Vita Mathematica Band 14 Herausgegeben von Emil A. Fellmann
Olli Lehto
Erhabene Welten Das Leben Rolf Nevanlinnas Aus dem Finnischen von Manfred Stern unter Mitarbeit von Leena Maissen
Birkhäuser Basel · Boston · Berlin
Autor:
Übersetzer:
Olli Lehto Ritarikatu 3 A FIN-00170 Helsinki e-mail: olli.lehto@helsinki.fi
Manfred Stern Kiefernweg 8 D-06120 Halle e-mail:
[email protected]
Die finnische Originalausgabe ist 2001 im Verlag Otava (Helsinki) unter dem Titel Korkeat Maailmat. Rolf Nevanlinnan elämä erschienen.
Die Übersetzung dieses Buches wurde von FILI – Finnish Literature Information Centre unterstützt. AMS MSC 2000 Classification Codes: 01A70, 01A55, 01A60, 01A72, 01A73, 01A74, 30-03, 32A22 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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ISBN 978-3-7643-7701-4 Birkhäuser Verlag AG, Basel – Boston – Berlin © 2008 Birkhäuser Verlag AG, P.O.Box 133, CH-4010 Basel, Switzerland Part of Springer Science+Business Media Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany
ISBN 978-3-7643-7701-4 987654321
www.birkhauser.ch
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
Rolf Herman Nevanlinna (22.10.1895 – 28.5.1980) war ein außergew¨ohnlicher Mensch. Er war ein weltber¨ uhmter Mathematiker, ein umstrittener politischer Akteur, eine beeindruckende und einflußreiche Kulturpers¨onlichkeit, und er wußte die Menschen durch sein Charisma f¨ ur sich einzunehmen. Die Initiative, Nevanlinnas Biographie zu verfassen, kam in Finnland nicht aus Mathematikerkreisen, sondern vom Verlag Otava. Bei der Vertragsbesprechung brachte der Verlag zum Ausdruck, daß die Zielgruppe nicht nur Mathematiker, sondern auch gebildete und historisch interessierte finnische Leser sein w¨ urden. Nat¨ urlich habe ich die Mathematik nicht beiseite gelassen, aber ich habe auch nicht vergessen, daß der u ¨berwiegende Teil der finnischen Leser keine akademische Ausbildung in Mathematik haben wird. Neben der Mathematik behandelt mein Text wichtige Ereignisse der Geschichte Finnlands im 20. Jahrhundert, an denen Nevanlinna teilnahm, sowie internationale wissenschaftliche und politische Entwicklungen, bei denen er mitwirkte. Auch die Musik ist pr¨ asent, sie war neben der Mathematik der Leitstern in Nevanlinnas Leben. Die Leser der deutschsprachigen Ausgabe d¨ urften vor allem nichtfinnische Mathematiker sein. Ich habe dennoch kein neues Buch geschrieben; der vorge¨ ¨ legte Text ist eine Ubersetzung des finnischen Originals. Einige Anderungen wurden vorgenommen: Fußnoten wurden eingef¨ ugt, um den Lesern fremde Namen, Begriffe und Geschehnisse zu erl¨ autern, und einige Passagen wurden weggelassen, da sie Namen enthalten, die nur f¨ ur finnische Leser interessant sind. Daf¨ ur wurde der mathematische Teil etwas erweitert. Die Initiative zur Realisierung der deutschsprachigen Ausgabe kam von ¨ Manfred Stern (Halle a. d. Saale), selbst ein Mathematiker, der die Ubersetzung u ¨bernahm. Das Vorhaben gelang, als FILI, das Informationszentrum ¨ f¨ ur finnische Literatur, Mittel f¨ ur die Ubersetzung bewilligte und sich der Birkh¨ auser Verlag auf Empfehlung von Emil A. Fellmann (Basel) bereit erkl¨ arte, das Buch in seine Reihe Vita Mathematica aufzunehmen.
VI
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
¨ Die Ubersetzungsarbeit erwies sich als schwieriger als urspr¨ unglich angenommen, und so kamen des Deutschen kundige Mitglieder der Familie Nevan¨ linna zu Hilfe. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit des Ubersetzers mit Leena Maissen (Basel), der Tochter von Rolf Nevanlinnas zweiter Frau Sinikka. Ausf¨ uhrliche Kommentare und Korrekturen kamen auch von Leena Maissens Sohn Thomas Maissen, Historiker an der Universit¨at Heidelberg, und von Rolf Nevanlinnas in Z¨ urich lebender Enkelin, der Germanistin Anja Nevanlinna. In der Schlußphase hat Karin Richter (Martin-Luther-Universit¨at Halle, FB Mathematik) den Text u uft. Gerd Richter (Angersdorf bei ¨ berpr¨ Halle) hat bei technischen Problemen geholfen. Mein tief empfundener Dank geht an Manfred Stern und an alle anderen ¨ an dieser Ubersetzungsarbeit beteiligten Personen. Ebenso bedanke ich mich bei Thomas Hempfling und Karin Neidhart vom Birkh¨auser Verlag. Olli Lehto Helsinki, Juni 2008
Inhaltsverzeichnis
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung ........................... V 1
Famili¨ arer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ein Junge aus Renko auf dem Bildungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Familie Neovius verzweigt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Lehrer in der Hauptstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die mathematische Stamm-Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Gesellschaftliche Umbr¨ uche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Ein innovativer Großvater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Alternativen der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Romanze in Pulkowo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Die Familie Romberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10 Joensuu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.11 Von Neovius zu Nevanlinna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 4 5 6 11 12 15 15 18 20 23
2
Der 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11
Weg zum Forscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umzug nach Helsinki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuljahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorbild Ernst Lindel¨ of . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studium an der Universit¨ at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finnland wird unabh¨ angig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Funktionentheorie und ihre Ankunft in Finnland . . . . . . . . Lebensprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe und Erwerbst¨ atigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 25 28 31 35 37 38 40 43 45 46 48
3
Wissenschaftlicher Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1 Die Anziehungskraft der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.2 Wertverteilungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
VIII
Inhaltsverzeichnis
3.3 3.4 3.5 3.6
Die Br¨ uder legen die Grundlage f¨ ur den Erfolg . . . . . . . . . . . . . Nevanlinnas Haupts¨ atze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ruhm und sein Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In den Zentren der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 61 62 64
4
Junger Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Universit¨ atsdozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bewerbung um die Professur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Akademische Streitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Einladungen in alle Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ein junger Doktorand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Rockefeller-Stipendiat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Fortf¨ uhrung der Nevanlinna-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Der Sch¨ uler als Meister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Wissenschaftlicher Nachwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Die Grundlagen der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Liebhaber der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Spezialisierung und Synthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 69 70 72 75 77 79 80 81 83 85 87 90
5
Der 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
6
Politisches Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.1 Die Sprachenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6.2 Aufgaben in der Universit¨ atsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6.3 An der Spitze der Studentenverbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6.4 Entgegengesetzte Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6.5 Mutterland Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.6 Hitlers Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6.7 Die Grenzen der Deutschfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
7
Die Zeit der Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7.1 Schmerz und Genugtuung eines Patrioten . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7.2 Die Verhaftung Bourbakis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 7.3 Die Bedr¨ angnis des Zwischenfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 7.4 F¨ ur Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 7.5 Der Reichsbund Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 7.6 Das SS-Bataillon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7.7 Rektor der Universit¨ at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 7.8 Die Universit¨ at in der Zeit des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Professor als Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Eine charismatische Pers¨ onlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Der Charmeur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Das Zuhause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Gesellschaftliches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Der finnische Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Inhaltsverzeichnis
7.9
IX
Das Kriegsgl¨ uck wendet sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Leben ¨ andert sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Vom Krieg zum Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Universit¨ at nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Der Rektor muß gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Richtungs¨ anderung in der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Ver¨ andertes wissenschaftliches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Dramatische Aff¨ aren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Neue Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 In der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Die Akademie von Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Helsinki oder Z¨ urich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
8
Das 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10
9
Internationale Autorit¨ at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9.1 Schweizer Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9.2 Sibelius-Interpret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 9.3 Die Schweizer Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9.4 Hingebungsvoller Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 9.5 Kulturbotschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 9.6 Die Beziehungen zum Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 9.7 An die Spitze der Mathematischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 9.8 Auf dem Gipfel in Stockholm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 9.9 Als Vermittler in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
10 Vielseitiges Akademiemitglied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10.1 Bekanntschaft mit Kekkonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10.2 Nobelpreis f¨ ur Koskenniemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 10.3 Die Trag¨ odie Ungarns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 10.4 Neues Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 10.5 Die finnischen Assistenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 10.6 Finnland auf dem Weg ins Computerzeitalter . . . . . . . . . . . . . . 230 10.7 Neue Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 10.8 Thesen f¨ ur die Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 10.9 Auf der Seite der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 10.10 Von zeitgen¨ ossischer Musik bis zu Sibelius . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 11 Aktive Altersjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 11.1 Als Pension¨ ar in Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 11.2 Freier Mathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 11.3 Kulturfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 11.4 Eminenz der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 11.5 Als Sprecher in Tamminiemi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 11.6 Die Umgestaltung der Akademie von Finnland . . . . . . . . . . . . . 252 11.7 Reflexionen u ¨ ber den Radikalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
X
Inhaltsverzeichnis
11.8 11.9 11.10 11.11 11.12 11.13 11.14 11.15
Finnland betritt die B¨ uhne der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . 256 Weltkongreß in Helsinki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Neue Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Blick in die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Rolf Nevanlinna in der Geschichte der Mathematik . . . . . . . . . 266 Salon am Bulevardi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Der Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Mathematische Ver¨ offentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
1 Famili¨ arer Hintergrund
Rolf Nevanlinna war fast 80 Jahre alt, als er 1974 am Internationalen Mathematiker-Kongreß ICM teilnahm, der am Ufer des Stillen Ozeans im kanadischen Vancouver stattfand. Auf der Abschlußveranstaltung lud er zum n¨ achsten Kongreß nach Helsinki ein, und das Publikum reagierte mit nicht enden wollendem Beifall. Auf der B¨ uhne stand ein allen bekannter Grand Old Man, den viele auch pers¨ onlich kannten – eine außergew¨ohnliche Erscheinung unter den Mathematikern der Welt. Die Grundlagen f¨ ur den Aufstieg in eine derartige Position waren u ¨ ber einen Zeitraum von f¨ unf Generationen vor Rolf Nevanlinna gelegt worden. Er selbst meinte, daß die mathematische Begabung der gebildeten Familie Neovius-Nevanlinna auf die Mutter seines Großvaters v¨aterlicherseits zur¨ uckgehe, und sprach vom Einfluß dieses Großvaters und des Vaters auf seine Wertvorstellungen.
1.1 Ein Junge aus Renko auf dem Bildungsweg Die ¨ altesten u ¨ berlieferten Informationen u ¨ ber die Familie Neovius-Nevanlinna gehen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts zur¨ uck. Geburtsdatum und Geburtsort des Stammvaters der Familie, Tuomas Tuomaanpoika ( Thomas Tho” massohn“), sind unbekannt, aber man weiß, daß er zu Beginn des Jahrhunderts in der N¨ ahe von H¨ ameenlinna in der Gemeinde Renko in Uusikyl¨a in der s¨ udfinnischen Provinz H¨ ame ans¨ assig war. Dort war er als Kantor in der Kapelle von Renko t¨ atig und bebaute das verlassene Landgut Uotila der Kirchengemeinde. Die T¨ atigkeit als Kantor war keine geringe Aufgabe, denn das Kirchengesetz von 1686 verpflichtete diesen zur Buchstabenkundigkeit und zur F¨ahig” keit im Singen und Schreiben, so daß er das junge Volk der Kirchengemeinde darin unterrichten kann.“ Tuomas lehrte seine beiden S¨ohne vermutlich das Lesen und Schreiben, doch damit nicht genug. Er hatte die Bedeutung des Unterrichts verinnerlicht und setzte sich h¨ ohere Ziele. Deswegen schickte er
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1 Famili¨ arer Hintergrund
seine S¨ ohne auf die Schule nach Turku. Dort begann der Aufstieg der Familie in einer f¨ ur Finnland typischen Weise. Der ¨ altere der beiden Schuljungen, der wie sein Vater Tuomas hieß und vermutlich 1710 auf die Welt kam, war einer der Vorv¨ater Rolf Nevanlinnas f¨ unf Generationen vor ihm. Wir wissen nichts u ¨ ber seine Schuljahre, aber man kann sich einen Jungen vorstellen, der auf den Ochsenwegen der Provinz H¨ ame in seine Schulstadt wandert. Tuomas wußte, daß der Große Unfriede“ ” (1713–1721) im Lande gerade erst zu Ende gegangen war; das Volk hatte in diesen fast zehn Jahren unter russischer Besetzung gelebt und war davor von verheerenden Hungerjahren heimgesucht worden. Den jungen Tuomas d¨ urfte kaum besch¨ aftigt haben, daß die schwedische Großmachtzeit jetzt vorbei war. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um den eigenen neuen Lebensabschnitt und er machte sich Sorgen wegen seiner ungewissen Zukunft. Man kann Tuomas Tuomaanpoika ohne weiteres die erste Heldenrolle der Familiengeschichte zuschreiben. Schon der Aufbruch aus der vertrauten heimatlichen Umgebung nach Turku erforderte Mut. In Turku mußte er sein Studium ohne famili¨ aren R¨ uckhalt und in beengten wirtschaftlichen Verh¨altnissen betreiben. Viele in einer ¨ ahnlichen Situation brachen das Studium ab, und die Zahl derjenigen war groß, die von Krankheiten hinweggerafft wurden. Auch der Zeitpunkt seines Studiums war ung¨ unstig in einem Land, das in den Jahren des Großen Unfriedens verarmt war. Gleich zu Beginn des Studiums stand Tuomas vor der Aufgabe, die schwedische Sprache zu erlernen. Zu jener Zeit verbanden sich mit dem Wechsel der Sprache noch keine nationalistischen Aspekte, das Schwedische war selbstverst¨ andlich die Sprache der gebildeten Bev¨ olkerung. Aus Tuomas wurde Thomas und der Rektor der Trivialschule gab ihm den Familiennamen Nyman – nach dem Wohnort Uusikyl¨ a in der Gemeinde Renko.1 In den Matrikeln der Schule taucht dieser Name erstmals im Jahre 1726 auf. Sp¨ater wurde der Name in die griechisch-lateinische Form Neovius ver¨andert; zum ersten Mal kommt diese Form im Schulregister des Jahres 1731 vor. Neun Jahre lang lernte Thomas Neovius fleißig in der Schule, bevor er als 25-j¨ ahriger f¨ ur reif befunden wurde, sich an der Universit¨at in der Studentenverbindung der Provinz H¨ ame einzuschreiben. Ohne die Vorteile der Abstammung oder anderer Beziehungen kam ein verk¨ urzter Weg f¨ ur ein akademisches Studium nicht infrage. F¨ ur Thomas bedeutete der Weg zur Universit¨at die endg¨ ultige Losl¨ osung vom gemeinen Volk. Im gesamten 18. Jahrhundert belief sich die Anzahl der j¨ ahrlich neu immatrikulierten Studenten auf unter hundert. Zwei Drittel von ihnen stammten aus gebildeten H¨ausern – fast die H¨ alfte waren Pfarrerss¨ ohne. Die Kirche war eine m¨ achtige Institution, die das geistige Leben der B¨ urger kontrollierte. An der Universit¨ at stand die theologische Fakult¨at u ¨ ber den anderen Fakult¨ aten. Thomas Neovius nahm sich ein zur Ordination f¨ uhrendes 1
Nyman bedeutet Neumann. Der finnische Ortsname Uusikyl¨ a ist aus uusi“ (neu) ” und kyl¨ a“ (Dorf) zusammengesetzt. ”
1.1 Ein Junge aus Renko auf dem Bildungsweg
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Studium vor. Das war ein hochgestecktes Ziel f¨ ur einen jungen Mann, der im Leben weiterkommen wollte. Ein Pfarrer war eine hochgeachtete Standesperson, und zur Zeit der Schwedenherrschaft gab es f¨ ur Nichtadlige und Mittellose nicht viele andere M¨ oglichkeiten, in gesellschaftliche Positionen zu gelangen. Nach der Immatrikulation an der Universit¨at dauerte es noch mehr als zehn Jahre, bevor Thomas 1746 zum Pfarrer ordiniert wurde. Zum Teil f¨ uhrte ein neuer Krieg zur Verl¨ angerung der Studienzeit. Nach dem Großen Unfrieden war der Frieden in dem vom Krieg ersch¨opften Finnland als segensreich empfunden worden. Im Mutterland Schweden waren jedoch viele nicht einverstanden mit den Friedensbedingungen, die zur Aufgabe der Großmachtstellung gef¨ uhrt hatten, und deswegen sann man auf Rache. Thomas hatte sein Studium noch nicht beendet, als Schweden den Krieg gegen Rußland wieder aufnahm. Im Krieg erging es Finnland abermals schlecht und das Land geriet erneut unter russische Besetzung. Thomas Neovius vertrat die Ansicht, daß es f¨ ur das Land nicht von Vorteil sei, f¨ ur die vagen Interessen des Schwedischen Reiches zu einem st¨andigen Schlachtfeld zu werden. W¨ ahrend des Krieges erließ Rußlands Zarin Elisabeth ein Manifest2 , in dem sie Finnland den Status eines selbst¨andigen Staates versprach, wenn sich die Finnen von Schweden losl¨osten. Die sp¨atere Forschung hat Zweifel an der Aufrichtigkeit des Manifests ge¨außert, aber Thomas hielt es f¨ ur wahr. Er war zu dem Schluß gekommen, daß die Alternativen zur Annahme des Angebots von Elisabeth entweder wiederholte Kriege gegen Rußland mit nur halbherziger Unterst¨ utzung durch Schweden oder – noch schlimmer – eine Macht¨ ubernahme durch das feindlich gesinnte Rußland w¨aren. Thomas, der nun als Hauslehrer in der Pfarrei von Loppi im S¨ uden der Provinz H¨ame t¨ atig war, leistete seinen Treueid auf Zarin Elisabeth. Das war Landesverrat. Die Tat hatte jedoch keine strafrechtlichen Folgen, als Finnland nach Kriegsende wieder an Schweden fiel, denn viele hatten in derselben Weise gehandelt wie er. In den Pfarrh¨ ausern, die als Zentren gemeinn¨ utziger Arbeit wirkten, sah man die Folgen des Krieges besonders gut und die geschulten K¨opfe waren imstande, hieraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Das kann eine Erkl¨arung f¨ ur den von Thomas Neovius geleisteten Eid sein. Es d¨ urften aber auch pers¨onliche Gr¨ unde eine Rolle gespielt haben, denn das Verhaltensmuster von Thomas kam auch in den nachfolgenden Generationen der Familie zum Vorschein: Aktuelle Fragen wurden er¨ ortert, und wenn man einen eigenst¨andigen Standpunkt gefaßt hatte, gab man diesen nicht so leicht wieder auf. Ganz im Gegenteil: Alles wurde unternommen, um eine unabh¨angige Haltung zu untermauern. Dabei stand der pers¨ onliche Vorteil nicht im Vordergrund. Viele Mitglieder der Familie Neovius – so auch Rolf Nevanlinna – waren der Meinung, daß ein urteilsf¨ ahiger gebildeter Mensch sein Licht nicht unter den Scheffel stellen sollte. 2
In dem am 18. M¨ arz 1742 unterzeichneten Manifest taucht zum ersten Mal der Gedanke an die Autonomie Finnlands auf.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Der Grund daf¨ ur, daß Thomas Neovius seine Studienzeit u urf¨berschritt, d¨ te jedoch im Wesentlichen derselbe gewesen sein, der auch heute noch zu versp¨ ateten Abschl¨ ussen f¨ uhrt: die Notwendigkeit, zwischendurch zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Es gab nur wenige Schulen und auch diese hatten nicht immer einen guten Ruf, weswegen die Kinder der Oberschicht u ¨ blicherweise ihre erste und oftmals einzige Schulbildung zuhause erhielten. Hauslehrer waren gefragt und als solcher war auch Thomas t¨atig. Bereits in der Anfangsphase der Familiengeschichte kommt also das Unterrichten als Beruf vor. Die T¨ atigkeit in Lehre und Ausbildung ist seither Kennzeichen der Mitglieder der Familien Neovius und Nevanlinna. Thomas war mit seinem Theologiestudium bereits auf der Zielgeraden, als er Hauslehrer bei der Familie des Vikars Martinus Costian wurde. Dort verliebte sich Thomas in Anna, die 19-j¨ ahrige Tochter des Hauses, die seine Gef¨ uhle erwiderte. Das Verh¨ altnis f¨ uhrte zu einer Schwangerschaft, die 1744 durch die Eheschließung legalisiert wurde. Thomas und Anna hatten zehn Kinder, von denen f¨ unf vollj¨ ahrig wurden. Der ¨ altere der beiden Jungen, die das Erwachsenenalter erreichten, war v¨ aterlicherseits der Großvater des Großvaters von Rolf Nevanlinna. Nach dem Theologieexamen mußte sich Thomas weiterhin bem¨ uhen, um in seiner Laufbahn voranzukommen: Insgesamt diente er u ¨ ber zwei Jahrzehnte in befristeten und untergeordneten Pfarrstellen, bevor er das Amt des ersten Vikars von Luhanka in Mittelfinnland erhielt. Nun war das Eis gebrochen und der Schritt in die gebildete Oberschicht getan; die nachfolgenden Mitglieder der Familie Neovius hatten es auf ihrem Bildungsweg viel leichter.
1.2 Die Familie Neovius verzweigt sich In der sechsgliedrigen Vater-Sohn-Reihe, die mit Thomas Tuomaanpoika Neovius beginnt und mit Rolf Nevanlinna endet, waren die ersten drei Pfarrer. Den Weg zum Pfarramt ¨ offnete in Finnland auch das Gymnasium von Porvoo3 , der zweith¨ ochsten Lehranstalt des Landes. Von den S¨ohnen des Thomas und der Anna Neovius lernte dort Thomas Wilhelm (1756–1806), der die Pfarrerslaufbahn gew¨ ahlt hatte. Er war auf der v¨aterlichen Linie der Großvater des Großvaters von Rolf Nevanlinna. Nach Abschluß des Gymnasiums wurde er 1777 als Student in die studentische Verbindung von H¨ame aufgenommen und bereits zwei Jahre sp¨ ater zum Pfarrer ordiniert. Damals war Thomas erst 22 Jahre alt. Die Pfarrerslaufbahn verlief f¨ ur den Pfarrerssohn viel glatter als f¨ ur den Vater, der aus dem einfachen Volk stammte. Auch Thomas Neovius der J¨ ungere war in vielen Orten Mittelfinnlands in nachgeordneten Pfarr¨ amtern t¨ atig. Er und seine Frau Fredrika (geb. Wrangel) hatten zw¨ olf Kinder, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Vier 3
Zweit¨ alteste Stadt Finnlands mit Bischofssitz, an der S¨ udk¨ uste ¨ ostlich von Helsinki.
1.3 Lehrer in der Hauptstadt
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davon waren Jungen, die alle nach Abschluß des Gymnasiums von Porvoo Pfarrer wurden. Sie blieben nicht mehr nur Vikare, sondern die drei j¨ ungsten erhielten ein Pfarramt. Auf diese Pfarrerss¨ ohne gehen drei verschiedene Zweige mit dem Namen Neovius zur¨ uck. Angeh¨ orige dieser Abstammung, die Neovius oder Nevanlinna heißen, leben noch heute. Rolf Nevanlinna stammt von dem mittleren der drei Pfarrerss¨ ohne ab. Mit Rolf Nevanlinna haben in diesem Buch die folgenden Nachfahren des ¨ altesten Pfarrerssohnes Ber¨ uhrungspunkte: der Politiker, Senator, Geschichtsforscher und Finanzmann Ernst Neovius (seit 1906 Nevanlinna), der Bankdirektor Otto Gunnar Neovius (seit 1935 Nevanlinna) und der Pr¨ asident des Obersten Gerichts Nils Hjalmar Neovius. Die beiden letztgenannten waren Br¨ uder, Ernst war ihr Cousin. Alle drei waren Cousins zweiten Grades von Rolfs Vater. Thomas Neovius Vikar 1710–1781
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Thomas W. Neovius Vikar 1756–1806
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Johan Adolf Neovius Pfarrer 1787–1833
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Anna Costian Vikarstochter 1725–1790
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Fredrika Wrangel Tochter eines F¨ ahnrichs (?) 1758–1825
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Charlotta Burgman Tochter eines Blechschmiedemeisters 1802–1884
Abb. 1.1. Rolf Nevanlinnas Vorfahren v¨ aterlicherseits, f¨ unf, vier und drei Generationen vor ihm. Das Fragezeichen bei Fredrika Wrangel erkl¨ art sich dadurch, daß die Ehe ihrer Mutter mit F¨ ahnrich Johan Wrangel kurz vor Fredrikas Geburt geschieden wurde. In den Kirchenb¨ uchern wird Johan Wrangel als Vater gef¨ uhrt, aber in der Neuen Familienchronik wird Leutnant Stuvart als Vater erw¨ ahnt.
1.3 Lehrer in der Hauptstadt Johan Adolf Neovius (1787–1833), der mittlere Stammvater der drei NeoviusFamilienzweige, war der Vater des Großvaters v¨aterlicherseits von Rolf Nevanlinna. Er war der erste Neovius, der sich haupts¨achlich dem Lehrerberuf widmete. Von ihm stammen alle Mathematiker der Familie ab.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Adolf Neovius machte 1807 das Abitur und nahm zwei Jahre sp¨ater seine T¨ atigkeit als Lehrer auf. Er zog 1813 nach Helsinki, das gerade Hauptstadt geworden war; dort hatte er eine Ernennung zum Konrektor der Trivialschule erhalten. So wurde er zum zweiten Mann der einzigen Schule der Hauptstadt des Großf¨ urstentums und in diesem Amt war er sechzehn Jahre lang t¨ atig. Er sah mit eigenen Augen, wie in der fr¨ uher unbedeutenden Kleinstadt ein prachtvolles und monumentales Zentrum Gestalt annahm, denn das großfl¨ achige Baugel¨ ande des Senatsplatzes befand sich jahrelang direkt neben seinem Haus. Die erste Ehe des Adolf Neovius dauerte nur anderthalb Jahre und endete mit dem Tod seiner Frau. Er schloß eine neue Ehe mit der 18-j¨ahrigen Tochter Charlotta des Blechschmiedemeisters Fredrik Burgman. Blechschmied“ ” weckt die Vorstellung von einem niederen Stand, ist aber im Falle Charlottas irref¨ uhrend, denn sie war durch einige Zuf¨ alle fast ein Adelsfr¨aulein, wie bald zu erz¨ ahlen sein wird. Adolf und Charlotta hatten sieben Kinder, alles S¨ohne, von denen der alteste allerdings nur ein Jahr lebte. Die Familie wohnte in einem Mitte des ¨ 18. Jahrhunderts f¨ ur die Trivialschule gebauten Steinhaus, in dem sich die Wohnungen der Schullehrer befanden. W¨ ahrend der Zeit, in der die Familie Neovius dort wohnte, ver¨ anderte sich die Umgebung allm¨ahlich so, daß das Haus schließlich am Rand des Senatsplatzes hinter den Senatsgeb¨auden stand. In seinen Zeitungsartikeln u ¨ber das alte Helsinki zeichnete Zacharias Topelius4 kein glanzvolles Bild vom alten Schulgeb¨ aude: Am Rande einer schmalen und ” schmutzigen Gasse, nur wenige Schritte vom Senat entfernt, befand sich die Trivialschule der Stadt in einem alten, melancholischen Steinhaus.“ Einer der vier Neovius-S¨ ohne, der in diesem melancholischen“ Geb¨aude gewohnt hatte, ” war Edvard Neovius, Rolf Nevanlinnas Großvater v¨aterlicherseits. Der als Lehrer der Trivialschule schlecht bezahlte Adolf Neovius strebte das Pfarramt an, legte 1824 die hierzu erforderliche Pastoralpr¨ ufung ab und empfing im gleichen Jahr die Ordination. F¨ unf Jahre lang mußte er warten, bevor er als 42-j¨ ahriger ohne Wahl als Pfarrer nach Sortavala5 berufen wurde, wo sein Leben nur vier Jahre sp¨ ater endete.
1.4 Die mathematische Stamm-Mutter Als Adolf Neovius gestorben war, mußte seine Witwe Charlotta allein f¨ ur die sechs Jungen sorgen. Vom Standpunkt der finnischen Geistesgeschichte aus war es eine bemerkenswerte Gruppe von Jungen, weil dort zum ersten Mal das ber¨ uhmte mathematische Talent der Familie in Erscheinung trat und alle 4
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Zacharias (Sakari) Topelius (1818–1898), Schriftsteller und Professor der Geschichte, ist als F¨ orderer des Vaterlandsbegriffes, des Geschichtsbewußtseins und des Naturgef¨ uhls in die finnische Geschichte eingegangen. Er ist auch durch seine M¨ archensammlungen bekannt geworden. Stadt in Karelien, am Nordufer des Ladogasees; geh¨ ort heute zu Rußland.
1.4 Die mathematische Stamm-Mutter
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Abb. 1.2. Der Vater des Großvaters v¨ aterlicherseits von Rolf Nevanlinna: Adolf Neovius, der junge Konrektor der Trivialschule von Helsinki. Miniaturmalerei von Erik Wilhelm Le Moine, 1815. (Mit freundlicher Genehmigung: Museumsbeh¨ orde)
Mathematiker der Familie Neovius-Nevanlinna von diesen S¨ohnen abstammen. Im Kreise der Familie verbreitete sich die Auffassung, daß dieses Talent den Genen Charlotta Burgmans zu verdanken ist – so erl¨autert es Rolf Nevanlinna in seinen Memoiren. Charlottas Leben verlief außergew¨ohnlich dramatisch. Zweimal durchlebte sie eine schwere Krise, bew¨altigte aber beide, sogar gl¨ anzend. Charlottas Vater, der Blechschmiedemeister Fredrik Burgman aus Helsinki, heiratete Christina Lindmarck aus Viapori6 , die vermutlich aus einer relativ wohlhabenden Familie stammte und die Erziehung einer h¨oheren Tochter genossen haben soll. Bereits in jungen Jahren gelangte Christina als Dienstm¨ adchen und Gesellschaftsfr¨ aulein in das Herrenhaus des Leutnants und sp¨ ateren Kriegsrates Baron Pehr Christian Silfverski¨old in Espoo in der N¨ ahe von Helsinki. Die kurze Ehe von Fredrik Burgman und Christina Lindmarck ist eine traurige Geschichte. Die ersten beiden Kinder starben, als sie noch klein waren, und die Familie war wieder kinderlos, bis das dritte Kind Charlotta auf die Welt kam. Der Vater Fredrik hatte den Auftrag erhalten, das Dach der Stadtkirche von H¨ ameenlinna anzufertigen, aber er wurde w¨ahrend der Arbeit 6
Fr¨ uhere Bezeichnung der Seefestung Suomenlinna (Sveaborg), die im 18. Jahrhundert auf Inseln vor dem Hafen von Helsinki errichtet wurde.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Abb. 1.3. Der Senatsplatz zu der Zeit, als Adolf Neovius nach Helsinki kam; im Vordergrund die Ulrika-Eleonora-Kirche. Am hinteren linken Rand ist die Trivialschule von Helsinki zu sehen, in der er arbeitete und wohnte. Aquarell von Carl Ludvig Engel. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv des Verlages Otava)
entlassen: Man beschuldigte ihn der Nachl¨ assigkeit wegen anhaltender Trunksucht. F¨ ur die Familie bahnten sich weitere Schwierigkeiten an, als im April 1803 die Lebensgrundlage der kleinen Charlotta innerhalb von wenigen Tagen einst¨ urzte. Zuerst starb der Vater an Fieber“ und dann die Mutter; sie ” waren vermutlich Opfer einer b¨ osartigen Grippe geworden. Das Waisenkind Charlotta war gerade ein Jahr alt und es bestand die Gefahr, daß sie im Stich gelassen w¨ urde: Von den wenigen nahen Verwandten war niemand da, der f¨ ur sie gesorgt h¨ atte. Zu dieser Zeit betrachtete man es als Pflicht der Taufpaten, ihre helfende Hand zu reichen. Christina Burgman hatte ihre ehemaligen Arbeitgeber, die Silfverski¨ olds, gebeten, Taufpaten ihrer Kinder zu sein – und von den Silfverski¨ olds kam nun f¨ ur Charlotta die Rettung in der Not. Das kinderlose Paar nahm das kleine M¨ adchen zu sich. Bald hatten die Eheleute Charlotta lieb gewonnen und ließen ihr die bestm¨ ogliche Sorge angedeihen. F¨ ur Charlotta war das ein echter Gl¨ ucksfall. In einem wohlhabenden Haus der Oberschicht erhielt sie eine Erziehung und Ausbildung, zu der ihre eigenen Eltern keine M¨ oglichkeit gehabt h¨ atten.
1.4 Die mathematische Stamm-Mutter
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Die Silfverski¨ olds wollten Charlotta an Kindes statt annehmen, aber weil das Geschlecht der Silfverski¨ olds dem schwedischen Adel angeh¨orte, h¨atte nur der K¨ onig die Adoption genehmigen k¨ onnen. Als der schwedische K¨onig nach 1809 seine Macht in Finnland verloren hatte7 , versuchten die Silfverski¨olds, die Angelegenheit durch den Zaren Alexander I. erledigen zu lassen. Das Vorhaben endete schließlich mit einer negativen Entscheidung, und auch der zweite Versuch, den die couragierte Witwe Anna Maria nach dem Tod des Barons Silfverski¨ old unternahm, war nicht erfolgreich. Jedoch war Charlotta inzwischen derart in der Familie ihrer Erzieher verwurzelt, daß bei ihrer Eheschließung mit Johan Adolf Neovius ihr Name auf dem Trauschein als Gustava Maria Charlotta Silfverski¨ old angegeben wurde. Offiziell war sie jedoch eine Burgman. Die als Witwe zur¨ uckgebliebene Kriegsr¨ atin Silfverski¨old u ¨bersiedelte mit der Familie Neovius nach Sortavala, um ihre alten Tage zusammen mit der Familie in deren Pfarrhaus zu verbringen. Sie starb wenige Monate vor Johan Adolf, so daß die 31-j¨ ahrige Charlotta mit ihren S¨ohnen pl¨otzlich allein war. Der ¨ alteste der sechs Jungen war 11 Jahre alt, der j¨ ungste wurde einen Monat nach dem Tod des Vaters geboren. Charlotta, die nun als Alleinerziehende zur¨ uckgeblieben war, geriet in ihre zweite Lebenskrise. Das Gnadenjahr8 half der Pfarrerswitwe am Anfang, und es ist bekannt, daß sie vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes als Hauslehrerin f¨ ur den Lebensunterhalt der Familie aufkam. Jetzt war die gute Ausbildung, die sie zuhause erhalten hatte, Gold wert. Die Unterrichtsaufgaben f¨ uhrten sie zu vornehmen Familien, zuerst nach St. Petersburg und dann zur¨ uck nach Helsinki. In der Geschichte der Schulen Helsinkis begann 1844 ein neues Kapitel, als eine staatliche schwedischsprachige M¨ adchenschule gegr¨ undet wurde. Dort erhielten die h¨ oheren“ T¨ ochter Unterricht in Wissen und Handarbeit, die zu ” ” einer ordentlichen Frauenerziehung“ geh¨ orten. Charlotta Neovius war eine der zwei ersten Lehrerinnen der M¨ adchenschule. Die F¨acher, die sie unterrichtete, waren Handarbeit, Zeichnen und Sprachen. Charlotta Neovius war von der Bedeutung des Wissens im Leben u ¨ berzeugt und hielt eine gute Ausbildung ihrer S¨ ohne f¨ ur ¨außerst wichtig. Sie spornte die Jungen nicht nur zum Lernen an, sondern unterrichtete sie auch zuhause und war darauf bedacht, daß sie die Aufnahmepr¨ ufungen der Schulen bestanden. Charlotta hat lange gelebt, von 1802 bis 1884. Sie konnte selbst miterleben, wie ihre S¨ ohne mit geistigen Waffen in die Oberklasse der Gesellschaft aufstiegen.
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Im Jahr 1809 wurde der Friede von Hamina geschlossen. Schweden verlor Finnland an Rußland und Finnland wurde autonomes Großf¨ urstentum. Jahr, w¨ ahrend dem die Erben eines verstorbenen Pfarrers gnadenhalber sein Einkommen weiter erhielten.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Abb. 1.4. Charlotta Neovius (geb. Burgman), die mathematische Stamm-Mutter der Familie. (Mit freundlicher Genehmigung: Museumsbeh¨ orde)
1.5 Gesellschaftliche Umbr¨ uche
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1.5 Gesellschaftliche Umbru ¨che Als die S¨ ohne der Charlotta Neovius um die Mitte des 19. Jahrhunderts ins Arbeitsleben eintraten, begann der Aufstieg der finnischen Sprache und der finnischen Kultur. Mit L¨ onnrot9 , Runeberg10 und Snellman11 betraten die wichtigsten Baumeister des Finnlandbildes die B¨ uhne und wurden bald zu national bedeutsamen Leitfiguren. Schwedisch blieb auch weiterhin die Sprache der Gebildeten und anl¨aßlich der 1840 veranstalteten Zweihundertjahrfeier der Universit¨at, die von Turku nach Helsinki verlegt worden war, wurden die finnisch-russischen kulturellen Bindungen betont. Als die Zeit kam, in der sowohl die Position der finnischen Sprache als auch das Verh¨ altnis zu Rußland zu brennenden Fragen wurden, stand die Familie Neovius nicht als Zuschauer abseits. Diese Fragen boten u undstoff – so lange, daß auch noch Rolf Nevanlinna dazu ¨ ber lange Zeit Z¨ Stellung beziehen konnte. Eine wichtige Aufgabe des h¨ oheren Unterrichtswesens wurde die Ausbildung einer finnischen Beamtenschaft in dem weitgehend mit eigenen Kr¨aften verwalteten Großf¨ urstentum. F¨ ur einen Mann mit Schulbildung war das Kirchenamt nicht mehr die einzige M¨ oglichkeit, eine bedeutende Stellung in der Gesellschaft zu erlangen. In dieser Zeit endete die Treue der Familie Neovius zum geistlichen Beruf. Zur Ausbildungsst¨ atte f¨ ur zwei Generationen wurde die Kadettenschule von Hamina12 – eine Internatsschule mit sieben Jahre dauernder Ausbildung. Außer den Milit¨ arf¨ achern wurden dort viele allgemeinbildende F¨acher unterrichtet. Aus diesem Grund war die Kadettenschule auch ein Sprungbrett f¨ ur nichtmilit¨ arische Karrieren. St¨ arker als in den vom Latein dominierten Gymnasien wurde in der Kadettenschule der Akzent auf Naturwissenschaften und lebende Sprachen gelegt. Als Sch¨ uler wurden nur S¨ohne der Oberschicht zugelassen. Der Verzicht auf den Kirchendienst war keine so große Ver¨anderung wie es den Anschein hat. Auch weiterhin geh¨orte die Familie Neovius zu 9
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Elias L¨ onnrot (1802–1884), Sprachforscher, der in Nordkarelien in der Grenzgegend zwischen Finnland und Rußland unter den dort lebenden Finnen Runens¨ anger traf, deren m¨ undlich u ¨ berlieferte Volksrunenzyklen er aufzeichnete und 1835 zum finnischen Nationalepos Kalevala zusammenf¨ ugte. Johan Ludvig Runeberg (1804–1877), Nationaldichter Finnlands. Das bedeutendste und einflußreichste Werk Runebergs waren seine im Revolutionsjahr 1848 in einem ersten Teil erschienenen F¨ ahnrich St˚ als Erz¨ ahlungen. Es handelt sich hierbei um Gedichte, die Ereignisse des schwedisch-russischen Kriegs 1808–1809 thematisieren. Johan Vilhelm Snellman (1806–1881), Philosoph und Staatsmann. Der bekannte Spruch Schweden sind wir nicht mehr, Russen wollen wir nicht werden, also ” laßt uns Finnen sein“ umschreibt sein nationalpolitisches Handlungsprogramm, demgem¨ aß Finnland finnisch werden m¨ usse. Hafenstadt am Finnischen Meerbusen, nahe der russischen Grenze.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
den Vermittlern von Bildung, nun jedoch vermehrt in der Lehrt¨atigkeit. Die christlichen und humanistischen Werte blieben trotz der erstarkenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung erhalten. Das Streben nach dem eigenen wirtschaftlichen Vorteil war eine untergeordnete Besch¨aftigung. Als die S¨ ohne von Adolf und Charlotta Neovius und die Kinder der S¨ ohne in ihrer gesellschaftlichen Position nach oben stiegen, waren sie sich der damit verbundenen Verantwortung bewußt. Bei der eigenen Arbeit mußten die Interessen der Gemeinschaft ber¨ ucksichtigt werden. Die geistigen Wurzeln Rolf Nevanlinnas gehen auf einen N¨ ahrboden zur¨ uck, dessen Merkmale die Bildungsideale der alten Zeit“ waren. ”
1.6 Ein innovativer Großvater Edvard Engelbert Neovius (1823–1888), Sohn des Konrektors und Pfarrers Adolf Neovius und seiner Frau, der Lehrerin Charlotta, war ein Großvater Rolf Nevanlinnas. Edvard war ein origineller und ideenreicher Mann, stark gepr¨ agt durch die typisch neovianische, abgekl¨arte Ruhelosigkeit des Denkens. Er hinterließ seinem Enkel Rolf Nevanlinna sein geistiges Erbe. Nach Abschluß der Kadettenschule von Hamina wurde Edvard zum weiterf¨ uhrenden Studium nach St. Petersburg abkommandiert, wo er die zweij¨ahrige Milit¨ aringenieursakademie mit Auszeichnung absolvierte. Danach kehrte er als Lehrer f¨ ur Mathematik und Topographie an die Kadettenschule nach Hamina zur¨ uck und schloß als junger Unterleutnant die Ehe mit Elise Krogius. Edvard machte eine gute Partie, denn die Familie Neovius war gerade erst auf dem Weg in die Oberschicht, der die Krogius bereits angeh¨orten. Elises Vater Lars Gabriel Krogius war Jurist und hatte den Titel eines Amtsrichters erhalten; Mutter Amalia, geborene von Numers, war eine st¨ahlerne“ Frau: ” sie brachte 11 Kinder zur Welt und wurde 92 Jahre alt. Die S¨ohne wurden in die Kadettenschule von Hamina geschickt, und dieser Umstand brachte Elise mit dem jungen Schullehrer Edvard Neovius zusammen. Edvard Neovius war vierzig Jahre lang Lehrer an der Kadettenschule. Er war zwar Soldat in Uniform, in der Kadettenschule wurde er jedoch treffend Newton“ genannt. Die Namensreihe Nyman-Neovius erhielt dadurch noch ” eine dritte neu“-Ableitung. Sie ging auf das Interesse von Edvard Neovius ” zur¨ uck, die R¨ atsel des Weltalls mit mathematischen Methoden zu erkl¨aren. Er ver¨ offentlichte mehrere Abhandlungen und Lehrb¨ ucher auf dem Gebiet der Mathematik und Physik, in denen er den Lesern einsch¨arfte, wie wichtig Gr¨ undlichkeit und Selbst¨ andigkeit seien – Eigenschaften, die auch Rolf Nevanlinna auszeichneten. ¨ Uber Edvard Neovius ist bekannt, daß er sich von ganzem Herzen seinen Lehraufgaben widmete, aber derart hohe Anforderungen stellte, daß er Kritik ¨ ausl¨ oste und sogar Furcht erregte. Ahnlich wurde auch sein Sohn Otto (Rolfs Vater) als strenger Mathematiklehrer charakterisiert. Auch Rolf Nevanlinna
1.6 Ein innovativer Großvater
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Abb. 1.5. Edvard Engelbert Neovius und Elise, geb. Krogius, Rolf Nevanlinnas Großeltern v¨ aterlicherseits.
gestand, daß er zu Beginn seiner Karriere ein anspruchsvoller Lehrer gewesen, im Laufe der Jahre aber milder geworden sei. In Hamina begann sich Edvard Neovius f¨ ur die damals aufgetauchte Frage zu interessieren, ob es auf anderen Planeten intelligente Wesen gebe. Nachdem er von einer positiven Antwort u ¨ berzeugt war, vertrat er die Meinung, daß die Menschen die Vorstellung von intelligenten außerirdischen Wesen akzeptieren sollten. Das w¨ urde dazu f¨ uhren, die Stellung der Menschheit im Universum zu u ¨ berdenken und irrige Einstellungen zu korrigieren, die durch jene Religionen enstanden sind, die auf einem anthropozentrischen Weltbild beruhten. Eine neue geistige Einstellung reichte jedoch seiner Meinung nach nicht aus; jede Generation m¨ usse die Frage neu stellen, welches das wichtigste Ziel und die wichtigste Aufgabe der Zeit sei. F¨ ur Neovius war das die Herstellung des Kontaktes zu den Bewohnern des Weltraums. Das in der Praxis aussichtsreichste und leichteste Ziel hierf¨ ur sei der Mars. Neovius beschrieb die Realisierung des Projekts in seiner Brosch¨ ure V˚ ar tids st¨orsta uppgift (Die gr¨ oßte Aufgabe unserer Zeit), die 1875 erschien. Die Nachrichten zum Mars sollten als Lichtsignale unter Verwendung einer Zeichensprache gesendet werden, der die Vorstellung von der Gleichartigkeit des Intellekts auf allen Himmelsk¨ orpern zugrunde lag. Neovius vermachte einen Teil seiner Ersparnisse, um diesbez¨ ugliche Forschungsarbeiten zu unterst¨ utzen. Mit der Zunahme des astronomischen Wissens verloren die Neoviusschen Ideen allm¨ ahlich den Bezug zur Wirklichkeit und endeten im Reich der Phantasie.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Auf dem Boden der Realit¨ at blieb er dagegen mit seinem jahrzehntelang w¨ ahrenden Kampf um die Einf¨ uhrung des metrischen Systems in Finnland. Der Beschluß, zum metrischen System u ¨berzugehen, wurde 1886 gefaßt, ein Jahr nachdem Edvard Neovius – zum Generalmajor bef¨ordert – an der Kadettenschule pensioniert wurde und nach Helsinki umgezogen war. Im Ruhestand widmete sich der umtriebige General der Durchsetzung des metrischen Systems und war noch einige Zeit vor seinem Tod als erster Leiter der neugegr¨ undeten Kalibrierungskommission t¨ atig. Edvard Neovius starb sieben Jahre vor der Geburt Rolfs, eines Sohnes seines j¨ ungsten Sohnes. Rolf berichtet in seinen Memoiren, wie sehr sein Großvaterbild von der Widmung Vetenskapens v¨arld ¨ ar h¨og och ljus som himmelen (Die Welt der Wissenschaft ist erhaben und klar wie der Himmel) gepr¨agt war. Diese Widmung hatte Großvater Edvard Neovius in eine seiner Abhandlungen geschrieben, die er Rolfs Vater gab. Die Botschaft der Widmung habe Rolf nach dessen eigenen Worten sein ganzes Leben lang begleitet. Wilhelm Engelbert Neovius, Edvard Engelberts Zwillingsbruder, war der erste in der Familie, der Mathematik an der Universit¨at studiert hatte. Der Erfolg war außerordentlich: Er promovierte, wurde Privatdozent der Mathematik und bewarb sich um eine frei gewordene Professur. Wilhelm ging als Studienrat f¨ ur Mathematik an das Gymnasium von Turku, wo er den Rest seines Lebens als hochgesch¨ atzter P¨ adagoge verbrachte. Edvard war ein nachdenklicher Wissenschaftler, sein j¨ ungerer Bruder Frithiof dagegen eher extrovertiert. Nach Abschluß der Kadettenschule arbeitete Frithiof Neovius zwei Jahrzehnte als Lehrer f¨ ur Mathematik und Topographie an verschiedenen milit¨ arischen Ausbildungseinrichtungen in Rußland und kehrte im Alter von 40 Jahren nach Finnland zur¨ uck, wo er als Direktor der Kadettenschule von Hamina t¨ atig war. Der zum Generalleutnant bef¨orderte Frithiof Neovius wurde auch Vertreter des B¨ urgerstands beim St¨andelandtag, was ihm den Spitznamen B¨ urgergeneral“ einbrachte. ” Mannerheim13 war Sch¨ uler der Kadettenschule, als die Br¨ uder Neovius dort unterrichteten. In seinen Erinnerungen charakterisierte Mannerheim die Familie Neovius als ein besonders begabtes Geschlecht.“ Es ist anzunehmen, ” daß diese Einsch¨ atzung aus dem Jahr 1950 auch auf den Einfluß von sp¨ateren Mitgliedern der Familie zur¨ uckgeht. Als Rolf Nevanlinna w¨ahrend des Krieges Mannerheim begegnete, schien dieser immer noch etwas gegen Rolfs Großvater Edvard zu haben, den er als u aßig streng erlebt hatte. In seinen ¨ berm¨ Erinnerungen erw¨ ahnte Mannerheim Edvard jedoch u ¨ berhaupt nicht, sagte aber u ¨ ber den Schuldirektor Frithiof, dieser sei ein guter Erzieher und Administrator gewesen, wenn auch mit einem wenig milit¨arischen Temperament ausger¨ ustet.14 13 14
Carl Gustaf Emil Mannerheim (1867–1951), finnischer Marschall und Staatspr¨ asident (1944–1946). Frithiof Nevanlinna war nicht der Direktor der Kadettenschule, der Mannerheim verwiesen hat, wie mitunter behauptet wurde.
1.8 Romanze in Pulkowo
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1.7 Alternativen der Zeit Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten sich dem gebildeten Teil der finnischen Bev¨ olkerung zwei große Fragen. Das erstarkende Nationalgef¨ uhl zwang sie dazu, zum Finnentum und insbesondere zur Bedeutung der finnischen Sprache Stellung zu nehmen. Als man sich gegen die Maßnahmen Rußlands auflehnte, welche die Autonomie Finnlands untergraben sollten, mußte man sich auch zur Art des Widerstandes bekennen. Mit der Zeit teilten beide Fragen das finnische Volk zunehmend in zwei getrennte Lager. Die Trennlinien verliefen jedoch in diesen beiden F¨ allen nicht immer identisch. Der liberalere Fl¨ ugel der Finnischen Partei, die zur F¨orderung der Stellung der finnischen Sprache gegr¨ undet worden war, bildete bald eine eigene Gruppe und gr¨ undete die Jungfinnische Partei. Zwischen ihr und den Altfinnen“ tat ” sich ein tiefer Graben auf, der auf die Haltung gegen¨ uber den Russifizierungsversuchen zur¨ uckzuf¨ uhren war. Beide Parteien waren vorbehaltlos patriotisch, aber die Altfinnen bevorzugten eine flexible und n¨otigenfalls auch nachgiebige Politik. Die Jungfinnen hingegen vertraten eine strikt verfassungskonforme Politik des passiven Widerstands. Auch die u ¨ berwiegende Mehrheit der schwedischgesinnten Svekomanen vertrat die Politik des Widerstands. Als der finnische Nationalismus zu einer tagespolitisch brennenden Frage geworden war, bezog man auch in der Familie Neovius hierzu Stellung. Die Generalsbr¨ uder drifteten auseinander und vertraten unterschiedliche Richtungen. Frithiof Neovius, Mitglied des St¨ andelandtags und Mitarbeiter von Zeitungen, hatte eine schwedische Gesinnung und stand strikt auf dem Boden des Grundgesetzes; seine drei Kinder verfochten dieselbe Linie weiter. Der Wis¨ senschaftler Edvard war in seinen politischen Uberzeugungen gem¨aßigt und mischte sich kaum in die Streitigkeiten um den finnischen Nationalismus ein. Rolf Nevanlinna nahm sogar an, daß der Sprachenkampf seinem Großvater Edvard, der zur Abgeschiedenheit neigte und mit seinen eigenen Gedanken besch¨ aftigt war, v¨ ollig fremd gewesen sei. Die Familie der Ehefrau stammte urspr¨ unglich aus Schweden. Edvard Neovius ließ sich jedoch dadurch in seinen Ansichten nicht beeinflussen, da er auch f¨ ur die Fennomanen Verst¨andnis hatte. Die S¨ ohne von Edvard Neovius – einer von ihnen war Rolf Nevanlinnas Vater – wurden ausgepr¨ agte Altfinnen. Deswegen kam es zu scharfen Meinungsverschiedenheiten mit den verfassungskonformen Svekomanen des Familienzweiges von Frithiof Neovius; in einigen F¨allen f¨ uhrte dieser Zwist sogar zum Abbruch der Familienbeziehungen.
1.8 Romanze in Pulkowo Rolf Nevanlinnas Großvater v¨ aterlicherseits, General Edvard Engelbert Neovius, hatte neun Kinder, von denen nur eines jung starb. Alle f¨ unf S¨ohne wurden auf die Kadettenschule geschickt. Zwei von ihnen wurden Berufsoffiziere,
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1 Famili¨ arer Hintergrund
w¨ ahrend die drei anderen, Lars, Edvard Rudolf und Otto – Rolf Nevanlinnas Vater – in den Bann der Mathematik gerieten. Edvard Neovius wurde der erste Professor der Familie und Lars ein bedeutender P¨adagoge. Otto Wilhelm Neovius (1867–1927), Rolf Nevanlinnas Vater, wurde wie alle seine ¨ alteren Geschwister in Hamina geboren. Er versp¨ urte keinerlei Neigung zu einer milit¨ arischen Karriere und besuchte nach Abschluß der vier allgemeinbildenden Klassen der Kadettenschule das schwedischsprachige private B¨ o¨ ok-Lyzeum in Helsinki. Mannerheim, der fast auf den Tag genau so alt wie Otto war, hatte anfangs den gleichen Bildungsweg durchlaufen: zuerst die Kadettenschule in Hamina und anschließend das B¨o¨ok-Lyzeum. An der Universit¨ at folgte Otto Neovius dem Beispiel seines Onkels und seiner zwei Br¨ uder und w¨ ahlte Mathematik und Physik als Hauptf¨acher. Nach dem Grundstudium neigte Otto mehr zur Physik und schrieb seine Doktorarbeit u ¨ ber die Spektrallinien des Stickstoffs und des Sauerstoffs der Luft. In Helsinki war es nicht m¨ oglich, die zur Arbeit erforderlichen Experimente durchzuf¨ uhren; deswegen reiste Otto an das renommierte Observatorium Pulkowo unweit von St. Petersburg.
Abb. 1.6. Der junge Otto Neovius.
1.8 Romanze in Pulkowo
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Der Aufenthalt in Pulkowo war wissenschaftlich ergiebig, und Otto promovierte bald nach seiner R¨ uckkehr im Alter von 24 Jahren. Der Besuch in Pulkowo hatte auch eine andere ungeahnte Folge. In der dortigen Sternwarte wirkten seit l¨ angerer Zeit Deutsche, h¨ aufig auch als Direktoren. Als Otto in Pulkowo arbeitete, war der Deutsche Herman Romberg dort als festangestellter Astronom t¨ atig. Neben seiner intensiven wissenschaftlichen Arbeit war Otto auf Rombergs attraktive 17-j¨ ahrige Tochter Margareta15 aufmerksam geworden, einer lebhaften und energischen jungen Frau. Margareta, die in Berlin geboren war und das deutschsprachige Internat in Tartu (Dorpat) besucht hatte, wurde ihrerseits aufmerksam auf den gut aussehenden, stillen jungen Mann, der drei Jahre ¨ alter war als sie, als hervorragender Forscher galt, Sohn eines Generals und Bruder eines Professors war. Otto war bei den Frauen beliebt, denn als er 1888 von seinem Sommerurlaub nach Pulkowo zur¨ uckkehrte, verfaßte ein M¨adchen folgendes Gedicht u ¨ ber ihn: Er kam von seiner Reise Zur¨ uck nach Pulkowo. Die Damen aller Kreise Sie wurden schrecklich froh. Und als er nun gekommen Mit altgewohntem Chick Ergl¨ uht’ in manchem Damenaug’ Ein l¨ angst vergessenes Gl¨ uck: H¨ ubsch Krawatten, Schnabelschuhe, Alles wie aus einem Guss, Raubt den Damen Herzensruhe, Und das tut NEOVIUS! Ein ¨ ahnliches Gedicht h¨ atte man u ¨ber Rolf Nevanlinna schreiben k¨onnen, der bei den Frauen ebenfalls beliebt war, obgleich seine Bekleidung nicht ganz so gute Noten erhalten h¨ atte. Otto und Margareta waren durch ein gemeinsames Interesse f¨ ur Musik miteinander verbunden. Margareta, die Klavier spielte, wurde einmal darum gebeten, bei einem geselligen Beisammensein zu Hause aufzutreten. Der Vater setzte eine Sonate von Beethoven auf das Programm, die Margareta seit Monaten nicht mehr gespielt hatte. Die Auff¨ uhrung wurde h¨oflich gelobt, aber als Margareta Ottos Meinung h¨ oren wollte, zeigte der junge Mann das f¨ ur die Neovius-Nevanlinnas typische Selbstbewußtsein, wenn es um Musikkritik ging. Ottos Antwort war kurz und b¨ undig: Schrecklich!“ Nach dieser Antwort be” schloß Margareta, das Klavierspiel gut zu erlernen, und begann unverz¨ uglich, 15
Der offizielle Name ist Margarete. Ich benutze hier die Form, die Rolf Nevanlinna f¨ ur seine Mutter verwendet hat. Dasselbe gilt auch f¨ ur den Namen Herman, der urspr¨ unglich Hermann geschrieben wurde.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Stunden bei einem Pianisten zu nehmen, der vom Moskauer Konservatorium gekommen war und unl¨ angst nach Pulkowo geheiratet hatte. Ein Jahr nach der ersten Begegnung verlobten sich Otto und Margareta. Die Braut kam im Sommer nach Finnland, um Ottos Familie zu treffen, die ihrer Meinung nach die Verlobung u ¨ berhaupt nicht gerne sah. In Pulkowo begann Margareta, fieberhaft Schwedisch zu lernen und sich in die Verh¨altnisse und die Geschichte Finnlands zu vertiefen, u ¨ ber die sie nichts wußte“. Die ” Hochzeit fand im Sommer 1892 statt, nachdem Otto promoviert und seine erste feste Arbeitsstelle erhalten hatte. Die Hochzeitsreise f¨ uhrte das junge Paar zu den ˚ Aland-Inseln, ¨ ahnlich wie die neuverm¨ahlten Rolf und Mary Nevanlinna 27 Jahre sp¨ ater.
1.9 Die Familie Romberg Die Beschreibung des famili¨ aren Hintergrunds von Rolf Nevanlinna f¨allt in die Zeit der patriarchalischen St¨ andegesellschaft, als Frauen nur wenige Ausbildungsm¨ oglichkeiten hatten. Die gesellschaftliche Stellung und der Beruf des Vaters pr¨ agten das Familienmilieu. Aus diesem Grund ist die Suche nach den famili¨ aren Einfl¨ ussen auf den geistigen Boden Rolf Nevanlinnas hier haupts¨ achlich auf die Linie Vater-Sohn beschr¨ankt. Die alleinerziehende Charlotta (Burgman) Neovius ist eine Ausnahme. In seinen Memoiren sagt Rolf Nevanlinna nicht viel u ¨ ber die Herkunft seiner Mutter. Zudem stimmen nicht alle dieser sp¨arlichen Angaben mit dem u ¨ berein, was im Nachruf auf den Astronomen Herman Romberg (1836–1898) steht, den Vater von Rolfs Mutter. Der Vater Herman Rombergs und sein Großvater v¨aterlicherseits waren Pfarrer. Rolf hat erz¨ ahlt, daß der Großvater eine historische Leistung vollbracht habe. Er hielt n¨ amlich als Hofprediger Preußens den Dankgottesdienst auf dem Marsfeld in der N¨ ahe des heutigen Eiffelturms, nachdem 1814 die Gegner Napoleons Paris erobert hatten. Herman Romberg war ein Geistesverwandter der Familie Neovius. Bereits als Sch¨ uler schlug ihn der Sternenhimmel in seinen Bann, und diese Begeisterung hielt sein ganzes Leben lang an. Die Mathematik interessierte ihn dermaßen, daß er nach dem Gymnasialabschluß beschloß, dieses Fach zu studieren. Neovianische Eigenschaften waren auch die Liebe zur wissenschaftlichen Arbeit, das Interesse f¨ ur Musik und die kosmopolitische Veranlagung. Es gab auch Unterschiede: Der Gedanke, Lehrer zu werden, war ihm so zuwider, daß er sein Hauptfach wechselte und Astronomie anstelle von Mathematik belegte. Nach dem Studium in Berlin fand Herman Romberg seine erste Arbeitsstelle in England als Direktor einer privaten Sternwarte. Nach zwei Jahren kehrte er nach Berlin zur¨ uck und heiratete dort Anna Behn. Die 1870 in Berlin geborene Tochter Margareta sollte 25 Jahre sp¨ater in Joensuu Rolf Nevanlinna auf die Welt bringen.
1.9 Die Familie Romberg
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Abb. 1.7. Der Astronom Dr. h.c. Herman Romberg, Rolf Nevanlinnas Großvater m¨ utterlicherseits, verbrachte den gr¨ oßten Teil seines Berufslebens in der Sternwarte von Pulkowo in der N¨ ahe von St. Petersburg. Die Familie zog nach Rußland, als Rolfs Mutter Margareta drei Jahre alt war.
Abb. 1.8. Anna Romberg, Rolf Nevanlinnas Großmutter m¨ utterlicherseits, in ihrer Berliner Wohnung im Jahr 1912.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Als Margareta drei Jahre alt war, u ¨ bersiedelte die Familie nach Rußland, nachdem Herman einen Ruf an die Sternwarte von Pulkowo erhalten hatte, wo er 21 Jahre lang t¨ atig war – den Hauptteil seines Berufslebens. Die Astronomische Gesellschaft, eine internationale Organisation der Astronomen, ver¨offentlichte 1899 in ihrer Zeitschrift einen Nachruf auf Herman Romberg. In diesem Nekrolog hieß es, daß Herman Rombergs Lebenswerk ihm einen sichtbaren Platz in der Geschichte der praktischen Astronomie garantiere. Auch in der Sowjetunion wurde man auf seine Verdienste als Verfasser eines großen Sternenverzeichnisses aufmerksam. In Ver¨ offentlichungen u ¨ ber die Sternwarte von Pulkowo und in der Geschichte der russischen Astronomie wird seine T¨atigkeit gew¨ urdigt. Den Eindruck, den er von seinem Großvater Herman gewonnen habe, so erz¨ ahlte Rolf Nevanlinna, habe er aufgrund von Aussagen seiner Verwandten erhalten. Nach seiner Vorstellung sei dieser Großvater ein einsamer, oft schwerm¨ utiger Mann gewesen, der sich in seine wissenschaftliche Arbeit vertiefte. Ganz sicher hat er sich seiner Arbeit hingegeben, aber im Nachruf wurde er als liebensw¨ urdiger und geselliger Mensch geschildert. Insbesondere wurde seine Bereitschaft hervorgehoben, anderen zu helfen. Dabei scheute er weder M¨ uhen noch Opfer. Das war auch eine charakteristische Eigenschaft seines Enkelsohns Rolf. Nach seiner Pensionierung in Pulkowo zog Herman Romberg wieder zur¨ uck nach Berlin. Er war nicht mehr imstande, seine astronomischen Beobachtungen fortzusetzen, freute sich aber u urde, die ihm die ¨ber die Ehrendoktorw¨ Universit¨ at K¨ onigsberg verliehen hatte. Herman Romberg starb 1898 in Berlin. Rolf war damals drei Jahre alt, glaubte aber sein ganzes Leben lang, er sei erst geboren worden, nachdem auch dieser Großvater gestorben war. Die Familienchronik der Rombergs, die sich im Besitz von Margareta Nevanlinna befand, wurde 1939 am ersten Tag des Winterkrieges vernichtet, als in Helsinki eine Bombe in ihr Haus einschlug. Was zu diesem Zeitpunkt noch an Dokumenten zur Familie Romberg erhalten blieb, ging im Februar 1944 verloren, als eine weitere Bombe Margaretas neue Wohnung traf. Herman Rombergs fr¨ ohliche und gesellige Frau Anna lebte bedeutend l¨ anger als ihr Mann und besuchte hin und wieder ihre Tochter in Finnland. In den 1920er Jahren wohnte sie sogar drei Jahre bei Otto und Margareta in Helsinki. Rolf besaß damals bereits eine eigene Wohnung, aber er hatte viele Erinnerungen an diese Großmutter.
1.10 Joensuu Otto Neovius neigte bereits als junger Mann zum tiefgr¨ undigen Nachdenken. Er war eine Forschernatur, f¨ ur den die Universit¨at ein nat¨ urliches Arbeitsumfeld gewesen w¨ are, aber in Finnland gab es zu dieser Zeit nur wenige ¨ akademische Amter. Otto wechselte die Blickrichtung und wandte sich dem
1.10 Joensuu
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Schulwesen und dem Lehrerberuf zu, einem Gebiet, auf dem die Familie traditionell t¨ atig war. Die Bewerbung um eine feste Anstellung wurde durch den Wunsch beschleunigt zu heiraten. Die Arbeitsstelle f¨ uhrte den promovierten jungen Mann und seine deutsche Frau nach Joensuu. Als Junggeselle h¨ atte er sich leisten k¨ onnen zu warten: Ottos Cousin, der drei Jahre j¨ ungere Ernst Lindel¨ of, blieb sein ganzes Leben lang unverheiratet und setzte nach der Promotion seine mathematischen Studien zielgerichtet fort, ohne sich in dieser Zeit intensiver um einen dauerhaften Broterwerb zu k¨ ummern. W¨ ahrend Otto im abgelegenen Joensuu unterrichtete, hielt sich Ernst zweimal ein ganzes Jahr in Paris auf, dem damaligen Zentrum der mathematischen Forschung. Als im Jahr 1900 die Mathematikprofessur an der Universit¨ at Helsinki unerwartet vakant wurde, nachdem Edvard Neovius zum Senator gew¨ ahlt worden war, hatte Ernst Lindel¨of die erforderliche Qualifikation erworben und wurde auf den Lehrstuhl berufen. Joensuu war im 19. Jahrhundert eine kleine Stadt in Nordkarelien fernab von den Hauptstr¨ omungen des kulturellen Lebens. Als Handelsplatz erlangte Joensuu jedoch nach Vollendung des Saimaa-Kanals eine zunehmende Bedeutung, denn damit war eine Schiffsverbindung nach St. Petersburg er¨offnet worden. Wohlhabend gewordene Gesch¨ aftsleute waren so fortschrittlich, daß sie f¨ ur ihre S¨ ohne eine finnischsprachige, zur Universit¨at f¨ uhrende Schule haben wollten. Auf ihren Vorschlag wurde das Gymnasium von Joensuu gegr¨ undet – in der zeitlichen Reihenfolge die zweite finnischsprachige h¨ohere Schule in Finnland. Der Umzug nach Joensuu bedeutete f¨ ur Otto einen großen Umbruch im Leben, und noch gr¨ oßer mußte dieser Umbruch f¨ ur die junge Margareta nach ihren Jahren in Berlin und St. Petersburg gewesen sein. Als sie nach Joensuu umzogen, gab es eine Zugverbindung von Helsinki nach Viborg16 , aber den Rest der Reise mußte das junge Ehepaar mit dem Schiff zur¨ ucklegen. Als das Schiff an einem tr¨ uben Herbstabend von Savonlinna ablegte, um weiterzufahren, blieb Margareta der Moment in Erinnerung, an dem sie zusammen mit Otto auf dem Deck des Schiffes stand, das den stockdunklen und st¨ urmischen See durchpfl¨ ugte. Dabei sprachen sie u unftiges Leben. ¨ ber ihr gemeinsames zuk¨ Margareta beschrieb ihr Gef¨ uhl mit einem einzigen Wort: Geborgenheit. Als Otto und Margareta im folgenden Jahr von einem Besuch aus Pulkowo zur¨ uckkehrten, fuhren sie mit dem Zug auf der gerade erst fertiggestellten Bahnlinie nach Sortavala; von dort legten sie den Rest des Weges nach Joensuu mit einem Pferdeschlitten zur¨ uck. In seinen Memoiren erz¨ahlt Rolf, daß Otto als Reiseausr¨ ustung ein Gewehr mitgenommen habe, um mit Warnsch¨ ussen W¨ olfe von den verlassenen Waldwegen vertreiben zu k¨onnen. Margareta, die ihr erstes Kind erwartete, spricht in ihren Aufzeichnungen zwar nicht u ¨ ber W¨ olfe, aber gewiß gab es f¨ ur die junge urbane Frau auch ohne W¨olfe gen¨ ugend Staunenswertes.
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Viborg, die gr¨ oßte Stadt Kareliens, geh¨ ort heute zu Rußland.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Abb. 1.9. Margareta Neovius und die Kinder Rolf und Frithiof in Joensuu im Jahr 1896.
1.11 Von Neovius zu Nevanlinna
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Die Lehrer des Gymnasiums von Joensuu waren angesehene B¨ urger, darunter viele, die promoviert hatten. Die Unterrichtssprache am Gymnasium war Finnisch, das sich Otto Neovius, Studienrat f¨ ur Mathematik und Naturwissenschaften, rasch aneignete. Bald sprach er fließend Finnisch, obwohl er einige st¨ orende Fehler nie los wurde. Zuhause sprach man anstelle von Deutsch nunmehr Schwedisch, das Margareta schnell erlernte. Otto mied das gesellschaftliche Leben so gut wie m¨ oglich und auch Margareta hatte nichts dagegen, daß sie zuhause meistens unter sich waren. Otto Neovius unterrichtete 11 Jahre lang am Gymnasium von Joensuu. In Joensuu kamen alle vier Kinder der Familie in den Jahren des Karelianismus17 zur Welt. Zuerst wurde 1894 Frithiof geboren, ein Namensvetter des Großonkels, und ein reichliches Jahr danach kam Rolf auf die Welt. Ein weiteres Jahr sp¨ ater folgten Anna und 1901 das j¨ ungste Kind Erik, das die Mutter nach ihren eigenen Worten besonders verw¨ ohnt habe.
1.11 Von Neovius zu Nevanlinna Eine neue Welle der Fennisierung anl¨ aßlich von Snellmans 100. Geburtstag ¨ f¨ uhrte im Mai 1906 zu einer weitl¨ aufigen Ubersetzungsaktion: Nachnamen wurden fennisiert. Auch die Familie Neovius stand vor der Wahl. Ernst Neovius, ein Cousin zweiten Grades von Otto, trat energisch daf¨ ur ein, daß der Name Neovius ins Finnische u ¨ bertragen werden sollte, und hatte auch einen passenden Namen bereit. Die an der Newa-M¨ undung im Gebiet des heutigen St. Petersburg gelegene Festung Nyenskans und die Stadt Nyen, die um die Festung herum entstanden ¨ war, trugen den lateinischen Namen Neovia. Aus der ¨außerlichen Ahnlichkeit wurde geschlußfolgert, daß sich der Name Neovius von Neovia ableiten lasse. Man war der Meinung, daß die Familie aus Ingermanland18 stamme. Diese Meinung paßte gut zum herrschenden nationalromantischen Geist der Jahrhundertwende: Karelien und Ingermanland waren in Mode gekommen. Man konnte sich leicht vorstellen, daß der Stammvater der Familie zu Beginn des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) aus dem von den Russen eroberten Neovia nach H¨ ame gefl¨ uchtet war. Folglich w¨ urde sich der finnische Name Nevanlinna19 der Festung Neovia ausgezeichnet als neuer Nachname eignen. Die irrige Annahme bez¨ uglich des Ursprungs des Namens Neovius war noch in der ersten finnischsprachigen Enzyklop¨ adie zu finden. Jedoch bewies eine 1937 durchgef¨ uhrte Recherche u ¨ ber die famili¨aren Wurzeln, daß keinerlei Verbindungen zur Festung an der Newa bestanden. 17
18 19
Als Karelianismus bezeichnet man die idealisierende Begeisterung f¨ ur Karelien, die in den 1890er Jahren in der Literatur, in der Musik und in der bildenden Kunst ihre Bl¨ ute erlebte und mit der finnischen Nationalromantik zusammenhing. Gebiet der finnischst¨ ammigen Ingermanen westlich von St. Petersburg. Neva ist der finnische Name des Flusses Newa und das finnische Wort linna bedeutet Burg.
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1 Famili¨ arer Hintergrund
Neben Ernst bef¨ urwortete auch Rolfs Onkel Lars die Fennisierung des Nachnamens vorbehaltlos. Er ver¨ anderte sogar seinen Vornamen zu Lauri. Onkel Edvard und Rolfs Vater Otto nahmen eine mittlere Position ein und ereiferten sich nicht f¨ ur eine Namens¨ anderung. Sie trafen unterschiedliche Entscheidungen. Edvard, der nach D¨ anemark u ¨bersiedeln wollte, behielt den Namen Neovius bei, wohingegen Otto den Familiennamen ¨anderte. In der Praxis hatte der Fennisierungsprozeß bei Otto in Joensuu eingesetzt, wo er auf Finnisch unterrichtete und wo die Kinder in die finnischsprachige Schule gingen. Im Winter 1903, seinem letzten Winter in Joensuu, dachte Otto seinem Charakter entsprechend lange und gr¨ undlich u ¨ber sein Verh¨altnis zum Finnentum nach und vertiefte sich dabei in Snellmans Schriften. Das Endergebnis war klar. Er wollte sich mit dem finnischen Volk identifizieren, ¨ das die Mehrheit bildete und aus dem seine eigene Familie stammte. Uber die Gr¨ unde seiner Entscheidung schrieb er eine politische Brosch¨ ure. Otto und seine Familienangeh¨ origen wurden zu Nevanlinnas. Die Entscheidung war in der Familie außergew¨ohnlich, weil 1906 nur Ernst und sein einziger Bruder sowie die Br¨ uder Lars und Otto den Namen Nevanlinna angenommen hatten. W¨ ahrend des Kalevala-Jubil¨aumsjahres 1935 kamen durch Namens¨ anderungen noch einige zus¨atzliche Nevanlinnas hinzu, aber die heutigen Nevanlinnas sind fast ausnahmslos Nachkommen von Otto Nevanlinna. Zur Zeit der Namens¨ anderung war Rolf noch nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen, aber der Vater erkl¨ arte dem 10-j¨ahrigen Rolf die Snellmansche Ideenwelt und Rolf d¨ urfte die Angelegenheit auch mit seinem fr¨ uhreifen großen Bruder Frithiof besprochen haben. Frithiof schwor sein ganzes Leben lang auf den Namen Snellman und las dessen Werke auch noch im Alter. Nach Art der Nevanlinnas ¨ argerten ihn die schwerverst¨andlichen Stellen in den Schriften Snellmans, der sich nicht die M¨ uhe gemacht habe, an seinem Text ausreichend herumzufeilen. Die Snellmanschen Lehren schwelten in Rolfs Gedanken. Sie beeinflußten ¨ seine Uberzeugungen, als er selbst begann, zur Sprachenfrage Stellung zu nehmen und Anfang der 1930er Jahre politisch aktiv zu werden.
2 Der Weg zum Forscher
2.1 Das Elternhaus Die Kinder von Otto und Margareta Neovius wurden zweisprachig. Zuhause sprachen die Eltern miteinander haupts¨ achlich Schwedisch und manchmal auch Deutsch. Die Kinder sprachen kein Deutsch; mit der Mutter und gew¨ohnlich auch mit dem Vater unterhielten sie sich auf Schwedisch. Ansonsten war in Joensuu das Finnische die Sprache ihrer Umgebung, und als die Familie nach Helsinki umzog, trug die finnischsprachige Schule dazu bei, daß alle Kinder haupts¨ achlich Finnisch sprachen. Rolf Nevanlinna hat erz¨ ahlt, daß er kaum Erinnerungen an die ersten acht Jahre seines Lebens in Joensuu habe. Der Grund, den er hierf¨ ur angab, klingt verbl¨ uffend. Er hielt sich f¨ ur einen Sp¨ atentwickler. Er meinte, daß solche Kinder in der Regel nur sp¨ arliche Erinnerungen an die Zeit ihrer fr¨ uhen Kindheit haben. Auch sp¨ ater sprach er u ¨ ber seine langsame Entwicklung, als er sich mit seinem begabten Bruder Frithiof verglich, der nur knapp ein Jahr ¨alter war. Rolfs schulische Anf¨ ange waren dornenvoll. Im Herbst 1902 wurde er in die private Grundschule von Vatanen in Joensuu eingeschult und direkt in die zweite Klasse versetzt, weil er das Lesen und Schreiben bereits gelernt hatte, indem er seinem Bruder Frithiof bei den Hausaufgaben zugeschaut hatte. Im ersten Zeugnis, das am Ende des Winterhalbjahrs ausgeteilt wurde, erhielt Rolf f¨ ur Sorgfalt und Aufmerksamkeit die Note 6 ( ausreichend“).1 Die ” Schuldirektorin erkl¨ arte, daß der Junge zwar nicht unartig, aber zu wenig entwickelt sei, um die Schulordnung zu verstehen. Auch als Erwachsener saß Rolf mitunter nicht gerne in Unterrichtsstunden, aber in der Schule von Vatanen hatte er es mit dem Verweilen in seinen eigenen Welten u ¨bertrieben: W¨ahrend der Stunden verschwand er unter dem Pult, um Interessanteres zu tun, zum Beispiel Eisenbahn zu spielen. 1
Auf der Zensurenskala war 4 die schlechteste und 10 die beste Note.
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2 Der Weg zum Forscher
Die Note, die er f¨ ur Sorgfalt“ erhielt, hatte weitreichende Folgen: Rolf ” weigerte sich rundweg, weiter in die Schule zu gehen. Da war nichts zu machen: Der Schulbesuch wurde unterbrochen und das sogar f¨ ur anderthalb Jahre. Erst ein Jahr nach dem Umzug der Familie nach Helsinki setzte Rolf den Schulbesuch fort und kam als Sch¨ uler in die dritte und h¨ochste Klasse der privaten Grundschule Alli Nissinen. In dieser Zeit strengte er sich mit dem Lernen nicht besonders an, aber die Mutter hatte stets ein waches Auge auf ihn. Sie u ¨ bernahm die Rolle der Hauslehrerin – ¨ahnlich wie Charlotta Neovius zwei Generationen fr¨ uher ihre S¨ ohne auf die Schule vorbereitet hatte. Mit dem Rechnen hatte Rolf keine Probleme. W¨ ahrend der Jahre in Joensuu nahm Rolfs Elternbild allm¨ahlich Gestalt an und gewann sp¨ ater mit Rolfs zunehmender Reife an Tiefe. Gem¨aß den zeitgen¨ ossischen Beschreibungen f¨ uhrten Otto und Margareta eine gl¨ uckliche Ehe. Sie waren 35 Jahre miteinander verheiratet und die Ehe endete mit dem pl¨ otzlichen Tod des 60-j¨ ahrigen Otto vor der Klasse im Normallyzeum2 in Helsinki. Als Pers¨ onlichkeiten waren Rolfs Eltern ganz verschieden. Otto war ein ¨ logisch denkender Wissenschaftler, der nach reiflicher Uberlegung zu den fe¨ sten Uberzeugungen seines Wertesystems kam. An diesen hielt er dann unersch¨ utterlich fest. Bei der Erziehung der Kinder herrschten Disziplin und Ordnung und Otto betonte die Wichtigkeit der Schulbildung. Unter den Nachkommen zirkuliert Ottos Spruch Ab in die Schusterlehre!“, wenn ihn das ” Schulzeugnis der Kinder nicht vollst¨ andig zufriedenstellte. In seiner Arbeit strebte Otto nach einer m¨oglichst guten Leistung; Oberfl¨ achlichkeit und Schludrigkeit kamen nicht in Frage. Der ¨alteste Sohn Frithiof, dessen Kollege ich sp¨ ater als Mathematikprofessor wurde, erz¨ahlte mir, daß er als Erwachsener ein Bild seines Vaters an der Wand seines Arbeitszimmers hatte. Wenn er w¨ ahrend der Arbeit erm¨ udete oder seine Zuversicht nachließ, dann gen¨ ugte ein Blick auf das ruhig-kraftvolle Gesicht des Vaters, um neue Energie zu tanken. Otto hatte den Ruf eines strengen und anspruchsvollen Lehrers. Sein unbestritten außergew¨ ohnliches p¨ adagogisches Talent milderte diese Charakterisierung ab. Seine Ausstrahlung war auf die gr¨ undliche fachliche Beherrschung der Materie und die vollkommene Hingabe an die Unterrichtst¨atigkeit zur¨ uckzuf¨ uhren. Otto konnte einen großen Erfolg f¨ ur sich verbuchen: Rolf interessierte sich in der Schule nicht wirklich f¨ ur Mathematik, bis ihn der Vater, der in der Endphase der Schulzeit sein Lehrer wurde, auf andere Gedanken brachte. Als Oberstudienrat f¨ ur Mathematik im finnischsprachigen Normallyzeum war Otto Nevanlinna auf seinem Gebiet die Autorit¨at in Finnland. Insbesondere war er ein Lehrer der guten Sch¨ uler. Nicht alle f¨ uhlten sich in Mathematik zuhause, weswegen Ottos Ruf im Normallyzeum zu einem guten Teil auf Angst und Schrecken beruhte.
2
Humanistisches Gymnasium.
2.1 Das Elternhaus
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Otto ging ganz in seiner Arbeit auf und hielt Distanz zu anderen Menschen. Er war jedoch alles andere als unnahbar. Rolf hob die humanistische Einstellung seines Vaters hervor und erinnerte sich gerne an eine Bemerkung Eino Kailas3. Eino Kaila und Rolf begleiteten Otto einmal zum Zug. Zum Abschied winkte ihnen Otto von der T¨ ur des Zuges zu und l¨achelte. Ein ” Mensch, der so l¨ achelt, kommt bestimmt in den Himmel“, sagte Kaila, als der Zug abfuhr. Frithiof und Rolf, so wie ich sie kannte, verehrten und bewunderten ihren Vater vorbehaltlos. Als Sechzigj¨ ahriger bekannte Rolf, daß er sich vielleicht keinem anderen Menschen so verbunden gef¨ uhlt habe wie seinem Vater. Rolfs Mutter kam aus einem fremden Land; sie war ein Willens- und Gef¨ uhlsmensch und ließ sich von starken Sympathien und Antipathien leiten. Ihr fehlte die logische Konsequenz, die ein Wesenszug Ottos war. Rolf meinte in seinen alten Tagen, daß der Vater ¨außerst objektiv gewesen sei, die Mutter hingegen der vielleicht subjektivste Mensch, den er je in seinem Leben gekannt habe. Die Mutter konnte ihren negativen Gef¨ uhlen gelegentlich auch ohne Umschweife freien Lauf lassen. Sie handelte schnell und ohne zu z¨ ogern auf ihre energische Art und Weise. W¨ahrend Otto noch nachdach¨ und Kiefernzapfen aus te, hatte Margareta die Dinge nach dem Motto Aste ” dem Weg!“ bereits angepackt. Manchmal habe sie es u ¨ bertrieben, meinten die Kinder und regten sich dar¨ uber auf. Aus den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter geht hervor, daß sie an Gott glaubte und bewußt danach strebte, ein guter Mensch zu sein. Das ¨außerte sich in dem selbstlosen Wunsch, anderen zu helfen. Ihre uneigenn¨ utzige Hilfsbereitschaft zeigte sich in den Sommerferien, die die Familie zuerst in Sammatti und dann in Padasjoki verbrachte. Ihre unvollst¨andigen Finnischkenntnisse verrieten zwar die ausl¨ andische Herkunft. Das war f¨ ur die Mutter jedoch kein Hindernis, gute Kontakte zu den Ortsbewohnern zu kn¨ upfen. Mit ihrem Medizinkoffer zog sie durch die Gegend und pflegte Kranke. Bei diesen Besuchen gewann sie viele Freunde. Die junge Frau paßte sich m¨ uhelos an ihr neues Leben mit allen Anforderungen des fremden Landes an. Das machte das Zusammensein mit Otto leichter. Emotional nahm sie jene Wertevorstellungen an, die Ottos Leben bestimmten. Sie war ein intellektuell neugieriger Mensch und bewahrte ihre Wißbegierde ihr ganzes Leben lang. Noch im Alter von fast 80 Jahren gab sie Klavierstunden, unterrichtete Deutsch und gelegentlich auch Franz¨osisch; dar¨ uber hinaus lernte sie selbst eifrig Englisch. Rolf kam aus einem gebildeten Haus der alten Zeit. In Joensuu h¨orte er vor dem Einschlafen die Stimme des Vaters, wenn dieser der Mutter im Schein der Tischlampe Zola, Balzac oder Flaubert in der klangvollen franz¨osischen Sprache vorlas. Unter dem Fl¨ ugel liegend h¨orte Rolf seiner Mutter beim 3
Der Philosoph Eino Kaila (1890–1958) war ein enger Freund Rolf Nevanlinnas. Als Gelehrter und Universit¨ atsprofessor pr¨ agte Kaila das finnische Kulturverst¨ andnis nachhaltig.
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2 Der Weg zum Forscher
Klavierspiel zu und machte so bereits als kleiner Junge die Bekanntschaft mit den Werken von Beethoven, Brahms, Chopin und anderen Meistern. Die Musik hatte im Leben der Familie einen so betont hohen Stellenwert, daß sie den Kindern bereits von klein auf ins Blut u ¨berging. Rolf hat geschrieben, daß bei ihnen zuhause ein guter Geist herrschte. Ich ” glaube nicht, daß ich meiner wunderbaren Mutter unrecht tue, wenn ich die Bewahrung der h¨ auslichen Harmonie u ¨ berwiegend als Verdienst meines Vaters ansehe; Vater zeigte in allen menschlichen Beziehungen, besonders aber der Mutter gegen¨ uber, eine vornehme Ritterlichkeit.“
2.2 Umzug nach Helsinki Im August 1903 zog die Familie nach Helsinki, als Otto Neovius als Nachfolger seines Bruders Lars zum Oberstudienrat des schwedischsprachigen Reallyzeums4 ernannt wurde, nachdem Lars in die Oberverwaltung f¨ ur Schulwesen aufger¨ uckt war. Otto nahm auch eine T¨ atigkeit als Teilzeitlehrer in der Finnischen Koedukationsschule (Suomalainen Yhteiskoulu, SYK) an. Lange hatten Rolfs Vorfahren v¨ aterlicherseits nirgends richtig Wurzeln schlagen k¨ onnen, denn die Arbeit hatte sie an die verschiedensten Orte in Finnland verschlagen, aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Familie allm¨ ahlich in Helsinki ans¨ assig. Als Otto Neovius nach Helsinki u ¨ bersiedelte, lebten seine ¨ alteren Mathematiker-Br¨ uder Lars und Edvard bereits seit langem dort. Beide hatten die Offizierslaufbahn in Warschau begonnen; nachdem sie jedoch erkannt hatten, das falsche Fachgebiet gew¨ahlt zu haben, gingen sie nach Z¨ urich, um dort an der Eidgen¨ossischen Technischen Hochschule (ETH) zu studieren. Nach einem Jahr kehrte Lars nach Finnland zur¨ uck und schloß sein Universit¨ atsstudium mit einer Dissertation in Mathematik ab. Er arbeitete als Lehrer in verschiedenen Schulen in Helsinki und wurde schließlich Oberinspektor f¨ ur mathematische F¨acher in der Oberverwaltung f¨ ur Schulwesen. Seine Lehrb¨ ucher der Geometrie und der Algebra wurden in den finnischen Schulen jahrzehntelang verwendet. Sein Bruder Edvard, der ein Jahr j¨ unger als Lars war, blieb in Z¨ urich und schloß dort als Maschinenbauingenieur ab. W¨ahrend seines Postgraduiertenstudiums in Z¨ urich und in Dresden fand er immer mehr Gefallen an Mathematik; nach seiner R¨ uckkehr nach Finnland promovierte er, setzte danach seine mathematische Forschungsarbeit unabl¨ assig fort und wurde schließlich 1883 zum Professor der Mathematik berufen. Er trat im Sommer 1900 von der Professur zur¨ uck, nachdem er den ihm angetragenen Auftrag angenommen hatte, als Leiter der Finanzkommission des Senats t¨ atig zu werden. Er verlor seinen Senatorensitz f¨ unf Jahre sp¨ater, als sich die politische Situation ge¨ andert hatte. Die Zeit im Senatorenamt war schwer gewesen, weil die Konstitutionalisten, welche die ¨offentliche Meinung dominierten, die Altfinnen beinahe zu Landesverr¨atern abstempelten. 4
Realgymnasium.
2.2 Umzug nach Helsinki
q ? Wilhelm Neovius (1823–1872) Dozent d. Math.
q ? Lars Neovius (1850–1916) Dr. d. Math.
Johan Adolf Neovius – Charlotta Burgman (1787–1833) (1802–1884) Pfarrer Lehrerin
q ?
q
Edvard E. Neovius – (1830–1895) Generalmajor Mathematiklehrer
q ?
Edvard R. Neovius (1851–1917) Prof. d. Math.
q
29
q ?
Elise Krogius (1829–1904)
Frithiof Neovius (1823–1888) Generalleutnant Mathematiklehrer
q ?
– Margareta Romberg Otto Neovius (1867–1927) (1870–1955) Oberlehrer f. Math.
q ?
Frithiof Nevanlinna (1894–1977) Prof. d. Math.
q
q ?
Rolf Nevanlinna (1895–1980) Prof. d. Math. Mitgl. d. Akad.
Abb. 2.1. Mathematiker der Familie Neovius-Nevanlinna. Lars und Otto Neovius a ¨nderten 1906 ihren Namen in Nevanlinna um.
Arbeitslos und verbittert verließ Edvard Finnland und zog nach D¨anemark, dem Geburtsland seiner Frau. Eine sp¨ atere Untersuchung hat seinen Ruf wieder hergestellt, als nachgewiesen wurde, daß Senator Edvard Neovius, der die russische Sprache beherrschte, die Interessen Finnlands in jenen schweren Jahren geschickt und mutig verteidigt hat. Onkel Edvard war Kosmopolit, aber auch Rolf, der seine fr¨ uhe Kindheit in Joensuu verbracht hatte, war kein Hinterw¨aldler. Nachdem der Vater Otto ein Stipendium zum Studium der P¨ adagogik erhalten hatte, reiste die ganze Familie – die Eltern und die drei Kinder – nach Berlin, wo sie den Winter im Hause der verwitweten Großmutter verbrachten. F¨ ur den vierj¨ahrigen Rolf war das die erste Auslandsreise, aber er zeigte sich dadurch noch nicht sonderlich beeindruckt. Von Berlin aus unternahm Otto Reisen, die ihn unter anderem nach Paris f¨ uhrten. Bevor sich die Familie dauerhaft in Helsinki niederließ, hatte Rolf dort seine verwitwete Großmutter v¨ aterlicherseits, Elise Neovius, besucht, die am Senatsplatz im sogenannten Magistratshaus wohnte, dessen heutiges Wahrzeichen das Caf´e Engel ist. Der kleine Rolf hatte keine frohen Erinnerungen an die vornehme Frau Generalin; diese hatte ihn n¨amlich zur Strafe f¨ ur einen ausgelassenen kindlichen Streich in einen Wandschrank gesperrt, in dem es nach Naphthalin roch. In Helsinki war Rolfs erstes Zuhause die vom Vater im Stadtteil Kruununhaka gemietete große Wohnung in der f¨ unften Etage des sch¨onen Neurenaissancehauses in der Liisankatu 7, an der Ecke der heutigen Meritullinkatu. Auf der Seite der Meritullinkatu wohnte Onkel Lars mit seiner Familie in demselben Haus, das inmitten niedriger Holzh¨ auser in die H¨ohe ragte. Durch die Nachbarschaft kamen sich die Familien nahe; dar¨ uber hinaus f¨ uhlten sich Lars
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2 Der Weg zum Forscher
und Otto auch durch das brennende Interesse f¨ ur den Mathematikunterricht miteinander verbunden. Rolfs Onkel, Senator Edvard, wohnte in der heutigen Merikatu weit weg im s¨ udlichen Helsinki; seine und Ottos Familie kamen sich nicht so nahe, weil sie nur vier gemeinsame Jahre in Helsinki verbrachten. Hingegen hatte Otto viel mit Ernst Nevanlinna zu tun, einem seiner Cousins zweiten Grades. Ernst machte sich bald einen Namen, erlangte eine Stellung im politischen Leben des Landes und geh¨orte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu den prominenten und einflußreichen Pers¨onlichkeiten in Finnland. Er erbte“ von Edvard Neovius nicht nur das Amt des Leiters ” der Finanzkommission des Senats – das er allerdings nur wenige Monate innehatte –, sondern u ¨ bernahm nach dem Umzug Edvards nach D¨anemark auch die Rolle des Familienoberhauptes. Er war Abgeordneter im Parlament, einer der Gr¨ under der Sammlungspartei, Chefredakteur der konservativen Zeitungen Uusi Suometar und sp¨ ater Uusi Suomi, und 1924 wurde er Professor der Finanzwissenschaften an der Universit¨ at Helsinki. Otto, Lars und Ernst waren Altfinnen und ¨anderten ihren Familiennamen zu Nevanlinna, gaben aber ihre Sprache nicht auf, sondern sprachen weiterhin Schwedisch miteinander. Das Land wurde nach wie vor von den großen politischen Fragen ersch¨ uttert, um die sich ihre Diskussionen h¨aufig drehten. In Ernsts Haus traf Rolf bereits als Sch¨ uler die Leitfiguren der Altfinnen – unter anderen auch J. K. Paasikivi5 –, machte aber auch die Bekanntschaft mit Vertretern der j¨ ungeren Generation, zum Beispiel mit Eino Kaila. Anders als in Joensuu gab es in Helsinki vermehrt Anregungen durch Verwandte. Die Russen waren nicht nur Diskussionsthema, sie waren auch im t¨aglichen Leben allgegenw¨ artig. Rolf hatte von seiner Mutter eine kleine finnische Fahne erhalten, die er auf seinem Schulweg in der Hand hielt, stolz darauf, ein Finne zu sein. Als er am russischen Gymnasium vorbeiging, griffen ihn zwei st¨ ammige Sch¨ uler an, warfen ihn um und rissen seine Fahne in St¨ ucke. Am n¨ achsten Tag erhielt er an der gleichen Stelle wieder eine Tracht Pr¨ ugel, obwohl er diesmal keine Fahne bei sich hatte. Danach mußte Rolf auf seinem Weg zur Schule einen großen Umweg machen, um nicht in die N¨ahe des gef¨ ahrlichen russischen Gymnasiums zu kommen. Die Beziehungen zwischen den Finnen und den Russen waren in dieser Zeit alles andere als freundlich. Im Gymnasium war Russisch ein Pflichtfach, das Rolf deshalb auch lernen mußte. Das Fach wurde in weiten Teilen des Landes mit der Absicht sabotiert, die Sprache so wenig wie m¨oglich zu lernen. Jahrzehnte sp¨ ater erw¨ ahnte Rolf, daß er kaum je in einem Unterrichtsfach seine Ziele so erfolgreich erreicht habe wie beim Boykott des Russischen, wobei er zugab, daß Russischkenntnisse sp¨ ater f¨ ur ihn doch sehr von Vorteil gewesen w¨ aren. Ihn ¨ argerten Behauptungen, gem¨aß denen die Feindseligkeit der Finnen gegen¨ uber dem ¨ ostlichen Nachbarn erst zur Zeit der finnischen Unabh¨ angigkeit entstanden sei. Mit Bezug auf diese Angelegenheit schrieb er 5
J. K. Paasikivi (1870–1956) war einer der f¨ uhrenden b¨ urgerlichen Politiker Finnlands, Ministerpr¨ asident 1918 und 1944–1946, Pr¨ asident der Republik 1946–1956.
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1975: Unserer gegenw¨ artigen Geschichtsschreibung mangelt es wahrlich nicht ” an u ugen – man merkt das auch anderswo und nicht nur bei ¨berraschenden Z¨ dem neuen Experimentalprojekt von Pirkkala.“ 6 Anfang Sommer 1906 wurden die St¨ ande aufgehoben, das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingef¨ uhrt und ein Einkammerparlament gegr¨ undet. Otto Nevanlinnas Familie stand mit dem politisch aktiven Ernst Nevanlinna in engem Kontakt und erhielt von ihm Informationen aus erster Hand. Der Erfolg der Altfinnen bei den ersten Parlamentswahlen war gr¨oßer als erwartet und freute insbesondere Rolfs Mutter, die eine Anh¨angerin dieser Partei geworden war.
2.3 Schuljahre Ein wichtiges Ereignis in Rolfs Leben nach dem Umzug nach Helsinki war der Eintritt ins Gymnasium. Der Vater unterrichtete in der fortschrittlichen Finnischen Koedukationsschule, entschied aber, die S¨ohne in das Finnische Normallyzeum zu schicken, das damals das renommierteste finnischsprachige Gymnasium war. Die humanistische Tradition der Familie war nach wie vor so fest verankert, daß die S¨ ohne ungeachtet der mathematischnaturwissenschaftlichen Orientierung in den klassischen Zweig der Schule kamen. Rolf hatte keinen Einfluß auf die Wahl des Zweiges, die sich aber als richtig erwies: Latein wurde eines seiner Lieblingsf¨acher und er interessierte sich auch f¨ ur die griechische Sprache, die er als fakultatives Fach w¨ahlte. Die Schule verlief f¨ ur Rolf problemlos. Ohne Anstrengung und ohne Geltungsbed¨ urfnis war er immer einer der besten Sch¨ uler der Klasse. Mathematik fiel ihm leicht und in Anbetracht der Familientradition erwarteten die Eltern, daß er sich f¨ ur dieses Fach besonders interessiere. Es kam jedoch anders. Als Erkl¨ arung nennt Rolf einmal mehr seine sp¨ate Entwicklung und die Lehrer, die nicht imstande waren, den Funken zu z¨ unden. In der letzten Klasse bekam Rolf als Lehrer seinen eigenen Vater, der ein paar Jahre zuvor Studienrat des Normallyzeums geworden war und gerade zu diesem Zeitpunkt zum Oberstudienrat ernannt wurde. Es war ein Zufall, daß der eigene Vater nun Rolfs Lehrer wurde, aber dieser Zufall sollte eine entscheidende Bedeutung f¨ ur Rolfs Leben haben. Der ausgezeichnete Unterricht des Vaters er¨offnete neue Ausblicke auf die Mathematik und veranlaßte Rolf, dar¨ uber nachzudenken, ob das nicht vielleicht auch f¨ ur ihn das zuk¨ unftige Fachgebiet sein k¨onnte. Neben den Schularbeiten hatte Rolf viel Freizeit, denn als begabter Sch¨ uler war er immer schnell mit seinen Hausaufgaben fertig. Wie ein ganz normaler 6
Nevanlinna bezog sich auf das von der Schulverwaltung unterst¨ utzte und von der Universit¨ at Tampere durchgef¨ uhrte Experimentalprojekt, bei dem 1975 die 100-seitige Kopie von Pirkkala“ f¨ ur den Geschichtsunterricht produziert wurde. ” Diese Schrift war so unverhohlen marxistisch und formal mangelhaft, daß es zu einem Skandal kam und das ganze, umfassend geplante Experiment abgebrochen wurde.
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Schuljunge war er zusammen mit seinen Mitsch¨ ulern viel draußen. Im Herbst und im Fr¨ uhling spielten sie Fußball, im Winter ging er abends zum Schlittschuhfahren auf die nahegelegene Natureisbahn am Meeresufer. Der schm¨achtige und f¨ ur sein Alter kleinw¨ uchsige Rolf war keine sportliche Erscheinung, aber Fußball blieb f¨ ur ihn ein lebenslanges Hobby. Der Vater mischte sich nicht direkt in die Erziehung seiner Kinder ein, und auch die Mutter hatte ihre eigene Arbeit. Jedoch blieb das bildungsfreundliche Milieu des Hauses nicht ohne Wirkung. Vaters B¨ ucherschrank war eine Schatztruhe, in der sich viel Interessantes zum Lesen fand. Zacharias Topelius war einer von Rolfs Lieblingsschriftstellern und bereits als kleiner Junge las er die Originalausgabe von Andersens M¨archen und lernte auf diese Weise D¨ anisch. Als ¨ alterer Sch¨ uler machte er sich mit Hilfe von W¨orterb¨ uchern daran, die Klassiker der deutschen und der franz¨osischen Literatur zu lesen, wozu ihn der schwache Schulunterricht in diesen Sprachen anspornte. Seine Sprachkenntnisse nahmen zu und sein intellektueller Horizont erweiterte sich. Der Sch¨ uler Rolf begann, sich von seinen Altersgenossen zu unterscheiden.
Abb. 2.2. Die Geschwister Frithiof, Erik, Anna und Rolf Nevanlinna in Helsinki im Jahr 1907.
F¨ ur Rolf war es ein unvergleichliches Vergn¨ ugen, sich durch Selbststudium Wissen anzueignen. Die Arbeit in der Einsamkeit begann ihn w¨ahrend seiner Schulzeit zu faszinieren und wurde zur lebenslangen Gewohnheit. Rolf war gesellig, aber bereits in sehr jungen Jahren entwickelte er das Bed¨ urfnis, sich
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von Zeit zu Zeit zur¨ uckzuziehen, um zu studieren und seine Gedanken reifen zu lassen. Auch als Mathematiker war er sp¨ater weitgehend Autodidakt. In Rolfs außerschulischem Leben spielte Musik eine noch wichtigere Rolle als Literatur. Die Musik verband Rolf mit Frithiof, der vielseitige k¨ unstlerische Interessen hatte. Rolf, der zu seinem Bruder aufblickte, sagte, daß ihn der musikalischere Frithiof in die Welt der Musik eingef¨ uhrt habe. Beide erhielten eine systematische Musikausbildung an der Orchesterschule von Helsinki, Frithiof spielte Cello und Rolf Geige. Rolf hat erz¨ahlt, daß sein Bruder schnelle Fortschritte gemacht habe und ein vorz¨ uglicher Cellist wurde, w¨ ahrend er langsamer vorangekommen sei. Er meinte, daß seine Fertigkeit im Geigespielen h¨ ochstens durchschnittliches Niveau erreicht habe, obwohl er ¨ viel Zeit in das Uben investierte. Mit vereinten Kr¨aften spielte die Familie zuhause Kammermusik: die Mutter als Pianistin, Frithiof als Cellist und Rolf als Geiger. Die Sch¨ uler der Orchesterschule durften die Generalproben der Sinfoniekonzerte und alle von der Schule veranstalteten Konzerte kostenlos besuchen. Die Br¨ uder ließen sich diesen Vorteil nicht entgehen – damals gab es keinen schnellen Zugang zur Musik durch Tontr¨ ager – und so kam Rolf bereits in seiner Schulzeit mit den großen sinfonischen Werken in Ber¨ uhrung. Oft traten ausl¨ andische Solisten der Spitzenklasse auf – Virtuosen, die auf ihren Reisen nach St. Petersburg in Helsinki Halt machten. In dem Maße wie die musikalischen Kenntnisse und die Reife zunahmen, erschloß sich dem Sch¨ uler Rolf die Musik von Sibelius immer mehr. Die fr¨ uhen Kompositionen von Sibelius hatten nach Rolfs Meinung auch eine tiefere Bedeutung, die u ¨ber den Musikgenuß hinausging, denn diese Werke gew¨ahrten neue Einblicke in die Welt des Kalevala 7 . Sibelius war nicht nur Komponist, sondern auch eine große nationale Gestalt, ein wiedererstandener V¨ain¨ am¨ oinen. Zum besseren Verst¨ andnis der Tonwelt von Sibelius wurde Rolf von Frithiof unterst¨ utzt, der zuhause am Klavier auswendig die Hauptthemen der Sinfonien und anderer Orchesterwerke spielte und damit seine SibeliusLeidenschaft auf Rolf u ur die Musik von Sibelius ¨ bertrug. Die Begeisterung f¨ wurde zu einem der wichtigsten Leitmotive in Rolfs Leben. Die ersten vier Sinfonien von Sibelius wurden w¨ahrend Rolfs Schulzeit viele Male aufgef¨ uhrt und die Br¨ uder berichteten, daß sie keine einzige Gelegenheit ausgelassen h¨ atten, sich die Werke anzuh¨oren. Die vierte Sinfonie, deren Urauff¨ uhrung der Komponist selbst dirigierte, hat auch Rolf nach seinen eigenen Worten verbl¨ ufft, obwohl er bereits die ersten drei Sinfonien von Sibelius auswendig kannte. F¨ ur Rolf war die Urauff¨ uhrung der f¨ unften Sinfonie, 7
Das finnische Nationalepos Kalevala besitzt eine große Symbolkraft. Das Epos u ¨ berliefert den Kampf zwischen den mythischen Staaten Pohjola und Kalevala. Louhi, die K¨ onigin von Pohjola, des n¨ ordlichen K¨ onigreichs, ist die Verk¨ orperung der magischen Kr¨ afte; im Kampf unterliegt sie den Helden aus Kalevala. V¨ ain¨ am¨ oinen, die Hauptfigur des Kalevala, ist ein mit Orpheus vergleichbarer Halbgott, ein großer Schamane, der der Welt die Musik schenkt und auf der Suche nach Wissen in die Unterwelt reist.
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deren Generalprobe er sich angeh¨ ort hatte, besonders eindrucksvoll (er war damals bereits Student an der Universit¨ at). Er bekam eine Eintrittskarte f¨ ur die Urauff¨ uhrung im Festsaal der Universit¨ at, nachdem er sich vorher die ganze Nacht angestellt hatte. Rolf durchlebte das dramatische Finale der Sinfonie mit jeder Faser seines K¨ orpers und der bloße Anblick von Sibelius, der das Konzert dirigierte, machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn.
Abb. 2.3. Jean Sibelius 1915 w¨ ahrend der Generalprobe zur Urauff¨ uhrung der ersten Version der f¨ unften Sinfonie. Bei dieser Auff¨ uhrung war Rolf Nevanlinna anwesend. Die Probe fand im Festsaal des Neuen Studentenhauses (Uusi ylioppilastalo) statt, das einige Jahre danach zum Kino Bio Civis und dann zum Kino Bio Bio umgestaltet wurde. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv des Verlages Otava.)
Rolf wollte sich ein pers¨ onliches Bild der Tonwelt von Sibelius verschaffen, indem er sich dessen Werke geduldig immer wieder anh¨orte. Das Fundament dieses Bildes, das er bereits in seiner Jugend sorgf¨altig errichtet hatte, erkl¨ art die Tatsache, daß er sp¨ ater ber¨ uhmte Dirigenten bei der Interpretation von Sibelius bis in die kleinsten Einzelheiten beraten konnte, und daß diese wiederum seine fachliche Kompetenz erkannten. F¨ ur die Br¨ uder, die einen Hang zur Klassifizierung hatten, war die Rangordnung in der Musik bereits fr¨ uhzeitig klar. Zur h¨ochsten Klasse geh¨orten nach ihrer Auffassung kaum andere als die großen Meister des deutschen Sprachraumes. Eine herausragende Ausnahme war Sibelius. Als Rolf in die f¨ unfte Klasse ging, geriet seine Schwester Anna unter eine Straßenbahn und verlor ein Bein. Den Vater, der den Unfall gesehen hatte, traf der Vorfall schwer, und er litt danach lange an Depressionen. Von der
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Wohnung der oberen Etage des Hauses in der Liisankatu, das keinen Aufzug hatte, zog die Familie in das Haus der Zeitung Uusi Suomi in der Yrj¨onkatu und von dort 1912 in die unterste Etage des m¨achtigen Jugendstil-Geb¨audes, das den Namen Suvantola-Haus tr¨ agt und sich an der Straßenecke von Pietarinkatu und Neitsytpolku befindet. Die Lehrer des Normallyzeums ließen das Haus bauen; sie hatten das Grundst¨ uck f¨ ur den Preis von 70 000 Finnmark (heute ungef¨ahr 260 000 Euro) von Senator Edvard Neovius und seiner Frau Thyra erworben. W¨ahrend des Sprachenkampfes war das Suvantola-Haus in Helsinki lange Zeit als eine Hochburg der Finnischgesinnten bekannt und im Freiheitskrieg diente es als Unterschlupf und Waffenlager der Weißen Garden.
2.4 Berufswahl Am 15. Mai 1913 erlebte der 17-j¨ ahrige Rolf Nevanlinna nach bestandener Abiturpr¨ ufung die feierliche Immatrikulation an der Universit¨at durch den Rektor. Mit der Studentenm¨ utze auf dem Kopf trat Rolf durch die Hauptt¨ ur der Universit¨ at hinaus zum Senatsplatz, auf dem die Verwandten mit Blumen auf die Hoffnungstr¨ ager des Vaterlands warteten. Das aus Joensuu nach Helsinki gekommene Kind war zu einem aktiven und sportbegeisterten jungen Mann herangewachsen. Außergew¨ohnlich f¨ ur sein Alter waren sein reiches Geistesleben und die Gabe, Wissenschaft und Kunst ekstatisch in sich aufzunehmen. Die gesamtpolitische Lage hatte sich in der Zeit verd¨ ustert, als Rolf mit dem Studium begann – der Weltkrieg brach ein Jahr sp¨ater aus. Mehr als u ¨ ber die Drohszenarien in der u ¨ brigen Welt war das finnische Volk wegen der fortgesetzten Versuche der Russen besorgt, die Autonomie des Landes zu beschneiden. Rolfs Gedanken kreisten jedoch nicht in erster Linie um Probleme dieser Art, denn er sp¨ urte, daß sein Leben jetzt erst so richtig begann. Ihn besch¨ aftigten die Berufswahl und die vor ihm liegende akademische Welt. Nachdem die Familie von Joensuu nach Helsinki gezogen war, mietete die Mutter eine Sommerwohnung im großen Niku-Haus im s¨ udfinnischen Ort Sammatti, das sich in der N¨ ahe von L¨ onnrots Geburtshaus befand und seinerzeit ihm geh¨ orte. In einer H¨ alfte des Hauses wohnten die Hausbesitzer, in der anderen H¨ alfte befanden sich vier Zimmer und eine K¨ uche, die an die Nevanlinnas vermietet worden waren. Die Familie verbrachte in den Jahren 1904–1914 elf Sommer in diesen R¨ aumlichkeiten. Sammatti war damals als eine Gemeinde der s¨ udfinnischen Provinz Uusimaa noch eine abgelegene Ortschaft. Die Fahrt von Helsinki dauerte einen ganzen Tag: Zuerst fuhr man mit dem Zug nach Lohja und dann mit einer Pferdekutsche bis ans Ziel. Die jungfr¨ auliche Natur wurde weder durch industrielle T¨ atigkeiten noch durch Ferienh¨ auser oder Autos gest¨ort. Rolf erz¨ahlte viel u ¨ ber die sorglosen Sommer seiner Kindheit und Jugend: Schwimmen, Wandern und geselliges Zusammensein geh¨ orten dazu. Im Sommer nach dem
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Abitur stand diese Art des sommerlichen Zeitvertreibs im Hintergrund. Rolf erz¨ ahlte, daß er stattdessen in der Dachkammer gesessen und vom Morgen bis tief in die Nacht gelesen habe. Zu Beginn des Sommers 1913 focht Rolf innere K¨ampfe bei der Entscheidung aus, was er an der Universit¨ at studieren sollte. Die klassischen Sprachen, die im Vordergrund standen, bekamen durch die Mathematik Konkurrenz. Die mathematische Tradition der Familie empfand er eher als Ballast, ebenso auch die Tatsache, daß sein Bruder Frithiof zwei Jahre zuvor Mathematik als Hauptfach gew¨ ahlt hatte. Rolf sp¨ urte den Druck der mathematischen Reputation der Verwandten. Ich konnte ja nicht im voraus wissen, wie ich mich ” auf diesem Gebiet behaupten w¨ urde.“ Um sich u ¨ber seine wirklichen Vorlieben Klarheit zu verschaffen, machte sich Rolf daran, Ernst Lindel¨ ofs Lehrbuch Einf¨ uhrung in die h¨ohere Analysis zu studieren. W¨ ahrend der Sommermonate las er dieses 600-seitige Werk von ¨ Anfang bis Ende und l¨ oste die vielen Ubungsaufgaben. Das Buch hatte einen gewaltigen Einfluß auf Rolf: Die Welt der Wissenschaft ¨offnete sich vor mir ” und schlug mich vollkommen in ihren Bann.“ Als der Herbst kam, war Rolfs Entscheidung klar: Er wollte Mathematik studieren. In dieser Zeit reichte die eigene Wahl, denn das Abitur ¨ offnete das Tor zu jeder Fakult¨at. Zwei Jahre zuvor hatte Edwin Linkomies8 nach seinem Abitur vor einer ahnlichen Entscheidung wie Rolf gestanden. Auch f¨ ur Linkomies waren die ¨ klassischen Sprachen und die Mathematik Alternativen und nach erheblichem Z¨ ogern w¨ ahlte er die Sprachen. Ich h¨ orte das von Linkomies selbst, der in Gedanken durchspielte, wie sich die Dinge wohl entwickelt h¨atten, wenn er und Nevanlinna zu entgegengesetzten Entscheidungen gekommen w¨aren. Obwohl Linkomies die Mathematik aufgab, behielt er ihr gegen¨ uber eine respektvolle Haltung bei und verwies stets darauf, daß er in der Schule in Mathematik immer die beste Note hatte. Ich kann es an dieser Stelle nicht unterlassen, den Zufall zu erw¨ahnen, daß ich im Sommer vor dem Beginn meines Universit¨atsstudiums ebenfalls Lindel¨ ofs Buch Einf¨ uhrung in die h¨ohere Analysis von A bis Z durchgelesen hatte und zwar ebenfalls in einer Dachkammer in Sammatti. Damals wußte ich nicht, daß Rolf Nevanlinna 32 Jahre zuvor in einer Entfernung von ein paar Kilometern das gleiche Leseerlebnis hatte.
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Edwin Linkomies (1894–1963), Universit¨ atsprofessor und Politiker. W¨ ahrend der Kriegszeit ging er als Ministerpr¨ asident in die Geschichte Finnlands ein. Auf Forderung der Sowjetunion wurde er 1946 zusammen mit anderen f¨ uhrenden finnischen Politikern als Kriegsschuldiger“ zu einer Gef¨ angnisstrafe verurteilt. Er ” kam 1948 frei, wurde 1956 zum Rektor der Universit¨ at Helsinki gew¨ ahlt und war 1962–1963 Kanzler der Universit¨ at.
2.5 Das Vorbild Ernst Lindel¨ of
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2.5 Das Vorbild Ernst Lindel¨ of Als Rolf Nevanlinna mit dem Studium begann, war Ernst Lindel¨of der Professor f¨ ur Mathematik: Er hatte seinen Lehrstuhl zehn Jahre zuvor als Nachfolger von Rolfs Onkel Edvard Rudolf Neovius erhalten. Lindel¨of, der sich mit ganzer Seele seiner Lehr- und Forschungst¨ atigkeit verschrieb, hatte mit seinen funktionentheoretischen Ergebnissen internationalen Ruf erlangt und war an der Universit¨ at bereits w¨ ahrend der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts eine absolute Autorit¨ at in Sachen Mathematik geworden. Die Neovius und die Lindel¨ ofs kannten einander seit langem. Als Ernst Lindel¨ ofs Vater Lorenz in den 1850er Jahren eine Mathematikprofessur erhielt, war Wilhelm Neovius, der Zwillingsbruder von Rolfs Großvater v¨aterlicherseits, sein Mitbewerber. Ungef¨ ahr zehn Jahre sp¨ater wurden die Lindel¨ofs und die Neovius Verwandte, als Lorenz Lindel¨of, der Professor geworden war, Gabriella Krogius heiratete, eine Schwester von Rolfs Großmutter v¨aterlicherseits. Ernst Lindel¨ of erbte“ also die Professur von einem seiner Cousins und ” jetzt bekam er Rolf als Studenten, den Sohn eines anderen Cousins. Ernst Lindel¨ of und Rolf Nevanlinna hatten als gemeinsame Vorfahren den Amtsrichter Lars Krogius und dessen Frau Amalia von Numers. Die Neovius-Nevanlinnas und die Lindel¨ofs erreichten eine derart langanhaltende und dominierende Position in der finnischen Mathematik, daß man zu Recht von dem außergew¨ ohnlichen mathematischen Talent dieser Familien spricht. Aber auch die Krogius k¨ onnen einen Teil des Rufes f¨ ur sich beanspruchen. Von 1883 bis 1938, das heißt, u ¨ber mehr als ein halbes Jahrhundert, stammten alle Professoren der Universit¨ at Helsinki, die einen Lehrstuhl f¨ ur Mathematik innehatten, von den Krogius-Schwestern Elise und Gabriella ab – zwei S¨ ohne und ein Enkelsohn. Sechs Nachkommen von Rolfs Großmutter Elise wurden Professoren der Mathematik. In den Jahren zwischen 1910 und 1920 war das Mathematische Institut der Universit¨ at sehr klein. Es existierte noch nicht als offizielle Verwaltungseinheit und verf¨ ugte u aumlichkeiten. Am Institut waren nur ¨ ber keinerlei R¨ drei festangestellte Lehrkr¨ afte t¨ atig, Professor Ernst Lindel¨of sowie die Mitarbeiter Jarl Lindeberg und Severin Johansson. Die Lehrkr¨afte hatten Felix Iversen als Assistenten zur Unterst¨ utzung. Alle waren relativ jung, als Rolf an at kam: Lindel¨ of war 43 Jahre alt und die Mitarbeiter fast zehn die Universit¨ Jahre j¨ unger. Wegen des kleinen Lehrk¨ orpers mußte sich der Lehrbetrieb fast vollst¨andig auf die obligatorischen Kurse des Magisterexamens konzentrieren. Lindel¨of leitete diejenigen seiner Studenten an, die eine Doktorarbeit schrieben; er widmete seinen Doktoranden viel Zeit. Aber im Vergleich zu den großen europ¨ aischen Universit¨ aten blieb die Ausbildung in Helsinki einseitig. Da jeder festangestellte Lehrer obligatorische Kurse halten mußte, h¨orte Rolf Vorlesungen bei allen drei, aber nur Lindel¨ of beeindruckte ihn. Ernst Lindel¨of war der einzige bedeutende akademische Lehrer Rolf Nevanlinnas.
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Als Rolf mit seinem Studium begann, r¨ uckte f¨ ur Lindel¨of die Forschungsarbeit allm¨ ahlich in den Hintergrund, weil seine Lehrt¨atigkeit immer mehr Zeit in Anspruch nahm. Das goldene Zeitalter des mathematischen Nachwuchses von Finnland fiel in die Jahre zwischen 1910 und 1920, die vom Ersten Weltkrieg u uler von Lindel¨of promovierten damals alle ¨berschattet wurden. Als Sch¨ diejenigen, die in den danach folgenden Jahrzehnten die Lehrst¨ uhle f¨ ur Mathematik innehatten. Die von Lindel¨ of sorgf¨ altig ausgew¨ahlten Themen f¨ uhrten die jungen Doktoranden an die vorderste Front der aktuellen Forschung. Ernst Lindel¨ of war ein begeisterter Musikliebhaber und ein hervorragender Geiger. Er hatte in Rolfs Augen etwas Unvergleichliches erreicht: In seiner Studienzeit spielte er in einem Quartett, dem Jean Sibelius angeh¨orte. Jean Sibelius und Ernst Lindel¨ of waren zu jener Zeit Rolf Nevanlinnas Helden. Nevanlinna war Lindel¨ of herzlich verbunden, aber ¨ahnlich wie zu Sibelius hielt er auch zu ihm respektvollen Abstand: Als Wissenschaftler und ” Lehrer geh¨ orte Ernst Lindel¨ of zu den bedeutendsten Pers¨onlichkeiten seiner Zeit und er war ein Mann mit genialen Charaktereigenschaften. Wer die Gelegenheit bekam, ihm zu begegnen, der beh¨ alt diesen auserw¨ahlten Menschen lebhaft im Ged¨ achtnis.“ In seiner Gedenkrede auf Lindel¨of sagte Nevanlinna, daß in der Universit¨ atsgeschichte nicht viele bekannt seien, die sich der Berufung als akademischer Lehrer und Forscher so zielstrebig und fleißig gewidmet h¨ atten wie Ernst Lindel¨ of. Gleichzeitig war Lindel¨of eine wahrhaft gebildete Pers¨ onlichkeit; engbegrenztes Spezialistentum lag ihm fern. Als Nevanlinna fast 70 Jahre alt war, schrieb er: Sogar jetzt im Alter vergeht kaum ein Tag, ” an dem ich – wenn ich bei der Erf¨ ullung meiner Arbeitsaufgaben unsicher bin – nicht daran denke, wie Lindel¨ of wohl in diesem Fall handeln w¨ urde.“
2.6 Studium an der Universit¨ at Alle Lehrkr¨ afte der Mathematik waren schwedischsprachig und in Rolfs Studienzeit wurde Mathematik nur in Schwedisch gelehrt, obwohl bereits damals die u ¨berwiegende Mehrheit der Studenten finnischsprachig war. Der Gebrauch des Schwedischen st¨ orte den zweisprachigen Rolf nicht, aber ihn befremdete ¨ die Ubermacht der schwedischen Sprache an der Universit¨at. Bereits damals hielt er diese Tatsache f¨ ur ein schwerwiegendes Mißverh¨altnis. Das Studium des Hauptfaches lief f¨ ur Rolf m¨ uhelos an, weil er bereits im Sommer den Hauptkurs des ersten Studienjahres anhand des Lindel¨ofschen Buches selbstst¨ andig und sorgf¨ altig durchgearbeitet hatte. Da ihm der Inhalt der Vorlesungen gr¨ oßtenteils bereits bekannt war, begann er nunmehr, ausl¨ andische Lehrb¨ ucher zu lesen, um sich mit den zuk¨ unftigen Kursen vertraut zu machen; somit war er die ganze Zeit den eigentlichen Lehrveranstaltungen voraus. Dennoch beeilte er sich nicht, die Pr¨ ufungen vorzeitig abzulegen, sondern absolvierte sein Studium in normalem Tempo. Im dritten Studienjahr kam Rolf endlich in den Genuß von Lindel¨ofs Vorlesungen, auf die er ungeduldig gewartet hatte. F¨ ur Rolf war Lindel¨of trotz
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seines geringf¨ ugigen Stotterns ein unvergleichlicher Lehrer, der ihn bereits mit dem Grundkurs Funktionentheorie“ in seinen Bann schlug: Die Zeit verging ” ” fast zu schnell in diesen Vorlesungen, die ich begeistert und geistig bereichert verließ.“ ¨ Uber das damalige Universit¨ atsstudium der Mathematik erfuhr ich auch von meinem Vater Lauri Lehto, der ein Kommilitone Rolf Nevanlinnas war. Mein Vater war ein guter Student, aber er versp¨ urte keine vergleichbare Begeisterung. Auch nach Meinung meines Vaters war Lindel¨of ein ausgezeichneter Lehrer, aber nicht der unvergleichliche Inspirator, der er in Rolfs Augen war. Severin Johansson, den Rolf etwas sp¨ ottisch mit dem Wort hochtrabend“ ” beschrieb, war nach Meinung meines Vaters ein beeindruckender P¨adagoge. Ich erinnere mich nicht, daß er irgendetwas u ¨ ber Lindeberg gesagt h¨atte. Gleichermaßen am¨ usiert haben sich Rolf und mein Vater u ¨ ber den freundlichen, rotwangigen Iversen mit seiner schrillen Stimme ge¨außert, der auch noch mein Lehrer war. Rolf blieb w¨ ahrend des Studiums kaum Zeit f¨ ur andere Dinge mit Ausnahme der Musik – als fleißiger Zuh¨ orer, aber auch aktiv mit seiner Geige. Das freie Studentenleben mit seinen Vergn¨ ugungen und Freuden, die Burschen” herrlichkeit“, geh¨ orte nicht zu seinem Erfahrungsbereich. Er hat erz¨ahlt, daß er ein ziemlich passives Mitglied der S¨ udfinnischen Studentenverbindung9 gewesen sei. Durch die Konzentration auf das Studium entzog er sich Einfl¨ ussen, die das eigene Wertesystem ins Wanken h¨ atten bringen k¨onnen, und schonte dadurch die eigenen geistigen Kraftreserven. Nur zehn Jahre sp¨ ater hatte Rolf viel mit der akademischen Jugend zu tun, nachdem er ordentlicher Professor geworden war. Als Inspektor der Viborger Studentenverbindung kam er auch mit dem Leben der studentischen Verbindungen in Kontakt. Aber er war u ¨berwiegend der gebende Teil und es kam nie zu einer Wechselwirkung mit den Studenten. Nach vier Studienjahren hatte Rolf das Magisterexamen bestanden. Er legte die erforderlichen Pr¨ ufungen in seinen drei Hauptf¨achern Mathematik, Physik und Astronomie mit Auszeichnung ab, als weiteres Fach hatte er Chemie. Das Magisterexamen war f¨ ur Rolf kein wichtiger Meilenstein, weil er ohnehin vorhatte, ohne Unterbrechungen weiterzumachen und zu promovieren. F¨ ur Lindel¨ of war es selbstverst¨ andlich, daß Rolf sofort mit der Doktorarbeit anfangen w¨ urde, und er hatte bereits das Thema von dessen Magisterarbeit so ausgew¨ ahlt, daß es sich gut ausbauen ließ. Es hatte den Anschein, als gebe es jetzt keine Hindernisse mehr auf dem weiteren Weg zum zuk¨ unftigen Forscher. Aber gerade in dieser Zeit kam es in der Weltgeschichte zu großen Umbr¨ uchen, deren Auswirkungen auch in Finnland zu sp¨ uren waren und Rolf Nevanlinnas Leben ber¨ uhrten.
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In Nevanlinnas Studienzeit war die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung f¨ ur alle Studentinnen und Studenten obligatorisch. Die Namen der Studentenverbindungen waren an Provinzen und mitunter auch an St¨ adte gebunden.
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2.7 Finnland wird unabh¨ angig Der im Sommer 1914 ausgebrochene Weltkrieg wirkte sich anfangs noch nicht merklich auf die Lage in Finnland aus. Der Universit¨atsbetrieb lief so weiter wie immer – Rolf Nevanlinna erhielt seine Grundausbildung in Mathematik und Lindel¨ of betreute Dissertationen. Zu Beginn des Krieges herrschte noch keine Lebensmittelknappheit. Da die Finnen als unzuverl¨ assig galten, waren sie von der Wehrpflicht in der russischen Armee befreit worden. Hierf¨ ur gab es gute Gr¨ unde, denn die Stimmung im Land war Rußland gegen¨ uber nicht gerade freundlich. Im Gegenteil – der Krieg, der in Finnland eher als eine Angelegenheit zwischen Deutschland und Rußland angesehen wurde, verst¨ arkte zunehmend die Hoffnung, daß der Moment gekommen sei, den Traum von der staatlichen Unabh¨angigkeit zu verwirklichen. Zwar gab es auch weiterhin unterschiedliche Meinungen u ¨ ber die Art des Widerstands, aber die Gegens¨atze zwischen den Altfinnen und den Jungfinnen verringerten sich. Die finnischen Aktivisten bekamen Wind in die Segel – zuallererst kam der Gedanke auf, finnische Freiwillige zur milit¨arischen Ausbildung ins Ausland zu entsenden, um den Bedarf der k¨ unftigen finnischen Armee zu decken. Die Blicke richteten sich zun¨achst auf Schweden, aber die Idee fand dort keinen Anklang und so blieb Deutschland als einzige M¨ oglichkeit u ¨brig. Dort stimmte man dem Projekt zu und so wurde das 27. K¨ oniglich-Preußische J¨ agerbataillon gegr¨ undet. Die J¨ agerbewegung war in akademischen Kreisen eine brennende Frage und bald erhielt die Bewegung von allen Gesellschaftsschichten Unterst¨ utzung. Die Frage bewegte Rolf pers¨ onlich sehr. Viele seiner Kameraden schlossen sich der Bewegung an, einer seiner Cousins ging unverz¨ uglich nach Deutschland und bald folgten ihm auch f¨ unf ehemalige Mitsch¨ uler Rolfs dorthin. Das Studium f¨ ullte ihn aus, aber andererseits stand das Schicksal des Landes auf dem Spiel. Rolf z¨ ogerte einige Zeit, setzte sich dann aber mit den ihm bekannten Aktivisten in Verbindung und meldete sich ebenfalls als Teilnehmer der J¨agerbewegung. Es wurde vereinbart, daß er sich der Gruppe anschließen solle, die aus der Richtung von Kemi am Nordufer des Bottnischen Meerbusens entlang des organisierten Etappenweges die schwedische Grenze u ¨ berqueren sollte. Zuhause war die resolute deutschst¨ ammige Mutter sofort einverstanden mit Rolfs Plan, nach Deutschland abzureisen. Der Vater war anderer Meinung. Er sagte, daß er der J¨ agerbewegung im Prinzip vollkommen zustimme, und daß er Rolfs Standpunkt verst¨ unde. Aber Rolfs Begabungen w¨ urden in ur eine milit¨arische Karriere einer ganz anderen Richtung liegen und nicht f¨ sprechen; deswegen solle er sein Studium fortsetzen, womit er dem Land ebenso dienen k¨ onne wie als Soldat. Der Vater war in Rolfs Augen eine Autorit¨at, auf dessen Worte er h¨ orte und dessen trauriger Blick ihn beeindruckte. Zur gleichen Zeit kamen die Russen hinter den geplanten Etappenweg und schnitten diesen ab. Der Abmarsch der Gruppe verz¨ogerte sich und Rolf revidierte seine Entscheidung, sich den J¨ agern anzuschließen.
2.7 Finnland wird unabh¨ angig
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Die M¨ arzrevolution von 1917 f¨ uhrte zur Abdankung des russischen Zaren, und die provisorische russische Regierung stellte Finnlands Autonomie weitgehend wieder her. Die russische Regierung war aber nicht bereit, u ¨ ber die volle Unabh¨ angigkeit zu sprechen, auch wenn die diesbez¨ uglichen Hoffnungen in Finnland erstarkten. Daran zweifelte jedoch Ernst Nevanlinna im Herbst ¨ahnlich wie sein Freund Paasikivi: In Finnland sei die Zeit immer noch nicht reif f¨ ur die Erkl¨ arung der Unabh¨ angigkeit. Jetzt war auch Rolf soweit, Stellung zu beziehen, und er setzte sich vorbehaltlos f¨ ur mutiges Handeln ein. Auch Rolfs Vater Otto, ein Anh¨ anger der Altfinnen, hatte sich dieser Position angeschlossen. Die Frontlinien verliefen ungeordnet, weil viele Konstitutionalisten unter Berufung auf das Gesetz jetzt einen vorsichtigen Standpunkt einnahmen. In diesem schicksalhaften Herbst war das Leben im Land schwieriger geworden. Es herrschte eine extreme Lebensmittelknappheit und die Inflation erschwerte bereits die Lage der Familien von Lohnempf¨angern. Die Schwierigkeiten machten sich auch in Ottos Familie bemerkbar, in der besonders Rolfs Gesundheit Anlaß zur Sorge gab. Er verlor an Gewicht, wog kaum noch 50 Kilo und litt an einem hartn¨ ackigen Husten, der Bef¨ urchtungen erweckte, es k¨ onne sich um Tuberkulose handeln. Der Vater hielt es f¨ ur unbedingt erforderlich, daß Rolf aufs Land ginge, wo die Lebensmittelsituation erheblich besser als in Helsinki war. Im September 1917 nahm Rolf bei seinem Cousin Ernst von Freymann, der auf dem Landgut Rastila in Vuosaari lebte, eine T¨atigkeit als Hauslehrer der drei minderj¨ ahrigen Kinder auf. Heute ist Vuosaari eine Vorstadt Helsinkis, damals lag es noch fernab auf dem Lande. Rolf verabschiedete sich von den Familienmitgliedern und machte sich mit dem Dampfschiff auf die Reise. Der wichtigste Inhalt des Koffers waren die B¨ ucher, die er eventuell f¨ ur die Arbeit an seiner Dissertation brauchen w¨ urde. Der 21-j¨ ahrige Magister zog sich f¨ ur mehr als ein halbes Jahr zur¨ uck. Als einen weiteren Grund f¨ ur sein Weggehen gab Rolf an, die wirtschaftliche Situation seiner Eltern entlasten zu wollen. Aber es gab da auch einen dritten Grund, der diesen R¨ uckzug f¨ ur ihn angenehm machte. Nach dem Magisterexamen hatte Rolf von Lindel¨ of ein Dissertationsthema sowie Instruktionen erhalten, in welche Richtung er gehen sollte – an der Universit¨at gab es keinen festen Lehrplan f¨ ur das Doktorexamen. Rolf war weder sch¨ uchtern noch scheu, aber sein Selbstwertgef¨ uhl war noch steigerungsf¨ahig; er suchte sich selbst und ahigkeiten aus. Insbesondere wollte er ein guter Mathematiker lotete seine F¨ werden und das mit einer erfolgreichen Dissertation beweisen. Er meinte, in der friedlichen Abgeschiedenheit von Vuosaari gute Voraussetzungen zu haben, um u ¨ber mathematische Probleme nachzudenken. In Vuosaari verfolgte Rolf die Entwicklung der politischen Lage und erfuhr von den wachsenden Spannungen zwischen den Weißen und den Roten. Die Unruhen holten auch ihn ein, als eine bewaffnete rote Patrouille im Gutshof bei einer Hausdurchsuchung nach Waffen suchte. Der Putsch der Bolschewiken in St. Petersburg beschleunigte den Lauf der Ereignisse: Er best¨arkte das
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2 Der Weg zum Forscher
Bestreben Finnlands, sich von der russischen Vorherrschaft loszusagen, aber er vergr¨ oßerte auch die Spaltung des finnischen Volkes in Rote und Weiße. Finnland erkl¨ arte sich f¨ ur unabh¨ angig, und der Freiheitskrieg brach aus, der sich gleichzeitig zu einem B¨ urgerkrieg entwickelte. Rolf blieb weiterhin abseits in Vuosaari, wohin die Informationen u ¨ ber Mannerheims Erfolge durchzusickern begannen. Ende M¨ arz 1918 erhielt der Gutshof eine Warnung aus Helsinki, daß es aus Sicherheitsgr¨ unden besser w¨ are, sich in die Stadt zur¨ uckzuziehen. Also fuhr man in der Dunkelheit u ¨ ber das zugefrorene Meer zum Ufer des S¨ udhafens von Helsinki und Rolf kehrte zur¨ uck ins Elternhaus Suvantola. Kurz nachdem Rolf dort angekommen war, traf die Information ein, daß die Deutschen an der S¨ udk¨ uste in Hanko an Land gegangen waren und weiter nach Helsinki vorr¨ uckten. In Helsinki waren Schutzkorps gegr¨ undet worden, die mit Waffen ausger¨ ustet wurden, die man den Russen entwendet hatte. In der Stadt, wo die ¨ Roten Garden die Ubermacht hatten, wurden die Waffen an sicheren Orten versteckt – einer dieser Orte war das Suvantola-Haus. Im Kampf um die Hauptstadt geriet das Haus in die Schußlinie. Die Zeitung Uusi Suometar, deren Erscheinen zweieinhalb Monate unterbrochen war, ver¨offentlichte am 13. April 1918 die Erste Freiheitsnummer“. Auf der Titelseite hieß es: Eine ” ” besondere Serie der gestrigen aufregenden Ereignisse in der Hauptstadt stellten die Zusammenst¨ oße zwischen dem hiesigen Schutzkorps und den Roten Garden dar. So befanden sich im Suvantola-Haus, Pietarinkatu 5, ungef¨ahr 40 ausger¨ ustete Schutzkorpsleute bereits in Alarmbereitschaft, um im passenden Moment aktiv zu werden. Die Roten Garden hatten hiervon Wind bekommen und vormittags um 11 Uhr das ganze Haus umzingelt. Die Schutzkorpsleute versetzten das Haus schnell in Verteidigungsbereitschaft und besetzten alle Korridore. Die Roten Garden richteten ein heftiges Gewehrfeuer und Maschinengewehrsalven gegen das Haus und die Schutzkorpsm¨anner erwiderten das Feuer. Der Beschuß hielt 4 Stunden an und seine einzige Folge war, daß fast alle Fenster des Hauses in die Br¨ uche gingen. 5–6 M¨anner der Roten Garde kamen ums Leben. Von den Schutzkorpsleuten wurde niemand verletzt. Die Roten Garden sahen ein, daß sie nichts weiter ausrichten konnten und zogen um 3 Uhr nachmittags ab.“ Als der Kampf um das Suvantola-Haus begann, war Rolfs Vater im Keller beim Holzhacken. Die Mutter stellte sich den ins Haus eingedrungenen Roten Garden in den Weg und verwickelte sie in einen Wortwechsel. Sie versuchten, zur erstbesten T¨ ur vorzudringen und das war die T¨ ur der Nevanlinnas. Das Machtwort der Mutter, sie sollten auf der Stelle verschwinden, zeigte nicht die gew¨ unschte Wirkung. Wirkungsvoller war eine Salve aus dem oberen Stockwerk. Tatendurstig wie er war, h¨ atte sich Rolf bereitwillig den Schutzkorpsm¨annern angeschlossen, die das Haus verteidigten. Da er jedoch im Gebrauch von Waffen ungeschult war, erhielt er am gleichen Morgen den Befehl, sich zum Stab des Schutzkorps zu begeben, der sich im Garngesch¨aft der Familie Neovius in der Kalevankatu befand; dort wurde ihm befohlen, als Schreiber
2.8 Die Funktionentheorie und ihre Ankunft in Finnland
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zu fungieren. Erst sp¨ ater am Abend, nachdem die K¨ampfe aufgeh¨ort hatten, erhielt Rolf – der bereits vom Angriff geh¨ort hatte – die Erlaubnis, zum Suvantola-Haus zur¨ uckzukehren. Er fand seine Eltern unverletzt vor, aber ihre Wohnung war besch¨ adigt worden. Nach der Eroberung Helsinkis wurde das Helsinki-Schutzkorps zur Stammtruppe der Weißen Garden. Rolf meldete, daß er zur Verf¨ ugung stehe, und wegen seiner Deutschkenntnisse wurde er zum Gruppenf¨ uhrer ernannt. Als der Krieg zu Ende war, konnte Rolf in der Siegesparade marschieren, die Mannerheim auf dem Senatsplatz abnahm. Bald danach mußte Rolf zur Musterung antreten. Die Lebensmittelknappheit im Land hatte im Fr¨ uhjahr beinahe das Ausmaß einer Hungersnot angenommen. Rolf war immer noch untergewichtig und seine Gesundheit war so angeschlagen, daß der Arzt mit schroffer Stimme Dienstuntauglichkeit verk¨ undete. Wenn ich ganz ehrlich bin, war dieses Urteil nicht allzu un” angenehm, denn der Wehrdienst h¨ atte f¨ ur mein Studium eine erhebliche Unterbrechung bedeutet.“ Sp¨ ater hat Rolf Nevanlinna u urgerkriegs ¨ber die Ursachen des blutigen B¨ in Finnland nachgedacht. Immerhin hatte man die St¨ande in fortschrittlicher Weise abgeschafft und als erstes Land in Europa das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingef¨ uhrt. Nach Nevanlinnas Meinung waren die beiden Landessprachen der Hauptgrund. Diese zwei Sprachen hatten das Volk schicksalhaft gespalten: Die Schwedisch sprechende Bildungsschicht hatte sich vom einfachen Volk entfremdet, das Finnisch sprach. Der Herrenhaß hatte einen g¨ unstigen N¨ ahrboden gefunden. ¨ Nevanlinnas Außerung war kein Gef¨ uhlsausbruch eines jungen Mannes, sondern die wohl¨ uberlegte Meinung des achtzigj¨ahrigen Professors, die er f¨ ur seine Memoiren diktierte. Nachdem er das gesagt hatte, milderte er seinen Standpunkt jedoch ab und meinte, daß der f¨ ur die Finnen typische Groll und Neid vielleicht noch tiefere Wurzeln habe. Die Tendenz, sich zur¨ uckzuziehen, die zur Wesensart des finnischen Volkes geh¨ ort, birgt leicht die Gefahr in sich, unsoziale Verhaltensweisen zu verst¨ arken.
2.8 Die Funktionentheorie und ihre Ankunft in Finnland Das Ende des Jahres 1918 war eine Zeit der politischen Aktivit¨at in Finnland. Ernst Nevanlinna war einer der K¨ onigsmacher und auch Ottos Familie war ein deutscher Monarch10 nicht unsympathisch. Rolf wiederum hatte etwas 10
Im Jahr 1918 beschloß das finnische Parlament mit knapper Mehrheit, Finnland zum K¨ onigreich zu machen und den deutschen Prinzen Friedrich Karl von Hessen, einen Schwager Wilhelms II., zum K¨ onig von Finnland zu w¨ ahlen. Wenig sp¨ ater brach das Deutsche Kaiserreich zusammen, der hessische Prinz kam nie nach Finnland, und die kurze Episode blieb in der Geschichte Finnlands ohne Bedeutung.
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anderes im Sinn, weil er nach der Befreiung vom Wehrdienst feststellte, daß ihn die Mathematik wieder mit unwiderstehlicher Macht anzog. Rolfs Dissertationsthema geh¨ orte zur Funktionentheorie, die dank Lindel¨of zum Hauptforschungsgebiet der finnischen Mathematik geworden war. Diesem Gebiet der Mathematik blieb Rolf bis in die 1950er Jahre treu. Sein Weltruf beruht vollst¨ andig auf seinen funktionentheoretischen Arbeiten. Heute wird die Funktionentheorie oft als komplexe Analysis“ bezeichnet; ” das ist ein Hinweis auf die komplexen Zahlen, mit deren Hilfe die im Bereich der reellen Zahlen komplizierte Gleichungslehre leicht und sch¨on geworden war. Dar¨ uber hinaus offenbarte die Verwendung der komplexen Zahlen bei der Untersuchung von Funktionen neue und bislang unerwartete Ausblicke, die im Bereich der reellen Zahlen verborgen geblieben waren. Wie man bald feststellte, hatte die komplexe Integration, deren Wegbereiter der Franzose Augustin-Louis Cauchy in Paris war, eine magische Kraft. In G¨ottingen bewies der Deutsche Bernhard Riemann, daß die Abbildungen der in der Funktionentheorie untersuchten analytischen Funktionen winkeltreu sind. Dieses Ergebnis f¨ uhrte zu einer Verbindung mit der Geometrie, welche die Funktionentheorie wesentlich bereichert hat. Neben Cauchy und Riemann war der in Berlin wirkende Karl Weierstraß der dritte große Pionier der Funktionentheorie. In der zweiten H¨ alfte des 19. Jahrhunderts kam die Funktionentheorie allm¨ ahlich in Mode“ und man erkannte, daß sie unerwartete Verbindungen ” zu vielen anderen Zweigen der Mathematik hatte und zur Entwicklung vollkommen neuer Teilgebiete f¨ uhrte. Der aus Schweden stammende Magnus Gustaf (G¨osta) Mittag-Leffler (1846–1927), der f¨ ur kurze Zeit als Professor der Mathematik an der Universit¨ at Helsinki t¨ atig war, brachte die Funktionentheorie nach Finnland. Kurz nach seiner Promotion war er nach Berlin gegangen und wurde dort ein Proteg´e des ber¨ uhmten Weierstraß. Im Laufe der Zeit hatte Mittag-Leffler jedoch genug von der in Berlin herrschenden Atmosph¨are, die seiner Meinung nach als Ergebnis des siegreichen Krieges gegen Frankreich unertr¨aglich deutschfanatisch geworden war. Er bewarb sich um die Professur, die in Helsinki nach Lorenz Lindel¨ of vakant war. Gest¨ utzt auf Lindel¨ofs Gutachten stellte die Fakult¨ at fest, daß Mittag-Leffler f¨ ahiger war als seine Mitbewerber, aber da an der Universit¨ at damals die Fennisierungskampagne die Gem¨ uter erregte, wollte man ihm die Sondergenehmigung zur Freistellung von Finnischkenntnissen nicht erteilen. Mit knapper Stimmenmehrheit bef¨ urwortete das Konsistorium die Bewerbung (obwohl u.a. Rektor Topelius dagegen war) und somit wurde Mittag-Leffler berufen. Die finnischsprachigen Studenten demonstrierten gegen die Berufung Mitur die finnische Mathematik war sein Kommen ein Gl¨ uckstag-Lefflers, aber f¨ fall. Als Mann von Weierstraß“ nahm Mittag-Leffler die Funktionentheorie in ” sein Lehrprogramm auf. In den Jahren 1877–1881, als Mittag-Leffler Professor in Helsinki war, wurde die Funktionentheorie erstmalig in Finnland gelehrt. Die erfolgreiche T¨ atigkeit in Finnland wurde unterbrochen, als Mittag-Leffler
2.9 Lebensprogramm
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einen Ruf als Professor der Mathematik nach Stockholm an die gerade gegr¨ undete Hochschule erhielt. Edvard Neovius, der nach Mittag-Leffler Professor der Mathematik an der Universit¨ at Helsinki wurde, war kein Funktionentheoretiker, aber sein Hauptforschungsgebiet, die Theorie der Minimalfl¨achen, war nicht weit weg von der Funktionentheorie. Auch Neovius hielt Vorlesungen zu funktionentheoretischen Themen. Die Stellung der Funktionentheorie als Hauptforschungsgebiet der finnischen Mathematiker ist Ernst Lindel¨of zu verdanken, der nach Neovius Professor wurde. Auf der Grundlage der Arbeiten Lindel¨ofs und seiner Sch¨ uler entstand die finnische Schule der Funktionentheorie. In den 1930er Jahren wurde diese Schule weltber¨ uhmt.
2.9 Lebensprogramm Rolf Nevanlinna verbrachte den Sommer 1918 mit seinen Eltern in Padasjoki in Mittelfinnland. Der Krieg war vor¨ uber, es gab genug zu essen und Rolfs physische Verfassung besserte sich schnell. Die R¨ uckkehr zur Arbeit an der Dissertation verlief reibungslos; Rolf hatte sich lediglich ein paar Monate von der Welt der Mathematik abgewandt, die f¨ ur ihn absoluten Vorrang hatte. Jetzt konnte er sich wieder auf mathematische Probleme konzentrieren. Rolfs unabl¨ assige Besch¨ aftigung mit mathematischen Fragen f¨ uhrte nun auch zu Ergebnissen. Er machte Entdeckungen, die nach seiner eigenen Meinung bemerkenswert waren. In dem schm¨ achtigen 22-j¨ ahrigen jungen Mann brannte ein Feuer, das ihn ganz erfaßte. Bereits fr¨ uher hatte Rolf Momente der Inspiration erfahren, als sich die Welt der Mathematik vor ihm auftat, aber jetzt sp¨ urte er zum ersten Mal, daß er sogar einen eigenen Beitrag zu mathematischen Theorien leisten konnte. Die geheimnisvolle Welt des mathematischen Denkens und der Phantasie ¨ offneten sich ihm faszinierender als je zuvor. Das Tiefste und ” H¨ ochste, was ein Mensch erfahren kann, ein unerkl¨arliches Wunder.“ Das Erlebnis der sommerlichen Natur und des nordischen Lichtes verst¨arkte die ekstatischen Gef¨ uhle. Als der junge Forscher auf einen Bergr¨ ucken gestiegen war, fand er allm¨ ahlich Worte f¨ ur die Gef¨ uhlsaufwallungen, die ihn u altigt hatten, und er formulierte sein Leitmotiv folgendermaßen: Man ¨ berw¨ ” muß das Leben der Arbeit widmen und mit Demut und selbstvergessen nach den erhabenen Welten streben.“ Eine Ahnung von den erhabenen Welten“ ” sp¨ urte er in der Natur und in seinem Innersten. Schon die Widmung Die Welt ” der Wissenschaft ist erhaben und klar wie der Himmel“, die der Großvater Edvard einst geschrieben hatte, machte einen unausl¨oschlichen Eindruck auf den jungen Rolf. In derselben Weise beeindruckten ihn sp¨ater die Schriften Jacob Burckhardts (1818–1897), des Schweizer Historikers und Philosophen, den Rolf als den weisesten Mann des 19. Jahrhunderts“ bewunderte. Auch ” Burckhardt berief sich in seinen Schriften auf einen h¨oheren Gesichtspunkt.
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2 Der Weg zum Forscher
Rolf Nevanlinna befolgte sein ganzes Leben lang das Gel¨ ubde seiner Jugend. Die Hingabe an das geistige Leben pr¨agte ihn und beeinflußte seine Pers¨ onlichkeit. Bei Nevanlinna wirkten Intellekt und Gef¨ uhl außergew¨ohnlich stark zusammen. F¨ ur die sch¨ opferische Arbeit war diese Kombination fruchtbar, im Privatleben brachte ihn seine Impulsivit¨ at jedoch in Konflikte. Nevanlinna hielt die klassische Einteilung der Psyche in getrennte Teilbereiche, n¨amlich in den kognitiven und emotionalen Bereich sowie in den Bereich des Willens f¨ ur eine grobe Abstraktion, da nach seiner Auffassung unser Wesen eine unteilbare organische Ganzheit ist. Wir k¨ onnen weder f¨ uhlen noch wollen, ohne ” zu denken, und wir k¨ onnen auch nicht denken, ohne zu f¨ uhlen und zu wollen.“ F¨ ur Begabung hatte er eine originelle Definition: Begabung ist gleichbedeu” tend mit der Intensit¨ at des Interesses. Und wenn das nicht vollst¨andig so ist, dann liegt es doch zumindest viel n¨ aher bei einhundert Prozent, als man im Allgemeinen erkennt.“
2.10 Promotion Im Laufe des Sommers 1918 kam Rolf Nevanlinna mit seiner Dissertation so gut voran, daß der Abschluß im Herbst bereits in Sicht war. Der letzte Schliff f¨ ur die endg¨ ultige Abfassung, insbesondere was die ¨außere Form betraf, fehlte noch. Dieser Seite der Forschungsarbeit opferte Nevanlinna auch sp¨ater viel Zeit und M¨ uhe. Er sagte, daß die Leitideen in der sch¨opferischen Arbeit seiner Meinung nach zwar durch Intuition blitzartig auftauchten, ihre Weiterentwicklung und endg¨ ultige Formgebung jedoch einen langen und geduldigen weiteren Arbeitseinsatz erforderten. Hier verwies er auf Sibelius, der in seinen Tageb¨ uchern von der Schmiedephase“ seiner Kompositionsarbeit spricht und ” sich erinnerte, daß Beethoven seine Themen viele Dutzende Male u ¨ berarbeitet hat. Nevanlinna betonte, daß Inhalt und Form in der Mathematik eine untrennbare Gesamtheit bilden, und daß hier die Subjektivit¨at der mathematischen Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Die Formgebung erfolgt keinesfalls willk¨ urlich und gerade das Zusammenwirken von Freiheit und Strenge verleiht der Mathematik eine einzigartige Stellung unter den Wissenschaften. Nachdem Rolf aus Padasjoki nach Helsinki zur¨ uckgekehrt war, u ¨bergab er als erstes den Entwurf seiner Dissertation an Ernst Lindel¨of. Dieser machte sich sofort daran, die Arbeit zu korrigieren, und es folgte ein l¨angerer Lehrgang u ¨ ber die Darstellungsweise. Der Doktorand erschien immer wieder vor dem Meister, der seine Kritik bis ins kleinste Detail darlegte. Rolf sagte, daß ihm diese Anleitung, bei der er sozusagen an die Hand“ genommen wurde, eine ” bleibende Lehre gewesen sei. Die leserfreundliche Darstellung war ein Kennzeichen der mathematischen Ver¨ offentlichungen Rolf Nevanlinnas. Er schrieb h¨aufig auch ausf¨ uhrlich
2.10 Promotion
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dar¨ uber, welche Gedanken hinter den einzelnen Schritten seiner Beweise standen. Der abschließende mathematische Satz stand am Ende einer suggestiven ¨ Kette von Uberlegungen. Diese Art der Darstellung ist f¨ ur einen Autor schwierig und wird heutzutage kaum angewendet. Der große Carl Friedrich Gauß ¨ vertrat einen entgegengesetzten Standpunkt: Uber die Klarheit feilschte auch er nicht, aber die Darstellung mußte sich auf das Wesentliche beschr¨anken und alles Unn¨ otige war unn¨ otig. Die finnischen Wurzeln der sorgf¨ altigen und bis ins letzte Detail ausgefeilten mathematischen Darstellung gehen auf Ernst Lindel¨ofs Vater Lorenz Lindel¨ of zur¨ uck (der in seiner Art zu schreiben eher ein Geistesverwandter von Gauß als von Nevanlinna war). Von Lorenz Lindel¨of ging die Wertsch¨atzung einer ausgefeilten Form – u of – auf Nevanlinna u ¨ ber Ernst Lindel¨ ¨ber, der diese Auffassung dann seinen eigenen Sch¨ ulern vermittelte. In der heutigen Zeit, die durch einen hektischen Lebensrhythmus und Erfolgsdruck gekennzeichnet ist, wird einer ausgefeilten Darstellung nicht mehr soviel Aufmerksamkeit gewidmet. Insbesondere wird das Absinken des Niveaus den Amerikanern vorgeworfen, von denen ein großer Teil der gegenw¨artigen mathematischen Ver¨ offentlichungen stammt, aber es handelt sich um eine globale Erscheinung. Im Sp¨ atwinter des Jahres 1919 gab Lindel¨of entsprechend seiner eigenen Werteskala ein lobendes Urteil u ¨ ber Rolfs Manuskript ab: Ja, das behauptet ” ¨ jetzt seinen Platz.“ Rolf kam h¨ aufig auf diese Außerung Lindel¨ofs zur¨ uck, wenn er u altnis eines Lehrers zu seinen Sch¨ ulern nachdachte. ¨ber das Verh¨ Betreuung und Aufmunterung durch den Lehrer sind f¨ ur einen beginnenden Forscher ¨ außerst wichtig, aber das Lob sollte so bemessen sein, daß der junge ¨ Forscher nicht durch u aßig positive Außerungen veranlaßt wird, vorzeitig ¨berm¨ zu viel von sich selbst zu halten. ¨ Rolf Nevanlinna verteidigte seine Dissertation Uber beschr¨ankte Funk” tionen, die in gegebenen Punkten vorgeschriebene Werte annehmen“ im Mai 1919 im Rahmen einer ¨ offentlichen Veranstaltung. Lindeberg war der Opponent und Lindel¨ of der Vorsitzende. Im letzten Moment schaffte Rolf Ende Mai die feierliche Promotion11 der philosophischen Fakult¨at. Ihm wurde (wie auch seinem Bruder Frithiof) der Magistergrad und der Doktorgrad gleichzeitig verliehen. Neben dem Weißen General“, Reichsverweser Mannerheim, der zum Eh” rendoktor ernannt wurde, spielten auch Sibelius und Lindel¨of eine wichtige Rolle bei der Zeremonie. Der Erstere hatte eigens f¨ ur die Gelegenheit den Promotionsmarsch komponiert, w¨ ahrend der Letztere als Zeremonienmeister t¨ atig war und in dieser Eigenschaft auch den Festzug leitete.
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Die feierliche Promotion findet nicht j¨ ahrlich, sondern u ¨ blicherweise nur alle drei bis vier Jahre statt.
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2 Der Weg zum Forscher
Abb. 2.4. Promotion der philosophischen Fakult¨ at der Universit¨ at Helsinki im Jahr 1919, in dem Rolf Nevanlinna der Magistergrad und der Doktorgrad verliehen wurde. Nach den Pedells an der Spitze des Festzuges Professor Ernst Lindel¨ of als Zeremonienmeister, gefolgt von Dr. honoris causa Mannerheim (2. v. r.). (Mit freundlicher Genehmigung: Museum der Universit¨ at Helsinki)
2.11 Ehe und Erwerbst¨ atigkeit Als Rolf 15 Jahre alt war, machte er zusammen mit Frithiof eine Reise nach Joensuu, um Kindheitserinnerungen aufzufrischen. Die Reise ging durch Viborg, wo die Br¨ uder ein paar Tage im Haus ihrer Tante Elise Selin verbrachten. Rolf traf damals zum ersten Mal die Tochter des Hauses, seine Cousine Mary, die ein halbes Jahr ¨ alter war und auf ihn einen recht tiefen Eindruck“ mach” te. Ein Jahr sp¨ ater machte Mary einen Gegenbesuch in Sammatti, wo Rolf den Sommer mit seinen Eltern verbrachte. Die jungen Leute f¨ uhlten sich geistesverwandt: Sie interessierten sich f¨ ur Musik, und sie hatten als gemeinsame Großeltern die starken Pers¨onlichkeiten des Generals Edvard Engelbert Neovius und seiner Frau Elise Krogius. Rolf erz¨ ahlte in seinen Memoiren, daß er sich mit Mary sechs Jahre nach der ersten Begegnung zu der Zeit verlobt habe, als er die Magisterpr¨ ufung ablegte. Nicht alle Verwandten waren mit Rolfs Wahl einverstanden – schon das nahe
2.11 Ehe und Erwerbst¨ atigkeit
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Verwandtschaftsverh¨ altnis weckte Bedenken. Zweifel hatten sogar die jungen Leute selbst, denn sie l¨ osten die Verlobung auf. Nach einiger Zeit bereuten sie es, und die neue Verlobung fand im Januar 1919 in Viborg statt. Rolfs Vater verlangte, daß die Ehe erst dann geschlossen werden d¨ urfe, wenn die Dissertation abgeschlossen und der Lebensunterhalt gesichert sei – und damals hatte das Wort der Eltern Gewicht. Im Sommer 1919, kurz nach Rolfs Promotion, fand die Hochzeit im Haus der Selins in Viborg statt.
Abb. 2.5. Das jungverheiratete Paar Rolf und Mary Nevanlinna.
Die Selins sprachen Schwedisch, das deshalb auch Rolfs Umgangssprache zuhause blieb. Im Laufe der Zeit ging die Familie jedoch immer mehr zum Finnischen u ¨ ber: Rolf sprach mit allen Kindern Finnisch und auch Mary tat das mit den beiden j¨ ungsten Kindern. Mary, die in Viborg das finnischsprachige Gymnasium besucht hatte, sprach fast perfekt Finnisch. Auch sonst hatte Mary gute Sprachkenntnisse, weil sie eine standesgem¨aße T¨ochtererziehung genossen hatte. Sie hatte eine Franz¨ osisch sprechende Hauslehrerin und nach dem Schulabschluß wurde sie in ein internationales Internat f¨ ur junge Frauen nach Dresden geschickt. Die Heirat vertrieb die Mathematik f¨ ur eine Weile aus Rolfs Gedanken. Er verbrachte einen Teil des Sommers mit seiner jungen Frau und seinen Schwiegereltern auf den ˚ Aland-Inseln ohne seine mathematischen Papiere: Man ging spazieren, machte Segelfahrten und Ausfl¨ uge mit einer Pferdekutsche. Dort hatte Rolf auch die Gelegenheit, die erste Autofahrt seines Lebens zu unternehmen. Das jungverheiratete Paar lebte nicht ausschließlich in seiner eigenen
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2 Der Weg zum Forscher
Welt, sondern tauschte auch Gedanken mit der ortsans¨assigen Bev¨olkerung aus, die damals wollte, daß sich die ˚ Aland-Inseln von Finnland losl¨osen und Schweden anschließen sollten. Nach der Hochzeitsreise wurde Rolf in Helsinki mit einer allt¨aglichen Sorge konfrontiert: Er mußte den Lebensunterhalt sichern. Finnland war unabh¨angig geworden, aber das Volk war in tragischer Weise gespalten. Es kam zu heftigen und kontroversen Diskussionen u ¨ ber den Krieg, und die politischen Verh¨altnisse waren nicht stabil. Die schwierige Lebensmittelsituation war ein t¨aglicher Grund zur Sorge, die heftige Inflation fraß die Reall¨ohne auf und die Ersparnisse wurden nahezu vollst¨ andig zunichte gemacht. Rolf wollte seine Eltern weder um finanzielle Unterst¨ utzung bitten, noch w¨aren diese imstande gewesen, eine solche Hilfe u ¨ berhaupt zu geben. Rolf hoffte auf ein akademisches Amt und die dadurch gebotene Gelegenheit, mathematische Forschung zu betreiben und Mathematik zu lehren. Er bekam keine solche Stelle und es gab auch wirklich keine M¨oglichkeiten, weil man die Anzahl der Universit¨ atslehrer f¨ ur Mathematik im ganzen Land an den Fingern einer Hand abz¨ ahlen konnte. Er h¨atte sich mit der Zeit als Privatdozent bewerben k¨ onnen, aber diese T¨atigkeit war unbezahlt und die Vorlesungshonorare waren geringf¨ ugig. Nachdem Rolf geheiratet hatte, war er in derselben Lage wie vor knapp drei Jahrzehnten sein damals jungverheirateter Vater. Beide stellten fest, daß die akademische Laufbahn, die sie einschlagen wollten, nicht realisierbar war, so daß beide ihren Blick auf die Schulen richteten. Der Unterschied bestand darin, daß Rolf die Universit¨ atsstadt nicht verlassen wollte, weil er das Ziel im Blick behielt, auch wissenschaftlich zu arbeiten. Eine feste Lehrerstelle war vorerst in Helsinki nicht zu finden, aber Rolf fand Arbeit als Aushilfslehrer in der Neuen Koedukationsschule am Rand des St¨ andehausparks im Stadtteil Kruununhaka. Rolf kannte diese Schule bereits, da er im vorhergehenden Jahr dort als Gelegenheitslehrer unterrichtet hatte. Das Gehalt eines Aushilfslehrers war jedoch so niedrig, daß es selbst f¨ ur einen bescheidenen Haushalt nicht ausreichte. Rolf und Mary waren zu Opfern bereit, aber beide waren an einen gewissen Lebensstandard gew¨ohnt. Ein gl¨ ucklicher Zufall brachte den erforderlichen Zusatzverdienst. Frithiof Nevanlinna war im vorhergehenden Jahr zum Mathematiker der Lebensversicherungsgesellschaft Salama gew¨ ahlt worden, und als seine Abteilung eine zus¨atzliche Arbeitskraft brauchte, wurde Rolf im Haus als Assistenzmathematiker mit Teilzeitbesch¨ aftigung angestellt. Rolf blieb Lehrer an der Neuen Koedukationsschule bis zum Jahr 1926, als er zum Professor der Mathematik der Universit¨at Helsinki berufen wurde, und er blieb Mathematiker bei Salama bis zum Jahr 1946, in dem er Finnland verließ. Die Arbeit in der Schule und bei Salama hatte ihre positiven Seiten, aber beide Arbeitsstellen waren f¨ ur Rolf zwangsl¨aufig auch nachteilig, denn er war mit Herz und Seele Wissenschaftler. In der Neuen Koedukationsschule hatte Rolfs Arbeit auch eine erotische Spannungskomponente, die ihm nicht unangenehm war. Die Sch¨ ulerinnen
2.11 Ehe und Erwerbst¨ atigkeit
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interessierten sich f¨ ur ihn, und das war nicht erstaunlich, denn er war ein geistreicher und gef¨ uhlvoller junger Mann mit der F¨ahigkeit, einen schwierigen Stoff außergew¨ohnlich klar zu vermitteln. Die Faszination war wechselseitig, denn Rolf f¨ uhlte sich zu charmanten Frauen hingezogen und ließ sich auch nicht durch die Tatsache st¨ oren, daß er sich zu Beginn seiner Lehrerlaufbahn verlobt hatte und einige Zeit sp¨ ater heiratete. Einen wichtigen Platz in Rolfs Erinnerungen an die Schule nahmen diejenigen sch¨ onen M¨ adchen ein, die sich in Mathematik auszeichneten – was seiner Meinung nach eher selten der Fall ist. In der Versicherungsgesellschaft Salama hatte Rolf Nevanlinna in seinen ersten Jahren keine verantwortungsvollen Aufgaben, aber 1922 war er von Amts wegen anwesend, als die Finnische Aktuarsvereinigung gegr¨ undet wurde. Jedoch er¨ offnete Salama Einblicke in Finnlands Wirtschaft und gab Rolf die Gelegenheit, viele wichtige Personen außerhalb der akademischen Welt kennenzulernen. Mit diesen Bekannten schloß sich Rolf schon ziemlich fr¨ uhzeitig dem B¨ orsenklub an und erweiterte dort seinen Bekanntenkreis. Von Zeit zu Zeit war Rolf ein eifriger Klubg¨ anger, obwohl der Vorrang der Arbeit den geselligen Abenden in vergn¨ uglicher Herrenrunde auch Grenzen setzte. In dieser Hinsicht hatte er eine gr¨ oßere Selbstdisziplin als sein Bruder Frithiof.
3 Wissenschaftlicher Durchbruch
3.1 Die Anziehungskraft der Mathematik Die 1920er Jahre waren eine politisch unruhige Zeit in Europa, weil der Frieden von Versailles, der den Weltkrieg beendet hatte, die Verh¨altnisse nicht stabilisierte. Finnland erholte sich vom B¨ urgerkrieg und von dessen Nachwirkungen relativ gut. Auf dem Gebiet der Kultur suchte die junge Republik nach Selbstgef¨ uhl in einer nationalen Orientierung, die auch negative Folgen hatte. W¨ ahrend der im Großf¨ urstentum herrschenden Autonomie hatten die f¨ uhrenden Pers¨ onlichkeiten der Kunst und Wissenschaft die internationalen Kontakte aufrechterhalten, die jetzt in vielen F¨allen zerbrachen. Finnland hatte auch keine Eile, sich den neuen internationalen wissenschaftlichen Organisationen anzuschließen, die nach dem Weltkrieg gegr¨ undet wurden. Der junge Doktor Rolf Nevanlinna, Spr¨oßling einer gebildeten Familie, war sich seines Wertes bereits bewußt und h¨atte sehr wohl zur Frage der Beziehung zwischen der nationalen und der internationalen Kultur Position beziehen k¨ onnen. Er tat es nicht – seine Gedanken kreisten unabl¨assig um ¨ die eigene mathematische Arbeit. Das war keine Frage einer auf Uberlegung beruhenden Wahl, sondern einfach ein innerer Zwang. Nevanlinna hatte sich endg¨ ultig in die Mathematik verliebt, nachdem er bei der Arbeit an seiner Dissertation seine F¨ ahigkeiten und M¨ oglichkeiten erkannte, die Geheimnisse der Mathematik zu ergr¨ unden.1 In den 1920er Jahren widmete sich Nevanlinna ausschließlich der Mathematik. In jenen Jahren erreichte seine sch¨ opferische Arbeit ihren Gipfelpunkt und damals legte er die Grundlagen f¨ ur seinen Weltruf. Besonders in der ersten H¨ alfte des Jahrzehnts konzentrierte er sich so stark auf die mathematische Forschungsarbeit, daß er bei der Verfolgung der gesellschaftlichen Entwicklung 1
Im Literaturverzeichnis findet der Leser ab S. 277 eine Auflistung der deutsch-, englisch- und franz¨ osischsprachigen Ver¨ offentlichungen Rolf Nevanlinnas. Diese Ver¨ offentlichungen sind mit laufenden Nummern versehen; die Dissertation tr¨ agt die Nummer [1].
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
des Landes und der neuen kulturellen Str¨ omungen nur ein passiver Zuschauer war. Die Professur 1926 brachte auch Aufgaben, die nicht zu seinem eigenen Fachgebiet geh¨ orten, aber erst in den 1930er Jahren erwachte bei Nevanlinna ein tieferes Interesse an Dingen, die außerhalb der Mathematik lagen. Eines dieser Probleme war die Sprachenfrage. Es war ein Omen, daß die 1923 veranstaltete Einweihungsfeier des Snellman-Denkmals f¨ ur immer in Rolfs Ged¨ achtnis haften blieb, obwohl ihn die Mathematik ansonsten vollst¨andig in Anspruch genommen hatte. Ernst Nevanlinna hielt die Einweihungsrede, von der Rolf beeindruckt war.
Abb. 3.1. Einweihung des Snellman-Denkmals am 12. Mai 1923, rechts Ernst Nevanlinna bei seiner Rede auf den Stufen des St¨ andehauses. Die beeindruckende Rede ließ Rolf Nevanlinna die eisige K¨ alte des sp¨ aten Fr¨ uhlings vergessen. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv des Verlages Otava)
Es lohnt sich, sorgf¨ altig die ersten Jugendwerke von Wissenschaftlern und K¨ unstlern zu studieren, die bedeutende Ergebnisse erzielt haben. Ein scharfsichtiger Beobachter findet n¨ amlich in diesen Arbeiten den Keim der sp¨ateren Gr¨ oße. In der Mathematik ist die Dissertation fast ohne Ausnahme die erste wissenschaftliche Ver¨ offentlichung des Autors. H¨aufig handelt es sich dabei um ein Gesellenst¨ uck, das unter Anleitung eines Doktorvaters entstanden ist und dessen Beitrag zur Wissenschaft oft relativ gering bleibt. Im Falle Rolf Nevanlinnas stand diese erste Arbeit bereits weit u ¨ber dem normalen Niveau.
3.1 Die Anziehungskraft der Mathematik
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Lindel¨ ofs Beitrag war die Wahl des Themas und nach Rolfs eigener Erz¨ahlung war die Handschrift des Lehrers auch in der endg¨ ultigen Form des Textes erkennbar. Andererseits trug Lindel¨ of kaum zum mathematischen Inhalt bei, den Rolf w¨ ahrend des halben Jahres in Vuosaari begonnen hatte und dessen Hauptz¨ uge sich im Sommer 1918 in Padasjoki abzeichneten. Beide Arbeitsphasen fanden in der Einsamkeit und ohne Kontakte zum mathematischen Umfeld statt. Im letzten Kapitel seiner Dissertation gab Nevanlinna einen historischen ¨ Uberblick u utzlich ¨ber sein Forschungsthema. Dieses interessante Kapitel war n¨ f¨ ur ihn, denn es zwang ihn dazu, u ¨ ber das eigentliche Thema hinauszugehen und die Ergebnisse der Funktionentheorie dieser Zeit ausgiebiger zu studieren. Das wiederum f¨ uhrte dazu, daß er Zusammenh¨ange sah, die seine weitere Forschungsarbeit beeinflußten. Finnland war damals noch von den Wissenschaftszentren isoliert und Nevanlinna kannte einige der unmittelbar nach dem Krieg erzielten Ergebnisse entweder u ¨berhaupt nicht oder hatte nur von ihnen geh¨ ort, ohne die entsprechenden Ver¨ offentlichungen gesehen zu haben. Auf der Grundlage der Doktorarbeit konnte man Rolf Nevanlinna eine erfolgreiche Forscherlaufbahn voraussagen, aber die Dissertation war keine solche Sensation wie ungef¨ ahr zehn Jahre sp¨ater die Arbeit seines Sch¨ ulers Lars Ahlfors. Nevanlinnas Aufstieg zur Spitze erfolgte schnell und bestimmt, aber sozusagen von der Wurzel auf den Baum hinauf“, ohne daß er gleich zu ” Anfang einen riesigen Sprung machte. F¨ ur den gerade promovierten Mathematiker Rolf Nevanlinna waren die ¨außeren Bedingungen zur Fortsetzung der Forschungsarbeit schlecht. Rolf hatte seine t¨ agliche Arbeit in der Versicherungsgesellschaft Salama und 18 Wochenstunden Unterrichtsverpflichtungen in der Schule. Wegen der in Helsinki herrschenden Wohnungsnot gelang es Rolf und Mary erst nach einer beschwerlichen Suche, eine kleine Zweizimmerwohnung zu mieten. Die Adresse Bulevardi 15 klang gut – L¨ onnrot hatte w¨ahrend seiner Jahre als Professor in dem Empirestil-Holzhaus gewohnt –, aber die Wohnung der Nevanlinnas befand sich in einer verwahrlosten Bruchbude auf dem Hof des Hauses. Die junge Ehefrau Mary erwartete das erste Kind der Familie, in den Ecken der Zimmer flitzten Ratten herum. Rolf h¨ atte gute Gr¨ unde gehabt, Luft zu holen und die Fortf¨ uhrung der Forschungsarbeit zu verschieben, aber dem frischgebackenen Doktor fehlte die Geduld, damit zu warten. Er nahm Abstand von den h¨auslichen Arbeiten und gab zu verstehen, daß er sich außerstande sehe, so sonderbare Werkzeuge wie Hammer und Schraubenzieher zu verwenden. Es blieb unklar, inwieweit diese Behauptung ein taktischer Zug war, um alle verf¨ ugbare Zeit f¨ ur die Mathematik abzuzweigen; die damals verinnerlichte Einstellung wurde jedoch in sp¨ateren Lebensphasen zu einer echten Hilflosigkeit. Die Forschungsthemen, mit denen sich Rolf Nevanlinna in seiner Freizeit befaßte und deretwegen er alle anderen Dinge des Lebens vergaß, waren im Licht seiner gesamten Forscherlaufbahn eher von kleinerem Format. Sp¨ ater waren die von ihm gew¨ ahlten Themen fast immer Teil eines großen
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
Programms, aber zu Beginn seiner Laufbahn machte er eine Ausnahme und begann, u ¨ ber Spezialfragen nachzudenken, die zur Theorie der schlichten Funktionen geh¨ oren. Die schlichten Funktionen waren im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aufgetreten und wurden schnell zu einem beliebten Forschungsthema, weil es viele interessante und leichtverst¨andliche Probleme gab. Die Probleme waren zwar keineswegs so leicht, wie sie aussahen, aber kaum ein Funktionentheoretiker konnte der Versuchung widerstehen und dachte zumindest in irgendeiner Phase seiner Laufbahn u ¨ ber diese Fragen nach. Bei Nevanlinna lag diese Phase gleich am Anfang und er hatte Erfolg. Zwei kleinere Arbeiten, die 1920 und 1921 erschienen ([2] und [3]), blieben ein sichtbares Zeichen f¨ ur die Richtung der Anfangsphasen der Theorie. Das Forschungsresultat [4], das Anfang 1922 erschien, hing ebenfalls mit einem besonderen konkreten Problem zusammen und unterschied sich von der f¨ ur Nevanlinna typischen organisierenden Schaffensweise, die auf die großen Linien abzielte. Mit diesem Ergebnis war der Autor auch sp¨ater zufrieden. Es st¨ arkte sein mathematisches Selbstgef¨ uhl, weil es zeigte, daß er imstande war, ein schwieriges Problem zu l¨ osen. Die Dissertation und die drei darauf folgenden Arbeiten machten Nevanlinnas Namen unter den Funktionentheoretikern bekannt.
3.2 Wertverteilungstheorie Das Jahr 1922 war ein Wendepunkt im mathematischen Leben Rolf Nevanlinnas. Damals begann er als Privatdozent seine Laufbahn als akademischer Lehrer und fing an, Fragen zur Wertverteilung analytischer Funktionen zu untersuchen. W¨ ahrend der drei folgenden Jahre erzielte er Ergebnisse, die einen neuen Zweig der Funktionentheorie begr¨ undeten, der nach dem Zweiten Weltkrieg Nevanlinna-Theorie genannt wurde. Diese Theorie brachte ihm einen bleibenden Weltruf in der Mathematik. In der klassischen Wertverteilungstheorie besteht die Aufgabe darin, in der Ebene die Beziehungen zwischen der Wertverteilung und dem Wachstum einer analytischen, das heißt ganzen Funktion zu kl¨aren. Ausgangspunkt waren die einfachsten ganzen Funktionen, die Polynome, von deren elementaren Eigenschaften man sich bereits in der Schule einen Begriff machen kann. Im Bereich der komplexen Zahlen nimmt ein Polynom jeden Wert gleich oft an, und diese Anzahl stimmt mit dem Grad des Polynoms u ¨ berein. Da der Grad andererseits die Wachstumsgeschwindigkeit des Polynoms bestimmt, wenn die Ver¨ anderliche gegen unendlich geht, besteht zwischen dem Wachstum und der Annahme von Werten eine einfache Beziehung. Im allgemeinen Fall ist die Situation viel komplizierter. Bereits eine so einfache ganze Funktion wie die Exponentialfunktion l¨aßt einen Wert vollkommen aus, weil sie nie den Wert Null annimmt. Es war eine mathematische Sensation, als der Franzose Emile Picard 1879 bewies, daß es keine weiteren Ausnahmen gibt: Eine ganze Funktion nimmt stets alle Werte an – mit der
3.3 Die Br¨ uder legen die Grundlage f¨ ur den Erfolg
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m¨ oglichen Ausnahme eines einzigen Wertes. Dieses Ergebnis war ein Mysterium, da in dem kurzen Beweis eine bekannte Funktion als deus ex machina auftrat. F¨ ur viele Jahre blieb Picards Ergebnis isoliert, bis die Pariser Mathematiker allm¨ ahlich imstande waren, eine Theorie der Eigenschaften ganzer Funktionen zu entwickeln. Der H¨ ohepunkt dieser Entwicklung war der tiefliegende Satz, den Emile Borel 1897 bewies. Der Borelsche Satz enth¨alt den Satz von Picard als Spezialfall, so daß Picards Ergebnis nunmehr auf verst¨andliche Weise in eine Theorie eingebunden wurde. Borels Arbeit f¨ uhrte zu einem weltweiten Interesse an ganzen Funktionen. Ernst Lindel¨ of geh¨ orte zu den Ersten, die sich außerhalb Frankreichs dem Kreis anschlossen. Als Lindel¨ of w¨ ahrend des Studienjahres 1898–1899 in Paris war, schloß er Freundschaft mit Borel und richtete seine Forschungst¨atigkeit f¨ ur mehrere Jahre auf die Untersuchung ganzer Funktionen. Lindel¨of wurde ein geachteter Experte auf diesem Gebiet. Eine nat¨ urliche Verallgemeinerung der Polynome sind die rationalen Funktionen, die sich als Quotient zweier Polynome darstellen lassen. Eine entsprechende Verallgemeinerung der ganzen Funktionen sind die meromorphen Funktionen, die ¨ ahnlich den rationalen Funktionen zus¨atzlich zu den komplexen Werten in isolierten Punkten auch den Wert unendlich“ annehmen ” k¨ onnen. Nachdem die Theorie der ganzen Funktionen zu einem befriedigenden Abschluß gebracht worden war, erwachte in den Jahren 1900–1920 das Interesse an meromorphen Funktionen. Es gab zahlreiche Versuche, eine Wertverteilungstheorie der meromorphen Funktionen zu entwickeln, aber man kam nicht weit und die Schwierigkeiten erwiesen sich allm¨ahlich als un¨ uberwindlich. Heute wissen wir, daß vollkommen neue Ideen erforderlich waren, und als diese gefunden wurden, er¨ offnete sich eine unerwartet faszinierende mathematische Landschaft: f¨ ur die meromorphen Funktionen gab es eine elegante Theorie. Die Theorie enth¨ ullte tiefliegende Eigenschaften dieser Funktionen, enthielt die Theorie der ganzen Funktionen in erheblich verbesserter Form und warf neue Probleme auf, als sie die Theorie der Funktionen mit der Geometrie der Fl¨ achen verkn¨ upfte. Ex septentrionibus lux – das Licht kam aus dem Norden.
3.3 Die Bru ¨ der legen die Grundlage fu ¨ r den Erfolg Rolf Nevanlinna war 26 Jahre alt, als er anfing, Fragen zu untersuchen, die zum Gebiet der Wertverteilungstheorie geh¨orten. Ernst Lindel¨of beeinflußte Nevanlinnas Orientierung auf dieses Gebiet, das jahrelang sein eigenes Forschungsthema gewesen war. Auch nach Abschluß der Dissertation hielt Rolf engen Kontakt zu seinem Lehrer, der mit Interesse den vielversprechenden Beginn der Forscherlaufbahn seines jungen Verwandten verfolgte.
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
Abb. 3.2. Rolf Nevanlinna im Jahr 1922, als er seine bahnbrechenden Forschungsarbeiten zur Wertverteilung der meromorphen Funktionen begann.
Rolf Nevanlinna begann zusammen mit seinem Bruder Frithiof seine Untersuchungen, die in eine neue Richtung gingen. Die Br¨ uder hatten keine Vision einer umfassenden Theorie, sondern nur ein unbestimmtes Gef¨ uhl, daß u uhmten Satz von Picard noch nicht das letzte Wort gesprochen ¨ ber den ber¨ war. Die in der chronologischen Reihenfolge erste Arbeit zur Wertverteilungstheorie war die kurze Anmerkung [6], die Rolf nur unter seinem eigenen Namen in den Comptes rendus der Franz¨ osischen Akademie der Wissenschaften ver¨ offentlichte. Zu einem beachteten ¨ offentlichen Auftritt kam es im Juli 1922 anl¨ aßlich des Skandinavischen Mathematiker-Kongresses in Helsinki. Das Ereignis war schon an sich in Rolfs Leben wichtig, weil Finnland dermaßen isoliert gewesen war, daß er erst jetzt zum ersten Mal ausl¨andische Mathematiker traf. Der Kongreß war urspr¨ unglich f¨ ur 1916 in Finnland geplant gewesen, aber die Zeiten waren so instabil, daß er erst sechs Jahre sp¨ater abgehalten wurde. Auf dem Kongreß geh¨ orten Rolf und Frithiof zu den j¨ ungsten Teilnehmern. Sie hielten ihre eigenen Vortr¨ age, die mit demselben Thema zusammenhingen und einander erg¨ anzten. In beiden Vortr¨ agen lag der dominierende Teil auf der von ihnen verwendeten neuen Methode, f¨ ur deren eigentliche Darstellung man die gemeinsame Ver¨ offentlichung [7] der Br¨ uder konsultieren kann, die bereits fr¨ uher in Vorbereitung war. In dieser Arbeit wendeten Frithiof und Rolf potentialtheoretische Methoden systematisch auf analytische Funktionen an. Hier erkennt man den Einfluß Lindel¨ ofs, aber die Konsequenz und das Geschick, mit der die Methode angewendet wurde, ist das ungeteilte Verdienst der Nevanlinnas.
3.3 Die Br¨ uder legen die Grundlage f¨ ur den Erfolg
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Ihr Erfolg war erstaunlich und ihre gemeinsame Ver¨offentlichung [7] erhielt außergew¨ ohnlich positive Rezensionen. Der bekannte ungarische Funktionentheoretiker G´ abor Szeg˝ o schrieb im Jahrbuch u ¨ber Fortschritte der Mathematik, dem damaligen internationalen Referate-Organ: Besonders reizvoll an ” dieser Arbeit ist – außer der klassischen Eleganz der Form – die Vollkommenheit der Resultate und die Einfachheit der verwendeten Methode.“ Das waren kurz gesagt die Merkmale der Mathematik der Nevanlinnas. Mehr als f¨ unfzig Jahre sp¨ ater sprach Lars Ahlfors – bei der Feier zu Rolfs 80. Geburtstag in Z¨ urich – die dramatischen Worte, daß die Funktionentheorie nach dem Erscheinen dieser Arbeit nicht mehr dieselbe war wie fr¨ uher. Die Arbeit war der Anfang der Wertverteilungstheorie und ermutigte dazu, den begonnenen Weg fortzusetzen. Von da an ging Rolf diesen Weg jedoch allein und die aufgestellte Theorie tr¨ agt nur Rolfs Namen. Dennoch l¨oste der gemeinsame Anfang Diskussionen u ¨ber den Anteil Frithiof Nevanlinnas aus. Die Beziehung der Br¨ uder hatte sich mit den Jahren ver¨andert. Rolf, der sich in der Kindheit und w¨ ahrend der Schulzeit f¨ ur einen Sp¨atentwickler hielt, blickte zu seinem Bruder auf: Frithiof war der musikalischere und entwicklungsm¨ aßig fortgeschrittenere große Bruder. Der Altersunterschied von einem Jahr war in der Schule zu einem Unterschied von zwei Klassen geworden. Rolf sagte, daß ihre Beziehung bis zum 20. Lebensjahr ziemlich distanziert gewesen sei, denn Frithiof war fr¨ uhreif und nachdenklich, w¨ahrend ich ein ” extrovertiertes Kind war. Aber dann hat sich etwas ge¨andert.“ W¨ ahrend der Studienzeit wurde Frithiofs Zweijahresvorsprung immer kleiner. Als Rolf seine Dissertation schrieb, war er sich seiner mathematischen F¨ ahigkeiten bewußt geworden, sein Selbstwertgef¨ uhl war gestiegen und er sp¨ urte, daß er als Mathematiker nicht mehr hinter seinem Bruder zur¨ uckstand. In den Jahren 1919–1922, nach Promotion und Heirat, hatte Rolf seine Forschungsarbeit unabl¨ assig fortgesetzt, w¨ ahrend Frithiofs Engagement f¨ ur die Forschung abflaute. Die Belastung durch die Erwerbst¨atigkeit war in diesen Zeiten bei beiden ungef¨ ahr gleich groß. Rolf wurde 1922 zum Privatdozenten der Universit¨ at ernannt, Frithiof erhielt die Ernennung erst ein Jahr sp¨ater. ungere Bruder hatte ihn u ur immer, wie sich bald herausstellen Der j¨ ¨ berholt – f¨ sollte. Die Beziehungen zwischen den Br¨ udern blieben das ganze Leben hindurch bemerkenswert gut. Die Bewunderung, die Rolf f¨ ur den ¨alteren Bruder empfand, nahm neue Z¨ uge an, nachdem er selber wissenschaftliches Ansehen erlangt hatte. Rolf wurde nicht m¨ ude, Frithiofs Bedeutung hervorzuheben: Die ” Konsultationen mit ihm haben den Fortgang meiner Arbeit ganz entscheidend beeinflußt. Ein ¨ ahnlicher mathematischer Geschmack und eine ¨ahnliche Interessenrichtung hatten zur Folge, daß ich nach meinem Studium kaum anderswo so entscheidende Impulse erhielt wie durch die Gespr¨ache mit meinem Bruder.“ Rolf hielt Frithiof f¨ ur den Besten seiner M¨annerfreunde: Er stand cha” rakterlich u ber mir und war frei von Neid und Boshaftigkeit. Mehr noch, ¨ mein Bruder hatte den positiven guten Willen und die F¨ahigkeit, sich u ¨ ber
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die Erfolge anderer zu freuen.“ Diese Tugenden Frithiofs, die Rolf aufz¨ahlte, hatte er selber auch; hierauf machte Eino Kaila aufmerksam, der die Br¨ uder seit langem kannte. In dem Maße, in dem Rolfs mathematischer Ruf zunahm, ¨anderte sich Frithiofs Einstellung gegen¨ uber Rolf: Obwohl Frithiof eine zentrale Gestalt im Versicherungsleben des Landes wurde, bedeutete das f¨ ur ihn nichts im Vergleich zu der Tatsache, daß Rolf ein mathematisches Genie war. Es schien Frithiof, daß er selber das vom Vater ererbte Talent nicht geb¨ uhrend gepflegt habe, als er sich in den Dienst der Wirtschaft stellte, anstatt die Wissenschaft zu w¨ ahlen. Als er seine Zusammenarbeit mit Rolf beschrieb, sagte er, daß er nur der Adjutant seines brillanten Bruders gewesen sei. Den Br¨ udern wurde es in den 1920er Jahren zur Gewohnheit, von der Versicherungsgesellschaft Salama oder von der Universit¨at ins nahegelegene Caf´e Fazer zu gehen, zu Kaffee und Mathematik“. Als Frithiof 1950 zum Profes” sor berufen wurde, belebten sie diese alte Gewohnheit wieder. Allm¨ahlich kam es auch wieder zur mathematischen Zusammenarbeit, die aber nicht dieselbe Bedeutung hatte wie zu Beginn der 1920er Jahre. Als sich Rolf 1923 allein aufmachte, um eine neue mathematische Theorie zu entwickeln, war er noch in der Anfangsphase seiner Arbeit. Die entscheidenden Einsichten erforderten noch einen Reifeprozeß und bis zu den Hauptergebnissen der Theorie war noch ein Weg zur¨ uckzulegen. Man kann also mit Fug und Recht sagen, daß die Nevanlinna-Theorie die Theorie Rolf Nevanlinnas ist. Frithiofs Anteil l¨ aßt sich nicht mehr kl¨aren, und sogar die Betreffenden selbst wußten es nie genau, weil ihre Zusammenarbeit in hohem Maße auf Diskussionen beruhte. Die Wechselwirkung bestand darin, daß sie Gedanken und Ideen darlegten und entwickelten. Im Salama-Geb¨aude hatten die Br¨ uder mehr als zehn Jahre lang ein gemeinsames Arbeitszimmer. Bei ihren Diskussionen gingen sie, so wie sie es vom Vater gelernt hatten, im Zimmer auf und ab – jeder entlang seiner eigenen Diagonalen. Frithiof erz¨ahlte einmal, daß sich der Fußboden dadurch kreuzf¨ormig“ abgenutzt habe. ” Es gibt mehrere Ursachen daf¨ ur, daß Frithiof der Gesellschaft von Rolf fernblieb, als dieser in die Geheimnisse der meromorphen Funktionen eindrang. Rolf hatte in dieser Phase einen Vorsprung und einen festeren Zugriff auf das zu untersuchende Problemfeld. Frithiof wollte sich gedanklich nicht in diesem Maße von seiner Arbeit bei Salama abkoppeln und er wollte auch sein Familienleben nicht so weit beiseite schieben, wie es die intensive Forschungsarbeit erfordert h¨ atte. Seine Teilnahme an Rolfs Untersuchungen ließ jedoch nicht nach. Ein beeindruckender Beweis hierf¨ ur ist seine eigenst¨andige Arbeit ¨ Uber die Anwendung einer Klasse von uniformisierenden Transzendenten zur ” Untersuchung der Wertverteilung analytischer Funktionen“, die 1927 in den Acta Mathematica (Band 50) erschien. In dieser Arbeit brachte Frithiof einen neuen Gesichtspunkt in Rolfs Theorie ein. Erst Anfang der 1930er Jahre gab Frithiof Nevanlinna die funktionentheoretische Forschungsarbeit auf, nachdem er Generaldirektor der Versicherungsgesellschaft Pohjola geworden war.
3.4 Nevanlinnas Haupts¨ atze
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3.4 Nevanlinnas Haupts¨ atze Als Rolf Nevanlinna Anfang Sommer 1980 starb, beschloß man, das f¨ ur den Herbst in Z¨ urich zu seinem 85. Geburtstag geplante Kolloquium in ein Gedenkkolloquium umzuwandeln, das im nachfolgenden Winter stattfinden sollte. Bei dieser Gelegenheit wurde ich gebeten, einen Vortrag2 u ¨ ber die Entstehung der Nevanlinna-Theorie zu halten. Hierf¨ ur sammelte ich alle Ver¨offentlichungen Nevanlinnas, die mit dem Thema zu tun hatten, ordnete sie chronologisch und fing an zu lesen. Die Folge war eine unglaublich eindrucksvolle Leseerfahrung. Es war, als ob ein fesselnder Kriminalroman vor mir l¨age. Nevanlinna l¨ uftete Schritt f¨ ur Schritt den Schleier des Geheimnisses und schließlich war die ganze Theorie in ihrem vollen Glanz zu sehen. Der Meister, der das Werk schuf, war damals noch keine 30 Jahre alt. Die Grundlage der Theorie ist der erste Hauptsatz von Nevanlinna. Es ist ein merkw¨ urdiges Ergebnis, weil es sich technisch relativ einfach ableiten l¨ aßt – ich habe den Satz in Vorlesungen vor Studenten gebracht, die außer dem zweij¨ ahrigen Grundstudium nur ein Semester Funktionentheorie geh¨ort hatten. Der Satz war schon lange ziemlich sichtbar“ gewesen, wenn man nur ” vermocht h¨ atte, ihn aus den bekannten Formeln heraus zu lesen. Daß dieser Satz so lange im Verborgenen blieb, zeigt, daß es sich um ein tiefgr¨ undiges Ergebnis handelt, f¨ ur dessen Entdeckung es nicht nur außergew¨ohnlicher seherischer F¨ ahigkeiten bedurfte, sondern sogar ein k¨ unstlerischer Blick erforderlich war. Formell ist es ein außerordentlich sch¨ ones Ergebnis, denn es sagt aus, daß sich jede meromorphe Funktion hinsichtlich der von ihr angenommenen Werte vollkommen symmetrisch verh¨ alt: Nimmt die Funktion irgendeinen Wert weniger oft als u ¨ blich an, dann kompensiert sie diesen Mangel dadurch, daß sie diesen Wert so stark approximiert, daß ein Gleichgewichtszustand erreicht wird. Der zweite Hauptsatz erg¨ anzt den ersten, indem er in exakter Form aussagt, daß es nur wenige solche Werte gibt, die von der Funktion weniger h¨aufig als u ¨ blich angenommen werden. Im Gegensatz zum ersten Hauptsatz ist dieses Ergebnis technisch so schwierig, daß die Beweiskette und die Einzelheiten auch von Experten Anstrengungen erfordern. Die endg¨ ultige Formulierung des zweiten Hauptsatzes h¨angt mit einer sonderbaren Episode zusammen. Rolf Nevanlinna hatte sein Hauptergebnis in den Comptes rendus der franz¨ osischen Akademie mitgeteilt und fing danach an, eine Zusammenfassung seiner Theorie f¨ ur die Zeitschrift Acta Mathematica zu schreiben. Im Herbst 1925 war das Manuskript bereits in der Phase des Korrekturlesens, als er Nachrichten aus England erhielt. John Littlewood, Professor der Mathematik an der Universit¨at Cambridge, und sein Sch¨ uler, der gerade promovierte Edward Collingwood, hatten unabh¨angig voneinander u ¨ ber den zweiten Hauptsatz nachgedacht, den Nevanlinna in den Comptes renoffentlicht hatte. Nevanlinna hatte bewiesen, daß es in einer Menge von dus ver¨ 2
Mein Vortrag ist unter dem Titel On the Birth of the Nevanlinna Theory“ in ” den Ann. Acad. Scient. Fenn. Ser. A. I. Math. 7:1 (1982) erschienen.
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
drei beliebigen Werten maximal zwei Werte gibt, die von der Funktion weniger oft als u ¨ blich angenommen werden. Deswegen hatte Nevanlinna das Ergebnis f¨ ur den Fall von drei Werten formuliert. Jetzt bemerkten die Engl¨ander, daß sich das Ergebnis – ohne den Beweis wesentlich zu ¨andern – f¨ ur beliebig viele Werte formulieren l¨ aßt und man daraus wesentlich weitergehende Schlußfolgerungen ziehen kann. Es erscheint unbegreiflich, daß Nevanlinna, der jahrelang dar¨ uber nachgedacht hatte, diese wichtige und ziemlich einfach festzustellende Verallgemeinerung u assige Bestreben, eine bestimmte Frage zu ¨ bersehen hatte. Das unabl¨ kl¨ aren, hatte bei ihm zu einem blinden Fleck“ gef¨ uhrt. Nevanlinna erfaßte ” die M¨ oglichkeiten der neuen Verallgemeinerung so schnell, daß ihm unbewußt vielleicht sogar die endg¨ ultige Form des zweiten Hauptsatzes klar war. Im letzten Moment ¨ anderte er den Schlußteil seines Manuskripts und pr¨asentierte seine Theorie auf diese Weise in einer noch besseren Form als vorher. Die Arbeit [22], die Nevanlinna f¨ ur die Acta Mathematica verfaßte, ist die vielleicht bedeutendste individuelle wissenschaftliche Publikation eines finnischen Mathematikers. Ein Sonderdruck dieser Arbeit befindet sich in einem Schaukasten des Museums der Universit¨ at Helsinki.
3.5 Der Ruhm und sein Preis Rolf Nevanlinna schuf seine Theorie in drei Jahren ohne akademisches Amt, ohne Forschungsurlaub, Stipendien oder andere Formen der Unterst¨ utzung, die man heute f¨ ur notwendig h¨ alt. Es ist schwer zu verstehen, wie jemand neben einer Vollzeitt¨ atigkeit diese profunde Theorie entwickeln konnte, was zwangsl¨ aufig eine lange und angespannte Konzentration der Gedanken erforderte. Nevanlinna sagte, daß es sehr wohl auch Abende, Feiertage und Urlaub gegeben habe. Er nutzte diese Freizeit voll f¨ ur die Entwicklung seiner Theorie und das geschah in der neuen Wohnung der Familie in Museokatu 9. Frithiof Nevanlinna, der Chefmathematiker von Salama – f¨ ur den Mathematik und Musik die einzigen Dinge waren, nach denen man von ganzem Herzen streben k¨ onne – wachte nicht streng dar¨ uber, wie Rolf, der Assistenzmathematiker, seine Zeit einteilte. Ich erinnere mich, wie mein Vater Anfang der 1930er Jahre zuhause gesagt hat, daß die mathematische Abteilung von Salama mit Frau Margit Hild´en gl¨ ucklicherweise noch eine dritte fleißige Arbeitskraft habe. Rolf Nevanlinnas Fortschritte in der Arbeit f¨ uhrten zu einer Motivation, die einen m¨ achtigen Kraftquell bildete. Einen Anteil am Erfolg hatte auch Rolfs Jugend, die Kraftanstrengungen m¨ oglich machte, zu denen man als ¨alterer Mensch nicht mehr f¨ ahig ist. Die Bedeutung von Nevanlinnas Theorie sprach sich bald herum. Rolf Nevanlinna, dem Anerkennung reichlich zuteil wurde, stellte fest, daß er eine mathematische Ber¨ uhmtheit war. Er wurde in einem so jugendlichen Alter
3.5 Der Ruhm und sein Preis
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weltber¨ uhmt, wie es außerhalb der Mathematik nur in wenigen anderen Gebieten m¨ oglich gewesen w¨ are. Spitzenleistungen auf dem Gebiet der Mathematik erfordern neue Ideen, Geschmack und einen guten Blick, aber nicht notwendigerweise die Lebenserfahrung, die man braucht, um entsprechende Ergebnisse in geisteswissenschaftlichen F¨ achern zu erzielen. Nevanlinnas Selbstwertgef¨ uhl war bereits vorher stark, und jetzt empfand er Genugtuung, als er feststellte, daß er als Ergebnis seiner Anstrengungen zu einem internationalen Star wurde. In Anspielung auf die mathematische Tradition der Familie sagte man, daß er einem aus der Hochebene herausragenden Gipfel gleiche. Das machte es f¨ ur ihn leichter, den Ruhm zu verkraften. Die Ber¨ uhmtheit machte Nevanlinna nicht u ¨ berheblich, er trat trotz seiner Forschungsergebnisse bescheiden auf. Ich erinnere mich nicht, daß er irgendwann einmal w¨ ahrend unserer Bekanntschaft Werbung f¨ ur seine eigene Theorie gemacht h¨ atte; ihm reichte es, wenn andere das an seiner Stelle machten. Auf Nevanlinnas mathematische Bescheidenheit wies auch der Engl¨ander Walter Hayman hin, der die Nevanlinna-Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg in bedeutender Weise weiterentwickelte. Nevanlinna kannte die Kriterien der Wissenschaft und war sich seiner Grenzen bewußt. Als er seine Theorie entwickelte, war er nur als Teilzeitwissenschaftler t¨ atig, und deswegen beschr¨ ankte sich sein mathematisches Interessengebiet zwangsl¨ aufig auf die von ihm untersuchte Funktionentheorie. In der ersten Phase seiner Laufbahn war Nevanlinna ein Experte auf einem engbegrenzten Gebiet. F¨ ur Nevanlinna war es nicht leicht, dieses Gebiet zu erweitern. Er erhielt Einladungen, um in den Zentren der Mathematik seine Ergebnisse vorzutragen. Die Theorie f¨ uhrte zu neuen Problemstellungen, und man erwartete, daß sich auch Nevanlinna auf diese Fragen konzentriere. Jahrelang kreisten Nevan¨ linnas mathematische Uberlegungen um die von ihm geschaffene Theorie. Er war zum Gefangenen seiner eigenen Theorie geworden. Vom Standpunkt des wissenschaftlichen Nachwuchses des Landes war es gef¨ ahrlich, daß Ernst Lindel¨ of und Rolf Nevanlinna, die f¨ uhrenden Mathematiker der Universit¨ at, genau denselben Teil der Funktionentheorie als Spezialgebiet hatten. Nevanlinna erweiterte sein funktionentheoretisches Forschungsgebiet in den 1930er Jahren, aber als die Mathematik nach dem Zweiten Weltkrieg neue Gebiete erschloß, trat die Einseitigkeit der finnischen mathematischen Forschung zutage: es war schwierig, der Zeit zu folgen. Bei Menschen, die sich ganz auf die mathematische Forschungsarbeit konzentrieren, bleiben andere geistige Interessen leicht auf der Strecke. Zu Beginn der 1920er Jahre hatte Nevanlinna kaum Zeit, etwas anderes zu lesen als die mathematische Literatur seines eigenen Spezialgebietes. Aber auch das war nicht viel, da er die Fachliteratur nahezu mied: Er wollte die Dinge durch eigenes Nachdenken erforschen. Jahrzehnte sp¨ ater gab Kurt Strebel, ein Schweizer Sch¨ uler von Nevanlinna und sp¨ ater dessen Nachfolger als Professor der Universit¨ at Z¨ urich, folgende treffende Charakterisierung: Nevanlinna war kein ” Vielleser, sondern ein durch und durch sch¨ opferischer Mensch.“
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
Als Gegengewicht zur Mathematik hatte Nevanlinna eine tiefe Beziehung zur Musik. Er sagte: Die Musik hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. ” Auf geheimnisvolle Weise, die mir zu analysieren schwer f¨allt, hat sie auch meine Arbeit als Forscher begleitet.“ Nevanlinna hoffte, den Anspruch zu erf¨ ullen, den Jacob Burckhardt an einen gebildeten Menschen stellte: sich zus¨ atzlich zum eigentlichen Beruf in ein anderes Gebiet der Kultur so weit einzuarbeiten, daß es mehr bedeutet als nur einen Zeitvertreib. Die nahezu ausschließliche Zuwendung zur Funktionentheorie dauerte nicht l¨ anger als ein Jahrzehnt, denn bereits gegen Ende der 1920er Jahre erwachte in Nevanlinna das Interesse an allgemeinen philosophischen Fragen der Mathematik. In den 1930er Jahren traten v¨ollig neue Interessen an die Seite der Mathematik, als sich Nevanlinna an der Universit¨atsverwaltung beteiligte und sozialpolitische Fragen ihn immer mehr besch¨aftigten. Grunds¨ atzlich interessierte sich Nevanlinna umfassend f¨ ur die Kultur. Solange die Mathematik seine kreative T¨ atigkeit beherrschte, blieben andere Interessen im Hintergrund, aber sie traten in dem Maße hervor, wie die Intensit¨ at der mathematischen Forschungsarbeit abnahm. Das wurde mit Beginn der 1960er Jahre offensichtlich, als Nevanlinna in Finnland zu einer einflußreichen Kulturpers¨ onlichkeit wurde. W¨ ahrend der intensiven Schaffensperiode Rolf Nevanlinnas wurden der Familie vier Kinder geboren: Kai 1920, Harri 1922, Arne 1925 und die Tochter Sylvi 1930. Die Hingabe an die Mathematik isolierte den Familienvater zumindest von den zwei ¨ altesten S¨ ohnen in deren fr¨ uher Kindheit. Anfang der 1920er Jahre verbrachten Mary Nevanlinna und die Kinder den Sommer im Sommerhaus von Rolfs Eltern in Padasjoki, aber Rolf hatte nicht viel Zeit, sich dort aufzuhalten. In Padasjoki war auch Rolfs j¨ ungerer Bruder Erik, der einen ¨ ahnlichen Reiz auf Frauen aus¨ ubte wie Rolf. Die allein gebliebene Mary und Erik f¨ uhlten Zuneigung zueinander, was auch den Außenstehenden nicht verborgen blieb. Rolf erz¨ahlte, Mary habe daran gedacht, sich scheiden zu lassen, aber sp¨ ater ihre Romanze bereut.
3.6 In den Zentren der Mathematik Rolf Nevanlinna machte in seinem Leben keine Auslandsreise, die man im engeren Sinne des Wortes als Studienreise bezeichnen k¨onnte. Sein Studium und der Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn fielen in die Zeit des Ersten Weltkriegs und dessen Nachwirkungen; damals war es nicht leicht, aus Finnland u uhsommer ¨berhaupt irgendwohin zu reisen. Als er schließlich im Fr¨ des Jahres 1924 seine erste wissenschaftliche Auslandsreise antrat, ging er auf Empfehlung Lindel¨ ofs nach G¨ ottingen, das seit Gauß’ Zeiten einen legend¨aren Ruf in der Mathematik hatte. Nevanlinna blieb zwei Monate an der Universit¨at G¨ottingen, nahm dort aber nicht die Rolle eines Sch¨ ulers ein und versuchte nicht, seine mathematischen Kenntnisse zu erweitern, wozu es dort M¨oglichkeiten gegeben h¨atte. Er
3.6 In den Zentren der Mathematik
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Abb. 3.3. Mary Nevanlinna und die S¨ ohne Kai und Harri zuhause in der Museokatu in Helsinki w¨ ahrend Rolfs aktivster Schaffenszeit. Aufnahme von 1924 oder 1925.
genoß die internationale Forschungsatmosph¨are, wurde mit ber¨ uhmten Mathematikern bekannt und berichtete u ¨ber seine eigene, fast fertige Theorie. Der Geist des Friedens von Versailles war noch sp¨ urbar. Die deutschen Mathematiker wurden boykottiert: Sie erhielten keine Genehmigung, an den Internationalen Mathematiker-Kongressen 1920 und 1924 teilzunehmen. Aber Deutschland war noch eine Supermacht der Mathematik und G¨ottingen hatte seine Stellung als ein Hauptzentrum der Forschung behalten. Dieses Mekka der Mathematiker zog aus aller Welt Forscher an, die sich nicht um die politischen Beschr¨ ankungen k¨ ummerten. Auf individueller Ebene wurde Deutschlands wissenschaftliche Diskriminierung weitgehend durchbrochen. In G¨ ottingen war David Hilbert der strahlendste Stern, und nachdem der Franzose Henri Poincar´e 1912 gestorben war, hatte Hilbert allein den Ruf, der f¨ uhrende Mathematiker des 20. Jahrhunderts zu sein. Als Nevanlinna G¨ ottingen besuchte, war die produktivste Periode Hilberts bereits vor¨ uber und seine konfusen Vorlesungen offenbarten nach Meinung Nevanlinnas sogar eine beginnende Demenz. Zum Ausgleich gab es in G¨ottingen zahlreiche andere Spitzenforscher, darunter viele Juden. Zu dieser Zeit ahnte man noch nicht, daß nur neun Jahre sp¨ ater, fast unmittelbar nach Hitlers Machtantritt, die G¨ ottinger Mathematik von einem paralysierenden Schlag getroffen werden ¨ sollte, und daß diese Anderung auch Rolf Nevanlinna ber¨ uhren w¨ urde.
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3 Wissenschaftlicher Durchbruch
In G¨ ottingen wurde Nevanlinna mit vielen bedeutenden Mathematikern bekannt, sowohl mit großen Namen als auch mit vielversprechenden j¨ ungeren Talenten. Hierbei erwiesen sich seine Sprachkenntnisse als n¨ utzlich. F¨ ur die deutsche Sprache hatte er ein gutes theoretisches Fundament, aber auch praktische Kenntnisse, die er sich durch den Verkehr mit Verwandten seiner Mutter erwarb. Bald hatte sich sein Deutsch so abgeschliffen, daß es f¨ ur ihn zu einer reibungslosen Umgangssprache geworden war. Nevanlinnas pers¨onliche Anziehungskraft beg¨ unstigte das Kn¨ upfen von Bekanntschaften, und er war nicht nur ein vielversprechender junger Mathematiker, sondern hatte bereits einen mathematischen Ruf, seine Forschungsarbeiten waren auch in G¨ottingen registriert worden. Als Nevanlinna vortrug, hatte Hilbert den Vorsitz und außerte sich in h¨ ochst lobenden Worten u ¨ ¨ber Nevanlinnas Ergebnisse. Freilich machte Hilbert eine Prognose, die sich als falsch erweisen sollte: Er meinte n¨ amlich, daß die von Nevanlinna in die Mauer der Funktionentheorie geschlagene Bresche in wenigen Jahren wieder zugemauert sein w¨ urde. Das ist nicht geschehen; vielmehr hat sich die Theorie Nevanlinnas in neuen Richtungen verzweigt und gibt – Jahrzehnte nach ihrer Formulierung – den Forschern weiterhin Arbeit. Außer G¨ ottingen war Paris bereits seit langem ein Zentrum der mathematischen Forschung. Vom Standpunkt Nevanlinnas aus war Paris außerordentlich interessant, weil dort die Wertverteilungstheorie der analytischen Funktionen ihren Anfang genommen und Ernst Lindel¨ of dort Kenntnisse erworben hatte, die er dann mit nach Finnland brachte, wo sie zum Ausgangspunkt der Nevanlinna-Theorie wurden. Nachdem Nevanlinnas zusammenfassende Arbeit 1925 erschienen war, begann sein Briefwechsel mit franz¨ osischen Mathematikern, und im darauffolgenden Fr¨ uhjahr bekam er endlich die Gelegenheit, Paris zu besuchen. Er sagte, der Empfang sei ¨ außerst freundlich“ gewesen, und meinte, dies sei darauf ” zur¨ uckzuf¨ uhren, daß mehrere Schl¨ usselpersonen gute Freunde Lindel¨ofs seien. Zu Vortr¨ agen ging Nevanlinna zumeist nur, weil er ber¨ uhmte Mathematiker sehen wollte. Erneut schloß er zahlreiche Bekanntschaften, sowohl mit den ortsans¨ assigen Mathematikern als auch mit denen, die zu Besuch kamen. Neben dem geselligen mathematischen Beisammensein setzte Nevanlinna seine eigene Forschungsarbeit fort. Rolf Nevanlinna war bereits einige Zeit in Paris, als er eine Einladung zu einer Sitzung der Franz¨ osischen Akademie der Wissenschaften erhielt. Nach der Versammlung trat Emile Borel, der sich auf vielen Teilgebieten der Mathematik einen Namen gemacht hatte, an Nevanlinna heran. Borel war Mitglied der Akademie und hatte durch seine Ergebnisse und durch die Ideen, die zu diesen Ergebnissen f¨ uhrten, auch die Arbeiten Nevanlinnas beeinflußt. Die von Borel herausgegebene Monographie-Reihe, die sogenannte Collection Borel, hatte einen bedeutenden Ruf, und Borel bat Rolf, f¨ ur diese Reihe ein Buch u ber die Nevanlinna-Theorie zu schreiben. ¨ Nevanlinna sagte zu, und dieses Buchprojekt besch¨aftigte ihn einige Jahre. Die 1929 unter dem Titel Le th´eor`eme de Picard-Borel et la th´eorie des
3.6 In den Zentren der Mathematik
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fonctions m´eromorphes erschienene Monographie [27], das erste von Rolf Nevanlinna geschriebene Buch, machte ihn weltweit noch bekannter als vorher. Zu dieser Zeit war das Buch der H¨ ohepunkt der Theorie von Nevanlinna und w¨ are es auch geblieben, wenn Nevanlinnas umfassenderes Buch Eindeutige analytische Funktionen [46], das 1936 erschien, die Bedeutung der Pariser Monographie nicht in den Schatten gestellt h¨atte. In G¨ ottingen und in Paris erweiterte sich der Mathematiker-Bekanntenkreis Nevanlinnas auf L¨ ander außerhalb Skandinaviens. Er, der bereits in jungen Jahren Ansehen erlangt hatte, blieb – aufgrund seiner Forschungsarbeiten und seiner internationalen Ehren¨ amter – f¨ ur mehr als ein halbes Jahrhundert im Mittelpunkt der mathematischen Welt und die Zahl der Kollegen, die er kannte, wuchs st¨ andig. Rolf Nevanlinna stieg in der weltweiten Gemeinschaft der Mathematiker zu einer außergew¨ ohnlichen Position auf.
4 Junger Professor
4.1 Universit¨ atsdozent Im Herbst 1922 wurde Rolf Nevanlinna zum Privatdozenten der Mathematik an der Universit¨ at Helsinki ernannt. Die T¨atigkeit als Privatdozent war finanziell wenig lukrativ, aber nachdem Rolf bereits lange den Wunsch gehegt hatte, an der Universit¨ at zu lehren, nannte er dieses Ereignis einen der großen Wendepunkte seines Lebens. Wenn er die Gelegenheit bekam, seine Gedanken anderen Mathematikinteressierten vorzutragen, offenbarte sich das f¨ ur die Neovius-Nevanlinnas charakteristische Bed¨ urfnis, Einfluß zu nehmen und Begeisterung zu wecken. Als Privatdozent war Nevanlinna berechtigt, w¨ochentlich zwei Vorlesungen zu halten, aber wenn es die finanziellen Mittel gestatteten, war es m¨oglich, ihm auch weitere Lehraufgaben zu u ¨ bertragen, die zum Vorlesungsprogramm in Mathematik geh¨ orten. In der Mathematischen Vereinigung hatte sich Nevanlinna bereits als ausgezeichneter Vortragender hervorgetan, und Professor Lindel¨ of wußte, daß er eine hervorragende Lehrkraft zur Seite hatte. Lindel¨of nutzte diese M¨oglichkeit und u ¨ bertrug Nevanlinna Kurse, die zum Pflichtprogramm geh¨ orten. W¨ ahrend der vier Jahre, in denen Nevanlinna als Privatdozent t¨ atig war, konnte er fast alle Pflichtvorlesungen halten und die dazu ¨ geh¨ orenden Ubungen leiten. Zur Neuen Koedukationsschule und zur Versicherungsgesellschaft Salama kam eine dritte Stelle gerade in der Zeit hinzu, als Nevanlinnas forschungsm¨ aßige Verfassung zur H¨ochstform auflief. Als Beweis f¨ ur Lindel¨ ofs Vertrauen konnte Nevanlinna als erste Aufgabe die Vorlesungen zum zentralen Grundkurs Einf¨ uhrung in die h¨ohere Ana” lysis“ halten, den er – neun Jahre zuvor im Sommer nach dem Abitur – selbstst¨ andig mit Hilfe des Lindel¨ ofschen Lehrbuchs durchgearbeitet hatte. Das Ziel eines Einf¨ uhrungskurses ist es, das Interesse der Studenten f¨ ur Mathematik zu wecken und ihre heterogenen mathematischen Schulkenntnisse auf ein solides Fundament zu stellen. F¨ ur Nevanlinna gab es in diesem Vorlesungskurs zwei Ziele: Zum einen wollte er den H¨ orern sein Bestes geben und zum anderen wollte er seinerseits
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4 Junger Professor
Neues dazulernen. Der letztgenannte Gesichtspunkt erhielt erst 1926 mehr Gewicht, nachdem er Professor der Mathematik geworden war und die Thematik seiner Vorlesungen selbst ausw¨ ahlen konnte. Eine gute Vorlesungsreihe verlangt vom Vortragenden ein sorgf¨altiges Studium des darzulegenden Themas, aber nach Nevanlinnas Meinung war das nur ein Teil der Wahrheit. Nevanlinna hatte etwas von einem darstellenden K¨ unstler. F¨ ur ihn war außerdem fundamental wichtig, was beim Vortragen geschah: W¨ ahrend der Vorlesungen wird dem Vortragenden der Kern des darzulegen” den Themas klarer, als bei den Vorbereitungen. Obwohl ich regelm¨aßig viel Arbeit in die Vorlesungsplanung steckte, habe ich selten mehr zu Papier gebracht als die Hauptz¨ uge der Vorlesung. Bei den Vorlesungen habe ich mich nicht auf meine Notizen gest¨ utzt, sondern die Dinge entsprechend dem roten Faden dargelegt, den ich in der vorhergehenden Planungsphase festgehalten hatte. W¨ ahrend der Vorlesung hat man dann oft auch Geistesblitze, die auch auf Seitenwege f¨ uhren und die zu kl¨ arenden Fragen in allgemeinere Zusammenh¨ ange einordnen. In allen m¨ undlichen Darlegungen sollte man Improvisationen dieser Art ausreichenden Raum geben.“ Nach Nevanlinnas Meinung k¨ onnen auch die besten Lehrb¨ ucher keine guten und lebendigen Vorlesungen ersetzen. Nach einer Vorlesung hatte Nevanlinna die Gewohnheit, sich genaue Notizen u ¨ ber das Gesagte zu machen. Diese Aufzeichnungen erwiesen sich als n¨ utzlich, als er sp¨ ater Monographien und Universit¨atslehrb¨ ucher schrieb.
4.2 Bewerbung um die Professur Im unabh¨ angigen Finnland wurde die Fennisierung der Universit¨at Helsinki fortgesetzt. Besonders aktiv wirkte E. N. Set¨al¨a, langj¨ahriger Professor der finnischen Sprache und Literatur, der als bedeutender Politiker der Sammlungspartei großen Einfluß hatte. Im Jahr 1924 wurden finnischsprachige Professuren f¨ ur einige große Fachgebiete gegr¨ undet, zu denen auch die Mathematik geh¨ orte. F¨ ur die neue Professur gab es zwei Bewerber: Rolf Nevanlinna und Pekka Myrberg. Myrberg, der seine Dissertation 1916 verteidigt hatte, war drei Jahre uler von Lindel¨of und forschte auch auf dem ¨alter als Nevanlinna, ebenfalls Sch¨ Gebiet der Funktionentheorie. Er hatte internationale Beachtung gefunden, als er einen mathematischen Wettbewerb der deutschen Jablonowski-Gesellschaft gewann. Der dritte m¨ ogliche Bewerber w¨ are Jarl Lindeberg gewesen, der ehemalige Lehrer von beiden, der gerade zu dieser Zeit bedeutende Ergebnisse auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie erzielte. Da er wirtschaftlich unabh¨ angig war, hielt er seine Assistenzprofessur f¨ ur besser als eine m¨ogliche ordentliche Professur mit ihren administrativen und sonstigen Verpflichtungen. Er hatte den Titel des Professors bereits fr¨ uher erhalten. Lindeberg bewarb sich nicht um die Stelle.
4.2 Bewerbung um die Professur
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F¨ ur Nevanlinna kam die Stellenbewerbung etwas zu fr¨ uh, weil er nicht die Zeit hatte, seinem Bewerbungsschreiben die bereits genannte und in den Acta Mathematica erschienene umfangreiche Zusammenfassung der von ihm entwickelten Theorie beizulegen. Dennoch setzten ihn zwei der ausl¨andischen Gutachter an die erste Stelle, w¨ ahrend der dritte die Bewerber f¨ ur gleichwertig hielt. Die Entscheidung der Fakult¨ at in Bezug auf die Reihenfolge fiel einstimmig aus und blieb unangefochten: 1926 wurde der 30-j¨ahrige Rolf Nevanlinna zum Professor der Mathematik berufen. Die Gutachten u ¨ ber beide Bewerber waren ¨außerst positiv: Sowohl Nevanlinna als auch Myrberg geh¨ orten zur vordersten Reihe der lebenden Funktionentheoretiker und beide w¨ urden die bereits traditionell auf hohem Niveau stehende Mathematik an der Universit¨ at Helsinki st¨arken. Noch im gleichen Jahr wurde Myrberg f¨ ur seine Niederlage entsch¨adigt, als man ihn zum Professor der Mathematik an die Technischen Hochschule berief, nachdem Hjalmar Mellin emeritiert worden war. Nachdem Nevanlinna seine Professur angetreten hatte, gab er seine Lehrerstelle an der Neuen Koedukationsschule auf. Er blieb aber weiter als Mathematiker bei Salama t¨ atig, denn die Professorengeh¨alter waren infolge der Nachkriegsinflation stark gesunken: Nevanlinnas Gehalt reichte nicht, um den von ihm gew¨ unschten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Als Rolf 1930 seinem Bruder Frithiof als Chefmathematiker von Salama gefolgt war, nahm er verantwortungsbewußt Stellung zu gewissen aktuellen Fragen der Lebensversicherung und beteiligte sich auch als Vortragender am Kongreß der skandinavischen Versicherungsmathematiker. Dennoch konnte ihn die Versicherungsmathematik nicht sonderlich begeistern. Ich erinnere mich nicht, daß mir Rolf jemals auch nur ein Wort dar¨ uber gesagt h¨atte; in seinen Memoiren hat er lediglich kurz festgestellt, daß ihn die Sache nicht sonderlich interessiert habe. Als Privatdozent war Nevanlinna an Lindel¨ofs G¨angelband gewesen: Er hatte unterrichtet, was der Professor bestimmte. Als Professor war Nevanlinna Lindel¨ ofs gleichberechtigter Kollege, auch wenn Lindel¨of weiterhin der patriarchalische Leiter des mathematischen Instituts blieb. Der eine der Professoren war also betr¨ achtlich ¨ alter und hatte seine Forschungsarbeit bereits beendet, w¨ ahrend der andere erst dreißig Jahre alt und ein aktiver Forscher war, der einen internationalen Ruf erlangt hatte. Deswegen w¨are es nicht ¨ u ungere versucht h¨atte, den Alteren vom ¨ berraschend gewesen, wenn der J¨ Thron zu stoßen. Das geschah nicht, vielmehr blieb Nevanlinnas respektvolles altnis zu Lindel¨ of unver¨ andert und auch die Lehrer-Sch¨ uler-Beziehung Verh¨ bestand weiter. Sogar als Professor reichte Nevanlinna ein Manuskript erst dann zur Ver¨ offentlichung ein, wenn er es Lindel¨of gezeigt hatte und dieser damit einverstanden war.
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4 Junger Professor
Abb. 4.1. Das Direktorium der Versicherungsgesellschaft Salama in den 1930er Jahren. Am Kopf des Tisches Frithiof Nevanlinna als Vorsitzender, links vorne der Chefmathematiker Rolf Nevanlinna.
4.3 Akademische Streitfragen Rolf Nevanlinna wurde in einen akademischen Streit u ¨ ber die Relativit¨atstheorie Albert Einsteins involviert. Seinerzeit verursachte diese nunmehr etablierte Theorie eine Riesensensation und l¨ oste sowohl eine wissenschaftliche als auch eine weltanschauliche Debatte aus. Einstein legte seine spezielle Relativit¨ atstheorie 1905 vor und baute sie 1915 zur allgemeinen Relativit¨ atstheorie aus. In Finnland blieb die Theorie bis zu den 1920er Jahren ziemlich unbekannt, auch wenn der Finne Gunnar Nordstr¨ om unabh¨ angig von Einstein Gedanken entwickelt hatte, die in dieselbe Richtung gingen. Nevanlinnas Interesse f¨ ur Einsteins Theorien wurde durch Nordstr¨ om und Lindel¨ of geweckt, und er hielt 1926 vor der Mathematischen Vereinigung einen Vortrag dar¨ uber. Von den wissenschaftlich verdienstvollen finnischen Forschern, die dem Fachgebiet nahestanden, verurteilte Hjalmar Mellin, Professor der Mathematik an der Technischen Hochschule, die Einsteinschen Ideen am sch¨arfsten. Mit der Inbrunst eines Sektenpredigers pr¨asentierte der langb¨artige Mellin seine Ansichten in der Publikationsreihe der Finnischen Akademie der Wissenschaften; in dieser Zeit wurden die Arbeiten von Akademiemitgliedern automatisch angenommen. Das brachte den jungen Nevanlinna auf Kollisionskurs
4.3 Akademische Streitfragen
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mit Mellin. Nevanlinna, der bereits als Privatdozent im Jahr 1924 zum Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften gew¨ahlt worden war, nahm an der Akademiesitzung teil, bei der Mellin u ¨ ber seine zur Ver¨offentlichung eingereichte Arbeit referierte, in der sowohl Einsteins Theorie als auch deren Sch¨ opfer abqualifiziert wurden. Als der Pr¨ asident der Akademie seine Befriedigung dar¨ uber ¨ außerte, daß ein finnischer Wissenschaftler die Einsteinsche Theorie zu Fall gebracht habe, war f¨ ur Nevanlinna das Maß voll. Er ergriff energisch das Wort, kritisierte Mellins Ideen und empfahl, daß Mellins Artikel erst dann ver¨ offentlicht werden solle, wenn ein Sachverst¨andigenausschuß ein Gutachten dar¨ uber erstellt habe. Der Vorfall verursachte einen ziemlichen Wirbel; Mellins Manuskript wurde nicht ver¨offentlicht und es kam zu keinem Skandal. Die pers¨ onlichen Beziehungen zwischen Mellin und Nevanlinna gingen in die Br¨ uche: Mellin h¨ orte auf zu gr¨ ußen und beschuldigte Nevanlinna, ein Handlanger der Juden zu sein. Sp¨ ater sollte Nevanlinna zur Zielscheibe entgegengesetzter Beschuldigungen werden. Das Große Konsistorium1 , dem die ordentlichen Professoren angeh¨orten, war das Parlament der Universit¨ at, in dem Rolf Nevanlinna in Kontakt zur Universit¨ atsverwaltung kam und mit seinen Kollegen bekannt wurde. Nach einer Eingew¨ ohnungszeit fing er an, sich an den Diskussionen zu beteiligen und seine Meinung zu ¨ außern, aber w¨ ahrend seiner ersten Jahre engagierte er sich nicht aktiv in der akademischen Selbstverwaltung. Ein aktiver Verwaltungsmann war hingegen der eloquente Ernst Nevanlinna, der als ungemein vielseitiger und anregender Lehrer popul¨ ar geworden war. Die zweite sichtbare Gestalt des Konsistoriums war Edwin Linkomies, der bereits in jungen Jahren Professor f¨ ur r¨ omische Literatur geworden war. Seine Forscherlaufbahn auf seinem eigenen Fachgebiet w¨ahrte nur kurz, weil er sich schon in den 1920er Jahren f¨ ur Politik zu interessieren begann und rasch zu einer der F¨ uhrungspers¨ onlichkeiten der Sammlungspartei aufstieg. Im Konsistorium nahm Linkomies kein Blatt vor den Mund, wenn er zuweilen recht radikale Meinungen ¨ außerte. Linkomies und Rolf Nevanlinna begannen, ihre Kr¨ afte zu messen, was ihren pers¨ onlichen Beziehungen aber nicht schadete. Beide erkannten das Format ihres jeweiligen Gegen¨ ubers an. Die sp¨atere Konkurrenz um das Rektorat der Universit¨ at tat ihren Beziehungen ebenfalls keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit zwischen Nevanlinna als Rektor und Linkomies als stellvertretendem Rektor, die ein paar Jahre dauerte, brachte beide einander n¨ aher. Im Großen Konsistorium f¨ uhrte man eine leidenschaftliche Debatte um die Besetzung der Professur f¨ ur theoretische Philosophie. Beworben hatten sich zwei Philosophen der Universit¨ at Turku, Professor Eino Kaila und Privatdozent J. E. Salomaa. Salomaas Spezialgebiet war die traditionelle Ideengeschichte, Kaila vertrat eine neuere Richtung, welche die Bedeutung der Logik und der Naturwissenschaften betonte. Die Fakult¨at hatte Salomaa an die
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Consistorium Maius, blieb bis 1992 bestehen.
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Abb. 4.2. Das Konsistorium der Universit¨ at im Jahr 1925. Ernst Nevanlinna und Edwin Linkomies waren bereits Mitglieder; Rolf Nevanlinna schloß sich der Gruppe ein Jahr sp¨ ater an. An den W¨ anden h¨ angen die Portr¨ ats der russischen Zaren. Der Saal wurde 1944 durch Bomben zerst¨ ort. (Mit freundlicher Genehmigung: Museum der Universit¨ at Helsinki)
erste Stelle gesetzt, und als Kaila eine Beschwerde u ¨ ber die Nominierung vorbrachte, kam die Sache vor das Große Konsistorium. Nevanlinna kannte Kaila bereits aus der Schulzeit. Als Kaila Anfang der 1920er Jahre eine Professur an der Universit¨at Turku erhielt, traf er sich bei seinen Besuchen in Helsinki mit den Br¨ udern Rolf und Frithiof, die ihrerseits ihren Freund in Turku besuchten. Der Zweck dieser Begegnungen war, philosophische Diskussionen zu f¨ uhren, die bis sp¨at in die Nacht dauerten. Kaila war nicht wirklich an Dialogen interessiert, sondern redete allein und f¨ uhrte die Br¨ uder an die aktuellen Fragen der Philosophie heran. Als sich Kaila bei seinen Untersuchungen immer mehr an den Naturwissenschaften orientierte, h¨ orte er allm¨ ahlich auf, nur der gebende Teil zu sein und erachtete es f¨ ur wichtig, sich anzuh¨ oren, was die Nevanlinna-Br¨ uder von seinen Ideen hielten. Auch die Literatur war ein Diskussionsthema in den Abendsitzungen und von daher r¨ uhrt Rolfs Vorliebe f¨ ur den von Kaila empfohlenen Thomas Mann. Nach den großen russischen Erz¨ ahlern Dostojewski, Tolstoi und Tschechow ” gab es kaum einen Schriftsteller, der Thomas Mann ebenb¨ urtig war“, urteilte Rolf sp¨ ater.
4.4 Einladungen in alle Welt
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In der Beschwerdesache war Nevanlinna davon u ¨ berzeugt, daß Kaila trotz der Verdienste Salomaas auf den ersten Platz gesetzt werden sollte. Kaila war ein bedeutender Forscher aktueller Probleme und ein beeindruckender, geradezu brillanter Vortragender. Im Konsistorium betonte Rolf Nevanlinna mit Nachdruck Kailas wissenschaftliche Verdienste. Auch Ernst Nevanlinna unterst¨ utzte Kaila. Linkomies war anderer Meinung: Er war u ¨ berzeugt, daß Kailas Beschwerde unbegr¨ undet sei. Dabei beschr¨ankte er sich nicht nur darauf, Salomaa zu loben, sondern verurteilte Rolf Nevanlinnas Argumente kategorisch als nichtig. Die Mehrheit entschied sich zugunsten von Kaila, der 1930 berufen wurde. Salomaa erhielt die Professur, die nach Kaila an der Universit¨at Turku frei geworden war.
4.4 Einladungen in alle Welt Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte sich Z¨ urich zu einem bedeutenden Zentrum der mathematischen Forschung. In der Stadtmitte liegen die Eidgen¨ ossische Technische Hochschule und die Universit¨at Z¨ urich nebeneinander. Zwei wichtige Zentren der mathematischen Forschung erh¨ohen die Anzahl der Mathematiker, und die internationalen Bewerbungen bei den Berufungen garantieren ein hohes Niveau. Oft gewann man Spitzenforscher als Lehrstuhlinhaber, denn in der Schweiz waren die Professorengeh¨alter konkurrenzf¨ahig, die Steuern niedrig, die Verh¨ altnisse stabil und es herrschte ein reger grenz¨ uberschreitender Verkehr. In den 1920er Jahren war der Deutsche Hermann Weyl als Professor der ETH der große mathematische Name in Z¨ urich. Weyl, ein Sch¨ uler der ber¨ uhmten Hilbertschen G¨ ottinger Schule, war ein vielseitiger Forscher. Er hatte 1913 seine Monographie Die Idee der Riemannschen Fl¨ache ver¨offentlicht, die einen vielf¨ altigen Einfluß auf die Mathematik des 20. Jahrhunderts hatte und von der auch Nevanlinna Anregungen erhielt, als er sp¨ater mit der Untersuchung der Riemannschen Fl¨ achen begann. Diese Anregungen erw¨ahnte Nevanlinna in seinen Erinnerungen jedoch nicht; vielmehr sagte er, daß Weyl insbesondere durch sein 1918 erschienenes Buch Raum, Zeit, Materie bekannt geworden sei und mit Einstein bei der Entwicklung der allgemeinen Gravitationstheorie zusammengearbeitet habe. F¨ ur das Wintersemester 1928–1929 war Weyl von der ETH beurlaubt und auf seinen Vorschlag hin bat man Rolf Nevanlinna, ihn zu vertreten. Zusammen mit zwei anderen angesehenen Professoren der ETH hatte Weyl ein Jahr zuvor ein Seminar gehalten, dessen Thema Nevanlinnas Wertverteilungstheorie war. Die Theorie hatte einen großen Eindruck gemacht und man wollte ihren Sch¨ opfer in Z¨ urich kennenlernen. Rolf Nevanlinna machte sich im Oktober 1928 zusammen mit seiner Frau und seinen drei S¨ ohnen auf die Reise. Er hatte sich bereits in G¨ottingen und Paris aufgehalten, und nun kam er zum ersten Mal nach Z¨ urich – in die Stadt, die ihm sp¨ ater vertraut und f¨ ur einen Zeitraum von 17 Jahren sogar zum
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4 Junger Professor
Wohnort werden sollte. F¨ ur andere Familienmitglieder war die ETH bereits ein bekannter Ort, denn Rolfs Onkel Lars und Edvard Neovius, die der Milit¨ arkarriere u ussig geworden waren, hatten dort studiert und sich f¨ ur ¨ berdr¨ Mathematik interessiert. Daß Nevanlinna nach Z¨ urich ging, erf¨ ullte Eino Kaila nach seinen eigenen Worten gleichzeitig mit Neid und mit Freude. In Turku verbrachte Kaila ein Jahr nach dem anderen in Einsamkeit und niemand in der weiten Welt interessierte sich auch nur im Geringsten f¨ ur das, was er zu sagen hatte. Aber Rolf war sein Freund und deswegen freute er sich aufrichtig u ¨ber dessen Erfolg. Kaila dachte dabei nicht an eine Befriedigung des Ehrgeizes, der nach seiner ¨ Uberzeugung bei Rolf nur in verh¨ altnism¨ aßig geringem Maße vorhanden war. Als Unterkunft hatten die Schweizer f¨ ur die Nevanlinnas eine Pension organisiert, die vom Z¨ urcher Frauenverein betrieben wurde. Die Pension in sch¨oner Lage am Hang des Z¨ urichbergs war preiswert, peinlich sauber und hatte einen untadeligen Ruf, da absolut alkoholfrei. Der Rolf, den ich kannte, war aber an sich ein Bonvivant, so daß mir Zweifel kommen, ob er sp¨ater jemals wieder den Fuß u urich gesetzt hat. ¨ber die Schwelle seiner ersten Wohnung in Z¨ Nevanlinna fand in Z¨ urich mit seinen Vorlesungen Anklang, in denen er aktuelle Fragen der Funktionentheorie, gr¨ oßtenteils seine eigene Theorie, behandelte. Insgesamt beeindruckte er an der ETH als Mathematiker und als Mensch. Als Weyl bekanntgegeben hatte, daß er nicht beabsichtige, nach Z¨ urich zur¨ uckzukommen, sondern einem Ruf nach G¨ottingen als Nachfolger Hilberts folgen werde, bot die ETH Nevanlinna den freigewordenen Lehrstuhl an. Das war ein verlockendes Angebot. Die Professur an der ETH als Nachfolger von Weyl h¨ atte eine wissenschaftlich namhafte Position bedeutet und mit dem zugesagten Gehalt – nach Rolfs Aussage fast das Dreifache im Vergleich zur Universit¨ at Helsinki – w¨ are er die finanziellen Sorgen losgeworden. Rolf dachte u ¨ ber die Sache nach, konsultierte seinen Bruder Frithiof und Lindel¨of und entschied sich dann, das Angebot abzulehnen. Als Gr¨ unde nannte Nevanlinna die Loyalit¨ at zur Universit¨ at Helsinki und die Tatsache, daß er seine kleinen Kinder nicht in der Fremde aufwachsen lassen wolle. In demselben Jahr, als Nevanlinna das Angebot der ETH Z¨ urich ablehnte, traf er auf dem Skandinavischen Mathematiker-Kongreß in Oslo einen Repr¨ asentanten der Universit¨ at Stanford. Dieser sagte, er sei bevollm¨achtigt, Nevanlinna eine Professur in Stanford anzubieten; er beschrieb Stanford als eine kleine, hochklassige Privatuniversit¨ at, die bei Amerikas Oberklasse beliebt sei. Benehmen und Kleidung der Studenten seien tadellos. Die Beschreibung war zutreffend und mit Oberklasse waren vor allem die Wohlhabenden gemeint. Nach Z¨ urich war es leicht, dieses Angebot abzulehnen. Kalifornien stand erst am Anfang eines langen Weges von einem intellektuellen Vakuum zu einem Kraftzentrum. Nevanlinna, der von der europ¨aischen Kultur durchdrungen war, versp¨ urte damals keinerlei Drang, nach Amerika zu gehen.
4.5 Ein junger Doktorand
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Abb. 4.3. Die Nevanlinnas im Jahr 1928 in der Schweiz. Von links: Kai, Rolf, der Arne tr¨ agt, und Mary. Harri fehlt auf dem Bild.
4.5 Ein junger Doktorand Zusammen mit Rolf Nevanlinna war sein 21-j¨ahriger Sch¨ uler Lars Ahlfors nach Z¨ urich gekommen. Ahlfors hatte mit seiner Begabung bereits als Student Aufmerksamkeit erregt und im Fr¨ uhjahr vor der Reise nach Z¨ urich den Magistergrad erlangt; nun setzte er seine Studien mit dem Ziel fort, sie mit einer Dissertation abzuschließen. Es war Ahlfors’ erste Auslandsreise und er war von Z¨ urich begeistert: Ich ” merkte, daß ich von der Peripherie ins Zentrum Europas gekommen war.“ Ich verstehe Ahlfors’ Gef¨ uhle, weil ich zwei Jahrzehnte sp¨ater bei meiner eigenen ersten Auslandsreise dasselbe empfand – ebenfalls in Z¨ urich, und auch damals war es Nevanlinna, der hinter der Reise stand. Nevanlinna behandelte in seinen Vorlesungen in Z¨ urich die vom Franzosen Arnaud Denjoy 1907 aufgestellte Vermutung, daß eine ganze Funktion der Ordnung k h¨ ochstens 2k endliche asymptotische Werte hat. Die Denjoysche Vermutung wurde ber¨ uhmt, weil mehrere bekannte Funktionentheoretiker, darunter auch Nevanlinna, vergeblich versucht hatten, die Richtigkeit der Vermutung zu beweisen. Nevanlinna erinnerte sich, daß er Ahlfors die Vermutung als Dissertationsthema empfohlen habe, was jedoch in Anbetracht der Schwierigkeit der Aufgabe nicht glaubhaft klingt. Ahlfors scheint sich hier
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besser zu erinnern: Er habe sich f¨ ur das Thema interessiert, nachdem er in Nevanlinnas Vorlesungen davon geh¨ ort hatte.
Abb. 4.4. Nevanlinnas 21-j¨ ahriger Sch¨ uler Lars Ahlfors am Z¨ urichsee. Das Foto entstand um die Zeit, als Ahlfors die lange offene Denjoysche Vermutung l¨ oste.3
Ahlfors machte sich an die Untersuchung des Problems und tauchte so lange Zeit ab, daß man sich bereits Sorgen um ihn machte. Als er sich schließlich wieder unter Menschen zeigte, gab er bekannt, daß er die Denjoysche Vermutung gel¨ ost habe: Ich hatte das unglaubliche Gl¨ uck, einen neuen Ansatz zu ” finden.“ Der Beweis war schwer und es stellte sich heraus, daß viele seiner Details u uft werden mußten. Nevanlinna und der aus Ungarn stammende ¨ berpr¨ George P´olya, damals Professor an der ETH, halfen Ahlfors bei dieser Arbeit. Sp¨ ater schrieb Ahlfors: Mit einem Edelmut ohnegleichen untersagten sie mir, ” ihren Anteil zu erw¨ ahnen.“ Ahlfors sagte, er habe seine Dankesschuld dadurch zur¨ uckgezahlt, daß er in seiner Laufbahn niemals gestattet habe, seinen Namen als Mitverfasser einer Arbeit anzugeben, wenn einer seiner Sch¨ uler zu den Verfassern geh¨ orte. Die L¨ osung der Denjoyschen Vermutung machte den 21-j¨ahrigen Ahlfors mit einem Schlag in der mathematischen Welt bekannt. Ein Teil der Ehre fiel auch seinem Lehrer Nevanlinna zu, weil nicht sofort klar war, welch außergew¨ ohnliches mathematisches Talent Ahlfors war. Als Nevanlinnas Zeit in Z¨ urich endete, reiste er nach Paris und Ahlfors folgte ihm mit Hilfe eines kleinen Stipendiums, das er erhalten hatte. In Paris fing Ahlfors an, Nevanlinnas Wertverteilungstheorie zu untersuchen und erzielte bald Ergebnisse, die den Ruf festigten, den er mit der L¨osung der Denjoyschen Vermutung erlangt hatte.
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Anmerkung des Verfassers: Heute weiß ich, daß Ahlfors die Vermutung im Februar 1929 gel¨ ost hat.
4.6 Rockefeller-Stipendiat
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4.6 Rockefeller-Stipendiat Der Aufenthalt in Z¨ urich hatte es Rolf Nevanlinna erm¨oglicht, seiner Familie mehr Zeit zu widmen, als es das Leben in Helsinki erlaubt hatte. Die eigenen S¨ ohne waren ihm n¨ aher gekommen. Als der viermonatige Besuch in Z¨ urich Ende Februar abgelaufen war, brachte Rolf seine Familie nach Stettin auf ein Schiff nach Helsinki; er selbst reiste dagegen nach Paris, wo er fast ein halbes Jahr blieb. Mary kam jedoch im Sommer nach Paris und das Ehepaar verbrachte den Urlaub zusammen in der Bretagne. F¨ ur die Reise nach Paris hatte Nevanlinna ein Stipendium der RockefellerStiftung beantragt. Aus den ausf¨ uhrlichen Bewerbungsunterlagen ist ersichtlich, daß Rolf Nevanlinna Ende 1928 eine K¨orpergr¨oße von 174 cm hatte und 72 kg wog. Seit dem Hungerfr¨ uhling 1918 hatte er zwanzig Kilo zugenommen, war aber immer noch ein schlanker Mann, denn als Taillenumfang wurden 83 cm angegeben. Alle K¨ orpermaße erwiesen sich als akzeptabel f¨ ur einen Rockefeller-Stipendiaten, und Nevanlinna legte auch erfolgreich den Test ab, bei dem der Puls gemessen wurde, nachdem er 25 Spring¨ ubungen absolviert hatte. Ein Zeugnis f¨ ur unsere damals kaum entwickelten angloamerikanischen Wissenschaftsbeziehungen sind die finnischen Empfehlungen, die in einem feierlichen, veralteten und teilweise unbeholfenen Englisch abgefaßt waren; zur Praxis der damaligen Zeit geh¨ orte auch, in englischen Texten f¨ ur die finnische Hauptstadt ausnahmslos den schwedischen Namen Helsingfors zu verwenden. ¨ Uber seine Sprachkenntnisse sagte Nevanlinna, daß er Finnisch, Schwedisch, Deutsch und Franz¨ osisch sprechen k¨ onne und zus¨atzlich dazu imstande sei, auch Englisch zu lesen. Seine Kenntnis des Englischen wurde als nicht ausreichend f¨ ur den von ihm erhofften zweimonatigen Aufenthalt an der Universit¨ at Cambridge befunden. Er hing die f¨ ur England geplanten zwei Monate an den Pariser Aufenthalt dran – die britische Welt blieb Nevanlinna in diesem Lebensabschnitt fremd. Es bleibt ein R¨atsel, ob die Bekanntschaft mit England Nevanlinnas politische Ansichten beeinflußt h¨atte – Ansichten, die ihn bald besch¨aftigen sollten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg machte Nevanlinna seinen ersten Besuch in England. In Paris w¨ are Gelegenheit gewesen, die aktuellen mathematischen Str¨omungen zu studieren, aber f¨ ur Nevanlinna war es typisch, daß er die Vertiefung seiner eigenen Forschung f¨ ur einen besseren Zeitvertreib hielt: Ich mied Ge” sellschaft, die Arbeit nahm meine Gedanken voll in Anspruch, und nur an den Abenden verbrachte ich einen freien Augenblick in den bekannten Caf´es am Montparnasse.“ Die Rockefeller-Stiftung begleitet die Spuren ihrer Stipendiaten auch in ateren Phasen. Die Berichte u sp¨ ¨ ber Nevanlinna aus den Jahren 1932–1933 sind eine beeindruckende Lekt¨ ure. Harald Bohr schrieb aus D¨anemark Spit” zenklasse“, Constantin Carath´eodory aus Deutschland einer der Allerbesten“ ” und eine Gutachtergruppe aus Princeton, daß er der beste der lebenden Ex” perten auf dem Gebiet der Analysis“ sei.
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4.7 Fortfu ¨ hrung der Nevanlinna-Theorie Ahlfors war nicht der einzige, der die Theorie Nevanlinnas als Forschungsgegenstand w¨ ahlte. Forscher in verschiedenen Teilen der Welt interessierten sich f¨ ur das Thema und einer der aktivsten Weiterentwickler der Theorie war Nevanlinna selbst. Ich erinnere mich, wie er mir einmal sagte, daß es auf der Welt nur sehr wenige Ideen gebe. Solltest du irgendwann eine Idee haben, ” denk daran, so viel wie m¨ oglich aus ihr herauszuholen.“ Als Nevanlinna seine Theorie in den fr¨ uhen 1920er Jahren entwickelte, hatte er kein weitreichendes Programm. Erst mit dem Voranschreiten der Arbeit nahm dieses Programm Gestalt an. Am Ende des Jahrzehnts hatte Nevanlinna eine klare Vorstellung davon, was das Ziel der neuen Theorie war. Die rechnerische Theorie im Sinne der Franzosen mußte durch einen geometrischen Gesichtspunkt erg¨ anzt werden. Mit anderen Worten: Man mußte sich ein m¨ oglichst klares Bild von derjenigen Riemannschen Fl¨ache verschaffen, auf welche die Ebene durch eine meromorphe Funktion abgebildet wird. Er legte seine Ansichten in einer Vorlesungsreihe dar, die er Anfang der 1930er Jahre an der Universit¨ at Hamburg hielt. Die p¨ adagogisch ausgezeichneten Vorlesungen [37] wurden sofort in deutscher Sprache ver¨offentlicht und erschienen noch ¨ vor Kriegsausbruch in russischer Ubersetzung. Ein Wert, den eine Funktion weniger h¨ aufig annimmt als normalerweise, heißt Ausnahmewert. Nevanlinna definierte in seiner Theorie ein exaktes Maß f¨ ur die Abweichung vom Normalen und bezeichnete dieses Maß als Defekt. Er bewies, daß die Summe aller Defekte h¨ ochstens zwei ist; das ist eine weitreichende Versch¨ arfung des klassischen Satzes von Picard. In seiner Monographie [27], die in der Borelschen Reihe erschien, hatte Nevanlinna die Frage aufgeworfen, ob diese Defektrelation eine fundamentale Wahrheit u ¨ ber meromorphe Funktionen enth¨ alt, daß heißt, ob es immer eine Funktion mit beliebig vorgegebenen Defekten gibt. In der mathematischen Literatur erhielt diese Frage schon bald den Namen Umkehrproblem von Nevanlinna.“ ” Zuerst beantwortete Nevanlinna sein Umkehrproblem auf elegante Weise in einem Spezialfall. Aber das allgemeine Problem erwies sich bald als ¨außerst schwierig. Die Untersuchungen, die Schritt f¨ ur Schritt zur L¨osung f¨ uhrten, sind ein interessanter Teil der Geschichte der Funktionentheorie des 20. Jahrhunderts. Es dauerte fast f¨ unfzig Jahre, bis die Frage endg¨ ultig gel¨ost wurde. Der Amerikaner David Drasin bewies 1977, daß Nevanlinnas Frage immer positiv beantwortet werden kann. Das Ergebnis kr¨ onte die Theorie von Nevanlinna. Der in den Acta Mathematica ver¨ offentlichte Beweis von Drasin ist lang, kompliziert und technisch schwierig. Erst Jahre nachdem Drasin seinen vermeintlichen Beweis mitgeteilt hatte, wurden s¨amtliche Unklarheiten korrigiert und alle Beweisl¨ ucken geschlossen – auch in Helsinki beteiligte man sich an der Korrekturarbeit. Nevanlinna war von dieser Leistung nicht so begeistert, undung der L¨osung wie man es erwartet h¨ atte. In seinen Augen war die Begr¨ eine Fleißarbeit und enthielt zu viele langweilige und glanzlose Details. Die L¨ osung war weit von der Eleganz entfernt, die er sich erhofft hatte.
4.8 Der Sch¨ uler als Meister
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Die Geschichte des Umkehrproblems von Nevanlinna ist ein Beispiel daf¨ ur, wie seine Theorie Mathematiker in verschiedenen Teilen der Welt jahrzehntelang besch¨ aftigte. Nevanlinna selbst stieß jedoch in den 1930er Jahren gegen eine Wand, als er versuchte, sein geometrisches Programm umzusetzen. Am Horizont zeichneten sich keine so neuen Ergebnisse ab, wie er sie beim Aufbau seiner Theorie gefunden hatte. Dieser Mißerfolg war eine Entt¨auschung f¨ ur Nevanlinna. Er begann, seine Forschungsarbeit in eine etwas andere Richtung zu lenken: Die Untersuchung der von ihm favorisierten Wechselwirkung zwischen der Funktionentheorie und der Potentialtheorie f¨ uhrte ihn zu sch¨onen Einzelergebnissen. Nevanlinna sp¨ urte, daß er mit seinem Wissen und mit seiner Arbeitsener¨ gie eine umfassende Ubersicht u ¨ber die moderne Funktionentheorie vorlegen k¨ onnte. Den Kern w¨ urden seine eigenen Ergebnisse bilden, die man mit ein¨ heitlichen Methoden darstellen k¨ onnte. Das wiederum w¨ urde die Asthetik der Mathematik hervorheben und Synthesen unterstreichen – ein Standpunkt, ¨ dessen Bedeutung f¨ ur die Okonomie des Wissens von Nevanlinna unabl¨assig betont wurde. Der Springer-Verlag war als f¨ uhrender Mathematikverlag an der geplanten Monographie interessiert und schloß mit Nevanlinna einen Vertrag ab. Das Buch besch¨ aftigte Nevanlinna lange Zeit um die Mitte der 1930er Jahre. Nevanlinnas Monographie Eindeutige analytische Funktionen [46] erschien 1936 in der ber¨ uhmten gelben Reihe von Springer. Es ist das mathematische Hauptwerk Nevanlinnas und einer der Klassiker der Funktionentheorie. Sp¨ater ¨ erschien es auch in russischer und in englischer Ubersetzung. Das Buch brachte dem Autor eine h¨ ubsche Summe ein, was selbst bei einem herausragenden mathematischen Werk selten der Fall ist.
4.8 Der Schu ¨ ler als Meister Nevanlinna hatte recht, als er die Notwendigkeit eines geometrischen Gesichtspunkts der Wertverteilungstheorie hervorhob, aber Ergebnisse dieser Art erforderten Methoden und Ideen, die außerhalb der Funktionentheorie lagen. Lars Ahlfors erkannte das und erkl¨ arte in den 1930er Jahren die Wertverteilungstheorie auf neue Weise, indem er der Theorie von Nevanlinna eine geometrisch-topologische Interpretation gab. Die Ahlforssche Arbeit4 erregte in Fachkreisen großes Aufsehen und steigerte das Interesse an Nevanlinnas Theorie noch weiter. ¨ Es gibt keinen Nobelpreis f¨ ur Mathematik. Dessen Aquivalent ist die Fieldsmedaille, die alle vier Jahre auf dem Internationalen MathematikerKongreß verliehen wird. Die ersten beiden Mathematik-Nobelpreistr¨ager“ ” wurden 1936 auserkoren. Es waren Lars Ahlfors und der Amerikaner Jesse 4
¨ Zur Theorie der Uberlagerungsfl¨ achen“, Acta Mathematica 65 (1935). Ausgangs” punkt dieser Arbeit war eine rein topologische Relation von Hurwitz (1859–1919).
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Abb. 4.5. Eine Seite aus Rolf Nevanlinnas 1939 verfaßtem Manuskript, in dem er das harmonische Maß betrachtet, eines seiner wichtigen mathematischen Werkzeuge.
Douglas. Constantin Carath´eodory sprach als Vertreter der Internationalen Jury gleich zu Beginn seiner Laudatio das Milieu an, in dem Ahlfors zum Spitzenmathematiker heranreifte: Ahlfors ist einer der gl¨anzendsten Vertre” ter der ber¨ uhmten Finnl¨ andischen Funktionentheoretischen Schule, die, von Ernst Lindel¨ of gegr¨ undet, seit dreißig Jahren der Wissenschaft so viele wichtige Beitr¨ age geschenkt und so zahlreiche große Mathematiker hervorgebracht hat. Er ist Sch¨ uler von Ernst Lindel¨ of und Rolf Nevanlinna. Unter den Auspizien des Letzteren ist seine Dissertation entstanden und die Ideen und Theorien von R. Nevanlinna haben weiterhin seine ganze Entwicklung beeinflußt.“
4.9 Wissenschaftlicher Nachwuchs
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Die Er¨ offnungsveranstaltung des großen Kongresses in Oslo, bei dem die mathematische Forschung Finnlands eine einzigartige internationale Anerkennung erhielt, war eine Sternstunde der finnischen Wissenschaft. Die Helden waren Lars Ahlfors, Rolf Nevanlinna und Ernst Lindel¨of. Zur gleichen Zeit kamen drei andere Finnen zu Weltruhm: Finnland errang bei den Olympischen Spielen in Berlin einen Dreifachsieg im 10000-Meter-Lauf. Diese Heldentat pr¨ agte sich jedoch auf ganz andere Weise in die Volksseele ein als der Osloer Kongreß, von dem kaum jemand etwas geh¨ ort hat. Warum hat Ahlfors die Fieldsmedaille erhalten und nicht sein Lehrer Nevanlinna? Der originelle Ahlfors war bereits 1936 ein ernst zu nehmender Kandidat und dar¨ uber hinaus hielt das Komitee das folgende Kriterium in Bezug auf die Zuerkennung des Preises f¨ ur zutreffend: Die Medaille ist ” eine Anerkennung f¨ ur die geleistete Arbeit, verfolgt aber auch die Absicht, den Preistr¨ ager zu neuen Ergebnissen zu ermutigen.“ Die Jury interpretierte das so, daß der Preistr¨ ager ein junger Mathematiker sein sollte, der Spitzenresultate erzielt hat und gleichzeitig dazu f¨ahig ist, neue vielversprechende Leistungen zu erbringen. Eine Altersgrenze ist in den Statuten der Fieldsmedaille nicht festgelegt, aber da im Verlauf dreier Jahrzehnte jeder Preistr¨ager j¨ unger als 40 Jahre war, machte die Internationale Mathematische Union aus dieser Praxis eine Regel.
4.9 Wissenschaftlicher Nachwuchs In den 1930er Jahren hatte Rolf Nevanlinna in seiner Forschungsarbeit die aktivste Jugendphase bereits hinter sich gelassen. Er hatte nicht mehr die gleiche konzentrierte Energie wie in der Zeit, als er seine Wertverteilungstheorie entwickelte. Aber die Arbeit ging weiter voran und das sichtbarste Ergebnis war die monumentale Monographie Eindeutige analytische Funktionen. Das Werk enthielt auch neue Dinge, jedoch st¨ utzte sich Nevanlinna in erster Linie auf die Ergebnisse, die er in fr¨ uheren Jahren erzielt hatte. Die Verwendung einheitlicher Methoden, die Verbindung klassischer und neuer Ergebnisse sowie die abschließende Feinarbeit an der ¨ außeren Form waren bei weitem keine Routineangelegenheiten, k¨ onnen aber nicht mit Nevanlinnas Schaffen zu Beginn der 1920er Jahre verglichen werden: Damals mußte er sich durch einen unbekannten Dschungel k¨ ampfen. Nun kam die Eroberung eines neuen Arbeitsfeldes hinzu: die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Im Gegensatz zu Nevanlinnas Leistungen in der Forschung ist dieser Teil seines Lebenswerkes im Bewußtsein der Mathematikergemeinschaft weniger bekannt geblieben. In Finnland kann Nevanlinnas Bedeutung als Doktorvater jedoch nicht hoch genug eingesch¨atzt werden. Ernst Lindel¨ of war nach seiner Berufung zum Professor ein paar Jahrzehnte allein f¨ ur die Betreuung von Doktoranden verantwortlich. Gegen Ende der
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1920er Jahre hatte er bereits so lange keine eigene Forschungsarbeit mehr getrieben, daß die Heranbildung des Nachwuchses in nat¨ urlicher Weise auf Rolf Nevanlinna u ¨berging. Dieser nahm die verantwortungsvolle Aufgabe bereitwillig wahr und setzte sie jahrzehntelang fort. Vor dem Krieg gab es nur wenige Mathematikstudenten, die eine Dissertation im Sinn hatten. Die 1920er Jahre waren das Goldene Zeitalter der finnischen Funktionentheorie, aber die Erfolge wurden von einigen Spitzenkr¨aften erzielt, und bis Ahlfors am Ende des Jahrzehnts kam, waren keine jungen Anw¨ arter in Sichtweite. W¨ ahrend der gesamten 1920er Jahre gab es in Finnland keine funktionentheoretischen Dissertationen, denn Ahlfors verteidigte seine Arbeit erst 1930. Von Nevanlinnas Sch¨ ulern promovierte vor Ahlfors nur Gustaf J¨ arnefelt (1929), aber das Thema war nicht funktionentheoretisch. J¨ arnefelt wurde sp¨ ater Professor der Astronomie an der Universit¨at Helsinki. Aus dem Ausland kam in den 1920er Jahren ein Sch¨ uler zu Nevanlinna: ¨ der geb¨ urtige Osterreicher Egon Ullrich, der Funktionentheorie in Berlin bei dem ber¨ uhmten Ludwig Bieberbach studiert hatte. Ullrich hatte seine Dissertation bereits verteidigt, wollte aber seine Untersuchungen auf dem Gebiet der Nevanlinna-Theorie fortsetzen, als ihn Bieberbach zum Meister in die Lehre nach Helsinki schickte. Sp¨ ater heiratete Ullrich, bekam neun Kinder, von denen die ersten acht M¨ adchen waren, und erhielt eine Professur an der Universit¨ at Gießen. Egon Ullrich und seine Familie wurden eingeschworene Freunde Finnlands, mehrere der Kinder verbrachten die Sommer als G¨aste der Nevanlinnas in Finnland und lernten auch ganz gut Finnisch. Im gastfreundlichen Haus der Ullrichs in Gießen waren die finnischen Mathematiker immer willkommen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. ¨ Uber einen langen Zeitraum hatten Ernst Lindel¨of und seine Sch¨ uler s¨amtliche Universit¨ atsstellen der Mathematik inne, aber allm¨ahlich gesellten sich auch Sch¨ uler von Rolf Nevanlinna zu dieser Gruppe. Veikko Paatero, der seine Dissertation bald nach Ahlfors verteidigte, wurde Assistenzprofessor an der Universit¨ at Helsinki (sp¨ ater erhielt er den Titel eines Professors); nach dem Krieg verwaltete er jahrelang die vakanten Professuren. Gustav Elfving, der 1934 promovierte, sagte mir, daß Nevanlinna bei der Erl¨auterung des von ihm vergebenen Themas so mitreißend war, daß Elfving mit Tr¨anen in den Augen wegging. Elfving verließ das Gebiet der Funktionentheorie bald und wandte sich der Untersuchung von Fragen der Wahrscheinlichkeitstheorie und der mathematischen Statistik zu; sp¨ater erhielt er an der Universit¨at Helsinki die schwedischsprachige Mathematikprofessur. Auf dem Gebiet der Nevanlinna-Theorie blieb Gunnar af H¨ allstr¨om, der seine Dissertation einen Tag vor Ausbruch des Winterkrieges verteidigte. Er wurde sp¨ater Professor an der ˚ Abo Akademi5 . Ernst Lindel¨ of wurde 1938 emeritiert und Pekka Myrberg, Professor der Mathematik an der Technischen Hochschule, wurde zu seinem Nachfolger 5
Schwedischsprachige Universit¨ at in Turku. ˚ Abo ist der schwedische Name von Turku.
4.10 Die Grundlagen der Mathematik
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berufen. Zur gleichen Zeit wurde auf der Grundlage des neuen Sprachengesetzes eine schwedischsprachige Mathematikprofessur an der Universit¨at eingerichtet. Auf diesen Lehrstuhl wurde Lars Ahlfors berufen, der nach seiner T¨ atigkeit an der Universit¨ at Helsinki in die Vereinigten Staaten an die Universit¨ at Harvard gegangen war und jetzt nach Finnland zur¨ uckkehrte. Nachdem Ernst Lindel¨ ofs 35-j¨ ahriges Regnum“ zu Ende gegangen war, ” wurde Nevanlinna als Dienst¨ altester der neue Institutsdirektor. Er hatte jetzt f¨ ur die universit¨ are Lehre der Mathematik in Finnland mehr Verantwortung als je zuvor.
4.10 Die Grundlagen der Mathematik In den 1930er Jahren befaßte sich Rolf Nevanlinna auch mit Problemen der Grundlagen und des Wesens der Mathematik – Fragen, die in den beiden vorhergehenden Generationen bereits einige seiner nahen Verwandten besch¨aftigt hatten. Innerhalb von f¨ unfzig Jahren ver¨ offentlichte Nevanlinna ungef¨ahr f¨ unfzig Schriften, die nicht nur f¨ ur Mathematiker, sondern auch f¨ ur ein Publikum bestimmt waren, das sich f¨ ur Wissenschaft und Kultur interessierte. F¨ ur Finnland waren diese Schriften verdienstvoll, aber sie hatten keinen Einfluß auf Nevanlinnas internationalen Ruf als Mathematiker. Bereits 1927–1928, in seinem zweiten Jahr als Professor, hielt Nevanlinna eine Spezialvorlesungsreihe u ¨ ber die axiomatischen Grundlagen der Geometrie. Nevanlinna, der sich auf funktionentheoretische Untersuchungen konzentriert hatte, sehnte sich nach Abwechslung und wollte seine Sch¨ uler und gleichzeitig auch sich selbst mit den Entstehungsphasen der Mathematik als Wissenschaft vertraut machen. Ausgangspunkt war Euklids klassisches Werk Elemente. Die Elemente wurden im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geschrieben und faßten die damaligen mathematischen Kenntnisse der alten Griechen zusammen. Das Werk geh¨ ort zu den gr¨ oßten intellektuellen Errungenschaften der Menschheit. Die Elemente wenden in konsequenter Weise ein Prinzip an, auf dem auch die heutige Mathematik beruht: S¨atze werden mit Hilfe akzeptierter logischer Regeln aus angenommenen Grundwahrheiten abgeleitet. Euklids Elemente waren nicht nur ein Modell f¨ ur die Methodik der mathematischen Entwicklung, sondern beeinflußten auch die wissenschaftliche Denkweise im Allgemeinen. F¨ ur Jahrhunderte waren die Elemente der Eckpfeiler des Schulunterrichts und dienten zur Anerziehung des exakten Denkens. Nevanlinna hatte ein bleibendes Interesse an axiomatischer Geometrie, und er kam sp¨ater mehrere Male auf dieses Thema zur¨ uck. Man bat ihn, die Aufzeichnungen zu ver¨ offentlichen, die er von seinen Vorlesungen angefertigt hatte, und schließlich tat er das auch. Das B¨ uchlein Geometrian perusteet und ¨ dessen deutsche Ubersetzung Grundlagen der Geometrie [123] (zu dem ein von Paul Kustaanheimo verfaßter Anhang u ¨ ber endliche Geometrien hinzukam) erschien, als Nevanlinna fast 80 Jahre alt war.
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Die Vorlesungsreihe, die Nevanlinna in den 1920er Jahren u ¨ ber die Grund¨ lagen der Geometrie hielt, beruhte auf vielen eigenen Uberlegungen und die tiefgr¨ undigen Untersuchungen er¨ offneten neue Ausblicke. Um mit Nevanlinnas Worten zu sprechen: Das in einer aufrichtigen Geisteshaltung intuitiv gewon” nene Wissen u ¨ ber einen Spezialfall wirft Licht auf den weiteren Umkreis und f¨ uhrt zu allgemeinen Einsichten.“ Diese Vorlesungen zur Geometrie waren der Ausgangspunkt f¨ ur viele Schriften, in denen sich Nevanlinna an ein breites Publikum wandte. Ausgehend von der Axiomatik der Geometrie war es leicht, auch in allgemeinerer Weise u ¨ ber die Grundlagen der Mathematik nachzudenken, wobei sich Nevanlinna dem Grenzgebiet zwischen Mathematik und Philosophie n¨ aherte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war das Durchdenken der Grundlagen der Mathematik zu einer brennenden Frage geworden. Den Anlaß hierzu hatte die Mengenlehre gegeben, ein neuer Zweig der Mathematik, in dem der Unendlichkeitsbegriff einer gr¨ undlichen Kl¨arung unterzogen wurde. Fr¨ uher konnten sich die Mathematiker bei ihren Forschungen auf klare, konstruktive Methoden st¨ utzen und damit die Schwierigkeiten vermeiden, die mit dem Unendlichkeitsbegriff einhergehen. Jetzt stellte sich heraus, daß eine u ¨bertrieben orthodoxe Auffassung zu gravierenden methodischen Einschr¨ ankungen f¨ uhrt. Der Pr¨ ufstein war das ber¨ uhmt gewordene Auswahlaxiom, das sich in der Mathematik als leistungsstarkes Hilfsmittel erwies, aber nicht immer in Einklang mit dem Konstruktivismus stand. Als Nevanlinna mit seinen Untersuchungen begann, geh¨orten die zuweilen auch hitzig gef¨ uhrten Dispute u ¨ ber die Berechtigung des Auswahlaxioms gr¨ oßtenteils bereits der Vergangenheit an. Aus praktischen Gr¨ unden akzeptierte die u altigende Mehrheit der Mathematiker das Auswahlaxiom, sogar ¨ berw¨ ohne dabei sonderlich aus der Fassung zu geraten. Weite Teile der Mathematik erwiesen sich in einem Maße von diesem Axiom abh¨angig, daß man es sich nicht leisten konnte, auf dessen Gebrauch zu verzichten. Auch Nevanlinna lehnte das Auswahlaxiom nicht ab, selbst wenn er ein u anger der konstruktiven Mathematik sein konnte ¨ berraschend radikaler Anh¨ und versuchte, das Auswahlaxiom in seinen Beweisen zu vermeiden. In der mathematischen Forschung darf man jedoch den eigenen Neigungen kein allzu großes Gewicht geben; vielmehr muß es Hilfsmittel f¨ ur alle Situationen geben. Nevanlinna verstand die Bedeutung des Auswahlaxioms und war bestrebt, der damit zusammenh¨ angenden Problematik auf den Grund zu gehen, indem er dar¨ uber gern mit Experten diskutierte. Euklids Sammelwerk, die Elemente, bekam in den 1930er Jahren einen ¨ Nachfolger. Uber Euklids Leben ist fast nichts bekannt und wir kennen auch nicht seinen pers¨ onlichen Beitrag zu den Elementen. Geheimnisvoll war auch Nicolas Bourbaki, der Autor der neuen Elemente. Man wußte, daß der Name ein Pseudonym war, hinter dem sich eine Gruppe franz¨osischer Mathematiker verbarg. Die Namen der Mitglieder von Bourbaki sind nicht offiziell bekanntgegeben worden, aber bereits fr¨ uhzeitig sprach es sich herum, daß Mitglieder,
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die das Alter von 50 Jahren erreicht hatten, zur¨ ucktreten mußten und durch j¨ ungere Mathematiker ersetzt wurden. Wenn das Verdienst der Bourbaki-Idee u uhmt ge¨ berhaupt einer Person zugesprochen werden kann, dann ist der ber¨ wordene Mathematiker Andr´e Weil ein guter Kandidat. Der Krieg brachte Nevanlinna mit Weil Ende 1939 unter merkw¨ urdigen Umst¨anden zusammen, auf die wir sp¨ ater ausf¨ uhrlicher eingehen werden. Bourbaki hatte sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Mathematik in einer m¨ oglichst allgemeinen und axiomatischen Form darzustellen, ohne dabei der historischen Entwicklung Aufmerksamkeit zu schenken. Er f¨ uhrte das Programm durch, indem er die Buchreihe El´ements de math´ematique ver¨offentlichte. Die Arbeit wurde w¨ ahrend des Krieges und auch lange danach fortgesetzt, aber das Unternehmen blieb unvollendet. Im Oktober 1988 teilte der Radiosender France Culture mit, daß Monsieur Nicolas Bourbaki pl¨otzlich verstorben sei. Der Bourbakismus hatte in der Mathematik einen großen Einfluß, der sich sogar auf den Schulunterricht auswirkte. Nevanlinna machte sich Euklids Auffassung vom axiomatischen Charakter der Geometrie zu eigen – eine Auffassung, die mit der Denkweise Bourbakis in Einklang stand. Dennoch hatte der Euklid-Bewunderer Nevanlinna Vorbehalte gegen¨ uber Bourbaki. Nevanlinna konnte sich f¨ ur die extreme Allgemeinheit und den Formalismus Bourbakis nicht erw¨ armen. Der Bourbakismus ist beson¨ ders sch¨ adlich im Unterricht, in dem man nach Nevanlinnas Uberzeugung vom Spezialfall zum allgemeinen Fall vorangehen m¨ usse, wobei anschauliche konstruktive Methoden zu empfehlen seien. Sogar Bourbaki selbst hat angeblich gesagt, daß die Mengenlehre im Schulunterricht f¨ ur die Sch¨ uler gef¨ahrlicher sei als die Pornographie. Bei der Er¨ offnung des Skandinavischen Mathematiker-Kongresses 1938 in Helsinki hielt Nevanlinna einen Vortrag, der auf Deutsch unter dem Titel Die Mathematik und das wissenschaftliche Denken [49] ver¨offentlicht wurde. Er analysierte charakteristische Merkmale der Mathematik, wie sie von scheinbar einfachen Begriffen – etwa von den nat¨ urlichen Zahlen oder von den Figuren der elementaren Geometrie – ausgeht, die gleichzeitig ¨außerst allgemein sind und die unterschiedlichsten Interpretationen gestatten. Nevanlinna sah in den Grundbegriffen der Mathematik, insbesondere in den nat¨ urlichen Zahlen, das Fundament f¨ ur das gesamte menschliche Denken und war der Auffassung, daß die nat¨ urlichen Zahlen in ihrem Inneren tiefe Geheimnisse bergen. F¨ ur die Richtigkeit dieser Idee, die Nevanlinna 1938 dargelegt hat, spricht der Umfang, den die Digitalisierung zur Jahrtausendwende erreicht hat.
4.11 Liebhaber der Philosophie Nevanlinnas Interesse f¨ ur die Philosophie erwachte bereits in jungen Jahren. Er befaßte sich damit zu Beginn der 1920er Jahre intensiver, als er die Gelegenheit bekam, von Eino Kaila bei gemeinsamen abendlichen Treffen mehr u ¨ ber die aktuellen Probleme der Philosophie zu erfahren; im Laufe der Zeit
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beteiligte sich Nevanlinna an den Diskussionen auch als Gebender. Nevanlinna bedauerte, daß es schwierig sei, an den im Innersten einsamen Kaila heranzukommen. Kaila war u uhl und ¨ berempfindlich in seinem Selbstwertgef¨ langweilte sich in Gesellschaft, wenn man nicht u ¨ ber Dinge sprach, die ihn interessierten. Kaila hatte etwas von der Klarheit eines Kristalls, aber auch ” von dessen H¨ arte.“ Von den beiden Hauptzielen der philosophischen Forschung, die bestm¨ogliche Lebensweise zu finden und die Struktur des Universums theoretisch zu begreifen, stand das letztgenannte Nevanlinna n¨aher. Sein philosophisches Interesse war mehr auf die Naturwissenschaften ausgerichtet als auf die Ethik.
Abb. 4.6. Rolf Nevanlinna und Eino Kaila in den 1940er Jahren bei einer Diskussion u ¨ ber die Popularisierung der Wissenschaft. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv der Yhtyneet Kuvalehdet Oy)
Nevanlinna war vorsichtig in seinen Stellungnahmen zu den grunds¨atzlichen Problemen der Wahrheit. Er nahm nicht klar Stellung zu der seit der Antike er¨ orterten Frage, inwieweit mathematische Wahrheiten a priori existieren. Im 19. Jahrhundert dr¨ uckte der deutsche Mathematiker Leopold Kronecker seine Vorstellung in pr¨ agnanter Form aus: Gott hat die nat¨ urlichen Zahlen ” geschaffen, alles andere ist Menschenwerk.“ Auch Nevanlinna betonte die subjektive Freiheit in der Mathematik, aber er ging nicht so weit wie Kronecker. Nevanlinna war davon u ¨ berzeugt, daß die Mathematik nicht nur ein geeignetes Hilfsmittel zur Untersuchung von Naturph¨anomenen sei, sondern daß die Natur an sich mathematische Strukturen aufweise.
4.11 Liebhaber der Philosophie
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Nevanlinna war kein reinbl¨ utiger Anh¨ anger der mathematisch-naturwissenschaftlichen Richtung: Die Naturwissenschaften haben unser Leben radikal ” ver¨ andert, aber die Geisteswissenschaften, einschließlich Literatur und Kunst, haben unseren Alltag ebenso tiefgreifend beeinflußt.“ Im tiefsten Wesen dieser beiden Kulturen sah er keine Unterschiede und er verteidigte alle Wissenschaften mit denselben Worten: V¨ ollig falsch ist die landl¨aufige Auffassung, daß ” in der Welt der Wissenschaft eine emotionslose Atmosph¨are herrscht, die von k¨ uhler Intellektualit¨ at oder trockener Sachlichkeit gepr¨agt ist.“ Der Historiker und Philosoph Jacob Burckhardt war f¨ ur Nevanlinna ein vorbildlicher Denker, der Logiker Bertrand Russell hingegen unzul¨assig naiv. ¨ Uber die Psychologie sagte Nevanlinna, daß sie – wenn man aus ihr nur eine moderne Naturwissenschaft machen wolle – ihren humanistischen Wohlge” ruch“ verliere, der jedoch ihre raison d’ˆetre sei. Nevanlinna bewahrte sein Interesse f¨ ur Philosophie sein ganzes Leben lang. Er besuchte fleißig die Sitzungen der Philosophischen Vereinigung und bezog Stellung zu aktuellen Fragen. Ein sichtbares Beispiel f¨ ur die Wertsch¨atzung, die er genoß, war die Festschrift der Acta Philosophica Fennica, die zu Ehren seines 70. Geburtstags ver¨ offentlicht wurde. Sein Standpunkt bez¨ uglich einer grunds¨atzlichen philosophischen Frage f¨ uhrte ihn nach dem Krieg zum Bruch mit Kaila. Kaila bezog immer deutlicher Position f¨ ur den logischen Empirismus, wonach sich die Philosophie durch Anwendung der mathematisch-logischen Denkweise den Naturwissenschaften anschließen m¨ usse. Das entsprach weitgehend auch den Vorstellungen Nevanlinnas. Jedoch ¨außerte er sich in einem Vortrag mit einigen S¨atzen kritisch zum logischen Empirismus und bemerkte, daß dieser die Sachverhalte dogmatisch zu weit f¨ uhre und die Wirklichkeit in eine zu enge logische Schablone zw¨ange. Kaila emp¨ orte sich und forderte Nevanlinna auf, seine Bemerkung ¨offentlich zu widerrufen. Andernfalls w¨ urden sie fortan zu verschiedenen Lagern geh¨oren. Nevanlinna gab eine vers¨ ohnliche Antwort, war aber mit dem Widerruf nicht urde selbst entscheiden, zu welchem Lager einverstanden und teilte mit, er w¨ ¨ er geh¨ ore. Uber lange Zeit blieb die Beziehung zwischen Nevanlinna und Kaila k¨ uhl und formell, bis sie sich einmal zuf¨ allig in der Garderobe des B¨orsenklubs trafen, wo Kaila Nevanlinna umarmte, ohne irgendetwas zu sagen. Nevanlinna hat in seinem Buch zur Relativit¨atstheorie (Raum, Zeit und ¨ Relativit¨at [104], in englischer Ubersetzung Space, time, and relativity [115]) ¨ so weitreichende philosophische Uberlegungen angestellt, daß er damit den Fachleuten nahe kam. Dennoch kann man Nevanlinna nicht als Philosophen im engeren Sinne ansehen. Er vermied es, in weltanschauliche Fragen einzugreifen und zeigte kein Interesse an einer genaueren Analyse der verschiedenen ¨ philosophischen Theorien oder an deren Vergleich. Bei seinen Uberlegungen u ber das Wesen von Philosophie und Mathematik sch¨ a tzte Nevanlinna die ¨ Verifizierbarkeit des mathematischen Wissens. Er stellte zwar f¨ ur die Wissenschaften keine Rangfolge auf, h¨ atte sich aber sicher u ¨ ber den folgenden, sp¨ater popul¨ ar gewordenen Vergleich am¨ usiert: Dem Philosophen reichen bei seiner
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Forschungsarbeit Papier und Bleistift, der Mathematiker braucht zus¨atzlich noch einen Papierkorb. Einmal ist Nevanlinna ein bezeichnender Schnitzer unterlaufen. Jaakko Hintikka6 hatte als hervorragender Mathematikstudent auf sich aufmerksam gemacht, aber sein Interesse verlagerte sich u ¨ber die mathematische Logik hin zur Philosophie. Nevanlinna war im Ausland und wußte nicht, daß Hintikka das Fachgebiet gewechselt hatte. Erst bei einem Empfang h¨orte Nevanlinna davon, als er sich nach Hintikkas mathematischen Pl¨anen erkundigte. Nachdem Nevanlinna die Antwort vernommen hatte, rief er u ¨berrascht aus: Was, ” er ist zur Philosophie u ¨ bergelaufen? Er ist doch noch ein so junger Mann.“
4.12 Spezialisierung und Synthesen Bei der Gr¨ undungsfeier der Finnischen Kulturstiftung am Vorabend des Kalevala-Tages im Jahr 1939 versammelten sich im Festsaal der Universit¨at Helsinki einflußreiche Pers¨ onlichkeiten des Landes – von politischen F¨ uhrungspers¨ onlichkeiten bis hin zu Prominenten verschiedener Bereiche des kulturellen Lebens. Die junge Republik zeigte ihren Willen zur Kultur. Rolf Nevanlinna war weder an der Planung noch an der Verwirklichung der Kulturstiftung beteiligt. Trotzdem wurde er mit der bedeutenden Aufgabe betraut, den Festvortrag zu halten. Der junge Professor war in Finnland zu einem der f¨ uhrenden Wissenschaftler geworden, und man kannte ihn bereits damals als aufgeschlossenen Beobachter des kulturellen Lebens und als fesselnden Redner. Nevanlinnas Vortrag trug den Titel Spezialisierung in der wissenschaft” lichen Forschung.“ Die unvermeidliche Spezialisierung der Wissenschaft und die als Gegengewicht hierzu geschaffenen Synthesen waren ein Thema, auf das Nevanlinna sp¨ ater h¨ aufig zur¨ uckkam. Im Jahr 1962 sprach er zweimal u ¨ ber dieses Thema. Auf der Er¨ offnungsfeier des Internationalen MathematikerKongresses in Stockholm befaßte er sich mit Spezialisierung und Synthesen innerhalb der Mathematik, und einige Monate sp¨ater hielt er in Vaasa auf der Jahresversammlung der Akademie von Finnland einen Vortrag u ¨ber die Vereinheitlichung der exakten Naturwissenschaften. In dem Vortrag, den Nevanlinna anl¨ aßlich der Gr¨ undung der Kulturstiftung hielt, sp¨ urt man noch die enthusiastische Vision des jungen Mannes, der seine Dissertation in der Sommerlandschaft von Padasjoki schreibt – die Vision von den erhabenen Welten der Wissenschaft. Dieser Eindruck verst¨arkt sich, wenn man sich die Tonbandaufnahme des Vortrags anh¨ort. Die Wahl des Themas war m¨ oglicherweise auch durch die Kritik beeinflußt, die der lautstarke Teil der studentischen Jugend, die Akademische Karelien-Gesellschaft, gegen¨ uber der Universit¨ at ge¨ außert hatte. In der Zeitung der Gesellschaft 6
Der als Vertreter der analytischen Philosophie international bekannte Jaakko Hintikka (geb. 1929) hat sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen.
4.12 Spezialisierung und Synthesen
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liest man die Auffassung, daß die Universit¨at und die dort praktizierte Wissenschaft ihrer Zeit fremd gegen¨ uber st¨ unden und deswegen kaum Bedeutung h¨ atten. Die Wissenschaften w¨ urden bei der Untersuchung unz¨ahliger zusammenhangsloser Details auseinanderdriften.
Abb. 4.7. Rolf Nevanlinna bei seiner Festrede anl¨ aßlich der Einweihungsfeier der Finnischen Kulturstiftung am 27. Februar 1939. (Mit freundlicher Genehmigung: Finnische Kulturstiftung)
Die Rede folgte einem Muster, das f¨ ur Nevanlinna typisch war. Die Darlegung bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil berichtete er u ¨ ber die damals allgemein verbreitete Meinung zum betreffenden Thema. Dann kam das Urteil: Diese Ansicht sei falsch. Zum Schluß erl¨auterte und begr¨ undete er den aus seiner Sicht richtigen Standpunkt. In der Anfangsphase seines Vortrags erkannte Nevanlinna das Problem der Spezialisierung an: Die Entwicklung der letzten Jahrhunderte hat auf allen ” Gebieten des gesellschaftlichen Lebens zu einer nie dagewesenen Ver¨astelung der T¨ atigkeitsformen gef¨ uhrt. Mehr als je zuvor ist der heutige Mensch ein Spezialist, dessen Ausbildung und dessen Lebensarbeit auf einige Spezialaufgaben ausgerichtet sind.“ Nevanlinna ging gew¨ ohnlich nicht ins Kino; eine Ausnahme waren die Chaplin-Filme. Nevanlinna verwendete Chaplins neuen Film Modern Times in seinen Ausf¨ uhrungen als Beispiel f¨ ur die negativen Aspekte der Spezialisierung. Im Film ist Chaplin ein Arbeiter, dessen Aufgabe darin besteht, st¨andig Schraubenmuttern – die in einer endlosen Reihe an ihm vorbei ziehen – mit
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4 Junger Professor
derselben kleinen Handbewegung zu drehen. Die gestellte Spezialaufgabe er” weist sich als losgel¨ ost von der umfassenderen Gesamtheit, zu der sie organisch geh¨ ort. Auf diese Weise kann der Arbeiter seine Arbeit nicht als sinnvoll begreifen, ihr tieferer Wert wird ihm nicht klar, und die Arbeit f¨ uhrt zu einer geistigen Verk¨ ummerung des Arbeiters.“ Nach der Einf¨ uhrung, die der Kl¨ arung von Begriffen diente, sprach Nevanlinna u ¨ ber die Wissenschaft: Die Zeiten sind vorbei, in denen es zumindest ” f¨ ur die gr¨ oßten Geister m¨ oglich zu sein schien, unterschiedliche Gebiete zu erforschen und durch die dabei erworbenen vielseitigen Kenntnisse allgemeine Ansichten zu gewinnen, die das gesamte Wissen jener Epoche dominierten. Dagegen ist der heutige Forscher wie kaum jemand – so wird behauptet – ein Spezialist. Es fragt sich, ob man irgendetwas Wertvolles erreicht, wenn die Voraussetzung f¨ ur die Wissenszunahme darin besteht, daß der Forscher um sein Forschungsgebiet immer engere Grenzen zieht und dabei den Kontakt zu anderen Wissens- und T¨ atigkeitsgebieten verliert.“ Die Antwort erforderte die Beschreibung einer weitverbreiteten, aber falschen Auffassung: Man stellt sich offenbar vor, daß die Wirklichkeit, die ” den Gegenstand der Forschung bildet, vom Forscher so wahrzunehmen sei, als ob es sich um ein endg¨ ultig fertiges Ganzes handle – genauso wie ein Bild, das wir mit den Augen betrachten. Der Gedanke liegt somit nahe, daß man die allgemeinen interessanten Merkmale des Bildes und die großen Zusammenh¨ange seiner verschiedenen Teile erfaßt hat, und daß die Forschung, um etwas Neues zu finden, schrittweise dazu gezwungen ist, sich zu spezialisieren und ihre Aufmerksamkeit mit immer gr¨ oßerer Genauigkeit auf immer belanglosere Details des Bildes zu lenken.“ Die Spezialisierung der Forschung bedeutet etwas ganz anderes. Das Sein ” ist unersch¨ opflich, st¨ andig wird eine neue Wirklichkeit geschaffen, neue Aufgaben und Fragen entstehen, fr¨ uher ungeahnte Zusammenh¨ange schimmern durch, und das, was wir schon vollst¨ andig zu kennen glaubten, erscheint in einem immerfort anderen Licht. Forschung ist wie ein Baum, von dessen Stamm st¨ andig neue Zweige sprießen. Spezialisierung auf dem Gebiet der Wissenschaft ¨ ahnelt diesem organischen Verzweigungsprozeß.“ Nach der Kl¨ arung des Spezialisierungsbegriffes konnte Nevanlinna seine geliebte Synthese anf¨ uhren: Aber neben der Spezialisierung und in st¨andiger ” Wechselwirkung mit ihr wirkt auch weiterhin u ¨ berall bei der Entwicklung der Wissenschaft eine andere, entgegengesetzte Tendenz: das Streben nach Synthesen, nach Vereinigung der voneinander losgel¨osten Forschungsgebiete zu einem einheitlichen Ganzen.“ Der Vortrag endete mit dem optimistischen Glauben an die Zukunft der Wissenschaft: Im Spannungsbogen von Zweifel und Glauben, von Spezia” lisierung und Synthesen entstehen die entscheidenden Ideen, die zu soliden Ergebnissen der Wissenschaft f¨ uhren. Die Geschichte der Forschung und unsere allt¨ aglichen Erfahrungen zeigen anhand von unz¨ahligen Beispielen, daß der Mensch mit seinem Denken dazu f¨ ahig ist, das ihn umgebende Chaos zu ordnen und zu gestalten. Auf diesem Glauben beruhen alle großen
4.12 Spezialisierung und Synthesen
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Errungenschaften der Wissenschaft. Es mag ja sein, daß die Forschung heute ¨ gr¨ oßere Hindernisse als zuvor zu u ¨ berwinden hat, aber das kann die Uberzeugung nicht ersch¨ uttern, daß diese Zuversicht jetzt und in Zukunft berechtigt ist.“
5 Der Professor als Mensch
5.1 Eine charismatische Pers¨ onlichkeit Rolf Nevanlinna hatte bereits in seiner Jugend Bekanntschaft mit zahlreichen bedeutenden Pers¨ onlichkeiten der Wissenschaft und der Kunst gemacht und auch Politiker und andere einflußreiche Pers¨onlichkeiten der Gesellschaft kennengelernt. Dabei hatten ihm seine Verwandten geholfen: Ein Großvater war General, ein Onkel Professor der Mathematik und Senator, sein Vater war ein bekannter P¨ adagoge, ein Cousin zweiten Grades des Vaters war Politiker und Journalist. W¨ ahrend der Schulzeit im Normallyzeum kam es zu Verbindungen, die sich sp¨ ater als wichtig erwiesen, und dank der Versicherungsgesellschaft Salama und des B¨ orsenklubs konnte der gerade promovierte Mathematiker das Netzwerk seiner Bekanntschaften auch auf das Wirtschaftsleben ausdehnen. Nach seiner Berufung zum Professor der Universit¨at Helsinki wurde sein weltweit anerkannter mathematischer Erfolg allm¨ahlich bekannt. In akademischen Kreisen verfestigte sich die Meinung, daß Professor Rolf Nevanlinna eine internationale Ber¨ uhmtheit sei und zu den f¨ uhrenden finnischen Wissenschaftlern geh¨ ore; dieser Ruf verbreitete sich auch außerhalb der Universit¨aten. Die Tatsache, daß Mathematik den meisten schwerverst¨andlich ist, umgab ihn mit einem zus¨ atzlichen Nimbus: Da seine Leistungen unerkl¨arlich waren, haftete ihnen etwas Mystisches an. In Finnland wurde Rolf Nevanlinna zu einer Pers¨ onlichkeit des ¨ offentlichen Lebens, kaum daß er 30 Jahre alt geworden war. Nevanlinna fiel es leicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Er war extrovertiert und hatte große pers¨ onliche Ausstrahlungskraft. Viele – nicht nur Frauen – haben u ¨ ber seinen tiefsinnigen Blick gesprochen. Der Dichter Lassi Nummi schrieb u ¨ ber ein seltenes Licht, das in Nevanlinnas ” Augen strahlt.“ Eine hervorstechende Eigenschaft Nevanlinnas war sein Einf¨ uhlungsverm¨ogen. Er genoß es, seine Gastfreundschaft zu zeigen und manchmal schien seine Freigebigkeit keine Grenzen zu kennen. Obwohl selber st¨andig besch¨aftigt, scheute er keine M¨ uhe, anderen mit Rat und Tat zu helfen. Nevanlinna war
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5 Der Professor als Mensch
kein F¨ ursprecher der Unterdr¨ uckten, aber auf individueller Ebene war sein Handeln von Empathie gepr¨ agt. Nevanlinnas Wunsch zu helfen kam auch in seiner Einstellung gegen¨ uber den Doktoranden und anderen vielversprechenden jungen Leuten zum Ausdruck, die am Anfang ihrer Forscherlaufbahn standen. W¨ahrend seiner gesamten T¨ atigkeit als akademischer Lehrer, das heißt, mehr als 40 Jahre lang, war Nevanlinna bestrebt, diesen Talenten den Weg zu ebnen. Eine wichtige Form der Unterst¨ utzung bestand darin, f¨ ur die jungen Leute ein Auslandsstudium oder einen Forschungsaufenthalt an einer ausl¨andischen Universit¨at zu organisieren. Ohne zu z¨ ogern nutzte er das Netzwerk seiner pers¨onlichen Beziehungen, das im Laufe der Jahre immer umfassender wurde. Ebenso nahm auch die Anzahl derjenigen zu, die von Nevanlinna unterst¨ utzt wurden, so daß in der Mathematikergemeinschaft ein betr¨ achtlicher Nevanlinna-Fanclub“ ent” stand.
Abb. 5.1. Rolf Nevanlinna, wie ihn Menschen aus dem engsten Umkreis an seinem 40. Geburtstag sahen: Rolf I.
5.1 Eine charismatische Pers¨ onlichkeit
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Nevanlinnas Hilfsbereitschaft beschr¨ ankte sich nicht nur auf Wissenschaftler. Er fand sogar Zeit, Privatunterricht in Schulmathematik zu erteilen. Er unterst¨ utzte zahlreiche Kinder aus der nahen Verwandtschaft. Seine Hilfe wurde jedoch von diesen nicht immer gesch¨ atzt, sondern manches Mal eher lustlos hingenommen. Der Unterricht war nicht nur auf eine kurzfristige Verbesserung der schulischen Leistungen begrenzt. Der Lehrer wollte vielmehr bis auf den Grund der jeweiligen Fragen vordringen und sich davon u ¨ berzeugen, daß seine Sch¨ uler auch den Ursprung des betreffenden Sachverhaltes verstanden hatten. Nevanlinna war bestrebt, seinen Sch¨ ulern die Sch¨onheit der Mathematik zu vermitteln.
Abb. 5.2. Der Bildhauer Kalervo Kallio hat diese Skulptur Rolf Nevanlinnas geschaffen, des jungen Apollo.“ ”
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5 Der Professor als Mensch
Das Interesse an Menschen offenbarte sich bei Nevanlinna auch in der F¨ ahigkeit, seine Bekannten zu charakterisieren. Er beherrschte die Kunst, das Wesentliche in eine klare Form zu verdichten. Diese F¨ahigkeit machte ihn zu einem beliebten Redner bei Geburtstagen, Begr¨abnissen und anderen festlichen Anl¨ assen. Nur einige der Reden wurden schriftlich festgehalten, denn Nevanlinna sprach frei, ohne irgendwelche Notizen. Er bereitete die Reden sorgf¨ altig vor, schrieb aber die meisten nicht bis zum i-T¨ upfelchen nieder. Nevanlinna hatte Temperament. Heftige Emotionen konnten dermaßen stark mit ihm durchgehen, daß er v¨ ollig die Fassung verlor. Er bereute es nicht, die Mathematik und Sibelius leidenschaftlich gegen Irrlehren“ verteidigt zu ” haben. Stolz erinnerte er sich auch daran, wie er im Parlament aufbrauste, als er nach dem Krieg die Universit¨ at gegen linksextreme Volksvertreter verteidigte, die gegen die Universit¨ at zu Felde gezogen waren. Im Laufe der Zeit war Nevanlinna eine solche Respektsperson geworden, daß er sich dessen durchaus bewußt war. Die Reaktion Sie wissen wohl nicht, ” mit wem Sie es zu tun haben“ konnte sich gelegentlich entladen. Wenn er erlebte, daß sich jemand r¨ upelhaft verhielt oder eine ihm nahestehende Person ungerecht behandelt wurde, dann konnte er mit ¨außerst scharfen verbalen Peitschenhieben reagieren, die sein Gegen¨ uber nicht so leicht vergaß.
5.2 Der Charmeur Das h¨ ausliche Leben der Nevanlinnas bekam den der gesellschaftlichen Position entsprechenden Rahmen, als die Familie 1932 die große Wohnung in der Pietarinkatu mietete, in der Rolf als Kind gewohnt hatte. Die sechsk¨opfige Familie besch¨ aftigte zwei Hausangestellte. Zum stabilen Leben in der Oberschicht verhalf das gute Einkommen, das Rolf außer seinem Professorengehalt hatte: Zus¨ atzlich zum Universit¨ atsamt war er ja auch der Chefmathematiker der Versicherungsgesellschaft Salama. Hinter der glanzvollen Fassade verbarg sich jedoch kein harmonisches Familienleben. Das Interesse am anderen Geschlecht war ein wesentlicher Charakterzug Rolf Nevanlinnas und dieses Interesse blieb bis zu seinem Lebensende wach. Um den charismatischen Wissenschaftler scharten sich Frauen, die ihn bewunderten und auf die sein Charme wirkte. Die Folge seiner erotischen Anziehungskraft waren Eskapaden“ – wie man im Familienkreis diese Inter” essensph¨ are Rolfs nannte. In den gehobenen Kreisen Helsinkis waren seine Seitenspr¨ unge bekannt. Man h¨ angte sie nur nicht an die große Glocke. Rolf und Mary Nevanlinna lebten sich in den 1930er Jahren endg¨ ultig auseinander. Außenstehende waren nicht geneigt, Rolf leichtfertig zu kritisieren. Mary hingegen l¨ oste bereits als junge Frau negative Gef¨ uhle aus. Es gab selbst unter den nahen Verwandten solche, die ein negatives Bild von Mary hatten. Nach ihrer Meinung sei Mary zum Teil selbst schuld an den Eskapaden gewesen. Ihr sei es nicht gelungen, zuhause eine Atmosph¨are zu schaffen, in der sich Rolf wohl f¨ uhlte. Mary hatte als Rolfs Ehefrau kein leichtes Leben, denn
5.3 Das Zuhause
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nicht nur das Auftreten Dritter verursachte Schwierigkeiten, sondern auch die Mathematik. Seit den fr¨ uhen Anf¨ angen ihrer Ehe vertiefte sich Rolf derart ausschließlich in seine sch¨ opferische Arbeit, daß Mary allein blieb. Rolfs Bruder Frithiof, der an seiner Frau hing, mochte diese Eskapaden aus prinzipiellen Gr¨ unden nicht. Im Fall von Goethe verurteilte er diese Dinge, aber bei Rolf, den er als Genie betrachtete, schloß Frithiof die Augen. Hertta Kuusinen1 soll gesagt haben, daß es ein Stilfehler sei, u ¨ ber die Frauenangelegenheiten von Goethe und Nevanlinna zu sprechen. Als 80-j¨ahriger erinnerte sich Rolf in diesem Zusammenhang tats¨ achlich an Goethe, dessen teilweise autobiographisches Werk Dichtung und Wahrheit ihn sagen ließ: Ich maße ” mir an, meinen eigenen Lebensweg mit diesen Bekenntnissen zu vergleichen, inklusive Erotik.“ Rolf Nevanlinna hatte viele Frauen als Freundinnen – im weitesten Sinne des Wortes. Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die er bei einer Diskussion u annerdominanz in der Mathematik machte. Er erz¨ahlte, daß Frau¨ ber die M¨ en oft meinten, Gegens¨ atzlichkeit w¨ urde Weiblichkeit hervorheben: Oh, Herr ” Professor, ich war in der Schule in Mathematik furchtbar schlecht.“ Nevanlinna sagte, daß er in diesem Fall ein dickes Minuszeichen“ vermerkt habe. ” Dennoch stufte er seine Freundinnen nicht danach ein, welche Neigung sie zur Mathematik versp¨ urten; dagegen war es f¨ ur Frauen schwer, seine Gef¨ uhle zu erwecken, wenn sie kein Interesse f¨ ur Musik hatten. Rolfs Seitenspr¨ unge ber¨ uhrten seine Frau Mary schmerzlich, und zuhause blieben die Spannungen auch den Kindern nicht verborgen. Am Anfang scheinen andere Frauen jedoch noch keine Gefahr f¨ ur die Ehe gewesen zu sein, und das Leben der Familie ging in den 1930er Jahren scheinbar unver¨andert weiter.
5.3 Das Zuhause Das Zuhause von Rolf und Mary Nevanlinna war vom Geist der Neovius durchdrungen. Tradition und eigenes Bestreben hatten zu einer Kulturorientierung ¨ gef¨ uhrt, die nicht wirklich infrage gestellt wurde. Uberheblichkeit ziemte sich nicht, aber das eigene Selbstbewußtsein war unersch¨ utterlich. Man wußte, was richtig und ratsam war, die begabten Nevanlinnas geh¨orten schließlich der gebildeten Oberschicht an. Rolf wurde sp¨ ater von seinem Sohn Arne wegen seiner erstarrten kulturellen Selbstzufriedenkeit kritisiert. Andererseits war es f¨ ur Arne durchaus verst¨ andlich, daß Rolf sein eigenes Wertesystem nie aufgab. Warum h¨atte er es tun sollen, da es ihm den Rahmen f¨ ur ein derart erfolgreiches Leben bot? Rolf selbst sagte, f¨ ur wie wichtig er es gehalten habe, die eigenen Werte immer wieder neu abzuw¨ agen, wenn sich die Welt und das Umfeld ¨anderten. Der 1
Hertta Kuusinen war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die bekannteste kommunistische Pers¨ onlichkeit in Finnland. In der Schule hatte sie Rolf Nevanlinna als Lehrer.
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5 Der Professor als Mensch
konservative Rolf sah jedoch auch dann keinen großen Bedarf, seine Werte zu korrigieren, wenn er u ¨ber die Dinge nachgedacht hatte. In seinen Beziehungen zu den Kindern war Rolf seinem Grundcharakter entsprechend heiter und freundlich. Personen, die in bedeutende gesellschaftliche Positionen aufgestiegen sind, haben oft zwei unterschiedliche Formen des außerlichen Auftretens – so war es auch bei Rolf Nevanlinna. Der distinguierte ¨ Professor war zuhause ein entspannter Vater und zuweilen sogar ein schelmischer Spaßvogel. Er sprach weder u ¨ ber seine mathematischen Forschungen noch hob er seine Ber¨ uhmtheit als Wissenschaftler hervor. Mary und die Verwandten sorgten daf¨ ur, daß die Kinder dar¨ uber Bescheid wußten. Rolf sprach mit seinen Kindern auch nicht u ¨ ber die politischen Fragen, die ihn in den 1930er Jahren immer mehr besch¨ aftigten. Mit seinen herabsetzenden Bemerkungen u ¨ ber Politiker vermittelte er den Kindern das Bild, daß Politik nichts ¨ anderes sei als ein m¨ ußiger Streit der Parteien. In der Offentlichkeit trat Rolf Nevanlinna ganz anders auf als zuhause in seiner Rolle als Familienvater. Die Tonbandaufnahmen von seinen Auftritten in den 1930er Jahren offenbaren ein u ater gerade diese Eigenschaft bei Anderen ¨ berraschendes Pathos, obwohl er sp¨ kritisierte. Arne Nevanlinna gibt in seinem Buch Is¨an maa (Vaters Land) einen k¨ostlichen Einblick in das h¨ ausliche Leben, indem er an einer Stelle ein gemeinsames Mittagessen der Familie im Herbst 1936 beschreibt. Wir lesen hier von Rolfs freundlichem, aber etwas geistesabwesendem Interesse f¨ ur die Angelegenheiten der Kinder und wir erfahren von Marys dominierender Position im Familienhaushalt. Ebenso k¨ onnen wir eine Spannung zwischen den Eltern wahrnehmen, wenn sie u ¨ ber eine bestimmte Frauenbekanntschaft sprechen: Wegen der Kinder hielt es Rolf in diesem Fall f¨ ur besser, von den zuhause gesprochenen Sprachen Finnisch und Schwedisch auf Franz¨osisch umzuschalten. Rolf Nevanlinna war ein vielbesch¨ aftigter Mann, und wenn er zuhause war, vertiefte er sich in mathematische Fragen und andere Arbeiten, wobei er bis sp¨ at in die Nacht an seinem Schreibtisch saß. Diese Art Vater war aus dem Blickwinkel der Kinder reichlich abwesend – sowohl physisch als auch geistig. Jedoch zeigen die Zeichnungen, die er f¨ ur die Kinder machte, ebenso wie die von ihm verfaßten Gedichte und Geschichten, die er ihnen vortrug, daß er auch f¨ ur sie Zeit hatte. Besonders die Tochter Sylvi, das j¨ ungste Kind der Familie, erweckte beim Vater z¨ artliche Gef¨ uhle. In Anbetracht des riesigen Arbeitpensums kann man sich nur schwer vorstellen, daß die Zeit f¨ ur alles gereicht hat; auch in anderer Hinsicht wurde die Flexibilit¨at Rolf Nevanlinnas bestaunt. Eine Erkl¨ arung hierf¨ ur sind seine starke Selbstdisziplin und die Gabe eines guten Schlafes, der die Kr¨ afte erneuert hat. Arne erz¨ ahlt in seinen B¨ uchern, daß sich die Familie in zwei Gruppen unterteilte. Zur einen Gruppe geh¨ orten die M¨anner“, das heißt der Vater und ” die a lteren S¨ o hne Kai und Harri, zur anderen hingegen die Mutter und die ¨ beiden j¨ ungeren Kinder Arne und Sylvi. Kai und Harri waren in Rolfs Augen ¨ recht geraten, wohingegen Arne begann, eigenst¨andige und rebellische Uberzeugungen zu vertreten. Vor dem Krieg war Sylvi f¨ ur solche Dinge noch zu
5.4 Die Kinder
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jung, aber im Laufe der Zeit schloß sie sich dem Revolte-Lager an, als sie nach neuen Orientierungen Ausschau hielt. Auch die Sprache war ein Zeichen der Zweiteilung: Mary sprach Schwedisch mit den beiden ¨alteren S¨ohnen, aber Finnisch mit Arne und Sylvi, wohingegen Rolf mit allen Kindern Finnisch sprach. Die Kinder gingen in die Finnische Koedukationsschule. Das Nor” mallyzeum ist auch nicht mehr das, was es einmal war.“
Abb. 5.3. Die Familie beim Abendtee zuhause in Helsinki um 1940. Von links: Rolf, Harri, Sylvi, Arne und Mary.
Die Musik hatte in der Familie traditionsgem¨aß einen hohen Stellenwert. Die Kinder waren musikalisch und nahmen Klavierstunden bei der Großmutter. Rolf, der auch weiterhin fleißig Geige spielte, war Mitglied eines M¨annerquartetts, das in regelm¨ aßigen Abst¨ anden in den Wohnungen der Quartettmitglieder zusammenkam. Zuerst wurde musiziert, die Damen als Publikum, danach gab es ein gemeinsames Abendessen.
5.4 Die Kinder Kai und Harri, die beiden a ohne Rolf Nevanlinnas, studierten Medizin ¨lteren S¨ ¨ und wurden Arzte. Die Berufswahl war nicht wirklich u ¨ berraschend, denn ei¨ nige der Br¨ uder von Rolfs Vater und Großvater v¨aterlicherseits waren Arzte. Als 19-j¨ ahriger Student der Medizin nahm Kai am Winterkrieg teil. W¨ahrend
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5 Der Professor als Mensch
des Fortsetzungskrieges2 heiratete er, und seine zwei ¨altesten Kinder, die ersten Enkelkinder Rolfs, kamen noch w¨ ahrend des Krieges auf die Welt. Die Tuberkulose-Infektion, die sich Kai im Krieg zugezogen hatte, wurde zuerst nicht ernstgenommen, aber im Laufe der Zeit verschlimmerte sich die Krankheit und konnte trotz neuer Medikamente nicht bezwungen werden. Kai starb 1950 nach langer Krankheit. Kais Witwe Aino blieb mit drei kleinen Kindern zur¨ uck. Die Tochter Anja und die S¨ ohne Jorma und Heikki waren 7, 5 und 2 Jahre alt, als der Vater starb. Rolf hatte seinem Sohn versprochen, f¨ ur dessen Familie zu sorgen und nahm seine Verantwortung als Erzieher ernst. F¨ ur die Familie wurde eine Wohnung beschafft und f¨ ur die Witwe eine Arbeitsstelle als Kontoristin.“ ” Rolf unterst¨ utzte sie finanziell mit einem monatlichen Geldbetrag, und die Familie war willkommen, die Ferien in Rolfs und Marys Sommerresidenz zu verbringen. Die Unterst¨ utzung hatte jedoch ihren Preis. Da der Witwe nach Rolfs und Marys Auffassung der n¨ otige Bildungshintergrund fehlte, nahmen sie Aino unter ihre strenge Obhut. Rolf und Mary verpflichteten Aino, u ¨ber die Verwendung der finanziellen Unterst¨ utzung und u ¨ ber die Unternehmungen ihrer Kinder, insbesondere der S¨ ohne, regelm¨ aßig Bericht zu erstatten. Gab es am schulischen Erfolg etwas zu tadeln, was h¨ aufig vorkam, dann wurden die Jungen zur Pr¨ ugelstrafe in die großelterliche Wohnung zitiert. Als Heikkis Aufnahme ins Gymnasium auf der Kippe stand, stellte der Schulpsychologe fest, daß es dem Sch¨ uler nicht an Intelligenz mangelte, das Versagen vielmehr in seiner Angst vor Erwachsenen begr¨ undet sei. Rolf hielt das Gutachten f¨ ur Psychologengeschw¨atz und ¨anderte sein alttestamentarisches Disziplinierungsprogramm nicht. Auf Anja und auf seine eigenen Kinder wendete er dieses Programm jedoch nicht an. Jorma und Heikki sollte klargemacht werden, daß die Pr¨ ugel nur zu ihrem Besten dienten. Als Geste der Vers¨ ohnung gab es nach der Z¨ uchtigung Eiscreme. Die Erinnerung an die Pr¨ ugelszenen hinterließ jedoch bei Jorma und Heikki so tiefe Spuren, daß ihre Beziehung zum Großvater nie u ¨ ber eine formelle Freundlichkeit hinausging. Die Jungen hatten eine robuste Natur. Jorma wurde ein geachteter Rechtsanwalt. Er war von der Finnischen Koedukationsschule wegen seines mangelhaften Zeugnisses entlassen worden, aber Jahre sp¨ater wurde er zum Vorstandsmitglied derselben Schule berufen. Heikki ist Privatdozent f¨ ur Geophysik und arbeitet als Forschungsleiter am Finnischen Meteorologischen Institut. Rolf Nevanlinna hielt bis zu seinem Lebensende unersch¨ utterlich an der Richtigkeit seiner Prinzipien der Kindererziehung fest und sprach diese auch aßlich der Er¨offnung der Festwochen an der in der Rede an, die er 1975 anl¨ Sommeruniversit¨ at Jyv¨ askyl¨ a hielt. Die Rede wurde in der Zeitschrift Kanava ver¨ offentlicht und Nevanlinna wollte die Abschnitte zur Kindererziehung in 2
Am 25. Juni 1941 begann der Krieg, der in der finnischen Geschichte als Fortsetzungskrieg gegen die Sowjetunion bekannt ist und zur R¨ uckeroberung der im Winterkrieg von 1939–40 verlorenen Gebiete f¨ uhren sollte.
5.4 Die Kinder
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seine Memoiren aufnehmen: Es ist ein seltsamer Irrtum zu meinen, daß ein ” Kind oder ein junger Mensch von Natur aus gut ist, und daß seine negativen Veranlagungen haupts¨ achlich oder ausschließlich den Umwelteinfl¨ ussen zuzuschreiben sind. Nat¨ urlich kann man den Einfluß der Umwelt auf die Entwicklung eines Menschen nicht leugnen, aber es ist offensichtlich, daß bei jungen Menschen, auch bei Kindern, die negativen Wesensz¨ uge der Menschen besonders deutlich hervortreten: selbsts¨ uchtiges Geltungsbed¨ urfnis und Habgier, Machtgier und Neid. In Bezug auf diese Eigenschaften ist eine allzu große Nachsicht t¨ oricht: Ordnung und Disziplin m¨ ussen aufrechterhalten werden, streng, aber gleichzeitig human.“ Harri, Rolfs und Marys zweit¨ altester Sohn, blickte auf ein umfassendes Lebenswerk zur¨ uck: Er entwickelte den finnischen Blutspendedienst und war lange Zeit dessen Leiter. Dar¨ uber hinaus war er ein bedeutender Forscher und erhielt den Titel eines Professors. In seiner Schulzeit war Harri so wild gewesen, daß es die Eltern f¨ ur das beste hielten, ihn f¨ ur ein Jahr zu Bekannten nach Viborg zu schicken, damit er zur Ruhe komme. Die Phase der Revolte ging vor¨ uber und Harri f¨ uhrte die Familientradition zu Rolfs Zufriedenheit weiter. In Bezug auf die Erziehung von Kais S¨ ohnen verstand Harri das Vorgehen seines Vaters besser als sein j¨ ungerer Bruder Arne. Harri, der gerne geselligen Umgang hatte, war als Experte f¨ ur Situationskomik am¨ usant sarkastisch und ¨ahnelte hierin mehr seiner Mutter als seinem Vater. Rolf war kein Witzemacher, hatte aber durchaus Sinn f¨ ur feine Komik – satirische Zeitungskolumnen geh¨ orten zu seiner Lieblingslekt¨ ure. Rolf und Harri waren geistesverwandt und im Laufe der Zeit ¨ahnelten sie einander auch ¨außerlich. Rolf erz¨ ahlte gerne, daß er im Ausland gefragt wurde, ob er ein Verwandter des ber¨ uhmten Professors Harri Nevanlinna sei. Arne wurde Architekt, der an der Technischen Hochschule unterrichtete und an Projekten in Entwicklungsl¨ andern mitwirkte; wie Harri erhielt auch er den Professorentitel. Im Ruhestand fing er an, B¨ ucher zu schreiben, in denen er bei der Beschreibung seiner Eltern und seines Elternhauses von den traditionellen neovianischen Wertvorstellungen abwich. An Rolfs 75. Geburtstag hielten sich Arne und Rolf zuf¨ alligerweise beide in Kalifornien auf und dort kam es zu einer Diskussion u ¨ber weltanschauliche Fragen. Die Zuh¨orer der Diskussion waren Rolfs zweite Frau Sinikka und ihr Sohn Kai Visap¨aa¨. Sie erz¨ ahlten, der erste Zusammenprall der Meinungen sei so heftig gewesen, daß die Diskussion außer Kontrolle zu geraten drohte. Arne ¨anderte seine Taktik und begann, seinen Vater auf eine leicht sp¨ ottische Weise zu belehren. Rolf berichtete seiner ehemaligen Frau Mary in einem Brief, daß er Arnes Ansichten f¨ ur anerkennenswert halte und deren Verwirklichung in der Praxis f¨ ur ihn lehrreich sei. Jedoch k¨ onne er sich nicht Arnes Optimismus anschließen, der die Welt durch organisatorische Maßnahmen zu verbessern glaube. Rolf schwor auf eine m¨ oglichst weitreichende pers¨onliche Freiheit, auch wenn er zugab, daß der Mensch ein so großer Egoist ist, daß sich ein gelegentliches Eingreifen der Gesellschaft nicht v¨ ollig vermeiden l¨aßt. Bei dieser Art von
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5 Der Professor als Mensch
¨ Bevormundung ging jedoch nach Rolfs Uberzeugung der von Arne bevorzugte Sozialismus“ viel zu weit. ” Sp¨ ater faßte Arne seine Beziehung zu seinem Vater in den folgenden knappen Worten zusammen: Rolf war f¨ ur mich eine Autorit¨at, ein Vermittler der ” Tradition, Gegenstand der Bewunderung und des Protests, Ursache f¨ ur Stolz und Irritation, aber nie war er ein Kumpel.“ Im Personenverzeichnis von Rolfs Memoiren treten 16 Nevanlinnas auf, aber Arne ist nicht darunter (obwohl er auf einem Foto zu sehen ist). Rolfs Briefe an Mary zeigen jedoch, daß er stets wissen wollte, wie es Arne ging. Auch die Tochter Sylvi stellte die Wertvorstellungen der Familie infrage. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der als Student zur¨ uckgezogen gelebt hatte, besuchte Sylvi in ihrer Studentenzeit h¨ aufig das Universit¨atscaf´e und diskutierte dort u omungen. Die Werte und Ansichten des ¨ber aktuelle kulturelle Str¨ Elternhauses erschienen ihr nun recht konservativ. Es war f¨ ur die Mitglieder der Familie von Rolf und Mary nicht leicht, einen eigenen Weg zu gehen, und Anfang der 1950er Jahre geriet Sylvi in eine seelische Krise. Sylvi heiratete den Amerikaner Robert Austerlitz. Er war j¨ udischer Abstammung aus Transsilvanien und ein Cousin des amerikanischen Filmstars Fred Astaire (der urspr¨ unglich Frederick Austerlitz hieß). Robert Austerlitz war ein phantastisches Sprachtalent, dem die ¨außere Erscheinung nichts bedeutete. Sein extremer Widerstand gegen das Spießb¨ urgertum machte ihn in den Augen von Sylvi und Arne zum Helden. Robert Austerlitz wurde Professor der ural-altaischen Sprachen an der Columbia University in New York und Ehrendoktor der Philosophischen Fakult¨at der Universit¨at Helsinki. Sylvi promovierte auf dem Gebiet der italienischen Literatur. Als uns Sylvi w¨ ahrend meiner Gastprofessur in Cleveland besuchte, kam es zu einem Zwischenfall, der ihre Wertvorstellungen demonstrierte. Sylvi geriet mit meinem amerikanischen Kollegen, den wir zum Mittagessen eingeladen hatten, in offenen Streit. Sie erkl¨ arte, nichts Falsches daran zu finden, wenn ein Bed¨ urftiger stiehlt, was er braucht. Ihre ethischen Normen unterschieden sich von Rolfs Vorstellungen, der dennoch sagte, Sylvi sei ihm das Liebste der Kinder, die er mit Mary hatte. Keines der Enkelkinder Rolf Nevanlinnas wurde Mathematiker. Seinem Interessenkreis stehen Arnes Sohn, der Philosoph und Journalist Tuomas Nevanlinna, und Sylvis Sohn Paul Austerlitz nahe, der Musiker und Professor f¨ ur Ethnomusik an der amerikanischen Brown University ist. Rolfs Tochter Kristiina aus seiner zweiten Ehe und zwei ihrer Kinder wurden ebenfalls Berufsmusiker. Kristiina absolvierte eine Ausbildung als Klavierlehrerin, ihre Tochter Riikka Hohti wurde Geigerin und ihr Sohn Markus Hohti Cellist, der sich insbesondere als Interpret zeitgen¨ ossischer Musik einen Namen macht. Dagegen sind unter den Nachkommen seines Bruders Frithiof und seiner Schwester Anna Professoren der Mathematik: Frithiofs Sohn Veikko Nevanlinna und Annas Sohn Heikki Haahti sind Emeriti, und Olavi Nevanlinna, ein Enkel Frithiofs, ist Professor an der Technischen Universit¨ at.
5.5 Gesellschaftliches Leben
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Abb. 5.4. Kai, Arne und Harri, die S¨ ohne von Rolf und Mary Nevanlinna, w¨ ahrend des Kriegsjahrs 1943.
5.5 Gesellschaftliches Leben Die Nevanlinnas hielten sehr an den traditionellen Familienverbindungen fest. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die große Wohnung des Senators Edvard Neovius und seiner aus D¨ anemark stammenden Frau Thyra ein wichtiger Treffpunkt der Familie. Die Wohnung befand sich in dem m¨achtigen Geb¨aude Merilinna im s¨ udlichen Helsinki. Es war eine Zeit, in der die vornehmen Leute ger¨ aumige Wohnungen und Diener hatten, die das Leben leichter machten. Auch Rolf hatte pers¨ onliche Erinnerungen an die Familieneinladungen seines Onkels. Die Diskussionen, an denen sich auch Rolfs Tanten beteiligten, waren kein unn¨ utzes Geschw¨ atz. Der Seufzer kunst og videnskab, kunst og videnskab (Kunst und Wissenschaft) der Gastgeberin Thyra wurde sp¨ater zur Charakterisierung der Einladungen verwendet. Die ¨alteren Familienmitglieder waren leidenschaftliche R¨ asonierer“ und Debattierer“ und die Meinun” ” gen waren mit Ironie gew¨ urzt. Die Familie pr¨agte den Begriff Neovianischer ”
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5 Der Professor als Mensch
Narzißmus“ f¨ ur den Charakterzug, der diese Familienmitglieder miteinander verband. Die Tradition der Einladungen von Edvard Neovius wurde von Ernst Nevanlinna fortgesetzt, der allj¨ ahrlich am 13. Mai ein Fr¨ uhlingsfest in seinem Haus gab. Man fuhr die eingetroffenen G¨ astegruppen zun¨achst in Kutschen zum Ausflug zur Museumsinsel Seurasaari und von dort zur¨ uck zum Abendessen. Die Verwandten kamen auch bei vielen kleineren Treffen zusammen. Ernst Nevanlinna starb Anfang der 1930er Jahre, und allm¨ahlich verlagerten sich die Familientreffen von Rolf und seiner Familie immer mehr auf einen Kreis naher Verwandter. Vor dem Krieg brachte das Grammophon die Familienmitglieder noch nicht zusammen, aber in den Nachkriegsjahren h¨orte man sich gemeinsam Schallplatten an, insbesondere in der Wohnung des Bruders Frithiof im Stadtteil Munkkiniemi. Im Sommer konnten die Geschwister m¨ uhelos zusammenkommen, denn Frithiofs, Rolfs und Anna Haahtis Sommerh¨ auser lagen nahe beieinander am Ufer des Lohjasees. Rolf und Mary Nevanlinna geh¨ orten zum Kreis der finnischsprachigen gebildeten Schicht des B¨ urgertums, in deren Wohnungen man Abendgesellschaften organisierte. Gemeinsame Konzert-, Theater- und Opernbesuche und das gesellige Beisammensein der Herren im B¨ orsenklub st¨arkten das Zusammengeh¨ origkeitsgef¨ uhl der Gesellschaft. Die gleiche Gesinnung kam auch darin zum Ausdruck, daß alle Kinder in die Finnische Koedukationsschule geschickt wurden. Auf ideologischer Ebene war der Gesellschaftskreis durch die Wertsch¨atzung der finnischen Kultur und der akademischen Tradition verbunden. Man hatte eine finnische Gesinnung und ein beliebtes Gespr¨achsthema war die Sprachenfrage an der Universit¨ at. Von den Großm¨achten bevorzugte man Deutschland wegen der wissenschaftlichen Kontakte und aus Gr¨ unden der Sicherheitspolitik. Frankreich und England waren fremder und Amerika war in dieser Zeit weit weg. Die Zeitschrift Seura ver¨ offentlichte 1996 einen Artikel u ¨ ber eine Kartei, die von der deutschen Luftwaffe w¨ ahrend des Zweiten Weltkriegs angelegt worden war; die Kartei enthielt geheime Einsch¨atzungen u ¨ber einflußreiche finnische Pers¨ onlichkeiten, die aus der Sicht Deutschlands wichtig waren. Die Liste enthielt die Namen von sechs Mitgliedern des Gesellschaftskreises der Nevanlinnas; die deutschfreundliche Gesinnung der Betreffenden wurde lobend erw¨ ahnt, ohne deren Patriotismus infrage zu stellen. Auf der Liste standen Rolf selbst ( wertvoller und lohnender Kontakt als F¨ ursprecher der Interessen ” Deutschlands“), Timo Brofeldt, Eino Kaila ( Bewunderer der deutschen Wis” uckhaltend“), Heikki Reenp¨a¨a ( Vollsenschaft und Kunst, politisch sehr zur¨ ” blutfinne, gebildet, sensibel, exakt aber zur¨ uckhaltend, positiv deutschfreundlich“), Yrj¨ o Reenp¨ aa uckhaltender echter Finne, positive ¨ ( bescheidener, zur¨ ” Einstellung zu Deutschland und verheimlicht diese nicht“), und Arno Sax´en ( Bewunderer der deutschen Wissenschaft“). ” Mary Nevanlinna war von den geselligen Abenden nicht besonders begeistert. Ihr h¨ atten die Treffen mit den Verwandten und die Musikabende
5.6 Der finnische Sommer
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gereicht. Dagegen nahm Rolf diese Gelegenheiten gerne wahr, denn sie kamen nicht so h¨ aufig vor, als daß sie ihn bei seiner Arbeit gest¨ort h¨atten. In den Salons bewegte er sich wie zuhause, aber ein Salonl¨owe war er nicht, da allzu gleichg¨ ultig in Kleidungsfragen. Er behielt seine Einstellung bis zum Ende seines Lebens bei, wie seine zweite Frau Sinikka feststellte: Bei Reisen hatte ” Rolf immer nur einen Anzug, den er sofort verschmuddelte und in dem er sogar sein Mittagsschl¨ afchen machte, aber Mann bleibt Mann und Rolf ganz besonders: Trotz allem sah er immer wie ein stilvoller Gentleman aus.“ Rolf Nevanlinna hatte sich den alten Familiengrundsatz zu eigen gemacht, daß Geld an sich keinen absoluten Wert hat, auch wenn er von Zeit zu Zeit auf seine Sollseite aufpassen mußte. Die Personen, die er von seinem Gesellschaftskreis her kannte, waren Leute, die im Allgemeinen wohlhabender waren als er; aber das war nicht erkennbar, weil Rolf eine bestimmte Lebensart hatte und dabei nicht ber¨ ucksichtigte, ob die Mittel dazu ausreichten oder nicht. Das Niveau mußte aufrechterhalten werden, billige Hotels und undefinierbare Speiselokale waren nichts f¨ ur ihn. Rolf ¨ ahnelte dem Architekten Alvar Aalto, ¨ der nach eigener Uberzeugung nicht schlechter war als irgendwelche Industrieund Bankdirektoren oder reiche Erben. Vielmehr meinte er, daß sein gesellschaftliches Engagement mindestens ebenso viel wert sei – warum also sollte er sich damit zufriedengeben, das Leben auf Sparflamme zu halten. Im Umgang mit Geld war Rolf Nevanlinna freigebig, auch zur Freude und zugunsten anderer – ganz gleich, ob es sich um einen Abend im Restaurant oder um die st¨ andige Unterst¨ utzung naher Verwandter handelte. Wegen Geldmangels brauchte er sich nicht zu sorgen, da er absolut kreditw¨ urdig war. Er konnte sich immer an Gunnar Nevanlinna wenden, den Direktor der Finnischen Volksbank, der ein Cousin zweiten Grades von Rolfs Vater war; n¨otigenfalls sprang der Bruder Frithiof als B¨ urge ein. Ja, gewiß nutzte er diese M¨ oglichkeit – sein Kontostand war u ¨ ber Jahrzehnte im Minus.
5.6 Der finnische Sommer Rolf Nevanlinna erw¨ ahnte h¨ aufig, wie wichtig f¨ ur ihn die finnische Natur war, wie sie ihn mit Ruhe erf¨ ullte und seine Arbeit inspirierte. Besonders liebte er den Sommer. Er hatte angenehme Erinnerungen an die Sommerferien seiner Schulzeit in Sammatti und sp¨ ater in Padasjoki, wo der Vater ein eigenes Sommerhaus gekauft hatte. Als Rolf seine Dissertation in Padasjoki schrieb, bewunderte er ekstatisch die finnische Landschaft von einem H¨ ugel aus. Damals, in der sommerlichen Stimmung, setzte er sich das Lebensziel, durch Arbeit nach den erhabenen Welten zu streben. Mitte der 1930er Jahre entschied sich die Familie daf¨ ur, ein eigenes Sommerhaus zu bauen. Rolfs Schwester Anna und ihr Ehemann Hannu Haahti, ein Tuberkulosespezialist und Professor der Universit¨at Helsinki, der bereits seit den Schultagen im Normallyzeum mit Rolf befreundet war, hatten ein Sommerhaus in Lohja, im Westen der Provinz Uusimaa. Direkt daneben wurde
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5 Der Professor als Mensch
ein felsiges Ufergebiet zum Verkauf angeboten; von dort hatte man einen herrlichen Ausblick auf den Lohjasee. Rolf und Mary entschieden sich f¨ ur dieses Grundst¨ uck, das den Namen Korkee erhielt. Am gegen¨ uberliegenden Ufer befand sich in Karjalohja das Grundst¨ uck Rannanpelto, das der Bruder Frithiof fr¨ uher erworben hatte.
Abb. 5.5. Rolf und sein Sohn Harri auf der Veranda von Korkee, im Hintergrund der Lohjasee.
Nevanlinna beteiligte sich nicht an den u ¨ blichen Arbeiten, die den Bewohnern der Sommerh¨ auser oblagen. Es reichte ihm, in den nahe gelegenen W¨ aldern spazieren zu gehen, die sommerliche Natur zu bewundern und gleichzeitig u ¨ber mathematische Probleme nachzudenken. Hin und wieder begab er sich auf die Fahrt u ¨ ber den See nach Rannanpelto, um Tennis zu spielen. In Korkee wurde die Saunastube zu Rolfs Stammplatz, an dem er – umgeben von seinen Papieren und B¨ uchern – u ¨ber seine mathematischen Probleme nachdachte. Wenn G¨ aste kamen, verließ er diesen Unterschlupf nicht ¨ofter, als es die guten Manieren erforderten. Meine Frau und ich konnten uns von der kardinalen Wichtigkeit der Saunastube u ¨berzeugen, als wir zu Besuch nach Korkee kamen: Uns gelang es nicht, Rolf f¨ ur l¨angere Zeit von dort wegzulocken. W¨ ahrend des Krieges und danach hielt sich Rolf immer seltener in Korkee auf; nachdem seine Ehe mit Mary Ende der 1950er Jahre auseinander gegangen war, fuhr er u ur eine Zeit von zwei ¨ berhaupt nicht mehr dorthin. F¨
5.6 Der finnische Sommer
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Abb. 5.6. Rolfs bevorzugter Arbeitsplatz, die Saunastube von Korkee. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv der Yhtyneet Kuvalehdet Oy)
Jahrzehnten hat das G¨ astebuch von Korkee jedoch viel zu erz¨ahlen: Außer Verwandten und Freunden konnten viele ausl¨andische Mathematiker und prominente Pers¨ onlichkeiten des finnischen Kulturlebens in Korkee die Gastfreundschaft von Rolf und Mary Nevanlinna genießen.
6 Politisches Erwachen
6.1 Die Sprachenfrage Die 1920er Jahre waren im Leben Rolf Nevanlinnas eine Zeit gewesen, in der die Mathematik souver¨ an die Oberhand hatte. Die Mathematik hatte seine geistigen Energien derart gebunden, daß – außer f¨ ur die immer gegenw¨artige Musik – kaum noch Zeit und Kraft f¨ ur andere kulturelle T¨atigkeiten geblieben waren. Gesellschaftliche Fragen hatten Rolf bisher weniger besch¨aftigt. Als sich die 1930er Jahre n¨ aherten, ¨ anderte sich die Lage. Der B¨orsenkrach an der Wall Street im Oktober 1929 kann als das Startsignal f¨ ur die gesellschaftlichen Aktivit¨ aten Nevanlinnas angesehen werden – er war jetzt genau 34 Jahre alt. Der B¨ orsensturz war der Anfang einer globalen Rezession, die zu politischen Wirren in Europa f¨ uhrte. Diese Wirren w¨ uhlten auch Finnland auf und veranlaßten die B¨ urger dazu, nachzudenken und ihre politischen Standpunkte zu analysieren. Unter diesen Umst¨ anden blieb Rolf Nevanlinna nicht passiv. Sein famili¨ arer Hintergrund brachte es mit sich, daß er bereits als kleiner Junge Gespr¨ ache u ¨ber gesellschaftliche Fragen mitgeh¨ort hatte. Er hatte jetzt einen Anlaß, sich mit seiner eigenen politischen Philosophie auseinanderzusetzen, die fr¨ uher bei ihm nur in den Hintergrund gedr¨angt worden war. Am Anfang hing die neue T¨ atigkeit mit universit¨aren Fragen zusammen, aber Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 und der nachfolgende Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschland waren f¨ ur Nevanlinna der entscheidende Anstoß, sich f¨ ur Politik zu interessieren. In dieser Zeit arbeitete er gerade an der geometrischen Vollendung der Nevanlinna-Theorie.“ Es bleibt eine ” Vermutung, ob die un¨ uberwindlichen Schwierigkeiten, auf die er bei dieser Arbeit stieß, seine Aufmerksamkeit vermehrt auf politische Fragen lenkten. Die erste gesellschaftliche Frage, die Rolf Nevanlinna besch¨aftigte, war die Einstellung zur schwedischen Sprache. Aus der Beschreibung des famili¨aren Hintergrunds geht hervor, daß Rolfs echt finnischer Vorvater das Schwedische als Sprache annehmen mußte und daß die Sprache der Familie f¨ unf Generationen lang Schwedisch blieb. Noch Rolfs Vater sprach zuhause u ¨ berwiegend
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6 Politisches Erwachen
Schwedisch, aber er hatte sich eine finnische Gesinnung zu eigen gemacht und den Familiennamen Neovius in Nevanlinna ge¨andert. Rolf war schließlich, ebenso wie sein Bruder, zum Ausgangspunkt zur¨ uckgekehrt. Finnisch wurde Rolfs erste Sprache. Die Sprachenfrage war bereits im 19. Jahrhundert zu einem Sprachenkampf geworden, der die Nation bis Ende der 1930er Jahre teilte. Die extremen Bewegungen standen einander gegen¨ uber: die von den Echtfinnen“ ” verfochtene Linie Ein Volk, eine Sprache“ und die Linie der schwedischspra” chigen Extremisten mit der Parole Zwei V¨olker, zwei Sprachen.“ Ab Mitte ” der 1920er Jahre war die Akademische Karelien-Gesellschaft (Akateeminen Karjala-Seura, AKS), welche die Linie der Echtfinnen vertrat, zu einem aktiven Kampfteilnehmer geworden. Damit wurde die Universit¨at Helsinki zum Hauptkampffeld und dieser Umstand brachte Rolf Nevanlinna in die Schußlinie. Die AKS war 1922 gegr¨ undet worden, um denjenigen Ostkareliern zu helfen, die nach Finnland geflohen waren. Bald jedoch verwandelte sich die AKS in eine ideologische Organisation, deren T¨ atigkeit durch die Ideen von Großfinnland und Rußlandhaß gepr¨ agt war. Die Betonung des Finnentums f¨ uhrte die AKS derart in den Sprachenkampf, daß zus¨atzlich zum Schlachtruf Ge” gen den Teufel und den Russki“ auch der Ruf Gegen den Teufel und das ” Schwedentum“ erscholl. An der Universit¨ at Helsinki war die Absicht der AKS klar: fort mit der schwedischen Sprache. Das war unter den Studenten eine so popul¨ are Politik, daß die AKS bei ihnen eine starke Position errang. In Nevanlinnas Memoiren, die 1975 erschienen, distanzierte er sich von der AKS: Obwohl die von der AKS verfochtene Idee des Volksstammes viele po” sitive Dinge enthielt, war die fanatische Begeisterung der Gesellschaft schwer zu verstehen und hatte keine realistischen Grundlagen.“ In einem Einzelfall jedoch ergriff er ¨ offentlich Partei f¨ ur die AKS, wor¨ uber im Abschnitt An der ” Spitze der Studentenverbindung“ (vgl. S. 115) berichtet wird. Die echtfinnische Ideologie erstarkte zu einer m¨achtigen Volksbewegung. Eino Kaila hatte in klaren Worten Stellung gegen den Fanatismus der Echtfinnen bezogen und war danach in so große Schwierigkeiten geraten, daß sich seine Freunde vornahmen, eine ¨ offentliche Erkl¨arung f¨ ur ihn abzugeben. Rolf und Frithiof Nevanlinna waren bei diesem Vorhaben dabei, aber es wurde aufgegeben. Als Grund f¨ ur die Aufgabe vermutete Rolf die Furcht vor dem ¨offentlichen Druck des Echtfinnentums. Nevanlinna war kein echtfinnischer Fanatiker, aber an der Universit¨at wirkte er energisch darauf hin, die Position der finnischen Sprache zu verbessern. Das war den Studenten bekannt: W¨ ahrend des Vorlesungsboykotts, zu dem die Finnischsprachigen aufgerufen hatten, wurden seine Vorlesungen auch weiterhin besucht. Eine gem¨ aßigte Fennisierung hatte sich an der Universit¨at bereits in den 1920er Jahren durchgesetzt. Ein Beispiel hierf¨ ur waren die neuen finnischsprachigen Professuren, von denen auch Nevanlinna eine erhalten hatte. Im Institut f¨ ur Mathematik dominierte eine vers¨ohnliche Atmosph¨are. Lindel¨of,
6.1 Die Sprachenfrage
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der Institutsdirektor, hatte die Zeichen der Zeit erkannt und freiwillig damit begonnen, seine Vorlesungen auf Finnisch zu halten, auch wenn seine Kenntnisse der finnischen Sprache alles andere als vollkommen waren. An der Universit¨ at war Lindel¨ of nicht der einzige schwedischsprachige Professor, der so gehandelt hatte. Eine der Leitfiguren der Fennisierungsbewegung war Ernst Nevanlinna, der 1924 Professor der Finanzlehre geworden war. Er unterbreitete dem Konsistorium einen Vorschlag zur gr¨ undlichen Reformierung der Sprachgesetzgebung der Universit¨ at Helsinki. Sein Vorschlag besagte, daß die ordentlichen Professoren der Universit¨ at ihre Vorlesungen in Finnisch halten mußten, w¨ ahrend den anderen Dozenten gestattet wurde, ihre Unterrichtssprache selbst zu w¨ ahlen. Nachdem Ernst Nevanlinna 1932 unerwartet an den Folgen eines Unfalls gestorben war, wurde die Angelegenheit von einer durch das Konsistorium ernannten Kommission weitergef¨ uhrt, der auch Rolf Nevanlinna angeh¨ orte. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder – darunter auch Nevanlinna, Kaila und Linkomies – setzte sich f¨ ur den Vorschlag Ernst Nevanlinnas ein. Auch das Konsistorium akzeptierte den Vorschlag mit einer betr¨achtlichen Stimmenmehrheit, obschon sich die Schwedischsprachigen dieser großen ¨ Anderung entschieden widersetzten und auch nicht alle Finnischsprachigen den Vorschlag unterst¨ utzten. Der Antrag der Universit¨ at erhielt keine Unterst¨ utzung durch die Regierung, die nicht so weit gehen wollte. Es dauerte noch einige Zeit, bevor das neue Sprachengesetz der Universit¨ at im Jahre 1937 erlassen wurde. Der Hauptanteil der Professuren wurde finnischsprachig, aber die Universit¨at behielt auch eine gewisse Anzahl schwedischsprachiger Professuren. Die Entscheidung war durch den Wirbel beeinflußt worden, der in dieser Sache in Schweden zu einer Zeit aufkam, in der sich Finnlands Außenpolitik eine skandinavische Ausrichtung zum Ziel gesetzt hatte. Mit dem Kompromiß Ein ” Volk, zwei Sprachen“ endete der Sprachenkampf tats¨achlich, auch wenn sich in der unmittelbaren Reaktion eine gewisse Unzufriedenheit artikulierte – und zwar sowohl von der finnischsprachigen als auch von der schwedischsprachigen Seite. Die Meinungsverschiedenheiten waren jedoch bald vergessen, da gr¨oßere Probleme auf Finnland zukamen. Nach dem Krieg kam die Sprachenfrage an der Universit¨at Helsinki erneut auf, als die Schwedischsprachigen das Problem der sprachlichen Zweiteilung abkl¨ aren wollten. Das Konsistorium behandelte die Angelegenheit im November 1945 und Nevanlinna hielt eine lange Rede, deren Grundidee die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Sprachengruppen war. Nevanlinna analysierte in seiner Darlegung die sch¨adlichen Folgen einer radikalen Sprachenteilung und forderte seine Zuh¨orer auf, dar¨ uber nachzudenken, was wohl geschehen w¨ are, wenn sich Ernst Lindel¨of ausschließlich auf schweussen. dischsprachige Mathematikstudenten h¨ atte beschr¨anken m¨ Nevanlinna schlug vor, daß die Professuren nicht an eine bestimmte Sprache gebunden werden sollten und man an der Universit¨at s¨amtliche Sprachtests beseitigen sollte, die mit einer Berufung zusammenhingen. Der Vorschlag
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6 Politisches Erwachen
wurde im Konsistorium unterst¨ utzt, erhielt aber nicht die Zustimmung der Schwedischsprachigen. Nevanlinna vermutete, daß sein Vorschlag an der psy” chologischen Seite der Sache“ gescheitert sei. Schwedisch war zur Sprache einer kleinen Minderheit geworden, und die Schwedischsprachigen wollten ihre Stellung um jeden Preis verteidigen.
6.2 Aufgaben in der Universit¨ atsverwaltung Zu Beginn der 1930er Jahre setzte Nevanlinna auch weiterhin fleißig seine mathematischen Forschungen fort, aber die Arbeit nahm seine geistigen Kr¨afte nicht mehr so intensiv in Anspruch wie in den 1920er Jahren. Er hatte nun u ussige Energie und die Universit¨ at bot Gelegenheiten, diese Energie ¨ bersch¨ freizusetzen. Im Jahr 1933 wurde Nevanlinna zum Dekan des mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachbereichs gew¨ ahlt. In dieser Funktion war es ihm nicht mehr m¨ oglich, sich mit der Verwaltungsarbeit nur entsprechend den eigenen Neigungen auseinanderzusetzen. Die große Fakult¨at bedeutete Verantwortung und die Position des Dekans brachte ihn in die Zentralverwaltung der Universit¨ at: Er wurde Mitglied des kleinen Konsistoriums, das bei w¨ochentlichen Sitzungen zusammenkam. Aus dem distanzierten Beobachter der Verwaltung war ein wichtiger Teil des Apparates geworden. Nevanlinna u ¨ bte die Funktion des Dekans im Dreijahreszeitraum 1933–1936 und im Studienjahr 1938–1939 aus. Ein bedeutendes Vertrauensamt bringt leicht neue Aufgaben mit sich. Im Jahr 1935 wurde Nevanlinna Mitglied der Abiturientenpr¨ ufungskommission und bald darauf ihr Vorsitzender. Bei der landesweiten Aufgabe des Unterrichtens von Jugendlichen blieb er keine passive Galionsfigur. Nevanlinna war auch Mitglied der Kommission, die untersuchen sollte, wie man die als problematisch empfundene Studentenflut“ unter Kontrolle halten k¨onnte. Er war ” dagegen, den Zugang zur Universit¨ at durch einen Numerus clausus zu beschr¨ anken. Stattdessen schlug er vor, daß das Aussieben in der Universit¨at auf der Grundlage der Studienleistungen in den ersten Studienjahren erfolgen solle. Als Begr¨ undung f¨ uhrte Nevanlinna an, daß gute Schulergebnisse keine Garantie f¨ ur einen Erfolg an der Universit¨at seien und zur Unterst¨ utzung seiner These nannte er die Abiturientinnen. Nach Nevanlinnas Ansicht hatte der Sch¨ opfer die Frauen biologisch schw¨acher gemacht als die M¨ anner und das ließ sich erkennen, wenn etwas wirklich Bedeutendes vollbracht werden mußte. Ein Aussieben, das nicht relativ mehr ” Frauen als M¨ annern den Zugang zur Universit¨at verwehrte, war nicht die richtige L¨ osung des Problems.“ Die Fakult¨ aten unterst¨ utzten im Allgemeinen Nevanlinnas Vorschlag. Der Vorschlag selbst, das heißt, auf welche Weise die Aussiebung vonstatten gehen sollte, war nicht frauenfeindlich, nur Nevanlinnas Begr¨ undungen waren es. Letzten Endes kam es damals zu keinerlei Aussiebungen.
6.3 An der Spitze der Studentenverbindung
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Nevanlinna hatte sich bei seiner T¨ atigkeit f¨ ur die Universit¨atsverwaltung auf einen Weg begeben, der ihn von der Mathematik wegzuf¨ uhren schien, denn in den Jahren 1937 und 1938 hatte er keine mathematischen Forschungsarbeiten ver¨ offentlicht. Das war jedoch nur eine sch¨opferische Pause. Als die Untersuchungen, wie sich die Wertverteilung der Funktionen in der Struktur der Riemannschen Fl¨ achen widerspiegelt, nicht in der erhofften Weise vorankamen, ging Nevanlinna gegen Ende der 1930er Jahre dazu u ¨ ber, Riemannsche Fl¨ achen im Allgemeinen zu untersuchen, ohne Zusammenh¨ange mit der Wertverteilungstheorie. Nevanlinnas Arbeit, die einen guten Anfang genommen hatte, wurde durch den Winterkrieg unterbrochen. W¨ ahrend des Zwischenfriedens1 setzte er die Arbeit fort. Die zwei in dieser Zeit entstandenen Publikationen [52] und [53] er¨ offneten ein neues Problemfeld, die Klassifikationstheorie der Riemannschen Fl¨ achen. Nach dem Krieg wandte sich Nevanlinna in seinen Forschungsarbeiten einem anderen Gebiet zu, aber die Fragen der Klassifikationstheorie besch¨ aftigten die Funktionentheoretiker noch bis weit in die 1950er Jahre, haupts¨ achlich in Finnland, in den Vereinigten Staaten, in Japan, Frankreich und in der Schweiz. In den Nachkriegsjahren produzierte Nevanlinna noch lange Zeit mathematische Ergebnisse, die nicht ohne Bedeutung waren. Jedoch waren die Ver¨ offentlichungen, die er w¨ ahrend des Zwischenfriedens abgeschlossen hatte, seine letzten mathematischen Arbeiten, die weltweit zu einer bemerkenswerten Weiterf¨ uhrung seiner Forschungsarbeit beitrugen.
6.3 An der Spitze der Studentenverbindung Nevanlinna kam mit den Aktivit¨ aten der Studenten in Ber¨ uhrung, nachdem er im Herbst 1936 zum Inspektor der Viborgschen Studentenverbindung gew¨ahlt worden war. Er selbst hatte der S¨ udfinnischen Studentenverbindung angeh¨ort und nur durch seine Frau Kontakte zu Viborg. Es hat den Anschein, daß sich die Studentenverbindung aus ideologischen Gr¨ unden an Nevanlinna wandte. Die Akademische Karelien-Gesellschaft war in dieser Zeit sehr stark und die Viborgsche Studentenverbindung geh¨ orte zu denjenigen Studentenorganisationen, die unverkennbar von der AKS gepr¨agt waren. Im Jahr 1934 hatte Teuvo Niskala, Vorsitzender der Studentenschaft der Universit¨at und Mitglied der AKS, eine scharfe Rede f¨ ur das Ingermanland und Ostkarelien sowie gegen die sowjetische Regierung gehalten. Das hatte zur Folge, daß das Sprachrohr der Volkspatriotischen Bewegung IKL, die Zeitung Ajan Suunta, in der die Rede ver¨ offentlicht worden war, beschlagnahmt wurde. Niskala wurde auf der Grundlage des Aufwiegelungsgesetzes angeklagt und der Rektor der Universit¨ at erteilte ihm eine strenge Verwarnung. Als Niskala erneut 1
Zwischenfrieden ist die inoffizielle Bezeichnung des Zeitraums vom Frieden von Moskau, der den Winterkrieg im M¨ arz 1940 beendete, bis zum Beginn des finnischen Fortsetzungskrieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941.
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6 Politisches Erwachen
zum Vorsitzenden der Studentenschaft gew¨ahlt wurde, best¨atigte das kleine Konsistorium die Wahl nicht und wies diesbez¨ uglich auf die gegen Niskala anh¨ angige Klage und die vom Rektor erteilte Verwarnung hin. Im Konsistorium war Dekan Nevanlinna der Einzige, der eine abweichende Meinung ¨außerte und Niskala verteidigte: Ich kenne Magister Niskala pers¨onlich. Nach meiner ” ¨ Uberzeugung ist er aufgrund seiner Charaktereigenschaften und seines Talents eine Person, die das Vertrauen verdient, das ihm die Studentenschaft entgegenbringt.“ Der Fall Niskala festigte den Ruf Nevanlinnas im Kreise der studentischen Aktivisten, die ihn f¨ ur einen echten Patrioten hielten. Die Viborgsche Studentenverbindung bat Nevanlinna, auf dem Anfang 1936 veranstalteten Winterfest als Redner aufzutreten. Nevanlinnas Rede, die er im Rathaus von Viborg u ¨ ber die Aufgaben der ” finnischen Kultur“ hielt, schloß Anspielungen auf aktuelle Fragen ein, die seine Zuh¨ orer erfreut haben d¨ urften. Die Frage unserer Landesverteidigung ist ” eine ¨ außerst wichtige nationale Aufgabe, aber gleichzeitig muß daf¨ ur Sorge getragen werden, daß wir auch in dem Kampf der V¨olker verteidigungsf¨ahig und schlagkr¨ aftig bleiben, der in verschiedenen Bereichen der h¨oheren Bildung gef¨ uhrt wird.“ In seiner Rede wandte Nevanlinna sein geliebtes Prinzip Vom ” Speziellen zum Allgemeinen“ an: Die Verbundenheit mit den Nahestehenden ” ist eine nat¨ urliche und gesunde Basis, auf deren Grundlage sich der Patriotismus und die allgemeineren humanistischen Ideale entwickeln. Nur der Weg der wirklichkeitsfremden Weltverbesserer verl¨ auft in entgegengesetzter Richtung, indem sie versuchen, die reichhaltige Wirklichkeit gem¨aß oberfl¨achlichen und schematischen Ideen zu gestalten. Ein Beispiel f¨ ur eine derartige falsche und geradezu verh¨ angnisvolle Ideologie ist die Doktrin des Kommunismus oder ein extremer Pazifismus.“ Die Viborger Studentenverbindung unterst¨ utzte einstimmig die Wahl von Nevanlinna zum Inspektor. Der Kurator entbot ihm seinen Willkommensgruß und sagte: Die Studentenverbindung sch¨ atzt sich ¨außerst gl¨ ucklich, daß sie ” einen solchen Mann wie Rolf Nevanlinna als Inspektor bekommen hat. Wir kennen ihn gut und wissen, daß er u ¨ ber die Interessen, den inneren Geist und die Gesinnung der Studentenverbindung Bescheid weiß, so daß der Geist von uter in Helsinki, die Viborger Studentenverbindung, zuViborg und dessen H¨ versichtlich in die Zukunft blicken.“ Als die Studentenverbindung Nevanlinna eine Verdienstmedaille zuerkannte, lauteten die Begr¨ undungen ganz ¨ahnlich: Seine T¨ atigkeit ist von einem vorbildlichen Korpsgeist durchdrungen.“ ” Nevanlinnas erste Zeit als Inspektor dauerte nur wenige Tage, weil er im Herbst 1936 nach Deutschland reiste und erst nach einem Jahr seine Aufgabe als Inspektor antreten konnte. Er besuchte fleißig die Sitzungen der Stu¨ dentenverbindung und verschaffte sich damit einen guten Uberblick u ¨ ber die freizeitliche Studentent¨ atigkeit, f¨ ur die er w¨ahrend seines eigenen Studiums wegen der Mathematik keine Zeit gehabt hatte. Das war die Bl¨ utezeit der ” f¨ ur die Viborger Studentenverbindung typischen fr¨ohlichen Mentalit¨at und in dieser Atmosph¨ are f¨ uhlte ich mich ausgesprochen wohl.“
6.4 Entgegengesetzte Ideologien
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Der Sprachenkampf flaute in dieser Zeit ab und die St¨arkung der Landesverteidigung wurde der ideologische Faktor, von dem sich die T¨atigkeit der Studentenverbindung leiten ließ. Auf den Sitzungen der Studentenverbindung wurden jedoch haupts¨ achlich praktische Fragen diskutiert. Nevanlinna agierte als geduldiger Vorsitzender, wenn u ¨ber das Pingpongspiel, u ¨ ber dessen Zukunft in der Wertskala der Sportarten und u ¨ ber dessen Vereinbarkeit mit den Lokalit¨ aten der Studentenverbindung debattiert wurde. Nach vielen Sitzungen kam es in der Sache zu einer Abstimmung, als deren Ergebnis der Pingpongtisch verkauft wurde. Eine andere Angelegenheit, u ¨ber die man sich in der Studentenverbindung lange verbreitete, war von civis Johannes Virolainen2 vorgebracht worden. Virolainen hatte vorgeschlagen, daß bei den Feiern der Studentenverbindung jeder die von ihm konsumierten alkoholischen Getr¨anke selbst bezahlen sollte. Die Er¨ orterung der Angelegenheit fiel in die Zeit der Beurlaubung Nevanlinnas, aber zwei Personen nahmen daran teil, die Nevanlinna sp¨ater nahestehen sollten. Virolainen wurde von civis Leo Sario, einem Sch¨ uler Nevanlinnas, leidenschaftlich unterst¨ utzt. Sario zitierte Snellman, um seinen Standpunkt zu untermauern. Tauno Nurmela, ein ¨ alteres Mitglied der Studentenvereinigung, war anderer Meinung. Der Romanist Nurmela wurde sp¨ater als Rektor der Universit¨ at Turku ein enger Arbeitskollege und Freund Nevanlinnas und noch sp¨ ater wurde er als Kanzler der Universit¨ at Turku Nachfolger Nevanlinnas. Bei der Getr¨ ankediskussion fand es Nurmela l¨acherlich, sich in einer so geringf¨ ugigen Sache auf Snellman zu berufen. Er schlug vor, den ganzen Antrag schnell zu begraben, aber die Angelegenheit wurde ausgiebig behandelt und schließlich setzte sich Virolainens Meinung in einer Abstimmung durch. Im Sommer 1939 war es Herzenssache der Mitglieder der Studentenverbindung, sich an der Befestigung der Karelischen Landenge zu beteiligen, aber der Inspektor wurde nicht in die Organisation des Projektes einbezogen. Als der Krieg ausbrach, ließ Nevanlinnas Kontakt zur Studentenverbindung nach und seine Wahl zum Rektor der Universit¨ at im Jahr 1941 beendete seine T¨atigkeit als Inspektor.
6.4 Entgegengesetzte Ideologien Die im Jahr 1929 ausgebrochene Rezession f¨ uhrte in Europa zu einem Erstarken der extremen politischen Bewegungen. Auch in Finnland verachtete man in der Krisenzeit zusehends die parlamentarischen Verfahren und verherrlichte die Gewalt. Es brach ein ideologischer Kampf aus, bei dem sich die parlamentarische Demokratie und diejenige Richtung gegen¨ uberstanden, die das Wohl des Volkes vor das Wohl des Individuums setzte. Aus der letztgenannten 2
Johannes Virolainen (1914–2000) war in der zweiten H¨ alfte des 20. Jahrhunderts einer der bekanntesten finnischen Politiker. Er war Ministerpr¨ asident, Parlamentspr¨ asident und nach Kekkonen Pr¨ asidentschaftskandidat der Zentrumspartei.
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6 Politisches Erwachen
Ideologie gingen die sp¨ ater gr¨ oßenteils zusammengebrochenen totalit¨aren Systeme hervor, w¨ahrend die Demokratie ihre Position gefestigt hat. In der Perspektive der 1930er Jahre schien die Lage nicht so schwarz-weiß zu sein. In Finnland hatte die Ideenrichtung, die das Wohl der Nation betonte, eine l¨ angere Tradition als die parlamentarische Demokratie und in den Anfangszeiten des unabh¨ angigen Finnlands war ein reserviertes Verh¨altnis zur Demokratie keine Seltenheit. Mannerheim schrieb zu Beginn der 1920er Jahre, daß sich ein demokratisches System nicht dazu eigne, erhabene Gef¨ uhle zu f¨ ordern oder starke Pers¨ onlichkeiten hervorzubringen; auch Paasikivi ¨außerte ahnliche Gedanken. Der Universit¨ atsrektor Ivar A. Heikel bezeichnete in sei¨ ner akademischen Er¨ offnungsrede die Professoren als B¨ urgerklasse, die dank ihrer Kultur, ihrer Gelehrsamkeit, ihrer Besch¨aftigung mit theoretisch ausgerichteten Fragen, mit ihrem Festhalten an ideellen Werten sowie dank ihrer T¨ atigkeit und Position die Voraussetzungen daf¨ ur bes¨aße, hinter den Parteien die Gesellschaft und die Menschen zu sehen. Snellman hatte gelehrt, daß ein Staat nur dann lebensf¨ahig sei, wenn er vom Nationalgeist belebt wird. Der Einzelne muß, besonders wenn er gebildet ist, in seiner T¨ atigkeit danach streben, das Beste der Nation zu f¨ordern. Als ich als junger Forscher nach Amerika abreiste, bef¨ urchtete Frithiof Nevanlinna, daß ich dort bleiben w¨ urde, und er empfahl mir die Schriften Snellmans, in denen an die Pflichten des Einzelnen gegen¨ uber der Nation erinnert wird. Die Finnische Partei, die das Programm von Snellman umsetzte, strebte danach, die B¨ urger ohne Ansehen des Standes durch ihre finnische Gesinnung zu vereinigen. Der mit den F¨ uhrungsaufgaben der Partei betraute Ernst Nevanlinna war Rolfs politischer Lehrmeister. Die Zeiten hatten sich ge¨ andert, aber Rolf blieb ideologisch in der N¨ahe des Altfinnentums, obwohl dessen Grundidee auch Ans¨ atze des Rassismus und des Echtfinnentums enthielt. Ernst Nevanlinna wurde sogar des Antisemitismus beschuldigt. Rolf Nevanlinna hatte sich dagegen in den 1920er Jahren mit zahlreichen seiner j¨ udischen Kollegen angefreundet; damals war der Jude Edmund Landau sein engster Kontakt zu G¨ ottingen. In Finnland verteidigte er energisch Einstein, dessen Theorien wegen der j¨ udischen Herkunft ihres Urhebers kritisiert worden waren. Der bei Ausbruch des Winterkrieges in Finnland verhafteudische Mathematiker Andr´e Weil sagte, daß es bei te bekannte franz¨osisch-j¨ Nevanlinna keinerlei Anzeichen von Antisemitismus gegeben habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die internationale Mathematikergemeinschaft, daß Nevanlinna einer Politik gefolgt war, zu deren Programm der Antisemitismus geh¨ orte. Dennoch war es die allgemeine Meinung, daß Nevanlinnas T¨ atigkeit auf seinen u uckzuf¨ uhren sei. Er ¨berzeugten Patriotismus zur¨ wurde weder im Osten noch im Westen kritisiert. Nevanlinna wurde in die h¨ ochsten internationalen Ehren¨ amter gew¨ ahlt und h¨aufig als Gast nach Israel eingeladen.
6.4 Entgegengesetzte Ideologien
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Im Jahr 1929 entstand in der finnischen Provinz Ostbottnien die antikommunistische rechtsradikale Lapua-Bewegung3. Zu Beginn stieß diese Bewegung auf Verst¨ andnis, das jedoch mit Zunahme der gewaltt¨atigen Eigenm¨achtigkeiten nachließ. Der Putsch von M¨ ants¨ al¨ a4 im Jahr 1932 lag jenseits der Toleranzschwelle selbst der meisten Rechtsradikalen und die Lapua-Bewegung erlosch. Auf den Tr¨ ummern der Lapua-Bewegung wurde die Vaterl¨andische Volksbewegung (Is¨ anmaallinen Kansanliike, IKL) gegr¨ undet, um eine starke weiße Front zur Sicherung der Errungenschaften des Freiheitskrieges zu errichten. Im Unterschied zur Lapua-Bewegung betonte die IKL die Legalit¨at ihrer T¨atigkeit und war bestrebt, B¨ urger f¨ ur sich zu gewinnen, die Anh¨anger unterschiedlicher politischer Parteien waren. Zu Beginn der 1930er Jahre war der Freiheitskrieg noch in frischer Erinnerung und in der Anfangsphase stieß die Vaterl¨andische Volksbewegung u ¨ berwiegend auf positives Interesse, vor allem auf Seiten der akademisch gebildeten Bev¨ olkerung. Die Akademische Karelien-Gesellschaft war bestrebt, in der Bewegung Fuß zu fassen, und das gelang ihr auch, nachdem die IKL von ihrer urspr¨ unglich toleranten Sprachenpolitik abger¨ uckt war. Auch die Sammlungspartei war derart f¨ ur die IKL, daß sie die folgende Resolution annahm, die auf eine Initiative von Linkomies zur¨ uckging: Die große Mehrheit der Partei ” besteht aus kompromißlosen Anh¨ angern der Vaterl¨andischen Volksbewegung. Deswegen ist die Partei deutlicher als bisher im Geiste der Volksbewegung zu f¨ uhren und die Wahlt¨ atigkeit der Partei ist unter diesem Gesichtspunkt zu organisieren.“ Einige Jahre sp¨ ater lotste Paasikivi – inzwischen Vorsitzender der Sammlungspartei – seine Partei dennoch auf einen Kurs der Trennung von der IKL, denn in dieser Bewegung wurde der demokratische Parlamentarismus immer weiter abgewertet. Auch Linkomies kehrte damals der IKL den R¨ ucken. Die IKL leugnete ihre politischen Verbindungen zum Ausland, aber in Wirklichkeit f¨ uhlte sich die Bewegung zum deutschen Nationalsozialismus und zum italienischen Faschismus hingezogen und machte auch kein Hehl aus diesen Empfindungen. Die Anh¨ anger der Partei wurden schnell mit Nazisympathisanten gleichgesetzt. Rolf Nevanlinna fand Gefallen am Programm der IKL und auch die ideologische Verbindung zu Deutschland war seiner Meinung nach nichts Negatives, eher im Gegenteil. Nevanlinna hielt sich fern von politischen Parteien, aber die IKL war in ihrer Gr¨ undungsphase – entsprechend ihrem Namen – eine Bewegung“ und noch keine Partei. ” Es gibt keine Anzeichen einer sp¨ urbaren T¨atigkeit Nevanlinnas f¨ ur die IKL. Seine Verbindung zur Organisation trat dennoch im Fr¨ uhjahr 1934 zutage, als 3
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Die Bezeichnung dieser Bewegung (1925–1932) geht auf das 20 Kilometer von der Stadt Sein¨ ajoki entfernte Dorf Lapua zur¨ uck, von dem die Bewegung ihren Ausgang nahm. Pr¨ asident Svinhufvud gelang es, den Aufstand ohne Blutvergießen zu unterdr¨ ucken.
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6 Politisches Erwachen
die IKL zur St¨arkung ihrer Finanzen das Restaurant Musta Karhu (Schwarzer B¨ ar) in Helsinki gr¨ undete. Rolf Nevanlinna war eine der sieben Personen, die den Gesellschaftsvertrag unterzeichneten, und als das Restaurant fertig war, wurde er zum Mitglied des Vorstands gew¨ ahlt. Musta Karhu war nicht nur ein Restaurant, sondern auch der ideologische Treffpunkt der Sympathisanten der Bewegung. In der Zeitschrift Ajan Suunta, dem Hauptsprachrohr der IKL, wird Nevanlinna praktisch nie erw¨ ahnt. Eine seltene Ausnahme war das Interview, das Nevanlinna der Zeitschrift anl¨ aßlich des in Rom abgehaltenen Internationalen Kongresses der Versicherungsmathematiker gab. Mussolini selbst hielt auf ” dem Kongreß die Er¨ offnungsrede, die kurz, aber beeindruckend war.“
6.5 Mutterland Deutschland Zum Verst¨ andnis der politischen Auffassungen, die sich Rolf Nevanlinna in den 1930er Jahren zu eigen gemacht hatte, muß man sich seine außerordentliche Deutschfreundlichkeit vor Augen halten, deren Wurzeln angeboren waren. Seine Mutter war eine Deutsche und das war zu Hause zu sp¨ uren, obwohl die Familie finnisch gesinnt war und haupts¨achlich Schwedisch sprach. Mit Deutschland wurde Rolf auch aufgrund seiner Reisen bekannt, aber auch durch die Finnland-Besuche der Verwandten m¨ utterlicherseits. Als sich ihm die Welt der Musik er¨ offnete, stellte sich Rolf auf den Standpunkt, daß die großen Komponisten – mit Ausnahme von Sibelius – aus dem deutschen Sprachraum kamen. In der Schule und auf der Universit¨at verfestigte sich bei ihm die Vorstellung, daß Deutschland mehr als andere L¨ander ein Zentrum der ideologischen Bewegungen gewesen sei und Einfluß auf die universelle Entwicklung der Kultur gehabt habe. Nachdem er sich in die Mathematik eingearbeitet hatte, stellte er die f¨ uhrende Position Deutschlands in dieser Disziplin fest, und Finnlands traditionell enge Verbindungen zu Deutschland erschienen ihm selbstverst¨ andlich. Der Erste Weltkrieg f¨ uhrte dazu, daß Rolf Deutschland auch als politischen Faktor erkannte. Er begeisterte sich f¨ ur die J¨agerbewegung, und der Zusammenbruch des von Deutschlands Waffen geschw¨achten russischen Zarenreiches erm¨ oglichte die Unabh¨ angigkeit Finnlands. Die deutschen Streitkr¨afte halfen bei der Verwirklichung der Unabh¨ angigkeit, wie Rolf mit eigenen Augen bei der Eroberung Helsinkis sah. Der pl¨ otzliche Zusammenbruch Deutschlands am Ende des Ersten Weltkriegs belastete Rolf schwer. Das ersch¨opfte Volk ” des milit¨ arisch unbesiegbaren Deutschlands hatte es nicht vermocht, sich der W¨ uhlarbeit zu widersetzen, die den Untergang des Reiches vorbereitete“ – das waren seine Worte. Als Folge des Friedensvertrages von Versailles l¨osten sich die internationalen wissenschaftlichen Organisationen auf, und Deutschland wurde es nicht gestattet, neuen Organisationen beizutreten. In Deutschland, dem f¨ uhrenden Land der Wissenschaften, empfand die akademische Gemeinschaft eine
6.6 Hitlers Deutschland
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große Bitterkeit. Finnland zeigte hierf¨ ur Verst¨andnis und trat u ¨ berwiegend aus Loyalit¨ at zu Deutschland viele Jahre keinen neuen internationalen wissenschaftlichen Organisationen bei. Der erste Internationale Mathematiker-Kongreß nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Jahr 1920 in Straßburg abgehalten. Die franz¨osischen Gastgeber entschieden allein, wer zum Kongreß eingeladen wurde. Die Teilnahme wurde nur solchen L¨ andern gestattet, die Verb¨ undete oder Freunde waren. Deutschland war weder das eine noch das andere, und in den Augen der Franzosen traf das auch auf Finnland zu. Der n¨achste Kongreß fand 1924 in Kanada statt. Deutschland stand immer noch auf der Liste der verbotenen L¨ ander, aber den Finnen w¨ are nunmehr die Teilnahme gestattet gewesen. Aus Protest gegen die Diskriminierung der Deutschen beschlossen die Finnen dennoch, nicht zum Kongreß anzureisen. Der Vorschlag zum Fernbleiben kam von Ernst Lindel¨ of, und dem jungen Dozenten Nevanlinna fiel es leicht, sich dem Beschluß anzuschließen. In den Jahren 1925–1926 verbesserten sich die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Die Deutschen wurden zum Mathematiker-Kongreß 1928 nach Bologna eingeladen, und dort traf eine große Gruppe von ihnen unter der Leitung von David Hilbert ein. In seiner Rede bei der Er¨ offnung ¨ außerte Hilbert seine Freude dar¨ uber, daß sich wieder Mathematiker aus aller Welt versammelt hatten. Als er sagte Die Mathematik kennt ” keine Rassen, f¨ ur die Mathematik ist die ganze Kulturwelt ein einziges Land“ spendete das Publikum stehende Ovationen. Einer der Applaudierenden war Rolf Nevanlinna, der vor Ort ein Zeuge war, daß Deutschlands Mathematik wieder ihre fr¨ uhere Position eingenommen hatte.
6.6 Hitlers Deutschland Im 19. Jahrhundert hatte sich der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit der Frage des Verh¨ altnisses zwischen Staat und Individuum auseinandergesetzt und war zu dem Schluß gekommen, die Oberhoheit des Staates gegen¨ uber dem Einzelnen hervorzuheben. Zu den Anh¨angern der Hegelschen Doktrin geh¨ orten Snellman und Adolf Hitler. Rolf Nevanlinna hielt beide f¨ ur große M¨ anner, denn sie hatten ihr Volk mit der Kraft einer Idee geeint. Bis zum Jahr 1943 ¨ außerte Nevanlinna die Meinung, daß man Hitler in der Geschichte Deutschlands mit Friedrich dem Großen und Bismarck vergleichen k¨ onne. Sp¨ ater ¨ anderte Nevanlinna jedoch diese Meinung. Hitler begr¨ undete seinen Rassismus bereits in den 1920er Jahren in seinem Buch Mein Kampf : Die Natur beg¨ unstigt keine Mischrassen. Die Bildung ” und Kultur in Europa sind untrennbar mit der Existenz der Arier verkn¨ upft. Deren Niedergang w¨ urde dazu f¨ uhren, daß sich der schwarze Vorhang einer kulturlosen Zeit u ¨ ber unsere Erdkugel senkt.“ Hitler bekannte sich auch als Imperialist. Nur ein ausreichend großer Raum auf der Erde sichert dem Volk ” die Freiheit der Existenz. Als Hauptziel der Außenpolitik Deutschlands ist die
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Expansion nach Osten festzusetzen. Das Schicksal selbst hat den Wink gegeben, als es den russischen Bolschewisten die Macht u ¨ bertrug.“ Mein Kampf stand bereits vor dem Krieg im B¨ ucherregal Nevanlinnas – auf Finnisch erschien das Buch unter dem Namen Taisteluni bei Ausbruch des Fortsetzungskrieges. Sp¨ ater behauptete Rolf, daß das Buch auf Wunsch seiner Frau Mary gekauft worden sei und daß er es selbst nicht gelesen habe. Im Januar 1933 wurde Hitler legal zum Deutschen Reichskanzler ernannt. Knapp zwei Monate sp¨ ater erließ das Parlament das Ausnahmegesetz, das Hitler die Vollmachten eines Diktators gab. Bald darauf wurden die anderen Parteien verboten, die Autonomie der L¨ ander abgeschafft, die Gewerkschaften aufgel¨ ost und die Diskriminierung der Juden eingeleitet. Die Kultur geriet in einen eisernen Griff. Im Mai 1933 endete der Fackelzug Tausender Studenten auf dem Platz vor der Berliner Universit¨at und die brennenden Fackeln wurden auf einen riesigen B¨ ucherhaufen geschleudert. Opfer der Flammen wurden auch die Werke Albert Einsteins und Thomas Manns, die Nevanlinna bewunderte. Die Mehrheit der Deutschen nahm die neue Herrschaft positiv auf. Hitler war dabei, die frustrierende Vergangenheit abzusch¨ utteln, Deutschland von den Fesseln des Versailler Friedensvertrages zu befreien und das Reich in eine Position zu erheben, die ihm zuzustehen schien. Die Arbeitslosigkeit, die Deutschland zur Zeit der Weltwirtschaftskrise schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, begann nun stark zu sinken. In Finnland war man der Auffassung, daß die milit¨ arische Macht Hitlerdeutschlands wichtigen Interessen des finnischen Volkes diente. Das nationalsozialistische Gedankengut ließ jedoch den u olkerung kalt. ¨ berwiegenden Teil der finnischen Bev¨ Die kommunistische Bedrohung war ein wichtiger Teilgrund f¨ ur die positive Einstellung Rolfs zum nationalsozialistischen Deutschland. Aber seine Gef¨ uhle f¨ ur das neue Deutschland waren nicht nur durch die Sicherheitspolitik Finnlands bestimmt. Er hatte pers¨ onliche Verbindungen zu Deutschland, zu den Verwandten seiner Mutter, zu Freunden und Kollegen. Die Begeisterung f¨ ur das aufstrebende Deutschland erfaßte die Nevanlinnas – Rolf, seine Mutter, seine Frau Mary und auch Rolfs Geschwister. Sie empfanden die Sache Deutschlands als ihre eigene. Ein sichtbares Zeichen hierf¨ ur war, daß sich Rolfs Mutter der Abteilung Helsinki der nationalsozialistischen Arbeitsge” meinschaft der deutschen Frau“ angeschlossen hatte; auch Rolf nahm an den geselligen Abenden der Organisation teil und spielte dabei Geige.
6.7 Die Grenzen der Deutschfreundlichkeit Die Aktionen der Nationalsozialisten in Deutschland spiegelten sich schnell auch im Bereich der Wissenschaften wider. Eine der ersten Maßnahmen bestand darin, die j¨ udischen Dozenten aus den Universit¨aten zu entfernen. Als Folge begannen diese Wissenschaftler, Deutschland schon 1933, im Jahr des Machtantritts Hitlers, zu verlassen und gingen haupts¨achlich nach Amerika.
6.7 Die Grenzen der Deutschfreundlichkeit
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Abb. 6.1. B¨ ucherverbrennung vor der Berliner Universit¨ at im Jahr 1933, nach dem Machtantritt Hitlers. (Mit freundlicher Genehmigung: Fotoarchiv des Verlages Otava)
Viele Ber¨ uhmtheiten waren unter denen, die als erste gingen, denn ihnen wurden anderswo Arbeitsstellen angeboten. Die wissenschaftlichen Verbindungen Finnlands zu Deutschland hatten eine lange Tradition und wurden lange Zeit weitergef¨ uhrt. Man erfaßte in Finnland nicht sofort den ganzen Ernst der von den Nationalsozialisten herbeigef¨ uhrten Ver¨ anderungen, zumal selbst viele deutsche Kollegen ihn nicht begriffen hatten. In der Mathematik erschienen die alten, angesehenen Zeitschriften so wie fr¨ uher; einige mutige Redakteure schmuggelten auch Arbeiten von Juden hinein. Extremistische Kreise gr¨ undeten 1936 eine eigene Zeitschrift, die Deutsche Mathematik. In dieser unverhohlen antisemitischen Zeitschrift wurde die arische“ und insbesondere die deutsche Mathematik gepriesen. In” haltlich variierte das Spektrum der Zeitschrift von niveauvoller Mathematik bis hin zu quasimathematischen und wissenschaftlich wertlosen Erg¨ ussen. Die Bedeutung der Zeitschrift blieb gering, denn sie wurde von den meisten deutschen Mathematikern gemieden. Auch Nevanlinna tat das, obwohl 7 der 19 mathematischen Arbeiten, die er in den Jahren 1933–1945 ver¨offentlichte, in Deutschland erschienen. ¨ Jedoch wurden Nevanlinnas Uberzeugungen, in denen er mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, bald von Mathematikern bemerkt – nicht nur in Deutschland, sondern auch jenseits des Atlantiks. Hermann Weyl, Nevanlinnas F¨ orderer in Z¨ urich, ging in seiner Formulierung bei einem Interview im Jahr 1934 in Amerika so weit, daß er Nevanlinna als finnischen Nazi bezeichnete. Dieser Umstand hatte jedoch keinen Einfluß auf das Bild, das Weyl von Nevanlinna als Mathematiker hatte. Weyl sagte n¨amlich in seiner w¨ahrend
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des Krieges erschienenen Monographie, daß die Theorie Nevanlinnas eine der ” seltenen und wirklich bedeutenden mathematischen Errungenschaften unseres Jahrhunderts“ sei. Als Weyl und Nevanlinna in den 1950er Jahren beide in Z¨ urich lebten, war die Vergangenheit vergessen und ihre Freundschaft wieder hergestellt. G¨ ottingen war im Jahr 1933 eines der weltweit bedeutendsten mathematischen Forschungszentren. Infolge der Vorgehensweise Hitlers erfuhr die Hil” bertsche Schule“ in G¨ ottingen l¨ ahmende Verluste: Ein Jahr nach dem Machtantritt Hitlers war von den sechs Mathematikprofessoren nur noch ein einziger u ¨ brig. Emeritus Hilbert war schockiert. Er verstand die neuen Umst¨ande nicht, sondern forderte seine Kollegen auf, gerichtlich gegen die illegalen K¨ undigungen vorzugehen. Einer der ersten Entlassenen war Richard Courant, der j¨ udische Direktor des Instituts f¨ ur Mathematik, der sofort nach Amerika ging. Hermann Weyl, der neue Direktor, stellte nach einigen Monaten fest, daß es eine hoffnungslose Aufgabe war, die G¨ ottinger Mathematik zu retten. Weyl befolgte den Rat seines Freundes Einstein und ging ebenfalls nach Amerika. Die Stellen mußten neu besetzt werden, und an einen neuen Professor wurden nun zwei Bedingungen gestellt. Er mußte ein Wissenschaftler sein, der des Rufes G¨ ottingens w¨ urdig war, und es mußte sich um jemanden handeln, der in den Augen der neuen politischen F¨ uhrung akzeptabel war. Zum Direktor des Instituts f¨ ur Mathematik wurde Helmut Hasse ernannt, ein gebildeter Forscher der Spitzenklasse. Hasse war Mitl¨aufer der NSDAP, strebte aber in seiner Funktion danach, die mathematischen Gesichtspunkte zu beachten. Als Hasse versuchte, erstklassige Mathematiker zu finden, fiel sein Blick auch auf politisch zuverl¨ assige Ausl¨ ander: auf den niederl¨andischen Logiker L. E. J. Brouwer und auf Rolf Nevanlinna. Die Kl¨ arung der politischen Zuverl¨ assigkeit Nevanlinnas ging in der deutschen Parteihierarchie so weit, daß Rudolf Heß, der Stellvertreter des F¨ uhrers, daran beteiligt war. Das vom Januar 1936 datierte Gutachten zur Person Nevanlinnas war vorbehaltlos positiv. Professor Nevanlinna ist trotz sei” nes jungen Alters einer der bedeutendsten europ¨aischen Mathematiker. Seine Mutter ist eine geborene Deutsche. Die ganze Familie Nevanlinna wird als deutschfreundlich beschrieben. Die vorgeschlagene Ernennung kann von ganzem Herzen begr¨ ußt werden.“ In Bezug auf Nevanlinna ging man schrittweise vor. F¨ ur das Studienjahr 1936–1937 erhielt er eine Einladung nach G¨ ottingen als Gastprofessor, der die Rechte und Pflichten eines ordentlichen Professors hatte. Zu dieser Zeit hatte G¨ ottingen seine fr¨ uhere Bedeutung bereits verloren, aber der Name u ¨bte immer noch eine Anziehungskraft auf Mathematiker aus. Nevanlinna war an der M¨oglichkeit interessiert, das neue Deutschland kennenzulernen und stimmte der Einladung zu. Diese Art Besuch eines Ausl¨anders war nichts Außergew¨ ohnliches, denn das nationalsozialistische Deutschland gab sich weltoffen. Man ging mit Besuchern, die als einflußreich eingesch¨atzt wurden, so geschickt
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um, daß sich viele nach ihrer R¨ uckkehr positiv u ¨ ber Hitlers Errungenschaften ¨außerten. Einige Monate vor Nevanlinnas Abreise nach G¨ottingen fand im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zur F¨ unfhundertf¨ unfzigjahrfeier der Universit¨ at Heidelberg eine Veranstaltung statt, bei der Nevanlinna die Ehrendoktorw¨ urde verliehen wurde. Die von der ¨ altesten Universit¨at Deutschlands ver¨ liehene Auszeichnung war sein erster Ehrendoktortitel. Zu den zur Uberreichung der Ehrendoktorw¨ urde eingeladenen Personen geh¨orte auch Jean Sibelius, der zu Nevanlinnas Entt¨ auschung nicht nach Heidelberg gekommen war, um die Auszeichnung in Empfang zu nehmen, sondern in absentia an der Promotionsveranstaltung teilnahm. In der Zeit des Nationalsozialismus weigerten sich einige Ausl¨ ander, deutsche akademische Ehrenbezeugungen anzunehmen, aber Nevanlinna gefiel die Reise nach Heidelberg. Nevanlinna empfand das Studienjahr in G¨ottingen vor allem als mathematischen Besuch. Aus Finnland nahm er f¨ unf seiner Sch¨ uler mit und aus Schweden schloß sich ein weiterer der Gesellschaft an. Er hatte also einen mathematischen Troß“. Es waren jedoch keine Familienmitglieder mitgekom” men, obwohl der Aufenthalt beinahe ein Jahr dauerte. Rolf hielt den Kontakt zu seiner Familie per Post aufrecht; vor Weihnachten schrieb der Vater seiner sechsj¨ ahrigen Tochter in Blockbuchstaben: Tochter Sylvi, meine liebe, Bald ist es soweit Und geschwinde n¨ ahert sich Nun die Weihnachtszeit. Finnlands Ufern n¨ ahert sich Das Schiff, das Papa bringt. Ob Sylvi dann am Ufer steht, dem Papa zur Begr¨ ußung winkt? In G¨ ottingen war der 23-j¨ ahrige Doktor Oswald Teichm¨ uller Assistent, ein fanatischer Nazi, der sich bereits als Forscher auf dem Gebiet der Algebra einen Namen gemacht hatte. Er interessierte sich f¨ ur die Theorie Nevanlinnas, nachdem Egon Ullrich, der in Helsinki unter Nevanlinnas Anleitung geforscht hatte, in G¨ ottingen Oberassistent geworden war. Teichm¨ uller hatte Nevanlinnas Werk Eindeutige analytische Funktionen [46] gelesen. Teichm¨ uller besuchte Nevanlinnas Vorlesungen in G¨ottingen. Danach w¨ahlte er die Funktionentheorie zu seinem Hauptforschungsthema und gab diesem Gebiet durch seine originellen Ideen eine neue Richtung. Teichm¨ ullers eigener Beitrag blieb jedoch unvollendet, weil er darauf bestand, an die Front zu gehen; er fiel 1943 in der Ukraine. Nach dem Krieg l¨osten seine Ergebnisse – dank der Arbeit von Ahlfors – weltweites Interesse aus. In Finnland wurde Teichm¨ ullers Theorie, insbesondere die von ihm verwendeten quasikonformen Abbildungen, gegen Ende der 1950er Jahre zu einem zentralen mathematischen Forschungsthema.
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In G¨ ottingen war man mit der mathematischen T¨atigkeit Nevanlinnas sehr zufrieden. Im Zusammenhang mit der damals begangenen Zweihundertjahrfeier der Universit¨ at G¨ ottingen wurde er als Zeichen der Wertsch¨atzung zum Ehrenmitglied der Universit¨ at ernannt. Der Erste auf der kurzen Liste der Ehrenmitglieder war der Reichspr¨ asident, Feldmarschall von Hindenburg, der die Ehrung schon vor der Nazizeit erhalten hatte. Vor dem Ende des Aufenthaltes wurde Nevanlinna gefragt, ob er als Professor an der Universit¨ at G¨ ottingen bleiben w¨ urde, wie es urspr¨ unglich gedacht war. Nevanlinna hatte Ende der 1920er Jahre einen permanenten Aufenthalt im Ausland abgelehnt; damals hatte er einen Ruf als Professor an die ETH Z¨ urich erhalten, um Nachfolger von Hermann Weyl zu werden. Jetzt lehnte Nevanlinna das G¨ ottinger Angebot ebenfalls ab. Vier Jahrzehnte sp¨ater sagte er in seinen Memoiren, daß er diese Entscheidung ohne Z¨ogern traf. Trotz der Ablehnung des G¨ ottinger Angebots hielt Nevanlinna seine Verbindungen zu Deutschland weiter aufrecht. Hasse machte im Sommer 1938 einen Gegenbesuch in Finnland und war Nevanlinnas Gast in Korkee. Oiva Ketonen5 , ein Sch¨ uler Nevanlinnas, ging im Sp¨atherbst desselben Jahres zu einem mathematischen Studienaufenthalt nach G¨ottingen. Ketonens erste Nacht in Deutschland war die ber¨ uchtigte Reichskristallnacht, in der die Juden systematisch im ganzen Land angegriffen wurden: Man zerst¨orte ihr Eigentum, nahm umfangreiche Verhaftungen vor und schreckte auch vor Mord nicht zur¨ uck. Ketonen war schockiert, schrieb an Nevanlinna u ¨ ber seine Erfahrungen und erinnerte sich 60 Jahre sp¨ ater, daß Nevanlinna bei seiner Antwort eine Stellungnahme vermied und darauf verwies, daß es bei historischen Ereignis¨ sen oft zu Ubertreibungen komme, die sich aber im Lauf der Zeit ausglichen. Einige Monate nach der Reichskristallnacht beruhigte Nevanlinna Ketonen, den die sichtbare politische Farbe einiger der j¨ ungeren Wissenschaftler verst¨ ort hatte. Nevanlinna verteidigte Deutschland und sagte: Was im heuti” gen Deutschland unbestreitbar groß ist, spielt sich nicht im Bereich der Wissenschaft oder der K¨ unste ab. Aber auch in diesen Bereichen wird in aller Stille erstklassige Arbeit geleistet; sehr viel mehr, als man im Ausland weiß oder wissen will.“ Im Sommer 1939 war Nevanlinna der Vertreter Finnlands bei einer wissenschaftlichen Festveranstaltung in K¨ onigsberg. Er sagte, daß er vor Ort erfahren konnte, zu welchem Trauma in Deutschland die Trennung Ostpreußens vom Mutterland durch den polnischen Korridor gef¨ uhrt habe. Er suchte nach verst¨ andlichen Gr¨ unden f¨ ur den Fall eines Kriegsausbruches. Man sp¨ urte die Kriegsgefahr schon damals unmittelbar, wie Nevanlinna zu seiner Ersch¨ utterung bei seinen Diskussionen mit den Deutschen feststellte. Bald danach erlebte er einen neuen Schock, als sich Deutschland mit der Sowjetunion verb¨ undete.
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Oiva Ketonen wurde sp¨ ater Professor der Philosophie an der Universit¨ at Helsinki.
7 Die Zeit der Kriege
7.1 Schmerz und Genugtuung eines Patrioten Die Kunde von dem im August 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion in Moskau abgeschlossenen Vertrag ersch¨ utterte nicht nur Rolf Nevanlinna. Die Folgen des Vertrages, der schlimme Vorahnungen weckte, waren bald erkennbar. Deutschland griff Polen an, zwei Tage sp¨ater erkl¨arten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Zu Beginn des Winters, am 30. November, begann die Sowjetunion den Krieg gegen Finnland. Die Kriegsjahre 1939–1945 bedeuteten einen Bruch im Leben der meisten Finnen. In besonders großem Maß trifft das auf Rolf Nevanlinna zu. Die mathematische Forschungsarbeit, die sein bisheriges Leben dominiert hatte, kam w¨ ahrend des Krieges fast v¨ ollig zum Erliegen. In der Anfangsphase des Krieges versp¨ urte er Entt¨ auschung, Kummer und Frustration. Dann kam eine Zeit der Aktivit¨ at, die sich in viele Richtungen erstreckte und konkrete Aufgaben mit sich brachte. Zum Schluß kamen wieder Entt¨auschungen und Unannehmlichkeiten. Der von Molotow und von Ribbentrop in Moskau abgeschlossene Vertrag war f¨ ur Nevanlinna unbegreiflich. Im schlimmsten Fall bedeutete er, daß Deutschland, der traditionelle Verb¨ undete Finnlands, das Land der Gnade der Sowjetunion ausgeliefert hatte. Die baltischen L¨ander erhielten nacheinander die Order aus Moskau, zu Verhandlungen anzutreten, als deren Ergebnis sie sich der Sowjetunion unterwerfen mußten. Anfang Oktober 1939 traf eine ¨ahnliche Einladung aus Moskau auch in Finnland ein. Die Existenz des Landes als freie und unabh¨ angige Nation stand auf dem Spiel. Nevanlinna – auf seinem eigenen Gebiet eine weltweit bekannte Pers¨onlichkeit – war daran gew¨ ohnt, bei vielen Dingen mitzuwirken. Nun aber stellte er pl¨ otzlich fest, daß er in der Schicksalsstunde der Nation ein außenstehender Zuschauer geblieben war. Die waffentauglichen jungen M¨anner waren zu ” ¨ zus¨ atzlichen Ubungen“ einberufen worden und alle anderen um ihn herum schienen fieberhaft t¨ atig zu sein, um die Verteidigung des Landes zu st¨arken. Viele seiner Altersgenossen und auch einige ¨ altere Freunde waren Offiziere und
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7 Die Zeit der Kriege
hatten eine im voraus definierte Stellenbeschreibung. Dagegen war Nevanlinna seinerzeit vom Milit¨ ardienst befreit gewesen und hatte keinen milit¨arischen Rang. F¨ ur den bewaffneten Dienst war er als 44-j¨ahriger zu alt. Er war alleine und wußte nicht, was er tun sollte, als die Universit¨atst¨atigkeit zum Erliegen kam, weil die m¨ annlichen Studenten ihre Einberufung zur Landesverteidigung erhalten hatten. Nevanlinnas Gem¨ utsverfassung hatte einen nie gekannten Tiefpunkt erreicht, weil er nach dem Verrat Deutschlands bef¨ urchtete, Finnland w¨ urde nun wie die baltischen L¨ ander unterworfen oder Angriffsziel der Sowjetunion werden. Der Herbst 1939 sagt uns einiges u ¨ber die Wertvorstellungen Rolf Nevanlinnas. Als Dienstuntauglicher h¨ atte er sich auf seine eigene Forschungsarbeit zur¨ uckziehen k¨ onnen; das w¨ are nicht schwierig gewesen, denn die Arbeit befand sich in einer interessanten und unvollendeten Phase. Aber Nevanlinna setzte seine Forschungen nicht fort. Seine Sorge um das Schicksal des Landes war so groß und sein Wunsch, sich an den Arbeiten zur Landesverteidigung zu beteiligen, war so inst¨ andig, daß die Mathematik in den Hintergrund treten mußte. Unter den damaligen Verh¨ altnissen war es f¨ ur Nevanlinna unm¨oglich, sich in mathematische Fragen zu vertiefen. Nevanlinnas Kollege Lars Ahlfors, 32 Jahre alt und ebenfalls vom Milit¨ ardienst befreit, reagierte auf andere Weise: W¨ ahrend des Winterkriegs verfaßte er eine bedeutende Arbeit u ¨ ber meromorphe Kurven. Dennoch war Nevanlinna nicht v¨ ollig vergessen, denn kurz vor Ausbruch des Winterkrieges wurde er aufgefordert, sich bei Major Reino Hallamaa in Tuusula zu melden, wo ein Teil der nachrichtendienstlichen T¨atigkeit der Aufkl¨ arungsabteilung des Oberkommandos ablief. Die Aufgabe der in Tuusula unweit von Helsinki versammelten Gruppe bestand darin, geheime Nachrichten zu entschl¨ usseln, und man nahm an, daß sich Mathematiker hierf¨ ur besonders gut eigneten. Die Gruppe bestand aus mehreren Personen, darunter auch jemand, den Rolf sehr wohl kannte: sein sechs Jahre j¨ ungerer Bruder Erik. Rolf war nicht unbedingt erfreut, als er Erik begegnete. Erik Nevanlinna hatte die Erwartungen der Familie nicht erf¨ ullt. Er hatte nicht studiert und seine finanziellen Angelegenheiten in einer Art und Weise gef¨ uhrt, die von Frithiof und Rolf mißbilligt wurde. Als Eriks Ehe in die Br¨ uche ging, blieben seine Frau und sein Sohn weiter in Kontakt mit den Verwandten, aber nicht Erik. Nach dem Krieg wurde Rolfs Einstellung milder und er vermittelte Sch¨ uler an Erik, der Privatstunden in Mathematik erteiluder zueinander blieb jedoch distanziert und Rolfs te. Das Verh¨altnis der Br¨ zweite Frau ist Erik, der 1973 starb, nie begegnet. In Tuusula bewies Erik Nevanlinna sein Geschick bei der Entschl¨ usselung von Codes. W¨ ahrend der gesamten Kriegszeit arbeitete er in der Aufkl¨arungsabteilung des Oberkommandos an diesen Aufgaben und blieb auch danach in den Diensten der Nachrichtenabteilung des Generalstabs. Rolf Nevanlinnas Aufenthalt in Tuusula blieb kurz; es gibt kein klares Bild u ber den Beitrag, den er in der Arbeitsgruppe geleistet hat. In einem sp¨ateren ¨ schriftlichen Bericht werden die Namen der Mathematiker aufgelistet, die in
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der Arbeitsgruppe t¨ atig waren. Der Name Rolf Nevanlinnas ist nicht dabei, aber wir finden den Zusatz: Prof. Rolf Nevanlinna kam ebenfalls, um sich mit ” der Arbeit vertraut zu machen.“ Andererseits gab es auch die Auffassung, daß Rolf die allgemeine Richtung der Arbeitsmethode erfolgreich umrissen habe. Rolf selbst vertrat die Meinung, daß er in Tuusula nicht Herr der Lage gewesen sei: Ich hatte u ur die ¨berhaupt kein Talent und auch kein Geschick f¨ ” Entschl¨ usselung geheimer Nachrichten.“ Die anderen schienen begabter als er zu sein, und das feststellen zu m¨ ussen trug auch nicht zur Linderung seiner Frustration bei. Nach Kriegsausbruch war Rolfs d¨ ustere Gem¨ utsverfassung auch noch durch die Sorge um die Familienmitglieder belastet. Der ¨alteste Sohn Kai, der Medizin studierte, kam an die Front, um dort medizinische Aufgaben zu erf¨ ullen und auch der erst 17-j¨ ahrige Sch¨ uler Harri wollte an der Landesverteidigung teilnehmen, meldete sich als Freiwilliger und wurde in ein Schulungszentrum abkommandiert. Gleich am ersten Kriegstag wurde Helsinki Ziel einer Bombardierung, die zu erheblichen Sch¨aden f¨ uhrte. Eine Bombe traf das Wohnhaus von Rolfs Mutter, wobei die Innenausstattung der Wohnung stark zerst¨ ort wurde. Sogleich wurden Mary und die j¨ ungsten Kinder Arne und Sylvi von Helsinki nordw¨ arts nach Vaasa geschickt, und als auch Vaasa bombardiert wurde, endete ihre Evakuierung schließlich an dem sicheren Ort Djursholm in der N¨ ahe von Stockholm, nachdem sich Rolf an den schwedischen Kollegen Harald Cram´er um Hilfe gewandt hatte. Rolf blieb mit seinen Sorgen allein in Helsinki zur¨ uck. Rolfs Beziehungen zu Deutschland waren bekannt und kurz vor Weihnachten rief ihn Pekka Pennanen an, der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der Sammlungspartei, und fragte ihn nach Neuigkeiten aus Deutschland. Nevanlinna konnte nur antworten, daß seines Wissens mit Hilfe der Diplomatie das getan worden war, was man tun konnte. Dennoch forderte er die Fraktion der Sammlungspartei auf, sich an Deutschland zu wenden. Aus Deutschland kam kein Trost und Nevanlinnas Stimmung besserte sich nicht – ungeachtet der Abwehrerfolge der finnischen Armee und trotz der Bewunderung und Sympathiebekundungen, die aus der ganzen Welt eintrafen. Die eigene Arbeit geriet ins Stocken, er f¨ uhlte sich frustriert und wußte, daß die Zeit f¨ ur den Gegner arbeitete, der u ugte. ¨ ber u ¨berm¨achtige Reserven verf¨ Auch die Naturgewalten hatten sich gegen Rolf verschworen, der den Sommer, das Licht und die W¨ arme liebte. Jetzt war die dunkelste Jahreszeit, und zudem war es außergew¨ ohnlich kalt. Beim Jahreswechsel u ¨ berkam Rolf eine so schwere Depression, daß er arbeitsunf¨ ahig wurde. Er ruhte sich in einem Zimmer im B¨ urohaus von Pohjola im Stadtzentrum aus; sein Bruder Frithiof hatte das organisiert. Der zweiummerte, war sein Schwager, der Arzt Hannu Haahti, te, der sich um Rolf k¨ der feststellte, daß Rolf unter einer Depression mit Selbstbeschuldigungen, ” Minderwertigkeitsgef¨ uhlen und Hemmungen“ litt. So unglaublich das meiner ” Meinung nach fr¨ uher gewesen w¨ are“, schrieb der Schwager an seine Frau. Rolf ist nicht mehr nach Tuusula zur¨ uckgekehrt.
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7 Die Zeit der Kriege
Jedoch dauerte die Unt¨ atigkeit nicht lange. Im Januar besuchte ihn in Pohjola sein ehemaliger Sch¨ uler Ilmari Liikkanen. Dieser aktive Mann war Reserveoffizier und im Zivilleben Mathematikdozent; w¨ahrend des Fortsetzungskrieges promovierte er und war sp¨ ater erfolgreich als Gesch¨aftsmann und Erfinder t¨ atig. Jetzt hatte er den Befehl erhalten, das ballistische B¨ uro zu leiten. Da sich General Vilho Petter Nenonen, der ber¨ uhmte Artillerieinspektor, zwecks Waffenbeschaffung in Amerika aufhielt, hatte Liikkanen betr¨achtliche Handlungsfreiheit. Er erkl¨ arte Nevanlinna den Zweck seines Kommens. Mit den von Nenonen entwickelten Methoden waren die Schußtafeln der Artillerie schon seit den 1920er Jahren berechnet worden. Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges hatte Nenonen festgestellt, daß in bestimmten Situationen unerwartete Ungenauigkeiten auftreten. Die Fehler mußten korrigiert werden, aber die Berechnungsarbeiten kamen nur langsam voran, obwohl mehrere Mathematiker zur Unterst¨ utzung Liikkanens in dessen B¨ uro abkommandiert worden waren. Die Verzweiflung war groß, die Schußtafeln mußten sobald wie m¨ oglich erneuert werden. Liikkanen meinte, daß Rolf Nevanlinna f¨ ur diese anspruchsvolle Aufgabe geeignet sei. Das war eine große Herausforderung f¨ ur Nevanlinna. Obwohl er damals nicht viel u ¨ ber Ballistik wußte, sagte er zu und begann mit der Arbeit in Helsinki, nachdem er die Genehmigung von Major Hallamaa erhalten hatte. Der Anfang war schwer. Nevanlinna mußte sich in die neuen mathematischphysikalischen Aufgaben der Ballistik einarbeiten und sich u ¨ ber die damals von der Artillerie verwendeten Tafeln informieren. Man konnte sich nur schwer konzentrieren und es war große Eile geboten, da die K¨ampfe tobten. Nevanlinna bemerkte schon bald, daß er neue Ergebnisse nicht im Handumdrehen erzielen konnte. Die ¨ arztliche Behandlung dauerte immer noch an und er litt an Schlaflosigkeit. Jedoch bekam er seine Arbeit allm¨ahlich in den Griff und je weiter die Arbeit voranging, desto mehr wich die Depression zur¨ uck. Binnen kurzem stellte man fest, daß sich mit den von Nevanlinna entwickelten Methoden die Zeit, die f¨ ur die Berechnung der Tabellen erforderlich war, stark verk¨ urzte: nach Nevanlinnas eigener Sch¨atzung auf ein F¨ unftel der fr¨ uheren Dauer. Nevanlinna ver¨ offentlichte eine Zusammenfassung der Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit in dem Artikel Berechnung der Normalflugbahn eines Geschosses [54]. Nenonen, der inzwischen aus Amerika zur¨ uckgekehrt war, reagierte zuerst skeptisch auf Nevanlinnas Verbesserungen. Bald jedoch war er von den Vorz¨ ugen der neuen Methode u ¨ berzeugt und akzeptierte ihre Verwendung, lange bevor die Arbeit endg¨ ultig abgeschlossen war. Im Herbst 1940 wurde Nevanlinna eine hohe Auszeichnung zuerkannt, das Freiheitskreuz 2. Klasse. undung lautete: Rolf Herman NevanDie von Nenonen unterschriebene Begr¨ ” linna hat ab dem 15.1.1940 als Freiwilliger ohne Gehalt f¨ ur das Außenballistische B¨ uro des Waffenprojektierungsteams gearbeitet. Er hat eine neue Berechnungsmethode f¨ ur Flugbahnen entwickelt, die viel schneller als fr¨ uhere Methoden ist, aber dieselbe Genauigkeit hat. In Finnland sind wir dazu u ¨ bergegangen, diese Methode durchgehend zu verwenden. Die von Prof.
7.2 Die Verhaftung Bourbakis
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Nevanlinna entwickelte Methode ist von großer ¨okonomischer und milit¨arischer Bedeutung.“ Nenonen arrangierte einen kleinen Empfang, auf dem er Nevanlinna das Freiheitskreuz u ¨berreichte. Nevanlinna war sein Leben lang stolz auf diese Auszeichnung: Ich durfte bei der Verteidigung des Landes ” dabei sein – in den Tagen der Ehre und der Leiden des Winterkriegs.“
Abb. 7.1. Rolf Nevanlinna erhielt das Freiheitskreuz 2. Klasse bei einer Feier im ballistischen B¨ uro im Herbst 1940. Von links: Ernst Lindel¨ of, General V. P. Nenonen und Nevanlinna.
7.2 Die Verhaftung Bourbakis Als der Winterkrieg begann, wurde der franz¨osisch-j¨ udische Mathematiker Andr´e Weil in Helsinki verhaftet und der Spionage f¨ ur die Sowjetunion beschuldigt. Schon damals war Weil ein international bekannter Wissenschaftler und sp¨ ater wurde diese Vaterfigur“ von Bourbaki einer der f¨ uhrenden Ma” thematiker des 20. Jahrhunderts. Als Weil 1998 starb, berichtete die Presse u ¨ ber seine Festnahme in Helsinki im Jahr 1939 und beschrieb dramatisch die im letzten Moment vor der Hinrichtung erfolgte Rettung. Diese Meldungen erregten weltweit große Aufmerksamkeit. Sowohl in der New York Times als auch in der Londoner Times konnte man detaillierte Berichte u ¨ ber die damaligen Ereignisse in Finnland lesen. Die Zeitungen verwendeten als Quelle Weils Autobiographie Souvenirs
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d’apprentissage, die 1991 erschienen war.1 Nach Aussage des Buches spielte Rolf Nevanlinna eine entscheidende Rolle in dem Verhaftungsdrama. Andr´e Weil war ein großes Talent und seine Gedanken wandelten auf eigenen, oft un¨ ublichen Wegen. Auch seine j¨ ungere Schwester Simone war ¨ahnlich veranlagt. Andr´e wurde 92 Jahre alt, Simone Weil starb dagegen schon im Alter von 34 Jahren. Dennoch ist die Kultur- und Gesellschaftsphilosophin Simone Weil viel besser bekannt als ihr Bruder, der Mathematiker. Andr´e Weil war Reserveleutnant der franz¨osischen Armee. Als die Kriegsgefahr Ende der 1930er Jahre zunahm, reifte in ihm der Entschluß, nicht in den Krieg zu ziehen. Er sagte, daß er kein Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgr¨ unden im u ¨ blichen Sinne des Wortes sei. Seine Aufgabe im Leben sei die mathematische Forschungsarbeit und nicht die Kriegsteilnahme als H¨origer von Anf¨ uhrern, deren Torheit offensichtlich zum Ausbruch eines Krieges f¨ uhren werde, der ansonsten leicht vermieden werden k¨onne. Er erinnerte sich auch an den Ersten Weltkrieg, in dessen Folge Frankreich sehr viele Vertreter seiner intellektuellen Elite verloren hatte, weil sie gefallen waren oder weil viele nach dem jahrelangen unmenschlichen Frontdienst nicht mehr dazu in der Lage waren, hochstehende geistige Leistungen zu vollbringen. Weil beschloß, bei Ausbruch des Krieges in ein neutrales Land zu fliehen und von dort aus zu versuchen, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Andr´e Weil und seine Frau Eveline hatten sich mit Lars und Erna Ahlfors angefreundet und verbrachten den Sommer 1939 in der Gesellschaft der beiden auf dem Archipel von Sipoo in der N¨ ahe von Helsinki. Falls sich die Situation im Herbst als friedlich erweisen w¨ urde, wollten die Weils m¨oglicherweise u ¨ ber Leningrad nach Frankreich zur¨ uckkehren; andernfalls w¨ urden sie in Finnland bleiben und auf die Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten warten. Als Nevanlinna h¨ orte, daß die Weils in Finnland waren, lud er sie f¨ ur einige Tage als seine G¨ aste nach Lohja in sein Sommerhaus Korkee ein. Weil beschreibt in seiner Autobiographie diesen Besuch, bei dem ihm und seiner Frau eine herzliche Gastfreundschaft zuteil wurde. Frau Nevanlinna war eine ” große Bewunderin von Hitler und mir schien, daß ihr Mann ¨ahnliche Sympathien hegte.“ Weil f¨ ugte hinzu, daß seine Gastgeber nicht die geringste Spur von Antisemitismus zeigten. Er erkl¨ arte die Beliebtheit Hitlers in Finnland damit, daß der finnische Patriotismus untrennbar mit dem Haß gegen Rußland und gegen den Kommunismus zusammenhing. Hitler wurde als der zuk¨ unftige Retter Europas betrachtet, weswegen die Finnen dazu bereit waren, ihre Augen vor seinen Exzessen zu verschließen. Im August unternahmen die Weils eine Touristenreise nach Lappland. In Salla, nahe der ¨ ostlichen Grenze, erregte das ungew¨ohnliche Paar Verdacht. Andr´e saß eifrig an seiner Schreibmaschine, um einen Artikel f¨ ur ¨ Bourbaki fertigzustellen, und Eveline schrieb – um in Ubung zu bleiben – auf ihrer Stenographiemaschine einen Text, den ihr Andr´e aus einem Buch 1
¨ Die deutsche Ubersetzung ist 1993 unter dem Titel Lehr- und Wanderjahre eines Mathematikers im Birkh¨ auser Verlag (Basel) erschienen.
7.2 Die Verhaftung Bourbakis
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diktierte. Immer wieder fotografierten beide die sch¨onen Landschaften. Gegen das merkw¨ urdige Paar wurde Anzeige bei der Staatspolizei in Helsinki erstattet.
Abb. 7.2. Andr´e Weil, Mitglied der franz¨ osischen Mathematikergruppe Bourbaki, war 1939 in Lohja. Seite aus dem G¨ astebuch im Sommerhaus der Nevanlinnas.
Als die Situation in Finnland bedrohlich geworden war, kehrte Eveline zu den Kindern nach Frankreich zur¨ uck, aber Andr´e blieb in der von Ahlfors f¨ ur ihn in Munkkiniemi, einer Vorstadt von Helsinki, organisierten Wohnung und wartete dort auf die Ausreise nach Amerika. Am ersten Tag des Winterkriegs fiel der Ausl¨ ander Andr´e auf, als er in seiner Kurzsichtigkeit beinahe mit einigen Luftabwehrleuten zusammenstieß. Er wurde festgenommen und bald stellte sich heraus, daß er bereits in den B¨ uchern der Polizei stand. Man sperrte ihn in eine Zelle und die Polizei f¨ uhrte in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung durch. Dort fand man verd¨ achtiges Material: Stenographiewalzen – ein Roman von Balzac – und Briefe aus der Sowjetunion. Ein Stoß Visitenkarten mit dem Namen von Nicolas Bourbaki, Mitglied der K¨oniglichen Akademie von Poldawien, wurde als besonders belastend angesehen. Hinzu kam ein Brief, den Pawel Aleksandrow – ein bekannter russischer Mathematiker – von der Krim geschickt hatte: Aleksandrow gab der Hoffnung Ausdruck, der ber¨ uhmte Kollege Herr Bourbaki m¨ oge doch auch weiterhin Proben seiner meisterhaften Arbeit senden. Weil wurde verh¨ ort und der Spionage f¨ ur die Sowjetunion verd¨achtigt. Er berief sich auf Ahlfors, Nevanlinna und auf mehrere bekannte skandinavische Mathematiker. Ahlfors, den die Polizei aufgefordert hatte, sich im eigenen Interesse nicht in die Angelegenheit verwickeln zu lassen, best¨atigte, daß Weil ein international bekannter Mathematiker war. Nevanlinna war gerade nicht zu erreichen und man holte auch keine Informationen aus dem Ausland ein. Stattdessen konnte die Polizei, die Weil zur franz¨osischen Gesandtschaft gebracht hatte, h¨ oren, daß Weil ein Kommunist, Deserteur und Vaterlandsverr¨ater sei. Weil wurde in Helsinki vier Tage lang festgehalten; danach brachte man ihn
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¨ zu seiner Uberraschung mit dem Zug nach Tornio und u ¨ bergab ihn an der Grenze den schwedischen Beh¨ orden. Weil behauptete in seinen Memoiren, den Gang der Ereignisse von Ne” vanlinna 20 Jahre und eine Ehefrau sp¨ ater“ geh¨ort zu haben. Entsprechend der Weilschen Beschreibung war Nevanlinna in der finnischen Armee gut bekannt und bekleidete den Rang eines Obersten. Auf einem großen Galadiner habe Nevanlinna zuf¨ allig den Polizeichef getroffen, der ihm erz¨ahlt habe, daß man am folgenden Tag einen Spion erschießen werde, der sich als Bekannter Nevanlinnas ausgegeben hat. Nachdem Nevanlinna geh¨ort hatte, daß der Name des Spions Weil war, habe er gefragt, ob es nicht ausreichen w¨ urde, ihn auszuweisen – und so sei es dann auch entschieden worden. Nevanlinna war kein Oberst und es fand auch kein Galadiner statt. In seinen eigenen Memoiren berichtet er, daß er im Restaurant Seurahuone zuf¨alligerweise seinen fr¨ uheren Schulkameraden Tapio Voionmaa traf, der damals Staatssekret¨ ar im Außenministerium war. Voionmaa erz¨ahlte aufgeregt von einem franz¨ osischen Mathematiker, der beim Fotografieren in Munkkiniemi angetroffen und unter dem Verdacht der Spionage festgenommen worden sei. Nevanlinna u ¨berzeugte das Außenministerium von Weils Unschuld, aber er schlug keine Ausweisung vor und vermutete, daß die franz¨osische Gesandtschaft den Wunsch ge¨ außert habe, Weil als Deserteur nach Frankreich zur¨ uckzuf¨ uhren. In Weils Dossier bei der Staatspolizei gibt es keinerlei Notiz u ¨ ber ein gerichtliches Verfahren w¨ ahrend der vier Tage seiner Inhaftierung, von einem gef¨ allten Todesurteil ganz zu schweigen. Das weltweit verbreitete Ger¨ ucht, daß Weil im letzten Moment vor dem Erschießungskommando gerettet wurde, ist demnach ein Produkt der Phantasie. Osmo Pekonen, der den Fall Weil studiert hat, ¨ außert die glaubw¨ urdig scheinende Vermutung, daß es einen Grund daf¨ ur gab, den bekannten franz¨ osischen Wissenschaftler rasch des Landes zu verweisen: Dieser Einzelfall h¨ atte n¨ amlich zu Reibungen mit Frankreich f¨ uhren k¨ onnen, das f¨ ur Finnland zu einem wichtigen Land geworden war. In Frankreich veurteilte man Weil zu f¨ unf Jahren Gef¨angnis, aber er griff zu der angebotenen Alternative und meldete sich zum bewaffneten Frontdienst. Damals herrschten in Nordfrankreich infolge des deutschen Durchbruchs chaotische Bedingungen. Weil wurde nach England evakuiert und von dort gelangte er nach entsprechender Manipulation seiner Papiere mit einem Krankentransport in den unbesetzten Teil Frankreichs. Schließlich kam er mit Unterst¨ utzung der Rockefeller-Stiftung in die Vereinigten Staaten; die Stiftung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, j¨ udische Wissenschaftler zu retten. Aber noch im Herbst 1942 wurden Mitglieder des Spionagerings Bourbaki in Helsinki gesucht, wo auch Weil angeblich zweimal gesichtet wurde. Weil war einer der Hauptvortragenden auf dem Internationalen Mathematiker-Kongreß 1978 in Helsinki. In einer privaten Unterhaltung versuchte ich, etwas u ¨ ber seinen Finnlandaufenthalt von Juni-Dezember 1939 zu erfahren, aber er war absolut unwillig, auch nur irgendetwas von diesen Dingen zu erz¨ ahlen.
7.3 Die Bedr¨ angnis des Zwischenfriedens
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7.3 Die Bedr¨ angnis des Zwischenfriedens Der Frieden von Moskau, der im M¨ arz 1940 den Winterkrieg beendete, war ein großer Schock f¨ ur das finnische Volk. Zum Leid gesellten sich Sorgen, als man bemerkte, daß sich die willk¨ urliche Interpretation des Friedensvertrages durch die Sowjetunion in eine ernste Bedrohung f¨ ur Finnland verwandelte. Die Situation in den skandinavischen L¨ andern ¨anderte sich, als Deutschland im April 1940 mit den Kriegshandlungen begann, die zur Besetzung D¨ anemarks und Norwegens f¨ uhrten. Im Mai f¨ uhrte die deutsche Großoffensive zu einem unglaublich schnellen Zusammenbruch Frankreichs. Erfolg und St¨ arke bringen Freunde und auch in Finnland nahm die deutschfreundliche Stimmung zu. Im Sommer 1940 kam die Idee auf, eine Wissenschaftlerdelegation nach Deutschland zu entsenden, zu deren Mitgliedern Hugo Suolahti, Kanzler der Universit¨ at Helsinki, und Professor Rolf Nevanlinna gew¨ahlt wurden. Die finnischen Beh¨ orden waren jedoch allzu eifrig: Deutschland wollte zu dieser Zeit bei der Sowjetunion kein Mißtrauen erregen und gab der Delegation kein gr¨ unes Licht. Als sich Deutschland nach Westen wandte, besetzte die Sowjetunion im Juni die baltischen L¨ ander, die sie bald danach annektierte. Es sickerten Informationen u ¨ ber die Mobilisierung der Roten Armee in Richtung Finnland durch, und man munkelte sogar u ¨ber einen bevorstehenden Angriff. Diese Ger¨ uchte breiteten sich auch rasch in der Bev¨olkerung aus. Die Sowjetunion erhielt auf ihre Forderung hin die Erlaubnis, ihre Truppen auf dem Schienenweg durch S¨ udfinnland in die Stadt Hanko zu verlegen, welche die Sowjetunion im Frieden von Moskau als St¨ utzpunkt bekommen hatte. Das finnische Volk lebte einige Zeit in beklemmender Angst. In diesem von Furcht gepr¨ agten Sommer 1940 waren die ersten Anzeichen erkennbar, daß Deutschland seine Einstellung zu Finnland ge¨andert hatte. Der Bevollm¨ achtigte von Reichsmarschall Hermann G¨oring kam nach Finnland, um das Durchgangsrecht f¨ ur deutsche Truppen zu erwirken, und um Waffen zum Kauf anzubieten. Die Waffengesch¨afte waren willkommen und im August gab ein kleiner Kreis von Eingeweihten die Zustimmung zum Durchgangsrecht. Schweden hatte den Deutschen eine ¨ahnliche Genehmigung bereits fr¨ uher erteilt, ohne daß die Angelegenheit in Finnland große Beachtung gefunden hatte. Demgegen¨ uber war es eine wirklich sensationelle Nachricht, als die Kunde kam, daß im September das erste Schiff mit deutschen Soldaten in Vaasa eingelaufen war. Die Pr¨ asenz der m¨achtigen milit¨arischen Truppen oste eine Welle des Wunschdenkens aus. Deutschlands in Finnland l¨ Im Herbst 1940 befanden sich also die milit¨arischen Truppen zweier Großm¨ achte auf dem Territorium Finnlands: sowjetische Soldaten im S¨ uden und deutsches Milit¨ ar im Norden. Keine der beiden M¨achte war ins Land gerufen worden, aber eine von ihnen wurde als Bedrohung empfunden, w¨ahrend man sich von der anderen Schutz erhoffte. Um Großbritannien, den einzigen noch verbliebenen Kriegsgegner, zu u berw¨ altigen, begann Deutschland mit einem großangelegten Luftkrieg, aber ¨
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im Verlauf des Herbstes wurde offensichtlich, daß damit der Widerstand der Engl¨ ander nicht gebrochen werden konnte. Hitler wandte seinen Blick nach Osten und gab den Befehl zur Vorbereitung der Operation Barbarossa, das heißt, des Angriffs auf die Sowjetunion. In Finnland war der Plan Barbarossa zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Die Sowjetunion u ¨ bte ihren Druck weiter aus, und zu Beginn des Jahres 1941 drohte Finnland ein neuer Angriff.
7.4 Fu ¨r Deutschland Deutschlands Wandel von einem kalten, unbeteiligten Zuschauer, der mit der Sowjetunion kooperierte, zu einem m¨ oglichen Freund – das war eine Idee, die Rolf Nevanlinna begeisterte. Der Ribbentrop-Molotow-Pakt w¨are demnach nur eine vom Zwang der Verh¨ altnisse diktierte taktische Zwischenphase gewesen. Deutschland m¨ usse davon u ¨ berzeugt werden, daß es in Finnland als Freund betrachtet werde. Nevanlinna meinte, den Interessen Finnlands dadurch zu dienen, daß er hervortrat und ¨ offentlich die in Finnland vorhandenen Sympathien f¨ ur Deutschland aussprach. Im Jahr 1939 war die Zeitschrift Kustaa Vaasa gegr¨ undet worden, ein dem Geist des Nationalsozialismus nahestehendes rechtsextremes Blatt. Doch die Zeitschrift dr¨ uckte das nicht offen aus, sondern betonte – entsprechend ihrem auf den schwedischen K¨ onig Gustaf Wasa hinweisenden Namen – eine nordische Ausrichtung. Nur zwei Nummern konnten erscheinen, bevor der Winterkrieg ausbrach. Im September 1940 wurde entschieden, die Zeitschrift wieder zu beleben, und hinter dem Blatt versammelte sich ein Unterst¨ utzungskomitee. Rolf Nevanlinna nahm den Vorsitz des Komitees an, dem der ehemalige Pr¨ asident P. E. Svinhufvud sowie weitere bekannte und einflußreiche Pers¨ onlichkeiten angeh¨ orten, u. a. die Bankiers Alexander Frey und Mauri Honkajuuri und der Reeder Antti Wihuri. Entgegen anderslautenden Angaben war Nevanlinna nicht Mitglied der Redaktion von Kustaa Vaasa, obwohl das Blatt einige seiner Beitr¨ age ver¨ offentlichte. Etwa um dieselbe Zeit, im Herbst 1940, tauchte Nevanlinnas Name im Zusammenhang mit der Nationalsozialistischen Arbeitsorganisation Finnlands (Suomen Kansallissosialistinen Ty¨ oj¨ arjest¨ o) auf. Als Organisator fungierte der ehemalige Gesandtschaftsrat Teo Snellman, ein Enkel J. V. Snellmans. Bereits in jungen Jahren hatte Nevanlinna Teo Snellman kennengelernt, der in seinem Aussehen an seinen ber¨ uhmten Großvater erinnerte. Teo Snellman war ein Musikliebhaber und spielte hin und wieder mit Nevanlinna in demselben Quartett. Nevanlinna stellte seinen Namen den Spendensammlern der nationalsozialistischen Arbeitsorganisation zur Verf¨ ugung, um deren Vertrauensw¨ urdigkeit zu bekunden. Ideologisch war die Organisation sowohl blau-weiß2 als auch 2
Blau und weiß sind die Farben auf der finnischen Flagge (blaues Kreuz auf weißem Untergrund).
7.4 F¨ ur Deutschland
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nationalsozialistisch. Deutschland oder die Juden wurden in dem aus 20 Artikeln bestehenden Programm nicht erw¨ ahnt, aber der letzte Absatz besagte, daß sich Finnland dem neuen Europa ideologisch und politisch anschließen m¨ usse. Der R¨ uckhalt der Organisation blieb gering und sie war in st¨andigen finanziellen Schwierigkeiten. Diese ersten ¨ offentlichen Stellungnahmen Nevanlinnas f¨ ur Deutschland fanden vorl¨ aufig nur geringe Beachtung. In das allgemeine Bewußtsein ging er als starker F¨ ursprecher Deutschlands durch einen Vortrag ein, den er Ende September 1940 im Radio u ¨ ber Hermann G¨oring hielt, der den Luftangriff gegen England f¨ uhrte. Die Rede, die in ihrem vollst¨andigen Wortlaut in der Weihnachtsbeilage 1940 der Zeitung Uusi Suomi und im darauffolgenden Jahr auch in der Zeitschrift Kustaa Vaasa erschien, war eine unmißverst¨andliche Eloge auf das neue Deutschland. Nevanlinna pries die f¨ uhrenden Politiker des Landes, die nationalsozialistische Ideologie und sogar die skrupellosen Methoden der Staatsf¨ uhrung. Inmitten der vom Zwangsfrieden von Versailles verursachten Erniedri” gung glomm in den Herzen einiger junger M¨anner der fanatische Glaube an die Zukunft des deutschen Volks und der ungebrochene Wille, daf¨ ur zu k¨ampfen. Inmitten der dominierenden Gemeinpl¨ atze erschallt die Stimme des Heldentums. Der unbekannte Frontsoldat Adolf Hitler schließt sich einer kleinen Vereinigung an, aus der sich die nationalsozialistische Partei bildet. Als ihr F¨ uhrer weist er der Partei und der Nation den Weg und das Ziel. Das Ziel sind die Ehre und St¨ arke des deutschen Volkes, damit es sich erheben kann, um seine welthistorische Mission zu verwirklichen. Der Weg war das Wachr¨ utteln der Nation.“ Nevanlinna beschrieb den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Macht und konstatierte danach, daß die Bewegung ohne Waffen und mit der Kraft des gesprochenen Worts in kurzer Zeit zur Weltmacht geworden sei. Der Boden ” hierf¨ ur war auf entscheidende Weise durch die Jahrhunderte alte geistige und politische Geschichte Deutschlands vorbereitet worden. Der Weg Preußens unter Friedrich dem Großen und Deutschlands unter Bismarck f¨ uhrt mit der unersch¨ utterlichen Konsequenz der Geschichte zur endg¨ ultigen Vereinigung der Deutschen, die vom Nationalsozialismus verwirklicht wurde.“ Nevanlinna war fasziniert von der Tatsache, daß eine Ideologie alle gesellschaftlichen Schichten zu binden vermochte, und dies f¨ uhrte ihn auch zu Reflexionen u ¨ber die soziale Seite der nationalsozialistischen Bewegung. Bestrebungen zur Beseitigung der Konflikte zwischen k¨orperlicher und geistiger Arbeit und zwischen Arbeitgebern und Arbeitern wiesen laut Nevanlinna einen Ausweg aus dem Unheil des Klassenkampfes, der seiner Meinung nach bereits seit langem die schlimmste Bedrohung f¨ ur eine gesunde soziale und kulturelle Entwicklung war. Bei der Darstellung von G¨ orings T¨ atigkeit ging Nevanlinna so weit, daß er auch mit den angewendeten Mitteln einverstanden war: Die alten ehrbaren ” Traditionen werden bewahrt, aber was sich als Hindernis f¨ ur die Umsetzung der neuen Ideologie erweist, wird mit Entschlossenheit und wenn n¨otig mit
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7 Die Zeit der Kriege
schonungsloser H¨ arte zerschmettert. Aber die H¨arte richtet sich nicht nur gegen die Feinde, sondern mit derselben Strenge auch gegen Profiteure und Denunzianten.“ Diese Rede u oring war die erste und gleichzeitig auch ¨ber G¨ die letzte, in der Nevanlinna ¨ offentlich f¨ ur die nationalsozialistische Ideologie warb. Die Not seines in Gefahr schwebenden Landes war f¨ ur Nevanlinna ein Grund, sich Deutschland zu n¨ ahern, aber dies war nicht der einzige Grund. Er war echt deutschfreundlich und u ¨ berzeugt davon, daß eine Bindung an Deutschland w¨ahrend des großen Krieges notwendig war. In der bedrohlichen Situation, als die Existenz der Nation auf der Kippe stand, war Deutschland das einzige Land, das imstande war, Finnland zu helfen. Dies war ein so schwerwiegender Gesichtspunkt, daß es nach Nevanlinnas Meinung gerechtfertigt war, vorbehaltlos Farbe zu bekennen. Im Laufe des Fr¨ uhlings 1941 begann Finnlands Staatsf¨ uhrung, sich in ihrem strategischen Denken immer mehr der Linie Nevanlinnas zu n¨ahern. Auch der Gesandte Paasikivi schrieb dem finnischen Außenminister im M¨arz 1941 aus Moskau, daß Deutschlands System tausendmal besser f¨ ur Finnland w¨are als die Zugeh¨ origkeit zur Sowjetunion, was dem Untergang gleichk¨ame. Im Vergleich zu Nevanlinna gab es allerdings einen signifikanten Unterschied in ¨ den Außerungen der Staatsf¨ uhrung, denn sie vermied es, Position zum Nationalsozialismus zu beziehen.
7.5 Der Reichsbund Finnland In Finnland durchlief das Verh¨ altnis zu Deutschland drei Phasen. Zu Beginn wurden Deutschlands Streitkr¨ afte als Retter des Landes in der Gefahr und als Garantie daf¨ ur betrachtet, daß die Sowjetunion Finnland nicht angreifen w¨ urde. Als sich im Fr¨ uhjahr 1941 die Ger¨ uchte u ¨ ber die Entfremdung Deutsch¨ lands von der Sowjetunion verst¨ arkten und Deutschlands Uberfall m¨oglich erschien, wurden die Sicherheits¨ uberlegungen von der Hoffnung verdr¨angt, mit Hilfe der Deutschen Karelien und andere Gebiete zur¨ uckzubekommen, die im Frieden von Moskau verlorengegangen waren. Dieser Wunsch und das Vertrauen in die milit¨ arische St¨ arke Deutschlands waren so groß, daß man einen Krieg nicht als erschreckende Alternative empfand. Zwei Tage nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges schrieb Rolf Nevanlinna an seine Frau: Wir ” leben jetzt in großen Tagen, und die L¨ osung ist f¨ ur unseren Teil unmittelbar in Sicht. Der Erfolg ist sicher. Alles, was jetzt geschieht, ist so wunderbar, daß man es nicht so richtig fassen kann. Ich frage mich immer wieder: Ist es wahr?“ Als Deutschlands Waffen zun¨ achst von Sieg zu Sieg eilten, erwachten die Gedanken an ein großfinnisches Reich zum Leben. Nun aber waren die Meinungen geteilt: Alle wollten das im Winterkrieg verlorengegangene Karelien zur¨ uck, aber eine Annektierung der finnischsprachigen, zur Sowjetunion geh¨ orenden Gebiete Ostkareliens war eine andere Sache.
7.5 Der Reichsbund Finnland
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Die rechtsradikale Partei Vaterl¨ andische Volksbewegung IKL hoffte, daß es ihr mit Unterst¨ utzung der Deutschen gelingen w¨ urde, eine viel bedeutendere Rolle im finnischen Staatsleben zu u ¨bernehmen als bisher. Die IKL und die ihr ideologisch nahestehenden Kreise gr¨ undeten die Dachorganisation Reichsbund Finnland (Suomen Valtakunnan Liitto, SVL), dessen Hauptziel darin bestand, alle Organisationen und Gruppen zusammenzubringen, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Sie wollte erreichen, daß sich die verschiedenen politischen Parteien durch eine gemeinsame Ideologie n¨aher kamen. Rolf Nevanlinna war u ¨berzeugt davon, daß ein solcher u ¨ berparteilicher Zusammenschluß eine gute und w¨ unschenswerte Idee sei. Das endg¨ ultige Ziel des Bundes war eine Einheitspartei nach deutschem Muster, die es dem Bund erm¨ oglicht h¨ atte, rechtzeitig an die Spitze der finnischen Politik zu gelangen. Zu Beginn des Jahres 1942 erhielt der Ophtalmologie-Professor Mauno Vannas als Vorsitzender des Bundes die Aufgabe, das Programm zu entwerfen. Rolf Nevanlinna war neben anderen Universit¨atsprofessoren und prominenten Kulturschaffenden bei der Gr¨ undung des Reichsbundes Finnland anwesend. Der rechtsradikale Reichsbund Finnland war blau-weiß“ und vertrat fin” nische Interessen, aber die 18 Artikel seines Programms brachten die ideologische N¨ ahe zu Nazideutschland eindeutig zum Vorschein. Der Bund war nicht registriert und sollte auf Sparflamme bleiben; erst nach einem siegreichen Krieg und nach dem Abzug der Deutschen wollte man aktiv werden. Der Glaube, daß Deutschland den Krieg gewinnen w¨ urde, geriet jedoch schon ein Jahr nach Annahme des Grundsatzprogramms ins Wanken, und das ohnehin schwache Interesse am Reichsbund flaute weiter ab. Es gibt keine exakten Informationen u ¨ber die Anzahl seiner Mitglieder; sie wird auf etwa zwei- bis sechstausend gesch¨ atzt. Im Nationalarchiv gibt es u ¨ berhaupt kein Material zum Reichsbund Finnland, weil die anscheinend heiklen Dokumente im Herbst 1944 vernichtet wurden. Die Staatsf¨ uhrung verhielt sich zum Reichsbund Finnland argw¨ohnisch wachsam. Vannas, der Sanit¨ atsoberst war, erhielt im M¨arz 1944 den Befehl, von Helsinki in das Milit¨ arkrankenhaus von Vilppula, 200 km n¨ordlich von Helsinki, zu wechseln. Es gibt Anzeichen daf¨ ur, daß man den Reichsbund auf diese Weise veranlassen wollte, seine T¨ atigkeit einzustellen. Auch die deutsche Gesandtschaft in Helsinki hielt Abstand zum Reichsbund. Der deutsche Gesandte Wipert von Bl¨ ucher, ein Diplomat der alten Schule, beschr¨ankte seine Kontakte so gut wie m¨ oglich auf die offizielle finnische F¨ uhrung und in Berlin artige Angelegenheiten. Er vermutete, daß der auf sein eigenes Amt f¨ ur Ausw¨ Reichsbund in Helsinki Kontakt zu deutschen Dunkelm¨annern unterhalte, die eigene Interessen verfolgten. Als Rektor der Universit¨at und Vorsitzender des SS-Freiwilligenkomitees traf Nevanlinna von Bl¨ ucher bei mehreren Anl¨assen, aber in seinen ausf¨ uhrlichen Memoiren Gesandter zwischen Diktatur und Demokratie hat von Bl¨ ucher Nevanlinna nie als eine politisch agierende Person
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erw¨ ahnt. Im Gegensatz dazu meinte General Felix Steiner3 auf der Grundlage der Diskussionen, die er mit Nevanlinna im Juni 1943 in Finnland gef¨ uhrt hatte, daß sich Nevanlinna eindeutig auf sp¨ atere politische Aufgaben vorbereitet habe, wozu er zweifellos die Voraussetzungen besitze. In seinen Memoiren schreibt Nevanlinna jedoch, daß er bereits vor diesem Zeitpunkt, seit den ersten Monaten des Jahres 1943 davon u ¨berzeugt gewesen sei, daß Deutschland den Krieg nicht gewinnen k¨ onne. Der Historiker Matti Klinge stellt in seinem Werk Helsingin Yliopisto 1640–1990 (Die Universit¨ at Helsinki 1640–1990) fest, daß sich der Beitrag Nevanlinnas zum Reichsbund Finnland auf die Rolle eines Sympathisanten beschr¨ ankt habe. Nach Klinges Einsch¨ atzung war Nevanlinna impulsiv und tatkr¨ aftig, und die auch politisch wichtige Position des Universit¨atsrektors habe ihn angeregt, den M¨ oglichkeiten entsprechend gesellschaftlichen Einfluß auszu¨ uben.
7.6 Das SS-Bataillon Die Idee zur Entsendung eines finnischen Freiwilligenbataillons nach Deutschland kam w¨ ahrend des Zwischenfriedens sowohl in Finnland als auch in Deutschland auf. Diese Idee fand in Finnland ihren ersten Ausdruck zur Zeit der drohenden Augustkrise 1940. Als man ab Herbst 1940 in Finnland bestrebt war, sich die von Deutschland gezeigte Sympathie zu sichern, wurde ein in Deutschland stationierter finnischer Truppenverband als wichtiges Mittel betrachtet, die Bindungen zwischen beiden L¨andern zu st¨arken. Im ideologischen Hintergrund gab es damals zweierlei Str¨omungen. Urspr¨ unglich wollte man – in Erinnerung an die J¨ agertradition des Unabh¨angigkeitskrieges – abgekoppelt vom Nationalsozialismus losziehen. Das Projekt eines Freiwilligenbataillons wurde aber auch in Kreisen unterst¨ utzt, in denen vor allem die nationalsozialistische Ideologie betont wurde. In Deutschland wurde beschlossen, germanische“ Elitedivisionen zu gr¨ un” den, die zur SS-Organisation geh¨ oren sollten. F¨ ur Divisionen wollte man – zus¨ atzlich zu den durch ein engmaschiges Sieb ausgew¨ahlten Deutschen – auch Anh¨ anger der Ideologie in den von Deutschland besetzten germani” schen“ L¨ andern rekrutieren: in D¨ anemark, Norwegen, in den Niederlanden und in Flandern. Man betrachtete auch Finnland als m¨ogliches Anwerbungsziel, und der Gedanke an ein Freiwilligenbataillon, der in Finnland aufkam, stieß in Deutschland nicht auf Ablehnung. Das Projekt gedieh so weit, daß die geplante finnische Truppe in die SS-Division Wiking dirigiert wurde, weil man es in Deutschland f¨ ur wichtig hielt, den multinationalen Truppen einen ideologischen Anstrich zu geben. Allen Versuchen der finnischen Organisatoren zum Trotz ist es nicht gelungen, die finnische Abteilung zu einem Teil der Wehrmacht zu machen. 3
Steiners Dienstrang war SS-Obergruppenf¨ uhrer. Das entsprach in der Wehrmacht dem Dienstrang General.
7.6 Das SS-Bataillon
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Die Buchstabenkombination SS ist in die Geschichte als Synonym des Grauens eingegangen. Die SS, die als Schutz-Staffel urspr¨ unglich Hitlers Leibwache stellte, war eine komplexe Organisation, die nach Hitlers Machtantritt die Aufgabe erhielt, u ¨ber die innere Sicherheit des Landes zu wachen. Die Organisation wuchs schließlich ins Riesenhafte und bestand aus zahlreichen gesonderten Zweigen, deren gemeinsamer Befehlshaber der Reichsf¨ uhrer SS Heinrich Himmler war. Im N¨ urnberger Prozeß wurde die gesamte SS zu einer kriminellen Organisation erkl¨ art. Die Reaktionen in Finnland auf die Idee, ein Freiwilligenbataillon zu rekrutieren und nach Deutschland zu entsenden, waren unterschiedlich. Im Parlament reichten die Meinungen von Zustimmung von rechts bis Ablehnung von links. Die finnische Armeef¨ uhrung hielt sich abseits. In seinen Erinnerungen schreibt Mannerheim, daß er den Plan rundweg abgelehnt habe. Als Oberbefehlshaber w¨ are er zweifellos in der Lage gewesen, die Umsetzung des Planes zu verhindern, aber er tat es nicht, und ebensowenig nahm irgendeine politische Partei eindeutig gegen den Freiwilligenverband Stellung. Das Land lebte in der schwierigen Zeit des Zwischenfriedens: Einerseits wollte man die Beziehungen zu Deutschland verbessern, aber andererseits sollte die Angelegenheit des Freiwilligenverbandes wegen der Sowjetunion m¨oglichst geheim bleiben und den Stempel eines privaten Vorhabens tragen. Letztendlich war das Entgegenkommen gegen¨ uber Deutschland ein so wichtiger Gesichtspunkt, daß die Regierung zwar im Hintergrund blieb, sich aber am Projekt beteiligte. Mit dessen Leitung wurde Major Esko Riekki betraut, der ehemalige Chef der Zentralen Geheimpolizei, der fr¨ uher als J¨ager gedient hatte. Zur Erledigung der praktischen Angelegenheiten wurde ein finnisches B¨ uro eingerichtet, das sich um die Rekrutierung k¨ ummerte und sp¨ater Kontakt zu den Freiwilligen hielt, die nach Deutschland gegangen waren. Schließlich wurde im Fr¨ uhjahr 1941 beschlossen, 1200 M¨anner zu rekrutieren. Die Absicht war, aus ihnen ein eigenes Bataillon in Deutschland zu bilden. Die Anwerbung verlief problemlos – es h¨ atte sogar noch mehr Freiwillige gegeben. Die Deutschen h¨ atten gern einen gr¨ oßeren Verband gesehen, aber die finnische Regierung hielt an der vereinbarten zahlenm¨aßigen Grenze fest. Als ein Jahr sp¨ ater 200 neue finnische Freiwillige nach Deutschland gingen, um die Gefallenen und die Verwundeten zu ersetzen, belief sich die Gesamtzahl der eingezogenen Finnen also auf 1400. Das ist eine kleine Zahl im Vergleich zu D¨ anemark, Norwegen und den Niederlanden, wo ebenfalls M¨anner rekrutiert wurden. Das waren jedoch von Deutschland besetzte L¨ander und, anders als in Finnland, war es f¨ ur sie nicht m¨ oglich, die Anzahl ihrer mit deutschen Truppen k¨ ampfenden Soldaten selber zu bestimmen. Anfang Sommer 1941 war das finnische Freiwilligenbataillion schon aufgestellt und stand bereit zur Verschiffung nach Deutschland. Die mit einem Zweijahresvertrag angeworbenen Freiwilligen waren kaum abgefahren, als Deutschland die Sowjetunion angriff und Finnland zum Mitkriegf¨ uhren” den“ Deutschlands wurde. Bereits im Sommer 1941 begann man in Finnland,
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u uckruf des finnischen Bataillons zu sprechen. In Deutschland wi¨ ber den R¨ dersetzte man sich der R¨ uckkehr. Bald wurde es offensichtlich, daß Riekki, der im finnisch-nationalen Sinne handelte, den Deutschen nicht genehm war. Er hielt die F¨aden in den eigenen H¨ anden, ohne den finnischen Nationalsozialisten zu gestatten, sich in die Arbeit seines B¨ uros einzumischen. Er hatte bei der Rekrutierung nicht nur Bewerber aus dem extremen linken Lager, sondern auch einige mit rechtsextremer Gesinnung ausgemustert. In den Parlamentswahlen 1939 stimmten 7 Prozent f¨ ur die Vaterl¨ andische Volksbewegung IKL, die dem Nationalsozialismus nahestand. Man vermutet, daß ungef¨ ahr 20 Prozent der Mitglieder des SS-Bataillons diese ideologische Richtung unterst¨ utzten. Rolf Nevanlinna reagierte vorbehaltlos positiv auf die Entsendung des finnischen Freiwilligenbataillons nach Deutschland. Die Aktion stimmte mit seiner Grundidee u ¨ berein, Finnland so eng wie m¨oglich an Deutschland zu binden. Es wurde auch vermutet, daß er sich an seinen Jugendplan erinnerte, sich den J¨ agern anzuschließen. In der Anfangsphase des Projekts war er jedoch kein prominenter Aktivist. Der Historiker Mauno Jokipii erw¨ahnt in seinem fast tausendseitigen Werk Panttipataljoona – Suomalaisen SS-pataljoonan historia (Das Pfandbataillon – Die Geschichte des finnischen SS-Bataillons) Nevanlinna nicht einmal unter den zahlreichen Personen, die zu den Kr¨aften hinter den Kulissen des Riekki-Komitees geh¨ orten. Erstmalig wird Nevanlinna in Jokipiis Buch im Zusammenhang mit einer abendlichen Zusammenkunft erw¨ ahnt, bei der Anfang Oktober 1941 u ¨ber die Zukunft des Bataillons gesprochen wurde. Wie viele andere, ziehe Nevanlinna es vor, die Freiwilligen ” zur¨ uckzurufen.“ Bald danach begann Nevanlinna eine Deutschlandreise, von deren wissenschaftlichem Programm es eine Abweichung gab: Nevanlinna war anl¨ aßlich der Vereidigung des Freiwilligenbataillons anwesend. Obwohl sich Nevanlinna nicht an der Rekrutierung beteiligte, versuchte er, seinen Verwandtenkreis zu beeinflussen. Unter denjenigen, die nach Deutschland abreisten, waren ein Sohn seines Bruders Frithiof und der einzige Sohn seines Bruders Erik. Dagegen waren seine eigenen S¨ohne Kai und Harri nicht willens wegzufahren. Was soll denn das, Vater? Warum ereiferst du dich so?“ ” Im Fr¨ uhjahr 1942 entschieden die Deutschen, die in Helsinki stationierte deutsche Versorgungseinheit zu verst¨ arken, der die Kontakte zu den SSGruppen oblagen, und es war beabsichtigt, die Verwaltung des Riekki-B¨ uros dorthin zu verlegen. Das war in Finnland jedoch nicht erw¨ unscht, und die Regierung intervenierte in dieser Angelegenheit. Anstelle des inoffiziellen RiekkiKomitees wurde ein neues offizielles SS-Freiwilligenkomitee gegr¨ undet, u ¨ ber dessen Mitglieder die Deutschen ihre eigenen W¨ unsche ¨außerten. Der finnische Außenminister Rolf Witting bat Rolf Nevanlinna, den Vorsitz des Komitees zu u ¨ bernehmen. Wittings Frau war eine Cousine Rolf Nevanlinnas, so daß sich Witting und Nevanlinna bereits von fr¨ uher her kannten. In einem Jahrzehnte sp¨ater gegebenen Interview sagte Nevanlinna, daß die Bitte, Vorsitzender des Komitees zu werden, in einem freundlichen und vertraulichen Gespr¨ach im B¨orsenklub
7.6 Das SS-Bataillon
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an ihn herangetragen worden sei; in einem zweiten Interview erinnerte er sich jedoch daran, in dieser Angelegenheit eine Einladung ins Außenministerium erhalten zu haben. Witting konnte sich darauf verlassen, daß Nevanlinna loyal zur finnischen Regierung stand und als Vorsitzender des Komitees die Anweisung befolgen w¨ urde, das finnische Bataillon vor einer u ¨ berm¨aßigen nationalsozialistischen Indoktrination zu sch¨ utzen. Von Vorteil schien auch die Tatsache, daß der Zivilist Nevanlinna, der sich von den politischen Parteien ferngehalten hatte, weder der Regierung noch der Armee angeh¨orte. Und schließlich erf¨ ullte Nevanlinna die wichtige Voraussetzung, daß er in Berlin gesch¨ atzt wurde und f¨ ur die Deutschen eine genehme Wahl bedeutete. Nevanlinna stimmte zu, und die Pflege der Kontakte des SS-Bataillons zum Vaterland blieb u anden der Finnen, so wie es die Regierung ¨ berwiegend in den H¨ geplant hatte. Die finnische Armee hatte 200 neue Freiwillige rekrutiert, die bereits vor der Gr¨ undung des Nevanlinna-Komitees nach Deutschland abgereist waren. Danach wurden keine neuen Freiwilligen mehr nach Deutschland entsandt, so daß Nevanlinna – entgegen der sp¨ ateren Auffassung – an der Rekrutierungst¨ atigkeit u ¨ berhaupt nicht teilgenommen hatte. Im Gegenteil: Seine Aufgabe bestand darin, die Verhandlungen zu f¨ uhren, bei denen es um die R¨ uckf¨ uhrung des Bataillons nach Finnland ging. Vertragsgem¨ aß lief die Dienstzeit der Hauptgruppe des Bataillons im Sommer 1943 aus. Die Regierung Linkomies trug sich mit dem Gedanken, den Vertrag nicht zu verl¨ angern, aber das Hauptquartier wollte einen klaren negativen Standpunkt vermeiden. Die Sache war heikel: Es war bekannt, daß Deutschland den Vertrag wenigstens in irgendeiner Form fortsetzen wollte, und die Beziehungen zu Deutschland hatten sich verschlechtert, weil Finnland die Aufforderung der Vereinigten Staaten, Friedensverhandlungen mit der Sowjetunion aufzunehmen, nicht sofort abgelehnt hatte. Im April 1943 beorderte die finnische Regierung Nevanlinna nach Berlin, um u ¨ ber die Zukunft des Bataillons zu verhandeln. Das Hauptquartier war der Ansicht, daß die Verhandlungen Sache der Regierung seien. Die Regierung ihrerseits wollte in dieser schwierigen Situation den Deutschen gegen¨ uber betonen, daß dieses Projekt den Charakter einer B¨ urgerbewegung habe. Nevanlinna war gem¨ aß eigener Aussage bei den Sitzungen haupts¨achlich als Zuh¨orer anwesend. General Gottlob Berger, der auf deutscher Seite als Rekrutierungsleiter die Verhandlungen der Waffen-SS f¨ uhrte, sagte in seinem Bericht, daß Nevanlinna besondere Bedingungen unterbreitet hatte, unter denen man Ersatzm¨ anner f¨ ur diejenigen M¨ anner bereitstellen k¨onnte, deren Vertrag auslief. Nevanlinna war mit Informationen u ¨ber Zugest¨andnisse der milit¨arischen F¨ uhrung ausgestattet worden. Aus der Sicht Finnlands war es wichtig, genaue Informationen u ¨ ber die W¨ unsche der Deutschen zu bekommen. Die Deutschen gaben sich schließlich zufrieden, als sie von Nevanlinna h¨ orten, daß die vertragsgem¨aße R¨ uckkehr der Truppen nicht das Ende des Bataillons bedeuten werde. Der deutsche Gesandte Wipert von Bl¨ ucher, der nicht einbezogen worden war, schrieb ein
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wenig s¨ auerlich, daß die Abmachung in Sachen Freiwillige m¨ undlich und di” rekt in Berlin zwischen Professor Nevanlinna und der SS-F¨ uhrung getroffen wurde“. Das nach Finnland zur¨ uckkehrende Bataillon ging im Juni 1943, ohne es an die große Glocke zu h¨ angen, in Hanko an Land. Mit dabei waren deutsche Offiziere des Bataillons und als F¨ uhrer General Felix Steiner, der ehemalige Kommandant der Division Wiking. Die Ankommenden wurden von General Lauri Malmberg empfangen, dem Kommandanten der Heimattruppen, und anwesend war auch Rolf Nevanlinna, aber nur eine Handvoll Zuschauer. In Tampere fand eine Feier statt, bei der Nevanlinna die Festrede hielt. Im Gegensatz zum zweiten Sprecher, General Steiner, der trotz der einstweiligen Mißerfolge Deutschlands beteuerte, daß Deutschland den Krieg gewiß gewinnen werde, ließ sich Nevanlinna in seiner von patriotischem Geist durchdrungenen Rede nicht darauf ein, die Zukunft vorauszusagen. In Tampere gingen die M¨ anner des Bataillons auseinander, um Urlaub zu machen; Anfang Juli kehrten sie nach Hanko zur¨ uck, um von dem endg¨ ultigen Schicksal des Bataillons zu erfahren, wor¨ uber es noch keine Vereinbarung mit den Deutschen gab. In dieser Phase schrieb Mannerheim direkt an Hitler, daß er alle seine M¨ anner brauche und folglich nicht imstande sei, der Rekrutierung neuer M¨ anner zuzustimmen. Diejenigen, die bereits angeworben worden waren, k¨ onnten ihren Vertrag f¨ ur maximal sechs Monate verl¨angern, wenn sie es denn w¨ unschten. Da deren Zahl wahrscheinlich gering bleiben werde, war es nach Mannerheims Meinung am zweckm¨ aßigsten, das ganze Bataillon aufzul¨osen. An Deutschlands Ostfront tobte gerade die Kursker Panzerschlacht, welche die Aufmerksamkeit des Hitlerschen Hauptquartiers band. Von dort ging schnell die kurze und harsch formulierte Mitteilung ein, daß Deutschland ganz auf das finnische Freiwilligenbataillon verzichte. Bei der Abschiedsfeier des Bataillons im Juli 1943 in Hanko herrschte eine angespannte Atmosph¨ are. Die deutschen Offiziere weigerten sich, an der von Malmberg organisierten Festveranstaltung teilzunehmen. Nevanlinna erhielt die Aufgabe des Friedensstifters: Zu dem Mittagessen, das er im Namen des Rekrutierungskomitees des SS-Freiwilligenbataillons organisierte, kamen die Deutschen. Anwesend war auch General Malmberg, der von Mannerheim die Erlaubnis erhalten hatte, als Privatperson teilzunehmen. Nevanlinna hielt eine herzliche Rede und die Stimmung war ¨ außerst vers¨ohnlich“. ” In seinem offiziellen Reisebericht sprach General Steiner u ¨ ber Nevanlinna freundlicher als u ¨ ber die anderen von ihm beschrieben Finnen (Edwin Lin¨ komies, Lauri Malmberg, Henrik Ramsay, Rudolf Walden, Hugo Osterman). Steiner versicherte, daß Nevanlinna ein Verehrer Hitlers und absoluter Freund Deutschlands sei, der Deutschlands Außenpolitik und die Pl¨ane f¨ ur ein neues Europa verstehe. Gleichzeitig sei Nevanlinna ein ausgepr¨agter finnischer Patriot, der die Interessen des finnischen Volkes gleichsam von einer h¨oheren Warte aus betrachte. Steiner erw¨ ahnte, daß Nevanlinna ein vorsichtiges Bedauern u ber die Eigenm¨ a chtigkeiten des großen deutschen Brudervolkes a¨ußerte und ¨
7.7 Rektor der Universit¨ at
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Abb. 7.3. General Felix Steiner und Rolf Nevanlinna im Jahr 1943 am Sommerhaus der Nevanlinnas in Lohja.
sich dabei insbesondere auf die Ereignisse in Norwegen bezog, die die Finnen ersch¨ utterten. Zusammenfassend schrieb Steiner kurz und b¨ undig u ¨ ber Nevanlinna: Vorz¨ uglicher Vertreter des besten Finnentums“. ”
7.7 Rektor der Universit¨ at Im Herbst 1940 beging die Universit¨ at Helsinki ihren dreihundertsten Jahrestag. Wegen des Winterkriegs war es nicht m¨ oglich gewesen, die Feierlichkeiten zur geplanten Zeit im Fr¨ uhling abzuhalten, und als sie im Herbst versp¨atet stattfanden, war der Rahmen sehr viel bescheidener als urspr¨ unglich gedacht. Nevanlinna war Mitglied des Organisationskomitees der Dreihundertjahrfeier, aber bei der Festveranstaltung selbst war er kein Hauptakteur. Als u ¨ berragende Gestalt der Hauptzeremonie im Festsaal der Universit¨at trat Marschall Mannerheim auf und zeichnete die Universit¨at Helsinki mit Finnlands
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Freiheitskreuz als Anerkennung daf¨ ur aus, was die Universit¨at im Laufe der Zeit f¨ ur die Freiheit des Vaterlandes getan hatte. Als sich der Termin f¨ ur die Wahl des Universit¨atrektors im Fr¨ uhling 1941 n¨ aherte, wurde der Name Rolf Nevanlinna genannt. Er war mehrere Jahre Dekan gewesen, hatte sich als ideenreicher Administrator erwiesen und war ein bekannter Forscher von internationalem Ruf. Man hielt Edwin Linkomies im voraus f¨ ur einen der Favoriten. Als erster Vizerektor kannte er die Universit¨at gr¨ undlich und hatte sich als ausgezeichnetes Verwaltungstalent erwiesen. Als Schw¨ ache galt seine absolutistische Amtsf¨ uhrung, durch die er sich zahlreiche Gegner machte. Außerdem gibt es bei Rektorenwahlen oft eine Spannung zwischen den Naturwissenschaftlern und den Geisteswissenschaftlern, auch wenn betont wird, daß bei der Wahl eine Person und nicht der Vertreter eines Faches gew¨ ahlt wird. Bei der Rektorwahl am 1. Mai 1941 erhielt Nevanlinna 35 Stimmen, Linkomies 29 und somit war Nevanlinna f¨ ur die Dreijahresperiode 1941–1944 zum Rektor gew¨ ahlt worden. Das Ergebnis war eine Entt¨ auschung f¨ ur Linkomies, der erneut zum Vizerektor gew¨ ahlt wurde. Nevanlinna gegen¨ uber bekannte Linkomies, daß er trotz seiner Niederlage froh dar¨ uber sei, daß gerade Nevanlinna gesiegt habe, und daß er vorbehaltlos zustimmen k¨ onne, daß Nevanlinna die Leitung der Universit¨ at u ¨bernehme. Er versprach, als Vizerektor Nevanlinna auf jede nur erdenkliche Weise zu unterst¨ utzen. Ihre Zusammenarbeit endete jedoch fr¨ uher als geplant, als Linkomies im M¨ arz 1943 zum Ministerpr¨asidenten der neuen Regierung gew¨ ahlt wurde. Linkomies wurde im Jahr 1956 f¨ ur seine fr¨ uhere Niederlage entsch¨adigt, als er zum Rektor der Universit¨ at Helsinki gew¨ahlt wurde. Nevanlinnas schriftliche Gl¨ uckw¨ unsche sind interessant: Rector Magnificus, ich freue mich ” dar¨ uber, daß nunmehr das geschehen ist, was bereits vor Jahrzehnten h¨atte geschehen sollen.“ Nachdem Linkomies Ministerpr¨ asident geworden war, wurde Arthur L˚ angfors, Professor der romanischen Philologie, zum Vizerektor gew¨ahlt. Die Zusammenarbeit zwischen dem deutschfreundlichen Nevanlinna und dem westlich orientierten L˚ angfors verlief reibungslos: Bei der Leitung der Universit¨at gab es keine Schwierigkeiten. Die Politik blieb w¨ahrend der gesamten Kriegszeit außerhalb der Universit¨ at. Als Nevanlinna seine T¨ atigkeit als Rektor Anfang September 1941 begann, war Finnland erneut in den Krieg geraten. Das bedeutete, daß Nevanlinna erst mehr als ein Jahr sp¨ ater, im Oktober 1942, den traditionellen roten Rektorentalar anziehen und seine erste Rede zur Er¨offnung des Studienjahres halten konnte. Die Universit¨ at war ein ganzes Studienjahr geschlossen gewesen. Nevanlinna war bereits vorher eine bekannte Pers¨onlichkeit und jetzt er¨ hielt er außerdem die ganze Wertsch¨ atzung und Offentlichkeit, die dem Rektor als Vertreter der Universit¨ at Helsinki zukam. Alle T¨ uren schienen ihm offen zu stehen: Er traf f¨ uhrende Pers¨ onlichkeiten der Politik und Vertreter des diplomatischen Korps. Die Leichtigkeit, mit der er Kontakte kn¨ upfte
7.7 Rektor der Universit¨ at
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und Informationen erhielt, verst¨ arkte seinen Wunsch, unter den herrschenden Verh¨ altnissen Einfluß auf die Gesellschaft auszu¨ uben. Kein Wunder, daß Nevanlinna in Finnland zu einer der Leitgestalten der Ausrichtung auf Deutschland wurde.
Abb. 7.4. Rolf Nevanlinna als neuer Universit¨ atsrektor in Minervas Gesellschaft am Rednerpult im Saal des Großen Konsistoriums.
Zur finnischen Armee hatte Nevanlinna auf zweierlei Weise Kontakt. Als Rektor befand er sich einerseits mit dem Hauptquartier in einem st¨andigen Interessenkonflikt, als er versuchte, diejenigen Studenten f¨ ur die Universit¨at zur¨ uckzugewinnen, deren Studium der Milit¨ardienst unterbrochen hatte. Andererseits ging die w¨ ahrend des Winterkrieges begonnene Arbeit im ballistischen B¨ uro weiter, in dem Nevanlinna als mathematischer Experte und ” Berater“ ohne feste Stelle arbeitete.
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7 Die Zeit der Kriege
In der ersten Phase des Fortsetzungskrieges wurde Nevanlinna an die Front von Hanko gerufen, wo ihm die Ehre zuteil wurde, die erste Kanonensalve auf die Stellungen des Feindes abzufeuern. Er besuchte auch die Karelische Landenge und sagte, daß er in der mathematischen B¨ uchersammlung der Bibliothek von Viborg sein eigenes funktionentheoretisches Hauptwerk in einer ¨ russischen Ubersetzung gesehen habe, von der er nichts gewußt hatte. Als die Universit¨ at im Studienjahr 1941–1942 geschlossen wurde, unternahm der tatkr¨ aftige Nevanlinna mehrere Reisen nach Deutschland. Hauptgegenstand seiner Reisen waren mathematische Vortr¨age, aber gleichzeitig warb er f¨ ur Finnland, indem er auch u ¨ ber allgemeine Themen der Geistes- und Kulturgeschichte sprach. Seine Position als Rektor der Universit¨at Helsinki erleichterte die Bestrebungen, ¨ offentliche Auftritte und Diskussionen u ¨ ber einen Dozenten- und Studentenaustausch zwischen Finnland und Deutschland zu organisieren. Bei seinen Auftritten blieb Nevanlinna bei seinen Leisten: Er vermied es, auf Politik einzugehen, und sprach kein Wort u ¨ber den Nationalsozialismus. Dennoch untermauerte Nevanlinna, der als Wissenschaftler in Berlin bereits bekannt und gesch¨ atzt war, seine Position als zuverl¨assiger Freund Deutschlands.
Abb. 7.5. Der Zivilist Rolf Nevanlinna im Jahr 1941 an der Front auf der Karelischen Landenge neben General Taavetti Laatikainen.
Im Herbst 1941 nahm Nevanlinna an der Tagung der Deutschen Mathematikervereinigung (DMV) in Jena teil und hielt auch eine Rede im deutschen Radio. In einer 1999 an der Universit¨ at Virginia veranstalteten Konferenz, die sich mit den internationalen Beziehungen in der Mathematik befaßte,
7.8 Die Universit¨ at in der Zeit des Krieges
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bezeichnete ein Vortragender diesen Radioauftritt als Hinweis auf Nevanlinnas Nazi-Verbindungen, obwohl der betreffende Vortragende nicht einmal wußte, wor¨ uber Nevanlinna in seiner Rede gesprochen hatte. In den Unterlagen, die in einem deutschen Archiv gefunden wurden, kann man lesen, daß sich Nevanlinna bei der DMV daf¨ ur bedankte, daß sie in diesen schweren Kriegszeiten ihre Kr¨ afte so eindr¨ ucklich pr¨ asentierte, und er dr¨ uckte seine Genugtuung dar¨ uber aus, daß so viele junge Mathematiker teilnahmen; das sei ein gutes Zeichen f¨ ur den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland. Es fiel kein Wort u ¨ber den Nationalsozialismus oder u ¨ber irgendeine andere politische Frage.
7.8 Die Universit¨ at in der Zeit des Krieges Im Herbst 1942 erreichte man in den Verhandlungen zwischen der Universit¨at und dem Hauptquartier in Mikkeli4 einen Kompromiß, der den Beginn des akademischen Betriebs erm¨ oglichte. Nevanlinna hatte bei seinem Besuch in Mikkeli Mannerheim getroffen. Mannerheim reagierte Nevanlinna gegen¨ uber mit h¨ oflicher Zur¨ uckhaltung. Nevanlinna gab zu, daß er sich in der Gesellschaft Mannerheims trotz dessen taktvollen Verhaltens klein gef¨ uhlt habe. Von den Personen, denen Nevanlinna begegnete, u ¨bte außer Mannerheim nur Sibelius eine ¨ ahnliche Wirkung auf ihn aus. Nevanlinna reagierte nicht vorbehaltlos positiv auf Mannerheim, der politisch nicht immer auf derselben Linie mit den deutschfreundlichen Nevanlinnas war. Der Gegensatz hatte sich im Oktober 1918 dramatisch zugespitzt, als Mannerheim und Ernst Nevanlinna zuf¨alligerweise auf dem gleichen Schiff in Richtung Stockholm reisten. Ernst Nevanlinna war nach Deutschland unterwegs, um dem k¨ urzlich gew¨ahlten K¨onig Finnlands einen offiziellen Einladungsbrief zu u ¨ bergeben; Mannerheim hingegen reiste nach London und Paris mit der Aufgabe, die Westm¨achte davon zu u ¨ berzeugen, wieder Kontakt zu Finnland aufzunehmen. Im Oktober 1942, fast anderthalb Jahre nach der Rektorwahl, war Nevanlinna endlich imstande, die Universit¨ at wieder zu er¨offnen. In seiner Jungfernrede als Rektor ging er nicht auf den laufenden Krieg als solchen ein, sondern beschr¨ ankte sich auf die Probleme, die der Krieg an der Universit¨at verursacht hatte: Nach einer Unterbrechung von mehr als zwei Jahren versammeln wir ” uns wieder in einer traditionellen Zeremonie. Obschon die T¨atigkeit der Universit¨ at eingeschr¨ ankt ist, erweist sich der Beginn der akademischen Arbeit als ein Ereignis, das u ußt wird. Das ¨ berall im Land mit Genugtuung begr¨ zeigt, daß unsere Gesellschaft auch im andauernden Krieg dazu f¨ahig ist, ihre lebenswichtigen und zukunftsorientierten Aufgaben anzugehen.“ Er vergaß nicht, den zwei Jahre zuvor gefeierten dreihundertsten Jahrestag zu erw¨ ahnen: Klarer als fr¨ uher wurde den Teilnehmern der Festveranstaltung ” die Bedeutung der Universit¨ at als Kraftzentrum des geistigen Lebens unseres 4
Stadt in der Region Savo, heute Verwaltungssitz der Provinz Ostfinnland.
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7 Die Zeit der Kriege
Volkes. W¨ ahrend ihrer dreihundertj¨ ahrigen T¨atigkeit beschr¨ankte sich die Universit¨ at nicht nur auf ihre ureigenste Aufgabe, die Wissenschaften zu f¨ordern, die h¨ ochste wissenschaftliche Bildung zu verbreiten oder die Beamtenschaft heranzubilden. Dar¨ uber hinaus gab die Universit¨at die geistige Richtung des Landes vor und von ihr kamen die Impulse, welche die geistige, gesellschaftliche und politische Entwicklung unseres Volkes gelenkt haben.“ Der Hauptteil der Rede war eine Erkl¨ arung der Maßnahmen, mit denen man versuchte, die Arbeit der Universit¨ at zumindest teilweise aufrecht zu erhalten. Nevanlinna behandelte auch die Sprachenfrage und stellte fest, daß innerhalb der Universit¨ at zwischen den verschiedenen Sprachgruppen ein gutes Einvernehmen herrschte. Er beendete diesen Teil der Rede mit dem folgenden Satz: In der Universit¨ at haben wir unter den gegenw¨artigen Umst¨anden in ” jeglicher Hinsicht gute Voraussetzungen f¨ ur eine erfolgreiche Arbeit, wenn uns nur die Parteipolitiker in Ruhe lassen w¨ urden. In Ermangelung einer hinreichenden politischen Besch¨ aftigung versuchen sie ihr Daseinsrecht dadurch zu vergr¨ oßern, daß sie Konflikte schaffen, wo diese nicht sein m¨ ußten und mit etwas gutem Willen vermieden werden k¨ onnten.“ Freiherr Ernst von Born5 verurteilte die Ausf¨ uhrungen Nevanlinnas besonders nachdr¨ ucklich und zahlte mit derselben M¨ unze zur¨ uck: In diesem Zusam” menhang k¨ onnte man mit gutem Grund auch fragen, ob es denn nicht andererseits so ist, daß die Wissenschaftler in Ermangelung hinreichender Besch¨aftigung in der letzten Zeit damit begonnen haben, sich viel zu sehr einem mehr oder weniger nutzlosen Politisieren zu widmen.“ Die von der schwedischsprachigen Presse in Finnland angekurbelte ¨ offentliche Debatte breitete sich bis nach Schweden aus. Das veranlaßte Urho Kekkonen6 unter dem Pseudonym Pekka Peitsi zur Feder zu greifen: Der sachlich solide Kern der Rede des Uni” versit¨ atsrektors h¨ atte weniger hohe Wellen geschlagen, h¨atte die Rede nicht so starke Breitseiten enthalten, die blindlings gegen unser politisches System abgefeuert wurden. Die so aufgekommene unn¨otige Diskussion st¨ort unseren Zusammenhalt und zeigt, daß man sich f¨ ur diese Sch¨ usse besser nach einem anderen Forum h¨ atte umsehen sollen.“ Als Nevanlinna ein Jahr sp¨ ater das Studienjahr er¨offnete, stellte er fest, daß die Anzahl der zu Friedenszeiten Studierenden, fast 7000, im vorangegangenen Jahr auf knapp 4000 zur¨ uckgegangen war. Vor dem Krieg stellten die Frauen ein Drittel der Studenten, jetzt war ihr Anteil auf zwei Drittel gestiegen. Die Bedingungen waren somit außergew¨ohnlich, aber dennoch entsprachen die Studienergebnisse des infolge des Krieges verkleinerten Jahrgangs den Erwartungen recht gut. Nevanlinna befaßte sich in seiner Rede u ¨ berwiegend mit den kriegsbedingten Schwierigkeiten sowie mit den Pl¨ anen und Aktionen der Universit¨at zur 5 6
Ernst von Born, Innenminister 1939–1941, Justizminister 1943–1944. Urho Kekkonen (1900–1986), Justizminister 1936, Innenminister (1937–1939), 1944 Justizminister in der Regierung Paasikivi, mehrfacher Ministerpr¨ asident (1950–1956) und langj¨ ahriger finnischer Staatspr¨ asident (1956–1981).
7.8 Die Universit¨ at in der Zeit des Krieges
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Milderung der Mißst¨ ande. Er wollte auch den Idealismus inmitten des Krie¨ ges hochhalten: Was auch immer die praktischen Anderungen oder Reformen ” sind, zu denen die außergew¨ ohnliche Zeit Anlaß gibt – unter allen Umst¨anden ist unsere h¨ ochste Richtschnur das unver¨ anderliche Prinzip: Das Leben der Universit¨ at muß so entwickelt werden, daß der hier herrschende erhabene Geist aufrechterhalten wird, in dessen Schutz die freie Forschung gedeihen kann.“ In seiner Rede betonte Nevanlinna die Wichtigkeit der kulturpolitischen Planung. Die Finnische Kulturstiftung trat auf Initiative ihres Generalsekret¨ ars Lauri A. Puntila in Aktion und organisierte im Dezember 1943 kulturpolitische Beratungstage im St¨ andehaus. In der Kultur suchte man die Kraft f¨ ur ein Land, dessen Zukunft große Sorgen bereitete, nachdem sich das Kriegsgl¨ uck gewendet hatte. Als Teilnehmer waren nicht nur wichtige akademische Pers¨ onlichkeiten anwesend, sondern auch die politische F¨ uhrung des Landes: Pr¨ asident Risto Ryti, Parlamentspr¨asident V¨ain¨o Hakkila, Ministerpr¨ asident Edwin Linkomies und andere Minister. Nevanlinna hatte an der Planung der Beratungstage nicht teilgenommen, aber er war einer der Referenten zum Thema Wissenschaft und Literatur“; der Schriftsteller V. A. Koskennie” mi war der andere Referent der Diskussionsveranstaltung. Im nachfolgenden Jahr erhielt Nevanlinna den Preis der Finnischen Kulturstiftung in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Verdienste. Im Februar 1944 flog die Sowjetunion jeweils nachts drei große Luftangriffe gegen Helsinki. Beim zweiten Angriff traf eine Bombe das Hauptgeb¨aude der Universit¨ at, als sich Nevanlinna dort in seinem Amtszimmer aufhielt. Er selbst fand die Bombe, die gl¨ ucklicherweise ein Blindg¨anger war, und erstattete eine einschl¨ agige Anzeige von seinem Fund. Das Ereignis wurde aufgebauscht und die Story machte die Runde, daß der Rektor die Bombe eigenh¨andig auf die Straße geschleppt habe. Die Geschichte bekam eine zus¨atzliche W¨ urze, als man erfuhr, daß sich Nevanlinnas Freundin, die S¨angerin Mary Hannikainen, in seiner Gesellschaft befunden hatte, als die Bombe fiel. Genau eine Woche sp¨ ater traf w¨ ahrend einer Sitzung des Konsistoriums die Nachricht ein, daß der Kanzler7 Hugo Suolahti infolge eines pl¨otzlichen Herzinfarkts gestorben war, als er zu Fuß nach Hause unterwegs war. Das traurige Ereignis f¨ uhrte schon bald zu einer Diskussion u ¨ber den Nachfolger. Der Rektor hat bei der Kanzlerwahl oft eine gute Ausgangsposition und so wurde Nevanlinna als m¨ oglicher Nachfolgekandidat genannt. Doch er erhielt nicht sehr viel Unterst¨ utzung – man hielt ihn f¨ ur zu jung“. Immerhin er” reichte er als Kandidat den dritten Platz. Noch weniger Unterst¨ utzung erhielt Ministerpr¨ asident Linkomies. Antti Tulenheimo, der Oberb¨ urgermeister und Stadtpr¨ asident von Helsinki, der fr¨ uher Professor und Rektor der Universit¨at gewesen war, gewann die Wahl und wurde zum Kanzler ernannt. 7
In der Verwaltung der Universit¨ at Helsinki ist der Kanzler die protokollarisch h¨ ochstrangige Person. Zu seinem besonderen Verantwortungsbereich geh¨ ort der Kontakt zur politischen F¨ uhrung des Landes.
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7 Die Zeit der Kriege
Abb. 7.6. Die wissenschaftspolitischen Tage der Finnischen Kulturstiftung im Jahre 1943. Rolf Nevanlinna spricht, neben ihm Kanzler Hugo Suolahti und Lauri A. Puntila, Generalsekret¨ ar der Kulturstiftung und Organisator der Veranstaltung. Als Zuh¨ orer in der vorderen Reihe (von rechts): Risto Ryti, Pr¨ asident der Republik, V¨ ain¨ o Hakkila, Parlamentspr¨ asident, und Ministerpr¨ asident Edwin Linkomies.
Am 26. Februar 1944, nur drei Tage nach dem Tod des Kanzlers Suolahti, wurde das Hauptgeb¨ aude der Universit¨ at durch die dritte große Bombardierung Helsinkis besch¨ adigt. Die pr¨ achtigen Wandgem¨alde des Festsaals, Albert Edelfelts Einweihung der Akademie Turku 8 sowie Eero J¨arnefelts AuroraGesellschaft und Fest des Floratages wurden zerst¨ort und W¨ain¨o Aaltonens Skulptur Die G¨ottin der Freiheit bekr¨anzt die Jugend wurde besch¨adigt. Das Ereignis hatte auch symbolische Bedeutung, denn der Vernichtungsschlag richtete sich gegen die Universit¨ at, die so eng mit dem Schicksal Finnlands verbunden gewesen war. W¨ ahrend des n¨ achtlichen Bombardements nahm Nevanlinna im St¨andehaus an einer Sitzung der Philosophischen Vereinigung teil und h¨orte sich dort einen Vortrag von Eino Kaila an. Nach Ausl¨osung des Fliegeralarms beschlossen die Zuh¨ orer, dem Wunsch Kailas zu folgen und den Vortrag fortzusetzen; aufgrund des schnell eskalierenden Krachens und der zunehmenden Explosionsger¨ ausche sahen sie sich jedoch gezwungen, die Sitzung zu unterbrechen. 8
Akademie Turku (Turun akatemia) bezeichnet hier die 1640 gegr¨ undete Universit¨ at, die 1828 nach Helsinki verlegt wurde.
7.8 Die Universit¨ at in der Zeit des Krieges
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F¨ ur eine halbe Stunde gingen Kaila und Nevanlinna im Kellergang des St¨andehauses hin und her und diskutierten dabei u ¨ ber Fragen, die mit Kailas Vortrag zusammenhingen. Dieser Meinungsaustausch, der unter der Erde stattfand, ist der Rahmen f¨ ur das Dritte Gespr¨ ach“ u ¨ ber das Thema Wissen und Glaube“ ” ” in Kailas Werk Syv¨ahenkinen el¨am¨a (Tiefgeistiges Leben). Als die Bomben noch dichter fielen, hielt es Nevanlinna nicht mehr unter der Erde aus, sondern machte sich auf den Weg und eilte in Richtung Universit¨ at. Von der Ecke des Senatsplatzes bot sich ihm ein ersch¨ utternder Anblick: Das Hauptgeb¨ aude stand in Flammen. Ein Teil der Sch¨atze konnte gerettet werden, so etwa das Katheder des Festsaals, das gl¨ ucklicherweise bereits 1827 der Vernichtung durch die Feuersbrunst von Turku entgangen war; gerettet wurden auch die dekorativen T¨ uren des Festsaals, die ebenfalls aus der Turkuer Zeit9 stammen. Nevanlinna war von der Zerst¨ orung tief betroffen und hielt sich f¨ ur die erlittenen Verluste teilweise selbst f¨ ur schuldig, da er es als Rektor nicht f¨ ur n¨ otig erachtet hatte, die Kunstwerke w¨ ahrend des Krieges an einen sicheren Ort bringen zu lassen. Auch die ¨ offentliche Meinung brachte Nevanlinna mit der Zerst¨ orung in Zusammenhang: Ein weitverbreitetes Foto zeigt Rektor Nevanlinna bei der in Ruinen liegenden Universit¨at. W¨ain¨o Aaltonen hielt allerdings seine besch¨ adigte Skulptur f¨ ur sch¨oner als je zuvor, und im gleichen Sinne ¨ außerte sich auch Eino Kaila in seiner Schrift Aula Almae Matris in ” memoriam“, die in der Zeitung Uusi Suomi erschien: Nur die zerbrochenen ” Mauern und die zersplitterten S¨ aulen, nur die vom brutalen Feind zu Torsos zerst¨ orten Statuen erhalten diese Jahrhunderte alte Patina, in der unsere Phantasie mit ihren geistigen Augen die ganze Tiefe der Vergangenheit er¨ faßt ... Uber eine Zeit von mehr als hundert Jahren sind aufeinander folgende Generationen im ehemaligen Festsaal der Universit¨at mit dem tiefgeistigen Leben in Ber¨ uhrung gekommen. Wohl kein anderes Volk d¨ urfte sein h¨ochstes geistiges Leben auf solche Weise an einer einzigen Stelle konzentriert haben, wie es das finnische Volk w¨ ahrend des letzten Jahrhunderts in diesem vornehmen Haus getan hat ... Somit haben auch wir jetzt unsere Akropolis und k¨ onnen unser Gebet auf ihren Ruinen verrichten.“ Ein paar Tage sp¨ater entschied das Konsistorium, daß die Universit¨ at ihre Arbeit nicht unterbrechen sollte, trotz der schlimmen Sch¨ aden, die das Hauptgeb¨aude erlitten hatte. Es war nicht m¨ oglich, die Er¨ offnungsfeier der Universit¨at am 1. November 1944 im zerst¨ orten Festsaal durchzuf¨ uhren; deswegen fand die Festveranstalaudes statt. Der Krieg tung im großen H¨ orsaal des neuen Fl¨ ugels des Hauptgeb¨ gegen die Sowjetunion war zu Ende und Nevanlinna trat das letzte Mal als Rektor auf. In seiner langen Rede beschrieb er die Schwierigkeiten, unter denen die Universit¨ at ihre Arbeit nunmehr den Bedingungen des Friedens anpassen mußte, und die Maßnahmen, mit denen die Universit¨at die Schwierigkeiten zu u ¨ berwinden oder wenigstens zu lindern suchte. Er sprach auch u ¨ber eine neue
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Der Zeitabschnitt 1640–1828 wird als Turkuer Zeit bezeichnet.
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7 Die Zeit der Kriege
Fakult¨ at f¨ ur Staatswissenschaften – die diesbez¨ uglichen Pl¨ane hatte er bereits in seinen beiden fr¨ uheren Er¨ offnungsreden behandelt. Die Initiative zur Gr¨ undung der neuen Fakult¨at kam von Linkomies und Kaila. Nevanlinna unterst¨ utzte das Vorhaben und hielt auch sp¨ater die Verbesserung der Stellung der Sozialwissenschaften f¨ ur eine notwendige Reform. Aber w¨ ahrend der radikalen 1970er Jahre ¨ anderte er beinahe seine Meinung, nachdem er festgestellt hatte, wie die objektive Forschung in den sozial” wissenschaftlichen Fakult¨ aten, inbesondere in den neueren Universit¨aten, auf Kosten der politischen Stellungnahmen ins Hintertreffen geraten ist“. Nevanlinna beendete seine letzte Rektorrede mit der folgenden prinzipiellen Botschaft: Soll das Niveau der Universit¨at hoch bleiben, dann darf ihr die ” Forschung nicht fremd werden. Einen lebendigen Antrieb erh¨alt sie durch die Wechselwirkung zwischen den beiden Seiten der Universit¨atst¨atigkeit – durch den Spannungsbogen zwischen Forschung und Lehre.“
7.9 Das Kriegsglu ¨ ck wendet sich Im Jahr 1942 hatte Nevanlinna noch Gr¨ unde, bez¨ uglich des Ausgangs des Krieges hoffnungsvoll zu sein. Er hielt es f¨ ur gerechtfertigt, in einem Artikel, der in der Zeitschrift Kustaa Vaasa erschien, an die welthistorische Bedeutung des Kampfes zu erinnern, den Deutschland an seiner Ostfront f¨ uhrte. Er erw¨ ahnte die westlichen Alliierten mit keinem Wort, auch wenn sie ebenfalls Kriegspartei waren. Sein Lieblingsthema war Deutschlands St¨arke als Kulturvolk und die Einigung des Volkes durch die nationalsozialistische Ideologie. Er schrieb: Es gibt kein anderes Volk, das so wie das deutsche Volk ” innerlich und ¨ außerlich ausgestattet w¨ are, diese entscheidende Aufgabe, den Kampf f¨ ur die humanistische europ¨ aische Kultur, zu erf¨ ullen. Das deutsche Volk ist hierzu berufen, weil es ein hochentwickeltes und reifes Kulturvolk ist, das im Laufe der Jahrhunderte auf allen Gebieten der geistigen und materiellen Kultur Fundamentales geschaffen hat. Das deutsche Volk ist das Volk der Dichter und Denker, aber bereits in jenen Zeiten, die diesem Volk mehr als anderen diesen unsterblichen Ehrennamen gaben, trifft man dort ein unausl¨ oschliches Streben nach nationaler und sozialer Einheit ... Dabei ist es auf heftigen inneren wie ¨ außeren Widerstand gestoßen. Aber das Ziel ist erreicht worden und der Weg f¨ uhrte von Friedrich dem Großen u ¨ ber die nationalen Erwecker zur Zeit Napoleons und u ¨ber Bismarck zu Adolf Hitler, unter dessen F¨ uhrung die nationale Einheit Deutschlands schließlich vollendet wurde. Daß diese langfristige und tiefgr¨ undige Entwicklung nunmehr ihr Ziel erreicht hat, bedeutet etwas Entscheidendes, nicht nur f¨ ur Deutschland, sondern auch f¨ ur die gesamteurop¨ aische Entwicklung.“ Im Zusammenhang mit dem Ostfeldzug d¨ urfte Nevanlinna an seinen Lieblingsdenker Jacob Burckhardt gedacht haben. In seinem Buch Weltgeschichtliche Betrachtungen stellt Burckhardt fest, daß die meisten dazu bereit sind,
7.9 Das Kriegsgl¨ uck wendet sich
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Abb. 7.7. Rektor Rolf Nevanlinna im Februar 1944 in der durch Bomben besch¨ adigten Universit¨ at.
das k¨ onigliche Recht der Kultur zu akzeptieren, die Barbarei zu zerst¨oren und ihrer Macht zu unterwerfen. Die letzten Monate des Jahres 1942 bedeuteten den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Vor dieser Zeit schritt Deutschland u ¨ berwiegend von Sieg zu Sieg, danach erfuhr es einen R¨ uckschlag nach dem anderen. Das Kriegsgl¨ uck
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Abb. 7.8. Aufnahme von der Gr¨ undungsveranstaltung der Deutsch-Finnischen Gesellschaft in Berlin im November 1942. Links Rolf Nevanlinna, Dritter von links ist Wipert von Bl¨ ucher, der deutsche Gesandte in Finnland, rechts neben ihm Unterrichtsminister Antti Kukkonen. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv der Yhtyneet Kuvalehdet Oy)
wendete sich, und diese Tatsache spiegelte sich auch in der Stimmung in Finnland wider. Im M¨ arz 1943 kam es in Finnland zu einer neuen Regierung, die von Edwin Linkomies gef¨ uhrt wurde. Die Aufgabe der Regierung war es, ¨ Finnland aus einem Krieg herauszuf¨ uhren, den Deutschland nach ihrer Uberzeugung nicht gewinnen w¨ urde. Das Programm war a¨ußerst schwierig, weil Deutschland milit¨ arisch immer noch stark war. Finnlands Lebensmittelversorgung war von Deutschland abh¨ angig und die Friedenspl¨ane mußten geheimgehalten werden – sowohl wegen m¨ oglicher Gegenmaßnahmen Deutschlands als auch wegen der Stimmung in der eigenen Bev¨olkerung. Bei der Regierungsbildung traf Linkomies eine u ¨ berraschende Personenwahl: Er wollte seinen Freund Rolf Nevanlinna als Unterrichtsminister haben. Man ließ jedoch die Kandidatur Nevanlinnas gleich wieder fallen. Es gibt keine Informationen u ¨ber Einzelheiten der Regierungsverhandlungen, aber es ist bekannt, daß die Sozialdemokraten den rechtsstehenden Linkomies nicht ohne Bedenken als Ministerpr¨ asidenten akzeptiert hatten. Folglich erscheint die Vermutung plausibel, daß die ausgepr¨agte Rechtsorientierung und die Deutschfreundlichkeit Nevanlinnas f¨ ur die Sozialdemokraten zu viel waren. Die zu Beginn des Krieges relativ einm¨ utige Volksmeinung spaltete sich mehr und mehr, da die positive Einstellung zu den westlichen Alliierten zunahm und gegen¨ uber Deutschland nachließ. Das kam im Sommer 1943 sichtbar zum Vorschein. Der ehemalige Pr¨ asident Svinhufvud, der wegen der
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Entwicklung besorgt war, berief eine Sitzung ein, zu der er Personen seines Vertrauens einlud. Auf der Sitzung wurde ein Komitee gew¨ahlt, dessen Aufgabe es war, sich der Verbreitung der anglo-amerikanischen Propaganda im Land soweit wie m¨ oglich zu widersetzen. Außer Svinhufvud selbst wurden Rolf Nevanlinna, Kanzler Hugo Suolahti und vier weitere bekannte finnische Pers¨ onlichkeiten Mitglieder des Komitees. Es waren die Bankiers Eero Ilves, Gunnar Nevanlinna und Pehr H. Norrm´en sowie der Verleger Heikki Reenp¨a¨a, der damals f¨ ur die Leitung des staatlichen Nachrichtendienstes zust¨andig war. Gleichzeitig mit der Aufstellung des Svinhufvud-Komitees wurde auf Initiative des ehemaligen Außenministers und Besitzers der Zeitung Helsingin Sanomat, Eljas Erkko, eine Finnisch-Amerikanische Vereinigung gegr¨ undet. Das war ein bedeutsames Signal, da die Gr¨ undung der Vereinigung zuf¨alligerweise fast genau mit dem Tag zusammenfiel, an dem das SS-Bataillon aufgel¨ost wurde. Im Laufe des Jahres 1943 wurde Nevanlinnas Deutschfreundlichkeit zunehmend zu einer Belastung seiner Seelenruhe. In seinen Memoiren sagte er, daß er nach der Katastrophe von Stalingrad Anfang 1943 nicht mehr an Deutschlands Sieg geglaubt habe. So mußte er die Schlußfolgerung ziehen, daß die Bindung an Deutschland nicht mehr notwendigerweise den Interessen Finnlands entsprach. Zur gleichen Zeit gelangten immer mehr Informationen u ¨ber die Vorgehensweise Nazideutschlands nach Finnland, die Nevanlinnas Seelenruhe weiter ersch¨ utterte. Er zeigte seine Zweifel nicht nach außen, die Staatsf¨ uhrung tat das auch nicht. Bis dahin hatte Nevanlinna in Bezug auf seine Einstellung viel Unterst¨ utzung von seinem Freund Eino Kaila bekommen, dessen messerscharfe Denkf¨ ahigkeit er sehr sch¨ atzte. Im Oktober 1943 fl¨ uchtete der d¨anische Jude Niels Bohr nach Schweden. Der Physiknobelpreistr¨ager Bohr, den Kaila und Nevanlinna pers¨ onlich kannten, war einer der gr¨oßten Namen der internationalen Wissenschaft. Angesichts dieser Nachricht schrieb Kaila, der sich als Privatperson frei f¨ uhlte, seine Meinung auszusprechen, in der Zeitung Uusi Suomi: Wer kann einen Damm gegen die russische Vernichtungsflut errich” ten, wenn nicht das m¨ achtige deutsche Volk? Wer kann die dreitausendj¨ahrige europ¨ aische Kultur sichern, wenn es nicht das deutsche Kulturvolk tut?“ Das waren genau die Argumente, die auch Nevanlinna verwendet hatte. Kaila fuhr fort, daß man geschwiegen hatte, als Enth¨ ullungen u ¨ ber den Nazismus publik geworden waren, die den deutschfreundlichen Finnen unbegreiflich waren; man hatte geschwiegen, weil man nicht Sachen bewerten wolle, die im Detail nicht bekannt waren. So hatte auch Nevanlinna gedacht. Aber jetzt hatte Kaila genug und vollzog eine klare Trennung zur Vergangenheit: Wie kann ein Volk, ” dem die Vorsehung der Geschichte allem Anschein nach die Bewahrung der europ¨ aischen Kultur als Aufgabe gegen eine Bedrohung aus dem Osten u ¨ bertragen hat, sich Taten zuschulden kommen lassen, die das eigentliche Wesen dieser Kultur verunglimpfen?“
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Der Fall Bohr ber¨ uhrte Nevanlinna vermutlich sehr, aber obwohl er u ¨ berhaupt nicht z¨ ogerte, seine Meinung zu ¨ offentlichen Angelegenheiten auszu¨ sprechen, hatte er wohl kaum an eine Außerung gedacht, wie sie Kaila getan hatte. Er w¨ are nicht bereit gewesen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen. Als Grund f¨ ur Nevanlinnas Schweigen im Fall Bohr k¨onnte man auch seine Loyalit¨ at zur finnischen F¨ uhrung angeben, die es – im Interesse des Gesamtnutzens f¨ ur das finnische Volk – vermied, Deutschland zu kritisieren. Nach dem Krieg verhielt sich der impulsive Nevanlinna allerdings weniger loyal, als das Ziel des Tadels die Sowjetunion und nicht Deutschland war. Im Fr¨ uhling 1944 war es bereits mehr als offensichtlich, daß Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte. Paasikivi war nach Moskau entsandt worden, um das Friedensangebot der Sowjetunion zu erkunden. Die finnische Seite erachtete es nicht f¨ ur m¨ oglich, die Bedingungen zu akzeptieren, so daß der Kampf an der Seite Deutschlands weiterging. Jedoch erkannten in Finnland viele, daß es klug war, sich langsam aus den Verbindungen zu Deutschland zur¨ uckzuziehen. Nevanlinna tat genau das Gegenteil. Im April 1944 ließ er sich zum Vorstandsmitglied der Finnisch-Deutschen Vereinigung w¨ahlen. Er wollte zeigen, daß es in den finnisch-deutschen Beziehungen dauerhafte Werte gab, die von konjunkturellen Zyklen unabh¨ angig waren. In der Geste lag auch ein gewisser Trotz, als Nevanlinna feststellte, daß viele um ihn herum begannen, ihre politischen Ansichten im Hinblick auf die eigene Karriere in eine neue Richtung zu drehen. Diese Art von Opportunismus war f¨ ur Nevanlinna unm¨oglich. Im Mai 1944 begannen Ger¨ uchte u ¨ ber Finnland zu kursieren, die allem Anschein nach von der Stockholmer Presse ausgingen. Der kr¨ankelnde Ministerpr¨ asident Linkomies werde zur¨ ucktreten und auf ihn folge T. M. Kivim¨ aki, der ehemalige Ministerpr¨ asident und finnische Gesandte in Berlin, der als deutschfreundlich galt. In der neuen Regierung werde auch Nevanlinna als Minister t¨ atig sein. Gegen¨ uber dem deutschen Gesandten best¨atigte Außenminister Henrik Ramsay die Unhaltbarkeit dieser Nachrichten. Im Sommer brachte der Großangriff der Roten Armee auf der Karelischen Landenge Finnland in eine t¨ odliche Gefahr. Im schlimmsten Moment der Krise traf Nevanlinna an einem Sommerabend auf der Straße zuf¨alligerweise einen seiner Professorenkollegen, den Biochemiker A. I. Virtanen10 . Noch drei Jahrzehnte sp¨ ater erinnerte sich Nevanlinna an Virtanens Ausruf: H¨or mal, was ” machen wir eigentlich hier in Helsinki? Melden wir uns doch lieber als Soldaten an die Front, dort werden jetzt M¨ anner gebraucht.“ Im September 1944 begann eine neue Phase in der finnischen Geschichte. Finnland schloß mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand und brach die Beziehungen zu Deutschland ab. Rolf Nevanlinna stand vor einer schwierigen 10
Artturi Ilmari Virtanen (1895–1973) wurde 1945 f¨ ur seine bahnbrechenden Forschungen und Erfindungen in der Agrikultur- und Nahrungsmittelchemie, insbesondere f¨ ur seine Futterkonservierungsmethode, mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet.
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Situation, aber er geriet nicht in Panik wie einige andere Bef¨ urworter der deutschfreundlichen Orientierung. An dem Tag, als Finnland die Beziehungen zu Deutschland abbrach, hatte General Paavo Talvela die Gr¨ undung eines Komitees in die Wege geleitet, das sich um die Verlegung der F¨ uhrung des ” finnischen Volkes“ nach Deutschland oder nach D¨anemark k¨ ummern sollte. Man ließ jedoch das ganze Projekt fallen, da die meisten, an die man gedacht hatte – darunter auch Rolf Nevanlinna –, auf den Versuch sehr zur¨ uckhal” tend“ reagierten. Der u ¨ ber Nevanlinna angefertigte Bericht, der im Archiv der nach dem Krieg t¨ atigen kommunistischen Staatspolizei aufbewahrt wurde, besagt, daß er die finnischen Nazistr¨ omungen aktiv unterst¨ utze. Der Bericht nennt Nevanlinnas lobpreisende Schrift u oring und erw¨ahnt, daß er den Spenden¨ber G¨ sammlern der nationalsozialistischen Arbeitsorganisation Finnlands seinen Namen zur Verf¨ ugung stellte. Auch Nevanlinnas T¨atigkeit im Zusammenhang mit dem SS-Freiwilligenbataillon wird im Bericht relativ ausgiebig beschrieben, aber es gibt dort keinerlei Hinweise auf eine Rolle im Reichsbund Finnland. Mit mir hat Nevanlinna u ¨ber die politischen Ansichten, die er w¨ahrend ¨ des Krieges vertrat, nie gesprochen, aber eine ganz kurze Außerung zu diesem Thema ist mir in Erinnerung geblieben. Als wir in den 1960er Jahren in Berlin spazieren gingen, sprachen wir u ¨ ber die Architektur der Stadt und u ¨ ber die diesbez¨ uglichen Pl¨ ane der Nazizeit. Nevanlinna sagte bei dieser Gelegenheit: Der Nationalsozialismus war eine unzivilisierte Bewegung.“ In seinen Memoi” ren analysierte Nevanlinna den Nationalsozialismus nicht, erw¨ahnte aber den R¨ uckschritt, zu dem die Einmischung der nationalsozialistischen politischen Ideologie in die Organisation der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland gef¨ uhrt hatte.
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8.1 Vom Krieg zum Frieden Rolf Nevanlinnas Welt war nach dem Kriegsende zusammengebrochen. Finnland stand unter einem neuen Kommando, das ihm widerlich war, und man blies zur Treibjagd gegen ihn. Er war dermaßen deprimiert, daß er sich ernsthaft dar¨ uber Gedanken machte, ob es einen Sinn hat, das Leben fortzusetzen. Rolfs 75-j¨ ahrige Mutter schilderte ihn damals in ihrem Tagebuch durch Eintr¨ age wie m¨ ude“, ¨ außerst nerv¨ os“, sieht gequ¨alt aus“ und beschrieb die ” ” ” Atmosph¨ are bei ihm zuhause in der Pietarinkatu durch das Wort eiskalt“. ” Die Mutter, die sich nach dem Tod ihres Mannes einsam f¨ uhlte, war verzweifelt, weil sie mit Rolf nicht u ¨ber die ihn qu¨alenden Dinge sprechen konnte. Zwischen uns hatte sich eine Mauer erhoben.“ ” Rolf Nevanlinna mußte sich regenerieren, und tats¨achlich ¨anderten sich seine Lebensumst¨ ande gr¨ undlich. Nach dem Verlust der ¨offentlichen Aufgaben kehrte er zur Mathematik zur¨ uck, aber zu einem neuen Gebiet und in ein internationales Forschungsumfeld, das sich ge¨andert hatte. Er fand eine neue Lebensgef¨ ahrtin und verließ Finnland. Deutschland hatte im Zweiten Weltkrieg eine vollst¨andige Niederlage erlitten; es war eine milit¨ arische, politische und moralische Katastrophe. Die Gegner besetzten das ganze Land, das schlimm zerst¨ort war. Im Vergleich zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg machte sich jedoch bald ein wesentlicher Unterschied bemerkbar. Damals beschuldigten die Sieger das ganze deutsche Volk, jetzt wurde der Nationalsozialismus beschuldigt. Das Einvernehmen der Sieger ließ rasch nach; bereits 1946 teilte der Eiserne Vorhang Europa und dieser Umstand half den Deutschen, wieder auf die Beine zu kommen. Es war f¨ ur Rolf Nevanlinna nicht leicht, sich an die neue Situation anzupassen. Nach seiner Auffassung war die weltweit f¨ uhrende Wissenschaftsund Kulturnation am Boden zerst¨ ort worden und die Barbaren des Ostens versuchten, auf den Ruinen des Landes m¨ oglichst weit nach Europa vorzustoßen. Die neuen angloamerikanischen Herrscher Westeuropas waren ihm fremd. Durch seine nahen Verwandten erfuhr Nevanlinna die Leiden der deutschen
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Zivilbev¨ olkerung auf andere Weise als die meisten anderen Finnen. Sein einziger Onkel – ein Arzt, der als Direktor eines Milit¨arkrankenhauses arbeitete – fiel in die H¨ ande der Russen und kam nach ein paar Wochen um; auch viele andere seiner nahen Verwandten machten schwere Zeiten durch. Nevanlinna sagte sich nicht von den finnisch-deutschen Werten los, die er als positiv betrachtete. Marschall Mannerheim hatte sich auf seiner R¨ uckreise aus der Schweiz nach Finnland mit General Erfurth getroffen, der unter schwierigen Bedingungen lebte – Erfurth war der deutsche Verbindungsoffizier des finnischen Hauptquartiers in Mikkeli gewesen. Als Nevanlinna 1946 in der Schweiz davon h¨ orte, reiste er von dort nach T¨ ubingen, um Erfurth zu treffen. Die ger¨ uhrten Herren leerten ihre randvollen Gl¨aser zu Ehren des Marschalls. Trotz der neuen Winde waren die Verh¨ altnisse in Finnland auch nach dem Krieg so stabil, daß Nevanlinna keinen solchen Schwierigkeiten ausgesetzt war, wie zum Beispiel der f¨ uhrende rum¨ anische Mathematiker Professor Simion Stoilow, den er kannte. W¨ ahrend des Krieges war Nevanlinna auf Vorschlag Stoilows die Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨at Bukarest verliehen worden. Als sich die Konjunktur ge¨ andert hatte, ging Stoilow zur Absicherung seiner Arbeitsbedingungen so weit, daß in der ihm gewidmeten Festschrift davon die Rede ist, wie leidenschaftlich er sich nach der Befreiung Rum¨aniens im August 1944 unter der F¨ uhrung der kommunistischen Partei Rum¨aniens am Wiederaufbau und an der Demokratisierung des Landes beteiligt hatte. Unter Berufung auf den Vorteil f¨ ur die Wissenschaft empfahl Stoilow seinen besten Sch¨ ulern ebenfalls, die Tatsachen anzuerkennen.
8.2 Die Universit¨ at nach dem Krieg Die w¨ ahrend der ersten Tage des Winterkriegs d¨ uster erscheinende Zukunft hatte einen vereinsamten Nevanlinna getroffen. Nach den Kriegen war die Situation eine andere. Im Fr¨ uhjahr 1944 war seine Zeit als Rektor der Universit¨ at Helsinki abgelaufen, aber im Mai wurde er von einer großen Mehrheit f¨ ur den Dreijahreszeitraum 1944–1947 erneut zum Rektor gew¨ahlt. Er war von der wichtigen nationalen Verpflichtung durchdrungen, die Universit¨at zur¨ uck zur Arbeit der Friedenszeit zu f¨ uhren. Wie alle Rektoren hatte gewiß auch Nevanlinna den Gesetzesparagraphen im Sinn, demgem¨aß der Obhut und ” Aufsicht des Rektors all das obliegt, was die Universit¨at betrifft“. Eine sichtbare Aufgabe bestand darin, mit den Instandsetzungsarbeiten des durch Bomben besch¨ adigten Hauptgeb¨audes zu beginnen. Diese Arbeit mußte in einer Zeit getan werden, in der es an allem mangelte. Besonders wichtig war die schwedische Unterst¨ utzung. Bei der Organisation der Hilfe zeigte es sich, daß Nevanlinnas pers¨ onliche Beziehungen zu dortigen Industrieund Versicherungskreisen Gold wert waren. Auch nachdem er vom Rektorenamt zur¨ ucktreten mußte, wurde er gebeten, Mitglied der Kommission f¨ ur die Instandsetzung des Hauptgeb¨ audes zu bleiben.
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Unmittelbar nach Kriegsende erachtete es die Finnische Kulturstiftung – insbesondere in der Person von Lauri A. Puntila – f¨ ur wichtig, die geistige Haltung der Studenten dadurch zu beeinflussen, daß man die Jugend zur Kulturarbeit anleitete. An der Universit¨ at wurde Leo Sario, der Kurator der Studentischen Verbindung von Viborg, zu einem energischen F¨orderer der Kultur. Nevanlinna kannte Sario bereits aus seiner Inspektorenzeit; zudem war Sario sein Sch¨ uler und hatte begonnen, seine Dissertation unter Nevanlinnas Anleitung zu schreiben. Sario setzte sich hohe organisatorische Ziele: Zu seinen Lieblingsideen geh¨ orte die Schaffung einer studentischen Kulturkommission und die Gr¨ undung der Akademie von Finnland (Suomen Akatemia). Sario u ¨ berreichte Rektor Nevanlinna Ende 1944 ein umfassendes Memorandum. Darin schlug er vor, die Universit¨ at solle w¨ochentliche Kulturveranstaltungen und eine j¨ ahrliche Kulturwoche mit entsprechenden Wettbewerben organisieren. Dieses Programm lag Nevanlinna sehr am Herzen, aber er empfand die sich rasch ¨ andernde politische Atmosph¨are als so bedrohlich, daß er nicht davon u ¨berzeugt war, daß die Universit¨at als Verwalterin die richtige“ ” Richtung aufrechterhalten k¨ onne. Es sei sicherer, wenn das Projekt durch die Finnische Kulturstiftung kontrolliert werde, die als private Stiftung von der politischen Macht unabh¨ angig war. Durch ¨ offentliche Auftritte nahm Nevanlinna aktiv an der Kulturarbeit teil. Bei der ersten Veranstaltung der Studentischen Kulturkommission im Februar 1945 sprach er zum Thema Die Aufgaben der Studenten gem¨aß den ” Snellmanschen Prinzipien“. Zwei Jahre sp¨ ater hielt er erneut einen Vortrag, diesmal zum Thema Die akademische Jugend und Kultur“. Nevanlinna st¨ utz” te sich auf Ideen des von ihm bewunderten Jacob Burckhardt und erkannte die Kraft eines intuitiven, emotionalen Lebens an, aber als Gegengewicht hierzu verlangte er das Streben nach Objektivit¨at, nach Erkenntnis dessen, was wir sind und was dieses r¨ atselhafte Sein ist, inmitten dessen wir leben. Diese ” Sehnsucht nach Verstehen ist das Adelskennzeichen des Menschen.“ Nevanlinna erz¨ ahlte, wie w¨ ahrend seiner Studentenzeit das h¨ochste Bestreben f¨ ur einen jungen, gebildeten Menschen darin gesehen wurde, eine unabh¨ angige Weltanschauung zu gewinnen. Heute, nach zwei Weltkriegen, sei man in Bezug auf die Dauerhaftigkeit allgemeiner Weltanschauungen skeptischer. Aber mit demselben Vertrauen wie zuvor kann sich die Jugend den ” andischen Kultur zu eigen machen, deren Kennzeichen die Weg der abendl¨ kontinuierliche Erweiterung der bewußt beherrschten Gebiete ist.“ Nevanlinna trug seine Ansichten lebhaft vor: Ein hochstehendes intel” lektuelles Interesse bildet auch das Fundament des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens und schafft hierf¨ ur einen kultivierten geistigen Boden; auf diesem Boden entwickeln sich auch die Instinkte der barbarischen Rohheit zur veredelten Leidenschaft, zu dem produktiven, kulturschaffenden Schwung, den die Franzosen als Elan bezeichnen.“ Die kulturellen Aktivit¨ aten der Studenten wurden von linken Kreisen als ausgepr¨ agt rechtslastig bewertet. Nachlese der alten Tiefsaat innerhalb ” der unter den Umst¨ anden erlaubten Grenzen.“ Nevanlinna und Puntila, die
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Meinungsf¨ uhrer im Hintergrund, vertraten allzu deutlich die vergangene Richtung, den nationalen D¨ unkel und den Antisowjetismus der 1930er Jahre. Im November 1944 wurde in Finnland eine neue Regierung mit Paasikivi als Ministerpr¨ asident gebildet. Paasikivis Ziel war, die Unabh¨angigkeit des Landes zu sichern, indem er vertrauensvolle Beziehungen zur Sowjetunion entwickelte, ohne dabei die guten Beziehungen zum Westen zu vergessen. Die Paasikivi-Linie nahm langsam Gestalt an. Der kommunistische Volksdemokrat Johan Helo, der bei Ernst Lindel¨ of promoviert hatte, wurde Unterrichtsminister. Nevanlinna gab sp¨ ater folgende Einsch¨ atzung: Mein fr¨ uherer Mitsch¨ uler, ” ein promovierter Mathematiker, war keineswegs dumm, aber als Mensch war er leider unangenehm nachtragend.“
8.3 Der Rektor muß gehen In der neuen politischen Situation, die im Land herrschte, dauerte es nicht lange, bis die Universit¨ at Helsinki und Nevanlinna selbst zur Zielscheibe der Kritik wurden. Im Parlament stellten die Volksdemokraten den Antrag, die Selbstverwaltung der Universit¨ at zu beenden, und deswegen wurde Rektor Nevanlinna aufgefordert, zur Anh¨ orung vor der Bildungskommission des Parlaments zu erscheinen. Im Wissen um seine Schw¨ache, daß er seinen Emotionen zuweilen in unangebrachter Heftigkeit freien Lauf ließ, faßte Nevanlinna im voraus den standhaften Beschluß, fest, aber besonnen aufzutreten. ¨ Zuerst verlief die Diskussion sachlich, aber allm¨ahlich wurden die Außerungen der Kommunisten, welche die Universit¨at und Nevanlinna kritisierten, in ihrem Ton heftiger, und Nevanlinna begann, mit gleicher M¨ unze heimzuzahlen. Als der Vorschlag kam, das Amt des Kanzlers der Universit¨at Helsinki abzuschaffen und die Aufgaben des Kanzlers dem Unterrichtsminister zu u ¨ bertragen, brauste Nevanlinna auf: Versuchen Sie, sich jetzt mal vorzustel” len, so ein Mann wie Helo w¨ are Kanzler. Dann h¨atten die Dinge ganz gewiß ein schwaches Fundament.“ Das h¨ atte er nicht sagen sollen, denn nun brach ein Sturm los. Die Gegenseite ging jetzt zu einer Sprache u ¨ ber, die Nevanlinna seinen Beschluß vergessen ließ, besonnen aufzutreten. Die Vorsitzende Hertta Kuusinen ließ sich jedoch nicht aus der Fassung bringen: Sie klopfte kr¨aftig mit ihrem Hammer, unterbrach ihre allzu aufgeregten Parteigenossen und versuchte, die Diskussion wieder zu versachlichen. Nevanlinna vermutete, daß Hertta Kuusinens wohlwollendes Verhalten ihm gegen¨ uber – in dieser Sitzung und auch in anderen F¨ allen – auf Erinnerungen an die Schulzeit zur¨ uckzuf¨ uhren sei, als Kuusinen seine Sch¨ ulerin war. Die traditionellen Rechte der Universit¨at blieben gewahrt, aber Nevanlinnas Auftritt im Parlament wurde nicht vergessen. Dieser Auftritt machte ihn in den Augen der extremen Linken noch verhaßter als zuvor. Im Februar 1945 wandte sich der KGB-Offizier der sowjetischen Gesandtschaft an Ministerpr¨ asident Paasikivi, der die Worte des Offiziers festhielt:
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Wie kann man nur denken, daß sich die Gesinnung Ihrer Jugend ¨andern ” wird, wenn solche Personen wie Kanzler Tulenheimo und Rektor Nevanlinna die Universit¨ at leiten, von denen alle wissen, daß sie Rußland aus tiefster Seele hassen? Haben Sie denn unter den Professoren keine geeigneteren Personen, ¨ welche die finnische Jugend u der ¨außeren Einstellung Finn¨ ber die Anderung lands aufkl¨ aren k¨ onnen?“ Im Mai sandte Unterrichtsminister Helo einen Brief an Kanzler Tulenheimo, in dem er sich auf ein Schreiben bezog, das in der linken Zeitung Vapaa Sana erschienen war. Der Schreiber unter dem Pseudonym Der Neugierige“ ” fragte: Wer untersucht die Geschichte der finnischen SS-M¨anner?“ Helo zi” tierte den Teil des Schreibens, in dem Professor Rolf Nevanlinna, der Rektor der Universit¨ at Helsinki, beschuldigt wurde, aktiv bei der Rekrutierung von finnischen M¨ annern und Jugendlichen geholfen zu haben, die als Freiwillige in den ber¨ uchtigten Truppeneinheiten Hitlers gedient hatten. In der vom Kanzler erbetenen Antwort beschrieb Nevanlinna kurz seinen Einsatz in der Kommission, die f¨ ur das SS-Bataillon zust¨ andig war, und faßte dann seinen ideellen Standpunkt als Rektor der Universit¨ at folgendermaßen zusammen: Es war ” ¨ und ist meine Uberzeugung, daß unsere kulturpolitischen und gesellschaftlichen Verh¨ altnisse auf der traditionellen finnischen und nordischen Grundlage entwickelt werden m¨ ussen. Die Aufn¨ otigung von Ideologien, die dem Charakter unseres Volkes fremd sind, muß zur¨ uckgewiesen werden – ganz gleich, aus welcher Richtung diese Ideologien kommen.“ Tulenheimo begrub die Sache. Gegen Sommer 1945 wurde der politische Druck gegen Nevanlinna noch st¨ arker. Die außerparlamentarische Bewegung richtete sich vor allem gegen Kriegsschuldige, aber auch Personen wie Nevanlinna wurden aufgefordert, zumindest zur¨ uckzutreten. Eine parlamentarische Interpellation wurde geplant, in der man die Dringlichkeit in Sachen Kriegsschuld anmahnen w¨ urde. Diese Interpellation sollte auch dem Zweck dienen, unerw¨ unschte und politisch ungeeignete Personen, wie zum Beispiel den Universit¨atsrektor Nevanlinna, zum R¨ ucktritt zu veranlassen. Paasikivi versprach, u ¨ ber die Sache nachzudenken und darauf zur¨ uckzukommen. Zur gleichen Zeit wurde bei Justizminister Urho Kekkonen zuhause ein Beschluß zur Inszenierung eines besonderen Spektakels gefaßt. Kekkonen und die Abgeordneten Hertta Kuusinen, Nils Meinander und Atos Wirtanen beschlossen, in Sachen Kriegsschuld zu interpellieren. Hierzu mußte man jedoch im voraus die Zustimmung des Ministerpr¨ asidenten bekommen. Zweck der Sache war, eine weitere Verst¨ arkung der außerparlamentarischen T¨atigkeit der Kommunisten zu verhindern – man bef¨ urchtete eine Einmischung der sowjetischen Kontrollkommission in die Angelegenheit. Ende Juni unterzeichneten Hertta Kuusinen und 54 weitere Abgeordnete die Interpellation u ¨ ber die Anklage der Kriegsschuldigen und u ¨ber die politi” sche S¨ auberung“. Der Ministerpr¨ asident hatte die Anfrage selbst mitredigiert, auf die er ein paar Tage sp¨ ater antwortete. Auf Nevanlinna traf die folgende Passage der Interpellation zu: Ist sich ” die Regierung der innen- wie außenpolitischen Gefahren bewußt, die von der
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Tatsache herr¨ uhren, daß die Faschisten und Personen, die als Unterst¨ utzer der Deutschorientierung sowohl in ¨ offentlichen als auch in privaten Anstellungen immer noch in f¨ uhrenden Positionen unseres Landes t¨atig sind, hierdurch unsere Position in der Innenpolitik und in der Außenpolitik erschweren?“ Paasikivi antwortete, daß es nicht m¨ oglich sei, die politische Abschlußrechnung des Krieges nur auf den strafrechtlichen Prozeß u ¨ ber politische Handlungen zu reduzieren, die zum Krieg und seiner Verl¨angerung gef¨ uhrt h¨atten. Die neue Lage, in die das Land nach Kriegsende geraten sei, erfordere personel¨ le Anderungen in den f¨ uhrenden Positionen der Gesellschaft. Seiner Meinung nach sei es nicht m¨ oglich, die auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Beziehungen zur Sowjetunion zu st¨ arken, wenn das ¨offentliche Leben st¨andig durch die Anwesenheit von Personen belastet werde, die auf entscheidende Weise die deutschfreundliche Orientierung beeinflußt und eng mit verschiedenen deutschen Kreisen zusammengearbeitet h¨ atten. Nach dieser Stellungnahme unterbreitete Paasikivi einen direkten Appell: Die Regierung will in diesem Zusammenhang den ernsthaften und ver” bindlichen Wunsch ausdr¨ ucken, daß diejenigen Personen, die w¨ahrend der Kriegsjahre auf entscheidende Weise eine fehlerhafte milit¨arpolitische Richtung unterst¨ utzten und f¨ orderten, freiwillig zur¨ ucktreten, wenn sie tats¨achlich in f¨ uhrenden Positionen in der Verwaltung des Landes t¨atig sind, etwa auch im h¨ oheren Bildungswesen.“ Nachdem Paasikivi seine Antwort gegeben hatte, diskutierte das Parlament mehrere Stunden u ¨ ber die Angelegenheit. Nevanlinna wurde nicht ein einziges Mal namentlich erw¨ ahnt und nur ein Abgeordneter der Volksdemokraten spielte auf ihn an: Die Regierung verspricht Personal¨anderungen und ” denkt dabei sicher an einen Universit¨ atsrektor, der Finnlands Jugend lehrte, in Deutschlands Dienst zu treten.“ Nach einer langen Sitzung nahm das Parlament die Antwort des Ministerpr¨ asidenten einstimmig an. Nachdem Nevanlinna den ihn betreffenden Standpunkt der Regierung und des Parlaments erfahren hatte, suchte er unverz¨ uglich Paasikivi auf. Mit Paasikivi war er bereits vor langer Zeit durch Ernst Nevanlinna bekannt gemacht worden, dessen politische Laufbahn ¨ ahnlich verlaufen war wie diejenige Paasikivis: Beide waren Leitfiguren der Altfinnen, der K¨onigsmacher und der Sammlungspartei. Im Gefolge Ernst Nevanlinnas verfochten Rolf und Paasikivi zuerst die gleiche politische Denkrichtung, aber w¨ahrend des Fortsetzungskrieges kam es zu Differenzen. Diese Differenzen wurden nach dem Krieg noch gr¨ oßer, als Paasikivi begann, seine neue politische Doktrin zu verk¨ unden. Im Amtsraum des Ministerpr¨ asidenten sagte Rolf Nevanlinna zu Paasikivi, daß er bereit sei, von seinem Rektorenposten zur¨ uckzutreten, nicht aber von der Professur. Dar¨ uber hinaus erkl¨ arte Nevanlinna, daß er bereits fr¨ uher dazu bereit gewesen w¨ are, falls man ihn dazu aufgefordert h¨atte. Paasikivi entgegnete, er habe erwartet, daß die betreffenden Personen die Sache von selbst verst¨ unden und man deswegen keinen solchen Wirbel h¨atte machen m¨ ussen. Dieses Argument beeindruckte Nevanlinna nicht, nach dessen Meinung die Schreibereien des linken Blattes Vapaa Sana und die Entscheidungen
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von Marktversammlungen so beschaffen seien, daß man sie nicht ber¨ ucksichtigen m¨ usse. Dennoch war er zu Zugest¨ andnissen bereit, aber nur zu seinen eigenen Bedingungen. Er werde einwilligen, vom Rektorenamt zur¨ uckzutreten, falls sich die Maßnahmen bez¨ uglich der Universit¨at nur hierauf beschr¨ankten, und falls es gegen¨ uber Kanzler Tulenheimo oder gegen¨ uber anderen Professoren keine R¨ ucktrittsforderungen gebe. Andernfalls sei er nicht bereit, freiwillig zur¨ uckzutreten. Paasikivi antwortete, daß der R¨ ucktritt Nevanlinnas notwendig sei, weil er sich zu sehr in der Angelegenheit der finnischen SS-Truppen engagiert habe. Um seine deutliche Stellungnahme abzumildern, f¨ ugte er hinzu, daß es gut sei, Qualit¨ atsweine im Keller reifen zu lassen; nach ein paar Jahren schmeckten sie dann besser als vorher. Nach Auffassung Paasikivis w¨ urde Tulenheimo in Frieden gelassen werden und auch der R¨ ucktritt von Professoren sei nicht notwendig, aber das sei nur seine eigene Meinung, weil die Regierung u ¨ ber die Angelegenheit nicht diskutiert habe. Im u ¨brigen k¨onne Nevanlinna der Regierung keine Bedingungen stellen. Laut Paasikivi dauerte die Unterredung ziemlich lange und verlief in einer ” friedfertigen und vern¨ unftigen Atmosph¨ are“. Am Ende des Besuchs versprach Paasikivi, das Gespr¨ ach fortzusetzen, sobald er die Regierungsmitglieder konsultiert habe. Paasikivi wollte Helo, den Unterrichtsminister, aus der Sache heraushalten und verabredete mit ihm, daß er – Paasikivi – sich pers¨onlich um Nevanlinna k¨ ummern werde. Paasikivi diskutierte die Frage der Kriegsschuld eine Woche sp¨ater mit Verteidigungsminister Mauno Pekkala, Justizminister Urho Kekkonen, Außenminister Reinhold Svento und Innenminister Yrj¨o Leino. Alle waren der Meinung, daß Nevanlinna vom Rektoramt zur¨ ucktreten m¨ usse, Kekkonen forderte auch den R¨ ucktritt einiger anderer Professoren. Die Angelegenheit endete schließlich so, wie es Paasikivi und Nevanlinna bei ihrem Treffen umrissen hatten. Die neue Richtung an der Universit¨at Helsinki betraf nur Nevanlinna. Im August sandte Nevanlinna Kanzler Tulenheimo einen Brief, in dem er darum ersuchte, unverz¨ uglich von seinem Rektorenamt entbunden zu werden. Im September 1945 entpflichtete das Konsistorium der Universit¨ at Nevanlinna vom Rektorenamt. Laut Protokoll faßte man den allig. Beschluß routinem¨aßig und unauff¨ Nur ein Mitglied des Konsistoriums wollte seine pers¨onliche Erkl¨arung im Protokoll festgehalten haben. Professor A. I. Virtanen dr¨ uckte sein Bedauern dar¨ uber aus, daß ein so hervorragender Wissenschaftler wie Professor Nevanlinna, der als Rektor u ¨ ber die Interessen der Universit¨at wachte und ihre T¨atigkeit f¨ orderte, sein Rektorenamt gezwungenermaßen aufgeben m¨ usse, ohne daß die Mitglieder des Konsistoriums einen solchen Wunsch ge¨außert h¨atten. Eine Woche sp¨ ater wurde Vizerektor Arthur L˚ angfors zum neuen Rektor gew¨ahlt. Drei Jahrzehnte sp¨ ater pr¨ asentierte Nevanlinna seine eigenen Erinnerungen an jene Ereignisse, die zu seinem R¨ ucktritt f¨ uhrten. Es ist gestattet, in den eigenen Memoiren die behandelten Themen auszuw¨ahlen und Nevanlinna selbst wollte das Ende seiner Rektorenzeit nicht genau beschreiben. Auf die
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Interpellation des Parlaments und die Antwort der Regierung ging er u ¨ berhaupt nicht ein, aber er erw¨ ahnte die Begegnung mit Paasikivi sowie die Tatsache, daß er – nach seiner Unterredung mit dem Ministerpr¨asidenten – Mitte Juli auch Mannerheim, den Pr¨ asidenten der Republik, traf. Dieser war anderer Meinung als Paasikivi: Ich halte es nicht f¨ ur w¨ unschenswert, daß B¨ urger, ” die in wichtigen Aufgaben gearbeitet haben, jetzt freiwillig ihre Positionen aufgeben.“ Auch Paasikivi hatte mit Mannerheim bereits vor der Diskussion im Parlament u ¨ ber Nevanlinna gesprochen und Mannerheim gebeten, Tulenheimo zu sagen, daß Nevanlinna zur¨ ucktreten solle. Laut Paasikivi habe Mannerheim versprochen, das zu tun. Nevanlinna schloß seine eigene Beschreibung mit der Aussage, daß er sich ¨ – entgegen der Ansicht Mannerheims – nach reiflicher Uberlegung entschieden habe, das Rektorenamt niederzulegen. Nachdem sich das Parlament und die Regierung ge¨ außert hatten, blieb Nevanlinna kaum etwas anderes u ¨ brig, auch wenn die Regierung keine juristische Kompetenz hatte, einen von der Universit¨ at selbst gew¨ ahlten Rektor zu entlassen.
8.4 Richtungs¨ anderung in der Mathematik ¨ Nevanlinna, der w¨ ahrend der Kriegsjahre im Scheinwerferlicht der Offentlichkeit gestanden hatte, besch¨ aftigte also im Sommer 1945 die Politiker – von Abgeordneten und Ministern bis hin zum Pr¨asidenten der Republik. Als er im Herbst vom Rektorenamt zur¨ ucktrat, war er u ¨ ber Nacht ein freier Professor ohne Verwaltungsaufgaben geworden. Er hatte sich bereits Gedanken u ¨ ber die ¨ Zukunft gemacht, aber jetzt konnte er diesen Uberlegungen besser als vorher nachgehen. Die Mathematik war nat¨ urlich ein zentraler Bestandteil seiner Pl¨ane. In dem Maße, in dem die Forderungen nach seinem R¨ ucktritt vom Amt des Universit¨ atsrektors lauter wurden, gewann f¨ ur ihn der Gedanke an Attraktivit¨ at, zur mathematischen Forschungsarbeit zur¨ uckzukehren. Eine g¨angige Umschreibung w¨ are, daß Nevanlinna sich vor den Schwierigkeiten und vor den f¨ ur ihn besonders unangenehmen ¨ außeren Umst¨anden in die Mathematik fl¨ uchtete. Aber f¨ ur Nevanlinna war die mathematische Forschung eine Lebens¨ weise und der Ubergang zur Mathematik keine Flucht. Der erneute Beginn der Forschungsarbeit w¨are f¨ ur Nevanlinna einfach gewesen, wenn er zu dem Spezialgebiet zur¨ uckgekehrt w¨are, dessen Untersuchung er wegen des Krieges unterbrochen hatte. Kurz vor dem Krieg und w¨ ahrend des Zwischenfriedens hatte er die klassische Theorie der Riemannschen Fl¨ achen verallgemeinern k¨ onnen. Es war klar, daß es auf diesem Gebiet noch Probleme gab, die zu untersuchen waren. Aber Nevanlinna entschied sich daf¨ ur, die Funktionentheorie aufzugeben, die bis dahin seine wissenschaftliche Arbeit ausgemacht hatte. Er beschloß, etwas ganz anderes zu tun. Hierf¨ ur war der entscheidende Zeitpunkt gekommen. Er n¨ aherte sich jetzt dem Alter von 50 Jahren und betrachtete dies als die
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letzte Gelegenheit, sein Forschungsgebiet zu erweitern und etwas wesentlich Neues zu lernen. Er setzte sich ein hohes Ziel: die Kl¨arung unseres physikalischen Weltbildes durch mathematische Methoden. Dieses Ziel stand von nun ¨ an bei seinen mathematischen Uberlegungen im Vordergrund. Auch ein freier Forscher kann das Ziel seiner Interessen nicht immer ohne weiteres ¨ andern. Nevanlinna mußte die funktionentheoretischen Arbeiten abschließen, die ohne den letzten Schliff geblieben waren. Die Sch¨ uler, deren Arbeiten wegen der Kriegsjahre unterbrochen worden waren, schrieben unter seiner Anleitung Dissertationen u ¨ ber funktionentheoretische Themen und Nevanlinna verstand, daß es in dieser Phase am sichersten war, auch die neuen Themen aus dem Gebiet der Funktionentheorie zu vergeben. Als sich die Welt normalisierte, wurden auch wieder mathematische Tagungen organisiert. Nevanlinna war ein gesuchter Teilnehmer und als ausgezeichneter Redner erhielt er auch pers¨ onliche Einladungen zu Vortr¨agen. Man erwartete, daß er u ¨ ber Funktionentheorie sprach, und lange Zeit hatte er auch keine anderen Alternativen. ¨ Die Ubergangszeit dauerte so lange, daß Nevanlinnas erste wissenschaftliche Ver¨ offentlichungen in der neuen Forschungsrichtung erst Anfang der 1950er Jahre erschienen. Sein umfassendes Programm hatte Raum f¨ ur viele verschiedene Teilgebiete der Mathematik und folglich auch viele Alternativen f¨ ur Forschungsrichtungen. Er begann mit der Variationsrechnung und ging in nat¨ urlicher Weise zur Untersuchung von Differentialgleichungen u ¨ ber. Das wiederum gab ihm Anlaß, sich in die Theorie der linearen R¨aume zu vertiefen. Zuallererst kam es darauf an, etwas Neues zu lernen, und hierzu nutzte Nevanlinna ein Verfahren, das er seit Beginn seiner Professorenlaufbahn angewendet hatte: Er hielt Vortragsreihen u ¨ ber die Gebiete, mit denen er sich vertraut machen wollte. Die R¨ uckkehr Nevanlinnas zur akademischen Arbeit w¨ahrend des Studienjahres 1945–1946 bestand vor allem in der Vorlesungst¨atigkeit. Mit Studenten der ersten Semester kam er damals kaum in Kontakt, denn seine Vorlesungen richteten sich an eine fortgeschrittenere H¨ orerschaft. Die Vorlesungen stießen auf Interesse und man konnte die in Finnland seltene Erscheinung beobachten, daß unter den H¨ orern mehrere Professoren waren, wie etwa der Astronom Gustaf J¨ arnefelt, die Philosophen Eino Kaila und Georg Henrik von Wright und der Physiologe Yrj¨ o Reenp¨ a¨ a. Mit dabei war auch Rolfs Bruder Frithiof, der bald selbst Professor werden sollte. Rolf Nevanlinnas Ruf als Lehrer war w¨ ahrend der Kriegsjahre nicht in Vergessenheit geraten; erfreut nahm man jetzt zur Kenntnis, daß er wieder zu seinem eigentlichen Gebiet zur¨ uckgekehrt war. Unter den H¨ orern gab es auch junge Leute, die sich in der Endphase ihres Grundstudiums befanden. Einer von ihnen war Pekka Jauho, der von den p¨ adagogisch hervorragenden“ Vorlesungen Nevanlinnas begeistert war, die ” ” immer etwas Neues enthielten“. F¨ ur ihn kam Nevanlinna einem bedeutenden K¨ unstler gleich, der sich mit seiner Rhetorik und Gestik vollkommen hingab. Mehr als ein halbes Jahrhundert sp¨ ater schrieb Professor Jauho: In meinem ”
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Leben habe ich viele exzellente Vortragende gesehen und geh¨ort, aber Rolf Nevanlinna u ¨ berragte alle anderen.“ Zu einer ¨ahnlichen Einsch¨atzung u ¨ ber Nevanlinna als Universit¨ atslehrer kam auch Oiva Ketonen, der Nevanlinnas Vorlesungen bereits vor dem Krieg geh¨ ort hatte. Obwohl auch Eino Kaila und Ernst Lindel¨ of zu Ketonens Lehrern geh¨orten, schrieb Professor Ketonen sp¨ ater: Von den Universit¨ atslehrern war Rolf Nevanlinna zweifellos derjenige, ” der den tiefsten Eindruck auf mich machte.“ Ich kann mich noch gut erinnern, wie betr¨ ubt ich war, als ich als gerade beginnender Student im Studienjahr 1945–1946 keine Vorlesungen bei dem ber¨ uhmten Nevanlinna h¨ oren konnte. Aber vielleicht im n¨achsten Studien” jahr?“ Doch da hatte Nevanlinna Finnland bereits verlassen. Als die Finnische Mathematische Vereinigung 1948 ihren 80. Jahrestag ¨ beging, war ich bei Nevanlinnas Festvortrag anwesend, in dem er Uber den ” vierdimensionalen Raum“ sprach. Es war einer seiner beeindruckendsten Vortr¨ age. Der Vortrag war als popul¨ arwissenschaftlich angek¨ undigt worden und ¨ der kleine Festsaal der Universit¨ at war voll besetzt. Uber ein halbes Jahrhundert habe ich Erinnerungen u ¨ ber diesem meisterhaften Auftritt geh¨ort. Der Vortrag ist auch in seiner schriftlichen Form beeindruckend, aber wenn ich an meine damaligen Gef¨ uhle zur¨ uckdenke, ist klar, daß bei diesem Vortrag zus¨ atzlich zum Inhalt auch die Vortragsweise Gewicht hatte. Nevanlinnas Entscheidung, seine mathematische Forschungsarbeit weg von der Funktionentheorie auf vollkommen neue Gebiete zu verlagern, war in dem Sinne richtig, daß er bis an sein Lebensende von den neuen Fragen fasziniert war, die er sich ausgesucht hatte. Von Zeit zu Zeit zwangen ihn ¨außere Gr¨ unde zur¨ uck zur Funktionentheorie, aber in den 1960er und den 1970er Jahren war offensichtlich, daß er das Interesse an dem Gebiet verloren hatte, das ihm Erfolg gebracht hatte.
8.5 Ver¨ andertes wissenschaftliches Umfeld Nach dem Krieg mußte sich Nevanlinna fragen, wie er – der international bekannte Mathematiker – sich in dem grundlegend ver¨anderten wissenschaftlichen Umfeld orientieren sollte. Westeuropa hatte nicht nur seine politische Bedeutung, sondern auch seine f¨ uhrende Position in der Wissenschaft verloren. Die Massenemigration europ¨ aischer Wissenschaftler in die Vereinigten Staaten, die bereits 1933 begonnen hatte, setzte sich auch nach dem Krieg fort. Vor dem Krieg und w¨ ahrend des Krieges betraf das u udi¨ berwiegend j¨ sche Wissenschaftler – zuerst ging es um Arbeitsm¨oglichkeiten f¨ ur sie und dann um ihr Leben. Nach dem Krieg kamen die Migranten von u ¨ berall her – unabh¨ angig von Rasse und Nationalit¨ at, weil die Lebensbedingungen in Amerika unvergleichlich besser waren als in der durch den Krieg verarmten restlichen Welt. Der Schwerpunkt der mathematischen Forschung verlagerte
8.5 Ver¨ andertes wissenschaftliches Umfeld
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sich unvermeidlich von Europa nach Amerika. Entsprechend dieser Entwicklung wurde Englisch die Sprache der mathematischen Ver¨offentlichungen und verdr¨ angte rasch Deutsch und Franz¨ osisch, die fr¨ uher dominierenden Sprachen. Der Krieg endete auf eine Weise, die Rolf Nevanlinna ebenso wie sein Bruder Frithiof als Katastrophe betrachteten. Frithiof sah keinen Grund, seine Ansichten zu ¨ andern, und er war nicht der einzige, dem eine Neupositionierung – wie sie die Zeit erforderte – nahezu unm¨oglich war. Sogar Jahre sp¨ater waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in den Augen Pekka Myrbergs, des Direktors des Mathematischen Instituts der Universit¨at Helsinki, weiße Flecken auf der mathematischen Weltkarte. Ich erinnere mich an seine Reaktion, als ich auf Amerikas wachsende St¨arke auf dem Gebiet der Wissenschaft hinwies. Die Amerikaner? Essen Kaugummi und unterdr¨ ucken Neger.“ ” Rolf Nevanlinna gab seine innersten Gef¨ uhle nicht zu erkennen, verstand aber, daß er mit dem neuen wissenschaftlichen Umfeld zurechtkommen mußte. Er nahm die Sache in die Hand und fing an, seine Englischkenntnisse zu verbessern. Er kam schnell voran und bald gab es Gelegenheiten, die erworbenen Fertigkeiten anzuwenden. Im Jahr 1950 unternahm Nevanlinna seine erste Reise nach Amerika. Er nahm zuerst als Vertreter Finnlands an einem Meeting in New York teil, auf dem man den Beschluß zur Neugr¨ undung der Internationalen Mathematischen Union faßte, die in den 1930er Jahren suspendiert worden war; danach nahm er am Internationalen Mathematiker-Kongreß teil, der an der Universit¨ at Harvard stattfand. Auf der Sitzung in New York hat Nevanlinna wohl kaum gesprochen, weil Finnland in dem von den Amerikanern erstellten Protokoll nicht als teilnehmendes Land erw¨ ahnt wurde. (Der wachsame d¨anische Protokollpr¨ ufer bemerkte den Fehler, der sp¨ater korrigiert wurde.) Auf dem Kongreß spielte Nevanlinna die sichere Karte und hielt seinen Vortrag auf Franz¨ osisch. Die Reise nach England 1951 wurde zur sprachlichen Feuerprobe. Nevanlinna war eingeladen worden, einen Vortrag an der Universit¨at Cambridge zu halten. Erst jetzt besuchte er zum ersten Mal das Inselk¨onigreich. Nevanlinna erz¨ ahlte, daß er sich auf seinen englischen Vortrag ausf¨ uhrlicher als u ¨blich vorbereitet habe und deswegen nicht u ut besorgt gewesen sei. Als er ¨ ber sein Deb¨ auf dem Weg in den Saal war, bemerkte jemand, daß Nevanlinna hoffentlich wisse, daß in England einige Witze zu einem Vortrag geh¨orten. Nevanlinna war entsetzt und versuchte, etwas Passendes zu finden, aber in seiner Not fiel ihm nicht einmal etwas auf Finnisch ein – ganz zu schweigen von Englisch. Also kapitulierte er und hielt einen witzlosen“ Vortrag. Kein Problem. Als ” er sprach, brach das Publikum – der Saal war berstend voll – einige Male in schallendes Gel¨ achter aus. Nevanlinna wußte nicht warum. Im Laufe der Zeit lernte Nevanlinna so gut Englisch, daß es f¨ ur ihn eiuhelose Gebrauchssprache wurde. Nachdem wir uns 1974 in Vancouver ne m¨ mit dem russischen Kollegen M. A. Lawrentjew auf Franz¨osisch unterhalten
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hatten, wischte sich Nevanlinna den Schweiß von der Stirn: Das hat aber ” Kraft gekostet. Heutzutage spreche ich viel lieber Englisch.“
Abb. 8.1. Ein Brief Rolf Nevanlinnas an seine Frau Mary. Rolf schrieb den Brief anl¨ aßlich seiner ersten Amerikareise auf dem Briefpapier des Schiffes Queen Mary.
8.6 Dramatische Aff¨ aren
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8.6 Dramatische Aff¨ aren Nevanlinnas Beschluß, seiner mathematischen Forschung eine neue Richtung zu geben und – zus¨ atzlich zu seinen mathematischen Beziehungen zu Westeuropa – auch Verbindungen zu den Angloamerikanern zu kn¨ upfen, war f¨ ur seine k¨ unftigen Jahre von Bedeutung. Zur gleichen Zeit ereignete sich auch in seinem Privatleben viel. Nevanlinna geriet f¨ ur Jahre in st¨ urmische Gew¨asser. Bereits vor dem Krieg war Nevanlinna bei musikalischen Anl¨assen mit der S¨ angerin und Schauspielerin Mary Hannikainen bekannt geworden, die zu den beliebtesten Operettenstars Finnlands geh¨orte, und hatte ihren weiblichen Charme bemerkt. Anfang 1942 ¨ anderte sich ihre Bekanntschaft, als Mary Hannikainen – nach dem tragischen Tod ihres Mannes – ihr Herz Nevanlinna aussch¨ utten wollte. Die Frau, die inmitten der Schwierigkeiten ihren Mut behalten hatte, ber¨ uhrte nun auch Rolfs Mitgef¨ uhl. Seine bis dahin leicht erotische Beziehung wurde zu einer Leidenschaft, die ihn vollkommen in ihren Bann schlug. Das Verh¨ altnis zwischen Rektor Rolf Nevanlinna und Primadonna Mary Hannikainen war bald in aller Munde, denn sie machten sich nicht die M¨ uhe, ihre Beziehung zu verheimlichen, sondern erschienen zusammen in Konzerten und bei anderen ¨ offentlichen Gelegenheiten. Mary Nevanlinna stand dem Zusammensein der beiden nicht wohlwollend gegen¨ uber. Ihre andauernden
Abb. 8.2. Mary Hannikainen auf dem Titelbild des Kunstmagazins Taiteen maailma im Dezember 1946.
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Vorw¨ urfe weckten Rolfs Widerspruchsgeist, und er verlor allm¨ahlich die Fassung. Im Sommer 1944 teilte Rolf seiner Frau Mary mit, daß er sich scheiden lassen wolle. Mary, deren Leben auf eine ganz andere Weise mit Rolf verflochten war als Rolfs Leben mit ihr, erlitt einen Nervenzusammenbruch und kam zur Behandlung ins Krankenhaus. Rolf stellte schuldbewußt fest, daß er doch nicht das Herz habe, seine Frau zu verlassen, auch wenn ihr Eheleben zerr¨ uttet war. Ungef¨ ahr ein halbes Jahr sp¨ ater, zu Beginn des Winters 1945, gab der Pianist Timo Mikkil¨ a ein Konzert und lud im Anschluß einige seiner Freunde zu einer Nachsitzung zu sich nach Hause ein. Unter den G¨asten war die in K¨ unstlerkreisen bekannte Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a. Nachdem sie geh¨ort hatte, daß auch Rolf Nevanlinna eingeladen worden war, weigerte sich die temperamentvolle Sinikka zu kommen. W¨ ahrend ihrer Schulzeit hatte sie die Mathematik gehaßt und insbesondere die Schulb¨ ucher, die Rolfs Onkel Lauri Nevanlinna ¨ verfaßt hatte, verabscheut – diese B¨ ucher waren f¨ ur sie die Wurzel allen Ubels. In den schriftlichen Abiturpr¨ ufungen erhielt Sinikka die Note laudatur (sehr gut) in allen F¨ achern außer Mathematik, in der sie die Note improbatur (nicht bestanden) erhielt. Wegen des Namens Nevanlinna habe sie so furchtbar leiden m¨ ussen, daß sie mit niemandem zu tun haben wolle, der den gleichen Namen trug. Irgendwie konnte Mikkil¨ a sie dennoch u ¨ berzeugen, am geselligen Abend teilzunehmen. Sinikka Kallio wuchs in der s¨ udostfinnischen Stadt Lappeenranta auf, unter der strengen Zucht ihres Vaters, eines hochrangigen Pfarrers. Als Sinikka 12 Jahre alt war, starb ihre Mutter nach Jahren der Bettl¨agerigkeit an Tuberkulose. Nach dem Abitur entzog sich Sinikka dem strengen Zuhause, in dem freilich eine positive Einstellung zu den K¨ unsten herrschte, und begann, an der Universit¨ at humanistische F¨ acher, mit Kunstgeschichte als Hauptfach, zu studieren. Sie genoß das fr¨ ohliche Studentenleben in vollen Z¨ ugen, aber das Studium litt nicht darunter: Schnell erlangte sie den Magistergrad. Zur gleichen Zeit heiratete die junge Kunsthistorikerin den Studienrat und Pastor Niilo Visap¨ a¨ a, der sp¨ ater Rektor des Normallyzeums von Helsinki wurde. Sinikka Kallio war vielseitig begabt. Sie interessierte sich sowohl f¨ ur Musik als auch f¨ ur Kunst, und das nicht nur theoretisch – sie spielte Klavier und malte. Schließlich gewann die schriftstellerische T¨atigkeit die Oberhand u ¨ ber Musik und Malerei. Bei Mikkil¨ as Soir´ee machte die strahlende und schlagfertige 28-j¨ ahrige Sch¨ onheit einen tiefen Eindruck auf den f¨ unfzigj¨ahrigen Rolf Nevanlinna. Die Sympathie war wechselseitig: Sinikka strich Lauri Nevanlinnas Schulb¨ ucher v¨ ollig aus ihrem Ged¨ achtnis. Die unwiderstehlichen Kr¨afte der Natur brachten Rolf und Sinikka zusammen. Coup de foudre. Pl¨ otzlich bl¨ uhte das Leben f¨ ur Rolf Nevanlinna wieder auf. Er verliebte sich leidenschaftlich und versuchte nicht, das Feuer seines Gef¨ uhls zur¨ uckzuhalten. Ende 1946 wurde Rolfs und Sinikkas Tochter Kristiina frei und aus ” gemeinsamen Willen“ geboren. Drei Monate vor der Geburt des Kindes reiste Rolf in die Schweiz, wo er zum Professor der Universit¨at Z¨ urich berufen worden war.
8.6 Dramatische Aff¨ aren
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Abb. 8.3. Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a zu der Zeit, als sie mit ihrem zuk¨ unftigen Mann Rolf Nevanlinna bekannt wurde.
Sinikka hatte bereits vier kleine Kinder und Kristiina wuchs in deren Gesellschaft als Mitglied der Familie Visap¨ a¨ a auf. Jahrelang war der Name von Kristiinas Vater ein sorgf¨ altig geh¨ utetes Geheimnis, in das nur Mary Nevanlinna und Niilo Visap¨ a¨ a eingeweiht waren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen Rolf Nevanlinna und Niilo Visap¨ a¨ a ein Gentlemen’s Agreement, das auf gegenseitigem Respekt beruhte. ¨ Uber viele Jahre waren Rolf und Sinikka immer wieder sowohl in Finnland als auch in der Schweiz zusammen. Das Verh¨altnis wurde jedoch geheimgehalten. Insbesondere wollte Rolf Sinikka vor seiner Mutter verstecken – was ihm auch gelang –, aber auch vor Mary Hannikainen, mit der er sich ohne Wissen Sinikkas auch weiterhin traf. In seinen ¨offentlichen Angelegenheiten war Rolf mutig und aufrichtig und zog furchtlos die Schlußfolgerungen, die er f¨ ur richtig hielt, aber in seinen Beziehungen zu Frauen war er nicht so redlich. Sinikkas und Rolfs Weg zur Ehe schien mit un¨ uberwindlichen Schwierigkeiten gepflastert zu sein. Sowohl Mary Nevanlinna als auch Niilo Visap¨a¨a widersetzten sich der Scheidung. Das Auseinanderbrechen der Familien w¨are
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f¨ ur Rolf und Sinikka mit der Gefahr einhergegangen, sich von ihren Kindern trennen zu m¨ ussen, was beide nicht wollten. Die Hoffnungslosigkeit der Situation und das Gef¨ uhl der Unzul¨anglichkeit der Kr¨ afte verursachten Sinikka viel Stress. Sie h¨atte Seelenruhe und Zeit gebraucht, um sich als Schriftstellerin zu verwirklichen, wozu Rolf sie auch ermutigte. Zweimal dachten Sinikka und Rolf daran, ihre Beziehung zu beenden, aber das erwies sich als unm¨ oglich. Ihre Beziehung wurde durch das feste Zusammengeh¨ origkeitsgef¨ uhl noch st¨ arker und dauerte an. Als die Kinder gr¨oßer wurden, arbeitete die Zeit f¨ ur Rolf und Sinikka.
8.7 Neue Ehe ¨ Eine entscheidende Anderung im Verh¨ altnis zwischen Rolf Nevanlinna und Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a erfolgte 1956 und wurde durch ein dramatisches Er¨ eignis beschleunigt. Uber die Jahre war es Rolf gegl¨ uckt, Sinikka und Mary Hannikainen u ¨ ber deren jeweilige Rolle in seinem Leben im Unklaren zu lassen, obwohl Mary von Zeit zu Zeit Rolfs Aufrichtigkeit anzweifelte und ihn beschuldigte, in seinen Beziehungen zu Frauen herumzujonglieren. Die mehr als zehn Jahre tickende Zeitbombe explodierte im Mai 1956, als Mary Hannikainen endlich dahinterkam, welche Rolle Sinikka spielte. Mary Hannikainen erschien unerwartet in Rolfs Z¨ urcher Wohnung, wo sich Sinikka gerade aufhielt. Es folgte eine entsetzliche Szene mit fliegenden Untertassen und zerberstendem Geschirr. Als Sinikka klar wurde, daß Rolf – der Aufrichtigkeit geschworen hatte – die ganze Zeit hindurch eine andere Frau gehabt hatte, war sie u ¨ ber alle Maßen schockiert und mußte im Krankenhaus behandelt werden. Zur gleichen Zeit kam auch Rolf ins Krankenhaus: In seiner großen Aufregung wurde er auf der Straße von einem Radfahrer angefahren. Auch Mary Nevanlinna wurde in die Kraftprobe einbezogen, weil Mary Hannikainen ihr unverz¨ uglich einen Brief schickte, in dem sie ihren Besuch in Z¨ urich schilderte. Der st¨ urmische Vorfall in Z¨ urich beendete die Beziehung zwischen Rolf und Mary Hannikainen. Rolf wurde sich der Spuren seiner L¨ ugen schmerzlich und deutlich bewußt. Er konzentrierte jetzt sein denkgewohntes Gehirn darauf, sein Innenleben zu analysieren und zu versuchen, seine Schw¨ achen abzustellen. Rolfs grunds¨atzlicher Standpunkt war klar: Er wollte Sinikka auf keinen Fall verlieren. Sinikka, die bald danach im Sommer nach Finnland zur¨ uckkehrte, und Rolf, der seine Lehrt¨ atigkeit in Z¨ urich fortsetzte, f¨ uhrten einen regen Briefwechsel. Sinikka war immer noch ersch¨ uttert und setzte Rolf zu, der sie seinerseits seiner Liebe versicherte und dem¨ utig bekannte, verwerflich gehandelt zu haben; er sah ein, daß er Sinikkas Vorw¨ urfe verdient hatte. W¨ahrend seiner Gewissenspr¨ ufung erkannte Rolf, daß sein Erfolg in der Wissenschaft auf sein Bestreben zur¨ uckzuf¨ uhren war, die Dinge umfassend zu sehen, die Probleme zu untersuchen und sie somit von den tieferen Zusammenh¨angen her zu verstehen. Jetzt wollte er die menschlichen Probleme auf die gleiche Weise
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ernsthaft und beharrlich untersuchen, um dann die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Auf diese Weise fing er an, sich mit religi¨osen Fragen zu besch¨ aftigen; er begann Luthers Schriften zu studieren und tauschte mit ¨ ¨ Sinikka Gedanken zu seinen Uberlegungen aus. Uber seine Gef¨ uhle legte Rolf dem Psychiater Martti Siirala detailliert Rechenschaft ab. Rolf kannte Siirala von fr¨ uher; er war ein Klassenkamerad seines Sohnes Harri. Siirala lebte seit mehreren Jahren in Z¨ urich, wo er sich in Psychoanalyse weiterbildete. Rolf wollte nun endlich seine verwickelten Beziehungen zu Frauen in Ordnung bringen: Er wollte sich scheiden lassen und Sinikka heiraten. Sein Leidensdruck begann nachzulassen, als Sinikka Zeichen gab, daß sie ihn nicht verlassen werde. Seiner Frau Mary schrieb Rolf mehrere Entschuldigungsbriefe, in denen er bekannte, daß er ihr viel Kummer und Leid bereitet habe; er versicherte, daß er ihr immer herzlich verbunden gewesen sei und auch k¨ unftig bleiben werde. Er empfand Marys Vorw¨ urfe als verdient, aber er verteidigte Sinikka ohne Vorbehalt, als sie von seiner Frau kritisiert wurde. Im Sommer und im Fr¨ uhherbst 1956 zeichnete Rolf in seinen Briefen an Mary noch kein klares Zukunftsbild, weil er sich vor einer geh¨ assigen Auseinandersetzung f¨ urchtete. Im November teilte er ihr schließlich seinen Standpunkt mit: Liebe Mary, ich ” habe meinen Entschluß gefaßt, und insofern es von mir abh¨angt, werde ich ihn nicht aufgeben (ach wie kalt diese Worte doch klingen).“ Die verbitterte Mary sch¨ uttete ihr Herz Frithiof aus. Rolf hielt seinen Bruder Frithiof f¨ ur seinen engsten M¨ annerfreund, mit dem er immer mit der ” gr¨ oßten Hoffnung auf gegenseitiges Verst¨ andnis und insbesondere u ¨ber tiefsinnige Dinge“ sprechen konnte. Aber die Br¨ uder sprachen nie u ¨ber pers¨onliche Angelegenheiten – das war ein Tabu. Die von Mary u ¨berbrachte Nachricht war ¨ deswegen f¨ ur Frithiof eine vollkommene Uberraschung. Unglaublich! Unbe” greiflich!“ Frithiof erinnerte sich an einen Satz von Goethe: Wenn ein großer ” Mensch ein dunkel Eck hat, dann ist’s recht dunkel!“ W¨ ahrend Rolfs Dezemberbesuches in Finnland unterhielt sich Frithiof im B¨ orsenklub mit ihm u ¨ber sein Damengewirr“ – das war das erste Mal, daß ” urdig und offenherzig“, die Br¨ uder dieses Thema er¨ orterten. Rolf war liebensw¨ ” aber er konnte Frithiof nicht von der Notwendigkeit der von ihm beabsichtigten Scheidung und der neuen Ehe u ¨ berzeugen, ganz zu schweigen davon, daß diese erw¨ unscht sein solle. Ein Jahr sp¨ ater hatte Frithiof seinen Standpunkt etwas abgeschw¨ acht: Großes Format: große Verdienste – und große S¨ unden. ” ¨ Besser so, als wenn alles nur klein und harmlos w¨are.“ In seinen Uberlegungen, was Rolf von welcher Seite geerbt habe, kam Frithiof zu dem Schluß, daß die Arbeits- und Urteilsf¨ ahigkeit von der Familie Neovius stammten, die S¨ unden ” und die Genialit¨ at“ hingegen von den Rombergs. In Rolfs engstem Kreis meinte man, daß Sinikka starken Druck auf ihn ausge¨ ubt habe – hiervon war Mary bis zu ihrem Lebensende u ¨berzeugt. In einem Brief an seine Tochter Sylvi wies Rolf diesen Gedanken zur¨ uck: Wenn ” du denkst, mein Beschluß beruhe darauf, daß S. K.-V. mich mit Worten oder Taten unter Druck gesetzt hat, dann muß ich mich wiederholen: Das ist nicht so. Sie hat mich auf keine Weise unter Druck gesetzt, und sie hat mich auch
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um nichts gebeten. Meinerseits w¨ are nur ein Wort erforderlich, und sie w¨are bereit, mich aufzugeben. Meine gr¨ oßte Schwierigkeit ist das Wissen, daß ich Mama Leiden zuf¨ uge, der ich sehr verbunden bin und es immer sein werde. Außerordentlich bedr¨ uckt mich auch der Kummer, den ich Euch Kindern bereite. Das Schuldgef¨ uhl, das ich habe und immer haben werde, wiegt schwer, aber ich habe es verdient und versuche, es zu ertragen.“ Der Weg in die neue Ehe schien jetzt klar zu sein, aber es tat sich doch noch ein neues Problem auf. Mary Nevanlinna kn¨ upfte ihre Zustimmung zur Scheidung an die Bedingung, daß sie nach Rolfs Tod die Witwenpension des finnischen Staates bekomme. Diese Forderung wirkte sich auf den Zeitpunkt der neuen Eheschließung aus, weil Rolfs Rechtsanwalt davon u ¨ berzeugt war, daß die Forderung in Kraft trete, wenn der Ehemann das 63. Lebensjahr vollendet hat. Nachdem zugesagt wurde, diese Bedingung zu erf¨ ullen, und nachdem auch Niilo Visap¨ a¨ a der – von ihm ebenfalls nicht gewollten – Scheidung zugestimmt hatte, waren die Hindernisse f¨ ur die Ehe von Rolf und Sinikka aus dem Weg ger¨ aumt. Sie wurden im November 1958 in der finnischen Botschaft in Paris getraut. Alvar Aalto, der unterwegs nach Paris war, h¨atte Trauzeuge sein sollen, aber der Bohemien Aalto blieb unterwegs in der Schweiz stecken und kam nicht rechtzeitig an. Nach Rolfs Tod stellte sich heraus, daß die Vorschriften ge¨andert worden waren und die Witwenpension immer an den letzten Ehepartner gezahlt wurde. Sinikka Nevanlinna hatte sich an den Gedanken gew¨ohnt, daß Mary die Pension bekommen w¨ urde, und wußte, f¨ ur wie wichtig es Rolf erachtet hatte, f¨ ur Mary auch dann zu sorgen, wenn sie l¨anger leben sollte als er. Die großz¨ ugige Sinikka zahlte ihre Witwenpension an Mary bis zu deren Tod, das heißt, u ¨ ber einen Zeitraum von 12 Jahren. Diese Tat erw¨armte Marys bis zu dieser Zeit frostige Beziehung zu Sinikka. Erst einige Zeit nach der Eheschließung erfuhr Kristiina, daß sie Rolfs Tochter war, und sie erhielt nach der Legalisierung der Vaterschaft den Namen Nevanlinna. Die Nachricht ersch¨ utterte das seelische Gleichgewicht des heranwachsenden M¨ adchens, aber die Schwierigkeiten gingen vor¨ uber. Ihre Beziehung zu Rolf wurde innig und herzlich. Kristiina konnte sich Arne Nevanlinnas kritischer Einsch¨ atzung von Rolf als Familienvater nicht anschließen. Rolf hat auch die Kinder von Sinikka und Niilo Visap¨a¨a f¨ ur sich eingenommen. Die ¨ alteste Tochter Leena Maissen (geb. Visap¨a¨a) dachte wie Kristiina, ater hatte. daß sie zwei gute V¨ Im Laufe der Jahre hatte sich Rolf an die Einsamkeit gew¨ohnt und auch nach der neuen Eheschließung blieb die Welt der Mathematik sein eigenes privates Gebiet. Dennoch bedeutete Sinikka an seiner Seite eine große Ver¨anderung. Sinikka selbst hatte ein suchendes, intellektuelles Naturell – mit ihr konnte Rolf seine Gedanken ventilieren und debattieren und von ihr erhielt er Anregungen. Als Rolf seine allgemein gehaltenen Vortr¨age vorbereitete, half ihm seine kritische und schreibgewandte Frau. Beide hatten einen a¨hnlichen literarischen Geschmack: Jacob Burckhardt und Thomas Mann geh¨orten bereits fr¨ uher zu ihren besonderen Favoriten.
8.7 Neue Ehe
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Ein starkes Band zwischen beiden war die Musik, die sie aktiv betrieben. Fast jeden Tag spielten sie zusammen, Sinikka Klavier und Rolf Geige. Nach dem Abendessen waren Mozart, Beethoven oder Brahms an der Reihe. Die kritische Sinikka lobte Rolfs Fertigkeiten im Geigenspiel jedoch nicht: Ab ” und zu zauberte er mit seinem Bogen sogar einen sch¨onen Ton hervor.“ Auch in Anwesenheit anderer war Sinikka imstande, allen deutlich zu machen, daß ihr ber¨ uhmter Mann kein Idol sei, das auf einem hohen Sockel stehe und angebetet werden m¨ usse. Aber Kritik anderer an Rolf duldete sie nicht. Sinikka vermied alle Arten von Sentimentalit¨at und Pathos, aber sie hatte Verst¨ andnis f¨ ur Rolfs Streben nach den erhabenen Welten. Sie setzte sich auch selbst hohe Ziele. Nur das beste war gut genug, ganz gleich, ob es um Literatur¨ ubersetzungen oder um die Zubereitung von Delikatessen ging. Sinikka redete auch u achen und meinte, den Perfektionismus und die ¨ ber ihre Schw¨ Unausgeglichenheit von ihrer Mutter, die Aggressivit¨at hingegen von ihrem Vater geerbt zu haben.
Abb. 8.4. Das jungverheiratete Paar Sinikka und Rolf Nevanlinna in froher Stimmung bei einer Nachfeier zum Jahrestag der Universit¨ at Z¨ urich im Jahr 1959. Links: Professor Hans K¨ unzi mit seiner Frau.
Wenn sich zwei vitale Pers¨ onlichkeiten mit aufwallendem Gef¨ uhlsleben zusammentun, dann k¨ onnen Zusammenst¨ oße nicht ausbleiben. Aber im Briefwechsel der beiden begegnet man immer wieder dem Code Jta“ (Je t’aime). ” Nach Rolfs Tod zog Sinikka vorbehaltlos Bilanz: Wir hatten eine wunderbare ” Zeit zusammen, auch wenn es in unserer Ehe gewiß auch Kummer und Sorgen gab.“
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Abb. 8.5. Rolf und Sinikka Nevanlinnas gemeinsame Musikstunde im Haus in Santa Monica im Dezember 1961.
Nach der Scheidung verschwand Mary Nevanlinna nicht aus Rolfs Leben. Da Rolf dauernd Kontakt zu Mary unterhielt, sie seiner Verbundenheit versicherte und in jeder Weise f¨ ur ihren Lebensunterhalt sorgte, entwickelte sich zwischen beiden eine gute freundschaftliche Beziehung, die bis zu Rolfs Tod anhielt. Die nahen Verwandten meinten, daß Rolfs Aufmerksamkeit und Großz¨ ugigkeit gegen¨ uber Mary eine Folge seines schlechten Gewissens waren. Wenn die Verwandten das gegen¨ uber Mary bemerkten, erz¨ahlte sie es Rolf weiter, der sich dar¨ uber ¨ argerte. Zehn Jahre nach der Scheidung schrieb Rolf an Mary, daß Frithiofs Theorie des schlechten Gewissens als Grund f¨ ur die Freigebigkeit aus der Luft gegriffen sei. Die Freigebigkeit war nur ein spontaner Ausdruck seiner Gef¨ uhle f¨ ur Mary. Rolf und Mary trafen sich ziemlich oft, entweder in Marys Wohnung oder im traditionellen Treffpunkt der Familie, im Caf´e Fazer. Als Rolf im Ausland war, f¨ uhrten sie einen lebhaften Briefwechsel, in dem es haupts¨achlich um Familienereignisse und Geldangelegenheiten ging. Dem Ton der Briefe konnte man nicht entnehmen, daß die Ehe zerbrochen war. Rolf hat sich derart um Marys Lebensunterhalt gesorgt, daß sein Versprechen ich zahle alles“ im ” Familienkreis sp¨ ottisch wiederholt wurde. Und er zahlte tats¨achlich: Von allem anderen abgesehen, war Mary u ¨ ber viele Jahre auch immer wieder auf Auslandsreisen, die Rolf bezahlte. Nach der Aufl¨ osung ihrer Ehe lebte Mary Nevanlinna noch 34 Jahre. W¨ ahrend dieser Zeit trafen meine Frau und ich sie hin und wieder; Anfang der 1970er Jahre wohnte sie f¨ ur einige Zeit in unserem Haus in Cleveland, als sie nach Amerika gekommen war, um ihre Tochter Sylvi zu besuchen. W¨ahrend unserer ganzen langen Bekanntschaft h¨ orten wir von Mary nicht ein einziges b¨ oses Wort u orten wir Worte der Bewunderung und ¨ ber Rolf. Umso mehr h¨ des Dankes. So wie Sibelius f¨ ur Rolf ein großer und u ¨ ber der Kritik stehender
8.8 In der Schweiz
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Mann war, so war Rolf dasselbe f¨ ur seine erste Frau Mary – nachdem er von ihr geschieden war.
8.8 In der Schweiz Im Sommer 1944 begann eine Reihe von Ereignissen, die zwei Jahre sp¨ater dazu f¨ uhrten, daß Rolf Nevanlinna aus Finnland wegzog. Am Anfang der Ereigniskette stand Lars Ahlfors, der Professor an der Universit¨at Helsinki geworden war. W¨ ahrend des Krieges brachte Ahlfors seine Familie nach Schweden und u ¨ bersiedelte selbst – da er vom Wehrdienst befreit war – im Sommer 1944 dorthin. Die Emigration in Schweden endete, als er die Position eines außerordentlichen Professors f¨ ur angewandte Mathematik an der Universit¨ at Z¨ urich erhielt. Ahlfors gefiel es in der Schweiz nicht und er nahm mit Freude eine Professur an, die ihm in Harvard angeboten wurde. Die Universit¨at Z¨ urich h¨atte ihn gerne behalten; man sagte ihm eine ordentliche Professur, eine betr¨achtliche Gehaltserh¨ ohung sowie die Freistellung von den Pflichtvorlesungen zu. Nichts half. Im Fr¨ uhjahr 1946 gab Ahlfors bekannt, daß er nach Amerika abreisen werde. Die Professur war nun vakant und die Fakult¨at in Z¨ urich entschied sich daf¨ ur, die Stelle noch vor Beginn des Sommerurlaubs zu besetzen und, wenn m¨ oglich, einen bedeutenden ausl¨ andischen Wissenschaftler zu berufen. An erster Stelle komme Ahlfors’ Lehrer Rolf Nevanlinna in Frage, der bedeutendste ” lebende Funktionentheoretiker“. Damit k¨ onne die L¨ ucke, die durch den pl¨otzlichen Weggang von Ahlfors entstanden war, bestm¨oglich geschlossen werden. Nevanlinna war im Herbst 1945 nach einer Abwesenheit von vier Jahren an das Institut f¨ ur Mathematik der Universit¨ at Helsinki zur¨ uckgekehrt. Es war ¨ eine bedr¨ uckende Zeit. Uber Mannerheim und Paasikivi stand unter der Leiˇ tung von Andrei Zdanow die sowjetische Kontrollkommission, die in Finnland die Macht aus¨ ubte. Zum Jahreswechsel 1945–1946 fand der Kriegsschuldigenprozeß statt, der Nevanlinna schwer bedr¨ uckte. Der vorsitzende Richter war ein Verwandter Nevanlinnas, der Pr¨ asident des Obersten Gerichts Hjalmar Neovius, der schon bald aus gesundheitlichen Gr¨ unden um seine Entlassung ersuchte. Der wahre Grund f¨ ur das Entlassungsgesuch d¨ urfte jedoch der Prozeß selbst gewesen sein, den Neovius in deutlichen Worten als unn¨otig bezeichnete. Unter denjenigen, die beschuldigt und sp¨ater verurteilt wurden, waren zwei Professorenkollegen Nevanlinnas – die fr¨ uheren Ministerpr¨asidenten Edwin Linkomies und T. M. Kivim¨ aki, der w¨ahrend des Krieges der finnische Gesandte in Berlin war. Nevanlinna besuchte sie im Gef¨angnis, beteiligte sich am Unterst¨ utzungskomitee f¨ ur die Familien der Inhaftierten und versuchte, Hilfe f¨ ur die Angeh¨ origen von Linkomies zu organisieren. Nevanlinna war auch wegen der gegen ihn gerichteten Kritik bedr¨ uckt, die nicht aufh¨ orte. Er war zwar von seinem Rektorenamt zur¨ uckgetreten, aber
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seine Professur war m¨ oglicherweise noch in Gefahr. Es war die Zeit der roten Staatspolizei: Man verh¨ orte Personen, die als Gegner der neuen Richtung wahrgenommen wurden, und sie konnten ohne Gerichtsentscheid f¨ ur lange Zeit eingesperrt werden. Die mathematische Arbeit war durch die schwachen internationalen Verbindungen Finnlands erschwert und das Reisen wegen Devisenmangels kompliziert. Z¨ urich erschien als verlockende Alternative. Zuhause in der Pietarinkatu f¨ uhrte Mary weiter den Haushalt, aber mit Rolfs neuen Freundinnen war die Ehe eine bloße Kulisse geworden. Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a erwartete von Rolf ein Kind, aber sie setzte ihr Leben als Frau Visap¨ a¨ a fort. Die Familienangelegenheiten hielten Nevanlinna nicht in Finnland. ¨ Nevanlinna wollte eine klare Anderung in seinem Leben und signalisierte seinen Wunsch, zumindest f¨ ur einige Zeit an die Universit¨at Z¨ urich zu kommen. Danach entwickelten sich die Dinge schnell. Im September 1946 berief die Kantonsregierung Z¨ urich Nevanlinna zum ordentlichen Professor als Nachfolger von Ahlfors und Nevanlinna erhielt alle Vorteile, die Ahlfors versprochen worden waren. Die Professuren der Universit¨at Z¨ urich waren zeitlich befristet, jedoch mussten schwerwiegende Gr¨ unde vorliegen, damit eine Verl¨angerung abgelehnt wurde. Dementsprechend erhielt Nevanlinna die Berufung f¨ ur sechs Jahre. Er hatte sich f¨ ur ein Jahr verpflichtet, nachdem er von der Universit¨ at Helsinki f¨ ur das Studienjahr 1946–1947 freigestellt worden war um als ” Gastprofessor Vorlesungen an der Universit¨ at Z¨ urich zu halten“. In dieser Zeit hatte er sich noch nicht endg¨ ultig zwischen Helsinki und Z¨ urich entschieden, aber er versprach den Schweizern, ihnen seinen Standpunkt rechtzeitig vor Beginn des n¨ achsten Studienjahres mitzuteilen. Auch in der Schweiz hatte der milit¨ arische Erfolg der Sowjetunion die Anh¨ angerschaft der Kommunisten f¨ ur einen Moment verst¨arkt. Ein Mitglied der kommunistischen Partei der Arbeit war in die Kantonsregierung von Z¨ urich gew¨ ahlt worden und verlangte eine Kl¨arung der politischen T¨atigkeit Nevanlinnas w¨ ahrend des Krieges. Die Sympathien waren bereits im voraus auf Nevanlinnas Seite und die durchgef¨ uhrte offizielle Untersuchung endete damit, daß die Eignung Nevanlinnas f¨ ur die Professur nicht angezweifelt wurde. Die Abreise in die Schweiz drohte jedoch gleich am Anfang zu scheitern, da man Nevanlinna in Finnland die erforderliche Reisegenehmigung nicht erteilen wollte. Die kafkaeske Geschichte Wie Nevanlinna den Paß erhielt“ tr¨agt ” Z¨ uge einer Farce, da das Happy End bekannt ist. Wenn man die Geschichte liest, die ein Bild der Atmosph¨ are dieser Zeit widerspiegelt, dann wundert man sich, wie intensiv die oberste F¨ uhrung des Landes mit Nevanlinnas Reise befaßt war – zu einem Zeitpunkt, als in den bereits begonnenen Pariser Friedensverhandlungen u ¨ ber die Zukunft Finnlands diskutiert wurde. Nevanlinna u bergab der Provinzialverwaltung am 10. September 1946 ¨ einen Antrag auf Genehmigung f¨ ur die Reise in die Schweiz und legte die Einladung der Universit¨ at Z¨ urich sowie das Empfehlungsschreiben des Kanzlers der Universit¨ at Helsinki bei. Ein paar Tage sp¨ater erhielt Nevanlinna, der
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seinen Paß abholen wollte, einen abschl¨ agigen Bescheid, weil die Notwendigkeit der Reise nicht hinreichend begr¨ undet worden sei. Nevanlinna begab sich sofort zum Unterrichtsminister Eino Kilpi und bat ihn um dessen Mitwirkung in Sachen Reisegenehmigung. Kilpi sagte zu, aber am folgenden Tag meinte er, daß sich die Bearbeitung der Angelegenheit etwas verz¨ogere, weil er sich dar¨ uber mit dem Ministerpr¨ asidenten Mauno Pekkala beraten m¨ usse. Auch nach mehreren Telefonaten und einem erneuten Treffen mit Kilpi kam die Sache nicht voran. Mehr als eine Woche sp¨ ater sagte Kilpi, die Sache sei immer noch in Bearbeitung, aber das Innenministerium mache Schwierigkeiten. Kilpi schlug vor, daß sich Nevanlinna pers¨ onlich mit Ministerpr¨asident Pekkala in Verbindung setzen solle. Nevanlinnas Versuche, Kontakt zu Pekkala zu bekommen, mißgl¨ uckten, und am folgenden Tag las Nevanlinna in der Zeitung, daß Pekkala zu den Friedensverhandlungen nach Paris gereist sei. Nevanlinna blieb hartn¨ackig und ließ sich nicht entmutigen, sondern wandte sich jetzt an Pr¨asident Paasikivi, der ihn umgehend empfing. Paasikivi wunderte sich u ¨ ber die Schwierigkeiten und versprach, mit Kilpi u ¨ ber die Sache zu reden. Nachdem Paasikivi Nevanlinna pers¨ onlich benachrichtigte, daß Kilpi in der Angelegenheit zugesagt hatte, begab sich Nevanlinna erneut ins Unterrichtsministerium, nur um dort zu h¨ oren, daß man nichts tun k¨ onne, bevor V¨ ain¨o Meltti, der volksdemokratische Gouverneur der s¨ udfinnischen Provinz Uusimaa, den Pr¨asidenten getroffen habe. Meltti erz¨ ahlte Paasikivi, daß die Staatspolizei abgelehnt habe, Nevanlinna die Reisegenehmigung zu erteilen, weil man wegen der Rekrutierung der SS-M¨ anner Anklage gegen ihn erheben wolle. Die Erkl¨arung u ¨berzeugte Paasikivi nicht: Der Reisepaß m¨ usse ausgestellt werden, denn andernfalls komme es in der Angelegenheit zu einem europ¨ aischen Skandal, der Finnlands Ruf besch¨ adigen w¨ urde. Die Einladung an die weltber¨ uhmte Universit¨at Z¨ urich sei eine Ehre f¨ ur Finnland. Paasikivi rief Nevanlinna erneut zu sich und sagte ihm, daß er mit Meltti und Kilpi1 besprochen habe, daß ihm unverz¨ uglich die Reisegenehmigung erteilt werden m¨ usse. Nevanlinna versprach Paasikivi, nach Finnland zur¨ uckzukehren, falls gegen ihn Anklage erhoben werde. Die Regierung beschloß in ihrer Sitzung am 25. September, Nevanlinna die Reiseerlaubnis zu geben. Nachdem Nevanlinna das geh¨ort hatte, begab er sich zu Meltti, der ihn dar¨ uber informierte, daß die Sache eine neue Wendung genommen habe, deretwegen es doch noch nicht m¨oglich sei, die Genehmigung zu erteilen. Die Sache m¨ usse telegraphisch mit dem Innenminister gekl¨ art werden, der sich in Paris aufhalte. Am folgenden Tag teilte Kilpi mit, daß die Antwort eingegangen sei und im Innenministerium bearbeitet werde, wohingegen Meltti zu sagen wußte, daß keinerlei Antwort eingetroffen sei. Erneutes Telefongespr¨ ach mit Kilpi, der einr¨ aumte, daß in der Angelegenheit etwas unklar sei; Kilpi sagte Hilfe vom Außenministerium zu, das eine Telefonverbindung nach Paris hatte. Am Freitagmorgen bekam Nevanlinna, der ins 1
Kilpi war nach der Abreise des Innenministers nach Paris auch amtierender Innenminister.
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Unterrichtsministerium gegangen war, von Kilpi zu h¨oren, daß die Sache im Laufe des Tages gekl¨ art werde. Nachdem Nevanlinna verk¨ undete, daß er des Wartens u ussig sei und umgehend eine Antwort haben wolle, empfahl ¨berdr¨ ihm Kilpi, unverz¨ uglich zu Meltti zu gehen, um die Genehmigung einzuholen. Meltti sagte, daß er nichts tun werde – es sei denn, aus dem Innenministerium komme eine schriftliche Anordnung zur Erteilung der Genehmigung. Nevanlinna blieb vor Ort und veranlaßte Meltti, Kilpi anzurufen, der es schaffte, Melttis Widerstand zu brechen. Nach einer halben Stunde lag der Paß zusammen mit der Reisegenehmigung bei der Provinzialverwaltung bereit und die 18-t¨ agige Tortur war zu Ende. Wer weiß, was das Endresultat gewesen w¨are, wenn auch der Ministerpr¨ asident und der Innenminister in Helsinki gewesen w¨ aren und sich mit der Sache befaßt h¨ atten. Um die erforderliche geringf¨ ugige Reisevaluta zu bekommen, ging Nevanlinna zur Bank von Finnland, wo er aufgefordert wurde, sich an den Direktor Urho Kekkonen zu wenden. Kekkonen reagierte barsch und verwies auf die trostlose Wirtschaftslage des Landes. Offensichtlich war er gegen Nevanlinnas Abreise in die Schweiz, maßte sich aber nicht an, ihm einen Kn¨ uppel zwischen die Beine zu werfen. Letztendlich stellte sich heraus, daß der Besuch bei Kekkonen unn¨ otig war, denn Nevanlinna bat Z¨ urich um einen Gehaltsvorschuß f¨ ur die Reise- und Umzugskosten und erhielt von dort eine betr¨achtliche Vorauszahlung. Wegen der finnischen W¨ ahrungsvorschriften mußte die Zahlung jedoch nach Stockholm angewiesen werden. Anfang Oktober 1946 reiste Nevanlinna ohne großes Aufheben nach Z¨ urich ab. Als er 1928 seine erste Reise nach Z¨ urich angetreten hatte, hatte Eino Kaila davon geh¨ ort und Nevanlinna einen freundlichen Brief geschrieben. Dieses Mal schrieb ein anderer Philosoph, der junge Professor Georg Henrik von Wright, einen Brief, in dem er den Verlust bedauerte, den das finnische Universit¨atsleben durch den Weggang Nevanlinnas erlitten habe. Von Wright bedankte sich f¨ ur die Ermutigung und Inspiration, die er vom ersten Studienjahr an durch den Kontakt mit Nevanlinnas edler und tiefsinniger Pers¨onlichkeit erfahren durfte. Dieser Kontakt war f¨ ur mich ein wertvoller Kraftquell in unserem ” k¨ uhler gewordenen geistigen Klima.“ Einige Jahre sp¨ater wurde von Wright als Nachfolger von Ludwig Wittgenstein auf den Lehrstuhl der Philosophie der Universit¨ at Cambridge berufen. In Z¨ urich f¨ uhlte sich Nevanlinna vom ersten Augenblick an wohl. Die Studenten reagierten auf seine Vorlesungen ¨ außerst positiv und Nevanlinna, der seine Lehrt¨atigkeit ernst nahm, war mit der Resonanz zufrieden. Er kannte achsten Kollegen noch nicht – es waren nicht dieselben wie bei seinem seine n¨ fr¨ uheren Aufenthalt 1928/1929 –, aber er stellte fest, daß man ihn sch¨atzte. Und das wohlhabende Z¨ urich in der Mitte Europas war vom Standpunkt der wissenschaftlichen Verbindungen in einer viel besseren Position als das damalige Helsinki. Nevanlinna befand sich an einem Aussichtspunkt, von dem er die neuen mathematischen Str¨ omungen der Zeit verfolgen konnte. Bevor das erste Studienjahr zu Ende ging, reifte in ihm der Entschluß: Er w¨ urde in
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Z¨ urich bleiben und von der Professur zur¨ ucktreten, die er an der Universit¨at Helsinki innehatte. Genau genommen endete seine Professur in Helsinki Anfang Oktober 1947 zu Beginn des Wintersemesters der Universit¨at Z¨ urich. F¨ ur mich war dieser Zeitpunkt wichtig. Einen Monat fr¨ uher hatte ich meine abgeschlossene Ma¨ gisterarbeit zur Uberpr¨ ufung abgegeben und meine Arbeit kam zu Professor Nevanlinna, der noch im Amt war. Die Arbeit wurde angenommen, aber ich sah Nevanlinna erst, als er mich w¨ ahrend seines kurzen Weihnachtsurlaubs zu sich in die Pietarinkatu einlud. Im Vor¨ ubergehen hatte ich Nevanlinna an der Universit¨ at gesehen, aber bei ihm zuhause sprach ich zum ersten Mal mit ihm. Nevanlinna kam sofort zur Sache und erkundigte sich, ob ich die Absicht habe, meine Mathematikstudien fortzusetzen. Nach meiner bejahenden Antwort sagte er, daß er die M¨ oglichkeit habe, f¨ ur mich ein Stipendium f¨ ur die Schweiz zu organisieren, mit dessen Hilfe ich einige Zeit in Z¨ urich studieren k¨ onne. Im damaligen Finnland war das ein seltenes Angebot, das bei mir auf einen ¨ außerst empf¨ anglichen Boden fiel. In der Folge konnte ich 1948 ein halbes Jahr in Z¨ urich verbringen – eine Zeit, die mein Leben wesentlich pr¨agte. ¨ Von dieser Zeit an hatte ich pers¨ onliche Kontakte zu Rolf Nevanlinna. Uber mehrere Jahre blieb unsere Beziehung distanziert, obwohl es bereits 1950 zu ¨ einer bedeutenden Anderung kam, die mir in Erinnerung geblieben ist: Als wir in Amerika waren und einen Abend zuhause bei den Ahlfors verbrachten, bot mir Nevanlinna das Du“ an. Aber erst ab dem Jahr 1953 kam es zu einem ” engeren Kontakt, als Nevanlinna mich einlud, in der Akademie von Finnland sein Assistent zu werden. Auf den Lehrstuhl f¨ ur Mathematik der Universit¨at Helsinki, der nach dem Verzicht Rolf Nevanlinnas frei geworden war, wurde sein ¨alterer Bruder Frithiof berufen. F¨ ur Frithiof sprachen seine bedeutenden wissenschaftlichen Verdienste, die auf die 1920er Jahre zur¨ uckgingen.
8.9 Die Akademie von Finnland Die Regierung hatte bereits vor dem Krieg dem Plan zur Gr¨ undung der Akademie von Finnland zugestimmt, aber der Krieg verhinderte weitere Maßnahmen. Nach der Wiedereinkehr des Friedens nahm der enthusiastische Leo Sario die Sache in die Hand und trieb sie mit unglaublicher Energie voran. Er hatte einen klaren ideellen Ausgangspunkt. Die damalige Generation m¨ usse ein bleibendes Denkmal errichten, das der Welt verk¨ unden werde: Das finnische Volk, das Krieg gef¨ uhrt hatte, hat in den schwierigen Tagen gelernt, ¨ die Uberlegenheit des Geistes u ¨ ber die Materie zu erkennen. Sario verfolgte das Ziel, daß finnische Pers¨ onlichkeiten mit außerordentlichen sch¨opferischen Begabungen die ihnen geb¨ uhrende Wertsch¨atzung und Stellung bekommen m¨ ußten. Wenn sie ihre Kreativit¨ at unbelastet von anderen Aufgaben ausleben
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d¨ urften, w¨ urden sie der Nation zur Ehre gereichen, die Jugend belehren und ihr ein Beispiel sein. Außer dem ideellen Gesichtspunkt sch¨ opfte Sario Tatkraft aus seiner Beobachtung, daß die Abwanderung finnischer Spitzenwissenschaftler ins Ausland bedrohlich war. Sario hielt es f¨ ur selbstverst¨andlich, daß Eino Kaila, Rolf Nevanlinna und A. I. Virtanen Mitglieder der Akademie werden sollten. Diese drei akzeptierte er als Berater in seinem Kampf, der nach vielen Schwierigkeiten schließlich zur Gr¨ undung der Akademie von Finnland f¨ uhrte, und zwar u ¨ berwiegend in der von Sario geplanten Form. Das Gesetz zur Akademie von Finnland und zu staatlichen Stipendien zur F¨orderung der h¨oheren geistigen Kultur wurde im Oktober 1947 verabschiedet. Die Akademie bestand aus zehn (sp¨ ater zw¨olf) Mitgliedern, und jedes Mitglied hatte einen pers¨ onlichen Forschungsassistenten. Die Verwaltung war minimal: ein Teilzeitsekret¨ ar und ein B¨ uromitarbeiter. Die Mitglieder wurden vom Pr¨ asidenten der Republik auf Antrag des Unterrichtsministers und auf Vorschlag des Akademiebeirates ernannt, der die finnischen wissenschaftlichen und k¨ unstlerischen Institutionen vertrat. Als der Akademiebeirat zum ersten Mal Mitglieder vorschlug, gab er den politischen Entscheidungstr¨agern nur die M¨ oglichkeit, Namen zu akzeptieren oder zur verwerfen, weil er genau zehn Namen vorschlug. Zu den Vorgeschlagenen geh¨orte Rolf Nevanlinna, der seine Zustimmung zur Kandidatur gab. Gleichzeitig warnte er die Beh¨orden der Universit¨ at Z¨ urich, daß er bald darum bitten m¨ usse, von seinem Professorenamt entbunden zu werden. Es war beabsichtigt, die Mitglieder der Akademie von Finnland im Dezember 1947 zu ernennen und die T¨atigkeit der Akademie sollte unmittelbar zu Beginn des folgenden Jahres anfangen. Die Ernennung verz¨ ogerte sich jedoch weit u ¨ber den geplanten Zeitraum hinaus, denn als die Liste der vom Akademiebeirat vorgeschlagenen Kandidaten ¨ offentlich geworden war, begannen die Angriffe gegen einige der Kandidaten wegen ihrer politischen T¨ atigkeit w¨ ahrend des Krieges. Rolf Nevanlinna geh¨ orte zu denjenigen, die hart kritisiert wurden. So wie zur Zeit der Rektorentreibjagd, die ungef¨ ahr drei Jahre fr¨ uher stattgefunden hatte, k¨ ummerte sich Nevanlinna auch jetzt nicht weiter um die Kritik, die es von seiten der extremen Linken hagelte. Bedenklicher war es jedoch, daß sich unter denjenigen, die sich seiner Kandidatur widersetzten, solche Personen befanden – Mitglieder der Regierung, hohe Beamte und andere einflußreiche Leute –, die seine T¨atigkeit als Akademiemitglied erschweren konnten, falls man ihn ernennen w¨ urde. Besonders verletzt war Nevanlinna wegen eines aufsehenerregenden Artikels, den Urho Kekkonen, der jetzt Parlamentspr¨asident war, in der angesehenen Wochenzeitschrift Suomen Kuvalehti ver¨offentlicht hatte. Kekkonen ging davon aus, daß die Akademie von Finnland imstande sein sollte, Wissenschaft und Kunst dem Volk nahe zu bringen. Deshalb soll man sorgf¨altig ” vermeiden, Personen als Mitglieder vorzuschlagen, die in der Akademie zu st¨ andigen Streitigkeiten f¨ uhren w¨ urden. Es w¨are klug gewesen, eine Zusammensetzung vorzuschlagen, gegen die keine Seite sachliche Einw¨ande h¨atte
8.9 Die Akademie von Finnland
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vorbringen k¨ onnen. Gegen die Mehrheit der Kandidaten kann man auch keinen Widerspruch erheben, aber die Sachlage ist bei den Herren Kilpinen, Koskenniemi und Nevanlinna eine andere.“ Kekkonen hielt sich f¨ ur f¨ ahig, die Eignung dieser drei einzusch¨atzen. Er meinte, daß Kilpinen und Koskenniemi sowohl aus politischen Gr¨ unden als auch aufgrund ihrer geringen Verdienste ungeeignet seien. Kekkonen r¨aumte ein, daß Nevanlinnas wissenschaftliche Arbeit von so hoher Qualit¨at sei, daß man seine Position als Akademiemitglied in dieser Hinsicht nicht infrage stellen k¨ onne. Aber obwohl es nicht erlaubt sei, jemanden aufgrund seiner politischen Verdienste in die Akademie zu w¨ahlen, sei es doch m¨oglich, jemanden aufgrund der politischen Umst¨ ande davon fernzuhalten. Kekkonens abschließendes Urteil war schroff: Nevanlinnas politische Stellungnahmen sind ” so beschaffen, daß es am kl¨ ugsten gewesen w¨are, ihn beiseite zu halten und er selbst am besten beiseite geblieben w¨ are. In den f¨ ur uns schweren Jahren machte er sich eine politische Ideologie zu eigen, die bereit war, jene demokratischen Freiheiten zu zerschmettern, von deren Bewahrung die Existenz unserer Nation abh¨ angt – damals, jetzt und in aller Zukunft.“ An diesem Abschnitt war in der Zeitschrift ein Sternchen gedruckt, das auf folgende Bemerkung verwies: Die Redaktion stellt fest, daß die politi” schen Umst¨ ande die Wahl eines Akademiemitglieds nicht beeinflussen d¨ urfen, weil ein Akademiemitglied nach seiner Wahl nicht mehr politisieren darf, ganz gleich, welche extremistische Richtung der Betreffende fr¨ uher vertreten hat. Dr. Kekkonens Argumentation in bezug auf Prof. Nevanlinna ist ein Sophismus.“ Nevanlinna betrachtete dieses H¨ andewaschen“ der Redaktion nicht ” als ausreichend und seine Gef¨ uhle entluden sich: Der Direktor der Bank von ” Finnland und Parlamentspr¨ asident hat eine unfaire Attacke gegen mich geritten und die – von zwei f¨ uhrenden Verlagsh¨ ausern getragene – meistverbreitete Wochenzeitschrift unseres Landes hielt es f¨ ur angemessen, diese Attacke zu ver¨ offentlichen.“ Nevanlinna wußte nicht, daß Paasikivi der Ansicht war, Kekkonen habe sich mit seinem Schreiben auf ein Gebiet gewagt, das in der Zust¨andigkeit des Pr¨ asidenten liege. Paasikivi rief Kekkonen ins Pr¨asidentenpalais, um ihm die Leviten zu lesen. Kekkonen erinnerte sich mit eigenen Worten: Paasikivi ” wurde satanisch b¨ose. Er schrie, was denkst du dir dabei, dich in Kulturdinge einzumischen. Was zum Teufel verstehst du davon? Dann schlug er mit der Faust so stark auf den Tisch, daß das Tintenfaß umfiel und die Tinte nicht nur auf den Tisch, sondern auch auf den Fußboden floß.“ Nevanlinna kannte diese Spiele im Hintergrund nicht und begann zu zweifeln, ob es u urich aufzugeben, wo die ¨ berhaupt klug sei, die gute Professur in Z¨ Universit¨ at immer wieder nach seinen Pl¨ anen fragte, als sich die Sache in die L¨ ange zog. Es schien nicht mehr sicher zu sein, daß Pr¨asident Paasikivi Nevanlinna zum Akademiemitglied ernennen werde, aber dieser tat es, bevor der unschl¨ ussige Nevanlinna u ¨ berhaupt Zeit hatte, Entscheidungen zu treffen. Die Ernennung der Mitglieder der neugegr¨ undeten Akademie von Finnland war Bestandteil der auf Ende M¨ arz 1948 datierten Vorlage des Pr¨asidenten. Bevor
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die Sache behandelt wurde, veranstaltete der Pr¨asident f¨ ur die Regierungsmitglieder eine private Diskussion u ¨ ber den Vorschlag des Akademiebeirats. Als Akademiemitglieder wurden vorgeschlagen: der Bildhauer W¨ain¨o Aaltonen, der Forstwissenschaftler Yrj¨ o Ilvessalo, der Philosoph Eino Kaila, der Komponist Yrj¨ o Kilpinen, der Schriftsteller V. A. Koskenniemi, der Mathematiker Rolf Nevanlinna, der Kunsthistoriker Onni Okkonen, der Meteorologe Erik Palm´en, der Fennougrist Yrj¨ o Toivonen und der Biochemiker A. I. Virtanen. Unterrichtsminister Eino Kilpi wollte Koskenniemi und Kilpinen aus politischen Gr¨ unden und auch deswegen weglassen, weil sie keine ausreichenden Verdienste h¨ atten, und er wollte auch Nevanlinna und Virtanen aus politischen Gr¨ unden weglassen. Nachdem die Minister ihre Meinung dargelegt hatten, verk¨ undete Paasikivi, daß gem¨ aß Gesetz nur wissenschaftliche und k¨ unstleri¨ sche Verdienste in Frage k¨ amen und keine politischen Gesichtspunkte. Uber Nevanlinna und Virtanen sagte er ganz kurz, daß sie als Wissenschaftler u ¨ ber jeglicher Polemik st¨ unden. Paasikivi sprach auch u ¨ ber Nevanlinnas T¨atigkeit w¨ ahrend des Krieges und machte klar, daß es da nichts Tadelnswertes gab. Gem¨ aß seinem Tagebucheintrag sagte Paasikivi: Nevanlinna willigte in die ” Bitte der Regierung, das heißt, des Außenministers, ein, als er die Sache mit dem finnischen SS-Bataillon u utzte die damalige Politik ¨bernahm. Er unterst¨ Finnlands, so wie 99% der finnischen Bev¨ olkerung.“ In der eigentlichen Sitzung ernannte Paasikivi alle Kandidaten, die vom Akademiebeirat vorgeschlagen worden waren. Als Nevanlinna den Wunsch urich bis zum Semesterende zu halten, wurde f¨ ur ihn ¨außerte, seine Stelle in Z¨ der 1. Juli 1948 als Amtsantritt der Akademiemitgliedschaft festgelegt. Als der Beschluß zur Genehmigung von Nevanlinnas Reise in die Schweiz gefaßt wurde, war es ein gl¨ ucklicher Zufall, daß sich seine Gegner – Ministerpr¨ asident Pekkala und Innenminister Leino – in Paris aufhielten. Auch w¨ ahrend der Ernennung der Akademiemitglieder waren sie nicht in Helsinki: Dieses Mal hielten sie sich anl¨ aßlich der Verhandlungen zum Vertrag u ¨ ber ” Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ in Moskau auf. Das war nicht notwendigerweise ein Zufall, weil Paasikivi, der die Ernennung ur g¨ unstig hielt, der Akademiemitglieder verschoben hatte, es m¨oglicherweise f¨ die Angelegenheit in Abwesenheit des Ministerpr¨asidenten und des Innenministers zu entscheiden.
8.10 Helsinki oder Zu ¨ rich? Als sich die Ernennung zum Akademiemitglied verz¨ogerte, verlangte die Universit¨ at Z¨ urich von Nevanlinna immer wieder eine klare Antwort, um den Lehrplan f¨ ur das Studienjahr 1948–1949 festzulegen und Maßnahmen zur Neubesetzung des Lehrstuhls von Nevanlinna einzuleiten, falls er nicht mehr als Professor zur Verf¨ ugung st¨ unde. Um sich aus der schwierigen Situation zu befreien, antwortete Nevanlinna, daß er auf jeden Fall in Finnland um die Erlaubnis bitten werde, sein Professorenamt in Z¨ urich noch ein weiteres Jahr
8.10 Helsinki oder Z¨ urich?
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aus¨ uben zu d¨ urfen. Zur gleichen Zeit forderte Nevanlinna von der Akademie die Genehmigung f¨ ur eine Beurlaubung, falls er eine wissenschaftliche Auslandsreise antreten wolle. Der Grund hierf¨ ur waren Gespr¨ache mit den Schweizer Kollegen, die nach einer Regelung suchten, in deren Rahmen sich Nevanlinna in Zukunft von Zeit zu Zeit in Z¨ urich w¨ urde aufhalten k¨onnen. Von den finnischen Beh¨ orden erhielt das neuernannte Akademiemitglied Nevanlinna keine Zustimmung zu den von ihm gestellten Bedingungen. Verbittert stellte Nevanlinna fest, daß in Finnland die Angriffe gegen ihn weitergingen, w¨ ahrend man in Z¨ urich deutlich zu erkennen gab, daß man seinen Weggang nicht w¨ unschte. Als die Universit¨ aten Helsinki und Z¨ urich ein Jahr zuvor einander als Alternativen gegen¨ ubergestanden hatten, hatte sich Nevanlinna ohne gr¨ oßere Schwierigkeiten f¨ ur die Letztere entschieden. Nun dachte er erneut u ¨ ber seine eigene Zukunft nach und jene Gesichtspunkte, die seinerzeit die Sache entschieden hatten, schienen jetzt wieder schwerwiegend zu sein. Dar¨ uber hinaus hatte er festgestellt, wie gerne er auf einer sichtbareren mathematischen B¨ uhne agierte, als es das abgelegene Helsinki war. Auch war nicht sicher, daß er seinen Verpflichtungen als Akademiemitglied erfolgreich werde nachkommen k¨ onnen, wenn gegen ihn Stimmung gemacht w¨ urde. Die wichtigsten Aufgaben, n¨ amlich die F¨ orderung der Mathematik und des wissenschaftlichen Nachwuchses in Finnland, waren Dinge, die er vielleicht von Z¨ urich aus besser wahrnehmen konnte als lediglich von Helsinki aus. Wie schon ein Jahr zuvor traf Nevanlinna die Entscheidung zugunsten von Z¨ urich. Anstatt ein Entlassungsgesuch an die Kantonsregierung von Z¨ urich zu senden, schrieb er an A. I. Virtanen, der zum Pr¨asidenten der Akademie von Finnland gew¨ ahlt worden war, daß er nicht imstande sei, die Mitgliedschaft in der Akademie anzunehmen. Dem Brief legte er eine offizielle Verzichtserkl¨ arung bei, die an den Pr¨ asidenten der Republik weiterzuleiten sei. Nevanlinna kannte Virtanen schon seit langem, aber die beiden gleichaltrigen M¨ anner kamen erst relativ sp¨ at in engeren Kontakt. Virtanen wurde 1939 zum Professor der Universit¨ at Helsinki berufen, aber bald danach mußte der Universit¨ atsbetrieb wegen des Krieges unterbrochen werden und 1941 war Nevanlinna als Rektor nicht mehr in Fakult¨atsn¨ahe, weswegen die Kontakte zu Virtanen nachließen. Als Nevanlinna seine Entlassung vom Rektorenamt erhielt, vermerkte Virtanen als einziger Professor sein Bedauern u ¨ ber das Geschehene im Protokoll des Konsistoriums. Als Virtanen einige Monate sp¨ater den Nobelpreis erhielt, war Nevanlinna gerade in Stockholm, um Dinge im Zusammenhang mit der Restaurierung des Festsaals der Universit¨at Helsinki zu regeln. Er bekam eine Einladung zu den Nobelfeierlichkeiten und es scheint, daß diese Tage die beiden einander n¨ aher brachten. Neid geh¨orte nicht zu den Charakterz¨ ugen Nevanlinnas – die aufrichtige Freude des prominenten Kollegen u ¨ber den Nobelpreis beeindruckte Virtanen. Virtanen wollte den Verzicht Nevanlinnas auf die Mitgliedschaft in der Akademie von Finnland nicht akzeptieren und leitete dessen Verzichtserkl¨ arung nicht weiter. Wenn du die Mitgliedschaft der Akademie nicht an” nimmst, dann w¨ are das ein besonders unangenehmer Schlag f¨ ur die Akademie
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und f¨ ur denjenigen Teil des finnischen Volkes, der gegen die Kommunisten und ihre Kumpane steht. Diese und Kekkonen k¨onnten sich dann dar¨ uber freuen, daß sie ihr Ziel erreicht haben.“ Virtanen machte sich an die Beseitigung der Hindernisse, mit denen Nevanlinna seinen Verzicht begr¨ undet hatte, und konnte bald bekanntgeben, daß man seinen Bedingungen in Bezug auf das Z¨ urcher Professorenamt und die Auslandsreisen zustimmen werde. Anfang Juni 1948 zog Nevanlinna seine Verzichtserkl¨ arung zur¨ uck. Im November nahm Nevanlinna an der Einweihungsfeier der Akademie von Finnland teil, die im renovierten Festsaal der Universit¨at Helsinki stattfand. Pr¨ asident Paasikivi beendete seine Er¨ offnungsrede mit dem hehren Wunsch: M¨ oge die Akademie von Finnland wie ein Leuchtturm sein, in dessen fun” kelndem Licht sich die Wissenschaften und die K¨ unste die beste Durchfahrt f¨ ur Finnlands Kultur bahnen k¨ onnen.“ Die Veranstaltung wurde durch einen un¨ ublichen Personenkult gepr¨agt: Die Akademiemitglieder saßen dem Publikum zugewandt in Lehnsesseln auf der B¨ uhne des Festsaals. Wie die H¨ uhner auf der Stange“, sp¨ottelte Linko” mies, der acht Tage zuvor aus dem Gef¨ angnis entlassen worden war. Nevanlinna, der die bombastische Inszenierung bel¨achelte, gefiel dieser h¨ ubsche Vergleich, den er sogleich weitererz¨ ahlte. Er meinte, die prunkhafte Einweihungsfeier sei ein Fehlgriff gewesen. Schlimmer als der sp¨ ottische Spruch von Linkomies war das Ressentiment, das man von Anfang an gegen¨ uber der Akademie von Finnland empfand. Die Art und Weise, wie der Gr¨ undungsbeschluß durchgedr¨ uckt worden war, hatte zu Irritationen gef¨ uhrt, und die Diskussion u uhle ¨ ber die Kandidaten Gef¨ aufgew¨ uhlt. Das satirische Blatt Jouluk¨arp¨anen hatte 1948 in einer Karikatur das Motto der Akademie durch ein in sein Gegenteil abgewandeltes finnisches Sprichwort wiedergegeben: In der Fremde ist es sch¨oner als zuhause“ 2 – ei” ne Stichelei gegen Nevanlinna. Die Karikatur spielte auch auf seine Aff¨aren an: Nevanlinna zeichnete auf seine mathematischen Unterlagen das Bild einer sch¨ onen Frau. Die Geschichte von Nevanlinnas Beitritt zur Akademie endet nicht mit der Einweihungsfeier. Ab Sommer 1948 war Nevanlinna Mitglied der Akademie von Finnland und ordentlicher Professor der Universit¨at Z¨ urich. Das war eine aus praktischen Erw¨ agungen getroffene Interimsregelung, die aufgehoben werden mußte, und im Mai 1949 bat Nevanlinna die Kantonsregierung von Z¨ urich, ihn von seinem Professorenamt zu entpflichten. Als Nevanlinna den Akademiepr¨ asidenten Virtanen hier¨ uber informierte, sagte er auch, daß ihm die Universit¨ at Z¨ urich im Zusammenhang mit der Entpflichtung wahrscheinlich den Titel eines Ehrenprofessors verleihen werde. Nevanlinna f¨ ugte hinzu,
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Das urspr¨ ungliche Sprichwort lautet Oma maa mansikka, muu maa mustikka“ ” ¨ und bedeutet in freier Ubersetzung Fremde L¨ ander sind sch¨ on, aber in der Hei” mat ist es am allersch¨ onsten“.
8.10 Helsinki oder Z¨ urich?
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daß die Ehrenprofessur nur“ die Ehre bedeute – ohne Verpflichtungen und ” ohne Gehalt. Als der Herbst kam, erwies sich Nevanlinnas Vermutung von einer unbezahlten Ehre als falsch. Die Fakult¨ at wollte Nevanlinna in Z¨ urich halten und konnte die Kantonsregierung davon u ¨berzeugen, im Falle Nevanlinnas besondere Vorkehrungen zu treffen. Man dachte dar¨ uber nach, wie man Nevanlinna an Z¨ urich binden k¨ onne – mit einem Band, das de jure lose, aber de facto so fest war, daß sich seine Position als ordentlicher Professor nicht ¨anderte.
Abb. 8.6. Pr¨ asident J. K. Paasikivi weiht die Akademie von Finnland im Festsaal der Universit¨ at Helsinki im November 1948 ein. Links: Akademiepr¨ asident A. I. Virtanen. (Mit freundlicher Genehmigung: Akademie von Finnland)
Im Oktober 1949 wurde Nevanlinna in derselben Sitzung der Z¨ urcher Kantonsregierung der Verzicht auf die Professur der Universit¨at Z¨ urich gew¨ahrt und der Titel eines Ehrenprofessors der Universit¨at zuerkannt. Zur gleichen Zeit erhielt er einen st¨ andigen Lehrauftrag, der die Mitgliedschaft in der Fakult¨ at und dasselbe Gehalt einschloß, das er als Professor gehabt hatte. Nevanlinna wurde ein Ehrenprofessor, der das Amt eines ordentlichen Professors in” nehatte“. Die Entscheidungsfindung der Schweizer wurde dadurch erleichtert, daß das Verfahren nichts kostete, weil Nevanlinnas frei gewordene ordentliche ¨ Professur eingefroren wurde. In der Universit¨at merkte man die Anderung der
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8 Das Leben ¨ andert sich
Abb. 8.7. Sitzung des Kollegiums der ersten Akademiemitglieder. Am Kopf des Tisches Akademiepr¨ asident A. I. Virtanen, rechts vorne Rolf Nevanlinna. (Mit freundlicher Genehmigung: Akademie von Finnland)
Position Nevanlinnas nicht, die Studenten d¨ urften davon kaum etwas gewußt haben. F¨ ur sie war Nevanlinna derselbe Herr Professor wie fr¨ uher. Nevanlinna hatte in den f¨ unfzehn Jahren von 1948 bis 1963 zwei Arbeitsstellen: die Akademie von Finnland und die Universit¨at Z¨ urich. In Z¨ urich war Nevanlinna w¨ ahrend der Zeit der dortigen Semester von Oktober bis Februar und von April bis Juli, ein reichliches halbes Jahr. Ansonsten hielt er sich – abgesehen von gelegentlichen Auslandsreisen – in Finnland auf. In der Schweiz hatte Nevanlinna alle Verpflichtungen eines ordentlichen Professors, aber auch in Finnland hielt er regelm¨ aßig Vorlesungen und leitete seine Doktoranden an. Entsprechend dem Akademiegesetz war ein Akademiemitglied nicht berechtigt, amtsfremde Aufgaben zu u ¨ bernehmen – es sei denn, das Unterrichtsministerium hatte hierzu aus besonderen Gr¨ unden die Genehmigung erteilt. Nevanlinna erhielt die Genehmigung, die Verbindungen zu Z¨ urich aufrecht zu erhalten, aber als die Genehmigung diskutiert wurde, wußten weder die beh¨ ordlichen Entscheidungstr¨ ager in Finnland noch Nevanlinna selbst, daß es um eine so weitreichende Regelung gehen w¨ urde, wie sie schließlich Nevanlinna in Z¨ urich angeboten wurde, und wie er sie akzeptierte. Man kann Nevanlinnas Entscheidung kritisieren, vom Standpunkt der Mathematik waren seine beiden Arbeitsstellen jedoch eine gl¨ uckliche L¨osung. Nevanlinnas Leistungsverm¨ ogen war so groß, daß er sowohl in der Schweiz als
8.10 Helsinki oder Z¨ urich?
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auch in Finnland erfolgreich t¨ atig sein konnte. In Z¨ urich erhielt Nevanlinna Anregungen und Informationen u ¨ber die Ereignisse in der mathematischen Welt – Dinge, die nicht nur f¨ ur ihn selbst, sondern auch f¨ ur Finnland wichtig waren, denn die mathematische Weiterbildung in Finnland hing lange Zeit weitgehend von ihm ab. Zu dieser Zeit waren Reisen von Finnland ins Ausland noch schwierig und deswegen waren die Besuchsm¨oglichkeiten, die Nevanlinna f¨ ur junge finnische Mathematiker in Z¨ urich organisierte, besonders wertvoll. Andererseits war Nevanlinna durch die Mitgliedschaft in der Akademie von Finnland viel st¨ arker mit der Wissenschaft Finnlands verbunden, als wenn er nur Professor der Universit¨ at Z¨ urich gewesen w¨are.
9 Internationale Autorit¨ at
9.1 Schweizer Milieu Rolf Nevanlinna begann seine Professorenzeit in Z¨ urich im Oktober 1946. Der Wechsel nach Z¨ urich bedeutete die R¨ uckkehr zur Wissenschaft mit voller Hingabe an die mathematische Lehr- und Forschungst¨atigkeit. Rolf war von den st¨ orenden Einfl¨ ussen in Helsinki befreit und hatte die ¨offentlichen Aufgaben und Kontakte zu den f¨ uhrenden Pers¨ onlichkeiten Finnlands hinter sich gelassen. Nach den schweren Jahren wußte er jetzt, daß er in seinem Element war, da er nun endlich den gesegneten Arbeitsfrieden“ genießen konnte. Tags¨ uber ” und oft auch nachts saß er an seinem Tisch oder ging in seinem Zimmer hin und her, was er h¨ aufig tat, wenn er nachdachte. Die Arbeit ging ihm immer besser von der Hand und die Konzentration der Gedanken f¨ uhrte zu Ergebnissen. Nevanlinna hatte sein Refugium im Herzen Europas gefunden; ihn plagten keine Gewissensbisse, obwohl er seine Familie, seine Freunde und seine Arbeit in Finnland zur¨ uckgelassen hatte, und obwohl ein Kind unterwegs war. Ich ” sehne mich u ¨ berhaupt nicht nach Finnland, ganz im Gegenteil“, schrieb er seinem Bruder Frithiof. ¨ Nevanlinna, der die W¨ arme liebte, stellte bei seiner Ubersiedlung nach Z¨ urich fest, daß er einen guten Tausch gemacht hatte. Der Herbst war bereits gekommen, aber es gab noch viele sommerlich warme und sonnige Tage. An solchen Tagen machte er sich zu Solopromenaden“ in die umliegenden Berge ” auf und bewunderte von oben die Aussicht auf die Stadt und den Z¨ urichsee. Bei klarem Wetter war der Horizont von schneebedeckten Alpengipfeln umrahmt. F¨ ur Nevanlinna, der die Sch¨ onheit der Natur sch¨atzte, war das ein echtes Idyll, eine vallis gratiae. Nevanlinna stellte gl¨ ucklich fest, daß er noch in seinem Alter u ¨ ber die Arbeit dermaßen begeistert sein konnte. Mathematische Theorien zu entwickeln, ¨ das war immer noch das beste im Leben. Er sp¨ urte zwar die Sorgen des Alterwerdens, betrachtete aber die Erfahrung und die souver¨anere Kontrolle der Dinge als Gegengewicht zur nachlassenden Begeisterungsf¨ahigkeit der Jugend.
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9 Internationale Autorit¨ at
Nevanlinnas Wohnung verriet seine Rolle als hart arbeitender Denker. Bei seiner Ankunft in Z¨ urich war er der Meinung, daß er in der Kurvenstrasse eine kleine komfortable Wohnung bekommen habe, aber sp¨ater sollte er sich anders erinnern: W¨ ahrend in einem Zimmer meiner eiskalten Zweizimmer” wohnung ein ordentlicher Schreibtisch stand, befand sich im anderen Zimmer ein buchst¨ ablich schimmliges Bett.“ Der Schreibtisch jenes kleinen Zimmers wurde zum Lebensmittelpunkt; darauf legte die Hauswirtin das Tablett mit seinem Fr¨ uhst¨ uck und auch das Abendessen. Die zweite Wohnung, in die er im Fr¨ uhjahr 1948 zur Untermiete zog, lag in der Hadlaubstrasse und war angeblich besser, aber nachdem ich sie sah, kann ich sagen, daß sie ebenfalls sehr bescheiden war. An der Trostlosigkeit des allgemeinen Eindrucks ¨ anderte auch der Aalto-Sessel nichts, der bereits bessere Tage gesehen hatte. Auch diese Wohnung war zu nichts anderem als zur Arbeit und zum Ausruhen bestimmt.
Abb. 9.1. Vom 11. Oktober 1946 datierte Zeichnung Rolf Nevanlinnas vom Arbeitszimmer seiner Z¨ urcher Wohnung. So wie bei Bildern u ¨blich, sieht auch dieses besser ” aus als die Wirklichkeit; das Zimmer ist ziemlich klein.“ Auf dem Schreibtisch ist keine Schreibmaschine zu sehen; eine solche hat Nevanlinna in seinem ganzen Leben nie benutzt.
In der Kurvenstrasse hatte Nevanlinna Kost und Logis und auch in der Hadlaubstrasse k¨ ummerte sich eine einfache, aber sehr hilfsbereite“ Dame, ” die im selben Haus wohnte, um Verpflegung und Saubermachen. Und zur Abwechslung kehrte er immer wieder einmal in die guten Restaurants von
9.1 Schweizer Milieu
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Z¨ urich ein und gab sich dort – selbst wenn er allein war – nicht zwangsl¨aufig mit allzu bescheidenen Mahlzeiten zufrieden. In Z¨ urich kamen auf deutliche Weise die Gegens¨atze in Nevanlinnas Charakter zum Vorschein, n¨ amlich der Wunsch, sich in der Einsamkeit auf die Mathematik zu konzentrieren, und gleichzeitig das Bed¨ urfnis, Kontakte zu anderen Menschen zu pflegen. Er l¨ oste die widerspr¨ uchliche Gleichung so, daß er zur Gew¨ ahrleistung seines Arbeitsfriedens den Umgang mit den Schweizern außerhalb der Mathematik so gut wie m¨ oglich mied, aber als Gegengewicht zur Einsamkeit ohne Unterlaß Briefe nach Finnland schrieb. W¨ ahrend der ersten vier Monate in Z¨ urich schrieb Nevanlinna mehr als f¨ unfzig Briefe an Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a. In der Korrespondenz entstand ein Bild von Sinikka als einer gebildeten und geistreichen jungen Frau mit ent¨ schlossenen Uberzeugungen. Deswegen zeigte Rolf ihr gegen¨ uber einen fast sch¨ uchternen Respekt. Als Frau erstaunlich begabt und gleichzeitig durch ” und durch Frau.“ Da sich Rolf vor Sinikkas Pah!“-Bemerkungen f¨ urchte” te, zu denen ein pathetisches oder jungenhaftes Auftreten h¨atte Anlaß geben k¨ onnen, offenbarte er seine Gef¨ uhle durch einen alter ego, einen fiktiven Mann namens Elie, den er angeblich h¨ aufig bei seinen Spazierg¨angen am Z¨ urichberg traf. Elie analysierte seine Sehnsucht nach seiner Geliebten Silvia, die weit weg in einem anderen Land lebte, und die er unter den herrschenden Verh¨altnissen nur sehr schwer treffen konnte. Die Namen Elie und Silvia bezogen sich auf Sinikkas Schl¨ usselroman Kolme vuorokautta ( Drei Tage und N¨achte“), ” der 1948 erschien. Als sich das Jahr 1946 seinem Ende neigte und die Geburt des Kindes n¨aher r¨ uckte, machte sich Rolf zunehmend Sorgen um Sinikka: Aufgrund ihres hohen Arbeitspensums hielt er sie f¨ ur u ¨ berm¨aßig belastet. Wegen des Geheimnisses, das die Vaterschaft umgab, war es nicht leicht, in den Briefen offen dar¨ uber zu sprechen. Bereits in dieser Phase wußte Sinikkas Freundin und Studienkollegin Aili Palm´en von der Vaterschaft. Aili war eine entfernte Verwandte Rolfs und so kannten sie sich bereits von fr¨ uher her. Aus Finnland sandte Aili ein Telegramm nach Z¨ urich, in dem sie Rolf die Geburt eines gesunden M¨adchens mitteilte. Im Telegramm benutzten sie eine Geheimsprache, die sie im voraus vereinbart hatten. Rolf blieb außerhalb des Kreises, der die Entscheidung u ¨ ber den Namen des Kindes traf, aber er war mit der Wahl zufrieden. F¨ ur ihn war Kristiina ein aristokratischer und klassischer Name, ein geeigneter Name f¨ ur vornehme Leute. Rolf wartete ungeduldig auf die Semesterferien im Februar 1947, um Sinikka und Kristiina zu treffen. Er ließ sich davon nicht durch die M¨oglichkeit abhalten, in Helsinki in eine Leino-Zelle“ 1 gesperrt zu werden – so nannte er ” die Arrestzellen der Staatspolizei. Um das Treffen zu erleichtern, wurde Rolf zu Kristiinas Taufpaten ernannt.
1
Yrj¨ o Leino (1897–1961) war in den Jahren 1945–1948 Finnlands kommunistischer Innenminister.
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9 Internationale Autorit¨ at
Rolf Nevanlinnas erste Unterk¨ unfte in Z¨ urich unterschieden sich vollkommen von der ger¨ aumigen Wohnung in Helsinkis Pietarinkatu, die bis zum Jahr 1952 sein Zuhause in Finnland blieb. Im Laufe der Zeit glichen sich die Wohnverh¨ altnisse in Helsinki und Z¨ urich aneinander an. Nevanlinna zog weg von der Pietarinkatu, w¨ ahrend in Z¨ urich dank Sinikka ein richtiges Zuhause entstand, wohin h¨ aufig G¨ aste, Familienmitglieder und Besucher aus Finnland und Rolfs Kollegen mit ihren Familien kamen. Bereits als Rolf und Sinikka erst liiert waren, ermunterte Sinikka Rolf in Z¨ urich zur Eigeninitiative bei der Zubereitung der Mahlzeiten. Als erstes lernte Rolf, wie man Wasser kocht. Dabei brachte er es fertig, daß vom Wassertopf nur der auf den Boden gefallene Holzgriff und ein auf dem Herd geschmolzener Metallklumpen u ¨ brigblieben. Beim Wasserkochen war der Professor weggegangen, um andere Dinge zu erledigen, und hatte den Topf auf dem Herd vergessen. Rolf nahm heimlich Fahrunterricht und u ¨ berraschte Sinikka, die zu Besuch nach Z¨ urich gekommen war: Er fuhr sie mit einem Mietwagen zu einem Sonntagsausflug nach Schaffhausen. Man war noch nicht lange unterwegs, als sich Rolf einem langsam fahrenden Heuwagen n¨aherte, der die Sicht versperr¨ te. Rolf setzte zum Uberholen an und krachte gegen ein entgegenkommendes Motorrad. Der Fahrer flog auf das Feld, humpelte jedoch aus eigener Kraft zur¨ uck auf die Straße. Rolf versprach, f¨ ur alle durch den Unfall verursachten Kosten aufzukommen und h¨ andigte dem Motorradfahrer zur Vers¨ohnung außerdem noch eine h¨ ubsche Summe aus. Das Opfer war zufrieden und die Fahrt konnte fortgesetzt werden, jedoch nicht lange. Als Rolf durch ein Dorf fuhr, prallte er gegen ein am Straßenrand geparktes Auto. Der Eigent¨ umer, ein deutscher Tourist, eilte wutentbrannt zur Stelle. Rolf nahm ihn hinter einer Ecke beiseite, und als die beiden zur¨ uckkamen, hatte der Deutsche eine frohgemute Miene aufgesetzt. Sinikka vermutete, daß erneut ein dickes Geldb¨ undel den Besitzer gewechselt habe. Bis kurz vor Ende der R¨ uckfahrt traten keine weiteren Probleme auf. Um zur Haust¨ ur zu gelangen, mußte Rolf auf einem steilen Abhang durch eine enge Kurve fahren. Viele Versuche waren erforderlich, Publikum versammelte sich an Ort und Stelle, und als Rolf schließlich erfolgreich war, brachen die Zuschauer in laute Hurrarufe aus. Damit endeten Rolfs Fahrversuche.
9.2 Sibelius-Interpret Unmittelbar nach seiner Ankunft in Z¨ urich stellte Nevanlinna mit Genugtuung fest, daß es dort wirklich hervorragende Konzerte gab“. Bald durfte er ” ein musikalisches Spitzenereignis miterleben: Sir Thomas Beecham dirigierte ein Konzert, dessen letztes St¨ uck die erste Sinfonie von Sibelius war. Bereits im voraus genoß Nevanlinna diese Gelegenheit, die – wie er meinte – sein ureigenstes Gebiet betraf. Die Interpretation der Musik von Sibelius ist eine ”
9.2 Sibelius-Interpret
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jener wenigen Sachen, von denen ich glaube, daß ich sie besser verstehe als die meisten anderen, einschließlich der Dirigenten.“ Das Konzert allein reichte Nevanlinna nicht, sondern er verschob seine Vorlesung und ging zur Generalprobe, die am Morgen des Konzerttages stattfand. Die Interpretation von Sibelius war alles in allem korrekt, durch und ” durch mit gutem Geschmack, die Linien gut, die Tempi soso – ein wenig langsam. Ich h¨ atte mir mehr Intensit¨ at und Pondus gew¨ unscht.“ Nevanlinna ließ seinen Gedanken freien Lauf. H¨ atte ich zus¨atzlich zur Musikalit¨at die erfor” derliche Virtuosit¨ at, dann k¨ onnte ich sogar eher den Beruf eines Dirigenten aus¨ uben. Ich denke, daß sich mein Temperament dazu eignen w¨ urde, auf dem Dirigentenpodium zu stehen und ein Orchester zu dirigieren, das wunderbarste Instrument der Welt.“ Er meinte, daß seine leidenschaftliche Begeisterung f¨ ur die Lehrt¨ atigkeit auch die Suggestivkraft widerspiegele, die zum Dirigieren eines Orchesters erforderlich sei. Nach der Generalprobe suchte Nevanlinna zielstrebig das kleine Zimmer auf, wo Beecham nach der großen Anstrengung allein auf dem Sofa saß. Der mißbilligende Gesichtsausdruck Beechams verwandelte sich in Wohlwollen, als Nevanlinna nach seinen Dankesworten begann, Beechams Interpretation im Detail zu analysieren. Beide stimmten u ¨berein, daß die erste Sinfonie noch nicht den echten“ Sibelius offenbare. Eine wirkliche Geistesverwandtschaft ” zeigte sich, als beide aus vollem Herzen u ¨ ber Leopold Stokowskis miserables Sibelius-Dirigat schimpften. Am Schluß bat Beecham Nevanlinna, Gr¨ uße an Madame Paloheimo und an Sibelius zu u ¨ berbringen. Nevanlinna schrieb tats¨ achlich sofort an Sibelius’ Tochter Eva Paloheimo, die er kannte, aber er traute sich nicht, an den Maestro heranzutreten. Das Konzert selbst war ein großer Erfolg. Nevanlinna war bewegt und sagte, daß er sogar einen patriotischen Anflug in sich gesp¨ urt habe. Es schien ihm, daß Sir Thomas die Anregungen seiner morgendlichen Bemerkungen zu den Tempi ein klein wenig ber¨ ucksichtigt hatte. Einige Jahre sp¨ ater hielt es Nevanlinna f¨ ur notwendig, den Dirigenten Hans Rosbaud wegen seiner ungeschickten Sibelius-Interpretation zurechtzuweisen. Rosbaud hatte in Z¨ urich die f¨ unfte Sinfonie von Sibelius auf eine Weise dirigiert, mit der Nevanlinna u ¨ berhaupt nicht zufrieden war. Als eine Kritik der Neuen Z¨ urcher Zeitung den Dirigenten r¨ uhmte, daß er von dieser ziemlich schwachen Komposition das gerettet habe, was zu retten gewesen sei, war f¨ ur Nevanlinna das Maß voll. Er schrieb Rosbaud einen langen Brief, in dem er dessen Darbietung detailliert kritisierte. Anstatt b¨ose zu sein, rechtfertigte Rosbaud in seiner Antwort seine eigene Interpretation und lud Nevanlinna zur Fortsetzung der Diskussion in sein Hotel ein, wo diese sich u ¨ ber Stunden hinzog. Rolf schrieb seinem Bruder Frithiof ein paar Jahre sp¨ater sofort u ¨ ber das n¨ achste Konzert, das Rosbaud in Z¨ urich gab. Auf Rosbauds Bitte habe Rolf vier Stunden lang an den Orchesterproben teilgenommen, in denen die zweite Sinfonie von Sibelius gespielt wurde. In der Zwischenzeit ging Rolf zum Dirigenten und machte eine Reihe von Bemerkungen, die Rosbaud zu Rolfs Freude
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in den Abendproben ber¨ ucksichtigte. Die Tempi erforderten unbedingt eine ” Korrektur. Zwar hat er als Dirigent wirklich eine gute Technik, aber man merkt wieder einmal, wie fremd die Musik von Sibelius den Mitteleurop¨aern ist. Ist das vielleicht nur ein Mangel an Erfahrung?“
9.3 Die Schweizer Kollegen Nevanlinnas erste Eindr¨ ucke von den Schweizern waren nicht ausschließlich positiv. Z¨ urich war eine Idylle als Ort, aber die Menschen waren nicht ebenso ” idyllisch.“ Zur Mentalit¨ at der Schweizer geh¨orten nach Nevanlinnas Urteil eine reichliche Portion Kleinb¨ urgertum, sozial u ¨ beraus wertvoll, Anstand, ” Solidit¨ at, aber wenig Charme“. In Helsinki hatte Nevanlinna eine große Familie um sich, er hatte zahlreiche Freunde und Bekannte, viele bereits seit seiner Kindheit. In Z¨ urich beschr¨ ankte sich sein Bekanntenkreis lange Zeit u ¨ berwiegend auf Mathematiker. An der Universit¨ at verhielt man sich ihm gegen¨ uber respektvoll und sehr freundlich. Jedoch war es u ¨blich, daß zwischen den Kollegen ein gewisser Abstand gewahrt wurde, und sie duzten einander nicht. Ich erinnere mich an einen geselligen Abend mit Mathematikern zu Beginn der 1950er Jahre, bei dem Nevanlinna im Mittelpunkt stand. Als er fortging, kamen mehrere der Anwesenden zu mir und gaben ihrer Verwunderung dar¨ uber Ausdruck, daß ich als junger Mann den Herrn Professor Nevanlinna duzen d¨ urfe. Auch Nevanlinna war kein eifriger Duzer, f¨ ur ihn war das Siezen eine v¨ollig normale Anredeform. Er war ernstlich ver¨ argert, als sich einige Leute in Finnland nach dem Umbruch der 1970er Jahre ohne weiteres die Freiheit nahmen, ihn zu duzen. In seiner Antwort kam es dann vor, daß er die dritte Person verwendete und den Duzer mit ausgesuchter H¨oflichkeit als Herr“ anredete. ” Der frustrierte Lars Ahlfors hatte sich in Z¨ urich nach geselligen Abenden mit befl¨ ugelnden geistigen Getr¨ anken gesehnt, aber Nevanlinna st¨orte es kaum, daß es so etwas nicht gab. Jedoch verfehlte das wohlhabende Z¨ urich seine Wirkung auch auf ihn nicht, der aus dem notleidenden Finnland kam. Es gab Bars, in denen man alles bestellen konnte, und diese Gelegenheit ließ auch Nevanlinna nicht g¨ anzlich ungenutzt verstreichen. In Helsinki verbrachte Nevanlinna gerne Abende im B¨orsenklub in guter Gesellschaft und bisweilen feierte er auch t¨ uchtig mit. Eine solche Gelegenheit war der Herrenabend im B¨ orsenklub zu Ehren seines 60. Geburtstags. Zusammen mit einer kleineren Gruppe blieb Rolf bis vier Uhr fr¨ uh. Doch diese Art von Feier war eine Ausnahme. Die Hingabe zur Arbeit erforderte eine Selbstdisziplin, die auch Nevanlinnas Alkoholkonsum regelte. Seine Trinkgewohnheiten waren maßvoll – in dieser Hinsicht unterschied er sich von seinen gesch¨ atzten Freunden Alvar Aalto und Lars Ahlfors. Im Laufe der Zeit kam es auch in Z¨ urich zu einem gem¨aßigten Abendleben. Nevanlinna sprach am¨ usiert u uh ins Bett ¨ ber die schweizerische Gewohnheit, fr¨
9.3 Die Schweizer Kollegen
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Abb. 9.2. Nevanlinna im Jahr 1948 auf einem von Mathematikerkollegen organisierten Ausflug auf dem Vierwaldst¨ attersee.
zu gehen, um ganz zeitig am Morgen mit der emsigen Arbeit beginnen zu k¨ onnen, wobei er selbst zu den Menschen geh¨orte, die mit Freude arbeiten. Nevanlinna schloß allm¨ ahlich n¨ ahere Bekanntschaft mit einigen seiner Sch¨ uler, die noch junge Studenten waren, als er nach Z¨ urich kam. Zu diesen geh¨ orten Kurt Strebel und Heinrich Keller, die Nevanlinna als Sch¨ uler von Ahlfors geerbt“ hatte, sowie Hans K¨ unzi. Alle drei wurden sp¨ater Profes” soren der Universit¨ at Z¨ urich. Der international bekannte Strebel wurde zum Nachfolger Nevanlinnas berufen, der stets hilfsbereite K¨ unzi wurde zudem ein geachteter Politiker, Nationalrat und im Kanton Z¨ urich Regierungsrat im Wirtschaftsdepartement und von Zeit zu Zeit Regierungspr¨asident. Als Strebel u ¨ ber seine Lehrer sprach, sagte er mir, daß ihm Nevanlinna durch seine Gedanken und Bemerkungen mehr als irgendein anderer in Erinnerung geblieben sei und durch das Leben begleitet habe. Von den ¨ alteren Kollegen stand der theoretische Physiker Konrad Bleuler, eine vielseitige Kulturpers¨ onlichkeit, Nevanlinna am n¨achsten, obwohl er
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9 Internationale Autorit¨ at
von der Schweiz wegging, um eine Professur an der Universit¨at Bonn anzutreten. Unter den Funktionentheoretikern war Nevanlinna immer eine geachtete Autorit¨ at, aber mit Bleuler begann er einen ebenb¨ urtigen wissenschaftlichen Gedankenaustausch. F¨ ur Nevanlinnas neues wissenschaftliches Programm war Bleuler genau der richtige Mann, weil sich beide das Ziel gesetzt hatten, die Mathematik und die Physik einander n¨ aher zu bringen. Dar¨ uber hinaus waren sie durch das gemeinsame Interesse an Musik miteinander verbunden.
Abb. 9.3. Nevanlinnas Schweizer Freunde Kurt Strebel (links), der Nevanlinnas Nachfolger als Professor wurde, und Professor Hans K¨ unzi, der lange Zeit als Regierungsrat im Kanton Z¨ urich dem Wirtschaftsdepartement vorstand.
Als Bleuler von Z¨ urich wegging, verkaufte er seine große Wohnung, erwarb aber f¨ ur gelegentliche Besuche eine kleinere, die oft leer stand. Diese wurde die Unterkunft Nevanlinnas, als er nach seiner Pensionierung zu kurzfristigen Besuchen nach Z¨ urich kam. Solche Besuche geschahen h¨aufig dank der Einladungen des Mathematischen Forschungsinstituts der Eidgen¨ossischen Technischen Hochschule, das zu Beginn der 1960er Jahre gerade zur rechten Zeit gegr¨ undet worden war.
9.4 Hingebungsvoller Lehrer Als Gegengewicht zur bescheidenen Wohnung und zum Fehlen alter Freunde genoß Nevanlinna in Z¨ urich das reichhaltige mathematische Leben. In Helsinki hatte Nevanlinna nach dem Krieg als Mathematiker einsam gearbeitet, jetzt war er von einer großen Gruppe erstklassiger Forscher umgeben, sowohl von Kollegen als auch von Besuchern. Eine ausl¨andische Ber¨ uhmtheit nach der
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anderen kam, um Vortr¨ age zu halten, und in Z¨ urich erfuhr man sofort von wichtigen mathematischen Ereignissen, deren Kunde in Helsinki oft versp¨atet eintraf, wenn u ¨ berhaupt. Nevanlinna wußte bereits von seinen Aufenthalten in den 1920er Jahren, daß das rege mathematische Leben in Z¨ urich und die zahlreichen ortsans¨assigen Mathematiker auf die beiden Hochschuleinrichtungen zur¨ uckzuf¨ uhren waren, die sich unmittelbar nebeneinander befinden. Tats¨achlich war das Mathematische Institut der ber¨ uhmten Eidgen¨ ossischen Technischen Hochschule hinsichtlich seiner Dimensionen und seiner Ressourcen gr¨oßer als das entsprechende Universit¨ atsinstitut. Die mathematischen Beziehungen zwischen der Universit¨ at und der ETH waren nicht immer herzlich, aber Nevanlinna war ein ber¨ uhmter Star, der aus einem anderen Land kam und die festgefahrenen Gebr¨ auche u ¨berwinden konnte. In der Funktionentheorie kam es bald zu einer Zusammenarbeit, die die Grenzen der beiden Einrichtungen u ¨berschritt, als Nevanlinna und Albert Pfluger, Professor der ETH, begannen, ein gemeinsames Forschungsseminar zu veranstalten. In diesem Seminar bekam ich zum ersten Mal eine Vorstellung von einer inspirierenden wissenschaftlichen Atmosph¨ are. Der finnische Blickwinkel betont den Nutzen, der sich f¨ ur Nevanlinna aus dem Aufenthalt an einem Zentrum wie Z¨ urich ergab. In der Schweiz gab es die umgekehrte Sichtweise: Die Finnen (Ahlfors und Nevanlinna) brachten frischen Wind in das Mathematische Institut der Universit¨at Z¨ urich, das zu lange in den alten Gewohnheiten erstarrt gewesen war. Vor allem lernte man, was Funktionentheorie wirklich war. Zu Nevanlinnas Pflichten in Z¨ urich geh¨ orten ein Grundkurs und eine Vorlesung f¨ ur fortgeschrittenere Studenten. Die Lehrbelastung war somit gr¨oßer als zu der Zeit, als er Professor der Universit¨at Helsinki war. Wenn Nevanlinna jedoch von der betr¨ achtlichen Zeit sprach, die er f¨ ur die Vorlesungsvorbereitung verwendete, f¨ ugte er immer hinzu, daß man das nicht als Belastung ansehen k¨ onne, weil die Lehrt¨ atigkeit f¨ ur ihn so angenehm sei. Die Arbeitsfreude und Hingabe des inspirierenden und richtungsweisenden Lehrers blieben den Studenten nicht verborgen und dementsprechend hatte Nevanlinna in Z¨ urich einen besonders guten Ruf. In der Schweiz konnte auch ich zum ersten Mal oren, die Wirkung seines Unterrichts erleben und Nevanlinnas Vorlesungen h¨ Zeuge seiner Popularit¨ at werden. Die Vorlesungen waren gut vorbereitet, klar und bis in die kleinsten Einzelheiten durchdacht. Dennoch wirkten sie spontan, Nevanlinna sprach frei und es waren keinerlei Papiernotizen zu sehen. In Z¨ urich h¨orte ich bei einer Gelegenheit, wie Kurt Strebel, ein gottbegnadeter Imitator, seine ber¨ uhmten finnischen Lehrer imitierte. In meiner Erinnerung blieb Ahlfors’ tiefer Bass ¨ das ist sehr leicht“ und Nevanlinnas etwas besorgte Außerung das ist ein ” ” ziemlich schwieriger Punkt, diesem m¨ ussen Sie besondere Aufmerksamkeit schenken“. Nevanlinna verwandte mitunter viel Zeit f¨ ur eine exakte Beweisf¨ uhrung, denn seiner Meinung nach versteht man auch die allgemeinen Gesichtspunkte
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9 Internationale Autorit¨ at
Abb. 9.4. Rolf Nevanlinna war bestrebt, in seinen Vorlesungen den H¨ orern sein Bestes zu geben und selbst Neues zu lernen. Nicht einmal die besten Lehrb¨ ucher ” k¨ onnen gute und lebendige Vorlesungen ersetzen.“ Foto aus dem Jahr 1962.
am besten, wenn man konkrete F¨ alle betrachtet. Er hielt es f¨ ur keinen Nachteil, daß er in seinen Vorlesungen nie sehr weit kam“, wie die Schweizer ” feststellten. Nevanlinna betonte wiederholt allgemeine Prinzipien, insbesondere die in den finnischen Schulen im Geometrieunterricht verwendete Methode. Bevor man mit dem Beweis einer Behauptung anf¨angt, wird untersucht, welche Schlußfolgerungen sich ziehen lassen, wenn man die Behauptung als richtig voraussetzt. Diese Betrachtungsweise deckt h¨aufig den wesentlichen Kern der Sache auf und zeichnet den Weg zum Beweis vor. Dasselbe Prinzip kann sich der Forscher zu eigen machen, der nicht weiß, ob die ihm eingefallene Hypothese richtig ist. Er kann viel Zeit sparen, wenn er auf diese Weise eine Beweisidee findet oder feststellt, daß er auf der falschen Spur ist. Dieses Prinzip erweist sich auch in vielen Fragen des praktischen Lebens als n¨ utzlich, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Es war typisch f¨ ur Nevanlinna, daß er die Formulierung der Definitionen und S¨ atze so lange aufschob, bis sie sich ganz ungezwungen aufgrund ihrer ” Natur“ ergaben. Ihm bereitete diese Art, Mathematik zu pr¨asentieren, ¨asthetisches Vergn¨ ugen. Diese Herangehensweise beschr¨ankte sich nicht nur auf
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die Lehrt¨ atigkeit, auch in seinen Publikationen folgte er weitgehend diesem Prinzip – so sehr war ihm das Unterrichten ins Blut u ¨ bergegangen. Nevanlinna geh¨ orte nicht zu den Verfechtern reiner Forschungsprofessuren, sondern hielt den Kontakt zu den Studenten f¨ ur ¨ außerst wichtig. Er hatte auch f¨ ur diejenigen genug Zeit, die am Beginn ihres Studiums standen, wenn er feststellte, daß die Betreffenden begabt und einsatzfreudig waren. An Nevanlinnas Spezialvorlesungen f¨ ur Fortgeschrittene nahmen verh¨altnism¨ aßig wenige Studenten teil, aber unter den H¨orern befanden sich potentielle akademische Lehrer. Nevanlinna hatte einen feinen Blick f¨ ur echte Talente, und diesen opferte er viel Zeit. H¨ aufig nahm er einen solchen Studenten mit zu einem Spaziergang in die Stadt oder lud ihn zum Mittagessen ein. In den Diskussionen ging es haupts¨ achlich um Mathematik, um die Diplomarbeit oder Dissertation des jeweiligen Studenten. Es kam aber auch vor, daß Nevanlinna von seiner eigenen Arbeit erz¨ ahlte, von der Anspannung bei der mathematischen Forschungst¨ atigkeit, von der M¨ uhsal, den richtigen Weg zu finden, und von der Genugtuung, die man bei befriedigenden Ergebnissen empfindet. Nevanlinna war bei einer inhaltsreichen Diskussion so konzentriert, daß er das Musterbeispiel eines zerstreuten Professors bot. Es kam nicht selten vor, daß Nevanlinna bei einem Zusammensein feststellte, daß seine Aktenmappe verschwunden war. Der Professor mußte in diesem Fall seinen erschrockenen Begleiter beruhigen: Meine Aktenmappe ist in den Restaurants von Z¨ urich ” wohlbekannt.“ Als Nevanlinnas Studenten h¨orten, daß er nach zehnj¨ahrigem Aufenthalt in Z¨ urich von einem Radfahrer angefahren worden war, wunderten sie sich, daß das nicht schon viel fr¨ uher geschehen war. Man konnte nicht genug u ¨ ber Nevanlinnas Arbeitsverm¨ogen staunen, da er Zeit f¨ ur jeden zu haben schien. In Z¨ urich war eine ¨ahnliche Story in Umlauf wie sp¨ ater auch in Helsinki: Als sein Friseur u ¨ ber die Schwierigkeiten klagte, die sein kleiner Sohn im Mathematikunterricht in der Schule hatte, erteilte Nevanlinna dem Jungen Privatunterricht. In Z¨ urich gab es mehrere Mathematikprofessoren und deswegen trug Nevanlinna nicht dieselbe Verantwortung f¨ ur den wissenschaftlichen Nachwuchs wie in Finnland. Jedoch hatte er eine bemerkenswerte Anzahl von Schweizer Doktoranden, und verh¨ altnism¨ aßig viele von ihnen wurden Universit¨atsprofessoren. Eine Sonderstellung unter den Nevanlinna-Sch¨ ulern hatten die vielen finnischen Postgraduierten und jungen Promovierten, die dank Nevanlinna die M¨ oglichkeit zu einem Aufenthalt in Z¨ urich erhielten. W¨ahrend Nevanlinnas Professur in den Jahren 1946–1963 war es f¨ ur die finnischen Mathematiker nicht leicht, in eine vielseitig stimulierende Forschungsumgebung zu gelangen und ein Gef¨ uhl f¨ ur das internationale Niveau zu erhalten. In Z¨ urich war das m¨ oglich.
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Abb. 9.5. Der Franziskaner“ war eines der Z¨ urcher Lieblingsrestaurants Rolf Ne” vanlinnas, in dem er seine Freunde und seine Studenten gerne bewirtete. Nevanlinna verbl¨ uffte den Oberkellner, als er einmal innerhalb kurzer Zeit drei seiner Begleiter mit den Worten vorstellte: Ehemaliger Ministerpr¨ asident Finnlands und ehemaliger ” Gef¨ angnisinsasse.“ Die G¨ aste waren Edwin Linkomies, T. M. Kivim¨ aki und Jukka Rangell.3
9.5 Kulturbotschafter ¨ Nevanlinnas Ubersiedlung nach Z¨ urich geschah zu einem g¨ unstigen Zeitpunkt, weil Finnland wegen des Winterkriegs in der Schweiz in hohem Kurs stand. Die Abwehr der persischen Eroberungsversuche durch die Griechen in der Antike und der Sieg der Eidgenossen u ¨ ber die Habsburger, die ins Land eingedrungen waren – das z¨ahlte in der Schweiz zu den H¨ohepunkten der Weltgeschichte. Nun erhob man Finnlands Winterkrieg in dieselbe Kategorie von Heldentaten. Es hieß, der Winterkrieg sei auch aus folgendem n¨ uchternen Grund wichtig gewesen: Die Finnen hatten allen vor Augen gef¨ uhrt, daß hohe Landesverteidigungsausgaben – u ¨ ber die sich die Eidgenossen besorgt zeigten – eine kluge Investition seien. 3
T. M. Kivim¨ aki, Ministerpr¨ asident 1932–1936 und w¨ ahrend des Krieges Gesandter Finnlands in Berlin; J. W. Rangell, Ministerpr¨ asident 1941–1943; Edwin Linkomies, Ministerpr¨ asident 1943–1944. Im Kriegsschuldigenprozeß, der Mitte November 1945 in Helsinki begonnen hatte, wurden am 21. Februar 1946 die Urteile gef¨ allt. Rangell erhielt sechs Jahre Gef¨ angnis, Linkomies f¨ unfeinhalb Jahre und Kivim¨ aki f¨ unf Jahre.
9.5 Kulturbotschafter
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Eine Manifestation der Finnland-Begeisterung war die Gr¨ undung der Schweizerischen Vereinigung der Freunde Finnlands“ (SVFF) gegen Ende des ” Jahres 1946, das heißt, gerade in der Zeit, als Nevanlinna seine Professur in Z¨ urich antrat. Initiator und langj¨ ahriger erster Vorsitzender der Vereinigung war der dynamische Gubert von Salis, der sp¨ater am Technikum Winterthur Mathematik lehrte. Im milit¨ arischen Rang eines Majors war er w¨ahrend des Winterkriegs als Beobachter der schweizerischen Armee nach Finnland entsandt worden. Als er den Verteidigungskampf der Finnen verfolgte, wurde er zu einem entschlossenen Freund Finnlands. Als Vorsitzender bemerkte von Salis bald, welch wertvolle Person der ber¨ uhmte Professor Nevanlinna f¨ ur die Vereinigung war. Er verlieh der T¨atigkeit der Vereinigung Haltung und Glaubw¨ urdigkeit und war in vielen Dingen ein wichtiger Berater. F¨ ur die Vereinigung wurde im Jahr 1948 eine Stiftung geschaffen, die Stipendien an F¨ orderer und Bewahrer der finnischen Kultur“ ” vergab. Nevanlinna verfolgte die u ¨ ber diese Stiftung bewirkte finnische Kulturarbeit in der Schweiz und hatte auch Einfluß darauf, weil man bei der Vergabe der Stipendien seine Empfehlungen gerne ber¨ ucksichtigte. Es sagt auch etwas u ur mich das erste ¨ ber das rasche Agieren Nevanlinnas, daß er f¨ Stipendium organisierte, das von der Stiftung ausgerichtet wurde. Die Auszahlung des Stipendiums begann schon einen Monat nach der Gr¨ undung der Stiftung – ungeachtet der Sorgen, die sich die Schatzmeister wegen des damals noch geringen Kapitals machten. Im Jahr 1953 wurde Nevanlinna zum ersten Ehrenmitglied der Schweizerischen Vereinigung der Freunde Finnlands gew¨ ahlt. Die SVFF war nicht der einzige Kanal, auf dem Nevanlinna in der F¨orderung der finnisch-schweizerischen Kulturbeziehungen aktiv war. Es war sein Verdienst, daß es auf dem Gebiet der Mathematik zu einer einzigartigen Wechselwirkung zwischen den beiden L¨ andern kam. F¨ ur die finnischen Mathematiker war Z¨ urich in den Nachkriegsjahren ein Ausweg aus der Isolation, aber es fanden auch Gegenbesuche statt. Fast alle der engeren Mathematikerkollegen Nevanlinnas besuchten Finnland, viele zusammen mit ihren Frauen und ofter als einmal. Zum Personenverkehr zwischen den beiden L¨andern leistete ¨ Nevanlinna einen eindrucksvollen und ungew¨ohnlichen Beitrag: Er lud seine Schweizer Sch¨ uler einen nach dem anderen ein, den Urlaub in Finnland zu verbringen – in den ersten Jahren als G¨ aste in seinem Haus Korkee in Lohja und sp¨ ater, nach seiner Heirat mit Sinikka, in ihrem Sommerhaus Visala bei Heinola. Mit diesen Besuchen verbanden die jungen Leute h¨aufig ihre eigenen Ausfl¨ uge in Finnland. Professor Strebel meinte, daß die Schweiz zu keinem anderen Land ¨ ahnlich rege mathematische Beziehungen entwickelte wie zu Finnland. Nevanlinna war w¨ ahrend seines 17-j¨ ahrigen Aufenthaltes in der Schweiz so stark in der Mathematikergemeinde von Z¨ urich verwurzelt, daß man auch nach seiner endg¨ ultigen R¨ uckkehr nach Finnland regelm¨aßigen Kontakt zu ihm halten wollte. Seine Kollegen und ehemaligen Sch¨ uler gr¨ undeten eine Stiftung, in deren Rahmen in Z¨ urich von Zeit zu Zeit internationale Rolf ”
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9 Internationale Autorit¨ at
Nevanlinna - Kolloquien“ organisiert wurden. Nevanlinna war dabei Ehrengast und das Thema der Kolloquien hing immer auf die eine oder andere Weise mit seinem mathematischen Werk zusammen. Der Name Nevanlinna wirkte anziehend: Als Vortragende gewann man stets weltweit f¨ uhrende Spezialisten. Das erste Kolloquium fand 1964 statt und danach wurden sie – bis zu Nevanlinnas Tod im Jahr 1980 – in Z¨ urich organisiert. Manchmal waren es kleinere Kolloquien, manchmal auch gr¨ oßere Tagungen. Im Epilog des Buches wird u ¨ber die Kolloquien berichtet, die nach Nevanlinnas Tod stattfanden.
9.6 Die Beziehungen zum Osten Rolf Nevanlinna paßte sich nach dem Zweiten Weltkrieg dem neuen Weltgeschehen an, aber er geh¨ orte nicht zu denjenigen, die vorbehaltlos die Weisheit der Paasikivi-Linie“ 4 anerkannten. Trotz seiner altfinnischen Herkunft mein” te er, daß sich Paasikivi bisweilen unn¨ otigerweise zu tief in Richtung Osten verbeuge. Jedoch war Nevanlinnas Einstellung zur Sowjetunion weit von der Denkweise A. I. Virtanens und dessen Schwagers Pekka Myrberg entfernt, der ein ehemaliger Kollege Nevanlinnas war und 1952 zum Kanzler der Universit¨at Helsinki ernannt wurde. Diese einflußreichen Wissenschaftler, die aus Viborg stammten, waren davon u ¨ berzeugt, daß die Sowjetunion durch und durch b¨ ose sei. Am besten ist es, mit denen u ¨ berhaupt nichts zu tun zu haben“, ” war Virtanens Prinzip und Myrbergs Standpunkt unterschied sich hiervon nur unwesentlich. Demgegen¨ uber ging Nevanlinna davon aus, daß die Mathematik keine Grenzen kennt, und daß die Mathematiker der ganzen Welt eine Familie bilden, in der man nicht nach der Nationalit¨at fragt. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Virtanen versuchte Nevanlinna, Kontakte zu den sowjetischen Kollegen aufzunehmen. In der Sowjetunion stand die mathematische Forschung auf einem hohen Niveau. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte das Land auf breiter Front internationale Spitzenleistungen und hinsichtlich des Umfangs der Forschungsarbeiten waren nur die Vereinigten Staaten produktiver. Jedoch waren die mathematischen Verbindungen des Westens zur Sowjetunion bereits 1936 abgebrochen worden und nach dem Krieg dauerte es einige Zeit, bevor man Kontakte zu den dort ans¨ assigen Mathematikern herstellen konnte. ¨ Erst nach Stalins Tod setzte die Uberwindung der Isolierung ein. Im Jahr 1957 kam es zum ersten großen Auftreten sowjetischer Mathematiker im Westen seit den 1930er Jahren. Der Schauplatz war das in Helsinki veranstaltete funktionentheoretische Kolloquium, die allererste internationale mathematische Konferenz, die in Finnland stattfand. Die Initiative und die faktische 4
Die Paasikivi-Linie“ war durch das Bestreben gekennzeichnet, unnachgiebig an ” Finnlands Unabh¨ angigkeit festzuhalten, aber in den Beziehungen zum Ausland so vorzugehen, daß jeder Konflikt mit sowjetischen Interessen vermieden wird und die Sowjetunion Vertrauen zur Aufrichtigkeit der finnischen Realpolitik gewinnt.
9.6 Die Beziehungen zum Osten
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Entscheidung zur Konferenz, die einen Durchbruch in den mathematischen Ostbeziehungen bedeutete, gingen auf Rolf Nevanlinna zur¨ uck. Als die Entscheidung getroffen wurde, war ich pers¨onlicher Assistent des Akademiemitglieds Nevanlinna. Kurzerhand u ¨ bertrug er mir die praktischen Maßnahmen, weil er wegen seiner h¨ aufigen Abwesenheit von Finnland solche Aufgaben nicht betreuen konnte. Er u ¨ berantwortete mir, einem unerfahrenen Dreißiger, die Organisation der Tagung so geschickt, daß meine Arbeitsmotivation riesig war, weil ich glaubte, alle F¨ aden in der Hand zu haben. Bestimmte Details waren jedoch so wichtig, daß er an den Besprechungen teilnehmen wollte. So gingen wir etwa zusammen ins Restaurant Kalastajatorppa, um uns u u zu einigen; dort riet Nevanlinna dem verbl¨ ufften ¨ ber das Bankettmen¨ Chef, den Blumenkohl nicht zu w¨ asserig zuzubereiten. Dank des damals herrschenden politischen Tauwetters konnten erfolgreich Kontakte zu den sowjetischen Mathematikern gekn¨ upft werden. Der Leiter der sowjetischen Delegation war kein Geringerer als M. A. Lawrentjew, Mitglied der Akademie, Gr¨ under der sibirischen Wissenschaftsstadt Akademgorodok und Chruschtschows Vertrauensmann, von dem das Magazin Time sagte, daß er wahrscheinlich der einflußreichste Wissenschaftler der Welt sei. Der Eiserne Vorhang hatte Europa bereits seit Ende der 1940er Jahre geteilt und bis zu den 1960er Jahren waren Reisen in L¨ander jenseits des Eisernen Vorhangs selten und wurden als aufregend betrachtet. Mitte der 1950er Jahre hatte Nevanlinna eine Einladung nach Moskau erhalten, aber diesen Besuch ohne Begr¨ undung abgelehnt. Er unternahm erst 1962 seine erste Reise in ein sozialistisches Land, nach Polen, wo die Universit¨at Krakau eine Konferenz u ¨ ber Funktionentheorie ausrichtete. Nevanlinna bekannte, daß er Angst vor dem Besuch in einem kommunistischen Land gehabt habe und erst dann erleichtert gewesen sei, als er bei der Ankunft am Flughafen den finnischen Professor Olli Tammi in Begleitung eines ihm bekannten polnischen Kollegen erblickt habe. Nevanlinna unternahm 1963 seine erste Reise in die Sowjetunion, nachdem er eine Einladung nach Moskau und Tiflis bekommen hatte. Zwei Jahre sp¨ater war er in Armenien als Ehrengast auf einer internationalen Konferenz zur Funktionentheorie und wurde dort wie ein F¨ urst empfangen. Bereits lange davor war klar geworden, daß Nevanlinnas Aktivit¨aten w¨ahrend des Krieges keine Belastung f¨ ur seine mathematischen Ostbeziehungen darstellten. Als der ber¨ uhmte Andrei Kolmogorow Helsinki besuchte, lud Nevanlinna den als Freund und Bewunderer von Schostakowitsch bekannten Mathematiker zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Rolf und Sinikka waren so gastfreundlich, daß sie die Auff¨ uhrung eines neuen Violinduos von Schostakowitsch organisierten, das von finnischen Spitzenmusikern dargeboten wurde. Beim Essen, das der Auff¨ uhrung voranging, genoß Kolmogorow reichlich Ros´ewein und erz¨ ahlte, daß er dieses sein Lieblingsgetr¨ank seit seiner Pariser Studienzeit nie mehr bekommen habe. Und so geschah es, daß Kolmogorow einschlief, kaum daß die musikalische Darbietung begonnen hatte.
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9 Internationale Autorit¨ at
9.7 An die Spitze der Mathematischen Union In Z¨ urich hatte Nevanlinna nicht nur einen guten Aussichtspunkt, um die mathematischen Weltgeschehnisse zu verfolgen, sondern er wurde auch selbst gesehen. Er stieg an die Spitze der Internationalen Mathematischen Union (IMU) auf, der Dachorganisation der Mathematiker. Die Union war 1920 im Geiste des Versailler Friedensvertrages im befreiten“ Straßburg gegr¨ undet ” worden. Deutschland und den anderen besiegten Mittelm¨achten wurde damals nicht gestattet, Mitglied der Union zu werden. Sechs Jahre sp¨ater hatte sich die politische Atmosph¨ are in Europa bereits so weit entspannt, daß die beiseite gelassenen L¨ ander eingeladen wurden. Die Wissenschaftsgemeinde Deutschlands hatte jedoch ihre Behandlung nicht vergessen und besaß ein l¨ angeres Ged¨ achtnis als die Politiker ihres Landes. Deutschland schloß sich trotz des Druckes seines eigenen Außenministeriums nicht den internationalen wissenschaftlichen Organisationen an. Auf dem Gebiet der Mathematik gab es bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts eine andere weltweite Veranstaltung, die alle vier Jahre ausgerichteten Mathematiker-Kongresse. Als die mit einem Bann belegten Deutschen zum 1928 stattfindenden Kongreß eingeladen wurden und teilnahmen, protestierte der franz¨ osische Generalsekret¨ ar der IMU heftig. Die Mathematiker der u ¨ brigen Welt k¨ ummerten sich nicht darum, die IMU verlor ihre Glaubw¨ urdigkeit und l¨ oste sich 1932 auf. Finnland, dessen Mathematiker loyal zu Deutschland standen, war dieser alten Union nicht beigetreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Internationale Mathematische Union neugegr¨ undet. Die Vereinigten Staaten ergriffen die Initiative und f¨ uhrten die politisch heikle Vorbereitungsarbeit. Der Gedanke, die Politik v¨ollig aus der Mathematik auszuschließen, wurde einstimmig akzeptiert. Niemand hatte etwas dagegen, daß Deutschland und Japan der neuen Union beitraten, und sie geh¨ orten tats¨ achlich zu den ersten Mitgliedsl¨andern. Jetzt machte auch Finnland von Anfang an mit. Eine bedeutsame Erweiterung erfolgte Ende der 1950er Jahre, als die Sowjetunion und in ihrem Kielwasser die anderen sozialistischen europ¨ aischen L¨ ander der Union beitraten. Der erste Pr¨ asident der neuen Internationalen Mathematischen Union war der Amerikaner Marshall H. Stone, der die Vorbereitungsarbeiten geleitet hatte. Als der folgende Pr¨ asident gew¨ ahlt wurde, hatte Europa seine Reihen geschlossen und wollte, daß ein Vertreter des alten Kontinents die Union leite. Die Wahl fiel auf den in Deutschland geborenen Heinz Hopf, der 1929 an der ETH Z¨ urich die durch den Weggang von Hermann Weyl freigewordene Professur erhalten hatte, die zuerst Nevanlinna angeboten worden war. Nachdem der italienische Generalsekret¨ ar aus gesundheitlichen Gr¨ unden um seine Entlassung gebeten hatte, wurde der Schweizer Beno Eckmann, einer von Hopfs Kollegen an der ETH, zum Generalsekret¨ar gew¨ahlt. Damit wurde urich der offizielle Sitz und die Verwaltungszentrale der IMU. Man wollte, Z¨ daß nach Hopf wieder jemand Pr¨ asident werden solle, der als Mathematiker so bekannt war, daß er einen unbestreitbaren Weltruf genoß. Formell w¨ahlt die
9.7 An die Spitze der Mathematischen Union
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Generalversammlung den Pr¨ asidenten der Union, aber in der Praxis wird die Entscheidung vom Vorstand getroffen, dessen Kandidat bis zum Jahr 2006 immer gew¨ ahlt wurde. Z¨ urich war jetzt der Ort der K¨onigsmacher und die Blicke richteten sich auf Nevanlinna. Die Wahl fand in Schottland auf der Generalversammlung statt, die 1958 an der Universit¨ at St. Andrews abgehalten wurde. Finnland hatte damals nur eine Stimme, und Nevanlinna war der pr¨ adestinierte Delegierte seines Landes. Kurz vor der Sitzung teilte er jedoch mit, daß er nicht fahren k¨onne und schlug vor, daß ich an seiner Stelle reisen sollte. So bekam ich die Ehre, Finnlands Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen und zu h¨oren, daß man Nevanlinna zum Sieger der Wahl und zum Pr¨ asidenten der IMU f¨ ur den Zeitraum 1959– 1962 proklamierte. In der geheimen Abstimmung wurde Nevanlinna nahezu einstimmig gew¨ ahlt; es war klar, daß der ganze Block der sozialistischen L¨ander f¨ ur ihn gestimmt hatte. Im Vergleich zu sp¨ ateren Jahren, in denen der Kalte Krieg der IMU ernsthafte Probleme verursachte, war Nevanlinnas Amtszeit, die in Chruschtschows Regierungszeit fiel, politisch relativ friedlich. Mit einer besonders heiklen Situation mußte sich Nevanlinna jedoch befassen. Deutschland war der IMU zu einer Zeit beigetreten, als sich aus den Besatzungszonen gerade zwei Staaten gebildet hatten, Westdeutschland und Ostdeutschland. Ungeachtet der Zweiteilung blieben die Wissenschaftler u ¨ber die Grenzen hinweg auch weiterhin in lebhaftem Kontakt miteinander und traten der IMU als ein Mitgliedsland unter dem Namen Deutschland bei. Die westdeutschen und die ostdeutschen Mathematiker einigten sich u ¨ ber die Zusammensetzung des nationalen Komitees f¨ ur Mathematik, das die Kontakte zur IMU unterhielt. Das harmonische mathematische Miteinander der Deutschen setzte sich bis ins Jahr 1960 fort. In dieser Zeit begann Ostdeutschland, seine Position als souver¨ aner Staat zu betonen und forderte deshalb, ein selbst¨andiges Mitglied der IMU zu werden. Westdeutschland, nach dessen Meinung es nur ein Deutschland gab, widersetzte sich der Losl¨ osung Ostdeutschlands entschlossen. Pr¨ asident Nevanlinna wurde von Amts wegen zum Vermittler. Er hatte viele Freunde und Bekannte in Westdeutschland, und es war f¨ ur ihn naheliegend, sich deren Standpunkt zu eigen zu machen. Es war f¨ ur Nevanlinna charakteristisch, in dieser Angelegenheit nicht von der k¨ uhlen Anerkennung der Tatsachen auszugehen, sondern gef¨ uhlsm¨aßig zu handeln; deswegen versuchte er, die ostdeutschen Vertreter zu u ¨berreden, die Mitgliedschaft in der IMU so wie fr¨ uher weiterzuf¨ uhren. Sein Appell, zugunsten der Wissenschaft zu denken und die Politik beiseite zu lassen, hatte keine realistische Grundlage, denn die Sache war zu einer rein politischen Angelegenheit geworden. Die offiziellen ostdeutschen Organe reagierten schroff auf Nevanlinnas Ansinnen asident der IMU vorschriftswidund zeigten sich u ¨ berrascht, daß sich der Pr¨ rig dem deutlich formulierten Wunsch eines souver¨anen Staates widersetzen k¨ onne. Sie hatten formal recht und nach langem Hin und Her akzeptierte die IMU in einer Mitgliederabstimmung Ostdeutschland als neues Mitglied.
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9 Internationale Autorit¨ at
9.8 Auf dem Gipfel in Stockholm Die Generalversammlung der Union im Grand Hotel von Saltsj¨obaden in Schweden im Jahr 1962 bedeutete f¨ ur Nevanlinna eine betr¨achtliche Kraftanstrengung. Er hatte weder an den Gr¨ undungsaktivit¨aten der neuen IMU noch an den fr¨ uheren Generalversammlungen teilgenommen und hatte sich auch nicht n¨ aher mit dem Regeldschungel der Union vertraut gemacht. Er hatte ¨ bereits Ubung, Englisch zu sprechen, insbesondere seitdem er das Herbstsemester 1961 an der University of California in Los Angeles verbracht hatte, aber nun stand die Sprachfertigkeit auf dem Pr¨ ufstand. Er mußte den Vorsitz einer großen Versammlung u ¨ bernehmen, auf deren m¨ogliche Wendungen man sich im voraus nicht vollst¨ andig vorbereiten konnte. Zwar kannte ich Nevanlinnas F¨ ahigkeit, mit jeder beliebigen Situation fertig zu werden, die geistige Gewandtheit erforderte, aber als einer der anwesenden Vertreter Finnlands machte ich mir dennoch Sorgen um meinen Landsmann. Finnland hatte jetzt zwei Vertreter auf der Versammlung, der andere war Ilppo Simo Louhivaara, und das bedeutete, daß sowohl der fr¨ uhere als auch der damalige Assistent Nevanlinnas in der Akademie von Finnland nun die Interessen des Landes wahrnahmen. Als Pr¨ asident der IMU repr¨ asentierte Nevanlinna kein Land. Zum Generalsekret¨ ar der Union war der Inder Komaravolu Chandrasekharan gew¨ ahlt worden, der trotz seines jungen Alters ein IMU-Veteran war, der besser als alle anderen die Statuten und Bestimmungen der IMU kannte und außerdem rhetorisch begabt und urteilsf¨ahig war. In der Versammlung saß er neben Nevanlinna und war die Garantie daf¨ ur, daß nichts schief ging. Chandrasekharan pflegte recht viel zu reden, was im Laufe der Jahre einige in der IMU irritierte. Nicht so Nevanlinna, der den vielseitig gebildeten Chandra“ sch¨ atzte und ihm in der Union gerne die Lenkung u ¨ berließ. Die ” guten pers¨ onlichen Beziehungen beruhten auf Gegenseitigkeit und das f¨ uhrte auch zum positiven Verh¨ altnis Chandrasekharans zu Finnland. Das blieb auch sp¨ ater nicht ohne Folgen, als Chandrasekharan in der IMU einen immer gr¨ oßeren Einfluß hatte. Bei Nevanlinna konnte man zu Beginn der Generalversammlung eine seltene Spannung beobachten, aber er machte seine Sache ausgezeichnet. Unter seinem Vorsitz wurden diejenigen Entscheidungen best¨atigt, die vom Standpunkt der internationalen mathematischen Zusammenarbeit her im Mittelpunkt stehen, n¨ amlich daß die IMU f¨ ur das wissenschaftliche Programm des Internationalen Mathematiker-Kongresses verantwortlich sein sollte (was eine kontinuierliche weltumspannende Evaluierung der mathematischen Forschungsarbeit bedeutete), und daß sie u unfti¨ber den Austragungsort der k¨ gen Kongresse entscheiden sowie die Auswahl der Fieldsmedaillen-Empf¨anger vornehmen sollte. Man kann jedoch Nevanlinna keine pers¨onlichen Verdienste um diesen Zusammenschluß der IMU und der Kongresse zuschreiben, da der fr¨ uhere Vorstand hinter der Entscheidung der Union stand. Unmittelbar nach der Versammlung von Saltsj¨obaden begann der Internationale Mathematiker-Kongreß in Stockholm. Das gastgebende Land schl¨agt
9.9 Als Vermittler in Moskau
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jeweils den Kongreßvorsitzenden vor und bisher war es selbstverst¨andlich gewesen, daß diese Ehre einem Mathematiker des organisierenden Landes zuteil wurde. Dieses Mal wurde jedoch eine Ausnahme gemacht – die vorl¨aufig einzige in der mehr als hundertj¨ ahrigen Geschichte der Kongresse. Die Schweden wollten Nevanlinna als Vorsitzenden haben. Sie hielten den Pr¨asidenten der IMU f¨ ur geeignet, auch als Vorsitzender des Kongresses zu agieren, weil das mathematische Programm die Handschrift der IMU trug. Ich kannte bereits damals die schwedischen Schl¨ usselpersonen, und nachdem ich einige der hinter den Kulissen gef¨ uhrten Diskussionen mitbekommen hatte, vermute ich, daß es auch einen anderen Grund gab: Die Schweden konnten sich nicht einigen, wer von ihnen diese einzigartige Ehre erhalten sollte. Als Nevanlinna den Stockholmer Kongreß er¨offnete, sprach er u ¨ ber sein Lieblingsthema: die Spezialisierung in der Mathematik und die Beseitigung der durch die Spezialisierung verursachten Probleme mit Hilfe von Synthesen, die unterschiedliche Theorien miteinander verbinden. Das Thema eignete sich besonders gut f¨ ur einen Kongreß, dessen ausdr¨ uckliche Absicht es war, die Zersplitterung der Mathematik in getrennte Teile zu verhindern. Nevanlinna sprach auch u ¨ ber die ewige Frage der Beziehung zwischen reiner und angewandter Mathematik, brachte aber einen modernen Gesichtspunkt ins Spiel, als er feststellte, daß die elektronischen Rechner die Anwendungsm¨oglichkeiten der Mathematik enorm erh¨ ohten. Somit bildet die Mathematik in unserer ” Zeit eine immer wichtigere Grundlage f¨ ur das gesamte kulturelle Leben.“ Auf der Abschlußveranstaltung nahm Nevanlinna die Einladung zum nachfolgenden Mathematiker-Kongreß entgegen, der 1966 in Moskau stattfinden sollte. Es war die Zeit des politischen Tauwetters und es schien, daß sich die Isolation der sowjetischen Mathematiker vom Westen ihrem Ende n¨aherte. Die folgenden vier Jahre gaben wirklich Grund zum Optimismus. Nevanlinna war imstande, diese w¨ ahrend des Kalten Krieges engste mathematische Zusammenarbeit zwischen dem Osten und dem Westen aus der N¨ahe zu verfolgen und sie direkt zu beeinflussen.
9.9 Als Vermittler in Moskau Am Ende des Stockholmer Kongreßjahres 1962 endete auch Nevanlinnas Pr¨ asidentschaft der IMU. Als ehemaliger Pr¨asident blieb er weiterhin Mitglied des Exekutivkomitees, aber wichtiger war, daß er zum Vorsitzenden des Programmkomitees des Moskauer Kongresses gew¨ahlt wurde. In seinen Erinnerungen und auch in anderem Zusammenhang erz¨ahlte Nevanlinna, daß ihm diese Aufgabe auf Ersuchen sowjetischer Mathematiker u ¨bertragen wurde. Auf diesen Umstand legte er großes Gewicht. In Finnland sch¨atzte man in dieser Zeit gute Ostbeziehungen, insbesondere wenn sie nicht auf politische Verdienste zur¨ uckzuf¨ uhren waren. Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß seitens der Sowjetunion der Wunsch ge¨außert wurde, Nevanlinna als Vorsitzenden des Programmkomitees zu bekommen, aber es geh¨ort zum
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9 Internationale Autorit¨ at
Abb. 9.6. Bei der Er¨ offnungsfeier des Internationalen Mathematiker-Kongresses 1962 in Stockholm. Von links: Rolf Nevanlinna, der Mathematiker Harald Cram´er, Kanzler der schwedischen Universit¨ aten, und K¨ onig Gustaf Adolf VI.
Zust¨ andigkeitsbereich des Pr¨ asidenten der IMU, die Ernennung vorzunehmen, ohne dabei andere anh¨ oren zu m¨ ussen. Im Herbst 1963 lud Akademiemitglied Iwan Petrowski, Rektor der Universit¨ at Moskau und ¨ ortlicher Organisationsleiter des Moskauer Kongresses, Nevanlinna zu sich ein, um vor Ort vorbereitende Verhandlungen zum Pro” gramm“ durchzuf¨ uhren. Nevanlinna war zum ersten Mal in der Sowjetunion, deren wissenschaftliche St¨ arke ihn beeindruckte. Zu den sichtbaren Zeichen geh¨ orten der riesige Wolkenkratzer der Moskauer Universit¨at mit seinen exquisiten Repr¨ asentationsr¨ aumen und der sch¨one Palast des Pr¨asidiums der Akademie der Wissenschaften, den Napoleon nach der Eroberung Moskaus als Quartier genutzt hatte. Die gastfreundlichen Gastgeber zeigten Nevanlinna auch andere Sehensw¨ urdigkeiten Moskaus, so daß er sagte, sein allgemeiner Eindruck von Moskau sei positiver gewesen, als er erwartet habe. Am Verhandlungstisch machte Nevanlinna jedoch die Erfahrung, daß man ¨ in der Sowjetunion auf Uberraschungen gefaßt sein mußte. Als es zur Sache ging, stellte er fest, daß die Russen bereits auf eigene Faust einen großen Teil der Arbeit des Programmkomitees erledigt hatten, bevor das Komitee Gelegenheit gehabt hatte, sich zu versammeln. Nevanlinna wurde ein detaillierter Plan vieler bereits fixierter Programmpunkte vorgelegt. Anstatt die Arbeit mit einem reinen Tisch zu beginnen, mußte sich Nevanlinnas Komitee zu den
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von den Russen gemachten Vorschl¨ agen ¨ außern. Die nichtsowjetischen Mitglieder des Komitees waren verdutzt, einige zeigten sich sogar kampfbereit. Nevanlinnas Aufgabe bestand darin, Einvernehmen zu erzielen – jetzt wurde die mathematische Zusammenarbeit zwischen Ost und West getestet. Nevanlinna hatte eine Aufgabe erhalten, f¨ ur die er sich gut eignete, weil er als 70-j¨ ahriger weise Lebenserfahrung ausstrahlte. Jedoch geh¨orte die Komiteearbeit nicht zu den Dingen, die er am besten beherrschte, denn wenn eine Sache falsch lief, konnte er seinen eigenen Standpunkt so kr¨aftig betonen, daß seine Einflußm¨ oglichkeiten sanken. Diese Gefahr bestand in diesem Fall nicht, denn die Vorschl¨ age der sowjetischen Mathematiker bewiesen wissenschaftlichen Sachverstand, und obwohl eine Bevorzugung der einheimischen Wissenschaftler vorlag, erf¨ ullten die Kandidaten die hohen Qualit¨atsanforderungen. Es kam zu keinen politischen Diskriminierungen, denn die Zeit des manifesten Antisemitismus begann in der sowjetischen Mathematik erst einige Jahre sp¨ ater. In schwierigen Situationen versuchte man, Abstimmungen zu vermeiden, und das Komitee erzielte ein Endergebnis, das alle Seiten zufriedenstellte. Im Nachhinein war man einm¨ utig der Auffassung, daß dieser Umstand vor allem Nevanlinnas Verdienst war. Die Harmonie der mathematischen Welt blieb gewahrt, aber nicht ohne Protest der Gastgeber gegen die von ihnen gemachten Zugest¨andnisse. Bei der Er¨ offnung des Kongresses bedankte sich Petrowski in seiner Rede bei der IMU f¨ ur die gute Zusammenarbeit, in deren Ergebnis das Programm zusammengestellt wurde, aber er f¨ ugte hinzu, daß wir uns lediglich die Freiheit genommen ” haben, mehrere Vortragende zur Liste der Eingeladenen hinzuzuf¨ ugen“. Dieser Nachsatz f¨ uhrte dazu, daß ein Drittel der eingeladenen Vortragenden aus der Sowjetunion kam. Jedoch ließ die freundliche Atmosph¨are des riesigen Kongresses diesen krassen Regelverstoß vergessen. Der Moskauer Kongreß in den Sonnentagen des Augusts 1966 war die bislang gr¨oßte Begegnung der Mathematiker des Ostens und des Westens. Die 4300 anwesenden aktiven Teilnehmer verteilten sich ann¨ ahernd gleichm¨ aßig auf die sozialistischen und die nichtsozialistischen L¨ ander. Aus der Sowjetunion nahmen fast 1500 Mathematiker teil, aus den Vereinigten Staaten 725. Doch der Optimismus in Bezug auf die ¨ Offnung der sowjetischen Mathematik zum Westen erwies sich als Luftblase. Die mathematischen Ost-West-Beziehungen k¨ uhlten sich bald wieder ab und blieben so lange schlecht, daß es Nevanlinna nicht mehr verg¨onnt war, die neuerliche Verbesserung der Beziehungen in den 1980er Jahren zu erleben.
10 Vielseitiges Akademiemitglied
10.1 Bekanntschaft mit Kekkonen Rolf Nevanlinna hielt sich w¨ ahrend der Schweizer Semesterferien im Allgemeinen dreimal in Finnland auf: f¨ ur kurze Zeit u ¨ ber Weihnachten, l¨angere Zeit im Sp¨ atwinter und dann von Mitte Juli bis Oktober. Aufgrund der Tagebuchnotizen seines Bruders Frithiof kann man schließen, daß Rolf in Finnland unglaublich aktiv war, so als ob er Angst gehabt h¨atte, die wertvolle Zeit seines Finnlandaufenthaltes zu verschwenden. Wenn er nicht in Helsinki, Turku oder an irgendeiner Sommeruniversit¨at Vorlesungen hielt oder in dem Arbeitszimmer saß, das die Akademie f¨ ur ihn gemietet hatte, dann erledigte er vielf¨ altige andere Dinge. Nevanlinna tilgte die Schulden f¨ ur seinen langen Schweizer Aufenthalt. In den Nachkriegsjahren mehrten sich die Anzeichen, daß Urho Kekkonen der Nachfolger von Paasikivi werden w¨ urde. Nevanlinnas erste pers¨onliche Erfahrungen mit Kekkonen waren nicht dazu angetan, freundschaftliche Gef¨ uhle in ihm zu erwecken. Bereits vor dem Krieg hatte Kekkonen versucht, die Vaterl¨ andische Volksbewegung IKL als politische Partei aufzul¨osen. Nach dem Krieg beteiligte sich Kekkonen daran, Nevanlinna aus dem Rektorenamt zu vertreiben, und er h¨ atte ihm wahrscheinlich auch die Professur entzogen, wenn er hierzu gen¨ ugend Macht gehabt h¨ atte. Im Kriegsschuldigenprozeß geh¨orte Justizminister Kekkonen in Nevanlinnas Augen zu den Schurken des St¨ uckes. Bankdirektor Kekkonen hatte unfreundlich auf Nevanlinnas Abreise in die Schweiz reagiert und nur widerwillig dem Antrag auf Reisevaluta stattgegeben. Zur Kr¨ onung des Ganzen hatte sich Kekkonen als Parlamentspr¨asident deutlich und mit scharfen Worten gegen die Mitgliedschaft Nevanlinnas in der Akademie von Finnland ausgesprochen. Sinikka Kallio-Visap¨ a¨ a, die mit Kekkonen bekannt war, beeinflußte als erste die Ann¨aherung zwischen Kekkonen und Nevanlinna. In ihrer unbek¨ ummerten Art hatte sie Kekkonen zu verstehen gegeben, daß sie nie und nimmer f¨ ur ihn stimmen w¨ urde, aber das hinderte beide nicht an verbalen Kraftproben, an denen sie ihre Freude hatten. Auf einem Empfang, bei dem
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10 Vielseitiges Akademiemitglied
auch Nevanlinna anwesend war, fragte Kekkonen Sinikka im Vorbeigehen: Meinst du, daß Rolf es u urde, wenn ich ihm das Du anb¨ote?“ ¨ belnehmen w¨ ” Der zweite Schritt zu einer n¨ aheren Bekanntschaft erfolgte im Oktober 1954. Nevanlinna versuchte, f¨ ur Gubert von Salis, den Vorsitzenden der Schweizerischen Vereinigung der Freunde Finnlands, den Ehrentitel eines finnischen Professors zu erwirken, und bat in dieser Angelegenheit um eine Audienz bei Kekkonen. Kekkonen, der sich auf die Pr¨asidentenwahl vorbereitete, war damals der Außenminister der abtretenden Regierung; acht Tage nach der Begegnung mit Nevanlinna war Kekkonen wieder Ministerpr¨asident. Als Antwort auf die Bitte um eine Begegnung lud Kekkonen Nevanlinna zum Mittagessen ins Restaurant Savoy ein. Kekkonen versprach, Nevanlinnas Antrag auf den Ehrentitel zu unterst¨ utzen, und die Mahlzeit verlief in jeder Hinsicht in einer freundschaftlichen Atmosph¨are. Beide Anwesenden waren ausgezeichnete Gesellschafter, wenn sie es wollten, und bei dieser Gelegenheit wollten sie es. Nevanlinna wunderte sich, warum Kekkonen das Treffen in einem Restaurant arrangiert hatte. Der Grund hierf¨ ur wurde klar, als sie bereits beim Aufbruch waren: Kekkonen wollte sich f¨ ur sein bisheriges Verhalten bei Nevanlinna entschuldigen. Er gab zu, daß er Nevanlinna falsch eingesch¨atzt habe. Nevanlinna zeigte sich durch diese Geste Kekkonens ger¨ uhrt und ¨außerte Anerkennung dar¨ uber, daß jemand in der Position Kekkonens so offen zugebe, unrecht gehabt zu haben. Nevanlinnas R¨ uhrung wurde durch Kekkonens Antwort etwas abgeschw¨ acht: Ich kann es mir leisten.“ Als sich Nevanlinna ” nach dem Grund f¨ ur die fr¨ uhere negative Einstellung Kekkonens erkundigte, vernahm er zu seinem Erstaunen, daß Kekkonen Nevanlinna f¨ ur einen m¨oglichen politischen Konkurrenten gehalten habe. Nevanlinna versicherte, daß er sich nie von den Abgr¨ unden der Parteienpolitik angezogen gef¨ uhlt habe, und daß dies auch in Zukunft nicht geschehen werde. Kekkonen und Nevanlinna fanden keinen gemeinsamen politischen Nenner, aber das Mittagessen im Savoy schuf gute Voraussetzungen f¨ ur die zuk¨ unftige Kommunikation. Das war nicht zu untersch¨atzen, denn ein Jahrzehnt sp¨ater sollte die Universit¨ atspolitik der beiden Herren weitreichende Folgen haben. Als sich die Pr¨ asidentenwahl des Jahres 1956 n¨aherte, war Nevanlinna kein ausgesprochener Kekkonen-Gegner mehr. Er schrieb aus der Schweiz an Virtanen: Vielleicht kann Kekkonen seine guten Seiten zeigen, nachdem er sein ” Ziel erreicht hat und der Kampf um die Macht hinter ihm liegt.“ Aber Kekugte konen erhielt noch nicht die Gunst Nevanlinnas. Im gleichen Atemzug f¨ Nevanlinna hinzu: Ich bin meinerseits nicht davon u ¨ berzeugt, daß Tanner1 , ” der einzige wirklich große Mann in unserer Politik, ausgeschlossen werden 1
V¨ ain¨ o Tanner (1881–1966) war langj¨ ahriger einflußreicher Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei und Minister. Man verabscheute ihn in der Sowjetunion, wo man ihn als den u ur die Ausbreitung des Kommunismus ¨ belsten Hemmschuh f¨ in Finnland ansah. So wie Linkomies wurde auch Tanner als einer der Kriegs” schuldigen“ verurteilt; er saß von 1946 bis 1949 im Gef¨ angnis.
10.2 Nobelpreis f¨ ur Koskenniemi
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sollte. Hat Paasikivi wirklich Druck gegen Tanners Kandidatur ausge¨ ubt? So schreiben einige der hiesigen Zeitungen.“ Nevanlinna vergaß auch Linkomies nicht, dem er schrieb: Bedauerlich, daß ” man f¨ ur dieses Amt (Pr¨ asident der Republik) keinen bedeutenderen Mann finden kann, als jemanden von diesen sechs offiziellen Kandidaten. Ich bedauere immer wieder, daß Deine F¨ ahigkeiten heutzutage nicht f¨ ur die F¨ uhrung unserer Politik genutzt werden.“
10.2 Nobelpreis fu ¨r Koskenniemi Das Gesetz zur Akademie von Finnland verlangte von den Akademiemitgliedern keine wissenschaftspolitischen Aktivit¨aten. Jedoch ¨außerte A. I. Virtanen, der zum Akademiepr¨ asidenten gew¨ ahlt worden war, bereits auf der Einweihungsfeier der Akademie die Meinung, daß diese auch Vorschl¨age zur F¨ orderung der h¨ oheren Bildung und Kultur des Landes oder zur Beseitigung von Fehlentwicklungen in diesen Bereichen machen k¨onne. Virtanens Auffassung fand Widerhall und auf Anregung der Akademie wurden schon bald mehrere Maßnahmen eingeleitet, um die Wissenschaft zu f¨ordern. Bei diesen Initiativen war der pers¨ onliche Einsatz des Pr¨asidenten groß. Nevanlinna blieb schon allein deswegen relativ passiv, weil er oft außer Landes war. Auch ohne wissenschaftspolitische T¨atigkeit arbeitete Nevanlinna den ganzen Tag ohne Pause: Die Forschungsarbeit ging weiter und er hatte sowohl in Finnland als auch in der Schweiz Lehraufgaben und Doktoranden. Nevanlinna wollte sich nicht allzu sehr zersplittern. Seit den 1930er Jahren war es Nevanlinna jedoch zur Gewohnheit geworden, sich auch außerhalb der Mathematik in Fragen einzumischen, die er f¨ ur wichtig hielt, und er wollte derartige Fragen auch jetzt nicht vollkommen beiseite lassen. Zu Beginn des Jahres 1956 startete Nevanlinna eine Kampagne, um f¨ ur seinen Freund V. A. Koskenniemi den Nobelpreis f¨ ur Literatur zu erwirken. V. A. Koskenniemi (1885–1962) war nicht nur ein bekannter und beliebter Lyriker, sondern auch ein einflußreicher Kritiker und Essayist, Professor f¨ ur Literatur und ehemaliger Rektor der Universit¨at Turku. Er war ein Kenner der Antike und der klassischen Literatur; unter anderem schrieb er zwei Monographien u ¨ ber sein großes Vorbild Goethe, dessen Werke er auch u ¨ bersetzte. Als sich Kekkonen der Wahl Koskenniemis in die Akademie von Finnland widersetzte, schrieb er 1948, daß Koskenniemi mit seinem feingeistigen Pes” simismus den Geist der Jugend vier Jahrzehnte lang ersch¨ uttert habe, aber diese Zeit sei 1948 ein f¨ ur allemal vorbei.“ Kekkonen hatte die Deutschfreundlichkeit, die Koskenniemi w¨ ahrend des Krieges zeigte, f¨ ur belastend gehalten. Aber gerade diese Einstellung war es, die Nevanlinna mit Koskenniemi bekannt gemacht hatte. Ihre Bekanntschaft vertiefte sich, als sie in der Akademie von Finnland Kollegen wurden. Nevanlinna hielt Koskenniemi f¨ ur einen
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radikalen Reformer der finnischen Dichtkunst. F¨ ur Nevanlinna war es charakteristisch, loyal zu seinem Freund zu stehen, von dessen Verdiensten er u ¨ berzeugt war, obwohl er wußte, daß die neuen Str¨omungen der Zeit gegen sein Nobelpreisprojekt waren. In Kontakt mit den literarischen Kreisen Finnlands war Nevanlinna zuerst durch die Reenp¨ a¨ as vom Otava-Verlag gekommen, mit denen er freundschaftlich verbunden war, und sp¨ ater durch die Otava-Autorin Sinikka KallioVisap¨ a¨ a und ihren Bekanntenkreis. Koskenniemi war zwar die Galionsfigur des rivalisierenden Verlags WSOY, aber dessen Leiter Eino E. Suolahti war ebenfalls ein guter Freund Nevanlinnas und setzte sich f¨ ur das Vorhaben ein. Nevanlinna wußte nur zu gut, daß Koskenniemis Kandidatur die Gem¨ uter erregte. Die linken Schriftsteller waren ausgesprochen gegen ihn und bei der j¨ ungeren b¨ urgerlichen Generation war er auch nicht sonderlich beliebt. Es lassen sich keinerlei Hinweise auf Aktivit¨aten seitens der Akademie von Finnland f¨ ur Koskenniemi finden. Koskenniemi schrieb Nevanlinna, daß der Antrag auf den Nobelpreis zwar gestellt worden sei, aber so sp¨at, daß er erst nach Ablauf der Frist in Schweden angekommen sei.
Abb. 10.1. Rolf Nevanlinna nimmt im Oktober 1958 den großen internationalen Preis der Jenny und Antti Wihuri Stiftung entgegen. (Mit freundlicher Genehmigung: Lehtikuva)
10.3 Die Trag¨ odie Ungarns
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Nevanlinnas Nobelpreisprojekt mißgl¨ uckte, aber im Oktober 1958 erhielt er selbst als erster Wissenschaftler den großen internationalen Preis der Wihuri-Stiftung. Rolf Nevanlinna war der zweite finnische Kulturschaffende, dem diese Ehre zuteil wurde; vor ihm hatte Jean Sibelius die Auszeichnung erhalten.
10.3 Die Trago ¨die Ungarns In Z¨ urich hatte Nevanlinna nicht nur einen ausgezeichneten mathematischen Aussichtsplatz, sondern machte sich durch das regelm¨aßige Studium der Neuen Z¨ urcher Zeitung auch die westeurop¨ aische Sicht auf die Zust¨ande in Finnland zu eigen, die durch den 1948 in Moskau abgeschlossenen Vertrag u ¨ ber Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand gepr¨agt waren. ¨ Wenn der Kotau gen Osten nach Uberzeugung Nevanlinnas zu weit ging, gab er von Zeit zu Zeit seine Meinung in Briefen bekannt, die er an verschiedene Personen versandte. Im Herbst 1956 wurde die Welt durch die Ereignisse in Ungarn ersch¨ uttert: Der Volksaufstand f¨ ur das nationale Selbstbestimmungsrecht und die Wiederherstellung der Demokratie waren durch sowjetische Panzer erstickt worden. Von Z¨ urich aus alarmierte Nevanlinna die Akademie von Finnland. Zuerst schickte er ein Telegramm: Ist es zutreffend, was ich gerade gelesen habe, ” n¨ amlich daß Finnland die Resolution der Vereinten Nationen in der Angelegenheit Ungarns nicht unterst¨ utzt?“ Ein Brief an Virtanen erg¨anzte die Frage: Gerade habe ich mit großem Mißfallen in den hiesigen Zeitungen gelesen, daß ” Finnland in den Vereinten Nationen nicht gewagt hat, f¨ ur die Resolution zu stimmen, in der die Vereinten Nationen verlangen, daß Rußland seine Truppen aus Ungarn abzieht, so daß Finnland die einzige Demokratie in Europa ist, die auf diese Weise verfuhr. Das ist eine große Schande f¨ ur unser Land und meiner Meinung nach kann man auf diesen außenpolitischen Irrtum nicht mit Stillschweigen reagieren.“ Als konkrete Maßnahme schlug Nevanlinna eine Proklamation vor, in der die Vertreter der finnischen Wissenschaft und Kunst gegen die brutalen In¨ terventionen Großbritanniens, Frankreichs und Rußlands in Agypten und in ¨ Ungarn Protest erheben sollten. Agypten spielte eine untergeordnete Rolle, denn der Hauptteil des Textes bezog sich auf Ungarn. Vom Außenministerium verlangte die Proklamation eine Erkl¨ arung zu der Verfahrensweise, die weder dem Gerechtigkeitssinn des Volkes noch den Gef¨ uhlen entsprach, die Finnland gegen¨ uber dem ungarischen Brudervolk empfinde. Auf Wunsch Nevanlinnas sollten die Mitglieder der Akademie von Finnland, die Professoren aller Universit¨ aten, die Lehrkr¨ afte der f¨ uhrenden k¨ unstlerischen Einrichtungen, die Bisch¨ ofe und insbesondere Sibelius die Proklamation unterzeichnen. Nevanlinna sandte ¨ ahnliche Briefe auch an Linkomies und Puntila. Keiner der Empf¨ anger des Briefes konnte sich f¨ ur seinen Vorschlag erw¨armen. Virtanen hatte bereits eine Proklamation an die Vereinten Nationen geschickt:
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Wir, die Vertreter des wissenschaftlichen, kulturellen und k¨ unstlerischen Le” bens von Finnland bitten die Vereinten Nationen, unverz¨ uglich Maßnahmen einzuleiten, um die freiheitsliebenden Menschen Ungarns zu retten.“ Virtanens Brief wurde von Mitgliedern der Akademie von Finnland, f¨ uhrenden Universit¨ atslehrern und den bekanntesten finnischen Schriftstellern unterzeichnet, insgesamt 18 Pers¨ onlichkeiten. Virtanen hatte in der Zeitung Uusi Suomi auch einen eigenen Artikel zur Lage in Ungarn ver¨offentlicht. Da die Zeitungen seiner Meinung nach deutlich genug Position gegen die offizielle Haltung Finnlands bezogen, gebe es keinen Grund f¨ ur eine neue Proklamation. In Linkomies’ Antwort kam der ehemalige Ministerpr¨asident zum Vorschein, der davor warnte, in dieser schwierigen Angelegenheit ¨offentliche Erkl¨ arungen abzugeben, in denen die Außenpolitik der Regierung verurteilt werde. Die Unterzeichner seien m¨ oglicherweise nicht im Besitz s¨amtlicher Informationen, die den Standpunkt der Regierung bestimmten. Puntila war derselben Meinung: Finnlands Position sah aus der Perspektive der Schweiz einfacher aus, als sie tats¨ achlich war. Man k¨ onne die Inkonsequenz der finnischen UN-Politik kritisieren, aber gleichwohl m¨ usse die Paasikivi-Linie eingehalten werden.
10.4 Neues Forschungsprogramm Rolf Nevanlinna war nicht imstande, sich f¨ ur lange Zeit vollst¨andig auf sein neues Forschungsprogramm zu konzentrieren, das auf die mathematische Physik ausgerichtet war. Seine alte Liebe, die Funktionentheorie, hatte seine Gedanken so lange beherrscht, daß er sich nicht ganz davon lossagen konnte. Als sich die Verh¨ altnisse in Deutschland gebessert hatten, ¨außerte Nevanlinnas Herausgeber, der Springer-Verlag, den Wunsch nach einem Buch u ¨ ber Riemannsche Fl¨ achen. Das neue Projekt war als Erg¨anzung zu Nevanlinnas Werk Eindeutige analytische Funktionen gedacht, das bereits in den 1930er Jahren ein Klassiker geworden war. Nevanlinna, der selbst schon seit Jahren u ¨ ber ein derartiges Projekt nachgedacht hatte, wollte Springer keine negative Antwort geben, obwohl er gerade sehr mit seinem neuen Programm besch¨aftigt war. Die Arbeit am neuen Buch kostete Nevanlinna Anfang der 1950er Jahre viel Zeit; der letzte Schliff erfolgte haupts¨ achlich in der Schweiz. Das Buch erschien 1953 unter dem Titel Uniformisierung [48]. ¨ Uber dieses Buch sagte Lars Ahlfors beim Gedenkkolloquium nach Nevanlinnas Tod, daß alles, was der Feder Nevanlinnas entstammte, wohldurchdacht und gut geschrieben sei und auch das Buch Uniformisierung stelle keine Ausnahme dar. Dennoch kann man es nicht mit Nevanlinnas Meisterwerk Eindeutige analytische Funktionen gleichsetzen. Es hat den Anschein, daß der Herausgeber um ein solches Werk gebeten hatte, das Nevanlinna dann widerwillig schrieb. Das Buch erf¨ ullte seinen Zweck, die moderne Theorie der Riemannschen Fl¨ achen darzustellen, aber es schlug keine hohen Wellen. Der
10.4 Neues Forschungsprogramm
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Autor schien des Themas u ussig zu sein und kam niemals wieder darauf ¨berdr¨ zur¨ uck. Je weniger sich Nevanlinna im Vergleich zu fr¨ uher von der Funktionentheorie angezogen f¨ uhlte, umso mehr interessierte er sich f¨ ur seine neuen Forschungsthemen und vertiefte sich in diese. Er glaubte fest daran, daß er noch eine bedeutende Lebensaufgabe vor sich habe. Er hatte auch Erfolge, meinte aber, daß seine Tr¨ aume immer gr¨ oßer gewesen seien als seine Resultate. Nevanlinna fragte sich, warum auf den Erfolg der 1920er Jahre eine Periode der Entt¨ auschung gefolgt war. Auch wenn er seine Forschungsthemen selbst hatte w¨ ahlen k¨ onnen, meinte er – wobei er eingestandermaßen etwas u ¨ bertrieb – in seinem Leben zehn Jahre vergeudet zu haben. Als einen Grund hierf¨ ur gab er an, sich in den Jahren 1927–1936 zu sehr an Einzelheiten festgebissen zu haben, anstatt sich mutiger auf die großen Fragen zu st¨ urzen. Tats¨ achlich hatte Nevanlinna Ende der 1920er Jahre in mehreren Phasen sein mathematisches Programm klar umrissen. Als er versuchte, dieses Programm auszuf¨ uhren, war er derart in seinen alten Methoden verhaftet, daß er sich an Einzelheiten klammerte, ohne zu einer allgemeinen Theorie zu kommen. Das gelang Ahlfors einige Jahre sp¨ ater unter Anwendung vollkommen neuer Ideen. Als Nevanlinna mit seiner Forschungsarbeit anfing, die zur Nevanlinna” Theorie“ f¨ uhrte, war das Ziel nicht einmal in großen Z¨ ugen erkennbar; vielmehr zeichnete sich dieses Ziel erst beim Fortschreiten der Arbeit ab. In einem noch viel gr¨ oßeren Ausmaß war das bei seinem neuen Forschungsprogramm der Fall. Der Musikwissenschaftler Erik Tawaststjerna2, ein Freund Nevanlinnas, sagte in seiner Gedenkrede auf Nevanlinna, daß dieser einen m¨oglichen Zusammenhang zwischen der Relativit¨ atstheorie und der Quantentheorie finden wollte. Weil die Arbeit unvollendet blieb, kann man sich allein auf der Grundlage von Nevanlinnas Ver¨ offentlichungen und seines sonstigen schriftlichen Nachlasses kein klares Bild von seinen Zielen machen. Ein Zitat Tawaststjernas gibt eine treffende Beschreibung von Nevanlinnas Programm: Er ” folgt dem Licht, aber nicht demjenigen Licht, das von einem festen Punkt ausgeht, sondern von einem Punkt, den er vor sich her tr¨agt.“ Im Rahmen seines Forschungsprogramms ben¨otigte Nevanlinna vielf¨altige Kenntnisse aus der mathematischen Physik. Bei der Vorbereitung auf die Arbeit versuchte er, sogar diejenigen Dinge selbst¨andig zu kl¨aren, von denen er wußte, daß sie bekannt waren. Er verlor Zeit, da er nicht nach Ergebnissen in der Literatur suchte; zu seiner Verteidigung f¨ uhrte er an, sich vor externen Einfl¨ ussen zu f¨ urchten, denn der Mensch ist u ur Sugges¨ beraus empf¨anglich f¨ ” tionen. Ich w¨ urde es nicht wagen, meinen Kollegen zu gestehen, wie sp¨arlich ges¨ at die wissenschaftlichen Arbeiten sind, die ich wirklich gr¨ undlich gelesen habe!“ 2
Erik Tawaststjerna (1916–1993) war Pianist und hatte Mathematik studiert. Sp¨ ater wurde er Professor der Musikwissenschaften an der Universit¨ at Helsinki und verfaßte eine f¨ unfteilige Sibelius-Biographie.
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Bei seinen ersten Arbeiten stieß Nevanlinna auf eine wichtige prinzipielle Frage: Strebt man in seiner Arbeit ein mehr oder weniger deutliches Ziel ” intuitiv an, wie enge oder weite Grenzen sollte man sich dann f¨ ur Abschweifungen oder Seitenblicke setzen?“ Als er sich auf die von seinen Zielen bedingten Fragen konzentrierte, machte er n¨ amlich Beobachtungen, die auch an sich interessant gewesen w¨ aren. Sollten Abstecher dieser Art entschlossen beiseite gelegt werden, so daß man mit der Hauptfrage vorankam, oder sollte man jenen abschweifenden Gedanken nachgeben? Der Verzicht auf Seitenspr¨ unge“ ” war schwer, denn obwohl sie im Moment ausgesprochen pr¨asent waren, w¨ urden sie sp¨ ater kaum noch wahrnehmbar sein, zumindest nicht ohne außergew¨ohnliche neue Anstrengungen. Im Bewußtsein kann man nur eine beschr¨ankte Anzahl von Dingen lebendig halten. Ich glaube immer wieder: Wenn eine ” Sache in meinem Bewußtsein sehr stark pr¨ asent ist, dann bleibt sie dort und ger¨ at nicht in Vergessenheit. In Wirklichkeit verh¨alt es sich jedoch keineswegs so. Zieht man die Grenzen f¨ ur die Abstecher zu eng, dann st¨ort das auch die Hauptfrage, die zum Leben und Gedeihen eine nahrhafte Umgebung braucht. Fehlt diese Umgebung, dann f¨ allt der Vorhang, bevor man vorw¨arts kommt. Die Natur zwingt zu Umwegen. Zum Teil ist das der richtige Instinkt, denke ich mir, zum Teil aber auch eine Art Angst, Unentschlossenheit und fehlender Mut, sich in ein großes unbekanntes Gebiet zu wagen, ohne das sichere Gef¨ uhl zu haben, daß man u ustung verf¨ ugt. Dieser Mut ist ¨ ber die notwendige Ausr¨ eine großartige Eigenschaft, wenn er sich mit ausreichendem Talent vereint.“ Die Seitenwege verlockten Nevanlinna, aber im Vordergrund warnte das hohe Alter: Meine Zeit ist sehr beschr¨ ankt. Wie viele sind doch aus Zeitmangel ” bloße Seitenspringer“, also Dilettanten geblieben!“ ” Als die Arbeit voranging, gab Nevanlinna den Seitenspr¨ ungen“ in sol” chem Maße nach, daß diese zu selbst¨ andigen Zielen wurden. Die von ihm ben¨ otigte Theorie der Differentialgleichungen veranlaßte ihn, lineare R¨aume mit indefiniter Metrik zu studieren; zu diesen R¨aumen war er auch u ¨ ber die Quantenphysik gekommen. Nevanlinna glaubte lange Zeit, auf diesem Gebiet ein Pionier zu sein, weil er die Arbeiten nicht kannte, die in der Sowjetunion etwas fr¨ uher durchgef¨ uhrt worden waren. Eine verst¨andliche Erkl¨arung waren die Sprachbarriere und die fast inexistenten Verbindungen zu den Forschern in der Sowjetunion. Nevanlinna h¨ atte Zeit und M¨ uhe gespart, wenn er von fr¨ uheren Ergebnissen h¨ atte profitieren k¨ onnen, die in russischer Sprache ver¨offentlicht worden waren. Ein positiver Aspekt war die Tatsache, daß Nevanlinna unter Verwendung seiner eigenen Ideen in einigen Punkten weiter kam als seine Vorg¨anger. Obgleich die explosive Forschungsleidenschaft seiner Jugend nachgelassen hatte und er viele Jahre nicht mehr mathematisch t¨atig gewesen war, verf¨ ugte der Meister immer noch u ¨ ber Scharfsinn und Kreativit¨at. Nach der Anfangsphase ver¨ offentlichte er mehrere Forschungsarbeiten ([71], [74]–[76], [81], [89]) und war mit seinen Ergebnissen zufrieden, auch wenn sich die geplanten Anwendungen auf Differentialgleichungen nicht realisieren ließen.
10.4 Neues Forschungsprogramm
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Bei seinen Seitenspr¨ ungen“ schenkte Nevanlinna dem unsystematischen ” und in vielen F¨allen komplizierten Formalismus, auf den er bei seinen Studien stieß, immer mehr Beachtung. Die Idee, eine von den Koordinaten und der Dimension unabh¨ angige Vektorrechnung zu entwickeln, erschien ihm immer faszinierender. Nach einer Reifephase gab er dieser Rechnung den Namen Ab” solute Analysis“. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Entwicklung der Absoluten Analysis das Hauptthema in Nevanlinnas Mathematik. Die Form hatte darin immer einen wichtigen Platz eingenommen, aber jetzt spielte die Formgebung sogar eine zentrale Rolle, denn der von ihm selbst verfaßte Inhalt war nicht mehr so dominierend wie fr¨ uher. Der Springer-Verlag war bereit, eine Monographie u ur ¨ ber die Absolute Analysis herauszugeben. Das Schreiben des Buches war f¨ Rolf mit der erfreulichen Tatsache verbunden, daß ihm sein Bruder Frithiof von Anfang an als Koautor zur Seite stand. ¨ Frithiof Nevanlinna war von der Uberlegenheit seines Bruders als Mathematiker u ¨ berzeugt. Nachdem Frithiof 1950 Professor an der Universit¨at Helsinki geworden war, konzentrierte er seine mathematischen Interessen auf Rolfs neues Forschungsgebiet. Frithiof verfolgte aufmerksam die Vorlesungen seines Bruders in Helsinki und studierte die Mitschriften, bis er sicher war, alles gr¨ undlich verstanden zu haben. Er unterhielt sich auch mit Rolf so lange u ¨ ber die Thematik, wie es ihre gemeinsame Zeit gestattete. Zeit h¨atten sie wohl auch mehr gehabt, aber da ihr bevorzugter Treffpunkt der B¨orsenklub war, setzten sich fr¨ uher oder sp¨ ater auch andere an ihren Tisch. Frithiof war gl¨ ucklich, erneut mit seinem Bruder mathematisch eng zusammenarbeiten zu k¨ onnen. Er gab zu, daß seine Hingabe an die Mathematik nicht genauso fanatisch“ war wie bei Rolf, aber Frithiof hielt die Mathema” tik ¨ ahnlich wie sein Bruder f¨ ur den Sternenhimmel der geistigen Werte, hoch ” u ¨ ber den schmutziggrauen Finanzangelegenheiten und politischen Interessen“. Beim Verfassen der Monographie bezeichnete sich Frithiof als Baumeister, der Rolfs Gedanken die endg¨ ultige Form gab. Die Ideen und die großen Linien stammten tats¨ achlich von Rolf, aber Frithiof leistete eine wichtige Arbeit, insbesondere in der Endphase des Buches. Der endg¨ ultige Text tr¨agt viele Spuren von Frithiofs Hand. Im Jahr 1959 erschien die gemeinsam von Frithiof und Rolf Nevanlinna verfaßte Monographie Absolute Analysis [98] in deutscher Sprache und 1973 ¨ die englische Ubersetzung [120] unter demselben Titel. Das Werk war in seiner p¨ adagogischen Darstellung erstklassig, wie man es bei diesen Autoren auch erwarten durfte. Dennoch wurde das Buch in der mathematischen Welt ohne großen Enthusiasmus aufgenommen. Die Kritiken erw¨ahnten die sorgf¨altige und klare Darstellungsweise und man meinte, das Buch werde das Interesse der Studenten wecken. Der wissenschaftliche Beitrag der Monographie wurde dagegen als gering angesehen. Auch hielt man die Grundideen nicht f¨ ur sehr originell, a hnliche Darstellungen waren bereits in den 1920er Jahren entwickelt ¨ worden.
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In Diskussionen mit ausl¨ andischen Kollegen bemerkte ich, welch starke Belastung die Reputation f¨ ur Rolf Nevanlinna war. Man war verwundert, daß Nevanlinna die gewaltige aktuelle Entwicklung differentialgeometrischer Themen kaum ber¨ ucksichtigt hatte. Von Nevanlinna erwartete man stets etwas Neues und immer das Beste. Die Aufnahme des Buches Absolute Analysis war f¨ ur Rolf Nevanlinna eine Entt¨ auschung. Er stellte seine mathematische Forschungst¨atigkeit zwar nicht ein, aber nach dem Erscheinen dieses Buches ver¨offentlichte er keine weiteren mathematischen Arbeiten mit neuen Ergebnissen.
10.5 Die finnischen Assistenten In den 17 Jahren, in denen Nevanlinna Mitglied der Akademie von Finnland war, hatte er vier Forschungsassistenten, in chronologischer Reihenfolge Leo Sario, K. I. Virtanen, Olli Lehto und Ilppo Simo Louhivaara. Sarios Wahl zum ersten Assistenten war eine Selbstverst¨andlichkeit. Die Akademie von Finnland war dank der geschickten T¨atigkeit Sarios gegr¨ undet worden. Dar¨ uber hinaus war Sario dabei, unter Nevanlinnas Anleitung eine Dissertation u achen zu schreiben. Er hatte von Nevanlinna ¨ ber Riemannsche Fl¨ ein interessantes Thema zur Bearbeitung bekommen, das die Gelegenheit bot, diejenigen Ergebnisse Nevanlinnas auszubauen, die 1941 erschienen waren [53]. Nach seiner Promotion begann Sario, Nevanlinna zu beschuldigen, seine Ideen gestohlen zu haben. Sario gab seine Meinung auch im internationalen Kreis der Funktionentheoretiker bekannt. Danach ¨argerte sich Sario bald auch u ¨ ber Pekka Myrberg und behauptete, daß dieser seine Ernennung zum Dozenten absichtlich verz¨ ogere. Sario schlug die T¨ uren mit einem Knall hinter sich zu und begab sich nach Amerika, wo er verh¨altnism¨aßig schnell eine Professur an der University of California in Los Angeles erhielt. Es kam erneut zur Vers¨ ohnung mit Nevanlinna, f¨ ur den Sario 1961 eine Gastprofessur zu einem mehrmonatigen Aufenthalt in Los Angeles erwirkte. Nevanlinna war bereits einige Jahre zuvor gebeten worden, seine Monographie Le th´eor`eme de Picard-Borel et la th´eorie des fonctions m´eromorphes ins Englische u ¨ bersetzen zu lassen. Das 1929 in Paris erschienene Buch war vergriffen. Auch Lars Ahlfors schloß sich der Gruppe an, die Nevanlinna zu ¨ einer englischen Ubersetzung ermunterte. Ahlfors war der Meinung, daß der urspr¨ ungliche Inhalt des Werkes so weit wie m¨oglich beibehalten werden sollte, auch wenn es Anlaß gab, einige Bemerkungen zur neueren Entwicklung hinzuzuf¨ ugen. Nevanlinna hatte sich bereits f¨ ur diesen Weg entschieden, wich aber in Kalifornien etwas davon ab. ¨ Sario hatte begonnen, sich f¨ ur die Ubertragung von Nevanlinnas Theorie auf Riemannsche Fl¨ achen zu interessieren, und deswegen schlug Nevanlinna eine Zusammenarbeit vor. Sario und er beabsichtigten zusammen ein ¨ Buch zu schreiben, bei dem ungef¨ ahr zwei Drittel aus der Ubersetzung der Nevanlinnaschen Monographie und aus Erg¨anzungen bez¨ uglich einiger neuer
10.5 Die finnischen Assistenten
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Ergebnisse bestehen sollten. Dar¨ uber hinaus w¨ urde das Buch einen letzten Teil u achen enthalten, und f¨ ur den Entwurf dieses Textes w¨are ¨ ber Riemannsche Fl¨ haupts¨ achlich Sario zust¨ andig. Auf dieser Grundlage unterschrieben beide zu Beginn des Jahres 1962 einen Verlagsvertrag, bevor Nevanlinna nach Europa zur¨ uckkehrte. Sp¨ ater gab Nevanlinna zu, daß der Vorschlag zur Zusammenarbeit nicht so sehr auf sachlichen Gr¨ unden beruht hatte, sondern eher auf gef¨ uhlsm¨ aßigen Umst¨ anden, die f¨ ur ihn wichtig waren. Er freute sich u ¨ ber die Tatsache, daß die Freundschaft zu Sario wieder hergestellt war, und er wollte deutlich zeigen, daß er den Konflikt der Jahre 1949–1950 vergessen hatte. Als Nevanlinna den Vertrag zur Zusammenarbeit unterschrieb, hatte er das Gebiet der Funktionentheorie bereits verlassen. Er fing an, seinen eigenen Anteil zu schreiben, sobald ihm seine sonstigen Arbeiten Zeit dazu ließen. Das Buch sollte bis Sommer 1963 fertig sein und Nevanlinna stimmte sogar einem genauen Termin Anfang Juni zu, damit ich mich so bald wie m¨oglich wieder ” auf wichtigere Arbeiten konzentrieren kann“. Nevanlinnas Gegenspieler war das Energieb¨ undel Sario, dem zwei promovierte Vollzeit-Forschungsassistenten zur Seite standen, die sich in das Fachgebiet eingearbeitet hatten. Diese unausgewogene Verteilung der Arbeitskraft f¨ uhrte bereits in der ersten Arbeitsphase zu Reibungen, die aber nicht unbedingt verh¨angnisvoll gewesen w¨aren. Der wirkliche Kern der Schwierigkeiten war von Anfang an die Tatsache, daß Nevanlinna kein Zutrauen zu Sario als Mathematiker hatte. Das Team aus Los Angeles begann, Texte in einem kontinuierlichen Strom auszustoßen. Nevanlinna stellte fest, daß sich Sario und dessen Helfer auch in sein franz¨ osisches Buch einmischten und dabei waren, es neu zu gestalten. In den sch¨ onen Garten drang ein Trupp ein, der mit effizienten Erdbewegungsmaschinen ausger¨ ustet war. Nevanlinna mußte sich zur Wehr setzen. In einem Brief an Nevanlinna versicherte Sario, daß sie gewiß ein gutes Buch schreiben w¨ urden; auf dem Brief ist eine handschriftliche Randnotiz Nevanlinnas zu sehen: Grundloser Optimismus, wenn es sich um ein Buch von Leo handelt.“ ” Mehr als ein Jahr verging und Sario behauptete wiederholt, daß Nevan¨ linna kaum etwas tue. Als Nevanlinna schrieb, daß er die Anderungen am franz¨ osischen Buch einschr¨ anken und einiges vom Text, den die Kalifornier geschrieben hatten, weglassen wolle, war das Maß f¨ ur Sario voll. Er verlor die Fassung und stieß heftige pers¨ onliche Drohungen gegen Nevanlinna aus. I may well feel a desire to hurt you, hurt you badly, by all public, private, professional and legal means at my disposal, so that you feel it in your bones, feel it the rest of your life. Sario verschickte Kopien dieses Briefes an zahlreiche Personen; auch ich erhielt meine eigene Kopie. Gegen Sarios Angriffe verteidigte sich Nevanlinna in einem Brief, in dem er zun¨ achst seine eigenen Vorstellungen von der gegenw¨artigen Phase der Zusammenarbeit erl¨ auterte. Danach k¨ undigte er kurz und b¨ undig an, daß er k¨ unftig keine pers¨ onlichen Beleidigungen mehr dulden werde. Sario erkannte, daß das Buchprojekt gef¨ ahrdet war, und versuchte, das Einvernehmen wieder herzustellen, aber f¨ ur normale pers¨ onliche Beziehungen gab es keine Chance mehr. Als sich Nevanlinna danach erneut kritisch zu dem von Sario
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Abb. 10.2. Die Buchautoren Rolf Nevanlinna und Leo Sario im Dezember 1961 in Santa Monica. Zwei Jahre danach beendete der Abbruch der Beziehungen die Zusammenarbeit.
geschriebenen Teil a ¨ußerte, erwiesen sich die Meinungsverschiedenheiten als un¨ uberbr¨ uckbar. Die Zusammenarbeit endete schließlich im Januar 1964, als Sario den Verlagsvertrag k¨ undigte. Gegen¨ uber dem Verleger und auch anderen verbreitete Sario von Nevanlinna das Bild eines faulen und unredlichen Intriganten. Die pers¨ onlichen Beziehungen zwischen Sario und Nevanlinna zerbrachen f¨ ur immer. Aber auch in diesem Fall hielt Nevanlinna die allgemeinen Dinge f¨ ur wichtiger als die privaten. Trotz seiner unangenehmen Erfahrungen beschrieb Nevanlinna in seinen Memoiren Sario als eine positive und in vielerlei Hinsicht verdienstvolle Pers¨ onlichkeit. Sarios Nachfolger als Assistent der Akademie von Finnland wurde A. I. Virtanens Sohn Kaarlo (Kalle) Virtanen, der ein hervorragender und kritischer Mathematiker war. Er h¨ atte f¨ ur Nevanlinna eine große Hilfe bei Fragen mathematischen Inhalts f¨ ur die aktuellen B¨ ucher sein k¨onnen, die der Autor gerade bearbeitete, aber Virtanen war des Korrekturlesens u ussig“. Auf diese ¨ berdr¨ ” Weise bot sich mir die Gelegenheit, f¨ ur die Jahre 1953–1956 eine Assistenz bei Nevanlinna zu bekommen. Kalle Virtanen wurde sp¨ater außerordentlicher Professor f¨ ur Mathematik an der Universit¨ at Helsinki. Bereits f¨ unf Jahre bevor ich Nevanlinnas Assistent wurde, hatte er mein Leben beeinflußt, als er f¨ ur mich ein einsemestriges Postgraduiertenstudium in Z¨ urich erwirkte. Unser mathematischer Kontakt blieb jedoch in dieser Zeit loser, als ich gehofft hatte. Hieran hatte ich insofern Schuld, weil ich mein Dissertationsthema selbst vorschlug. Ich wußte auch nicht, daß Nevanlinna in der Anfangsphase meiner Doktorarbeit zu Beginn des Jahres 1948 einen
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schweren inneren Kampf f¨ uhrte, um zu entscheiden, ob er in Z¨ urich bleiben solle, obwohl seine Ernennung als Mitglied der Akademie von Finnland eine angemessene R¨ uckkehr nach Finnland erm¨ oglicht h¨atte. Noch weniger wußte ich u ¨ber Nevanlinnas Frauenprobleme. Wenn ich heute an die spezifischen, mit meiner Doktorarbeit zusammenh¨ angenden Fragen denke, habe ich von Nevanlinna nicht viel u ¨ ber Mathematik gelernt. Umso mehr lernte ich wenig sp¨ater u ¨ber das Abfassen mathematischer Texte, als Nevanlinna mit mir das Manuskript meiner Dissertation Zeile f¨ ur Zeile durchging. Nevanlinna hob die Bedeutung klarer und exakter S¨ atze hervor und sprach einen Bann u ¨ ber vage Gemeinpl¨atze, unn¨otiges Geschw¨ atz und hohles Pathos aus. Er hielt folgende Richtschnur f¨ ur das Modell einer guten Darstellung: Schreib kurz und deutlich, so wie sich die Sache verh¨ alt. Bevor ich Assistent wurde, erkrankte ich und kam so in pers¨onlichen Kontakt mit Nevanlinna. Nevanlinna verfolgte meinen Zustand besorgt und schaltete sich mit seinen u ¨ berallhin reichenden Beziehungen in meine Behandlung ein. Der Beginn meiner Assistentenzeit war gleichzeitig auch eine Rekonvaleszenz unter den von Nevanlinna organisierten ausgezeichneten Bedingungen in der Schweiz. Im darauffolgenden Sommer hatte ich einen anderen Grund, Nevanlinna dankbar zu sein. Als ich erw¨ ahnte, daß ich daran gedacht habe, auf der Heimreise von der Schweiz nach Finnland eine Rundreise durch Deutschland zu machen, arrangierte Nevanlinna eine Vortragsreise f¨ ur mich, indem er Empfehlungsbriefe nach Karlsruhe, Heidelberg, Gießen und G¨ottingen schrieb. Ich habe die Briefe nicht gesehen, aber als junger Dozent wurde ich u uhun¨berall so gut und gastfreundlich empfangen, daß Nevanlinnas Bem¨ gen in dieser Sache offensichtlich waren und nicht der geringste Zweifel u ¨ ber das Gewicht seines Namens aufkam. Von der Anstellung als Nevanlinnas Assistent mußte ich zur¨ ucktreten, nachdem ich Assistenzprofessor der Universit¨at Helsinki wurde; die Stelle war nach der Emeritierung Felix Iversens vakant geworden, der auch Nevanlinna seinerzeit unterrichtet hatte. Mein langj¨ ahriger Nachfolger als Nevanlinnas Assistent wurde Ilppo Simo Louhivaara, der aus Nevanlinnas Sicht sicher der beste seiner Assistenten war, weil er die verschiedenartigsten Angelegenheiten so hingebungsvoll erledigte. Außerdem verteidigte er seine Dissertation w¨ahrend Nevanlinnas neuer Forschungsphase und f¨ orderte sp¨ater mit seinen eigenen Studenten die von Nevanlinna initiierte Forschungsrichtung in Finnland. Louachst Professor und Rektor der Universit¨at Jyv¨askyl¨a und hivaara wurde zun¨ danach Professor an der Freien Universit¨ at Berlin. Als ich sp¨ ater zusammen mit Louhivaara die mathematischen Angelegenheiten Finnlands wahrzunehmen hatte und u ¨ber hochschulpolitische Fragen diskutierte, stellte ich fest, wie a urten ¨hnlich unsere Gedanken waren. Wir sp¨ den Einfluß Nevanlinnas in unserem Interesse, gemeinschaftliche Anliegen und internationale Beziehungen zu f¨ ordern.
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10.6 Finnland auf dem Weg ins Computerzeitalter W¨ ahrend des Zweiten Weltkriegs wurden riesige elektronische Rechenmaschinen entwickelt. Diese bekamen ein wesentlich gr¨oßeres Anwendungsgebiet, als man entdeckte, daß sich die Befehle, von denen die Funktionen gesteuert wurden, durch Zahlen darstellen ließen und in das Ged¨achtnis“, das heißt, in den ” Speicher der Maschine eingegeben werden konnten. Als zu Beginn der 1950er Jahre klar wurde, in welchem Umfang die Rechenmaschinen im Gesch¨aftsleben eingesetzt werden k¨ onnen, investierte man in ihre Entwicklung sehr viel mehr als fr¨ uher. In Finnland erfolgten die ersten Schritte in der automatischen Datenverarbeitung an den Universit¨ aten. Die Ehre als Initiatoren geb¨ uhrt vor allem zwei Personen, die bald ihre Kr¨ afte vereinten. Diese beiden waren Rolf Nevanlinna und Erkki Laurila, Professor der Technischen Hochschule und sp¨ater Mitglied der Akademie von Finnland. Zur Erledigung der Angelegenheiten gr¨ undete die Staatliche Kommission f¨ ur Naturwissenschaften ein Komitee f¨ ur mathemati” sche Maschinen“. Man bat Nevanlinna, den Vorsitz des Komitees zu u ¨ bernehmen, und Laurila wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden gew¨ahlt. Pekka Myrberg, der Vorsitzende der Staatlichen Kommission f¨ ur Naturwissenschaften und Kanzler der Universit¨ at Helsinki, lud das Komitee im April 1954 zur ersten Sitzung in sein Amtszimmer ein. Das kann als ein historisches Ereignis betrachtet werden, als Eintritt Finnlands in das Computerzeitalter. Nevanlinna war von der Zukunft der elektronischen Rechenmaschinen u ahrend eines Aufenthalts in G¨ottingen war ihm ein dortiger ¨ berzeugt und w¨ Plan aufgefallen, aus eigener Kraft einen kleinen Computer zu konstruieren, dessen Entw¨ urfe bereits fertig waren. In G¨ ottingen stimmte man Nevanlinnas Bitte zu, eine ¨ ahnliche Maschine auch in Helsinki bauen zu d¨ urfen. Nach vielen Arbeitsphasen wurde die Arbeit 1960 abgeschlossen; in G¨ottingen wurde die Maschine dagegen nie fertiggestellt. Die Rechenmaschine wurde auf den Namen ESKO3 getauft, schaffte es aber nicht, Finnlands erster Computer zu sein, denn bereits zwei Jahre vor der Herstellung von ESKO hatte die finnische Postbank einen kommerziellen IBM-Rechner gekauft. Außerdem wurde ESKO bereits w¨ ahrend der Fertigungsarbeiten von der technologischen Entwicklung u ¨ berholt, aber dennoch war diese Arbeit nicht vergebens gewesen. In der Herstellungsphase hatte man n¨ utzliche Kenntnisse erworben und f¨ ur einige Zeit diente ESKO im Rechenzentrum der Universit¨at Helsinki, bis man dort effizientere kommerzielle Rechner erwarb. Als die Computer an die Universit¨ at Helsinki kamen, gab es das Studienfach Informatik noch nicht. Im allgemeinen Verst¨andnis geh¨orte es zu den Pflichten der Mathematiker, einf¨ uhrende Computerkurse zu halten und Rechenzentren zu verwalten. Die neue Lage erforderte zus¨atzliche Mittel, die man jedoch nicht so einfach u ¨ber den Staatshaushalt bekommen konnte. Die Kriegsversicherungsstiftung reichte ihre helfende Hand und u ¨bergab der 3
ESKO steht f¨ ur elektroninen sarjakomputaattori (serieller Rechner).
10.7 Neue Mathematik
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Universit¨ at Helsinki eine Spende f¨ ur die Gr¨ undung einer Professur f¨ ur angewandte Mathematik. Die Br¨ uder Rolf und Frithiof Nevanlinna waren bei diesem Projekt die treibenden Kr¨ afte im Hintergrund, der Erstere als Vater der Idee, der Letztere als ehemaliger Vorsitzender der Kriegsversicherungsstiftung. Der dritte starke Mann beim Vorantreiben der Datenverarbeitung an der Universit¨ at war der einflußreiche Rektor Edwin Linkomies. Er war von der Zukunft des Gebietes u ¨berzeugt, interessierte sich als Geisteswissenschaftler ebenfalls f¨ ur Computer und war aufgeschlossen gegen¨ uber diesbez¨ uglichen Projekten. Als Rolf Nevanlinna u ¨ber die Anwendungen der Mathematik nachdachte, stellte er fest, daß die Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern und der finnischen Armee verbessert werden m¨ usse. Auf der Grundlage seiner Initiative wurde 1961 unter dem Namen MATINE das Wissenschaftliche Konsultationskomitee der finnischen Armee gegr¨ undet.4 Nevanlinnas Einfluß ist es zu verdanken, daß ich Mitglied von MATINE wurde und darauf einwirken konnte, daß die finnische Armee mit der Indienststellung von Wehrpflichtigen begann, die eine Ausbildung in Informatik hatten. Das er¨offnete auch einen breiteren Weg zur Spezialausbildung bestimmter akademisch geschulter Wehrpflichtiger. Die von Nevanlinna erhoffte und initiierte Zusammenarbeit zwischen der finnischen Armee und den Universit¨aten ist danach kontinuierlich st¨ arker geworden.
10.7 Neue Mathematik Im Jahr 1957 schoß die Sowjetunion den Sputnik in eine Erdumlaufbahn. In den Vereinigten Staaten f¨ uhrte der Sputnik-Schock zur Analyse der Gr¨ unde ¨ f¨ ur die technische Uberlegenheit der Sowjetunion. In diesem Zusammenhang wollte man den mathematischen Schulunterricht grundlegend reformieren. In den westlichen L¨ andern lagen solche Pl¨ ane ohnehin in der Luft, aber jetzt erhielten sie neuen Auftrieb. Es kam auch zu vern¨ unftigen Verbesserungen, aber die neue“ Mathematik, die in der Lehrerschaft Begeisterung erweckte, ” war ein mißgl¨ uckter Versuch, den elementaren Unterricht mit Hilfe einiger Grundbegriffe der Mengenlehre zu reformieren. Als begnadeter Lehrer sp¨ urte Nevanlinna, daß er sich beim Nachdenken u age auf seinem ureigensten Gebiet befand. Er legte ¨ ber die Reformvorschl¨ seine Ideen in einem Artikel dar, der 1964 auf Schwedisch erschien. Nachdem diese Arbeit auch in deutscher Sprache publiziert worden war [110], erregte sie weltweit Aufmerksamkeit. Der Artikel wurde zudem in russischer und ¨ in englischer Ubersetzung publiziert, letztere im weitverbreiteten American Mathematical Monthly [111].
4
MATINE steht f¨ ur Maanpuolustuksen tieteellinen neuvottelukunta, die finnische Bezeichnung des Komitees.
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10 Vielseitiges Akademiemitglied
In seinem Artikel erl¨ auterte Nevanlinna die gewaltige prinzipielle und inhaltliche Bedeutung der axiomatischen Geometrie von Euklid f¨ ur die Entwicklung der Mathematik. Euklid ist es zu verdanken, daß die axiomatische Denkweise u ¨berall in der Mathematik verwurzelt ist. Diese Denkweise hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu Verallgemeinerungen gef¨ uhrt, die auch in der theoretischen Physik von entscheidender Bedeutung waren, nicht zuletzt in der Einsteinschen Relativit¨ atstheorie. Nevanlinna fragte, wieso es in diesem Licht m¨ oglich war, den Schlachtruf Nieder mit Euklid!“ erschallen zu lassen. ” Nevanlinna war emp¨ ort dar¨ uber, in welcher Weise eine gesamtnordische Kommission die Unterrichtskurse f¨ ur Algebra neu konzipiert hatte; er unterzog diese Kurse einer vernichtenden Kritik. In den Kommissionspapieren wurde empfohlen, den Unterricht mit einer gr¨ undlichen Kl¨arung des Mengenbegriffes zu beginnen. F¨ ur Nevanlinna war es eine Zeitverschwendung, die Kinder anhand qu¨ alend langweiliger und selbstverst¨andlicher Beispiele an eine Symbolik zu gew¨ ohnen, deren Sinn und Bedeutung nicht erkl¨art wurde. Die detaillert vorgetragene kalte Dusche endete mit Nevanlinnas Feststellung, daß er unter allen Lehrb¨ uchern der Mathematik, die er je gesehen habe, kein einziges kenne, das intellektuell schw¨ acher sei und in eine derart falsche Richtung f¨ uhre. Nevanlinna wies h¨ aufig darauf hin, daß die edle Natur der Mathematik auch darin zum Ausdruck komme, daß sie in den Forschern eine starke Emotionalit¨ at wecke. Und nun war die Mathematik mißhandelt worden. Als Nevanlinna mit scharfen Worten gegen die vorgeschlagenen Reformen des Mathematikunterrichts protestierte, n¨ aherte sich die Zeit, in der die traditionellen Werte heruntergemacht wurden. Nevanlinna bekam zu h¨oren, daß er ein alter Mann sei, der den Zug des Fortschritts verpaßt und die Zeichen der Zeit nicht verstanden habe. Die neue Mathematik faßte zun¨ achst festen Boden an vielen Schulen Finnlands und Nevanlinna sah hierin ein Zeichen f¨ ur das schwache Niveau der Lehrer. Doch allm¨ahlich siechte die New Math“ an der eigenen Inhaltslosigkeit ” dahin.
10.8 Thesen fu ¨ r die Lehre Die neue Mathematik veranlaßte Nevanlinna noch einmal, u ¨ber die Probleme der Lehre auch allgemein nachzudenken. Pr¨agend f¨ ur ihn waren der starke Wunsch und die F¨ ahigkeit, das eigene Wissen anderen zu vermitteln und sie in den Kreis seiner exakten Gedankenwelt einzubeziehen. Er war sich der Erbanlagen der Familie u ¨ beraus bewußt: Wir Nevanlinnas sind von der Lehre ” besessen.“ Nevanlinna hatte f¨ ur seine Lehrt¨ atigkeit so viel Anerkennung erhalten, daß er sich durchaus bewußt war, ein guter Lehrer zu sein. Wenn er die Vortr¨age anderer h¨ orte, war er kritisch: Mitunter, aber nicht sehr oft, fasziniert mich ” eine Pr¨ asentation aufgrund ihres Inhaltsreichtums und ihrer Spontaneit¨at.“
10.8 Thesen f¨ ur die Lehre
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Nach Nevanlinnas Meinung war die p¨ adagogische Leidenschaft eine wichtige, aber ambivalente Sache, weil sie sich auf die Zuh¨orer st¨orend auswirken konnte. Sie vermischt sich leicht mit agitatorischer Begeisterung und ” ¨ einem Uberzeugungswunsch, der die Grenzen des intellektuellen Machthungers ber¨ uhren kann ... Bevor ich einen H¨ orsaal betrete, halte ich f¨ ur einen Moment inne, um meine Gedanken zu sammeln, so daß ich in der Lage bin, jegliche Egozentrik zu vermeiden und den H¨orern etwas zu bieten, das u ¨ ber die eigenen kleinlichen Ambitionen hinausgeht.“ Nevanlinna betonte in verschiedenen Zusammenh¨angen die untrennbare Verkoppelung des Intellekts mit dem Gef¨ uhl. Nach Nevanlinnas Meinung manifestierte sich ein mangelhaftes Verst¨ andnis dieser Einheit auf besonders sch¨ adliche Weise in den Diskussionen, die in den 1960er Jahren zu Ausbildungs- und Schulfragen aufkamen. Hierin offenbart sich eine Unkennt” nis der Dynamik des psychischen Kraftfeldes, in dessen Abh¨angigkeit sich der menschliche Charakter entwickelt. Der Mensch, der lernen will und sein Wissen mehren und seine Fertigkeiten steigern m¨ochte, sp¨ urt die Berechtigung seines Strebens und erlangt dadurch mehr Selbstvertrauen.“ Nevanlinna brachte seine Thesen zur Lehre in seinen 1976 erschienenen Memoiren in eine kristallisierte Form: F¨ ur den Erfolg des Unterrichts und ” des Lernens ist es von absolut sekund¨ arer Bedeutung, auf welche Weise die Details der Kursanforderungen und die theoretischen p¨adagogischen Instruk¨ tionen gegeben werden. Ausf¨ uhrliche Uberlegungen dieser Art sind geradezu sch¨ adlich. Die Nachahmung jetziger Modestr¨omungen l¨aßt daran zweifeln, ob es in der Lehrerausbildung irgendwelchen Nutzen bringt, wenn die k¨ unftigen Lehrer dazu gezwungen werden, dem Studium der fixen Ideen m¨ ußiger p¨ adagogisch-soziologischer Pr¨ ufungsschwerpunkte viel Zeit zu opfern. Es ist doch eine unumst¨ oßliche Tatsache, daß p¨adagogische F¨ahigkeiten auf eine ur eine angeborene Gabe und Talent zur¨ uckzuf¨ uhren sind. Die Ausbildung f¨ p¨ adagogische Laufbahn erfolgt am effizientesten, wenn man die zuk¨ unftigen Lehrer in diejenigen F¨ acher, die sie unterrichten werden, tiefgr¨ undiger und auch stoffm¨ aßig viel umfassender einf¨ uhrt, als sie es in ihrem Unterricht unmittelbar brauchen werden.“ Nevanlinna distanzierte sich radikal vom Glauben, daß mit einer richtigen Schulbildung alle B¨ urger auch den gleichen Wissensstand erlangen w¨ urden. Er war kein Verfechter des Rousseauschen Idealismus: Nicht alles lerne man spielend, vielmehr solle die Schule die jungen Menschen an die Arbeit gew¨ohnen. Nevanlinna wurde gebeten, die Festrede zur Er¨offnung des Kongresses der Nordischen Mathematiklehrer zu halten, der 1963 in Helsinki stattfand. Im Festsaal der Universit¨ at h¨ orte ich ihn sagen, daß man als Lehrer geboren werde, und er warnte davor, den Mathematikunterricht u ¨ berm¨aßig mit p¨adagogischen Theorien zu infiltrieren. Nicht alle der Anwesenden h¨orten das gerne, aber es war nicht leicht, Nevanlinna zu kritisieren.
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10 Vielseitiges Akademiemitglied
10.9 Auf der Seite der Physik Die theoretische Physik blieb in Finnland lange Zeit ein Stiefkind. Ernst Lindel¨ of wurde als einer der S¨ undenb¨ ocke hierf¨ ur angesehen; man behauptete, er habe jahrzehntelang die Elite der Mathematik- und Physikstudenten in die Mathematik gelenkt. Die Mathematik gedieh, aber die theoretische Physik mußte leiden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch viele Physiker der Ansicht, daß Teile der theoretischen Physik, die Relativit¨atstheorie und teilweise auch die Quantentheorie, zur Mathematik geh¨orten. Die Mathematiker hatten in dieser Zeit ihre eigenen Sorgen, um die L¨ ucken zu schließen, die der Krieg verursacht hatte. Deswegen wagten sich nicht viele in das Grenzgebiet zwischen Physik und Mathematik. Nevanlinna, der seinen Blick auf die mathematische Physik gerichtet hatte, war wegen der d¨ usteren Zukunftsaussichten dieses Gebietes beunruhigt, dessen weltweite Bedeutung zunahm und das eine wichtige Br¨ ucke zwischen den Mathematikern und Physikern bildete. Nevanlinna wurde eine der zentralen Pers¨onlichkeiten im Hintergrund, als man in Finnland daran ging, die Stellung der theoretischen Physik zu verbessern. Als er versuchte, das Interesse mit Hilfe von Vortr¨agen zu wecken, erzielte er einen unerwarteten Erfolg. Bereits zu Beginn der 1930er Jahre hatte er Vorlesungen u atstheorie gehalten und dreißig Jahre sp¨ater ¨ber die Relativit¨ kam er auf dieses Thema zur¨ uck, als er dar¨ uber eine Vorlesungsreihe Studia generalia hielt, die an ein breites Publikum gerichtet war. Es war eine der Meisterleistungen der Nevanlinnaschen Vortragskunst. Die erste Auflage des Buches, das auf der Grundlage dieser Vortr¨age entstand, war bald vergriffen. Ermutigt durch den finnischen Erfolg erschien das Werk auch auf Deutsch [104] und damit waren die Sprachbarrieren u ¨ berwunden. In den folgenden Jahren erschien das Buch auch in schwedischer, englischer [115], russischer ¨ und italienischer Ubersetzung und erhielt viele lobende Rezensionen. Die Stellung der theoretischen Physik wurde auch durch administrative Maßnahmen verbessert. Vom Standpunkt Finnlands aus war es wichtig, sich sofort am Nordischen Institut f¨ ur Theoretische Physik (NORDITA) zu beteiligen, das 1957 in Kopenhagen in enger Vebindung mit dem ber¨ uhmten Institut von Niels Bohr gegr¨ undet wurde. Nevanlinna wurde zum Vertreter Finnlands f¨ ur den Vorstand von NORDITA ernannt und u ¨bte diese Aufgabe zehn Jahre lang aus. Den zweiten Sitz Finnlands im Vorstand von NORDITA hatte lange Zeit Pekka Jauho inne, dessen Wechsel von der Mathematik zur Physik auch von Nevanlinna beeinflußt wurde, nachdem er f¨ ur den jungen Mann eine Postgraduiertenstelle an der Universit¨ at Lund organisiert hatte. Jauho und der fast 30 Jahre ¨ altere Nevanlinna waren ein gutes Gespann als H¨ uter der Interessen Finnlands bei NORDITA, das eine wichtige Ausbildungseinrichur die finnischen Physiker wurde. Nevanlinna bildete ein Gegengewicht tung f¨ zu Bohr, der NORDITA regierte; zwischen beiden M¨annern entwickelte sich ein freundschaftliches Verh¨ altnis, das auf gegenseitigem Respekt beruhte. Auch in Finnland gerieten die Dinge in Bewegung. Ende der 1950er Jahre gr¨ undete der zielstrebige K. V. Laurikainen, der sich in seiner Dissertation
10.10 Von zeitgen¨ ossischer Musik bis zu Sibelius
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an Nevanlinna anlehnte, als Assistenzprofessor der Physik an der Universit¨at Turku eine kleine Gruppe, die sich in Zusammenarbeit mit Forschern der ˚ Abo Akademi in die theoretische Physik vertiefte. Nevanlinna hielt diese Gruppe der theoretischen Physik f¨ ur so wichtig, daß er sie als Vorsitzender der EmilAaltonen-Stiftung dazu brachte, der Universit¨at Turku die Mittel f¨ ur eine Professur f¨ ur theoretische Physik und f¨ ur einen Assistenten zu gew¨ahren. Die Wahl Laurikainens f¨ ur diese Professur schien selbstverst¨andlich zu sein, aber er verließ Turku kurz vor der Gr¨ undung des Lehrstuhls und nahm einen Ruf als Professor f¨ ur Kernphysik an der Universit¨at Helsinki an. In Laurikainen erwachte die Idee, ein staatliches Forschungsinstitut f¨ ur theoretische Physik zu gr¨ unden, das mit der Universit¨at Helsinki zusammenarbeiten w¨ urde. Nevanlinna unterst¨ utzte dieses Projekt nach Kr¨aften. Vorbereitende Besprechungen fanden im Kreise des B¨orsenklubs statt, wo zwei einflußreiche Bef¨ urworter des Forschungsinstitutes gewonnen wurden: Linkomies, der Kanzler der Universit¨ at, und Ernst Palm´en, der Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakult¨at. Zusammen mit Nevanlinna bildeten sie ein so starkes Dreigespann, daß es trotz der Widerst¨ande m¨oglich war, die Gr¨ undung des Forschungsinstitutes relativ schnell durchzusetzen. Das Forschungsinstitut f¨ ur Theoretische Physik stand Nevanlinna nahe. Dort hielt er im Alter von 83 Jahren im Fr¨ uhjahrssemester 1979 seine letzte Vorlesungsreihe u ahlte Abschnitte seiner Vorlesungen Mathema¨ ber ausgew¨ ” tische Prinzipien der Mechanik“, die er im Studienjahr 1946–1947 gehalten hatte. Im Vorwort zu den Vorlesungsvervielf¨altigungen schrieb Laurikainen, daß diese Vorlesungen seinerzeit einen bedeutenden Einfluß auf die Wiederbelebung des Interesses an theoretischer Physik in Finnland gehabt h¨atten.
10.10 Von zeitgen¨ ossischer Musik bis zu Sibelius Als Gegengewicht zur kleiner gewordenen mathematischen Forschungst¨atigkeit engagierte sich Nevanlinna im kulturellen Leben außerhalb der Wissenschaft. Ein wichtiger Auftrittsort waren die sommerlichen Kulturtage in Jyv¨ askyl¨ a, deren Anziehungskraft weitgehend auf den pers¨onlichen Beziehungen der Organisatoren beruhte: Außer Rolf Nevanlinna und Alvar Aalto wurden prominente Musiker wie Joonas Kokkonen, Martti Talvela und Erik Tawaststjerna f¨ ur Auftritte gewonnen und einmal sogar Nevanlinnas indischer Kollege Chandrasekharan. ¨ Nevanlinna zeigte 1961 mit seinem Vortrag Uber die Abbildung“, daß er ” seiner Zeit voraus war, weil er der optischen Darstellung der Musik besondere ” Aufmerksamkeit schenkte“. In der Zeitung Keskisuomalainen wurde bereits in einer Vorank¨ undigung versichert, daß Professor Nevanlinna als ausgezeich” neter Redner ungeachtet seiner erhabenen Wissenschaft oder gerade wegen seiner großen Gelehrsamkeit imstande sei, seinen Vortrag allgemeinverst¨andlich und mitreißend zu halten“.
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10 Vielseitiges Akademiemitglied
Nevanlinna berichtet in seinen Memoiren, daß er versucht habe, den neuesten Str¨ omungen der Musik zu folgen, ohne dabei trotz guten Willens weit zu kommen. Nach den Klassikern habe er – teils mit ziemlichem Vorbehalt – Bart´ok, Strawinsky, Prokofjew, Schostakowitsch und Kokkonen gesch¨atzt, aber damit endete die Liste. Mir gegen¨ uber bekannte er einmal, daß er Joonas Kokkonen sch¨ atze, obwohl er sich f¨ ur dessen Musik nicht so richtig begeistern k¨ onne. Zur elektronischen Musik verhielt sich Nevanlinna ablehnend: ist langwei” lig mit ihrem ausdruckslosen monotonen Geleier und mit ihren Ger¨auschen.“ Er wollte sich dennoch Klarheit verschaffen, inwieweit diese Musik etwas enthalte, das man ber¨ ucksichtigen m¨ usse. Nevanlinna hatte im Sommer 1961 in Jyv¨ askyl¨ a die Gelegenheit, den Komponisten Karlheinz Stockhausen w¨ahrend eines geselligen Abends im Restaurant Jyv¨ ashovi zu seiner Arbeit an serieller ¨ und elektronischer Musik zu befragen. Uber das Beisammensein berichtete außer Nevanlinna auch der Musikkritiker Seppo Heikinheimo auf der Grundlage dessen, was er von Erik Tawaststjerna geh¨ ort hatte. Stockhausen sagte, daß er zusammen mit einigen seiner Kollegen eine Tonreihe als Ausgangspunkt gew¨ ahlt hatte, die sie entsprechend dem von ihnen geschriebenen Programm in den Computer eingaben. Sie k¨ onnen sich nicht vorstellen, welche u ¨ berra” schenden Akkorde wir zu h¨ oren bekamen.“ Da sich Nevanlinna von dieser Art Kompositionsarbeit nicht gerade begeistert zeigte, begann Stockhausen, u ¨ ber die Zahlentheorie zu berichten, die seinem Werk zugrunde lag, und damit offenbarte er seinen Dilettantismus. Laut Heikinheimo saß der selbstsichere Stockhausen nach Nevanlinnas Fragen und Korrekturen f¨ ur den Rest des Abends verlegen am Tisch. Es war leicht, vom Sommerhaus Visala bei Heinola einen Abstecher nach Jyv¨ askyl¨ a zu machen. Sinikka hatte dieses Sommerhaus bereits vor ihrer Ehe mit Rolf erworben. Sp¨ ater, als Sinikkas und Rolfs Tochter Kristiina geheiratet hatte, waren auch die Mitglieder ihrer Familie regelm¨aßige Sommerg¨aste in Visala. Kristiina wurde Musiklehrerin, ihr Mann Paavo Hohti Dozent f¨ ur griechische Sprache und Literatur sowie Generalsekret¨ar der Finnischen Kulturstiftung. Die ganze Familie Hohti stand Rolf sehr nahe – die musikalische Tradition setzte sich bei ihnen in ausgepr¨agter Weise fort. Mit Visala hatte Sinikka ein ger¨ aumiges Wohngeb¨aude erworben, das auch wirklich notwendig war, denn zus¨ atzlich zur wachsenden Familie kamen st¨ andig G¨ aste ins Sommerhaus. So eine Art Vollpension“ st¨ohnte Sinik” ka bei einer Gelegenheit. Das Spektrum der G¨aste war breit: von Schweizer Mathematikern bis hin zu Musikern. Sinikka mußte einen knappen Zeitplan einhalten: Nach dem Verzehr des Mittagessens zwischen zw¨olf und ein Uhr begab sich Rolf ins Obergeschoß in sein kleines Mansardenzimmer, um dort seinen u ¨ blichen Mittagsschlaf zu halten; um drei Uhr weckte ihn Sinikka zum Nachmittagskaffee der Gesellschaft, indem sie mit einem Besenstiel an die Zimmerdecke h¨ ammerte. Bei den Einladungen in Visala stand die Musik von Sibelius hoch im Kurs und man brauchte keinen Zwischenfall zu bef¨ urchten, wie seinerzeit
10.10 Von zeitgen¨ ossischer Musik bis zu Sibelius
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Abb. 10.3. Alvar Aalto und Rolf Nevanlinna in den 1960er Jahren in Jyv¨ askyl¨ a.
mit Yrj¨ o Kilpinen, einem Akademiekollegen. Leute, die Sibelius herabsetzten, fanden bei Rolf Nevanlinna keine Gnade. Kilpinen hatte sich bei einem feuchtfr¨ ohlichen Abend im Restaurant Kalastajatorppa dazu verstiegen, das Niveau der Musik von Sibelius zu kritisieren. Auf Nevanlinnas Aufforderung, den Mund zu halten, geriet Kilpinen nur noch mehr in Rage und stempelte schließlich Sibelius als einen ethisch zu verurteilenden Menschen ab, weil er es gewagt habe, eine so minderwertige Komposition wie die Valse triste zu ver¨ offentlichen. Nevanlinna verlor seine Selbstbeherrschung und ging Kilpinen an die Gurgel. Das Handgemenge der beiden Akademiemitglieder h¨atte zu einer ordentlichen Schl¨ agerei werden k¨ onnen, wenn die Begleiter nicht dazwischen gegangen w¨ aren. Rolf Nevanlinna wurde zum Vorsitzenden des von der Regierung gegr¨ undeten Komitees zum 100. Geburtstag von Sibelius ernannt. In dieser Eigenschaft sprach er am Gedenktag im Dezember 1965 am Grab von Sibelius und am gleichen Abend bei einem ¨ offentlichen Fest im Restaurant Kalastajatorppa. Auf diesem großen und stimmungsvollen Fest ist die Frage gestattet, wel” chen Rang Jean Sibelius vom Standpunkt des beharrlichsten Kritikers, der Geschichte, einnimmt. Die Antwort ist sicher. Wie sich die Str¨omungen der Zeit auch ¨ andern m¨ ogen, Jean Sibelius wird seinen Rang unter der Gr¨oßten der Kunst behalten.“
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10 Vielseitiges Akademiemitglied
Abb. 10.4. G¨ aste brachten Abwechslung in die Sommerfrische der Nevanlinnas bei Heinola. Im Hintergrund Rolfs Schweizer Sch¨ uler Professor Heinrich Keller, der sich mit seiner Frau oft bei den Nevanlinnas aufhielt.
Abb. 10.5. Das traditionelle sp¨ atsommerliche Krebsessen in Visala. Schwungvoll im Vordergrund Erik Tawaststjerna.
11 Aktive Altersjahre
11.1 Als Pension¨ ar in Finnland Nevanlinna gab seine Professur in Z¨ urich im Herbst 1963 auf und kehrte nach ¨ Finnland zur¨ uck. Die Ubersiedlung in die Schweiz im Jahre 1946 hatte f¨ ur Nevanlinna nach dem durch den Krieg verursachten Umbruch die R¨ uckkehr zur Mathematik bedeutet. Nun war der Umzug nach Finnland erneut ein Wendepunkt, denn auf Nevanlinna kamen so viele ¨offentliche Aufgaben zu, daß die Mathematik immer mehr in den Hintergrund geriet. Als Nevanlinna Z¨ urich verließ, lag das obligatorische Pensionsalter dort bei 70 Jahren. Er h¨ atte demnach noch zwei Jahre in seinem Amt bleiben k¨onnen. ¨ Als Grund f¨ ur seine vorzeitige Abreise gab er den Uberdruß an, den ihm die st¨ andig zunehmenden Lehraufgaben bereiteten. Ein weniger wichtiger Umstand, der Nevanlinnas Entscheidung jedoch m¨oglicherweise beeinflußte, war ein Zwist wegen des Arbeitszimmers. Das Mathematische Institut der Universit¨ at Z¨ urich war in bescheidenen R¨ aumlichkeiten untergebracht. Die Dozenten hatten lediglich einen Gemeinschaftsraum zur Verf¨ ugung. Nevanlinna erhielt dennoch ein eigenes Arbeitszimmer, da er Pr¨asident der IMU war. Trotz seiner Proteste nahm man ihm das Zimmer kurz vor dem Ablauf der Pr¨asidentschaft weg, weil es wegen seiner Reisen oft leer stand. Rolf schrieb an Mary Nevanlinna: Ich verlasse Z¨ urich doch gerne. Auch die Familienangelegenheiten f¨ uhrten zu einem Umzugsdruck. Nach der Eheschließung war Sinikka Nevanlinna auch weiterhin durch die Sorge f¨ ur ihre Kinder gebunden. Sie blieb mit ihnen in ihrer alten Wohnung in Helsinki und konnte nicht so oft bei Rolf in Z¨ urich sein, wie sie es gewollt h¨atte. Bereits bevor die Ehe mit Mary Nevanlinna offiziell aufgel¨ost wurde, verließ Rolf die gemeinsame Wohnung. Als er sich in Helsinki aufhielt, wohnte er einige Jahre mal hier und mal dort, zuerst im Haus seines Freundes Ilmari Liikkanen, dann in einer kleinen Zweizimmerwohnung, die er sich in der Vorstadt Munkkivuori beschaffte, und nach der neuen Heirat gelegentlich auch in Sinikkas Wohnung. Der ¨ außere Lebensrahmen war f¨ ur ihn nicht so wichtig, seine Zeit verbrachte er gr¨ oßtenteils auf Reisen oder mit Arbeit in den R¨aumen, die von der Akademie
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11 Aktive Altersjahre
von Finnland oder von der Universit¨ at Helsinki f¨ ur ihn reserviert waren. Sinikka erwartete in Familienangelegenheiten von ihm eine aktivere Teilnahme. Sie wollte Rolfs Leben nicht dirigieren, aber seine Obdachlosigkeit“ bedr¨ uckte ” sie. Die Wohnung in Munkkivuori war keine L¨osung, weil sie sowohl f¨ ur Rolf als auch f¨ ur Sinikka zu klein und unbequem war und außerdem ziemlich abseits lag. Einen Fortschritt gab es erst kurz vor Rolfs R¨ uckkehr nach Finnland, als Rolf und Sinikka eine Wohnung in der Puistokatu in einer Neu¨ uberbauung kauften. Die neue Familie – Rolf, Sinikka, Tochter Kristiina, Hund Eetu und der Fl¨ ugel – befanden sich nun endlich unter demselben Dach. Aber auch diese Wohnung erwies sich als klein und unpraktisch. Einige Zeit lang spielte Rolf mit dem Gedanken, wieder nach Z¨ urich zur¨ uckzuziehen, aber dieses Vorhaben w¨ are zu teuer geworden. Die Herrschaften waren schließlich zufrieden, als sie im Ekberg-Haus am Bulevardi im Stadtzentrum von Helsinki eine ordentliche alte Wohnung mieten konnten, in der es reichlich Platz gab. Dort wohnten Rolf und seine Frau bis zu seinem Lebensende.
Abb. 11.1. Rolfs und Sinikkas Tochter Kristiina Nevanlinna wohnte bis zum Beginn ihres Studiums in der neuen Wohnung der Familie in der Puistokatu. Bald wurde sie Frau Hohti, schloß ihr Studium mit dem Klavierlehrerdiplom ab und wurde noch zu Rolfs Lebzeiten Mutter von f¨ unf Kindern.
11.1 Als Pension¨ ar in Finnland
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Zwei Jahre nach der R¨ uckkehr aus der Schweiz wurde Nevanlinna an seinem 70. Geburtstag von seiner Stelle bei der Akademie von Finnland pensioniert. Stattdessen kamen sofort andere Aufgaben: Noch am gleichen Tag begann er seine T¨ atigkeit als Kanzler der Universit¨at Turku und hatte diese Funktion f¨ ur den F¨ unfjahreszeitraum 1965–1970 inne. Das war eine Teilzeitbesch¨ aftigung, die nur gelegentliche Besuche in Turku erforderte. Zus¨atzlich zum Kanzleramt hatte er Vertrauensstellungen als Vorsitzender des Direktoriums der Emil-Aaltonen-Stiftung 1944–1975 und in der Sibelius-Akademie inne, in der er in den Jahren 1940–1945 und erneut 1963–1971 Vorsitzender des Direktoriums war. Im Zusammenhang mit den zu Beginn der 1960er Jahre betriebenen Gesetzesvorschl¨ agen machte man den Versuch, die Sibelius-Akademie n¨aher an die Hochschulen zu bringen. Zum Vorsitzenden des Direktoriums wurde 1963 der Kanzler der Universit¨ at Helsinki, Edwin Linkomies, gew¨ahlt. Nach seinem unerwarteten Tod wollte die Akademie als Nachfolger wieder einen einflußreichen Vorsitzenden haben und hielt Rolf Nevanlinna, der als Musikexperte bekannt war, f¨ ur eine ausgezeichnete Wahl.
Abb. 11.2. Promotion an der Universit¨ at Turku im Jahr 1970, im Vordergrund Rektor Tauno Nurmela, Kanzler Rolf Nevanlinna und Ministerpr¨ asident Teuvo Aura. (Mit freundlicher Genehmigung: Bildarchiv der Universit¨ at Turku)
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11 Aktive Altersjahre
Abb. 11.3. Die Vorsitzenden des Direktoriums der Sibelius-Akademie, Rolf Nevanlinna und Kommerzienrat Roger Lindberg, 1976 bei der Einweihungsfeier ihrer Portr¨ ats. In der Mitte der K¨ unstler Tapani Raittila.
Nevanlinna formulierte als Ziel, die Sibelius-Akademie den anderen Hochschulen des Landes gleichzustellen. Man sagte, daß er f¨ ur dieses Ziel mit den Vertretern der Regierung hart, aber liebensw¨ urdig“ gek¨ampft habe. Als der ” Gesetzesvorschlag zur Sibelius-Akademie auf der Zielgeraden war, nahm das ¨ Unterrichtsministerium Anderungen vor, die aus dem Blickwinkel der Akademie ung¨ unstig waren. Die Delegation der Akademie begab sich ins Ministerium und dort kritisierte Nevanlinna die Beh¨orden scharf. Man erreichte signifikante Verbesserungen, aber f¨ ur Nevanlinna blieb es ¨argerlich, daß das Gehaltsniveau der Akademie nicht dem der wissenschaftlichen Hochschuleinrichtungen gleichgestellt wurde. In der Sibelius-Akademie war man jedoch zufrieden, denn das 1966 erlassene Gesetz sicherte staatliche Subventionen zu. Ein langer Albtraum war vorbei.“ ” Als Nevanlinna den Titel eines Ehrenprofessors der Universit¨at Z¨ urich erhielt, endete im Kanton Z¨ urich seine Zeit als Amtsinhaber und deswegen war er nicht pensionsberechtigt. Damals hielt er diese Sache nicht f¨ ur wichtig, aber nach der neuen Eheschließung dachte er anders. Sein Antrag auf Pension wurde 1958 von der Kantonsregierung bewilligt. Als Gr¨ unde gab man die tats¨ achliche T¨ atigkeit Nevanlinnas, die sich von einer ordentlichen Professur nicht unterschied, und die internationale Wertsch¨atzung an, die er dem Mathematischen Institut der Universit¨ at gebracht hatte. Außerdem wurde
11.2 Freier Mathematiker
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festgehalten, daß Nevanlinnas Antrag so außergew¨ohnlich sei, daß man keinen Pr¨ azedenzfall bef¨ urchten m¨ usse. Nachdem er auch bei der Akademie von Finnland in den Ruhestand gegangen war, stellte er fest, daß sich die Z¨ urcher Pension als bitter n¨otig erwies, denn ohne sie h¨ atte das verringerte Einkommen seine Ausgaben nicht decken k¨ onnen. F¨ ur einen Moment dachte er, daß das Gehalt f¨ ur seine T¨atigkeit als Kanzler der Universit¨ at Turku eine entscheidende Erleichterung bringen w¨ urde, bis er h¨orte, daß es sich um 375 Finnmark pro Monat handelte (heute ca. 600 Euro). Eine kleine Unterst¨ utzung kam von einem hilfsbereiten Freund: Matti Virkkunen, der Vorsitzende des Verwaltungsrates der privaten Universit¨ at Turku und Generaldirektor der gr¨ oßten finnischen Privatbank KOP, erwirkte f¨ ur den Kanzler eine Gehaltserh¨ ohung.
11.2 Freier Mathematiker Nach seiner Pensionierung bei der Akademie von Finnland hatte Nevanlinna kein mathematisches Amt mehr inne. Ungeachtet des Endes formeller Verpflichtungen setzte er sein mathematisches Leben fort und behielt dabei viele seiner fr¨ uheren Gewohnheiten bei. Zwar u ¨ bernahm Nevanlinna keine Doktoranden mehr, aber er behielt sein mathematisch-physikalisches Forschungsprogramm auch weiterhin fest im Blick und ging auch immer wieder auf Vortragsreisen. Es kamen immer noch Einladungen aus verschiedenen Teilen der Welt, denn Nevanlinna war ein bekannter Name und die B¨ uhnenwirksamkeit war garantiert, wenn er u ¨ ber ihn interessierende Themen sprechen konnte. Er hatte eine st¨ andige Einladung an das Mathematische Forschungsinstitut der ETH Z¨ urich, die er h¨ aufig in Anspruch nahm. Im Laufe der Jahre hatten sich Nevanlinnas mathematische Kontakte ge¨ andert. Das deutsche Sprachgebiet behielt seine stabile Position, aber Frankreich trat in den Hintergrund zugunsten der Englisch sprechenden Welt. Nevanlinna hatte in den 1950er Jahren begonnen, seine Kontakte zu Amerika auszubauen, und nachdem er – durch und durch Europ¨aer – in den Ruhestand gegangen war und die Reisefreiheit genießen konnte, wandte sich sein Blick hin zur anderen Seite des Atlantiks. In den Vereinigten Staaten gefielen ihm das hohe wissenschaftliche Niveau der guten Universit¨aten, die anregende Forschungsatmosph¨ are und die auf reichlichen Ressourcen beruhende Großz¨ ugigkeit. In seinen Pension¨ arsjahren war Nevanlinna als Gastprofessor f¨ ur jeweils ein Semester im Jahr 1965 in Stanford und 1970 an der University of California in San Diego t¨ atig. Nevanlinna kannte Kalifornien bereits seit Beginn der 1960er Jahre und auch wegen des Klimas war es ein ausgezeichneter Ort f¨ ur ihn, der warmes Wetter liebte. Der Sonnenschein und die Palmen schufen eine Atmosph¨ are, die Nevanlinna gefiel. Er hatte auch den Wunsch, die University of Minnesota in Minneapolis zu besuchen. In der Stadt, die f¨ ur ihre kalten Winter bekannt ist und ein
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nordisches und deutsches Erbe ausstrahlt, wollte man ihn aber nicht. Alter und Image waren gegen ihn. Man hielt dort in seinem Fall das Kosten-NutzenVerh¨ altnis f¨ ur allzu hoch und fand, daß die K¨onigsgestalt Nevanlinna schlecht zum informellen Hi Rolf“-Stil des mathematischen Instituts passen w¨ urde. ” Nevanlinna hatte auch weiterhin den Wunsch, mit mathematischen Methoden in die Welt der Physik einzudringen, aber er kam zu keiner umfassenden Theorie. Die aus seinem Hauptprogramm hervorgegangene Absolute Analysis, f¨ ur deren Entwicklung er viel Zeit geopfert hatte, war nicht so aufgenommen worden, wie er es erwartet hatte. Die k¨ uhle Aufnahme entt¨auschte Nevanlinna und belastete die zuk¨ unftige Forschungsarbeit. Die Jahre in Z¨ urich h¨ atten Nevanlinna eine gute Gelegenheit f¨ ur seine Untersuchungen geboten, aber damals setzten ihm seine ungel¨ osten Frauenprobleme zu und die anspruchsvollen Lehrverpflichtungen nahmen viel Zeit von der Forschungsarbeit weg. Auch konnte ihm nicht verborgen bleiben, mit welchem Tempo die j¨ ungere Mathematikergeneration weltweit neue Ergebnisse in den Gebieten erzielte, die mit seinem Programm zusammenhingen.
11.3 Kulturfragen In Finnland wurde Rolf Nevanlinna als eine umfassend gebildete Kulturpers¨ onlichkeit wahrgenommen. Seine musikalischen Kenntnisse waren allgemein bekannt und auch auf anderen Gebieten hatte er bereits in den Vorkriegsjahren Musterproben geliefert. Man erwartete, daß er nach dem Krieg auf den Veranstaltungen der Studentischen Kulturkommission auftreten w¨ urde, und er wurde gebeten, auf der Aleksis-Kivi-Feier1 im Finnischen Nationaltheater eine Rede zu halten. In seiner Rede Gegenwart und nationale Kunst“ be” schrieb Nevanlinna die Bedeutung Kivis f¨ ur die finnische Literatur und meinte, daß sich diese Bedeutung nicht nur auf die ¨asthetischen Werte beschr¨anke, sondern daß Kivi in den vergangenen Jahrzehnten zudem Inspirator der kulturellen und sozialen Entwicklung in Finnland gewesen sei. Nevanlinna ver¨ offentlichte seine Vortr¨ age und Artikel u ¨ ber diverse kulturelle Themen in den Zeitschriften Valvoja, Suomalainen Suomi und in ver¨ schiedenen Fachzeitschriften. Nevanlinna selbst hielt seinen Artikel Uber die ” geistige Situation der Gegenwart“ f¨ ur wichtig, der 1961 in Valvoja erschien. In diesem Artikel warf er ein aktuelles Problem nach dem anderen auf und analysierte die Fragen in seinen Stellungnahmen: Wenn bei der Betrachtung ” der Probleme auch nur ein einziges gut gew¨ urztes Wort f¨allt, wenn man anderen Menschen Anregungen geben kann oder in ihnen das Bed¨ urfnis erweckt, sich pers¨ onlich in die Dinge zu vertiefen, dann ist etwas geschehen, das nicht verlorengeht.“ 1
Aleksis Kivi (1834–1872) war der erste bedeutende Schriftsteller, der in finnischer Sprache schrieb. Sein epochaler Roman Seitsem¨ an veljest¨ a (Die sieben Br¨ uder, 1870) ist in mehr als 20 Sprachen u ¨ bersetzt worden.
11.3 Kulturfragen
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Der Artikel sagt viel u ¨ ber den Autor selbst, u ¨ ber seine geistige Regsamkeit, die sich in viele Richtungen erstreckte. Das damals aktuelle, auf friedlicher Koexistenz beruhende politische Krisenmanagement war gem¨aß Nevanlinna auf ein gef¨ ahrliches Trugbild zur¨ uckzuf¨ uhren. Konflikte liessen sich seiner Meinung nach nicht aus der Welt schaffen, indem man die zu diesen Konflikten f¨ uhrenden Interessensph¨ aren voneinander isoliert. Das Aufzeigen der guten und der schlechten Seiten technischer Erfindungen war eines der Hauptthemen des Artikels. Unter Verweis auf die Geschichte warnte Nevanlinna davor, unsere eigene Zeit als Ausnahme zu betrachten. Die Spannung zwischen den destruktiven und den konstruktiven Aspekten der Technik war nichts Neues, neu war jedoch deren maximal gesteigerte Widerspr¨ uchlichkeit. Mit der Technik hin¨ gen auch seine Uberlegungen u ¨ber die Hast des modernen Menschen zusammen, u ¨ ber seine Ruhelosigkeit und die zunehmenden Freizeitbesch¨aftigungen. Die Entwicklung der Technik sei eine Folge des unvoreingenommenen Strebens der Naturwissenschaften nach immer gr¨oßerer Objektivit¨at, aber auch das habe seine Grenzen. Aus einem u ¨ bertriebenen Infragestellen und aus dem Verzicht auf Autorit¨ aten aus t¨ orichter Protesthaltung“ folgten Ratlosigkeit, ” Unsicherheit und schließlich das Ersticken der Kreativit¨at. In Bezug auf die Wissenschaft schlug Nevanlinna in seinem Artikel auch optimistischere T¨ one an. Die gute internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler sei ein erfreuliches Beispiel daf¨ ur, wie gemeinsame Interessen und damit zusammenh¨ angende pers¨ onliche Kontakte die politischen Grenzen u anden. Nevanlinna hielt die moderne Kunst f¨ ur problematischer ¨ berw¨ als die Wissenschaft, weil die Kunst der Experimentierwut zum Opfer falle. Das Ganze werde dadurch verschlimmert, daß die Kunst zum Jagdrevier des Geldmarktes geworden sei. Der Artikel kulminierte in der Aufforderung, eine grundlegende Tatsache der menschlichen Existenz nicht zu vergessen: Der ” Mensch ist ein f¨ ur allemal so geschaffen, daß er die nat¨ urliche Gewißheit seines Lebens verliert, wenn ihm das unmittelbare Gef¨ uhl f¨ ur die Existenz von Werten fehlt, die h¨ oher stehen als das menschliche Schaffen, und wenn ihm der Glaube an diese Werte abhanden gekommen ist.“ Der englische Physiker und Schriftsteller Sir Charles Percy Snow hatte weltweit Aufmerksamkeit mit einem Essay erregt, in dem er behauptete, daß sich die humanistische Kultur und die naturwissenschaftliche Kultur voneinander entfremdet h¨ atten. Nevanlinna war in Finnland der erste, der zu dieser Behauptung Stellung nahm. In seinem 1967 erschienenen Artikel Zwei Kulturen – eine Kultur“ vertrat er eine andere Meinung als Snow, ” dessen Essay er nicht einmal zitierte. Nevanlinna stellte fest, daß man in der Kultur immer auf Gegens¨ atze stoße: Einander gegen¨ uber stehen radikale Reforminteressen und kritisches Realit¨atsbewußtsein; betontes Streben nach wirtschaftlichem Wohlstand und Bem¨ uhungen zur F¨orderung der geistigen Bildung; Streben nach Gleichheit der verschiedenen Menschengruppen und Individuen sowie Ber¨ ucksichtigung des Umstands, daß sich die Menschen in Bezug auf ihre Anlagen und F¨ ahigkeiten voneinander unterscheiden. Die organischen Verzweigungen der Kultur erzeugen immer neue Bereiche, die
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scheinbar unzusammenh¨ angende Interessensph¨aren bilden. Hierin sah Nevanlinna nichts Schlechtes an sich, weil die Widerspr¨ uche die Spannung aufrechterhalten, welche die Vorbedingung und treibende Kraft allen Fortschritts sei. ¨ Nach Nevanlinnas Uberzeugung beruhte die Sorge wegen der Verdr¨angung des Humanismus in einer mechanisierten Gesellschaft auf einem kurzsichtigen Realit¨ atsverst¨ andnis. Man habe vergessen, daß der Mensch in allen Kulturen als t¨ atiges und richtungsweisendes Subjekt auftrete. Der Artikel endete mit einer klaren Stellungnahme: Es ist nicht richtig, von verschiedenen Kultu” ren zu sprechen, es gibt nicht zehn Kulturen, nicht einmal zwei, es gibt keine Trennung in eine technische und eine humanistische Kultur, in eine materielle und eine geistige Kultur. Kultur ist unteilbar, es gibt nur eine Kultur.“ Im Radio fand 1967 eine Diskussionsreihe u ¨ ber das Problem der zwei Kulturen statt. Nevanlinna nahm an der Podiumsdiskussion teil, obwohl er Ver¨ anstaltungen dieser Art nicht mochte. Er sagte, daß er Zeit zum Uberlegen brauche, um seine Gedanken in klarer Form darzulegen. Nevanlinna hielt in seinem Diskussionsbeitrag die Auffassung f¨ ur falsch, daß die Zersplitterung der Kultur besonders f¨ ur unsere Zeit charakteristisch sei. Dieselben Probleme seien schon immer aufgetreten, seit man von Kultur sprechen k¨onne. Kultur sei eine T¨ atigkeit, die durch irgendein Material die Darstellung einer Idee erzeuge, und das gelte f¨ ur alle kulturellen T¨atigkeiten. Untersuche man den Sachverhalt auf diese Weise, dann bestehe kein großer Unterschied zwischen der Arbeit eines Naturwissenschaftlers und derjenigen eines K¨ unstlers. Nevanlinna schloß wieder mit seiner Auffassung von der Einheit der Kultur und meinte, daß diesbez¨ uglich zumindest die gr¨oßten Wissenschaftler ein lebendiges Gef¨ uhl gehabt h¨atten. Snow bietet auch nach dem Jahr 2000 Gespr¨ achsstoff f¨ ur alle diejenigen, die u ¨ ber das Wesen der ¨ Kultur nachdenken, wohingegen Nevanlinnas Uberlegungen zur einzigen und unteilbaren Kultur gr¨ oßtenteils in Vergessenheit geraten sind. Mit seinen Artikeln in Zeitungen, traditionell in Uusi Suomi und mit der Zeit immer mehr in Helsingin Sanomat, erreichte Nevanlinna eine bedeutend ¨ gr¨ oßere Offentlichkeit als mit Publikationen in Fachzeitschriften. Nachdem das Ergebnis des Projektwettbewerbs zum Sibeliusdenkmal ver¨offentlicht worden war, bat Uusi Suomi Nevanlinna, seine Meinung dazu zu sagen. Nevanlinna sprach sich gegen die von Eila Hiltunen2 geschaffene Skulptur aus und schlug vor, daß man stattdessen im betreffenden Park ein kleines Konzerthaus bauen und Sibelius widmen solle. Nevanlinnas Artikel l¨ oste eine Diskussion aus, in der die Meinungen aufeinander prallten. Helsinkis B¨ urgermeister Lauri Aho widersprach Nevanlinna und meinte, die von der Stadt geplante und von Alvar Aalto entworfene Große ” 2
Eila Hiltunen (1922–2003), finnische Bildhauerin. Ihr bekanntestes Werk ist das 1967 in Helsinki eingeweihte Sibeliusmonument, heute eine der bedeutendsten touristischen Sehensw¨ urdigkeiten der Stadt. Das Monument ist ein Gebilde aus geschweißten und polierten Stahlrohren und erinnert entfernt an eine Orgel.
11.4 Eminenz der Wissenschaft
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Konzerthalle“ (Finlandia-Halle)3 werde den Bed¨ urfnissen Helsinkis f¨ ur Tausende von Jahren gen¨ ugen4 . Eila Hiltunens Riesenrohrgebilde“ wurde sowohl ” gelobt als auch mit hitzigen Worten kritisiert. Nevanlinna beteiligte sich nicht an der von ihm ausgel¨ osten Debatte, weil er damals, am Ende des Jahres 1962, noch in Z¨ urich war. Nevanlinna wurde gebeten, die Festrede zur Er¨offnung der 1967 im Ateneum5 ausgerichteten Alvar-Aalto-Ausstellung zu halten. Aaltos Ausspruch In der Kultur ist nur das Beste gut genug“ veranlaßte Nevanlinna, u ¨ ber ” das Modewort Elitekultur“ nachzudenken. Nevanlinna meinte, daß bei allen ” Kulturstufen der Drang nach vorn und nach oben die treibende Kraft des Fortschritts gewesen sei. Was auf h¨ ochstem Niveau stattfindet, zieht seine ” Kraft aus der ganzen Gemeinschaft und sogar die erhabensten Sch¨opfungen der Kultur gelangen ihrerseits in kurzer Zeit in die Reichweite breiter Kreise. Dieses soziale Moment ist auch f¨ ur die individuelle sch¨opferische Arbeit ein Stimulus von entscheidender Bedeutung.“ Die von Aalto konzipierte Stadtplanung zur Architektur rund um T¨o¨ol¨onlahti6 wurde kritisiert. In dieser Kritik, die den Fortgang der Arbeiten gebremst hatte, sah Nevanlinna einen Mangel am Sinn f¨ ur Proportionen – eine seiner Meinung nach typische Eigenschaft finnischer Kritiker. W¨ urden wir et” wa den Literaturkritikern Glauben schenken, dann wimmelte es hier bei uns in Finnland heute von jungen Meistern. Wird hingegen ein wirklich großes Werk vollbracht, dann beeilt sich die Kritik, nach Fehlern zu suchen oder die Arbeit in der Luft zu zerreißen.“ Nevanlinna hatte eine klare Meinung u ¨ber Aaltos Zentrumsgestaltungsplan. Man solle die engstirnigen Bedenken fallenlassen und Alvar Aalto stattdessen umgehend jede nur erdenkliche Unterst¨ utzung zur schnellen Umsetzung seines Projektes geben.7
11.4 Eminenz der Wissenschaft Ein Charakteristikum der 1960er Jahre war die wachsende Bedeutung der Wissenschaft. Immer deutlicher erkannte man die Bedeutung einer gut ausgebildeten Bev¨ olkerung als wesentliche gesamtnationale Ressource. Die Aktivierung der Wissenschafts- und Hochschulpolitik wurde ein zentrales Anliegen 3
4 5 6 7
Die Finlandia-Halle wurde 1971 errichtet und 1975 um einen Kongreßfl¨ ugel erweitert. Das Kongreß- und Konzerthaus ist das vielleicht bekannteste Werk, das Alvar Aalto, der Großmeister der modernen finnischen Architektur, hinterlassen hat. Im Jahr 2007 ist in der N¨ ahe der Finlandia-Halle mit dem Bau eines zweiten großen Konzerthauses begonnen worden. Das Kunstmuseum Ateneum in Helsinki beherbergt u. a. die Finnische Nationalgalerie. T¨ o¨ ol¨ onlahti ist eine Meeresbucht im Stadtzentrum von Helsinki. Abgesehen von der Finlandia-Halle wurde Aaltos Projekt nicht realisiert.
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11 Aktive Altersjahre
und auch Rolf Nevanlinna hielt sich von diesen Str¨omungen der Zeit nicht abseits. Im Gegenteil: Die T¨ atigkeit in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik wurde f¨ ur Nevanlinna wichtiger als seine mathematische Arbeit. Zu Beginn der 1960er Jahre geh¨ orten Edwin Linkomies und A. I. Virtanen zu den einflußreichen Leitgestalten der finnischen Wissenschaft. Kaum war Nevanlinna nach Finnland zur¨ uckgekehrt, traten beide von der B¨ uhne ab. ¨ Linkomies starb und Virtanen zog sich aus der Offentlichkeit zur¨ uck, nachdem er den Vorsitz der Akademie von Finnland aufgegeben hatte und emeritiert worden war. Nevanlinna ersetzte die entstandenen L¨ ucken. Er war jetzt die Eminenz sui generis der Wissenschaft und seine Worte hatten Gewicht. Nevanlinnas Rolle als Stellung beziehende Autorit¨at war nicht immer leicht. Nach Meinung seiner Frau Sinikka h¨atte ein etwas niedrigeres Profil gereicht – sie erlebte den Stress und die Qualen, die Rolf hinter den Kulissen empfand. Sie vermutete, daß man im Mathematiker und Naturwissenschaftler Rolf stets einen Zauberer sah, der den Schl¨ ussel zur Natur in den H¨anden halte und deswegen auch die F¨ ahigkeit habe, tiefgr¨ undige Urspr¨ unge f¨ ur beliebige Sachverhalte anzugeben. Da zu Rolfs Temperament auch eine siegessichere ” Aggressivit¨ at geh¨ orte, war es kein Wunder, daß seine Stellungnahmen gef¨ urchtet und mitunter sogar verhaßt waren.“ Nach dem Tod von Linkomies kam die Diskussion u ¨ber seinen Nachfolger als Kanzler der Universit¨ at Helsinki auf. Im B¨orsenklub wurde u ¨ber die Kandidaten spekuliert, aber ich kann mich nicht erinnern, daß Nevanlinna – der damals bereits aus der Schweiz zur¨ uckgekehrt war – vorgeschlagen worden w¨ are. Er war zwar noch in der Akademie von Finnland im Amt, aber das galt auch f¨ ur Paavo Ravila, f¨ ur den man sich in den vorbereitenden Diskussionen entschied und der dann auch der Nachfolger von Linkomies wurde. Nevanlinna sprach nicht u uglichen W¨ unsche, konnte aber ¨ ber seine eigenen diesbez¨ gegen¨ uber seiner Frau die Entt¨ auschung nicht verbergen, daß er u ¨ bergangen worden war. Nevanlinna war zweifellos betagt, aber auch Linkomies hatte dasselbe Alter gehabt, als er zum Kanzler ernannt worden war und einige Jahre sp¨ater wurde Nevanlinna im Alter von 70 Jahren zum Kanzler der Universit¨at Turku gew¨ ahlt. Aus dem Kreis der Aktivisten des B¨orsenklubs bedauerte Ernst Palm´en sp¨ ater, daß Nevanlinna von einem Hundeamt“ gesprochen habe, was ” Palm´en glauben machte, Nevanlinna w¨ urde sich nicht f¨ ur das Kanzleramt interessieren. Als ich an diesem Buch schrieb und Oiva Ketonen, einen anderen Kanzlermacher“ des B¨ orsenklubs, 36 Jahre sp¨ater nach seiner Meinung be” fragte, hielt er es f¨ ur denkbar, daß Nevanlinnas R¨ ucktritt vom Rektorenamt der Universit¨ at Helsinki, der 1945 aus politischen Gr¨ unden erfolgt war, immer noch als Belastung f¨ ur das Kanzleramt angesehen worden sei.
11.5 Als Sprecher in Tamminiemi
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11.5 Als Sprecher in Tamminiemi Urho Kekkonen mochte die Akademie von Finnland nicht und verhielt sich ihr gegen¨ uber seit ihrer Gr¨ undung kritisch. Diese negative Haltung war auf die Zusammensetzung der Akademie zur¨ uckzuf¨ uhren, zu deren ersten Mitgliedern Personen ernannt worden waren, deren Kandidatur sich Kekkonen widersetzt hatte. Nachdem er Pr¨ asident geworden war, hatte er weiterhin eine ablehnende Einstellung zur Akademie, die sich in seinen Augen in eine Zitadelle des Kulturkonservatismus und der außenpolitischen Opposition verwandelt hatte. Insbesondere ¨ argerte er sich u ¨ ber die außenpolitischen Stellungnahmen der ¨ Akademiepr¨ asidenten A. I. Virtanen und Paavo Ravila. Ravilas Ubernahme von Verwaltungsaufgaben als neuer Kanzler der Universit¨at Helsinki war nach Kekkonens Meinung der letzte Nagel zum Sarg der Akademie von Finnland. Im Dezember 1964 diktierte Pr¨ asident Kekkonen ins Regierungsprotokoll, daß seiner Meinung nach die Akademie von Finnland die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erf¨ ullt habe. Sie sei nicht zur f¨ uhrenden Institution“ des ” wissenschaftlichen und k¨ unstlerischen Lebens geworden, die kraft ihrer richtungsweisenden Autorit¨ at die Entwicklung des finnischen geistigen Lebens h¨ atte beeinflussen k¨ onnen. Die M¨ oglichkeiten der Akademie zur allgemeinen F¨ orderung der wissenschaftlichen Forschung seien aufgrund des Charakters der Akademie gering und selbst diese M¨ oglichkeiten seien nur in beschr¨anktem Maße genutzt worden. Die wissenschaftlichen und k¨ unstlerischen Leistungen der Akademiemitglieder seien zwar bedeutend, aber wahrscheinlich w¨are das auch ohne die Mitgliedschaft der Fall gewesen. Das Gesetz zur Akademie von Finnland m¨ usse deswegen aufgehoben werden und die dadurch frei werdenden Mittel dazu verwendet werden, die wissenschaftliche Forschungst¨atigkeit und die kreative Kunst gezielter zu f¨ ordern. Alvar Aalto, der neugew¨ ahlte Pr¨ asident der Akademie von Finnland, hatte keine Erfahrungen in der Universit¨ atsverwaltung und war auch nicht wie die anderen Mitglieder von der Akademie abh¨ angig. Er hielt das herrische Dekret Kekkonens vor allem f¨ ur eine pers¨ onliche Beleidigung. Warum hatte ihn der Pr¨ asident nicht zu einer vertraulichen Diskussion unter vier Augen eingeladen? Er war doch einer der alten Kameraden Kekkonens. Dagegen stand Nevanlinna, dessen im vorherigen Sommer gehaltener Vorohere Unterricht“ gerade in der Kulturzeittrag Die Forschung und der h¨ ” schrift Valvoja ver¨ offentlicht worden war, zum ¨offentlichen Gegenangriff bereit. Nevanlinna hatte die Staatsmacht gegeißelt, deren Mangel an Verstand dazu gef¨ uhrt habe, daß Finnland bei der Entwicklung der Forschung und des h¨ oheren Unterrichts zur¨ uckgeblieben sei. Es ist h¨ochste Zeit f¨ ur uns zu bemer” ken, daß wir in ein Kulturloch fallen.“ Und jetzt war ausgerechnet der Pr¨asident der Republik drauf und dran, die Akademie von Finnland zu zerst¨oren. Gleich am folgenden Tag ging Nevanlinna in der Zeitung Helsingin Sanomat erregt auf Kekkonens Erkl¨ arung ein: Als erstes kann ich nur sa” gen, daß die Erkl¨ arung eine so schwerwiegende Beleidigung derjenigen Personen darstellt, die in Akademie¨ amtern t¨ atig waren oder sind, daß man die
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Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen kann. Es muß eine Kommission aus unparteiischen Personen gegr¨ undet werden, die mit der Sache hinreichend vertraut sind, und die Kommission muß untersuchen, wie die Akademie bis jetzt gearbeitet hat. Ich betrachte mich f¨ ur eine derartige Einsch¨atzung als befangen, aber in jedem Fall muß bewiesen werden, daß die Akademie die¨ se beleidigende Erkl¨ arung verdient hat.“ Diese Außerung Nevanlinnas wurde durch einen gleichlautenden scharfen Artikel erg¨anzt, der in der f¨ uhrenden finnlandschwedischen Zeitung Hufvudstadsbladet erschien. Jetzt sollte sich die Bekanntschaft zwischen Kekkonen und Nevanlinna als n¨ utzlich erweisen. Kekkonen sandte Nevanlinna einen freundlichen pers¨onlichen Brief, in dem er zum Ausdruck brachte, daß er die Akademie als Institution kritisiert habe und eine Institution k¨onne nicht beleidigt werden. Zur T¨ atigkeit der Akademiemitglieder sagte Kekkonen, daß er diese in hohem Maße anerkenne, und daß das gar nicht anders sein k¨onne. Mit großer Freude ” habe ich geh¨ ort, daß beispielsweise viele Wissenschaftler aus der Sowjetunion deine wissenschaftlichen Leistungen u ¨ beraus hoch sch¨atzen.“ Nevanlinna schrieb Kekkonen hierauf einen langen Brief, in dem er zuerst die Akademie von Finnland verteidigte und sagte, daß Kekkonens Urteil u ¨ ber die bisherigen Schw¨ achen der Akademiet¨ atigkeit auf mangelhaften Informationen u ¨ ber deren Leistungen beruhe. Vielleicht war es auf Kekkonens Machtposition zur¨ uckzuf¨ uhren, daß Nevanlinna das Bed¨ urfnis versp¨ urte, sich selbst als gutes Akademiemitglied darzustellen. In Bezug auf seine Arbeit nannte er als Beispiel seinen Einsatz als Doktorvater. W¨ahrend der Jahre 1948–1964 waren an den finnischen Hochschulen etwas mehr als zehn ordentliche Professoren der Mathematik t¨ atig und insgesamt wurden 32 mathematische Dissertationen ver¨ offentlicht, von denen Nevanlinna 16 betreut hatte. Eine solche Hervorhebung der eigenen Exzellenz war ansonsten nicht Nevanlinnas Art. Nevanlinna schloß den Teil seines Schreibens, der sich auf die Akademie von Finnland bezog, mit der Feststellung, daß die von Kekkonen vorgeschlagene Maßnahme im Ausland, sowohl im Osten als auch im Westen, als ein Akt gegen die Kultur interpretiert w¨ urde. Er glaube aber – setzte Nevanlinna seinen Brief fort –, daß es nicht die Absicht Kekkonens sei, die h¨ohere Kultur zu kippen, sondern sie zu f¨ ordern. Deshalb bat Nevanlinna um Erlaubnis, nach Tamminiemi8 zu kommen, um Kekkonen seine Reformvorschl¨age zur Verbesserung der Stellung der Wissenschaft und der Kunst vorzutragen – Vorschl¨ age die Nevanlinna im Laufe der Jahre erarbeitet hatte. Mit Deiner ” Hilfe k¨ onnen einige ganz notwendige und umfassende L¨osungen ausgef¨ uhrt werden.“ Das Treffen fand am 30. Dezember 1964 statt und sollte weitreichende Folgen f¨ ur die finnischen Hochschuleinrichtungen haben. Bedeutsam war die Begegnung auch f¨ ur Nevanlinna selbst, weil die Diskussion das Verh¨altnis zwischen Kekkonen und Nevanlinna auf eine neue Ebene brachte. Nevanlinna war 8
Die Villa Tamminiemi in Helsinki war damals die Pr¨ asidentenresidenz. Heute befindet sich dort das Urho-Kekkonen-Museum.
11.5 Als Sprecher in Tamminiemi
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von nun an in den Augen des Pr¨ asidenten ein Wissenschaftsexperte, ¨ahnlich wie fr¨ uher Edwin Linkomies. Die alten Gegens¨atze wurden jetzt endg¨ ultig begraben. Das Thema, das zur Begegnung von Kekkonen und Nevanlinna gef¨ uhrt hatte, n¨ amlich die Abschaffung der Akademie von Finnland, spielte in den ¨ Diskussionen eine Nebenrolle und keiner der beiden hatte den fr¨ uheren Außerungen etwas Wesentliches hinzuzuf¨ ugen. Beherrschendes Thema der Diskussionen waren Nevanlinnas Ansichten zur F¨ orderung des h¨oheren Unterrichts und der wissenschaftlichen Forschung. Er schlug Kekkonen vor, eine kleine Expertengruppe zur Vorbereitung von Verbesserungsvorschl¨agen zu gr¨ unden; die Gruppe solle unter Aufsicht des Pr¨ asidenten arbeiten und ihm direkt unterstehen. Kekkonen z¨ ogerte zun¨ achst, stimmte dann aber zu. Er fragte Nevanlinna, ob dieser die Arbeitsgruppe nicht selber leiten k¨onne. Der Pr¨asident sei wohl h¨ oflich, meinte Nevanlinna, der gerade auf der Abreise nach Amerika war. Nevanlinna lehnte ab und schlug Oiva Ketonen als Vorsitzenden vor. Bevor sich Kekkonen ans Werk machte, wollte er die Angelegenheit in einem gr¨ oßeren Kreis besprechen. Er lud G¨aste ein und machte seinen Ansatz mit den Worten klar Wir brauchen ein geistiges Erdbeben“. Danach ” schilderte er Nevanlinnas Vorschlag zur Gr¨ undung einer Kommission. Kekkonens G¨ aste stimmten dem Vorschlag zu. Anfang Februar benannte Kekkonen die Mitglieder der Arbeitsgruppe, wobei er sich gr¨oßtenteils an die Liste der von Nevanlinna vorgeschlagenen Namen hielt. Die Arbeitsgruppe erstellte den Bericht im Laufe des Fr¨ uhlings im Eiltempo. Grundlage f¨ ur die T¨atigkeit der Arbeitsgruppe war ein ausf¨ uhrlicher Bericht, der kurz zuvor in Großbritannien u orderung der Hochschulbildung erstellt worden war. Nevanlinna ¨ ber die F¨ war w¨ ahrend der Arbeiten weit weg in Kalifornien, aber sowohl Kekkonen als auch Ketonen hielten ihn auf dem neuesten Stand. In Hochschulkreisen erregte die Art und Weise, in der die Arbeitsgruppe unter Umgehung der u ¨ blichen Amtswege installiert worden war, Mißmut und Verdruß. Die Autonomie der Wissenschaft war verletzt worden. Die Rolle Nevanlinnas, der sich in Kalifornien aufhielt, war nicht allgemein bekannt, und deswegen meinte man zun¨ achst, daß die Arbeitsgruppe die pers¨onliche Politik Kekkonens repr¨ asentiere. Der Generalsekret¨ar der Finnischen Kulturstiftung L. A. Puntila ging in seiner Kritik so weit, daß er Kekkonens Maßnahme f¨ ur verfassungswidrig hielt. Die Arbeitsgruppe offenbarte Nevanlinnas Anteil als Berater von Kekkonen, um ihre Position im st¨ urmisch gewordenen politischen Klima zu st¨ arken. Die dadurch gewonnene akademische R¨ uckenst¨arkung war nicht ohne Bedeutung, aber die Irritationen und Diskussionen endeten nicht. Man sprach nicht nur von Kekkonens Finessen, sondern auch von Nevan” linnas zweitem SS-Bataillon.“ Als Nevanlinna nach Amerika abreiste, gab er der Arbeitsgruppe die Anweisung Seid radikal!“ Er war mit dem gelieferten Bericht zufrieden und, was ” noch wichtiger war, Kekkonen war es ebenfalls. Die Ausf¨ uhrung der Empfehlungen der Arbeitsgruppe dauerte eine Weile. Die Geldh¨ uter leisteten Widerstand, weil die Gesetzesvorlage die staatlichen
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Mittel f¨ ur mehrere Jahre im voraus binden werde. Im M¨arz 1966 wurde das Hochschulf¨ orderungsgesetz endlich erlassen. Das Gesetz hatte weitreichende Folgen, bedeutete einen wesentlichen Ausbau des h¨oheren Unterrichts und eine Verbesserung der Forschungsbedingungen – man kann es deswegen zurecht als epochal f¨ ur die weitere Entwicklung der Universit¨aten bezeichnen. Die Zeit war g¨ unstig f¨ ur den Gesetzeserlaß. Die Wirtschaft hatte sich von den Folgen des Krieges erholt, große Jahrg¨ange kamen an die Hochschulen und man hatte verstanden, welche Bedeutung Bildung und Forschung f¨ ur die Lebensqualit¨ at haben. Fr¨ uher oder sp¨ ater w¨are diese positive Entwicklung auch ohne Nevanlinna erfolgt. Andererseits dauerte die ganze Prozedur auch so weit u ¨ber ein Jahr – trotz Nevanlinnas vorausschauenden Entwurfes, trotz des prompten Berichts der Arbeitsgruppe von Ketonen und trotz der Unterst¨ utzung Kekkonens, der die Sache als seine eigene betrachtete. Es ist klar, daß Nevanlinnas Besuch in Tamminiemi das Projekt beschleunigte. M¨oglich ist auch, daß das Gesetz dank der außergew¨ohnlichen Zusammenarbeit von Kekkonen und Nevanlinna eine umfassendere Wirkung hatte, als wenn es den normalen Amtsweg gegangen w¨ are. Infolge des F¨ orderungsgesetzes wurden die Hochschuleinrichtungen erweitert und verzweigten sich regional. Der Griff des Unterrichtsministeriums auf die Universit¨ aten wurde st¨ arker. Die Universit¨at Helsinki war unter den Hochschulen nicht mehr so dominant wie fr¨ uher, aber auch sie profitierte von den Ressourcen, die durch das Gesetz freigegeben wurden. Besonders große Gewinner waren u ¨berall die mathematischen Wissenschaften, deren gesellschaftliche Bedeutung nach der Einf¨ uhrung der Computer in das finnische Wirtschaftsleben einen steilen Anstieg verzeichnete. Es dauerte seine Zeit, bevor die stellenm¨ aßige Steigerung der mathematischen Forschungskapazit¨at zu Ergebnissen f¨ uhrte, aber Nevanlinna konnte noch erleben, wie sich das mathematische Wissen in Finnland verfestigte.
11.6 Die Umgestaltung der Akademie von Finnland Kekkonens Forderung nach Abschaffung der Akademie von Finnland war wegen Nevanlinnas Intervention auf ein Nebengleis geraten. F¨ ur einige Zeit wiegte sich Nevanlinna in dem Glauben, daß die Akademie von Finnland gerettet sei. Der Pr¨ asident hatte jedoch seinen Abschaffungsvorschlag nicht vergessen und es war omin¨ os, daß er 1968 keine neuen Akademiemitglieder ernannte, obwohl der Akademieausschuß f¨ ur die beiden freigewordenen Stellen zwei neue Kandidaten vorgeschlagen hatte. Die Umbruchszeit gegen Ende der 1960er Jahre beg¨ unstigte Kekkonens Entscheid, die Akademie zu schließen. Ohne sich um den Widerstand zu k¨ ummern, setzte er seinen Willen durch. Die Sache betraf Nevanlinna nicht mehr direkt, weil er im Dezember 1969, als die alte Akademie von Finnland ihre letzte Sitzung abhielt, bereits seit mehr als vier Jahren als Akademiemitglied pensioniert war. Jedoch verfolgte er wachsam die letzten Phasen der Akademie. Der Philosoph Georg Henrik von
11.7 Reflexionen u ¨ber den Radikalismus
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Wright, dem der Vorsitz nach Alvar Aalto angetragen worden war, z¨ogerte, die Aufgabe zu u ¨bernehmen, weil er ahnte, daß er zum Leichenbestatter werden w¨ urde. Er sagte aber zu, als ihn Nevanlinna mit Nachdruck dazu u ¨ berredete. Zu einer philosophischen“ Interaktion wie zwischen Nevanlinna und Kaila ” kam es zwischen Nevanlinna und von Wright nicht, aber sie waren durch eine Freundschaft miteinander verbunden, die auf gegenseitigem Respekt beruhte. Nach Nevanlinnas Meinung war die Abschaffung der Akademie von Finnland unn¨ otig, aber da die Angelegenheit bereits politisch entschieden worden war, solle man versuchen, von der Akademie so viel wie m¨oglich zu retten. Nevanlinna betonte in seinem Brief an den Vorsitzenden der wissenschaftlichen Kommissionen, Olavi Gran¨ o, daß die Forschungsprofessuren des neuen Systems eine Dauermitgliedschaft in der Akademie beinhalten sollten: Die ¨ Amter sollten lebenslang vergeben werden, die Geh¨alter ordentlich sein und die Kandidatenvorschl¨ age nicht den wissenschaftlichen Kommissionen anvertraut werden, sondern einem ¨ ahnlichen Organ, wie es der alte Akademieausschuß gewesen war. In diesem Falle w¨ urde es nicht um die Abschaffung der ¨ Akademie von Finnland gehen, sondern nur um eine Anderung des diesbez¨ ugli¨ chen Gesetzes. Die von Georg Henrik von Wright betriebene Ubertragung des Namens der Akademie auf das neue, erweiterte System, w¨are dann nat¨ urlich. Nevanlinna erkl¨ arte sich bereit, die Sache erforderlichenfalls mit Kekkonen zu besprechen. Die alte Akademie von Finnland wurde auf der Grundlage eines im Dezember 1969 erlassenen Gesetzes abgeschafft. Der Name Akademie von Finnland“ ” wurde als gemeinsamer Name der Zentralorgane der Wissenschaftsverwaltung verwendet, die sich aus den staatlichen wissenschaftlichen Komitees und der Zentralen Wissenschaftskommission zusammensetzten. Das Modell der von Nevanlinna umrissenen reformierten Akademie von Finnland entsprach weder dem damaligen Zeitgeist noch der Absicht, die politische Kontrolle der Wissenschaftsverwaltung zu erh¨ ohen. Mit der neuen Akademie von Finnland standen zur Unterst¨ utzung der Wissenschaft bedeutend mehr Mittel zur Verf¨ ugung als bisher. Das war eine signifikante Verbesserung, die Nevanlinna nat¨ urlich f¨ ur positiv hielt. Aber als ihm die Umrisse der neuen Akademie klar geworden waren, feuerte er auf einem offentlichen Forum der sommerlichen Kulturveranstaltungen in Jyv¨askyl¨a eine ¨ Breitseite gegen die neue Einrichtung ab: Hinter der Abschaffung der Aka” demie von Finnland standen unerfreuliche Intrigen. Das u ¨ berdimensionierte neue System, das an ihre Stelle trat, wird durch die B¨ urokratie und durch nebens¨ achliches Politisieren paralysiert; dieses System hat sich bereits jetzt als Fehlschlag erwiesen und verspricht auch f¨ ur die Zukunft nichts Gutes.“
11.7 Reflexionen u ¨ber den Radikalismus ¨ An den Universit¨ aten waren die Uberlegungen u ¨ ber die Wissenschaft und die Hochschulbildung durch ideologisch-soziale Unruhen gef¨arbt, die auf den
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Generationskonflikt zur¨ uckzuf¨ uhren waren. Hier¨ uber schrieb Nevanlinna: Die ” Konflikte zwischen Jung und Alt haben ihre nat¨ urlichen Gr¨ unde, aber sie sind keine un¨ uberwindlichen Hindernisse auf dem Weg zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Diese Art der Zusammenarbeit war, ist und wird immer eine wichtige und normale Vorbedingung f¨ ur den Fortschritt auf dem Gebiet der Forschung sein.“ Die weltweiten Unruhen der Studentenjugend kulminierten im Fr¨ uhling 1968 in Paris in einer neuen Franz¨ osischen Revolution“, deren Wellen bis ” nach Finnland schlugen. In Finnland wird der 100. Jahrestag der Studentenschaft der Universit¨ at Helsinki am 26. November 1968 als Anfangszeitpunkt der Revolution“ betrachtet: An diesem Tag besetzten Studenten das Alte ” Studentenhaus (Vanha ylioppilastalo) im Zentrum von Helsinki. Die hierdurch erstarkte Bewegung war schon bald politisch durchsetzt und erhielt Unterst¨ utzung von den Entscheidungstr¨ agern des Staates. Nevanlinna blieb kein abseits stehender Betrachter und seine T¨atigkeit wurde dadurch erleichtert, daß er als Kanzler der Universit¨at Turku eine Stellung in der Universit¨ atsverwaltung hatte. Er schlug vor, daß die Universit¨aten gemeinsam u ¨ber die entstandene Situation diskutieren sollten, in der er eine alle bedrohende Gefahr sah. Nevanlinna bat Pentti Renvall, den Kanzler der Universit¨ at Helsinki, die Kanzler oder – wo es keine Kanzler gab – die Rektoren der Universit¨ aten zu einer gemeinsamen Sitzung einzuladen. Anl¨ aßlich des Treffens, das im August 1969 im Amtsraum des Kanzlers Renvall stattfand, wurde Nevanlinna von Renvall als Vater der Versammlungsinitiative bezeichnet. Beim Kampf um die finanziellen Zuwendungen hatten die Universit¨ aten in erheblichem Maße untereinander gestritten, aber nun waren ihre Leitungen durch die Notwendigkeit geeint, das neue, vom Unterrichtsministerium vertretene Verwaltungsmodell abzuweisen. Dieses Modell beinhaltete das Prinzip Ein Mann – Eine Stimme“, gem¨aß dem jeder Univer” sit¨ atsangeh¨ orige eine Stimme hat, ganz gleich, ob es sich um einen Dozenten, Beamten oder Studenten handelt. Nevanlinna betonte auf der Sitzung, daß die Polizei im Falle m¨ oglicher Unruhen von den Universit¨aten ferngehalten werden solle. Die Teilnehmer waren einstimmig der Meinung, daß die Universit¨aten in der vorherrschenden Situation eine Einheitsfront bilden m¨ ußten, f¨ ur die eine gemeinsame Organisation ben¨ otigt werde. Bald kristallisierte sich der Gedanke heraus, zur Verteidigung der Unabh¨ angigkeit eine Konferenz“ der finnischen ” Hochschulrektoren zu gr¨ unden. So geschah es auch, und die Konferenz erhielt sp¨ ater die Bezeichnung Rat“. ” Johannes Virolainen, der damalige Unterrichtsminister, war ein prominenter F¨ ursprecher des Prinzips Ein Mann – Eine Stimme“. Das hielt Nevanlinna ” nicht davon ab, seine Ansichten darzulegen, ohne dabei mit Worten zu sparen: Das vorgeschlagene System ist eine Karikatur der Idee von der Demokratie. ” Wird es realisiert, dann w¨ urde es zum Zerfall der Universit¨aten f¨ uhren. Innerhalb kurzer Zeit w¨ urde es auch die Politisierung der Hochschulen zur Folge haben.“ Nevanlinna teilte seine Meinung auch Pr¨asident Kekkonen mit: Die ”
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von Minister Virolainen betriebene extreme Linie w¨ urde die positive Aufbauarbeit und den Fortschritt auf dem Gebiet der Hochschulbildung zerst¨oren.“ Der Pr¨ asident h¨ orte h¨ oflich zu, ohne jedoch seine eigene Meinung zu ¨außern, obwohl sich diese von Nevanlinnas Standpunkt unterschied. Kekkonen reagierte eher positiv auf das Prinzip Ein Mann – Eine Stimme“, das seiner ” Meinung nach als Verwaltungsmodell zumindest einen Versuch wert war. Im Parlament wurde der Erlaß des Gesetzes durch Filibuster derjenigen Abgeordneten verhindert, die dagegen waren. Nevanlinna reagierte nicht vollkommen negativ auf den Jugendradikalismus, auch wenn er feststellte, daß diese Bewegung Keime des intoleranten und f¨ ur Massenbewegungen typischen Fanatismus enthalte. Er hielt das Streben nach Idealen an sich f¨ ur gut und es war verst¨andlich, daß die jungen Leute ihre Angelegenheiten auch ungest¨ um durchsetzen wollten. Das sei besser als passives und nichtssagendes Verhalten. Die wissenschaftspolitischen Ideen des Radikalismus ließen Nevanlinna jedoch zur Feder greifen. Scharf verurteilte er die zweckorientierte Forschung und die Festlegung von Schwerpunktbereichen in der Wissenschaft. Er betonte die Bedeutung von Freiheit und Langzeitperspektive in der wissenschaftlichen Forschungsarbeit und stellte fest, daß bei den gegenw¨artigen Entscheidungstr¨ agern eine j¨ammerliche Unkenntnis dar¨ uber herrscht, was Wahrheit ist.“ ” Auch hielt er es f¨ ur unsinnig, sich der Forschung mit der Begr¨ undung zu widersetzen, daß die Folgen negativ sein k¨ onnten. Falls man nach S¨ undenb¨ocken ” f¨ ur den Mißbrauch der Wissenschaft sucht, dann sollte man sich unter den politischen Machthabern umschauen.“ Im Jahr 1973 wurde der Beschluß gefaßt, an der Universit¨at Jyv¨askyl¨a ein internationales Kolloquium zur mathematischen Analysis zu organisieren. Die gegenw¨ artige globalisierte Mathematikergeneration war damals erst im Kommen und deswegen ruhte das Projekt auf Nevanlinna, auf Ilppo Simo Louhivaara, dem damaligen Rektor der Universit¨at Jyv¨askyl¨a, und auf mir – am wenigsten auf mir, weil ich im Studienjahr 1971–1972 als Forschungsprofessor im Ausland war. Nach meiner R¨ uckkehr h¨ orte ich zu meiner Best¨ urzung von Nevanlinna und Louhivaara, daß sie beschlossen hatten, das f¨ ur Jyv¨askyl¨a geplante Kolloquium abzusagen. Die Jahresversammlung der Finnischen Mathematischen Vereinigung im Februar 1972 war st¨ urmisch gewesen, zum ersten und bisher einzigen Mal in der 1868 beginnenden Geschichte der Vereinigung. Die Linksextremisten hatten ihre Anh¨ anger f¨ ur die Versammlung mobilisiert – auch solche, die der Vereinigung nicht angeh¨ orten – und versuchten, die Macht zu kapern. In diesem Zusammenhang wurde die Dreierbande Nevanlinna-Louhivaara-Lehto scharf kritisiert. Die Kritiker und ihre Anh¨ anger waren gegen die Bewilligung von Mitteln f¨ ur das Kolloquium von Jyv¨ askyl¨ a, angeblich weil von dem Geld nur die pers¨ onlichen Freunde der Bande profitieren w¨ urden. Nevanlinna hielt eine lange Verteidigungsrede, in der er sich so aufregte, daß er schließlich vollkommen die Fassung verlor.
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In den folgenden Abstimmungen wurden die Putschversuche abgewehrt, aber Nevanlinna und Louhivaara waren zutiefst verletzt, weil sie so lau verteidigt worden waren. Ich konnte meine Kollegen bewegen, zum alten Plan zur¨ uckzukehren, und das Kolloquium fand statt, aber sicherheitshalber g¨anzlich losgel¨ ost von der Finnischen Mathematischen Vereinigung.
11.8 Finnland betritt die Bu ¨hne der Mathematik Am Ende der 1960er Jahre bekundete Kanada sein Interesse an der Ausrichtung des Internationalen Mathematiker-Kongresses 1974. Die Sowjetunion und in ihrem Fahrwasser auch die anderen sozialistischen L¨ander schienen diese Wahl zu akzeptieren. Aber als sich die Vereinigten Staaten als Konkurrent Kanadas meldeten, r¨ uckte die Sowjetunion von dem Gedanken an einen Kongreß in Nordamerika ab und schlug ein geeignetes europ¨aisches ” Land“ vor. Das Exekutivkomitee der Internationalen Mathematischen Union wurde nerv¨os, weil die Zusammenarbeit zwischen den westlichen und den sowjetischen Mathematikern auch sonst br¨ uchig wurde. Die positive Atmosph¨ are, die zu Chruschtschows Zeiten geherrscht hatte, verschlechterte sich unter Breˇznew, insbesondere nach dem Einmarsch in der Tschechoslowakei. Das Exekutivkomitee der IMU wandte sich mit der Anfrage an Finnland, ob die Finnen n¨ otigenfalls bereit seien, Gastgeber des Kongresses zu sein. Hinter der Anfrage stand der in der IMU aktive Chandrasekharan aus Indien, der eine Professur in Z¨ urich erhalten hatte. Er und Nevanlinna – der auch nach seiner Emeritierung immer wieder Z¨ urich besuchte – trafen sich oft und diskutierten u ¨ ber die Angelegenheiten der IMU. Als ich mich bei Nevanlinna erkundigte, ob er bei der IMU-Anfrage die Hand im Spiel gehabt habe, vermied er eine direkte Antwort und sagte mit Unschuldsmiene, daß er in der Angelegenheit keine Befugnisse habe. Die Abfassung der finnischen Antwort wurde mir u ¨ bertragen, weil ich der Vorsitzende unseres dreik¨ opfigen nationalen Mathematikkomitees war. Die anderen beiden Mitglieder, Nevanlinna und Pekka Myrberg, hatten einige Zeit u utzte Myrberg und umge¨ ber den Vorsitz debattiert – Nevanlinna unterst¨ kehrt – und dann den gordischen Knoten zerhauen, indem sie mich f¨ ur die Aufgabe ausw¨ahlten. In Finnlands vorsichtig formulierter Antwort erkl¨arte ich, daß wir bereit seien, u ¨ ber die Organisation des Kongresses nachzudenken, falls die IMU keinen anderen passenden Kandidaten finden sollte. Kurze Zeit sp¨ ater zogen die Vereinigten Staaten ihre Bewerbung zur¨ uck und teilten mit, daß sie Kanada unterst¨ utzen w¨ urden, das seinerseits nun wieder allen zusagte. Finnland kam mit dem bloßem Schrecken davon. Chandrasekharan, der 1970 zum Pr¨ asidenten der IMU gew¨ahlt worden war, hatte Finnland nicht vergessen. Ohne Zeit zu verlieren, wandte er sich an mich und ¨ außerte den Wunsch, daß Finnland die Organisation des Kon¨ gresses 1978 u oge. Ublicherweise bewirbt man sich darum, einen ¨bernehmen m¨ Kongreß auszurichten, und nun wurde uns ein solcher angeboten. Myrberg
11.8 Finnland betritt die B¨ uhne der Mathematik
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distanzierte sich sogleich vom Projekt; er starb 1976. Zu meinem Erstaunen wollte auch Nevanlinna nicht an der Entscheidungsfindung teilnehmen, weil er wegen seines hohen Alters keinen pers¨ onlichen Arbeitsbeitrag zur Organisation des Kongresses garantieren k¨ onne. Dennoch machte er kein Geheimnis aus seinem Wunsch, daß unsere Antwort positiv sein sollte. Nach Einholung zahlreicher Meinungen war unsere Antwort dann schließlich auch positiv. Der offizielle Beschluß zur Ausrichtung des Kongresses 1978 sollte in Vancouver w¨ ahrend des Kongresses im August 1974 gefaßt werden. Einem alten Brauch zufolge mußte der Vertreter Finnlands bei der Abschlußzeremonie in Vancouver eine feierliche Einladung nach Helsinki aussprechen. Ich war der Meinung, daß Finnland viel zus¨ atzliche Publizit¨at bek¨ame, wenn Rolf Nevanlinna die Einladung ausspr¨ ache. Der damals 78-j¨ahrige Nevanlinna war zun¨ achst nicht willens, sich auf eine so lange und anstrengende Reise zu begeben, aber als ich ihn u ¨berredete, merkte ich, daß er noch gerne an den wichtigen Ereignissen der Mathematiker teilnahm.
Abb. 11.4. Rolf Nevanlinna 1974 in Vancouver zusammen mit Organisatoren des n¨ achsten Weltkongresses, der vier Jahre sp¨ ater in Helsinki ausgerichtet wurde.
In Vancouver zeigte mir Nevanlinna die Ansprache, die er f¨ ur die Abschlußveranstaltung des Kongresses vorbereitet hatte, und bat mich, insbesondere die sprachliche Formulierung zu u ufen. Zum Text hatte ich kaum etwas ¨ berpr¨ zu bemerken, aber eine nachtr¨ agliche Episode ist erw¨ahnenswert, weil sie f¨ ur Nevanlinna charakteristisch war. Zum Dank lud mich Nevanlinna zum Mittagessen in eines der besten Restaurants von Vancouver ein. Als er die Weinkarte studierte, rief er aus, daß
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er einen feinen Bordeaux eines ehrbaren alten Jahrgangs gefunden habe. Die Flasche kam auf den Tisch, aber als Nevanlinna am Probierglas schnupperte und den Wein kostete, wichen die Sorgenfalten nicht von seiner Stirn. Schließlich kam das Urteil: Ich kenne diese Weinsorte und der Geschmack ist nicht ” so, wie er sein sollte. Ich kann diese Flasche nicht akzeptieren.“ Der Weinkellner verschwand und kam nach langer Zeit als letzter einer dreik¨opfigen Gruppe zur¨ uck, die beiden anderen waren der Hoteldirektor und der Restaurantchef. Sie dr¨ uckten ihr Bedauern u ¨ber den Vorfall aus und sagten, daß so etwas in ihrem Haus kaum je passiert sei. Deswegen w¨ urden sie jetzt einen anderen Wein empfehlen – der Weinkellner hielt Nevanlinna zur Ansicht eine verstaubte Flasche entgegen – und sie w¨ urden sich zu der Meinung erk¨ uhnen, daß man in den Restaurants von Vancouver keinen besseren Rotwein finden k¨ onne. Nevanlinna bekam eine Kostprobe eingeschenkt und seine Miene erhellte sich: Exzellent!“ ” Rolf Nevanlinna wollte seine Dankesschuld gem¨aß seiner Wertskala ausdr¨ ucken. Die Art und Weise, seine Schulden zu begleichen, erfreute auch ihn selbst; in ihm steckte eine gute Portion eines Genießers und in einem hochklassigen Restaurant f¨ uhlte er sich wohl. Das Bestellen von Spitzenwein zeugte von seiner Lebensart: In bestimmten Situationen war der Preis belanglos. Der Umtausch der Flasche wies auf einen souver¨ anen Umgang mit der Trinkkultur hin. Nevanlinna war ein Grandseigneur und das war keine ¨außerliche Haltung, sondern erwuchs aus seinen vielf¨ altigen Erfahrungen. Nevanlinnas Auftritt auf der Abschlußveranstaltung des Kongresses in Vancouver war u ¨ ber meine Erwartungen erfolgreich. Als er die Einladung nach Helsinki aussprach, erhielt er einen Applaus, wie ich es bei mathematischen Veranstaltungen noch nie erlebt hatte. Als ich den Saal im Gedr¨ange verließ, ¨ außerte ich meinen Bekannten gegen¨ uber Verwunderung u ¨ ber die außergew¨ ohnliche St¨ arke des Beifalls. Ein junger und mir unbekannter Amerikaner mischte sich in das Gespr¨ ach ein: Professor Nevanlinna is our King.“ ”
11.9 Weltkongreß in Helsinki Die Organisation des Kongresses in Helsinki erfolgte zum großem Teil durch die freiwillige Gemeinschaftsarbeit der Mathematiker. Nevanlinna gab im voraus keinerlei Versprechen, sich an der Organisation zu beteiligen, aber als die Arbeit begonnen hatte, gab er sich nicht mit der Zuschauerrolle zufrieden. Ich schlug Nevanlinna vor, ihm die Sitzungseinladungen des Organisationskomitees zuzusenden, und sagte ihm, daß er immer an den Sitzungen teilnehmen k¨ onne, wenn er es w¨ unsche. Das reichte ihm nicht, sondern er wollte auch als ordentliches Mitglied des Komitees anwesend sein, selbst wenn er den Vorsitz ¨ und die Ubernahme von Verantwortung ablehnte. Nevanlinna wurde ein wichtiger Berater und eine wertvolle Kontaktper¨ son f¨ ur die Offentlichkeitsarbeit; seine F¨ ahigkeiten waren insbesondere dann erkennbar, wenn es um Spenden aus den Wirtschaftskreisen ging. Der gr¨oßte
11.9 Weltkongreß in Helsinki
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Einzelposten kam von der Aktuarsvereinigung, deren Aufgabe darin bestand, Spenden bei den verschiedenen Versicherungsgesellschaften zu sammeln. Als ich mich nach dem Kongreß beim Vorsitzenden der Vereinigung bedankte, entgegnete er, daß es keinen Grund zum Dank gebe, denn Nevanlinna habe die Beihilfen nicht erbeten, sondern angeordnet.
Abb. 11.5. Rolf Nevanlinna und Olli Lehto auf der Pressekonferenz des Internationalen Mathematiker-Kongresses in Helsinki im August 1978.
Wir beschlossen, Pr¨ asident Kekkonen zu bitten, die Fieldsmedaillen bei der Er¨ offnung des Kongresses zu u ¨berreichen und gingen zusammen mit Nevanlinna ins Pr¨ asidentenpalais, um unseren Wunsch vorzutragen. Kekkonen, der zu dieser Zeit oft eine steinerne Miene aufsetzte, verhielt sich zu Nevanlinna freundlich und respektvoll und stimmte unserer Bitte zu. Kurz vor dem Kongreß teilte jedoch ein Adjutant mit, daß der Pr¨asident doch nicht kommen werde, weil er auf Fischfang gehe. Einer der Preistr¨ager, Grigori Margulis, war aus der Sowjetunion und es sickerte die Information durch, daß er als Jude keine Reisegenehmigung nach Finnland erhalten w¨ urde, um seine Medaille entgegen zu nehmen. Diese Information erwies sich als richtig und k¨onnte der Grund f¨ ur den Fischfangausflug gewesen sein. Anstelle von Kekkonen u ¨ berreichte Nevanlinna die Medaillen an die anwesenden Preistr¨ager Pierre Deligne, Charles Fefferman und Daniel Quillen. Das Publikum, das fast nur aus
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Abb. 11.6. Nevanlinna u offnung des Kon¨ berreicht die Fieldsmedaillen bei der Er¨ gresses in der Finlandia-Halle. Links Pierre Deligne, daneben Charles Fefferman. Nicht im Bild Daniel Quillen und der abwesende Preistr¨ ager Grigori Margulis.
Ausl¨ andern bestand, kannte die Vorgeschichte nicht und betrachtete Nevanlinna als selbstverst¨ andliche Wahl f¨ ur diesen Auftritt. Bei der Er¨ offnung der Mathematiker-Kongresse wird im allgemeinen ein kleines Musikst¨ uck dargeboten. Das reichte Nevanlinna nicht, sondern er engagierte f¨ ur den Auftritt die Philharmonie von Helsinki, die er dank seiner Musikbeziehungen zu einem g¨ unstigen Preis gewinnen konnte. Nevanlinna legte das Sibelius-Programm selbst fest. Finlandia geh¨orte nat¨ urlich dazu, und außerdem w¨ ahlte er den Intrada-Teil aus der B¨ uhnenmusik von Sibelius zu Shakespeares Der Sturm (Myrsky), dessen mystische Klangwelt Nevanlinna faszinierte. Paavo Berglund w¨ are als Dirigent die erste Wahl gewesen, aber er hatte zur gleichen Zeit einen Auslandsauftritt und Nevanlinna akzeptierte den angebotenen Ersatz nicht. Die Schwierigkeiten waren u ¨berwunden, als Nevanlinna seinen Freund Jussi Jalas9, Sibelius’ Schwiegersohn, u ¨ berzeugen konnte, das Orchester zu dirigieren. Ich hielt es f¨ ur selbstverst¨ andlich, daß Nevanlinna Vorsitzender des Kongresses sein w¨ urde. Er lehnte jedoch ab und sagte, er wolle den Fortgang des Kongresses ohne die Pflicht verfolgen, an verschiedenen Veranstaltungen teilnehmen zu m¨ ussen. Ich glaube, der Grund f¨ ur Nevanlinnas Ablehnung war sein Feingef¨ uhl, sein Wunsch, mir die ehrenvolle Position des Vorsitzenden als 9
Jussi Jalas (1908–1985) war Chefdirigent der Finnischen Nationaloper.
11.10 Neue Freunde
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Belohnung f¨ ur meine Plackerei zu u ¨ berlassen. Bei einem Kongreß kann auch ein Ehrenpr¨ asident gew¨ ahlt werden und die Wahl fiel auf Nevanlinna. Unmittelbar vor dem Kongreß fand die Generalversammlung der IMU in Otaniemi statt und in diesem Zusammenhang kam es auch zu der Sitzung, die u ¨ber den Ausrichtungsort des 1982 abzuhaltenden Kongresses entschied. Als Gastgeberland des Kongresses hatte Finnland zwei Mitglieder in dem Komitee, das die Entscheidung traf – Nevanlinna und ich waren zu diesen zwei Mitgliedern gew¨ ahlt worden. Zwei der vier L¨ander, die sich angeboten hatten, fielen bald weg und es blieben Israel und Polen u ¨ brig. In der ersten Diskussionsphase lobten Mitglieder des Komitees beide Kandidaten und hoben deren Vorz¨ uge hervor. Es gab jedoch zwei Ausnahmen. Zum einen sprach sich Wasili Wladimirow, Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, sofort gegen Jerusalem aus. Er sah Jerusalem als unsicher an und hielt den Ort aus politischen Gr¨ unden f¨ ur so unm¨oglich, daß aus der Sowjetunion – wenn u ochstens eine Handvoll Mathema¨ berhaupt – h¨ tiker teilnehmen w¨ urde. Polen hingegen sei ein Freund der Sowjetunion und Hunderte w¨ urden nach Warschau kommen. Der andere Sprecher, der direkt zur Sache kam, war Nevanlinna, der – ohne Warschau zu kritisieren – klar f¨ ur Jerusalem Stellung nahm. Die mathematische Begabung der Juden sei so auffallend, daß Israel nach Nevanlinnas Meinung die Ehre verdiene, das Gastland des Kongresses zu sein. Die Mehrheit neigte zu Warschau, das als eine politisch sicherere L¨osung betrachtet wurde. Ein gutes halbes Jahr vor dem geplanten Kongreß wurde in Polen der Kriegszustand verh¨ angt und deswegen mußte der Kongreß um ein Jahr verschoben werden. Nevanlinna hat diese Zeit nicht mehr erlebt. Der Mathematiker-Kongreß in Helsinki war eine der Sternstunden im Leben des 82-j¨ ahrigen Nevanlinna. Bekannt und gesch¨atzt von der Weltgemeinschaft der Mathematiker sowie als ehemaliger Pr¨asident der IMU und als mathematische Leitgestalt des Gastlandes stand Nevanlinna im Mittelpunkt des großen Kongresses. Der von der IMU vorgebrachte Wunsch zur Ausrichtung des Kongresses war eine internationale Anerkennung der finnischen Mathematik gewesen und Nevanlinna konnte w¨ ahrend des Kongresses die St¨arke und Vielseitigkeit der finnischen Forschung und das Vorr¨ ucken der jungen Generation feststellen.
11.10 Neue Freunde Im Laufe der Jahre lichteten sich die Reihen der alten Freunde Rolf Nevanlinnas immer mehr. Arno Sax´en und der Schwager Hannu Haahti, den er seit den Schultagen kannte, starben bereits zu Beginn der 1950er Jahre, Eino Kaila und Heikki Reenp¨ a¨ a am Ende desselben Jahrzehnts, V. A. Koskenniemi im Jahr 1962 und Edwin Linkomies ein Jahr sp¨ater. Yrj¨o Reenp¨a¨a starb 1977 und drei Monate nach ihm Rolfs Bruder Frithiof. F¨ ur viele der Verstorbenen
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11 Aktive Altersjahre
hatte Rolf auf Wunsch der Witwen beim Trauergottesdienst eine Abschiedsrede gehalten. An die Stelle der alten Garde traten j¨ ungere Freunde. Zu diesen geh¨orten Erik Tawaststjerna, der unter Nevanlinnas Anleitung vor dem Krieg mit seinem Mathematikstudium sehr weit kam und sp¨ater Professor der Musikwissenschaft wurde, sowie Ernst Palm´en, ein fleißiger Besucher des B¨orsenklubs, Professor der Zoologie, Rektor der Universit¨at Helsinki und 1978–1983 ihr Kanzler. Tawaststjerna und Palm´en waren mehr als zwanzig Jahre j¨ unger als Nevanlinna, sie waren gleichaltrig, aber ansonsten die denkbar unterschiedlichsten Charaktere. Der originelle, mit nerv¨oser Eleganz gestikulierende“ ” Tawaststjerna war trotz seiner mathematischen Grundausbildung ein K¨ unstler bis in die Fingerspitzen, ein Musikexperte und Meister der Prosa, der nach den erhabenen Sph¨ aren des Geistes strebte. Der scharfsinnige und freim¨ utige Palm´en war ein Pragmatiker mit fester Bodenhaftung. Zwischen dem Romantiker Tawaststjerna und dem Rationalisten Palm´en entwickelte sich kein wechselseitiges Verst¨ andnis, geschweige denn eine Freundschaft. Schuld daran war Palm´en, der seine Meinung ohne Skrupel hinausposaunte. Er meinte, in Tawaststjernas Tiefsinnigkeit sei viel gespielte Theatralik. Mit Palm´en f¨ uhrte Nevanlinna viele Gespr¨ache u ¨ber die nationale Wissenschafts- und Hochschulpolitik, wor¨ uber sie durchaus ¨ahnliche Ansichten hatten. Beiden gemeinsam war auch die Geringsch¨atzung der P¨adagogik. Nevanlinna gefiel Palm´ens couragierte und klare Sachlichheit – lebhaft, spr¨ uhend ” intelligent und sehr anregend“ – und ihn am¨ usierten Palm´ens Anekdoten, die sich h¨ aufig hart an der Grenze des Anstands bewegten. Tawaststjerna widmete sein berufliches Leben u ¨ berwiegend Sibelius, an dessen Biographie er 29 Jahre lang arbeitete. Das verband ihn mit Nevanlinna, der ihn sehr hoch sch¨ atzte. Als in der Akademie von Finnland die Mu” sikstelle“ nach dem Tod von Uuno Klami frei wurde, waren die Komponisten Erik Bergman und Joonas Kokkonen die Hauptkandidaten (der Letztgenannte wurde ernannt). Nevanlinna geh¨ orte nicht dem Akademieausschuß an, der die Vorschl¨ age unterbreitete, aber er hatte seine eigene Meinung, u ¨ber die er den Kanzler Linkomies, den Vorsitzenden des Ausschusses, schriftlich informierte: der beste Kandidat sei Erik Tawaststjerna. Tawaststjerna bewunderte Nevanlinna: Ich kann nicht mit Worten aus” dr¨ ucken, was du f¨ ur mich bedeutest. Das Sch¨opferische in dir, in jeder Replik und in jeder Handlung, magnetisiert mich.“ In den zwei Freunden Palm´en und Tawaststjerna personifizierten sich die beiden Seiten des Wesens von Nevanlinna: in Palm´en der mathematischnaturwissenschaftliche Rationalismus, in Tawaststjerna der umfassende Humanismus. Tawaststjerna wurde Nevanlinnas Herzensfreund, die Beziehung zu Palm´en blieb distanzierter. Rolf Nevanlinna hatte auch u ¨berraschende Seiten. In den 1970er Jahren kaufte er f¨ ur seine Wohnung einen Fernseher – als Geburtstagsgeschenk f¨ ur Sinikka, wie er entschuldigend erl¨ auterte. Ich war nicht u berrascht, als ich ver¨ nahm, daß Rolf nicht viel Fernsehen schaute, weil das Niveau der Sendungen
11.11 Blick in die Vergangenheit
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seiner Meinung nach sehr niedrig sei. Umso mehr war ich erstaunt, als ich von seinem Lieblingsprogramm erfuhr, das er nicht so leicht ausließ. Es waren die Fußballspiele der Englischen Liga. Ich erfuhr so, daß er sein ganzes Leben lang ein Fußballfan gewesen war. Um mit Sinikkas Worten zu sprechen: Re” gen oder Sonnenschein, wenn ein spannendes Match stattfand, oh ja, dann war er immer dort.“ Wenigstens mußte er nicht immer allein gehen, denn der international t¨ atige Dirigent Paavo Berglund war ¨ahnlich veranlagt. Wenn Berglund zum Zeitpunkt eines guten Fußballspiels gerade wieder einmal in Finnland war, setzte er sich mit Nevanlinna in Verbindung, und die Freunde gingen los, um sich das Spiel gemeinsam anzusehen.
11.11 Blick in die Vergangenheit Rolf Nevanlinna war kein Gesundheitsfanatiker, aber er ging viel zu Fuß und machte gerne Spazierg¨ ange. Er hatte eine gute Gesundheit. Er h¨atte sicher” lich u ur einen Grund gegeben h¨atte, ¨ ber Beschwerden geklagt, wenn es daf¨ aber er hat sich nicht beklagt, da es keinen Grund gab“, war die Auffassung seiner Frau Sinikka. Nevanlinna war noch nicht ganz 75 Jahre alt, als er bei der R¨ uckreise von einem Aufenthalt in Tampere pl¨ otzlich bewußtlos auf den Korridorfußboden seiner Gastgeber fiel. Es war eine Lungenembolie, auch wenn das nicht sofort erkannt wurde. Nevanlinna erholte sich schnell und wurde zum Bahnhof begleitet, aber gerade als er in den Zug einsteigen wollte, brach er erneut zusammen. Trotz der unheilvollen Diagnose ging die Krise relativ schnell vor¨ uber und der Vorfall bedr¨ uckte ihn nicht lange. Seine Seelenruhe geriet auch durch das warnende Beispiel seines Vaters nicht ins Wanken, der im Alter von 60 Jahren einem Herzinfarkt erlegen war. Bald erlangte Rolf seine Kr¨ afte wieder und konnte noch weitere zehn Jahre ein vollwertiges Leben f¨ uhren. Sein Charme verfehlte auch weiterhin nicht seine Wirkung und er schloß neue Freundschaften. In der mathematischen ¨ Offentlichkeit war Nevanlinna weiterhin pr¨ asent, er war ein prominenter Teilnehmer der Kongresse 1974 in Vancouver und 1978 in Helsinki. Er setzte auch seine Vortragsreisen fort. Auch wenn er sein Leben aktiv im Griff hatte, begann das Alter zu dr¨ ucken. Am Technion Haifa wurde das Jahr 1976 als Jahr der Funktionentheorie begangen und Nevanlinna wurde eingeladen, Vortr¨age u ¨ ber die NevanlinnaTheorie zu halten. Das Ereignis hatte einen großen Reklamewert. Als Vortragender vermochte Nevanlinna jedoch nicht mehr so inspirierend wie fr¨ uher zu wirken, wenn er u ¨ber Dinge sprechen mußte, an denen er schon vor langer Zeit das Interesse verloren hatte. Die kritische internationale Expertengruppe war h¨ oflich, aber von Nevanlinnas Vortragsreihe entt¨auscht, in der er sich darauf beschr¨ ankte, haupts¨ achlich seine eigenen Ergebnisse der 1920er Jahre zu behandeln. Dennoch war Nevanlinna als Person der respektierte Mittelpunkt der
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prominenten Gesellschaft sowohl in Haifa als auch in Jerusalem, wo ebenfalls ein funktionentheoretischer Workshop stattfand. Nevanlinna setzte die Arbeit an seinem mathematischen Forschungsprogramm fort, aber w¨ ahrend seiner Ruhestandsjahre verfaßte er keine Ver¨offentlichungen mehr, die neue Ergebnisse enthielten. Von Zeit zu Zeit vernichtete er seine mathematischen Aufzeichnungen, die er mit sch¨oner Handschrift angefertigt hatte. In den letzten Jahren hatte Nevanlinna etwas Sibelianisches: Die große Reputation in Verbindung mit harter Selbstkritik setzte die Ver¨offentlichungsschwelle un¨ uberwindlich hoch. Nevanlinnas 80. Geburtstag wurde im Herbst 1975 sowohl in Helsinki als auch in Z¨ urich gefeiert. Die Geburtstagsveranstaltung in Helsinki war ein nationales Ereignis, bei dem er als finnischer Universit¨atsgelehrter und Kulturpers¨ onlichkeit gefeiert wurde. In Z¨ urich wurde er als ein international einflußreicher Mathematiker wahrgenommen, und Forscher kamen aus verschiedenen Teilen der Welt, um an der Tagung teilzunehmen, die man ihm zu Ehren organisierte. Die Vortr¨ age und Reden, die auf der Geburtstagsfeier in Z¨ urich gehalten wurden, wandten sich der Vergangenheit zu. Nevanlinna war im Begriff, eine historische Gestalt zu werden. In seinem Fall bestand tats¨achlich Anlaß, die geleistete Arbeit anzuerkennen, solange er selbst noch an den Ehrungen teilnehmen konnte. Die Hamburger Alfred Toepfer-Stiftung hatte Nevanlinna 1967 im Rathaus von Kiel den bedeutenden Henrik-Steffens-Preis u ¨berreicht, der jedes Jahr einer Person als Anerkennung f¨ ur die F¨orderung der nordischen Kultur verliehen wird. Zwei Jahre sp¨ ater erhielt Nevanlinna die Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨ at Glasgow. Das war f¨ ur ihn die erste derartige Auszeichnung aus der angels¨ achsischen Welt und Nevanlinna freute sich dar¨ uber besonders, obwohl er bereits f¨ unf Ehrendoktortitel besaß: Heidelberg 1936, Bukarest 1942, Gießen 1952, Berlin (Freie Universit¨ at) 1955 und Jyv¨askyl¨a 1969. Nach Glasgow kamen dann noch Uppsala 1974 und Istanbul 1977 dazu. Nevanlinna erhielt in seiner Heimat Finnland nacheinander die h¨ochsten Auszeichnungen, die an Wissenschaftler vergeben werden. Die Finnische Akademie der Wissenschaften w¨ ahlte ihn 1975 zu ihrem Ehrenmitglied – gleichzeitig wurde dieser Titel auch Pr¨ asident Kekkonen zuerkannt. Am Unabh¨angigkeitstag desselben Jahres verlieh ihm Pr¨ asident Kekkonen das Großkreuz des Finnischen Ritterordens der Weißen Rose, eine Auszeichnung, die nur sehr selten f¨ ur wissenschaftliche Verdienste zuerkannt wird. Das war ein sichtbares uber NevanZeichen daf¨ ur, wie grundlegend sich Kekkonens Haltung gegen¨ andert hatte. Zwei Jahre sp¨ ater berief die Finnische Kulturstiftung linna ge¨ Nevanlinna zu ihrem Ehrenvorsitzenden. Mit dieser Auszeichnung ist die lebenslange Mitgliedschaft im Verwaltungsrat der Stiftung verbunden. Nevanlinna hatte bereits 1939 anl¨ aßlich der Gr¨ undungsfeier der Finnischen Kulturstiftung eine Rede gehalten, aber er hatte bis dahin keinerlei Vertrauensamt in dieser Stiftung inne. Nun stieg er wie die Pr¨asidenten der Republik direkt an die Spitze der Kulturstiftung auf.
11.11 Blick in die Vergangenheit
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Abb. 11.7. Rolf Nevanlinna 1969 als Ehrendoktor der Universit¨ at Glasgow. Links Sir Edward Collingwood, der bereits in den 1920er Jahren auf dem Gebiet der Nevanlinna-Theorie forschte.
Nevanlinna hatte Mitte der 1970er Jahre mit seinen Memoiren begonnen und war bereit, seine Erinnerungen zu ver¨ offentlichen. Er sprach auf Band und auf der Grundlage der Aufzeichnungen verfaßte der Redakteur Eero Saarenheimo den Basistext des Buches, dem Sinikka Nevanlinna den letzten Schliff gab. Ich erinnere mich, wie Sinikka w¨ ahrend der redaktionellen Arbeiten die Denk- und Ausdrucksweise der Mathematiker verfluchte. Rolf war von allen Mathematikern der Welt der am wenigsten trockene, aber dennoch mußte Sinikka st¨ andig Adjektive aus ihrem Lagerbestand einstreuen, um den Text zu w¨ urzen. Das unter dem Titel Muisteltua (Erinnertes) erschienene Buch weckte große Erwartungen, denn man erhoffte sich eine Analyse der Kr¨afte und Motive, von denen sich Rolf Nevanlinna in seinem reichen Leben leiten ließ. Diese Hoffnung erf¨ ullte sich nicht; das Buch ist keine Autobiographie, sondern entsprechend seinem Namen eine Sammlung von erinnerungsw¨ urdigen Lebenseinblicken, die nach Nevanlinnas Meinung der Ver¨offentlichung wert waren. Zus¨ atzlich zum Zeitbild enth¨ alt das Buch pers¨onliche Gedanken und Stellungnahmen zur h¨ oheren geistigen Bildung und Kultur, aber sein Pers¨onlichkeitsbild bleibt mager. Der Erz¨ ahler hat ein gutes Ged¨achtnis, aber das Buch ist stellenweise ungenau, weil viele Ereignisse schon Jahrzehnte zur¨ ucklagen. Deswegen ist es als Informationsquelle kritisch zu betrachten.
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Als im Ausland bekannt wurde, daß Nevanlinnas Lebenserinnerungen in Finnland erschienen waren, bekundete der Springer-Verlag sein Interesse an einer englischsprachigen Publikation des Buches. Nevanlinna meinte jedoch, daß es zu viele Details f¨ ur finnische Leser und zu wenig Mathematik enthalte, so daß es sich nicht f¨ ur die Zielgruppe des Springer-Verlages eigne. Nevanlinna versprach, dar¨ uber nachzudenken, seine Erinnerungen in einer f¨ ur die internationale Mathematikergemeinschaft geeigneten Form zu schreiben. Dazu war ihm jedoch keine Zeit mehr verg¨ onnt.
11.12 Rolf Nevanlinna in der Geschichte der Mathematik W¨ ahrend der vergangenen hundert Jahre verlief die Entwicklung der Mathematik st¨ urmisch, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Die erste Adressenliste der auf dem Gebiet der Mathematik t¨atigen Forscher, das World Directory of Mathematicians, erschien 1958 unter der Obhut der Internationalen Mathematischen Union IMU. Die Aufnahme in das Verzeichnis setzt eine gewisse Aktivit¨ at und Qualit¨ at der mathematischen Forschung voraus, die mit Hilfe bestimmter Referate-Organe gemessen werden. Die erste Liste 1958 verzeichnete 3500 Namen. Acht Jahre sp¨ ater war die Zahl bereits auf mehr als 10000 gestiegen, in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts auf fast 60000. F¨ ur die Forscher gibt es genug zu tun, denn die Mathematik hat sich verzweigt und auf viele neue Gebiete ausgedehnt. Gleichzeitig hat sich die Akzentuierung verschiedener Gebiete ge¨ andert. Die Computer waren ein wichtiger, aber keineswegs der einzige Faktor, der die Entwicklung beeinflußte und beschleunigte. Im Entwicklungsprozeß der zweiten H¨ alfte des Jahrhunderts war Rolf Nevanlinna nicht an signifikanter Stelle pr¨ asent. Seine mathematische Grundausbildung war wegen seiner kleinen Alma Mater verh¨altnism¨aßig eng, die neue Welle der Mathematik setzte ein, als er 50 Jahre alt war und sich nach einer langen Unterbrechung wieder an die mathematische Forschungsarbeit gew¨ ohnte. Er versuchte nicht einmal, sich mit den vielen großen neuen Gebieten der Mathematik vertraut zu machen, die immer zentraler und einflußreicher geworden waren. Auch die zunehmende Formalisierung der Mathematik war nicht nach seinem Geschmack. Der Sog des brodelnden Lebens außerhalb der Mathematik erschwerte Nevanlinnas Aufstieg zu den neuen H¨ ohen der Mathematik. Als sich diese Gipfel als unerreichbar erwiesen, erhielten die anderen Interessengebiete zunehmend mehr Gewicht. Rolfs Bruder Frithiof machte einen Vergleich mit anderen mathematischen Ber¨ uhmtheiten unserer Zeit, mit dem vielseitigen Hermann Weyl und mit Bartel van der Waerden, der eine zentrale Rolle in der modernen Algebra spielte. Dabei stellte Frithiof den Unterschied fest, daß Weyl und van der Waerden unter keinen Umst¨ anden zuließen, daß man ihre mathematischen Kreise st¨ore. Ein r¨ uhrender, zutiefst kindlicher Gesichtsausdruck, der davon kommt, daß ”
11.13 Salon am Bulevardi
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Verstand und Interessen das ganze Leben lang aktiv und intensiv, dem Spielen der Kinder ¨ ahnlich, nach außen gerichtet waren und nicht auf die eigene Person – auf die großen und reinen Dinge in der Welt des Geistes, auf die Welt des homo sapiens, die viel realer, besser und sch¨oner ist, als die gew¨ohnliche Welt des homo faber.“ Frithiof sah in Rolf nicht diese edle Naivit¨at, obwohl er ihn als Mathematiker mindestens auf die gleiche Stufe stellte wie Weyl und van der Waerden, vielleicht sogar auf eine h¨ ohere Stufe aufgrund von Rolfs k¨ unst” lerischem Geschmack und wegen seines Neovianischen Urteilsverm¨ogens“. Als Bezugsrahmen Nevanlinnas muß die erste H¨alfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, als er mathematisch ¨ außerst aktiv und erfolgreich war. Sein Spezialgebiet Funktionentheorie hatte damals eine bedeutende Position in der Mathematik, und seit den 1920er Jahren z¨ahlte man Nevanlinna zu den weltweit f¨ uhrenden Funktionentheoretikern – in einigen internationalen Gutachten wurde er sogar an die erste Stelle gesetzt (Princeton 1933, Z¨ urich 1946). Rolf Nevanlinna war ein großer Name in der Mathematik der ersten H¨ alfte des 20. Jahrhunderts. Er hat die h¨ ochsten Gipfel der mathematischen Wissenschaft erreicht. Nevanlinna wird in der Geschichte der Mathematik nicht in Vergessenheit geraten. Die Funktionentheorie hat sich in der zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts in neuen Richtungen weiterentwickelt und ungeahnte Verbindungen zu anderen Gebieten der Mathematik und zur mathematischen Physik hergestellt. Die Theorie von Nevanlinna geh¨ ort zur klassischen Funktionentheorie, aber sie ist in ihrer Entwicklung nicht stehengeblieben, sondern ebenfalls neue Wege gegangen. Bei der Klassifizierung der Mathematik in Teilgebiete verwendet man selten die Namen von Personen; zu diesen Ausnahmen geh¨ort die Nevanlinna-Theorie 10 .
11.13 Salon am Bulevardi Rolf und Sinikka Nevanlinnas ger¨ aumige Wohnung am Bulevardi erm¨oglichte die R¨ uckkehr zu den Einladungen in Neovianischer Tradition, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Rolfs Onkels Frau mit den Worten Wissenschaft ” und Kunst“ charakterisiert worden waren. Rolf und Sinikka riefen einen Kul” tursalon der guten alten Zeit“ ins Leben, indem sie zuhause Veranstaltungen organisierten, zu deren Programm auch musikalische Darbietungen von hohem Niveau geh¨ orten. Am Stephanstag, dem 26. Dezember, der gleichzeitig der Geburtstag von Rolfs und Sinikkas Tochter Kristiina Hohti war, wurde ein großer BuffettEmpfang veranstaltet. Dieses j¨ ahrliche Ereignis ging auf einen Brauch Sinikkas zur¨ uck, die bereits in ihrer ersten Ehe, vor Kristiinas Geburt, am zweiten Weihnachtstag zuhause G¨ aste empfangen hatte. Die Musik machte den Stephanstag-Empfang stimmungsvoll, die Interpreten kamen aus dem vertrauten Familienkreis. Das Programm spiegelte das 10
Mathematics Subject Classification 2000: 32A22 Nevanlinna theory.
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Heranwachsen der neuen Generation wider, denn im Laufe der Jahre hatten die gemeinsamen Enkelkinder der Gastgeber, die musikliebenden jungen Hohtis, einen immer sichtbareren Anteil. Ihre Mutter Kristiina u ¨ bernahm oft die musikalische Begleitung, manchmal waren Musikerfreunde wie Jussi Jalas oder Timo Mikkil¨ a die Begleiter. Die Einladungen waren eine Kavalkade des finnischen Kulturlebens; zus¨atzlich zu den nahen Verwandten kamen Wissenschaftler, Musiker, Schriftsteller sowie Theater- und Verlagsleute mit ihren Partnern – alles Freunde der Gastgeber. Nur wenige Mathematiker waren dabei und es kamen auch nicht viele Vertreter der Wirtschaft. Der Industrielle Lauri Kivek¨as, mit dem Rolf im Verwaltungsrat der Emil-Aaltonen-Stiftung saß, war da eine Ausnahme. Ich erinnere mich nicht, unter den G¨ asten jemals einen f¨ uhrenden Politiker gesehen zu haben. Diese Einladungen am Bulevardi offenbarten die soziale Kompetenz Rolf Nevanlinnas, eine F¨ ahigkeit, sich in die Anliegen des Gespr¨achspartners hineinzuversetzen. Der letzte Bulevardi-Empfang fand am Stephanstag 1979 statt. Der Gastgeber k¨ ummerte sich, wie es seine Art war, liebevoll um seine G¨aste, indem er von einer Gruppe zur anderen ging. Jedoch zeigten sich bei dem 84-j¨ahrigen Rolf bereits Zeichen einer fatalen Krankheit, auch wenn man diese Zeichen damals noch nicht erkannte. Wie gewohnt hatte Sinikka K¨ostlichkeiten aufgetischt, die Rolf an diesem Abend u uhren mochte. ¨berhaupt nicht anr¨
11.14 Der Abschied Im Herbst 1979 bekam ich Aimo Hinkkanens Magisterarbeit zur Durchsicht. Hinkkanen, ein außerordentlich begabter Mathematikstudent, hatte u ¨ber die Nevanlinna-Theorie geschrieben. Die Arbeit enthielt Material f¨ ur eine Dissertation, und Hinkkanen lieferte tats¨ achlich auch schnell eine verbesserte englische Version. Ich erinnerte mich an Nevanlinnas kritische Bemerkungen, als er meine Dissertation durchsah, und unterzog Hinkkanen einer ¨ahnlichen Prozedur. Das war zeitraubend, aber wir rechneten damit, daß Hinkkanen seine Dissertation um den M¨ arz 1980 w¨ urde verteidigen k¨onnen. Mir kam damals die Idee, Rolf Nevanlinna zu fragen, ob er nicht Hinkkanens Opponent sein m¨ ochte; er z¨ ogerte einen Moment und stimmte dann zu. Es w¨ are sensationell gewesen, den 21-j¨ ahrigen Doktoranden und den 84j¨ ahrigen ber¨ uhmten Opponenten einander gegen¨ uber zu sehen. H¨ohere Gewalt verhinderte jedoch die Realisierung des Plans. Wir kamen einige Monate zu sp¨ at. Die Verteidigung fand nat¨ urlich statt; Hinkkanen ist jetzt Professor an der University of Illinois. Zu Beginn des Jahres 1980 war Nevanlinna in Z¨ urich und wollte von dort mit seinen Schweizer Kollegen nach Oberwolfach in den Schwarzwald fahren, um an einem Seminar teilzunehmen. Als er unerwartet in Helsinki eintraf und Gesundheitskontrollen als Grund angegeben wurden, waren die ihm
11.14 Der Abschied
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Nahestehenden beunruhigt. Es war weithin bekannt, daß Nevanlinna nicht so leicht mathematische Veranstaltungen ausließ, die er f¨ ur wichtig hielt. Die ersten Nachrichten waren nicht beunruhigend, aber dann stellte sich heraus, daß Nevanlinna Krebs hatte. Diese Mitteilung entmutigte ihn nicht: ¨ Die Arzte sprechen von einer großen Operation, ich muß ungef¨ahr zehn Tage ” im Krankenhaus bleiben und auch danach noch einige Zeit vorsichtig sein.“ Als die Operation vorbereitet wurde, begab sich Nevanlinna im M¨arz 1980 aus dem Universit¨atskrankenhaus Helsinki zur Finlandia-Halle, um an der Feier zum 10. Jahrestag der neugebildeten Akademie von Finnland teilzunehmen. ¨ Das war das letzte Mal, daß man ihn in der Offentlichkeit sah. Nach der Feier fand im Foyer der Finlandia-Halle ein Empfang statt und mir ist ein wehm¨ utiges Bild in Erinnerung geblieben. Nevanlinna war nicht mehr er selbst, sondern hielt sich gr¨ oßtenteils beiseite. Er bekannte mir gegen¨ uber, daß er sich nicht gut f¨ uhle, und meinte, daß seine M¨ udigkeit wohl leicht zu bemerken sei. Es ¨ argert mich, wenn einer nach dem anderen kommt ” und sagt, wie munter und r¨ ustig ich aussehe.“ Die Operation konnte nicht ausgef¨ uhrt werden, weil die Chirurgen feststellten, daß sich der Leberkrebs bereits verh¨angnisvoll ausgebreitet hatte. ¨ Der Patient wurde u die sei¨ ber die Sache informiert; zur Gruppe der Arzte, nen Zustand u orte auch sein Sohn Harri. Nevanlinna sagte ¨ berwachten, geh¨ ruhig, daß er so bald wie m¨ oglich sterben wolle, und sein Wunsch erf¨ ullte sich. Er starb friedlich am 28. Mai 1980. Im Krankenhaus war Nevanlinna w¨ ahrend seiner letzten Wochen nicht allein. Außer den nahen Verwandten kamen st¨andig Freunde und erwiesen ihre Zuneigung. Seine erste Frau Mary hielt sich so intensiv bei Rolf auf, daß Besuchszeiten angeordnet werden mußten. Ein fleißiger Besucher war auch Erik Tawaststjerna, der den Patienten durch Tonbandmitschnitte von Klavierst¨ ucken unterhielt, die sein Sohn gespielt hatte. Denk doch nur an den ” Erik, sogar hierher schleppt er sein Ger¨ at und ich muß zuh¨oren, auch wenn ich es selbst vor M¨ udigkeit nicht immer vermag.“ Wer bei Nevanlinna zum Krankenbesuch war, mußte nicht u ¨ berlegen, wor¨ uber man sprechen sollte, denn bis zum Schluß bewahrte sich Nevanlinna sein Interesse f¨ ur die Ereignisse der Welt und f¨ ur die pers¨onlichen Belange der Besucher. Mir ist es unausl¨ oschlich in Erinnerung geblieben, wie oft er bedauerte, daß er nicht dabei sein k¨ onne, wenn ich im Mai die Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨ at Turku erhalten w¨ urde. Bei einem Besuch bekam ich unvermutet einen Einblick in Dinge, die ihn auch in dieser Zeit besch¨aftigten. Er stand noch unter dem Einfluß eines chirurgischen Eingriffs, von dem ich nichts wußte, als ich sein Zimmer betrat. Wegen der Narkose schwebte er noch in anderen Welten. Er sah mich ver¨ argert an: Was machst du denn hier? Ich habe ” gerade u ¨ ber eine Passage einer Sinfonie von Sibelius nachgedacht. Jussi Jalas m¨ ußte doch hier sein.“ Bevor ich dazu kam, den Mund zu o¨ffnen, verscheuchte mich eine ins Zimmer eilende Krankenschwester. Das Ger¨ ucht machte die Runde, daß auch Pr¨asident Kekkonen als Patient im gleichen Krankenhaus liege. Er ließ Blumen an Nevanlinna u ¨ berbringen.
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11 Aktive Altersjahre
Abb. 11.8. Rolf Nevanlinna am 10. M¨ arz 1980 in der Finlandia-Halle bei der Feier anl¨ aßlich des 10. Jahrestages der neugebildeten Akademie von Finnland. Hinter Pr¨ asident Kekkonen steht die B¨ uste des Architekten Alvar Aalto, der die FinlandiaHalle schuf. (Mit freundlicher Genehmigung: Lehtikuva/Jorma Pouta)
Auf die beigelegte Karte hatte Kekkonen mit kleiner Handschrift geschrieben: Es tut mir so leid, daß du so krank bist.“ ” Ebenfalls in schlechter Verfassung lag im Krankenhaus Nevanlinnas Freund Ilmari Liikkanen. Liikkanen, Nevanlinnas Retter“ in der Zeit des Winter” krieges, hatte Nevanlinnas pers¨ onliches Archiv zur Aufbewahrung in seinem ger¨ aumigen Haus untergebracht. Als man nach Nevanlinnas und Liikkanens Tod begann, nach dem Archiv zu suchen, erz¨ahlte Liikkanens Tochter, daß Nevanlinna im Krankenhaus darum gebeten habe, das Archiv nach seinem Tod zu vernichten. Das sei dann auch geschehen. Rolf Nevanlinna erhielt ein Staatsbegr¨ abnis. Rolf und Sinikka hatten zusammen den andachtsvollen und bewegenden Trauergottesdienst geplant, der in der Alten Kirche (Vanha kirkko) von Helsinki abgehalten wurde. Der Zauberer Prospero, mit dem sich Shakespeare in seinem Schauspiel Der Sturm nach g¨ angiger Auffassung identifiziert haben soll, erhielt unter der Kl¨angen der B¨ uhnenmusik von Sibelius in Rolf Nevanlinna eine neue Gestalt. Die irdischen Vorteile hintan gesetzt meist, ” Als Einsiedler lebend, meinen Geist In Werken gesch¨ arft, in deren Ideen Die Menschen ein Mysterium seh’n.“
11.15 Epilog
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Rolf Nevanlinnas Urne wurde im Grab seiner Großeltern, des Generalmajors Edvard Neovius und dessen Frau Elise Neovius, auf dem Friedhof Hietaniemi in Helsinki beigesetzt.
11.15 Epilog Bald nach Nevanlinnas Tod wurde auf Initiative seiner langj¨ahrigen guten Freundin Aili Palm´en der Gedenkband Rolf Nevanlinna in memoriam ver¨ offentlicht. Die vielseitige Wirkung Nevanlinnas spiegelt sich im weiten Spektrum von Beitr¨ agen wider, in denen die 18 Autoren verschiedene Gebiete des finnischen wissenschaftlichen und kulturellen Lebens abdecken. Die Artikel zeugen von der herzlichen Freundschaft der Autoren zu Rolf. Der Gedenkband beginnt mit einer Zusammenfassung des Lebens von Rolf Nevanlinna, in den Worten von Arvi Kivimaa, dem ehemaligen Direktor des Finnischen Nationaltheaters: Eine Geige erklingt und alles wird Licht. Ein Mann des Wissens Grenze durchbricht Und dem¨ utig einen Weg sich bahnt. Auf seiner Gedanken Galaxie Wanderte er f¨ ur sich ganz allein. Str¨ auße von Sternen leuchten nun Nach ihm in das Dunkel hinein. Die Autoren des Gedenkbandes waren Finnen, und nur drei von ihnen waren Mathematiker. Die Situation außerhalb Finnlands war eine andere: Im Ausland beruhte die W¨ urdigung Nevanlinnas auf seinen mathematischen Arbeiten. Auf dem Rolf-Nevanlinna-Ged¨ achtniskolloquium, das im M¨arz 1981 in Z¨ urich stattfand, beschrieben zehn eingeladene Vortragende, die aus verschiedenen Erdteilen kamen, das mathematische Werk Nevanlinnas und die dadurch eingeleitete Entwicklung. Die Bedeutung der Arbeiten11 kam darin zum Ausdruck, daß es in neun Vortr¨ agen um Funktionentheorie ging und ein Vortrag sein neues Nachkriegsforschungsprogramm behandelte. Die Vortr¨age waren: Lars V. Ahlfors Riemann surfaces and small point sets; Konrad Bleuler Differentialgeometrische Methoden in der Physik ; Lennart Carleson Estimates of harmonic measures; W. H. J. Fuchs The development of the theory of deficient values since Nevanlinna; W. K. Hayman Some achievements of Nevanlinna theory; Olli Lehto On the birth of the Nevanlinna theory; Al¨ bert Pfluger Uber konforme Abbildungen des Einheitskreises; Seppo Rickman Value distribution of quasimeromorphic mappings; Sakari Toppila On Nevanlinna’s proximity function; H. Wittich Anwendungen der Wertverteilungslehre auf gew¨ohnliche Differentialgleichungen. 11
Die Arbeiten wurden in den Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Series A. I. Mathematica 7 (1982) ver¨ offentlicht.
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11 Aktive Altersjahre
Auf dem Ged¨ achtniskolloquium faßte man den Beschluß, die Rolf-Nevanlinna-Kolloquien, die ihre Position in der Welt etabliert hatten, auch nach Nevanlinnas Tod fortzusetzen und sie zus¨ atzlich zur Schweiz auch in Finnland abzuhalten. Ein besonders großes Ereignis war das Kolloquium, das 1995 in Nevanlinnas Geburtsstadt Joensuu anl¨ aßlich seines 100. Geburtstages stattfand; ein weiteres bedeutendes Kolloquium wurde im Jahr 2000, dem Welt” jahr der Mathematik“, in der damaligen Europ¨aischen Kulturhauptstadt Helsinki organisiert. Ein paar Monate nach dem Z¨ urcher Ged¨achtniskolloquium traf das Exekutivkomitee der Mathematischen Union eine bedeutsame Entscheidung. Es gr¨ undete einen mit der Fieldsmedaille vergleichbaren Preis f¨ ur Mathematische Informatik (Mathematical Aspects of Information Science), der alle vier Jahre auf dem Internationalen Mathematiker-Kongreß vergeben werden sollte. Der Grundgedanke hierbei war, die f¨ ur die Mathematik lebenswichtige Verbindung zur Informatik zu st¨ arken. Die Finanzierung des Preises von kommerzieller Seite war nicht erw¨ unscht und den Großm¨ achten wollte man die Ehre und den m¨oglichen Einfluß auch nicht gew¨ ahren, die sich aus einem Sponsoring ergeben h¨atten. Die Mathematische Union nahm dankbar das Angebot der Universit¨at Helsinki an, die durch den Preis anfallenden Kosten zu tragen. Danach mußte die IMU einen zum Preis passenden Namen finden. Die Namen der infrage kommenden historischen Pers¨onlichkeiten wurden bereits anderweitig verwendet oder hatten ein zu großes nationales Gewicht. Die Blicke fielen auf das Stifterland und auf Rolf Nevanlinna. Rolf Nevanlinna war ein international bekannter Mathematiker, ehemaliger Rektor der Stiftungsuniversit¨ at und fr¨ uherer Pr¨ asident der preisverleihenden Internationalen Mathematischen Union. Die Verbindungen zur Informatik wurden als gen¨ ugend angesehen, als ich erz¨ ahlte, daß die Initiative zur Einf¨ uhrung der Computer an den finnischen Universit¨ aten auf Nevanlinna zur¨ uckgehe. Es erwies sich auch als m¨ oglich, dem kleinen Finnland die Ehre zuzugestehen, die der Name des Preises mit sich bringt. Auch der Zeitpunkt war passend, weil sich der mathematischen Weltgemeinschaft damit die Gelegenheit bot, das Andenken an den k¨ urzlich verstorbenen Nevanlinna zu ehren. Der Preis erhielt den Namen The Rolf Nevanlinna Prize. Nevanlinna hatte bei der Er¨ offnung des Internationalen MathematikerKongresses 1962 in Stockholm auf das Vordringen der Computer hingewiesen und die prophetische Vorhersage gemacht, daß die mathematische Kultur in den folgenden Jahren zunehmend erstarken werde. Diese Prophezeiung hat ullt, und noch dazu auf eine Weise, die damals niemand h¨atte ahnen sich erf¨ onnen. Der Name des bedeutendsten internationalen Preises f¨ ur mathematik¨ sche Informatik verbindet Rolf Nevanlinna mit einer Hauptentwicklungsrichtung des 21. Jahrhunderts.
11.15 Epilog
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Abb. 11.9. Die zum Rolf-Nevanlinna-Preis geh¨ orende Goldmedaille. Die Medaille wurde vom Bildhauer Raimo Heino geschaffen.
Ehrungen
Mitgliedschaften in Akademien Finnische Akademie der Wissenschaften 1924, Finnische Wissenschaftsgesellschaft (Societas Scientiarum Fennica) 1927, G¨ottinger Wissenschaftliche Gesellschaft 1936, Preußische Akademie der Wissenschaften 1937, Gesellschaft f¨ ur Wissenschaft und Literatur G¨ oteborg 1941, Wissenschaftliche Gesellschaft Uppsala 1941, Akademie der Wissenschaften der DDR (Nachfolgerin der Preußischen Akademie der Wissenschaften) 1953, K¨onigliche Schwedische Akademie der Wissenschaften 1956, D¨ anische Wissenschaftliche Gesellschaft 1956, Leopoldina (Halle) 1956, Korrespondierendes Mitglied der Franz¨osischen Akademie der Wissenschaften 1967. Ehrenmitgliedschaften Universit¨ at G¨ ottingen 1937, Viborger Studentenverbindung 1946, Universit¨at Z¨ urich (Ehrenprofessor) 1949, Schweizerische Vereinigung der Freunde Finnlands SVFF 1953, London Mathematical Society 1959, Finnische Mathematische Vereinigung 1962, S¨ udfinnische Studentenverbindung 1962, Schweizerische Mathematikervereinigung 1963, Finnische Aktuarsvereinigung 1965, Verband der Finnischen Mathematik- und Physiklehrer 1965, Ungarische Akademie der Wissenschaften 1970, Yrj¨ o Kilpinen-Gesellschaft 1971, Freunde der Schweiz in Finnland 1973, Finnische Akademie der Wissenschaften 1975, Finnische Kulturstiftung (Ehrenvorsitzender) 1977. Ehrendoktorw¨ urden Heidelberg 1936, Bukarest 1942, Gießen 1952, Berlin (Freie Universit¨at) 1955, Jyv¨ askyl¨ a 1969, Glasgow 1969, Uppsala 1974, Istanbul 1976.
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Ehrungen
Preise Preis der Finnischen Wissenschaftsgesellschaft 1926, Ramsay-Promotionspreis 1927, Preis der Finnischen Kulturstiftung 1944, Internationaler Preis der Jenny und Antti Wihuri Stiftung 1958, Preis der Henrik Steffens Stiftung 1967.
Mathematische Ver¨ offentlichungen
Das Verzeichnis enth¨ alt s¨ amtliche Ver¨ offentlichungen Rolf Nevanlinnas, die in deutscher, englischer und franz¨ osischer Sprache erschienen sind, das heißt, sein gesamtes wissenschaftliches Werk. Ein von Ilppo Simo Louhivaara verfaßtes Gesamtverzeichnis aller Arbeiten Nevanlinnas ist in den Commentationes in honorem Rolf Nevanlinna LXXX annos nato, Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Series A I, Mathematica, Volumen 2 (1976), zu finden. Erg¨anzungen hierzu findet man in den Commentationes in memoriam Rolf Nevanlinna, Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Series A. I. Mathematica, Volumen 7 (1982). ¨ [1] Uber beschr¨ ankte Funktionen, die in gegebenen Punkten vorgeschriebene Werte annehmen. Akademische Abhandlung. Helsingfors. 72 S. = Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 13: 1. 72 S. (1919) ¨ ¨ [2] Uber die schlichten Abbildungen des Einheitskreises. Oversikt av Finska vetenskaps-societetens f¨orhandlingar 62. A. 7 (1919–1920). 14 S. (1920) ¨ ¨ [3] Uber die konforme Abbildung von Sterngebieten. Oversikt av Finska vetenskaps-societetens f¨orhandlingar 63. A. 6 (1920–1921). Helsingfors. 21 S. (1921) [4] Asymptotische Entwicklungen beschr¨ankter Funktionen und das Stieltjessche Momentenproblem. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 18: 5. 53 S. (1922) [5] Kriterien f¨ ur die Randwerte beschr¨ ankter Funktionen. Math. Z. 13. S. 1–9. (1922) [6] Sur les relations qui existent entre l’ordre de croissance d’une fonction monog`ene et la densit´e de ses z´eros. C. R. Acad. Sci. Paris 174. S. 1325–1327. (1922) ¨ [7] F. Nevanlinna & –. Uber die Eigenschaften analytischer Funktionen in der Umgebung einer singul¨ aren Stelle oder Linie. Acta Societatis Scientiarum Fennicae 50: 5. 46 S. (1922) [8] Sur le th´eor`eme de M. Picard. C. R. Acad. Sci. Paris 177. S. 389–392. (1923)
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Mathematische Ver¨ offentlichungen
¨ [9] Uber die Anwendung des Poisson’schen Integrals zur Untersuchung der Singularit¨ aten analytischer Funktionen. Matematikerkongressen i Helsingfors den 4–7 juli 1922.(Wissenschaftliche Vortr¨age gehalten auf dem f¨ unften Kongress der skandinavischen Mathematiker in Helsingfors vom 4. bis 7. Juli 1922.) S. 273–289. (1923) [10] Sur les fonctions m´eromorphes. C. R. Acad. Sci. Paris 178. S. 367–370. (1924) [11] Sur les valeurs exceptionnelles des fonctions m´eromorphes. C. R. Acad. Sci. Paris 179. S. 24–27. (1924) ¨ [12] Uber den Picard-Borelschen Satz in der Theorie der ganzen Funktionen. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 23; 5, 37 S. (1924) ¨ [13] Uber eine Klasse meromorpher Funktionen. Math. Ann. 92. S. 145– 154. (1924) [14] Untersuchungen u ¨ ber den Picard’schen Satz. Acta Societatis Scientiarum Fennicae 50: 6. 42 S. (1924) ¨ [15] F. Nevanlinna & –. Uber die Nullstellen der Riemannschen Zetafunktion. Math. Z. 20. S. 253–263. (1924) [16] Beweis des Picard-Landauschen Satzes. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu G¨ottingen aus dem Jahre 1924. Mathematischphysikalische Klasse. Berlin. S. 151–154. (1925) [17] Neuere Untersuchungen u ¨ ber den Picardschen Satz. Matematikerkongressen i Kobenhavn 31. august – 4. september 1925. Den sjette skandinaviske matematikerkongres. Beretning udgiven af kongressens organisationskomite. Kobenhavn. S. 77–95. (1925) [18] Quelques propri´et´es des fonctions m´eromorphes dans un angle donn´e. C. R. Acad. Sci. Paris 181. S. 352–354. (1925) ¨ [19] Uber die Eigenschaften meromorpher Funktionen in einem Winkelraum. Acta Societatis Scientiarum Fennicae 50: 12. 45 S. (1925) ¨ [20] Uber eine Erweiterung des Poissonschen Integrals. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 24: 4. 15 S. (1925) [21] Un th´eor`eme d’unicit´e relatif aux fonctions uniformes dans le voisinage d’un point singulier essentiel. C. R. Acad. Sci. Paris 181. S. 92–94. (1925) [22] Zur Theorie der meromorphen Funktionen. Acta Math. 46. S. 1–99. (1925) ¨ [23] F. Nevanlinna & –. Uber die Nullstellen der Riemannschen Zetafunktion. Math. Z. 23. S. 159–160. (1925) atze in der Theorie der meromorphen Funk[24] Einige Eindeutigkeitss¨ tionen. Acta Math. 48. Scripta mathematica a. d. XVII. Kal. Aprilis a. MCMXXVI in Actis mathematicis publicata illustrissimo doctissimo viro Gustavo Mittag-Leffler hoc die octogesimum aetatis complenti annum obtulerunt. S. 367–391. (1926) [25] Sur les valeurs exceptionnelles des fonctions m´eromorphes dans un cercle. Bull. Soc. Math. France 55. S. 92–101. (1927) [26] Compl´ements aux th´eor`emes d’unicit´e dans la th´eorie des fonctions m´eromorphes. C. R. Acad. Sci. Paris 186, S. 289–291. (1927)
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[27] Le th´eor`eme de Picard-Borel et la th´eorie des fonctions m´eromorphes. Collection de monographies sur la th´eorie des fonctions. Gauthier-Villars et ´ Cde, Editeurs, Paris. 7+174 S. (1929) [28] Remarques sur le lemme de Schwarz. C. R. Acad. Sci. Paris 188. S. 1027–1029. (1929) [29] Sur un probl`eme d’interpolation. C. R. Acad. Sci. Paris 188. S. 1224– 1226. (1929) ¨ [30] Uber beschr¨ ankte analytische Funktionen. Commentationes in honorem Ernesti Leonardi Lindel¨of die VII mensis Martii a MCMXXX sexagenarii a discipulis editae. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 32: 7. 75 S. (1929) [31] Sur les th´eor`emes d’unicit´e dans la th´eorie des fonctions uniformes. Atti del Congresso internazionale dei matematici. Bologna 3–10 settembre 1928 (VI). 3. Comunicazioni. Nicola Zanichelli Editore, Bologna. S. 223–228. (1930) [32] Sur une classe de fonctions transcendantes. C. R. Acad. Sci. Paris 191. S. 914–916. (1930) ¨ [33] Uber die Herstellung transzendenter Funktionen als Grenzwerte rationaler Funktionen. Acta Math. 55. S. 259–276. (1930) ¨ [34] Uber die Bandwerte von analytischen Funktionen. Comment. Math. Helv. 2. S. 236–252. (1930) ¨ [35] Uber gewisse neuere Ergebnisse in der Theorie der Wertverteilung. Den syvende skandinaviske matematikerkongress i Oslo 19–22 august 1929. Comptes rendus du septi`eme congr`es des math´ematiciens scandinaves tenu a ` Oslo 19–22 aout 1929. A. W. Broggers boktryckeri a/s, Oslo. S. 68–80. (1930) [36] Remarques sur les fonctions monotones. Bull. Sci. Math. (2) 55. S. 140–144. (1931) ¨ [37] Uber die Werteverteilung der eindeutigen analytischen Funktionen. Vier Vorlesungen, gehalten am Mathematischen Seminar der Universit¨at Hamburg. Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgschen Universit¨at 8. Leipzig. S. 351–400. (1931) ¨ [38] Uber Riemannsche Fl¨ achen mit endlich vielen Windungspunkten. Acta Math. 58. S. 295–373. (1932) [39] Ein Satz u ¨ ber die konforme Abbildung Riemannscher Fl¨achen. Comment. Math. Helv. 5. S. 95–107. (1933) ¨ [40] Uber das Wesen der exakten Forschung. Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Bef¨orderung der gesamten Naturwissenschaften zu Marburg 67 (T932). Berlin. S. 119–149. (1933) ¨ [41] Uber die Riemannsche Fl¨ ache einer analytischen Funktion. Verhandlungen des Internationalen Mathematiker-Kongresses Z¨ urich 1932. 1. Bericht und allgemeine Vortr¨age. Orell F¨ ussli Verlag. Z¨ urich – Leipzig. S. 221–239. (1933) ¨ [42] Uber eine Minimumaufgabe in der Theorie der konformen Abbildung. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu G¨ottingen aus dem Jahre 1933. Mathematisch-physikalische Klasse. Berlin. S. 103–115. (1933)
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[43] Sur la mesure harmonique des ensembles de points. C. R. Acad. Sci. Paris 199. S. 512–514. (1934) [44] Sur un principe g´en´eral de l’Analyse. C. R. Acad. Sci. Paris 199. S. 548–550. (1934) [45] Das harmonische Mass von Punktmengen und seine Anwendung in der Funktionentheorie. ˚ Attonde skandinaviska matematikerkongressen i Stockholm 14–18 augusti 1934. Comptes rendus du huiti´eme congr`es des math´ematiciens scandinaves tenu a ` Stockholm 14–18 aoˆ ut 1934. H˚ akan Ohlssons boktryckeri, Lund. S. 116–133. (1935) [46] Eindeutige analytische Funktionen. Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen mit besonderer Ber¨ ucksichtigung der Anwendungsgebiete 46. Verlag Julius Springer, Berlin. 8+353 S. (1936) ¨ [47] Uber die Kapazit¨ at der Cantorschen Punktmengen. Monatshefte f¨ ur Mathematik und Physik 43. Wirtinger-Festband. W. Wirtinger widmen Freunde, Sch¨ uler und Kollegen die Arbeiten dieses Bandes zum 70. Geburtstag. Leipzig – Wien. S. 435–447. (1936) [48] Bemerkungen zum alternierenden Verfahren. Monatshefte f¨ ur Mathematik und Physik 48. Furtw¨ angler-Festband. Ph. Furtw¨angler widmen Freunde, Sch¨ uler und Kollegen die Arbeiten dieses Bandes zum 70. Geburtstag. Leipzig – Wien. S. 500–508. (1939) [49] Die Mathematik und das wissenschaftliche Denken. Yhdeks¨as skandinaavinen matemaatikkokongressi Helsingiss¨a 23-26 p. elokuuta 1938. Nionde skandinaviska m¨atematikerkongressen i Helsingfors 23-26 augusti 1938. (Neuvi`eme congr`es des math´ematiciens scandinaves a ` Helsingfors du 23 au 26 aoˆ ut 1938. Helsinki/Helsingfors.) S. 1–14. (1939) ¨ [50] Uber das alternierende Verfahren von Schwarz. J. Reine Angew. Math. 180. S. 121–128. (1939) ¨ [51] Uber die L¨ osbarkeit des Dirichletschen Problems f¨ ur eine Riemannsche Fl¨ ache. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu G¨ottingen. Mathematisch-physikalische Klasse. Neue Folge. Fachgruppe I. Nachrichten aus der Mathematik 1 (1934–40). G¨ ottingen. S. 181–193. (1940) [52] Ein Satz u ¨ ber offene Riemannsche Fl¨achen. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 54: 3. 18 S. (1940) [53] Quadratisch integrierbare Differentiale auf einer Riemannschen Mannigfaltigkeit. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 1. Math.-Phys. 1. 34 S. (1941) [54] Berechnung der Normalflugbahn eines Geschosses. Ann. Acad. Sci. Fenn. Ser. A. 1. Math.-Phys. 15. 8 S. (1943) ¨ [55] Uber die Konstruktion von analytischen Funktionen auf einer Riemannschen Fl¨ ache. Convegno di scienze fisiche matematiche e naturali (1939). Matematica contemporanea e sue applicazioni. Reale Accademia d’Italia. Fondazione Alessandro Volta. Istituita dalla Societ` a Edison di Milano. Atti dei convegni 9. Reale Accademia d’Italia, Roma. S. 307–324. (1943) ¨ [56] Uber Experimente und Gedankenexperimente. Sitzungsberichte der Finnischen Akademie der Wissenschaften 1940. Helsinki. S. 26–40. (1944)
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Archive und Privatquellen Zentralarchiv der Universit¨ at Helsinki Dokumente in Universit¨ atsangelegenheiten 1926 N:o 1, Besetzung einer alternierenden Mathematikprofessur. Sachverst¨ andigengutachten. Universit¨ atsprogramme 1922–1946 Protokolle des Konsistoriums 1934 und 1941–1945 Frithiof-Nevanlinna-Archiv Rolf-Nevanlinna-Archiv Bibliothek der Universit¨ at Helsinki Protokolle der Viborger Studentenverbindung 1936–37, 1938–39 und 1940–44 Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universit¨ at Helsinki Vortr¨ age der Finnischen Mathematischen Vereinigung 1909–1947
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Quellen Rockefeller Archive Center Dossier Rolf Nevanlinna Universit¨ atsarchiv der Albert Ludwigs-Universit¨ at Freiburg Zwiegespr¨ ach S¨ uss-Nevanlinna im deutschen Rundfunk, Jena 27.10.1941.
Das Material des Archivs von Valio wurde f¨ ur mich von Matti Heikonen gesammelt, das Material des Finnischen Rundfunks (Yleisradio) hat Eero Saarenheimo zusammengestellt. Das Material des Deutschen Bundesarchivs erhielt ich von Boris Salomon. Im Milit¨ ararchiv leisteten Harri Huusko und Mikko Viitasalo hilfreiche Arbeit. Privates schriftliches Material wurde von Heikki Haahti, Timo Ketonen, Arne Nevanlinna, Heikki Nevanlinna, Olavi Nevanlinna, Sinikka Nevanlinna, Tuomas Ollila, Tytti Oukari, Aili Palm´en und Georg Henrik von Wright zur Verf¨ ugung gestellt. Wichtige Informationen oder Ratschl¨ age erhielt ich auch von Antti Ahlstr¨ om, Hans Andersin, Olavi Gran¨ o, Markku Hartikainen, Hannu Heikkil¨ a, Mauno Jokipii, Matti Klinge, Hans K¨ unzi, Leena Lehto, Ilppo Simo Louhivaara, Kalevi Mattila, Saara Nevanlinna, Ilkka Niiniluoto, Osmo Pekonen, Kurt Strebel, Allan Tiitta und Ari Uino. Zus¨ atzlich zu den obengenannten Personen haben mir zahlreiche Privatpersonen und Beamte von Archiven, Bibliotheken und Museen beim Sammeln des Materials oder durch die Erl¨ auterung von Einzelheiten geholfen.
Namensverzeichnis
Aalto, Alvar 107, 178, 200, 235, 237, 246, 247, 249, 253, 270 Aaltonen, W¨ ain¨ o 152, 153, 188 Ahlfors, Erna 132 Ahlfors, Lars 55, 59, 77, 78, 80–85, 125, 128, 132, 133, 181, 182, 200, 201, 203, 222, 223, 226, 271 Aho, Lauri 246 Aleksandrow, Pawel (Paul) 133 Alexander I. 9 Andersen, Hans Christian 32 Astaire, Fred 104 Aura, Teuvo 241 Austerlitz, Paul 104 Austerlitz, Robert 104 Austerlitz (geb. Nevanlinna), Sylvi 64, 100, 101, 104, 129, 177, 180 Balzac, Honor´e de 27, 133 Bart´ ok, B´ela 236 Beecham, Sir Thomas 198, 199 Beethoven, Ludwig van 28, 46, 179 Behn, Anna, siehe Romberg, Anna Berger, Gottlob 143 Berglund, Paavo 260, 263 Bergman, Erik 262 Bieberbach, Ludwig 84 Bismarck, Otto von 121, 137, 154 Bleuler, Konrad 201, 202, 271 Bl¨ ucher, Wipert von 139, 143, 156 Bohr, Harald 79 Bohr, Niels 157, 158, 234 Borel, Emile 57, 66, 80 Born, Ernst von 150
Bourbaki, Nicolas 86, 87, 131–134 Brahms, Johannes 28, 179 Breˇznew, Leonid 256 Brofeldt, Timo 106 Brouwer, L. E. J. 124 Burckhardt, Jacob 45, 64, 89, 154, 178 Burgman, Charlotta, siehe Neovius, Charlotta Burgman (geb. Lindmarck), Christina 7, 8 Burgman, Fredrik 6, 7 Carath´eodory, Constantin 79, 82 Carleson, Lennart 271 Cauchy, Augustin-Louis 44 Chandrasekharan, Komaravolu 212, 235, 256 Chaplin, Sir Charles 91 Chopin, Fr´ed´eric 28 Chruschtschow, Nikita 209, 211, 256 Collingwood, Sir Edward 61, 265 Costian, Anna, siehe Neovius, Anna Costian, Martinus 4 Courant, Richard 124 Cram´er, Harald 129, 214 Deligne, Pierre 259, 260 Denjoy, Arnaud 77 Dostojewski, Fjodor 74 Douglas, Jesse 82 Drasin, David 80 Eckmann, Beno Edelfelt, Albert
210 152
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Namensverzeichnis
Einstein, Albert 72, 73, 75, 118, 122, 124 Elfving, Gustav 84 Elisabeth, Zarin von Rußland 3 Engel, Carl Ludvig 8 Erfurth, Waldemar 162 Erkko, Eljas 157 Euklid 85–87, 232 Fefferman, Charles 259, 260 Flaubert, Gustave 27 Frey, Alexander 136 Freymann, Ernst von 41 Friedrich der Große 137, 154 Friedrich Karl, Prinz von Hessen Fuchs, W. H. J. 271
Hohti (geb. Nevanlinna, vorm. Visap¨ a¨ a), Kristiina 175, 178, 197, 236, 240, 267, 268 Hohti, Markus 104 Hohti, Paavo 236 Hohti, Riikka 104 Honkajuuri, Mauri 136 Hopf, Heinz 210 Hurwitz, Adolf 81 Ilves, Eero 157 Ilvessalo, Yrj¨ o 188 Iversen, Felix 37, 39, 229
43
Gauß, Carl Friedrich 47 G¨ oring, Hermann 135, 137, 138 Goethe, Johann Wolfgang von 99 Gran¨ o, Olavi 253 Gustaf Adolf VI. 214 Haahti (geb. Nevanlinna), Anna 23, 32, 34, 104, 106, 107 Haahti, Hannu 107, 129, 261 Haahti, Heikki 104 H¨ allstr¨ om, Gunnar af 84 Hakkila, V¨ ain¨ o 151, 152 Hallamaa, Reino 128, 130 Hannikainen, Mary 151, 173–176 Hasse, Helmut 124, 126 Hayman, Walter 63, 271 Hegel, Friedrich 121 Heikel, Ivar A. 118 Heikinheimo, Seppo 236 Heino, Raimo 273 Helo, Johan 164, 165, 167 Heß, Rudolf 124 Hilbert, David 65, 66, 76, 121, 124 Hild´en, Margit 62 Hiltunen, Eila 246, 247 Himmler, Heinrich 141 Hindenburg, Paul von 126 Hinkkanen, Aimo 268 Hintikka, Jaakko 90 Hitler, Adolf 65, 111, 121, 122, 124, 132, 136, 137, 141, 144, 154, 165
J¨ arnefelt, Eero 152 J¨ arnefelt, Gustaf 84, 169 Jalas, Jussi 260, 268, 269 Jauho, Pekka 169, 234 Johansson, Severin 37, 39 Jokipii, Mauno 142 Kaila, Eino 27, 30, 60, 73–76, 87–89, 106, 112, 113, 152–154, 157, 158, 169, 170, 184, 186, 188, 253, 261 Kallio, Kalervo 97 Kallio und Kallio-Visap¨ a¨ a, Sinikka, siehe Nevanlinna, Sinikka Kekkonen, Urho Kaleva 117, 150, 165, 167, 184, 186, 187, 190, 217–219, 249–254, 259, 264, 269, 270 Keller, Heinrich 201, 238 Ketonen, Oiva 126, 170, 248, 251, 252 Kilpi, Eino 183, 184, 188 Kilpinen, Yrj¨ o 187, 188, 237 Kivek¨ as, Lauri 268 Kivi, Aleksis 244 Kivimaa, Arvi 271 Kivim¨ aki, Toivo Mikael 158, 181, 206 Klami, Uuno 262 Klinge, Matti 140 Kokkonen, Joonas 235, 236, 262 Kolmogorow, Andrei 209 Koskenniemi, V.A. (Veikko Antero) 151, 187, 188, 219, 220, 261 Krogius (geb. von Numers), Amalia 12, 37 Krogius, Elise, siehe Neovius, Elise Krogius, Gabriella, s. Lindel¨ of, Gabriella 37
Namensverzeichnis Krogius, Lars Gabriel 12, 37 Kronecker, Leopold 88 K¨ unzi, Hans 179, 201, 202 Kukkonen, Antti 156 Kustaanheimo, Paul 85 Kuusinen, Hertta 99, 164, 165 Laatikainen, Taavetti 148 Landau, Edmund 118 L˚ angfors, Arthur 146, 167 Laurikainen, K.V. (Kalervo Vihtori) 234, 235 Laurila, Erkki 230 Lawrentjew, Michail 171, 209 Lehto, Lauri 39, 62 Lehto, Olli 36, 61, 78, 108, 185, 226, 228, 229, 255, 259, 271 Leino, Yrj¨ o 167, 188, 197 Le Moine, Erik Wilhelm 7 Liikkanen, Ilmari 130, 239, 270 Lindberg, Roger 242 Lindeberg, Jarl 37, 39, 47, 70 Lindel¨ of, Ernst 21, 36–41, 44–48, 55, 57, 58, 63, 64, 66, 69–72, 76, 82–85, 112, 113, 121, 131, 164, 170, 234 Lindel¨ of (geb. Krogius), Gabriella 37 Lindel¨ of, Lorenz 37, 44, 47 Lindmarck, Christina, siehe Burgman, Christina Linkomies, Edwin 36, 73–75, 113, 119, 143, 144, 146, 151, 152, 154, 156, 158, 181, 190, 206, 218, 219, 221, 222, 231, 235, 241, 248, 251, 261, 262 Littlewood, John Edensor 61 L¨ onnrot, Elias 11, 35, 55 Louhivaara, Ilppo Simo 212, 226, 229, 255, 256 Maissen (geb. Visap¨ a¨ a), Leena 178 Malmberg, Lauri 144 Mann, Thomas 74, 122, 178 Mannerheim, Carl Gustaf Emil 14, 16, 42, 43, 47, 48, 118, 141, 144, 145, 149, 162, 168, 181 Margulis, Grigori 259, 260 Meinander, Nils 165 Mellin, Hjalmar 71–73 Meltti, V¨ ain¨ o 183, 184
297
Mikkil¨ a, Timo 174, 268 Mittag-Leffler, Magnus Gustaf 44, 45 Molotow, Wjatscheslaw 127, 136 Mozart, Wolfgang Amadeus 179 Mussolini, Benito 120 Myrberg, Pekka 70, 71, 84, 171, 208, 226, 230, 256 Napoleon I. 18, 154, 214 Nenonen, Vilho Petter 130, 131 Neovius, Adolf 5–9, 12 Neovius (geb. Costian), Anna 4 Neovius (geb. Burgman), Charlotta 6–12, 18, 26 Neovius, Edvard Engelbert 6, 12–15, 48, 271 Neovius, Edvard Rudolf 16, 21, 24, 28–30, 35, 37, 45, 76, 105, 106 Neovius (geb. Krogius), Elise 12, 13, 29, 37, 271 Neovius, Elise, siehe Selin, Elise Neovius, Ernst, siehe Nevanlinna, Ernst Neovius (geb. Wrangel), Fredrika 4, 5 Neovius, Frithiof 14, 15 Neovius, Gunnar, siehe Nevanlinna, Gunnar Neovius, Hjalmar 5, 181 Neovius, Lars, siehe Nevanlinna, Lauri Neovius, Otto, siehe Nevanlinna, Otto ¨ Neovius, Thomas (d. A.) 2–4 Neovius, Thomas (d. J.) 4 Neovius, Thyra 35, 105 Neovius, Wilhelm 14, 37 Nevanlinna, Aino 102 Nevanlinna, Anja 102 Nevanlinna, Anna, siehe Haahti, Anna Nevanlinna, Arne 64, 77, 99–101, 103–105, 129, 178 Nevanlinna, Erik 23, 32, 64, 128, 142 Nevanlinna, Ernst 5, 23, 24, 30, 31, 41, 43, 54, 73–75, 106, 113, 118, 149, 166 Nevanlinna, Frithiof 14, 22, 24–27, 32, 33, 36, 47, 48, 50, 51, 58–60, 62, 71, 72, 74, 76, 99, 104, 106–108, 112, 118, 128, 129, 142, 169, 171, 177,
298
Namensverzeichnis
180, 185, 195, 199, 217, 225, 231, 261, 266, 267 Nevanlinna, Gunnar 107, 157 Nevanlinna, Harri 64, 65, 77, 100, 101, 103, 105, 108, 129, 142, 177, 269 Nevanlinna, Heikki 102 Nevanlinna, Jorma 102 Nevanlinna, Kai 64, 65, 77, 100–103, 105, 129, 142 Nevanlinna, Kristiina, siehe Hohti, Kristiina Nevanlinna, Lauri 16, 24, 28–30, 76, 174 Nevanlinna (geb. Romberg), Margareta 17–23, 25–27 Nevanlinna (geb. Selin), Mary 18, 48– 50, 55, 64, 65, 77, 79, 98–106, 108, 109, 122, 129, 132, 138, 173–178, 180–182, 239, 269 Nevanlinna, Olavi 104 Nevanlinna, Otto 16–18, 20, 21, 23–31, 41, 43 Nevanlinna (geb. Kallio, gesch. KallioVisap¨ a¨ a), Sinikka 103, 107, 174–180, 182, 197, 198, 207, 209, 217, 218, 220, 236, 239, 240, 248, 262, 263, 265, 267, 268, 270 Nevanlinna, Sylvi, siehe Austerlitz, Sylvi Nevanlinna, Tuomas 104 Nevanlinna, Veikko 104 Niskala, Teuvo 115, 116 Nordstr¨ om, Gunnar 72 Norrm´en, Pehr A. 157 Numers, Amalia von, siehe Krogius, Amalia Nummi, Lassi 95 Nurmela, Tauno 117, 241 ¨ Osterman, Hugo 144 Okkonen, Onni 188 Paasikivi, Juho Kusti 30, 41, 118, 119, 138, 150, 158, 164–168, 181, 183, 187, 188, 190, 191, 208, 217, 219 Paatero, Veikko 84 Palm´en, Aili 197, 271 Palm´en, Erik 188 Palm´en, Ernst 235, 248, 262
Paloheimo (geb. Sibelius), Eva 199 Peitsi, Pekka, siehe Kekkonen, Urho Kaleva Pekkala, Mauno 167, 183, 188 Pekonen, Osmo 134 Pennanen, Pekka 129 Petrowski, Iwan 214, 215 Pfluger, Albert 203, 271 Picard, Emile 56–58, 80 Poincar´e, Henri 65 P´ olya, George 78 Prokofjew, Sergei 236 Puntila, Lauri A. 151, 152, 163, 221, 222, 251 Quillen, Daniel
259, 260
Raittila, Tapani 242 Ramsay, Henrik 144, 158 Rangell, Jukka (Johan Wilhelm) 206 Ravila, Paavo 248, 249 Reenp¨ a¨ a, Heikki 106, 157, 261 Reenp¨ aa o 106, 169, 261 ¨, Yrj¨ Renvall, Pentti 254 Ribbentrop, Joachim von 127, 136 Rickman, Seppo 271 Riekki, Esko 141, 142 Riemann, Bernhard 44 Romberg (geb. Behn), Anna 18–20 Romberg, Herman 17–20 Romberg, Margareta, siehe Nevanlinna, Margareta Rosbaud, Hans 199 Runeberg, Johan Ludvig 11 Russell, Bertrand 89 Ryti, Risto 151, 152 Saarenheimo, Eero 265 Salis, Gubert von 207, 218 Salomaa, Jalmari Edvard 73, 75 Sario, Leo 117, 163, 185, 186, 226–228 Sax´en, Arno 106, 261 Schostakowitsch, Dmitri 209, 236 Selin (geb. Neovius), Elise 48 Set¨ al¨ a, Emil Nestor 70 Shakespeare, William 270 Sibelius, Jean 33, 34, 38, 46, 47, 98, 120, 125, 149, 180, 198, 199, 221, 236, 237, 246, 260, 262, 269, 270
Namensverzeichnis Siirala, Martti 177 Silfverski¨ old, Anna Maria 9 Silfverski¨ old, Pehr Christian 7, 9 Snellman, Johan Vilhelm 11, 23, 24, 54, 117, 118, 121, 136, 163 Snellman, Teo 136 Snow, Sir Charles Percy 245, 246 Stalin, Josef 208 Steiner, Felix 140, 144, 145 Stockhausen, Karlheinz 236 Stoilow, Simion 162 Stokowski, Leopold 199 Stone, Marshall H. 210 Strawinsky, Igor 236 Strebel, Kurt 63, 201–203, 207 Stuvart, Leutnant 5 Suolahti, Eino E. 220 Suolahti, Hugo 135, 151, 152, 157 Svento, Reinhold 167 Svinhufvud, Pehr Evind 119, 136, 156, 157 Szeg˝ o, G´ abor 59 Talvela, Martti 235 Talvela, Paavo 159 Tammi, Olli 209 Tanner, V¨ ain¨ o 218, 219 Tawaststjerna, Erik 223, 235, 236, 238, 262, 269 Teichm¨ uller, Oswald 125 Toivonen, Yrj¨ o 188 Tolstoi, Lew 74 Topelius, Zacharias 6, 32, 44 Toppila, Sakari 271 Tschechow, Anton 74 Tulenheimo, Antti 151, 165, 167, 168 ¨ Tuomas Tuomaanpoika (d. A.) 1 Tuomas Tuomaanpoika (d. J.), siehe ¨ Neovius, Thomas (d. A.)
Ullrich, Egon
299
84, 125
Vannas, Mauno 139 Virkkunen, Matti 243 Virolainen, Johannes 117, 254, 255 Virtanen, A.I. (Artturi Ilmari) 158, 167, 186, 188–192, 208, 218, 219, 221, 222, 228, 248, 249 Virtanen, Kaarlo Ilmari (Kalle) 226, 228 Visap¨ aa ¨, Kai 103 Visap¨ a¨ a, Leena, siehe Maissen, Leena Visap¨ a¨ a, Niilo 174, 175, 178 Voionmaa, Tapio 134 Waerden, Bartel van der 266, 267 Walden, Rudolf 144 Weierstraß, Karl 44 Weil, Andr´e 87, 118, 131–134 Weil, Eveline 132, 133 Weil, Simone 132 Weyl, Hermann 75, 76, 123, 124, 126, 210, 266, 267 Wihuri, Antti 136, 220, 221 Wilhelm II. 43 Wirtanen, Atos 165 Wittgenstein, Ludwig 184 Wittich, H. 271 Witting, Rolf 142, 143 Wladimirow, Wassili 261 Wrangel, Johan 5 Wright, Georg Henrik von 169, 184, 253 ˇ Zdanow, Andrei Zola, Emile 27
181