine Lehre emp108
fiehlt, sei es dass er wegen finanziellen Belastungen der Eltern und einer vielleicht kinderreichen Familie zu einem Anlernberuf rät, sondern er muss auch die erwerbsbeschränkten Jugendlichen und Erwachsenen beraten“ (Moede 1958: 39). Moede verzichtet schließlich nicht darauf, das Loblied der Bundesanstalt zu singen, die trotz aller Mängel in der Eignungsprüfung und Verbesserungsfähigkeit, diese Mängel abstellt „wie wir es beim Arbeitsamt gewohnt sind“. Die Personalbegutachtung und Eignungsbegutachtung nennt er schließlich Rat und Hilfe für die Jugendlichen. Walter Moede wurde 1888 geboren und verstarb 1958, im gleichen Jahr als das zitierte Buch zur Psychologie des Berufs- und Wirtschaftslebens herauskam. Moede wird heute als Vertreter der praktischen Psychologie geehrt und gilt als Protagonist der Psychotechnik. 2009 erscheint eine Biografie von ihm, die sich mit seinem Wirken von 1918-1946 an der Königlich Preußischen Akademie befasst. Moede war bis zu seinem Tod Professor an der Verwaltungsakademie Berlin. 6.5.1
Der DVB – Deutscher Verband für Berufsberatung e.V.
Der Fachverband der Berufsberater und Berufsberaterinnen wurde spät – 1956 – gegründet und verfügt heute über ca. 650 Mitglieder. Bis in die 1990er Jahre (1998, Arbeitsförderungsreformgesetz, SGB III) war der Beruf der Berufsberatung monopolisiert. Diese wurde ausschließlich von der Bundesanstalt für Arbeit ausgebildet. Das Verbot gewerblicher Berufsberatung wurde noch einmal 1969 in das Arbeitsförderungsgesetz übernommen. 6.6 Die Sexualberatung nach 1945 Im Mittelpunkt der Sexualberatung in Deutschland steht zweifelsohne die Pro Familia, die 1952 in Kassel gegründet wurde. Pro Familia versteht sich historisch als Nachfolgerin der Sexualberatungsstellen in der Weimarer Republik und der Gesellschaft für Sexualreform. Seit 1984 ist ihre Geschichte durch das Bekanntwerden der NS-Vergangenheit ihres Gründungsmitgliedes und ersten Vorsitzenden Hans Harmsen unter Kritik geraten. Zuvor hatte gerade die Pro Familia einen liberalen, auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung beruhenden Beratungsbegriff für sich reklamiert und auf ihre demokratischen Traditionen durch die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik verwiesen. Hans Harmsen prägte die Pro Familia über Jahrzehnte und institutionalisierte vor allem in den 1950er Jahren einen bevölkerungspolitisch und zumindest sozialhygienisch ak109
zentuierten Beratungsbegriff. Das Personenlexikon zum Dritten Reich nennt Hans Harmsen (1899-1989) den Chefeugeniker der inneren Mission (vgl. Klee 2007: 227) und zitiert ihn mit einem Plädoyer für die Euthanasie. Hans Harmsen wird nach Sach (2006: 138) für die zügige Umsetzung von Zwangssterilisationen in evangelischen Einrichtungen verantwortlich gemacht. Nichts desto trotz wurde er bereits 1946 Direktor des Hygienischen Staatsinstitutes in Hamburg und Ordinarius für allgemeine und Sozialhygiene an der Universität Hamburg. Harmsen war ebenfalls wissenschaftlicher Berater des Bundesfamilienministeriums. Bereits zur Zeit des Nationalsozialismus hatte Harmsen für rassenhygienische bevölkerungspolitische Positionen in der evangelischen Kirche gesorgt. Familienplanung wurde mit Argumenten wie Kostendämpfung und Entartung des Volkes begründet. Die evangelische Kirche befürwortete die Sterilisierung behinderter Menschen und entschied bereits 1931, alle Anstaltsinsassen zu erfassen (Sach 2006: 142), wodurch die Voraussetzung für die Massensterilisierung der Anstaltsinsassen geschaffen wurde. Nach 1945 lassen sich selektierende bevölkerungspolitische Positionen nicht mehr vertreten, es ist jedoch eine grundsätzliche Frage in der Beratung, ob z. B. die Vergabe von Verhütungsmitteln aus Aspekten der sexuellen Selbstbestimmung erfolgt oder aus bevölkerungspolitischen Überlegungen. Wie auch immer die Arbeit der Pro Familia bewertet wird, in den 1950er Jahren kann durch den bevölkerungspolitischen und sozialhygienischen Akzent auf ein eher mechanistisches und in Teilen auch ordnungspolitisches Beratungsverständnis geschlossen werden. Die hohe Bedeutung eines ärztlichen Beratungsmodells in der Sexualberatung zeigt, wie schon in der Psychagogik, dass die ärztlich dominierten Fachgesellschaften eine Verknüpfung des ärztlichen mit einem pädagogischen Modell, welches jedoch nicht von Emanzipation, sondern vor „fürsorglicher Bevormundung“ bestimmt war, suchten. Das Ansinnen Harmsens, über die Familienplanung auch die Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen, hebt die normativen Dimensionen der Sexualberatung in der Epoche der Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre hervor. 6.7 Die gesunde Familie – der Kongress der IPPF 1957 in Berlin Die Beiträge des Sammelbandes zur „gesunden Familie in ethischer, sexualwissenschaftlicher und psychologischer Sicht“ bieten einen wichtigen, wenn auch nicht vollständigen Überblick über die Entwicklung des sexualpädagogischen Diskurses in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren. Dabei fällt, um dies gleich vorwegzunehmen, der Beitrag von Hans Harmsen aus dem Spektrum der zumeist sexualpädagogischen und sexualwissenschaftlichen Beiträge der interna110
tionalen Referenten und Referentinnen völlig heraus. Die deutschen Beiträge zeichnen sich eher durch die Rezeption tradierter Geschlechterrollen und wertkonservativer sexualpädagogischer Positionen aus, während Impulse und mutige sexualpädagogische Positionen vor allem von den Teilnehmern aus Skandinavien und Holland kommen. Der Band teilt sich in vier Kapitel: Grundprobleme der Ehe, Jugendprobleme, Probleme der Unfruchtbarkeit und Abtreibung sowie bewusste Elternschaft. Hans Harmsens Vortrag steht an erster Stelle der Publikation und trägt den Titel „30 Jahre Weltbevölkerungsfragen“. In seinem Beitrag stellt er sich zunächst als Sozialhygieneker in der Tradition seines „hoch verehrten Lehrers Alfred Grotjahn“ vor und vertritt dann konsequent neo-malthusianische Positionen: Vor allem die Hygiene und die verbesserte Ernährung habe seit der Jahrhundertwende zu einer Senkung der Säuglingssterblichkeit geführt, die umgekehrt in ein neues Bevölkerungsproblem münde. Die Welt würde sich übervölkern. Harmsen rezipiert zunächst die Ergebnisse des ersten Bevölkerungskongresses von 1927 in Genf und greift dessen Ergebnisse und Positionen umstandslos auf. Er empfiehlt erstens die Geburtenregelung als Ausweg aus der drohenden Gefahr der Überbevölkerung (Harmsen 1958: 3). Zweitens gehört das Thema für ihn fest in die Hand der Ärzteschaft. Harmsen erwähnt in diesem Zusammenhang auch den ersten Kongress für Geburtenregelung in Berlin 1927, der vom Bund deutscher Ärztinnen ausgerichtet wurde. Er merkt an, dass das Thema der Empfängnisverhütung durch die Gesellschaft für Sexualrefom quasi den Ärzten enteignet wurde und sich die Laienorganisationen dessen „bemächtigt“ habe, da die Ärzteorganisationen „solchen Erörterungen ablehnend gegenüber standen“. Diese ablehnende Politik der Ärzteschaft im Hinblick auf die Empfängnisverhütung hält Harmsen für einen professionspolitischen Fehler. Harmsens Engagement gilt neben der Bekämpfung der Überbevölkerung durch Empfängnisverhütung vor allem der Bekämpfung der „Abtreibungsseuche“, die seiner Ansicht nach nur durch „richtige und ungefährliche Verhütungsmittel“ einzudämmen ist. Harmsen plädiert für empfängnisverhütende Mittel aus sozialhygienischen Überlegungen und kritisiert allerdings in diesem Zusammenhang, dass die im NS-Staat geltende Verfolgung der Empfängnisverhütung in der neuen Bundesrepublik Kontinuität erfahren hat. „Kennzeichnend für unsere heutige westdeutsche Situation ist die Tatsache, dass die himmlersche Polizeiverordnung in einer Reihe von Bundesländern unverändert in Geltung ist, wobei auch die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse mitentscheidend sein dürften“ (Harmsen 1958: 4). Trotz dieser Haltung für empfängnisverhütende Mittel bleibt Harmsens Entwurf streng expertokratisch. Empfängnisverhütung gehört unter das Dach bzw. in die Zuständigkeit der Gynäkologie und der akademischen Lehre, die mit der Vergabe von Verhütungsmitteln gegen die Abtrei111
bungsseuche kämpfen müssten. In seiner bevölkerungspolitischen Position bezieht sich Harmsen vor allem auf den Bevölkerungssoziologen Mackenroth, der moderne soziologische Gründe für den Geburtenrückgang anführt. Die Senkung der Kinderzahlen in Deutschland entspräche einer modernen Lebensweise des städtischen Bürgertums, welches nicht Willens war und sei, seine Konsumnormen einer ungehemmten Vermehrung zum Opfer zu bringen (Harmsen 1958: 5). In diesen Kontext stellt Harmsen dann auch die 1952 in Kassel gegründete Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie, der nach seiner Haltung verschiedene Funktionen zukommen: x Bekämpfung der „Abtreibungsseuche“ (hier kritisiert Harmsen, dass in Westdeutschland in der Nachkriegszeit mehr Kinder abgetrieben als geboren wurden), x bewusste Elternschaft, d. h. Anpassung der Kinderzahl an die Ökonomie, hier spricht der Malthusianer in Harmsen, x Verantwortung sozialärztlicher und sozialpädagogischer Kreise für die Beratung von Eheleuten, auch hier positioniert sich Harmsen ordnungspolitisch. Andere Beiträge der Tagung setzen dieses konservative und für die 1950er Jahre typische Denken der Sexualwissenschaft fort. Edward Griffith expliziert in seinem Beitrag zur Bejahung der Sexualität in der Ehe, vor allem eine Theorie weiblicher und männlicher Sexualität, die an das Geschlechterrollenmodell einer sehr konservativen Psychoanalyse anknüpft und von der Sexualwissenschaft der 1950er Jahre teilweise übernommen wurde. Hierzu gehört die Hervorhebung des Penis für die Sexualität: „Nach meiner Erfahrung wird eine Frau nicht in der Lage sein, ausreichend zu entspannen, um ihrer psychischen Energie zu erlauben, schöpferisch zu ihrem Ehemann zu fließen, wenn sie nicht willig und fähig ist, bewusst die wahre Bedeutung des phallischen Wertes und all dessen, was dieser symbolisiert, hinzunehmen, gleichgültig, ob sie ein Antikonzeptionsmittel benutzt oder nicht (Griffith 1958: 16), die Entwertung der Klitoris, die Unterscheidung zwischen klitoralem und vaginalem Orgasmus (Griffith 1958: 16) und die Entwertung der Frauenemanzipation. Auch kommen wichtige sexualpolitische Themen wie die sexuelle Gewalt im Nachkriegsdeutschland, überhaupt nicht vor. Auf der anderen Seite bietet der vorliegende Band von 1958 zur Sexualpädagogik eine Reihe von wichtigen Impulsen. Vor allem die skandinavischen Beiträge zur Sexualpädagogik und Aufklärungsunterricht an den dänischen Schulen (Beiträge von Ottensen-Jensen und Mauritzen), die Beiträge zur bewussten Elternschaft, die vor allem auf das bereits im 19. Jahrhundert in Amsterdam praktizierte Beratungskonzept der angemessenen Pausen zwischen den Geburten aufsetzen, so wie einige wichtige Beiträge zur Sexualberatung. 112
Die Gesellschaft für Ehe und Familie hat in den 1950er Jahren in Berlin bereits eine Reihe von Beratungsstellen unterhalten, die seit 1947 existierten und mit Hilfe der Krankenversicherungsanstalten gegründet worden waren. Fast 70% der Beratungen, die hier erfolgten, wurden zu Fragen der Empfängnisverhütung nachgefragt, 17 % wegen gynäkologischer Untersuchungen und ca. 5 % wegen der Bitte um Schwangerschaftsabbruch. Die Sexual- und Eheberatung war mit unter 5 % ebenso wie Kinderwunschberatung und Sterilitätsbekämpfung kaum nachgefragt. Ilse Brandt, die Verfasserin des Artikels, nennt den Beratungsbedarf zumeist medizinisch, weshalb die Beratung durch einen Arzt oder eine Ärztin erfolgen müsse. 4000 Beratungen hat Brand ausgewertet. Sie zeigt auf, dass die Beratungsnachfrage durch die Beteiligung der Krankenversicherung verzerrt sein könne und rechtfertigt die hohe Bedeutung nach Empfängnisverhütungsberatung ebenfalls mit der „Bekämpfung der Abtreibungsseuche“. Brandt führt aus: „Jedes Ehepaar hat ein Recht darauf zu entscheiden, ob es zum jeweiligen Zeitpunkt die Verantwortung auf sich nehmen kann, ein Kind zu zeugen und aufzuziehen, allerdings nur bis zu dem Augenblick, wo keine Schwangerschaft besteht. Mit dem Augenblick ist die Frau nicht nur sich selbst, sondern auch dem in ihr keimenden Wesen verantwortlich.“ (Brandt 1958: 138) Wie schwer im Deutschland der 1950er Jahre ein Plädoyer für die Geburtenkontrolle bereits war, zeigen Sätze wie: „Keine Frau trägt heute eine Schwangerschaft aus, die sie sich nicht wünscht“, oder „Wir ziehen eine unschädliche moralisch einwandfreie Geburtenregelung einer verbrecherischen, gesundheitsschädlichen Abtreibung vor“ (Brandt 1958: 136).Unabhängig von diesem Aspekt der Sexualpolitik und der Rechtfertigung der Sexualberatung in der Bundesrepublik Deutschland etabliert sich die Sexualberatung vor allem als ärztlicher Beratungstypus. 6.8 Die Pro Familia in Hessen Anna Luise Prager hat 1988 ein kleines Buch über die Entstehung der Pro Familia in Hessen verfasst, welches für den Gegenstand dieser Arbeit von hohem Wert ist, weil sich in der genauen Schilderung der Gründung und Institutionalisierung der Pro Familia in Hessen noch einmal die inhaltliche Bestimmung der Sexualberatung und der Sexualerziehung aufzeigen lässt. Zum Zeitpunkt der Publikation des Buches war die Vergangenheit von Hans Harmsen als Eugeniker und Bevölkerungspolitiker der Pro Familia bereits bekannt und hat zu Reflexionen und Auseinandersetzungen geführt. Anna Luise Prager distanziert sich von ihrem ehemaligen Vorstandskollegen umsichtig und konsequent. Es hat den Anschein, als sei Hans Harmsen in den Vorstandssitzungen der Pro Familia nicht 113
mehr bestimmend gewesen, denn Prager beschreibt Harmsen vor allem als „alten Mann“, der weitschweifig und umständlich seine Beiträge leistete. Diesen alten Mann möchte Prager als Angehörige der gleichen Generation nicht verurteilen, zumal Harmsen besonnen und liberal argumentiert habe (Prager 1988: 6). Anna Luise Prager zeigt in ihrer Dokumentation der Entstehungsgeschichte der Pro Familia in Hessen auf, dass sich diese quasi von unten neu entwickelt hat. Die Verstaatlichung der Sexualberatung ist quasi erst durch die so genannte Modellphase und die Pflichtberatungen nach § 218 StGB hinzugekommen. Im Vordergrund standen in den 1960er Jahren einzelne Personen, die das Tabu der Verhütung aufbrechen wollten. Die Verfasserin zeigt auf, dass in der Sexualberatung die repressive Gesetzgebung der Nationalsozialisten faktisch handlungsleitend war. „Es ist unerlässlich, sich mit der Himmlerschen Polizeiverordnung vom 21. Januar 1941 und der ergänzenden NS-Polizeiverordnung vom 29. September 1941 vertraut zu machen, um zu begreifen, warum es die Pro Familia unendlich schwer hatte, sich zu entwickeln und öffentliche Anerkennung zu finden. Die Polizeiverordnung stellt Mittel und Gegenstände zur Unterbrechung und zur Verhütung von Schwangerschaften rechtlich gleich.“ (Prager 1988: 4) Noch in den 1960er Jahren sei deshalb die Antikonzeption völlig unterentwickelt gewesen, denn die in Deutschland „amtierende Medizinergeneration entstammte einer Zeit, in der die Erhaltung der Gebärfähigkeit der Deutschen Frau vornehmste Pflicht war (Der Medizinprofessor Richard Kepp, zit. nach Prager 1988: 4). Die Gleichsetzung von Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation prägte den Kontext der Institutionalisierung der Sexualberatung in den 1960er Jahren und machte diese zu einem anrüchigen Anliegen. In den Pro Familia Mitteilungen von 1965 kritisiert der Verband – Unterzeichner ist übrigens Hans Harmsen – dass mit der zweiten Polizeiverordnung der Bundesregierung vom 7. August 1964 über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens die Gleichsetzung von Abtreibung und Empfängnisverhütung ihre Fortsetzung findet, die Bundesregierung also die alten NS-Polizeiverordnungen verlängert. Umgekehrt wird im gleichen Artikel eine sehr eugenische und erbhygienische Haltung zur Sterilisation eingenommen. Die Sterilisation war in der NS-Zeit unter besondere Strafe gestellt und in der jungen Bundesrepublik galt sie als Körperverletzung. Lediglich unter medizinisch therapeutisch und unter medizinisch prophylaktischen Indikationen war sie zulässig. Pro Familia schließt sich der erbhygienischen Position der Bundesregierung weitgehend an und lehnt Sterilisation als Verhütung ab. Dazu sagt Anna Luise Prager: „Es ist befremdlich, dass diese fortschrittliche Gesellschaft, Pro Familia, nicht einmal in Erwägung zieht, eine Sterilisation in das Ermessen und die Entscheidung des einzel-
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nen zu stellen, sondern strenge Indikationen fordert. Aber dies sind Tatsachen und sie gehören daher zur Geschichte.“ (Prager 1988: 69). Die Lektüre des Buches von Prager ist eine detaillierte Beschreibung der Gründungssituation der Pro Familia in Hessen. Vor allem einzelne engagierte Frauen, Ärztinnen, Lehrerinnen, ehrenamtliche Frauen sind es, die Beratungsstellen fordern und Vereine gründen. Sie spenden einen Teil ihres privaten Vermögens, arbeiten ehrenamtlich und ohne öffentliche Unterstützung und setzten mit einzelnen Bündnispartnerinnen in Politik und Verwaltung die Institutionalisierung durch, die dann das Überleben des Verbandes sichert. Die gesellschaftliche Anerkennung bleibt der Pro Familia noch lange Zeit versagt. Es wird aber deutlich, dass es sich bei der Gründung der Pro Familia in Hessen um eine Geschichte von engagierten Personen, in ihrer großen Mehrheit um Frauen, handelt. Gleichzeitig sind diese Frauen bemüht, den engen Rahmen der „anständigen Sexualberatung“ nicht zu verlassen. Sie befürworten Verhütungsmittel und Sexualerziehung, positionieren sich aber gegen Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisationen aus persönlichen Gründen. Sie etablieren insgesamt ein ärztliches Beratungsmodell – die Ratsuchenden werden Patienten genannt – und schwanken zwischen einer liberalen Beratungsauffassung und der Angst vor der Stigmatisierung. Anna Luise Prager schreibt szenisch und erzählt quasi Ereignisse, Stürme der Entrüstung bei der Forderung nach Sexualerziehung in der Schule, bei gleichzeitiger Hilflosigkeit der Sexualberater, wie diese Sexualerziehung denn durchgeführt werden kann, denn immer noch gelten Grundsätze wie Sittenwidrigkeit und Verletzung von Anstandsgefühlen bei der Demonstration von Verhütungsmitteln (Prager 1988: 15). Sie zeigt aber auch auf, dass die Bereitschaft von Frauenzeitschriften wie Constanze, zu Fragen der Geburtenregelung und Verhütung zu publizieren, in den 1960er Jahren die Nachfrage nach Sexualberatung stark anregte und die Institutionalisierung der Beratungsstellen förderte. Dabei wandelte sich auch die Haltung vieler Berater. Prager nennt als Beispiel die Position der Ärztin Eva Hobbing – der § 218 ist für uns Ehrensache -, die später für die Fristenlösung eingetreten ist (Prager 1988: 14). Insgesamt zeigt sich das Dilemma der neu gegründeten Pro Familia zum einen institutionell als Fusion zwischen den alten Strukturen in der Weimarer Republik, zwischen den staatlichen erbhygienischen Eheberatungsstellen der Gesundheitsämter und der Arbeit der Gesellschaft für Sexualreform. Die pro Familia verkörperte zu Beginn ihrer Wiedergründung beides. Der zweite Aspekt ist, dass die Pioniere der pro Familia einen Kampf um das Mündig werden und um die Zivilgesellschaft in den 1960er Jahren bestritten haben. Anna Luise Pragers Publikation liest sich durch ihre lebendige Erzählweise und ihre dokumentarische Form wie der ständige Versuch, gegen die repressive staatliche Sexualpoli115
tik auf der Ebene des Alltags eine zivilgesellschaftliche Wirklichkeit zu institutionalisieren. Dabei waren die Vertreter der pro Familia nicht immer die Avantgarde, sondern wurden zum einen von der wissenschaftlichen Entwicklung durch die Einführung der Pille und der gesellschaftlichen Resonanz auf die Pille mit gezogen, zum anderen zeigt sich, dass der Fortschritt in der Sexualpolitik das Recht jedes Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung als Teil seiner unveräußerlichen Würde, von mutigen Einzelpersonen erstritten wurde – wie schon in der Weimarer Republik. Anna Luise Prager erwähnt den Prozess gegen den Burgdorfer Mediziner Dohrn, der in den 1960er Jahren Personen ohne erbliche, medizinische und kriminologische Belastung sterilisiert – weil sie ihre Familienplanung abgeschlossen und keinen Kinderwunsch hatten. Diese Gefälligkeitssterilisationen galten als sittenwidrig, weil sie der Freiheit des Geschlechtslebens dienten. Dr. Dohrn verlor nach seiner Verurteilung und auch nach seiner Rehabilitation seine Position als Chefarzt und Anerkennung in der Ärzteschaft. Er stritt jedoch, wie Prager (1988: 69) dokumentiert, couragiert für die freiwillige Sterilisation vor allem von Männern, da hier der Eingriff leichter ist, als sichere und langfristige Antwort bei erfülltem Kinderwunsch. Angesichts der rechtlichen Lage zeigt sich der Streit um die Sexualberatung als Streit um ein Recht auf Mündigkeit gegenüber dem Staat und als Streit um die Zivilgesellschaft. Auch wenn einzelne Bereiche der Beratungsarbeit der Pro Familia in den 1960er Jahren zu pragmatisch und zu zaghaft oder verhaftet in einem erbhygienischen Denken anmuten, auch wenn der Gründungsmythos über die engagierten Ärztinnen und Ärzten die Wirklichkeit des Eugenikers Hans Harmsen nicht richtig wiedergibt, Pro Familia hat sich mit ihrer pädagogischen Beratungsarbeit um die Zivilgesellschaft verdient gemacht. Pro Familia selbst würde heute aus professionstheoretischer Sicht wahrscheinlich mehr von einer psychosozialen Beratung als von einer pädagogischen Beratung sprechen. Mit der Sexualpädagogik und dem Anspruch, Beratung in den Dienst von Selbstbestimmung zu stellen, befindet sie sich jedoch eindeutig vor allem im pädagogischen Feld. 6.9 Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung Für die Sexualberatung ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung im April 1950 sicherlich ein wichtiges Datum, stellt doch die Gesellschaft für Sexualforschung eine für die Sexualberatung wichtige Fachgesellschaft dar. 50 Jahre nach dem Gründungstermin hält ihr derzeitiger Vorsitzender Volkmar Sigusch eine sehr reflektierende und kritische Rede und geht ausführlich auf die Probleme und Konjunkturen der Fachgesellschaft ein. Neben der 116
Belastung durch die NS-Vergangenheit, der Fokussierung auf medizinische Forschung und die Gleichsetzung von Sexualforschung mit Sexualpathologieforschung nennt Sigusch ebenfalls die Verdrängung der Geschichte innerhalb der Gesellschaft und die Marginalisierung der Frauen als Problem. Dieser kritischen Reflexion auf die eigene Gesellschaft bleibt nur noch hinzuzufügen, dass die Therapie bei sexuellen Problemen sich entsprechend des Forschungsverständnisses der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung dann auch eher als Behandlung denn als Beratung verstand. Die Verbindung von Sexualforschung und Sexualberatung bleibt in den Forschungszusammenhängen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung weitgehend marginal. Gleichzeitig zeigen sich die Konjunkturen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung jedoch auch als bedeutend für die Sexualberatung nach 1945. Wie in anderen Beratungsfeldern auch, ist die Sexualforschung belastet. Zur ersten Generation der Forscher gehören Personen, die auch schon in der NS-Zeit geforscht haben und von denen Sigusch (2001: 40) sagt, dass sie sich ohne ein Wort des Bedauerns oder Erklärens schon anlässlich der ersten Tagung der Gesellschaft auf Ergebnisse aus Forschungen der NS-Zeit beriefen, die an zum Tode verurteilten Menschen und an Zwillingen erhoben worden waren. Anders als die Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie gründet sich die Gesellschaft für Sexualforschung zunächst quasi familial und ein wenig subversiv und wird in den 1950er Jahren vor allem wegen ihrer offeneren Haltung zur männlichen Homosexualität zumindest in Teilen der Gesellschaft und der akademischen Community diskriminiert. Gleichzeitig schreibt Sigusch (2001: 43), dass insbesondere Hans Giese sich bemüht hat, der Fachgesellschaft eine deutlich akademische Kontur zu verleihen und der Sexualforschung auf diese Weise zu einer disziplinären Anerkennung zu verhelfen. Obwohl sich Giese sehr um Interdisziplinarität bemühte und bewusst Personen außerhalb der Medizin ansprach, blieb die Gesellschaft medizinisch orientiert und an deren Forschungsverständnis gebunden. Dies zeigt Sigusch z. B. in einer Auseinandersetzung um die Psychochirurgie in den 1960er Jahren auf. Mit Gehirnoperationen zur „Behebung von abweichendem Sexualverhalten“ sei in den USA schon in den 1950er Jahren experimentiert worden. 1962 hatte es auch in Deutschland am Maria-HilfKlinikum Göttingen eine solche Operation gegeben, mit fatalen Folgen. Sigusch (2001: 44) zeigt auf, dass sich hier zu Beginn der 1960er Jahre erste Generationenkonflikte um das ärztliche Handeln im Umgang mit sexuell abweichendem Verhalten auftaten, denn während einige jüngere Kollegen die ethischen Dimensionen dieser Praxis erfassten und schockiert reagierten, hätten führende Vertreter der Sexualwissenschaft in Deutschland, die jedoch zur älteren Generation gehörten, das Experiment als Pioniertat in der Verbandszeitschrift gefeiert. Die Autoren der Verbandszeitschrift hätten ihr Ziel erreicht gesehen, homophile 117
Menschen von ihrer „verhängnisvollen Neigung“ zu befreien. Nach dem Tod des Patienten stellte sich indessen heraus, dass wesentlich mehr Hirngewebe durch die Operation zerstört worden war als vorher angenommen. Ende der 1960er Jahre sei diese Ausrichtung der DGfS jedoch zerbrochen und habe anderen Diskursen Platz gemacht. Volkmar Sigusch hebt insbesondere die Rolle von Reimut Reiche bei der Neubestimmung der Ausrichtung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung hervor. Dieser attestierte ihr eine spezifisch deutsche Mischung aus Katheder-Existenzialismus und Schulmedizin, vor allem das Sexualpathologische habe die medizinisch ausgerichteten Forscher interessiert, welches sie dann mit einfachen Methoden untersuchten und dazu meist normative, politisch konservative Aussagen machten. Hochfahrend und verblassend im Theoretischen, niederfahrend und laienhaft im Therapeutischen nennt Sigusch dann auch die Ausrichtung der Fachgesellschaft (2001: 45). Ab Mitte der 1960er Jahre habe man die Einschränkung auf die Sexualpathologie aufgegeben und sich methodisch stärker empirisch-analytisch orientiert. Diese Orientierung hat zum einen mit einem zunehmenden Einfluss der amerikanischen Sexualforschung zu tun, zum anderen mit der Person Helmut Schelskys, der soziologisches Denken in der Gesellschaft repräsentierte. Schelsky war einer der ganz wenigen Sozialwissenschaftler, der in den ersten 15 Gründungsjahren im Rahmen der Gesellschaft tätig war. Die Gesellschaft für Sexualforschung wurde schrittweise Bestandteil der sexuellen Revolution, die sie von nun an deutlicher wahrnahm und kommentierte. Die Liberalisierung des Sexualstrafrechts, der Kampf um Anerkennung homosexueller Lebensformen, vor allem die Forderung nach Streichung des § 175 StGB, gehört in den 1970er Jahren zum großen Projekt der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. In Bezug auf die Kultur des Sexuellen begleitet die Gesellschaft die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland kritisch-emanzipatorisch und setzt sich vor allem skeptisch mit der Rolle der Medien und der Sexualisierung der Gesellschaft auseinander. Sigusch hat kein Verständnis für die Vermarktung des Sexuellen und begründet die kritische Haltung der Fachgesellschaft mit ihrer Aufklärungspflicht. Wohingegen die Forderung nach Reform des Sexualstrafrechts dem liberalen Grundgedanken von Toleranz und Freiheit entspringt. Auch die Gesellschaft für Sexualforschung hat eine NS-Vergangenheit, die sie in den 1960er und 1970er Jahren verdrängt und erst Ende der 1980er Jahre reflektiert. Sigusch nennt die Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte beschämend spät und fragmentiert. Lange habe man sich dem Mythos hingegeben, dass führende Mitglieder der DGfS sich als Ärzte und Kliniker in der NSZeit schützend vor ihre Patienten gestellt hätten und weder an Sterilisationsprogrammen noch Euthanasien beteiligt gewesen wären. Dies sei nicht so, sagt Sigusch (2001: 48). Sowohl dem ersten Vorsitzenden der Gesellschaft Hans Bür118
ger-Prinz, als auch ihrem langjährigen Promotor und Vorsitzenden Hans Giese können Kooperationen und eine Einfügung in das NS-Regime nachgewiesen werden. Wie auch schon bei Werner Villinger, der übrigens von 1958 bis zu seinem Tod Vorsitzender der DGfS war und zudem im wissenschaftlichen Beirat, der Beiträge für Sexualforschung seit der Gründung der Zeitschrift erarbeitete, ist die Verstrickung weniger aus einer überzeugten NS-Haltung, als vielmehr aus erbhygienischen und eugenischen Wissenschaftspositionen, einem unbedingten Willen zur wissenschaftlichen Reputation und Karriereorientierung entstanden. Hinzu treten Kritiklosigkeit und geringe Bereitschaft zur politischen Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang verweist Sigusch auch darauf, dass die Zerstörung des Hirschfeld-Institutes durch die Nationalsozialisten 1933 nicht die Zerstörung der deutschen Sexualforschung insgesamt war, die als medizinische und selektierende rassenhygienische Forschung weiter existierte. Zerstört wurden nur die Beratungsstellen der Weimarer Republik. In der Gründungsphase der DGfS knüpfte die Gesellschaft mehr an diese NS-Traditionen und schrittweise an einen internationalen Diskurs an, als an die Traditionen der Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik. Die Gründungsgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, so wie sie Volkmar Sigusch zusammengetragen und rezipiert hat, zeigt, dass die Sexualberatung von der Sexualforschung bis zum Ende der 1960er Jahre eigentlich nichts erwarten konnte. Die Sexualforschung verzichtete auf die Verbindung von Forschung, Beratungspraxis und sozialer Bewegung – außer in bevölkerungspolitischer Hinsicht. Erst durch die Person Reimut Reiches, so sagt Sigusch, habe ein umfassender Prozess der Kritik am klinischen und sexualpathologischen Konzept der Gesellschaft stattgefunden. Hans Giese, der die Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren deutlich geprägt hat, hat sich bei deren Aufbau, neben seiner Familie, auf die Netzwerke seiner Generation bezogen, ist in seinen fachlichen und politischen Intentionen nicht so ganz zu durchschauen. Zum einen gibt es deutliche Hinweise, dass Hans Giese zumindest die männliche Homosexualität aus dem Getto der Kriminalisierung befreien wollte, zum anderen verwundern seine positiven Haltungen zur Psychochirurgie bei Sexualstraftätern, die stark in der Forschungstradition des NS-Staates stehen. Die sexuellen Alltagsprobleme, d. h. Sexualaufklärung der Jugend, die Sexualerziehung, die Frage der Verhütung, die voreheliche Sexualität, die sexuelle Entwicklung, die Geschlechterdimension der Sexualberatung werden aus dem Diskurs der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, ebenso wie die Frage der weiblichen Homosexualität, nicht berücksichtigt.
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7. Beratungsdiskurse in der Pädagogik von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart
In die 1960er Jahre fällt eine ganze Reihe von sozialen und politischen Reformen, die die Entwicklung einer eigenständigen pädagogischen Beratung günstig beeinflusst haben. Bereits benannt ist die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes, das heißt der Beginn einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, über die Trambusch (2000) sagt, dass sie in neuer Weise an den Potenzialen der Arbeitskraft und an der beruflichen Bildung ansetzt – im Gegensatz zur alten AVAVG. Die Berufsberatung verändert sich denn auch im Gegensatz zur psychotechnischen Ausrichtung der Berufsberatung in den 1950er Jahren stärker in Richtung einer individualisierten Beratung, obwohl ihre Probleme im Prinzip bestehen bleiben. Allerdings sind mit dem Arbeitsförderungsgesetz neue Instrumente der beruflichen Entwicklung prinzipiell vorhanden. Bereits erwähnt ist auch die Wende in der Gesellschaft für Sexualforschung. Die sexuelle Revolution hatte in Deutschland in den 1960er Jahren unübersehbar begonnen und rückte die Sexualerziehung, die Sexualpädagogik und die Sexualberatung in eine neue Perspektive. Die Frauenbewegung begann in den 1960er Jahren schrittweise ihre zweite große Konjunktur, nach dem Simone de Beauvoir bereits in der Nachkriegszeit ihr Buch über das „Andere Geschlecht“ publiziert hatte und mit Klassikern wie Betty Fridans „Der Weiblichkeitswahn“, eine rein auf Mutterschaft ausgerichtete Rolle der Frauen, ihre Legitimation einbüßte. Hinzu kam die volkswirtschaftliche Notwendigkeit, Frauen verstärkt in den Arbeitsmarkt einzubeziehen, die das Drei-Phasen-Modell im weiblichen Lebenszyklus fest institutionalisierte. In den 1960er Jahren entstand trotz allen Widrigkeiten in der Bundesrepublik eine moderne Bürgergesellschaft, die sich kritisch mit dem Staat auseinandersetzte und Gesellschaft nicht mehr als Verlängerung der staatlichen Organe verstand. Diese allgemeine Entwicklung hat die pädagogische Beratung ungeheuer beflügelt. Lediglich die Erziehungsberatung hatte sich als ambulante Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie fest institutionalisiert und von der Erziehungswissenschaft losgekoppelt. Aber auch hier im Bereich der Erziehung hatten „Die deutsche Bildungskatastrophe“ und die Anfänge der Bildungsreform deutliche Zeichen der Veränderung hinterlassen, und schließlich durchlief die Erziehungsberatung ihre eigene Revolution durch die Veränderung innerhalb der Psychologie. Allerdings fiel diese Revolution deutlich zaghafter aus als in der Pädagogik.
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In den 1960er Jahren kommt es zu einer Neubestimmung der Pädagogischen Beratung – und zwar nicht aus den bereits bestehenden Feldern Erziehungsberatung, Berufsberatung und Sexualberatung, sondern pädagogische Beratung wird als erziehungswissenschaftliche Methode und im Zusammenhang mit Schule und Bildungsreform bestimmt, denn auch für die Erziehungswissenschaft gilt, dass sie das Erbe eines tradierten und autoritären Schulsystems übernommen hat. Ganz ohne Zweifel ist für die Neuformulierung der pädagogischen Beratung in den 1960er Jahren die Arbeit von wichtigen Einzelpersönlichkeiten, wie zum Beispiel Reinhard und Annemarie Tausch, bedeutend. Bereits 1963 haben sie mit ihrem Lehrbuch zur Erziehungspsychologie einen theoretischen Grundstein für Kommunikation in der Erziehung gelegt – mit dem Fokus auf Schule und Unterricht. Die Problemstellung ihrer Arbeit ist dabei ein grundsätzlicher double-bind in der Kommunikation zwischen Lehrern/innen und Schülern/innen. Diesen double-bind beschreiben Tausch/Tausch als quasi Antagonismus schulischer und pädagogischer Kommunikation. Denn zwischen dem, was Lehrer und Erzieher an Werten und pädagogischen Zielen anstrebten und dem, was sie kommunizierten, liege eine unüberwindliche Spannung. Dazu Reinhard und Annemarie Tausch: „Nachdem einer von uns 1954 eine Dozentur an der Pädagogischen Hochschule übernahm, wurden wir persönlich sehr tief in folgende Fragen verwickelt: ist das Verhalten, das Lehrer überwiegend in Schulen leben, ferner auch Eltern in ihrem Familien, nicht im Hinblick auf eine konstruktive Persönlichkeitsentwicklung häufig unangemessen? Ist es nicht ebenfalls unangemessen für ein späteres Leben in einer nicht diktatorischen Gesellschaft? Besonders irritierend war für uns, dass die Art des Verhaltens von Lehrern und Erziehern oft so erheblich unterschiedlich war von dem Verhalten, das sie als wünschenswert angaben und das sie anstrebten. War die Auffassung vieler Lehrer und Eltern richtig, dass eine Erziehung in Schule und Familie ohne deutliche Dirigierung und ohne Zwang nicht möglich sei? Oder waren unsere hierzu gegensätzlichen Auffassungen richtig?“ (Tausch/Tausch 1978: 10) Reinhard und Annemarie Tausch nennen insbesondere den Kommunikationsstil, der in pädagogischer Beziehung vorherrscht, den Stil der Dirigierung und Lenkung. „Erwachsene dirigieren Kinder und Jugendliche häufig durch eine Vielzahl von Befehlen, Anordnungen, Kontrollen, Fragen und häufiges Reden in Schulen, Familien, Kindergärten und Heimen. Dies steht oft im Gegensatz dazu, wie Lehrer und Erzieher sich verhalten möchten.“ Tausch/Tausch nennen Einwände gegen die Kommunikation der Dirigierung und Lenkung: x Einengungen der Selbsterfahrung und Selbstverantwortung von Kindern, x gestörtes Erlernen der sozialen Ordnung,
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x Einschränkung geistiger Leistungen, x Stress bei den Lehrern selbst. Insgesamt herrsche im Schulunterricht häufig eine Situation massiver fortlaufender Lenkung und Bestimmung der Schüler durch den Lehrer vor. Diese Dirigierung und Lenkung sei charakteristisch für den gesamten Unterrichtsverlauf und die gesamte Schulzeit von Schülern. Die lenkungsfreie Zeit dagegen sei minimal. Zur Lehrerrolle und zur Verantwortung von Pädagogen für die Beziehung zu Kindern sagen Tausch/Tausch folgendes: x „Lehrer sind häufig die zentrale Instanz der Wertung für fast alle Schüleräußerungen. Sie entscheiden was richtig und was falsch ist. Sie urteilen, welche Auffassung zutreffend, welche Leistung gut ist. Schüler, die sich nicht nach diesen Wertauffassungen richten können, erfahren ungünstige Folgen, x Lehrer sind die Instanz, die Bestätigung und Zurückweisung verteilt. Sie belohnen und bestrafen im Sinne des Modelllernens, x Lehrer bestimmen fast ausschließlich die Themen und jeweiligen Inhalte des Unterrichts. Das Vorgehen im Unterricht wird überwiegend vom Lehrer bestimmt, x Lehrer sind die zentrale Vermittlerinstanz, x Lehrer fällen häufig Urteile über die „Intelligenz“ der Schüler, obwohl sie fairer Weise nur ein sehr begrenztes Urteil über die Leistungsfähigkeit unter den konkreten Unterrichtsbedingungen abgeben können, x Lehrer beurteilen häufig die Persönlichkeit eines Schülers, obwohl sie diese meist nur aus dem Unterricht kennen. Familiale Konstellationen und Lebensgeschichte sind Lehrern meist nicht bekannt. Sehr häufig wollen sie auch nichts darüber wissen, x Lehrer versuchen vor allem durch Sanktionen das Verhalten von Schülern zu ändern. Strafen, Zusatzarbeiten und Angsterregung sind die gängigsten Erziehungsmittel, x Lehrer beurteilen Schüler als ob ihr persönliches Urteil objektiv wäre.“ Tausch/Tausch sprechen sich nicht gegen die situative Lenkung von Schülern aus, sie wenden sich aber gegen die fortlaufende Lenkung. Beide fassen zusammen, dass die angestrebten Erziehungsziele durch den dirigierenden und lenkenden Kommunikationsstil nicht erreicht werden können. Sie sagen weiterhin, dass diese Erziehung und die 10 Jahre währende Kommunikation in der Schule und in anderen pädagogischen Feldern der Grund ist, dass Erwachsene später nur in sehr begrenztem Maße jenes Verhalten leben, zu dem sie prinzipiell fähig wären. Das bereits in den 1960er Jahren verfasste und bis weit in die 1990er Jahre aufgelegte Buch von Reinhard und Annemarie Tausch zur Erziehungspsycholo123
gie (11. Auflage 1998) kann als ein wichtiger Brückenkopf zwischen Psychologie und Pädagogik gelten und konfrontierte eine bis dahin unangefochtene autoritäre Erziehung mit einem völlig neuen Denken, welches typisch ist für den Aufbruch der 1960er Jahre. In der Pädagogik zeigt sich zum einen Rückkehr zum kantianischen Denken, denn auch Tausch/Tausch argumentieren aus der Perspektive menschlicher Mündigkeit. Zum Zweiten wird das Verhältnis von Erziehung und politischer Demokratie thematisiert. Demokratische Umgangsformen und kontraktuelle Erziehungsstile gewinnen eine starke Bedeutung und erfreuen sich eines großen Zuspruchs unter Pädagoginnen und Pädagogen. So wird pädagogische Beratung nicht mehr als kinder- und jugendpsychiatrische, psychotechnische und begutachtende Interaktionsform gedacht, sondern völlig revolutioniert. Allerdings wäre es nicht richtig in Reinhard Tausch einen dem Denken der kritischen Pädagogik verpflichteten Psychologen zu sehen. Geboren 1921 in Braunschweig war Tausch von dem Schrecken der Hitlerdiktatur und dem Zweiten Weltkrieg deutlich geprägt. Bereits als 17jähriger junger Mann wurde er Soldat. Reinhard Tausch stand den Nationalsozialisten distanziert gegenüber und wurde im Krieg schwer verwundet. Er gehört zu jener Generation von Pazifisten und Kriegsgegnern in der Bundesrepublik Deutschland, die geholfen haben, das alte autoritäre Denken zu überwinden und Demokratie nicht nur als politische Verfassung begriffen haben, sondern als etwas, was notwendigerweise im Alltag in den menschlichen Beziehungen verankert werden muss. Tausch gehört zu jener Generation, die aus der Diktatur gelernt und ihr gesamtes Lebenswerk in den Dienst der Humanisierung menschlicher Beziehungen gestellt haben. Schule und Erziehung waren entsprechend der Berufsbiografie von Reinhard Tausch ein Schwerpunkt seines Lebenswerkes, denn vor seiner Hamburger Zeit arbeitete der ausgebildete Lehrer Reinhard Tausch zuerst im Kontext der Pädagogischen Psychologie. Geprägt wurde Tausch von Carl Rogers, dessen Ansatz er nach Deutschland brachte und hier vertrat. Reinhard Tauschs Vorstellungen einer demokratischen Psychologie haben in den 1980er Jahren dazu geführt, dass er im Rahmen von Fernsehsendungen therapierte und seinen Ansatz so bekannt machte. Man kann über die Legitimität dieser Medialisierung der Psychotherapie streiten, denn hierdurch wird eine Reihe von psychotherapeutischen Grundregeln verletzt. Vertraulichkeit, Verschwiegenheit und Schutz von Scham und Beschämung sind im Kontext einer öffentlichen Psychotherapie nicht mehr zu gewährleisten. Reinhard und Annemarie Tauschs Arbeit löste aber nicht nur eine große Bekanntheit der Psychotherapie, sondern in gewisser Weise auch eine „Inflation der Therapieformen“ (Nagel/Seifert 1979) aus. Vielleicht war es das übergroße Bedürfnis vieler Menschen „gehört zu werden“, wie es Rogers formuliert hatte, aber in den Markt der Therapie mischten sich bald auch weniger erfahrene und 124
kompetente Personen und viele die „gehört“ werden wollten, erlebten kränkende, beschämende und problematische Situationen. Die demokratischen und humanen Inhalte der Gesprächstherapie nach Rogers gerieten in den Sog der Vermarktung und schließlich publizierte die Zeitschrift „psychologie heute“ eine Reihe von Artikeln über gesprächstherapeutische Ansätze, die diese Methode von Rogers als Allheilmittel verkauften, wodurch ihr Ruf endgültig ruiniert wurde. Als Wegbereiter der Gesprächspsychotherapie und als Persönlichkeit, die sich um die Veränderung von Erziehung und Unterricht verdient gemacht hat, erhielt Reinhard Tausch 2001 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Der heute 88jährige Tausch lebt in Stuttgart und hat sich für das vorliegende Buch für ein Interview bereit erklärt. Erkenntnisinteresse und Schwerpunkt dieses Interviews waren die 1950er und 1960er Jahre, in denen Tausch in Göttingen und Marburg lehrte und bereits hier im Bereich der Psychologie von Schule und Unterricht wirkte. Reinhard Tausch sagt über sich selbst, dass ein besonderes Motiv sein Lebenswerk der Reform, der Kommunikation in Schule und Unterricht zu widmen darin lag, dass er selbst schwierige Erfahrungen in seiner Schulzeit mit autoritären und dirigierenden Lehrern gemacht habe. Nach seiner Zeit als Soldat – Tausch hat den gesamten Krieg mitgemacht – hat er als junger Lehrer diesen Ton in der Schule wieder gefunden und es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, die autoritäre, missachtende und entwertende Ansprache der Kinder durch Lehrer zu verändern. Ein Artikel über die Therapien von Rogers half ihm, seine wissenschaftliche Position zu bestimmen. Interessant ist, dass Reinhard Tausch bereits in den 1950er Jahren in Marburg lehrte und dort zusammen mit seiner Frau Annemarie ein Lehrbuch der nicht-direktiven Kindertherapie schrieb. Tausch arbeitete also zur gleichen Zeit in Marburg wie Werner Villinger und therapierte in einer eigenen Ambulanz Kinder nach dem Modell von Carl Rogers. Deutlicher kantianisch ausgerichtet und in Bezug auf die pädagogische Beratung hoch bedeutsam ist ebenfalls in den 1960er Jahren der Beitrag von C. Wolfgang Müller und Klaus Mollenhauer (1965) über pädagogische Beratung als kritische Aufklärung. Müller und Mollenhauer sind Erziehungswissenschaftler und setzen sich ebenfalls kritisch mit den führenden und lenkenden Traditionen in der Pädagogik auseinander. Im Sinne der Theorie der Erziehungsstile von Kurt Lewin kritisieren sie vordemokratische Kommunikationsformen in der Erziehung und formulieren ethische Grundsätze im kommunikativen Umgang mit Klienten. Das Beratungsgespräch in der Pädagogik ist bei ihnen Hilfe zur Mündigkeit. Beratung wird umfassend als Hilfe zur Selbstaufklärung des Klienten verstanden aber auch als seine kritische Aufklärung hinsichtlich gesellschaftlicher Verhältnisse.
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Auch Klaus Mollenhauer gehört, wie Reinhard Tausch, zur Kriegsgeneration. Geboren 1928 wird er im Krieg Luftwaffenhelfer und gerät in Gefangenschaft. Sein Abitur absolviert Mollenhauer 1948 und wird zuerst Lehrer, arbeitet während des Studiums aber schon als „Fürsorger“, wodurch ihm die Widersprüche und Belastungen des deutschen Fürsorgewesens deutlich werden. Mollenhauer beginnt eine Akademische Karriere bei dem geisteswissenschaftlich ausgerichteten Pädagogen Erich Weniger, von dessen wissenschaftlichen Positionen er sich aber zunehmend abgrenzt. Klaus Mollenhauer gilt als einer der zentralen Theoretiker der deutschen Pädagogik der Nachkriegszeit und als Begründer der kritischen Erziehungswissenschaft. In diesen Kontext gehört auch das, zusammen mit Wolfgang Müller, verfasste Essay zur Pädagogischen Beratung. Auch Wolfgang Müller ist 1928 geboren und schlägt zuerst die Laufbahn eines Journalisten ein. Müller wird vor allem als Theoretiker der sozialen Arbeit bekannt und profiliert sich vor allem zur Jugendarbeit, zu den sozialpädagogischen Methoden und zur Professionalisierung von sozialer Arbeit. Beide Autoren des Essays über pädagogische Beratung befassen sich mit dem Thema Beratung in der Pädagogik nur kurz und am Rande. Klaus Mollenhauer widmet sich dem Verhältnis von Erziehung, Bildung und Emanzipation, Wolfgang Müller der Theorie sozialer Arbeit. Diese „dünne Personaldecke“ wirkt sich auf die Erarbeitung des Feldes pädagogische Beratung selbstverständlich ungünstig aus. 7.1 Pädagogische Beratung als Hilfe zur Mündigkeit – das Projekt der 1960er Jahre „Alle Erziehung sollte auf kritische Aufklärung, auf Mündigkeit Autonomie und Selbstverwirklichung im individuellen und gesellschaftlichen Bereich zielen, Beratung wird als ein Mittel zur Förderung dieser Zielsetzung verstanden“ (Hornstein 1977: 34). Das Unterfangen, pädagogische Beratung als eine eigene Beratungsform, vor allem gegenüber den selektierenden, beobachtenden und begutachtenden Modellen zu begründen, also vor allem sozialwissenschaftlich und nicht-klinisch, nicht-psychopathologisch zu fundieren, lässt sich in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren nachweisen. An einer wichtigen Stelle in diesem Diskurs standen Klaus Mollenhauer und C. Wolfgang Müller (1965), die mit einem Essay zur Beratung in der Pädagogik diese vor allem von den entmündigenden und Klientel infizierenden Traditionen, sowohl in der Sozialpädagogik, als auch in der Heilpädagogik, abgegrenzt haben, und die heute noch als wichtige Begründer einer genuin pädagogischen Beratung nach 1945 gelten können. Das große Interesse an Beratung seit den 1960er Jahren sehen beide als Ausdruck einer gesellschaftlichen Modernisierung in der Bundesrepub126
lik im Sinne von Demokratisierung, unter anderem in Erziehung und Unterricht. Stichworte sind hier die Kritik der Fürsorgeerziehung, die deutsche Bildungskatastrophe, die Forderung nach Reform und Demokratisierung des Schulwesens, also große gesellschaftliche Projekte, in deren Kontext Beratung eine Rolle spielt. Mollenhauer/Müller haben die Beratung als ein „unpädagogisches“ Phänomen verstanden und argumentiert, dass sich über sie ein neues gesellschaftliches Verständnis und ein neuer Erziehungsstil repräsentiere „der unserer Gegenwart in besonderer Weise liegt.“ (Mollenhauer/Müller 1965: 26). Vor allem Walter Hornstein hat diesen Denkansatz einer eigenen pädagogischen Beratung in den 1970er Jahren aufgegriffen und versucht, ihm eine Kontur zu verleihen, kein einfaches Unterfangen, nach Jahrzehnten der Dominanz und Institutionalisierung klinischer und psychopathologischer Deutungsmuster, die wohl in der Etablierung eines von der Erziehungswissenschaft getrennten heilpädagogischen Systems einen besonderen Ausdruck fanden. Erst heute wird, formuliert durch die Kritik am sonderpädagogischen System (vgl. vor allem Hänsel 2008a/b), ein neuer Zugang zur historischen Institutionalisierung medizinalpädagogischer Deutungsmuster möglich und der Aufbau eines eigenen heilpädagogischen Systems mit getrennten Schulen kritisierbar. Die konsequente Dekonstruktion und Kritik, die z. B. Dagmar Hänsel für die Sonderpädagogik formuliert, ist bei den damaligen Neubegründern einer pädagogischen Beratung wie Mollenhauer/Müller, Hornstein, Mader in den 1970er Jahren so nicht auffindbar. Ihre Vorstellung ist weicher, interdisziplinärer und nicht auf kritische Auseinandersetzung mit der medizinalpädagogischen und psychologischen Disziplin ausgerichtet, sondern auf Koexistenz, auch wenn der Ansatz mit der Fokussierung auf Aufklärung und Mündigkeit über das klassische therapeutische Beratungsmodell hinausweist. Aus der heutigen Perspektive und vor allem angesichts der Geschichte der Erziehungsberatung, der Berufsberatung und Sexualpädagogischen Beratung, so wie sie von den Anfängen bis in die 1950er Jahre dargestellt wurde, ist es deshalb nicht verwunderlich, dass die pädagogische Beratung sich als eigenständiges Professionsprofil gegenüber den bereits seit den 1950er Jahren fest institutionalisierten klinischen und bürokratischen Beratungsformen nicht etablieren konnte und so marginal geblieben ist. Es verwundert, dass sie sich überhaupt etablieren konnte. Dass die Erziehungswissenschaft ein eigenes Beratungskonzept bestimmen konnte, verdankt sie nicht zuletzt dem internationalen Diskurs zum Verhältnis von Erziehung und Demokratie, so wie er von Kurt Lewin geprägt wurde und bedeutenden Einzelpersonen wie z. B. Carl Rogers. Ein zweiter, eher allgemeiner Faktor, ist die ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik als eine führende Industrienation und die umfassenden innenpolitischen Reformen, die in den 1960er Jahren auf den Weg gebracht wurden. Dieses gesell127
schaftliche Klima ebnete der Reflexion pädagogischer Verhältnisse allgemein den Weg und machte eine schrittweise Aufarbeitung der NS-Zeit möglich. Der dritte Faktor für die pädagogische Beratung ist schließlich die Eigenständigkeit der Bildungsreform und die Kritik der Erziehungswissenschaft am deutschen Schulsystem und seinem Sonderweg. 7.2 Pädagogische Beratung als kritische Bildungsberatung Der ökonomische Strukturwandel verlangte nach mehr akademisch gebildetem Personal (Sünker 2003). Georg Pichts Schrift über die deutsche Bildungskatastrophe provozierte in den 1960er Jahren eine Legitimationskrise des wieder eingerichteten, streng gegliederten deutschen Schulsystems. Die deutsche Schule bestand aus einer völlig veralteten, den modernen Anforderungen vollkommen widersprechenden Struktur und spiegelte mit ihrer Gestalt von Volksschule, höhere Schule und Universität die Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts, ganz zu schweigen, dass diese Schule, wie Bourdieu es immer wieder bemerkt hat, die Rolle einer bürokratischen Zuteilungsapparatur von Lebenschancen übernommen hat. Die Spannung zwischen der veralteten Struktur des Bildungssystems und den modernen Anforderungen begünstigte das Bündnis von pragmatischen Modernisierern und politischen Aufklärern, die sich zu einer Bewegung für Bildungsreform formen konnten. Georg Picht hat in seinen Analysen dabei zunächst ökonomisch und nur ökonomisch argumentiert. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand die internationale wirtschaftliche Konkurrenz, der Wettbewerbsdruck, dem Deutschland ausgesetzt war, das als rohstoffarmes Land vor allem in die Produktivkraft seiner Köpfe investieren müsse. Pichts einfaches Argument war, dass der durchschnittliche Bildungsstandard und die durchschnittliche Leistungsqualifikation der großen Mehrheit der Bevölkerung für lange Zeit unter dem Durchschnitt jener Länder liegen würde, mit denen die Bundesrepublik konkurrieren müsse (vgl. dazu Picht 1964: 24). Die Gerechtigkeitsprobleme und die mangelnde demokratische Fundierung spielte bei ihm zwar auch eine Rolle, jedoch wurde dieser Aspekt mehr von Ralf Dahrendorf in seinem Buch „Bildung ist Bürgerrecht“ (1966) vertreten. Hier verknüpfte Dahrendorf die Bildungsfrage mit der politischen Demokratie, denn erst Bildung ermögliche Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (vgl. Dahrendorf 1966: 25). Erst wenn diese Argumentationsgestalt von Picht und Dahrendorf zusammengefasst wird und wenn zudem die Hürden und Barrieren gegen die Bildung ernst genommen werden – und zwar jene, die in der sozialen Auslese als auch jene die im Habitus begründet liegen, ist die Tragweite und 128
das Anliegen einer pädagogischen Beratung, so wie die Erziehungswissenschaft sie in den 1960er und 1970er Jahren entworfen hat, nachzuzeichnen. Pädagogische Beratung im Kontext der Bildungsreform könnte die Barrieren auflösen und die Zugänge erschließen. Nach Bourdieu steht das Bildungssystem an einer ganz entscheidenden Stelle bei der Reproduktion der sozialen und mentalen Strukturen der Benachteiligung und Auslese. Die Institution Schule organisiert die Verteilung des kulturellen Kapitals und stellt damit die Reproduktion der Struktur des sozialen Raumes sicher. Die pädagogische Beratung setzt nun hier an. Während die politischen Reformen die sozialen Strukturen verändern können, sind die mentalen Strukturen durch pädagogische Interventionen erreichbar. Dies ist der Kerngedanke einer aufklärenden Beratung, so wie Mollenhauer ihn in den 1960er Jahren vorgetragen hat. Pädagogische Beratung als Form einer angewandten Aufklärung sollte sich vor allem jenen mentalen Strukturen zuwenden, die die Erziehungswissenschaft in der Arbeiterklasse und innerhalb des Arbeiterbewusstseins vermutete. Diese Funktion pädagogischer Beratung, im Zusammenhang mit der Umsetzung der deutschen Bildungsreform, warf eine Reihe von Fragen und Problemen auf: x Das Verhältnis zur Psychologie und zur Soziologie als Nachbardisziplinen, x die Frage des Verhältnisses zu den bereits etablierten Beratungsformen, allen voran die Erziehungsberatung, x das Verhältnis zur Jugendhilfe und sozialen Arbeit, x das Verhältnis von Beratungskonzept und Beratungsmethode, x das Problem der Ausbildung der pädagogischen Beraterinnen und Berater. In den 1970er Jahren hat sich vor allem Walter Hornstein mit seiner Arbeit im Zusammenhang mit dem Funkkolleg Beratung in der Erziehung diesen Problemen gewidmet. 7.3 Die 1970er Jahre – Pädagogische Beratung und Pädagogische Psychologie In den 1970er Jahren profitierte die Pädagogik von der sich verbreitenden Psychologie und Sozialpsychologie in allen gesellschaftlichen Bereichen. An herausragender Stelle stand die gruppendynamische Bewegung in der Tradition von Kurt Lewin. Ihre Anliegen, insbesondere zum sozialen Lernen in Gruppen, haben zur Verbreitung von demokratischen Kommunikationstechniken enorm beigetragen. Im Mittelpunkt stand hier die Kultivierung und Entdeckung der Bedeutung von Metakommunikation und Feedback, von demokratischer Konfliktlösung und praktischer Fairness. 129
Nach Kurt Lewin gehört für die Pädagogik sicherlich Carl Rogers zu jenen großen Psychologen des 20. Jahrhunderts, die die Pädagogik deutlich beeinflusst und die Erziehungsstile verändert haben. Rogers hat die Psychotherapie aus dem ärztlichen und klinischen Kontext letztlich herausgelöst, wenn man die Foucaultsche Einsicht über den Arzt, der die Krankheit durch den Patienten sieht, zugrunde legt. Dieser Satz, den Foucault in seiner Arbeit über die „Geburt der Klinik“ (1982) so prägnant formuliert hat – der Mensch ist für den Arzt nur das Porträt seiner Krankheit, der Arzt behandelt die Krankheit durch den Patienten hindurch – bedeutet umgekehrt, dass Therapieverständnisse, die dem Patienten die Führung überlassen, mit dieser Macht des Arztes brechen und eine neue ethische Qualität von Beziehung zwischen Arzt und Patient begründen. Einer der mit seinem deutlichen Plädoyer dafür war, dem Klienten die Führung in der Behandlung zu überlassen, war Carl Rogers. Mit den Mitteln der Gesprächsführung, vor allem mit Empathie und der Methode des Spiegelns, setzte Rogers bei seinen Klienten einen tiefen psychohygienischen Prozess in Gang, der die Selbstidentifizierung des Klienten förderte und diesem mehr Lebendigkeit ermöglichte. Mit den kommunikativen Mitteln der Wertschätzung und der Kongruenz stärkte Rogers die Selbstachtung seiner Klienten und beförderte die Psychotherapie als Anerkennungskommunikation. Im Jahr 1969 hat Carl Rogers eine Arbeit zur Pädagogik „Lernen in Freiheit“ verfasst, die 1974 in der Bundesrepublik veröffentlich wurde. Rogers Schrift – obwohl umfangreich – besteht leider vor allem aus argumentativen Fragmenten, Reden und Vorträgen, die immer wieder von Fällen, Erfahrungen, Beispielen unterbrochen werden. Dies macht eine Rezeption schwierig, jedoch sollen einige wichtige Gedanken hier systematisiert werden. Vor allem sagt Rogers: „Ich möchte den anderen gern hören“ und erklärt mit dieser Überschrift die von ihm immer betonte Bedeutung des Zuhörens, sowie eine ethische und hermeneutische Haltung in Bezug auf den Menschen der vor ihm sitzt. „Ich möchte den anderen gern hören“ (Rogers 1974: 214) ist das Gegenstück zur Beobachtung, welches das ärztliche Beratungsmodell kennzeichnet. „Wenn ich wirklich jemanden hören kann, bringt es mich mit ihm in Kontakt“ (Rogers 1974: 214). Rogers spricht von gründlichem Hören: „Ich meine, dass ich die Worte höre, die Gedanken, die Gefühlstönungen, die individuelle Bedeutung und den Sinn, der jenseits der bewussten Intention des Sprechers liegt, manchmal höre ich auch in einer Mitteilung, die oberflächlich besehen, nicht sehr wichtig klingt, einen (...) menschlichen Schrei, ein stilles Weinen, das in der Person begraben liegt, tief im Innern, ohne dass sie selbst davon weiß. So habe ich gelernt, mich zu fragen, ob ich die Klänge und Strukturen der Innenwelt meines Gegenübers wahrnehmen kann“ (Rogers 1974: 215).
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Das Verständnis und Beratungskonzept, die innere Welt des Klienten durch Hören zu verstehen, ist eine besondere Form der Exploration, die die phänomenologischen Beratungsansätze auszeichnet. Kontakt und Resonanz sind hier wichtige Begriffe der beraterischen Beziehung. Nach Rogers passiert umso mehr mit dem Klienten, je tiefer er den Klienten hören kann. Für die Rezeption von Rogers in der Pädagogik ist vor allem bedeutend, dass er sich mit seiner Haltung, seinen Zielen und Anliegen von den bis dahin normalen Beratungsverständnissen der Beobachtung, Begutachtung, Selektion und Manipulation unterscheidet. Aus diesem Grund ist Rogers bis heute für die pädagogische Beratung wertvoll geblieben (Gröning 2006). Rogers Grundsätze zur Wertschätzung, Empathie und zur Selbstexploration des Klienten haben den pädagogischen Beratern in den 1970er Jahren wichtige Wege gewiesen, ein aufklärendes Beratungsverständnis, so wie es die kritische Erziehungswissenschaft begründet hat, mit einer anerkennenden Haltung zu verbinden. Dieses Beratungsverständnis stellt bis heute eine Kernkompetenz der Profession pädagogische Beratung dar und bildet, vor allem angesichts der problembelasteten Institutionalisierungsgeschichte, ihr wichtigstes Fundament. 7.4 Ein zweiter Versuch einer Konzipierung und Bestimmung von Pädagogischer Beratung durch das Funkkolleg Beratung in der Erziehung Walter Hornstein hat in den 1970er und 1980er Jahren wiederholt zur Bestimmung einer pädagogischen Beratung publiziert. 1977 veröffentlicht er, zusammen mit Reiner Bastine, Helmut Junker und Christian Wulf, zwei Bände des Funkkollegs „Beratung in der Erziehung“ und verfasst im Band 1 die Einführung. Hier bestimmt er die pädagogische Beratung aus der erziehungswissenschaftlichen Disziplin und nennt sie eine Einflussnahme im Erziehungsprozess, die sowohl mit pädagogischen Zielsetzungen verknüpft sei, wie auch mit der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung. Jene nennt er in Anlehnung an Fend (1974) Qualifizierung, Selektion, Positionszuweisung, Integration und Legitimation (Hornstein 1977: 36). Bereits in dieser Übernahme der funktionalen Analyse von Fend versucht Hornstein einerseits an die kritische Erziehungswissenschaft anzuknüpfen, andererseits die empirische und funktionalistische Pädagogik mit dem Hinweis auf Helmut Fend einzubinden. Für die Bestimmung der pädagogischen Beratung könnte hier ein erstes Problem liegen, denn sie muss etwas verbinden, was auseinanderstrebt: Selektion und Positionszuweisung auf der einen Seite und Mündigkeit auf der anderen Seite. Hornstein setzt nämlich die heimlichen Funktionen eines selektiven Schulsystems neben die pädagogischen Ziel131
setzungen wie Aufklärung, Bewusstseinserweiterung, Autonomie und Befreiung von Entfremdung, Kooperationsbereitschaft und Toleranz, sowie ein kritisches politisches Bewusstsein und Interessensolidarität (Hornstein 1977: 34). Beratung soll die selektiven Funktionen transzendieren und den moralischen Dimensionen zum Durchbruch verhelfen. Das ist keine einfache Aufgabe. Hornstein will demokratische Erziehungsformen in der Schule, in den Erziehungssystemen wie in der Familie und in der Gesellschaft fördern und nennt drei Beispiele und Orte der pädagogischen Beratung: x Beratung als Teil einer alltäglichen pädagogischen Kommunikation Beratung im Kontext der Fürsorge und des heilpädagogischen Systems x Beratung als funktionale Schullaufbahnberatung Alle drei Felder der pädagogischen Beratung werden mittels eines einführenden Beispiels vorgestellt. Die erste Szene betrifft einen typischen alltäglichen Geschwisterstreit um Geben und Nehmen. Hornstein spielt das Verhalten des Erziehers in verschiedensten Varianten durch. In der ersten Variante verhält sich der Erzieher, in diesem Fall der Vater, reflektierend, vermittelnd, Kompromisse suchend und im Sinne des Grundsatzes von Mead „taking the role of each other“ hält er die Kinder zur Rollenübernahme an. Die Diskussion um Geben und Nehmen und um Dein und Mein gerät zum Dialog um Ansprüche, Wünsche und wie man darüber verhandelt. Anstatt „kurzen Prozess zu machen“, wie in der Variante zwei, hier unterbindet der Erzieher den Streit, damit aber auch die Reflexion, wird in einer rationalen und sozialen Perspektivenaushandlung ein Kompromiss gefunden, ohne Gewinner und Verlierer und ohne Macht. Im Sinne der Theorie sozialer Kompetenz will Hornstein die pädagogische Beratung im Rahmen der vorgestellten pädagogischen Situation so verstehen, dass die Beteiligten aus ihren unmittelbaren emotionalen Reaktionen herausgeführt werden und zu reflektieren beginnen. Sie sollen Motive und Beweggründe des anderen achten lernen, Entscheidungen überprüfen und sich mit anderen Verhaltensmöglichkeiten auseinandersetzen. Für Hornstein ist diese Art des Beratens in der Erziehung die Förderung von Mündigkeit, Autonomie und Entscheidungsfähigkeit (vgl. Hornstein 1977: 27). Hornstein sagt nichts darüber wie Eltern diese Kunst der alltäglichen Beratung in der Erziehung lernen können und welche Rolle dabei professionell ausgebildete pädagogische Berater spielen. Ganz deutlich geht es in seinem Beispiel aber um die Erziehung der Erzieher, um Familienbildung, um das Lernen, sich fair zu streiten etc. Zwar wird hier Beratung zwischen Eltern und Kindern als eine Methode von alltäglicher pädagogischer Kommunikation dargestellt, sie ist gleichwohl weit entfernt von natürlicher Erziehungskompetenz und durchschnittlicher erzieherischer Leistung.
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Ein zweites Feld der Beratung in der Pädagogik wird von Hornstein schließlich als Grenze zwischen pädagogischer Beratung und heilpädagogischem System beschrieben, „die Beratung in der heilpädagogischen Tradition am Beispiel eines verhaltensauffälligen Kindes“ (Hornstein 1977: 27-30). A., der geistig normal sei und durchschnittlich begabt, bringe in der Schule nur schwach ausreichende und mangelhafte Leistungen und strenge sich nicht an. Unterrichtsstörungen, Attacken auf die Mitschüler, kleine Diebstähle von Unterrichtsmaterial, eine ratlose Mutter und das Versagen eines verhaltensmodifizierenden Programms führen zur Einschätzung des Lehrkörpers A. sei eine zu große Belastung und sein Verbleiben in der Schule den anderen Kindern nicht mehr zuzumuten. Die Überweisung in ein heilpädagogisches Heim wird von Seiten der Schule angestrebt. Dies fordert auch die Erziehungsberatungsstelle, die eingeschaltet wurde, die Schwierigkeiten des Kindes aber mehr bei der Mutter lokalisiert (S. 28). Hornstein beginnt nun an zwei Punkten pädagogische Beratung einzubringen: Zum einen fast er die Beziehung zwischen A. und seinen Lehrern, bzw. der Schule als beratungsbedürftig auf, indem er vor allem die Objektivität der „Diagnose“ der Schule in Zweifel zieht. Eine Diagnose sei nicht die Aufzählung von Vorwürfen an das Kind, der moralische Unterton und die Vorwürfe der mangelnden Anstrengungsbereitschaft von A. nähmen die Lehrer mit ihrer Beziehungsbereitschaft und mit ihrem Verhalten aus dem Geschehen heraus. Der Ansatz einer pädagogischen Beratung für Lehrkräfte, den Hornstein hier skizziert, ist zum einen im Kontext der Supervision für Lehrkräfte umgesetzt worden und versteht sich als Reflexion eines Falles zwischen Professionellen und Beratern. Allerdings ist der pädagogische Berater im Unterschied zum Supervisor „Anwalt des Kindes“. Eine zweite Dimension, die Hornstein hier skizziert, ist die einer pädagogischen Beratung in Form von Schulentwicklung. Dazu müsste zunächst die Art der Diagnose, wie sie im schulpädagogischem Raum üblich ist, verändert werden. Hornstein (1977: 29) fragt, ob solche „Diagnosen“ mit Beschreibungen wie mangelnde Anstrengungsbereitschaft, Ungeordnetheit und Unkonzentriertheit, fehlende Ausdauer etc. überhaupt für das Problem des Kindes adäquat sind. Diese Diagnosen sind nach Hornstein ein Hinweis darauf, dass der Maßstab der Schule der alte geblieben ist, und sie sich weiterhin als Ort disziplinierten Lernens, permanenter Anstrengung und Leistungserfüllung versteht. Auch wenn die Rhetorik sich dann ein wenig verändert hat, ist die Selektion als Handlungsmaßstab geblieben und bedroht Kinder und Eltern. Pädagogische Beratung würde neben der Beratung von Lehrkräften und dem Lernen der eigenen Wahrnehmungserweiterung und Beziehungsfähigkeit, die Entwicklung der Schule als Ganzes bezwecken. Hornstein stellt Fragen (1977: 30), fordert aber eigentlich eine Veränderung der Schulkultur, wenn er sagt, dass es mehr Antwor-
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ten auf pädagogische Probleme geben müsse, als die Kinder in heilpädagogische Heime zu bringen. Die dritte Bedeutung der Beratung in der Erziehung ist nach Hornstein (1977: 34) eine systemische. Am Beispiel einer Schullaufbahnberatung zeigt Hornstein auf, wie eine effektive und funktionale Vorbereitung durch Beratung bei der Schulorganisation den Schülern/Schülerinnen bei der Bewältigung der Aufgaben hilft. Der Berater/die Beraterin hätte hier vor allem Lotsenfunktion. Die Schullaufbahnberatung ist eine feldbezogene Beratungsform, die vor allem von Lehrern und Lehrerinnen selbst wahrgenommen werden kann, da hier vor allem Feldkompetenz und Übersicht über das Lehrangebot eine wichtige Beratungsvoraussetzung ist. Die Schullaufbahnberatung ist zweitens eine Sachberatung bzw. Intensivberatung und komplettiert die Vorschläge zur Neubestimmung pädagogischer Beratung aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft. Allerdings soll an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass Walter Hornstein die Schule offensichtlich als Gymnasium denkt und jenen Fall, den er für seine Vorstellung einer Schullaufbahnberatung wählt, der Fall eines Oberschülers ist, der studieren will und eine funktionale Schullaufbahnberatung in Anspruch nimmt, um trotz Numerus Clausus das Studienfach seiner Wahl studieren zu können. Im Prinzip haben wir es bei dieser Art der pädagogischen Beratung mit Problemen der systemischen Steuerung zu tun. Beratung im System Schule wird nötig, weil das System Hochschule mit der Steuerung durch den Numerus Clausus in die Rationalität des vorgelagerten Systems Schule eingreift und dort spezielle Effekte erzeugt. Unabhängig von Neigung, Bildung und Wissen müssen Schüler sich in ihrem Verhalten und in Bezug auf ihre Entscheidungen auf die Effekte, die der NC erzeugt, vorbereiten bzw. diese antizipieren. Beratung ist hier Hilfe beim Umgang mit Komplexität. Die duale Berufsausbildung und die damit zusammenhängende Berufsberatung werden dagegen bei Hornstein vernachlässigt. Die Verknüpfung von Schullaufbahnberatung und Berufsberatung wird aus dem Blickfeld genommen. Gerade in Bezug auf die Bedeutung der obligatorischen Berufsberatung und der Platzierung der Berufsberatung im Übergang zwischen Schule und Abbildungssystem hätte sich eine Einbeziehung der Berufsberatung in die Konzeptionen der Pädagogischen Beratung gerechtfertigt. Schließlich beraten die Berufsberater in der Schule und die Beratung beginnt in der Mittelstufe, also früh und für alle Schulformen verbindlich. Hornstein denkt die pädagogische Beratung vor allem im Kontext von Schule und Universität und trennt damit unbeabsichtigt oder beabsichtigt die Bildung vom Beruf. Diese Trennung ist nun wieder in Bezug auf die Berufsberatung ein langer Konflikt zwischen Berufsberatern und der Bundesanstalt für Arbeit gewesen. Immer wieder hat es Stimmen, vor allem aus dem Umfeld des Verbandes für Berufsberatung, der heute übrigens „Deutscher Ver134
band für Bildungs- und Berufsberatung“ heißt, die Berufsberatung nicht von dem Bildungssystem zu trennen und nicht im System Arbeitsmarkt sondern im System Bildung zu verorten, um den funktionalen Verkürzungen und double-binds nicht zu unterliegen. Dieser Konflikt hätte von den Theoretikern der pädagogischen Beratung deutlicher gesehen und bearbeitet werden müssen. Leider übersieht Hornstein diese Dimension – und nicht nur diese – und er konzipiert die pädagogische Beratung in folgenden Feldern: 1. Beratung als Erziehung der Erzieher, vor allem in der Verknüpfung mit Familienbildung, 2. Beratung als Supervision im pädagogischen Feld der Schule, und zwar im Kontext von Einzelarbeit, Gruppen oder Organisationssupervision mit den Lehrkräften, 3. Beratung in der Schule als „Anwalt des Kindes“, 4. Schullaufbahnberatung. Die Spannung zwischen den gesellschaftlichen Funktionen von Erziehung (also Selektion und ungerechte Verteilung von kulturellem Kapital) und ihren Zielen (Demokratisierung) sollte im Entwurf der kritischen Erziehungswissenschaft durch pädagogische Beratung verändert bzw. synthetisiert werden. Die gesellschaftlichen Funktionen von Erziehung, die immer noch selektiv und auslesend sind und in Spannung mit den allgemeinen Zielen einer demokratischen Erziehung stehen, sollen schrittweise durch Beratung angenähert werden. Dies ist in gewisser Weise eine beraterische Allmachtsfantasie, die auch Hornstein nicht erklärt und begründet, sondern stehen lässt. Wie bereits Mollenhauer und Müller, die in ihrem Essay von 1965 die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Beratung kritisch beleuchtet sehen wollten, d. h. der Berater/die Beraterin sollte die Ratsuchenden über die Probleme des selektiven Schulsystems und die gesellschaftlichen Konsequenzen aufklären und kritisches Bewusstsein erzeugen, möglicherweise mit dem Ziel, dass Eltern ihren Kindern mehr Bildung zu Teil werden lassen, stellt auch das Beratungskonzept der Schullaufbahnberatung, so wie Hornstein es vertritt, die Aufklärung in den Mittelpunkt. Schwierig wird es aber bei der Beratung im Sinne von „Anwalt des Kindes“, also wenn die Schule sich eines schwierigen Schülers entledigen möchte. Dann agieren die selektiven Funktionen und Strukturen besonders dominant und wenig reflektierend. Eine Zwangsberatung der Schule könnte diesen Prozess erschweren, ob Beraterinnen und Berater ihre Funktion aber auch wahrnehmen, darf bezweifelt werden (Freyberg/Wolff 2005). Ein ganz offenes Problem im Kontext des Funkkollegs Beratung in der Erziehung ist das Thema der Professionalisierung, der Disziplin und der Institution. Mit den Aufgaben der pädagogischen Beratung ist einerseits der Ort be135
schrieben, an welchem diese stattfinden könnte, konsequenterweise in den selektierenden und segregierenden Institutionen selbst. Pädagogische Beratung fände bevorzugt in der Schule statt. Dann stellt sich die Frage, ob die pädagogische Beratung durch angestellte Lehrer erfolgen kann oder durch externe Berater, wobei die damalige Veröffentlichung diese Frage gar nicht anspricht. Ebenfalls offen ist die Frage der Qualifikation. Ist pädagogische Beratung als Familienbildung, als Supervision und als Schullaufbahnberatung eine Angelegenheit der Psychologie? Wohl eher nicht. Die von Hornstein zugeschnittene Konzeption verweist eher auf die Erziehungswissenschaft, d. h. LehrerInnen und DiplomPädagogInnen bzw. heute BA-Studierende, müssten entsprechend im Feld der pädagogischen Beratung weitergebildet und eingesetzt werden. Dies würde dann bedeuten, dass entweder bei den Schulämtern Stellen für die Berater geschaffen werden müssten oder ein entsprechendes Etat. Insgesamt verwundert, dass die pädagogische Beratung an einem Ort eingefordert wird, wo die Ungleichheit selbst hergestellt wird. Die Schule segregiert und selektiert im Sinne einer Übersetzung sozialer Privilegien in kulturelles Kapital bzw. umgekehrt, soziale Benachteiligung und psychologische Traumatisierung werden in Leistungsschwäche übersetzt. Ein Beratungsansatz, der diese Funktionen quasi transformieren soll, ist zunächst in einer äußerst schwachen Position, es sei denn, den Beratern kommt institutionell eine sehr hohe Bedeutung bei der Überweisung in einen speziellen Schultypus zu, und sie genießen hohe formale und moralische Autorität. Nur wenn die Berater selbst über hohe Positionsrollen verfügen, wäre ihre Stellung kräftig genug, um Entscheidungen über die Bildungswege von Kindern positiv zu beeinflussen und mentale Strukturen zu verändern. Dies ist das Dilemma einer individuumszentrierten Beratung in der Pädagogik ohne Systementwicklung und Systemveränderung im Schulwesen. Hornstein, der im Funkkolleg Beratung in der Erziehung die Bildungsberatung, die Schullaufbahnberatung und die Schülerberatung verteidigt, rezipiert später die Kritik an der Beratung als Kitt für stecken gebliebene Reformen (vgl. Hornstein 1980: 715, ZfPäd) und stimmt in die Beratungskritik ein. 30 Jahre nach dem Funkkolleg Beratung in der Erziehung, ist die Bilanz einer eigenen auf Mündigkeit und Aufklärung fußenden, das selektierende pädagogische System der deutschen Schule und der Fürsorgeerziehung eher ernüchternd. Die Pädagoginnen und Pädagogen konnten sich weder im Kontext von Bildungsberatung noch im Kontext von Erziehungsberatung oder schulinterner Supervision als eigene Berufsgruppe behaupten und sind verschwunden, wobei gleichzeitig zu konstatieren ist, dass die Bildungsberatung, die Schullaufbahnberatung und die Beratung im Kontext von Schule sich funktional verkürzt und auf die Beseitigung von Störungen institutionalisiert hat (Wolff/Freyberg 2005). Ähnlich wie bei der Berufsberatung ist die Beratung und Weiter-, bzw. Fort136
bildung von Lehrern geschlossen und eher an den Schulverwaltungen angesiedelt. Die Erziehungsberatung, auch eine Hoffnung der 1970er Jahre, ist im klinischen Denken verhaftet geblieben und unterliegt heute der Gefahr einer institutionellen Verinselung. Die Probleme der modernen Familie, das heißt Geschlechterfragen, auch im Zusammenhang mit Gewalt gegen Kinder und mit sexuellem Missbrauch, kulturelle Fragen, vor allem in Bezug auf die Beratung von Migrationen und Migranten, die Reflexion über die gesellschaftliche Entwicklung wie Entgrenzung der Arbeit (Hochschild 2002, Dierks 2005), Entwertung der Erziehungsarbeit und die Konsequenzen sozialer Beschleunigung (Rosa 2005) spielen für die Erziehungsberatung, wie auch in anderen pädagogischen Beratungsformen, eine geringe Rolle. Moderne soziologische Einsichten werden, wie die aktuelle Diskussion zum Problem von Kindern als Tyrannen zeigt, auf einfachste und teilweise recht reaktionäre Weise verkürzt. Die breite öffentliche Diskussion in der Gegenwart über die Beschreibung des Kinderpsychiaters Winterhoff von Kindern als Tyrannen, knüpft ungebrochen an Johanna Harers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ an, welches bis weit in die 1980er Jahre aufgelegt wurde. Es scheint so, als habe sich das kinderpsychiatrische Gedankengut hinsichtlich der Erziehung nicht aus den Vorstellungen der neuen deutschen Seelenheilkunde befreien können. Die Politik hat dagegen die Kindheit als bisher vernachlässigten Ort der politischen Programme entdeckt. Seit Pisa wird getestet und gefördert, gesichtet und bewertet, begutachtet und aufgesucht. Nur sehr selten werden dabei sozialwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt. Therapeutisierung, Klientelifizierung und ein Rückfall in das traditionelle Modell Sichtung, Diagnose und Maßnahme, entstehen als neue Gefahren. Der Anspruch aufklärend und anerkennend, stützend, solidarisch und im Sinne von Mündigkeit und Autonomie zu beraten, ist in weite Ferne gerückt. Für die 1970er Jahre bleibt daher zu konstatieren, dass mit dem Scheitern der Bildungsreform die pädagogische Beratung sich quasi noch einmal neu erfinden musste. Erziehungsberatung, Sexualberatung und Eheberatung waren als psychosoziale Beratung oder als psychologische Beratung fest institutionalisiert und gesetzt. Die Bildungsberatung, so wie sie Hornstein entworfen hatte, stagnierte im Kontext einer allgemeinen Schulpsychologie und fiel als Feld für Pädagoginnen und Pädagogen ebenfalls aus. Die Beratung innerhalb der Jugendhilfe und Fürsorgesysteme wurde von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen ausgeübt, die für die Verbindung von Beratungsgespräch und sozialpädagogischer Maßnahme besonders qualifiziert waren und diese unter dem Dach einer Einzelfallhilfe praktizierten. Bürokratische und funktionale Beratungen im Rahmen der Sozialgesetzbücher wie Rentenberatung, Gesundheitsberatung, Sozialhilfeempfängerberatung, wurden ebenfalls von Sozialarbeitern oder von speziell ausge137
bildeten Sachbearbeitern ausgeführt und die Berufsberatung war über die Bundesanstalt für Arbeit monopolisiert und geschlossen. Die pädagogische Beratung schien als Projekt der Bildungsreform zunächst einmal überlebt zu haben. Für Diplom-Pädagoginnen und Diplom-Pädagogen schien es im Arbeitsfeld Beratung zunächst einmal keinen Bedarf zu geben. Aber die pädagogische Beratung hat sich nicht überlebt, sondern ist seit den 1970er Jahren völlig neue Wege gegangen, die nicht immer gerade und auch nicht immer überzeugend waren (Gröning 2006). Als Irrweg für eine professionalisierte Beratung in der Pädagogik hat sich die breite und empathische Rezeption der Beratungskritik herausgestellt. Die Erziehungswissenschaft hat mit Publikationen wie „Verstehen oder kolonialisieren“ nicht nur die autoritären Beratungsformen der Begutachtung und Zuweisung, sondern auch hermeneutisches Beratungsverhalten kritisiert. Viele Pädagoginnen und Pädagogen mochten seit den 1980er Jahren überhaupt nur ungern in etablierten Institutionen beraten und zogen alternative Institutionen vor. Die Beratung veränderte sich institutionell und Professionalisierung erschien nicht mehr als ein erstrebenswertes Ziel. Arbeitslosigkeit und Deregulierung auf dem pädagogischen Arbeitsmarkt erschwerten zudem eine Verankerung überhaupt im Bereich professionalisierte Beschäftigung für Pädagoginnen und Pädagogen. Auf der anderen Seite stehen beachtliche und respektable Bilanzen bei der Professionalisierung der Pädagogischen Beratung unter alternativen Bedingungen. Drei Einflüsse sollen an dieser Stelle aufgezählt und damit die Entwicklungslinien innerhalb der pädagogischen Beratung für die Zeit bis zur Jahrtausendwende beschrieben werden. 1. Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Theoriebildung und die Praxis der pädagogischen Beratung, 2. die Therapiekritik und der Einfluss der Alltagstheorie auf die pädagogische Beratung, 3. die Bedeutung der systemischen Beratungsansätze und der berufsbezogenen Beratung.
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8. Der Einfluss der Frauenbewegung auf die Theoriebildung und die Praxis der pädagogischen Beratung
Bisher hat die Forschung zur pädagogischen Beratung die Bedeutung der zweiten, feministischen Frauenbewegung in der Bundesrepublik, ihre Beratungsansätze und ihre Beratungspraxis für die Fundierung pädagogischer Beratung wenig zur Kenntnis genommen, und ihr wenig Bedeutung beigemessen. Damit wiederholt sich die Problematik, die im Kontext von Sozialarbeitsforschung und Sozialarbeitswissenschaft schon durch die Ignorierung der Beratungstätigkeit der ersten bürgerlichen Frauenbewegung und ihrer Beratungskonzepte entstanden ist. Die Reduzierung der Bedeutung der ersten Frauenbewegung auf die soziale Hilfsarbeit und die Unterstellung, die bürgerlichen Frauen hätten mit ihren sozialreformerischen Projekten in erster Linie eigene Berufsfelder für bürgerliche Frauen gesucht, wäre wohl nicht so strikt ausgefallen, hätte die Frauenrechtschutzbewegung und die Frauenstimmrechtsbewegung, einschließlich ihrer Beratungsarbeit, mehr Berücksichtigung in der universitären Sozialisationsforschung gefunden. Es wäre auch theoretisch überzeugender gewesen, die Sozialreformprojekte der alten Frauenbewegung flügelübergreifend und in ihrer Gesamtheit aufzubereiten und zu würdigen, als sich die sozialen Hilfstätigkeiten quasi herauszupicken und an ihnen und ihren Vertreterinnen nun den Beweis für den Konservatismus und die national eingetrübten Anliegen der bürgerlichen Frauenbewegung erbringen zu wollen und damit deren sozialreformerisches Projekt zu entwerten. Aus der Perspektive der Beratung für Frauen heute bietet sich eine Reflexion der Beratungsprojekte der zweiten feministischen Frauenbewegung unter dem Dach der Erziehungswissenschaft deutlich an. Das Engagement vieler DiplomPädagoginnen in der feministischen Frauenbewegung hat zu einer sichtbaren Professionalisierung von Diplom-Pädagoginnen im Arbeitsfeld Beratung geführt. Dies wäre allein ein Grund für eine gewisse Beachtung der feministischen Beratung durch die Erziehungswissenschaft, vor allem wenn man bedenkt, dass den Diplom-Pädagogen und Pädagoginnen der Einstieg in psychosoziale und psychologische Beratungsfelder nicht gelungen ist und die eigenständige pädagogische Beratung als Projekt nach dem Scheitern der Beratung als Professionsfeld im Kontext von Schule und Bildung quasi ausfällt. Aber auch unter theoretischen Aspekten ist die Beratung im Rahmen der Frauenbewegung heute wertvoll, da 139
mit ihren ethischen Grundlagen von Parteilichkeit und Solidarität jenseits des Therapiemodells anwaltliche Beratungsgrundsätze in die Beratung eingeflossen sind. Gleichwohl ist eine Bewertung der feministischen Beratung und der Beratung für Frauen aus der Perspektive pädagogischer Beratung nicht einfach, da die pädagogische Beratung sich vorwiegend institutionell im Kontext von Schule und Bildung verstanden hat und kaum geschlechtersensibel konzipiert ist. Der Beratungsdiskurs innerhalb der Frauenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland folgt umgekehrt aber auch nicht jenen Diskursen, die in der Pädagogik von Bedeutung sind. Der Versuch, nun beide Beratungsverständnisse in Beziehung zu setzen, stützt sich, neben der bereits erwähnten empirischen Bedeutung, vor allem auf eine gemeinsame theoretische bzw. metatheoretische Position. Sowohl die pädagogische wie auch die feministische Beratung verbindet eine ethische gesellschaftskritische Fundierung und damit verbunden ein besonderes Verhältnis zwischen Beraterin und Ratsuchender, welches nicht durch Lenkung und Expertentum gekennzeichnet ist, eine sozialwissenschaftlich fundierte nicht psychopathologische Diagnostik und verstehende hermeneutische Interventionen. Beide Beratungsauffassungen, die feministische Beratung wie auch die pädagogische Beratung, so wie Mollenhauer und Müller (1965) oder auch Hornstein (1977) sie formuliert haben, haben deutliche Kritik an der Psychagogik und Fürsorgetradition auch im Bereich der Beratung geübt und auf Mündigkeit als Leitbild jedweder Pädagogik bestanden. Diese Verwurzelung in der Gesellschaftskritik gilt auch für die feministische Beratung, für ihre Kritik an der Therapie und an etablierten ärztlichen Beratungsauffassungen. Diese theoretischen Übereinstimmungen zwischen pädagogischer und feministischer Beratung finden allerdings in der Beratungspraxis keine Entsprechung. Hier bleiben die Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung quasi vor der Tür. Wie weit weg die Beratungspraxis und ihre Institutionen vom erziehungswissenschaftlichen Diskurs letztlich sind, lässt sich am Zeitabstand ablesen, der gebraucht wird, bis Erkenntnisse in die Praxis einfließen und hier übernommen werden. Für die Erziehungsberatung lässt sich konstatieren, dass das Thema der sexuellen Gewalt gegen Mädchen die etablierte Erziehungsberatung in ihrem professionellen Selbstverständnis getroffen hat, hat sie doch Material zum sexuellen Missbrauch in den Schilderungen ihrer Klientinnen lange übersehen und teilweise in geradezu dramatischer Weise falsch gedeutet. Auch traumazentrierte Ansätze zu schweren Adoleszenzkrisen von Mädchen spielen in der Erziehungsberatung nur am Rande eine Rolle. Eine systematische Reflexion des Verhältnisses von feministischem und erziehungsberaterischem Diskurs steht noch aus. Auch heute scheinen sich beide, Erziehungsberatung wie feministische Beratung, eher skeptisch gegenüber zu stehen. 140
Ebenso sind Verknüpfungen zwischen Berufsberatung und den Beratungsangeboten der Frauenbewegung zur Berufswahl und zur beruflichen Entwicklung eher selten. Zum Thema Vergeschlechtlichung der Berufswahl sind die Initiativen der Gleichstellungsbeauftragten in den Schulen, die Girls Days sicherlich hervorzuheben. Eine systematische Einbeziehung der These der Vergeschlechtlichung der Berufswahl findet in der Berufsberatung aber ebenfalls nicht systematisch statt, die sich nach Ostendorf (2005) allerdings mit existenziellen Problemen ihres Abbaus herumschlagen muss. Den größten Einfluss haben die Erkenntnisse der Geschlechterforschung sicherlich in der Sexualberatung. Hier finden sich die Rezeption feministischer Konzepte zur sexuellen Gewalt ebenso wie Diskurse zur sexuellen Differenz und ihre Umsetzung in Beratungskonzepten. Und letztlich lässt sich der Aufbruch im Bereich der Schwangerschaftskonfliktberatung ohne die Frauenbewegung nicht denken. Die folgenden Reflexionen werden nach diskursiv voneinander zu unterscheidenden Abschnitten differenziert. In einem ersten Schritt werden die Konzepte der feministischen Therapie und der § 218-Beratung vorgestellt. Dies gilt für die 1970er Jahre. Sodann wird die Diskussion um die Beratung von Gewaltopfern, sowohl im Bereich der Frauenmisshandlung als auch im Bereich der sexuellen Gewalt rezipiert. Für die 1990er Jahre werden Ansätze der Biografisierung von Beratung im Kontext von Berufsrückkehrerinnen-Beratung und anderen berufsbezogenen Beratungskonzepten für Frauen thematisiert. Den Abschluss der Reflexion bilden dann die Diskurse um geschlechtersensible Beratung im Kontext des Konstruktivismus nach dem Konzept von „doing gender“ und im Kontext modernder Gleichstellungspolitik im Sinne von Gender Main Streaming. 8.1 Die feministische Therapie, ein neues Beziehungsangebot für Frauen In wenigen Beratungsansätzen ist der Gedanke an Aufklärung und Mündigkeit, die Verknüpfung von Beratung mit Gesellschaftskritik, so konsequent formuliert worden wie in der feministischen Beratung. Es hat den Anschein, als würde gerade hier die Forderung der ersten Generation der pädagogischen Berater wie Mollenhauer/Müller (1965), Hornstein (1977) u. a., nach einer kritischen sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Fundierung von Beratung so konsequent umgesetzt wie hier. Die Institutionalisierung der feministischen Beratung wurzelt aber nicht in der Pädagogik, sondern in der feministischen Therapie bzw. in der Therapiekritik. Diese begann in der Bundesrepublik insbesondere durch die Arbeit von Chessler (1974) über „Frauen – das verrückte Geschlecht“ und Marie Luise Janssen-Jurreit (1974). Beide haben der Therapiekritik wichtige Impulse gegeben und die obrigkeit141
lichen Modelle im Arzt/Patienten-Verhältnis in deutliche Krisen gebracht. Therapien – insbesondere von Männern als Therapeuten durchgeführte Therapien, leisteten keine Hilfe zur Selbstbestimmung und Selbstfindung für Frauen – so die Kritik. Die Therapien seien vielmehr ideologisch und orientierten Frauen auf ein traditionelles Rollenverhalten und auf ein Frauenbild, dessen vornehmste Eigenschaften Passivität und Emotionalität seien. Das psychotherapeutische oder psychiatrische System setze dann ein, wenn Frauen aus der Rolle fielen. Einfühlung und Unterstützung würde von den meist männlichen Therapeuten verweigert, sie reagierten auf die Schilderungen von ihren Patientinnen als Männer – interessengeleitet, bezogen auf die Wiederherstellung einer geschlechtshierarchischen Ordnung. Marie Luise Janssen-Jurreit hat 1974 vor allem die Psychoanalyse scharf kritisiert und damit eine bis heute anhaltende Debatte innerhalb der psychoanalytischen Vereinigungen in Gang gesetzt. Sie nennt die Psychoanalyse schlicht eine Verstümmelungstechnologie für Frauen und greift vor allem das Konstrukt des weiblichen Penisneides, so wie Freud es vertreten hat, an. Die auch von Psychoanalytikerinnen vertretene These, Frauen zeichneten sich besonders durch Narzissmus und Masochismus aus, nennt Janssen-Jurreit eine Form von Gewalt. Kritisch und konfrontierend haben die Therapeutinnen vor allem mit dem psychoanalytischen Konstrukt der gesunden Weiblichkeit abgerechnet und damit neue Diagnostik und vor allem sozialwissenschaftlich fundierte Diagnostik für die Therapie eingefordert. Das Konzept der gesunden Weiblichkeit sei dem klinischen Bild der Depression beängstigend nahe. Die feministische Therapie zeichnet sich weiterhin besonders dadurch aus, dass sie soziologische, politische und historische Erkenntnisse in ihre Diagnosen einbezieht. Sie verwirklicht den Anspruch kritischer Therapieansätze dahingehend, dass Sozialisation, Vergesellschaftung und Erfahrung wichtige Zugänge zum Verstehen und Behandeln der Klientinnen sind. „Frauen sind nachgiebiger, leichter erregbar und schneller zu verletzen. Sie neigen eher zu Minderwertigkeitsgefühlen und depressiver Niedergeschlagenheit als Männer – das ist die gängige Meinung, wenn vom Ideal gesunder Weiblichkeit die Rede ist. Dagegen setzt die Frauenbewegung: Frauen leiden unter Zweitrangigkeit ihrer Arbeit, unter der Doppel- und Dreifachbelastung, der Entfremdung von ihrer Arbeit, den Menschen und von sich selbst. Frauentherapie muss daher mit der Sensibilisierung für die eigene Unterdrückung beginnen. Beste Waffe gegen depressive Symptome ist: erst einmal zornig werden.“ (Buchetmann/Ostermann 1978: 14) Die zitierten Aussagen verweisen auf eine Grundannahme des Feminismus, dass Beratung und Therapie Funktionen bei der Herstellung der Geschlechterhierarchie einnehmen und Frauen auf ihre traditionelle unterlegene Rolle verweisen bzw. sie dazu auffordern ihre unterlegene gesellschaftliche Position zu sexualisieren und libidinös und/oder narzisstisch zu besetzen. Im Sinne der Beziehungsanalyse von 142
Bauriedl zeigen die feministischen Ansätze die besondere Beziehungsspannung zwischen Beraterin und Klientin auf. Die Probleme der Klientin können danach die Beraterin unmittelbar ansprechen, in ihrer Frauenrolle und ihre Geschlechtszugehörigkeit treffen und entweder verstärkte Identifizierungen oder verstärkte Abgrenzungen auslösen. Allerdings ist das Thema der Abgrenzung in den Publikationen der ersten Generation von feministischen Beraterinnen nicht anzutreffen. Im Sinne eines Gegengewichtes zur traditionellen Therapie verpflichten sich die Beraterinnen einseitig auf das Beziehungsmodell der Identifizierung. „Wir erkannten, dass sowohl Klientin als auch Therapeutin trotz individuell unterschiedlicher Sozialisation in ihrem Wesen allein durch die Tatsache, eine Frau zu sein, gleichermaßen geprägt waren. Wir sahen ähnliche psychische Strukturen und wenn wir es wagten, ein Stück von der Hierarchie in der Therapie abzubauen, machte sich ein Gefühl tiefen Verstehens und Solidarität breit. Wir schlossen: ‚nur Frauen können Frauen verstehen’, und weiter, ‚nur Frauen können Frauen therapieren’.“ (Buchetmann/Ostermann 1978: 15) Im Rahmen der feministischen Therapie vollzog sich in den 1970er Jahren eine radikale Neudefinition auch des Therapieverständnisses. Beeinflusst von der humanistischen Psychologie definierten die Therapeutinnen ihre Beziehung zu ihren Klientinnen nicht mehr nach dem klassischen ärztlichen Modell. Die Abstinenz als grundlegende Regel jeder therapeutischen Beziehung wurde in Frage gestellt, an ihre Stelle treten in der Therapie bis dahin völlig unbekannte, anwaltliche und eher helfende Tugenden, die dem sozialarbeiterischen Beziehungsverständnis entstammten und advokatorisch buchstabiert sind, wie Identifizierung, Parteilichkeit und Solidarität. Diese geforderten Haltungen der Therapeutin gehen noch einmal hinaus über die Forderung von Rogers nach Wertschätzung des Klienten, nach Empathie, Authentizität und Zuwendung. Schließlich wird ein pädagogischer Gedanke in das Therapiekonzept der feministischen Therapie integriert: Aufklärung. Den Klientinnen soll kritische Aufklärung zu Teil werden. Sie sollen Gesellschaftskritik üben und einen Prozess der individuellen Bewusstwerdung durchlaufen. Die feministische Therapie will demnach eine Transformation des weiblichen Habitus erreichen und zwar durch: 1. Erkenntnisse zwischen Gesellschaftsformation und Normalidentität, 2. Hilfe zur Bewusstwerdung eigener Bedürfnisse, 3. Erkenntnisse in Bezug auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Krankheit bzw. abweichendem Verhalten, 4. Hilfe beim Aufbau und bei der Kulturnation alternativer Konfliktlösungen, Kommunikations- und Interaktionsformen. In den 1980er Jahren sind die Konzepte der feministischen Therapie verändert worden. Eine Reihe von Problemen hinsichtlich der Konzipierung, der ethischen Hal143
tung und der theoretischen Vorannahmen wurden sichtbar. Zum einen zeigte sich, bezogen auf die konkreten Beziehungen in Therapie und Beratung, dass auch die therapeutische bzw. beraterische Beziehung zwischen einer feministischen Beraterin und einer hilfebedürftigen oder ratsuchenden Klientin von Spannung beherrscht ist, die eine Identifizierung und Solidarität, eine Parteilichkeit für die Frauen schwer machten (Straub/Steinert 1986). So sind die Rollen und Verhaltensweisen von Müttern, deren Töchter sexuell missbraucht wurden, hinterfragt worden und die Vorstellung von Frauen als Opfer männlicher Gewalt und Dominanz wurde als polarisierend problematisiert. Frauen sollten als Handelnde begriffen werden, da sie ihre Lage nur durch eigenes Handeln verändern könnten. Nicht mehr die politische Skandalierung von patriarchaler Gewalt wurde dabei angestrebt, also die Einbeziehung von ratsuchenden und hilfesuchenden Frauen in die Aktionen der Frauenbewegung, sondern das alltägliche Handeln in heterosexuellen Geschlechterbeziehungen. Viele feministische Therapeutinnen, die mit großem Engagement für Frauen gearbeitet haben, mussten erkennen, dass Frauen auf tiefe und eigentümliche Art in die Geschlechtsverhältnisse, unter denen sie selbst litten, eingewoben und verstrickt sind. Aus den meisten Klientinnen sind, trotz der besonderen Beziehung und dem Aspekt der Aufklärung über die Geschlechtsverhältnisse in der feministischen Therapie, keine Mitstreiterinnen geworden und die Veränderung des Habitus von Frauen hat sich als schwierig erwiesen. Die feministische Therapie, die erfolgreich die patriarchale Ordnungsfunktion der Psychotherapie, deren tradierte und nicht valide Diagnoseinstrumente wie Neid, gelernte Hilflosigkeit, Rivalität und Minderwertigkeit kritisiert hat, ebenso wie die wenig authentische und unwirkliche Klientenbeziehung und schließlich die Ideologieproduktion der durchschnittlichen Psychotherapien zu Recht beschrieben und dekonstruiert hat, war vor größere eigene konzeptionelle Probleme gestellt, je mehr die Mikrostrukturen von Beratungsbeziehungen und Therapien von den Beraterinnen reflektiert worden sind. Die Beziehung zwischen den Frauen und ihren Beraterinnen oder Therapeutinnen, so zeigte sich, ist schwierig und durch einen traditionellen Geschlechterhabitus geprägt. Anfang der 1990er Jahre geht die schon mit ihren Thesen zur Mittäterinnenschaft bekannt gewordene Soziologin Thürmer-Rohr skeptisch und negativ bewertend mit den KlientInnen und NutzerInnen der Beratungseinrichtung der Frauenbewegung ins Gericht. Ihr Beitrag über die "Befreiung im Singular" von 1990 sieht in dem Beharren von Frauen auf ihren eigenen Opferstatus einen Ausdruck besonderen weiblichen Egozentrismus. „Alles was nicht als mein Leid, als meine Unterdrückung sofort erkannt werden könne, alles was nicht zur spontanen Identifikation einlade, sondern Abstraktion von der eigenen Befindlichkeit verlange und ein politisches Denken, würde in der Frauenbewegung faktisch ignoriert und versande“ (vgl. Thürmer-Rohr 1990). 144
Mit den 1990er Jahren sind eine Reihe von theoretischen Voraussetzungen der klassischen feministischen Therapie von den Vertreterinnen einer Theorie der Geschlechterverhältnisse dekonstruiert und neu bestimmt worden. In Zweifel wurde vor allem gezogen, ob die theoretischen Konzepte, auf die sich die feministische Therapie selbst bezieht, also ob das Konzept der Geschlechterrollen und das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation in ihrer Geschlossenheit tauglich für die Diagnose- und Behandlung von Frauen sind. Gefragt wurde ebenfalls, ob nicht Konzepte von Geschlechterverhältnissen anstelle der Annahme eines Patriarchats hilfreicher für das Verstehen sehr differenzierter weiblicher Lebenslagen und Lebenszusammenhänge sind. Große Bedeutung wurde den konstruktivistischen Geschlechtertheorien beigemessen, die vor allem das Handeln von Frauen unter der Perspektive des Doing Gender, also der handelnden Herstellung von Geschlecht, verstehen wollten. Heute steht die Doing-Gender-Perspektive an einer herausragenden Stelle im Verständnis geschlechtersensibler Beratungskonzepte. Geschlechtlichkeit hat im Rahmen des konstruktivistischen Paradigmas keine Essenz – weder hormonell, noch als Gestalt oder als sexuelle Fähigkeit, das Vorhandensein der Geschlechtsorgane selbst sei eine diskursive Hervorbringung. Der Eindruck der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit des Geschlechtskörpers selbst ist Effekt und Folge der Machtverhältnisse und permanenter soziologischer und kommunikativer Prozesse, die eben als Doing Gender beschrieben werden. Auf diese Weise wird der Körper sozial konstituiert. Diese Konstruktion steht in engem Zusammenhang mit der Zweigeschlechtlichkeit. Die Konstituierung des Geschlechtersubjektes erfolgt über die Beschreibung quasi unnormaler und hässlicher Entgleitungen. Indem Entgleitungen des Geschlechts als Perversion, Hässlichkeit, Unnatürlichkeit gesetzt werden, entsteht der normative Druck, eine Geschlechtsidentität im Sinne der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit auszubilden, während andere Identitätsangebote verworfen werden. Die Erkenntnisse um die Konstruktion von Geschlecht seit Beginn der 1990er Jahre haben die bis dahin wichtigen Konzepte zur Sozialisation von Frauen und zum Erlernen von Geschlechterrollen – beides wurde als Zwang und als Inkorporation der äußeren patriarchalischen Kultur verstanden, verdrängt. Auch wird Sozialisation im konstruktivistischen Konzept anders, nämlich als Diskurs, der sich in den Körper einschreibt, verstanden. Es ist den Geschlechterforscherinnen gelungen, zu verdeutlichen, dass es nicht um verändertes Rollenverhalten und Rollenlernen geht, auch nicht um eine Veränderung des Verhaltens in einem behavioristischen Sinn, sondern der Körper als Träger der Kultur steht im Mittelpunkt der Konstruktion von Geschlecht. Mit dieser Beschreibung von gesellschaftlichen Geschlechtsverhältnissen als Macht, die sich in den Körper einschreibt, wird klar, dass sehr starke und zumeist unbe-
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wusste Affekte wie Scham, Angst, Ekel die Grenzen des Habitus bestimmen und eine Veränderung kompliziert und schwer machen. Die therapeutischen und beraterischen Perspektiven des feministischen Konstruktivismus fokussieren konsequenterweise die Sprache und den Körper als kommunikativen Code. Hier können die Beraterinnen und Therapeutinnen an die Erkenntnisse des kritischen Sprachdiskurses von Senta Trömmel-Plötz (1985), Luise Pusch (1984) u. a. anknüpfen. In der Sprache manifestierten und spiegelten sich die Geschlechterverhältnisse. Die Reflexion des sozial geformten Körpers auf der Basis der Theorie von Mary Douglas (1994) über die zwei Körper – Gesellschaftskörper und Selbstkörper – verschafft neue Zugänge zum eigenen Körper und ermöglicht, sich den eigenen Körper wieder anzueignen. Die Neuformulierung der feministischen Therapie durch den Konstruktivismus steht noch am Anfang und ist nicht auf Therapie begrenzt. Auch im Bereich der Supervision, im Bereich der Bildungsberatung und der psychosozialen Beratung werden die theoretischen Grundlagen des Konstruktivismus für die beraterische und therapeutische Praxis wichtiger. Für die pädagogische Beratung sind nach wie vor die Anwendungsfelder der Berufsberatung im gesamten Berufszyklus, einschließlich der beruflichen Beratung von Professionellen und Führungskräften im Bereich Supervision, Coaching und Mobbingberatung bedeutend. In der Erziehungsberatung ist eine Bestimmung des Verhältnisses von feministischer Theorie und Erziehungsberatung überfällig. In der Sexualberatung sind die Erkenntnisse der feministischen Therapie und Beratung am deutlichsten institutionalisiert (Pro Familia, Aids-Hilfe, Mädchenberatungsstellen), weil hier die Grenzen der heterosexuellen Lebensentwürfe und des heterosexuellen Begehrens seit geraumer Zeit in Frage stehen. 8.2 Die Beratung nach § 218 StGB Die Geschichte der Beratung um den § 218 ist eng verknüpft mit den großen gesellschaftlichen Kontroversen um den Schwangerschaftsabbruch, der Beratung über Empfängnisverhütung, der Sexualpädagogik und Sexualaufklärung auf der einen Seite, sowie mit Beratungsstellen für Schwangere in Not, Mutter-Kind-Hilfen und Mütterberatung auf der anderen Seite. Die Kapitel über die Geschichte der Pro Familia haben aufgezeigt, dass es bei der sexualpädagogischen Beratung in den 1950er und 1960er Jahren zunächst um eine Verhinderung der Abtreibung – Bekämpfung der „Abtreibungsseuche“ – durch die Vergabe und Beratung im Zusammenhang mit empfängnisverhütenden Mitteln ging. Im Kontext der Beratungsstellen zum § 218 hat sich diese Ausrichtung verlagert. Beratungsstellen im Zusammenhang mit dem Paragrafen 218 sind sowohl Sexualberatungsstellen als auch 146
Sozialberatungsstellen geworden, deren Beratungsziele zunehmend dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Stabilisierung der Schwangerschaft und der ersten Zeit nach der Geburt durch soziale Hilfen für Mutter und Kind dienen. Diese sehr gegensätzlichen Beratungsziele – Unterstützung der ratsuchenden Frau bei der Suche nach der richtigen Entscheidung und Hilfen für Mutter und Kind, stehen im Fall des Schwangerschaftskonfliktes in Konkurrenz. Ein Weg muss gesucht werden, die konkurrierenden Rechte in einen Einklang zu bringen. Der Gesetzgeber hat diesen Weg als Beratung konzipiert und damit eine schwierige und kontroverse Situation geschaffen, die sich durch sich verändernde Gesetzeslagen immer wieder ändert. Geregelt wird die Beratungspflicht im § 218b und im §219 StGB, welche besagen, dass eine Frau nur dann straffrei abtreiben darf, wenn sie eine Beratung in einer gesetzlich anerkannten Beratungsstelle durchlaufen hat und ein Gutachter ihr die Indikation bestätigt. Seit 1976, seit der Einführung der Indikationsregelung bei Schwangerschaftskonflikten, ist vor allem diese Pflichtberatung oder Zwangsberatung immer wieder politisches Thema und gesellschaftlicher Konfliktherd. In fast jeder Legislaturperiode hat sich zudem der Rahmen der Schwangerschaftskonfliktberatung verändert und ist neu bestimmt worden, meist zugunsten einer Fortsetzung der Schwangerschaft. Neben den Bundesgesetzen spielt für die Ausgestaltung der Beratung die Situation in den Bundesländern eine wichtige Rolle, entscheiden sie doch über die personelle Ausstattung von Beratungsstellen und Zulassungen indirekt mit. So können Beratungsstellen bestimmter Träger bevorzugt und andere nicht zugelassen werden. Dies ist Praxis in den Bundesländern und begünstigt den so genannten „Abtreibungstourismus“. Für das Thema dieser Arbeit bedeutend ist vor allem die Diskussionen des Verhältnisses von Beratung und Freiwilligkeit, d. h es geht um den Kontext von Beratung, die nicht freiwillig erfolgt, aber gleichsam absolviert werden muss und wirksam sein soll. Die Diskussion um die Beratung nach § 218 folgt unterschiedlichen Konjunkturen. So waren die 1970er Jahre geprägt von einer aktiven feministischen Frauenbewegung, die vor allem das Ziel der Selbstbestimmung der Frau in Bezug auf Schwangerschaft und Mutterschaft verfolgte. Daneben traten liberale, sozialdemokratische, sozialistische und fortschrittlich-bürgerliche Strömungen auf, denen es vor allem um die Verhinderung von nicht sterilen illegalen Schwangerschaftsabbrüchen ging. Ihre Argumentation war, dass eine zum Abbruch entschlossene Frau sich durch kein Gesetz und keinen gesellschaftlichen Druck von ihrer Entscheidung abbringen lassen würde und der Zwangscharakter der Beratung den Frauen eher den Weg in die Illegalität oder ins Ausland weise. Anfang der 1970er Jahre organisierte eine feministische Frauenbewegung Aktionen gegen den § 218, vor allem Fahrten nach Holland, welches über eine liberale Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verfügte. Die Auseinandersetzung um die Fristenregelung ab Mitte der 1970er Jahre, die Verfassungsklage des Landes Bayern und das Urteil des Verfassungsgerichts 147
gegen die Fristenregelung, sowie die Einführung der Indikationsregelung veränderte die öffentliche Diskussion um den § 218. Vor allem die sozialdemokratische, gewerkschaftliche und bürgerlich-liberale Frauenbewegung setzte auf konkrete Umsetzung der Indikationsreglung und versuchte regional ein Netz von Unterstützungsstrukturen für Frauen in Schwangerschaftskonflikten so zu schaffen, dass illegale Abtreibungen mit ihren hohen Gesundheitsgefährdungen für Frauen vermieden werden konnten. Auch die Beratungsstellen reagierten ambivalent auf die Indikationsregelung, denn diese und mit ihr die Einführung der Pflichtberatung, versprach den Beratungsstellen staatliche Gelder und eine Stärkung der psychosozialen Beratung insgesamt. Trotzdem hat seit den 1970er Jahren die Kontroverse um die Beratung nach § 218 StGB nicht aufgehört. Um sich die Bedeutung der Indikationsregelung und das Dilemma der Beratung vor Augen zu führen, ist es nötig, sich die großen Kontroversen in den 1970er Jahren klar zu machen. 1974 schreibt der Soziologe Norbert Martin zur Beratung in Schwangerschaftskonflikten: „Jeder Frauenarzt weiß aus der Praxis, dass der Wille zum Kind bei der Frau oft mit der realen Existenz des Kindes unmittelbar gekoppelt ist. Manche Mutter könnte sich heute ihr Leben ohne ein solches Kind, das sie anfangs nicht gewollt hat, nicht mehr vorstellen. Die Frau ist in der Phase der Schwangerschaft, insbesondere in der ersten Zeit, seelisch-emotional besonders labil. Folgt eine abtreibungswillige Frau in dieser Phase dem sanften Zwang eines verantwortungsbewussten beratenden Arztes, so zeigt die Erfahrung oft, dass sie später glücklich ist, diesem sanften Zwang gefolgt zu sein, weil sie hinterher das von ihr geborene Kind mit der ganzen Kraft ihrer fraulichen Emotionalität aufnimmt.“ (Martin 1974, 222) Norbert Martin bezieht sich auf eine Studie nach der 80 Prozent von zum Abbruch entschlossene Frauen von ihren Ärzten dazu bewegt werden konnten, sich für die Schwangerschaft zu entscheiden und betont umgekehrt, die großen psychischen Risiken, die Frauen trügen, die eine Schwangerschaft abgebrochen hätten. Entsprechend dieser von ihm so konstruierten Situation räumt Martin (1974: 222/223) der Beratung einen wesentlichen Stellenwert ein. Er spricht von einer „ungeheuren Bedeutung der Beratung“ (Martin 1974: 223) und meint hier vor allem die ärztliche Beratung, die das Ziel hat, die Frauen von einer Fortsetzung der Schwangerschaft zu überzeugen. Martin befürchtet angesichts der sich abzeichnenden Reform zum § 218, dass die Institution Beratung sich völlig ändern könnte und der Berater nicht mehr mit Nachdruck eine Fortsetzung der Schwangerschaft fordern könnte, sondern „sich im Wesentlichen als ‚Bestätiger’ staatlich sanktionierter Praktiken“ ansehen könnte. Damit räumt Martin der Haltung, dem Beratungsverständnis und der beraterischen Intervention einen zentralen Stellenwert bei der Reform des § 218 ein. Das sittliche Bewusstsein der Bürger würde von den geltenden Rechtsnormen stark beeinflusst, so Martin (1974: 224), gleichzeitig sei die öffentliche Moral immer 148
etwas liberaler als Funktion der Norm. Abtreibung könnte zum „Kavaliersdelikt“ werden oder sich an der Normativität des Faktischen orientieren. Martin fürchtet, dass die Reform des § 218 dazu führen könnte, dass nicht mehr klar sei, „wo der Unterschied zwischen straffrei und erlaubt verlaufen würde“ (Martin 1974: 224). Die Positionen des Soziologen Norbert Martin zeigen auf, dass dieser sich Beratung vor allem als ärztliche Beratung denkt und ihr eine mikropolitisch wichtige und steuernde Funktion einräumt. Deshalb müsse, so Martin, Beratung im Rahmen des § 218 Zwangsberatung sein, im Sinne eines Zwanges zum Fortsetzen der Schwangerschaft. Hierbei kommt dem Arzt die Stellung des Schützers und Anwalts des ungeborenen Lebens zu. Mit seiner Autorität sorgt er für die Fortsetzung der Schwangerschaft und damit gleichzeitig für die Erfüllung der Frau, denn Martin lässt keine Zweifel daran, dass die seelisch labilen Zustände der Frauen während der Schwangerschaft eine Art eingeschränkter Mündigkeit nach sich ziehen. Die hohe Bedeutung der Konzipierung von Beratung als ärztlicher Beratung mündete dann in die Doppelspurigkeit der Indikationsregelung. Zum einen mussten sich die Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt von einem staatlich anerkannten Gutachter bescheinigen lassen, dass eine Indikation auf sie zutraf (§ 219 StGB), zum anderen schloss sich bei vorliegender Indikation eine eigenständige Beratung an: und zwar über die medizinischen Gesichtspunkte des Schwangerschaftsabbruchs wie auch über die sozialen Gesichtspunkte. Die ratsuchende Frau muss sich über Hilfen psychischer und sozialer Art beraten lassen, die eine Austragung der Schwangerschaft ermöglichen sollten. Die soziale Beratung wurde zunächst in einem Modellprogramm staatlich anerkannter Beratungsstellen gefördert, alternativ kann auch von einem Arzt die Beratung durchgeführt werden, sofern er als sozialer Berater anerkannt ist. Schließlich kann nur ein weiterer Arzt den Schwangerschaftsabbruch durchführen. Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung haben die konkrete Institutionalisierung der Indikationsregelung einen Hindernislauf (vgl. Frauenaktion Dortmund 1976: 62) genannt. In einer typischen Publikation dieser Zeit (vgl. FAD 1976) gehen sie an Hand von Fällen, vor allem mit der Praxis der ärztlichen Beratung, ins Gericht. Die Autorinnen, die Fälle zum Schwangerschaftskonflikt und zum Schwangerschaftsabbruch unter den Bedingungen des alten Rechts erhoben, kritisieren vor allem das Verfahren, in dessen Mittelpunkt die Ärzte stehen. Nach dem alten Gesetz zum § 218 müssen drei von einander unabhängige Ärzte und schließlich eine von der Ärztekammer bestellte Gutachterkommission über den Antrag auf Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Dies wurde nur genehmigt, wenn die Schwangere mit Suizid gedroht hat oder eugenische Indikatoren vorgelegen haben. Allein aus sozialer Not wurde keinem Antrag auf Schwangerschaftsabbruch stattgegeben. Die Verfasserinnen stellen in diesem Zusammenhang einen Fall vor, in dem eine erblindete Frau einen Antrag stellt, eine Schwangerschaft abzubrechen, nach149
dem sie schon vierfache Mutter ist. Dieser Antrag wird von der Ärztekammer abgelehnt. Die ausführliche Darstellung des Falles zeigt auf, dass die beschriebene Beratungsauffassung von Ärzten und ihr Selbstverständnis, auf die Schwangeren „einen sanften Zwang auszuüben“, mit einem professionellen Beratungsverständnis kaum zu vereinbaren ist. Eine eigenständige nicht-ärztliche, psychosoziale Beratung im Kontext der Schwangerschaftskonfliktberatung, ist durch die Indikationsregelung schließlich im Gesetz verankert worden. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber Modellberatungsstellen für Schwangerschaftskonfliktberatung, Sozial- und Sexualberatung gefördert und dadurch eine neue Beratungspraxis institutionalisiert, die einem nichtklinischen und zunehmend sozialwissenschaftlich fundierten Leitbild folgt. Diese vielleicht nicht intendierten Folgen der Beratung zum § 218 sind die eigentlich größten Veränderungen, denn auch wenn das Abtreibungsrecht aufgrund der engen Indikationsregelung die Fortsetzung der Schwangerschaft in den Mittelpunkt der Beratung stellt, so ist die Institutionalisierung der Beratung außerhalb und unabhängig des ärztlichen Einflusses die eigentlich wichtige Veränderung. Mit den sozialwissenschaftlich ausgebildeten Beraterinnen, wie Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen oder auch Psychologinnen veränderte sich das diagnostische Spektrum zu einer stärkeren Berücksichtigung der sozialen Lebenslage der ratsuchenden Frauen. Da vor allem Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen in die Beratungsfelder eingedrungen sind, kam es seit den 1970er Jahren zu einer Verschiebung der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Beratung. Während im ärztlichen Beratungsmodell der Berater meist männlich ist und dadurch in der Schwangerschaftskonfliktberatung das klassische Geschlechterverhältnis reproduziert wird, ist es bei der Berufsgruppe der Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen wahrscheinlich, dass eine ratsuchende Frau auf eine Frau als Beraterin trifft. Dieses identifizierungsfördernde Setting dürfte die Lebenslage von Frauen stärker berücksichtigen als das klassische ärztliche Setting. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre änderte sich die Strategie der Frauenbewegung und der pro Familia, bezogen auf die Schwangerschaftsberatung nach § 218, stärker in eine Verbesserung der institutionellen Voraussetzungen. Die zunächst deutliche institutionelle Trennung von Beratung und Abbruch sollte zumindest räumlich verbunden werden, wofür Pro Familia mit dem Konzept der Familienplanungszentren eintrat. Der „Hürdenlauf“, so die Beraterinnen, sollte unterbrochen werden, die ratsuchenden Frauen sollten die Gewissheit haben, dass mit erfolgter Beratung auch ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der gleichen Institution erfolgen konnte und nicht erst extern ein dazu bereiter Arzt bzw. eine Ärztin gesucht werden musste. Auch sollte die Zeit zwischen der ersten Beratung im Familienplanungszentrum und dem Schwangerschaftsabbruch nur so lang sein, wie der Gesetzgeber forderte, um den Frauen zusätzlichen Stress zu ersparen. In der föderalen politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland gestaltete sich die Si150
tuation für Frauen in Schwangerschaftskonflikten unterschiedlich, je nachdem ob sie in Norddeutschland oder Süddeutschland, in der Stadt oder auf dem Lande lebten. Gleichwohl reagierte die Politik auf die Forderung nach Familienplanungszentren ambivalent. Sie wurden lediglich vereinzelt institutionalisiert. Mit den ersten statistischen Auswertungen und der hohen Bedeutung der Notlagenindikation zu Beginn der 1980er Jahre, vor allem aber mit dem Politikwechsel 1982, institutionalisierten sich neue Veränderungen, welche die Schwangerschaftskonfliktberatung besonders betrafen. An herausgehobener Stelle steht die 1984 begründete Bundesstiftung Mutter und Kind, eine Initiative des Arbeitnehmerflügels der CDU, die finanzielle Zuwendungen gewährt, wenn Frauen in materielle und soziale Not geraten, die Schwangerschaft aber fortsetzen wollen. Der damalige Familienminister Heiner Geißler hat mit der Gründung der Stiftung „Mutter und Kind“ auf die hohe Abtreibungsquote wegen sozialer Notlage politisch reagiert. Die Schwangerschaftsberatungsstellen waren von nun an verpflichtet, im Rahmen der Pflichtberatung nach § 218b StGB, die Mittel der Bundesstiftung vorzustellen und mit der Schwangeren zu prüfen, ob die Erleichterungen durch die Bundesstiftung eine Fortsetzung der Schwangerschaft möglich machen. Hinzu trat die Pflicht der Beraterinnen die Schwangeren auf die Möglichkeit einer Adoption hinzuweisen. Unbestritten ist der große Erfolg der Bundesstiftung Mutter und Kind, deren Mittel häufig nicht ausreichten, um die Nachfrage nach Hilfe zu befriedigen. Für die Beraterinnen stellte sich nun ein neues Beratungsdilemma: zum einen lehnten viele Beraterinnen die Hilfen der Bundesstiftung als nicht sachgerecht ab, zum andren sahen sie sich aufgrund der hohen Nachfrage aber gezwungen, eine verbesserte Absicherung der Nachfrage, also mehr Rechte auf Hilfsmittel für die schwangeren Frauen, zu fordern. Pro Familia lehnte es schließlich ab, die Mittel der Bundesstiftung zu beantragen, da die Frauen keinerlei Anspruch auf diese Mittel hätten und die Mittel nur so lange vergeben werden könnten, bis sie aufgebraucht seien. Seit den 1980er Jahren veränderte sich der Rahmen für die Beratung nach § 218b StGB immer wieder. So sollten die ratsuchenden Frauen deutlicher zu einer Fortsetzung der Schwangerschaft ermuntert werden, was bedeutet, dass die Beratung nicht mehr der Findung einer angemessenen Entscheidung dient, sondern der Fortsetzung der Schwangerschaft. Neben der Möglichkeit zur Adoption sollten die Frauen über die Risiken, auch die Spätrisiken, eines Schwangerschaftsabbruches aufgeklärt werden. Schließlich sollte auch das soziale Umfeld in die Beratung einbezogen werden, vor allem die Erzeuger/Väter der Kinder sollten angehört, ihre Position in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Der Wunsch jedoch, die Abtreibungszahlen nachhaltig zu senken, ist durch die Veränderung der Beratungsvorgaben nicht gelungen. Allerdings werden die Fülle an Vorgaben und Regelungen zur Schwangerschaftskonfliktberatung heute für die Beratung kontraproduktiv angesehen und vor allem von den Beraterinnen und 151
Beratern kritisch eingeschätzt. Viele Beraterinnen vertreten zudem deutlich eine Haltung, in der sie die Beratung nicht als verlängerten Arm des politischen Willens ansehen, sondern als einen psychosozialen Freiraum, der letztlich uneinnehmbar und durch die Würde der Frau bestimmt und gesetzt ist. Beraterinnen und Berater haben auch im Rahmen der Pflichtberatung zum § 218b StGB ihre eigenen professionellen Grundsätze entwickelt, die sie als ethische Leitbilder und nicht verhandelbare Essenzen einer wissenschaftlich fundierten und professionell gestalteten Beratungsbeziehung nicht zur Disposition stellen wollen. 8.3 Gewalt gegen Frauen Mit dem Diskurs zur Gewalt gegen Frauen wurde auf der Ebene von Politik und Theorie ebenfalls in den 1970er Jahren eine Theorie der soziologischen Eigenständigkeit der Frauendiskriminierung und Benachteiligung, sowie der Gewalt gegen Frauen auch in modernen Gesellschaften in der Bundesrepublik, begründet. Die feministische Theorie löste Vorstellungen ab, dass es sich bei der Diskriminierung von Frauen um traditionelle Reste handeln würde, die sich mit dem gesellschaftlichen Fortschritt von selbst erledigten oder um einen „Nebenwiderspruch“. Als Theorie bildende Elemente erwiesen sich zum einen die Rezeption und Übersetzung des Begriffs der strukturellen Gewalt in der Friedens- und Konfliktforschung auf die Situation von Frauen, zum anderen brachte die Frauenbewegung Erfahrungen und Berichte über bis dahin tabuierte Themen wie Frauenmisshandlung in der Ehe, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung im Beruf und sexueller Missbrauch von Mädchen an die Öffentlichkeit. Über diese Themen haben sich in der Frauenbewegung Gesprächs- und Selbsthilfegruppen für Frauen gegründet, die bald in Forderungen nach einer besonderen Beratung der Opfer und einer opferorientierten Therapie mündeten, da traditionelle Therapien – so die Kritik der Frauenbewegung – eher Normalisierungs- als Trauer- und Befreiungsarbeit leisteten. Diese Forderung nach einer eigenständigen Hilfe- und Beratungskonzeption für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden waren, traf insbesondere für Diplompädagoginnen auf Professionalisierungsprobleme und Verwertungsprobleme ihrer Studienabschlüsse. In den 1980er Jahren entwickelten sich, getragen von der Frauenbewegung, eine Fülle von lokalen Initiativen und Einrichtungen für Frauen, die im Bereich der Pädagogik angesiedelt waren. Herrad Schenk (1990) hat in Bezug auf die Frauenbewegung in der alten Bundesrepublik von Konjunkturen und verschiedenen Phasen der Organisation gesprochen. So nennt sie die Entwicklung in den 1980er Jahren eine Wende: weg von den Aktionen hin zu den sozialpädagogischen Projekten. Weiterhin spricht Krautkrämer-Wagner (1988) von einer Entwicklung: von der Autonomie hin zur Verstaatlichung der Frauenfrage. Eine dritte Geschlechterforscherin ist in diesem 152
Zusammenhang die Gruppenanalytikerin und Sozialwissenschaftlerin Margit Brückner (1986,/1987), die sich zum einen mit dem Problem der Institutionalisierung der feministischen Beratungsstellen und Frauenprojekte befasst hat, zum anderen hat Margit Brückner mehrere wichtige Arbeiten zum Habitus von geschlagenen Frauen publiziert, die es den Beraterinnen in den Beratungsstellen für Misshandlungsopfer möglich machen, die Bindung der misshandelten Frauen an ihre Misshandler zu verstehen und zu interpretieren, ohne die These von der Mittäterschaft, der „Ko-Position“ und „Koproduktion“ und der „passiven Komplizin“ zu verfallen. In Bezug auf den Diskurs über Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist heute die Forschungsarbeit von Sandra Glammeier (2009) hervorzuheben. Sandra Glammeier widmet sich in ihrer Arbeit ebenfalls der Handlungsebene der Frauen, die von ihren Partnern und Ehemännern zum Teil seit langer Zeit und zum Teil massiv geschlagen und misshandelt werden. Im Sinne der sozialkonstruktivistischen Theorie von Berger/Luckmann (1965) beschreibt Glammeier die Gewalt gegen Frauen sozialkonstruktivistisch als Institution und verwendet die Berger/Luckmanns Theorie von Institutionalisierung und Sozialisation für einen vertieften Verstehenszugang. Die Interpretation von Gewalt als Institution wird erhärtet durch die Rechtstradition in der Bundesrepublik und vielen anderen Ländern, durch die ungleichen Rituale der kirchlichen Eheversprechen, durch die Funktionssysteme von Verwaltung, Arbeitsleben und Alltag, sowie das vorwissenschaftliche Wissen, welches für Institutionen und ihre Stabilität besonders wichtig ist. Als Akteure sind Frauen eingewoben in die Bedeutungssysteme ihrer Gesellschaft und spinnen durch ihr Handeln diese Bedeutungsgewebe weiter. Das von der feministischen Frauenbewegung geforderte emanzipierte Handeln verlangt von ihnen, diese Bedeutungsgewebe zu zerstören, wodurch auch solche Dimensionen zerstört werden müssten, die als gut und haltend erfahren wurden. Eine zweite Säule des Theoriegebäudes von Sandra Glammeier ist die Anerkennungsphilosophie. Eine ihrer Ausgangspunkte dabei ist, dass Frauen und Männer sich auf unterschiedliche Sphären der Anerkennung beziehen, um ihre Identität zu rechtfertigen. Während die modernen bürgerlichen Männer sich primär auf die Anerkennungssphäre des Rechtssubjektes und der sozialen Wertschätzung im Sinne von Ehre und Ehrbarkeit als männliche Tugend beziehen, bewegen sich Frauen deutlicher in der Anerkennungssphäre der Liebe und Bindung. Ihre Tugenden sind auf die Liebe bezogen (Brückner 1987). In einer Reflexion über das Verhältnis von Gerechtigkeit und affektiver Bindung verweist Honneth (1995) darauf, dass diese Anerkennungssphären in der Philosophie, die ebenfalls als Institution beschrieben werden kann, nicht interdependent sind, sondern als sich ausschließend gedacht werden. So kommen Kant und Hegel in Bezug auf das Verhältnis beider Anerkennungssphären zu der Vorstellung, dass die Gerechtigkeit das Ende der Liebe ist (Hegel), während Kant die Liebe für zu flüchtig und unberechenbar hält und sich 153
auch innerhalb der Ehe auf Gerechtigkeit als maßgebliche Anerkennungsform beziehen will. Honneth fordert hingegen für moderne Gesellschaften die Interdependenz beider Anerkennungsformen. Sandra Glammeier zeigt nun anhand ihrer Dissertation auf, dass Frauen die Gewalt von Männern in ihrer häufigsten Ausprägung, also Demütigung, Eifersucht, Kontrolle und Beobachtung nicht als Angriff auf ihre Rechtssubjektivität wahrnehmen, sondern auf der Basis der Anerkennungssphäre, in welcher sie sich bewegen, also als Verletzung der Liebe interpretieren. Der Gewaltzirkel besteht entsprechend nicht aus einer gelernten Hilflosigkeit, eine Komplizenschaft oder eine KoBeziehung der Frau, sondern aus, wie Sandra Glammeier sagt, einem „Kampf um Anerkennung“. In diesem Rahmen kämpfen sie um Anerkennung ihrer Subjektivität und halten gegebenenfalls auch die Gewalt aus, aber ohne sie zu tolerieren oder hinzunehmen bzw. zu akzeptieren. Axel Honneth hat in Bezug auf die Anerkennung als Rechtssubjekt dabei hervorgehoben, dass in modernen Klassengesellschaften Gleichheit und Ungleichheit in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen (Honneth 1992). So existiert in Klassengesellschaften eine gestufte Anerkennung und unterschiedliche Grade von Wertschätzung im Hinblick auf die Leistung und die Arbeit einer Person. Während die Menschen als Rechtssubjekte in der bürgerlichen Gesellschaft über eine unteilbare Würde verfügen, ist ihre Wertschätzung abhängig vom sozialen Ort und der sozialen Lage, in der sie sich befinden. Diese Gleichheit im Recht aber Ungleichheit in Bezug auf die Mitgliedschaft in einer sozialen Klasse führt, nach Honneth, immer in Anerkennungsfähige, deren moralischer Kern für ihn außer Zweifel steht. In traditionellen Gesellschaften, so Honneth, sind Wert und Würde zudem fusioniert gewesen. Eine vom Wert unabhängige Würde als Rechtssubjekt hätte nicht existiert. Die Gleichheit aller (männlichen) Rechtssubjekte sei erst mit den bügerlichen Revolutionen schrittweise durchgesetzt worden. In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ist es eine gesicherte Erkenntnis, dass die Frauen lange nach der Durchsetzung der Rechtsgleichheit um ihre Anerkennung als Rechtssubjekte streiten mussten und bis heute streiten. Ihre Leistung und ihre Arbeit werden gering geschätzt. Arbeiten, die von Frauen getan werden, verlieren an gesellschaftlichem Prestige und öffentlicher Wertschätzung, weil sie von Frauen getan werden. Im Geschlechterverhältnis fusionieren – institutionell – um es mit Glammeier auszudrücken, also Wert und Würde in vordemokratischer Weise. Institutionell ist eine gestufte Anerkennung im Geschlechterverhältnis entstanden, die Frauen zum einen als die Niedrigeren, zum anderen als die Anderen ausweisen. Die Misshandlung von Frauen, die Sandra Glammeier richtig als Institution beschreibt, stellt Frauen in Bezug auf die Durchsetzung ihrer Anerkennung vor größere Dilemmata und selbst paradox. Die Gesellschaft, die bis dahin die gestufte Anerkennung als natürliche Ordnung 154
verteidigt hat, verlangt nun von den Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden, sofort und schlagartig, sich auf ihre Gleichheit als Rechtssubjekt zu beziehen, den schlagenden Mann zu verlassen, und sich selbstständig zu machen. Sie hält zudem eine Fülle von alten und neuen Deutungsmustern in Bezug auf das Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern bereit, welches dieses als natürlich rechtfertigt. Dazu ist eine eigentümliche Psychologie der Frau entworfen worden – wiederum eine Institution – die ihren Ausgangspunkt in der Anerkennungssphäre der Liebe hat (Rhode-Dachser 1993). Die Frau ist masochistisch, hier ist die Liebe die Lust am Gequält werden oder hat eine gewisse Hilflosigkeit gelernt, hier besteht die Liebe in der Passivität und dem Wunsch sich vom Mann beschützen zu lassen, sie ist Akteurin eines Spiels von Opfer und Täter oder gar Komplizin und/oder Koproduzentin der Gewalt, hier besteht die Liebe in einer Verstrickung und Erstarrung einer früheren lustvollen Komplementarität (Willi 1975). 8.4 Beratung im Frauenhaus Für die Beratung von geschlagenen und misshandelten Frauen spielt die Institution der „Psychologie der Frau“ eine große Rolle, denn die Beraterin erlebt während ihres Kontaktes mit der misshandelten Frau Verhaltensweisen, die für die Beraterin beunruhigend und irritierend sind. Hervorzuheben sind an dieser Stelle solche qualitativen Forschungsarbeiten, vor allem im Kontext der Geschlechterforschung, die sich mit diesen irritierenden Verhaltensweisen von misshandelten Frauen befasst haben: ihren Bindungen an ihre schlagenden Männer, die Trennung und Wahl eines neuen Partners, der wiederum große Ähnlichkeiten mit dem früheren Partnern aufweist, die Aggressivität und Dominanz der Frauen gegenüber den Kindern, ihre Sexualisierungen und vieles mehr. All dies hat zu großen Konflikten im Frauenhaus geführt und immer wieder zur nicht reflektierten Gegenübertragung, Projektion und zur Abwehr innerhalb der Beratung von misshandelten Frauen. Hinzu kam die Lebensgeschichte, der Habitus und die Überzeugungen und Denkweisen der feministischen Beraterinnen, die sich bei aller Solidarität und Parteilichkeit mit den ratsuchenden Frauen als anders erlebten und die Erfahrung großer Differenz machen mussten. Diese Beratungserfahrungen widersprechen nicht nur der Idee der Parteilichkeit und Identifizierung mit der Klientin als ethische Norm der feministischen Therapie, sie bergen auch die Gefahr einer moralischen Verurteilung der Klientin und einer Flucht in Deutungsmuster, die entweder der „Psychologie der Frau“ entstammen oder der politischen These der Mittäterinnenschaft, wie sie z. B. Christina Thürmer-Rohr (1990), Frigga Haug (1982) oder Karin Windaus-Walser (1988) formuliert haben. Vor allem die letztgenannten Positionen setzen bei der politischen 155
Mündigkeit der Frauen, an ihrer Rechtssubjektivität und moralischen Verantwortlichkeit an. Schon zu Beginn der 1980er Jahre, zum Beispiel in diesem Zusammenhang, hat Frigga Haug das Konzept der Erinnerungsarbeit entworfen (Haug 1982). Dieses Konzept weist große Ähnlichkeit mit dem foucaultianischem Konzept der Hermeneutik des Subjektes auf, in deren Mittelpunkt die Selbstsorge steht. Emanzipation ist verbunden mit der Bereitschaft zur Selbstreflexion und der Bereitschaft zur Erinnerungsarbeit, so wie Frigga Haug (1982) dies entworfen hat. Bevor die Mikrostrukturen der Beziehung im Kontext der Beratung von misshandelten Frauen und die Neuformulierung von Beratungskonzepten vorgetragen werden, soll ein kurzer Blick in die Geschichte der Institutionalisierung der Beratung von misshandelten Frauen den Beratungskontext noch einmal klären helfen. Die Entwicklung von Beratungskonzepten ist, ähnlich wie die feministische Therapie, stark geprägt durch die Frauenbewegung in der Bundesrepublik, durch ihre Aktionen und ihr öffentliches Engagement. Besonders verbunden ist die soziale und beraterische Arbeit im Frauenhaus, verbunden mit den Forschungen von Carola Hagemann-White, die schon in den 1970er Jahren Grundsätze für die Arbeit im Frauenhaus formuliert hat. Hagemann-White (1979) benennt die Sensibilisierung der Sozialarbeiterinnen und Beraterinnen für die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen als Kontext für die Arbeit, die Gestaltung einer sozialpädagogischen Beziehung in der Weise, dass Frauen nicht als Versagerinnen und als Sozialisationsbedürftige definiert werden, sondern als durch patriarchalische Vergesellschaftungsformen geprägte Gruppe und für den Aufbau eines besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Mitarbeiterinnen des Frauenhauses und misshandelten Frauen, wozu insbesondere ein Nichtbehördencharakter gehöre, sowie der Verzicht einer Hierarchie. In der von Hagemann-White mitgeprägten Tradition der feministischen sozialen Arbeit im Frauenhaus, die sich eng an die Ethik und das Wertsystem der feministischen Therapie anlehnt, beschreibt Monika Bösel (1989) ihren Entwurf zur frauenorientierten sozialpädagogischen Beratung nach einem Aufenthalt im Frauenhaus. Die Frauenbewegung hat gegen Ende der 1980er Jahre die Frauenhäuser institutionell durchgesetzt und mit der Differenzierung ihres Angebotes für misshandelte Frauen begonnen. Auch die Institutionalisierung eigener Beratungsangebote für Frauen, die aus dem Frauenhaus in eine eigene Wohnung einziehen, aber noch begleitet werden sollen, da ihre Lebensschwierigkeiten sich meist als ziemlich umfassend herausgestellt hatten, gehört dazu. Im Kontext eines Modellprojektes über eine Beratungsstelle reflektiert Monika Bösel über Beratungsgrundsätze in der Lebensphase nach dem Frauenhaus. Sie nennt Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne eines Anknüpfens an die Erfahrungen im Frauenhaus, Ganzheitlichkeit im Sinne der Hilfe in einer Hand, zur Vermeidung des Eindrucks, Frauen würden von einer Stelle zur anderen weitergereicht und eine besondere Beratungsbeziehung als wichtige Ziele. 156
Anknüpfend an die Begründerin der englischen Frauenhausbewegung Erin Pizzey entwirft Bösel eine Art charismatisch-professionelles Beratungskonzept. Sie nimmt einerseits die Grundsätze der feministischen Therapie auf, eine nicht hierarchische und nicht instrumentelle gleiche und solidarische Beziehung zu den Frauen einzugehen, andererseits buchstabiert sie eine professionelle Rolle mit Elementen der „Abstinenz“ und „Hilfe zur Selbsthilfe“. „Schon Erin Pizzey, die Begründerin der englischen Frauenhausbewegung, nennt als pädagogisches Konzept ihrer Arbeit ein persönliches Verhältnis zwischen Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen, das auf intensiver Kommunikation und emotionaler Zuwendung beruht.“ (Bösel 1989: 49) Der so genannte personenbezogene Hilfeansatz hat in der Frauenhausarbeit eine große Tradition. Die erste Generation der Frauenhausmitarbeiterinnen hatte sich sowohl aus professionell ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialwissenschaftlerinnen, aus Mitgliedern der Vereine „Frauen helfen Frauen“ und schließlich aus ehemaligen Bewohnerinnen der Frauenhäuser zusammengesetzt. Erin Pizzey, die als Begründerin der Frauenhausbewegung gilt, hatte Persönlichkeitsmerkmale der Frauen immer höher bewertet, als einen akademischen Ausbildungsgang und ein ausgesprochen suggestives, charismatisches Modell der Arbeit beschrieben. Ob eine Frau für die Frauenhausarbeit geeignet ist, entscheidet sich nach Pizzey nicht an ihrer Professionalität, sondern an ihrer Persönlichkeit. Für Pizzey sollen die Mitarbeiterinnen eines Frauenhauses „ruhender Pol“ und „emotionales Zentrum“ sein. In der Anlehnung an und Identifikation mit einer Urmutter – „Im the earth mother“ – „sollen die Frauen zu sich selbst finden“ (Bösel 1989: 49). Die suggestiv charismatische Deutung der professionellen Beziehungen im Frauenhaus geriet mit der Institutionalisierung der Arbeit unter großen Druck, da vor allem die staatlichen Zuschüsse an qualifizierte Ausbildungen und professionelle Standards gebunden waren. Ende der 1980er Jahre endete die Pionierphase der Institutionalisierung der Frauenhäuser und zog kontroverse und tief greifende Diskussionen zu den Grundsätzen der feministischen Therapie, dem Konzept der Selbsthilfe „Frauen helfen Frauen“ und der Laienarbeit nach sich. Es wäre aber falsch die „Verstaatlichung“ der Frauenhausarbeit für das Ende der Konjunktur der Autonomiekonzepte in der Frauenhausarbeit und Frauenberatung verantwortlich zu machen. Obwohl in den 1970er und 1980er Jahren die „Staatsknete“ auch innerhalb der Frauenhausbewegung kritisch betrachtet wurde, ist ohne Zweifel festzustellen, dass nicht nur die Frauenhäuser quasi staatlich „infiziert“ wurden, auch innerhalb der Verwaltung und der Parteien hatte ein deutliches Umdenken über das Thema Gewalt gegen Frauen stattgefunden. Für dieses Umdenken ist u. a. auch das Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung innerhalb und außerhalb der Parteien auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen und Mädchen bedeutend. In Bezug auf die Beratung ist ebenso wie in Bezug auf die Grundsätze sozialer Arbeit aber festzuhalten, dass die staatlichen Zuschüsse an die Professionalisierung gebunden waren. In ihrer Arbeit über die Beratung nach dem 157
Aufenthalt in einem Frauenhaus versucht Monika Bösel eine Balance zwischen Professionalisierung und Verbundenheit als Frau herzustellen und damit die Grundsätze der feministischen Therapie mit Grundsätzen der Professionalisierung zu kombinieren. Sie betont besonders den Aspekt der Geschlechtsidentität der Beraterin und die Bedeutung des Frauseins als Voraussetzung der besonderen Professionalität im Frauenhaus. Die Beraterin soll ihre beraterische Beziehung auf der Basis eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes als Frau aufbauen. „Es wird davon ausgegangen, dass die Beraterinnen den Selbstfindungsprozess der Frauen nur unterstützen, da die Frauen kompetent genug sind, ihre Probleme selbst zu lösen. Darüber hinaus wird der Anspruch gestellt, die helfende Beziehung als gleichberechtigte Beziehung zu realisieren. Das Wissen der Expertin soll transparent, die Solidarität unter Frauen für den Beratungsprozess fruchtbar gemacht werden.“ (Bösel 1989: 88) Die Idee eines balanceorientierten Konzeptes zwischen feministischen Zielen und Professionalität wird nicht nur von Monika Bösel verfolgt. Auch andere Autorinnen greifen die Widersprüche in den Erfahrungsberichten der Frauenhäuser auf und beforschen das Problem der Mikrostrukturen der helfenden und beraterischen Beziehungen im Kontext der Arbeit mit misshandelten Frauen. 1988 publizieren die Erziehungswissenschaftlerinnen Ute Straub und Erika Steinert ihre Dissertationsschrift zum Thema „Interaktionsort Frauenhaus“, die vor allem die Widersprüche der Arbeit und der Beziehungen im Frauenhaus aufnehmen. Ute Straub und Erika Steinert sind selbst Gründerinnen des Vereins Frauen helfen Frauen. Sie sind politisch engagierte Frauen, haben die Institutionalisierung ihres Frauenhauses mitverfolgt und die Veränderung der professionellen Beziehung beobachtet. Sie unterscheiden drei Gruppen von Akteurinnen zum Zeitpunkt ihrer Dissertation, die Gruppe der Bewohnerinnen, die Gruppe der Gründerinnen, zu denen jene Frauen gehören, die den Verein gegründet haben, die Aufbauarbeit geleistet und die hin und wieder im Frauenhaus ehrenamtlich mitarbeiten, sowie schließlich die Gruppe der Sozialarbeiterinnen, die als zweite Generation von Mitarbeiterinnen im Verein eingestellt sind und die ein eher zweckrationales und dienstleistungsbezogenes Verhältnis zur Arbeit haben. Die Dissertationsschrift von Ute Straub und Erika Steinert ist ein Fundus und zeigt vor allem, bezogen auf Institutionalisierungsprozesse und Institutionalisierungskonflikte in der Frauenhausarbeit, wichtige Veränderungen auf. Im empirischen Teil der Arbeit geben vor allem die Sozialarbeiterinnen, die zur zweiten Generation gehören, an, dass sie latent schwere Konflikte mit den Bewohnerinnen haben, sich oft über diese ärgern und die hilfesuchenden Frauen immer wieder an traditionellen Habituskriterien messen. Die Sozialarbeiterinnen kritisieren, dass die Frauen zu wenig putzen, „schlampig sind, aggressiv zu ihren Kindern, und sich vor allem von ihren schlagenden Partnern nicht lösen können“. Das Buch 158
zeigt eine Verstrickung auf, die in den 1980er Jahren die Diskussion mitbegründet hat, die den Feminismus mit seinen Ethiken und werten der Parteilichkeit für Frauen, der Identifizierung und Solidarität erschüttert hat: Sind Frauen Opfer oder Täterinnen? 8.5 Feministische Institutionskulturen und ihre Auswirkungen auf beraterische und helfende Professionen Margit Brückner (1996) beschreibt in ihrer Arbeit über die neuen Suchbewegungen in der feministischen sozialen Arbeit und in den Frauen- und Mädchenprojekten, die von Straub und Steinert (1988) beschriebenen Erfahrungen der konfliktreichen Interaktion zwischen Sozialarbeiterinnen und Bewohnerinnen vor allem als etwas Kränkendes. In die basisdemokratisch geprägten Leitvorstellungen der Frauenprojekte seien viele Wünsche nach einem anderen Leben und anderen Arbeiten eingeflossen. Die Idee, dass Frauen ohne Hierarchie arbeiten könnten, wurde zum Ideal erhoben und gewann einen enormen Einfluss. Das feministische Ideal umfasste sowohl Aspekte der Institution wie Selbstorganisation ohne Leitung und Hierarchie, selbst bestimmtes Arbeiten, kollegiale Gleichheit, moralische gemeinsame Betroffenheit, wie auch hohe Anforderungen an die persönlichen Eigenschaften und die Lebensführung. Politisches Engagement und ehrenamtliche Arbeit wurden von den angestellten Frauen erwartet, welche diese Erwartungen an die Bewohnerinnen weitergaben. Organisation galt eher als männliche Regel, Ligaturen und Verbindlichkeiten, Rollen und Organisationsstrukturen schienen daher überflüssig und wurden in ihrer Bedeutung auch nicht erkannt, als die Konflikte in den Institutionen schon eskalierten. In den Frauenhäusern selbst war das jeweilige Plenum aller Beteiligten, und zwar der Bewohnerinnen und der Sozialarbeiterinnen und Vereinsfrauen der offizielle Ort aller Entscheidungen. Für die Beratung im Frauenhaus bedeutete dies automatisch große professionelle Schwierigkeiten, dass die Bewohnerinnen, die ihre Bezugsfrauen und Beraterinnen in ganz anderen Rollen erleben konnten. Selbst wenn die Beraterin in die Beratungssituation souverän und professionell agierte, so konnte es passieren, dass sie in den Plenumssitzungen einer quasi öffentlichen Kritik unterzogen wurde. Diese und andere Rollenkurzschlüsse mussten auf die Klientinnen, wie auch auf die Beratung, irritierend und ängstigend wirken. Margit Brückner (2005) nennt eine Reihe von Merkmalen der feministischen Arbeit, die gerade in Bezug auf das Professionsfeld Beratung spannungsreich und schwierig sind. Als reflexives und selbstreflexives Angebot setzt Beratung zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit sich selbst voraus. Nach Brückner 159
bedeutet diese Auseinandersetzung mit sich eine Enttäuschung. Brückner spricht in Bezug auf die Kultur der feministischen Projekte von einer Phantasie, der Phantasie einer ganzheitlichen Selbstverkörperung des Projektes, welches untrennbar mit der eigenen Person verbunden sei und uneingeschränkte Identifikation ermöglicht. Brückner nennt das Phantasma, dass die Bewegung das Selbst durchströmt und umgekehrt jede Frau mühelos Teil der Bewegung sein lässt (Brückner 1996). Gerade in den 1980er Jahren waren große Charismatikerinnen wie Mary Daily im Bereich der Theorie und Erin Pizzey im Bereich der Praxis des Feminismus sehr einflussreich und sorgten quasi mit ihrer Arbeit für diese Massenpsychologie des Feminismus (Freud 1921). Klare Strukturen, die auch jede Beratungssituation braucht, bedeuten die Aufklärung und damit meist das Ende von Symbiosen, gefühlter Nähe und Verbundenheit. Beratung ist schmerzlich und verlangt von den Betroffenen mit Trennung und Individuation umzugehen, sich selbst in Beziehung zu anderen und zu den Dingen zu setzen (Brückner 2005). „Die Hoffnung auf inspirierende, mühelose Gemeinschaftlichkeit aller Frauen (im Gegensatz zur auf Hierarchie und Vereinzelung basierenden Männergesellschaft) war das Fundament für den mühsamen Aufbau der Projekte gegen politische Widerstände und angesichts finanzieller Nöte.“ (Brückner 2005: 26) Mit Freuds Theorie der Massenpsychologie und Ich-Analyse lässt sich aufzeigen, um welche Regression es sich bei der Institutionalisierung der feministischen Projekte handelte, denn ganz ohne Zweifel sollte mit den feministischen Projekten, ihre Beratungsarbeit eingeschlossen, etwas Gutes geschaffen werden, etwas mit dem sich die Frauen identifizieren konnten und das sei für viele Kränkungen, denen sie als Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft ausgesetzt waren, entschädigte. Zu betonen ist weiterhin, dass insbesondere lesbische Frauen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in den 1970er und 1980er Jahren Erfahrungen der Isolation und manchmal auch der Ausstoßung gemacht hatten, für sich und ihr Leben einen Ort suchten ohne Beschämungen, Kränkungen und Isolierungen in Bezug auf sie als Personen. Sie suchten weiterhin Arbeitsplätze, die gut genug waren, um sie zu ernähren und ein unabhängiges Leben zu ermöglichen und die es ihnen schließlich erlaubten, ihre Sexualität nicht verstecken zu müssen. Insofern hatte die institutionelle Regression in den feministischen Projekten durchaus eine ökonomische und soziale Basis. Für die heterosexuellen Frauen wiederum hatte die Regression eine andere Bedeutung. Im Mittelpunkt ihrer Sozialisation stand die Erziehung zur Mutterschaft als „eigentliche Bestimmung“ des Frauseins, d. h. das „Dasein für andere“, ohne Recht auf ein eigenes Leben (Beck-Gernsheim 1980). Die feministischen Frauen haben die Bestimmung des Weiblichen als Kolonisierung, Enteignung ihres Selbst und Verstümmelung ihrer Identität beschrieben. Sie schufen 160
mit den feministischen Projekten eine Gegenwelt. Als Mädchen in den 1950er Jahren oder der Nachkriegszeit geboren, haben viele Frauen eine Entwertung ihrer intellektuellen Fähigkeiten durch die Gesellschaft erlebt und viel zu selten von der „verborgenen Kultur“ der Frauen (Nadig 1992) profitieren können. In diese Leerstelle traten die feministischen Institutionen und ermöglichten überhaupt eine Symbolisierung von Erfahrungen. Die feministischen Institutionen schufen wiederum selbst Milieus. Sie radikalisierten sich, sie isolierten sich, sie regredierten und hielten schließlich die Frauen in der Regression des feministischen Projektes fest – mit allen psychischen Mechanismen von Projektion und narzisstischer Überhöhung der Mutterfiguren, über Mystifizierung des Kollektivs bis zu Kränkungen und Schamgefühlen bei Konflikten um Rollen, Professionen und Handlungsprinzipien. Brückner (2005) spricht in diesem Zusammenhang von libidinös hoch besetzten und emotional aufgeladenen Frauenzusammenhängen, deren zerstörerische Seite durch Regressionsmechanismen innerhalb der unstrukturierten Gruppenprozesse zwangsläufig war. Karin Flaake merkt dazu an, dass diese Seite der Frauengruppen und der Projekte viel zu wenig verstanden und analysiert ist (vgl. Flaake 2000). Margit Brückner und Karin Flaake gehören beide zu den feministischen Theoretikerinnen, die viele wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychoanalyse ziehen. Es soll an dieser Stelle die These aufgestellt werden, dass die von Brücker und Flaake beschriebenen Regressionsphänomene in den feministischen Projekten die Suche und Forderung nach Theorien, die akteurinnen- und handlungsorientiert sind, befördert haben dürften. Die Kollektivierung der Frauen als Opfergruppe hat nicht nur ihre Differenz zugedeckt und einen theoretischen Kurzschluss nach sich gezogen, sondern auch die Regressionen und die Isolation innerhalb der feministischen Projekte verstärkt und damit Wege der Weiterentwicklung verschüttet. Allerdings steht eine systematische biografietheoretisch und gruppentheoretisch fundierte Reflexion der Institutionskulturen der feministischen Projekte weiterhin aus. Die institutionellen Wege der feministischen Projekte erklären jedoch, warum in den 1990er Jahren das Unbehagen mit einem feministischen Paradigma auch innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung gewachsen ist. Im Rahmen der klassischen feministischen Positionen galten Frauen einerseits als Opfer, andererseits als den Männern moralisch überlegen. Ihr reales Handeln verschwand hinter einer feministischen Idealisierung und stellte gerade die Beraterinnen innerhalb der feministischen Projekte vor große Probleme. Wie sollte die Rolle der Mutter, die geschwiegen und weggesehen hat, als ihre Tochter sexuell missbraucht wurde, gerechtfertigt werden? Wie konnte Aggression und Destruktivität unter Frauen erklärt werden? Warum idealisierten die rat- und hilfesuchenden Frauen in den Frauenhäusern ihre schlagenden Männer und gingen zu ihnen zurück? Für die Beraterinnen waren 161
die Beantwortung dieser Fragen und die Bereitstellung von diagnostischem und theoretischem Wissen von hoher Bedeutung. Diese Bedeutung erklärt die konstruktivistische Wende in der Geschlechterforschung zumindest zum Teil und zeigt auf, warum Konzepte wie Doing Gender eine große Faszination auf die Frauenforschung und Frauenbewegung ausgeübt haben. 8.6 Weitere Einflüsse der Frauenberatung auf die pädagogische Beratung Der Diskurs zu einer geschlechtersensiblen und frauenspezifischen Beratung hat mit den sich in den feministischen Projekten abzeichnenden schweren Konflikten um deren Institutionalisierung nicht aufgehört, sich aber sehr verändert. Seit den 1990er Jahren lassen sich neben den autonomen feministischen Beratungsinstitutionen und Beratungsformen auch solche Stellen identifizieren, die stärker die Entwicklungsaufgaben der Erwerbsarbeit und des Lebenslaufes berücksichtigen. Einige Stellen haben sich darauf spezialisiert, Frauen nach Beendigung der Familienphase den Wiedereinstieg in das Erwerbsleben zu ermöglichen. Diese Stellen sind aus der Politik der Gleichstellung in den Kommunen und Verbänden entstanden und arbeiten, indem sie Bildungsangebote für Frauen, vor allem Weiterbildung und Fortbildung, mit individuumszentrierter beruflicher und persönlicher Beratung verbinden. Beratung im Kontext von Erwerbsarbeit konnte sich neben den feministischen Beratungsangeboten deutlich platzieren, weil dieses Beratungsangebot am weiblichen Normallebenszyklus ansetzt und in die sich individualisierenden Gesellschaften auch aus einer konservativen und gemäßigten politischen Perspektive gut hineinpasst. Da die Förderung der Erwerbsbereitschaft und der Erwerbsorientierung Teil der politischen Programme der Gegenwart ist, konnten insbesondere die Gleichstellungsbeauftragten die politisch Verantwortlichen von der Notwendigkeit überzeugen, dass eine von den Arbeitsagenturen unabhängige Beratung für Arbeit suchende Frauen nach der Familienphase sachlich wichtig und politisch richtig ist. Seit den 1960er Jahren hat sich das gesellschaftliche Frauenleitbild gewandelt. Die Hausfrauenehe, in den 1950er Jahren noch fest institutionalisiert, fand in den 1960er Jahren zunehmend ihr empirisches Ende und wurde vom so genannten Dreiphasenmodell des weiblichen Erwerbszyklus abgelöst. Dieses von den Schwedinnen Alva Myrdal und Viola Klein entwickelte Modell sah eine fundierte Allgemeinbildung und berufliche Qualifikation für Mädchen vor. Ebenso sollten Frauen nach der Eheschließung ihre Erwerbsarbeit bis zur Geburt des ersten Kindes beibehalten und dann in eine Familienpause eintreten. Nach der Expansionsphase der Familie sollten sie dann den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben suchen. So sehr die Frauen diese Familienpause auch wählten oder während der Zeit, in der ihre Kinder klein waren, Teilzeit arbeiteten, durchgängig zeigte sich das Problem des Wieder162
einstiegs nach der Familienphase als Hürde im weiblichen Erwerbsverlauf, neben vielen anderen Merkmalen beruflicher Diskriminierung, wie Lohnungleichheit, berufliche Dequalifizierung und mangelnde berufliche Förderung, Abdrängen in frauenspezifische Erwerbsformen auf der Basis der Rolle als Zuverdienerin, volkswirtschaftliche Funktion der Arbeitsmarktreserve in ökonomischen Konjunkturen, bis hin zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Die Geschlechterforschung hatte schon in den 1980er Jahren als Teil der Industrieforschung die schlechten Bedingungen weiblicher Erwerbsarbeit offen gelegt. Dem Staat konnte in Bezug auf seine Rolle bei der Herstellung der beruflichen Geschlechterverhältnisse eine gewisse Komplizenschaft mit den ungleichen Strukturen im Erwerbsleben nachgewiesen werden. Nicht nur, dass im öffentlichen Dienst Frauen unter ähnlich diskriminierten Bedingungen arbeiteten wie in der freien Wirtschaft, auch die Berufsberatung, die Beratung der Wiedereinsteigerinnen und die Beratung von Arbeit suchenden Müttern zeigte sich als eine Beratungsform, die die Geschlechterverhältnisse deutlich reproduzierte. Zumeist fielen die ratsuchenden und Arbeit suchenden Frauen aus der Zuständigkeit der Arbeitsagenturen schlicht heraus. In diesem Kontext wurde von verschiedenen Stellen Kritik an der amtlichen Berufsberatung geübt und andere, mehr anwaltliche und sozialpädagogische Beratungskonzepte, neu eingefordert. Auch die Beratung in kommunalen Gleichstellungsstellen (Gröning 1993) gehört in diese Zeit. Ihre Bedeutung und Funktion liegt in einer Vermittlungsfunktion zwischen amtlichen Sichtweisen, die Frauen und ihre Lebensverhältnisse zumeist auf der Folie der bürgerlichen Familie abbilden und den sich modernisierenden gesellschaftlichen Verhältnissen im allgemeinen, die vor allem für Frauen neue Lebensformen und neue Lebensrisiken mit sich bringen, zu wenig Bedeutung beimessen. Vor allem das Ansteigen der Scheidungsziffern hat die Situation in der Bundesrepublik verändert und neue Lebensformen geschaffen. Die Vorstellung von der Ehe und Familie als Zentrum des weiblichen Lebenszusammenhangs zerbrach auch durch die Emanzipationsbewegungen in der Bundesrepublik und machte Vorstellungen von einer Pluralisierung der Lebensformen Platz. Geschiedene Frauen, allein erziehende und ledige Mütter, standen vor den großen Herausforderungen quasi ohne Unterstützung bei der Betreuung ihrer Kinder, Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu müssen. Zwischen den die Familien bürgerlich und traditionell denkenden Mehrheiten von Verwaltungsmitarbeitern und diesen sich modernisierenden Lebensverhältnissen mussten die Gleichstellungsbeauftragten vermitteln. Häufig konnten die Modernisierungsdynamiken als solche soziologisch kaum erfasst werden und wurden im Sinne moralsicher Schuldvorwürfe an die Klientinnen formuliert. Die allein erziehende oder geschiedene Frau war dann eben eine, die ein bürgerliches Leben nicht erfolgreich institutionalisieren konnte und versagt hatte. In die 1990er Jahre fallen auch die zunehmende Bedeutung interkultureller Diskurse und ihre Übersetzung als interkulturelle Beratung. 163
Die berufsbezogene Beratung für Frauen hat sich im Laufe der 1990er Jahre deutlich ausgeweitet und individualisiert. Sie löst die vorwiegend therapeutische und psychologische Ausrichtung in der feministischen Beratung ab und entwirft ihr Beratungsangebot im Sinne einer breiteren sozialwissenschaftlichen Fundierung. Neben die Beratung für Wiedereinsteigerinnen und die Erwerbsförderung durch die Kommunen und Landkreise, sind individuelle Beratungsformen wie Supervision und Coaching für Frauen, Beratung von weiblichen Führungskräften und Beratung für Frauen im Kontext von Gewalt am Arbeitsplatz getreten (Mobbing, Stalking, sexuelle Belästigung). Heute spielen auch bei den berufsbezogenen Beratungsformen für Frauen konstruktivistische Ansätze wie „Doing Gender“ eine wichtige Rolle. Die Beraterinnen gehen davon aus, dass Frauen ihre Lebenswelt aktiv konstruieren und so die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten selbst festlegen. Doing Gender Konzepte spielen bei den meisten feministischen Beratungsformen eine wichtige Rolle und weiten sich auf andere Beratungsfelder, wie zum Beispiel die interkulturelle Beratung, aus. „Doing Ethnicity“ oder „Doing Race“ werden hier analog zum Konzept des Doing Gender eingeführt. Allerdings ist Doing Gender zunächst eine wissenschaftliche Beobachtung und kein Beratungskonzept gewesen (vgl. Joas /Knöbl 2003). Doing Gender beschreibt im Rahmen eines ethnografischen Forschungsansatzes die Ergebnisse einer Transsexuellenstudie. Im Fall Agnes zeigte sich, dass die operative Umwandlung von einem biologischen Geschlecht (male) zu einem anderen (female) längst noch keine weibliche Geschlechteridentität hervorbrachte, da die vielen kleinen Zeichen und Gesten, mit denen sich Frauen und Männer dauernd selbst vergewissern und ihr Geschlecht handelnd bestätigen, erst mühsam erlernt werden mussten. Beratungskonzepte, die sich auf Doing Gender diagnostisch und interventorisch beziehen, finden sich heute vor allem in der berufsbezogenen Beratung für Frauen, in der Karriereberatung, im Coaching und in der Supervision, sowie in Fort- und Weiterbildungen. Sie werden hier allerdings nicht unbedingt als Konzept der Reflexion und der Beobachtung verstanden, wie dies in der Forschung der Fall ist, sondern im Sinne des erfolgreichen Handelns im Beruf und bei der Karriere. Damit verändert sich die Intention des Konzeptes von einem verstehenden und reflexiven Konzept hin zu einem Aktionskonzept. In diesem Zusammenhang verbinden sich dann Konzepte von Gender Main Streaming in Organisationen mit der Handlungsperspektive von Doing Gender. Die Bereicherung einer solchen Strategie liegt z. B. darin, dass in Organisationen nicht mehr nur Strukturen der Hierarchie und Arbeitsteilung analysiert werden, sondern auch Handlungskulturen und Formen des Benehmens. Beide Konzepte zusammen könnten das Grundgerüst einer geschlechtersensiblen Organisationsanalyse
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und Organisationsberatung bilden, aber auch hier gilt, dass dies noch am Anfang steht. 8.7 Die Bedeutung der feministischen Beratung für die Erziehungswissenschaft Die Beratung innerhalb der Frauen- und Mädchenprojekte, wie auch die Beratung der Arbeitsstellen „Frau und Beruf“ oder der kommunalen Gleichstellungsstellen, haben in nicht unerheblicher Weise die Erziehungswissenschaft beeinflusst. Sie haben einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung von Arbeitsansätzen und Berufsbildern in der Pädagogik – schulisch wie außerschulisch – geleistet. Sie haben die akademische Ignoranz gegenüber der gesellschaftlichen Praxis durchbrochen. Das ist vielleicht auch ihre Schwäche, denn die Vorstellung von einer „reinen Wissenschaft“ ist mit dem Engagement der sich der Gesellschaft zuwendenden Intellektuellen und Wissenschaftlerinnen kaum zu vereinbaren. Die feministische wie die geschlechtersensible Pädagogik steht durch ihre Verankerung in der Praxis, Vorstellungen von reiner Theorie und wissenschaftlichen Idealen wie „Einsamkeit und Freiheit“ sowohl theoretisch wie methodologisch kritisch gegenüber. Ihre Forschungsgrundsätze und ihre Orientierung an der gesellschaftlichen Veränderung haben in den Augen vieler Wissenschaftler und auch Wissenschaftlerinnen Prinzipien wie Wertfreiheit und wissenschaftliche Abstinenz verletzt. Gleichzeitig hat sich die Erziehungswissenschaft durch die Frauenbewegung ignorierten Problemen und neuen Fragen zugewendet. In dem Maße wie die Erziehungswissenschaft sich eingesteht, dass das Experimentieren mit neuen Verhältnissen und Strukturen zu ihrem Gegenstandsbereich gehört, ist eine Annäherung an die Reflexion der feministischen Beratung möglich. Was allerdings verhindert werden sollte, ist, dass die Entwicklung sich verkehrt. Die aktuelle neue Entdeckung der Jungen als Opfer ihrer Lehrerinnen reproduziert das alte antifeministische Ressentiment. Die Kampfdynamik, die in den Publikationen jetzt von männlicher Seite dabei teilweise deutlich wird, birgt wieder die Gefahr einer Regression anstelle einer Aufklärung. Dass das Arbeitsmarktsegment Grundschule und Kindergarten ein weibliches Segment geworden ist, hängt mit den Mechanismen eines die Geschlechter segregierenden Arbeitsmarktes zusammen und der Vorstellung, dass eine Tätigkeit als Grundschullehrerin und Kindergärtnerin sich gut mit einer Familie vereinbaren lässt. Dass männliche Lehrer sich zu wenig um die Erziehung und Bildung kleiner und jüngerer Kinder kümmern, sondern das „wissenschaftlichere“ Gymnasium bevorzugen, und dass auf diese Weise spezifische von Frauen geprägte Orte entstanden sind, hat viele Ursachen. Dass Lehrerinnen empfindlich und gegebenenfalls auch ungerecht auf 165
dominantes Verhalten von Schülern reagieren, weil hier das Generations- und Autoritätsverhältnis verletzt wird, ist reflexionsbedürftig und auch ein Problem der Unvereinbarkeit zwischen Familiensystem und Schulsystem und den hier jeweils geltenden Geschlechterregeln. Wenn in der Familie die männliche Überlegenheit zur familialen selbstverständlichen Kultur gehört und der Erziehungsstil der Schule mit ihren „feinen Unterschieden“ mit den Werten des Familiensystems nicht vereinbar ist, geraten gerade Jungen (vgl. Freyberg und Wolff 2005, Vetter 2000) aus patriarchalischen Familien, die es früh gelernt haben, das Erbe des Familienoberhauptes anzutreten zu den Frauen innerhalb und außerhalb der Familie, in ein kompliziertes Verhältnis. Dies gilt umso mehr für kulturelle Figurationen, in denen das Geschlechterverhältnis über dem Generationenverhältnis steht. Ist zudem das Verhältnis von staatlichen Institutionen und Familie, welches in Deutschland, wie in der Mehrheit in Europa so definiert ist, dass die staatlichen Institutionen als sekundäre Sozialisationsinstanzen in das Generationenverhältnis zwischen Eltern und Kinder quasi eintreten und mit ihrer Verteilung von Bildungskapital (Bourdieu 1997) großen Einfluss auf die familiale Kultur ausüben, in dem sie z. B. die „natürliche“ Geschlechterordnung zwischen Jungen und Mädchen durch Schulleistungen deutlich verändern, dann können gerade Jungen als kleine Familienoberhäupter in double-binds und paradoxe Situationen und Identitätskonflikte geraten. Eine Behauptung, dass allein die Geschlechterzugehörigkeit von Lehrerinnen Ursache der schlechten Noten und fehlenden Schulabschlüsse von Jungen, vor allem mit Migrationshintergrund, ist, stellt eine unangemessene und konservative Verkürzung des Verhältnisses von Familien und größeren Institutionen dar.
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9. Weitere Einflüsse und Diskurse
Betrachtet man den Einfluss der Frauen- und Mädchenprojekte auf die Erziehungswissenschaft aus einer beratungswissenschaftlichen Fragestellung, so hat die Beratungspraxis der Projekte von den Frauenhäusern über Notrufe und die Beratungsstellen von Wildwasser deutliche gemacht, dass sowohl die funktionale Definition von Beratung als Auskunft und Sachberatung unzureichend ist, desgleichen die therapeutische Buchstabierung von Beratung. In den Frauen- und Mädchenprojekten ist Beratung integrierter Bestandteil des Angebotes und verbindet sich mit einem deutlichen anwaltlichen Beratungsverständnis, so wie es die alte Frauenbewegung, z. B. in den Rechtschutzstellen für Frauen, bereits praktiziert hat. Diese advokatorische Funktion ist von den Frauenprojekten als Parteilichkeit beschrieben worden. Die in der Erziehungswissenschaft, vor allem in der Sozialarbeitswissenschaft übliche Buchstabierung des Verhältnisses zwischen Sozialarbeiter und Klient als „doppeltes Mandat“ hat die Frauenbewegung zugunsten der Klientinnenseite aufgelöst und ihre Arbeit advokatorisch buchstabiert. Die aus der Fürsorgetradition stammenden Ordnungsaspekte beim Beraten wie sie, z. B. von Kasakos (1981), in ihrer Arbeit zur Familienfürsorge und den dort herrschenden Doppelstrukturen beschrieben werden (vgl. dazu auch Gröning 2006) und die auch Olk (1994) beschreibt, wenn er sagt, dass die soziale Arbeit sich auf die Gewährung des Normalzustandes zu beziehen habe und deshalb „Normalisierungsarbeit“ sei, sind von den Frauen- und Mädchenprojekten mit einer anderen Ethik ausgefüllt worden. Ihre Werte – Parteilichkeit und Solidarität mit den Klienten und Klientinnen – haben der Beratung in der Erziehungswissenschaft neue Perspektiven eröffnet. Eine dieser Perspektiven ist die Überwindung des klassischen therapeutischen/ärztlichen oder bürokratischen Settings in der Beratung, die sich in der Therapiekritik der 1980er Jahre endgültig durchsetzte und die stärkere anwaltliche Beratungsethik in die pädagogische Arbeit und die pädagogische Beratung einführte. 9.1 Die Therapiekritik und die Forderung nach einer alltagsorientierten, pädagogischen Beratung Entsprechend der ethischen und demokratischen Fundierung moderner Beratungsansätze entwickelte sich der Beratungsdiskurs seit den 1970er Jahren vor allem im Zusammenhang mit Problemen der Beratungsmethoden, der Ge167
sprächsführung und der Beratungstechnik. Die große Bedeutung, die vor allem Carl Rogers in der Pädagogik der 1970er Jahre bekam und die Konjunktur der humanistischen Psychologie als nicht ärztliche Form des Beratens und Therapierens, hatte, wie schon beschrieben, nicht nur zu einer Gleichsetzung von Psychologie, Therapie und Beratung geführt, sondern die Beratung stark individualisiert. Die Konzeption einer kritischen Beratung, so wie sie in den 1960er Jahren von Mollenhauer und Müller (1965) für die Pädagogik entworfen wurde, verschwand in den 1970er und in der ersten Hälfte der 1980er Jahre aus dem wissenschaftlichen und professionellen Diskurs. Vor allem die Beratung wurde gleichgesetzt mit der Fähigkeit zur Anwendung von explorativen und hermeneutischen Gesprächstechniken. Sie war im Kern ein helfendes Gespräch und wurde auch innerhalb der Erziehungswissenschaft und der erziehungswissenschaftlichen Fakultäten der Psychologie zugeordnet. Diese Entwicklung hat vor allem in den Erziehungswissenschaften, und hier noch einmal im Bereich der Diplompädagogik, eine gewaltige professionelle Konsequenz gehabt, denn nach dem Scheitern der Bildungsreform und der Beratung im Bildungs- und Ausbildungssystem war das Thema Bildungsberatung, Schullaufbahnberatung und pädagogische Beratung im Bereich der Berufsfindung und der Ausbildung zunächst einmal kein Thema mehr. Die sozialpädagogische Beratung blieb als einzige Beratungsform für Pädagoginnen und Pädagogen, neben der bereits beschriebenen feministischen und gegebenenfalls der Sexualberatung, übrig. Letztlich wussten viele Diplompädagoginnen und Diplompädagogen nach ihrem Studium aber nicht, was aus ihnen werden könnte. Sie waren gezwungen, sich neue professionelle Felder in der Praxis zu erschließen und viel zu experimentieren. Die sozialen Bewegungen der 1980er Jahre wie die Frauenbewegung, die ökologische und die Friedensbewegung, wurden zu wichtigen Orten des pädagogischen Arbeitens. Innerhalb der pädagogischen Beratung etablierten sich Beratungsformen für Senioren, Migranten, ökologische Beratung und Bildung und Beratung für „neue“ Gruppen außerhalb der Therapie. Gleichzeitig war die Entwicklung der Gleichsetzung von Beratung mit Therapie und Psychologie in der Erziehungswissenschaft der Beginn einer großen Beratungskrise und Beratungskritik, welche aus heutiger Sicht die Neubestimmung des Beratungsverhältnisses als demokratisches Verhältnis endgültig durchsetzte und Beratung nur auf der Basis von gegenseitigen Kontrakten überhaupt für vereinbar mit der Beratungsprofession darstellte. Besonderes verbunden ist diese ethische Diskussion in der Erziehungswissenschaft mit dem Namen von Hans Bude (1988). Im Bereich der Supervision hat sich vor allem Gerhard Leuschner (FIS Münster) mit dem Kontraktmodell im Bereich der berufsbezogenen Beratung und Supervision profiliert und im Kontext der alten Beratungstradition, der Leiter einer Einrichtung ist gleichzeitig der Berater der Mitarbeiter, von einer 168
Identifizierung und von einer Therapeutisierung von Interessenkonflikten innerhalb der Supervision gesprochen (vgl. dazu auch Gröning 1995). In einer ähnlichen Weise argumentiert auch Mara Selvini Pallazoli in ihrem 1984 in Deutschland erschienen Buch „Hinter den Kulissen der Organisationen“ aus einer systemtherapeutischen Perspektive. Selvini Pallazoli fragt nach dem Ort und der Funktion eines angestellten Psychologen und äußert den Verdacht, dass mit seiner Hilfe „Sündenböcke“ in der Organisation identifiziert werden sollen. Die Gleichsetzung von Beratung mit Therapie in den 1980er Jahren bedeutete, neben dem fehlendem Kontrakt und dem Dilemma des angestellten Beraters, dass ihre sozialwissenschaftliche Fundierung vernachlässigt wurde. Der Berater wandte sich nicht mehr den Problemen des Klienten zu, sondern seiner Person, das heißt der Art, wie der Klient seine Probleme präsentierte. Überging der Klient seine Probleme, überspitzte er sie, weinte er vielleicht? Nicht mehr das Problem des Klienten interessierte den Berater, sondern die Art wie er sich zu seinem Problem verhielt. Maßnahmen und Hilfe, die in den Fürsorgesystemen eine große Rolle gespielt hatten, wurden unter dem Dach der psychologisierenden Beratungskonzepte verdächtig. Berater wurden abstinent, sie sprachen mit den Klienten über ihre Probleme, wurden aber nicht mehr für diese tätig, dies sollte der Klient, auch im Sinne seiner Mündigkeit, selbst tun. Das Stichwort hieß „Hilfe zur Selbsthilfe“. Auf diese Weise verloren die Berater, vor allem jene in bürokratischen und amtlichen Kontexten, den Blick für die materiellen Notlagen und sozialen Dimensionen der Probleme ihrer Klienten. Eine Reihe von Erziehungswissenschaftlern beklagten die Umdefinition von Problemen der Klienten und die damit verbundene Entpolitisierung der Pädagogik. Den Klienten würde die „Schuld“ an ihren Problemen, durch die Art wie sich die Berater verhielten, selbst gegeben. Anstatt mit den Klienten solidarisch zu sein, würden diese mehr beobachtet. In gewisser Weise wurde den Beratern vor allem in einer Untersuchung von Kasakos (1981) nachgewiesen, dass sie zwar klientenzentriert redeten, heimlich die Klienten aber nach den Maßgaben ihrer Organisationen bewerteten und Maßnahmen einleiteten. In den 1980er Jahren wurden zudem Therapiekonzepte, vor allem Gesprächstherapie und systemische Therapie, auf die Beratung übertragen. Sofern sozialwissenschaftliche Beratungsforschung stattgefunden hat, konnte über die umstandslose Anwendung psychologischer und therapeutischer Techniken und Methoden im sozialen Feld nicht viel Gutes berichtet werden. Klientelifizierung und Therapeutisierung sozialer Probleme von Klienten und Umdeuten von materiellen Notlagen in Verhaltensprobleme waren die Hauptkritikpunkte an der Beratung, die sich vorwiegend psychologisch verstand (z. B. Kasakos 1981). Die psychologisierenden Beratungskonzepte und ihre Vertreter hatten nämlich eines vergessen, dass die Mehrheit der Beratung keineswegs in freien Beratungsstellen 169
stattfand, wie es die Professionalisierungsinteressen von Beraterinnen und Beratern eigentlich zugrunde legen, sondern in sozialstaatlichen Agenturen, in denen die Klienten eine ganz besondere Stellung innehatten. In den 1980er Jahren prasselte dann auch die Kritik auf die Beratung und überschwemmte diese geradezu. Waren Kritiken, wie die von Nagel/Seifert (1979), über die Inflation der Therapieformen auf Therapie gemünzt, so wurde in den 1980er Jahren deutliche Kritik am Beratungswesen geübt. So hat Kasakos (1981) für die Sozialberatung darauf hingewiesen, dass psychologische Techniken in bürokratischen Organisationen einem Bedeutungswandel unterliegen, weil sie dazu führen, dass Klienten Informationen von sich preisgeben, die ihnen zum Nachteil ausgelegt werden. Hans Bude (1989) spricht von Beratung als trivialisierter Therapie und zeigt auf, wie im Kontext von Erziehungsberatung und Supervision soziale und materielle Probleme wegdefiniert und Ratsuchende in therapeutische Prozesse teilweise gegen ihren Willen und gegen Absprachen gebracht werden und schließlich spricht Gaertner (1995) in Anlehnung an die Therapiekritik von einem Psychoboom. In den verschiedenen institutionellen Feldern, in denen Beratung stattfindet, geht es in der Regel nicht ums Verstehen, sondern um Interessen, um amtliche und professionelle Definitionsmacht der sozialen Lage und der Bedürfnisse von Klienten und das Ringen um die Gewährung von materiellen Hilfen. Beratung und die für sie typischen psychologischen Gesprächstechniken werden in diesen institutionellen Kontexten zu einem Machtmodell im Sinne der von Foucault (1984/a) beschriebenen und analysierten Pastoratsmacht, die sich als individualisierende Macht, als Form der Seelenund Gewissensführung versteht und auch so konzipiert ist. Interessant ist, dass eben auch im Kontext der Beratung die Professionellen von den Klienten die wahrhaftige Selbstauskunft erwarten und dass die explorativen Techniken der Gesprächsführung eben auch durchaus als Verhörtechniken verwendet werden können. Aus diesen Einsichten folgt eine gewisse Unvereinbarkeit von bürokratischem und klinischem Rahmen und psychologischen, verstehenden Gesprächstechniken, wenn es hierzu keinen expliziten Kontrakt zwischen Klienten und Professionellen gibt. Die Beratungskritik der 1980er Jahre mutet heute in Zeiten der lösungs- und ressourcenorientierten Beratungskonzepte fast antiquiert an. Nach den Leitlinien der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in den 1980er Jahren, wurde in den 1990er Jahren die Idee des aktivierenden Sozialstaates publik. Die Idee der Selbstveränderung, die aus der humanistischen Psychologie stammt oder auch die Idee der Selbstsorge, wie sie Michel Foucault formuliert hat, wurden auf das Verhältnis von Klienten und Behörden übertragen und lösten sozialstaatliche Beratungsmodelle, mit einem Maßnahmenverständnis oder gar der Idee der Sorge, zunehmend ab. Ob die Klienten in den staatlichen Beratungsagenturen aber tatsächlich auf Berater 170
treffen, die den Beratungsprozess kontaktieren, wie es z. B. ein Ergebnis der Beratungskritik ist, die den Klienten auf reflexive Weise zur Selbstveränderung anregen, oder ob unter dem Mantel der Lösungsorientierung und der Ressourcenorientierung nicht das alte ärztliche Beratungsmodell zurückgekehrt ist, müsste Gegenstand einer künftigen Beratungsforschung werden. 9.2 Der Einfluss des Lebensweltkonzeptes und der Alltagstheorie auf die pädagogische Beratung Seit den 1970er Jahren publiziert ebenfalls Hans Thiersch und seine Tübinger Arbeitsgruppe regelmäßig zum Problem der pädagogischen Beratung und fordert ein Beratungskonzept ein, welches in einem gewissen Gegensatz zu den gesellschaftskritischen Konzepten von Mollenhauer und Müller steht, aber auch den Grundsatz Beratung als zur „Hilfe zur Selbsthilfe“ vorsichtig gebraucht, geht es doch darum, die Probleme des Klienten nicht lösungsorientiert zu zerreden (Thiersch 1991: 29). In diesem Zusammenhang hat sich Thiersch kritisch mit der geheimen Moral der Beratung auseinandergesetzt (Thiersch 1990). Er sagt, dass gerade im Faktum der Kommunikationsprozesse innerhalb der Beratung eine ganz eigene Macht liegt. Der Berater wie der Klient könnten Probleme herbeireden und zerreden, man kann Handlungen und Hilfe vermeiden und die Kommunikation benützen, um dies zu rechtfertigen (Thiersch 1991: 29). Er fordert deshalb Alltagstauglichkeit der pädagogischen Methoden und will die pädagogische Beratung im Kontext einer Hilfe bei Lebensschwierigkeiten verstanden wissen. Thierschs Beiträge sind sehr stark aus einer sozialpädagogischen Beratungsperspektive verfasst, die er als Hochschullehrer für Sozialarbeitswissenschaft vertritt. Die pädagogische Beratung war für ihn vor allem eine Aufgabe innerhalb der sozialen Arbeit und für diese Klienten und ihre Probleme, vor allem für die Jugendhilfe, formuliert Hans Thiersch seine Konzepte zur Beratung und hat vor allem seine Einsichten zur lebensweltlichen Sozialpädagogik auf die Beratung übertragen. Dabei ist sein Erkenntnisinteresse weniger eine Professionalisierung der Pädagogik durch Beratung, als vielmehr die Frage des Umgangs mit dem Klientel der sozialen Arbeit. Hans Thiersch beginnt seine Beiträge zur Beratung in den 1970er Jahren, wo er sich kritisch mit der Therapeutisierung von sozialer Arbeit auseinandersetzt. Auch hier ist sein Fokus der Alltag in der Erziehung. 1978 meldet er sich im Rahmen des Sonderheftes der Neuen Praxis zum Verhältnis von sozialer Arbeit und Therapie deutlich zu Wort und setzt sich mit der Therapeutisierung von sozialer Arbeit kritisch auseinander. Auch diese Kritik formuliert er vor allem für die Heimerziehung und die Jugendhilfe (vgl. Thiersch 1978), wo er das Verhältnis von Psychologie und Therapie auf der einen Seite 171
und sozialer Arbeit auf der anderen Seite zu bestimmen suchte. In den 1970er Jahren waren in die sozialpädagogischen Einrichtungen vermehrt Psychologen und Psychotherapeuten gekommen und arbeiteten dort nicht nur mit den Kindern im Sinne von Spiel- und Kindertherapie, sondern ebenfalls mit den sozialpädagogischen Mitarbeitern und Erzieherteams, deren pädagogisches Verhalten gegenüber den Kindern und Jugendlichen sie therapeutisch verändern wollten. Die Vorstellung war die eines therapeutischen Milieus in der Heimerziehung, was zur Folge hatte, dass das pädagogische Personal, d. h. die Erzieher und Sozialpädagoginnen sich behavioristisch, systemtherapeutisch oder non-direktiv verhalten sollten – je nach Konzept der Einrichtung. Für die sozialpädagogische Profession bedeutete dies, dass sie sich zu Assistenzpersonal und Hilfspersonal der Therapeuten hätte entwickeln müssen. Für die Kinder bedeutete dies jedoch eine Errichtung einer künstlichen Lebenswelt. Die Heimerziehung war in den 1970er Jahren auf dem Weg sich von der Anstaltserziehung mit ärztlicher Kontrolle zum therapeutischen Milieu mit psychologischer Dominanz zu entwickeln. Bereits früh hat Thiersch für die Pädagogik dagegen Alltagsorientierung eingefordert und mit dem Begriff vom gelingenderem Alltag ein Gegengewicht zur psychopathologischen und medizinalpädagogischen Deutung, aber auch zur behavioristischen und systemtherapeutischen Diagnose von pädagogischen Problemen gesetzt. Dies lässt sich aber erst verstehen, wenn man sich z. B. den Alltag der Heimerziehung in den 1970er und 1980er Jahren ansieht und die sehr verbreiteten psychologischen Leitbilder und die Verbreitung rehabilitativer Konzepte zur Kenntnis nimmt – die Kinder sollten nur einen bestimmten Zeitraum im Heim bleiben, rehabilitiert werden und dann in weitere Spezialeinrichtungen vermittelt werden. Nicht mehr das Alltägliche und die Sicherstellung eines stabilen und normalen Alltags war hier das Herzstück der pädagogischen Arbeit, sondern Spezialisierung. Neben dieses Konzept des Alltags tritt das Konzept der Lebenswelt als Rahmen für die Sozialpädagogik und für die pädagogische Beratung. Diese wird von Thiersch allerdings nicht im Sinne der Husserlschen Phänomenologie gedeutet, sondern zunächst sehr stark sozialwissenschaftlich im Kontext von Alfred Schütz´ Milieutheorie. Lebenswelt ist hier das soziale Milieu, dem jemand entstammt und an das er zumeist unbewusst gebunden ist. In mehreren Schritten erweitert Thiersch dieses Konzept der Lebenswelt und fusioniert es mit Erkenntnissen der Modernisierungstheorie, der These der Entstandardisierungsthese und Individualisierung sozialen Lebenslagen. Thiersch nennt die Voraussetzung jeder Beratung die Kenntnis von den Lebensverhältnissen und vom Alltag der Ratsuchenden (Thiersch 1991: 25). Er nennt die Gefahr der Verengung der Beratung durch die besondere Anwendung der professionellen Deutungsmuster und des professionellen Wissens in der 172
Beratung – hier entspricht seine Argumentation der Beratungskritik in der Pädagogik (z. B. bei Bude 1988). Die lebensweltliche Sozialpädagogik versteht er in der Beratung als Gegenwicht zu professionellen und institutionellen Deutungsmustern, denn Bedürfnisse und Beratungsangebote müssten als unabhängige Größen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier will Thiersch, dass die Berater mit ihrer amtlichen Deutungsmacht die Probleme der Klienten nicht umdefinieren. Er bezieht sich hier u. a. auf eine Debatte in der Pädagogik der 1980er Jahre, die unter der Überschrift „verstehen oder kolonialisieren“ geführt wurde (vgl. Thiersch 1991: 34). 9.3 Das Problem der Sozialberatung und die Professionalität der Sozialpädagogischen Beratung Sozialpädagogische Beratung findet vor allem unter dem Dach der Sozialberatung als amtliche Beratung statt und wird im Rahmen der Sozialgesetzbücher durchgeführt. Im Sozialgesetzbuch I, § 14 ist die Beratung als Rechtsanspruch fixiert, wobei jedoch berücksichtigt werden muss, dass es sich zum einen um Sachberatung handelt, zum anderen die Berater nicht verpflichtet sind, ihren Klienten umfassend zu helfen und sie auf ihre Ansprüche hinzuweisen. Die Sachbearbeiter in den Ämtern, welche nach den verschiedenen Sozialgesetzbüchern beraten, haben keinen Fallbezug und sind nur verpflichtet, die Klienten an die richtigen Stellen zu schicken und in dem Rahmen zu beraten, den der Klient/die Klientin anfragt. Im Gegensatz dazu steht das sozialpädagogische Konzept der Einzelfallhilfe, welches die Beratung im Kontext des Falls lokalisiert. Das „dünne“ und bürokratische Beratungsverständnis im Rahmen der amtlichen Sozialberatung, sei es Jugendhilfe (SGB VIII), Sozialhilfe (SGB II und III, SGB XII), Behindertenhilfe, (SGB IX) Arbeitslosen- und Berufshilfe (SGB II und III) oder Pflege (SGB XI) hat die sozialpädagogische Beratung schon immer herausgefordert. Ein umfassendes Beratungsverständnis, in dem der Klient über alle Rechtsansprüche aufgeklärt wird und ihm Maßnahmen empfohlen werden, wurde von Sozialarbeitern den Sachbearbeitern zumeist entgegengesetzt. Allerdings ist diese sozialstaatliche Beratung innerhalb der sozialen Arbeit bald selbst auf Kritik gestoßen, denn nicht immer hat sich das Ausschöpfen aller Rechtsansprüche als tatsächlich hilfreich für die Klienten erwiesen. Mit diesem Problem hat sich vor allem Hans Thiersch befasst und als Antwort ein lebensweltliches Konzept von sozialer Beratung entwickelt (Thiersch 1986, 1991, 1993). Um welche Probleme ging es dabei? Die sozialstaatlichen Zuwendungen haben selbst widersprüchliche Wirkungen entfaltet und eigene Lebenslagen und Sozialmilieus begründet, ohne jedoch 173
in gesellschaftliche Integration und Teilhabe zu münden. Die Idee der Sozialarbeit als Dienstleistung, ihre Klienten nicht mehr zu führen und zu pädagogisieren, sondern nur noch Maßnahmen zu konzipieren, zu bewilligen, zu evaluieren, stieß an verschiedene Grenzen. Zum einen hatten verschiedene Ämter unterschiedliche Handlungsmaßstäbe und bereiten ihre Klientinnen und Klienten widersprüchlich. Während z. B. im Sozialamt die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit an erster Stelle stand, konnte es vorkommen, dass Jugendämter vor der mütterlichen Erwerbsarbeit warnten und den Frauen rieten, besser Sozialhilfe zu beziehen und zu Hause zu bleiben. Zum Zweiten entstanden mit dem Anstieg der Scheidungsraten und dem Wandel der Lebensformen neue soziale Fragen, auf die die alten Sozialberatungskonzepte, die eine traditionelle Familienstruktur zugrunde legten, nicht mehr richtig passen wollten. Hans Uwe Otto und Mariele Karsten haben in diesem Zusammenhang von einer sozialpädagogischen Ordnung der Familie gesprochen (vgl. Karsten/Otto 1987), auf der die Beratung quasi aufsetzte, die es empirisch aber immer weniger gab. Hinzu trat, dass die klassische Sozialberatung sich an traditionellen Lebenslagen orientierte und neue soziale Fragen nur unzureichend erfassen konnte. Thiersch plädiert in seinem in den 1990er Jahren formulierten Ansatz der lebensweltlichen Beratung für eine Sensibilität des Beraters, auch gegenüber den unbewussten Bindungen von Klienten, vor allem der Sozialpädagogik, an ihr alltägliches Milieu und argumentiert mit der Lebenswelttheorie für deren Leitfaden und Bodenfunktion. Der Wandel der sozialen Milieus durch die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse führt nun vermehrt dazu, dass Klienten, die aus traditional schwachen Sozialmilieus entstammen, mit dem gesellschaftlichen Wandel der Individualisierung noch einmal anders umgehen als jene, die einem Sozialmilieu entstammen, welches privilegiert ist. Thiersch Beitrag zur pädagogischen Beratung ist sowohl in Abgrenzung zur Psychologie und Therapeutisierung als auch in Abgrenzung zu der sehr formalen und lebensweltlich verkürzten amtlichen Beratung zu sehen. Mit den Kategorien des Alltags und der Lebenswelt bemüht er für die Pädagogik eine eigene Expertise. Es bleiben aber die methodischen Probleme der alltagsorientierten und lebensweltlichen sozialpädagogischen Beratung bestehen. Selbstverständlich werden Diagnosen wie Intelligenz- oder Persönlichkeitstests abgelehnt. Die Diagnose bleibt in der Hand der Psychologie, die weit reichende Prognosen und Mitwirkungen bei Entscheidungen, z. B. über Beschulung von Kindern und sozialpädagogische Maßnahmen kontrolliert, zumeist ohne die Lebenswelt und den Alltag von Kindern zu kennen. Wie lebensweltliche Diagnose und Beratung jedoch aussehen kann, bleibt zunächst unklar. Ähnlich wie beim Konzept der pädagogischen Beratung als kritische Aufklärung, ist das konkrete Beratungshandeln den
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jeweiligen Professionellen überlassen – und die strömen in Ausbildungsgänge zur ressourcen- und lösungsorientierten Beratung und systemischem Therapie. Ein Durchbruch in der lebensweltlich orientierten Beratung gelingt in der Pädagogik allerdings durch die Habilitationsschrift von Gabriele Rosenthal zur biografischen Forschung (vgl. Rosenthal 1995). Rosenthal verknüpft das Lebensweltmodell, welches bei Husserl nur allgemein phänomenologisch beschrieben wird und seit Schütz vorwiegend im Kontext sozialer Milieus buchstabiert worden ist, mit der Theorie des gestalthaften Erzählens und der Biografizität von Erfahrungen (Rosenthal 1995). Rosenthals Beitrag zur gestalttheoretischen, hermeneutischen Rekonstruktion des Lebenslaufes ist deshalb auch für die pädagogische Beratung ein Durchbruch, weil sie die sozialwissenschaftliche Erkenntnis mit der Erfahrung der psychologischen Veränderung verbindet. Rosenthal entwickelt eine Konzeption des „heilsamen Erzählens“. Sie kehrt damit aus beratungswissenschaftlicher Sicht einerseits zu Rogers zurück. Ihr Konzept ist für die pädagogische Beratung allerdings besser verwendbar als Rogers Konzept der Personenzentrierten Beratung, weil Rosenthal deutlich den Bezugspunkt Lebensgeschichte wählt und eben nicht den psychologischen Bezugspunkt Person oder Persönlichkeit. Dieser entscheidende Unterschied, die Erzählung der Biografie, der Lebens- und Lerngeschichte führt aus den Persönlichkeitsmodellen heraus – seien sie nun in alten charakterologischen Modellen zugrunde gelegt, oder in Persönlichkeitsvariablen oder persönlichen Eigenschaften. Biografie und damit soziale und intersubjektive Erfahrung lässt sich im Kontext der pädagogischen Beratung anders verwenden, d. h. das diagnostische Dilemma der pädagogischen Beratung kann aufgelöst werden. Allerdings steht eine wirkliche Rezeption dieser Arbeiten von Rosenthal für die pädagogische Beratung und vor allem die Diagnose noch aus. Sie ist weiterer Forschung vorbehalten. 9.4 Der Einfluss systemischer Konzepte auf die pädagogische Beratung In den 1990er Jahren wurde die Systemtheorie und das Dienstleistungsverständnis zum einen als soziologischer Rahmen für Beratung, zum anderen als systemische Beratung und als dienstleistungsbezogene Sachberatung in verschiedenen Facetten bedeutend und hielt Einzug in das Beratungswesen. Es entstand eine enorme Ausweitung nicht klinischer und nicht hermeneutischer Beratungsformen wie Supervision, Mediation, Coaching, Counseling und Organisationsberatung, gleichzeitig etablierten sich neue Verständnisse von Sachberatung, die u. a. in den Verwaltungsreformbestrebungen (neue Steuerungsmodelle) fußten. Diese Beratungsformen sind deutlich stärker sozialwissenschaftlich fundiert und nicht psychologisch oder psychotherapeutisch. Sie setzen an politischen Theorien 175
(Konsenstheorien), an der Philosophie (sokratischer Dialog) oder auch an Vorstellungen von Beratung als Hilfe zu mehr Gerechtigkeit (just community) und an anwaltlichen Ombudsmodellen von Beratung an. Diese Beratungsformen finden zudem immer mehr in Gruppen, Teams und Organisationen statt und verstehen sich als Lern- und Entwicklungshilfen. Methodisch spielen Gruppendynamik, Psychodrama und systemische Beratung eine bedeutendere Rolle. Neben Psychologinnen und Psychologen treten SoziologInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, Angehörige von Gesundheitsberufen und BeraterInnen aus der Wirtschaft und Verbraucherzentralen als Anbietende auf. Eine besondere Bedeutung erhält die Organisationsberatung, die zunächst vorwiegend aus der Gruppendynamik heraus entwickelt wurde. Vielfach ist Organisationsberatung nichts anderes als Gruppendynamik und Psychodrama in Organisationen. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung der sozialen Kompetenzen von Organisationsangehörigen, Verbesserung der Teamfähigkeit und Förderung von Kompetenzen wie Rollendistanz, Empathie, Kommunikation und Ambiguitätstoleranz (Krappmann 1971). Die Beratungsperspektive setzt also bei den Personen an, sie sollen lernen und sich verändern, reflektieren, sich entwickeln. Insofern haben wir es mit einer klassischen pädagogischen Perspektive zu tun. Die 1990er Jahre sind indessen auch die Zeit der Systemischen Organisationstheorie. Organisationen werden zunehmend im Sinne Luhmanns (vgl. Luhmann 1984) als soziale Systeme aufgefasst, und Probleme der Organisationen werden auf der Folie der Systemtheorie beschrieben. Dies hat Konsequenzen für die Beratungsprofession. Eine zentrale Fragestellung lautet für systemische Beratung in Organisationen, warum soziale Systeme mit hohem Ressourcenverbrauch, mit entwickelten Strukturen und funktionalen Hierarchien nur mittelmäßigen Output bringen. Probleme der Komplexität und der Integration werden als Ursachen neuer Organisationsfragestellungen ausgemacht. Weniger das Demokratiedefizit in Organisationen, die mangelnde Fähigkeit der Mitarbeiter im Team zu arbeiten und ihre Konflikte fair zu besprechen, weniger das Problem von Konkurrenz und Wettbewerb untereinander, weniger die steilen Hierarchien und horizontalen Arbeitsteilungen, wie in der klassischen Organisationstheorie nach Max Weber (1952), Amtai Etzioni (1978) u. a., erscheinen als Ursache von modernen Organisationsproblemen, sondern Systemprobleme wie Komplexität, Chaos, Autopoiesis und Zentrifugaleffekte (Feuerstein 1993). Grundsätzlich ist in der Beratung von Organisationen von zwei Systemtheorien auszugehen, die sich zwar immer wieder annähern oder in Einklang gebracht werden sollen, die sich aber auch deutlich von einander unterscheiden. In der Tradition von Paul Watzlawick u. a. ist systemische Beratung aus der systemischen Therapie entstanden. Watzlawick hat die therapiebedürftige Interaktion vor allem in Familien als ihr Spiel bezeichnet, 176
welchem mit hermeneutischen Techniken ebenso wenig wie mit psychoanalytischen und behavioristischen Mitteln beizukommen ist. Watzlawicks Theorie ist eine Theorie der gestörten Familie bzw. der gestörten Kommunikation in Familien (Watzlawick 1965). Er entwickelte eine eigene Interventionsmethode, die er systemisch nannte. Watzlawick bediente sich hierzu Einsichten aus der Kybernetik und vor allem der pragmatischen Kommunikationstheorie. Die zweite Systemtheorie stammt von Niklas Luhmann und ist eine soziologische Theorie der Gesellschaft, in deren Mittelpunkt Modernisierungsdynamiken stehen. Nach Luhmann werden soziale Systeme in modernen Gesellschaften autonom und sind nicht mehr von Recht, Politik oder anderen Steuerungsmedien zu beeinflussen. Systeme beobachten und reproduzieren sich selbst. Ein besonderes Merkmal ist ihre Komplexität. In der Beratungstheorie spielen beide Systemtheorien eine wichtige Rolle. In der Gesundheitsberatung ist vor allem die soziologische Systemtheorie seit den 1990er Jahren durch die sich institutionalisierende Gesundheitswissenschaft bedeutend geworden. Eines ihrer Anliegen ist die Steuerung von komplexen Organisationen und der Aspekt der Versorgungsintegration. Als ein besonderes Beispiel für eine komplexe Organisation mit hohen Integrationsproblemen gilt das System Krankenhaus (Bandura/Feuerstein 1993) und dessen zeitliche, organisatorische sachliche und soziale Komplexität (Baecker 1999). Die teilweise massiven Problembeschreibungen bei der Versorgungsintegration im Bereich des Gesundheitswesens, vor allem aber auch die Ergebnisse der Versorgungsforschung haben Qualitätskonzepte in das System Krankenhaus implementiert, die zu einem beachtlichen Teil mit Beratungskonzepten verknüpft sind. Dies ist kein Zufall. Qualitätskonzepte sind in ihren jeweiligen wissenschaftlichen und praktischen Intentionen nicht von dem Programm der Erneuerung des sozialen Dienstleistungsbereiches zu trennen, in dessen Mittelpunkt ein neues Verständnis von Kontraktierung steht. Klienten sind heute Kunden geworden, bzw. werden als solche definiert. Hinzu tritt die Institutionalisierung der Konkurrenz, des Wettbewerbs und des Marktprinzips in das Gesundheits- und Sozialwesen. Ende der 1990er Jahre und um die Jahrtausendwende haben sich im Gesundheits- und Sozialwesen vor allem technische Formen der Qualitätssicherung etablieren können. Technische Ansätze von Qualität sehen diese als ein technisch herstellbares Ergebnis. Unter zu Hilfenahme von strukturierten und kontrollierten Prozessen wie zum Beispiel Controlling behaupten diese Ansätze, Qualität lasse sich systematisch erzeugen (vgl. Schaarschuch/Schnurr 2004). Das Ziel dieses Qualitätsverständnisses liegt zum einen in der Wirtschaftlichkeit, der Erbringung sozialer Dienstleistungen, zum Zweiten in der Legitimation gegenüber Kostenträgern und Sicherstellung langfristiger vertraglicher Bindungen. Die soziale Dienstleistung erscheint vor dem Hintergrund des technischen Qualitäts-
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verständnisses als machbar, als kontrollierbar und beherrschbar. Insbesondere die Zertifizierungen scheinen Objektivität und Transparenz zu gewährleisten. Gleichwohl haben die ersten Erfahrungen mit den Qualitätssicherungssystemen und Zertifizierungen gezeigt, dass zwei wesentliche Ebenen der sozialen Dienstleistung in dem Modell fehlen: die Besonderheit der sozialen Dienstleistung als ethische Leistung und die gesamte Ebene der Nutzer sozialer Dienstleistungen als außerhalb des Systems stehend, als Personen mit einer Lebenswelt. Formal wird die Perspektive der Klienten zwar als Kundenwunsch in die Qualitätsvorstellungen eingebracht, eine ethische Berücksichtigung fehlt jedoch, denn das besondere an diesem Kunden ist, dass er in teilweise existenziellem Ausmaß leidet. Die Versachlichung, die dem technischen Modell der Qualität innewohnt, hat insbesondere das moralische Verhältnis, welches zwischen „Dienstleister“ und „Kunden“ besteht, thematisiert. Einrichtungen und Träger haben sich bemüht, die Versachlichung durch Leitbilder und Ethiken, die quasi kompensatorisch der Qualitätssicherung gegenüber gestellt werden, zu mildern. Die moralische Dimension des Helfens, Pflegens, Sorgens stellt die größte Herausforderung für die ökonomisch-kontraktuelle Restrukturierung des Dienstleistungsbereiches, einschließlich seiner Qualitätskonzepte dar. Mehr noch, das ganze Modell ist hierüber erschütterbar. Die ethischen Einwände gegen eine Buchstabierung des Patientenverhältnisses als reines Kundenverhältnis und der sozialen Dienstleistungsarbeit als Markt waren in den 1990er Jahren beachtlich (vgl. Olk 1994). So hat Thomas Olk in den 1990er Jahren vor allem für ein wohlfahrtspluralistisches Leitbild geworben, indem Staat, Markt und Bürger ihre jeweiligen Kompetenzen und Potenziale einbringen. Solidarität und Sorge als expressive und moralische Dimensionen des Helfens und Pflegens seien unabdingbar. Es ist nicht zufällig, dass mit der ethischen Kritik an einem rein auf Markt ausgerichteten Gesundheitswesen gerade die Beratung von Patienten und Angehörigen als den Qualitätsprozess stützendes und ergänzendes Angebot und als eine wichtige lebensweltlich orientierte Ergänzung zur Systemdynamik eine neue Bedeutung erfahren hat. Einige der Befürworter von mehr Beratung in den komplexen Systemen des Gesundheitswesens betonen dagegen einen anderen Aspekt von Beratung. Sie soll Lernprozesse des Systems selbst unterstützen, in dem über die Beratung Erkenntnisse zu Systemproblemen extrahiert werden. Dies ist das Konzept des Beschwerdemanagements, der Patientenbeschwerdestellen oder der Patientenfürsprecher. Diese Beratungsformen sollen eine Art Reflexionsschleife (Schaarschuch/Schnurr 2004) in das System bringen. Zur zunehmenden Bedeutung von Beratung in komplexen Organisationen passen Vorstellungen und Erkenntnisse, dass Klienten künftig stärker als Koproduzenten einer sozialen und gesundheitlichen Dienstleistung verstanden werden 178
müssen. Qualität orientiert sich hier am Gebrauchswert der Dienstleistung für den Nutzer. Es sind die Nutzer, die definieren, was gut und schlecht an der Dienstleistung ist. Ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume erhöhen die Produktivität und Qualität der Dienstleistung. Diese nutzerorientierten Ansätze zur Qualität entstammen den Empowermentansätzen. Die Vertreter dieser Ansätze gehen von unterschiedlichen Machtpotentialen und Interessen zwischen Dienstleister und Klient aus, sie nehmen einen Konflikt zwischen den Leistungserbringern und den Nutzern an. Qualität hieße den Einfluss der Nutzer auf die Organisation zu erhöhen. Mittels Beratung in den komplexen Systemen sollen diese Formen der Qualitätssicherung gestärkt werden. Gleichwohl sind die Ansätze der Qualitätssicherung nicht zu trennen von Prozessen der Deregulierung im Gesundheitswesen und der Neugestaltung seiner Aufgaben im Sinne einer Entstaatlichung. Der Staat und die Gemeinschaft der Versicherten als Garant für die Wohlfahrt im Gesundheitswesen ziehen sich immer mehr zurück. Die Gesundheitspolitik hat sich zur Steuerung des Gesundheitswesens dafür entschieden, dieses als Markt zu betrachten. Dies verlangt nach einer zumindest formalen Gleichheit der Marktsubjekte. Aus Patienten werden Verbraucher und aus den Professionellen Anbieter von Dienstleistungen. Beratung bekommt in diesem Modell von Gesundheit als Markt eine Schlüsselstellung. Ihr Ziel ist die Herstellung einer Patientensouveränität als individueller Voraussetzung zur Teilnahme am Markt. Diese soll durch Patientenberatung erzeugt werden (vgl. Schnabel 2001: 86). 9.5 Ausblick: Fragestellungen und Probleme einer interdisziplinären Beratungswissenschaft In der psychosozialen, der psychologischen, der pädagogischen und der pflegerischen/ärztlichen Praxis steht Beratung heute an herausragender Stelle. Sie sei, so Sickendiek, Engel und Nestmann (1999: 13), zu einer verbreiteten, vielfältigen Hilfeform geworden und erfülle die Funktion einer Querschnittsmethode. Beratungskompetenz gilt heute als Schlüsselkompetenz für eine Reihe von Professionen, die nicht ausschließlich beraten, sondern bilden, therapieren, pflegen und helfen. Diese Stellung als Querschnittsmethode mache Beratung gleichzeitig zu einem, wie z. B. Claudia Sciborski in ihrem gemeinsam mit Matthias Elzer verfasstem Buch zu den kommunikativen Kompetenzen in der Pflege (vgl. Sciborski 2007: 167) kritisiert, unspezifischen Unterstützungsangebot – ein Vorwurf, der in Bezug auf Beratung häufig ausgesprochen wird. Für Frank Nestmann hat dieses Unspezifische der Beratung damit zu tun, dass sie sich aus alltäglichen Hilfeformen entwickelt hat und als guter Rat in der alltäglichen Lebenswelt 179
selbstverständlich sei (Nestmann 1988, 1991, 1997). Die Ansicht, dass es sich bei Beratung um ein unspezifisches, aber gleichzeitig wichtiges und modernes Unterstützungsangebot bei Problemen handele, vertritt auch Ruth Großmaß (1998: 2). Sie argumentiert, dass Beratung heute quasi überall vorkomme, als Verkaufsberatung, als Anlageberatung, als soziale Beratung, als Beratung im Rahmen von Bildung und Beruf und nicht zuletzt als psychosoziales Angebot, wodurch die Substanz von Beratung verwässere. Im Bereich der sozialpädagogischen und der psychosozialen Arbeit sei es üblich, dass neben dem Beraten als professionellem Handeln, Elemente wie Alltagsbegleitung, praktische Hilfe und Maßnahmen in das Beratungssetting gehören. Sickendiek, Engel und Nestmann (1999: 21) nennen dieses Phänomen Beratung unterschiedlicher Formalisierungsgrade und setzen das professionelle Handeln von ausgebildeten Beratern und Beraterinnen in Beziehung zum alltäglichen Beratungshandeln, als eine Form der natürlichen Hilfe. Beratungsstellen können so als Angebote mit sehr hohem Formalisierungsgrad bezeichnet werden, Sprechstunden im Kontext von sozialer Arbeit und Pflege als Angebote mittlerer Formalisierung und die alltägliche Hilfe oder die Selbsthilfegruppen als informelle Beratung. Einen Beratungstypus mit geringer Formalisierung stellen auch die neuen anonymen Beratungen dar. Die Autoren betonen, dass sich die meisten Ratsuchenden erst an Beratungsstellen wendeten, wenn die natürlichen Hilfenetze nicht mehr funktionierten. Die These von Beratung als einem unspezifischen Unterstützungsangebot hat aus Sicht der zitierten Beratungswissenschaftler noch einen weiteren inhaltlichen Grund. Die Verwurzelung der Beratung in der natürlichen Hilfe lässt die informellen Angebote lebensweltnäher und praktischer erscheinen, Beratung ist leichter konsumierbar in der alltäglichen Lebenswelt, als die Beratung eines Experten, die nicht nur formalisiert ist, sondern z. B. auf die Vermittlung in feststehende Maßnahmen und Angebote ausgerichtet. Eine zweite beratungswissenschaftliche These der Gruppe um Frank Nestmann ist, dass Beratung sich überall hin ausgeweitet habe und immer mehr nachgefragt würde. In ihrer Dissertation zur psychosozialen Beratung von Studierenden setzte Großmaß diese vermehrte Nachfrage nach Beratung, so wie auch die Ausweitung von Beratung, in Beziehung zur gesellschaftlichen Modernisierung im Sinne der These von Ulrich Beck, dass moderne Gesellschaften individualisierte Gesellschaften seien (Beck 1986). Individualisierung wird dabei in der Beratungswissenschaft, so wie Nestmann u. a. (1997) es meinen, zunehmend als Antwort auf die so genannten Modernisierungsanforderungen verstanden, wie Flexibilisierung, Verfügbarkeit vor allem aber Berufsorientierung des modernen Menschen. Die Modernisierungsanforderungen stehen im Gegensatz zu den traditionellen Bindungen und Entwicklungsaufgaben. Beratung hilft hier zu sondieren, zu reflektieren, zu verbinden. Diese moderne Beratung steht in 180
Spannung zu den Beratungsauffassungen seit den 1970er Jahren, die deutlich von der Idee der gesellschaftlichen Demokratisierung durch Diskurse und Reflexionen beeinflusst waren. Individualisierung und Demokratisierung schienen sich in dieser Zeit gegenseitig zu bedingen, die persönliche Emanzipation durch biografische Reflexion, Bildung, Beratung und Therapie und die gesellschaftliche Demokratisierung schien in dieser historischen Epoche analog zu verlaufen. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Im Gegenteil bedeutet Individualisierung heute eine zunehmende Abkopplung der Menschen vom Gemeinwesen, von Bindungen und traditionellen Entwicklungsaufgaben. Traditionen vermögen nur noch zu einem geringen Teil Orientierungen für die Zukunft zu geben. Menschen müssten, wie Ulrich Beck es formuliert hat, der Architekt ihrer Biografie werden. Die Beratungswissenschaft leitet daraus einen vermehrten Bedarf an Beratung ab. Sie will bei dieser Architekturleistung Beistand sein. Je individualisierter und moderner Gesellschaften organisiert seien, so Großmaß, desto größer würde der Bedarf nach Hilfeformen ohne Lenkung und Zwang (vgl. Großmaß 1998: 2). Die Zwanglosigkeit der Beratung wird von der Mehrheit der Beratungswissenschaftler traditionell betont und in einen Gegensatz zum Autoritätsverhältnis, z. B. der sozialen Arbeit oder des Arzt/Patientenverhältnisses gestellt. Beratungsvorgänge, so sagte bereits der pädagogische Berater Walter Bäuerle (1980), setzten offene Situationen voraus, fordern eine egalitäre Beziehung zwischen Ratsuchendem und Berater, sowie ein demokratisches Konzept (vgl. Bäuerle 1980: 65). Auch Klaus Mollenhauer und C. Wolfgang Müller (1965), die als „Väter“ der Beratung in der Pädagogik nach 1945 gelten, diskutierten ähnlich im Sinne von Beratung als ein Mittel der Demokratisierung und Überwindung von obrigkeitlichen Strukturen. Das große Interesse an Beratung seit den 1960er Jahren sehen beide als Ausdruck einer gesellschaftlichen Modernisierung im Sinne von Demokratisierung, unter anderem in Erziehung und Unterricht (Stichworte sind hier Kritik der Fürsorgeerziehung, deutsche Bildungskatastrophe, Demokratisierung des Schulwesens). In der Bedeutung der Beratung als einem „unpädagogischen“ Phänomen, also nicht mehr fürsorgliche Lenkung, sondern freie Entscheidung des Klienten, repräsentiere sich ein neues gesellschaftliches Verständnis, vor allem ein Erziehungsstil, „der unserer Gegenwart in besonderer Weise ‚liegt’“ (Mollenhauer/Müller 1965: 26). Setzt man beide beratungswissenschaftlichen Argumentationen, diejenige vom unspezifischen Unterstützungsangebot und diejenige von Beratung als modernes Angebot in individualisierten Gesellschaften in eine Beziehung, so zeigt sich die erste Argumentation vor allem als professionsbezogenes Problem für Beraterinnen und Berater. Wenn heute jeder Friseur und Versicherungsagent eine Schulung in Gesprächsführung absolviert, wenn die Techniken helfender Ge181
sprächsführung von Mitarbeitern in Call-Centern genauso angewendet werden wie in der Telefonseelsorge, dann führt das nicht unbedingt zu mehr Demokratie, sondern zu mehr Macht oder mehr Trivialisierung. Nimmt man die zweite These, den modernisierungstheoretischen Ansatz von Beratung hinzu, also „Beratung als Hilfeform ohne Lenkung und Zwang“ im Gegensatz zu den obrigkeitlichen Fürsorgetraditionen, dann muss hervorgehoben werden, dass die liberalen Aspekte der Beratung den demokratischen Aspekten quasi davon gelaufen sind. Die Gegenüberstellung von hier demokratisch und modern, dort obrigkeitlich und autoritär ist seit langem unterkomplex, auch wenn sie sich schön griffig anfühlt. Dies ist von Ulrich Beck (1986) bereits in seiner Publikation zur Risikogesellschaft deutlich geworden. Moderne und Demokratie entkoppeln sich. Zwanglosigkeit und Mündigkeit können auch für die Beratung nicht mehr synonym gebraucht werden. Ob Beratung mit ihren jeweiligen Angeboten, Klienten im Sinne von kritischer Aufklärung „souverän“ macht, sie als Kunden gewinnen möchte oder ob sie eine Veranstaltung moderner Zwanglosigkeit wird, wie dies in anonymen Beratungsangeboten gewissermaßen kulturalisiert wird, ist in großer Abhängigkeit vom jeweiligen Beratungssetting, Beratungskonzept und der verwendeten Beratungsethik zu sehen. Dass eine Methode und Technik der Beratung allein nicht ausreicht, um mehr individuelle Freiheit, mehr Demokratie und mehr Entscheidungsspielräume zu erhalten, ist die ethische Dimension der Beratung, die in der Beratungswissenschaft zumeist nur am Rand eine Rolle spielt. Eine, in diesem Zusammenhang wichtige, dritte beratungswissenschaftliche Fragestellung betrifft die Bedeutung von Beratung in komplexen sozialen Systemen wie Supervision, Mediation und Coaching. Beratung bekommt im Sinne des Ansatzes einer Querschnittsmethode, wie Sickendiek, Engel und Nestmann (1999) Beratung beschreiben, nicht nur im Zusammenhang mit der Professionalisierung von Beraterinnen und Beratern eine Bedeutung. Vor allem in der Weiterentwicklung und Steuerung von komplexen sozialen Systemen, wie z. B. das Fürsorgesystem oder das Bildungssystem, erhält Beratung eine zunehmend bedeutendere Funktion. Beratung ist immer auch eine Systemfunktion in komplexen sozialen Systemen, eine Stellung, die die Beratung immer wieder innehatte und die beratungswissenschaftlich unter dem Begriff der funktionalen Beratung lange problematisiert worden ist. Vor allem im Bereich der Pädagogik ist die Erfahrung mit den funktionalen Beratungsangeboten groß – und auch die Enttäuschung über ihre begrenzte Reichweite. So hat bereits in den 1970er Jahren in der Pädagogik eine deutliche Kritik am funktionalen Beratungstypus, vor allem an der Bildungsberatung und der Schullaufbahnberatung stattgefunden, die im Bildungssystem eine ähnliche Orientierungsfunktion einnehmen sollte, wie z. B. heute dem Case-Management im Bereich des Gesundheitswesens zugedacht ist. Beratung ist immer wieder „Kitt für stecken gebliebene Reformen“, wie Horn182
stein (1977) dies formuliert hat. Die Konzeption von Beratung als Systemfunktion hat Auswirkungen auf das Beratungsverständnis, die Beratungshaltung und die Professionalisierung von Beratern und Beraterinnen, vor allem auf die Beratungswirklichkeit. Sie bricht zudem mit Professionsverständnissen, die Beratung, gleichgestellt mit der Psychotherapie, nicht als ein funktionales Angebot in einem komplexen sozialen System sehen, sondern als einen eigenständigen Professionsbereich, der mit den Systemen nur lose verkoppelt ist – und dies war bisher eigentlich Konsens im Sinne einer ethischen Auffassung von Beratung. Neben diesen konzeptionellen und grundsätzlichen Überlegungen, von denen sich in der beratungswissenschaftlichen Literatur viele Ansätze finden, sind die wenigen Arbeiten zu unterscheiden, die sich mit Problemen der Beratungswirklichkeit auseinandersetzen, die also Theorie und Praxis in Beziehung setzen und sich nicht nur damit begnügen, aus Theorien Konzepte abzuleiten. Die konkreten Beratungssituationen, das Verhältnis von Beratungsangebot und Beratungsnachfrage, die Konflikte zwischen Beratern und Ratsuchenden, die Hilflosigkeit auch der Beraterinnen, das Problem von Beratung und Wissen sind in der Literatur nur selten beschrieben worden, anstatt dessen füllen Reihen von Methodenbüchern die Regale, deren Anwendungspraxis und -praktikabilität kaum überprüft wird. Vorhanden ist so eine nötige feldorientierte Beratungsforschung am deutlichsten im Feld der geschlechtssensiblen Beratung, z. B. im Frauenhaus (Brückner 1986, Straub/Steinert 1988) oder in kommunalen Gleichstellungsstellen (Gröning 1993). Hier werden auch die problematischen Interaktionen in der Beratungssituation ausgesprochen und beschrieben, was Beraterinnen und Berater von ihren Klientinnen und deren Problemen wirklich halten. Ähnliches hat Gerda Kasakos (1981) für die Jugendhilfe beschrieben und damit die Widersprüche und die Anspruchsdiskrepanzen in Beratungen deutlich aufgezeigt. Zusammengefasst ergeben sich aus der Perspektive der Beratungswissenschaft verschiedene Perspektiven, die erste Perspektive ist die Problematik der Professionalisierung der Beratung, loses Unterstützungsangebot mit starken Alltagsbezügen oder professionelle Tätigkeit von Experten mit eigenständiger zertifizierter Ausbildung und Qualifikation? Zur Professionsfrage gehören aber auch Probleme, wie das Verhältnis von Fachkompetenz und Beratungskompetenz. Welches fachliche und sachliche Wissen benötigen Beraterinnen und Berater, wie gestalten sie ihre Beziehung zum Klienten, handeln sie stellvertretend und als Anwalt/Anwältin oder halten sie sich aus der Lebenswelt ihrer Klienten heraus? Bringen sie ihre Positionsrolle in die Konfliktkonstellationen ein? Regeln und organisieren sie die Lebenswelt ihrer Klienten neu und wie stellen sie sicher, dass sie dabei nicht über das Ziel hinausschießen? Unter dem Dach des Sozialstaates, so die Beratungskritik der 1980er Jahre, ist es vorgekommen, dass jemand, der nur eine sachliche Auskunft haben wollte, diese nicht bekam, dafür 183
aber mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket die Sprechstunde verließ oder sich gar in therapeutischen Settings wieder fand. Die nächste Anforderung an die Beratungsforschung betrifft die Problematik von Beratung als funktionalem Angebot im Kontext von Steuerungsinteressen komplexer Systeme. Hier stellt sich die Forschungsfrage, wie stark soll das Angebot in die Systemrationalität eingebunden sein? Ist Beratung dann eine feste Systemfunktion, die von verschiedenen Professionellen im Ablaufplan einer Organisation angeboten wird, wie z. B. das Case-Management in der sozialen Arbeit oder das Entlassungsmanagement im Krankenhaus? Oder ist Beratung mit dem System nur lose verkoppelt, wie z. B. im Krankenhaus die Krankenhaussozialarbeit, die relativ unabhängig arbeiten kann oder die Pflegeberatung, die Patienteninformation und die allgemeine Patientenberatung? Oder wird Beratung konzipiert als eine eigenständige lebensweltorientierte Tätigkeit, die in Spannung und im Gegensatz zur Dynamik von Systemen steht und der Systemrationalität entgegengesetzt ist.? Diese Formen der Beratung dürften besonders wichtig in der Zukunft werden, denn sie setzen auf Reflexionsschleifen in komplexen Organisationen, auf Verlangsamung und Entschleunigung und fokussieren vor allem die anderen Zeitbedürfnisse von Patienten, Klienten oder Kunden in komplexen und zumeist auch sehr beschleunigten sozialen Systemen. Die Konsequenz ist, dass die Beratung nicht nur als unabhängig und lose verkoppelt mit dem jeweiligen sozialen System organisiert ist, sondern vielfach als Sand im Getriebe empfunden wird. Welche Stellung/Position brauchen Berater dann in den Organisationen, in denen sie tätig sind, um ihre jeweiligen Mandate wahrzunehmen und ihre Aufgaben zu erfüllen? Die dritte Fragestellung der Beratungsforschung ist schließlich die Frage nach den normativen und ethischen Dimensionen von Beratung. Beratung als Modernisierung der Gesellschaft heißt nicht zwangsläufig mehr Demokratie, wie dies die erste Generation von Beratern in den 1960er Jahren noch angenommen hatte, die mittels Beratung die Fürsorgesysteme, das Bildungssystem und teilweise auch das Gesundheitssystem in der deutschen Nachkriegsgesellschaft reformieren wollte. Statt mehr Demokratie durch mehr Beratung, entstand einerseits eine Kultur des Psychologischen bis hin zur Klientelifizierung von Personen und Therapeutisierung von Problemen (Gröning 2006), zum anderen erwiesen sich die Beratungskonzepte selbst als ethisch problematisch, da die Ratsuchenden auf die alte Rolle als „Fall“ reduziert blieben und eine Reihe von ethischen Kurzschlüssen, wie die Kopplung von Verkaufen und Beraten oder von Leiten und Beraten, als normal galten. Unabhängigkeit des Beraters/der Beraterin, der Ort der Beratung und die Gestaltung von Beratungssettings und Beratungskontrakten sind wichtige Dimensionen einer Beratungsethik. Vor allem im
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Kontext des Coaching und im Kontext neuer Formen der Organisationsberatung müssen diese Fragen bald beantwortet werden. Wie jede soziale Dienstleistungsarbeit geht Beratung „unter die Haut“ des Klienten (Gröning 2004: 228), wobei die Haut bei der Beratung im Gegensatz zur ärztlichen Behandlung nicht die körperliche Haut ist, sondern die psychische Haut und die soziale Haut, wenn vor allem die Dimension von Scham und Ehre beim Klienten angesprochen werden. Diese Tatsache, dass eine gute Beratung immer unter die Haut des Klienten geht, macht Beratung schwierig und unverdaulich. Um die Beratung konsumieren zu können, braucht der Klient nicht nur ein objektives Verhältnis zu sich selbst, sondern auch die Identifizierung und den Respekt als zentrale Tugend des Beraters. Große Beratungstheoretiker wie Carl Rogers haben dies vorgelebt und aufgeschrieben, Beratungstheorien, wie die feministische Beratung, haben diese Tugenden zur zentralen Säule erklärt. In der Beratungssituation ist der Berater oder die Beraterin letztlich auf sich selbst und das Vertrauen des Klienten angewiesen. Heute scheinen sich diese Grundsätze der Beratung, wie sie zum Beispiel von Rogers, der seine Klienten hören wollte, sie verstehen wollte und sich in sie einfühlen wollte, formuliert worden sind, sehr stark zu verändern. Bereits in der Beratungskritik der 1980er Jahre wurde ein anderer Beraterhabitus von Enno Schmitz und Hans Bude entdeckt und kritisiert (Schmitz/Bude 1989). Hier ging es nicht um die Inflation der Therapieformen und das Verschwinden des Politischen hinter dem Psychologischen wie viele Beratungskritiker es den Beratern vorgeworfen haben. Es ging nicht darum, dass eine unpolitische Hippiegeneration sich mit „all you need is love“ begnügt und sich lieber psychologischen Deutungen der sozialen Welt zuwendet, sondern um ein neues Machtmodell, welches speziell in der Beratung auftritt. Schmitz und Bude kritisierten Berater, die mit Klienten arbeiten, aber eigentlich im Auftrag eines Dritten, der im Hintergrund bleibt, agieren. Sie kritisierten, wenn man so will, den Typus des Unternehmensberaters und des Organisationsberaters, der zwar mit Angestellten arbeitet, aber eigentlich mit der Leitung einen Vertrag hat. Dieser Beratertypus hat sich heute ziemlich ausgedehnt und wird gemeinhin als Coach, Organisationsberater und Unternehmensberater bezeichnet. Vom Berater, der durch die Grundsätze von Rogers und Tausch oder durch die Psychoanalyse oder die feministische Beratung geprägt wurde, unterscheidet sich dieser Berater dahin gehend, dass seine Art des Beratungshandelns vom Kontrakt bis zur Abschlusssitzung seiner Professionalisierung geschuldet ist. Dazu haben sich die neuen Berater einen eigenen Habitus angeeignet, der sich vom Habitus des pädagogischen Beraters unterscheidet. Gepflegtes und auf Distinktion beruhendes Auftreten, unternehmerische Fähigkeiten und deutlich höhere Honorare sind Merkmale der neuen Bera-
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tungsgeneration, in deren Mittelpunkt die Organisation, die Führungskräfte, das Team stehen. Wenn diese Entwicklungen moderner Beratung verstanden werden wollen, dann ist es gegebenenfalls hilfreich, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Der Wunsch nach Professionalisierung, sozialer Anerkennung und Aufstieg zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der pädagogischen Beratung, nicht nur mit Höhen und Tiefen, sondern auch mit geglückten und missglückten Professionalisierungsstrategien. Vielleicht schützt die Lektüre des Buches vor zu großen Hoffnungen und hilft dabei, die Bedeutung der Ethik in der Beratung zu betonen und nicht nur auf Professionalisierung zu setzen. Dann wäre das Ziel dieses Buches erreicht.
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