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Scan by Schlaflos Buch Während das Königreich Wendar von den Aikha bedroht wird, probt Sabella den Aufstand gegen König Henry, ihren Bruder. Und als die Aikha sogar über die Grenzen des Königreichs vordringen, stellt sich ihnen nur Prinz Sanglant entgegen. Das ganze Land befindet sich in Aufruhr: Sabella hat inzwischen offen zur Rebellion
aufgerufen und sammelt mit Mitteln der schwarzen Magie eine mächtige Armee, um ihren Bruder zu vertreiben. Bald werden zwei ahnungslose junge Waisen in das Geschehen hineingerissen: Alain leistet Frondienst beim Grafen Lavastine, und Liath ist in der Gewalt eines sadistischen Geistlichen gefangen. Sie sind sich nie begegnet, doch als sie frei kommen, steuern ihre Schicksale in den Wirren des königlichen Familienzwists unaufhaltsam auf einen gemeinsamen Wendepunkt zu. Niemand ahnt, das die Zukunft des Königreichs auf den Schultern einer reitenden Botin und eines Knappen im Tross der rebellischen Sabella ruht ...
Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen.
Von Kate Elliott bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Erben der Nacht Im Namen des Königs Sternenkrone 1+2 Zwei Folgen in einem Band! Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Originaltitel: Crown of Stars 1. King's Dragon Originalverlag: DAW Books, Inc., New York Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Taschenbuchausgabe September 2005 Copyright © der Originalausgabe 1997 by Katrina Elliott \ Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Krasny Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24349 Lektor: Urban Hofstetter Printed in Germany ISBN 3-442-24349-1 www.blanvalet-verlag.de Dieses Buch ist aus tiefstem Herzen meiner Schwester Ann Marie Rasmussen gewidmet. Prolog Auf einem Hügel, der an drei Seiten von Wald und an einer vierten von den Ruinen einer Festung umgeben war, stand ein Steinkreis. Die Steine verliehen dem Hügel eine schroffe Schönheit, als sei tief in der Erde eine Burg vergraben, von der einzig die Zinnen des höchsten Turms noch herausragten. Es hieß, daß sich Kammern unter den Steinen befänden, Räume voller Schätze, Flüche und nichtmenschlicher Geschöpfe. Es hieß auch, daß Tunnel von den Kammern wegführten wie Flüsse von einem landumschlossenen See, und daß sich diese Tunnel
vom Hügel aus durch das ganze Land zogen, bis hin zum kalten Meer im Norden und dem großen Gebirge tief im Süden. Am dritten Tag des Monats Avril, als der Nachmittag zu fahler Dämmerung verblaßte und der Vollmond tief am dunkler werdenden Himmel stand, bahnte sich eine einsame Reisende ihren Weg durch die verstreuten Reste der alten Festung. Sie trug enge Hosen, eine einfache Leinentunika und bis zu den Knien geschnürte Sandalen Menschenkleider, an die sie sich während ihres Aufenthalts in diesem fremden Land gewöhnt hatte, ohne sich in ihnen wohl zu fühlen. Einen Stab in der einen Hand und einen kleinen Beutel am Gürtel, überwand sie das Labyrinth aus Mauern, als würde sie es tief in ihrem Innern kennen. Die Ruinen lagen auf einer sanften Anhöhe; sie erstreckten sich von den Ufern eines nahe gelegenen Flusses bis zu der Stelle, wo die letzte Mauer, nicht größer als ein Kind von etwa einem Jahr, allmählich zerbröckelte. Dahinter erhob sich der 11 Wald. Auf der anderen Seite des Flusses, hinter den Stümpfen gefällter Bäume und erst kürzlich abgebrannten Feldern, die für die Frühjahrssaat vorbereitet worden waren, sah man ein einsames Wachfeuer - Anzeichen des einzigen Dorfes in Sichtweite des steingekrönten Hügels. Die Reisende machte halt, bevor sie über die letzte Mauer der Festung stieg. Sie schlug die Kapuze zurück. Ihre Haare waren so hell, als schimmerten sie von einem eigenen Licht. Sie griff in den Beutel und holte ein Stück zerrissenen Stoff heraus; er war blutbefleckt. Sie zog eine Grimasse, als wollte sie den Fetzen auf den Boden werfen, um sich so von seiner bindenden Kraft zu befreien, bevor sie in den majestätischen Kreis der Steine trat. Doch sie hielt inne, neigte den Kopf leicht zur Seite und lauschte. Und fluchte. Sie zögerte - und dieser Augenblick genügte dem vordersten Reiter, sie zu entdecken. Zwar dämmerte es bereits, doch ihr Haar war hell, und seine Augen waren jung und scharf, und er suchte nach ihr. »Alia!« rief er. »Geliebte!« Energisch drängte er sein Pferd vorwärts, folgte dem durch die Festung führenden Pfad. Weitere Reiter tauchten hinter ihm auf. Er wartete einen Augenblick und ließ das Pferd einen Schritt zur Seite treten, damit Männer zu Fuß und mit Fackeln ihn einholen und ihm den Weg weisen konnten. Er hielt die Zügel nur mit einer Hand. Mit der anderen preßte er ein Stoffbündel gegen seine Brust. Beim Anblick des kleinen Bündels zuckte sie zurück. Der Schwur, den sie Jahre zuvor - nach der Zeitrechnung der Menschen - abgelegt hatte, schien jetzt unbesonnen und hart. Kühn hatte sie damals vor dem versammelten Rat gesprochen, doch ohne zu wissen, was sie in der Welt der Menschen erleiden würde. Dann blieb ihr Blick an einem Banner hängen. Ein von den 12 Narben vieler Schlachten gezeichneter Mann in einem goldschwarzen Überwurf trieb sein Pferd neben das des jungen Prinzen. Aufrecht und arrogant saß er im Sattel, hielt in der einen Hand das Drachenbanner, Symbol der Elitetruppen, die den Erben und damit auch das Königreich beschützten: ein schwarzer Drache, zusammengerollt vor einem goldenen Hintergrund. Oberhalb des Drachens strahlten sieben Sterne auf goldenem Feld. Sie tastete die Konstellation mit ihren Blicken ab, wollte sich daran erinnern, wofür die Sternenkrone stand, die, halbvergessen in der Welt der Menschen, aber zur Rückkehr bestimmt, vom Herrscher des alten Kaiserreiches getragen worden war. Dafür hatte sie das Opfer gebracht. Der junge Prinz hatte ihr Zögern ausgenutzt und zügelte jetzt sein Pferd neben ihr. Die Fackeln warfen tänzelnde Zungen aus Licht über die Ruinen, und ihre Hitze umgab sie wie ein Gefängnis aus Feuerwänden. »Warum bist du mir gefolgt?« fragte sie. »Du wußtest, daß ich gehen wollte.« »Wie kannst du fortgehen?« wollte er wissen, wie ein Kind, das dagegen aufbegehrt, beiseite geschoben zu werden. Aber er war noch so jung, kaum ein Mann, erst achtzehn Jahre alt nach der Zeitrechnung dieser Welt. Mit einiger Anstrengung gab er seiner Miene den Ausdruck hochmütiger Verachtung; er versuchte es jetzt auf andere Weise. »Bestimmt willst du dich doch vergewissern, daß das Kind wächst und gedeiht, und bleibst daher zumindest, bis es ein oder zwei Jahre alt ist.« »Keine Krankheit, die du kennst, wird ihm je etwas anhaben können, und kein Wesen, sei es männlich oder weiblich, ist in der Lage, es tödlich zu verwunden«, sagte sie, ohne lange nachzudenken. Ein Raunen ging durch die Gruppe der anwesenden Soldaten, als würde ein Windhauch das Laub der Bäume zum Ra13 schein bringen. Jene, die nahe genug standen, um ihre Prophezeiung zu hören, flüsterten die Worte denen zu, die weiter entfernt waren. Der alte Soldat drängte sein Pferd neben den jungen Prinzen. Das Drachenbanner fiel über den Sattel, streifte den Arm des jungen Mannes. In diesem Augenblick bewegte sich das Bündel auf seinem Arm. Das Baby wurde wach, stieß mit unbewußten, kindlichen Bewegungen die Decke von sich. Sie sah den schwarzen Haarschopf, das winzige Gesicht mit den weit geöffneten, jadegrünen Augen, die lebhaft vor sich hin starrten; sie sah die bronzefarbene, glänzende Haut, den letzten Beweis, daß es auch ihr Kind war, da sie so gar nicht der nordischen Blässe des jungen Prinzen entsprach, die jener selbst dort besaß, wo seine Haut Sonne und Wind ausgesetzt war. Das Baby umklammerte mit der winzigen Hand eine Ecke des Drachenbanners, zerrte mit all seiner kindlichen Kraft daran. Die bewaffneten Männer zeigten darauf und deuteten es als Omen: Der von einer nichtmenschlichen Frau geborene
Bastard spürte bereits sein Schicksal, auch wenn er noch nicht zwei Monate alt war. Der Prinz wandte das Gesicht ab, er wollte nicht hinschauen. Statt dessen reichte er das Baby vorsichtig - sehr vorsichtig! - dem alten Soldaten, der wiederum das Banner einem anderen Mann gab, um das Baby halten zu können. Dann stieg der Prinz ab, bedeutete seinen Männern, sich zurückzuziehen, und trat einen Schritt auf sie zu. »Du machst dir nichts aus dem Kind?« Sie unterließ es, dem alten Soldaten nachzublicken, der sein Pferd zu einem geschützteren Fleckchen lenkte, wo sich nicht so viele Steine gelöst hatten und es weniger halbverborgene, steile Abhänge gab, die ein unachtsames Tier nur zu leicht zum Straucheln bringen konnten. »Es ist nicht länger mein Kind.« 14 »Wie kannst du so etwas sagen ? Er ist das hübscheste Kind, das ich jemals gesehen habe!« »Das sagst du nur, weil es deines ist!« »Und auch deins!« »Nein, es ist nicht meins! Ich trug ihn, gebar ihn, blutete genug, um die Felder des Dorfes zu bedecken, an denen wir soeben vorbeikamen! Es war niemals meins, und es wird niemals mein Kind sein. Verlaß mich, Henry.« Sie hatte den östlichen Akzent niemals gelernt und sprach seinen Namen so aus, wie die Salianer es tun würden. »Ich habe dir niemals mehr als das Kind versprochen. Laß mich in Frieden gehen.« Der junge Mann sagte eine Zeitlang nichts - zumindest nicht mit Worten. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, doch er lernte bereits, seine Empfindungen zu verbergen. Während sie ihn beobachtete, fragte sie sich, was er wohl hatte sagen wollen und was er nun sagen würde. Als sie ihm ein Jahr zuvor zum ersten Mal begegnet war, hatte er immer sofort das von sich gegeben, was ihm in den Sinn gekommen war. Jetzt, durch seine Zeugungsfähigkeit zum rechtmäßigen Erben aufgestiegen, lernte er, erst nachzudenken, bevor er sprach. »Ich will dich nicht gehen lassen«, entgegnete er schließlich. »Bei der Beschwörung deines Namens, Alia, ich bitte dich, bleib bei mir.« »Alia ist nicht mein Name, Henry.' Es ist nur der, mit dem du mich ansprichst.« »Es geht dir noch nicht so gut, daß du weggehen solltest. Du warst so krank nach der Geburt.« »Es geht mir inzwischen gut genug.« »Warum bist du dann zu mir gekommen? Liebst du mich denn gar nicht?« Seine Stimme versagte bei den letzten Worten, doch er fing sich rasch wieder und straffte sich, bis sein Gesicht zu einer Maske erstarrt war. 15 Dies ist die Maske, dachte sie, die er meistens tragen wird, wenn er König ist. Sie erwog einen Augenblick, ihm die Wahrheit zu sagen, denn sie mochte ihn. Er war noch jung und vielleicht ein bißchen unreif, doch er besaß innere Stärke und war klug und zielstrebig, und darüber hinaus war er - nach menschlichen Maßstäben - durchaus als gutaussehend zu bezeichnen und besaß eine gewisse Eleganz und Stolz. Doch es war nicht an ihr, ihm die Wahrheit zu sagen, und nicht an ihm, sie zu erfahren. Er mochte zwar eines Tages König werden, aber er würde niemals mehr als eine Schachfigur in den Händen derjenigen sein, deren Macht bei weitem die überstieg, die er als Herrscher über zwei Königreiche jemals besitzen würde. Sie waren beide nur Schachfiguren, und bei diesem Gedanken empfand sie so etwas wie Sympathie für ihn. Sie beugte sich vor und küßte ihn auf den Mund. »Ich bin gegenüber menschlichem Charme nicht ganz gefeit«, log sie. »Aber ich habe andere Pflichten zu erfüllen.« Zumindest das war die Wahrheit. Sie konnte es nicht ertragen, ihm noch weiter zuzuhören. Sie konnte nicht länger in dieser Welt verweilen, die mit solch einem Gewicht auf ihr lastete, ihr so viel von ihrem kostbaren Blut gestohlen hatte. Sie befühlte den blutbefleckten Stofffetzen, den sie während der Geburt vom Laken abgerissen hatte; dieser Fetzen - und das, wofür er stand: ihre Beziehung zu dem Kind - war das einzige, was sie noch mit dieser Welt verband. Sie öffnete ihre Hand, und der Fetzen schwebte zu Boden. Während der Prinz niederkniete, um ihn aufzuheben, kletterte sie über die letzte Mauer. Er erhob sich, rief ihr etwas hinterher, versuchte jedoch nicht, ihr zu folgen. Sie hörte seine Stimme auch gar nicht mehr richtig, als die Steine vor ihr Ge16 stalt annahmen. Endlich hörte sie die schwache Musik, die ihr aus ihrer Anordnung entgegenwehte. Mit ihrem inneren Blick berührte sie den Stein des Windes, dann den des Lichtes, des Blutes, des Wassers, des Feuers und all die anderen Steine, jeden entsprechend seiner Eigenschaft. Damit sie in dieser Welt der Menschen das Innere eines jeden Gegenstandes berühren und beherrschen konnte, mußte sie sich mühsam um jene Mauern und Barrieren herumwinden, die mit Hilfe menschlicher Magie errichtet worden waren; was Menschen nicht verstehen konnten, pflegten sie zu bezwingen und dann zu beherrschen. Doch als sie zu den Steinen trat, lösten diese Mauern sich auf. Sie hob eine Hand. So, wie Nebel sich bildet, wenn Wasser und Luft aufeinandertreffen, so wallte auf ihre Beschwörung hin Nebel um sie auf und entzog sie seinem Blick, als sie den Steinkreis betrat. Ungehindert vom Nebel um sie herum sah sie über sich die Sterne schimmern. Sie deutete ihre Anordnung und beschwor die Macht, die aus den einzelnen Sternen erklang, verband sie mit der Anordnung der Steine, führte sie zusammen, einen nach dem anderen, bis ein wahrer Chor aus Klängen zum Himmel aufstieg. Sie beschwor das Herz ihrer eigenen Heimat, und auf dem Altar aus Feuer und Blut öffnete sich eine Pforte.
Es war keine richtige Tür und auch kein bloßes Flimmern in der Luft, es erinnerte vielmehr an einen Laubenbogen, der üppig mit blühenden Reben bewachsen war. Sie roch Schnee und spürte die scharfe Kälte des Winterwindes auf der anderen Seite. Ohne Zögern trat sie hindurch und ließ die Welt der Menschen hinter sich zurück. 17 Prinz Henry, Erbe der Königreiche Wendar und Varre, sah Alia von ihm weg und in den Steinkreis gehen. Er straffte sein Gesicht, seinen ganzen Körper, stählte sein Herz - und als der Nebel wallte und sie umhüllte, verstärkte er lediglich seinen Griff um den Stoffetzen, den sie zurückgelassen hatte und der alles enthielt, was ihm von ihr geblieben war: ihr Blut. Drei von seinen Männern standen jetzt neben ihm und versuchten mit Fackeln den Nebel zurückzutreiben, der plötzlich vom Boden aufgestiegen war und die Steine umhüllte. Licht blitzte im Steinkreis auf. Ein kalter Wind brannte auf seinen Lippen, und eine kristallene Schneeflocke sank mit dem letzten Windhauch auf seinen Stiefel hinab, wo sie sich auflöste. Noch immer wallte Nebel um die Steine. »Sollen wir nach ihr suchen, Prinz?« fragte einer der Männer. »Nein. Sie ist fort.« Er klemmte den Stoffetzen hinter seinen Gürtel und ließ sich das Pferd bringen. Als er aufgestiegen war und das Baby wieder auf dem Arm trug, machte er sich, umgeben von seinem Gefolge, an den langsamen Abstieg vom Hügel. Das Baby gab keinen Laut von sich, starrte jedoch mit weit aufgerissenen Augen gen Himmel - oder zu seinem Vater oder auf das Drachenbanner. Wer hätte das schon sagen können? Eine Brise erhob sich über den Steinen, und Nebelschwaden wogten vom Hügel herab über die Ruinen, hüllten die halbverfallenen Gebäude in dicke, graue Schleier und verbargen den Mond. Vorsichtig bahnten sich die Männer ihren Weg. Die, die zu Fuß waren, hielten sich am Zaumzeug der Pferde fest; andere riefen sich gegenseitig etwas zu, um am Klang ihrer Stimmen die Entfernung abzuschätzen. 18 »Ihr seid besser dran ohne eine solche Frau«, sagte der alte Soldat plötzlich zum Prinzen; er hatte den Tonfall eines Mannes, dem das Recht zustand, Ratschläge zu geben. »Die Kirche hätte sie niemals anerkannt. Und sie besitzt die Macht, die Natur zu beherrschen - und davon sollten wir uns besser fernhalten.« Das Drachenbanner hing jetzt schlaff herab, feucht und schwer von dem unnatürlichen Nebel. Doch der Prinz antwortete nicht. Sein Blick wanderte über die Fackeln rings um ihn, deren Flammen wie kleine Wachfeuer wirkten - Licht gegen die Finsternis. Ein Kreis aus sieben Kerzen, Licht gegen die Finsternis. Jene, die beobachteten, starrten in den Nebel, der von dem gewaltigen Block aus Obsidian in ihrer Mitte aufstieg. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln. Sie sahen winzige Gestalten in dem Nebel, einen jungen Edlen, der ein Baby trug und von treuen Anhängern umgeben war. Die Gestalten schritten langsam durch eine Festung, die zur Hälfte eine Ruine war, zur Hälfte der Geist des einst unversehrten Gemäuers. Die winzigen Gestalten schritten durch die Mauern, als wären sie Luft, und für sie waren sie auch Luft, denn die geisterhaften Mauern entstanden nur in der Vorstellung einiger Wächter - durch die Rückbesinnung auf das, was einst dort gewesen war, die Erinnerung einer neu gestalteten Vergangenheit. »Wir müssen das Kind töten«, erklang eine Stimme, als der Nebel sich legte und in den schwarzen Stein sickerte. Gleichzeitig löste sich das Bild vom Prinzen und seinem Gefolge auf. »Das Kind wird zu gut beschützt«, entgegnete eine zweite Stimme. 19 »Wir müssen es versuchen, denn sie wollen die Welt selbst zerschmettern.« Jene, die in ihrer Runde die Erste war, rührte sich, und die anderen, die miteinander geflüstert hatten, verstummten, so daß eine unheimliche Stille herrschte. »Es ist niemals weise, nur die Zerstörung zu suchen«, sagte die Erste. Ihre Stimme hatte einen vollen, tiefen Klang. »Dieser Weg führt nur zur Vernichtung. Dieser Weg führt in die Finsternis.« »Also?« verlangte der erste Sprecher zu wissen. Er zuckte ungeduldig mit den Schultern. Das Kerzenlicht schimmerte auf seinem weißen Haar. »So, wie der Feind die Gläubigen vom Pfad des Lichts abbringt und sie zum Abgrund führt, können Ungläubige vom Irrtum befreit und auf den rechten Weg gebracht werden, damit sie das Versprechen der Kammer des Lichts erkennen. Wir müssen der Macht, die in die Hände dieses ahnungslosen Kindes gelegt wurde, unsere eigene Macht entgegenstellen.« »Es gibt einen wichtigen Unterschied«, sagte der zweite Sprecher. »Wir wissen von der Existenz unserer Gegner, sie aber nichts von unserer.« »Zumindest nehmen wir das an«, meinte der erste Mann. Er saß steif da, ein Mann der Tat, der an langes Stillsitzen nicht gewöhnt war. »Wir müssen Vertrauen zu Unserem Herrn und Unserer Herrin haben«, erklärte die Frau, und die übrigen nickten und murmelten zustimmend. Das einzige Licht in ihrer Runde stammte von den flackernden Kerzen, deren helle Flammen auf der Oberfläche des Obsidian-Altars immer wieder scharf aufblitzten, und von den Sternen und der Scheibe des Mondes über
ihnen. Gewaltige Schatten umgaben sie wie ein Gefolge aus Riesen. 20 Ein unsichtbarer, aber spürbarer Wind strich stöhnend durch die Gemäuer, die letzten Überreste eines großen Reiches, das vor langer Zeit durch Feuer und Schwerter, Blut und Magie vernichtet worden war. Die Ruinen endeten so abrupt an einer Uferböschung, als hätte die Klinge eines Messers sie abgetrennt. Die Brandung zischte. Sand wurde vom Wind erfaßt und in den Kreis gewirbelt, knirschte zwischen ihren Zähnen und verfing sich in den Falten ihrer Gewänder. Eine der Anwesenden zitterte und zog die Kapuze tief ins Gesicht. »Es ist eine nutzlose Aufgabe«, sagte sie. »Sie sind stärker als wir, hier und in ihrem eigenen Land.« »Dann müssen wir nach Kräften greifen, die noch größer sind«, sagte die Erste unter ihnen. Ihre Worte wurden von erwartungsvollem Schweigen beantwortet. »Ich selbst werde das Opfer bringen«, fuhr sie fort. »Ich allein. Sie wollen die Welt in Stücke reißen, während wir mit all unserer Kraft danach trachten, sie der Kammer des Lichts näherzubringen. Wenn sie einen, der ihrer Sache dienen soll, auf diese Welt bringen, müssen wir uns ebenfalls einen suchen. Wir können sie anders nicht besiegen.« Nacheinander senkten sie die Köpfe, ergaben sich dem Urteilsvermögen der Ersten, bis nur noch ein Mann den Kopf erhoben hatte. Er legte der Frau eine Hand auf die Schulter. »Ihr werdet nicht alleine sein.« Eine Zeitlang verharrten sie in Schweigen. Die großen Ruinen umgaben sie, warfen die Stille zurück, das Skelett einer Stadt ohne geisterhafte Mauern oder Visionen einstiger Größe. Sand wirbelte von den Straßen auf, prallte gegen Stein, löschte Korn für Korn die gewaltigen Wandgemälde, die die langen Mauern schmückten. Doch wo die Mauern in die See reichten und von der messerscharfen Kante abgeschnitten 21 wurden, vermischte sich die geisterhafte Gestalt der alten Stadt mit den Wellen, eine Erinnerung an das, was sie einst gewesen war - nicht ertränkt von der See, sondern vollständig fort. Über ihnen zogen die Sterne ihre endlose Bahn. Das Kerzenlicht schimmerte auf der glitzernden Oberfläche des Obsidian-Altars. In seiner schwarzen Tiefe war noch das Bild des Steinkreises weit im Norden zu sehen, und die letzten Fackeln des Prinzengefolges flackerten kurz auf und verloren sich im Nichts, als sie aus dem Blickfeld verschwanden. 1 Der Sturm von der See
1 Als der Winter sich in den Frühling verwandelte und zu Ehren des Tages, da St. Thekla die Verzückung des heiligen Daisan bezeugt hatte, eine Messe gehalten wurde, war es an der Zeit, die Boote vorzubereiten, damit sie im Sommer fremde Häfen ansteuern konnten. Alain lag am Strand unter dem auf Baumstämmen aufgebockten Boot seines Vaters und untersuchte den Rumpf. Er hatte es im Herbst geteert, und es hatte den Winter gut überstanden; nur eine Planke hatte sich gelöst. Er stopfte mit Teer getränkte Schafswolle in die Lücke und schlug einen Weidenholznagel auf einem Taukranz ein. Ansonsten befand sich das Boot in einem guten Zustand. Am Ende der Heiligen Woche würde sein Vater es mit Ölfässern und Mühlsteinen beladen, die aus nahe gelegenen Steinbrüchen stammten und in den Werkstätten des Dorfes bearbeitet worden waren. 23 Doch Alain würde seinen Vater nicht begleiten, obwohl er inständig darum gebettelt hatte, dabeisein zu dürfen wenigstens diesen einen Sommer. Gelächter erscholl weiter oben am Strand, wo der Weg ins Dorf führte, und er kroch unter dem Boot hervor. Er wischte die Hände an einem Fetzen Stoff ab und wartete auf seinen Vater, der noch eifrig mit anderen Händlern sprach; auch sie waren hergekommen, um ihre Boote für die Fahrt vorzubereiten. »Komm, mein Sohn«, sagte Henri, nachdem er einen Blick auf das Boot geworfen hatte. »Deine Tante hat ein Festmahl vorbereitet, und anschließend beten wir bei der Mitternachtsmesse um gutes Wetter.« Schweigend kehrten sie nach Osna zurück. Henri war ein breitschultriger Mann, nicht sehr groß, mit braunen Haaren, in denen silbrige Strähnen leuchteten. Er verbrachte den größten Teil des Jahres fern von zu Haus und bereiste die Häfen entlang der Küste, doch im Winter saß er meist still in der Werkstatt seiner Schwester und zimmerte Stühle, Bänke und Tische. Er sprach wenig, und wenn doch, dann nur ganz leise - im Unterschied zu seiner Schwester, die mit ihrer scharfen Zunge einen Wolf das Fürchten lehren konnte. Alains Haare waren dunkler, und obwohl er schon jetzt deutlich größer als sein Vater war, verhieß sein schlaksiger Körper - mit jener Sicherheit, mit der manch ein Frühlingstag Sturm und Regen mit sich führte noch eine Reihe weiterer Zentimeter. Wie immer wußte Alain nicht so recht, was er zu seinem Vater sagen
sollte, als sie den sandigen Weg entlangschritten; dann unternahm er einen neuen Versuch, ihm die Erlaubnis abzutrotzen. »Julien ist mit dir gesegelt, als er sechzehn war, und das war sogar noch vor seinem Jahr beim Grafen! Warum kann ich dann nicht dieses Mal mitkommen?« 24 »Es geht nicht. Ich habe der Diakonissin versprochen, dich der Kirche zu übergeben. Nur deshalb hat sie mir damals auf Burg Lavas gestattet, dich als kleines Baby in Pflege zu nehmen.« »Aber wenn ich schon das Gelübde ablegen und den Rest meines Lebens hinter Klostermauern verbringen muß, warum kann ich dann nicht wenigstens einen einzigen Sommer lang mit dir gehen und die Welt sehen ? Ich möchte nicht wie Bruder Gilles -« »Bruder Gilles ist ein guter Mann«, erwiderte Henri scharf. »Ja, das ist er, aber er hat das Kloster nie wieder verlassen, seit er es im Alter von sieben Jahren betreten hat! Es ist nicht recht, daß du mich zu diesem Schicksal verdammst. Wenn ich wenigstens einen Sommer mit dir kommen könnte, hätte ich etwas zur Erinnerung.« »Bruder Gilles und die anderen Mönche sind sehr zufrieden.« »Ich bin nicht Bruder Gilles!« »Wir haben bereits darüber gesprochen, Alain. Du bist seit langem der Kirche versprochen und jetzt mündig. Alles wird genau so geschehen, wie Unser Herr und Unsere Herrin es bestimmt haben. Es ist nicht an uns, ihr Urteil anzuzweifeln.« Henri verzog den Mund auf eine Weise, die jede weitere Diskussion ausschloß; Alain wußte, sein Vater würde nicht weiter darüber reden. Wutentbrannt stürmte er weiter; da er größere Schritte als sein Vater machte, ging er ihm bald etwas voraus, was nicht sehr höflich war. Nur einen Sommer! Einen einzigen Sommer, in dem er etwas von der Welt sehen konnte und die Möglichkeit hatte, unbekannte Gestade zu erforschen, weit entfernte Häfen anzusteuern, mit Menschen anderer Städte und Länder zu sprechen und jenes fremde, ferne Land zu bereisen, von dem die Diakonissin in den Predigten über die 25 heiligen Brüder sprach - das Land jener Wanderpriester, die den barbarischen Ländern das Heilige Wort der Einigkeit gebracht hatten. War das zuviel verlangt? Er schlüpfte durch das Tor des Palisadenzauns, hinter dem das Vieh eingepfercht war, und als er das Langhaus von Tante Bei erreicht hatte, war er ziemlich übler Laune. Tante Bei stand im Garten und betrachtete die frisch gepflanzte Petersilie und den Meerrettich. Sie richtete sich auf, musterte ihn abschätzend und schüttelte den Kopf. »Vor der Feier muß noch Wasser geholt werden«, sagte sie. »Julien ist heute dran.« »Julien flickt die Segel. Und ich warne dich, Junge, fang nicht an, mir zu widersprechen. Und streite nicht mit deinem Vater. Du weißt, er ist der starrsinnigste Mann im ganzen Dorf.« »Er ist nicht mein Vater!« rief Alain. Dafür erhielt er eine Ohrfeige, hinter der die Kraft von dreißig Jahren Brotkneten und Holzhacken steckte. Der kräftige Schlag färbte seine Wange rot und brachte ihn zum Schweigen. »Sprich nie wieder so von dem Mann, der dich aufgezogen hat. Und jetzt geh.« Er zog ab; niemand traute sich, Bei zu widersprechen, der älteren Schwester des Kaufmanns Henri, Mutter von acht Kindern, von denen fünf noch lebten. Schweigend nahm er am abendlichen Festmahl teil, und schweigend ging er auch zur Kirche. Es war Vollmond, und das helle Licht strömte durch die neuen Glasfenster, die die Bewohner von Osna für ihre Kirche gekauft hatten. Mond und Kerzen spendeten genügend Licht, um die weißgetünchten Holzwände zu erhellen, auf denen riesengroße Bilder Episoden aus dem Leben des heiligen Daisan und Taten der glorreichen Heiligen und Märtyrer erzählten. 26 Die Diakonissin hob ihre Hände zur Lobpreisung und begann, die Liturgie zu singen. »Geheiligt ist das Land Unserer Herrin und Unseres Herrn und der Heiligen Botschaft, wie sie sich offenbart im Kreis der Einigkeit, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« »Amen«, murmelte er gemeinsam mit der Versammlung. »Kyrie Eleison.« Herr erbarme dich. Er faltete die Hände und versuchte sich zu konzentrieren. Die Diakonissin schritt jetzt in der Kirche die Stationen ab, die symbolisch für das Leben und das geistliche Amt des heiligen Daisan waren; auf diese Weise brachte sie den Gläubigen die Heilige Botschaft, die ihm durch die Gnade des Herrn und der Herrin zuteil geworden war. »Kyrie Eleison.« Herrin erbarme dich. Die in kräftigen Farben bemalten Bilder leuchteten hell im Fackellicht. Auf diesem hier war der heilige Daisan am Feuer zu sehen, wo das erste Mal die Vision vom Kreis der Einigkeit über ihn gekommen war. Und das dort zeigte den heiligen Daisan zusammen mit seinen Anhängern, wie er sich weigerte, vor der dariyanischen Kaiserin Thaissania niederzuknien und ihr zu huldigen, Ihr Mit Der Maske. Da waren die sieben Wunder, jedes einzelne liebevoll mit vielen Einzelheiten dargestellt. Und schließlich war der Leichnam des heiligen Daisan am Herdfeuer zu sehen, von wo aus sein Geist die sieben Sphären empor bis in die Kammer des Lichts gesogen wurde, während seine große Schülerin unten weinte und ihre Tränen den heiligen Kelch füllten.
Doch für Alain, der da in der Mitternachtsmesse saß, lauerten andere, geisterhaftere Gestalten hinter den erleuchteten Mauern; Gestalten, deren Umrisse mit feinem Gold verziert waren, deren Augen wie Juwelen glänzten und deren Gegenwart wie Feuer in seiner Seele brannte. Die Eroberung der alten Stadt Dariya durch räuberische 27 Reiter: In leuchtenden Bronzerüstungen und mit erhobenen Speeren und Schilden fochten die letzten Verteidiger einen hoffnungslosen Kampf, aber sie fochten ihn mit der Kraft und Ehre jener Männer, die sich vor einem ehrlosen Feind nicht verbeugten. Das waren ganz und gar nicht die Bilder der Kirche, sondern Geschichten über das strahlende Leben alter Krieger. Sie verfolgten ihn. Der schicksalhafte Kampf bei Auxelles, wo Taillefers Neffe und seine Männer ihr Leben ließen - dadurch aber das junge Reich vor dem Einmarsch der Heiden bewahrten. »... bitten wir um gutes Wetter, um eine reiche Ernte und um Frieden. Lasset uns beten.« Der glorreiche Sieg von König Henry I. von Wendar gegen qumanische Eindringlinge, die über den Fluß Eldar kamen; sein Enkel, der Bastard Conrad der Drache, führte die Reiterei direkt in die Mitte der schrecklichen qumanischen Reiterhorden, zerschmetterte deren Linie und trieb die Qumaner in kleinen Häufchen zurück in ihre eigenen Lande, jagte die Fliehenden wie wilde Tiere. »Geheiligt sind die Trauernden, denn ihnen wird Trost widerfahren. Geheiligt sind die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit gewährt. Geheiligt sind die im Herzen Reinen, denn sie werden mit der Heiligen Botschaft auf den Lippen sprechen.« Der letzte Ritt von König Ludowig von Varre, erst fünfzehn fahre alt, doch unerschrocken, als sich Piratenschiffe der Nordküste seines Königreiches näherten. In der Schlacht von Nysa fand er den Tod, wenn auch niemand zu sagen wußte, wessen Hand den entscheidenden Hieb geführt hatte. War es die eines Piratenfürsten gewesen oder die eines Verräters, der den Plänen des neuen Königs von Wendar diente, eines Kö28 nigs, der durch Ludowigs Tod auch zum König von Varre werden würde? Statt der Diakonissin zu lauschen, hörte Alain das Klingeln des Pferdegeschirrs, das Klirren der Schwerter, das Knattern der Banner im Wind, die süße Kraft der verbündeten Soldaten, wenn sie mit einem Kyrie Eleison auf den Lippen in den Kampf ritten. »Denn du bist die Gnade, und dir gebührt der Ruhm, und auch der Mutter, dem Vater und der Heiligen Botschaft, die im Himmel verkündet wird, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« »Amen«, fiel er rasch mit ein, als die Versammlung zu einem letzten Ausruf die Stimme erhob. »Gehen wir in Frieden, im Namen Unseres Herrn und Unserer Herrin. Habet Erbarmen mit uns.« »Habet Erbarmen mit uns«, echote sein Vater. Seine Stimme klang so weich wie das Rascheln der Blätter auf dem Dach. Er legte einen Arm um Alain, als sie die Kirche verließen und beim Licht einer Fackel zurück zum Langhaus gingen. »Alles geschieht so, wie es geschehen muß«, sagte er, und Allain spürte, daß dies das letzte Wort war, das Henri in dieser Angelegenheit jemals sagen würde. Die Entscheidung war schon vor langer Zeit gefallen: einer für die See, einer für die Kirche. »Wie war meine Mutter?« wollte Alain plötzlich wissen. »Sie war wunderschön«, sagte Henri. Alain spürte die Trauer in der rauhen Stimme seines Vaters. Er wagte nicht, weitere Fragen zu stellen, aus Angst, die Wunde weiter aufzureißen. So traten sie ein und tranken eine letzte Tasse heißen Wein miteinander. Bei Anbruch des Tages begleitete Alain sie zum 29 Strand hinunter und verabschiedete sich von ihnen; er rollte das Boot von den Stämmen und schob es in die Wellen. Sie verstauten die Ladung. Sein Cousin Julien war bleich vor Aufregung; er war zwar bereits einmal mitgefahren, aber nur zu einem nahe gelegenen Hafen in Varre. Niemals war er für einen ganzen Sommer in den Süden gereist. »Mache deiner Familie alle Ehre«, mahnte Henri mit einem Blick auf Alain. Dann gab er Tante Bei einen Kuß und stieg als letzter in das Boot. Die Ruderer legten sich in die Riemen, und Julien machte sich am Rahsegel zu schaffen. Noch lange, nachdem die anderen längst wieder auf dem Weg zurück zum Dorf waren, stand Alain am Strand. Er stand da und schaute auf das graublaue Wasser, bis von dem Segel nichts mehr zu sehen war. Schließlich drehte er sich um; er wußte, daß Tante Bei Arbeit für ihn hatte. Schweren Herzens schritt er zurück zum Dorf. 2 Wie dunkle Gipfel erhoben sich die Inseln von Osna-Sund aus dem schmalen Dunststreifen am Horizont weit draußen auf der See. Alain blieb stehen und blickte über die Bucht hinweg zu ihnen, die Hand schützend über die Augen gelegt. Das Wasser glitzerte wie Metall, und die See lag still und ruhig da. Vom Kamm des Drachenrückens aus schienen sich die Wellen unter der glühenden Sonne zu glätten. Hier oben war nicht ein einziger Windhauch zu spüren, doch von weit draußen, jenseits der Inseln, trieb eine tiefhängende Wolkenbank
auf das Land zu. Es würde Regen geben. Einen kurzen Augenblick lang blitzte im Sonnenlicht ein 30 Stück weißes Segeltuch auf; es war nur ein sehr kleines Stück und verschwand gleich wieder im Horizont aus Wolken und grauer Wasserfläche. Vielleicht war es das Boot seines Vaters, das sich zu dieser Zeit zwischen den Inseln hindurchschlängeln mußte. Mit einem tiefen Seufzer wandte Alain den Blick vom Wasser ab. Er versuchte den an einem Seil festgebundenen Esel hinter sich herzuziehen, doch der ließ nur zögernd vom Grasen ab. Endlich gelang es ihm, und sie folgten weiter dem Weg, der über den Kamm des Drachenrückens zum Kloster führte. Mit jedem Schritt wirbelten sie Sand auf. Tief unter ihnen rauschte die Brandung. Der kurvenreiche Pfad führte jetzt zum Drachenschwanz hinab, wo das Kloster lag, und schon bald konnte Alain einen Blick auf die Gebäude erhaschen, die um die Kirche und den einzigen Turm herumstanden. Es war indes nur ein kurzer Blick, denn bald darauf entzog sich das Kloster wieder seinem Blick, als sich der Pfad an der landeinwärts gelegenen Gratseite zwischen verstreuten Felsbrocken hindurch weiter hinabwand, bis er sich, mittlerweile nur noch lehmig, schließlich durch einen stillen Wald schlängelte. Der Weg führte auf eine Lichtung, und viel zu schnell danach trat Alain durch die geöffneten Tore des Klosters, das von St. Eusebe an für den Rest seines Lebens sein Heim sein würde. Oh, Herr und Herrin! Bestimmt war sein Gesicht flammend rot, ließ seine Schuld für alle sichtbar werden: Der Junge, der den Vater und die Mutter des Lebens liebte und dennoch tief in seinem Innern dagegen aufbegehrte, in ihren Dienst zu treten. Beschämt starrte er auf seine Füße, als er um die Nebengebäude herumschritt und schließlich die Schreibstube erreichte. Bruder Gilles wartete auf ihn, auf einen Gehstock gestützt und geduldig wie immer. 31 »Du bringst den Kerzenzehnten vom Dorf«, meinte der alte Mönch anerkennend. »Oh, und wie ich sehe, auch einen Krug Öl.« Alain lud vorsichtig die Körbe ab, die mit Gurten zu beiden Seiten des Esels befestigt waren. Er legte die in dicke Tücher gehüllten Kerzen vorsichtig auf die Fliesen der Schreibstube. Bruder Gilles stieß die Tür auf. Obwohl die wenigen kleinen Fenster geöffnet und die Läden draußen gegen die Mauer geklappt waren, gewährten sie den Mönchen, die an den Pulten in der Mitte des Raumes Meßbücher und Lesungen abschrieben, nur wenig Licht. »Der Ertrag der letzten Woche war schlecht«, erklärte Alain, als er den Krug mit dem Öl hochhob. »Tante Bei hat versprochen, nach Herrintag zwei weitere Krüge zu schicken.« »Sie ist wirklich sehr großzügig. Der Herr und die Herrin werden sie für ihren Dienst belohnen. Du kannst das Öl in die Sakristei tragen.« »Ja, Bruder.« »Ich werde mit dir gehen.« Sie traten wieder ins Freie und gingen ein Stück um die Kirche herum; an der anderen Seite wurde der Weg durch jene Mauern begrenzt, hinter denen sich die Novizenunterkünfte befanden. Schon bald würde er dort all seine Tage und Nächte verbringen. »Etwas bedrückt dich, mein Sohn«, sagte Bruder Gilles sanft, während er neben Alain herhinkte. Alain wurde rot; er fürchtete, ihm die Wahrheit zu sagen, fürchtete, die Vereinbarung zu entehren, die längst zwischen dem Kloster und seinem Vater und seiner Tante getroffen worden war. Bruder Gilles seufzte leise. »Du bist für die Kirche bestimmt, mein Junge, ob du willst oder nicht. Ich nehme an, du 32 hast zu viel von den großen Heldentaten der Krieger von Kaiser Taillefer gehört?« Alain errötete noch stärker, er antwortete jedoch immer noch nicht. Es war ihm unerträglich, Bruder Gilles zu belügen; er hatte ihn immer so freundlich behandelt, als wäre er ein Mitglied seiner Familie. War es denn zuviel verlangt, daß er nur ein einziges Mal nach Medemelacha reisen wollte, zu den Häfen im Süden oder gar ins Königreich Salia? Um mit eigenen Augen die seltsamen und wundervollen Dinge zu sehen, von denen die Kaufleute sprachen, die jedes Jahr im Sommer mit ihren Schiffen den Sund von Osna verließen ? Alle Kaufleute erzählten solch spannende Geschichten, außer sein Vater natürlich, der etwa so gesprächig war wie ein Felsbrocken. Allein die Vorstellung! Er könnte zum Kampf gerüsteten Männern mit der Standarte des salianischen Königs begegnen. Er könnte Hessi-Händler beobachten, Männer aus einem so weit entfernten Land, daß keiner der Kaufleute aus Osna jemals ihre Städte besucht hatte, Männer mit ungewöhnlich dunkler Hautfarbe und ebensolchen Haaren, mit runden, spitz zulaufenden Kopfbedeckungen, die sie selbst dann trugen, wenn sie sich innerhalb des Hauses aufhielten. Es hieß, daß sie zu einem anderen Gott beteten, nicht zu dem Herrn und der Herrin der Einigkeit. Er könnte mit Händlern von der Insel Alba sprechen, in deren tiefen Wäldern angeblich noch immer die Verlorenen umherirrten, den Blicken der Menschen entzogen. Oder er könnte von den Abenteuern der Wanderpriester hören, die sich erneut in barbarische Lande wagten, um jenen Menschen, die außerhalb des Lichts des Heiligen Kreises der Einigkeit lebten, die Botschaft des heiligen Daisan und der Kirche der Einigkeiten zu bringen.
Jedes Jahr im Sommer gab es einen großen Jahrmarkt in Medemelacha, wo alles nur Erdenkliche gekauft und verkauft 33 werden konnte. Da gab es Sklaven aus den Ländern weit im Süden, wo die Sonne so heiß brannte wie der Feuerofen eines Schmiedes (so behaupteten es zumindest die Kaufleute) und ihre Haut dunkel färbte; andere aus den Eislanden waren dagegen so blaß, daß man fast durch sie hindurchsehen konnte. Es gab junge Basilisken in mit Tüchern verhängten Käfigen, Kobold-Kinder aus dem Harenz-Gebirge, die zu Rattenfängern ausgebildet worden waren, Seidenballen aus Arethusa, Cloisonne-Verschlüsse in der Form von Wolfsköpfen, gold und grün und blau, zur Verzierung von Gürteln und Fibeln, mit denen die Edlen ihre Umhänge befestigten. Es gab wundervoll geschmiedete Schwerter. Krüge aus weißem Ton mit Zierleisten bemalt. Bernstein. Engelstränen wie Perlen aus Glas. Splitter aus Drachenfeuer, das zu Obsidian erstarrt war. »Du bist abwesend, Alain.« Er riß sich zusammen, sich plötzlich bewußt, daß er wie ein Narr zehn Schritte von der Tür entfernt stand, die in das Vestibül und dann zu der Sakristei führte, wo die heiligen Gefäße und Gewänder für die Kirche aufbewahrt wurden. Bruder Gilles tätschelte milde lächelnd seinen Arm. »Du solltest akzeptieren, was Unser Herr und Unsere Herrin für dich entschieden haben, mein Sohn. Denn Sie haben entschieden. Dir bleibt nur übrig zu verstehen, was Sie von dir verlangen, und Ihnen zu gehorchen.« Alain neigte den Kopf. »Das werde ich, Bruder.« Er trug den Krug mit dem Öl hinein und übergab ihn einem der stummen Gehilfen. Als er wieder nach draußen trat, vernahm er Pferdegetrappel und den fröhlichen Lärm von Reitern, die nicht wie die meisten Mönche durch ein Schweigegelübde gebunden waren. Vater Richander, Bruder Gilles und der für den Haushalt des Klosters verantwortliche Kellermeister standen vor der Kirche 34 und sprachen mit einigen Besuchern. Die Fremden trugen auffallende Tuniken und Hüte, die mit roten Borten und blauen Diamanten besetzt waren. Die Gruppe bestand aus einer Diakonissin und einem Mönch in groben, braunen Gewändern, einer Frau mit einem pelzbesetzten Umhang, zwei gutgekleideten Männern und einem halben Dutzend Fußsoldaten in Ledertuniken. Er durfte gar nicht daran denken, wie es wäre, frei zu sein und von hier wegreiten zu können, weit weg von diesem Kloster, dem Dorf und vor allem weit weg von dem großen Drachenrücken-Kamm, der seine Welt begrenzte! Er schlich näher heran, um etwas hören zu können. »Der übliche Zehnte schließt auch den einjährigen Dienst von fünf jungen, gesunden Menschen ein, nicht wahr, Meistrin Dhuoda?« Vater Richander richtete die Frage an die Frau in dem pelzgesäumten Umhang. »Wenn Ihr mehr verlangt, werden die Dorfbewohner sich gezwungen sehen, einige der Diener und Dienerinnen zu schicken, die hier angestellt sind, und das würde uns vor eine schwierige Situation stellen. Gerade jetzt, wo die Aussaat bevorsteht.« Dhuodas Gesicht hatte etwas Hochmütiges, wenngleich dies durch den ernsten Ausdruck etwas gemildert wurde. »Das ist wahr, Vater, doch die Überfälle entlang der Küste haben in diesem Jahr zugenommen, und Graf Lavastin muß sein Heer verstärken.« Graf Lavastin! Meistrin Dhuoda war seine Kastellanin; Alain erkannte sie jetzt, als sie sich in seine Richtung wandte und ihren Soldaten ein Zeichen gab. Er hatte immer gehofft, wenn er schon nicht mit seinem Vater segeln konnte, wenigstens in den Dienst von Graf Lavastins Heer gerufen zu werden, und sei es auch nur für ein Jahr. Doch es sollte wohl nicht sein. Und Alain wußte auch, warum. Jeder wußte, warum. Die Kirche war genau der richtige Ort für das Kind, das der Kauf35 mann Henri als sein eigenes aufgezogen hatte, von dem aber alle wußten, daß es in Wirklichkeit das uneheliche Kind einer Hure war. »Gott sei mit Euch, Meisterin«, sagte Vater Richander, als die Kastellanin und die Diakonissin wieder ihre Pferde bestiegen. Die Soldaten machten sich zum Abmarsch bereit. Bruder Gilles humpelte rasch zu Alain. »Wenn du etwas Gesellschaft auf deinem Weg haben möchtest, kannst du mit ihnen gehen«, meinte er. »Du wirst früh genug zu uns zurückkehren.« »Das werde ich.« Er folgte den Fußsoldaten. Kastellanin Dhuoda beugte sich leicht zur Diakonissin hinüber und sprach mit ihr; sie schien nicht einmal zu bemerken, daß er da war und hinter den anderen hertrottete. Niemand schien ihn zu bemerken. Sie passierten die Klostertore und machten sich an den langen Aufstieg auf den Berg. In der Kirche stimmten die Mönche den Gesang zur None an; die Stimmen des Chors begleiteten sie, solange sie auf die Bäume zumarschierten, dann war nur noch Wald rings um sie. Alain war es gewohnt zu laufen, doch Graf Lavastins Soldaten stöhnten unzufrieden. »Es sind immer noch die Klöster des Königs«, meinte ein besonders junger. »Des Königs von Wendar, meinst du wohl. Das ist nicht unser König, selbst wenn er den Thron für sich
beansprucht.« »Ha! Selbstsüchtige Bastarde, das sind sie! Sie haben lediglich Angst, das Heer des Grafen könnte ihnen ihre Diener wegnehmen. Um sich nicht selbst die Hände mit gewöhnlicher Arbeit schmutzig machen zu müssen, schätze ich.« »Still, Herik. Sprich nicht so von den heiligen Brüdern.« Der junge Herik grunzte gereizt. »Glaubst du etwa, dieser 36 Abt denkt auch nur einen einzigen Augenblick darüber nach, ob das Heer zur Bekämpfung von Plünderern ausgehoben wird oder aber zur Unterstützung von Sabellas Revolte?« »Still, du Idiot«, blaffte der ältere Mann mit einem Blick zurück. Alain senkte rasch den Kopf und bemühte sich um einen harmlosen Gesichtsausdruck. Natürlich hatten sie ihn bemerkt. Sie hielten ihn nur einfach nicht für wichtig genug, um ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Doch nicht einmal in Varre würde jemand im Beisein einer fremden Person von einer Rebellion gegen König Henry sprechen, wenn die Loyalität dieser Person nicht genau geklärt war. Den Rest des Weges trotteten sie schweigend dahin. Alain dachte über die Dauer der Gebete nach, die schon bald seinen Tag bestimmen würden. Es dauerte von der None bis Vesper, den Drachenrücken zu erklimmen, darauf entlang und schließlich die langen Serpentinen den Drachenkopf hinab bis nach Osna zu marschieren. Als der kleine Trupp endlich das Langhaus seiner Tante Bei erreicht hatte, war er naßgeschwitzt. Kastellanin Dhuoda wurde natürlich erwartet. Sie erschien einmal im Jahr in dem wohlhabenden Dorf und trieb die Abgaben ein, die Graf Lavastin zustanden. Gewöhnlich kehrten mit ihr jene jungen Frauen und Männer zurück, die das vergangene Jahr im Dienst des Grafen verbracht hatten. Im Laufe der Zeit war St. Eusebe der Tag geworden, an dem jemand eine Ausbildung begann oder die im Jahr zuvor Aufgenommenen zurückgebracht wurden. Doch in diesem Jahr war Dhuoda allein gekommen, abgesehen von ihrem Gefolge. Alain stand beim Herdfeuer und ließ die Kleider von der Hitze der Flammen trocknen; er beobachtete die Begrüßungszeremonie am einen Ende der Halle, während am anderen seine Geschwister und die Bediensteten seiner Tante den Tisch deck37 ten, an dem das Festmahl stattfinden würde. An beiden Seiten entlang der langen Halle saßen die jüngsten Kinder auf Kisten oder lagen zusammengekauert in Betten, um nicht zu stören. Das Baby begann zu schreien. Alain ging zur Wiege und nahm es hoch; sofort war es still, steckte einen Finger in den Mund und saugte daran, während es mit vollkommener Gleichgültigkeit die Szenerie betrachtete. Dieses Kind war so mutterlos wie er; seine Mutter war während der Geburt gestorben. Doch es gab keinen Zweifel daran, daß Alains Cousin Julien der Vater war, denn Julien und die junge Frau hatten bereits vor der Dorfdiakonissin ihren Wunsch erklärt, heiraten zu dürfen. Da Tante Bels Tochter Stancy gerade ein Kind nährte und Milch übrig hatte, hatte Bei das Baby in ihrem Haus aufgenommen. Als es an der Zeit war, das Essen zu servieren, reichte er das Baby einem seiner jüngeren Cousins. Daß Tante Bei, die zu den reichsten Bewohnern dieses Dorfes zählte, Kastellanin Dhuoda von ihren eigenen Kindern bedienen ließ, zeugte von deren Wichtigkeit. Alain war für das Nachgießen des Biers zuständig; so konnte er einen großen Teil der Unterhaltung verfolgen, die zwischen der Kastellanin und jenen Dorfbewohnern stattfand, die wichtig genug waren, um mit Graf Lavastins Gesandten an einem Tisch zu sitzen. »Graf Lavastin sah sich gezwungen, die jungen Menschen, die Ihr letztes Jahr zu uns schicktet, ein weiteres Jahr in seinen Diensten zu behalten«, erklärte Dhuoda ruhig und gelassen, obwohl die meisten sie mit unverhohlener Verärgerung ansahen. »Ich habe fest damit gerechnet, daß mein Sohn mir bei der nächsten Ernte hilft!« protestierte einer, und ein anderer meinte: »Ich brauche meine Tochter zum Weben in meinem eigenen Haushalt; außerdem stecken wir mitten in den Vorbereitungen zu ihrer Verlobung.« 38 »Wir leben in unruhigen Zeiten. Es gab Überfälle entlang der Küste. Wir können niemanden von denen entbehren, die bereits auf Burg Lavas sind. Darüber hinaus brauchen wir noch weitere kampffähige Männer. Das Kloster bei Comeng wurde niedergebrannt -« Hier hielt die Kastellanin inne und musterte die Gesichter der Zuhörenden; die meisten sahen angespannt aus. »Ja, leider werden die Plünderer immer dreister. Sie sind eine schreckliche Gefahr für alle, die an der See leben.« Sie machte Alain ein Zeichen. »Noch etwas Bier.« Während er nachgoß, wandte sie sich an Tante Bei. »Ein gutaussehender Bursche. Einer von Euren?« »Er ist mein Neffe«, sagte Tante Bei kühl. »Sein Vater versprach ihn der Kirche. Er beginnt das Noviziat an St. Eusebe.« »Ich bin überrascht, daß Ihr das Kloster des Königs mit einem solch gutgewachsenen Burschen versorgen wollt.« »Die Kirche dient Unserem Herrn und Unserer Herrin. Was in der Welt vor sich geht, betrifft sie nicht«, entgegnete Tante Bei. Dhuoda lächelte freundlich, doch Alain zuckte unwillkürlich zusammen; er hielt ihren Gesichtsausdruck für hochmütig. »Was in der Welt vor sich geht, betrifft sie genauso wie uns alle, Meistrin. Aber lassen wir das. Ich
will Euch nicht dazu verleiten, einen Schwur zu brechen.« Die Unterhaltung wandte sich angenehmeren Themen zu, der Ernte des letzten Herbstes, den frischgeprägten Skeattas mit dem Bild des verhaßten Königs Henry, dem Handel mit dem südlichen Hafen Medemelacha, Gerüchten über Sturmpeitscher - Wettermagier, die angeblich Hagel- und Eisstürme entlang der Grenze zwischen Wendar und Varre heraufbeschworen hatten. Alain stand im Schatten und lauschte, während der Abend sich hinzog; nur zum Nachfüllen der Becher trat er hin und 39 wieder in den Lichtschein der um den Tisch aufgestellten Lampen. Dhuodas Diakonissin war glücklicherweise eine Frau von hoher Bildung und besonders an alten Geschichten interessiert. Zu Alains Überraschung erklärte sie sich bereit, ein Gedicht vorzutragen. In jenen Tagen als Die Verlorenen herrschten, Und diese Lande in den Händen derer lagen, die aus Engeln und Menschenfrauen Geboren waren. Trat einer von ihnen vor und herrschte. Als Kaiser über Menschen und Elfen. Große Fähigkeiten er konnte binden und weben den Gesang der Macht Zauberei Er hatte sie In jenen Tagen erschien ein Drache Und allen Landen brachte er Verwüstung. nannte er sein eigen, Von den Sternen zog er zu sich herab, nennen wir diese Künste, von seiner Mutter gelernt. im sonnigen Frühling aus dem Norden, am Rande der See Doch dann erschien der Kaiser selbst, um den Kampf gegen ihn aufzunehmen, und obwohl er dabei tödlich verletzt wurde, gelang es ihm noch, mit letzter Kraft einen Bann zu sprechen, der das Wesen in Stein verwandelte. Und hier lag der Drache nun und umschloß, als Drachenrücken allgemein bekannt, den Sund von Osna. Alain beobachtete die Gäste: die hochmütige Kastellanin, 40 ihre Begleiter, die gebildete Diakonissin und den jungen Bruder, ein Mann, der das Gelübde gegenüber dem Orden der Wanderpriester abgelegt hatte und nicht gegenüber einem Kloster, das einen Menschen für den Rest seines Lebens hinter klösterlichen Mauern begrub. Wenn er nur zur Burg Lavas reisen könnte, nur ein einziges Mal, wie sein Vater es vor ihm getan hatte! Wenn er nur ein einziges Jahr in den Dienst des Grafen treten könnte. Sein Vater war siebzehn Jahre zuvor dort gewesen und hatte ein Jahr dem älteren Graf Lavastin gedient, wie es Brauch war, doch bei seiner Rückkehr hatte er ein Kind in den Armen getragen, und sein Herz war voller Trauer gewesen. Er hatte, sehr zum Mißfallen seiner älteren Schwester, niemals geheiratet, sondern seine ganze Liebe der See zugewandt; jetzt war er mehr auf Reisen als daheim. Bei hatte das Kind erzogen, denn sie hatte ein großzügiges Herz, und das Kind war gesund und kräftig gewesen. Wie mochte es da aussehen, wo er geboren worden war? Seine Mutter war drei Tage nach seiner Geburt gestorben, zumindest hatte sein Vater das immer behauptet. Und doch, vielleicht erinnerte sich jemand an sie. Alain hielt nur mühsam die Tränen zurück. Er würde es niemals erfahren. Morgen, an St. Eusebe, würde er Osna verlassen und eine Nachtwache vor den Toren des Klosters halten, wie es Tradition war für jene Bekehrten, die als Erwachsene oder gerade erst mündig Gewordene in den Dienst des Herrn und der Herrin traten. Und am Tag darauf würde er sein Gelübde ablegen und hinter den Klostermauern verschwinden. Für immer. »Was ist los, Alain?« fragte seine Cousine Stancy und stellte sich neben ihn. Sie fuhr mit den Fingern leicht über seine Wange. »Weine, wenn du mußt, aber gehe mit einem reinen Herzen. Denke daran, wieviel Gutes du deiner Familie mit dei41 nen Gebeten bringen kannst. Oder erinnere dich, daß du schreiben und lesen lernen wirst und eines Tages vielleicht genauso gebildet sein wirst wie diese Diakonissin hier. Dann kannst du überall hin reisen -« »Aber nur in meiner Vorstellung«, sagte er bitter. »Oh, mein Kleiner, ich weiß, wie du dich fühlst. Doch dies ist die Bürde, die dir auferlegt wurde. Du kannst sie genausogut mit Freude tragen.« Sie hatte natürlich recht. Sie gab ihm einen liebevollen Kuß und verschwand im hinteren Teil der Halle, um neues Öl für die Lampen zu holen. 3 Es war eine klare und schöne Morgendämmerung am Tag vor St. Eusebe. Die stoffbespannten Türen quietschten und klapperten den ganzen Morgen in einer leichten Frühlingsbrise. Rote, mit dem Kreis der Einigkeit bemalte Banner flatterten von den Häusern, die den Dorfplatz umgaben. Die Dorfbewohner strömten zusammen, und Kastellanin Dhuoda begann die Abgaben einzutreiben. Bottiche mit Honig. Bernsteinfarbenes Bier, klar oder trüb. Eine Kuh oder fünf Hammel. Gänse. Käse. Viehfutter. Geräucherter Lachs und Aal. Tante Bei bezahlte, anstelle von Öl und Bier, mit fünf Broschen, die Alains Vater aus dem Süden mitgebracht hatte. Ein Bauer gab seinen Sohn für fünf Jahre in den Dienst des Grafen, um nicht seine zwei besten Milchkühe opfern zu müssen. Ein Ehepaar zahlte mit einer jungen Sklavin, die von Salia in den Norden gebracht worden war und die sie jetzt nicht mehr ernähren konnten. Dhuoda musterte sie mit prüfendem Blick, befand sie für gut und akzeptierte. Die alte Garia, deren fünf 42 erwachsene Töchter ebensogut weben konnten wie sie, präsentierte wie jedes Jahr vorzüglich gewebtes Tuch, das Dhuoda mit sichtlicher Freude entgegennahm. Wenige zahlten mit Münzen, und noch weniger mußten die
Bezahlung schuldig bleiben, denn Osna war ein wohlhabender Ort, und den Bewohnern hier ging es, wie Alain von seinem Vater wußte, wirklich gut. Den ganzen Morgen zog sich dieses Treiben hin, sogar weit über den Mittag hinaus, denn erst dann kamen die Leute von den umliegenden Höfen herbei, um der Kastellanin Respekt zu zollen und ebenfalls Pachtkosten oder Steuern zu übergeben. Am späten Nachmittag verabschiedete sich Alain von seiner Tante, indem er vor ihr niederkniete und die traditionellen Worte sprach: »Tante, es ist Brauch, daß ein Bekehrter eine Nacht an den Toren wacht und so seinem Wunsch Ausdruck verleiht, in den Dienst Unseres Herrn und Unserer Herrin zu treten.« »Geh mit meinem Segen, Kind, und mit dem Segen deines Vaters.« Sie drückte ihm einen dicken Kuß auf die Stirn. Er erhob sich und sagte auch den übrigen Familienmitgliedern Lebewohl. Drei von Tante Bels Kindern waren jetzt erwachsen und hatten selbst Kinder, daher war es kein kurzer Abschied. Zum Schluß gab er dem Baby einen Kuß, umarmte seine Tante ein letztes Mal und schritt mit bebenden Schultern davon. Inzwischen war der Wind stärker geworden, und die Türen klapperten unaufhörlich. Es begann zu nieseln. Als Alain einen Blick zurückwarf, sah er Kastellanin Dhuoda hastig den Tisch in eines der Häuser am Dorfplatz schaffen, um das Geschäft unter einem schützenden Dach zu Ende zu führen. Der Regen nahm zu, während er an den Viehpferchen am Rande des Dorfes vorbeiging und mit weit ausholenden Schritten den dreistündigen Marsch zum Kloster begann. 43 Auch der Wind nahm noch zu, je weiter sich der Pfad auf den Kamm zuschlängelte. Vom Regen aufgeweichter Schlamm klebte an seinen weichen Lederschuhen, und die Nässe drang durch die Nähte hindurch. Sein kleines Bündel war längst zu einer schweren Last geworden, als er den Grat des Drachenrückens endlich erreicht hatte. Er befand sich mitten in einem Sturm. Er war vollkommen allein; tief unter ihm lag die weite Bucht voller aufschäumender Gischt. Ringsum erstreckten sich bewaldete Hügel. Von hier aus konnte er weder das Dorf noch das Kloster sehen. Alain mußte sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen, um vorwärts zu kommen. Das Schiff, das er gestern gesehen hatte, kam ihm kurz in den Sinn. War es auf offener See vom Sturm überrascht worden, oder hatte es sich in eine der vielen Buchten zurückziehen können? Als er sich umdrehte und einen neugierigen Blick auf die See warf, stockte ihm der Atem. Verwundert blieb er stehen. Der Sturm näherte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Niemals zuvor hatte er so etwas gesehen. Die halbe Bucht war verschwunden, vollkommen unsichtbar geworden. Eine deutlich abgegrenzte Nebelbank jagte auf ihn zu, gefolgt von einem dichten Vorhang aus dunklen Wolken, die alles einhüllten, was unter ihnen lag. Augenblicke später war er ringsum von Nebel umgeben und konnte keine drei Schritte weit sehen. Er kauerte sich hin, bevor der erste kräftige Windstoß ihn traf, drehte sich mit dem Rücken zur See und senkte den Kopf. Der Sturm brüllte, als wäre der Drache unter seinem steinernen Rücken zum Leben erwacht. Selbst in der Hocke zwang ihn die Wucht der Böen auf die Knie. Schwarze, wirbelnde Wolken umkreisten ihn. Es regnete in Strömen, und von einem Atemzug zum nächsten war er bis auf die Haut durchnäßt. 44 Das war kein natürlicher Regen. Noch während er dies dachte, versiegte der Regen schlagartig. Nur der Wind ließ nicht nach. Sicherlich war dies die Strafe, weil er das Versprechen, durch das er in den Dienst des Herrn und der Herrin trat, tief in seinem Innern gebrochen hatte. Oder es war eine Prüfung. Mühsam rappelte er sich auf und stellte sich wieder dem Sturm entgegen. Er würde dieses Kloster erreichen, auch gegen seine innersten Wünsche. Er würde seinen Vater und seine Tante nicht beschämen. Der Wind zerrte an seinen Haaren, brannte in den Augen. Obwohl naß von der schäumenden Gischt und dem kalten Regen, fühlten sich die Lippen von den harten Böen ausgetrocknet an. Der Nebel lichtete sich. Ein unwirklicher Schimmer glühte in einiger Entfernung auf dem Weg, der über den Drachenkamm führte. Die Erscheinung hatte etwas Unirdisches und kam näher, dabei den dichten Nebel auseinandertreibend ... aber nur den, der sie unmittelbar umgab. Es war, als würde er durch einen seltsamen Tunnel blicken, so rasch schlössen sich Sturm und Nebel wieder hinter dem Licht. Es roch nach Frühlingsblumen und nach dem frischen Blut auf einem Schlachtfeld. Eine Reiterin in einer leuchtenden Rüstung näherte sich. Sie lenkte ihr Pferd gemächlich vorwärts, anscheinend unberührt von dem tosenden Sturm. Alain dachte kurz daran wegzulaufen, doch so schnell, wie der Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Denn er konnte die Reiterin einfach nur anstarren. Das Pferd war wunderschön, so weiß wie frisch gefallener Schnee. Der Anblick blendete ihn fast, und die Frau Selbst wenn er es versucht hätte, er hätte sich nicht bewegen können. Sie zügelte ihr Pferd neben ihm. Sie war mittleren Al45 ters und hatte Narben im Gesicht und an den Händen; die Schuhe waren abgetragen und matschverschmiert, und der Kettenpanzer war hier und da mit neuen, glänzenden Eisenringen versehen. Ein langes Schwert hing in einer Lederscheide. Ein abgenutzter, runder Schild war am Sattel befestigt und hing auf der Höhe ihrer Knie. Sie verlagerte ein wenig ihr Gewicht, um ihn zu mustern. Es war totenstill. Drei Schritte entfernt von ihnen tobte der
Sturm. Ihr Blick wirkte zugleich verloren und durchdringend. Die Farbe ihrer Augen war nicht auszumachen; ihm schienen sie so schwarz wie ein Fluch. Er starrte sie an, und eine kalte Hand aus Furcht krallte sich um sein Herz. »Was verlangst du von mir für deine Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen?« fragte sie. Ihre Lippen bewegten sich bei den Worten, doch in seinem Kopf hallten unzählige Echos ihrer Stimme, die tief und dunkel wie eine Kirchenglocke war. Unsicher, was er tun sollte, kniete er nieder. Er bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten; möglicherweise würde sich selbst ein bloßes Augenzwinkern als folgenschwer erweisen. »Herrin.« So voll ihre Stimme tönte, so heiser war die seine. Er versuchte es noch einmal. »Ich bin der Kirche versprochen.« »Nicht in deinem Herzen«, sagte sie. Sie zog das Schwert. Was immer er auch erwartet hatte, weder zuckten Flammen von der Klinge, noch leuchtete oder blitzte sie. Sie war nichts anderes als einfaches Metall - hartes, gutes Metall, zum Töten geschmiedet. Sie schwang das Schwert in hohem Bogen über seinem Kopf, bis es auf den Weg deutete, den sie gekommen war. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen. Durch einen langen Tunnel sah er mit Adlerblick das Kloster; etwas, das von hier aus eigentlich unmöglich war. Die in Reih und Glied angeordneten Gebäude, die Mauer drumherum: 46 Von seinem erhöhten Standort aus glaubte er einen Augenblick, einen zweiten Grundriß unter den Klostergebäuden erkennen zu können, etwas Uraltes, Beunruhigendes. Doch sein Blick wanderte weiter, glitt tiefer und tiefer, bis er schließlich an zwei Booten hängenblieb, die auf den Strand gezogen wurden; sie spuckten Wesen mit seltsamen, scharfgeschnittenen Gesichtszügen und einer ungewöhnlichen Hautfarbe aus - das konnten unmöglich Menschen sein. Die Wesen waren bis zur Taille nackt, mit Narben übersät und in grellen Farben bemalt. Sie trugen Äxte und Speere und Köcher voller Pfeile mit Steinspitzen, und ihre Haut hatte einen schuppigen, metallischen Glanz. Wilde Hunde umringten sie, ein Haufen gewaltiger, häßlicher Bestien, die noch weniger Erbarmen kannten als ihre Herren. Sie verwüsteten alles, was ihnen in die Quere kam, steckten die Reetdächer der umliegenden Gebäude in Brand, erschlugen die Mönche. Sein Blick wanderte in die Kapelle. Er erkannte Bruder Gilles mit seinen silbergrauen Haaren; er wirkte ziemlich zerbrechlich, wie er so vor dem Altar kniete und betete, das geliebte Buch der Einigkeiten fest umklammert. Das Buch war der große Schatz des Klosters. Ein weißhaariger Barbar durchbohrte den alten Mann hinterrücks und entwand den sterbenden Händen das kostbare Stück; dann riß er das mit Blattgold und Juwelen versehene Deckblatt heraus und verstreute die Pergamentblätter wie Abfall auf Bruder Gilles blutendem Leichnam. »Noch bist du nicht durch einen eigenen Eid gebunden«, sprach die Frau. Bei ihren Worten fand Alain sich abrupt auf dem Kamm wieder. Um ihn herum tobte der Sturm. »Ich muß gehen!« rief er. Angetrieben von dem tiefen Gefühl, Bruder Gilles retten zu müssen, wollte er sich schon aufmachen. 47 Sie hielt ihn mit der flachen Schwertseite zurück. »Für sie ist es zu spät. Aber sieh das hier.« Und sie zeigte mit ihrem Schwert in Richtung des Dorfes. Lichter. Vor Feuchtigkeit triefende rote Banner klatschten gegen Dachvorsprünge. Die Türen und Fenster der meisten Häuser waren verschlossen, mit Ausnahme des Hauses von Tante Bei. Sie stand auf der Türschwelle und starrte in die Richtung, in die er verschwunden war; sie wirkte einsam und bitter vor Sorge. Stancy spielte am Tisch Schach mit Agnes, ihrer jüngsten Schwester, und nahm gerade mit dem weißen Drachen die rote Burg ein. Die anderen Kinder spielten am Feuer Rundhölzerwerfen, und das Baby schlief in der Wiege. Das Feuer knackte und prasselte, heiß und voller Qualm. Die Hitze trieb Alain Tränen in die Augen, und im nächsten Augenblick wurde er auch schon zurück in die beißende Kälte und den scharfen Wind gerissen. Auf dem Strand unterhalb des Dorfes legte ein langes, schmales Boot an. Oh Herr und Herrin! Es waren noch mehr! Sie strömten scharenweise aus dem Boot, wild bemalt, die Waffen bereit. Nebelschwaden wirbelten vor seinen Augen; er wischte sie beiseite. Tränen rannen über sein Gesicht. »Es ist zu spät.« Er wandte sich zu ihr um; gelassen wie der Tod saß sie auf ihrem weißen Pferd. »Warum zeigt Ihr mir das?« Sie lächelte. Sie war von einer fürchterlichen Schönheit, gezeichnet von Entbehrungen, Schmerzen und dem wilden Irrsinn des Kampfes. »Diene mir«, sagte sie. »Diene mir, Alain Henrisson, und ich werde dieses Dorf verschonen.« »Wie könnt Ihr das?« Er schnappte nach Luft, als er an den ermordeten Bruder Gilles dachte, das in Flammen stehende Kloster, die wilden Kreaturen, die den Strand hinaufdrängten, auf die Häuser seiner Familie und ihrer Nachbarn zu. »Diene mir«, sagte sie. 48 Alain sank auf die Knie. Trug der Wind den Schrei des Säuglings heran? »Ich schwöre es.« »Steh auf.«
Er stand auf. Der kalte Stahl ihres Schwertes lag erst auf seiner rechten Schulter, dann auf seiner linken, und schließlich ließ sie die flache Seite der Klinge auf seinem Kopf ruhen; die schmerzliche Kühle schien ihm zugleich jede Wärme zu entziehen und ihn zu verbrennen. »Wer seid Ihr?« flüsterte er. Das Schwert wurde weggezogen, und mit der Klinge verschwanden die widersprüchlichen Empfindungen, so wie im Tode alle Schmerzen verschwanden. Ihre Antwort ertönte, um sofort in dem heulenden Wind unterzugehen. »Ich bin die Herrin der Schlachten. Behalte dies als ein Zeichen von mir.« Und schon war sie verschwunden. Ein gleißendes Licht blendete seine Augen, und ein tiefer Schmerz drang bis in sein Herz. Die dunklen Wolken schwollen an und hüllten ihn ein. In weiter Ferne hörte er noch einen rauhen, vergnügten Schlachtruf, dann verlor er das Bewußtsein. Er erwachte schlagartig und setzte sich voller Furcht auf. Es war der Morgen von St. Eusebe, ein heller, schöner und klarer Frühlingstag ohne die Spur einer Wolke am Himmel. Ein verheißungsvoller Tag. Sanfte Wellen kräuselten sich in der Bucht unter ihm. Das satte, alte Grün der Bäume säumte das blaue Himmelsrund. Er fluchte, schüttelte die Benommenheit ab und stand auf. Dann sah er auf dem Pfad eine winzige, blutrote Rose liegen. Sie funkelte wie ein Juwel, und als er nach ihr griff, fühlten sich ihre Blütenblätter so zart an wie die der ersten Frühlingsblume. Er griff fester zu und stach sich an einem Dorn; ein Blutstropfen erschien auf der Haut. 49 »Tante Bei«, murmelte er. »Stancy.« Das Baby. Er klemmte den Rosenstengel hinter seinen Gürtel und rannte den ganzen Weg zurück nach Osna. Ein paar Leute starrten ihn an, als er nach Luft ringend auf dem Dorfplatz stehenblieb. Tante Bei erspähte ihn, und ihr wachsweißes Gesicht färbte sich sofort tiefrot. Sie eilte zu ihm und riß ihn stürmisch in die Arme. »Alain! Oh, mein Kind, ich dachte schon, wir hätten dich verloren.« »Seid ihr alle hier? Geht es euch gut? Wo ist Stancy -?« »In der Werkstatt. Mein armer Junge, komm rein, komm rein.« Er ließ sich widerstandslos in das Langhaus führen und setzte sich an den Tisch, während sie einen Krug warmer Ziegenmilch vor ihn hinstellte. »Herr und Herrin.« Sie wischte sich eine Träne aus dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. »Ich dachte, du wärst dort gewesen. Unserem Herrn und Unserer Herrin sei Dank.« Sie schlug das Kreiszeichen der Einigkeit, vom Hals zum Herzen und zurück. »Wie konntest du ihnen entkommen? Als der alte Gilles uns die Nachricht brachte -« Er verspürte einen Anflug von Hoffnung und Erleichterung. »Bruder Gilles?« »Nein, mein Junge. Der Fischer-Gilles. Bruder Gilles hat die Schiffe gar nicht gesehen, so schnell ging alles, als sie mit diesem verfluchten Sturm hier auftauchten und wieder verschwanden. Das ganze Kloster haben sie niedergebrannt und alle Mönche niedergemetzelt, wo sie sie gerade fanden. Keiner hat überlebt. Doch aus irgendeinem Grunde, der Segen Unseres Herrn und Unserer Herrin sei mit uns, blieben wir verschont. Wir haben von ihnen weder etwas gesehen noch gehört. Uns geht es gut, und ich bin überzeugt, daß Henri bereits weit im Süden ist. Sie aber kamen vom Norden.« 50 »Ich bin gar nicht bis zum Kloster gekommen«, begann er mit flüsternder Stimme, doch dann drängte sich ihm der Anblick der bemalten Männer auf, wie sie ihre Schiffe unterhalb des Dorfes auf den Strand zogen, nachdem sie im Kloster alles niedergebrannt und niedergemetzelt hatten, was ihnen in den Weg gekommen war. Er brachte es nicht über sich, von seiner Vision zu sprechen - wenn es denn eine gewesen war. »Ich würde nicht ausschließen«, fuhr Tante Bei mit leiser Stimme fort, »daß das Schicksal der Mönche eine Strafe Unseres Herrn und Unserer Herrin war, weil sie sich gegen die stellten, die eigentlich als Königin herrschen sollte. Doch wir sollten nicht schlecht über die Toten sprechen. Einige Männer aus dem Dorf kümmern sich bereits darum, daß sie ein ordentliches Begräbnis erhalten.« »Ich muß etwas überprüfen.« Alain stand auf. Tante Bei blickte ihn fragend an, doch es blieb ihr keine Zeit, die Frage zu stellen, denn schon war er aus der Tür. Er rannte hinunter zum Strand, wo die Boote der fremden Fischer und Kaufleute lagen, die nach Osna gekommen waren, um Handel zu treiben, oder vor dem Sturm Schutz gesucht hatten. Er mußte ein gutes Stück unterhalb des Kamms entlanggehen, bis er auf eine lange, tiefe Furche im Sand stieß. Hier war das flache Boot an Land gezogen worden. Fußspuren, die die Flut noch nicht völlig verwischt hatte, führten zunächst bergauf, dann kreuz und quer. Ein kleiner Blutfleck färbte den Sand, und nicht weit davon fand er den Abdruck eines Hufeisens. Es blieb den ganzen Morgen über schön, als Alain den Kamm emporstieg. Vom Drachenrücken aus war kein einziges Schiff auf der glatten, undurchdringlichen Oberfläche der See oder am weiter entfernten blaugrauen Horizont zu erkennen. Er folgte dem Pfad, bis er das weiter unten liegende Kloster sehen 51 konnte. Es lag in Schutt und Asche. Ein paar Geier zogen am Himmel ihre Kreise. Auf der Nordseite des Kirchturms war ein Loch gegraben worden; von so weit oben wirkte es wie ein dunkler Schlund. Männer waren damit beschäftigt, die Leichen in das Grab zu werfen. Er rannte jetzt, doch als er die Ruinen des Klosters erreicht hatte, las Kastellanin Dhuoda bereits die Messe für die Toten, und die Männer aus dem Dorf schaufelten die
Gräber zu. »Du da, Junge«, sagte Kastellanin Dhuoda plötzlich, und er fuhr zusammen. Er hatte sie gar nicht gesehen. »Du bist doch der Junge, der heute das Noviziat beginnen sollte, nicht? Bist du in einem brauchbaren Alter? Sechzehn? Ja, und du bist ein großer, kräftiger Junge, wie ich sehe.« Unter ihren Blicken fühlte er sich wie ein Pferd auf dem Marktplatz oder wie ein Sklave aus dem Norden, der zur Versteigerung feilgeboten wurde. »Hier gibt es für dich nichts mehr zu tun, und Graf Lavastin braucht noch mehr starke Arme, wie du ja selbst sehen kannst. Es sind schlimme Zeiten. Ich werde mit deiner Tante sprechen, aber es ist auch ohne ihre Einwilligung mein Recht, dich für den Dienst beim Grafen auszuwählen. Du wirst morgen mit uns weiterziehen.« Er wußte darauf nichts zu sagen. Einerseits war er überglücklich über die Gelegenheit, weggehen zu können, andererseits fürchtete er, daß sein inniger Wunsch nach Freiheit den Mönchen den Tod gebracht hatte. Doch wie sein Vater sagen würde, war es wohl auch eine Form von Selbstüberschätzung zu glauben, daß seine eigennützigen, banalen Wünsche einen ebenso großen Einfluß auf die Welt haben könnten wie der Wille Gottes. Es waren die gottlosen Barbaren, die für diese Grausamkeit verantwortlich waren; er hatte damit nichts zu tun. 52 Dhuoda betrachtete ihn ungeduldig; sie wartete auf eine Antwort. Er nickte, und sie entließ ihn, wandte sich noch im selben Moment von ihm ab und trat zur Diakonissin, die die hastige Messe beendet hatte. Alains Hand fuhr an den Gürtel, und plötzlich erinnerte er sich an die Rose. Sie war nicht abgebrochen. Sie war auch nicht verwelkt. Sie war so vollkommen wie eine knospende Rose, die er gerade erst von einem Strauch gepflückt hatte. Auf dem Heimweg nach Osna hielt er sie die ganze Zeit in der Hand, und auch jetzt veränderte sie sich nicht. Am nächsten Morgen band er die Rose vorsichtig an einen dünnen Lederriemen, den er sich um den Hals hängte, und steckte sie zwischen Hemd und Tunika, wo keiner sie sehen konnte. Er trug noch ein dickeres Band mit dem hölzernen Kreis der Einigkeit, ein Geschenk von Tante Bei zur Erinnerung daran, daß sein Vater ihn der Kirche versprochen hatte. Nachdem sie sich in herzzerreißender Weise voneinander verabschiedet hatten, warf er sich sein Bündel über den Rücken und folgte Kastellanin Dhuoda und ihrem Gefolge aus dem Dorf hinaus - in die Welt, die dahinter lag. II Das Buch der Geheimnisse
1 Im nördlichsten Teil der Nordmark von Wendar befand sich eine Ansammlung von Weilern, die unter dem Namen Friedleben bekannt waren. Die Leute in dieser Gegend sprachen einen Dialekt des Wendischen, der durch merkwürdige Begriffe und eine ungewöhnliche Aussprache gekennzeichnet war. Voller Unbehagen pflegten Wanderprediger zu bemerken, daß in den aus Holz errichteten Kirchen Unseres Herrn und Unserer Herrin nicht nur der Kreis der Einigkeit einen besonderen Platz einnahm, sondern auch ein beängstigend heidnisch aussehender Baum. Die Bischöfin von Friedleben richtete ihr Augenmerk jedoch auf andere Dinge; sie konzentrierte sich ganz auf die von Jahr zu Jahr häufiger werdenden Überfälle entlang der Küste. Allerdings stellte sie es besonders empfindlichen Kirchenbrüdern frei, Berichte über diese heidnischen Praktiken in den Süden zu senden. 54 Diese Berichte blieben gewöhnlich ohne jede Wirkung, und es geschah rein gar nichts. Friedleben lag zu weit im Norden, war zu dünn besiedelt und bei weitem nicht wohlhabend genug, um die Aufmerksamkeit des Königs oder der Skopos auf sich zu ziehen. Die Bewohner sprachen leise und kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, verhielten sich jedoch aufgeschlossen gegenüber jenen Menschen, die gelegentlich aus anderen Landen an ihre Ufer gespült wurden. Derweil blieb es der Bischöfin überlassen, sich der wenigen Kirchen, die unter ihren Fittichen standen und die durch heidnische Riten befleckt wurden, anzunehmen. Misch dich da nicht ein, lautete die Überzeugung der Leute, und das sagten sie immer wieder. Und so mochten jene Menschen, die von anderen Orten kamen, hier für eine Weile Frieden finden. Doch ob dem wirklich so war, hing auch davon ab, vor wem sie davonliefen und wie weit ihre Feinde bereit waren, sie zu verfolgen. »Sieh,«, sagte Pa, »dort hinter den Bäumen im Westen geht der Rosenstern unter. Bei den alten babaharshanischen Magiern war er bekannt als Zuhia, Sonne der Nacht, Weiser und Gelehrter. Was weißt du über ihn?« »Die dariyanischen Astronomen nannten den Rosenstern Aturna, den Roten Weisen. Aturna, der nicht so stark
wie der Blutstern leuchtet, ist einer der Wandelsterne, auch bekannt als die Unberechenbaren oder die Planeten. Er regiert die siebte Sphäre, die oben an das Gestirn der Fixsterne grenzt, hinter dem sich die Kammer des Lichts befindet, und unten an die sechste Sphäre, die vom Planeten Mok regiert wird. Aturna braucht achtundzwanzig Jahre, um die Bahn der zwölf Häuser der Nacht entlang zuwandern.« 55 Sie standen auf einer Lichtung, die auf einer Seite von Bäumen, auf der anderen von den felsigen Ausläufern des Hügels über ihnen begrenzt war. Das Gras, das jetzt im Frühling rasch wuchs, reichte ihnen bereits bis zu den Knien. Hinter ihnen stand auf einer eingeebneten Erdterrasse ein kleines Haus; bis auf den schwachen, rötlichen Feuerschein, der durch das Fenster und die offene Tür nach draußen fiel, lag es völlig im Dunkeln. Die Nacht eignete sich hervorragend, um die Sterne zu betrachten: Nicht eine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. »Nenne mir die sieben Sphären entsprechend ihrer Reihenfolge«, sagte Pa. »Die der Erde am nächsten gelegene Sphäre ist die des Mondes. Die zweite ist die des Planeten Erekes und die dritte die des Planeten Somorhas, auch bekannt als die Herrin des Lichts. Die vierte ist die Sphäre der Sonne. Dann kommt die fünfte, über die der Planet Jedu, der Engel des Krieges, gebietet. Die sechste Sphäre wird von Mok regiert und die siebte und letzte von Aturna. Zwischen Aturna und der Kammer des Lichts befindet sich das Feld der Sterne, jeder einzelne ein loderndes Feuer.« »Und was ist mit den sieben Leitern, mit deren Hilfe die Gelehrten zu Weisheit und Meisterschaft gelangen können, entsprechend den sieben Sphären?« Er drehte das Buch in seinen Händen, öffnete es jedoch nicht. An einem Seil über seiner Schulter hingen drei Rebhühner, die Liath geschossen hatte. Sie waren auf die Jagd gegangen und erst spät zurückgekehrt, doch da sie Buch und Astrolabium immer - immer - bei sich trugen, konnten sie den Himmel überall betrachten, egal, wo sie sich befanden. Liath zögerte; sie rückte Bogen und Köcher auf dem Rücken zurecht. Das, was ihr Vater erzählte, war noch neu für sie. Pa 56 betrachtete mit ihr die Fix- und Wandelsterne, seit sie alt genug gewesen war, um mit dem Finger zum Himmel zu deuten. Doch erst im letzten Monat hatte er plötzlich begonnen, ihr von den geheimnisvollen Überlieferungen der Weisen zu erzählen. Im letzten Monat, an St. Oya, hatte er sich - mit einer Plötzlichkeit, als hätten die voranschreitenden Tage auf der Erde und das sich drehende Rad der Sterne in den Himmelssphären einen unerwarteten Satz nach vorn gemacht - daran erinnert, daß sie am Tag des Frühlingsäquinoktiums, dem ersten Tag im neuen Jahr, sechzehn Jahre alt werden würde. Der Festtag von St. Oya, einer Heiligen der Geheimnisse und Mysterien, war ein vielversprechender Tag für ein Mädchen, das die erste Blutung bekam, und sie war mit Pa hinunter in die Dorfschenke gegangen, um das Ereignis nach altem Brauch zu feiern. Liath hatte das Fest und die Lieder genossen, sich jedoch, abgesehen von den Vorgängen in ihrem Körper, nicht anders gefühlt als sonst. Doch ihr Vater behandelte sie seither anders: Er ließ sie in einer Geschwindigkeit vorlesen und vortragen und auswendig lernen, als würde man unaufhörlich Holz in ein Feuer werfen und erwarten, daß es immer noch heller und heißer brannte. Und nach ihren Berechnungen all der Tage und Jahre, die sie bei Pa gelernt hatte, war gestern der erste Tag des neuen Jahres gewesen. Sie war sechzehn geworden. Und als sie mit ihrem Vater zur Feier des Mariannatages dem kirchlichen Namen des Frühlingsäquinoktiums - zur Dorfkirche gegangen war, hatte sie nicht mehr länger als Mädchen auf den Kinderbänken gesessen, sondern bei den anderen Frauen. »Liath?« Pa wartete. Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe, denn sie wollte ihm eine vollkommen richtige Antwort geben; sie haßte es, 57 ihn zu enttäuschen. Sie atmete tief ein und sprach mit dem leichten Singsang, in den sie immer verfiel, wenn sie zum ersten Mal etwas wiedergab, das ihr Vater sie erst vor kurzem gelehrt hatte. »Über diese Leiter steigt der Weise empor: Zuerst zur Rose, deren Berührung heilend ist. Dann zum Schwert, das uns Stärke verleiht. Die dritte Sprosse ist der Becher des grenzenlosen Wassers. Die vierte der Feuerring des Schmiedes. Der Thron der Tugenden folgt als fünfte. Das Zepter der Weisheit ist die sechste. Auf der höchsten Sprosse suche die Sternenkrone, Und das Lied der Macht ist offenbart.« »Sehr gut, Liath. Heute werden wir weiter an den Messungen der Ekliptik arbeiten. Wo ist das Astrolabium?« Das Instrument hing am Ring senkrecht von ihrem Daumen herab. Sie streckte den Arm vor und seufzte mit einem Blick auf den zarten Sternenhaufen, der die »Krone« genannt wurde und jetzt dem westlichen Horizont zustrebte. In dieser Nacht war der Himmel so klar, daß sie vielleicht das siebte »Juwel« in der Sternenkrone sehen konnte. Gewöhnlich waren nur sechs zu erkennen, doch ihre Augen waren so scharf, daß sie manchmal auch das siebte ausmachen konnte. Sie war gerade dabei, die Höhe auszurechnen und das Rete, die durchbrochene Messingscheibe, zu drehen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine Eule
schwang sich von einem Baum am Rande der Lichtung in die Lüfte. Liath folgte dem Vogel mit den Blicken, wie er immer höher glitt, die Flügel blasse Schemen im Licht der Sterne und des Halbmondes. Und dort, tief im Osten 58 »Sieh nur, Pa! Nein, hier. Im Drachen. Ich habe diesen Stern noch nie gesehen, und es ist keiner von den Planeten. Alle anderen Sterne sind dort, wo sie hingehören.« Er blinzelte in den Himmel. Seine Augen waren längst nicht mehr so scharf wie ihre, doch dann sah auch er es: Da war ein zusätzlicher Stern in jener Konstellation, die der Drache genannt wurde, das Sechste Haus des Großen Kreises - der Weltendrache, der die Himmelssphären zusammenhielt. Er war von mittelmäßiger Leuchtkraft, obwohl es Liath schien, als würde er noch während des Betrachtens heller. Das von ihm ausgehende Licht flackerte, wie wenn der Stern Blitze aussandte. »Beim Blute der Herrin«, fluchte Pa. Er zitterte, obwohl es für eine Frühlingsnacht ziemlich warm war. Ein weißer Schatten schwebte an ihnen vorbei. Kaum zehn Schritte von ihnen entfernt stürzte sich die Eule herab, und als sie sich wieder in die Höhe schwang, hielt sie etwas Kleines, wild um sich Schlagendes in den Krallen. »So stürzt sich das Größere auf das Kleinere. Gehen wir hinein, Tochter.« »Aber Pa, sollten wir nicht seine Position berechnen? Ihn beobachten? Es muß ein Zeichen des Himmels sein. Vielleicht ist er ein Engel, der in die unteren Sphären hinabgestiegen ist!« »Nein, Kind!« Er zog den Umhang fester um sich und wandte den Blick nachdenklich vom Himmel ab. Seine Schultern bebten. »Wir müssen ins Haus gehen.« Liath schluckte eine Erwiderung hinunter; sie umklammerte das Astrolabium und folgte ihm geduldig ins Haus. Es war viel zu warm hier drinnen, da das Feuer noch immer loderte. Doch das Feuer loderte unablässig, denn Pa fror häufig. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war. Pa konnte mit einer einzigen Handbewegung Schmetter59 linge in allen Regenbogenfarben hervorzaubern, die sie dann im Kräutergarten jagte. All das - wenn es wirklich echte Erinnerungen und nicht durch eigene Wünsche hervorgebrachte Illusionen waren - war mit ihrer Mutter gestorben. Ihr waren nur die Erinnerungen geblieben - und die wurden immer verschwommener, je mehr Jahre vergingen und je weiter sie reisten, auf See, über die Berge, durch neue Lande und fremde Städte. Daran erinnerte sie sich - und an ein unaufhörlich brennendes Feuer. Er verriegelte die Tür hinter sich und beugte sich plötzlich vornüber; ein Hustenanfall schüttelte ihn. Als er sich wieder erholt hatte, legte er das Buch auf den Tisch und warf den Umhang auf die Bank. Dann goß er sich ein Bier ein. »Pa«, sagte sie. Sie haßte es, ihn so zu sehen, doch er nahm nur noch einen weiteren Schluck. Zu ihrem großen Entsetzen zitterten seine Hände. »Pa, setz dich hin«. »Er setzte sich. Sie legte das Astrolabium ins Regal, stellte Bogen und Köcher in die Ecke und hängte die Rebhühner an die Dachsparren. Nachdem sie ein Holzscheit ins Feuer geworfen hatte, wandte sie sich um und betrachtete ihren Vater. Bei jeder Bewegung quietschten die Dielen unter ihren Füßen. Es war ein sehr einfach eingerichteter Raum. Sie erinnerte sich an Zimmer, die üppiger ausgestattet waren, doch das lag weit zurück. Wandteppiche, geschnitzte Bänke, ein richtiger Stuhl, ein langer Flur und Wein, der aus einem Krug serviert wurde. Sie hatten dieses Haus selbst gebaut, den Keller ausgegraben, Pfosten in die Erde getrieben, Bretter aus Baumstämmen gesägt und über den Keller gelegt, die Wände mit Schlamm und Stroh abgedichtet. Abgesehen von dem Tisch und der Bank, die gleichzeitig als Kleiderkiste diente, gab es nur noch das Bett ihres Vaters in der dunkelsten Ecke und ihren einzigen Luxus - ein Walnußregal, dessen 60 Holz so lange poliert worden war, bis es glänzte, und dessen Oberfläche mit Schnitzereien von wilden Bestien verziert war, die sich an den Seitenwänden hinabschlängelten. Pa hustete und blätterte in dem Buch; er suchte nach einer bestimmten Stelle im eng geschriebenen Text. Als Liath, um ihm zu helfen, zu ihm trat und dabei am Fenster vorbeikam, warf sie einen Blick hinaus durch die geöffneten Läden und die dünne, bis zur Durchsichtigkeit feingeriebene Haut, die über die Öffnung gespannt war. Sie sah ein schwaches Licht, das näher kam, dem ausgetretenen Pfad vom Dorf herauf folgte. »Es kommt jemand«, sagte sie, schon auf dem Weg zur Tür. »Nicht öffnen!« Seine Stimme traf sie wie ein Schlag, und wie vom Donner gerührt fuhr sie zusammen. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?« Sie starrte ihn an, erschreckt von seinem plötzlichen und so greifbaren Entsetzen. »War dieser neue Stern ein Omen? Hast du über seine Ankunft etwas gelesen? Steht in dem Buch etwas über ihn?« Niemals nannten sie dessen Titel. Es gab Wörter, die bargen die Gefahr, daß sie laut ausgesprochen die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er schlug das Buch zu und preßte es gegen seine Brust. Dann sprang er auf, griff nach dem Bogen in der Ecke und schritt mit Buch und Bogen bewaffnet hinüber zum Fenster. Plötzlich entspannte er sich, und sein Gesicht hellte sich auf. »Es ist nur Frater Hugh.« Jetzt war sie es, die zitterte. »Laß ihn nicht herein, Pa.«
»Sei nicht so hart, mein Kind. Frater Hugh ist ein guter Mann, der ganz für Unsere Herrin und Unseren Herrn lebt.« »Für sich selbst, meinst du wohl. »Liath! Wie kannst du nur so etwas sagen! Er möchte nur Anweisungen erhalten. Er ist genauso neugierig wie du. Kannst du ihm das vorwerfen?« 61 »Gib mir einfach das Buch, Pa«, entgegnete sie etwas freundlicher, damit er es ihr gab. Was sie inzwischen über Hugh wußte, war zu gefährlich, um es Pa zu erzählen. Doch ihr Vater zögerte. Vier andere Bücher standen im Regal in der Ecke, jedes eine kleine Kostbarkeit: Die enzyklopädische Geschichte der Dariyaner und Die Taten von St. Thekla von Polyxene, die Enzyklopädie der Pflanzen von Theophrastos von Eresos und die Abhandlung Von den Träumen von Artemisia. Diese Bücher enthielten freilich nichts von jenem verbotenen Wissen, das die Kirche anläßlich des Konzils von Narvone einhundert Jahre mit einem Bann belegt hatte. »Möglicherweise kann er uns helfen, Liath.« Pa war plötzlich ernst. »Wir sind nun schon so lange auf der Flucht. Wir brauchen einen Verbündeten, der die großen Mächte begreift, die ihre Netze um uns spinnen. Jemanden, der uns im Kampf gegen sie unterstützt -« Sie schnappte sich das Buch und kletterte die Leiter zum Dachboden hinauf. Von ihrem versteckten Platz unter dem schrägen Dach aus konnte sie die Hälfte des Raums überblicken und mühelos alles verstehen, was unten gesprochen wurde. Sie warf sich auf die Strohmatte und deckte sich zu. »Sag ihm, ich schlafe schon.« Pa murmelte eine unverständliche Antwort, doch sie wußte, daß er niemals widersprach, wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte. Er schloß die Läden, stellte den Bogen zurück in die Ecke und öffnete die Tür, um Frater Hugh zu empfangen. »Grüße, mein Freund!« rief er. Er klang beinahe fröhlich, denn er mochte Hugh. »Seid Ihr gekommen, um den Nachthimmel mit mir zu beobachten?« »Leider nicht, Freund Bernard. Ich bin zufällig hier vorbeigekommen -« 62 Ich bin zufällig hier vorbeigekommen. Alles Lügen, die er in einer honigsüßen Stimme verpackte. »- weil ich zum Hof des alten Johannes muß. Ich soll seine Frau mit den letzten Sterbesakramenten versehen, möge ihre Seele sich in Frieden zur Kammer erheben. Meistrin Birta bat mich, Euch diesen Brief zu übergeben.« »Einen Brief« Liath hörte, wie ihrem Vater bei diesem Wort beinahe die Stimme versagte. Seit acht Jahren wanderte er nun umher, und niemals hatten sie einen Menschen getroffen, den Pa noch aus seinem früheren Leben kannte. Niemals hatte er eine Nachricht erhalten, geschweige denn einen Brief. »Oh, Heilige Herrin«, murmelte er heiser. »Ich bin schon zu lange hier.« »Wie bitte?« fragte Frater Hugh. Das Licht seiner Lampe fiel durch das Fenster ins Innere und erhellte auch das Antlitz ihres Vaters, der auf der Türschwelle stand. »Ihr seht krank aus, mein Freund. Kann ich Euch helfen?« Pa zögerte erneut, und sie hielt die Luft an, doch nach einem Blick zum Dachboden schüttelte er langsam den Kopf. »Es gibt nichts, das Ihr tun könntet. Doch ich danke Euch.« Er griff nach dem Brief. Liath fuhr mit dem Finger über den Buchrücken, spürte die dicken Buchstaben auf dem Leder. Das Buch der Geheimnisse. Würde er Frater Hugh hereinbitten? Pa war so einsam, und er hatte Angst. »Wollt Ihr mir nicht etwas Gesellschaft leisten? Die Nacht ist so ruhig, und ich fürchte, sie wird auch lang werden.« Sie drückte sich noch weiter in die Schatten. Eine lange Pause entstand, während Hugh nachdachte. Sie spürte sein Verlangen beinahe so intensiv, wie sie die Gegenwart des Feuers spürte - seinen Wunsch, einzutreten und Pa dazu zu bringen, ihm immer mehr zu vertrauen, bis er ihm schließlich alles anvertraute. Doch dann wäre alles verloren. 63 »Leider nicht, ich habe heute nacht noch andere Pflichten zu erfüllen«, antwortete Hugh schließlich, ohne jedoch zu gehen. Das Licht ergoß sich zitternd in alle vier Ecken des Raums, als würde es etwas suchen. »Eurer Tochter geht es gut, nehme ich an?« Wie süß seine Stimme klang. »Ja, es geht ihr gut. Ich vertraue darauf, daß sich Unsere Herrin und Unser Herr ihrer annehmen, sollte mir einmal etwas zustoßen.« Hugh lachte leise auf, und Liath versuchte sich noch tiefer in die Schatten zu pressen, als würde ihr dieses Versteck Schutz bieten. »Ich versichere Euch, sie werden es, Freund Bernard. Ich gebe Euch mein Wort darauf. Ihr solltet ausruhen. Ihr seht blaß aus.« »Eure Anteilnahme macht mir Mut, Freund.« Liath konnte sehen, wie Pa den Mund zu jenem kleinen Lächeln verzog, mit dem er andere Leute zu beschwichtigen pflegte. Sie wußte, es war nicht aufrichtig - nicht wegen Hugh, sondern wegen des Briefes, wegen der Eule und dem Athar, dem merkwürdigen neuen Stern am Firmament. »Dann wünsche ich Euch noch einen gesegneten Abend, Freund Bernard. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« So gingen sie auseinander. Der Lichtschein entfernte sich auf dem Pfad zurück zum Dorf, möglicherweise zum Hof des alten Johannes. Sicherlich hatte Frater Hugh keinen Grund, etwas so Ernstes zum Gegenstand einer Ausrede zu machen. Doch ganz sicher war er nicht »zufällig vorbeigekommen«.
»Er ist ein netter Mann«, sagte Pa. »Komm runter, Liath.« »Nein«, sagte sie. »Was ist, wenn er noch draußen herumstreicht?« »Kind!« Früher oder später würde sie es sagen müssen, wenn auch 64 nicht die ganze Wahrheit. »Er sieht mich an, Pa. Mit diesem ganz besonderen Blick.« Sein Atem zischte hörbar vor Ärger. »Ist meine Tochter so eitel, daß sie einem Mann, dessen Herz der Kirche geweiht ist, unterstellt, sie mehr zu begehren als Unsere Herrin?« Beschämt verbarg sie ihr Gesicht im Schatten, obwohl er sie ohnehin nicht sehen konnte. War sie so eitel? Nein, sie wußte, es war keine Eitelkeit. Aber acht Jahre auf der Flucht hatten ihre Instinkte geschärft. Ich bin zufällig vorbeigekommen. Hugh kam häufig zu ihrem Haus und leistete Pa Gesellschaft; die beiden Männer unterhielten sich über Religion und die Schriften der Alten, und jetzt, da sie sich sechs Monate kannten, hatten sie vorsichtig begonnen, über die verborgenen Künste der Zauberei zu reden - natürlich nur als bloßes Gedankenspiel. Natürlich. »Begreifst du denn nicht, Pa?« Sie suchte nach Worten, nach einem Weg, es ihm verständlich zu machen, ohne ihm das zu sagen, was sie so sicher ruinieren würde, wie es zwei Jahre zuvor in Autun geschehen war. »Hugh sucht nicht deine Freundschaft. Er will nur dein Wissen über Zauberei.« Hugh kam oft, doch seit St. Oya hatte er angefangen, auch dann »zufällig vorbeizukommen«, wenn er genau wußte, daß Pa fort war, um eine Besorgung zu machen oder als Tagelöhner zu arbeiten - obwohl sein Gesundheitszustand sich verschlimmert hatte und er für solche Arbeiten eigentlich nicht mehr stark genug war. Liath hätte diese Arbeiten übernommen, doch Pa pflegte immer zu sagen: »Jemand muß bei dem Buch bleiben.« Und er wollte nicht, daß sie allein draußen war. »Ich bin gerade hier vorbeigekommen, Liath. Hat dir schon jemand gesagt, wie schön du bist? Du bist jetzt eine Frau. Dein 65 Vater muß sich überlegen, was aus dir werden soll - und aus dem, was er dir beigebracht hat, und all dem, was du über ihn und seine Reisen und seine Vergangenheit weißt. Ich kann dich beschützen ... dich und das Buch.« Und er hatte ihre Lippen berührt, als wollte er ihr Leben einhauchen Natürlich war es obszön, wenn ein frommer Bruder der Kirche einem unschuldigen Mädchen von nicht einmal sechzehn Jahren einen solchen Antrag machte. Nur eine Närrin hätte seinen Ton und den Ausdruck in seinem Gesicht mißverstanden. Liath hatte Hugh niemals besonders gemocht, aber diese Sache hatte sie fürchterlich erschreckt und ihr Angst eingeflößt, denn Hugh hatte das Vertrauen ihres Vaters in einer Weise verraten, die Liath ihm niemals wirklich offenbaren konnte. Wenn sie es Pa erzählte und er ihr glaubte, würde er Frater Hugh anklagen, vielleicht sogar versuchen, ihn niederzuschlagen. Zwei Jahre zuvor war in Autun etwas Ähnliches geschehen. Pa war in seiner ungestümen Art auf einen Händler losgegangen, der ihm einen Vertrag angeboten hatte, durch den er sich Liath als Konkubine sichern wollte. Als Folge davon war er von den Wachen aus der Stadt geprügelt worden. Wenn er jedoch Frater Hugh anklagte oder angriff, würde er sich einen mächtigen Feind schaffen. Hughs Mutter war eine Markgräfin, eine der großen Fürstinnen des Landes, wie Hugh nicht müde wurde zu betonen. Sie und Pa dagegen besaßen überhaupt keine Verwandten, die sie beschützen konnten. Und wenn sie Pa von dem Vorfall erzählte und er ihr nicht glaubte, dann ... o Herrin. Pa war ihr ein und alles. Sie konnte ein solches Risiko nicht eingehen. »Pa?« Während ihres langen Schweigens hatte er nicht geantwortet. »Pa?« Als ein schmerzerfülltes Stöhnen und das schwache Knistern von Pergament zu ihr heraufdrang, stürzte sie die Leiter 66 halb rutschend, halb springend hinab. Pa zerknüllte gerade den Brief und warf ihn ins Feuer. Die Flammen loderten auf, sprühten Funken. Sie machte einen Satz nach vorn, griff bereits zu -da wischte er ihre Hand mit einem kräftigen Schlag beiseite. »Laß es!« Er sah blaß aus und schwitzte. »Wenn du irgend etwas berührst, das sie berührt haben, haben sie eine weitere Verbindung zu dir.« Er sank auf die Bank zurück und ließ den Kopf in die aufgestützte Hand sinken. »Wir müssen morgen weiterziehen, Liath.« »Weiterziehen?« »Sie werden uns nicht in Ruhe lassen.« »Wer denn, Pa? Vor wem laufen wir davon? Warum erzählst du es mir nicht endlich?« »Weil nur deine Unwissenheit dich schützen kann. Sie haben die Macht, zu suchen und zu finden, doch ich habe dein Innerstes vor ihnen verschlossen.« Immerzu sagte er das gleiche. Später. Wenn du stärker bist. »Wenn wir noch in der Morgendämmerung aufbrechen, haben wir zumindest ein paar Tage Vorsprung. Wir hätten nicht so lange hierbleiben sollen.« Sie waren so lange hiergeblieben, weil sie ihn darum gebeten hatte. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Freunde gefunden. Sie stand in der Mitte ihres kleinen Hauses, und ihr Kopf stieß beinahe an die rauhen
Holzbretter des Dachbodens. Pa war nur ein Schatten im Feuerschein, halb aufgesogen von der Düsternis, doch sie konnte ihn auch im Halbdunkel klar erkennen. Es war immer eine Art Witz zwischen ihnen gewesen: Salamander-Augen, benannt nach den kleinen Geistern, die das Feuer bewohnten. Liath erinnerte sich daran, sie gesehen zu haben, viele Jahre bevor ihre Mutter gestorben war, und ihre Gestalten waren so flüssig gewesen wie Wasser, die Augen wie Blitze aus blauem Feuer. Jetzt nicht mehr. Wie sehr sie auch blinzelte, wie lang sie es 67 auch versuchte, sie sah im Herdfeuer nur Flammen auf und ab tanzen und an dem Holz fressen, bis es wie rotglühende Kohle brannte, schließlich als Asche zu Boden sank und eine dunkle Schicht bildete. »Sie ist noch nicht stark genug«, flüsterte er in die aufgestützte Hand. »Ich bin stark, Pa. Du weißt das.« »Geh ins Bett, Kind. Behalte das Buch bei dir. Wir packen morgen rasch zusammen, was wir brauchen, und verschwinden.« Sie schluckte ihre Tränen hinunter. Sie würden weggehen und zwei Jahre Zufriedenheit hinter sich lassen. Dies war ein schöner Ort, oder er war es vielmehr bis letzten Herbst gewesen - bis Frater Hugh gekommen war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie ihre Freunde zurücklassen mußte: Zwei Freunde - allein die Vorstellung! - hatten ihr so nahegestanden, als wären sie ihre Familie gewesen - eine Familie, die sie niemals gehabt hatte. Sie hatte nur ihren Vater. Doch sie würden gehen. Was immer Pa weitertrieb, zog auch sie mit. Sie würde ihn niemals allein gehen lassen. »Es tut mir leid, Liath. Ich bin ein armseliger Vater. Ich habe meine Sache nicht sehr gut gemacht. Ich hätte -« Er schüttelte den Kopf. »Blindheit hat mich schwach gemacht.« »Sag das nicht, Pa, niemals!« Sie kniete sich neben ihn und umarmte ihn. Er war in den letzten zwei Jahren so schnell gealtert, seit er in Autun verprügelt worden war. Seine Haare, die einmal braun gewesen waren, waren jetzt grau. Er ging vornübergebeugt, als würde er eine unsichtbare Bürde tragen, während er früher aufrecht und kräftig ausgeschritten war. Er trank genug Bier für vier Männer, als wollte er sich ertränken, nur daß sie nicht genügend Geld dafür hatten. Es gab an einem solch einsamen Ort nicht genug Arbeit für einen Mann, der 68 bei der Feldarbeit nicht mehr angenommen wurde und dessen einzige Fähigkeiten darin bestanden, Hexenzeichen gegen Füchse zu ziehen, die um Hühnerställe herumschlichen, oder auf Pergament und Baumrinden für die Dorfbewohner Botschaften an ihre viele Wegstunden entfernt lebenden Verwandten zu schreiben. »Geh ins Bett, Tochter«, wiederholte er. »Wir müssen früh aufbrechen.« Weil sie darauf nichts mehr zu sagen wußte, gab sie ihm einen Kuß auf die Wange und stand auf. Sie starrte einen Augenblick in die Flammen und suchte nach dem Pergament, doch es war bereits zu Asche verbrannt. Sie hörte ihren Vater schwer aufseufzen und überließ ihn sich selbst - sie würde seine Gedanken ohnehin niemals ergründen können. Als sie wieder auf dem Dachboden war, zog sie sich bis aufs Hemd aus und schlüpfte unter die Decken, das Buch fest an sich gepreßt. Sie sah die Schatten der Flammen auf den Dachvorsprüngen tanzen, und das sanfte Knistern des Feuers lullte sie ein. Sie hörte ihren Vater noch etwas Bier nachschenken, hörte ihn trinken. Es war so ruhig. So ruhig. »Traue niemandem«, murmelte er, beim Ausatmen den Namen ihrer Mutter flüsternd: »Anne.« In vielen Nächten hatte sie gehört, wie er den Namen ihrer Mutter sagte, einfach so. Noch acht Jahre nach ihrem Tod wirkte sein Kummer so schmerzhaft wie eine frische Wunde. Werde ich mich jemals jemandem so nahe fühlen? überlegte sie. Doch der Tanz der Schatten, die raschelnden Bewegungen, die ihr Vater verursachte, das sanfte Säuseln, mit dem der Wind über das steile Dach strich, das entfernte Wispern der Bäume, das alles zusammen lastete schwer auf ihr und lullte sie immer mehr ein. Sie war so müde. Was war das für ein 69 fremder Stern, der im Drachen zum Leben erwacht war? War es ein Engel? Ein Dämon der oberen Sphären? Sie schlief ein. Und träumte. Feuer. Sie träumte oft vom Feuer, einem reinigenden, willkommenen Feuer. Geister verbrennen in der Luft, mit Flügeln aus Flammen, die Augen funkelnd wie Messerschneiden. Hinter ihnen erhebt sich eine Wand aus Feuer in der schwarzen Nacht, doch das ist nichts, vor dem man Angst haben müßte. Tritt man hindurch, liegt eine neue Welt dahinter. In weiter Ferne ertönt eine Trommel wie ein Herzschlag, und das Pfeifen einer Flöte erhebt sich in die Lüfte, vom Wind getragen wie ein Vogel. Flügel ließen sich auf dem Dachvorsprung nieder. Eine Wolke aus weißem Schnee wehte durch den Rauchabzug, obwohl es nicht Winter war. Schlafend und wachsam, zum Schweigen verdammt. Wach, aber unfähig, sich zu rühren, also immer noch schlafend. Die Dunkelheit drückte sie nieder wie ein riesiges Gewicht. Glocken im Wind. War die Frau des alten Johannes in der Nacht in ein anderes Leben hinübergegangen? Galten die Glocken ihrem
Aufstieg zur Kammer des Lichts? Für jede Sphäre ein eigener Glockenschlag und die letzten drei für das Halleluja der Engel, die ihre Stimme erhoben, um die neue Verwandte willkommen zu heißen. Doch es waren keine Glocken, sondern Worte, die die Luft zerrissen. Zwei harte Schläge ertönten, wie gegen Holz. Wenn sie nur etwas sehen könnte, sie sehen könnte, aber sie konnte sich nicht bewegen, wagte nicht, sich zu rühren. Sie mußte in ihrem Versteck bleiben. Pa hatte es ihr immer wieder eingeschärft. 70 »Deine armseligen Pfeile werden dir nicht helfen«, sprach die Glockenstimme. Sie wußte nicht, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. »Wo ist sie?« Liath spürte, wie die Stimme sie berührte, als würde etwas Altes, Modriges über ihre Haut streichen. »Nirgendwo, wo ihr sie finden könnt«, keuchte Pa ganz außer Atem, als wäre er schnell gerannt. Sie versuchte sich zu bewegen, und Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Aber es war nur ein Traum, oder nicht? Plötzlich flackerten die Flammen auf, schössen kurz und grell empor, Funken stoben; danach war alles dunkel und still. Sie schlief. Und erwachte. Es war die Stunde vor der Morgendämmerung, und das Licht war kaum mehr als ein Hauch von Grau. Sie rührte sich, das Buch fest an sich gedrückt, die Hände verschränkt, noch immer schlaftrunken. Etwas stimmte nicht. Pa war auf der Bank eingeschlafen, die Arme lagen auf dem Tisch, der Kopf hing in einem merkwürdigen Winkel herab. Sein Bogen lag mit eingehängter Sehne neben der Bank auf dem Boden. Völlig durchgefroren kletterte Liath die Leiter hinunter. Pa schlief nicht. Die Läden waren verriegelt. Die Tür war verriegelt. Seit acht Jahren brannte ununterbrochen ein Herdfeuer, wo sie auch waren. Jetzt war die Feuerstelle kalt. Und da, als wäre jemand direkt dem Herdfeuer entstiegen, war ein schmaler Fußabdruck, mit grauer Asche bedeckt. Zwei von Pas Pfeilen steckten im Holz neben dem Herdfeuer. Und auf dem Tisch, neben Pas rechter Hand, lag eine weiße Feder - hell glänzend, wie sie noch nie zuvor eine gesehen hatte. 71 Wind pfiff durch den Rauchabzug und bewegte die Feder, strich über den Fußabdruck und verwischte die Ränder, bis keine Spur mehr zurückblieb. Sie griff nach der Feder ... Laß es! Sie riß den Kopf zurück, als hätte ihr Vater sie geschlagen. Wenn du irgend etwas berührst, das sie berührt haben »Wo ist sie?« hatte die Stimme gefragt. Und Pa hatte sich geweigert, eine Antwort zu geben. Sie starrte auf seinen Leichnam. Er sah so alt aus, als würde seine sterbliche Gestalt beim leisesten Windhauch zu Asche zerfallen. Traue niemandem. Als erstes versteckte sie das Buch. 2 Das Geräusch langsam fallender Wassertropfen riß Liath aus einem unruhigen Schlaf. »Pa?« Einen Augenblick lang glaubte sie, der Trog hinter dem Haus hätte wieder ein Leck. Dann öffnete sie die Augen und erinnerte sich. Pa war tot. Man hatte ihn umgebracht. Durch den schmalen Fensterschlitz hoch oben in der Mauer fiel nur ein schwacher Lichtstreifen in ihre dunkle Zelle, und der wurde auch noch vom Steinboden verschluckt, so wie ausgedörrte Pflanzen das Wasser aufsaugten. Das langsame Tröpfeln hörte nicht auf. Liath setzte sich hin. Schmutz klebte an ihrer Tunika, doch sie fühlte sich zu müde, um ihn abzuwischen. Ihr Gesicht schmerzte noch immer von den Schlägen, die Frater Hugh ihr verabreicht hatte. Sie betastete ihre rechte 72 Wange und zuckte zusammen. Ja, sie war verletzt. Ihr linker Arm tat weh, doch vermutlich war er nicht gebrochen. Sie gönnte sich ein schwaches Lächeln: eine kleine Selbstaufmunterung. Sie kämpfte sich langsam auf die Knie. Ein schneidender Schmerz schoß ihr durch den Kopf, und für eine Sekunde befand sie sich wieder in ihrem kleinen Haus. Sie kniete auf der Bank neben Pas Leiche, die zu erstarren schien, noch während sie sie ansah. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und der Luftzug wehte die weiße Feder gegen ihre bloße Haut. Als würde ein Messer in ihre Schläfe getrieben, so sehr schmerzte ihr Schädel. Eine Stimme erklang in weiter Ferne, kaum klarer als das Rauschen der Brandung an einem felsigen Ufer... Sie preßte die Handflächen gegen den Kopf und schloß die Augen, als könnte sie so die Bilder abwehren. Langsam verebbte der Schmerz und mit ihm die Vision. Sie tastete mit einer Hand nach der Mauer und kämpfte sich auf die Beine. Einen Augenblick blieb sie so stehen, versuchte, ihre Kräfte einzuschätzen. Das Tröpfeln kam aus der entgegengesetzten Ecke des Raums, kräftig und von beeindruckender
Gleichmäßigkeit. Eine schmutzige Pfütze hatte sich an dieser Stelle gebildet. Sie erinnerte sich nicht mehr genau daran, wie sie hergekommen war, doch sie ging davon aus, daß es der Keller des Gemeindehauses war; nicht einmal Hugh konnte Liudolf, den Schultheiß, dazu bringen, sie in die Kirchengruft zu sperren. Diese Gewißheit und das tröpfelnde Wasser bedeuteten, daß sie sich unterhalb der Schweineställe und damit nur fünf Schritte entfernt vom Waldesrand befand. Wenn das Fenster nur nicht so schmal wäre - noch dazu mit vier dicken Eisenstäben vergittert! Ein leises Zischen drang durch das Fenster, scharf und ängstlich zugleich. »Liath? Bist du da?« 73 »Hanna?« Ihr Herz raste plötzlich vor Hoffnung. »Hast du das Buch gefunden?« Ein erleichterter Seufzer erklang, gefolgt von einem kurzen Schweigen. Dann sprach Hanna weiter. »Ja. Unter den Dielen, genau wie du gesagt hast. Und ich habe es da vergraben, wo du es wolltest.« »Unserer Herrin sei Dank«, murmelte Liath. Hanna beachtete das kurze Stoßgebet nicht. »Wir haben nicht genug Geld, um die Schulden zu bezahlen. Und auch nicht ...« Sie zögerte. »Auch nicht für den ... Preis für dich. Die Versteigerung findet morgen statt. Es tut mir leid.« Liath ging zum Fenster und griff mit ihren schmutzigen Händen nach den Gitterstäben. Sie blinzelte ins Sonnenlicht und konnte Hannas Gesicht nur undeutlich erkennen. »Aber was ist mit Pas vier Büchern? Sie werden einen guten Preis erzielen. Sie allein sind soviel wert wie zwei Pferde.« »Hat der Schultheiß es dir nicht gesagt? Frater Hugh hat sie beschlagnahmt; er behauptet, sie sind Eigentum der Kirche. Sie werden nicht verkauft.« »Beim Blute der Herrin«, fluchte Liath, doch die bittere Wut, die sie erfüllte, verstärkte nur ihre Schmerzen. Warum hatte Pa ihm bloß vertraut? »Es tut mir leid -« begann Hanna von neuem. »Es muß dir nicht leid tun. Was hättest du schon machen können?« »Wenn Inga bei ihrer Hochzeitsfeier nicht so selbstsüchtig gewesen wäre, hätten wir jetzt wenigstens den Preis für dich zahlen können -« »Es ist nicht Ingas Fehler. Frater Hugh wird die Schulden meines Vaters begleichen, also hätte es ohnehin keine Rolle gespielt.« »Aber wie konnte dein Pa in gerade mal zwei Jahren so viele 74 Schulden machen, Liath? Du hast niemals etwas davon gesagt. Die ganze Zeit über ...« Hannas Stimme wurde noch leiser. Liath konnte jetzt ihre Mundpartie erkennen, dann griff Hanna durch die Gitterstäbe hindurch nach ihren Händen. »Meine Mutter sagt, daß er die Schulden nicht auf normale Weise angehäuft haben kann.« Hannas Hand fühlte sich warm an, und Liath erwiderte den Druck. Mein Vater war ein Zauberer. Natürlich hat er sie nicht auf normale Weise angehäuft. Doch das konnte sie nicht laut sagen, nicht einmal gegenüber ihrer engsten Freundin. Alle im Dorf hatten geglaubt, daß Meister Bernard ein verstoßener Priester war - ein Mann, der das Kloster hatte verlassen müssen, weil er sein Gelübde gegenüber Unserer Herrin und Unserem Herrn entehrt hatte, indem er eine Frau geschwängert hatte. Ein Geistlicher konnte schreiben. Ein Geistlicher verstand etwas von Kräutern und Zauberei, wußte sie als Mittel gegen die Pest, bei verschiedenen Krankheiten oder weit schlimmeren Übeln einzusetzen. Pa hatte ihnen diesen Glauben niemals genommen, was es den Dorfbewohnern ermöglicht hatte, ihn frei von jeder Angst in ihrer Gemeinschaft aufzunehmen. Ein gefallener Mönch war ein Mann, der Schande auf sich geladen hatte, aber kein gefährlicher. Nur Frater Hugh war argwöhnisch gewesen. Nur er hatte sich Pas Vertrauen erschlichen. Im Gang jenseits der Tür erklangen Schritte. Sie hörte unterdrückte Stimmen. »Hanna. Du mußt jetzt gehen.« »Aber Liath -« »Es kommt jemand.« »Mutter wird dir etwas zum Essen bringen. Ich komme heute nacht wieder.« Ein Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß. Die Ketten klirrten leise. 75 Der Schatten am Fenster verschwand, und Liath drehte sich um. Langsam und knirschend öffnete sich die Tür. Liath wich zurück, drängte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie reckte trotzig das Kinn in die Höhe. Drei Personen standen in der Tür. Zwei von ihnen traten ein: Frater Hugh und Liudolf, der Schultheiß. Hugh trug eine Kerze. Damit man sein gutaussehendes Gesicht besser sehen kann, dachte Liath kalt. »Wo ist das Buch?« forderte Hugh ohne Umschweife. Seine Stimme klang arrogant und kühl, sie paßte so gar nicht zu dem honigsüßen Ton, mit dem er sich bei ihrem Vater eingeschmeichelt hatte. »Möglicherweise hast du es dir ja nach einer Nacht hier unten überlegt und sagst es mir?« »Frater«, mischte sich der Schultheiß ein. »Ihr habt die Befragung des Mädchens bereits beendet, denke ich. Ich bin zufrieden, daß sie mit dem Tod ihres Vaters nichts zu tun hat.« Liudolf hatte ein Rechnungsbuch unter seinen Ellbogen geklemmt. »Also, Mädchen«, wandte er sich an Liath, »ich habe die Schulden und den Besitz deines Vaters zusammengezählt, und Frater Hugh hat hier, auf diesen Seiten, alles niedergeschrieben. Ich werde es dir jetzt vortragen.«
Hugh starrte sie an. Liath hielt die Augen fest auf den alten Schultheiß gerichtet, spürte aber dennoch seinen Blick. Vier Bücher hatte er in dem Haus gefunden; vier Bücher hatte er gestohlen, was immer er auch von »Eigentum der Kirche« sagen mochte. Und er wußte, daß es ein fünftes Buch gab - eins, das sie versteckt hatte. Liudolf trug die Berechnungen laut, ohne jeden Blick auf das Pergament vor, denn er konnte nicht lesen. Aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Die Schuldenliste war beträchtlich, die des Besitzes im Vergleich dazu kurz: ein Bogen, ein Köcher und vierzehn Pfeile; Tusche und Schabmesser und Pergament; 76 eine Silberskeatta, die während der Herrschaft von Kaiser Taillefer geprägt worden war; ein Kochtopf, eine Schüssel, zwei Löffel und ein Messer; ein Schleifstein; zwei Hemden und eine wollene Tunika; ein Wollmantel, dessen Saum mit Kaninchenfell besetzt war; eine bronzene Brosche; Hosen, Schuhe; ein Bett, ein Tisch, eine Bank, ein Regal und eine Kupferschüssel; zwei Wolldecken; ein halbes Faß Bier, Honig, geräuchertes Fleisch und drei Specksteingefäße, eines mit Salz gefüllt und zwei mit Weizenmehl; zwei Hennen; zwei Schweine; und eine Tochter. »Im Alter von fünfzehn Jahren«, endete Liudolf. »Ich wurde vor vier Tagen sechzehn, am Mariannatag.« »Ist das wahr?« fragte Liudolf interessiert. »Das verändert die Sachlage. Es stellt sich also nicht mehr die Frage nach dem Preis deiner Auslösung. Als mündige Erwachsene mußt du für sämtliche Schulden deines Vaters aufkommen - es sei denn, es gibt noch andere Verwandte.« »Keine, von denen ich wüßte.« Er seufzte und nickte. »Das heißt, wer deine Schulden bezahlt, erkauft damit deine Freiheit.« »Da waren Bücher«, sagte sie rasch und vermied es, Hugh dabei anzusehen. »Mein Vater besaß vier Bücher und ein ...« Sie mußte vorsichtig sein. »Und ein Messinggerät, mit dem er die Zeit bestimmte.« »Diese Gegenstände wurden von der Kirche beschlagnahmt.« »Aber sie hätten genug eingebracht, um die Schulden meines Vaters zu begleichen!« »Es tut mir leid, Kind.« Es klang endgültig. Sie wußte sofort, daß es zwecklos war, ihm zu widersprechen. Warum sollte er ihr auch zuhören, einem alleinstehenden Mädchen ohne Hab und Gut, ohne irgendeinen Menschen, der seine schüt77 zende Hand über sie hielt? »Hier, du mußt ein Zeichen auf der Seite machen, auf der all dies steht, und damit bezeugen, daß ich, nach deinem Wissensstand, alles korrekt ausgerechnet habe.« Sie nahm den Stift und balancierte das aufgeschlagene Buch in der linken Hand. Hugh beobachtete sie gespannt, doch bedächtig setzte sie ein unbeholfenes »X« unter die letzten Schriftzeichen. Sie gab dem Schultheiß das Buch zurück, und er ließ einen schnalzenden Ton hören, denn er bedauerte ihre Notlage aufrichtig; dann seufzte er wieder und kratzte sich am Kopf. »Die Versteigerung findet morgen statt, Kind.« Liudolf warf einen Blick auf Hugh; er wußte genauso wie Liath, daß niemand außer dem Frater in der Lage war, den gesamten Preis zu zahlen - besonders jetzt, da er ihr auch noch die Bücher genommen hatte. Und es hatte auch den Anschein, als wäre Hugh ohnehin der einzige, der sie kaufen wollte. Der alte Graf Harl hatte zwar das nötige Geld und sogar ein paar Sklaven, doch er hielt sich gewöhnlich aus den Angelegenheiten des Dorfes heraus - bis auf das eine Mal, als er Hannas Mutter als Amme für seine Kinder angestellt hatte. »Ich bitte um Entschuldigung«, erklang die Stimme einer Frau von der Tür her. »Darf ich jetzt reinkommen?« »Gewiß. Wir sind fertig.« Liudolf trat zurück. Hugh starrte Liath an, ohne sich zu rühren. »Frater«, drängte Liudolf sanft. »Wir haben bis morgen noch einiges zu erledigen, nicht wahr?« »Ich kriege das Buch«, murmelte Hugh. Er ging hinaus, die Kerze noch in den Händen. Meistrin Birta, die Wirtin der Dorfschenke, trat aus dem düsteren Schatten. Sie hielt einen Krug in den Händen und ein Päckchen, das in ein Stück Stoff eingeschlagen war. »Hier, 78 Liath. Ich habe gehört, daß du gestern weder etwas gegessen noch getrunken hast.« »Ich hatte ein wenig Wein.« Liath nahm den Krug. Ihre Hände zitterten, als sie ihn auf den Boden stellte und einen Laib Brot und ein Stück Ziegenkäse aus dem Päckchen wickelte. »Oh, ich danke Euch, Meistrin Birta. Jetzt erst merke ich, wie hungrig ich bin.« Birta warf einen Blick zurück in den feuchten Flur, wo die beiden Männer auf sie warteten. »Ich sorge dafür, daß du auch morgen früh etwas zu essen bekommst.« Sie erhob leicht die Stimme. Wie mutig, dachte Liath. »Es ist nicht recht, dich hungern zu lassen, ungeachtet aller Umstände.« Sie trat einen Schritt auf Liath zu und senkte ihre Stimme jetzt so sehr, daß sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Wenn es uns möglich gewesen wäre, Kind, hätten wir zumindest die Summe für dich gezahlt. Wir hätten dich gut behandelt. Doch wir mußten bereits die Abgaben für dieses Jahr leisten, und mit Ingas Hochzeitsfeier im letzten Herbst...« »Bitte nicht«, sagte Liath hastig. Sie war peinlich berührt. »Ich weiß, Ihr habt getan, was in Eurer Macht stand. Doch Pa hat sich niemals darum gekümmert, wie teuer es war -« Sie brach ab, sich der Stille im Flur bewußt; Hugh würde begierig jedes einzelne ihrer Worte aufsaugen. »- so zu leben, wie er es tat. Er liebte Eure Schenke und verbrachte manch schönen Abend mit Eurem Mann.« »Ja, Kind«, erwiderte Birta rasch; sie verstand Liaths Wink. »Ich lasse dich jetzt allein. Sie erlauben mir nicht,
dir eine Decke zu bringen, aber ich verlasse mich darauf, daß Unsere Herrin und Unser Herr für eine warme Nacht sorgen.« Sie gab Liath einen Kuß auf die Stirn und ging hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihr mit einem knarrenden Geräusch. Liath war wieder allein. Zuerst widmete sie sich 79 dem Essen; sie aß alles auf, trank jedoch nur wenig. Dann schritt sie auf und ab. Beim Gehen konnte sie besser nachdenken, selbst wenn es nur fünf Schritte geradeaus waren, eine Kehrtwende und wieder fünf Schritte geradeaus. Doch wie oft sie auch in der Zelle auf und ab ging, sie konnte dem, was Pa ihr hinterlassen hatte, nicht entkommen. Pa war tot. Morgen würde zur Tilgung seiner Schulden erst sein Hab und Gut verkauft werden, dann sie selbst. Morgen würde sie ihre Freiheit verlieren. Doch sie besaß Pas Schatz, Das Buch der Geheimnisse, und so lange sie das hatte, besaß sie zumindest noch ein gewisses Maß an innerer Freiheit. Sie hockte sich in eine Ecke und zog die Knie an die Brust. Ein schwacher Trost. Sie ließ das Kinn auf die Knie sinken und schloß die Augen. Einmal, als sie glaubte, eine leise Stimme ihren Namen rufen zu hören, fuhr sie zusammen. Doch die Stimme rief nicht wieder. Liath rieb sich die Augen und kauerte sich gegen die Kälte noch mehr zusammen. Zitternd fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Ermordet. Wer immer ihn verfolgt haben mochte, hatte ihn schließlich eingeholt. Wann hatte er seine magischen Fähigkeiten verloren? Oder waren es die ihrer Mutter gewesen, mit deren Hilfe er Schmetterlinge herbeigezaubert hatte, um einem kleinen Mädchen die einsamen Tage zu vertreiben? »Sie haben sie getötet, Liath«, hatte er an jenem Tag vor acht Jahren zu ihr gesagt. »Sie haben Anne getötet und ihre Fähigkeiten geraubt, um sie selbst benutzen zu können. Wir müssen fliehen. Sie dürfen uns niemals finden.« Ihre Mutter. Ihr Gesicht tauchte in den Erinnerungen des Traums auf, die Haare so hell wie Stroh, die Haut so blaß, als hätte niemals ein Sonnenstrahl sie berührt, obwohl sie stundenlang in der Sonne im Garten gesessen und in die Ferne ge80 blickt hatte. Liath hatte sich manchmal zu ihr gesetzt und sie betrachtet; sie hatte dann hin und wieder an ihrer eigenen Haut gerubbelt, um den Dreck abzureiben, doch der Dreck löste sich nicht, denn er war festgebrannt, als wäre sie in einem Ofen geformt und ihre Haut goldbraun gebacken worden, bevor sie das Licht der Welt erblickt hatte. Als sie das kleine Bauernhaus und den Garten, in dem ihre Mutter gestorben war, verlassen und die lange, endlose Reise angetreten hatten, hatte sie begonnen, ihre Hautfarbe schätzen zu lernen - selbst in der größten Hitze im Sommer bekam sie nie einen Sonnenbrand. Zuerst hatte sie gedacht, ihr Vater schützte sie mit Hilfe seiner Magie, denn er hatte schwer damit zu kämpfen. Doch dann, als sie begriff, daß ihr Pa gar keine wirkliche Magie, keine Zauberei beherrschte, abgesehen von irgendwelchen Tricks und einfachen Mittelchen, abgesehen von seinem enzyklopädischen Wissen, glaubte sie, daß möglicherweise ihre eigenen Zauberkräfte sie schützten, im verborgenen darauf wartend, daß sie alt und stark genug wäre, damit sie sich zeigen konnten. Doch Pa hatte wieder und wieder betont, daß sie sich keine Hoffnungen auf diese Gabe machen sollte. Und wirklich, welche kleinen, zerbrechlichen Zaubersprüche er auch angewandt hatte, niemals hatten sie auch nur die leisesten Auswirkungen auf sie gehabt. Hatte er mit Hilfe seiner Zauberkräfte eine Tür verschlossen, konnte sie sie öffnen, als hätte der Zauber niemals gewirkt, während Hanna, wenn sie vorbeigekommen war, sich über die geschlossene Tür gewundert hatte. Sie war unempfänglich gegenüber Magie, hatte Pa immer behauptet, so ähnlich wie Stumme, die nicht sprechen konnten. Wie Taube andere sprechen sehen, ohne sie zu hören. Einmal hatte Pa sie dabei ertappt, wie sie laut eine Feuerbeschwörung aus dem Buch aufgesagt hatte. Es war nichts ge81 schehen, doch er war so böse geworden, daß sie in jener Nacht zur Strafe hatte im Schweinestall schlafen müssen. Allerdings hatten ihr die Schweine nichts ausgemacht. »Liath.« Sie erwachte mit einem Ruck, erhob sich und tastete sich zum Fenster. Doch da draußen war niemand. Nur der Wind wisperte in den Bäumen. Nichts rührte sich. Sie bebte, rieb mit den Händen über die Arme. Ihr war nicht richtig kalt; sie fröstelte eher aus Angst. Egal, wieviel sie auch umhergewandert waren, wie sehr sie von einem Tag auf den anderen gelebt hatten - bereit, beim kleinsten Zeichen einer aus geheimnisvollen Tönen zusammengesetzten Melodie, die nur ihr Vater kannte, weiterzuziehen -, er war immer bei ihr gewesen. Hatte auf sie aufgepaßt, egal, was er sonst noch gewesen oder nicht gewesen sein mochte. Hatte sie geliebt. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich liebe dich, Pa«, flüsterte sie in die kühle Nachtluft, doch es kam keine Antwort. Schultheiß Liudolf begleitete sie am nächsten Morgen zum Dorf platz. Das gesamte Dorf war anwesend und auch einige weiter entfernt wohnenden Bauern, die von der Versteigerung gehört hatten und eigens dafür hergekommen waren. Vor der Schenke standen Bänke und Stühle. Liath konnte es Meistrin Birta und Meister Hansal nicht verübeln, daß sie ihren Vorteil aus der unerwarteten Gelegenheit ziehen und ihre Einnahmen aufstocken wollten. Das Angebot des Schultheiß, sich hinzusetzen, lehnte sie ab. Frater Hugh stand schweigend da, während der Schultheiß die aufgelisteten Gegenstände verkaufte, einen nach dem anderen. Denn wie seltsam Pa auch gewesen sein mochte, er hatte immer geholfen, wenn ein Mann
82 oder eine Frau an seiner Tür erschienen waren und es in seiner Macht stand, und ganz sicher war Liath jetzt auch deshalb so arm, weil ihr Vater viel Geld ausgegeben hatte, um anderen helfen zu können - ohne es zurückzuverlangen. Doch obwohl die Beliebtheit ihres Vaters zu hohen Verkaufssummen führte, blieben immer noch ungedeckte Schulden übrig, als alle seine weltlichen Güter verkauft waren. Liudolf stieß mit leichtem Kopfnicken einen seiner großen Seufzer aus, dann schaute er sie an. Die ganze Menge schaute sie an. Im Eingang zur Schenke stand Hanna und starrte zu ihr herüber; ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Kummer und Wut. Aber sie weinte nicht, nicht Hanna. Eine plötzliche Bewegung sorgte am anderen Ende des Platzes für Aufregung; ein Reiter erschien. Hugh riß den Kopf herum, und der Ausdruck von Verärgerung verzerrte sein schönes Gesicht. »Ivar!« schrie Hanna. Sie rannte los und hielt das Pferd an den Zügeln, während Ivar abstieg. Sie standen zu weit von Liath entfernt, und so konnte sie nicht hören, was die beiden besprachen; sie sah aber, daß Hanna schnell redete und wild gestikulierte. Ivar schüttelte den Kopf. Hanna fügte noch etwas hinzu, etwas Leidenschaftliches, doch Ivar schüttelte erneut den Kopf. Er führte das Pferd über den Platz, Hanna wich nicht von seiner Seite und redete ohne Unterlaß auf ihn ein, bis er schließlich vor dem Schultheiß stehenblieb. Liudolf wölbte die Brauen. »Junker Ivar«, sagte er höflich. »Seid Ihr hier, um im Namen Eures Vaters ein Angebot zu machen?« Ivar warf einen raschen, beinahe verstohlenen Blick auf Liath. Sie und Hanna sahen mit ihren sechzehn Jahren längst nicht mehr aus wie die Mädchen, mit denen er vor zwei Jahren 83 Freundschaft geschlossen hatte, sondern wie Frauen. Ivar hingegen hatte noch immer viel Jungenhaftes an sich und jene unbeholfene Anmut, der er wohl bald entwachsen würde. »Nein«, antwortete er so leise, daß sie es kaum verstehen konnte. Hugh lächelte zufrieden. »Ich habe von Meister Bernards Tod gehört«, fuhr Ivar fort. Er wandte sich um und sah Hugh an. »Ich bin gekommen, um dafür zu sorgen, daß ... daß Liath gut behandelt wird.« Er sagte dies mit einem gewissen Nachdruck, doch als Drohung oder gar Versprechen war es gegenüber Hughs maßlosem Selbstvertrauen nur von geringer Bedeutung. Hugh war mindestens acht Jahre älter als Ivar und besaß jene natürliche Anmut, die dann entsteht, wenn sich die Seele eines Tyrannen mit der Arroganz eines gutaussehenden Mannes verbindet. Und wenn auch Hughs Vater von niedrigem Stand sein mochte - zumindest behauptete das Birta -, war doch seine Mutter eine Markgräfin, die um einige Stufen höher stand als Graf Harl. Bastard oder nicht, Hugh war für größere Dinge ausersehen, und die riesigen Kirchengüter, die ihm seine Mutter und Großmutter übertragen hatten, waren nur der Anfang. Wenn ein Mann auch eher selten in die Rolle des Verwalters von Kircheneigentum schlüpfte - denn wie der Herr sich um die umherziehenden Schafe kümmerte, sorgte sich die Herrin um das Herdfeuer -, war es dennoch nicht ganz unbekannt, besonders dann nicht, wenn es sich um Klöster handelte, die große Gebiete beherrschten. Zumindest hatte Birta dies behauptet, als Frater Hugh im letzten Jahr als Wanderprediger nach Friedleben gekommen war, um sich den hier lebenden Menschen zu widmen. Und Birta war in Friedleben die zuverlässigste Quelle, wenn es um Neuigkeiten, Klatsch und Erzählungen ging. 84 »Schultheiß«, sagte Hugh mit ruhiger, gelangweilter Miene. »Können wir fortfahren? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Ivar verzog das Gesicht; er errötete und ballte eine Faust. Hanna griff nach seiner Hand und zog ihn zurück zur Schenke. Alle konnten sehen, daß er sich widerstandslos wegführen ließ, und so war das Bedürfnis der Menge nach einem Schauspiel bereits befriedigt. Liudolf seufzte abermals; er machte bewußt eine Schau daraus, die Münzen und Tauschgegenstände zusammenzuzählen, die der Verkauf von Pas Besitz erbracht hatte. »Wieviel bleibt übrig?« wollte Hugh wissen. »Zwei Goldnomias oder so viele Skeattas, wie diesem Wert entsprechen.« »Es ist eine Schande«, murmelte jemand in der Menge. »Der Preis der Bücher«, flüsterte Liath. Ohne mit der Wimper zu zucken, reichte Hugh dem Schultheiß zwei Münzen. Sie versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch rasch schlössen sich Liudolfs Hände um die Münzen; sein Gesicht zeigte Verblüffung, und Liath fragte sich, ob er wohl schon einmal eine Nomia gesehen hatte. Hugh wandte sich an Liath. »Kommst du mit? Oder muß ich dich hinter mir herschleifen?« Pa hatte immer wieder betont, sie sollte die anderen in dem Glauben lassen, sie wüßte mehr als sie. Liath blickte zu Hanna und Ivar, die zusammen bei der Schenkentür standen und sie beobachteten. Hannas Gesicht war blaß, Ivars gerötet. Liath nickte ihnen kurz zu; sie hoffte, Ruhe auszustrahlen und begann, auf die Kirche zuzumarschieren, die weiter unten an der vom Dorfplatz wegführenden Straße lag. Ihre Bereitwilligkeit überraschte Hugh, und er mußte sich beeilen, sie einzuholen, was sie mit einer gewissen Befriedigung erfüllte. 85 Er packte sie fest am Unterarm, und sie marschierten aus dem Dorf bis zu der Kapelle, traten ein und schritten das Längsschiff entlang in das Labyrinth der dahinter liegenden Räume. Den ganzen Weg gingen sie so, bis zu
der kleinen Kammer, in der sein Bett stand. »Hier.« Er hielt sie noch immer fest. Der Raum war sogar noch üppiger eingerichtet, als Liath erwartet hatte. Frater Robert, der vor Hugh hier als Verwalter gelebt hatte, hatte auf einem Feldbett im Längsschiff geschlafen. In der Kammer befanden sich ein schön geschnitzter Tisch mit Stuhl und eine Holztruhe mit Einlegearbeiten aus leuchtenden Edelsteinen und Emaille. Auf dem Tisch lagen Pergament, drei Federn und ein mit einem Stöpsel versehenes Tintenfläschchen. Ein dicker Teppich mit achtzackigen Sternen bedeckte den Boden; er wirkte teuer. Liath erkannte das Muster, es war ein arethusanisches Zeichen, doch sie hütete sich, es Hugh merken zu lassen. Federdecke und Kopfkissen lagen hoch aufgebauscht auf dem Bett. »Hier wirst du schlafen«, sagte er. »Niemals.« »Dann im Schweinestall.« »Mit Freuden, solange die Schweine mich vor Euch bewahren.« Er schlug zu. Ihre Haut brannte noch, als er sie gewaltsam an sich heranzog und auf den Mund küßte. Es gelang ihr, eine Hand zwischen sich und ihn zu schieben und Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Er lachte auf, wild und etwas atemlos. »Du Närrin. Meine Mutter hat mir die Abtei von Fiersbarg versprochen, sobald der alte Abt gestorben ist. Mit der Abtei habe ich Zugang zur Rundreise des Königs, wenn ich will. Und in zwei oder fünf Jahren ist der Presbyterstab in meinen Händen, und ich gehöre zu denen, die die Skopos beraten. Du mußt mir nur das Buch 86 geben und mir zeigen, was dein Vater dich gelehrt hat, dann gibt es nichts, was wir beide nicht erreichen könnten.« »Ihr habt Euch die Bücher bereits selbst genommen. Ihr habt sie gestohlen. Damit hätte ich die Schulden bezahlen können und wäre jetzt frei.« Sein Gesichtsausdruck jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Du wirst niemals frei sein, Liath. Wo ist das andere Buch?« »Ihr habt Pa getötet.« Er lachte. »Das habe ich natürlich nicht getan. Er ist an Herzversagen gestorben, genau wie Schultheiß Liudolf gesagt hat. Wenn du einen anderen Verdacht hast, meine Schöne, solltest du ihn vielleicht mir anvertrauen. Noch einen Sommer, und dein Vater hätte mich sowieso ins Vertrauen gezogen. Du weißt, daß das wahr ist.« Es stimmte. Pa war einsam gewesen, und Hugh, was immer er sonst noch war, konnte sehr charmant sein. Pa hatte ihn gemocht, seine schnelle Auffassungsgabe, seine Neugier, selbst seine Arroganz, denn Hugh hatte die sonderbare Angewohnheit, Pa zu behandeln als wäre er von gleichem Stand. Und genau das schien Pa erwartet zu haben. »Pa hat niemals ein Gespür für Freunde gehabt«, wagte sie zu sagen, um die aufwühlenden Gedanken abzuschütteln. »Ich weiß, daß du mich nie gemocht hast, Liath, aber ich verstehe nicht, warum. Ich habe dir nie etwas getan.« Er legte ihr zwei Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Tatsächlich gibt es in diesem Dorf, ja in diesem ganzen, langweiligen Ödland keine andere Frau, der ich jemals mein Bett anbieten würde - und ich habe mit einer Herzogin geschlafen und eine Königin zurückgewiesen. Wenn ich erst Abt von Fiersbarg bin, kannst du dein eigenes Haus haben, deine eigenen Bediensteten, ein Pferd. Was 87 immer du willst. Und ich habe nicht vor, mein ganzes Leben in Fiersbarg zu verbringen. Ich habe Pläne.« »Wenn Ihr Pläne habt, können es nur verräterische sein.« Sie entwand sich seinem Griff. »König Henry und die Skopos haben Zauberei niemals toleriert. Nur Prinzessin Sabella heißt Ketzer in ihrer Gesellschaft willkommen.« »Wie wenig du doch von der Kirche weißt, meine Schöne. Zauberei ist nicht Ketzerei. Tatsächlich geht die Skopos gewöhnlich härter gegen die Ketzerei als die Zauberei vor. Zauberei ist von der Kirche nur dann verboten, wenn sie nicht unter Aufsicht der Skopos ausgeführt wird. Ich frage mich, was dein Pa dir beigebracht hat. Du würdest überrascht sein, wenn du wüßtest, wie tolerant König Henry und die edle Prinzessin sein können, wenn die Mittel nur ihren Zielen dienen. Wo hast du das Buch versteckt?« Sie wich zur Tür zurück und enthielt sich einer Antwort. Er lächelte. »Ich bin geduldig, Liath. Herrin und Herr, was haben deine Eltern sich nur dabei gedacht, ihrem Kind einen alten arethusanischen Namen zu geben? Liathano. Ein alter Name, voller Erinnerungen an Zauberei. Zumindest das hat dein Pa mir verraten.« »Als er zuviel getrunken hatte.« »Wird es dadurch weniger wahr?« Sie schwieg. »Wo ist das Buch, Liath?« Als sie immer noch nicht sprach, schüttelte er den Kopf, weiterhin ein Lächeln auf den Lippen. »Ich habe Geduld. Was wird es also sein? Mein Bett oder der Schweinestall?« »Der Schweinestall.« Im Bruchteil einer Sekunde hatte er ihr Handgelenk gepackt und schlug ihr hart ins Gesicht. Dann schlang er seine Arme fest um sie und fuhr mit den Fingern ihren Rücken entlang. Sein Atem verteilte sich heiß auf ihrem Nacken. Sie stand starr und steif da, doch als er begann, sie in Richtung des Bettes zu drängen, wehrte sie sich. Sie konnte ihm ein Bein stellen und ihn zum Stolpern bringen. Sie fielen hin, und sie machte sich frei, wollte schon aufstehen. Er lachte
und riß sie so hart zurück, daß sie sich auf dem Steinboden die Knie aufschlug. Der Schmerz raubte ihr beinah den Atem. Dann ließ er sie los und stand auf. Er keuchte schwer. Er verbeugte sich in sehr formeller, höfischer Manier und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. »Du kommst freiwillig in mein Bett oder gar nicht.« Er zog ein Stück weißen Stoff aus seinem Gürtel hervor, wischte ihre Hand damit ab und neigte sich dann herab, um ihr einen Handkuß zu geben. »Meine Dame«, sagte er. Sie war zu benommen, um seinem Ton entnehmen zu können, ob es spöttisch oder ernst gemeint war. Seine goldfarbenen Haare streiften ihre Hand, und er richtete sich wieder auf. »Sie ist dunkel und schön, diese Tochter von Sais, berührt vom Atem der Sonne. Wende deine Augen von mir ab; sie leuchten so hell wie der Morgenstern.« Sie wischte ihre Hand hinter ihrem Rücken an der Tunika ab. »Also gut. Du wirst die Schweine und Hühner füttern, diesen Raum wischen, mir das Bad bereiten und dann Meistrin Birta erzählen, daß sie mir fortan nicht mehr zweimal täglich eine Mahlzeit bereiten und bringen lassen muß. Du kannst doch kochen, nehme ich an?« »Ich kann kochen. Darf ich jetzt gehen?« Er trat zur Seite, so daß sie gehen konnte, doch sie hatte gerade den schmalen Flur erreicht, als er ihren Namen rief. »Liath.« Sie wandte sich um; er stand im Türrahmen. Selbst im Zwielicht dieses kleinen Labyrinths aus Räumen schien er mit seinen goldenen Haaren, der glatten Leinenrobe und sei89 ner schönen, sauberen Haut zu strahlen, als er sie beobachtete. »Möglicherweise hältst du es tatsächlich den ganzen Sommer im Schweinestall aus, doch ich glaube kaum, daß du es auch noch mögen wirst, wenn erst einmal der Winter mit seiner Kälte angebrochen ist.« Wie weit würde sie kommen, wenn sie versuchte wegzulaufen? Ein nutzloser Gedanke. Sie würde nicht weit kommen, und selbst wenn sie es schaffte, ihm zu entrinnen, hatte sie nichts, um überleben zu können. Sie hatte in den acht Jahren ihrer Flucht gesehen, daß es weit schlimmere Umstände gab als diese. Hugh kicherte; er hielt ihr Schweigen für eine Antwort. »Sag Meistrin Birta, sie soll eine Rechnung für alle Nahrungsmittel und Güter machen, die du bei ihr kaufst. Ich werde jeden Herrintag bezahlen. Ach, und ich erwarte gute Mahlzeiten. Du wirst zusammen mit mir essen. Jetzt geh.« Sie ging. Als sie nach draußen trat, um die Tiere zu füttern, die in dem Stall entlang der Lagerräume untergebracht waren, sah sie draußen zwischen den Bäumen einen Reiter. Es war Ivar. Er bewegte sich, als er sie sah. Sie winkte ihn verzweifelt weg. Denn auf dem Federbett in Frater Hughs Zimmer hatte sie noch etwas gesehen - ein schönes, langes Schwert mit vergoldetem Heft in einer roten Lederscheide. Das Schwert eines Edelmannes. Sie zweifelte nicht daran, daß Hugh es zu führen wußte und auch nicht zögern würde, es sogar gegen den Sohn des hier herrschenden Grafen anzuwenden. Ivar zügelte sein Pferd und blieb aufrecht sitzen; er beobachtete sie, während sie arbeitete. Nach einer Weile ging sie hinein. Als sie mit zwei Eimern an einer Stange über den Schultern wieder herauskam, war Ivar verschwunden. III Schatten aus der Vergangenheit
1 Die Reise von Osna zur Burg Lavas dauerte gewöhnlich fünf Tage, wie Alain vom befehlshabenden Feldwebel erfahren hatte. In diesem Frühling jedoch waren es fünfzehn, denn die Kastellanin ließ in jedem Dorf und in jedem Weiler halt machen, um Steuern und Pacht einzutreiben oder junge Menschen für den Dienst im kommenden Jahr mitzunehmen. So trafen sie genau an St. Marcia auf der Burg ein. Alain staunte nicht schlecht beim Anblick der Festung. Ein hoher Palisadenwall zog sich um die Burg des Grafen, während ein anderer, kleinerer die auf einer Anhöhe errichtete Holzhalle mit dem Burghof und dem Steinturm umgab. Das Dorf breitete sich jenseits des äußeren Walls aus; es erstreckte sich bis hinunter zu den Ufern eines träge dahinfließenden Flusses. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Staunen. Rasch wurden er und die anderen in den gewaltigen äußeren Hof der Festung getrie91 ben, wo sie sich in mehreren Reihen hintereinander aufstellen und darauf warten mußten, daß die Kastellanin und ihre Begleiter einen Tisch aufgebaut hatten und die Neuankömmlinge einzeln zu sich kommen ließen. Alain fand sich in einer Gruppe aus jungen Männern wieder, und schon bald stand er Feldwebel Fall gegenüber. »Kannst du reiten? Hast du schon einmal einen Speer geführt? Vielleicht mit Pferden gearbeitet? Nein, natürlich nicht.« Der kräftige Mann winkte schon den nächsten zu sich.
»Aber -« begann Alain verzweifelt. Hatte die Herrin der Schlachten ihm nicht verheißen, daß er die Kriegskunst erlernen würde? »Weiter, weiter! Wir haben keine Zeit, neue Rekruten auszubilden, nicht jetzt. Graf Lavastin ist bereits den Aikha auf den Fersen, und wir folgen in zwanzig Tagen mit einer zweiten Streitmacht. Geh in eine andere Gruppe und verschwende nicht länger meine Zeit, Junge.« Derart in die Schranken verwiesen, schloß Alain sich einer anderen Gruppe an. Diesmal war es eine aus Frauen und Männern gemischte; Burschen seines Alters waren darin und noch nicht ganz zu Frauen gereifte Mädchen. Schließlich kam er an die Reihe, und Kastellanin Dhuoda stellte ihm einige Fragen. Er hörte kaum seine eigenen Antworten. Obwohl ein sauberes Leinentuch ihre Haare bedeckte, lugten immer wieder einige Haarsträhnen hervor, strubbelige, rötliche Locken, die sich an Stirn und Ohren kringelten. »Was für ein Akzent!« sagte sie zu dem jungen Geistlichen in einer schlichten, braunen Robe, der neben ihr saß und die Liste für Graf Lavastin ergänzte. »Nun, Junge, Meister Rodlin kann dich im Stall gebrauchen. Wer kommt als nächstes?« »Aber Bruder Gilles hat mir die Buchstaben beigebracht. Ich kann sie alle ordentlich schreiben.« 92 Der Frater schaute interessiert auf. Etwas Wildes lag in seinem Blick, wie bei einem Falken. »Kannst du lesen?« wollte er wissen. »Nein ... ich kann noch nicht lesen, aber ich bin sicher, ich könnte es mit den Geistlichen lernen. Ich kann zählen -« Der Frater schaute bereits weg, richtete sein Augenmerk auf die nächste Person in der Reihe. Alain wandte sich verzweifelt wieder an Kastellanin Dhuoda. Das alles entwickelte sich ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. »Sicher erinnert Ihr Euch an meine Tante Bei, die sagte, daß ich als -« »Weiter!« sagte Dhuoda. Eine junge Frau trat vor und nahm Alains Platz ein, und so hatte er keine andere Wahl, als zu tun, was man von ihm verlangte. Er fand die Ställe und wurde sofort mit einer Arbeit betraut, die jeder Idiot hätte erledigen können: Er mußte einen Wagen mit Dung füllen und auf die Felder bringen. Seine einzige Gesellschaft bei dieser Aufgabe war ein Schwachsinniger namens Simplizius, ein klapperdürrer Junge, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, fürchterliche O-Beine und noch dazu einen mißgestalteten Kiefer hatte, der es ihm unmöglich machte, richtig zu sprechen. Er war unberechenbar und neigte dazu, die Wolken anzustarren oder den Esel zu streicheln, statt seine Arbeit zu erledigen. Doch Alain brachte es nicht übers Herz, mit dem armen Kerl böse zu sein. »Ich sehe, du kommst gut zurecht mit unserem Simplizius«, sagte Meister Rodlin an diesem Abend, als die beiden Jungen Käse, Brot und eine Zwiebel zum Essen erhalten hatten. »Du kannst den Dachboden mit ihm teilen. Aber paß auf, daß die neuen Jungen ihn nicht zu sehr aufziehen. Er ist ein harmloses Bürschchen, und die Tiere vertrauen ihm, denn ich schätze, sie wissen, daß er genauso dumm ist wie sie.« Simplizius gab ein seltsam schniefendes Geräusch von sich 93 und sammelte die Brotkrumen vom Boden auf. Mit diesem Schatz in den Händen ging er nach draußen und stand da, die offene Hand weit von sich gestreckt, den Blick gen Himmel gerichtet, während er unruhig vor und zurück wippte. Meister Rodlin murmelte etwas, nicht ganz ohne Mitleid. »Er glaubt, die Vögel kommen und fressen ihm aus der Hand«, erklärte er. »Aber Diakonissin Waldrada sagt, es ist unsere Pflicht als gute Daisaniter, daß wir die Schwachen beschützen. Und der Junge wurde hier, im Schatten der Festung, geboren. Seine Mutter starb während der schweren Geburt, und das Kind wäre wohl besser auch gestorben, das armselige Geschöpf.« »Ich bin hier geboren«, sagte Alain. »Auf Burg Lavas, meine ich.« Rodlin blickte plötzlich viel interessierter drein. »Wer war deine Mutter?« »Das weiß ich nicht.« »Aha«, meinte Rodlin wissend. »Du bist ein Pflegekind, nicht wahr? An einem Ort wie diesem gibt es immer eine Frau oder zwei, die nicht zugeben können, wessen Kind sie geboren haben, und es daher weggeben müssen.« »Sie hat mich nicht weggegeben. Sie ist während der Geburt gestorben.« »Hatte sie keine Familie? Was ist mit deinem Vater?« Alain senkte den Kopf, als er sah, daß der interessierte Ausdruck auf Meister Rodlins Gesicht einem schwachen, gleichgültigen Lächeln wich: Er hatte in ihm den unerwünschten Bastard irgendeiner Hure erkannt. »Also weiter«, fuhr der Stallmeister fort. »Ihr arbeitet in den Ställen. Nur geht nicht zu den Zwingern.« »Es sind doch gar keine Hunde darin.« »Es werden welche dasein, wenn Graf Lavastin zurückkehrt. 94 Und sie werden dich auf der Stelle töten, Junge. Vergiß das niemals und gewöhne dir bloß nicht an, dort vorbeizugehen - zu deinem eigenen Besten. Siehst du diese Narbe?« Er deutete auf eine zackige, weiße Narbe, die von einem Ohr bis zur Schulter führte. »Das waren die Hunde, und sie haben mir noch viel mehr angetan. Halte dich von ihnen fern, und dir wird nichts passieren.« »Warum hält sich der Graf so bösartige Hunde?« fragte Alain, aber Rodlin war schon aufgestanden, um sich wichtigeren Pflichten zu widmen, statt mit einem mutterlosen Stallburschen ein Schwätzchen zu halten.
Simplizius trat herein, die Brotkrumen noch immer in der Hand. Er blickte ziemlich niedergeschlagen drein. Alain schneuzte sich die Nase und wischte sich den Heustaub von den Lippen. »Ich nehme nicht an, daß du mir etwas über die Hunde sagen kannst«, sagte Alain. »Och«, sagte Simplizius. »Unne ach Immel gän.« Alain lächelte den Schwachsinnigen traurig an. Aber war es nicht lediglich Selbstmitleid, wenn er diesen halbwüchsigen Jungen bedauerte, der nicht länger ein Kind war und doch niemals in der Lage sein würde, ein wirklicher Mann zu werden? In Osna war er Bels Neffe gewesen, und das hatte eine ganze Menge bedeutet. Hier war er nur irgendein Dorfjunge vom Land, der weder mit dem Schwert umgehen konnte, noch sonst irgendeine besondere Fähigkeit besaß, der auch keine Familie hatte, die ihm zu Hilfe kam. So hatten sie ihn zum Stallburschen gemacht und ihm aufgetragen, Dung zu schaufeln. Doch er hatte noch immer seinen Verstand und seine Kraft und einen gesunden Körper. »Komm«, sagte er zu Simplizius. Er packte den Schwachsinnigen am Ellenbogen und führte ihn nach draußen in die Dämmerung. Ein Ring aus Schatten lag jetzt um den Steinturm, 95 und die letzten Sonnenstrahlen schienen auf das Banner über dem Palisadentor: zwei schwarze Hunde auf einem silbernen Feld - das Wappen der Grafen von Lavas. »Öffne deine Hand. Hier, ich lege meine darum. Jetzt müssen wir nur noch stillstehen ...« Und so standen sie da, während die Dämmerung sich herabsenkte und die Tiere im Stall scharrten und stampften. Auf dem äußeren Hof kehrte Ruhe ein. Ein Spatz flog aus dem Zwielicht auf sie zu und ließ sich auf Alains Zeigefinger nieder, der zwischen den kleineren von Simplizius hervorlugte. Er pickte nach einem Krumen. Simplizius jauchzte vor Vergnügen, und der Vogel flatterte davon. »Schsch«, machte Alain. »Du mußt ganz leise sein.« Wieder warteten sie, und schon bald kam ein neuer Spatz, und dann ein dritter. Sie alle fraßen die Krumen aus der Hand des Schwachsinnigen, der vor Freude still in sich hineinweinte. Meister Rodlin verhielt sich gleichgültig gegenüber Alain, solange er tat, was ihm befohlen wurde. Tatsächlich verhielten sich alle gleichgültig ihm gegenüber, in diesem ersten Monat, in dem Feldwebel Fall mit den neuen Soldaten Übungen machte. Alain sah zu, wie die anderen Jungen kleine Streitereien anzettelten, die sich zu Faustkämpfen und einmal auch zu einer Messerstecherei entwickelten. Er sah, peinlich berührt und doch von schändlicher Neugier getrieben, den jungen Soldaten dabei zu, wie sie mit den Dienstmädchen anbändelten und zusammen mit ihnen in einer dunklen Ecke des Dachbodens verschwanden. Eingehend beobachtete er die erfahreneren Männer dabei, wie sie ihre Waffen vorbereiteten und ihre Fähigkeiten im Kämpfen verbesserten. An St. Kristina, dem Tag der heiligen Märtyrerin der Stadt Gent, traf eine Berittene in den Farben der Adler des Königs 96 ein, um dem Grafen eine Nachricht zu überbringen. Während des Abendessens bemerkte Alain, der an den Tischen der Geringeren saß, wie sich die Unterhaltung zwischen dem Adler und der Kastellanin am oberen Tisch in einen Streit verwandelte. »Es handelt sich nicht um eine Bitte«, sagte der Adler mit offensichtlichem Unwillen. »König Henry erwartet von Graf Lavastin, daß er sich seiner Rundreise anschließt. Wollt Ihr etwa sagen, daß der Graf sich weigert?« »Ich sage lediglich«, erwiderte Dhuoda in aller Ruhe, »daß ich Feldwebel Fall eine Botschaft für den Grafen mitgeben werde, wenn er in zwei Tagen mit seiner Kompanie ausrückt. Ich bin sicher, Graf Lavastin wird so schnell wie möglich entsprechende Handlungen einleiten, wenn er am Ende des Sommers zurückkehrt.« »König Henry würde es als ein Zeichen der Loyalität des Grafen werten, wenn Ihr den Feldwebel und seine Kompanie zusammen mit mir zu ihm zurückschickt.« »Das ist eine Entscheidung, die allein der Graf treffen kann.« Dhuoda ließ mit einer knappen Handbewegung noch mehr Bier bringen, und Alain begriff, daß nur den wirklich willkommenen Besuchern Wein ausgeschenkt wurde - was dieser Adler ganz bestimmt nicht war. »Die Aikha haben in diesem Frühling bereits ein Kloster und zwei Dörfer niedergebrannt. Der Graf braucht jeden Mann, um sie zurückzuschlagen und sein Land zu beschützen. Doch natürlich werde ich in der Nachricht an den Grafen all das berücksichtigen, was Ihr mir erklärt habt.« Alle - und ganz besonders der Adler - wußten, daß Dhuodas Antwort formal einwandfrei sein mochte, aber dennoch ein Ausweichen bedeutete. Am nächsten Tag reiste der Adler mit verärgerter Miene ab. 97 Einen Tag später rückte auch Feldwebel Fall mit seiner Kompanie aus. Die übrigen Pferde und das Vieh wurden auf die Sommerweiden geschafft - bis auf ein paar Arbeitspferde, die Esel sowie ein altes Schlachtroß und eine lahme Kuh, die noch Milch geben konnte. Die meisten Leute im Dorf arbeiteten auf den Feldern, kümmerten sich um ihre Gemüsegärten oder sammelten Früchte in den Wäldern jenseits des Ackerlandes. Die wenigen auf der Burg zurückbleibenden Bediensteten machten sich so eifrig an die Arbeit, daß ihnen in den langen, angenehmen Abendstunden viel Zeit zum Trinken und Würfeln blieb. Niemand bemerkte Alain; niemand kümmerte sich darum, ob und wie er seine Arbeit machte. Jede Nacht, wenn er neben Simplizius auf dem Dachboden über den Ställen lag, berührte er den hölzernen Kreis der Einheit, den
Tante Bei ihm mitgegeben hatte, zog dann die Schnur mit der Rose heraus und befühlte die weichen Blütenblätter. Die Vision, die er vom Drachenrücken oberhalb des Osna-Sunds gesehen hatte, schien jetzt weit, weit weg zu sein. Wäre da nicht die blutrote Rose gewesen, die er als Halskette unter seinem Hemd trug und die weder welkte, noch verkümmerte, er hätte das Ganze für eine aus Sturm und Kummer geborene Illusion gehalten. Ein ruhiger Monat verstrich. Alain, der von einem Seefahrer geschult worden war, beobachtete den Himmel, sooft er wolkenlos war; und so verging der eine Vollmond, und der nächste kam und verging. Simplizius führte ihn zu hellen, tief im Wald versteckten Lichtungen und zeigte ihm Beerenbüsche, an denen die besten Früchte reiften. Er stieß auf einen Pfad, der noch weiter in die Berge hinaufführte, doch der Schwachsinnige bekam es mit der Angst und zerrte ihn weg. Alain befragte Meister Rodlin nach alten Waldwegen, doch der Stallmeister erwiderte nur, daß alte Ruinen in den Bergen 98 dahinter lägen und daß bereits mehr als nur ein dummer Junge sich das Bein oder den Arm bei dem Versuch gebrochen hatte, die bröckligen Wände zu erklimmen. Auf jeden Fall handelte es sich auch hier, wie bei den Hundezwingern, um etwas, dem sogar der Schwachsinnige auswich. Jetzt, da der größte Teil der Ställe leer stand, bekam Alain all die niederen Arbeiten zugeteilt, die keiner tun wollte. Immer öfter vertrieb er sich die Zeit damit, im leeren Stall auf die Schaufel gelehnt ins Nichts zu starren. Jener Augenblick auf dem Drachenrücken, als die Herrin der Schlachten ihn mit dem furchterregenden Schwert bedacht hatte, schien jetzt wie ein Traum. Wie konnte er zu etwas Besonderem auserwählt sein? Es sei denn, das Putzen von Latrinen war etwas Besonderes. »Oh. Hier ist er ja«, erklang eine weibliche Stimme. Die Feststellung wurde von einem Kichern begleitet. Alain wirbelte herum. Zwei der Küchenmädchen standen in der Stalltür, die der frischen Luft wegen geöffnet war. Ein heller Lichtschein umgab sie, beleuchtete auch einen feinen Staubregen, der auf ihre zerzausten Haare herabschwebte. Heu rieselte vom Dachboden herunter und fiel in die leeren Eimer in ihren Händen. Eines der Mädchen nieste. Das andere kicherte erneut. Alain errötete, doch fest entschlossen ging er weiter auf die Tür zu. Es widerstrebte ihm, sich von zwei Dienstmädchen, die nicht älter waren als er, einschüchtern zu lassen - Mädchen zudem, die ihn niemals auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt hätten, wären außer ihm, dem alten Raimond und dem schwachsinnigen Simplizius noch andere Männer zugegen gewesen. Das blauäugige Mädchen schob ihre Schultern leicht nach vorn, als er vorbeiging - weit genug, daß ihr Kleid verrutschte und ein verführerisches Fleckchen Haut preisgab. 99 Er stolperte auf ebenem Boden. »Heißt du nicht Alain?« fragte Blauauge. Sie wollten ihn nur necken. Er wußte es. Und doch mußte er stehenbleiben. »Ja.« Er spürte, daß er noch immer rot war. »Hast du von den Ruinen dort hinten auf dem Berg gehört?« fragte Blauauge, während sie sich wieder gerade hinstellte. Ihre Freundin, deren Augen von einem unbeschreiblichen Haselnußbraun waren, kicherte wieder, dann schob sie eine Hand vor den Mund, um ihre schiefen Zähne zu verbergen. »Ich habe davon gehört«, sagte Alain vorsichtig. »Witti, das traust du dich nicht!« gluckste die Freundin mit einem unterdrückten Kichern. Blauauge warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Ich bin nicht diejenige, die sich nicht traut.« Sie sah Alain wieder an. »Woher kommst du?« »Aus Osna«, sagte er stolz, doch sie schauten ihn nur verständnislos an; von einem solchen Ort hatten sie noch niemals gehört. »Er heißt auch Drachenrücken, wegen des großen Kamms, der -« Aus irgendeinem Grund brachen bei diesen Worten beide Mädchen in wildes Gelächter aus, so als hätte er etwas Anrüchiges gesagt. »Drachenrücken heißt es jetzt?« fragte Blauauge schließlich. Sie war die Hübschere der beiden, obwohl sie eine offene Wunde an der Lippe hatte und ihre Haare so schmutzig waren, daß die Farbe nicht mehr zu erkennen war. »Ich werde heute abend bei Sonnenuntergang zu den Ruinen gehen. Es heißt, daß in der Mittsommernacht die Geister der Dämonen umherwandeln!« Sie zwinkerte Alain mit ihren blauen Augen zu, legte die Hände an die Hüften und stieß sie mit einem leichten Ruck herausfordernd ein Stück in seine Richtung. Er wußte, 100 daß er wieder errötete, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. Witti war eines von den Mädchen, die die Soldaten mit auf den Heuboden nahmen. Bis zu diesem Tag hatte sie noch nie Zeit oder Augen für ihn gehabt. Er holte tief Luft. »Diakonissin Waldrada sagte in der Predigt, daß diese Ruinen weder von Teufeln noch Dämonen errichtet worden wären. Sie sagte, es wären die Menschen aus dem alten dariyanischen Kaiserreich gewesen, vor langer Zeit, noch bevor Kaiser Taillefer über all diese Länder herrschte. Menschen wie wir. Oder vielleicht Elfen.« »Oh, was für ein gebildeter, junger Mann er ist! Was war dein Vater? Der Abt der >Drachenrücken-Abtei< beim Drachenrücken mit einem süßen, unschuldigen Dorfmädchen?« Sie lachte, und auch Schiefzahn lachte.
»Mein Vater ist ein Händler und ein guter, ehrenvoller Mann! Er leistete seinen Dienst beim alten Grafen. Und die Brüder des Drachenschwanz-Klosters sind tot, sie wurden bei einem Überfall der Aikha in diesem Frühling ermordet. Die Herrin verschmäht all jene, die über das Unglück anderer spotten !« »Huh«, sagte Schiefzahn verächtlich. »Du klingst ja selbst wie ein Geistlicher. Wahrscheinlich hältst du dich für zu gut für uns, was? Ich gehe, Witti.« Mit einer schwungvollen Bewegung beförderte sie die Eimer nach draußen und verschwand in Richtung des Brunnens. Witti blieb noch. »Ich gehe trotzdem da hoch.« Sie folgte ihrer Freundin, blieb jedoch noch einmal stehen und warf ihm einen schelmischen Blick über die Schulter zu. »Wenn du mutig bist, kannst du mich da treffen. Vielleicht zeige ich dir was, das du noch nie gesehen hast.« Dann drehte sie sich wieder zu Schiefzahn um. »Warte auf mich!« Das Ausgraben der Latrinen war eine derart widerliche Ar101 beit, daß er richtig erleichtert war, als Meister Rodlin ihn zu sich rief. Feldwebel Fall war mit einer Kompanie Soldaten zur Festung zurückgekehrt, und Alain half beim Ausladen der Wagen. Dann wusch er sich das Gesicht und die Hände und spülte die Schuhe ab, bevor er zum Essen ging. Kastellanin Dhuoda war nach Osten geritten, um die Braut von Lavastins Cousin nach Burg Lavas zu begleiten, wo sie den Rest ihrer Schwangerschaft verbringen sollte. Wegen der großen Sommerhitze und weil der Graf nicht anwesend war, hatte die Köchin zwei Bänke und Tische hinter der Küche aufgestellt. Den einen Tisch nahmen die Soldaten ganz für sich in Anspruch; sie rühmten sich ihrer großen Heldentaten und verzehrten mit gleich großer Begeisterung die Mahlzeit aus Weizenbrot, Erbsenbrei, geröstetem Fisch und Beeren. Feldwebel Fall saß am Kopfende; er ließ sie gewähren. Simplizius hatte allein am Ende des anderen Tisches Platz genommen. Wären die Soldaten nicht so sehr mit Witti, Schiefzahn und einer anderen, schwarzhaarigen Frau beschäftigt gewesen, sie hätten ihn vermutlich weggejagt. Alain ließ sich neben dem Schwachsinnigen nieder und wurde dafür mit einem Lächeln und einem seiner unverständlichen Sätze belohnt. »Und dann«, fuhr Feldwebel Fall damit fort, von den Neuigkeiten zu berichten. Er hatte eine Narbe auf der linken Wange, die noch nicht dagewesen war, als sie ausgerückt waren. »Und dann fordert uns der Graf auf, nach Osten zu reiten, um dort auf die Rundreise des Königs zu stoßen -« »Nein!« rief Alma, die Köchin. »Sagt, daß es nicht so ist! Graf Lavastin hat sich entschieden, Henry die Treue zu schwören?« Alain hielt den Atem an. Obwohl er seinen Erbsenbrei noch nicht einmal zur Hälfte aufgegessen hatte, legte er den Löffel hin, um besser zuhören zu können. 102 »Ich denke nicht«, sagte der Feldwebel. »Ich denke, er wollte Henry nur um Hilfe bitten, weil diese Überfälle so schlimm geworden sind. Doch soweit kam es gar nicht. Denn ein Bursche aus dem Westen tauchte bei uns auf und erklärte, daß die Aikha schon wieder zugeschlagen hätten.« Alma rieb sich das Kinn. »Aber sie haben bereits beide Klöster an der Küste niedergebrannt, wie wir hörten. Ich dachte immer, da unten gäbe es sonst nichts, was wohlhabend genug wäre, um ihr Interesse zu wecken.« »Nicht entlang der Küste, aber wenn sie ein Stück den Mese hinaufsegeln, kommen sie an St. Synodius vorbei, einem Stiftskloster vom Großvater des Grafen. Und dann finden sie auch den Weg nach Burg Lavas.« »Als ich noch ein junger Bursche war«, sagte der alte Raimond mit seiner typisch mißmutigen Stimme, »haben wir die Gesetze der Kirche befolgt. Unser Glaube genügte, um diese Barbaren von Varre fernzuhalten.« Wie zur Betonung knallte er den Zinnbecher auf den Tisch. »Bevor Henry einen Thron bestieg, der ihm nicht zustand. Als ich ein Junge war, plünderten und verwüsteten die Aikha das Gebiet östlich und nördlich von Salia. Selbst hierhin flüchteten einige Salianer vor ihnen.« Raimond war so alt, daß er völlig kahl war, und sein Bart bestand nur noch aus einzelnen Strähnen. »Das war, als Taillefers letzte Tochter noch lebte. Doch obwohl sie Bischof in war, gelang es weder ihren Gebeten noch den Truppen des salianischen Königs, die Aikha zu vertreiben. Am Ende mußten sie sie bezahlen.« Er gluckste leise, befriedigt über die Festeilung, daß der Herr und die Herrin die Salianer nicht mochten. »Es waren harte Zeiten, das kann ich sagen.« Einer der jungen Soldaten lachte. »Woher willst du wohl etwas über die Vorgänge in Salia wissen, wenn du niemals einen Fuß auf Land gesetzt hast, das nicht zur Burg Lavas gehört?« 103 Er schnaubte zufrieden über seine Erwiderung und rief nach mehr Bier. Feldwebel Fall gab ihm einen Schlag auf den Kopf. »Untersteh dich, Herik! Du respektierst den alten Mann, verstanden? Es würde mich wundern, wenn du so lange am Leben bleibst wie er!« Die anderen Soldaten kicherten. »Auch mein alter Onkel sagte, daß der salianische König die Aikha bezahlen mußte, damit sie wieder verschwanden, und daß sie erst gingen, nachdem sie das Land geplündert hatten. Nun« - er wandte sich jetzt an die Köchin - »ich weiß nicht, was es mit Prinzessin Sabella und ihrem Banner oder der Rundreise des Königs auf sich hat. Ich weiß nur, daß wir auf Befehl des Grafen ausgesandt wurden, Bischöfin Thierra zu bitten, Kirchengold zu spenden, denn wir brauchen mehr Waffen und andere Vorräte. Es gab in diesem Jahr zu viele Überfälle der Aikha. Graf Lavastin benötigt Hilfe.« Witti blieb beim Feldwebel stehen; nah genug, daß ihre Kleider seine berührten und leicht raschelten. »Stimmt
es, daß die Aikha von Drachen abstammen? Daß sie Schuppen haben wie eine Schlange? Und Klauen?« Alain schauderte. Wittis Interesse war beinah obszön. »Ich habe was viel Schlimmeres gehört«, sagte der Feldwebel und legte eine Hand auf ihre Hüfte. »Falls du den Mut besitzt, es zu hören.« »Aber sicher!« Er grinste. »Also schön. Man sagte mir einmal, die Aikha wären durch verbotene Magie und einen Fluch entstanden. Ein großer Drache war getötet worden, so hieß es, und als er starb, sprach er einen Fluch über all diejenigen aus, die seinen Körper entweihen würden. Doch die Frauen aus dem Dorf hatten zu viele Geschichten von der großen Macht des Drachenherzens gehört - einer Macht, mit der sie jeden Mann betören 104 konnten. Also schlitzten sie den Körper des Drachen auf, schnitten das blutige, dampfende Herz heraus und teilten es untereinander.« »Sie haben es gegessen?« Witti zog ein säuerliches Gesicht; sie wand sich aus der scheinbar zufälligen Umarmung des Feldwebels. »Sie haben es gegessen, Stück für Stück. Und schon bald waren die Frauen schwanger, und am Tag der Geburt brachten sie Ungeheuer zur Welt!« Seine Zuhörerschaft war mucksmäuschenstill, und alle zuckten bei dem Wort »Ungeheuer« zusammen. Der Feldwebel gluckste; er war zufrieden mit dem Erfolg seiner Geschichte. »Also diese gräßlichen Kinder sind dann angeblich in den Norden geflüchtet und niemals wieder aufgetaucht. Bis diese Wesen, die wir Aikha nennen, zu plündern begannen.« »Ich habe einen toten Aikha gesehen.« Raimond schien von der Geschichte unbeeindruckt. »Er hatte keine Klauen, aber seine Haut war fest wie Leder und glänzte wie poliertes Gold.« Der junge Herik kicherte wieder. »Wie poliertes Gold! Das waren wohl eher Rüstungen, die sie den Salianern gestohlen hatten. Ich hörte, sie rauben Frauen, und wofür sollten sie die wohl brauchen ...« - hier hielt er einen Augenblick inne, und seine Blicke wanderten frech an Witti auf und ab - »... wenn sie selbst die Brut von Drachen sind? Nein, es sind ganz gewöhnliche Menschen wie du und ich.« »Ach ja«, meinte Witti so verächtlich wie möglich. »Und ich nehme an, du glaubst auch, daß die Ruinen in den Bergen von Menschen wie du und ich stammen und nicht von Dämonen und Teufeln und anderen unheiligen Kreaturen?« »Sei still, Witti«, befahl Alma energisch. Herik lachte, ebenso wie einige seiner Kameraden. Der Feldwebel lachte nicht. »Du hast die Aikha noch nicht gesehen, 105 Herik«, meinte er, »sonst würdest du nicht darüber lachen. Und es ist auch nicht klug, über etwas zu lachen, das von Kreaturen, die wir nicht kennen, auf dieser Welt zurückgelassen wurde.« Ein unbehagliches Schweigen ergriff die älteren Männer und Frauen, eine angespannte Wachsamkeit, die an den jungen Soldaten unbemerkt vorüberging. »Wenn man in der Mittsommernacht zu den Ruinen geht, kann man die Geister von denen sehen, die sie erbaut haben«, fuhr Witti trotzig fort. »Jedenfalls habe ich das gehört.« »Ich gehe mit dir«, meinte Herik. Er stupste seine nächsten Kameraden an und zwinkerte ihnen zu. »Nur um zu sehen, was es da zu sehen gibt.« Sie kicherten und prusteten. »Du würdest keine Witze darüber machen«, bestärkte Raimond die harten Worte des Feldwebels, »wenn du selbst dagewesen wärst. Ja, ich erinnere mich noch genau. Vor langen Jahren ging ein Mädchen in der Mittsommernacht hinauf. Es war eine Wette.« Er sah Witti plötzlich scharf an. »Gegen Morgengrauen kehrte sie zurück, halbwahnsinnig vor Angst und schwanger, wie wir nach einiger Zeit herausfanden. Sie starb mit dem Kind im Leib - dem Kind jenes Wesens, das da oben herumgeistert, was immer es auch sein mag!« Mit zitternden Händen griff er nach seinem Becher und knallte ihn auf den Tisch. »Ach so!« spottete Herik. »Dann hat sie Simplizius hier zur Welt gebracht?« »Nein, und du solltest nicht darüber lachen, Junge. Einer der Männer vom Land hat das Kind mitgenommen.« »Und jetzt erzähle ich dir mal was, junger Herik«, schaltete sich Alma ein; sie sprach mit der überzeugten Stimme einer Person, die sich ihrer Domäne sicher war. »Es ist nur zu wahr, was Raimond sagt. Es ist noch nicht allzu lange her, und ich habe sie gekannt. Wir waren damals beide noch Mädchen. Sie 106 war ein hübsches, zierliches Mädchen mit schwarzen Haaren. Ihre Eltern waren Salianer, die vor den Überfällen der Aikha geflohen waren. Sie ging zu den Ruinen, obwohl jeder sie davor gewarnt hatte, und sie erzählte mir -« Sie senkte ihre rauhe Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war, und jetzt lösten sich vereinzelte Unterhaltungen am anderen Ende des Tisches auf wie Schneeflocken im Feuer - alle wollten wissen, wie es weiterging. »Sie sagte mir, daß der Geist eines Elfenprinzen, eines der Verlorenen, zu ihr gekommen wäre und mit ihr geschlafen hätte, mitten im Altarhaus, und daß sie sein Kind unter dem Herzen trug.« Niemand, nicht einmal Herik, rührte sich. »Doch der Herr und die Herrin gestatten uns Sterblichen den Kontakt mit den Verlorenen nicht, denn sie sind Ungläubige. So mußte sie den Preis zahlen. Drei Tage nach der Geburt des Kindes war sie tot.« Alain starrte die Köchin an. Feldwebel Fall hatte eine Geschichte erzählt, um Witti zu ängstigen und zu verblüffen. Die hier war anders. Sicher erzählte die Köchin die Wahrheit. Sie war so alt wie seine Mutter. Er hatte schwarze Haare, und seine Gesichtszüge waren schärfer geschnitten und hatten etwas Fremdländisches;
zumindest hatten das in Osna immer alle behauptet. Was, wenn diese schwarzhaarige salianische Frau seine Mutter war und der Geist in der Ruine sein wirklicher Vater? Ein Verlorener! Würde das nicht erklären, weshalb die Herrin der Schlachten zu ihm gekommen war? Er hatte sich immer irgendwie anders gefühlt - und oft wurde betont, daß die Elfen eigentlich Dämonen waren, denn im Gegensatz zu den Menschen starben sie nicht nach einer natürlichen Anzahl von Jahren, und sollten sie durch Zufall oder Gewalt doch den Tod finden, so gab es für sie keine Zuflucht in der Kammer des Lichts, denn sie waren verdammt, in alle Ewigkeit auf dieser Welt als Geister umherzuirren. 107 »Ich gehe trotzdem«, sagte Witti störrisch. »Ich begleite dich«, bemerkte Herik mit einem anzüglichen Grinsen. »Das wirst du nicht!« sagte der Feldwebel, »und zwar, weil ich es dir befehle. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir brechen morgen früh im Morgengrauen zu Bischöfin Thierra auf.« »Keiner von euch hat genügend Mut«, erklärte Witti mit einer verächtlichen Kopfbewegung. »Ich werde gehen«, sagte Alain und zuckte überrascht zusammen, als er seine Stimme laut durch den schläfrigen Sommernachmittag hallen hörte, der in einen unendlich langen, hellen Abend überzugehen schien. Alle starrten ihn an. Die meisten Soldaten lachten; sie musterten ihn - den einzigen, der Simplizius Gesellschaft leistete. Er war beinahe genauso dreckig. Der alte Raimond grunzte, sagte aber nichts. »Wer ist dieser Grünschnabel?« wollte Herik wissen. »Gerade mal alt genug, um ein paar Barthaare zu haben, hat er ansonsten nichts von einem Mann! Abgesehen von der Hoffnung, mal einer zu werden!« Er kicherte über seinen eigenen Witz, auch wenn keiner mitlachte. »Er ist der Stallbursche«, sagte die Köchin nicht unfreundlich. Jetzt, da er die Aufmerksamkeit erst einmal auf sich gezogen hatte, merkte Alain, daß ihm das gar nicht gefiel. Zu sehr hatte er sich daran gewöhnt, unbemerkt zu bleiben. Er senkte den Blick und starrte wie gebannt auf den Tisch. »Er ist der einzige, der mutig genug ist, um zu gehen!« sagte Witti. »Herik!« Der Feldwebel blickte verärgert drein. »Wenn du es wagst, dich wie ein Dummkopf zu verhalten, lasse ich dich 108 morgen auspeitschen. Hier, Mädchen. Ich habe eine bessere Idee, wie du dich heute nacht amüsieren kannst.« Alain schaute auf und sah, wie der Feldwebel das Mädchen näher zu sich heranzog, doch Witti war jetzt stur und stieß ihn weg. »Ihr könnt ruhig alle lachen, aber ich gehe trotzdem.« Herik stand auf. »Ich lasse doch nicht einen dahergelaufenen Stallburschen -« »Herik, du setzt dich hin, oder ich lasse dich gleich hier auspeitschen!« Herik schwankte zwischen angetrunkenem Stolz und der Furcht vor Demütigung. Dann setzte er sich wieder hin. Simplizius rülpste vernehmlich, und als alle lachten, blinzelte er gutmütig in ihre erwartungsvollen Gesichter. Feldwebel Fall begann wieder von den Überfällen der Aikha zu erzählen und von den Plänen des Grafen, die Ländereien und Dörfer entlang der Küste zu schützen. Es gelang Alain, sich ohne große Mühe davonzustehlen, sobald der Feldwebel ganz in die Ausführungen über das zuletzt gebrandschatzte Dorf vertieft war und von Gerüchten sprach, denen zufolge ein Frauenkloster viel weiter östlich - schon jenseits der Grenze, in Wendar - von den Aikha überfallen worden war. Er hatte gehört, daß sämtliche Nonnen und Laienschwestern vergewaltigt und ermordet worden waren, abgesehen von der alten Äbtissin; ihr hatten die Aikha zunächst die Füße verstümmelt und ihr dann die Freiheit geschenkt und gestattet, den langen, schmerzhaften Weg zum nächsten Dorf zurückzulegen. Endlich brach die Dämmerung herein, und langsam erschien eine Handvoll Sterne am dunkler werdenden Himmel. Es mußte wahr sein! Nur wenn er die Ruinen in einer Nacht besuchte, in der möglicherweise die Geister der alten Erbauer zurückkehrten, würde er die Wahrheit erfahren. 109 Er zog sein sauberes Hemd an - Tante Bei war viel zu stolz, um ihn nur mit einem einzigen Hemd wegzuschicken - und streifte die alte Leinentunika darüber. Nach einigem Zögern griff er sich eine Laterne. Dann nahm er einen soliden Stock aus dem Stall und schlug den Weg ein, der sich zunächst um den Erdwall und die vier Holztürme der Festung herumwand und dann zwischen den bewaldeten Hügeln dahinter verschwand. Von Witti sah und hörte er nichts. Er war allein, nur die Geräusche der Nachttiere begleiteten ihn - der Ruf einer Eule, heftiges Flügelschlagen, ein schriller Schrei, dann plötzlich ein aufgeregtes Rascheln im Unterholz. Es war Neumond und schrecklich dunkel, und dennoch strahlten die Sterne beinahe unheimlich. Schließlich hatten sich seine Augen den Lichtverhältnissen angepaßt. Er traute sich noch nicht, die Laterne zu benutzen; das Öl war zu kostbar. Es war ein ziemlich langer Weg, erst den Berg hinauf und dann in einem Bogen in den viel stärker verwilderten Wald dahinter. Als er auf dem Pfad beinahe die Stelle erreicht hatte, wo die Bäume der Lichtung mit den Ruinen Platz machten, stand der im Osten aufgehende helle, rote Stern - das Schlangenauge bereits hoch am Himmel. Unter den letzten Bäumen blieb Alain stehen. Der Wald endete hier schlagartig, und dicke, alte Bäume säumten in einer merkwürdig geraden Linie die Lichtung. Kein einziger Schößling wuchs auf der Wiese dahinter. Obwohl
es unzählige Jahre gedauert haben mußte, bis die alten Gebäude dieses Stadium des Zerfalls erreicht hatten - seit vielen Generationen, lange vor der Zeit von Kaiser Taillefer, selbst noch vor der Zeit, da der heilige Daisan auf der Erde wandelte und den Gläubigen seine Botschaft brachte -, hatte der Wald noch immer nicht Besitz von den Ruinen ergriffen. Hier war etwas Unnatürliches am Werk. 110 Und ganz plötzlich spürte er, daß die Steine seine Anwesenheit wahrnahmen. Eine äußere Steinmauer verlief im Kreis um die im Innern liegenden Ruinen. Dahinter erhob sich die zerklüftete Kuppe des Hügels, die Hänge vereinzelt von Bäumen gesäumt. Hier war es sehr viel stiller als im Wald. Noch während er hinüberstarrte, huschte ein Schatten empor und verschwand in den Bäumen. Er umklammerte den Stock fester und schritt vorsichtig über den unebenen Weg auf ein Loch in der Mauer zu. Es sah aus wie eine Ausfallpforte oder ein Bediensteteneingang, oder es mußte etwas noch Unheimlicheres, den Menschen noch Unbekannteres gewesen sein. Jetzt blockierten zum Teil von der Mauer heruntergefallene Steine den Eingang. Möglicherweise war das Loch einst von einer Tür verschlossen worden, doch es war keine da. Er kletterte vorsichtig über die Steinbrocken, hielt oben inne und starrte in das Gemäuer. Von den Steinen ging ein Licht aus, ein schwaches Glimmen, ähnlich dem Phosphoreszieren der Gischt und der Algen in dem Wasser von Osna-Sund. Und auch die Sterne schienen noch immer unnatürlich hell. Er kannte ihre Konstellationen, denn sein Vater mußte als Kaufmann ein guter Seefahrer sein und hatte sie ihm beigebracht. Einige von ihnen glitzerten tatsächlich in einem unheimlichen Glanz, als würde eine unsichtbare Macht grellere Feuer aus ihren Tiefen hervorrufen. In der Ruine gab es mehr Schatten zu sehen, als eigentlich dasein sollten. Einige von ihnen bedeckten den Boden sogar in so merkwürdiger Form, daß sie unmöglich von den halbzerfallenen Mauern stammen konnten. Die Luft regte sich, erzitterte, ein schwaches Geräusch ... Er erstarrte vor Schreck. Ein lautloser Schatten glitt mit ausgebreiteten Schwingen über die Ruinen, und er entspannte sich. Es war nur eine Eule. 111 Lange blieb er vorsichtig auf einem Steinblock stehen und starrte einfach nur auf das, was er sah. Es war keine gute Nacht, die Ruinen zu betreten. Das wußte er jetzt. Und doch mußte er das Altarhaus sehen, um herauszufinden, ob es eine Verbindung gab, ob die Stimme des Blutes ihn rufen würde. Er zündete die Laterne an, und als das Licht aufflackerte, mußte er blinzeln und den Blick abwenden. Er machte einen Schritt nach vorn, und plötzlich bewegten sich die Schatten auf dem Boden und den Mauern. Da begriff er, was er sah. Es waren die Schatten dessen, was gewesen war, nicht die Schatten der Ruinen, die jetzt vor ihm lagen. Im schwachen Licht der Laterne und der glimmenden Steine zeigten sich die Schatten längst zerfallener Gebäude, so wie sie einst dagestanden hatten, vollkommen und unzerstört. Das filigrane Geflecht aus Bögen und Säulen und stolzen Mauern, dessen Schatten sich auf unmögliche Weise auf dem Boden ausbreiteten, stammte vom Geist der alten Festung, die in der Mittsommernacht erneut zum Leben erwachte. Es waren fünf Gebäude: eines im Westen, eines im Süden, eines im Osten, eines im Norden und ein rundes in der Mitte. Arkaden verbanden sie miteinander. Ein Zweig knackte irgendwo im Wald hinter ihm. Er preßte sich gegen den Stein und schaute zurück. Nichts und niemand war am Waldrand zu sehen. Doch etwas war seltsam: Die Schatten der äußeren Mauer, die den Bäumen am nächsten war, waren die Schatten einer halbzerfallenen Mauer - einer Mauer also, die durch den Lauf der Zeit und die Hände des Herrn und der Herrin zerstört worden war. Die Verzauberung, wenn es denn eine war, galt folglich nur innerhalb der Ruinen. Er glitt von dem Felsblock herunter und betrat langsam die alte Festung. Er wich den Schatten des nicht wirklich existie112 renden Gemäuers aus und sah sofort, daß die Steine im Innern der Ruine wesentlich feiner bearbeitet waren als die der äußeren Mauer - ähnlich, wie das Roß des Grafen den alten Maulesel übertraf, der für ihn und Simplizius den Karren mit dem Dung auf die Felder schleppte. Gras sproß aus den Ritzen im Boden. Er kniete nieder und fuhr mit den Fingern über einen der Steine. Seine Oberfläche war so glatt, daß es kaum das Werk von Menschen sein konnte. Die Mauer des nächststehenden Gebäudes, durchgehend aus pechschwarzem Stein, reichte ihm nur bis zur Taille. Er untersuchte sie beim Licht seiner Laterne etwas genauer. Sie war mit Reliefs verziert, die Gestalten mit den Körpern von Frauen und den Köpfen von Falken, Schlangen und Wölfen zeigten; ihre Augen glühten wie funkelnde Edelsteine. Hinter der Mauer, am Ende der Allee, war das Gebäude in der Mitte zu sehen; es schillerte irritierend. Es sah aus, als würde das weiße Gestein, aus dem es gebaut war, bis in den Himmel ragen und die Konstellationen berühren - das Schwert, den Stab, den Becher, selbst die Königin, deren Bogen auf den Drachen gerichtet war - und mit unsichtbaren Fäden ihr Licht nach unten herabziehen, um es dann als Lumineszenz zurückzuwerfen. Rund und weiß. Dieses Gebäude mußte das Altarhaus sein. Ein Schatten bewegte sich, löste sich am anderen Ende von der Mauer. Alain sprang hastig auf, dann erschauderte er, plötzlich unfähig, sich zu bewegen. Es war nicht Witti. Es war ein Geist in der Gestalt eines Mannes, der auf das Altarhaus zuging.
Doch war es nicht die Gestalt eines Mannes. Groß und schlank war er, ja, aber es lag etwas unerklärlich Fremdes in der Anmut, mit der er einherschritt, in dem seltsamen Schnitt seiner Kleider. Die Gestalt blieb am Eingang zum Altarhaus stehen, drehte sich langsam um und ließ den Blick über die Rui113 nen schweifen. Zuerst schien sie über Alain hinwegzusehen, als wäre sie unfähig, ihn wahrzunehmen. Es war eine wunderbare, beunruhigende Harmonie um ihn, der teils Geist und teils wirklich war. Er war sehr dunkel, doch trotzdem konnte Alain seine Gesichtszüge deutlich erkennen: ein schmales Gesicht, eher bronzefarben als nordisch blaß, und unergründlich tiefe, alte Augen unter einem Schopf von schwarzen Haaren. Schwarze Haare. Auch Alain hatte schwarze Haare. Der Mann war glattrasiert oder gänzlich ohne Bart, obwohl es Alain schleierhaft blieb, wie ein Mann wirklich ein Mann genannt werden konnte, wenn er keinen Bart hatte. Es sei denn, er war gar kein richtiger Menschenmann. Er trug einen schön gearbeiteten Brustharnisch aus Metall, der mit ineinander verschlungenen Kreaturen verziert war; diese Verzierung setzte sich auf den Lederfransen fort, die bis zur Mitte seiner Oberschenkel reichten. Darunter trug er eine schlichte Leinentunika, und ein weißer Umhang hing über seinem linken Arm. Er suchte nach jemandem. Oder er traf jemanden. Alain hörte das leise Geräusch zaghafter Schritte. Rechts von sich erkannte er durch eine Bresche in den Ruinen den verschwommenen Schatten eines Mädchens. Doch es lag eine bleierne, irdische Schwere um sie, die sie sofort als menschlich verriet, genau wie auch ihn. Sie sah sich um und starrte in die Richtung des Geistes, doch sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen; dann entdeckte sie Alain. Oder wenigstens seine Lampe. »Alain?« fragte sie mit leiser, unsicherer Stimme. »Bist du das?« Alain trat einen Schritt vor. Auch der Geist trat einen Schritt vor, wie ein Spiegel, und ihre Blicke trafen sich. Schwindel ergriff ihn. Weit entfernte, lodernde Flammen 114 röhrten in seinen Ohren. Der dicke, ölige Geruch von Qualm stach in seine Nase. »Wo ist Liathano hingegangen?« Der Geist hatte jetzt eine gefährlich aussehende Lanze in der Hand, doch er hielt sie aufrecht, ohne Alain damit zu bedrohen. »Ich - ich weiß es nicht«, stammelte Alain. Er konnte seinen Blick nicht von den Augen des Geistes abwenden. Sie strahlten, wie das Altarhaus, wie die herrlichen Körperkonturen des Geistes, mehr golden als weiß. Er hörte wildes Pferdegetrappel hinter sich, weit entfernte Schreie, den schwachen Klang eines Kriegshorns im Wind. »Du bist nicht von unserem Blut«, sagte der Geist plötzlich und hob herausfordernd die Lanze. »Und doch, wie könntest du sonst hier sein? Wie heißt du? Wer ist deine Mutter? Wie bist du hierhergekommen?« Obwohl er den Blick nicht von der Gestalt abwenden konnte, sah Alain aus dem Augenwinkel die geisterhaften Gebäude. Erhaben und herrlich standen sie da und auch erstaunlich anmutig, trotz ihrer massiven Steinstruktur. Doch selbst jetzt tauchten die Flammen sie in ein mattes Rot. Sie brannten. Brannten lichterloh. Der Wind wehte den Rauch des Feuers herbei, trieb ihm den dicken, öligen Gestank ins Gesicht. Er hustete. Ein verlorener Prinz, wirklich. Denn jetzt begriff Alain, was da geschah, was er sah: Es war die Zerstörung dieser Festung. Die Geräusche der Schlacht rückten unaufhaltsam näher: Sie waren die schreckliche Melodie des Schicksals. »Ich heiße Alain«, erklärte er in dem verzweifelten Bemühen zu helfen, obwohl er wußte, daß diese Festung bereits verdammt war. Was konnte er nur tun ? Wer war Liathano ? War dieser Schatten sein wirklicher Vater? »Ich weiß nicht, wie ich hierherkam. Ich weiß nicht, wer meine Mutter ist.« 115 »Du bist ein Mensch«, sagte der Prinz, und seine Augen weiteten sich in vornehmem Erstaunen, »und doch gezeichnet. Wenn wir nur Zeit hätten, dieses Rätsel zu lösen.« Doch dann reckte er das Kinn und wandte den Blick von Alain ab, als hätte er jemanden seinen Namen rufen hören. Eine Stimme schrie gellend vor Entsetzen. Es verschlug Alain den Atem, und er riß eine Hand empor, preßte sie gegen die pochenden Schläfen. »Du bist es wirklich, Alain!« Trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen hörte er, wie sie über die zerborstenen Steine zu ihm stolperte. »Hast du es gesehen? Hast du es gehört?« Sie warf sich in seine Arme. Er taumelte unter dem Ansturm ihrer Angst zurück und ließ die Laterne fallen. Sie verlosch. »Sie waren schwarz und rasten über den Himmel wie die Hunde des Grafen, und sie fauchten vor Hunger! Sie hätten uns verschlungen, wenn sie uns zu fassen bekommen hätten!« Die Hitze ihres Körpers, der sich an ihn preßte, vertrieb den Nebel aus seinem Kopf. Er schob sie von sich, obwohl sie weiter von roten Augen und sechsbeinigen Hunden faselte, hob die Laterne auf und rannte zum Altarhaus. Doch der Geist war verschwunden. »Geh nicht da rein!« schrie sie, als Alain über die leere Türschwelle schritt. Doch im Innern war nichts, nichts außer dem Schimmer der verfallenen Steinwände, und in der Mitte der Kammer, auf der Erde, befand sich ein eiförmiger Stein aus hellem Marmor - ein Altar, wie die Köchin sagen würde. Nichts außer Gras und einem einzigen dürren Busch, dessen wächserne Blätter eine klebrige Spur an seinen Fingern hinterließen. Von draußen hörte er Wittis Schluchzen, dann ihre schwächer werdenden Schritte, als sie die Allee zurückrannte. 116
Er setzte sich auf den Altarstein. Diese Festung war vor unsagbar langer Zeit einmal ein glanzvoller, strahlender Außenposten des alten Kaiserreiches Dariya gewesen; er konnte sich noch nicht einmal annähernd vorstellen, wie lang das zurücklag, er wußte lediglich, daß die Verlorenen viel länger lebten als die Menschen. Und am Ende war sie doch zugrunde gegangen, war niedergebrannt, während der verlorene Prinz nach Liathano gesucht hatte und Pferde in einer von den Flammen rotglühenden Nacht davon galoppierten. Der schimmernde Stein verblaßte zu einem matten Schatten. Die Sterne verloren ihren wunderbaren Glanz und zogen auf ihrer endlosen Reise weiter nach Westen. Alain befühlte mit einer Hand sein Gesicht und stellte fest, daß seine Augen tränennaß waren. Ein Schatten huschte über ihn hinweg, aber es war nur eine Eule, die in der Nacht auf Jagd ging. 2 Der Sommer verging. Alain hatte nicht den Mut, in die Ruinen zurückzukehren; er wußte, er würde sie nur leer vorfinden. Dort gab es keine Antwort für ihn. Witti sprach nicht mehr mit ihm; er wußte, wenn er sie ansah und daran dachte, wie sie ihn umarmt hatte, wie sie sich an ihn geklammert hatte, daß sie mit den anderen über ihn tuschelte. Verbittert ging er den anderen aus dem Weg. Die Ruhe der langen Sommerabende wurde nicht weiter von anderen merkwürdigen Ereignissen gestört. Der Weizen wurde geerntet. Der Hafer war beinahe reif. Kastellanin Dhuoda kehrte mit Aldegund, der fünfzehnjährigen Frau von 117 Lavastins Cousin Jeoffrey, zur Festung zurück. Die junge Frau war von der Reise und ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft zutiefst erschöpft, als sie auf Lavas ankam. Ein Wanderarbeiter, der zur Herbsternte nach Lavas gekommen war, hatte einen Monat zuvor in Osna haltgemacht; er berichtete, daß es Tante Bei und ihrer Familie gutging und er drei Tage lang Arbeit von ihr erhalten hatte; er hatte für sie Mühlsteine vom Steinbruch zu ihrer Werkstatt geschleppt. Am Festtag zu Ehren von St. Tiana der Fröhlichen, der heiligen Märtyrerin von Bens, erschien ein berittener Bote bei ihnen. Alain schaute von der Arbeit auf; er stand gerade an der Scheune und war damit beschäftigt, gebündeltes Heu von der zweiten Ernte aufzustapeln. Der Mann trug einen schmutzigen, ehemals weißen Stofffetzen um den Kopf, der das rechte Auge und das rechte Ohr bedeckte. Altes, getrocknetes Blut hatte das Tuch braun gefärbt. Seine Kleidung war abgetragen und mit den Resten von anderen Hosen und Tuniken ausgebessert. Er hinkte, als er vor der Halle vom Pferd stieg, und es dauerte etwas, bis Alain begriff, daß es Herik war, der noch im Hochsommer solch ein forscher, junger Soldat gewesen war. Seine ganze Erscheinung hatte jetzt etwas sehr viel Ruhigeres, Gedämpfteres. Alain lehnte sich an den niedrigen Zaun vor der offenen Seite der Scheune und lauschte, wie Herik mit lebhafter, durchdringender Stimme Kastellanin Dhuoda und dem Geistlichen, der ihr wie ein Schatten nicht von der Seite wich, Bericht erstattete. Andere Leute von der Burg strömten zusammen, um die neue Kunde zu vernehmen. »Der Feldzug ist für diesen Sommer beendet. Die Lage hat sich geändert. Die Aikha sind zurück nach Norden gesegelt, um den Winter in ihren eigenen Häfen zu verbringen. Während der Fahrt richteten sie immer wieder Verwüstungen 118 am Ufer an. Doch drei Schiffe wurden schließlich auf der Vennu eingeschlossen, als die Flut zurückging. Die Aikha errichteten sofort einen Wall, doch der Graf betete zu Unserem Herrn und Unserer Herrin und ließ angreifen. Wir erstürmten den Wall!« Er schlug sich mit der Faust gegen die Handfläche und grinste zum ersten Mal. »Selbst ihre Hunde wichen vor uns zurück, und die sind sogar noch schärfer als ihre Herren, denn sie zerfetzen alles, was ihnen in die Quere kommt.« Seine Zuhörer murmelten anerkennend bei diesen grausigen Einzelheiten. Er fuhr fort: »Aber dieses Mal schlachteten wir die Aikha ab wie Schafe, obwohl ihre Haut wirklich so fest und hart ist wie Leder. Sie glänzt, als würden diese Wesen aus dem Ofen eines Schmiedes stammen statt von einer normalen Frau wie der Rest von uns. Einige versuchten zu fliehen, doch spätestens, als die Flut anstieg, waren sie dran, zusammen mit ihren widerlichen Hunden!« »Sie sollen Gestaltwandler sein, heißt es«, sagte die Köchin. Almas Position war wichtig genug, daß sie es wagen konnte, sich einzumischen. »Halb Fisch.« Herik zuckte mit den Achseln. Der kurz aufflackernde Triumph in seinen Augen war wieder verloschen; jetzt wirkte er nur noch müde. »Sie ertrinken genauso wie wir. Falls einer von ihnen wegschwimmen konnte, nun, ich habe keinen entkommen sehen. Wir haben einen von ihnen gefangengenommen, einen Prinzen. Der Cousin des Grafen wollte ihn töten lassen, aber Lavastin war klug und meinte, daß es besser sei, wenn wir seiner Familie gegenüber etwas in der Hand haben, das sie eintauschen wollen, statt etwas, das sie rächen wollen. Sie bringen den Barbaren in einem Käfig hierher. Der Graf hat seine Hunde an die Gitterstäbe gekettet, so kann keiner rein und der Barbar nicht raus.« Er zitterte und machte den Einheitskreis auf seiner Brust. 119 Kastellanin Dhuoda ließ ihren Blick über den Burghof schweifen; sie prägte sich die Leute ein, die neugierig herumstanden, statt zu arbeiten. »Wann wird der Graf eintreffen?« »In fünf Tagen. Sie waren dicht hinter mir. Der Sommer war lang, und es hat viele Kämpfe gegeben. Wir alle wollen so schnell wie möglich nach Hause.«
»Dann geht mit der Köchin, sie wird Euch etwas zu essen geben.« Dhuoda nickte Alma kurz zu, die daraufhin in die Küche eilte. »Danach kehrt Ihr zu mir zurück - wie heißt Ihr doch gleich? Ihr müßt mir noch genauer Bericht erstatten.« Ihr Blick streifte erneut die Anwesenden. Alain sah von seinem Versteck aus, wie die anderen eilig zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Er blieb, wo er war. Während der Hof sich leerte, forderte Dhuoda den Boten mit einer kurzen Handbewegung auf, noch einen Augenblick zu warten. »Hat der Graf sich irgendwie dazu geäußert, wo er den Aikha-Prinzen unterbringen will? In einem der Turmzimmer?« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Herik mit gesenktem Kopf. Alain war überrascht, wie sehr der junge Soldat sich seit dem Sommer verändert hatte. »Ich glaube, er will ihn zusammen mit den schwarzen Hunden einsperren. Ich hörte ihn sagen, daß er sich sonst niemals darauf verlassen kann, daß der Aikha nicht doch auf irgendeine unnatürliche Weise fliehen kann.« Der Gesichtsausdruck der Kastellanin blieb weiterhin gelassen, doch der Frater schlug das Kreiszeichen vor seiner Brust, wie um ein böses Omen abzuwenden. »Das ist alles«, sagte Dhuoda. »Ihr könnt jetzt gehen.« Herik nickte gehorsam und humpelte in Richtung Küche davon. Dhuoda und der Frater gingen zum Tor zurück. Alain, der 120 sich rasch in den Schatten der Scheunenwand drückte, hörte im Vorbeigehen ihre Stimmen. »Ist es wahr,«, wollte der Frater wissen, »daß die schwarzen Hunde Graf Lavastins Frau und Tochter getötet haben? Daß sie die lebendigen Beweise eines Paktes sind, den sein Großvater mit unheiligen Teufeln geschlossen hat, und daß der Graf sie nur deshalb bei sich behält?« »Ich werde das nur einmal sagen«, erklärte Dhuoda. Alain konnte ihre Stimme nur mit größter Mühe verstehen. »Von solchen Dingen zu sprechen, Frater Agius, ist Eurem guten Ruf ebensowenig förderlich, wie vor der Skopos Eure ketzerischen Ansichten zu diskutieren.« »Aber glaubt Ihr denn, daß es stimmt?« fragte Agius. »Was stimmt, ist, daß die ersten Hunde sowie sämtliche ihrer Abkömmlinge nur dem rechtmäßigen Grafen von Lavas gehorchen. Niemand weiß, woher sie kommen, nur, daß sie ein Geschenk einer salianischen Bischöfin waren -« Sie gingen weiter, und jetzt konnte Alain nichts mehr verstehen. Jeder sagte, daß die schwarzen Hunde Graf Lavastin überallhin begleiteten. Niemand sonst wußte mit ihnen umzugehen, und es war bekannt, daß sie mehr als nur einen Menschen auf der Burg angefallen hatten. Nicht einmal Meister Rodlin, der Stallmeister, war in der Lage, sie zu beherrschen. »Pferde«, sagte Simplizius. Eigentlich sagte er es nicht, sondern machte statt dessen ein Geräusch, von dem Alain wußte, daß es Pferde bedeuten sollte - er warf den Kopf zurück und scharrte mit dem Fuß. Dann schnüffelte er in der Luft, als könnte er ihr Kommen riechen. Vielleicht konnte er das sogar. Die Köchin nannte ihn manchmal einen Wechselbalg, und tatsächlich pflegte er eine besondere Leidenschaft zu Tieren, wie man es den Kindern der 121 Kobolde nachsagte - auch wenn er wie ein Mensch aussah. Andere sagten, daß die Tiere - Gottes unschuldige Geschöpfe - den Schwachsinnigen angeblich als einen der ihren erkannten, einen, der ebenso unschuldig war wie sie. Ungeduldig schoß Simplizius nach draußen. Alain ließ sich nicht beirren und ölte den Harnisch weiter ein, den er in der Hand hielt. Acht Tage waren vergangen, seit Herik zum Gut gekommen war und sie über die bevorstehende Rückkehr des Grafen informiert hatte. Alain konnte auch noch etwas länger warten, bis er ihn sah. Aber der Graf hatte sich einen außergewöhnlich vielversprechenden Tag für seine Rückkehr ausgesucht: Beim morgendlichen Gottesdienst in der Kapelle hatte die Diakonissin daran erinnert, daß dies der Tag des heiligen Lavrentius war, dem diese Kapelle gewidmet war. Burg Lavas stand unter dem Schutz des heiligen Lavrentius. In der Kapelle gab es eine Reliquie aus Elfenbein, in der einige Gebeine des heiligen Märtyrers enthalten waren sowie ein Stück des Ledergürtels, mit dem er auf das Rad gebunden worden war, an dem er gegen Ende des dariyanischen Kaiserreiches den Märtyrertod gefunden hatte. Doch der Gedanke an das Rad erinnerte Alain an die Sterne, die unaufhörlich ihre Runden über den Himmel zogen. Er dachte an die Mittsommernacht und die Vision, die er gesehen hatte, an Wittis ablehnende Haltung danach. Er seufzte. Nun, Tante Bei würde ihm sagen, daß eine Magd wie Witti es ohnehin niemals wert war, daß er sich nach ihr verzehrte. Und sie würde ihn schonungslos daran erinnern, daß er der Kirche versprochen war und damit auch dem Zölibat. Doch er konnte die Gedanken an Witti nicht verdrängen, selbst wenn er wußte, daß Tante Bei recht hatte. Als er schließlich den fertigen Harnisch über einen Pflock hängte und zur Stalltür ging, sah er die Wache winken, als 122 hätte sie in der Ferne etwas entdeckt; dann wandte sie sich mit lauter Stimme an die Versammelten im Hof. »Sie sind da! Der Graf kommt!« Die Menge verfiel in hektische Betriebsamkeit.
Alain und Simplizius fanden Unterschlupf in einer Ecke der Ställe. Von hier aus sahen sie die Truppe durch das Tor reiten, an ihrer Spitze ein Edelmann - offensichtlich Graf Lavastin. Der Graf ritt einen rötlichbraunen Wallach. Sein Cousin Jeoffrey ritt neben ihm auf einem Rotschimmel; seine herrliche Rüstung sprach für seinen hohen Rang. Bei ihnen war ein junger Mann, der einen Umhang mit dem Abzeichen der Adler des Königs trug. Dann waren da noch der Hauptmann des Grafen, zwei Geistliche und ein Dutzend berittener Soldaten, die Alain nicht erkannte. Hinter den Reitern marschierten, angeführt von Feldwebel Fall, die Fußsoldaten, und nach ihnen kamen die Wagen und Packesel, die eine Menge Staub aufwirbelten. Der Graf führte seinen Wallach bis zu den Stufen vor der Halle. Dort warteten Kastellanin Dhuoda mit ihrem Gefolge und Aldegund, Jeoffreys junge, hochschwangere Braut. Sobald der Graf abgestiegen war, rannte Simplizius etwas leichtsinnig nach vorn; unruhig hüpfte er von einem Bein aufs andere, während der Graf dem Hauptmann die Zügel reichte und dann die Frauen begrüßte. Der Hauptmann gestattete Simplizius mit einem leichten Kopfnicken, ihn zu begleiten, als er den Wallach zu den Ställen führte. Dann plötzlich rissen die Pferde im Hof die Köpfe zurück und scharrten unruhig mit den Hufen. Einer der Geistlichen wurde gar von seinem Pferd abgeworfen, und Jeoffrey fluchte und brachte seine Stute nur mit einiger Anstrengung dazu stillzustehen. Lediglich der Wallach, den Simplizius mit den Händen berührte, verhielt sich ruhig. Ein lautes Geheul zerriß 123 die Luft, begleitet von wildem Gebell und gräßlichem Knurren. Graf Lavastin löste sich von den Frauen und eilte die Stufen hinunter. Ein von acht Ochsen gezogener Wagen rollte jetzt durch das Tor. Ein stämmiger Mann führte den Leitochsen, der ein gutes Stück vom Wagen entfernt war. Sechs schwarze Hunde stürzten geifernd hervor und versuchten die Soldaten und andere Anwesende zu erreichen, die schreiend zurückwichen. Doch so sehr die Hunde auch kläfften, sie wurden von schweren, am Untergestell des Wagens angebrachten Ketten zurückgehalten. Auf dem Wagengestell erhob sich ein Kreuz aus dicken Hölzern. An diesem Kreuz hing ... Kein Mensch. Wie alle anderen zuckte auch Alain zurück, doch mehr wegen dem Anblick des Gefangenen als wegen dem der wilden Hunde. Ein Aikha-Prinz. Feldwebel Falls Geschichte vom Drachenherzen und dem Fluch schien plötzlich noch viel glaubwürdiger. Alain hatte Kreaturen wie diese schon zuvor gesehen: die angemalten Bestien, die den zerbrechlichen, sanften Bruder Gilles und die anderen Mönche im Kloster am Drachenschwanz getötet hatten. Grell leuchtende Spiralen prangten auf dem Gesicht und der Brust dieser Kreatur. Harte, weiße Klauen ragten aus den Handrücken hervor. Die Kreatur hatte am rechten Arm ein Armband aus bearbeitetem Gold und am linken zwei wie Schlangen miteinander verschlungene aus Bronze. Außerdem trug er vor Dreck und Matsch steif gewordene Hosen und einen ausnehmend schönen Gürtel, der aus winzigen vergoldeten Kettengliedern mit feinziselierten Einlegearbeiten aus Emaille bestand; er war um seine schmale Taille geschlungen und hing über die Hüften herab. Der Oberkörper 124 war nackt, und die Bemalung verlieh seiner Haut den Anschein von kupfernen Schuppen. Trotz seines wilden Aussehens hatte er ganz die hochmütige Haltung eines Prinzen, schwarze Schlitzaugen und struppige, weiße Haare, die zu einem dicken Zopf zusammengebunden waren und ihm bis zur Taille reichten. Die dünnen Lippen waren in einer Art zurückgezogen, die mehr an das Zähneblecken von Hunden als an ein Lächeln erinnerte. Winzige Juwelen glänzten auf seinen Zähnen und gaben seinem Grinsen etwas unerwartet Leuchtendes. Der Aikha-Prinz war mit Ketten um Knöchel und Handgelenke am Kreuz festgebunden. Als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam, hielt er geschickt das Gleichgewicht. Die Hunde bellten wütend, drängten sich um den Wagen, schnappten in ihrer Raserei sogar nacheinander. Niemand traute sich näher an sie heran. Der AikhaPrinz starrte trotzig auf den Burghof. Natürlich wichen alle vor ihm zurück, und selbst ein paar Soldaten traten einige Schritte beiseite, wie er so zwischen ihnen stand - angekettet, aber mit stolzer Miene. Lavastin wandte sich wieder an Dhuoda. Der Aikha-Prinz warf den Kopf zurück und heulte auf. Die Hunde spielten verrückt. Sie zerrten rasend an ihren Ketten und übertönten selbst das schreckliche Geheul des Aikha mit ihrem kakophonischen Gebell. Sie waren schwarz wie die Nacht, ganz und gar furchterregende Kreaturen. Mit einem berstenden Krachen brach ein Teil der Seitenwand des Wagens auseinander. Zwei Hunde stürzten vor. Einer von ihnen konnte sich vollständig vom Wagen befreien und preschte vor, stürzte sich sogleich auf den nächstbesten Soldaten. Er riß den Mann zu Boden und schnappte nach seiner Kehle. Einen Augenblick standen die Umstehenden wie er125 starrt da. Dann kamen die Schreie. Die Menge stob auseinander, als der Hund, eine Blutspur und den noch immer zuckenden Körper hinter sich herziehend, zum Grafen raste. Panik brach aus und verwandelte den Hof in ein absolutes Chaos. Der andere Hund hatte nicht freikommen können. Er bellte hilflos hinter seinem Kameraden her; dann, als er mit dem Ende der Kette die Grenzen seiner Freiheit erreicht hatte, brach er in wildes Geheul aus, wirbelte herum und
sprang auf den Wagen, um den Gefangenen anzugreifen. Eine unglaublich lange Zeit, so schien es Alain, bemerkte niemand, daß der Aikha-Prinz angefallen wurde unfähig, sich selbst zu verteidigen. Soldaten kümmerten sich um ihren gefallenen Kameraden, und der stämmige Ochsenführer zerrte immer wieder am Kopf des Leitochsen, doch ohne Erfolg. Alain stieß sich von der Wand ab. Er hatte das Gefühl, als befände er sich plötzlich in einer Welt, die seltsam unberührt von der rasenden Hektik im Hof schien: Da war nur er - und der Aikha-Prinz und der wilde Hund. Alain erreichte den Wagen. Er ging in die Knie, griff nach den Hinterbeinen des Hundes und zog mit aller Kraft daran. Ein Schrei durchzuckte ihn. Er taumelte zurück und fiel zu Boden. Der Hund landete mit voller Wucht auf ihm. Einen Augenblick war Alain wie benommen. Der Hund grub seine Pfoten in Alains Tunika, wollte ihm die Haut in Fetzen reißen. Ein tiefes Knurren klang aus seiner Kehle. Alain starrte in die wütenden Augen, die so dunkel und unergründlich waren wie Bernstein. Noch ein Knurren. Er begriff, daß er sich in Reichweite eines anderen angeketteten Hundes befand. Speichel tropfte auf sein Gesicht, und er sah gefletschte Zähne über sich. Dieser mächtige Kiefer würde sein Gesicht zerfetzen. In weiter Ferne lachte ein Mann, wie ein Echo. 126 Da er ohnehin zum Sterben verdammt war, sagte er mit fester, aber ruhiger Stimme das erste, was ihm in den Sinn kam. »Sitz.« Der Hund ließ sich keuchend auf die Hinterbeine nieder und drückte Alain mit seinem Gewicht so hart gegen den Boden, daß sich kleine Steinchen schmerzhaft in seine Haut bohrten. Speichel tropfte von den Reißzähnen auf Alains Tunika. Auch der andere Hund kam näher, stieß ihn mit der Schnauze an und leckte ihm über das Gesicht. Plötzlich schauten beide Hunde auf und knurrten die Soldaten an, die sich mit Speeren in den Händen genähert hatten, aber aus Angst einigen Abstand hielten. Hinter ihnen stöhnte und schrie ein Mann vor Schmerzen auf. Ein anderer gab mit knapper Stimme Befehle, doch aus irgendeinem Grund konnte Alain die Wörter nicht unterscheiden. Sein Blick wanderte über den breiten, schwarzen Rücken des auf ihm hockenden Hundes, höher und immer höher, bis zum Gesicht des Aikha-Prinzen. Die Augen des Wilden waren so schwarz wie Obsidian. Befremdlich genug, grinste der Prinz zu ihm herab. Seine Zähne waren so scharf wie die der Hunde. Eins der Hosenbeine war zerrissen, und Blut sickerte durch den zerrissenen Stoff- zähflüssig wie das eines Menschen, aber mit einem Grünstich. Falls die Wunde ihm Schmerzen verursachte, zeigte der Aikha es jedenfalls nicht. Der Hund, der soeben noch auf Alain gesessen hatte, machte plötzlich einen Satz nach vorn, durchbrach den Schutzring aus gesenkten Speeren und schlug seine Zähne in den Arm eines Soldaten. Die Gruppe stob augenblicklich auseinander, und die Soldaten flüchteten. Mit einem Schmerzensschrei riß der Soldat seinen Arm aus dem Kiefer des Hundes und taumelte zurück. Der andere, noch angekettete Hund 127 sprang laut aufheulend so weit wie möglich auf die Soldaten zu, dann trapste er zufrieden zurück und ließ sich auf Alains Beinen nieder. »Zurück! Bringt die Männer in die Krankenbaracke und den Wagen in den Zwinger. Los, Mann, bring die Ochsen auf Trab. Halt, warte. Laß den Jungen aufstehen.« Graf Lavastin erschien jetzt in Alains Blickfeld - an seiner Seite ein schwarzer, keuchender Hund, der die Schnauze gegen seine Handfläche preßte. Der Aikha-Prinz richtete seinen Blick jetzt auf den Grafen. »Kummer! Auf, Junge!« Der Hund blieb genüßlich auf Alains Beinen liegen. »Auf!« Der Ton des Grafen stellte unmißverständlich klar, daß er keinen Ungehorsam von seinen Untergebenen duldete. Kummer rappelte sich langsam auf und versuchte mit einem flüchtigen Ruck an der Kette, seinen Herrn zu erreichen, dann gab er es auf. »Steh auf!« sagte der Graf. Plötzlich begriff Alain, daß Graf Lavastin ihn meinte. Er stand etwas umständlich auf und hatte kaum Zeit, den Weg freizugeben, als der Fahrer schon die Ochsen antrieb und der Wagen über den Hof holperte. Alain ließ den eindringlichen Blick des Grafen über sich ergehen. Der Graf war ein zierlicher Mann, kleiner als Alain. Aber er ließ nicht mit sich spaßen. Eine Weile musterte er Alain, dann schweifte sein Blick zur Seite, schien auf die Suche nach wichtigeren Dingen zu gehen. Die beiden übel zugerichteten Soldaten wurden beiseite geschafft. Jeoffrey und die beiden Geistlichen näherten sich, warteten jedoch in gebührendem Abstand. Die Hunde, die ihre Ohren gegen Lavastins Hände rieben, knurrten, doch es schien Alain, als klänge dieses Knurren jetzt wesentlich gehorsamer und weniger bedrohlich. 128 »Bring auch Rage zum Zwinger.« Der Graf griff nach der abgerissenen Kette der Hündin und reichte sie Alain ohne weitere Umschweife. Die Eisenglieder fühlten sich kalt und rauh in seinen Händen an. Lavastin wandte sich ab und schritt zu Jeoffrey hinüber; dann, als wäre nichts geschehen, kehrte er zur Kastellanin zurück und verschwand mit ihr in der Halle.
Alain starrte auf Rage hinab. Sie schnüffelte an Alains Füßen, dann an seinen Knien. Schließlich nahm sie leise jaulend Alains Hand in die Schnauze und umklammerte sie sanft. Inzwischen war er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit all jener geworden, die den Hof nicht fluchtartig verlassen hatten, sondern in Türeingängen und hinter Zäunen in Deckung gegangen waren oder sich eilig bewaffnet hatten - und sei es mit einer Mistgabel. Rage wedelte mit dem Schwanz, ließ ihn kräftig gegen Alains Oberschenkel schnellen. Behutsam zog er seine Hand aus ihrem Maul. Rote Abdrücke waren dort, wo die Zähne sich in sein Fleisch gegraben hatten, aber die Haut war unverletzt. Alain hielt die Kette noch etwas strammer und holte tief Luft. »Komm, mein Mädchen.« Er rechnete im stillen mit dem Widerstand der Hündin, als er sich in Bewegung setzte. Doch Rage trottete gehorsam neben ihm her; nur, wenn jemand ihr zu nahe kommen wollte, bleckte sie knurrend die Zähne. Frater Agius stand auf den Stufen und betrachtete das Paar gedankenverloren; er schlug das Kreiszeichen auf der Brust. Alain erschauderte. Es war wie in den ersten Minuten in jener Mittsommernacht in den alten Ruinen, als er begriffen hatte, daß er auf seltsame Weise aus der wirklichen, vertrauten Welt herausgetreten war. Schlimm genug, daß alle ihn anstarrten und noch tagelang von dem Zwischenfall reden würden - aber daß Agius ihn auch noch zeichnen mußte ... Alain hatte sich niemals Gedanken über den kämpferischen 129 Glanz gemacht, der in den Augen von Frater Agius lag und so ganz anders war als die friedliche Gelassenheit, die Bruder Gilles ausgeströmt hatte. Er ging um eine Ecke der Halle herum und führte die Hündin an einer kleinen Gruppe von Soldaten vorbei, die sofort zur Seite traten, obwohl sie nicht einmal sehr nah standen. Auch sie schlugen das Kreiszeichen über der Brust, als wollten sie ein Übel abwenden. Er hörte sie tuscheln. »Das ist unheimlich, wirklich.« »Nicht einmal Meister Rodlin hat die Hunde unter Kontrolle. Keiner außer dem Grafen kann das, höchstens sein Erbe, wenn er einen hätte.« »Ich hätte ja gedacht, daß er sie töten lassen würde, nach all dem, was sie seinem Kind angetan haben -« »Still. Sprich nicht davon.« »Es ist unheilig. Das Blut des Teufels. Mein Vater sagte, daß die Hunde nur den Grafen oder seinen Erben anerkennen oder die, in denen sie das Blut des Teufels riechen. Die Hunde stammen nämlich von den Elfen.« Alain starrte beharrlich zu Boden und tat so, als hörte er die Worte nicht. Wildes Gebell lenkte ihn ab. Er trat durch einen Palisadenzaun und kam zu einer niedrigen Einfriedung, dem Zwinger. Die Hunde, die noch am Wagen festgebunden waren, scharrten so stürmisch mit den Pfoten auf dem Boden, daß Erde aufgewirbelt wurde. Sie zerrten an den Ketten und schnappten nach Meister Rodlin und seinen beiden Helfern, deren Arme und Beine zum Schutz gepolstert waren. Der Aikha-Prinz, aus dessen aufgerissenem Bein noch immer Blut tropfte, betrachtete das Schauspiel mit kühler Verachtung. »Geh.« Alain versuchte, so etwas wie Autorität in seine Stimme zu legen, als er den Hund zum Tor der Einfriedung 130 drängte. Der Wagen war noch nicht ganz drin, obwohl der Ochse bereits abgespannt und weggeführt worden war, und Rage versuchte, Alain in die falsche Richtung zu ziehen, begierig darauf, sich in einen Kampf zu stürzen. Die Soldaten waren Alain gefolgt. Offensichtlich waren sie als Wachen des Aikha-Prinzen abgestellt, aber wohl mehr an Rodlin und seinen Helfern interessiert, die sich bemühten, die Hunde von den Ketten zu befreien und in den Zwinger zu verfrachten, ohne in Stücke gerissen zu werden. Alain seufzte und zog die undankbare Hündin zum Tor. »Geh schon! Rein mit dir!« Rage trat hinein; sie winselte wie zur Entschuldigung. Alain eilte zum Wagen zurück. Kummer hatte das Bein eines der Helfer zu fassen bekommen und machte sich an der Polsterung zu schaffen, um das darunter liegende weiche Fleisch zu zerfetzen. »Laß das! Sitz!« Alain packte das Halsband des Hundes. Kummer jaulte auf, setzte sich dann jedoch schlagartig hin und ließ von dem Bein ab. Der Mann humpelte außer Reichweite, wo er sich umständlich niederließ. Meister Rodlin und der andere Helfer verzogen sich ebenfalls rasch und beäugten Alain und die Hunde aus sicherer Entfernung. Vor ihm hatten sie ebensoviel Angst wie vor den Hunden. O Herr und Herrin, womit hatte er das verdient? »Komm schon, Junge«, wandte er sich an Kummer. »Rein mit dir.« Er führte Kummer und die anderen vier Tiere nacheinander in die Einfriedung. Vier weitere waren bereits angekettet; sie waren in einem anderen Käfig hergebracht worden. Alain ging mit den Tieren in eine Ecke, wo er sie mit Worten und - ein einziges Mal nur seiner Hand im Zaum hielt. Währenddessen rollten die reichlich nervösen Soldaten den Wagen herein und stellten den Aikha-Prinzen mitsamt Kreuz in einem Unterstand auf, der an drei Seiten von einem Holz131 gitter umgeben war; Kastellanin Dhuoda hatte ihn mitten im Zwinger errichten lassen. Selbst wenn es dem Prinzen irgendwie gelingen sollte, sich von den Ketten und aus dem Käfig zu befreien, hätte er es immer noch mit den Hunden zu tun. »Jemand sollte sich die Wunde ansehen«, meinte Meister Rodlin mit einem Blick auf den Prinzen. Er stand auf
der hohen Plattform, die auf Stelzen am Rand der Einzäunung für die Wachen errichtet worden war. »Aber ich würde vermuten, daß er genauso wild darauf ist wie die Hunde, den Heiler anzufallen.« Der Prinz betrachtete sie. Blut tropfte noch immer aus der Wunde, aber er schien es nicht zu bemerken. Ein Geistlicher erschien und warf einen nervösen Blick durch das Tor des Zwingers, beäugte zunächst die Hunde, dann den Aikha-Prinzen. »Meister Rodlin. Ich bitte um Entschuldigung, Meister«, rief er schließlich, als er den Mann hoch über sich entdeckt hatte. »Der Graf wünscht Euch und den Jungen zu sprechen.« »Welchen Jungen?« fragte Meister Rodlin. Mit einem Mal blickten alle, mit etwas Verzögerung auch Meister Rodlin, auf Alain. Und dann richtete auch der Aikha-Prinz seinen Blick auf den Jungen. Alain zuckte zusammen. Rage und Kummer saßen zu seinen Füßen und knurrten. »Raus jetzt, alle«, befahl Rodlin. Die Hast, mit der die Soldaten und Hundeführer sich zurückzogen, ließ ein verächtliches Grinsen auf den Lippen des Prinzen erscheinen, ein wildes Zähneblecken. »Komm mit, Alain.« Rodlin verschwand einen Augenblick, als er die Stufen hinunter auf die andere Seite der Einfriedung schritt. Alain ließ die Hunde frei. Sofort schössen sie davon und rasten wild kläffend im Zwinger hin und her. Rage und Kummer folgten ihm bis zum Tor, doch er rieb nur ihre großen Köpfe und versprach, bald wiederzukom132 men. Dann schlüpfte er durch das Tor und schloß es von außen. Die Hundeführer verriegelten es sorgfältig. »Komm«, sagte Rodlin kurz angebunden. Schweigend schritten sie nebeneinander zur Halle, in einigem Abstand zu dem vor ihnen hertrippelnden Geistlichen. Alain war niemals weiter als bis zur großen Halle gekommen, in der gegessen wurde. Rodlin führte ihn jetzt durch eine Tür zu einem winzigen Hof mit farbenprächtigen, wohlriechenden Kräutern und Blumen, dann eine Wendeltreppe im Steinturm hinauf bis zu einer runden Kammer. Sie war weiß getüncht, und ein wunderschön bemaltes Glasfenster mit dem Martyrium des heiligen Lavrentius ließ das helle Sonnenlicht herein. Erstaunlicherweise gab es ein zweites Fenster, allerdings ohne Glas; die Läden waren weit aufgestoßen, um ebenfalls Licht und frische Luft hereinzulassen. Graf Lavastin saß hinter einem Tisch, neben ihm Kastellanin Dhuoda, sein Cousin Jeoffrey, Frater Agius und der Hauptmann der Wache. Graf Lavastin blickte von einigen Dokumenten auf, als Rodlin und Alain den Raum betraten. Der Geistliche nahm seinen Platz neben Jeoffrey ein. Rodlin ließ sich in knapper, aber deutlicher Ehrerbietung auf ein Knie nieder, und Alain tat es ihm leicht zitternd gleich. Doch Lavastin schaute weg und wandte sich zunächst wieder den Dokumenten zu. »Ich glaube, wir sind die Bedrohung für diesen Sommer los«, meinte er an Jeoffrey gerichtet. »Ich brauche Euch und Eure Soldaten nicht mehr. Ihr könnt auf den Besitz Eurer Frau zurückkehren, wann immer Ihr bereit dazu seid.« »Jawohl, Cousin.« Jeoffrey nickte. Obwohl er einen guten Kopf größer und auch um einiges kräftiger war, schien Jeoffrey tiefe Ehrfurcht vor seinem älteren Cousin zu haben. »Wir hoffen jedoch, daß Ihr unsere Anwesenheit noch ein oder zwei 133 Monate erdulden werdet. Meine teure Aldegund ist jung, und es ist ihre erste Niederkunft. Es wäre besser -« »Ja doch!« Lavastin klopfte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. »Natürlich müßt Ihr nicht abreisen, bevor Aldegund das Kind geboren hat und beide kräftig genug sind, um eine fünftägige Reise zu überstehen.« Seine Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie - es sollte wohl so etwas wie ein Lächeln sein. »Schließlich wird dieses Kind eines Tages, sofern Gott ihm Leben und Gesundheit schenkt, zum Erben meines Landes werden, nicht wahr?« »Falls Ihr nicht wieder heiratet«, entgegnete Jeoffrey ernst. Doch sogar Alain wußte, daß selbst ein freundlicher, wenig ehrgeiziger Mann wie Jeoffrey zielstrebige Pläne für seine Kinder hegen konnte. Und die Ländereien um Burg Lavas waren beträchtlich. Graf Lavastin machte plötzlich ein Zeichen, als wollte er sich gegen das Böse schützen oder gegen ein schlechtes Omen. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Jeoffrey rasch. »Ich wollte nicht -« »Ist schon in Ordnung«, sagte Lavastin. Alains Knie begann angesichts seiner ungewohnten Lage zu schmerzen. Er versuchte das Gewicht etwas zu verlagern Blitzschnell hatte er Lavastins Blick auf sich gezogen. »Meister Rodlin. Ist das der Junge? Wie heißt er?« »Alain, Herr.« Lavastin musterte Alain. Aus der Nähe und ohne Kettenpanzer wirkte der Graf noch zierlicher. Er hatte ein schmales Gesicht, und seine Haare waren von einem unbeschreiblichen Braun, doch die Farbe seiner Augen war ein klares Blau. »Wer sind deine Eltern?« fragte er. »Aus welchem Dorf kommst du?« »Ich bin der Sohn von Henri, Herr«, brachte Alain mühsam 134 hervor. Er konnte kaum glauben, daß er mit einem großen Edlen sprach. »Ich habe meine Mutter niemals kennengelernt. Ich komme aus Osna, das beim Drachenrücken -« »Ja. Das Kloster dort wurde zu Beginn des Frühjahrs niedergebrannt. Eine Stiftung des Königs.« Er hielt inne, und Alain fragte sich, ob er wohl glücklich oder unglücklich darüber war, daß ein königliches Stiftskloster niedergebrannt worden war. »Osna ist auch ein wichtiger Hafen, einer der großen Handelsplätze. Wußtest du
das?« »Mein Vater ist ein Kaufmann, Herr. Meine Tante ist eine wohlhabende Bürgerin von Osna; sie verwaltet all das, was er heimbringt, und sorgt für die Waren, die er verkaufen kann, hauptsächlich Mühlsteine, die in der Werkstatt hergestellt werden.« »Hast du schon vorher mit Hunden zu tun gehabt?« »Nein, Herr.« »Du bist in der Mittsommernacht zu den alten Ruinen gegangen. Hast du dort etwas gesehen?« Eine beiläufige Frage, wie es schien. Alain traute sich weder den Blick vom Grafen abzuwenden, noch ihn allzu intensiv anzusehen. Er kämpfte einen Augenblick mit sich, versuchte seine Gedanken zu ordnen und zu entscheiden, was er sagen sollte. »Nun?« verlangte Lavastin, der ganz offensichtlich wenig Lust hatte, Geduld für andere aufzubringen. Sollte er seine Vision zugeben? Was konnten sie ihm schon zur Last legen ? Er spürte den Blick von Frater Agius auf sich, lauernd, prüfend. Hexerei? Verbotene Zauberei? Eine Verbindung zum Teufel? Oder sollte er die Vision ganz leugnen und sein Seelenheil wegen dieser Lüge in Gefahr bringen ? Lavastin stand auf. »Also hast du etwas gesehen.« Er schritt zum geöffneten Fenster und starrte auf den Wald und die Hü135 gel dahinter. »Meister Rodlin, Ihr werdet diesen jungen Mann zu Eurem Stellvertreter machen. Er soll Euch bei der Versorgung der Hunde helfen.« Enttäuscht beugte Alain erneut das Knie, als auch Rodlin sich nochmals verbeugte und sich bereit machte, das Zimmer zu verlassen. Schließlich war es immer noch besser, als Latrinen zu putzen. Der Graf wandte sich vom Fenster ab und musterte Alain einen Augenblick prüfend. »Und du meldest dich bei Feldwebel Fall. Er wird dich zum Soldaten ausbilden.« Während Alain noch mit offenem Mund dastand - zu verblüfft, um auf angemessene Weise zu antworten -, schritt der Graf wieder zum Tisch und setzte sich. »Frater Agius, sagt Diakonissin Waldrada, daß ich sie vor dem Abendessen sprechen will.« Der Frater nickte und verließ nach einem durchdringenden Blick auf Alain die Kammer. »Hauptmann.« Lavastin wandte seine Aufmerksamkeit jetzt von Alain ab, als wäre er gar nicht mehr da. »Wir werden in diesem Herbst an den Ufern der Vennu Zäune errichten. Ich werde dafür besondere Abgaben erheben. Wenn wir sie in dieser Weise aufstellen -« Rodlin berührte Alain am Ellbogen. »Komm.« Alain fuhr zusammen; er wandte sich um und ging mit Rodlin zur Tür. Doch sein Blick blieb bei den zwei Wandteppichen zu beiden Seiten der Tür hängen. Auf dem einen war das Wappen von Lavas abgebildet: zwei schwarze Hunde auf einem silbernen Feld. Der andere zeigte etwas, das Alain jetzt wie gebannt anstarrte. Ein Prinz reitet mit seinem Gefolge durch einen dunklen Wald. In der lerne erhebt sich ein Berg, dessen rauchgraue, dunstige Spitzen sich dem düsteren Himmel entgegenrecken. Vom Sattel des Prinzen hängt ein Schild: eine rote Rose vor einem schwarzen Hintergrund. 136 Rodlin faßte ihn am Arm und zog ihn aus der Kammer, während hinter ihnen Graf Lavastin mit seinem Hauptmann, seinem Cousin und den anderen Pläne für den Herbst und Winter besprach, etwa die Einführung eines neuen, schwereren Pfluges, mit dem man neue Felder im Waldgebiet würde roden können. Eine rote Rose auf einem Schild. Natürlich war die Vision wirklich gewesen. Er mußte nur Geduld haben. Als Alain im Burghof auf Rodlin wartete, der sich mit Feldwebel Fall besprach, ließ er seine Finger über die Tunika gleiten. Einige jüngere Soldaten hielten sich im Hof auf, und da sie nichts Besseres zu tun hatten, starrten sie ihn leise tuschelnd an. Selbst durch seine Kleidung hindurch fühlte sich die Rose warm an - ganz, als wüßte sie und wäre zufrieden, daß er jetzt zum Soldaten ausgebildet werden sollte. Obwohl es ein warmer Tag war, überlief ihn ein Schauer. Er fühlte sich, als wäre er gesegnet, schließlich war sein innigster Wunsch in Erfüllung gegangen. Doch er fragte sich auch, ob es wirklich gut war, die Aufmerksamkeit einer solchen Macht auf sich gezogen zu haben - denn er wußte nicht: War sie nun eine auf der Erde wandelnde tote Heilige oder der Engel des Krieges, der aus den Sphären der Sterne herabgestiegen war, um den Helden auszuwählen ... oder das nächste Opfer? IV Das Schatzhaus
1 Was sie am meisten an Hugh haßte, war die Art, wie er sie unaufhörlich beobachtete. Er wartete. Es kostete sie große Anstrengung, auf jedes Wort, jede Handlung zu achten, den ganzen Tag hindurch pausenlos wachsam zu sein. Er wartete. Früher oder später würde sie sich verraten.
Am schlimmsten war es am frühen Abend, wenn sie die Arbeit beendet hatte; zumindest in der Zeit zwischen Non und Vesper, bevor sie sich schlafen legte, hätte sie Ruhe vor ihm haben sollen. Sie hätte den Himmel betrachten und sich den Erinnerungen an ihren Vater hingeben können, doch gewöhnlich blieb Hugh bis spät in die Nacht draußen auf einem Stuhl sitzen und beobachtete sie, wartete darauf, daß sie sich irgendwie verriet. Ihr einziger Schutz bestand darin, so zu tun, als wüßte sie von nichts: Pa hatte ihr keinerlei Geheimnisse anvertraut, we138 der über die Himmelssphären noch andere. So schwieg sie, wenn sie Hugh mit dem Astrolabium in den Händen draußen sitzen sah. Er drehte das Gerät unschlüssig in den Händen, spielte an der um das Zentrum drehbaren Alhidade und fuhr mit den Fingern über die durchbrochenen Scheiben; er hatte offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung, wie er es auch nur dazu benutzen konnte, die Zeit abzulesen. Es verblüffte sie, daß Hugh, dieser eigentlich gebildete Kirchenmann, den Athar nicht bemerkte - jene Erscheinung, die im Sternbild des Drachen mittlerweile so hell leuchtete wie ein Viertelmond. Und es erschreckte sie auch. Niemals zuvor war ihr in den Sinn gekommen, wie verboten das Wissen über die Sterne wirklich sein mußte, jenes Wissen, das sie von klein auf von ihrem Vater gelernt hatte, mit der Selbstverständlichkeit, mit der eine Ente das Schwimmen lernte. »Zauberer und Seefahrer«, hatte ihr Vater immer gesagt, »studieren den Himmel aus einer Notwendigkeit heraus.« Hin und wieder, wenn sie sich allein glaubte, versuchte sie, den Himmel zu beobachten. Pa hatte seine Beobachtungen in winziger, präziser Schrift auf die Seitenränder des Buches der Geheimnisse geschrieben, und sie hatte sie in ihre Gedanken übertragen müssen. »Denn es steht geschrieben in den Erinnerungen der Alisa von Jarrow: >Das Wissen ist ein Schatzhaus und das Herz seine innerste Kammer.< Mache aus deinem Gedächtnis eine große Stadt, Liath, und verzeichne ihre Straßen, als würdest du in deinem eigenen Körper Spazierengehen. Es ist eine geheime Stadt, die nur dir gehört; du mußt die Erinnerungen, an die du dich erinnern willst, ablegen, indem du jedem Ding ein wiedererkennbares Siegel gibst, ein Bild oder eine Beschreibung. Jedes Teil soll seinen rechtmäßigen Platz entsprechend der rechtmäßigen Anordnung erhalten. Das wird dich reicher 139 machen als jeden König. Wissen ist ein unbestechlicher Schatz, der niemals seinen strahlenden Glanz verliert.« So hatte sie ihr Gedächtnis im Laufe der Jahre unter großen Anstrengungen zu einer imaginären Stadt ausgebaut, und zwar mit einer solchen Vollkommenheit, daß sie mit geschlossenen Augen hindurchschreiten konnte, als würde sie wirklich existieren: In einem großen See ruht eine vollkommen runde Insel, die sich sanft aus dem Wasser erhebt und zu einem kleinen, kreisförmigen Plateau aufsteigt. Es gibt sieben Ebenen umgeben von je einer Mauer, jede in einer anderen Farbe. Innerhalb der innersten und höchsten Mauer oben auf dem Plateau befindet sich ein Platz mit vier Gebäuden - je eins im Norden, Osten, Süden und Westen. In der Mitte steht ein Steinturm. Das Observatorium, ein runder Marmorbau, ist am nördlichsten Punkt der Nordsüdachse zu sehen, mit Blick auf den Nordstern Kokab und jene Konstellation, die als Wächter bekannt ist. Wenn sie nun in diesen Sommernächten draußen auf dem Hof zwischen Kapelle und Schweinestall stand und gen Himmel schaute, prägte sie sich das Bild dieses Observatoriums ein - die kreisförmige Mauer, die Visiersteine und -löcher, die Säule in der Mitte. Sie stellte sich die zwölf Bögen vor, die die zwölf Häuser des Zodiaks symbolisierten, die man auch die Häuser der Nacht nannte - oder den Weltdrachen, der die Himmelsphären verbindet. Im Haus des Drachen legte sie einen Seestern ab, wie sie einmal einen im Wattenmeer an der andallanischen Küste gesehen hatte. Dieser Seestern mit seinen sechs Armen glühte in einem ebenso hellen und gleißenden Licht wie die Erscheinung. Sie setzte ihn bei fünfzehn Grad auf dem geschwungenen Bogen im Drachen ab, um sich so immer genau daran er140 innern zu können, wo in der Konstellation er sich befunden hatte. Um ihn herum befestigte sie erfundene Siegel, damit sie niemals die Position der Sonne, des Mondes und all der anderen Planeten vergaß. Und in fünf oder zwanzig Jahren, wenn sie dann noch lebte, konnte sie vielleicht anderen Mathematiki - Zauberern, die sich im Wissen über die Sterne geübt hatten - präzise erklären, wo und wann diese Erscheinung zum ersten Mal aufgeleuchtet hatte. Doch der Sommer verging, und dreieinhalb Monate nach seinem ersten Erscheinen verblaßte der Stern, und das funkelnde Licht verschwand. Sie konnte ihn noch immer sehen; er hatte sich in die Reihe der anderen eingefügt, die zusammen die Konstellation des Drachen bildeten, aber jetzt war er nur noch ein gewöhnlicher Stern. Vielleicht wurden so Engel geboren: Erst kündete ein außergewöhnliches Leuchten von ihrer Geburt, dann folgte, das Werk Unserer Herrin und Unseres Herrn, ein langanhaltendes, gleichmäßiges Glühen. Vielleicht war er auch nur ein Komet, wie die Mathematiki gerne jene Sterne mit einem Schweif nannten, die manchmal die Sphäre der Sonne durchkreuzten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewußt, wie sehr sie tief in ihrem Innern doch noch gehofft hatte, daß ihr Vater nicht wirklich tot war, sondern auf wundersame Weise zurückkehren und sie retten würde. Der fremde
Stern war in jener Nacht erschienen, da ihr Vater gestorben war, beinahe als wäre er ein Todesbote; zumindest hatte ihr Vater das wohl geglaubt, wie sie jetzt erkannte. Als der Athar verblaßte, schwand mit ihm auch jede Hoffnung. Er war tot, für immer fortgegangen, um die sieben Sphären zur Kammer des Lichts zu durchschreiten. Er würde nicht zurückkommen. Sie war allein. 141 2 Liath war gerade damit beschäftigt, Laub und Dung unter die Erde im Garten zu mischen, als Hugh aus dem Stall kam, die scheckige Stute am Zügel führend. Sie blickte ihn an, doch er schwieg, als würde er es genießen, ihr beim Arbeiten zuzuschauen. Als sie die Reihe beendet hatte, machte sie eine Pause, stützte sich auf die Schaufel und sah ihn an. Er lächelte selbstgefällig. »Ich werde zwölf Tage weg sein. Ich muß in den Norden, nach Frielas, reisen, um Neuigkeiten von der Bischöfin zu erfahren und mich um die Ländereien zu kümmern, die zwischen Friedleben und der Stadt liegen. Du kannst deine Mahlzeiten in der Schenke einnehmen, während ich weg bin. Aber am nächsten Herrintag wirst du wieder mit mir essen.« Liath gab mit einem kurzen Nicken ihre Zustimmung. Er war bereits sechs Wochen zuvor nach Frielas geritten und acht wunderbare Tage lang fortgeblieben. Ihr Gesichtsausdruck mußte sie verraten haben. Er ließ die Zügel der Stute los und trat zu ihr, strich ihr mit seiner ausnehmend sauberen, weißen Hand ein paar unordentliche Haarsträhnen aus der Stirn. Sie erstarrte förmlich und ließ es stumm über sich ergehen. »Also«, sagte er und ging zur Stute zurück. Er schwang sich mit jener lässigen Anmut hinauf, die von häufiger Übung zeugte, und musterte Liath noch einen Augenblick von seinem erhöhten Platz aus. »Nimm ein Bad. In der Truhe ist ein Unterkleid und ein wunderschönes langes Oberkleid. Ich möchte, daß du das trägst, wenn wir bei meiner Rückkehr zusammen speisen.« Er wendete das Pferd und ritt die Straße entlang nach Norden, in den Wald hinein. Es war ein seltsamer Anblick, denn über der Hose und der Tunika eines Edelmannes trug er 142 die schlichte braune Robe eines Fraters und hatte ein langes Schwert über den Rücken geschlungen. Liath beendete fünf weitere Reihen, bevor sie in die Küche ging, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Das Wasser vom Brunnen wurde immer kälter, je mehr der Sommer in den Herbst überging. O ja, der Sommer war sehr schnell vergangen. Jetzt wurde es nachts bereits kühl. Letzte Nacht war sie Trotter sehr dankbar gewesen, als er sich gegen die Holzlatte gerollt hatte, die ihr trockenes Strohbett vom Schweinepferch trennte, und sie so gewärmt hatte. Sie seufzte und trocknete sich die Hände an der Tunika ab, dann schürte sie das Feuer, damit der Haferbrei in dem großen Kupfertopf weiter köchelte. Es war ein bißchen zu warm in der Küche, einem kleinen Gebäude, das nur einige Schritte von dem weitflächigen Labyrinth aus Kammern entfernt war, die im Laufe vieler Jahre immer weiter aus der Kapelle herausgewuchert waren. Der innerste Kern dieses Irrgartens war von einem Frater aus dem Königreich Aosta errichtet worden, hieß es. Da er an kalte Winter nicht gewöhnt gewesen war, hatte er das Holzgerüst versiegeln und abdichten lassen, so daß sich die Wärme im Gebäude stauen konnte. In diesem Sommer hatte sie es möglicherweise im Schweinestall angenehmer gehabt als Hugh in seiner Zelle. Sie schneuzte sich die Nase, wischte sich einen Strohhalm aus dem Gesicht und ging nach draußen. Die Sonne schien auf die in herbstlichen Farben schimmernden Laubbäume und ihre größeren immergrünen Gefährten. Hugh ritt häufig aus und machte seine Runden; er besuchte Kranke und Sterbende und all jene, die einfach die Gespräche und Gebete mit einem heiligen Mann genossen. Solche Rundgänge dauerten aber gewöhnlich nur einen Nachmittag, bestenfalls noch bis zum nächsten Morgen. Als er zum ersten Mal nach Frielas gereist 143 war, hatte sie nicht gewagt, irgendwohin zu gehen, irgend etwas zu tun, denn sie war die ganzen acht Tage lang überzeugt gewesen, daß er irgendwo, außer Sichtweite, darauf wartete, sie ertappen zu können. Doch Hugh hatte tatsächlich Pflichten zu erfüllen, und gewissenhaft übte er sie aus. Dieses Mal konnte sie es vielleicht riskieren, dorthin zu gehen, wo Hanna das Buch vergraben hatte. Sie dachte unaufhörlich an das Buch. Das konnte auch kaum anders sein, denn obwohl Hugh den ganzen langen Sommer kein einziges Mal davon gesprochen hatte, wußte sie, daß seine Gedanken pausenlos um das Buch kreisten. Sie erkannte es an der Art, wie er sie ansah, wie er in ihrer Anwesenheit andere Bücher anfaßte, als wollte er sie daran erinnern, was sie vor ihm verbarg. Auch Unfreie besitzen noch eine gewisse Freiheit. Hugh besaß ihren Körper. Doch ihre Gedanken oder ihre Seele besaß er nicht. Das Buch der Geheimnisse gehörte noch immer ihr. Sie durchstöberte die Lagerräume, bis sie ein Stück Wachstuch und die Handkelle gefunden hatte. Ein letzter Blick galt der nach Norden führenden Straße; dann wandte sie sich nach Westen, auf die bewaldeten Hügel zu. Das Wetter war schön an diesem frühen Herbsttag. Als sie die Kapelle mit dem Schweinestall, der Küche und dem Garten hinter sich gelassen hatte, fiel ein schweres Gewicht von ihr ab. Hughs bedrängende Gegenwart, alles, was sie an den Verlust ihrer Freiheit erinnerte, war während dieses kurzen Weges verschwunden. In dieser Stunde war sie kein angekettetes Mitglied der Unfreien. Pa wäre in Tränen ausgebrochen, hätte er sie so sehen können - in dem Bewußtsein, daß es seine eigene Dummheit gewesen war, die sie in die Sklaverei getrieben hatte. Armer Pa. Sie wischte eine Träne weg. Sie fühlte sich so einsam. Ein Vogel trällerte. Ein Eichhörnchen huschte über einen
144 Zweig. Herabgefallene Blätter dämpften ihre Schritte. Sie sang. Zuerst hörte sich ihre Stimme rauh und leise an, ja sogar zögerlich, doch dann war sie voller Selbstvertrauen. Sie sang ein altes Lied, das ihre Mutter sie gelehrt hatte; Worte, deren Bedeutung sie nicht verstand, deren außerordentlicher Klang sich mit der exotischen Melodie jedoch auf wundervolle Art verband. Sie verstand genug Dariyanisch, um zu erraten, daß es einen Zusammenhang zwischen diesen Worten und der Sprache jenes Kaiserreiches gab, das seit langem zu existieren aufgehört hatte, denn einige Kadenzen waren gleich. »Liath.« Sie blieb schlagartig stehen. »Hanna?« Hinter ihr raschelte ein Tier im Gebüsch. Doch als sie sich stürmisch umdrehte, war nichts zu sehen. Eine vom Wind geschaffene Illusion oder ihr Herzenswunsch. Eine schwache Erinnerung an die Stimme ihrer Mutter. Das war alles. Sie ging weiter. Sie erreichte die Lichtung, auf der die alte Eiche stand, und verharrte dort eine Zeitlang angestrengt lauschend. Ein Vogel pfiff, wiederholte immer wieder die gleiche, aus fünf Tönen bestehende Melodie. Aus der Ferne hörte sie jemanden kräftig und rhythmisch hacken; irgendwer war draußen im Wald und bearbeitete Holz. Sonst nichts. Sie war allein. Nach so langer Zeit war sie erstaunt darüber, wie lebendig sich das Buch in ihren Gedanken anfühlte, wie sehr sie die Seiten beim Umblättern spüren konnte, wie unterschiedlich sie sich anfühlten. Denn das Buch der Geheimnisse bestand eigentlich aus drei Büchern, die zu einem zusammengebunden waren. Das erste Buch war auf Pergament und in Dariyanisch verfaßt, der Sprache der Kirche und des alten Kaiserreiches, das weit im Süden in Darre entstanden war, wo jetzt die Skopos am 145 großen Herdfeuer Unserer Herrin herrschte. Bis auf die ersten drei Seiten war alles in der Schrift ihres Vaters geschrieben und zum Schluß auch in ihrer eigenen. Es war eine lange und eher verwirrende Zusammenstellung all des Wissens, das Pa, der Mathematikus, aufgeschnappt und wild durcheinandergewürfelt hatte, so als müßte er auch den kleinsten Hinweis aufschreiben, an den er sich noch erinnern konnte oder den er in irgendwelchen Bibliotheken hatte finden können. Obwohl sie nicht den ganzen Text auswendig gelernt hatte, kamen ihr einzelne Passagen wieder ins Gedächtnis; Zitate drängten sich in ihr Bewußtsein wie Fische an die Wasseroberfläche. »Astronomie beschäftigt sich mit den Umdrehungen der Himmelssphären, mit dem Auf- und Untergang der Konstellationen sowie ihren Bewegungen und Namen, mit den Bewegungen von Sonne und Mond, der Sterne und Planeten und schließlich mit den Gesetzen, denen all diese Bewegungen in all ihren Variationen gehorchen ... Die Mathematiki suchen selbst jenseits solcher Gesetze nach den Geheimnissen der Himmels Sphären, denn i bestimmte Bewegungen beschwören eine Macht, und die läßt sich für Zauberei nutzen ... So wird auch die Bewegung der See wunderbar durch die Umlaufbahn des Mondes bestimmt. Auf ewig sind sie Kameraden im Zu- und Abnehmen. Wenn man im Monat Novarium die Glocke für die Vigilien läutet, sobald Arktos aufgeht, sollte man dreißig Psalmen ohne Schwierigkeiten singen ... Man sollte sich nicht rasieren, wenn der Mond im Zeichen des Palken steht... So können, wenn Aturna und Erekes sich gegenüberstehen, die Dämonen der siebten Sphäre heruntergezogen werden 146 durch die zweite Sphäre, und falls gerade Vollmond ist, werden sie unter seinem Einfluß in die Bande deiner Beschwörungen gelockt...« Das dritte Buch war in der Art - nämlich auf Papier - und in der Sprache der Ungläubigen verfaßt, voller Schnörkel und Schleifen, die sich wie phantasievolle Vogelspuren ausnahmen. Dies war die große astronomische Abhandlung in Jinnisch, Über die Konfiguration der Welt, geschrieben von dem ungläubigen Gelehrten al-Hasan ibn al-Haithan al-Tulaytilah. Die Kopie stammte von den Schreibern des großen Meisters selbst, denn sie waren ihm begegnet, als sie sich mehr als zwei Jahre lang am Hof des Kalifen von Qurtubah im ungläubigen Königreich Andalla aufgehalten hatten. Das älteste und empfindlichste der Bücher, geschrieben auf vergilbtem und brüchigem Papyrus, war in der Mitte. In peinlich genauer Schrift standen da Wörter, deren Buchstaben Liath nicht kannte, doch der alte Text war mit Kommentaren in Arethusanisch versehen. Die Inhalte blieben ein Mysterium, denn auch Pa hatte den alten Text nicht lesen können, und obwohl er Arethusanisch verstand, war einfach nicht die Zeit gewesen, ihr eine neue und schwere Sprache beizubringen. Die Zeit, die ihnen zum Lernen zur Verfügung gestanden hatte, hatte er damit verbracht, bei ihr bereits vorhandene Fähigkeiten zu verbessern und zu schärfen: ihre Gedächtnisstadt, ihr Wissen über die Sterne, ihre Kenntnisse in Wendisch, Dariyanisch und Jinnisch. Ihr Vater hatte behauptet, daß sie als Kind Salianisch und Aostanisch gesprochen, es jedoch längst wieder vergessen hatte. »Es ist besser, drei Sprachen richtig zu beherrschen als ein halbes Dutzend schlecht«, hatte er immer gesagt. Der Vogel pfiff erneut. Nichts rührte sich, nur der Wind ra147 schelte in den Zweigen. Sie atmete tief ein, um sich selbst Mut zu machen, dann ging sie über die Lichtung zu
der alten Eiche und kniete sich hin. Ganz tief unten, zwischen aus dem Boden ragenden Wurzeln war eine kleine, halb mit Blättern und Geröll gefüllte Höhlung. Sie nahm die Kelle und legte den Hohlraum frei. Ein Zweig knackte hinter ihr. Vögel kreischten und schlugen wild mit den Flügeln, als sie von den Bäumen aufstoben und sich in den Schutz des Himmels erhoben. Stille. Sie blickte auf, aber es war zu spät. Was für eine Närrin sie doch gewesen war! Da stand Hugh am Rande der Lichtung und lächelte. Er kam langsam auf sie zu, genoß seinen Triumph sichtlich. Liath stellte sich aufrecht hin, einen Fuß auf jeder Seite der Grube. In nutzloser Verteidigung hob sie sogar die Kelle. Doch was würde eine Gartenkelle schon gegen einen Mann ausrichten, der im Kampf ausgebildet war und ein Schwert mit sich führte ? Kurz vor ihr blieb er stehen. »Grab es aus.« Er war sich wohl zu fein, um sich die Hände dreckig zu machen oder den feinen Saum seiner azurblauen Tunika zu beschmutzen - wo war nur das schlichte Gewand geblieben, das er als Frater trug? Sie warf die Kelle zu Boden. »Nein. Macht es doch selbst.« Er schlug sie so hart mit dem Handrücken, daß sie benommen zu Boden stürzte. Sie konnte die Arme nicht bewegen, auch nicht die Beine, aber sie hörte gedämpft das Geräusch, mit dem die Kelle immer wieder ins Erdreich fuhr, während er grub und die Erde auf eine Seite häufte. Hugh grunzte befriedigt. »Na also.« Sie holte tief Luft, atmete eine dünne Wolke aus feinem Staub ein und mußte husten. Aber sie konnte sich wieder bewegen. Er durfte das Buch nicht bekommen. Es war alles, was ihr geblieben war. Zitternd kämpfte sie sich hoch, doch als sie 148 hinblickte, sah sie nur, wie Hugh ein leeres Stück Stoff ausrollte. Er starrte auf den Fetzen in seinen Händen. Er war schmutzig von der feuchten Erde und den Blättern und wehte in der leichten Brise hin und her. Erschreckt krabbelte sie auf allen vieren zum Erdloch und durchwühlte die Erde verzweifelt mit den Händen. Doch das Loch war leer. »Es ist weg!« Sie sank vornüber und lehnte den Kopf gegen die Eiche. Weg. Irgendein Tier hatte es ausgegraben und in Stücke gerissen. Ein Kind auf der Suche nach Eiern hatte es gefunden und mit nach Hause genommen, um es dort zu verfeuern. Oh Herr und Herrin! Daß etwas so Kostbares auf so dumme Weise verloren gehen mußte. Wenn sie sich nur einen besseren Platz als Versteck ausgedacht hätte! Aber sie hatte nur einen kurzen Augenblick Zeit gehabt, Hanna um Hilfe zu bitten, bevor sie von Schultheiß Liudolf zur Verhandlung gezerrt worden war. Und die alte Eiche war ihr bevorzugter Treffpunkt gewesen. Vielleicht hatte Hanna ja das Buch gar nicht vergraben, sondern nur so getan? Vielleicht hatte Hanna es ja für sich behalten? Aber das war der Einfluß von Hugh. Wenn sie Hanna nicht mehr vertraute, konnte sie nichts und niemandem mehr trauen, nie mehr. »Verflucht«, sagte Hugh. »Eine schöne Scharade. Aber ich kriege das Buch, Liath. Ich habe mehr Geduld, als du dir vorstellen kannst.« Sie zog den Kopf ein, wartete auf den nächsten Schlag, aber er kam nicht. Sie hörte seine Schritte und sah ihn im Wald verschwinden, als sie sich umdrehte. Einen Augenblick später erhaschte sie zwischen den Bäumen hindurch einen Blick auf seine Stute, dann verklangen die Geräusche, die er beim Wegreiten verursachte. 149 Sie begann zu weinen, kniff dann jedoch die Augen fest zusammen. Sie würde sich nicht der Verzweiflung hingeben. Den ganzen Sommer hindurch hatte sie ausgeharrt. Wenn sie jetzt aufgab, könnte sie sich Hugh auch gleich ganz ausliefern. »Niemals«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie wischte sich kräftig über die Augen, damit der Schmerz die Tränen auslöschte, dann ging sie zur Kapelle zurück. Zuerst mußte sie mit Hanna sprechen. Wie Pa immer gesagt hatte: »Immer einen Schritt nach dem anderen, damit du weißt, wohin du deinen Fuß als nächstes setzen mußt.« Sie wartete noch einen ganzen Tag, bevor sie zur Schenke ging. Meister Hansal stand draußen, er dichtete Löcher in der Holzwand ab. Als er sie sah, legte er seine Arbeit beiseite. »Meinen Gruß, Kind«, sagte er leicht gedehnt mit seiner schroffen Stimme. Er betrachtete sie näher. »Frater Hugh kam gestern hier vorbei und sagte, daß er für zwölf Tage nach Frielas reist, um die Bischöfin zu besuchen. Du kannst mit uns essen. Ich halte das für sehr großzügig.« Sehr großzügig. Liath berührte die Schläfe, wo Hugh sie geschlagen hatte. Sie schmerzte noch immer. »Guten Tag, Meister Hansal. Ist Hanna da?« »Ja, sie hilft ihrer Mutter. Ich bin sicher, sie kann einen Augenblick zu dir kommen, wenn du etwas Zeit hast.« »Danke.« Sie eilte hinein, erleichtert, von ihm wegzukommen. Meistrin Birta beugte sich über einen großen Herd und legte etwas abseits vom lodernden Feuer Steckrüben auf eine Reihe glühender Kohlen. Als sie fertig war, richtete sie sich auf. »Liath! Es freut mich, dich zu sehen, mein Kind. Frater Hugh war hier.« Liath blieb stehen. Wo war Hanna? »Meistrin Birta, auch ich grüße Euch.« 150 Birta schüttelte ihre Schürze aus. Sie roch nach Lauch. »Es geht mir gut, wirklich, Unserer Herrin und Unserem Herrn sei Dank. Und dir, Mädchen? Ich habe mir ernsthafte Sorgen um dich gemacht, als dein Vater starb. Doch der Frater ist sehr großzügig, ja sogar mehr als großzügig, würde ich sagen. Es gibt viele Freie, die härter
arbeiten müssen als du und nicht so gut leben und auch nicht viermal in der Woche Fleisch essen. Ich will damit nicht sagen, daß du das nicht verdient hast, Kind, wirklich nicht. Er ist kein schlechter Mann, dieser Frater. Ein Bastard vielleicht, ja, und stolz, aber er ist von edlem Blut, also war das zu erwarten. Ich habe niemals gehört, daß er seine Pflichten vernachlässigt hätte. Er hat weder Angst vor den Kranken, noch ist er sich zu schade, selbst die Geringsten unter uns zu besuchen. Der alten Martha vom Flußufer, die an den Blattern dahinsiechte, hat er zum Beispiel die Hände zum Segen aufgelegt, als sie ihn darum bat, und er hatte keine Angst, es zu tun.« »Martha starb.« »Nun, nun, Mädchen. Es mag dir nicht gefallen, und ich zweifle nicht daran, daß Hugh von dir etwas verlangt, das du ihm nicht geben willst.« Jetzt zögerte Birtha. »Er ist edel, und wir können uns nicht mit seinesgleichen anlegen. Als der alte Graf Harl damals, als er noch jünger war, zu mir kam und mir auftrug, den kleinen Ivar mit meiner Hanna zu nähren, hatte ich schon Angst, daß nicht genug Milch für beide dasein würde, aber ich tat, was mir befohlen wurde. Du mußt dasselbe tun. Es könnte dir weitaus schlimmer gehen.« Liath errötete; Hitze strömte in ihre Wangen, als hätte sie einen Schlag erhalten. »Er hat der Kirche einen Eid geschworen. Wie seine Brüder rasiert er sich den Bart, als Zeichen gegenüber Unserer Herrin, daß er nur Ihr dient.« Birta schnaubte. »Ich bin fest davon überzeugt, daß er nie151 mals heiraten und Ihr Mißfallen erregen wird - oder besser das der Skopos. Aber was hat das mit dir zu tun? Es gibt Leute, die sagen, daß ein bartloser Mann kein richtiger Mann ist und daß es sich bei den Kirchenmännern eigentlich nur um Männer handelt, die so tun, als wären sie Frauen. Aber es gibt nur selten einen Mann, auch nicht einen der Kirche, dessen Schritte auf der Erde keine Spuren hinterlassen. Können wir von ihnen verlangen, auf den Appetit zu verzichten, der Männern nun mal eigen ist?« Dann veränderte sich ihre Miene, als wäre ihr plötzlich ein anderer Gedanke gekommen. »Oder hast du gehofft, daß er seinen Schwur aufgeben würde, um dich zu heiraten?« »Niemals! Das habe ich nicht gesagt!« »Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Du und dein Vater, ihr seid von weit her in diese Gegend gekommen - bei deiner ungewöhnlichen Hautfarbe und dem Akzent und seiner vornehmen, gebildeten Art war das nicht schwer zu erkennen. Es ist offensichtlich, daß du keine von uns bist, nicht wie wir auf dem Lande aufgewachsen bist. Du stammst von einem anderen Ort, auch wenn ich nicht weiß, welcher das sein könnte. Ich habe nicht gehört, daß irgendwelche Verwandten gekommen wären, um dich zu retten, und du hast Schultheiß Liudolf selbst gesagt, daß du keine hast. Du bist zu hübsch und kannst nicht allein ohne den Schutz einer Familie leben. Frater Hugh kümmert sich um dich, wenn es ihm beliebt. Er kommt aus einer mächtigen Familie, seine Mutter ist eine Edle. Oh, Mädchen. Denk nach, bevor du die Gerechtigkeit anzweifelst. Denn es geht dir nicht schlecht bei ihm.« Liath war jetzt über alle Maßen erzürnt. »Er schlägt mich!« »Bei deinem Temperament wundert mich das gar nicht. Er hat dich gekauft. Was immer du vorher gewesen bist, was für eine Familie du zurückgelassen hast, wenn es denn eine gibt -jetzt bist du eine Sklavin. Seine Sklavin. Wenn du klug bist, 152 sorgst du dafür, daß er dich schätzen lernt. Und wenn du gehorsam bist und dich als nützlich erweist, wird er dir vielleicht eines Tages die Freiheit schenken. Doch bis dahin bist du von geringerem Rang als jeder noch so arme, freie Mensch, der in diesen Bergen seine Felder bestellt. Du bist ein stolzes Mädchen, und ich denke, du hast deine Situation noch nicht ganz begriffen.« Liath schluckte verschiedene zornige Erwiderungen hinunter. O Herrin, sprach Birta nicht die Wahrheit? Wut und Trauer und die aufrichtige Sorge, daß sie Hanna nicht sehen würde, wenn sie ihre Mutter verärgerte, spiegelten sich in ihrer Stimme, als sie schließlich eine Antwort herauspreßte. »Entschuldigt mein vorlautes Mundwerk. Ihr seid immer sehr gütig zu mir gewesen, Meistrin, und es tut mir leid, wenn ich unbesonnen und unhöflich gewesen bin.« Birta lachte gezwungen. »Du bist ein gutes Mädchen, Liath. Du mußt lernen, das Beste aus dem zu machen, was Unsere Herrin und Unser Herr dir zugedacht haben. Es gibt viele Mädchen in diesem Dorf, die deinem hübschen Frater mit sehnsüchtigen Blicken hinterher schauen. Denn obwohl uns die Kirche lehrt, daß Männer dem Zusammensein mit Frauen entsagen, wenn sie das Gelübde ablegen, gibt es doch nur selten einen Kirchenmann, der dies mit reinem Herzen bestätigen kann.« Liath hielt den Gedanken nicht aus, daß die Leute von ihr bereits als Hughs Mätresse sprachen. »Ich habe niemals -« Sie stolperte über ihre eigenen Worte, wütend und aufgeregt. »Und ich werde es auch niemals!« Meistrin Birta seufzte und lächelte traurig. Dann, zu Liaths großer Erleichterung, kam Hanna vom Stallhof. »Liath!« Hanna rannte auf sie zu, um sie zu umarmen, löste sich jedoch gleich wieder von ihr. »Du stinkst nach Schwei153 nen, Liath. Der Frater war hier, um zu sagen, daß er einige Zeit fort sein wird und - ist etwas nicht in Ordnung?« »Vielleicht gönnt ihr beiden euch ein bißchen warme Milch, und du nimmst Liath mit nach draußen.« Hanna blickte verblüfft drein. »Natürlich, Mama.« Sie griff nach Liaths Handgelenk und zog sie schnell aus dem Vorderzimmer hinaus. »Bevor sie ihre Meinung ändert.« Sie füllte zwei Becher mit Milch, während sie
weiterredete. »Sie ist niemals so großzügig, wenn es kein Geld bringt. Was ist geschehen?« »Sie hat mir nur erzählt, daß das ganze Dorf davon überzeugt ist, daß ich Hughs Mätresse bin, und es auch in Ordnung findet, und gerade hat sie erfahren, daß ich es weder bin, noch jemals sein werde.« »O je, komm erst mal nach draußen. Wir setzen uns auf die Bank.« Hanna führte Liath zum Hof. Ein Besen und eine Harke lehnten an der Hauswand, und ein großes Stück war bereits bearbeitet; gerade, dunkle Streifen markierten die geharkte, frische Erde. Die beiden Mädchen setzten sich auf eine in der Sonne stehende Bank. »Seit der Versteigerung hattest du keine Zeit mehr, einfach nur mit mir dazusitzen - außer in der Woche, als er nach Frielas ging und ich dich besucht habe. Ich habe gesehen, daß er dich nie aus den Augen läßt.« Hanna blickte zur Schenke und senkte die Stimme. »Willst du wirklich behaupten, daß er nicht mit dir das Bett teilt? Jeder hier weiß, daß er es vorhatte -« »Hanna!« Liath legte eine Hand auf Hannas Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. »Was ist mit dem Buch geschehen?« »Das Buch?« Hannas Gesicht hellte sich auf. »Ich wußte, du würdest wahnsinnig werden. Sag mir jetzt nicht, daß du es gesucht hast!« 154 Liath ergriff Hannas Hände. Ihr Herz klopfte heftig. »Hast du es?« »Au! Laß mich los! Ja! Ich habe es dort vergraben, wo du gesagt hast, aber dann dachte ich, daß es wilden Tieren oder den Schweinen vom jungen Johann zum Opfer fallen könnte oder daß kleine Kinder auf der Suche nach Eiern es in die Finger kriegen könnten, und deshalb habe ich es weggeschafft. Wann bist du dagewesen?« »Gestern. Ich dachte, Hugh wäre fort.« »Du bist am gleichen Tag dorthin gegangen, an dem er abgereist ist? Er kam mir gleich etwas verärgert vor, als er hier vorbeikam. Du bist eine Närrin. Ich hätte dir sagen können, daß du einen Tag oder zwei warten sollst, um sicher zu sein, daß er weg ist. Wenn er das Buch so dringend will -« »Ich weiß, ich weiß. Ich habe nicht nachgedacht. Aber er war vorher schon mal weg, und ich dachte, es wäre ungefährlich. Ich muß es einfach sehen, Hanna.« Hanna blickte sich verstohlen um. Sie stand auf, ging zur Tür der Küche und warf einen kurzen Blick hinein, dann schaute sie in das Hinterzimmer der Schenke. Schließlich forderte sie Liath mit einer wortlosen Geste auf, ihr in den Stall zu folgen. Sie gingen ganz nach hinten, vorbei an einzelnen Pferchen und den Schafgehegen und dem Schweinetrog, bis sie an einer Stelle stehenblieben, wo Heu und Stroh vom Dachboden herunterrieselten und im Sonnenlicht tanzten, das durch die geöffneten Läden fiel. Oben auf dem Dachboden saß Hannas Bruder und ließ untätig die Beine baumeln. »Karl. Raus hier. Du mußt den Garten weiterharken,« »Das ist deine Arbeit!« »Nicht mehr, jetzt ist es deine. Nun geh schon!« Er zog eine Grimasse, grunzte Liath ein rasches »Hallo« 155 entgegen und kletterte über eine Seitenleiter ins Freie. Hanna wartete, bis er verschwunden war, dann kniete sie sich hin und löste unterhalb des Schweinetrogs ein paar Bodenbretter. Sie zog ein Päckchen hervor, das in altes, fleckiges Wachstuch eingewickelt war. Liath riß es Hanna aus den Händen. Mit zittrigen Händen machte sie sich daran, es auszupacken. Als sie es vollständig ausgewickelt hatte, strichen ihre Finger über die langen Metallverschlüsse, die das Buch zusammenhielten, über den dicken Ledereinband darunter, der vom Alter grau geworden war und im Sonnenlicht ein Spinnenwebmuster aus haarfeinen Rissen offenbarte. Sie fuhr mit einem Finger über den Buchrücken, befühlte die Messingrosen auf den Metallverschlüssen, las mit den Fingern die eingravierten dariyanischen Buchstaben: Das Buch der Geheimnisse. Ein Name, der das wahre Wesen der Bücher verschleierte, hatte Pa immer gesagt. Liath preßte das Buch gegen ihre Brust. Lange Zeit saß sie einfach nur schwer atmend, fast keuchend da, die Augen geschlossen. Schließlich öffnete sie sie wieder; Hanna starrte sie verwirrt an. »Ich dachte, es wäre weg.« Liath fing sich wieder. »Oh, ich danke dir, Hanna. Ich wußte, du würdest mich niemals im Stich lassen.« Sie umarmte sie, und das Buch zwischen ihnen knisterte; dann trat sie einen Schritt zurück. »Er glaubt, wenn er mich ins Bett kriegt, gebe ich ihm das Buch. Aber das werde ich niemals tun.« »Liath.« Hanna betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Das ist kein Kirchenbuch. Ich habe den Psalter gesehen, den Frater Hugh am Herrtag benutzt, und auch die Heiligen Verse, als die Diakonissin einmal hierherkam und die Messe las.« Sie zögerte, sah beunruhigt aus. Mit ihren blonden Zöpfen und den blauen Augen, die so hell leuchteten wie der klare Herbsthim156 mel, wirkte sie so arglos, wie es sich für die Tochter von Freien gehörte. Doch Liath wußte, daß mehr in ihr steckte, daß sie weit mehr nachdachte und begriff, als man bei ihr vermuten würde. Hanna hatte auch die Neigung ihrer Mutter zu einem sehr pragmatischen Verhalten geerbt. Und sie verriet niemals ein Geheimnis. »Liath. Ich weiß sehr gut, daß du lesen und schreiben kannst. Nicht nur, weil du Mutters Rechnungen korrigiert hast, sondern auch - nun - auch weil ich dich manchmal, wenn ich den kleinen Pfad zu euch heraufkam und du
mich noch nicht bemerkt hattest, in dem Buch habe schreiben sehen. Wenn du mir nicht vertraust, wem dann?« »Du hast recht. Ich habe jetzt niemanden mehr außer dir, Hanna.« »Ivar.« »Ivar ist noch ein Junge, er hat fünf ältere Geschwister, und sein Vater ist ein alter Bär.« »Ivar ist so alt wie wir -« »Er schaut niemals weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Er handelt, noch bevor er denkt, und dann denkt er gar nicht mehr.« »Wie kannst du so etwas sagen? Er hat ein gutes Herz, und er ist nicht zu stolz, sich als mein Verwandter zu fühlen, obwohl er der Sohn des Grafen ist. Er hat sich niemals geschämt, daß er mein Milchbruder ist. Du hast gut reden. Selbst der alte Frater Robert, so streng und gläubig er sonst auch war, hielt sich eine Zeitlang eine Mätresse - die alte Martha -, und er war wohl derjenige, der ihr die Syphilis angehängt hat. Auch wenn die Mönche und Frater behaupten, daß sie sich ganz Unserer Herrin und Unserem Herrn hingeben, es gibt immer solche, die sich die Haare binden und sich rasieren und trotzdem den Glauben nicht bis in alle Einzelheiten befolgen. Hugh hat 157 jedoch niemals eine Frau aus diesem Dorf oder dem Umkreis angesehen, nicht einmal aus Ärger - höchstens, um ihr aufzutragen, sein Pferd zu tränken oder ihm Brot zu holen. Wir sind von zu geringem Rang, als daß er uns überhaupt wahrnimmt. Und doch muß er sich um uns alle kümmern. Viele wie Diakonissin Fortensia oder die Brüder am Schafskopf sind davon überzeugt, daß er wirklich Unserer Herrin und Unserem Herrn hingegeben ist. Bis auf die Art, wie er dich ansieht, Liath. Wenn er nur das Buch wollte, hätte er längst einen anderen Weg gefunden, es zu bekommen. Er würde sich niemals mit etwas aufhalten, das ihn nicht interessiert.« Liath war verblüfft über Hannas Tirade. »Hanna -« Ihr fehlten die Worte. »Hanna, ich -« Hanna wartete, und schließlich hatte Liath sich wieder gefangen. »Du würdest nicht wirklich wollen, daß Hugh ... daß er gerne ... daß er -« Sie brach ab. Der Gedanke ging über ihre Vorstellungskraft. »Aber du und Ivar -« »Ivar ist mein Ziehbruder. Natürlich habe ich ihn gern. Aber Ivar ist ein Junge. Hugh hingegen ist ein Mann. Hast du niemals bemerkt, wie sauber seine Hände sind, wie anders er riecht? Hast du niemals das feine Tuch seiner Kleider gesehen? Das Blau seiner Augen? Manchmal lächelt er sogar. Aber er weiß gar nicht, daß Leute wie ich existieren.« Liath war über Hannas Geständnis so schockiert, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte oder wie sie es sagen sollte. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte niemals, daß er mich bemerkt.« Hanna seufzte. »Natürlich nicht. Das tust du nie. Ivar liebt dich, Liath, aber auch das hast du nie bemerkt. Ich hoffe, du wirst dich niemals in einen Mann verlieben, den du nicht haben kannst. Nun gut.« Sie kehrte ihre praktische Seite hervor. »Was willst du jetzt mit dem Buch machen?« 158 Sie hörten Meistrin Birta vom Hof her rufen. »Hanna! Ihr beide habt euch jetzt lange genug unterhalten. Es gibt Arbeit zu tun.« Liath umklammerte das Buch. Es war alles, was ihr von Pa geblieben war. Doch war es wirklich das einzige, was er ihr zurückgelassen hatte? Da war noch die Frage, was ihre Eltern ihr bei der Geburt vermacht hatten; die ganzen Jahre über war es verborgen gewesen. Doch sie hatte keinerlei Vorstellung, wo sie die Suche beginnen sollte. »Liath«, sagte Hanna mit einem Anflug leichter Verzweiflung. »Es wäre dumm, es mitzunehmen, wenn du nicht willst, daß der Frater es bekommt.« Widerstrebend gab Liath ihr das Buch und das Wachstuch zurück. Sie rieb die Hände fest aneinander und biß sich auf die Unterlippe, um Hanna nicht das Buch aus den Händen zu reißen, als diese es wieder einwickelte und zurück in die Lücke unter dem Schweinetrog schob. Doch sie beherrschte sich, und sie gingen an den Pferchen vorbei zurück. »Hanna«, sagte sie leise, als sie den Hof überquerten, wo Karl Blätter und Zweige zusammenharkte, die vom Wind in der vergangenen Nacht hergeweht worden waren. »Möglicherweise sieht er gut aus, ich weiß, aber du würdest ihn niemals wollen, wenn du wüßtest, wie er wirklich ist.« »Du bist meine Freundin. Das allein zählt.« Meistrin Birta kam ihnen an der Tür entgegen. »Willst du mit uns zu Abend essen, Liath?« Ihr Gesicht war voller Schweiß und Ruß, weil sie so nah am Herd gestanden hatte. »Gerne. Ich werde später wiederkommen.« Sie verabschiedete sich. Liath war so in Gedanken versunken, daß ihr der Weg zurück zur Kirche richtig schnell vorkam. Wie konnte Hanna nur so über Hugh denken ? Pa hatte immer behauptet, daß es 159 nicht gut war, einen Eid zu schwören, wenn man nicht wirklich vorhatte, ihn zu halten. Sie hatte Hugh vom ersten Augenblick an abgelehnt, als sie ihn an jenem Tag ein Jahr zuvor bei ihrem Haus gesehen hatte. Er hatte gesagt, er würde seine Runde machen und seine neuen Schützlinge besuchen, die Herde zusammenhalten, doch sie hatte instinktiv gespürt, daß er im Dorf etwas über Pa gehört hatte, dem er auf den Grund gehen wollte. Er hatte Pa vorsichtig, aber zielstrebig eingewickelt, und Pa war so einsam gewesen, hatte sich so sehr nach dem
Austausch mit einem gebildeten Mann gesehnt. Er war nicht mehr derselbe gewesen, seit seine geliebte Frau gestorben war; er hatte niemals mehr richtig für sich sorgen können. Zwei Jahre hatten sie in Andalla recht ordentlich gelebt, aber das hatte in einer einzigen schrecklichen Nacht ein Ende gefunden. In den vier Jahren danach waren sie arm und vorsichtig gewesen, und wenn Liath sich auch niemals etwas aus der zusätzlichen Arbeit gemacht hatte, so vermißte sie doch das Gefühl, daß es ihnen gutging. Oder wie Pa manchmal zu sagen pflegte, wenn er zuviel getrunken hatte: »Welcher Mann kann sich als einen Edlen bezeichnen, der kein Gefolge hat?« Sie wischte eine Träne weg. Weinen hatte damals nichts genützt, als ihre Mutter gestorben war. Sie hatten eingepackt, soviel sie tragen konnten, und waren mitten in der Nacht aus ihrem Haus geflohen. Weinen nützte auch jetzt nichts. Ein anderes Pferd stand neben Hughs kastanienbraunem Wallach: eine kleine, graue Stute. Liath fand Ivar in der Küche. »Liath!« Er umarmte sie. »Du stinkst nach den Ställen«, sagte er und lachte etwas befangen, dann schob er sie ein Stückchen von sich, als wäre es ihm peinlich, daß er sich diese Freiheit genommen hatte. Liath mußte lächeln. Ivar hatte solch ein sonniges Lächeln 160 und war so froh, sie zu sehen. Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange, dann erröteten beide. »Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen«, sagte sie rasch, um die unangenehme Stille zu überbrücken. Bedächtig legte er einen Holzscheit ins Feuer. »Ich sah Frater Hugh gestern nach Norden reiten. Ich dachte, du wärst vielleicht allein.« »Das bin ich. Ich bin zur Schenke gegangen.« Er blieb beim Feuer stehen, doch sein Blick wanderte zu ihr. Die Flammen beleuchteten sein rötlich-blondes Haar und gaben seinen blassen, sommersprossigen Wangen etwas Farbe. Seine Stimme war leise und ernst. »Komm mit mir. Jetzt. Heute. Du kannst hier nicht bleiben. Ich weiß, daß er dich -« Er stockte. »Ich nehme an, er mißhandelt dich. Ich habe ihn niemals gemocht. Allein der Gedanke, daß er sich für was Besseres als mein Vater hält und doch nur ein Bastard ist.« Da war es. Armer Ivar; er hatte schon immer gerne das Wild erlegt, noch bevor er den Bogen in der Hand hatte. »Wohin sollen wir denn gehen?« »Ich hörte, die Drachen kommen nach Frielas. Der Prinz selbst führt sie an. In diesem Frühjahr und Sommer muß es an der ganzen Küste Aikha-Überfälle gegeben haben. Die Bischöfin benachrichtigte König Henry, daß man welche am Schafskopf gesehen hat.« »Glaubst du wirklich, daß die Drachen mich aufnehmen würden? Du bist der Sohn eines Grafen, und du kannst kämpfen. Wenn dein Vater sich bei König Henry für dich verwendet, wird er dich nehmen. Aber ich habe nicht mehr als das gelernt, was mein Vater mir beigebracht hat, um mich auf unseren Reisen verteidigen zu können. Ich habe keine Familie, die sich für mich einsetzen kann. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, warum ich Lust haben sollte, den Drachen beizu161 treten, wo doch jeder weiß, daß sie in die schlimmsten Schlachten geschickt werden und das erste Dienstjahr häufig gar nicht überleben.« Ihre Worte trafen ihn, und er errötete. »Ich nehme an, Hughs Bett ist nicht ganz so ungemütlich, nicht wahr?« »Nimm das sofort zurück! Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen! Ich schlafe lieber bei den Schweinen als mit ihm!« Ihre Wut brach sich Bahn. Sie bebte am ganzen Körper. Ivar wurde so blaß, daß seine Sommersprossen noch deutlicher zu sehen waren, obwohl er direkt am Feuer stand. »Verzeih mir«, flüsterte er schließlich. »Es ist nur, daß ich -« Er brach ab. Sie war noch zu wütend, um sich für ihren Ausbruch entschuldigen zu können. »Aber was wirst du tun? Jetzt schläfst du noch bei den Schweinen. Glaubst du, daß er es dabei beläßt?« »Er ist ein Mann der Kirche. Du weißt, was sie schwören, wenn sie in den Orden aufgenommen werden.« Es klang selbst in ihren Ohren halbherzig. »Vielleicht verstehst du nicht, wie das läuft. Hugh wurde in die Kirche übernommen, gerade weil er ein Bastard ist. Mein eigener Vater hat eine Tochter, von wem auch immer, die jetzt Diakonissin südlich von Wisslar ist. Er muß sich noch entscheiden, wen von uns jüngeren Söhnen er der Kirche übergibt. Bevor ich geboren wurde, trat meine Schwester Rosvita erst als Nonne in den Orden, dann als Geistliche in die Königliche Schule ein. Es war niemals ihre eigene Entscheidung, auch wenn sie sie dankbar akzeptiert hat. Wie kommst du also auf die Idee, daß Hugh jemals aus freiem Willen in den Kirchendienst getreten ist oder jemals vorhat, sein ... Vergnügen aufzugeben?« Zehn Antworten schössen ihr durch den Kopf, doch es machte keinen Sinn, Worte auszusprechen, die bedeutungslos waren oder, weitaus schlimmer, Lügen. Sie konnte Ivar nicht 162 anlügen, nur um sich selbst nicht die Wahrheit eingestehen zu müssen. Sie schwieg. »Hör mir zu.« Vorsichtig, als nähere er sich einem verwundeten Tier, trat er zu ihr und nahm sanft ihre Hand. »Die Idee mit den Drachen war dumm, ich weiß. Doch Vater muß im nächsten Frühjahr Soldaten zu König Henry schicken, und höchstwahrscheinlich werde ich derjenige sein, der sie überbringt. Vielleicht ... nun, wenn
die Drachen wirklich nach Norden geritten sind, müssen auch einige Adler bei ihnen sein, um dem König Botschaften zu überbringen. Ich habe gehört, daß die Adler jede Person mit einem starken Willen aufnehmen, solange sie nur frei geboren ist. Und du bist frei geboren. Gero reitet morgen nach Frielas. Er soll versuchen, etwas herauszufinden.« »Aber du erzählst ihm nichts von deinem Plan?« Ivars Idee wurde um so schrecklicher, als sie spürte, daß wieder Hoffnung in ihr aufzukeimen begann. »Er wird etwas vermuten. Aber wir können Gero vertrauen. Er haßt Hugh noch mehr als du. Gero ist der Erbe meines Vaters, und Hugh hat ihn im letzten Frühling öffentlich beleidigt, als er ihn wie einen gewöhnlichen Töpferjungen behandelte.« Die Beleidigung schmerzte offensichtlich noch immer. Ivar errötete, und sein Tonfall wurde hitziger. »Mein Vater ist der Graf dieser Ländereien, nur liegen wir so weit nördlich, daß die Rundreise des Königs nie bis hierher gelangte und kein Kind unseres Geschlechts im Dienste des Königs stand, abgesehen von meiner Schwester als Geistliche und einem Großonkel, der als Drache bei der Schlacht von Lenzen starb. Doch Gero war gegenüber dem, was Frater Hugh gesagt hat, machtlos, weil er nicht seine Hand gegen einen Kirchenbruder erheben konnte.« Sie hörte ihm kaum zu. »Ich wollte immer eine Botin des Königs sein.« 163 »Aber die Adler reiten allein. Es ist sehr gefährlich, auch wenn sie das Siegel des Königs zu ihrem Schutz besitzen.« »Es wäre nicht so viel anders als das Leben, das Pa und ich geführt haben. Und ich wäre frei, Ivar. Ungebunden. Die Adler sind niemand anderem verpflichtet als dem König.« Sie schluckte ein trauriges Lachen hinunter. »Frei geboren oder nicht, sie könnten mich dennoch nicht aufnehmen. Ich bin nicht frei. Hugh hat mich für zwei Nomias gekauft. Ich hatte vor der Versteigerung noch nie in meinem Leben Nomias gesehen.« Ivar ließ ihre Hand los und begann, auf und ab zu schreiten. »Dein Vater besaß vier Bücher. Die müssen doch wenigstens einen Nomia wert sein.« »Hugh hat sie genommen, ohne jemals dafür zu bezahlen. Er sagte, sie gehören der Kirche. Er hat sie gestohlen.« Diesmal teilte Ivar ihre Entrüstung nicht. »Diakonissin Fortensia sagt, alle Bücher gehen an die Kirche. Wie auch immer, sie nützen dir ohnehin nichts, wenn du nicht lesen kannst, Liath.« Er blieb vor ihr stehen. »Versprich mir, daß du mit mir kommst, wenn ich einen Weg finde, dich hier herauszuholen.« Er sah so jung aus - ein Junge, der vorgab, ein Mann zu sein. Er hatte noch nicht einmal einen Bart. Liath fühlte sich unendlich viel älter und weiser, und sie fühlte sich so unsagbar müde vom Kampf gegen Hugh. Doch Hanna hatte das Buch in Sicherheit gebracht. Möglicherweise würde Ivar eine Möglichkeit zur Flucht finden. »Ich verspreche es dir. Danke.« Er wurde rot. Er beugte sich vor und küßte sie, doch er war noch unerfahren, und ihre Lippen trafen sich nicht richtig. Er errötete noch mehr und verschwand und ließ Liath allein in der Küche zurück. Sie fühlte sich überraschend gestärkt. Sie hatte das Buch 164 berührt. Wenn es im Westen Aikha-Überfälle gegeben hatte, würden die Adler vielleicht sogar jemanden wie sie nehmen, um ihre Reihen zu füllen. Vielleicht würde Graf Harl Freiwillige benötigen, um König Henry die geforderte Unterstützung gegen die Aikha zukommen zu lassen. Vielleicht würde es einen milden Winter geben. Sie konnte Hugh Widerstand leisten. Sie würde ihm Widerstand leisten. Die ersten fünf Tage gingen viel zu schnell vorüber. Sie war nervös, fürchtete sich davor, daß Hugh jeden Augenblick zurückkehren könnte, daß jedes Geräusch von seinen Schritten stammte. Doch er kam nicht. Sie schlief in der Küche, hielt sich in der Schenke auf und half Hanna bei der Arbeit. Einmal schlich sie sich sogar zu den Ställen und blätterte, bebend vor Angst, daß Hugh plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr erscheinen würde, in ihrem geliebten Buch. Doch Hugh tauchte glücklicherweise nicht auf. Am Abend vor dem ersten Herrintag starrte sie in den dämmrigen Himmel und gestattete sich einen kurzen Augenblick der Zufriedenheit. Es war zwar kühl und bewölkt, und so konnte sie trotz Hughs Abwesenheit den Himmel nicht beobachten, aber es blieben ihr ja noch sieben Tage bis zu seiner Rückkehr. Sie bereitete sich ein Bad, schleppte Wasser herbei und erhitzte es. Wie aus weiter Ferne rief sie sich die alten dariyanischen Bäder der Villa in Erinnerung, in der sie mit Pa und ihrer Mutter gelebt hatte. Mit diesen Gedanken rekelte sie sich genüßlich in der Kupferwanne, den Kopf zurückgelehnt, so daß die Haare auf den Wellen schwammen, die ihre Bewegungen auslösten. Das leise fauchende Feuer überflutete sie mit Wärme. Sie hörte das Geräusch eines leichten Nieselregens. Nachdem sie sich ausgiebig eingeseift hatte, wusch sie jedes einzelne ihrer Kleidungsstücke - etwas, das sie nicht zu tun 165 wagte, wenn Hugh zugegen war - und hängte sie zum Trocknen über die Stühle vor dem Herdfeuer. Dann wickelte sie sich in eine Decke, zögerte einen Augenblick und ging schließlich entschlossen zu Hughs Zelle. Das Zimmer war kalt und leer. Leer. Sie schüttete einen Eimer heißer Kohlen in die Kohlenpfanne, und während sich der kleine Raum erwärmte, kniete sie sich auf den weichen Teppich und öffnete die Truhe. Eine kostbare Smaragd-Robe lag gefaltet obenauf, darunter waren drei feine Leinenunterkleider. Sie nahm eines heraus und zog es an. Der Stoff fühlte sich so weich auf ihrer Haut an! Sie seufzte vor Zufriedenheit und suchte weiter in der Truhe, bis sie auf kühle Seide stieß. Es handelte sich um die feine Tunika eines Mannes und das Oberkleid einer
Frau aus heller goldfarbener Seide. Sie starrte die Kleidungsstücke eine Weile bewundernd an. Waren es Geschenke seiner Mutter gewesen? Weshalb bewahrte er sie auf? Sie faltete sie wieder zusammen und legte sie zurück in die Truhe. Dann wühlte sie weiter ... Und fand Bücher. Die ersten vier erkannte sie sofort: die Bücher ihres Vaters. Sie tastete sich weiter hinab, suchte nach dem Astrolabium, doch es war weg. Hugh mußte es mitgenommen haben. Schließlich holte sie das fünfte Buch heraus. Es hatte einen ausgefransten Einband, war jedoch in Gold geprägt, und der Buchrücken war mit Perlen verziert, von denen einige fehlten. Sie öffnete es. Die Taten der Magier. Eine lange Zeit, beinahe eine Unendlichkeit, konnte sie die Hand nicht bewegen, nicht einmal, um mit den Fingern die Wörter zu berühren. Pa hatte ihr von diesem Buch erzählt. »Chaldeos war ein Minister der Kaiserin Thaissania, Sie Mit Der Maske. Auf ihren Befehl hin verfaßte er etwas für 166 ihre drei Kinder, damit sie die Magie verstehen lernten, mit der die Aoi ihr Reich regierten.« Schließlich gelang es ihr, die erste Seite aufzuschlagen. Auf jeder Seite waren drei schmale Spalten, jede fein säuberlich beschrieben. Die erste war in Dariyanisch, die zweite in der anmutigen, vogelspurenähnlichen Schrift des Jinnischen, und die dritte war in Arethusanisch. Bei einem Vergleich des Dariyanischen und Jinnischen erkannte sie, daß anscheinend in jeder Spalte das gleiche wie in den anderen stand - es waren Übersetzungen des gleichen Textes. Wenn sie die arethusanischen Buchstaben herausfand, indem sie sie mit den beiden anderen Sprachen verglich, war sie möglicherweise in der Lage, sie wie einen Kode zu entschlüsseln. Jetzt prasselte der Regen heftiger gegen die Läden. Ein Sturm kam auf. Es war noch kühler geworden, und die Kohlen waren niedergebrannt. Ihre Hände waren beinahe taub vor Kälte. Sie legte das Buch auf das Bett, wickelte sich in die Decke und eilte zur Küche zurück, um das Feuer zu schüren sowie eine Lampe und Nachschub für die Kohlenpfanne zu holen. Als sie wieder zurück in das Zimmer kam, wanderte ihr Blick vom Stuhl zum Federbett. Es war doch sicher nichts dabei, sich an diesem einen Nachmittag einen außergewöhnlichen Luxus zu gönnen, indem sie sich in das weiche und herrlich warme Bett legte und dort bis zum Einbruch der Dunkelheit las! Sie war unschlüssig. Es wirkte irgendwie unanständig, und doch schien das Buch, dessen erste Seite aufgeschlagen war, ihr zuzuwinken. Die Taten der Magier. Darin standen jene Geheimnisse, die ihr Vater erst einen Monat vor seinem Tod angefangen hatte, ihr beizubringen. Warum nicht? Warum nicht dieses eine Mal rücksichtslos sein? Sie machte es sich in dem wunderbar weichen Bett bequem und stützte sich zum Lesen auf einem Ellenbogen auf. 167 Und versank. Buch Eins. Über die Bahnen der Sterne und die Himmelssphären: in welcher Form sie nach Meinung der alten babaharshanischen Magier gebraucht werden können, um den Künsten mehr Macht zu verleihen. Dariyanisch verstand sie so gut, daß sie fast ausschließlich mit den Augen lesen konnte und die Wörter zwar mit den Lippen formte, aber nicht laut aussprach. Jinnisch zu lesen war da schon mühseliger, obwohl sie es einst fließend gesprochen hatte. Sie mußte jeden einzelnen Buchstaben laut aufsagen und die Wörter durch ihre Verbindung mühsam erschaffen. Doch zumindest war ihr ein großer Teil des Inhalts vertraut. Die Sterne folgten festen Bahnen, und der Polarstern Kokab war die Achse, um die sich das große Rad der Sterne in seiner unendlichen Runde drehte. Das kleinere Rad war bekannt als Zodiak, der Weltendrache, der die Himmelssphären zusammenhielt. Er bestand aus einem Kreis von Konstellationen, von denen jede eines der Häuser der Nacht darstellte und durch die sich die Sonne, der Mond und die als Planeten bekannten Wandelsterne hindurchbewegten. Die alten Magier von Babaharshan hatten dieses Wissen in tausendjähriger Beobachtung gewonnen und beherrschten die Zauberei, indem sie die Macht der Sterne und der zu- und abnehmenden Planeten für sich nutzten. Ein schlurfendes Geräusch. Dann ein leises Lachen. Durch und durch verblüfft, schnappte Liath nach Luft, blickte vom Buch auf - und erstarrte vor Schreck. Sie hatte keine Vorstellung, wie lange sie schon las oder wie lange er dastand und sie dabei beobachtete, wie sie Seite für Seite durchging und umblätterte, die schweren jinnischen Worte mit den Lippen nachbildete und laut aussprach. So hatte sie sich also verraten. Hugh trat in die Zelle. Er war müde von der Reise, und seine 168 Kleider waren naß; der Reiseumhang hing über der einen Schulter, die Kirchenrobe war mit Regentropfen übersät. Seine goldenen Haare waren zerzaust, und ein Schmutzfleck prangte an der blassen Wange. Er sah richtig zufrieden aus. »Was ist denn das?« fragte er. Sie konnte sich nicht vom Fleck rühren. Er nahm ihr das Buch aus den Händen und überflog die aufgeschlagenen Seiten. »Du kannst nicht nur lesen, du verstehst diesen erbaulichen Text sogar. Ich bin beeindruckt, wenn auch nicht völlig überrascht, daß du Dariyanisch kannst, selbst in dieser alten Form. Jinnisch verstehst du sicherlich nicht ganz so gut? Selbst ich mit meiner höfischen Erziehung kenne Jinnisch nicht, obwohl ich Arethusanisch so gut beherrsche wie Dariyanisch.« »Ihr könnt Arethusanisch?« entschlüpfte es ihr. Sie war so hin und her gerissen von dem unbändigen Wunsch zu wissen, daß sie sich vergaß. Dann hielt sie inne, griff nach ihrem abgetragenen Leinentuch und schlang es fest
um ihren Körper. Das leinene Unterkleid war viel zu dünn, um es als einziges zu tragen - vor ihm. Er lächelte. Er stellte das Buch wie beiläufig auf den Tisch, zog gemächlich die Handschuhe aus, indem er sie nach und nach von den Fingern zupfte. Er stützte die Hände auf dem Bett auf und beugte sich zu ihr herab, so daß sein Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt war. »Ich mag es, wenn deine Haare lose herabfallen.« Er fuhr mit einer Hand an ihrem Nacken entlang, dann vergruben sich seine Finger in ihren Haaren. »Und so sauber. Hast du deine Meinung geändert, meine Schöne?« Der Tonfall seiner Stimme war jetzt anders, merkwürdig rauh. »Nein.« Sie wandte den Kopf ab, entzog sich seiner Berührung und wartete auf den Schlag. Er richtete sich auf. »Ja, es ist ein bequemes Bett. Du wirst 169 es früh genug mit mir teilen. Ich möchte ein Bad. Du kannst das Unterkleid behalten, wenn du mir versprichst, es pfleglich zu behandeln. Schöne Kleidung ist zu kostbar, um nachlässig mit ihr umzugehen. Und das Essen wird heute stattfinden, nicht erst am Herrintag nächster Woche. Du wirst dazu das goldene Überkleid tragen.« Er blickte auf die geöffnete Truhe. »Das du ja bereits gefunden hast.« Er lächelte wieder. Liath konnte sich nicht vorstellen, was ihn in eine solch gute Stimmung versetzt hatte. »Du kannst noch viel schönere Dinge haben als diese hier, Liath. Der Abt von Fiersbarg ist endlich gestorben. Meine Mutter hat die Wahl seines Nachfolgers treulich überwacht. Wann wollen wir nach Süden reiten? Du wirst Fiersbarg mögen. Ich glaube, du wirst auch meine Mutter mögen. Sie ist in einem Kloster erzogen worden, also kann sie lesen, wenn auch nicht so gut wie du oder ich. Und ganz sicher kann sie kein Jinnisch lesen, das ja nicht in den Schulen der Kirche gelehrt wird.« Nach Süden reiten. Liath starrte ihn an. Sie hatte niemals daran gedacht, daß er sie von den letzten Menschen, die sie kannte und denen sie vertraute, wegschleppen könnte, weg von ihrer letzten Verbindung mit Pa. Wie konnte sie auf einer solchen Reise das Buch mitnehmen, ohne daß Hugh es fand? Es mußte ihm klar sein, daß sie es mitnehmen würde. In Fiersbarg kannte sie niemanden, sie würde ganz in seiner Gewalt sein. Hugh schaute sie an; er genoß ihr Unbehagen. »Nicht vor dem Frühjahr, denke ich. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich hasse es, so spät im Jahr zu reisen.« Sie sagte nichts, hielt nur krampfhaft das Tuch fest um ihren Körper geschlungen, als könnte es sie beschützen. »Müssen wir wirklich ein solches Schauspiel aufführen? Ich weiß, daß du gebildet bist. Du verrätst dich unaufhörlich, mit 170 Worten, mit deiner Art zu sprechen, mit dem Wissen, das du eigentlich nicht haben kannst. Es ödet mich an, Liath. Ich habe mich niemals so sehr gelangweilt wie in den letzten zwei Jahren, seit ich in diesen Bergen herumwandere und mich um meine Schäfchen kümmere. Ach, Liath, können wir nicht wenigstens einen Waffenstillstand schließen und uns so unterhalten, wie es unserem Bildungsstand angemessen ist? Ich möchte dir einen Handel vorschlagen.« Er hielt inne, ließ sie über die Aussicht eines großzügigen Angebots nachdenken. »Ich bringe dir Arethusanisch bei. Wenn du mir Jinnisch beibringst. Königin Sophia hatte sich zu ihren Lebzeiten sehr dafür eingesetzt, daß wir in der Königlichen Schule Arethusanisch lernten. Wie du sicher weißt, war sie die Nichte des arethusanischen Kaisers; Arnulf der Jüngere hatte sie als Braut für seinen Erben in dieses gottverlassene Land geholt. Auch unsere Lehrerin, die Klerikerin Monica, hielt es für angemessen, daß wir wenigen, die für ihren besonderen Unterricht ausgewählt worden waren, tatsächlich Arethusanisch lernten - es könnte ja einmal jemand von uns in die Situation kommen, Gesandte in dieses entfernte Land führen zu müssen. Doch als ich sie auch nur ein einziges Mal bat, uns auch Jinnisch beizubringen, wies sie mich rüde zurecht. >Das ist eine Sprache für Ungläubige und Zauberer, sagte sie. Was meinen Wunsch, es zu lernen, allerdings nur noch mehr beflügelte, auch wenn ich nie wieder mit ihr darüber gesprochen habe. Doch ich bin niemals einem Menschen begegnet, der diese Sprache beherrschte - bis ich deinen Vater traf. Und jetzt dich, mein Schatz. Also, was sagst du?« Irgend etwas war ganz und gar falsch, und Liath wußte es. So lange sie ihm nichts gab, befand sie sich vor ihm in Sicherheit. Aber ein kleiner Zweifel war in ihr aufgekeimt. Vielleicht schuldete sie ihm doch etwas Sympathie; ihm, den es von dort, 171 wo die Rundreise des Königs regelmäßig vorbeikam, in dieses Hinterland verschlagen hatte, wo er so ganz ohne seinesgleichen war. Kein Wunder, daß er sich zu Pa hingezogen gefühlt hatte. Und wenn sie Arethusanisch lernte, würde sie die ältesten Texte im Buch der Geheimnisse lesen können. Vielleicht konnte sie sogar die unbekannte Sprache in der alten Handschrift entziffern ... »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd, mit leiser Stimme. Er lächelte. Sofort wußte sie, daß sie etwas Wichtiges verloren hatte, daß er diese Schlacht gewonnen hatte und dabei war, den gesamten Kampf für sich zu entscheiden. Sie glitt aus dem Bett, drückte sich soweit weg wie möglich von ihm an der Wand entlang und lief aus der Zelle zur Küche, um sich hinter harter Arbeit zu verstecken. Hinter ihr hörte sie ihn ein Lied anstimmen. »Die Herrin ist herrlich in Ihrer Schönheit. Der Herr ist mächtig mit Seinem Schwert. Gesegnet sind wir, Ihre Kinder. Ehre, Ehre überall, wo Ihre Blicke ruhn. Ehre auch an Ihrem Feuer.«
Er hatte eine wundervolle Stimme. 3 An dem Morgen, als es den ersten richtigen Frost gab, erwachte Liath aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Körper schmerzte beim Aufstehen. Sie schlurfte - fest in ein Leinen172 tuch gewickelt - zum Holzstapel. Jede Bewegung, jede Berührung tat weh. Eine dünne Eisschicht bedeckte das Holz, und sie mußte sich auf die ausgetrockneten Lippen beißen, um beim Lösen der Holzscheite nicht vor Schmerz aufzuschreien. Sie kämpfte gegen den Türriegel an, bevor sie in die Küche gelangte. Der Temperaturwechsel traf sie wie ein Schock und schmerzte beinahe noch mehr als die Kälte. Sie schürte das Feuer und blieb einen Augenblick bibbernd und hustend davor stehen. Nach einer Weile bückte sie sich, um die Schöpfkelle mit warmem Wasser zu füllen und einen Schluck zu trinken. Das Wasser rann ihre Kehle hinab, wärmte sie von innen. Sie schaute sich um, obwohl sicherlich niemand sonst hier war, dann hielt sie ihre Hände in den Wasserkessel und stand einfach nur da, während sie langsam auftauten. Das Feuer prasselte und loderte so dicht an ihrem Gesicht, daß es auf der Haut prickelte, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie hörte etwas - eine Stimme, Schritte -, riß schuldbewußt die Hände aus dem Kessel und machte sich an dem Roggenmehl zu schaffen, das sie für Pfannkuchen brauchte. Hugh erschien in der Tür. »Es ist kalt. Es ist verdammt kalt, und ich hasse Kälte! Ich hasse dieses eingefrorene Ödland, und ich habe verdammt noch mal keine Lust, den Winter hier zu verbringen. Wir hätten letzten Monat nach Süden reisen sollen, gleich, als ich die Nachricht erhielt. Jetzt ist es zu spät.« Er durchquerte den Raum und zwang sie mit einem harten Griff unter das Kinn, ihm in die Augen zu blicken. »Du siehst fürchterlich aus. Du siehst aus wie ein verfluchtes Mädchen vom Lande, das den ganzen Tag draußen auf dem Feld die Arbeit eines Mannes tut, so rauh ist deine Haut. Und deine Nase läuft. Geh und sieh zu, daß es in meinem Zimmer warm wird. Bring mir das Frühstück. Und dann verschwinde. Ich kann deinen Anblick nicht ertragen.« 173 Er versetzte ihr einen Schlag auf die Wange. Es brannte stärker als sonst, denn die Haut war kalt. Sie zuckte zurück und versuchte die Tränen zu unterdrücken. In seiner Zelle war es sogar noch wärmer als in der Küche. Sie schaufelte glühende Kohlen in die Kohlenpfanne und hockte sich daneben, saugte die Wärme auf. Auf dem Tisch lag ein einzelnes, ordentlich ausgeschnittenes Stück Pergament; oben standen Worte in schöner, anmutiger Handschrift, noch frisch und feucht. Sie reckte den Hals, um die Worte zu entziffern. »Raus! Raus hier!« Hugh stand hinter ihr und schlug ihr beiläufig auf den Hinterkopf. »Du bist dreckig! Verschwinde!« Sie floh zurück in die Küche. Dort verzögerte sie die Arbeit, so gut es ging, als sie Haferbrei und Pfannkuchen zubereitete. Schließlich brachte sie ihm das Frühstück. Doch sie konnte die Arbeit nicht unbegrenzt in die Länge ziehen; schon bald würde er aus seiner Zelle kommen und sie nach draußen ins Freie schicken. Sie klemmte die Hände unter die Achselhöhlen und marschierte forsch zur Schenke. Sie mußte ohnehin Fleisch bei Meistrin Birta besorgen. Das war Grund genug. Doch sie war kaum dort angelangt, hatte gerade Zeit gehabt, sich ein paar Herzschläge lang am Feuer zu wärmen und dabei einen Reisenden zu beobachten, der ein paar Schritte von ihr allein eine Mahlzeit zu sich nahm, als Hugh durch die Vordertür preschte. Er mußte nicht einmal etwas sagen. Sie wäre lieber gestorben, als daß sie eine Szene gemacht hätte. Meistrin Birta kam mit dem Fleisch aus der Küche; da es die Portion für den Frater war, hatte sie es bereits vorbereitet und verpackt. Sie begrüßte Hugh, doch er antwortete nur einsilbig. Hanna tauchte aus dem hinteren Raum auf; sie sah, wie Liath das Fleisch entgegennahm und sich dann zur Tür begab. Hugh folgte im Abstand von zwei Schritten, als würde er sie vor sich hertreiben. 174 Der Reisende blickte auf. Er war grauhaarig, ein wettergegerbter Mann mit einem fellbesetzten Reiseumhang. Er betrachtete die Szene interessiert. Liath spürte seinen Blick auf ihrem Rücken, als sie die Schenke verließ. Draußen schlug Hugh zu. Immerhin trug er Handschuhe, daher brannte der Schlag nicht ganz so sehr. »Habe ich dir erlaubt hierher zugehen?« »Ich mußte das Fleisch hole ...« Er schlug sie erneut. Unfähig, sich zu verteidigen, bedeckte sie die Wange mit einer Hand. Herrin, wie das schmerzte. Sie nahm eine schwache Bewegung aus der Schenke wahr; jemand beobachtete sie. »Du wirst mich um Erlaubnis fragen. Immer. Egal, wohin du gehst. Warte.« Hugh ging wieder hinein. Liath wartete. Hanna schlich sich von der Seite der Schenke zu ihr heran. »Liath -« Die Tür öffnete sich, und Hugh trat wieder heraus; hinter ihm folgte Meistrin Birta, als wäre sie seine Dienerin. »Natürlich, Frater«, sagte sie, die Hände über der Brust gefaltet, der Gesichtsausdruck so fröhlich wie der einer hölzernen Statue. »In Zukunft wird mein Sohn Karl alles bringen.« Sie warf Hanna einen eindringlichen Blick zu, so daß diese sich wieder um die Ecke der Schenke verzog. »Komm, Liath.« Hugh griff mit Fingern, die so scharf wie Krallen waren, nach ihrem Ellenbogen und schleppte sie mit sich. Sie schüttelte den Arm ab und ging allein. Er schwieg während des gesamten Rückwegs, sprach auch den restlichen Tag nicht mehr mit ihr. Dafür verfolgte er jede ihrer Bewegungen und schlug sie bei dem leisesten Verdacht, sie könnte sich ausruhen oder versuchen, der Kälte zu entfliehen.
Sie schlief unruhig in dieser Nacht. Am nächsten Tag war es das gleiche und auch am übernächsten und an dem danach, bis 175 die Tage zu einem einzigen, dichten Nebel aus Kälte verschmolzen. Sie verlor jedes Gefühl für Zeit. Es blieb weiter kalt, doch es war noch nicht wirklich frostig. Sie verlegte ihr schmutziges Strohlager zwischen die Schweine. Trotter mochte sie am liebsten; sie durfte sich gegen seinen Rücken legen, was ihr das Schlafen erleichterte. Einmal, als sie die Pferde striegelte, hörte sie von draußen Hannas Stimme. Sie rannte zur Tür. Dort stand Hugh; er warf Hanna einen Blick voller kalter Verachtung zu. »Dein kleiner Bruder soll die Sachen bringen, niemand sonst«, sagte er. »So habe ich es mit deiner Mutter vereinbart.« »Ich bitte um Verzeihung, Frater, aber wenn ich nur einen Augenblick mit Liath -« »Ich habe gesagt, du sollst gehen.« Hanna wandte sich um und sah Liath. »Willst du mich herausfordern, Mädchen?« fragte Hugh. Es blieb Hanna nichts anderes übrig, als wieder zu gehen. »Zurück an die Arbeit!« herrschte Hugh Liath an. Sie schlüpfte wieder in den Stall zurück; ihr blieb nicht einmal der Trost, Hanna weggehen zu sehen. Eines Tages, noch früh am Morgen, erschien Ivar auf seiner Stute. Er hatte sich in einen riesigen, fellbesetzten Umhang gewickelt, doch sein Gesicht war vor Kälte und Anspannung tief rot. Sie war gerade dabei, Holz zu hacken, und hielt inne, als sie ihn sah. Sie hatte so lange kein vertrautes Gesicht mehr gesehen, daß sie zuerst zu träumen glaubte. »Liath.« Er sprach leise und schnell. »Komm mit. Ich habe einen Plan. Gero hilft mir, dich zu verstecken, und dann werden wir -« Er hob den Kopf und lauschte. Hugh rief von drinnen nach ihr. 176 Sie rannte zu Ivar, griff nach seiner Hand und sprang etwas unbeholfen bäuchlings auf den Pferderücken, schwang dann das Bein ganz hinüber. Ivar wendete das Pferd und gab ihm einen kräftigen Tritt in die Lenden. Es war eine kräftige Stute, die den Eindruck erweckte, als würde sie sie beide tragen können, auch wenn sie keine andere Gangart als einen holprigen Trab zustande brachte. Sie hatten den Weg zum Anwesen seines Vaters beinahe hinter sich gebracht, als Hugh sie auf seinem kastanienbraunen Wallach einholte. Er stellte sich der erschöpften Stute in den Weg und zog sein Schwert. »Bist du bewaffnet, Junge, oder doch klüger als ich dachte?« Ivar trug nur einen Dolch. Er zügelte das Pferd. »Liath, steig ab«, befahl Hugh. Liath stieg ab. »Liath«, protestierte Ivar. »Du kannst doch nicht einfach -« »Ich bin noch nicht fertig mit dir«, sagte Hugh zu Ivar. »Du kannst entweder mit mir kommen und deinen Fall dem Grafen Harl selbst vortragen, oder ich werde ihm von deiner Dummheit berichten. Mir ist es gleich. Liath, du gehst neben meinem Pferd her.« Sie schritt voran, den Kopf gesenkt. Zumindest wurde ihr beim Gehen etwas wärmer. Einmal stolperte sie, aber nicht aus Müdigkeit, sondern aus schierer Verzweiflung. Sie konnte nicht hinsehen, als sie den Graben überquerten und durch den Palisadenzaun in den großen, offenen Hof von Graf Harls Burg kamen. Sie starrte auf ihre Füße, auf Hughs Füße, folgte seinen Schritten den breiten Weg entlang bis zur Halle des Grafen, dann die Steintreppe hinauf bis zu seinen Gemächern. Sie hörte Stimmen, hörte ihren Namen, Ivars Namen. Sie konnte es nicht ertragen, in ihre neugierigen Gesichter zu blicken. 177 Eine Kastellanin führte sie eilig in Harls Privatzimmer. Der alte Graf lag noch im Bett, in unzählige Decken gehüllt. Ein geschorener und glattrasierter Geistlicher schrieb nach seinem Diktat auf ein Pergament. Oh, es war so warm in diesem Raum! Liath schob sich langsam zum Feuer, doch Hugh packte sie am Arm und zerrte sie zurück zu sich, wo ein kühlerer Luftzug herrschte. »Graf Harl.« Er nickte ihm kurz angebunden zu. Es war eine meisterhafte Zurschaustellung seiner Arroganz, und wenn Liath ihn nicht so gehaßt hätte, hätte sie seine verblüffende Eitelkeit bewundern können: daß er, nichts weiter als ein Bastard, einen rechtmäßigen Grafen zu jemandem herabwürdigte, der ihm gesellschaftlich unterlegen war. Doch seine Mutter war eine Markgräfin, und seine Familie war sehr viel mächtiger als die von Harl. »Euer Bürschchen hier hat gerade versucht, meine Sklavin zu stehlen.« Liath warf Ivar, der an der Tür stand, vorsichtig einen Blick zu. Sein Gesicht war puterrot und tränenverschmiert. Es war nicht recht, daß er für den Versuch, ihr zu helfen, so gedemütigt wurde. Doch sie wagte nicht zu sprechen. Harl rieb sich den grauen Bart und betrachtete Hugh mit offensichtlichem Mißfallen. Ein Mann, dem Zeichen auf seiner Wange nach zu urteilen ein Unfreier, brach die Stille, als er frische Kohlen nachlegte. Liath wandte ihren Blick wieder von Ivar ab. Harl ignorierte den Sklaven und sah seinen Sohn an. »Ist das wahr, Ivar?« »Ich habe Silber gespart, noch nicht genug, aber ... aber andere haben mir angeboten, bei der Summe zu helfen.
Um ihren Preis zu bezahlen.« »Sie steht nicht zum Verkauf«, sagte Hugh ruhig. »Und es wird auch keine Freilassungsurkunde geben außer der, die ich mit eigener Hand ausstelle.« 178 »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Ivar.« Ivar warf Liath einen glühenden Blick zu, dann senkte er den Kopf. »Ja, mein Herr.« Harl seufzte tief und wandte sich wieder an Hugh. »Was wünscht Ihr?« »Ich wünsche nichts als Euer Versprechen, daß so etwas nicht wieder geschieht.« Hoffnung flackerte in ihr auf. War es möglich, daß Hugh tatsächlich fürchtete, Ivar könnte einen Weg finden, sie zu befreien? Alle wußten, daß Graf Harl den Frater nicht mochte. »Also gut«, sagte Harl. Er sah aus, als würde er Maden in einem Stück Fleisch begutachten. »Es wird nicht wieder geschehen.« »Welche Sicherheit gebt Ihr mir dafür?« Graf Harl hatte inzwischen die gleiche Gesichtsfarbe wie sein Sohn: Röte überzog seine zerfurchte Haut. »Zweifelt Ihr an meinem Wort?« fragte er leise. Der Ton seiner Stimme ließ Liath erschaudern. Es war eine Sache, das Mißfallen dieses Mannes zu erregen, ganz gewiß jedoch etwas anderes, seine Feindschaft auf sich zu ziehen. Hugh zeigte ein Lächeln; es war widerlich und unaufrichtig und um so schlimmer, als es seiner Schönheit keinen Abbruch tat. »Natürlich nicht, Graf Harl. Ich würde niemals Eure Ehre in Frage stellen. Aber Euer Sohn ist jung und ungestüm. Und mein Eigentum ist sehr wertvoll für mich.« Zum ersten Mal sah Harl Liath direkt an, und zwar so rasch und hart, daß sie seinem Blick nicht ausweichen konnte. Er prüfte sie - die Zähne, das Gesicht, den Körperbau, ihre Jugend und Stärke -, doch ob er ihren Wert nun bestätigte oder nicht, war nicht zu erkennen. Schließlich wandte er sich wieder an Hugh. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Frater. Euer Ei179 gentum wird vor meinem Sohn in Sicherheit sein. Meine erste Frau brachte vor vielen Jahren während eines Sturms in einem Kloster in Quedlingham ein Kind zur Welt, und schon seit langem hege ich den Wunsch, ihnen auf irgendeine Weise meinen Dank auszusprechen. Ich werde Ivar als Mönch dorthin schicken. Er wird Euch nicht länger belästigen.« Liath stockte der Atem. Ivar wurde blaß. Hughs Lippen verzogen sich, aber nicht zu einem Lächeln, sondern zu einem Ausdruck höchster Befriedigung. Es wirkte beinahe obszön. »Und jetzt geht«, sagte Harl barsch. »Wenn ich bitten darf. Ich habe viel zu erledigen. Ivar! Du bleibst hier.« Ivar warf ihr einen letzten, verzweifelten Blick zu, als Hugh sie vor sich hinaustrieb. Ein Soldat begleitete sie den Hügel hinunter zum Palisadenzaun, wo Hughs Wallach in der Obhut eines Stalljungen wartete. »Du reitest mit mir«, sagte Hugh. »Eher gehe ich zu Fuß.« Er versetzte ihr mit voller Wucht einen Schlag gegen den Kopf, und nur ihrem Instinkt hatte sie es zu verdanken, daß sie sich rechtzeitig ducken konnte und der Schlag sie nur streifte. »Du reitest.« Er stieg auf und wartete, die Zügel des Wallachs fest in den Händen, bis sie schließlich eine Hand ausstreckte und hinter ihm Platz nahm. Der Ritt zurück war lang, und es war still. Aber Hugh war warm. In dieser Nacht brach der Winter richtig herein. Es war kalt, bitterkalt. Sie konnte nicht schlafen. Zitternd lag sie im Stall bei den Schweinen und stand mitten in der Nacht auf, um sich die Füße zu wärmen; die ganze Nacht ging sie auf und ab, bis der Morgen anbrach. Während der Arbeit war sie so müde, daß er sie einmal dabei erwischte, wie sie im Stehen schlief. Vielleicht auch zweimal. Ihre Schultern und ihr Kopf waren 180 von seinen Schlägen so blau, daß es auf einmal mehr oder weniger nicht ankam. Am nächsten Abend zogen Wolken auf, und mit ihnen kam der Schnee. Das stellte eine gewisse Erleichterung dar, denn wenn es jetzt auch feuchter war, so doch auch wärmer. Aber die ganze nächste Woche, während Schnee den Boden bedeckte, war der Himmel klar. Tagsüber war es fürchterlich kalt, und obwohl sie jeden Fetzen Stoff trug, den sie besaß, zitterte sie unaufhörlich. Am Abend war ihr Körper taub vor Kälte. Es tat weh. Trotz ihrer Erschöpfung versuchte sie sich unablässig zu bewegen, selbst in der Küche; sie stampfte mit den Füßen auf, wiegte sich hin und her, damit Wärme in ihre kalten Knochen drang. Niemals wieder würde ihr richtig warm werden. Die Kälte war ein ewiger Schmerz, der sie von innen zerfraß. Bei Einbruch der Dämmerung pflegte er sie aus der warmen Küche zu werfen. Dann schlurfte sie zu den Ställen - längst besaß sie nicht mehr die Kraft, die Füße zu heben - und ließ sich neben Trotter nieder. Doch auch so dicht bei den Schweinen war es noch kalt. Sie wiegte sich vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück, bis der Rhythmus des Wiegens sie in eine tiefe Benommenheit lullte. Es war so kalt. Sie wußte, daß sie sterben würde, wenn sie weiter hier draußen blieb. Nicht in dieser Nacht, aber in einer anderen, vielleicht morgen oder übermorgen oder noch einen Tag später. Sie fragte sich, ob es ihr etwas ausmachte. Und, o Herrin, mit einem Mal erkannte sie, und sie erschrak zutiefst bei der Erkenntnis, daß es ihr sehr wohl etwas ausmachte. Wie ein winziges, verhaßtes Feuer brannte er tief in ihrem Innern, dieser Wille zu leben. »Ich will nicht sterben«, flüsterte sie. Ihre Lippen waren von der Kälte zu ausgetrocknet, zu zersprungen und
steifgefroren, als daß sie noch Worte hätten formen können. Krampfartige 181 Zuckungen überkamen sie. O Herrin, nicht einmal dafür hatte sie noch Energie - nicht einmal Tränen hatte sie. Sie würde sterben, und doch wehrte sie sich dagegen. Als sie das Licht sah, begriff sie zunächst nicht, was es war. War es der Athar, die Erscheinung, die vom Himmel herabgestiegen war? Es flackerte und schwankte hin und her, bis sie zu träumen glaubte oder dachte, sie hätte Visionen. Doch mit dem Licht kam auch ein bißchen Wärme, als es vor ihrem verschwommenen Blick anhielt. Es war eine Lampe. »Liath.« Seine Stimme klang weich. »Komm jetzt herein, Liath.« Es klang, als würde er ein Kind liebkosen oder einen verwundeten Hund. »Komm jetzt herein.« Ihr ganzer Körper bebte und zuckte. Sanft legte er eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. »Liath«, sagte er immer noch mit beruhigender, tröstender Stimme, »komm herein.« Dann zog er seine Hand zurück. Und wartete. Zehn anstrengende Atemzüge lang verharrte sie, lag einfach nur da: ein, aus, ein, aus. Sie war taub vor Kälte. Es tat so weh; der Schmerz drang bis tief in ihr Innerstes. Alles war besser als das. Sie kämpfte sich auf die Beine, und sobald er sah, daß sie versuchte aufzustehen, half er ihr. Aber nicht mehr als das: Niemals drängte er sie, sondern führte sie nur, sobald ihre Füße erst einmal auf eigenen Wunsch den Weg zur Küche eingeschlagen hatten. Es war herrlich, wunderbar warm. Dampf wirbelte auf, oder zumindest schien es ihr so, bis sie sah, daß er ein Bad vorbereitet hatte, daß er eigenhändig Wasser geholt und es erhitzt hatte. Die Wanne stand vor dem lodernden Feuer. Sie stand einfach nur da, während er ihr aus den schmutzigen Kleidern half, vorsichtig jedes einzelne Teil entfernte. Er war sehr genau, behielt seine Handschuhe an, doch als sie nackt vor ihm 182 stand, zog er sie aus und krempelte die Ärmel hoch, um ihr in das warme Wasser zu helfen. Die Wärme tat weh, prickelte, als würden hundert winzige Nadeln auf einmal in sie hineingestochen. Sie weinte, doch es flössen keine Tränen. Er rieb ihre Haut mit einer harten Bürste ab, scheuerte so heftig, daß es sogar noch mehr schmerzte. Sie hatte nicht die Kraft, dagegen aufzubegehren. Mit dem Schmerz kam die Wärme und durchdrang ihre Haut. Hitze strömte vom Feuer herüber. Das heiße Wasser schien in ihren Körper einzudringen. In bestimmten Abständen stand er auf und holte mehr heißes Wasser vom Kessel; zweimal verschwand er mit den Eimern nach draußen und holte frisches Wasser, das so kalt war, daß es zischte, als er es in den riesigen Kessel füllte. Er nahm ein sauberes, weiches Tuch und wusch sie, ihre Haare, ihr Gesicht, ihre Hände, Brust und Bauch, ihre Hüften und Oberschenkel, ihre Waden und Füße. Während er sie wusch, sang er leise, sang mit seiner herrlichen Stimme eine verschlungene Melodie, nur Töne, keine Wörter. Mit der Wärme überkam sie Mattigkeit. Aber ihre Glieder waren noch immer taub. Er hob sie aus der Wanne, trocknete sie mit einem weichen Tuch ab. Dann wickelte er sie in ein samtweiches Laken und trat einen Schritt zurück. Er sagte nichts. Er sah sie einfach nur an. Er lächelte nicht, runzelte auch nicht die Stirn. Er hatte eigentlich gar keinen Ausdruck im Gesicht, zumindest keinen, den sie deuten konnte. Aber sie hatte den Augenblick längst verstreichen lassen, da sie noch zurück in den Schweinestall hätte gehen können. Wie Pa immer gesagt hatte: »Es macht keinen Sinn, einen Eid zu schwören, wenn man nicht wirklich vorhat, ihn zu halten.« 183 Sie drehte sich um und schritt den engen Flur entlang zu seiner Zelle. Zwei Lampen brannten. Die Kohlenpfanne glühte vor Hitze. Das dariyanische Buch mit den Übungen zur Magie lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Sie warf nicht einmal einen Blick darauf, sondern ging direkt zum Bett und setzte sich auf die Kante. Er folgte ihr, schloß die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und starrte Liath an. Seine Ärmel waren noch hochgekrempelt und entblößten die blassen, muskulösen Unterarme mit dem feinen Flaum aus hellen Haaren. »Wirst du mir Jinnisch beibringen?« fragte er. Seine Stimme war so weich wie zuvor, und die Frage schien eher von Neugier zu zeugen als von der Gewißheit, daß er den Kampf zu seinen Gunsten entschieden hatte. Sie nickte. Das war alles. Nichts weiter. »Gut«, sagte er. Dann war er still. Sie blickte schließlich auf, denn sein Schweigen war sonderbar. Er musterte sie. Sein Gesichtsausdruck war um so beunruhigender, als nackte Gier darin lag. »Du weißt nicht einmal, was du bist, nicht wahr?« fragte er. »Ein Schatzhaus, wie es im heiligen Buch geschrieben steht. >Meine Braut ist ein verschlossener Garten, ein verriegeltes Schatzhaus. Ich bin in den Garten gekommen, meine Braut, und habe den Honig gegessen. Ich habe den Wein getrunken. Eßt, Freunde, und trinkt, bis ihr trunken seid vor Liebe.<« Ungebeten kam ihr die nächste Strophe ins Gedächtnis, als hörte sie die Worte laut. Ich schlafe, aber mein Herz ist wach. Komm, Geliebter, ich öffne dir die Tür. Doch sie saß nur da, reglos wie die bitterkalte Luft draußen, und schaute zu, während er sich vor ihr auszog. Ihr Körper mochte inzwischen warm sein, war vielleicht sogar wach, aber ihr Herz war durch und durch erstarrt. Sie sah einfach zu, un-
184 fähig, irgend etwas zu fühlen, bis er schließlich völlig nackt war. Dann errötete sie und schaute beschämt zur Seite. Er mußte darüber lachen. Im nächsten Augenblick war er bei ihr. Er hielt ihr mit der einen Hand den Rücken und drückte sie langsam in das luxuriös weiche Federbett hinab. Er nahm das Laken von ihr und bedeckte sie beide mit der Federdecke. »Du bist immer noch so kalt«, flüsterte er, während seine Hände über ihre Arme, ihren Bauch und dann über ihre Brüste strichen. »Liath, sag etwas zu mir.« Seine Nähe hatte etwas Überwältigendes. Sie brachte genug Mut auf, um seinem Blick zu begegnen. Was sie darin sah, ließ einen Teil ihrer eisigen Taubheit schmelzen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wandte den Kopf ab und schloß die Augen und blieb starr und steif in seinen Armen liegen. Aber sie wagte nicht, sich irgendwie zu bewegen, geschweige denn wegzulaufen. »Ich weiß, was Ihr wollt«, sagte sie leise. »Aber es ist weggesperrt. Es ist weggesperrt, und Ihr werdet es niemals kriegen.« »Wir sprechen nicht mehr von dem Buch, meine Schöne, oder?« Er war halb belustigt, halb verärgert, doch er rutschte leicht hin und her, umarmte sie und seufzte, und plötzlich spürte sie, wie seine kalte Haut erst warm und dann heiß wurde. Atemlos und so leise, daß sie es kaum hören konnte, flüsterte er: »>Du, die du in meinem Garten sitzt, meine Braut, laß mich auch deine Stimme hören.<« Seine Stimme bebte überwältigt von einem Gefühlsschwall, aber es war nicht bloß Leidenschaft - das, was andere Lust nennen würden -, sondern etwas Stärkeres, etwas Beängstigenderes. Er wollte nicht nur ihren Körper, nicht nur das Buch. Er wollte sie. Da mußte noch etwas anderes sein, etwas, von dem 185 sie, das Kind eines Zauberers und einer Zauberin, das gegenüber der Zauberei taub war, nie gedacht hatte, daß es existierte; und doch war etwas in ihr verborgen, etwas, das so tief versteckt war, daß selbst sie es nicht erkennen konnte. Er konnte es. Wenn Liath ihn bisher gefürchtet hatte, so war das nichts verglichen mit der Furcht, die sie jetzt überkam. Er hatte genug Übung, genug Wissen, um zu erkennen. Er besaß die Gabe des Sehens, die ihm erlaubte, hinter den Schein zu blicken. Und jetzt, in diesem Augenblick, als Hugh seinen Körper an ihrem rieb und sie zärtlich streichelte, sah sie, was für eine Wahrheit das sein mußte. Pa war die ganzen Jahre weggelaufen, um sie zu beschützen. Um sie zu verstecken. Wer oder was auch immer ihre Mutter getötet hatte, wollte jetzt sie. Sie war der Preis, der Schatz. Nur wußte sie nicht, wieso. Hugh seufzte, sein warmer Atem strich über ihre Wange. Sie kniff die Augen fest zusammen. »Hab keine Angst«, sagte er sanft. »Ich werde dir nicht weh tun, nicht hier. Niemals hier.« Er wußte, was er tat. Sie fand die Stadt fest verankert in ihrem Gedächtnis. Sie betrat das weiße Ufer, das von sanft plätschernden Wellen umspült wurde; Wellen, die so gleichmäßig waren wie ihr Herzschlag. Sie folgte dem marmorgepflasterten Weg hinauf, dessen Oberfläche von einer einzigartigen Glätte war. Je höher sie kam, desto stärker schraubte sich der Weg empor. Und jedes der sieben Tore, die sie beim Hinaufgehen durchschritt, verriegelte sie hinter sich, bis sie den Gipfel erreicht hatte. Sie fand den erstarrten Turm in ihrem Herzen und verriegelte ihn mit Reben und Dornen und Eisenstangen. Dann trat sie durch die einzige Tür, kletterte eine Leiter zum höchsten Raum hinauf, zu dem Zimmer der Türen, das von ihrem Va186 ter stammte; er selbst hatte es für sie entstehen lassen, mit vier Türen nach Norden, Süden, Osten und Westen und einer fünften Tür, die auf eigentlich unmögliche Weise mitten im Raum stand und selbst für sie verschlossen blieb. Sie verschloß jede Tür mit einem Messingschlüssel, schloß sich auf diese Weise selbst ein. Nur auf die Tür nach Norden malte sie den Schatten einer Tür, eine Geheimtür, die in die Wildnis führte. Dort legte sie einen schmalen Pfad durch große und kleine Hindernisse an, durch unwegbare Wälder, über geheimnisvolle Wege; sie mußte ihn vor den Blicken anderer verbergen, damit ihn nur die finden würden, die ihr Herz wirklich kannten. Und in diese Wildnis, in das weglose, ungezähmte Land, warf sie den Schlüssel. Wenn irgend jemand diesen Schlüssel suchte, dann nur unter der Gefahr des eigenen Lebens. An diese Vorstellung klammerte sie sich, sie war ihre einzige Rettung. Hugh war sanft. Er war warm. Er sprach zärtliche Worte in ihr Ohr. Und dann endlich schlief er. Sie war noch wach und verschloß die Stadt des Gedächtnisses, jede Mauer nahtlos und stark, bis sie in ihrem Innern in Sicherheit war. Bis sie allein und unerreichbar war, abgesehen von einem kleinen Pfad, über den Hanna ungestört eintreten konnte. Endlich gestattete sie sich etwas Entspannung, obwohl Hugh sie immer noch mit kräftigen Armen umschlungen hielt. Schließlich schlief sie in dem herrlich weichen, wunderbar warmen Bett ein. 187 4 Am nächsten Tag stellte Hugh eine Frau und einen Mann ein, die aus einem Weiler in der Nähe von Graf Harls Burg stammten und jeden Tag die in der Kirche anfallenden Arbeiten übernehmen sollten. Sorgfältig reinigten sie die Zelle neben seiner, während er in den Lagerräumen stöberte, bis er einen brauchbaren Tisch und einen zerbrochenen Stuhl gefunden hatte, der kurze Zeit später repariert war. Lars, der angeheuerte
Mann, schlachtete eine Gans, und während Dorit sie kochte, bearbeitete Liath die Federn. Hugh holte zwei Truhen aus dem Lagerraum und öffnete sie; ungeahnte Schätze waren darin verborgen: Pergament und Tinte, eine Schreibtafel aus Wachs mitsamt Griffel sowie andere Dinge, die für eine Kirchenschule notwendig waren, außerdem zwei weitere Teppiche (keiner so schön wie der arethusanische in seiner Zelle) und andere Bequemlichkeiten. Liath lernte. Wenn sie lernte, konnte sie alles andere vergessen, als würde es gar nicht existieren. Den ersten Teil des Tages sprachen sie nur Dariyanisch miteinander. Den zweiten Teil lehrte er sie die Sprache der Arethusaner, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, und sie brachte ihm die schnörkeligen jinnischen Buchstaben bei, die sie selbst nur unbeholfen beherrschte. Und danach las sie ihm aus den Büchern ihres Vaters vor. Sie las aus der Untersuchung der Pflanzen über die Heilkraft von Kräutern und Blüten. Sie las über Omen und Weissagungen und Traumvisionen aus Artemisias Abhandlung Von den Träumen. Sie las Geschichte, las von den Prüfungen und den gesegneten Taten der St. Thekla, Begründerin der Kirche der Einigkeiten in Darre, größte Schülerin des ge188 heiligten Daisan, die zur ersten Märtyrerin des Glaubens geworden war, als sie sich den Verfolgungen des heidnischen Kaisers aufrecht entgegenstellte. Und sie las über das frühe dariyanische Kaiserreich, über die Zeit seiner größten Siege - las darüber in den Schriften von Polyxene, einer arethusanischen Schülerin am kaiserlichen dariyanischen Hof, die mit ihrer Geschichtsschreibung darauf abzielte zu erfahren, »wie die Dariyaner, die nicht zu den Menschen zählen, in der Lage waren, in weniger als dreiundfünfzig Jahren beinahe die gesamte Welt unter ihre Kontrolle zu bringen.« Zusammen mühten sie sich durch die Übungen in Die Taten der Magier. Einmal entzündete er eine Kerze, ohne eine Flamme zu benutzen. Ein anderes Mal sagte er einen Sturm voraus. Sie blieb taub und stumm, verstand nicht mehr als den Sinn seiner Worte. Sie übersetzte Jinnisch für ihn und begann, Buchstaben und Wörter der in Arethusanisch geschriebenen Spalte zu enträtseln. Darauf konzentrierte sie ihr ganzes Sein. Alles andere verging wie in einem Nebel, besonders die Zeit in der Nacht, wenn sie zusammen waren. Sie fühlte sich vollkommen getrennt von ihrem eigenen Selbst, als bestünde sie aus zwei Personen, einer, der dies alles geschah, und einer anderen, die von ihrem sicheren Versteck in dem erstarrten Turm alles beobachtete. Manchmal wurde er weggerufen, um die Sterbesakramente zu erteilen, ein Neugeborenes zu segnen oder eine Heilung durchzuführen. Am frühen Morgen nach der ersten Nacht, in der er abwesend war, schlich sie hinaus auf den Hof, vorbei an Dorit, die im Steinofen draußen neben der Küche Brot backte. Der kalte Wind und der hohe Schnee versetzten sie jedoch in eine solche Angst, daß sie schnell zurück in die Kirche flüchtete und sich nicht wieder herauswagte. An jedem Himmelstag versammelten sich die Leute aus 189 dem Dorf, um die Predigt zu hören. Bisher hatte sie sich niemals geweigert, daran teilzunehmen, doch jetzt fürchtete sie sich davor. Als sie beim ersten Mal nicht mitgehen wollte, versetzte er ihr einen kräftigen Hieb und drohte, sie wieder bei den Schweinen schlafen zu lassen. Also gab sie nach. Er wollte sie zur Schau stellen; sie verstand das sehr gut. Er hatte ihre alte Kleidung versteckt und sie gezwungen, schöne Kleider anzuziehen. Sie hatte Angst, mit irgend jemandem zu sprechen, und fürchtete, daß die Dorfbewohner ihr Schweigen als Hochmut aufgrund ihrer neuen Position auslegen würden. In der knapp bemessenen Zeit, da ihr etwas Alleinsein vergönnt war, kniete sie in der leeren Kapelle; sie betete nicht, sie dachte gewöhnlich auch gar nicht nach, sondern nutzte die Stille Gottes einfach zum Ausruhen. Manchmal träumte sie auch von Pa. »Liath, laß deine Phantasie ruhig mit den Buchstaben spielen. Es gibt ganze Abhandlungen über die verschiedenen Schulen der Kalligraphie im alten Dariya. Aber wenn du die alten Buchstaben lernst, wenn du die Rose zeichnest, muß sie genau gezeichnet sein, jedes Mal, wie bei ihrer Erschaffung. Es gibt keine Ausschmückungen. Was du mit deiner Hand zeichnest, ist einfach nur das Muster, nach dem du deinen Verstand übst, bis du keine körperliche Verbindung mehr brauchst, um dir die Rose ins Gedächtnis zu rufen. Oder, bei einem Zauberer, um sie auf Wunsch entstehen zu lassen.« Manchmal sprach er mit solcher Zuversicht, mit solcher Klarheit. Aber jetzt wirkte seine Miene bekümmert, er krümmte die Schultern und sah wieder müde aus. »Anne hätte dich besser unterrichten können als ich.« Liath strich über die weißen Haare ihres Vaters; so schnell waren sie weiß geworden. »So etwas solltest du nicht sagen. 190 Du hast selbst gesagt, daß ich diese Dinge nur lernen muß, um sie zu wissen, um sie möglicherweise weiterzugeben, aber nicht, weil ich hoffen kann, daß ich diese Kräfte einmal selbst haben werde.« Er seufzte. »Würdest du das gerne?« Sie zuckte ein wenig befangen mit den Schultern. »Ich nehme es an. Ich wünschte zumindest, du hättest mir bereits früher von den Fähigkeiten erzählt, die die Zauberer besitzen, Pa. Warum hast du damit so lange gewartet?« »Du bist noch nicht stark genug. Es ist zu gefährlich, Kind. Es dauert noch eine lange, lange Zeit, bevor ich wirklich weiß, daß wir in Sicherheit sind.«
Aber sie waren nicht in Sicherheit gewesen. »Liath!« Die Stimme klang leise, aber scharf. Liath fuhr zusammen, stieß sich die Knie auf dem harten Boden, dann kämpfte sie sich hoch und wirbelte herum. Einen Augenblick stand sie nur da und betrachtete die Fremde. »H-Hanna?« »Du bist so ... na ja, nicht bleich, aber so fahl.« Hanna trat auf sie zu. Ihre Stirn war gerunzelt. Sie verströmte eine Energie, die sich wie Hitze in der kühlen Kapelle ausbreitete, die sonst nur von einer Kohlenpfanne gewärmt wurde. Liath hatte sie mitgenommen, denn sie konnte Kälte nicht länger ertragen. »Der alte Johann wird diesmal wohl ganz sicher zu den Sphären aufsteigen, heißt es. Ich habe Hugh wegreiten sehen. Er wird mindestens bis zum Abend bleiben, deshalb bin ich hergekommen. Mama hat es mir erlaubt, und ich habe nicht mehr mit dir gesprochen, seit -« Sie zögerte. Liath starrte sie einfach nur an. Es war anstrengend für sie, Worte zu verstehen, die von einer anderen Stimme gesprochen wurden als der von Hugh. »Seit er dich draußen vor der Schenke geschlagen 191 hat. Erinnerst du dich an den Mann, der an dem Tag da war? Er war auf der Durchreise nach Frielas. Er hat sich nach dir erkundigt, nachdem Hugh dich zurück zur Kirche geschleppt hat. Er hat sich auch nach deinem Vater erkundigt.« »Ich erinnere mich nicht an ihn«, sagte Liath tonlos. Hannas Worte hatten keine wirkliche Bedeutung, höchstens für eine andere, eine, die nicht mehr länger hier war. »Du solltest nicht hier sein.« Hanna versteifte sich. »Willst du, daß ich gehe?« Liath schüttelte den Kopf. Das hatte sie nicht gemeint, aber sie wußte kaum noch, was sie sagen sollte, so sehr hatte sie sich daran gewöhnt, nur laut das wiederzugeben, was andere geschrieben hatten. »Nein. Aber du solltest nicht hier sein.« Plötzlich wurde sie nervös, blickte über die Schulter auf den Bogengang, der zum Längsschiff führte. »Er wird kommen -« »Er ist runter zur Flußkrümmung geritten. Er kann unmöglich vor dem Abend zurück sein.« »Er findet es heraus. Er kommt zurück. Er weiß, daß ich jemanden treffe. Er weiß es immer.« »Liath. Setz dich hin. Du zitterst ja am ganzen Leib.« Hanna berührte sie. Die Berührung war wie ein Feuerfunke, der sich auf ihrem Arm entzündete. Sie konnte sich bewegen, hatte die Kraft dazu aber erst, als Hanna sie zu einer Bank führte und sich neben ihr niederließ, einen Arm um ihre Schultern legte. Liath gab sich der plötzlichen Erschöpfung hin und legte ihren Kopf auf Hannas Schulter. »Lars ist weg, um seine alte Mutter zu besuchen, und Dorit ist unten an der Schenke und tratscht mit meiner Mutter, also kann Hugh es unmöglich herausfinden. Dorit sagt, du schleichst so still herum wie ein Geist. Du sprichst nur, wenn der Frater mit dir redet, und dann den halben Tag auch noch in der Sprache des Teufels. Zumindest sind das ihre Worte.« Hanna schwieg und streichelte Liaths Arm in 192 einer rhythmischen Liebkosung. Sie blieben eine ganze Weile so sitzen. Plötzlich riß Liath ihren Kopf herum. »Welcher Tag ist heute?« »Herrintag.« »Nein, welcher Monat? Welcher Tag? Welche Jahreszeit? Ist es noch Winter?« Hanna blickte sie an, und Liath begriff plötzlich, daß Hanna unsicher zu werden begann, sich sogar fürchtete. Aber vor was oder vor wem? »Es dauert noch mindestens einen Monat bis zur Schneeschmelze, aber der tiefste Winter ist bereits vorüber. Ebenso das Fest von St. Herodia. Es war eine gute Ernte, und selbst um diese späte Jahreszeit ist niemand in Not. Der größte Teil des Roggens, der im letzten Herbst gesät wurde, hat den Winter überstanden.« »Dann ist Mariannatag nach der Schneeschmelze«, sagte Liath und versuchte sich etwas Wichtiges in Erinnerung zu rufen, das ihr Vater ihr einst erzählt hatte. Oder war es ihre Mutter gewesen? Ja, es war ihre Mutter gewesen. Sie hatten im Garten gestanden, genau am Mariannatag, und die Pflanzen von neuen Trieben befreit, aber warum nur waren sie so früh im Jahr da? Und ihre Mutter, eine stolze Frau mit hellen Haaren und einer eleganten Ausstrahlung, hatte gesagt ... doch noch während sie sich die Szene in Erinnerung rief, entschwand ihr die Erinnerung an das, was ihre Mutter gesagt hatte. »Ich werde siebzehn«, sagte sie; es war das einzige, das Sinn für sie machte. »Liath. Sieh mich an.« Mit Mühe hob Liath den Kopf und wandte ihn Hanna zu, die jetzt gequält dreinblickte. »Meine Eltern wollen mich mit dem jungen Johann verloben. An Mariannatag. Ich habe ihnen gesagt, ich würde darüber nachdenken.« Jetzt wirkte sie verwirrt. Etwas Flehentliches lag in ihrer 193 Stimme. »Was soll ich tun? Ich will ihn nicht heiraten und mein Leben damit verbringen, sein Land zu bearbeiten, seine Kinder zu gebären, Jahr für Jahr, bis ich sterbe. Ich weiß, es ist genau das, was die Herrin uns auferlegt hat, und ich sollte stolz darauf sein, daß ich eine Freie bin, aber ich will das nicht. Auch wenn ich dafür ausersehen sein sollte. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« Hanna brauchte sie. Die Schattentür, die sie auf die große Nordtür in der verschlossenen Kammer gezeichnet hatte, öffnete sich einen Spalt und ließ Hanna in ihre Festung herein, jenseits der Wildnis und des Ödlands. »O Hanna.« Plötzlich brannte ein Feuer in ihr. »Wenn Pa und ... wenn wir nur zurück nach Autun gehen könnten, wo wir gelebt haben, bevor wie hierherkamen, oder nach Qurtubah an den Hof des Kalifen oder nach Darre, wo
wir zuerst lebten, dann könnten wir dich mitnehmen.« »Darre! Es gibt Teufel in Darre!« »Teufel? Unter der Aufsicht der Skopos?« Liath kicherte. »Du meinst Elfen. Das sind keine Teufel, Hanna. Und auch keine Dämonen.« »Aber Diakonissin Fortensia sagt, daß sie die Frucht der Verbindung zwischen gefallenen Engeln und den Töchtern von Menschen sind. Deshalb sind es Teufel.« »Das ist nicht das, was der heilige Daisan lehrte. Pa hat immer gesagt, daß Elfen aus Feuer und Licht geboren wurden, nur von der Dunkelheit befleckt, die in der Zeit des Chaos in die Welt kam, und daß sie bereits existierten, bevor die Menschheit vom Heiligen Wort regiert wurde.« Hanna blickte sie beinahe zu Tode erschreckt an, als hätte Liath ihr soeben enthüllt, daß sie selbst ein Teufel wäre, geboren aus der unnatürlichen Verbindung zwischen einer menschlichen Frau und einem Engel, der die Herrin und den 194 Herrn verraten hatte. »Du weißt so merkwürdige Dinge«, murmelte sie schließlich. »Nur weil ich lesen gelernt habe, Hanna. Das könntest du auch, wenn du es wolltest.« »Wenn ich in der Kirche wäre!« »In Darre. Ich erinnere mich, Hanna!« Die Erinnerungen tauchten aus der dumpfen Wolke auf, von der sie die ganze Zeit umgeben gewesen war, beinahe wie eine Schneeschmelze im eisigen Nordland. »Pa sagte, daß König Henry in Darre die Elfenfrau traf, die ihm den Prinzen schenkte, mit dem er seine Nachfolge sicherte.« Hanna blickte noch immer zweifelnd drein und auch ein wenig beunruhigt über dieses gottlose Gespräch, doch mutig reckte sie das Kinn und preschte vor. »Stimmt es wirklich, daß der Prinz halb elfisch ist? Aber es muß stimmen. Inga sagt, daß die Frau des Cousins ihres Mannes an dem Tag in Frielas war, als die Drachen hindurchritten, und sie hat sie gesehen. Die Drachen, meine ich. Sie sagte, es könne keinen Zweifel daran geben, daß er nur zur Hälfte ein Mensch sei, so schrecklich und großartig, wie er aussah. Seine Haare waren so schwarz wie die Nacht, seine Haut hatte die Farbe von Bronze, und seine Augen waren grün.« Liath lachte. Abrupt hielt sie inne, sie hatte dieses merkwürdige Geräusch seit Monaten nicht mehr vernommen: ihr eigenes, einfaches Lachen. »Wie sollte die Frau des Cousins von Ingas Mann so nah an die Drachen herangekommen sein, geschweige denn an den Prinzen, daß sie die Farbe seiner Augen erkennen konnte?« »Aber er hat grüne Augen, und er ist halb elfisch, der arme Bastard. Seine Mutter verließ ihn, noch bevor er zwei Monate alt war.« Liath wirbelte so schnell herum, daß sie auf den Boden fiel 195 und auf den Knien liegenblieb. Schwach nahm sie wahr, daß Hanna sich hinter ihr erhob. Mutige Hanna. Denn da stand er, aufrecht in dem Bogengang, der zur Kirche führte. Natürlich hatte er es gewußt. »Sie verstand weder Wendisch noch Varrisch, nur Dariya-nisch und ein bißchen Aostanisch, doch das ist dem dariyanischen ähnlich genug, und so versteht man auch das andere, wenn man das eine beherrscht. Es heißt, sie kam von Alba, einem Ort, an dem die Verlorenen angeblich noch immer unter dem Mond umhergehen. Doch die Sprache, die sie am besten beherrschte, war Salianisch, und es war auch ein salianischer Name, den sie dem Kind gab.« Er lächelte, als wäre er sich vollkommen bewußt, daß sie nur seiner Gegenwart wegen so steif und starr vor Hannas Füßen kniete. »Sie selbst nannte sich Alia, was auf dariyanisch natürlich >Andere< bedeutet, obwohl Prinz Henry, so wie er damals war, das Rätsel niemals verstanden zu haben scheint. Meine alte Amme war eine von denen, die bei der Geburt anwesend waren, denn sie brauchten viele Zeugen, da dieses Kind Henrys Zeugungsfähigkeit beweisen sollte. Und das hat meine Amme mir erzählt: daß Alia auf die Nachgeburt und das Kind und das damit nun einmal verbundene Blut geblickt und gesagt hätte: >Das sind blutige Felder, zu denen ich gebracht wurde. Nehmt das weg.< So wurde er Sanglant gerufen, denn das war der Name, den sie von ihr hörten.« Sein Ton veränderte sich, und er heftete seinen Blick jetzt hart auf Liath. »Liath. Von jetzt an wirst du mit mir reiten, wenn ich weg muß. Du kannst doch reiten, oder?« Sie nickte stumm. »Dann komm.« »Aber es ist so kalt draußen.« »Du kommst mit. Sofort.« Sie stand auf. 196 5 Ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf Hanna zu werfen, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen, schritt Liath den Mittelgang so steif entlang, als würden ihre Beine von Marionettenfäden bewegt, vorbei an Hugh und hinaus aus der Kapelle. In dem Augenblick, da sie außer Sichtweite war, schaute Hugh zum ersten Mal Hanna an, schien sie jetzt erst richtig wahrzunehmen. Er musterte sie, als wollte er herausfinden, ob sie eine Bedrohung für ihn darstellen könnte. Dann verdrängte er sie mit einer unbewußten, mißbilligenden Kopfbewegung aus seinen Gedanken und folgte Liath.
»Närrin«, stieß Hanna atemlos hervor, als sie seine Gestalt in der noch unbeleuchteten düsteren Kirche verschwinden sah. Und doch, wie konnte sie ihn ansehen und dann ohne Abscheu mit dem jungen Johann mit seinem Narbengesicht, den schmutzigen Fingernägeln und der schweren, bedächtigen Sprechweise das Hochzeitsbett teilen? »Närrin«, wiederholte sie, nur um sicherzustellen, daß sie auch verstand, was sie war. Befriedigt kniete sie auf dem gepolsterten Kissen, auf dem Liath gekniet hatte, das noch warm von der Kohlenpfanne war. Und sie dachte nach, lange und angestrengt, über das, was sie gerade gesehen hatte. Als sie die Kapelle verließ, schlug sie nicht den Weg zur Schenke ein, sondern begann den längeren Marsch zu Graf Harls Landsitz. Möglicherweise, mit etwas Glück, konnte sie ihm die Erlaubnis abringen, daß sie sich mit Ivar treffen durfte, wo immer er ihn bis zum Frühling, wenn es nach Quedlingham gehen sollte, auch verbarg. Bei all seiner Verbitterung - denn alle wußten inzwischen, daß das Mädchen aus 197 dem Süden die Konkubine des Fraters war -, besaß sie Hunderte von Mitteln, um ihn zu zwingen, eine Nachricht mit nach Süden zu nehmen, wenn er aufbrach. Dieser Mann, der vor drei Monaten durch die Stadt gekommen war, hatte weder besondere Kleidung noch irgendein Abzeichen getragen, an dem er irgendwie zu erkennen gewesen wäre. Doch spät in der Nacht, als sie das Feuer schürte, hatte sie gesehen, wie er etwas auf Pergament schrieb. Einen Brief vielleicht, obwohl er sicherlich kein Kirchenmann war, denn er trug einen Bart. Und welcher Soldat konnte schon schreiben? Sie war näher herangeschlichen, hatte versucht, einen Blick auf das Pergament zu erhaschen, und mit viel Glück und Zufall hatte sie gesehen, wie er ein Symbol auf den unteren Rand des Blattes malte. Zwar mochte sie des Lesens unkundig sein, aber als Tochter des Schenkenwirts kannte sie viele Symbole. Und dieses hier kannte sie gut, obwohl die Bewohner von Friedleben, so weit nördlich, es selten genug zu Gesicht bekamen. Es war das Symbol der Adler des Königs. V Das innere Herz
1 »Denn im Heiligen Buch steht geschrieben«, predigte Frater Agius, »daß unsere Leiden die Buße für unsere Sünden sind.« Was auch stimmte, dachte Alain, als er sich zum Schlußgebet erhob. Niemals zuvor hatte er sich so glücklich gefühlt, aber niemals zuvor auch so erbärmlich wie in dem vergangenen halben Jahr, seit der Herbst in den Winter übergegangen war, der sich jetzt, mit beginnender Schneeschmelze, zum Frühling wandelte - so wie alles Leben dem Kreis der Einigkeit folgte und sich in einem ewigen Kreislauf befand. Er lernte mit Waffen umzugehen wie die Soldaten aus alten Erzählungen; es war genau das, was ihm in der Vision auf dem Drachenrücken versprochen worden war und was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Doch die anderen Männer und Frauen auf der Burg mieden ihn, abgesehen von Simplizius - zum Teil wegen der Hunde, zum Teil aber auch, weil er sich tief in seinem Innern 199 dagegen gesträubt hatte, in den Dienst des Herrn und der Herrin zu treten, obwohl sein Vater ihn bereits der Kirche versprochen hatte. »Gebet den Segen«, sprach die Versammlung geschlossen. Agius erhob die Hände gen Himmel. Seine Stimme war kräftig, genau richtig für die langen Predigten, mit denen er die Bewohner von Burg Lavas unterhalten mußte, seit Diakonissin Waldrada so starkes Lungenfieber hatte, daß sie nicht mehr als ein leises Flüstern hervorbringen konnte. »Möge der heilige Daisan, der jetzt am Busen Unserer Mutter weilt, Gnade mit uns haben und uns erlösen. Mögen auch die anderen sich bei der Mutter und dem Vater des Lebens für uns einsetzen: die heilige Cecilia, die an diesem Tag besonders verehrt wird, der heilige Lavrentius, dessen Gebeine diese Kirche weihen, dementia die Zweite, die Mutter unter den Heiligen und Skopos in Darre, sowie all die anderen Heiligen. Denn Sie sind barmherzig und lieben die Menschen. Amen.« Alain wartete mit den übrigen, bis Graf Lavastin und seine Familie die Kirche verlassen hatten. Dann berührte er Simplizius sanft am Ellenbogen, doch der Junge starrte abwesend auf das große Kirchenfenster, das in schillernden Farben leuchtete, rot und gold, azur und smaragdgrün. Er hatte den Kopf merkwürdig zu einer Seite geneigt, so daß er mehr dem Kind eines Kobolds ähnelte als dem Sohn einer menschlichen Mutter. Es war immer etwas Todgeweihtes um ihn, etwas Verwachsenes. Jetzt strömten die anderen Kirchgänger nach draußen. Alain zupfte etwas stärker an Simplizius' Arm, und jetzt zuckte der Junge zusammen, blickte sich hastig um und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen. Er brachte einen dreckigen Stoffetzen zum Vorschein, in dem ein Stück Käse und eine Zwiebel eingewickelt waren. Eifrig humpelte er an Alain vorbei, auf das Vestibül und die Türen zu. 200
Alain folgte ihm rasch. »Simplizius«, rief er so leise wie möglich. »Das darfst du nicht, es ist verboten.« »Mein Freund.« Alain fuhr herum. Frater Agius schaute ihn vom Altar aus an. Sein wacher Blick machte Alain nervös, und es schien ihm, daß der Kirchenmann seit dem Zwischenfall mit den Hunden viel zu häufig so eigenartig aussah. Er nickte. »Kastellanin Dhuoda sagte mir, daß du eigentlich für die Kirche bestimmt warst.« »Ja, Bruder.« Alain hielt den Blick gesenkt. »Ich sollte in das Kloster am Drachenschwanz eintreten.« »Ein Kloster des Königs, nicht wahr?« »Ja, Bruder.« »Haben die Aikha es nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt und die Mönche getötet?« »Ja, Bruder.« »Dennoch warst du vor vier Monaten rasch bereit, den gefangenen Aikha vor weiteren Verletzungen zu bewahren, nicht wahr?« »Ja, Bruder.« »Weshalb?« »Die Herrin lehrt uns, gütig zu sein, Bruder.« Seine Antwort kam rasch, in der verzweifelten Hoffnung, daß Frater Agius diese Befragung beenden würde und er hinausgehen könnte, bevor man Simplizius entdeckte. »Empfindest du denn gar keinen Haß gegenüber dem Aikha? Er war möglicherweise daran beteiligt, als die Männer ermordet wurden, die beinahe deine Brüder geworden wären. Könnte es sein, mein Freund, daß du der Kirche gegen deinen Willen versprochen worden bist?« Alain errötete und hielt den Kopf gesenkt; er antwortete nicht. 201 »Wer sind deine Eltern?« Agius verließ jetzt das Podest und kam durch den Mittelgang auf Alain zu. Der Geruch von feuchter Wolle und den Gewürzen des Heiligen Wassers stieg Alain in die Nase - und der anhaltende Duft von Rosenöl. Agius' Hände waren braun gefleckt und voller Schwielen; es waren die Hände eines Mannes, der an körperliche Arbeit gewöhnt war. Und doch verriet sein Akzent ihn als einen Mann von hoher Geburt. »Ich weiß nicht, wer meine Mutter war, Frater Agius. Henri von Osna, Sohn von Adelheid, hat mich aufgenommen. Er ist der Vater, den ich kenne. Meine Familie lebt in Osna: meine Tante Bei, Henris Schwester mit ihren Kindern, die mich als ihren Cousin betrachten. Dort bin ich aufgewachsen.« »Bei und Henri? Benannt nach Henry mit >y< und Sabella, nehme ich an, aber mit einem Hauch Salianisch. Doch du bist ein Ziehkind?« Agius hatte einen scharfen Verstand; er besaß die Fähigkeit, rasch das Wesentliche zu erkennen. Zumindest war das Alains große Sorge. »Ja, Bruder.« »Die Leute hier sagen, daß der alte Graf Lavastin, der Großvater des gegenwärtigen Grafen, einen Pakt mit den Teufeln schloß, um diese Hunde zu bekommen.« Alain zuckte zusammen; er wünschte, er wäre nicht so aufgefallen. »Es heißt auch, daß bei diesem Handel Blut gefordert und Blut versprochen wurde und daß die Hunde nur dem Grafen oder seinem Erben gehorchen würden, jemandem von gleichem Blut und Geschlecht. Ich habe Kastellanin Dhuoda gefragt, ob du möglicherweise der Bastard von Graf Lavastin sein könntest. Ich bin die Berichte durchgegangen, und nach meinen Berechnungen müßte er dich genau um die Zeit gezeugt haben, da er mit jener Frau verlobt wurde, die er später heiratete. Doch zu einem solch heiklen Zeitpunkt wäre es peinlich gewesen, einen 202 unehelichen Sohn von einem gewöhnlichen Mädchen zu haben, so schön sie auch gewesen sein mag, nicht wahr? Viele solcher Bastarde werden der Kirche übergeben, damit sie der Familie aus dem Weg sind.« Etwas in seiner Stimme ließ Alain aufhorchen, und er blickte Agius an. »Sprecht Ihr von Euch? Seid Ihr ein Bastard, der gegen seinen Willen der Kirche übergeben wurde?« brach es aus ihm heraus. Agius lächelte nicht. »Nein, ich bin nicht ... Ich trat gegen den Willen meiner Eltern in die Kirche ein. Ich war mit einer Frau verlobt, die ich nicht heiraten wollte. Für meine Familie wäre es eine gute Heirat gewesen, aber nicht für mich, denn ich hatte mich in meinem Herzen bereits -«, hier brach er ab und fuhr erst nach einer kleinen Pause fort, »- Unserer Segensreichen Herrin verschworen.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Die Herrin segnete mein Anliegen. Ich hatte einen Bruder, der ein Jahr jünger war als ich und viel besser aussah; er war einer solchen Vermählung durchaus zugeneigt, und gemeinsam überzeugten wir meine Verlobte davon, daß er die bessere Wahl wäre. So legte ich mit achtzehn Jahren das Gelübde ab, und mein Bruder heiratete kurze Zeit danach. Er ist inzwischen tot; er fiel in einem von König Henrys Kriegen.« Er sprach dies ruhig aus, doch Alain meinte erkennen zu können, daß in seinen Augen Wut aufblitzte und sein Mund vor Verbitterung zuckte. »Doch du siehst gar nicht so aus. Andererseits ist das Blut der Mutter in ihrem Kind meist stärker als das des Vaters.« Es dauerte einige Zeit, bis Alain verstand. Du siehst gar nicht so aus wie Graf Lavastin. Das war es, was Bruder Agius meinte. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich Graf Lavastins Sohn bin?« fragte er ein wenig verärgert, daß Henri so schnell beiseite geschoben wurde. »Ich wurde von anderen 203 großgezogen. Selbst wenn es stimmt, hat er mich doch damals loswerden wollen.« »Du glaubst doch nicht wirklich, daß es damit getan wäre, nicht wahr? Viele edle Herren und Frauen gewähren
den Bastarden, die sie gezeugt oder geboren haben, ihre Gunst, verschaffen ihnen manchmal sogar Wohlstand. Wenn dein Herz tatsächlich der Kirche geweiht ist, mußt du immer daran denken, wie du Unserer Herrin und dem heiligen Daisan dienen könntest. Der Sohn einer Edelfrau kann der Kirche Wohlstand und Ländereien bringen, der Sohn eines Edelmannes ein Kloster stiften, oder seine Eltern können, wenn sie ihn sehr lieben, eine Einrichtung gründen, in der sie ihn unterbringen.« »Auch wenn es wahr wäre«, flüsterte Alain, »bin ich doch jetzt nichts weiter als der Sohn eines Kaufmanns. Niemals könnte ich so etwas beweisen.« Selbst wenn er wünschte, daß es wahr wäre. Denn das Kind von Edelleuten, selbst wenn es sich um einen Bastard handelte, durfte durchaus berechtigte Hoffnungen hegen, eines Tages in die Dienste des Königs treten zu können, Ländereien zu erben, die es gestatteten, eigene Truppen zu führen oder zumindest in die Elitekavallerie des Königs aufgenommen zu werden - die Drachen. »Ich habe die Berichte über die Geburten in dem Jahr studiert, in dem du offensichtlich geboren bist. Nur drei von den Kindern kann ich nicht einordnen, weil sie namenlos blieben. Die anderen starben als Kleinkinder und stiegen in die Kammer des Lichts auf, und ihr Tod wurde im Kirchenregister vermerkt, oder ich habe sie auf andere Weise gefunden und sie munter und gesund mit eigenen Augen gesehen. Von jenen dreien war eines ein Mädchen, das von einem rechtmäßig verheirateten Paar stammte und bald danach mit seinen Eltern verschwand. Bei den anderen beiden steht lediglich fest, daß sie von unverheirateten Frauen geboren wurden, deren Namen 204 nicht verzeichnet sind, wenngleich zumindest eine von ihnen zur Buße ihrer Sünden eine Strafe erhielt. Die Diakonissin, die in jenen Tagen zuständig war, ist zwar mittlerweile tot, aber Alma hat ein außerordentlich gutes Gedächtnis für solche Dinge. Sie hat mir felsenfest versichert, daß in jenem Jahr kein anderes Kind geboren und weggegeben wurde. Und sie kann sich auch nicht an ein Findelkind erinnern, das vor den Toren der Kirche abgelegt worden wäre.« Alain versuchte sich vorzustellen, daß Graf Lavastin ihn als seinen unehelichen Sohn anerkannte, ihn als Kind von seinem Blut in einen neuen, höheren Rang erhob. Doch vor seinem geistigen Auge erschien nur das traurige Gesicht seines Vaters, in Erinnerungen an die Frau versunken, die Alains Mutter gewesen war. Eine Frau, die Henri geliebt hatte. »Hast du nichts dazu zu sagen? Du bist doch ein zielstrebiger Junge, oder nicht?« »Das Kind des edlen Herrn Jeoffrey, das Mädchen, das Edelfrau Aldegund im Herbst geboren hat, wird die Erbin von Graf Lavastin sein. Ich habe gehört, wie sie davon sprachen.« »Wenn sie überlebt. Und wenn es keinen geeigneteren Kandidaten gibt. Edelfrau Aldegund hat wendische Verwandte. Das ist Grenzland, ja, aber die Leute hier würden ein Kind mit varrischem Blut bevorzugen. Unehelich oder nicht.« »Es gibt keinen Beweis«, wiederholte Alain. Er fühlte sich furchtbar unwohl angesichts der Hartnäckigkeit, die Agius an den Tag legte. Konnte der Frater ihn nicht einfach in Ruhe lassen? »Ich habe niemals irgendwen sagen hören, daß der Graf ein Kind mit einer Dienerin hatte. Sicher würde es darüber Gerüchte geben, wenn es allgemein bekannt wäre. Graf Lavastin hatte einen Erben, aber das Kind ist tot, nicht wahr? Sicher wird er wieder heiraten.« »Möglicherweise. Niemand spricht heute noch über diese 205 unglückseligen Geschehnisse; wenn sie erwähnt werden, dann nur als schrecklicher Unfall. Nun gut. Zweifellos wird Graf Lavastin die Umstände deiner Geburt näher untersuchen, wenn er es wünscht. Es geht mich im Grunde auch nichts an. Er gehört nicht zu meiner Familie, und ich bin ohnehin der Kirche verschworen, nicht mehr von Bedeutung für die Belange dieser Welt.« Seine Stimme wurde schroff; plötzlich schienen andere Dinge seine Gedanken in Beschlag zu nehmen. »Ich werde mit Meister Rodlin und Feldwebel Fall reden. Ich möchte, daß du jeden Tag eine Stunde zu mir kommst. Ich kann nicht vergessen, daß du noch immer der Kirche versprochen bist. Ich werde dich im Lesen und Schreiben unterrichten, wie es sich gehört.« Er drehte sich brüsk um, kniete nieder und begann zu beten. Alain ging so lautlos wie möglich den Mittelgang entlang. Sobald er das Vestibül erreicht hatte, schoß er nach draußen. Zu spät! Da lag der verdammte Beweis, direkt neben ihr. In Sackleinen gekleidet, die Haare mit Asche beschmiert, hockte Witti weinend auf dem kalten Boden neben der Kirchentür. Wie bereits seit zehn Tagen, seit der Hauptmann sie mit dem jungen Herik in den Ställen dabei erwischt hatte, wie sie sich vergnügten. Es hatte noch andere Zeugen gegeben, und so hatte er keine andere Wahl gehabt, als von ihnen zu verlangen, öffentlich ihre Schuld zu bekennen. Frater Agius hatte verlangt, daß die Sünder ihre volle Strafe abbüßen müßten, doch der Hauptmann hatte Herik zurück in sein eigenes Dorf geschickt, wo die dortige Diakonissin möglicherweise mehr Gnade walten lassen würde. So weinte Witti also, und ihre blauen Augen waren längst nicht mehr schön, sondern ganz geschwollen von Tränen, und die Wangen waren spröde von der Kälte, die Hände rot und rissig. Simplizius hatte den Käse und die Zwiebel so hingelegt, daß sie für alle sichtbar waren. Es war ein Angebot für Witti, 206 denn soweit er verstand, durfte sie außer Wasser und Brot nichts zu sich nehmen. Er hatte sich hinter einer Ecke der Kirche versteckt, und als er Alain sah, kam er hervorgeschossen. Seine Worte klangen weniger wie die eines
menschlichen Wesens als vielmehr wie die Grunzlaute und das Geschrei wilder Waldtiere. Witti schluchzte vor Scham. Einige der Soldaten, die in einiger Entfernung vorbeikamen, drehten sich nach ihr um. Alain machte einen Satz nach vorn und schob den schmutzigen Stoffetzen mit dem verbotenen Schatz unter ihr Sackleinen. Sie schluckte die Tränen hinunter. Ihre Hand krampfte sich um das Päckchen. »Hast du das für mich geholt?« flüsterte sie. »Es ist eine Sünde, die Bürde einer Strafe zu erleichtern, denn du hast nicht die Befugnis einer Diakonissin oder eines Fraters, das Urteil eines sündigen Menschen zu mildern.« »Es ist nur eine geringere Sünde«, erwiderte Alain rasch. Er konnte nicht anders, als Mitleid für sie zu empfinden. Simplizius grunzte aufgeregt neben ihm. »Und ich war es auch gar nicht. Es war Simplizius -« Sie sah Alain mit ihren blauen Augen an. »Ich werde es nicht vergessen«, sagte sie, aber zu Alain, nicht zu Simplizius. Der Schwachsinnige neigte seinen Kopf zur Seite und sah sie an. Er versuchte zu sprechen. »Wiigii.« Sie erschauderte und zuckte vor ihm zurück. Er hatte nur versucht, ihren Namen auszusprechen. Frater Agius erschien an der Tür. »Freunde.« Er trat zu ihnen. »Mitleid ist eine Tugend, aber die Strafe reinigt die Seele. Dafür, daß du mit dieser Büßerin gesprochen hast, Alain, wirst du am nächsten Herrintag fasten und über die Bedeutung der Lektion nachdenken, die ich dir heute erteilt habe. Möge die Herrin Erbarmen mit deiner Seele haben. Amen. Und jetzt komm. Ich möchte mit Meister Rodlin und Feldwebel Fall sprechen.« 207 Wie alle anderen ignorierte auch Agius den Schwachsinnigen. Alain blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Was konnte er auch schon für Witti tun? Seit der Rückkehr des Grafen und dem Zwischenfall mit den Hunden hatte sie ihn gemieden wie alle anderen, und dennoch schmerzte es ihn, sie als solch jammerndes Häufchen Elend vor der Kirche auf der Erde liegen zu sehen. Diakonissin Waldrada war niemals so hartherzig gewesen. Das Beste jedoch, was man von Frater Agius sagen konnte, war, daß er allen mit gleicher Härte begegnete, auch sich selbst. Simplizius blieb noch eine Zeitlang bei Witti, doch als sie noch immer mit keiner Geste zu verstehen gab, daß sie ihn bemerkte, verlor er schließlich den Mut und sauste hinter Alain her. Er war genauso treu wie die Hunde, wurde aber wesentlich schlechter behandelt. Er bekam niemals Fleisch, nicht einmal an Festtagen, denn solch schmackhafte Nahrung galt bei einem Schwachsinnigen als Verschwendung. Er hatte nicht nur ein merkwürdiges Gesicht, sondern war auch noch dürr und klein, und seine krummen Beine verliehen seinem Gang immer etwas seltsam Rollendes. Selbst die furchterregenden Hunde, die nach allen anderen schnappten und jeden zu beißen versuchten, behandelten Simplizius mit Zurückhaltung, obwohl er sie natürlich nicht unter Kontrolle halten konnte. Alain bedauerte ihn und tat, was er konnte, um ihn vor den Spötteleien und Grausamkeiten der anderen jungen Frauen und Männer zu schützen. Frater Agius marschierte schnell, und Alain mußte fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Schon bald hatten sie die Soldaten eingeholt, die auf dem Rückweg zur Burg waren. Wäre Alain allein gewesen, hätten ihn die Soldaten ausgelacht, oder sie hätten ihm dumme Sprüche an den Kopf geworfen; etwas, mit dem er gelernt hatte umzugehen, denn inzwischen 208 begriff er es als eine Strafe, die er ohne Klagen erdulden mußte, so wie Witti draußen vor der Kirche saß. Jetzt jedoch, da er unter dem Schutz von Frater Agius stand, sahen sie ihn nur an und tuschelten miteinander. Sie fanden Meister Rodlin und Feldwebel Fall im Burghof. Alles war so vorbereitet, wie Frater Agius es gewünscht hatte. »Nun«, grunzte Feldwebel Fall, nachdem Agius gegangen war. »Du scharst ja seltsame Wohltäter um dich, mein Junge.« Er wechselte einen Blick mit Meister Rodlin, der mit gefalteten Händen reglos neben ihm stand. Alain brannte förmlich darauf, von diesen beiden, die schon lange in Lavastins Diensten standen, zu erfahren, ob sie ihn für den Bastard des Grafen hielten. Aber er traute sich nicht zu fragen. Als Feldwebel Fall die jungen Männer, die er zu Fußsoldaten ausbildete, hinaus ins freie Gelände führte, war auch Alain dabei, wie er den ganzen Winter über dabeigewesen war. In diesem Jahr hatte es nicht viel Schnee gegeben, und obwohl die Messe von St. Herodia als Zeichen für die Schneeschmelze noch nicht gefeiert worden war, hatte der winterliche Wind die Felder bereits leergefegt. So standen sie auf einem flachen, ebenen Grund, der sich hervorragend für Waffenübungen eignete. Alain tat so, als würde er nicht bemerken, daß die anderen jungen Männer ihn härter als nötig mit den gepolsterten Speerspitzen trafen, daß sie ihm die gepanzerten Oberarme an den Kopf schlugen oder ihn innerhalb der Formation dorthin drängten, wo die Gefahr am größten war. Jeder einzelne blaue Fleck härtete ihn nur noch mehr ab. Feldwebel Fall nickte ernst und erklärte, wenn auch nur ein einziges Mal, daß er sich bei den Übungen gut mache. Einmal hatten sie die Aufgabe, als Treiber an einer Beizjagd des Grafen teilzunehmen. Alain mußte freilich in der Nähe der 209 Hunde bleiben und darauf achten, daß sie nicht die Reiter anfielen. Im Wald hinter den alten Ruinen brachten sie schließlich einen Eber zu Fall, und der Todesstoß gebührte dem jungen Sohn von Jeoffrey, dem Kind seiner ersten Frau. Eine Stunde täglich saß Alain bei Frater Agius; eifrig wiederholte er die Buchstaben und arbeitete daran, die
Passagen des Heiligen Buches auswendig zu lernen. An den Abenden saß er in der Halle und aß und trank und ließ dabei heimlich Simplizius kleine Stücke vom Fisch zukommen. Er lauschte den Liedern der Poeten und den Melodien der Musikanten, sah den Schauspielern zu, die den Grafen, seine Familie und die Gäste mit ihren derben Spaßen unterhielten. Und schließlich huschte er zu seiner Pritsche im Zwinger, verkroch sich unter der dicken Wolldecke, die Tante Bei ihm durch einen Wanderarbeiter im Herbst hatte bringen lassen. Nur im Zwinger, allein mit den Hunden, fand er Frieden - bei den Hunden und dem im Käfig eingesperrten Aikha-Prinzen. Die Kreatur hatte den kalten Winter anscheinend ohne jeden Schaden oder auch nur Unbehagen überstanden. Der Aikha-Prinz faszinierte Alain. Er war ein Tier, eine wilde Bestie, und in der ersten Woche seiner Gefangenschaft hatte er beinahe einem der Hundeführer, der ihm das Essen gebracht hatte und ihm dabei zu nahe gekommen war, die Kehle zerfleischt. Der Mann war zwar nicht gestorben, würde aber nie wieder sprechen können. Anscheinend respektierte der Prinz nur die Hunde, vermutlich, da sie ihm in ihrer wilden Wut ähnlich waren. Es gehörte zu Alains Aufgaben, ihm zweimal am Tag das Essen zu bringen, einmal gegen Mittag und einmal am Abend. Alain hatte immer die knurrenden Hunde dabei, wenn er ihm eine Schüssel mit Fleisch und Haferschleim brachte - das war die einzige Nahrung, die der Aikha zu sich nahm -, dann eine 210 seiner Hände losband und außer Reichweite trat, während der Prinz aß. Das war das Merkwürdige. Der Prinz hatte höchst pingelige Angewohnheiten, was das Essen und die Pflege seines Körpers betraf. Er verschlang das Fleisch nicht einfach, obwohl er bei den kleinen Portionen, die der Graf ihm zukommen ließ, immerzu hungrig sein mußte. Nein, er aß ausgesprochen elegant und akkurat, hatte sogar bessere Manieren als die meisten Edlen, die am Tisch des Grafen saßen. Wenn er sich erleichtern mußte (was, wie Alain vermutete, weit seltener geschah als bei jedem Menschen), tat er das immer an der gleichen Stelle, in der hintersten Ecke des Käfigs, so weit er mit den Ketten kommen konnte. Alain hatte schließlich Mitleid mit ihm und säuberte diese Ecke jeden Jedutag, da kein anderer Mann sich in die Nähe des Käfigs traute. Der Prinz beobachtete ihn dabei, aber selbst wenn seine Hand zum Essen frei war, versuchte er nicht, ihn anzugreifen. Vielleicht tat er es nur deshalb nicht, weil Alain immer die Hunde mit in den Käfig nahm, die sicherlich so furchterregend und gefährlich waren wie der Prinz mit seinen Klauen und Kupferschuppen. Vielleicht, so hatte er einst Meister Rodlin flüstern hören, erkannte dieser Aikha-Teufel auch, daß Alain von einem nichtmenschlichen Vater gezeugt worden war. Doch Rodlin behandelte Alain gerecht; im Gegensatz zu Simplizius und den anderen Jungen, die unter ihm dienten, wurde er nie geschlagen, wenn er einen Fehler gemacht oder die Arbeit nicht schnell genug erledigt hatte. Doch wie konnte er das Kind einer menschlichen Frau und der geisterhaften Erscheinung eines Elfenprinzen sein, wenn er in Wirklichkeit der Bastard von Graf Lavastin und einem Dienstmädchen war? Wie ein Büßer erduldete der Aikha-Prinz die Gefangenschaft den ganzen Winter über ohne Murren und Klagen. 211 Das Fest von St. Herodia kam und ging, und Mariannatag rückte näher, der erste Tag im Frühling und Beginn des neuen Jahres; nach Schätzung von Frater Agius war es das sieben-hundertachtundzwanzigste Jahr nach Verkündung der Göttlichen Botschaft durch Daisan, der auch der Verkünder genannt wurde. Ein Fremder erschien auf der Burg und wurde in das private Gemach des Grafen geleitet; zwei Stunden später kam er wieder heraus und ritt auf einem frischen Pferd in südlicher Richtung davon. Sofort setzte das Getuschel ein. »Ist es wahr? Wird Prinzessin Sabella kommen?« »Hat der Graf vor, sich an ihrer Rebellion zu beteiligen? Ihr als Vasall die Treue zu schwören?« »Werden wir gegen den König in den Krieg ziehen?« »Nicht gegen unseren König. Henry ist nicht der rechtmäßige König von Varre, nur von Wendar. Sein Großvater hat den Thron von Varre für seine eigenen Kinder an sich gerissen.« Alain nahm allen Mut zusammen, und an St. Rozina, eine Woche vor Mariannatag, stellte er Frater Agius zwei Fragen. »Ich bitte um Vergebung, Bruder, aber werde ich in mein Dorf zurückkehren, wenn mein Jahr vorüber ist?« »Dein Jahr?« Agius war geistesabwesend. Er blätterte im Heiligen Buch, blickte aber nicht auf die Seiten. »Mein Dienstjahr. In vierzehn Tagen ist St. Eusebe.« Agius runzelte die Stirn. »Wenn du zurückkehren willst, mußt du mit Kastellanin Dhuoda sprechen. Das fällt in ihren Bereich, nicht in meinen. Sicherlich würde eine solche Entscheidung auch in den Händen deiner Tante liegen. Aber ich glaube nicht, daß Graf Lavastin in diesem Jahr auf einen seiner Soldaten verzichten kann.« »Ich möchte gar nicht zurück, noch nicht«, sagte Alain ha212 stig, um nicht mißverstanden zu werden. Er wollte ja bleiben; er war noch nicht bereit, nach Osna zurückzukehren. Aber ließ er nicht seinen Vater und seine Tante im Stich, wenn er so lange hierblieb, während sie doch zu Hause sicherlich seine Arbeitskraft gebrauchen konnten? Aber sie würden ihn nur in ein anderes Kloster schicken. Agius sah ihn neugierig an. Alain stellte die andere Frage: »Stimmt es, daß Prinzessin Sabella herkommt?«
»Es stimmt«, antwortete Agius. »Aber wir sind nicht darauf vorbereitet -« Er schluckte den Rest des Satzes hinunter. Agius war zu beschäftigt; er hatte ein Messer in der Hand und bearbeitete den Lampendocht, und vermutlich waren die Worte nicht einmal richtig zu ihm durchgedrungen. Beim Blute der Herrin! Eine Prinzessin aus dem königlichen Haus von Wendar und Varre kam hierher, zur Burg Lavas! An diesem Abend erhob sich Graf Lavastin während des Essens in der Halle. Seine Rede war kurz und ohne Umschweife. »Ich habe eine Nachricht von Ihrer Höchsten Exzellenz Sabella, Tochter Arnulfs des Jüngeren, des Königs von Wendar, und der Königin Berengaria von Varre, deren Namen wir in unseren Gebeten würdigen. Sie entbietet uns ihre Grüße und erklärt, daß sie in zehn Tagen mit ihrem Gatten, Prinz Berengar von Varre, und ihrer Tochter Tallia sowie ihrem Gefolge auf Burg Lavas eintreffen wird.« Alma tobte, als sie wieder in ihrem Reich war. »Zehn Tage! Ihr Jungen müßt jedes Schwein und jedes Schaf aus den umliegenden Dörfern herbeischaffen. Wir brauchen mindestens fünfhundert. Wo sollen wir um diese Jahreszeit genug Wein und Bier herbekommen? Und Korn. Hühner! Fünf Wagenladungen mit Rüben, wenn es überhaupt noch welche in den Kellern gibt. Strengt euch an!« 213 Kastellanin Dhuoda und ihre Gehilfen durchkämmten das umliegende Land; sie bemühten sich zehn Tage lang nach Kräften, Alma mit weiteren Nahrungsmitteln zu versorgen und auch mit zusätzlichem Dienstpersonal. Alain arbeitete von früh bis spät, schleppte Holzstämme herbei und errichtete daraus vorübergehende Unterkünfte. Es war keine Zeit mehr für Waffenübungen, und es gab auch keinen Unterricht bei Frater Agius. Seltsamerweise vermißte er das zweite so sehr wie das erste. Als an Penitir die Morgendämmerung einsetzte und die Kirchenglocken läuteten, war das für die Gläubigen die Aufforderung zum Tag der Reue und Buße. Alain erhob sich; er fütterte die Hunde und befeuchtete seine Kehle mit frischem Regenwasser aus dem Wasserfaß. Vom Palisadenzaun aus konnte er die Straße sehen, die sich durch das Tal hindurch zur Kirche von Lavas wand. Es waren bereits Leute unterwegs zur Kirche, einige rutschten auf ihren Knien, andere gingen tiefgebeugt, der Rest hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Frater Agius würde die Morgenmesse halten, denn Diakonissin Waldrada war noch immer zu krank, um predigen zu können. Wie die Stallburschen und Viehhirten mußte er sich erst um seine Schützlinge kümmern, bevor er beten konnte. Auch der heilige Daisan hatte bereits geweint, gebetet und Buße getan für die Sünden der Gläubigen, deren Hirte er war, bevor er Erlösung von der Erde finden konnte und durch Sieben Sphären zum Herzen des Herrn und der Herrin aufgestiegen war. Alain spürte, daß ihn jemand beobachtete, und drehte sich um. Der Aikha-Prinz starrte ihn an. Seine Haare, die so weiß wie Elfenbein waren, zeichneten sich als blasse Linie gegen die dunklen Gitterstäbe seines Käfigs ab. Schlief er jemals? Alain begann zu glauben, daß er es nicht tat. 214 Meister Rodlin hatte ihm keine konkreten Anweisungen für den Prinzen gegeben. Alle fasteten an Penitir. Aber hatte sich der Aikha-Prinz nicht falschen Göttern verschworen? Alain beschloß, daß es barmherziger wäre, ihm Essen zu geben. So brachte er dem Prinzen seine übliche Ration, und während er aß, erzählte Alain ihm mit ruhiger Stimme - denn er wollte ihn nicht erschrecken - vom heiligen Daisan und dem Heiligen Kreis der Einigkeit. Schließlich konnte man allen Kreaturen das Licht der Gläubigen bringen. Waren nicht auch die Kobolde aus dem Harenz-Gebirge durch die eifrigen Bemühungen von St. Martus und seiner Schwester, der heiligen Märtyrerin St. Plazidana, zum Glauben bekehrt worden? »An diesem Tag erinnern wir uns an unsere Sünden«, sagte er. Seine Stimme klang fremd in der kühlen, stillen Morgendämmerung, beinahe körperlos, als wenn jemand anderer sprechen würde. Die Hunde knurrten leise, während sie auf ihren Knochen herumkauten, so als würden sie Widerspruch gegen das erheben, was er gesagt hatte. Der Prinz aß vollkommen geräuschlos. »Und dann beten und fasten wir sieben Tage lang, genau wie der heilige Daisan am Herdfeuer in Sa'i's, der heiligen Stadt. Diese sieben Tage nennen wir die Ekstasis. Und während seiner Verzückung, während er betend die Erlösung für all diejenigen suchte, die möglicherweise in das Licht des Kreises der Einigkeit kommen könnten, stieg seine Seele durch die sieben Sphären empor und trat schließlich am Morgen des siebten Tages in die Kammer des Lichts. Und durch die Gnade Unseres Herrn und Unserer Herrin fand er sogleich Aufnahme im Himmel. Es steht geschrieben in den Taten von St. Thekla, die bezeugt hat, daß die Kirche vollkommen erhellt war vom Licht der Gnade Gottes und daß sie von seinem Leuchten noch sieben mal sieben Tage danach geblendet war. Doch der heilige Daisan war in die Kammer des Lichts überge215 gangen. An diesem Tag, den wir Translatus nennen, wird gefeiert und gejubelt, denn so werden wir alle Gnade finden in der Güte Unseres Herrn und Unserer Herrin.« Wie die Hunde schien auch der Prinz das Fleisch roh zu bevorzugen, und er aß alles, auch die Knochen. Jetzt hob er den Kopf und schmeckte mit seiner schmalen Zunge die Luft. Aus der Nähe schimmerte seine Haut in einem sanften Rotbraun, beinahe wie bei einer Schlange. Sein Schweiß und seine Haut rochen anders als bei einem Menschen, eher nach muffiger Erde in einem tiefen Grabgewölbe.
Und dann sprach er. »Elen.« Alain sprang vor Schreck zwei Schritte zurück. Dann trat er wieder vor und band die freie Hand des AikhaPrinzen wieder fest, so daß er nur noch seinen Kopf bewegen konnte. »Elen«, sagte der Prinz, die Augen fest auf Alain gerichtet, und reckte das Kinn. Seine Stimme hatte den weichen Klang einer Flöte. Er versucht auf mich zu zeigen, begriff Alain und erschauderte. Elen. »Mein Name ist Alain«, sagte er zögernd, nicht sicher, ob er die Absicht des Aikha richtig erraten hatte. »Ich bin Alain, der Sohn von Henri. Hast du einen Namen?« Er ahmte die Geste des Prinzen nach. »Hast du einen Namen?« Der Aikha bleckte die Zähne, aber Alain konnte nicht erkennen, ob er ihm mit der Grimasse Furcht einflößen wollte oder ob es der Versuch eines Lächelns war. »Henry. König.« Alain schluckte eine längere Erklärung hinunter. »König Henry herrscht in Wendar und Varre. Wie ist dein Name? Wer herrscht in dem Land, aus dem du kommst?« »Blutherz. König der Seefahrer. Ich auch Sohn. Sohn von Blutherz.« Der Sohn des Aikha-Königs! War es wirklich das, was der 216 Prinz sagte? Außer tiefem Erstaunen spürte er auch den Drang, lauthals aufzulachen: Der Aikha-Prinz hielt ihn, Alain, für den Sohn von König Henry! Noch bevor Alain antworten konnte, ließen die Hunde von den Knochen ab und stürzten zum Tor der Einfriedung. Der Aikha-Prinz riß seinen Kopf zurück und stimmte in das durchdringende Geheul der Hunde ein. Alain hielt sich die Ohren zu und stürzte aus dem Käfig; dann schlug er die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Was für ein Lärm! Die Hunde jaulten und kläfften wie verrückt. Er rannte zur Leiter, kletterte hinauf und sah von dort oben, was die Tiere und der Aikha bereits gerochen und gehört hatten. Dort unten marschierte die prachtvollste Prozession, die er jemals gesehen hatte. Etwa fünfzig Reiter kamen die Straße entlang, begleitet von einer großen Anzahl von Bediensteten und anderen, die zu Fuß gingen. Banner und Fahnen wehten im Wind, leuchteten in der Sonne, die das Tal mit ihrem Licht überflutete. Dann kamen Karren und Wagen, die meisten in hellen, leuchtenden Farben, und ganz zum Schluß folgten schließlich die Viehhirten und die zusätzlichen Pferde, außerdem einige unbeschreibliche Kreaturen sowie ein großer, verhüllter Käfig. Sofort kletterte Alain an der anderen Seite des Palisadenzauns hinunter und sprang auf den Boden. Er rannte. In seinem ganzen Leben hatte er niemals so etwas gesehen, niemals auch nur erwartet, so etwas jemals sehen zu dürfen: den Zug eines Prinzen oder einer Prinzessin. Er erreichte die Burgtore gerade rechtzeitig, um sich in eine kleinere Prozession einreihen zu können. An der Spitze schritt Graf Lavastin mit seinem Gefolge; er trug eine schlichte Tunika und einfache Strümpfe, wie es sich für den Tag der Buße gehörte. Er und sein Gefolge näherten sich zu Fuß der großen Kavalkade von Prinzessin Sa217 bella, und sie trafen vor der Kirche aufeinander, wo sich bereits einige Leute eingefunden hatten. Alain schnappte beim Anblick der schön gekleideten Edelleute und ihrer prächtigen Pferde nach Luft. In ihre Tuniken und die anderen Gewänder waren Goldfäden eingewebt. Sogar eine Bischöfin war bei ihnen; ihre weiße Robe war mit Goldpaspelierungen verziert, und ihr Maultier hatte einen wunderschönen Sattel voller Perlen und Silber. Doch das Atemberaubendste überhaupt war Prinzessin Sabella. Alain erkannte sie sofort, denn sie trug ein Golddiadem auf der Stirn und einen wunderschönen goldenen Halsreif. Sie war in eine reichlich mit Goldfäden durchwirkte Tunika gekleidet, die von einem mit Edelsteinen besetzten Gürtel zusammengehalten wurde, und ihre Beine trugen goldene Schnürungen. An dem Gürtel hing ein Schwert mit einem prächtigen Heft voller Goldeinlegearbeiten. Es war seltsam, aber nicht ungewöhnlich für eine Frau, ein Schwert zu tragen, und doch erschauderte Alain und fragte sich, wie der Graf wohl darauf reagieren würde. Eine Frau von ihrem Rang trug nur dann ein Schwert, wenn sie selbst - anstelle eines Familienmitglieds ein Heer anführen wollte. Ihr Gesicht war streng, die Haare waren straff zurückgebunden und mit goldenen und silbernen Schleifen verziert, aber wie bei einem Soldaten ohne Kopfbedeckung. Sie erinnerte ihn sofort an die Herrin der Schlachten, die er in der Vision beinahe ein Jahr zuvor gesehen hatte. Graf Lavastin begrüßte sie in der vorgeschriebenen, formellen Weise, half ihr jedoch nicht beim Absteigen. So mußte einer ihrer Vasallen ihr die Steigbügel halten, als sie sich vom Pferd schwang. Dann stieg auch ihr Gatte ab - ein dicklicher Mann, der sich nur durch den goldenen Halsreif von den anderen unterschied. Da eine ganze Reihe Mädchen Schals tru218 gen, sah sich Alain außerstande, Tallia - Sabellas Tochter - von den anderen zu unterscheiden. Er schlich sich leise zu den Kirchentüren, wo er auf Witti stieß, die wieder ihre gewöhnliche Position als Büßerin eingenommen hatte. Die Bischöfin führte die Gruppe zu den Türen, den Amtsstab in der Hand. Frater Agius war herausgekommen und kniete zum Gruß am Portal. »Wo ist Eure Diakonissin?« wollte die Bischöfin wissen. »Diakonissin Waldrada ist am Lungenfieber erkrankt, Euer Gnaden«, sagte Lavastin. »Sie hat sich noch nicht genug erholt, um die Messe halten zu können.«
»So gehorchen wir den Befehlen Unserer Herrin und Unseres Herrn. Wenn es auch nicht dem Brauch entspricht, kann mir dieser Kirchenbruder heute zur Seite stehen, zusammen mit meinen Geistlichen und Diakonissinnen.« Als sie beinahe am Portal angelangt war, dicht gefolgt von den Edelleuten, erblickte sie die im Staub kniende Witti. Sie deutete mit dem Stab auf das Mädchen. »Wer ist diese Büßerin, die mit ascheverschmierten Haaren zu Füßen der anderen kniet?« Alain, der dicht hinter ihr stand, sah Wittis Schultern bei den Worten der Bischöfin erbeben. Er wollte zu ihr eilen, wollte sie trösten und ihr versichern, daß diese Bischöfin mit dem freundlichen Gesicht und der sanften, wenn auch befehlsgewohnten Art sicherlich nicht härter sein konnte als Frater Agius. Er machte sogar bereits einen Schritt nach vorn, wurde aber durch den Klang von Agius' harter Stimme zurückgehalten. »Diese Büßerin hat sich zur Sünde der Unzucht bekannt, Euer Gnaden. Sie bereut ihre Sünde und verbringt jetzt die vorgeschriebenen hundert Tage vor der Kirche, damit alle sehen und hören, wie sie Unsere barmherzige Herrin anruft.« 219 »Armes Mädchen«, sagte die Bischöfin. Sie war eine alte Frau mit weißen Haaren, wirkte aber noch sehr kräftig. Ihre Wangen waren rosig, und augenscheinlich war sie bei guter Gesundheit. »Sollten wir an diesem Tag der Buße nicht auch barmherzig sein?« Sie trat vor und reichte Witti die Hand, doch die starrte sie nur an; vor Schreck stockte ihr der Atem. Die Menge tuschelte indessen angesichts der Milde, die diese große Bischöfin, eine Edle von hohem Rang, zeigte. »Komm, mein Kind, meinte die Bischöfin sanft. »Du mußt in das Haus Unserer Herrin und Unseres Herrn treten und von deinen Sünden befreit werden.« Witti brach in lautes Schluchzen aus, doch schließlich streckte sie die rissige, schwielige Hand aus, und die Bischöfin nahm sie in ihre eigene weiße und saubere und half ihr auf. Mit dem Mädchen an ihrer Seite führte sie die Prozession in die Kirche. Agius kniete noch immer. Er senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht, und so konnte Alain nicht erkennen, ob er wütend oder beschämt war. 2 Als Soldat in Ausbildung war es Alain gestattet, in der großen Halle an den Hohen Tischen zu bedienen. Dhuoda erinnerte sich rasch daran, daß sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, als er am Tisch seiner Tante in Osna bedient hatte. »Dein Benehmen ist vorzüglich«, erklärte sie. »Du kannst an den Hohen Tischen beim Servieren des Weins helfen.« Natürlich durfte er die Becher des Grafen, der Prinzessin Sabella oder einer der anderen hohen Persönlichkeiten nicht 220 selbst füllen; dafür hatten sie ihre eigenen Bediensteten. Doch er erhielt die wichtige Aufgabe, hinter dem Tisch zu stehen und darauf zu achten, daß die Krüge dieser Diener und Dienerinnen niemals leer waren. Weil es während der Heiligen Woche üblich war, wenig zu essen und zu trinken - oder gar zu fasten, wie Frater Agius es tat -, hatte Alain viel Zeit, einfach nur herumzustehen und zuzuhören. Und das tat er auch. »Ich bin der Graf eines Grenzlandes, Hoheit. Meine Ländereien liegen in beiden Königreichen.« »Und doch gehört der größte Teil Eures Besitzes zu Varre, nicht wahr? Ihr seid mit meinem Gatten Prinz Berengar verwandt und somit ein entfernter Verwandter der Krone von Varre.« »Die jetzt in den Händen von König Henry liegt.« Graf Lavastin hielt seine Zunge so sehr im Zaum, daß es Alain unmöglich war zu sagen, ob er Prinzessin Sabella oder König Henry unterstützte. Oder ob er sich überhaupt für eine Seite entschieden hatte. »Wohin sie nicht gehört. Ich und meine Tochter sind die letzten lebenden Erben des königlichen Hauses von Varre. Ich bin das einzige lebende Kind von Arnulf und Berengaria, deren Namen ich täglich in meine Gebete einschließe.« »König Henry ist ebenfalls das Kind von Arnulf.« »Von einer Mutter, die nicht einmal kraft ihrer eigenen Stellung Königin wurde, sondern nur durch die Heirat mit Arnulf. Ich bin die rechtmäßige Königin, Graf Lavastin, und sobald ich mit Hilfe meiner treuen Anhängerschaft den mir zustehenden Thron bestiegen habe, werde ich meine Tochter Tallia als Königin auf den Thron von Varre setzen und sie mit einem Mann von edlem Geblüt vermählen; es wird einer von denen sein, die mich unterstützt haben. So wird Varre als eigenständiges Königreich wiederhergestellt werden - unabhängig von Wendar 221 und dem regierenden Monarchen in Wendar nicht länger in steuerlicher und sonstiger Hinsicht verpflichtet.« Alain stockte der Atem, als er Sabella so offen sprechen hörte. Graf Lavastin besaß anscheinend ein unerschöpfliches Maß an Gelassenheit, denn kein noch so kleines Zucken seiner Mundwinkel zeugte von irgendwelchen Gefühlen. »Das sind rebellische Worte gegen König Henry, Hoheit. Immerhin erhielt er den Segen der Skopos in Darre sowie der Versammlung der Bischöfinnen und Presbyter von Autun. Henry wurde ausdrücklich von Eurem
Vater, Arnulf dem Jüngeren, zum Erben bestimmt. Und habt Ihr nicht vor sieben Jahren vor Bischöfin Antonia von Mainni geschworen, Euch mit Eurem Bruder auszusöhnen?« »Was ich damals auch getan habe. Ich war jünger, meine Tochter noch nicht bei voller Gesundheit. Doch nach jahrelangen Gebeten und dank der weisen Beratung durch Bischöfin Antonia und der ernsthaften Unterstützung durch Rodulf, den Herzog von Varingia, und Conrad den Schwarzen, dem Herzog von Wayland, habe ich beschlossen, mein Anliegen weiter zu verfolgen. Sprechen wir offen miteinander, Graf Lavastin. Ich suche auch Eure Unterstützung.« Sabella hatte eine verbindliche, beinahe monotone Stimme, doch tiefe Falten in ihrem Gesicht - Zeichen lang anhaltender Verärgerung - straften ihre scheinbare Gelassenheit Lügen. »Eine solche Entscheidung kann ich nicht leichtfertig treffen«, sagte Lavastin. Er warf einen Blick auf Alain, als hätte er gewußt, daß der Junge die ganze Zeit lauschte; dann lenkte er die Unterhaltung unauffällig auf die Aikha-Überfälle vom vergangenen Sommer, auf den Gefangenen, den er in der Schlacht an der Vennu gemacht hatte. Alain stand wie gebannt da, verwundert über die Wahrnehmungsfähigkeit des Grafen. Dann verlangte einer von Sabellas 222 Geistlichen nach mehr Wein und erlöste ihn aus seiner Starre. Alain riß sich zusammen und beeilte sich, den wundervoll gearbeiteten Glaskrug aufzufüllen. Eine kleine Weile war er beschäftigt. In der Küche, wo er seinen eigenen Keramikkrug aus großen Fässern aus dem Keller nachfüllte, fand gerade eine andere Unterhaltung statt. »Ich habe gehört, daß fünfzig Schweine allein für die Bestie in dem verhängten Käfig bestimmt sind«, sagte einer der Gehilfen der Köchin. »Still jetzt«, erwiderte Alma. »Wir brauchen dein Geschwätz nicht. Geh wieder an die Arbeit.« »Ich habe sie schnüffeln und mit den Zähnen klicken hören, und einem der Hundeführer fehlt eine Hand. Ich wette, die wurde abgebissen.« »Es ist ein Ungeheuer!« »Nein, nur ein Leopard. Das hat einer der Diener hinten bei den Wagen gesagt.« »Hat er es jemals mit eigenen Augen gesehen? Warum müssen sie den Käfig immerzu verhängen? Warum müssen sie es außerhalb der Burg im Wald verstecken? Es ist ein Basilisk, sage ich. Ein einziger Blick genügt, und du bist zu Stein erstarrt.« »Jetzt ist aber Schluß damit!« herrschte Alma sie entschlossen an. Dann warf sie Alain einen scharfen Blick zu. »Du da, ist es nicht deine Aufgabe, in der Halle Wein nachzuschenken?« Er eilte zurück in die Halle, goß Wein nach, holte mehr und hatte wieder eine Zeitlang nichts zu tun. Ein Ungeheuer in einem verhüllten Käfig! Er war sich nicht ganz sicher, was ein Leopard war. So etwas Ähnliches wie ein Basilisk vielleicht? Als er das nächste Mal auf dem Weg zum Platz des Grafen war, blieb er durch Zufall auf der Höhe von Bischöfin Antonia 223 stehen. Neben ihr saß ein bleiches, stilles Mädchen - Tallia, wie Alain inzwischen erfahren hatte, die Tochter von Sabella und Berengar. Alain musterte sie verstohlen. Sie war kein Mädchen mehr, aber auch noch keine richtige Frau. Sie hatte ein blasses Gesicht und sah weder ihrer Mutter noch ihrem Vater besonders ähnlich. Ihre Haare waren unter einem schönen Leinenschal verborgen, der sie jedoch noch blasser machte, da auf einem weizenfarbenen Untergrund goldene Löwen abgebildet waren. Der goldene Halsreif war so dick und schwer, daß er sie eher zu erdrücken als zu schmücken schien. Der Fisch - natürlich beachteten die Edlen den Bußtag, indem sie auf Fleisch verzichteten - und das Gemüse lagen unberührt auf ihrem Teller. Sie aß nur Brot, nahm aber auf Drängen der Bischöfin, die sich besorgt um sie kümmerte, mit Wasser verdünnten Wein zu sich, wie er zumindest zweimal hatte sehen können. Prinz Berengar weiter unten am Tisch aß und trank mit sichtlichem Genuß. Schließlich beugte sich die blasse Tallia zur Bischöfin hinüber. »Warum nur kann mein Vater die Heilige Woche nicht in gottgewollter Weise befolgen, Euer Gnaden?« Liebevoll tätschelte die Bischöfin ihre Hand. »Daran dürft Ihr Euch niemals stören, mein Kind. Wir alle müssen die Bürde akzeptieren, die Unsere Herrin und Unser Herr uns auferlegt haben.« »Mein Vater ist ein Idiot«, murmelte Tallia und errötete. »Nein, Kind, sag nicht so etwas. Er ist ein Einfaltspinsel, doch steht nicht im Heiligen Buch geschrieben, daß >die schlichte Seele Gott am nächsten ist« »Es ist so gütig von Euch, das zu sagen«, erwiderte Tallia mit peinlich berührter Miene, als Prinz Berengar lautstark nach mehr Wein verlangte. Prinzessin Sabella schien die schrille Stimme ihres Gatten nicht zu bemerken, doch rasch eilten Die224 ner zu ihm, und bald darauf sah Alain, wie Sabella ihren Bediensteten ein Zeichen gab. Kurz danach begleiteten zwei stämmige junge Männer den Prinzen ehrerbietig hinaus; er schmetterte jetzt den ersten Vers eines Liedes, das Alain sonst nur in den Baracken der Soldaten hörte.
»Ist Frater Agius schon lange bei Euch?« erkundigte sich die Bischöfin bei Graf Lavastin. »Er kam vor ein oder zwei Jahren zu uns«, erklärte der Graf. »Ihr müßt meine Kastellanin fragen, wenn Ihr Euch für Einzelheiten interessiert.« »Ist er ein guter Mann?« »Er ist fromm. Niemals hat ein Skandal seinen Namen befleckt.« »Er ist sehr streng, Graf, zumindest, was seine Vorstellung von Reue betrifft. Diese Tugend sollte jedoch am besten den erhabenen Brüdern vorbehalten bleiben, die ihr ganzes Leben der Auslöschung ihrer geistigen Schwächen widmen. Nicht alle Seelen, die auf dieser Erde geboren werden, sind mit einer solchen Leidenschaft für die Verfolgung geistiger Ziele gesegnet. Ich möchte Eure Aufmerksamkeit auf das arme Kind lenken, das ich heute morgen vor der Kirche fand. Sicherlich hätten vierzig Tage Buße genügt. Das Mädchen ist jung und hübsch und, wie ich vermute, keine Freigeborene. Wäre es nicht besser für eine so junge Frau, den betreffenden Mann zu heiraten? Dann kann sie ihre Pflicht gegenüber Unserem Herrn und Unserer Herrin erfüllen, indem sie vielen guten Töchtern und Söhnen das Leben schenkt. Gleichzeitig aber hat sie die Erlaubnis, ihren Körper an den Vergnügungen teilhaben zu lassen, die nun einmal zur menschlichen Natur gehören - denn sind wir nicht alle, selbst der heilige Daisan, von der Finsternis befleckt? Und diese kräftigen Kinder könnten später Eure Felder bearbeiten, Graf Lavastin. Wir sollten der Herrin und dem Herrn 225 helfen, die Herzen der Gläubigen zu erreichen, indem wir allen unsere Unterstützung angedeihen lassen, damit auch sie dienen können. Das wäre für uns alle von größerem Nutzen.« Er neigte kurz den Kopf. »Ich danke Euch für diesen Rat, Euer Gnaden.« Alain konnte beim besten Willen nicht entscheiden, ob der Graf seine Worte ernst gemeint hatte. »Da meine Soldaten nicht ohne meine Erlaubnis heiraten dürfen, nehme ich an, daß der junge Mann in der Tat noch unverheiratet ist. Wenn es Euer Wunsch ist, werde ich in dieser Angelegenheit mit meinem Hauptmann und der Kastellanin sprechen. Sie werden rasch eine Lösung finden, die zur Zufriedenheit aller ist.« Sabella verfolgte diese Unterhaltung mit gewölbten Brauen, als wartete sie auf etwas. Aber worauf? Bischöfin Antonia nickte nur und lächelte, dann drehte sie sich wieder zu Tallia um und sorgte dafür, daß sie das Brot aufaß. »Deine Liebe für Unsere Herrin und Unseren Herrn ist beispielhaft für uns alle, mein Kind, aber du mußt dafür sorgen, daß du bei Kräften bleibst.« »Jawohl, Euer Gnaden«, sagte das Mädchen gehorsam und fingerte an den Brotkrusten herum, schob sie sich schließlich in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. Alain lief das Wasser im Mund zusammen. Er hatte nur Wasser getrunken und ein kleines Stück Brot gegessen, wie es sich an einem solchen Tag gehörte, doch dies war erst der Beginn der Heiligen Woche, und es würden noch sechs Fastentage folgen, abgelöst von einer großen Feier am siebten Tag - dem Fest des Translatus. Er seufzte und ging davon, um noch mehr Wein zu holen. Am nächsten Tag wurde Alain noch während der Morgendämmerung durch ein Klopfen am Tor aufgeweckt. Er kletterte die Leiter hinauf und sah Meister Rodlin unten stehen. 226 »Beeil dich«, befahl Rodlin scharf. »Nach der Morgenmesse wird der Graf Prinzessin Sabella hierherbringen, damit sie den Aikha-Prinzen sehen kann. Du mußt dafür sorgen, daß keine Gefahr besteht, wenn sie hereinkommen. Ich habe fünf Hundeführer hier und kann dir noch mehr schicken, wenn es nötig ist.« Doch Alain beschloß, die Hunde selbst anzuketten, und als der Graf mit seinen Gästen die Einfriedung betrat, stand er neben den Tieren. Kastellanin Dhuoda, Frater Agius und der Hauptmann waren ebenfalls dabei, so daß sich schließlich eine ganze Reihe von Leuten innerhalb der Einfriedung aufhielt, dicht an einer Seite zusammengedrängt, wo sie außer Reichweite der schwarzen Hunde waren. Die Hunde jaulten und winselten, sie riefen bellend nach ihrem Herrn, und so ging Graf Lavastin zu ihnen und begrüßte jeden einzelnen: Freude, Schrecken, Trotz, Leidenschaft, Glück, Furcht, Jubel, Kummer und Rage. Die alte Hündin Feindschaft war im Winter gestorben. Freude war vor zwei Wochen läufig gewesen und jetzt trächtig, vermutlich von Furcht. Die Hunde leckten die Hände des Grafen und schlugen mit den Schwänzen kräftig gegen die Holzstämme, die sie gefangenhielten. Einige knurrten die Besucher an. Prinz Berengar machte Anstalten, herüberzukommen und die »süßen Hunde« zu tätscheln; er mußte zurückgehalten werden, doch Alain sah, daß dies sehr unauffällig geschah. Sabella achtete offensichtlich sorgfältig darauf, daß ihr Gemahl keine direkte Beleidigung erfuhr. Lavastin nickte Alain kurz zu und kehrte zu den anderen zurück. »Sitz«, flüsterte Alain den Hunden zu und schlich zum Käfig, um zuzusehen, wie Sabella, Bischöfin Antonia und die anderen den Gefangenen anstarrten. Der Aikha-Prinz seinerseits musterte die Besucher mit einem kühlen Blick, verhielt sich jedoch vollkommen still. Was für ein fürchterliches Schicksal, so 227 angestarrt zu werden und noch dazu so hilflos zu sein. Alain war verwundert, daß er Mitleid mit dem Prinzen verspürte. Müßte er nicht alle Aikha hassen für das, was sie Bruder Gilles und den anderen Mönchen vom Kloster am Drachenschwanz angetan hatten ? »Die Wege Unseres Herrn und Unserer Herrin sind wahrhaft unergründlich«, sagte Bischöfin Antonia. »Ich habe niemals zuvor eine solche Kreatur gesehen, und doch weiß ich, daß die Erschaffung aller Wesen auf dieser Erde
das Werk von Gott in Einigkeit ist. Aber diese Art hier wurde sicherlich mehr von den Dingen geschaffen, die innerhalb der Erde liegen, mehr aus Stein und Erzen denn aus Licht und Wind.« »Und Ihr habt keine Nachricht erhalten, kein Angebot für ein Lösegeld?« erkundigte sich Sabella. »Nein. Ich fürchte, sein Nutzen für uns liegt lediglich in der Tatsache, daß wir ihn als Geisel besitzen«, erklärte Graf Lavastin. »Tatsächlich ißt er soviel wie zwei meiner Hunde und ist weniger brauchbar.« »Er spricht nicht?« fragte Sabella. »Vielleicht kann man ihn dazu bringen, uns Informationen über die Schiffe und die Pläne seiner Leute zu geben.« »Das haben wir schon versucht. Er spricht unsere Sprache nicht, und niemand hat ihn jemals in seiner eigenen reden hören, sofern diese Aikha-Wilden überhaupt Worte zur Verständigung benutzen und nicht nur tierische Laute.« »Vielleicht könnte er es lernen«, sagte Sabella, blickte aber skeptisch drein. »Hier sind Abdrücke auf der Kette.« »Er hat versucht, das Metall durchzubeißen, aber nicht einmal seinem scharfen Gebiß ist das gelungen. Seither gab er jeden Fluchtversuch auf. Jedenfalls nehmen wir das an.« »Geduld ist eine Tugend«, meinte Bischöfin Antonia. »Wie auch die Unterwerfung unter den Willen Unseres Herrn und 228 Unserer Herrin. Es mag immer noch Hoffnung geben, sein Volk in den Kreis der Einigkeit zu führen.« Der Aikha-Prinz schwieg und rührte sich nicht; er starrte die Anwesenden lediglich unverwandt an, als wollte er sich ihre Gesichter einprägen. Alain fragte sich, wieviel er wirklich verstand. Inzwischen vermutete er, daß es weit mehr war, als es den Anschein hatte. Zwei Tage zuvor hätte auch er behauptet, daß der Prinz nicht sprechen konnte. »Wenn er für Euch nicht von Nutzen ist«, fügte Bischöfin Antonia hinzu, »würde ich ihn gerne mitnehmen und mich um ihn kümmern, wenn wir wieder abreisen.« Um ihn kümmern? Alain war sich nicht sicher, ob er jemand anderem als sich selbst zutraute, für den Prinzen zu sorgen. Was wäre, wenn sie entdeckten, daß er sprechen konnte? Sie würden ihn foltern; dies war der übliche Weg, Gefangene zum Sprechen zu bringen. Und wieso auch nicht? Die Aikha hatten unschuldige Dorfbewohner und Mönche und Nonnen gequält und verstümmelt, Menschen, die unglücklicherweise die ganze Wucht ihres unbarmherzigen Angriffs zu spüren bekommen hatten. Warum sollte er einer Kreatur gegenüber barmherzig sein, die ihn töten würde, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte? Geheiligt sind die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit gewährt. »Euer Gnaden ist sehr großzügig«, entgegnete Graf Lavastin, »aber das ist unnötig. Er dient mir als Sicherheit für weitere Angriffe auf mein Land.« »Aber nur, wenn sein Volk tatsächlich so für seine Mitglieder sorgt, daß es auf einen Angriff verzichtet, um ihn nicht in Gefahr zu bringen«, schaltete Sabella sich ein. »Vielleicht sind sie ja auch wie wilde Hunde und fressen ihre Kameraden ebenso bereitwillig wie ihre Feinde.« Die Prinzessin ging, und 229 ihre Gehilfen folgten ihr wie auf einer Kette aufgereihte Perlen. Die Hunde hielten sich erstaunlicherweise zurück und knurrten lediglich hinter ihnen her. Als sie gegangen war, neigte Frater Agius leicht den Kopf und faltete fromm die Hände. »Nach und nach erfüllt sich die Drohung, die uns von Unserer Herrin prophezeit wurde: >Eine Geißel aus dem Norden wird über die Bewohner der Erde kommen.<« Bischöfin Antonia blickte den Frater scharf an. Dann streckte sie eine Hand aus. »Bleibt bitte noch einen Augenblick, Graf Lavastin.« »Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden.« Er wartete, während sich seine Diener hinter ihm versammelten. »Was wäre, wenn ich diesem Prinzen bei einer Befragung Informationen entlocken könnte? Würdet Ihr mir die Kreatur dann überlassen - im Tausch für dieses Wissen? Ich habe großes Interesse an all jenen Geschöpfen Unseres Herrn und Unserer Herrin, die anders sind als wir, die aus einer früheren Zeit stammen und jetzt mehr Erinnerung sind als vertrauter Anblick. Nennt es eine Studie, wenn Ihr so wollt, eine Untersuchung im Stil der dariyanischen Philosophen, wenn Ihr mir diese Erinnerung an die Heiden vergeben wollt.« Sie lächelte sanft und warf einen zweifelnden, möglicherweise auch tadelnden Blick auf Frater Agius. »Und doch erhob sich der heilige Daisan aus ihrer Mitte, um all jenen, die in Finsternis lebten, das Licht der Wahrheit zu bringen.« »Wenn Ihr es befehlt.« Lavastin war seine Verärgerung kaum anzumerken; immerhin war sie eine Bischöfin. »Ich halte es für das beste, Graf Lavastin.« Ihr Blick schweifte umher und blieb schließlich für einige Herzschläge an Alain hängen, der am liebsten im Erdboden versunken wäre, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Dann blickte sie 230 über ihn hinweg auf die Hunde, einen kurzen Augenblick nur, bevor sie der Prinzessin folgte. Graf Lavastin begleitete sie. Auch Frater Agius warf jetzt einen Blick auf die Hunde; sie knurrten laut, als die Bischöfin in gebührendem Abstand an ihnen vorbeiging. Doch im Gegensatz zu so vielen anderen schien sie die Tiere nicht zu fürchten. »Du versorgst den Gefangenen jeden Tag, nicht wahr, Alain ?« fragte Agius plötzlich. Alain nickte gehorsam. »Ja, Bruder.« Er spürte die Blicke des Aikha-Prinzen und des Fraters auf sich. Beide
starrten ihn an. Er schlang die Finger ineinander, preßte sie zusammen, damit sie nicht so zitterten. »Möglicherweise hast du etwas bemerkt, das den anderen entgangen ist.« »Ja, Bruder.« »Ich gehe davon aus, daß du aufrichtig zu mir bist.« Flammende Röte stieg ihm ins Gesicht. Er scharrte unruhig mit den Füßen, konnte sich jedoch nicht zu einer Antwort durchringen, weil er weder lügen noch den Prinzen verraten wollte. Doch andererseits - welche Verpflichtung hatte er gegenüber dem Prinzen? Sollte seine Treue nicht zuallererst Unserem Herrn und Unserer Herrin und danach dem Grafen gelten? »Du kommst morgen zu mir«, sagte Agius plötzlich. »Nach der Morgenandacht. Hast du verstanden?« »Ja, Bruder.« Dann ging er barmherzigerweise. »Elen.« Schuldbewußt blickte Alain sich rasch um, um sich zu vergewissern, daß wirklich niemand zugegen war, aber alle waren gegangen, glücklich darüber, aus der Einfriedung herauszukommen. Die Hunde hockten, geduldig darauf wartend, daß Alain sie freiließ, wieder auf den Hinterpfoten. 231 »Du darfst nicht sprechen«, sagte er zutiefst erschreckt darüber, daß er diese Worte tatsächlich sprach. »Nur, wenn wir alleine sind. Sonst werden sie dir weh tun.« »Nicht weh tun«, sagte der Aikha. »Nicht weh tun Elen. Frei.« »Ich kann dich nicht befreien. Ich muß dem Grafen dienen.« »Nenn Namen.« »Graf Lavastin ist der Name des Mannes, der dich gefangenhält. Aber das weißt du inzwischen sicherlich.« »Tre Mann kommen. Un, do, tre Mann. Nenn Namen.« Was wollte er bloß? Die Namen derjenigen, die gekommen waren, um ihn anzustarren? Hielt er sie alle für Männer, oder hatte er nur kein Wort, um Männer und Frauen zu unterscheiden? Alain wußte es nicht. Doch er wußte, daß er das Vertrauen des Grafen genausowenig enttäuschen konnte, wie er den gefangenen und hilflosen Prinzen betrügen wollte. Aber was wäre, wenn der Prinz eines Tages entkam und Prinzessin Sabella wiedererkannte? Wenn der Aikha das Wort »König« verstand, mochte er dann nicht ebensogut auch »Königin« oder »Prinz« verstehen? »Ich kann dir ihre Namen nicht nennen. Du mußt das verstehen, ich bitte dich darum.« Der Prinz antwortete nicht. Bedächtig kniff er die Augen zusammen, wie eine Eule. Alain floh. Es war zuviel für ihn, ging über sein Verständnis. Später an diesem Abend, als er an den Tischen bediente, drehte sich das Gespräch um die Herrschaft von Kaiser Taillefer, der vor einhundert Jahren Salia, Varre, die im Westen Wendars gelegenen Herzogtümer und die meisten südlichen Fürstentümer in einer großen Konföderation vereinigt hatte, die von der Skopos in Darre als Wiedergeburt des dariyanischen Kaiserreiches gesegnet und gesalbt worden war. Erst 232 jetzt begriff Alain, daß der Aikha-Prinz die Worte eins, zwei, drei in einer abgewandelten Form des Salianischen gesprochen hatte. Er verstand selbst etwas Salianisch, genug, um mit den Händlern aus Salia reden zu können, wenn sie mit ihren Booten nach Osna kamen. Doch wieso hatte ein Aikha-Prinz diese Sprache gelernt? Nur eines schien klar: Hinter der Sache mußte mehr stecken, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Am Morgen hielt Bischöfin Antonia eine schwermütige Messe zur Feier des zweiten Tages der Ekstasis. Während die anderen hinausgingen, blieb Alain noch und kniete in der Kapelle nieder. Simplizius folgte ihm, und obwohl Alain versuchte, ihn mit Handzeichen und Flüstern zum Gehen zu bewegen, reagierte der Schwachsinnige nicht. Vielleicht verstand er es aber auch gar nicht. Leise kniete der Junge sich ebenfalls hin, holte geräuschvoll Luft und atmete mit einem leichten Pfeifen durch die Zahnlücken wieder aus. Simplizius hatte die Stille in der Kirche nicht ein einziges Mal mit seinen Grunzlauten, seinen unverständlichen Ausrufen oder seinem schnaubenden Gekicher gestört. Alain legte dem Schwachsinnigen eine Hand auf die Schulter, und in dieser kameradschaftlichen Haltung betrachteten sie den Altar. Er war St. Lavrentius gewidmet, der noch vor der Zeit von Kaiser Taillefer gestorben war, als er den in dieser Gegend lebenden varrischen Stämmen den Kreis der Einigkeit gebracht hatte. Sie waren so reglos, daß die neben dem Altar hausenden Mäuse sich aus ihrem Schlupfloch herauswagten. Simplizius hielt den Atem an; er liebte diese winzigen Geschöpfe. Alain strich vorsichtig mit einer Hand über den Boden, und eines der kleinen braunen Wesen mit den dunkel leuchtenden Augen und der zuckenden Nase huschte herbei, krabbelte auf seine 233 Finger, um sie zu beschnuppern. Vorsichtig hob er die Hand, so daß Simplizius das weiche Fell streicheln konnte. Obwohl sie eigentlich eine Plage waren, brachte es Alain nicht über sich, sie zu töten, so zutraulich, wie sie ihm gegenüber waren. Plötzlich flitzte die Maus hektisch über Simplizius' Finger, sprang zu Boden und verschwand unter dem Altar. Sofort verstummte das Rascheln und Scharren. »Mein Freund.«
Obwohl er gewußt hatte, daß Agius kommen würde, zuckte Alain beim Klang der leisen Stimme hinter sich zusammen. Im nächsten Augenblick kniete der Frater auch schon neben ihm, wenngleich er sich nicht den Luxus des Kissens gönnte, das für diese Zwecke dalag. »Gibt es irgend etwas, das du mir erzählen möchtest, Alain?« Alain schluckte einen dicken Kloß hinunter, der sich plötzlich in seiner Kehle gebildet hatte. »Ich verspreche dir, daß ich dies als ein persönliches Bekenntnis betrachte, das du Gott gegenüber machst.« »Ein p-persönliches Bekenntnis?« »Einige in der Kirche sind überzeugt, daß ein Bekenntnis eine persönliche Angelegenheit zwischen den büßenden Menschen und Unserer Mutter ist und daß Kirchendiener wie ich dabei nur vermitteln. Ich glaube nicht an öffentliche Bekenntnisse, Alain, auch wenn ich deshalb in manchen Augen als radikal gelte. Wir alle müssen unser Herz vor Unserer Herrin und der Göttlichen Botschaft beugen, denn vor Gott zählt allein das innere Herz und nicht der äußere Schein.« »Aber Frater Agius, ist der äußere Schein denn nicht ein Spiegelbild des inneren Herzens?« »Wir können unser inneres Herz nur durch die Gnade Unserer Mutter erkennen. Du glaubst, daß ich Unserer Herrin er234 geben und mit einem aufrichtigen, unbeirrbaren Herzen diene. Doch du kannst nicht hinter den äußeren Schein blicken und wissen, ob mein inneres Herz nicht voller Dünkel und Stolz ist, in der Überzeugung, daß ich Unserer Mutter besser dienen kann als alle anderen. Daher bitte ich jeden Tag um die Lektion der Demut. Ich bitte dich, mein Freund, um des Heils deiner unsterblichen Seele willen, sag mir die Wahrheit. Sag mir, was du weißt.« »Ich ... ich weiß nichts. Der Aikha-Prinz sprach ein paar Worte mit mir. Das ist alles.« Obwohl er die Hände gefaltet hatte, zitterten sie beim Sprechen. »Worte in welcher Sprache?« »Wendisch. Ich kann keine andere Sprache.« »Viele Leute hier in Varre können auch Salianisch.« »Ich kann ein paar Wörter. Der Prinz zählte auf salianisch, oder zumindest klangen die Worte so ähnlich. Doch gesagt hat er fast nichts. Er beherrscht unsere Sprache nicht wirklich.« »Warum hast du Graf Lavastin nichts davon erzählt?« Alain fühlte sich wie eine in die Enge getriebene Ratte. »Ich ... ich dachte einfach, daß es unbarmherzig ist, jemanden zu foltern, der nicht wirklich mit denen reden kann, die ihn ausfragen.« Aus Angst, möglicherweise illoyal zu erscheinen, wagte er einen raschen Blick auf Agius, doch der Frater verzog keine Miene. Gebannt starrte er auf das Bildnis, das St. Lavrentius auf dem brennenden Rad zeigte. »Du hast ein mitleidiges Herz, Alain. Ich werde über das nachdenken, was du mir erzählt hast, bevor ich etwas unternehme. Hast du sonst noch etwas gesehen und gehört, das du mir vielleicht sagen möchtest?« Die Herrin der Schlachten. Die Vision, die er in den Ruinen gesehen hatte. Die Eule, die in jener Mitsommernacht gejagt hatte. Aber er traute sich nicht, darüber mit Agius oder ir235 gendwem sonst zu sprechen, außer vielleicht mit seinen Verwandten. Aus Angst, diese Geheimnisse doch noch auszuplaudern, sagte er das nächstbeste, was ihm in den Sinn kam. »Warum ist Prinzessin Sabella nicht Königin von Wendar? Sie ist doch das ältere Kind, nicht wahr?« »Es ist nicht nur das Alter, das darüber entscheidet, wer die Herrschaftsnachfolge antritt. Ein Land zu regieren ist eine große Bürde, und das Kind, das ein solches Erbe antritt, muß andere Qualitäten besitzen. Am wichtigsten ist sicherlich die Fähigkeit, selbst einen Erben oder eine Erbin zu präsentieren, denn eine Familie bleibt nur so lange stark, wie es starke Kinder gibt, die das Geschlecht fortführen. Sicher hast du schon von der NachfolgeRundreise gehört?« Alain schüttelte den Kopf. »Sobald das Kind, das zum Erben oder zur Erbin bestimmt wurde, das Alter der Mündigkeit erreicht, wird es innerhalb des Reiches auf eine Rundreise geschickt - so ähnlich, wie König Henry sich immerzu auf einer Rundreise befindet, um sich über den Zustand seines Reiches zu informieren. Die Herrin bewacht diese Rundreise, und wenn sie dem Anliegen der Frau oder des Mannes wohlgesinnt ist, wird sie dafür sorgen, daß die Frau schwanger wird, der Mann eine Frau schwängert. Und wenn die notwendige Fruchtbarkeit oder Zeugungsfähigkeit gewährleistet ist, ist die Frau als Erbin, der Mann als Erbe auserwählt.« »Aber könnte ein Mann nicht einfach behaupten, daß er eine Frau geschwängert hat?« »Sowohl er als auch die Frau, die sein Kind austrägt, müssen vor einer Bischöfin im Namen der Einigkeiten schwören, daß das Kind die Frucht ihrer Verbindung ist. Und das Kind muß gesund geboren werden, als Beweis, daß seine Entstehung nicht durch eine Sünde befleckt wurde.« 236 »Was geschah mit Sabella?« »Sie bekam während der Nachfolge-Rundreise kein Kind.« »Aber König Henry?« »O ja. König Henry bekam ein Kind, wenn auch unter merkwürdigen Umständen. Aber das ist eine andere Geschichte.« »Wieso kann sie dann jetzt eine Rebellion heraufbeschwören? Mit welcher Begründung besteht sie darauf, die rechtmäßige Königin zu sein?« »Prinzessin Sabella heiratete viele Jahre später und brachte eine Erbin zur Welt, wodurch ihre Fruchtbarkeit
erwiesen war. Nach Tallias Geburt forderte Sabella ihren Bruder Henry auf, zu ihren Gunsten zurückzutreten. Natürlich weigerte er sich.« »Oh.« Obwohl Agius eine Geschichte von großen Edlen erzählt hatte, kam sie Alain vertraut vor: Eine Familie in Osna hatte zwei Jahre zuvor eine erbitterte Auseinandersetzung um eine Erbschaft geführt, die (nachdem unglückseligerweise auch noch jemand den Tod gefunden hatte) nur durch Einschaltung einer Diakonissin beendet werden konnte - sie hatte dafür gesorgt, daß sämtliche Beteiligten fünf Tage und vier Nächte beim Herdfeuer der Kirche knien mußten, während sie aus den Heiligen Versen las. »Haltet Ihr Sabellas Anliegen für gerecht, Frater?« »Ich beschäftige mich nicht mit diesen weltlichen Angelegenheiten, Alain, und das solltest du auch nicht.« Er wandte sich plötzlich auf den Knien rutschend um, und kurz danach hörte Alain die Tür knarren. Bischöfin Antonia kam durch den Mittelgang zu ihnen, in einer weißen, mit Goldfäden durchwirkten Soutane. Sie hatte ein so freundliches Gesicht, daß es Alain ganz warm ums Herz wurde. Sie erinnerte ihn an Miria, die ältliche Diakonissin in seinem Heimatdorf, die alle Kinder in Osna behandelte, als 237 wären sie ihre eigenen Enkelkinder, und deren Entscheidungen entschlossen, barmherzig und immer gerecht waren. »Frater Agius. Ich hatte gehofft, Euch hier zu finden, in andächtiger Ausübung Eurer Pflichten.« »Ich bemühe mich, Gott zu dienen, Euer Gnaden, so gut es diesem unwürdigen Körper möglich ist.« Sie antwortete nicht sofort. Alain zog den Kopf ein, er hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, aber er spürte ihren Blick auf sich ruhen. Dann, als das Gefühl nachließ, schaute er auf und sah, daß sie wieder Agius anblickte. »Ich habe vom Grafen gehört, daß es in der Nähe alte dariyanische Ruinen gibt. Ihr werdet mich morgen dorthin begleiten.« »Ich bin ganz Euer Diener, Euer Gnaden.« »Seid Ihr das, Bruder? Ich habe über Euch munkeln hören, Frater Agius. Ich habe gehört, Ihr geht so vollkommen in der Hingabe an Unsere Herrin auf, daß Ihr, wie ich fürchte, häufig vergeßt, auch zu Unserem Herrn, dem Vater des Lebens, zu beten. Aber -« Sie blickte erneut Alain an. Der zog rasch den Kopf ein. »Darüber sollten wir uns vielleicht ein anderes Mal unterhalten.« Agius antwortete nicht, sondern ballte langsam vor der Brust die Hand zur Faust - ein Zeichen, mit dem er seine Unterwerfung unter den Willen der Älteren bekundete. Die Bischöfin ging zum Herdfeuer, kniete sich hin, sprach ein Gebet und machte das Kreiszeichen. Dann verließ sie die Kirche wieder. »Geh«, sagte Agius. »Und komm morgen wieder, gleich nach der Morgenandacht. Ich möchte, daß du mich begleitest.« »Ich?« brachte Alain mit piepsiger Stimme heraus. Ohne darauf zu antworten, warf Agius sich in einer tiefen Verbeugung vor dem Bild von St. Lavrentius zu Boden. 238 Alain stieß Simplizius an. »Komm«, flüsterte er, ängstlich bemüht, den Frater nicht zu stören, der seine Augen jetzt geschlossen hatte; stumm bewegten sich seine Lippen im eifrigen Gebet. Der Junge folgte ihm bereitwillig. Draußen mußte Alain erst einmal blinzeln. Die Sonne war hinter den morgendlichen Wolken hervorgekrochen, und .das grelle Licht stach ihm in die Augen. 3 Es war nur eine kleine Gruppe, die auf dem einsamen Waldweg zu den alten Ruinen marschierte: Bischöfin Antonia mit zwei ihrer Geistlichen, Frater Agius, Alain und natürlich Simplizius, der ihm wie ein treuer Hund folgte. Zu Alains Überraschung zog die Bischöfin es vor, wie eine gewöhnliche Pilgerin mit den anderen zu gehen, statt auf ihrem Maultier zu reiten. »Junge, komm mal her«, sagte sie und winkte Alain zu sich. »Geh ein bißchen neben mir.« Er gehorchte, ohne zu zögern. »Ich habe dich gestern in der Kirche bei Frater Agius gesehen.« »Ja, Euer Gnaden. »Bist du mit ihm verwandt?« Überrascht, in solch beiläufiger Weise mit einem Mann von offensichtlich edler Geburt in Zusammenhang gebracht zu werden, verneinte Alain hastig. »Nein!« Seine möglicherweise etwas schroffe Antwort war ihm sofort peinlich. »Ich bin ein Ziehkind, Euer Gnaden. Ich bin in Osna aufgezogen worden.« »Frei geboren?« »Ja, Euer Gnaden. Zumindest hat mein Vater das gesagt, und so wurde ich auch aufgezogen. Mein Vater und meine Tante und auch meine Cousins und Cousinen sind frei gebo239 ren. Seit der Zeit von Kaiser Taillefer gab es in unserer Familie weder Halbfreie noch Unfreie.« »Aber du bist ein Ziehkind.« Sie sagte das so freundlich, daß er gar nicht anders konnte, als Zutrauen zu ihr zu fassen, auch wenn ihm die Aufmerksamkeit einer so wichtigen Persönlichkeit, wie eine Bischöfin es war, Furcht einflößte. Und sie war alt und verdiente daher Respekt. Wie hieß doch das Sprichwort: »Weißes Haar verdient man sich durch gute Taten und ein gutes Leben.« Und sie erinnerte ihn so sehr an Diakonissin Miria in Osna,
eine Frau, zu der immer alle bereitwillig zur Beichte gingen, da sie wußten, daß die Strafe gerecht und niemals von unerträglicher Härte sein würde. Er nickte und errötete; ihr Interesse schmeichelte ihm. »Mein Vater ist ein Kaufmann, Henri von Osna. »Dein Ziehvater, meinst du?« Er zögerte. Der Bastard einer Hure. Aber Henri hatte Alains Mutter geliebt. Wer wollte behaupten, daß Henri nicht sein wirklicher Vater war? Und doch, woher sollte er es wissen? Henri hatte niemals darüber gesprochen. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ich habe von den Leuten auf Lavas gehört, daß die schwarzen Hunde die Brut des Teufels sind und nur diejenigen ohne Gefahr mit ihnen umgehen können, die vom Blut ihrer alten Meister oder aus dem Geschlecht von Graf Lavastin sind. Doch gestern habe ich bemerkt, daß man dir die Aufsicht über den Hundezwinger übertragen hat und daß die Hunde dir genauso gehorchen wie Graf Lavastin.« Er würgte einen Kloß hinunter. »Hunde gehorchen denen, die ihnen mit fester Hand und ohne Furcht begegnen, Euer Gnaden. Das ist alles.« »Fürchtest du dich vor dem gefangenen Aikha?« »Nein, Euer Gnaden. Er ist angekettet.« 240 Agius warf ihm über die Schulter einen scharfen Blick zu, und Alain schwieg. Er hatte plötzlich das Gefühl, als wollte der Frater nicht, daß er mit der Bischöfin über den Aikha-Gefangenen sprach. Agius hatte seine eigenen Geheimnisse - und, wie es den Anschein hatte, auch seine eigenen Pläne. Doch die Herrin meinte es gut mit ihm: Bischöfin Antonia stellte keine weiteren Fragen mehr über den Prinzen. »Du bist zudem redegewandt und höflich. Ganz anders, als man es sonst von ungebildeten Jungen vom Lande gewohnt ist.« »Ich kenne die Buchstaben, Euer Gnaden. Frater Agius war so freundlich und hat mir das Lesen beigebracht, und von meiner Tante, die einen großen Haushalt führt, lernte ich ein bißchen rechnen.« »Das klingt ganz, als wäre sie eine wohlerzogene und gute Frau.« Er mußte lächeln. »O ja, Euer Gnaden. Meine Tante Bei ist eine sehr gute Frau und die Mutter von fünf lebenden Kindern und bisher ebenso vielen Enkeln.« Vielleicht waren es sogar mehr geworden, seit er fort war; mit der Decke war im vergangenen Winter auch die Nachricht gekommen, daß Stancy wieder schwanger war. War das Kind bereits geboren? Lebte es? War es gesund? Hatte Stancy die Geburt überlebt? Er wurde von einer solchen Woge des Heimwehs überschwemmt, daß er fast ins Stolpern geriet. Er hatte nicht erwartet, sie alle so zu vermissen. Henri würde nach der Heiligen Woche mit dem Schiff hinausfahren, wie jedes Jahr. Wer würde es dieses Mal reparieren? Wer hatte es im Herbst geteert? Er hoffte, daß Julien der Arbeit am Boot ebensoviel Zeit widmete wie den jungen Frauen im Dorf, denen er immer den Hof machte. Und was war mit dem Baby? Es mußte inzwischen schon recht groß sein, falls es den Winter überlebt hatte. Doch es hatte den 241 Winter ganz bestimmt überlebt, denn es war ein gesundes Kind, und Tante Bei sorgte gut für ihre Familie. Sie schritten eine Zeitlang schweigend nebeneinanderher. Als sie auf die Lichtung kamen, machten sie halt und verschafften sich einen Überblick über die Ruinen; kahle Steine standen auf einer Wiese, die übersät war mit gelben und weißen Blumen. Auf der anderen Seite der Lichtung floß ein breiter Bach, der von einer niedrigen Mauer aus weißem Stein begrenzt wurde. Er hatte ihn in der Mittsommernacht nicht bemerkt, doch jetzt, im mittäglichen Sonnenlicht, blitzte das Wasser hinter dem Gras hell auf, bevor es schließlich im Wald verschwand. »Es heißt, Kaiser Taillefer hätte eine Meute schwarzer Hunde besessen«, sagte Bischöfin Antonia plötzlich. Ihr Blick ruhte auf den Ruinen, aber ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, als hätte sie während der langen Stille darüber nachgedacht. »Doch über Kaiser Taillefer wird so viel gesagt, daß es schwer ist, die Geschichten, die die Hofdichter zur Unterhaltung ersinnen, und die Wahrheit auseinanderzuhalten.« Unvermittelt, wie eine beuteschlagende Eule, richtete sie ihren Blick auf Frater Agius. »Stimmt das nicht, Bruder?« »Wie Ihr meint, Euer Gnaden. »Sicherlich habt Ihr auch gewichtigere Ansichten über die Wahrheit, Frater Agius.« Er blickte beschämt drein, etwas, das merkwürdig genug war. »Ich befolge die Heilige Schrift, so gut ich kann, Euer Gnaden, aber ich bin unvollkommen und daher ein Sünder. Nur durch Gottes selbstlose Liebe kann ich erlöst werden.« »Ja, sicher«, sagte die Bischöfin. Sie lächelte freundlich, doch Alain hatte den Verdacht, daß die beiden sich gerade über etwas ganz anderes unterhalten hatten. »Gehen wir hinein?« Sie umrundeten die Lichtung und fanden den ursprüngli242 chen Eingang, an dem noch immer ein zerfallenes Wachhäuschen stand. Als Alain mit den anderen ins Innere der Ruinen trat, war er überrascht darüber, wie anders sie jetzt aussahen: Den Steinen fehlte der unnatürliche Schimmer, und die Schatten lagen korrekt auf dem Boden, der aus kleinen Grasflecken und zugewachsenen Steinen bestand. Hier hatten einmal schöne Gebäude gestanden, doch jetzt war es nur noch ein Friedhof, eine Erinnerung an vergangene und längst vergessene Zeiten. Er folgte der Bischöfin, die auf das Herz der Ruinen zusteuerte. Hier und da hielt sie inne und untersuchte in Stein gemeißelte Botschaften; eine Doppelspirale, einen Falken, dessen Flügel mit Pockennarben übersät waren, eine prächtig gekleidete Frau in einem Gewand aus
Federn und mit einem hohläugigen Schädel. Die Geistlichen murmelten, als sie die Zeugnisse der heidnischen Erbauer sahen. Simplizius stieß sich den Zeh an einem größeren Stein und begann zu weinen. »Ist ja gut, Kind«, sagte die Bischöfin und tröstete ihn, obwohl er so dreckig war, wie ein Stalljunge es nur sein konnte. Agius stand mit gefalteten Händen daneben und starrte das Altarhaus mißbilligend an. »Komm mit«, sagte sie zu Simplizius. Sein Schluchzen hörte sofort auf, als der Schmerz nachließ, und er verschwand von ihrer Seite und heftete sich an Alains Fersen. Sie erreichten das Altarhaus. Die Geistlichen hielten sich ein wenig abseits, doch Bischöfin Antonia trat ohne das geringste Anzeichen von Unbehagen über die Schwelle. Alain folgte ihr ins Innere. Simplizius blieb draußen. »Du bist schon einmal bei diesen Ruinen gewesen«, sagte die Bischöfin, ohne sich umzudrehen. Sie untersuchte den weißen Altarstein. »Zumindest behaupten das Kastellanin Dhuoda, Graf Lavastin und das halbfreie Mädchen Witti, das 243 den jungen Soldaten heiraten soll. Sie sagte, sie hätte im Himmel schwarze Hunde rasen sehen, aber du hättest sie nicht wahrgenommen. Sie sagte auch, du hättest auf dieses Gebäude gestarrt und mit der bloßen Luft gesprochen, obwohl nichts und niemand zu sehen war. Hast du eine Vision gehabt?« Alain stand mit dem Rücken zum Eingang, spürte aber, wie Agius eintrat, fühlte die Gegenwart des Fraters hinter sich. Was sollte er nur sagen? Er konnte eine Bischöfin nicht belügen ! Doch wenn er gestand, würde man ihn dann nicht für einen gottlosen Hexer halten? Plötzlich schien die Vorstellung, er könnte von dem Geist eines schon lange verblichenen Elfenprinzen gezeugt worden sein, gar nicht mehr so abenteuerlich und verlockend nicht, wenn er dafür verdammt werden konnte. Doch auch als Bastard von Graf Lavastin konnte er rasch zu einer Schachfigur im Kampf um die Macht und den Besitz des Grafen werden, sofern der Graf keine anderen direkten Erben besaß. Alain befühlte die Stelle auf der Brust, wo unter dem Holzkreis die Rose ruhte; sie fühlte sich warm und irgendwie leicht unter dem Stoff an. Die Bewegung veranlaßte Agius und Bischöfin Antonia, sich erwartungsvoll nach ihm umzudrehen, als könnten sie die verborgene Rose ahnen. Plötzlich schien es ihm viel sicherer, das Kind von Kaufmann Henri und der Neffe der geachteten Bella Adelheidsdottir zu sein, statt seinen Träumen von Größe nachzuhängen. Und doch war es nicht recht zu lügen. »Ja, ich hatte Visionen, Euer Gnaden«, sagte er zögernd. Er ließ die Hand wieder sinken. »Aber ich bin der Kirche versprochen.« Er hoffte, daß dies alles erklären würde. »Es ist wahr«, sagte die Bischöfin ruhig, »daß viele, die im Dienste Unserer Herrin und Unseres Herrn stehen, große Visionen haben, sofern sie gläubig sind. Aber es gibt in der Welt 244 auch eine Finsternis, die zu falschen Visionen, zu einem falschen Glauben führt.« Jetzt warf sie wieder einen eindringlichen Blick auf Agius. Auf dem Gesicht des Fraters machte sich allmählich Verärgerung breit. »Ich nehme an, dieses Gebäude ist das Altarhaus?« Sie bückte sich leicht und fuhr mit der von Altersflecken übersäten Hand über die marmorne Oberfläche des Altarsteins. »Dies könnte das Herdfeuer Unserer Herrin gewesen sein, nicht wahr? Hier in der Mitte sehe ich nämlich Spuren von altem Feuer.« Sie kratzte etwas Schmutz aus in Stein gehauenen Furchen. Sie bildeten spiralförmige Muster, die denen auf den Wänden draußen ähnelten, nur daß hier vier Spiralen zu einem faustgroßen Loch in der Mitte des weißen Steins führten. Sie lächelte, den Blick immer noch auf den Altarstein gerichtet. »Es ist eine schreckliche Bürde, wenn das innere Herz nicht in Harmonie mit dem äußeren Schein lebt, nicht wahr, Frater Agius? Wenn wir alle genau wüßten, wie wir handeln sollen, welche Handlung die richtige ist, würden Unsere Herrin und Unser Herr an unserem Äußeren erkennen, daß wir freudig und mit ehrlichem Herzen ihren Glauben befolgen. Doch einer ketzerischen Lehre zu folgen und sie nur vor denen zu offenbaren, die gleichen Glaubens sind, scheint mir die schlimmste Art von Scheinheiligkeit.« »Es ist keine ketzerische Lehre!« schrie Frater Agius. Sein Gesicht war jetzt puterrot. »Es ist die Skopos, die die Wahrheit leugnet! Im Großen Konzil von Addai wurde die Erlösung geleugnet und die Wahrheit unterdrückt!« Nicht im geringsten von diesem Wutausbruch erschüttert, richtete sich Bischöfin Antonia wieder auf. Sie musterte die Wände; im unteren Bereich schmückten Steinmetzarbeiten den weißen Stein - zusammengeringelte Schlangen, die von 245 zarten Rosetten umgeben waren, inzwischen von Moos und Unkraut halb verborgen. Die Bischöfin schritt in einer Weise um den Altar, als wollte sie seine Ausmaße abmessen. Dann ging sie an Frater Agius vorbei hinaus ins Freie. Der Frater stand wie angewurzelt da. Alain zögerte. Agius warf sich zu Boden. »Ich werde es allen laut erklären«, murmelte er, sei es zu sich selbst oder gen Himmel. »Ich muß die Wahrheit verkünden, damit jene, die in der Finsternis des falschen Glaubens befangen sind, in das wahre Licht treten können, das Sein Opfer und Seine Erlösung uns gewähren.« Es waren merkwürdige, beunruhigende Worte. Alain ging am Frater vorbei, doch der bemerkte ihn nicht; noch
immer ruhte seine Stirn auf den gefalteten Händen auf dem Stein. Bischöfin Antonia war inzwischen damit beschäftigt, zusammen mit Simplizius lose herumliegende Steine zu einem Haufen aufzuschichten. Sie blickte auf und lächelte Alain an. »Er ist ergeben, aber irregeleitet. Ich werde darum beten, daß Unsere Herrin und Unser Herr ihn in den Kreis der Einigkeit zurückführen.« Sie wandte sich an ihre Geistlichen. »Das ist guter Stein. Er scheint mir brauchbar zur Verstärkung der Mauern von Graf Lavastins Festung, meint Ihr nicht auch?« »Die Leute in dieser Gegend weigern sich, die Ruinen zu betreten«, erklärte einer der Geistlichen. »Und doch muß bereits einmal jemand von den Steinen genommen haben, so niedrig, wie die Mauern sind. Ich glaube nicht, daß die herumliegenden Steine ausreichen würden, um die Mauern bis zu der Höhe wieder aufzubauen, die sie ursprünglich einmal erreicht haben müssen. Wie denkt Ihr darüber, Bruder Heribert? Ihr habt doch für die Kirche in Mainni alles über Mauerwerk und Gebäude gelernt.« »Ich stimme Euch zu, Euer Gnaden. Es sei denn, diese Mau246 ern bestanden zum Teil aus Stein und zum Teil aus Holz, aber das bezweifle ich. Bei den anderen Ruinen aus dem alten Dariyanischen Kaiserreich, die ich gesehen habe, handelte es sich ausschließlich um Steinbauten, die höchstens ein Dach aus Holz besaßen.« »Gehen wir also zurück. Ich bitte Euch, das gleiche dem Grafen zu berichten.« Sie verneigten sich vor ihr und begannen, den Weg zurückzugehen. Alain warf einen Blick zum Altarhaus. »Laß Frater Agius beten, Kind. Er hat es nötig. Komm mit mir.« So ging er mit Bischöfin Antonia zurück nach Burg Lavas. Simplizius folgte drei Schritte hinter ihm; bei jedem Blätterrascheln zuckte er zusammen wie ein schreckhaftes Kind. Die Bischöfin stimmte Hymnen über den Ruhm Unserer Herrin an, doch Alain hatte viel zu viel Ehrfurcht vor ihr, um mit einzustimmen. Dafür beteiligten sich ihre Geistlichen mit fröhlichen, kräftigen Stimmen. Die nächsten zwei Tage sah Alain Frater Agius immer an der gleichen Stelle, so als könnte oder wollte er sich nicht mehr fortbewegen: Er kniete in der Kirche, den Kopf gesenkt, die Hände gegen die Stirn gedrückt. Und immer war er in ein leises Gebet vertieft, das mehr wie das sanfte Rauschen eines weit entfernten Baches klang. Alain bediente am Tisch. Graf Lavastin verhielt sich gegenüber Sabella höflich, wie man es von ihm erwartete, aber die Prinzessin selbst wurde immer unruhiger, blickte sogar sichtlich verärgert drein ... als würde man ihr etwas vorenthalten, das sie unbedingt haben wollte. Zweimal täglich warf der mit Narben übersäte, schweigsame Wächter ein geschlachtetes Schaf in den verhüllten Käfig. Als 247 Alain einmal die Hunde außerhalb des Zwingers ausführte, hörte er die Kreatur beim Fressen; es klang beinahe, als wenn ein Hund auf einem Knochen kaute. Doch niemand traute sich, einen Blick hinter das Tuch zu werfen, noch nicht einmal die jüngsten, draufgängerischsten Soldaten. Am Abend des sechsten Tages der Heiligen Woche, als Alain die Hunde und den Aikha wie gewöhnlich mit Nahrung versorgte, hob der Prinz plötzlich den Kopf, als wollte er in wildes Geheul ausbrechen. Statt dessen brachte er nur ein tiefes Grollen hervor und zerrte an den Ketten. Die Hunde rasten bellend und knurrend zum Tor, und Alain folgte ihnen rasch, um sie zu beruhigen. Aufgebracht liefen sie um ihn herum und bellten so laut, daß er nur durch Zufall die leisen Stimmen auf der anderen Seite des Zauns hörte. Er kletterte die Leiter ein Stück empor, blieb dann ganz still stehen und lauschte, während die Hunde unter ihm weiter herumrasten und laut jaulten. Der Palisadenzaun bestand aus fest miteinander vertäuten Stämmen, die so dick waren wie der Oberschenkel eines Mannes; da er nicht besonders hoch geklettert war, konnten jene, die sich auf der anderen Seite unterhielten, ihn nicht sehen. Aber er konnte sie hören. »Er hat eingewilligt, wenn auch nur zögernd. Ich habe ihm unmißverständlich klargemacht, daß ich nicht eher verschwinden werde, bis er mir die Kreatur gibt - sozusagen als Gegenleistung für unsere Abreise. Jetzt müßt Ihr mir die anderen Zusagen verschaffen, die ich benötige.« »Es ist alles für morgen nacht vorbereitet, Hoheit. Gleich nach dem Fest des Translatus werden wir den Gefangenen zu den Ruinen bringen und dort das Ritual durchführen. Starkes Blut wird die Geister herbeirufen und unter meine Kontrolle bringen.« »Was ist mit den Hunden?« 248 »Ihr müßt morgen beim Fest darum bitten, daß sie vor Einbruch der Nacht angebunden werden.« »Ich verstehe. Ulric hat mir berichtet, daß das Guivre unruhig wird. Es braucht Nahrung. Wir können nicht riskieren, daß es wie schon vor zwei Monaten aus dem Käfig ausbricht, weil es zu hungrig wird.« »Wir müssen Geduld haben, Hoheit. Wenn nach dem Opfer noch etwas übrig ist, werden wir es zum Käfig schaffen. Doch was das Guivre am meisten braucht, können wir ihm hier ohnehin nicht verschaffen, wie Ihr wißt. Es würde zu viele Fragen geben.« »Ich lege die Angelegenheit also in Eure Hände. Enttäuscht mich nicht.« »Das werde ich nicht, Hoheit. Unsere Herrin und Unser Herr blicken mit Wohlgefallen auf unser Anliegen.« »Das behauptet Ihr. Doch die Geistlichen in der Königlichen Schule meines Bruders würden mir da sicherlich
nicht zustimmen. Sie deuten die Herrschaft des Konzils von Narvone anders, nicht wahr, meine teure Bischöfin?« »Es ist wahr, daß ihre und meine Einstellung weit auseinandergehen, was die Verwendung oder den Nutzen von Zauberei innerhalb der Kirche anbelangt. Verbünden wir uns also, Hoheit, und handeln wir gemeinsam, wie es jenen entspricht, deren Forderungen kein rechtes Gehör gefunden haben.« »Übermorgen reisen wir ab?« »Ja, bis dahin wird alles vollbracht sein, Hoheit.« Die Hunde bellten noch einige Male halbherzig, als die beiden sich entfernten. Alain spürte ihre Abwesenheit nicht nur, weil ihre Stimmen verklangen, sondern auch, weil die Gänsehaut auf seiner Haut nachließ. Seine Finger hatten sich so fest um eine Sprosse der Leiter geklammert, daß es schmerzte. Mit einiger Anstrengung löste er die Hand und schüttelte sie kräf249 tig. Es blieb ihm jedoch kaum Zeit, seine Gedanken zu ordnen, denn schon bald rief Meister Rodlin ihn zur Abendandacht. In der Kirche kniete Alain zwischen all den anderen, aber er musterte vorwiegend die Bischof in und Frater Agius. Hatte Bischöfin Antonia wirklich diese seltsamen und schrecklichen Worte gesagt? Starkes Blut wird die Geister herbeirufen und unter meine Kontrolle bringen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sie wirklich richtig verstanden hatte, denn sie sprach Wendisch mit einem Akzent; Antonia war ein fremder Name. Vielleicht sollte er sich Frater Agius anvertrauen, doch der hatte ganz offensichtlich eigene Probleme. Alain war unschlüssig, was er tun sollte. Die ganze Nacht wurde er von Sorgen gequält und wachte bei dem leisesten Geräusch auf - bei jedem Laut der schlafenden Hunde, bei jeder Frühlingsbrise, die an den Türen des Anbaus rüttelte, bei jedem noch so schwachen Ruf, der von der Küche herübergeweht wurde, wo die Vorbereitungen für das Fest des Translatus bereits in vollem Gang waren. Einmal stand er sogar auf und schlich hinaus, um nach dem Aikha-Prinzen zu sehen, der wie immer wach war. »Elen«, hörte er ihn leise in der Nachtluft flüstern, »laß frei.« Doch Alain floh zurück in seinen Anbau und verbrachte den Rest dieser langen, langen Nacht zitternd unter seiner Decke. Starkes Blut. Wessen Blut? Doch er wußte nur zu gut, wen sie gemeint hatten. Bei der Morgenandacht war er außerstande, sich zu konzentrieren. Als das große Fest gegen Mittag begann, bediente er wie immer an den Tischen, doch schienen sich seine Hände, ja sein ganzer Körper unabhängig von seinem Geist zu bewegen. Nichts von dem, was die Leute um ihn herum sagten, machte Sinn für ihn. Er konnte auch der Aufführung der Schauspieler 250 aus dem Süden nicht folgen, die sich in Sabellas Gefolgschaft befanden und die Reise und die Prüfungen von St. Eusebe nachstellten, die Visionen, die sie von dem großen Mysterium erhalten hatte, als St. Thekla die Ekstasis und das Wunder des Translatus bezeugte: das leuchtende Licht, das der Ruhm Gottes ist und auf den Flügeln der Engel ruht und die Kapelle und das Herdfeuer in eine Vision der Kammer des Lichts verwandelte. Und so verkündete die Schauspielerin, die die Rolle von St. Eusebe übernommen hatte, in ihrer Verzückung: »Und auf den Flügeln der Engel wurde der sterbliche Körper des heiligen Daisan zur Kammer des Lichts erhoben, wo Sein Geist bereits bei Unserer Herrin und Unserem Lord weilte.« Das Festmahl dauerte mehrere Stunden. Agius stand an der Tür; er aß nichts. Als Alain endlich frei hatte, rannte er zurück zur Einfriedung. Er hatte die Hunde mit Absicht frei herumlaufen lassen, trotz Rodlins Aufforderung, sie anzuketten. Der Aikha-Gefangene war noch in seinem Käfig. Hatte sie vor, ihn zu töten? Was war das Konzil von Narvone? Kirchenangelegenheiten, ganz offensichtlich. Alain verstand von den Kirchenangelegenheiten und Konzilen nichts, und er wußte schon gar nichts über Magie, abgesehen davon, daß die Diakonissinnen immer vor falschen Zauberern und der Finsternis warnten, die in der Verkleidung gutaussehender Männer und Frauen durch das Land wanderten, Verführer von Geist und Körper, die viel versprachen, noch mehr nahmen und nichts dafür gaben. Graf Lavastin hatte Sabella nicht versprochen, ihrer Rebellion beizutreten; das war alles, was man wußte. Er war noch immer höflich, aber unbeteiligt. Ähnlich, wie er viele Monate zuvor einen Antrag von König Henry zurückgewiesen hatte, 251 weigerte er sich nun auch, die Bitten oder Forderungen Sabellas zu erfüllen. Was er wirklich dachte, behielt er jedoch für sich. Alain saß mitten zwischen den Hunden, auf allen Seiten von heißem Atem, schweren Körpern, feuchten Zungen und freundschaftlich wedelnden Schwänzen umgeben. Seinetwegen konnten sie ruhig die Brut von Teufeln oder Dämonen sein; er vertraute diesen Hunden, denn sie vertrauten ihm. Sie knurrten, als Bischöfin Antonia vom Fest herüberkam, um nach dem Gefangenen zu sehen. »Wir brechen früh am Morgen auf«, erklärte sie Meister Rodlin eindringlich, »und Graf Lavastin erteilte uns die Erlaubnis, den Aikha-Gefangenen mitzunehmen. Alles muß so vorbereitet sein, daß wir frühzeitig abreisen können. Sorgt daher dafür, daß die Hunde in dieser Nacht angekettet sind.« Sie entfernte sich rasch wieder, und sofort erteilte Meister Rodlin Alain eine Rüge, weil er die Hunde nicht
angebunden hatte. »Sie werden das Aikha-Ungeheuer morgen früh mitnehmen«, sagte er. Und fügte hinzu: »Zum Glück.« Er verschwand mit verärgerter Miene. Alain war nicht sicher, was er damit gemeint hatte: daß sie den Aikha-Prinzen los waren oder daß Prinzessin Sabella und ihre Gefolgschaft bald verschwunden sein würden, die jedes bißchen Nahrung in der Festung verbraucht und zusätzlich noch fünf der besten Pferde für sich verlangt hatten ... Doch auch wenn Meister Rodlin die Besucher gemeint hatte - es würde niemanden kümmern, wenn der Aikha-Prinz getötet oder verschleppt werden würde. Oder wenn er spurlos in der Nacht verschwand und niemals wieder auftauchte. Warum sollte es auch? Er war schließlich ein Wilder, oder nicht? Doch waren nicht alle Wesen dieser Erde Geschöpfe Unserer Herrin und Unseres Herrn? Wurden nicht alle von Ihnen ge252 liebt? Sicher, nicht alle Geschöpfe, menschlich oder nicht, lebten im Licht des Kreises der Einigkeit. Und diese unseligen Kreaturen kannten keine Barmherzigkeit oder verhielten sich in einer Weise, die gegen das Gesetz der Kirche verstieß. Doch erwies er dann nicht Unserer Herrin und Unserem Herrn einen Dienst, wenn er solch einem Wesen das Wissen von den Einigkeiten brachte ? Was aber, wenn er unrecht hatte? Wenn er die Unterhaltung zwischen Prinzessin Sabella und Bischöfin Antonia falsch verstanden hatte? Aber noch schlimmer wäre es, wenn er recht hatte und falsch handelte. Er traf seine Entscheidung, als der Abend heraufdämmerte. Nachdem er sämtliche Hunde bis auf die zwei treuesten angekettet hatte, nahm er den hölzernen Kreis der Einigkeit, den Tante Bei ihm geschenkt hatte, und eilte zum Käfig. »Sitz, Rage. Platz, Kummer«, befahl er. Die beiden Hunde gehorchten sofort. Er öffnete den Käfig. Der AikhaPrinz musterte ihn, unternahm aber keine Anstalten zu sprechen. Alain streifte ihm das Lederband mit dem Kreis der Einigkeit über den Kopf. Dann holte er tief Luft, um sich Mut zu machen, und löste die Ketten an den Händen und Füßen des Gefangenen. Die Hunde verhielten sich erstaunlich still. Sie machten keinerlei Anstalten, auf den Prinzen loszugehen. Der Prinz beugte und streckte ein paarmal seine Arme und Beine. Dann wandte er sich um. Er war flink. Alain sah den Sprung erst, als es zu spät war und der Prinz seinen linken Arm bereits fest im Griff hatte. Mit einer kräftigen, fast beiläufigen Handbewegung trennte der Aikha-Prinz die Rückseite von Alains Hand mit den weißen Klauen auf, die von seinen Knöcheln abstanden. Blut spritzte. Alain war zu entsetzt, um sich zu rühren, zu benommen von seiner eigenen Dummheit: Jetzt werde ich sterben. 253 Aber sicher werden die Herrin und der Herr mir vergeben, da der Irrtum doch aus Mitleid geschah. Die Hunde rührten sich noch immer nicht, und allein das war ein Wunder. Der Aikha-Prinz führte Alains blutende Hand an seinen Mund und leckte das Blut auf. Alain war jetzt so benommen, daß er sich richtig schwindlig fühlte. Er konnte nur zusehen, als der Prinz auch seine eigene Hand mit den Klauen aufriß und dann hochhielt ... damit Alain es ihm gleichtun, die Geste erwidern konnte. »Laß frei«, sagte der Prinz. »Paier sanguis.« Bezahl Blut. Kummer jaulte. Rage knurrte tief in der Kehle und drehte den Kopf in Richtung Tor. Die Zeit drängte. Würgend leckte Alain etwas von dem Blut auf. Es war erstaunlich süß, schmeckte beinah wie Honig. Er taumelte leicht. Sein Blick vernebelte sich. In der Ferne hörte er das Geflüster einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich vom äußeren Hof her näherte. Er hörte das gedämpfte Geräusch, mit dem sich eine Messerklinge an Stoff rieb. Er roch den üblen Gestank der Latrinen, obwohl es in dieser Nacht zu wenig Wind gab, als daß er dies alles hätte hören und riechen können. »Mi nom es fil fifte litiere fifte.« Und dann war der Prinz verschwunden. Alain rieb sich kräftig mit den Knöcheln über die Augen. Die Hunde stießen ihn mit den Schnauzen an, und als er die Lider wieder hob, sah er, wie ein Schatten rasch die Leiter erklomm, auf die andere Seite kletterte und aus seinem Blick verschwand. Alain rannte. Er kam gerade noch rechtzeitig oben auf der Leiter an, um einen schwachen Schatten im Wald verschwinden zu sehen. Frei. Alains Hand pochte. Instinktiv leckte er über die Wunde und schmeckte den intensiven Geschmack von Blut. 254 Merkwürdige Wesen erwachen im nächtlichen Wald zum Leben. Nackte Füße senken sich auf den laubbedeckten Lehmboden. Es ist kühl und dunkel, und die Blätter der Bäume formen in der nächtlichen Brise merkwürdige Gebilde, die sich gegen dunklere Schatten abgrenzen. Alain schüttelte die Benommenheit ab. Da! Eine Gruppe von sechs Leuten trat durch das Palisadentor neben den Latrinen. Merkwürdig genug, spürte er noch immer den Honiggeschmack auf seiner Zunge. Er wußte sofort, daß die Gestalt in der Mitte Bischöfin Antonia war, obwohl es so dunkel war, daß er ihre Gegenwart eigentlich nur erahnen konnte. Sie kamen herüber. Er kletterte hastig die Leiter hinunter und ließ die Hunde von der Kette. Er würde so tun, als wäre er eingeschlafen, auch wenn er sich damit am nächsten Morgen den Zorn von Meister Rodlin einhandeln würde. Er wußte, er verhielt sich wie ein Feigling. Er sollte sich ihr stellen ... aber sie war eine Bischof in! Eine große Frau
des Hofes. Verglichen mit diesen hochrangigen Personen war er ein Nichts, ein Niemand. Er versteckte sich in seinem Anbau, während sie sich am Tor zu schaffen machten. Die Hunde sprangen bellend und bedrohlich knurrend herbei. Nach einer Weile zog die Bischöfin mit ihrer Gruppe wieder ab. »Alles ist vorbereitet.« Mit Hilfe seines ungewöhnlich scharfen Gehörs konnte er verstehen, was die Bischöfin sagte, während sie mit den anderen zurück zum Palisadenzaun schritt. »Wir müssen es tun. Wir müssen einen Ersatz finden, den wir auf dem Altar opfern können. Einen, den man nicht vermissen wird.« Die Worte vermischten sich plötzlich mit den Geräuschen einer Kreatur, die rasch durch den nächtlichen Wald lief. Mi nom, hatte der Aikha-Prinz gesagt. Es waren salianische 255 Worte. Mein Name ist Fünfter Sohn der Fünften Leiter. Alain schüttelte den Kopf. Er war immer noch ganz benommen vor Angst, vor Aufregung und Schuldgefühlen, von dem Geschmack des Blutes. Er hatte sich verhört. Einen, den man nicht vermissen wird. Die Hunde jaulten. Kummer öffnete schließlich mit der Schnauze den Riegel zum Anbau und schob sich ins Innere, drückte sich an Alain, leckte ihm übers Gesicht und über die frische Wunde an der Hand, als wollte er seine Verletzung heilen. In dieser Festung gab es neben dem Aikha-Prinzen nur noch ein einziges weiteres Wesen, dessen Verschwinden nicht bemerkt oder bedauert werden würde. Furcht stubste seine Hand an und leckte ihm die Finger. Mit einem scharfen Pfiff rief er die Hunde zum Gehorsam. Zu seinem Schutz nahm er Kummer und Rage mit. Als er zu den Ställen kam, war Simplizius verschwunden. Erschreckt führte er die Hunde den alten Weg entlang, der sich im schwachen Licht in die Hügel zu den alten Ruinen schlängelte. Er rannte, so schnell er konnte, doch der Pfad war schmal, und man mußte mit plötzlichen Biegungen rechnen; mehr als einmal blieb sein Fuß an einem losen Stein hängen oder verfing sich in einer Wurzel, und er rutschte aus, stürzte auf den harten Boden. Die Hunde sprangen neben ihm her und hielten nur an, um an ihm zu lecken oder ihn anzustubsen, wenn er gefallen war. Als er schließlich an der Lichtung ankam und über die alten Ruinen blickte, hatte er für einen Augenblick den Eindruck, als hätte der abnehmende Dreiviertelmond sich in zwei Monde aufgeteilt, dessen eine Hälfte in den Ruinen brannte, begleitet vom leuchtenden Seirios, dem Stern, der den Seefahrern als der Brennende Pfeil bekannt war. Doch es waren nur Laternen, kein Mond, kein Stern. Wie Wachen umringten sie das Altar256 haus. Dunstiges Licht stieg von dort auf, leuchtete hinter den dachlosen Mauern empor. Simplizius schrie. Rage und Kummer warfen die Köpfe zurück und jaulten auf; es war ein langes, verzweifeltes, kreischendes Jaulen, als wollten sie den Mond anheulen. Er packte sie an den Halsbändern und hielt sie fest, bevor sie sich zwischen die Ruinen stürzen konnten; augenblicklich verstummten sie. O Herrin, was sollte er tun? Was konnte er tun? Er hörte eine leise Stimme - es war kein richtiger Gesang, eher eine geschmeidige Melodie, die kein Ende hatte, auf- und abstieg, in sich selbst verschlungen und dann wieder nach außen geöffnet. Gleichzeitig hörte er das Wimmern einer zu Tode erschreckten Kreatur, ihr klagendes Gejaule. Sein Atem zischte hörbar, als er mit zusammengebissenen Zähnen Luft holte. Er zitterte, so erschrocken war er. Doch er mußte weitergehen. Plötzlich knurrten die Hunde erneut. Ein Schatten erschien am Waldrand. Rage und Kummer stellten die Ohren auf, ihr Fell sträubte sich, und sie versuchten, sich von ihm loszureißen und den Eindringling anzugreifen. »Halt«, befahl er leise. Der Schatten bewegte sich weiter, entpuppte sich schließlich als Frater Agius. »Platz.« Die Hunde gehorchten. »Geh nicht da hin«, sagte Agius. Sein Gesicht war blaß, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Das Gewimmer ging weiter, erklang wie ein Widerspruch zu dem unheimlichen Gesang. Das Licht vom Altarhaus strahlte allmählich heller und heller, und innerhalb des Leuchtens gewahrte er einen gewaltigen Schatten, der sich gegen den Himmel abzeichnete und dann verschwand. Das Wimmern ging jetzt in einen hilflosen Schluckauf aus purem Entsetzen über. Die Hunde drängten vorwärts, zogen Alain hinter sich her. 257 Agius griff nach Alains Arm, um ihn aufzuhalten, und Rage wirbelte herum und schnappte nach dem Frater. »Laß das! Platz!« zischte Alain. Agius nutzte Alains Zögern und packte seinen Arm. Er konnte erstaunlich fest zupacken. »Geh nicht«, wiederholte er mit der gleichen leisen, düsteren Stimme. Er schien die Hunde nicht zu beachten, die knurrend zu seinen Füßen saßen. »Sie würde dich ebenfalls töten, und was wäre damit gewonnen?« »Dann muß ich zurück zur Burg gehen und Hilfe holen!« »Es ist zu weit. Du würdest zu spät kommen.« Der feste Griff von Agius, der fürchterliche Gesang und das schreckliche, jaulende Geschrei - das einzige, was Simplizius hervorbringen konnte - ließen Alains Entschlossenheit schwinden. Es gibt nichts, was du tun kannst. Was konnte er schon gegen eine Bischöfin ausrichten? Das Licht am Altarhaus flackerte vor Hitze orangefarben auf, als würde neues Holz oder etwas anderes Brennbares ins Feuer geworfen. Simplizius schluchzte kläglich, und bei seinen Schreckenslauten blutete Alain
schier das Herz. »Ich muß versuchen, ihm zu helfen!« Er wand sich aus Agius' Griff, doch der packte ihn erneut. Die Hunde, die es zur Ruine drängte, sprangen zurück, und Kummer grub seine Zähne in Agius' Gewand. Noch immer ließ der Frater Alain nicht los, gab auch keinen Schmerzensschrei von sich. »Laß los!« Alain gab Kummer einen Klaps, zerrte ihn vom Frater zurück und hielt gleichzeitig Rage davon ab, zur Ruine zu stürzen oder ebenfalls den Frater anzugreifen. Erst jetzt bemerkte er voller Entsetzen, wie sich der Wind drehte und die Hunde plötzlich unnatürlich ruhig wurden. Der Geruch von Rauch und etwas anderem, einer Mischung aus Kräutern und etwas Unsauberem, wehte von den Steinen herüber. Ein fürchterlicher, gurgelnder Schrei drang zu ihnen, 258 zusammen mit dem schwachen Geruch von verbranntem Fleisch. Agius' Hand krampfte sich stärker um Alains Arm. Die Hunde beachteten den Frater nicht mehr, sie stellten sich vor Alain, drängten ihn zurück, als wollten auch sie ihn davon abhalten, zu den Ruinen zu laufen. »Zeugen«, flüsterte Agius. »Wie einst St. Thekla das Leiden des heiligen Daisan bezeugte, so müssen wir jetzt dieses Leid bezeugen.« Es war beinahe widerwärtig, Agius so beherrscht sprechen zu hören, während nur ein paar Schritte entfernt Simplizius gequält, ermordet und an Stelle des Aikha-Prinzen geopfert wurde. Und wozu? Der Wind wehte jetzt in heftigen Böen. Regen prasselte herab, trommelte in der schlagartig abgekühlten Luft auf die Ruinen. Und dann, auf einmal, regte sich nichts mehr ... bis auf den dunstigen Rauch, der vom Altarhaus aufstieg. Es war geradezu unheimlich ruhig, abgesehen von der dünnen Stimme, die so klang, als wäre sie unter Steinen begraben, und dem schwachen Wimmern, das nach einem Kätzchen klang und so leise war, daß Alain sich wunderte, es überhaupt hören zu können. Doch von dem gewöhnlichen Wispern und Rascheln, den Geräuschen des Windes, der Nachtvögel und der vielen kleinen Tiere im Wald und auf der Lichtung war nichts mehr zu hören - ganz so, als wäre alles Leben verschwunden und verstummt. Agius ließ Alain los, kniete sich hin und senkte den Kopf auf die Brust. »Es ist ein Zeichen, flüsterte er, »daß ich hinausgehen und die wahre Botschaft von Seinem Leiden und Seiner Erlösung verkünden soll.« Ein fürchterlicher Gestank erhob sich von den Ruinen, so heiß und stechend wie der Atem einer Schmiede. Alain bekam eine Gänsehaut, und seine Nackenhaare richteten sich auf. Agius hob den Kopf. Die Hunde jaulten und drängten in Richtung Wald, kauerten sich an Alains Beine. 259 Alain spürte in seinem Rücken eine Gegenwart - viele Gegenwarten. Ein Flimmern lief durch die Luft, als wäre der Wind plötzlich sichtbar geworden. Er hörte die Bischöfin Worte sprechen, die er nicht kannte, aber sie waren stark, und so mußte es sich um Worte der Macht handeln. Das gestaltlose, hilflose Wimmern - längst nicht mehr menschlich klingend - verband sich in merkwürdig eleganter Harmonie mit ihrer Stimme. Alain weinte, rührte sich aber nicht. Er hatte Simplizius zu diesem Schicksal verdammt und war jetzt außerstande, ihn zu retten. Der Gestank von brennendem Eisen erfüllte die Luft. Gestalten, nicht ganz so dunkel wie die nächtliche Dunkelheit, strömten hinter ihm vorbei, Geister, die durch die Nacht schlichen. Sie berührten ihn, sprangen hin und her, denn sein menschlicher Körper war für sie ein Hindernis. Sie hatten nicht die Gestalt von Menschen, auch nicht die menschenähnliche der toten dariyanischen Prinzen - der Elfen, die die älteren Schwestern und Brüder der Menschheit waren. Sie hatten im Grunde überhaupt keine Gestalt, waren eher wie Schilf, das sich in der Brise wiegt, die das Ufer umspült, sich beugend, schwankend, sich wieder aufrichtend. Sie schienen weder ihn noch die Hunde noch den Frater zu beachten, der sie staunend und stumm anstarrte. Sie glitten weiter und weiter. Drangen durch die Mauern, als wären sie Luft für sie. Krochen vom Bach herauf. Drängten von allen Seiten herbei. Sie wandten sich dem Altarhaus zu, und mit einem leichten Zischen, wie wenn man eine Kerze ausbläst, erloschen die Lampen. Doch noch immer kam ein Glühen von innen, heller noch, bis auch dieses von den Geistern überschattet und verdeckt wurde - Geistern, die durch Blut und Magie herbeigerufen worden waren. Und dann konnte Alain nichts mehr sehen 260 als die Dunkelheit, die das Innere der Ruinen umschloß, und er hörte nur noch die Stimme der Bischöfin. Ein dünnes, blubberndes Jammern. Stille. Und schließlich, in weiter Entfernung, der schwache Klang von Glocken. Die Hunde fielen zu Boden, blieben hilflos wie Welpen liegen, wimmerten. Alain zitterte; er weinte. Der Mond trat hinter Wolken hervor, die vorher nicht dagewesen waren, und warf sein Licht auf die stille, leere Ruine. Der Wind nahm wieder zu, und sofort trieben die Wolken weiter, bedeckten den Mond und die Sterne. Regen fiel, zuerst nur als sanfter Nieselregen, dann allmählich stärker, bis Alain völlig durchnäßt und auch der letzte Rest des Gestanks verschwunden war. Noch lange stand er da und lauschte; doch nichts war mehr zu sehen, nichts und niemand. Simplizius war tot. 4 Schließlich verebbte der Sturm. Vom Altarhaus war kein Lebenszeichen mehr zu vernehmen. »Ich hoffe, sie sind alle tot«, sagte Alain mit einem Eifer und einer Nachdrücklichkeit, die ihn selbst verblüffte. Er hatte nicht gewußt, daß er in der Lage war zu hassen.
Agius stand mühsam auf. »Komm, Bruder«, sagte er. »Wir können nichts tun, als uns dessen zu erinnern, was wir gesehen haben. Beten wir, daß es niemals wieder geschieht, und bezeugen wir es dort, wo es Gutes bewirken kann.« »Sollten wir nicht nachsehen, ob Simplizius -?« 261 »Wenn die Bischöfin noch dort ist, wird sie wissen, daß wir alles miterlebt haben. Glaubst du, sie würde zögern, uns ebenfalls zu töten? Märtyrertum ist eine ehrenvolle Tugend, mein Freund, aber nicht, wenn es aussichtslos und sinnlos ist.« Er ging bereits auf dem Pfad zurück in den Wald. »Was waren das für ... ?« flüsterte Alain. Agius blieb stehen und wandte sich zu ihm um. »Ich weiß es nicht.« »Wußtet Ihr, daß sie dies vorhatte?« »Daß sie eine Zauberin ist? Es ist in der Kirche bekannt, daß Bischöfin Antonia und ihre Nächsten mit der Skopos im Zwist liegen, was die Stellung der Zauberei innerhalb der Kirche betrifft. Man konnte also davon ausgehen, daß sie sich selbst mit Zauberei befassen würde.« »Aber daß sie heute nacht vorhatte, jemanden zu ... zu ... ?« Er fand keine Worte für die gräßlichen Dinge, die geschehen waren. »Die Heiligen Tage sind eine Zeit großer Macht, Alain. Und was anderes ist Zauberei als der Besitz jener Macht, die in der Erde und im Himmel ruht, und der Mittel und des Willens, sie zum eigenen Nutzen zu formen und zu gestalten?« Wasser tropfte von den Bäumen. Kein Laut drang von den Ruinen zu ihnen. »Komm, Alain«, drängte Agius. »Wir müssen zurück.« Wie der Schwachsinnige früher ihm, so folgte Alain jetzt dem Frater, und die Hunde begleiteten ihn, als würden sie schlafwandeln. »Aber du hast recht«, fuhr Agius noch immer so sachlich fort, daß es beinahe grotesk wirkte, »ich ahnte nicht, daß sie den Aikha-Gefangenen opfern wollte. Deine Tat, ein Zeichen unerwarteter Barmherzigkeit -« »- führte nur zu einem noch schlimmeren Verbrechen!« Alains Stimme hallte durch die Nacht. Kummer jaulte. 262 »Nicht doch! Verständlicherweise bereust du jetzt dein Verhalten. Doch die Wege der Herrin sind unergründlich. Betrachte dies als Zeichen der unendlichen Gnade Unserer Mutter im Himmel, denn sie schenkte diesem Unschuldigen oben, im heiligen Glanz der Märtyrer, die die Kammer des Lichts erleuchten, ein gesegneteres Leben.« »Als ein ... ein Zeichen?« Sie machten sich an den Abstieg, Agius vorneweg. Sobald sie die erste scharfe Kehre hinter sich gebracht hatten, zündete der Frater eine Lampe an. »Als ein Zeichen von Unserer Herrin, zum Gedenken an das Opfer, das Ihr Sohn an diesem Tag vollbrachte, den wir irrtümlicherweise das Fest des Translatus nennen, obwohl es eigentlich das Fest der Erlösung heißen müßte: denn es ist das Opfer unseres Herrn, Daisan, das uns von den Sünden erlöst. So, wie St. Thekla Zeugin des Leidens des heiligen Daisan war, so mußten wir beide Zeugen dieses Leidens werden.« »Aber der heilige Daisan fastete und betete sieben Tage lang! Er hat nicht gelitten!« »So lehrt die Kirche fälschlicherweise seit vielen Jahren. Und sprach vor über dreihundert Jahren beim Großen Konzil von Addai den Bann über die Wahrheit, indem sie sie zur Ketzerei erklärte. Aber niemals läßt sich die Wahrheit unterdrücken. Denn dies ist die Wahrheit: Der heilige Daisan wurde auf Befehl von Kaiserin Thaissania, Der Mit Der Maske, bei lebendigem Leib gehäutet, wie es zu jenen Zeiten Brauch war, wenn ein Mensch eines Verbrechens beschuldigt wurde. Als man ihm das Herz aus dem Körper schnitt, erblühte eine rote Rose an der Stelle, wo sein Blut in den Boden sickerte. Doch trotz seines Leidens, trotz seines Todes wurde er wiedergeboren und stieg zur Kammer des Lichts empor, denn mit seinem Leiden löschte er unsere Sünden aus. Nur dem Mitleid des Sohnes, des heiligen Daisan, Seinem Leiden 263 und Seiner Erlösung haben wir Sünder und Sünderinnen von der Erde es zu verdanken, daß wir in den Himmel aufsteigen können.« Ketzerei. Dies war sicher Ketzerei, und zwar eine so beunruhigende, die sich so umfassend gegen all das richtete, was man Alain beigebracht hatte, daß er für einen Augenblick das Altarhaus und Simplizius vollkommen vergaß. Agius war ein besonders schlimmer Ketzer. »Aber der heilige Daisan war ein Mann wie jeder andere«, protestierte Alain. »Wir alle gelangen zur Kammer des Lichts, wenn wir uns von der Finsternis reinigen -« »Das ist Ketzerei«, sagte Agius sanft. »Hier ist ein Zweig, Alain. Tritt vorsichtig auf.« Regentropfen fielen von den Bäumen auf seine Hände; erst jetzt begriff Alain, daß er immer noch weinte. »Zu Beginn gab es vier reine Elemente, Licht, Wind, Feuer und Wasser. Über ihnen herrschte die Kammer des Lichts und unter ihnen ihr Feind, die Finsternis. Durch Zufall überstiegen diese Elemente ihre eigenen Grenzen, und die Finsternis nutzte dies, um sich mit ihnen zu vermischen.« Die Stimme des Fraters lullte ihn mit ihrem feierlichen Ernst ein wie eine Ehrenrede für die Toten und machte ihn benommen, während er, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, dem Schimmer der Laterne folgte. Hinter ihm kamen, so duldsam wie Lämmer, die Hunde; sie winselten immer noch.
»Aus diesem Chaos heraus ordnete Gott, die Mutter des Lebens, die Welt mit der Göttlichen Botschaft, dem Heiligen Wort, doch ein Rest Finsternis blieb in dieser Verbindung. Deshalb gibt es das Böse in der Welt. Nur der heilige Daisan ist unbefleckt von der Finsternis. Nur durch Sein Opfer können wir erlöst werden.« Alain unterdrückte ein Schluchzen. »Ich habe ihn getötet«, 264 hauchte er, als käme ihm erst jetzt die ganze Bedeutung seiner Tat zu Bewußtsein. »Nein, Kind, es ist nicht dein Fehler. Es ist zweifellos fürchterlich, was wir heute nacht erleben mußten. Möge die Herrin uns vergeben.« Er schlug über dem Jungen das Kreiszeichen. »Komm jetzt, laß uns weitergehen, damit wir ins Bett kommen, bevor die anderen uns bemerken.« Die Hunde winselten; sie reagierten auf seinen drängenden Ton. Rage nahm Alains Hand zwischen ihre scharfen Zähne und zog ihn sanft hinter sich her, den Weg hinunter und tiefer in den Wald hinein. Immer noch weinend ging Alain mit ihnen. Er träumte. Eine Hand mit Klauen und Schuppen taucht in einen rasch dahinfließenden Strom. Das Wasser ist so kalt, daß es schmerzt, aber er trinkt dennoch. Dann, als wäre es ihm gerade erst eingefallen, berührt er den Holzkreis an seiner Brust. Er bleibt kalt und stumm. Wenn ein Gott darin ist, dann kann dieser Gott nicht sprechen. Oder zumindest nicht in einer Sprache, die er versteht. Er hebt den Kopf, schnuppert, um einen Geruch auszumachen. Horcht. Dal Ein Fuchs hält inne, weicht zur Seite. Über ihm! Eine Eule gleitet durch die Luft, schwebt in die Nacht davon. Doch in der Nachtluft schmeckt er die Ankunft des Morgens. Er sucht nach einem Wäldchen, in dem er sich verstecken, in dem er auf die Nacht warten kann. In der Nacht ist es sicherer für ihn weiterzugehen. Nach Norden, immer weiter nach Norden, zum Meer. 265 VI Die Stadt des Gedächtnisses
1 Obwohl an besonders geschützten Stellen, die niemals von einem Sonnenstrahl erreicht wurden, noch immer etwas Schnee lag, war der Frühling in Friedleben doch schon weit fortgeschritten, als die Heilige Woche begann. Sie begann immer an einem Mondtag und endete an einem Himmelstag - dem Tag, an dem der heilige Daisan auf den Flügeln der Engel in den Himmel aufgestiegen war. Da der genaue Zeitpunkt der Heiligen Woche sich nach dem Vollmond richtete, nahm gewöhnlich schon vor dem ersten Tag des Penitir der Mond wieder ab. Doch dieses Jahr fiel der Vollmond exakt auf den ersten Bußtag, genau wie im Jahr des Translatus. Diese Tatsache gab diesem Jahr etwas besonders Verheißungsvolles. Als Liath mit Hugh zu den umliegenden Weilern ritt - er auf dem kastanienbraunen Wallach, sie auf der scheckigen Stute -, konnte sie Knospen an den Bäumen und zarte, grüne 266 Triebe aus dem Boden sprießen sehen. Die Bauern hatten bereits begonnen, das Land zu bestellen, und die Sonne war warm. Liath wartete gewöhnlich draußen und hielt wie ein Stallbursche die Pferde, während Hugh sich um die Bauersleute kümmerte, die zu weit von einer Kirche entfernt wohnten, um regelmäßig an den Meßfeiern teilnehmen zu können. Diese kurzen Stunden, in denen sie allein draußen wartete, waren wie Balsam für ihre Seele, auch wenn Hugh sie dadurch noch mehr von anderen Leuten fernhielt und ihre Isolation verstärkte. Doch der Frühling hatte auch etwas Ansteckendes. Dorit, die Liath den ganzen Winter über mit einer gewissen Gleichgültigkeit, ja sogar Kälte behandelt hatte, tauschte jetzt Freundlichkeiten mit ihr aus. Lars pfiff vor sich hin. Doch Hugh war unruhig. Noch waren keine Hausierer über die alte Straße gekommen, die zum Herzogtum Saony im Innern Wendars führte; doch erst beim Auftauchen des ersten Hausierers aus dem Süden konnte Hugh sicher sein, daß die Straße über das Iels-Gebirge und die Furt bei Hammelleft passierbar sein würden. An St. Perpetua, dem zwölften Tag im Monat Yanu, der in diesem Jahr auf den zweiten Tag nach dem Fest des Translatus fiel, stand er früh am Morgen auf und kleidete sich an. Inzwischen ritt er wieder häufiger allein aus, um schneller seine Runden machen zu können. Auf diese Weise würden sie nach Süden aufbrechen können, sobald die Straßen frei wären. »Liath«, meinte er kurz angebunden. »Ich gehe jetzt. Du wirst eine Liste mit unserem Hab und Gut für die Reise nach Fiersbarg vorbereiten. Ich erwarte, daß sie bei meiner Rückkehr fertig ist.« »Wohin gehst du heute?« fragte sie. Nicht, weil es sie wirklich interessierte, sondern weil sie dann abschätzen konnte, 267
wieviel Zeit sie für sich haben würde: Würde es nur eine kleine Erholungspause am Morgen sein oder ein ganzer, langer Tag ohne ihn? Doch er kannte sie zu gut, kannte die kleinen Tricks, mit denen sie ein bißchen Freiheit vor ihm zu erlangen suchte, fraß auch diese Freiheit Stück für Stück auf. »Ich gehe und kümmere mich um meine Herde«, antwortete er mit seinem wunderbaren Lächeln. Er fuhr mit der Hand über ihren Nacken, folgte der Linie eines unsichtbaren Sklavenhalsbands, das aus seinem Besitzrecht und ihrer Unterwerfung geschmiedet worden war - unsichtbar, imaginär und doch so niederdrückend wie ein echtes aus Eisen. »Ich werde zurückkehren, wenn ich zurückkehre.« Und so verschwand er. Sie beschloß, sich nicht um die Liste zu kümmern. Möglicherweise würde die Weigerung ihr Schläge einbringen, möglicherweise würde er sich aber auch über ihre schlichte und passive Art des Trotzes amüsieren; nie konnte sie sicher voraussagen, wie er reagieren würde. Aus bloßer Gewohnheit ging sie ins Schulzimmer, nahm Griffel und Tafel in die Hand und übte die verschnörkelte Jinna-Schrift, von links nach rechts und von rechts nach links und wieder zurück. Dann schrieb sie arethusanische Buchstaben ab und setzte sie zu den einfachen Worten zusammen, die Hugh ihr beigebracht hatte. Doch schließlich schweiften ihre Gedanken ab, nicht länger behindert durch Hughs erdrückende Anwesenheit. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Geheimnissen des Himmels und des Vergehens von Zeit, denn vor allem das hatte Pa sie gelehrt - das Wissen der Mathematiki. Am ersten Tag im Yanu, dem Mariannatag, war das Frühlingsäquinoktium. Ein neues Jahr war damit angebrochen, das siebenhundertachtundzwanzigste Jahr nach Verkündung der 268 Göttlichen Botschaft durch den heiligen Daisan. Sie war siebzehn Jahre alt. »Pa«, flüsterte sie und wischte sich eine Träne von der Wange. Pa war gegangen. Und doch, stimmte es nicht auch, daß alles, was er sie gelehrt hatte, bei ihr blieb, so daß er auf gewisse Weise immer bei ihr war, durch die Erinnerung an ihn? »Über diese Leiter steigt der Weise hinauf.« Sie versteifte sich plötzlich vor Entsetzen. Was kam als nächstes? Sie hatte es vergessen! Sie hatte ihr Gedächtnis nicht so geübt, wie sie es hätte tun müssen. Hugh war immer zugegen, beobachtete sie ununterbrochen. »Woran denkst du, wenn du so still dasitzt?« pflegte er zu fragen. Es war also besser, nicht still dazusitzen. Es war besser, ihn nicht zum Schnüffeln aufzufordern. Sie haßte seine Art, ständig darauf aus zu sein, in ihr Inneres einzudringen, das Schloß zu zerbrechen, von dem sie beide wußten, daß es die Tür zu ihrem Innern verriegelte. Sie hatte das Buch. Er nicht. Es war das letzte Stück Freiheit, das sie besaß. Schon bald würde Hugh zurückkehren. Aber jetzt, in diesem Augenblick, war er nicht da. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie fand die Stadt, sie stand aufrecht in ihrem Gedächtnis. Eine mit weißen Steinen gepflasterte Allee führte vom Ufer zum ersten Tor, und sie folgte ihr. Das erste Tor türmte sich vor ihr auf, ließ sie zur ersten Ebene hinein: das Rosentor. In ihrem Geist sah sie jedes einzelne Tor deutlich vor sich, in der entsprechenden Reihenfolge. Rose, Schwert, Kelch, Ring, Thron, Zepter und Krone. »Mz'f der Zauberei ist es nicht viel anders als mit anderen Wissensgebieten; es ist wichtig, sie zu erlernen, anzuwenden und zu meistern. Ein Junge, der bei einem Schmied lernt, be269 ginnt nicht damit, ein schönes Schwert für den Fürsten zu schmieden. Ein Mädchen, das hei einer Weberin lernt, beginnt nicht damit, eine Decke für die Königin zu weben. So hält auch die Rednerin ihre erste Rede vor dem Spiegel, nicht auf dem Marktplatz, und der junge Soldat kämpft erst im Turnier, nicht gleich gegen den Todfeind seines Lehnsherrn. Und so mußte auch der heilige Daisan einundzwanzig fahre lang das Heilige Wort verkünden, ehe Er die Kunst des Betens gut genug beherrschte, um durch Sein eigenes Gebet und Seine eigene Meditation zur Kammer des Lichts aufsteigen zu können. Du mußt diese Dinge lernen, Liath. Du kannst sie nicht anwenden, denn du bist taub gegenüber der Magie, aber du kannst über sie nachdenken, kannst sie ausüben, als wärst du bei einem Weisen in der Lehre, und irgendwann hast du dir das Wissen eines Zauberers angeeignet. Wissen zu meistern heißt soviel, wie Macht daraus zu ziehen.« Da, an dem Tor, das es nur in ihrer Vorstellung gab, befand sich ein »Sternbild« aus Edelsteinen; es hatte die Form einer Rose. Und an jedem weiteren Tor gab es ein neues »Sternbild«, eine neue Konstellation - ein Schwert, ein Kelch, ein Ring und so weiter, immer dem jeweiligen Tor entsprechend. Denn diese Sternbilder leuchteten auch am Himmelsfirmament, zusammen mit den zwölf Konstellationen, die die Häuser der Nacht bildeten, dem Weltendrachen, der die einzelnen Himmelssphären zusammenhielt, und den vielen anderen Konstellationen, die durch die unendliche Weisheit Unserer Herrin und Unseres Herrn an der Sphäre der Fixsterne aufgehängt worden waren. Mit geschlossenen Augen zog sie die Umrisse der Rose nach, doch die Konturen und das zarte Material lösten sich auf wie Vogelspuren im Sand, die vom Wasser überspült werden. Sie konnte sie nicht festhalten. Aber sie konnte den Tisch als eine 270 Art Oberfläche benutzen und die Form darin einmeißeln. Sie legte ihre Hand auf das polierte Holz und zeichnete mit den Fingern vorsichtig und sorgfältig die Linien der imaginären Rosen nach. Daß eine solch einfache
Aufgabe sie so zum Schwitzen bringen konnte! Ihr Gesicht glühte vor Hitze, und ihr war am ganzen Körper warm. Sie hielt inne, als sie die unsichtbare Rose fertiggezeichnet hatte, und ließ die Hand auf den Tischrand sinken. Ein Geräusch riß sie aus ihren Gedanken. »Liath? Hast du hier ein Feuer an?« Liath sprang so schnell auf, daß sie mit den Oberschenkeln kräftig gegen den Tisch stieß. Sie fluchte und wirbelte herum. »Hanna! Hast du mich erschreckt!« Hanna rümpfte die Nase und schnüffelte wie ein Hund. »Deine Kohlenpfanne muß überhitzt sein. Es riecht nach verbranntem Holz. Du solltest besser -« Doch noch während sie sprach, verschwand der Geruch. Hanna seufzte tief. »Zumindest sind deine Wangen schön rot.« Sie machte einen Schritt auf Liath zu und nahm ihre Hände in die ihren. »Ich hasse es, wenn du so blaß aussiehst.« »Weiß Hugh, daß du hier bist?« fragte Liath. Sie schoß zur Tür und schaute hinaus. Der Flur war leer. Sie hörte Lars draußen beim Holzhacken. »Natürlich nicht. Ich sah ihn wegreiten -« »Er weiß, daß du hier bist. Er wird zurückkommen.« »Liath! Reiß dich zusammen!« Hanna rieb Liaths Hände. »Wie kann er es wissen, wenn er aus dem Dorf weggeritten ist? Er hat nicht gesehen, wie ich die Schenke verlassen habe.« »Das spielt keine Rolle. Er weiß es.« Plötzlich wurde Liath von tiefen Gefühlen für ihre Freundin überschwemmt. »Du bist alles, was ich noch habe, Hanna«, sagte sie mit rauher Stimme, dann umarmte sie sie stürmisch. »Nur das hat mich 271 vor dem Wahnsinn bewahrt - das Wissen, daß ich dir vertrauen kann.« »Natürlich. Natürlich kannst du mir vertrauen.« Aber Hanna zögerte und befreite sich langsam aus Liaths Umarmung. »Hör zu. Ich habe mit Ivar gesprochen. Einige Bedienstete sollen ihn begleiten, damit er im Kloster entsprechend seinem Stand leben kann. Er will mich mitnehmen.« Verblüfft hörte Liath den Rest von Hannas Geständnis; wie durch einen Schleier der Benommenheit drangen die Worte zu ihr. »Es tut mir leid, Liath. Aber es war die einzige Möglichkeit, der Heirat mit dem jungen Johann zu entkommen. Mutter und Vater sind einverstanden.« Liath sank auf den Stuhl; jetzt gab es nichts mehr, an dem sie sich aufrichten konnte. »O Liath. Ich weiß - ich wollte niemals -« Hanna fiel auf die Knie. »Ich will dich nicht verlassen.« Ich will nicht, daß du mich verläßt. Aber Liath wußte, daß sie das nicht sagen durfte. »Nein«, sagte sie statt dessen, so leise, daß die Worte kaum Gestalt annahmen. »Du mußt gehen. Du kannst Johann nicht heiraten. Wenn du mit Ivar gehst, hast du die Möglichkeit, eine bessere Partie zu finden oder eine bessere Position. Quedlingham ist eine schöne Stadt. Beide Klöster - sowohl das Männer- wie das Frauenkloster - werden von Mutter Scholastika geleitet. Sie ist das dritte Kind von Arnulf dem Jüngeren und Königin Mathilda. Sie ist eine gebildete Frau. Deshalb trägt sie auch diesen Namen, Scholastika. Getauft wurde sie auf den Namen Richardis.« Da war es - das ganze Wissen, das Pa ihr beigebracht hatte, war in der Stadt des Gedächtnisses, schön aufgereiht in Nischen, entlang der Alleen, unter Toren und Bogengängen. Aber was nutzte es ihr, wenn sie ganz allein war? Sie wollte weinen, traute sich aber nicht, um Hannas wil272 len. Also plauderte sie einfach weiter. »Königin Mathilda zog sich nach Quedlingham zurück, als König Arnulf der Jüngere gestorben war und ihr Sohn Henry König wurde. Ganz Quedlingham steht unter ihrem besonderen Schutz und wird von ihr unterstützt, daher sagt man, daß es ein angenehmer Ort ist. Ich glaube, wenn möglich, hält der König jedes Jahr während der Heiligen Woche dort hof, um seine Mutter zu ehren. Für eine, die so klug ist wie du, gibt es genug Möglichkeiten aufzusteigen. Vielleicht schaffst du es ja, in die Rundreise des Königs zu kommen. Er hat immerhin zwei Töchter, Sapientia und Theophanu, die alt genug sind, ein eigenes Gefolge zu haben.« Hanna ließ ihren Kopf auf Liaths Knie sinken. Die Wärme und Schwere vermittelten ein Gefühl von Geborgenheit, aber schon bald würde es für immer von ihr genommen werden. »Es tut mir so leid, Liath. Ich würde dich niemals verlassen, wenn es nicht sein müßte, aber im Sommer kehrt Inga mit ihrem Mann und dem Kind aus Frielas zurück, also ist kein Platz mehr für mich. Ich muß entweder heiraten oder bei Ivar in den Dienst treten.« »Ich weiß. Natürlich weiß ich das.« Doch die Hoffnung strömte aus ihr heraus wie Wasser aus einem lecken Eimer. Sie schloß die Augen, als würde sie dadurch alles verhindern können, »Liath, du mußt mir versprechen, daß du niemals die Hoffnung aufgibst. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Ich werde alles versuchen, damit du freikommst.« »Hugh wird mich nicht freigeben.« »Wie kannst du da so sicher sein?« Hanna hob den Kopf. »Wie kannst du da nur so sicher sein?« Liath seufzte tief, ohne die Augen zu öffnen. Sie ließ die Stadt des Gedächtnisses hinter sich zurück, verließ die Rose 273 aus Edelsteinen und Pas Worte. »Weil er weiß, daß Pa ein Geheimnis hat, und überzeugt ist, daß auch ich es
kenne. Weil er weiß, daß ich das Buch habe. Er wird mich niemals freigeben. Es spielt keine Rolle, Hanna. Hugh soll in Fiersbarg Abt werden. Wir reisen nach Süden, sobald die Straßen frei sind.« Sie öffnete die Augen und lehnte sich zurück. »Du mußt das Buch nehmen, flüsterte sie, obwohl sie beide ganz allein waren. »Du mußt es von hier wegbringen. Denn er wird es mir wegnehmen, wenn ich es habe. Und dann, wenn ich irgendwann einmal frei bin, werde ich dich finden.« »Liath -« Aber sie würde niemals frei sein. Er hatte es gewußt. Natürlich hatte er es gewußt. Sie ließ Hannas Hände los und stand auf. Hanna kämpfte sich auf die Füße und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, als Hugh die Tür öffnete. »Verschwinde«, sagte er kühl. Hanna blickte Liath an. »Raus hier!« Er hielt die Tür auf, bis Hanna hinausgegangen war, und schloß sie dann fest hinter ihr. »Ich mag es nicht, wenn du Besuch hast.« Er ging auf sie zu und packte sie fest am Kinn. Er starrte sie von oben herab an. Die tiefblaue Tunika betonte das Blau seiner Augen. »Ab sofort wirst du keine Besucher mehr empfangen, Liath.« Sie befreite sich mit einer Drehung aus seinem Griff. »Ich treffe mich, mit wem ich will!« Er schlug sie. Sie schlug zurück, mit aller Kraft. Er wurde blaß im Gesicht, bis auf die Stelle, wo ihre Finger einen roten Abdruck hinterlassen hatten. Er drückte sie gegen den Tisch, preßte ihre Handgelenke unbarmherzig gegen das harte Holz. Er war bleich vor Wut, und sein Atem kam stoßweise. 274 »Du wirst mir nicht -«, setzte er an, während sein Blick über ihre Schulter wanderte. Er hielt die Luft an, schubste sie zur Seite. Ihre Willenskraft - wie groß sie auch gewesen sein mochte - war bereits verbraucht. Benommen stand sie neben ihm und sah zu, wie er mit der Hand über den Tisch fuhr. Er malte einen Kreis, der immer enger wurde, die nach innen gewendeten spiralförmigen Linien einer Rose, die in das Holz gebrannt waren. Er sah jetzt regelrecht gierig, gespannt aus. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Was hast du gemacht?« »Nichts.« Er packte sie am Handgelenk, zerrte sie zu sich und legte ihre Hand dort auf den Tisch, wo sie es spüren mußte, auch wenn die Umrisse kaum zu erkennen waren. Die Linien fühlten sich wie Feuer an. »Die Rose des Heilens«, sagte er. »Du hast ihre Linien in den Tisch gebrannt. Wie hast du das gemacht?« Sie versuchte die Hand zurückzuziehen, aber er war stärker als sie. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Es war keine Absicht.« Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie. »Du weißt es nicht?« Er blickte beinahe noch wütender drein als in dem Augenblick, da sie ihn geschlagen hatte. »Du wirst es mir sagen!« »Ich weiß es nicht.« Er schlug sie mit dem Handrücken. Seine großen Ringe hinterließen Risse auf ihrer Wange. Er schlug noch einmal zu, steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein. »Wie viele Jahre habe ich daran gearbeitet, den Schlüssel für die Rose des Heilens zu finden - und du weißt es nicht? Wo ist das Buch deines Vaters? Was hat er dir beigebracht?« »Nein«, sagte sie. Blut tropfte von ihrer Wange. Er nahm sie in die Arme und trug sie in seine eigene Zelle. 275 Dort legte er sie aufs Bett. Sie starrte ihn an. Er musterte sie, während sich seine linke Hand in einem Rhythmus schloß und öffnete, den nur er kannte. Schließlich kniete er sich neben das Bett und wischte das Blut von ihrer Wange. Es war eine sanfte Berührung. »Liath.« Wie einschmeichelnd, wie verführerisch seine Stimme klang! »Was nützt uns das Wissen, wenn wir es nicht teilen? Haben wir nicht den ganzen Winter über gut zusammen gelernt? Können wir nicht noch mehr lernen?« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange, genau dort, wo sie von den Schlägen aufgeplatzt war; dann küßte er ihren Hals, ihren Mund, langsam und beharrlich. Doch jetzt war das Feuer in ihr erwacht, wie schwach es auch sein mochte. Seit sie die Rose gezeichnet hatte, brannte ein schwaches Gefühl dort, wo vorher nichts gewesen war. Feuer brachte Eis zum Schmelzen. Bei jedem Kuß zuckte sie zusammen. »Nein«, sagte sie leise. Sie machte sich auf den nächsten Schlag gefaßt. »Liath.« Er seufzte. Seine Hand fuhr über die Rundungen ihres Körpers. Seine Atemzüge kamen stoßweise, noch abgehackter, als wenn er wütend war. »Ich habe dich niemals schlecht behandelt, nicht in meinem Bett.« »Nein«, antwortete sie, gezwungen, die Wahrheit zu sagen. »Du könntest Vergnügen haben. Aber du mußt mir vertrauen. Ich habe gesehen, wie schnell du lernen kannst. Wie viel du lernen willst. Daß du noch mehr lernen willst.« Er ließ jetzt sein ganzes Gewicht auf ihr ruhen. Selbst durch die Kleidung hindurch spürte sie seine heiße Haut, den glühenden Körper, der sie umschlang. »Du weißt sehr gut, meine Schöne, daß niemand da ist, den du fragen kannst. Daß niemand da ist, an den du dich wenden kannst. Ich bin der einzige. Es gab 276 Gerüchte über deinen Pa, den teuren alten Bernard, aber diese Dörfler scherten sich nicht darum, sie ließen ihn in
Ruhe, denn sie mochten ihn. Und weil die Bischöfin von Frielas Wichtigeres zu tun hat, als sich um einen gefallenen Zauberer zu kümmern, der seine Hexenmeisterei dazu nutzt, Füchse von den Hühnerställen fernzuhalten.« Die winzige Zelle mit den dicken Wänden und der abgestandenen Luft mochte ihr wie ein Gefängnis erscheinen, dabei war sie schon längst die Gefangene von Hughs Machenschaften. »Aber dann wäre es dir schlechter ergangen, bei deinem Alter und deinem Aussehen.« Er streichelte ihre Haare, fuhr mit einer Hand ihren Nacken hoch und ließ die Haare über den Handrücken fallen und durch die Finger gleiten. »Deine Haare sind von ungewöhnlicher Schönheit, und deine Haut bleibt auch im Winter dunkel, wie bei den Völkern im Süden. Doch wer in diesem gottverdammten Land hat wohl schon einmal solche Menschen gesehen oder glaubt überhaupt, daß es sie gibt? Und dann deine Augen. Sie sind so blau wie das heißeste Feuer, oder hast du das nicht gewußt? Ich weiß es. Seit ich ein Junge war, habe ich versucht, die Geheimnisse der Zauberei zu enträtseln. Es gibt andere wie mich, die sie ebenfalls erlernen und meistern wollen. Es muß von Geburt an in deinem Blut gewesen sein. Ich weiß, was du bist, aber ich werde dein Geheimnis niemals verraten. Glaubst du mir?« Das Schlimmste war, sie glaubte ihm tatsächlich. Selbst in dieser Lage, wo er sie mit seinem Gewicht festhielt und sie überzeugt war, daß er alles mögliche sagen würde, nur um sie dazu zu bringen, ihm das Buch zu geben und zu verraten, was sie wußte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß er diese Worte vorschnell geäußert hatte, ohne darüber nachzudenken, daß auch er dadurch etwas von sich preisgegeben hatte, das ihn möglicherweise band. 277 »Ich glaube Euch«, sagte sie, aber die Worte taten weh. Er wußte, was sie war. Es war in Ordnung, wenn ein Zauberer oder eine Zauberin allein lebten, aber niemals sollten zwei heiraten. Das hatte ihre Mutter einmal gesagt und dabei die Hand auf Liaths Stirn gelegt. Denn das Kind, das aus der Verbindung eines Zauberers und einer Zauberin hervorging, würde vielleicht eine Magie erben, die noch viel furchtbarer als der Zorn des Königs sein konnte. Nur Liath hatte statt dessen eine Taubheit gegenüber der Magie geerbt. Pa hatte sie unterrichtet, aber nur so, daß sie sich durch den Besitz dieser Kenntnisse schützen konnte. »Du kannst sie nicht anwenden, denn du bist taub gegenüber der Magie.« Zumindest hatte sie das immer geglaubt. Aber jetzt hatte sie die Rose des Heilens in das Holz der Tischplatte gebrannt. Hugh würde ihr keine Hindernisse in den Weg legen, wenn sie Pas Buch studieren wollte oder auch andere Bücher - solange sie alles, was sie wußte, mit ihm teilte. »Ich werde aufrichtig zu dir sein, Liath«, sagte er und nahm dabei ihr Gesicht in seine Hände - es war die Geste eines Liebenden, ja, die Zärtlichkeit eines Liebenden. »Solange du aufrichtig zu mir bist.« O Herrin, es brannte so lichterloh, dieses neue Feuer. Es schmerzte so fürchterlich, verteilte sich, als würde es sich in ihren Körper eingraben, nachdem es so lange geschlummert hatte. Sie konnte nicht länger in dieser Benommenheit verharren. Genau das war es, so empfand sie es: Eine Entscheidung stand unmittelbar bevor. Er regte sich, rollte leicht von ihr weg; ein tiefes, zufriedenes Geräusch erklang in seiner Kehle. »Liath«, sagte er leise, sanft, einschmeichelnd. Seine Umarmung wurde fester. Hanna würde fortgehen. Sie selbst würde fortgehen, nach Fiersbarg, wo sie mit Hugh allein sein würde. Sie konnte nicht 278 so weitermachen, immer Widerstand gegen ihn leisten, immerzu erstarrt, teilnahmslos, betäubt. Sie war kaum in der Lage, einen Kontakt mit anderen Menschen als den mit Hugh wahrzunehmen; jeden anderen Kontakt hatte er ihr verboten, um sie von den anderen fernzuhalten. Wäre es nicht einfacher nachzugeben? Ihm zu geben, was er wollte? Meistrin Birta hatte selbst gesagt, daß Liaths Position beneidenswert war. Es würde ihr nicht schlechtgehen. Ziemlich sicher würde es ihr gutgehen. Sie hatte die Rose des Heilens in den Tisch gebrannt. Beim Blute der Lady, möglicherweise würde sie sogar genug lernen, um herauszufinden, ob sie wirklich taub gegenüber der Magie war. Oder ob Pa es wirklich nicht gewußt hatte und sie doch mit magischen Fähigkeiten geboren worden war. Oder ob Pa es die ganze Zeit gewußt und sie angelogen hatte. Warum hätte Pa sie anlügen sollen? Um sie zu schützen. Hugh fuhr mit den Fingern über ihre Arme. Er strich über ihre Kehle, malte ein Oval, und sie bebte. Er holte tief und geräuschvoll Luft und machte sich daran, seinen Gürtel loszubinden. »Hör auf, gegen mich anzukämpfen, Liath. Warum solltest du dir kein Vergnügen erlauben? Warum nicht?« Ihre Haut prickelte dort, wo seine Lippen sie berührten. Ja, warum eigentlich nicht? Der Augenblick der Entscheidung war schließlich gekommen. »Ich werde niemals Eure Sklavin sein«, flüsterte sie. Sie hätte geweint, so schwer fiel es ihr, diese Worte zu sagen, aber sie hatte zu viel Angst, um zu weinen. Sie legte ihre Hände an seine Brust und schob ihn von sich. Leise fragte er: »Was hast du gesagt?« Nun, da sie es einmal gesagt hatte, wußte sie auch, daß sie mit ganzer Kraft dabei bleiben mußte. Sie wand sich geschickt aus seinen Armen und glitt aus dem 279
Bett, fand sich jedoch plötzlich mit den Knien auf dem Boden wieder. Sie kauerte sich auf den Teppich und starrte ihn an, wie ein gefangenes Kaninchen einen Fuchs anstarrt. Doch ihre Stimme klang laut und fest. »Ich werde niemals Eure Sklavin sein.« Er richtete sich auf. »Aber du bist meine Sklavin!« »Nur durch das Gold, das Ihr für mich bezahlt habt.« Er preßte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Dann also zurück zu den Schweinen.« Doch er lächelte, als er das sagte, denn er glaubte, daß sie nach einem solch bequemen Winter niemals wieder die Härte des Schweinestalls auf sich nehmen würde. Liath dachte nach: das schmutzige Stroh, Trotters Rücken, die kalten Frühlingsnächte. »Ja«, sagte sie gedehnt. »Ja. Ich werde zurück zu den Schweinen gehen.« Sie mühte sich langsam auf die Beine und ging mit steifen Schritten zur Tür. Ihre Gliedmaßen gehorchten ihr kaum. Im nächsten Augenblick war er aus dem Bett. Er packte sie bei den Schultern, wirbelte sie herum und schlug so hart zu, daß sie taumelte. Noch einmal. Sie fiel nach hinten und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Sie fing ihren Sturz mit einer Hand ab und kämpfte sich wieder hoch. Die Hand schützend vor das Gesicht haltend, versuchte sie, an ihm vorbeizugehen, die Tür zu erreichen. Erneut schlug er zu. Und noch einmal. Dieses Mal fiel sie auf die Knie, blieb keuchend liegen. Die Schmerzen brannten in ihrem Innern. In ihren Ohren dröhnte es. Er trat sie in die Seite, und sie keuchte vor Schmerz, würgte. »Nun, was ist also?« Seine Stimme war vor Wut bis zum äußersten gespannt. »Die Schweine oder mein Bett?« Vorsichtig erhob sie sich. Ihr Gleichgewichtssinn war beeinträchtigt, und mit dem rechten Auge sah sie nur noch ver280 schwömmen. Sie machte einen wackligen Schritt, holte Luft, machte einen weiteren Schritt und legte die Hand auf den Türriegel, hob ihn an. Die Tür ging auf - und im selben Augenblick kam der Schlag. Sie stürzte in den Flur, auf alle viere. Noch ein Hieb, nein, ein Tritt, diesmal in die Rippen. Sie versuchte sich hochzukämpfen, doch jedesmal, wenn sie sich erhob und nur die kleinste Bewegung nach vorn machte, schlug er wieder zu. Auf dem rechten Auge vernebelte Blut ihr die Sicht, aber das machte nichts, denn mit diesem Auge konnte sie ohnehin kaum noch etwas erkennen. Sie tastete nach der Wand, fand sie und konnte sich hochziehen - und wurde um so härter gegen die andere gestoßen. Ihr Kopf prallte gegen den Stein, und sie fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Als sie erneut versuchte aufzustehen, konnte sie es nicht. Wimmernd lag sie da, bemüht, nicht zu wimmern, kein Geräusch von sich zu geben, ihre Beine unter Kontrolle zu bekommen. Er stieß ihr den Stiefel in die Seite. »Nun, Liath, was also?« »Die Schweine«, sagte sie. Sie konnte kaum sprechen, denn ihr Mund war voller Blut. Da sie nicht aufstehen konnte, versuchte sie, mit Hilfe der Ellenbogen vorwärts zu kriechen. Als er sie dieses Mal schlug und trat - sie wußte schon längst nicht mehr, ob mit den Händen oder Stiefeln -, tauchte sie in eine tiefe Schwärze ein. Sie hörte ihre mühsamen Atemzüge, aber sie konnte nichts erkennen. Vor ihren Augen wurde es grau, dann hell. Der enge Flur war nur noch ein nebliges Etwas aus Stein und Schatten, aber das genügte. Sie kämpfte sich auf die Ellenbogen und zog ihren Körper nach. Weiter, immer weiter, zu den Schweinen. Sie hörte Worte, einen entsetzten Aufschrei, aber der Sinn der Worte drang nicht zu ihr durch. 281 Ihr gesamter Körper tat weh, sie war voller blauer Flecken, und ein scharfer, stechender Schmerz bohrte sich in die Knochen, pochte wild an ihren Rippen. Blut tropfte von ihren Lippen, doch ihr Mund war trocken. Sie war so durstig. Sie konnte die Schweine deutlich vor sich sehen. Sie lebten außerhalb der Stadt ihres Gedächtnisses, in angenehmer Umgebung: Trotter, ihr Liebling, und die alte Sau Trüffeline und die Ferkel Hib, Nib, Jib, Bib, Gib, Rib und Tib, von denen sie einige auseinanderhalten konnte. Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, welche geschlachtet und eingepökelt und welche über den Winter gebracht worden waren. Er schlug sie erneut, auf die blinde Seite, und sie brach auf dem kalten Boden zusammen. Ihr Gesicht lag auf dem rauhen Stein, doch die winzigen Steinchen, die sie deutlich spürte, halfen ihr, das Bewußtsein nicht zu verlieren; sie zählte jedes einzelne, das sich in ihre Wange bohrte und in der offenen Wunde wie Salz brannte. Eine Weile verbrachte sie einfach nur damit zu atmen. Es war so mühsam. Das Ein- und Ausatmen schmerzte fürchterlich, doch irgendwie mußte sie schließlich zu den Schweinen kommen. Bei den Schweinen würde sie in Sicherheit sein. Das Buch würde bei den Schweinen in Sicherheit sein. Heißer Schmerz schoß durch ihren Unterleib, als würde jemand ein Messer hineinjagen. Sie schrie vor Angst gellend auf. Er würde sie eher töten, als sie freizugeben. Sie töten! An diese Möglichkeit hatte sie bisher nicht gedacht. Sie öffnete das linke Auge und sah, daß Hugh mehr als eine Körperlänge von ihr entfernt stand, sie anstarrte, das Gesicht so kalt und starr wie Stein. Er hatte sie nicht angerührt. Wieder jagte dieser Schmerz durch ihren Bauch. Eine warme Flüssigkeit floß langsam an den Innenseiten ihrer Oberschenkel hinunter. Ein erneuter Schmerz. Sie versuchte 282 etwas zu sagen, konnte aber die Worte nicht bilden. Oh, Herrin! Es tat so weh. Sie krümmte sich zu einem
Knäuel zusammen und wurde ohnmächtig. Sie kam halb zu Bewußtsein, als Lars sie vom Boden aufhob. Dorit sagte etwas. Liath erhaschte einen Blick auf Hugh, dann entglitt er ihr wieder. Ihre Oberschenkel waren klebrig und feucht. Die kühle Luft des Nachmittags schlug ihr jäh entgegen, als Lars sie hinaustrug. Wieder zuckte dieser Schmerz durch ihren Unterleib. Sie wand sich, warf den Kopf zurück. Dorit sprach mit ihr, aber Liath konnte den Sinn nicht verstehen. Lars' ruckelnder Gang jagte Schmerzwellen durch ihren Körper. Sie wurde wieder ohnmächtig. Als sie das nächste Mal erwachte, versuchte sie, nicht in Panik zu geraten. Sie lag auf einer harten Unterlage. Sie konnte die Augen nicht öffnen. Etwas Kaltes, Feuchtes bedeckte ihre Augen, wie die Hand einer verwesenden Leiche ... Sie fuhr zusammen, griff danach, doch jemand packte ihre Hände und hielt sie fest. »Liath, ich bin es, Hanna. Hör auf. Hör auf damit. Vertrau mir.« Hanna. Hanna konnte sie vertrauen. Sie klammerte sich an Hannas Hände. Was war geschehen? Sie war nackt von der Taille abwärts, lag mit aufgestellten Beinen auf dem Rücken, ein einziges Schmerzensbündel. Eine andere Stimme mischte sich ein. »Kannst du sitzen, Liath? Du mußt es versuchen, wenn es irgendwie geht.« »Hier«, sagte Hanna in ihrer wunderbar praktischen Art. »Ich schiebe meine Arme unter deine Schultern und stütze dich. Lehn dich einfach gegen mich, Liath.« 283 Als sie sich aufrichtete, ein kleines Stück nur, begann ihr Kopf zu pochen. Der Schmerz in ihrem Unterleib kam und ging in Wellen. Die feuchte Hand verschwand von ihrem Gesicht; es war nur ein kaltes Tuch gewesen. Mit ihrem guten Auge erkannte sie Meistrin Birta und im Hintergrund Dorit. Meistrin Birta richtete sich jetzt auf; sie hatte zu Liaths Füßen gehockt. Ihre Hände waren blutrot. Schwindel überfiel Liath. »Ich muß mich hinlegen«, keuchte sie. Noch während Hanna sie langsam wieder herunterließ, fiel sie in eine tiefe Ohnmacht. Wieder erlangte sie das Bewußtsein. Sie lag noch immer auf der harten Unterlage. Meistrin Birta sprach gerade. »Wir bringen sie nach oben. Ich habe getan, was in meiner Macht stand.« »Ich habe schon früher ab und zu gesehen, wie er sie schlug«, erklang eine Stimme, die Liath verschwommen als Dorits erkannte. »Aber bei ihrem Naturell, und da sie schließlich seine rechtmäßige Sklavin ist, habe ich es ihm nie übelgenommen. Aber das da.« Schweigen, gefolgt von schnalzenden Zungen. »Es ist eine Sünde gegen Unsere Herrin, jawohl. Ich konnte sie da doch nicht blutend liegen lassen und zusehen, wie sie ein Kind verliert.« Hanna und Birta trugen sie nach oben. Es dauerte lange, bis die Worte in Liaths Bewußtsein drangen. ... wie sie ein Kind verliert. Sie legten sie auf Hannas Bett und bedeckten sie mit Moos, um die immer noch vorhandene Blutung zum Stillstand zu bringen. Birta zog ihr ein Hemdkleid über die Hüften, damit sie etwas züchtiger angezogen war. Mühsam preßte sie die Worte heraus. »Stimmt das? War ich schwanger?« 284 »Aber sicher, Mädchen. Hast du gedacht, du könntest den ganzen Winter das Bett mit einem Mann teilen, ohne schwanger zu werden ? Hast du nicht bemerkt, daß dein Zyklus auf gehört hatte?« Liath lag einfach nur da. Sie spürte Hannas warme, weiche Hand auf ihrem Kopf. So tröstlich. Gute Hanna. »Ich bin so müde«, sagte sie. »Du schläfst jetzt erst einmal, Kind«, sagte Meistrin Birta. »Hanna wird eine Weile bei dir bleiben.« »Warum habe ich niemals daran gedacht?« flüsterte Liath. »Hughs Kind. Ich hätte es nicht ertragen, ein Kind von Hugh zu haben.« »Still, Liath«, sagte Hanna. »Ich glaube, du solltest jetzt schlafen. Herrin und Herr, wie hat er dich zugerichtet. Du bestehst nur noch aus blauen Flecken. Er muß wahnsinnig geworden sein.« »Ich werde niemals seine Sklavin sein«, flüsterte Liath. Als sie das nächste Mal erwachte, viel, viel später, spürte sie eine angenehme Trägheit. In dem kleinen Mansardenzimmer war es dämmrig, doch etwas Licht drang durch die Läden herein. Die alte Decke kratzte zwar ein wenig, wärmte aber. Sie war erschöpft, doch zumindest war sie allein; Hugh war nicht da. Das bedeutete schon sehr viel. Dann hörte sie das Poltern von Schritten auf der Hintertreppe, begleitet von lauten Stimmen. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihr sie aufweckt, Frater!« »Laßt mich vorbei, Meistrin, und ich vergebe Euch Eure Impertinenz für dieses Mal!« »Frater Hugh, es entspricht möglicherweise nicht meiner Position, so mit Euch zu reden, aber ich werde, so wahr mir 285 Gott helfe, meinen Gatten mit einer Nachricht über diesen Vorfall zur Bischöfin nach Frielas schicken, wenn Ihr mir jetzt nicht zuhört.« »Ich bin sicher, Meistrin, daß die Bischöfin Wichtigeres zu tun hat, als sich um eine Konkubine zu kümmern, die ich zu mir genommen habe.« »Ich bin sicher, das hat sie«, erwiderte Meistrin Birta mit erstaunlicher Schärfe, »aber ich glaube nicht, daß sie so
gutmütig zusieht, wie Ihr Euch eine Konkubine nehmt und das arme Mädchen dann so brutal zusammenschlagt, daß sie das Kind verliert, das aus dieser illegalen Verbindung hervorgegangen ist.« »Es war noch kein Kind. Es hat sich noch nicht bewegt.« »Aber mit dem Segen der Herrin wäre es eins geworden, hättet Ihr sie nicht geschlagen.« »Ich erinnere Euch daran, daß sie meine Sklavin ist. Ich kann mit ihr tun, was ich will. Ihr vergeßt, oder vermutlich wißt Ihr es nicht, Meistrin, daß die Bischöfin von Frielas, eine Edelfrau von gutem Charakter, keine mächtigen Verwandten hat. Ich schon. Und jetzt tretet beiseite.« »Sie ist immer noch ein Kind Unserer Herrin und Unseres Herrn, Frater Hugh. Nach Ihrem Willen, nicht nach Eurem, entscheidet sich, ob ein Kind vor seiner Zeit verloren ist. Denn wir Frauen sind die erwählten Gefäße Unserer Herrin, und es geschah nach Ihrem Willen, daß wir das Geschenk des Gebarens erhielten, ein Geschenk, das mit Schmerzen verbunden ist, denn wie sonst sollten wir die Existenz der Finsternis in der Welt und das Versprechen der Kammer des Lichts erkennen? Ich war bei vielen Frauen in dieser Gegend als Hebamme zugegen, und ich habe viele Frauen gesehen, die eine Fehlgeburt erlitten, sei es wegen irgendwelcher Krankheiten, Unterernährung oder einfach nur auf ein Fingerschnippen Ihrer 286 Hand. Ich habe auch viele Frauen und Babies im Kindbett sterben sehen. Niemals jedoch habe ich eine Frau gesehen, die so fürchterlich geschlagen worden war, daß sie ihr Kind verlor. Bis jetzt. Und genau das werde ich vor der Bischof in bezeugen, wenn es sein muß.« Stille trat ein. Liath versuchte die Entfernung vom Bett zu den Läden abzuschätzen, aber sie wußte, sie konnte ihm nicht entrinnen, sie hatte einfach nicht genug Kraft, dorthin zu gelangen, sie zu öffnen und hinauszuklettern; und darüber hinaus wollte sie nicht sterben, nicht einmal jetzt. Licht strömte in den Raum, und vom Hof drang das Krähen eines Hahnes zu ihr. Bebend wartete sie darauf, daß sich die Tür öffnete. Schließlich sprach Hugh wieder. Seine Stimme klang gepreßt vor unterdrückter Wut. O Herrin, mittlerweile kannte sie ihn so gut, daß sie seinen Gesichtsausdruck mit geschlossenen Augen vor sich sehen konnte. »Ihr werdet sie mir zurückgeben, sobald sie wieder gehen kann. Wir brechen in zehn Tagen nach Fiersbarg auf.« »Ich werde sie Euch zurückgeben, wenn sie sich erholt hat.« Er schäumte. Sie hörte es an seiner Stimme. »Wie könnt Ihr es wagen, mir Vorhaltungen zu machen?« »Sie kann immer noch sterben, Frater. Obwohl sie nicht zu meiner Familie gehört, habe ich sie auf eine gewisse Weise liebgewonnen. Und sie ist eine Frau und steht wie ich und alle anderen Frauen unter dem besonderen Schutz der Herrin. Denn steht nicht geschrieben in den Heiligen Versen: >Mein Herdfeuer, an dem das Feuer der Weisheit brennt, überlasse ich der Obhut der Frauen.< Ihr könnt mir drohen, wenn Ihr wollt. Ich zweifle keine Sekunde daran, daß Ihr mich nur zu leicht ruinieren könnt, denn wir alle wissen, daß Eure Mutter eine große Edeldame ist. Aber ich werde dafür sorgen, daß es Liath gutgeht, bevor ich sie eine solch anstrengende Reise machen lasse.« 287 »Also gut«, meinte er kurz angebunden. Dann lachte er. »Bei Unserm Herrn, Ihr habt Mut, Meistrin. Aber ich werde sie sehen, bevor ich wieder gehe.« Liath schloß die Augen und hoffte gegen jede Vernunft, daß Meistrin Birta ihm dies verwehren würde. »Das ist Euer Recht«, sagte Birta schließlich zögernd. Die Tür öffnete sich. »Allein«, sagte Hugh. Liath hielt die Augen noch immer geschlossen. »Ich werde draußen warten«, sagte Birta. »Gleich hier.« Hugh schloß die Tür hinter sich und verriegelte sie. Liath hörte jedes einzelne Geräusch: das Scharren der Tür, als sie zugeschoben wurde, den dumpfen Schlag, als er sie zumachte und den Riegel vorschob. Sie hörte seine Schritte auf dem Boden, hörte die losen Dielen unter seinem Gewicht quietschen, seine Atemzüge. Er hatte sie beide eingeschlossen. Sie öffnete die Augen immer noch nicht. Er schwieg. Sie spürte seine Gegenwart so sehr, daß sie genau wußte, wie nah er bei ihr stand, wie dicht an ihrem Gesicht seine Hände waren. Nur eine leichte Bewegung, und ihre Decke würde seine Robe berühren. Doch außerdem wußte sie nur zu gut, daß sie ihm nicht einfach entkommen konnte, indem sie die Augen geschlossen hielt. Pa hatte ihr immer eingeschärft, daß sie den Ängsten ins Auge sehen mußte, wenn sie nicht ihr Opfer werden wollte. Natürlich war immer ein spöttisches Lächeln um seine Lippen gewesen, wenn er dies gesagt hatte - er war auf der Flucht gewesen, seit ihre Mutter gestorben war. Sie packte die Decke fester, holte tief Luft und blickte Hugh an. Er musterte sie mit einem neugierigen, eindringlichen Blick. Sie starrte zurück, plötzlich so von Müdigkeit überwältigt, daß Furcht ihr nichts anhaben konnte. »Warum habt Ihr mich nicht einfach getötet?« flüsterte sie. 288 Hugh kicherte; dann lächelte er. »Du bist viel zu wertvoll, als daß ich dich so achtlos wegwerfen könnte.« Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck so schnell, wie ein Unwetter von der See heraufziehen konnte. »Aber du darfst mich nicht verärgern, Liath. Niemals wieder, niemals wieder so wie diesmal.« Sie blickte weg, schaute auf die rauhen Holzlatten an der Wand. An einigen Stellen war das Stroh vom Speicher auf der anderen Seite zu sehen.
Er machte es sich auf der Bettkante bequem. »Du wirst eine Dienerin brauchen, wenn wir reisen, und ich bin sicher, daß du dich auch in Fiersbarg besser eingewöhnen wirst, wenn ein Mensch bei dir ist, den du kennst. Ich hörte, daß die Tochter der Meistrin einen Freien heiraten soll, aber nicht will. Ich würde es befürworten, wenn das Mädchen mit uns käme. Dann hättest du Begleitung, und jemand könnte die Arbeit erledigen; und wer weiß, vielleicht erweist sie sich ja als schlau genug und kann zur Kastellanin unseres Haushalts aufsteigen. Es wäre eine gute Gelegenheit für jemanden von ihrem Stand. Wenn du einverstanden bist, werde ich gleich jetzt mit Meistrin Birta sprechen.« Unseres Haushalts. Es spielte keine Rolle, was sie tat, mit welcher Willenskraft sie sich gegen ihn auflehnte, es spielte auch keine Rolle, wie wütend sie ihn machte und wie schroff sie sich ihm gegenüber verhielt, wie sehr es ihr gelang, ihr Herz vor ihm zu verschließen oder Pas Buch und sein Wissen vor ihm zu verbergen. Irgendwann würde sie unter Hughs sturer Hartnäckigkeit schließlich zu einem Nichts dahinschmelzen. Er war vollkommen besessen davon, sie zu besitzen. Und selbst wenn sie wegrannte - wohin konnte sie schon gehen? Höchstwahrscheinlich in den Tod oder in ein Leben, das noch viel schlimmer, viel ent289 würdigender, schmutziger und entbehrungsreicher sein würde. Wenn sie wenigstens weglaufen könnte. Egal, wieviel Vorsprung sie auch hätte, Hugh würde sie einholen. Er wußte immer, wo sie war und was sie tat. Solange er sie besaß und so viel Geduld hatte, war sie hilflos. »Graf Harl hat Ivar erlaubt, Hanna mit nach Süden zu nehmen, nach Quedlingham«, sagte Liath. Ihre Stimme klang ein wenig rauh; sie wußte nicht, wieso. Sie wußte kaum, daß sie überhaupt sprach. »Hanna? Ah, so heißt das Mädchen. Nun, ich werde Abt sein, Liath, und in ein paar Jahren werde ich in den Rang eines Presbyters erhoben werden und die Skopos höchstpersönlich beraten. Ich kann ihr sicherlich bessere Aussichten bieten als ein gewöhnlicher Mönch. Wenn du sie mitnehmen willst, sehe ich keine Schwierigkeiten, mit ihren Eltern übereinzukommen. Willst du es?« Warum sich nicht in das Unvermeidliche fügen? Hätte sie doch nur Pas Angelegenheiten besser geregelt! Hätte sie doch nur darauf bestanden, daß er sparsamer lebte. Hätte sie ihn doch nur in jenem Frühling nicht gebeten, noch einen weiteren Sommer in Friedleben zu bleiben. Was nützte es, unablässig diesen Kampf zu kämpfen, wenn sie niemals auf einen Sieg hoffen konnte? Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Und wenn Hanna bei ihr wäre, wäre es sicherlich nicht ganz so schlimm. Sie würde studieren und lernen, die Geheimnisse der Sterne aufspüren und vielleicht noch vieles mehr. Vielleicht würde sie das Geheimnis der Rose entdecken, die sie in das Holz gebrannt hatte. Das wäre immerhin ein Trost. »Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt. »Es würde mir gefallen, wenn Hanna mitkäme.« »Wo ist das Buch, Liath?« Seine Miene blieb unverändert. 290 »Das Buch.« »Das Buch«, äffte er sie nach. »Das Buch, Liath. Sag mir, wo das Buch ist, und ich erlaube dir, das Mädchen mitzunehmen.« Sie schloß die Augen. Er berührte sie, fuhr mit den Fingern sanft über ihr Schlüsselbein, fuhr die Linien des Sklavenhalsbands nach - auch wenn es nicht wirklich da war, nicht aus Eisen oder Holz oder einem anderen Material, das man berühren konnte, so war es doch genauso bindend. Er hatte gewonnen. Er wußte es. Sie wußte es. Sie hielt die Augen geschlossen. »Unter Holzlatten unter dem Schweinetrog im Stall der Schenke.« Er beugte sich hinab und küßte sie sanft auf die Stirn. »Ich werde alles vorbereiten, damit das Mädchen uns begleiten kann. Wir reisen in zehn Tagen ab.« Sie hörte den Türriegel und dann Hughs Stimme, als er mit Meistrin Birta sprach und sie die Treppe hinunter in das Wirtszimmer gingen. Zehn Tage. Sie bedeckte das Gesicht mit ihren Händen und lag ganz still da. Sie war verzweifelt. 2 Die Zeit verging nur langsam; ein langer Tag folgte dem anderen. Liaths Genesung kam nur schrittweise voran; es dauerte länger, als selbst Meistrin Birta gedacht hatte. Am Anfang schlief sie die meiste Zeit, doch es war ein gequälter, unruhiger Schlaf, der noch dadurch erschwert wurde, daß das Stroh in Hannas Bett piekte. Sie war schon erschöpft, wenn sie nur kurz aufstand, um sich über dem Eimer an der Tür zu erleichtern. Nach zehn Tagen war sie in der Lage, einmal am Tag die 291 Treppen hinauf und hinunter zu gehen. Gegen Mittag saß sie zusammengesunken unten auf einer Bank und wartete darauf, daß die Meistrin ihr eine Mahlzeit brachte. Hanna kam vom Hof herbei. Bittere Reue erfüllte Liath. »Es ist mein Fehler. Es tut mir leid. Er hätte dich gebraucht. Es war nicht recht von mir, darum zu bitten, daß du bei mir bleibst. Ivar hatte niemals in die Kirche gewollt. Er wollte mit den Drachen reiten. Und das hätte er auch gekonnt, wenn ich nicht gewesen wäre.« »Oh, Mutter des Lebens, erspare mir das!« rief Hanna und seufzte vernehmlich. »Du bist genauso schlimm wie er. Es wird ihm schon gutgehen. Graf Harl gab ihm zwei Diener mit, also hat er in Quedlingham vertraute Gesichter um sich. Und wenn es stimmt, daß König Henry jeden Frühling dort haltmacht, wird er auch seine
Schwester Rosvita treffen. Sie ist eine Geistliche in der Königlichen Schule. Und ich bin sicher, dank ihrer Position und dem Geschenk, das Graf Harl dem Kloster machen wird, wird Ivar dort gut behandelt. Vermutlich ergeht es ihm dort sogar besser als bei seinem Vater, denn er hat noch eine jüngere Schwester, und die ist eindeutig der Augapfel von Graf Harl. Mit Hilfe von Rosvita könnte es Ivar sogar gelingen, die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zu ziehen. Denkst du nicht auch?« Liath war durchaus in der Lage, trotz ihres eigenen Unglücks das Leid anderer Menschen wahrzunehmen, und sie erkannte, daß Hanna hinter ihren praktischen Worten ein tiefes Unbehagen verbarg. »Ja«, sagte sie, denn es schien, als brauche Hanna Bestätigung. »Ich bin sicher, das wird er. Sie werden ihm eine gute Ausbildung geben.« Sie hielt inne und nahm Hannas Hände in ihre eigenen. »Hanna.« Sie blickte sich im leeren Zimmer um, lauschte, doch sie waren allein. »Ich weiß, du kannst gut rechnen, aber ich werde dir auch das Lesen und 292 Schreiben beibringen. Du wirst es brauchen, wenn du zur Position einer Kastellanin aufsteigen willst.« Wie ein Echo blickte sich jetzt auch Hanna um, schaute zur Tür, die nach draußen zum Hof und zur Küche führte. Sie war angelehnt, und sie hörten, wie Meistrin Birta ihrem Sohn Karl auftrug, Eier zum Hof des alten Johann zu bringen und gegen Kräuter einzutauschen. »Aber ich habe keine Kirchenausbildung. Wenn ich lesen und schreiben kann, werden mich die Leute dann nicht für eine Hexe oder eine Zauberin halten?« »Nicht mehr als jetzt mich.« Sie ließ Hannas Hand los und rieb, plötzlich nervös geworden, ihre Hände gegeneinander. »Hör zu, Hanna. Du solltest es besser jetzt erfahren, noch bevor wir in Fiersbarg sind. Pa -« »Liath. Alle wußten, daß dein Vater ein Zauberer war. Ein gefallener Mönch, sicher, aber ein Fehltritt, ein Kind reicht nicht aus, um einen Mann aus dem Kloster zu verbannen. Da mußte also noch etwas anderes gewesen sein, Ungehorsam, Trotz, etwas wie das Studium verbotener Künste. Ich kann die vielen Geschichten, die Diakonissin Fortensia uns über Mönche und Nonnen erzählt hat, die verbotene Bücher lasen und sich mit den finsteren Künsten verbündeten, kaum an Händen und Füßen abzählen. Doch dein Pa hat niemals etwas getan, das auch nur ein bißchen schädlich gewesen wäre; im Gegensatz zu der alten Martha, deren Stolz darauf, daß Frater Robert mit ihr das Bett teilte, eines Tages überhand nahm und die versuchte, Leute, die sie beleidigt oder geärgert hatten, zu verhexen. Doch man machte ihr unmißverständlich klar, daß hier so etwas nicht geduldet würde, und sie hörte sofort auf damit. Dein Pa aber war großzügig. Was ist Schlechtes an Magie, wenn sie hilfreich ist? So sagt die Diakonissin.« »Aber Pa war nicht wirklich ein Zauberer. Ich meine, er hatte das Wissen, aber nichts, was er tat -« 293 Hanna sah sie befremdet an. »Natürlich war er ein Zauberer! Deshalb waren wir ja auch alle so froh, als er sich hier niederließ und immer noch ein weiteres Jahr blieb, statt weiterzuziehen, wie wir fürchteten. Wußtest du das denn nicht? Die Leute besuchen keinen Zauberer, dessen Beschwörungen sinnlos sind. Was ist mit der Kuh des alten Johann, die erst kalbte, als dein Pa mit Hilfe einer Beschwörung den Geburtskanal öffnete? Was ist mit dem ersten Frühling, als der Schnee nicht schmelzen wollte und er den Regen herbeirief? Ich könnte dir zwanzig andere Geschichten erzählen. Wußtest du das wirklich nicht?« Liath starrte sie verblüfft an. Alles, an das sie sich erinnern konnte, waren Schmetterlinge in Regenbogenfarben, die umherflatterten und aufleuchteten und sich dann in der warmen Sommerluft in die Phantome auflösten, die sie waren; ähnlich wie seine Magie gänzlich verschwand, nachdem ihre Mutter gestorben war. »Aber ... aber hat es jemals etwas Gutes bewirkt? Ein Sturm kann von allein kommen, wie du weißt. Das Wetter kann sich ändern, ohne daß der Sturmpeitscher es herbeibemühen muß.« Hanna zuckte mit den Schultern. »Wer weiß schon, ob es das Gebet oder Zauberei war oder einfach nur Glück? Was ist mit dem Wolf, der jedem anderen entwischte, bis dein Vater ihn in einem Riedkäfig fing? Das muß Zauberei gewesen sein, denn jeder Wolf hätte einem solch zarten Gefängnis entkommen können.« Liath erinnerte sich an den Wolf. Ihr Vater war erschreckt gewesen, als er von dem Tier gehört hatte, das in den Bergen lauerte, aber keine Schafe tötete. Er hatte ihn gefangen, das Töten jedoch anderen überlassen, und noch Tage danach hatte er geweint. Und auch sie hatte drei Wochen lang geweint und gebettelt und mit ihm geredet, bis er sich einverstanden erklärt 294 hatte, auch nach dem Vorfall mit dem Wolf noch in Friedleben zu bleiben. Hanna redete unterdessen weiter. »Vielleicht war er wirklich kein richtiger Zauberer, zumindest nicht so einer wie die Teufel, die das alte Dariyanische Reich und damit auch die Mauer unten im Süden errichteten, die sich von einer See zur anderen zieht. Sie ist zusammengebrochen, weil es keine Zauberer mehr gibt, die in der Lage wären, sie aufrecht zu halten.« »Ich glaube nicht, daß Pa ein solcher Zauberer war«, sagte Liath mehr zu sich selbst. »Vielleicht gab er es vor, oder er versuchte tatsächlich, es zu sein, möglicherweise hatte er auch ein- oder zweimal Erfolg. Aber meine Mutter war wirklich eine Zauberin. Eine echte. Daran erinnere ich mich genau, wenn es auch fast das einzige ist. Sie mußte dafür sterben. Ich war erst acht Jahre alt, aber ich weiß ganz sicher, daß sie Zauberkräfte besaß und daß sie ...« Hier hielt sie inne und warf erneut einen Blick in den Raum, obwohl sich nichts verändert hatte. Ihre Stimme versiegte zu einem Flüstern. »... alte dariyanische Magie wirkte.« Hanna dachte still über diese Offenbarung nach. »Das Buch -«
»Es ist weg«, sagte Hanna. »Hugh kam und holte es. Ich konnte ihn nicht aufhalten -« »Natürlich konntest du ihn nicht aufhalten.« Liath war zu benommen, um zu weinen. »Es ist ein Buch der Zauberer. Darin steht all das Wissen, das Pa im Laufe der Jahre gesammelt hatte -« In seiner eigenen Schrift. Herrin, wie sie sich haßte! Sie hatte Pa betrogen, indem sie das Buch verloren hatte. »Du mußt nicht mit mir kommen. Ich hätte es dir früher sagen sollen, das mit Pa und dem Buch, noch bevor Ivar abgereist ist. Jetzt, wo du die Wahrheit kennst, möchtest du vielleicht nicht mehr bei mir bleiben. Du hättest mit Ivar gehen können -« 295 »Als wenn das meine Meinung geändert hätte! Wenn Frater Hugh wirklich Abt wird, hat er seine Gründe, warum er dich zur Konkubine nimmt.« Auf diesem Gebiet fühlte sich Liath befremdlicherweise sicherer. »Er sagt, es gebe in der Kirche Leute, die die Magie studieren. Und Pa erklärte, Prinzessin Sabella ziehe Ketzer und Zauberer auf ihre Seite, damit sie ihr gegen König Henry helfen.« »Nun«, meinte Hanna sinnierend. »Es ist wohl immer noch besser, verbrannt zu werden, als den jungen Johann zu heiraten. Herrin im Himmel! Du brauchst jemanden zum Schutz vor Frater Hugh. Du bist noch immer ganz blaß, aber zumindest ist dein Appetit wieder da. Mutter sagt, wenn man Appetit hat, ist man nicht so krank, daß man daran stirbt.« Liath brachte ein Kichern zustande. Die Tür hinter ihr öffnete sich. Hanna stand auf, reckte trotzig das Kinn. Liath versteifte sich. Warum kam er immer dann, wenn sie anfing, sich von ihm befreit zu fühlen? Frei von dem unendlichen Gewicht, mit dem er sie erdrückte. War es Magie, mit deren Hilfe er es erfuhr und sie fand, sie jagte und verschlang? Sie hätte sich am liebsten unter den Tisch verkrochen, zwang sich aber, regungslos sitzen zu bleiben. Sie spürte, wie er hinter sie trat, spürte seine Wärme, seine bloße körperliche Anwesenheit. Er berührte ihren Arm. Sie zuckte zusammen. Mit einem festen Griff zerrte er sie hoch. Sie stand da, ohne gegen ihn anzukämpfen. Unter seinem freien Arm trug er Das Buch der Geheimnisse - als könnte er es wie Pa nicht aus den Augen lassen. »Du siehst gesund genug aus«, sagte er brüsk. »Wir reisen ab.« Er blickte Hanna gleichgültig an. »Pack zusammen, was du mitnehmen willst, und sage deiner Meistrin, daß ich meine 296 Pläne geändert habe. Wir brechen auf. Mein Wagen ist bereits beladen und wartet bei der Kirche. Geh jetzt.« Hanna starrte ihn wortlos an, dann schoß sie zur Tür, die nach hinten führte. »Wir gehen«, wiederholte er. Er hatte etwas seltsam Drängendes an sich, das sie nicht verstand. Doch ganz sicher hatte es keinen Sinn, ihm Widerstand zu leisten. Sie hatte bereits alles verloren. Er führte sie zur Tür und dann nach draußen. Hanna kam um die Ecke der Schenke zu ihnen gerannt. »Ich hole nur noch schnell meine Sachen«, rief sie ganz außer Atem. »Ich bin gleich da. Fahrt nicht ohne mich!« Hugh machte eine ungeduldige Geste und ging weiter. Liath war bereits zu atemlos, um ihn zu bitten, Hanna nicht zurückzulassen. Sie bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten, aber sie hatten noch nicht einmal ein Viertel des Weges zur Kirche geschafft, als sie zusammensank. »Ich muß mich ausruhen.« »Du bist aschfahl im Gesicht«, meinte er, aber es lag kein Mitleid darin. Es war nichts weiter als eine Feststellung. »Ich werde dich tragen.« »Ich brauche nur etwas Zeit, um mich auszuruhen.« Beim Blute der Herrin! Sie wollte nicht vor aller Augen schamlos wie eine Hure von ihm getragen werden! »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er drückte ihr das Buch in die Hände und hob sie mit Schwung hoch auf die Arme. Selbst mit ihrem zusätzlichen Gewicht verlangsamten sich seine Schritte nicht. Irgend etwas Besonderes mußte ihn zu dieser Eile anspornen. Sie preßte das Buch gegen die Brust, fühlte sich so benommen und schwach, daß sie fürchtete, es fallen zu lassen. Bei der Kirche stand tatsächlich ein Wagen, schwer beladen 297 und mit einer verfilzten Wolldecke ausgelegt. Drei Männer, die Liath vage als Soldaten von Graf Harl erkannte, lungerten an der Kirchentür herum; sie waren bewaffnet und für eine lange Reise gekleidet. Dorit stand bei den Pferden und rang die Hände; Lars hielt die Zügel der Tiere. Hugh ließ Liath unsanft auf das Federbett hinten im Wagen plumpsen. Ein vierter Soldat kam von den Ställen zu ihnen; er führte die scheckige Stute und den kastanienbraunen Wallach. Nur der Wallach war gesattelt. Hugh nahm die Zügel und stieg auf. »Wo bleibt das Mädchen?« wollte er wissen. »Wir können nicht warten. Wenn wir sie an der Schenke nicht sehen und sie hierherkommt, Dorit, sagt Ihr, daß sie uns auf der Straße nach Süden folgen soll. Wenn sie sich beeilt, kann sie uns noch vor Einbruch der Nacht einholen.« »Aber Ihr könnt sie nicht zurücklassen«, rief Liath. Sie erwachte aus ihrer Benommenheit. »Ihr habt es mir versprochen !« »Wir haben keine Zeit zu warten.« »Da ist sie!« rief Dorit. Hanna kam die Straße entlanggerannt, einen Lederbeutel auf dem Rücken. Hugh drängte den Wallach vorwärts. Einer der Soldaten sprang nach hinten in den Wagen, und Lars trat rasch
zurück, als die Wagenpferde anzogen. Der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung. Ganz zum Schluß folgten die drei anderen Soldaten, von denen einer immer noch die Stute am Zügel führte. Argwöhnisch beäugten sie Liath und ihren einzigen Besitz - das alte, in Leder gebundene Buch -, verhielten sich aber still. Schon bald erreichten sie Hanna, die jetzt neben dem Wagen herging. »Du wirst zu Fuß gehen«, tönte Hugh von vorne und fügte dann hinzu: »Aber du kannst den Beutel im Wagen lassen.« 298 Hanna warf den Ledersack neben Liath auf den Wagen und schritt weiter. »Was ist passiert?« fragte Hanna in gedämpftem Ton. »Er sieht so aufgebracht aus.« »Ich weiß es nicht. Aber er hat mir das Buch gegeben, Hanna.« Hanna schwieg, und Liath begriff die bittere Wahrheit. Hugh ließ sie das Buch halten, weil er wußte: Er konnte es ihr wieder wegnehmen, wann immer er wollte. Die Kirche hinter ihnen wurde kleiner. Dorit und Lars standen an den großen Vordertüren und blickten den Reisenden hinterher, die der Straße durch das Dorf folgen und sich dann auf ihr nach Süden wenden würden. Sie reisten schweigend, bis Hugh plötzlich fluchte, als er die Schenke erblickte. Liath richtete sich auf und schaute sich um. Vier Reiter - schon an jedem normalen Tag ein ungewöhnlicher Anblick - warteten vor der Schenke. Einer von ihnen war Liudolf, der Schultheiß. Die anderen drei trugen scharlachrot gesäumte Roben und Messingabzeichen mit einem Adler darauf. Die Abzeichen wiesen sie als Personen aus, die im Dienst des Königs standen: die Adler des Königs. Zwei, ein Mann und eine Frau, waren jung. Der dritte war ein älterer, grauhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der Liath auf seltsame Weise vertraut vorkam, ohne daß sie ihn richtig einordnen konnte. »Das ist der Mann, der im letzten Herbst hier auf der Durchreise war«, flüsterte Hanna. »Er hat nach dir gefragt, Liath.« »Weiter«, befahl Hugh mit aller Schärfe. »Frater Hugh!« Der Schultheiß hob eine Hand. »Auf ein Wort, wenn Ihr gestattet.« Liath sah, wie Hugh den Rücken anspannte, und sie wußte, 299 daß er diese Aufforderung am liebsten unbeachtet gelassen hätte und weitergeritten wäre. Statt dessen lenkte er den Wallach zur Seite. Der Soldat, der den Wagen führte, brachte die Zugpferde zum Stehen. Meistrin Birta kam aus der Schenke und blieb aufmerksam und still neben der Tür stehen. »Wie Ihr seht, Schultheiß«, erklärte Hugh, »brechen wir gerade auf. Es ist eine lange Reise in den Süden, etwa zehn oder zwanzig Tage, je nachdem, wieviel es regnet. Und die Tage sind kurz so früh im Jahr.« »Ich werde Euch nicht lange aufhalten, Frater. Diese Reiter von den Adlern des Königs kamen gestern zu mir. Sie sind auf der Suche nach gesunden, jungen Menschen, die sich als Boten des Königs eignen.« Hier hielt Liudolf seltsamerweise inne und warf dem älteren Reiter einen fragenden, beinahe unterwürfigen Blick zu. »Ich bin Wulfhere«, sagte der ältere Mann. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Haare waren so silbrig wie die Brauen, mit einer leichten Spur von Braun darin. »Ihr müßt verstehen, wir brauchen alle jungen Männer und Frauen, die sich als Adler eignen, da sich die Überfälle der Aikha mehren und Gerüchte über eine Rebellion laut werden, die Prinzessin Sabella angeblich in Varre plant.« Hugh hielt die Zügel des Wallachs unangenehm straff. »Ich bin davon überzeugt, daß dem so ist. Ich glaube, Graf Harl hat zwei jüngere Kinder, von denen er sich nach einigem Zureden möglicherweise trennen wird.« »Wir suchen keine Kinder von Edelleuten«, sagte Wulfhere ruhig. »Doch das wißt Ihr sicherlich, Frater Hugh, schließlich wurdet Ihr ja an der Königlichen Schule ausgebildet. In der Tat, ich habe gehört, Ihr wäret einer der besten Schüler gewesen.« »Ich habe aufgesaugt, was immer sie mich lehren konnten. 300 Ihr dagegen seid wohl nicht in den Genuß einer solchen Erziehung gekommen. Ich erinnere mich nicht, den Namen Eurer Eltern oder Eurer Familie jemals gehört zu haben.« Wulfhere lächelte nur. »Kein einziger Adler hat die Königliche Schule besucht. Doch können wir auch keine Kinder vom Land gebrauchen, denn sie sind ungeeignet für diese Aufgabe. Wie es heißt, habt Ihr kürzlich eine junge Frau erworben, die für uns von Interesse sein könnte.« Er sagte dies, ohne Liath eines Blickes zu würdigen, obwohl er sicherlich wußte, daß sie die junge Frau war. »Ich habe die Schulden ihres Vaters bezahlt. Ich bin nicht daran interessiert, sie zu verkaufen.« Hughs Stimme klang kalt und abweisend. »Aber mein lieber Frater«, entgegnete Wulfhere, und sein Mund verzog sich zu einem wölfischen Grinsen. »Ich trage das Siegel des Königs. Wie der Schultheiß erklärte, habt Ihr für die Frau zwei Nomias gezahlt. Ich habe das Gold, und ich will die Frau. Natürlich könnt Ihr gegen diesen Vorgang Einspruch erheben, aber nur über eine offizielle Beschwerde gegenüber König Henry. So lange jedoch, bis König Henry eine Entscheidung getroffen hat, ist es mein Recht, sie für den Dienst des Königs von Euch herauszufordern.« Es war totenstill; Liath konnte hören, wie der Wind in den Bäumen raschelte und die alten Ackergäule in den Ställen aufstampften. Sonnenlicht färbte den Lehmbelag der Straße hellgelb. Das Pferd von Liudolf stellte die
Ohren auf. Aus dem Innenhof der Schenke war Karl zu hören; er sang bei der Arbeit, wenn auch ein wenig falsch. Hugh saß starr vor Wut auf seinem Wallach. Der alte Mann blickte noch immer nicht auf Liath, ganz im Gegensatz zu den jüngeren Adlern. Sie wirkten auf ihren Pferden sehr groß, besonders die Frau mit ihrem kühnen Gesicht und der noch küh301 neren Nase - einer Falkennase, wie man hier zu sagen pflegte. Sie hatte einen wachen Blick und musterte Liath mit einer Mischung aus Neugier und Zweifel. Das Interesse ihres Begleiters war bedächtiger. Ihre Umhänge fielen über die Pferderücken hinab; sie waren innen mit Fell besetzt. Sie verlagerten ihr Gewicht etwas, blickten den älteren Mann an, und ihre Abzeichen glitzerten im Sonnenlicht. Schließlich sagte Hugh: »Ich nehme an, Ihr benötigt ihre Zustimmung.« Ungerührt nickte Wulfhere. »Das ist wahr.« Hugh stieg ab und warf einem Soldaten die Zügel zu. Er schritt zum hinteren Teil des Wagens. Liath wäre am liebsten im Boden versunken. Hanna zögerte einen Augenblick, bevor sie ihm Platz machte. Er beugte sich halb in das Wageninnere, legte eine Hand auf das Buch und griff mit der anderen so fest nach Liaths Handgelenk, daß es schmerzte. »Sieh mich an.« Gehorsam blickte sie ihn an. Er packte sie am Kinn und zwang sie, ihm direkt in die Augen zu sehen. Wieso hatte sie nur die schillernde Farbe seiner Augen vergessen, diese Mischung aus vielen verschiedenen Blautönen? »Was sagst du, Liath?« fragte er. Seine Stimme klang zwar leise, aber in ihr schwang sein ganzer eiserner Wille mit, seine ganze Macht, all die kalten, kalten Wintermonate. Und dazu seine Augen: das helle Blau von Eis mit kleinen Splittern aus kaltem Sonnenlicht, schwindelerregend, aber so rauh wie der Winterwind, der über die schneebedeckten Felder fegt. Sie versuchte sich seinem Blick zu entziehen, aber es gelang ihr nicht. Er würde sie niemals aufgeben. Niemals. Warum es dann versuchen? Sie fand die Stadt, aufrecht und fest in ihrem Gedächtnis. In dem Schatzhaus im Innern hatte sie ihr Herz und ihre Seele eingeschlossen. Nein. Feuerflammen loderten auf, Banner erhoben sich von 302 den sieben Wällen rings um die Stadt. Nein. Doch sie hatte keine Stimme. Er hatte ihr die Stimme genommen. Wie ein Ruf erklang das Klirren von Pferdegeschirr, als ein Pferd der Adler unruhig wurde. Sie warteten. Warteten auf sie. »Nein«, sagte sie, krächzte es beinahe. »Ihr seht«, sagte Hugh, ohne sie loszulassen oder seinen harten Blick von ihr abzuwenden, »sie denkt gar nicht daran, mit Euch zu gehen.« Stille. Entsetzen packte Liath. Sie würden sich umdrehen und wegreiten, sie für immer in Hughs Gewalt zurücklassen. »Nein«, sagte sie lauter. Und noch einmal: »Nein!« Sie versuchte sich seinem Griff zu entziehen, konnte ihn aber nicht abschütteln. »Nein. Ich will nicht bei Euch bleiben. Laßt mich gehen!« Aber ihre Stimme war so schwach. »Was hat sie gesagt?« erkundigte sich Wulfhere. Ein Pferd bewegte sich, Hufgetrappel erklang, aber Liath hätte nicht sagen können, ob sich das Tier von ihr weg oder zu ihr hin bewegte. Bitte, o Herr, nur nicht weg! »Sie sagt, sie will nicht bei Euch bleiben, und Ihr sollt sie gehenlassen«, sagte Hugh mit fester Stimme, nicht ohne Triumph. »Nein, das ist nicht wahr«, schaltete sich Hanna plötzlich mit lauter Stimme ein. »Sie will nicht bei ihm bleiben. Er dreht ihr das Wort im Munde herum.« »Frater«, sagte Wulfhere sanft. »Ich schlage vor, Ihr laßt das Mädchen herauskommen und für sich selbst sprechen.« Hugh reagierte nicht sofort. Doch langsam lockerte sich sein fester Griff, und dann, mit vor Wut weißem Gesicht, ließ er sie los und trat vom Wagen zurück. Ohne Vorwarnung preschte Hanna vor und riß Liath das Buch aus den Händen. 303 »Geh da weg!« schnappte Hugh und versuchte sie zu packen. Hanna sprang zurück zwischen die beiden jüngeren Adler, wo sie in Sicherheit war. »Sie ist krank«, rief sie Wulfhere zu. »Sie ist nicht gesund genug, um zu reisen. Ich muß ihr aus dem Wagen helfen.« Doch sie zögerte, denn sie wußte nicht, was sie mit dem Buch tun sollte. Aber jetzt war Hoffnung in Liath aufgeflammt, war ein schwelendes Feuer zum Leben erweckt worden, in dem ihre Verzweiflung zu einem Nichts dahinschmolz. Sie kämpfte sich auf alle viere und kroch zum Wagenrand. Mühsam richtete sie sich halb auf, schwang sich schließlich über die Kante und stolperte beinahe. Doch ihre starrköpfige Beharrlichkeit hielt sie aufrecht. Sie sah Hugh nicht ein einziges Mal an. Es war viel zu gefährlich. Sie atmete erst einmal tief durch, versuchte, das heiße Feuer in ihrem Innern etwas zu beruhigen. Lichterloh brannte es, ließ dann aber doch langsam nach. Schließlich schaute sie Hanna an und versuchte aus ihrem Anblick Kraft zu gewinnen. Hanna erwiderte ihren Blick und sah sie offen und ermutigend an. In ihren Armen hielt sie das Buch, als wäre es
ein Kind. Liath holte tief Luft und hob ihren Blick, um Wulfhere in die Augen zu sehen. Der alte Mann hatte sein Pferd einige Schritte näher zu ihnen gelenkt, und sie sah, daß seine Augen von einem außergewöhnlichen, eindringlichen Grau waren. »Ich will mit Euch gehen.« Ihre Stimme gewann mit jedem Wort an Kraft. »Ich möchte ein Adler werden.« Sie zog den Kopf ein, wartete auf einen Schlag von Hugh. Doch die falkengesichtige Frau war bereits abgestiegen und hatte sich zwischen Liath und Hugh gestellt. Sie war tatsächlich fast so groß wie er, und sie trug ein Schwert an der Hüfte und ein Messer im Gürtel. 304 »So sei es«, bestätigte Wulfhere. Er nahm zwei Münzen aus seinem Geldbeutel. Sie waren so gelb wie die Sonne und in diesem Augenblick doppelt so willkommen. Er reichte sie Liudolf. »Bezeugt diese Übergabe, Schultheiß, und gebt Frater Hugh dieses Gold als Entschädigung für die junge Frau.« »Ich bezeuge diese Übergabe«, sagte Liudolf, »und ich nehme diese Nomias und leite sie weiter an Frater Hugh, als Entschädigung für diese junge Frau, Liath, Tochter von Bernard.« »Ich werde es nicht annehmen«, sagte Hugh. »Ich erhebe Einspruch gegen diesen Raub. Ich leugne, daß jemals eine Bezahlung stattgefunden hat. Ich sage Euch, Wulfhere, ich bringe diese Sache vor den König.« »Ganz, wie es Euch beliebt«, erwiderte Wulfhere. »Dennoch, das Mädchen kommt mit mir. Ich nehme an, dies sind nicht Eure Männer und es liegt nicht in Eurer Macht, sie in eine solche Schlacht zu führen; abgesehen davon - sollte jemand von uns Schaden erleiden, findet Ihr Euch selbst vor König Henry wieder und bezahlt für das Verbrechen. Welche Wohltaten - wie die Abtei - Ihr auch empfangen haben mögt, seid gewiß, daß sie zurückgezogen werden.« »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!« sagte Hugh. Dann fügte er mit leiserer Stimme hinzu: »Du bist nicht frei von mir, Liath.« Liath wagte nicht, ihn anzusehen. Sie blickte beharrlich auf das glitzernde Adlerabzeichen auf dem Umhang der Frau neben sich: Ein Adler schwang sich darauf in die Lüfte, einen Pfeil im Schnabel und eine Schriftrolle in einer Kralle. Ob sie von Hugh nun frei war oder nicht, wenn sie seinem Blick auswich, war sie zumindest für den Augenblick vor ihm in Sicherheit. Sofern sie überhaupt jemals in Sicherheit vor ihm sein konnte. 305 »Schultheiß«, sagte Wulfhere. »Ich ersuche Euch, nehmt dieses Gold und bewahrt es als Beweis auf, und bezeugt Frater Hughs Weigerung, es anzunehmen.« »Ich bezeuge es«, sagte Schultheiß Liudolf. »Ich bezeuge es«, sagten die jüngeren Adler. Einen langen Augenblick rührte sich niemand, als könnte man das einmal erreichte Patt nicht wieder auflösen. Nur das Vogelgezwitscher in den Bäumen und die entfernten Rufe pflügender Bauern, die ihre Ochsen weiterdrängten, störten die Stille. Der Geruch von Bohnen wehte von der Küche herüber. Das Holz des Wagens fühlte sich unter Liaths Händen vertrocknet an. »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, wiederholte Hugh schließlich. Er rührte sich, und sie zuckte zurück, aber er entfernte sich nur, ging zu seinem Wallach, stieg auf und gab das Zeichen zum Aufbruch. Sie ließ den anrollenden Wagen gerade noch rechtzeitig genug los, um keinen Splitter in die Hand zu bekommen, und griff rasch nach Hannas Beutel. Hugh schien es nicht einmal zu bemerken. Ohne ein weiteres Wort über das zu verlieren, was er hinter sich zurückließ, ritt er nach Süden, gefolgt von dem Wagen und seinem kleinen Gefolge. Der Beutel glitt Liath aus der Hand, und sie sank zu Boden. »Brauchst du Hilfe?« fragte die falkennasige Frau besorgt. Die vier Bücher ihres Vaters hatte Hugh behalten, aber ihr Inhalt war noch in der Stadt des Gedächtnisses, zusammen mit allem anderen, was Pa ihr beigebracht hatte. Und Hanna hatte Das Buch der Geheimnisse. »Nein«, flüsterte Liath. »Nein. Ich muß nur einen Moment ausruhen.« Sie blickte auf und sah geradewegs in die eindringlichen, musternden Augen der Frau, dann wandte sie ihren Blick zu Wulfhere. Er betrachtete sie ruhig. 306 Weshalb? Aber das konnte sie nicht laut äußern. »Einen Augenblick noch, Schultheiß Liudolf«, unterbrach Wulfhere die Stille, »ich werde eine Freilassungsurkunde für sie ausstellen. Bei den Adlern werden keine Unfreien aufgenommen. Zur Bezeugung brauche ich jedoch noch jemand anderen außer Euch selbst.« »Ich werde es bezeugen«, sagte Meistrin Birta sofort und trat vor. »Ich bin als freie Frau geboren und lebe als freie Frau.« »Ah«, sagte Wulfhere. »Ihr seid Meistrin Birta, wenn ich mich recht entsinne.« Sie errötete überrascht und geschmeichelt. »Ja, die bin ich, Herr.« »Und ich nehme an, dies ist« - er warf einen prüfenden Blick auf Hanna - »Eure Tochter Hanna.« »Ja, Herr, das ist sie.« »Ist es Euer Wunsch, daß sie ebenfalls in den Dienst des Königs tritt?« Meistrin Birta wurde jetzt tiefrot und blickte so fassungslos drein, daß Liath für einen Augenblick ihre eigenen Ängste vergaß und sich fragte, was für geheime Wünsche Meistrin Birta wohl hegte. »Herr, Ihr müßt wissen, daß
es die größte Ehre für mein Haus wäre, wenn meine Tochter ein Adler wird.« Wulfhere lächelte nicht, er bestätigte die Wahrheit ihrer Worte lediglich mit einem ernsten Nicken. »Halten wir den Schultheiß nicht länger als notwendig auf. Wir werden die Freilassungsurkunde sofort aufsetzen und besiegeln. Danach habe ich in Frielas etwas zu erledigen. Das Mädchen ist offensichtlich erschöpft und zu einer sofortigen Reise nicht in der Lage, daher schlage ich vor, daß ich allein nach Norden reise und das Mädchen weitere zehn Tage hierlasse. Vorausgesetzt natürlich, daß Ihr einverstanden seid, Meistrin Birta. Manfred und Hathui werden ebenfalls bleiben, für den Fall, daß der Fra307 ter sich zu etwas Unüberlegtem hinreißen läßt. Seid Ihr einverstanden?« Birta nickte nur. Es war das erste Mal, daß Liath sie sprachlos erlebte. Wulfhere stieg ab. Manfred schwang sich aus dem Sattel und führte die Pferde der drei Adler zu den Ställen. »Hanna«, sagte Meistrin Birta, die sich rasch wieder gefaßt hatte, wie man es von einer Schenkenwirtin erwarten konnte, »hilf ihm mit den Pferden.« Hanna nickte und eilte hinter dem jungen Mann her. Liath versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr nicht. Sofort stützte Hathui sie. »Ich werde sie hineinbringen«, sagte der junge Adler. »Die Treppe hinauf«, erklärte Meistrin Birta. »Sie muß ins Bett und schlafen, sobald sie eine Kleinigkeit gegessen hat. Sie braucht Ruhe.« »Ja, Meistrin«, meinte Wulfhere freundlich, »ich sehe, ich kann mich darauf verlassen, daß sie bei Euch in guten Händen ist. Schultheiß, wollen wir unser Geschäft zu Ende bringen?« Liath hörte den Schultheiß schon nicht mehr antworten, als sie in die Wärme der Schenke trat. Selbst mit Hathuis Hilfe schaffte sie kaum die Treppenstufen nach oben, und als sie auf das Bett fiel, schloß sie die Augen und ließ sich von der tiefen Erschöpfung überwältigen, die häufig folgt, wenn eine Hoffnung endlich in Erfüllung gegangen ist. Sie war frei von Hugh. Sie hatte noch immer das Buch. Sie war ein Adler. Alles, was jetzt zählte, war, wieder stark und kräftig zu werden. Sie konnte es kaum glauben. Sie schlief ein. 308 3 Später brachte Meistrin Birta ihr eine Schüssel mit Bohnensuppe und gutes, dunkles Brot. Durch den Hunger wachte sie vollends auf, und gierig schlang sie das Essen hinunter. Sie hatte gar nicht gewußt, wie hungrig sie war. Meistrin Birta zog sich zurück, als Wulfhere die kleine Mansarde betrat. Er setzte sich auf den Rand der Pritsche und hielt einen einfachen Messingring hoch, in den das Siegel der Adler des Königs eingraviert war. Wulfhere roch nach Regen und feuchter Wolle. Sie nahm den Ring behutsam in ihre Hände; dann, als sie nicht wußte, was sie weiter mit ihm tun sollte, lauschte sie dem prasselnden Regen auf dem Dach. Dämmriges Licht drang durch die geschlossenen Läden herein. Sie hatte beinahe den ganzen Tag geschlafen. »Dieser Ring besiegelt unsere Abmachung«, sagte Wulfhere sanft, »daß du den Adlern als Gegenleistung für den Dienst bei ihnen deinen Namen und dein Geschlecht übergibst.« Sie wagte nicht, ihn anzusehen. »Mein Name ist Liath«, sagte sie, aber ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren falsch. »Mein Vater hieß Bernard.« Wulfhere seufzte schwer, ob aus Enttäuschung oder vor Kummer, wußte sie nicht zu sagen. »Liath, du mußt mir vertrauen, sonst ist es sinnlos, daß ich dich befreit und zu den Adlern gebracht habe. Ich kannte deine Mutter. Ich habe acht Jahre nach dir und deinem Vater gesucht.« Sie blickte den Ring an, so erstarrt, wie ein Kaninchen sein mußte, wenn es sich einem Wolf gegenübersah. Der Regen draußen ließ nach, die Tropfen fielen jetzt nur noch in größeren Abständen. »Hätte ich dich eher gefunden«, erklärte er ernst, »wäre 309 dein Vater möglicherweise noch am Leben.« Er hob eine Hand, und sie zuckte zurück. »Oh, Herrin!« fluchte er leise. »Jetzt hör mir einmal gut zu, junge Frau. Hör mir zu und merk es dir. Ich werde dich nicht zwingen, als Adler in den Dienst des Königs zu treten. Du bist frei und kannst tun, was immer du willst. Wähl deinen eigenen Weg, wenn du möchtest.« »Wohin könnte ich schon gehen?« fragte sie verbittert. »Zurück zu Hugh? Niemals werde ich zu ihm zurückkehren.« »Ich werde dich nicht zwingen«, wiederholte er. »Und ich werde dich auch nicht bei den Adlern aufnehmen, wenn du mir nicht deinen ganzen Namen anvertraust. Wie entscheidest du dich?« Er nahm den Ring zurück und wog ihn, so leicht er war, in seiner Handfläche. »Um mit den Adlern zu reiten, mußt du deinen Kameraden und Kameradinnen voll und ganz vertrauen. Andernfalls ist es sinnlos. Wenn du mir nicht einmal in dieser kleinen Angelegenheit traust, ist es zu gefährlich, dich aufzunehmen, denn dann bist du ein Risiko, und wir können dir ebenfalls nicht vertrauen.« »Namen sind keine kleinen Angelegenheiten.« »Das ist wahr.« Er neigte den Kopf, gab ihr recht. »Deshalb fragen wir danach.« »Warum habt Ihr mich befreit?« »Weil ich Anne kannte.« Sie zuckte zusammen. Es war so seltsam, beinahe beängstigend, diesen Namen von einer anderen Stimme als der ihres Vaters zu hören. Wulfhere lächelte ironisch. »Ich kannte dich ebenfalls, als
du noch ein Baby warst.« »Ich erinnere mich nicht an Euch!« »Das ändert nichts daran«, erwiderte er so gelassen wie immer, »daß Anne mich bat, auf dich aufzupassen, sollte ihr etwas zustoßen.« Sie wollte ihm ja glauben, gewiß, aber nach Hugh wagte sie 310 nicht mehr, irgend jemandem ihr Vertrauen zu schenken. Als er sie musterte, eher geduldig als amüsiert, betrachtete sie ihn ebenfalls. Er war bereits in fortgeschrittenem Alter, aber immer noch kräftig, und er besaß die natürliche Autorität von Menschen, die viele harte Jahre überlebt hatten. Eine alte Narbe lief an seinem Nacken hinunter, nur um Haaresbreite an der Halsschlagader vorbei. Er saß da mit der festen Unerschütterlichkeit eines Mannes, der die Beratungen des Königs ebenso gewohnt war wie den Klatsch von Bauern in der Schenke. Es könnte so einfach sein, wenn es lediglich darum ginge, seiner Bitte nachzukommen, aber er verlangte mehr von ihr. Was er verlangte, war unendlich viel schwerer zu erfüllen. Vielleicht ... vielleicht war es gefahrlos, wenn sie das erste, unterste Tor in der Stadt des Gedächtnisses ein wenig öffnete. Vielleicht konnte sie lernen, ihm zu vertrauen, den anderen Adlern zu vertrauen, ihnen eine Kameradin zu sein. Ihre Hände zitterten, als sie den Ring aus seiner geöffneten Hand nahm. »Liathano ist mein wirklicher Name«, sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Murmeln. »Ich bin die Tochter von Anne und Bernard. Ansonsten weiß ich nichts von meinem Geschlecht.« Das war es also. Sie bebte so sehr, daß sie kaum den Ring auf den Finger schieben konnte, das Siegel ihrer Abmachung. Er stand sofort auf, und obwohl er nicht übermäßig groß war, hatte er zweifellos etwas Beeindruckendes. »Willkommen bei den Adlern, Liath«, sagte er feierlich, »dein Dienst wird hart sein, aber ich glaube nicht, daß du jemals bedauern wirst, dich dafür entschieden zu haben. Wenn ich aus Frielas zurückkehre, reiten wir nach Süden.« Damit ließ er sie allein. Reiten wir nach Süden. Am Morgen hatten diese Worte noch tiefe Verzweiflung in ihr ausgelöst. Jetzt bargen sie eine ganze Welt voller Möglichkeiten. 311 Sie lehnte sich zurück, doch obwohl sie noch immer erschöpft war, konnte sie keinen Schlaf finden. Das Stroh pikste, sobald sie sich auch nur ein bißchen bewegte. Der Regen war wieder stärker geworden, und die feuchte Luft führte den Geruch von Walderde mit sich. Sie mußte niesen. Es knarrte an der Tür, und Hanna trat ein. Auch sie trug einen Ring, das Zeichen ihrer neuen Stellung. »Ich dachte, du würdest es wissen wollen«, flüsterte sie, als sie sich neben Liath auf das Bett setzte. »Es ist wieder in seinem Versteck. Du bist frei, Liath.« Frei. Liath war zu müde, um zu antworten, und so ließ sie einfach nur den Kopf gegen Hannas Arm sinken. Wo mochte Hugh jetzt sein? Mit jedem Schritt weiter entfernt von ihr, wenn die Herrin es wollte. Und doch, war Wulfhere wirklich besser oder einfach nur ein anderer, der sie in dem Käfig seiner eigenen Schöpfung gefangenhielt? Wieso hatte er ihre Mutter gekannt? Hatte er gewußt, daß Anne eine Zauberin war? Warum hatte er Liath gesucht, sie nach so vielen Jahren aufgespürt? Warum hatte Pa niemals von einem solchen Mann gesprochen, und weshalb erinnerte sie selbst sich nicht mehr an ihn, der ja wohl zu den schwachen Erinnerungen an das schöne Bauernhaus und den hellen Garten gehören mußte? Doch was hatte Pa immer gesagt? »Es hilft nichts, darüber zu jammern, daß man naß wird, Liath, wenn man an einem Regentag die Tür erst einmal hinter sich verschlossen hat.« Das Geräusch des Regens und Hannas Wärme lullten sie schließlich ein. 312 VII Abschied
1 Obwohl Alain etwas später, als es ihm ungefährlich erschien, noch einmal zu den Ruinen ging und nach einer Stelle Ausschau hielt, an der das Erdreich frisch aufgebrochen war, fand er keine Spur von Simplizius' Leichnam. Er erwartete nicht wirklich, etwas zu finden. Am Morgen nach dieser schrecklichen Nacht schlich er sich außerhalb der Palisade in die Nähe des Viehs, das Prinzessin Sabella in ihrem Troß mitführte; von seiner Position aus konnte er möglicherweise einen Blick auf den verhüllten Käfig und seinen geheimnisvollen Inhalt werfen. Dank seines sonderbar geschärften Gehörs, an das er sich noch immer nicht gewöhnt hatte, belauschte er ein Gespräch zwischen den Wächtern des Käfigs. »An dem Kadaver war ja nicht mehr viel dran, aber dank der Prinzessin wird die Bestie erst einmal Ruhe
geben.« Er beobachtete Sabellas Gefolge, bis alles fertig gepackt war 313 und sie aufbrachen; es war ein großartiger Zug, der sich in südwestlicher Richtung auf die Ländereien zubewegte, die unter der Herrschaft des Herzogs von Varingia standen. An diesem Abend ließ Lavastin all seine Leute in der großen Halle zusammenkommen. Hinter ihm warteten Kastellanin Dhuoda und die Geistlichen, und es schien Alain, als würden sie nicht weniger verständnislos dreinblicken als die übrigen. Lavastin wirkte blaß und teilnahmslos. Er stand eine lange Zeit reglos da, starrte einfach nur in die Luft, als würde er etwas sehen, das allen anderen unsichtbar blieb. Das war um so ungewöhnlicher, da er eigentlich ein Mann von großer Entschlußkraft war und zu Ungeduld neigte. Alain hatte plötzlich ein ungutes Gefühl im Bauch - ein Gefühl der Furcht. Die Hunde zu Füßen von Lavastin jaulten. Rage und Kummer hockten, wie es ihre Gewohnheit war, hechelnd bei Alain; seit der Nacht, in der Simplizius geopfert worden war, verhielten sie sich bemerkenswert unterwürfig. Auch dies erregte Aufmerksamkeit, und fast alle auf Burg Lavas behandelten Alain jetzt mit einer nervösen Ehrerbietung, in der aber auch Abscheu mitschwang - so wie manche Menschen sich nicht trauten, einen leprakranken Bettler anzuspucken, da es sich ja auch um einen verkleideten Heiligen handeln konnte. »Wir brechen auf«, sagte Lavastin plötzlich. »Wir bewaffnen uns, packen genügend Vorräte ein und reisen an St. Isidora ab. Das Fest von St. Sormas werden wir auf dem Besitz von Aldegund feiern, der Gemahlin meines Cousins Jeoffrey. Sie werden eine Wahl zu treffen haben: Entweder sie unterstützen Sabellas Rebellion - oder sie verlieren ihr Land.« Sofort begannen alle durcheinanderzureden. »Aber das sind ja kaum zwanzig Tage, um alle einzukleiden und auszurüsten!« rief Alma ungehalten. »Und dann ist da 314 auch noch die Frühjahrssaat ... Es ist nicht einmal genug Zeit, um nur eins von beidem richtig zu machen.« Andere pflichteten ihr bei, doch Lavastin stand einfach nur da und starrte vor sich hin, bis sich die Leute wieder etwas beruhigt hatten und darauf warteten, daß er fortfuhr. »Danach«, erklärte Lavastin - und seine Stimme klang so wie zuvor, als hätte es niemals Einwände gegeben »werden wir weiterreiten und zu Prinzessin Sabella und ihrer Armee stoßen. Wir marschieren gegen Henry, den unrechtmäßigen König von Wendar und Varre.« Er hob gebieterisch die Hand. »So habe ich entschieden. Niemand soll mir widersprechen.« Im ersten Augenblick konnte Alain einfach nur verblüfft dasitzen. Alma hatte natürlich recht; sie hatte meistens recht. Es war ein Fehler aufzubrechen, bevor die Frühlingssaat ausgebracht war. Doch nach einiger Zeit begann eine fürchterliche, hilflose Wut an ihm zu nagen, wie ein kleines Hündchen, das an seinem Stiefel knabberte. Er schob eine Hand in seine Tunika und tastete nach der Rose. Die Blütenblätter berührten seine Haut, und er wußte nicht, was wärmer war, die Haut oder die Rosenblüten. Lavastin führte seine Leute in den Krieg. Doch irgend etwas daran schien falsch zu sein. Sobald es ihm möglich war, entschuldigte sich Alain und verschwand aus der Halle. Er ging zur Kapelle, befahl Rage und Kummer, sich hinzusetzen, und wartete dort beim Licht von sieben Kerzen, die am Herdfeuer leuchteten. Wie erwartet, kam schon kurz darauf Agius, um zu beten. Er kniete sich umständlich hin, denn der Biß von Kummer behinderte noch immer seine Bewegungen. »Frater«, fragte Alain leise, »haltet Ihr es für Zauberei?« Agius machte eine ungeduldige Geste. Er kniete auf dem nackten Steinboden, aber seine Stirn ruhte nicht wie sonst auf 315 den gefalteten Händen. Jetzt war er ausnahmsweise einmal mit den Vorgängen in der Welt beschäftigt. »Möglicherweise hält der Graf diesen Weg auch einfach für klüger. Ich weiß es nicht.« »Aber was vermutet Ihr?« Alain ließ nicht locker. »Er hat Prinzessin Sabella niemals solche Gunst erwiesen, als sie hier war. Er ist all ihren Fragen ausgewichen und hat niemals Zugeständnisse gemacht. Und wir können nicht einfach nur die Hälfte der Frühlingsfelder pflügen und den Herbstweizen und die ganze Arbeit -« Er brach ab. Er hatte sagen wollen: »Simplizius und den anderen überlassen, die sich nicht für den Krieg eignen.« Aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Verblüfft über Alains Heftigkeit schaute Agius auf. Der Frater wirkte im Kerzenlicht wesentlich jünger als sonst. Das weiche Licht glättete sein hartes Antlitz, und durch die Schatten erhielten seine Gesichtszüge ein weicheres Profil. Es waren die Gesichtszüge eines Mannes, begriff Alain plötzlich, der niemals ganz zufrieden mit sich war. Er mochte kaum älter sein als Bels älteste Tochter Stancy, die am Tag der Buße ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert haben mußte. »Sie hat Simplizius getötet«, brach es schließlich aus Alain heraus. »Sie ist eine heilige Bischöfin, und sie hat ihn getötet!« Dieser Verrat war möglicherweise das Schlimmste. Allein die Vorstellung, was Bruder Gilles, diese gute, freundliche Seele, gesagt hätte, wäre er Zeuge einer solchen Tat geworden! »Und jetzt befiehlt Lavastin, wir sollen in den Krieg ziehen, obwohl es genug Arbeit auf den Feldern gibt, und er spricht sogar davon, gegen
seinen eigenen Cousin zu kämpfen! Das ist unnatürlich!« Agius seufzte. »Komm, Alain. Knie dich neben mich. Du mußt noch viel darüber lernen, wie es in der Welt zugeht. Vielleicht wird es dir eines Tages gestattet sein, den Intrigen in 316 der Welt den Rücken zu kehren, wie ich es versucht habe. Was die Bischöfin getan hat -« Er zog eine Grimasse, als er sein Gewicht auf das verletzte Bein verlagerte. Alain trat zögernd zu ihm und kniete sich hin. »Sei versichert, daß ich es berichten werde, wenn ich kann. Aber man wird mir möglicherweise keinen Glauben schenken. Sie ist eine heilige Bischöfin, von der Skopos höchstpersönlich geweiht. Nur du und ich sind Zeugen ihrer Tat gewesen, und obwohl mein Wort eine ganze Menge wiegt ... Wenn du als Lavastins Bastard anerkannt wärst, würde dein Wort mehr zählen, Alain.« Doch Alain, der jetzt wieder Lavastins blasses Gesicht vor sich sah und sich an die tonlose Stimme erinnerte, mit der der Graf sein Bündnis mit Sabella bekanntgegeben hatte, war sich gar nicht so sicher, ob er überhaupt als Verwandter dieses Mannes anerkannt werden wollte. Zumal er dadurch noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. »Wie auch immer, Alain, es gibt viele Gründe, weshalb manche Edelleute Bündnisse schließen oder aufkündigen. Viele Gründe, und nur wenige davon sind gut. Mit solchen Spielen vertreiben sich die Edelleute die Zeit, statt ihre Herzen und ihre Augen auf das Herdfeuer Unserer Herrin zu richten, wie es ihre Pflicht wäre. Sie lassen sich von der Welt und ihren Genüssen betören. Wir können nicht sicher sein, daß Zauberei der Grund für die Entscheidung des Grafen ist.« »Aber ich weiß es!« brach es aus Alain heraus. »Ich weiß es!« Agius wölbte eine Augenbraue. Er sah skeptisch aus. »Wie kannst du es wissen? Bist du ein Experte? Bist du in den verbotenen Künsten unterrichtet worden?« Alain widerstand der Verlockung, die Rose herauszuholen, ihre Blüte zu zeigen, Agius den zarten Duft riechen zu lassen. Es war sicher nicht die Jahreszeit für Rosen, aber der Graf hatte 317 einen kleinen, windgeschützten Garten, der von der Sonne beschienen und häufig mit Kohlenbecken beheizt wurde; hier blühten Rosen fast das ganze Jahr über. Wenn Agius ihm die Geschichte von der Herrin der Schlachten nicht glaubte, beschuldigte er ihn möglicherweise, die Rose gestohlen zu haben. Oder noch schlimmer, was wäre, wenn Agius ihm glaubte? Wenn er entschied, daß Alains Bestimmung etwas war, das er, Agius, in die Hand nehmen mußte? »Nein«, sagte Alain schließlich bescheiden und senkte demütig den Kopf. »Ich weiß nichts von der Zauberei außer den Geschichten, die jedes Kind hört, und den Erzählungen unserer Diakonissin.« Agius machte eine wegwerfende Handbewegung und lenkte die Unterhaltung in eine andere Richtung. »Wir müssen abwarten, was geschieht, Alain. Doch wie auch immer, mich betreffen diese Dinge nicht mehr. Ich werde hier auf Burg Lavas bleiben und mich meinen Gebeten widmen.« »Ihr begleitet uns nicht?« Schuldbewußt dachte er sofort an den Biß von Kummer; hätte er die Hunde besser im Griff gehabt, wäre Agius nicht verletzt worden. Doch Agius erwähnte die Wunde mit keiner Silbe. »Ich bin Frater und durch meinen Eid daran gebunden, Unserer Herrin zu dienen. Auch wenn ich jetzt schon einige Zeit hier bin, diene ich dem Grafen doch nicht so wie du. Wie du ihm dienen mußt.« Kummer, der geduldig bei der Tür saß, jaulte. Alain fielen seine Pflichten wieder ein: Meister Rodlin würde auf ihn warten. Er erhob sich. »Aber, Bruder Agius, was ist, wenn Graf Lavastin Euch befiehlt, an dem Zug teilzunehmen?« Agius lächelte dünn. »Lavastin kann mir nichts befehlen, Alain. Und er wird es auch nicht versuchen.« 318 Zu Alains Überraschung versuchte er es tatsächlich nicht. Sie brachen an St. Isidora kurz nach Tagesanbruch auf, zwanzig berittene Soldaten und achtzig Fußsoldaten mit einem Troß von zwanzig Wagen. Frater Agius ging nicht mit ihnen. Kastellanin Dhuoda blieb ebenfalls zurück, um sich um Burg Lavas zu kümmern. Alain wußte nicht genau, ob er tief betrübt oder fürchterlich aufgeregt war. Alles, was er bisher gekannt hatte, ließ er jetzt zurück. Obwohl er Osna seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, schien es ihm nicht allzu weit entfernt; bei gutem Wetter dauerte die Reise vier Tage, zudem führte sie durch bekannte Gebiete. Jetzt blieb das vertraute Land im Westen hinter ihm zurück. Sie überquerten die Vennu und marschierten nach Osten durch unbekannte Täler, über fremde Berge. Den ganzen ersten Tag schwankte er zwischen Furcht und Aufregung hin und her. Am dritten Tag erhielt seine Stimmung durch den unaufhörlichen Nieselregen und das hohe Marschtempo einen Dämpfer, und er bekam einen hartnäckigen Husten und eine ständig laufende Nase. Seine Stiefel waren schlammverdreckt, und bis zum Abend waren seine Hände und Füße immer völlig durchgefroren. Nur während des Tages, wenn die Sonne hervorkam, während sie marschierten, fühlte er sich etwas wohler. Nachts schlief er mit den Hunden unter einem Wagen, gleich vor dem Zelt, das immer für den Grafen errichtet wurde. Auf diese Weise blieb er zumindest trocken; viele der anderen Soldaten hatten nicht soviel Glück und murrten. Am vierten Tag, während er die Hunde an einem Bach trinken ließ, warf wieder einmal jemand von den Büschen
aus einen Stein nach ihm. Der Stein traf ihn immerhin hart genug, um eine Schramme an seiner Schulter zu hinterlassen. Er 319 schrie auf, und Gelächter erscholl aus dem dichten Unterholz. Doch dann schössen die Hunde aus dem Wasser und hetzten laut grollend auf die Büsche zu. Als Alain sie endlich zurückpfeifen konnte, waren die, die ihn geärgert hatten, verschwunden. Schreiend stoben sie auseinander und liefen in den Wald. Er hatte sie nicht von vorn, sondern nur von hinten sehen können; aber immerhin wußte er jetzt, daß es drei waren. Nach diesem Zwischenfall wurde er meist in Ruhe gelassen, auch wenn hin und wieder eine tote Ratte in seinem Essen auftauchte. Doch weil Agius nicht da war, hatte er niemanden, mit dem er reden konnte, zumindest nicht richtig. Meister Rodlin behandelte ihn freundlich, aber kühl, und die anderen mieden ihn entweder ganz oder waren sich zu wichtig, um ihn zu bemerken. Graf Lavastin sprach mit niemandem; er gab nur kurze Befehle. Die Aufsicht über die Hunde blieb Alain überlassen, und obwohl die Tiere gute Kameraden waren - und immer mehr auf ihn hörten -, fühlte sich Alain ziemlich unglücklich, als sie die Festung von Jeoffrey und Aldegund erreichten. Jeoffrey war überrascht, seinen Verwandten zu sehen, machte sich aber sogleich mit den Geistlichen seines Haushalts, der Kastellanin seiner Frau und verschiedenen anderen Verwandten auf, Graf Lavastin entgegenzugehen und das letzte Stück zu begleiten. Entsprechend dem Brauch gingen sie zu Fuß. Lavastin stieg jedoch nicht ab, um seinen Cousin zur Begrüßung zu umarmen. Jeoffrey war aufrichtig verblüfft. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er nach Worten ringend, während er Lavastin alarmiert betrachtete. »Meine liebe Aldegund liegt mit Fieber im Bett, doch da alle Kinder diese Beschwerden bereits hatten und sich wieder erholten, haben wir keine Angst um sie. Es ist bereits ein Heiler zugegen.« Er zögerte bei dem Wort Heiler, als hätte 320 er es durch ein anderes ersetzen wollen, sich dann aber eines Besseren besonnen. Er fuhr fort: »Das Baby, das auf Burg Lavas geboren wurde, ist inzwischen fast sechs Monate alt; sie ist ein gesundes, schönes Kind und hat bereits ihren ersten Bußtag gefeiert. Wir salbten sie mit dem heiligen Wasser und gaben ihr den Namen Lavrentia, wie wir es Euch versprochen hatten. Was führt Euch zu diesem Landsitz, Cousin? Seid Ihr gekommen, um das Fest von St. Sormas mit uns zu feiern? Und wozu solch ein Gefolge?« Niemand konnte Lavastins Gefolge mißdeuten. Selbst Sabellas große Truppe hatte einen weniger kriegsbereiten und kampfwilligen Eindruck gemacht, als Alain sie zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich bin gekommen, um mich Eurer Treue zu versichern, Eurer Person und Eurer Soldaten, denn wir wollen uns mit Sabellas Heer vereinigen.« Jeoffrey zuckte sichtlich zusammen. Dies war für Alain die endgültige Bestätigung seiner Vermutung, daß Lavastin verzaubert worden war. Sicherlich kannte Jeoffrey die Einstellung seines Cousins zu dieser Angelegenheit besser als jeder andere Mensch. »Um ... um uns mit Sabellas Heer zu vereinigen?« stammelte er. »Das sagte ich doch«, blaffte Lavastin. »Aber das ist Verrat an König Henry.« »Verrat wäre es, Sabellas Anliegen gegenüber Henry nicht zu unterstützen. Sie ist das ältere Kind, die rechtmäßige Erbin. Ihre Mutter war Königin von Varre.« »Aber nach dem Gesetz der Fruchtbarkeit -« wandte Jeoffrey ein. »Sabella hat eine Tochter geboren. Mit welchem Recht beansprucht Henry den Thron ? Mit dem Recht, daß ihm ein Bastard geboren wurde, von einem Wesen, das man nicht einmal 321 eine wirkliche Frau nennen kann? Kaum vorstellbar, daß der Eid dieser Kreatur vor den versammelten Bischöfinnen Bestand hat. Und wie können wir wissen, daß Henry das Kind wirklich gezeugt hat? Wie können wir der männlichen Linie überhaupt trauen? Nur die weibliche Linie gewährt Sicherheit.« Dieses Argument verschlug Jeoffrey den Atem. »A-Aber Cousin. Eure eigene Blutslinie, Euer eigener Vater ... Seit drei Generationen gibt Lavas das Erbe über die männliche Linie weiter.« »Steht Ihr nun auf meiner Seite?« fragte Lavastin ohne erkennbare gefühlsmäßige Anteilnahme. »Oder seid Ihr gegen mich?« Er hob seine Hand, gab seinen Soldaten ein Zeichen, sich aufzustellen. Sein Hauptmann zögerte, so überrascht war er über diesen Befehl. »Ich ... ich brauche Zeit zum Nachdenken!« »Es ist keine Zeit zum Nachdenken! Ihr müßt Euch entscheiden !« Lavastin drängte sein Pferd vor und zog sein Schwert. Freude und Furcht sprangen laut bellend neben ihn. Jeoffrey war viel zu verblüfft, um auch nur zur Seite zu weichen, als der Graf mit erhobenem Schwert auf ihn zuhielt. Doch so begriffsstutzig waren Jeoffreys Geistliche und andere Gefolgsleute nicht. Einige von ihnen warfen sich vor ihren Herrn, und so steckte ein Mann in Wolltunika und Gamaschen den Hieb ein, der für seinen Herrn gedacht war. Jeoffrey schrie vor Entsetzen auf. Es war schließlich ein Geistlicher im schlichten Gewand eines Fraters, der sich umdrehte und auf das Tor zurannte. Vielleicht wollte er sich in Sicherheit bringen. Vielleicht wollte er jene im Innern warnen. Alain wußte es nicht. Ein Armbrustschütze schoß und traf 322 den Frater in den Rücken. Der Geistliche fiel auf die Knie, schien einen kurzen Augenblick in betender Pose zu
verharren und stürzte dann vornüber in eine Pfütze. Matsch spritzte auf sein Gewand. Das Wasser färbte sich schmutzigrot. Lavastin preschte an Jeoffrey und den anderen Männern vorbei, die sich dicht um ihn geschart hatten; er überließ sie der Gnade seiner Soldaten. Er ritt auch an dem sterbenden Frater vorbei. Sein Hauptmann drängte sein Pferd ebenfalls vorwärts, forderte die anderen berittenen Soldaten auf, ihm zu folgen, und zusammen galoppierten sie hinter Lavastin her. Jemand versuchte, das Tor des Palisadenzauns vor ihnen zu schließen. »Hai! Hai!« rief Feldwebel Fall, als er die Linie der Fußsoldaten entlangschritt. »Aufstellung und Abmarsch!« Was dann geschah, ging so schnell, daß Alain es sich hinterher niemals recht zusammenreimen konnte. Zusammen mit den anderen Soldaten drängte er vorwärts. Er konnte nicht anders. Die Hunde bellten und schnüffelten, sie rochen die Schlacht. Einige hielt er zurück, aber drei rissen sich los und rasten hinter Lavastin her. Um Jeoffrey hatte sich ein Kampf entsponnen, obwohl die Verteidiger des Edelmanns kaum Hoffnung auf einen Sieg haben konnten. Doch sie wehrten sich mit Händen und Stöcken, mit ihren zeremoniellen Speeren und sogar mit der Lanze, die das Banner von Aldegunds Familie trug: ein weißer Hirsch vor tiefblauem Hintergrund. Lavastin, der von seinen berittenen Soldaten Rückendeckung erhielt, hatte jetzt das Tor erreicht. Es gab kaum Widerstand. Wie hätten Jeoffreys Soldaten auch ahnen können, daß der Cousin ihres Herrn sie angreifen würde? Doch einer der Männer behielt einen kühlen Kopf. Er blieb mit einer Armbrust in der Hand auf dem Wachturm. Vielleicht hatte er auf Lavastin gezielt, und seine Hand hatte 323 gezittert. Vielleicht hatte er auch genau das gewollt, was dann geschah. Alain bekam nur deshalb etwas davon mit, weil in dem Augenblick, da der Armbrustbolzen Freudes Herz durchbohrte, die anderen Hunde wild wurden. Nicht einmal Alain hatte sie jetzt noch unter Kontrolle. Lavastin war in der Festung verschwunden. Alain rannte los. Er rannte hinter den Hunden her, mußte sich nicht einmal mühselig einen Weg bahnen, denn die Soldaten von Feldwebel Fall stoben aufgeregt auseinander, als die Hunde losstürmten und begannen, Jeoffrey und seine Männer anzufallen. Alain trieb sie mit kräftigen Speerhieben zurück, obwohl die Hunde in ihrem Wahnsinn auch nach ihm schnappten. Einige der Männer konnte er nicht retten, aber über einen am Boden liegenden Frater hielt er schützend seinen Fuß, und er drängte die Hunde wohl an die zehn Mal von Jeoffrey zurück, bevor sie ihn anknurrten, sich umdrehten und zur Festung rasten. Ihre Augen waren wild und gerötet von wahnsinniger Kampfeslust. Blut und Geifer tropften von ihren Schnauzen. Sie ließen ein Bild des Grauens hinter sich zurück; einen Mann, dessen Hand glatt abgebissen worden war, einen anderen, der bis auf die Knochen zerfleischt worden war. Ein armer Bursche, es war der Bannerträger, lag mit aufgerissener Kehle da. Jeoffrey hatte zahlreiche Bißwunden, konnte aber noch stehen. Er schwankte; Alain wußte nicht, ob es seine Wunden waren, die ihn taumeln ließen, oder der Schreck über den Angriff seines Cousins. Von dem eigenen Verwandten angegriffen zu werden galt als der schlimmste Verrat. War dies die Art von Kriegen, für die die Herrin der Schlachten ihn ausersehen hatte? Das konnte nicht sein. Lavastin hatte immer einen Mittelweg verfolgt. Hatte der Graf nicht verstanden, daß ein Krieg 324 zwischen Sabella und Henry das Schlimmste war, was überhaupt geschehen konnte? In diesem Augenblick wußte Alain plötzlich, daß Lavastin nicht mehr aus freiem Willen handelte und dachte, unabhängig davon, was Frater Agius sagen mochte. Dieser ungerechtfertigte Angriff auf Jeoffrey hätte selbst Frater Agius verwundert; schließlich wußten alle, daß der Edelmann Lavastins bevorzugter Verwandter war. Bischöfin Antonia hatte das Blut und das Leben von Simplizius genommen, um dadurch Macht über das Herz und den Willen des Grafen zu erhalten. »Ich werde bei ihm bleiben«, murmelte Alain leise in sich hinein, halb beschämt über die Arroganz, die in einer solchen Aussage lag. »Irgend jemand muß ihn doch beschützen.« Selbst wenn dieser Jemand ein gewöhnlicher Junge war, einer, der nichts war und nichts hatte - außer einer Rose, die niemals aufhörte zu blühen. Feldwebel Fall schickte die Hälfte seiner Männer ins Innere der Festung, doch die Wut- und Schmerzensschreie, die kurz innerhalb des Palisadenwalls aufgeflackert waren, verstummten bereits wieder. Fall zog sich mit den anderen Männern aus dem Gefecht zurück; er fühlte sich sichtlich unwohl, als er Jeoffrey gefangennahm. Ein Frater aus Lavastins Truppe, der für seine Heilkenntnisse bekannt war, eilte herbei, um sich um die verwundeten Männer zu kümmern. »Hey, du da, Junge!« Feldwebel Fall hatte Alain entdeckt. »Lauf und fang die Hunde wieder ein. Es sind Kinder da drinnen.« Einige Soldaten schlugen spontan das Kreiszeichen vor der Brust. Keiner von ihnen würde jemals vergessen, daß diese Hunde Lavastins Frau und Kind getötet hatten. Alain hatte die Geschichte nie vollständig gehört, denn man sprach auf Burg Lavas nicht davon. 325 »Mach schon!« befahl Fall.
»Meine Frau!« Jeoffrey keuchte. »Das Baby!« Hätte Alain auch nur zehn Atemzüge länger gezögert, er wäre zu spät gekommen. Es war nicht schwer, der Spur der Meute zu folgen: Alain zählte zwei tote und elf verletzte Männer. Sie lagen auf dem breiten Hof in einer Zickzack-Linie hintereinander. Beim Brunnen kauerten Bedienstete, umgeben von fünf von Lavastins Soldaten. Lavastins Pferd stand vor dem großen Holzhaus, in dem Jeoffrey und seine Gemahlin wohnten. Mindestens die Hälfte der berittenen Soldaten hatte ihre Pferde draußen in der Obhut erschreckter Stallburschen gelassen und war in die Halle gelaufen, ihrem Grafen hinterher. Alain folgte. Die Hunde stürmten die Treppen hinauf zum geräumigen Dachgeschoß, das sich über der langen Halle erstreckte. Dort lebte Aldegund mit ihren Kindern, anderen Verwandten und Bediensteten. Die Jagdlust stand den Tieren noch immer in den Augen. Alain stürzte vor, griff nach dem dünnen Schwanz des hintersten Hundes und riß das Tier zurück. Es wirbelte herum, versuchte ihn zu beißen. »Kummer! Sitz!« Wie durch ein Wunder funktionierte es. Kummer gehorchte. Weiter vorne auf der Treppe saß auch Rage; sie hatte seine Stimme gehört. Doch die anderen strömten weiter aufwärts wie Wasser, das bergauf fließt; und wie derart unnatürlich fließendes Wasser waren auch die Hunde nur auf eine einzige Weise aufzuhalten: durch Magie. Alain nahm zwei Stufen auf einmal. Er schob sich zwischen den Hunden hindurch, und obwohl sie ab und zu nach ihm schnappten, waren sie zu sehr auf ihre Beute fixiert, um sich um den Jungen in ihrer Mitte zu kümmern. Lavastin schritt weiter, das Schwert noch immer erhoben. Er schien die Hunde 326 und die von ihnen ausgehende Gefahr nicht zu bemerken - eine Gefahr nicht für ihn natürlich, sondern für die Frauen und Kinder und die Handvoll Männer, die Schritt für Schritt in die hinterste Ecke der großen Halle zurückwichen. Nur zwei blieben standhaft. Alain erkannte sofort die junge Edelfrau Aldegund; sie war sicherlich nicht älter als er, auch wenn sie jetzt eindeutig eine Frau und nicht länger ein Kind war. Blaß und zitternd nahm sie einen Stab in die Hand und trat auf Lavastin zu. »Was hat das zu bedeuten, Cousin? Warum betretet Ihr in solch kriegerischer Weise eine Halle, die Euch in Freundschaft und Liebe willkommen heißt?« Sie hielt ihr sechs Monate altes Kind im Arm, das Kind, das vermutlich eines Tages die Erbin des kinderlosen Lavastin sein würde. Eine ältere Frau trat weinend neben sie, als wollte sie sich schützend vor ihre Herrin werfen, sie vor Lavastins Schwert oder den blutigen Fängen der Hunde bewahren. Alain griff nach den Hunden, packte sie an Schwänzen und Flanken, aber immer noch entschlüpften sie ihm und hetzten weiter auf ihr Ziel zu. Sie wollten Aldegund töten. Und vermutlich würden sie sie auch töten und das Kind in Stücke reißen, wenn niemand etwas unternahm. So schlug er energisch mit dem stumpfen Speerende um sich und schrie währenddessen aus Leibeskräften. »Sitz! Platz! Gehorcht endlich, ihr Bestien!« Schrecken hatte die Edelfrau fast erreicht, als Alain dem Hund so hart auf den Kopf schlug, daß das Tier benommen taumelte. Doch jetzt machten die anderen endlich Platz, obwohl sie weiterhin bedrohlich knurrten und das Häuflein von Aldegunds Haushalt unverwandt anstarrten. Lavastin schob sein Schwert nicht wieder in die Scheide zurück. »Ihr werdet Euch Prinzessin Sabella und ihrem Vorhaben anschließen oder diese Burg verlassen.« 327 Aldegund schnappte nach Luft. Sie sah aus, als würde sie in Ohnmacht fallen, faßte sich aber rasch wieder, als die treue Verwandte sie am Ellenbogen berührte. »Das ist unmöglich«, entgegnete sie stolz. »Die Loyalität meiner Familie geht zurück bis zum ersten König Henry, als Königin Conradina zugunsten von Henry ihren Bruder Eberhard überging und den damaligen Herzog von Saony als Erben benannte. Auch wenn ich in eine Familie aus Varre eingeheiratet habe, werde ich die Loyalität nicht verraten, die meine Familie seit so vielen Generationen in ihrem Herzen trägt.« Alain hatte keine Vorstellung davon, wieviel Überwindung sie diese Worte gekostet hatten. Er konnte auch längst nicht mehr vorhersagen, wie Lavastin reagieren würde. Das konnte sie sicherlich auch nicht, als sie mit einem Baby in den Armen und zwei kleinen Stiefkindern vor ihm stand. Und natürlich wußte sie auch noch nicht, was mit ihrem Ehemann geschehen war. Lavastin zeigte sich ungerührt von ihrer kühnen Aussage. »Ihr werdet mir die Kinder als Bürgen für Euer gutes Verhalten übergeben. Dann werdet Ihr mit Eurem Gefolge diesen Ort verlassen und in das Land Eurer Mutter zurückkehren.« »Aber das hier ist das Land meiner Mutter!« protestierte Aldegund. »Es wurde mir bei meiner Hochzeit übertragen! Ihr könnt es mir nicht nehmen!« »Wie wollt Ihr mich davon abhalten? Dieses Land dient jetzt Prinzessin Sabellas Zielen. Ich werde einen Ersatz bestimmen, bis Ihr einen weiseren Weg einschlagt und Sabella unterstützt oder bis Sabella selbst eine Frau ernennt, die es in Zukunft verwalten wird.« Er machte eine Handbewegung, und seine Männer - zögernd zwar, aber auch ohne Anzeichen, sich seinen Befehlen widersetzen zu wollen - traten vor und stellten sich vor die Kinder. 328 Alain hatte die Hunde in der Zwischenzeit an eine Leine gebunden. Sie knurrten und schnappten nacheinander,
gehorchten aber. Dennoch traute er nur Rage und Kummer genug, um sie frei herumlaufen zu lassen. Wie Wachen hatten sie bei den Treppenstufen Platz genommen. Aldegund preßte das Baby gegen ihre Brust. »Das hier gebe ich Euch nicht!« rief sie. »Es wird noch genährt. Es ist eine Beleidigung Unserer Lady, Kinder einfach ihren Müttern zu entreißen !« »Laßt Ihr zumindest dieses eine Kind, Graf Lavastin«, murmelte Alain vor sich hin. Er hatte keine Ahnung, ob der Graf ihn gehört hatte. Doch Lavastin blinzelte plötzlich, und sein harter Blick wurde etwas milder. Er wischte sich über das Gesicht, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Also nur die älteren Kinder«, sagte er etwas unsicher, beinahe verwundert. Doch der Augenblick währte nur kurz. Aldegunds Mund zuckte, aber sie schluckte die Tränen herunter. Die zwei Kinder, die von Jeoffreys erster Frau stammten, wurden weggeführt. Lavastin schob das Schwert in die Scheide und blickte Alain an; er wirkte verwirrt. Dann schüttelte er den Kopf und straffte sich, und seine Miene nahm wieder den gleichen unbeteiligten Ausdruck an wie zuvor. Er schnippte mit den Fingern, und die Hunde - an einer einzigen Leine zusammengebunden - strömten alle auf einmal zu ihm, leckten ihm die Hände und wedelten mit den Schwänzen. Er griff nach der Leine, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle. Sie feierten auf dieser Burg das Fest von St. Sormas, aber es war kein fröhliches Fest. Nur Lavastin und seine Soldaten aßen an den Bankettischen, wo sie widerwillig, aber ohne Protest 329 von den Dienern und Dienerinnen von Jeoffrey und Aldegund bedient wurden. Jeoffrey wurde in den Turmkerker gesperrt, Aldegund und ihr Gefolge ins Dachgeschoß. Am Morgen erlaubte Lavastin den Frauen, zum Landsitz von Aldegunds Mutter, der Edelfrau Alberga, abzureisen und gewährte ihnen gerade einmal soviel Nahrungsmittel, daß es für die fünftägige Reise nach Wendar reichte. Es war eine erbärmliche Prozession, die sich da auf den Weg machte - Aldegund, das Baby, ihre zwei weiblichen Verwandten sowie eine Amme und zwei Dienerinnen. Wie sollte angesichts dieser armseligen Gruppe nur jemand erkennen, daß es sich um Edelfrauen handelte? Aldegund durfte nicht einmal ihre eigenen Pferde mitnehmen, sondern mußte auf dem Rücken eines Maultiers reiten. Jeoffrey war noch nicht wieder gesund genug, um zu reisen; die Verletzungen, die ihm die Hunde zugefügt hatten, waren schwer, wenn auch vermutlich nicht tödlich. Er blieb in der Obhut eines Fraters zurück, mit dem Befehl, die Burg sofort zu verlassen, wenn er reisefähig war. Lavastin ernannte einen von seinen Dienern zum vorläufigen Kastellan, einen Sohn freier Eltern, der sich in der Hoffnung in den Dienst des Grafen begeben hatte, es zu mehr zu bringen als nur dem Teil des elterlichen Hofes, der ihm als jüngstem Sohn zustand. Sollte sich Sabellas Rebellion vorteilhaft entwickeln, konnte es durchaus sein, daß dieser Mann sich als Verwalter eines schönen Anwesens wiederfand. Und wenn nicht... Doch als Alain die mit Vorräten bepackten Wagen aus dem Tor rumpeln sah, wußte er, wie sehr Sabella ihre Chancen auf den Thron durch diesen Sieg verbessert hatte. Auf den Wagen waren nicht nur Gemüse und Obst aus den Lagerräumen, Schilde, gute Speerspitzen und starke Schäfte, ein paar 330 Schwerter, alte und neue Helme, Stoffe für Tuniken und Überwürfe, gemahlenes Korn und Leder, sondern auch fünf kleine Kisten mit dem Gold und Silber, das von Aldegund als Mitgift eingebracht worden war und sowohl Jeoffreys beweglichen Reichtum wie auch Aldegunds Anteil an dem Besitz ihrer neuen Familie ausmachte. Sie marschierten nach Süden durch Grenzland, das einst Wendar und Varre voneinander getrennt hatte und noch immer voller Gebiete war, die mal zu Wendar, mal zu Varre gehörten. Auf zwei Landsitzen fanden sie leidenschaftliche Unterstützung, und Lavastin nahm weitere vierundzwanzig Männer als Soldaten auf, die allerdings unter ihren eigenen Hauptleuten marschierten. Doch in den folgenden zehn Tagen übernahmen sie drei Landgüter, deren Edelleute treu zu König Henry standen. Keiner von ihnen leistete Widerstand, nachdem sie Lavastins Gefolge gesehen und seine kühnen Worte gehört hatten. Alle blieben am Leben, verloren aber die Hälfte ihrer beweglichen Güter. Lavastins Troß wurde immer länger, und die fünf Kisten mit Silber und Gold waren inzwischen auf neun angewachsen. Als sie bald darauf das Land erreichten, über das der Herzog von Varingia herrschte, wandten sie sich nach Westen, zurück nach Varre, wo sie sich mit Sabellas Heer vereinigen wollten. »Genau so wurden vor acht Jahren auch Prinzessin Sabellas Anhänger um Land und Besitz gebracht, als ihre Rebellion fehlschlug«, erklärte Meister Rodlin eines Nachts, nachdem er die Pferde versorgt hatte. Er war offensichtlich tief berührt; sonst sprach er selten mit Alain und ganz sicher nicht so vertraulich. Alain hatte die Hunde gefüttert, ihnen Wasser gegeben und sie für die Nacht unter dem Wagen angekettet. Da lagen sie, 331 die übriggebliebenen fünf - Furcht, Glück, Leidenschaft, Trotz und Jubel -, und starrten ihn und das prasselnde Feuer aus weit geöffneten Augen an. Jetzt, da Freude tot war, schlief der alte Schrecken in Lavastins Zelt, und Alain ließ Rage und Kummer ohne Leine laufen, weil er wußte, daß er ihnen jetzt vertrauen konnte und sie die Leute in Ruhe lassen würden. Alain war kurz davor, etwas zu sagen. Er wollte fragen: »Wird das denn dadurch gerechter, daß jetzt auch Henrys Anhänger um Ländereien gebracht und ihrer Reichtümer beraubt werden, die seit Generationen in ihrer
Familie waren?« Aber er sagte es nicht. Er traute sich nicht. Sie würden denken, daß er auf der Seite von König Henry stand. Das tat er nicht. Er wußte von Henry nicht mehr als den Namen, jedenfalls nicht viel mehr. Und er stand auch nicht auf Seiten Sabellas. Wie konnte er das in dem Wissen, was Bischöfin Antonia mit Sabellas ausdrücklichem Einverständnis getan hatte? Er hatte viel Zeit nachzudenken, und das tat er auch. Natürlich kamen in seinem Herzen an erster Stelle Unsere Herrin und Unser Herr und nach ihnen seine eigene Familie, sein Vater Henri, seine Tante Bei und seine Cousins und Cousinen. Aber er hatte seine Familie weit zurückgelassen, wenn auch nicht in seinem Herzen, dann doch zumindest, was die Entfernung betraf. In Osna wurde häufig betont, daß Graf Lavastin ein gottesfürchtiger Mann war, der als Gegenleistung für den Schutz, den er dem kleinen Hafen gewährte, gerechte Steuern forderte. Weil so viele Händler dort lebten, bot sich Osna für Plünderer und Räuber von der See wie vom Land als Ziel geradezu an. Doch die Grafen von Lavas hatten dem Dorf über all die Jahre wirksamen Schutz gewährt, seit dort in der Zeit von Kaiser Taillefer das Handelszentrum errichtet worden war. 332 Tatsächlich hatte es in Osna niemals Freie gegeben, die sich selbst bei anderen hatten verschulden oder verpflichten müssen, um überhöhte Steuern und andere Abgaben leisten zu können - abgesehen von denen, die ihren Besitz wirklich schlecht verwalteten. So etwas geschah aber bei den Edelleuten in Salia, denn sie waren gierig. In Osna mußte niemand das eigene Kind in die Sklaverei verkaufen, um die Schulden oder Steuern bezahlen zu können; dafür wurden jeden Sommer salianische Sklaven, freigeborene Kinder von freigeborenen Eltern, nach Osna gebracht und an Familien im umliegenden Land verkauft oder zu anderen, weiter östlich liegenden Häfen verschifft. Also das war seine Pflicht. Es war der einzige Sinn, den er in seiner unglaublichen Verwirrung erkennen konnte. Er würde in Lavastins Nähe bleiben, so gut er konnte, so weit es ihm gestattet war. War dies das Zeichen der Herrin gewesen? War es Ihre Hand, die ihm die Freundschaft mit Lavastins Hunden gebracht hatte, die es ihm wiederum ermöglichte, dem Grafen nahe zu sein? Es mußte so sein. Agius hielt ihn für Lavastins Bastard, aber weshalb sollte ein Edelmann seinen Bastard mit einem freigeborenen Mann wegschicken, statt das Kind direkt einem Kloster zu übergeben, wenn dies das Ziel war? Bischöfin Antonia hielt ihn vielleicht für die Frucht der Verführung einer Mittsommernacht, für ein Kind, das der Geist eines Elfenprinzen mit einem Menschenmädchen gezeugt hatte. Doch wie konnte ein totes Wesen, Elf oder nicht, eine lebendige Frau schwängern? Und der Aikha-Prinz hatte seine Worte vollkommen mißverstanden und hielt ihn für den Sohn von König Henry! Nein. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was Tante Bei über seine Phantastereien sagen würde! »Die Herrin und der 333 Herr haben immer einen Grund für das, was sie tun«. Sie war eine gute, praktische Frau, und in ihren Augen wie auch in denen der Diakonissin und der anderen Bewohner von Osna - wirkte Gott auf praktische Weise und belohnte jene, die gläubig waren und hart arbeiteten. Natürlich wußte Tante Bei, daß Gott in der Welt wirkte und daß Engel in bescheidenen Häusern leuchten konnten oder Heilige umhergingen, um die Schwachen und Aufgegebenen zu retten. Sie würde nicht an Alains Rose zweifeln und auch nicht an der Vision, die er in der alten dariyanischen Feste erlebt hatte. Doch sie würde erwarten, daß diese Erfahrungen Demut in Alain weckten, keinen Stolz. »Warum sollten diese Dinge geschehen«, würde sie fragen, »wenn es nicht eine Aufgabe zu erfüllen gäbe, mein Junge?« Es war die einzige Antwort, die Sinn für ihn machte: Er war der einzige, der wußte und überzeugt war, daß Lavastin nicht in den Krieg zog, um Sabella zu unterstützen, sondern weil er einem Zauberbann gehorchte. Alain wußte nicht, was er anderes tun sollte, als über Graf Lavastin zu wachen. Genau das war seine Aufgabe. 2 Wulfhere kehrte vierzehn Tage später von Frielas zurück. Er brachte schlechte Nachrichten. Aikha-Banditen hatten das Kloster am Schafskopf verwüstet und waren dann nach Osten gesegelt, um sich mit ihren Artgenossen zu vereinigen. Den Gerüchten nach belagerte diese Armee jetzt die große Hafenstadt Gent, das Tor zum üppigen Herzstück von Wendar und Geburtsstadt von König Henrys 334 Urgroßvater, dem Herzog und späteren König Henry dem Ersten. In Gents Kathedrale hatte der erste Sohn von Henry, Arnulf der Ältere, seine siebenjährige Tochter Adelheid mit Louis, dem fünfjährigen König von Varre, vermählt. Gleichzeitig hatte sich Arnulf natürlich zum Regenten der beiden erklärt. Aus guten Gründen hatte er Louis' jüngere Schwester Berengaria mit seinem Erben verlobt - Arnulf dem Jüngeren, Henrys Vater. Daß König Louis von Varre jung und ohne Erben gestorben war, war für Arnulfs Haus ein Zeichen der Barmherzigkeit der Herrin und des Herrn gewesen, und als Berengaria einige Jahre später im Kindbett starb, besiegelte das die Angelegenheit. Für die wendischen Könige symbolisierte Gent den Abstieg des Königshauses Varre und
gleichzeitig das Recht, Varre zu regieren. »Wir müssen nach Osten reiten«, sagte Wulfhere, »nach Gent, um die Wahrheit dieser Gerüchte zu überprüfen. König Henry wird nicht nach Norden reisen wollen, wenn es nicht unbedingt nötig ist, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Man munkelt zuviel über die Taten seiner Schwester Sabella. Einige sagen, sie spricht offen von Rebellion. Es ist bitter, daß sie gerade jetzt soviel Ärger macht, wo wir unsere Armeen so dringend hier im Norden benötigen.« Er saß im Wirtsraum der Schenke, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, einen Krug Bier in der linken Hand. Er sprach hauptsächlich zu Manfred und Hathui, aber hin und wieder schweifte sein Blick auch zu Liath und Hanna, die still, aber aufmerksam bei ihnen saßen. Es war Abend, und viele der hier Ansässigen waren zu einem kleinen Trunk vorbeigekommen, vorwiegend, wie Hanna wußte, um die Adler zu sehen und ein bißchen was von der großen Welt zu erhaschen. Dies war seit zehn Tagen zur Gewohnheit geworden, denn die Gäste waren längst kein Kuriosum mehr, seit Hathui acht Tage zuvor einem 335 aufdringlichen und ziemlich betrunkenen jungen Bauern die Nase gebrochen hatte. Hanna bewunderte Hathui - eine starke, kräftig gebaute Frau, die nach eigenen Aussagen in dem weit im Osten liegenden Marschland von Ostfall aufgewachsen war, das reich an Pferden war; gleich dahinter lag das wilde Land der barbarischen Qumaner, der geflügelten Pferdemenschen, wie Hathui sie genannt hatte. Die Qumaner lebten in Finsternis, außerhalb des Lichts des Kreises der Einigkeit, und Hathuis eigener Bruder war als Missionar in diese finsteren Lande gegangen und niemals zurückgekehrt. »Und so widmete ich mein Leben der heiligen Perpetua, der Herrin der Schlachten«, hatte Hathui gesagt, »und ich schwor, die Qumaner zu bekämpfen.« Bis zu dem Tag, an dem sie den Ring über den Finger gestreift und damit als Adler in den Dienst des Königs getreten war, hatte Hanna nicht gewußt, wie sehr sie sich danach sehnte, die Welt außerhalb von Friedleben kennenzulernen - bevor sie irgendwo seßhaft werden und wie ihre Mutter als Kastellanin eine eigene Schenke führen würde. Sie hatte sich diesen Wunsch niemals eingestanden, wohl wissend, daß er unerreichbar bleiben würde; was nutzte es, nach etwas zu streben, das man niemals haben konnte? Deshalb hatte ihr die Arbeit in der Schenke so sehr gefallen, denn hieß es nicht, daß »die Schenkenwirte die Welt mit den Augen der Gäste sehen, die durch die Tür treten«? Und doch hätte sie auch mit Ivar nach Quedlingham gehen können, wo sie die Rundreise des Königs gesehen hätte. Oder sie hätte mit Liath nach Fiersbarg gehen können. Aber es war besser, nicht an Fiersbarg zu denken, denn das würde sie nur an Hugh erinnern. »Und was euch beide betrifft«, fügte Wulfhere hinzu und 336 lenkte Hannas Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe, »ihr werdet während der Reise lernen müssen, was ein Adler können muß. Ich hatte gehofft, euch nach -« Er brach ab, nahm einen tiefen Schluck von dem Bier und seufzte. Schaum spritzte über den Rand, als er den Krug hart auf dem Tisch absetzte. »Das muß Zeit bis später haben. Bist du kräftig genug, Liath? Wenn nicht, können wir dich hierlassen und -« »Nein! Ich bin kräftig genug!« Hanna legte eine Hand auf Liaths Arm, um sie zu beruhigen. Liath war stärker, ja, aber sie war unruhig wie ein Kalb und verausgabte sich mit ihrer ständigen Furcht. Und obwohl sie sehen konnte, was er aus Liath gemacht hatte, träumte Hanna noch so manche Nacht von Hugh. Eigentlich beinahe jede Nacht. Es gab keinen anderen wie ihn - oder zumindest hatte sie noch keinen wie ihn getroffen. Sie wußte, sie sollte ihn vergessen, ihre Erinnerung an ihn auslöschen. Sie sollte sich nicht beunruhigen, indem sie von etwas träumte, das sie niemals besitzen würde, dessen Besitz auch nicht gut wäre. Sicher würde es genug Ablenkung geben, wenn sie erst unterwegs wären. »Ich habe in Frielas Pferde für euch besorgt.« Wulfhere blickte Manfred und Hathui unschuldig an. »Glaubt ihr, daß sie in der Lage sind, einigermaßen gut zu reiten?« »Was?« fragte Hathui mit einem spitzen Lächeln. »Was sind das für Pferde? Ich habe sie nicht gesehen.« Wulfhere grinste breit. »Es sind zwei temperamentvolle Pferde, mit Durchhaltevermögen. Nein, mein Kind, vertraue mir. Der Ritt nach Gent wird hart sein, und ich weiß nicht, was wir dort vorfinden oder wie schnell wir wieder weiter müssen. Es heißt, ein König führt die Aikha-Armee an und daß er ein Zauberer ist. Es heißt weiter, daß er unsterblich ist. Wenn die beiden unser Fortkommen behindern, müssen wir sie in Frielas oder auf unserem Posten in Stelesham zurücklassen.« 337 Diesen Punkt galt es in der Tat zu bedenken. Hanna war keine Edelfrau und daher nicht gewohnt, im Sattel zu sitzen. Daß sie überhaupt mit Pferden vertraut war, lag nur daran, daß ihre Eltern eine Schenke besaßen. Sie hielt den Atem an. Liath starrte ins Feuer, offensichtlich geistesabwesend. »Hanna kann recht ordentlich reiten, aber nicht viel mehr als das«, sagte Manfred in seiner direkten Art. »Ich gestehe ihr aber eine große Willenskraft zu und glaube, daß sie durchhält, wie hart es auch werden mag.« Wulfhere wölbte eine Braue. »Lob von dir, Manfred, ist hart verdientes Lob. Und Liath?« Liath rührte sich, als sie ihren Namen hörte. »Liath«, sagte Hathui voller Zufriedenheit, »kann hervorragend reiten, auch wenn sie behauptet, seit mehr als
drei Jahren nicht mehr auf einem Pferd gesessen zu haben. Sie ist noch immer schwach. Aber ich glaube, sie wird sich während des Ritts erholen. Wenn sie in Stelesham noch nicht so weit ist, können wir sie dort lassen.« »Dann ist es also besiegelt«, erklärte Wulfhere, und Hanna atmete wieder weiter. »Kommt, meine Kinder, und seht euch eure neuen Pferde an. Es waren die besten, die ich in der Eile finden konnte. Wir werden aufbrechen, sobald ihr sie gesattelt habt.« Aufbrechen! Hanna hatte das Gefühl, als bohrten sich ihre Füße wie Wurzeln in den Boden, immer tiefer ins Holz hinein, das ihr niemals gestatten würde, das geliebte Heim zu verlassen. Aufbrechen klang so wundervoll wie kaum ein anderes Wort. »So schnell?« brachte sie heraus; ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »Ich dachte, wir würden nicht vor morgen -« Wulfheres Blick war beinahe tadelnd. Ein freundlicher Mensch, erkannte sie, solange man seinen Wünschen nicht in 338 die Quere kam. »Wir sind Adler, Hanna. Es darf keine Verzögerung geben, wenn es um den König geht. Hast du das verstanden?« Sie stand gehorsam auf. Sie hatte geträumt, und sie war beschenkt worden. Sie wehrte sich dagegen, daß Furcht Besitz von ihr ergriff, besonders nachdem sie gesehen hatte, wie Liath von ihren eigenen Ängsten aufgezehrt und beherrscht wurde. »Natürlich.« Er lachte leise. »Und heute ist St. Eusebe, nicht wahr? Der sechste Tag im Avril. Gibt es einen verheißungsvolleren Tag, um mit der Ausbildung zum Adler des Königs zu beginnen?« Er stand auf. »Hathui, kümmere du dich um die Vorräte. Komm, Liath, es ist Zeit. Du und Hanna, ihr begleitet mich zu den Ställen.« Hanna hatte den Eindruck, als wäre sein Ton etwas weicher geworden, als er Liath anblickte. Arme Liath. Hanna wußte sehr gut, daß Liath nichts daran lag, so exotisch schön und erbärmlich verloren auszusehen. Sie berührte ihre Freundin an der Schulter, und Liath fuhr zusammen, sprang auf und stieß mit den Beinen gegen den Tisch, wie immer, wenn sie aus ihren Gedanken gerissen wurde. Doch dieses Mal fluchte sie und rieb sich die Beine, und alle, sogar sie selbst, lachten. Draußen in den Ställen untersuchte Hanna zunächst den langgliedrigen Wallach mit den weißen Fesseln, den Wulfhere für sie mitgebracht hatte, dann reichte sie ihm zur Begrüßung einen Apfel. Sie streichelte seine Flanken und sattelte ihn. Liaths kastanienbraune Stute war aufsässiger, und die anderen Pferde waren bereits alle gesattelt, als Liath gerade damit angefangen hatte, die Zügel anzulegen. Hathui tauchte mit den Vorräten auf, die sie den Dorfbewohnern als Teil des Zehnten abgenommen hatte, den sie dem König schuldeten. Mit einer Schnelligkeit, die auf langjähriger Erfahrung be339 ruhte, belud sie das Packtier. Dann führten sie und Manfred den Esel und die Pferde nach draußen. »Packt jetzt zusammen, was ihr mitnehmen wollt«, sagte Wulfhere. »Aber denkt daran, daß sich ein Adler nur wenig Besitz leisten kann, abgesehen von dem Vertrauen der Kameraden und der eigenen Stärke.« »Ich habe nichts als die Kleider, die ich am Leib trage«, sagte Liath. Das war eine so offensichtliche Lüge, daß Hanna sie überrascht anstarrte, doch Liath schaute weg, auf die Mauer, auf nichts und niemanden. Wenn die anderen es gemerkt hatten, so zeigten sie es jedenfalls nicht. Aber sie wußten schließlich nicht, was Hanna wußte. »Ich gehe schnell und hole meinen Sack«, sagte Hanna. »Ich hoffe, ich kann mich noch von meiner Familie verabschieden.« »Natürlich«, sagte Wulfhere. Liath stand noch immer da und starrte ins Leere. Hanna schluckte. »Meine Mutter wird sich bestimmt freuen, wenn du dich ebenfalls von ihr verabschiedest, Wulfhere.« »Oh«, sagte Wulfhere, wenn auch der leise Ausruf seine Gefühle nicht verriet. Er hatte das Buch gesehen, natürlich, sie alle hatten es gesehen, aber keiner der Adler sprach davon. Vermutete er, daß es wichtig war und Liath es vor ihm versteckte? Sie wußte es nicht. »Dann bring dein Pferd zu Hathui. Ich werde zu deiner Mutter gehen. Liath muß erst das Pferd satteln. Sie kann uns draußen treffen.« Hanna ließ ihn vorgehen, wie es der Höflichkeit entsprach. Liath formte ein stummes »Danke« mit den Lippen. Hanna führte ihren Wallach nach draußen. Draußen schien die Mittagssonne weich auf die Berge in der Ferne und auf das kurzgeschnittene Gras in der Nähe. Hannas 340 ganze Familie hatte sich im Stall versammelt. Erstaunlicherweise trug Karl ihren Sack - eine saubere Garnitur Kleider, ein Topf, ein Löffel und eine Handvoll anderer Gegenstände. Er bat darum, ihn an die Satteltasche binden zu dürfen. Seine Augen glänzten, als er sie anblickte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, daß er sie möglicherweise bewunderte, daß er diesen leuchtenden neuen Adler genau so bewunderte, wie sie Hathui bewunderte. Der Gedanke brachte sie beinahe zum Weinen. »Du siehst aus, als wärst du weder Fisch noch Fleisch«, sagte sie leicht unverschämt, um die rührselige Stimmung zu zerstören.
Aber sie lächelte. Sie hatte keine schöne, praktische Kleidung, keine lange, geschlitzte Tunika zum Reiten wie die anderen Adler. Wie Liath trug sie eine Mischung aus alten Kleidern und Ausgesondertem von ihrem verheirateten Bruder Thancmar, das gekürzt und ausreichend geflickt worden war, so daß es vermutlich einige Zeit halten würde. Birta sparte niemals an der Qualität eines Stoffes, denn sie war der Meinung, daß es sich lohnte, wenn sie den anderthalbfachen Preis für einen Stoff bezahlte, der dann doppelt so lange hielt. Hanna fühlte sich merkwürdig in der Kleidung, halb als Frau und halb als Mann, aber Liath hatte erklärt, daß sie immer so etwas getragen hatte, wenn sie mit Pa gereist war. Birta kam zu ihr und drückte sie fest an sich. »Und denke daran, Hanna«, flüsterte sie ihr ins Ohr, »paß gut auf dich auf und auch auf Liath, denn sie ist noch schwächer, als ich dachte, und wird noch einige Zeit zur Genesung brauchen.« »Das werde ich. Ich verspreche es.« Dann umarmte sie ihren Vater, der sprachlos wie immer war, und noch ein letztes Mal ihren Bruder Karl. »Und ein Teufel soll dich quälen«, fügte sie hinzu, »wenn du Mam und Paps nicht immer gehorchst. Hast du mich verstanden?« 341 Er quetschte ein Ja heraus und lief ein paar Schritte weg, wo er in Sicherheit war. Hanna wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge. Liath kam aus den Ställen, die kastanienbraune Stute am Zügel. Hanna konnte nicht erkennen, ob etwas Neues und Großes in ihrer Satteltasche steckte, möglicherweise etwas Rechteckiges wie ein Buch; sie mußte die Taschen neu geordnet haben, um das Buch verbergen zu können. Ohne Hanna einen Blick zuzuwerfen, verabschiedete sie sich von Birta, Hansal und Karl. Einige Leute aus dem Dorf waren herbeigekommen, um zuzusehen, hielten sich aber respektvoll im Hintergrund. Schließlich stiegen sie auf und folgten Wulfhere auf der Straße nach Süden. Nur Hanna schaute sich um, als sie um die Kurve bogen und die Schenke und der Dorfplatz aus ihrem Blickfeld verschwanden. Als auch das letzte Haus des Dorfes von Bäumen verdeckt wurde und sie die stille, von Feldern und Waldstücken gesäumte Straße entlangtrabten, sagte Liath plötzlich: »Ich werde niemals zurückkehren.« Hanna zitterte und spürte Angst in sich aufsteigen. »Schwörst du das?« fragte Wulfhere mit dem Anflug eines Lächelns. Liath zuckte zusammen, als begreife sie erst jetzt, daß sie laut gesprochen hatte. »Nein«, erwiderte sie. »Nein. So etwas Voreiliges würde ich niemals tun. Es ist nur ein Gefühl, daß es so ist.« »Anne hatte solche Gefühle«, sagte Wulfhere sanft. Anne. Liaths Mutter. Die eine Zauberin gewesen war. Die deshalb getötet worden war. An dieser ganzen Sache ist mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Aber Hanna war fest entschlossen, alles zu tun, um Liath zu beschützen. »Kommt jetzt«, sagte Wulfhere. »Wir haben einen langen Weg vor uns.« 342 So ritten sie dahin, schweigsam und unbeirrbar. In gleichmäßigem Tempo - nicht langsam, aber auch nicht zu schnell -, um die Pferde zu schonen. Bei Einbruch der Nacht lag Friedleben weit hinter ihnen. : Anhang Die Monate eines Jahres Yanu Avril Sormas Quadrii Cinter Aogoste Setenter Octumber Novarian Dezial Askulavre Fevrua Die kanonischen Stunden: Vigilien (etwa 3 Uhr morgens) Laudes (bei Sonnenaufgang) Prim (bei Tagesanbruch) Terz (dritte Stunde, etwa 9 Uhr) Sext (sechste Stunde, etwa gegen Mittag) None (neunte Stunde, etwa um 3 Uhr nachmittags) Vesper (Abendgebet) Komplet (Sonnenuntergang)
Die Wochentage: Mondtag Sekuntag Herrintag Sonnentag Jedutag Herrtag Himmelstag 344 Die Häuser der Nacht (der Zodiak:) der Falke die Waage das Kind die Schlange die Schwestern der Bogenschütze der Hund das Einhorn der Löwe der Heiler der Drache der Büßer DIE GROSSEN FÜRSTENTÜMER VON WENDAR UND VARRE: Herzogtümer von Herzogtümer von Wendar: Varre: Saony
Arconia
Fesse Varingia Avaria Wayland Markgrafschaften der östlichen Gebiete: die Mark der Villams Olsatia und Austra Westfall Ostfall Im Namen des Königs
I
Die Rundreise des Königs
i Von Rosvita von Korvei, einer unbedeutenden Dienerin Unserer Herrin und Unseres Herrn, an Ihre Hoheit Königin Mathilda, mit den ergebensten Beteuerungen ihrer Verehrung sowie aufrichtigen Grüßen im Namen Unserer Herrin, deren namhafte Weisheit und einzigartiger Ruhm Euch, die barmherzige Königin und Mutter unseres glorreichen Königs Henry des Zweiten, erleuchten. Der Zettel mit der Nachricht von ihrem Vater lag auf der nächsten Seite, verdeckte die Worte, die sie gestern geschrieben hatte, bevor sie unterbrochen worden war - erst von einem Boten aus dem Norden und dann von der Mitteilung, daß ein Streit unter den Vertrauten des Königs ausgebrochen war. Sie schob das Pergament in die Innentasche ihrer Tunika. Ihre Finger glitten über die weiche Seide ihrer goldenen Amtstracht, die von allen Geistlichen des Königs getragen wurde. 9 Sie fühlte sich außerordentlich gut an. Wie alle weltlichen Genüsse etwas Angenehmes hatten, erinnerte sie sich ironisch. Die goldene Amtstracht war das Symbol für den Dienst beim König und verdeckte das grobgewebte schwarze Gewand, das sie darunter trug - ein Hinweis darauf, daß sie ursprünglich aus dem Konvent Unserer Herrin von Korvei stammte. Sie wandte sich wieder dem Buch zu. Auf Euren ausdrücklichen Wunsch hin verfasse ich eine Niederschrift der Taten der Großen Fürsten und unternehme zusätzlich die Anstrengung, einige Worte zum Ursprung und Zustand des wendischen Volkes zu sagen, über das König Henry I. als erster regierte. Auf daß sich beim Lesen dieser Taten Euer Geist erfreuen möge, Ihr von Euren Sorgen befreit werdet und Euch in angenehmer Beschäftigung entspannt. An dieser Stelle hatte sie gestern nachmittag aufgehört. Nach dem Lärm der vergangenen Nacht, der sich erst gelegt hatte, als König Henry das Fest verlassen hatte, schien es ihr geradezu wie eine Erleichterung, in die Stille des Skriptoriums zurückzukehren. Sie wandte sich der Wachstafel zu, auf der Sätze geschrieben, überarbeitet und durchgestrichen waren, tauchte die Feder in die Tinte und begann weiterzuschreiben.
Ich gestehe jedoch, daß ich mich nicht allen ihren Taten widmen kann, doch gebe ich sie kurz und ohne Abschweifungen wieder, damit sie meine Leserschaft nicht ermüden. Deshalb möge Eure Hoheit dieses kleine Buch lesen, in Angedenken an uns und unsere Pietät und Ergebenheit, mit der wir es verfaßten. Hier endet das Vorwort von Das Erste Buch der Taten der Großen Fürsten. Rosvita setzte sich bequemer hin. Ihr Rücken schmerzte. Als sie im Alter von zwanzig Jahren vom Konvent Korvei zur Königlichen Kapelle gekommen war, hatte es ihr nichts ausge10 macht, bis spät in die Nacht aufzubleiben. Sie hatte, nur unterbrochen von den Gebeten, beim Kerzenlicht an den Abschriften alter Texte gearbeitet, hatte tatsächlich sogar selbst welche verfaßt, auch wenn sie dadurch ihren Mangel an Demut offenbarte. Doch nach zwanzig arbeitsreichen Jahren, zuerst im Dienste von Arnulf dem Jüngeren und jetzt von König Henry, war ihr Körper nicht mehr so belastbar. Dennoch lächelte sie, während sie eine neue Seite vorbereitete. Wie hatte die alte Mutter Äbtissin doch immer gesagt: »Der Schmerz des Alters erinnert uns an die Weisheit, die wir durch unsere Prüfungen erlangt haben.« Mutter Otta von Korvei war damals eine energische alte Frau von über siebzig Jahren gewesen, die in ihrem ganzen Leben nicht einen Tag unter einer Krankheit zu leiden gehabt hatte. Sie war die sanfteste, bewundernswerteste und weiseste Person, die Rosvita jemals kennengelernt hatte, und ihre Worte waren immer von einer angenehmen und angemessenen Demut durchdrungen gewesen. Mutter Otta lebte noch; sie näherte sich, so unglaublich es auch sein mochte, ihrem neunzigsten Geburtstag - ein Zeichen der Barmherzigkeit Unserer Herrin und Unseres Herrn, auch wenn sie inzwischen gebrechlich und beinahe blind war. Zehn Jahre lang hatte Rosvita gearbeitet, Notizen herausgeschrieben, mit altgedienten Höflingen und Bischöfinnen gesprochen, alte Berichte in den Archiven derjenigen Klöster und Konvente studiert, in denen die Königliche Rundreise auf ihrer ewigen Wanderung haltgemacht hatte. Und jetzt hatte sie mit dem Schreiben begonnen. Sie hoffte, dieses Projekt noch vor dem Tod von Mutter Otta beenden zu können, damit es ihr noch jemand würde vorlesen können. Hier beginnt Das Erste Buch der Taten der Großen Fürsten. Nach zwanzig Jahren Arbeit im Skriptorium wußte Rosvita 11 nur zu gut, daß ab dem Augenblick, da sie mit dem Schreiben beginnen würde, Veränderungen nur noch unter großen Schwierigkeiten vorgenommen werden konnten. Zuviel Zeit brauchte es, eine ganze Seite oder, noch schlimmer, ein ganzes Kapitel abzuschreiben. Aber schließlich hatte sie die Reihenfolge der Kapitel festgelegt, und jetzt war es wirklich an der Zeit, nicht mehr länger nur zu planen, sondern mit der Niederschrift zu beginnen. 1. Zuerst werde ich etwas zur Herkunft und zum Zustand des wendischen Volkes sagen, wobei ich mich nur auf Gerüchte beziehe, da die Geschehnisse dieser Zeit zu weit zurück und im Dunkeln liegen, um die Wahrheit erkennen zu können. Einige glauben, daß die Wendaner früher in den Nordländern lebten, aus denen jene sie nach Süden vertrieben, die wir Aikha nennen, die Drachenmenschen. Andere glauben, daß die Wendaner ursprünglich von Arethusa kamen und die Reste jenes Heeres sind, das Alexandros, der Sohn des Donners, führte; es war das Heer, das nach seiner endgültigen Niederlage von den Soldaten der dariyanischen Kaiserin Arku-ak-nia über die ganze Welt zerstreut wurde. Ich hörte diese Ansichtin meiner fugend von einem alten Gelehrten. Die übrigen glauben gemeinhin, daß es sich bei den Wendanern um ein altes und edles Volk handelt, das den Hessi-Völkern bekannt war und von ihnen auch in ihren uralten Büchern beschrieben wurde - so, wie in Polyxenes Geschichte der Dariyaner. Wir neigen dennoch zu der Überzeugung, daß das wendische Volk mit Schiffen in dieses Land kam und in jener Stadt landete, die als Hathelenga bekannt ist und westlich der Stadt Gent liegt. Die Eingeborenen, die damals dort lebten, die Ostravianer, griffen zu den Waffen. Doch die Wendaner kämpften kühn und tapfer und nahmen das Ufer ein. 12 Vom Eingang des Skriptoriums her erklang plötzlich Lärm. Geistliche und Mönche, die bisher in ihre Abschriften vertieft gewesen waren, fuhren zusammen und wandten die Köpfe, als die alte Geistliche Monica an der Spitze einer lauten, unruhigen Gruppe erschien. Aber es handelte sich nicht um einen Einfall wendischer Stämme, es war lediglich die lästige Ankunft der jüngsten Mitglieder der Königlichen Schule. Rosvita seufzte und legte ihre Feder beiseite. Dann schalt sie sich für ihre Verärgerung und stand auf, um Monica zu helfen, ihre Schützlinge auf die noch leeren Bänke zu verteilen. Als sie wieder auf ihrer eigenen Bank Platz genommen hatte und einen sehnsüchtigen Blick auf das leere Pergament warf - in dem Wissen, daß sie in dieser Stunde nicht mehr würde arbeiten können -, ließ sich ein junger Mann neben ihr nieder. »Ich bitte um Vergebung«, flüsterte er. Es war der junge Berthold Villam. Er hatte ein einnehmendes Lächeln und gehörte zu den wenigen jungen Männern, die sich auch nicht im mindesten ihrer überaus charmanten Art bewußt waren. Tatsächlich mochte sie ihn von all den Kindern und Halbwüchsigen, die die Rundreise des Königs begleiteten, am liebsten. Er war im letzten Winter fünfzehn geworden und hatte, wie es üblich war, ein eigenes Gefolge erhalten. So war er eigentlich zu alt für die Schule, aber er liebte das Lernen, oder er war zumindest außerordentlich neugierig.
Er streckte bescheiden die Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger vorsichtig das Pergament, auf dem die Tinte noch feucht war. »Ist das Eure Geschichte!« Rosvita nickte. Auch andere Kinder, bemerkte sie, teilten die Bänke mit Geistlichen, die im Scriptorium gearbeitet hatten. Im letzten halben Jahr hatte sich die Anzahl der Kinder, die an der Königlichen Rundreise teilnahmen, verdoppelt. Allein das 13 war ein Zeichen, daß das Königreich eine unruhige Zeit durchmachte. Ihr Blick blieb an einem Mädchen hängen, das still und mit störrischer Miene auf der Bank neben Monica saß. Sie war das älteste Kind von Conrad dem Schwarzen, dem Herzog von Wayland, und erst kürzlich hier eingetroffen. Obwohl gerade acht Jahre alt, wußte sie sehr wohl, daß sie festgehalten wurde - um als Geisel für das gute Benehmen ihres Vaters zu garantieren. »Nun, Kinder«, sagte die Geistliche. Die Arthritis hatte ihren Rücken gekrümmt, aber sie besaß noch immer eine beachtliche Ausstrahlung. Mit einem eindringlichen Blick brachte sie die Kinder zum Schweigen. Sie hob die Hand. »Hört alle her. Es sind so viele Tafeln da, daß ihr sie nur mit einer einzigen Person teilen müßt. Einige von den Jungen brauchen auch nur zuzuhören.« Berthold zappelte unruhig hin und her; er spielte mit Rosvitas Griffel. Wie so vielen anderen jungen Männern war es auch ihm vorbestimmt, zu heiraten und den größten Teil seines Lebens damit zu verbringen, in den Krieg zu ziehen oder das Land seiner Frau zu verteidigen. Daher hatte er nicht gelernt zu schreiben, konnte aber lesen. Als er bemerkte, was er tat, senkte er beschämt den Kopf. »Du kannst ihn ruhig benutzen«, sagte sie. Er lächelte sie an und malte eifrig ein »B« auf die Tafel. »Hört zu«, sagte Monica. »Um die Arbeiten der Alten lesen zu können, müßt ihr Dariyanisch kennen, denn das ist die Sprache, in der im alten Dariyanischen Kaiserreich geschrieben und gesprochen wurde. Es steckt viel Wissen in den Werken aus der Zeit jenes großen Kaiserreiches. Doch am wichtigsten ist wohl folgende Erkenntnis: daß das alte Kaiserreich, das aus der Verbindung der Elfen und Menschen bestand, zum 14 Niedergang bestimmt war, weil seine Kaiser und Kaiserinnen nicht die Wahrheit von den Einigkeiten und der Gnade des Lichts in ihren Herzen trugen. Genau deshalb sprach der große Taillefer, als er im Jahr 600 das Kaiserreich wiedererrichtete, vom Heiligen Dariyanischen Kaiserreich.« »Und niemand zweifelt an Taillefers Frömmigkeit«, murmelte Berthold, während er versuchte, ein »E« mit geraden Linien zu schreiben, »und trotzdem brach sein Kaiserreich zusammen, und kein König und keine Königin wurden seit Taillefer im Heiligen Dariyanischen Kaiserreich gekrönt. Wie läßt sich das erklären?« »Eine gute Frage«, murmelte Rosvita, die plötzlich den Blick der Geistlichen auf sich spürte. Es war wirklich zu schade, daß der Junge heiraten mußte. Es wäre ein guter Historiker aus ihm geworden. Monica hustete bedeutungsvoll und fuhr fort. Berthold seufzte und versuchte sich an einem »R«. Rosvita ließ ihre Blicke über die versammelten Kinder schweifen. Es war üblich, daß die bedeutenden Persönlichkeiten des Reiches eines ihrer Kinder an der Königlichen Rundreise teilnehmen ließen. Einige, gewöhnlich jüngere Geschwister, wurden zu Geistlichen ausgebildet und traten nach einer bestimmten Zeit der Königlichen Kapelle und der Höheren Schule bei. Andere Kinder verbrachten hier nur ein bis zwei Jahre, um eine Vorstellung von dem sich ständig verändernden Hof zu erhalten, der unaufhörlich durch die von König Henry regierten Lande zog. Wieder andere blieben möglicherweise noch länger, wenn die Loyalität ihrer Eltern in Frage stand. Obwohl niemand das Wort aussprach, handelte es sich bei diesen Kindern um Geiseln, wenn auch um sehr gut behandelte. Das war natürlich bei Berthold nicht so. Sein Vater war 15 Markgraf Helmut Villam - einer der bevorzugten Berater des Königs und sein engster Vertrauter. Von den großen Fürsten des Reiches standen gewöhnlich die vier Markgrafen dem König am loyalsten gegenüber. Und von allen Fürsten waren sie auch am dringendsten auf die Unterstützung des Königs angewiesen. Sie verwalteten die Marklande, also die östlichsten Gebiete Wendars, die immer wieder von den barbarischen Stämmen aus dem Osten gebrandschatzt und geplündert wurden, wenn sie auf der Suche nach Beute und Sklaven waren. Von ihren Gebieten brachen die Missionare auf, um die Ungläubigen im Urwald zu bekehren. Unerschrockene Siedler ließen sich in ihren Gebieten nieder, bereit, die Angriffe der Stämme der Ungläubigen in Kauf zu nehmen, als Gegenleistung für das gute Land, das sie bestellen konnten, ohne einem anderen Herrn als allein dem König oder dem Fürsten verantwortlich zu sein. Seit drei Jahren war es in den Grenzgebieten ruhig gewesen, und daher war es den Markgrafen - oder ihren Erben - möglich, jedes Jahr eine Zeitlang bei der Rundreise des Königs zu verbringen. In diesem Frühling rühmte sich die Rundreise nicht nur der Anwesenheit Villams, sondern auch der der ruhmreichen Judith, Markgräfin von Olsatia und Austra. Sie hatte ihre Marklande in den fähigen Händen ihrer ältesten Tochter gelassen und war mit ihren zwei jüngsten Kindern an den Hof gekommen. Eins von ihnen, ein bleiches Mädchen von etwa vierzehn Jahren, saß mit einer unverschämten Miene da, als hätte die ältere Monica sich gerade in ein Monster mit Flügeln und Hörnern
verwandelt. Werinhar, der Markgraf von Westfall, hatte seinen jüngsten Bruder zum Hof gesandt. Dieser junge Mann war für die Kirche bestimmt und schrieb Monicas Rede gewissenhaft mit, wie 16 es einem guten Geistlichen, der sich in der Ausbildung befand, entsprach. Wie gewöhnlich kamen die größten Probleme von den Herzögen - den mächtigsten Fürsten des Reiches. Die drei Herzöge, deren Ländereien im alten Königreich von Wendar lagen, waren loyal: Saony, Fesse und Avaria. Sie alle hatten Mitglieder ihrer Familie - Kinder oder jüngere Geschwister - an den Hof geschickt; Rosvita hatte in den vergangenen zwanzig Jahren viele junge Menschen aus diesen Familien kommen und gehen sehen. Doch die Herzogtümer von Varingia, Wayland und Arconia lagen im alten Königreich Varre, und die Loyalität ihrer Herzöge war weniger beständig - und zweifelhafter. Ganz vorn in der Klasse saß die Tochter von Herzog Conrad von Wayland und schrieb unter der strikten Aufsicht von Monica umständlich Buchstaben ab. Ein halbes Jahr zuvor war Tallia, die Tochter von Sabella und Berengar, mündig geworden und hatte die Rundreise des Königs verlassen, um nach Arconia zurückzukehren. Niemand hatte sich damals etwas dabei gedacht; es entsprach dem natürlichen Lauf der Dinge. Doch vor zwei Monaten hatte Rodulf, der Herzog von Varingia, seinen jüngsten Sohn Erchanger von Henrys Seite zurückgerufen. Und jetzt hörten sie täglich neue Gerüchte von Sabellas Vorhaben, eine Rebellion gegen König Henry anzuzetteln. Berthold grunzte amüsiert in sich hinein. »Ekkehard ist wieder eingeschlafen.« »O Herrin«, murmelte Rosvita. Sie hatte zuerst nicht den Mut hinzuschauen. Als sie es dann doch tat, sah sie, daß der einzige Sohn von König Henry und Königin Sophia tatsächlich schlief, den Kopf auf den Arm gestützt, die Tunika so verzogen, daß der goldene Halsreif sichtbar wurde. Er schnarchte leise. Ekkehard war ein guter Junge, aber er neigte dazu, bis 17 spät in die Nacht an den Banketten teilzunehmen und den Poeten und Musikanten zu lauschen, anstatt seine Buchstaben zu üben, was er eigentlich sollte. Monica hatte glücklicherweise noch nicht bemerkt, daß der Junge schlief. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Tochter von Herzog Conrad. Sie war ein schlankes Mädchen und hatte das Blut ihrer Großmutter geerbt: Sie war so dunkel wie die Kaufleute aus Jinna, und auf ihrer Haut glänzte wunderschön der Halsreif, der den direkten Abkömmlingen des Königs vorbehalten war. Berthold, der Rosvitas Blick folgte, murmelte verschmitzt: »Sie wird außerordentlich hübsch aussehen, wenn sie älter ist.« »Das gleiche sagte man von ihrer Großmutter, die trotz ihrer ungewöhnlichen Hautfarbe eine große Schönheit war. Doch auch der heilige Daisan lebte in jenen Ländern, die von den Jinna erobert wurden und jetzt von ihnen regiert werden. Wer also vermag zu sagen, daß er nicht ebenfalls so dunkelhäutig war wie sie?« »>Denn es soll niemand angeklagt werden wegen der Körpergröße, der Haut- oder Augenfarbe oder einer körperlichen Behinderung<«, zitierte Berthold. »Still«, sagte Rosvita milde; sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Lächeln zu verbergen. »Junker Berthold«, sagte Monica. »Ich gehe davon aus, daß Ihr weiter meinen Worten folgen werdet oder Euch zurückzieht, damit die anderen ungestört weiterarbeiten können.« Er nickte gehorsam. Monica unterrichtete noch eine Weile weiter, doch waren Rosvita die Worte so vertraut, daß sie in ihren Ohren wie ein monotones Summen klangen. Sie streckte sich verstohlen und rieb sich den Nacken. Berthold bemerkte es und grinste sie an, bevor er sich wieder daranmachte, seinen Namen zu Ende zu schreiben. 18 Plötzlich hörte Rosvita durch die geöffneten Fensterläden, durch die Licht auf ihren Tisch strömte, Stimmen vom Garten hereindringen. Die anderen Kinder und die Geistlichen konzentrierten sich auf ihre Arbeit oder das, was Monica erzählte; sie schienen es nicht zu bemerken. Aber Rosvita bemerkte es. Heilige Herrin! Die Töchter des Königs stritten schon wieder. »Ich habe nur gesagt, daß ich es für unklug halte, wenn du einem Mann wie ihm so viel Einfluß in deinem Rat gewährst.« »Du bist nur eifersüchtig, weil er meine Anwesenheit deiner vorzog!« »Das ist Unsinn. Ich bin lediglich um deinen Ruf besorgt. Es ist nur zu bekannt, daß er ein Scharlatan ist.« »Das ist er nicht! Sie sind alle nur neidisch auf seine Weisheit!« »Ich dachte, er hätte sie mit seiner Arroganz und seinem schrecklichen Benehmen alle verärgert.« Rosvita seufzte und legte die Feder beiseite, wischte die Hände an einem Tuch ab und stand auf, während sie sich streckte. Berthold blickte verblüfft hoch; sie bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Monica gab ihr mit einem leichten Nicken zu verstehen, daß sie ihrem Vorhaben zustimmte; zweifellos wußte sie, weshalb Rosvita den Raum verlassen wollte. Rosvita hastete den Gang des Skriptoriums entlang und durch die Sakristei, wo sie einen älteren Bruder aufschreckte, der die Amtstrachten in seiner Obhut hatte und eingeschlafen war, und kam gerade rechtzeitig in den Rosengarten, um die beiden Schwestern in ihrer vollen Pracht am Brunnen anzutreffen. Beide waren äußerlich eine sehr merkwürdige Mischung ihrer Eltern. Sapientia war klein, dunkel und von
schlichter Eleganz wie ihre Mutter, erinnerte aber ansonsten stark an 19 ihren Vater - unter anderem durch die unglückselige Neigung zu erröten, wenn sie die Beherrschung verlor. Theophanu war größer und hatte die schönere Figur, sie war kräftig und gut gebaut, doch sie besaß auch das unterkühlte Temperament ihrer Mutter. Die Höflinge hatten Sophias Verhalten als »östliche Schläue« bezeichnet und ihr niemals ganz getraut; dennoch hatten auch sie wie alle anderen getrauert und geweint, als sie zur letzten Ruhe gebettet wurde. Denn sie wußten genau, daß die bisherige Ordnung am Hofe, die sich im Laufe der sechzehn Jahre währenden Herrschaft von Henry und Sophia herausgebildet hatte, umgeworfen werden und sich in Chaos verwandeln würde, falls Henry wieder heiraten sollte. »Du bist nur wütend, weil Vater mich zur Markgräfin von Ostfall ernennen will und mir damit die Verwaltung dieser Gebiete überträgt. Du willst sie selbst haben!« Sapientias Teint konnte sich inzwischen mit den leuchtenden Rosen messen, die sich an der Steinmauer am Ende des privaten Gartens emporrankten, auch wenn ihr das Rosa nicht ganz so gut stand wie den Blumen. In achtzehn Jahren hatte Rosvita nicht einmal erlebt, daß Theophanu die Beherrschung verloren hätte - nicht einmal als kleines Mädchen. Was für ein unnatürliches Mädchen sie doch war! Sie verfügte über ganz andere Mittel, ihre ältere Schwester wütend zu machen. »Ich nehme an, daß Vater meine Ländereien vergrößern wird, wenn er die Zeit für gekommen hält. Ich habe es niemals für klug gehalten, ihn um Pflichten zu bitten, die er mir nicht von sich aus auferlegte.« Rosvita eilte zu ihnen. Angesichts dieser Beleidigung, die sie an das gestrige Donnerwetter erinnern mußte, stand die arme Sapientia kurz vor einem ihrer berüchtigten Wutausbrüche. 20 »Eure Gütigen Hoheiten«, sagte Rosvita genau in dem Augenblick, als Sapientia Luft holte. »Endlich habe ich Euch gefunden!« Die muntere Aussage tat die erwünschte Wirkung: Sapientia wurde einen Moment abgelenkt und vergaß den Gedanken, den sie hatte aussprechen wollen. Theophanu wölbte herausfordernd eine Augenbraue. »Ihr bringt Neuigkeiten?« fragte sie höflich, doch Rosvita wußte nur zu gut, daß sie die Prinzessin mit diesem durchsichtigen Trick nicht täuschen konnte. Rosvita rief sich die Nachricht ihres Vaters in Erinnerung und dankte der Herrin für die Eingebung. »Es ist nur eine kleine Familienangelegenheit, nichts Wichtiges, aber mit großer Demut wage ich es, zu Euch darüber zu sprechen, Eure Hoheiten.« »Ihr müßt Euch uns ganz anvertrauen«, sagte Sapientia, während sie zu ihr trat und ihre Hand nahm. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Theophanu hob lediglich zustimmend eine Hand. »Ich habe einen Bruder, Ivar, der gerade den Dienst aufgenommen hat. Er soll als Mönch in das Kloster bei Quedlingham eintreten, das von Mutter Scholastica geleitet wird. Ich hatte gehofft, daß Ihr mir und meiner Familie einen Gefallen tun und Eure Tante Scholastica bitten könntet, ihn in den ersten Tagen seines Aufenthaltes dort etwas im Auge zu behalten. Er ist sehr jung, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als Ihr, Eure Hoheit.« Sie nickte Theophanu zu. »Und ich entnehme dem Ton meines Vaters, daß es nicht Ivars Wunsch war, in den Dienst der Kirche zu treten.« »Er ist ein jüngerer Sohn«, sagte Sapientia. »Was kann er sonst wünschen?« »Ich kenne seine Wünsche nicht. Ich habe ihn erst zweimal gesehen. Als er geboren wurde, war ich bereits seit zehn Jah21 ren von zu Hause fort, um als Novizin nach Korvei zu gehen. Er ist das Kind der zweiten Frau meines Vaters, einer Tochter der Gräfin von Hesbaye.« »Ah, ja, sie hat drei Töchter von ihrem dritten Mann.« Sapientia ließ Rosvitas Hand los und schritt zu dem ausgetrockneten Brunnen. Vier steinerne Einhörner, die sich auf den Hinterbeinen aufbäumten, betrachteten sie ruhig; ihre Oberfläche war von den Spuren unzähliger Wassertröpfchen gesprenkelt - eine Erinnerung an die Fontänen, die einst aus ihren Mähnen und Hörnern gesprudelt waren. Die Winterstürme hatten den Springbrunnen zerstört, und er war noch nicht wieder repariert worden. Vater Bardo hatte sich höchst überschwenglich entschuldigt, als der König mit seinem Hof beim Hersford-Kloster angekommen war und feststellen mußte, daß das Herzstück im Garten außer Funktion war. Es war ein warmer Tag für den Frühling, und es würde noch heißer werden. Rosvita spürte, wie die Hitze von den Mosaikfliesen aufstieg, die den Brunnen umgaben. »Die Tochter, die jetzt die Gattin von Helmut Villam ist, hat letzte Nacht zu meinen Gunsten gesprochen«, fuhr Sapientia fort, dann lachte sie. »Es wird interessant sein zu sehen, wer vor dem eigenen Tod mehr Ehegatten begräbt, Helmut Villam oder die Gräfin von Hesbaye. Villam ist inzwischen bei seiner fünften Frau angelangt, oder nicht? Dagegen lebt der vierte Ehegatte der Gräfin noch. Sie wird ihn in den Krieg schicken müssen, wie sie es mit all den anderen getan hat.« »Es ist geschmacklos von dir, so etwas zu sagen«, sagte Theophanu. »Es ist kein Wunder, daß Vater dich nicht auf die Rundreise schickt.« Schlagartig erwachte Sapientia aus ihrer Versunkenheit am Brunnen, wirbelte herum, trat zwei Schritte auf ihre
Schwester zu und versetzte ihr einen kräftigen Schlag. 22 »Herrin, bewahre mich«, murmelte Rosvita. Theophanu lächelte weder siegesgewiß noch weinte sie vor Schmerz; ihr Gesicht war so unbewegt wie poliertes Holz. »Ihr Verlust sollte deiner Erheiterung nicht als Nahrung dienen.« »Aber, aber«, sagte Rosvita und machte hastig ein paar Schritte, um sich zwischen die beiden jungen Frauen zu stellen. »Wir sollten nicht streiten und zuschlagen, wenn wir die Hitze der Leidenschaft in uns aufsteigen spüren. >Es ist gut, erst zu reden, wie der heilige Daisan sagte, als seine Schüler von ihm wissen wollten, was sie tun sollten, wenn man sie fälschlicherweise der Zauberei beschuldigte.« »>Denn die Wahrheit wird uns Freiheit geben<«, beendete Theophanu. Sapientia begann aus unterdrücktem Ärger laut zu schluchzen und flüchtete aus dem Garten. Eine Dienerin, die hinter einem Busch gewartet hatte, sprang auf und folgte ihr ins Innere des Hauses. »Ich bin nicht sicher, ob es klug ist, Eure Schwester so zu behandeln.« »Wenn sie erst nachdenken würde, bevor sie spricht -« Theophanu brach ab, wandte sich um und machte einige Schritte nach vorn, um den Mann zu begrüßen, der in diesem Augenblick auf den Hof getreten war. Wie die beiden jungen Frauen trug auch er einen goldenen Halsreif - Stränge aus massivem Gold, die zu einem Dreiviertelkreis verschlungen waren. Theophanu kniete nieder. »Vater.« Er legte eine Hand auf ihren Kopf. Auch Rosvita kniete sich hin. »Eure Hoheit.« »Erhebt Euch, meine höchstgeschätzte Geistliche«, sagte der König. »Ich habe einen Auftrag für Euch, den durchzuführen ich allein Euch zutraue.« Rosvita erhob sich und blickte König Henry an. Als junger 23 Mann war er, wie seine älteste Tochter, unbeherrscht gewesen; jetzt lag - wie eigentlich immer in diesen Tagen ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht, der einen angenehmen Kontrast zu den hellen Silbersträhnen seines Haares bildete. »Ich bin Eure Dienerin, Majestät.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Euer Lob ehrt mich.« »Nicht mehr, als es sollte, meine Freundin. Ihr werdet mich glücklich machen, hoffe ich, und diese Aufgabe sofort erfüllen.« »Gewiß.« »Vater Bardo sagte mir, daß es einen Einsiedler, einen heiligen Mönch gibt, der in einer Zelle in den Bergen oberhalb des Klosters lebt. Er ist alt und war, wie man mir sagte, einmal ein Gelehrter.« Gegen ihren Willen schlug Rosvitas Herz schneller. Ein alter Mann, und noch dazu ein Gelehrter! Aus den Erzählungen solcher Menschen konnte man immer etwas Neues erfahren. »Er soll sehr kundig in den Gesetzen von Kaiser Taillefer sein und Wissen über die Stiftsherren der damaligen Zeit besitzen - Wissen, das uns verlorengegangen ist. Aber er weigert sich, seine Meditation zu unterbrechen, sagt Vater Bardo.« »Sollten wir ihn dann wirklich bitten, die Meditation zu unterbrechen, Majestät?« »Es gibt ein paar Dinge, die ich über die Regelung der Nachfolge wissen muß.« Sein Tonfall konnte seine innere Erregung nicht ganz verbergen. Theophanu blickte ihren Vater scharf an, sagte aber nichts. »Doch was Euch betrifft, Rosvita, so sagt Vater Bardo, daß dieser Mönch von Eurem Vorhaben gehört hat, für meine gesegnete Mutter eine Geschichte des wendischen Volkes zusammenzutragen, und möglicherweise ist er deshalb bereit, mit Euch zu sprechen. Vielleicht überwiegt 24 seine Neugier.« In seinen Worten schwang die typische Mißachtung eines weltlichen Herrn für die Angelegenheiten derjenigen mit, die sich der Kirche verschworen hatten. Oder seine Meditationen über die Heiligen Arbeiten der Herrin und des Herrn haben seine Leidenschaft für das Lernen noch nicht ganz besänftigt. Aber Rosvita sprach diesen Gedanken nicht laut aus. »Ihr denkt das gleiche«, sagte der König mit einem Lächeln. »Das tue ich tatsächlich.« »Dann müßt Ihr mir gegenüber offen sprechen, oder wie soll ich sonst aus Eurem weisen Rat Nutzen ziehen?« Wieder mußte Rosvita lächeln. Sie hatte Henry immer schon gemocht, so sehr, wie man sich gestatten konnte, einen Erben und späteren König zu mögen; in den letzten Jahren jedoch, als er sie mehr und mehr in seinen Kreis gezogen hatte, hatte sie auch begonnen, ihn zu respektieren. »Dann muß ich Euch fragen, ob es etwas Bestimmtes gibt, das Ihr durch eine solche Unterredung zu erfahren hofft.« Der König nahm die Hand von Theophanus Kopf und blickte sich um. Hinter einer Zypressenhecke sah Rosvita zwei Höflinge diskret warten: einer, der ältere, war Helmut Villam, der ständige Begleiter des Königs und sein engster Berater. »Wo ist deine Schwester?« fragte Henry seine Tochter. »Man sagte mir, ihr wäret zusammen hierhergekommen.« »Sie ist wieder hineingegangen.« »Warte dann bitte bei Villam auf mich; ich möchte, daß du mit mir ausreitest.«
»In Ordnung, Vater.« Sie erhob sich und zog sich gehorsam zu den anderen zurück. Rosvita erhaschte einen Blick auf Berthold Villam. Augenscheinlich hatte er sich heimlich hinausgeschlichen und war ihr gefolgt, um herauszufinden, was los war. Die andere Person war die beeindruckende Judith, 25 Markgräfin von Olsatia und Austra. Hinter der Markgräfin standen einige Bedienstete. Die Frühlingssonne, die heiß auf den von Steinmauern und Rosenhecken eingeschlossenen Garten herabbrannte, verschwand plötzlich hinter einer Wolke. »Ihr wißt, was man hier leise munkelt«, sagte Henry. »Was keiner von ihnen laut aussprechen würde.« Die Herzöge und Markgrafen, Grafen und Bischöfinnen und Geistlichen und Höflinge, die die Rundreise des Königs bevölkerten, sprachen gewöhnlich offen und unverblümt von den großen Ereignissen und den bevorstehenden Entscheidungen des Tages: Würde Henrys Schwester Sabella offen gegen ihn rebellieren? Würden die Aikha in diesem Sommer die Nordküste brandschatzen oder, wie Gerüchte behaupteten, mit einem Heer einmarschieren? Wie wollte die Skopos in Darre den Gerüchten begegnen, daß sich in der Kirche Ketzerei ausbreitete? Über eine Sache schwiegen sie jedoch, oder sie sprachen nur in Andeutungen darüber, ohne das eigentliche Thema jemals direkt zu berühren. In der schrecklichen Auseinandersetzung am vergangenen Abend und auf dem angespannten Fest danach waren Blicke ausgetauscht und überall war geflüstert worden. Doch ein ganz bestimmter Name war niemals ausgesprochen worden; zumindest nicht hörbar laut genug. »Sanglant«, sagte sie. Sie sprach das Wort salianisch aus: Sahnglonnt. »Und was sagen sie über Sanglant?« »Sie sprechen nicht von Sanglant, sondern von Euch. Sie sagen, Eure Vernunft wird von Euren Gefühlen beeinträchtigt. Sie sagen, es ist Zeit, Sapientia auf die Nachfolge-Rundreise zu schicken, damit sie sich als würdig oder unwürdig erweisen kann, um von Euch zur Erbin ernannt zu werden. Und wenn nicht Sapientia, dann Theophanu.« »Theophanu ist nicht so beliebt.« 26 »Im Grunde nicht, nein.« »Und doch ist sie fähiger, Rosvita.« »Es ist nicht an mir, so etwas zu entscheiden.« »An wem ist es dann?« Er klang jetzt ungeduldig. »Es ist an Euch, Majestät. Dies ist die Bürde, die Unsere Herrin und Unser Herr Euch als Herrscher auferlegt haben.« Er wölbte eine Augenbraue, und einen kurzen Moment erkannte Rosvita, wie sehr Theophanu ihm ähnelte; sie besaß seinen Witz und seine Intelligenz, wenn auch nicht seine Gestik. Die Kirchenglocken begannen zu läuten und riefen die Mönche zum Gebet der Sext. Sie roch Kohle in der Luft und den stechenden Geruch von Fleisch, das über heißen Kohlen angebraten wurde, als Vorbereitung für das Fest am Abend. Nach einer längeren Pause sprach Henry wieder. »Was sagen sie über Sanglant?« Es war wohl besser, ihm die Wahrheit zu sagen, die er bereits kannte, aber aus Gefühlsgründen nicht wahrhaben wollte. »Daß er ein Bastard ist, Majestät. Daß er kein richtiger Mensch ist. Daß sie seine guten Eigenschaften anerkennen; daß diese Eigenschaften - welche es auch sein mögen - aber niemals seine Geburt und das Blut seiner Mutter aufwiegen können.« Sie zögerte kurz. »Was sie auch nicht sollten.« Er blickte verärgert drein, antwortete aber nicht sofort. Die Glocken verstummten wieder, und sie hörte die Roben der Mönche rascheln, als Nachzügler sich zur Kapelle innerhalb des Klosters aufmachten, um zu beten. »Ich werde zur Messe gehen«, sagte er. »Aber Ihr werdet diesen Einsiedler trotzdem aufsuchen, Rosvita. Und Ihr werdet herausfinden, ob dieser heilige Mönch von einem früheren Fall weiß, bei dem ein Kind von einer Konkubine oder aus einer anderen nicht formellen Verbindung zum Erben ernannt wurde.« 27 Seine Stimme versiegte, noch während er die schicksalhaften Worte sprach. Nur sie hörte sie. Doch natürlich wußten alle, die an der Rundreise des Königs teilnahmen, ob Mann oder Frau, was ihn beschäftigte: daß sein ältestes Kind, der Bastard einer Aoi-Frau, die aus unbekannten Landen hergekommen war, um den jungen Henry auf der Nachfolge-Rundreise zu bezaubern, schon immer sein Lieblingskind gewesen war -und es auch jetzt noch war, obwohl er drei rechtmäßige Kinder von Königin Sophia hatte, die alle einen gesunden Verstand und Körper besaßen. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht; eine uralte Sehnsucht stand darin, eine Leidenschaft, die niemals ausgelöscht, niemals erfüllt worden war. Doch sofort wich der Ausdruck der steinernen Maske, die der König gewöhnlich trug. »Ich werde tun, was Ihr verlangt, Majestät«, sagte sie und verneigte sich angesichts des Unausweichlichen obwohl sie fest davon überzeugt war, daß aus dieser Besessenheit nichts Gutes würde erwachsen können. II Die Drachen
i Zehn Tage, nachdem sie Friedleben verlassen hatten, saß Liath auf einer alten Steinmauer und genoß die Frühlingssonne. Sie war nicht allzu müde; erlöst von Hugh hatte sie sich rasch erholt und ihre Kräfte wiedererlangt. Sie nutzte diese kleine Pause, um die Anlage des Landsitzes von Stelesham zu betrachten: die Färbebottiche, die geschützt unter einem Anbau standen; den Hühnerstall; zwei große Kessel mit kochendem Wasser, vor denen drei Frauen standen, die die Wolle umrührten, während sie zusammenschrumpfte; Filzer, die in der Sonne arbeiteten; zwei Jungen, Helfer des Schmieds, die winzige Eisenringe zu einer Kette verarbeiteten; Felle, die zum Bearbeiten aufgespannt waren. Auf dem großen, von einem Palisadenzaun geschützten Hof lagen noch die Überreste einer älteren Anlage. Die Adler hatten hier einen Vorposten errichtet, indem sie mit Hilfe der al29 ten, bearbeiteten Steine einen Verteidigungsturm erbaut hatten. Die Besitzerin und ihre Verwandten lebten in einem Landhaus aus Holz, aus dem auch die Ställe waren. Nur das Skelett der einstigen Festung war noch übrig gerade Linien im rechten Winkel zu den Äquinoktien und den Sonnenwenden, der Karte der Sonne. Sie konnte diese Knochen mit den Augen abtasten und hier und da Inschriften in altem Dariyanisch lesen, die von den Soldaten und Handwerkern, die vor langer Zeit diesen Ort bewohnt hatten, in den Stein gemeißelt worden waren. Lucian liebt die rothaarige Frau. Estephanos schuldet Julia acht Quiniones. Alle sollen wissen, daß dieser Vorposten auf Befehl von Arkikai Tangashuan errichtet wurde, unter der Schirmherrschaft der aufs höchste gepriesenen Kaiserin Thaissania, Die Mit Der Maske. Liath kniete nieder und begann den Steinblock mit dieser letzten Inschrift von Erde zu säubern. Er befand sich gleich neben dem Wassertrog und war halb im Boden versunken. Wie viele Jahre mochte er hier schon liegen, hatte Pferde und Vieh auf sich herumtrampeln lassen, während er von Wind und Staub geschliffen und vom Regen getränkt wurde? Sie hustete, als der Wind Staub aufwirbelte und sie einen Mundvoll abbekam. Ihre Finger tasteten sich weiter, trafen auf feste Erde; die Inschrift führte noch weiter hinab, war halb im Boden eingegraben. »>Die Mit Der Maske<«, sagte Wulfhere hinter ihr. »Die ungläubige Kaiserin, der der heilige Daisan ohne Furcht begegnete, als er die Heilige Botschaft und die rettende Barmherzigkeit der Herrin und des Herrn der Einigkeiten verkündete.« Überrascht schoß Liath in die Höhe; sie wurde unsicher. Wulfhere lächelte so breit, daß seine Zähne aufblitzten. 30 »Leugne nicht, daß du es lesen kannst, Kind. Sowohl dein Vater als auch deine Mutter sind von der Kirche erzogen worden, und du selbst konntest im Alter von gerade mal sechs Jahren die alten dariyanischen Texte lesen wie eine im Konvent erzogene Gelehrte.« »Sicher nicht«, platzte sie heraus. Sein Lächeln schien jetzt weniger gezwungen. »Vielleicht nicht so gut wie eine Erwachsene, aber erstaunlich gut für ein Kind. Komm jetzt. Es gibt hier ein Waffenlager, und wir müssen passende Waffen für dich auswählen. Die Nichte von Meistrin Gisela ist schon dabei, die Borten an die neuen Umhänge für dich und Hanna zu nähen.« Hanna war bereits am Turm und wog die Schwerter in der Hand. Sie ging unbeholfen mit den Waffen um. Sie waren zehn Tage geritten, und während dieser Zeit hatten Hathui und Manfred ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert getestet - sie ließen bei beiden zu wünschen übrig. »Adler sind keine Soldaten«, erklärte Hathui gerade Hanna, als Wulfhere und Liath vor der schweren, eisenbeschlagenen Tür ankamen, die zur runden Kammer im Erdgeschoß des Turms führte. »Aber ihr müßt euch gegen Banditen und Feinde des Königs verteidigen können. Ah! Was kannst du, Frau?« »Ich kann Kühe melken, Butter und Käse herstellen«, schnaufte Hanna, »zwanzig Reisende beköstigen, Holz hacken, ein Feuer entfachen, Fleisch pökeln und räuchern, Flachs rotten und spinnen -« Hathui lachte und ließ das Schwert sinken. Sie war kein bißchen erschöpft. »Genug! Genug!« Die beiden Frauen hatten miteinander gefochten und umkreisten sich noch immer, während Manfred mit einem Stab die herumstreunenden Kinder und Hunde und Hühner fernhielt, die den Hof bevölker31 ten. »Die Herrin ehrt die Kastellanin am Herdfeuer, denn ist sie für uns nicht selbst eine Kastellanin? Aber du führst das Schwert ungeschickt, Hanna. Manfred, gib ihr einen Speer.« Er gehorchte, und Hanna hatte gerade noch Zeit, Liath einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen - als wollte sie sagen: »Ich wünschte, du wärst hier, und ich könnte an der Tür stehen« -, bevor sie ihm das Schwert reichte und den Speer entgegennahm. »Er ist wie ein Stab.« Hanna suchte nach dem richtigen Griff an dem langen Schaft, bis der Speer angenehm in ihren Händen lag. Sie versuchte ein paar Schläge gegen einen Pfosten, der in der Mitte des Hofes in den Boden getrieben worden war. Zu Liaths Überraschung grinste Hanna plötzlich. »Thancmar und ich haben ein paarmal mit Stäben gekämpft. Als wir jünger waren, vertrieben wir uns damit die Zeit, wenn wir Schafe hüten mußten.« Hathui blieb unbeeindruckt. »Du solltest mit dem Prahlen warten, bis du auf dem Rücken eines Pferdes mit einem Speer umgehen kannst. Ein abgeworfener Adler in schlechter Gesellschaft ist fast dasselbe wie ein toter
Adler. Was die Schafe möglicherweise bewundert haben, wird dir hier nicht viel nützen.« Hanna lachte nur. »Ich bin zehn anstrengende Tage lang geritten und habe nicht aufgegeben, obwohl die Herrin allein weiß, wie viele Blasen ich habe - und wo ich sie habe! Ich kann auch das lernen, bei Unserer Herrin.« »Und du wirst auch den Umgang mit dem Schwert noch lernen müssen«, fuhr Hathui fort, als hätte Hanna nichts gesagt. Die Frau mit der Adlernase blickte noch immer mürrisch drein, auch wenn sich in ihren Mundwinkeln ein leichtes Lächeln versteckte. »Komm herein«, sagte Wulfhere zu Liath. Liath duckte sich unter dem Türsturz hindurch, der sehr 32 niedrig war, um als zusätzliche Abwehrmöglichkeit zu dienen. Sie mußte niesen. Sie wischte sich über die tränenden Augen und blinzelte, während Wulfhere eine Fackel anzündete und den hinteren, im Dunkel liegenden Teil der Kammer erforschte. Alles war ordentlich aufgeräumt: Säcke mit Zwiebeln und Karotten; Körbe mit Bohnen, Erbsen und Äpfeln; Krüge mit Öl; hölzerne Fässer mit in Schweineschmalz eingelegten Koteletts. Ein Teil war ranzig geworden. Hinter den Nahrungsvorräten lagen fünf Kisten, die mit Eisenhaspen verschlossen waren. Auf einer waren Einlegearbeiten mit Messinglöwen zu sehen. Diese öffnete Wulfhere. Die Scharniere waren gut geölt und öffneten sich, ohne zu quietschen. Als Liath zu ihm gehen wollte, trat sie auf etwas, das unter ihrem Schuh zerplatzte; der widerlich süße Geruch einer faulenden Frucht stieg ihr in die Nase. Eine Fliege summte an ihrem Ohr. »Hathui hat gesagt, daß du gut mit dem Messer umgehen kannst. Ich nehme an, du hast das während der Reisen mit deinem Vater gelernt. Ich glaube, hier ist ein altes Schwert, das noch immer seine Dienste tun kann. Es wurde in der Festung geborgen.« »Welcher Festung?« fragte sie, dann begriff sie, was er meinte: diese Festung, die alte dariyanische Festung, die auf Befehl von Arkikai Tangashuan siebenhundert Jahre zuvor erbaut worden war - nach den Kalendern zu schätzen, die sie kannte. Jetzt war sie freilich als Stelesham bekannt, ein kleiner Landsitz unter der Leitung der Freien Gisela und gleichzeitig ein offizieller Vorposten der Adler des Königs. Daher stand Stelesham unter dem Schutz des Königs und nicht unter dem des in dieser Gegend herrschenden Grafen. Wulfhere hob ein Bündel auf und wickelte es langsam aus. »Es ist kürzer und stumpfer als die Schwerter, die wir gewohnt 33 sind, aber vielleicht eignet es sich gut dazu, sich mit einem Schwert vertraut zu machen. Hathui erwähnte, daß du hervorragend ein Schlachtermesser schwingen kannst.« Als er die letzte Stoffschicht beseitigt hatte, warf sie einen Blick in die Kiste und hielt den Atem an. Auf vergilbtem Linnen lag ein Kasten, und darin steckte ein Bogen, dessen Sehne nicht eingehängt war. Der Köcher war aus rotem Leder. In das Leder war das Bild eines Greifen mit ausgebreiteten Schwingen eingearbeitet. Die Kreatur hielt den Kopf eines Hirschs im Schnabel, doch die Enden seines Geweihs waren die Köpfe von Adlern, als würde der Hirsch sich, noch während er verschlungen wurde, in den Räuber verwandeln, der ihn getötet hatte. »Darf ich?« fragte sie. »Was siehst du dir an?« wollte Wulfhere wissen, aber sie hatte bereits in die Kiste gegriffen und den Köcher herausgezogen. »Oh«, sagte er. »Barbarische Arbeit. Sieh dir die Form des Bogens an.« Der Bogen war ungewöhnlich gebogen, doch Liath kannte diese doppelt gekrümmten Bögen sehr gut. Sie drehte den Lederköcher um. Die andere Seite wurde von keinerlei Verzierung geschmückt, nur zehn Symbole waren wie Runen im Kreis in das Leder geprägt worden. »Sind das Buchstaben?« fragte sie. Wulfhere zuckte mit den Schultern. »Dieser Bogen ist genauso wie der, den mein Vater hatte. Er sagte, er kommt aus dem Osten. Pa hat immer behauptet, daß er eine größere Reichweite besitzt als die anderen und daß er sich merkwürdigerweise sehr wirkungsvoll von einem Pferderücken aus benutzen läßt. Er lehrte mich, ihn zu benutzen, denn wenn wir reisten -« Sie brach ab und blickte Wulfhere an, der noch immer auf dem Boden kniete; neben ihm auf dem Wachstuch lag ein Kurzschwert. »Du bist gereist?« fragte er ruhig. »Du und Bernard, ihr seid lange umhergezogen und an keinem Ort geblieben, Liath.« 34 »Bis Friedleben«, sagte sie verbittert. Bis sie ihn gebeten hatte, nur noch einen Sommer zu bleiben, und dann noch einen, bis genau das eingetreten war, was Pa immer befürchtet hatte: Seine Feinde hatten ihn eingeholt. Warum sollte sie Wulfhere nicht die Wahrheit sagen? Er war nicht dagewesen, als man Pa umgebracht hatte. Es stand jetzt ohnehin in seiner Macht, wenn er ihr Schaden zufügen wollte. »Wir sind weggelaufen. Immerzu weggelaufen.« »Wovor?« Seine Ruhe ließ ihre fürchterliche Wut nur noch deutlicher werden - darauf, daß sie Pa verloren hatte, auf all die Jahre der Angst und des Versteckens, das am Ende nichts genützt hatte. »Vielleicht vor dir.« Wulfhere grübelte einen Augenblick über ihre Worte nach, dann zuckte er mit den Schultern und erhob sich, mit beiden Händen das Schwert festhaltend. »Es hieß, daß Bernard, als er jung war, an ferne, exotische Orte wanderte. Er wurde zu den dunklen Landen geschickt, um denen, die in der Nacht leben, die Heilige Botschaft
zu bringen, aber ich weiß nur wenig von diesen Reisen.« »Pa war ein Frater< Sie starrte ihn verblüfft an, den Mund vor Staunen geöffnet. »Das hast du nicht gewußt, Kind?« Sie schüttelte den Kopf. »Was hast du denn geglaubt, woher er all sein Wissen hat? Kennst du seine Verwandten nicht?« Wieder ein stummes Nein. Sie hatte sich gefragt, ob Wulfhere die Geschichte ihres Vaters kannte, sich aber nicht zu fragen getraut - es hätte ja sein können, daß er daraufhin ihr Fragen stellen würde -, und sie hatte nicht erwartet, daß er so bereitwillig Auskunft geben würde. »Das Geschlecht, aus dem er stammt, war nicht mächtig, hat 35 seinen Ursprung aber in einer Familie, die zu der Zeit nach Osten gelangte, als Kaiser Taillefer sein Kaiserreich ausdehnen wollte, indem er Wendar unter seine Herrschaft brachte. Es war keine Schande für Taillefer, daß er versagte, denn die wendischen Stämme waren in jener Zeit gesetzlos und standen noch nicht im Lichte Gottes. Bernards Verwandte ließen sich in dem Gebiet nieder, das damals noch Urwald war - genau wie König Henry freie Frauen und Männer in das Land jenseits des Eldar schickt, um das Königreich nach Osten hin auszuweiten, also dorthin, wo jetzt noch immer barbarisches Land ist.« »Ich habe Verwandte, die noch leben?« Seit sie sich erinnern konnte, war sie allein gewesen, zuerst in dem Haus mit ihrem Vater und ihrer Mutter, dann unterwegs auf der Straße mit ihrem Pa. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, Verwandte zu haben, mit denen sie Bande des Blutes und der Verpflichtung verbanden. »Die meisten aus diesem Geschlecht traten in den Dienst der Kirche, daher gab es nicht viele Kinder. In der Nachfolgekrise von Arnulf dem Älteren unterstützten sie, leider, den anderen Anwärter auf den Thron und verloren daher die königliche Gunst und einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Ländereien. Aber es lebt noch eine Cousine von Bernard, auch wenn der Besitz, den sie verwaltet, traurig geschrumpft ist, wenn man ihn mit dem zu Zeiten ihrer Großmutter vergleicht. Sie hat einen Sohn, der mit den Drachen des Königs reitet; ich nehme an, wir werden ihn bald treffen. Ein anderer Sohn ist Mönch im Kloster St. Remigius. Und es gibt noch eine Tochter, die inzwischen sicherlich verheiratet ist.« »Wo sind diese Ländereien? Woher weißt du das alles?« Und da war die Frage, die sie nicht stellen konnte: Warum hatte Pa ihr niemals davon erzählt? »In der Nähe von Bodfeld. Ich weiß schon seit langem über 36 deine Geschichte Bescheid, Liath.« Die Art, wie er das sagte, so ernst und beinahe unbarmherzig, ließ sie erschaudern und einen Schritt zurücktreten. »Aber ich war deiner Mutter in einer anderen Sache ein verschworener Kamerad und bin ihr daher auf eine Weise verbunden, die du noch nicht verstehen kannst.« »Auf welche Weise?« fragte sie. Eigentlich wollte sie nicht fragen, war aber unfähig, es nicht zu tun. Es gab noch so viel, was sie über ihre Eltern wissen mußte. »Deine Mutter war eine von denen, die man Magi nennt. Und das bin ich, in einer schwächeren Weise, auch.« »Dann -« Sie brachte kaum die Worte heraus, so tief saß der Kloß in ihrer Kehle. Du bist taub gegenüber Magie, Liath, hatte Pa immer behauptet. Aber sie hatte die Rose in das Holz gebrannt, ohne eine Flamme dafür zu benutzen. »Warum bist du dann bei den Adlern?« »Eine gute Frage. Ich verpflichtete mich bei den Adlern, als ich etwa in deinem Alter war. Wenn du das Abzeichen der Adler einmal erhalten hast, kannst du sie nie wieder wirklich verlassen. Es ist dasselbe, wie bei den Männern und den wenigen Frauen, die in den Dienst der Drachen treten, wo es heißt, daß sie eher sterben, als daß sie sich vom Dienst zurückziehen. Und so ist es auch bei den Löwen, den Fußsoldaten des Königs, obwohl man von ihnen sagt, daß ein alter Löwe eher schlafend auf dem Feld getroffen wird, während seine Frau die Arbeit verwaltet.« »Wie hast du dann meine Mutter und meinen Vater kennengelernt?« »Unsere Pfade kreuzten sich. Was weißt du von Magie, Liath?« »N-n-nichts.« Doch ihre Zunge stolperte verräterisch bei dem Wort. 37 »Du mußt mir vertrauen, Kind.« »Wie kann ich dir trauen - oder überhaupt irgend jemandem?« Plötzlich brach es aus ihr heraus. Sie verstärkte den Griff um den Bogenkasten, spürte, wie das weiche Holz des Bogens gegen ihre Hüfte drückte. »Pa und ich sind all diese Jahre davongerannt, für nichts. Ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat. Du kannst es gewesen sein oder Leute, die für dich arbeiten. Es kann auch jemand anderer gewesen sein, möglicherweise Feinde von dir. Aber ich weiß es nicht! Pa hat mir nur das Wissen eines Gelehrten vermittelt. Er hat mir ziemlich wenig von der Welt beigebracht. Ich wußte nicht einmal, daß noch eine Cousine lebt, daß es ein Heim gibt, zu dem wir hätten fliehen können -« Sie brach ab, als sie Wulfheres Gesichtsausdruck sah, sein ironisches Lächeln, das sanfte Kopfschütteln. »Als Bernard die Kirche verließ, wurde er von seiner Familie verstoßen. Er mußte aus schmachvollen Gründen gehen, weil er eine Frau liebte - deine Mutter, Anne.« Ihre Wangen röteten sich, als sie an ihre eigene Schande dachte. »Viele in der Kirche behaupten, sich nur Unserer Herrin und Unserem Herrn hinzugeben, und halten sich doch nicht an ihren Schwur.« Sie mußte zur
Seite schauen, dorthin, wo nur Schatten waren. Sie begann am ganzen Körper zu zittern, und ihre Hände wurden kalt. Hugh. »Aber sie verlassen selten die Kirche. Wir alle hängen von der Gnade und der Barmherzigkeit Unserer Herrin und Unseres Herrn ab, davon, daß sie uns unsere Sünden vergeben. Ein Fehltritt mag verziehen werden, wenn man Buße tut. Doch Bernard kehrte der Kirche den Rücken. Soviel ich weiß, kam er mit dem Ketzerbund des Messers in Berührung und lernte dann Anne kennen. In den Augen seiner Familie hätte er ebensogut behaupten können, daß er die Lehren des heiligen Daisan und des Kreises der Einigkeit leugne.« 38 »Das ist nicht wahr!« »Es gibt oft Gerüchte über die Mathematiki, die die Himmelssphären beobachten und ihre Bewegungen verzeichnen, ihren Einfluß auf unsere Erde. Es heißt, daß sie nicht Unserer Herrin huldigen, sondern den Dämonen der Luft, deren Wissen das unsere überwiegt und deren Sicht schärfer ist, die so alt sind wie die Schöpfung, geringer als die Engel und doch zu stolz, sich vor Unserer Herrin und Unserem Herrn zu verbeugen, um ihren Platz in der Kammer des Lichts einzunehmen.« »Aber das trifft auf Pa nicht zu! Er hat nicht an so etwas geglaubt. Er war ein guter Mann. Er betete wie jeder andere Mensch auch.« »Ich habe nicht gesagt, daß es stimmt. Ich habe nur wiedergegeben, was andere Leute oft über die glauben, die sich mit dem alten Wissen, mit Magie auskennen. Du würdest gut daran tun, dir das ebenfalls zu merken, Liath.« »Das hat Pa auch immer gesagt«, murmelte sie. »Daß die Leute glauben, was sie glauben wollen, ob es die Wahrheit ist oder nicht.« Sie blinzelte ein paar Tränen weg, wischte sich mit dem Handrücken die Nase. »Aber ich bin taub gegenüber Magie, Wulfhere. Also spielt es keine Rolle, was ich weiß.« »Tut es das wirklich nicht?« fragte er sanft. »Seid ihr da drin noch nicht fertig?« rief Hathui von der Tür her. Sie blinzelte herein und richtete ihren Blick auf die brennende Fackel, die Wulfhere in einem Eisenständer abgestellt hatte. »Die arme Hanna ist fix und fertig und muß ihre blauen Flecken pflegen. Kannst du Liath zu mir rausschicken?« Wulfhere setzte sich in Bewegung, das Kurzschwert in den Händen, und Liath folgte ihm nach draußen. Sie lehnte den Bogenkasten gegen die Steinmauer und nahm das Schwert in die Hand, prüfte die Balance der Waffe. Sie war schwer, aber nicht so schwer, daß sie nicht üben konnte, das Gewicht zu halten. 39 »Eine gute Waffe«, sagte Hathui, als sie näher kam und das Schwert untersuchte. »Zum Töten geschmiedet, nicht, um irgendeinen edlen Herrn zu zieren, der das Kämpfen lieber anderen überläßt.« »Du bist nicht von eider Geburt, Hathui?« fragte Hanna. Sie stand an den Turm gelehnt und sah müde aus, wollte sich aber anscheinend auf keinen Fall hinsetzen. Hathui schnaubte. »Hast du das gedacht? Meine Mutter war eine Freie, niemals einem Herrn verpflichtet. Sie, ihre Schwester und ihr Bruder sind vor vielen Jahren nach Osten gereist. Das war, als Arnulf der Jüngere jenen Leuten Land bot, die bereit waren, den Eldar zu überqueren und sich im Land der Ungläubigen anzusiedeln. Meine Tante ist inzwischen tot. Sie wurde von qumanischen Plünderern getötet. Aber meine Mutter und mein Onkel bearbeiten dort noch immer ihre Felder. Sie haben mehr Land bebaut als irgend jemand sonst in unserem Tal. Was ist das?« Geistesabwesend rieb sie über die Klinge, dort, wo sie in den Griff überging. Der Glanz ihres Schweißes auf der eisernen Klinge brachte für einen Augenblick die Buchstaben zum Vorschein. »>Dieses gute Schwert ist der Freund von Lucian, Sohn von Livia<«, las Liath laut, ohne nachzudenken. Hatte dieses Schwert dem gleichen Lucian gehört, der seine Liebe zu einer rothaarigen Frau in Stein gemeißelt hatte? Dann merkte sie, daß die anderen - außer Wulfhere - sie überrascht anblickten. Die drei Kinder, die zugesehen hatten, krochen jetzt näher heran und starrten die exotisch aussehende junge Frau an, die zwar nicht das Gewand einer Diakonissin trug, aber dennoch lesen konnte - und zwar solch alte Worte. Liath dachte sofort an das, was Wulfhere gesagt hatte: Ich habe nur wiedergegeben, was andere Leute oft glauben. »Ich wußte nicht, daß du von der Kirche ausgebildet wur40 dest«, sagte Manfred. Die Enthüllung hatte ihn vollkommen verblüfft. Hathui hustete plötzlich und machte sich daran, die Kinder zu verscheuchen. »Eine Kirchenausbildung wird nicht dein Leben retten, wenn die Ungläubigen angreifen.« Sie winkte Liath zu sich auf den Stallhof, den Meistrin Gisela beinahe genauso ordentlich und sauber hielt wie Meistrin Birta den Innenhof. »Merke dir, Mädchen«, fügte Hathui hinzu, möglicherweise mitfühlend, »daß eine in Ehren gehaltene Waffe die beste ist. Und jetzt geh gegen mich in Stellung. Ich werde dich angreifen.« Hathui war schneller, kräftiger, größer und hatte bei weitem die größere Reichweite mit ihrem Breitschwert, doch nach ein paar Hieben verkündete sie zufrieden, daß Liath das Schwert im Laufe der Zeit tüchtig genug beherrschen würde, um sich verteidigen zu können. Liath atmete schwer; sie schwitzte, und ihr Hinterteil schmerzte von einem Schlag mit der flachen Seite von Hathuis Schwert. »Manfred will ein paar Holzstäbe auf die Länge der Waffen stutzen, die ihr ausgewählt habt«, fügte Hathui hinzu, während Liath und Hanna sich einander verzweifelte Blicke zuwarfen, »und immer, wenn wir anhalten, um den Pferden etwas Ruhe zu gönnen, werden wir damit üben.« Liath humpelte zur Mauer, scheuchte dabei Hühner mit den Füßen beiseite und reichte Hanna das Schwert, dann
zog sie den Bogen aus dem Kasten. Die Hand am Griff, drehte sie den Bogen langsam um und untersuchte ihn. Sie konnte drei Schichten erkennen: eine Hauptschicht aus Holz, auf die am -ihr zugewandten - Bauch zwei Schichten aus Hörn aufgeleimt waren, die zum Rücken hin in dünnen Streifen ausliefen. Der Rücken war purpurrot bemalt; viele dünne Risse störten den Glanz der Bemalung. An den Spitzen des Bogens saßen Bron41 zehütchen in der Form von Greifenköpfen. Die Schnäbel hielten jeweils ein Ende der Bogensehne. Der Bogen war noch vollkommen in Ordnung. Sie fand eine seidene Bogensehne in dem Köcher. Sie leckte ihre Finger, zog dann die Sehne hindurch, um abstehende Fasern zu glätten. Schließlich klemmte sie den Bogen zwischen das rechte Knie und den linken Oberschenkel und hängte mit einem Ächzen die Sehne ein. Sie zielte auf das Palisadentor und prüfte dabei die Spannung. Und plötzlich sah sie, daß in die innere Hornschicht der Länge nach winzige Salamander eingeritzt waren, verflochten wie ineinander verhakte Ringe. Ihre Augen waren blau gesprenkelt. Alte Buchstaben waren in sie hineingemalt. Sie waren so zu lesen, als würde Wasser den Bauch des Bogens hinabfließen: Man nennt mich Herzsucherin. Hathui war inzwischen zum Wassertrog gegangen, um sich Wasser über Haare und Gesicht zu schütten. Noch tropfnaß kehrte sie zurück und bedeutete Hanna, das gleiche zu tun, dann hielt sie inne, um den Bogen zu untersuchen, den Liath jetzt gesenkt hatte. »Das ist ein qumanischer Köcher«, erklärte Hathui ohne Bewunderung. »Ich erkenne seine Machart. Wir haben den toten qumanischen Soldaten viele abgenommen. Dann haben wir die Farbe abgekratzt, die ganze merkwürdige Verzierung der Ungläubigen. Der Bogen muß ebenfalls ihr Machwerk sein. Ihre Bögen waren kürzer als unsere und nach hinten gekrümmt. Doch sie waren genauso tödlich. Und ihre Pfeile waren vergiftet, meistens jedenfalls. Wilde!« Sie spuckte auf den Boden. Natürlich erinnerten die Buchstaben an die alte dariyanische Schrift, doch es gab feine Abweichungen zu den Zeichen, 42 die an den Wänden des alten Forts in Stein gehauen oder in den Griff ihres neuen Schwerts geritzt waren. Und sie unterschieden sich auch von den Buchstaben, die in den zerknitterten Rollen standen, die sie in den Skriptorien der Klöster gesehen hatte, wo sie und Pa während ihrer Reisen Unterschlupf gefunden hatten. Herzsucherin. Das Wort lag Liath auf der Zunge, aber sie konnte es nicht laut aussprechen. Niemand sonst schien die seltsam zarten Schnitzereien bemerkt zu haben. Der Rücken des Bogens war unverziert, abgesehen von der Farbe; nur auf der innenliegenden Krümmung, dem Bogenschützen zugewandt, sprach der Bogen. Also schwieg auch Liath. Denn wie hatte Pa immer gesagt: »Vorschnell ausgesprochene Worte können als Waffe gegen dich verwendet werden«, oder auch: »Sei still, Liath! Deine Geheimnisse laut auszusprechen ist so, als würde ein Händler vor allen Leuten auf der Straße eine Truhe mit Juwelen öffnen und den Räubern so seinen Reichtum verkünden.« Wie Das Buch der Geheimnisse. Sie unterdrückte den Wunsch, einen Blick zu den Ställen zu werfen, wo ihr Reitzeug verstaut war. Sicher vermutete Wulfhere, daß sie das Buch mit sich herumtrug; er hatte es bei Hanna gesehen. Er hatte es niemals erwähnt, niemals Fragen darüber gestellt, und allein das schien Liath verdächtig. »Woher stammt er?« fragte sie und deutete auf den Bogen. »Ich habe diesen Bogen niemals zuvor gesehen«, sagte Wulfhere, »aber es sind fünf Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal durch Stelesham geritten bin.« »Ich war vor zwei Jahren hier«, sagte Hathui. »Ich erinnere mich an nichts. Was ist mit dir, Manfred?« Er schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem Bogen aus. Liath zögerte einen Augenblick, gab sich dann einen 43 Ruck und reichte ihm die Waffe. Er drehte den Bogen hin und her, untersuchte ihn, nahm einen Pfeil aus seinem eigenen Köcher und schoß ihn in Richtung des Palisadenzauns ab. Das dumpfe Geräusch, mit dem sich der Pfeil in einen Baumstamm bohrte, verscheuchte die Hühner und brachte die Hunde zum Bellen, die Kinder zum Schreien. Er grunzte und sah zufrieden aus, während er Liath den Bogen zurückgab. Er äußerte sich nicht zu der Schnitzerei. Meistrin Gisela kam aus dem Langhaus zu ihnen. Ihr Hofstaat - die Frauen ihres Anwesens - folgte. Liath hatte Männer und Jungen und andere Frauen im Dorf und auf den Feldern um Stelesham bei der Arbeit gesehen, als sie am Morgen hergeritten waren. Gisela war eine stämmige Frau; in ihren blauen Augen schimmerte der kühne Glanz von Autorität. Sie hielt einen Löffel in der Hand, von dem noch Fleischbrühe tropfte. Der Geruch ließ Liath das Wasser im Munde zusammenlaufen. Hinter ihr hantierten halberwachsene Mädchen mit Spindeln und waren damit beschäftigt, Flachs zu Garn zu spinnen. »Ich hoffe, Meister Wulfhere«, sagte Gisela ernst, »daß Ihr damit nicht innerhalb dieser Mauern üben wollt. Ich habe nichts gegen Schwertübungen, aber Bogenschießen gehört nach draußen. Meine Hühner und diese Kinder sind mir sehr wichtig.« »Ich bitte um Verzeihung, Meistrin«, sagte Wulfhere. Er deutete auf den Bogen und den Kasten. »Erinnert Ihr
Euch, wann er nach Stelesham kam?« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe ihn noch nie gesehen, aber Ihr fragt besser den Schmied. Er weiß mehr darüber, welche Waffen hereinkommen und welche wieder mitgenommen werden.« Daß Stelesham einen eigenen Schmied besaß, war ein deutliches Zeichen für das hohe Ansehen, das der Schutz des Kö44 nigs dem Landsitz verlieh. Doch auch der Schmied, ein kleiner, kräftiger Mann, der von der jahrelangen Arbeit bei Feuer und Asche beinahe so dunkel war wie Liath, erkannte weder den Bogen noch den Bogenkasten, und er erinnerte sich auch nicht, wann oder wie die Waffe nach Stelesham gekommen war. Tatsächlich wußte das niemand, und Gisela scheuchte bald die Kinder zurück an ihre Arbeiten und die Frauen wieder zum Weben und Spinnen. Sie hatte den Vorsitz, als das Mittagsmahl aus gebratenem Huhn, Lauch, Brot, Käse, Honigmet und Äpfeln eingenommen wurde. Als sie mit dem Essen fertig waren und alle auf das Wohl von St. Bonfilia getrunken hatten, deren Tag es war, erlaubte Gisela ihrer Nichte, einer gutaussehenden jungen Frau mit hellblonden Haaren, die zwei neuen Umhänge herzubringen. »Es ist andallanische Wolle aus dem Pyrani-Gebirge, die letzten Winter gesponnen wurde«, sagte sie. »Die Wolle aus dieser Gegend ist besonders dick und warm. Der Gatte meiner Cousine brachte mir vier Beutel aus Medemelacha.« »Medemelacha ist recht weit von hier«, sagte Wulfhere. »Er fährt jedes Jahr mit dem Schiff dorthin«, erklärte Gisela nicht ohne Stolz. »Wir haben ein wohlhabendes Anwesen, genug, um den König zu versorgen, sollte seine Rundreise einmal hierher gelangen!« »Seid vorsichtig mit dem, was Ihr Euch wünscht«, murmelte Hanna. »Ich kann nur ahnen, was es heißen muß, all die Leute zu ernähren, die mit dem König reisen.« »Es ist sechs Jahre her, seit der König Gent besucht hat«, sagte Wulfhere ruhig. Ihn schien Meistrin Giselas Prahlerei nicht zu stören. »Und bei den gegenwärtigen Unruhen wird sich Euer Wunsch möglicherweise sogar erfüllen.« Gisela nickte kurz angebunden. »Wie ich Euch bereits sagte, 45 kamen vor nicht einmal zwölf Tagen die Drachen hier vorbei. Aber sie waren in großer Eile, und ich konnte nicht mehr tun, als sie mit Proviant zu versorgen, während der Schmied ihre Waffen und ihr Reitgeschirr überprüfte. Dann waren sie schon wieder unterwegs.« Während Gisela sprach, bemerkte Liath zu ihrer Überraschung, daß die Nichte rot wurde und das Kleiderbündel hochhob, um ihr Gesicht zu verbergen. Meistrin Gisela gab einen glucksenden Ton von sich und schüttelte den Kopf. »Ah, ich hoffe, die Drachen können die Aikha vertreiben. Gent ist nur einen Dreitagesritt von hier entfernt, wenn es nicht geregnet hat. Der Gatte meiner Cousine reist durch Gent, die Veser hinunter bis zur nördlichen See, dann in westlicher Richtung die Küste von Wendar entlang, dann weiter südwestlich die Küste von Varre hinunter und sogar noch weiter nach Süden bis nach Salia, zu den Warenhäusern dort. Wenn die Aikha weiter plündern und brandschatzen oder wenn sie einmarschieren, wie sie es angeblich in diesem Frühling getan haben - dann ...!« Sie riß verzweifelt die Hände empor, doch Liath vermutete, daß Meistrin Gisela es genoß, Zuhörer zu haben, die die wichtige Stellung ihrer Familie und ihre weitreichenden Beziehungen anerkannten. »Wie wollen wir auf dem Seeweg Handel mit dem entfernten Osten treiben, wenn die Flüsse in den Händen von Wilden liegen?« »Ja, in der Tat. Eure Gastfreundschaft war sehr großzügig, Meistrin.« Wulfhere erhob sich, und Gisela folgte seinem Beispiel sofort. »Aber wir müssen jetzt aufbrechen.« Auf diesen Befehl hin standen auch die anderen auf, traten vom Tisch zurück. »Komm her, Kind«, sagte Gisela kurz angebunden. Die Nichte, immer noch errötend und zögernd, reichte Wulfhere 46 die Umhänge. Er nahm sie entgegen und gab sie an Hanna und Liath weiter. »Das ist eine wunderbare Arbeit!« sagte Hanna überrascht. »Ich danke Euch«, erwiderte Gisela. »Ihr werdet im Laufe Eurer Reisen sicherlich erfahren, daß Stelesham berühmt für seine Webkunst ist. Ich habe in den Webräumen nur Frauen, die bei bester Gesundheit sind und dieses Handwerk besonders gut beherrschen. Die anderen verkaufe ich oder stecke sie zu den Männern aufs Feld. Und sobald die Töchter meiner Verwandten eine Begabung für diese Tätigkeit erkennen lassen, werden sie bis zu ihrer Hochzeit hier aufgezogen.« Liath lächelte nur; sie strich über den dicken grauen Umhang. Er besaß einen scharlachroten Saum; eine Stoffbahn, die rot wie Blut und von oben bis unten mit goldenen Adlern bestickt war. Sie ging an Wulfhere vorbei und trat zu der Nichte. »Ist das Eure Arbeit?« fragte sie. Das hübsche Mädchen nickte und errötete noch mehr. »Sie ist sehr schön. Ich werde immer an Euch denken, wenn ich den Umhang trage.« Die Nichte lächelte zaghaft, dann sprach sie so leise, daß Liaht sie kaum verstehen konnte: »Ihr werdet die Drachen treffen?«
»Ich nehme es an.« »Vielleicht könntet Ihr -« Sie brach ab und blickte beschämt drein, beendete den Satz dann in einem Murmeln. »Nein. Er wird nicht an mich denken.« »Was sagtet Ihr?« Doch die anderen waren bereits nach draußen gegangen, und Liath mußte ihnen folgen. Stalljungen hatten neue Pferde gesattelt. Hathui war bereits aufgestiegen; die Ungeduld, endlich weiterzukommen, stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich kann sehr gut reiten«, sagte Hanna gerade. »Aber ich mache mir Sorgen, daß Liath möglicherweise noch nicht kräf47 tig genug ist.« Sie warf einen Blick zur Tür und sah, daß Liath herausgekommen war. »Du weißt, daß das stimmt!« fügte sie bissig hinzu. »Ich bin stark genug.« Liath wollte auf keinen Fall in Stelesham bleiben, während die anderen nach Gent ritten. Sie wollte die Drachen sehen, die Soldaten, an deren Seite zu kämpfen Ivars großer Traum gewesen war - nicht, daß er jetzt jemals in Erfüllung gehen würde. Sie wollte den Sohn von Pas Cousine sehen. Einen Verwandten. Und außerdem konnte sie Hanna oder Wulfhere sowieso nicht verlassen. Sie waren alles, was sie vor Hugh schützte. Wenn sie länger an einem Ort blieb, verletzbar wurde, würde Hugh sie einholen. Er würde es wissen. »Ich glaube, Liath ist kräftig genug«, sagte Wulfhere sanft, »sie hat sich schneller erholt, als auch ich erwartet hätte. Also.« Er trat zu ihnen und gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie stillstehen sollten. Er verschloß den Umhang mit einer Bronzeschnalle auf Hannas Schulter und wiederholte den Vorgang dann bei Liath. Seine Bewegungen waren sicher und entschieden. »An diesem Umhang erkennt man, daß ihr unter dem Schutz der Adler steht«, sagte er und bedeutete ihnen, aufzusteigen und sich zum Aufbruch bereit zu machen. »Die Adler tragen auch das Siegel des Königs als Abzeichen«, sagte Hanna, die wie ihre Mutter dazu neigte, auf wichtige Einzelheiten hinzuweisen. »Ihr habt euch noch nicht das Recht verdient, das Abzeichen zu tragen.« Er fuhr sich mit der Hand an den Hals, um das Messingabzeichen an seiner Tunika zu berühren. »Ihr müßt die Grundsätze lernen, die das Verhalten eines Adlers bestimmen. Und ihr müßt schwören, euch diesen Grundsätzen entsprechend zu verhalten.« Er hielt inne, warf Hathui und Man48 fred einen Blick zu. Beide trugen das Siegel, das in ein kreisrundes Abzeichen geprägt war. Aber obwohl sie jünger waren und offensichtlich noch nicht so lange im Dienst der Adler standen wie Wulfhere, sahen ihre Abzeichen nicht neu aus, nicht so wie Hannas und Liaths neue Umhänge. Liath hörte die Leute auf den Feldern singen. Das Tor stand offen, und zwei Jungen zogen jetzt zwei quietschende und grunzende Schweine auf die kleine Hütte am anderen Ende des Anwesens zu, wo sie für das Abendessen geschlachtet werden sollten. Hathui konnte nicht mehr länger warten; sie drängte ihr Pferd vorwärts, durch das Tor hindurch nach draußen. »Und schließlich«, sagte Wulfhere, »erhält man erst dann das Abzeichen der Adler, wenn man eine Kameradin oder einen Kameraden hat sterben sehen. Der Tod lauert immer und überall auf uns. Erst dann, wenn wir das begriffen haben und akzeptieren, diesen Preis für unseren Dienst und unseren König zu zahlen, sind wir wahre Adler.« 2 Etwas mehr als eine Woche, nachdem sie aus Stelesham aufgebrochen waren, ritten Liath und die anderen Adler in das westlich von Gent gelegene Tiefland, wo sie auf ein Heer von Flüchtlingen stießen. Sie reisten auf Wagen, zu Fuß, führten Maulesel und Kühe mit sich oder trugen Kisten mit Hühnern und Gänsen. Sie schleppten Kinder und Truhen, Säcke mit vertrockneten Rüben und Krüge, die in Körben aus Gerste und Roggen geschützt waren. Die alte Straße war übersät von Gepäckstücken derjenigen, denen es gelungen war, nicht nur das eigene Leben zu retten, sondern auch einen Teil ihres Hab 49 und Guts mitzunehmen, als sie ihre Häuser hatten verlassen müssen. Der feuchte Boden verwandelte sich unter ihren Füßen rasch in Schlamm und Matsch. Immer wieder führten Trampelpfade von der Straße weg in den Wald, von den Flüchtlingen auf der Suche nach neuen Wegen eilig geschaffen. Wulfhere erspähte einen Edelmann auf einem Pferd, der in eine feine Leinentunika gekleidet war und von zwei Wagen, fünf Bediensteten und zehn wertvollen Kühen begleitet wurde. Er verließ die anderen und ritt zu dem Edelmann. Ihre Unterhaltung war nur kurz, und der Herr und sein Gefolge eilten rasch weiter nach Westen. Als Wulfhere zurückkehrte, war seine Miene noch ernster als zuvor. »Sind das die Bewohner von Gent?« fragte Liath, während sie zu den Leuten hinüberstarrte. Es waren zwar nicht gerade Horden, aber doch ein beständiger Strom von Menschen: Niemals zuvor hatte sie so viele Personen auf einmal umherziehen sehen. Wenn sie mit ihrem Pa gereist war, waren sie immer allein auf der Straße gewesen, abgesehen von den gelegentlichen Begegnungen mit einem Kaufmann, der mit zwei verschiedenen Städten Handel trieb, oder den Fratern, Geistlichen und Boten, die ihre Aufgaben für die Kirche oder den König erfüllten.
Bei dem Gedanken an die Frater erinnerte sie sich an Hugh, und sie schloß die Augen. Sie fühlte sich einen Augenblick lang richtig krank und mußte sich zusammenreißen, um sich nicht umzudrehen und nachzuschauen, ob er ihrer Fährte folgte. Irgendwie wußte er immer, wo sie war; sie spürte es. »Nein, Kind. Es sind Bauern, von den Anwesen oder aus den Dörfern um Gent herum. Gent hat Mauern.« Wulfheres Stimme gab ihr das Gefühl von Sicherheit. »Warum sind diese Leute dann nicht in die Stadt geflüchtet ?« Wulfhere schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber ich 50 fürchte, daß sie es nicht getan haben, hat nichts Gutes für die zu bedeuten, die sich innerhalb der Mauern von Gent befinden.« Sie ritten weiter, und einige der nach Westen marschierenden Leute riefen ihnen Fragen zu. »Bringt Ihr Kunde vom König?« »Was ist mit Gräfin Hildegard? Ist sie schon gekommen? Es heißt, daß sie ihre Verwandten zusammengerufen hat und die Stadt retten will.« »Wann werden die Aikha wieder verschwinden? Wann kann ich auf meinen Hof zurück?« »Kommt König Henry mit einem Heer?« Diese Frage stammte von einer alten Frau, deren Röcke mit Matsch bespritzt waren. »Sind die Drachen nicht hier?« rief Wulfhere zurück. »Es sind so wenig, und die Aikha sind so zahlreich.« »Wie viele sind es?« fragte er, doch sie zog ihren Karren weiter, und ihre sechs Kinder rannten mit angstverzerrten Gesichtern hinter ihr her. Als der Mittag vorüber war, sahen sie nur noch Nachzügler. Schließlich stießen sie auf eine Diakonissin, die sich wie eine gewöhnliche Frau auf den langen Marsch gemacht hatte; ihr weißer Umhang und der Überwurf waren bereits schlammverschmiert. Ihre Dienerinnen führten zwei Maultiere, von denen das eine den gewaltigen Silberkreis trug, der einst das Herdfeuer geschmückt hatte, und das andere das hastig zusammengefaltete, golddurchwirkte Altartuch sowie den Kelch und die heiligen Bücher, die sie aus der Kirche gerettet hatte, als sie geflüchtet war. »Geht nicht weiter, ehrenwerte Leute«, sagte sie zu Wulfhere, während sie ihren Dienerinnen das Zeichen zum Haltmachen gab. »Kehrt um, solange Ihr noch in Sicherheit seid. Sagt dem König, daß Gent belagert wird.« 51 »Warum seid Ihr nicht nach Gent geflohen?« erkundigte sich Wulfhere. »Sie brandschatzen die ganze Umgebung.« Angesichts eines solchen Unheils wirkte sie außerordentlich gelassen, fand Liath. »Sie sind überall, guter Bote. Gent ist von allen Seiten umzingelt. Ich kümmere mich normalerweise um die Menschen, die auf den Ländereien und Anwesen westlich von Gent leben, daher konnte ich fliehen, sobald ich sichergestellt hatte, daß alle meine Leute entkommen waren. Ich weiß nicht, wie es östlich der Stadt und am Fluß aussieht, abgesehen davon, daß seit zwanzig Tagen dichter Rauch aufsteigt, so als würden viele Feuer brennen.« Hathui atmete tief ein und schnüffelte in der Luft. »Es sind frische und alte Feuer«, sagte sie. »Und Staub, als würde sich eine gewaltige Heerschar bewegen.« Sie drehte den Kopf nach Westen und schaute dann wieder zurück zum östlichen Horizont. »Seht ihr, welch unterschiedliche Farbe der Himmel und die Wolken haben?« Sie wandte sich an Liath und Hanna. »Merkt es euch und lernt daraus.« Sie zögerte einen Augenblick, holte Luft. »Da ist noch ein anderer Geruch, wie nach Luft, die zu lange eingesperrt war. Merkwürdig.« Sie gab Manfred ein Zeichen. Der junge Mann ritt an der Diakonissin und ihren Bediensteten vorbei zu einer kleinen Anhöhe in etwa vierzig Meter Entfernung, von der aus er weiter nach Osten blicken konnte. Noch konnten sie den Turm der Kathedrale zwischen den Bäumen nicht sehen. Liath nahm nur den schweren Geruch des Regens wahr, der aus dem Norden vom noch ein ganzes Stück entfernten Meer her drohte. Grauschwarze Wolken hingen dort tief über dem Land, während im Süden noch immer kleine Flecken blauen Himmels durch die Wolkendecke schimmerten. »Der Sturm kommt von der See«, sagte die Diakonissin; sie 52 klopfte mit kleinen Schlägen den getrockneten Matsch aus dem Umhang und seufzte, als würde sie erst jetzt begreifen, wie sinnlos und überflüssig ein solches Unterfangen war. »Ich muß jetzt gehen, guter Mann. Ich trage einen Fingerknöchel von St. Perpetua bei mir. Eine solch heilige Reliquie darf auf keinen Fall den Wilden in die Hände fallen.« »Dann geht«, erwiderte Wulfhere. »Und geht Ihr mit meinem Segen.« Die Diakonissin segnete sie einzeln, bevor sie weiterzog. Ihre nervösen Dienerinnen atmeten erleichtert auf, als es endlich weiterging. Wulfheres Stirnrunzeln hatte sich jetzt noch verstärkt, sofern das überhaupt möglich war. Sie waren kaum zweihundert Meter weiter geritten, als das Pferd von Manfred, der an der Spitze ritt, plötzlich scheute und einen Satz nach hinten machte. Während Manfred noch mit seinem Wallach kämpfte, zogen Wulfhere und Hathui schon ihre Schwerter. Jetzt rochen es auch die anderen Pferde und wichen zur Seite, die Ohren angelegt. Liath stemmte sich fester in die Steigbügel und schlang die Zügel locker um den Sattelknauf. Dann zog sie den Bogen aus dem Bogenkasten und legte einen Pfeil an die Sehne. Vor dem östlichen Horizont wand sich die Straße um einen bewaldeten Hügel herum. Davor, in der breiten
Kehre eines Flusses, der sich nach Osten auf die Veser zuwand, lagen mit jungem Roggen bewachsene Felder. »Dort werden sie sein«, sagte Hathui mit einem Kopfnicken in Richtung des Hügels. Etwas zu ruhig, dachte Liath. »O Herrin, ich habe Angst«, flüsterte Hanna, während sie ihr Pferd neben Liath lenkte. Sie hatte den Speer aus der Schlinge gelöst und ließ den Schaft jetzt auf der rechten Stiefelspitze ruhen. 53 »Wir müssen hinaus auf die Felder«, sagte Wulfhere. »Im offenen Gelände können wir ihnen vielleicht entkommen.« Sie wandten sich nach links und begannen die Felder zu überqueren. Der grüne Roggen bog sich unter den Pferdehufen und richtete sich anschließend wieder auf. Liath blickte immer wieder über die Schulter zu dem Hügel hinüber, die eine Hand an den Zügeln, in der anderen Pfeil und Bogen. Es begann leicht zu nieseln, und ihre Haare wurden naß, doch sie wagte es nicht, die Kapuze hochzuziehen - aus Angst, ihre Sicht damit zu sehr einzuschränken. Als der Wind sich drehte, roch sie sofort, was die Pferde so erschreckt hatte. Es war ein trockener Geruch, so als ob etwas in der Hitze von Staub und Wind getrocknet worden wäre. Es roch wie Steine, die bis zum Bersten erhitzt worden waren, oder wie der Moschus aus der Höhle eines Drachen. »Höh!« rief Hathui. Da! Aus der Baumgruppe lösten sich drei eisengraue Hunde - die größten und häßlichsten Hunde, die Liath jemals gesehen hatte. Fünf Aikha hetzten in großen Sätzen hinterher. Sie hielten Speere in den Händen - und plötzlich, als würden sie auf einen einzigen Gedanken hin handeln, warfen sie sie alle gleichzeitig. Die meisten von ihnen verschwanden harmlos im Roggenfeld, doch einer blieb direkt vor Hannas Pferd zitternd im Boden stecken, und das Tier bäumte sich auf. Hanna fiel aus dem Sattel und schlug hart auf dem Boden auf. Sofort sprang Hathui vom Pferd. »Liath!« brüllte Wulfhere. »Reite zur Stadt!« Von hier aus, wo der Hügel nicht mehr die Sicht versperrte, konnte Liath den Turm der Kathedrale von Gent sehen, dessen grauer Stein sich zu den grauen Wolken emporreckte; dahinter, im Osten, standen dunkle Rauchfahnen in der Luft. Hanna rappelte sich auf, dann entfuhr ihr ein Schrei, und sie 54 hielt sich ihr Knie. Manfred war bereits mit gezogenem Schwert neben Hathui geritten, um die Aikha abzuwehren. Die Wesen hatten schon die Hälfte des Weges zurückgelegt. Die Hunde stürzten vorwärts, die Schnauzen weit vorgestreckt. Ich kann nicht gehen. Liath wußte es in diesem Augenblick, sie wußte, sie würde nicht gehen können, bis auch Hanna in Sicherheit war. Ohne Hanna ... »Ohne Hanna kann ich auch genausogut tot sein«, sagte sie laut. Hanna war der einzige Mensch, dem sie wirklich vertrauen konnte. »Mein einziger Schutz«, sagte sie, hob ihren Bogen, legte den Pfeil an und spannte. Sie zielte auf einen der Hunde, starrte ihn so angestrengt an, daß sie ihn ganz deutlich sah. Speichel troff von seinen Lefzen. Er war ein wirklich gewaltiges Tier, mit großen Fängen, einem eingefallenen Bauch und langen, geschmeidigen Flanken. Sie schoß. Der Hund taumelte, heulte furchterregend. Seine zwei Gefährten prallten auf ihn, und zu Liaths Entsetzen begannen sie, ihre Fänge in sein Fleisch zu schlagen. Diese Auseinandersetzung verlangsamte die Aikha, und sie hatte Zeit, einen neuen Pfeil an die Sehne zu legen und den Bogen erneut zu spannen. Sie zielte auf den vorneweg laufenden Aikha, visierte ihn über die Länge des Pfeils hinweg an und hatte einen kurzen Augenblick Zeit, seine schneeweiß leuchtenden, zu Zöpfen geflochtenen Haare zu betrachten. Sie schoß. Der Aikha sackte wie ein Stein zu Boden, als sich ihr Pfeil in seine bronzefarbene Brust bohrte. War es eine Rüstung oder Haut? Erschreckt starrte sie ihr Opfer an, für einen Augenblick unfähig, sich zu bewegen. Ihre Hände tasteten blind nach 55 dem Köcher, suchten einen weiteren Pfeil. Die anderen Aikha machten kurz bei ihrem toten Gefährten halt und stimmten ein schreckliches Geheul an. Doch dann sprangen sie wieder auf, erst einer, dann der zweite und schließlich auch der dritte, jagten auf Manfred zu. Der vierte Aikha kümmerte sich um die Hunde; er versuchte sie von dem noch zuckenden Körper zu vertreiben. Ein weiteres Dutzend Aikha und vier Hunde drängten aus dem Wald. Ihre klagenden Laute und ihr hohes Gebell schmerzten in Liaths Ohren, ohne daß sie hätte sagen können, welches Geräusch von welchen Wesen stammte. Sie schössen vom Hügel herab auf die fünf Adler zu. »Liath!« Wulfhere kam an ihre Seite. »Geh!« Er machte eine Geste mit der Hand, etwas Bedeutungsloses, das sie nicht verstand. Einen kurzen Augenblick spürte sie einen Impuls in ihrem Innern: Ich sollte gehen. Ich muß nach Gent reiten. Dann verscheuchte sie das Gefühl mit einem Achselzucken. Ihre Hände hatten bereits einen weiteren Pfeil herausgezogen. Sie legte ihn an die Sehne und spannte. Auch dieser Aikha hatte das gleiche verblüffend weiße Haar, das wie Elfenbein aussah. Sein Körper war mit
einem grellen Muster in Blau, Gelb und Weiß bemalt, und unter der Farbe gewahrte sie einen Hauch von Kupfer, als wäre seine Haut mit einer dünnen Metallschicht versehen. Sie schoß. Der Aikha fiel zu Boden, den Pfeil in der Brust. Die anderen drei hatten jetzt Manfred erreicht, der mit seinem Speer wild um sich schlug. Hathui schob Hanna auf ihr Pferd und griff nach den Zügeln ihres eigenen Reittieres. Immer mehr Speere regneten auf sie herab, und Hathui torkelte zurück, eine klaffende Wunde am linken Oberschenkel. Wulfhere drängte zu Manfred, um ihm zu Hilfe zu kommen. Hanna streckte die Hand nach Hathui aus, doch Hathui griff 56 nach dem Sattelknauf ihres eigenen Pferdes und schwang sich hinauf. Liath legte einen Pfeil an die Sehne und spannte. Da! Ein Aikha schwang eine Axt in die Richtung von Manfreds Rücken. Sie ließ den Pfeil von der Sehne schwirren. Der Aikha taumelte und fiel zurück, die Axt rutschte aus seiner schlaffen Hand. Nur zwei waren noch übrig abgesehen von dem Dutzend, das vom Hügel her auf sie zugerannt kam, und den mörderischen Hunden. Ein Hund sprang mit einem Riesensatz vor und versuchte sich in den Hinterbeinen von Manfreds Pferd zu verbeißen, und der Wallach trat wild um sich. Manfred griff nach dem Sattelknauf und verlor dabei beinahe seinen Speer. Es ging alles viel zu schnell, als daß Liath etwas anderes hätte wahrnehmen können als ihre eigene Furcht, als die vollkommen unmenschlichen Gesichter, die langen Sätze, mit denen diese Wesen schneller rannten, als jeder Mensch es jemals tun konnte, die Hände, von denen weiße Krallen wie scharfe Knochen abstanden, und ihre merkwürdige Haut, die fast schon wie schuppiges Metall aussah. Es ging viel zu schnell, um etwas anderes wahrzunehmen als die Erkenntnis, daß es viel zu viele Aikha und bei weitem zu wenig Adler waren. Sie legte noch einen Pfeil an, spannte den Bogen und schoß, doch ihre Hände zitterten so sehr, daß der Pfeil gut zehn Meter von dem Getümmel, in dessen Zentrum sich Manfred befand, in den Boden schlug. Sie hatte keine Zeit mehr; in vielleicht zwanzig Atemzügen würden die heranhetzenden Aikha den jungen Adler erreicht haben. Ein Hörn. Klar und deutlich war es zu vernehmen. Wie ein Vorbote seines Klangs hörte der Nieselregen auf, und die Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Liath hörte Pferde. 57 Da! Sechs Reiter kamen um den Hügel herum; sie trugen Kettenpanzer und schwere Eisenhelme mit Messingrand, und ihre leuchtendgoldenen Überwürfe zierte ein bedrohlicher schwarzer Drache. Die beiden Aikha, die Manfred bedrängten, zogen sich zu ihren Kameraden zurück. Vom Hügel her erschollen laute, schrille Pfiffe. Liath zuckte zusammen und ließ beinahe ihren Bogen fallen. Einer der Hunde brach aus und raste auf den Hügel zu. Der andere zögerte, hielt dann auf die Reiter zu, die ihn fast schon beiläufig niederstachen. Die Drachen galoppierten zu Wulfhere, der ihnen entgegengeritten war. Liath folgte als nächste, dann Hathui und Hanna. Manfred war noch auf dem Feld; er sah sich aufmerksam um. »Adler!« rief der Reiter an der Spitze. Er behielt seinen Helm auf, und so konnte Liath hinter dem Nasen- und Wangenschutz nur blaue Augen, einen blonden Bart und eine grimmige Miene erkennen. »Die Pfiffe sind ein Zeichen, das Verstärkung ankündigt. Wir begleiten Euch in die Stadt.« »Eine Diakonissin ist unterwegs nach Westen«, erklärte Wulfhere mit einer Handbewegung in die entsprechende Richtung. »Sie hat die Kirche erst verlassen, als alle ihre Leute in Sicherheit waren, und sich dann mit einer heiligen Reliquie aufgemacht. Sie benötigt Schutz.« Der Drache nickte steif. »Wir werden sie so weit wie möglich nach Westen begleiten.« »Was ist mit Gent?« erkundigte sich Wulfhere. »Wir haben schon zweiundfünfzig Aikha-Schiffe gezählt, doch es sind noch mehr gekommen, seit wir hier eintrafen. Sie verlangen, daß Gent die Brücken niederreißt, damit sie nach Belieben entlang der Veser plündern können. Doch der Bürgermeister von Gent weigert sich.« »Wird es eine Belagerung geben?« 58 »Gent wird bereits belagert. Die Schanzen säumen schon die Hälfte des östlichen Ufers.« Wulfhere drehte sich im Sattel um. »Hathui, nimm Hanna und reite mit diesen Drachen. Ihr begleitet diese gute Diakonissin bis nach Stelesham, wo sie bleiben kann. Dann reitet ihr nach Süden und überbringt König Henry die traurigen Neuigkeiten.« Blut trat aus der Wunde an Hathuis Bein. Sie preßte die Lippen vor Schmerz zu einer dünnen Linie zusammen und gab nur eine kurz angebundene Antwort. »In Ordnung.« Und damit ritt sie davon, so daß Hanna nichts anderes übrigblieb, als ihr nach einem verzweifelten Blick auf Liath zu folgen. Jenseits des Feldes, im Schatten des Hügels, warteten die Aikha; wie in Stein gemeißelte Statuen standen sie da und starrten ihre Feinde an. Der Drache nahm jetzt den Helm ab und führte eine Holzpfeife an die Lippen, die an einer Silberkette um seinen Nacken hing. Er blies kräftig auf der Pfeife. Liath hörte nichts, doch die Aikha-Hunde bellten stürmisch und konnten nur mit Fußtritten zum Schweigen gebracht werden. Der Drache blies erneut, und noch immer erklang kein Ton; dann steckte er die Pfeife zurück unter sein Panzerhemd und setzte den Helm wieder auf. »Reitet nach Gent«, sagte er zu Wulfhere. »Reitet so schnell ihr könnt. Es werden noch mehr Aikha kommen,
viel mehr, und zwar schon sehr bald. Und vergeßt niemals, daß ihre Hunde schlimmer sind als sie.« Er lenkte sein Pferd an Wulfhere und Liath vorbei und wandte sich mit seinen fünf Kameraden nach Westen, Hathui und Hanna hinterher. Jetzt lösten sich mehr als die Hälfte der am Hügel wartenden Aikha und hetzten in großen, aber lässigen Sätzen den beiden Adlern und ihrer Drachen-Eskorte hinterher, als wollten sie sie den ganzen 59 Weg bis zum bitteren Ende verfolgen. Hanna verlagerte ein letztes Mal ihr Gewicht und hob eine Hand, ließ sie jedoch rasch wieder sinken, als sie die Aikha hinter sich sah. »Reitet sofort los! Manfred! Liath!« befahl Wulfhere barsch. Liath gehorchte. Sie konnte es nicht einmal riskieren, einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Ihr Magen hatte sich zu einem festen Knoten zusammengezogen und fühlte sich so schwer an wie ihr Herz. Sie hatte sich noch nicht einmal verabschieden können! Sie blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Nichts zu sehen«, meinte Manfred. Er ließ seinen Blick über die Felder und das Wäldchen und die noch immer weit entfernten, bis auf die Grundmauern niedergebrannten Nebengebäude schweifen, die zwischen ihnen und der ersten Brücke, dem baumbestandenen Flußufer und den Mauern von Gent lagen. Sie trieben die Pferde zu einem leichten Galopp. Unzählige Fragen gingen Liath durch den Kopf: Besaßen die Aikha keine anderen Waffen als Speere ? Hatten sie keine Rüstungen ? War vielleicht ihre Haut eine Art Rüstung? Wenn sie weder menschlich noch elfisch waren - was waren sie dann? Und zu welcher Brut zählten ihre Begleiter, die mehr vierbeinigen Teufeln als Hunden glichen? Warum verfolgten die Aikha sie nicht? Oh, Herrin, würden sie Hanna und die anderen womöglich einholen? Würde es Hanna gelingen, sich in Sicherheit zu bringen? Es begann wieder zu regnen. Der nasse Boden setzte ihrem Pferd immer mehr zu, und sie mußten das Tempo drosseln. In der Hoffnung, daß es auf der Straße besser wäre, verließen sie die Felder. Dank des Umhangs blieb Liaths Rücken trocken, doch sie spürte bereits, wie ihr kalte Regentropfen vorn am Hals entlang und die Brust hinabrannen. Wurde auch Hanna 60 vom Regen belästigt? Würden die Aikha sie einholen? Oder zögerten die wilden Bestien, sich mit den Drachen anzulegen -ganz, wie es am Hügel den Anschein gehabt hatte? Wulfhere fluchte leise. Sie folgte seinem Blick und schnappte nach Luft. Mindestens hundert Aikha kamen aus dem Norden auf sie zu; ihre Haare schimmerten in dem fremden, unerträglichen Weiß, hoben sich von den schweren grauen Wolken hinter ihnen ab. Sie waren mit Speeren und Äxten bewaffnet und trugen runde Schilde, auf denen sich furchterregende rote Schlangen vor gelbem, schwarzem oder gestreiftem Hintergrund kringelten. Ihre Hunde rannten ihnen wie eine ruhelose Mauer voran. Es war nicht nötig, ihr Pferd anzutreiben. Es fand die Straße und galoppierte auf dem deutlich festeren Untergrund rasch auf die Brücke zu. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, wie Manfred und Wulfhere gerade auf die Straße einbogen. Manfred hob seinen Speer und drehte ihn ein paarmal hin und her, damit sich das Adler-Banner entfalten konnte - es zeigte einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen, im Schnabel einen Pfeil und in einer Kralle eine Schriftrolle. Doch die Aikha waren dem Fluß näher. Sie rasten bereits in gleichmäßigen, großen Sätzen dahin, verringerten rasch die Entfernung zwischen sich und ihren Opfern. Selbst Liath begriff, daß die Aikha die Brücke eher als die drei Adler erreichen würden. Sie zügelte ihr Pferd und drehte sich um, doch bei dem Hügel, der jetzt schon ein ganzes Stück hinter ihnen lag, hatte sich bereits eine andere Gruppe von Aikha versammelt -es waren weit mehr als zuvor. Manfred überholte sie und ritt weiter, scheinbar ohne einen Gedanken an das Schicksal zu verschwenden, dem sie hilflos ausgeliefert waren. Jetzt hatte Wulfhere sie erreicht und gab ihrem Pferd einen Klaps. Sie schoß wieder vorwärts, folgte ihm. Aber wozu? Im61 merhin, dachte sie mit einiger Verbitterung, werden die Adler Hanna vollständig aufnehmen, wenn sie überlebt dieses Recht hat sie sich durch meinen Tod verdient. Wulfhere hatte sein Schwert in die Scheide gesteckt; jetzt zog er den linken Arm - die Hand zur Faust geballt an die Brust und machte dann eine ausladende Handbewegung in Richtung der Aikha. Ein funkelndes Licht blitzte auf, als würde man von einem dunklen Raum aus den Schein eines hellen Feuers sehen. Liath zwinkerte mit den Augen. Die Pferde wieherten erschreckt und stolperten; hilflos klammerte sie sich an ihren Wallach, der sich aufbäumte, bevor er sich beruhigte. Manfred hielt eine Hand schützend vor die Augen und wurde beinahe abgeworfen. Die Aikha verlangsamten jetzt ihr Tempo ein wenig, wenn sie auch die großen Sprünge lediglich zugunsten eines immer noch stetigen Trotts aufgaben. Einen Augenblick später ertönte in der Ferne ein tiefes Grollen, gefolgt von einem scharfen Klatschen, das so laut dröhnte wie ein Donnerschlag. »Beim Blute der Herrin«, fluchte Wulfhere. »Die Aikha wenden Zauberei an. Liath, du mußt unbedingt die Stadt erreichen, was auch immer mit uns geschehen mag. Du darfst keine Zeit verlieren. Falls du überlebst und ich tot sein sollte, mußt du zum Konvent von St. Valeria gehen und dich der Gnade der Konvent-Mutter ergeben. Sie wird dir Unterschlupf und Schutz gewähren.« Die ersten Aikha hatten die Brücke bereits erreicht und versammelten sich dort, bildeten mit ihren Schilden
einen Wall. Liath war noch zu weit entfernt, um die Mauern der Stadt genauer sehen zu können, um erkennen zu können, ob sich dort - als Hinweis, daß jemand ihre mißliche Lage bemerkt hatte -etwas rührte. Manfred machte sich bereit. Er wechselte einen 62 raschen Blick mit Wulfhere, dann trieb er sein Pferd stürmisch an, preschte auf die Linie der Aikha zu. »Hinterher!« schrie Wulfhere. »Und kümmere dich nicht um das, was du siehst.« Aber sie sah gar nichts, spürte lediglich ein Kitzeln an ihrem Rücken und einen kalten Luftzug an ihren Wangen. Im Nu tauchten der Kopf und die Schultern von Manfred in ein Meer aus Tausenden von kleinen, flimmernden Feuerfliegen - doch der Anblick verblaßte vor dem Hintergrund der roten Schlangen. Mit erhobenen Speeren warteten die Aikha auf ihre Beute. Sie sah die aus Stein und Holz errichtete Brücke hinter den Aikha, spürte den Luftwirbel dort, wo das Ufer steil zum Fluß abfiel. Die Mauern von Gent waren jetzt so nah, daß sie sogar Menschen auf der Brüstung ausmachen konnte. Ohne jede Vorwarnung öffneten sich Gents Tore mit einem fürchterlichen Kreischen. Drachen ritten aus der Stadt heraus. Sie griffen in vollem Galopp an, die Lanzen gesenkt, geschützt hinter den tränenförmigen Schilden, die vom gleichen Grau waren wie die tiefhängenden Wolken, sich mit ihnen im steten Regen zu vermischen schienen. Die einzigen Farben kamen von den roten Schlangen auf den gelben Schilden der Aikha, von den goldenen Überwürfen der Drachen, die so hell schimmerten, als hätten Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrochen, und von den Messingbeschlägen ihrer Helme, die wie Kriegsmasken wirkten. Die Drachen schlugen mit solcher Kraft zu, daß Liath spürte, wie die Luft erzitterte. Einige preschten geradewegs durch die Reihen der Aikha und hielten genau auf die drei Adler zu. Sie kümmerten sich nicht um ihre Kameraden, die jetzt mit Schwertern und Äxten auf diejenigen Aikha eindrangen, 63 die nicht im ersten Ansturm niedergeritten worden waren. Eine zweite Welle der Drachen traf auf die sich jetzt auflösende Aikha-Linie. Sie trugen keine Lanzen, sondern schlugen sofort mit Schwertern und schweren Streitäxten zu. Von den Ufern des Flusses strömten weitere Aikha herbei, und das Gewühl breitete sich jetzt von der Brücke herab aus und verteilte sich auf den Feldern zu beiden Seiten. Schwertergeklirr und dumpfe, klatschende Laute erfüllten die Luft. Hunde sprangen hoch, schnappten nach den Drachen und ihren Pferden. Sechs Drachen kamen donnernd herangeprescht, formierten sich rasch zu einem beweglichen Keil. »Hinter uns«, rief der Mann, der eindeutig ihr Anführer war. Juwelen glänzten auf der Schnalle, die seinen Umhang auf der rechten Schulter befestigte. Ein goldener Halsreif lag um seinen Nacken: das Zeichen, daß es sich um einen Angehörigen des königlichen Geschlechts handelte. Sein Blick fiel auf Liath. Sie starrte zurück, obwohl sie von seinem Gesicht nicht viel mehr erkennen konnte als seine Augen, die so grün waren wie Jade. Sein Helm war, im Gegensatz zu denen der Soldaten, nicht mit Messing verziert, sondern mit Goldeinlegearbeiten in Gestalt eines Drachen; der Anblick war schrecklich und - zusammen mit den anderen Drachen in ihrem Eisen und Gold und Schwarz - zugleich auch wunderschön. Dann bewegten sie sich wieder auf das Kampfgetümmel zu. Die beiden Soldaten vor ihr senkten die Lanzen, als Aikha auf die Straße sprangen, um sich ihnen in den Weg zu stellen, und ritten die Wilden einfach nieder. Ein Aikha stürmte mit hocherhobener Axt von der Seite her auf Wulfhere zu, der keinerlei Rüstung trug. Der Prinz lehnte sich zur Seite und versetzte der Kreatur einen so kräftigen Hieb, daß ihr Kopf vom Hals getrennt wurde. Doch mehr und mehr Aikha drängten heran, 64 stürzten sich auf den Prinzen wie vom Honig angelockte Bienen oder beutehungrige wilde Hunde. Rundherum wogte der Kampf immer härter, und Liath kauerte sich zusammen, murmelte stumme Gebete. Manfred stach einen Aikha mit seinem Speer nieder, doch als ein anderer kam und die Pferde in dem Wirrwarr aus Körpern steckenblieben, verlor er seine Waffe, als der Aikha von der leicht erhöhten Straße zurück auf die Felder fiel. Sie hatten die Brücke beinahe erreicht, doch noch immer strömten Aikha zusammen, kletterten sogar über die Steinstreben und formierten sich zu einer dicken lebenden Mauer. Hunde brachen aus ihren Reihen hervor, um auf die Drachen und die in ihrer Mitte geschützten Adler loszugehen -grauenhafte Bestien, geifernd und wahnsinnig vor Wut und vollkommen furchtlos. Einer sprang mit einem Riesensatz heran, prallte erst gegen Manfreds Pferd und kam dann direkt auf sie zu. In diesem Moment sah sie seine Augen. Glühende gelbe Augen. Er war zu nah für einen Pfeilschuß. Er sprang. Der Prinz drehte sich im Sattel halb um und streckte den Hund mit einem einzigen Hieb quer über den Rücken nieder. Das Tier brach zusammen, und Liaths Pferd machte einen Satz in dem Bestreben, sich zu befreien. So schnell. Zu schnell. Aikha schwärmten von allen Seiten herbei, rückten näher, zogen die Schlinge enger. Mit lautem Gebrüll kam eine neue Welle von Drachen von den Toren herbei, griff die Aikha von hinten an. Die Kreaturen gingen zu Boden, wurden niedergetrampelt oder von der Wucht des Angriffs beiseite geschoben. Als die Adler und ihre Eskorte sich näherten, öffneten die Drachen ihre bisherige Formation und verteilten sich auf beiden Seiten. Dröhnend trommelten die Pferdehufe über Stein; plötzlich ein schwacher
65 Ruck, und unter großem Geklapper ritten sie über die metalleingefaßte Zugbrücke in den Schutz der Mauern. Das Prasseln des Regens hörte auf, setzte wieder ein, als sie unter dem Wachhaus hindurch auf einen offenen Platz ritten. Die Reste von Marktständen - einige halb verbrannt, andere in Unordnung, aber alle leer - standen in willkürlichen Reihen auf dem großen Platz. Von weiter hinten erklang großes Wehklagen und Jammern, vermischte sich mit dem plötzlichen Donnern der Pferdehufe und dem Geschrei. Liath fühlte sich wie betäubt. Sie hörte keinen Befehl, sah nur, wie der Prinz sich von der Eskorte löste und durch die Tore zurück nach draußen ritt. Jetzt kehrten auch die anderen Drachen in den Schutz der Mauern zurück, immer vier nebeneinander. Schließlich wurden die Winden gedreht, und die Tore begannen sich zu schließen. Sie bahnte sich ihren Weg zu einer Stelle, von der sie einen guten Blick hatte: Die Nachhut der Drachen focht jetzt auf der Brücke einen letzten Kampf, versuchte sich zurückzuziehen, während die Aikha sie bedrängten. Ein Soldat lag quer über seinem Pferd. Ein anderer hing schlaff über dem Nacken seines Reittieres. Doch so weit sie auch blickte, weder auf dem Stein- und Holzbogen der Brücke noch auf dem zertrampelten Feld sah sie einen goldenen Überwurf; kein Soldat war auf dem Schlachtfeld liegengeblieben. Die Hunde hatten begonnen, über die toten Aikha herzufallen. Viele der Drachen rasten bereits die Stufen zur Brustwehr empor; die Stadtsoldaten ließen einen wahren Pfeilregen auf die Brücke niedergehen. Die Tore schlössen sich hinter dem letzten Reiter, dem Prinzen. Er trieb sein Pferd genau in dem Augenblick zum letzten Sprung an, als eine Wolke aus Speeren, die auf seinen Rücken gerichtet waren, hinter ihm den Himmel verdunkelte. Die Tore fielen mit einem kräftigen 66 Knall zu; von draußen erklang lautes Geheul und das Klatschen, mit dem die Speere gegen die eisenbeschlagenen Tore prallten. Jetzt war auch ein neues, knirschendes Geräusch zu hören: Die Männer von Gent zogen die Zugbrücke hoch. Das Pferd des Prinzen stolperte, ging in die Knie und warf ihn ab, stolperte wieder und fiel zu Boden. Das Tier trat um sich, versuchte wieder aufzustehen. Der Prinz sprang auf die Beine, riß sich den Helm vom Kopf und schleuderte ihn zu Boden - es schien ihm gleichgültig, was mit der kostbaren Verzierung geschah. Er griff nach den Zügeln und drückte den Kopf des Tiers zu Boden, fluchte laut und lang. Vier seiner Männer rannten zu ihm und untersuchten das Pferd. Ein Speer steckte in seinem Bauch, war tief eingedrungen. Blut verteilte sich auf der festgetretenen Erde, vermischte sich mit dem Regen. Das Pferd zuckte kläglich, wurde dann ruhiger, während sich seine Flanken unter oberflächlichen Atemzügen hoben und senkten. Liath hörte draußen noch ein paar Aikha aufheulen, die sich endlich zurückzogen. Die Männer auf der Brustwehr schleuderten ihnen höhnische Bemerkungen hinterher. Die Hand des Prinzen glitt zum Gürtel. Er zog ein Messer und schnitt dem Pferd die Kehle durch. Das Blut spritzte über seine Füße, färbte seine Stiefel rot, doch immer noch kniete er - ganz still jetzt - neben dem Tier. Seine schwarzen Haare klebten naß an seinem Kopf. Seine Haut war merkwürdig glatt und bronzefarben, und das Gesicht verriet schon durch die außergewöhnlichen Konturen, daß seine Mutter nicht menschlich war. Am merkwürdigsten aber war, daß er weder einen Bart noch die Spur eines Bartes hatte. Er blickte auf, und seine Augen suchten und fanden einen Mann in einer kostbaren Tunika; vier Diener hielten einen 67 weiten scharlachroten Umhang wie ein Dach über ihn, so daß er vor dem Regen geschützt war. »Zerteilt und pökelt es«, sagte der Prinz, erhob sich und kehrte dem toten Tier den Rücken zu. Er hatte eine rauhe Stimme, in der die Autorität eines Mannes mitschwang, der Gehorsam erwartete. »Das heißt, wenn ich mir diesen Vorschlag erlauben darf, Bürgermeister.« »Sollen wir etwa Pferdefleisch essen?« Der Mann schien seine Augen nicht dazu bringen zu können, einen Moment irgendwo zu verweilen - nicht auf dem Prinzen, nicht auf dem toten Pferd oder den Drachen, die langsam den Speer aus dem Tier zogen, und auch nicht auf dem letzten Schwall aus Blut und Eingeweiden. »Wenn die Aikha uns wirklich belagern, wird es uns im Winter wie eine Delikatesse erscheinen.« Der Prinz sah Wulfhere, machte ihm ein Zeichen und ging davon. Ein Drache klaubte den Helm des Prinzen aus dem Matsch und eilte hinterher. Wulfhere reichte Manfred rasch die Zügel seines Pferdes und folgte den beiden ohne ein weiteres Wort. 3 Liath stieg ab und folgte Manfred dicht auf den Fersen; sie zitterte jetzt, da die Anspannung des Kampfes vorüber war. »Ich habe bisher noch nie einen Mann ohne Bart gesehen«, flüsterte sie. »Ich meine natürlich, einen anderen als einen Kirchenmann.« Manfred strich sich mit einem Finger über den eigenen kurzgeschorenen Bart. »Die Aikha haben keine Barte.« 68 Liath lachte nervös. Ihre Hände bebten, und sie glaubte, ihr Herz würde nie wieder aufhören, viel zu schnell zu schlagen. »Das habe ich nicht bemerkt. Glaubst du, daß Hanna und Hathui ihnen entkommen sind?« Er zuckte mit den Schultern.
»Was tun wir jetzt?« Sie führten die Pferde zu den Ställen, in denen auch die Tiere der Drachen untergebracht waren, rieben sie ab und gaben ihnen Hafer; diese Tätigkeiten ließen Liath etwas ruhiger werden. Sie warf sich das zusammengerollte Bettzeug und die Satteltaschen über die Schulter und folgte Manfred die steilen Treppen hinauf zu dem langen Dachboden über den Ställen, wo die Drachen Quartier bezogen hatten. Frisches Stroh bedeckte die Bodendielen, und Bettzeug lag ordentlich entlang der Wände. Der Geruch von Pferden und Ställen war zwar durchdringend, aber nicht übermächtig. Männer hielten sich hier auf, würfelten, schnitzten Holz, polierten das Zaumzeug oder ölten es ein, führten harmlose Gespräche. Sie blickten die zwei Adler neugierig an, machten aber keinerlei Anstalten, sich mit ihnen zu unterhalten. War einer von ihnen ihr Verwandter? Liath musterte verstohlen die Gesichter, hielt Ausschau nach einem, der Ähnlichkeit mit Pa hatte. Manfred führte sie ans Ende des langen, niedrigen Raums. Dort waren Fensterläden geöffnet, durch die das düstere Licht des Nachmittags hereinströmte. Der Regen war jetzt heftiger, doch hier oben auf dem Speicher war es so stickig wie im Hochsommer. Der Prinz und Wulfhere saßen sich auf Heuballen an einem Tisch gegenüber. Der Prinz hatte ein aus Elfenbein geschnitztes Schachspiel vor sich stehen; acht Kästchen längs und acht Kästchen quer. Er spielte mit den Figuren, während er sich mit Wulfhere unterhielt, nahm sie in die Hand 69 und stellte sie auf neue Plätze: die acht Löwen, die Burgen, Adler, Drachen und - von den anderen geschützt die Bischöfin und die Herrscherin. Hinter dem Prinzen saß die einzige Frau, die außer Liath noch hier oben war; in ihrem Schoß lag sein Helm, den sie mit einem Tuch polierte. Sie trug den Umhang der Drachen, und ihre Arme waren muskulös, ihr Kinn war übersät mit kleinen weißen Narben, und die Nase sah aus, als wäre sie gebrochen gewesen und schief zusammengewachsen. Manfred hockte sich hin; er machte sich auf eine lange Wartezeit gefaßt. Liath kniete sich neben ihn. Hin und wieder wurden ein paar feine Wassertröpfchen vom Regen draußen hereingeweht und benetzten ihr Gesicht. Das Stroh kitzelte an ihren Händen. Ihre Nase juckte. »Ich bin überzeugt, daß die Stadt einer Belagerung standhalten kann. Doch meine Drachen allein können die Aikha nicht vertreiben, dazu gibt es einfach zu viele um Gent herum. Wir haben von Gräfin Hildegard noch keine Nachricht, ob sie oder ihr Bruder Dietrich uns mit einem Heer zu Hilfe kommen. Und jetzt erzählt Ihr mir, daß der König kein Heer schicken will.« »Ich weiß nicht, was der König plant, Prinz Sanglant. Aber möglicherweise ist er gar nicht in der Lage, ein Heer zu schicken, selbst wenn er es wollte.« Der Prinz nahm einen Drachen und stellte ihn zwischen zwei Burgen, als wollte er ihn gefangensetzen. Liath war dem Prinzen jetzt so nah, daß sie sein Kinn genauer betrachten konnte. Er hatte sich entweder gerade erst rasiert, oder es wuchs bei ihm einfach kein Bart. Doch wie konnte er dann wirklich ein Mann sein? »Ich habe von den Gerüchten gehört, daß Prinzessin Sabella ihre Anhänger versammeln und gegen König Henry mar70 schieren will. Dabei hat sie doch vor acht Jahren vor der Bischöfin von Mainni geschworen, den König niemals wieder mit falschen Forderungen zu belästigen.« »Das hat sie in der Tat«, pflichtete Wulfhere ihm bei, »aber es heißt, daß die Bischöfin von Mainni jetzt zu ihren Vertrauten zählt. Und alle drei Herzöge von Varre wie auch fünf Grafen weigern sich, auf der Rundreise des Königs zu erscheinen.« »Das sind tatsächlich schlimme Nachrichten, aber was soll ich den Menschen von Gent sagen? Wenn man ihnen genug Zeit läßt, zünden die Aikha die Brücken von Gent an und reißen sie nieder, und dann können sie ungestört die Veser hinauffahren, ohne daß wir etwas dagegen tun können. Und wenn sie weit genug flußaufwärts fahren, spielt es kaum noch eine Rolle, was die edle Sabella verlangt, denn dann steht das Kernland von Wendar auf dem Spiel.« »Ihr würdet Eurem Vater also raten, dies als die größere Bedrohung in Betracht zu ziehen? Aber auch in anderen Jahren haben die Aikha ihre Raubzüge unternommen, Prinz Sanglant, und sie sind wieder abgezogen, zufrieden mit dem Gold und den Sklaven, die sie in ihren Schiffen mitnehmen konnten.« Der Prinz schaute aus dem Fenster, obwohl nur der Regen und das Holzdach des Bürgermeister-Palastes zu sehen waren. In der Ferne konnte Liath Trommeln hören. »Es ist nicht wie >in anderen Jahren<. Dies ist nicht einfach nur ein Raubzug. Der Gesandte des Aikha-Generals hat bereits ein Angebot von Bürgermeister Werner ausgeschlagen, der ihm zehn Kisten Gold und einhundert Sklaven als Gegenleistung für ihren Rückzug angeboten hat.« Wulfhere kicherte plötzlich. »Ich höre da zwei Dinge, die ich kaum glauben kann. Das eine ist, daß diese Stadt einen Bürgermeister hat. Das andere ist, daß die Aikha einen General 71 haben. Es sind Banditen, nichts weiter. Möglicherweise wird jedes Schiff von einem Hauptmann angeführt sofern wir dieses Pack mit einem solchen Begriff ehren wollen. Es ist eher wie bei den Tieren, wo die schlimmste und stärkste Bestie die anderen mit Hilfe ihrer Klauen und Fänge gefügig macht.«
Sanglant wandte den Kopf und sah Liath direkt an. Sie erschauderte und fühlte sich schrecklich unbehaglich; seine Augen leuchteten, und seine Gesichtszüge waren so seltsam und scharf geschnitten. Er musterte sie mit offensichtlicher Neugier so lang und eindringlich, daß sie die Blicke seiner Männer auf ihrem Rücken spürte, als wollten auch sie wissen, was ihren Hauptmann interessierte. Schließlich drehte sich sogar Wulfhere um und folgte seinem Blick, um zu sehen, was der Prinz anstarrte. Niemals hatte Liath damit gerechnet, einen solchen Ausdruck in Wulfheres Gesicht zu sehen. Er war wütend. Sanglant lächelte ihr jetzt zu, beinahe einladend. Sein Lächeln verströmte einen offenen, herzlichen Charme, der so überwältigend war, daß sie plötzlich errötete. Manfred murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Sanglant grunzte, er lachte beinahe - fast als würde er antworten. Dann zuckte er mit den Schultern und streckte sie, während er seine Aufmerksamkeit erneut Wulfhere zuwandte. Die Miene des älteren Mannes war jetzt wieder vollkommen ausdruckslos. »Bürgermeister Werner ist ein interessanter Mann; er schätzt den Reichtum seiner Familie. Heißt es nicht, daß Unser Herr den Wert seiner irdischen Söhne am Grad der Großzügigkeit bemißt, mit der sie ihre Kameraden und die Armen bedenken? So würde es König Henry ausdrücken. Werners Mutter war vor ihm Bürgermeisterin dieser Stadt, und er war der einzig überlebende Sohn. Und wie es heißt, war er auch ihr Lieblingskind, denn natürlich hätte der Amtsstab an eine ihrer 72 Töchter - seine Halbschwestern - übergehen müssen.« Er sagte das mit einer Spur Bitterkeit, schien aber gleichzeitig über sich zu lachen. »Bisher hatten die Leute von Gent keinen Grund, mit seiner Führung unzufrieden zu sein und ihn zugunsten einer Frau hinauszuwerfen, deren Autorität, wie Ihr sagt, eher den Segen Unserer Herrin erhalten würde. Was das andere angeht -« Er streckte eine Hand aus, und die Frau reichte ihm den Helm, der jetzt hell leuchtete; das goldene Gesicht des Drachen schien wie ein kaltes Feuer auf der Oberfläche zu brennen. Während er sprach, inzwischen ernst geworden, ließ er seine Hände über den Helm gleiten, betastete die schmuckvolle, goldene Einlegearbeit mit langen dunklen Fingern. »Da draußen ist etwas, das diese Aikha steuert. Ich spüre es. Es weiß von mir genauso wie ich von ihm, und wir sind dazu bestimmt, uns gegenseitig zu vernichten.« »Glaubt Ihr, es ist menschlich?« »Nein, das glaube ich nicht. Und wer sollte es besser wissen als ich, mein Freund? Habe ich nicht recht?« Wulfhere neigte zustimmend den Kopf. »Aber ob es nur ein Aikha ist, der sich von den anderen in bezug auf seinen Verstand und seine Fähigkeiten unterscheidet, oder ob es ein ganz anderes Wesen ist, kann ich nicht sagen. Ich führe jetzt seit acht Jahren Krieg für König Henry - seit ich mündig geworden und zum Hauptmann der Drachen ernannt worden bin. Wie es meinem Geburtsrecht entspricht, beweist damit das bisherige Kind, daß der jetzt erwachsene Mann den Thron von Wendar auch verdient hat.« Sein Ton war jetzt so kalt und scharf wie der Winterwind. »Doch bisher hatte ich gewöhnliche Kriege zu führen - Überfälle der qumanischen Reiterhorden, die Rebellion von Herzog Conrad, Prinzessin Sabellas Revolte.« »Ihre erste Revolte«, sagte Wulfhere ruhig. 73 »Gerüchte machen noch keine Revolte«, erwiderte Sanglant ebenfalls ruhig, dann kam er einer Bemerkung von Wulfhere zuvor, indem er rasch die Hand hob. »Aber ich traue Eurem Urteil in dieser Angelegenheit, Wulfhere, wenn Ihr behauptet, daß sie wieder eine Rebellion gegen den König anzettelt. Ihr habt dem Thron von Wendar treu gedient. Zumindest habe ich das stets gehört.« »Wie auch Ihr«, sagte Wulfhere und bleckte die Zähne. »Zumindest habe ich das stets gehört.« Ein leichtes Zischen ertönte, als diejenigen Drachen überrascht einatmeten, die nah genug waren, um die Unterhaltung zu verfolgen. Doch Sanglant lächelte sein charmantestes Lächeln, warf eine Schachfigur - sie hatte die Form eines Königlichen Drachen - bis zu den Dachsparren empor und fing sie beim Herunterfallen in der Luft auf. Bei der Bewegung rutschte der Helm von seinem Schoß, doch die narbige Frau bekam ihn zu fassen, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Der Prinz öffnete die Hand, und die Schachfigur kam zum Vorschein. Ihr Elfenbeinglanz, vom vielen Anfassen fettig geworden, verstärkte die bronzene Farbe seiner Haut. Halb menschlich, dachte Liath, um sich sogleich zu schämen: War nicht auch sie anders als die übrigen, so braungebrannt, wie ihre Haut immer war? Doch zumindest gegen Ende des Sommers waren auch manche Sklaven so braun wie sie - jene, die den ganzen Tag auf den Feldern gearbeitet und keinen Sonnenbrand bekommen hatten. Und Pa hatte ihr von einem Volk erzählt, das in einem Land ganz weit im Süden lebte, wo die Sonne heißer und heller als an anderen Orten schien. Die Menschen dort hatten sogar eine noch dunklere Haut als sie. Was war also besser: ein richtiger Mensch zu sein, aber ein Sklave oder Ungläubiger, oder ein halbmenschlicher Prinz, dem man niemals ganz trauen konnte? 74 Ich war schon einmal eine Sklavin. Sie verschränkte die Finger ineinander. Ein leichtes Prickeln lief ihren Rücken hinunter, als würde allein der Gedanke an diese Zeit bedeuten, daß Hugh sie beobachtete. Er beobachtet mich. So wie dieses Wesen da draußen bei den Aikha auf den Kampf mit Prinz Sanglant wartete, davon war Liath überzeugt, wartete auch Hugh, egal, wie weit sie sich von ihm auch entfernen mochte. Er wartete nur darauf, daß sie wieder in seine Reichweite kam.
Ich bin immer noch eine Sklavin, denn ich fürchte ihn. Tränen brannten in ihren Augen, und sie neigte den Kopf, damit niemand es sehen konnte. Manfred legte ihr kurz eine Hand auf das Bein, als wollte er sie beruhigen. Sie schluckte, riß sich zusammen und schaute wieder auf. Niemand schien ihren Fehltritt bemerkt zu haben. »So wie diese Schachfigur«, sagte Sanglant, »existiere auch ich nur, um von der Hand eines anderen Mannes bewegt zu werden.« Wulfhere lächelte dünn. Er wirkte plötzlich alt, als er die Figur aus der Hand des Prinzen nahm. »Ihr seid ziemlich weise für jemanden, der so jung ist, Sanglant.« »Ihr schmeichelt mir. Ich bin schon zwanzig und vier Jahre alt, nach dem Kalender meines Volkes väterlicherseits.« Die Worte kamen scharf, beinahe trotzig. »In den Ruinen des alten Kaiserreiches gilt ein anderer Kalender«, sagte Wulfhere, »einer, der die Zeit nach der Bewegung des leuchtenden Somorhas mißt, der gleichzeitig Abend- und Morgenstern ist, und nach dem Aufstieg der sieben Sterne, die die sieben Juwelen der Sternenkrone bilden. Ein Kind greift nach dieser Krone. Wer weiß, was geschehen wird, wenn die Sternenkrone die Himmelssphären krönt?« Sanglant erhob sich steif - majestätisch wie ein König, der kurz davor war, ein Urteil zu verkünden. »Ich habe meine 75 Mutter nie kennengelernt, Wulfhere. Und sie ist mir auch nicht erschienen, weder irgendwann im Nebel noch in der Nacht oder in einer anderen Verzauberung, an die ich mich erinnern könnte. Sie hat mich verlassen, als ich noch keine zwei Monate alt war. Möglicherweise hatte sie ihre eigenen Gründe, oder es gab einen von ihrem Volk entwickelten Plan dafür, daß sie meinem Vater gestattete, mich zu zeugen, und daß sie mich anschließend verließ. Doch darüber weiß ich nichts, und ich kenne auch die Rolle nicht, die ich in diesen Plänen spiele. Tatsächlich gibt es in diesem Land kaum Spuren von den Verlorenen, obwohl ich gehört habe, daß sie in Alba in tiefen Wäldern umherwandern. Ihr habt das gleiche schon einmal zu mir ; gesagt oder zumindest Andeutungen gemacht, und ich bin es leid, bin Eure Anspielungen leid. Ich bin Soldat. Ich bin Hauptmann der Drachen des Königs, wie es mein Recht ist, wie es das Recht all jener war, die vor mir Hauptmann der Drachen waren Conrad der Drache, Carl Wolfspelz, der linkshändige Arnulf. Sie alle waren Bastarde des regierenden Herrschers. In Ausübung dieses Dienstes habe ich blutbefleckte Felder hinter mir gelassen, um mich des Namens würdig zu erweisen, den meine Mutter mir bei der Geburt gab. Ich habe meine eigenen Männer sterben sehen, während sie darum kämpften, mich zu beschützen, die Interessen des Königs zu schützen. Ich habe die Feinde des Königs ohne Gnade getötet und keinen von denen verschont, die ich fand. Hört mich also: Ich diene dem König und niemandem sonst. Glaubt an Eure Pläne und Intrigen und an die geheimnisvollen Wirkungsweisen der Himmelssphären, wenn Ihr wollt. Aber laßt mich aus dem Spiel.« Er griff nach seinem Helm, klemmte ihn unter den Arm und ging den Dachboden entlang und die Treppe hinunter. Nur zwei Drachen folgten ihm: die narbige Frau und ein blonder Mann, der leicht hinkte. 76 Als sie gegangen waren, war es so still, daß nur das Prasseln des Regens und das Klappern von Ochsenhufen auf der nassen Straße zu hören waren. Dann ertönte ein Rascheln und Scharren, als die Männer seufzend ausatmeten und sich wieder ihren eigenen Dingen zuwandten. Wulfhere stellte die Schachfigur ab. Manfred erhob sich, klopfte sich das Stroh von der Kleidung und trat zu dem alten Adler, der sitzenblieb und eine Zeitlang schweigend aus dem Fenster starrte. Dann stand auch Wulfhere auf. Liath folgte ihnen mit gesenktem Kopf hinunter zu den Ställen. Sie hatte das Gefühl, als würde jeder Mann sie beobachten, während sie vorbeiging. Sie wartete darauf, Wulfhere nach ihrem Verwandten fragen zu können, aber nach Sanglants Anschuldigungen traute sie sich nicht. Eigentlich traute sie sich im Augenblick überhaupt nicht, Wulfhere irgend etwas zu fragen - aus Angst, sich nicht beherrschen zu können und ihn wegen des alten Kalenders auszufragen, den er angesprochen hatte. Die Sternenkrone kannte sie; dabei handelte es sich um sieben helle Sterne, die gleich außerhalb der Konstellation schienen, die als das Kind bekannt war, das Zweite Haus im Zodiak, der Weltendrache, der die Himmelssphären zusammenhielt. Sie kannte viele der Namen, die die alten dariyanischen Mathematiki den Sternen gegeben hatten - andere Namen als jene, die inzwischen in Gebrauch waren. Aber daß die alten Dariyaner die Zeit mit einem Kalender gemessen hatten, der sich von dem gängigen unterschied ... das hatte Pa ihr niemals erzählt, sofern er es überhaupt gewußt hatte. Aber die Sterne bewegten sich nach einem festen Muster. Mit etwas Zeit, dem Buch der Geheimnisse und ein bißchen Papier, um die schwierigen Berechnungen durchzuführen, wäre sie in der Lage vorherzusagen, wann die Sternenkrone 77 das nächste Mal »die Himmelssphären krönen« würde. Sie war nicht sicher, was Wulfhere mit diesem Satz gemeint hatte, aber sicherlich hatte es etwas damit zu tun, daß ein Stern den Zenit erreichte, jenen Punkt der Sphäre der Fixsterne, wo der Stern genau oberhalb der Betrachtenden zu sehen war. Sie schwieg, während sie den anderen durch die Ställe folgte. Wie viele Tage war es her, seit sie zum letzten Mal den Himmel beobachtet hatte? Pa hatte immer gesagt, daß die Herrin den Himmel während des Frühjahrs mit Wolken verhüllte, damit man nicht vergaß, das Augenmerk auf die Aussaat zu richten. Wie viele Tage war es her, seit Wulfhere sie von Hugh befreit hatte? Einen Tag weniger als einen Monat.
Sie zitterte. Es war, als würde Hugh sprechen, gleich draußen vor den Mauern der unsichtbaren Stadt, die ihr Innerstes beschützte. So wie die Aikha Erdwälle gegen die Mauern von Gent aufgeschüttet hatten, belagerte auch er sie. Nur konnte sie kein Ende erkennen. Dreißig Tage, seit du mir gestohlen wurdest. »Alles in Ordnung?« fragte Wulfhere. Sein Ton war so sanft, daß sie zusammenzuckte. Sie waren an einer Tür angekommen. Manfred war kurz davor, nach draußen zu gehen; er zögerte einen Moment, sah sie besorgt an. Er hatte freundliche blaue Augen und ein ernstes Gesicht, das weder hübsch noch häßlich war, sondern einfach nur zuverlässig und ruhig. Er war ein guter Kamerad. »Es ist ein bißchen heiß.« Sie hängte sich den Umhang über einen Arm und verlagerte das Gewicht der Satteltaschen auf ihrer Schulter. Manfred trat hinaus in den Hof und rannte auf die Türen zu, die in den Palast des Bürgermeisters führten. Sie zog eine Ecke des Umhangs über den Kopf und wollte ihm folgen. Wulfhere hielt sie zurück. 78 »Es ist nicht nötig, die Sachen mitzunehmen«, sagte er. »Wir schlafen in den Ställen.« Natürlich mußte sie sich umdrehen und zurückgehen. Sie traute sich nicht, ihm zu sagen, daß sie das Buch hatte. Er weiß bereits, daß du wie eine Mathematiki ausgebildet wurdest, redete sie sich ein, als sie weiterschlich, in der Hoffnung, daß niemand sie bemerken würde. Doch es war still in den Ställen. Die Drachen waren entweder oben und ruhten sich aus, oder sie hielten Wache oder waren in der Stadt. Doch was, wenn Wulfhere ihr das Buch wegnahm? Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, keine Möglichkeit, es zurückzubekommen. Gleich neben ihren Pferden war ein leerer Stall, der reichlich mit Stroh ausgelegt war. Manfred und Wulfhere hatten hier ihre Sachen abgelegt, sie ordentlich verstaut, damit noch genug Platz zum Schlafen blieb. Sie hob etwas Stroh hoch und schob die Satteltaschen darunter. Zu offensichtlich. Sie konnte nicht anders, als in die Tasche hineinzufassen und über die kühle, weiche Maserung des Ledereinbands zu streichen, über die Buchstaben am Rücken. Sie tastete über die Buchstaben, las sie mit den Fingern und spürte das Pergament und die Papierblätter der drei Bücher innerhalb des Einbands wie die trockenen Flügel einer Motte. »Was ist mit Storm und seiner Gruppe geschehen?« fragte jemand mit einer tiefen Stimme. »Sie sind von der Patrouille nicht mehr zurückgekehrt.« »Hast du es nicht gehört? Sie sind vor den Toren geblieben, um die zwei verwundeten Adler und eine Diakonissin mit einer heiligen Reliquie in Sicherheit zu bringen.« »Nein, das habe ich nicht gehört.« Es klang etwas gereizt. »Ich bin gerade erst gekommen. Im Gegensatz zu dir habe ich in diesem Gefecht ein paar Aikha zur Strecke gebracht und einige Zeit gebraucht, um meine Sachen zu reinigen.« 79 Der andere Mann schnaubte. »Du meinst wohl, du hast ein paar Schläge einstecken müssen. Ich bin so sauber wie ein Heiliger, und ganz sicher lasse ich mich heute mit dem Segen Unserer Herrin für meine Anstrengungen entschädigen, und zwar mit Unterstützung einer bereitwilligen Gehilfin.« »Hah! Diese Genter Frauen sind so freundlich wie wilde Eber. Glaubst du, er stellt dem hübschen jungen Adler nach?« Es dauerte einen Herzschlag, bis sie begriff, daß sie gemeint war. »Was? Nach dem Streit mit dem alten Meister? Ich glaube nicht.« »Wie kannst du da so sicher sein? Die junge Erbin von Villam pflückte er wie eine Blume, ohne sich eine einzige Schramme zu holen, und das, obwohl sie verlobt war und ihr Vater ihn zweimal ermahnt hatte.« Im schwachen Licht, das durch die Stalltüren hereinfiel, sah sie die Schatten der beiden Männer nur undeutlich an der Wand. »Nein, Junge, du kommst von außerhalb des Hofes und weißt nicht, wie das läuft. Was gesagt wird und was geschehen ist, sind zwei verschiedene Dinge. Die Erbin und der alte Villam wollten durchaus eine Heirat mit dem Prinzen, doch König Henry kann seinem Sohn niemals eine Heirat erlauben. Das würde den Jungen in den Augen der Öffentlichkeit zu seinem rechtmäßigen Erben machen, nicht wahr? Also wurden entsprechende Worte verlautbart, und es wurde eine Verlobung mit einer anderen Familie arrangiert, und das Mädchen bekam trotzdem, was sie wollte, und wie es heißt, obendrein noch ein Kind, das sie nach ihrer Heirat einem anderen Mann gebar.« »Und der Prinz? Hat er gekriegt, was er wollte?« »Wer weiß das schon?« erwiderte der andere Mann, der eine 80 höhere Stimme und mehr Zuversicht hatte. »Der Prinz tut, was ihm sein Vater, der König, sagt. Ich bezweifle, daß ihm diese Verbindung etwas ausgemacht hat.« »Er hat sie angesehen«, prahlte der erste Sprecher. »Er hat den jungen Adler angesehen. Sie ist ein Blickfang, ganz warm und strahlend. Warum sollte er ihr nicht nachstellen? Es gefällt mir nicht, wie der alte Meister mit ihm gesprochen hat.« »Mir auch nicht. Es gibt keinen besseren Mann als unseren Prinzen.« Der andere zeigte mit einem verärgerten Grunzen seine Zustimmung.
»Aber da draußen gibt es eine Welt jenseits der Drachen, Junge, was von einem Grünschnabel wie dir nur zu gern vergessen wird. Und die Kämpfe in dieser Welt laufen nach Regeln ab, die weit komplizierter sind als die, die wir für unsere Kämpfe gegen König Henrys Feinde kennen müssen. Also höre gut zu, was ich dir jetzt sage. Versetze niemals einen Adler in Wut. Schlafe niemals mit einer Frau, wenn der Preis - in welcher Münze auch immer - höher ist als der Wert des Vergnügens. So. Als Gegenleistung für diese Ratschläge kannst du heute abend mein Zaumzeug einfetten, während ich draußen wilde Eber jage.« »Ich soll dein Zaumzeug einfetten?« Der andere Mann setzte sich in Bewegung. Liath drückte sich gegen die Mauer, die eine Hand noch auf dem Buch, während sie ganz fest an Schatten und Stille und Unsichtbarkeit dachte. Die zwei Drachen schritten an ihrer Nische vorbei, ohne sie zu bemerken; der jüngere beklagte sich noch immer. Einen Augenblick später hörte sie Wulfhere ihren Namen rufen. Sie schob die Satteltaschen unter das Stroh und legte ihren Sattel und das Bettzeug darüber, dann eilte sie davon. Manfred war zurückgekehrt; sein Umhang war naß, aber der 81 Rest einigermaßen trocken. Er lächelte tatsächlich, als er sie sah. Sie spürte seinen Blick und war peinlich berührt, zupfte an ihren Haaren, die bestimmt noch voller Stroh waren. Wenn nur Hanna bei ihr wäre. Wenn sie nur sicher sein könnte, daß Hanna noch am Leben war. »Da bist du ja«, sagte Wulfhere. »Bürgermeister Werner bittet uns, an seinem Bankett heute abend teilzunehmen. Er will uns damit Ehre erweisen - oder er hat einfach keine anderen, interessanteren Gäste, die er unterhalten kann.« »Wird der Prinz auch dasein?« Wulfhere wölbte die Brauen. »Ich nehme es an. Bürgermeister Werner wird es nicht wagen, ihn nicht einzuladen, selbst wenn sie sich nicht so gut verstehen. Sanglant liebt gutes Essen und Trinken zu sehr, um nicht zu kommen.« Das Essen war wirklich gut, geradezu erstaunlich gut für eine Stadt, die belagert wurde. Es gab geschmortes Rindfleisch mit Kräutern, die Liath niemals zuvor gekostet hatte, Pastete, Apfelkuchen, zwei geröstete Schweine, Weißbrot und jede Menge Wein. Liath folgte Wulfheres Beispiel und trank nur wenig, vermischte den Wein mit Wasser. Der Prinz am anderen Ende des Tisches tat es Bürgermeister Werner gleich, der einen Becher nach dem anderen leerte. Manfred blickte angewidert drein. »Was ist los?« fragte sie im Flüsterton. »Wenn der Winter kommt, müssen die Stadtbewohner hungern, weil uns jetzt so großzügige Mahlzeiten serviert werden.« Es war der längste Satz, den sie jemals von ihm gehört hatte. »Sicher haben sie ihre eigenen Nahrungsvorräte.« »Genug für eine Belagerung?« »Glaubst du, daß die Aikha die Stadt so lange belagern wer82 den? Sicher wird Gräfin Hildegard der Belagerung ein Ende bereiten.« »Wenn dies in ihren Möglichkeiten liegt.« Nach Liaths Einschätzung zog sich das Essen und Trinken fürchterlich in die Länge. Ein alter Mann trug Gedichte vor, von denen er offensichtlich glaubte, daß sie im Stil der alten Dariyaner wären; Liath hatte jedoch eine Abschrift von Virgilias Heleniade gelesen, und sie schauderte, als sie ihn hörte. Doch es gab auch Dichter, die eigene, bessere Lieder sangen; ihre Stücke handelten von den Helden vergangener Tage, wahren Episoden aus dem großen Epos Das Gold der Hevellianer. Musikanten spielten Melodien auf der Leier und der Zither. Es gab einen Jongleur und zwei Mädchen, die auf einem von zwei Männern gehaltenen Seil balancierten und Tricks vorführten. Doch alles in allem war es heiß, voller Rauch, laut und langweilig. Sie entschuldigte sich mit der Begründung, sich erleichtern zu müssen. Nachdem sie das getan hatte, verspürte sie kein Verlangen mehr zurückzukehren. Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolkendecke war teilweise sogar aufgerissen, und so waren einzelne Sterne am Himmel zu sehen. Liath hielt sich im Schatten, sog die Nachtluft ein, genoß das Alleinsein. Abgesehen von dem gedämpften Lärm aus der großen Halle und dem entfernten Klang der Trommeln war es still. Vier Frauen gingen fröhlich lachend vorbei; sie waren unterwegs zur Küche und hatten Tabletts in die Hüften gestemmt. »Ein Mann ist deshalb ein Mann, weil er einen Bart hat«, sagte eine. »Aber Frater und Mönche haben keine Barte.« »Um sich mehr wie Frauen zu geben und so eher das Wohlwollen Unserer Herrin zu erlangen! Sie verpflichten ihren 83 Körper und ihre Ehre der Kirche, indem sie sich die Barte scheren. Es ist das Zeichen ihres Dienstes.« »Also meinst du, ein Mann, der keinen Bart hat und ein Kirchenmann ist, ist kein richtiger Mann, ja?« »Nun, meine liebe Fastrada«, sagte eine, die bis jetzt geschwiegen hatte, »das mag wohl stimmen, aber ich spreche die Wahrheit, wenn ich sage, daß der Prinz ein Mann ist wie jeder andere. Zumindest kam er mir so
vor.« Die anderen lachten herzlich und verlangten mehr Einzelheiten, aber sie weigerte sich. Liath schlich über den Hof; sie betete, daß niemand sie bemerken würde, und stahl sich zu den Ställen. Niemand hatte sich in der leeren Nische zu schaffen gemacht; alles war so, wie sie es verlassen hatte. Sie ging wieder nach draußen. Der Palast des Bürgermeisters stand auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des östlichen Flußufers; er war von einem kleineren Palisadenzaun umgeben. Sie kletterte die Leiter empor, die zu dem schmalen Wehrgang führte, und wurde mit einem Blick auf die Stadt Gent überrascht, auf das östliche Ufer und das dunkle Band der Veser. Sie hatten zunehmenden Mond, und es stand bereits ein Viertelmond am Himmel; er verlieh der Nacht einen sanften Schimmer. Es waren keine Wachen da. Sie vermutete, sie stünden jetzt draußen auf den Stadtmauern. Im Osten sah sie die Feuer des Aikha-Lagers, das sich entlang der Veser in südliche und nördliche Richtung erstreckte, so weit das Auge reichte. Gent war dunkler; nur ein schwacher Lichtschimmer drang von der großen Halle herüber, und in der Ferne bewegten sich die Fackeln der Wachen, die ihre Runden auf der Stadtmauer und innerhalb der Stadt machten. Zwei dunkle Striche, einer im Osten, einer im Westen, unterbrachen das Band des Flusses: die zwei Brücken, die zu der breiten Insel führten, auf der die Stadt Gent lag. 84 Sie war allein. Sie blickte zum Himmel hinauf, dachte an Wulfheres Worte. Der Sternenhaufen, der die Krone genannt wurde und an das Sternbild mit dem Namen das Kind grenzte, war zu Beginn des Jahres mit dem Frühlingsäquinoktium vom Himmel verschwunden. Der Löwe verblaßte. Jetzt beherrschten der Drache und die Schlange die Häuser der Nacht. Der Rote Planet - Jedu, der Engel des Krieges - leuchtete noch immer im Haus des Bogenschützen, des hellen Suchers. Doch schon bald - in sieben Tagen - würde der rote Jedu in das Haus des Einhorns eingehen: Ehrgeiz vereint mit Willenskraft. Das kündete von einer Zeit des Voranschreitens, denn Leute mit einem starken Willen konnten Kraft aus diesem Willen und ihrem ausgeprägten Ehrgeiz ziehen und dazu benutzen, in der Welt voranzukommen. Doch Pa hatte ihr immer wieder eingeschärft, vorsichtig mit diesen astrologischen Aussagen zu sein, die für sich in Anspruch nahmen, aus den Positionen und Bewegungen der Planeten entlang den Sphären der Fixsterne die Zukunft vorhersagen zu können. Ja, es lag eine Macht in dem Wissen über die Himmelssphären, aber es war nicht diese. Sie hatte sich diese Dinge längst eingeprägt, ohne die Möglichkeit, sie anwenden zu können. »Die Bewegungen der Wandelsterne in den Himmelssphären bieten den Magi und Mathematiki einen der Hinweise auf die Linien, aus denen sie die Macht aus den Himmelssphären zu sich herabziehen können, um sie auf der Erde zu nutzen. Mit den gleichen Mitteln können sie auch die Dämonen der oberen Sphären bestimmen; jene Dämonen, die dank ihres größeren Wissens über das Universum höchst empfänglich sind für eine bestimmte Ausrichtung der Himmelssphären auf Zwang oder Überzeugung.« Leise Stimmen von unten rissen Liath aus ihrer Träumerei. 85 Sanfte Schritte erklangen, kamen die Leiter herauf. Sie zog sich in die Schatten zurück und schlang ihren Umhang fester um sich, als ob er ein Teil dieser Schatten wäre und auch sie dadurch zu einem Bestandteil der Nacht, der Stille und der Dunkelheit machte. »Ich habe mir dieses Gespräch nicht ausgesucht«, meinte gerade die erste Stimme. Jemand war oben auf dem Wehrgang angekommen und blieb stehen, den Blick nach Osten gerichtet. Es war der Prinz. Sie erkannte ihn sofort an seiner Stimme, an seinem merkwürdig rauhen Ton, an seiner Haltung. Er war sehr groß und hatte breite Schultern, und er strahlte die Zuversicht eines Mannes aus, der mit Waffen umzugehen verstand. Zu ihrer Überraschung war Wulfhere sein Begleiter. Trotz ihres vorhergegangenen Streits in den Unterkünften schienen sie sich jetzt herzlich miteinander zu unterhalten. »Aber es berührt Euch trotzdem. Ich habe mehr als einmal gehört, daß König Henry sich weigert, Sapientia auf die Nachfolge-Rundreise zu schicken, obwohl das ihr Recht ist, wenn er sie Theophanu vorzieht. Sie ist beinahe zwanzig Jahre alt.« »Genauso alt wie König Henry, als er aufgrund seiner Zeugungsfähigkeit - deren Ergebnis ich bin - zum Erben ernannt wurde.« Sanglants Ton klang beinahe spöttisch. »Dann müßt Ihr sprechen.« »Es ist nicht an mir, in dieser Angelegenheit zu sprechen. König Henry hat seine Ratgeber. Er hat Kameraden, Männer und Frauen, die in seinem Alter sind und aufgrund eigener Geburtsrechte Ländereien und Güter besitzen.« »Sicherlich können diese hohen Persönlichkeiten den König nicht beraten, ohne an ihren eigenen Vorteil zu denken.« »Beraten wir denn nicht alle auf diese Weise, Wulfhere, immer eingedenk dessen, was für uns selbst am besten ist? Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen.« 86 »Und wer sind diese Ausnahmen Eurer Meinung nach, Prinz Sanglant?« »Von all denen würde ich nur der Geistlichen, Rosvita von Korvei, trauen. Sie hat eine vornehme Haltung, die gut zu ihrer Umgänglichkeit und ihrer Gutmütigkeit paßt. Sie ist bescheiden und geduldig und sehr gebildet. All dies macht sie zu einer äußerst klugen Beraterin.«
Er machte eine leichte Bewegung zur Seite. Liath drückte sich stärker in die Schatten, spürte die runden Holzpfosten hart in ihrem Rücken. Der Mond und die Sterne verströmten jedoch nicht genug Licht, als daß er sie hätte sehen können. Schließlich seufzte der Prinz. »Was wollt Ihr von mir, Wulfhere? Einige suchen meine Gunst. Andere sprechen schlecht von mir in der Hoffnung, daß mein Vater sich gegen mich wendet. Ihr deutet an, daß das Volk meiner Mutter fürchterliche Intrigen spinnt, und empfehlt mir, meinen Anteil daran vor meinem Vater und den übrigen zu verbergen. Aber ich bin nicht so belesen und so gebildet wie Ihr. Ich bin nicht in der Lage, mir aufgrund von Andeutungen, bruchstückhaften Satzfetzen und Phrasen in Sprachen, die ich nicht kenne, die Dinge zusammenzureimen. Es heißt, Ihr wäret in dem Jahr als Adler eingesetzt worden, als Arnulf der Ältere starb und Wendar und Varre dem jüngeren Arnulf und Königin Berengaria hinterließ. Doch es heißt auch, mein Freund, daß in dem Jahr, als Königin Berengaria im Wochenbett starb, Ihr ins Vertrauen jener gezogen wurdet, die heimlich und verborgen die Wege der Magie lernen, die verbotenen Künste. Und daß Ihr aus genau diesem Grund trotz all Eurer Weisheit und Eurer Erfahrung nicht zu den Vertrauten und Beratern von König Henry zählt.« »Ein Adler dient dem Herrscher, indem er Botschaften und Bekanntmachungen überbringt und berichtet, was er gesehen 87 hat. Es ist nicht seine Aufgabe zu beraten. Wir sind die Augen und Ohren, Prinz Sanglant, nichts weiter.« »Und doch, so will mir scheinen, bringt Ihr zufällig einen wunderhübschen Adler in Euer Nest.« Er klang, als wollte er den älteren Mann provozieren. Wulfhere antwortete nicht sofort. Die Trommeln, die unaufhörlich im Lager der Aikha geschlagen wurden, veränderten den Rhythmus, indem in der Mitte des Vierteltaktes ein neuer Zwischenschlag eingeführt wurde. Wulfhere sprach so leichthin, daß die Worte wie ein Hammerschlag niedersausten. »Haltet Euch fern von ihr, Sanglant. Sie ist nicht für Euch bestimmt. Und Ihr seid auch nicht für den Thron Eures Vaters bestimmt.« Sanglant lachte. »Erwartet wirklich jemand, daß ich so lange lebe? Ich bin immerhin Hauptmann der Drachen. Von allen Hauptleuten hat nur Conrad der Drache seinem König länger gedient als ich bislang.« »Ihr könntet Einfluß auf König Henrys Entscheidung nehmen.« »Kann ich das?« Wulfhere schien absolut unfähig, jemals die Beherrschung zu verlieren, egal, wie sehr Sanglant auch versuchte, ihn wütend zu machen. »Es gibt keine einzige Menschenseele im Umfeld der Rundreise des Königs, die nicht erkennen kann, daß er Euch seinen drei rechtmäßigen Kindern vorzieht.« »Ihr verlangt, daß ich eine Thronverzichtserklärung abgebe?« »Ich bin nicht der einzige, der das wünscht. Wir müssen die Angelegenheiten des Königreichs bereinigen, bevor noch schlimmeres Unheil eintritt, denn der König und sein Hof sind nicht im reinen miteinander.« Sanglant wandte Wulfhere den Rücken zu und beugte sich 88 noch weiter über die Brüstung, als wollte er einen Blick auf das Aikha-Lager werfen oder mit den Händen nach den Sternen greifen. Aber es hatte nicht den Anschein, als ob er fallen würde. »Ich weigere mich, wie ich es immer getan habe und immer tun werde. Ihr müßt mit dem König darüber sprechen. Ich bin nur der Drache des Königs, sein gehorsamer Sohn und Diener. Wie ich es immer gewesen bin.« »Ist das Eure einzige Antwort?« »Das ist meine einzige Antwort.« Wulfhere verbeugte sich, obwohl Sanglant die Geste nicht sehen konnte. »Dann werde ich Euch Euren Meditationen überlassen.« Wenn er verärgert war, so verriet er dies weder durch seine Haltung noch durch seinen Tonfall. »Wann reist Ihr ab?« fragte Sanglant. »Meine Kameradin Hathui reitet in diesem Augenblick zum König, um ihm die Kunde von der Belagerung zu überbringen. Wir werden eine Zeitlang hierbleiben und sehen, was geschieht. Ich will wissen, ob ich dieses Wesen, von dem Ihr gesprochen habt, unter den Aikha ausfindig machen kann.« »Ihr traut meinen Instinkten?« »Ich wäre ein Narr, wenn ich es nicht täte.« »Das ist ein großes Lob von Euch, Wulfhere.« Jetzt wirkten sie mehr als alles andere wie zwei Soldaten, die miteinander Kampfübungen abhielten. »Genau so war es gemeint. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.« »Die werde ich ganz sicher haben.« Die Absicht war eindeutig. Wulfhere drehte leicht seinen Kopf, als würde er einen Blick über die Brüstung werfen und hinab auf den Boden und das lange Dach des Bürgermeister-Palastes schauen. Liath verhielt sich weiterhin reglos, gab auch nicht das kleinste Geräusch von sich. Wulfhere bemerkte sie 89 nicht. Er stieg die Leiter hinunter, und schon bald versiegte der leise Klang seiner Schritte. Eine lange Stille trat ein, in der nur das von weither klingende Getrommel der Aikha zu hören war. Sie betete, daß auch Sanglant verschwinden möge.
Plötzlich sprach er mit tiefer Stimme in die Leere vor sich: »Ihr seid die ganze Zeit hiergewesen.« Sie bewegte sich nicht, wagte nicht einmal zu atmen. Er trat von der Brüstung zurück und schritt mit vollkommener Sicherheit den Wehrgang entlang zu den Schatten, in denen sie sich versteckt hielt. Da sie im Dunkeln gut sehen konnte, bemerkte sie auch, wie er eine Hand hob und sie zu sich winkte. Sie wagte nicht, sich zu widersetzen. Sie stand auf und trat zu ihm, blieb sicherheitshalber eine Armeslänge vor ihm stehen. »Woher wußtet Ihr, daß ich da war?« »Ich habe ein scharfes Gehör. Wißt Ihr denn nicht, was man vom Volk meiner Mutter sagt?« Sein Ton war verbittert, und sie begriff plötzlich, daß vieles von dem, was er zu Wulfhere gesagt hatte, einem tiefen Groll entsprang, den sie weder einordnen noch verstehen konnte. »Es heißt, daß es die Brut gefallener Engel ist, auch bekannt als die Dämonen der oberen Sphären, die sich mit menschlichen Frauen gepaart haben. Daß sie wie ihre häßlichen Väter die Gabe besitzen, die unausgesprochenen Wünsche eines menschlichen Herzens zu hören und es dann mit ihnen zu quälen.« »Aber das ist nicht das, was der heilige Daisan lehrte«, entfuhr es ihr. Entgeistert stellte sie fest, wie unverblümt sie gesprochen hatte. »Was hat der heilige Daisan denn gelehrt?« Sie wußte nicht, ob er aus aufrichtiger Neugier fragte oder ihr aus unbekannten Gründen ihren Willen ließ. 90 »Der Prinz ist ein Mann wie jeder andere«, hatte die Dienerin gesagt. Er machte einen Schritt auf sie zu, und wäre sie in der Lage dazu gewesen, sie hätte sich umgedreht und wäre davongelaufen. Aber sie konnte nicht. Da sie nicht wußte, was sie anderes tun sollte, ergriff sie rasch das Wort. »Er lehrte, daß Elfen aus Feuer und Licht geboren wurden. Denn alle Dinge kamen aus den vier Elementen Feuer, Licht, Wind und Wasser. Nur wenn sich die Finsternis aus den Tiefen erhebt, wird das Universum mit dem Bösen befleckt. Wenn Elfen also mit der Finsternis befleckt sind, dann nur, weil es alle Dinge sind, die in der Welt existieren. Nur in der Kammer des Lichts wurde alle Finsternis von der wilden Wahrheit verbrannt, die im Blick Unserer Herrin und Unseres Herrn liegt.« Dank ihrer Nachtsichtigkeit sah sie, wie er mehrmals mit den Augen zwinkerte; er war um Worte verlegen. Dann rührte er sich wieder und kam so nah heran, daß sie die Wärme seines Körpers spürte. »Aha. Ich soll mich also von Euch fernhalten, ja?« Er neigte sich herab, als wollte er sie küssen. Doch er besann sich eines Besseren und berührte statt dessen mit dem Finger seine eigenen Lippen, als wollte er sich und sie zum Schweigen verpflichten. »Wie schade, daß ich schon immer ein gehorsamer Sohn war.« Er drehte sich um und ging, verschwand nach unten zum Hof, in die Nacht hinein. Sie war wieder allein. Hugh. Hugh hatte sie gesehen. Hugh würde es wissen. Oh, Herrin. Es war nicht Hugh, an den sie dachte. Es war Begierde. Sie schämte sich für die Regungen in ihrem Innern. Was war mit ihr nicht in Ordnung, daß sie nach all dem, was sie im Winter hatte erleiden müssen, ein solches Gefühl entwickeln konnte? Im See ist eine Insel. Eine Stadt erhebt sich auf dieser Insel, 91 umringt von sieben Mauern. Ganz oben steht ein Turm aus Stein. In dem Turm sind fünf Türen, jede von ihnen wurde mit dem gleichen Messingschlüssel verschlossen. Doch in der Tür, die sich nach Norden öffnet, liegt der Schatten einer verborgenen Tür, die in die Wildnis führt. Es ist jetzt hell und warm und einladend in dieser Wildnis, in dem unwegbaren Gelände, in das sie den Schlüssel geworfen hatte. Nur sie kann dort in Sicherheit umherwandeln. Aber niemals ist es sicher. Sie sank auf die Knie und barg den Kopf in den Händen. Sie durfte sich nicht in Versuchung führen lassen. Der Sohn des Königs. Den Drachen verschworen und für sie tabu. Gefangen in den Intrigen des Hofes. Es war zu gefährlich, an einen solchen Mann auch nur zu denken - als könnte ein solcher Mann jemals mit einem ehrlichen Herzen an sie denken. Sie mußte solche Gedanken beiseite schieben. Sie mußte sich verbergen, so gut sie konnte. Sie mußte vorsichtig sein, denn sie konnte niemandem trauen, niemandem außer Hanna, die jetzt nicht bei ihr war, vielleicht nicht einmal mehr lebte und ohnehin keine Macht in dieser Welt besaß. »Oh, Herrin, beschütze mich, deine Tochter«, flüsterte sie. Doch so bitter ihre Scham auch war, sie konnte nicht aufhören, an den Prinzen zu denken. Die Begierde ist wie eine Flamme, eine brennende Fackel in der Nacht. Sie zieht eine Reisende in der Dunkelheit mit aller Kraft an. Liath schloß die Augen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Fackeln entlang der Mauern, sah brennende Feuer am Ufer, als wären sie die Verführung, die sich in ihr Herz fraß. Hugh würde sie sehen - und er würde sie benutzen, um sie zu finden. Sie löschte die Fackeln. In der Wildnis jenseits der Stadt, die es nur in ihrer Vorstellung gab, hörte die Sonne auf zu schei92 nen. Es war wie ein kühler Frühlingsabend, der beruhigend auf ihr erstarrtes Herz wirkte. Noch war sie in Sicherheit, konnte sich in Sicherheit bringen, indem sie nichts fühlte.
Auch wenn sie es nicht sehen konnte, erloschen am östlichen Ufer die Feuer; dabei regnete es nicht einmal. Und obwohl kein Wind ging, wurde ein Drittel der Fackeln auf den Mauern von Gent ausgeblasen. III Die Sünde des Stolzes
i Feuer brennen, und in dem dichten Qualm hängt der ranzige Geruch nach menschlicher Furcht. Er hält inne, schmeckt mit herausgestreckter Zunge die Luft. In dem Geruch aus verbranntem Holz, toten Menschen, brennendem Stroh und dem von vielen Füßen aufgewirbelten Staub findet er den vertrauten, trockenen Moschusgeruch seiner eigenen Art - auch wenn darin nicht die pikante Würze seines eigenen Stammes, seines heimatlichen Ufers ist. Hinter ihm wogt die See gegen eine entfernte Landspitze, rauscht weich gegen den Strand, wo die sauberen Holzboote liegen. Sie riechen nach Meerwasser und Krebsen und nach guter, starker Eiche, gemischt mit ein bißchen Esche und Weide. Aus dem Wald hinter ihm dringen Rufe und donnernde Schläge an seine Ohren. Er stürzt sich in das nächste Dickicht. 94 Einige der Weichen, der Menschen, rennen vorbei; ihr Schrecken, ihre Qualen schmecken süß auf seiner in die Luft gestreckten Zungenspitze. Aber er läßt sie durch. Zwei von ihnen sind Kinder; sie werden von einer kräftigen Mutter getragen, deren Tränen nach dem Salz der See riechen. Er nimmt eine neue Schwäche in sich wahr, eine, die durch den Kontakt mit Elen, Sohn von Henri, heraufbeschworen wurde. Er denkt an AltMutter, die bereits den langsamen Marsch den Fjall hinauf begonnen hat, wo sie ihren Platz bei den WeisMüttern einnehmen wird. Sie spricht oft mit Verachtung von den weichen Müttern, denn die jungen, die sie gebären, stehen den FelsenKindern an Stärke und Anzahl weit nach. Aber Elen hatte eine solche Mutter. So läßt er sie unbehelligt vorbeiziehen, bevor er aus dem Dickicht herauskriecht und sich an den Abstieg zu seinen Cousins macht. Werden ihn die Cousins mit Frieden in ihren Herzen willkommen heißen? Oder werden sie ihre Hunde auf ihn hetzen? Er verscheucht seine Zweifel mit einem Schulterzucken. Der Geruch der AltMutter haftet stark an ihm. Sie versprach ihm viel, bevor ihre Gelenke steif wurden, und sie das Messer der Entscheidung an die neue fungMutter weiterreichte. Selbst wenn es sich bei diesen Kriegern nicht wirklich um Cousins handelte, würden sie keinem etwas antun, der dieses Zeichen der Gunst aufweist. Und auch kein Hund, von welcher Meute auch immer, würde jemanden fressen, der mit dem Geruch einer AltMutter gezeichnet ist. Dennoch trägt er diese neue Schwäche mit sich, als er durch den Wald hinabsteigt. Sie ruht ständig in ihm, aber er spürt auch den Holzkreis, der als körperliches Zeichen dieser Schwäche an seiner Brust hängt, eine greifbare Erinnerung. Andere Menschen begegnen ihm auf ihrer Flucht, doch er geht ihnen aus dem Weg. Diese neue Schwäche lehrte ihn eines: 95 Die Weichen sind natürlich keine richtigen Leute, aber eine Art Leute. Leute können reden. Das lehren die WeisMütter. Und das flüsterte man ihm damals zu, als er noch ein halbwüchsiges junges war und sich in die Berge zu dem heiligen Platz gewagt hatte, um den sich die RaschTöchter kümmern. Er hatte wissen wollen, ob die WeisMütter zu ihm sprechen oder ihn für seine Anmaßung töten würden. »Das Messer und die Zunge sind gleich starke Waffen.« Die WeisMütter hatten zweimal gesprochen, und er erinnerte sich immer daran. »Stelle dich deiner Schwäche, und du kannst sie in Stärke verwandeln.« Er verläßt den Wald und tritt hinaus in ein Gelände, das von Wind und Gischt umwirbelt wird. Die Häuser der Weichen stehen jetzt alle in Flammen. Der Geruch der Feuer vermischt sich mit dem stechenden Geschmack nach Meer, Sand und Ufer. Die Hunde bellen, als sie ihn riechen. Ein aufmerksamer Wächter sieht ihn und stellt ihm pfeifend eine Frage. Er pfeift zurück, sieht das Zeichen, das ihm freien Durchgang gewährt. Mit neuer Zuversicht schreitet er hinunter zum Meer. Alain erwachte zitternd und durchgefroren auf dem Boden. Er rührte sich nicht. Die schrecklichen Bilder aus seinem Traum hallten in seinem Kopf nach. Er schmeckte noch immer die See und die brennenden Feuer. Er hörte noch immer die Schreie der Kinder und das Stöhnen der Männer, die durch die Speere und Streitäxte der Aikha fielen. Er sah noch immer die gewaltigen Hunde, ihre eingefallenen Bäuche und die unermüdliche Wut, ihre gelben, blitzenden Augen. Sie keuchten in einem fort, die Zunge hing ihnen heraus, und Speichel - oder Schlimmeres - troff von ihren Lefzen. Er zitterte und bewegte sich. Rage und Kummer drückten
96 sich von beiden Seiten gegen ihn. Ihre spürbare Gegenwart gab ihm das Gefühl von Sicherheit. Im Unterschied zu den Fußsoldaten, die in Graf Lavastins Heereszug mitmarschierten, konnte er jetzt auf einem ordentlichen Bett schlafen: auf dem Teppich, der immer vor dem Eingang zum Zelt des Grafen ausgerollt wurde. Jede Nacht, wenn er den anderen Hunden Wasser gegeben und sie gefüttert und zum Schlafen zu ihrem Herrn geschickt hatte, legte Alain sich dort nieder. Obwohl es ein bißchen absurd war - er besaß zwar einen Speer und ein Messer, konnte aber weder mit dem einen noch mit dem anderen richtig umgehen -, sah er sich als jemanden, der den Grafen beschützte, obwohl zwei Soldaten pausenlos Wache standen. Doch niemand hatte ihn aufgefordert zu verschwinden. Vermutlich traute sich niemand, ihn dazu aufzufordern, denn immer waren die Hunde an seiner Seite, und Graf Lavastin schien sich für nichts anderes zu interessieren als dafür, Prinzessin Sabella zu helfen. Rage jaulte auf und zuckte im Schlaf. Kummer schlief ruhiger, doch er pflegte bei der kleinsten Bewegung von Alain aufzuwachen. Und allein bei dem Gedanken mußte Alain einfach aufstehen. Gestern waren Graf Lavastin und sein Heer auf Prinzessin Sabella gestoßen. Das beeindruckende Gefolge, das Alain beinahe zwei Monate zuvor auf Burg Lavas gesehen hatte, war jetzt zu einem großen Heer angeschwollen. Rodulf, der Herzog von Varingia, und eine Anzahl verschiedener Grafen und anderer Edelmänner hatten sich ebenfalls Sabella angeschlossen. Lavastins Ankunft mit hundertzwanzig weiteren Soldaten war eine gute Begründung für ein ausgiebiges Fest gewesen, das bis weit in die Nacht gedauert hatte. Alain hatte von dem Bier, das bei den gewöhnlichen Soldaten herumgereicht wurde, mehr getrunken, als ihm guttat. Jetzt hatte er Kopf97 schmerzen und einen säuerlichen Geschmack im Mund, der sich außerdem furchtbar trocken anfühlte. Und er mußte sich unbedingt erleichtern. Eine der Wachen war eingeschlafen. Die andere gähnte gleichgültig, als Alain aufstand. Kummer wachte sofort auf, als Alain im spärlichen Schutz des Waldes verschwand, der kaum zwanzig Schritte hinter dem Lager begann. Der Hund folgte ihm leise jaulend. Alain erleichterte sich. Der Mond war bereits untergegangen, aber eine dünne, rote Linie säumte den östlichen Horizont. Vom anderen Ende des Lagers hörte er die unterdrückten Geräusche der Geistlichen und Frater, die im ersten Morgengrauen die Messe der Laudes abhielten. Als er sich umdrehte, um den Wald wieder zu verlassen, schnappte Kummer mit der Schnauze nach Alains Handgelenk und zog ihn mit sich. Unterholz knackte unter Alains Füßen. »Was ist das?« Ein rauhes Flüstern erklang tiefer aus dem Wald. Kummer preßte sich so hart gegen Alain, daß dieser auf alle viere fiel. Jetzt verdeckten ihn die niedrigen Büsche zum Teil. Er blinzelte durch die Zweige hindurch und sah zwei Gestalten, die etwas Schweres schleppten. Sie mußten stehenbleiben und sich ausruhen. »Still«, sagte die andere Stimme. Alain war still. Kummer war still. Die beiden rätselhaften Männer waren still. Die Geistlichen und die Frater sangen, und ihre schwach vernehmbaren Stimmen vermischten sich in der kühlen Luft, während sich der schwarze Himmel in Grau verwandelte. »Nichts«, meinte einer der Männer. »Wir sollten uns beeilen, bevor das Lager erwacht.« Er wuchtete das Etwas, das sie trugen, höher gegen seine Brust, und sie folgten dem Ausläu98 fer des Waldes und marschierten auf das östliche Ende des Lagers zu. Sie trugen einen Körper. Alain war, als würde eine eiskalte Faust nach seinem Herzen greifen. Kummer leckte seine Hand, und gemeinsam schlichen sie den beiden Männern hinterher. Alain hielt immer eine Hand am Nacken des Hundes und schob, wie um sich selbst zu beruhigen, die andere Hand in die Tunika, berührte die Rose, die noch immer lebte, noch immer blühte. Das sanfte Stechen ihrer Dornen gab ihm Mut. Er wußte nicht, ob es der Körper eines Mannes oder einer Frau war - und ob er lebendig oder tot war. Sie trugen ihn den ganzen Weg bis zum Rand des Lagers, wo die Küchenzelte errichtet waren, dann noch weiter am Vieh vorbei, bis zu jener Stelle, wo ein mit Tüchern verhängter Käfig stand - gut fünfzig Schritt von jedem Zelt und jedem Feuer entfernt. Ein Mann mit Kapuze, dessen Arme mit dicken Lederbändern umwickelt waren, erwartete sie. Sie sprachen leise miteinander. Zuerst konnte Alain sie nicht verstehen; kein Mensch hätte sie verstehen können. Aber ein Aikha ... Alain richtete sich auf, beruhigte sich, bis er Kummers leises Keuchen hören konnte, jede Stimme einzeln vernahm - einige deutlich, andere abebbend, denn die Geistlichen sangen jetzt die letzten Kadenzen der Laudes. Er hörte Klauen an Holz scharren, Zweige in der Morgenbrise knacken, hörte sogar den Lehm zwischen seinen Fingern hindurchrieseln. »... werden wohl keine Fragen gestellt werden.« »Er ist vom Gut bei Autun. Das Land gehört der Bischöfin von Autun, und damit ist es Land des falschen Königs. Das sagt jedenfalls Bischof in Antonia - und auch, daß die Leute des falschen Königs Freiwild sind.«
99 Der Wärter grunzte. »Solange wir keinen Ärger kriegen. Ihr müßt den ganzen Tag marschiert sein, wenn Ihr von den Ländereien bei Autun kommt. Lebt er noch?« »Er scheint noch zu atmen. Ich habe ihm den Trank gegeben, genau so viel, wie Ihr gesagt habt. Er ist nicht einmal wach geworden oder hat mit den Augen gezwinkert. Wofür ist der Trank? Damit er besser schmeckt?« In der Stimme des Wärters spiegelte sich Abscheu. »Es ist nicht nötig, ihn mehr als nötig leiden zu lassen.« »Ihr habt Mitleid mit dem Mann des falschen Königs?« »Ich tue meine Arbeit. Und jetzt tretet zurück.« »Können wir nicht zusehen?« Der Wärter grunzte. »Ihr könnt zusehen, soviel Ihr wollt. Aber Ihr werdet es bereuen.« Irgend etwas in seiner Stimme veranlaßte die beiden, sich zurückzuziehen. Aber Alain wußte plötzlich, daß er dieses Mal nicht danebenstehen konnte, nicht schon wieder. Er sprang auf. Kummer stieß ihn von hinten an, verfehlte ihn aber, und Alain brach aus dem Unterholz. »Aufhören!« rief er. Die beiden Männer packten ihn sofort; sie hielten ihm die Arme hinter dem Rücken fest. Er wehrte sich kurz, aber gemeinsam waren sie viel kräftiger als er. Ein Krachen ertönte aus dem Käfig, als hätte sich etwas gegen die Latten geworfen. »Wir könnten den da in den Käfig werfen«, meinte einer der Männer. »Er ist frischer und jünger.« Kummer schoß knurrend" zwischen den Bäumen hervor. Die beiden Männer ließen Alain schlagartig los und traten ein Stück zurück, während sie ihre langen Messer zogen. »Das ist einer von Graf Lavastins Hunden«, sagte der Wärter nervös. »Ihr dürft ihnen kein Härchen krümmen.« Kummer setzte sich hin und lehnte sich an Alains Beine. 100 »Tut das nicht«, bat Alain. »Es ist unbarmherzig. Es ist nicht richtig.« Jetzt, aus der Nähe, erkannte Alain, daß der Wärter nur noch eine Hand hatte; die andere endete in einem Stumpf. Die Spuren von alten, tiefen Schnittwunden liefen über Stirn und Kiefer, und weißes Narbengewebe wucherte an der Stelle, wo einst das rechte Auge gewesen war. Ein bronzener Einigkeitskreis hing vor der Brust des Mannes. »Ich muß es füttern, Junge. Mit frischem Blut. Oder ziehst du es vor, dich selbst hineinzuwerfen ?« Alain erschauderte. Aber die Erinnerung an das verängstigte Jammern und Schluchzen von Simplizius war noch immer frisch in ihm. Es war sein Fehler gewesen. Er mußte dafür büßen. Er dachte plötzlich an Frater Agius und seine gefährlichen, ketzerischen Worte: daß der heilige Daisan sich selbst als Opfer angeboten hatte, um uns von unseren Sünden zu erlösen; daß wir uns durch ein Opfer würdig erweisen. Diese Erinnerung an die Eindringlichkeit, mit der Agius seine Rede und sein Gebet vorgetragen hatte, ließen Alain näher an den Käfig treten. Kummer stieß Alain so hart von hinten an, daß er auf die Knie fiel. Der Hund packte ihn fest am Arm. Seine Zähne gruben sich so tief in Alains Fleisch, daß es schmerzte, auch wenn kein Blut floß. Die beiden Männer rückten mit erhobenen Messern näher. Kummer knurrte, ließ aber nicht los. »Der hier scheint nicht deiner Meinung zu sein«, sagte der Wärter mit schroffer Erheiterung. Er beugte sich hinunter zu dem schlaffen Körper zu seinen Füßen und hakte die Ellenbogen unter die Armhöhlen des schlafenden Mannes. Der Wärter mochte nur noch eine Hand besitzen, trotzdem war er ein kräftiger Mann. Er zog den Körper mit Leichtigkeit - vielleicht sogar mit einer Art Zuneigung - zum Käfig und öffnete eine 101 kleine, vergitterte Tür, die in der Breite und Höhe nicht größer war als die Schulterbreite eines großen Mannes. »Laß mich los!« forderte Alain energisch. Er ignorierte den Schmerz, der durch seinen Arm fuhr, als er sich mit einem Ruck aus Kummers Griff befreite und nach vorn stürzte. Er würde diesen Mord verhindern. Er mußte ihn verhindern. Der Wärter wirbelte zu ihm herum und riß vor Überraschung das Tuch zur Hälfte vom Käfig, so daß Den Männern hinter Alain entfuhren vor Furcht laute Schreie, dann schien ihnen die Stimme zu versagen. Ein großes Auge richtete sich auf Alain - das einzige, das die Kreatur besaß. Das andere war eine Masse aus Verwesung, und Würmer tummelten sich in dem entzündeten Fleisch, krochen aus dem Eiter und wanden sich die schnabelähnliche Schnauze hinab. Der Blick der Kreatur traf Alain wie das Schwert Gottes. Er war unfähig, sich zu rühren. Aber er konnte seine Augen nicht abwenden. Seine Kehle war wie zugeschnürt vor Entsetzen. Vor Mitleid. Es war eine kranke Kreatur, unabhängig davon, wie gewaltig sie auch erscheinen mochte. Sie besaß zwei Krallenfüße und zwei Flügel, die sich in der Mauser befanden - wie ein riesiger Vogel. Der Boden des Käfigs war mit Federn und Abfall übersät. Das Wesen hatte einen schlangenartigen Schwanz wie ein Drache und einen federlosen, geschuppten Kopf; die Schuppen glänzten wie Eisen, doch sie hatten auch einen Stich ins Gelblichgrüne, ein deutliches Zeichen, daß dieses Wesen nicht mehr gesund war. Schwerfällig wuchtete es seinen großen Körper durch den Käfig auf seine Mahlzeit zu. Der Wärter schob den Körper hinein, doch der erschauderte plötzlich, und ein winziges Keuchen entrang sich dem bewußtlosen Mann - es war das Keuchen eines Menschen, der 102
gerade aus einem Alptraum erwachte - oder in einen hineingeriet. Das Wesen grub seine Krallen in den Körper und zerrte ihn vollends in seinen Käfig hinein. Der Wärter war barmherzig und warf das Tuch wieder über die Gitterstäbe. Alain hörte ein unterdrücktes Stöhnen, dann schmatzende Geräusche, als das Wesen gierig seine Mahlzeit verschlang. Der Bann, der vom Auge des Guivre ausgegangen war, lockerte sich. Alain fiel nach vorn, und sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Er begann zu weinen. Aber noch immer bewegte er sich nicht, obwohl er jetzt dazu in der Lage gewesen wäre. Zu schrecklich war das, was er gerade gesehen hatte. Der Wärter verschloß die winzige Tür wieder und verriegelte sie. Mit seinem gesunden Auge blinzelte er Alain zu. »Du gehst am besten mit ihnen, Junge. Die Bischöfin will dich sehen.« Bischöfin Antonia. Natürlich steckte sie hinter all dem. Frater Agius hatte sich geweigert, sich ihr entgegenzustellen. Jetzt schien es Alain, als bliebe auch ihm selbst keine andere Wahl, als genau das zu tun oder mit Kummer ein dummes Gemetzel in Gang zu setzen, das er niemals gewinnen konnte. Dieses Wissen verlieh ihm ein tiefes Gefühl von Frieden, als er weggeführt wurde. Kummer folgte ihm gehorsam auf dem Fuße. Das Gefühl von Frieden, die Erleichterung bei dem Gedanken, sich in Gottes Hände zu begeben, verflüchtigte sich jedoch rasch wieder, als er im Vorzimmer des Zeltes wartete. Die Bischöfin hielt draußen die Andacht der Prim, die Feier zur Begrüßung des Sonnenaufgangs und des neuen Tages. Sämtliche Edelleute waren anwesend. Dann kehrte Bischöfin Antonia zurück. Sie wirkte noch immer beeindruckend in ihrer weißen, goldgesäumten Tracht 103 und hielt den Bischofsstab zuversichtlich in der rechten Hand, während sie den geflüsterten Worten eines ihrer Geistlichen lauschte. Ihre Antwort war kurz. »Der wieder? Bruder Heribert, laßt Graf Lavastin benachrichtigen, daß der Junge die nächste Zeit in meinem Gefolge mitmarschieren wird. Lavastin wird keine Einwände erheben.« Der Geistliche verschwand. Alain kniete draußen; er fühlte sich unbehaglich und hatte Angst, während er zusah, wie das Zelt abgebaut und in einem Wagen verstaut wurde. Kummer wich nicht von seiner Seite. Niemand sprach mit ihm, doch alle warfen ihm auffällig unauffällige Blicke zu. Zwei Wachen blieben bei ihm. Als alles bereit war und die Edelleute ihre Pferde bestiegen, löste sich eine schwarze Gestalt von einer Wagenreihe, und Rage schoß zu Alain, nahm ihren Platz neben Kummer ein. Niemand versuchte, sie davon abzuhalten. Ihre Anwesenheit gab ihm auf eine Weise Kraft, wie es sonst nichts vermocht hätte. Als der Heereszug sich in Bewegung setzte, schoben ihn zwei bewaffnete Männer vorwärts. Er ging. Was hätte er auch sonst tun können? Nicht zu wissen, was ihn erwartete, war wohl das Schlimmste von allem. Würde er bestraft werden? Hingerichtet? An das Guivre verfüttert? Er konnte sich nicht vorstellen, was Bischöfin Antonia mit ihm vorhatte. Sie marschierten den ganzen Tag in gemächlichem Tempo, hielten gegen Mittag an, um die Pferde zu tränken. Sie durchquerten hügeliges Land, hauptsächlich Acker- und Weideland, mit kleinen Wäldchen auf den Hügeln und entlang der Reitwege. Das Gelände, durch das sie sich bewegten, war wie geschaffen für ihren Marsch: flache Furten, gute Weiden für das Vieh, das sie mit sich führten, und weit und breit keine Spur von irgendwelchen Verbündeten König Henrys. 104 Aber am späten Nachmittag liefen die Hügel in einem langgezogenen Abhang aus, der sich über dem RhauneTal erhob. Von hier aus konnte Alain - durch den nachmittäglichen Dunst etwas verschwommen - den Steinturm der Kathedrale von Autun erkennen; der Turm war so weit entfernt, daß er aussah wie das Modell eines Steinmetzes. Sie hatten jetzt die Grenze des Landes erreicht, das vom Herzog von Varingia regiert wurde; dahinter lag das Herz des alten Königreiches Varre, auch bekannt als das Herzogtum Arconia. Und hinter dem Herzogtum Arconia lag Wendar. Das Heer und der Troß machten halt und begannen sich auf die Nacht vorzubereiten. Alain wurde von seinen Wachen ins Innere des Zeltes geführt. Dort befahl ihm die Bischöfin, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Die Hunde folgten ihm ohne jeden Laut und machten es sich zu seinen Füßen bequem. Sie überließ ihn der Aufsicht eines ihrer Geistlichen, ein junger Mann mit hellblauen Augen, den sie mit Willibrod anredete. Rote Male bedeckten seine Hände und seinen Nacken. Während er dasaß, schnitzte er Kreise der Einigkeit aus Holz und ritzte Buchstaben auf die Rückseite. Merkwürdigerweise band er auch Haarsträhnen und Blätter und etwas anderes, das aussah wie die Befiederung eines Pfeils, an die Rückseite; dann befestigte er jeden einzelnen Kreis auf einem Lederband. Anscheinend wollte er ein Halsband machen. »Bist du ein Geistlicher in Ausbildung?« wollte der junge Willibrod wissen. »Du bist glatt rasiert, wie es bei einem Kirchenmann Pflicht ist.« Alain errötete, was bei seiner hellen Haut leicht zu erkennen war. Es war ihm noch immer furchtbar peinlich, daß er nicht mehr Bartwuchs hatte als den hellen Flaum an seinem Kinn. Er hatte sich nicht rasiert, und doch schien der Geistliche, der ganz nah bei ihm saß, zu glauben, daß er rasiert wäre. 105 »Ich war einem Kloster versprochen«, brachte er schließlich stotternd hervor, »aber jetzt diene ich Graf Lavastin als Soldat.«
Der Geistliche zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Mönch oder ein Geistlicher in der Armee eines Edelmannes dient, denn heißt es nicht, daß, während Unsere Herrin sich um das Herdfeuer kümmert, Unser Herr das Schwert schwingt?« Bischöfin Antonia trat ein. Sie war von Bediensteten umgeben, die ihr einen Krug Wasser, eine Messingschüssel und weißes, weiches Linnen brachten, damit sie ihre Hände und das Gesicht erfrischen konnte. Andere bürsteteten Staub und Schmutz aus ihrer Kleidung, während eine Frau Antonias lange, silbrigweiße Haare flocht und anschließend ein Tuch aus weißem Linnen um ihren Kopf band. Auf das Tuch setzten zwei Geistliche ihren Hut - die Mitra, Zeichen ihres Ranges als Bischöfin. Die Mitra war groß und lief vorn und hinten spitz zu. Der steife, weiße Stoff war an den Rändern mit breiten Goldborten bestickt. Zwei Goldtroddeln hingen am hinteren Teil des Hutes bis zu ihren Füßen. Eine Geistliche reichte Antonia den Bischofsstab, und sie wandte sich um, betrachtete ihr Gefolge mit einem freundlichen Lächeln, als wollte sie sich bei ihnen für ihre Dienste bedanken. Ihr Blick blieb schließlich bei Alain hängen. Er neigte rasch den Kopf, zu Tode erschrocken, daß er ihre Waschung beobachtet hatte. So konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, sondern nur ihre Stimme hören, als sie sprach. »Ich hatte vor einigen Tagen angeordnet, daß mir noch ein anderer gebracht wird. Ist er noch nicht eingetroffen?« »Nein, Euer Gnaden.« »Ich hoffe, er ist bis zur Komplet bei uns.« Sie klang sanft, sogar hoffnungsvoll, doch Alain erkannte jetzt den Unterton in ihrer Stimme. Trotz ihres freundlichen Aussehens und ih106 rer milden Stimme ließ sie Ungehorsam nicht gelten. Die Geistlichen zogen ab; andere nahmen ihren Platz ein, und zusammen marschierten sie hinaus, so daß die Bischöfin den Abendgesang - die Vesper - abhalten konnte. Willibrod, dem weiterhin die Obhut über Alain aufgetragen war, gestattete ihm, niederzuknien und ebenfalls zu beten, als die Vesper in einem anderen Teil des Lagers gesungen wurde. Während des letzten Psalms erschienen zwei Soldaten am offenen Zelteingang. Sie führten Frater Agius mit sich, als wäre er ein Gefangener. Seine braunen Gewänder waren befleckt und mitgenommen von der Reise, und er hinkte. Alain war so überrascht, daß er mitten im Satz aufsprang. Agius schüttelte seine Wachen ab. Er kniete sich sofort nieder, um die letzten Verse des Psalms zu beenden, und Alain, beschämt von der Frömmigkeit des Fraters, tat es ihm gleich. »Ich dachte, Ihr wärt auf Burg Lavas geblieben«, flüsterte Alain, als das- letzte Halleluja erklang. »Ich dachte, daß Ihr nicht mit Graf Lavastin reiten wolltet.« »Das wollte ich auch nicht.« Agius erhob sich, warf einen Blick auf die Wachen und hinkte hinüber zu der Messingschüssel, um sich das Gesicht zu waschen - mit dem gleichen Wasser, das die Bischöfin benutzt hatte. Alain war gleichermaßen erstaunt und fasziniert von dieser Zurschaustellung irdischer Eitelkeit und Arroganz. Der Frater trocknete sich das Gesicht und die Hände mit dem gleichen weichen, weißen Linnen ab, das die Bischöfin benutzt hatte. »Es ist nicht meine Aufgabe in diesem Leben, mich an den weltlichen Streitigkeiten jener zu beteiligen, die vom Glanz der irdischen Macht und des Vergnügens verführt worden sind.« »Warum seid Ihr dann hier?« wollte Alain wissen. »Ich wurde gegen meinen Willen hierhergebracht.« Agius nahm auf dem gepolsterten Stuhl Platz, von dem 107 selbst ein unwissender Bursche wie Alain, der den Umgang und das Leben der Edelleute nicht kannte, sofort wußte, daß er der Bischöfin vorbehalten war. Dieser Ausdruck offensichtlichen Trotzes ließ Alain erzittern. Seine Stimmung übertrug sich auf die Hunde, und sie wurden unruhig, schlugen mit den Schwänzen gegen den Boden und hoben lauschend die Köpfe. »Ich bitte um Entschuldigung, Bruder«, sagte Willibrod nervös. Er begann, an den verschorften Wunden herumzuzupfen. »Das ist der Stuhl von Bischöfin Antonia. Es steht einem niedrigen Bruder nicht zu, darauf Platz zu nehmen -« Mit einem harten Blick brachte Agius den armen Geistlichen zum Schweigen. Durch die offene Tür hindurch sah Alain das Flackern von Fackeln. Bischöfin Antonia war zurückgekehrt. 2 »Ist es etwa angemessen«, fragte Bischöfin Antonia mit ihrer sanften Stimme, als die erstaunten Ausrufe ihrer Bediensteten verklungen waren, »daß sich ein einfacher Frater erdreistet, auf dem Platz einer Bischöfin zu sitzen, die von der Skopos höchstpersönlich geweiht wurde?« »Unsere Herrin hat mein Herz bereits geprüft und es als unvollkommen erkannt. Es ist Ihre Barmherzigkeit und Ihre Vergebung, deren ich mich würdig erweisen möchte. Nicht die Eure.« Agius mußte außerordentlich wütend sein, wenn er so sprach. »Ihr seid verärgert, mein Kind. Ist dies das Herz, mit dem Ihr Euch Unserer Herrin und Unserem Herrn zeigt?« Der Frater schien von den Worten der Bischöfin nicht im ge108 ringsten beeindruckt. »Sie weiß, wie es in meinem Herzen aussieht.« Er stand auf; jetzt wirkte er längst nicht mehr wie ein einfacher Kirchenmann, der sich vor einer Bischöfin von hohem Rang rechtfertigen mußte, sondern
wie ein Edelmann, den die Anmaßung eines Gefolgsmannes wütend gemacht hat. »Ihr tut das nicht.« Entsetztes Gemurmel breitete sich unter den Bediensteten aus; Antonia brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Wer spricht jetzt, Frater Agius? Der bescheidene Frater?« Ihre Stimme wurde plötzlich hart und anklagend. »Oder der stolze Sohn?« Er zuckte leicht zusammen. »Ich werde für meinen Stolz büßen. Was wollt Ihr von mir, Euer Gnaden? Warum habt Ihr mich herbringen lassen? Ich diene der Welt nicht länger.« »Dennoch lebt Ihr in der Welt. Wir können ihr nicht entrinnen, Frater Agius, auch wenn wir uns noch so sehr darum bemühen. Selbst Ihr habt nicht gelernt, Euren Willen ganz dem Unserer Herrin und Unseres Herrn zu unterwerfen. Ein Teil Eures Herzens fühlt sich noch zu Eurem alten Platz hingezogen, als Ihr daran gewöhnt wart, Euren eigenen Weg zu gehen.« »Unsere Herrin wird über mich urteilen«, wiederholte er störrisch. »Was wollt Ihr von mir?« Falls zuvor - etwa durch ein Stirnrunzeln oder eine etwas tiefere Falte - auch nur ein Hauch von Härte in ihrem Gesicht gelegen haben sollte, so löste sich diese jetzt in ein freundliches Lächeln auf, das durch die rosigen Wangen und die freundlichen blauen Augen noch verstärkt wurde. »Daß Ihr Euch mit Eurer Nichte trefft, natürlich.« »Mit meiner Nichte]« Er brüllte das Wort beinahe heraus. »Sie wird von der Bischöfin von Autun aufgezogen.« Ihre gelassene Miene blieb ungerührt von seiner Wut. »Wußtet Ihr das?« 109 »Natürlich wußte ich das!« »Es geschah auf Euren Rat hin, nicht wahr?« Er starrte sie an, ohne ein Wort zu sagen. »Ihr werdet für die nächste Zeit hierbleiben.« »Wollt Ihr mich als Geisel festhalten?« Sie gab den anderen ein Zeichen. Sofort verließen alle Bediensteten und Gefolgsleute das Zelt, bis nur noch sie, Alain, die Hunde und Agius übrigblieben. Sie warf einen kurzen Blick auf die Hunde und stellte rasch fest, daß sie vor ihnen in Sicherheit war - oder vor Alain, der sie beherrschte. »Ich habe vor, eine Waffe aus Euch zu machen.« »Ich bin nicht länger eine Waffe, die in weltlichen Angelegenheiten eingesetzt werden kann, Bischöfin Antonia. Als ich der Kirche den Eid schwor, schwor ich gleichzeitig, mich nicht länger mit den Angelegenheiten dieser Welt zu befassen.« Sie lächelte sanft. »Wir werden sehen.« Sie nickte Alain gelassen zu und verließ das Zelt. Agius folgte ihr, aber er wurde von den Wachen zurückgehalten. Einen Augenblick lang dachte Alain, er würde versuchen, mit Gewalt hindurchzukommen, und eine Auseinandersetzung provozieren. Doch unvermittelt ließ sich der Frater zum Gebet auf die Knie fallen, zuckte kurz zusammen, als sein verwundetes Bein den Boden berührte; offensichtlich war es seit Kummers Biß vor zwei Monaten immer noch nicht ganz verheilt. Es dauerte einige Zeit, bis Alain aus dem Gemurmel verständliche Worte heraushören konnte. »Ich bin ein unwürdiger Sohn, o Herrin. Ich bitte darum, macht mich Eurer Gnade würdig. Urteilt nicht zu hart über mich, o Herrin. Gewährt Eurem Sünder Vergebung. Gewährt mir die Gelassenheit, die Demütigung zu ertragen und den Stolz beiseite zu schieben.« Er fuhr so fort, und es hatte nicht den Anschein, als wolle er 110 jemals wieder damit aufhören. Alain hörte, wie sich Stimmen zur kurzen Andacht der Komplet erhoben, und er kniete sich ebenfalls zum Gebet für den Sonnenuntergang nieder. Bischöfin Antonia kehrte nach dem Ende der Andacht nicht zurück. Vermutlich nahm sie an der Feier teil. Willibrod brachte Brot, Käse und Wein für Alain und Agius; dann machte er sich mit einigen anderen Geistlichen wieder daran, Halsketten herzustellen. Der Frater rührte das Essen nicht an, doch Alain konnte ihn schließlich dazu bringen, wenigstens ein paar Schlucke von dem Wein zu nehmen. Später kehrte Antonia zurück und ging zu ihrem Bett; um sie herum lagen die Bediensteten und Geistlichen auf Pritschen. Alain schlief schlecht; er hatte sich auf den Boden gekauert, die beiden Hunde dicht an sich gedrückt. Fragen rissen ihn immer wieder aus seinem unruhigen Schlaf. Was hatte die Nichte von Agius mit Prinzessin Sabellas Rebellion zu tun? Agius war schließlich nur ein einfacher Frater - auch wenn ein einfacher Frater es sicherlich niemals wagen würde, sich auf den Stuhl zu setzen, der einer heiligen Bischöfin vorbehalten war. Jedesmal, wenn Alain wach wurde, hörte er Agius seine Gebete wispern. Am Morgen erhielt Alain die Erlaubnis, unter Aufsicht der Wachen die Hunde laufen zu lassen. Als er zurückkehrte, sah er ein Gefolge aus vielen wohlgekleideten Männern und Frauen in vornehmen, mit Gold und Silberketten behängten Tuniken nahen. Er eilte zu Agius ins Zelt. »Die Bischöfin kommt mit vielen anderen!« zischte er. »Es sind Edelleute bei ihr.« Agius erhob sich; er zitterte etwas, richtete sich jedoch auf und stellte sich stolz in den Eingang - ganz und gar nicht wie 111 ein bescheidener, demütiger Frater. Alain kniete nieder, rechts und links von den Hunden flankiert; er konnte vor
solch edlen Herren und Damen nicht stehen. Er war nur der Sohn eines einfachen Händlers. Das Licht draußen blendete ihn, aber noch viel mehr blendete ihn die kostbare Kleidung von Prinzessin Sabella und dem beleibten Mann, der sie begleitete: Rodulf, Herzog von Varingia. Im Gegensatz zu der vornehmen Kleidung der beiden - ihre Gewänder waren juwelenbesetzt und mit Gold- und Silberbändern gesäumt, und sie trugen wunderschöne, feingearbeitete goldene Ketten, Diademe und Ringe - wirkte Bischöfin Antonias Aufmachung geradezu bescheiden; ihre Kleider waren lediglich mit Goldfäden durchwirkt. Rodulf lachte bellend und wandte sich an Bischof in Antonia. »Heiliger Herr! Hättet Ihr mich nicht vorgewarnt, Euer Gnaden, ich hätte ihn in diesen Lumpen niemals wiedererkannt.« Er stapfte auf seinen dicken Beinen vorwärts. Er war breitschultrig und schwerfällig und hatte die roten Wangen eines Mannes, der mit Freuden aß und sich niemals um genügend Nahrung sorgen mußte. Er klopfte Frater Agius auf die Schulter, schüttelte ihn mit offensichtlicher Freude. »Was ist los, Junge? Hast du irgendeine Schande über dich gebracht? Oh, ich hörte, daß dein Vater und deine Mutter überaus wütend waren, als du dich gegen diese Heirat gewehrt hast und statt dessen in die Kirche eingetreten bist. Aber ich bin davon ausgegangen, daß du ein Presbyter sein würdest, daß man dich nach Darre, in diese verdammte heiße Stadt geschickt hätte, um der Skopos zu dienen. Was ist das?« Er griff mit einer fleischigen Hand nach der alten Robe und zerrte so heftig daran, daß Agius sich zusammenkrümmte, in der Hoffnung, der Stoff möge nicht reißen. »Ich diene Unserer Herrin«, sagte Agius steif. »Ich habe 112 niemals etwas anderes gewollt.« Er zeigte keinerlei Ehrerbietung gegenüber Rodulf oder Prinzessin Sabella, die reglos hinter dem Herzog stand und ernst und gedankenvoll dreinblickte. »Aber du bist hergekommen, um unsere Cousine zu unterstützen«, sagte Rodulf mit einem Nicken zu Sabella. »Nein, das ist nicht wahr.« Alain wagte nicht, auch nur den kleinen Finger zu rühren, aus Angst vor dem Ausbruch, der sicherlich als nächstes folgen würde. Sabella schien das alles nicht zu berühren. Sie trat vor. »Ihr werdet unseren Zielen trotzdem dienen, Agius«, sagte sie mit ihrer ausdruckslosen Stimme. »Ich habe keine Zeit für eine Belagerung von Autun, und Bischof in Constanze wird mir die Stadt nicht freiwillig übergeben. Ich kann aber auch nicht weitermarschieren, wenn mir die Soldaten - und die Feindschaft - von Autun im Nacken sitzen. Als Gegenleistung für die sichere Rückkehr Eurer Nichte werdet Ihr mir die Bischöfin von Autun als Geisel bringen, mit welchen Mitteln auch immer.« Diese Drohung - denn eine solche war es - beeinflußte Agius nicht. Falls sich sein Aussehen überhaupt geändert hatte, blickte er jetzt noch zuversichtlicher drein. »Wenn Ihr nicht genug Unterstützung habt, um gegen König Henry zu marschieren, tut Ihr möglicherweise besser daran, Euch in Eure eigenen Lande zurückzuziehen und sie in einer Weise zu regieren, die angemessener ist als diese.« Sabellas dünne Lippen kräuselten sich, aber es war kein richtiges Lächeln. Sie gab einer ihrer Dienerinnen ein Zeichen. Sofort betrat eine Dienerin in Begleitung eines Mädchens von etwa fünf oder sechs Sommern das Zelt. Das Mädchen war gut gewachsen, und mit ihren hellen, dünnen Haaren hätte sie Agius mit seinem dichten, dunklen Schopf kaum unähnlicher 113 sein können. Auf ihrem Gesicht waren noch die Spuren von Tränen, und sie schrie laut auf, als sie Agius sah, riß sich von der Dienerin los und stürzte in seine Arme. »Onkel! Onkel! Sie haben meine Amme umgebracht!« Sie brach in Tränen aus. Er hielt sie fest und versuchte sie mit leisen Worten zu trösten. Als sie sich tatsächlich etwas beruhigt hatte, ergriff Sabella wieder das Wort. »Meine Späher sind auf Eure Nichte und ihr Gefolge gestoßen, als sie nach Autun unterwegs waren. Es gab ein Gefecht. Einige aus dem Gefolge Eurer Nichte weigerten sich, ohne Widerstand mitzukommen.« »Was habt Ihr mit ihr vor?« wollte er wissen. »Sie ist für die Kirche bestimmt, wie Ihr wissen solltet.« Rodulf zuckte zusammen; er spielte mit den Ringen an seinen Fingern. Ihm schien diese Unterhaltung unangenehm zu sein. Bischöfin Antonia strahlte alle Beteiligten freundlich an. Alain spürte ihren Blick auf sich, und er erschauderte, als würde eine Spinne seinen Rücken entlangkrabbeln. Rage knurrte, und er legte sanft eine Hand auf ihre Schnauze. »Ich habe gar nichts mit ihr vor«, sagte Sabella. »Es sei denn, man zwingt mich dazu. Ich will Bischöfin Constanze.« Agius war so blaß, daß seine dunklen Augen pechschwarz wirkten, als hätte er sich wie eine Hure geschminkt, um Männer anzulocken. Das Kind klammerte sich an ihn, verbarg das Gesicht in seinen Gewändern. »Euch wird Constanze nicht verdächtigen, Agius«, fuhr Sabella fort. »Ihr seid zusammen aufgewachsen, und wenn ich mich recht entsinne, war sogar schon von einer Verlobung die Rede - bevor abgemacht wurde, daß sie in die Kirche eintrat und Ihr die Herzogin Liutgard heiraten solltet.« Sie berührte den Goldreif an ihrem Hals, dann senkte sie die Hand und öff114 nete sie mit nach außen gekehrter Handfläche. »Aber die Verlobung endete nicht damit, daß Ihr mit der jungen Herzogin vermählt wurdet, sondern Euer jüngerer Bruder. Ein freundlicher, großzügiger Mann, der junge Frederik. Auch ein guter Soldat. Leider. So viele starben in den Kriegen im Osten, die Henry unbedingt führen
mußte, anstatt sich um das Land zu kümmern, das er bereits als seines beanspruchte. Nun denn.« Sie gab ihrer Dienerin ein Zeichen, und sie trat vor, um das Mädchen wieder in ihre Obhut zu nehmen. Das Mädchen weinte wieder, klammerte sich an seinen Onkel. Er umarmte sie erst ganz fest, mit einem Ausdruck wilder Wut auf seinem Gesicht, in den sich jedoch allmählich Abscheu sich selbst gegenüber mischte, als er sie zwang, ihn loszulassen. Die Dienerin führte sie weg. »Ich sehe, wir verstehen uns«, meinte Sabella zu Agius. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zelt. »Du mußt das verstehen«, sagte Rodulf plötzlich, »ich will keine weiteren wendischen Könige und Bischöfinnen auf meinem Land haben. Du hast von der Seite deines Vaters wendisches Blut in dir, so hast du für meine Einstellung möglicherweise wenig übrig, aber mir bedeutet es viel. Trotzdem gefallen mir diese Methoden nicht.« »Das Leben vieler wird auf diese Weise verschont werden«, beruhigte Bischöfin Antonia ihn. »Und die Stadt Autun entgeht der Zerstörung durch einen Krieg. Sicherlich stimmen wir darin überein, daß Frieden besser ist als Krieg.« »Krieg ist zumindest eine ehrenvolle Aufgabe«, murmelte Rodulf leise in sich hinein. »Verrat ist es nicht, selbst wenn er von einer Bischof in abgesegnet wird.« Er ging hinaus. »Wir brechen also morgen mittag auf«, sagte Bischöfin Antonia. »Ich begleite Euch.« Sie deutete auf das Zelt und die Einrichtung. »Macht es Euch bequem, wie es Euch beliebt.« 115 Als sie gegangen war, ließ man Alain und Agius eine Zeitlang in Ruhe, damit sie sich waschen konnten. Alain goß Wasser aus einem Krug in die schlichte Kupferschüssel, die für den Gebrauch der Bediensteten der Bischöfin bestimmt war. Er zog die Tunika aus und wusch sich Brust, Arme und Gesicht. Das Wasser war eiskalt. Agius' tief in den Höhlen liegende Augen waren rot vor Erschöpfung. Er kniete nieder und faltete die Hände zum Gebet. Alain verspürte schreckliches Mitleid für den Frater. Sicherlich war es nicht im Sinne der Herrin und des Herrn, daß sich ein Mensch so durch die Qualen der Selbstzweifel kasteite. War es nicht ihrer Gnade zu verdanken, daß die Menschen das Versprechen erhielten, von der Finsternis gereinigt zu werden ? Er nahm die Schüssel, trug sie zu Agius und kniete sich neben ihn. »Hier ist Wasser zum Waschen, Bruder.« Agius verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Ich bin für immer von der Sünde befleckt«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, die Augen fest geschlossen. Zum ersten Mal bemerkte Alain die Füße des Fraters, die jetzt nur noch zur Hälfte von seinem Gewand verdeckt waren. Sie waren nackt und voller alter, eitriger Wunden und frischer Verletzungen, zum Teil blut- und schmutzverkrustet. Jeder Schritt mußte schmerzen. Alain wünschte plötzlich, er könnte Agius jedes weitere Leid ersparen, denn er war so voll davon, daß sich das Elend in seinem Gesicht spiegelte. Er tauchte ein Stück Tuch in das Wasser und wusch sanft das Gesicht des Fraters. »Ich bitte dich«, sagte Agius, ohne die Augen zu öffnen, »ich bin deines Mitgefühls nicht würdig.« »Jede Seele ist des Mitgefühls würdig«, erwiderte Alain, von seinen Worten selbst überrascht. Er näßte das Tuch noch mehr 116 und begann jetzt, vorsichtig die Füße des Fraters zu waschen. »Ist Güte nicht das, was wir unseren Schwestern und Brüdern freiwillig zukommen lassen sollen?« Er blickte auf. Zu seinem großen Entsetzen weinte Agius lautlos in sich hinein. Sofort warf Alain das feuchte Tuch beiseite. Es war voller Blut, Eiter und Schmutz. »Ich bitte um Vergebung. Ich wollte Euch keinen Schmerz zufügen.« »Ich mache mir nichts aus körperlichem Schmerz. Er erinnert mich an meine Sünden. Oh, Herrin, in meinem Stolz hatte ich gedacht, ich hätte die Fäden abgeschnitten, die mich mit meinem Geschlecht und der Heimat verbanden. Aber dem war nicht so. Ich kann meine Zuneigung gegenüber meinem Bruder nicht vergessen. Ich kann ihn nicht weniger lieben, als ich Unsere Herrin liebe, selbst jetzt, da er tot und in ihrer Obhut ist. Und jetzt ist also seine Tochter in Gefahr, und ich werde benutzt, werde durch die Bedrohung ihres Lebens von denen gezwungen, die nach Macht in der Welt streben. In meinem Stolz dachte ich, ich hätte meine Geburt hinter mir gelassen. Jetzt erkenne ich, daß dem nicht so ist. Niemals wird es so sein, so lange ich durch eine alte Zuneigung gebunden bin. Doch dieses wahre Opfer, das darin besteht, mich von den Banden mit meiner Familie zu lösen und mich ganz Unserer Herrin hinzugeben, will ich nicht bringen.« Alain, der nicht wußte, was er sonst tun sollte, fuhr fort, die Füße des Fraters zu waschen; er betupfte sie vorsichtig, bemüht, die frisch verheilten Wunden nicht aufzureißen. »Wer seid Ihr?« fragte er und befürchtete sogleich, möglicherweise anmaßend zu klingen. Nach einer langen Pause antwortete Agius: »Ich bin der älteste Sohn von Burchard, dem Herzog von Avaria, und Ida, der Tochter des Herzogs von Provensalle.« In Osna galt es als die Pflicht der ältesten Tochter, das Hab 117 und Gut ihrer Mutter zu erben und ihre Arbeit und ihren Titel fortzuführen, während es die Pflicht des ältesten Sohnes war, sich gut zu verheiraten und dadurch das Netz, das die verschiedenen Haushalte miteinander verband, weiterzuspinnen. Nur jüngere Söhne wurden in die Kirche geschickt. Sicherlich erwarteten die großen
Fürsten und Fürstinnen des Reiches von ihren Söhnen und Töchtern genau das gleiche. »Kein Wunder, daß Eure Eltern wütend waren«, meinte Alain schließlich, als ihm die Bedeutung von Agius' rebellischem Verhalten mit voller Wucht zu Bewußtsein kam. Der Frater stöhnte nur, dann lehnte er sich plötzlich zurück, fuhr sich durch die Haare und brachte sie in Unordnung. Er befingerte sein Kinn und rieb sich den Bart, der inzwischen dort wuchs. »Was werdet Ihr tun?« fragte Alain. »Ich werde die Tochter meines Bruders retten, in Erinnerung an die Liebe, die einst zwischen uns war. So wird sich die Anzahl meiner Sünden noch vermehren.« »Aber Ihr sagtet doch, Ihr würdet ihnen nicht helfen ... und sie ist so jung.« Alains Gedanken schweiften ab. Das Mädchen war nur wenig jünger als Tante Bels jüngste Tochter, die niedliche, süße Agnes. »Welche Macht haben sie wirklich über Euch? Sicherlich würden sie nicht -« »Sie töten?« Agius lächelte säuerlich. »Du bist ein guter Junge, Alain. Du hast noch nicht verstanden, zu was wir fähig sind - wir, die noch immer nach der Macht streben, die uns der Feind als Versuchung vor die Nase hält. Denn die Macht, die wir auf dieser Erde erringen könnten, ist nur eine leere Macht verglichen mit dem Opfer des heiligen Daisan und dem Versprechen der Kammer des Lichts. Aber wir alle sind von der Finsternis befleckt, und unsere Augen sind so vernebelt, daß wir nach Schatten greifen.« Er klatschte einmal gebieterisch in 118 die Hände. »Geistlicher! Bringt mir ein Messer. Mit diesem Bart bin ich nicht würdig, mich einen guten Kirchenmann zu nennen.« Sein Gesicht war von Verzweiflung verzerrt, doch er bewegte sich mit der Sicherheit und Entschlossenheit eines Mannes, der sich schließlich mit seiner schrecklichen Bestimmung abgefunden hat. 3 Agius schritt neben Alain dahin, dem die Hunde folgten. Die Prozession wurde von Bischöfin Antonia auf ihrem weißen Maulesel angeführt; Bedienstete hielten die Zügel. Ein Geistlicher trug ein grünes Banner, auf dem das Symbol ihrer Stadt abgebildet war: ein schwarzer Turm am Zusammenfluß zweier Flüsse. Auf dem schwarzen Turm war mit goldenen Fäden ein Bischofsstab aufgestickt. »Es wird soviel von Herzögen und Ländereien und Bischöfinnen und Bündnissen geredet«, gestand Alain. »Ich verstehe das alles gar nicht.« Agius lächelte dünn. »Du verstehst auch nicht, warum sie mich als die Falle benutzen, mit der sie das weiße Reh fangen wollen?« »Das weiße Reh?« »Das ist der Name, den wir Constanze gaben.« Der Frater seufzte in leichter Verzweiflung, als Alain nickte und sich um einen Gesichtsausdruck bemühte, der vorgeben sollte, daß er verstanden hatte, was Agius ihm erzählte. »Constanze ist König Henrys Schwester, abgesehen von Brun die jüngste seiner Geschwister.« »Aber warum sollte Prinzessin Sabella Euch Cousin nen119 nen? Ihr tragt nicht den -« Alain fuhr mit den Fingern über die Rundung seines Nackens. »Nur jene, die vom königlichen Geschlecht abstammen, haben Anspruch auf den goldenen Halsreif. Er ist das Zeichen ihres königlichen Blutes. Sowohl Sabella als auch ihr Ehemann Berengar dürfen den goldenen Reif tragen. Auch Herzogin Liutgard ist so geschmückt. Ich bin es nicht.« »Aber warum sollte ... und Ihr ... ? Wenn Ihr doch der Sohn eines Herzogs seid?« Wolken zogen jetzt von Osten auf. Es war kälter als noch am Morgen. Alain spürte den Boden unter seinen Schuhen. Die Straße würde matschig werden, wenn es regnete, aber wieviel Regen, wieviel Matsch würden nötig sein, um diesen Zug am Weitermarsch zu hindern? Doch er befand sich in Sabellas Heer, unter der Schirmherrschaft von Graf Lavastin. Sollte er nicht unterwürfig ihren Sieg herbeisehnen? »Wie beim Lesen und Beten, so auch bei der Ordnung der Welt«, sagte Agius seufzend. »Was?« »Es scheint meine Bestimmung zu sein, dich zu unterrichten, Alain. Ich vertraue ganz der Weisheit Unserer Herrin, daß du dich klüger anstellst, wenn es um die große Wahrheit über das Opfer und die Erlösung ihres Sohnes geht - und nicht um das Schreiben. Also höre mir zu.« Sie schritten eine einsame Straße entlang. Die Bauern und Freien, die Autun gegenüber loyal waren, hatten sich alle in der Stadt in Sicherheit gebracht, als Sabella und ihr Heer sich genähert hatten. Obwohl ihr Dach aus Wolken bestand und ihre Kammer aus den grünen Feldern, fühlte Alain sich zurückversetzt in die Zeit auf Burg Lavas, da er mit dem Frater gelernt hatte. Agius war kein angenehmer Lehrer; er verfuhr weitaus schonungsloser und ungeduldiger mit Fehlern, 120 als daß er Irrtümer verzieh. Was er wußte, so war seine feste Überzeugung, das mußten auch andere wissen. »Es gibt zehn große Fürsten im Königreich von Wendar und Varre. Sechs dieser Fürsten kennen wir als Herzöge. Vier sind Markgrafen, denn sie verwalten die Marken entlang der Grenze im Osten. Der Souverän nimmt den ersten Platz unter den Fürsten ein, er steht nicht abseits von ihnen. Nur mit Zustimmung der Fürsten und kraft der Stärke des Souveräns wird ein Prinz oder eine Prinzessin des königlichen Geschlechts als nächster Souverän von Wendar und Varre anerkannt.« »Aber waren Wendar und Varre nicht einst getrennte Königreiche?«
»Ich verstehe nicht, was dein Vater sich dabei gedacht hat«, meinte Agius mit einiger Verzweiflung, »daß er dir keine ordentliche Bildung zukommen ließ.« »Mein Vater brachte mir alles bei, was der Sohn eines Händlers wissen muß«, erwiderte Alain hitzig. Die ungerechtfertigte Kritik traf ihn. »Ich kann ein Schiff reparieren. Ich weiß etwas über das Segeln und das Navigieren. Ich kenne den Wert von vielen Münzen verschiedener Königreiche und Völker. Ich kann handeln.« »Ich meinte nicht deinen Stiefvater.« Alain vergaß seinen Groll sofort wieder; er war beunruhigt. »Ihr denkt hoffentlich nicht mehr, daß ich der Bastard von Graf Lavastin sein könnte?« Agius machte eine beredte Geste zu den Hunden, die treu hinter Alain hertrotteten. Sie waren so sanft wie kleine Hundebabys - solange Alain oder der Graf bei ihnen waren. Agius wußte sehr gut, was sie tun würden, wenn sich ihnen jemand anderer näherte. »Aber das ist nicht von Bedeutung. Ich werde die Aufgabe erfüllen, dir mir von Unserer Herrin gestellt wurde. Paß auf.« 121 Sie erklommen eine Anhöhe. In der Ferne erspähte Alain Autun, den Turm der Kathedrale, die Stadtmauern und das schwache Schimmern der Rhaune, die sich durch üppige Kornfelder wand. Dann tauchte die Straße in einen Wald ein, und Bäume behinderten die Sicht. »Ich werde dich nicht mit der Geschichte über den Aufstieg des Hauses Saony belästigen. Es ist eine lange und komplizierte Angelegenheit, die ich besser den Nonnen von Korvei überlasse, die seit vielen Jahren die Taten der großen Fürsten niederschreiben. Doch wissen mußt du, daß im Jahr 679, entsprechend der Chronik, der junge König Louis von Varre, bekannt als Louis das Kind, starb. Zwei Jahre später starb Arnulf der Ältere. Arnulf der Jüngere, sein Sohn, wurde König von Wendar und Varre. Welches Jahr haben wir jetzt, Alain?« Welches Jahr Es war Frühling. An diesem besonderen Tag war St. Casceil, wie in der Morgenandacht erwähnt worden war. Da man das Fest von St. Susannah noch nicht gefeiert hatte, konnte noch nicht Sormas sein, aber er konnte sich im Augenblick nicht erinnern, auf welchen Tag im Avril St. Casceil fiel. Und erst die Jahre Alain war nicht daran gewöhnt, sich die Jahre zu merken. Er durchforstete sein Gedächtnis, stolperte über ein Loch in der Straße und erinnerte sich plötzlich. »Es ist das Jahr 728 seit der Verkündung der Botschaft.« »Das ist richtig. Du weißt von dem Kampf zwischen Henry und Sabella, bei dem es darum geht, wer das Recht hat, auf dem Thron von Wendar und Varre zu sitzen.« Agius machte mit zusammengepreßten Lippen eine Geste in Richtung von Bischöfin Antonia. Sie hatte zu singen begonnen, und wie gewöhnlich fielen ihre Geistlichen mit ein. Es klang würdevoll. Alain konnte die Worte jedoch nicht verstehen, denn sie sangen dariyanisch. 122 Aber Agius murmelte geistesabwesend vor sich hin. »>Diese vier Diakonissinnen waren Schätze, Die ihre Rechtschaffenheit behielten, Den Schlüssel zum Geheimnis. Vier Türen öffneten sie uns, Jede davon mit ihrem Schlüssel. Ihnen gebühre der Ruhm, die weise wählten!<« »Ist das die Bedeutung der Worte?« wollte Alain wissen. »Ja, aber wir dürfen uns jetzt von unserem Ziel nicht abbringen lassen. Schon bald werden wir die Mauern von Autun erreichen, und dann wird dein Unterricht ein Ende haben. Also. Wie heißt der König, und wer sind seine Geschwister?« »König Henry, natürlich!« Alain zog sofort den Kopf ein, beschämt darüber, daß er so laut gesprochen hatte. In Sabellas Lager sprach niemand von Henry als dem König. »Und Prinzessin Sabella, sie ist seine ältere Schwester.« »Seine Halbschwester«, berichtigte Agius. »Königin Berengaria von Varre war ihre Mutter. Als sie starb, heiratete Arnulf der Jüngere Mathilda von Karrone, die Henrys Mutter ist. Und dann?« »Ich weiß nicht.« »Dies sind die lebenden Kinder von Arnulf und Mathilda: Henry, Rotrudis, Richardis, bekannt als Scholastika, die Äbtissin des Klosters Quedlingham, Benedikt, Constanze, Brun. Aber Henry hat auch noch eine Halbschwester, ein Kind von Arnulf dem Jüngeren und einer Konkubine. Sie heißt Alberada und ist jetzt Bischof in von Handelburg, das weit im Osten in den Marklanden liegt. Sie hat sich in den Streit zwischen Henry und Sabella bisher nicht eingemischt. Nun. Wer sind die sechs Herzöge?« 123 »Ich ... ich weiß es nicht. Herzog Rodulf ist einer. Und wird Sabellas Mann Berengar nicht auch Herzog genannt?« »Das ist er tatsächlich. Er ist der Herzog von Arconia, auch wenn natürlich Sabella als seine Frau das Land verwaltet. Rodulf ist Herzog von Varingia. Die Stadt Au tun liegt genau an der Grenze zwischen Varingia, das von Rodulf und seiner Frau verwaltet wird, und Arconia, das von Sabella und Berengar verwaltet wird. Vielleicht wunderst du dich darüber, daß die Bischöfin von Autun ihre Sympathie der Sache Henrys schenkt, wo doch ihre Stadt mitten in dem von Prinzessin Sabella beherrschten Gebiet liegt!«
Alain nickte pflichtbewußt. »Als Sabella vor acht Jahren zum ersten Mal gegen die Autorität ihres Bruders aufbegehrte, war die Bischöfin von Autun eine ihrer wichtigsten Stützen. Also entfernte Henry die Bischöfin von Autun und machte sie statt dessen zur Äbtissin eines kleinen, einsamen Frauenklosters. Dann überzeugte er die Skopos davon, auf ihren Platz seine junge Schwester Constanze zu setzen. Das weiße Reh. Natürlich unterstützt Constanze ihren Bruder Henry.« »Was ist mit den vier anderen Herzögen?« »Drei von ihnen unterstützen Henry. Henrys Schwester Rotrudis ist Herzogin von Saony und Attomar. Das Herzogtum von Saony ist der ursprüngliche Sitz der königlichen Familie. Bevor sie Könige wurden, waren sie Herzöge von Saony.« »Wie sind sie dann Könige geworden?« »Das mußt du ein anderes Mal lernen oder dir selbst anlesen. Jetzt paß auf.« Er blickte auf, als sie aus dem Schatten der Bäume ins Sonnenlicht traten. Ein langer Abstieg lag zu ihren Füßen. Schon bald würden sie sich der Stadtmauer bis auf Bogenschußweite genähert haben. Alain fragte sich, wie schnell 124 sie von den Leuten innerhalb der Stadt bemerkt werden würden. »Burchard, Herzog von Avaria.« »Er ist Euer Vater.« »Ja.« Alain wollte noch mehr von ihm hören, aber Agius hatte das so kurz angebunden gesagt, daß er sich nicht traute, weitere Fragen dazu zu stellen. »Und die dritte ist Liutgard, Herzogin von Fesse, ebenfalls von königlichem Blut.« »Die, mit der Ihr verlobt wart.« »Ich sehe, du hast besser zugehört, als ich dachte.« »Aber Euer Bruder heiratete sie statt dessen.« Agius schaute rasch zur Seite, verbarg sein Gesicht. Alain dachte an das kleine Mädchen, das sich im Zelt von Bischöfin Antonia so fest an ihren Onkel geklammert hatte; sicher war die Verbindung von Agius zu seinem Bruder sehr stark - und so auch zu den Kindern seines Bruders. Alain empfand plötzlich Sympathie für Agius' Trauer und seine ohnmächtige Wut angesichts der Gefangenschaft seiner Nichte, und so stellte er eine andere Frage. »Wer ist der sechste Herzog?« Ein Zögern. Schließlich sprach Agius, den Blick abgewendet, die Augen auf den Boden gerichtet. »Conrad, Herzog von Wayland, genannt Conrad der Schwarze. Sabella behauptet, er unterstützt sie, aber er ist mit seinem Heer bislang noch nicht bei ihr aufgetaucht.« »Und die Markgrafen?« Agius hatte seine Fassung wiedererlangt. Er hob das glattrasierte Kinn - er hatte es am Morgen rasiert, wie es sich für einen der Kirche verschworenen Mann gehörte - und holte tief Luft, als wollte er sich stärken. »Der erste unter den Markgrafen ist Helmut Villam. Dann kommt Judith, Markgräfin von Olsatia und Austra und beinahe genauso mächtig. Werinhar, Markgraf von Westfall, ist der dritte.« 125 »Ihr sagtet, es wären vier.« Ein Schatten huschte über Agius' Gesicht, wieder dieselbe nackte Trauer. Alain verstand sofort, daß dies etwas mit seinem geliebten Bruder zu tun haben mußte. »Die Markgräfin von Ostfall und ihre beiden Söhne starben vor drei Jahren in einer Schlacht gegen die Qumaner.« »Ist - ist das nicht die Schlacht, in der Euer Bruder starb?« Es war eine bloße Vermutung, aber an dem scharfen Blick, den Agius ihm zuwarf, und an dem plötzlichen, grimmigen Schweigen des Fraters erkannte Alain, daß er recht hatte. Sie schritten eine Weile still nebeneinander her. Die Bischöfin und ihre Geistlichen sangen noch immer; die Hymne aus dem Osten hatte ganz offensichtlich viele Strophen. Alain wollte Agius nicht wieder ansehen oder ihm weitere Fragen stellen, weder über Markgrafen noch über Strophen. Agius war so voller Pein, daß es Alain schmerzte, ihn so zu sehen. Agius flüsterte wieder die wendischen Worte, zeitgleich mit den Stimmen der anderen. »>Töchter Nisibias, tut es eurer Mutter gleich, In ihre Mauern ließ sie eine von festem Glauben, Die zu einem Schild für sie wurde! So laßt auch in euch einen Glauben wachsen, Auf daß er zum Schild für euer Leben wird. Denn heilig sind die, die weise wählten.<« Als die Geistlichen die Hymne beendet hatten, verlangsamte die Bischöfin den Schritt ihres Maultiers, und die gesamte Prozession kam zum Stillstand. Antonia stieg ab. Autun lag auf einem Hügel, der sich in die Weite des Rhaune-Tals erhob. Armselige Hütten und Buden standen vor den Stadtmauern, doch sie waren so leer wie die Felder, abge126 sehen von einem einzelnen Huhn. Antonias Gruppe war noch mehr als eine Bogenschußweite von der Stadtmauer entfernt, doch am großen Palisadentor, das den Haupteingang zur Stadt bildete, hatte sich eine Gruppe versammelt. Zwei Banner wehten im Wind, und als diese Gruppe die Straße entlang auf Bischöfin Antonia zukam, erkannte Alain die Zeichen auf den Bannern. Das eine erinnerte an das der Stadt Mainni: Es zeigte einen - in diesem Fall grauen - Turm, der von einem schwarzen Raben überragt wurde. Das andere Banner
war so leuchtend golden, daß es die Sonne widerzuspiegeln schien; ein weißes Reh war darauf. Agius trat neben Bischöfin Antonia. Er war unnatürlich bleich. Antonia sah vollkommen entspannt aus; auf ihrem Gesicht lag ein freundliches Lächeln, während sie die Gruppe von der Stadt erwartete. Wie es sich für eine Königstochter gehörte, wurde die Bischöfin von Autun von einem beeindruckenden Gefolge begleitet. Ihre Geistlichen trugen Gewänder aus feinem, in einem satten, tiefen Burgunderrot gefärbten Linnen, und sie hielten zum Zeichen ihres Ranges jeweils ein Buch in den Händen. Alle hatten einen langen, bestickten Schal über ihre linke Schulter geworfen. Es waren vielleicht dreißig Geistliche in der Gruppe; niemals zuvor hatte Alain so viele Bücher an einem Ort gesehen. Tatsächlich hatte er niemals auch nur daran gedacht, daß es so viele Bücher auf der Welt geben könnte. Auch Mönche und Nonnen begleiteten die Bischöfin. Sie trugen Rauchfässer - runde Gefäße aus gehämmertem Messing - mit brennendem Weihrauch; die Rauchfässer hingen an Ketten und schwangen zum Rhythmus des leisen Gesangs der Gruppe langsam vor und zurück. »Kyrie Eleison. Kyrie Eleison.« Herrin, erbarme dich. Herr, erbarme dich. Die Bischöfin von Autun ritt auf einem weißen Maultier in127 mitten ihres Gefolges. Obwohl sie die Kleidung einer Bischöfin und die Mitra trug, konnte Alain in ihrem Nacken den goldenen Halsreif erkennen, der auf ihr königliches Blut hinwies. Sie war jung, ganz sicher jünger als Agius, aber ihr Gesicht war auf eine Weise ernst, die ihr eine weit über ihr Alter hinausreichende Standhaftigkeit und Weisheit verlieh. Ihre Haut sah blaß, aber gesund aus, und als sie abstieg, zu Fuß weiterging und dabei ihrer schwesterlichen Bischöfin zur Begrüßung die Hände entgegenstreckte, konnte Alain sehen, daß sie groß und gut gebaut war, genau wie ihre ältere Halbschwester Sabella. Sie hatte einen leichten Schritt und bewegte sich auf elegante Art. Alain verstand sofort, weshalb sie den Namen »das weiße Reh« erhalten hatte. Sie nahm die Hände von Bischöfin Antonia in ihre, und sofort verstummte der Gesang ihres Gefolges. Stille senkte sich herab, die nur von dem Scharren der Tiere und dem Klirren des Geschirrs unterbrochen wurde. »Ich grüße Euch, Schwester, und heiße Euch in meiner Stadt willkommen«, sagte Constanze. Sie besaß eine angenehm hohe Stimme, die voll und klar klang. Aber sie lächelte nicht. »Ich bin überrascht, Euch hier zu finden, so weit weg von Mainni und dem Herdfeuer, als dessen Wächterin Ihr geweiht wurdet.« »Ich erwidere Euren Gruß, Schwester«, sagte Antonia beinahe noch freundlicher. »Ich komme im Frieden Unseres Herrn und Unserer Herrin.« »Es sind noch andere bei Euch.« Constanze schaute die Straße entlang, auf der Antonia und die anderen gekommen waren. Natürlich war die Straße leer. Sabellas Heer lagerte einige Reitstunden entfernt auf dem Gebiet des Herzogs von Varingia. Das allein war schon merkwürdig. Das Herzogtum von 128 Arconia blieb unter der Schirmherrschaft von Berengar und Sabella. Doch die Pflichten einer Bischöfin betrafen zwei Bereiche. Sie kümmerte sich um das geistige Wohlergehen ihrer Schützlinge und um das Herdfeuer der Kathedrale, das die Skopos in ihre Obhut gegeben hatte. Doch eine Bischöfin mußte auch in weltlichen Angelegenheiten befragt werden, so wie der König oder die Herzogin ein Wörtchen mitzureden hatten, wenn es darum ging, welche Edelfrau es am meisten verdiente, in den Stand einer Bischöfin erhoben zu werden, sollte ein solcher Platz durch Tod oder Ehrlosigkeit frei geworden sein. So war es das Recht der Bischöfin von Autun, zu Rate gezogen zu werden, wenn es um Angelegenheiten ging, die die Verwaltung des Herzogtums von Arconia betrafen - also desjenigen Teils von Wendar und Varre, für dessen Bewohner sie auf geistiger Ebene zu sorgen hatte. Vielleicht konnte sich Sabella nicht mit der gleichen Sicherheit auf die Treue der einfachen Menschen im Herzogtum ihres eigenen Mannes verlassen wie die junge Bischöfin Constanze, die von ihren Schützlingen zutiefst geliebt wurde. »Ich fürchte, in Eurer Familie ist Unfriede ausgebrochen«, sagte Antonia; ihre Stimme klang gramgebeugt von der Bürde, die Überbringerin einer solch schlechten Botschaft sein zu müssen. »Ich bin als Vermittlerin gekommen. Ich bitte Euch, kommt mit mir und sprecht mit Sabella und Rodulf.« »Es macht mich traurig, dies zu hören«, erwiderte Constanze, ohne erkennen zu lassen, ob Antonia ihr Neuigkeiten verraten hatte. »Doch ich fürchte die Feindseligkeit von Sabella, aus Gründen, die Ihr kennen müßtet, und ohnehin verabscheue ich es, mein Volk« - sie machte eine Handbewegung, die die friedlich in der Mittagssonne daliegende Stadt umfaßte - »ohne den Schutz meiner Führung und Anwesenheit allein zu lassen.« 129 Agius hatte sich bisher im Hintergrund gehalten, verborgen von Antonias Geistlichen. Jetzt trat er vor. Das trostlose Schwarz seines Gewandes hob sich kraß von der helleren Kleidung seiner weltlicheren Brüder ab. Constanzes Miene hellte sich auf. Sie wirkte erfreut. »Agius! Ihr überrascht mich.« Sie ließ Antonias Hände los und ergriff statt dessen herzlich die seinen, als wäre er ihr Bruder. Die so offensichtlich zur Schau gestellte Vertrautheit überraschte Alain. »Ich hatte nicht erwartet, ausgerechnet Euch in solcher Gesellschaft zu sehen.« Alain konnte nur mit Mühe den Abscheu aus Constanzes Tonfall heraushören, den sie für diese Gesellschaft empfinden mußte. Wenn Antonia es ebenfalls gehört hatte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie strahlte die beiden freundlich an, wie es eine ältere Verwandte nun einmal tun mochte, die die Wiedervereinigung zweier verfeindeter Geschwister billigte.
»Ich reise dorthin, wohin mein Weg mich führt«, sagte Agius. Er wirkte hin und her gerissen zwischen seiner offensichtlichen Freude, Bischöfin Constanze wiederzusehen, und dem Dilemma, das so bedrohlich über ihm schwebte wie das tödliche Schwert über dem Nacken der Verdammten. »Ich folge dem Pfad, den Unsere Herrin vor meinen Füßen ausbreitet.« »Und dieser Pfad führte Euch in Sabellas Lager?« fragte Constanze. Alain konnte nicht erkennen, ob Sarkasmus in ihrer Stimme mitschwang. »Weltliche Betrachtungen führten mich in Sabellas Lager, Euer Gnaden.« »Ich dachte, Ihr hättet Euch in dem Augenblick von den weltlichen Betrachtungen abgewandt, Frater Agius, als Ihr Euch geweigert habt zu heiraten und statt dessen das braune Gewand anlegtet.« 130 Er lächelte grimmig. »Die Welt ist noch nicht fertig mit mir, Euer Gnaden. Leider.« »So ist es anscheinend immer, wenn wir doch nichts anderes wollen, als uns ehrerbietig Gott zu widmen.« Constanze faltete die Hände und neigte leicht den Kopf, als wollte sie mit dieser Geste bekunden, daß sie sich Gottes Willen unterwarf. Dann hob sie den Kopf wieder und blickte Agius direkt an. »Aber Gott in seiner Güte gab den Menschen eine Freiheit, die der der Engel gleicht. Denn ist es nicht so, daß die Sonne und der Mond und selbst die Sterne so befestigt sind, daß sie sich nur auf ihrem vorgeschriebenen Pfad bewegen können? Doch das ist anders bei denen, die von menschlichen Müttern geboren werden. Daher muß unser Verhalten an dem der Engel gemessen werden. Ob ein Mensch sich durch sein Verhalten Lob oder Tadel verdient, ist allein ihm zuzuschreiben.« Sie wandte sich an Bischöfin Antonia. »Stimmt Ihr mir da nicht zu, Euer Gnaden?« Alain begriff sofort, daß diese Bemerkung die Funktion eines Speeres hatte, der mit Widerhaken versehen war: Die Waffe sollte tief eindringen, ohne jede Hoffnung, schmerzlos wieder herausgezogen werden zu können. Doch Bischöfin Antonia wurde von einer undurchdringlichen Rüstung geschützt. Sie nickte. »Es ist so, wie Ihr sagt, Euer Gnaden. So urteilen Unser Herr und Unsere Herrin über unsere Taten, über das, was wir tun und das, was wir ungeschehen lassen.« Agius antwortete nicht. Bischof in Constanze brach die Stille. »Nun, da wir uns auf der Straße getroffen haben«, fuhr sie fort, »bitte ich Euch, mit mir zu meiner Halle zurückzukehren, wo meine Leute Euch mit einem guten Mahl und dem AutunWein unterhalten können, wie es Euch gebührt.« 131 Agius bewegte sich heftig. »Ich bin hier, um Euch zu bitten«, sagte er rasch, »uns zu Sabellas Lager zu begleiten, wie Bischof in Antonia bereits erklärt hat.« »Sicher wäre es unklug von mir, mich in Sabellas Macht zu begeben, auch wenn ich selbst keine persönlichen Feindseligkeiten gegenüber meiner Schwester hege.« »Ich ganz allein übernehme die Verantwortung, sollte Euch irgendein Schaden zugefügt werden, Euer Gnaden.« »Ihr versprecht mir freies Geleit, Agius?« »Ich verspreche, Euch sicher in Eure Stadt zurückzubringen, Euer Gnaden.« Sie war verwundert, auch wenn sie es zu verbergen versuchte. »Dann werde ich zustimmen und mitgehen«, sagte sie. »Der Friede ist besser als der Krieg, wie schon der heilige Daisan sagte.« »Ich werde mit Euch gehen«, fügte Agius hinzu, »und Euch zu Eurer Halle begleiten, damit Ihr zusammensuchen könnt, was immer Ihr für Sabellas Lager braucht.« »Dazu besteht keine Notwendigkeit.« Bischöfin Constanze zuckte mit den Schultern und bedeutete ihren Bediensteten, ihr das Maultier zu bringen. »Ich bin mit meinem Glauben gerüstet, Frater Agius, wie alle, die ihr Leben Unserem Herrn und Unserer Herrin geweiht haben. Und das Vertrauen meines Bruders in mich gibt mir Stärke - wie er sie durch mein Vertrauen in ihn erhält.« »Dann sollten wir also gehen.« Doch Agius zögerte, als den Bischöfinnen auf ihre Reittiere geholfen wurde. Er trat vor und nahm die Zügel von Bischöfin Constanzes Maultier aus den Händen ihrer Dienerin. »Aber sagte der heilige Daisan nicht auch, daß wer abweist, was angeboten wird, nur zu häufig zu den Bedürftigen zählt? Es ist bereits nach Mittag, und wenn wir jetzt aufbrechen, werden wir und die anderen von 132 Bischöfin Antonias Gruppe den ganzen Tag nichts zu essen bekommen haben.« Nicht einmal Alain mußte lange raten, wie Bischöfin Constanze auf diese Aussage reagieren würde; sie war hoch erfreut, daß sie ihre Gastfreundschaft anbieten konnte. Tante Bei hatte oft gesagt: »Und so urteilt Unsere Herrin über uns aufgrund unserer Großzügigkeit bei Tisch.« Tante Bei war so bekannt für ihre Neigung, Reisende zu verpflegen, daß weniger großherzige Bewohner von Osna manchmal Gäste an sie weiterreichten. Sie hatte noch nie jemanden abgewiesen. »Dann müssen wir natürlich nach Autun zurückkehren und dort speisen«, erklärte Constanze mit sichtlichem Vergnügen. Sie kehrten nach Autun zurück; Agius hielt noch immer die Zügel von Constanzes Maulesel. Es war die größte Stadt, die Alain bisher gesehen hatte. Sie besaß eine steinerne Stadtmauer und eine Kathedrale aus Stein und Holz und so viele dicht aneinandergedrängte Gebäude, daß Alain sich wunderte, wieso die Leute, die hier lebten, nicht erstickten. Sie passierten rasch das Tor und marschierten eine breite Allee entlang, die mit Holzhäusern gesäumt war; der Stil, in dem sie erbaut waren, unterschied sich nicht sehr von den Langhäusern seines
Heimatdorfes. Die Mauern der Halle der Bischof in erhoben sich bis zu einer Höhe von drei Mann. Er hatte kaum Zeit, vor Überraschung die Luft anzuhalten, da wurden sie auch schon in das beeindruckende Innere geführt. Er durfte neben dem großen Herdfeuer Platz nehmen und Brot essen, das so weiß und weich war, daß es mehr an eine Wolke erinnerte als an das, was er unter Brot verstand -schwere Laibe mit dicken, dunklen Krusten. Er durfte auch von dem Käse so viel essen, wie er wollte; niemals hatte er besseren gegessen. Außerdem gab es für ihn die Reste von Geflügel und Fisch, die einfache Mittagsmahlzeit der Bischöfin. Unter133 dessen kauten Rage und Kummer auf Schinkenknochen, an denen noch ordentlich Fleisch und Fett glänzten. Vermutlich hatte der arme Simplizius in seinem ganzen armseligen Leben nicht so viel Fleisch gegessen, wie die Hunde im Laufe der nächsten Stunde verschlangen. Es war schrecklich, mit solchem Vergnügen hier zu sitzen und zu essen, während Simplizius nicht einmal den Frieden eines richtigen Grabes besaß. Doch Alain konnte sich nicht zurückhalten. Selbst bei seinem Dienst am Tisch von Graf Lavastin während des Besuches von Prinzessin Sabella und ihrem Gefolge hatte er kein Festmahl gesehen, das von solch beiläufiger Eleganz gewesen wäre. Aber die Bischof in war ja auch immerhin die Schwester des Königs, ein Mitglied des königlichen Geschlechts. Die dunklen Stämme und die mit Wandteppichen behängten Wände, die geschäftigen Geistlichen und das feine Linnen, das auch der niedrigste Diener trug, erinnerten ihn daran, wie klein doch so ein Ort wie Osna war. Sicherlich waren Tante Bei und sein Vater Henri geachtete und wohlhabende Freie, etwas, worauf sie und ihre Kinder immer stolz sein konnten. Bei hatte Kinder durch Krankheiten verloren, niemals jedoch wegen Unterernährung - im Gegensatz zu so vielen anderen Familien. Doch wie er da in der Halle saß, selbst in der mit Asche verschmutzten Ecke beim Herdfeuer, schien dieser Stolz gering, verglichen mit dem großen Prunk, der im Dienste der Fürsten und Fürstinnen abgehalten wurde. Er hatte keine Ahnung, worüber die wichtigen Persönlichkeiten sprachen. Er aß zuviel, und sein Bauch tat weh von dem reichhaltigen Essen, an das er nicht gewöhnt war. Der lange Weg zurück zu Sabellas Lager schien eine Ewigkeit zu dauern. Jeder Schritt war wie ein Stich. Er lehnte sich abwechselnd gegen Rage und Kummer, um das Gleichgewicht zu halten. Die Bischöfinnen ritten nebeneinander; keine wollte der anderen 134 den Stolz des ersten Platzes überlassen. Agius, der sich offensichtlich entschieden hatte, seine Rolle als einfacher Frater -und nicht als Sohn eines Herzogs - beizubehalten, führte wieder Constanzes Maultier am Zügel. Alain hoffte, es zum Lager zu schaffen, ohne sich am Wegrand übergeben zu müssen. Nach einer Stunde begann er sich tatsächlich besser zu fühlen, zumal es an diesem Tag weder übermäßig warm noch kalt und der Wind wie eine angenehme Berührung auf seiner Haut war. Von ihnen allen sah nur Agius immer schlimmer aus, je mehr sie sich Sabellas Lager näherten. Kundschafter rannten voraus. Als die Gruppe das letzte Roggenfeld überquerte, bevor sich das Lager auf einem mit gelegentlichen Baumgruppen gesprenkelten Stück Weideland vor ihren Augen ausbreitete, kamen ihnen Soldaten und andere aus dem Lager entgegen, um einen Blick auf die königliche Bischöfin zu werfen. Antonia und Constanze bildeten ein eindrucksvolles Paar: eine Kombination aus fröhlichem Alter und ernster Jugend. Es war ein seltener Anblick, wie die beiden Bischöfinnen nebeneinander ritten, und Alain wünschte plötzlich sehnlichst, daß Simplizius noch leben würde, um dies sehen zu können, denn er hatte alles geliebt, was hell und strahlend aussah - selbst wenn er es nur aus größerer Entfernung hatte betrachten können. Doch Antonia hatte dem Jungen den Tod gebracht. Wie konnte sie mit einem solch sanften Antlitz reiten, als würde ihr Gewissen von nichts belastet werden? Aber hatte nicht Agius von dem inneren Herzen gesprochen? Wie pflegte Tante Bei immer zu sagen: »Ein sanftes Antlitz verrät eine ruhige Seele.« Das hatte Alain immer geglaubt. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Wie konnte ein Mensch Handel mit Blut und dunklen Geistern treiben und 135 dadurch einem unschuldigen, schlichten Jungen den Tod bringen, ohne daß sich auch nur ein einziges Anzeichen dieser schrecklichen Sünde auf dem Gesicht spiegelte? Prinzessin Sabella wartete vor dem großen Zelt, über dem ihr Banner wehte. Ihre Tochter Tallia stand neben ihr; sie wirkte blaß in ihrem weizenkornfarbenen Seidengewand und schien zu frösteln. Herzog Rodulf und Sabellas andere Anhänger standen neben oder hinter ihr; Graf Lavastin in ihrer Mitte wirkte hölzern, als wäre jedes Leben aus ihm gewichen. Sabella unterließ es, vorzutreten und ihre Halbschwester zu begrüßen; sie wartete, daß Constanze abstieg und ihrerseits auf sie zuging»Schwester«, sagte Constanze sanft, »ich bringe Grüße. Es ist meine tiefe Hoffnung, daß wir die Unruhen beilegen können, die unsere Familie zerrissen haben.« Sabella unterließ es, Constanze ihre Hände anzubieten, eigentlich ein Zeichen der Freundlichkeit und der Sicherheit. Statt dessen trat sie einen Schritt zurück und gab ihren Soldaten ein Zeichen. Sie schwärmten aus und bildeten einen Kreis um die zwei Frauen und ihr Gefolge. Antonia stieg ab und gesellte sich zu Sabella. Tallia starrte Constanze ernst an, als wäre die junge Bischöfin eine Erscheinung. Agius sank auf ein Knie, den Kopf geneigt, immer noch die Zügel von Constanzes weißem Maultier in der Hand. »Du bist jetzt in meiner Hand, Constanze«, sagte Sabella mit der ausdruckslosen Stimme, hinter der sie ihre Gefühle verbarg - sofern sie überhaupt welche hatte. »Du bist meine Geisel, die Sicherheit dafür, daß Henry sich
gut benimmt und mir meinen rechtmäßigen Anspruch zugesteht.« Wie ein Reh, das beim plötzlichen Anblick des Jägers zusammenzuckt, riß Constanze den Kopf hoch und schaute ihre Halbschwester aus weiten Augen an, als wollte sie Reißaus 136 nehmen. Aber natürlich war sie bereits umzingelt. Sie ließ die Hände sinken und faltete sie vor dem Bauch. Diese Geste erlaubte es ihr, die Fassung wiederzuerlangen. »Ich bin betrogen worden«, sprach sie mit lauter, fester Stimme. Sie blickte jetzt Agius an, der sein Gesicht langsam zu ihr emporhob; es war leichenblaß. »Ihr habt mir sicheres Geleit versprochen, Agius. Cousin.« Sie sprach das Wort mit Nachdruck und Wut aus; es war eine Waffe, die verwunden sollte. Agius schwieg. »Er hat Euch doch auch sicheres Geleit gegeben«, schaltete sich Antonia ein. »Er begleitete Euch zurück in die Stadt, wo wir unser Fasten gebrochen haben. Dann kamen wir hierher, aber er hatte seine Pflicht bereits erfüllt. Er hat Euch nur für eine Reise sicheres Geleit versprochen.« Constanze blickte Antonia nicht einmal an. »Ihr habt mich getäuscht, Agius. Das werde ich nicht vergessen.« »Das sollt Ihr auch gar nicht«, erwiderte er mit rauher Stimme. Aber er blickte über sie hinweg zu Sabella. Alain war erstaunt, als ihm plötzlich das unterschiedliche Alter der beiden Frauen bewußt wurde: Sabella war alt genug, um Constanzes Mutter sein zu können; und das wäre sie sicherlich auch gewesen, hätte sie sich damals, auf der Nachfolge-Rundreise vor so vielen Jahren, als fruchtbar erwiesen. Statt dessen war der Thron an ihr vorbeigegangen. Tallia, die späte Frucht ihrer Heirat, wirkte wie das zerbrechliche Ried, aus dem man den Stab schaffen würde, der ihr die Autorität einer herrschenden Königin verleihen würde. »Also, Prinzessin Sabella«, meinte Agius schroff, »damit ist meine Rolle in dieser Angelegenheit wohl beendet. Gebt meine Nichte frei, und laßt uns gehen, wie Ihr versprochen habt.« 137 »Wie ich versprochen habe, werde ich Eure Nichte in die Obhut der Bischöfin von Autun entlassen, der ich jetzt den Platz zurückgebe, der ihr unrechtmäßig durch einen Beschluß meines Bruders Henry genommen wurde, mit Zustimmung meiner Schwester Constanze.« Sie machte ein Zeichen, und eine alte, gebrechliche Frau humpelte zu ihr. Sie trug die Kleidung einer Bischöfin und das Abzeichen der Stadt Autun. »Du willst dich den Wünschen Henrys widersetzen?« fragte Constanze. »Ich bin die Bischöfin von Autun.« »Und mit welchem Recht hat Henry diese Frau von ihrem Platz entfernt?« Sabellas Ton klang sanft, war aber unnachgiebig. »Helvissa erhielt vor zwanzig Jahren von der Skopos den Bischofsstab. Henrys weltliche Autorität kann nicht die geistige Autorität aushebeln, die die Skopos in diesen Angelegenheiten besitzt. Ich gebe Bischöfin Helvissa lediglich ihren rechtmäßigen Platz zurück.« Doch bei einem Blick auf die Frau, deren Hände vom Alter zitterten, konnte Alain sich kaum vorstellen, daß sie etwas anderes als lediglich eine Schachfigur in Sabellas Plänen war. »Sie ist jetzt Mutter eines Frauenklosters«, sagte Constanze, »keine Bischöfin mehr. Ich wurde an -« »Du wirst der Kirche in Zukunft als Diakonissin dienen, Schwester. Deine Wahl zur Bischöfin kann wohl für ungültig erklärt werden. Als Diakonissin wirst du unter meiner Aufsicht bleiben.« Constanze schnappte nach Luft. Sie blickte wütend drein, sagte aber nichts. Eine Dienerin trat mit dem kleinen Mädchen, Agius' Nichte, vor. Das Mädchen hatte den Gesichtsausdruck eines in die Enge getriebenen Tieres, das nur noch auf den Todesstoß wartet. Sie sah ihren Onkel und beugte sich zu ihm wie Schilf in der Brise, aber sie machte keine Anstalten, zu ihm zu ren138 nen. Es war, als würden unsichtbare Fesseln sie bei denen halten, die sie gefangenhielten. Tränen rannen über ihr Gesicht, doch sie gab kein Geräusch von sich, wenn auch ihr Kinn bebte. Ein schlanker Halsreif glänzte in ihrem Nacken. »Das Kind wird in die Obhut der Bischof in von Autun zurückkehren«, sagte Sabella. Sie klang zufrieden mit sich und den Früchten ihres Plans. »Aber Ihr werdet mich nicht verlassen, Frater Agius. Ich könnte Euch möglicherweise noch benötigen.« »Dann bleibt meine Nichte in Eurer Obhut.« Seine Stimme klang ruhig, vielleicht zu ruhig. Alain hatte ihn niemals so unterwürfig erlebt. Agius warf einen Blick auf das Mädchen und wandte sich dann ab. Das Kind unterdrückte ein Schluchzen. Constanze kniete sich plötzlich hin und streckte die Hände aus. »Komm her, Kind«, sagte sie, doch es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Das Kind sah seinen Onkel an, und als der kaum merklich nickte, schritt sie zögernd zu Constanze, bis diese ihr die Hände auf die Schultern legte. »Dies ist Ermengard, Tochter von Herzogin Liutgard und ihres Ehegatten Frederik von Avaria. Sie ist für die Kirche bestimmt.« Erst jetzt warf Constanze wieder einen Blick zu Sabella. »Selbst unsere Streitigkeiten dürfen nicht dem Willen Unserer Herrin und Unseres Herrn im Wege stehen. Laß einen meiner Geistlichen sie nach Autun zurückbringen, wo sie in der Obhut meiner Kastellanin bleiben kann, einer Frau von guter Geburt und Bildung.« Agius stand mit geballten Fäusten daneben, den Blick unangenehm eindringlich auf seine Nichte gerichtet. Die neue Bischöfin stolperte; sie mußte von einem Diener gestützt werden. »Ich werde zustimmen«, sagte Sabella schließlich. »Constanze, ich übergebe dich Bischöfin Antonia. Also gut.« Sie wandte sich an Herzog Rodulf. »Wir marschieren. Autun wird
139 sich den Wünschen der rechtmäßigen Bischöfin fügen. Trotzdem lassen wir eine Garnison hier, um uns der Loyalität der Stadt zu versichern.« Alain erhaschte plötzlich einen Blick auf Sabellas Ehegatten, Berengar, der mit einem Diener auf dem Boden vor Sabellas großem Zelt saß. Die beiden Männer - der Edle und der Diener - spielten Schach. Berengar lachte mit großem Genuß, er wieherte beinahe vor Vergnügen, stieß die Figuren des Dieners um und erklärte sich zum Sieger. Tallia zuckte zusammen. Bischöfin Antonia legte der jungen Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. Es war vorüber. Das kleine Mädchen, Ermengard, verschwand in Begleitung der neuen Bischöfin von Autun. Constanze wurde unter Bewachung weggeführt, obwohl sie sich geweigert hatte, ihr Bischöfingewand, die Mitra und den Schal abzugeben, und niemand war mutig genug gewesen, ihr diese Dinge mit Gewalt abzunehmen. »Ihr habt mich betrogen, Sabella«, sagte Agius schließlich. »Es überrascht mich, Euch das sagen zu hören«, erwiderte Sabella. »Schließlich versprachen wir beide sicheres Geleit, und wir erfüllten unsere Versprechen. Ich halte das nicht für Betrug.« »Aber ich.« »Denkt darüber nach, Cousin. Würde Constanze in Autun bleiben, würde es Krieg zwischen ihren Leuten und meinen geben. Was für ein besseres Urteil gibt es als das, durch das Zwietracht beseitigt wird und Friede einkehrt?« »Was für ein besseres Urteil? Das Unserer Herrin, die in unsere Seelen blickt und beurteilt, was sie dort sieht.« Sabella wölbte eine Braue, das ausgeprägteste Mienenspiel, das Alain jemals bei ihr gesehen hatte. »Ich bin so, wie Ihr mich seht, Frater Agius. Danach müßt Ihr über mich urteilen. 140 Ich nehme an, Ihr werdet Euch in die Obhut von Bischöfin Antonia fügen.« »Ich werde mich fügen, weil ich keine andere Wahl habe.« »Dann gehört er Euch, Euer Gnaden«, sagte sie zu Antonia. »Und dieser auch«, fügte Antonia hinzu. Zu Alains Entsetzen wandte die weißhaarige Bischöfin ihren Blick jetzt ihm zu. »Wer?« Sabellas Blick schweifte umher, und erst nach einer Weile sah sie ihn mit einigem Erstaunen bei den Hunden, als hätte sie ihn zuvor gar nicht richtig wahrgenommen. »Er ist der Hundewärter, nicht? Ich erkenne Lavastins Hunde.« »Nicht nur ein Hundewärter, denke ich«, sagte Antonia. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr ihn mir überlaßt.« Sabella zuckte mit den Schultern. Sie erkundigte sich nicht einmal bei Lavastin, der ohnehin nicht mehr redete, es sei denn, man sprach ihn direkt an, und auch dann sprach er nur mit jener ausdruckslosen Stimme, die Alain an Sabella erinnerte. »Er gehört Euch.« Sie wandte sich ab; Herzog Rodulf und die anderen folgten ihr dicht auf den Fersen. Auch Tallia ging mit ihnen, warf aber noch einmal einen Blick über die Schulter zurück. Einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke: Ihre Augen waren von einem hellen Graublau, wie die Morgendämmerung eines wolkenlosen Tages. Dann folgte sie ihrer Mutter in das große Zelt. Alain zitterte. Er wagte nicht, Antonia anzusehen. Sabellas Gleichgültigkeit seinem Schicksal gegenüber erschreckte ihn. So einfach wurde er beiseite geschoben. Außerhalb von Lavastins Lager kannte ihn niemand, und niemand kümmerte sich darum, was mit ihm geschah. Was, wenn Antonia vermutete oder sogar wußte, daß er die Ermordung von Simplizius mitangesehen hatte? »Komm mit, Alain«, sagte die Bischöfin gewohnt freundlich. »Du wirst heute bei dem Mahl bedienen.« 141 Er zitterte. Sie erinnerte sich sogar an seinen Namen. »Frater Agius, ich hoffe, Ihr seid nicht zu stolz, um ebenfalls zu bedienen.« »Ich werde tun, was Ihr von mir verlangt.« Doch Alain spürte den furchtbaren Schmerz unter den demütigen Worten. Zusammen wurden sie zum Fluß begleitet, wo sie sich in Ruhe waschen konnten. Agius' Gesicht war inzwischen so ausdruckslos, daß Alain sich ernsthafte Sorgen um ihn machte. Doch der Frater sagte nichts. Er kniete am Ufer nieder und betete lautlos, während Alain sein Gesicht und die Hände säuberte, dann zögernd die Tunika auszog und sich Brust und Rücken wusch. Schließlich zog er sich ganz aus, denn er wußte nicht, wann er wieder eine solche Möglichkeit erhalten würde. Er ging zur tiefsten Stelle im Fluß, wo das Wasser ihm bis zur Hüfte reichte, holte tief Luft und tauchte unter. Hustend und spritzend kam er wieder hoch, umgeben von einer wirbelnden Masse aus Hunden. Sie schwammen um ihn herum, ihre Schwänze peitschten gegen seine Haut. Rage stieß ihn immer wieder mit der Schnauze an, und Kummer schwamm auf die andere Seite des Flusses hinüber und schüttelte sich dort mit solcher Kraft, daß Alain Spritzer abbekam. Unerwartet spürte Alain Freude in sich aufsteigen. Er lachte. Hatten Rage und Kummer ihn nicht zu ihrem Kameraden gewählt? Es schien unmöglich, daß Bischöfin Antonia ihm etwas antun konnte, solange die beiden Hunde ihn beschützten. Er watete wieder zum Ufer. Agius betete immer noch. Soweit Alain gesehen hatte, hatte er nicht einmal seine Hände von den Augen genommen. »Wascht Euch«, sagte Alain schließlich. »Es geziemt Unserer Herrin, daß wir gereinigt vor ihr erscheinen.«
142 Er war nicht sicher, ob Agius die Worte gehört hatte, und so schüttelte er seine Kleider so gut aus, wie es ging, und wartete, bis seine Haut wieder trocken war. Dann zog er sich an. Die Wachen warteten bereits ungeduldig darauf, ihre Schützlinge in die Obhut der Bischöfin zurückbringen zu können. »Du hast recht«, sagte Agius plötzlich. Er zog das Gewand aus. Darunter, direkt auf der Haut, trug er ein rauhes Hemd aus Leinen und Pferdehaaren. Doch Alain bemerkte sofort, daß sein Bein an der Stelle, wo Kummer ihn gebissen hatte, schmutzig, rot und geschwollen war. Bevor Alain auch nur ein einziges Wort herausbringen konnte, hatte Agius schon sein Hemd ausgezogen. Es verschlug Alain den Atem. Selbst die Wachen tuschelten ehrfürchtig und erschrocken miteinander. Der harte Stoff hatte Agius Haut vollkommen wund gescheuert. An einigen Stellen eiterten offene Wunden. »Tut das nicht weh?« flüsterte Alain. Er spürte den Schmerz wie Feuer auf seiner eigenen Brust, auf seinem eigenen Rücken. Agius warf sich der Länge nach auf den Boden und ballte die Hände zu Fäusten. »Es ist das, was ich verdiene. Ich betrog die eine für eine andere, nur um herauszufinden, daß ich selbst betrogen wurde. Oh, Herrin, ich wollte nur dem Kind helfen, für die Liebe, die mich mit Frederik verband.« »Aber Ihr habt das Leben Eurer Nichte doch sicherlich gerettet, nicht wahr?« »Gerettet wovor? Sie bleibt in Sabellas Gewahrsam, denn es ist ein Geschöpf von Sabella, das jetzt als Bischöfin auf dem Platz von Constanze sitzt. Ich kann das Mädchen nicht einmal an einen sicheren Ort bringen, zur Burg ihrer Mutter oder zur Rundreise des Königs. Ich bete darum, daß der König von die-.sen Taten nur zu bald erfährt, denn es wird ihn sehr wütend 143 machen.« Er sprach jetzt langsamer, schien jedes Wort zu genießen. »Der Zorn des Königs kann grausam sein.« Ein leichtes Stöhnen entschlüpfte ihm, das Geräusch einer trauernden Person. »Oh, Herrin. Ihr werdet hart über mich urteilen, wie ich es verdient habe. Ich schwor, der Welt zu entsagen und in Euren Dienst zu treten, und doch verfolgt die Welt mich und gewährt mir keine Gnade von ihrer schweren Bürde. Vergebt mir meine Sünden. Möge der Glaube an das tiefe Wissen über das Opfer Eures Sohnes mir einen gewissen Frieden schenken.« So fuhr er fort und widmete sich wieder seinen Gebeten. Die Wachen murmelten; sie lauschten und sahen zu. Alain wußte nicht, was er tun sollte. Auf merkwürdige Weise erinnerte Agius ihn an das mitleiderregende Guivre: verwundet und leidend in einem Käfig, den andere geschaffen hatten. Doch das Guivre war für sich gesehen kein bemitleidenswertes Wesen; es hatte etwas Wildes und schrecklich Erhabenes, etwas, das es von den Belangen der Menschen trennte. Nach einer Weile kamen die Hunde näher, stießen mit ihren Schnauzen an Agius ausgestreckten Körper. Der Frater reagierte nicht. Vielleicht hoffte er in diesem Augenblick, daß sie ihn in Stücke reißen würden und es dann mit ihm vorbei wäre. Doch statt dessen leckte Kummer die Wunde an seinem Bein, und Rage leckte die Verletzungen am Rücken. Alain bemerkte, daß Agius still in sich hineinweinte. Er kniete nieder und flüsterte ihm beruhigende Worte zu, wie er es getan hatte, wenn Tante Bels jüngste Tochter Agnes aus einem fürchterlichen Alptraum erwacht war. Schließlich gestattete Agius, daß Alain ihm beim Aufstehen half, ihn ins Wasser führte und wusch. Aber in dieser Nacht aß Agius nicht und auch nicht am 144 nächsten Tag, als sie weitermarschierten und Autun hinter sich ließen. Erst am Abend gelang es Alain, ihn dazu zu bewegen, wenigstens ein Stück altes Brot zu essen, das sich kaum noch für einen Bettler geeignet hätte. Da sie immerzu beobachtet wurden, kam auch dies sofort Bischöfin Antonia zu Ohren. Sie nahm Alain am nächsten Morgen beiseite und dankte ihm freundlich dafür, daß er sich um Frater Agius kümmerte. »Auch wenn er der Ketzerei anhängt«, sagte sie sanft, »hoffe ich dennoch, ihn wieder zur Vernunft bringen und in die Kirche zurückführen zu können.« Doch Alain fürchtete, wenn er in Agius' stilles, starres Gesicht blickte, daß der Frater sich eine andere, schreckliche Idee in den Kopf gesetzt hatte, daß er etwas Unüberlegtes, etwas Gefährliches vorhatte. Agius betete unaufhörlich, selbst beim Gehen. Bei jedem Halt sprach er zu einer immer größer werdenden Masse von Neugierigen von der Erlösung des heiligen Daisan, durch dessen Opfer wir von unseren Sünden erlöst werden. IV Der Hunger einer Maus
»Ruhen wir uns etwas aus«, meinte Rosvita zu ihrer Eskorte, als der Pfad aus dem Wald herausführte und auf den Grat stieß. Sie deutete auf einen Baumstamm, der so auf dem Boden lag, daß er wie eine Bank zu benutzen war. Von diesem einfachen, aber durchaus brauchbaren Sitz aus konnte man das Tal überblicken, das sich weiter
unten erstreckte - die aus Gips und Holz errichteten Gebäude von Kloster Hersford, das große Gut und die verschiedenen Dörfer, die sich wie Reben am Hers entlangrankten. Sie fragte sich einen Augenblick, ob ein Magnat wie Helmut Villam es womöglich für unter seiner Würde halten würde, auf einer solch bescheidenen Sitzgelegenheit Platz zu nehmen. Sie jedenfalls setzte sich hin, und nach einer Weile reichte er seinem Sohn die Zügel seines Pferdes und tat es ihr gleich. Der rauhe Wind, der über den Kamm blies, trug den schwa146 chen Klang von Hörnern zu ihnen. Weiter unten sahen sie den König und sein Gefolge aus einer kleinen Waldgruppe herauskommen; leuchtende Fahnen kündigten die Gruppe an. Jetzt befand sich auch eine weiße Flagge mit einem roten Adler unter all den anderen - vertrauteren - Bannern. Herzogin Liutgard von Fesse war erst am Tag zuvor im Kloster eingetroffen. Hersford lag an der Grenze zwischen den Herzogtümern Saony und Fesse, und es entsprach dem Brauch, daß die herrschende Herzogin den König durch ihr Gebiet begleitete. Liutgard war schon sehr jung Herzogin geworden, und vielleicht war es ihre Jugend, die sie so strikt an den alten Formen festhalten ließ. »Ich fürchte, Ihr habt die Jagd verpaßt«, meinte Rosvita. Welche Intrigen würden wohl während der heutigen Jagd gesponnen werden? Intrigen, deren Früchte - ob zum Guten oder zum Schlechten - erst in vielen Monaten geerntet würden. Villam hustete; sein Gesicht war noch gerötet von der Anstrengung, die ihm der Marsch auf den Berg bereitet hatte. Da er ein großer und schwerer Mann war, hatte er das Pferd nicht geritten, sondern am Zügel geführt, um ihm den letzten, steilen Aufstieg zu erleichtern. »Es ist immer Jagd, Schwester Rosvita. Nur die Art der Beute ist unterschiedlich.« »Glaubt Ihr, daß König Henry es ernst meint? Daß er wirklich sein unrechtmäßiges Kind über die anderen rechtmäßigen - erheben will?« Villam lächelte leicht spöttisch. »Ich bin kein unvoreingenommener Beobachter in dieser Sache. Wenn König Henry tatsächlich - gegen jede Tradition - Sanglant zu seinem Erben ernennt, müßte doch wohl ich ein direktes Interesse daran haben, Sanglants Erhebung voranzutreiben, oder nicht?« »Wieso solltet Ihr?« fragte sie und überlegte sogleich, ob er jetzt wohl offen aussprach, wovon die meisten Leute überzeugt 147 waren: daß er ruhig zugesehen hatte, als seine älteste Tochter, Waltharia, eine monatelange Affäre mit dem charmanten Sanglant gehabt hatte, die schließlich mit ihrer Schwangerschaft und der darauffolgenden Vermählung mit einem stämmigen, jungen Mann von edler Geburt und angenehmem Benehmen geendet hatte. Doch Villams einzige Antwort bestand in einem wissenden Lächeln. Sein Sohn Berthold stand dicht genug bei ihnen, um ihre Unterhaltung verfolgen zu können, und er grunzte amüsiert. Etwas, das sie sich merken sollte, dachte Rosvita: Dieser Junge besaß nicht nur unbestrittene Fähigkeiten im Umgang mit den Waffen, sondern auch den ironischen Witz seines Vaters - und er strotzte nur so vor Liebenswürdigkeit. »Ich denke«, sagte Villam plötzlich, »der König sollte sich zu einer Heirat entschließen. Königin Sophia ruht jetzt seit beinahe zwei Jahren in der Kammer des Lichts, und die Nonnen haben schon an zwei Bußtagen Gebete zu ihrem Andenken gesungen. Der König ist stark, aber es gereicht einem Mann immer zum Vorteil, sich mit einer Frau zu verheiraten, die ihm an Klugheit und Mut gleicht und seine Stärke noch erhöht.« Rosvita warf einen flüchtigen Blick auf Berthold, der offensichtlich bemüht war, ein Lachen zu unterdrücken. Selbst unter den großen Fürsten war Villams Schwäche für gutgebaute junge Konkubinen bekannt, und so war es gut zu verfolgen, daß seine Kinder ihm mit Nachsicht begegneten, obwohl sie von diesem Fehler wußten. Sie seufzte. Seit König Henry sie mit diesem Auftrag betraut hatte, war ihr klar, daß sie mehr und mehr in die Intrigen hineingezogen werden würde, die eine ständige Begleiterscheinung der gewaltigen Kavalkade waren, die mit der Rundreise des Königs herumzog. Die Aussicht stimmte sie alles andere als froh. 148 Sie würde nur davon abgehalten werden, ihre Geschichte zu schreiben. »Er muß eine wohlüberlegte Wahl treffen, wenn er noch einmal heiratet«, erwiderte sie, sich ins Unvermeidliche fügend. »Sobald er wieder heiratet. Henry ist ein zu kluger Mann, um unverheiratet zu bleiben, und ich bin sicher, daß er sofort zugreifen wird, wenn sich eine aussichtsreiche Verbindung ergibt. Henry ist ein Mann wie jeder andere.« Villam strich sich über den grauen Bart, während er zusah, wie Hunde und Reiter in einem anderen Wäldchen verschwanden. Auf seinem Gesicht lag wieder das gewohnte freundliche Lächeln, doch auch eine gewisse Zurückhaltung, und sein Blick war in die Ferne gerichtet, als er das Wäldchen weiter unten betrachtete, die stummen Bäume, zwischen denen die Jagdgruppe verschwunden war. »Ein Mann wie jeder andere. Abgesehen davon, daß er nur den einen Bastard hat und keinen zweiten will. Niemand kann die Frömmigkeit des Königs in Frage stellen.« »Allerdings nicht«, pflichtete sie ihm eilig bei. Das stimmte sicherlich. »Aber es ist nicht Frömmigkeit, was ihn von diesem Weg abhält.« »Ihr behauptet also, daß die Erinnerung und nicht die Frömmigkeit ihn davon abhält, eine Konkubine zu
nehmen. Die Ereignisse, auf die Ihr Euch bezieht, geschahen, als ich noch als Novizin in Korvei war. Glaubt Ihr, er liebt die Frau noch immer?« »Es ist keine Frau. Ich bin nicht sicher, ob ich es Liebe nennen würde. Verzauberung wohl eher. Ihr solltet wissen, Schwester Rosvita, daß sie sich aus dem Rest von uns nicht das geringste machte.« Wieder huschte ein spöttisches Grinsen über seine Lippen. »Und ich sage das nicht nur, weil ich ein eit149 ler Mann bin und mich womöglich darüber ärgere, daß sie mein Interesse an ihr nicht erwiderte. Sicher, sie war wunderschön. Sie besaß aber auch eine Arroganz, die Kaiser Taillefers selbst würdig gewesen wäre, wenn er wie sie - von den Himmeln herabgestiegen wäre und unter uns geweilt hätte. Wir waren Luft für sie. Ihre Gleichgültigkeit uns gegenüber war so umfassend, wie unsere gegenüber -« Er fuhr mit einer Hand über die glatte Oberfläche des Baumstamms, den Wind, Regen und Sonne längst von seiner Rinde befreit hatten. Er hob ein ] winziges Insekt auf, hielt es in ihre Richtung und ließ es über seine Fingerspitzen krabbeln. Dann schnippte er es beiläufig weg. Es verschwand im Gebüsch. »- diesen geringsten Ge- i schöpfen Unseres Herrn und Unserer Herrin. Vielleicht war es doch nur die Eitelkeit eines Mannes, aber ich hatte immer das Gefühl, daß sie ihm keinerlei Zuneigung entgegenbrachte, daß sie nur etwas von Henry wollte. Ich habe niemals herausgefunden, was es war.« »Nicht das Kind?« »Wenn es das Kind gewesen wäre, warum hätte sie es dann zurücklassen sollen ? Der Kleine war gerade erst zwei Monate alt. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht wurde sie plötzlich von einem Wahn befallen, und das war alles. Vielleicht war auch gerade - wie bei den Tieren auf dem Feld - ihre Zeit, und Henry war nur der Bulle, der gerade greifbar war. Vielleicht denkt ihr Volk aber auch gar nicht so wie wir, und wir 1 können daher nicht hoffen, ihre Handlungen und Ziele jemals zu verstehen. Oder aber, wie einige flüstern, es wirken im Hin- \ tergrund Mächte, von denen wir keine Ahnung haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Sanglant ist stark und mutig, außerordentlich geschickt in der Kriegskunst, großherzig, loyal und stolz. Aber er ist immer noch ein Bastard, und er wird auch immer ein Bastard bleiben.« 150 »So sind wir also wieder bei dem angekommen, weswegen wir hier sind. Ich habe mich genug ausgeruht, Herzog. Wollen wir weitergehen?« Er nickte zustimmend. Sein Sohn reichte ihm die Zügel seines Pferdes, und Rosvita nahm ihren Wanderstock wieder in die Hand. Man hatte ihr einen Maulesel angeboten, doch sie zog es vor, einen Eremiten von solcher Heiligkeit in der bescheidensten Weise aufzusuchen, die ihr möglich war - in der gleichen Weise, in der sich auch St. Thekla dem heiligen Daisan genähert hatte, als sie zum ersten Mal zu ihm gekommen war und darum gebeten hatte, seine Schülerin werden zu dürfen. Sie gingen weiter. Tatsächlich hatte sie den Auftrag mehrere Tage aufgeschoben, in der Hoffnung, daß Henry seine Meinung ändern und sie nicht dorthin schicken würde. Aber er hatte seine Meinung nicht geändert. Sympathie für Bruder Bardos mißliche Lage hatte sie schließlich umgestimmt: So lang die Rundreise des Königs im Kloster Hersford blieb, mußte der Abt sie ernähren. Hersford war wohlhabend, aber nicht reich genug, um das Gefolge des Königs noch viel länger zu beherbergen. Der breite Fußweg verengte sich bald zu einem schmalen, unkrautbewachsenen Pfad, der sich durch das Unterholz wand und immer wieder zwischen kleinen Baumgruppen hindurchführte. Sie mußten hintereinander gehen und wurden von zurückschnellenden Zweigen behindert. Rosvita, die als erste ging, entschuldigte sich mehr als einmal bei Villams Sohn für ihre Unachtsamkeit, wegen der ihm ein Zweig genau gegen den Kopf schnellte. Doch Berthold beklagte sich niemals. Es war ein ruhiger Tag, wenn auch schwül und drückend, voller Verheißung für einen schönen Sommer. Entgegen Rosvitas Vermutung war die Bergspitze nicht von 151 dem gleichen, dichten Wald bedeckt, durch den sie aufgestiegen waren. Plötzlich führte der Pfad hinaus ins grelle Sonnenlicht auf ein ebenes Feld. Große, umgestürzte Steine lagen herum, und die einzeln stehenden jungen Bäume und das dichte Unterholz kennzeichneten diesen Platz als einen Ort, der ehemals bewohnt gewesen war. Jetzt lag er jedoch verlassen da, und der Wald eroberte sich immer mehr zurück, was ihm einst gehört hatte. Vier üppig mit Gras und Blumen bewachsene Erdwälle erhoben sich auf der Lichtung. »Ich wußte gar nicht, daß die alten Dariyaner auch auf solch hohen Bergen gebaut haben«, sagte Villam. Er war offensichtlich überrascht, hier Ruinen vorzufinden. Rosvita wagte sich weiter auf die Lichtung hinaus. Sie stieß gegen einen Stein, der im hohen Gras verborgen war. Der Steinblock war grau und verwittert. Früher hatte er Bilder oder Worte getragen, doch sie waren im Laufe der Zeit verblaßt. Flechten wuchsen in den Kerben und Spalten, so daß es ihr nicht möglich war zu entziffern, was die schon längst verblichenen Erbauer einst in den Stein gemeißelt hatten. Sie tastete den Monolithen mit den Händen ab, zupfte Gras beiseite. Der Steinblock war gewaltig, doppelt so groß wie sie, obwohl er jetzt der Länge nach auf dem Boden lag. Neben seiner Grundfläche war noch die Stelle zu sehen, an der er einst im Boden gesteckt hatte. Jetzt wuchs ein dichtes Gewirr aus Nesseln in dem Loch. »Ich glaube nicht, daß es sich hier um eine dariyanische Ruine handelt«, sagte sie zu Villam, als er und sein Sohn zu ihr traten. »Seht, wie verwittert diese Inschriften oder Bilder sind. Diejenigen, die uns von den
Dariyanern hinterlassen wurden, können wir gewöhnlich erkennen. Außerdem haben die Dariyaner ihre Festungen normalerweise rechteckig angelegt. Doch schaut Euch das an.« 152 Sie wandte sich um und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Auf den Steinblock bezogen, erhoben sich die vier Erdwälle jeweils in gleicher Entfernung und im gleichen Winkel. Die Anlage war von Wald umgeben hohen Bäumen, die jede Sicht auf das dahinterliegende Land behinderten. »Es sieht so aus, als hätten die anderen Steine im Kreis um diesen herumgestanden. Und alle waren umgeben von Erdwällen. Das ist nicht das Werk von Dariyanern.« »Wessen Werk ist es dann?« fragte Villam. Er keuchte noch immer. »Riesen müssen diese Steine hier hochgeschleppt haben. Der Berg ist zu steil und zu hoch, als daß es Pferde gewesen sein könnten.« »Und so groß, wie diese Bäume sind«, fügte Berthold hinzu, der ganz offensichtlich tief beeindruckt von den Ruinen war, »diente diese Anlage auch nicht als Festung. Man kann nichts von dem Land dahinter sehen.« Rosvita betrachtete die Erdwälle und die Baumreihe. »Ich habe eine Idee.« Sie schlug mit ihrem Wanderstab das Unterholz beiseite und bahnte sich einen Weg über die Lichtung zu einem der Erdwälle. Berthold folgte ihr, während Villam zurückblieb. Er rang noch immer nach Luft. Die Soldaten hatten die Pferde zum Grasen beiseite geführt. Als sie weiterschritt und immer stärker die Gegenwart der alten Steine um sich herum spürte, ahnte sie plötzlich, daß die Soldaten sich vermutlich nicht recht trauten, den alten, zerfallenen Steinring zu betreten. Denn genau das war er. Ein Ring der Riesen, wie manche derartige Ruinen auch nannten; elf Kronen hießen sie bei anderen. Einige behaupteten, sie wären die Zähne von Drachen, die eingeschlafen waren und sich im Sonnenlicht zu Stein verwandelt hatten. Und dann gab es welche, die behaupteten, daß andere Geschöpfe hier gelebt und gewohnt hätten, noch bevor 153 die Aoi - die Verlorenen - Dariya dem Angriff des Bwrvolkes und ihrer menschlichen Verbündeten aus dem Osten überlassen und sich zurückgezogen hatten: Riesen wären es gewesen; oder die halbmenschliche Brut von Drachen; oder die Abkömmlinge von Engeln. Es hieß, daß die Kraft und das Wissen dieser Geschöpfe für die Menschheit für immer verloren wären; ebenso wie der Zusammenbruch des Dariyanischen Kaiserreiches etwa vierhundert Jahre zuvor die Menschen, die das Unheil überlebt hatten, nur mit Bruchstücken jenes Wissens und jener Weisheit zurückließ, die in dem großen Bündnis von Elfen und Menschen - dem Dariyanischen Kaiserreich - einst eine gewaltige Blüte erlebt hatten. Mit Hilfe ihres Stockes kletterte Rosvita auf einen der steilen Erdwälle - auf den westlichsten, wie sie anhand der Position der Sonne und der Schatten erkannte. Ihre Gewänder störten beim Gehen, und immer wieder war sie unter gereizten Grunzlauten damit beschäftigt, sie daran zu hindern, sich um ihre Füße zu wickeln oder in den Büschen hängenzubleiben. Berthold folgte ihr nicht weiter hinauf. Statt dessen umrundete er den Erdwall, schlug gegen Steinbrocken und schob mit dem Griff seines Messers Gebüsch beiseite. Schwer atmend und mit hochrotem Gesicht kam Rosvita oben an. Sie wirkte zufrieden. Tatsächlich konnte man von den Erdhügeln aus - wie sie vermutet hatte - über die Bäume hinwegsehen, auch wenn sie nicht bis ins Tal hinunterblicken konnte, sondern vielmehr auf andere Berge und den Himmel sah. Aber sie hatte von ihrem Platz aus einen guten Blick auf die Lichtung und konnte die Abdrücke sehen, die die umgefallenen Steine im dichten Unterholz hinterlassen hatten; sie schienen im Kreis angeordnet gewesen zu sein. »Seht her!« rief Berthold plötzlich aufgeregt. Er stand unten an der Grundfläche des Walls auf der dem Steinkreis abge154 wandten Seite. Sie stieg vorsichtig wieder hinunter und kam gleichzeitig mit seinem Vater bei ihm an. Der Junge hatte vor Aufregung rosige Wangen. »Ich habe schon zuvor alte Erdwälle gesehen. Auf den Gütern meiner Mutter, am Ufer des Auras, gibt es eine ganze Gruppe. Es gibt auch immer eine Öffnung, eine Art Durchgang. Und jetzt seht her. Hier.« Er hatte mit Hilfe eines kräftigen Stocks eine Steinplatte beiseite gestemmt. Rosvita kniete sich hin und blinzelte in die dunkle Öffnung, die so schwarz wie Tinte war. Es roch nach Luft, die lange Zeit eingesperrt gewesen war. Rosvita bebte und wich zur Seite. Jetzt nahm Berthold mit all der Begeisterung seiner Jugend ihren Platz ein und vergrößerte die Öffnung etwas. »Hältst du das für klug?« fragte Villam plötzlich. »Ich bin schon mal in einem anderen gewesen.« Berthold hatte seinen Oberkörper bereits in das Loch geschoben, so daß seine Stimme gedämpft klang. »Es war nichts weiter darin als eine einfache Kammer mit ein paar alten Knochen und zerbrochenen Töpfen. Und Dreck.« Villam schlug den Kreis der Einigkeit über seiner Brust. »Ist das die Art, die Überreste der Toten zu achten?« fragte er. »Jedenfalls solltest du, wenn du dich schon mit solchen -« Er brach ab. »Ach was!« widersprach Berthold empört und tauchte wieder auf. »Es ist zu dunkel, und wir haben keine Fackel. Selbst wenn ich da hineinklettern könnte, würde ich schon bald nichts mehr sehen, denn da vorn macht der Gang eine Biegung. Aber ich könnte morgen oder übermorgen wieder hierherkommen, zusammen mit einigen meiner Männer und Fackeln.« Er warf seinem Vater über die Schulter einen Blick zu und verzog den Mund zu einem süßlichen Grinsen. »Mit deiner Erlaubnis natürlich, Vater.« 155 »Um die Wesen darin zu stören, welche auch immer es sein mögen?« Villam war entsetzt. Rosvita mußte ihm zustimmen; sie nickte. Man sollte das alte Grab, wenn es denn ein Grab war, besser in Ruhe
lassen. Doch Berthold war vollkommen von der lebhaften Begeisterungsfähigkeit der Jugend erfüllt. Er war aufgeregt und wirkte hoch erfreut. »Glaubt Ihr das etwa?« fragte er. »Nein. Sollten hier alte Zauber gewirkt haben, haben sie sich sicher schon seit langem zur Ruhe begeben. Aber es könnte ein Schatz darin sein!« »Sicher.« Villam wandte sich angesichts der Erregung seines Sohnes flehentlich an Rosvita. »Glaubt Ihr nicht auch, daß es besser wäre, die Toten in Ruhe und ungestört zu lassen, wenn sie uns nicht selbst zu sich rufen?« »Ich weiß nicht viel über Zauberei, Herzog. Für die Studien der verbotenen Künste sind eher die Schwestern von St. Valeria bekannt. Wir von Korvei haben dagegen viel Zeit mit unseren Chroniken verbracht. Doch man sollte den Verdacht, daß Zauberei im Spiel ist, nie auf die leichte Schulter nehmen -mag es die der Lebenden oder die der Toten sein.« Sie sprach ernst und feierlich, hoffte, Eindruck auf den jungen Mann zu machen, doch Berthold nickte nur gehorsam und ging davon, um die anderen Erdwälle zu erkunden. Villam seufzte. »Er ist ein guter Junge. Aber zu neugierig, und ihm fehlt die Umsicht.« »Wir werden Kloster Hersford schon bald verlassen, Herzog. Ich werde versuchen, ihn bis dahin im Auge zu behalten.« »Ich danke Euch.« Als sie dem jungen Mann nachsah, wie er durch das hohe Gras schritt, blieb ihr Blick am Waldrand hängen. Und da sah sie es, sah sie den Pfad. Es war nicht viel mehr als eine Lücke zwischen den Bäumen, aber sie paßte zu den wenigen Anwei156 sungen, die Vater Bardo ihr gegeben hatte. »Ihr müßt dem Pfad der Tiere folgen, der von der Spitze des Hügels ausgeht. Zumindest sagte man mir das.« Vater Bardo hatte es also offensichtlich noch nicht einmal für nötig gehalten, das bekannteste heilige Mitglied seines eigenen Klosters auch nur ein einziges Mal zu besuchen. Doch Vater Bardo liebte die Bequemlichkeit sehr und schätzte es gar nicht, auf die luxuriösen Annehmlichkeiten des Klosters verzichten zu müssen. Sei nicht so stolz, Rosvita, schalt sie sich, sonst könnte man mit der gleichen Härte über dich urteilen, mit der du über andere urteilst. »Da ist unser Weg«, sagte sie und wandte sich dem Wald zu. Doch als sie dem Erdwall mit dem kleinen, tiefschwarzen Loch den Rücken kehrte, kam es ihr vor, als würde sie beobachtet. Sie wirbelte herum. Sofort verschwand der Eindruck von der Anwesenheit eines unsichtbaren Wesens. Jetzt war es wieder nichts weiter als ein zugewachsener Erdwall mit einem Durchgang, der von Steinplatten verdeckt war. Villam hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. »Ich hatte gerade ein merkwürdiges Gefühl«, sagte er und schüttelte sich. »So als hätte sich etwas an mich geklammert und versucht herauszufinden, was ich bin - ähnlich wie ein blinder Mann, der nach dem greift, was vor ihm liegt, weil er es nur mit den Fingern sehen und erkennen kann.« »Laßt uns diesen Ort verlassen«, meinte Rosvita. »Ich hole meinen Sohn«, sagte er. »Wir treffen uns am Pfad.« Er eilte davon. Vorsichtig wandte sie dem Erdwall wieder den Rücken zu. Erneut spürte sie diese unsichtbare Gegenwart, doch diesmal etwas gedämpfter, so als würde sie eine gewisse Entfernung einhalten. Doch sie benötigte ihre ganze Ent157 schlossenheit, um auf den Pfad zuzugehen, ohne einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Sie traf Villam, Berthold und die Soldaten an dem Pfad, der kaum mehr war als eine etwas weniger dicht bewachsene Stelle im Unterholz. Er führte in den Wald hinein, doch es dauerte kaum mehr als einhundert Schritt den Abhang hinunter, da stießen sie schon auf ein Felsstück. Eine Quelle entsprang einer Spalte. Im Schutz der Bäume und der Felsen stand eine winzige Hütte. Die Außenwände waren frisch vergipst. Moos wuchs auf dem Dach und schien die Hütte in ein grünes Kleid zu hüllen. Sie spürte den Wind, der durch die Bäume strich, hörte das Rauschen, mit dem die Zweige sich an den Felsen rieben, das Rascheln der kleinen Tiere, die beim Geräusch des Pferdegetrappels schnell davonhuschten, das Zwitschern der Vögel hoch oben in den Wipfeln der Bäume. Auf der Lichtung mit den umgestürzten Steinen war es unnatürlich still gewesen; dort hatte es keine anderen Geräusche gegeben als die, die sie selbst verursacht hatten. Hier war es ruhig, aber nicht lautlos. Villam und seine Männer hielten respektvoll Abstand, als Rosvita sich der Hütte näherte. Eine aus einem Baumstamm gehauene Bank stand davor, und die Tür bestand aus zusammengebundenen Ästen. Sie hatte keinen Riegel. Dafür war unten an der Tür eine kleine Öffnung von der Länge und Breite ihres Unterarms angebracht. Sie kniete sich hin und sprach mit sanfter Stimme: »Bruder Fidelis. Ich bin Rosvita von Korvei. Ich bin gekommen, um Euch um ein Gespräch zu bitten.« Nichts. Keine Antwort, kein Geräusch drang aus der Hütte. Deren Proportionen waren so unglücklich, daß es Rosvita unvorstellbar erschien, wie sich ein Mensch hier jemals wohl 158
fühlen könnte - an keiner Stelle konnte man aufrecht stehen, nirgendwo sich ausgestreckt hinlegen. »Bruder Fidelis?« Wieder nichts. Sie fürchtete plötzlich, daß er tot sein könnte. Was nicht einmal so schrecklich gewesen wäre - vorausgesetzt, der alte Einsiedler wäre friedlich beim Meditieren gestorben und von den Engeln zur Kammer des Lichts emporgetragen worden. Sicherlich eine Enttäuschung für sie, denn sie hatte gehofft, eine ganze Menge von ihm erfahren zu können. Sie lächelte reuevoll, sich durchaus der Tatsache bewußt, daß ihr Hunger nach Wissen ihr Herz in Unruhe versetzte und dafür sorgte, daß sie sich der Betrachtung der Gnade Unserer Herrin und Unseres Herrn nicht immer so widmete, wie sie eigentlich sollte. Immer noch kein Geräusch. Wenn nun dieses Etwas vom Erdwall ihn geholt hatte? Wenn hier auf dem Hügel irgendein Etwas lebte, ein altes Etwas, das Gesellschaft nicht gewohnt war und eifersüchtig darauf achtete, daß es ungestört blieb, alles hassend, was sich noch immer voller Vertrauen im hellen Tageslicht aufhielt? Aber dann hörte sie ein schwaches Rascheln. »Bruder Fidelis?« Seine Stimme klang wie das Wispern der Blätter, die vom Wind über den Boden gewirbelt wurden. »Lest mir etwas aus Eurer neuen Arbeit vor, aus dieser Geschichte über das wendische Volk, an der Ihr gerade arbeitet, Schwester Rosvita.« »Ich habe sie nicht bei mir«, erwiderte sie verblüfft auf seine Bitte. »Ich bin beschämt über meine Neugier.« Sie hörte Erheiterung in seiner trockenen, ruhigen Stimme - und einen Hauch von salianischem Akzent in der Art, wie er wendische Wörter aussprach. »Aber es war schon immer so, daß mein Herz Frie159 den suchte, während mein Verstand noch ruhelos war.« Sie lächelte, und als hätte er dieses Lächeln gesehen, fuhr er fort: »Ich nehme an, Euch geht es genauso, Schwester. Aber sicherlich seid Ihr nicht gekommen, um meine Beichte zu hören.« Dies überraschte sie sogar noch mehr. »Möchtet Ihr denn eine Beichte ablegen, Bruder? Natürlich höre ich Euch an, wenn Ihr über etwas sprechen wollt.« »Ich bin voll der Sünde, wie wir alle, die auf der Erde wandeln. Ich war stets ein treuer Sohn der Kirche, und dennoch war mein Herz Unserer Herrin und Unserem Herrn nicht immer treu. Teufel erschienen mir und versuchten mich zu verführen.« Die Tür aus zusammengebundenen Ästen starrte ihr entgegen, enthüllte nichts weiter als das glatte Kleid des im Laufe der Zeit abgenutzten Holzes. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zu erfahren, in welcher Verkleidung die Teufel erschienen waren, die Bruder Fidelis in Versuchung geführt hatten. Er war so alt wie Mutter Otta, hatte bereits mehr als neun oder zehn Jahrzehnte hinter sich, wie man sich im Kloster Hersford erzählte. Aber es war nicht üblich, daß eine Frau einem Mönch die Beichte abnahm; dies wurde von einem männlichen Geistlichen oder von einem der Brüder übernommen. Die meisten Mönche wandten sich vollkommen von der Welt ab und damit auch von der Fürsorge der Diakonissinnen. Bruder Fidelis, der irgendwo in der Hütte saß, hustete; ein kratzendes Geräusch, das sich um so schlimmer anhörte, weil es ihn viel Anstrengung zu kosten schien. »Wir sind uns sehr ähnlich, Ihr und ich«, meinte er schließlich, als er sich wieder beruhigt hatte. »Ich weiß, was Ihr denkt, denn ich würde das gleiche denken, wäre ich da draußen, und Ihr wärt hier drinnen. Ich habe jetzt seit vielen Jahren das Schweigegelübde auf 160 mich genommen und mich in diese Hütte zurückgezogen, um den Ablenkungen der Welt zu entsagen. Doch ich fühle, daß meine Zeit auf dieser Erde sich dem Ende zuneigt. Daher will ich jetzt zu Euch sprechen und Eure Fragen beantworten.« Sie hockte sich auf die Fersen und legte die Hände auf die Oberschenkel, während sie ihm Zeit ließ, Luft zu holen. »König Henry schickt mich. Er möchte wissen, ob Ihr irgend etwas über die Gesetze während der Herrschaft von Kaiser Taillefer wißt.« »Ich wurde als Kind dem Kloster übergeben, das von St. Radegundis gegründet und geleitet wurde. Sie war die achte und letzte Frau sowie die spätere Witwe von Taillefer. Ich diente in diesem Kloster - zusammen mit anderen Brüdern - bis zu ihrem Tode, etwa fünfzig Jahre nach dem Ableben von Taillefer.« Hier versagte ihm die Stimme, und sie mußte sich vorbeugen und ihr Ohr an die Tür legen, um ihn zu verstehen. Sein angestrengtes Atmen war so geräuschvoll, daß es seine Worte übertönte. »Es war eine Zeit der Versuchung, und zu meinem ewigwährenden Kummer ergab ich mich ihr.« Rasselnd holte er Luft. Ein langes Schweigen trat ein. Rosvita wartete geduldig. Hinter ihr stampften die Pferde auf. Ein Vogel tirilierte. Die Soldaten unterhielten sich leise miteinander. Nicht einmal Villam traute sich näher an die Hütte heran, um seinen Sohn besser im Auge zu behalten; Berthold ging ruhelos auf dem Gelände umher und suchte nach irgendeiner Möglichkeit, den Fels besteigen zu können. »Nach dieser Zeit verließ ich das Kloster, um durch die Welt zu wandern. Mit meiner Stimme erklärte ich, daß ich mehr Beweise für die Wunder suchte, die von St. Radegundis geschmiedet worden waren - von ihr, die in ihrer barmherzigen Güte und in ihrer offenherzigen Großzügigkeit die beste und 161
frommste von uns allen war. Doch in meinem Herzen suchte ich Wissen. Ich war neugierig. Ich war in meinem Innern nicht zu diesem Abstand fähig, den wir, die wir uns der Kirche verschworen haben, suchen sollen. Der Hunger nach Wissen verführte mich zu sehr. Am Ende bin ich hier gelandet, als ich zu schwach wurde, mehrere Stunden an einem Stück zu gehen. Schließlich ließ ich sogar das Kloster hinter mir und wurde hierhergeführt, um an diesem Hügel Abstand zu suchen und zu finden. Doch auch darin habe ich gefehlt.« Seine Stimme war sanft, die Worte klangen etwas undeutlich. »Es ist gut, daß Unsere Herrin und Unser Herr so barmherzig sind, denn ich bete darum, daß sie mir meine Schwäche vergeben mögen.« »Ich bin überzeugt, daß sie das tun, Bruder«, sagte sie. Seine Lebensgeschichte berührte sie. »Also, ich weiß einiges über die Gesetze aus Taillefers Zeit«, nahm er den Faden wieder auf. »Fragt, was immer Ihr wissen wollt.« Sie zögerte einen kurzen Moment. Doch der König selbst hatte ihr diesen Auftrag gegeben, und obwohl sie eigentlich der Kirche diente, diente sie auch ihm. »König Henry möchte etwas über die Gesetze der Nachfolge wissen, die zur Zeit Taillefers bei den Salianern geherrscht haben.« »Taillefers Einfluß war gewaltig. Aber er starb, ohne einen Erben benannt zu haben, wie Ihr sicher wißt, Schwester, denn auch Ihr habt wie Eure Schwestern in Korvei die alten Chroniken studiert. Und ohne einen Erben senkte sich schon bald - als sich die Anwärter auf den Thron zerstritten - Zwietracht auf sein großes Reich herab.« »Er hatte Töchter.« »Rechtmäßige Töchter, von denen drei in der Kirche waren. Doch nach der salianischen Tradition konnten nur Männer 162 zum Herrscher ernannt werden, während ihre Frauen nur die Königin an seiner Seite waren, nichts weiter.« »Und doch regieren Unsere Herrin und Unser Herr in der Kammer des Lichts gemeinsam.« Sein Atem kam jetzt pfeifend, und sie lauschte, während er langsam wieder Kraft sammelte. »Hat der heilige Daisan nicht selbst gesagt, daß >Völker in ihren Ländern Gesetze erlassen haben aufgrund der Freiheit, die ihnen von Gott gegeben wurde Die Völker leben nicht in der gleichen Weise. So ist es auch bei den Salianern und den Wendanern.« »So erinnert uns der heilige Daisan daran, daß wir nicht die Sklaven unseres Körpers sind.« Er stieß ein leises Lachen aus, und sie mußte erneut warten, bis er wieder zu Atem gekommen war. »Einige Chroniken behaupten«, fügte Rosvita hinzu, »daß Königin Radegundis schwanger war, als ihr Mann starb, und daß Taillefer dieses Kind zum Erben ernannt hätte - wäre es ein Junge gewesen. Doch niemand weiß, was aus dem Kind geworden ist, ob es eine Totgeburt war, ob es ermordet oder einfach nicht anerkannt wurde.« »Radegundis hat nie von dem Kind gesprochen. Von all denen, die während Taillefers Herrschaft am Hof gewesen waren, blieb nur eine einzige Dienerin mit Namen Clothilde in den Jahren danach bei Radegundis im Kloster. Vielleicht kannte sie die Antwort auf das Geheimnis, aber auch sie hüllte sich in Schweigen. Ein Schweigen, das letztlich das Ende von Taillefers großem Reich herbeigeführt hat. Wenn ein Junge geboren und anerkannt worden wäre, hätte er sicherlich die Herrschaft antreten können. Sofern es Königin Radegundis gelungen wäre, genügend Verbündete unter den Edelleuten von Salia und Varre zu finden, um das Kind in den kommenden Jahren bis zur Mündigkeit aufzuziehen.« 163 Rosvita dachte an Sabella, die eine Revolte gegen Henry angezettelt hatte - und der war immerhin ein starker König. Allein die Vorstellung, um wieviel erbitterter die Edelleute kämpfen würden, wenn es um einen Thron ging, der von einem Kind gehalten wurde! Kein Kind war vor den Intrigen der großen Fürsten sicher; sie alle strebten nach Macht. Entsprechend den Chroniken war Radegundis sehr jung gewesen, als sie Taillefer geheiratet hatte, der sie mehr wegen ihrer Schönheit als wegen ihrer guten Familie ausgewählt hatte, denn mit fünfundsechzig Jahren konnte er sich seine Frau ganz nach Belieben aussuchen. Keine junge Königin ohne starke Familienbande konnte darauf hoffen, ihr Kind sicher in einer Welt großzuziehen, in der sich so viele Herzöge und Grafen gegen sie stellten. »In Varre oder Wendar«, fuhr Fidelis fort, »hätte die einzige Tochter, die nicht der Kirche versprochen war, den Thron geerbt und bestiegen - unter der Voraussetzung, daß sie stark genug dazu gewesen wäre. Aber die Salianer zogen einen männlichen Bastard einer rechtmäßigen Tochter vor. Als ich im Kloster St. Radegundis war, las ich mit eigenen Augen Kapitularien aus jener Zeit. In ihnen wurde bestätigt, daß ein unrechtmäßiger Sohn berechtigt war, von seinem Vater zu erben. Und aus genau diesem Grund kämpften die Herzöge und Grafen von Salia und die männlichen Bastarde Taillefers - er hatte schließlich genauso viele Konkubinen wie Frauen gehabt - um das Kaiserreich und brachten ihm den Untergang.« Das war genau die Nachricht, die König Henry hören wollte, dachte Rosvita bekümmert: »Ein Gesetzestext, aus dem hervorgeht, daß ein unrechtmäßiger Sohn erbberechtigt war.« Doch sie zögerte noch, denn Bruder Fidelis sprach auch von Untergang. »Dann könnte also in Salia tatsächlich ein Bastard den Thron erben und gekrönt werden?« 164 »Das ist sogar schon geschehen. Einer herrschte vier Jahre, bis er von dem Duc de Rossalia ermordet wurde, der als Unterhändler zu ihm gekommen war. Der Herzog wurde für seinen Verrat mit einem gerechten Urteil
Unserer Herrin und Unseres Herrn bestraft: Seine Ländereien wurden zwanzig Jahre lang von den Aikha geplündert, bis kein Haus mehr stand und alle seine Leute geflohen waren. Doch der Thron wurde einem entfernten Cousin Taillefers übergeben, der weder rechtmäßig noch unrechtmäßig dem Geschlecht des Kaisers entstammte, und so verschwand es von der Erde.« Rosvita seufzte tief. Vier Jahre. Das klang nicht besonders vielversprechend. »Das ist nicht das, was Ihr hören wolltet?« fragte Bruder Fidelis. Sie spürte, daß er ihren Gesichtsausdruck sehen konnte, ja, daß er direkt in ihr Innerstes blicken konnte. »Es spielt keine Rolle, was ich will, Bruder. Aber möglicherweise ist es genau diese Botschaft vom Untergang von Bastarden und des Reiches, die der König hören sollte.« »Selbst ich hier in meiner Hütte habe von dem Bastard gehört, den eine Aoi-Frau Henry geschenkt hat. Die Vögel singen Lieder von dem Kind, und nachts, wenn ich in meine Meditationen versunken bin, erzählen die Dämonen der oberen Sphären einander flüsternd von der Entwicklung des Kindes zu einem Jungen und schließlich zu einem Mann, so daß ich es einfach hören muß.« Scherzte er, oder meinte er es ernst? Sie wußte es nicht. Er ließ sich auch nicht näher darüber aus. Sein Atem ging pfeifend, ein schwaches Geräusch an dem stillen Nachmittag und so zerbrechlich wie das vertrocknete Stroh, das vom Rieddach auf die Erde gefallen war. Rosvita schmerzten die Knie. Ein Fuß war bereits eingeschlafen. »Erzählt mir von Eurer Arbeit«, sagte er. 165 Sie spürte in seiner Stimme die gleiche Sehnsucht, die an ihr zehrte; eine beständige Neugier, wie der Hunger einer Maus, hartnäckig und nagend. »Ich verfasse für König Henrys Mutter, Königin Mathilda, eine Geschichte der Wendaner. Sie lebt jetzt im Konvent Quedlingham, wo sie - wie ich annehme - Frieden gefunden hat und über ihren Sohn und die anderen Kinder wacht. Ein großer Teil dieser Abhandlung befaßt sich mit der Herrschaft des ersten Henry und der beiden Arnulfs, denn es ist den Anstrengungen dieser drei Männer zu verdanken, daß das wendische Volk sich zu jener Macht erhoben hat, die es jetzt darstellt.« Sie dachte nach. Er wartete geduldig. Sie erinnerte sich an all die Mühen, die das Verfassen einer solchen Geschichte erforderte - eine Aufgabe, die sie regelrecht verfolgte und die gerade deshalb reizvoll war, weil sie eine Herausforderung darstellte. Und dieser Mann verstand sicherlich, was sie dazu trieb, verstand ihre Neugier, ihre Ängste, das Bedürfnis zu untersuchen und zu entdecken. »Es ist, als hätte ich einen großen Wald mit tief verschneiten Pfaden betreten. Niemand führte mich, als ich mir den Weg bahnte, und so manches Mal geriet ich auf Umwege, traf andere Male auf wichtige Spuren. Es gibt so viel, was Ihr mir erzählen könntet, Bruder Fidelis. So viel, von dem Ihr wissen müßt! So viel, das Ihr mit eigenen Augen gesehen oder zumindest von denen gehört haben müßt, die es gesehen haben!« »Es ist nicht mehr viel Atem in mir.« Die Äußerung kam so leise, daß sie einen Augenblick glaubte, sie sich nur eingebildet zu haben. »Ihr müßt Nachsicht mit mir haben, Schwester. So wie ein Kind der Mutter beichtet, möchte ich jetzt gern Euch beichten.« Sie spürte bittere Enttäuschung in sich aufsteigen. Aber sie 166 konnte ihm die Bitte nicht abschlagen. »Ich bekleide das Amt der Diakonissin. Es steht in meiner Macht, Euch die Beichte abzunehmen.« Er sprach jetzt sehr langsam, und jedes Wort klang angestrengt und wurde von pfeifenden Atemzügen begleitet. »Einmal habe ich gesündigt, sehr sogar, indem ich mit einer Frau schlief. Das war vor vielen Jahren, auch wenn ich noch immer voller Zuneigung an sie denke. Ich habe versucht, zufrieden zu sein. Ich habe versucht, den Hunger zu besänftigen, der an meinem Herzen nagt. Und so habe ich schließlich einen gewissen Frieden gefunden. Ich habe mich von der Welt abgewandt und gesehen, daß deren Versuchungen nichts bedeuten im Vergleich zu dem Versprechen der Kammer des Lichts.« Er hatte eine sehr angenehme Stimme, die eines Mannes, der seine eigenen Fehler einsieht und sie sich vergibt - nicht arrogant oder nachsichtig, sondern weise, weil er weiß, daß er so fehlerhaft ist wie alle Menschen. »Aber die Teufel belästigen mich noch immer. Nicht in der Verkleidung von Frauen, wie sie einigen meiner Brüder erscheinen. Auch nicht in der Verkleidung der Frau, an die ich mich noch so deutlich erinnere.« Jetzt hielt er inne. Es war schmerzhaft, ihn so atmen zu hören - jedes Ein- und Ausatmen war von einem deutlichen Rasseln begleitet. »Sie erscheinen in der Verkleidung von Gelehrten und Magi, locken mich mit ihrem Wissen, wenn ich ... wenn ich nur bereit wäre, ihnen ...« Seine Stimme erstarb. Sie hörte seine Atemzüge, die jetzt so schwach waren, daß der Flügelschlag eines Schmetterlings sie übertönt hätte. Auf einmal wurde sie sich wieder der Welt um sie herum bewußt. Die Vögel trällerten noch immer. Sangen sie von den Taten Sanglants ? Sie verstand ihre Sprache nicht. Berthold war inzwischen auf die Spitze der Felsnase geklettert und betrachtete mit sichtlichem Vergnügen das Land unter 167 sich. Wie er so an der steil abfallenden Felskante stand - immer in Bewegung -, wirkte er beinahe wie ein Sinnbild für die Lebenskraft der Jugend. Villam hatte sich unterhalb der Felsnase aufgebaut und war sichtlich verärgert - oder zumindest besorgt -, aber er wagte nicht zu rufen, um den heiligen Mann nicht zu stören. Es war heiß, obwohl die Sonne von Wolken verdeckt wurde. Rosvita war unter der Wollrobe längst der Schweiß
ausgebrochen, der ihren Rücken hinabrann. Sie unterdrückte das Bedürfnis, sich den Nacken zu wischen. Jede Bewegung barg die Gefahr, die nächsten Worte von Bruder Fidelis zu übertönen. Sie hörte, wie er sich in der winzigen Hütte schwach bewegte. »Wenn ich nur bereit wäre, Ihnen zu erzählen, was ich über das Geheimnis der Sieben Schläfer weiß. Aber ich habe geschworen, nie wieder darüber zu sprechen. Und doch ...« Sie wartete. Er sagte nichts mehr. Von innen erklang ein Geräusch, als würde etwas über den Boden geschleift, etwas, das nicht so schwer wie ein Körper war, sondern leicht und dennoch fest. Ein Schatten legte sich über den Spalt in der Tür, dann kam ein Gegenstand zum Vorschein. Mit klopfendem Herzen nahm Rosvita ihn an sich. Es war ein Buch. Es war aufwendig gebunden und bestand aus zusammengehefteten Pergamentblättern, deren Seiten in einer klaren, eleganten Handschrift beschrieben waren. »Daran habe ich all die vielen Jahren gearbeitet, die ich lieber in Meditationen über die Heilige Botschaft von Gott in Einigkeit hätte verbringen sollen. Ich überreiche es Euch, damit es meinen Geist nicht länger an diese Erde fesselt. Glückliche Reise, Schwester. Mögen Unsere Herrin und Unser Herr über Eure Bemühungen wachen. Und vergeßt nicht, was Ihr hier gelernt habt. Lebt wohl.« 168 Sie starrte auf das Buch. Auf dem Deckel waren die Worte Die Lebensgeschichte von St. Radegundis eingraviert. Dann endlich wurden ihr seine letzten Worte bewußt. Lebt wohl. »Bruder Fidelis?« Die Sonne kam jetzt hinter den Wolken hervor und blendete sie einen Augenblick, so unerwartet hell war das Licht. »Geht nun«, sagte er. Seine Stimme hallte in ihren Ohren. Die Worte hatten wie ein Befehl geklungen, kräftig und fest, ganz anders als die zerbrechliche Stimme, mit der sie die ganze Zeit durch die geschlossene Tür hindurch gesprochen hatte. Sie erhob sich, das Buch fest in den Händen. »Lebt wohl, Bruder. Ich danke Euch. Ich werde Eure Worte fest in meinem Herzen verschließen.« War es möglich, daß sie ihn lächeln hörte? Es mußte ihre Phantasie sein. Die Hütte vor ihr war klein und mitgenommen, so armselig wie ein Schuppen, den ein Bettler errichten mochte, um sich vor dem Regen zu schützen. Sie zog sich zurück, ohne der Hütte den Rücken zuzukehren, denn sie wollte nicht respektlos erscheinen. Sie stolperte. Villam hielt sie am Arm fest. »Ist die Unterredung beendet?« »Es ist vorbei.« Sie schaute zur Hütte. Es kam kein Lebenszeichen mehr von dort. »Ich habe nichts gehört und nichts gesehen«, sagte Villam. »Abgesehen von meinem Sohn, der wie ein junges Eichhörnchen auf dem Felsen herumklettert, um sich den Schädel einzuschlagen.« »Gehen wir«, sagte Rosvita. Sie traute sich nicht, von ihrer Unterredung mit dem Eremiten zu sprechen. Villam akzeptierte ihre Zurückhaltung. Er gab seinen Männern ein Zeichen. Gemeinsam gingen sie den Pfad wieder 169 zurück, machten dieses Mal aber einen Bogen um die Lichtung mit den gefallenen Steinen. Rosvita war zu sehr in Gedanken versunken, als daß sie die Lichtung bemerkt, geschweige denn lange über sie nachgedacht hätte obwohl Berthold versuchte, zu einem der Erdwälle zu gelangen, und von seinem Vater daran gehindert werden mußte. König Henry würde nicht gefallen, was Bruder Fidelis gesagt hatte - nicht, wenn er vorhatte, Sanglant als Erben zu benennen. Zu sagen, daß ein Bastard den Thron von Salia erben konnte, war schön und gut, aber nicht, wenn der Preis dafür Tod, Bürgerkrieg und die Auslöschung eines edlen Geschlechts sein könnte. Vielleicht würde Henry Vernunft annehmen. Er war ein guter Mann und ein guter König, und er hatte drei gesunde, rechtmäßige Kinder. Aber eigentlich nagte etwas ganz anderes an ihr. Eine bestimmte Frage, die sie so quälte wie das krächzende Geräusch, das entstand, wenn eine Hand über eine Tür scharrte: Wer waren die Sieben Schläfer? Während ihrer Studien, als sie sich auf die Arbeit an der Chronik vorbereitet hatte, war sie auf einige Hinweise auf die Sieben Schläfer gestoßen. Es war eine harmlose Geschichte, eine von vielen Erzählungen über die frühen Märtyrer; selbst Eusebe hatte sie kurz in ihrer Kirchengeschichte erwähnt. In der Zeit der Daisaniten-Verfolgung während der Herrschaft des dariyanischen Kaisers Tianathano hatten sieben junge Leute in der heiligen Stadt Sai's Zuflucht in einer Höhle gesucht, um Kraft für das bevorstehende Martyrium zu gewinnen; diese Höhle schloß sich auf wunderbare Weise über ihnen, und sie schliefen dort so lange, bis ... Bis was? Das hatte Rosvita niemals erfahren, und sie war auch nie auf die Idee gekommen nachzufragen. Wie sie in den zwanzig Jahren ihrer Studien in den alten Chroniken und bei 170 der Befragung von Augenzeugen gelernt hatte, entsprachen nicht unbedingt alle Erzählungen der Wahrheit. Doch etwas in der Art, wie Bruder Fidelis darüber gesprochen hatte, sein Zögern und seine Vermutung, daß es
nichtmenschliche Geschöpfe waren, die ihn in seiner Einsamkeit störten und dazu drängten, von diesen »Sieben Schläfern« zu sprechen, brachte sie zu der Überzeugung, daß es mehr als nur eine Legende war. »Ihr seid sehr ernst, Schwester Rosvita«, sagte Villam in dem verständlichen Bemühen, etwas von ihr zu erfahren. »Ich muß nachdenken«, sagte sie. Daraufhin schwieg er, denn er war zu gut erzogen, um sie weiter zu bedrängen. 2 In dieser Nacht wurde das Fest zu Ehren von St. Susannah gefeiert, jener Heiligen, die besonders bei Schustern, Goldschmieden und Juwelieren beliebt war. Das königliche Gefolge besetzte sämtliche Gästehäuser des alten Klosters und die Hälfte der Dörfer im Umkreis von einer Wegstunde - abgesehen von all den Menschen, die in Zelten auf den umliegenden Weiden blieben. Angeblich hörte man den Kellermeister, dem die Aufsicht über die Nahrungsmittelverteilung oblag, darüber stöhnen, daß das Gefolge des Königs zu groß wäre und daß die Leute zu vernarrt in das Essen und den Wein wären. Henry trat der Versammlung mit ernstem Gesicht entgegen. Nur Rosvita und Villam wußten, weshalb sie mit dem alten Einsiedler gesprochen hatte. Und nur Rosvita kannte den Inhalt des Gesprächs und Henrys Reaktion, als sie ihm alles erzählt hatte. 171 Er hatte lange Zeit nachgedacht, während sie still und geduldig neben ihm gewartet hatte. Obwohl Vater Bardo dem König sein eigenes Arbeitszimmer angeboten hatte, um es als Schlafraum und Empfangsraum zu nutzen, hatte Henry den Raum im oberen Stockwerk des größten Gästehauses gewählt. Das Zimmer war geräumig, aber ohne jeden Schmuck, und die Läden waren geöffnet, um die Frühlingsluft hereinzulassen. Hier waren der König und sie eine kurze Zeit allein gewesen. Abgesehen von formellen Anlässen kleidete sich Henry immer in der Art seines Volkes, wenn auch etwas kostbarer als die meisten anderen: eine knielange Tunika mit goldenem Saum, Beinkleider und - zu dieser Jahreszeit - weiche Lederstiefel, in die Adler, Löwen und Drachen geprägt waren, die drei Säulen, auf die sich seine Macht stützte. Die Adler waren seine Boten, die Löwen seine getreuen Fußsoldaten, und die Drachen waren seine schwere Reiterei, der ganze Stolz seines Heeres. Aber dies waren nur seine persönlichen Waffen. Seine Macht als König von ganz Wendar und Varre beruhte auf der Unterordnung der großen Fürsten unter seine Oberherrschaft. Sein schwarzer Ledergürtel war mit den in Gold gemalten Siegeln der sechs Herzogtümer geschmückt: ein Drache für Saony, ein Löwe für Avaria, ein Adler für Fesse, ein Guivre für Arconia, ein Hengst für Varingia, wo die Pferde gezüchtet wurden, und ein Falke für Wayland. Er trug vier Goldringe, einen für jeden Markgrafen und die Markgräfin: Helmut Villam, Judith von Olsatia und Austra und Werinhar von Westfall. Die Markgräfin von Ostfall war inzwischen tot, und der Ring, den sie von Henry erhalten hatte, war auf dem Schlachtfeld verlorengegangen oder von Plünderen gestohlen worden, so daß sich jetzt irgendein qumanischer Edelmann damit schmücken mochte. 172 Ein fünfter Ring mit dem Siegel seiner Herrschaft hing an einer goldenen Kette um seinen Hals. Eine Krone trug er nicht. Die lag zusammen mit seinem Staatsgewand, seinem Zepter und der Heiligen Lanze von St. Perpetua, der Herrin der Schlachten, in einer Eichentruhe, deren Holz mit Schnitzereien verziert war - in ewigem Kampf ineinander verschlungene Greifen und Drachen. Er lauschte aufmerksam, als Rosvita von der Unterredung mit Bruder Fidelis berichtete. Er nahm sich Zeit zum Nachdenken, und sie wartete. In seiner Jugend war er impulsiver gewesen, hatte sofort gesagt, was er dachte. Doch jetzt, achtzehn Jahre nachdem er den Thron von Wendar und Varre bestiegen hatte, beherrschte er die Kunst des Abwartens. »Aber Taillefer unterließ es, einen seiner unrechtmäßigen Söhne zum Erben zu ernennen«, erklärte er schließlich. »Ein Blick auf meine eigene Familie genügt. Man erklärte Sabella als unfähig zu herrschen, genauso wie man mich als unfähig erklärt hätte, wenn es mir nicht gelungen wäre, rechtzeitig das Gegenteil zu beweisen. In diesem Fall hätte mein Vater eine meiner Schwestern ernannt - oder meinen Bruder Benedikt. Aber als ich von der Nachfolge-Rundreise zurückkehrte, entschied er, mich den Herzögen und Markgrafen zur Bestätigung vorzustellen. Taillefer wählte jedoch gar kein Kind aus, weder einen Bastard noch sonst eines. Möglicherweise wäre alles anders gelaufen, wenn er das getan hätte.« Als Rosvita ihn verließ, war sie kein bißchen klüger. Obwohl sie vorsichtig nachgefragt hatte, hatte sie keinerlei Hinweis darauf erhalten, was er tun würde. An diesem Abend beim Fest saßen seine Töchter Sapientia und Theophanu links und rechts von ihm. Sein noch sehr junger Sohn Ekkehard war überredet worden, zu singen und dazu die Laute zu spielen; das Kind hatte in der Tat eine süße Stimme. Wenn Henry sich entschei173 den sollte, Ekkehard der Kirche zu übergeben, würde sich eine engelsgleiche Stimme im Gebet zum Himmel erheben. Im Laufe des darauffolgenden Morgens kamen zwei Adler im Kloster an. Sie waren über und über staubbedeckt, müde und wirkten mitgenommen - und sie brachten schlimme Neuigkeiten. »Gent wird belagert«, sagte die ältere der beiden, eine grimmige Frau, die mit dem linken Bein hinkte. Sie
zögerte nicht, sich an König Henry direkt zu wenden. »Wir waren fünf Adler und sind nach Gent geritten, um den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte zu überprüfen. In Sichtweite der Stadt, aber noch außerhalb ihrer Mauern, wurden wir von den Aikha angegriffen. Ich wurde bei dem Angriff verletzt. Daher flohen meine Kameradin« sie deutete auf die andere Frau, die jünger war, etwa im Alter von Berthold oder Theophanu - »und ich nach Westen, um Euch diese Botschaft zu überbringen, Eure Majestät. Einen Teil des Weges wurden wir von einigen Drachen begleitet. Sie brachten eine Diakonissin und eine heilige Reliquie an einen sicheren Ort. Die übrigen Drachen, darunter Prinz Sanglant, befinden sich weiterhin in der belagerten Stadt.« »Haltet Ihr es für einen der üblichen Raubzüge?« fragte Henry ruhig. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht nach dem, was die Drachen erzählten, die mit uns ritten, Eure Majestät. Bei der letzten Zählung waren es zweiundfünfzig Aikha-Schiffe.« Henry saß auf einer Bank im Innenhof mit dem Einhorn-Brunnen, umgeben von seinen Kameraden und Höflingen. Der letzte Satz rief Gemurmel hervor, das der König mit einer Handbewegung rasch zum Verstummen brachte. »Glaubt Ihr, daß sie eine Invasion planen?« 174 »Storm - der Kommandeur der Drachen, die uns begleiteten - sagte, die Aikha verlangen, daß die Brücken abgerissen werden, die Gent mit dem Flußufer im Osten und Westen verbinden. Auf diese Weise können sie das Land flußaufwärts nach Belieben plündern und brandschatzen.« »Und wo befindet sich Kommandeur Storm jetzt?« »Er ist in die Nähe von Gent zurückgekehrt. Er und seine Männer hoffen, den Aikha außerhalb der Mauern zusetzen zu können, um ihren Brüdern zu helfen.« Henry warf einen Blick nach rechts, wo Helmut Villam stand. »Gent liegt innerhalb der Ländereien, die von Gräfin Hildegard verwaltet werden, nicht wahr?« Villam nickte. »Was ist mit ihren Streitkräften?« fragte der König. »Ich weiß es nicht«, gestand der Adler. »Sie befinden sich nicht innerhalb der Stadt. Sicherlich ist sie inzwischen über die Belagerung in Kenntnis gesetzt worden.« Der König machte eine Geste, und ein Diener brachte ein Glas Wein. Er nippte gedankenvoll daran. »Ihr sagtet, Ihr wart fünf Adler?« Die Frau nickte. Ihre Begleiterin, ohnehin schon ziemlich blaß, begann jetzt regelrecht weiß zu werden; sie sah aus wie jemand, die zu viele schlaflose Nächte in fruchtloser Sorge verbracht hatte. Sie hatte jene helle Hautfarbe, die sie als Bewohnerin des Nordens auswies, helle, blaue Augen und struppiges, weizenblondes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war. Der älteren Frau waren weder Ärger noch Kummer anzumerken. »Die anderen ritten weiter. Ich weiß nicht, ob sie sicher in die Stadt gelangten, aber ich nehme es an.« »Ihr habt nicht gesehen, wie sie die Stadttore passierten?« »Nein. Aber der Mann, mit dem ich ritt, Wulfhere, hat mich und meinen Kameraden Manfred auf vielfältige Weise an sich 175 gebunden. Wäre er gestorben, hätte ich es erfahren, da bin ich mir ziemlich sicher.« »Oh«, sagte Henry und wölbte eine Braue. »Wulfhere.« Für Rosvita und die meisten anderen war ein Adler wie der andere. Die Kinder von Edelleuten erhielten ihr eigenes Gefolge, wenn sie mündig wurden, oder sie dienten, wenn die Umstände es verlangten, bei den Drachen. Der Dienst als Bote des Königs oder als Fußsoldat blieb den Kindern der Freien vorbehalten, die nicht von edler Geburt waren. Doch jeder Geistliche in der Kirche des Königs und in der Königlichen Schule kannte Wulfhere vom Sehen oder zumindest aus Erzählungen. Es gab keinen älteren Adler als ihn, und manchmal - wenn auch nicht sehr oft in diesen Tagen - flüsterte man, daß er so manches wußte, was das menschliche Wissen bei weitem übertraf. Er hatte während der Herrschaft von Arnulf dem Jüngeren hohes Ansehen genossen, wenngleich auch einige klagten, daß er zuviel Einfluß auf Arnulf gehabt hätte - besonders für einen Mann, der nicht in eine edle Familie hineingeboren worden war. Mit dem hohen Ansehen war es schon im Laufe des ersten Jahres nach Henrys Thronbesteigung vorbei gewesen. Wulfhere war aus der Gegenwart des Königs verbannt worden. Die Gründe kannte Rosvita nicht. »Ja, Eure Majestät.« Die Frau hatte einen festen Blick, und sie hatte keine Angst, König Henry in die Augen zu schauen. »Ich bin stolz darauf, ihn Präzeptor nennen zu dürfen.« Unterweiser und Führer. Sie hatte das dariyanische Wort mit Bedacht gewählt. Rosvita ahnte, daß sie etwas wußte, zumindest Wulfheres Ruf am Hof kannte. Henry verzog die Lippen. Rosvita kannte ihn nach all der Zeit gut genug, um zu wissen, daß er die direkte Art des jungen Adlers bewunderte. »Wie lange dient Ihr schon bei meinen Adlern, und wie ist Euer Name und Euer Geschlecht?« 176 »Ich diene seit sieben Jahren bei den Adlern, hauptsächlich in den Marklanden. Ich trat gleich, nachdem ich mündig wurde, bei ihnen ein. Ich bin Hathui, Tochter von Elseva, einer Freien aus Ostfall.« »Und Euer Vater?« »Mein Vater war Volusianus. Auch er wurde von freien Eltern geboren. Aber leider wurde er im Dienste König
Arnulfs getötet, als er gegen die Redari kämpfte, Eure Majestät.« Der König warf einen Blick zu Villam hinüber, der die junge Frau ebenfalls wohlwollend betrachtete. Rosvita erinnerte sich an den letzten Krieg gegen die Redari; er hatte im letzten Jahr von Arnulfs Herrschaft stattgefunden und war überwiegend in den Marken der Villams ausgetragen worden. Tatsächlich hatten sich die Ländereien der Villams nach der Kapitulation der Redari-Stammesleute und ihrer Bekehrung zum Glauben der Einigkeiten weiter ausgebreitet. »Nach seinem Tod zählten meine Mutter, ihre Schwester und ihr Bruder zu denen, die mit Erlaubnis von König Arnulf in das Gebiet östlich des Eldar reisten, um Land in Besitz zu nehmen, ohne einem Grafen oder Herzog verantwortlich zu sein.« »Sondern nur dem König.« Sie nickte leicht zur Bestätigung seiner Worte. »Nur dem König«, wiederholte sie. Henry hob seine linke Hand, das Zeichen, daß sie sich erheben sollte. »Ihr werdet mit meinem Hof reisen, Hathui, Tochter von Elseva, und mir dienen.« Diese Ehrenbezeugung ging an den anderen, die sich zweifellos fragten, wieviel Gunst der König dieser Gemeinen noch schenken wollte, nicht vorbei. Rosvita musterte die Höflinge. Wer würde sich als erster mit ihr anfreunden, wer als erster versuchen, ihren Fall herbeizuführen? 177 Hathui schien von dieser Gunstbezeigung völlig unberührt zu bleiben. »Und meine Kameradin Hanna, Tochter von Birtha und Hanal? Sie ist erst seit kurzem bei den Adlern und noch unerfahren, wenig ausgebildet und hat keine Familie in der Nähe.« »Sie kann uns ebenfalls beitreten. Ihr könnt ihre Präzeptorin sein.« Es kam Rosvita plötzlich so vor, als würde Henry die beiden Adler für etwas ganz anderes belohnen: dafür, daß sie ihm Nachricht von seinem Sohn gebracht hatten. »Wir müssen daran denken, ein Heer aufzustellen«, sagte der König an Villam gewandt. »Wann können wir nach Gent aufbrechen?« 3 Nachdem sich ihr anfänglicher Schock gelegt hatte, fühlte sich Hanna eher unzufrieden als geehrt über ihre Erhebung zu jenen, die König Henry persönlich dienten. Natürlich nicht wegen Henry. Er war genau so, wie sie sich in ihren Träumen immer einen König vorgestellt hatte: ernst, aber mit der Fähigkeit zu lachen; eine elegante Erscheinung ohne jene Eitelkeit, die Männer dazu verleitete, schöne Kleider und Juwelen nur zu tragen, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen; liebenswürdig, ohne freundlich zu sein; unwillig, Unfähigkeit und Verzögerungen zu tolerieren. Aber auch ein König konnte nicht viel tun, wenn es darum ging, sein gewaltiges Gefolge - die Rundreise des Königs -schnell von der Stelle zu bewegen, oder darum, in weit entfernten Landesteilen Truppen auszuheben: in den nordwest178 lichsten Gebieten des Herzogtums Saony, im Hochland weit im Süden Avarias und in den entfernten Marklanden im Osten. Hanna, die von einer brüsken, praktisch veranlagten Schenkenwirtin aufgezogen worden war, sah erstaunt zu, wie langsam sich alles entwickelte, wie viele Streitigkeiten zwischen den Kastellaninnen und Edelleuten über Fragen des Status und der Ehre ausgetragen wurden - Fragen, deren Beantwortung für jene, die in Gent in der Falle saßen, keinerlei Unterschied machen würde, sollten die Aikha die Stadtmauern überwinden. »Wenn das so weitergeht, werden sie tot sein, noch bevor wir dieses Kloster verlassen haben«, murmelte sie an jenem Abend Hathui zu, als sie wieder einmal erlebte, wie eine junge Edle vor dem König Entschuldigungen dafür vorbrachte, daß es lange dauern würde, bis sie Truppen ausheben könnte, und daß es noch viel länger dauern würde, bis diese bis nach Gent gelangt wären. Beim Segen der Herrin! Abgesehen davon, daß die ganze Angelegenheit Hanna wahnsinnig machte, war es auch noch langweilig. Sie unterdrückte ein Gähnen und spürte, daß Hathui ihr Gewicht verlagerte. »Was macht dein Bein?« »Es geht«, erwiderte Hathui. »Kümmere dich um deine Pflichten. Wer ist das?« »Was?« »Wer spricht da gerade mit dem König?« Hanna starrte die Frau an, aber sie konnte die Edlen nicht auseinanderhalten; in all den schön bestickten Kleidern und Tuniken und den goldgesäumten Beinkleidern, mit ihren schönen Halsketten und Ringen sahen sie sich zum Verwechseln ähnlich. »Auch das gehört zu deinen Pflichten, Hanna«, sagte Ha179 thui ernst. Sie klang beinahe wie Wulfhere. »Du mußt dir alle großen Häuser von Wendar und Varre einprägen, die Namen der Edelleute von den entsprechenden Geschlechtern lernen und dir merken, welche Verbindungen sie durch Heiraten, Familienbande und Eide eingegangen sind. Außerdem mußt du dir merken, wer wen mag und wer wen für welchen Vorteil heiraten will, welche Güter ohne Herrin sind und deshalb der Kirche oder dem König übergeben werden, der mit diesen Ländereien dann möglicherweise irgendeine Familie belohnt, die ihm einen wichtigen Dienst erwiesen hat.«
»O Herrin«, fluchte Hanna leise. »Das alles?« »Und noch einiges mehr.« Aber Hathui grinste und nahm ihren Worten damit die Schärfe. »Das da ist Liutgard, die Herzogin von Fesse. Weil Fesse in der Mitte des Königreiches liegt, ist es ein langer Ritt von hier nach Gent, das ganz im Nordosten liegt. Also, das Herzogtum von Fesse grenzt an das von Arconia, welches von Henrys Halbschwester Sabella regiert wird. Sicher hast du von den Gerüchten gehört, daß Sabella eine Rebellion gegen den König plant?« Hanna hatte allein in den letzten acht Stunden, seit sie und Hathui im Kloster Hersford eingetroffen waren, so viele Gerüchte gehört, daß sie es aufgegeben hatte, sie voneinander unterscheiden zu wollen. »Und? Welchen Unterschied macht das für Herzogin Liutgard?« »Diesen: daß Liutgard keine Truppen nach Gent schicken will, denn die Stadt liegt viele Tagesmärsche weit im Nordosten, und ihr eigenes Land wird gerade von Sabella bedroht. Henry muß abwägen, welche Bedrohung größer ist: die von Gent oder die von Fesse.« Hanna seufzte. »Wie kannst du das alles nur auseinanderhalten?« »Das ist nur der Anfang.« 180 Hanna sah, daß Hathui über sie lachte, wenn auch nicht ohne Sympathie. »War es schwer für dich, als du zu den Adlern kamst? Hattest du auch das Gefühl, daß alles nur Namen ohne jede Bedeutung waren?« Hathui zuckte mit den Schultern. »Wenn Wulfhere dein Präzeptor ist, gibst du niemals zu, daß du damit zu kämpfen hast. Aber um die Wahrheit zu sagen, es war sehr schwierig. Doch nach einiger Zeit konnte ich sie allmählich auseinanderhalten. Du kennst doch auch die Namen von allen Bewohnern von Friedleben, oder nicht? Und die von den Höfen und Hütten in der Umgebung?« »Natürlich!« »Nun, dann stell dir die Edelleute, die mit der Rundreise des Königs reisen, wie die Bewohner eines Dorfes vor. Einige bleiben immer im Dorf; andere kommen und gehen entsprechend den Pflichten, die sie auf ihren Gütern zu erfüllen haben. Wirklich, Hanna, sie unterscheiden sich nicht sehr von den gewöhnlichen Männern und Frauen. Ich habe herausgefunden, daß sie ihre Streitigkeiten haben, ihre geheimen Geliebten, ihre Verbündeten und ihre Unstimmigkeiten, genau wie das normale Volk. Sie schlafen und essen und beten und erleichtern sich. Ich glaube, wenn man einen von ihnen in die Kleidung eines Freien und einen hart arbeitenden Freien in eine elegante Tunika stecken würde, könnte man nicht wirklich erkennen, wer wer ist!« »Hathui!« Aber Hathui lächelte nur das stolze Lächeln der Mailänderin und bedeutete Hanna, daß sie sich wieder dem widmen sollte, was rings um sie herum vorging. Das tat Hanna auch. Aus irgendeinem Grund machte Hathuis schockierende Meinung es aber einfacher für sie, die Edlen auseinanderzuhalten. Die dünne, glänzende Lackschicht, 181 die sie so eingeschüchtert hatte, war abgesplittert, durch Hathuis Bemerkungen für immer zerstört. Sie sah, daß der alte Berater - Markgraf Helmut Villam - gähnte, als Herzogin Liutgard versprach, sie würde am nächsten Tag bei Morgengrauen mit ihrem Gefolge aufbrechen. Aber es würde noch viele Wochen dauern, ehe sie ein Heer ausheben konnte, und noch länger, diese Streitmacht durch das Königreich marschieren zu lassen. Der noch sehr junge Mann neben Villam - sein Sohn, wie es hieß, auch wenn Hanna sich nicht erinnern konnte, wie sein Name war oder ob sie ihn überhaupt schon gehört hatte - zappelte ungeduldig und wirkte ebenfalls, als wäre er am liebsten ganz woanders. Hannas Milchbruder Ivar hatte diesen Blick manchmal gehabt, wenn er einen neuen Streich im Sinn hatte oder sie zu einem seiner Streifzüge in den Wald überreden wollte. Ivar gehörte zu den Menschen, die entweder voller Energie waren oder düster und niedergeschlagen. Wie mochte es Ivar jetzt gehen? Hatte er Kloster Quedlingham bereits erreicht und sein Leben als Mönch begonnen? Hanna hatte keine Ahnung von den Entfernungen im Königreich; sie wußte nicht, wo all die anderen Städte und Klöster lagen. Doch eines wußte sie genau: Ivar würde sich hinter Klostermauern nicht wohl fühlen. Er war dazu geschaffen, andauernd in irgendwelche Schwierigkeiten zu geraten. Sie seufzte. Oh, Herrin. Es gab nichts, was sie für Ivar tun konnte, nicht jetzt. Sie hatte Liath Ivar vorgezogen, und jetzt hatte die Herrin sie von allen beiden getrennt, gerade so, als sollte sie für ihre Wahl bestraft werden. Herzogin Liutgard beendete ihre Unterredung mit dem König und ging davon, um einer anderen Edlen Platz zu machen. Sie schien etwa im gleichen Alter wie Henry zu sein, und sie trug ihre Jahre mit großer Würde. Ihre Haare waren zu langen 182 Zöpfen geflochten und zurückgebunden; obwohl sie jetzt grau waren, konnte Hanna erkennen, daß sie einmal tiefbraun gewesen sein mußten. Hathui beugte sich zu Hanna hinab, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. »Judith, Markgräfin von Olsatia und Austra.« Die Markgräfin informierte Henry darüber, daß sie sofort zu ihren Gütern nach Austra aufbrechen und mindestens zweihundert Männer für den Marsch nach Gent zusammenbringen würde. »Und vergeßt nicht, daß mein Sohn Hugh jetzt Abt von Fiersbarg ist. Ich bin sicher, wenn Ihr ihm eine Nachricht zukommen laßt, wird er ebenfalls ein Kontingent zu Eurer Unterstützung senden, Eure Majestät.«
Hugh! Hanna stockte der Atem. Sie hatte Hugh beinahe vergessen, doch beim Anblick dieser beeindruckenden Frau wurde sie wieder von Erinnerungen überwältigt. Judith war eine reife Frau mit nicht geringem Leibesumfang und würdevollem Auftreten. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht, das noch kaum vom Alter gezeichnet war. Hanna konnte Hugh darin wiedererkennen: die gleichen, wenn auch etwas kantigeren Konturen, die hellen, tiefliegenden Augen, die hochmütige Miene. Aber die Haare der Markgräfin waren offensichtlich einmal dunkel gewesen, ganz im Gegensatz zu Hugh, der blond war. Stimmte es also, daß Hughs Vater ein Sklave aus Alba gewesen war, dessen Männer bekannt für ihr hübsches goldenes Haar waren? »Sei keine Närrin«, schalt sie sich im stillen. Sofort fragte sie sich, wie es Liath wohl ergehen mochte. War sie sicher nach Gent gelangt? Ging es ihr gut? War sie verletzt? Tot? Dachte Hugh noch immer an Liath? Natürlich dachte er niemals an jemanden wie Hanna. Was, wenn er ein Kontingent von Soldaten nach Gent führte? Würde Wulfhere in der Lage sein, Liath 183 vor Hugh zu schützen, obwohl er nicht wußte, was sich im Winter in Friedleben ereignet hatte? Hathui berührte Hanna sanft am Ellenbogen; eine beruhigende Geste, obwohl sie sicher nicht ahnen konnte, was ihre Kameradin gerade dachte. Und Hanna hatte auch nicht das Bedürfnis, ihre Gefühle jemandem mitzuteilen sie schämte sich viel zu sehr dafür. Immerhin wußte sie, wie gemein Hugh Liath behandelt hatte. Dies war nicht die Zeit für solchen Unsinn, wie ihre Mutter sagen würde. Sie riß sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse vor ihr. Später, als die Audienz vorüber war, wurde Hathui zum Arzt des Königs geschickt, während Hanna zum Gästehaus gehen sollte, wo die Kinder von Henry wohnten. Hanna blieb im Türrahmen stehen, und die zwei dort postierten Wachen - den goldenen Überwürfen mit dem aufgestickten schwarzen Löwen nach Mitglieder von Henrys Fußtruppe - musterten sie neugierig. Hanna interessierte sich mehr für die Kinder des Königs. Ekkehard war noch jung; er ging noch in die Königliche Schule und war nicht alt genug, um das Recht auf ein eigenes Gefolge zu haben und als Erwachsener in die Welt hinauszugehen. Jetzt saß er neben einer seiner Schwestern, die ihn auf der Laute begleitete. Er hatte eine wunderbare Stimme. »Als die Schiffe vom Norden herunterkamen und er das Gold in ihren Bäuchen glänzen sah, sprang er ins Wasser, obwohl es so kalt war wie das Herz seiner Mutter, sprang er ins Wasser und schwamm hinüber zu ihnen. Mit seinem Schwert tötete er den Wächter. Mit seinem Messer tötete er den Steuermann. 184 Und die Sklaven an den Rudern verbeugten sich vor ihm und baten ihn, seine Geschichte zu erzählen. Dies war sein Lied, als er die Schiffe eroberte. Die junge Frau, die ihn begleitete, war Theophanu. Obwohl sich der Hof des Königs bereits seit dem Morgen in ständigem Aufruhr befand, saß sie ruhig da und klimperte zu dem süßen Gesang ihres Bruders auf der Laute. Die andere Schwester - klein und dunkel und vornehm -war Sapientia. Sie schritt auf und ab, auf und ab, wie ein gefangenes Tier. Hanna trat zögernd einen Schritt vor. Sapientia sah sie, wollte schon zu ihr eilen, als sie in Erinnerung an ihre Stellung stehenblieb. Sie winkte Hanna zu sich. »Ihr habt eine Nachricht für mich, Adler?« verlangte sie zu wissen. Ohne aus dem Rhythmus zu geraten, hob Theophanu kurz den Blick, um sich ein Bild dessen zu verschaffen, was da geschah, dann sah sie wieder auf die Laute. Ekkehard sang ungerührt weiter, er schien nichts bemerkt zu haben. Hanna ließ sich auf ein Knie nieder. »Ja. König Henry beauftragt Euch, jetzt zu den Quartieren des Schmieds zu gehen.« »Ha!« brachte Sapientia leise, aber erfreut hervor. Sie wandte sich um und machte ihren Dienerinnen, die in der Nähe des Feuers nähten, ein Zeichen. »Kommt!« sagte sie und verließ so geschwind den Raum, daß die Frauen ihre Nadelarbeit auf der Bank zurücklassen mußten und noch nicht einmal Zeit hatten, sich einen Umhang überzuwerfen, bevor sie ihr nachrannten. Hanna zögerte. Ekkehard war jetzt mitten im Lied, das heißt eigentlich in einem Lied in dem Lied, in dem sich Sigisfrid auf die unglücklichen Rudersklaven bezog und zum ersten Mal 185 von seiner verbotenen Liebe zu seiner Cousine Waltharia sprach, einer Liebe, die sie beide verdammen sollte. Ekkehard beherrschte das Heldenepos in der Tat auf erstaunliche Weise. Hanna hatte früher alte Barden, die in der Schenke übernachtet hatten, aus dem großen Epos singen hören, und wenn auch Ekkehards Darbietung noch deutlich jungenhaft war, so hatte sie dennoch etwas Überwältigendes. Theophanu blickte jetzt auf und musterte Hanna. Der Blick der Prinzessin war direkt und vollkommen
undeutbar. Hanna zog sich, plötzlich befangen, zurück und stieß sogleich gegen einen der Löwen. Er beruhigte sie mit einem Grinsen. »Ich bitte um Vergebung, Adler«, sagte er. »Ihr seid mit dem anderen Adler heute morgen von Gent hergekommen, nicht wahr?« »Ja.« »Ihr seid neu bei den Adlern?« Sie nickte. Sie traute ihm nicht ganz: Er war ein gutaussehender junger Mann, und die wenigen gutaussehenden Männer in Friedleben - wie ihr Bruder Thancmar - waren nach ihrer Erfahrung sehr von sich eingenommen. Er öffnete die Tür, grinste seinen Kameraden an und folgte ihr nach draußen. »Wo schlaft Ihr heute nacht?« fragte er. Er hatte ein angenehmes Lächeln, ein freundliches Gesicht und schöne breite Schultern, doch Hanna verabscheute Männer, die zu sehr von sich überzeugt waren. Alle, außer Hugh. Sie schob den Gedanken beiseite. »Bei den Adlern, nehme ich an«, erwiderte sie kühl. »Wo immer sie schlafen.« Er dachte nach. Wie er so im Licht der Fackel im Eingang stand, machte er nicht den Eindruck, als hätte ihre Zurückweisung ihn entmutigt oder womöglich gar beleidigt. Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, ob er ihre Worte als Zurück186 Weisung verstanden hatte. »Nun, wenn wir nicht gemeinsam untergebracht werden«, sagte er rasch mit einem Blick über die Schulter zurück, »haben wir nicht viel Zeit, uns miteinander zu unterhalten, denn ich bin im Dienst. Ihr wart in Gent. Habt Ihr die Drachen gesehen?« »Wir sahen eine Kompanie, aber ich war nicht innerhalb der Stadtmauern. Hathui und ich kehrten vorher um.« »Wißt Ihr, ob eine Frau bei ihnen war?« »Eine Frau? Bei den Drachen? Nicht, daß ich es bemerkt hätte.« »Ah.« Er verzog enttäuscht das Gesicht. War sein Liebling bei den Drachen ? Jetzt, da sie erkannte, daß sie ihn falsch eingeschätzt hatte, fand sie ihn recht attraktiv. »Meine Schwester ist bei den Drachen.« »Eure Schwester?« Er lachte offen heraus. »Ihr denkt, ein gewöhnlicher Junge wie ich kann keine Schwester bei den Drachen haben?« Da sie genau das gedacht hatte, verzichtete sie auf eine Antwort. »Es stimmt, daß die meisten von ihnen von Edelleuten abstammen. Gewöhnlich sind es Bastarde oder jüngere Söhne, die nicht der Kirche versprochen wurden. Aber meine Schwester wollte niemals etwas anderes als kämpfen. Sie weihte sich St. Andrea, als sie noch sehr jung war, noch vor ihrer ersten Blutung, und nichts konnte sie umstimmen. Sie wurde Mitglied bei den Löwen, das heißt, sie bearbeitete sie so lange, bis sie endlich dort aufgenommen wurde. Ich folgte ihr.« Hanna erinnerte sich, wie ihr Bruder Karl sie angeschaut hatte, als sie als frischgebackener Adler aus Friedleben davongeritten war. Hatte dieser junge Mann seine Schwester auch so wegreiten sehen ? War er ihr wegen dieser Bewunderung Jahre später gefolgt? 187 »Sie hat sich dort hervorgetan«, fuhr der Löwe fort, begierig darauf, einer neuen Zuhörerin von seiner Schwester erzählen zu können. »Das heißt, sie rettete das Banner der Drachen. Einige behaupten, sie rettete dem Prinzen das Leben, obwohl andere sagen, daß niemals ein Mann oder eine Frau so etwas tun kann. Sie sagen, seine Mutter belegte ihn mit einem Bann, als er noch ein Baby war, und deshalb kann er weder durch die Hände von Sterblichen noch auf ähnliche Weise umgebracht werden. Na gut. Ich behaupte, sie rettete ihm das Leben.« »Ich habe sie nicht gesehen«, wiederholte Hanna. Es tat ihr leid, daß sie ihr nicht begegnet war. »Wie heißt sie?« »Adela.« Dann führte er eine Hand zur Brust und verneigte sich leicht - eine höfische Geste, die er zweifellos den Edelleuten abgeschaut hatte. Ein Grübchen bildete sich auf seiner Wange, als er jetzt lächelte. »Und ich bin Karl.« Sie lachte. »So heißt auch mein Bruder. Ich bin Hanna.« »O Herrin. Das ist ein schlechtes Omen, daß Ihr mich als Bruder sehen könntet.« Und plötzlich erinnerte er sich daran, daß es Nacht war und daß er jung war und sie, nun ja, vielleicht auch hübsch, aber zumindest begehrenswert und eine Abwechslung zu all den bekannten, alten Gesichtern. Sie errötete und ärgerte sich darüber. »Und was sagt Eure Schwester? Über den Prinzen?« fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen. Er schnaubte. »Nichts als Lob, was bei einer Frau ermüdend ist, wenn sie von einem Mann spricht. Sie ist ihm gegenüber so loyal wie ein treues Hündchen. So sind alle Drachen. Ich sehe das anders.« Er berührte sein Kinn mit zwei Fingern und strich nachdenklich über seinen schönen, hellen Bart. »Wie kann man ihn wirklich als Mann bezeichnen, wenn ihm kein Bart wächst?« 188 Da Hanna nicht wußte, was sie auf diese Frage antworten sollte, schwieg sie vorsichtshalber. Die Tür zum Gästehaus öffnete sich. »Los, Karl! Du hast genug Zeit gehabt.« Sein Kamerad blinzelte in die Nacht, sah die beiden Gestalten und winkte. »Komm schon her. Du hast bei einem Adler keinen Erfolg, du weißt doch, wie sie sind.« Karl warf ihr eine Kußhand zu und ging zurück auf seinen Posten. »Herr, hab Erbarmen«, stöhnte sie und eilte zurück zu der Kammer, in der der König Hof hielt. Aber Henry war bereits zu Bett gegangen, zumindest erklärte das Hathui. »Wo schlafen wir?«
»Hast du noch kein Angebot erhalten?« fragte Hathui und lachte, als Hanna sich verriet, indem sie errötete. Doch die ältere Frau wurde rasch wieder ernst. »Hör mir zu, Hanna. Da ist etwas, das du dir merken solltest. Wenn eine Frau nicht mehr reiten kann, weil sie schwanger ist, kann sie nicht länger ein Mitglied der Adler sein. >Heirate niemals, es sei denn einen anderen Adler, der den gleichen Eid geschworen hat wie du.<« »Das ist ein harter Grundsatz.« »Unser Dienst ist hart. Viele von uns sterben im Dienst des Königs. Ich sage nicht, daß du niemals einen Mann lieben oder nicht mit einem schlafen darfst. Aber triff eine solche Entscheidung nicht leichtfertig und niemals, wenn es nur um das Vergnügen einer einzigen Nacht geht. Einige Leute - meist alte Männer und Frauen - kennen sich mit dem Gebrauch von bestimmten Kräutern und Ölen aus -« »Aber das ist Magie«, flüsterte Hanna. »Und noch dazu die der Ungläubigen.« Hathui zuckte mit den Schultern. »Ich habe gesehen, wie eine Diakonissin mit Kräutern und Liedern aus dem Heiligen Buch Wunden heilte, also wenn das Magie ist, nehme ich an, 189 daß einige in der Kirche nichts gegen ihren Gebrauch einzuwenden haben. Ich sage nur, Hanna, für den Fall, daß die Begierde zu stark wird, gibt es Möglichkeiten, eine Empfängnis zu verhindern - auch wenn sie nicht immer gelingen. Aber jedes Geschenk der Herrin ist gleichzeitig eine Bürde und ein Schatz. Das ist die Lektion, die sie uns lehrt: So wie Feuer wärmen und töten kann, kann auch dieses Gefühl, das wir süße Leidenschaft nennen, den Tod oder den Segen in Form eines gesunden Kindes bringen.« Sie lächelte ironisch. »Manchmal ist es einfacher, sich den Heiligen zu weihen, wie ich es tat. Als ich ein Adler wurde, besaß ich keine Unschuld mehr, die ich St. Perpetua hätte widmen können, daher bot ich ihr meine Keuschheit.« »Du warst verheiratet, bevor du zu den Adlern kamst?« Hathui schüttelte den Kopf; der eine Mundwinkel verzog sich nach unten, und sie zwinkerte mit den Augen, als wollte sie eine alte Erinnerung abschütteln. »Nein. Sie wurde mir von einem qumanischen Banditen geraubt. Und wenn ich ihm oder seinem Volk jemals wieder begegnen sollte, wird er bitter für das bezahlen, was er mir nahm.« Hanna fiel die Kinnlade herunter. »Du wirst noch Fliegen verschlucken«, sagte Hathui, die sich bereits wieder gefangen hatte. »Es ... es tut mir leid.« Hathui schnaubte. »Was kann man von Barbaren schon erwarten ? Außerdem habe ich keinen dauerhaften Schaden davongetragen. Meine Tante dagegen wurde bei dem Überfall getötet.« »Aber ... aber bedeutet das, daß ich niemals ein Kind haben kann?« Hanna bereitete diese Aussicht wenig Vergnügen. Sie hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht. Sie war eine Frau und nicht in der Kirche. Natürlich würde sie Kinder haben. »Natürlich bedeutet es nicht, daß du keine Kinder haben 190 kannst, wenn du welche willst. Aber du mußt entweder die Adler verlassen oder innerhalb der Adler heiraten. Ein Kind von einem anderen Adler wird akzeptiert. Ich habe drei solcher Kinder gesehen.« »Hast du erlebt, daß eine Frau von den Adlern ausgestoßen wurde, weil sie ... nun, weil sie ein Kind bekam?« »Ja, das habe ich.« Hathui berührte ihr Messingabzeichen und fuhr mit den Fingern über den eingravierten Adler. »Dies war ihr Abzeichen. Sie starb leider während der Geburt - und das Kind auch.« Hanna machte das Kreiszeichen über der Brust. Tod oder Segen. Diese Worte schienen zutreffend zu sein. Es war etwas, das auch ihre Mutter gesagt haben könnte. »Komm, Hanna. Gehen wir schlafen. Es wird morgen noch allerhand zu tun sein.« Hathui gab Hanna einen freundschaftlichen Kuß auf die Stirn und führte sie am Arm mit sich. »Wir holen unsere Decken. Wir können hier schlafen, neben dem Stuhl des Königs.« »Neben dem Stuhl des Königs?« Dies war eine so große Ehrbezeugung, daß Hanna sich fragte, ob ihre Eltern jemals glauben würden, daß so etwas ihrer eigenen Tochter widerfahren war. »Er selbst hat das gesagt. Er ist ein guter Herrscher, unser König, und ich bin stolz darauf, ihm dienen zu dürfen.« Am Morgen, gleich nachdem die Messe der Terz - die Andacht zur dritten Stunde des Tages - gehalten worden war, traf ein anderer Adler ein. Er kam vom Westen und war am Ende seiner Kräfte, sein Pferd strauchelte vor Erschöpfung. Stallburschen führten das Tier weg. Hathui nahm seine Hand und brachte ihn - Hanna dabei dicht hinter sich zum König, der sich gerade mit Helmut Villam, der Markgräfin Ju191 dith und anderen Edlen beriet; sie erörterten noch ein letztes Mal die Pläne für den Marsch nach Gent. Henry unterbrach die Unterredung und erhob sich. Der Adler warf sich auf die Knie. »Eure Majestät.« Er konnte kaum sprechen, so ausgetrocknet war seine Kehle. »Bringt ihm etwas Met«, befahl der König, und sofort beeilte sich ein Diener, der Anordnung nachzukommen. Der Mann stürzte hastig einen Becher des Honigweins hinunter, und allmählich erlangte er seine Stimme wieder. »Ich bitte um Vergebung, Eure Majestät«, entschuldigte er sich. »Ihr habt Neuigkeiten?«
»Schreckliche Neuigkeiten, Eure Majestät.« Der Mann weinte beinahe. »Ich komme aus Autun. Ich bin vier Tage und fünf Nächte geritten und habe nur angehalten, um die Pferde zu wechseln.« Er schloß die Augen. Die Anspannung im Zimmer wuchs ins Unerträgliche, als alle Anwesenden darauf warteten, daß er fortfuhr. Hanna versuchte sich verzweifelt in Erinnerung zu rufen, wo Autun lag, welche Bedeutung es hatte. War es nicht ein Bistum? Ja! Das war es: Henrys jüngere Schwester Constanze war die Bischöfin von Autun. Indessen hatte der Adler seine Beherrschung zurückgewonnen und erzählte weiter. »Ich konnte mit Hilfe der Kastellanin von Bischöfin Constanze fliehen. Autun ist jetzt in den Händen von Prinzessin Sabella.« Einige der Höflinge murmelten, verstummten jedoch unverzüglich, als der König die Hand hob. Henry wirkte, was nur zu verständlich war, sehr ernst. »Die Stadt ist gefallen?« Der Adler seufzte. »Durch Verrat, Eure Majestät. Bischöfin Constanze ist eine Gefangene von Prinzessin Sabella und ihren Anhängern. Sabella hat Helvissa als Bischöfin von Autun eingesetzt.« 192 »Helvissa? Diejenige, die ich vor acht Jahren mit Zustimmung der anderen Bischöfinnen meines Reiches ihres Amtes enthob?« »Genau die, Eure Majestät. Autun ergab sich kampflos, um die Sicherheit von Bischöfin Constanze nicht zu gefährden. Nicht eine Menschenseele in Autun betrachtet Helvissa als rechtmäßige Herrin. Aber das ist nicht alles. Sabella hat ein Heer, und Herzog Rodulf von Varingia marschiert mit ihr.« Niemand rührte sich oder sagte etwas; alle warteten auf die Reaktion des Königs. Alles, woran Hanna denken konnte, waren die schrecklichen Worte: »Sabella hat ein Heer.« »Was ist mit Herzog Conrad von Wayland?« erkundigte sich der König scheinbar gelassen. Hanna wußte nicht, wie sich Herzog Conrad von Wayland in die am Königshof versammelte Gruppe einfügte, doch alle anderen schienen die Bedeutung dieser Frage durchaus zu erkennen. Sie warteten. Villam wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Herzogin Liutgard - die angesichts ihrer bevorstehenden Reise bereits Reitkleider trug - rang nervös die Hände. Doch der Adler schüttelte nur den Kopf. Er sah vollkommen erschöpft aus. »Ich weiß nicht, ob er auf ihrer Seite marschiert oder nicht. Ich mußte mitten in der Nacht fliehen und weiß nur, daß Sabella nach Osten marschiert.« Osten. Selbst Hanna wußte, was das bedeutete. Im Osten lag Wendar. »Sie hat einen Eid geschworen«, sagte Henry beinahe noch sanfter. Wut stand in seinem Gesicht, und er wirkte so angespannt wie ein Löwe kurz vor dem Sprung, als er mit knapper Geste die Nächststehenden zu sich heranwinkte. Doch er ließ seinem Zorn keinen freien Lauf. »Wendar ist in Gefahr. Sa193 bella stellt meine Autorität in Frage - eine Rebellion, die wir nicht einfach so hinnehmen können. Wir können nicht nach Gent marschieren.« Die Worte trafen Hanna wie ein Faustschlag. »O Herrin«, murmelte sie, und ihr Herz wurde schwer wie Blei. Was würde jetzt mit Liath geschehen? 4 »Wir können nicht nach Gent marschieren.« Wieviel Anstrengung mochten König Henry diese Worte gekostet haben ? Rosvita sah Villam an, und ihre Blicke trafen sich, als hätte er gerade das gleiche gedacht. Henry besaß drei rechtmäßige Kinder. Das Wohl des Königreiches verlangte, daß er das Leben des vierten aufs Spiel setzte. Henry preßte die Hände gegeneinander. Er starrte unendlich lange auf den schönen arethusanischen Teppich unter seinen Füßen; der Teppich hatte ein Muster aus kaiserlichem Purpur und Elfenbein - Blumen ranken sich um achtzackige Sterne. Das Stück war als Königin Sophias Morgengabe in die Hände von König Henry gelangt, denn nur sie durfte es - als Tochter eines Kaisers und Nichte des herrschenden arethusanischen Kaisers - wagen, auf der Farbe der Edlen zu wandeln. Einen Teil ihres Besitzes hatte Henry nach ihrem Tod entsprechend ihren Wünschen zurück nach Arethusa geschickt. Diesen Teppich hatte er behalten, möglicherweise gegen ihren Wunsch. Doch man sagte von Henry, daß er sich allein von allen herrschenden Königen für mächtig genug hielt, den Mantel des heiligen dariyanischen Kaisers zu tragen. Zwar hatten 194 andere vor ihm bereits versucht, diesen Titel zu erlangen, der zum ersten Mal vom großen Taillefer benutzt worden war. Keinem war es gelungen. Das »neue«, von Taillefer wiederbelebte Kaiserreich hatte gerade einmal magere vierundzwanzig Jahre überdauert und war mit seinem Kaiser untergegangen. Niemals konnte ein König, dessen Reich sich einem Bürgerkrieg gegenübersah, darauf hoffen, zum Kaiser gekrönt zu werden - auch nicht mit Unterstützung der Skopos. »Macht Euch bereit«, sagte König Henry schließlich. »Wir reiten bei Morgengrauen.« Diesem Adler, der einen anstrengenden Ritt und große Gefahren hinter sich hatte, gewährte der König keine besondere Gunstbezeugung. Er wurde weggeschickt, um Speis und Trank entgegenzunehmen und sich etwas auszuruhen. Der König zog sich in sein Schlafgemach zurück. Die anderen kehrten zu ihren eigenen Leuten zurück, und schon bald befand sich das Gefolge des Königs in großem Aufruhr, als sich alle auf den Marsch vorbereiteten. Die Soldaten jener Edlen wie Liutgard und Judith, die eigentlich zu ihren Gütern hatten aufbrechen wollen, wurden kurzerhand in Henrys Heer eingereiht. Es war keine Zeit mehr, um aufweitentfernten Ländereien Truppen auszuheben.
Adler wurden ausgeschickt - zu Rotrudis, der Herzogin von Saony und Attomar, und Burchard, dem Herzog von Avaria. Andere ritten zu den Gütern geringerer Grafen und Edlen. Ein großer Vorrat an Korn und Gemüse verschwand aus den Klosterkellern und wanderte in die Wagen des Königs, Hühner und Gänse wurden in Käfige gesperrt, die wiederum auf Stapeln von Steckrüben, Bohnen und ganzen Körben mit Weizen, Gerste und Roggen thronten. Angesichts der schrecklichen Kunde von Sabellas Revolte klagte nicht einmal der Kellermeister, als auch das letzte Faß Bier aus dem klösterlichen Weinkeller die Rampe hinauf und in die Wagen gerollt wurde. 195 Kurz nach der Vesper - Rosvita verstaute gerade Notizen, Griffel und Pergament sowie Federn und Tinte in einer Truhe für die Reise - erschien Villam im Skriptorium. Er war vollkommen aufgewühlt und schien kurz davor, in Panik auszubrechen. So legte sie sofort das Buch beiseite und trat zu ihm. »Mein Sohn ist verschwunden«, sagte er. »Habt Ihr ihn heute schon gesehen?« Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Es war so viel geschehen, daß sie ihr Versprechen, den Jungen im Auge zu behalten, ganz vergessen hatte. Aber sie hatte sofort einen Verdacht, wohin er gegangen sein könnte. »Ich habe ihn nicht gesehen. Aber möglicherweise wissen seine Gefolgsleute etwas?« »Sechs von ihnen fehlen ebenfalls, alles junge Männer in seinem Alter. Es ist keiner von den älteren dabei. Die anderen sagen nichts.« Villam befürchtete das Schlimmste. »Bringt sie zu mir.« Grimmig, aber doch etwas ruhiger, ging Villam wieder. Sie packte zu Ende und übergab die Truhe der Obhut einer ihrer Dienerinnen. Sie traf die Männer vor dem Herdfeuer - dem einzigen Ort im ganzen Tal, der eine gewisse friedliche Ausstrahlung zu haben schien. Villam wurde von zwei Männern begleitet: Einer war weißhaarig und hatte den Blick eines treuen, kampferprobten Gefolgsmannes, während der andere kaum älter als sechzehn oder achtzehn Jahre sein konnte. Er hatte ein gerötetes Gesicht und ganz offensichtlich geweint. Rosvita musterte die beiden eingehend. Den alten Mann schob sie in ihren Gedanken gleich beiseite. Er mußte der alte Präzeptor sein, der Mann, der vor vielen Jahren auserwählt worden war, um den Jungen an den Waffen auszubilden; seine Loyalität galt dem jungen Mann, den er erzogen hatte, und er würde sich auch durch Furcht nicht umstimmen lassen. Aber der Jüngere. 196 »Ihr werdet mich nicht anlügen?« verlangte sie von ihm. »Wer seid Ihr, Kind? Wer sind Eure Eltern?« Stammelnd teilte er Namen und Geschlecht mit. »Wo ist Berthold?« Er verriet sich, indem er den alten Mann anblickte, der allerdings stur geradeaus starrte. Der Jüngere begann zu zittern, rang die Hände, biß sich auf die Unterlippe. »Seht mir in die Augen, Kind, und schwört beim Namen Unserer Herrin und Unseres Herrn, daß Ihr es nicht wißt.« Er begann wieder zu weinen. Jetzt mischte sich der alte Waffenmeister ein, als wollte er dem jungen Mann die Schande angesichts des Dilemmas ersparen, das ihn erwartete - Rosvita anzulügen oder seinen Herrn zu verraten. »Der Junge weiß nichts von der Expedition. Ich habe Berthold davon abgeraten, aber er war fest entschlossen und ließ sich nicht umstimmen.« »Ihr seid nicht mit ihm gegangen!« Villam hob die Faust, als wolle er sie mit aller Kraft auf das Herdfeuer niedersausen lassen; erst in letzter Sekunde erinnerte er sich daran, wo er war. Er schlug mit der Faust in die offene Handfläche. Draußen wurde es dunkel, und es war Rosvita beinahe unmöglich, die Gesichtszüge der Männer zu erkennen. Zwei Mönche betraten die Kapelle mit Fackeln in den Händen und begannen die Wandleuchter anzuzünden. Schon bald würde die Messe der Komplet gesungen werden, und die Mönche würden sich zum Schlafen niederlegen. »So lautete sein Befehl, Herr. Ich bin ein gehorsamer Diener. Und tatsächlich befürchtete ich kein Unglück. Es sind nur alte Ruinen. Ich habe bereits mit eigenen Augen welche gesehen und nicht angenommen, daß von ihnen Gefahr drohen könnte. Ich habe dafür gesorgt, daß er sechs seiner besten Soldaten mitnahm, als er heute morgen nach der Prim aufbrach.« 197 »Und doch ist er noch nicht zurückgekehrt.« Der alte Waffenmeister ließ den Kopf hängen. Selbst in dem flackernden Licht der Fackeln konnte sie deutlich die Schuldgefühle erkennen, die den Mann quälten, da er sich seine Fehleinschätzung eingestehen mußte. Sie standen ihm so deutlich im Gesicht, als hätte er die Worte laut ausgesprochen. »Nehmt Fackeln, Spitzhacken und Schaufeln, was immer Ihr braucht, und macht Euch mit zehn meiner Soldaten und den restlichen Gefolgsleuten meines Sohnes auf die Suche. Und jetzt geht.« Sie taten, was Villam befohlen hatte. Rosvita nahm an der Andacht zur Komplet teil. Es war voll in der Kirche, denn nicht nur der König, sondern auch alle Edelleute, die das Recht auf einen Platz hatten, waren anwesend. Doch während hinterher alle anderen hinausströmten, blieb Villam zurück; er kniete sich auf den kalten Boden und faltete die Hände zum Gebet. So verharrte er die ganze Nacht. Die Mönche sangen zu den Vigilien und dann, beim ersten Tageslicht, zur Laudes. Als König Henry zur Messe
der Prim zurückkehrte, war er bereits marschbereit gekleidet und trug einen Kettenpanzer. Sapientia ging hinter ihm, ebenfalls in Reitkleidung. Sie hatte den Helm ihres Vaters unter dem Arm und trug das Abzeichen von St. Perpetua, der Herrin der Schlachten, auf ihrer rechten Schulter. Theophanu würde weiter hinten im Troß bleiben, hinter dem Heer bei Leuten wie Rosvita, die nicht kämpften. Sobald die Andacht zur Prim vorüber und das letzte Gebet verklungen war, verließ Henry die Kirche und trat zu seinem bereits gesattelten Pferd. Der Tag war gerade erst angebrochen. Noch war keiner der Männer von der nächtlichen Expedition zu den Ruinen zurückgekehrt. »Wir müssen aufbrechen«, erklärte König Henry. 198 Villam neigte den Kopf; er wußte, daß sein König recht hatte. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, um sich zu erfrischen, und machte sich mit den anderen auf den Weg. An diesem Morgen kam das Heer nicht über die Kavalkade an Wagen und Vieh, die zur Königlichen Rundreise zählte, hinaus. Gegen Mittag wurden sie von einer Gruppe vom Kloster eingeholt. Rosvita eilte zu ihnen, um die Neuigkeiten zu erfahren. Berthold war ein guter Junge, noch dazu einer mit vielversprechenden Aussichten. Sie fühlte sich verantwortlich für ihn. Sie hatte nicht auf ihn geachtet, wie sie es versprochen hatte. Aber sie konnte keine Hoffnung auf dem Gesicht des alten Waffenmeisters erkennen, der als Sprecher vortrat. »Es ist eine traurige Geschichte, Herr.« Seine Stimme klang fest, aber seine Augen verrieten seinen Kummer. »Mein Sohn ist tot«, sagte Villam, als würde er, indem er die Worte aussprach, den Schmerz über den Verlust seines Lieblingssohnes rascher überwinden können, ihn in das betäubte Leid über einen Jahre zurückliegenden Verlust verwandeln. Besser das, als die nackte Trauer, die ihm das Herz zu zerreißen drohte. Der Waffenmeister verbeugte sich. »Nein, Herr.« Aber seine Stimme klang nicht ermutigend. Er holte tief Luft, konnte einen Augenblick nicht fortfahren. Rosvita zwängte sich zwischen der Menge hindurch. Die Leute machten ihr Platz, als sie zu Villam trat. Dankbar legte er eine Hand auf ihren Arm, wie um sich zu stützen. Jetzt kam auch König Henry von seinem Platz vorne an der Spitze des Heeres zu ihnen, und wieder machten die Menschen Platz. »Ich habe etwas Merkwürdiges gesehen, das ich mir nicht erklären kann. Folgendes ist passiert.« Es war St. Ambrose, der zweite Tag nach dem Fest von St. 199 Susannah und der dritte Tag im Monat Sormas. Es war ein klarer und schöner Sonnenaufgang gewesen, und auch jetzt sah es aus, als würde das Wetter so bleiben - was sicherlich ein Zeichen dafür war, daß der Herr und die Herrin dem Feldzug ihren Segen gaben. Rosvita bemerkte, daß sich das Wetter auch nicht änderte, als der Mann seine Geschichte erzählte; die dünne Wolkenschicht, die sich am nördlichen Horizont erstreckte, schien sich nicht weiter auszubreiten. Der Himmel blieb klar, die Sonne warm. Sie war sich nicht sicher, was das bedeutete. Doch wenn Zauberei im Spiel war, richtete sie sich in diesem Augenblick bestimmt nicht auf die hier Anwesenden. »Es dauerte mehrere Stunden, bis wir den Hügel erklommen hatten«, erzählte der Waffenmeister. »Trotz des Mondlichts war es schwer, dem Pfad zu folgen, der sich immer wieder in verwirrender Weise durch das Gelände schlängelte, und wir verloren ihn mehrere Male. Schließlich kamen wir zu einer Baumgruppe aus hohen Nordlandkiefern, wie sie niemand von uns zuvor gesehen hatte. Im ersten Grau des Morgens erreichten wir ein Felsenstück, von dem wir nicht geahnt hatten, daß es über uns gewesen war, obwohl einer Eurer Soldaten, Herr, daran die Stelle wiedererkannte, wo der heilige Mann lebte, um zu meditieren. Zu unserer Verblüffung entdeckten wir, sobald es heller wurde und wir mehr als nur die Hand vor Augen sehen konnten, zwei Löwen oben auf dem Felsen. Als sie uns bemerkten, zogen sie sich zwischen die Felsen zurück, und wir verloren sie aus den Augen. Wir fürchteten um das Leben des alten Mannes und eilten zu seiner Hütte.« Jetzt machte er den Einigkeitskreis vor seiner Brust und berührte sanft die Fingerknöchel mit dem Mund, als wollte er der Herrin einen Handkuß zuwerfen. »Als ich die Tür berührte, fiel sie sofort zur Seite, und wir sahen, was dahinter war.« Er blinzelte plötzlich, als würde er in 200 blendendes Licht schauen. »Es war ein Wunder! Der alte Mann saß aufrecht in dem winzigen Raum, ohne die Hüttenwände zu berühren. Es roch so frisch, als wären Blumen in der Hütte gewachsen, aber es war nichts darin außer ihm, dem dünnen Lendenschurz um seine Hüften und dem Erdboden. Und als wir eindrangen, um ihn mit einer leichten Berührung aufzuwecken, da er zu schlafen schien, fühlte er sich so kalt an wie Stein. Er war tot.« Die Stimme des Waffenmeisters bebte. Rosvita neigte den Kopf und sprach ein stilles Gebet für den Toten. Sein Name würde auf die Gebetsliste gesetzt werden, die jedes Jahr an Penitir gesungen wurde. Doch sie konnte nicht recht um Bruder Fidelis trauern; er war schließlich zur Kammer des Lichts aufgestiegen. Und sie besaß noch immer etwas von ihm - das Buch, das er ihr gegeben hatte. »Ich schickte zehn Männer auf die Suche nach den Ruinen, von denen Ihr gesprochen habt, Herr«, fuhr der Waffenmeister fort. »Ich blieb noch mit den anderen zurück, um dem heiligen Mann ein ordentliches Begräbnis zu geben. Ich kann es nicht erklären ... es war, als hätte eine fremde Macht über uns gewacht, denn als wir das
Loch in den harten Boden gruben, erschienen die Löwen wieder auf dem Felsen über uns. Aber sie machten keinerlei Anstalten, sich uns zu nähern. Tatsächlich sah es so aus, als wollten sie uns nur beobachten, und als der heilige Mann in aller Würde zur letzten Ruhe gebettet worden war, verschwanden sie. Dann fanden wir den Pfad und erreichten kurz danach die Ruinen oben auf dem Hügel. Aber was für ein seltsamer Anblick erwartete uns da! Ihr sagtet, es wären Ruinen gewesen, aber es war nichts dergleichen! Vor unseren Augen erhob sich ein Steinkreis, und in der Mitte stand ein riesiger Stein.« »Aufrecht?« wollte Villam wissen. Er stürzte sich beinahe auf den Erzähler. 201 »Aufrecht und in exakter Anordnung, mit Stürzen verbunden. Ich habe schon solche Ruinen gesehen, sie sind sicherlich das Werk von Riesen. Aber keine war so gut erhalten wie diese.« »Unmöglich!« schrie Villam. »Noch vor drei Tagen waren sie in Stücke zerfallen!« Der Waffenmeister neigte den Kopf, bis seine Stirn die gefalteten Hände berührte. Er verharrte einige Zeit in dieser Haltung, während König Henry beruhigend auf Villam einsprach. »Wir waren zutiefst verwundert«, erzählte der Waffenmeister schließlich weiter. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Die Erdwälle waren offen. Jeder hatte einen Eingang, der von Steinplatten eingerahmt war. Wir zündeten Fackeln an und gingen hinein, zwar etwas gebückt, aber die Wände waren so geschickt mit glatten Steinen verkleidet, daß sie mehr wie die Gänge einer Festung wirkten als die eines Grabes. Bei jedem Erdwall war es das gleiche. Wir betraten einen Gang, der geradewegs zu einer runden Kammer in der Mitte des Erdwalls führte, tief unter der Erde verborgen. In der Kammer war nichts. Keine anderen Gänge, keine Anzeichen von einem Grab oder den Knochen eines Riesen oder Opfern, kein Hinweis auf einen Schatz. Nichts. Nur ein einziger Fußabdruck im Staub. Und das hier.« Er streckte die rechte Hand aus und öffnete sie, als würde sich eine Blüte der Sonne öffnen. In seiner Hand lag ein goldener Ring. Villam stöhnte laut auf und riß dem alten Mann den Ring aus der Hand. Immer wieder drehte er ihn hin und her, aber seiner Miene nach zu urteilen gab es keinen Zweifel. »Es ist der Ring seiner Mutter«, flüsterte er. »Sie gab ihm den Ring auf dem Todesbett.« Dann weinte er, und auch die anderen weinten, der Waffen202 meister und die Gefolgsleute des jungen Berthold. Sie hatten gefehlt, indem sie ihren jungen Herrn nicht beschützt hatten. Henry, dem schnell die Tränen kamen, weinte ebenfalls - das gehörte sich auch so für einen König, der Mitleid mit dem Schmerz hatte, den andere erlitten. So weinte er in Ausübung seiner königlichen Tugend um ihretwillen. Rosvita weinte nicht. Die Erzählung hatte sie überwältigt. Sie war zutiefst erstaunt, und ihre Gedanken überschlugen sich. Fremde Mächte waren hier am Werk. Wie konnten Steine von solcher Größe aufgerichtet und wieder an ihren alten Platz gestellt werden? Woher waren die Löwen gekommen, die die Männer gesehen hatten? Warum hatte Bruder Fidelis ihr das Buch gerade zu diesem Zeitpunkt gegeben, so als hätte er gewußt, daß sein Tod kurz bevorstand? Was hatte es mit den Sieben Schläfern auf sich, die er erwähnt hatte? Was hatte Berthold veranlaßt, die Expedition ausgerechnet mit sechs jungen Gefährten zu unternehmen? Rosvita glaubte nicht an Zufälle. Schließlich brachte Villam seine Trauer unter Kontrolle, obwohl sie in den kommenden Monaten gewiß immer wieder über ihn hereinbrechen würde. Aber er hatte schließlich noch eine Verpflichtung gegenüber seinem König, und es galt einen Krieg zu führen. Mit ernsten Gesichtern und schweren Herzen ritten sie nach Westen, Sabellas Heer entgegen. V Blutherz
Chaos herrschte auf den Straßen von Gent, und wäre nicht immer wieder ein feiner Nieselregen auf die Stadt niedergegangen, wäre sie sicherlich in wirbelnden Staubwolken versunken. Überall war Matsch und Dreck, aber niemand wagte, das kostbare Wasser zum Reinigen der Straßen zu benutzen. Die Brunnen lieferten zwar noch immer Wasser und würden wohl auch nicht versiegen, denn der Fluß umgab die Stadt an zwei Seiten. Trotzdem wollte niemand das Risiko einer Wasserknappheit eingehen. Zwar war es noch möglich, am Flußufer zu waschen, doch die Aikha besaßen primitive Bögen - und auch Pfeile mit Steinspitzen konnten töten. Liath hatte in ihrem Leben schon viele Orte gesehen. Sie hatte in Darre, der Stadt der Skopos, gelebt und Dörfer besucht, die auf den Ruinen der großartigen alten Städte Sirraqusae und Kartiako errichtet worden waren. In der schönen, 204 sauberen Jinna-Stadt Qurtubah hatte sie nahe beim Palast des Kalifen gewohnt, hatte Pairri, den Sitz der
salianischen Könige gesehen. In einem Handelsort namens Medemelacha hatte sie ein Schiff bestiegen und war die Küste entlanggefahren, und sie hatte sich unter das stolze, geschäftige Volk der Kathedralen-Stadt Autun gemischt. Sie und Pa waren durch Dörfer gereist, die sich gerade von Hungersnöten erholten, hatten Städte vermieden, die mit einem roten Banner vor der Pest warnten. In kleinen und großen Kirchen hatten sie gebetet, unter anderem auch in jener großen Basilika, die St. Thekla geweiht war. In den acht Jahren, die sie mit ihrem Vater umhergereist war, hatte sie so viel gesehen, wie tausend Leute in ihrem ganzen Leben sehen mochten. Niemals jedoch hatte sie so etwas gesehen wie Gent: eine wohlhabende Kathedralen-Stadt, in der sich jetzt, da Flüchtlinge vom Land innerhalb ihrer Mauern Schutz gesucht hatten, doppelt oder dreimal so viele Leute wie üblich drängten. Schrecken und Entsetzen waren zu täglichen Begleitern der Menschen geworden. Eine Belagerung war etwas Fürchterliches. Und jetzt ging auch sie jeden Tag durch dieses Chaos. Bürgermeister Werner war ein eitler Mann - verdorben von seiner Mutter und daran gewöhnt, seinen Willen zu bekommen. Begeistert packte er die Gelegenheit, einen Adler des Königs ganz zu seiner Verfügung zu haben, beim Schöpfe. Bei den allabendlichen Festgelagen ließ er sich von Wulfhere Gesellschaft leisten. Werner war nur zu Recht - außerordentlich beeindruckt von Wulfheres Alter, von seinem Wissen und dem Ruf, den er als ehemaliger bevorzugter Berater von König Arnulf dem Jüngeren genoß. An den Abenden konnte Wulfhere Liath also nicht mit Fragen über das Leben bedrängen, das sie mit ihrem Vater all die Jahre geführt hatte. 205 Liath hatte geschickt Werners Aufmerksamkeit auf sich gezogen und verbrachte seither die Tage damit, auf seine Befehle hin, Nachrichten hierhin und dorthin zu bringen - natürlich alles innerhalb der Stadtmauern. Die meisten dieser Nachrichten waren überflüssig, aber sie hatte etwas zu tun und war nicht in Wulfheres Nähe. Zwar hätte auch sie ihm gerne eine Menge Fragen gestellt, doch wie Pa immer gesagt hatte: »Teste erst den Boden, bevor du in den Fluß springst.« Sie war nicht so dumm zu glauben, daß sie Wulfhere überlisten könnte, und sie fühlte sich auch noch nicht dazu bereit, sich ihm zu stellen. So ging sie ihm aus dem Weg. Der Stadt konnte sie nicht entgehen, wenn sie Nachrichten hin und her brachte. An diesem Tag schien es, als wäre ganz Gent von einem unterschwelligen Wahnsinn heimgesucht, der sich in Windeseile immer weiter ausbreitete. Als sie auf dem Weg zum Waffenlager war, um den täglichen Stand an neu geschmiedeten Schwertern und Speeren zu erfragen und herauszufinden, wie lange das Brennmaterial noch reichen würde, mußte sie sich regelrecht über die mit Holzbrettern versehenen Wege drängen, obwohl der rotgesäumte Umhang sie als Adler auswies. Die Straßen wimmelten nur so von Menschen, die zum Teil ihre ganze Habe auf dem Rücken trugen, als hätten sie keinen Unterschlupf für sich gefunden. Andere gestikulierten wild und schwangen an irgendwelchen Ecken, unter dem Schutz überhängender Hausdächer oder beim Nachhauseweg von einer Schenke laute Reden. »Macht Platz!« rief sie und versuchte sich ihren Weg durch ein Knäuel von Menschen zu bahnen, die sich an einer Ecke des Marktplatzes versammelt hatten. »Ich bin ein Adler.« »Verfluchte Adler!« rief einer von ihnen und hob drohend seinen Stock. »Ihr da oben im Palast kriegt genug zu essen!« Er sah mager aus und trug zerlumpte Kleidung, und er ging 206 vom Hunger gebeugt. Doch Wut ernährt sich aus sich selbst. Sofort spürte Liath die feindseligen Blicke, mit denen seine Begleiter sie musterten. Einer fingerte an einem Messer herum. »Komm schon, mein Freund.« Ein anderer Mann trat vor, ein stämmiger Handwerker mit schmutzigen Händen und grimmigem Gesicht. »Sie ist nur ein Adler, eine Botin des Königs. Sie ist nicht verantwortlich für die Fehler des Bürgermeisters. Laß sie gehen.« Murrend machte der erste Mann Platz, und seine Kameraden folgten ihm grollend. »Ich danke Euch«, sagte sie zu dem Handwerker. »Ich würde an Eurer Stelle den Marktplatz meiden«, erwiderte der Mann. »Hier treffen sich eine ganze Menge verärgerter Leute. Da vorn ist eine andere Gasse. Geht jetzt, und wenn Ihr in den Palast zurückkehrt, berichtet dem Bürgermeister von mir, einem guten Bürger von Gent, daß er sich vor der inneren Bestie ebenso in acht nehmen sollte wie vor der äußeren, wenn er sie nicht ordentlich ernährt.« »Das werde ich tun«, sagte sie, wenn seine Anspielung sie auch verwirrte. Erleichtert nahm sie den anderen Weg, mußte sich aber selbst hier an Flüchtlingen vorbeizwängen, die mit ihrem ganzen Hab und Gut - soviel sie eben tragen konnten - an Holzwänden lehnten; einige besaßen nicht einmal ein Stück Stoff, um ihre Köpfe vor dem Regen zu schützen. Säuglinge schrien. Kinder jammerten. Eine alte Frau hatte sich in einen schmutzverkrusteten Schal gewickelt, den nur noch der bestickte Rand als solchen kenntlich machte. Sie versuchte, Mehl und Wasser zu einem Teig zu verarbeiten und daraus über einem rauchendem Feuer dicht an einer Hauswand Pfannkuchen zu backen. Oh, Herrin, dachte Liath. Wie leicht konnte hier ein Feuer ausbrechen, wenn es etwas trockener wäre. Vielleicht war es 207 also das beste, wenn es regnete. Aber sie hatte ja auch ein Dach über dem Kopf. »Ich bitte Euch, Adler!« Der Mann sprach sanft, seine Stimme war noch belegt von den Folgen einer Erkältung. Überrascht blieb sie im Schatten eines Abfallhaufens stehen. Es stank. Am Rand des Haufens lagen die Knochen
und Felle von Ratten herum; das Fleisch war bis zum letzten Bissen abgenagt worden. Es roch nach Urin und Fäkalien. Ein Mann in der groben Tunika eines Bauern trat jetzt aus den Schatten-Verzweiflung zeichnete sein schmales Gesicht, und Schleim tropfte aus seiner Nase. Sie wich erschrocken zurück. »Ich bitte Euch«, wiederholte er. »Bringt mich zum Bürgermeister.« »Das kann ich nicht. Ich überbringe nur Botschaften.« »Bitte«, bettelte er. Dann versuchte er, ihre Hand zu ergreifen, sie zu sich zu ziehen. Sie machte einen Satz rückwärts, doch irgend etwas an ihm hielt sie davon ab wegzulaufen. »Bitte. Ihr müßt doch etwas tun können. Es ist meine Tochter.« »Eure Tochter?« »Sie ist krank und hat nicht genug zu essen. Hier. Seht selbst.« Seine Tochter. Die Trauer über den Tod ihres Vaters drohte sie wieder zu ersticken, und Tränen traten ihr in die Augen. Betäubt folgte sie dem Mann in die winzige, mit Abfall übersäte Gasse zu einer übelriechenden Ecke, wo er ein Lager für seine Tochter errichtet hatte. Das Alter des Mädchens war schwer zu schätzen, etwa acht bis zehn Jahre. Sie hustete unaufhörlich im Halbschlaf, doch als sie die Schritte ihres Vaters hörte, streckte sie ihm kläglich die Arme entgegen. »Pa?« flüsterte sie. »Pa, es tut so weh in meiner Brust. Es tut mir leid, Pa. Ich wollte so gern stark sein.« Dann sah sie Liath. 208 Ihre Augen weiteten sich, und sie bekam erneut einen Hustenanfall. Der Mann kniete sich hin und streichelte sie, er tröstete sie, bis sie sich wieder beruhigte. Dann blickte er mit gequälter Miene Liath an. »Wir sind keine armen Leute, Adler. Ich war ein guter Bauer und bezahlte treu und redlich meine Abgaben an Gräfin Hildegard. Vor zwei Wintern verlor ich meine Frau an das Lungenfieber, und ein Kind, das sie noch nicht geboren hatte, starb mit ihr. Dieses Kind, meine Miriam, ist alles, was mir geblieben ist. Aber hier in Gent haben wir nichts und niemanden; keiner kann uns helfen. Und ich finde auch keine Arbeit. Bitte, helft uns, Adler. Auf dem Marktplatz sagen sie, daß der Bürgermeister jede Nacht Feste feiert, während wir hier draußen nichts zu essen haben. Ich fürchte, sie wird -« Er brach ab und vergrub das Gesicht in den Haaren des Mädchens. Liath unterdrückte ein Schluchzen. Wieder traf sie mit voller Wucht die Erkenntnis: Pa war tot. Er war tot und würde niemals zurückkehren, niemals wieder neben ihr gehen, sie trösten, sie unterrichten. Egal, welche Fehler er auch begangen hatte - und es waren viele gewesen -, er hatte wie alle Menschen gegen die Finsternis gekämpft. Aber er hatte sein Bestes gegeben und war ein guter Mann gewesen, und immer - immer - hatte er sich um sie gekümmert. Tränen und Regentropfen vermischten sich auf ihrem Gesicht. Das Mädchen blickte sie ehrfürchtig an, der Mann mit einem Ausdruck verzweifelter Hoffnung. »Warum geht Ihr nicht in die Kathedrale?« fragte sie. »Die Bischöfin hat vielen Flüchtlingen gestattet, im Mittelschiff ihr Lager aufzuschlagen, und sie versucht sicherlich auch, sie gut zu ernähren.« »Ich habe es versucht«, sagte er, und die Hoffnung in seinen 209 Augen erlosch. »Aber es sind so viele von uns. Sie schickten uns weg, bevor wir auch nur die Treppenstufen erreichen konnten. Die Wachen des Bürgermeisters haben uns mit Stöcken vertrieben.« Sie zog den Ring der Adler vom Finger und streckte die Hand aus. »Geht mit diesem Ring zum Palast«, sagte sie, und ihre Stimme bebte. »Bittet dort um Einlaß zu den Ställen. Sagt den Drachen, ich erwarte von ihnen, daß sie Euch eine Beschäftigung geben. Ihr könnt doch mit Pferden umgehen, oder nicht?« Er schluckte. »Ich hatte Schafe und Ziegen und Hühner, aber niemals ein Pferd.« »Dann also Hühner«, erwiderte sie leichthin. »Nehmt Eure Tochter. Dies wird Euch Einlaß verschaffen. Ihr müßt es tun, denn ich brauche den Ring und werde Ihn dort von Euch zurückbekommen.« »Pa!« flüsterte das Mädchen. Dann hustete sie wieder. Der Mann begann ihr so leidenschaftlich zu danken, daß sie befürchtete, andere könnten auf sie aufmerksam werden, selbst hier hinter dem Müllhaufen. Aber sie konnte nicht alle retten. »Ich muß gehen«, sagte sie. »Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.« Dankbar floh sie in den Regen; den ganzen Weg zum Waffenlager und zurück weinte sie. Werner hielt sie den Rest des Tages beschäftigt, und am Abend verlangte er zur Beruhigung seiner Sorgen nach einem üppigen Fest, nach dem ihr jedoch ganz und gar nicht der Sinn stand. Anschließend übernahm sie eine Nachtwache, und so legte sie sich erst kurz vor Morgengrauen hin, um in einen unruhigen Schlaf zu fallen. Im Laufe des Morgens wurde sie von einem besorgten Diener geweckt. Er bat sie, sofort mit zur Halle zu kommen. 210 »Adler!« Werner schritt in der Halle aufgeregt auf und ab. »Habt Ihr es gehört? Habt Ihr es gesehen?« »Ich bitte um Verzeihung, Bürgermeister«, erwiderte sie. »Ich bin gerade erst aufgestanden. Ich hatte eine Wache -« »Herrin und Herr! Wie weit sind wir gekommen!« Er riß die Hände hoch und rief nach einem Tablett, steckte sich eine süße Leckerei in den Mund, als könnte das seine Bedrängnis lindern. »Ich habe bereits Wulfhere und den anderen Adler zur Gerberei geschickt, also was soll ich jetzt tun? Was soll ich tun?« Sie schaute zu, als er einen vorbeigehenden Diener schlug. Es schien seine Nerven zumindest so weit zu
beruhigen, daß er wieder zusammenhängende Sätze sprechen konnte. »Eine Menschenmenge hat sich vor den Toren versammelt. Vor diesen Toren, als wäre ich ihr Feind! Was für eine Katastrophe!« »Haben sie gesagt, was sie wollen, Bürgermeister?« »Brot und Bohnen!« empörte er sich. »Brot und Bohnen! Die guten Bürger von Gent würden sich niemals so verhalten, wenn sie nicht unter dem schlechten Einfluß der Bauern stehen würden. Es ist sogar eine Diakonissin bei ihnen - stellt Euch das einmal vor! -, die sie mit Geschichten aufhetzt, daß in meiner Halle Feste gefeiert werden, während ihre Kinder sterben! Kein Kind stirbt innerhalb der Mauern von Gent. Dafür sorgt die Bischöfin. Sie nennen mich einen Vielfraß und behaupten, daß ich dem leiblichen Wohl fröne, während ihre Kinder sterben! Stellt Euch das vor! Könnt Ihr Euch das vorstellen?« Sie schwieg und wartete, doch unglücklicherweise schien er eine Antwort von ihr zu erwarten. »Ich bin hier, um Euch zu dienen, Bürgermeister«, sagte sie vorsichtig. »Jemand muß hinausgehen und sie beruhigen«, sagte Werner. Er beäugte sie mit einer Mischung aus Schläue und Zweifel. 211 »Ihr seid es, nach dem sie rufen, Bürgermeister«, entgegnete sie vorsichtig. Werner strich nervös seine Tunika glatt und spielte mit den Fingern an dem weichen Ledergürtel. Auf der goldenen Schnalle prangten Lapislazuli-Steine. »Ich kann nicht ... es wäre zu gefährlich ...« Sein besorgter Blick fiel wieder auf Liath, und seine Miene hellte sich auf. »Adler, holt Prinz Sanglant. Er wird mich unterstützen. Immerhin -« Er drehte an den Ringen an seinen Fingern, eine Angewohnheit, die Liath schon oft bei ihm bemerkt hatte. Es waren außerordentlich schöne Ringe, einer mit winzigen Rubinen, einer mit einem Amethyst, einer mit einem eingelassenen Lapislazuli von außerordentlich intensivem Blau. Der vierte war ein dünner Reif aus so umwerfend fein verarbeitetem Cloisonne, daß Liath sich kaum vorstellen konnte, daß menschliche Finger ihn geschmiedet hatten. »Immerhin ist er hier, um Gent zu schützen, und wenn die Menge wütend oder rachsüchtig wird oder mich bedroht ...« Sie nickte gehorsam und verließ die Halle. Draußen schien die Sonne. Sie stand im Schutz des großen Innenhofes, der auf der einen Seite durch den Palast und die große Halle begrenzt wurde, auf der zweiten von den Küchen und Nebengebäuden, auf der dritten von den Unterkünften der Wachen und den Ställen und auf der vierten von dem Palisadentor. Sie konnte die Menge hören, die sich auf der anderen Seite des Tors versammelt hatte. Die Leute redeten wild durcheinander, doch in ihren Stimmen schwangen die Wut und die Verzweiflung von Menschen mit, die nichts mehr zu verlieren hatten. Werner konnte sich angesichts der Belagerung durch die Aikha einen Aufstand innerhalb der Mauern nicht leisten; schlagartig wurde Liath klar, was der Handwerker auf dem Marktplatz gemeint hatte, als er von der inneren Bestie ge212 sprochen hatte. Sie glättete ihre Tunika und wickelte das Ende ihres Zopfes um einen Finger, dann verfluchte sie ihre Sorge um ihr Äußeres. Vielleicht stimmte es ja, daß Prinz Sanglant sie hin und wieder ansah, aber er sah jede halbwegs attraktive Frau an, die in seine Nähe kam. Liath bemerkte das nur, weil sie ihn beobachtete, obwohl sie sich bemühte, ihn nicht zu beobachten, wenn sie zur selben Zeit in der Halle waren oder sich im Hof oder bei den Ställen begegneten. Aber es war nicht die Zeit, sich Gedanken über solch banale Dinge zu machen. Wie Pa immer gesagt hatte: »Es macht keinen Sinn, über den Verlust eines losen Fadens nachzudenken, während das Schaf von den Wölfen gefressen wird.« Sie nahm all ihren Mut zusammen, schritt zu den Ställen und dann den langen, schlecht beleuchteten Gang entlang. Sie sah nirgendwo einen Hinweis auf den Mann und das Kind, denen sie hatte helfen wollen. Hinter den eigentlichen Ställen, aber noch innerhalb der Palasteinzäunung, befand sich ein Stallhof mit einem eigenen Tor. In diesem Hof pflegten sich die Drachen in der schönen Frühlingssonne zu entspannen, oder - was weit häufiger vorkam - sie übten mit Schwertern und Speeren. So wie jetzt. Sie hielt an den Türen zum Innenhof inne, wischte sich den Staub von der Nase und versuchte nicht zu niesen. Zwei Männer trainierten mit Stöcken. Einige der jüngeren Männer hämmerten pflichtbewußt gegen einen massiven Holzpflock, der aufrecht im Boden steckte. Ein älterer Mann saß auf einer Bank und reparierte ein Paar weiche, lederne Armschoner, die so lange und gut eingeölt worden waren, daß sie in sattem Braun leuchteten. Sanglant lachte. Sein Lachen war so klar und hell, daß die Luft davon zu erzittern schien. Sie fand ihn halb verborgen hinter einer Leine, die gespannt worden war, um in der Morgensonne die Wäsche 213 zu trocknen. Er trat aus dem Schatten der Wäschestücke, den Kopf zurückgeworfen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. In der einen Hand hielt er ein in Tücher gehülltes Schwert, in der anderen den tropfenförmigen Schild mit dem schwarzen Drachen. Das Kettenhemd fehlte; er trug nur das wattierte Wams, das sonst unter der Rüstung verschwand. Hinter ihm folgten zwei andere Drachen - die Frau und ein junger Mann mit hellem Haar und einem blonden Bart -, die in der gleichen Weise gerüstet waren; sie hatten offensichtlich Schwertübungen durchgeführt. Sanglant wischte sich den Schweiß vom Gesicht und wandte sich zu Liath um, die auf der anderen Seite des Hofes stand. Er hob die Hand. Sofort verharrten alle Drachen, drehten sich zu ihr um und starrten sie an. Sie
unterdrückte den plötzlichen Impuls zu fliehen, reckte das Kinn und ging auf ihn zu. »Bürgermeister Werner möchte, daß Ihr zu ihm kommt«, sagte sie mutig und mit klarer Stimme. »Eine Menschenmenge hat sich -« »Ah, ja«, unterbrach sie der Prinz. »Ich habe mich schon gefragt, wann Bürgermeister Werner nach mir schicken würde. Es sind mehr geworden seit der Morgendämmerung.« Er wirkte eher erheitert als verärgert oder besorgt. Er reichte der Frau neben sich das Schwert und den Schild und erhielt statt dessen einen Speer. Er bedeutete Liath vorauszugehen. Niemand sonst kam mit, nur er. Sie spürte seine Blicke auf ihrem Rücken, als sie durch die Ställe zurückgingen. »Ich habe Euch niemals diesen Bogen benutzen sehen«, sagte er. »Es ist ein qumanischer, nicht?« »Ja.« »Es ist ein merkwürdiges Muster - ein Hirsch, der bezwungen ist, dessen Geweih aber dennoch Greifen gebiert.« 214 Seine Bemerkung verblüffte sie, aber sie wagte nicht, langsamer zu gehen oder sich umzudrehen. »Ihr habt unerhört strahlende, blaue Augen«, fügte er hinzu, als wäre es ihm gerade eingefallen. »Wie das Herz des Feuers. Oder wie der schöne Lapislazuli am Finger von Bürgermeister Werner.« Ihre Wangen brannten. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie traten durch die Stalltüren auf den Hof und fanden Bürgermeister Werner mit einer Reihe von Palastwachen und Bediensteten; er wirkte vor Angst ganz klein. »Öffnet das Tor«, sagte Sanglant, an Liath vorbeischreitend. »Aber -!« »Öffnet das Tor!« Werner brachte es nicht über sich, den Befehl zu geben, ehe er sich nicht in den Schutz des Wehrgangs auf der Palisadenmauer zurückgezogen hatte, außer Reichweite der wütenden Horden, die möglicherweise gleich hereinschwärmen würden. Aber dort oben war er für die Leute unten sichtbar. Es waren in der Tat überwiegend Bauern und arme Leute, dürr und voller Verzweiflung - dieselbe Art von Menschen, an denen sich Liath gestern hatte vorbeidrängen müssen. Als sie den Bürgermeister erblickten, begannen sie zu rufen, einige voller Wut, andere bittend, wieder andere fluchend. Einer hielt ein kleines Kind hoch über dem Kopf, als wollte er den Bürgermeister - dessen rundes, gerötetes Gesicht eindeutig verriet, daß es ihm niemals an Essen mangelte - auf diese Weise zwingen, das hungrige Gesicht des Kindes anzusehen. Einige wenige hatten Stöcke oder Sensen in den Händen und fuchtelten wütend mit ihnen herum, während Werner sich vergeblich bemühte, ein paar besänftigende Worte herauszuquetschen; bei dem Lärm wäre er auch gar nicht gehört worden. Das Tor öffnete sich. Sanglant schritt hinaus, den Speer in 215 der linken Hand, die rechte erhoben, ausgestreckt und leer. Er hatte keine Eskorte. Plötzlich wurde Liath nervös, zog ihren Bogen heraus und legte einen Pfeil an. Sie spannte ihn und zielte auf eine Stelle knapp neben dem Prinzen, so daß sie sofort schießen konnte, sollte ihn jemand angreifen. Er warf einen Blick zu ihr hinauf, als hätte er das Geräusch der gegen die Bronzekappen reibenden Sehne vernommen. Er lächelte sie mit seinem charmanten Lächeln an, als würde ihre Sorge ihn amüsieren oder ihm schmeicheln, und einen Augenblick vergaß sie, wo sie war und was sie da tat. Dann schaute er wieder weg, blickte auf die Menge und hob den Speer. Die Leute wurden unruhig, und ihre Aufmerksamkeit richtete sich jetzt vom Bürgermeister auf Sanglant. Er trat mitten zwischen sie, offensichtlich ohne jede Spur von Angst. Da er einen halben Kopf größer war als alle anderen dort unten, war er leicht zu erkennen. Sie schufen eine Gasse, um ihn durchzulassen, und irgendwo fand er eine Kiste oder einen Steinblock, auf den er sich mit hoch über dem Kopf erhobenem Speer stellte. Mit einer Geste der rechten Hand bat er um Ruhe. Zu Liaths Verwunderung beruhigte die Menge sich tatsächlich. »Oje, oje«, murmelte Werner und wurde dann schlagartig still, als er begriff, daß die Menge nicht über Sanglant herfallen und ihn in Stücke reißen würde. »Ihr müßt drei von Euch auswählen«, erklärte Sanglant ohne Vorrede. »Sie werden zum Bürgermeister gebracht, um mit ihm über Eure Klagen sprechen zu können. Wählt sie schnell und ohne zu streiten. Ihr anderen kehrt zurück in Eure Häuser oder dorthin, wo immer Ihr Euch aufhaltet. Ich werde die Bischöfin bitten zu vermitteln.« Er hielt inne. Seine Stimme klang so rauh, daß Liath sich wunderte, wieso 216 sie so klar zu verstehen war. Doch sie klang immer so. Er bewegte sich leicht, und das Sonnenlicht ließ seinen goldenen Halsreif hell aufblitzen. Liath senkte den Bogen. Sie konnte sich nicht konzentrieren, nicht, wenn sie ihn ansah. Hatten nicht die Alten geschrieben, daß Begierde ein Fluch war? Ihre Hände bebten, und sie nahm den Pfeil von der Sehne. Der Prinz war nicht in Gefahr. Aber sie war es möglicherweise. »Ich möchte darauf hinweisen«, fuhr Sanglant fort, »daß Gent eine belagerte Stadt ist. Der Feind, der da draußen wartet, ist viel schlimmer als Euer Hunger, denn es gibt genug Vorräte in dieser Stadt, die ausreichen, wenn sie sinnvoll eingeteilt werden. Doch im Herzen unseres Feindes ist keine Barmherzigkeit - wenn er überhaupt ein Herz hat. Wir dürfen uns nicht gegenseitig bekämpfen, denn auf diesem Weg wartet auf uns alle nur der Tod. Ihr
habt recht, wenn Ihr verlangt, daß Eure hungrigen Kinder zu essen haben, aber niemand darf ein Fest erwarten -« »Der Bürgermeister feiert jede Nacht!« rief eine Frau mit schriller, aber deutlicher Stimme. Sie trug die Kleidung einer Diakonissin. »Dann solltet Ihr, gute Diakonissin, vor ihn treten und ihm sagen, was Ihr denkt. Ihr seid die erste. Wählt zwei weitere.« Seine brüsken Befehle brachten die Leute zur Ruhe. Schon begann sich die Menge aufzulösen. Nach einem kurzen Gemurmel traten zwei Männer mit der Diakonissin vor und folgten Sanglant in den Hof. Liath erkannte in einem den Handwerker, der ihr auf dem Marktplatz geholfen hatte. Das Tor schloß sich hinter ihnen; erst jetzt verließ Werner den Wehrgang. Als sie erst einmal in der großen Halle waren, wirkten die drei gewöhnlichen Leute unterwürfig, vielleicht sogar eingeschüchtert durch die Anwesenheit des Bürgermeisters oder 217 - was wahrscheinlicher war - durch die imposante Gestalt Sanglants. »Adler«, sagte Werner, »sucht die Bischöfin und bringt sie zu mir. Ich meine natürlich, bittet sie darum, zu mir zu kommen.« Sanglant rührte sich, und beinahe glaubte Liath, daß er ihr seine Begleitung anbieten wollte. Aber das tat er nicht. Statt dessen trat er mit einem Seufzer zu Werner und ließ sich auf einem Stuhl neben ihm nieder. Oh, Närrin! Sie verfluchte sich, während sie davoneilte. Das Tor öffnete sich für sie, und dieses Mal machten die Leute sofort Platz, als sie vom Palast zur Kathedrale lief. Vielleicht hatte Pa ja recht gehabt; meistens hatte er das. »Bist du so eitel?« hatte er sie gefragt. Aber er hatte von Hugh gesprochen, und sie hatte recht gehabt, was Hugh betraf. Pa hatte niemals verstanden, was der Kirchenmann wirklich gewollt hatte. Aber sie wollte jetzt nicht an Hugh denken. Sie wollte niemals wieder an Hugh denken. Die Bischöfin von Gent vergeudete nicht viel Zeit; Liath wurde sofort mit der Nachricht zurückgeschickt, daß Werner sie innerhalb der nächsten Stunde erwarten könne und daß sich noch vor Einbruch der Nacht eine Lösung dieses Problems finden würde - und wenn sie sie erzwingen müßte. Als Liath zur Halle zurückkehrte, hatten die Diakonissin und der Handwerker schon gesprochen. Jetzt ergötzte der dritte Vertreter, ein ältlicher Mann in einer guten, auf seinen Wohlstand verweisenden Leinentunika, den Bürgermeister, indem er sich ausschweifend über die Position der Sterne in den Himmelssphären ausließ und damit auch über das Schicksal, das sie für Gent im allgemeinen und für den Bürgermeister im besonderen bereithielten. Werner lauschte mit solch gespannter Aufmerksamkeit, daß er Liaths Rückkehr nicht bemerkte, oder zumindest deutete nichts darauf hin, daß er sie bemerkt hatte. »Denn in den Schriften der Kirchenmütter und in den Berechnungen der Mathematiki von Babaharshan steht geschrieben«, intonierte der Mann in jenem klangvollen Tonfall, wie ihn nur die wirklich Dünkelhaften hervorbringen können, »daß der Eintritt von Mok in das Zeichen des Heilers - des elften Hauses im geringeren Kreis, dem Weltendrachen, der die Himmelssphären zusammenhält - eine Zeit der Heilung und Hoffnung verspricht, deren Strahlung noch verstärkt wird, wenn auch Jedu, der Engel des Krieges, in das gleiche Zeichen eintritt. Das wird schon recht bald geschehen, sehr bald sogar, denn dann wird der glühende Jedu aus dem Einhorn heraus- und in den Heiler hineintreten. So solltet Ihr Mut fassen und wissen, daß die Himmelssphären uns in dieser dunklen Stunde Hoffnung schenken, und Ihr solltet großzügig die Bürde jener erleichtern, die innerhalb Eurer schönen Stadt gefangen sind.« »Oh, erspart uns diesen Unsinn«, stöhnte Liath leise auf. Sofort bereute sie, es gesagt zu haben. Sie hatte nicht an Sanglants scharfes Gehör gedacht. Sanglant warf ihr einen Blick zu, sagte jedoch nichts. »Sprecht weiter«, forderte Werner den Mann auf, der auch tatsächlich fortfuhr; offensichtlich nahm er nichts anderes wahr als die Aufmerksamkeit des Bürgermeisters. »Ja, die Himmel geben uns Hoffnung. Ihr braucht kein Unheil zu fürchten, denn kein Komet entflammt den Himmel, und nur solch glühende Schwerter künden vom Untergang. Daher können wir alle feiern und Feste abhalten, denn unsere Rettung steht kurz bevor ...« - Werner blickte jetzt in der Tat viel fröhlicher drein -, »und wenn Gold in einem bestimmten Muster, das nur ich kenne, vor mir ausgelegt wird, kann ich 219 auf eine Weise, die geheim bleiben muß, die exakte Stunde und den Tag unserer Befreiung bestimmen!« »Ach!« stieß Werner leidenschaftlich hervor. Oh, Herrin! Dieser Mann würde mehr Unheil anrichten als Gutes bewirken. Doch die Meinung eines Adlers zählte nicht. Aber die eines Prinzen. Sie mußte es riskieren. »Er ist ein Schwindler«, sagte sie leise. Sofort hob Sanglant die Hand, und Ruhe kehrte ein. »Woher wißt Ihr all das über die Himmelssphären?« fragte er den alten Mann. »Wie können wir sicher sein, daß Ihr die Wahrheit sagt?« Der Mann schlug sich mit der Hand gegen die Brust. »Edler Prinz, Ihr ehrt mich mit Eurer Aufmerksamkeit. Ich wurde an der Akademie von Diotima in Darre ausgebildet, im Schatten des Palastes der Skopos. In der Akademie lernten wir die Geheimnisse der Himmel aus den Schriften der Alten und außerdem, wie wir das Schicksal der Menschen und der Welt aus den Bewegungen der Sterne vorhersagen können.« »Gegen einen Preis«, sagte Liath, »der gewöhnlich in Gold entrichtet wird.« Entgeistert registrierte sie, daß sie laut gesprochen hatte. Aber was konnte sie dagegen tun? Bei all ihren Reisen hatte sich ihr Pa niemals als Astrologe oder Haruspex ausgegeben - als einer jener Männer und Frauen, die von
sich behaupteten, das Schicksal von »Königen und anderen Menschen« bestimmen zu können. Schwindler allesamt, hatte Pa immer behauptet, obwohl er gebildet genug gewesen war und ihnen beiden ein gutes Leben hätte bescheren können, wenn auch er einer geworden wäre. Aber Pa respektierte das Wissen, das er besaß, und vielleicht fürchtete er es auch. Es war nichts, mit dem man allzu arglos umgehen sollte. In ihrem Innern loderte eine Flamme der Entrüstung bei dem Gedanken, daß das Wissen, 220 für das er so bitter bezahlt hatte, von anderen lediglich als Handelsware betrachtet wurde - als eine Ware, die Leute wie dieser Scharlatan dazu benutzten, um leichtgläubigen, arglosen Menschen das Gold aus der Tasche zu ziehen. Der alte Mann runzelte gebieterisch die Stirn, und er blickte sie an. »Es ist eine stolze Kunst, die ich ausübe, und auch wenn einige in der Kirche sie mißbilligen, wurde doch niemals der Bann über sie gesprochen -« Die Diakonissin unterbrach ihn. »Beim Konzil von Narvone wurde das Erstellen von Horoskopen für unrechtmäßig erklärt. Nur Gott und die Engel dürfen Wissen über unser Schicksal besitzen.« »Nun«, platzte er heraus, »ich erstelle natürlich keine Horoskope für einzelne Leute, aber ich besitze großes Wissen, und niemand soll es wagen, verächtlich über mich zu sprechen, denn ich kenne die Wege des Himmels. Ich habe das Astronomicon von Virgilia studiert und -« Liath schnaubte. »Virgilia schrieb die Heleniade. Es war Manilius, der die fünf Bücher verfaßte, die Astronomicon genannt werden und auf die Ihr Euch zu beziehen scheint. Und die von Diotima von Mantinea gegründete Akademie befindet sich in Kellai, nicht in Darre.« Sanglant hustete, aber nur, um ein Lachen zu verbergen. Liath brach ab. Alle in der Halle starrten sie jetzt an, als hätte sie plötzlich begonnen, in einer fremden Sprache zu reden, wie die Schüler an Pentekoste, als sie mit der Heiligen Botschaft in Berührung gekommen waren. Oh, Herrin! Sie hatte sich von ihrer Ungeduld verleiten lassen, von ihrer Ungeduld mit Dummköpfen und ihrer alten, schwelenden Wut über den Tod ihres Vaters. Sie hatte sich vor aller Augen verraten. »Was ...?« stammelte der Bürgermeister, den Mund weit 221 aufgerissen wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Was ? Ich verstehe nicht ...« »Ich bin außer mir!« sagte der Mann, der behauptete, ein Astrologe zu sein, und auch die Diakonissin trat vor und starrte voller Interesse - oder war es Überraschung? Oder Verdacht? - auf Liath. »Bürgermeister«, sagte Sanglant mit so scharfer Stimme, daß jetzt alle ihn anblickten. »Ich benötige diesen Adler, um Botschaften zu jenen Männern bringen zu lassen, die entlang der Mauern aufgestellt sind. Ihr habt diese Angelegenheit unter Kontrolle, denke ich, und außerdem wird ja auch bald die Bischöfin eintreffen.« Werner setzte zum Sprechen an. »Gut«, sagte Sanglant. Er wandte sich an Liath. »Kommt.« Sie folgte ihm nach draußen. Ihr Herz pochte heftig. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie keine Angst, fühlte sich vielmehr erleichtert - sogar regelrecht in Hochstimmung versetzt. Er blieb auf dem großen Innenhof stehen, mitten in der Sonne, und reckte die Schultern und den Nacken wie ein großes Tier nach einem siegreichen Kampf. Dann musterte er sie, doch weil sie sich schon längst verraten hatte, fürchtete sie sich nicht davor, ihm direkt in die Augen zu blicken. »Ich habe natürlich die Heleniade gehört«, sagte er, »oder zumindest Teile aus ihr. Viele Poeten auf der Rundreise des Königs singen dieses Heldenepos zur Unterhaltung des Hofes, und natürlich habt auch Ihr in den letzten zehn Tagen den Poeten in Werners Palast sie vortragen hören.« »Verhunzen, meint Ihr wohl eher.« Er lächelte. »Vielleicht würdet Ihr sie gefälliger wiedergeben.« Sie schüttelte wild den Kopf. »Ich bin weder eine Poetin noch eine Bardin und singe nicht in der Öffentlichkeit.« 222 »Nein, das seid Ihr nicht. Ihr seid etwas ganz anderes, glaube ich. Gibt es tatsächlich ein solches Buch wie dieses ... Astronomiconl« »Ich habe davon gehört, es aber niemals gesehen. Es gibt einen Hinweis darauf in der Ethymologie von Isidora von Seviya, wo sie über -« Sie brach ab. Herr im Himmel! Wollte sie ihn beeindrucken? »Ihr seid wirklich Wulfheres Adlatin, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, was Ihr damit meint.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte er scharf, runzelte die Stirn und wandte rasch den Blick von ihr ab. Es tat beinahe weh, wenn er wegsah; sie hatte nicht gewußt, wie sehr sein Blick sie erwärmte oder wie wichtig ihr seine Aufmerksamkeit war. Wie Brot für ein hungriges Kind. Sie zuckte zusammen. War das nicht ein allzu treffender Vergleich? Sie war allein, und er war da Er war ganz und gar nicht wie die anderen. Sanglant hob die Hand, und sie verkrampfte sich, aber nur, weil ein Teil von ihr wollte, daß er sie anfaßte, während sich gleichzeitig ein anderer Teil vor dem fürchtete, was seine Berührung - das eindeutige und unwiderrufliche Zeichen seines Interesses an ihr - entfesseln würde. Wie konnte sie nur so empfinden, nach all dem, was Hugh ihr angetan hatte? Doch Sanglant versuchte nicht, sie anzufassen; er öffnete die Hand, und sie sah einen Ring der Adler. »Ein Mann
brachte ihn gestern zu mir. Ich nehme an, er gehört Euch.« Er wartete. Schließlich nahm sie ihn so vorsichtig aus seiner Hand, wie man nach einem Edelstein greifen würde, der inmitten einer zusammengeringelten Schlange lag. »Er gehört mir. Was ist mit dem Mann passiert?« »Wir gaben ihm Unterkunft und Arbeit.« Seine Augen funkelten. Es war ihr unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen. 223 »Seine Tochter habe ich zu unserem Heiler geschickt. Sie lebt vielleicht noch.« »Ich danke Euch«, sagte sie leise. Der Ring war noch warm von seiner Haut. »Laßt mich das machen«, sagte er, nahm den Ring aus ihrer Hand und steckte ihn auf ihren Finger. Er blickte über ihre Schulter, ließ sie schlagartig los und trat einen Schritt zurück. »Hier ist Euer Präzeptor.« Er nickte Wulfhere zu und gestattete sich ein kurzes, spöttisches Lächeln. »Sie gehört Euch«, sagte er zu Wulfhere. »Auch wenn Ihr vielleicht etwas besser auf sie aufpassen solltet.« Damit drehte er sich um und ging. Wulfhere verschränkte seine Arme vor der Brust und sah sie stirnrunzelnd an. Sie drehte den Ring und errötete, sagte aber nichts. Der Gestank der Gerberei hing an seiner Kleidung. »Prinz Sanglant hat recht«, sagte er schließlich. »Ich sollte wirklich besser auf dich aufpassen.« Er winkte sie zu sich. »Komm.« Sie wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. 2 Wieder hielt Werner sie eine Weile auf, doch endlich saßen Liath und Wulfhere sich in der leeren Halle gegenüber, die ihnen mittlerweile als Schlafplatz und Lagerraum diente. »Nun«, sagte Wulfhere in dem ruhigen Ton eines Mannes, der nicht vorhatte, irgendeine Meinungsverschiedenheit zu dulden, »seit fünfundzwanzig Tagen sind wir jetzt hier in Gent, und du gehst mir ständig aus dem Weg, abgesehen von den wenigen Malen, da ich deine Zeit in Anspruch nahm, um dich in deinen Pflichten als Adler zu unterweisen.« 224 »Bürgermeister Werner benötigt meine Dienste als Botin.« »Bürgermeister Werner macht sich zu viele Gedanken über seine eigene Wichtigkeit und ist nur zu gern bereit, sie mit einem Adler des Königs, den er auf unnütze Botengänge schicken kann, noch zu unterstreichen. Es wäre sinnvoller, du würdest für die Drachen Nachrichten übermitteln ... und für ihren Hauptmann.« Sie errötete. »Er ist ein Königssohn, Liath. Was für ihn alltäglich ist, ist für dich verheerend.« Beschämt errötete sie noch mehr. »Erinnere dich an die Grundsätze, die ich dich gelehrt habe, und begreife, daß du dich vollkommen an sie halten mußt, wenn du erst ein richtiger Adler bist.« Sie versuchte zu nicken, brachte aber kaum mehr zustande als einen schwachen Ruck mit dem Kopf. Dankenswerterweise wechselte er das Thema. »Wie auch immer, ich habe mich für heute abend vom Fest entschuldigt, das jetzt ohnehin etwas gemäßigter ausfallen wird, da die Bischöfin die Nahrungsmittel für die Stadt rationieren wird. Manfred wird Bürgermeister Werner Gesellschaft leisten -und du mir. Es ist an der Zeit, daß du die Arbeit der Magi kennenlernst, selbst wenn die Fähigkeit bei mir nur sehr schwach ausgeprägt ist.« »Pa sagte, ich bin taub ihr gegenüber«, platzte sie heraus. Alles nur, um Zeit zu schinden. »Taub gegenüber was?« »Gegenüber der Magie.« Da, jetzt hatte sie es laut ausgesprochen. »Also hat er dich tatsächlich in Magie unterrichtet. Du mußt mir vertrauen, Liath. Du kannst die Wahrheit nicht vor mir verbergen. Ich kenne deinen Hintergrund zu gut.« Zumindest besser, wie es schien, als sie selbst ihn kannte. Sie zuckte mit den Schultern, versuchte lässig zu wirken, doch 225 Wulfhere hatte einen zu scharfen Blick. Sie konnte ihn nicht zum Narren halten. Und trotzdem ... Wulfhere wölbte eine Augenbraue, wartete, daß sie sprach. Sie wischte sich ein paar Strohhalme von den Beinkleidern und verlagerte ihre Sitzposition. Sie war das viele Stroh inzwischen mehr als leid; es stach überall und kitzelte die ganze Nacht in ihrer Nase. Der Sattel hinter ihr bot sich als angenehme Rückenlehne an. Aber sie spürte das Buch, das unter dem Sattel in den Satteltaschen versteckt war. Konnte Wulfhere das Buch auch spüren? Wartete er nur auf den richtigen Augenblick? »Was hast du vor?« fragte sie. »Ich will versuchen, eine Vision von diesem Wesen zu sehen, das nach Sanglants Meinung die Belagerung der Aikha leitet - was immer es auch sein mag.« Er stand auf. Weil sie schon längst keine Wahl mehr hatte, erhob sie sich ebenfalls und folgte ihm hinaus. Es dämmerte. Nach einem wunderbaren Sonnenaufgang hatte sich der Himmel im Laufe des Tages zugezogen, und jetzt war es ein trüber, bewölkter und feuchter Frühlingsabend. St. Melania, dachte Liath, benannt nach der Heiligen, die die Patriarchen von Kellai ermahnt hatte, als diese sich geweigert hatten, die Vorherrschaft der Herrin und des Herrn der Einigkeiten anzuerkennen. Es war auch der siebzehnte Tag des Monats Sormas. Weil Wolken den Himmel bedeckten, konnte sie sich nicht an den Sternen orientieren. Sie wagte es auch gar nicht, denn Wulfhere wußte bereits, daß ihr Vater und ihre Mutter die verbotenen Künste studiert hatten - und das war schlimm genug. Ihre voreilig gesprochenen Worte in Werners Halle hatten alles nur noch schlimmer gemacht.
An diesem Abend waren die Straßen so gut wie leer. Vielleicht hatte die Aufregung vom Morgen die Menschen er226 schöpft. Ihre Schritte wurden von den Geräuschen der Stadt verschluckt, die den Wechsel vom Tag zur Nacht begleiteten, den Übergang von eifriger Betriebsamkeit zu ruhelosem Schlaf, der stets von der Gegenwart der vor den Toren lauernden Aikha beeinträchtigt wurde. Auf den hölzernen Gehwegen, die sie vor dem Matsch der Straßen schützten, glänzte ein dünner Film aus Feuchtigkeit. Die Trommeln, die unaufhörlich aus dem Lager der Aikha herüberdröhnten, waren in dieser Nacht gedämpft - der Herrin sei Dank! -, wenn auch immer noch hörbar. Auch jetzt verfiel sie beim Gehen immer wieder in ihren Rhythmus; ab und zu hüpfte sie bewußt und versuchte ihre Schritte gegen den Trommelrhythmus zu setzen. Wulfhere lächelte, und sie ließen den alten Marktplatz hinter sich, schritten um die schwer bewachte Königliche Münzanstalt herum. Der Wind drehte und trug jetzt den Gestank von den Gerbereien am westlichen Flußufer herbei. In den Lagerhäusern dort wurden noch den ganzen Abend Rüstungen und Waffen hergestellt - aus dem Eisen, Holz und Leder, das die Flüchtlinge vom Land auf ihren Karren mit in die Stadt gebracht hatten. Er führte sie über den großen Platz und die Treppen zur Kathedrale hinauf. Ganz aus Stein, stand ihre Vorderseite wie ein Schild des Glaubens mitten in Gent. Sie glitten rasch hinein, denn die Türen hatten keine Schlösser. Einige Flüchtlinge vom Land hatten sich im Mittelschiff ausgebreitet. Liath blieb zögernd im Eingang stehen; sie hörte das Rascheln der sich bewegenden Menschen, ihr Husten und Wispern. Aus Angst vor einem Brand war nach Einbruch der Dunkelheit kein Licht gestattet, selbst in diesem Steingebäude nicht. Dennoch konnte sie die Schatten von Laken erkennen, die die Leute als Wände und Dächer zwischen den Bänken er227 richtet hatten, um Familien voneinander zu trennen. Alle hatten sich zum Schlafen hingelegt. Wulfhere berührte sie am Arm, und sie folgte ihm schweigend zu den Stufen, die hinab zur Krypta führten. Liath hatte nie Angst vor den Toten oder der Dunkelheit gehabt. Wie Pa immer gesagt hatte: »Jene, die in der Kammer des Lichts ruhen, haben ihren Frieden; die anderen haben nicht die Macht, uns etwas anzutun.« Sie schritten zuerst Stufen aus Holz und dann aus bloßer Erde hinab, und schon bald wurde es so dunkel, daß selbst sie mit ihren Salamanderaugen die Wände nicht mehr erkennen konnte und sich an ihnen entlangtasten mußte. Wulfhere blieb stehen, und sie straffte sich, eine Hand auf seiner Schulter. Um sie herum war absolute Schwärze. Es roch nach Ton und Kalk, und es war feucht. Wie aus weiter Ferne hörte sie irgendwo Wasser heruntertröpfeln. Das Geräusch, mit dem ein Tröpfchen beim Aufprall auf dem Stein in kleine Spritzer zerplatzte, zerrte an ihren Nerven. Es erinnerte sie an die Wassertropfen in der Kirchengruft, in die Schultheiß Liudolf sie nach der Ermordung ihres Vaters eingesperrt hatte. Auch dort war es dunkel gewesen, und sie war gefangengehalten worden. Bis Hugh kam. Ein eiserner Reif aus Furcht legte sich um ihre Brust, und sie klammerte sich krampfhaft an Wulfheres Schulter, plötzlich zutiefst verängstigt. Was, wenn Hugh irgendwo in diesen Schatten lauerte? »Befiehl Licht herbei«, sagte Wulfhere. »Das kann ich nicht.« »Suche in deinem Kopf nach der Erinnerung an Licht und rufe es herbei.« Sie schüttelte den Kopf. Sie schwitzte jetzt, obwohl es kühl in dem Gewölbe war. Fremde Laute waren zu hören. Sie wußte, 228 daß Hugh weit weg war, und doch hatte sie das Gefühl, als könnte er sie jeden Augenblick berühren. Wulfhere fuhr fort, so ruhig wie immer. »Wenn ich mich recht entsinne, gibt es hier eine Fackel. Denk also an Flammen und entzünde sie.« »Ich habe so etwas nicht gelernt!« Ein Luftzug berührte ihren Nacken. Licht! Sie schloß die Augen, auch wenn es sie Überwindung kostete, obschon sie ohnehin nichts sehen konnte. Sie beschwor das Bild von Licht in ihrem Kopf, stellte sich die Kammer hell erleuchtet vor, dachte an das Sonnenlicht, das durch die Fenster ihres Gedankenturms strömte und die vier Türen des Turms beschien, die überallhin und nirgendwohin führten, und - wie mit Gold bestrichen auch die fünfte Tür, die scheinbar unmöglich in der Mitte des Raums stand. Licht. Aber es geschah nichts. Das Licht in dem erstarrten Turm war kalt wie ein Wintersturm; es brachte Helligkeit, schuf aber kein Leben. Eine Ranke, eine Spinnwebe, die sich irgendwo gelöst hatte, strich über ihren Nacken. Sie zuckte zusammen und schlug sie weg, doch da war nichts." Und doch war etwas hinter ihr, schlich sich etwas immerzu an sie heran. Sie hielt es nicht länger aus. »Besser, einen Schritt vorwärts zu machen«, hatte Pa immer gesagt, »als zurückzuschauen und nachzusehen, was sich anschleicht.« Sie schob sich an Wulfhere vorbei, stolperte über eine Bodenfliese und hielt sich an der Wand fest. Ihre Hand traf auf den Griff einer Fackel. Sie riß sie an sich und wirbelte herum, hielt sie wie eine Waffe vor sich, doch da war nichts. Nichts, außer ihrer eigenen Furcht. Und die entfachte ihre Wut. Welches Recht hatte Hugh, sie so zu quälen ? Würde sie denn niemals frei von ihm sein ? Seine Gegenwart war es, die ihr ständig im Nacken saß, und doch war da auch noch etwas anderes, etwas,
das sie nicht benennen 229 konnte, was sich all die Jahre an ihren Vater und sie angeschlichen hatte. »Ich will in Ruhe gelassen werden!« rief sie. Die Steinwände der Krypta saugten ihre Stimme auf, verschluckten sie. »Nun, Liath -« begann Wulfhere. Ah, sie war jetzt schon so wild, daß ungezügelte Wut wie Feuer durch ihren Körper strömte. Die Fackel in ihrer Hand fing Feuer und brannte in einem starken, unheimlichen Licht. Sie zuckte zurück, blinzelte Tränen aus den Augen. Wulfhere sah blaß aus, doch als ihre Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie ihn lächeln. »Das ist besser«, sagte er. Liath war zutiefst erschrocken. Sie hatte Feuer beschworen, mit Mitteln, die sie selbst nicht kannte. Jetzt wußte Wulfhere, daß sie die Zauberei beherrschte. Aber, wenn sie Feuer beschwören konnte, warum sollte sie dann nicht die Kunst der Zauberei erlernen? Warum sollte sie dann kein Magus und Mathematikus werden? War es nicht ihr Recht? Wulfhere äußerte sich nicht dazu, daß die Fackel brannte, und er fragte sie auch nicht, wie sie es bewerkstelligt hatte. Er durchquerte die Krypta, und weil sie nicht allein in dieser Gruft sein wollte, folgte sie ihm. Unter dem breiten Steingewölbe, das die Krypta stützte, hielt er inne, um das berühmte Grab von Bischöfin Mariana zu betrachten, der Vorgängerin der gegenwärtigen Bischöfin. Zwischen ihrem Grab und der massiven Steinwand der Krypta lag noch ein anderes Grab. Es bestand aus weniger eindrucksvollem Granit, besaß dafür aber eine besser ausgearbeitete Grabinschrift. Hier liegt Flodoard, Presbyter der Heiligen Kirche, Diener Unseres Herrn und Unserer Herrin, Führer und Unterweiser von Louis, König von Varre. Ergeben in Tat und demütig im 230 Geist, war er der Beste von uns. So ruht er hoch oben im Licht der Wahrheit. Liath wurde sich plötzlich des gewaltigen Raumes hinter sich bewußt, des riesigen Bauches der Kathedrale, und der Monumente, die die Gräber jener Frauen und Männer markierten, die hier gedient hatten. Der Beste von uns. Sie verspürte einen inneren Frieden, hier zwischen den heiligen Toten. Möglicherweise war sie bei Wulfhere nicht in Sicherheit - und auch nicht bei irgendeinem anderen sterblichen Menschen -, aber ganz sicher waren diese Heiligen ihre Beschützer, denn sie beschützten all diejenigen, die den Glauben bewahrten. »Ich habe jemanden sagen hören, daß in der Krypta der Kathedrale von Gent das Grab einer Heiligen verborgen wäre.« Wulfhere musterte die dunkle Höhle. Es herrschte vollkommene Stille. Sie konnte nicht das leiseste Geräusch von oben hören, obwohl mehrere hundert Flüchtlinge in der Kirche in unruhigem Schlaf lagen, mit ihren Gedanken immer bei den Belagerern. Die Gräber verschwammen in der Dunkelheit, ihre Entfernung war nur an den unterschiedlichen Graustufen abzuschätzen, die das Fackellicht hervorrief. Liath konnte die gegenüberliegenden Wände nicht erkennen, auch nicht die Öffnung, die zu den Stufen führte. Es war eine alte Kathedrale, deren Grundmauern angeblich in den letzten Jahren des alten Kaiserreiches von einem halbelfischen Prinz errichtet worden waren, der zum Glauben der Einigkeiten übergetreten war, als das Reich um ihn herum zusammenbrach. Wulfhere ging noch weiter in die Krypta hinein, durch finstere Räume und über eine kurze Treppenflucht. Liath folgte ihm. Je tiefer sie kamen, desto frischer roch die Luft, in der auch die trockene Süße irgendeines Korns mitschwang. Sie mußte niesen. »Aber es heißt auch«, fügte Wulfhere hinzu, »daß nur jene 231 dieses Grab jemals finden, die von großer Heiligkeit, großer Unschuld oder in großer Bedrängnis sind.« »Wessen Grab ist es?« fragte Liath und ließ ihren Blick im Raum umherschweifen. Sie suchte in den Schatten nach einem kleinen, silbrigen Glanz, einer versteckten Steinkante. Doch sie sah nichts außer den Gräbern der Bischöfinnen und Presbyter, der heiligen Diakonissinnen und Bürgermeister und dem Grab einer Gräfin von Gent, die auf einem Bildnis mit einer Schriftrolle in der einen und einem Messer in der anderen Hand dargestellt war. »Es ist St. Kristine von den Messern, die in den letzten Tagen des alten Kaiserreiches lieber unaussprechliche Torturen erlitt, als den Eindringlingen zu weichen. Es heißt, daß zwar ein Kaiserreich in Ungnade fallen kann, nicht aber sie.« Doch sie fanden das Grab der Heiligen nicht. Sie kehrten zu den Stufen zurück, die aus der Krypta herausführten, und gelangten in einen düsteren Gang, der sie wiederum in eine Nebenkapelle brachte. Hier fanden sie zwei Gräber, die so alt waren, daß ihre Inschriften beinahe ganz verblaßt waren, und eine schwarze Steinplatte, die im Schein der Fackel glänzte. Liath kniete sich hin und fuhr mit der Hand über die Oberfläche. Sie fühlte sich noch glatter als Glas an. »Das ist Obsidian«, sagte sie. »Auch wenn einige behaupten, daß es gar kein Stein ist, sondern die Überreste von Drachenknochen, die dem Sonnenlicht ausgesetzt waren.« Wulfhere kniete sich ihr gegenüber ebenfalls hin. »Durch dieses Medium werde ich sehen. Hat Bernard dir die Kunst des Sehens beigebracht?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nie erlebt, daß ihr Pa etwas »gesehen« hätte, obwohl sie gelesen hatte, daß es möglich war, durch Medien - Wasser, Feuer und eine bestimmte Art von 232 Steinen - über weite Entfernungen hinweg zu sehen. »Ist es ... ist es richtig, die verbotenen Künste auf heiligem Boden auszuüben? In einer Kirche?« Er blickte ihr in die Augen und lächelte sanft. »Es ist notwendig, und Unser Herr und Unsere Herrin verbieten nicht, was notwendig ist. Zumindest haben die Kirchenälteren das beim Konzil von Kellai bestätigt. Die Kirche hat die Zauberei nicht verdammt, Liath, auch wenn sie beim Konzil von Narvone für jene, die sie außerhalb der Aufsicht der Kirche anwenden, eine Strafe anordnete.« Was hatte Hugh gesagt? »Ich bin überzeugt, daß es in der Kirche welche gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die verbotenen Künste der Zauberei zu lernen. Ich habe nur noch niemanden von ihnen getroffen.« »Aber sie werden die verbotenen Künste genannt«, flüsterte sie. »Es ist wahr, die Kirche betrachtet jene mit Mißfallen, die nach den älteren Künsten streben - nach jenen also, die von den Ungläubigen ausgeübt wurden und uns durch ihre Schriften überliefert sind. Künste, die die Gewissenlosen dazu benutzen, um Macht auszuüben. Aber es wäre dumm zu leugnen, daß solche Künste und Kräfte in unserer Reichweite sind, oder wenn wir versuchen würden, sie als Ketzerei zu verdammen. Es wäre nicht nur unmöglich, sondern auch sehr gefährlich. So erklärte Skopos Mary Jehanna, die beim Konzil von Kellai den Vorsitz innehatte, in ihrer Weisheit als erste, daß die verbotenen Künste mit dem Ursprung der Kirche übereinstimmen. Dieses Urteil wurde vor einhundert Jahren beim Konzil von Narvone bestätigt - und tatsächlich ist der Konvent St. Valeria heutzutage bekannt für das Studium der verbotenen Künste.« »Aber du bist nicht in der Kirche.« »Ich erhielt einen Teil meiner Ausbildung an einer Kloster233 schule in Aosta. Ich wurde niemals der Kirche verpflichtet. Und jetzt paß auf.« Er öffnete einen Lederbeutel an seinem Gürtel und holte ein Fläschchen heraus. Dann zog er Dolch und Schwert aus der Scheide und legte sie zur Seite. Er entstöpselte das Fläschchen und reichte es ihr. Sie schüttelte den Kopf, und er nahm einen kleinen Schluck und stellte die Flasche dann wieder ab. Sie wartete. Es schien nicht gefährlich, ihm ihre drängende Neugier zu zeigen. Er wußte ohnehin, was ihre Eltern gewesen waren. Und hatte sie nicht das Feuer beschworen? Er legte die Handflächen eine Schulterbreit voneinander entfernt auf den glänzenden schwarzen Stein. Eine lange Zeit starrte er einfach nur darauf. Es war so still in der Krypta, daß sie glaubte, das Geräusch des auf die Gräber herabsinkenden Staubs hören zu können und das bedächtige Knirschen der Steine, die sich tief in der Erde gegeneinanderschoben. Die Dunkelheit jenseits des flackernden Fackellichts beunruhigte sie nicht mehr; es gab hier lediglich Schatten und Stille und die körperlichen Überreste der Toten, deren Geist längst durch die sieben Sphären emporgestiegen war. »Liath.« Sie zuckte zusammen. Wulfhere starrte sie überrascht an. Er hatte nichts gesagt. Eine Frage lag in seinem Blick. Sie schüttelte den Kopf und entspannte sich wieder. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie. »Was war los?« fragte er. Entweder hatte er die Stimme nicht gehört, oder er war noch gerissener, als sie befürchtet hatte. »Nichts.« Sie kniete sich wieder bequemer hin, die Fackel fest umklammert. Sie brannte mit unverminderter Stärke. »Mir ist eine Spinne über die Hand gekrabbelt.« Ob er die Ausrede glaubte oder nicht - er akzeptierte sie je234 denfalls. Er drehte die linke Handfläche nach oben, während der Handrücken noch auf dem Stein lag und die Finger sich leicht krümmten, als wollten sie eine Kugel umfassen. »Zauberei ist eine mentale Übung, keine körperliche. Es ist die Manipulation der uns umgebenden unsichtbaren Kräfte, die immer in Bewegung sind, auch wenn unsere fünf Sinne sie nicht wahrnehmen. Einige von den Menschen, die zu ihren Kenntnissen der verbotenen Künste stehen, benutzen körperliche Mittel - Anrufungen, Gesänge und Gegenstände, mit deren Hilfe sie ihren Geist konzentrieren und das hinter dem Gewöhnlichen verborgene Wissen hervorlocken können. Wir kennen diese Menschen unter verschiedenen Namen, je nach den Elementen, die sie zu manipulieren versuchen. Die Tempestari wollen das Wetter beherrschen; die Haroli versuchen, die Dämonen der oberen Sphären herunterzuholen, die über beinahe ebensoviel Wissen verfügen wie die Engel. Die Sortelegi betreiben Wahrsagerei, und dann gibt es noch die Auguren, alte Weise, die sich noch gut an die alten Götter erinnern können und sich noch nicht mit ganzem Herzen Unserer Herrin und Unserem Herrn zugewandt haben. Sie nutzen den Flug und die Schreie der Vögel für ihre Voraussagen. Selbst unter den Ungebildeten gibt es Leute, die sich durch verschiedene Mittel und komplizierte falsche Auslegung einige Fähigkeiten in der Magie erworben haben.« Er hielt inne, als wartete er auf eine Bemerkung von ihr. Auf der Grabplatte links von ihr war die Diakonissin und Bischöfin Caesaria abgebildet, mit bischöflicher Mitra
und entsprechenden Gewändern. Sie hielt einen Schild hoch, der eine Heilige zeigte: Die Frau trug jeweils ein Messer in den ausgestreckten Händen, außerdem steckte eines als Zeichen ihres Märtyrertums bis zum Heft in ihrer Brust. Die Heilige war St. Kristine. 235 »Aber die Kirche verurteilt einige Magi«, sagte Liath, »und sie wacht mißtrauisch über alle, die sich ihr nicht verschworen haben.« »Das ist wohl wahr. Die Kirche billigt es nicht, daß jemand ohne ihre Führung solche Kräfte sucht. Es wird immer Leute geben, die diese Künste nur für ihre eigenen Ziele oder zum Schaden anderer benutzen. Wir nennen sie Malefiki. Am schlimmsten sind jene, die sich mit Hilfe von Blut und Opferritualen mit den Teufeln verbinden. Aber auch andere sind verdächtig, hauptsächlich jene, die wir als Mathematiki kennen, denn das Studium der Himmel geht auf die Babaharshan-Magi zurück, und die Kirche schaut mit Mißfallen auf alles, was von den Ungläubigen kommt.« Und was ist mit jenen, die einen Namen sagen und in weiter Ferne erklingen lassen können? Es war nicht das erste Mal, daß Liath diese Stimme gehört hatte, die ihren Namen gerufen hatte. Aber offensichtlich stammte die Stimme von einem oder einer Magus oder von einem Geschöpf nichtmenschlichen Ursprungs, einem Engel oder Daemon. Möglicherweise auch von einem Engel im Dienste des Feindes. Sie zitterte. Wulfhere legte kurz seine Hand auf ihr Knie, versuchte sie zu beruhigen. »Du bist bei mir in Sicherheit, Liath.« Sie schwieg. Sie glaubte ihm nicht. Er betrachtete sie schweigend. Plötzlich ruhiger geworden, musterte sie ihn genauer: seine ernste Miene; den strengen Glanz in seinen Augen, die dennoch etwas Freundliches hatten; die Altersflecken auf seiner Haut; Haare und Bart, die längst mehr grau als braun waren. Sie glaubte ja gar nicht, daß Wulfhere ihr persönlich schaden wollte. Aber sie mißtraute seinen wirklichen Zielen. Sie vermutete, daß er etwas anderes von ihr wollte - etwas, das er ihr bewußt vorenthielt. »Traue niemandem.« Selbst wenn er es 236 gut mit ihr meinte, wie konnte er sie vor dem Schicksal bewahren, das auch Pa ereilt hatte? Wie konnte er sie gegen eine Macht verteidigen, die einen Mann hatte töten können, ohne eine Tür oder ein Fenster zu öffnen, ohne auf dem Körper auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen? Wie konnte sie sich schützen ? Wulfhere legte seine Hand wieder auf den Stein. »Aber wenn der Geist die richtige Ausbildung erfahren hat, ist keiner dieser Wege notwendig oder auch nur empfehlenswert. Mit welchen Mitteln konzentrieren und üben die Magi ihre Gedanken?« »Mit Hilfe der Leiter.« Er nickte. >»Die Leiter, über die die Magi emporsteigen^ Kannst du es aufsagen?« Sie hatte sich, während sie Hughs Sklavin gewesen war, so anstrengen müssen, nicht an diese Dinge zu denken, daß es sie einige Zeit kostete, zurück in ihren Gedankenturm zu gehen, die Tore und die Ebenen der großen Stadt zu kennzeichnen, in der sie ihr gesamtes Wissen aufbewahrte. »Es gibt sieben Sprossen auf der Leiter, die den sieben Sphären der Himmel entsprechen. Die erste ist die Rose des Heilens. Dann kommt das Schwert der Stärke. Der Becher des grenzenlosen Wassers. Der Ring aus Feuer, uns auch bekannt als der Kreis der Einigkeit, das Symbol Unserer Herrin und Unseres Herrn, die zusammen den Gott der Einigkeiten bilden. Der Thron der Tugend. Das Zepter der Weisheit. Und die Krone des Lichts, auch bekannt als Wahrheit.« Wulfhere nickte. »Dies sind die Werkzeuge, die die Magi benutzen. Folge mir mit deinem geistigen Auge. Durch den Ring aus Feuer sehen wir vielleicht einen anderen Ort.« Er vergrößerte den Abstand zwischen seinen Händen und starrte gebannt auf den schwarzen Stein. 237 Liath spürte, wie sein Schweigen eine neue, höhere Stufe erreichte, als würde er sich von ihr entfernen, obwohl er sich natürlich kein bißchen von der Stelle bewegte. Aber sie hatte niemals gelernt, den Ring des Feuers in ihren eigenen Gedanken entstehen zu lassen; Pa hatte ihr außer dem Schwert der Stärke keine mentalen Übungen beigebracht. Sie starrte auf den Stein unter Wulfheres Händen; die eine Handfläche war nach oben, die andere nach unten gerichtet. Sie verstärkte den Griff um die Fackel. Selbst die Luft schien jetzt dichter zu werden. Wulfhere atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Seine Pupillen weiteten sich und verengten sich dann, wie unter dem Einfluß von grellem Licht, auf die Größe eines Stecknadelkopfes. Sie sah nichts als schwarzen Stein. »Was siehst du?« flüsterte er, als kosteten ihn die Worte große Anstrengung. »Nichts.« Er schüttelte abrupt den Kopf, und seine Pupillen weiteten sich wieder. Er schien etwas zu suchen. »Auch ich sehe nichts«, murmelte er. »Lagerfeuer, Zelte, Schiffe und eine Art von Dunkelheit in der Mitte ihres Lagers.« Er schloß die Augen, nahm dann die Hände vom Stein und schüttelte sich wie ein Hund, der von der Leine gelassen wird. Er blickte Liath an. »Dieser Zauber ist gegen meine Sicht geschützt! Ich fürchte, das ist ein schlechtes Zeichen. Meine Kräfte sind nicht sehr stark, aber als Adler beherrsche ich ein paar Dinge. Die Kunst des Sehens ist eines davon. Du hast auch nichts gesehen?« »Ich habe nichts gesehen.« Aber sie begriff, daß ihr »nichts« nicht das gleiche war wie seins. Sie hatte wirklich nichts gesehen. Pa hatte ganz recht gehabt; sie war taub gegenüber Magie.
Aber wie hatte sie dann die Fackel entzünden können? Wulfhere runzelte die Stirn. »Ich habe niemals gehört, daß 238 Aikha die Kunst der Magi beherrschen oder daß sie in den verbotenen Künsten geübt wären, ja auch nur von ihnen wissen. Schließlich sind es immer noch Wilde. Aber ich zweifle nicht länger an der Richtigkeit von Sanglants Verdacht. Da ist etwas bei ihnen, das eine große Macht kontrolliert. Das könnte auch erklären -« Er fuhr mit der Hand über den Obsidian. »Seltsam.« »Was könnte es erklären?« Doch jetzt war ein anderer Ton in seiner Stimme. »Still«, befahl er. Er zeichnete mit einem Finger einen imaginären Ring auf die Oberfläche des Steins und ließ die Hände dann wieder schulterbreit auseinander auf der Grabplatte ruhen, die eine mit der Handfläche nach oben, die andere nach unten. Er starrte die schwarze Fläche an, eindringlich, konzentriert. Sie sah nichts, aber sie spürte einen Luftzug, als würden Flügel über ihre Wangen streichen. »Ein Adler!« stieß er atemlos hervor. »Ein Adler auf der Flucht, er stürzt zu Boden.« Er sprang auf. »Komm, Liath. Wir müssen zurückgehen. Ich weiß nicht, was das bedeutet.« Hastig sammelte er seine Waffen vom Boden auf, und sie eilten zurück zu den Stufen, die aus der Krypta führten. Als Liath die Fackel in den Wandhalter steckte, erlosch die Flamme in dem Augenblick, da sie ihre Hand zurückzog, und sie waren von Finsternis umgeben. Wulfhere brummte; er klang überrascht, sagte jedoch nichts. Sie tasteten sich die Stufen empor und hasteten aus der Kathedrale. Es war dunkel, der Himmel noch immer bewölkt, aber nach der Schwärze in der Krypta lastete die Nacht längst nicht mehr so schwer auf ihr. Die Trommeln der Aikha dröhnten jetzt lauter; gewöhnlich erreichten sie gegen Mitternacht ihren Höhepunkt. Als sie zum Palast des Bürgermeisters zurückeilten, rief 239 Liath sich Wulfheres Satzfetzen in Erinnerung. »Du hast gesagt, daß die Gegenwart eines Zauberers eine Erklärung sein könnte.« »Ah ja.« Er dachte nach, während ihre Schritte laut und abgehackt über die Bretter des hölzernen Weges dröhnten. »Als wir nach Gent ritten, habe ich eine Beschwörung ausgesprochen, um das Vordringen der Aikha zu verzögern, die hinter uns her waren. Es war nichts weiter als eine Illusion. Meine Fähigkeiten sind nicht groß, und ich beherrsche nur einige Arten des Sehens. Ich habe dich gewarnt, nicht auf das zu achten, was du gesehen hast.« Die Flucht nach Gent war ihr noch gut im Gedächtnis, so lebhaft wie eine in schillernden Farben frisch bemalte Wand. Was er jedoch gesagt hatte, ließ sie schlagartig begreifen, was sie beinahe vergessen hatte, weil es damals keinen Sinn ergeben hatte. Ein funkelndes Licht blitzte auf, als würde man von einem dunklen Raum aus den Schein eines hellen Feuers sehen. Ihr Pferd hatte sie beinahe abgeworfen, und Manfred hatte seine Augen mit einer Hand bedeckt, als habe er sich vor einer noch drastischeren Vision schützen wollen. Ein Kitzeln an ihrem Rücken. Kleine, flimmernde Teuerfliegen. Aber mehr hatte sie nicht gesehen. Entweder waren Wulfheres Fähigkeiten wirklich nur sehr gering, oder ... »Ich wußte, daß Zauberei im Spiel sein mußte«, fuhr er fort. »Jetzt erkenne ich, daß sie noch mächtiger ist, als ich vermutete. Es ist eine Sache, meine Täuschung aufzulösen, aber eine ganz andere, meine Vision zu verschleiern.« ... oder sie hatte nur einen schwachen Schimmer von seiner Magie gesehen - oder überhaupt nicht seine Magie, sondern einen Hauch des Zaubers, der die Aikha davor geschützt hatte. 240 »Dir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Wulfhere. »Nein. Nichts.« Bis sie das Rastel nicht selbst verstand, würde sie ihm nichts davon mitteilen. Es würde ihm nur Macht über sie verleihen, noch mehr Macht, als er ohnehin schon hatte. »Nur etwas, das Pa immer sagte: >Wissen zu meistern, heißt soviel, wie Macht daraus zu ziehen.<« »Wahre Worte«, bestätigte Wulfhere. Vor ihnen schälte sich der Palisadenzaun des Palastes aus der Dunkelheit. Sie hörte sofort das Gewirr der vielen durcheinanderredenden Stimmen. Waren es wahre Worte? Als Pa gesagt hatte: »Traue niemandem« - hatte er damit auch sich gemeint? Sie war taub gegenüber Magie, und doch hatte er angefangen, sie in die Künste der Magi einzuweihen. Sie war taub gegen Magie, und dennoch besaß sie irgendeine Macht; zweimal hatte sie sich manifestiert, einmal, als sie die Rose des Heilens in den Tisch in Hughs Arbeitszimmer gebrannt hatte, und in dieser Nacht in der Krypta, als sie die Fackel entzündet hatte. »Ist das alles, woran du gedacht hast?« fragte er. Sie blieb stumm. »Habe ich irgend etwas getan, was dir Schaden zugefügt haben könnte?« fragte er sanft, wenn auch ein wenig anklagend. »Habe ich jemals versucht, dir zu schaden?«
»Du hast mich nach Gent gebracht!« Aber sie sagte das mit einem ironischen Lächeln, in der Hoffnung, ihn ablenken zu können. Sie traten durch das Holztor auf den Hof des Bürgermeister-Palastes. Der gepflasterte Boden war in Fackellicht getaucht, und Rauch und Flammen hüllten die Menschen in gelben Dunst. Sie hatten sich in Scharen versammelt. Es waren andere Leute, auch viel weniger als am Morgen, und sie verhielten sich ganz anders. 241 »Leider«, murmelte er. Dann packte er sie am Ellenbogen, zog sie mit finsterer Miene hinter sich her und schob rücksichtslos Drachen und reiche Kaufleute und die Bediensteten des Bürgermeisters beiseite, damit er zusammen mit Liath in die Mitte der Menge gelangen konnte. Dort fanden sie den Bürgermeister, Manfred und Prinz Sanglant - und einen Adler. Er war auf unvorstellbare Weise zugerichtet worden, sein Umhang war zerrissen, der Kopf mit blutverschmierten, schmutzigen Tüchern umwickelt. Der eine Arm hing schlaff herab, während sein Pferd neben ihm im Sterben lag. Er blickte auf, sah Wulfhere aus der Menge treten und versuchte aufzustehen, taumelte aber sofort. Manfred stützte ihn. »Bringt einen Heiler her«, befahl Prinz Sanglant seinen Drachen. »Und eine Trage und Wein.« Seine nächsten Gehilfen, die narbenübersäte Frau und der hinkende Mann, eilten davon. Bürgermeister Werners Gesicht wirkte im Schein des Fackellichts aschfahl. Aber es war nicht nur das Licht, sondern auch sein Ausdruck. Er sah aus wie ein Mann, der sein eigenes Grab gesehen hat. »Lege dich hin, mein Sohn.« Wulfhere kniete sich neben den Adler und bettete den Kopf des Schwerverletzten auf Manfreds zusammengerollten Umhang. »Was bringst du für Neuigkeiten?« Liath rückte näher. Blut näßte die Tunika des Adlers, und sein Atem kam keuchend und unregelmäßig. Das zerbrochene Ende eines Pfeils ragte aus seiner Brust. Sie schnappte nach Luft und trat unwillkürlich einen Schritt vor; doch im gleichen Augenblick riß jemand sie an der Schulter zurück. Bevor sie auch nur den Blick hob, wußte sie, daß es der Prinz gewesen war, der sie daran gehindert hatte, weiter vorzutreten. 242 Seine Hand schien selbst durch die Kleidung auf ihrer Schulter zu brennen - obwohl sie wußte, daß sie seine Gegenwart nur aus Scham über ihre Begierde so deutlich wahrnahm. Sie riskierte einen Blick in sein Gesicht, denn alles andere wäre feige gewesen. Als sich ihre Blicke trafen, war er derjenige, der wegschaute. Er ließ sie los und trat sogar einen halben Schritt beiseite. Sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, daß ihre Gegenwart ihn beunruhigte. Der Adler hustete und spuckte Blut. O Herr, der Pfeil hatte die Lunge getroffen. Es war nur eine Frage der Zeit. »Schlechte Nachrichten.« Sein Atem kam immer abgehackter. Die Haut färbte sich tiefrot, als er versuchte zu sprechen. »Gräfin Hildegard. Auf dem Weg nach Gent. Viele Truppen. Hinterhalt. Ich entkam -« »Er kam vor weniger als einer Stunde durch das Osttor«, sagte Sanglant. »Diese Leute brachten ihn her.« Er machte eine ausschweifende Bewegung mit der Hand, die die Menge einschloß. Die meisten hatten sich aufgrund der auffordernden Blicke und des Nachdrucks der Drachen zurückgezogen, so daß die übrigen mehr Platz hatten. »Obwohl er wesentlich schneller hier angelangt wäre, wenn sie in ihren Betten geblieben und nicht auf die Straßen geschwärmt wären.« »Was ist mit Gräfin Hildegard?« fragte Wulfhere. Der Mann hustete wieder, dieses Mal spuckte er kleine Klumpen aus Blut, und als er sprach, mußte Liath sich etwas hinabbeugen, um ihn verstehen zu können. »Ich weiß es nicht. Vielleicht konnte sie entkommen. Unser Herr -« Er wurde von Krämpfen geschüttelt. Liath stürzte vor und half Manfred, die Schultern herunterzudrücken, während Wulfhere und Sanglant sich jeweils auf ein Bein lehnten. Wie aus weiter Ferne hörten sie die Klagerufe von Bürgermeister Werner, das Schluchzen und Rufen der Leute. 243 Der Adler erschlaffte. Liath lehnte sich zurück, schaute auf und stellte fest, daß Sanglant sie anstarrte, die Hände noch auf dem linken Bein des Mannes. Einen langen Atemzug verharrte der Prinz in dieser Position. Wulfhere fluchte leise, beugte sich vor und legte das Ohr an die Brust des verletzten Mannes. »Nicht nötig«, sagte Sanglant, ohne den Blick von Liath zu wenden. »Er hat aufgehört zu atmen. Es ist kein Puls mehr zu spüren. Er ist tot.« Das seltsame Kratzen in seiner rauhen Stimme verlieh seiner Trauer eine Wahrhaftigkeit, die sich in seinem Gesicht nicht spiegelte; nicht daß er zufrieden war, das nicht, nein, aber der Tod konnte ihn nicht länger überraschen oder betrüben. Sie schaute rechtzeitig weg, um zu sehen, wie Manfred dem Toten die Augen schloß. Wulfhere blieb eine Weile über dem Körper gebeugt, das Gesicht verborgen. Schließlich richtete er sich auf. »Er ist tot.« Er hockte sich auf die Fersen, während Bürgermeister Werner hinter ihm reichlich Tränen vergoß wenn auch nicht, wie Liath vermutete, um den toten Mann, sondern um den Verlust der Hoffnung. Sanglant hob die Hand. Die Drachen trieben die Umstehenden aus dem Hof. »Dies ist nicht die Zeit für Tränen«, sagte der Prinz, stand auf und wandte sich an den Bürgermeister. »Er war ein mutiger Mann, und ihm gebührt die Ehre, daß wir angesichts der Neuigkeiten, deren Übermittlung er mit dem Leben bezahlte, nicht den Mut verlieren. Es ist immer noch möglich, daß Gräfin Hildegard es geschafft hat.«
»Und wenn nicht?« »Wenn nicht«, erwiderte der Prinz, »wenn ihre Streitmacht vollständig aufgerieben worden ist, werden wir die Nahrungsmittel noch härter rationieren und uns auf eine lange Belagerung vorbereiten. Wir haben ausreichend Wasser. Es besteht 244 noch immer Hoffnung, daß Wulfheres Kameraden König Henry erreichen. Einige meiner Männer halten sich weiterhin vor den Mauern der Stadt auf, und sie werden den Aikha solange zusetzen, bis wir uns entweder befreien können oder eine andere Streitmacht zu uns stößt.« Schließlich rührte sich Wulfhere, aber nur, um dem toten Adler das Messingabzeichen vom Halskragen abzunehmen. Es war feucht von Blut und Speichel. Er wischte es an den Fetzen seines Umhangs ab. Dann erhob er sich, und auch Manfred und Liath standen auf. Wulfhere streckte die Hand aus, öffnete sie, und das Abzeichen blinkte im Fackellicht. »Welche Grundsätze bestimmen das Verhalten eines Adlers, Liath?« Sie waren einfach genug, und sie mußte nicht lange überlegen. »Diene dem König und sonst niemandem. Sprich nur die Wahrheit über das, was du siehst und hörst, aber mit den Feinden des Königs sprich gar nicht. Laß kein Hindernis deiner Pflicht dem König gegenüber im Wege stehen, kein Wetter, keine Schlacht, kein Vergnügen, keine Pest. Stelle die Pflicht gegenüber deiner Familie an die zweite Stelle und verheirate dich nie, es sei denn mit einem anderen Adler, der den gleichen Eid geschworen hat wie du.« Sie konnte nicht anders. Sie mußte Sanglant ansehen, der sich wieder umgedreht hatte, um sie oder Wulfhere zu beobachten - so genau konnte sie es nicht erkennen. Sein Blick war fest und beeindruckend, aber er gab kein Geräusch von sich und stand vollkommen reglos. Doch als sie Atem holte, um fortzufahren, sah sie, daß auch Manfred sie beobachtete. Ein merkwürdiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als wollte er sehen, was sie tun, wie sie sich verhalten würde. War sie blind gewesen? War seine Zuneigung ihr gegenüber mehr gewesen als die zwischen Kamera245 den? Sie verscheuchte den Gedanken mit einem Anflug von Ungeduld; so etwas zu denken war eitel, nichts weiter. Daß Hugh nur sie und sonst keine Frau in Friedleben begehrt hatte, bedeutete nicht, daß jeder Mann sie begehrte. Manfred lächelte sie traurig an. Sie erwiderte das Lächeln und fuhr fort. »Hilf einem in Not geratenen Adler, und beschütze deine Kameraden vor denen, die ihnen Schaden zufügen wollen. Und schließlich, bewahre deinen Glauben an Unsere Herrin und Unseren Herrn.« »Schwörst du, diese Grundsätze zu befolgen?« fragte Wulfhere. Es war jetzt still, da der größte Teil der Menge verjagt worden war. Der Bürgermeister hatte aufgehört zu jammern. Er kauerte hinter Sanglant, umgeben von Dienern mit ernsten Gesichtern und zum Gebet gefalteten Händen. Fackeln loderten, und als der Wind sich drehte, roch sie bitteren, stechenden Rauch. Die AikhaTrommeln aus dem Osten klangen jetzt lauter. »Ich schwöre«, sagte sie ruhig; sie wußte, um was es hier gingManfred kniete nieder und bedeckte das blutige Gesicht des Adlers mit den zerfetzten Überresten seines Umhangs. Wulfhere beugte sich über die Leiche hinweg zu Liath, das Abzeichen hoch erhoben. Doch Sanglant trat dazwischen, schob seine Hand zwischen die beiden. »Als Vertreter des Königs ist das mein Recht«, sagte er. Wulfhere zögerte einen Augenblick. Doch welche Wahl hatte er schon? Er reichte dem Prinzen das Abzeichen. Und Sanglant befestigte es an Liaths Tunika, legte seine Hände an ihren Nacken. Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, aber Liath war sich nicht sicher, ob er damit ein Lächeln 246 andeuten wollte. Sie wußte nur, daß sie errötete. Er hielt seinen Blick auf die scharfe Nadel gerichtet, während er sie am Stoff ihrer Tunika befestigte. Doch als er fertig war, ließ er seine Hände noch einen Augenblick länger liegen. Ihre Blicke trafen sich, und während er Manfred und Wulfhere und all den anderen den Rücken zukehrte, formte er drei Worte mit den Lippen, die außer ihr niemand vernehmen konnte: »»Verheiratet Euch nie.<« Dann drehte er sich um und ging davon, schon bald verschluckt von der Dunkelheit, die sich jenseits der Fackeln ausbreitete. Sie sah ihm nach, dann senkte sie befangen den Blick. Schließlich blieb er bei dem toten Adler hängen. Sie berührte das Abzeichen an ihrem Hals. Das Metall war kühl und noch immer etwas feucht. »Jetzt bist du wirklich ein Adler«, sagte Wulfhere sanft und nicht ohne Befriedigung. 3 Liath erwachte in der Morgendämmerung; ihre Glieder waren ganz steif, und sie zitterte. Es war kälter als in der Nacht zuvor, und wie sie beim Anziehen der Wolltunika bemerkte, war auch das Licht anders. Sie warf sich den Umhang über den Arm und ging nach draußen. Die Wolken hatten sich verzogen, und vom Wehrgang aus sah sie die kalt glitzernde Sonnenscheibe. Sie strahlte hell, verströmte aber die Aura eines langen Winters, einer letzten Erinnerung an Schnee, Eis und Kälte. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Arme. Sie wollte sich diesen Tag nicht durch Erinnerungen an
Hugh verderben lassen; immer247 hin war es ihr erster Tag als rechtmäßiger Adler. Sie berührte das Messingabzeichen an ihrem Hals. Sicher beschützte es sie vor ihm. Sicher würde nicht einmal ein edler Bastard sie drängen, jenen Eid zu brechen, der sie jetzt an den Dienst gegenüber dem König band. Zumindest redete sie sich das ein. Und es war ein zu klarer, zu schöner Morgen, als daß er mit ihren Ängsten befleckt sein sollte. Dichter Nebel, den die Sonne noch nicht aufgelöst hatte, hüllte das Ufer im Osten ein. Das Lager der Aikha war nicht zu erkennen, lediglich eine Ahnung von Erdwällen und dunklen Gestalten, die durch die weiße Nebelschicht glitten. Im Westen hingen Wolken am Himmel. Liath befeuchtete einen Finger, hob ihn hoch. Der Wind wehte aus östlicher Richtung; also waren es diese Wolken im Westen gewesen, die am Tag zuvor Gent eingehüllt hatten. Sie lächelte schwach; Hathui würde über ihre tiefgründige Beobachtung nur verächtlich schnauben und betonen, daß sie eines Kindes würdig gewesen wäre. Der Gedanke an Hathui führte unweigerlich auch zu Hanna. Wo mochte sie jetzt sein? War sie den Aikha entkommen? War sie in Sicherheit? Hatte sie den König gefunden, und marschierte er bereits los, den Ring der Belagerer zu sprengen? Sie vermißte Hanna so sehr. Die schneidende Kälte machte es noch schlimmer, denn Kälte erinnerte sie immer an Hugh - an jene Nacht, in der sie im Schweinestall gelegen und beschlossen hatte, nicht zu sterben, als das Licht von Hughs Laterne auf sie zugeschwankt war - Hugh, der sie schließlich doch ins Haus geholt hatte -. Es war nicht gut, bei diesen Erinnerungen zu verweilen. »Es ist sinnlos, nur an das zu denken, was dich beunruhigt«, hatte Pa immer gesagt. Aber Pa war ein Meister darin gewesen, den Ärger zu ignorieren, der ihn verfolgt hatte - mochten es nun seine Schulden gewesen sein oder das, was ihn schließlich auf248 gespürt und getötet hatte. Sie wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus den Augen, klatschte kräftig in die Hände und rieb sie kräftig aneinander, damit sie warm wurden. »Liath!« Sie fuhr herum. Unten im Hof stand Wulfhere und winkte sie zu sich herab. Sie kletterte die Leiter hinunter und lief zu ihm. »Ich muß den Toten für die Beerdigung vorbereiten«, sagte er. »Doch in der Eile habe ich letzte Nacht die Flasche in der Krypta vergessen.« Sie nickte. »Ich hole sie dir.« »Danach kommst du wieder zu mir«, sagte er. »Wir begraben unseren Kameraden nach der Terz.« Die Stadt war an diesem Tag ungewöhnlich unruhig für diese Uhrzeit. Die Leute liefen in den Straßen herum, als wären sie alle auf der Suche nach verlorenen Verwandten. Das Hämmern in den Schmieden sorgte für eine ständige Geräuschkulisse, und in einem unaufhörlichen Strom wanderten Männer und Frauen mit Gepäck auf dem Rücken - Metall, Leder, alles, was sich irgendwie in Waffen verwandeln ließ - zu den Lagerhäusern, wo die Waffenkammern errichtet worden waren. Aber es waren überhaupt keine Kinder auf der Straße, wie Liath bemerkte. Sie erreichte die Kathedrale gerade rechtzeitig, um noch den letzten Psalm der Prim zu hören. »Gott, Unsere Herrin und Unser Herr haben gesprochen und die Welt von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang beschworen.« Sie eilte die Stufen hinauf und trat durch die geöffneten Türen. In der Kathedrale drängten sich Flüchtlinge, Stadtbewohner, der Bürgermeister und sein Gefolge. Vorn auf einem 249 Ehrenplatz kniete Prinz Sanglant in einem Kettenhemd und der Kriegstunika; sein blauschwarzes Haar und das Gold in seinem Nacken zog ihren Blick geradezu unwiderstehlich an. Neben ihm knieten etwa fünfzig Drachen, allesamt zur Schlacht gerüstet, die Helme unter dem Arm. Die Bischöfin stand hinter dem Herdfeuer vor ihrem goldenen Stuhl und hatte die Arme erhoben; sie entließ die Versammlung mit dem letzten Vers des Psalms. »>Unser Herr kommt und wird nicht schweigen: Feuer umgibt ihn, hüllt ihn ein. Unsere Herrin ruft den Himmel herab zum Urteil über die Menschen. Denkt gut daran, ihr, die ihr Gott vergeßt, oder ihr werdet in Stücke gerissen werden, und niemand wird euch erretten.<« Alle knieten nieder. Liath war im Seitenschiff hinter der Menge und sprach zusammen mit den anderen das letzte Kyrie. Herr, erbarme dich. Herrin, erbarme dich. Dann, als das letzte Gebet zögernd in der Luft verklang und die Versammlung darauf wartete, von der Bischöfin entlassen zu werden, erhob sich Liath und glitt an der Wand entlang zu der düsteren Ecke des Vestibüls, wo eine schwere Holztür den Weg zur Krypta verschloß. Die Tür quietschte beim Öffnen. Liath blickte sich um, doch das Gemurmel der Leute, die sich jetzt erhoben und darauf warteten, ob die Bischöfin oder der Bürgermeister zu der Nachricht des letzten Abends etwas sagen würden, übertönte den Lärm. Sie ließ die Tür hinter sich einen Spalt
offen und ging hinunter. Ein schwacher Lichtstrahl markierte die Tür hinter ihr, 250 wurde auf der ersten Steinkante reflektiert und beleuchtete Wassertropfen, die sich in einem zarten Spinnennetz verfangen hatten. Die Treppe machte eine Biegung, und sie verlor die Tür aus dem Blick, obwohl noch ein schwacher Lichtschimmer zu sehen war. Sie bewegte sich so lautlos wie möglich, um die Ruhe der Toten nicht zu stören. Ein jäher Schreck fuhr ihr in die Glieder, als sie auf dem Boden ankam, obwohl sie noch eine weitere Stufe erwartet hatte. Sie schnappte einen Augenblick nach Luft. Seltsamerweise ging von dem Türspalt oben noch immer ein schwacher, aber beständiger Schimmer aus - gerade genug, daß sie die Hand vor ihren Augen sehen konnte. In der vorherigen Nacht dagegen - aber natürlich, es war ja bereits Abend gewesen, als sie und Wulfhere hinuntergegangen waren; deshalb hatten sie im völligen Dunkel gestanden. Plötzlich hörte sie ein Geräusch oben auf den Stufen. Sie erstarrte und lauschte. Schritte näherten sich. Sie klangen schwer und waren begleitet von einem leichten Klimpern, als würden viele kleine Kettenglieder klirren, von Stoff etwas gedämpft. Die blassen Schatten der Gräber schienen sie in der Düsternis anzustarren. Aber sie hatte keinerlei Angst, stellte sie überrascht fest. Tatsächlich hatte sie ihn sogar erwartet - ohne auch nur zu wissen, wieso. »Liath«, sagte er. Sie konnte nicht viel mehr als die Umrisse seiner Gestalt erkennen, konnte nur den Luftzug spüren, als er fünf Stufen über ihr stehenblieb. Mit seinem durch das Kettenhemd noch wuchtigeren Körper versperrte er den Durchgang. »Ihr habt die Tür quietschen hören«, sagte sie, »obwohl der Lärm der Menschen dort oben doch viel lauter ist.« »Weil der Lärm der Menschen viel lauter ist«, verbesserte 251 er. Sie spürte, wie er lächelte - oder vielleicht wünschte sie auch nur, daß er lächelte. Jetzt kam er auch die letzten Stufen herunter. Er stolperte ebenfalls auf dem Boden, den er nicht so rasch erwartet hatte. »Verflucht, ist es hier dunkel! Wie könnt Ihr nur irgend etwas sehen? Was macht Ihr überhaupt hier unten?« »Ich hole etwas, das liegengeblieben ist.« »Eure Antwort ist Wulfheres würdig. Ich bin nicht Euer Feind, Liath.« »Nein«, sagte sie. Ihre Stimme bebte. »Das habe ich auch niemals von Euch gedacht.« Seine Hand tastete umher, fand ihre Schulter; er war wie ein Blinder, der sich an Geräuschen orientiert. Es hallte merkwürdig in der Krypta, und selbst die schwachen, harmonischen Laute seines Kettenhemdes, das bei der kleinsten Bewegung klirrte und klimperte, wurden von der gewaltigen Höhle, die nur aus Stein und Luft bestand, verzerrt. »Wer seid Ihr?« fragte er. »Wer ist Eure Familie?« »Ich bin die Tochter von Anne und Bernard. Ich weiß nichts vom Geschlecht meiner Mutter, nur daß sie eine Freigeborene war. Wulfhere kannte sie. Ich nehme an, daß er mehr über sie weiß, als er mir mitteilen möchte.« Er kicherte - ein sanftes Geräusch, als würde er ausatmen. »Wulfhere ist kein Mann, der Vertraulichkeiten austauscht. Das hat mein Vater zumindest immer behauptet. Aber ich habe nicht erwartet, daß er Euch genauso behandelt wie uns übrige.« Die Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter verwirrte sie, doch andererseits wollte sie auch nicht, daß er sie wieder wegnahm. »Wieso? Wieso sagt Ihr das?« »Er mag Euch. Vielleicht sollte ich auch sagen, daß er Euch zu beschützen scheint.« 252 »Vielleicht tut er das. Ich weiß es nicht.« »Oh. Und die Familie Eures Vaters?« »Ich weiß nur wenig über sie, abgesehen davon, daß sie sich während der Herrschaft von Taillefer in Wendar niederließ. Es gibt noch eine Cousine, die Ländereien in der Nähe von Bodfeld besitzt, aber ich habe sie niemals getroffen. Einer ihrer Söhne ist bei den Drachen.« Er nahm die Hand von ihrer Schulter, und sie bedauerte den Verlust der Berührung. Er verlagerte unruhig sein Gewicht, und sie konnte trotz der Dunkelheit sehen, daß er den Kopf erst zurückwarf und dann zur Seite neigte, als würde er lauschen. Sie hörte nichts weiter als das Gewicht des Steins über ihr - eine Schwere, die für sie mehr Geräusch als Gefühl war. »Bodfeld«, murmelte er. »Das könnte Storm sein. Aber er ist draußen und kann nicht zu uns hereingelangen.« »Dann habe ich ihn getroffen!« Sie dachte nach, rief sich den Drachen in Erinnerung, der den Trupp beim ersten Angriff der Aikha geführt hatte. Aber alles, was sie von dem Mann gesehen hatte, waren seine blauen Augen gewesen, sein blonder Bart und eine grimmige Miene. Einen ähnlichen Gesichtsausdruck mußte Sanglant jetzt dem Ton seiner Stimme nach zu urteilen - haben. »Er ist ein guter Soldat.« Das Lob für ihren Verwandten freute sie, auch wenn er es sehr sachlich aussprach, ohne jeden Hinweis darauf, ob er ihr damit schmeicheln wollte. »Warum seid Ihr mir gefolgt?« fragte sie kühn. Statt einer Antwort ließ er sich auf der vorletzten Stufe nieder. Es war eine unerwartete und seltsame Geste; jetzt war er nicht mehr größer als sie, sondern reichte ihr nur noch bis zur Brust. Das ließ ihn weniger beeindruckend
wirken, was möglicherweise auch seine Absicht gewesen war. 253 »Ein gutes Geschlecht, wenn auch keines der ganz vornehmen«, sagte er. »Das erklärt Euren Mangel an Ehrerbietung.« Beschämt errötete sie. »Ich bitte um Vergebung, mein Herr. Mein Vater schärfte mir immer ein, daß wir einem stolzen Geschlecht entstammen und uns vor niemandem als dem König verbeugen müßten.« Er lachte leise auf. Offensichtlich war er nicht im mindesten beleidigt. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Warum seid Ihr mir gefolgt?« Er schüttelte den Kopf, weigerte sich zu antworten. Vielleicht wußte er es aber auch nicht. Aber sie wußte es. Sie hatte keine Angst vor Sanglant. Seine Zurückhaltung ärgerte sie, machte sie reizbar. Die Dunkelheit, der Stein und die Erde verbargen sie hier sicherlich vor den Blicken derjenigen, die sie beobachten mochten. Nur auf den kalten Gräbern glänzte ein schwacher, phosphoreszierender Schimmer, aber die heiligen Schwestern und Brüder der Kirche waren an Sünde gewöhnt, oder nicht? Predigten sie nicht Vergebung? War es nicht gestattet, wenigstens einmal dem Drängen des Herzens nachzugeben? Liath hatte ganz vergessen, daß sie ein Herz besaß. Es jetzt wiederzuentdecken schmerzte wie eine offene Wunde, in die Salz gestreut wurde. Sanglant rührte sich nicht. Sie konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen. Gold glänzte schwach in seinem Nacken - der gedrehte Reif aus Gold, das Emblem seiner königlichen Herkunft. Sie konnte die Umrisse des schwarzen Drachen auf seinem Waffenrock erkennen, als wäre er aus Fäden aus Mondlicht und taubenetzten Spinnenfäden gewebt. Stimmte es, daß er keinen Bart hatte, wie eine Frau? Spontan hob sie eine Hand, um sein Gesicht zu berühren. Sie zuckte 254 beinahe zurück bei dem Gedanken an Hughs unrasiertes Gesicht, doch Sanglants Haut war ganz anders: Sie war kräftig, von Wind und Wetter gegerbt, und die Kinnriemen seines Helmes hatten die Haut gereizt. Und er war bartlos. Seine Haut war so weich, als hätte er sich erst eine Stunde zuvor rasiert. Ihr Herz schlug heftig. Hughs Schatten war überwältigend, aber er war in diesem Augenblick weit weg, sehr weit weg. »Sanglant!« flüsterte sie. Sie fragte sich, ob sie den Mut haben würde und Und was ? Er nahm ihre Hand in seine - die in einem Handschuh aus weichem Leder steckte - und zog sie von seinem Gesicht fort. »Diese Straße wage ich nicht entlang zuschreiten«, sagte er leise, aber bestimmt. Er ließ ihre Hand los. Betäubt ließ sie sie herabfallen. »Es tut mir leid«, fügte er hinzu, und es klang, als meinte er das auch so. Oh, Herrin. Sie war verärgert und beschämt, und eine ganze Reihe anderer Gefühle tobten in ihr - Gefühle, die sie nicht voneinander unterscheiden konnte. Sanglant war ein berüchtigter Frauenheld; alle sagten das. Warum stieß er sie zurück? Sanglant bewegte sich unruhig. Das war ihre Strafe. Sie konnte Hugh beinahe lachen hören, sein leises, arrogantes Lachen. Du gehörst mir, Liath. Du bist für keinen anderen bestimmt. Tränen traten ihr in die Augen. Es war eine Lehre für sie: Für immer sollte sie in ihrem Turm eingesperrt bleiben. Sie durfte sich nicht - konnte sich nicht - der Verführung hingeben. Niemals würde es ihr gestattet sein. Sie war bereits hoffnungslos befleckt. »Ich muß gehen«, sagte er plötzlich. Das rauhe Kratzen in seiner Stimme brachte sie für einen kurzen Augenblick auf 255 den Gedanken, daß es ihm leid tat zu gehen; aber seine Stimme hatte immer diesen Klang. Er stand auf, und sein Kettenhemd klirrte. »Wir bereiten uns auf einen Ausfall vor, falls wir etwas von Gräfin Hildegard oder ihren Leuten sehen sollten.« »Warum habt Ihr das gesagt, letzte Nacht?« Der Ärger ließ sie die Tränen besiegen - der Ärger über die Zurückweisung durch Sanglant, über Hugh, der auf eine bestimmte Weise noch immer Macht über sie hatte, über Wulfheres Halbwahrheiten, über den Tod von Pa. »Warum?« »Was habe ich denn gesagt?« »Ihr habt es nicht vergessen.« Er machte eine schroffe Bewegung, und sie begriff plötzlich, daß er es nicht vergessen hatte und daß er mit seinem Körper ebenso sprach wie mit Worten. »Verheiratet Euch nicht, Liath«, sagte er harsch. »Seid wie ich durch das Schicksal gebunden, das andere für Euch bestimmt haben. Auf diese Weise werdet Ihr in Sicherheit bleiben.« Aber die Worte galten nicht ihr allein. Gleichzeitig verspottete er mit ihnen sich selbst. »Werde ich in Sicherheit bleiben? Vor wem oder was? Wovor seid Ihr in Sicherheit, Sanglant?« Er lächelte spöttisch. Wie konnte sie ihn lächeln sehen? Es war viel zu dunkel. Aber es war nicht vollkommen dunkel. Sein Gesicht und die Vorderseite seines Körpers wurden von einem schwachen, weißen Licht beleuchtet, wie gedämpftes Sternenlicht. Der schwarze Drache blinkte im Licht, als Sanglant ein paar Schritte machte, an ihr vorbei ins Gewölbe ging. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er hob eine Hand, stand wie erstarrt da, vollkommen erstaunt.
Liath wandte sich um. Genau hinter ihr, so nah, daß sie den Luftzug bei der Bewegung spürte, kniete Sanglant. Sie stand neben den Gräbern, als wäre sie gerade der Erde 256 selbst entstiegen. Sie trug ein langes Linnengewand, das in einer Art geschnitten war, wie Liath es bisher nur in einem Mausoleum und auf in Stein gemeißelten Reliefs gesehen hatte. Ihr Gesicht war so blaß wie der Mond, die Augen so blau wie die Tiefen des Feuers. Ihre langen Haare, die in demselben unirdischen Licht golden schimmerten, reichten ihr bis zu den Knien. Ihre Füße waren nackt, und sie schwebte, ohne den Boden der Krypta zu berühren. In jeder Hand hielt sie ein Messer; beide schimmerten, als wären die Klingen aus brennendem Glas. Und sie blutete - an den Händen, den Füßen, der Brust. Ein Messer steckte bis zum Heft in ihrem Herz, und aus der Wunde sickerte Blut, lief wie kleine Tränenrinnsale ihr Gewand hinab. Auch die Tränen, die sie vergoß, waren aus Blut. Aber der Blick, mit dem sie Liath und Sanglant ansah, war geprägt von dem ruhigen Ernst einer Frau, die jenseits von Schmerz und Leiden war. Sie winkte sie zu sich. Zögernd, die Hände durch den Stoff ihrer Kleidung um den Einigkeitskreis an ihrem Hals gekrampft, trat Liath ein paar Schritte vor. Sanglant folgte. Sie hörte ihn leise ein Gebet sprechen. Sie sprach kein Wort, zog sich nur noch weiter in die Dunkelheit des Gewölbes zurück, in das Gewirr aus Kammern, wo die Diakonissinnen und die Laienbrüder und -Schwestern begraben waren - weniger bekannt und weniger geehrt. Ein schlichter Grabstein lag flach auf der Erde. Er trug keine Inschrift, kein Zeichen; ein graufleckiger Pilz bedeckte ihn zur Hälfte, war in einem Muster gewachsen, das ein Rätsel für sich gewesen wäre, wäre die Beleuchtung besser gewesen. Doch das Licht, mit dessen Hilfe sich die Heilige aus der Dunkelheit schälte - denn was sonst als eine Heilige konnte sie sein? -, genügte, um die Höhle zu sehen, die hinter dem einfachen Grabstein lag. Es war eine Senkgrube, die sich in Stufen ver257 wandelte, die weiter und immer weiter hinab und in noch größere Dunkelheit führten. Sanglant kniete neben dem Grab. Liath wagte sich vor, folgte der Heiligen, die die Stufen hinabstieg. Ihr Licht entfernte sich von ihnen und versickerte hinter einer Biegung in den Katakomben. Liath setzte ihren Fuß auf die oberste Stufe. »Geht nicht weiter«, sagte Sanglant plötzlich. »Die Luft riecht frisch und nach Hafer.« Sie hielt inne, schaute ihn über die Schulter an. Das unirdische Licht versiegte bereits, als würde eine Kerze verlöschen. »Der Boden im Flußtal und im Osten von Gent ist fruchtbar genug, um Weizen und Roggen zu tragen«, fügte er ungeduldig hinzu. »Nur auf den Hügeln im Westen bauen die Leute Hafer an. Dieser Tunnel muß weit von der Stadt wegführen.« »Aber sie hat uns gerufen -« Stimmen erklangen von oben, begleitet von dem Klirren der Kettenhemden und dem Stampfen schwerer Schuhe. Fackellicht strömte in die Kammer, schickte Lichtstrahlen über Stein, Grab und Boden. Liath hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. »Herr! Prinz Sanglant!« Er drehte sich um, als der erste Drache ihn gefunden hatte. »Prinz Sanglant!« Es war die narbenbedeckte Frau. Sie schaute erst ihn an, dann Liath, die immer noch halb auf der Stufe stand, dann wieder den Prinzen. Er sprach schnell und laut, während die anderen näher kamen. »Wir sind einer Vision von St. Kristine gefolgt. Sie führte uns hierher.« Einige schlugen das Kreiszeichen vor der Brust. Niemand machte Anstalten zu lachen oder Witze zu reißen, nicht einmal darüber, daß sie den Prinzen an einem solchen Ort mit einer attraktiven jungen Frau vorfanden. 258 »Der Nebel am östlichen Ufer hat sich aufgelöst«, fuhr die Frau fort. Auch sie trug eine Rüstung und wirkte durch ihre außerordentliche Größe und die breiten Schultern genauso kampffähig wie ihre Kameraden. »Die Wache hat Berittene gesichtet, die das Banner von Gräfin Hildegard tragen. Sie flüchten vor einer Horde Aikha in Richtung Gent.« Sanglant warf Liath einen kurzen Blick zu. Er war kein Mann, der seine Gefühle offen zeigte; an seinem Gesicht war nichts abzulesen. Aber er hob die Hand und berührte ihre Wange mit einem Finger - ein unbewußtes Echo des Augenblicks, da sie ihn auf diese Weise angefaßt hatte. Schnell nahm er seine Hand wieder weg, als er begriff, was er tat. Dann eilte er an der Spitze seiner Drachen hinaus. Ihre schweren Schritte und das Klirren ihrer Kettenhemden dröhnten wie Donnerhall durch die Krypta, schmerzten in Liaths Ohren. Ohne auf sie zu warten, marschierten die Drachen davon. Sie blieb zurück, aber das Licht erstarb - sowohl das der Fackel als auch der blasse Schimmer, den die Heilige verströmt hatte. Die Finsternis wurde nur von dem schwachen Streifen Sonnenlicht gemindert, der durch Staub und Dunkelheit hierherdrang. Ein Luftzug strich weich wie eine Feder über ihr Gesicht, erhob sich sanft vom Boden der Katakomben. Es roch nach frischer Erde und Getreide, obwohl es aus dieser Entfernung eigentlich
unmöglich war, den Geruch von Hafer von dem der Erde, der Hügel und der frischen Luft zu unterscheiden. Die Heilige war in das schwarze Geheimnis entschwunden, das jenseits der Stufen lag. Liath hatte nicht gewagt, ihr zu folgen, so gerne sie es auch getan hätte. Möglicherweise verstand sie Sanglant in diesem kurzen Augenblick. Diese Straße wage ich nicht entlangzuschreiten. Aber der Schmerz wurde dadurch nicht weniger. Sie schüttelte sich und trat aus dem Senkloch heraus. Sie ta259 stete sich zurück durch das große Gewölbe, fand die Obsidian-Platte und die kleine Flasche, die verloren und vergessen am Grabstein von Bischöfin Caesaria lehnte. Liath entstöpselte sie und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit schmeckte ziemlich bitter, und ihre Augen brannten, aber der Trank hatte auch etwas Anregendes. Gestärkt kletterte sie wieder zurück nach oben in die Welt der Lebenden. Wie Sanglant bezweifelte auch sie keinen Augenblick, daß ihnen dort unten St. Kristine von den Messern erschienen war. Aber die drängendsten Fragen blieben unbeantwortet: Warum ihnen? Und warum gerade jetzt? Sie kam rechtzeitig bei den Stufen der Kathedrale an, um Sanglant sein Pferd besteigen zu sehen. Die Frau reichte ihm den Helm, aber bevor er ihn aufsetzte, schaute er noch einmal zu den geöffneten Türen herüber. Ihre Blicke trafen sich über den Köpfen der Leute, die sich inzwischen zahlreich versammelt hatten; die Straßen hallten wider vom Lärm der Menschen, die vor Angst und Hoffnung vollkommen hysterisch waren. Er lächelte nicht, starrte sie nur an. Dann sagte jemand etwas zu ihm, und seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Er stülpte den Helm über den Kopf, und eine Veränderung ging mit ihm vor: Jetzt war er nicht länger Prinz Sanglant, sondern der Hauptmann der Drachen des Königs. Ihre goldenen Überwürfe strahlten so hell wie Sonnenlicht, besonders seiner, auf dem der schwarze Drache mit Silberfäden aufgestickt war. Mit ihren eisernen, mit Messing besetzten Helmen wirkten sie tatsächlich so furchterregend, wie es ihrem Ruf entsprach: wild und unbarmherzig. Daß sein Helm auch noch mit einem feingearbeiteten goldenen Drachen verziert war, vergrößerte nur eindrucksvoll den Kontrast zu der bedrohlichen, gewaltigen Stärke, die er ausstrahlte. 260 Der Prinz befestigte den tropfenförmigen Schild an einem Arm, führte die Hand an das Heft des Schwertes und ritt los. Die übrigen Drachen - insgesamt etwa einhundert - folgten ihm die Hauptstraße hinunter bis zum östlichen Tor, wo sie sich mit jenen Kameraden vereinigen würden, die noch Wache hielten oder sich noch zum Kampf rüsteten. Sie rannte zurück zum Palast des Bürgermeisters. Die Leute auf den Straßen bildeten eine Gasse und ließen sie hindurch, als sie ihren scharlachrot gesäumten Umhang und das Adlerabzeichen sahen. Wulfhere wartete, schritt in der Kapelle, in der der tote Adler aufgebahrt worden war, ungeduldig auf und ab. Der Leichnam war jetzt in weißes Linnen gekleidet, das Gesicht angemessen mit einem Tuch verdeckt; er lag, wie es sich gehörte, zu Füßen des Herdfeuers. »Liath!« Sie händigte Wulfhere das Fläschchen aus. Er steckte es, ohne es wirklich zu bemerken, zwischen Gürtel und Tunika. »Ich habe Manfred schon zum Osttor geschickt, damit er den Drachen als Auge dient. Geh zu ihm. Sollten sie hinausreiten, mußt du alles genau beobachten und mir davon berichten. Ich habe bereits ein Pferd satteln lassen.« Alles geschah so schnell. Sie holte Bogen, Köcher und Schwert; alles lag bereit. Dann eilte sie hinaus auf den Hof, wo tatsächlich ein Pferd wartete - ein brauner, kräftiger Wallach, der Bürgermeister Werner gehörte. Er war sehr groß, was ihr jetzt mehr nutzte als das Adlerabzeichen. Die Straßen waren voller Menschen, und noch immer strömten die Leute aus ihren Häusern, als sich die Nachricht von Gräfin Hildegards Ankunft verbreitete. Doch je näher sie dem Osttor kam, desto weniger dicht war die Menge; trotz der furchterregenden Macht, die die Drachen 261 darstellten, verhielten sich die Bewohner der belagerten Stadt vorsichtig. Eine Straße verlief parallel zum Flußufer. Hier fand sie eine Gruppe von Jungen, die alt genug waren, um sich nützlich machen zu können, und jung genug, um keine Furcht zu empfinden. Sie waren ganz vernarrt in die Drachen. Einem von ihnen, einem schlaksigen Burschen mit schmalem Gesicht und flinkem Blick, reichte sie die Zügel ihres Pferdes. Von dem Aussichtspunkt aus konnte sie die Reihen der Drachen sehen, die sich in Zehnerreihen auf dem offenen Platz vor dem Tor versammelt hatten - insgesamt über zweihundert. Die Jungen, die in der Stadt aufgewachsen waren, zeigten ihr eine Leiter, die zum Wehrgang auf der Stadtmauer führte. Die Stadtwachen waren überrascht, als sie oben ankam und angestrengt auf das östliche Ufer starrte. Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet - zumindest zum größten Teil. Dort draußen, wo sonst fruchtbarer Ackerboden war, brodelte jetzt das Land vor Bewegung, als würden Fliegen über einer Leiche schwirren. Die Streitkräfte der Aikha hatten sich dort versammelt. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus hatte sie eine gute Sicht auf das Gelände, und nach den ersten Minuten, da sie nichts als flirrendes Gewimmel erkennen konnte, begann sie das Bild zu durchschauen, das sich wie ein Mosaik aus beweglichen Steinen langsam zusammensetzte. Da draußen waren die Streitkräfte der Aikha, ja; sie ließen kaum einen Zentimeter Boden frei. Niemals hatte Liath so viele Geschöpfe an einem Platz gesehen, noch dazu alle in Bewegung. Das grünweiße Banner kennzeichnete die Überreste von Gräfin Hildegards Truppe; unruhig wogte die dichtgedrängte Masse aus Reitern
hin und her, verstärkt von einer unordentlichen Formation aus Fußsoldaten. Wer nicht Schritt halten konnte, wurde von der Masse der Aikha dicht hinter ihnen eingehüllt, verschluckt und vernichtet. Die Aikha mach262 ten sich daran, die Truppe der Gräfin einzukreisen. Nur ein schmaler Streifen Land war nicht von den Aikha besetzt: die Straße, die zum Fluß und zur östlichen Brücke von Gent führte. Es war ein Wettlauf. Liath konnte sich nicht vorstellen, wie die Gräfin und ihre letzten Soldaten die Brücke rechtzeitig erreichen sollten - wenn sich nicht die Drachen geradewegs in den Rachen des Aikha-Heeres stürzten. Dieser Gedanke traf sie mit solcher Wucht, als hätte ihr jemand an einem heißen Tag kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Ihr Verstand klärte sich, doch gleichzeitig verschleierte sich ihre Sicht, und sie schloß die Augen und rieb sie mit den Knöcheln. Dann öffnete sie sie wieder. Voller Entsetzen starrte sie jetzt auf eine völlig andere Szenerie, die sich ihr auf den Feldern jenseits des Flusses darbot. Ja, da war ein grünweißes Banner mit einem Wappen, das vermutlich dem von Gräfin Hildegards Land und Familie entsprach. Aber es waren keine menschlichen Gefolgsleute dabei, keine begleitenden Reiter, keine verzweifelt kämpfenden Fußsoldaten. Statt dessen war das Banner umgeben von den schneeweiß leuchtenden Schädeln von etwa eintausend Aikha-Kriegern, die in wüstem Tempo über den dünnen Wegstreifen auf die Brücke aus Holz und Stein zurasten. Auf die Brücke zu, die nach Gent führte. Was sie bisher gesehen hatte, war eine Illusion gewesen. Was sie bisher gesehen hatte, war das gewesen, was alle gesehen hatten, die Stadtwachen auf der Mauer, die Drachen, die von den Pferden abgestiegen waren und Posten oberhalb des Tores bezogen hatten, um dem Prinzen zu berichten und den besten Augenblick für den Ausfall zu bestimmen. Was sie sahen, war eine Vision, die durch einen fürchterlichen, einen mächtigen Zauber herbeigeführt worden war, erschaffen 263 durch Fähigkeiten, die sie nicht kannte. Und sie war die einzige, die den Zauber durchschaute und die Wahrheit sah. »Du bist taub gegenüber Magie«, hatte Pa immer gesagt. Oder irgendwie dagegen geschützt. Der Gedanke traf sie mit solcher Wucht, daß sie sich einen schrecklichen Augenblick lang weder rühren noch einen einzigen Gedanken fassen konnte. Aber sie mußte denken. Sie konnte nur ahnen, was mit Gräfin Hildegard und ihren Soldaten geschehen war. Vermutlich war ihr Heer vollkommen vernichtet worden, und man hatte den Händen ihres letzten sterbenden Gefolgsmannes das Banner entrissen, um mit dessen Hilfe die Täuschung vollenden und die Drachen in den Tod locken zu können. Und sie war die einzige, die sie aufhalten konnte. 4 Vor Eile rutschte Liath die Leiter regelrecht herunter. Splitter drangen in ihre linke Hand, aber der Schmerz spornte sie nur noch mehr an. Die Jungen bei ihrem Pferd blickten verblüfft hinterher, als sie zu den Drachen im Hof rannte, deren Aufmerksamkeit ganz auf die Wachen auf dem Tor gerichtet war. »Laßt mich durch!« schrie sie. »Ich muß zum Prinzen.« Sie ließen sie ohne Einwände durch. Sanglant saß in der ersten Reihe auf seinem Pferd und beriet sich mit anderen: einer älteren Stadtwache, einem Drachen, der neben seinem Pferd stand, und seiner Kameradin, der narbenübersäten Frau. Sanglant sah Liath; vielleicht hatte er auch ihre Stimme gehört. Mit einer Geste brachte er den gerade sprechenden Stadtsoldaten zum Schweigen. 264 »Aber Prinz Sanglant!« protestierte der Mann, der Sanglants Absicht gänzlich mißverstand. »Es sind zu viele! Jetzt einen Ausfall zu machen wäre unklug. Wenn Gräfin Hildegard es bis hierher schafft, öffnen wir die Tore und lassen sie herein.« Dann bemerkte er Liath und verstummte. »Das dürft Ihr nicht!« schrie Liath. Sie nahm einem Drachen die Zügel von Sanglants Pferd aus der Hand, als könnte sie so die Entscheidung des Prinzen beeinflussen. »Das da draußen ist nicht Gräfin Hildegard. Es ist nur eine Illusion. Da ist Magie -« Sanglant sprang sofort vom Pferd. Ohne auf sie oder irgend jemanden sonst zu warten, stürmte er zum Wehrgang hinauf, um durch den Ausguck über dem Tor auf das Gelände hinauszuschauen. Liath stürmte hinter ihm her. Oben auf dem Wehrgang stand Manfred mit zwei Drachen und einer Gruppe von Stadtwachen. Er forderte die anderen mit knapper Geste auf, zur Seite zu treten, als der Prinz erschien. Liath eilte zu Manfred; sicher würde zumindest er ihr glauben, wenn die anderen es schon nicht sehen konnten. Gebannt standen sie hinter einer Holzwand, die mit wassergetränkten Tierhäuten überdacht war, und starrten zum fernen Ufer hinüber. Jetzt sah sie es ganz deutlich. Es mußten mehr als tausend Aikha sein, vielleicht auch zweitausend, jedenfalls deutlich mehr, als Gent Verteidiger besaß. Die Barbaren kamen unaufhörlich näher, in ihrer Mitte die Kriegsbeute - das Banner. Gewaltige Hunde rasten, die Schnauzen in den Wind haltend, neben ihnen her. Reihe um Reihe aus blauen und gelben Schilden mit dem bedrohlichen Wappen der roten Schlange, mit den dunklen Umrissen ihrer kampfbereiten Waffen, rückte näher. Ihre schneeweißen Haare glänzten im Sonnenlicht, als der Nebel am Ufer sich lichtete. Wie konnte jemand dies für das Heer von Gräfin Hildegard halten ? Die Aikha
schrien sich 265 Worte zu, die sie nicht verstand, die in ihren Ohren aber wie höhnische Bemerkungen klangen. Die Hunde schienen sich ohne große Mühe fortzubewegen, was vielleicht noch schlimmer war. Der Fluß strömte friedlich dahin. Die Trommeln schlugen im Takt zu den rasenden Schritten. Sie kamen näher und näher. Liath konnte die Einzelheiten auf dem grünweißen Banner erkennen: ein Eber auf einem weißen Feld. Sie sah die schlanken Körper der Hunde, ihre heraushängenden Zungen. Die Aikha waren jetzt so nah, daß die erste Reihe beinahe die Brücke erreicht hatte und dem Prinzen noch etwa zwanzig Atemzüge bis zu einer Entscheidung blieben. »Seht Ihr es denn nicht?« schrie sie. Sanglant blinzelte. »Manfred!« Sie schüttelte Manfred kräftig am Arm. »Es ist nicht Gräfin Hildegard! Es sind nur Aikha! Sieh genauer hin. Du bist ein Adler. Du mußt es sehen können!« »Da!« rief Sanglant. »In der vierten Reihe. Ich erkenne Gräfin Hildegard und ihren Bruder.« Er zog sich von der Mauer zurück. Die erste Aikha-Reihe mit dem Banner erreichte die Brücke. Ihre Schritte hallten auf der Konstruktion aus Holz und Stein wider wie das dumpfe Stampfen der Verdammnis. Ein schriller Schrei erhob sich jäh aus den ersten Reihen der Aikha, als hätten sie den Geruch der Beute aufgenommen. Als hätten sie Sanglants Drachenhelm auf dem Wehrgang entdeckt und wüßten, daß er auf sie wartete. »Die Aikha haben sie fast!« schrie Manfred und riß sich von Liath los. Es war nur ein kurzer Blick, den er ihr zuwarf, als wollte er sagen, daß es ihm leid tat. Sanglant musterte Liath eindringlich. Er schwankte; es war deutlich zu sehen. Nur zu gerne wollte er ihr Glauben schen266 ken. Doch dann blickte er wieder zurück. Aikha und Hunde heulten jetzt um die Wette. Der Lärm betäubte Liath beinahe. Die Gesichter der anderen wurden leichenblaß vor Entsetzen. Liath konnte sich nicht länger vorstellen, was sie sahen, was sie zu sehen glaubten. Sie wußte nur, daß das Aikha-Heer beinahe bei ihnen war. »Öffnet das Tor!« befahl Sanglant. Sie griff nach seinem Arm, als er sich an ihr vorbeidrängte. Die Drachen neben ihm machten fluchend einen Satz auf sie zu. Die großen Räder quietschten bereits, und die Flügel des Tores setzten sich langsam in Bewegung. »Schließt das Tor!« brüllte sie, aber niemand achtete darauf. Die Drachen auf dem Hof unten öffneten eine Gasse, um für die Gräfin und ihr Gefolge Platz zu machen. »Es ist eine Illusion! Ein Trick!« Alles, was sie von Sanglants Gesicht sehen konnte, war der Blick seiner jadegrünen Augen, der sie zu durchbohren schien. Er schüttelte den Kopf. Dann war er weg, die Stufen hinunter. Das Tor öffnete sich unter lautem Quietschen noch weiter, die Flügel bewegten sich schneller. Im Gegenzug wurden auch die Aikha immer schneller. »Manfred!« schrie sie, packte seinen Umhang und schüttelte ihn. »Siehst du es denn nicht? Du mußt mir vertrauen, Manfred!« Doch es war zu spät. Das Tor stand offen. Das Banner von Gräfin Hildegard passierte den letzten Mast und die Brücke und befand sich dann auf festem Boden. Es waren Aikha, die jetzt durch das offene Tor nach Gent hereinströmten. Sanglant hing noch mitten auf der Leiter; er konnte weder sein Pferd noch seine Männer erreichen. Auf dem Platz unter ihm brach das Chaos aus. Das Geheul 267 der Angreifer wurde so schrill und laut, daß es in den Ohren schmerzte. Manfred keuchte laut auf und schob Liath auf dem Wehrgang vor sich her. »Lauf! Lauf so weit auf der Mauer entlang, bis du in Sicherheit bist. Finde Wulfhere!« Sie stolperte, fiel auf die Knie, und ein Pfeil traf eine Stadtwache hinter ihr. Der Mann stöhnte, aber mehr vor Überraschung als vor Schmerz, und sank langsam zu Boden. Er griff nach dem Pfeil in seiner Brust und fiel vornüber auf die Kante des Wehrgangs, dann, während sie vergeblich versuchte, ihn festzuhalten, stürzte er nach unten. Er landete auf zwei Aikha, die gerade auf einen Drachen einhackten, der von seinen Kameraden abgeschnitten worden war. Unter dem Gewicht der Wache gingen sie zu Boden, doch immer mehr strömten herbei, so unaufhaltsam wie das Wasser bei Flut. Dann entdeckten die Hunde den Leichnam; einige rasten weiter, andere machten sich an ihm zu schaffen. Liath würgte, sie wurde von einem Schwindel erfaßt. Eine Hand in einem Kettenhandschuh riß sie wieder in die Höhe. Sie prallte hart gegen einen Überwurf - darauf ein schwarzer, mit Silber genähter Drache. Es war Sanglant. Er sagte kein Wort, zerrte sie aber so schnell hinter sich her, daß ihre Füße beinahe den Kontakt zum Boden verloren. Es blieb ihr nicht einmal mehr Zeit, sich umzublicken und nachzusehen, was aus Manfred wurde. Angst verspürte sie nicht; dazu war sie viel zu betäubt. Sie fühlte sich wie gelähmt. Zwei Pfeile hatten sich in die Kettenglieder auf Sanglants Rücken gebohrt und ragten zitternd hervor. Einer löste sich und fiel zu Boden. Stadtwachen knieten nieder und schössen Pfeile auf die Brücke, wo sich immer mehr Aikha vom östlichen Ufer kommend versammelten. Doch auf dem Platz hinter dem Tor herrschte ein zu großes
Durcheinander, als daß 268 man auf die Aikha hätte zielen können, ohne die Verteidiger Gents zu gefährden. Die Verteidiger waren zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Es dauerte nicht lange, und die Drachen wurden von der Wucht des unerwarteten Angriffs, dem bloßen Gewicht der Anzahl und der Wildheit der Angreifer zurückgedrängt. Die Aikha kämpften erbarmungslos, ohne jede Gnade. Das war aber auch das einzige, was sie in dem wild wogenden Kampf erkennen konnte - ohne jedes System bemühten sich die eisenbehelmten Drachen verzweifelt, die Reihen wiederherzustellen. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Quietschen der Räder, die das Tor bewegten. Dann Schreie. Dann stieg ihr Rauch in die Nase. Pfeile donnerten im Stakkato in das Holz direkt neben ihr, scharf und endgültig wie ein plötzliches Gewitter aus Trommelschlägen. Sanglant stöhnte und fluchte und blieb stehen. Sie wandte sich um. Ein Pfeil ragte aus seinem linken Bein, gleich oberhalb des Knies. Noch während sie hinsah - als gehorchte die Zeit hier anderen Gesetzen , schoß Blut in einem kleinen Schwall aus der Wunde, sickerte durch das Leder, wurde von einem zweiten und einem dritten gefolgt, floß in einer roten Spur das Knie hinab. Das Blut war so rot wie ihr eigenes, wie das eines jeden Menschen. Es verschlug ihr den Atem, und sie begann zu würgen. »Brecht ihn ab.« Sanglant ließ sie los. Gehorsam griff sie nach dem Pfeil, preßte eine Hand gegen sein Bein, umklammerte mit der anderen das befiederte Ende darüber. Es war blau, bemerkte sie: Die Federn waren so hart wie Metall, gruben sich in ihre Haut. Der Schaft war kräftig. Irgendwann zerbrach er in zwei Teile, und sie warf das Ende weg. Er griff nach ihrem Arm und zerrte sie weiter mit sich. 269 »Prinz Sanglant!« Eine Stadtwache rief von einem geschützten Ausguck, der in die Wand gebaut worden war. Sanglant zog sie dorthin, und der weißbärtige Soldat öffnete eine Luke und deutete auf eine Falltür darunter. »Hierher, Prinz«, sagte er. Liath war völlig außer Atem. Seltsam fasziniert von der schlichten, gewöhnlichen Webart seines braunen Umhangs, starrte sie den Mann an. Der Umhang war an einer Schulter mit einem Stück Material befestigt, das farblich nicht zu dem Rest paßte, als wäre es nicht zur gleichen Zeit gefärbt worden. Sanglant lehnte sich keuchend gegen die geschlossene Tür; für einen kurzen Augenblick waren sie vor dem Pfeilhagel in Sicherheit. Liath hörte die Kampfgeräusche, das Klirren von Schwertern gegen Kettenhemden und eiseneingefaßte Schilde. Ein schwaches Hornsignal erhob sich immer wieder wie eine Fanfare, weckte die Bewohner von Gent. Sanglant drängte von der Tür weg und trat zu einer Scharte. Er hatte Liath noch immer nicht losgelassen, und so war sie gezwungen, ihm zu folgen. Der Bogenschütze dort rückte rasch zur Seite. Gemeinsam starrten sie durch den schmalen Schlitz auf das östliche Ufer des Flusses. Die Scharte war so ausgerichtet, daß man genau die Stelle im Blick hatte, wo die Brücke das östliche Ufer berührte. Aikha strömten weiter über die Brücke, doch noch während sie zusahen, verlangsamte sich die Flut behindert durch das halbgeschlossene Tor, durch den Widerstand der Stadt, den schmalen Weg. Doch wenn sie auch langsamer wurden, drängten sie noch immer unaufhörlich vorwärts, laut klagend und heulend wie wilde Bestien. Am östlichen Ufer verhüllten Nebelschwaden Teile der Felder, ein von Dunst umgebener Schatten lag auf dem Land. 270 Aber es war weder Nebel noch Dunst. Irgend etwas stimmte nicht: Vielleicht war es eine Bewegung, die Art, wie ihr Blick sich abwenden wollte. Es war ein Zauber. Sie zwang sich, es anzusehen, in der festen Überzeugung, daß es nicht Schatten und Nebel waren, sondern der Versuch, etwas zu verbergen. Der Nebel löste sich auf - oder vielmehr: Er verschwand aus ihrem Blick, wurde zu vier Gestalten. Zwei von ihnen waren Aikha-Krieger, bemalt und ausstaffiert wie die anderen, die runden Schilde mit der roten Schlange beiläufig gegen die Beine gelehnt, zweischneidige Äxte wie Kinder in den Armbeugen haltend. Zwischen den beiden Kriegern stand ein Aikha, der sich von den übrigen abhob; er war auffallend dünn und offensichtlich nackt, trug lediglich einen zerrissenen Lendenschurz und einen goldenen Gürtel. In den Händen hielt er eine kleine, hölzerne Truhe. Ein Lederbeutel hing an seinem Gürtel. Doch neben diesen dreien stand noch ein vierter. Dieser unterschied sich allein kraft seiner Gestalt von den anderen, aufgrund einer unbestimmbaren Eigenschaft, die Liath nicht benennen konnte, die sie noch nicht erkannt hatte. Es war ihr unmöglich, den Blick von ihm abzuwenden; er war riesig, und sein Gesicht, seine Arme und die Brust hatten einen solch schuppigen Glanz, als wäre er in lebendige Bronze gehüllt. Er trug keine Tunika - nichts bedeckte seine Brust, nicht einmal die grellen Farben, die von seinen Kriegern bevorzugt wurden. Nur mehrere Ketten hingen um seinen Hals: zusammengebundene Perlen, Muscheln und Knöchelchen, gemischt mit Goldketten und solchen, die aussahen, als wären sie aus Gold- und Silbermünzen, die Löcher in der Mitte hatten und auf dünnen Metallfäden aufgereiht waren. Seine steifen Hosen waren aus einem atemberaubend blauen Stoff und mit einer Schärpe aus glänzendem Goldstoff gegürtet, die in feinen Fal-
271 ten bis auf die Knie fiel. Goldene Armbänder, wie ineinander verschlungene Schlangen, schmückten seine dicken Arme. Die Haare glänzten elfenbeinweiß im Sonnenlicht; sie waren zu einem einzigen Zopf geflochten, der ihm bis zu den Knien reichte. Sanglant neben ihr atmete vernehmlich durch die Zähne. »Da!« sagte Liath. »Seht Ihr ihn?« »Ja, ich sehe ihn.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ein störendes Insekt verscheuchen. »Er ist derjenige, den ich die ganze Zeit gespürt habe. Er ist diese Macht.« »Er ist der Zauberer.« Auch sie spürte seine Macht. Sanglant beugte sich etwas über die Brüstung der Scharte und starrte plötzlich angestrengt auf den weitentfernten Aikha. Seine Lippen bewegten sich. »Sag mir deinen Namen«, flüsterte er. Der Aikha-Zauberer rührte sich und drehte den Kopf so plötzlich in ihre Richtung, daß Liath erschauderte. Es war, als hätte er es gehört. Er sah sich suchend um, konzentrierte seinen Blick rasch in ihre Richtung und blickte sie beide an, obwohl er sie sicherlich nicht wirklich sehen konnte, denn die hölzernen Wände des Ausgucks verbargen sie. Er konnte nicht wissen, daß der Prinz ihn von hier aus beobachtete. Doch wieso eigentlich nicht, wenn er ein so mächtiger Zauberer war? Im nächsten Augenblick meinte sie zu sehen, daß er eine Antwort sprach, aber sie konnte die Silben nicht erraten, und ganz sicher konnte sie ihn bei dem Lärm der in der Stadt tobenden Schlacht nicht verstehen. »Blutherz«, sagte Sanglant mit leiser Stimme und starrte in dessen Richtung, als würden die beiden sich beobachten, ihre Kräfte messen. »Wir werden uns treffen, du und ich.« Am Ufer des Flusses schwoll die Flut der Aikha weiter an. 272 Das Knäuel, das sich auf der Brücke auf die Stadt zuschob, teilte sich jetzt, und Liath riß ihren Blick von dem Aikha-Zauberer los. Das Tor wurde weiter aufgerissen, und noch mehr Aikha strömten in die Stadt. Sanglant trat abrupt von der Scharte zurück und wandte sich an Liath. »Geht zur Kathedrale. Rettet so viele wie möglich.« Die Stadtwache wartete nervös und angespannt an der Falltür. »Wohin geht Ihr?« Es war eine dumme Frage. Sie wußte die Antwort, noch bevor Sanglant die Worte aussprach, doch er sagte sie trotzdem. »Meine Drachen brauchen mich. Wir werden versuchen, die Aikha so lange wie möglich aufzuhalten.« Er hob die Hand und berührte ihre Wange - so wie sie ihn berührt hatte, in der Stille der Krypta. Dann nahm er den Schild, hob das Schwert und verschwand durch die Tür, noch bevor sie reagieren konnte. Sie eilte ihm nach, zurück auf den Wehrgang auf der Mauer, und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er eine Leiter hinabkletterte. Dann war er weg, rannte mitten hinein in das Chaos, das um das Tor herum wütete, während sich die Schlacht immer mehr ausweitete, immer weiter hinein in die Straßen von Gent. Ein durchdringender Schrei ertönte, und immer wieder und wieder erklang sein Name. Bevor die Stadtwache sie packen konnte, sah sie noch, wie sich die hoffnungslos unterlegenen Drachen zusammenschlössen und zu Pferd und zu Fuß ihrem einsamen Prinzen folgten, der den Eindruck erweckte, als wollte er sich ganz allein dem Ansturm der Aikha stellen. Eine Hand berührte ihre Schulter und zog sie im gleichen Moment von der Tür weg, als sich ein Pfeil in das Holz bohrte. Ein Brandpfeil. Der Qualm ließ ihre Augen tränen; Flammen 273 leckten am Holz. Der bärtige Mann schlug die Tür zu, doch sie hörte weiter Pfeile dagegen klatschen, wie ein Echo der Trommeln, die unaufhörlich im Aikha-Lager dröhnten. »Hierher«, drängte er. »Zwei Stockwerke tiefer ist ein Tunnel. Er führt von hier direkt zum Palast des Bürgermeisters. Dort stoßt Ihr auf einen größeren, gerade verlaufenden Tunnel. Biegt niemals in einen anderen Gang ab, denn diese führen nur zu anderen Posten auf dem Wehrgang. Ich bete darum, daß die Aikha noch keinen eingenommen haben und in die Tunnel eingedrungen sind.« Sie kletterte die Leiter hinunter, ohne sich umzuschauen. Der Mann folgte nicht. Die erste Leiter endete auf einem kleinen Absatz, der sich in der Wand befand und so winzig war, daß sie kaum zu atmen wagte. Sie fand die andere Leiter und kletterte weiter hinab, zwölf Sprossen insgesamt, bis zu einem Tunnel mit Wänden aus gebrannten Ziegeln. Er war kaum breiter als ihre Schultern. Sie zögerte, griff kurz nach dem Bogen, zog aber statt dessen ihr Schwert. Ihre Finger strichen über die in das Heft gravierten Worte: »Dieses gute Schwert ist der Freund von Lucian.« »Ich bitte dich«, flüsterte sie, »sei auch mir ein guter Freund.« Sie ging vorsichtig weiter, denn es war dunkel, und nicht weit über ihr hörte sie verzerrt den Lärm der Schlacht; er hallte hin und her, vor und zurück, gerade so, als würde ein Teppich aus Lauten gewoben. Mochten die Götter dafür sorgen, daß dieser Teppich nicht den Untergang Gents bedeutete! Der schmale Nebengang mündete in einen größeren Tunnel, einen, in dem zwei Menschen nebeneinander gehen konnten - aber auch nicht mehr. Hinter ihr - dort, wo sie die Mauer vermutete - sah sie den flackernden Schein von Feuer, roch den scharfen Geruch von Rauch. Ihre Augen hatten sich be274
reits der Dunkelheit angepaßt. Vor ihr war es dunkler und stiller. Sie hörte ein Grunzen hinter sich und das dumpfe Geräusch, mit dem jemand auf dem Boden des Tunnels aufprallte. Sie wirbelte herum und sah das verräterische Schimmern von weißem Haar. Was sollte sie tun ? Sie war im Vorteil. Sie rannte los, und gerade, als der Aikha sich mit einem Ruck umdrehte, stach sie ihm in die Magenkuhle. Sie spürte den Widerstand seiner Haut, als wäre sie mit Metall überzogen. Aber Lucians Schwert war wirklich gut. Vielleicht hatten die Dariyaner Geheimnisse der Metallurgie gekannt, die den Schmieden inzwischen abhanden gekommen waren. Vielleicht war die Haut der Aikha auch gar nicht so fest, wie es den Anschein hatte. Die Klinge drang tief ein und durchbohrte die Kreatur. Der Aikha heulte auf und schlug mit den scharfen Krallen nach ihr. Sie sprang nach hinten und versetzte ihm einen Hieb ins Gesicht; er ging zu Boden. Der Gestank war grauenhaft. Über ihr loderte Feuer, und sie hörte immer und immer wieder einen Mann aufschreien. Ah! Ah! Ah! Aus weiterer Entfernung hörte sie - durch Rauch und trampelnde Schritte, Schreie und die ganze, wirre Kakophonie einer Schlacht hindurch, die langsam und brutal verloren wurde - einen schärferen Ruf: »Zum Prinzen! Zum Prinzen!« Sie sprang von dem Aikha weg. Er zuckte, und sie flüchtete weiter durch den Tunnel. Wenn ihr jemand folgte, bemerkte sie es nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt weiterzulaufen. Zu beschäftigt auch mit ihren Gedanken, als sie sich erinnerte. Er hatte ihre Wange berührt. Bedeutete sie ihm etwas? Sicherlich würde er getötet werden. Und welche Rolle spielte es jetzt schon noch? Es waren nicht genug Soldaten zur Verteidigung in Gent - jetzt, wo die Aikha das Tor überwunden hat275 ten. Es würden auch niemals genug sein, wenn sie wirklich einen Zauberer als Anführer hatten - selbst, wenn die Beschwörung von Illusionen seine einzige Gabe sein sollte. Illusionen heraufzubeschwören war eine mächtige Waffe in den Händen derer, die sie nach Belieben einzusetzen bereit waren. »Rettet so viele wie möglich.« Das hatte Sanglant gesagt. Sicherlich war ihnen die Heilige deshalb erschienen. Heilige waren, wie die Engel und die Daemonen der oberen Sphären, nicht an die Welt der Zeit gebunden: Sie konnten die Zukunft sehen. Sie passierte einige Nebengänge, und alles, was sie hörte, waren Kampfgeräusche und Schreie, alles, was sie roch, waren Blut und Rauch. Der Tunnel führte zu den Unterkünften der Soldaten, in den Raum mit dem Zaumzeug. Sie kletterte eine schmale Leiter hoch, bis ihr Kopf gegen eine Falltür stieß, die sie mit großer Mühe von unten aufstemmte und sich dabei die Knöchel an den Eisenbändern aufschürfte, mit denen die Tür eingefaßt war. Die Unterkünfte waren vollkommen leer; nur das schwache Trommeln und der Klang der Hornfanfaren waren zu hören. Der Geruch und die Geräusche der Schlacht rückten immer näher. Alle Drachen waren weg. Weg. Und nur zu bald auch tot. Sie hatte keine Kraft zum Weinen. Sie mußte Wulfhere warnen. Sie mußte so viele Leute wie möglich durch die Katakomben hinausführen, bevor die Stadt fiel. Sie zweifelte nicht länger daran, daß das Schicksal Gents besiegelt war. Doch an der Tür der Unterkunft blieb sie stehen. Sie zögerte und drehte sich um, starrte auf die leeren Ställe, roch das Stroh, von dem ein Teil trocken war, ein anderer feucht von Urin und Dung. Diese Unterkünfte würden sehr gut brennen. Sie rannte zu dem Stall zurück, in dem sie geschlafen hatte. 276 Manfreds Sattel lehnte an dem Pfosten, an dem er den ganzen letzten Monat gelehnt hatte. Seine Gegenwart hatte etwas Anklagendes. Was war mit ihrem Kameraden geschehen? Lebte er noch? Hatte sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet, seit das Tor geöffnet worden war? Aber sie hatte keine Zeit; sie sollte nicht einmal hier sein. Jeder Augenblick zählte, bedeutete für einen anderen Menschen Leben - oder Tod. Aber sie mußte das Buch haben. Sie hob ihren eigenen Sattel hoch, griff nach den Satteltaschen und warf sie sich über die Schulter. Dann rannte sie zurück, lief über den jetzt verwaisten Hof. Es war viel zu ruhig im Palast des Bürgermeisters. »Liath!« Wulfhere stand auf dem Wehrgang der Palisade. Er sprang regelrecht die Leiter herunter, so eilig hatte er es, zu ihr zu kommen. »Es ist hoffnungslos!« schrie sie. »Die Aikha haben das Tor gestürmt. Alle müssen sich bewaffnen und kämpfen oder zur Kathedrale gehen.« »Aber wie -?« »Eine Illusion.« Sie erinnerte sich plötzlich an das seltsame Erlebnis auf der Stadtmauer. Eines Tages mochte es wichtig sein, daß mehr Leute als sie und Sanglant den Namen kannten. »Er nennt sich Blutherz.« Wulfhere nickte einmal kurz. »Dann geh, Liath. Lauf! Wenn du es schaffst, mußt du den König benachrichtigen.« Sie nahm sich nicht die Zeit, ihn zu fragen, was er tun würde. Sie hatte keine. Vom östlichen Teil der Stadt stiegen bereits dicke Rauschschwaden auf, schwer, schwarz und furchterregend, und bei den Häusern, die nah genug standen, konnte man sehen, daß Flammen an den Dächern leckten. Vielleicht war die gesamte Wachmannschaft des Bürgermeisters bereits zum Osttor geeilt.
277 Als sie durch den Torbogen trat und die Hauptstraße Gents entlanglief, fand sie sich im totalen Chaos wieder. Auf den Straßen herrschte dichtes Gedränge, alle waren voller Angst. Die Hälfte schien auf das westliche Tor zuzulaufen. Einige wenige versuchten zum Osttor zu gelangen, bewaffnet mit Messern, Stöcken, Schaufeln und Beilen - einfach allem, was sich irgendwie als Waffe benutzen ließ. Aber es waren nicht viele. Ein Großteil der Bewohner Gents hatte alles vergessen und I versank in kopfloser Panik. Liath schob und drängte sich mit Hilfe ihrer Ellenbogen durch die Menge. Am Anfang versuchte sie noch - alle drei Schritte - »Zur Kathedrale!« zu rufen, aber es war sinnlos. Bei all dem Geschrei, dem Gebrüll der Esel, dem Gegacker der Hühner und Gejammer der Kinder, dem Prasseln des Feuers und dem Getrampel unzähliger Füße auf Holzplanken und Stein war ihre Stimme unmöglich zu hören - alle rannten wie wild durcheinander, überallhin und nirgends. Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sich an der Palastpalisade entlang zu schieben, den großen Platz zu überqueren und die breiten Stufen zur einladenden Fassade der Kathedrale zu erreichen, schien der leichteste Teil ihres Weges zu sein. Die Kathedrale war bis zum Bersten gefüllt. Die Leute drängten sich auf den Stufen, schoben sich hinein, schrien und flehten, hoben ihre Kinder über ihre Köpfe, damit wenigstens ihnen Zuflucht im Innern gewährt würde, wenn schon nicht ihnen selbst. »Aus dem Weg!« rief Liath, obwohl der Lärm ihre Worte verschluckte. Sie zog ihr Schwert und schlug mit dem Griff auf die Leute ein. Als sie sich umdrehten, verärgert oder schluchzend, machten sie ihr jedoch nach einem Blick auf das Abzeichen der Adler Platz. 278 Auf diese Weise erklomm sie, wenn auch langsam, die Stufen. Drinnen war es, wenn das überhaupt möglich war, noch voller. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie die vielen Leute noch Luft bekommen konnten, die sich bis zum Herdfeuer, dem heiligen, sicheren Hafen, gedrängt hatten. Sicher würden nicht einmal Bestien wie die Aikha diesen heiligen Ort des Gottes der Einigkeiten entweihen. Sie stanken nach Angst und Schweiß. Es war unmöglich, absolut unmöglich, sich vorzustellen, wie sie durch diese Menge zum Herdfeuer gelangen sollte, wo sie die Bischöfin vorzufinden hoffte. Sie steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. Und dann hörte sie erstaunlicherweise eine Veränderung in dem Lärm der Masse. Als würde ein dämpfendes Tuch ganz langsam über die Leute gezogen, nahm das wortlose Stöhnen und Rufen und Weinen Form und Fluß an. Eine Hymne breitete sich langsam aus, kroch von vorne nach hinten. »Hebt mich hoch!« befahl Liath. Fast zu ihrem Erstaunen taten das auch zwei Männer, packten fest ihre Beine und wuchteten sie hoch. Dort, am Herdfeuer, stand die Bischöfin, die Arme gen Himmel gerichtet, während sie die Menge dazu brachte, einen Psalm zu singen. »Du, der du im Schutze des Lichtes wohnst. Du, der du sagst: >Der Herr ist meine sichere Zuflucht, die Herrin die Feste, der ich vertrauen Er wird dich unter seine Fittiche nehmen. Sie wird dir Sicherheit zwischen ihren Flügeln gewähren. Du mußt den Pfeil nicht fürchten, der bei Nacht fliegt, oder den Speer, der bei Tag zustößt. Tausende mögen an deiner Seite fallen, Zehntausende direkt neben dir, aber du wirst von allem unberührt bleiben.« 279 Liath sang mit ihnen. Als der Psalm mit einem ernsten Kyrie beendet wurde, kehrte die Bischöfin die Handflächen nach außen, und die Leute beruhigten sich, damit alle zuhören konnten. Nur das abgehackte Schluchzen der erschreckten Kinder störte noch die Ruhe. »Betet, laßt Ruhe einkehren«, rief die Bischöfin. In diesem Augenblick, als sich Stille herabsenkte und die Geräusche des fauchenden Feuers, der Schlacht und des Trommelns durch die Wände und die geöffnete Tür sickerten, ohne daß sich bereits die Panik der Leute draußen auf diesen flüchtigen Frieden ausgedehnt hatte, erhob Liath ihre Stimme. Sie lenkte die Aufmerksamkeit in genau der Weise auf sich, von der ihr Vater immer abgeraten hatte. »Falle niemals auf. Tue dich niemals hervor. Erhebe niemals deine Stimme.« »Bischöfin, ich bitte Euch, hört mich an. Ich bin ein Adler des Königs!« Die Männer, die sie hielten, schwankten etwas, und sie mußten aufpassen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hielt sich mit den Händen an ihren Schultern fest. Alle in der Kathedrale wandten ihr den Kopf zu; Furcht stand in ihren bleichen Gesichtern. Die Bischöfin ließ die Hände sinken und bedeutete ihr fortzufahren. »Euer Gnaden, bitte glaubt meinen Worten. Ich habe ein Zeichen gesehen. Mir ist St. Kristine erschienen -« Liaths Stimme versagte. Sie sah, daß sie die Aufmerksamkeit, das Vertrauen der Leute verlor. »Prinz Sanglant ist St. Kristine von den Messern erschienen! Es war eine echte Vision. Es gibt Katakomben unter der Kathedrale,
einen Tunnel, der nach Westen führt. Auf diesem Weg -« Zu mehr reichte die Zeit nicht. Ein Schrei erscholl von den Leuten draußen. 280 »Die Drachen! Die Drachen sind zusammengebrochen!« Liath preßte sich genau in dem Moment die Hände auf die Ohren, als sie dem Griff der beiden Männer entglitt. Sie fiel, aber die Leute standen viel zu dicht gedrängt, als daß sie sich hätte verletzen können. Selbst während sie drängten, sich Panik ausbreitete und alle versuchten, in die eine oder andere Richtung zu laufen, konnte sich niemand mehr als einen halben Schritt nach links oder rechts bewegen. Im nächsten Augenblick dröhnte ein Hornsignal durch den Raum, wurde von den steinernen Wänden als Echo zurückgeworfen, betäubte sie und die anderen. Immerhin brachte es die Menge lange genug zum Schweigen, daß die Bischöfin gehört werden konnte. »Ich sage Euch!« schrie sie mit kraftvoller Stimme. »Ich sage Euch, mein Volk, daß ich nicht eher von diesem Herdfeuer weichen werde, als bis alle in Sicherheit oder die Aikha zurückgeschlagen sind. Daher müssen alle, die dazu in der Lage sind, eine Waffe ergreifen und kämpfen, um diese Stadt, um unsere Stadt zu retten. Im Namen Unserer Herrin und Unseres Herrn, im Namen von St. Kristine, die uns nicht vergessen hat, obwohl sie an diesem heiligen Ort gelitten und den Tod gefunden hat.« Sie schöpfte Atem, aber ihre Stimme war so mächtig, die Erwartung der versammelten Leute so groß, daß niemand sprach oder die Pause mit Rufen füllte. »So ist St. Kristine also dem Prinzen erschienen - ihm, der in genau diesem Augenblick kämpft, um uns Leid und Erniedrigung zu ersparen. Dies ist mein Wort, und Ihr, meine Schützlinge, sollt gehorchen. Kinder und jene, die Kinder stillen, sollen diesem Adler in die Krypta folgen, in geordneter Reihenfolge. Bringt die Kinder zusammen, denn sie und die heiligen Reliquien dieses Herdfeuers sind der Schatz unserer Stadt. Wir 281 müssen sie retten, sofern es dem Willen Unserer Herrin und Unseres Herrn und der Heiligen entspricht, die über uns wachen. Die älteren Kinder sollen sich um die jüngeren kümmern, die Gebrechlichen mit mir am Herdfeuer warten. Vertrauen wir auf Gott. Herr, erbarme dich. Herrin, erbarme dich.« Ihre Diakonissinnen brachten Fackeln. Die Menge machte Liath den Weg frei, und sie nahm eine der Fackeln und begann die Leute hinab in die Krypta zu führen. Als sie die Stufen hinunterstieg, versiegten der Lärm und die Unruhe rasch, verstummten unter dem Mantel des Todes und der bleichen Gräber der heiligen Toten. Die Fackel brannte kräftig, und Hitze wehte ihr ins Gesicht, stach in ihre Augen. Sie stand eine Weile da, während die Diakonissinnen die heiligen Reliquien von St. Kristine herbrachten und die Stufen sich mit leise weinenden Kindern füllten. Sie spürte sie wie ein schweres Gewicht hinter sich: Alles hing jetzt von ihr ab. »Rettet so viele wie möglich«, hatte Sanglant gesagt. Unc dann hörte sie andere Rufe: »Die Drachen sind zusammengebrochen.« Sie hatte keine Ahnung, wo sich das Grab der Heiligen befand. Alles sah jetzt ganz anders aus. Die Krypta öffnete sich vor ihr in rätselhaftem Schweigen, unwillig, ihre Geheimnisse preiszugeben. Dann, auf eine bloße Laune hin, kniete sie dort nieder, wo sie und Sanglant erst vor so kurzer Zeit über den Boden geschritten waren. Sie blickte sich um, und - dort! Etwa zwei Schritte entfernt sah sie einen Flecken von getrocknetem Blut auf dem Boden. Sie folgte der Spur, die die blutende Heilige hinterlassen hatte, und wurde zu dem Senkloch geführt, zu den Stufen, die sich in der Schwärze darunter befanden. Die Krypta füllte sich rasch hinter ihr. Die Diakonissinnen flüsterten ängstlich mit282 einander. Ein kleines Kind schluchzte und wurde zum Schweigen gebracht. Vom Kampf in den Straßen war nichts mehr zu hören. Sie wußte nicht, ob Sanglant noch lebte; sie hatte keine Ahnung, was mit Wulfhere und Manfred geschehen war. Aber sie konnte zumindest hoffen, daß Hanna der Todesfalle von Gent lebend entronnen war. Es schien ihr jetzt wie eine Ironie des Schicksals, daß Hanna, die gezwungen gewesen war zu fliehen, den sichereren Weg gewählt hatte, auch wenn es damals ganz anders ausgesehen hatte. Sie durfte nicht länger zögern. Was dort in der dunklen Erde auch liegen mochte, es konnte nicht schlimmer sein als das Schicksal, das jene erwartete, die sich dem Angriff der Aikha entgegenstellten. Sie nahm einen tiefen Atemzug und begann die Stufen hinunterzusteigen. Sie zählte sie beim Gehen, sich immer des Gedränges der Flüchtlinge hinter sich bewußt, auch wenn sie sich niemals umdrehte, um sie anzusehen, ihnen zu helfen, sie vor dem Stolpern zu bewahren. Sie mußte diesen unbekannten Pfad gehen. Sie zählte siebenundachtzig Stufen; das Zählen machte ihr Mut weiterzugehen, und sie sprach die einzelnen Zahlen laut aus, damit die Schwärze um sie herum nicht so durchdringend war. Die Luft schien stillzustehen, roch nach Moder und Erde. Sie tastete sich mit den Händen an der Wand entlang, und einoder zweimal hatte sie das Gefühl, als hätten ihre Finger Würmer oder andere feuchte Geschöpfe berührt, die nur in der Nacht lebten. Aber sie hatte keine Zeit zusammenzuzucken. Sie mußte weiter. Die Stufen endeten, und der Boden wurde eben. Der Gang machte jetzt eine scharfe Biegung und wurde so breit,
daß sie mit ausgestreckten Armen hätte hindurchgehen können. Hier hielt sie einen Augenblick an, dieses eine Mal nur. Die Fackel 283 beleuchtete die rauhen Steinwände und die niedrige Felsendecke. Auch der Boden bestand aus Fels, und kleine Steinchen und Sandkörner knirschten unter ihren Stiefeln. Aber er war ziemlich glatt, als wäre hier einst ein Strom geflossen oder als wären viele Leute hin- und hergegangen und hätten ihn im Laufe der Jahre mit ihren Schritten abgeschliffen. Sie konnte nicht weit sehen, aber sie spürte, daß die Luft jetzt nicht mehr den Gestank von Rauch, Krieg und Tod mit sich trug. Sie roch Hafer in dem kleinen Windhauch, der von den entfernten Bergen zu ihr wehte. Das machte ihr Mut. Die Diakonissinnen hinter ihr rückten näher, und die Holztruhe mit den Reliquien der Heiligen prallte gegen ihren Rücken. Hinter sich hörte sie ein Kind mit hoher, bebender Stimme sagen: »Es ist so dunkel hier. Wo ist meine Mama?« Sie ging weiter in die Dunkelheit. Sie führte sie, zählte weiter, bis es lächerlich war, weiter als eintausend und zweitausend und noch darüber hinaus zu zählen. Der Tunnel verlief schnurgerade, wie ein Pfeil, der auf sein Ziel zuflog. Sie weinte jetzt, weinte schlichte, aufrichtige Tränen, stille Tränen. Sie konnte es sich nicht leisten zu schluchzen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich vom Kummer überwältigen zu lassen. Sie hörte die anderen hinter sich, hörte die Kinder zaghaft jammern, hörte die ganz Kleinen - die nicht begriffen, was mit ihnen geschah - hilflos weinen. Die Diakonissinnen murmelten leise im Rhythmus ihrer Schritte, sprachen die Worte des Psalms, den sie in der Kathedrale gesungen hatten: »>Denn ihren Engeln hat sie befohlen, dich zu bewachen, wohin immer du gehst, dich emporzuheben mit ihren Händen.<« 284 Und weiter ging es, immer weiter. Weg von der dem Untergang geweihten Stadt Gent. So wenige würden gerettet werden. »Wir werden versuchen, sie so lange wie möglich aufzuhalten.« Seine letzten Worte. Er war nicht für sie bestimmt, natürlich nicht. Es war dumm, eine Vernarrtheit, aber gewiß nicht Liebe, denn Liebe gründete auf gleichem Blut oder gemeinsamer Arbeit oder Kameradschaft, nicht jedoch auf einem Blick oder den zufälligen Irrwegen hartnäckiger und aufdringlicher Begierde. Er war niemals für sie bestimmt gewesen. Es war nicht nur der Unterschied ihrer Herkunft; sie glaubte, was Pa erzählt hatte - daß sie sich nur vor dem König verbeugen mußte. Sie waren Freigeborene und stammten aus einem alten Geschlecht, das hatte Pa immer betont, obwohl er ihr niemals mehr als nur diese wenigen Informationen gegeben hatte. Dieses Geschlecht hatte Ländereien als Gegenleistung dafür erhalten, daß es - wie die Familie von Hathui - ohne den Schutz eines Grafen oder Herzogs in die östlichen Marklande gezogen war, verantwortlich nur gegenüber dem König. Nein, es war mehr als das - und vollkommen anders. »Seid wie ich durch das Schicksal gebunden, das andere für Euch bestimmt haben.« Das hatte Sanglant gesagt. War es nicht die Pflicht des Hauptmanns der Drachen, im Dienst für seinen König zu sterben? Und war es nicht ihre Pflicht zu leben, wenn es ihr gelang? War sie nicht bereits durch andere Rätsel gebunden? Durch das Rätsel um Pas Tod, den Tod ihrer Mutter acht Jahre zuvor, das Schatzhaus, das Geheimnis, das sie in ihrer Satteltasche und in sich trug? Das sie umgab? Sie war zur Sklavin eines anderen Mannes geworden, weil dieser zu besitzen wünschte, was in ihr verborgen war. Sie war jetzt und für immer ge285 zeichnet von dieser Zeit der Erniedrigung, so wie sie von Pas Tod und dem Rätsel der geheimnisvollen Feder gezeichnet worden war, die sie neben seiner Leiche gefunden hatte. Taub gegenüber Magie - oder vor ihr geschützt. Auf jeden Fall gebunden an sie, was immer es auch war. Es gibt Bestimmungen, denen kann man nicht entrinnen. So schritt sie weiter und ließ Gent hinter sich zurück. Sie spürte nichts, nicht wirklich. Sie konnte es sich nicht leisten, daß Kummer sie lähmte, und während der langen Monate mit Hugh hatte sie gelernt, starke Gefühle zu unterdrücken, sie fest hinter einer Tür zu verschließen. Aber sie gestattete sich zu weinen. Sie weinte um Sanglant und das, was niemals sein konnte. Sie weinte um Pa, um ihre Mutter, um Wulfhere und Manfred, um den toten Adler, dessen Abzeichen sie geerbt hatte. Um all diese Seelen weinte sie, um die tapfere Bischöfin, die mit ihren Schützlingen sterben würde. Liath hatte den AikhaZauberer gesehen, der sich Blutherz nannte. Sie glaubte nicht, daß er Barmherzigkeit walten lassen oder die Heiligkeit des Herdfeuers achten würde. Warum sollte er auch? Er lebte nicht im Glauben an den Kreis der Einigkeiten. Er hatte Gräfin Hildegard getötet und dann ihr Banner als Teil eines hinterhältigen Plans benutzt. Er wollte Sanglant aus Gründen, die sie nicht ergründen konnte. Aber er und Sanglant hatten sich schon in einer Art von Duell gegenübergestanden, noch bevor sie sich auch nur gesehen hatten. Ihre Fackel brannte kräftig; sie verlosch nicht und verbrauchte sich auch nicht. Sie hielt sie wie ein Leuchtfeuer vor sich; es war der einzige Lichtblick, der ihr geblieben war. Nicht der einzige. Sie mußte daran glauben, daß Hanna noch am Leben war. Sie würde Hanna wiederfinden.
Sie berührte unwillkürlich das Abzeichen, tastete über den 286 erhabenen Adler auf dem Messing. Hanna war ihr ein und alles, abgesehen von den Adlern. Sie war jetzt gewiß auch eine von ihnen. Was ihr sicherlich eine Art Schutz gewährte. So marschierte sie weiter. Der Tunnel nahm und nahm kein Ende. Sie wußte nicht, ob hinter ihr jemand zusammengebrochen war. Sie ging voraus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. 5 Als die Aikha die Tore im Osten überrannt hatten, war es kurz nach der Morgendämmerung gewesen. Gegen Mittag trat Liath blinzelnd, halb geblendet und erschöpft aus dem engen Schlund einer Höhle in das grelle Licht eines schönen Frühlingstages. Hinter ihr stolperten die Flüchtlinge ins Freie; sie taumelten etwas nach dem steilen, einige hundert Schritte hohen Aufstieg. Der Tunnel selbst war lang gewesen und beschwerlich vor lauter Angst. Liath hatte befürchtet, daß der letzte Aufstieg über die in Fels gehauenen Stufen zuviel sein würde für die Kleinsten und Schwächsten von ihnen, daß sie die anderen hinter ihnen zu lange aufhalten könnten. Sie kamen so langsam. Zuerst erschienen die Diakonissinnen mit den heiligen Reliquien der Kathedrale. Dann kam eine lange Reihe von Kindern; die jüngeren wurden von älteren getragen, Säuglinge lagen in den Armen ihrer Mütter. Es folgten Mütter in allen Stadien der Schwangerschaft, darunter auch eine, bei der bereits die Wehen eingesetzt hatten. Hier und da erschienen auch andere Leute - ein Schmied mit Hammer und Zangen, dessen Fähigkeiten zu wertvoll waren, um sie in ei287 nem hoffnungslosen Kampf zu verschwenden, zwei schlaksige Mädchen, die als Akrobatinnen in Bürgermeister Werners Palast aufgetreten waren, der ältliche Barde, der die Heleniade so übel zugerichtet und bei den vielen Festen in der großen Halle seine eigenen grauenhaften Nachahmungen alter dariyanischer Verse vorgetragen hatte. Viel zu langsam. Eine zwölfköpfige Gruppe erschien, dann folgte so lange niemand, daß Liath tief Luft holte und betete, daß es nicht das Ende des Flüchtlingsstroms sein möge. Doch dann stolperten wieder welche aus der Öffnung, Krumme und Lahme, ein Kind, das zusammengebrochen war und nicht mehr selbst gehen konnte. Das Tröpfeln verwandelte sich rasch wieder in einen gleichmäßigen Strom, als jene, die sich hinter den Langsameren befunden hatten, jetzt herauseilten und sich auf dem Hügel verteilten. Liath konnte die Trauer der anderen nicht ertragen. Ihre eigene war schon schlimm genug. Sie entfernte sich von der Höhle, die von Büschen und Bäumen halb verdeckt an der Seite eines großen, vorspringenden Hügelrückens lag. Es war genau so, wie Sanglant gesagt hatte. Ein Haferfeld zog sich über den Hügel. Baumstümpfe säumten das reifende Korn, das auf der anderen Seite von wildem Land begrenzt wurde. Zwei Hütten lagen im Schatten der Bäume. Während noch ihr Blick darauf ruhte, kam ein Mann hinter der nächststehenden hervor und starrte sie an. Dann rannte er heftig mit den Armen rudernd auf die Diakonissinnen zu. Alle redeten auf einmal. Liath trat vorsichtig näher, dann erinnerte sie sich, daß sie als Adler des Königs jedes Recht hatte, ihre Unterhaltung zu verfolgen. »- aber ... aber das ist ein Wunder!« rief der Mann, die Hände gegen die Wangen gepreßt. »Die Höhle verengt sich, sie endet nach hundert Schritten vor einer Felswand. Wir haben 288 uns hin und wieder darin versteckt, wenn Aikha-Späher in der Nähe waren. Ein Trupp Drachen suchte vor fünf Nächten dort Unterschlupf. Aber ich habe niemals Stufen gesehen oder einen Tunnel, der nach Osten führt!« Obwohl der Himmel klar war, ertönte jetzt tiefes Grollen wie ein entferntes Donnern. Liath eilte auf den Kamm, unter dem die Höhle verborgen lag. Von hier aus fiel der Berg steil nach unten zur Flußebene ab, die sich in östlicher Richtung bis zu einem grellen Himmel erstreckte, ein Muster aus Grün und Gold und kleinen Flecken in der Farbe der Erde. Sie konnte den Fluß sehen, der sich wie ein dunkles Band durch die Ebene wand. Der Himmel war so klar, daß die Sonnenstrahlen das Blau im Zenit zum größten Teil ausgelaugt hatten und das Land in grelles Licht tauchten. Aus der Ferne wirkte Gent wie eine Spielzeugstadt aus winzigen Bauklötzchen. Arnulfs Stadt, wie manche sie nannten, denn hier hatte König Arnulf der Ältere seine Kinder mit den letzten Erben von Varre verheiratet. Die Stadt stand in Flammen. Liath starrte lange Zeit hinüber. Rauch befleckte den Horizont, stieg in Streifen gen Himmel. An diesem Tag ging so wenig Wind, daß der Qualm sich senkrecht in die Höhe erhob und ihre Sicht behinderte. Die Stadt lag natürlich zu weit entfernt, als daß sie Gebäude hätte erkennen können - nicht einmal der Turm der Kathedrale war sichtbar. Auf der Ebene bewegte sich etwas, winzig wie Insekten. Die Aikha kamen, um sich über die herzumachen, die zu fliehen versuchten. Sie schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich wie betäubt und dann plötzlich niedergedrückt vom Gewicht tiefer Trauer. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sie nicht mehr verdrängen. Sie überließ ihren Platz drei kleinen Jungen, die hinter ihr 289 hergeklettert waren. Sie blickten und deuteten nach unten, und einer starrte sie mit offenem Mund an. Sein schmales Gesicht kam ihr vertraut vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Vielleicht hatte er als Diener im
Palast des Bürgermeisters gearbeitet. »Ich habe das Pferd verloren«, sagte er und brach in Tränen aus. Sie floh. Sie hatte keine Antwort für ihn, für niemanden von ihnen. Als sie zurückkletterte, vorsichtig bestrebt, sicheren Tritt auf dem losen Geröll und den verschlungenen Wurzeln zu finden, traten noch immer neue Flüchtlinge aus der Öffnung der Höhle. Kinder und noch mehr Kinder; ein dunkelhaariges, molliges Kind - es war unmöglich zu sagen, ob Junge oder Mädchen - in den Armen eines hellhaarigen Mädchens, das bei weitem nicht kräftig genug schien, eine solche Last tragen zu können; jetzt auch ein paar ältere Leute, von denen einige Bündel mit kostbaren Habseligkeiten auf ihren Schultern trugen, während andere nur sich selbst hatten retten können. Einige fielen auf die Knie und dankten Gott für diese Rettung, andere sanken einfach zu Boden und mußten weggetragen werden, um den Weg für weitere Flüchtlinge freizumachen. Aber sie kamen so langsam. So wenige würden entkommen. Sicherlich waren die Drachen inzwischen vollständig aufgerieben. Sie rechnete jeden Augenblick damit, daß der Flüchtlingsstrom abreißen würde, daß Aikha hervorpreschen und mit Äxten und tödlichen Speeren ein Gemetzel anrichten würden. »Da! Da sind Wagen!« schrie einer der Jungen auf dem Kamm. »Sie tragen die Farben des Bürgermeisters!« rief ein anderer. 290 Liath rannte mit dem Bauern zu der Stelle in der Nähe seines Hofes, wo die Straße - wenn man sie denn eine nennen konnte - endete. Einige mutige Diakonissinnen schlössen sich ihnen an, aber der Rest blieb bei dem Feld, als könnten die Höhle und die Erinnerung an die Barmherzigkeit der Heiligen ihnen Schutz gewähren. Liath nahm ihren Bogen zur Hand und versteckte sich hinter einem Baum. Der Bauer holte sich eine Mistgabel. Aber sie benötigten keine Waffen, nicht dieses Mal. Die Wagen gehörten tatsächlich Bürgermeister Werner. Sie ruckelten und schwankten über die beiden Fahrspuren, die als Straße dienten. Auf einem der Wagen saß der Bürgermeister höchstpersönlich mit geröteten Wangen und tränenverschmiertem Gesicht, und neben ihm ... »Wulfhere!« Liath sprang hinter dem Baum hervor und rannte los, hüpfte - nein, tanzte - beinahe neben dem Wagen her, der den letzten Teil des Weges hin und her geschüttelt wurde, bis er schließlich neben den beiden armseligen Hütten des Bauern stehenblieb. Wulfhere schwang sich vom Kutschbock, betrachtete sie eingehend, dann winkte er den Bauern herbei. »Zeigt der Dienerschaft, wo sie ein Feuer machen können. Etwas abseits von den anderen.« »Damit die Aikha auf uns aufmerksam werden?« protestierte der Mann. Wulfhere machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Sie haben heute bessere Beute gefunden als die armseligen Reste, die sie hier ergattern könnten.« Der Bauer zog sich gehorsam zurück. »Ich habe Gent gesehen«, sagte Liath. Sie konnte ihre Augen nicht von Wulfhere abwenden. Sie konnte nicht glauben, daß er lebte. »Die Stadt brennt.« 291 »Sie brannte bereits, als wir sie verließen.« »Wie bist du rausgekommen?« Sie blickte sich um, hoffte einen Blick zu erhaschen, von ... Aber es waren keine Drachen bei ihnen, nur Bedienstete vom Palast; etwa dreißig waren neben den zehn Wagen hermarschiert. Eine hellhaarige, hübsche Frau lenkte den letzten Wagen heran und begann mit grimmigem Gesicht die Pferde abzureiben. Liath erkannte sie: Es war die Dienerin, die - wie alle wußten - eine Affäre mit dem Prinzen gehabt hatte. Würde sie um ihren Geliebten trauern? Oder war sie nur froh, am Leben zu sein? Ein Mann trat zu ihr, um ihr zu helfen; im Wagen lag ein kleines Mädchen und unternahm den schwachen Versuch, den Kopf zu heben und sich umzuschauen. Es war das Paar, das sie von der Straße aufgelesen hatte, der Vater mit seiner kranken Tochter. Flüchtlinge schwärmten jetzt vom Tunnel herbei, bildeten einen Kreis um den Bürgermeister und überschütteten ihn mit Fragen, Bitten und Forderungen. »Wo ist mein Mann? Wißt Ihr, was mit meiner Mutter geschehen ist? Hat jemand meinen Bruder gesehen? Was ist mit der Münzanstalt? Mein Vater stand dort Wache. Lebt die Bischof in noch?« Und so weiter und so weiter. Wie ein Feigling, dachte Liath voller Bitterkeit, hatte sich der Bürgermeister selbst gerettet, statt bei der Verteidigung seiner Stadt zu sterben. Diese Pflicht hatte er Prinz Sanglant und den Drachen überlassen. »Meine lieben Leute«, schrie er und wischte sich Tränen von den Wangen. Wie sehr sie seine Stimme zu hassen gelernt hatte, so voller Dünkel, wie sie war, so voller Spuren des quengelnden, verhätschelten Sohnes, der er einst gewesen war. »Bitte, gewährt mir Ruhe. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen schon bald aufbrechen. Es wird viele Tage dauern, bis 292 wir Stelesham erreicht haben, und die meisten von uns sind schwach oder klein. Wir haben die Vorratslager des Palastes geleert. Das muß für die Reise genügen. Hört mir zu!« Jetzt endlich beruhigten sich die aufgeregten Flüchtlinge, und sie kamen näher, während immer noch Menschen - einzeln oder in Zweierreihen - aus der Höhle drängten. »Die älteren Kinder sollen sich um die jüngeren kümmern, und wir sollten die Kinder in Gruppen aufteilen, damit es kein Durcheinander gibt und niemand zurückbleibt. Diejenigen, die kräftig genug sind, müssen
Nahrungsmittel auf dem Rücken tragen, damit in den Wagen Platz für die ist, die nicht gehen können. Wir werden jetzt Brot verteilen. In einer Stunde brechen wir auf. Wir können es nicht wagen, länger zu warten.« Damit drehte er sich um und gab seinen Bediensteten Anweisungen. Die hübsche Dienerin zog das schwere Tuch zurück, das die Nahrungsmittel in ihrem Wagen abgedeckt hatte, und begann mit der Wirksamkeit langjähriger Erfahrung Brot zu verteilen, wieder unterstützt von dem Vater des kranken Kindes. Diakonissinnen teilten die Kinder in Zehnergruppen ein, die jeweils von einem Erwachsenen geführt wurden. Eine Frau schluchzte leise; sie stillte ihr Baby, während ein anderes Kind an ihrem Rockzipfel hing. Eine der schlanken Akrobatinnen trat vorsichtig zu der Frau und reichte ihr und ihrem Kind Brot. Aus der Höhle stolperten noch immer Flüchtlinge ins grelle Mittagslicht. Jetzt standen jedoch Diener und Dienerinnen bereit und führten sie zu einem Platz, wo sie etwas zu essen bekamen und sich bis zur nächsten Etappe ihrer Reise ausruhen konnten. Inzwischen kam auf fünf Flüchtlinge ein Mann oder eine Frau mit Verletzungen oder versengter Kleidung; insgesamt waren etwa achthundert Menschen auf dem Haferfeld. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen 293 hatte sie die Höhle etwa eine Stunde zuvor verlassen. Würden die Drachen niemals kommen? Natürlich würden sie nicht kommen. Prinz Sanglant würde die Stadt nicht verlassen, bevor nicht der letzte Mensch in Sicherheit oder tot war. »Liath.« Wulfhere winkte sie zu sich. Sie folgte ihm hinter die Hütte, wo der Bauer ein Feuer auf einem Herd im Freien entfacht hatte. Es loderte auf - ein Gitter aus Stöcken, das zusammenbrach, als die unterste Sprosse zu Asche verbrannte. Der Bauer legte weitere Holzscheite ins Feuer und zog sich dann auf ein Zeichen von Wulfhere zurück, ließ die beiden allein. »Wir müssen sehen ...« sagte Wulfhere. »Wie konntest du entkommen?« fragte sie. »Sind auch andere ... ? Wo ist Manfred?« Er schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal sah sie, wie er den Mund anspannte, den tiefen Schmerz verbarg. »Wir haben die Vorräte in die Wagen geladen und sind durch das Westtor geflüchtet. Auch andere verließen die Stadt durch dieses Tor, doch viele starben durch die Hände der Aikha. Einige mögen entkommen sein. Wir machten uns jedoch erst später auf, als der Kampf vom Osttor bereits auf die halbe Stadt übergegriffen hatte. So hatten wir weniger Schwierigkeiten wegzukommen. Wir verloren nur einen Wagen, und das auch nur, weil die Achse brach. Und wir trafen Dachen -« »Drachen!« Mit einer brüsken Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. »Du wirst dich an sie erinnern. Es waren die, die uns gerettet haben, als wir vor einem Monat nach Gent ritten.« »Storm«, murmelte sie. Ihr Cousin, wenn die Erzählung stimmte. 294 »Sie überrannten eine Kompanie Aikha und befreiten uns.« »Und dann?« wollte sie wissen. Er runzelte die Stirn, zuckte beinahe zusammen, als könne er es nicht ertragen, sich daran zu erinnern. »Dann ritten sie durch das Westtor in die Stadt, um sich ihren Kameraden anzuschließen.« Liath schloß die Augen. »Hör zu«, sagte Wulfhere. »Wir können uns den Luxus der Trauer jetzt nicht leisten, Liath. Wir müssen mit den Augen der Adler sehen. Das ist unsere Pflicht.« »Durch Feuer und Stein?« fragte sie flüsternd. »Nicht jeder Adler besitzt diese Fähigkeiten, das ist wahr. Und jetzt paß auf.« Er schloß die Augen und hob die Hände schulterbreit, die Handteller dem Feuer zugewandt. »Aber es ist wahr«, unterbrach sie ihn. Er mußte es verstehen. »Ich kann auf diese Weise nicht sehen. In der Krypta sah ich nichts - nicht, weil da ein Schatten war, sondern weil ich nur den Stein sah. Und die Aikha - sie haben einen Zauberer, und er ist ein Aikha, nicht irgendein anderes Geschöpf.« Die Erinnerung tat weh, zu frisch waren noch die Bilder, wie Sanglant den Anführer der Aikha gesehen und seinen Namen genannt hatte. »So wurde das Tor geöffnet. Er schuf eine Illusion. Es gab überhaupt keine Truppen von Gräfin Hildegard.« Wulfhere öffnete die Augen und starrte sie an. »Erzähl weiter.« »Es war eine Illusion. Alle sahen das Banner, die Gräfin und ihre Leute. Alle. Nur ich nicht. Ich konnte durch die Illusion hindurchsehen.« »Was sagst du da?« »Ich sage, daß ich taub gegenüber Magie bin, wie Pa immer behauptet hat. Oder vor ihr geschützt. Ich weiß nicht, was es ist.« Sie verfluchte sich sofort innerlich, daß sie ihm dies ge295 standen hatte. Aber sie war so glücklich, ihn zu sehen. Sicher bedeutete diese Freude, daß sie ihm vertrauen oder zumindest teilweise vertrauen konnte. Er hatte sie vor Hugh gerettet. Er i hatte sie unablässig mit Freundlichkeit und Wohlwollen behandelt. Und sie hatte begonnen ihn zu mögen, wie sie jetzt merkte. Spontan legte sie die Hand auf das warme Leder ihrer Satteltaschen, spürte das darin versteckte Buch. Sie wartete. Wulfhere blickte aufrichtig verblüfft drein. »Blutherz«, sagte er. »Eine Illusion. Ich verstehe jetzt. Das tat ich vorher nicht. Ich habe mich gewundert, weshalb ich keinen von Gräfin Hildegards Soldaten in der Stadt gesehen habe, nicht einen einzigen Überlebenden ihrer Streitmacht. Ich habe mich gefragt, wie das Tor durchbrochen
werden konnte. Denn auch ich habe es gesehen, Liath. Ich sah das Banner, sah ihr Gefolge, das von den Aikha gejagt wurde. Von der Palisade am Bürgermeisterpalast sah ich sie die Brücke erreichen, und dann waren sie verschwunden. Und doch behauptest du, du hättest die Illusion durchschaut.« »Das habe ich.« »Ich kann weder dir noch mir erklären, was da geschehen ist. Paß auf, Liath. Sage mir, was du siehst.« Er hob erneut die Hände und schloß die Augen; dann, nach einem Augenblick, öffnete er sie wieder und starrte ins Feuer. Gelborangefarbene Feuerzungen fuhren in die Luft. Liath starrte sie angestrengt an. Sie errichtete in ihrer Vorstellung einen Kreis aus Feuer in der Luft - den Ring des Feuers, die vierte Stufe auf der Leiter der Weisen. Durch diesen betrachtete sie das Feuer. Sie sah nichts als das Lecken und Züngeln der Flammen. Und doch, hatte sie nicht bereits einmal Salamander gesehen, deren blaue Augen in der Herdkohle blinzelten? Hatte sie nicht einmal Schmetterlinge gesehen, die ihr Vater im Sommer im 296 Garten herbeigerufen hatte? Früher einmal, vor vielen Jahren, bevor ihre Mutter gestorben war, hatte sie Magie gesehen. Bevor ihre Mutter gestorben war. Dann hatte sich alles geändert. Pa hat mich beschützt. Er hatte sein Leben hingegeben, um sie zu beschützen. Um sie zu verstecken. Geister brennen in der Luft, mit Flügeln aus Flammen, die Augen funkelnd wie Messerschneiden. Hinter ihnen erhebt sich eine Wand aus Teuer in der schwarzen Nacht, doch das ist nichts, vor dem man Angst haben müßte. Tritt man hindurch, liegt eine neue Welt dahinter. In weiter Ferne ertönt eine Trommel wie ein Herzschlag, und das Pfeifen einer Flöte erhebt sich in die Lüfte, vom Wind getragen wie ein Vogel. Flügel ließen sich auf dem Dachvorsprung nieder. Eine Wolke aus weißem Schnee wehte durch den Rauchabzug. Glocken im Wind. »Wo ist sie?« fragte die Glockenstimme. »Nirgendwo, wo ihr sie finden könnt«, antwortete Pa. Das Feuer loderte höher, wuchs an, umhüllte die Holzscheite, bis es wie ein Sturm brannte. Und in den Flammen sah sie den Kampf, sah sie die Stufen der Kathedrale und die letzte, zerfetzte Linie der Drachen; nur wenige waren es noch. Ihre leblos daliegenden Pferde und Kameraden kennzeichneten bereits den Weg, auf dem sie sich immer weiter zurückzogen. Hunde - jene, die nicht in den Kampf verwickelt waren - nährten sich gefräßig an den Gefallenen. Liath erschauderte; Übelkeit stieg in ihr auf. Ein kleines Häuflein von Stadtsoldaten kämpfte verzweifelt an der Münzanstalt, bevor sie schließlich überwältigt wurden. Hinter ihnen brannten die Palisade des Palastes und das Holzdach der großen Halle lichterloh, tauchten das letzte Schlachtfeld in schreckliche Helligkeit. 297 Die Aikha marschierten stampfend auf die Drachen zu, und ihre Äxte hämmerten immer wieder auf die tropfenförmigen Schilde ein; rote Schlangen preßten sich gegen Drachen, schoben sie allein durch ihr zahlenmäßiges Übergewicht immer weiter die Stufen hinauf und auf die Türen zu. Da! Sie erkannte Sanglant, der hinkend und blutend als letzter Mann des Keils die volle Wucht des Angriffs abfing und mit zwei Schwertern um sich schlug, während er langsam mit den anderen über die Stufen zurückwich. Rechts von ihm war die narbengesichtige Frau; sie hatte sich das zerfetzte Drachenbanner um die Schultern geschlungen, und ihr Speer war immer in Bewegung. Links war Storm, dessen blaue Augen grimmig dreinblickten, als er erst einen Aikha und dann einen weiteren niederschlug. Manfred stand auf der Schwelle zur Kathedrale und starrte auf die sich ihm darbietende Schlacht; er sah, wie es seine Pflicht war. Doch ein Drache nach dem anderen fiel. Gent brannte, und die Straßen waren leergefegt bis auf Aikha, die herumschlichen und in Türeingängen schnüffelten und plünderten. Leer, bis auf die Toten. Bis auf die Hunde. Ein Wagen war auf den Platz vor der Kathedrale gerollt worden; von oben ließ Blutherz, umgeben von seiner heulenden Truppe und einem Pack sklavischer Hunde, seinen Blick über die Ruinen und das letzte Häufchen Drachen schweifen. Er sprang herunter und hielt einen Speer in den gewaltigen Händen, rannte damit die Stufen hoch, immer zwei auf einmal nehmend. Seine Soldaten folgten ihm, die Münder zu Schreien weit aufgerissen, die Liath nur sehen, nicht hören konnte. Nur der nackte, alte, männliche Aikha blieb hinten im Wagen, doch selbst er grinste, und Edelsteine funkelten im widerspiegelnden Schein der Flammen in seinen Zähnen. Der Angriff von Blutherz traf die letzten Drachen mit 298 voller Wucht. Sie waren nur noch so wenige, zudem bereits verwundet und erschöpft, und die Hälfte ging sofort zu Boden, wurde von dem Ansturm zermalmt. Storm verschwand unter einem Hagel aus Axthieben. Die narbengesichtige Frau wurde zur Seite geschleudert und vom Gewicht der gewaltigen Hunde zu Boden gerissen. Die Drachen riefen den Namen ihres Prinzen, aber ihre feste Formation war aufgebrochen, sie wurden voneinander getrennt. Einige blieben an der Tür, andere wurden die Stufen wieder hinabgedrängt und dort eingeschlossen, und Sanglant schlug in der Mitte wie ein Verrückter nach allen Seiten um sich, als er sich den Weg zu Blutherz bahnte. Der Schlag, der ihn besiegte, kam von hinten. Umgeben, flankiert, eingeschlossen. Ein schreiender Aikha war in die Bresche gesprungen, die sich hinter dem
Prinzen geöffnet hatte. Die Kreatur schlug zu. Sanglant stolperte nach vorn und brach zusammen, so schnell, wie ein Felsbrocken in die Tiefe stürzt. Er schlug hart auf und blieb mit ausgebreiteten Gliedmaßen zu Füßen von Blutherz liegen. Die Drachen waren weg, ausgelöscht, als hätten sie niemals existiert. Blutherz starrte auf den Prinzen. Er beugte sich hinab und zerrte ihm den Helm vom Kopf, entblößte sein Gesicht. Er schob eine Hand unter den Goldreif und riß ihn ab; seine weißen Klauen hinterließen Spuren in Sanglants Gesicht und Nacken. Blut sickerte aus den Wunden. Blutherz hielt den goldenen Reif wie eine Trophäe in die Luft, warf seinen Kopf in den Nacken und heulte triumphierend auf. Liath erschauderte. Sie konnte es nicht hören und konnte es doch hören - als würde es vom Wind getragen, die Reihen der Flüchtlinge entlang, die durch den Tunnel geflohen waren. Als würde es sie direkt ins Herz treffen. 299 Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Blutherz ließ den Reif nur sinken, weil er die Hunde zurückdrängen mußte. Er schlug kräftig um sich, benutzte den Schaft und die Spitze seines Speeres, und verjagte sie knurrend und fluchend von seiner Prämie: Sanglant. Die Hunde duckten sich schließlich und setzten sich auf die Hinterpfoten; ihre Augen brannten gelb vor Wut, die Zungen hingen heraus, die Lefzen waren voller Speichel und Blut. Der größte knurrte den Aikha-Anführer zähnefletschend an, und der schlug ihm mit der bloßen Faust hart auf den Kopf; seine eigenen Krallen, die von den Knöcheln abstanden, schlitzten die Wange des Hundes auf. Das Tier jaulte auf und unterwarf sich. Die anderen wandten dem Prinzen ihre häßlichen Köpfe zu und starrten ihn hungrig an, rührten sich aber nicht. Noch nicht. Bald. Schon bald würde er ihnen gehören. Liath beugte sich näher zum Feuer hinab, als könnte sie hineingreifen und den Körper in Sicherheit bringen, ihn vor dieser Erniedrigung retten. Die Hitze ließ ihre Tränen trocknen, ohne ihren Schmerz auszulöschen. Liath konnte nicht ändern, was sie gesehen hatte, wovon sie Zeugin geworden war. Blutherz schüttelte sich und wirbelte herum, als hätte er die Gegenwart eines Feindes hinter sich gespürt. Sein Blick schweifte in die Ferne. Alles veränderte sich; das Feuer vor ihr flackerte. Sie blinzelte, und er blickte sie an. »Wer bist du?« fragte er. Sein Blick war durch das Feuer hindurch auf sie gerichtet, obwohl das eigentlich unmöglich war. »Dein Spionieren stört. Verschwinde!« Er spuckte aus. Sie zuckte zurück und starrte auf das Feuer, das brüllte, krachte und fraß, das Steingebäude in mattroter Hitze und weißblauem Flammenglühen verschlang, so daß ihr der dicke, ölige Qualm in die Nase stieg. Sie hörte Pferde vor beigaloppieren, hörte Rufe in der Ferne, schwache Hörner 300 im Wind. Aber dies waren nicht die Gebäude, die sie zuvor gesehen hatte. Dies waren nicht die Gebäude von Gent. Eine Gestalt drehte sich um und sah sie an, eine männliche Gestalt mit einer bronzenen Brustplatte und einer Lanze mit Silberspitze. »Liathano«, sagte er. Doch durch ihn hindurch sieht sie ein Tor, er selbst ist das Tor, wie Sterne, die durch eine Gaze aus zartem Leinen sichtbar werden. Trommeln ertönen wie ein Herzschlag, und eine Flöte erhebt sich in der Luft wie das Aufsteigen und Absinken von Wellen. Sie sieht durch die Flammen hindurch, starrt durch das Feuer, aber ein anderes Feuer, nicht ihr eigenes. Dort auf dem flachen Stein sitzt ein Mann - möglicherweise kein Mann, denn seine Gesichtszüge sind exotisch und anders als die von allen Männern, die Liath bisher gesehen hat. Abgesehen von einer gewissen Ähnlichkeit mit Sanglant, dessen bronzene Hautfarbe er hat, die gleichen hohen Wangenknochen, das bartlose Gesicht. Er ist in einen seltsamen, langen Lendenschurz aus Perlen gekleidet, der so raffiniert gearbeitet ist, daß das Muster der Perlen Vögel und Blätter in einer engen Umarmung wiedergibt. Lederne, mit grünen und goldenen Federn, winzigen Muscheln, goldenen Perlen und polierten Steinen bedeckte Schützer umschließen seine Unterarme und Unterschenkel. Ein mit weißen Muscheln besetzter, mit einer Jadebrosche an seiner rechten Schulter befestigter Umhang fällt bis zur Taille herab. Auf seinem bloßen Oberschenkel flicht er Fasern - möglicherweise Flachs - zu einem Seil zusammen. Er starrt hoch, verblüfft, und sieht sie an, ohne sie wirklich zu bemerken. Hinter ihm bewegt sich eine andere Gestalt, aber sie ist zu weit weg, um sie richtig sehen zu können. »Liath.« Sie machte einen Satz zurück - und fand sich plötzlich am 301 Feuer wieder, mit hitzeversengtem Gesicht in die Flammen und auf Wulfhere starrend. Tränen liefen ihm über die Wangen, zumindest ein paar. Er starrte eine Zeitlang in die Flammen, dann wandte er seinen Blick ab. »Liath.« Er hatte so leise geflüstert, daß sie ihn kaum gehört hatte. Sie blinzelte verwirrt. Wer hatte am Ende ihren Namen gesprochen, sie aus der Vision gerissen? »Das waren die Verlorenen, Liath.« »Wer war was?« Aber die Welt machte keinen Sinn für sie, die Finger an ihrer Hand machten keinen Sinn für sie, das Knistern des Feuers, das Rauschen des Windes. O Herrin. Sanglant war tot.
Wulfhere schüttelte sich am ganzen Körper wie ein Hund - oder ein Wolf - und stand abrupt auf. »Wir können dieses Geheimnis jetzt nicht lösen«, sagte er. »Komm, Liath. Unsere erste Pflicht gilt dem König, und er muß davon in Kenntnis gesetzt werden.« »Wovon?« Es war schon schwer genug, allein diese Frage zu formulieren. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wie es war, sich zu bewegen. »Vom Fall der Stadt Gent. Vom Tod seines Sohnes.« Der Tod seines Sohnes. »An die Hunde verfüttert«, murmelte Wulfhere. Er schnitt eine Grimasse, als würde man ihm gerade einen Pfeil aus dem Oberschenkel reißen. Liath fiel auf die Knie und faltete die Hände vor der Brust. »O Herrin«, flüsterte sie. »Höre mein Versprechen. Niemals werde ich einen anderen Mann lieben als ihn.« »Leichtsinnige Worte«, erklärte Wulfhere scharf. »Komm, Liath.« »Sichere Worte«, entgegnete sie bitter, »jetzt, da er tot ist. 302 Und ich werde dem Schicksal folgen, das andere für mich bestimmt haben.« »Wie wir alle es tun«, sagte er ruhig. Sie ließen das Feuer brennen und kehrten zum Haferfeld zurück, wo sich die Flüchtlinge in Reihen aufstellten und zum Abmarsch bereit machten. »Ist so viel Zeit vergangen?« fragte Liath verwundert. Sie sah, daß ungefähr weitere hundert Flüchtlinge angekommen waren, und noch immer tauchten vereinzelt welche aus dem Tunnel auf, verängstigt, zitternd und weinend. Doch diese hatten Gent Stunden zuvor verlassen. Sie konnten nicht wissen, was gerade geschehen war, was sie und Wulfhere gesehen hatten. »Wie lange haben wir in das Feuer gesehen?« Wulfhere antwortete nicht. Er war gegangen, um von Bürgermeister Werner zwei Pferde für die Adler zu fordern. Liath verfolgte den Streit nicht; sie starrte auf die Höhle, aus der immer noch Leute ins Sonnenlicht traten, blinzelnd, weinend, furchtsam, erleichtert. Wie viele würden noch kommen? Würde Manfred bei ihnen sein, oder war er getötet worden? Hatte die Bischöfin überlebt? »Liath!« Wulfhere klang ungeduldig und verärgert. »Komm!« Die Pferde wurden ihnen gebracht. Werner geiferte vor Zorn, aber er hatte keine andere Wahl, als sie ihnen zu überlassen. Liath nahm die Zügel eines Wallachs und stieg auf. »Was ist mit Manfred?« fragte sie und schaute über die Schulter zurück auf die Reihe von Wagen, auf die Gruppen von Flüchtlingen, die jetzt marschbereit zusammenstanden. Sie starrte hoffnungsvoll, hoffnungslos, auf den Eingang der Höhle. »Wir können nicht länger warten«, sagte Wulfhere. Er drängte sein Pferd vorwärts, auf die alte Straße zu. 303 Der erste Wagen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, nach Westen auf Stelesham zu, wo sie in Sicherheit sein würden. Die Flüchtlinge begannen loszumarschieren; sie murmelten, seufzten und schluchzten vor Trauer; eine Stimme schien nicht aufhören zu können, ihr Leid zu beklagen. Liath zögerte noch, starrte zurück. Sie blinzelte. Vielleicht täuschte sie sich, aber für einen Augenblick glaubte sie, sie hätte eine Gestalt auf dem Kamm des Hügels oberhalb der Höhle gesehen: die Gestalt einer Frau, die in ein Kleid von alter Machart gehüllt war. Sie war verwundet, konnte aber noch stehen, als könnten die Verletzungen ihr nichts anhaben. Die Schutzheilige von Gent wachte noch immer über ihre Herde. Sie neigte leicht den Kopf. Vielleicht täuschte sie sich, aber sie glaubte, gerade den Ruf des letzten Menschen gehört zu haben, der aus der Höhle kletterte: »Der Tunnel ist zu! Er ist verschlossen, als hätte er nie existiert!« »Liath!« Wulfhere war schon zwischen den Bäumen. Wagen rollten hinter ihm die Straße entlang. Liath folgte Wulfhere auf dem alten Pfad, der in den Wald hinein- und von Gent wegführte. Schon bald hatten sie den langen Treck aus Flüchtlingen weit hinter sich gelassen. VI Der Schatten des Guivre
Sabellas Armee schlug ihr Lager im Elmark-Tal auf, dem östlichsten Teil der Ländereien, die ihr Mann geerbt hatte. Hier hatte sich fünfzig Jahre zuvor das Schicksal des Königreichs Varre entschieden, das seither von wendischen Königen und Königinnen regiert wurde. Im Hochland hinter dem Tal lagen die Grenzdörfer des Herzogtums Fesse, das dem wendischen Königshaus gegenüber absolut loyal war. Bei Abenddämmerung traf die Kunde ein, daß König Henry mit seinem Heer in der Stadt Kessal angekommen und somit noch etwa einen Tagesmarsch von der Grenze - und Sabellas Lager - entfernt war. An diesem Abend schritten die Geistlichen von Bischöfin Antonia durch das Lager und verteilten Amulette an die Soldaten. Alain begleitete die beiden Kirchenmänner, an deren Gegenwart er sich inzwischen gewöhnt hatte; er schlief, aß, ging
und betete mit Willibrod und Heribert. 305 Und natürlich mit Aigus. Doch die Gesellschaft von Agius war so ähnlich wie das Hemd, das er trug: Alain nahm an, daß das beständige unangenehme Reiben auf der Haut gut für die Seele war und die Erhebung zu frommeren Gedanken förderte, doch für sich selbst zog er es vor, nicht andauernd wund gescheuert zu werden. Zweifellos offenbarte sein Versagen in diesem Bereich seinen Mangel an wahrer Frömmigkeit. Doch andererseits sah er bei einem Blick auf Agius einen Menschen, der nichts weiter als die Verbindung mit Gott anstrebte. Alain bewunderte die Inbrunst von Agius' Hingabe. Er selbst war - trotz der besonderen Umstände erstaunt und erfreut darüber, endlich etwas von der großen Welt sehen zu können. Er betete zu dem Herrn und der Herrin, daß sie ihm seinen Wunsch vergeben würden, die Welt kennenzulernen, bevor er sich ihrem Dienst voll und ganz verschrieb. »Was ist das?« fragte Agius, als Alain und die Geistlichen spät am Abend in das Zelt von Bischöfin Antonia zurückkehrten. Agius betete lieber unter den aufmerksamen Blicken der Wachen, als daß er mit Antonias Geistlichen - die er verachtete - durch das Lager streifte. Vielleicht wollte er auch den Eindruck aufrechterhalten, daß er ein Gefangener war, eine Geisel. So konnte niemand auf den Gedanken kommen, er würde freiwillig an Sabellas Rebellion teilnehmen. »Ist das ein Amulett?« Willibrod stammelte etwas Unverständliches und kratzte sich an seinen Malen. Heribert, der sich niemals von Agius' höherer Stellung einschüchtern ließ, hielt ihm das Amulett ungeduldig entgegen. »Es ist ein Schutz. Nehmt es.« Agius wölbte hochmütig eine Braue. »Magie? Beschäftigt sich Bischof in Antonia jetzt nicht mehr nur mit Verrat, sondern auch noch mit Magie?« 306 Willibrod kicherte nervös. Heribert ließ das Amulett in Agius' Hand gleiten und wandte sich ab. »Es ist schon spät, Bruder«, meinte er zu Willibrod. »Wir müssen beten und uns zum Schlafen niederlegen.« Das Bett von Bischöfin Antonia blieb leer: Sie beriet sich noch mit Sabella und den anderen Edlen. Vor dem Zelt gähnte eine Wache. Rage und Kummer verzogen sich in ihre Lieblingsecke, wo sie sich in der für Hunde typischen Manier mehrere Male um sich selbst drehten, bevor sie sich niederließen. Agius starrte auf das Amulett, betastete es, drehte es hin und her. Alain hockte sich neben dem Frater auf die Fersen. »Glaubt Ihr, daß es Magie ist?« flüsterte er. Agius zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung von Magie - oder zumindest nicht mehr als du, wie ich annehme.« Alain trug selbst eines der Amulette an einer Kordel um den Hals. Er zeigte es Agius und verglich es mit dem, das der Frater hatte. Es war ein kleiner Kreis aus Holz, unschuldig genug, denn es schien der Kreis der Einigkeit zu sein, jener Schmuck also, den sich alle Menschen gerne umhängten. Doch auf der Rückseite waren Buchstaben eingeritzt, die Alain nicht kannte, und in die Kordel waren eine Haarsträhne, ein dünner, zarter Federkiel und ein einzelnes, verwelktes Holunderblatt eingeflochten. »In unserem Dorf lebt eine alte Frau, die die Sprache der Vögel versteht«, sagte Alain. »Und einmal kam ein Mann nach Osna und behauptete, er könnte unser Schicksal vorhersehen, indem er sich die Karten der Himmelssphären von dem Heiligentag ansieht, an dem wir geboren wurden. Aber er wollte Geld für seine Vorhersagen, und daher nannte Diakonissin Miria ihn einen Betrüger und jagte ihn aus dem Dorf.« 307 Agius runzelte die Stirn angesichts der Buchstaben auf der Rückseite des Kreises. »Ich kenne diese Worte nicht«, sagte er. »Und ich habe auch nicht vor, unsere Geistlichen zu fragen, was sie bedeuten, selbst wenn sie es wüßten.« Er schaute auf, begegnete Alains Blick. Ein strenger Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und Alain wußte sofort, an was er dachte: an die Nacht, als Antonia Simplizius geopfert hatte, als die Geister gekommen waren, herbeigerufen vom Geruch des Blutes. In jener Nacht hatte Graf Lavastin sich von einem entschlossenen, klugen Mann in eine Marionette verwandelt, die nach den Fäden tanzte, die andere in der Hand hielten. »Bischöfin Antonia muß vorhaben, Magie zu benutzen«, flüsterte Alain mit einem Blick auf die Geistlichen. Sie beteten und schienen die Unterhaltung der Gefangenen nicht zu verfolgen. »Sie hat sie bereits früher eingesetzt.« »Aber zu welchem Zweck?« murmelte Agius. »Und aufweiche Weise? Als ich als kleiner Junge an der Rundreise des Königs teilnahm, gab es in der Königlichen Schule ein paar, die es wissen oder zumindest ahnen könnten. Der uneheliche Sohn von Markgräfin Judith zum Beispiel. Er war immer sehr interessiert an allem, was die Kirche ihn nicht lehren wollte. Aber die verbotenen Künste haben mich niemals interessiert. Ich hatte bereits die verlorenen Worte des heiligen Daisan und die unterdrückte Aussage seiner Schülerin St. Thekla entdeckt -« Er brach ab und stand auf. Kummer hob den Kopf und knurrte leise und tief in der Kehle. Alain sprang genau im gleichen Moment auf, als die Bischöfin mit ihrem Gefolge ins Zelt rauschte. Regentropfen glänzten auf ihren Gewändern, blitzten im Licht der Fackeln. In ihrem Schlepptau wehte feuchte Luft ins Zelt. In der Ferne hörte Alain Betrunkene derbe Lieder grölen. Sabella hatte kürzlich ihren letzten Galan zugunsten eines jüngeren, besser aussehenden Mannes hinausge 308
worfen - eines freigeborenen Soldaten, der zu Herzog Rodulfs Wachen gehörte. Und vor fünf Tagen hatte es eine handfeste, wenn auch kurze Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern gegeben, bei der der abgelegte Mann eine schlechte Figur gemacht hatte. Seither war der Hinausgeworfene die Zielscheibe von Spott und Hohn. »Heribert«, befahl die Bischöfin. Der junge Geistliche gehorchte sofort und kniete vor ihr nieder. »Sorgt dafür, daß ein Bett dort in der Ecke aufgestellt wird, wo unsere anderen Gäste schlafen.« Sie nannte Agius und Alain grundsätzlich immer nur Gäste. »Und dann geht und bringt sie her. Wir müssen Platz schaffen. Es sind noch mehr gekommen, um sich Sabellas Heer anzuschließen. >So werden sich alle Menschen im Hause der Rechtschaffenheit versammelnd« »>Ladet nicht alle in Euer Haus<«, entgegnete Agius. »Unehrlichkeit kennt viele Verkleidungen.<« Antonia warf dem Frater einen mitleidigen Blick zu, als wäre er ein Junge, der alt genug ist, die Ziegen zu hüten, sich aber immer noch in die Hosen macht. Dann blickte sie Alain freundlich an. Kummer knurrte. Alain legte die Hand auf die Schnauze des Tiers und brachte es zum Schweigen. »Komm, Kind«, sagte die Bischof in, die Feindseligkeit des Hundes ignorierend. »Wir wollen uns unterhalten, während meine Dienerinnen mich für die Nacht vorbereiten.« Willibrod brachte Alain einen Stuhl und baute sich besorgt hinter ihm auf, während die Dienerinnen sich daranmachten, der Bischöfin zu helfen. Sie nahmen ihr die Mitra und ihr Amtsgewand ab, falteten es vorsichtig zusammen und legten es dann in eine reich mit Schnitzereien verzierte, bemalte Truhe, die am Fußende des Bettes stand. Unter ihrem Ornat trug die Bischöfin ein Gewand aus feiner, weißer Seide. Sie setzte sich hin, und eine Dienerin löste die geflochtenen Haare 309 und kämmte sie, während sie mit einem goldenen, edelsteinbesetzten Kreis der Einigkeiten spielte. Alain betrachtete abwechselnd seine und ihre Hände. »Fährst du abends mit den Übungen fort?« fragte sie. »Ja, das tue ich, Euer Gnaden.« »Lies mir vor.« Sie nahm ein Buch vom Bett, das so wunderschön in einen Umschlag aus geschnitztem Elfenbein gebunden war, daß er zunächst Angst hatte, es zu berühren, als sie es öffnete und ihm reichte. Sie nickte zur Bestätigung, daß er es ruhig nehmen sollte. Behutsam nahm er das Buch in die Hände. Zuerst starrte er die aufgeschlagene Seite einfach nur an. Sie zeigte ein wunderschönes Bild - sieben Schüler, die ihre Hände gen Himmel erhoben hatten und das PentekosteWunder feierten. Die Verzierungen waren in goldener Tinte ausgeführt, und der große Anfangsbuchstabe, der den Text einleitete, beherbergte innerhalb seiner dicken, schwarzen Umrandung unzählige winzige Eulen, die auf einem schmalen Weisheitsbaum hockten; jede einzelne hielt eine Pergamentrolle oder einen Stift in der Hand, und sie alle waren atemberaubend und außerordentlich fein dargestellt. Niemals zuvor hatte er etwas so Kostbares in den Händen gehalten. »Lies, Kind«, wiederholte die Bischöfin. Stockend begann er zu lesen: »So geschah es also, daß sieben mal sieben Tage nach Translatus Thekla die Stimme des heiligen Daisan hörte, und ihre Sehfähigkeit war wiederhergestellt. Er zeigte sich ihr und ihren Gefährten und bewies somit, daß er am Leben war. Er sprach sieben Stunden mit ihr, lehrte sie über den Gott der Einigkeiten und die Kammer des Lichts.« Mit klopfendem Herzen hielt er inne und holte hastig ein paarmal tief Luft. Das Lesen fiel ihm schon schwer genug, wenn Agius ihn beobachtete, aber unter Antonias musternden 310 Blicken wurde er fürchterlich nervös. Agius hatte sich niedergekniet, wie er es immer tat, wenn jemand aus dem Buch der Heiligen Botschaft las. »Du hast Fortschritte gemacht«, sagte Antonia. »Aber du bist noch immer weit davon entfernt, fließend zu lesen.« Er schickte ein stummes Dankesgebet an die Herrin und den Herrn. Es stimmte, er konnte die Sprache der Kirche - Dariyanisch - entziffern, aber die Wahrheit war, daß es bei jedem anderen als diesem Buch unmöglich gewesen wäre. Doch diese Geschichte hatte er so oft in der Kirche von Osna gehört, wenn Diakonissin Miria laut aus der Heiligen Botschaft vorgelesen oder die Erzählung in liebevollen Einzelheiten aus dem Gedächtnis wiedergegeben hatte, daß er immer wußte, was als nächstes kam, auch wenn er ein Wort einmal nicht kannte. »Und der heilige Daisan erzählte ihnen: >Ihr werdet Macht erhalten, wenn ein Engel mit der Göttlichen Botschaft, dem Heiligen Wort Gottes, zu Euch kommt. Ihr werdet Zeugnis über mich ablegen, in Sa'is, in ganz Dariya und auch in Arbahia, bis hin zum Ende der Welt.< Als er dies gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke entzog ihn ihren Blicken. Dann kehrten sie von dem Hügel namens Olivassia nach Sais zurück, das nicht weit entfernt lag, nicht weiter, als eine Reise am Himmelstag. Als sie in der Stadt ankamen, gingen sie zu dem Haus, in dem sie wohnten: Thekla und Peter, Matthias und Thomas, Lucia, Marianna und Johanna. Sie beteten unaufhörlich miteinander. Dann kam der Tag, der Pentekoste genannt wird, der fünfzigste Tag nach der Ekstasis und dem Translatus des heiligen Daisan in die Himmel. Als sie an diesem Tag zusammen waren, erscholl plötzlich ein Lärm vom Himmel, wie von einem
311 starken Wind, der das Haus füllte. Und Zungen wie Flammen aus Feuer erschienen ihnen.« Antonia seufzte und nickte, als würde die Erzählung sie tief berühren. »Und also sprachen die Schüler in den Sprachen der verschiedenen Völker«, sagte sie, »selbst in jenen, die sie nicht kannten. Und so enthüllte der heilige Daisan, daß das Heilige Wort und die Botschaft des Lichts für alle Völker bestimmt waren.« »Auch für die Aikha?« fragte Alain. »Oder die Verlorenen? Oder die Kobolde, die im Harenz-Gebirge leben?« »Selbst sie«, erwiderte die Bischöfin feierlich. »Denn es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen, wer die Kammer des Lichts betreten darf und wer nicht.« Alain dachte an Fünfter Bruder. Er dachte daran, wie er dem Aikha-Prinzen die Geschichte von der Ekstasis und von Daisans Translatus in die Himmel erzählt hatte. Doch der Prinz verstand kein Wendisch. Und doch ... die Geschichte hatte den Prinzen dazu verleitet, mit Alain zu sprechen, womit er nicht nur verraten hatte, daß er sprechen konnte, sondern auch, daß er intelligent genug war, es zu wollen. Die Geschichte hatte den Prinzen, auch wenn er ein Wilder war, dazu gebracht, mit ihm eine Art Freundschaft zu schließen. Ein Diener brachte einen Krug mit dampfendem Wasser. Die Dienerin goß es in die schöne Keramikschüssel und befeuchtete ein Tuch, mit dem sie vorsichtig das Gesicht der Bischöfin reinigte; dann betupfte sie es mit Lavendelöl. »Fahr fort«, sagte Antonia. Sie hielt die Augen weiter geschlossen, als die Dienerin das Tuch wieder wegnahm. »Lies weiter, Kind.« Er schluckte und blickte Agius an, doch der Frater hatte seine Stirn auf die gefalteten Hände gelegt und starrte auf den Teppich. Alain leckte sich nervös über die Lippen und fuhr fort: 312 »Jetzt lebten in Sai's Leute von jedem Volk, das unter dem Himmel existiert, und wegen dieses Wunders versammelten sich viele Menschen, und sie alle waren erstaunt und verblüfft. Thekla stand mit den anderen sechs auf und wandte sich an sie: >Dies ist es, wovon der Prophet gesprochen hat. So sagt der Gott der Einigkeiten: Dies wird in den nächsten Tagen geschehen: Wir werden über alle einen Teil der Heiligen Botschaft verströmen. Eure Frauen werden Visionen haben und Eure Männer Träume. Ja, selbst den Sklaven wird ein Teil unseres Wortes zuteil werden, und sie werden Prophezeiungen machen. Und wir werden Omen am Himmel über uns und unten auf der Erde erscheinen lassen - Blut und Feuer und Sturm. Die Sonne wird sich verdunkeln, und der Mond wird bluten. Ruft die Herrin mit ihrem Namen an, Mutter des Lebens, und ruft den Herrn mit seinem Namen an, Vater des Lebens, und Ihr werdet gerettet und zur Kammer des Lichts emporgehobene Und die anderen Schüler klatschten in die Hände und erhoben ihre Stimmen in liebendem Gebet, um ihre Worte zu bestätigen.« Ein Geistlicher trat zu ihnen und flüsterte Antonia etwas ins Ohr. Sie lächelte freundlich und machte eine Handbewegung, dann stand sie auf. »Wir haben heute abend einen neuen Gast in unserem Zelt«, sagte sie. Als sie sich umdrehte, öffnete sich der Eingang, und Heribert - begleitet von zwei Wachen -führte Constanze ins Zelt. Hinter ihm folgten Diener; sie trugen eine Holzpritsche und eine Matratze herein. Seit einigen Tagen trug Constanze ihre Amtsgewänder nicht mehr. Alain wußte nicht, ob sie sie freiwillig abgegeben oder ob man sie ihr einfach genommen hatte. Ihr Gesicht jedenfalls trug keinerlei Spuren von körperlicher Mißhandlung. »Meine gesegnete Schwester«, sagte Antonia, während sie vortrat. Constanze streckte eine Hand aus, als erwarte sie ei313 nen Handkuß, doch Antonia drückte die Hand nur herzlich, wie bei einer lieben Verwandten. Es war Constanze nicht anzumerken, ob diese Unverschämtheit sie wütend machte. Immerhin hatte Sabella ihr das Amt als Bischöfin entzogen, und so stand Bischöfin Antonia in der Kirchenhierarchie jetzt über ihr, vielleicht sogar auch in der Welt. Selbst in ihrer bischöflichen Amtstracht hatte Constanze den Goldreif getragen, der ihre königliche Abstammung kennzeichnete; sie trug ihn auch jetzt zu den einfachen Gewändern einer Diakonissin. »Es tut mir leid«, fuhr Antonia fort, »Euch diesen Verlust an Bequemlichkeit zumuten zu müssen. Aber Ihr wart in dem anderen Zelt allein mit Euren Bediensteten, und inzwischen ist der Cousin von Herzog Conrad, der Sohn der Schwester seines Vaters, mit zwanzig berittenen Männern und fünfzig Fußsoldaten eingetroffen.« »Und was ist mit Conrad?« fragte Constanze kühl. »Ist er nicht erschienen, um Sabella zu unterstützen? Vielleicht denkt er gar nicht daran, seine Hilfe einer unrechtmäßigen Rebellin zu gewähren.« Eine ihrer Dienerinnen brachte ihr einen Stuhl, und sie ließ sich nieder. Sie schien Agius' Anwesenheit noch nicht bemerkt zu haben, zumindest schenkte sie ihm keinen einzigen Blick, und auch er schaute nicht von seinem Gebet auf. Aber seine Schultern waren auf eine Weise angespannt, als wollte sein Körper verraten, was seine Augen und Lippen verdrängten: irgendeine Reaktion auf die Gegenwart der Frau, die er betrogen hatte. »Herzog Conrad ist nicht gekommen. Es heißt, seine Frau Eadgifu steht sieben Tage vor ihrer Niederkunft.« »Das wird dann ihr viertes Kind sein«, sagte Constanze. Wenn sie nervös oder verärgert war, zeigte sie es nur anhand der langsamen Bewegung, mit der die rechte Hand über die linke strich. »Aber das ist lediglich eine Ausrede, Euer Gnaden. 314 Eadgifu hat Verwandte bei sich; es besteht keine Notwendigkeit, daß ihr Ehemann in dieser Zeit an ihrer Seite
weilt. Macht Euch nichts vor. Wenn Herzog Conrad noch nicht an Sabellas Seite geeilt ist, dann weil er es nicht will.« »Er ist auch noch nicht an Henrys Seite geeilt.« Constanze lächelte schwach. »Conrad ist nicht ganz frei von eigenen Ambitionen. Abgesehen von meiner Familie ist er der einzige andere Abkömmling des ersten Henry. Sollten die Kinder von Arnulf dem Jüngeren sich in einem Krieg über das Recht auf den Thron gegenseitig auslöschen, wird es sein Anspruch sein, der übrigbleibt.« »Vergeßt Ihr nicht den Anspruch, den Herzogin Liutgard anmelden könnte?« »Es ist wahr, daß sie von königlichem Blut ist, immerhin ist sie die Urgroßnichte von Königin Conradina. Aber als ihr Großvater seinen Anspruch auf den Thron aufgab und statt dessen Henry unterstützte, entsagte er ihm für alle Zeiten. Nein. Liutgards Loyalität ist gesichert.« Hier sah sie - wie gegen ihren eigenen Willen - Agius an, und er blickte kurz auf, begegnete ihrem Blick und zuckte zusammen. »Wie lautet also Euer Rat?« fragte Antonia. Sie benutzte die Ehrenbezeichnung, die einer Bischöfin zustand »Euer Gnaden« -, absichtlich nicht; Constanze war nicht länger die Bischöfin von Autun, zumindest solange die Stadt unter Sabellas Kontrolle war. »Ich rate zum Frieden«, sagte Constanze. »Was alle tun sollten, die ihren Dienst dem Herrn und der Herrin widmen.« Antonia machte ihren Dienerinnen ein Zeichen, und sie brachten Kopfkissen und eine Federdecke. »Es ist spät«, sagte die Bischof in. »Wir marschieren morgen früh los.« »Wenn Ihr die Grenze nach Wendar überschreitet, ist das ein deutliches Zeichen für Eure Mißachtung der Herrschaft 315 meines Bruders«, sagte Constanze. »Zusätzlich zu allem anderen, was in den letzten Monaten geschehen ist.« »So wird es sein«, erwiderte Antonia mit ihrem freundlichen Lächeln, als übte sie Geduld gegenüber einer begriffsstutzigen Schülerin. »Henry wartet in Kessal, wenn es stimmt, was unsere Kundschafter herausgefunden haben. Dort werden wir aufeinandertreffen. Und jetzt laßt uns beten. Danach werden wir uns zur Ruhe begeben.« Sie kniete nieder, und ihre Dienerinnen und die Geistlichen taten es ihr gleich. Constanze zögerte, doch dann kniete auch sie sich hin und stimmte in das Gebet ein - mit dem ganzen Stolz und der vornehmen Haltung einer Frau, die sich von Widrigkeiten nicht unterkriegen ließ. In dieser Nacht träumte Alain. Das leichte Schaukeln des Bootes wiegt ihn hin und her, aber er schläft nicht. Es sind zwanzig Gefangene an Bord, die zu Sklaven gemacht werden sollen. Sie kauern nah beieinander im Rumpf des Bootes, weinen und stöhnen und schlafen den Schlaf jener, die die Hoffnung aufgegeben haben. Seine Cousins haben nur die Starken mitgenommen, die jungen, die ihnen eine Handvoll jähre oder noch mehr dienen können, bevor sie dem Winter oder dem jagdtrieb der Hunde zum Opfer fallen. Einige werden sogar Nachkommen gebären, aber die Kinder der Weichen sind schwach und zerbrechlich, nicht zum Überleben geeignet. Wie sie sich überhaupt so stark in den südlichen Ländern haben verbreiten können, ist ihm ein Rätsel, das er nicht beantworten kann - und er wagt auch nicht, die WeisMütter danach zu befragen, denn sie sorgen sich nicht um das Schicksal der Ungläubigen. Aber hatte Elen Henrisson nicht von einem Gott und einem Glauben gesprochen? Er berührt den Kreis, der an seiner Brust hängt. Er ist kalt. 316 Wellen klatschen gegen den Rumpf, und die Ruder quietschen in einem gleichmäßigen Rhythmus in den Dollen, während das Langschiff die See durchpflügt. Diese Musik hat er sein ganzes Leben gehört, und ihre Melodie ist ihm so vertraut wie das Atmen. Diese Nacht eignet sich gut für eine Reise auf der nördlichen See. Er steht am Bug und sieht zu, wie Nebel über dem Wasser aufsteigt. Er betrachtet die Sterne, die Augen der uralten Mütter, deren Körper schließlich vom Wind fort- und hochgetragen wurden in das Tal des schwarzen Eises, dem Tjall der Himmel. Der Mond, das Herz von AltMann, verteilt sein Licht über dem Wasser. Einst hatte auch er einen Platz an den Rudern gehabt. Doch das war, bevor sein Vater das Geheimnis der Macht des Zauberers stahl und, indem er diese Macht an seinen eigenen Körper band, seinen Stamm und seinen Wurf aus den endlosen Rudelkämpfen heraushob und ihnen zur Überlegenheit verhalf. Einst mühte er sich zusammen mit den anderen ab, aber das war, bevor sein Vater Löcher in seine Zähne bohrte und sie mit Edelsteinen füllte, um seine Überlegenheit allen deutlich zu machen, jetzt ist er ein Anführer, genau wie seine Nestbrüder. Dieses Schiff gehört nicht seinem Heimatstamm, aber er ist von der Weisheit der WeisMütter gezeichnet, und sein Vater ist ein großer Zauberer und der Häuptling der Stämme des westlichen Ufers. Daher haben diese Cousins ihn als ihren Anführer anerkannt. Natürlich hatte er Erster Bruder und den Leithund seiner Hundemeute töten müssen, aber das ist bei jedem Wurf, bei jedem Stamm so: Nur ein einziges Männchen kann anführen. Die anderen müssen dem Sieger ihre Kehle darbieten oder sterben. Wählen die Weichen ihre Anführer auch auf diese Weise? 317 Sind sie deshalb schwach, weil sie es nicht tun? Er versteht sie nicht, und er versteht auch nicht, weshalb Elen ihn freigelassen hat. Barmherzigkeit hat keinen Platz im grausamen Norden. Wie Alt Mutter einst sagte - die
FelsenKinder wären schon längst ausgestorben, wenn sie sich den Luxus der Barmherzigkeit gegönnt hätten. Der Wind trägt den Geruch des Ufers in seine Nase. Eine der Sklavinnen schluchzt unaufhörlich; ein klagender, nervenzerreißender Laut. Früher hätte er seine Hunde auf sie gehetzt und ihr von ihnen die Kehle herausreißen lassen, jetzt hält ihn die Erinnerung an Elen zurück. Er wird es aushalten. Er wird die Klagen der Schwachen erdulden. Fürs erste. Der Geruch von Frischwasser berührt seine Lippen. Er leckt daran, plötzlich durstig geworden, aber er will seinem Bedürfnis noch nicht nachgeben. Zu schnell nachzugeben heißt, Schwäche entstehen zu lassen. Hinter ihm knurren die Hunde, als hätten sie seine Gedanken gelesen. Er wendet seinen Kopf und knurrt sie ebenfalls an. Sie gehorchen, akzeptieren seine Überlegenheit. Fürs erste. Er riecht einen Hain aus Esche und den stillen, weisen Geruch von Eiche. Sie passieren einen Wald, während sie weiter nach Osten reisen. Nach Osten, wo sein Vater jagt. Die Ruder tauchen ins Wasser, sinken gleichmäßig und tief ein. Der Wind schlägt ihnen entgegen, und Salz spritzt auf seine Lippen. Vom Ufer riecht er Holzkohle, und er wirft den Kopf zurück und schnüffelt, streckt seine Zunge in die Luft. Alain erwachte. Er war sofort hellwach, was geradezu unheimlich war, denn er hatte die Augen kaum geöffnet, da hatten sie sich schon an die Dunkelheit angepaßt. Rage schlief. Kummer 318 jaulte leise, rührte sich jedoch nicht. Die Laken hinter Kummer, wo Agius schlief, waren leer. Im Schimmer der Kohlenpfanne sah Alain eine dunkle Gestalt neben der Pritsche knien, auf der Constanze schlief. Sein Herz klopfte. Wollte jemand sie ermorden? Beinahe wäre er aufgesprungen. Aber er hatte in dieser Nacht ein scharfes Gehör. Er hörte ihren Atem, hörte das trockene Reiben von Haut an Haut, als sie sich an den Händen hielten, hörte sie miteinander flüstern, so leise wie das Gemurmel der Daemonen in der Nacht. »Frederik hatte etwas mit Sabellas erster Rebellion zu tun. Warum sollte ich dir jetzt trauen, nach allem, was du getan hast, und bei all dem, was ich über deinen Bruder weiß ?« Doch der Sinn ihrer Worte paßte so gar nicht zu ihrem Tonfall und erst recht nicht zu der Art, wie sie Agius' Hände festhielt -mehr wie eine Geliebte als wie eine strenge Bischöfin. »Er war unzufrieden. Und er war jung. Als er mündig wurde, gab mein Vater ihm ein Gefolge, aber keinerlei Pflichten. Er neigte zu voreiligem Handeln und war voller Tatendrang. Du weißt, daß es stimmt. Als die Rebellion dann fehlschlug, wurde er bestraft und mit Liutgard verheiratet.« »Nennst du das eine Strafe? Eine Heirat mit Liutgard?« Sie lachte beinahe. »Oh, Herrin. Für mich wäre es eine gewesen.« Er verschluckte sich bei den Worten, so viel Gefühl schwang in ihnen mit. »Still, Agius.« Sie bewegte sich, und Alain glaubte zu sehen, daß sie einen Finger an die Lippen des Fraters legte, und zwar in höchst intimer Weise. Alain errötete und schaute weg. Aus irgendeinem Grund dachte er an Witti, an ihre Schultern und den weiten Ausschnitt, in den sie ihn hatte sehen lassen, an jenem Mittsom319 mernachtstag, als er ihr zu den Ruinen gefolgt war. Er hatte niemals eine Frau so berührt. »Du mußt Gott lieben, Agius«, murmelte Constanze. »Nicht die Welt und jene, die darin leben. Bischöfin Antonia erzählte mir, daß du etwas mit Ketzerei zu tun hast. Ich habe keinen Grund, ihr zu vertrauen, daher überlasse ich es dir, dich gegenüber einer solch niederträchtigen Anklage zu verteidigen.« »Ich kann nicht. Ich will auch nicht. Nachdem du der Kirche versprochen wurdest, statt...« Er stockte. »... statt der Heirat, schwor ich, nicht eher zu ruhen, als -« »Du hast geschworen, du würdest dich an deinem Vater und meinem Bruder rächen. Aber das darfst du nicht, Agius. Du mußt von dieser Wut ablassen. Es gab nichts, was du hättest tun können. Nichts, was ich hätte tun können.« »Mein Vater schwor vor dem Herdfeuer. Genau wie dein Bruder. Doch der Herr und die Herrin bestraften sie nicht, als sie ihren Schwur rückgängig machten. An diesem Zeichen erkannte ich, daß ihr Versprechen leer gewesen war, daß sie es nur dem Schatten der Wahrheit gegeben hatten. Sie hatten den falschen Worten jener gelauscht, die den Vorsitz beim Konzil von Addai führten, jener, die die Wahrheit unterdrückten. So sprach St. Thekla die Wahrheit über das Ende, das den heiligen Daisan ereilte. Ich habe die Schriftrolle mit ihren Worten gesehen.« »Wo hast du eine solche Schriftrolle gesehen?« »Sie ist verborgen, damit die Kirche sie nicht verbrennen und ihre wahre Aussage, die schändlich in Vergessenheit geriet, zerstören kann. >Dann kam der heilige Daisan vor das Urteil der Kaiserin Thaisannia, Die mit der Maske. Und als er sich nicht vor ihr verbeugen wollte, sondern die Wahrheit über die Mutter des Lebens, die Göttliche Botschaft und das Heilige 320 Wort sprach, verhängte sie die Todesstrafe über ihn. Freudig trat er ihr entgegen, denn gern empfing er das Versprechen der Kammer des Lichts. Aber seine Schüler und Schülerinnen weinten bitterlich. So wurde er weggeführt und gehäutet, und das Herz wurde ihm aus der Brust gerissen.<«
Die Stille war so durchdringend und Agius' Stimme so leise, daß Alain glaubte, er könnte hören, wie die Kohlen zu roter Asche verbrannten und dann zu grauer erkalteten. »>Eine Finsternis überkam das ganze Land, und dann gab der heilige Daisan einen lauten Schrei von sich und starb. Sein Herzblut tropfte zu Boden und erblühte zu Rosen. Ein Licht erfüllte das Land bis an die Enden der Erde, und es war so hell wie die Gewänder der Engel. Das Licht blendete Thekla und die anderen Schüler und Schülerinnen. Und sie lebten sieben mal sieben Tage in Finsternis, denn sie hatten Angst.< Aber ich habe keine Angst, Constanze. Ich habe keine Angst davor, die Wahrheit zu verkünden. Sagte nicht der heilige Daisan: >Seid versichert, daß ich immer bei Euch sein werde, bis ans Ende der Zeit?< Opferte nicht die Mutter des Lebens ihren einzigen Sohn für die Vergebung unserer Sünden?« Constanze seufzte. »Oh, Agius, das ist wirklich Ketzerei. Wie kannst du so etwas sagen? Es ist eine ernste Sache, vor den Presbyter gebracht zu werden, der über die Regeln der Frater wacht. Ist es das, was du willst? Als Ketzer verdammt werden?« »Es ist besser, die Wahrheit zu sagen und zu sterben, als zu schweigen und zu leben.« »Du bist verbittert, Agius. Du warst nicht immer so.« Mit einer plötzlichen Bewegung vergrub er seinen Kopf an ihrer Brust. Als er sprach, klangen seine Worte noch gedämpfter vom Stoff ihrer Gewänder. »Vergib mir, Constanze. Ich tat es, um das Leben meiner Nichte zu retten, um der Liebe willen, die zwischen ihrem Vater und mir bestand.« 321 »Du hast immer viel zu sehr geliebt, Agius.« Sie seufzte. »Du weißt, daß ich dir vergebe. Wie könnte ich es nicht? Du bist in meinem Herzen das Wichtigste, gleich nach meinem Gelöbnis gegenüber Unserer Herrin und Unserem Herrn.« »Und dennoch hast du keinen Widerstand geleistet. Du hast nicht rebelliert, als dein Bruder dich der Kirche übergab.« »Ich kenne meine Pflicht«, sagte sie sanft, während sie ihm über die Haare strich. Agius weinte still, erkannte Alain. Auch Constanze weinte, und Alain hatte den Eindruck, daß er beinahe die Verbindung ihrer Tränen in der Luft schmecken konnte. Vielleicht liebte Agius wirklich zu sehr. Aber stand nicht geschrieben, daß der heilige Daisan die Welt und all die Menschen auf ihr liebte? War Liebe nicht der größte Segen, der Menschen durch die Gnade und Barmherzigkeit Unserer Herrin und Unseres Herrn widerfahren konnte? Alain spürte ihre Nähe, konnte die Hitze ihrer Körper schmecken, die sich aneinanderpreßten - und er verspürte Neid. Wie würde es sein, eine Frau so sehr zu lieben? So sehr, daß er sich - sofern Agius' Hinweise stimmten - in dem Augenblick, wenn sich herausstellte, daß er sie nicht würde heiraten können, von der Welt abwenden und sich als bescheidener Frater der Kirche verpflichten würde - weit unterhalb des Standes, den er im Leben eigentlich eingenommen hätte? Würde irgendeine Frau jemals so um Alain weinen? Sich so an ihn pressen? Oh, es war ja so wahr, dieses alte Sprichwort. Neid ist der Schatten des Guivre, die Schwingen des Todes. Alain schämte sich, denn er begehrte, was ihm nicht zustand. Er war zweimal gezeichnet worden, einmal durch die Kirche und einmal von der Herrin der Schlachten, deren Rose er bei sich trug. Aber er mußte an die Nächte im Langhaus denken, wenn er 322 als Kind wach gelegen und den leisen Geräuschen gelauscht hatte, die von den anderen Betten zu ihm gedrungen waren, von Stancy und ihrem Ehemann, Tante Bei und Onkel Ado, bevor er gestorben war. Von allen Erwachsenen, die Alain kannte, enthielten sich nur sein Vater Henri und jene, die der Kirche versprochen waren, solcher Vereinigungen. Agius und Constanze aber vereinigten sich in nichts Intimerem als einer Umarmung, und doch war soviel mehr zwischen ihnen, daß es wie ein helles Licht loderte, wie die Hitze der Kohlen in der Kohlenpfanne. Eine weitere Kohlenpfanne stand im Zelt neben dem Bett, in dem Antonia schlief. Alain warf unwillkürlich einen Blick darauf, ohne sich zu rühren oder anderweitig zu verraten, daß er wach war. Aber es verschlug ihm den Atem, und er unterdrückte ein leises Stöhnen; er biß sich rasch auf die Lippen. Mindestens fünf Herzschläge lang atmete er nicht. Antonia hatte die Augen geöffnet. Er sah sie im schwachen Licht, glitzernd in der Nacht. Constanze und Agius waren zu sehr mit sich beschäftigt, um es zu bemerken. Er nicht. Sie beobachtete die beiden lautlos. Sie erschien ihm wie ein gewaltiger, gähnender Schlund, der sämtliches Leben, sämtliche Luft einsaugte. Und er hatte das Gefühl, sie beobachtete sie nicht nur wegen ihrer eigenen Begierden oder weil sie sie ausspionieren wollte und auf Informationen hoffte, sondern weil sie gierig war, weil sie wie eine Katze, die Sahne aufschleckt, oder ein Greif, der das Blut seiner Mutter aufsaugt, von den beiden soviel wie möglich haben wollte. Als wollte sie die ganze Tiefe ihrer Gefühle an sich reißen und horten. Das Gefühl ihrer Wachsamkeit verursachte ihm Übelkeit. Er schloß die Augen und lehnte sein Gesicht gegen die warme, sichere Seite von Kummer. Später, als er kein Flüstern mehr vernahm, schlief er wieder ein. 323 2
Sie berieten sich in der Morgendämmerung vor Antonias Zelt. »Ich behaupte weiterhin, daß der Kampf zu früh stattfindet«, protestierte Herzog Rodulf. Offensichtlich dauerte dieser Streit schon mehrere Tage, und er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sich doch noch durchsetzen zu können. »Wir gefährden nur alles, wenn wir jetzt auf Henry treffen.« »Jetzt auf Henry zu treffen ist genau das, was ich wollte und geplant hatte«, sagte Sabella. Das Merkwürdige an ihrer Stimme - so monoton sie auch klingen mochte - war, daß gerade dieser Mangel an Ausdruck ihr eine hartnäckige Entschiedenheit verlieh. Sie besaß keine besondere Ausstrahlung, war keine große Anführerin; sie besaß nicht einmal jene brüske, ungeduldige Autorität, mit der Lavastin einst sein Land regiert hatte. Wie ein den Abhang hinunterrollender Felsblock machte sie keine großen Worte, versprühte kein großes Feuer, sondern zermalmte einfach jedes Hindernis, das auf ihren Weg lag. »Er hat sich beeilt, mich zu treffen. Er kann heute keine große Streitmacht bei sich haben.« »Und doch hat er ein größeres Heer als wir, wenn wir den Kundschaftern Glauben schenken können.« Rodulf runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Aber es ist nicht so groß, wie es sein wird, wenn wir ihm Zeit lassen. Das heißt, wenn wir denen, die ihn unterstützen, Zeit lassen, auf ihren Ländereien Truppen auszuheben und sie an Henrys Seite zu schicken. Nein, dieses Heer ist kleiner als jedes andere, mit dem Henry jemals seine Krone verteidigen wird. Und es wird nicht groß genug sein.« »Ihr seid Euch sehr sicher«, sagte Rodulf. Von allen Edlen in Sabellas Gefolge war er jetzt der einzige, der sie noch kriti324 sierte. Sie erduldete seine Kritik, mußte sie erdulden: Er war ein Herzog und in allen Dingen gleichrangig, abgesehen davon, daß er keinen Goldreif trug. Aber Rodulfs Großmutter war eine Prinzessin von Salia gewesen, und so stammte auch er in gewisser Weise aus einem edlen Geschlecht. Alain stand hinter Bischöfin Antonia und ihren Geistlichen und sah der Beratung zu. Inzwischen war Willibrod nicht mehr der einzige Geistliche mit Ausschlag und unansehnlichen Wunden an Händen und Lippen - aber er war der einzige, der nervös daran herumzupfte. Nur Heribert, ein Mann, wie Alain keinen pingeligeren kannte, hatte sich seine saubere, unbefleckte Haut bewahrt. Doch als der führende von Antonias Geistlichen war er auch von der eigentlichen Arbeit nicht betroffen; ihm oblag die Aufsicht über die Pflege der Kleidung, die Herstellung der Amulette, die Sorge um die Kranken und die übrigen kleinen Aufgaben, die anfielen, wenn eine Bischöfin zugegen war. »Ich bin mir sicher«, erwiderte Sabella. »Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Die Zeit zum Kämpfen ist gekommen.« Sie schaute Bischöfin Antonia an; die Bischöfin nickte zustimmend auf eine unausgesprochene Frage. Manchmal fragte sich Alain, ob Antonia Sabella auf die gleiche Weise kontrollierte wie Lavastin, aber nicht einmal jetzt konnte er einen Hinweis darauf entdecken. Sabella und Antonia arbeiteten Hand in Hand. Welcher Groll es war, der sie zu diesen Taten trieb, wußte er nicht, aber er machte sich viele Gedanken darüber. Sabellas Forderung war offensichtlicher. Sie glaubte, von einem Thron vertrieben worden zu sein, der rechtmäßig ihr zustand. Aber hatte nicht Gott durch sein Nichterscheinen gesprochen, als Sabella sich auf die Nachfolge-Rundreise begeben hatte und ohne schwanger zu sein zurückgekehrt war? Henry dagegen hatte auf seiner Nachfolge-Rundreise ein Kind 325 gezeugt, wenn auch mit einer so seltsamen Gefährtin wie einer Aoi-Frau. Wieso konnte Sabella nicht akzeptieren, was das Schicksal - und Gott - für sie entschieden hatten ? Nicht mehr als ich es konnte, dachte er reumütig. Das Schicksal - und der Gott der Einigkeiten - hatten entschieden, daß er als Novize der Kirche beitreten sollte, und doch war er jetzt hier, sah mehr von der Welt, als er zu hoffen gewagt hatte, auch wenn es seinen kühnsten Träumen entsprach. Schließlich machten sich alle bereit. Herzog Rodulf begab sich zu seinen eigenen Truppen, und Sabella wartete auf ihr Pferd. Wenig später wälzte sich eine gewaltige Kavalkade nach Osten, überquerte den El an einer seichten Furt und marschierte in das Hochland hinauf. Sie befanden sich jetzt auf den Ländereien, deren Loyalität dem Herzog von Fesse galt. Sie waren in Wendar. Als Sabella das bewaffnete Heer aus Arconia herausgeführt hatte, hatte sie auch eine unsichtbare Linie überschritten. Nun gab es kein Zurück mehr. Alain konnte sich nicht helfen - er verspürte vor Aufregung ein leichtes Kribbeln. Die Männer, neben denen er marschierte - Wachen und Geistliche, die die Bischöfin Antonia und ihre »Gäste«, Constanze und Agius, beschützten -, spürten es ebenfalls. Sie lachten und sangen ausgelassen, erzählten sich Witze und brüsteten sich mit Erklärungen darüber, was sie mit den Kostbarkeiten anfangen würden, die sie Henrys Soldaten wegnehmen wollten: eine Speerspitze, einen guten Dolch, irgendwelche Teile von Rüstungen, einen Schild, einen Metallhelm, einen ledernen Überwurf oder, wenn man besonders viel Glück hatte, ein Kettenhemd oder ein Schwert. Egal, wer diesen Kampf gewinnen würde, wurde Alain klar, es würde eine große Menge an Reichtum den Besitzer wechseln. 326 Gegen Mittag trafen sich die Heere, als hätten sie sich verabredet. Sie stellten sich auf einem breiten Feld auf. Henrys Streitmacht hatte die bessere Position. Das Feld stieg auf seiner Seite erst sanft, dann steil an, und Henry
hatte seine Truppen so aufgestellt, daß Sabellas Soldaten gezwungen waren, bergan zu kämpfen. Aber es schien sie nicht zu beunruhigen. »Ha!« Sie warf Herzog Rodulf einen stürmischen, triumphierenden Blick zu, der sich von seinen berittenen Soldaten zurückgezogen hatte, um sich mit ihr zu beraten. »Was seht Ihr, wenn Ihr die Banner von Henrys Streitkräften betrachtet?« Auch Alain warf einen Blick auf Henrys Heer. Es war gewaltig; niemals hatte er so viele Leute auf einem Haufen gesehen. Er konnte gar nicht so weit zählen, aber er hörte, wie Heribert der Bischöfin etwas ins Ohr flüsterte. »Es sind etwas weniger als achthundert, davon ist ungefähr ein Drittel beritten.« Alain erkannte den Drachen von Saony, doch die Männer, die sich unter dem Banner des Herzogs von Saony versammelt hatten, entsprachen zahlenmäßig etwa denen, die in Graf Lavastins Gefolge marschierten. Da hatte die Truppe, über der der Adler von Fesse wehte, schon ein bedrohlicheres Ausmaß; viele von den Soldaten waren beritten. Ein Teil der Reiter drängte sich um eine Gestalt, die einen Überwurf in Weiß und Gold, den königlichen Farben, trug; das mußte Herzogin Liutgard sein. Auch für Avaria wehte ein Banner, und Alain warf einen Blick auf Agius, der duldsam hinter Constanze stand. Aber es schien ganz so, als schenkte er weder dem Banner des Herzogtums seines Vaters noch dem der Frau, die sein Bruder an seiner Stelle geheiratet hatte, besondere Aufmerksamkeit. Agius betete. Constanze stand reglos da, die Hände an die 327 Brust gepreßt. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie im stillen die Namen der Edlen aufsagen, die sich in Henrys Streitmacht befanden. Im Zentrum von Henrys Heer flatterte ein riesiges Banner in der kräftigen Frühlingsbrise. Auf der Flagge war eine Säule aus den drei Tieren, die für Henrys Herrschaft standen, mit goldenen Fäden aufgestickt: ein Adler, ein Drache und ein Löwe. Selbst aus dieser Entfernung glaubte Alain den König zu erkennen, den eine stattliche Gruppe von Gefolgsleuten umgab. Henry trug einen Eisenhelm und Kettenärmel, und seine Brust war zusätzlich zum Kettenhemd mit einer metallenen Brustplatte geschützt. Auch an den Oberschenkeln trug er einen Kettenschutz und Eisenschienen an den Unterschenkeln; tatsächlich besaßen viele seiner berittenen Soldaten solche Schienen - Zeichen ihres Wohlstands und Ranges. In der linken Hand hielt der König eine Lanze, während die rechte frei war, damit er notfalls sofort nach seinem Schwert greifen konnte. Der Schild, der an seinem Sattel hing, war aus Eisen und vollkommen ungeschmückt, ohne jedes Emblem, ohne jede Bemalung. Wie alle gewöhnlichen Soldaten besaß Alain noch nicht einmal einen Metallhelm, geschweige denn eine solche Rüstung. Er konnte nur ahnen, wie viele Skeattas sie kosten mußte. Nicht einmal Herzog Rodulf trug eine so beeindruckende Rüstung, obwohl auch er sicherlich gut geschützt war. Es war ein eindrucksvolles Heer. In Sabellas Streitmacht flatterten dagegen nur zwei herzogliche Banner: das Guivre von Arconia und der Hengst von Varingia. Doch sie und Rodulf hatten viele Männer ins Feld geschickt, auch wenn weniger beritten und so gut gerüstet waren wie die von Henry. Es schien ein aussichtsloser Kampf zu werden. »Conrad der Schwarze hat sich entschieden, nicht zu er328 scheinen«, meinte Rodulf zu Sabella. Er blinzelte zu den Bannern und Soldaten auf dem Abhang über ihnen. »Conrad spielt sein eigenes Spiel«, sagte Sabella. »Wenn er mich nicht unterstützen will, kann ich nur froh sein, daß er auch Henry nicht unterstützt. Aber seht Ihr nicht, Rodulf? Seht Ihr nicht, was dort fehlt?« Sie machte eine ausschweifende Geste, die Henrys gesamtes Heer umschloß. »Das Banner der Drachen fehlt. Ich sehe den roten Drachen von Saony, aber nicht den schwarzen. Henrys beste Kämpfer sind nicht auf dem Feld!« Rodulf stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Tatsächlich. Jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr, Sabella.« »Ihr hättet Euch niemals welche zu machen brauchen. Tragt Ihr Euer Amulett, Rodulf?« »Ja, aber -« »Das ist das Wichtigste. Kehrt zu Euren Männern zurück.« »Wo sind dann aber die Drachen? Prinz Sanglant hat sich doch sicherlich nicht gegen seinen Vater gewandt. Ich habe noch nie gehört, daß der Junge auch nur einen einzigen Tropfen rebellisches Blut in sich hätte.« Er lachte, ein bißchen nervös zwar, aber offensichtlich entschlossen, diesen Kampf bis zum Ende durchzustehen. »Ich habe mir oftmals gewünscht, meine eigenen Kinder wären so gehorsam.« »Sicherlich habt Ihr mitbekommen, als ich erzählte, was meine Kundschafter erfahren haben? Sie sagten, daß die Drachen nach Norden geritten sind, um gegen Aikha-Eindringlinge zu kämpfen, und daß sie somit aus dem Weg sind.« »Ja, natürlich. Die Schafe anfallen, solange der Wachhund auf der Jagd nach dem Wolf ist, wie?« Er zog eine Grimasse, doch es war mehr ein Grinsen als ein Stirnrunzeln. »Wenn die Drachen heute an Henrys Seite wären, würde ich es für weiser halten, um Vergebung zu bitten als zu kämpfen. So aber -« 329 »Sie sind aber nicht an seiner Seite. Und Ihr müßt eine solche Entscheidung nicht treffen. Geht also.« Sie gab einem ihrer Soldaten ein Zeichen. Er hatte nur darauf gewartet, denn er drehte sich unverzüglich um und lief zu seiner Einheit zurück. Rodulf machte kehrt und ritt mit seinem Gefolge zu seinen Soldaten, die die rechte Flanke bildeten - gegenüber dem Banner von Fesse. Lavastin und ein buntgemischter Haufen aus Edlen und Soldaten,
die auf klösterlichem Eand ausgehoben worden waren, bildeten die linke Flanke und standen dem Löwen Von Avaria und dem kleinen Kontingent, das viele Tage von Saony hermarschiert war, gegenüber. Möglicherweise, überlegte Alain, war aber auch nicht genügend Zeit gewesen, um ein richtiges Kontingent aus Saony herzuholen. Vielleicht wehte das Banner von Saony über Leuten, die schon zuvor zu Henrys Gefolge gehört hatten. Vielleicht sollte es auch mehr von Saonys Loyalität künden, statt auf ein großes Aufgebot von Soldaten hinzuweisen. »Sie wollen verhandeln«, sagte Constanze plötzlich mit klarer Stimme, als sich einige Gestalten aus Henrys Gefolge lösten und auf das freie Feld zwischen den beiden Heeren ritten; sie führten ein blaues Banner mit einem silbernen Baum mit sich. »Das ist Villams Wappen.« »Natürlich«, sagte Sabella. Jetzt bewegte sich auch die in Weiß und Gold gekleidete Gestalt unter dem Banner von Fesse und ritt an Villams Seite. Sabella nickte Bischöfin Antonia zu. »Ihr wißt, was Ihr zu sagen habt.« Die Bischöfin saß bereits auf ihrem Maultier. Sie gab ihren Geistlichen ein Zeichen, und bis auf Heribert traten alle zurück. »Tallia«, befahl Sabella kurz angebunden. Ihre Tochter trat zögernd vor. »Begleite Bischöfin Antonia. Es wird Zeit, daß du 330 gesehen wirst.« Das Mädchen nickte gehorsam, sah aber gar nicht glücklich aus; sie wirkte eher wie eine Maus, die in den Krallen einer Eule gefangen war. Antonia betrachtete die Größe von Villams Gruppe: der Markgraf Villam, Herzogin Liutgard und zwei andere. Sie musterte die Gruppe um Sabella, und ihr Blick fiel schließlich auf Alain. »Komm, Kind«, sagte sie. »Du wirst meinen Maulesel führen.« Sabella hob eine Augenbraue. »Ein Hundeaufseher?« »Etwas mehr als das, denke ich. Diese zwei Hunde, die ihn begleiten, sind Lavastins Hunde. Villam wird sie erkennen und wissen, daß Lavastin freiwillig mit uns marschiert.« Sabella grunzte. »So schicken wir Lavastins Hunde als Stellvertreter? Ich bin amüsiert, aber mein Bruder wird es nicht sein. Es dient meinen Zwecken. Also geh, Junge.« Alain nahm, da er keine andere Wahl hatte, die Zügel des Maulesels in die Hand und führte das Tier den Hügel hinauf. Kummer und Rage folgten ihm auf den Fersen. Neben Alain ging Heribert, der die Zügel von Tallias Pferd hielt; so ritten die Bischöfin und das Mädchen Seite an Seite, als ob sie von gleichem Rang wären. Alain musterte beim Gehen die vier Gestalten, die sie gleich treffen würden. Zwei waren Adler; er erkannte sie an ihren scharlachrot gesäumten Umhängen. Beide waren Frauen, eine sicherlich kaum älter als er. Die jüngere hielt Villams Banner in der linken Hand. Der kräftige ältere Mann mußte Villam sein. Er trug ein Kettenhemd und darüber einen schön gearbeiteten Überwurf mit dem Emblem des silbernen Baums. Aber Alains Blick wanderte zu dem vierten Mitglied der Gruppe. Herzogin Liutgard. Dies also war die Frau, die Agius nicht hatte heiraten wollen. Sie war groß und jünger, als er er331 wartet hatte. Sie hatte ein hochmütiges Gesicht und einen festen Blick, und ihre Augen blitzten vor Wut. Sie hielt ihr Banner selbst, was seltsam affektiert wirkte, und ritt auf einem wunderschönen weißen Wallach, dessen Zaumzeug goldverziert war. Ihre Rüstung war kostbarer als Villams, sogar noch feiner gearbeitet als die des Königs. Es überraschte Alain, daß eine Frau von diesem Rang, die mitten im gebährfähigen Alter war, in den Krieg ritt und ihr Leben aufs Spiel setzte. Doch ihrem angespannten Gesichtsausdruck nach zu urteilen besaß Herzogin Liutgard einen starken Willen, über den man sich nicht leicht hinwegsetzen konnte. Sie bemerkte seinen Blick und, selbst neugierig geworden, betrachtete ihn nun ihrerseits; die Leute, die für Verhandlungen ausgewählt wurden, konnten bereits viel Aufschluß über die Verhandlungen selbst geben. Er hörte im Geist Tante Bels Worte: »Kämm deine Haare und wasch deine Hände, Junge. Und wenn du neue Leute triffst, schau weder zu mürrisch drein, noch lächle zuviel, denn beidem werden sie kein Vertrauen schenken.« Er bemühte sich, seinem Gesicht den Ausdruck unbeteiligter Demut zu geben. Jetzt wanderte sein Blick zu Tallia. Er war der jungen Prinzessin bisher noch nie so nahe gekommen. Sie hatte schöne, saubere Haut mit Sommersprossen, und das Sonnenlicht verlieh ihrem weizenblonden Haar einen roten Stich. Ihre Unterlippe zitterte. Er riskierte einen Blick auf Antonia, aber die Bischöfin sah so freundlich besorgt aus wie gewöhnlich. Mit einigem Widerstreben stieg Villam vom Pferd und küßte die beringte Hand der Bischöfin als Zeichen seines Respekts vor ihrem Amt. Nach einer bewußten Pause, und nachdem sie ihr Banner dem älteren Adler gegeben hatte, folgte Herzogin Liutgard seinem Beispiel. Die beiden Adler waren nicht wichtig genug, als daß man ihnen diese Ehre hätte zuteil 332 werden lassen; wie Alain und Heribert hielten sie sich im Hintergrund und beobachteten. »Edle Tallia«, sagte Villam mit einem Nicken zu dem Mädchen, »es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen.« Sie nickte als Erwiderung, sagte aber nichts. In diesem Augenblick sah sie aus, als hätte sie die Sprache verloren. »Ist sonst niemand mitgekommen, um mit uns zu verhandeln?« fuhr Villam fort. »Herzog Rodulf beehrt uns
nicht mit seiner Gegenwart?« »Ich denke, Ihr kennt seinen Standpunkt gut genug.« »Das ist wahr«, sagte Villam. Er konnte ein Lächeln nicht ganz verbergen. »Rodulf ist erfrischend aufrichtig. Aber ich sehe andere Banner, die mich überraschen. Graf Lavastin kennt mich und auch den König, und dennoch begleitet er Euch nicht, um uns seine Meinung mitzuteilen.« Antonias Lippen zuckten kaum wahrnehmbar. Sie deutete auf die Hunde. Villam folgte ihrem Blick. Seine Reaktion war eine zweifache und eher seltsam. Zuerst blickte er verärgert drein. Antonia legte natürlich nahe, daß Lavastin entweder wie ein Hund hinter Sabella hertrottete oder daß er den König beleidigen wollte, indem er die zwei Hunde als Stellvertreter schickte. Doch dann entdeckte Villam Alain. Er sah den Jungen an, musterte ihn für einen betretenen Augenblick. Etwas in seinem Gesicht verriet ihn, und er mußte wegsehen, um die Gefühlsregung zu verbergen - eine Trauer überkam ihn, die er nicht teilen konnte. Doch Herzogin Liutgard berührte ihn am Ellenbogen, wie man es zu tun pflegt, wenn man jemanden vor dem Stolpern bewahren will. »Ich möchte mit Sabella sprechen«, fuhr Villam kurz darauf fort. »Natürlich wird alles, was Ihr hier sagt, zu ihr dringen«, entgegnete Antonia weich. »Ich bin lediglich das Gefäß, durch 333 das Eure Worte reisen. Tatsächlich möchte auch Sabella ihrem Bruder etwas mitteilen.« »Zweifellos«, meinte Villam trocken. »Doch ich fürchte, wir sprechen jetzt von Taten, nicht von Worten. Weshalb hat Sabella mit ihrem Heer Arconia verlassen, das Gebiet, das sie für ihren Mann Berengar verwaltet?« Das Maultier bewegte sich, und Alain verstärkte den Griff am Zügel, um es wieder still zu halten. Antonia öffnete eine Hand und wies mit einer eleganten Bewegung auf Henrys Banner aus roter Seide. »Sie ist betrübt, daß ihr Bruder den Platz besetzt, der ihr als rechtmäßiger Königin von Wendar zusteht.« Villam schüttelte den Kopf. Seine Augen waren dunkel und schwer, als wäre er kürzlich von vielen schlaflosen Nächten geplagt worden. »Dieser Streit wurde vor acht Jahren beigelegt. Sabella schwor auf Euren Ring, Bischöfin Antonia, keinen Groll mehr gegenüber König Henry zu hegen, sich auf ihre eigenen Ländereien zurückzuziehen und eine treue Anhängerin seiner Herrschaft zu werden. Hat sie diesen Schwur gebrochen?« »Sie leistete diesen Schwur unter Zwang, wie Ihr selbst bezeugen könnt. Nur von jenen, die geschworen haben, Märtyrerkleidung zu tragen, können wir erwarten, daß sie den Tod dem Leben vorziehen, unabhängig vom Preis. So vergibt Unsere Herrin uns die Liebe zum Leben, solange unser Herz rein und unser Verhalten würdevoll ist. Solange wir unsere Pflicht gegenüber Gott nicht vernachlässigen.« »Ist das die Art, wie Ihr die Schrift auslegt?« mischte sich jetzt Liutgard mit aller Schärfe ein. »Ich habe nicht vor«, erwiderte Antonia geduldig lächelnd, »hier die Schrift zu diskutieren.« Sie wandte sich wieder an Villam. Er war ein großer, breitschultriger Mann, und obwohl sie noch immer auf ihrem Maultier saß, mußte sie sich nicht 334 zu ihm herabbeugen, wie es bei einem kleineren Mann, einer kleineren Frau der Fall gewesen wäre. »Sabella ist eine vernünftige Frau. Henry darf seinen Titel als Herzog von Saony behalten und übergibt die Grafschaft Attomar seiner Schwester Rotrudis. Sabella wird die Krone und den Thron von Wendar übernehmen, und Varre wird an Tallia gehen. Sie wird Henry ihre Gunst bezeugen, indem sie seinem Sohn Ekkehard gestattet, Tallia zu heiraten und so - als Gemahl von Tallia - König von Varre zu werden.« Villam war zu alt und gerissen - und auch zu sehr mit jener anderen Bürde, jener unaussprechlichen Trauer belastet -, um wütend zu werden. »Ich müßte lachen, wenn nicht allein dieses Angebot eine Beleidigung darstellte und so lächerlich wäre. Richtet Sabella von König Henry folgendes aus: Sie darf ihr Herzogtum behalten, wenn sie jetzt kehrtmacht und das Feld verläßt.« »Es ist nicht ihr Herzogtum, das Ihr ihr wegnehmen könntet, Villam. Berengar ist Herzog von Arconia.« Villam schnaubte, jetzt war er doch wütend. »Euer Gnaden, bitte behandelt mich nicht so, als wäre ich ein Narr. Berengar ist ein guter und edler Mann, dessen bin ich gewiß, aber er ist - wie soll ich sagen - nicht gerade für seine Intelligenz berühmt. Sabella regiert dieses Herzogtum als Mann und als Frau.« Dann nickte er rasch Tallia zu, deren Wangen jetzt ein sattes Rosa angenommen hatten; sie starrte so angestrengt auf ihre Hände, daß erst Alain, dann auch Heribert und die beiden stummen Adler und schließlich auch die anderen drei - die genauestens Bescheid wußten - auf die Hände des Mädchens blickten, als ob da etwas wüchse. »Ich bitte um Vergebung, Edle Tallia.« Sie murmelte etwas Unverständliches, doch dem Ton nach klang es wie eine Entschuldigung. Antonia ergriff wieder das Wort. »Wenn wir uns nicht eini335 gen können, Herzog, brauchen wir nicht weiter zu diskutieren, nicht wahr?« »Ihr möchtet kämpfen?« Er blickte plötzlich aufrichtig verblüfft drein. Das hatte einen guten Grund: Henrys Streitmacht war deutlich größer und, was wichtiger war, er hatte auch mehr berittene Soldaten. Sie und die Übermacht würden Henry den Sieg sichern. »Natürlich wollen wir nicht kämpfen«, räumte Antonia mit einem tiefen Seufzer ein. »Natürlich möchten wir Frieden, Herzog. Alle Menschen möchten Frieden, denn ist das nicht der fromme Wunsch Unseres Herrn und
Unserer Herrin? Aber ist es richtig, daß Sabella Henry auf einem Thron sitzen läßt, der rechtmäßig ihr zusteht?« »Sie hat kein -« »Sie hat kein Kind geboren? Hier ist Tallia, direkt vor Euch. Henry hat nur das Wort einer Ungläubigen, wenn man den Worten einer Aoi überhaupt trauen kann. Heißt es nicht, daß Elfen die Kinder sind, die gefallene Engel mit Menschenfrauen zeugen?« »Tatsächlich«, mischte Liutgard sich ein, als Antonia eine Pause machte, um Luft zu holen, »wenn man den Dialog über das Schicksal studiert, findet man heraus, daß der heilige Daisan die Elfen für ~« »Ich habe nicht vor, hier kirchliche Fragen zu erläutern.« Antonia machte eine schroffe Handbewegung, als wollte sie ihre rechte Hand abschütteln. Eisiges Schweigen. Herzogin Liutgard erbleichte; sie sah sehr wütend aus und preßte die Lippen zusammen. Villam gab ein leises Geräusch von sich, und obwohl es ihr sichtlich Mühe bereitete, blieb die Herzogin still. »Wie können wir wissen, ob Henry seine Zeugungsfähigkeit wirklich bewiesen hat?« fuhr Antonia fort. »Wie können wir 336 sicher sein, daß Sanglant wirklich sein Sohn ist? Arnulf hat zuerst Sabella auf dem Thron sehen wollen. Nicht Henry. Männer können schwören, soviel sie wollen, daß das Kind von ihnen gezeugt wurde und von ihrem Blut ist, doch nur eine Frau, die vor Zeugen ein Kind gebiert, kann dies auch beweisen. Kein Mann vermag das, denn selbst, wenn er die Frau einschließt, könnten sich Wesen von nichtmenschlichem Blut und unirdischer Herkunft immer noch auf andere Weise Zutritt verschaffen.« »Ihr unterstellt Henry also«, erwiderte Villam ruhig, aber mit wachsender Verärgerung, »daß er gelogen hat, was Sanglant und seine Nachfolge-Rundreise angeht.« »Ich unterstelle Henry gar nichts. Ich sage nur, daß Henry niemals sicher sein kann und daß wir es daher auch nicht sein können. Was glaubt Ihr denn, Markgraf, weshalb die Kirche die mütterliche Erbschaftslinie fördert? Herzogin Liutgard? Die alten Dariyaner praktizierten Adoptionen, sie holten irgendwelche Personen in ihre Häuser, aber die Kirche hat vor dreihundert Jahren auf dem Konzil von Nisibia solche Praktiken in bezug auf die Erbschaft für unrechtmäßig erklärt. Und so haben es sich heute einige von uns zum Ziel gesetzt, die Vererbung über die männliche Linie zu verbannen.« Antonia hatte sich jetzt in einen wahren Begeisterungssturm hineingeredet. Sonst behielt sie immer eine sanfte Fassade. Alain hatte sie niemals zuvor so leidenschaftlich gesehen. »Wenn Henry weiter Herrscher bleibt, wer wird ihm dann auf dem Thron nachfolgen? Die Kinder von Sophia - und damit Arethusa? Wird der Makel des Ostens unser Königreich beflecken? Stammt die neue Ketzerei, die ihre Fühler nach unserem guten, reinen Glauben ausstreckt, nicht aus den Landen, die von arethusanischen Kaisern regiert werden? Wird es in Zukunft arethusanische Herrscher geben und keine von wendischem Blut?« 337 »Es werden Henrys Kinder sein«, sagte Villam bestimmt. »Und es werden starke Herrscher sein, trotz Eurer Worte, Bischöfin Antonia.« »Hütet Euch vor den Geschenken der Arethusaner«, erwiderte sie düster. »Hätte Henry eine gute, wendische Frau von edlem Blut geheiratet, würde ich mein Anliegen nicht so unnachgiebig verfolgen. Aber das tat er nicht. Von zwei Frauen wissen wir, daß er mit ihnen das Lager geteilt hat, und beide sind Fremde, eine ist nicht einmal von menschlichem Blut.« Inzwischen war der gütige, großmütterliche Ausdruck endgültig aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie blickte hart und kalt drein. »Ich kann einem solchen Mann nicht trauen. Und ich werde auch seinen Nachkommen nicht trauen. Sanglant! Sein Liebling! Ein Bastardkind, das nicht menschlich ist und womöglich nicht einmal seins, denn wir haben nur die wertlose Aussage der Mutter, daß sie keine Hure ist. Und Henry macht sich selbst zum Narren, wenn er ein solches Kind so bevorzugt - alle wissen das, es ist sattsam bekannt in Wendar. Ich würde das nicht gerade als königliche Tugend bezeichnen. Und ich glaube auch nicht, daß es von starker Urteilsfähigkeit zeugt. Sabella heiratete, wie es ihre Pflicht war, einen Mann ihres eigenen Volkes. Aber Henry kann damit nicht zufrieden sein, nicht wahr? Sein Blick ist auf größere Dinge gerichtet, nicht? Sein Blick ist auf den Stuhl des Kaisers in Darre gerichtet. Er möchte auf den Spuren Taillefers wandeln. Gut! Soll Henry sein eigenes Land versorgen, bevor er sich daran macht, sich um andere zu kümmern. Soll Henry sich erst mit einer Frau seines eigenen Volkes paaren, bevor er mit den Huren von Fremden Kinder zeugt.« Antonia hatte sich jetzt so in Rage geredet, daß ihr Gesicht rot angelaufen war. Alain war beeindruckt und gleichzeitig erschrocken. Es hatte den Anschein, als wollte Liutgard auf die Bischöfin 338 losgehen und sie tätlich angreifen, aber Villam hielt sie mit einer Geste zurück. »Es reicht, was ich bisher an Beleidigungen gehört habe«, sagte er. »Wir haben genug geredet. Diesen Kampf habt Ihr zu verantworten, Bischöfin Antonia. Es soll von diesem Tag an in allen Chroniken geschrieben stehen, daß Sabella die Nachsicht von König Henry zurückwies und es statt dessen vorzog, sich seinem Zorn zu stellen.« Er stieg auf sein Pferd, wendete es und begann den Hügel hinaufzureiten. Liutgard warf ihren Kopf zurück wie ein feuriges Pferd; der Blick, den sie Antonia zuwarf, war so hart wie der der Bischöfin. »Ihr seid wie eine Quelle, die vom Gift eines Guivre vergiftet wurde.« Sie wandte sich um und folgte Villam, und der Adler mit ihrem Banner tat es ihr gleich.
Der andere Adler, die jüngere der beiden, zögerte noch. Alain starrte sie an. Niemals hatte er jemanden mit solch hellen Haaren - einem lichten Weizenblond - gesehen, außer den Aikha-Prinzen, dessen Haare sogar noch heller waren. Ihre Blicke trafen sich, und für einen Augenblick starrten sie sich einfach nur an. Sie wirkte eher neugierig als feindselig, und sie hatte erstaunlich hellblaue Augen. »Hanna!« rief ihre Kameradin scharf über die Schulter. Die Frau riß sich von Alains Blick los, schaute kurz zu den Hunden und folgte ihrer Kameradin und den zwei Edlen den Hügel hinauf. »Stimmt das, Euer Gnaden?« fragte Tallia. »Stimmt was?« Antonia hatte ihre äußerliche Ruhe wiedererlangt. »Komm, Kind, wir müssen hinter die Linien zurück. Die Schlacht wird bald beginnen.« »D ... diese Dinge, die Ihr über Henry gesagt habt.« »Natürlich sind sie wahr. Warum sollte ich so etwas sagen, wenn es nicht wahr wäre?« »Oh«, meinte Tallia, und das war alles. 339 Sanftmütig ließ sie sich von Heribert zu ihrer Mutter zurückbringen. Als sie bei Sabellas Banner ankamen, trat Willibrod vor und nahm Alain die Zügel des Maultiers ab. Tallia wurde weggebracht, zum Troß, wo sie mit den anderen, die nicht kämpften, auf den Ausgang der Schlacht warten würde. Ein Wagen aus dem Troß war nach vorn zu den Truppen gebracht worden. Dies allein war schon recht ungewöhnlich, und es wurde noch ungewöhnlicher, als Alain begriff, daß es der mit Tüchern verhängte Käfig mit dem Guivre war. »Ihr habt nichts von den Drachen gesehen?« fragte Sabella. »Nichts. Und ich habe noch nie gehört, daß Drachen sich verstecken. Sie reiten immer an der Spitze.« »Sanglant mag zwar ein Bastard und der Balg einer Hure sein«, gestand Sabella widerwillig zu, »aber sein Mut ist nur zu bekannt. Was ist mit den anderen?« »Ich habe keine gesehen.« »Keines von Henrys Kindern dabei?« »Keines.« Sabella runzelte die Stirn. »Das ist schade. Ich hatte gehofft, eines oder alle als Geiseln nehmen zu können. Es wäre praktisch gewesen, sie in der Hand zu haben.« Antonia antwortete so leise, daß nur Alain - und möglicherweise noch Heribert - es hören konnte. »Es würde Euch mehr dienen, wenn sie tot wären.« Sabellas Hauptmann kam zu ihnen geritten; er teilte ihnen mit, daß Rodulfs Leute bereit wären. »Ihr müßt zurück hinter die Linien, Euer Gnaden«, meinte Sabella zu Antonia. Sie setzte den Helm auf die Helmkappe und zurrte den Riemen fest. Das Banner von Arconia flatterte in den Händen eines ihrer Soldaten neben ihr: ein grünes Guivre mit ausgebreiteten Schwingen und einem roten Turm in der linken Kralle vor einem goldenen Hintergrund. »Euer Verlust wäre unersetzlich.« 340 »Was ist mit unseren Gästen?« Die Bischof in lächelte und blickte auf Constanze und Agius. »Nehmt sie mit. Sie sind zu wertvoll, um sie den Gefahren der Schlacht auszusetzen.« Antonia nickte, und Constanze und Agius wurden von Wachen weggeführt. »Kommt«, sagte sie zu ihren Dienerinnen. Sie begannen sich zurückzuziehen. Alain zögerte. »Komm mit, Kind«, sagte Antonia und winkte ihm zu. »Du wirst mich ebenfalls begleiten.« Sabella bemerkte sein Zögern. »Es ist einer von Lavastins Soldaten, nicht wahr? Es ist Zeit, daß er zu seiner Truppe zurückkehrt.« »Aber -« »Tut, was ich gesagt habe«, blaffte Sabella mit der Miene einer Frau, die darüber nicht mit sich reden lassen wollte. Antonia hielt inne. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine starre Maske. Dann, als würde die Sonne hinter den Wolken hervorkriechen, lächelte sie wieder auf ihre gewohnte, wohlwollende Art. »Wie Ihr wünscht, Prinzessin.« Sie verbeugte sich nicht vor ihr, aber sie gab nach. Aha. Sabella tanzte also nicht an Marionettenfäden. Antonia mochte Lavastin kontrollieren, aber nicht die Tochter Arnulfs. Als Antonia gegangen war, achtete niemand mehr auf Alain, doch einige derbe Soldaten drängten ihn zurück und forderten ihn unfreundlich auf, sich seinen Platz zu suchen. Als die Hunde knurrten, entschuldigten sie sich rasch bei ihm. Und sie machten das Kreiszeichen über der Brust, als wäre etwas Böses an ihm. Er zog sich in den hinteren Teil der Armee zurück. Sabellas eigene Truppe bestand aus über einhundert gut ausgerüsteten Berittenen und vielleicht doppelt soviel Fußsoldaten; alles in allem befehligte sie - nach Heriberts Rechnung - etwa sechs341 hundert Soldaten. Aber Henrys Heer war größer, und er befehligte mehr Reiter, die das Rückgrat eines jeden Heeres darstellten. Die Löwen, die Fußsoldaten, stellten eine Hundertschaft, doch allen Berichten zufolge schützte der größte Teil der Löwen die Grenze im Osten vor Überfällen qumanischer Plünderer und anderer Barbaren. Alain trottete hinter den Linien entlang. Er hörte Leder quietschen, als die Männer sich bewegten, erwartungsvoll auf den ersten Schritt harrend. Keiner von Henrys Soldaten auf dem Hügel rührte sich. Alain konnte das rote Seidenbanner vor dem blauen Himmel und den dahinziehenden weißen Wolken flattern sehen, doch zum größten Teil versperrten ihnen die Köpfe - einige behelmt, andere mit harten Lederkappen versehen, andere ganz ohne
Kopfbedeckung - von Sabellas Soldaten die Sicht. Wurde so eine Schlacht geführt? Gab es eine Strategie, oder warteten die beiden Seiten einfach nur darauf, daß ein Befehlshaber die Geduld oder die Nerven verlor und seiner Seite den Befehl zum Angriff gab - oder zum Rückzug? Dort, wo Sabellas Fußsoldaten neben denen von Graf Lavastin standen, tat sich eine Lücke auf. Die Männer hatten die Arme eng an den Körper gelegt, damit sie das Gewicht der Schilde auf den Hüften abstützen konnten. Die meisten hatten Speere, nur wenige gewöhnliche Soldaten besaßen das nötige Geld, um ein Schwert erwerben zu können. Als Alain über das freie Geländestück lief und Schutz inmitten von Lavastins Männern suchte, warf er einen Blick auf Henrys Heer. Eine Bewegung lief durch die Reihen. Dann plötzlich verdunkelte sich der Himmel mit Pfeilen. Die meisten schlugen vor Sabellas Heer in den Boden, ohne Schaden anzurichten; ein paar flogen zu weit. Einige wenige trafen ihr Ziel. Doch noch während die Männer fluchten und einer vor 342 Schmerz aufschrie, zielten die Bogenschützen von Sabellas Heer und schössen. Sie mußten die Pfeile in einem höheren Bogen schießen, um genug Höhe zu gewinnen, doch, wenn überhaupt, zeitigte diese Salve mehr Wirkung. Eine Welle ging durch Henrys Heer, als hätten viele Pfeile ihr Ziel gefunden. Und dann bewegte es sich. In kurzen Abständen drängten Pferde nach vorn. Henry hatte seine leichte Reiterei losgeschickt; Männer, die mit Speer und Schild oder auch nur einem Speer bewaffnet waren. Sie rasten vorwärts, schleuderten ihre Speere, drehten ab, um außer Reichweite zu galoppieren, nur um sich erneut umzudrehen ... Alain raste hinter den Linien entlang und sah Lavastins Rücken und das schwarze Fell seiner Hunde genau in dem Augenblick, als die Soldaten um Sabellas Banner einen lauten Schrei ausstießen. Ein Trupp Fußsoldaten marschierte auf das freie Feld zwischen den beiden Heeren. Die Männer zogen den tuchverhängten Käfig hinter sich her. »Heil! Für Henry!« riefen die gegnerischen Soldaten schräg über ihnen. Alain drängte sich zwischen den Soldaten hindurch an Lavastins Seite. Der Graf bemerkte den Jungen nicht einmal, so sehr konzentrierte er sich auf den Kampf. Von seiner linken Flanke hatten sich etwa zwanzig seiner eigenen Speerschleuderer gelöst und rannten denen auf der Gegenseite entgegen. Eine Gruppe Reiter verließ das Banner von Saony, verteilte sich in einem weiten Bogen und verschwand im Wald. Lavastin suchte und fand seinen Hauptmann. »Schickt eine Kompanie hinter ihnen her«, befahl er. Erneut stieg ein Schrei von Henrys Armee auf. Der König ritt ein paar Schritte vorwärts und hob seine Lanze. 343 »Die Heilige Lanze von St. Perpetua«, murmelte Lavastin; Alain hatte das Gefühl, daß er nur mit sich selbst sprach. St. Perpetua. Die Herrin der Schlachten. Alain faßte sich an den Nacken, fand die Rose. König Henry trug die Lanze von St. Perpetua, eine Reliquie von höchstem Alter und größter Heiligkeit. War es nicht die Herrin der Schlachten selbst gewesen, die ihm, dem Sohn eines einfachen Kaufmanns, an einem stürmischen Tag oberhalb der Meerenge von Osna erschienen war? War es nicht die Herrin der Schlachten gewesen, die sein Schicksal in andere Bahnen gelenkt hatte? Doch er konnte sich immer noch nicht vorstellen, aus welchem Grund er hierhergeführt worden war - an diesem Tag, zu dieser Stunde und diesem Augenblick. Henrys Heer kam jetzt den Hügel herunter, wurde immer schneller, um die Linien von Sabella zu durchbrechen. Und die ersten, die auf ihrem Weg lagen, waren die Fußsoldaten, die den verhängten Käfig den Abhang hinaufzogen. Der Käfig ruckelte und holperte auf und ab, schlingerte. Blieb stecken. Eines der Räder hatte sich festgefahren. Henrys Männer wurden schneller. Sabellas Hauptmann gab einen schrillen Befehl, hob ein weißes Banner und schwenkte es. Auch Sabellas Truppen setzten sich jetzt in Bewegung. Lavastin hob den Arm. Und dann wurde Alain einfach mitgerissen, als die beiden Heere vorwärts stürmten, ihrem unausweichlichen Treffen entgegen. Rage und Kummer jaulten. Alain zögerte unschlüssig, wußte nicht, wohin er gehen sollte, an welchen Platz er eilen, was er tun sollte. Er war nicht einmal bewaffnet, abgesehen von seinem Eßmesser. Was sollte er tun? Er ließ sich zurückfallen, konnte von dort aber außer den Bannern und dem chaotischen Gewimmel auf dem Hügel nichts mehr erkennen. 344 Und doch wußte er es sofort, als die ersten Reihen sich trafen. Es erklang ein Geschrei, das gänzlich anders war, als alles, was er jemals vernommen hatte - und das um so schrecklicher wurde, als sich das unversöhnliche Klirren von Schwertern und Speeren mit den grauenvollen Schreien verwundeter oder sterbender Männer mischte. Er dachte an Rodulfs Warnung und Sabellas Antwort: »Dieses Mal wird es nicht genug sein.« Wie konnte sie nur auf einen Sieg gegen eine besser ausgerüstete und größere Streitmacht hoffen ? Er wußte nicht, ob der Käfig absichtlich geöffnet oder im Schlachtgetümmel versehentlich umgestoßen worden war. Daß es überhaupt geschehen war, wußte er auch nur, weil in diesem Augenblick von dort, wo der Kampf
am heftigsten tobte, Hunderte von Schreien erklangen, die doch nur aus einer einzigen Kehle zu kommen schienen und sein Herz erstarren ließen. Es verschlug ihm so lange den Atem, daß er husten mußte und nach Luft rang, als Rage ihn anstieß und aus seiner Starre riß. Und er sah, wie sich auf dem Abhang vor ihm die Kreatur aus dem Chaos wiehernder, bockender und sich aufbäumender Pferde und wild auseinanderlaufender, hierhin und dorthin rennender Männer in den hellen Frühlingstag erhob, als würde ein Vogel dem Himmel - und der Freiheit - entgegenfliegen. Doch die Kreatur wurde hart zurückgerissen, beinahe zu Boden geschleudert, denn das große Eisenband um ihr Bein band sie an die Erde und die Gefangenschaft. Das Guivre schrie seinen Zorn hinaus und richtete sich auf, noch immer in der Luft, und der Fallwind seiner gewaltigen Schwingen fegten die Männer von ihren Pferden. Noch immer den rauhen, adlerähnlichen Schrei ausstoßend, 345 ließ das Guivre seinen Blick über das Schlachtfeld schweifen. Und wer immer seinem Blick durch Zufall oder absichtlich begegnete, erstarrte sofort und war fortan unfähig, sich zu bewegen. Alle, nur nicht die Soldaten in Sabellas Heer, die die so sorgfältig von Antonias Geistlichen gearbeiteten Amulette trugen. Das Gemetzel begann. 3 König Henry war einer jener Männer, die nichts dem Zufall überließen. Auf eine seltsame Weise erinnerte er Hanna an ihre Mutter, Meistrin Birta. Der König war einerseits hart und pragmatisch, aber er war auch in der Lage, wie andere Menschen seine Gefühle zu zeigen. Am wichtigsten war Hanna jedoch das, was Hathui an jenem Abend über ihn gesagt hatte, als sie beim Kloster Hersford an seinen Hof gekommen und Mitglieder des persönlichen Haushalts des Königs geworden waren: »Er ist ein guter Herrscher, unser König, und ich bin stolz darauf, ihm dienen zu dürfen.« Hathui, die wie die meisten Bewohner des Grenzlandes ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit besaß, diente nur ungern irgend jemandem. Daß Henry ihre Loyalität so schnell erlangt hatte, mußte nach Hannas Vorstellung ein Zeichen seiner Königlichkeit sein. Er war das wahre Herz des Königreichs, nicht irgendeine Stadt, eine heilige Stätte, ein Palast oder eine Festung. Doch jetzt, da sie auf ihrem Pferd saß, während Villam sich nach den fehlgeschlagenen Verhandlungen mit Henry beriet, 346 machte sie sich Sorgen. Sie war nicht von Natur aus ängstlich, es in den letzten Wochen aber immer mehr geworden, seit Hathui und sie Liath hatten zurücklassen müssen. Es war ja schön und gut, wenn Hathui behauptete, sie würde es wissen, wenn Wulfhere und Manfred etwas geschehen wäre. Dennoch nagte ein ständiger Zweifel an Hanna. Was, wenn Liath etwas zugestoßen war? Hanna hatte geschworen, Liath zu beschützen, und jetzt hatte sie das Versprechen gebrochen. Nicht durch eigene Schuld. Hätte Birta nicht genau das gesagt? Würde nicht auch Liath das sagen? Aber Hanna konnte nur an gebrochene Versprechen denken, als sie den Abhang hinunter auf Sabellas Heer starrte, das sich in einer festen Formation unter ihnen ausbreitete. Sie hatte geschworen, Liath zu beschützen, und jetzt befand sie sich weit, weit weg von ihr. Sabella hatte allen Berichten zufolge Henry einen Eid geschworen und stand jetzt kurz davor, ihn zu brechen. Wenn man nach den Taten urteilt, dachte Hanna, gehöre ich eigentlich zu Sahella. Dann seufzte sie - wütend auf sich wegen dieser lächerlichen Gedanken - tief und verzweifelt. Es machte keinen Sinn, sich Vorwürfe zu machen. Sie war nicht der Anführer der Aikha, der Gent belagerte. Sie hatte die Aikha nicht darum gebeten, die fünf Adler anzugreifen. Sie war selbst von ihrem Pferd gefallen und hatte sich den Fußknöchel verstaucht, aber die Wahrheit war, daß sie keine erfahrene Reiterin war. Sie und Hathui hatten Henry die Nachricht von der Belagerung so schnell wie möglich überbracht. Sie hatte ihr Bestes gegeben und mußte jetzt mit dem leben, was folgen würde. Es war nicht ihre, sondern Sabellas Schuld, daß Henry nicht sofort nach Gent reiten konnte. Gewöhnlich war eigentlich Liath diejenige, die sich unaufhörlich und grundlos sorgte, die sich immerzu fragte, was sie 347 falsch gemacht hatte, statt zu akzeptieren, daß es Augenblicke gab, in denen man gar nichts tat und einfach kein Glück hatte. So war die Welt, wenn auch Diakonissin Fortensia sagen würde, daß dies die Art der Ungläubigen war, die Dinge zu betrachten. Aber Hanna und der Rest ihrer Familie legten noch immer Blumen an bestimmten Bäumen im Wald nieder und brachten Girlanden an, wo die Quelle unterhalb des Südkamms dem Fels entsprang. Natürlich glaubte sie an den Herrn und die Herrin und den Kreis der Einigkeit. Aber das bedeutete nicht, daß die alten Geister aufgehört hatten, in der Welt zu existieren. Sie hatten sich nur versteckt. Die alten Geister - wie dieser Junge, der die Zügel des weißen Maultiers der Bischöfin gehalten und sie so merkwürdig angestarrt hatte. Er hatte etwas Seltsames an sich gehabt. Und diese Hunde! Sie waren nicht so häßlich wie die Aikha-Hunde, die sie gesehen hatte, aber sie sahen genauso tödlich aus: Und doch hatten sie wie süße Welpen zu Seiten des Jungen gesessen. Oh, es gab viele seltsame Dinge auf dieser Welt, wenn man nur die Augen aufmachte und sehen wollte.
»- der junge Adler -« Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das, was Henry sagte. »- wird Sapientia begleiten. Sie weiß, was zu tun ist. Ich werde Constanze wiederhaben, bevor Sabella sich zurückziehen und sie als Gefangene wegführen kann.« Henry war von seiner Hundertschaft Löwen umgeben. Hanna suchte und fand Karls breiten Rücken irgendwo in der Menge; wenn sie den Hals reckte, konnte sie sogar sein Profil erkennen. Er bemerkte sie nicht. Zusammen mit seinen Kameraden starrte er angestrengt den Abhang hinunter und auf das unruhige Heer von Sabella. Die Löwen waren zum Kampf bereit. 348 Henry und Villam beendeten ihre Unterredung. Hathui ritt mit einer Nachricht zu Theophanu, die im Schutz des Trosses geblieben war. Henry, stets vorsichtig, hatte den Troß und diejenigen, die nicht kämpften, in der befestigten Stadt Kessal gelassen. Hanna wurde in den Wald hinter den eigenen Linien geschickt. Henry hatte dieses Feld wegen seiner besonderen Lage für die Schlacht gewählt. Da er davon ausging, daß Sabella ihren Troß eher mitnehmen als in Arconia zurücklassen würde, hatte er etwa achtzig berittene Soldaten im Wald versteckt, die von Sapientia und einem altgedienten Hauptmann an ihrer Seite angeführt wurden. Während alle anderen von dem üblichen Geplänkel abgelenkt wurden, das jeder Schlacht vorausging, würden sie im Schutz der Bäume einen weiten Bogen um Sabellas rechte Flanke schlagen und zum Troß vorstoßen, wo sie Constanze befreien würden. Oder ihren Tod verursachen würden, dachte Hanna, aber sie nahm an, daß Henry seine Schwester lieber tot sehen wollte denn als Geisel. Schließlich war sie, solange sie in Sabellas Händen blieb, eine Waffe, die gegen den König eingesetzt werden konnte. So hatte es jedenfalls Hathui erklärt. Doch Hathui war im Hexenkessel des Grenzlandes aufgewachsen, und das bedeutete, sie hatte immerzu in einer Art kriegsähnlichem Zustand gelebt. Und sie hatte erklärt, daß man dort die eigenen Kinder eher tötete, als zuließ, daß sie qumanischen Räubern in die Hände fielen. Sapientia blickte drein wie ein Windhund, der an einer straffen Leine gehalten wurde - begierig, endlich laufen zu dürfen. Sie war recht klein, und Hanna war überrascht, daß Henry sie überhaupt kämpfen ließ. Natürlich kämpfte unter den entsprechenden Umständen 349 etwa während einer Belagerung oder wenn ein Dorf von Plünderern angegriffen wurde - jede erwachsene Person; es wäre närrisch, auf einen starken Arm zu verzichten. Aber Frauen, die von der Herrin mit dem Geschenk des Gebarens gesegnet worden waren, waren nicht oft in den Reihen der bewaffneten Soldaten zu sehen. Einige, die ihr Leben St. Perpetua oder St. Andrea geweiht hatten, die beide Soldatinnen für Gott gewesen waren, wandten sich vom Heiraten und Kinderkriegen ab, so wie Hathui. Andere dienten aufgrund ihrer ungewöhnlichen Größe oder Stärke ein oder zwei Jahre in den Streitkräften eines Edlen, bevor sie zu ihrem Besitz zurückkehrten und ihr altes Leben wieder aufnahmen. Aber es war keine Schande für eine Edle, nicht an einer Schlacht teilzunehmen: Dafür hatte man einen Ehemann und Brüder. Ihre vordringlichste Pflicht war es, die Ländereien zu verwalten und Kinder zu gebären, um den Fortbestand des Geschlechts zu sichern. Und Sapientia war so außerordentlich klein, daß Hanna - die zwischen ihrem Gefolge und Henry Nachrichten hin und her brachte - sich fragte, wie schwierig es wohl gewesen sein mochte, ihr eine würdige Rüstung anzupassen. Doch Sapientia wollte kämpfen, wollte eine eigene Truppe führen. Und Henry erlaubte es ihr, weil - wie Hanna vermutete - er damit etwas beweisen wollte. Das heißt, weil er zulassen wollte, daß sie ihm etwas beweisen konnte. Niemand konnte die Herrschaft übernehmen, ohne in der Lage zu sein, die großen Fürsten und ihre Truppen in den Kampf zu führen. »Wann brechen wir auf?« wollte Sapientia wissen, und der alte Hauptmann sprach beruhigend auf sie ein. Hanna hörte vom Feld die Rufe der Soldaten. »Heil! Für Henry!« Das war das Signal. Sapientia hob die Hand und ritt an der Spitze ihrer Soldaten 350 los, zwischen den Bäumen hindurch. Hanna hielt den Speer fest umklammert. Sie ritt ziemlich am Ende des Trupps, umringt - und beschützt - von den Soldaten; niemand erwartete von einem Adler zu kämpfen - solange sie nicht überwältigt wurden. Trotzdem war sie nervös. Sie starrte zwischen den Bäumen hindurch, zuckte jedesmal beinahe zusammen, wenn ein neuer Stamm in ihr Blickfeld geriet. Glücklicherweise war die Aufmerksamkeit der Soldaten neben ihr viel zu sehr auf das gerichtet, was vor ihnen lag, und so bemerkte niemand, wie schreckhaft sie war. Möglicherweise waren sie es ebenfalls, aber das bezweifelte sie. Henry hatte Sapientia bei ihrem ersten Kommando erfahrene Soldaten zur Seite gestellt, von denen die meisten lange Zeit im Osten gekämpft hatten. Denn wenn der Überfall gutging, könnten sie anschließend Sabellas rechte Flanke aufrollen oder sogar ihre Nachhut überraschen und einkreisen, um so ihren Rückzug zu verhindern. Die Geräusche, die aus der Ferne vom Schlachtfeld zu ihnen drangen, klangen jetzt anders. Einer der Soldaten neben Hanna grunzte. »Es hat angefangen«, sagte er zu dem Mann neben sich. Sie ritten weiter, wandten sich nach rechts. Ein schrecklicher Schrei erscholl über dem entfernten Lärm der Schlacht. »Was war das?« murmelte einer der Soldaten.
Doch dann fielen die Soldaten an der Spitze in Galopp. Sie hatten ihre Beute gesichtet. Ihre Fahnen flatterten rot und golden hinter ihnen her. Hanna sah vor sich Wagen, die so in zwei Reihen aufgestellt waren, daß sie einen geschützten Innenraum freiließen, wo diejenigen Schutz finden konnten, die sich nicht am Kampf beteiligten. Ein paar Pfeile schwirrten durch die Luft, ihr Surren klang wie eine zu spät gekommene Warnung. Sapientia erhob ihre Stimme zu einem schrillen Schrei: 351 »Heil!« Ihre Soldaten schwärmten aus und wurden in vielleicht ein Dutzend kleinerer Gefechte verwickelt, die jedoch schnell vorüber waren. Hanna blieb zurück, sie beobachtete. Hathui hatte es ihr die ganzen zehn Tage eingetrichtert, die sie gebraucht hatten, um nach Westen zu reiten und Sabella zu treffen. »Du bist die Augen und Ohren des Königs. Du siehst und merkst dir, was vor sich geht. Du bist nicht für Heldentaten bestimmt. Du mußt leben und Zeugin sein.« Aber es gab hier ohnehin keine Heldentaten. Sapientias Truppen übernahmen den Troß mit Leichtigkeit und begannen, die Gefangenen zusammenzutreiben und nach Bischöfin Constanze zu suchen. Ein Schrei erscholl von den Bäumen auf der anderen Seite der Wagen. Hanna ritt hin, um nachzusehen. Da! Zwischen den Bäumen sah sie Reiter, aber sie konnte nicht erkennen, welcher Truppe sie angehörten. Sapientias Hauptmann nahm zwanzig Soldaten und ritt in den Wald, um sie abzufangen. In diesem Augenblick griff jemand nach ihren Zügeln und riß sie an sich. Sie zuckte zusammen, schwang ihren Speer herum und richtete ihn auf einen -Einen Frater. Sie starrte ihn an. Er hatte ein hartes Gesicht. Seine Lippe blutete. »Gebt mir Euer Pferd!« verlangte er. Dies war kein bescheidener Kirchenmann. Nach beinahe zwanzig Tagen bei der Rundreise des Königs erkannte Hanna die Arroganz eines großen Edlen auf den ersten Blick. Aber sie zögerte dennoch. Er war immerhin gekleidet wie ein einfacher Frater. »O Herrin, verleih mir Geduld!« sagte er laut. »Adler! Steigt ab und gebt mir dieses Pferd!« 352 »Wozu?« fragte sie ihrerseits. »Ihr seid in Sabellas Troß -« »Ich bin Sabellas Gefangener, nicht ihr Verbündeter.« »Wie kann ich wissen, ob -?« Wieder trug der Wind diesen fürchterlichen Schrei aus der Ferne herbei, gefolgt von einem seltsamen Gemurmel, das gleichzeitig nach Triumphrufen und dem Stöhnen der Besiegten klang, als wäre die Schlacht schon zu Ende. Der Frater brummte wütend, zerrte an ihrem Arm und riß sie vom Pferd. Sie schlug so hart auf dem Boden auf, daß der Aufprall sie einen Augenblick benommen machte. Das Pferd scheute, aber er riß es an den Zügeln zurück, und während Hanna versuchte aufzustehen, schwang er sich in den Sattel. Er trat dem Pferd kräftig in die Flanken, und mit wehenden Gewändern ritt er im Galopp auf das Schlachtfeld zu. Herrin! Er war barfuß! Keuchend kämpfte Hanna sich auf die Füße. Zwei Truppen waren sich im Wald begegnet und hatten sich vermischt: Sie erhaschte einen Blick auf das rote Banner von Saony. Freunde also, dachte sie, doch im gleichen Moment hörte sie lautes Rufen. »Lavastins Reiter kommen! Kehrt um! Kehrt um und stellt euch ihnen entgegen!« Oh, Herrin! Was hatte Hathui gesagt? Ein Adler ohne Pferd ist ein toter Adler. Der Frater und ihr Pferd waren längst weg. Sie umklammerte ihren Speer und rannte auf die Wagen zu, um dort Schutz zu suchen. 353 »Heil!« Ihre Soldaten schwärmten aus und wurden in vielleicht ein Dutzend kleinerer Gefechte verwickelt, die jedoch schnell vorüber waren. Hanna blieb zurück, sie beobachtete. Hathui hatte es ihr die ganzen zehn Tage eingetrichtert, die sie gebraucht hatten, um nach Westen zu reiten und Sabella zu treffen. »Du bist die Augen und Ohren des Königs. Du siehst und merkst dir, was vor sich geht. Du bist nicht für Heldentaten bestimmt. Du mußt leben und Zeugin sein.« Aber es gab hier ohnehin keine Heldentaten. Sapientias Truppen übernahmen den Troß mit Leichtigkeit und begannen, die Gefangenen zusammenzutreiben und nach Bischöfin Constanze zu suchen. Ein Schrei erscholl von den Bäumen auf der anderen Seite der Wagen. Hanna ritt hin, um nachzusehen. Da! Zwischen den Bäumen sah sie Reiter, aber sie konnte nicht erkennen, welcher Truppe sie angehörten. Sapientias Hauptmann nahm zwanzig Soldaten und ritt in den Wald, um sie abzufangen. In diesem Augenblick griff jemand nach ihren Zügeln und riß sie an sich. Sie zuckte zusammen, schwang ihren Speer herum und richtete ihn auf einen Einen Frater. Sie starrte ihn an. Er hatte ein hartes Gesicht. Seine Lippe blutete. »Gebt mir Euer Pferd!« verlangte er. Dies war kein bescheidener Kirchenmann. Nach beinahe zwanzig Tagen bei der Rundreise des Königs erkannte Hanna die Arroganz eine großen Edlen auf den ersten Blick. Aber sie zögerte dennoch. Er war immerhin gekleidet wie ein einfacher Frater. »O Herrin, verleih mir Geduld!« sagte er laut. »Adler! Steigt ab und gebt mir dieses Pferd!« 352 »Wozu?« fragte sie ihrerseits. »Ihr seid in Sabellas Troß -«
»Ich bin Sabellas Gefangener, nicht ihr Verbündeter.« »Wie kann ich wissen, ob -?« Wieder trug der Wind diesen fürchterlichen Schrei aus der Ferne herbei, gefolgt von einem seltsamen Gemurmel, das gleichzeitig nach Triumphrufen und dem Stöhnen der Besiegten klang, als wäre die Schlacht schon zu Ende. Der Frater brummte wütend, zerrte an ihrem Arm und riß sie vom Pferd. Sie schlug so hart auf dem Boden auf, daß der Aufprall sie einen Augenblick benommen machte. Das Pferd scheute, aber er riß es an den Zügeln zurück, und während Hanna versuchte aufzustehen, schwang er sich in den Sattel. Er trat dem Pferd kräftig in die Flanken, und mit wehenden Gewändern ritt er im Galopp auf das Schlachtfeld zu. Herrin! Er war barfuß! Keuchend kämpfte Hanna sich auf die Füße. Zwei Truppen waren sich im Wald begegnet und hatten sich vermischt: Sie erhaschte einen Blick auf das rote Banner von Saony. Freunde also, dachte sie, doch im gleichen Moment hörte sie lautes Rufen. »Lavastins Reiter kommen! Kehrt um! Kehrt um und stellt euch ihnen entgegen!« Oh, Herrin! Was hatte Hathui gesagt? Ein Adler ohne Pferd ist ein toter Adler. Der Frater und ihr Pferd waren längst weg. Sie umklammerte ihren Speer und rannte auf die Wagen zu, um dort Schutz zu suchen. 353 4 Darum war es also die ganze Zeit gegangen. Aber natürlich! Alain erkannte dies jetzt mit einer Deutlichkeit, die nur von dem Geschrei und dem Durcheinander gestört wurde, als die Soldaten zu Tode erschreckt durcheinanderrannten und am Ende doch eingeholt und niedergemetzelt wurden. Henrys Soldaten - diejenigen, die von dem Blick des Guivre erfaßt wurden - waren wie festgebundene Schweine, deren Kehlen aufgeschlitzt wurden, während sie quietschten. Dies war nicht die Art von Kampf, wie sie der Herr der Heerscharen segnete, der nicht schwankte, als er aufgefordert wurde, das Schwert der Gerechtigkeit zu führen. Dies war ein Massaker. Alain wußte tief in seinem Innern, daß es falsch war. Das Guivre schrie voller Wut, versuchte sich loszureißen, schlug verzweifelt mit den Schwingen. Sabellas erste Welle von Reitern bewegte sich unaufhörlich den Hügel hoch; sie wurden nur etwas langsamer, weil es so einfach war, Henrys Soldaten zu töten, und sie deshalb über so viele Leichen, Sterbende und zusammengebrochene Pferde steigen mußten. Auf der rechten Flanke war ein Tumult entstanden, aber das Banner von Fesse schwankte und schien langsam zurückzuweichen. Von oben kam jetzt etwa die Hälfte der Hundertschaft Löwen auf Sabellas Heer zu. Die übrigen konnten oder wollten nicht marschieren. Und hinter ihnen saß Henry auf seinem Pferd - reglos. Wartete und beobachtete er? Oder war er bereits vom Blick des Guivre erfaßt? Die berittenen Soldaten gegenüber von Lavastins Truppen versuchten, dessen Männer zurückzudrängen, damit sie Henrys Soldaten im Zentrum zu Hilfe kommen konnten. Alain 354 rannte, kämpfte sich den ganzen Weg zwischen den letzten Reihen der Bogenschützen und Speerwerfer hindurch, die sich nach dem ersten Gefecht hatten zurückfallen lassen. Er drängte weiter, und Rage und Kummer schnappten und bissen, um ihm den Weg freizumachen - auf Lavastin zu, wo auch die schwarzen Hunde, ihre Schwestern und Brüder, warteten. Endlich erreichte Alain den Grafen, der sich hinter die vordersten Linien zurückgezogen hatte und von dort den weiteren Verlauf der Schlacht beobachtete. Alain griff nach seinem Steigbügel und zog fest daran. Lavastin starrte zu ihm herunter, aber in seinen Augen war kein Hinweis, daß er Alain erkannte. Verzweifelte Zeiten erforderten verzweifelte Maßnahmen. Alain schickte ein Stoßgebet an die Gesegnete Herrin, bat um Stärke. Dann griff er nach Lavastins Kettenhemd und zerrte mit aller Kraft daran. Weil der Graf damit nicht gerechnet hatte, verlor er den Halt. Alain packte den Grafen jetzt am Arm und zog ihn ganz aus dem Sattel. Lavastin fiel schwer zu Boden und blieb reglos liegen. Ein Speer schlug heftig gegen Alains Rücken. Er fiel auf die Knie und fuhr sich mit der Hand an den Nacken, während er den Kopf drehte und sich umblickte. Es war Feldwebel Fall. »Ihr kennt mich, Feldwebel!« schrie Alain. »Ihr wißt, daß der Graf sich seltsam benimmt. Das hier ist nicht richtig! Wir sollten nicht hier sein!« Fall zögerte. Lavastins Hauptmann verließ die vorderste Linie, als er sah, daß der Graf nicht mehr auf seinem Pferd saß. Sofort umkreisten die Hunde Alain, knurrten und trieben jeden zurück. Niemand wagte, sie anzugreifen. Alain fand die Rose und zog sie heraus. »Ich bitte Euch, Herrin der Schlachten, gewährt mir Eure 355 Hilfe«, keuchte er atemlos. Und er strich mit den Blütenblättern der Rose über Lavastins blasse Lippen, genau unterhalb des Nasenschutzes seines Helms. Hinter sich hörte er den Lärm der Schlacht. Hier war er in Sicherheit, geschützt im Innern eines Wirbels, umgeben von einer schwarzen Mauer aus Hunden. Kummer leckte über Lavastins Gesicht, und der Graf öffnete die Augen. Er blinzelte und tastete mit der Hand nach dem Helm, als würde er ihn zum ersten Mal wahrnehmen. Dann setzte er sich auf. Alain griff ihm unter die Achseln, um ihn zu stützen, und die Hunde teilten sich, um Feldwebel Fall hindurchzulassen. Zusammen halfen sie Lavastin auf die Beine.
»Was ist los?« wollte Lavastin wissen, als er auf das Chaos um sich herum starrte und sah, wie die Soldaten seiner vordersten Linie gegen die Männer von Saony kämpften. Das Banner von Fesse wich zurück. In der Mitte stieg Sabellas Flagge höher, immer höher den Hang hinauf, bis es neben dem Banner der Löwen war. Das Guivre schrie. Das Banner der Löwen schwankte und verschwand. Henry war jetzt nur noch von seiner Leibwache umgeben; er rührte sich nicht. Der Hauptmann drängte sein Pferd durch das Knäuel aus Hunden und Männern. Feldwebel Fall ließ den Grafen los und griff nach den Zügeln des Pferdes, bevor es davonschießen konnte. Das Guivre machte alle Pferde nervös, und sie scheuten bei jedem seiner Schreie. »Wir marschieren mit Sabella gegen Henry«, sagte der Hauptmann. »Das tun wir nicht!« schrie Lavastin. »Alle meine Männer sollen sich aus der Schlacht zurückziehen.« Dieser Befehl verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Reihen. Lavastin stieg auf sein Pferd und zog sich zurück, und Schritt für Schritt versuchten auch seine Soldaten, sich aus 356 dem Kampf zu lösen, bis die Hauptleute von Saony begriffen, was da geschah, und sie schließlich ziehen ließen. Doch Henrys Mitte war zusammengebrochen. Sabella hatte sich zur Hälfte durch die Reihen der Löwen gekämpft, und Henry hatte sich noch immer nicht gerührt. Als Lavastins Soldaten das Feld räumten, blieb Alain stehen und ließ sie vorbeiziehen, bis er nur noch zwischen Toten stand und sah, wie die Reiterei von Saony kehrtmachte und ihrem König zu Hilfe eilte. Er sah, wie das Guivre sich hin und her wand, wie seine Schwingen die Luft peitschten und es an seinen Fesseln zerrte, wie sein unheilvoller Blick über die Reihen der Soldaten von Saony schweifte. Und er sah, wie die Hälfte von Sabellas Kompanie sich der neuen Bedrohung zuwandte. Ein paar Pfeile und Speere flogen aus den Reihen von Fesse durch die Luft, doch sie prallten am schuppenartigen Fell des Guivre ab und fielen zu Boden. Die Grasfläche um das Guivre war frei; Sabellas Soldaten machten einen großen Bogen darum, obwohl sie gegen den Blick der Kreatur geschützt waren. Nicht eine Menschenseele hielt sich innerhalb der Reichweite seiner Klauen auf, die durch die Länge der Ketten beschränkt war. Unaufhaltsam wurden Henrys Soldaten niedergemacht oder den Hügel hinauf zum König zurückgedrängt - zum letzten Gefecht. Die Rose glitt Alain aus den nervösen Fingern. Er konnte nicht länger einfach nur dastehen und weiter zusehen. Er konnte nicht über die Berechtigung von Sabellas Groll gegenüber Henry urteilen. Aber er wußte, daß es nicht recht war, wenn sie mit solch schrecklichen Mitteln gewann. Simplizius hatte sterben müssen, um die Unterstützung Lavastins zu erlangen. Henrys Soldaten konnten nicht kämpfen, also ging es nicht darum, sich in einem ehrlichen Kampf miteinander zu 357 messen. Vielmehr wurden sie einfach wie Weizen niedergemäht. Er rannte über das Feld, stolperte über Leichen, sprang über Männer, die zuckten oder versuchten, aus der Gefahrenzone zu gelangen. Alain rannte auf das Guivre zu und hielt nur einmal inne, um einem toten Edlen das Schwert zu entreißen. Er warf noch nicht einmal einen Blick auf das Gesicht des Mannes. Doch eine andere Gestalt erreichte das Guivre noch vor ihm. Jemand auf einem schwarzbraunen Pferd. Der Mann schwang sich herab und gab dem Pferd einen Klaps auf die Flanke. Es schoß davon. Und der Frater - denn es war Frater Agius, wie Alain jetzt sah, während er weiterrannte und dabei plötzlich wußte, daß er zu spät kommen würde - trat ohne jede Furcht so nah an das Guivre heran, daß er innerhalb der Reichweite der Fänge war. Der Schrei des Wesens entsprang gleichermaßen seinem Delirium wie seiner Wut, doch es beugte sich vor und ließ sich zu Boden fallen. Halbverhungert und durch die Gefangenschaft und die Qualen seines Körpers rasend geworden, nahm es die Nahrung, die ihm angeboten wurde. Agius verschwand unter einem Gewirr aus metallharten Flügeln und scharfen Krallen. Das Guivre senkte den Kopf zum Fraß. Jetzt erwachten Henrys Armee - das, was von ihr übrig war - und Henry selbst wieder zum Leben. Unter wütendem Geschrei und beinahe zum Wahnsinn getrieben durch das, was sie hatten mitansehen müssen, ohne eingreifen zu können, griffen sie jetzt Sabellas Reihen an. Diese hatten sich aufgelöst, seit die Soldaten angefangen hatten, den Hügel zu erklimmen und die leichte Beute zu töten. Die Soldaten von Fesse und Avaria gruppierten sich neu und stießen in Herzog 358 Rodulfs ausgedünnte Linie. Saonys Truppen ließen sich zurückfallen, formierten sich neu und hielten auf Sabellas schwankende Mitte zu. Alain rannte zum Guivre. Schon stolperten die ersten von Sabellas Männern schockiert zurück, ohne die Veränderung der Lage ganz begriffen zu haben. Er ignorierte sie, obwohl Kummer und Rage bellten und nach ihnen schnappten und dafür sorgten, daß keiner ihn aufhalten konnte. Warum sollte auch jemand versuchen, ihn aufzuhalten? Das Guivre war gewaltig, selbst in gebückter Haltung immer noch doppelt so groß wie zwei Menschen, die übereinanderstanden. Seine Schuppen glänzten in der Sonne, und es fraß mit der Gier eines Wesens, dem dieses Vergnügen zu lange versagt worden war. Alain tauchte hinter ihm auf, dachte daran zuzuschlagen und tat es dann doch nicht. Er hörte das Bersten von Knochen
und - O Herrin! - ein schreckliches Stöhnen, das sich in ein unterdrücktes Wimmern verwandelte und plötzlich abgeschnitten wurde. Er ging um die große Bestie herum. Würmer fielen aus dem verwesten Auge zu Boden und glitten davon. Auf dieser Seite konnte es ihn nicht sehen. Außerdem war es ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt zu fressen. Alain hob das Schwert gerade in dem Augenblick, als er zwei Warnschreie hörte, einen hinter sich und einen von weiter her. »Heiiiil!« Hufgetrappel und bestürzte Rufe erklangen, immer wieder Rodulfs Name - und dann der Schrei: »Henry! Für König Henry!« Er ließ das Schwert mit aller Kraft auf den Nacken der Kreatur hinuntersausen. Sie schrie laut und ohrenbetäubend auf und hob den großen, häßlichen Kopf, ließ ab von dem, was von Agius übriggeblieben war. Sich erhebend warf sich die Bestie zuerst auf die Seite, auf der sie sehen konnte, drehte 359 sich dann zur anderen Seite herum und schlug dabei mit den Flügeln, so daß Alain nach vorn unter sie stürzte. Doch die Flügel waren ungelenk und unbeholfen, nicht gemacht für den Boden. Das Guivre schlug mit den Krallen nach ihm, verfehlte ihn, weil es ihn nicht sehen konnte, schwankte, weil es so krank war und kaum das Gleichgewicht halten konnte. Alain stolperte zurück und zog das Schwert, hielt es so, daß die Spitze nach oben zeigte. Seine Ferse stieß gegen etwas, und er fiel auf ein Knie. Blickte hinter sich zurück. Das Guivre hatte Aigus' Bauch aufgerissen, um sich an den Innereien zu laben. Der Frater sah Alain an und folgte ihm mit den Blicken; er lebte noch. Das Guivre schrie jetzt seine ganze Wut heraus und fand wieder Halt. Sein Schatten fiel auf beide, Alain und den sterbenden Agius. Doch natürlich hat auch die größte Bestie eine Schwachstelle, wie schon in den alten Geschichten erzählt wurde. Alain zögerte nicht, sondern stieß ihr das Schwert tief in die ungeschützte Brust. Blut spritzte, ergoß sich in einem riesigen Schwall über ihn. Er ließ den Schwertgriff los und sprang zurück, packte Agius und zerrte ihn mit sich, während das Guivre im Todeskampf zuckte. Spuckend und hustend und geblendet von dem scharfen, heißen Blut taumelte er zurück, Agius mit sich schleppend. Das Guivre stürzte, und der Aufprall riß Alain von den Füßen. Er fiel auf den Frater. Das Guivre erbebte ein letztes Mal und lag dann still. Agius flüsterte etwas, ein rasselndes Wort, dann noch eins. Alain beugte sich zu ihm hinab, die Augen naß vor Blut, die Hände brennend. Ein Körper prallte gegen ihn; es war Rage, die sein Gesicht und seine Hände leckte. Er versuchte sie weg360 zuscheuchen. Aber er konnte sie nicht wegscheuchen und sich gleichzeitig auf Agius konzentrieren. »Befreie das weiße Reh«, flüsterte Agius. »O Herrin, möge ich mich durch dieses Opfer des Beispiels deines Sohnes würdig erweisen.« Sein Blick schweifte ziellos umher, er erbebte einmal - wie das Guivre - und starb. Kummer stieß Alain die Schnauze in die Seite. Der Hund hatte etwas in seinem Maul. Rage leckte das Blut des Guivre aus Alains Augen, und er blinzelte in die grelle Helligkeit; zum ersten Mal erkannte er die Bedeutung dessen, was sich auf dem vom Sonnenlicht überfluteten Schlachtfeld abspielte: Sabellas Banner wich immer weiter zurück. Die Gewichte hatten sich verschoben. Mit dem Tod des Guivre, ihres Wappentiers, hatten Sabellas Soldaten den Mut verloren. Schon machten sie kehrt und flohen. Ein Dorn stach Alain in die Wange, ein kleiner Pieks nur. Er fuhr herum und sah, daß Kummer die Rose im Maul hielt, sie von der anderen Seite des Schlachtfelds hergebracht hatte. Die Blütenblätter hatten sich jetzt zu einem tiefen Blutrot verdunkelt, so rot wie Agius' Blut, das noch immer auf den Boden tropfte. Alain verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte. VII Die Verheißung der Macht
Rosvita konnte sich nicht konzentrieren, während sie wartete; unruhig schritt sie auf und ab. Sie war in der Banketthalle, der Zierde des Palastes, der etwa achtzig Jahre zuvor vom ersten Herzog von Fesse erbaut worden war. Hin und wieder ging sie zu den großen Türen, von wo aus sie einen herrlichen Blick auf Kessal hatte, das am Fuße des Hügels lag, auf dem der Palast errichtet worden war. Ein mächtiger, graublauer Stein krönte den Türsturz der gewaltigen Konstruktion. Als Rosvita zu ihm hochstarrte, entdeckte sie winzige Figuren und Muster in dem Stein, deren Konturen im Laufe der Jahre etwas verblaßt waren. Unten in der Stadt schmückten noch immer ein paar schmutzige Banner die Straßen. Als Henry mit seinem Heer einmarschiert war, hatte sich Kessal gerade von der Feier zu St. Mikhel erholt, die vier Tage zuvor stattgefunden hatte. Ob362
wohl die Bischöfin sich pflichtbewußt gegen viele der örtlichen Bräuche aussprach, konnte auch sie das traditionelle Fest nicht verhindern, bei dem eine junge Frau mit nichts anderem als ihren Haaren bekleidet durch die Straßen von Kessal ritt - das heißt, in diesem Fall hatte sie ein gazeartiges Unterkleid getragen, um dem Anstand doch etwas Genüge zu tun. Währenddessen verschlossen die Stadtbewohner ihre Fensterläden und gaben vor, nicht hinzusehen, wenn sie vorbeiritt. Nach der Prozession schwärmten dann alle aus ihren Häusern und betranken sich sinnlos. Rosvita war nicht sicher, was in der ursprünglichen Version dieser Geschichte die arme Frau dazu gebracht hatte, in einer solch beschämenden Weise durch die Stadt zu reiten. Aber es hieß, daß St. Mikhel ein Wunder wirkte und die unglückliche Jungfrau in ein so blendendes Licht tauchte, daß sie vor den Blicken der Ungläubigen und Gottlosen geschützt war. »Es heißt«, meinte Prinzessin Theophanu, die zu Rosvita getreten war und jetzt im hellen Licht stand, »daß diese Feste auf den Ruinen einer dariyanischen Burg ruht, die wiederum auf den Ruinen eines älteren Palastes errichtet wurde. Die großen Steine sollen von den Daemonen der oberen Sphären aufgestellt worden sein.« Sie deutete auf den gewaltigen Türsturz. »Wie die Steinkreise«, sagte Rosvita und dachte an den jungen Berthold. »Einige behaupten, sie wurden von Riesen aufgestellt.« Das hatte Helmut Villam gesagt, an dem Tag, als sie den alten Steinkreis untersucht hatten; damals war Berthold noch bei ihnen gewesen. O Herrin, sie mußte diese Trauer mit sich tragen. Aber sie durfte sich von ihr nicht überwältigen lassen. »Kommt«, wandte sie sich an Theophanu. »Wir werden in dem Buch lesen, das der Eremit, Bruder Fidelis, mir gegeben hat. Auf diese Weise können wir über das Leben einer heiligen 363 Frau nachdenken, solange wir auf eine Nachricht von König Henry warten.« Sie drehte sich zur Halle um, wo die Sonne jetzt ein Muster aus Licht und Schatten zwischen den dicken Holzsäulen und den Dachvorsprüngen schuf. Das Herdfeuer blieb an diesem Tag kalt; es war warm genug, und so mußten nur im Kochhaus Feuer entfacht werden. Bedienstete mit Überwürfen, auf denen der goldene Löwe von Fesse aufgenäht war, warteten nervös zu beiden Seiten der Türen. Einer brachte Wein, aber sie bedeutete ihm, daß er ihn wieder wegbringen sollte. Sie war nicht durstig. Der junge Ekkehard war auf einer Bank eingeschlafen. Sein sanftes Gesicht mit dem lieblichen Profil erinnerte sie schmerzlich an Berthold Villam, den sie inzwischen verloren hatten. Ekkehard war ein guter Junge, wenn auch etwas zu angetan davon, bis spät in die Nacht zu feiern und mit den Barden zu singen, die von einem großen Hof zum nächsten zogen. »Es ist gut so«, sagte Theophanu, die wieder neben Rosvita getreten war. »Was ist gut so?« Theophanu nickte in Richtung ihres jüngeren Bruders. Von allen Kindern Henrys ähnelte Ekkehard seinem Vater am meisten: goldbraune Haare, rundes Gesicht, eine leicht gebogene, kräftige Nase. Mit dreizehn hatte er noch etwas Schlaksiges an sich und war groß und unbeholfen - außer wenn er die Laute spielte. Aber es hieß, so wäre auch Henry in diesem Alter gewesen, bevor er ins Erwachsenenalter eingetreten war. »Es ist gut«, sagte Theophanu, »daß Ekkehard Musik und Feste mehr liebt als die Verheißung der Macht.« Rosvita wußte nicht genau, wie sie auf diese unverblümte Aussage reagieren sollte. Theophanu sah sie mit ihren dunklen Augen an. »Ist das 364 nicht die Ursache von Sabellas Rebellion? Daß sie nicht zufrieden damit ist, das Herzogtum ihres Mannes zu verwalten? Daß sie mehr will?« »Ist Gier nicht die Quelle vieler Sünden?« erwiderte Rosvita. Theophanu lächelte unschuldig. »So lehrt uns die Kirche, gute Schwester.« Theophanu war alt genug, um ein eigenes Gefolge haben zu können, und doch behielt ihr Vater sie an seiner Seite, wie er auch Sapientia noch bei sich behielt, statt ihr einen Titel und Ländereien zu geben. Ärgerte Theophanu sich über diese Behandlung? Rosvita wußte es nicht. War sie wütend, daß ihre Schwester Sapientia die Erlaubnis erhalten hatte, Henry aufs Schlachtfeld zu begleiten, daß sie ein eigenes Kommando erhalten hatte? Daß sie hatte zurückbleiben müssen, obwohl sie tatsächlich größer und kräftiger und den Strapazen einer Schlacht körperlich viel besser gewachsen war? Es war unmöglich, Theophanus Miene und ihre Gedanken zu ergründen. Rosvita wickelte das alte Pergament-Manuskript aus dem Leinentuch und schlug vorsichtig die erste Seite auf. Bruder Fidelis' Handschrift war zart und doch energisch; die Schleifen und Schnörkel, die er sich gelegentlich gegönnt hatte, verrieten, daß die Zeilen schon älter waren. Eine salianische Schrift, dachte Rosvita; sie hatte im Laufe der Jahre viele Manuskripte und Bücher untersucht und konnte die verschiedenen Eigenarten und verräterischen Zeichen bestimmter Schreiber auseinanderhalten, erkannte die Gewohnheiten, die in bestimmten Klosterschulen erlernt wurden. Sie berührte das vergilbte Papier mit Ehrfurcht, spürte die Tinte unter ihren Fingern, als wäre es das Flüstern von Fidelis' Stimme, das wie durch einen langen Tunnel, durch den Schleier vieler Jahre, zu ihr drang. 365 Theophanu wartete still neben ihr, die Hände geduldig im Schoß gefaltet. Rosvita las laut vor. »>Der Herr und die Herrin verleihen Frauen durch ihre Seelenstärke Ruhm und Größe. Der Glaube macht sie
stark, und so ist in diesen irdischen Gefäßen ein himmlischer Schatz verborgen. Eine von ihnen ist Radegundis, deren irdisches Leben ich, Fidelis, der demütigste und geringste Diener, jetzt zu preisen versuche, damit alle von ihren Taten hören und ihren glorreichen Namen loben können. Die Welt teilt jene, die einst kein Raum trennte. So endet der Prolog.<« Rosvita seufzte, sie glaubte Fidelis in diesen Worten zu hören, als könnte seine Stimme durch die Tinte zu ihr dringen. Sie fuhr fort: »>So beginnt das Leben. Die gesegnete Radegundis war von höchstem irdischen Rang -<« Ekkehard schnaubte plötzlich und wachte auf, als er von der Bank auf die Teppiche fiel, die von seinen Dienern vorausschauend dort ausgelegt worden waren. Im selben Augenblick erschien eine von Theophanus Dienerinnen in der Tür. »Ein Adler«, schrie sie. »Ein Adler kommt!« Rosvita schloß mit zitternden Händen das Buch und wickelte es wieder in das Leinen. Dann preßte sie es an die Brust, stand auf und eilte zu den großen Türen. Theophanu kam mit ihr, doch die Königstochter war vollkommen ruhig. Hinter ihnen sprach Ekkehard aufgeregt mit sich selbst, und seine Diener beeilten sich, ihm aufzuhelfen. Die Kastellanin und die anderen Bediensteten der Herzogin von Fesse versammelten sich hinter Rosvita und der Prinzessin. Der Adler war Hathui, die junge Frau, die durch Henry geehrt worden war, als er sie in sein persönliches Gefolge übernommen hatte. Sie übergab das Pferd einem Stallburschen und ging zu Theophanu, vor der sie niederkniete. »Eure Hoheit, Prinzessin Theophanu«, sagte sie und hob 366 den Blick, um Theophanu anzusehen. Sie besaß die seltene Gabe, einen gewissen Stolz ausstrahlen zu können, ohne unverschämt zu wirken. »König Henry schickt Euch die Nachricht, daß seine Schwester Sabella jede Möglichkeit einer Verhandlung ablehnt und eine Schlacht stattfinden wird.« »Was für eine Schlacht wird das sein?« fragte Theophanu. »Ich weiß es nicht. Ich ritt schnell hierher, ohne mich umzuschauen, wie es meine Pflicht ist.« »Bringt ihr etwas Met«, sagte Theophanu. Sie starrte über die Stadt. Kessal war wie ein Quadrat errichtet, und zwei breite Hauptstraßen verliefen senkrecht zueinander, teilten die Stadt in vier gleich große Viertel. Eine alte Mauer umgab die Stadt, neben den Bädern der letzte offensichtliche Hinweis, daß dies in den Tagen des alten Kaiserreiches einmal eine dariyanische Stadt gewesen war. Damals war sie vermutlich größer gewesen und sicherlich auch dichter besiedelt. Jetzt war zwischen den letzten Häuserreihen und den Stadttoren Platz für einige Felder - hauptsächlich Gemüse, eine beeindruckende Zahl von Obstbäumen und ein paar Gemeindeweiden für Kühe. Vor der Mauer lagen Felder, auf denen wegen des besonderen Bodens in dieser Gegend - dem roten Ton des Hochlands - überwiegend Roggen und Gerste wuchsen. Wohin waren all diese Leute gegangen, und was war aus ihren Nachkommen geworden? Waren sie zurück nach Aosta geflohen oder nach Darre, der Stadt, aus der das Kaiserreich entstanden war? Waren sie in den Kriegen, durch die Hungersnöte oder an der Pest gestorben, die das alte Kaiserreich verwüstet und endgültig zerstört hatten? Waren sie einfach nur verschwunden und niemals wieder aufgetaucht, wie der arme Berthold? Wider Willen wunderte sich Rosvita. »Das Wissen verführte mich zu sehr«, hatte Bruder Fidelis gesagt. In Zeiten 367 wie diesen wußte sie, daß sie ebenfalls viel zu neugierig war. Henry konnte tot sein, alles, wofür er gearbeitet hatte, zunichte gemacht. Oder er hatte das schreckliche Verbrechen begangen, seine eigene Verwandte zu töten genau das gleiche Verbrechen, das, wie einige Chronisten schrieben, das Dariyanische Kaiserreich hatte zusammenbrechen lassen. Und hier stand sie nun und machte sich Gedanken über die Stadt Kessal, während der Friede und die Stabilität des Königreiches auf dem Spiel standen! »Kommt«, sagte sie zu Theophanu, »setzen wir uns wieder hin und warten weiter.« Doch Theophanu schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Es ist Zeit, die Pferde zu satteln«, sagte sie ruhig. »Und Heiler zu versammeln. Entweder reiten wir zur Schlacht, um den Verwundeten zu helfen, oder wir reiten weg.« »Weg?« Theophanu drehte sich um; ihre dunklen Wimpern umrahmten Augen, die so verblüffend groß waren wie die der Königinnen auf alten Mosaiken. Sie wirkte entschieden zu gefaßt. »Wenn Sabella gewinnt, müssen Ekkehard und ich auf jeden Fall entkommen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, zu meiner Tante Scholastika nach Quedlingham zu reiten.« Rosvita legte eine Hand an die Brust und verneigte sich leicht; ein Zeichen des Respekts vor der jungen Prinzessin. Natürlich hatte Theophanu recht. Sie hatte schon von ihrer Mutter Sophia gelernt, vorausschauend und abwägend zu denken, und diese wiederum hatte es am Hof von Arethusa gelernt, wo genauso gefährliche und verschlungene Intrigen gesponnen wurden wie an jedem anderen Hof. Diese Wahl also hatte Henry zu treffen, denn es war längst Zeit, eine seiner Töchter auf die Nachfolge-Rundreise zu schicken. Er mußte sich entscheiden - zwischen Sapientia, der 368 Tochter, die kühn und offen war und doch häufig mangelndes Urteilsvermögen erkennen ließ, und der kühlen, unergründlichen Theophanu, die politischen Instinkt besaß, aber nichts von dem charismatischen Charme hatte,
der einen von Gott gewählten Souverän eigentlich auszeichnete. Die eine war zu vertrauensvoll, der anderen vertraute niemand. Kein Wunder, daß Henry davon träumte, seinen Bastard Sanglant auf den Thron zu setzen. 2 Erst der Frater, dann die Diakonissin. »Besorgt mir ein Pferd!« Die Frau, die dies von Hanna verlangte, hatte den unverschämten Tonfall einer Edlen, trug aber die Gewänder einer einfachen Diakonissin und hatte ihre geflochtenen Haare noch nicht einmal mit einem Schal bedeckt. Aber Hanna konnte nichts tun. Sie besaß kein Pferd mehr, da der verzweifelte Frater es ihr abgenommen hatte. »Ich bitte um Vergebung, Diakonissin«, sagte sie und hob den Speer nur für den Fall, daß die Frau zu fliehen versuchen sollte, während Prinzessin Sapientias Soldaten damit beschäftigt waren, den neuen Angriff abzuwehren, »aber alle in diesem Troß sind Gefangene von König Henry.« Zu ihrer Überraschung lachte die Diakonissin. »Natürlich, Kind. Kennt Ihr mich nicht?« Hanna konnte nur den Kopf schütteln. Sie starrte auf den Wald, in der Hoffnung, einen Blick auf die Truppen der Prinzessin zu erhaschen. Sie sah ein paar Soldaten. Die meisten Bewaffneten, die beim Troß gewesen waren, lagen verwundet 369 oder tot am Boden, oder sie wanderten ziellos umher, in ihren Gesichtern jene Verwunderung, die von vollkommener Orientierungslosigkeit herrührte. Etwa zehn Schritte hinter der Diakonissin lagen zwei Wachen in den Farben Sabellas; beide waren tot. Vielleicht fünf Wagen hinter ihnen sah Hanna plötzlich eine Frau in den Gewändern einer Bischöfin, die sich auf einen Wagen helfen ließ. »Oh, Herrin!« stieß sie atemlos hervor. »Das ist Bischöfin Antonia.« »Sie darf nicht entkommen«, rief die Diakonissin mit harter Stimme. »Besorgt mir ein Pferd oder findet meine Nichte; schafft sie aus dem Wald hierher.« Meine Nichte. Eine fürchterliche Ahnung beschlich Hanna. Sie riskierte einen direkten Blick auf das Gesicht der Frau und kam zu dem Schluß, daß es wirklich wahr sein könnte, daß durchaus eine Ähnlichkeit vorhanden war in der Nase, der Kinnpartie, dem durchdringenden Blick. Sie ließ sich auf ein Knie nieder und neigte rasch den Kopf. »Ich bitte um Vergebung, Euer Gnaden.« »Das ist jetzt unwichtig!« sagte die Frau energisch. »Antonia darf auf keinen Fall entkommen. Aber ich habe keine Waffen, um sie aufzuhalten.« Hanna gehorchte. Sie rannte zum Wald, fest davon überzeugt, daß sie im nächsten Augenblick von einem Schwert oder einem Speer durchbohrt werden würde. Aber Sapientias Truppen machten bereits kehrt, flankiert von den Soldaten von Saony. Ihre Gegner hatten sich offensichtlich zurückgezogen. Hanna rief die Prinzessin zu sich, und sie erschien sofort. »Eure Tante, Bischöfin Constanze, wartet auf Euren Schutz«, schrie Hanna und griff nach den Zügeln von Sapientias Pferd, als es scheute. Hanna verstand genug von Pferden, um zu erkennen, daß dieses nicht nur mit einem nervösen 370 Temperament und einer ungeschickten Reiterin ausgestattet war, sondern darüber hinaus unfähig, mit all der Aufregung fertig zu werden. »Sie bittet Euch, Bischöfin Antonia an der Flucht zu hindern.« Sapientias ausdrucksvolle Miene hellte sich auf. »Hauptmann!« schrie sie. »Ihr müßt Constanze finden und beschützen. Die anderen folgen mir!« Sie drängte ihr Reittier so abrupt vorwärts, daß Hanna die Zügel aus den Händen gerissen wurden. Etwa dreißig Soldaten folgten ihr; die anderen blieben zurück, verwirrt und darauf wartend, daß dieser Befehl vom alten Hauptmann bestätigt werden würde. Der brummte irgend etwas leise vor sich hin und erhob dann seine Stimme, damit alle ihn hören konnten. »Ihr zehn kehrt zu den Wagen zurück und beschützt Bischöfin Constanze. Wir haben mehr als genug Soldaten hier. Die übrigen und ihr von Saony kehrt mit mir auf das Schlachtfeld zu Henry zurück.« Sie formierten sich. Er blickte Hanna an. »Adler! Ihr bleibt bei Bischöfin Constanze.« Sie nickte, glücklich, daß sie endlich einmal jemandem gehorchen mußte, der wußte, was er tat. Die Männer ritten zum Schlachtfeld zurück, ohne zu wissen, was sie erwartete. So kam es also, daß Bischöfin Antonia trotz allem und trotz des Durcheinanders, das Sapientias Übereifer gelegentlich anrichtete, zusammen mit ihren Geistlichen gefangengenommen wurde. Auch Herzog Berengar wurde gefunden; er kauerte zusammen mit nur einem treuen Diener unter einem Wagen und war so verängstigt, daß er sich in die Hosen gemacht hatte. Hanna empfand tatsächlich Mitleid für ihn, als er vor die ernste Bischöfin Constanze gebracht wurde, die inzwischen den Befehl über Sapientias vierzig Soldaten übernommen hatte. Doch Constanze zeigte ihm gegenüber kein Mitleid, sondern Gleichgültigkeit. Hanna begriff rasch, wieso: Sie hatte 371 dieses unverschämte Starren, das unangemessene Gelächter im falschen Augenblick schon zuvor gesehen. Berengar war ein Einfaltspinsel und daher nur eine einfache Schachfigur in einem viel größerem Spiel. Er war unwichtig. Wichtig dagegen war Bischöfin Antonia, die nach Hannas Eindruck eher amüsiert darüber zu sein schien, daß sie sich jetzt in Constanzes Gewalt befand. Antonia war eine freundlich dreinblickende Frau, die nichts von dem Hochmut vieler Hochgeborener hatte, sondern eher eine gutmütige Bescheidenheit ausstrahlte. Und doch, als sie
während der Verhandlungen Helmut Villam gegenübergestanden hatte, hatte sie sich auf eine Weise in Rage geredet, die jetzt gar nicht zu ihr zu passen schien. Es gab noch eine andere Siegesbeute, die sich bei den Geistlichen verbarg. »Ah«, sagte Constanze. »Komm her, Tallia. Ich werde dir nichts tun, Kind.« Das Kind wurde zu ihr geführt. Sie weinte; ihre Nase war bereits ganz rot. Es gab nichts, was sie hätte sagen können, außer sich der Gnade Constanzes zu überantworten. Doch Hanna blickte über sie hinweg weiter auf Antonias Geistliche. Es waren die häßlichsten Kirchenleute, die Hanna jemals gesehen hatte; sie alle sahen aus, als hätten sie irgendeine Art von Pocken mit roten Malen im Gesicht und an den Händen und Ausschlag am Kinn. Einige von ihnen husteten schwach, und einer - der am kränksten aussah - hatte Blutflecken auf der Hand, als er sie vom Mund nahm. O Herrin! dachte Hanna. Was ist, wenn sie die Pest haben? »Trennt sie von den anderen«, sagte Constanze zu Sapientia, als hätte sie den gleichen Gedanken gehabt. »Aber Tallia und Berengar werde ich bei mir behalten.« »Sind sie krank?« fragte Sapientia, die endlich vom Pferd 372 gestiegen war, nachdem sie auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten zu kämpfen eine Weile im Wald herumgeritten war. Sie war zurückgekommen, um zu erklären, daß sie zum Schlachtfeld reiten würde, doch Constanze hatte dies - mit einem direkten Befehl von der Tante zur Nichte - unterbunden, und selbst die ungestüme Sapientia wagte es nicht, sich einem Befehl der Bischöfin zu widersetzen. Constanze konnte kaum mehr als vier oder fünf Jahre älter sein als Sapientia, aber ihre Autorität überwog die der Tochter ihres Bruders bei weitem. »Ich weiß nicht, ob sie krank sind«, sagte sie jetzt, »aber wir sollten vorsichtig sein. Ich habe viele Geschichten über die Pest gehört, die vor etwa zwanzig Jahren auch in Autun schwer gewütet hat. Nehmt sie mit und bewacht sie gut, aber niemand soll sie anrühren.« Bischöfin Antonia hatte keinerlei Anzeichen der Krankheit und auch nicht der junge Geistliche, der gleich neben ihr stand. Doch Constanze sah nicht so aus, als würde sie die Bischöfin aus dem Blick verlieren, krank oder nicht. »Ihr werdet für das, was Ihr getan habt, zur Rechenschaft gezogen werden, Antonia«, sagte Constanze. »Wir alle müssen vor Gott Rechenschaft ablegen«, erwiderte Antonia selbstgerecht. Das Donnern von Hufen schreckte sie auf. Sapientias Hauptmann war mit dem Rest ihrer Truppen zurückgekehrt, aber ohne die Kämpfer von Saony. Sein Gesichtsausdruck war beunruhigend. »Was ist geschehen?« rief Sapientia. Antonia lächelte wissend. »Guter Hauptmann«, sagte Constanze mit fester, aber ruhiger Stimme. »Welche Neuigkeiten bringt Ihr uns?« Er schien sehr niedergeschlagen. »Der Herr hat uns mit dem Sieg gesegnet, Euer Gnaden, aber es mußte ein schrecklicher Preis dafür gezahlt werden.« 373 Einen Augenblick verschwand Antonias Siegesgewißheit aus ihrem Gesicht und machte etwas Boshafterem Platz, etwas Scheußlicherem, Raffinierterem. Hanna schaute Constanze an, die ernst dreinblickte. Als sie wieder Antonia ansah, hatte die alte Bischöfin ihre alte Miene wieder aufgesetzt und schaute so friedlich drein wie eine Heilige, und Hanna schüttelte verwundert den Kopf und fragte sich im stillen, ob sie sich alles nur eingebildet hatte. »Erstattet Bericht«, sagte Constanze. Sapientia sah aus, als wollte sie sich jeden Augenblick wieder auf ihr Pferd schwingen und davonreiten, aber nach einem scharfen Blick von Constanze blieb sie, wo sie war. Der Hauptmann stieg vom Pferd und kniete vor Constanze nieder. »Der Sieg gehört König Henry, aber um einen hohen Preis. Viele liegen tot auf dem Feld, denn Sabella benutzte ...« - er schien nach Worten zu suchen - »sie hat eine Kreatur auf das Feld gebracht, ein schreckliches Wesen, das nur einer teuflischen Saat entsprungen sein kann. Dank seiner Magie konnte Sabellas Heer die Hälfte oder mehr von Henrys Männern abschlachten - in der Tat fast alle Löwen -, während sie regungslos auf dem Feld standen, unfähig, sich aus dem Griff dieses elenden Zaubers zu befreien.« Sapientia keuchte auf. Soldaten murmelten entsetzt und ungläubig. Fast alle Löwen. Hanna schob eine böse Vorahnung beiseite. Constanze hob eine Hand, und Ruhe kehrte ein. »Wie hat Henry dann gewinnen können? Wenn sich doch alles so zugetragen hat, wie Ihr berichtet?« »Ich weiß es nicht. Nur daß ein Mann - ein Frater - sich der Bestie entgegenwarf und sie dadurch abgelenkt wurde und getötet werden konnte.« Antonia murmelte etwas in sich hinein, aber Hanna konnte 374 es nicht verstehen. Das Gesicht der Bischof in blieb freundlich, aber ihre Augen waren jetzt hart. Constanze wurde blaß. »Ein Frater?« fragte sie. »Was wißt Ihr von ihm?« »Einige sagen, er wäre der Sohn von Burchard, dem Herzog von Avaria, aber ich kann kaum glauben, daß -« Constanze machte eine scharfe Handbewegung, und er schwieg. Eine Träne rollte ihre Wange hinab, wurde vom Wind weggeblasen, und es schien, als hätte sie niemals existiert.
»Schafft sie mir aus den Augen.« Sie deutete auf Antonia. »Aber bewacht sie gut!« Der Hauptmann fuhr aufgeschreckt in die Höhe und tat, wie ihm befohlen. »Was ist mit Sabella?« rief Sapientia dem Hauptmann hinterher. »Konnte sie entkommen?« »Nein«, erwiderte der Hauptmann, während seine Männer Bischöfin Antonia in die Mitte nahmen und zu einem der Wagen führten. »Villam persönlich konnte sie ergreifen, obwohl er schwer verwundet wurde. Einige fürchten, daß er nicht überleben wird. Sie ist jetzt in Henrys Gewahrsam.« Constanze schloß die Augen und verharrte eine Weile so, während Antonia unter schwerer Bewachung in einem Wagen untergebracht wurde. Schließlich verlor Sapientia die Geduld und rief nach ihrem Pferd. »Kommt, Adler«, rief die Prinzessin. »Ihr werdet mit mir reiten.« »Nein«, widersprach Constanze und öffnete die Augen. »Tut, was Ihr wollt, Sapientia, aber ich werde einen Adler hierbehalten, wie es mein Recht ist.« Sie berührte den Goldreif in ihrem Nacken. »Es ist wahr«, räumte Sapientia nachdenklich ein und warf den Kopf zurück, »es war Euer treuer Adler, der uns vor Autun erreichte. Auf diese Weise hat Vater gewußt, daß er hier375 herreiten mußte.« Dann verzog ein seltsames Lächeln ihren Mund. »Aber wie soll Vater jetzt ohne Heer nach Gent reiten?« »Nach Gent reiten?« fragte Constanze. »Warum sollte Henry nach Gent reiten?« Sapientia führte ihr Pferd zur Seite und ritt, ohne die Frage beantwortet zu haben, zurück zum Schlachtfeld, um ihren siegreichen Vater zu treffen. »Oh, Herrin«, murmelte Hanna. Denn es stimmte ja. Henry war mit einem großen Heer losmarschiert, mit achthundert oder mehr Soldaten. Es hätten mehr sein können, sicher, aber es würde Monate dauern, Truppen in den abgelegenen Gebieten von Wendar und Varre und den Marklanden auszuheben und dann nach Gent zu bringen. Sabella hatte an diesem Tag ebenfalls viele Soldaten verloren; und wie sollte Henry den Edlen trauen können, die sich gegen ihn erhoben hatten? Es war gut möglich, daß sie sich weigerten, ihm Soldaten zu stellen, nur damit er den Sohn retten konnte, den ohnehin niemand liebte. Sie würden nicht an die Menschen in Gent denken, daran, was sie erleiden mußten. Sie würden nicht an Liath und die Gefahr denken, in der sie schwebte. Was kümmerten Könige und Fürsten schon das Leben der Adler? Genau wie Schwerter waren sie nur Mittel, um ihre Ziele durchzusetzen. 3 König Henry war schlecht gelaunt. Genauer gesagt war er so wütend, wie Rosvita ihn selten gesehen hatte. Als die Nachricht vom Sieg in Kessal eingetroffen war, hat376 ten sie und Theophanu sich sofort zum Schlachtfeld aufgemacht. Henry schritt unaufhörlich vor dem hastig errichteten Zelt auf und ab, in dem sich Helmut Villam befand. Es hieß, daß Villam im Sterben lag. Henrys Bedienstete und die verschiedenen Edelleute, die an seiner Rundreise teilnahmen, hielten vor Entsetzen mindestens zwanzig Schritt Abstand zum König. Es war nur zu leicht möglich, daß Henry ohne wirklichen Grund mit unangemessener Schärfe jene zurechtwies, die zufällig in seine Nähe kamen. Theophanu, die die Situation gleich auf den ersten Blick erfaßte, zog Ekkehard beiseite und führte ihn zu den Unterständen für die Verwundeten, um ihnen zu helfen. Der Adler Hathui, geschickt darin, unauffällig zu bleiben, stellte sich als Wache neben den Zelteingang; sie stand so reglos und unscheinbar vor dem Hintergrund der schlichten Stoffbahnen, daß der König sie gar nicht zu bemerken schien, obwohl sie ihm sehr nah war. Rosvita fand sich plötzlich von Höflingen umlagert, die sie drängten, den König zur Vernunft zu bringen. Sie schützte sich vor ihnen, indem sie ihnen verschiedene sinnvolle Aufgaben gab. Schließlich fand sie eine Edle, die ihr vielleicht sagen konnte, was geschehen war: Markgräfin Judith. Die Markgräfin saß auf einem Stuhl und betrachtete die Szene aus sicherer Entfernung. Ihre Bediensteten waren angewiesen, unverschämte Höflinge von ihr fernzuhalten, und so trank sie in scheinbarer Einsamkeit ihren Wein und sah zu, wie Henry auf und ab ging. Diener umschwirrten den König und wurden davongejagt. Und Rosvita sah das Gemetzel: Das Schlachtfeld war mit Leichen übersät. Die meisten Verwundeten waren bereits weggeschafft worden, aber es waren viel zu viele Tote, die gar nicht alle so schnell begraben werden konnten. Möglicherweise 377 würde man das Feld auch einfach verlassen müssen; so etwas war schon öfter geschehen. Männer und Frauen gewöhnliche Soldaten und Leute von den benachbarten Höfen - durchsuchten die Toten nach irgendwelchen Kostbarkeiten. Rosvita nahm jedoch an, daß die Bediensteten des Königs oder die Edlen sich die wertvollsten Beutestücke bereits gesichert hatten. Besonders merkwürdig und am schlimmsten anzusehen war die Kreatur, die in der Mitte des Gemetzels lag eine große Bestie, die so häßlich war, daß Rosvita selbst aus dieser Entfernung bei ihrem Anblick erschauderte. Der Kopf der Kreatur war so groß wie ein Wagenrad und erinnerte noch am ehesten an einen grotesken Hahnenkopf, aber sie hatte den Schwanz und den geschmeidigen Körper eines Reptils und die Krallen eines riesigen Adlers. »Das ist das Guivre«, erklärte Judith mit der unbeteiligten Kühle eines Menschen, der einer Katastrophe entkommen war, ohne daß ihm etwas Ernsthaftes geschehen wäre.
»Ein Guivre« Rosvita starrte die Kreatur an. »Ich habe von solchen Bestien gelesen, aber niemals damit gerechnet, einmal eins zu sehen.« Das eine riesige Auge der Kreatur war geöffnet und auf den blauen Himmel gerichtet. Die Schwingen glänzten wie Metall, als ob die Federn aus Kupfer wären. Doch am grauenhaftesten war der halbe Körper des Mannes, der sich ganz in der Nähe des Kadavers befand. Ein besonders schneller Plünderer hatte ihm die Schuhe gestohlen, sofern er nicht barfuß gewesen war. Etwas Kleines, Weißes - vermutlich Maden - krabbelte über den Körper des Guivre. Rosvita wandte den Blick rasch ab. »Was ist geschehen?« wollte sie von Judith wissen. »Eine große Bestie ist getötet worden, wie Ihr sehen könnt«, erwiderte die Markgräfin. Blut klebte an ihrem Überwurf, und ihr Kettenhemd hatte einen Riß, und ein Fleck in ihrem Ge378 sieht färbte sich langsam violett. Ihr Helm lag einigermaßen verbeult zu ihren Füßen. »O Herr, ich bin zu alt für so etwas. Keine weiteren Kinder, keine weiteren Kämpfe, wie die Heiler immer sagen. Ein Mann kann selbst dann noch kämpfen, wenn sein Haar schon ganz weiß ist - falls er es geschafft hat, so lange am Leben zu bleiben. Mir tun sämtliche Knochen weh. Ab jetzt werden die Ehegatten meiner Töchter mitreiten, wie es sich gehört, und wenn doch eine Frau dabeisein muß, kann es ja eine von ihnen machen!« Rosvita wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Sie hatte natürlich schon häufig Tote gesehen, aber niemals so viele auf einmal. Zwischen den toten Löwen kniete ein Adler und beweinte einen Fußsoldaten. »Es war ein harter Kampf«, sagte Rosvita schließlich. »Welcher? Der auf dem Feld oder der, den wir gesehen haben, kurz bevor Ihr hier ankamt?« »Welchen meint Ihr?« »Henrys Streit mit Herzogin Liutgard.« Rosvita kannte Herzogin Liutgard kaum, denn die junge Herzogin kam selten zum Hof. Sie wußte aber, daß Liutgard das berüchtigte Temperament besitzen sollte, das - nach Aussagen der Chronisten - schon die Herrschaft ihrer Urgroßtante Conradina befleckt hatte, einer Frau, die berühmt dafür war, soviel Streitereien wie Liebhaber gehabt zu haben und somit von beidem reichlich. »Wieso sollte der König mit Liutgard streiten?« fragte Rosvita. Judith fand etwas getrocknetes Blut unter einem Fingernagel und winkte eine Dienerin herbei. Die Frau eilte zu ihr und wusch die Hand der Markgräfin, während diese weiterredete. »Liutgard ritt neben Villam, als Sabellas Leibwache überwältigt wurde. Sie kämpften loyal -« »Liutgard und Villam?« 379 Judith lächelte, aber es lag etwas Spöttisches in ihrer Miene. »Das habe ich nicht gemeint. Sabellas Gefolge kämpfte loyal, und viele wurden getötet, bevor sie den Kampf aufgaben. Rodulf ist dabei gestorben.« »Herzog Rodulf? Das sind traurige Nachrichten.« »Er kämpfte für Varre, wie er es immer getan hat. Mehr für Varre, wie ich annehmen würde, als für Sabella. Leider war es ihm unmöglich, einen wendischen König anzuerkennen.« »Vielleicht sind seine Erben vernünftiger.« »Vielleicht«, echote Judith und verzog die Lippen, eine Geste, die mehr Zweifel als Hoffnung ausdrückte. »Villam wurde verwundet?« hakte Rosvita nach. Sie begann sich langsam zu fragen, ob Judith sie zur eigenen Belustigung auf den Arm nahm. »Ja, schwer sogar.« Es war der Markgräfin nicht anzusehen, ob Villams Verletzung sie mitnahm. Rosvita hatte Judith niemals sehr gemocht, aber die Markgräfin war immer loyal gewesen, erst gegenüber Arnulf und dann gegenüber Henry, und sie war kein einziges Mal wankelmütig geworden. Es war nicht leicht, sie zu mögen, aber es war auch nicht möglich, sie wieder wegzuschicken. Dazu war sie viel zu mächtig. »Weil Villam so schwer verwundet war, gelang es Liutgard, Sabella in ihren Gewahrsam zu nehmen.« »Ah.« Das erklärte einiges. »Ich nehme an, das hat Henry ganz und gar nicht gefallen.« »Allerdings nicht. Deshalb haben sie sich gestritten. Henry verlangte von Liutgard, ihm Sabella zu überlassen. Und Liutgard erklärte, daß sie es erst tun würde, wenn Henry sich etwas beruhigt hätte und wieder klarer denken könnte.« »Oh, Herrin«, murmelte Rosvita. »Das war unüberlegt gesprochen von ihr. Sie hätte auch diplomatischere Worte finden können.« 380 »Diplomatie ist etwas für Höflinge und Berater, meine liebe Geistliche, nichts für Prinzessinnen und Prinzen. Ich hatte noch nie den Eindruck, daß Liutgard einen Sinn für Feinheiten oder Raffinesse besitzt. Ihr wißt, daß Burchards Sohn tot ist?« »Burchards Sohn?« Was hatten der Herzog von Avaria und seine Kinder damit zu tun? Der Gegenstand des Gesprächs wechselte so schnell - und noch ehe Rosvita das bisher Gehörte richtig verarbeitet hatte -, daß sie dem Sprung nicht folgen konnte. Liutgard hatte Frederik, den zweiten Sohn des Herzogs von Avaria geheiratet, aber dieser war bereits vor einigen Jahren gestorben. Judith seufzte vernehmlich und untersuchte ihre Fingernägel nach weiteren Blutspuren oder anderen Überbleibseln der Schlacht. Dann gestattete sie ihrer Dienerin, ihr die Hände mit einem sauberen Linnen zu
trocknen. Mit einer Geste entließ sie die Frau. »Sabella scheint entschlossen, die Männer dieses Geschlechts mit sich in die Niederlage zu reißen, obwohl sie sich kein bißchen um sie schert. Ich spreche von Burchards ältestem Sohn Agius - demjenigen, der in die Kirche eingetreten ist.« Judith erzählte jetzt eine eher verwirrende Geschichte über das Guivre, den Frater und einen Jungen, der Graf Lavastins Hunde geführt hatte. »Das geht mir alles viel zu schnell«, meinte Rosvita. »Ich weiß nicht, welche Rolle Graf Lavastin in dieser Schlacht gespielt hat. Das letzte, was ich von ihm hörte, war, daß er sich weigerte, an Henrys Rundreise teilzunehmen. Das war vor beinahe einem Jahr.« »Er tauchte auf Sabellas Seite auf dem Schlachtfeld auf.« Judith hielt inne und fuhr sich mit einem Finger über die Oberlippe, wo feine Härchen wuchsen - Zeichen ihres bevorstehenden Übergangs von der Zeit der Fruchtbarkeit zur Zeit der 381 Weisheit. »Aber das ist ja das Seltsame: Er zog seine Truppen ungefähr nach der Hälfte der Schlacht zurück.« »Nachdem das Guivre getötet worden war? Als er sah, woher der Wind wehte?« »Nein, vorher. Als für Henry alles verloren schien und alles darauf hindeutete, daß Sabella gewinnen würde. Niemand kann sich das erklären, und Lavastin und seine Männer sind geflohen.« Endlich begann Rosvita zu erkennen, wohin dies alles führte. »Was ist mit Henry und Sabella?« »Wir haben ein Patt, wie es scheint. Liutgard weigert sich, Sabella an Henry zu übergeben, und Henry wütet, wie Ihr seht.« »Habt Ihr versucht zu vermitteln, Markgräfin?« »Ich?« Judith lächelte. Dieses Lächeln. Es war dieses besondere Lächeln, für das Judith berühmt war und weswegen Rosvita sie nicht mochte, obwohl sie sonst keinen Anlaß dazu hatte. Die Markgräfin von Olsatia und Austra war dem Hause Saony gegenüber loyal, hatte ihre Treue erst dem jüngeren Arnulf und dann, nach seinem Tod, Henry gelobt. Doch Rosvita glaubte nicht, daß es irgendeine Art von Zuneigung, ein festeres Band zwischen den beiden gab. Rosvita glaubte, daß Judith gegenüber Henry loyal war, weil sie ihn brauchte, weil er ihr etwas geben konnte: militärische Unterstützung. Die Situation einer Fürstin oder eines Fürsten in den Marklanden - den unsicheren Grenzgebieten - war gefährlich, und Judith hatte mehr als einmal Henrys Unterstützung gefordert und auch erhalten. Wie viele andere Edle von hohem Rang hatte auch Judith vor ihrer ersten Vermählung bereits ein Kind bekommen, von einem Galan oder irgendeinem gutaussehendem Mann von nicht edler Geburt, der ihre jugendliche Begeisterung entfacht 382 hatte. Diese erste Heirat war, wie es üblich war, von ihrer Familie zum gegenseitigen Vorteil beider Häuser arrangiert worden. Der Galan war längst verschwunden. Aber das Kind hatte gelebt und war aufgewachsen. Beim Segen der Herrin, was hatte Judith dieses Kind verhätschelt und verwöhnt! Vielleicht wäre der Junge nicht so unausstehlich geworden, wenn er nicht so gut aussehen würde - jene, die bereits länger am Hof weilten als Rosvita, sagten, daß der Junge zumindest äußerlich seinem Vater ähnelte; andere bezogen die Ähnlichkeit auch auf seinen Charme. Er war zu der Zeit, da Rosvita an der Königlichen Schule gelehrt hatte, ein hervorragender Schüler gewesen. Trotzdem hatte es sie nicht unglücklich gestimmt, als er gegangen war. Wie sehr hatte er sich doch von Berthold unterschieden, abgesehen von einem einzigen Bereich, für den gerade sie ihn am allerwenigsten verdammen konnte: Neugier. Aber Hugh war jetzt weg, in der Kirche, und zweifellos beschäftigt mit irgendwelchen Kirchenangelegenheiten und seiner neuen Stellung als Abt von Fiersbarg. Ohne Frage hegte seine Mutter die Hoffnung, ihn eines Tages in den Rang eines Presbyters erheben zu können - eine Ehre, die es ihm ermöglichen würde, Wendar zu verlassen und im Palast der Skopos in Darre zu leben. Er hätte keinen Grund, die Rundreise des Königs mit seiner Gegenwart zu belästigen. Dank der Herrin. »Ich habe meinen Leibarzt zu Villam geschickt«, sagte Judith. Sie zuckte mit den Achseln und rückte das Kettenhemd etwas bequemer zurecht. »Aber ich habe nicht versucht zu vermitteln. Diese Aufgabe überlasse ich Henrys Beratern.« Rosvita lächelte ironisch und bescheiden. Mit solchen Aussagen erinnerte Gott sie daran, nicht über andere zu urteilen. Sie nickte der Markgräfin zu und entschuldigte sich. Es war Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen. 383 »Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen«, polterte Henry los, kaum daß er sie gesehen hatte. »Warum habt Ihr Sabella nicht zu mir gebracht? Oh, Herrin! Meine idiotische Tochter hat sich vor aller Augen zum Narren gemacht, wenn man den Berichten trauen darf, und sie hat es nicht einmal gemerkt. Oh, Herrin, womit habe ich solche Kinder verdient?« »Ich bin jetzt hier, Eure Majestät«, sagte sie in dem Bemühen, ruhig zu bleiben. Henry war rot im Gesicht, und seine Adern traten deutlich hervor. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick platzen. »Und auch wenn ich einem stolzen Geschlecht entstamme, solltet Ihr wissen, daß ich jemandem wie Herzogin Liutgard keine Befehle erteilen kann.« Er dachte zumindest zwei Atemzüge darüber nach, die sie nutzte, ihm die Hand auf den Ellenbogen zu legen.
Die Berührung verunsicherte ihn. Es stand ihr natürlich nicht zu, den König ohne seine Einwilligung zu berühren, aber die Geste brachte ihn dazu, an etwas anderes als an seine Trauer zu denken. »Ihr seid verärgert, Eure Majestät«, sagte sie, während er langsam wieder zu Verstand kam. »Natürlich bin ich verärgert! Liutgard enthält mir die Person vor, deren Verrat mich jetzt das einzige Kind kosten kann, das -« »König Henry!« Sie sagte es laut und scharf. Sie wußte mit sicherem Gespür, daß er kurz davor stand, etwas zu sagen, was er später bereuen würde. Etwas über Sanglant. »Laßt uns hineingehen und nach Villam sehen.« Hatte niemand daran gedacht, ihn zu beruhigen, indem man an die aufrichtige Zuneigung zu seinem alten Freund und Gefährten anknüpfte? Rosvita konnte nicht glauben, daß alle so viel Angst vor ihm hatten. Sie deutete auf das Zelt. Er runzelte die Stirn und zögerte. Dann schritt er plötzlich hinein und 384 überließ es ihr, ihm zu folgen. Der Adler - Hathui - nickte, als Rosvita hinterherschlich. Billigend? Rosvita schüttelte den Kopf. Sicherlich würde kein Adler von gewöhnlichem Stand es wagen, die Handlungen der Edlen zu billigen oder mißbilligen. Villam hatte seinen linken Arm knapp oberhalb des Ellenbogens verloren. Rosvita wagte nicht zu fragen, wie es zu dieser Verletzung gekommen war. Der alte Mann schlief anscheinend, und sie fürchtete, ihn aufzuwecken. Aber Henry schob den Arzt beiseite und legte - trotz der Wut, die noch immer in ihm war - außerordentlich sanft eine Hand auf Villams Stirn. »Er ist stark«, murmelte er, als wollte er einen guten Ausgang herbeireden. Der Arzt nickte zustimmend. »Es gibt keine Entzündung?« fragte Rosvita leise. »Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, meinte der Arzt. Er hatte eine helle, ziemlich hohe Stimme und einen starken Akzent. »Er ist, wie Seine Majestät sagen, ein starker Mann. Wenn keine Entzündung einsetzt, wird er überleben. Wenn doch, wird er sterben.« Henry kniete sich neben die Pritsche. Der Arzt fiel ebenfalls sofort auf die Knie, als wagte er nicht zu stehen, wenn der König kniete. Henry blickte auf und winkte Rosvita zu sich. Sie kniete sich neben den König und sprach ein Gebet, während Henry gleichzeitig zu ihren Worten den Mund bewegte, die rechte Hand an den goldenen Kreis der Einigkeit auf seiner Brust gepreßt. Als sie ihr Gebet beendet hatte, schaute der König den Arzt an. »Was empfehlt Ihr?« Rosvita betrachtete den Mann genauer. Sie traute Ärzten nicht. Sie kamen ihr vor wie diese Astrologi, die von Stadt zu Stadt wanderten und den Leuten versprachen, anhand der Position der Sterne ihr Schicksal zu deuten natürlich gegen eine 385 angemessene Bezahlung. Sie hatten vor allem den Leichtgläubigen und Furchtsamen etwas zu bieten. Aber dieser Mann war bartlos, also war er entweder ein Kirchenmann oder, was genauso möglich war, ein Eunuch aus dem Osten. Sie fragte sich, wo Judith ihn gefunden haben und welchen Handel die Markgräfin mit Arethusa treiben mochte. Seine Stimme verriet seinen Status, als er wieder sprach. Sie war zu hoch für einen richtigen Mann. »Ich habe aus den Schriften der dariyanischen Ärztin Galene gelernt, einer Frau aus längst vergangenen Zeiten, aber mit großem Wissen. Diesen Schriften folge ich. Ein Mensch mit einer solchen Wunde muß viele Wochen an einem trockenen, warmen Ort ruhen. Die Wunde muß saubergehalten werden. Der Mann muß Brühe und andere gute Nahrung zu sich nehmen. Sein Körper wird heilen, oder er wird nicht heilen. Wir helfen. Gott entscheidet.« Er schlug das Kreiszeichen vor der Brust und verneigte sich, um seine Unterwerfung unter Gottes Willen zu bekunden. Villams rechter Arm lag auf seiner Brust. Henry nahm ihn jetzt, und die Lider des alten Mannes flatterten, und seine Augen richteten sich auf den König, aber er sprach nicht. Henry wischte sich Tränen aus dem Gesicht. »Du mußt nach Kessal gehen, Helmut, und dich dort gründlich erholen«, sagte Henry leise. »Ich marschiere nach Autun, um meine Schwester wieder als Bischof in einzusetzen.« Er beugte sich vor, küßte den Mann vorsichtig auf beide Wangen - der Kuß des Friedens - und stand auf. Dieses Zwischenspiel hatte ihn zumindest äußerlich etwas beruhigt. Der König nickte dem Arzt zu, der den Boden mit der Stirn berührte, wie es die Menschen im Osten zu tun pflegten. Draußen wandte sich Henry an Rosvita. »Lassen wir Sabella warten«, sprach er mit leiser, eindringlicher Stimme, die im386 mer noch die in ihm tobende Wut verriet. »Soll sie sich ruhig darüber wundern, daß wir erst einmal nach Autun reiten, statt sie zu sehen.« Rosvita lächelte leicht. Henry war tatsächlich wieder zur Vernunft gekommen. Wie schnell sich doch das Blatt gewendet hatte! Jetzt sah es viel weniger so aus, als würde Liutgard ihm Sabella vorenthalten; statt dessen würden alle berichten, daß Henrys Wut so groß war, daß er es nicht über sich brachte, seiner Schwester ins Gesicht zu sehen. Das war natürlich viel wirkungsvoller. Aber es blieb noch eine Frage, die sie stellen mußte, auch wenn sie die Antwort fürchtete. »Ihr werdet nicht nach Gent reiten?« Seine Kinnpartie spannte sich an. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als könnte er sich nur so
beherrschen. »Zwei Drittel meiner Männer sind tot oder verwundet. Ich werde Constanze wieder als Bischöfin einsetzen und im Sommer ein Heer ausheben. Gent muß bis zum Herbst durchhalten.« Seine Augen blitzten vor Wut. »Und Sabella wird erfahren, was es heißt, ein zweites Mal die Hand gegen mich zu erheben.« 4 Henry und sein Gefolge mußten drei Tage vor Autun warten, ehe Bischöfin Helvissa genug Mut aufbrachte, die Stadttore zu öffnen und sie hereinzulassen. Alain konnte von einem Hügel aus sehen, wie die großen Tore aufschwangen und die Stadtbewohner Constanze mit fröhlichen Rufen willkommen hießen. 387 »Henry wird Helvissa nicht lange in ihrem Amt als Bischöfin belassen«, sagte Lavastin. Er stand neben Alain, und allein das war seltsam genug. Gemeinsam starrten sie auf die Reste von Henrys Heer. Während sie in den letzten Tagen nach Autun marschiert waren und an einer Stelle, wo sie nicht gesehen werden konnten, ein Lager errichtet hatten, hatten sie Männer westwärts fliehen sehen - die Soldaten jener Gebiete, die von Sabella, Herzog Rodulf und anderen unter ihrem Einfluß stehenden Edlen regiert wurden. Die Männer flüchteten zurück in ihre Heimat. Auf den Feldern wartete schließlich Arbeit auf sie. Die Zeit für die Frühjahrssaat war allerdings längst vorüber, und jetzt konnten sie nur noch hoffen, daß der Sommer lang genug werden und die Ernte sich verzögern würde und daß ihre Familien genug angepflanzt hatten, so daß sie im Winter nicht würden Hunger leiden müssen. Jetzt blieb ihnen nur die Hoffnung, daß eine gute Ernte an Winterweizen und -roggen für das nächste Jahr ausreichen würde. Lavastin hatte Feldwebel Fall mit den Fußsoldaten vorausgeschickt, denn der Graf und seine Leute hatten ebenfalls Felder zu bestellen und einen Winter zu überleben. Wie durch ein Wunder hatte niemand aus seiner Kompanie ernsthafte Verletzungen erlitten, und alle würden zu ihren Familien zurückkehren. Doch Lavastin selbst war mit seinen zwanzig berittenen Soldaten zurückgeblieben. Er hatte Henrys Marsch nach Autun verfolgt und wartete jetzt hier. Alain wußte nicht, worauf, oder was Lavastin vorhatte. Alles, was Alain wußte, war, daß sich einiges grundlegend geändert hatte. Jetzt schlief er nicht mehr vor, sondern in Lavastins Zelt, und zwar auf einer richtigen Pritsche, und er bekam das gleiche zu essen wie der Graf. Man hatte ihm eine schöne Leinentunika gegeben, die er anstelle seiner alten, zerschlissenen und geflickten Wolltunika trug. 388 »Komm«, meinte Lavastin und wandte sich ab, als Henrys Banner in der Stadt verschwand. »Kehren wir in mein Zelt zurück.« So schritten sie dahin; um sie herum sprangen die Hunde, die an diesem wunderschönen Tag fast schon übermütig waren. Alain machte sich Sorgen. Er hatte noch immer Alpträume. Hätte er den Frater nur retten können! Aber er hatte es nicht geschafft. Agius hatte sich geopfert - und wofür? Agius liebte König Henry nicht. Er hatte gegen Sabella und Antonia gehandelt, nicht für Henry, auch wenn diese Tat den König gerettet hatte. Oh, Herrin. Wenn er nur genügend Mut aufgebracht hätte, aber das hatte er nicht. Er hatte zugesehen, wie Simplizius umgebracht worden war, denn er hatte Antonias Macht gefürchtet. Er hatte geschwiegen, obwohl er gesehen hatte, wie ein armer Unschuldiger an das Guivre verfüttert worden war. Er hatte niemanden angeklagt obwohl die Edlen den Worten eines Freigeborenen ohnehin kaum Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Er hatte nicht einmal daran gedacht, sich während der Schlacht selbst dem Guivre zum Fraß vorzuwerfen; daß er es hatte töten können, verdankte er nur Agius' Entschlossenheit, sich zum Wohle der anderen zu opfern. Oder sich an Sabella zu rächen. Alain seufzte. Das alles war zuviel, zu kompliziert, als daß er einen Sinn darin hätte erkennen können. »Komm rein«, sagte Lavastin. Es war gleichzeitig ein Befehl und eine Bitte, und doch war die Aufmerksamkeit, die Lavastin ihm entgegenbrachte, wohl das größte Rätsel von allen. Alain folgte dem Grafen ins Innere. Er war einen halben Kopf größer als der Graf, hatte aber niemals das Gefühl, ihn zu überragen, so beherrschend war die Gegenwart Lavastins. Der Bann, mit dem Antonia den Grafen belegt hatte, mußte wirklich außer389 ordentlich stark gewesen sein, um seine achtunggebietende Ausstrahlung so sehr verdecken zu können. Lavastin saß auf einem Stuhl, den einer seiner Diener gebracht hatte. »Setz dich«, forderte er Alain auf- etwas gereizt, weil Alain nicht sofort Platz genommen hatte. »Aber -«, begann Alain, während der Hauptmann und die Bediensteten erstaunt dreinblickten. Sie waren ebenso verwundert wie er, daß der Graf ihn, einen gewöhnlichen Jungen, neben sich sitzen haben wollte, als gehörte er zu seiner Familie. »Setz dich!« Alain setzte sich. Lavastin ließ Wein kommen, zwei Becher, dann schickte er alle anderen hinaus. Die Zeltklappe schlug hinter dem letzten Diener zu, und das Innere lag in einem dämmrigen Zwielicht. Dünne Lichtstrahlen fielen durch Risse in den Zeltwänden herein, beleuchteten einen Teil eines Teppichs, das Heft eines Schwerts, das Ohr eines Hundes. Die Hunde hechelten zufrieden. Kummer rollte sich auf den Rücken und rieb sich am Teppich, um sich zu kratzen. Rage knurrte und schnappte nach Furcht, die sich zu dicht an Alain herangeschlichen hatte. »Alain Henrisson«, sagte der Graf. »So nennst du dich doch?« »Ja, mein Graf.«
»Du hast auf dem Schlachtfeld mein Leben und meine Ehre gerettet.« Alain wußte nicht, was er sagen sollte, also senkte er nur den Kopf. »Ich wollte Sabella nicht unterstützen. Allerdings wollte ich auch König Henry nicht unterstützen. Meine Ländereien sind meine Angelegenheit, wie auch die Sicherheit und das Wohlergehen der Leute, die dort leben. Das ist alles. Ich wollte nie390 mals in diese Verschwörung hineingezogen werden. Aber das hast du nicht wissen können. Warum hast du getan, was du getan hast?« »W-weil ... ich ...« »Sprich weiter! Du mußt einen Grund gehabt haben.« Als Alain begriff, daß der Graf selbst dann, wenn er in freundlicher Stimmung war, durch jede Art von Zögern gereizt wurde, sprach er so schnell wie möglich, in der Hoffnung, daß es irgendwie Sinn machen würde. »I-ich habe gesehen, daß Bischöfin Antonia nicht... sie hat Simplizius umgebracht. Sie wollte den Aikha-Prinzen umbringen, den Ihr gefangengenommen habt, aber er ... er entkam. Dann tötete sie Simplizius, und ich konnte ihr nicht trauen -« »Warte, warte, Junge. Wer ist dieser Simplizius?« »Einer der Stallburschen, mein Graf.« Lavastin schüttelte den Kopf. Der Name sagte ihm nichts. »Sie hat ihn umgebracht? Warum wurde ich darüber nicht informiert?« »Sie ließ bei den Ruinen seltsame Wesen erscheinen, und dann wart Ihr so verändert. Ihr standet -« »Unter einem Bann, ja.« Er spuckte das Wort beinahe aus, als wäre es ihm unerträglich. »Ich nehme an, Bischöfin Antonia hätte alles geleugnet und ihr Wort gegen deins gestellt. Erzähl weiter.« »Nun ja, mein Graf, danach schien alles falsch. Die Schlacht schien falsch und daß Sabella durch Verrat und Zauberei gewinnen sollte und diese arme, eingesperrte Kreatur -« »Der Aikha-Prinz? Der ist doch entkommen.« »Nein. Ich meinte das Guivre.« »Das Guivre« Lavastin brach in bellendes Gelächter aus. »Ich habe kein Mitleid mit solch einer Bestie.« Er tätschelte einem der Hunde neben sich den Kopf; tatsächlich saß das 391 Tier halb auf seinen Stiefeln. Alain sah, daß es sich um Schrecken handelte; er erkannte ihn an den Spuren von Weiß um die Schnauze herum, die auf das hohe Alter des Tieres hinwiesen. Der Hund hob den Kopf, wollte von Lavastin gekrault werden. »Nein, mein Graf«, erwiderte Alain, da es die Antwort war, die der Graf von ihm zu erwarten schien. Aber er empfand dennoch Mitleid mit der Bestie, so schrecklich sie auch sein mochte; auch sie hatte gelitten, und er hatte sie nicht nur getötet, um Agius zu retten, sondern auch, um sie von ihrem Leid zu erlösen. »Und Frater Agius -« »Ja«, sagte Lavastin kurz angebunden. »Frater Agius rettete den König um den Preis seines eigenen Lebens. Und du, welche Belohnung erwartest du dafür, daß du mein Leben gerettet hast?« »Ich?« »Da sonst keiner hier ist, nehme ich doch sehr an, daß ich dich meine! Wenn ich eine Frage stelle, möchte ich eine Antwort hören.« »A-aber ich will keine Belohnung, mein Graf. Ich habe getan, was ich für richtig hielt. Das ist genug Belohnung in den Augen Unseres Herrn und Unserer Herrin, oder nicht? Aber vielleicht etwas für meine Familie -« »Ah, ja, deine Familie. Dieser Henri, er ist -« »Ein Kaufmann, mein Graf. Seine Schwester Bei ist eine unabhängige Hausbesitzerin von einigem Ansehen in Osna.« »Ja. Das ist doch in der Nähe von dem Kloster, das letztes Jahr niedergebrannt wurde. Was sagt Henri, der Kaufmann, über deine Eltern, Alain?« Alain rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und nahm einen Schluck Wein, um sein Unbehagen zu verbergen. Der Wein hatte einen feinen, samtigen Geschmack; er hatte 392 niemals zuvor etwas so Gutes probiert. Wein wie dieser hier gelangte normalerweise nicht bis zu den gewöhnlichen Leuten, nicht einmal zu den Freigeborenen. »Er sagt -« Er sagt. Alain erwog einen kurzen Augenblick zu lügen. Aber Henri und Tante Bei hatten ihm beigebracht, nicht zu lügen. Sie hatten ihn behandelt, als wenn er zur Familie gehörte, und er würde sie entehren, wenn er ihre Worte jetzt verdrehte - selbst wenn die Wahrheit ihm in den Augen von Graf Lavastin Schande zufügte. »Meine Mutter war ... eine Dienerin auf Eurer Burg, mein Graf. Mein Vater Henri... empfand Zuneigung zu ihr. Sie war bekannt dafür -« Er biß sich auf die Lippe. O Herrin, er konnte doch nicht einfach sagen, daß seine Mutter eine Hure war. »- daß sie mit Männern schlief. Sie starb drei Tage, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte. Die Diakonissin überließ mich der Obhut von Henri - gegen sein Versprechen, mich im Alter von sechzehn Jahren der Kirche zu übergeben.« »Du bist älter als sechzehn, nicht wahr?« »Siebzehn, mein Graf. Ich hätte letztes Jahr in die Kirche eintreten sollen, aber das Kloster am Drachenschwanz -« »- wurde gebrandschatzt. Ich weiß. Ist das die ganze Geschichte?« »Ja, mein Graf.«
Lavastin saß in dem düsteren Licht und spielte mit seinem Becher, drehte ihn in den Händen, bis Alain fürchtete, er würde den Wein verschütten. Von draußen hörte er die Stimme von Lavastins Hauptmann; er sagte etwas von Henry und Autun und der Gnade des Königs, doch selbst mit seinem scharfen Gehör konnte Alain die einzelnen Worte nicht zu sinnvollen Sätzen verbinden. Kummer gähnte ein Hundegähnen, zeigte dabei seine beeindruckenden Zähne und lehnte sich dann so fest gegen Alains Beine, daß der Stuhl umzukippen 393 drohte. Er rückte ihn zurecht, und diese Bewegung brachte den Grafen zu einer Entscheidung. »Hör mir gut zu, Kind«, sagte er in seiner brüsken, ungeduldigen Art. »Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, und du muß gut achtgeben, denn ich habe sie bisher niemandem erzählt, und ich werde sie bis ans Ende meines Lebens auch niemandem mehr erzählen.« Alain nickte, und als ihm bewußt wurde, wie dunkel es war, hauchte er: »Ja.« Die Hunde schnüffelten, jaulten und knurrten, acht schöne, schwarze Hunde, wunderbare Geschöpfe, wenn auch bissig. »Ich war einmal verheiratet«, sagte Lavastin leise. »Aber wie alle wissen, wurden meine Frau und meine Tochter von meinen Hunden getötet.« »Aber wie war das möglich?« fragte Alain, den die Neugier überwältigte. »Das Kind zumindest -« »Hör zu!« zischte Lavastin. »Und unterbrich mich nicht.« Furcht war zum Zelteingang gegangen und schob jetzt mit der Schnauze die Zeltklappe ein kleines Stück zur Seite, so daß Alain sehen konnte, wie Lavastin grimmig lächelte. »Wie das möglich war? Selbst ich kenne nicht die ganze Geschichte, wie mein Großvater an die Hunde kam, ob er sie als Gegenleistung für eine Art Pakt - mit wem auch immer - erhalten hat oder als Teil seines Erbes. Aber mein Vater, das einzige überlebende Kind, erbte sie von ihm, und ich - ebenfalls das einzige Kind, das das Erwachsenenalter erreichte - erbte sie wiederum von ihm. So arrangierte mein Vater zu gegebener Zeit auch für mich eine Hochzeit, damit ich Kinder zeugen - mehr als eins, so hoffte man - und damit die Fortführung des Geschlechts sichern würde.« Er leerte plötzlich seinen Becher Wein in einem Zug und setzte ihn auf dem Teppich ab. »Ich war damals jung und hatte 394 eine Geliebte, eine hübsche Dienerin. Wir trafen uns oft bei den Ruinen, weil ich unsere Treffen geheimhalten wollte. Doch nach einer Weile wurde sie, wie es häufig geschah, schwanger und bat mich, das Kind anzuerkennen, damit sie nicht als gemeine Hure gebrandmarkt würde. Aber meine Braut war stolz und habsüchtig, und als sie nach Lavas kam, erklärte sie, daß sie kein Bastardkind in der Halle dulden würde. Also schob ich diese andere Frau beiseite, leugnete jede Kenntnis von dem Kind, ging zur Diakonissin - möge ihr Andenken gesegnet sein - und beichtete. Die Diakonissin versprach mir, sich um das Kind zu kümmern, und versicherte, ich solle mir keine Sorgen mehr machen. Sie wäre ja nicht einmal eine Freigeborene gewesen.« Er nahm den Becher wieder in die Hand und führte ihn an die Lippen, als hätte er vergessen, daß er bereits ausgetrunken hatte, dann stellte er ihn verärgert ab. »Ich war in dieser Sache sicher nicht ganz unschuldig.« Alain verschluckte sich. Er hatte beinahe vergessen zu atmen. »Ist sie gestorben? Bei der Geburt, meine ich.« Lavastin sprang auf und schritt zum Eingang. Er gab Furcht einen leichten Klaps auf die Seite, und der Hund zog sich zurück. Die Zeltklappe fiel wieder zu. »Du sollst schweigen, während ich rede, Alain.« Alain nickte, aber der Graf drehte ihm den Rücken zu. »Kein Wein mehr«, murmelte Lavastin. »Ja, sie starb im Kindbett.« Er drehte sich um und sprach knapp und rasch, als wollte er die Geschichte schnell zu ihrem schauerlichen Ende bringen. »Meine Braut war jung, willensstark, ungeduldig und streitsüchtig. Da ich genauso war, paßten wir nicht zueinander. Sie ließ mich nur selten in ihr Bett. Ich sah davon ab, eine Konkubine zu nehmen, aber vermutete schon bald, daß sie einen Galan hatte. Ich konnte nichts beweisen, denn ihre Dienerinnen waren loyal und halfen ihr, alles zu vertuschen. Als un395 ser erstes Kind geboren wurde, traute ich ihr nicht. Ich glaubte nicht, daß es mein Kind war, und doch -« Er machte eine scharfe Geste und ging zum Stuhl zurück, setzte sich jedoch nicht. »Es hätte doch sein können. Sie erzog das Kind dazu, mir zu mißtrauen, obwohl ich mich bemühte, mich mit ihm anzufreunden. Es war ein süßes, liebes Mädchen, wie ich oft aus einiger Ferne sehen konnte. Und jetzt, da sie eine Tochter zur Sicherung der Nachfolge geboren hatte, machte meine Frau sich keine Mühe mehr, den Schein zu wahren. Sie verbannte mich endgültig aus ihrem Bett und protzte offen mit einem Liebhaber, einem gewöhnlichen Mann. Es war, als hätte sie mir in aller Öffentlichkeit einen Schlag ins Gesicht versetzt. Aber sie sagte: >Was du kannst, eine Gewöhnliche in deinem Bett zu haben, das kann ich auch.< Sie wurde wieder schwanger, und diesmal wußte ich, daß es nicht mein Kind war - nicht mein Kind sein konnte. Ich verlangte, daß sie unsere Tochter der Prüfung unterzog, sie den Hunden zeigte.« Es verschlug Alain den Atem, und er riß die Hand vor den Mund. Jetzt konnte er natürlich erkennen, was geschehen war. »Sie versuchte mit dem Kind wegzulaufen. In dieser Nacht rissen sich die Hunde los.« Selbst die Hunde schwiegen jetzt, als würden sie zuhören. Kummer und Rage waren jung, nicht mehr als drei Jahre alt. Leidenschaft und Schrecken waren die ältesten. Waren sie in jener Nacht dabeigewesen? Hatten sie die fliehende, schwangere Frau und ihr Bastardkind verfolgt? Hatten sie die Flüchtenden als erste erreicht? Lavastin sprach jetzt so leise, daß Alain sich anstrengen mußte, um noch etwas zu verstehen. »Mit ihrem letzten
Atem verfluchte sie mich. >Du wirst keinen eigenen Erben haben. Jede Frau, die du heiratest, wird eines schrecklichen Todes sterben. Ich schwöre dies bei den alten Göttern, die noch umher396 wandeln und deren Brut diese Hunde sind.< Im nächsten Jahr erfüllte ich meine Pflicht und verlobte mich mit einer jungen Frau aus guter Familie. Eine Woche vor der Hochzeit ertrank sie, als ihr Pferd beim Durchqueren einer Furt auf unerklärliche Weise zusammenbrach. Sie war unterwegs zu unserer Hochzeitsfeier gewesen. Im Jahr darauf heiratete ich eine junge Witwe. Sie erkrankte noch während der Feier und starb zwei Tage später an der Ruhr. - Ich habe danach nie wieder versucht zu heiraten. Ich wollte nicht noch mehr Menschenleben auf dem Gewissen haben. Aber jetzt ...« Jetzt? Alain sagte nichts, wartete nur. Lavastin stellte sich vor Alain. Im schwachen Licht ragte er vor ihm auf, mehr Schatten als Mensch. »Ich habe mich schon im letzten Herbst gewundert, als ich von dem Feldzug gegen die Aikha zurückkehrte, aber unter dem Bann vergaß ich alles wieder. Doch jetzt - ist es für dich nicht ebenso offensichtlich wie für mich?« Zuerst verstand Alain nicht, was der Graf meinte. Doch dann begriff er, denn überall im Zelt lagen die Hunde herum, einige bei Alain, andere bei Lavastins Stuhl. Alain berührte den Saum seiner neuen, schönen Tunika, deren bestickte Schleifen allein so kostbar waren, daß Tante Bei für eine einzige Elle dieses Stoffes schon ein Kind hätte weggeben müssen. Lavastin nahm Alains Hände in seine eigenen und zog ihn hoch. Sein Mund bildete jetzt eine dünne, entschlossene Linie, und sein Ton gestattete keinen Widerspruch, als er sagte: »Du bist mein Sohn.« 397 5 Liath hatte Alpträume. Jede Nacht kamen die Hunde und gruben ihre Fänge in ihren Körper, zerrten an ihr, rissen ihr die Gliedmaßen ab. Jede Nacht wachte sie schwitzend und mit pochendem Herzen auf, blieb so lange aufrecht sitzen, bis die kühle Nachtluft den Angstschweiß auf ihrer Haut getrocknet hatte. Aber über ihre Trauer vermochte sie ihr nicht hinwegzuhelfen. Und dann weinte sie. Wulfhere schlief währenddessen immer, oder er stellte sich zumindest schlafend. Sie wußte es nicht. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Er war sehr beschäftigt, sprach nur, wenn man ihn anredete oder wenn es absolut notwendig war, um Vorräte oder neue Pferde zu bekommen. Nur einmal, als er sich unbeobachtet fühlte, hörte sie ihn einen Namen flüstern. »Manfred.« Sie ritten viele Tage lang. Liath zählte sie nicht. Obwohl der Himmel klar war, unterließ sie es, den Lauf des Mondes durch die Häuser der Nacht zu verfolgen. Und genausowenig verfolgte sie den Lauf der Planeten durch die gleichen Konstellationen. Sie wiederholte die Lektionen nicht, die Pa sie immer und immer gelehrt hatte. Sie unterließ es, die Stadt des Gedächtnisses zu besuchen, die sie so mühselig errichtet und über so viele Jahre hinweg sorgfältig erhalten hatte. Sie trauerte und sie träumte. Manchmal, wenn sie durch Zufall in ein Herdfeuer oder ein Lagerfeuer blickte, hatte sie das plötzliche Gefühl, als würde sie durch ein Schlüsselloch blinzeln und eine Szene beobachten, die sich auf der anderen Seite einer verschlossenen Tür entfaltete. 398 Geister brennen in der Luft, mit Flügeln aus Flammen, die Augen funkelnd wie Messerschneiden. Sie bewegen sich auf den Winden des Äthers, die über der Sphäre des Mondes wehen, und hin und wieder fallen ihre Blicke wie leuchtende Pfeile, wie Blitzstrahlen auf die Erde hinab, und dort versengen sie alles, was sie berühren, denn sie begreifen die Zerbrechlichkeit irdischen Lebens nicht. Sie entstammen einer älteren Rasse und sind nicht so zerbrechlich. Ihre Stimmen sind wie das Prasseln von Feuer, und ihre Körper sind nicht so, wie wir sie kennen, sondern die Verbindung von Feuer und Wind, der Atem der stürmischen Sonne, verschmolzen zu Geist und Wille. »Aber sind wir dann nicht ihre Cousins? Sind wir nicht aus Feuer und Licht geboren? Ist unser Platz nicht hier, jenseits der Sphäre des Mondes, wie auch ihrer?« Der erste Sprecher rührt sich, betrachtet die Flammen, denn auch er starrt in das Feuer, und über eine unmöglich zu berührende Pforte beobachtet er Liath. Er scheint zu wissen, daß sie lauscht, daß sie ihn sehen kann. Aber er spricht zu der Frau, die außerhalb ihres Blickfeldes in den Schatten hinter ihm steht. »Wir sind nicht so alt, mein Kind. Wir sind nicht aus den Elementen selbst geboren, auch wenn sie sich in unsere Gestalt webten. Wir sind die Kinder der Engel, aber wir können nicht länger vertrieben von der Erde wohnen, die uns geboren hat.« Er hebt die Hand. Liath erkennt ihn wieder; er ist ihr inzwischen vertraut, aber er macht ihr angst, nicht weil er bedrohlich aussieht, sondern weil er so vollkommen unmenschlich wirkt, so anders als Pa und die anderen Leute, die sie kennt, die wenigen, die sie zu mögen gelernt hat, und selbst anders als Hugh, der ein Greuel, aber doch durchaus menschlich ist. 399
Er ist ein Aoi, einer der Verlorenen und sicherlich alt - es ist die Autorität seiner Haltung, die ihn alt wirken läßt, denn er ist nicht aufgrund ihr bekannter Maßstäbe alt oder jung zu nennen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Sanglant. Auch das macht ihr angst, daß sie beim Anblick dieser seltsam gekleideten männlichen Gestalt so bitterlich an Sanglant denken muß, den sie nur noch vergessen will. Niemals vergessen will. »Wer bist du?« fragt er aus simpler Neugier, weder verärgert noch ängstlich und somit ganz anders als sie. »Wer bist du, daß du durch das teuer beobachtest? Wie hast du diese Pforte gefunden? Wie hast du sie zum Leben erweckt?« Auf seinem bloßen Oberschenkel ruhen ein paar Flachsfäden, die er zu einem Seil verknüpft, das jedesmal, wenn sie ihn durch das Feuer sieht, etwas länger wird. Aber das Seil wächst nur langsam, eine Fingerlänge, eine Handbreite, während sie die Tage damit verbringt, mit Wulfhere nach Südwesten zu reiten und König Henry zu suchen. Sie kann ihm nicht antworten. Sie kann durch das Feuer nicht sprechen. Sie fürchtet, ihre Stimme könnte entlang unbekannter Gänge hallen und durch gewaltige, verborgene Hallen dröhnen, von Wind und Feuer zu den Ohren jener getragen werden, die immerfort lauschen, sie suchen. Der Zauberer - denn ein solcher muß er sein, da er Wissen und die Kraft des Scheins besitzt - zupft eine goldene Feder von der breiten Ledermanschette, die seinen rechten Unterarm umhüllt, und wirft sie in die Flammen. Liath zuckte zusammen, als das Feuer aufloderte und plötzlich verlosch. Sie blinzelte die Tränen weg, die der Rauch ihr in die Augen getrieben hatte, und wischte sich die Nase. Ihr war heiß im Gesicht. Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen, und Wulfhere trat ein. 400 Sie saß in dem kleinen Gästehaus vom Kloster Hersford -Leute wie der Abt gewährten den Adlern nicht die besten Unterkünfte, aber auch nicht die schlechtesten. Das Feuer knisterte und brannte lebhaft, unschuldig. Sie hätte es geträumt haben können ... aber es war kein Traum gewesen. Wenn sie träumte, träumte sie von AikhaHunden. »Was hast du herausgefunden?« fragte sie. Wulfhere hustete und rieb sich die Hände, als wollte er irgend etwas loswerden, das daran klebte. »Henry und der Hof haben das Fest von St. Susannah noch hier gefeiert, wurden aber dann nach Westen gerufen. Laut Bruder Bardo hat Sabella ein Heer aufgestellt, und Henry mußte nach Westen reiten, um sie daran zu hindern, in Wendar einzumarschieren. Sie enthob Bischöfin Constanze ihres Postens in Autun und setzte eine andere Bischöfin ein. Und sie nahm Constanze gefangen.« Liath stützte den Ellenbogen auf ihr Knie und den Kopf in die Hand. Sie war jetzt sehr müde und scherte sich nicht um die Sorgen und Intrigen der Edlen. »Sabella hätte besser daran getan, ihr Heer gegen Blutherz zu schicken«, murmelte sie. »Nun ja«, meinte Wulfhere, »die großen Fürsten und Fürstinnen denken meist mehr an ihren eigenen Vorteil und weniger an andere. Vater Bardo weiß nicht, was weiter geschehen ist, ob es zu einer Schlacht gekommen ist. Komm jetzt, wir wollen schlafen gehen, denn wir müssen gleich bei Morgengrauen weiterreiten.« Sie hatte Angst vor dem Schlaf, aber schließlich zog die Erschöpfung sie hinab, immer tiefer und tiefer ... ... in die Krypta von Gent, wo Leichen zwischen den bleichen Gräbern der Toten herumlagen und die Hunde sich so ungestüm daran zu schaffen machten, daß sie das Knacken von Knochen hörte ... Sie wachte schweißgebadet auf; ihr Herz raste. O Herrin! 401 Wie oft mußte sie dies noch erleiden? Wulfhere schlief auf der anderen Seite des Feuers, das inzwischen erkaltet war, so kalt wie ihr Herz. Nur ein kleiner Rest Hitze war noch übrig, ein bißchen Gold in all dem Grau. Ohne nachzudenken griff sie zu - und zog eine goldene Feder aus der kalten Asche. 6 Henry hielt in der großen Halle der Bischöfin von Autun hof: Seine drei Kinder saßen ihm zur Rechten, seine Schwester Constanze und andere vertrauenswürdige Berater zu seiner Linken. Zuvor hatte die wieder in ihr Amt eingeführte Bischöfin Constanze die Lucia-Messe gehalten, eine von vier Messen, die jedes Jahr für die vier missionarischen Schüler des heiligen Daisan gefeiert wurden, die die Heilige Botschaft in die vier Teile der Erde gebracht hatten. Rosvita wußte, daß die Mathematiki ihnen auch andere Namen gegeben hatten: die Frühlingsund Herbstäquinoktien und die Sommer- und Wintersonnenwenden. Sie zog es jedoch vor, an sie als die Messen der vier Schüler zu denken: Marianna-Messe, Lucia-Messe, Matthias-Messe und Licht-Meß, den alten Heiden auch bekannt als Dhearc, die dunkle Nacht der Sonne. Dieses letzte Fest war St. Peter gewidmet, dem Schüler, der als Opfer des Feuergottes der Jinna lebendig verbrannt worden war, weil er seinen Glauben an den Gott der Einigkeiten nicht hatte widerrufen wollen. Nach der Messe waren Henry und sein Hof in die große Halle zurückgekehrt, wo das Fest bis spät in die Nacht weitergehen würde, denn es war Hochsommer, und die Sonne stand lange am Himmel und pries den Triumph der Göttlichen Ver402 nunft, die Heilige Botschaft und das Versprechen, das sie über die Kammer des Lichts gab. Doch Henry hatte eine Reihe von Aufgaben zu erledigen. Er saß neben seiner Schwester und versammelte seine Leute um sich. Sie warteten in ordentlichen Reihen, und immer mehr drängten von draußen herein - nicht nur die, die mit ihm marschiert waren, denn auch viele der wohlhabenden Stadtbewohner von Autun waren
gekommen, um den König zu sehen und ihm die Treue zu schwören. Zu einem solchen Anlaß war Henry in seine goldenen Gewänder gekleidet und hielt in der linken Hand das Zepter, das Symbol der königlichen Gerechtigkeit, während er an der rechten Hand den Goldring als Zeichen seiner Herrschaft trug. Auf seinen silbergrauen Haaren ruhte die schwere, juwelenbesetzte Krone. Bischöfin Constanze segnete ihn und salbte ihn mit Öl, das die Skopos selbst geweiht und mit Rosenduft angereichert hatte. So wurde er in den Augen seines Hofes und der Bewohner von Autun als jener König bestätigt, der von der göttlichen Weisheit Unseres Herrn und Unserer Herrin auserwählt und anerkannt worden war. »Der Gerechtigkeit soll Genüge getan werden«, sprach Henry zu der Menge. Er rief den Sohn von Herzog Rodulf zu sich. Rosvita verspürte Sympathie für den jungen Mann, der jetzt vortrat; seine Gefolgsleute kauerten wie furchtsame Hunde an seinen Fersen. Er hatte nichts von Rodulfs rauher, aber herzlicher Autorität und war ohnehin noch nicht lange mündig. Der Herzog hatte den Jungen möglicherweise mitgenommen, damit er zum ersten Mal den Geschmack des Krieges spüren konnte, und nun war das arme Kind Zeuge des Todes seines Vaters geworden. 403 »Wer seid Ihr?« fragte Henry, obgleich er genau wußte, wer der junge Mann war. »Ich bin Rodulf, Sohn von Rodulf und Ida.« Der Junge hatte ein gerötetes Gesicht, und seine Hände zitterten, aber er machte seiner Familie keine Schande. »Sprecht Ihr als Erbe von Varingia?« »Ich ... ich spreche im Namen meiner älteren Schwester Yolande, die von meinem Vater vor fünf Jahren zur Erbin ernannt wurde.« »Und wo ist sie jetzt?« »Sie ... sie ist auf Burg Arlanda, der Festung, die mein Vater errichtet hat.« Der junge Rodulf biß sich auf die Lippen und wartete. Auf Verrat stand, natürlich, die Todesstrafe. »Sie soll vor der Matthias-Messe vor mich treten«, sagte Henry. Er streckte die Hand aus, als wollte er winken, und der junge Mann warf sich vor dem König auf die Knie. »Wenn sie das tut, werde ich von ihr folgende Dinge als Gegenleistung für meine Milde verlangen: fünfzig von Varingias besten Pferden für meine Ställe. Goldgefäße und Kleidung, um die Kathedrale von Autun zu schmücken, als Wiedergutmachung für die Beleidigung, die Bischöfin Constanze widerfahren ist. Ein Stiftskonvent im Namen meiner Mutter, Königin Mathilda. Und Ihr, junger Rodulf, werdet mit zehn jungen Edlen von gutem Charakter meinen Drachen beitreten und mein Königreich beschützen.« Der Junge begann zu weinen. Die Menge murmelte beeindruckt von der Gerechtigkeit des Königs - und von seiner Barmherzigkeit. Rodulfs Familie war nicht verwandt mit ihm, und so hätte er nur zu leicht ihr Leben als Bezahlung für ihren Verrat fordern können. Rosvita nickte. Dies war der weisere Weg. »Ich werde ihr die Nachricht überbringen, Eure Majestät«, 404 sagte der Junge. »Wir werden Euch von jetzt an die Treue halten. Ich schwöre es.« Constanze hielt ihm ein Reliquiar mit einem Oberschenkelknochen und einem Stück Stoff von dem Gewand, das St. Thomas der Apostel einst getragen hatte, entgegen, und der junge Rodulf küßte das juwelenbesetzte Kästchen und den Ring des Königs, um seinen Eid zu besiegeln. »Bringt Bischöfin Antonia zu mir«, befahl der König. Unter schwerer Bewachung wurde Bischöfin Antonia vor ihn geführt. Sie hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet und strahlte ihn so freundlich an, als wäre er ihr Lieblingsneffe. Henry seufzte. »Ihr steht unter dem Schutz der Kirche, Euer Gnaden, und so bin ich gezwungen, obwohl Ihr an einer Verschwörung gegen mich teilgenommen habt, Euch nach Darre zu schicken, wo Ihr Euch vor der Skopos verantworten müßt. Soll sie über Euren Verrat urteilen.« »Ich habe meinen Eid gegenüber der Kirche nicht gebrochen, Eure Majestät«, sagte Antonia zuckersüß. »Ich zweifle nicht daran, daß die Skopos zu meinen Gunsten entscheiden wird.« Sie wurde nur von einem Geistlichen - Heribert - begleitet. Constanze zog ein grimmiges Gesicht. »Was ist mit Euren Bediensteten, Bischöfin Antonia? Die Hälfte von ihnen ist tot, die anderen werden schon bald an einem Übel sterben, das ausschließlich sie trifft, noch nicht einmal die heiligen Nonnen, die sich um die Sterbenden gekümmert haben.« »Ich trauere um sie«, sagte Antonia, »aber selbst ich kann der Hand Unseres Herrn nicht entgegentreten, wenn er mit seinem Schwert die Fäden abschneidet, die uns an das Leben binden.« »Es gibt einige, die Euch der Zauberei beschuldigen«, fuhr Constanze fest entschlossen fort, dies jetzt vorzubringen. Sie unterließ es, Henry mit einem Blick um Erlaubnis zu bitten, 405 und er versuchte auch gar nicht, sie aufzuhalten. Sie war die einzige Person mit dem gleichen geistlichen Rang wie Antonia, und keine weltliche Macht konnte sich da einmischen. »Es gibt einige, die sagen, daß Eure Geistlichen auf Euren Befehl hin Amulette angefertigt haben und daß ihr Leiden das Zeichen dieses grausamen Zaubers ist - desselben Zaubers, der ein Guivre auf das Schlachtfeld brachte und Sabellas Soldaten von seinem Blick unbeschadet umhergehen ließ, während Henrys Leute zu Stein erstarren.«
Antonia breitete die Hände aus und hielt sie mit den Handflächen nach oben, eine Geste der Unschuld. »Wenn ihr Leiden ein Zeichen für Zauberei sein soll und ich die Zauberin, die diese Amulette ersonnen hat, wie kommt es dann, daß ich dieses Übel nicht habe? Wie kommt es, daß Heribert ...« - sie deutete auf den jungen Geistlichen, der wie immer einen Schritt hinter ihr stand - »ebenfalls unbefleckt ist? Viele Dinge verursachen solche Übel, unter anderem böse Geister. Es tut mir leid, wenn sie leiden, und ich tue alles, was in meiner Macht steht, ihre Qualen zu lindern. Es dauert mich sehr, aber was sie befallen hat, kommt von anderen Händen als meinen.« »Genug«, mischte sich Henry genau in dem Augenblick ein, als Constanze Luft holte. »Wir sind dies jetzt schon hundertmal durchgegangen, und ich will nicht länger darüber sprechen. Bischöfin Antonia wird unter Bewachung zur Skopos nach Darre gebracht, um dort in einem Prozeß wegen Zauberei von der Art angeklagt zu werden, die von der Kirche beim Konzil von Narvone verurteilt wurde.« Antonia und ihr einziger Gefolgsmann wurden abgeführt. Doch obwohl Rosvita von ihrem Platz links vom Thron des Königs aus einen guten Blick hatte, konnte sie im Gesicht der alten Bischöfin weder Furcht noch Bedauern noch Reue ent406 decken. Sie sah tatsächlich so engelhaft aus wie eine gütige Großmutter, die ihre Kinder und Enkelkinder zu Erwachsenen hatte heranwachsen sehen. Henry saß eine ganze Weile stumm da. Auch die Menge verhielt sich ruhig; tatsächlich rührte sich kaum jemand. Alle Anwesenden wußten, daß er als nächsten sicherlich seine Schwester Sabella vor sich rufen würde. Schließlich gab er ein Zeichen, und Herzogin Liutgard trat vor. »Ich erkläre mich jetzt bereit, mit der Frau zu sprechen, die sich in Eurem Gewahrsam befindet«, sagte er. Liutgard nickte zustimmend und warf Rosvita einen Blick zu, als wollte sie ihr danken, daß sie Henry vor einer vorschnellen Handlung bewahrt hatte. Als Sabella in die Halle gebracht wurde, war die Stille so überwältigend, daß Rosvita glaubte, sie würde in der Ferne Hunde bellen hören. Womöglich bildete sie sich das auch nur ein, oder irgendein Edler besaß in der Nähe Hundezwinger. Sabella weigerte sich, vor ihrem Bruder niederzuknien, und Henry machte sich nicht die Mühe, vorzutreten und sie zu begrüßen oder ihr die Hand hinzuhalten, um sie sich von ihr küssen zu lassen. Rosvita glaubte auch nicht, daß Sabella ihm eine solche Ehre - eine solche Huldigung - erwiesen hätte. »Was hast du zu sagen?« fragte er statt dessen, und sein Blick wanderte über sie hinweg zu ihren Gefolgsleuten, in deren Mienen sich eindeutig mehr Reue und Furcht widerspiegelten. Ein Diener wischte Speichel von Herzog Berengars Lippen. Die junge Tallia stand blaß in einem grünen Seidengewand da; sie wirkte eher wie ein gefangenes Reh denn wie eine Prinzessin. Rosvita warf einen Blick auf die anderen Prinzessinnen, Henrys Töchter. Sapientia benahm sich heute barmherzigerweise umsichtig, beherrschte sich und hielt ihre Zunge im 407 Zaum. Sie saß so still wie möglich da und verfolgte die Vorgänge mit einem düsteren und gleichzeitig lebhaften Blick, als würde sie alles in sich aufsaugen, als würde sie sich in die Rolle der Königin hineinspielen. Theophanu dagegen war von einer Art kühlen Stille umgeben; ihr Gesicht war ausdruckslos, und sie reagierte auch nicht, wenn Henry ein Urteil verkündete. Selbst der junge Ekkehard, der die Hälfte der Zeit aussah, als würde er einschlafen, war angesichts der Milde, die König Henry gegenüber Herzog Rodulfs Erben gezeigt hatte, vor Überraschung zusammengezuckt. Neben diesen drei gutaussehenden und gesunden Kindern wirkte Tallia wie eine farblose Blume, verloren im Glanz der Ambitionen ihrer Mutter. »Ich habe nichts zu sagen«, erklärte Sabella. Henrys Zorn war offensichtlich, auch wenn er seiner Wut jetzt nicht nachgab. »Du hast gegen den rechtmäßigen König von Wendar und Varre, der von deinem Vater Arnulf zum Erben ernannt, von der Hand der Skopos gesalbt und von den großen Fürsten des Reiches bestätigt worden ist, eine Verschwörung angezettelt. Das ist Verrat, und die Strafe für Verrat ist der Tod.« Ein Keuchen ging durch die Menge, als die Menschen nach Luft schnappten. Alle reckten die Hälse, um zu erfahren, wie es weitergehen würde. Die Luft selbst schien stillzustehen, so reglos verharrten die Anwesenden. »Aber wir sind verwandt, und du trägst den Goldreif des Königlichen Hauses.« Henry unterließ es, den Reif in seinem Nacken zu berühren, aber Sabella griff unwillkürlich nach ihrem. »Ich werde meine Hände und auch die meiner Kinder nicht mit dem Blut meiner Familie beflecken. Aber folgendes werde ich tun. Dieses Urteil verkünde ich.« Er stand auf. »Deine Tochter Tallia werde ich als meinen Schützling zu 408 mir und in meine Obhut nehmen. Deinen Ehemann Berengar, Herzog von Arconia, erkläre ich hiermit für unfähig zu herrschen und entziehe ihm den Rang des Herzogs. Er wird sich ins Kloster Hersford zurückziehen, wo die heiligen Brüder sich angemessen um ihn kümmern werden. Und du, Sabella -« Niemand rührte sich. Niemand sprach. »Auch dir entziehe ich den Titel der Herzogin, und ich entziehe ihn gleichfalls und für alle Zeiten deiner Erbin.
Das Herzogtum von Arconia ist somit ohne Herzog, und so scheint es mir nur billig, über diesen Titel und die damit verbundene Autorität zu verfügen. Ich lege das Herzogtum nun in die Hände meiner Schwester Constanze, der Bischöfin von Autun, und auch Euch gebe ich in ihren Gewahrsam, wie Ihr einst sie gegen ihren Willen in Gewahrsam gehalten habt.« Die Menge konnte ihr Erstaunen nicht länger verbergen. Es wurde so laut, daß Rosvita kaum noch denken konnte. Sapientia, ein Spiegelbild der Menge, sprang auf und setzte sich einen Augenblick später wieder, als ihr Bruder sie vorsichtig am Ärmel zupfte. Theophanu blieb vollkommen reglos, nur ein dünnes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sabella sagte nichts; ihre Miene zeigte nur eine tödliche und bittere Wut, aber sie konnte nichts tun. Sie hatte hoch gespielt und verloren. Herzog - nicht länger Herzog! - Berengar schneuzte sich die Nase am Ärmel und wurde sofort von seinen Dienern weggeführt. Der arme Mann. Im Kloster würde man sich besser um ihn kümmern, vermutete Rosvita. Tallia weinte. Die Tränen machten ihre Haut fleckig und ihre Nase rot. Sabella drehte sich zu ihr um und schnaubte sie zornig an, aber es war zu laut, als daß Rosvita die Worte hätte verstehen können. Gebrüll herrschte jetzt in der Halle, Rufe wie »Henry! König Henry!« wurden laut, hinzu gesellten sich andere, die 409 Constanze als Herzogin und Bischöfin bejubelten. Noch nie waren zwei Titel in einer Person vereinigt worden. Doch Henry hatte Constanze für ihre Beharrlichkeit und Treue belohnt. Und die Bewohner von Autun waren sichtlich glücklich darüber; sie liebten ihre Bischöfin. Doch Rosvita begriff nicht, weshalb sie die Hunde so laut hörte und warum die Lobesrufe der Menge plötzlich eine andere Färbung erhielten. »Macht den Weg frei!« rief jemand. »Aus dem Weg!« schrie eine Frau. »Der Herr möge uns beschützen! Die Brut des Teufels!« Hastig drängten Wachen Sabella und ihr Gefolge beiseite. Eine höchst erstaunliche Gruppe erschien jetzt in der Halle - der letzte Flüchtling, der einzige, der sich nach dem Kampf nicht gezeigt hatte: Graf Lavastin und seine berühmten schwarzen Hunde. Mit ihm marschierten sein Hauptmann und ein gutgekleideter Junge, der sich gerade an der Schwelle zum Mann befand. König Henry blinzelte einige Male; das einzige Zeichen, das sein Erstaunen verriet. Der Graf schritt kühn weiter und blieb erst vor dem Podest des Königs stehen. Er kniete nicht nieder. »Letztes Jahr«, sprach Lavastin, »habt Ihr einen Adler zu mir geschickt, um mich zu Eurer Rundreise zu rufen. Hier bin ich.« Das war so dreist, daß Henry beinahe lachen mußte. Doch die Situation war viel zu ernst, um zu lachen. »Es ist spät, ich ließ Euch schon vor langer Zeit zu mir rufen«, sagte Henry. »Und Ihr hattet die ganze Zeit seltsame Reisebegleitung, Graf Lavastin.« »Das hatte ich, Eure Majestät, aber nicht aus freien Stücken. Ich habe Zeugen, die beweisen können, daß eine andere Hand mich beherrschte und ich nicht mit Prinzessin Sabella mar410 schiene, weil ich es wollte, sondern weil ich dazu gezwungen wurde.« »Das ist eine gute Ausrede, Graf Lavastin. Wirklich eine sehr raffinierte, nun, da Bischöfin Antonia ohnehin der Zauberei angeklagt ist.« Diese Worte klangen so schroff, daß Rosvita von Lavastin eine ähnlich harte Antwort erwartete, aber ausnahmsweise enthielt er sich seiner berühmt-berüchtigten Gereiztheit. »Ich werde vor Euren Geistlichen schwören«, sagte der Graf. »Es gibt andere, die zu meinen Gunsten aussagen können, wie - hoffentlich - mein Verwandter, Edelmann Jeoffrey, den ich sehr schlecht behandelt habe, während ich unter diesem Bann stand.« »Eure Aussage wird mit der Gruppe, die Bischöfin Antonia begleitet, zur Skopos geschickt werden«, sagte Henry. »Um offen mit Euch zu sprechen, Graf Lavastin - ich bin darüber informiert, daß Ihr Eure Truppen bereits zu einem Zeitpunkt vom Schlachtfeld zurückgezogen habt, als Sabella noch die Oberhand besaß. Dies wird zu Euren Gunsten sprechen, wenn ich mein Urteil über Euch fällen werde. Wir alle glaubten, Ihr wärt danach geflohen. Warum seid Ihr jetzt hergekommen? Wie ich weiß, empfindet Ihr keine große Zuneigung für mich.« »Ich bin kein Verschwörer, Eure Majestät, und ich möchte meinen Namen von diesen Vorwürfen reinigen. Ich habe nichts zu verbergen. Aber ich möchte Euch um einen Gefallen bitten.« »Oh«, sagte Henry. »Oh«, flüsterte Theophanu. Ihre Lippen teilten sich, als sie sich, jetzt doch aufmerksam geworden, vorbeugte. »Er will etwas von ihm«, murmelte Sapientia zu Ekkehard. »Deshalb ist er hierhergekommen, obwohl er doch auf seine Ländereien hätte fliehen können.« 411 »Still«, sagte Constanze. Die Menge beruhigte sich wieder, nur das Rascheln der Gewänder war zu hören. Die neben Lavastin sitzenden Hunde - die einzige Gefolgschaft, die er benötigte - knurrten. Einer erhob sich und zeigte einem aufdringlichen
Edlen, der sich zu nah herangewagt hatte, die Zähne. Doch da geschah das Seltsame. Graf Lavastin rührte keinen Finger. Sein Hauptmann dagegen blickte für einen kurzen Augenblick äußerst niedergeschlagen drein. Es hieß, daß Lavastin ein guter und großzügiger Herr sein müsse, da so viele Bedienstete und Soldaten ihm loyal ergeben waren - Leute, die immerhin jederzeit damit rechnen mußten, von den schwarzen Hunden in Stücke gerissen zu werden. Doch der junge sprach ein leises Wort, und die Hunde gehorchten. »Knie vor dem König nieder«, sagte Lavastin, und der Junge gehorchte. Er war groß, schlank, hatte schwarze Haare und außergewöhnlich klare Augen; er sah nicht ausgesprochen gut aus, noch war er übermäßig elegant, doch Rosvita wurde auf unerklärliche Weise warm ums Herz, als sie ihn anblickte. »Ihr wißt, daß ich zweimal verwitwet und ohne Erben bin«, sagte Lavastin, »und daß ich aus Gründen, die ich vor langer Zeit gebeichtet und gesühnt habe, keinen Erben mehr erhalten werde. So trete ich also vor Euch, Eure Majestät, und bitte Euch, diesen Jungen, meinen Bastardsohn Alain, als meinen Erben anzuerkennen, damit er nach meinem Tod meinen Titel und meine Ländereien erbt.« Herrin im Himmel! Rosvita sackten beinahe die Knie weg. Sie blickte Henry an, wollte seinen Gesichtsausdruck sehen. Dem Kribbeln nach, das ihr über Schultern und Rücken lief, sahen jetzt alle Henry an. Seine Kinder seine drei rechtmäßigen Kinder - starrten ihn eindringlich an. Constanze 412 hatte eine Hand an die Wange gelegt und hielt die Augen fest geschlossen. Mitten in die Stille hinein ertönte ein lautes Lachen. »Was wirst du tun?« rief Sabella spöttisch. »Was wirst du tun, Bruder? Den einen Bastard zum Grafen machen und den anderen zum König?« Henry machte eine schroffe und wütende Geste mit der rechten Hand. Die Wachen führten Sabella aus der Halle und zurück zum Turm, wo sie gefangengehalten wurde. Henry trat vom Podest herunter und legte dem Jungen die Hand mit dem goldenen Ring auf den Kopf. Er sah Lavastin an, ihre Blicke trafen sich; eine kurze Zeit starrten sich die Männer einfach nur stumm an. »Viele Edle behaupten, einen Bastard zu besitzen, um ihr Land nicht an einen ungeliebten Verwandten zu verlieren. Wie könnt Ihr Eure Behauptung beweisen?« »Meine Diakonissinnen zeichnen alle Geburten und Todesfälle auf Burg Lavas sorgfältig auf, aber ich glaube, Ihr benötigt keinen besseren Beweis als diesen.« Lavastin pfiff. Die Hunde drängten zu ihm, und Henry trat rasch auf das Podest zurück. Der Junge sprang auf und rief, die Augen weit aufgerissen, die Hunde zur Ordnung. Wie duckmäuserische Gefolgsleute gehorchten sie sofort und warfen sich vor seinen Füßen nieder. Als Henry einen Schritt nach vorn machte, knurrten sie erneut. Der Junge schnippte mit den Fingern und jagte sie vom König weg, in sichere Entfernung. »Und was ist mit dir, Kind?« fragte der König, als er jetzt endlich Alain anblickte. »Wie heißt du?« »Ich heiße Alain, Eure Majestät.« Er hatte eine klare Stimme, und er sprach weder stockend noch so ordinär wie ein Junge von geringem Stand. 413 »Ist es wahr?« Alain neigte bescheiden den Kopf. »Graf Lavastin hat mich als seinen Sohn anerkannt.« »Was weißt du von deiner Geburt?« »Ich wurde auf Burg Lavas von einer unverheirateten Frau geboren, die drei Tage nach meiner Geburt starb. Ich wuchs bei Freien in Osna auf und war der Kirche versprochen. Doch -« Rasch erzählte er die Geschichte von den Aikha und dem gebrandschatzten Kloster. »So kam ich nach Burg Lavas, um dort für ein Jahr zu dienen.« »Und mein Leben zu retten«, unterbrach ihn Lavastin, der während der Geschichte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden getrommelt hatte, »und mich von dem Bann zu befreien, der durch Zauberei auf mir lastete. Ich war tatsächlich nicht der erste, der diese Verbindung bemerkte, Eure Majestät. Frater Agius, der auf meiner Burg diente, erzählte mir einige Monate zuvor davon, aber ich zögerte, ihm zu glauben.« Constanze nahm die Hand vom Gesicht. Henry blinzelte mehrere Male und fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Dann ist dies der Junge, der das Guivre getötet hat!« rief er aus. »Es wurden viele Geschichten erzählt über das, was an jenem Tag geschah, aber trotz eifriger Suche fanden wir den Mann nicht, der mein Königreich gerettet hat. Komm her, Kind, küß mir die Hand.« Alain warf einen Blick zurück auf Lavastin - seinen Vater -und kniete sich dann vor den König, während ihm die außerordentliche Gunst gewährt wurde, ihm die Hand zu küssen. »Das kann nicht unbelohnt bleiben«, sagte Henry. Seit dem bitteren Zusammenstoß mit seiner Schwester hatte sich seine Stimmung wieder aufgehellt. Tatsächlich wirkte er sogar erfreut. Rosvita beschlich plötzlich eine Ahnung, als wollte Henry 414 eine Handlung vollziehen, deren Auswirkungen ihn noch lange Zeit verfolgen würden. Sie trat vor und hob die Hand, um die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zu lenken - aber es war bereits zu spät. »Bei meiner Macht als König von Wendar und Varre und beim Recht der Gesetze, wie sie in den Kapitularien seit der Zeit von Kaiser Taillefer geschrieben stehen, gewähre ich Euch, Lavastin, Graf von Lavas, das Recht,
diesen Jungen als Erben Eures Geschlechts zu benennen, auch wenn er nicht einer rechtmäßigen Vereinigung entstammt. Er mag Euren Titel übernehmen und die Autorität, die mit diesem Titel verbunden ist. Laßt meine Worte Gesetz werden. Sie sollen schriftlich niedergelegt werden.« Oh, Herrin. Alle wußten, was dies bedeutete, weshalb Henry so triumphierend dreinblickte. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Jetzt blieb nichts anderes übrig, als es irgendwie durchzustehen. Sapientia sprang so plötzlich auf, daß ihr Stuhl umkippte; sie setzte zum Sprechen an, hielt inne und stürmte statt dessen aus der Halle. Ekkehard stand vor Staunen der Mund offen. Theophanu wölbte eine Augenbraue, gab aber sonst kein Zeichen von sich. »Henry«, murmelte Constanze leise genug, daß niemand außer Rosvita und der Handvoll Menschen, die sich auf dem Podest befanden, es hören konnte, »weißt du, was du da tust?« »Ich weiß, was ich tue«, sagte Henry. »Und es war schon längst Zeit, es zu tun. Er ist der einzige, dem ich meinen Platz als Souverän anvertrauen kann, wenn ich von der Erde gehe und durch die Sphären zur Kammer des Lichts aufsteige.« Constanze drehte den Kreis vor der Brust, als wollte sie ein schlechtes Omen abwenden. »Und nichts und niemand«, erklärte Henry jetzt lauter, »wird mich von diesem Kurs abbringen.« 415 Ein Schrei erklang von den Türen her. »Adler! Macht Platz für die Adler!« Es waren zwei, und sie kamen hastig herein, mitgenommen und müde von der Reise. Die eine war jung und überraschend dunkelhäutig, als hätte die Sommersonne ihre Haut so tief gebräunt, daß sie so geblieben war. Die Aura des Sommers war auch jetzt um sie, so sehr, daß sie viele Blicke auf sich zog. Der andere war Wulfhere, der vor vielen Jahren aus Henrys Gegenwart und von seinem Hof verbannt worden war. Aber er schritt so entschlossen vorwärts, als würde - oder wollte - er sich an diesen Bann nicht mehr erinnern. Die junge Frau sah leidgeprüft aus, die ernsten Linien in ihrem Gesicht zeugten von großem Elend und hoffnungsloser Sehnsucht. Wulfhere blickte grimmig drein. Rosvita hörte, wie hinter ihr die beiden anderen Adler - Hathui und ihre junge Kameradin - nach Luft schnappten. »Nein«, murmelte Hathui zu der jüngeren. »Bleib hier. Wir müssen warten, bis wir an der Reihe sind.« »Sie trägt das Abzeichen der Adler«, flüsterte die andere. Es klang, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »O Herrin«, murmelte Hathui. »Sieh dir ihre Gesichter an.« Dann war sie still. Die beiden Neuankömmlinge blieben vor dem Podest stehen. »Warum tretet Ihr vor mich«, verlangte der König zu wissen, »wo Ihr doch wißt, daß ich Euch nie mehr in meiner Gegenwart sehen wollte?« »Wir kommen aus Gent«, erwiderte Wulfhere, »und wir bringen traurige Nachrichten. Gent ist von den Aikha erobert worden, und die Drachen sind vollständig ausgelöscht. Prinz Sanglant ist tot.« »Herrin«, keuchte Henry und griff sich an die Brust. Nur dieses eine Wort. Mehr konnte er nicht sagen. 416 Rosvita sah sofort, daß diese schreckliche, diese überaus schreckliche Nachricht ihn vollkommen lähmte. Und weil trotzdem jemand etwas tun mußte, tat sie es, auch wenn sie das Gefühl hatte, daß es jemand anders als sie war. Sie ging zu ihm und nahm seinen Arm, brach beinahe selbst zusammen, als er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie stützte. Er stand kurz davor, die Besinnung zu verlieren, und nur mit Hilfe des anderen Adlers, Hathui, gelang es, ihn aus der Halle und in die private Kapelle zu schaffen, die sich in einen Garten öffnete. Dort warf er sich in seinen goldenen Prachtgewändern auf die Steinfliesen vor dem Herdfeuer, ungeachtet der Krone, die auf den Boden fiel, und ungeachtet des Zepters, das ihm aus den Fingern glitt. Er faßte sich an die Brust und zog einen alten, von roten Flecken übersäten Stoffetzen hervor. Er konnte nicht weinen - nicht wie ein König weinen mußte, leicht und als Zeichen seines Mitgefühls mit dem Leid seiner Leute. Dieser Schmerz saß viel zu tief für Tränen. »Mein Herz«, murmelte er, das Gesicht auf dem harten Stein. »Man hat mir mein Herz herausgerissen.« Er preßte das Stück Stoff an die Lippen. Hathui weinte, als sie ihn so sah. Rosvita drehte den Kreis vor der Brust und kniete sich neben den König vor das Herdfeuer; sie stimmte das Gebet für die Seelen der Toten an. 7 Später, als die Halle sich geleert hatte und Liath und Wulfhere Brot und Met erhalten hatten und nachdem einige Edlen, die sie nicht kannte und deren verschiedene Gesichter in dem 417 Durcheinander zu einem einzigen verschmolzen, gedämpfte Unterhaltungen geführt hatten, wurde Liath zu einer kleinen Kapelle geleitet. Wulfhere ging nicht mit ihr. Tatsächlich hinderten sie ihn sogar daran und führten ihn in eine andere Halle. Eine vornehme, stolze Frau in der Kleidung einer Bischöfin brachte sie zum König, der mittlerweile in einfachere Gewänder gekleidet und ohne die Regalien auf einer Bank saß. Ein Geistlicher stützte ihn, und einige Bediensteten kümmerten sich um ihn, wischten ihm wiederholt mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab. Liath
kniete vor ihm nieder. Henrys rechte Hand umklammerte einen blutbefleckten Stoffetzen. »Erzählt es mir«, forderte er sie mit heiserer Stimme auf. Sie wollte ihn bitten, ihr das zu ersparen, den Fall von Gent nicht noch einmal durchleben zu müssen. Nicht schon wieder, Herrin, ich bitte Euch. Aber sie konnte nicht. Sie war ein Adler, des Königs Auge, und es war ihre Pflicht, ihm alles zu berichten. Nicht alles. Einiges konnte - und würde - sie niemandem erzählen: Sanglants Gesicht dicht vor ihrem, das Licht in seinen Augen, der grimmig angespannte Mund, die bittere Ironie in seiner Stimme, als er zu ihr gesagt hatte: »Verheiratet Euch nie.« Das Gefühl seiner Haut, als sie ihn unaufgefordert an der Wange berührt hatte. Nein, nicht das. Das waren ihre Erinnerungen, die sie nicht mit irgend jemandem teilen wollte. Niemand mußte wissen, daß sie ihn liebte. Niemand würde es erfahren, nicht einmal Sanglant. Schon gar nicht Sanglant. Die Geschichte zu erzählen wäre so, als würde sie sie noch einmal durchleben. Aber sie hatte keine Wahl. Alle beobachteten sie, warteten. Hathui stand bei den anderen und nickte ihr aufmunternd zu. Die Geste machte ihr Mut. Sie räusperte sich und begann. 418 Nur mit großer Mühe brachte sie die Worte hervor. Es war schrecklich, die Überbringerin dieser furchtbaren Neuigkeiten zu sein, und noch schlimmer war es, die Geschichte zu erzählen, während der König sie anstarrte, als würde er sie hassen - wen sonst konnte er hassen? Sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Denn auch sie haßte sich auf eine bestimmte Weise dafür zu leben, während so viele gestorben waren. Schließlich hielt sie inne, nachdem sie den letzten und vernichtendsten Teil erzählt hatte, den von der Vision durch das Feuer. Sie erwartete, vernommen zu werden, möglicherweise sogar als Zauberin in Ketten weggeführt zu werden. Der König hob die Hand, doch es war eine schwache Geste, die er nicht zu Ende führte. Zu mehr reichte seine Kraft nicht. »Kommt«, sagte die Bischöfin. Sie führte Liath weg. Draußen blieb sie mit ihr im Säulengang stehen, der sich zu einem hübschen Garten mit Lilien, Rosen und Ringelblumen öffnete. »Ihr seid Wulfheres Adlatin?« fragte sie. Sie benutzte das dariyanische Wort. »Ich -? Nein. Ich weiß es nicht. Ich bin noch nicht lange bei den Adlern, erst seit der Marianna-Messe.« »Und doch tragt Ihr bereits das Adler-Abzeichen.« Liath bedeckte die Augen mit einer Hand, um ein paar Tränen wegzuwischen. »Was Ihr im Feuer gesehen habt«, fuhr die Bischöfin in einem Tonfall fort, den sie vermutlich für sanfter hielt, »ist uns bekannt als eine der Fähigkeiten, mit denen einige Adler sehen können. Fürchtet Euch nicht, Kind. Zauberei wird nicht grundsätzlich von der Kirche verdammt. Nur die schädliche.« Liath wagte es, den Kopf zu heben. Die Bischöfin war noch eine ziemlich junge Frau, sie wirkte blaß und elegant in ihren schönen Kleidern und der mit Troddeln versehenen Mitra. 419 »Ihr seid Constanze!« rief Liath überrascht aus, als sie sich an die Vorträge ihres Vaters über den Stammbaum des königlichen Geschlechts erinnerte. »Die Bischof in von Autun.« »Ja, die bin ich«, erwiderte Bischöfin Constanze. »Und ich bin augenscheinlich nun auch die Herzogin von Arconia.« Sie sagte dies mit einem Hauch von Ironie, vielleicht auch einer Spur von Trauer. »Wo wurdet Ihr erzogen, Kind?« »Mein Pa hat mir alles beigebracht«, sagte Liath, die das Schicksal dafür verfluchte, daß Wulfhere jetzt nicht bei ihr war. Sie hatte nicht die Kraft, gezielte Fragen über ihre Vergangenheit und ihre Gaben abzuwehren, vor allem nicht, wenn sie von einer Edlen wie Constanze kamen, die hochgebildet und von hohem Rang war. »Ich bitte um Vergebung, Euer Gnaden. Ich bin sehr müde. Wir sind die ganze Zeit geritten und so schnell wie möglich, und -« Beinahe hätte sie geschluchzt, aber sie konnte es noch rechtzeitig unterdrücken. »Und Ihr habt jemanden verloren, der Euch nahestand«, sagte die Bischöfin, in deren Gesicht Liath überraschenderweise für einen kurzen Augenblick Mitleid erkannte. »Eine meiner Geistlichen wird Euch zu den Unterkünften führen, die für die Adler vorgesehen sind.« Eine Geistliche führte sie zu den Ställen, und kurz danach fand sie sich auf dem Dachboden darüber wieder. Die Läden waren geöffnet worden, ließen das letzte bißchen Tageslicht herein. Sie warf sich ins Heu, stand dann wieder auf, wischte sich die Nase, schritt auf und ab. Es war, als hätte sie durch das Erzählen der schrecklichen Geschehnisse einen Teil ihrer betäubenden Trauer auf König Henry übertragen. Jetzt war sie zu unruhig, um sich auszuruhen. Unten flüsterten Stallburschen. Sie war ganz allein. Zum ersten Mal seit Monaten, zum ersten Mal, seit Hugh ihr die Grundbegriffe des Arethusanischen beigebracht hatte 420 diese ganzen verfluchten unmöglichen Verben! -, war sie wirklich allein. Vorsichtig nahm sie Das Buch der Geheimnisse aus ihrer Satteltasche und wickelte es aus. Sie öffnete es dort, wo der mittlere Text begann, der alte, zerbrechliche Papyrus, der sich trocken anfühlte, als sie mit dem Finger über die Zeilen des Textes fuhr. Er war in einer Sprache geschrieben, die sie nicht kannte, die aber hier und da in Arethusanisch erklärt wurde. Auch die arethusanischen Buchstaben waren ihr noch fremd, aber wenn sie sich stark konzentrierte, die Türen zu ihrer Stadt des Gedächtnisses in ihrem Innern öffnete und die Halle fand, in der sie das arethusanische Alphabet abgelegt hatte, konnte sie sie im Geiste in die vertrauteren dariyanischen Buchstaben übertragen und so Worte bilden, die sie zum Teil von Hugh gelernt hatte, die zum größten Teil aber
keine Bedeutung für sie hatten. Oben auf der Seite über dem eigentlichen Text stand ein einziges, arethusanisches Wort: Krypte. »Versteckt dies«, flüsterte sie und spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Versteckt dies. Sie fuhr mit der Hand zum Mund, atmete tief ein, beruhigte sich und las den Text darunter. Die Buchstaben waren ihr völlig fremd, anders als arethusanische, anders auch als die bekannteren dariyanischen; sie erinnerten schwach an die verschnörkeltere Anmut der Jinna-Buchstaben, auch wenn diese hier insgesamt etwas eckiger wirkten. Sie konnte sie weder lesen, noch sich vorstellen, welche Sprache es war. Doch in einer anderen Schrift stand der erste lange Satz in arethusanischer Übersetzung darunter, aber nur dieser erste. Auf den anderen Seiten tauchten hier und da Erklärungen auf, Kommentare zum Text. Doch diesen Satz konnte sie zumindest teilweise lesen. Vielleicht gab er einen Hinweis auf das 421 Thema. Vielleicht hatte der oder die Unbekannte deswegen den ersten Satz vollständig übersetzt. Mit äußerster Sorgfalt und immer ein Ohr auf die flüsternden Stallburschen gerichtet, erkundete sie den ersten Satz. Polloi epekheiresan anataxafthai diegesink peri ton pe-plerophoremenon en hemin teraton, edoxe kamoi parekolout-hekoti anothen pasin akribos kathexes, soi grapsai, kratista Theophile, hina epignois peri hon katekhethes logon ten as-phaleian. Das Licht wurde schwächer, zu schwach zum Lesen - es sei denn, man hatte Salamander-Augen. »Viele Menschen ...«, flüsterte sie. Das erste Wort kannte sie, dann sprang sie weiter, zum nächsten, das sie kannte. Ihr Herz klopfte wild, und sie vergaß vor Aufregung beinahe zu atmen. »... über magische Zeichen ...« Sie sprang zurück zu dem Verb im Plusquamperfekt, eine solch merkwürdige Vergangenheitsform, daß Hugh sie ihr nur unter großen Schwierigkeiten hatte erklären können. »... magische Zeichen, die sich bei uns erfüllt haben. Es schien mir gut ...« Erneut übersprang sie die Wörter, die sie nicht kannte, bis plötzlich wieder ein vertrautes auftauchte. »... alle Dinge von den Himmelssphären ... darüber schreiben ...« Sie schloß die Augen; in ihr tobte ein solcher Aufruhr - eine Mischung aus Entsetzen und Aufregung -, daß sie einen Augenblick fürchtete, der Überschwang ihrer Gefühle würde sie wie ein Aikha-Hund in Stücke reißen. »Theophilus.« Das war ein Männername. »... damit Ihr über diese - diese Worte? Diese Beschwörungen!« Konnte es Beschwörungen heißen? »... in denen Ihr durch mündliche Unterweisung ...« Das letzte Wort kannte sie nicht. Ihre Hände zitterten. Sie atmete keuchend. Alle Dinge von den Himmelssphären. All Von unten erklangen Stimmen. Hastig klappte sie das Buch zu und versteckte es rechtzeitig wieder in den Satteltaschen, als jemand die Leiter hochkam. Es waren Wulfhere und Hathui. Und Hanna war bei ihnen. All die Aufregung, die Trauer, die Tage voller Sehnsucht, Hoffnung und Kummer überwältigten Liath jetzt. Sie warf sich in Hannas Arme, und beide brachen in lautes Schluchzen aus, die Erlösung von so vielen Wochen der Anspannung und Angst. »Wir müssen für Manfreds Seele beten«, sagte Wulfhere. Er wischte sich eine Träne aus dem faltigen Gesicht. Sie knieten sich nebeneinander und beteten. Dann erhob sich Wulfhere und schritt auf und ab. »Ich würde dir Manfreds Abzeichen geben, wenn ich könnte, Hanna«, sagte er. »Du hast ihn zwar nicht sterben sehen, aber du kanntest ihn, und das zählt genausoviel. Du hast es dir ohnehin schon zweimal verdient.« Er seufzte. »Aber es ist jetzt unerreichbar. Kannst du warten? Ich werde ein neues herstellen lassen.« Hanna hielt noch immer Liaths Hand und nickte ernst. »So soll es also geschehen«, erklärte Wulfhere. »Ich muß zum König zurückkehren«, sagte Hathui. Sie ging»Es ist schon spät, und wir sind lange geritten und haben viel erlebt«, meinte Wulfhere zu den anderen beiden. »Wir sollten schlafen gehen.« Liath fand eine Pritsche, auf der sie liegen konnte; das beste Bett, seit Hugh. Nein. Sie war jetzt in Sicherheit. Sie brauchte ihn nicht länger zu fürchten. Sie legte ihr Schwert, ihren guten Freund, neben sich. Griff 423 in den Bogenkasten, um nach dem Holz und dem Hörn ihres Bogens zu tasten. Herzsucherin. Schließlich legte sie die Satteltaschen ganz nah neben sich. Sie spürte das Buch; es war wie Balsam für ihre Seele, und sie dachte an die ebenfalls versteckte goldene Feder. Sie hatte jetzt die Hoffnung, daß sie im Laufe der Zeit das Geheimnis des mittleren Textes entziffern würde. Einen kurzen Augenblick fürchtete sie sich vor dem Schlaf, doch sie war so unglaublich müde, daß sie nicht länger dagegen ankämpfen konnte. Hanna legte sich neben sie und schlang ihre Arme um sie. »Ich fürchtete schon, du wärst tot«, flüsterte sie. »Oh, Liath, ich bin so froh, daß du lebst.« Liath gab ihr einen Kuß auf die Wange und wischte ihr eine letzte Träne aus dem Gesicht. Sie konnte nichts mehr tun, nicht jetzt jedenfalls, außer schlafen und beten, daß sie am nächsten Morgen deutlicher den Weg
erkennen würde, der vor ihr lag. Es gab noch so viel zu lernen, so viel über sich zu erfahren, über das Buch, über all die Dinge, die Pa so viele Jahre vor ihr geheimgehalten hatte. Krypte. »Versteckt dies.« »Traue niemandem.« Pa hatte sie nicht allein lassen wollen. Er hatte sie beschützen wollen, solange er konnte. »Ich liebe dich, Pa«, flüsterte sie. In den Armen ihrer Freundin schlief sie tief und traumlos. 8 Henry verließ die Kapelle die ganze Nacht nicht; vielleicht konnte er es einfach nicht. Schließlich wurde er mit Hilfe einiger Bediensteter zu dem Schlafgemach gebracht, das für ihn 424 hergerichtet worden war. Dort lag er stumm und reglos auf dem Bett, nicht weil er schlief, sondern weil er nicht die Kraft hatte, aufzustehen oder zu knien oder auch nur zu trauern. Seine Kinder kamen zu ihm, Theophanu kümmerte sich um Ekkehard. In ihrem Gesicht waren keine Spuren von Tränen zu sehen, aber sie war blaß. Sapientia schluchzte laut. Als Mädchen, erinnerte sich Rosvita, hatte Sapientia ihren Bruder Sanglant bewundert, war ihm wie ein Hündchen überallhin gefolgt, so daß es manchmal direkt lästig gewesen sein mußte, doch Sanglant hatte niemals die Geduld verloren - nicht daß dies überhaupt möglich gewesen wäre, denn er war immer ein sehr fügsames Kind gewesen. Es mochte sein, daß Sapientia wirklich um ihn trauerte, trotz ihres offensichtlichen Neids, als ihr Vater den Bastard seinem ältesten rechtmäßigen Kind vorgezogen hatte. Rosvita hatte niemals erlebt, daß Sapientia zu irgendeiner Form der Falschheit fähig gewesen wäre. Markgräfin Judith erschien an der Tür und sprach mit einem Diener, dann wurde sie hereingebeten. Sie ging zu Rosvita. »Neuigkeiten aus Kessal«, murmelte sie und betrachtete den König interessiert und - möglicherweise voller Mitleid. »Helmut Villam geht es besser. Es sieht so aus, als würde er überleben.« Henry erwachte aus seiner Starre und richtete sich auf, obwohl jede noch so kleine Bewegung ihn sichtbar überforderte. Sein Gesicht war fahl vor Kummer; er war in einer einzigen Stunde um zehn Jahre gealtert. »Sprecht Ihr von Villam?« fragte er. »Gibt es Neuigkeiten?« »Er wird leben«, antwortete Rosvita mit ruhiger Stimme; Ruhe - das war es, was der König in dieser verzweifelten Stunde am dringendsten benötigte. Sapientia schluchzte wieder laut auf, und erneut begannen ihre Tränen zu fließen. 425 Henry schloß die Augen. Ganz langsam hob er die Hand und führte das Stück Stoff zum Gesicht. Er murmelte etwas, ein Wort. Nein, einen Namen. »Alia.« Die Berührung des alten Fetzens schien ihm Kraft zu geben. »Ich möchte, daß er verschwindet!« sagte er. »Verschwindet! Ich will ihn nicht sehen. Schickt ihn mit der Eskorte für Bischöfin Antonia in den Süden nach Darre.« »Wen, Eure Majestät?« »Wulfhere! Aber behaltet den anderen Adler hier, diejenige, die ebenfalls Zeugin wurde. Wo ist Hathui?« Sie trat aus den Schatten an der Tür. »Ich bin hier, Eure Majestät.« »Ihr bleibt bei mir«, befahl er. »Ja, Eure Majestät.« »Es ist Zeit«, fuhr er fort. Seine Stimme versiegte bei diesen Worten. Dann sagte er leise: »Sapientia.« Verblüfft warf sich die junge Frau auf die Knie und nickte, die Hände um die Bettdecke gekrampft. Henry streckte die Hand nach ihr aus, berührte aber ihre Haare nicht. Ihr soviel Zuneigung zu zeigen, war ihm - zumindest jetzt, vielleicht aber auch für immer - unmöglich. »Du wirst morgen zur Nachfolge-Rundreise aufbrechen.« Sie hörte auf zu schluchzen, wollte etwas sagen. Er drehte ihr den Rücken zu. »Geh«, sagte er. Das Wort klang gedämpft von dem Stoff, in dem er sein Gesicht vergrub. Rosvita trat einen Schritt vor, um Sapientia wegzubringen, bevor sie etwas Dummes tun konnte, doch Judith kam ihr zuvor. »Laßt mich das machen«, sagte die Markgräfin. »Ich werde dafür sorgen, daß sie entsprechend ausgerüstet und ordnungsgemäß auf den Weg geschickt wird.« »Ich danke Euch«, murmelte Rosvita. Die Markgräfin führte Sapientia aus dem Zimmer. Die Be426 diensteten warteten nervös, doch Henry rührte sich nicht. Er hatte getan, was notwendig war. Er hatte getan, was er schon Monate zuvor hätte tun sollen, doch das würde sie ihm jetzt nicht sagen. Sanglant war ein mutiger Mann und hatte eine gute Seele - auch wenn er nur zur Hälfte ein Mensch war -, aber er war nicht dafür bestimmt, König zu sein. Rosvita seufzte ergriffen. Diener brachten Wasser und Tücher, um den König das Gesicht zu waschen. Theophanu blickte Rosvita an; eine Frage stand in ihrem Gesicht. Rosvita schüttelte den Kopf. Es war besser, wenn er die lebenden Kinder nicht sah, damit er nicht an das tote erinnert werden konnte. Mit einem leichten Nicken führte Theophanu ihren Bruder aus dem Zimmer. Henry reagierte nicht, weder als die Diener ihm Wein anboten, noch als sie sein Gesicht wuschen. Er war wie erstarrt, verloren für die Welt. Zusammen mit dem Adler stand Rosvita bis spät in die Nacht hinein bei ihm
Wache. 9 Alain fand keinen Schlaf. Das Bett, das man ihm gegeben hatte, war zu weich, zu warm und zu bequem. Er fand einfach keinen Schlaf. Die Hunde schnarchten leise. Auch Graf Lavastin schnarchte. Anders als die meisten Edlen schlief Lavastin nicht in einem Raum mit seinen Bediensteten; niemand wagte es, in Reichweite der nicht angeketteten Hunde zu schlafen. Vielleicht war es das Fehlen all dieser Körper, weshalb Alain immer wieder aus dem Schlaf schreckte. Er hatte niemals so allein geschlafen. In Tante Bels Langhaus hatten dreißig Leute des Nachts in einem Raum geschlafen, und in den Ställen 427 Nicht länger meine Tante Bei. Er saß wohl schon zum zehnten Mal aufrecht da, und auch Kummer erwachte jetzt und jaulte leise, suchte seine Hand und leckte sie. Lavastins Erbe. In seinen wildesten Träumen hätte er sich das nicht vorstellen können. Er wußte in diesem Augenblick, daß er in dieser Nacht kein Auge mehr zutun würde, also stand er auf, kleidete sich leise an und schlich hinaus. Kummer folgte ihm auf den Fersen. Rage schlief friedlich weiter und rührte sich nicht. Draußen erwachte sofort ein Diener. »Edler Herr, darf ich Euch begleiten?« Wie schnell er anders behandelt wurde. Aber er war jetzt Lavastins Erbe, vom König höchstpersönlich anerkannt. In zehn oder zwanzig Jahren würde er über ihr Schicksal und ihre Familien bestimmen. Aus seiner früheren Zeit im Haushalt des Grafen hatte er gelernt, daß es sinnlos war, irgendwohin allein gehen zu wollen. Es würde ihm niemals gestattet werden. »Gibt es eine Kapelle in der Nähe?« fragte er. »Ich möchte beten.« Ein Geistlicher der Bischöfin begleitete Alain zu einer winzigen Kapelle, wo auf dem polierten Holz des Herdfeuers ein juwelenbesetztes Reliquienbehältnis erstrahlte. Die Kapelle war nicht leer. Ein Dienstmädchen kniete auf den Steinen vor dem Herdfeuer und polierte den Boden mit ihrem eigenen Kleid. Einen kleinen Augenblick später, noch bevor sie - mit dem Blick einer Maus, die dabei erwischt wurde, wie sie an einem Stück Käse knabberte - aufschaute, erkannte er sie. »Edle Herrin!« sagte er entsetzt darüber, Tallia auf den Knien vorzufinden, mit ihrem feinen Seidengewand den Bo428 den schrubbend. Ihre Hände waren gerötet, von der ungewohnten Arbeit beinahe wund gescheuert. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen und erschreckten Augen an. »Ich bitte Euch«, flehte sie flüsternd, »schickt mich nicht weg. Laßt mich auf diese Weise vor Unserer Herrin Buße tun, mit der Arbeit meiner Hände, so unwürdig es Ihrer Achtung auch sein mag.« »Aber sicher wollt Ihr Eure schönen Gewänder nicht ruinieren?« Alain konnte sich vorstellen, was seine Tante Bei dazu sagen würde, daß Seide von dieser Qualität als Putztuch mißbraucht wurde - mochte der Boden, den Tallia damit polierte, auch noch so heilig sein. »Die Reichtümer der Erde sind Staub im Angesicht der Himmel und der Kammer des Lichts. So predigte Frater Agius.« »Ihr habt Agius predigen gehört?« »Habt Ihr ihn denn nicht auch gehört?« fragte sie scheu. Sie rutschte ihm auf den Knien entgegen und nahm Alains Hände in ihre, beinahe flehentlich. »Ihr wart sein Kamerad. Er sah lange vor allen anderen, daß Ihr von edler Geburt wart, stimmt das nicht? War seine Erkenntnis nicht ein Geschenk der Herrin ? Predigte er nicht die wahre Botschaft von dem Opfer und der Erlösung des heiligen Daisan?« »Das ist Ketzerei«, flüsterte Alain und blickte sich rasch um, aber sie waren nach wie vor allein in der Kapelle. Kummer wartete hechelnd an der Tür, weswegen ohnehin niemand wagte einzutreten. »Es ist keine Ketzerei«, fuhr sie fort. Ihr Gesicht rötete sich, als sie Mut faßte bei der Erinnerung an das, was Agius gepredigt hatte. »Ihr müßt es zugeben. Ihr habt ihn gehört. Ihr müßt wissen, daß es die Wahrheit ist.« »Ich -« Es bereitete ihm tiefes Unbehagen, eine Edle mit 429 dem Goldreif als Zeichen ihrer königlichen Abstammung vor sich auf dem Boden knien zu sehen - und dann noch in dem Palast der Bischöfin von Ketzerei sprechen zu hören. »Ihr müßt aufstehen, Prinzessin.« Er versuchte sie hochzuziehen, aber sie war entweder stärker, als sie aussah, oder sie war fest entschlossen. Ihre Hände fühlten sich warm in den seinen an, wärmten seine, und er sah ihr ins Gesicht und verstand nicht, was er da sah. »Ich bete, daß König Henry mich in die Kirche steckt«, sagte sie und starrte ihn dabei unverwandt an. Oder sie mit mir verheiratet. Ganz plötzlich, ungebeten, war dieser Gedanke aufgetaucht. Alain war so verwirrt darüber, daß er ihre Hände losließ und sich auf die nächste Bank setzte. O Herr und Herrin! Er war jetzt ein Edler, Erbe des Grafen von Lavas. Er konnte an Heirat denken. »Und dann, wenn ich Diakonissin bin, werde ich predigen«, flüsterte sie eindringlich. »Ich werde die Heilige Botschaft predigen, die Agius mich gelehrt hat, auch wenn die Skopos es Ketzerei nennt. Wenn ich dafür verdammt werde, bin ich eine Märtyrerin - genau wie er - und steige in die Kammer des Lichts auf, wo die Heiligen und Märtyrer im strahlenden Licht des Blickes Unserer Herrin und des süßen Ruhmes ihres Sohnes leben.«
Alain hätte beinahe gelacht, nicht über sie, sondern über das seltsame Schicksal, das ihn in dieser Nacht in diese Kapelle geführt hatte. Diene mir, hatte die Herrin der Schlachten zu ihm gesagt, und dann hatte sie ihm eine blutrote Rose als Zeichen gegeben, als Zeichen ihrer Gunst. Er hatte ihr gedient, so gut es ihm möglich war. Er war in den Krieg gezogen. Er hatte den Bann gebrochen, der durch Zauberei auf Lavastin gelegen hatte, und er hatte das Guivre getötet, wenn auch nur mit Hilfe von 430 Agius' Opfer. Er hatte sich immer bemüht, das Richtige zu tun, auch wenn er manchmal gefehlt hatte. Er hatte Simplizius nicht gerettet, aber den Aikha-Prinzen, obwohl das Leben des Wilden möglicherweise nicht soviel wert war wie das des armen, einfältigen Jungen. Aber es war nicht an ihm, über den Wert ihrer Seelen zu urteilen. Und Alain wußte, der Aufstieg vom Sohn Freigeborener zum Erben eines Grafen - immerhin ein gewaltiger Schritt in der Welt der Menschen - war ein Schicksal, das er nur göttlicher Gunst zu verdanken hatte. »Kommt, Tallia«, sagte er, mutig genug, sie mit ihrem Namen anzusprechen. Er hoffte, sie würde ihn deswegen nicht für stolz oder unverschämt halten. »Es ist nicht recht, daß Ihr auf dem Boden kniet. Setzt Euch neben mich, ich bitte Euch.« Er reichte ihr die Hand und half ihr auf, und nach kurzem Zögern fand sie sich bereit, sich neben ihm niederzulassen. Sie warf an ihm vorbei einen Blick zum Tor und erschauderte. »Was ist los?« »Der Hund. Er macht mir angst.« »Ich werde nicht zulassen, daß er Euch etwas tut.« Er schnippte mit den Fingern. »Kummer, komm her.« Kummer trottete gehorsam zu ihm, und als würde er an einer Schnur hinterhergezogen, kam jetzt auch der verwirrte Diener in die Kapelle. Er wartete in sicherer Entfernung. Tallia zuckte vor dem riesigen Tier zurück, aber Alain befahl dem Hund, sich hinzulegen, und nahm dann ihre Hand in seine und ließ sie den Kopf des Hundes streicheln. »Ihr seht«, sagte er, »sie sind wie alle Seelen und wollen nur mit Anteilnahme berührt werden, nicht mit Haß oder Furcht.« »Ihr seid sehr weise«, sagte Tallia, doch nach einer Weile zog sie ihre Hand von Kummer zurück, obwohl der Hund Alain 431 gehorchte und sich weder rührte noch nach ihr schnappte oder knurrte. Alain lächelte trocken. »Ich bin nicht weise. Ich wiederhole lediglich, was mein Va-« Aber Henri war nicht sein Vater. Lavastin war sein Vater. Und doch schien das in diesem Augenblick keine Rolle zu spielen. Henri hatte ihn erzogen, so gut es ihm möglich gewesen war. »Ich wiederhole lediglich, was andere mich gelehrt haben.« Eine leichte Unruhe entstand an der Tür. Rage schoß herein, gefolgt von Lavastin. Tallia wurde noch kleiner, doch Rage ließ sich zu Alains Füßen nieder, als wollte sie sicherstellen, daß er nicht weglief, und beachtete das Mädchen gar nicht. Lavastin fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare und warf einen Blick auf Alain. »Was hat das zu bedeuten?« verlangte er von ihm zu wissen. »Ich ... mein Herr -« »Nun! Heraus damit!« »Ich konnte nicht schlafen. Ich bin hergekommen, um -« Er machte eine unbeholfene Handbewegung, halb erschreckt, daß er Lavastin gekränkt hatte, halb verwirrt über den Gesichtsausdruck des Grafen, den er nicht deuten konnte. Lavastin fing sich wieder und verneigte sich kurz. »Prinzessin Tallia, ich bitte um Vergebung.« Er rief einen Diener zu sich. »Geleitet die Prinzessin zurück zu ihrem Zimmer.« Tallia blieb keine andere Wahl, als zu gehen, aber sie warf Alain einen letzten Blick zu - ob bittend oder dankbar, konnte er nicht sagen. Dann wurde sie weggeführt. »Sie ist in Ungnade gefallen«, sagte Lavastin, während er sich neben Alain auf die Bank setzte und sich abwesend von Kummer die Hand lecken ließ. »Und ihre Mutter erst recht.« Er rieb sich den Bart und fingerte dann an dem silbernen Einigkeitskreis herum, der an einer Goldkette um seinen Hals 432 hing. »Henry wird sie vielleicht verheiraten, wenn er ein passendes Angebot erhält. Jedes Geschlecht gewinnt durch königliches Blut.« Er starrte einige Augenblicke das Herdfeuer an, obwohl er ganz sicher nicht das Reliquiar betrachtete oder gar über seinen heiligen Inhalt nachdachte. Dann schüttelte er sich; mehr Reglosigkeit konnte er an einem Tag nicht ertragen. »Komm, Junge. Es dämmert schon beinahe, hast du das nicht gemerkt?« Alain hatte es nicht bemerkt, aber jetzt sah er durch das Glas einen schwachen Lichtschimmer. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe einen fürchterlichen Schreck bekommen, als ich aufgewacht bin und du nicht im Zimmer warst. Ich dachte, ich hätte alles geträumt - den Aikha-Prinzen, Sabella, den Feldzug und dich, mein Sohn.« Lavastin stand auf und winkte seine Diener zu sich. »Also los! Ich sehe keinen Grund, weshalb wir warten müßten. Henry hat uns vergeben, und ich für meinen Teil habe nicht vor, in diesem dunklen Palast zu warten und ihn in seiner Trauer zu stören. Oder ihn daran zu erinnern, daß ich erhalten habe, was er verloren hat.« Er nahm Alains
Handgelenk und drückte es so fest, als wollte er ihn nie wieder loslassen. »Komm, Sohn«, sagte er, und das Wort schien ihm auf der Zunge zu zergehen. »Wohin gehen wir?« fragte Alain. Durch die Glasfenster der Kapelle sah er in den Garten, wo sich Blumen und Hecken aus der Düsternis dem Licht eines neuen und schönen Tages entgegenreckten. In der Ferne hörte er eine Frauenstimme die Messe für die Toten anstimmen. Lavastin lächelte. »Wir gehen nach Hause.« Epilog Zuerst begriff er gar nicht, daß er noch lebte. Mitten in einem Wachschlaf - der Geist war wach, die Glieder so schwer wie Blei - traf ihn die Erkenntnis, daß er halb auf den kalten Steinplatten und halb auf einem anderen Körper lag. Sein Rückgrat brannte grauenhaft, aber noch während der Schmerz in ihm aufloderte, begann er auch schon zu einem dumpfen Pochen zu verblassen. Er schaffte es nicht ganz, die Augen zu öffnen. Aber er wußte, er lag inmitten von Männern und Frauen, die wie Abfall um ihn herum verstreut waren. Ein paar lebten noch. Er hörte das gedämpfte Pochen ihres Herzschlags, spürte ihren flachen Atem in der Luft, auch wenn er sie nicht berührte. Der Körper, auf dem er lag, war allerdings schon tot, wenn auch noch nicht lange. Er verströmte noch etwas Wärme und erkaltete während seiner mühsamen Versuche, ganz zu Bewußtsein zu gelangen. Es war so schwer, aufzuwachen. Und vielleicht war es auch besser, es nicht zu tun. Nein. Niemals sollte man sagen können, er hätte nicht bis zum letzten Atemzug gekämpft. Er hörte die Hunde schnüffeln. In diesem Augenblick begann Furcht an ihm zu nagen: daß die Hunde ihn erreichen könnten, bevor er sich bewegen und sich verteidigen konnte. Es gab kaum ein Schicksal, das schlimmer war, als von Hunden in Stücke gerissen zu werden, wie irgendein dumpfes, teilnahmsloses Tier, das seinen Stall verlassen hat. Er hörte ihr Knurren und spürte, wie sie mit ihren Schnau434 zen an Kleidung, Haut und Metall stießen, um jene auszumachen, die noch lebten. Er hörte in der Ferne das schwache Grollen von Stimmen, doch er kannte die Worte nicht, die sie sprachen. Aber er erkannte ihre gutturale Sprache - die Sprache der Wilden, der Aikha. Hin und wieder lachten diese unsichtbaren Sprecher, und er hörte einen Mann stöhnen oder schreien. Dann riß der Schrei ab, und er - hier verfluchte er sein scharfes Gehör - hörte, wie Blut floß und Fleisch von den Knochen gerissen wurde. Einmal erkannte er, wenn auch nur sehr kurz, die Stimme eines Mannes, der zu ihm gehört hatte. Doch er konnte sich noch immer nicht rühren. Eine Schnauze stieß gegen seine schlaffe linke Hand, und harte Fänge tasteten sich den Ärmel seines Kettenhemdes entlang. Der Hund knurrte. Heißer, nach frischem Blut stinkender Atem wehte gegen seine Wange. Er schlug zu. Wie durch ein Wunder brachte er ein Zucken zustande. Seine rechte Hand bewegte sich. Und dann, als er sich auf die Seite warf, rammte er mit voller Wucht den Panzerhandschuh in die Schnauze des Hundes. Der Hund taumelte zurück, während er versuchte, auf die Beine zu kommen. Er war schon auf den Knien, als ihn zwei weitere Hunde knurrend und beißend von hinten anfielen. Er schleuderte einen über seinen Kopf und stieß dem anderen seinen Ellenbogen in die Rippen, griff nach dem Messer an seinem Gürtel, aber es war nicht mehr da. Seine linke Hand trug keinen Handschuh mehr. Einer der Hunde schnappte nach ihr und vergrub seine Zähne im Fleisch. Er hämmerte den Kiefer der Kreatur gegen den Steinboden. Stechende Schmerzen fuhren durch seinen linken Arm, aber er schaffte es, seine Hand aus den Fängen der Bestie zu zerren, den benommenen Körper hochzuwuchten und den anderen beiden entgegenzuwerfen. 435 Jetzt kamen immer mehr. Sie kamen näher, umkreisten ihn. Er wartete keuchend und leckte sich das Blut von der übel zugerichteten Hand. Ein Hund sprang auf ihn zu und schnappte nach seinem Kettenhemd. Er wirbelte herum, traf ihn, und der Hund sprang zurück, aber jetzt war bereits ein anderer mit seinen Fersen beschäftigt. Er trat zu. Der Hund heulte auf und schoß zurück. Er fuhr herum, starrte sie an. Aber sie warteten nur, testeten ihn, wollten sehen, wie schnell, wie stark, wie entschlossen er war. Hinter den Hunden gewahrte er andere Gestalten, aber der Kampf mit diesen Bestien war ein Kampf auf Leben und Tod, und er hatte keine Zeit hinzusehen. Er hatte keinen Helm, keinen Überwurf, keinen Schutz für seine blutende und zerrissene linke Hand, doch er besaß noch den Panzerhandschuh an der rechten Hand und das gute Kettenhemd, das seinen Torso und die Arme bedeckte. Dann waren da noch die Hunde, und so schrecklich sie auch anzusehen waren - Feuer blitzte in ihren Augen, die Zungen hingen heraus, Speichel troff von ihren Fängen -, so waren es doch geistlose, wutentbrannte Bestien; er war um einiges klüger als sie. Er trat zurück, stolperte über die Toten und fand schließlich eine Wand. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen und starrte die Hunde an. Einige saßen auf den Hinterbeinen und knurrten, inzwischen etwas unsicher geworden. Er wählte den größten und häßlichsten von ihnen aus, war mit einem Riesensatz bei ihm, bevor auch nur einer der anderen ihn anspringen konnte, packte die Bestie mit beiden Händen an dem dicken Nacken, nahm seine
ganze Kraft zusammen und schleuderte das Tier gegen die Wand. Es fiel schlaff zu Boden. Die anderen brachen in ein ohrenbetäubendes Geheul aus und gingen alle gleichzeitig auf ihn los. Ihr Gewicht riß ihn zu 436 Boden; er lag unter ihren Körpern und konnte kein Glied mehr rühren. Er war hilflos. Jetzt würde er also sterben. Einer - der größte - wühlte sich durch die Meute und stellte sich auf seine Brust. Den Kopf zurückgelegt und die Schnauze weit aufgerissen, heulte der Hund laut seinen Triumph hinaus, bevor er den tödlichen Schlag anbrachte. Und er sah seine Chance. In dem Augenblick, als die Bestie die Schnauze senkte, stieß er seinen Kopf unter ihr Kinn, suchte die Kehle. Biß sich in ihr fest. O Herrin! Er konnte dem Tier nicht die Kehle herausreißen, aber beim Herrn, er konnte die Luftröhre zerquetschen, bis es erstickte. Der große Hund wälzte sich hin und her, doch er lockerte seinen Biß nicht. Das eisengraue Fell schmeckte wie Metall. Blut strömte seine eigene Kehle hinab. Der Hund kratzte mit den Pfoten nach ihm, wurde langsamer, wurde schlaff. Er spürte die Luftröhre krachen, und schließlich ließ er los. Seine Kiefer schmerzten. Die Bestie brach über ihm zusammen. Die anderen Hunde, die sich an seinen Armen und Beinen zu schaffen gemacht hatten, wichen zurück. Sie knurrten ihn an, als er sich auf die Beine kämpfte. Er spuckte Hundehaare aus und wischte sich über die Zähne. Alles tat ihm weg. Aber er hatte den Hund getötet. Bewegung breitete sich in dem weitläufigen Raum aus, und kurz bevor der Aikha bei ihm war, begriff er endlich, daß er sich in der großen Kathedrale von Gent befand. Hatten sie alle seine Drachen hierhergezerrt? Er wußte nicht einmal, wieviel Zeit seit dem Fall von Gent vergangen war. Es mochte eine Stunde sein oder ein Tag, vielleicht hatte der Zauberer aber auch noch andere Fähigkeiten, außer Illusionen zu erschaffen. Vielleicht konnte er gar den Lauf der Sterne ändern. 437 »Was haben wir denn hier?« Ein riesiger Aikha trat in sein Blickfeld und schob die Hunde zur Seite, indem er mit der mit Klauen versehenen Hand nach ihnen schlug. »Blutherz«, flüsterte er, denn er nannte seinen Feind schon länger bei diesem Namen. Der Aikha-Zauberer lachte, ein krächzendes Geräusch, als würde man ein Messer wetzen. »Ein Prinz unter den Hunden! Das ist eine schöne Beute. Besser noch als dies -« Und Blutherz klopfte leicht auf seinen linken Arm. Dort hing, wie ein Armreif um den Oberarm, der Goldreif, das Zeichen der königlichen Familie. Sanglant konnte nicht anders. Ein tiefes Knurren entrang sich seiner Kehle, als er sah, wie das Geschenk seines Vaters verspottet wurde. Er sprang vor und warf sich auf den Aikha-Anführer. Blutherz war stark, aber Sanglant war schneller, und er hatte bereits die Scheide entdeckt, in der Blutherz seinen Dolch stecken hatte. Er fand den Griff, riß die Waffe heraus, und während Blutherz nach hinten taumelte, bohrte er ihm den Dolch in die harte Haut, stieß ihn dem Aikha bis zum goldenen, juwelenbesetzten Heft ins Herz. Blutherz warf den Kopf zurück und heulte auf vor Schmerz. Dann ergriff er Sanglant am Nacken und schüttelte ihn hin und her, schleuderte ihn zu Boden. Die Hunde jagten zu ihm hin, doch Sanglant fuchtelte wild mit den Fäusten und trieb sie mit seinem verzweifelten Zorn zurück. Dieser Zorn war jetzt sein einziger Kamerad, wo alle anderen gestorben waren oder im Sterben lagen. Die Hunde setzten sich - abgesehen von zwei weiteren, die reglos liegenblieben - wieder hin, und Speichel troff von ihren Zungen. Sie hatten ihn eingekreist, so daß er sich nicht bewegen konnte, ohne in Reichweite ihrer Fänge zu geraten. 438 Mit einem Grunzen riß sich Blutherz den Dolch aus der Brust. Er fluchte und spuckte in Sanglants Richtung, lachte dann wieder dieses rasselnde Lachen. Er reichte den Dolch einem kleineren Aikha, der bis auf einen schmutzigen Lendenschurz nackt war - eine verhutzelte Kreatur, die um so grotesker wirkte, als der Körper, der bis auf die glänzenden Schuppen einem menschlichen nicht unähnlich war, seltsam anzusehen und voller merkwürdiger Muster war. Der kleine Aikha spuckte auf die Klinge und leckte sie sauber, wobei das Blut zischte und schäumte, und dann preßte er die Klinge gegen die Wunde auf Blutherz' Brust. Unsichtbare Zauberkräfte wirkten und verschlossen die Wunde. Der beißende Geruch ließ Sanglant zusammenzucken, aber das brachte nur einen der Hunde dazu, nach seinen Beinen zu schnappen. Er versetzte ihm einen kräftigen Hieb, beinahe geistesabwesend, und der Hund jaulte auf und schlich zurück. Sanglant starrte verwundert drein, als jetzt das Messer wieder weggenommen wurde und eine dünne, weiße Narbe auf Blutherz' Brust zu sehen war. »Du wirst dir schon etwas Besseres einfallen lassen müssen«, sagte Blutherz, holte tief Luft und plusterte sich auf. Der Beckengürtel aus winzigen goldenen Kettengliedern, die zu einem Tuch von unübertroffener Schönheit und Feinheit verknüpft waren, rutschte auf seiner Hüfte und den Oberschenkeln hin und her, wenn er sich bewegte; das erzeugte ein leises Geräusch, das so seltsam wirkte wie die Verbindung des elfenbeinweißen Haares mit dem Blut auf seinen Armen, Knien und der nackten Brust. Er grunzte, packte den größten der toten Hunde und zog ihn zurück. Dann bleckte er mit einem Blick auf Sanglant die Zähne; Juwelen blitzten auf, winzige Smaragde, Rubine und Saphire. »Du kannst mich auf diese
Weise nicht töten, 439 Prinz der Hunde. Ich trage mein Herz nicht in meinem Körper.« Sanglant fühlte etwas Warmes an seinem rechten Auge hinabrinnen. Erst jetzt spürte er die tiefe Schnittwunde, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie von Blutherz' Krallen oder einem der Hunde stammte. Er hoffte nur, daß sie nicht zu sehr bluten und seine Sicht behindern würde. Jetzt traten einige Aikha-Krieger vor, deuteten grunzend auf ihn, krächzten Worte in ihrer schroffen Sprache. Er konnte erraten, was sie sagten: »Sollen wir ihn jetzt töten? Wird mir die Ehre zuteil?« Er machte sich bereit. Er würde nur schwer zu töten sein und mindestens einen von ihnen mit sich in den Tod nehmen, als Bezahlung für das, was die Aikha seinen geliebten Drachen angetan hatten. Er konnte sonst nichts mehr für sie tun. Aus den Stimmen der murmelnden Aikha war kein schwaches Atmen mehr herauszuhören, auch kein Schnappen nach Luft, kein hingehauchter Name eines geliebten Wesens. Er riskierte einen Blick und ließ ihn dann durch das riesige Mittelschiff der Kathedrale schweifen. Das von draußen hereinfallende Licht wurde durch die gewaltigen Glasfenster in Hunderte von Lichtscherben zerteilt, die sich über das Gemetzel ergossen. Da lag Storm, wie im Leben so auch im Tod von seiner Kompanie umgeben. Da war Adela, eine Frau, die auf ihre eigene Weise wilder gewesen war als die Aikha, aber jetzt war sie tot, ihre Leiche - er mußte den Blick abwenden - von den Hunden zerfetzt. Dort, wo er zur Besinnung gekommen war, lag der Adler, der bis zum bitteren Ende an ihrer Seite gestanden hatte - eine gute, mutige Seele. Sie alle waren tot. Warum lebte er noch? Mit seinen anderen Sinnen gewahrte er sorgfältig jede kleine Bewegung der Hundemeute, ob sie mit den Schultern zuckten oder ihr Gewicht verlagerten, die Schnauzen öffneten 440 oder die Zähne in einem bedrohlichen Grinsen bleckten, das dem von Blutherz sehr ähnelte. Besser noch, er fiel im Kampf gegen Menschen, selbst wenn sie Aikha waren, als daß er den Hunden vorgeworfen wurde. Bei den Hunden gab es keine Ehre. »Sollen wir ihn töten?« wollten die Aikha wissen, zumindest schloß er das aus der Art, wie sie auf ihn deuteten und ihre Streitäxte und Speere hoben, begierig darauf wartend, ihn niedermachen zu können - ihn, den letzten, die Siegesbeute der Schlacht. »Nein, nein«, sagte Blutherz in der Sprache der Wendaner. »Wir machen es auf unsere Weise, nicht wahr? Seht, wie die Hunde ihm gehorchen. Seht, wie sie warten, wohl wissend, daß er stärker und klüger ist als sie. Er ist jetzt Erster Bruder des Rudels, unser Prinz. Er hat sich dieses Recht verdient.« Er bückte sich und löste ein eisernes Halsband von einem der toten Hunde. Beim Aufstehen brüllte er Worte in seiner eigenen Sprache. Die Aikha-Soldaten brachen in wildes Gelächter aus, und ihre schroffen Stimmen hallten durch das Mittelschiff wie einst die Hymnen. Dann legten sie ihre Waffen nieder und umkreisten Sanglant. Weil sie klüger als die Hunde und stärker als er waren, konnten sie ihn schließlich am Boden festnageln, auch wenn er zuvor noch einigen Schaden unter ihnen anrichtete. Sie befestigten das Eisenhalsband um seinen Nacken, zogen ihn das Mittelschiff entlang und fesselten ihn mit einer langen Kette am Herdfeuer, das so massiv und schwer war, daß er es beim besten Willen nicht bewegen konnte. Die Hunde sprangen zu ihm. Ein paar machten sich an seinen Füßen zu schaffen, doch weniger feindselig als neugierig. Einer schnappte nach ihm, und er versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die 441 Schnauze. Er jaulte auf und verzog sich, wurde sofort von einem anderen angegriffen; sie kämpften eine Weile, bis einer dem anderen seine Kehle bot. »Aufhören!« befahl Sanglant, und dieses Mal gab es keine Toten. Der seltsame, alte Aikha stimmte einen leisen Gesang an; er hockte auf den Fersen und schaukelte vor und zurück. Er hielt einen kleinen Lederbecher in seinen Händen, schüttelte ihn, so daß irgendwelche weißen Teile herausrollten: Würfel oder Knochen. Dann ließ er eine Hand darüber kreisen, betrachtete die Gegenstände, sang erneut und sammelte sie wieder ein. Er verstaute den Becher in einem Beutel an seinem Gürtel. Zu seinen Füßen stand eine kleine Holzkiste neben ihm. Noch mehr Aikha schwärmten jetzt in die Kathedrale und begannen die Leichen in die Krypta zu zerren. Andere trugen einen großen Thron, der aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt war. Der gewaltige Stuhl war golden, rot und schwarz bemalt und mit raffiniertem Flechtwerk geschmückt, Hunden und Drachen, die sich in einem ewigen Kreislauf - Maul am Schwanz - ineinander verbissen hatten. Sie stellten den Stuhl neben das Herdfeuer als wollten sie den Sitz der Bischöfin verhöhnen. Auf diesem Thron ließ Blutherz sich jetzt nieder und betrachtete seine neue Domäne voller Befriedigung. Besitzergreifend rieb er den Goldreif an seinem Arm. Sanglant griff sich unwillkürlich an den Hals und berührte das Eisenhalsband, das er jetzt anstelle des Goldes trug. Die Bewegung zog Blutherz' Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich zu Sanglant - aber nicht zu nah. Nicht näher, als er seinen eigenen Hunden kommen würde. »Warum lebst du noch«, fragte Blutherz, »wo doch alle anderen tot sind?« 442 »Laß mich kämpfen«, sagte Sanglant. Plötzlich fürchtete er, daß es wie eine Bitte geklungen haben konnte. Oh,
Herrin, er wollte keinen solch unehrenhaften Tod sterben. Seinem ärgsten Feind würde er nicht wünschen, wie ein Hund zu sterben, bei den Hunden zu sterben. »Gewähre mir einen ehrenvollen Tod, Blutherz. Laß deinen kühnsten Krieger die Waffen wählen, und dann tragen wir es aus, er und ich.« »Nein, nein.« Blutherz bleckte die Zähne zu einem Grinsen. Die Juwelen glänzten in seinem Mund. »Bin ich nicht König unter den Aikha der Westküste? Habe ich nicht alle anderen Stämme bekämpft, bis sie mir ihre Kehlen darboten? Kann ich mich nicht damit rühmen, den Sohn eines Königs in meiner Hundemeute zu haben?« Er lachte, zufrieden über seinen Triumph. »Ich glaube nicht, mein Prinz. Du bist die Beute meines Rudels, ein edler Herr mit einem eindrucksvollen Gefolge. Denn meine Hunde sind wie das Königreich von Wendar, nicht wahr? Und du beherrscht sie.« Sein Grinsen wurde zu einem Knurren. »Beherrsche sie, so lange du kannst. Denn du wirst schwächer werden, und dann werden sie dich töten.« Hinter ihnen beraubten die Aikha die Toten und zerrten die Leichen dann in die Krypta. Einer durchwühlte den toten Adler, riß das Adler-Abzeichen vom Umhang und warf es Blutherz vor die Füße. Der nahm es in seine Klauen, biß darauf und spuckte. »Messing! Ah!« Er schleuderte es auf den Boden, und Sanglant verscheuchte die Hunde, um es an sich zu nehmen. Doch diese Unruhe brachte die Hunde erneut dazu, nach ihm zu schnappen und ihn anzuknurren. Er hatte Verwendung für das Abzeichen: Es hatte eine glatte, runde Kante und eignete sich gut zum Zustechen. Die Hunde zogen sich wieder zurück und hockten sich hin. Einer der großen knurrte, aber auf eine knappe Geste von Sanglant hob er den Kopf und streckte ihm 443 unterwürfig in fatalistischer Demutshaltung die Kehle entgegen. Sanglant wischte sich Hundehaare von den Lippen und versuchte, den fürchterlichen Geschmack in seinem Mund loszuwerden. Seine linke Hand pochte. Blut tropfte, wurde langsamer, versiegte - wie bei der Wunde an seinem Kopf, die bereits zu bluten aufgehört hatte. Das war das Geheimnis des Zaubers, den seine Mutter über ihn gesprochen hatte, als er noch ein Säugling gewesen war - am gleichen Tag, als sie aus den Ländern der Menschen verschwunden war. Das war es, was ihr Blut ihm gegeben hatte: ein überaus scharfes Gehör und unnatürliche Heilkräfte. Ein Aikha packte den toten Adler an den Füßen und zog ihn zur Krypta. Sanglant preßte das Adler-Abzeichen gegen seine Wange. Die Erinnerung an den jungen Adler - Liath - überwältigte ihn plötzlich ... wie sie in der stillen, traulichen Stimmung in der Krypta seine Wange berührt hatte. Die Erinnerung ließ ihn einen Augenblick ganz schwindlig werden. Die Hunde, die auf das geringste Anzeichen von Schwäche achteten, wurden unruhig und knurrten. Er konzentrierte sich wieder; sie wurden still. Bei der Herrin, er würde und durfte Blutherz nicht siegen lassen. Zumindest war er überzeugt, daß Liath noch lebte, denn bevor er und die Drachen überwältigt worden waren, hatte er ihr den Befehl gegeben, die Kinder von Gent in Sicherheit zu bringen. »Bist du sprachlos, Prinz?« fragte Blutherz. »Bist du schon zur Hälfte Hund? Hast du deine Sprache verloren?« »Ich bin wie du, Blutherz«, sagte er mit rauher Stimme; aber seine Stimme war immer rauh, denn er hatte schlimmere Verletzungen überlebt als diese. Das Eisenhalsband und die 444 Ketten lasteten schwer auf seinem Nacken. »Mein Herz ist nicht bei mir, sondern bei einer anderen, und die ist weit weg. Deshalb wirst du mich niemals besiegen können.« Doch die Hunde - immerzu wachsam - knurrten leise. Sie würden warten. Anhang Die Monate eines Jahres: Die Wochentage Yanu Mondtag Avril Sekuntag Sormas Quadrii Cinter Aogoste Setenter Octumber Novarian Dezial
Herrintag Sonnentag Jedutag Herrtag Himmelstag
Askulavre Fevrua Die kanonischen Stunden: Vigilien (etwa 3 Uhr morgens)
Laudes (bei Sonnenaufgang) Prim (bei Tagesanbruch) Terz (dritte Stunde, etwa 9 Uhr) Sext (sechste Stunde, etwa gegen Mittag) None (neunte Stunde, etwa um 3 Uhr nachmittags) Vesper (Abendgebet) Komplet (Sonnenuntergang) 446 Die Häuser der Nacht (der Zodiak:) der Falke das Kind die Schwestern der Hund der Löwe der Drache die Waage die Schlange der Bogenschütze das Einhorn der Heiler der Büßer DIE GROSSEN FÜRSTENTÜMER VON WENDAR UND VARRE: Herzogtümer von Herzogtümer von Wendar: Varre: Saony
Arconia
Fesse Varingia Avaria Wayland Markgrafschaften der östlichen Gebiete: die Mark der Villams Olsatia und Austra Westfall Ostfall