Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 534 All‐Mohandot
Im Namen der SOLAG von Falk‐Ingo Klee
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 534 All‐Mohandot
Im Namen der SOLAG von Falk‐Ingo Klee
Die Ränkespiele des High Sideryt
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Gegenwärtig schreibt man an Bord des Schiffes Ende August des Jahres 3791, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Demontage im Mausefalle‐System rettete. Sosehr auch Atlan und seinen Plänen die Sympathien eines Großteils der Solaner gehören, die meisten der herrschenden Kaste der SOL sehen in dem Arkoniden nach wie vor einen Störfaktor, den es auszuschalten gilt. Das zeigt sich auch in den Maßnahmen Chart Deccons, als es an Bord des Schiffes zu Demonstrationen der Unzufriedenheit kommt. Der High Sideryt greift hart durch – er tut es IM NAMEN DER SOLAG …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide soll ausgebootet werden. Chart Deccon ‐ Der High Sideryt als Urheber übler Machenschaften. Aksel von Dhrau und Zlava ‐ Zwei Vystidenoffiziere auf ihrer letzten Jagd. Breckcrown Hayes ‐ Der Solaner leistet Atlan Beistand. Argan U ‐ Ein Puschyde. Sanny ‐ Eine Paramathematikerin.
1. Es war Nacht in der SOL. Die Maschinerie des mächtigen Raumschiffs arbeitete mit gedrosselter Leistung. Die Gänge waren nur notdürftig erhellt, es brannte lediglich eine Art Notbeleuchtung; dennoch schliefen nicht alle. Ein Gigant wie der Hantelraumer mit seinem komplizierten technischen Innenleben verlangte zu jeder Zeit Kontrolle und Überwachung, zumal SENECA noch immer nicht einwandfrei funktionierte. Ein hundert Meter langer Korridor war taghell erleuchtet, vier Männer hielten sich auf dem Flur auf. Drei von ihnen waren an ihren schlichten dunkelblauen Kombis mit dem gelben Atomsymbol darauf sofort als Ferraten, oder, wie sie zuweilen verächtlich genannt wurden, als Rostjäger zu erkennen, der vierte trug eine Kampfkombination in stählernem Blauschwarz; wie poliert glänzten die silbernen Abzeichen, eine stilisierte Darstellung der SOL. Der Haemate lehnte an der Wand, die Daumen hinter dem breiten Gürtel verhakt, und rümpfte die Nase. Der Gang war zentimeterhoch mit übel riechendem Abwasser bedeckt, das aus einer geborstenen Leitung ausgetreten war. Die Ferraten hatten einen Teil der Verkleidung abgenommen und waren damit beschäftigt, das geplatzte Rohrstück herauszutrennen; zuvor hatten sie die in regelmäßigen Abständen angebrachten Schieber geschlossen. Sie verrichteten ihre Arbeit mechanisch und – so kam es dem Haematen jedenfalls vor – umständlich und
langsam. »Beeilt euch! Glaubt ihr, ich habe Lust, die ganze Nacht in diesem Gestank zuzubringen?« fuhr er die drei an. Die Männer duckten sich wie unter einem Peitschenhieb. Der vierschrötige Hüne mit dem eckigen Gesicht grinste spöttisch. In seinen Augen waren die Brüder der sechsten Wertigkeit armselige Kreaturen, doch immerhin gehörten sie zur SOLAG. In den letzten Tagen war es öfters zu Zusammenstößen zwischen Angehörigen der SOLAG und den übrigen Solanern gekommen. Nachdem die Rebellen mehrmals Instandsetzungstrupps überfallen und zusammengeschlagen hatten, war die Anweisung ergangen, daß den Ferraten, die Reparaturen durchführten, Haematen beziehungsweise Vystidenoffiziere, als Schutz vor den Aufsässigen zur Seite gestellt wurden. Das Grinsen des Mannes vertiefte sich, er blickte auf seine gewaltigen Pranken. Sollten die Rebellen nur kommen – er würde ihnen ein paar Fausthiebe verpassen, die sie nicht so schnell vergaßen. Wenn es zu viele waren, hatte er ja immer noch seinen Paralysator; beinahe liebevoll klopfte er auf die schwere Waffe. Ein leises Summen wurde hörbar. Lauernd drehte Bent Darson den Kopf, doch es war lediglich ein Robot, der aus einer Abzweigung kam und in den Gang einbog. Der auf breiten Walzen laufende Automat war ein recht primitives Modell und bestand im wesentlichen aus einem riesigen Tank und einer Ansaugpumpe. Es blubberte und gurgelte, als der eckige Kasten damit begann, das Schmutzwasser aufzusaugen. Mittlerweile war es den Ferraten gelungen, das beschädigte Teil auszutauschen. Bedächtig kontrollierten sie die Schweißnaht des Kunststoffrohrs, öffneten die Schieber und begannen damit, die Wandverkleidung wieder anzubringen. Mißmutig sah der Hüne ihnen dabei zu. Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung auf dem Gang. Mit einer Behendigkeit, die ihm keiner
zugetraut hätte, fuhr er herum; automatisch griff er nach der Waffe, ließ sie allerdings stecken, als er erkannte, daß ihm keine Gefahr drohte. Drei schäbig gekleidete Gestalten waren vor ihm aufgetaucht: Zwei mager wirkende, junge Mädchen und ein gebeugt gehender Mann mit weißem Haar. Nein, vor diesem Trio brauchte er sich nicht zu fürchten. »Was habt ihr um diese Zeit hier zu suchen?« herrschte Darson sie an. »Wir haben uns anscheinend verlaufen«, sagte der Mann mit brüchiger Stimme. »Wir suchen unsere Unterkünfte.« Der vierschrötige Hüne kniff die Augen zusammen. Lauernd meinte er: »So, so, Alter, ihr habt euch verlaufen. Findest du das nicht komisch, wo doch überall Markierungen angebracht sind?« »Er sieht nichts, er ist blind«, antwortete eins der Mädchen unterwürfig. »Aber ihr – ihr könnt doch sehen, oder?« Die in ihren nassen, verschmutzten Uniformen steckenden Ferraten nahmen von dem Gespräch keine Notiz. Schweigend arbeiteten sie weiter. »Ja, wir können sehen!« In diesem Augenblick sprangen die Solanerinnen auf den völlig überraschten Haematen zu. Bevor dieser wußte, wie ihm geschah, erhielt er einen Tritt vors Schienbein und einen Schlag gegen die Brust. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine linke Seite, der ihn lähmte und es ihm unmöglich machte, sich zu wehren. Darson preßte die Hände auf die Herzgegend und rang krampfhaft nach Luft. Schon erfolgte die nächste Attacke. Eins der schmächtigen Mädchen rammte dem Hünen das Knie in den Magen, so daß er einknickte wie ein Taschenmessen Darauf hatte die andere gewartet; sie brachte zwei gezielte Handkantenschläge auf die Halsschlagader an. Im Blick des Haematen lag ungläubiges Staunen, dann verdrehte er die Augen. Die Beine knickten weg, ächzend brach der Uniformierte zusammen. Die Solanerinnen wirbelten herum, um ihrem Begleiter
beizustehen, doch dieser hatte bereits ganze Arbeit geleistet. Die Ferraten waren außer Gefecht gesetzt und lagen bewegungslos am Boden. Unbeirrt davon kurvte der Roboter zwischen ihnen hindurch und verleibte sich die letzten Kubikdezimeter Abwasser ein. Jetzt, wo sich der Weißhaarige aufgerichtet hatte, wirkte er keineswegs wie ein gebrechlicher Alter, sondern im Gegenteil sehnig und durchtrainiert. Er bückte sich und nahm den Paralysator Darsons an sich. Als er sich wieder aufrichtete und die Mädchen anblickte, strahlten seine blauen Augen; er mochte Anfang Dreißig sein und war keinesfalls blind. »Gut gemacht, ihr beiden. So langsam zahlt sich eure Nahkampfausbildung aus.« Die Brünette rieb sich die schmerzenden Handkanten. »Wenn ich gewußt hätte, daß der Kerl einen Hals wie aus Stahl hat, hätte ich ihn dir überlassen«, beschwerte sie sich. »Ihr seid zwei gegen einen gewesen, ich mußte gegen eine dreifache Übermacht kämpfen.« »Das ist keine Kunst. Die Rostjäger sind keine ernstzunehmenden Gegner«, widersprach das Mädchen. »Sie sind weder geistig noch körperlich wendig und untrainiert.« »Dumm und stark.« Der Basiskämpfer lächelte. »Bevor sie wußten, was überhaupt los war, hatten sie bereits das Bewußtsein verloren.« Er beugte sich über den Hünen und untersuchte ihn oberflächlich. »Der Mann ist unverletzt, wird aber bald wieder zu sich kommen. Es wird Zeit für uns, zu verschwinden. Kommt!« Wie Schemen huschten die drei davon. Als sie in einer nur spärlich erleuchteten Abzweigung untergetaucht waren, erkundigte sich das zweite, dunkelhäutige Mädchen: »Was bedeutete dieser Einsatz? War das ein Test?« »Nein.« Der Mann schüttelte entschieden den Kopf. »Es sollte ein Denkzettel für den Vystiden sein. Die Rostjäger mußten wir dabei notgedrungen ausschalten, weil sie sonst Alarm geschlagen hätten.« Er zuckte die Schultern. Mit ernster Stimme fuhr er fort: »Gestern
habe ich diesen Darson erlebt, als er gegen eine Gruppe vorging, die gegen den Verlust der Korvette demonstrierte und protestierte. Selbst Frauen und Kinder hat er nicht verschont und grundlos niedergeschlagen; es gab insgesamt fast zwanzig Verletzte, manche haben Rippen‐ oder Knochenbrüche erlitten.« Eine Weile herrschte betroffenes Schweigen. Impulsiv sagte die Brünette: »Wenn ich das gewußt hätte, wäre dieser Kerl nicht mit einer harmlosen Ohnmacht davongekommen.« »Niemand, der Juka‐Do beherrscht, verletzt oder tötet einen anderen ohne Gefahr für sein eigenes Leben«, wies der Weißhaarige seine Begleiterin zurecht. »Wir bekämpfen die SOLAG, aber nicht mit deren Mitteln. Welche Legimitation hätten wir, wenn wir Unrecht mit Unrecht vergelten? Willst du eine Diktatur durch eine andere ersetzen? Du kennst unsere Ziele, aber ich glaube, du mußt noch viel lernen, bis du selbständig arbeiten kannst.« Beschämt senkte das Mädchen den Kopf. Es erkannte, daß es nicht genügte, sich im Recht zu fühlen, man mußte es auch beachten, obwohl die Gegenseite keinerlei Spielregeln anerkannte; es war nicht leicht, diese Unverhältnismäßigkeit der Mittel einzusehen. »Ich habe es nicht so gemeint«, sagte sie rauh. »Schon gut.« Der Mann lächelte freudlos. »Jeder von uns hatte anfangs seine Zweifel, ob es sinnvoll ist, einen Paralysator zu benutzen, wenn die anderen Energiewaffen einsetzen.« * Als Bent Darson zu sich kam, hatte er das Gefühl, einem durchgedrehten Massagerobot zwischen die stählernen Klauen gekommen zu sein. Sein Kopf dröhnte, der Hals schmerzte, und der Magen rebellierte. Allmählich kam die Erinnerung wieder. Er hatte drei Ferraten schützen sollen, dann war dieser Trupp aufgetaucht – der Alte und
die zwei Mädchen. Die Mädchen! Der Hüne stöhnte unterdrückt. Waren es wirklich die beiden schmächtigen Geschöpfe gewesen, die ihn besiegt hatten? Sein Verstand klärte sich immer mehr. Deutlich wie ein Film lief vor seinem geistigen Auge das Ereignis ab, das sein Gehirn zuletzt gespeichert hatte. Die Mädchen! Wütend richtete sich der Haemate auf, sank aber sogleich wieder zurück, als ihn Übelkeit zu übermannen drohte; vor seinen Augen tanzten farbige Ringe. Ächzend ließ er sich wieder zurücksinken. Was war mit den Ferraten? Beinahe widerwillig hob er die bleischweren Lider und blinzelte, als das grelle Licht in seine weit geöffneten Pupillen fiel. Die drei saßen nebeneinander auf dem Boden und betrachteten ihn; sie waren sichtlich verwirrt, aber keiner sprach. Eine Situation wie diese überforderte sie einfach. »Was seht ihr mich so an? Geht an eure Arbeit!« stieß der vierschrötige Mann hervor. Das war ein Befehl, der eindeutig war. Gehorsam standen die Reparateure auf und begannen, als wäre nichts geschehen, die restlichen Platten der Verkleidung anzubringen. Bent Darson erkannte, daß ein Gehenlassen seine Autorität untergrub. Mühsam stemmte er sich hoch, kämpfte mannhaft gegen den aufkommenden Schwindel an und lehnte sich aufatmend gegen die Gangwand. Er war doch noch sehr wackelig auf den Beinen. Nachdem er mehrmals tief Luft geholt hatte, fühlte er sich besser. Reflexhaft tastete er nach seiner Waffe und stellte fest, daß sie nicht mehr da war. Eigentlich war das auch nicht zu erwarten gewesen, aber er hatte es immerhin gehofft. Fieberhaft überlegte er. Er mußte eine Meldung machen, allein schon wegen des gestohlenen Paralysators. Gewiß, das würde Ärger geben, aber wenn er die Wahrheit sagte, hatte er nicht nur Repressalien, sondern auch Hohn und Spott der anderen zu ertragen. Wenn er dagegen berichtete, daß ihn sechs Bewaffnete überfallen hatten, konnte ihm
niemand einen Vorwurf machen. Gegen eine solche Übermacht kam keiner an. Ein gewisses Risiko waren die Ferraten, doch dieses Risiko war kalkulierbar. »Wieviel Leute habt ihr gezählt?« Die Männer drehten sich um und starrten ihn verständnislos an. »Nun seid doch nicht so schwer von Begriff! Ich meine die Gruppe, die uns überfallen hat!« Ein Ferrate mit flachem Gesicht und eng zusammenstehenden Augen öffnete zögernd den Mund. »Drei – glaube ich.« »Und ihr beiden – glaubt ihr das auch?« Sie sahen sich an und nickten dann zustimmend. »Die drei hatten uns bloß ablenken sollen. Was ist mit den sechs Bewaffneten, die ihnen folgten? Habt ihr die gesehen oder einen von ihnen erkannt?« Man sah den Rostjägern förmlich an, wie sie krampfhaft nachdachten, dann schüttelten sie die Köpfe. »Was heißt das?« »Wir haben die anderen nicht gesehen«, gestand der Sprecher des Trupps kleinlaut. »Es ging alles so schnell. Der Greis griff uns an und dann …« »Ihr seid wirklich zu nichts zu gebrauchen.« Bent Darson gab sich Mühe, empört und zornig zu wirken, innerlich triumphierte er. »Seid ihr fertig? Dann los!« Die Ferraten nahmen ihre Werkzeuge auf. Unter Führung des Haematen marschierten sie zurück zu ihrem Stützpunkt. Die Laune des Anführers besserte sich zusehends, denn er glaubte, daß er von Seiten seines Vorgesetzten nichts zu befürchten hatte. Wie er die Brüder der sechsten Wertigkeit kannte, würden sie seine Aussage voll bestätigen. Zwar hatten sie nichts gesehen, aber wenn ein Haemate das sagte, mußte es stimmen. * Mogi Loftis hatte es eilig. An der Spitze von zwanzig mit
Schlagstöcken bewaffneten Ferraten eilte sie durch den endlos wirkenden Gang, von dem in regelmäßigen Abständen Korridore abzweigten. Ihr Ziel war eine der SOL‐Farmen. Man schrieb den 5. September 3791, 9.34 Uhr. Vor vier Minuten hatte sie der Alarm erreicht, daß das biologische Produktionszentrum überfallen worden war. Sie hatte wenig Hoffnung, die Täter noch an Ort und Stelle fassen zu können. Man hätte das betreffende Gebiet sofort abriegeln müssen, doch dazu fehlten einfach die Leute. Seit es an Bord der SOL infolge der Produktionsausfälle durch fehlende Rohstoffe überall brodelte und gärte, waren die SOLAG‐Kommandos nahezu pausenlos im Einsatz. Die Haematen waren größtenteils dazu abgestellt worden, die Instandsetzungstrupps der Brüder der sechsten Wertigkeit zu beschützen; sie und die anderen fünfundzwanzig Offiziere als Führer der Vystiden mußten sich daher mit den untrainierten Ferraten als Kampftruppe begnügen. Wie die anderen hochrangigen Brüder und Schwestern der zweiten Wertigkeit trug sie eine hochglänzende Kombination aus silberner Metallfolie, golden prangten darauf die Abzeichen der stilisierten SOL. Der hautenge Anzug unterstrich die Figur der vierunddreißigjährigen, mandeläugigen Frau. Sie war schlank und sportlich, das Gesicht ebenmäßig und makellos. Nußbraunes, gewelltes, bis zur Schulter reichendes Haar umrahmte ihr Antlitz. Man hätte sie schön nennen können, wenn da nicht dieser hochmütige Zug gewesen wäre, der sie kalt, unnahbar und herzlos erscheinen ließ. Plötzlich sprang aus einem Flur ein Mann hervor und verstellte ihr und den nachfolgenden Ferraten den Weg. Aus anderen Abzweigungen drangen ebenfalls Menschen auf den Gang, Massen von Menschen beiderlei Geschlechts, und bildeten mit ihren Körpern eine lebende Barrikade. Die Übermacht beeindruckte die Schwester der zweiten Wertigkeit nicht.
»Macht Platz, wir haben es eilig!« herrschte sie die Solaner an. Drohend fügte sie hinzu: »Es macht mir nichts aus, mir den Weg freizuschießen.« Anders als die Haematen trugen die Offiziere Energiewaffen. Demonstrativ zog Mogi Loftis ihren Strahler und n richtete ihn auf den Mann. Düster glomm das Abstrahlfeld auf. Der asketisch wirkende Solaner mit dem schütteren Haar, den tief in den Höhlen liegenden Augen und der scharfrückigen Nase bewies Nervenstärke; er tat, als bemerkte er die Waffe nicht. »Fürchtest du dich vor Unbewaffneten?« fragte der Hagere spöttisch. Seine Stimme war erstaunlich tief. »Wir tun euch nichts, wir haben nur ein Anliegen vorzubringen.« Er deutete hinter sich. »Uns wurde ausreichend Nahrung und Kleidung versprochen. Sieh dir die ausgemergelten Gestalten an, betrachte die Fetzen, die sie tragen. Wir wollen, daß ihr eure Zusage erfüllt. Wir wollen uns satt essen und anständige Kleidung.« »Ist das alles?« fragte die Frau kalt. »Ja, mehr verlangen wir nicht.« »Eure Probleme interessieren mich nicht, ich habe einen Auftrag zu erfüllen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Jetzt macht gefälligst Platz, oder …« Sie ließ die Drohung unausgesprochen. Die schweigende Menge rührte sich nicht; auch der Sprecher bewegte sich nicht von der Stelle. Mogi Loftis feuerte über die Köpfe der Menschen hinweg ihre Waffe ab. »Treibt sie auseinander!« Ihre Stöcke aus Hartplastik schwingend, rückten die Ferraten vor und schlugen auf die Versammelten ein. Die Menge stob auseinander, die Schmerzensschreie Getroffener erfüllten die Luft. Wie Vieh trieben die Brüder und Schwestern der sechsten Wertigkeit die Männer und Frauen vor sich her. Einige kamen in dem Gedrängel zu Fall, andere trampelten in panischer Angst über sie hinweg. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, jeder hatte nur einen Gedanken: Flucht! Die Frau stand dabei und lächelte zufrieden. Verächtlich verzog sie die Mundwinkel. Dieses feige Pack verstand nur diese Sprache,
keine andere. Der Hagere lag am Boden, aus einer Platzwunde über seinem linken Ohr tropfte Blut; ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mund. Anklagend hob er die Hände. »Warum hast du das getan?« fragte er voll Bitterkeit. Mogi Loftis betrachtete das Häuflein Mensch zu ihren Füßen abfällig, richtete den Strahler nach unten und schoß in den Boden. Der Belag begann zu kochen, wurde flüssig. Der Mann hatte nicht die Kraft, sich schnell genug zur Seite zu werfen. Aufschreiend umklammerte er seine Linke, deren Haut zum Teil verbrannt war. »Das war ein Denkzettel, Alter. Hüte dich davor, meinen Weg noch einmal zu kreuzen – beim nächsten Mal kostet es dich den Kopf!« Ohne sich noch einmal nach dem Verletzten umzudrehen, folgte sie den Ferraten, die die Demonstranten bis in die Korridore verfolgten und dabei rücksichtslos ihre Schlagstöcke einsetzten. Wo immer ein Niedergeknüppelter nicht schnell genug zur Seite kriechen konnte, versetzte Mogi Loftis ihm einen Tritt. In ihrer Erbarmungslosigkeit unterschied sie sich nur wenig von den meisten anderen Vystidenoffizieren, für die Menschlichkeit ein Fremdwort war; sie waren herzlose Kampfmaschinen. Wer immer sich der SOLAG entgegenstellte, war ein Gegner, der zerschlagen werden mußte. Die Ferraten hatten sich wieder auf dem Hauptflur versammelt. Mogi Loftis überprüfte kurz, ob alle vollzählig waren, dann gab sie den Befehl zum Aufbruch. Wieder übernahm sie die Spitze, behielt diesmal aber die entsicherte Waffe in der Hand. Es kam zu keinerlei Zwischenfällen mehr, es zeigte sie auch niemand auf dem Gang. Das brutale Vorgehen des Trupps schien sich in Windeseile herumgesprochen haben. Vor dem Schott zur SOL‐Farm hatte ein Kampfrobot Aufstellung genommen, um Übergriffe und Plünderungen zu verhindern, denn die beiden Flügelhälften waren geöffnet. Deutlich war zu sehen, daß der Schließkontakt durch einen Strahlerschuß zerstört worden war.
Anstandslos ließ der Automat die Gruppe passieren. Normalerweise hätte er die Ferraten zurückgewiesen; lediglich die Offiziere der Vystiden konnten überall ungehindert hingelangen, sie waren es auch, die die Kommandogewalt über die Kampfmaschinen hatten. Üblicherweise erhellte ein diffuses Zwielicht die Produktionsstätte. Leuchtröhren, die warmes, gelbes Licht abstrahlten, waren mit solchen gekoppelt, die einen hohen Rost‐ bzw. Blau‐Violett‐Anteil hatten. Jetzt brannten diese Lampen zwar auch, doch die sonst üblichen Tageslichtstrahler waren dazugeschaltet worden. Gleich neben dem Eingang stand eine kleine Gruppe zusammen und diskutierte. Zum einen war es ein Haemate, den sie persönlich kannte, der zweite mußte zur Farm gehören, während die dritte Person in ein langfallendes, hellblaues Gewand gekleidet war, das auf der linken Brustseite ein bronzenes Atomsymbol zeigte. Etwas abseits standen vier Ferraten. Mogi Loftis verzog das Gesicht. Ausgerechnet hier mußte sie einen der dünkelhaften Ahlnaten treffen. Sie wußten alles besser und bewegten sich mit einem vornehmen Getue, daß es einem übel werden konnte. Die blaugewandete Gestalt drehte sich um. Das faltige Gesicht der etwa siebzigjährigen, weißblonden Frau verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Sieh da, unsere Soldaten kommen schon.« Sie blickte auf ihren Zeitmesser. »Es ist jetzt 9.49 Uhr. Wenn ich mich recht erinnere, erging der Alarm um 9.30 Uhr.« »Wir wurden aufgehalten, Schwester der dritten Wertigkeit«, sagte Mogi Loftis spitz. Sie wußte, daß Zenta Olgore sich darüber ärgerte, so genannt zu werden, denn die Ahlnaten bildeten sich ein, direkt unter den Magniden zu stehen, kamen aber – zumindest numerisch – hinter den Vystiden. »Was tust du überhaupt hier?« »Man erbat meine Hilfe, um das Ausmaß der Schäden zu
begutachten«, kam es hoheitsvoll zurück. »Dazu hattest du inzwischen ja ausreichend Gelegenheit. Es wird besser sein, wenn du nun gehst.« Die grünen Augen der Schwester der dritten Wertigkeit funkelten. »Bedaure, Mogi Loftis, ich konnte mir bisher erst einen groben Überblick verschaffen. Rieh, führe mich, damit ich erfassen kann, was die eingedrungenen Wüteriche der Anlage angetan haben.« Die Vystidin hätte der anderen am liebsten eins mit dem Schlagstock übergezogen, um dieses Geschwafel nicht mehr hören zu müssen, doch sie beherrschte sich. »Ich komme mit.« »Wie du willst, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß deine Begleitung sinnvoll ist.« Während die Ahlnatin und der Farmmeister vorausgingen, näherte sich die silbern gekleidete Frau Bent Darson. »Warum hast du dieses Weib hierhergebracht!« zischte sie wütend. »Nach der Schilderung des Überfallenen hielt man es für nötig, daß ein Ahlnate als Sachverständiger hinzugezogen wird und nicht nur Ferraten. Ich bekam den Befehl, sie zu begleiten«, gab der Mann ebenso leise zurück. »Idiot!« Ohne den Haematen noch eines Blickes zu würdigen, folgte sie den beiden anderen. Die Halle war riesig und in ihren Ausmaßen nicht zu erfassen. Gewaltige, transparente Kunststofftanks, die hundert Kubikmeter und mehr fassen konnten, standen in langen Reihen hinter‐ und nebeneinander, nur durch fünf Meter breite Gänge von einander getrennt. Ein undefinierbares Zeug von grüner Farbe schwamm in der trüben Brühe. »Hier werden ausschließlich Algen gezüchtet und produziert«, hörte sie den Mann sagen. »Leider verfügen wir nicht mehr über genügend Zusätze, um die Nährlösungen in optimaler Zusammensetzung ansetzen zu können; der Ertrag ist dadurch um
etwa dreißig Prozent zurückgegangen.« Ihr Führer blieb vor einem kleinen Schaltpult stehen, wie es an jedem Bottich angebracht war. »Von hier aus wird jede Wanne individuell gesteuert – Temperatur, Wasserzusammensetzung, Nährstoffgehalt, Härtegrad und was der Dinge mehr sind. Wir haben so die Möglichkeit, je nach Algenart in den Becken die unterschiedlichsten Bedingungen künstlich zu schaffen.« Der Farmmeister machte eine umfassende Handbewegung, die fast so etwas wie Besitzerstolz ausdrückte. »Aber diese Kulturen liefern nicht nur Nahrung, sondern – was fast noch wichtiger ist – Sauerstoff.« Er deutete nach oben zur Decke, an der ein Gewirr von mächtigen Rohren und Leitungen entlanglief, die unterschiedlich markiert waren. Von ihnen zweigten flexible Röhren und Leitungen ab, die verschiedenfarbig und mit den durchsichtigen Beckenabdeckungen nahtlos verbunden waren. »Was unsere Atemluft betrifft, sind die blauen und schwarzen Anschlüsse wichtig. Über ein kompliziertes Meß‐ und Filtersystem wird der produzierte Sauerstoff in den blauen Leitungen abtransportiert, während die schwarzen die mit Kohlendioxyd angereicherte und für die Pflanzen so wichtige Abluft zuführen.« »Das ist mir alles bekannt«, näselte die blaugekleidete Frau. »Zeige mir jetzt, was beschädigt wurde.« »Ich wollte dir nur behilflich sein, damit du alles erfassen und dir ein Bild machen kannst«, sagte der »Rieh« genannte Mann gekränkt. »Ich dachte …« »Nun bin ich hier, da kannst du aufhören zu denken, schließlich verstehen wir Ahlnaten von der Materie mehr als jeder andere hier an Bord der SOL, sieht man von den Magniden ab«, versetzte sie mit einem deutlichen Seitenhieb auf die Vystidin. »Warum sorgt ihr dann nicht auch für Ordnung?« giftete Mogi Loftis. »Wir sind Lehrer, keine Häscher«, sagte Zenta Olgore anzüglich. »Ich hätte nicht übel Lust, dich zu züchtigen, du Schlange«, fauchte die mandeläugige Frau.
»Siehst du, darin unterscheiden wir uns. Ihr Vystidenoffiziere trainiert nur eure körperlichen Fähigkeiten, wir dagegen unsere geistigen: Was, glaubst du, ist wertvoller?« Mogi Loftis mußte an sich halten, um ihr Gegenüber nicht mit einem Faustschlag niederzustrecken; sie stand kurz vor der Explosion. »Du verwechselst das, Zenta Olgore. Ihr seid lediglich verbohrt, aber nicht geistig wendig.« Obwohl sie der anderen am liebsten die Augen ausgekratzt hätte, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Nur in einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist. Bist du sicher, daß du gesund bist?« »Ich denke, mit dir kann ich es jederzeit aufnehmen, obwohl ich wesentlich älter bin«, schnappte die Blaugekleidete. »Rieh, ich möchte nun endlich mit meiner Arbeit beginnen. Zeige mir, welche Einrichtungen gelitten haben.« »Kommt mit«, sagte der Mann. Er wirkte auf einmal griesgrämig. Er führte die beiden Frauen zu einem Becken, dessen Abdeckung zertrümmert war. Nur noch ein paar kümmerliche Pflanzenreste schwammen in der Nährlösung. Vor dem Tank befand sich eine riesige Pfütze. Während die Ahlnatin mit wichtiger Miene daranging, die entstandenen Schäden zu untersuchen, sah sich Mogi Loftis nach verwertbaren Spuren um, doch es gab keine. Wer immer hier eingedrungen war, hatte Vorsorge getroffen. Wahrscheinlich war es eine Gruppe gewesen, und sie mußten Gefäße dabei gehabt haben, um die Pflanzen abzutransportieren. Möglicherweise hatten sie auch über Antigravplattformen oder ähnliche technische Hilfsmittel verfügt, denn die Beute mußte etliche Zentner, wenn nicht gar mehrere Tonnen schwer sein. »Laßt ihr das Wasser ab, wenn ihr erntet?« erkundigte sich die Vystidin. »Nein, wir setzen Taucher ein – Spezialrobots«, präzisierte Rieh. »Bevor sie die Algen ernten, sammeln sie Ableger und schneiden Sprossen für die nächste Kultur. Das Wasser wird nur abgelassen,
wenn die Tanks gereinigt werden müssen.« »Glaubst du, daß bei dem Überfall diese Tauchrobots eingesetzt wurden?« »Ganz bestimmt nicht. Sie reagieren lediglich auf ein Kennwort, das nur mir und meinem Stellvertreter bekannt ist.« Also waren ausschließlich organische Lebewesen tätig?« »Ich denke schön.« »Wir müssen also davon ausgehen, daß Solaner, Monster oder Extras getaucht sind«, sinnierte Mogi Loftis. »Ruft die Nährlösung irgendwelche Reaktionen auf der Haut hervor? Pusteln, Ausschlag, Geschwüre?« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Denkbär wären allenfalls Rötungen, wenn jemand besonders empfindlich ist«, meinte der Farmmeister. »Danke«, sägte die Frau. Sie meinte es nicht wirklich, es war mehr eine gebräuchliche Floskel, die man Außenstehenden gegenüber anwandte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zu den Ferraten zurück, die sie begleitet hatten. Hoffnung, die Täter zu fassen, hatte sie schon nicht mehr gehabt, als diese Kreaturen ihr den Weg verstellten. Täter – Zeitgewinn; diese Assoziation faszinierte sie. Wahrscheinlich steckte der Hagere mit den Plünderern unter einer Decke. Dieses Volk hatte sie nur am Weitergehen gehindert, um ihren Komplizen einen ausreichenden Vorsprung zu verschaff en. »Na, wartet, ihr Halunken«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Euch werde ich lehren, Mogi Loftis zum Besten zu halten. Ihr sollt mich kennenlernen.« Mit blitzenden Augen baute sie sich vor den Brüdern und Schwestern der sechsten Wertigkeit auf. »Ihr erinnert euch noch alle an den Anführer der Meute, die uns aufgehalten hat?« Alle nickten. »Ich will, daß ihr ihn findet Habt ihr das verstanden?« Allgemeine Zustimmung wurde laut. »Dann kommt!« Ein wenig neidisch blickte Bent Darson auf die
abziehenden Männer und Frauen. Er wäre gerne dabei gewesen, um mitzumischen, doch leider hatte er den Befehl, auf ein paar Ferraten und diese Frau aufzupassen, die wie alle Ahlnaten ziemlich überspannt war. »Der Schaden ist nicht unerheblich«, sagte Zenta Olgore in diesem Augenblick. »Ich fürchte, die Reparatur wird fast einen ganzen Tag in Anspruch nehmen – vorausgesetzt, die entsprechenden Ersatzteile sind verfügbar.« »Beabsichtigt die Schiffsführung, etwas gegen derartige Überfälle zu unternehmen? Ich meine, bekommen wir Wachen, Vystiden oder Kampfrobots? Immerhin sind Nahrungsmittel ohnehin knapp; wenn sie zudem noch gestohlen werden, ist die Versorgung nicht mehr gewährleistet«, gab der Farmmeister zu bedenken. »Hast du satt zu essen?« »Ja, aber …« »Dann kümmere dich gefälligst nicht darum. Das sind Dinge, die dich nichts angehen!« Die Weißblonde Frau ließ ihn einfach stehen und ging auf die Rostjäger zu, die zusammen mit ihr gekommen waren. »Ihr könnt jetzt mit der Instandsetzung beginnen«, meinte sie hoheitsvoll, dann winkte sie Darson. »Komm, Vystide, wir kehren zurück.« Der Haemate hatte das Bedürfnis, die Ahlnatin zu erwürgen, unterdrückte diese Regung aber. So durften ihn allenfalls seine Offiziere behandeln, aber nicht so eine Jammergestalt wie Zenta Olgore. Er beschloß, ihr diese Schmach bei passender Gelegenheit heimzuzahlen. Es wurde sowieso einmal Zeit, daß den überheblichen Ahlnaten ihre Grenzen gezeigt wurden innerhalb der SOLAG. * Die Gruppe unter Führung der Vystidin war wieder in jenem
Abschnitt angekommen, in dem die Solaner sie aufgehalten hatten. »Fünf kommen mit mir, die anderen bleiben zurück und passen auf. Wenn jemand euch angreifen sollte, schlagt ihr mit aller Kraft zurück. Milde legt dieses Pack als Schwäche aus.« Mit einer herrischen Kopfbewegung bedeutete sie drei Männern und zwei Frauen, ihr zu folgen. Gemeinsam betraten sie einen Korridor, an den Wohnkabinen angrenzten. Mogi Loftis machte sich nicht die Mühe, lange nach der betreffenden Person zu suchen, sondern betrat die erstbeste Unterkunft. Sie hatte da ihre besondere Methode, jemanden zu finden. Mit einem Blick umfaßte die mandeläugige Frau den Raum. Vom ursprünglich einmal vorhanden gewesenen Mobiliar existierten nur noch einige Stücke, die notdürftig instand gesetzt waren. Versteckmöglichkeiten gab es so gut wie keine. Ein Paar mittleren Alters saß auf einer primitiven Liege; der Mann trug den linken Arm in einer aus Stoffetzen gefertigten Schlinge. Erschreckt blickten beide auf die Eindringlinge. Mit wiegenden Hüften ging die Vystidin bis zur Mitte der Kabine und stellte sich breitbeinig auf. Die Ferraten wollten folgen, doch mit einer schroffen Handbewegung bedeutete sie ihnen, auf der Schwelle zu warten. »Ich suche jemanden!« »Hier ist niemand. Sieh dich um und überzeuge dich selbst davon.« »Du hast dich verletzt?« fragte die Schwester der zweiten Wertigkeit lauernd. »Ja, ich bin gestürzt.« »Ah«, machte sie. »Und dann sind die anderen über dich hinweggetrampelt, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Das weißt du sehr wohl, Kerl, und ich rate dir, den Mund aufzutun, sonst wird es dir leid tun«, sagte die Vystidin gefährlich
leise. »Du warst vorhin bei dieser verbotenen Demonstration dabei, die nur dazu diente, den Algendieben den Rückzug zu decken.« »Ich …« »Schweig!« herrschte sie den Solaner an. »Ihr steckt alle unter einer Decke. Ich will wissen, wo ich diesen Hageren, euren Anführer, finde.« Der Mann schwieg. Verängstigt klammerte sich seine Partnerin an ihn. »Nun?« Die Stimme Mogi Loftis klang ungeduldig. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Sie richtete die Waffe auf ihre Geschlechtsgenossin. »Komm her, Frau!« Als diese zögerte, schrie sie unbeherrscht: »Na, los, wirdʹs bald?« Zitternd näherte sich die Solanerin der Vystidin. Mogi Loftis packte sie derb an der Schulter und drehte sie herum. Als die Frau den Strahler an ihrer Schläfe spürte, schrie sie auf. »Es macht mir nichts aus, nicht nur dich, sondern auch sie zu töten. Also?« »Bitte sage es ihr, Itak«, flehte die Frau mit tränenerstickter Stimme. »Tue es um meinetwillen. Sage es ihr, Itak – bitte!« Man sah, wie es in dem Mann arbeitete, seine Kieferknochen mahlten. Schließlich hatte er sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Du findest den, den du suchst, im gegenüberliegenden Flur, dritte Tür links.« Mogi Loftis stieß die Frau von sich. Kalt sagte sie: »Sei froh, daß ich in Eile bin, sonst kämst du nicht so ungeschoren davon.« Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Was dich erwartet, wenn du gelogen hast, kannst du dir ja denken! « Sie wandte sich um, konnte es sich aber nicht verkneifen, vor Verlassen der Unterkunft ihre Waffe abzufeuern; nach ihrer Ansicht hatte der sture Bursche sie eine Menge Zeit gekostet und wenigstens einen kleinen Denkzettel verdient. Nur wenn die zahlenmäßig recht kleine Gruppe der Vystiden stets hart durchgriff, konnte die Ordnung innerhalb der SOL aufrechterhalten werden. Der konzentrierte Energiestrahl traf eine nicht mehr intakte Schalteinheit, richtete aber dennoch etlichen Schaden an. Die
entsetzten Schreie der beiden Kabinenbewohner entlockten der schlanken Frau nur ein Lächeln. Gefolgt von ihren Begleitern steuerte sie den Raum an, in dem der Hagere hausen sollte. Er sollte ihre Macht zu spüren bekommen. Daß ihr Verhalten an Sadismus grenzte, ging Mogi Loftis nicht auf. Sie orientierte sich am Chef der Vystiden, Aksel von Drau, der unerbittlich und gefürchtet war. Um der SOLAG einen Vorteil zu verschaffen, sie herauszustellen und ihre Gegner kurz zu halten, war ihm jedes Mittel recht. Zlava, die zehn Jahre jünger war als die mandeläugige Offizierin und neben dem eher harmlosen Barvos Dom zu seinen Stellvertretern zählte, stand ihm nur wenig nach. Mogi Loftisʹ Ziel war, sie an Skrupellosigkeit zu übertreffen, um auf sich aufmerksam zu machen und so ihren Anspruch zu unterstreichen, zur Führungsgruppe der Vystiden zu gehören. Zwei Dutzend Augenpaare beobachteten jede Bewegung der Ferraten; drei andere Personen, die sich in einer Nische versteckt hatten, konzentrierten sich ausschließlich auf Mogi Loftis und ihre Begleitung. In den letzten Tagen hatte die Solidarität an Bord des Hantelschiffs immer mehr zugenommen. Es kam zu spontanen Zusammenschlüssen; nicht nur Einzelpersonen, sondern Gruppen und ganze Wohnabschnitte protestierten gegen den Verlust einer Korvette und natürlich gegen die schlechte Versorgungslage. Wo immer es zu solchen Demonstrationen kam, fanden sie Zulauf – und trafen auf Widerstand. In der Regel ging es nicht ohne Verletzte ab. Daß es zu Zusammenstößen kam, war nicht die Schuld der Solaner. Ihre Zusammenkünfte hatten durchweg friedlichen Charakter; sie verlangten lediglich, daß die primitivsten Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Kleidung erfüllt wurden, doch die SOLAG witterte Unheil. Jede Versammlung wurde von Ferratentrupps, denen ein Vystide vorstand, zerschlagen. Die brutalen Übergriffe häuften sich. Gravierend dabei war die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, ganz abgesehen davon, daß es
keine geistige Auseinandersetzung gab; Strahler, Paralysatoren, Vibratormesser und Schlagstöcke waren die einzigen Argumente gegenüber der unbewaffneten Masse, die zum Großteil aus Frauen und Kindern bestand. Innerhalb der SOL gab es eine kleine Gruppe, die diesem Unrecht nicht tatenlos zusah und immer dann eingriff, wenn die Willkür überhand nahm. Sie operierte im Verborgenen, erwies sich bei Bedarf jedoch als außerordentlich schlagkräftig und hatte den fehlgeleiteten Ordnungshütern des Raumers schon einige empfindliche Niederlagen bereitet. Nur wenige Menschen kannten sie von Angesicht zu Angesicht. Darauf legten es die unbekannten Helfer auch nicht an, sie wollten im Gegenteil unerkannt bleiben. Die Männer und Frauen, die sich um der Gerechtigkeit willen oft unter Einsatz ihres Lebens für die Unterdrückten einsetzten, besaßen mittlerweile schon einen fast legendären Ruf. Sie hatten viele Namen, doch sie selbst nannten sich schlicht und einfach »Basiskämpfer«. Jeder, der in der Basis entbehrlich war, war allein oder mit Gleichgesinnten unterwegs, um Ausschreitungen zu verhindern und zu unterbinden, deren Initiatoren die vermeintlichen Sicherheitskräfte waren. Das verhärmt aussehende, dunkelhäutige Mädchen, das schon bei der Aktion gegen Bent Darson dabeigewesen war, hatte sich unter den Leuten befunden, die die Schergen der Vystidin auseinandergetrieben hatten. Da zu befürchten war, daß es zu weiteren Übergriffen kam, hatte sie sich auf dem schnellsten Weg in das nächste Ausweichquartier der Basiskämpfer begeben und diese alarmiert. Zaragom hielt sich gerade dort auf. Der Dajoter war ein Extra, gut zwei Meter groß und hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Känguruh. Seine hinteren Extremitäten waren außergewöhnlich stark entwickelt; auf ihnen konnte er sich nicht nur rasend schnell fortbewegen wie die australischen Großbeutler, sondern auch fürchterliche Tritte austeilen. Das am ganzen Körper behaarte
Wesen haßte die SOLAG; zusammen mit acht Artgenossen war der Dajoter an Bord des Hantelraumers gebracht worden, er hatte als einziger überlebt. Als Zaragom hörte, daß die gefürchtete Mogi Loftis den Ferratentrupp anführte, hatte er keinen Augenblick gezögert, den Einsatzbefehl zu geben. Alle verfügbaren Männer und Frauen waren zusammengetrommelt worden, und so kam es, daß unter der Führung des Extras fünfzehn Basiskämpfer das Vorgehen der mandeläugigen Frau und ihrer Untergebenen beobachteten – bereit, jederzeit einzugreifen. Obwohl alle unbewaffnet waren, fürchteten sie weder die Schlagstöcke noch den Strahler; sie vertrauten Juka‐ Do, einer Kampftechnik, die sie alle beherrschten. Mogi Loftis hatte keine Ahnung davon, daß sie überwacht wurde. Geschmeidig wie eine exotische Großkatze bewegte sie sich durch den Gang auf die Kabine des Hageren zu; die Hand mit der Waffe schlenkerte lässig hin und her. Das Schott, das die Unterkunft verschloß, öffnete sich nicht, auch nicht, als die Frau daran rüttelte. Ohne zu zögern, hob sie die Waffe und schoß. Die Stelle, an der sich üblicherweise die elektronische Schließeinheit befand, glühte auf. Ruckend öffnete sich der Durchlaß. Ein spöttisches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Man konnte ihr nachsagen, was man wollte – feige war sie nicht. Anstatt die Ferraten vorzuschicken, betrat sie selbst den Raum. Niemand hielt sich darin auf. Wutentbrannt machte sie kehrt. »Dieser Bastard hat mich hereingelegt, doch das wird ihm schlecht bekommen!« rief sie mit zornbebender Stimme. »Du und du«, sie deutete auf die beiden Frauen in ihrer Begleitung, »ihr nehmt euch noch einmal diesen Kerl vor, der mich so schamlos angelogen hat, der Rest durchsucht diese Löcher hier und verhört die Bewohner. Ihr habt freie Hand; wenn ihr den Eindruck habt, daß euch jemand etwas verbirgt, prügelt die Wahrheit aus ihm heraus.« Grölend und johlend schwenkten die Rostjäger ihre Schlagstöcke, dann setzten sie sich in Bewegung. Sie kamen nicht weit. Plötzlich sprangen ein
Dutzend Basiskämpfer aus ihren Verstecken, Abzweigungen und Einbuchtungen hervor. Wie vom Blitz gefällt stürzten die ersten Ferraten zu Boden. Das haßverzerrte Gesicht der Vystidin entkrampfte sich, Überraschung spiegelte sich auf ihren Zügen. Bevor sie dazu kam, mit der Waffe in den Kampf einzugreifen, war Zaragom heran. Er prellte ihr den Strahler aus der Hand und versetzte ihr einen Hieb, der ausgereicht hätte, einen erwachsenen Mann außer Gefecht zu setzen – die durchtrainierte Frau brachte er lediglich zu Fall. Zwar zeigte sie Wirkung, doch sie versuchte, sofort wieder aufzustehen. »Hier wird niemand verprügelt«, grollte der Extra. Mit einem Satz war er neben Mogi Loftis und wendete einen nahezu schmerzlosen Griff an, der das vegetative Nervensystem beeinflußte und die Blutzufuhr zum Gehirn unterband. Der Körper der mandeläugigen Frau wurde schlaff. Sie hatte das Bewußtsein verloren. Seine Mitstreiter waren nicht weniger erfolgreich gewesen. Alle Ferraten lagen ohnmächtig am Boden. Niemand war verletzt worden, lediglich das dunkelhäutige Mädchen hatte eine Platzwunde davongetragen. Hirvy, ein siebzehnjähriger, kleinwüchsiger Solaner, grinste zufrieden, als er die Schlagstöcke einsammelte und auch den Strahler an sich nahm. »Die Basiskämpfer haben wieder einmal erfolgreich zugeschlagen«, meinte er doppelsinnig. Niemand lachte. »Es wird Zeit, daß du erwachsen wirst, Junge, denn das ist kein Spaß«, tadelte ein rotgesichtiger Mann. »Vergiß nicht, daß es um die SOL geht.« »Ich denke, wenigstens heute sind die Leute vor Übergriffen sicher«, sagte der Dajoter. »Wir sollten jetzt wieder von hier verschwinden und weiterhin Augen und Ohren offenhalten.« In kurzen Abständen verließen die Basiskämpfer nacheinander den
Korridor und verstreuten sich dann in verschiedene Richtungen, um nicht aufzufallen. Zaragom wartete, bis alle gegangen waren, dann folgte er dem Jungen, um ihm notfalls beizustehen. 2. Chart Deccon befand sich in einer Zwangslage. Seit Tagen brodelte und gärte es im Schiff, die Stimmen der Unzufriedenen wurden immer lauter. Der Verlust einer Korvette hatte sich herumgesprochen, noch gravierender allerdings war bei der Masse der Solaner der derzeitige Versorgungsengpaß. Es mangelte nicht nur an Gütern des täglichen Bedarfs, sondern auch an Nahrung. Es fehlten Rohstoffe an allen Ecken und Enden. Als High Sideryt hatte er stets das Wohl der SOL im Auge gehabt – so auch jetzt. Der Raumer und alle seine Bewohner waren eine Einheit, die SOL war ihrer aller Heimat, die SOLAG ihr Ordnungsfaktor. Zwar war Deccon intelligent genug, um zu wissen, daß die Gleichung »Wer gegen die SOLAG ist, ist gegen die SOL« nicht aufging, doch er konnte nicht dulden, daß die Moral zersetzt wurde und es zu Gegenreaktionen kam, die ihrem Charakter nach Aufstand bedeuteten. Solange er dem Schiff vorstand, würde er derartige Reaktionen nicht dulden; er hatte daher angeordnet, gegen alle Demonstranten vorzugehen. Inzwischen hatte sich gezeigt, daß diese Anweisung Anlaß gab zu neuen Zwistigkeiten zwischen den Vystiden und ihren Trupps und den Solanern; dabei spielte immer öfter eine geheimnisvolle Oppositionsgruppe eine Rolle, die aus dem verborgenen heraus arbeitete und nicht zu fassen war. Erschreckend daran war, daß die Unbekannten bei ihren Aktionen stets erfolgreich waren und die Vystiden das Nachsehen hatten; wer immer auch dahinter stecken mochte – er verstand sein Geschäft. Nach allem, was Deccon bisher gehört hatte, bildeten diese Bord‐
Partisanen inzwischen einen nicht zu unterschätzenden Machtfaktor. Wenn sie in der augenblicklichen Situation aus ihrer Anonymität heraustraten, würden sie einen ungeheuren Zulauf haben; einem fähigen Führer würde es ein leichtes sein, die unzufriedenen Massen zu organisieren und zu solidarisieren. Wenn sich das Heer der Hungernden, Unzufriedenen und Enttäuschten erst einmal formiert hatte, wenn zwanzig‐ oder dreißigtausend Solaner gemeinsam losschlugen – dann stand die SOLAG auf verlorenem Posten. Die Sogwirkung, die davon ausging, würde letztlich das ganze Schiff erfassen, und es würde ein Blutbad von unvorstellbaren Ausmaßen geben; wahrscheinlich würde die SOLAG trotz ihrer technischen Überlegenheit und der weitaus besseren Bewaffnung auf die Dauer unterliegen. Das wäre auch das Ende der SOL. Es würde niemanden mehr geben, der das Schiff führen und steuern konnte, es gab keine Ferraten mehr, die die technischen Einrichtungen warteten und reparierten – kurz, die SOL würde verfallen und verkommen, ein hilflos dahintreibendes Wrack werden, das eines Tages mitsamt seinen Bewohnern in einer unbekannten Sonne verglühen würde. Diese düstere Vision schreckte den einsamen Mann fast noch mehr als persönlicher Machtverlust. Was er auch tat, es war seine Entscheidung; weder SENECA noch die Magniden waren ihm in dieser Situation eine große Hilfe. Der schwergewichtige, fast zwei Meter große Hüne stand auf und durchmaß unruhig sein ureigenstes Reich. Dieser etwa einhundertzwanzig Quadratmeter große Raum befand sich unmittelbar neben der Zentrale im Mittelteil der SOL. Das klobige Mobiliar aus schwarzem Holz war genauso düster wie seine Stimmung. Die aus blau schimmernden Metallschuppen zusammengesetzte Kleidung schabte bei jedem Schritt leise aneinander. Wie so oft, wenn er nachdachte oder unschlüssig war, griff er nach dem
zigarrenkastengroßen Behälter, den er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Er tat es unbewußt, allerdings mit einer gewissen Hingabe, als erwartete er von der Berührung Hilfe und neue Kraft. Das mit Ornamenten verzierte Kästchen sah aus, als wäre es aus Elfenbein geschnitzt, doch Struktur und Farbe täuschten. Der quaderförmige Körper bestand in Wirklichkeit aus einem federleichten, praktisch unzerstörbaren Kunststoff. Was er beinhaltete, war das Geheimnis des vierundachtzigjährigen Anführers der SOLAG; entsprechende Fragen ließ er unbeantwortet. Vor dem geistigen Auge des rotgesichtigen Mannes entstanden Bilder, die ein neues Chaos aufzeigten. Klar wie selten zuvor empfand er seine eigene Hilflosigkeit – er, der doch alle Macht im Schiff hatte. Deutlich erkannte er, daß es nicht genügte, die Macht zu haben, um sie zu behalten. Gewiß, die Vystiden gingen gegen die Aufrührer mit aller Härte vor und zerschlugen entsprechende Kundgebungen, doch die allgemeine Unzufriedenheit wurde damit nicht beseitigt. Man mußte der Masse einen Schuldigen präsentieren, und wer eignete sich besser dazu als dieser Atlan? Froh, einen Ausweg gefunden zu haben, setzte sich Chart Deccon mit der Zentrale in Verbindung, in der sich in der Regel die Mehrzahl der Magniden aufhielt. Er gab die Anweisung, quasi unter der Hand zu verbreiten, daß Atlan nicht nur am Verlust der Korvette schuld sei, sondern auch an der derzeitigen mißlichen Lage. Curie van Herling, die den Anruf entgegennahm, nickte verstehend. Ein Lächeln erschien auf ihrem runden, wie immer zu stark geschminktem Gesicht. »Eine gute Idee. Ich glaube, das wird Atlan das Genick brechen und uns ausreichenden Handlungsspielraum verschaffen, um die Krise zu meistern.« »Ich hoffe es«, sagte der High Sideryt in seiner wortkargen Art. Wie immer klang seine Stimme grollend. »Es kommt darauf an, wie
geschickt ihr das Gerücht in Umlauf setzt.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schaltete der Bruder ohne Wertigkeit den Interkomanschluß ab. Gedankenverloren starrte Chart Deccon auf das technische Gerät, nahezu automatisch umfaßte seine fleischige Rechte das Kästchen. Nun mußte er erst einmal abwarten. * Zwei Tage später, am 7.9.3791, hatte Chart Deccon die Magniden, also die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit, in der Zentrale der SOL um sich versammelt. Es war eine Krisensitzung. Die in wallende, weiße Gewänder gekleideten Männer und Frauen hatten an einem Tisch Platz genommen. Die hellgrauen Augen des High Sideryt, die in dem aufgedunsenen Gesicht winzig wirkten, musterten die Anwesenden ernst. Niemand sprach ein Wort. »Ich habe euch hier und heute zusammengerufen, um eure Vorschläge zu hören, wie wir die derzeitige Krise am besten meistern können«, begann Deccon. Er sprach grollend wie immer, ohne allerdings seine Stimme emotionell zu färben. »Daß wir uns in einer schwierigen Situation befinden, ist euch allen bekannt. Ich will an dieser Stelle nicht untersuchen, warum es nicht gelungen ist, den Leuten plausibel zu machen, daß Atlan schuld an dieser Misere ist …« »Falls du mich damit meinst – ich habe mir nichts vorzuwerfen«, unterbrach die füllige Curie van Herling ungehalten. Ihre schwarzen Augen funkelten zornig. »Ich habe deinen Befehl weitergeleitet, die Ausführung haben andere übernommen.« »Ich habe gesagt, daß ich keine Wertung vornehmen will«, wies sie der Hüne zurecht. »Wenn ihr euch wie ich in der SOL umgesehen habt, so werdet ihr festgestellt haben, daß praktisch genau das Gegenteil von dem erreicht wurde, was beabsichtigt war.
Überall findet man Schmierereien und Parolen an den Wänden, die für Atlan und gegen die SOLAG sind. Man fordert sogar, daß dieser Mann das Schiff übernehmen soll, weil man glaubt, daß er der einzige ist, der eine Besserung der Verhältnisse herbeiführen kann. Das ist natürlich glatter Unsinn.« Die Versammelten nickten beifällig. »Mit unseren Machtmitteln wäre es uns normalerweise ein leichtes, jeden Widerstand zu zerschlagen, doch wie es den Anschein hat, haben sich da etliche Unzufriedene zusammengeschlossen, die gezielt gegen die SOLAG vorgehen. Diese Gruppe von Bord‐Partisanen, von der wir so gut wie nichts wissen, macht unseren Ordnungstrupps ziemlich zu schaffen und hat ganz offensichtlich Erfolge aufzuweisen, die unsere Position schwächen.« »Die Vystiden gehen einfach zu lasch vor«, sagte Arjana Joester. Die einundvierzigjährige schlanke Frau mit dem rotbraunen Haar hieb mit der Faust auf den Tisch. »Was nützt es, Versammlungen aufzulösen und den Knüppel zu schwingen? Die Wunden heilen wieder, doch die Gedanken in den Köpfen bleiben die gleichen. Man muß Exempel statuieren; nur wer tot ist, kann nicht mehr rebellieren.« Wenn es um die persönliche Macht ging, hatte eigentlich niemand in dieser Runde Skrupel, doch dieser Forderung der Magnidin mochten die anderen nicht zustimmen. Nurmer meldete sich zu Wort. Mit einhundertzwei Jahren war er der Älteste von allen und auch schon am längsten in Amt und Würden. »Dein Vorschlag ist keine Lösung«, meinte der kahlköpfige Mann bedächtig und strich sich über den silbernen, bis zur Brust reichenden Kinnbart. »Ein derartiges Vorgehen der Vystiden schafft lediglich Märtyrer und stachelt die Wut der Massen auf.« »Das ist auch meine Meinung«, sagte Ursula Grown. Wie immer unterstrich sie ihre Ausführungen gestenreich. »Der Haß auf die SOLAG wird zunehmen, sich potenzieren, dabei muß es unser
Bestreben sein, nicht nur von uns, sondern von allen Brüdern und Schwestern der verschiedenen Wertigkeiten bis hinunter zu den Ferraten abzulenken.« Mit neunundachtzig Jahren war sie das älteste weibliche Wesen in der Runde. Wie man bisweilen spöttisch vermerkte, war das einzig Echte an ihr der scharfe Verstand; sie wirkte stets zurechtgemacht, regelrecht aufgedonnert, die Haut‐ und Muskelpartien waren gestrafft. Das blaugefärbte Haar war genauso künstlich wie das Biogewebe. Sie führte gerne das große Wort und sah sich auch jetzt beifallheischend um. »Und wie willst du das anstellen?« erkundigte sich Lyta Kunduran fast schüchtern. Sie war sechzig Jahre jünger als ihre Vorrednerin und noch ein wenig unsicher, denn sie zählte erst seit einem Jahr zum erlauchten Kreis der Magniden. Ursula Grown musterte ihr wächsern wirkendes Gegenüber abschätzig. »Wir müssen ein Gegengewicht schaffen und die Leute ablenken. Ich denke an Filme oder Spiele – auf jeden Fall brauchen die Leute Abwechslung.« »Ein knurrender Magen läßt sich auch nicht durch Unterhaltung satt machen«, meinte Palo Bow mürrisch wie immer. Der dunkelhäutige Mann verzog das Gesicht. »Habe ich recht, Curie?« Von der angesprochenen Schwester der ersten Wertigkeit war bekannt, daß sie gern kulinarischen Genüssen frönte, was ihre Figur auch deutlich belegte. »Laß mich gefälligst aus dem Spiel, du Dickwanst! Sieh dir deinen eigenen Bauch an, dann kannst du auch deine selbstgestellte Frage beantworten!« gab die Magnidin beleidigt zurück. Wieder einmal drohte die Gemeinsamkeit, die das Führungsteam der SOL nach außen hin repräsentierte und demonstrierte, an Belanglosigkeiten zu scheitern; noch zehn Minuten, und die Traditionalisten und die Fortschrittler gerieten sich in die Haare. Wie immer bei solchen Gelegenheiten würde man sich dann auf die
allseits bekannten Standpunkte berufen und feste Positionen beziehen, wobei das zentrale Thema nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. »Hört auf zu streiten!« herrschte Chart Deccon die Privilegierten an. Betroffen schwiegen die Männer und Frauen. Es kam selten vor, daß der High Sideryt so aus sich herausging. Einige tasteten verlegen nach dem aus Brillanten bestehenden Atomsymbol auf ihrem Gewand, das. sich direkt über dem Herzen befand. »Ich habe einen Entschluß gefaßt!« Die Blicke der Anwesenden richteten sich erwartungsvoll auf den Hünen. »Um von der SOLAG und der derzeitigen Situation abzulenken, gibt es nur eine Möglichkeit.« »Und welche?« erkundigte sich Nurmer. »Die Leute brauchen ein Ventil, um ihren Aggressionsstau abzubauen. Für die nächsten zwölf Stunden gebe ich die Jagd auf Monster und Extras frei. Wer will, kann sich daran beteiligen.« »Auch diese Aufsässigen?« »Gewiß. Und ihr habt dafür zu sorgen, daß meine Anweisung publik gemacht wird. Allerdings erwarte ich weniger Dilettantismus als vor zwei Tagen; es steht zuviel auf dem Spiel.« Der Hüne fuhr sich über das feiste Gesicht. »Ich denke, daß wir die Situation bis zum Ende der Jagd wieder unter Kontrolle haben.« »Warum setzt du überhaupt ein Zeitlimit?« erkundigte sich Gallatan Herts mit schriller Stimme. Der streitsüchtige Hundertjährige wurde heimlich »Rumpelstilzchen« genannt, denn seine Ähnlichkeit mit der Märchenfigur war geradezu frappierend. Er war nur 151 Zentimeter groß, dürr und leicht verwachsen. In dem bleichen Gesicht mit den wasserblauen Augen dominierte eine lange Nase, die Lippen waren nur ein schmaler Strich. Das strähnige Blondhaar wirkte wie ein über den Schädel gestülptes Strohdach. Der leicht reizbare, streitsüchtige Mann war bei allen gleichermaßen unbeliebt.
»Es ist fast auf den Tag genau drei Monate her, daß Tausende von Monstern und Extras von Bord gegangen sind. Innerhalb der SOL gibt es also nur noch eine begrenzte Zahl von ihnen«, erinnerte Chart Deccon. »Ich möchte nicht, daß sie völlig ausgerottet werden.« »Warum nicht?« Herts lachte meckernd. »Im Augenblick sollten wir für jeden Esser weniger dankbar sein.« Niemand hatte gegen den Plan des High Sideryt protestiert, und auch jetzt erhob niemand Einspruch. Daß bei einer Jagd möglicherweise Dutzende unschuldiger intelligenter Lebewesen getötet wurden, verursachte den Magniden keine Gewissensbisse, schließlich geschah alles letztendlich nur zum Wohl aller und der SOL. Diese schlichte Philosophie aller Diktaturen rechtfertigte jedes Mittel und beinhaltete sogar noch den Anspruch, selbstlos und gerecht gehandelt zu haben – es war das Argument schlechthin. Die intelligenten Magniden mit dem Bruder ohne Wertigkeit an ihrer Spitze bildeten darin keine Ausnahme. »Es kann sein, daß wir sie später noch benötigen«, sagte Deccon kalt. »Wenn in der Zukunft erneut eine Situation wie diese eintritt – auf wen sollte dann Jagd gemacht werden?« Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit konnten nicht umhin, die Weitsicht des SOLAG‐Führers zu bewundern, gleichzeitig hielten sie seine letzten Wort für einen gelungenen Scherz; Gelächter kam auf, was der High Sideryt für ein positives Zeichen hielt. * Chart Deccons übler Plan ging auf. Nicht nur Angehörige der SOLAG machten sich auf die Suche nach Monstern und Extras, sondern auch Solaner. Letztere hatten die unterschiedlichsten Beweggründe. Einige hielten sie in der Zeit des Nahrungsmangels für unnütze Esser, die ihnen einen Teil ihrer Mahlzeiten wegnahmen, andere waren davon
überzeugt, daß diese unglücklichen Geschöpfe von Grund auf schlecht waren und mit den Solanern nichts gemein hatten. Sie waren der berüchtigte Stachel im eigenen Fleisch, den man entfernen mußte. Dritte schließlich sahen in ihnen pauschal Kriminelle, Diebe, Räuber und Mörder, die außerhalb der Legalität standen und durch ihr Verhalten mitschuldig waren an dem augenblicklichen Notstand; man mußte sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Andere wiederum wollten einfach ihre Aggressionen abbauen, Haß und Frust. Gewiß, sie waren im Verhältnis zu den rund neunzigtausend Bewohnern des riesigen Hantelraumers nur eine verschwindend kleine Minderheit, dennoch empfanden es die progressiven Solaner als schmerzlich, daß sich Männer und Frauen aus ihren Reihen an so etwas beteiligten. Mittlerweile hatte nämlich eine positive Entwicklung eingesetzt. Die Mehrzahl empfand die Verfolgten nicht mehr als Andersartige, sondern als Wesen, die in der SOL zu Hause waren und in die bestehende Ordnung integriert werden mußten. Immerhin waren nicht nur sie selbst Solaner, sondern auch ihre Eltern. Aus diesem Grund nannten die aufgeschlossenen Solaner die körperlich anders aussehenden Menschen auch nicht mehr abfällig »Monster«, sondern »Bordmutanten«. Chart Deccons Order ließ die alten Vorurteile wieder aufleben, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. Nicht nur SOLAG‐ Mitglieder sagten den Monstern bzw. Bordmutanten und Extras den Kampf an, sondern auch bisher für harmlos gehaltene Männer und Frauen; Triebe und Instinkte ersetzten Geist und Verstand. Die Position der Verfolgten war denkbar schlecht. Sie waren größtenteils unbewaffnet und auch nicht emotionell aufgeputscht. Sie wollten nur leben, die anderen dagegen lechzten nach ihrem Blut.
3. Das orangefarbene Wesen, das aussah wie ein eineinhalb Meter großer geschuppter Bär, watschelte auf seinen kurzen Beinen gemächlich durch den Gang. An einem Riemen über der Schulter trug der Puschyde die unvermeidliche Destillieranlage mit sich, mit der er Zuckerwasser für seine Nahrungszwecke aufbereitete. Plötzlich fauchte ein Strahlenschuß durch den Korridor und strich nur knapp über ihn hinweg. Zu Tode erschrocken drehte der Kleine sich um. Eine bewaffnete Frau war aufgetaucht, die an ihrer Kleidung deutlich als Vystidin zu erkennen war. Panische Angst ergriff das geschuppte Wesen – es war niemand anders als Argan U. Er begann zu laufen und sah sich zugleich gehetzt nach einem Versteck um; er war einfach zu langsam, um einem Solaner zu Fuß entkommen zu können. »Bleib stehen, Extra, ich kriege dich ja doch!« Wieder wurde die Waffe abgefeuert. Mit einem verzweifelten Satz nach vorn konnte er sich noch einmal retten. Knapp hinter ihm fuhren die tödlichen Strahlen in den Boden und verflüssigten den Belag. Die kurzen Beine bewegten sich in rasendem Tempo. Argan U lief um sein Leben. Der Puschyde kannte sich in der SOL recht gut aus, doch diese Ebene war ihm unbekannt. Seine Hoffnung, der viel schnelleren Frau entkommen zu können, war nicht besonders groß, und trotzdem rannte er aus Leibeskräften. Unerwartet tauchte links ein geöffnetes Schott auf. Ohne lange zu überlegen, hielt er darauf zu und stolperte in den dahinterliegenden Raum. Er war nicht sonderlich groß, vielleicht zehn mal zwölf Meter. Direkt am Eingang lag ein Haufen Gerümpel, weiter hinten standen ein paar technische Geräte und mehrere Tische, auf denen irgendwelche Apparaturen aufgebaut waren; Argan U verstand von derartigen Dingen nichts, glaubte aber, sich in einem Labor zu
befinden. Alles machte einen inaktiven, heruntergekommenen Eindruck. Mit seinen großen, traurigen Augen sah sich der Orangefarbene nach einem geeigneten Versteck um. Voller Schrecken erkannte er, daß es keinen zweiten Ausgang gab; er saß in der Falle. Dennoch gab er nicht auf. So schnell er konnte, stieg der Puschyde über den Abfallberg hinweg und verbarg sich hinter einer kompakt wirkenden Maschine. Vor Anstrengung zitterte er am ganzen Körper, sein Atem ging stoßweise. Schon erschien die Uniformierte vor dem Durchlaß. Triumphierend schwenkte sie den Strahler. »Du kannst mir nicht entkommen, Extra.« Suchend sah sie sich um. »Hör auf mit dem Versteckspielen und komm heraus.« Als sie in seine Richtung blickte, machte er sich noch kleiner und hielt unwillkürlich die Luft an, weil er fürchtete, daß das Geräusch ihn verraten könnte. »Wenn ich dich holen muß, geht es dir schlecht«, drohte Mogi Loftis. Sie löste ihre Waffe aus. Klirrend zersprang irgendwo ein Glasbehälter. Für eine Sekunde war es beängstigend still, dann hörte Argan U Gepolter und knirschende Schritte. Die Vystidin bahnte sich einen Weg durch das Gerümpel. Das Wesen vom Planeten Cur‐Cur U riskierte es, einen Blick auf seine Verfolgerin zu werfen. Vorsichtig spähte der Geschuppte um die Ecke. Die Schwester der zweiten Wertigkeit befand sich an der entgegengesetzten Seite der kleinen Halle und begann systematisch damit, alle möglichen Verstecke zu untersuchen. Viel davon gab es nicht. Es war daher abzusehen, wann sie ihn fand. Argan U suchte verzweifelt nach einem Ausweg, doch er fand keinen. Wenn er wieder hinauswollte, mußte er diesen Müllhaufen überwinden; das würde ihn soviel Zeit kosten, daß sein Schicksal
besiegelt war, bevor er das Schott erreichte. Der Puschyde zog sich wieder zurück. Im gleichen Augenblick hatte er das Gefühl, daß sein Herzschlag aussetzte: Scheppernd war sein Destillierapparat gegen die Verkleidung des Quaders geschlagen. Die Frau fuhr auf dem Absatz herum. Sie lachte hämisch. »Ihr Extras seid wirklich dumm. Nicht einmal verstecken könnt ihr euch.« Der Kleine wußte, daß er verloren hatte. Resignierend richtete er sich auf. »Warum willst du mich töten, Schwester der zweiten Wertigkeit?« »Weil vor einer Stunde die Jagd auf alle Extras und Monster freigegeben wurde, und zwar für einen halben Tag.« Sie kicherte boshaft. »Du wirst mein erstes Opfer sein, aber nicht das letzte, wie ich hoffe.« Übergangslos schoß sie. Gedankenschnell ließ sich der Orangefarbene fallen. Der gluthelle Strahl traf den Block, hinter dem Argan U Schutz gefunden hatte, und verdampfte einen Teil der Plastikabdeckung. Beißender Rauch breitete sich aus. Argan U mußte husten, seine Augen tränten. Halb blind, mehr tastend als sehend, kroch er davon, auf einen rundherum verkleideten Tisch zu. Der fette schwarze Qualm verdeckte Mogi Loftis die Sicht; sie orientierte sich akustisch. Immer, wenn der Kleine hustete oder sie ein Geräusch hörte, feuerte sie auf die betreffende Stelle, ohne den Verfolgten jedoch zu treffen. Wütend gab sie eine ganze Serie von Strahlschüssen ab, blindlings und ohne Überlegung. Es ärgerte sie maßlos, daß dieser Wicht sie regelrecht narrte. Eine giftig gelb‐grüne Stichflamme schoß hoch, dann erschütterte eine heftige Explosion das ehemalige Labor. Die Vystidin hatte einen Behälter getroffen, in dem sich noch Reste von hochbrisantem Material befanden. Die Tischplatte und alles, was sich darauf befunden hatte, wurde regelrecht zerfetzt; Kunststoffstücke, Splitter und scharfkantige
Metallteile sausten wie Geschosse durch den Raum, knallend gingen Geräte und Apparaturen zu Bruch. Instinktiv hatte sich Argan U so klein wie möglich gemacht und die kurzen Arme schützend über den Kopf gelegt. So eng wie möglich preßte er sich an einen kompakten Klotz. Mehrmals prallten irgendwelche Bruchstücke dagegen und sausten als Querschläger davon. Dann war es auf einmal still, nur das Prasseln von Feuer war zu hören. Ein paar Sekunden blieb der Puschyde liegen, dann stemmte er sich vorsichtig hoch. Für ihn war es nahezu unfaßbar, daß er dieses Inferno unverletzt überstanden hatte, doch es bedeutete keineswegs, daß er gerettet war. Chemische Dämpfe, die das Atmen schwer machten, zogen träge durch den Raum, an verschiedenen Stellen züngelten Flammen hoch. Das Labor war total verwüstet, bis auf einige massiv wirkende Maschinen war nahezu alles beschädigt und zerstört. Die Vystidin lag inmitten von zerbrochenen Apparaturen auf dem Boden, ihre Augen waren weit aufgerissen; in ihrer linken Schläfe steckte ein daumendicker Splitter, Blut tropfte aus der Wunde. Mit einem Blick sah der Kleine, daß ihr nicht mehr zu helfen war – sie war tot. Argan U zögerte nicht mehr länger, denn allmählich wurde es in dem Zimmer unerträglich. Das Feuer fand immer neue Nahrung und breitete sich aus, der Sauerstoff wurde knapp, freigesetzte Gase durchsetzten die Luft. Keuchend, von Hustenkrämpfen geschüttelt, tappte der Geschuppte zum nur noch schemenhaft erkennbaren Ausgang. Als er auf dem Gang stand, atmete er mehrmals tief durch, gönnte sich aber keine Erholungspause, obwohl er sie dringend gebraucht hätte. Er fühlte sich nicht nur ausgelaugt, sondern auch benommen. Wahrscheinlich lag es an den Dämpfen, die er eingeatmet hatte. Aus Erfahrung wußte das Wesen vom Planeten Cur‐Cur U, daß ein Feuer nicht unbemerkt blieb, von der Explosion ganz zu
schweigen. Es würden möglicherweise nicht nur Roboter auftauchen, sondern auch Solaner. Wenn sie ihn jagten, war das sein Ende; noch einmal würde er nicht die Kraft zur schnellen Flucht aufbringen. Schwankend setzte sich Argan U in Bewegung. Er hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, mit Atlan zu reden. Der Weißhaarige hatte ihn stets freundlich behandelt und würde es bestimmt nicht zulassen, daß man ihm ein Leid antat. * Gemeinsam mit Bjo Breiskoll und Joscan Hellmut hatte der Arkonide sein Quartier gegenwärtig in einem Wohndeck der Buhrlos aufgeschlagen. Er war ziemlich überrascht, als der seit Wochen verschwundene Puschyde plötzlich in ihrer Unterkunft auftauchte. Atlan mochte den zwar etwas naiven, aber stets hilfsbereiten und gutmütigen kleinen Kerl, der bereits vor neunzehn Jahren von Pyrriden an Bord der SOL gebracht worden war. Argan U hatte unterwegs Kontakt mit anderen Fremdrassigen gehabt – und natürlich mit Bordmutanten. Einige Ahnungslose hatte er warnen können, andere wußten bereits Bescheid. Von ihnen hatte er erfahren, daß die vor einigen Tagen an Bord genommenen Molaaten ebenfalls als Extras eingestuft worden waren. Atlan war zutiefst entsetzt, als er aus dem Munde des Geschuppten hörte, auf welche Teufelei Deccon verfallen war. Die begonnene Integration der Andersartigen wurde einfach übersehen, dafür wurden niedrige Instinkte geweckt. »Wir müssen etwas unternehmen – jetzt und sofort«, sagte Atlan bestimmt. »Auf keinen Fall können wir diesem sinnlosen Morden tatenlos zusehen. Am meisten gefährdet scheinen mir die Molaaten zu sein, doch auch den anderen muß geholfen werden.« Er wandte sich an Hellmut. »Joscan, willst du versuchen, Kontakt zu Sternfeuer
und Federspiel und den Basiskämpfern aufzunehmen?« Der schwarzhaarige Mann mit der samtbraunen Haut nickte zustimmend. »Du hast gehört, was Argan U gesagt hat. Es wäre wünschenswert, wenn sie eine Art Schutztruppe gegen die Jagdbanden mobil machen könnten. Bjo und ich werden uns um die Molaaten kümmern.« Wieder nickte der Kybernetiker. Ohne ein Wort zu verlieren, stand er auf und verließ die Kabine. Mittlerweile war klar geworden – zumindest für den Arkoniden und seine Gefährten – daß die Reaktion »Für Atlan – gegen die SOLAG« von den Zwillingen und ihren Mitstreitern ausging. Wie sich gezeigt hatte, war ihre Kampagne wirkungsvoller als die verlogene Propaganda des High Sideryt. Der Weißhaarige war daher zuversichtlich, daß seiner durch Hellmut vorgetragenen Bitte entsprochen wurde. Auch er selbst verlor keine Zeit. Gemeinsam mit dem Katzer und dem Puschyden machte er sich auf zur Medostation für Extras, die in unmittelbarer Nähe ihrer Unterkunft lag. Lautlos glitt das Schott zurück und gab den Durchlaß frei. Nach Passieren einer Desinfektionsschleuse gelangten Atlan und seine Begleiter in den eigentlichen medizinischen Trakt. Verwundert registrierte der Aktivatorträger, daß sich Breckcrown Hayes bereits dort befand; er mußte ähnliche Überlegungen angestellt haben und zum selben Schluß gekommen sein. Der kantige, 1,86 m große Mann mit dem herben Gesicht wirkte nicht einmal erstaunt, als er die Ankömmlinge bemerkte. Schweigend, wie es seine Art war, händigte er ihnen verschiedene Waffen aus, die er sich besorgt hatte. Argan U betrachtete den Strahler eine Weile, dann gab er ihn zurück. »Das ist nichts für mich«, sagte er in seinem holprigen Interkosmo. »Ich werde mich lieber draußen umsehen.« »Bleib hier, du bringst dich nur erneut in Gefahr«, warnte Atlan.
»Ich passe auf.« Kopfschüttelnd sah der Weißhaarige dem orangefarbenen Wesen nach. Wahrscheinlich hatte es in seiner Naivität schon wieder die um ein Haar tödlich ausgegangene Begegnung mit der Vystidin vergessen. Der Arkonide wandte sich den Molaaten zu. Sie ruhten in großen, transparenten Quadern auf Formenergiefeldern. Die kleinen, bepelzten Lebewesen wirkten darin ein wenig verloren. Einige Meßsonden waren an ihren Körpern befestigt, die die Lebensfunktionen aufzeichneten. Jeder dieser gläsernen Behälter verfügte über eine eigene Maschinerie mit den unterschiedlichsten Apparaturen. Sie ermöglichten nicht nur die direkte Behandlung, sondern auch die Zufuhr von Medikamenten; gleichzeitig war es möglich, in den hermetisch abgeschlossenen Kästen sämtliche Umweltbedingungen zu simulieren, die der Patient gewohnt war. Alles wirkte steril, geradezu kalt. Wie fremdartige Skulpturen standen die Medo‐Roboter bewegungslos im Raum; sie waren unbewaffnet, denn ihre Aufgabe war es, Leben zu erhalten und nicht zu vernichten. Die Schiffbrüchigen, die Atlan an Bord gebracht hatte, waren regelrechte Zwerge, zwischen siebenundvierzig und fünfundfünfzig Zentimeter groß. Sie waren humanoid, der ganze Körper war mit einem dichten, kurzhaarigen Pelz bedeckt, der lindgrün schimmerte. Nur der kugelförmige Kopf mit dem menschlichen Gesicht war frei von Haaren; die nackte Haut zeigte einen sanften Bronzeton. Vier von ihnen trugen lediglich einen ledernen Lendenschurz, eins der Wesen hatte einen schmalen Gürtel um die zierliche Taille geschnallt, an dem mehrere kleine Lederbeutel hingen; ein Umhang aus dünnem, schwarzen Material, das wie Maulwurfsfell aussah, komplettierte die Bekleidung dieses kleinsten Geschöpfs. »Kannst du etwas feststellen?« erkundigte sich der Arkonide bei dem Katzer. Breiskoll schüttelte den Kopf. »Bei allen fünf ist eine leichte Besserung eingetreten, aber ihre
Gedanken sind noch chaotisch. Der Schock vom Verlust ihrer Heimatwelt und der lange, kärgliche Aufenthalt in der Luftblase des Asteroiden hält immer noch an.« Atlan hatte nichts anderes erwartet. Schweigend zog er seine Waffe und nahm vor dem zweiten Durchlaß Aufstellung. * Der Mann, der von einer johlenden Meute durch den Gang gehetzt wurde, war ein ungeheuer muskulöser Solaner. Seine Kraft war so gewaltig, daß er mit den bloßen Händen dicke Eisenstangen verbiegen konnte; zweifellos hätte er es auch mit seinem halben Dutzend Verfolger gleichzeitig aufnehmen können, doch er wußte nicht, wie stark er war. Er fürchtete sich bereits, wenn ihn jemand anschrie, der wesentlich schwächer war als er. Sein Verhängnis war, daß nicht nur der ganze Körper, sondern auch Gesicht, Hände und der kahle Kopf von dicken schwarzen Warzen regelrecht überwuchert waren, zudem war er geistig zurückgeblieben und sprachgestört, aber friedlich und völlig harmlos. Der einzige Laut, den er hervorbringen konnte, klang wie ein hohles »Emil«. Seine Umgebung – vornehmlich andere Bordmutanten – nannten ihn daher einfach »Emil«. Emil, der nicht wußte, wie sein richtiger Name lautete, sah sich panikerfüllt immer wieder um. Dank seiner Kraft und Ausdauer war es ihm gelungen, den Abstand zwischen sich und den Jägern zu vergrößern. Wütend schleuderte der Mob Knüppel und Messer nach ihm, um ihn zu verletzen und zu Fall zu bringen. »Stop, Monster!« rief plötzlich eine befehlsgewohnte Stimme vor ihm. Überraschend war ein Haemate aufgetaucht, der eine Waffe auf ihn richtete. Abrupt stoppte der Bordmutant ab. Er wackelte mit dem Kopf und
verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Emil!« stieß er hervor. Alle Qual dieses bedauernswerten Menschen lag in dem einen Wort. Bent Darson grinste niederträchtig und tippte sich bezeichnend an die Stirn. Mittlerweile waren die anderen herangekommen. »Verschwinde, Vystide, er gehört uns. Wir haben ihn zuerst gesehen.« Die Bande aus Solanern, Männer und Frauen, nahm eine drohende Haltung ein. Sie fühlten sich um den Erfolg ihrer mörderischen Hatz betrogen. »Mund halten«, gab der Uniformierte grob zurück. »Jetzt gehört er mir! Und ihr trollt euch gefälligst, sonst könnte es sein, daß es euch ergeht wie dem Monster hier.« Er hob die Waffe und schwenkte sie im Kreis. »Na, los, wirdʹs bald?« Der Trupp sah ein, daß er gegen Darson nichts ausrichten konnte und zog sich grollend und murrend zurück. Der Haemate wartete, bis sie in einer Abzweigung verschwunden waren, dann wandte er sich wieder dem Mann zu. Emil hatte die Augen mit den Händen bedeckt, er zitterte am ganzen Körper. Ungerührt ging Darson einige Schritte zurück, richtete den Strahler aus und zielte. Argan U, der sich in einer Interkomnische versteckt und die ganze Szene beobachtet hatte, konnte das nicht mitansehen. Entsetzt wandte er sich ab. Das Fauchen blieb aus, dafür hörte er ein kaum wahrnehmbares Geräusch und dann einen dumpfen Schlag. Er wagte es, die Augen wieder zu öffnen. Erstaunt registrierte er, daß der Bordmutant unverletzt auf dem Flur stand, zu seinen Füßen lag der Uniformierte auf dem Boden. Der Puschyde kannte Emil. Sollte es dieser harmlose Solaner in seiner Todesangst tatsächlich fertiggebracht haben, einen anderen niederzuschlagen? Ein weißhaariger Mann trat in das Blickfeld des Geschuppten; er schlenkerte in seiner Rechten lässig einen Paralysator. Nachdem er sich über den Haematen gebeugt und ihm die Waffe abgenommen hatte, sagte er grimmig:
»Ich denke, für dich ist die Jagd zu Ende, Darson.« Er faßte Emil am Arm, der sein Glück noch gar nicht fassen konnte. Freudig erregt stammelte er immer wieder: »Emil, Emil!« »Schon gut, Emil, du brauchst keine Angst mehr zu haben, der hier kann dir nichts mehr tun. Allerdings ist es besser für dich, wenn du dir ein Versteck suchst und dich in den nächsten Stunden nicht vom Fleck rührst. Es sind noch andere unterwegs, die dich und deinesgleichen und auch die Extras töten wollen. Hast du verstanden?« Der Muskulöse nickte. »Emil, Emil.« »Dann ab mit dir.« Er gab dem anderen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Emil trollte sich. Der Puschyde verließ seine Deckung, denn er kannte den Basiskämpfer. »Argan U«, sagte der Mann überrascht, »Wie kommst du denn hierher?« »Ich habe alles beobachtet. Es ist gut, daß du gekommen bist.« »Ich war nicht zufällig hier, sondern bin Darson gefolgt. Auch die anderen Basiskämpfer sind unterwegs, um die Bordmutanten und Wesen wie dich vor den wilden Jagdkommandos zu schützen.« Besorgt blickte er den Kleinen an. »Für dich wäre es auch besser, wenn du dich nicht sehen läßt, zumindest so lange nicht, bis die zwölf Stunden um sind, in denen ihr verfolgt werden dürft.« »Ich weiß Bescheid«, meinte das bärenähnliche Geschöpf treuherzig »Ich werde Atlan berichten. Er kümmert sich um die Molaaten und wird sich freuen, daß ihr ihn unterstützt.« Der Mann lächelte über den Eifer des kleinen Kerls. »Tu das. Und paß auf dich auf!« Der Weißhaarige winkte verabschiedend, dann drehte er sieh um und verschwand mit federnden Schritten in irgendeinem Korridor. Auch Argan U hatte es auf einmal eilig, Atlan mußte erfahren, daß die Basiskämpfer seiner Bitte entsprochen hatten.
* Dank seiner ausgezeichneten Kenntnisse der SOL erreichte der Geschuppte unangefochten die Medo‐Station für Extras. Unterwegs hatte er noch mehrmals beobachten können, daß Bordmutanten und Fremdlebewesen von Basiskämpfern gerettet wurden, doch sie konnten nicht überall sein. So hatte er hilflos mitansehen müssen, wie ein Trupp Ferraten ein großes, vogelähnliches Geschöpf gestellt und dann getötet hatten. Bjo Breiskoll hatte sich so auf die fünf Molaaten konzentriert, daß er die Annäherung des Puschyden nicht registrierte und seinen Gefährten somit keinen Hinweis geben konnte. Als der Orangefarbene die Desinfektionsschleuse passiert hatte und das Schott zurückrollte, erstarrte er vor Schreck. Er blickte genau in eine Waffe. Breckcrown Hayes lächelte entschuldigend und senkte den Strahler, so daß Argan U passieren konnte. Mit seinen großen, traurigen Augen sah er den grauhaarigen Solaner mit der Bürstenfrisur an, sagte jedoch nichts und stapfte auf seinen kurzen Beinen zu Atlan, um Bericht zu erstatten. »Das hört sich gut an«, freute sich der Arkonide, als das Geschöpf vom Planeten Cur‐Cur U geendet hatte. Insgeheim atmete er auf. »Ich denke, daß wir uns nunmehr ungestört unseren kleinen Patienten hier widmen können.« Der Katzer hatte vor wenigen Minuten gemeldet, daß die Molaaten immer wacher wurden; die Behandlung sprach also an. Die ständige Konzentration hatte Breiskoll angestrengt. Er stand auf, um sich einen Becher Wasser zu zapfen. Plötzlich zuckte er zusammen, denn er hatte etwas geespert. »Wir werden gleich angegriffen. Es sind Vystiden.«
4. In halsbrecherischer Fahrt schoß das kleine Gefährt durch den Gang. Die Servos heulten auf, als es kurz abgebremst und um neunzig Grad herumgerissen wurde. Als die Frontpartie in einen abgezweigten Korridor zeigte, wurde bereits wieder voll beschleunigt. Die langmähnige, ungepflegt wirkende Frau neben dem Mann am Steuer lachte, als das Heck ausbrach und an der Wandverkleidung entlangschrammte. »Du mußt dich wohl abreagieren, weil dir kein Monster über den Weg läuft, was?« Der Angesprochene – vierschrötig, graue, gelockte Haare, kantiges Gesicht – murmelte etwas Unverständliches. »Glaubst du, ich ärgere mich nicht, daß uns noch nichts vor den Strahler gekommen ist?« Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre wirkte die Frau verlebt. »Der High Sideryt hätte nicht erlauben sollen, daß sich jeder Dummkopf an der Jagd beteiligen darf.« Sie kicherte boshaft. »Schließlich haben wir Erfahrung darin.« »Und gehen möglicherweise leer aus«, knurrte der Mann verärgert. Eine Gestalt tauchte auf dem Flur auf. Die jähe Vorfreude schlug in Enttäuschung um, als er erkannte, daß es lediglich ein Solaner war. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, hielt er auf ihn zu. Mit einem verzweifelten Hechtsprung rettete sich der Fußgänger in eine Nische, die früher einmal einen Reinigungsrobot beherbergt hatte. Der Vierschrötige grinste amüsiert, als er im Vorbeisausen das entsetzte Gesicht des Solaners sah. Das Trio, das in dem speziell für den Verkehr innerhalb der SOL konstruierten Gleiter saß, war gefürchtet – es war die Spitze der Vystiden. Ihr Chef war der achtundzwanzigjährige Aksel von Dhrau, der das Gefährt steuerte, an seiner Seite saß Zlava, die nicht minder unerbittlich war. Ruhiger und besonnener war dagegen
Barvos Dom, der so alt war wie die beiden zusammen. Er und Zlava waren von Dhraus Stellvertreter. Mit einem harten Ruck brachte der höchste Bruder der zweiten Wertigkeit das Fahrzeug zum Stillstand. Die beiden anderen wurden nach vorn geschleudert. »Laß gefälligst den Unsinn!« fauchte die Frau, die sich das Knie angeschlagen hatte. »So wie du fährt nicht einmal …« »Sprich es nur aus, du Schlange, und ich lasse dich kahlscheren«, sagte von Dhrau böse. Sein kantiges Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Das dürfte das vorläufige Ende deiner Liebesaffären sein. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß es Männer gibt, denen ein glatzköpfiges Weib gefällt.« Zlavas Augen funkelten. »Was verstehst du schon von Frauen?« »Nichts, sie sind ohnehin nur ein notwendiges Übel.« Die Vystidin hätte ihrem Vorgesetzten am liebsten ins Gesicht geschlagen, doch sie beherrschte sich. Zwar traten die drei nach außen hin immer geschlossen auf, doch sobald sie unter sich waren, zeigte Aksel von Dhrau sein wahres Gesicht. Auch Dreistigkeiten seiner Stellvertreter ließ er nicht durchgehen; ohnehin hatte er keine anderen Interessen als die eines Bruders der zweiten Wertigkeit. »Warum hast du gestoppt?« erkundigte sich Dom. »Mir ist da etwas eingefallen. Dieser Atlan hat doch ein paar Schiffbrüchige an Bord gebracht.« »Du meinst die Molaaten?« vermutete sein Stellvertreter. »Richtig. Es sind Extras. Überlassen wir dem Pöbel die Jagd hier und nehmen wir uns diese Kreaturen vor.« Die Aussicht auf Beute besserte Zlavas Laune wieder. »Weißt du denn, wo sie sich aufhalten?« Von Dhrau musterte die Frau kalt. »Ja, in einer Medo‐Station für Extras in einem Wohndeck der Buhrlos.« »Und woher weißt du das?«
»Man hat so seine Informationsquellen«, sagte der Vierschrötige ausweichend. »Warum haben wir davon nichts erfahren?« fragte Zlava lauernd. »Du mußt nicht alles wissen. Und jetzt mach den Mund zu, sonst erstickst du am Fahrtwind.« Die Uniformierte schwieg verbittert. Der Vystidenführer grinste wissend, als er den kleinen Drei‐ Personen‐Gleiter rasant beschleunigte. Barvos Dom, der schlanke Mann mit dem asketischen Gesicht, hätte es vorgezogen, einer anderen, weniger blutigen Tätigkeit nachzugehen, doch er hütete sich, seinen Gedanken Ausdruck zu geben – er wäre sofort von seinem Posten entfernt worden. Notgedrungen tolerierte er die Grausamkeiten seines Chefs, um nicht selbst ein Opfer seiner Brutalität und Willkür zu werden. Aufgrund seiner bevorzugten Stellung bereitete es Aksel von Dhrau keinerlei Probleme, zum Wohndeck der Buhrlos vorzudringen. Das Gefährt hatte man zurückgelassen. Mit der Waffe deutete der Vystide auf ein mit Symbolen versehenes Schott. »Hier ist es. Ich gehe zuerst!« »Laß mich gehen, Aksel«, bat die junge Frau. »Damit ich das Nachsehen habe, ja?« Die Augen des Vierschrötigen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. »Nein, den ersten erledige ich.« Er lachte meckernd. »Ich lasse jedem von euch einen Extra übrig. Ist das ein Wort?« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, näherte sich der Mann dem Durchlaß. Seine Bewegungen wirkten eckig; wer ihn deshalb für unbeholfen hielt, täuschte sich gewaltig. Er war ein hervorragender Kämpfer, durchtrainiert und topfit. Wie alle Vystiden verstand er es zudem ausgezeichnet, mit Waffen umzugehen. Bei seiner Annäherung glitt das Schott zurück; als er es passiert hatte, schloß es sich wieder lautlos. »Komm, wir folgen ihm.« Zlava schien es nicht erwarten zu können, ihren niedrigen Instinkten endlich freien Lauf zu lassen. Sie
fieberte einer Begegnung mit den fremden Wesen förmlich entgegen. »Los, worauf wartest du noch, Barvos?« »Es wird Aksel nicht recht sein«, meinte Dom bedächtig. »Dann gehe ich eben allein, du Feigling.« Katzengleich glitt die Frau davon. Wieder öffnete sich das doppelflügelige Portal. Lauschend hob sie den Kopf. Das charakterische Fauchen einer Strahlwaffe war zu hören. Sie huschte durch die Desinfektionsschleuse und verharrte mit angespannten Sinnen. Das Geräusch kam nicht von einer Waffe, sondern von mehreren. In der Medo‐Station wurde gekämpft! Wie elektrisiert warf sie sich herum. »Barvos, Aksel ist in eine Auseinandersetzung verwickelt worden! Wir müssen ihm beistehen!« Dom zog seine Waffe und kam herbeigelaufen. Die beiden Vystiden verstanden sich blind. Als das Schott zwischen Entkeimungskammer und dem medizinischen Trakt sich ein wenig geöffnet hatte, gingen beide in die Hocke und hechteten durch den Spalt in den dahinterliegenden Raum, sie nach links, er nach rechts. Noch während sie sich abrollten, feuerten beide ihre Strahler ab. * Aksel von Dhrau war nicht nur ein hervorragender Kämpfer, sondern auch ein kalter Rechner. Er wußte, daß diese Gruppe von Bord‐Partisanen – wer immer sich auch dahinter verbergen mochte – seinen Leuten das Leben in den letzten Tagen schwer gemacht hatte. Zwar hielt er ihre Beweggründe für abartig, aber er konnte sich vorstellen, daß sie auch in einer Situation wie dieser unterwegs waren, um diesem nichtsnutzigen Gesindel aus Monstern und Extras beizustehen. Es war daher denkbar, daß sich auch im Klinikstrakt hier einige Bord‐Partisanen eingefunden hatten, die die Molaaten schützen wollten.
Der Vystide scheute eine Auseinandersetzung nicht, sie war im Gegenteil so recht nach seinem Geschmack, doch er wollte Sieger bleiben; er würde daher vorgehen, wie es dem Ernstfall entsprach. Sollte sich seine Befürchtung nicht bewahrheiten, würde er dagegen kein gutes Bild machen und für übervorsichtig gehalten werden; um diesen Kratzer an seinem Image zu vermeiden, hatte er seinen Stellvertretern befohlen, abzuwarten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Schott zur medizinischen Station nicht über einen Kontakt bewegt wurde, der auf Gewicht ansprach, sondern durch eine Lichtschranke gesteuert wurde, stand sein Plan fest. Er legte sich auf den Bauch und kroch schlangengleich in einen toten Winkel, dann hob er ein Bein. Der unsichtbare Lichtstrahl wurde unterbrochen, die Elektronik reagierte darauf, wie zu erwarten war, und öffnete das Schott, das aber niemand passierte. Der Uniformierte wiederholte das Spielchen noch mehrmals. Wer immer in der Medo‐Station auf der Lauer lag, mußte nun annehmen, daß der Öffnungsmechanismus gestört war. Um ganz sicher zugehen, behielt von Dhrau seine liegende Stellung bei und bewegte sich bäuchlings auf den Durchlaß zu. Vorsichtig zog er beide Stiefel aus, dann nahm er eine Froschstellung ein und schleuderte einen Stiefel hinter sich. Er hatte Glück; die Lichtschranke sprach an, der Durchlaß wurde freigegeben. Blindlings feuerte der Uniformierte seinen Strahler ab und schwenkte ihn hin und her, dabei hielt er die Waffe nicht waagrecht sondern zielte schräg nach oben. Noch während er auf den Auslöser drückte, schnellte er sich nach vorn und ging sofort in Deckung. Sein Schutzschild war ausgerechnet ein Medo‐Robot. Alarmiert durch die Warnung des Katzers hatten sich Atlan und Hayes so postiert, daß sie das Schott im Auge behalten konnten, ohne sich selbst zu gefährden. Breiskoll verfügte zwar auch über eine Waffe, hatte sich aber auf Geheiß des Arkoniden zurückgezogen.
»Deine PSI‐Fähigkeiten sind ungleich wichtiger«, hatte der Weißhaarige gesagt. Bjo hatte versucht, ihm klarzumachen, daß er geistig ziemlich ausgelaugt war, doch der Mann mit den Albinoaugen ließ das nicht gelten. »Ruhe dich eine Weile aus, dann wiegst du ein halbes Dutzend Kämpfer auf. Wenn wir wissen, was die Gegenseite vorhat, haben wir schon halb gewonnen.« Das Schott öffnete sich. Die Nerven der Männer waren zum Zerreißen gespannt, doch kein Gegner zeigte sich. Der Durchgang schloß sich wieder, erneut glitten die Flügel zurück, abermals ruckten die Waffen hoch – nichts. »Die Steuerelektronik scheint einen Defekt zu haben«, raunte Hayes. »Ich sehe mal nach.« Atlan, der in seinem langen Leben mehr Erfahrung gesammelt hatte als jeder andere, schüttelte den Kopf. Er durchschaute den Trick und zeigte nach unten. Auch der Katzer deutete an, daß sich jemand draußen befand. Dann machte sich dieser Jemand unangenehm bemerkbar. Ein Energiestrahl fuhr in die Decke der Medo‐Station, dann entstand am Eingang eine regelrechte Feuerwand. Sowohl der Arkonide als auch der Solaner waren kaltblütig genug, ihre Paralysatoren abzufeuern, und nicht zurückzuweichen, doch die gleißenden Strahlen verwehrten ihnen ein genaues Zielen; keiner traf. »In Deckung gehen!« brüllte Atlan und sprang hinter den massiv wirkenden Sockel eines fest installierten Operationstisches. Breiskoll fand Schutz, hinter einem Medikamentenschrank, Breckcrown Hayes rettete sich hinter eine mobile Untersuchungseinheit. Keine Sekunde zu früh. Ein konzentriertes Energiebündel traf den Vorsprung, hinter dem der Weißhaarige noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Eigentlich war es illusorisch, den Eingang zu verteidigen, doch der Aktivatorträger konnte sich nicht vorstellen, daß sie es nur mit einem Angreifer zu tun hatten, denn immerhin bewies sein Vorgehen, daß er damit gerechnet hatte, auf Gegenwehr zu stoßen.
Zudem hatte er gezeigt, daß er intelligent und ein gewiefter Taktiker war, der das Risiko kalkulierte. Sie hatten es mit einem ausgebildeten Kämpfer zu tun, und ein solcher verschaffte sich stets Rückendeckung. »Er verbirgt sich hinter dem Medo am Eingang, zwei andere sind …« Erschreckt brach Breiskoll ab. Hinter dem besagten Automaten blitzte es auf. Die Glasitscheibe des Medikamentenschranks zerplatzt knallend, Gläser und Ampullen gingen zu Bruch. Atlan und Hayes feuerten zurück, diesmal nicht mit Paralysatoren, sondern mit Strahlern, denn anders war dem Angreifer in seiner Deckung nicht beizukommen. Der Arkonide nahm dabei bewußt in Kauf, daß der Medo‐Robot zerstört wurde, denn es ging nicht nur um ihr Leben, sondern auch um das der fünf Molaaten, auf die man es wohl in erster Linie abgesehen hatte. In der Verkleidung des Kunstgeschöpfs entstanden zwei tiefe Krater, eine Serie von Kurzschlüssen erschütterte den Medo. Er ruckte vor, mit einer geradezu verzweifelt anmutenden Gebärde hob sich ein Teil seiner Instrumentenarme, dann verharrte er bewegungslos. Beobachte nicht diese Maschine, sondern den Durchlaß, meldete sich sein Extrasinn. Atlan tat es, doch er reagierte einen Moment zu spät. Zwei Gestalten hechteten in den Raum und feuerten noch im Abrollen. Bevor der Aktivatorträger gezielt schießen konnte, so daß sie kampfunfähig wurden, waren sie in verschiedene Richtungen davongeschnellt. Aus den Augenwinkeln heraus hatte der Grauhaarige die Bewegung gesehen, doch sein Schuß verfehlte die Frau deutlich und brannte lediglich ein Loch in den Bodenbelag. Blitzschnell zog der Solaner seine Hand mit der Waffe zurück, als mehrere Salven auf ihn abgegeben wurden, die einen Teil der Verkleidung der Diagnoseeinheit verflüssigten. Pari, erkannte das Extrahirn. Versuche es mit einem Bluff!
»Gebt auf, ihr habt keine Chance! Jeden Moment trifft Verstärkung ein!« Höhnisches Gelächter war die Antwort. »Genau wie bei uns!« »Es sind von Dhrau, Zlava und Dom«, rief der Katzer. Ausgerechnet die drei gefürchtesten Vystiden, dachte Atlan. Es würde nicht leicht sein, sie zu überwinden und zugleich die Molaaten zu schützen. Man mußte die Uniformierten in die Zange nehmen. Um bei einem Stellungswechsel ungeschoren davonzukommen, griff der listige Arkonide zu einem anderen Trick. Geräuschlos zog er einen Stiefel aus. »Gebt mir Feuerschutz«, sagte er so laut, daß es alle hören konnten, dann schleuderte er die Fußbekleidung hinter sich. Die Vystiden reagierten erwartungsgemäß. Aus drei Richtungen zuckten feurige Lanzen auf den Stiefel zu und zerstrahlten ihn in der Luft. Atlan schnellte sich in die entgegengesetzte Richtung davon und landete mit einem mächtigen Satz hinter einem Schaltpult. Als seine Füße den Boden berührten, riß er die Waffe herum und schoß. Ein Schmerzensschrei bewies ihm, daß er getroffen hatte. Von seiner jetzigen Position aus konnte er zwei Gegner gleichzeitig in Schach halten, ohne sich selbst sonderlich zu gefährden. Anders dagegen Hayes und Breiskoll; sie riskierten bei jedem Feuerwechsel, selbst verletzt zu werden, aber ersterer zeigte sich mutig und ziemlich kaltblütig. Mit einem Blaster und einem Thermostrahler zugleich nahm er den ausgefallenen Medo‐Robot unter Beschuß, so daß von Dhrau in die Defensive gedrängt wurde. Der Aktivatorträger erkannte die Absicht seines Begleiters und deckte die beiden anderen mit einer Serie von Strahlbeschüssen ein. Diese Gelegenheit nutzte der Katzer, um in eine bessere Position zu kommen. Sogleich schaltete er sich in den Kampf ein. Das Fauchen der Strahlwaffen übertönte das feine Summen der medizinischen Geräte, dunkle Schwaden stiegen zur Decke empor. Automatisch erhöhte die Lufterneuerungsanlage ihre Leistung. Wie Leibwächter
hatten die Medos sich neben die Kästen aufgebaut, in denen die Bepelzten lagen. Allmählich wurde es für die Vystiden brenzlig, besonders für von Dhrau; er mußte sich schleunigst nach einer anderen Deckung umsehen und in die Offensive gehen. Seine Stellvertreter schienen zum selben Schluß gekommen zu sein, denn sie schossen zurück, obwohl das für sie ziemlich riskant war. Ein gefächerter Strahl traf einen der transparenten Behälter und schmolz eine Ecke der Abdeckung weg, dann fuhr ein Energiefinger in die Steuerapparatur und beschädigte einen Tank. Zischend trat ein farbloses Gas aus. Für einen Moment waren die Verteidiger der Station abgelenkt. Diese kurze Verwirrung nutzte der Vystidenführer und zerstörte mit mehreren Salven die Leuchtplatten an der Decke. Ein Splitterregen prasselte auf die Kämpfenden herab, dann war es dunkel; nur die wie bunte Sehlinsen eines vieläugigen Monsters wirkenden Kontrollämpchen verbreiteten einen fahlen Schein, der allenfalls Schattenrisse erkennen ließ. Irgendwo blitzte Mündungsfeuer auf, eine Gestalt hastete geduckt durch den Raum. Aksel von Dhrau schoß sofort. Der schrille Schrei einer Frau erfüllte die Medo‐Station. Verdammt, du hast Zlava getroffen, durchzuckte es den Uniformierten. Gewissensbisse hatte er keine, ihn ärgerte lediglich, daß er selbst seine Stellvertreterin verletzt oder gar getötet hatte. Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Es wurde Zeit, daß er sich nach einer anderen Deckung umsah. Der Vystidenführer sprang auf und rannte auf einen drei, vier Meter entfernten Block zu. Jemand feuerte auf ihn, doch der Strahl verfehlte ihn. Er fluchte lautlos. Das Knirschen der Splitter unter seinen Sohlen verriet ihn, doch es war zu gefährlich, einfach ins Dunkel zu hechten. Plötzlich durchzuckte ihn ein stechender Schmerz; er war in eine Scherbe getreten. Sein Aufschrei signalisierte den anderen seinen
Standort deutlicher als vorher das mahlende Geräusch. Dank seiner antrainierten Reflexe reagierte von Dhrau wie ein Automat. Er schnellte sich mit zusammengebissenen Zähnen nach vorn und betätigte gleichzeitig den Auslöser seiner Waffe. Fauchend raste das Energiebündel davon und bohrte sich irgendwo in die Wand. Der Vystide hatte Pech. Als seine Füße wieder den Boden berührten, stieß er gegen einen harten Gegenstand, stolperte und verlor den Halt. Dabei stürzte er so unglücklich, daß er mit dem Kopf gegen die Kante eines Analysegerätes prallte und sich eine Schädelfraktur zuzog; Aksel von Dhrau war auf der Stelle tot. Die Lampe über dem OP‐Tisch flammte auf und verschiedene Spotlichter. Ein Medo mußte sie angeschaltet haben. Die Männer hatten nur ahnen können, was sich im Dunkeln abgespielt hatte, nun riskierten sie einen Blick aus ihrer Deckung heraus. Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag die langhaarige Frau mitten im Raum, die Waffe war ihrer kraftlosen Hand entfallen. Ein Stück entfernt, vor dem Analysator, war Aksel von Dhrau zusammengesunken; um seinen Kopf herum bildete sich eine Blutlache. Getreu ihrem Programm näherten sich zwei Medos den Vystiden, um ihnen zu helfen. Derjenige, der den Bruder der zweiten Wertigkeit untersuchte, fuhr seine Meßsonden bereits nach wenigen Sekunden wieder ein. »Exitus«, schnarrte das Synthowesen und glitt auf seinen Platz zurück. »Und was ist mit der Frau?« erkundigte sich Atlan. »Lebt sie noch?« »Ja. Willst du eine genaue Diagnose?« »Wird sie durchkommen?« »Nein, ihre Verletzungen sind zu schwer.« Ein Zucken durchlief die schlanke Gestalt. Zlava war tot. Als Barvos Dom sah, daß sein Vorgesetzter und seine gleichrangige Kollegin nicht mehr am Leben waren, faßte er einen
Entschluß. »Gewährt mir freien Abzug, ich gebe auf.« »Wirf die Waffen weg und komm mit erhobenen Händen heraus.« Polternd fielen zwei Strahler auf den Boden, dann erhob sieh der Vystide aus seiner Deckung und kam langsam nach vorn. Atlan und seine Begleiter hatten sich ebenfalls aufgerichtet und die Strahler mit Paralysatoren vertauscht. Der an der rechten Hand verletzte Bruder der zweiten Wertigkeit deutete mit dem Kopf auf die beiden Toten. »Ich habe geahnt, daß es eines Tages so kommen wird. Ihre Art zu leben habe ich noch nie gemocht.« Er blickte erst den Arkoniden, dann den Mann mit der Bürstenfrisur an. »Kann ich jetzt gehen?« »Ja.« Ohne sich noch einmal umzuwenden, verließ Barvos Dom den medizinischen Trakt, »Wie geht es unseren Schützlingen, Bjo?« erkundigte sich der Aktivatorträger. Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er auf den ersten, bei der Auseinandersetzung in Mitleidenschaft gezogenen Behälter zu. Das kleine Geschöpf darin war wach und hatte sich aufgesetzt. Erleichtert stellte der Weißhaarige fest, daß es unverletzt war. Ein kreisrundes Augenpaar, dessen hellblaue Pupillen einen seltsamen Kontrast zur bronzenen Haut bildeten, blickte ihn groß an. Es hätte auch anders ausgehen können, meldete sich sein Extrasinn. Da warst du nicht ganz bei der Sache. Breckcrown Hayes war wesentlich konzentrierter als du. Ich mußte immerzu an die Molaaten denken, gestand Atlan gedanklich. Trotz deines für menschliche Begriffe biblischen Alters verhältst du dich manchmal wie einer der kurzlebigen Terraner, tadelte das Extrahirn. Es kann tödlich sein, bei einer bewaffneten Auseinandersetzung an etwas anderes zu denken als an den Kampf und den Gegner. Falls du es vergessen haben solltest: Dein Zellaktivator vermag dich nicht vor einem gewaltsamen Ende zu schützen. Du auch nicht, dachte der Arkonide ärgerlich. Schweig jetzt!
»Die Gedanken der fünf klären sich«, meldete Breiskoll. »Wie ich feststellen kann, haben sie noch nie eine direkte Konfrontation erlebt. Der Kampf eben wirkte auf sie wie eine Art heilsamer Schock, sozusagen ein Schlüsselerlebnis, das ihre psychologische Sperre löst.« »Du meinst, ich kann mit ihnen reden?« erkundigte sich Atlan. »Ja, zumindest mit der Kleinen dort vorn. Sie heißt Sanny.« Argan U, an den in der Aufregung niemand mehr gedacht hatte, tauchte hinter einem mobilen Lebenserhaltungssystem auf. Er wirkte unbekümmert wie immer. »Ich sehe mich noch einmal draußen um«, verkündete der liebenswerte kleine Kerl und trippelte auf seinen kurzen Beinen zum Schott. »Tu, was du nicht lassen kannst«, seufzte der Weißhaarige. Er wandte sich an die Medos. »Können unsere Freunde die Rekonvaleszenz‐Einheiten verlassen?« »Bald«, lautete die Antwort, »Ihr Kreislauf muß sich erst noch stabilisieren.« Für den Augenblick gab sich der Aktivatorträger damit zufrieden. Im Prinzip funktionierten diese Automaten nicht anders als Ärzte aus Fleisch und Blut – immer abwartend und skeptisch; ständig befürchteten sie einen unerwarteten Rückfall. Der kantige, 1,86 m große und ein wenig zu breit geratene Hayes hatte wieder die Bewachung des Schottes übernommen, durch das die Vystiden eingedrungen waren. Der schweigsame Mann mit dem herben, von feinen Falten durchzogenen Gesicht fragte nicht lange, sondern handelte lieber. Er war erst zweiundvierzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich abgeklärter und ähnelte vom Aussehen her eher einem Hundertjährigen. Wortlos machte sich der Arkonide daran, fahrbare Schränke und Geräte vor dem anderen Durchlaß aufzubauen, um vor einer unangenehmen Überraschung sicher zu sein. Zwar glaubte er nicht, daß dieser Vystide es noch einmal versuchen würde, doch der Puschyde hatte von anderen Jagdtrupps berichtet, die möglicherweise und mehr oder minder zufällig hier
einzudringen versuchten. Die Waffe des grauhaarigen Solaners ruckte hoch, als die massiven Flügel des Portals zurückwichen, doch er ließ sie sofort wieder sinken. Es handelte sich lediglich um zwei Robots, die die Leichen abtransportierten. Als sie die Medo‐Station wieder verlassen hatten, schwebte ein schildkrötenartiger Automat aus einer Nische und machte sich daran, den Boden zu säubern und zu desinfizieren. Erst danach begann er, die herumliegenden Splitter aufzusaugen und buckelte regelrecht, wenn er einen gar zu großen Brocken aufnahm. Der Geschuppte kehrte zurück. Er berichtete, daß es außerhalb der Station relativ ruhig war; der Einsatz der Basiskämpfer schien sich herumgesprochen zu haben und vergällte anscheinend vielen die Jagd. Es war eine trügerische Ruhe, doch da sich auch Deccon nicht rührte, akzeptierte Atlan diese besondere Art von Stillhalteabkommen. Endlich konnte er sich voll und ganz mit den Molaaten beschäftigen. Nach Aussage des Katzers waren mittlerweile alle fünf Lebewesen geistig rege, und auch die Medo‐Roboter hatten keine Einwände mehr. Sie klappten die transparenten Abdeckungen zurück. Der Arkonide schaltete seinen Translator ein und trat an den ersten Quader. »Verstehst du mich?« »Ja«, kam es zurück. »Mein Name ist Atlan. Du heißt Sanny, nicht wahr?« Die kleine Person bejahte. »Wir, also meine Freunde und ich, würden gern etwas über dich und dein Volk erfahren. Willst du uns etwas darüber erzählen?« Sanny sah sich um und gewahrte, daß ihre Begleiter in der Nähe waren und sich ebenfalls aufgesetzt hatten. »Berichte du, Oserfan«, sagte sie. »Schließlich bist du unser Führer.«
Der Angesprochene reckte sich, dann begann er zu sprechen … Bericht der Molaaten »Drux, Filbert, Pina und ich taten schon einige Jahre auf einem Sucher‐Raumschiff Dienst, dessen Aufgabe es war zur Kolonisierung geeignete Planeten zu finden, dann wurde uns Sanny zugeteilt. Unsere Wissenschaftler nannten sie ein mathematisches Genie, eine Ausnahmeerscheinung, wie sie es in unserem Volk noch nie gegeben hatte.« »Ich habe das nie von mir behauptet«, widersprach die Kleine. »Natürlich nicht, dennoch waren wir anfangs skeptisch. Gewiß, am Durchschnitt gemessen waren wir vier intelligenter als die Masse, doch unsere geistigen Leistungen waren nicht so herausragend, daß man sich damit beschäftigte – im Gegensatz zu Sanny. Man hatte ihre Fähigkeiten regelrecht studiert, ohne allerdings zu einem Schluß zu kommen.« »Bitte komm zur Sache. Du weißt, daß ich dieses Thema nicht mag«, sagte die Molaatin ungehalten. »Du bist eben zu bescheiden.« Oserfan verzog den Mund. »Anfangs hatten wir natürlich Bedenken, doch Sanny zeigte sich anpassungsfähig und kameradschaftlich, völlig ohne Allüren. Drux hatte dann die Idee, ihr Talent auf die Probe zu stellen – zuerst bei Spielen, dann ließ er sie gegen den Rechner unseres Schiffes antreten. Sanny gewann, denn sie war schneller und genauer.« Breiskoll, der die Gedanken der fünf sondiert hatte, setzte erklärend hinzu: »Ihr technischer Stand entspricht nicht der SOL‐ Norm, sondern einem Standart, der meines Wissens vor mehr als eintausenddreihundert Jahren auf Terra üblich war.« Oserfan ließ sich durch die Worte des Katzers nicht beirren. »Wir fünf bildeten also die Besatzung des Sucher‐Raumschiffs. Es war nicht besonders groß, aber modern und schnell, und dank Sannys Begabung waren wir wohl allen anderen, selbst schwereren Einheiten überlegen.« »Nun ist es aber genug«, beschwerte sich Sanny und gestikulierte mit den zierlichen Händchen.
»Wir waren …« Hier streikte der Translator, denn seine elektronische Komponente hatte noch keine Daten zur Zeitumrechnung speichern können, doch Breiskoll sprang ein. »Zwei Monate.« »Wir waren zwei Monate im Raum und freuten uns, endlich wieder nach Hause zu kommen. Als die TOSTAAD auf Heimat‐11 zuhielt, war alles friedlich wie immer. In Planetennähe herrschte der übliche Betrieb, nirgends gab es Anzeichen für ein ungewöhnliches Ereignis. Unser Schiff erhielt sofort Landeerlaubnis und ging auf dem Raumhafen nieder.« »Heimat‐11 gehört zu einem Sonnensystem mit sechzehn Planeten in Bumerang«, warf Bjo Breiskoll zum besseren Verständnis ein. »Wir gingen alle von Bord, denn die TOSTAAD sollte überholt werden, das bedeutete für uns Urlaub in dieser Zeit.« »Heimat‐11 ist …« Pina, das zweite weibliche Wesen, schluckte, »war ein wunderbarer Planet. Klare, fischreiche Ozeane umspülten die vier Kontinente und die zahlreichen, ihnen vorgelagerten Inseln. Das Land war fruchtbar, ausgedehnte Wälder bedeckten weite Flächen und reichten bis hinauf ins Gebirge. An den Flüssen und Ufern der Meere lagen Städte und Dörfer – und nun ist dort nichts mehr, einfach weg. Ein ganzer Planet – weg.« Die Molaaten schwiegen betroffen, schreckliche Erinnerungen tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Nach einer Weile sagte Filbert: »Wir sollten der Reihe nach erzählen.« Drux meldete sich zu Wort. »Nachdem wir den Raumhafen verlassen hatten, kehrten wir nicht gleich in unsere Heimatorte zurück, sondern verabredeten uns noch zu einem Stadtbummel. Wir machen das immer so, wenn wir von einem Einsatz zurückkehren, trinken noch etwas zusammen und machen die Vergnügungsstätten unsicher.« Atlan lächelte. Darin schienen sich die Raumfahrer der verschiedenen Rassen nicht voneinander zu unterscheiden.
»Wir hatten bereits einiges an alkoholischen Getränken zu uns genommen, als Oserfan auf die Idee kam, einen Rummelplatz zu besuchen. Begeistert stimmten alle zu; wir nahmen ein Kabinentaxi.« Drux fuhr sich über die Augen. »Und dann wurde es plötzlich dämmrig.« »Du mußt dazu sagen, daß es erst früher Nachmittag war«, warf Pina ein. »Und daß es warm und sonnig war, der Himmel war an diesem Tag fast wolkenlos.« Die anderen Molaaten nickten zustimmend. »Wie gesagt, es wurde dämmrig, regelrecht düster, die Sonne verschwand. Zuerst dachten wir, daß ein Gewitter im Anzug war und Wolken die Sonne verdeckten, doch so war es nicht. Das merkten wir allerdings erst, als wir unser Ziel erreicht hatten und ausstiegen.« »Auf dem Platz herrschte ein ziemlicher Aufruhr«, nahm Filbert den Faden auf. »Die Leute rannten panikerfüllt durcheinander, kreischten und schrien wie Verrückte, jeder versuchte, sich unterzustellen oder sich sonst wie in Sicherheit zu bringen. Viele sprangen in ihre Fahrzeuge, um davonzufahren, kamen aber nicht weit, denn binnen kurzer Zeit waren alle Zu‐ und Abfahrten verstopft, auf den Straßen herrschte ein Chaos. Andere stürmten Rohrbahnen und Kabinentaxis.« Mit einer geradezu menschlich anmutenden Geste schüttelte der Molaate den Kopf. »So habe ich meine Artgenossen vorher noch nie erlebt; sie prügelten sich regelrecht um die freien Plätze in den Verkehrsmitteln. Selbst die Händler ließen ihre Stände und Geschäfte einfach im Stich und suchten ihr Heil in der Flucht.« »Und dann sahen wir auch, warum sie das taten«, fuhr die sympathische Sanny fort. »Ein riesiger Schatten bedeckte die Sonne. Es war nicht einer der beiden Monde von Heimat‐11, sondern etwas Künstliches, Fremdes. Nicht einmal Oserfan, unser Kommandant, der schon lange auf einem Raumschiff Dienst tat, hatte etwas Derartiges je zuvor gesehen.«
»Das stimmt, dabei kann ich nicht einmal genau erklären, wie das Gebilde aussah. Man sah es nur als gewaltigen, dunklen Schatten, unheimlich in seinen Dimensionen. Allein der Anblick hatte etwas Beängstigendes, jedenfalls waren wir auf einmal wieder nüchtern. Unser erster Gedanke war, uns auch in Sicherheit zu bringen. Wir entschlossen uns dann aber, zum Raumhafen zurückzukehren.« »In diesem Augenblick geschah etwas Grauenhaftes.« Pinas Gesicht verzerrte sich bei dem Gedanken daran. »Direkt neben uns verschwand plötzlich jemand. Er war auf einmal weg, wie vom Erdboden verschluckt. Zuerst trauten wir unseren Augen nicht, aber dann sahen wir, wie auch die Leute verschwanden, die in die Kabinentaxis und Rohrbahnen einsteigen wollten. Zuerst waren es nur ein paar, dann wurden es in rascher Folge immer mehr – als wenn ein riesiger, unsichtbarer Staubsauger sie angesaugt und verschluckt hätte.« Ein trockenes Schluchzen schüttelte den zierlichen Körper der Molaatin. »Es war furchtbar.« »Das war es«, bestätigte Drux. »Man kann nicht beschreiben, wie einem bei einem solchen Anblick zumute ist, jedenfalls fuhr uns der Schock gehörig in die Glieder. Kopflos rannten wir davon, weg von diesem entsetzlichen Ort in Richtung Raumhafen. Die Stationen der Verkehrsmittel mieden wir, weil wir fürchteten, daß wir sonst auch auf einmal spurlos verschwinden würden; auf Umwegen und zu Fuß erreichten wir das Landefeld. Es war mittlerweile Abend geworden. Der Raumhafen war beleuchtet wie immer, aber völlig unbelebt. Nirgends zeigte sich ein Mensch, selbst Roboter waren nicht zu sehen. Da wußten wir, daß dieses unheimliche Phänomen auch hier aufgetreten war.« »Unsere TOSTAAD stand als einziges Schiff noch auf dem Landefeld, alle anderen mußten von ihren Besatzungen zur Flucht ins All benutzt worden sein.« Oserfan fuhr sich über den kahlen Kugelkopf. »Im Schutz von Schuppen und Hangars schlichen wir uns zur TOSTAAD und starteten in den Raum. Obwohl es Nacht war, konnte man sehen, daß sich dieses Schattengebilde immer noch
über Heimat‐11 befand, denn es verdeckte einen Teil der Sterne. Natürlich hatten wir Angst, daß unser Schiff dem Riesending auffallen könnte, also manövrierten wir sehr vorsichtig. Dank Sannys mathematischem Genie ging auch alles gut, und wir nahmen Kurs auf den nächsten sonnenentfernteren Planeten.« »Wir hatten noch nicht die Bahn des Mondes Heimat‐11 B passiert, als wir eine Beobachtung machten, die noch furchtbarer war als alles andere vorher. Der riesige Schatten begann damit …« Filbert versagte fast die Stimme, »… Heimat‐11 zu vernichten. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – es war einfach unglaublich. Dieses Ding richtete keine Zerstörung an, wie es Waffen tun, es zerstörte völlig anders. Es sah so aus, als würde es Schicht um Schicht unseres Planeten abtragen, mit allem, was sich auf der Oberfläche befand – Dörfer, Städte, Straßen, Häuser, Wälder, Pflanzen, Tiere – einfach alles.« Die Erinnerung daran drohte ihn zu überwältigen. »Ganze Gebirgszüge und Bergketten wurden in Staub und kleine Brocken aufgelöst, die Ozeane verschwanden einfach, als wären es Waschbecken, aus denen man den Stöpsel herausgezogen hätte.« Er fuhr sich verstohlen über die Augen. »Bald war Heimat‐11 nur noch ein mondgroßer, glühender Ball, bedeckt von glutflüssigem Magma und brodelnden Lavaströmen …« Filbert brach ab. Mehrere Minuten lang saßen die Molaaten mit versteinert wirkenden Gesichtern da; Oserfan hatte sich als erster wieder gefaßt. »Die Sicht auf Heimat‐11 oder auf das, was davon noch übrig war, hatte sich mittlerweile deutlich verschlechtert. Staubwolken von unvorstellbaren Ausmaßen breiteten sich aus, bestehend aus der Materie unseres Planeten, doch noch immer fuhr das Schattengebilde mit seinem Zerstörungswerk fort; dann war nur noch der Kern übrig. Dieser immer noch beachtliche Brocken wurde von dem Gebilde regelrecht aufgesogen, kurz darauf spie es einen Teil der Materie als Staubwolke wieder aus. Heimat‐11 hatte aufgehört, zu existieren.«
Sowohl der Arkonide als auch die beiden Solaner konnten sich vorstellen, was es für die Molaaten bedeutet haben mußte, dem Untergang ihrer Welt hilflos zusehen zu müssen. »Wir flohen dann, wie gesagt, zum nächsten Planeten. Er war eine unwirtliche Welt, kalt und lebensfeindlich, doch immerhin wurde er von derselben Sonne beschienen wie Heimat‐11. Noch steckte uns der Schrecken in allen Gliedern, und es dauerte ein paar Tage, bis wir den Schock überwunden hatten und wieder zu uns selbst fanden. Um uns abzulenken, arbeiteten wir rund um die Uhr, nur unterbrochen von kurzen Schlafperioden. Ortung und Funkstation waren ständig besetzt; da man uns unbehelligt gelassen hatte, hofften wir, mit den anderen Schiffen in Kontakt treten zu können, denen ebenfalls die Flucht von Heimat‐11 gelungen war. Unsere Hoffnung erfüllte sich nicht; wir wurden immer niedergeschlagener, als wir erkennen mußten, daß wir anscheinend als einzige mit dem Leben davongekommen waren.« »Zeit, uns damit abzufinden, blieb uns nicht.« Druxʹ Augen verdunkelten sich. »Das Schattengebilde näherte sich auch der Welt, auf der wir Zuflucht gesucht hatten. Wieder mußten wir fliehen. Diesmal konnten wir das Objekt etwas genauer betrachten, ohne allerdings Einzelheiten ausmachen zu können; es kam uns so vor, als ob es sich bei dem Gebilde um eine monströse Weltraumstation handeln würde, doch sicher sind wir auch heute noch nicht.« Die anderen pflichteten ihm bei. »Wie zuvor bei Heimat‐11 begann der Schattenkoloß damit, den Himmelskörper abzutragen und aufzulösen, und auch hier nahm er den Kern auf und gab wenig später eine Staub‐ und Gesteinswolke ab. Da, wo einmal ein Planet seine Bahn gezogen hatte, kreisten nur noch seine Trümmer.« »Ich weiß nicht, ob das gigantische Gebilde irgendwelche Strahlen aussandte oder ob es sich um eine bewußte Aktion handelte, um uns zu vernichten, jedenfalls fiel unser Steuerrechner aus«, fuhr der Kommandant der fünf Winzlinge fort. »Da ihr auch Raumfahrer
seid, wißt ihr, was das bedeutet. Unsere Rettung war Sanny, denn sie sprang für den Computer ein.« Oserfan sah die Molaatin mit dem schwarzen Umhang bewundernd an. »Wie ein organisches Gehirn dazu fähig ist, eine solche Datenfülle in nicht zu messender Zeit zu verarbeiten, ist mir bis heute unbegreiflich geblieben.« Er schüttelte den Kopf. »Geschwindigkeit, Masse, Abstrahlenergie, Korrekturschübe, Winkelberechnung, Hilfskoordinaten, Peilpunkte, Zielerfassung, Objektlokalisation, Datenauswertung, Zeitkontrolle – es ist unglaublich.« »So sollst du nicht reden, Oserfan«, tadelte die Kleine. »Ich habe dir schon ein paarmal erklärt, daß mich das nicht anstrengt und auch keine mathematische Leistung ist, die von der Intelligenz her zu erklären ist. Ich komme gewissermaßen ohne zu überlegen instinktiv zu einer Lösung – so genau kann ich das selbst nicht erklären. Die Wissenschaftler, die mich untersucht haben, nannten mich eine ›Instinktmathematikerin‹, was immer das auch sein mag.« »Jedenfalls hast du uns alle gerettet und die TOSTAAD besser gesteuert als der Rechner«, sagte Oserfan. »Das Schattengebilde gab sich nämlich nicht damit zufrieden, nun auch den zweiten Planeten zerstört zu haben, sondern zerlegte systematisch alle Welten unseres Sonnensystems. Immer wieder waren wir gezwungen, zu fliehen, doch allmählich gingen uns die Vorräte aus, und auch der Sauerstoff wurde knapp, zunehmend gab es Ausfälle der Maschinen und Aggregate. Das war nicht verwunderlich, denn schließlich stand dem Schiff eine Generalüberholung bevor und hatte einen zwei Monate dauernden Flug hinter sich. Als abzusehen war, daß wir die TOSTAAD aufgeben mußten, steuerten wir mit dem letzten Rest des Treibstoffs einen Asteroiden an, der früher einmal zu einem Stützpunkt unseres Volkes gehört hatte. Ihr könnt uns glauben, daß uns dieser Entschluß nicht leichtfiel. Das Schiff war uns nach der Zerstörung von Heimat‐11 zur zweiten Heimat geworden, und wahrscheinlich hatten wir es nur unserer Beweglichkeit zu verdanken, daß wir nicht das gleiche Schicksal erlitten wie die
anderen.« Der Bepelzte holte tief Luft, dann fuhr er fort: »Wir waren uns darüber im klaren, daß das Überwechseln auf den Asteroiden kein wirklicher Ausweg war, sondern allenfalls eine Möglichkeit, unser Leben zu verlängern; wir hofften, dort Sauerstoff, Wasser und Nahrung zu finden. Mehr aus Routine als aus Überzeugung nahmen wir einen Notsender mit, denn während unseres Irrflugs hatten wir keinerlei Kontakt zu anderen bekommen, obwohl wir selbst gefunkt hatten.« »Ganz so aussichtslos war unsere Lage dennoch nicht«, meinte Sanny und wandte sich an den Aktivatorträger. »Du mußt wissen, daß Heimat‐11 ein Kolonialplanet ist. Wir sind Nachkommen von Auswanderern, die von Heimat‐1 stammen.« »Du hast recht« meldete sich Pina. »Insgeheim haben wir alle gehofft, von dort Hilfe zu erhalten und gerettet zu werden, doch damit rechnen konnten wir nicht. Vielmehr erleichterte uns dieses Wissen, letztendlich doch nicht die letzten unserer Rasse zu sein, die Entscheidung, die TOSTAAD zu verlassen.« »Ja, genauso war es«, bestätigte Drux. »Wir waren traurig, aber nicht ganz mutlos. Sofort machten wir uns auf die Suche nach einer Station, die es hier gegeben haben mußte; wir waren zuversichtlich, dort einiges zu finden, was unsere Überlebenschance vergrößerte. Angst, daß das Schattengebilde diesen Gesteinsbrocken auch verschlang, hatten wir eigentlich nicht, denn im Vergleich zu den zerstörten Planeten war der Asteroid nur ein Krümel.« »Im Verhältnis gesehen«, warf Filbert ein. Bevor unsere Oxygenvorräte zur Neige gingen, entdeckte Oserfan die Höhle, die Sauerstoff enthielt und sich zugleich luftdicht verschließen ließ. Natürlich vermuteten wir sofort, daß das Gewölbe zum Stützpunkt gehören mußte, doch nach der eigentlichen Station suchten wir vergeblich – sie mußte entfernt worden sein. Immerhin waren wir froh, nicht ersticken zu müssen.« »Was dann kam, war ein Alptraum«, meldete sich Pina, die zweite
Molaatin, wieder zu Wort, »Wir konnten zwar atmen, hatten aber nichts mehr zu essen und kaum noch etwas zu trinken – und wir wußten nicht, wie es draußen aussah. Nahezu pausenlos kontrollierten wir die Energieanzeige des Notsenders; die Batterie erschöpfte sich immer mehr, ohne daß sich etwas tat. Allmählich machte sich der Nahrungs‐ und Flüssigkeitsmangel bemerkbar; wir sahen Dinge, die gar nicht existent waren und hörten Geräusche, die es nicht gab. In dieser Phase waren wir alle ungeheuer gereizt, dann breitete sich Lethargie aus. Wir gaben uns auf, doch dann kamt ihr und habt uns gerettet, wie ich jetzt weiß. Wie habt ihr uns gefunden?« »Wir wurden durch den Normalfunksender auf euch aufmerksam«, sagte Atlan. »Meine Gefährten und ich fanden euch in der besagten Höhle. Ihr wart halb verhungert und ziemlich verstört. Mit einem Beiboot haben wir euch an Bord der SOL gebracht.« »Ist die SOL ein großes Raumschiff?« fragte Oserfan. »Sehr groß«, bestätigte der Weißhaarige, doch dann unterbrach er sich. Rasch setzte er hinzu: »Ihr braucht keine Angst zu haben, wir haben mit dem Schattengebilde nichts zu tun.« »Wir glauben dir«, sagte Sanny stellvertretend für alle. »Meine Freunde und ich danken dir und allen anderen dafür, daß ihr uns gerettet habt.« »Die Patienten haben sich über Gebühr verausgabt und benötigen absolute Ruhe«, schnarrte ein Medo. »Bitte, verlaßt nun die Klinik!« Atlan drehte den Kopf. Bjo Breiskoll nickte zustimmend. »Also gut.« Der Aktivatorträger trat an Hayesʹ Seite. »Was ist mit dir, Breckcrown?« »Ich bleibe hier und passe auf. Du kannst dich auf mich verlassen«, lautete die knappe Antwort. »Das weiß ich inzwischen. Wenn Not am Mann ist, findest du uns in der Unterkunft.« »Ich glaube nicht, daß es noch zu Übergriffen kommt.«
»Wenn es recht ist, komme ich mit euch«, sagte Argan U und trippelte zum Ausgang. Bevor der Arkonide, Breiskoll und der Puschyde das Schott passierten, meldete sich Oserfan noch einmal. »Bitte haltet uns nicht für undankbar, aber wir möchten so schnell wie möglich zu unserem Volk zurück. Könnt ihr uns diesen Wunsch erfüllen?« Der Kommandant der Pelzwesen fuchtelte mit den Ärmchen in der Luft herum. »Ich weiß, es klingt anmaßend, solcherart Ansprüche zu stellen, wo wir ohnehin bereits tief in eurer Schuld stehen, aber vielleicht versteht ihr uns.« »Ich werde sehen, was ich in dieser Richtung tun kann«, gab der Aktivatorträger zurück. Gemeinsam mit seinen beiden Begleitern verließ er die Medo‐ Station. Zurück in der Unterkunft berichtete der Katzer, was er auf telepathischem Weg erfahren hatte. »Was die Molaaten gesagt haben, stimmt.« »Sie wissen also nicht, wer hinter der Zerstörung der Planeten steckt?« »Nein. Sie haben keinen Kontakt zu anderen Völkern. Ihre Raumfahrt ist noch nicht sehr weit entwickelt und beschränkt sich auf wenige Systeme innerhalb der von uns Bumerang genannten Sternenballung. Es ist eine sehr friedliebende Rasse, doch die Planetenzerstörer hassen sie aus vollem Herzen.« Der Weißhaarige war nachdenklich geworden. »Es gibt eine Menge Möglichkeiten, Krieg zu führen und bewohnte Welten zu zerstören; in solchen Dingen sind die meisten Intelligenzen sehr erfinderisch, doch eine solch merkwürdige Art der Vernichtung habe ich noch nie erlebt. Es mag kalt und zynisch klingen, aber ein solches Vorgehen ist nicht rationell. Es gibt einfachere Methoden, um einen Himmelskörper zu zertrümmern.« »Für uns vielleicht«, warf Bjo Breiskoll ein. Atlan schüttelte entschieden den Kopf.
»Die Molaaten sprachen davon, daß dieses Schattengebilde möglicherweise eine monströse Weltraumstation war; etwas anderes ist auch eigentlich nicht vorstellbar. Wer jedoch in der Lage ist, ein solches Ungetüm zu konstruieren und zu bauen, das ganze Planeten zerlegt und zu Staub verwandelt, der besitzt auch die Kenntnisse zum Bau komplizierter und hochwirksamer Waffensysteme. Ich denke, daß unsere gewaltige SOL neben diesem Giganten wie ein besseres Beiboot wirken würde.« Der Katzer schluckte bei diesem drastischen Vergleich, widersprach aber nicht. »War nicht davon die Rede, daß dieses Objekt den Planetenkern regelrecht ansaugte und dann als Trümmerwolke wieder von sich gab?« Der Solaner bejahte. »Sosehr ich mir auch den Kopf darüber zerbreche – das alles ergibt keinen Sinn.« Der Aktivatorträger zuckte hilflos die Schultern. »Ich denke, wir sollten das einstweilen zurückstellen, denn mir fällt weder eine Hypothese ein noch eine plausible Erklärung. Oder hast du eine Idee, Bjo?« Der Katzer schüttelte den Kopf und grinste. »Wenn dir schon nichts einfällt«, meinte er gedehnt. Der langjährige Gefährte des mittlerweile legendären Perry Rhodan lächelte freudlos. Trotz seines biblischen Alters hielt das Universum immer noch Rätsel für ihn bereit, doch er war entschlossen, speziell dies zu lösen. 6. Unruhig ging Chart Deccon in seiner ureigensten Zentrale auf und ab. Noch war die von ihm gesetzte zwölfstündige Frist zur Jagd der Monster und Extras nicht verstrichen, doch es zeichnete sich ab, daß der durchschlagende Erfolg ausgeblieben war.
Berichten der Magniden und Vystiden hatte er entnommen, daß nach anfänglichen Erfolgen, sowohl den Solanern als auch den Brüdern und Schwestern der verschiedenen Wertigkeiten, die Lust an der Aktion genommen wurde, als diese Bord‐Partisanen gezielt eingriffen. Unverhofft tauchten sie überall auf, paralysierten die Jagdtrupps und verschwanden dann wieder unerkannt in den Tiefen der SOL. Für den High Sideryt war es nicht nur unverständlich, sondern auch unerträglich, daß dieses »Pack und Gesindel«, wie er es nannte, quasi eine Lobby gefunden hatte. Und dieser Atlan gehörte natürlich dazu. Ihm lag die Information von Barvos Dom vor, der dabeigewesen war, als sich die Führungsgruppe der Vystiden dieser von Atlan an Bord gebrachten schiffbrüchigen Extras annehmen wollte. Aksel von Dhrau und Zlava waren bei dem Versuch umgekommen. Nach der Aussage Doms schien die Verteidiger der Medo‐Station, darunter Atlan, keine Schuld zu treffen, doch das mochte der massige Mann nicht gelten lassen. Wenn sie nicht dort gewesen wären, würden die beiden Vystiden noch leben. Daß die fünf Molaaten dafür den Tod gefunden hätten, interessierte Deccon nicht – schließlich waren sie Extras, Kreaturen, die eigentlich nichts in der SOL verloren hatten und so unnütz waren wie Ungeziefer. Ohne daß es ihm bewußt wurde, griff der Bruder ohne Wertigkeit nach dem Kästchen, das vor seiner Brust baumelte. Er dachte nach; seinen Plan, Atlan die Schuld an der ganzen Misere zu geben, hatte er immer noch nicht aufgegeben. Plötzlich erschien ein verschlagener Ausdruck auf seinem feisten Gesicht. Wenn er öffentlich kundtat, daß der Weißhaarige mitsamt den kleinen Pelzwesen das Schiff verlassen sollte, mußte er der Aufforderung nachkommen – oder er verlor sein Gesicht. Deccon korrigierte sich gedanklich – Altan und die Molaaten sollten die SOL umgehend verlassen. Ja, das war die Lösung. Triumphierend stapfte er auf eine Schalteinheit zu und betätigte einen Kontakt, dann sprach er in ein unsichtbares Mikrofon, das
seine Stimme in alle Räume des Hantelraumers übertrug. »Hast du das gehört?« fragte Bjo Breiskoll betroffen. »Ja. Deccon hat die Initiative ergriffen, und ich befinde mich in Zugzwang. Gewiß, die Molaaten wollen das Schiff verlassen und zu ihrer Heimatwelt gebracht werden, doch nach Deccons Vorstellung soll das mit einem Beiboot geschehen, und das gefällt mir ganz und gar nicht.« Was der High Sideryt vorhatte, war ganz offensichtlich; er, Atlan, sollte abgeschoben werden. Sobald der Kleinraumer mit ihm und den Molaaten an Bord die SOL verlassen hatte, würde Chart Deccon den Startbefehl geben und mit dem Riesenschiff auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Das wollte der Arkonide natürlich unter allen Umständen vermeiden, denn das wäre letzten Endes sein Verderben gewesen. Es war wirklich eine fatale Situation; so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keine brauchbare Lösung. Der Interkom‐Anschluß sprach an. Wahrscheinlich war es Deccon, der seinen Triumph auskosten wollte. Verärgert ging der Aktivatorträger darauf zu, um ihn abzuschalten, doch dann verharrte er mitten im Schritt. Die wohlklingende Kunststimme kannte er nur zu gut – so sprach nur SENECA. »Nimm ein Beiboot und suche Heimat‐1. Ich werde dafür sorgen, daß die SOL bis zu deiner Rückkehr ihre Position nicht verläßt.« »Welches Interesse hast du daran, daß die Stammwelt der Molaaten gefunden wird, SENECA?« erkundigte sich Atlan überrascht, doch die Biopositronik antwortete nicht. Sie hatte die Verbindung bereits wieder unterbrochen. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« Der Katzer war nicht weniger erstaunt als der Unsterbliche. »Wenn ich das wüßte.« Grübelnd ging Atlan auf und ab. Warum hatte sich SENECA ausgerechnet jetzt eingeschaltet? Was hatte die Biopositronik überhaupt mit den Molaaten zu tun? Welchen Sinn konnte es für SENECA und die SOL haben, wenn er
Heimat‐1 anflog? Wußte die Positronik mehr, als sie gesagt hatte? Warum machst du nicht die Probe aufs Exempel? schaltete sich sein Logiksektor ein. Hast du vergessen, daß SENECA »krank« ist? gab er gedanklich zurück. Die Zeiten, da man der Positronik bedenkenlos folgen konnte, sind vorbei. Das ist richtig, dennoch wirst du nicht behaupten wollen, daß SENECA im menschlichen Sinn unzurechnungsfähig ist antwortete das Extrahirn mit leichtem Spott. Immerhin gab er dir einen regelrechten Auftrag, also hat er ein Interesse daran, daß du zurückkommst. Du meinst also, daß das Risiko berechenbar ist? Für Wahrscheinlichkeitsrechnungen bin ich nicht zuständig. Sie nicht albern! Du weißt genau, was ich meine. Seit wann scheust du ein Risiko? Fehlt dir der Umgang mit deinen geliebten Barbaren? » Wenn du mich lediglich verspotten willst, solltest du lieber ruhig sein, dachte Atlan ungehalten. Ich wollte dir lediglich eine logisch orientierte Entscheidungshilfe geben, obwohl du oft genug das Gegenteil von dem getan hast, was ich dir geraten habe. Ich bin dabei nicht schlecht gefahren. Der Arkonide lachte lautlos. Allerdings habe ich deine Taktik durchschaut. Du rätst mir zu etwas, weil du erwartest, ich würde genau das Gegenteil tun. Ich werde es nicht tun, sondern deinem Rat folgen. Die Aufgabe ist nicht ungefährlich, warnte der Extrasinn. Ach, auf einmal? Der Interkom sprach erneut an. Diesmal war es tatsächlich der Bruder ohne Wertigkeit, der mit Atlan Verbindung aufnahm. Er hatte sogar seine eigene Bildübertragung eingeschaltet. Das feiste Gesicht zeigte einen schadenfrohen Ausdruck. »Ich wollte mich nur erkundigen, wann du die Reise anzutreten gedenkst«, sagte er und grinste hämisch. »Der Kreuzer ist nämlich bereits startklar.«
»Glaube nicht, Deccon, daß ich deinen hinterhältigen Plan nicht durchschaue«, gab der Aktivatorträger ruhig zurück. »Ich verstehe dich nicht«, gab sich der kahlköpfige Dicke naiv. »Lassen wir das Spielchen. Ich werde zusammen mit den Molaaten von Bord gehen.« »Ach …« Der High Sideryt gab sich Mühe, seinen Triumph zu verbergen. »Allerdings verlange ich, daß Hellmut, Breiskoll, Yaal, Sternfeuer und Federspiel mit dir gehen. Die fünf Schläfer werden dir während des Fluges bestimmt eine große Hilfe sein.« Er lachte, wurde aber übergangslos wieder ernst. Seine in dem aufgedunsenen Gesicht kaum sichtbaren grauen Augen funkelten. »Vor allem aber schaffe mir diese fünf Extras von Bord, die du auf die SOL gebracht hast. Sie sind schuld daran, daß meine beiden besten Vystiden umgekommen sind. Und lasse dir nicht zuviel Zeit – meine Geduld ist nicht unerschöpflich.« Mit dieser Drohung trennte Chart Deccon die Verbindung. »Er will alle, die die Stellung der SOLAG gefährden könnten, auf einen Schlag loswerden«, erkannte Breiskoll. Unbehaglich setzte er hinzu: »Und wenn SENECA nicht Wort hält oder einen Ausfall hat, gelingt ihm das auch.« »Wir werden sehen.« Der Arkonide wandte sich an den Puschyden. »Argan U, du hast doch gute Verbindungen hier im Schiff und besitzt auch ausgezeichnete Ortskenntnisse.« Der Geschuppte bejahte eifrig. »Ich habe eine Bitte: Läßt du mal deine Verbindungen spielen und siehst zu, daß sich die vier hier einfinden?« Atlan lächelte dem Kleinen aufmunternd zu. »Ich würde selbst gehen, aber ich möchte in der Nähe der Medo‐Station bleiben, damit ich eingreifen kann, wenn Hayes Hilfe braucht.« »Ich werde sie finden«, behauptete der Orangefarbene kühn. Er war stolz darauf, daß der Weißhaarige ihm so vertraute und einen für seine Begriffe überaus wichtigen Auftrag erteilt hatte. »Ich werde bald zurück sein.«
»Paß auf dich auf«, rief der Arkonide ihm nach. Er ließ sich in einen Sessel sinken. Eine Zeit des Wartens begann. * Erst nach mehr als drei Stunden kehrte Argan U zurück; er wirkte niedergeschlagen. Zwar hatte er Kontakt zu Basiskämpfern gefunden, doch auf die Frage nach den vier Gesuchten gaben sie sich unwissend oder antworteten ausweichend. Von keinem der Schläfer fand sich eine Spur. Atlan wußte nicht, was er davon halten sollte. Es war offensichtlich, daß sie sich absichtlich versteckten und untergetaucht waren, doch weshalb? Der Arkonide war ein potentieller Verbündeter, und Furcht vor Jagdtrupps oder einem Zusammenstoß mit Mitgliedern der SOLAG konnte es auch nicht sein, denn der Puschyde hatte berichtet, daß es innerhalb der SOL ziemlich ruhig geworden war. Ob SENECA dahintersteckte? Wie dem auch sei, er konnte nichts dagegen tun. Immerhin hatte der Geschuppte ein paar Solaner mitgebracht, die den Aktivatorträger freiwillig begleiten wollten. Mittlerweile hatte sich auch Breckcrown Hayes in der Unterkunft eingefunden. Bei den Molaaten in der Medo‐Station war alles ruhig geblieben; inzwischen hatten zwei Basiskämpfer ihren Schutz übernommen. Atlan ging zum Interkom‐Anschluß und schaltete das Bildsprechgerät ein. Es dauerte eine Weile, bis eine Verbindung zum High Sideryt hergestellt war. »Ich habe Joscan Hellmut, Gavro Yaal und die Zwillinge nicht finden können«, eröffnete der Weißhaarige ohne Umschweife das Gespräch. Der rotgesichtige Mann hob die Brauen und runzelte die Stirn. »Du wirst nicht oder nicht ernsthaft nach ihnen gesucht haben.«
»Lasse sie ausrufen oder schicke deine Leute los«, sagte der Arkonide und zuckte gleichmütig die Schultern. »Vielleicht haben sie mehr Glück.« »Du willst doch nur Zeit gewinnen« grollte der kahlköpfige Dicke. »Nimm diese fünf Extras und verschwinde endlich mit ihnen. Du und dieser Breiskoll, ihr könnt doch einen Kreuzer fliegen, oder?« »Wir werden nicht allein gehen. Hier sind einige Männer und Frauen, die uns begleiten wollen.« »Um so besser.« Hayes trat neben den Aktivatorträger in den Aufnahmebereich. »Ich komme ebenfalls mit.« Das Gesicht Deccons nahm einen merkwürdigen Ausdruck an, dann schaltete er unvermittelt ab. Der einsame Mann in seiner düsteren Zentrale starrte sekundenlang auf den desaktivierten Bildschirm, dann murmelte er: »Dann wird wohl auch Atlan zurückkommen.« 7. Niemand versuchte den Trupp aufzuhalten, der sich durch die Gänge der SOL auf einen Hangar zubewegte. Die Molaaten hatten sich mittlerweile soweit erholt, daß sie den Weg aus eigener Kraft zurücklegen konnten. Sie waren ein wenig erregt, denn verständlicherweise fieberten sie dem Zeitpunkt entgegen, an dem sie auf Heimat‐1, der Stammwelt ihres Volkes, abgesetzt werden konnten. Für die nur zwischen siebenundvierzig und fünfundfünfzig Zentimeter großen Intelligenzen war der Hantelraumer ein Riesengebilde, in dem alles überdimensioniert war. Die Menschen, die immerhin die vierfache Körpergröße aufwiesen, waren in ihren Augen Riesen. Es war ein wenig problematisch, die Kleinen in den für sie viel zu
mächtigen Sitzen so unterzubringen, daß sie bei einem überraschenden Manöver nicht herausgeschleudert wurden und sich verletzten, doch es gelang nach einigem Probieren. Die Startfreigabe erfolgte sofort. Das Beiboot schwebte aus der Schleuse und schaltete die Triebwerke ein. Mit zunehmender Entfernung zum Mutterschiff wurde es schneller, schließlich war die SOL nur noch von den Instrumenten auszumachen. Mit gemischten Gefühlen blickte Atlan auf den Tasterschirm. Würden sie das gewaltige Schiff auch noch bei ihrer Rückkehr an dieser Position vorfinden? Er wandte sich dem Steuerpult zu. Sanny hatte darum gebeten, neben dem Piloten sitzen zu dürfen; der Wunsch war ihr erfüllt worden. Erstmals hatte der Arkonide nun Gelegenheit, die ans Wunderbare grenzenden Fähigkeiten der kleinen Molaatin mitzuerleben. Sie lieferte sich mit dem Bordcomputer regelrechte »Rechenduelle«, und schon bald stellte sich heraus, daß sie nicht nur schneller, sondern auch genauer war. Atlan kannte das terranische Mutantenkorps und hatte in seinem Leben auch andere, parapsychisch begabte Lebewesen getroffen, doch die PSI‐Gabe Sannys verschlug ihm förmlich die Sprache. Selbst wenn man unterstellte, daß ihr Gehirn die Fülle der sich ständig ändernden Daten aufnehmen, speichern und miteinander in Relation bringen konnte – sie wäre dem Rechner zeitlich stets »hinterhergehinkt«, doch das Gegenteil war der Fall. Sie hatte die Lösung stets vor dem im Nano‐ und Picosekundenbereich arbeitenden Computer. Eine solche Rechengeschwindigkeit war für ein organisches, aus lebenden Zellen bestehendes Wesen aber völlig illusorisch. Der Aktivatorträger erinnerte sich in diesem Zusammenhang an den Vortrag eines Neurologen zu einer Zeit, als er noch Lordadmiral der USO gewesen war. Einige Details waren ihm noch deutlich in Erinnerung.
Wenn man sich das Gehirn als ein gewaltiges, geknotetes Netz vorstellte, kam man der Sache schon recht nahe; es gab von den Knoten, von denen jeder ein Neuron, eine Nervenzelle darstellte, ‐ zig Milliarden. Jede Zelle war eigenständig, durch Synapsen, die Kontaktstellen bildeten, jedoch untereinander und miteinander verbunden wie das besagte Netz. Die Länge der Nervensysteme in einem Organismus wie dem des. Menschen ließ sich nur in Kilometern ausdrücken; wenn man nun bedachte, daß die Neuronenleitungsgeschwindigkeit maximal 135 m/sec betrug, war klar, daß Sanny nicht wirklich rechnete – es war einfach unmöglich. Bei einem Computer erfolgte der Datenfluß auf elektronischem Weg, also mit Lichtgeschwindigkeit; ein Gerät wie die Bordelektronik konnte in einer Sekunde mehrere hundert Millionen Grundrechnungen mit zehnstelligen Zahlen durchführen – und doch war sie der kleinen Molaatin deutlich unterlegen. Es konnte nicht anders sein, sie mußte die Lösung – und war die Aufgabe auch noch so kompliziert – einfach wissen, so wie jedes Kind einfach wußte, daß zwei mal zwei vier ergab oder die Wurzel aus neun drei ist. Um dieser besonderen Fähigkeit einen Namen zu geben, prägte der Arkonide den Begriff »Paramathematik«, Sanny war demzufolge eine Paramathematikerin – was immer auch darunter zu verstehen war. Selbst als der Kugelraumer mit dem Eigennamen BRITTAX kurz aus dem Einsteinuniversum in die nächste Dimension hinüberwechselte, tat das Sannys Gabe keinen Abbruch; sie kam auch mit hyperphysikalischen Besonderheiten zurecht. Dank der Unterstützung der kleinen Humanoiden wurde das System von Heimat‐1 recht bald gefunden, doch die Molaaten und ihre Begleiter erlebten eine böse Überraschung: Dort, wo eine Handvoll Planeten ihre Bahn um die Sonne ziehen sollten, kreisten Staub‐ und Trümmerwolken um das gelbe Zentralgestirn. »Wir sind zu spät gekommen«, sagte Sanny tonlos. »Das
Schattengebilde war vor uns hier.« * Die fünf bepelzten Intelligenzen waren zutiefst erschüttert, Pina vergoß sogar ein paar Tränen. Niemand von ihnen hatte damit gerechnet, daß der Ursprungsplanet ihrer Rasse genauso zerstört sein könnte wie Heimat‐11, im Gegenteil, sie hatten gehofft, hier ein neues Leben beginnen zu können nach all den Widrigkeiten und Schrecken der letzten Zeit. Nun wußten sie, daß sie auf einmal Heimatlose waren. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, daß sie nicht nur jeden Bezugspunkt verloren hatten, sondern zugleich auch die Letzten ihres Volkes sein mußten – fünf Individuen eines Milliardenvolkes hatten den Untergang ihrer Rasse überlebt. Der Haß auf die Zerstörer ihrer Welten wurde auf einmal so stark, daß sie daran fast zu ersticken drohten. Die liebenswerten Kleinen, insbesondere die possierliche Sanny, waren Atlan regelrecht ans Herz gewachsen. Er, aber auch der Katzer, versuchten in geradezu rührender Weise, die fünf zu trösten. Es war keine leichte Aufgabe; Atlan konnte sich vorstellen, wie den Molaaten zumute war, Bjo Breiskoll hätte es ihren Gedanken entnehmen können, unterließ es jedoch. Mitleidig blickten die anderen in der Zentrale auf die Grünpelze, die wie ein Häufchen Elend in den viel zu großen Sesseln saßen. »Soll ich die SOL informieren?« fragte eine Solanerin, die ein wenig von Nachrichtentechnik verstand. »Nein, wir bewahren weiterhin Funkstille.« Der Unsterbliche wollte Deccon in Sicherheit wiegen, der ja offensichtlich nichts von SENECAs Zusage wußte. »Atlan, würde es dir und deinen Freunden etwas ausmachen, dieses System einmal zu durchfliegen?« fragte Sanny. Ihre leise
Stimme klang melodisch wie immer, doch man spürte, daß Trauer darin mitschwang. Bittend blickte sie den Weißhaarigen an. »Es wäre möglich, daß es doch Überlebende gibt, denen es wie uns geglückt ist, zu entkommen.« Der Arkonide blickte zu Breckcrown Hayes, der als Pilot fungierte. Der nickte wortlos. »Selbstverständlich erfüllen wir euch diese Bitte.« Atlan wandte sich an die Frau und nannte ihr eine Normalfunkfrequenz. »Pegle das Gerät auf diesen Bereich ein und lasse die Anlage auf Empfang. Volle Kapazität.« Die Solanerin bestätigte. Der Arkonide gab noch eine Reihe von Anweisungen, dann war er sicher, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand. Das gesamte technische Instrumentarium der BRITTAX war darauf ausgerichtet, Schiffbrüchige zu orten und Notsignale aufzufangen. Mit aktiviertem Schirmfeld drang der Kreuzer in das System ein. * Vier Stünden später wußte man, daß es keine Überlebenden gab. Man hatte weder ein Peilzeichen noch einen Ortungsreflex ausmachen können. »Es tut mir leid für euch«, sagte Atlan. Seine Miene war undurchdringlich, doch in seiner Stimme schwang Betroffenheit mit. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Du und die anderen, ihr habt bereits mehr für uns getan, als wir erhofft und erwartet haben«, sagte Drux, der mittlerweile wieder sehr gefaßt wirkte. »Wir danken auch dafür.« Atlan wehrte ab. »Das war doch eine Selbstverständlichkeit. Leider haben wir euch nicht helfen können.« »Allein der Versuch zählt«, meinte Filbert.
»Ich denke, wir sollten zur SOL zurückkehren.« Der Katzer hatte seine mentalen Fähigkeiten ebenfalls eingesetzt und wirkte erschöpft. »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit existiert hier kein bewußt denkendes organisches Leben mehr.« »Du hast es gehört, Breckcrown. Leite den Rückflug ein«, sagte Atlan schweren Herzens. Irgendwie fühlte er sich unbehaglich. »Können wir mit euch zurück auf die SOL?« erkundigte sich Oserfan. Rasch setzte er hinzu: »Natürlich werden wir für unseren Unterhalt arbeiten. Ich weiß, daß eure Technik der unsrigen überlegen ist, doch wenn ihr uns anweist, können wir bestimmt einfache Wartungen übernehmen.« Wider Willen mußte der Arkonide über den Eifer des Kleinen lächeln. »Macht euch keine Sorgen, das geht schon in Ordnung.« Bjo Breiskoll näherte sich dem Unsterblichen. Er grinste. »Du solltest dich vor Sanny in acht nehmen. Nach unseren Begriffen ist sie eine junge Frau von fünfundzwanzig Jahren, und sie mag nicht nur dich, sondern auch Breckcrown.« »Ach?« Der Aktivatorträger tat überrascht. »Und dich mag sie nicht?« »Doch, auch« Der Katzer wurde direkt verlegen. »Warum fragst du?« »Rein informationshalber. Ich werde Breckcrown Bescheid sagen, damit er dir nicht ins Gehege kommt!« »Manchmal bist du wirklich ein Ekel«, zischte der Katzer. »Wer versucht, einen Gag zu starten, sollte auch das Echo vertragen«, konterte der Arkonide. Breiskoll gab keine Antwort und zog sich beleidigt zurück. Mittlerweile waren die sechs NUG‐Triebwerke hochgefahren worden. Hayes nutzte die vorhandene Kapazität. Mit 800 km/sec² beschleunigte der Leichte Kreuzer. Selbst wenn sich der Hantelraumer nicht mehr an den ursprünglichen Koordinaten befinden sollte, gab es noch Hoffnung. Immerhin verliehen die
beiden Kompakt‐Waringer der BRITTAX eine Reichweite von drei Millionen Lichtjahren, und hilflos war sie auch nicht. Neben den Defensivsystemen verfügte der einhundert Meter durchmessende Kugelraumer auch über eine entsprechende Bewaffnung; drei Transformkanonen mit einer Abstrahlleistung von je tausend Gigatonnen würden Gegnern das Fürchten lehren. Doch nicht nur die Verteidigungsbereitschaft des Schiffes gab der Besatzung von Freiwilligen Sicherheit, sondern auch das technische Gerät wie Taster‐, Funk‐ und Ortungsanlagen. Dazu kam ein umfangreiches Instrumentarium innerhalb des Raumers; es gab nicht nur Forschungs‐ und Laboreinrichtungen, sondern auch Robots. Die Männer und Frauen fühlten sieh also gegen jede Eventualität gewappnet, denn anders als Atlan und Breiskoll kannten sie die Zusammenhänge nicht, und Argan U, der ebenfalls an Bord gekommen war, begriff sie nicht; Hayes vermutete etwas, sprach aber nicht darüber. Sanny hatte sich erstaunlich schnell mit den Gegebenheiten abgefunden; sie konkurrierte bereits wieder mit dem Bordrechner. Der Kreuzer hatte mittlerweile eine Geschwindigkeit von 10.000 km/sec erreicht; im Notfall reichte das schon aus, um in den Linearraum hinüberzuwechseln, doch der erforderliche Energieaufwand war ungeheuer. Hayes beschleunigte daher weiter. Plötzlich meldete sich die Ortungsstation. Man hatte ein winziges System entdeckt, daß lediglich aus einem roten Zwerg und einem Planeten bestand. An und für sich wäre daran nichts Bemerkenswertes gewesen, doch der venusgroße Trabant war von dichten Wäldern bedeckt. Atlan erkannte sofort, daß sich hier eine Möglichkeit bot, die zur Neige gehenden Reserven der SOL wenigstens zu einem Teil wieder aufzufüllen. »Nimm Kurs auf den Planeten, Breckcrown.« Der Arkonide schaltete die Rundrufanlage ein. »Wir werden in Kürze auf einem Planeten landen und Rohstoffe an Bord nehmen. Seht zu, daß ihr Platz im Schiff schafft. Jeder Winkel, der entbehrlich ist, wird
benötigt.« Unter den Solanern, die noch nie einen Himmelskörper betreten hatten, breitete sich Unbehagen aus, diejenigen, die planetengebundenes Leben auf ihre Fahne geschrieben hatten, freuten sich dagegen, daß ein langgehegter Wunsch in Erfüllung ging. Argan U saß still in seinem Sitz, aber seine großen Augen leuchteten. Wieder war Sanny mit ihren besonderen Fähigkeiten bei der Navigation behilflich gewesen, nun befand sich die BRITTAX in einem Orbit um »Fundgrube«, wie man den Planeten getauft hatte. Wie die Messungen ergeben hatten, besaß die Atmosphäre einen etwas höheren Sauerstoffanteil als die der Erde, doch dafür war es recht kalt; selbst am Äquator betrug die Temperatur nur plus 13 Grad C. Dicke Eiskappen bedeckten die Pole, ein gewaltiger, planetenbedeckender Ozean trennte drei kontinentale Landmassen mit marshohen schneebedeckten Gebirgen voneinander. Der größte Kontinent erstreckte sich wie ein riesiges Fragezeichen von Nordost nach Südwest, mehrere Ströme und Flüsse durchschnitten ihn. Die beiden äußersten Zipfel, Flächen von mehreren tausend Quadratkilometern Größe, hatten tundraartigen Charakter, während sich auf dem übrigen Gebiet ausgedehnte Wälder befanden. Vor allem auf den immensen Holzreichtum hatte der Aktivatorträger es abgesehen. Nach mehreren Umkreisungen, bei denen man auch Erze und andere Bodenschätze ausgemacht hatte, verließ der Kreuzer seine stabile Bahn und steuerte einen Punkt in der Nähe des Äquators des Planeten an. Nach einer Landemöglichkeit mußte nicht lange gesucht werden. Ein Unwetter hatte eine regelrechte Schneise quer durch einen Wald getrieben und die Stämme gleich reihenweise aus dem Boden gerissen und umgeknickt. Das kam dem Arkoniden natürlich sehr
gelegen, denn so brauchten sie sich nicht lange damit aufzuhalten, die hölzernen Riesen zu fällen. Atlan betrachtete die hereinkommenden Bilder. Selbst in geringem Abstand vom Planetengürtel trieben noch Eisberge im blaugrünen Wasser. »Wer mit von Bord geht, sollte sich warm anziehen«, meinte er und grinste. »Fundgrube ist nicht geheizt.« Die BRITTAX ging tiefer. Draußen tobte ein Schneesturm, der die Wipfel der Bäume peitschte. Es handelte sich größtenteils um Nadelhölzer, doch es gab auch Laubbäume, die an terranische Birken erinnerten. Ihr weißes kahles Astwerk schwankte heftig. Auch jetzt erwies sich Hayes als ein ausgezeichneter Pilot. Nahezu unmerklich setzte er den Kugelraumer auf. Atlan erhob sich aus seinem Sessel, der Puschyde sprang ebenfalls auf. »Ich komme mit dir.« Der Weißhaarige betrachtete den Orangefarbenen, der wie immer sein Destilliergerät dabei hatte. »Ich fürchte, es wird ein wenig kalt für dich werden, denn passende Kleidung für dich haben wir nicht.« »Das macht nichts«, versicherte der Geschuppte treuherzig. »Die Hauptsache ist, daß ich mit nach draußen gehen kann. Ich will auf einem Planeten stehen.« »Wie du meinst.« Atlan lächelte. Er erinnerte sich daran, daß er Argan U bei den Terra‐Idealisten getroffen hatte. »Bleibst du hier in der Zentrale, Breckcrown?« Der wortkarge Solaner nickte. »Ich will mich draußen ein wenig umsehen und die Organisation in die Hand nehmen. Wir werden vornehmlich Robots und Traktorstrahlen einsetzen.« »Ich bleibe ebenfalls im Schiff«, ließ sich Breiskoll vernehmen. »Gut, Bjo. Vielleicht kannst du die Verladung überwachen und
diejenigen einteilen, die nicht mit hinaus wollen.« »Geht in Ordnung.« Atlan hatte sich mittlerweile einen unförmigen Overall übergestreift; ein wenig schwerfällig stapfte er zum Schott. Es wirkte erheiternd, als der große Mann, begleitet von den fünf Molaaten und dem Puschyden, den Kommandoraum verließ. »Atlan und die sechs Zwerge«, prustete der Katzer los. Breckcrown Hayes sah in verständnislos an. »Kennst du das alte Märchen nicht?« »Nein.« »Schade, wirklich schade«, meinte Breiskoll. »Das ist binnen kurzer Zeit der zweite Witz von mir, der nicht angekommen ist. Anscheinend tauge ich nicht zum Alleinunterhalter.« »Wenn du es sogar selbst erkannt hast, warum läßt du es dann nicht?« erkundigte sich der Grauhaarige fast beiläufig. »Banause«, knurrte der Katzer, sprang auf und ging zum Schott. »Hoffentlich langweilst du dich!« * Acht vermummte Gestalten und elf Roboter erwarteten Atlan und seine Begleiter in der Schleuse. Die Männer und Frauen sahen recht abenteuerlich aus, denn sie hatten sich wahllos alle Kleidungsstücke übergestreift, die sie finden konnten. Gespannt warteten sie darauf, daß sich das Schott öffnete. In der Außenhaut entstand ein Spalt. Schaurig drang das Orgeln des Sturmes zu den Menschen hinein, dann wurde eine Wolke aus Schneeflocken in die Kammer geblasen. Erschreckt wichen diejenigen, die vorne standen, zurück. Atlan ging als erster von Bord. Er versank bis zu den Knöcheln in der weißen Pracht. Die Robots folgten, dann kam Argan U und zuletzt die Solaner und die Molaaten.
Dem Puschyden schien weder die beißende Kälte noch der schneidende Wind etwas auszumachen. Wie ein Kind tollte er im Schnee herum und jauchzte dabei. Anders als die Pelzwesen verhielten sich die Solaner äußerst zurückhaltend. Zwar hatten sie auf den Planeten gewollt, doch derart extrem hatten sie sich diese Welt nicht vorgestellt. Begleitet von den Automaten stapfte der Arkonide zu den gestürzten Bäumen und begutachtete sie. Sie konnten noch nicht lange hier liegen; das gesplitterte Holz war noch hell und zeigte weder Pilzbefall noch Moosansatz. Er nickte zufrieden, dann gab er den Maschinen die entsprechenden Anweisungen. Sogleich begannen sie damit, die sperrigen Kronen der kieferähnlichen, fast einen Meter starken und zwanzig Meter langen Bäume abzutrennen, desgleichen die Wurzelballen. »Was haltet ihr davon, wenn ihr euch ebenfalls nützlich macht?« rief der Aktivatorträger den zusammengedrängt stehenden Männern und Frauen zu. »Die Stämme müssen noch zerteilt werden.« »Ich schicke euch Werkzeug hinaus!« rief Hayes, der die Außenbeobachtung eingeschaltet hatte, über Externlautsprecher. Wenig später erschien ein Robot mit einer beladenen Antigravplattform. Auf ihr befanden sich Vibratorsägen und ähnliches Gerät. Atlan winkte drei Männer, die ein wenig forscher wirkten als die anderen, zu sich heran und unterwies sie in der Handhabung. Es dauerte nicht länger als eine Minute, da war der Stamm gedrittelt und in gut verstaubare Klafter zerlegt. Allmählich verloren auch die anderen ihre Zurückhaltung und griffen beherzt zu. Mittlerweile waren noch etliche Robots ausgeschleust worden; Menschen und Maschinen tummelten sich gemeinsam. Unweit der Landestelle waren andere Automaten unter Einsatz schweren Geräts damit beschäftigt, Bodenschätze zu bergen und an
Bord der BRITTAX zu bringen. Schwierigkeiten mit dem gefrorenen Boden hatten sie dabei nicht, denn die Schichten aus Erde und taubem Gestein wurden ohnehin einfach verdampft und vergast. Oserfan, der fast bis zum Bauch im Schnee versank, bahnte sich mühsam einen Weg zu dem Arkoniden, der auf einem Baumstumpf stand und von dieser Warte aus wie ein Feldherr seine »Holzfällerarmee« dirigierte. »Wir kommen uns ziemlich nutzlos vor«, meinte der Kleine. »Können wir nicht auch irgend etwas tun?« »Unsere Geräte sind zu groß und zu schwer für euch, Oserfan. Außerdem möchte ich nicht, daß ihr euch verletzt oder sonst wie zu Schaden kommt.« Auf dem menschlich wirkenden Gesicht des Molaaten zeichnete sich Enttäuschung ab, bittend blickte er den Weißhaarigen an. Noch während dieser überlegte, welche Arbeit er den Pelzwesen zuteilen konnte, schrie Oserfan auf und versuchte, fortzurennen, doch der hohe Schnee hinderte ihn daran. »Was ist denn?« fragte Atlan überrascht. Der Molaate streckte den Arm aus und deutete furchtsam hinter sich. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte der Arkonide ein fuchsähnliches Tier mit dichtem, schneeweißen Fell. Es mußte überraschend aufgetaucht sein und bewegte sich dank seiner gespreizten Klauen ohne einzusinken über den weichen Untergrund. Atlan versuchte, den Schneefuchs zu verscheuchen, doch das Tier schien keine humanoiden Feinde zu kennen, denn es blickte den Mann lediglich an und spitzte die Ohren. In diesem Augenblick kam der Puschyde herangetollt und warf übermütig mit Schneebällen. »Herrlich, so ein Planet!« rief er begeistert. Das Tier drehte den Kopf. Als es Argan U sah, kniff es den buschigen Schwanz ein, knurrte und trollte sich. Anscheinend war ihm der Orangefarbene nicht geheuer.
»Komm, spiel mit mir, Oserfan!« »Nein, ich denke, es ist besser, wir gehen ins Schiff zurück«, meinte der Molaate. Der Unsterbliche lächelte verstehend. Mittlerweile war Hayes ebenfalls aktiv geworden. Mittels Traktorstrahlen wurde Raummeter auf Raummeter an Bord des Kreuzers gebracht; schon waren die ersten Laderäume gefüllt. Dadurch, daß sie sich bewegten, gerieten die Menschen ins Schwitzen und empfanden die Witterungsunbilden nicht mehr so deutlich wie am Anfang, im Gegenteil, sie fühlten sich recht wohl. Zudem hatte es aufgehört, zu schneien, und der böige Wind hatte sich ein wenig gelegt. Wie ein glühendes Zyklopenauge stand die Sonne am bleiernen Himmel. Allmählich wurde es dämmrig, doch im Licht der starken Scheinwerfer der BRITTAX gingen die Arbeiten weiter. Es mochte gegen 21.00 Uhr planetarer Zeit sein, als der Aktivatorträger die Solaner endlich dazu bewegen konnte, ihre Quartiere im Kugelraumer aufzusuchen. »Siehst du, das ist ein Leben, wie ich es mir immer gewünscht habe«, sagte eine rothaarige schlanke Frau, die neben Atlan durch den Schnee stapfte. »Man sieht, was man schafft, ist unabhängig und frei und braucht nur den Gesetzen der Natur zu gehorchen.« »Ganz so einfach, wie du denkst, ist ein Leben in der Wildnis allerdings nicht«, schränkte der Unsterbliche vorsichtig ein. »Mir würde es jedenfalls Spaß machen, hier zu leben.« Atlan wurde hellhörig. »Und was ist mit der SOL?« »Ich weiß nicht. Sie ist meine Heimat, aber sie ist synthetisch, alles an ihr ist künstlich. Die Kälte hier, das ist echte Kälte, der Schnee, er ist wirklicher Schnee, und sogar der Sturm ist echt. Die Sonne über uns ist natürlich, der Himmel und die Wolken auch. Atme einmal bewußt, und du merkst, daß diese Luft hier ganz anders riecht als die Luft in der SOL. Verstehst du, was ich meine?«
Die Solanerin war förmlich ins Schwärmen geraten. Der Arkonide nickte mechanisch. Wenn die anderen genauso beeindruckt waren, würde es zweckmäßig sein, Kampfrobots einzusetzen, die die Schleusen bewachten, sonst fehlten am Morgen möglicherweise ein paar Leute. Seine Motive waren keineswegs eigennützig – er wollte die Idealisten in ihrem Überschwang lediglich vor einer Torheit bewahren. Sie kannten nur den Ablauf in der SOL und befanden sich augenblicklich in der Rolle von Touristen, die von der neuen Umgebung überwältigt waren. Es war ja auch alles so bequem; man tummelte sich in der freien Natur, rückte allen Widrigkeiten aber mit den modernsten Mitteln zu Leibe und zog sich bei Bedarf dorthin zurück, wo es alle technischen Annehmlichkeiten gab. Wie hart das Leben in der Wildnis wirklich war, wußten sie nicht. Gewiß, verhungern und verdursten würde wohl niemand hier, aber nicht alles, was eßbar aussah, war auch genießbar. Es würde zu Vergiftungen, Krankheiten und Mangelerscheinungen kommen, doch es gab weder Medo‐Robots noch Ärzte. Die Kleidung, die heute noch wärmte, würde bald verschlissen sein – was dann? Auch die Energieblöcke der Strahler, Vibratormesser und ‐sägen hielten nicht ewig – wie machte man dann Feuer oder schnitt Holz und fällte Bäume? Wer verstand überhaupt, Unterkünfte zu errichten? Nein, bevor er verantwortungslos handelte und Männer und Frauen aus seiner Begleitung einem ungewissen Schicksal überließ, wollte er sich lieber Vorwürfe anhören. Kaum, daß er in die Zentrale zurückgekehrt war, befahl er daher, daß Kampfrobots die Ausgänge überwachen sollten. Jeder, der das Schiff verlassen wollte, war daran zu hindern und notfalls zu paralysieren. »Warum hast du das angeordnet?« fragte Hayes. Atlan erklärte es ihm, dann setzte er hinzu: »Offiziell dient alles nur zum Schutz der Besatzung. Da die Robots ja weiterarbeiten, bleiben die Schleusen auch in der Nacht geöffnet.
Wie leicht könnte sich da ein Raubtier an Bord schleichen …« »Das klingt plausibel«, war Hayes einziger Kommentar. 8. Am nächsten Tag gegen Mittag planetarer Zeit hob der Kreuzer schwerbeladen von »Fundgrube« ab; sein Ziel war der Koordinatenpunkt, von dem aus er gestartet war. Ob sich die SOL allerdings noch dort befand, mußte sich erst erweisen. Selbst wenn der High Sideryt nicht die Absicht gehabt hatte, mit der SOL zu verschwinden, würde seine Geduld durch die lange Abwesenheit der BRITTAX auf eine harte Probe gestellt. Nach Ansicht des Arkoniden war es jedoch realistischer, davon auszugehen, daß Deccon den Start des Hantelraumers eingeleitet hatte; in diesem Fall konnte er nur hoffen, daß SENECA Wort hielt und keinen Ausfall zeigte. Was für das Mutterschiff Rohstoffe bedeutete, war für das Beiboot lediglich Ballast, denn es besaß keine Produktionsanlagen. Möglicherweise war alles umsonst gewesen. Die Roboter hatten die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Als es hell wurde, hatten sich die Solaner wieder hinzugesellt und mitgeholfen. Die Wachen hatten sich durchaus als gerechtfertigt erwiesen. Gegen Morgen hatten zwei Paare versucht, den Kreuzer zu verlassen; angesichts der Kampfrobots hatten sie diesen Plan allerdings wieder aufgegeben. Wie eine Zählung vor dem Start ergab, mußten sich alle Männer und Frauen wieder an Bord befinden. Nun also raste die BRITTAX der SOL entgegen – wenn sie noch dort stand. Ein kurzes Linearmanöver verkürzte die riesigen Distanzen. Bis auf das unterschwellige Antriebsgeräusch und das leise
Summen der Instrumente war es nahezu still in der Zentrale. Lediglich Sanny machte mit leiser Stimme Angaben, die die Informationen des Bordrechners an Geschwindigkeit und Genauigkeit übertrafen, ab und zu schniefte Argan U. Der Geschuppte schien sich trotz gegenteiliger Beteuerung ein wenig verkühlt zu haben. Oserfan, Pina, Filbert und Drux saßen bewegungslos wie Puppen in den viel zu großen Sitzen, Bjo Breiskoll hatte die Augen geschlossen. Atlan war dagegen hellwach. Er verfolgte jeden Handgriff des Piloten. Zwar mißtraute er ihm nicht, aber in einer Situation wie dieser konnte er sich nicht entspannen. Das Linearmanöver war beendet, die BRITTAX fiel in das Einsteinuniversum zurück. Der erste Blick des Arkoniden galt der Tasteranzeige. Die SOL stand unverändert an den gespeicherten Koordinaten im Raum. Entweder hatte Deccon wider Erwarten nicht versucht, sich mit dem Schiff abzusetzen, oder SENECA hatte Worte gehalten. Beides kam im Endeffekt auf dasselbe heraus. »Funkverbindung zur SOL herstellen«, befahl Atlan. Er hatte da einen Plan … * Wie die meiste Zeit, so befand sich der High Sideryt auch beim Anflug des Leichten Kreuzers in seiner Klause. Er war unruhig und fingerte nervös an dem Kästchen herum, das er an einer Goldkette um den Hals trug. Der Interkom‐Anschluß zur Zentrale sprach an. Erst als der kahlköpfige Mann einen Schalter betätigte, erhellte sich der Bildschirm. Gallatan Hertsʹ bleiches Gesicht blickte ihn an; er hatte Dienst. »Die BRITTAX ist zurückgekommen«, sagte der Magnide
mürrisch. »Dieser Atlan will dich sprechen.« »Das geht in Ordnung.« Das Antlitz des Aktivatorträgers erschien im Sichtfeld. »Ich habe eine Nachricht für dich, Deccon, die dir nicht gefallen wird: Die fünf Molaaten befinden sich noch an Bord des Leichten Kreuzers.« Die Miene des Bruders ohne Wertigkeit verdüsterte sich. »Habe ich nicht ausdrücklich befohlen, daß diese Extras von Bord verschwinden sollen?« brauste er auf. »Was …« »Es war durchaus meine Absicht, die Kleinen auf einer Welt ihres Volkes abzusetzen«, unterbrach der Weißhaarige sanft. »Leider war das nicht möglich. Heimat‐1, wie sie den Ursprungsplaneten ihrer Rasse nennen, existierte ebenso wie die anderen Planeten des Systems nur noch als Staubwolke.« »Das ist mir völlig egal«, schrie Chart Deccon unbeherrscht. »Die Extras kommen mir nicht mehr an Bord der SOL.« Er schlug mit der Faust auf die Platte vor ihm. »Das ist mein letztes Wort.« »Sei nicht so voreilig, ich habe dir ein Angebot zu machen. Es betrifft die Versorgung an Bord der SOL.« »Es ist alles deine Schuld«, brach es aus dem schwergewichtigen Mann hervor. »Der Rohstoffengpaß, der Aufruhr und die Tätlichkeiten, der Prestigeverlust der SOLAG und der Widerstand gegen die bewährte Ordnung, das Aufkommen verrückter Ideen – alles. Das Chaos, was mittlerweile in der SOL herrscht, ist dein Werk.« »Bist du fertig?« fragte Atlan kalt. »Mit gutem Gewissen könnte ich das gleiche von dir behaupten, doch eine Diskussion mit dir darüber hätte wohl wenig Zweck. Kommen wir auf mein Angebot zurück. Ich schlage dir ein Stillhalteabkommen zwischen uns vor.« Der Bruder ohne Wertigkeit verzog die wulstigen Lippen und bleckte die Zähne. Er grinste diabolisch. »Welchen triftigen Grund sollte ich wohl haben, mich darauf einzulassen?«
»Ich sagte es bereits: Es betrifft die Versorgung an Bord der SOL. Ich biete dir Rohstoffe.« »Ach?« »Die BRITTAX ist voll davon – Holz, Erze, Mineralien. Und ich könnte dir die Koordinaten nennen, wo es solche Mengen davon gibt, daß der Versorgungsengpaß zumindest in der nächsten Zeit behoben wäre. Nun?« Man sah, wie es in Deccon arbeitete. Schließlich stieß er widerwillig hervor: »Ich akzeptiere deine Bedingung, doch glaube nicht, daß meine Zustimmung Schwäche bedeutet. Es wäre mir ein leichtes, die Position des Rohstoffplaneten zu erfahren. Ein Wort von mir, und die Vystiden würden sie aus dem Piloten notfalls herausprügeln.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete der Arkonide kühl. »Warum nicht? Hast du etwa den Kreuzer selbst gesteuert?« »Nein, Breckcrown Hayes.« Ohne noch ein Wort zu sagen, trennte Chart Deccon die Verbindung und ließ sich im Sessel zurücksinken. »Er trägt die Schuld daran, daß es so gekommen ist«, murmelte er gedankenverloren. »Und er wird es eines Tages ausbaden müssen.« * An Bord der SOL schrieb man inzwischen den 10. September 3791. Die BRITTAX stand längst wieder in ihrem Hangar, und die Produktionsanlagen des Hantelraumers hatten bereits damit begonnen, die angelieferten und so dringend benötigten Materialien zu verarbeiten. Irgendwie schien sich das herumgesprochen zu haben, denn es gärte und brodelte an Bord nicht mehr so wie noch vor wenigen Tagen; die Zusammenstöße zwischen Solanern und Mitgliedern der SOLAG wurden seltener, Bordmutanten und Nichtmenschliche wie der Puschyde konnten sich relativ frei
bewegen. Atlan sah Deccons Einwilligung, stillzuhalten, unter dem Aspekt, daß eine bessere Versorgung den Unruhen quasi die Grundlage entzog – und diese Rechnung schien aufzugehen. Wenn man es recht bedachte, hatte der Führer der SOLAG stets das Wohl der SOL im Auge, doch die Wahl der Mittel behagte dem Arkoniden nicht. Gewiß, es war absurd, rund einhunderttausend Solaner jedesmal abstimmen zu lassen, ob man diesen oder jenen Kurs einschlug, doch ein gewähltes Gremium erfüllte den gleichen Zweck – die Demokratie mußte sich durchsetzen. Es ging nicht an, daß eine verschwindend kleine Minderheit das Gros unterdrückte und als rechtlose Masse einstufte. Bei Licht betrachtet, waren auch die Brüder und Schwestern bis hinauf zur vierten Wertigkeit nichts anderes als Geknechtete, arme Kreaturen, die von den einen verachtet und von den anderen zu Handlangern gemacht wurden und als letzte in der Hack‐ und Rangordnung oft genug etwas abbekamen. Letzten Endes waren auch die Ahlnaten und die Vystiden trotz gewisser Spielräume nicht mehr als Befehlsempfänger, was in gewisser Weise sogar auf die Magniden zutraf. Maßstab aller Dinge war der despotische High Sideryt; was er sagte und tat, war zu befolgen und stets rechtens. Das Stillhalteabkommen Deccons bedeutete für den Arkoniden einen kleinen Sieg, doch er war noch weit von dem entfernt, was ihm vorschwebte; immerhin hatte er aber schon einiges erreicht. Atlan war ein gewiefter Mann, der nicht nur geschickt zu taktieren wußte, sondern auch abwarten konnte. Schon oft in seinem langen Leben hatte sich die Zeit als zuverlässiger Verbündeter gezeigt – allerdings durfte man nichts dem Zufall überlassen. Man mußte abwägen können, andererseits aber auch einmal bereit sein, ein Risiko einzugehen. Derart in Gedanken versunken betrat der Unsterbliche die Medo‐ Station für Extras. Es gab nur einen einzigen Patienten, und den wollte er besuchen.
»Ah, gut, daß du kommst.« Wie ein Gummiball hüpfte Argan U in dem transparenten Behälter herum. »Sage diesen Metall‐Solanern, daß sie mich herauslassen sollen. Mir fehlt nichts, doch sie behaupten, ich hätte eine Erquälung.« »Erkältung«, korrigierte ein Medo. »Genauer gesagt eine Infektion der oberen Luftwege. Wir haben die Infektion inzwischen unter Kontrolle, doch erscheint eine weitere Beobachtung angebracht.« »Da hörst du es«, tönte der Orangefarbene. Geradezu hilfesuchend schwenkte er seinen Destillierapparat. »Rette mich vor ihnen, Atlan!« »Besteht Ansteckungsgefahr?« erkundigte sich der Arkonide. »Bei gleichgebauten Organismen ‐‐ja!« »Da Argan U der einzige Puschyde an Bord ist, können wir diesen Einwand also vergessen. Hat er Fieber?« »Nein, nur eine um 3,7 Prozent erhöhte Temperatur. Für einen Nichtmediziner wie dich mag das wenig sein, ist aufgrund unserer gespeicherten Daten dennoch nicht ganz ungefährlich. Ohne Behandlung könnte es zu einem Rückfall kommen.« »Ich hatte noch nie einen Rückfall«, kreischte der Geschuppte aufgebracht. Jammernd wandte er sich an den Aktivatorträger. »Rette mich, Atlan.« »Ich denke, ihr könnt ihn entlassen. Sobald sich eine Verschlechterung in seinem Befinden zeigen sollte, bringe ich ihn zurück.« Der Weißhaarige zwinkerte mit den Augen. »Nicht wahr, Argan U, du kommst dann freiwillig in die Station?« Da der Puschyde schon so lange mit Menschen zusammenlebte, kannte er auch die Bedeutung des Blinzeins. Er bejahte heftig. »Der Patient befindet sich in der Rekonvaleszenzphase. Es würde allen medizinischen Erkenntnissen widersprechen, einen Genesenden vorzeitig aus der Behandlung zu entlassen. Trotz der uns zur Verfügung stehenden Mittel können wir den Heilungs‐ und Gesundungsprozeß nur unterstützen, der Organismus muß seine Selbstheilungskräfte aktivieren. Die optimalen Bedingungen dafür
sind aber nur hier in der Station gegeben.« »Er lügt!« zeterte der Puschyde. »Deine Behauptung ist absurd. Roboter können nicht lügen«, schnarrte der Automat. Atlan war neben den transparenten Quader getreten, klappte die Abdeckung zurück und nahm Argan U auf den Arm. Bevor die anwesenden Medos sichʹs versahen, war der Arkonide mit dem Patienten zum Schott gerannt und aus der Klinik verschwunden. Erst draußen auf dem Gang setzte der Aktivatorträger den Geschuppten ab. »Ich danke dir, Atlan, du hast mich gerettet. Ich und eine Erquälung – so eine Lüge.« Er mußte niesen. Mit seinen großen Augen sah er den Unsterblichen forschend an. »Na ja, vielleicht haben sie nur ein bißchen gelogen. Muß ich nun zurück?« »Nein, du kannst mit mir kommen.« Der Arkonide lächelte. »Willst du?« Der Puschyde bejahte freudig. Seite an Seite marschierten die beiden so ungleichen Lebewesen auf die Unterkunft zu, die sich Atlan mit Breiskoll und Hellmut teilte. Da der Kybernetiker noch nicht wieder aufgetaucht war, hatte der Weißhaarige den Molaaten gestattet, sich vorerst einmal dort einzuquartieren; die Heimatlosen hatten das Angebot dankbar angenommen. Als Atlan zusammen mit Argan U die Kabine betrat, saßen der Katzer und Sanny an einem niedrigen Tisch vor einem Elektronikspiel; die anderen vier Molaaten hatten es sich bequem gemacht und sahen zu. Der Aktivatorträger kannte das Spiel; man konnte es sowohl allein als auch zu zweit spielen. Die eingebaute elektronische Komponente stellte aus einer Million möglicher Varianten eine Aufgabe, die logisch, also rechnerisch zu lösen war. Für jeden richtigen Lösungsschritt bzw. ‐ansatz vergab der Minicomputer Pluspunkte, die allerdings bei jedem Versuch weniger wurden.
»Das war super«, meldete das akustische Bauteil. »Partner 2 hat die Höchstpunktzahl erreicht. SENECA läßt grüßen.« Der letzte Satz war natürlich nur eine Floskel, die programmiert worden war, denn die Bio‐Positronik hatte mit dem Spiel nicht das geringste zu tun und interessierte sich demzufolge auch nicht für den Gewinner. »Sie ist zum zehnten Mal gegen mich angetreten, und jedesmal hat sie bereits beim ersten Versuch gewonnen«, stöhnte Bjo Breiskoll in gespielter Verzweiflung. »Dabei war ich es, der ihr das Spiel beigebracht hat. Und ich habe noch nie die Höchstpunktzahl erreicht.« Atlan lächelte. »Es gibt halt Dinge, Bjo, in denen ein Telepath einer Paramathematikerin unterlegen ist. Du solltest dich damit abfinden.« ENDE Mit der Beschaffung von lebenswichtigen Rohstoffen für die robotischen Fabriken der SOL hat Atlan über den High Sideryt gewissermaßen einen Punktsieg errungen, der zu einem Stillhalteabkommen zwischen den beiden Männern führt. In dieser Zeit fliegt Bjo Breiskoll, der Katzer, ein Unternehmen zur Erkundung der Gefahr, die aus Bumerang droht. Bjo Breiskoll folgt dabei der SPUR DER ZERSTÖRUNG … SPUR DER ZERSTÖRUNG – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐ Bandes. Der Roman wurde von H. G. Francis geschrieben.