»Erntezigeuner. Unterwegs zu den Früchten des Zorns« ist ein Augenzeugenbericht über die Folgen der »Dust Bowl Migratio...
50 downloads
884 Views
30MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
»Erntezigeuner. Unterwegs zu den Früchten des Zorns« ist ein Augenzeugenbericht über die Folgen der »Dust Bowl Migration«, über ein einschneidendes Kapitel kalifornischer Geschichte. In sieben Artikeln aus dem Jahr 1936 – erschienen in den San Francisco News drei Jahre vor seinem Meisterwerk »Früchte des Zorns« – setzt sich John Steinbeck mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Erntearbeiter auseinander.
John Steinbeck, amerikanischer Erzähler deutschirischer Abstammung, am 27. Februar 1902 in Salinas/Kalifornien geboren. 1918–24 Biologiestudium an der Stanford University, nach Abbruch des Studiums Nachtwächter, Maurer, Dienstmann, Fischer, Fruchtpflücker, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey. Im Zweiten Weltkrieg Kriegsberichterstatter, 1962 Nobelpreis für Literatur, gestorben am 20.12.1968 in New York. Von seinen Büchern seien erwähnt: »Früchte des Zorns«, »Eine Handvoll Gold«, »Tortilla Flat«, »Jenseits von Eden«, »Von Mäusen und Menschen«, »Die Straße der Ölsardinen« u. v. a. Dorothea Lange (1895–1965) ist vor allem durch ihre Fotodokumentationen der amerikanischen Krisenjahre um 1935 bekannt geworden, insbesondere durch ihre Studie »Migrant Mother« (1936). Später arbeitete sie als freie Fotoreporterin in Asien, Südamerika und im Nahen Osten (1958–63).
John
Steinbeck Erntezigeuner
Fotografien von Dorothea Lange u. a. Mit einer Einleitung von Charles Wollenberg, aus dem Amerikanischen von Wolfgang Astelbauer
Folio Verlag Wien • Bozen
Titel der Originalausgabe: The Harvest Gypsies. On the Road to the Grapes of Wrath, Heyday Books, Berkeley, CA Die Fotografien wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Bancroft Library, University of California, Berkeley, CA Das Umschlagbild non Dorothea Lange zeigt einen ehemaligen Pachtbauer aus Oklahoma mit seiner Familie, deren Auto nahe der kalifornischen Grenze stehengeblieben ist, 1957.
Erste Auflage 1997 © F o l i o V er la g W i en • B o z e n Alle Rechte vorbehalten Graphisches Konzept: D a l l’ O & F r eu nd e Gesetzt aus der Goudy Druck & Bindung: D ipdruck , Br uneck Fotolithos: T y p es t ud io, Bo z en Druckvorbereitung: Gr a p h ic l i ne , Bo ze n Printed in Italy 1997 ISBN 3-85256-063-2
Inhalt
Charles Wollenberg: Einleitung 7 I 23 II 32 III 40 IV 83 V 92 VI 101 VII 108
Einleitung Charles Wollenberg
J
ohn Steinbeck schrieb sein Meisterwerk, Früchte des Zorns („The Grapes of Wrath“), 1939 und widmete es „Carol“, die dieses Buch „wollte“, und „Tom“, der es „lebte“. „Carol“ war Carol Henning Steinbeck, die Frau des Autors; „Tom“ war Tom Collins, der Leiter eines von den Bundesbehörden eingerichteten Lagers für Wanderarbeiter im kalifornischen Zentraltal. Steinbeck lernte Collins drei Jahre zuvor kennen, kurz nachdem die San Francisco News den Autor verpflichtet hatten, die in diesem Band versammelte Artikelreihe zu schreiben, die vom 5. bis 12. Oktober 1936 in den News erschien. Collins, der mit Steinbeck die „Hoovervilles“ und „Little Oklahomas“ des ländlichen Kalifornien besuchte, lieferte dem Autor jenes Hintergrundwissen, das die Artikelreihe auch mehr als sechzig Jahre nach ihrem Anlaß zur fesselnden Lektüre macht. Tom Collins trug so auch dazu bei, daß John Steinbeck sich auf eine persönliche und literarische Reise begab, die zur Veröffentlichung von Früchte des Zorns führen sollte. Das Angebot der News erhielt Steinbeck zu einer Zeit, als ihm Ruhm und Glück zuteil wurden, die lange hatten auf sich warten lassen. Der 1902 in Salinas geborene Steinbeck hatte schon als Schüler der Salinas High School davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Er ging nach 7
Stanford, verließ die Universität jedoch ohne Abschluß. Da es ihm in den darauffolgenden Jahren nicht gelang, sich als Autor sein Geld zu verdienen, sah er sich gezwungen, verschiedene kurzfristige Arbeiten und finanzielle Unterstützung von seiner Familie anzunehmen. In den frühen dreißiger Jahren war Steinbeck zu einem großen, grobschlächtigen Mann herangereift, der seine ausgeprägte Empfindlichkeit und Unsicherheit hinter dem barschen Äußeren eines schweren Trinkers verbarg. Mit der Veröffentlichung von Tortilla Flat („Tortilla Flat“) im Jahr 1935 wendete sich sein Schicksal endlich. In diesem lustigen satirischen Roman über eine Gruppe von heruntergekommenen mexikanischen Amerikanern wandte sich Steinbeck seinen Wurzeln im Tal von Salinas und in Monterey zu. Das Buch wurde ungeheuer populär, und das trotz der Kritik der Bürger von Monterey, die sich gegen die unkonventionelle Darstellung ihrer Gemeinde verwehrten, und der späteren Angriffe durch ChicanoAktivisten, die meinten, das Buch bediene sich negativer Latino-Klischees. Als Tortilla Flat erschien, arbeitete Steinbeck bereits an einem weitaus ernsteren Buch. Er hatte einen Funktionär der kommunistischen Cannery and Agricultural Workers Industrial Union kennengelernt, die 1933 einen ehrgeizigen, doch letzten Endes erfolglosen Versuch unternahm, die kalifornischen Landarbeiter zu organisieren. Steinbeck verwendete die Erfahrungen des Gewerkschafters als Grundlage für Stürmische Ernte („In Dubious Battle“), das die bittere Geschichte eines Landarbeiterstreiks erzählt. Trotz kritischer Stimmen von Züchtern, die Steinbeck 8
vorwarfen, für die Arbeiter Partei zu ergreifen, und trotz des tiefen Unbehagens über die alles andere als schmeichelnde Darstellung kommunistischer Funktionäre wurde das Buch im allgemeinen gut aufgenommen. Stürmische Ernte begründete Steinbecks Ruf als ernsthafter Schriftsteller, der über die Bedingungen der Landarbeit Bescheid wußte. Einige Jahre zuvor war Steinbeck in Carmel im Haus Lincoln Steffens’, eines bekannten radikalen Journalisten, George West, dem Herausgeber der San Francisco News, begegnet. Nachdem Stürmische Ernte erschienen war, bat West den Autor, eine Artikelserie über die von der Dürre aus den großen Ebenen vertriebene Landbevölkerung zu schreiben, die damals Kalifornien überschwemmte. Steinbeck nahm den Auftrag bereitwillig an und begann im Sommer 1936 mit dem alten Lieferwagen einer Bäckerei die landwirtschaftlichen Täler des Staates Kalifornien zu bereisen. Die bundesbehördliche Wiederansiedlungsorganisation, eine Einrichtung des New Deal, die Lager für die Wanderarbeiter anlegte, war um ein positives Bild in der Öffentlichkeit bemüht und teilte dem Schriftsteller einen ihrer Mitarbeiter als Begleitung zu. Es war im Weedpatch Camp der Resettlement Administration in Arvin im Kern County, wo Steinbeck Tom Collins begegnete. Collins war das Vorbild für Jim Rawley, den Leiter des von den Bundesbehörden eingerichteten „Wheatpatch Camp“ in Früchte des Zorns. Ma Joad, die matriarchale Mutter der Zuwandererfamilie, deren Erfahrungen im Mittelpunkt des Romans stehen, sah Rawley als „kleinen 9
Mann ganz in Weiß […] mit einem dünnen faltigen Gesicht und lustigen Augen. Er war mager wie ein Zaunpfahl. Sein sauberer weißer Anzug war an den Nähten ausgefranst.“ Steinbeck beschrieb das Vorbild ähnlich, fügte aber hinzu, daß er „müde aussah, müde jenseits aller Schläfrigkeit, in einer Art müde, die einen nicht schlafen läßt, auch wenn man Zeit und ein Bett hat“. Collins war Lehrer in Guam gewesen, wo er eine Schule für straffällige jungen geleitet hatte, und hatte dann für das Federal Transient Service gearbeitet, eine Einrichtung, die in den ersten Jahren der Weltwirtschaftskrise Obdachlosen erste Hilfe in der Not bot. 1935 trat Collins in die Resettlement Administration ein und führte das erste Lager für Wanderarbeiter in Marysville. Als Steinbeck ihn traf, war Collins gerade dabei, das zweite Lager der Organisation in Arvin aufzubauen. Jackson Benson, der wichtigste Biograph Steinbecks, bezeichnet Collins als „einen Idealisten, einen utopistischen Reformer, einen Romantiker, aber auch einen guten Organisator“. Steinbeck blieb mehrere Tage lang im Weedpatch Camp, sprach mit dessen Bewohnern, besuchte die Versammlungen des Lagerkomitees und Tanzveranstaltungen und beobachtete Collins dabei, wie dieser mit strategischem Gefühl für seine Idee einer bedingten Selbstverwaltung eintrat. Steinbeck und Collins klapperten mit dem alten Lieferwagen Farmen und Feldlager in der Umgebung ab, und der Autor las Collins’ regelmäßige Berichte an das Büro der Organisation in San Francisco. Die sozialen und kulturellen Beobachtungen über das Wanderleben und die manchmal im Dialekt von Oklahoma wiedergegebe10
nen Anekdoten machen Collins’ Berichte zu außergewöhnlichen Dokumenten. Die News hatten bereits Auszüge veröffentlicht, und Steinbeck sammelte sie als mögliche Materialquelle für Früchte des Zorns. 1936 dienten ihm die Aufzeichnungen dazu, die Hintergründe des Wanderlebens zu begreifen und die tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu verstehen, die Armut und Heimatlosigkeit hervorgebracht hatten. Als Steinbeck von Arvin nach Hause zurückkehrte, bedankte er sich bei Collins in einem Schreiben „für eine der schönsten Erfahrungen“ seines Lebens. Die beiden Männer blieben die folgenden drei Jahre miteinander in Verbindung; Collins besuchte Steinbeck gelegentlich in Los Gatos, und Steinbeck kehrte für weitere gemeinsame Ausflüge mit „der alten Brotkutsche“, wie Collins den Lieferwagen nannte, ins Zentraltal zurück. Die Beziehung beruhte gleichermaßen auf wechselseitigem Interesse wie auf persönlicher Freundschaft. Steinbeck verwendete die Erfahrungen des Campleiters als unverzichtbares Tatsachenmaterial für seine schriftstellerische Arbeit, und Collins betrachtete Steinbeck als jemanden, der seinem Herzensanliegen eine Öffentlichkeit verschaffen und die Bürger des Landes auf die Not der Wanderarbeiter aufmerksam machen konnte. Jackson Benson meinte, daß Collins’ entscheidender Beitrag zu Früchte des Zorns „eher die Haltung, die den Roman ausmacht, betrifft als die Einzelheiten und Töne der Oberfläche“. Das gilt im großen und ganzen auch für Collins’ Einfluß auf Steinbecks Artikelreihe in den News. Steinbeck war sich bewußt, wie leidenschaftlich der Leiter des Lagers hinter der Sache 11
stand, und versprach, „aufzupassen und zu versuchen, Gutes zu tun und keinen Schaden anzurichten“. Die Artikel begnügen sich nicht mit Beschreibungen, sondern tragen bestimmte politische Empfehlungen vor. Auch in diesem Punkt zeigt sich Tom Collins’ Einfluß. Steinbeck plädiert beispielsweise für eine massive Ausweitung des Lagerprogramms seitens des Bundes. Sowohl in den Artikeln als auch in Früchte des Zorns stellen die Erfahrungen im Camp den einzigen Lichtblick in einem sonst durchwegs düster gehaltenen Bericht dar. Nur in den Lagern zeichnet Steinbeck die Wanderarbeiter als Menschen, die ihr Leben in gewisser Weise im Griff haben und mit etwas Würde und Selbstachtung über die Runden kommen. Tatsächlich waren die Camps kaum mehr als kurzfristige Mittel der Linderung. In Früchte des Zorns werden die Joads gezwungen, die fast idyllische Welt des „Wheatpatch Camps“ zu verlassen, um Arbeit zu suchen. „Und wir haben nicht gehn wollen“, erklärt Pa Joad. „Es ist so hübsch hier, und die Leute sind so nett […] – Das Wichtigste ist, wir müssen was zu essen haben. […] Das heiße Wasser hier und die Toiletten …“ Im Bereich jenseits der Lager tritt Steinbeck für die Einrichtung eines Ausschusses für die Belange der kalifornischen Landarbeiter ein, der deren Recht auf Gründung von Gewerkschaften schützen und unterstützen sollte. Der Autor drängt vor allem auf ein Programm der Bundesund Landesbehörden, das die Wiederansiedlung der Zuwanderer, der Okies, auf kleinen Familienfarmen, unter Umständen auf öffentlichem Grund und Boden, betreiben soll. 12
Steinbeck wie Collins sahen die Wanderarbeiter als vertriebene jeffersonsche Freibauern, die ihr kleines Stück Land brauchten und auch Anspruch darauf hatten. Unglücklicherweise stand diese Einschätzung im Widerspruch zur Grundtendenz der Entwicklung der kalifornischen Landwirtschaft. Die ländliche Ökonomie des Staates war nie von kleinen jeffersonschen Freibauern bestimmt gewesen. Der Goldrausch hatte es kommerziellen Produzenten erlaubt, sich auf die städtischen Märkte in San Francisco und die Minenlager auszurichten, wo sie ihre Ware unmittelbar zu Geld machen konnten. Die Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahnlinie im Jahre 1869 hatte einen Weizenboom im Zentraltal zur Folge, und die großen „Goldgrubenfarmen“, wie man sie nannte, produzierten nun für den internationalen Markt. Obwohl die meisten kalifornischen Farmen kleine oder mittlere Unternehmen waren, kam der Großteil des Ertrags bereits um 1870 von relativ wenigen großen Farmen, die zum Teil von Geschäftsleuten aus San Francisco kontrolliert wurden. Der Übergang zum Anbau von Obst, Gemüse und anderen Formen der Intensivbewirtschaftung im späten 19. Jahrhundert änderte daran kaum etwas. Wenn sich die Bewirtschaftung des Landes durch große Gesellschaften in vielen Teilen der Vereinigten Staaten auch ziemlich spät durchsetzte, war sie 1936, als Steinbeck und Collins erstmals die Felder des Zentraltals besuchten, in Kalifornien bereits Realität. Die Arbeitskraft der großen Weizenfarmen der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts rekrutierte sich größtenteils aus meist ledigen, ungebundenen Män13
nern, aus „Landstreichern“. Als aber die Umstellung auf Obst und Gemüse den Bedarf an Arbeitskräften nicht nur in der Erntezeit steigerte, begannen Chinesen und andere Einwanderer in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die Arbeiter zogen, den Erfordernissen der verschiedenen angebauten Produkte entsprechend, landauf und landab und bildeten die erste moderne Wanderlandarbeiterschaft der Nation. Als die Einwanderungsbeschränkungen des Bundes das Nachströmen chinesischer Arbeitskräfte unterbanden, wandten sich die Züchter Japan, Südeuropa und sogar Indien zu. Als auch diese Gebiete durch Einschränkungen betroffen waren, verlagerte sich die Aufmerksamkeit auf Mexiko und die Philippinen. Spätestens 1935 begann die große Einwanderungswelle der Landbevölkerung aus dem Mittleren Westen viele, wenn auch keineswegs alle eingewanderten, nichtweißen Arbeiter von den kalifornischen Feldern zu verdrängen. Von 1935 bis 1938 erreichten zwischen 300.000 und 500.000 Menschen Kalifornien. Das Elend, Zwangsvollstreckungen und die Dürre hatten sie aus den Staaten der Lower Plains, aus Texas, Arkansas, Missouri und natürlich Oklahoma, vertrieben. Ironischerweise trugen die Programme der Bundesbehörden, die den Farmern helfen sollten, zur Abwanderung bei. Indem die Regierung Eigentümer dafür bezahlte, ihr Land nicht zu bewirtschaften, machte sie Tausende Kleinbauern überflüssig, von denen manche die Pacht in Geld, manche in Form eines Ernteanteils abgegolten hatten. Steinbeck und Collins waren überzeugt, daß die sogenannte Dust Bowl Migration die ländliche Gesellschaft 14
Kaliforniens von Grund auf umwälze, weil sie die ethnische Zusammensetzung der Arbeitskraft in diesem Bereich verändere. „Die Landarbeit in Kalifornien“, schrieb Steinbeck, „wird weiße Arbeit sein, wird amerikanische Arbeit sein, und dadurch wird sich ein Lebensstandard durchsetzen, der viel höher ist als der, den man den ‚billigen Fremdarbeitern‘ zugestanden hat.“ In einem Leitartikel, der die Artikelreihe begleitete, teilten die News diesen Standpunkt und hoben hervor, daß die Zuwanderer aus dem Mittleren Westen „alte Amerikaner sind. […] Mit ihnen kann man nicht umspringen wie mit den Japanern, Mexikanern und Philippinern.“ Weder Steinbeck noch die News bedienten sich des damals so gebräuchlichen rassistischen Vokabulars, doch beide traten letzten Endes dafür ein, daß nur weiße Amerikaner sich mit Erfolg den Bedingungen widersetzen könnten, die den Nichtweißen und Einwanderern in der Regel aufgezwungen worden waren. Steinbeck schrieb etwa, daß die Neuankömmlinge sich weigern werden, „die Rolle von Leibeigenen und die Terrormaßnahmen, den Dreck und den Hunger zu akzeptieren, die mit dieser Rolle verbunden sind“. Tatsächlich war es freilich so, daß die Okies in geringerem Ausmaß bereit waren, sich gewerkschaftlich zu organisieren, als die Mexikaner und Philippiner, die vor ihnen auf den kalifornischen Feldern gearbeitet hatten. Die Gewerkschaften, die 1933 und 1934 mit meist eingewanderten Arbeitern Aktionen durchführten, waren, auch wenn sie letzten Endes scheiterten, weit erfolgreicher als die Gewerkschaften der Jahre 1938 und 1939, als die in 15
Amerika geborenen Okies die Arbeiterschaft dominierten. Die Einwanderer aus den Lower Plains betrachteten sich noch als unabhängige Farmer und hielten an ihrem traditionellen bäuerlichen Individualismus fest. Als Tom Joad in Früchte des Zorns dazu gedrängt wird, seine Familie zur Teilnahme am Streik zu bewegen, erwidert er: „Heute abend gab’s Fleisch. Nicht viel, aber es war Fleisch. Pa wird doch nicht wegen jemand anderem sein Fleisch aufgeben.“ Als dann später sein Freund durch ein Schutzkommando der Eigentümer den Tod findet, bewegt das Tom dazu, für die Gewerkschaft zu arbeiten. Doch auch aus den ehrgeizigen Bemühungen, die weißen Landarbeiter Kaliforniens zu organisieren, wurde schließlich nicht viel. Der schärfste Widersacher der gewerkschaftlichen Organisation war die Associated Farmers Incorporated, ein Zusammenschluß der größten Anbauer und der mit ihnen verbundenen mächtigen Firmen. Die Gruppe stellte sich auch gegen das Lagerprogramm der Regierung, weil sie befürchtete, daß die Siedlungen der Wanderarbeiter zu Zentren gewerkschaftlicher Aktivität werden könnten. Außerdem setzten sich die Bewohner mancher Städte gegen die Einrichtung von Camps in ihrer Umgebung zur Wehr. Sie behaupteten, daß durch die Bewohner der Lager eine Belastung der Schulen, der sozialen Programme und anderer Einrichtungen der Gemeinde entstehen würde. Tom Collins und andere Mitarbeiter der Wiederansiedlungsorganisation wußten genau, daß seitens der Städte auch substantielle Vorurteile gegenüber den Wanderarbeitern bestanden; in einer Gemeinde des Zentral16
tals durften „Neger und Okies“ im Kino nur am Balkon sitzen. Trotz dieser Ressentiments gelang es der Resettlement Administration und der ihr nachfolgenden Farm Security Administration, nach und nach 15 Lager in Kalifornien einzurichten, bevor das Programm nach dem Zweiten Weltkrieg gestrichen wurde. Doch selbst am Höhepunkt der Bemühungen in den späten dreißiger Jahren galten die Siedlungen noch immer als „Demonstrationsprojekte“ und dienten nur einem kleinen Bruchteil den Wanderarbeitern. John Steinbeck und Tom Collins waren überzeugte Anhänger des New-Deal-Liberalismus, doch die Lager waren das einzige Programm der Roosevelt-Administration, das für die kalifornischen Landarbeiter ins Leben gerufen worden war. Die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft waren weder sozial- noch arbeitslosenversichert; es gab keine Mindestlohnvereinbarungen, und die Zuwanderer fielen auch nicht unter den National Labor Relations Act, ein Bundesgesetz, das die Arbeitsverhältnisse regelte. Der New Deal war in erster Linie eine politische Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, und die Wanderarbeiter hatten im Unterschied zu ihren Arbeitgebern kaum politischen Einfluß. Während es den kalifornischen Anbauern gelang, für manche Produkte Preisstützungen seitens des Bundes zu erhalten, bei anderen wiederum gesetzliche Marktbestimmungen durchzusetzen und für Bewässerungsprojekte massive staatliche Unterstützungen zugestanden zu bekommen, bedachte man die Wanderarbeiter mit einem kleinen, spärlich dotierten Lagerprogramm, das über die „Demonstrationsphase“ nie hinauskam. 17
Steinbeck erkannte die politische Schwäche der Wanderarbeiter und drängte auf die Einrichtung einer eigenen „militanten und wachsamen Organisation“. Diese sollte sich aus „Angehörigen des Mittelstandes, Arbeitern, Lehrern, Handwerkern und Liberalen“ zusammensetzen und gegen den „Schutztruppengeist“ und „Faschismus“ der Associated Farmers und ihrer Verbündeten und für die Rechte der Landarbeiter kämpfen. Die Simon J. Lubin Society entsprach genau Steinbecks Vorstellungen einer solchen Organisation. Die nach einem fortschrittlichen Reformer und Kämpfer für die Rechte der Landarbeiter benannte Gesellschaft unterstützte die Anliegen der Wanderarbeiter massiv. 1938 gestattete Steinbeck der Vereinigung, die in den News publizierte Artikelreihe unter dem Titel Their Blood is Strong als Flugschrift zu veröffentlichen. Im selben Jahr erlaubte er ungewöhnlicherweise einer ähnlichen Organisation, seinen Namen zu verwenden: Das John-Steinbeck-Komitee, das von der Hollywood-Schauspielerin und zukünftigen Abgeordneten zum Kongreß Helen Gahagan Douglas ins Leben gerufen worden war, unterstützte die gewerkschaftliche Organisation in der Landwirtschaft. Doch weder die Lubin Society noch das John Steinbeck Committee waren den Associated Farmers gewachsen; deren Verbündete blockierten in den gesetzgebenden Landeskörperschaften die Reformierung der Verhältnisse in der Landarbeit, die der liberale Gouverneur Culbert Olson und sein Büroleiter für Einwanderungs- und Wohnfragen Carey McWilliams einbrachten. Solche Rückschläge konnten weder Tim Collins noch John Steinbeck entmutigen. Anfang 1938 waren die bei18
den wieder mit der „alten Brotkutsche“ durch Kalifornien unterwegs und sammelten Material für einen geplanten „großen Roman“ über die Zuwanderer. Sie wurden Zeugen der verheerenden Verwüstungen, welche die Überschwemmungen jenes Winters in den Siedlungen des Zentraltals angerichtet hatten. Collins beschrieb später, wie er und Steinbeck „ohne zu essen und zu schlafen 48 Stunden durchmachten“ und „kranken und halb verhungerten Menschen“ halfen, „deren Lager von den Fluten zerstört worden war“. „Wir konnten nicht einmal miteinander sprechen, weil wir zu müde waren“, erinnert sich Collins, „doch wir funktionierten wie die Räder eines Uhrwerks.“ Diese und andere Erfahrungen fanden entweder direkt oder von der Stimmung her ihren Niederschlag in dem Roman Früchte des Zorns, der im Frühjahr 1939 erschien. Das Buch eroberte die Leser der Vereinigten Staaten im Sturm und erlebte zwischen März und November des Jahres zehn Auflagen. Darryl Zanucks Filmproduktion mit John Ford als Regisseur und Henry Fonda in der Rolle des Tom Joad trug noch das ihre zur öffentlichen Wirkung bei. Steinbeck, der sich sorgte, daß die Botschaft seines Romans in Hollywood zurückgenommen oder verwässert werden könnte, soll Zanuck einmal gefragt haben, ob er die Geschichte glaube. Der Filmproduzent gestand ein, daß er ein Detektivbüro beauftragt hatte herauszufinden, ob das Buch die Not der Wanderarbeiter getreu wiedergab. Und „die Bedingungen waren noch viel schlimmer, als Sie sie geschildert haben“, meinte Zanuck. Auf Anraten des Autors wurde Tom Collins für den Film als technischer Berater verpflichtet, und dieser setzte sich 19
selbstverständlich für eine realistische Darstellung ein. John Ford drehte einen großen Teil des Films in dem Gebiet, in dem Collins früher tätig gewesen war: im Weedpatch Camp und in der Gegend von Arvin. Der Film kam 1940, kurz bevor Steinbeck den Pulitzerpreis erhielt, in die Kinos. Doch auch die Beliebtheit von Früchte des Zorns führte [nicht zur Verabschiedung grundlegender staatlicher Programme zur Unterstützung der Wanderarbeiter. Außenpolitische Belange und der bevorstehende Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg zogen die Aufmerksamkeit der Nation zusehends auf sich. 1940 wies der Reporter Ernie Pyle darauf hin, daß die Zuwanderer keine Schlagzeile mehr Wert waren: „Die Menschen haben sie irgendwie vergessen.“ Bereits im darauffolgenden Jahr war an die Stelle des zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise charakteristischen Überhangs an verfügbaren Arbeitskräften ein durch den Krieg bedingter Mangel getreten. Die Zuwanderer, die nicht zum Militär eingezogen wurden, fanden in den boomenden Schiffswerften, Flugzeugfabriken und anderen Verteidigungsindustrien Kaliforniens gut bezahlte Jobs. Das Los der Joads und ihrer Gefährten wendete sich also schließlich doch noch zum Guten, wenn auch nicht auf den kleinen Farmen, von denen sie geträumt hatten, sondern in der städtischen Industrie, in die die Milliarden des US-Verteidigungsbudgets flossen. Die verzweifelt nach Arbeitskräften suchenden kalifornischen Anbauer wandten sich abermals Mexiko zu. Hunderttausende neue Arbeitskräfte kamen über die Grenze, 20
viele von ihnen unter den Bedingungen des BraceroProgramms der Bundesregierung. Da sich die Landarbeiterschaft nicht mehr vorwiegend aus weißen Amerikanern zusammensetzte, wurde den sozialen Bedingungen auf dem kalifornischen Land keine Aufmerksamkeit mehr zuteil, ganz zu schweigen davon, daß man den betroffenen Arbeitern Mitgefühl entgegengebracht hätte. Erst der Delano-Streik des Jahres 1965 rückte in einer von der Bürgerrechtsbewegung sensibilisierten Zeit die in Früchte des Zorns aufgeworfenen Fragen wieder in größerem Maßstab ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. Und erst 1975 richteten die gesetzgebenden Organe des Staates Kalifornien einen Ausschuß für die Belange der Landarbeiter ein, wie ihn Steinbeck 1936 vorgeschlagen hatte. Im Dezember 1939 schrieb Steinbeck, nachdem er die Verfilmung seines Romans gesehen hatte, an Tom Collins: „Habe den Film gesehen: toll. […] Du hast Großartiges geleistet.“ Bald darauf klopfte Collins an die Tür von Steinbecks Haus in Los Gatos und fand niemanden vor. Der Autor, der sich kurz zuvor von seiner Frau getrennt hatte, war weitergezogen und hatte die Zuwanderer aus den Lower Plains und Tom Collins hinter sich gelassen. Die beiden Männer sollten einander nie wiedersehen. Obwohl die in diesem Band versammelte Serie von Artikeln vor mehr als sechzig Jahren geschrieben wurde, muten Steinbecks Beschreibungen des ungeheuren Elends sehr aktuell an. In Steinbecks Tagen waren Obdachlosigkeit und Verzweiflung Momente im größeren Zusammenhang der Weltwirtschaftskrise, und das Leiden der Zu21
wanderer berührte, zumindest vorübergehend, die Öffentlichkeit. Heute scheinen sich viele wohlhabende Amerikaner bereitwillig mit den Obdachlosen auf den Straßen und der Existenz einer verzweifelten „Unterschicht“ in den Ghettos abgefunden zu haben. Das Gefühl des Schocks und der Empörung, aus dem heraus Steinbeck diese Artikel schrieb, ist in den Vereinigten Staaten unserer Tage tragischerweise nicht anzutreffen. Wir können also aus den Berichten Steinbecks und dem Aktionismus seines stillen Mitarbeiters Tom Collins, der Die Früchte des Zorns „lebte“, einiges lernen.
Literatur: Jackson Benson, The True Adventures of John Steinbeck, New York (Viking) 1984, und ‘Tom, Who Lived It: John Steinbeck and the Man from Weedpatch’, in: Journal of Modern Literature, April 1976. Carey McWilliams, Factories in the Field, Boston (Little Brown) 1939. Brian St. Pierre, John Steinbeck, the California Years, San Francisco (Chronicle Books) 1983. Walter Stein, California and the Dust Bowl Migration, Westport (Greenwood) 1973.
I
W
enn in dieser Jahreszeit die herrlichen Erträge Kaliforniens heranreifen, die schweren Trauben, die Pflaumen und die Äpfel, der Salat und die Baumwolle, wimmelt es auf den Straßen von Wanderarbeitern, umherziehenden, elenden Erntehelfern, die vom Hunger oder drohendem Hunger von Einsatz zu Einsatz landauf und landab und manchmal bis nach Oregon und selten gar nach Washington getrieben werden. Aber die Mehrzahl dieser neuen Zigeuner lebt in Kalifornien, und das Land braucht sie. Diese Artikelreihe will eine kleine Studie dieser Nomaden vorlegen. Es sind mindestens 150.000 heimatlose Arbeiter, die diesen Staat in seiner Längsrichtung durchziehen, und das ist eine Armee, die groß genug ist, daß sie jeden angeht, der in Kalifornien lebt. Für den Reisenden, der gerade auf den großen Highways unterwegs ist, sind die Bewegungen der Wanderarbeiter ein Rätsel, sofern er sie überhaupt wahrnimmt: Plötzlich tauchen überall auf den Straßen ihre offenen Klapperkisten auf, die mit Kindern, schmutzigem Bettzeug und vom Feuer geschwärzten Küchengerät bepackt sind. Die geschlossenen und die offenen Güterwagen auf den Eisenbahnlinien sind auf einmal voller Männer. Und ebenso schlagartig wird es auf den Hauptverkehrsadern wieder still. An Seitenstraßen und Flußufern, wo es kaum Verkehr gibt, entstehen dann auf fremdem Grund bald armse23
lige, schmutzige Lager, und in den Obstplantagen werden Früchte gepflückt, geschnitten und getrocknet. Die einzigartige Natur der kalifornischen Landwirtschaft verlangt, daß es solche Arbeiter gibt, und erfordert, daß sie umherziehen. Pfirsiche und Weintrauben, Hopfen und Baumwolle können nicht von einer ansässigen Arbeiterschaft geerntet werden. Eine große Pfirsichplantage zum Beispiel, die das Jahr über von 20 Arbeitern betreut wird, benötigt unter Umständen für die kurze Zeit der Ernte und des Verpackens bis zu 2000 Arbeitskräfte. Und wenn der Zuzug der 2000 Menschen nicht stattfindet oder sich auch nur um eine Woche verzögert, fault das Obst und die Ernte und ist verloren. Die Haltung, die man in Kalifornien gegenüber diesen Menschen einnimmt, die den Erfolg unserer Landwirtschaft ausmachen, ist merkwürdig. Man braucht die Wanderarbeiter, und man haßt sie. Kaum treffen sie ein, schlägt ihnen schon die Ablehnung der Ansässigen gegenüber dem Fremden, dem anderen entgegen. Auf diesen Haß trifft man überall in der Geschichte, von der primitivsten Dorfgemeinschaft bis zu unserer hochorganisierten industriellen Landwirtschaft. Man haßt die Wanderarbeiter, weil sie ungebildet und schmutzig sind, weil sie Krankheiten einschleppen, weil man ihretwegen mehr Polizei braucht, weil ihretwegen die Schulsteuern in den Gemeinden erhöht werden, und weil sie, wenn man ihnen erlaubt, sich zu organisieren, die gesamte Ernte einfach dadurch vernichten, daß sie sich zu arbeiten weigern. Die Gemeinde akzeptiert sie nicht, und sie dürfen an deren Leben nicht teilnehmen. Sie dürfen sich in 24
den Gemeinden, die ihrer Dienste bedürfen, nicht zu Hause fühlen, weil sie ja Vagabunden sind. Sehen wir uns einmal an, welche Menschen das sind, woher sie kommen und wie es um ihre Wanderrouten bestellt ist. Früher waren es verschiedene Rassen, die man zu kommen ermutigte und oft als billige Arbeitskräfte importierte; ganz am Anfang Chinesen, dann Philippiner, Japaner und Mexikaner. Es waren Fremde, und als Fremde wurden sie geächtet, getrennt und durch das Land getrieben. Versuchten sie sich zu organisieren, schob man sie ab oder sperrte sie ins. Gefängnis, und weil sie niemanden hatten, der für sie eingetreten wäre, gelang es ihnen nie, sich Gehör zu verschaffen und ihre Probleme darzustellen. Doch in letzter Zeit haben sich die ausländischen Wanderarbeiter zu organisieren begonnen – ein Warnsignal, das man damit beantwortete, daß man sie in großer Zahl deportierte, weil es inzwischen ein neues Reservoir gab, aus dem sich eine große Menge billiger Arbeitskräfte schöpfen ließ. Die Dürre im Mittleren Westen hat die Landbevölkerung von Oklahoma, Nebraska und Teilen von Kansas und Texas nach Westen getrieben. Ihr Land ist zerstört, und sie werden nie mehr dorthin zurückkehren können. Tausende rumpeln in ihren alten Klapperkisten über die Grenze, mittellos, hungrig und ohne Bleibe, bereit, gegen jede Bezahlung zu arbeiten, damit sie sich und ihre Kinder ernähren können. Und das ist etwas Neues, denn bisher holte man die meisten Fremdarbeiter ohne ihre Kinder und Habseligkeiten ins Land. Wenn sie Kalifornien erreichen, haben sie meist alle Mit25
tel aufgebraucht, haben vielleicht sogar ihre schäbigen Decken, ihren Hausrat und ihr Werkzeug versetzt, um Benzin zu kaufen. Verstört, gebrochen und meist halb verhungert kommen sie an und sehen sich einer einzigen Notwendigkeit gegenüber – Arbeit zu finden, Arbeit um jeden Preis, damit die Familie zu essen hat. Und es gibt in Kalifornien nur einen Bereich, der sie aufnehmen kann. Ohne Anspruch auf Unterstützung bleibt ihnen nur ein Weg offen: Sie müssen umherziehen und auf den Feldern arbeiten. Da die ehemaligen mexikanischen und philippinischen Arbeitskräfte sehr rasch abgeschoben und repatriiert werden, während der Strom der Flüchtlinge aus dem Mittleren Westen beständig zunimmt, werden wir uns vor allem mit diesen Wanderarbeitern beschäftigen. Die ausländischen Wanderarbeiter von einst waren ihrem Ursprung nach ausnahmslos verschuldete Taglöhner, Leibeigene der Gutsherren. Auf die neuen Wanderarbeiter trifft das nicht zu. In ihrem Fall handelt es sich um Kleinbauern, die ihre Farmen verloren, oder um Farmarbeiter, die nach alter amerikanischer Tradition bei der Familie des Bauern gelebt haben. Es sind Männer, die auf ihren eigenen Farmen hart gearbeitet haben und stolz daraufgewesen sind, Land zu besitzen und in enger Verbindung mit diesem Land zu leben. Es sind einfallsreiche und intelligente Amerikaner, die durch die Hölle der Dürre gegangen sind, die zugesehen haben, wie ihr Land austrocknete und starb und die Humusschicht vom Wind davongetragen wurde; und das ist für jemanden, dem das Land gehört, ein eigenartiger und schrecklicher Schmerz. 26
Und dann haben sie sich aufgemacht, und viele haben unterwegs ihre Kinder sterben gesehen. Ihre Wagen sind zusammengebrochen, und sie haben sie mit dem ihnen eigentümlichen Erfindungsgeist repariert. Oft mußten sie die strapazierten Reifen alle paar Meilen flicken. Sie haben das überstanden, und sie können noch mehr überstehen, weil sie Kraft im Blut haben. Sie stammen von Männern ab, die in den Mittleren Westen kamen und sich ihr Land erkämpften, die Prärien kultivierten und auf ihrem Grund ausharrten, bis dieser wieder zur Wüste wurde. Von ihrer Herkunft und Ausbildung her sind es also keineswegs Menschen, die zu Wanderarbeitern geboren sind. Es ist die Macht der Umstände, durch die sie zu Erntezigeunern wurden. Wenn sie erschöpft von Ernte zu Ernte ziehen, haben sie nur ein Ziel, ein überwältigendes Verlangen im Kopf: wieder ein kleines Stück Land zu erwerben, sich dort anzusiedeln und ihr Wanderleben hinter sich zu lassen. Um zu begreifen, daß diese neue Rasse hierbleiben wird und man nicht über sie hinweggehen kann, genügt es, eines der Squatter-Lager aufzusuchen, in denen die Familien auf dem Boden hausen und weder Betten noch sonst etwas haben, oder sich die starken entschlossenen Gesichter anzusehen, die oft voller Schmerz und noch öfter – nämlich wenn sie vor den unbewirtschafteten Ländereien der Gesellschaften stehen – voller Zorn sind. Man sollte zur Einsicht gelangen, daß bei dieser neuen Rasse von Wanderarbeitern die alten Methoden der Unterdrückung durch Hungerlöhne, Gefängnis, Prügel und Einschüchterung keinen Erfolg haben werden; es sind 27
Amerikaner. Daher müssen wir ihnen mit Verständnis begegnen und versuchen, das Problem zu ihren und zu unseren Gunsten zu lösen. Es fällt einem schwer, sich der Überlegung jenes Spekulanten anzuschließen, der meinte, daß der Erfolg der kalifornischen Landwirtschaft es erfordere, eine Leibeigenenklasse zu schaffen und an deren Existenz festzuhalten. Wenn das zutrifft, muß sich Kalifornien von dem heute noch bestehenden Anschein demokratischer Verhältnisse verabschieden. Die Namen der neuen Wanderarbeiter zeigen, daß sie englischer, deutscher und skandinavischer Abstammung sind. Sie heißen Munn, Holbrook, Hansen und Schmidt. Und sie stehen für einen sonderbaren Anachronismus: Sie sind in den Prärien aufgewachsen, in welche die Industrialisierung nie vorgedrungen ist, und dann ohne jeden Übergang von ihren alten unabhängigen Farmen, auf denen beinahe alles, was man brauchte, selbst angebaut oder hergestellt wurde, in ein landwirtschaftliches System geworfen worden, das dermaßen industrialisiert ist, daß der, der etwas anbaut, kaum je die Frucht seines Anbaus sieht, geschweige denn erntet, und in dem der Wanderarbeiter in keinerlei Verbindung mit dem Wachstumszyklus steht. Und es gibt noch einen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Leben. Die neuen Arbeiter kommen aus Gebieten, in denen Demokratie nicht nur möglich, sondern unabdingbar war, in denen die Herrschaft, ob nun in den Bauernverbänden, in der Kirche oder in der Gemeinde, jedermanns Sache war. Und nun sind sie in ein Land gekommen, in dem sie, weil sie abgewandert 28
sind, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht nur keinerlei Stimme haben, sondern sogar als rechtens unterprivilegierte Klasse angesehen werden. Wenden wir uns nun den Feldern zu, auf denen man den Einsatz ihrer Arbeit braucht, und sehen uns einmal die Gegenden an, die sie aufsuchen müssen. Ein kleiner Junge in einem Lager meinte einmal: „Wenn sie uns brauchen, nennen sie uns Wanderarbeiter, und wenn wir die Ernte eingebracht haben, sind wir auf einmal Penner und haben zu verschwinden.“ Im Imperial Valley muß das Gemüse – Salat, Blumenkohl, Tomaten und Krautköpfe – geerntet und verpackt, der Boden gelockert und bewässert werden. Es gilt, mehrere Ernten im Jahr einzubringen, aber es läßt sich keine Zeiteinteilung treffen, um die Arbeiter durchgehend zu beschäftigen. Die Orangenplantagen werden zweimal im Jahr abgeerntet, aber die Pflückzeit ist kurz. Weiter nördlich, im Kern County und das San-Joaquin-Tal hinauf, braucht man Wanderarbeiter für die Ernte von Weintrauben, Baumwolle, Birnen, Melonen, Bohnen und Pfirsichen. Weiter im Westen, in der Nähe von Salinas, Watsonville und Santa Cruz werden Salat, verschiedene Blumenkohlarten, Artischocken, Apfel, Pflaumen und Aprikosen gezüchtet. Im Norden San Franciscos findet man Wein, Obstbäume und Hopfen. Im Tal von Sacramento braucht man für die Ernte von Spargel, Walnüssen, Pfirsichen, Pflaumen usw. Massen von Arbeitskräften. Die intensive Bewirtschaftung in diesen großen Tälern hängt von der 29
saisonalen Verfügbarkeit nichtansässiger Arbeitskräfte ab. Kurz bevor die Ernte tatsächlich einsetzt, wimmelt es also auf den Highways, und die Familien sind in ihren offenen Automobilen zu den Feldern unterwegs, auf denen man sie braucht, und wollen die ersten an Ort und Stelle sein. In Kalifornien haben nämlich die Verbände der Anbauer, um die Löhne niedrig zu halten, immer danach getrachtet, doppelt so viele Arbeitskräfte zu importieren, wie tatsächlich gebraucht wurden. Daher die Eile, denn trifft der Arbeiter nur ein wenig zu spät ein, kann der Bedarf bereits gedeckt sein und er hat die Reise umsonst auf sich genommen. Und selbst wenn er sich rechtzeitig einfindet, können viele Dinge passieren: Vielleicht ist die Ernte doch noch nicht reif, oder es ergibt sich eine Situation wie letztes Jahr in Nipomo, als sich 1200 Arbeiter für die Erbsenernte einfanden und feststellen mußten, daß der Regen die gesamte Ernte zerstört hatte. Die Arbeiter hatten alle ihre Mittel aufgebraucht, um zu den Feldern zu gelangen, und konnten nicht mehr weiterziehen; sie blieben und hungerten, bis ihnen die Regierung nach langem Zögern endlich Unterstützung gewährte. So ziehen die Arbeiter also durch das Land, und der Hunger ist ihnen dicht auf den Fersen. Die Artikelserie wird beschreiben, wie sie leben und um welche Menschen es sich handelt, wie es um ihren Lebensstandard bestellt ist, was man für sie tut, was man ihnen antut und welche Sorgen und Bedürfnisse sie haben. Während Kalifornien mit Erfolg Wanderarbeiter einsetzte, sorgte es dafür, daß sich allmählich ein menschlicher Zusammenhang her30
ausbildete, der das Land gewiß verändern und, sofern man dieselbe Unmenschlichkeit und Dummheit an den Tag legt wie in der Vergangenheit, das gegenwärtige System der landwirtschaftlichen Ökonomie vielleicht sogar zerstören wird.
II
berall im Land findet man Lager von Squattern. Wie sieht so ein Lager aus? Es liegt am Ufer eines Flusses, an einem Bewässerungsgraben oder an einer Nebenstraße, in deren Nähe es eine Quelle gibt. Aus der Entfernung nimmt sich das Lager wie die Müllhalde einer Stadt aus, und das nicht von ungefähr, kommen doch die Materialien, aus denen es gebaut ist, von ebendort. Da sieht man einen Berg von Lumpen und Alteisen und Häuser, die aus Gestrüpp, flachgeschlagenen Dosen oder Papier zusammengeflickt sind. Nur aus nächster Nähe erkennt man, daß hier jemand lebt. Da stößt man vielleicht auf ein Haus, das von einer Familie gebaut wurde, die eine gewisse Ordentlichkeit beizubehalten versucht hat. Das Haus mißt etwa drei mal drei Meter und besteht aus Wellpappe. Das Dach hat einen First, die Wände sind an einem Rahmen aus Holz festgenagelt. Der Erdboden ist sauber gekehrt, und am Bewässerungsgraben oder im schmutzigen Fluß schrubbt die Frau ohne Seife Wäsche und versucht, im verdreckten Wasser den Schmutz herauszuschwemmen. Der Geist der Familie ist noch nicht ganz gebrochen, denn die Kinder – es gibt deren drei – haben Kleider, und die Familie besitzt drei alte Decken und eine feuchte, klumpige Matratze. Man kann das Geld, das man zum Essen braucht, nicht für Seife oder Kleider ausgeben.
Ü
32
Beim ersten Regen wird sich das mit so großer Sorgfalt errichtete Haus auflösen und zu einem braunen, matschigen Brei werden; in ein paar Monaten werden den Kindern die Kleider in Fetzen vom Körper hängen, und der Mangel an nahrhaftem Essen wird dazu führen, daß die ganze Familie an Lungenentzündung erkrankt, wenn es kalt wird. Fünf Jahre zuvor hatte diese Familie noch 20 Hektar Land und 1000 Dollar auf der Bank. Die Frau gehörte einer Nährunde an, und der Mann war Mitglied eines Bundes, in dem sich die Bauern der Nachbarschaft zusammengeschlossen hatten. Die Familie hatte Hühner, Schweine und Tauben sowie einen Gemüse- und einen Obstgarten für ihre eigenen Bedürfnisse; und auf ihrem Land wuchs das hohe Getreide des Mittleren Westens. Und jetzt haben sie nichts. Wenn der Ehemann immer rechtzeitig zur Ernte eintrifft und die Höchstzahl möglicher Stunden arbeitet, mag er in diesem Jahr 400 Dollar verdienen. Wenn freilich etwas dazwischenkommt, sein altes Automobil zusammenbricht, er zu spät einlangt oder ein, zwei Ernten versäumt, muß er seine Familie mit nicht mehr als 150 Dollar über die Runden bringen. Doch es gibt noch Stolz in dieser Familie. Wo sie auch haltmachen, versuchen die Eltern ihre Kinder in die Schule zu stecken. Es kann ja manchmal bis zu einem Monat dauern, bevor sie weiterziehen müssen. Bald erkennt man im Gesicht des Mannes und der Frau ein Gefühl, das man in jedem Gesicht im Lager wiederfinden wird: Es ist nicht Sorge, die da geschrieben steht, sondern die absolute Angst vor dem Hunger, der immer 33
näher rückt. Der Mann wollte ein Klo und hat in der Nähe seines Papphauses ein Loch in die Erde gegraben und es mit einem alten Stück Sackleinen umgeben. Er wird solche Dinge aber nur in diesem Jahr tun. Er gehört nämlich zu den Neuankömmlingen, und sein Schwung und sein Anstand und sein Sinn für Würde sind noch nicht ganz zerstört. Nächstes Jahr wird er sich schon wie der Mann verhalten, der neben ihm haust. Dieser Mann ist der Vater einer sechsköpfigen Familie; er und seine Frau haben vier Kinder. Sie leben in einem Zelt, das sich kaum vom Boden abhebt. Die Leinwand verrottet schon, und deswegen sind die Klappen und Seitenteile nur mehr Fetzen und werden von rostigen Drahtstücken zusammengehalten. Es gibt eine Bettstatt in der Familie, und die besteht aus einem großen Überzug, der im Zelt am Boden liegt. Die sechs haben eine Decke und ein Stück Leinwand zum Zudecken. Sie sind erfinderisch und haben eine praktische Schlaflösung gefunden: Mutter und Vater legen sich mit zwei Kindern dazwischen hin, dann folgen die anderen beiden, die kleineren, mit dem Kopf in die andere Richtung. Auch wenn die Eltern mit gespreizten Beinen schlafen, haben so die Kinder für ihre Füße noch Platz. Hier gibt es viel Schmutz. Das Zelt ist voller Fliegen; sie lassen sich auf der Apfelkiste nieder, die der Familie als Tisch zum Essen dient, und umschwirren die stinkenden Kleider der Kinder und vor allem des Babys, das seit Tagen nicht gebadet oder gewaschen wurde. Diese Familie ist schon länger unterwegs als die des Mannes, der ein Papphaus gebaut hat. Klo gibt es hier keines, aber in der 34
Nähe stehen ein paar Weiden, wo sich die Fliegen, die auch im Zelt umherschwirren, über den Kot hermachen. Vor zwei Wochen gab es da noch ein anderes Kind, einen vierjährigen Jungen. Den Eltern war aufgefallen, daß er einige Wochen lang recht lustlos war und fiebrige Augen hatte. Sie hatten ihm den besten Platz zum Schlafen gegeben, in der Mitte. Doch eines Nachts hatte das Kind Krämpfe bekommen und war gestorben, und am darauffolgenden Tag hatte es der Wagen des Leichenbestatters weggebracht. Das war ein Schritt nach unten gewesen. Die Eltern wissen, woran der Junge starb: Er hatte nur frisches Obst, Bohnen und kaum sonst etwas zu essen bekommen. Es hatte monatelang keine Milch für ihn gegeben. Mit seinem Tod hat sich die Stimmung in dieser Familie verändert. Der Vater und die Mutter spüren jetzt die lähmende Dumpfheit, mit der sich der Geist vor zu großem Kummer und Schmerz schützt. Und dieser Vater wird unter keinen Umständen 400 Dollar im Jahr erreichen, weil er nicht mehr schnell genug ist; er ist zu langsam, wenn es bei der Ernte auf Stückzahlen ankommt, und er kann die Dumpfheit nicht abschütteln, die ihn befallen hat. Sein Geist verfällt. Aus den Gesichtern dieser Familie spricht die Dumpfheit – und ein Mißmut, der sie schweigsam macht. Manchmal schicken die Eltern die älteren Kinder noch zur Schule; die in Lumpen herumlaufenden kleineren gehen nicht, weil man sie in der Schule verächtlich behandeln würde. Sie verstecken sich in Gräben oder streunen herum, bis es Zeit wird, zum Zelt zurückzukehren. Die besser gekleideten Kinder schreien und johlen, und 35
die Lehrer verlieren oft die Geduld, weil man ihnen eine zusätzliche Bürde auflastet; und die Eltern der „netten“ Kinder wollen niemanden an der Schule, der ihre Kinder mit etwas anstecken könnte. Der Vater dieser Familie hatte einmal einen kleinen Gemischtwarenladen, und seine Familie lebte im hinteren Teil des Hauses, damit auch seine Kinder beim Bedienen helfen konnten. Als die Dürre einsetzte, machte der Laden kein Geschäft mehr. Diese Familie gehört sozusagen zur Mittelklasse des Squatterlagers. In einigen Monaten wird sie nach unten hin abrutschen. Die Würde wird dann verflogen sein, und der Schwung wird sich in düstere Wut verkehren, ehe er erstirbt. Die Nachbarsfamilie, ein Mann, eine Frau und drei Kinder zwischen drei und neun Jahren, haben sich ein Haus gebaut, indem sie Weidenzweige in die Erde getrieben und Gestrüpp, Blech, altes Papier und Teppichstreifen dazwischengeflochten haben. Oben haben sie ein paar Äste darübergelegt, um sich vor der Mittagssonne zu schützen. Gegen Regen richten die Äste nichts aus. Es gibt kein Bett. Irgendwo hat die Familie ein großes Stück eines alten Teppichs gefunden. Es liegt auf dem Boden. Wenn diese Menschen sich schlafen legen, decken sie sich damit zu. Das drei Jahre alte Kind hat einen Leinensack umgebunden. Das ist seine Bekleidung. Der Junge ist unterernährt, sein Bauch angeschwollen. Er sitzt vor dem Haus am Boden, und die kleinen schwarzen Taufliegen umschwirren ihn, lassen sich auf seinen geschlossenen Augen nieder und kriechen ihm in die Nase, bis er sie fast gleichgültig verscheucht. 36
Die Fliegen versuchen an den Schleim in seinen Augenwinkeln heranzukommen. Das Reaktionsvermögen des Kindes scheint zurückgeblieben. Es hat nur in seinem ersten Lebensjahr etwas Milch bekommen, seither nicht mehr. Es wird sehr bald sterben. Die älteren Kinder werden vielleicht überleben. Vor vier Nächten hat die Frau im Zelt auf dem schmutzigen Teppich ein Kind zur Welt gebracht. Es ist tot geboren worden, und sie hätte es ohnehin nicht stillen können; von dem, was sie ißt, bekommt sie keine Milch. Nachdem das Baby zur Welt gekommen war und die Mutter gesehen hatte, daß es tot war, wandte sie sich ab und lag zwei Tage lang da, ohne sich zu rühren. Heute ist sie aufgestanden und taumelt umher. Ihr letztes Baby, das vor weniger als einem Jahr geboren wurde, war eine Woche am Leben. Die Frau hat den glasigen, in die Ferne gerichteten Blick einer Schlafwandlerin. Sie wäscht keine Kleider mehr. Sie hat keinen Drang zur Reinlichkeit und keine Kraft mehr. Ihr Mann war früher Pachtbauer, hat es aber nicht geschafft. Jetzt will er nicht einmal mehr sprechen. Er sieht einem nicht ins Gesicht, weil das erfordert Willen und Wille erfordert Kraft. Auf den Feldern arbeitet er daher auch schlecht. Er braucht lange, um eine Entscheidung zu treffen, und deshalb bricht er immer zu spät auf und trifft immer zu spät ein. Wenn er überhaupt Arbeit findet, was ihm nun nicht oft gelingt, verdient er höchstens einen Dollar am Tag. Die Kinder gehen jetzt nicht einmal mehr zum Weidengebüsch, sondern hocken sich hin, wo sie gerade sind, 37
verrichten ihr Geschäft und scharren etwas Erde darüber. Der Vater weiß irgendwie, daß es im Flußschlamm Hakenwürmer gibt, die die bloßen Füße der Kinder befallen werden. Aber er hat weder den Willen noch die Kraft, das zu verhindern. Ihm sind zu viele Dinge widerfahren. Das ist die unterste Klasse im Lager. Der Mann im Zelt wird in sechs Monaten auch so weit heruntergekommen sein; und nach einem Jahr wird der Mann, der jetzt noch in dem Papphaus mit dem spitzen Dach lebt, auch so weit sein: Das Haus wird in sich zusammengesunken, seine Kinder werden krank geworden oder gestorben sein; er wird seine Selbstachtung und seinen Schwung verloren haben und auf eine Art Untermenschentum reduziert sein. Hilfsbereite Fremde werden in diesem Lager nicht gut aufgenommen. Der Sheriff des Orts durchstöbert es hin und wieder nach jemandem, der gesucht wird, und wenn es zu Konflikten mit den Arbeitgebern kommt, brennen die Schutztruppen das Lager vielleicht nieder. Sozialarbeiter und Ermittler für verschiedene Statistiken haben Fallgeschichten aufgenommen. Die Unterlagen werden archiviert und können eingesehen werden. Man hat die Familien wieder und wieder nach ihrer Herkunft und der Anzahl der lebenden und toten Kinder befragt. Die Angaben werden festgehalten und zu den Akten gelegt. So, das hätte man also. So oft hat man das schon getan, und so wenig ist dabei herausgekommen. Aber den Squatterfamilien wird auch noch auf einem anderen Weg Aufmerksamkeit zuteil. Wenn etwa eine Typhus- oder Scharlachepidemie ausbricht, kommt ein Arzt 38
ins Lager und verfrachtet die Kranken auf eine Quarantänestation. Unterernährung ist freilich ebensowenig ansteckend wie die Ruhr, unter der die meisten Kinder leiden. Bei Masern, Mumps und Keuchhusten finden sich im Landspital keine Zimmer – auch wenn diese Krankheiten für die vom Hunger geschwächten Kinder oft den Tod bedeuten. Wir hören zwar viel über kostenlose Kliniken für die Armen, doch die Betroffenen wissen nicht, wie man an die Unterstützung herankommt und erhalten daher auch keine. Und weil der Umgang mit Behörden sich für sie meistens peinlich gestaltet, versuchen sie es erst gar nicht. So sieht das Squatterlager also aus. Manche sind ein wenig besser, manche viel schlimmer. Ich habe drei typische Familien beschrieben. In einigen Lagern gibt es bis zu 300 solcher Familien. Manche Lager sind so weit vom Wasser entfernt, daß die Menschen, die dort hausen, für einen Kübel Wasser fünf Cent bezahlen müssen. Wenn die Zuwanderer stehlen und gut angezogenen, zufriedenen Menschen mit Argwohn und Groll begegnen, liegt das nicht an ihrer Herkunft oder an einer Charakterschwäche.
III
W
enn die Kleinbauern im Lauf der Jahreszeit Wanderarbeiter brauchen, greifen sie im allgemeinen auf die Lager der Squatter zurück. Mit Kleinbauern meine ich hier die Besitzer von Zwei- bis Vierzig-Hektar-Gründen, die ihre mehr oder weniger überschaubaren Felder selbst bestellen. Es sind vor allem die Farmen dieser Größe, die sich die Arbeitskraft der Squatter zunutze machen. Manche erlauben den Arbeitern, auf einem kleinen Stück ihres Landes das Lager aufzuschlagen. Sie versorgen die Squatter mit Wasser und kümmern sich manchmal sogar um ein Klo. Gelegenheiten zum Baden gibt es kaum. Eine kleine Farm kann sich die Auslagen nicht leisten, die die Einrichtung und Erhaltung eines hygienischen Lagers erfordern würde. Außerdem haben die Kleinbauern Angst davor, Gruppen von Wanderarbeitern auf ihrem Land hausen zu lassen, und sie mögen den Abfall nicht, der zurückbleibt, wenn die Squatter weiterziehen. Im großen und ganzen ist die Beziehung zwischen Wanderarbeitern und Kleinbauern jedoch freundlich und verständnisvoll. Bei vielen Streiks in der kalifornischen Landwirtschaft hat sich der Kleinbauer auf die Seite der Wanderarbeiter und gegen die mächtigen Spekulantenverbände gestellt. Die Arbeiter wissen, daß die Probleme der Kleinbauern den ihren gar nicht so unähnlich sind. Es gibt das Beispiel eines Kleinbauern, der sich vor zwei Jahren im San-Joaquin40
Tal dem Streik der Baumwollarbeiter anschloß. Die Gruppe der Spekulanten, die eng mit den Kraftwerkgesellschaften zusammenarbeiten, war entschlossen, den Widerstand des Farmers zu brechen, indem sie ihm den Strom abdrehte, den er brauchte, um seine Felder zu bewässern. Aber die Arbeiter umringten den Strommast, wichen nicht von der Stelle und verhinderten, daß die Stromleitung gekappt wurde. Zwischenfälle dieser Art kommen häufig vor. Der Kleinbauer holt sich seine Arbeitskräfte also aus den Lagern der Squatter und den Lagern der Landes- und Bundesbehörden, von denen später die Rede sein wird. Die großen Farmen hingegen unterhalten sehr oft ihre eigenen Arbeiterlager. Kalifornische Großfarmen sind ebenso durchorganisiert und werden im Hinblick auf die Arbeitsverhältnisse ebenso zentral verwaltet wie Industrieunternehmen und Werften, Banken und Versorgungsbetriebe. Die Angehörigen und Aufsichtsratsvorsitzenden von Gesellschaften wie etwa Associated Farmers Incorporated sind ja Bankleute, Zeitungsverleger und Politiker, die durch ihre enge Verbindung mit der kalifornischen Handelskammer wiederum verzweigte Verbindungen zu den Schiffseigentümerverbänden, den Konzernen im Versorgungsbereich und den Transportmittelgesellschaften haben. Die auf Spekulationen ausgerichteten Organisationen in der Landwirtschaft haben Mitglieder verschiedener Art: einzelne nicht ortsansässige Besitzer riesiger Ländereien; Banken, die durch Zwangsvollstreckungen zu Land gekommen sind (wie etwa die Bank of America zu ungeheu41
ren Besitztümern im San-Joaquin-Tal); und landwirtschaftliche Gesellschaften mit Aktionären, Vorständen und den üblichen Gepflogenheiten solcher Unternehmen. Alle diese Farmen werden von Verwaltern geführt, denen von oben diktiert wird, wie sie die Arbeitsverhältnisse zu gestalten haben. Die Macht dieser Organisationen beschränkt sich freilich keineswegs auf die Ländereien in ihrem Besitz. Es kommt in Kalifornien selten vor, daß ein kleiner Farmer ohne Kredite von Banken und Finanzgesellschaften sein Land bepflanzen und bis zur Ernte betreuen kann. Und da diese Banken und Finanzgesellschaften gleichzeitig Mitglieder der mächtigen Anbauerverbände und die einzige Quelle von Krediten für die Landwirtschaft sind, liegt die Bedeutung ihres Tuns für die kleinen Bauern auf der Hand. Ihnen den Gehorsam zu verweigern, heißt entweder die Zwangsvollstreckung oder die Ablehnung des für die Bewirtschaftung notwendigen Kredits zu provozieren. Die genannten mächtigen Zusammenschlüsse sind also nicht unbedingt für die allgemeine Einstellung gegenüber den Arbeitskräften repräsentativ; doch weil sie in der Lage sind, sich in den Zeitungen und im Rundfunk Gehör zu verschaffen, können sie sich nicht nur als Gesamtheit der kalifornischen Bauern darstellen, sondern ihre Strategien tatsächlich auch der großen Zahl von kleinen Farmern aufzwingen. Die Ranches, die von diesen Spekulanten betrieben werden, haben in der Regel Häuser für die Wanderarbeiter, die sie verpflichten – Häuser, für die sie eine monatliche Miete von drei bis fünfzehn Dollar verlangen. Auf den 42
meisten Gütern steht es den Arbeitern gar nicht frei, ob sie sich die Miete leisten wollen oder nicht. Wenn sie auf der Ranch arbeiten wollen, müssen sie eines der Häuser beziehen, und die Miete wird ihnen vom Lohn abgezogen. Die Häuser, meist drei mal vier Meter große Ein-ZimmerHütten, haben keinen Bodenbelag, kein Wasser, kein Bett. In einer Ecke steht ein kleiner Holzofen aus Eisen. Das Wasser muß man von der Wasserleitung am Ende der Straße holen. Dort gibt es auch – für jeweils 100 bis 150 Personen – ein Plumpsklo oder ein Klo mit einem Klärbehälter. Auf einem recht typischen Anwesen im Kern County gab es für einen ganzen Block, der bis zu 400 Menschen als Unterkunft dienen konnte, einen Baderaum mit einer einzigen Dusche und nur kaltem Wasser. Wenn ein Wanderarbeiter auf einer solchen Ranch eintrifft, wird ihm und seiner Familie ein Haus zugewiesen – ob er nun drei oder sechs Kinder hat, alle müssen in dem einen Raum leben. Die Ranch wird von Ordnungskräften streng bewacht. Der Wille des Besitzers der Farm ist also Gesetz; ihre Waffen deutlich zur Schau tragend, ist immer gleich eine Ordnungskraft zur Stelle. Jede Meinungsverschiedenheit gilt als Widerstand. Ein Blick auf die Liste der Wanderarbeiter, die innerhalb eines einzigen Jahres, in Kalifornien erschossen wurden, weil sie sich „einem Beamten widersetzten“, genügt, um zu erkennen, wie beiläufig diese „Beamten“ Arbeiter töten. Der Neuankömmling hat wahrscheinlich kein Geld mehr. Er hat seine Mittel aufgezehrt, um die Ranch zu erreichen. 43
Auf vielen Gütern wird er einen von der Verwaltung betriebenen Laden finden, bei dem er anschreiben lassen kann. So muß er am zweiten Tag arbeiten, um für den ersten zu bezahlen, und so weiter. Er ist ununterbrochen verschuldet. Er muß arbeiten. Er verfügt über ein einziges Eigentum, aufgrund dessen ihm Kredit eingeräumt wird: sein Automobil. Während alleinstehende Männer mit der Eisenbahn oder per Anhalter von einer Ernte zur anderen gelangen können, verhungert ein Mann, der eine Familie hat, wenn er sein Auto verliert. Angesichts dieser Bedrohung muß er weiterarbeiten. Bei der Arbeit paßt immer ein „Antreiber“, der das Kommando auf dem Feld hat, auf ihn auf, und meistens gibt es auch jemanden, der das Tempo vorgibt. Dieser Mann ist ihm beim Pflücken stets einen Baum voraus. Wenn der Arbeiter nicht Schritt halten kann, wird er entlassen. Es kommt oft vor, daß die Reihe des Mannes, der das Tempo vorgibt, später von anderen Arbeitern nachgepflückt werden muß. Auf diesen großen Farmen versucht man nicht, etwas für die Erholung oder Unterhaltung der Arbeiter zu tun. Es ist sogar so, daß alle Anstalten, sich zu versammeln, von den Deputys sofort unterbunden werden, weil man befürchtet, daß sich die Arbeiter organisieren könnten, wenn man ihnen zusammenzukommen erlaubt – und das wollen die großen Farmen mit allen Mitteln verhindern. Die Einstellung des Arbeitgebers auf einer großen Ranch ist von Haß und Mißtrauen gekennzeichnet, und sein Umgang mit den Arbeitern beruht auf der Androhung 44
von Waffengewalt. Die Arbeiter werden wie Tiere herumgetrieben. Jedes Mittel ist recht, sie zu erniedrigen und zu verunsichern. Schon beim geringsten Verdacht, daß sich die Männer organisieren könnten, werden sie von den Deputys mit vorgehaltenen Waffen von der Ranch gejagt. Die Besitzer der großen Farmen wissen, daß sie mit Ausgaben für Toiletten, Duschen und annehmbare Wohnverhältnisse sowie mit Lohnerhöhungen zu rechnen haben, wenn es den Arbeitern je gelingen sollte, sich zu organisieren. Auch die Haltung der Arbeiter auf einer großen Ranch ist im wesentlichen eine des Hasses und des Mißtrauens. Sie sind von Gewalt umgeben. Der Arbeiter weiß, daß er umgebracht werden kann, ohne daß der Arbeitgeber etwas zu befürchten hätte, und hat selbst so gut wie keinen Zugang zum Recht. Er verfällt in ein düsteres und angespanntes Schweigen. Er kann sich dem Kredit, den er braucht, um seine Familie über die Runden zu bringen, nicht widersetzen, und er weiß ganz genau, warum man ihm einen einräumt. Es gibt in Kalifornien einige große Güter mit „Modellhäusern“, hübsch angepinselten Gebäuden mit ein paar Annehmlichkeiten. Auf einer solchen Ranch beläuft sich die monatliche Miete für ein Ein-Zimmer-Haus meist auf fünf Dollar, und der Lohn liegt um ein Drittel unter dem Durchschnitt. Die den Arbeitern gegenüber an den Tag gelegte Politik auf diesen von einem Verwalter geführten Gütern hat unvermeidliche Folgen gezeitigt. Die Zufahrtstore sind meistens bewacht, auf den Straßen begegnet man Pa45
trouillen, und jedes Ansuchen, die Ranch zu inspizieren, wird kategorisch abgelehnt. Man hat beinahe den Eindruck, daß die Leitung der Farmen, nachdem sie nun gegenüber den Arbeitskräften, die sie für ihr Überleben brauchen, diese Unterdrückungshaltung aufgebaut haben, Angst vor den Folgen ihres Tuns haben. Diese Angst diktiert ihnen, die Unterdrückung zu verschärfen, die Zahl der Wachen zu erhöhen. Und auf Schritt und Tritt wird das Gefühl vermittelt, daß die Ranch bald losschlägt und einen bewaffneten Kampf führt. Wie auch in den Lagern der Squatter wird hier die Würde der Männer angegriffen. Man schenkt ihnen kein Vertrauen. Man umzingelt sie, als ob der Verdacht bestünde, daß sie schon im nächsten Augenblick eine Revolte anzetteln könnten. Man kann sich wohl kaum eine sicherere Methode vorstellen, die Arbeiter zur Revolte zu treiben. Die Unterdrückung führt unvermeidlich zum Aufflammen unorganisierter Aufstände, die mit Gewalt und noch mehr Einschüchterung niedergeschlagen werden. Die Zusammenschlüsse der großen Farmer haben festgestellt, daß das Gesetz ihren Interessen unangemessen ist; und sie sind inzwischen so mächtig, daß man gegen sie bei den von ihnen kontrollierten Gerichten keine Klage wegen schwerer oder leichter Körperverletzung, Anstiftung zur Unruhe, Entführung oder Verhängung von Prügelstrafen einbringen kann. Die Einstellung der großen Anbauerverbände zu den Arbeitern hat wohl Hugh T. Osburne, ein Angehöriger des Kontrollausschusses für das Imperial County und ein aktives Mitglied der Associated-Farmers-Gruppe desselben 46
Gebiets, am besten auf den Punkt gebracht. Vor dem gerichtsbehördlichen Ausschuß der Versammlung des Staates Kalifornien meinte er: „Wir brauchen dieses verbrecherische Gewerkschaftsgesetz im Imperial Valley nicht. Sie brauchen es in den anderen Countys, die nicht wissen, wie man mit solchen Dingen umgeht. Wir brauchen es nicht, weil wir unsere eigenen Methoden haben, damit fertig zu werden. Bei uns wird es keinen solchen Prozeß mehr geben. Wir haben eine bessere Lösung gefunden. Prozesse kosten zuviel.“ „Die bessere Lösung“ der großen Anbauer im Imperial Valley beruht auf einem System des Terrors, das in faschistischen Ländern ungewöhnlich wäre. Die dumme Politik der Großfarmer und der Spekulanten hat in Kalifornien zu nichts anderem geführt als zu Unruhe, Spannungen und Haß. Eine Fortsetzung dieses Vorgehens stellt eine kriminelle Gefährdung des Friedens im Staate Kalifornien dar.
Bildlegenden S. 48
Tom Collins. Fotograf unbekannt.
S. 49
Unterwegs – von den Minen zu den Holzfällerlagern zu den Farmen: Der Hobo mit seinem Bündel ist seit langem das Rückgrat der kalifornischen Wanderarbeiterschaft, Napa Valley, 1938. (Dorothea Lange)
S. 50/51 Flüchtlinge aus Oklahoma erreichen das San-Femando-Tal bei Los Angeles, 1935. (Dorothea Lange) S. 52/53 Wanderarbeiterlager unter Eukalyptusbäumen. Zeit und Fotograf unbekannt. S. 54
Lager für Arbeite rauf Zitrusgewächsplantagen im San-Joaquin-Tal, 1938. (Doro-
S. 55
Halt am Straßenrand. Zeit und Fotograf unbekannt.
thea Lange) S. 56/57 Winterregen im Lager. (Dorothea Lange) S. 58/59 Wanderarbeiterlager am Rand von Marysville, 1936. (Dorothea Lange) S. 60
Ein Okielager in einem Flußbett hei Holtville, Imperial Valley, 1937. (Dorothea
S. 61
Familie im Tulare County. (Dorothea Lange)
Lange) S. 62/63 Frau und Kind eines Wanderarbeiters in einem Lager bei Winters im SacramentoTal, 1936. (Dorothea Lange) S. 64/65 Familie in einer Ein-Zimmer-Hütte, 1935. Fotograf unbekannt. S. 66
Eine Behausung am Rand eines Erbsenfeldes, in der eine Familie den Winter ver-
S. 67
Familie auf der Flucht, 1935. (Dorothea Lange)
brachte, Imperial Valley, 1937. (Dorothea Lange) S. 68/69 Familien, die ihre bankrotten Farmen verlassen haben und auf der Flucht vor den Sandstürmen im Mittleren Westen nach Kalifornien aufgebrochen sind, haben hinter einer Reklametafel entlang des Highway 99 im San-Joaquin-Tal ihr Lager aufgeschlagen, 1938. (Dorothea Lange) S. 70/71 „Hooverville“ bei Sacramento. Zeit und Fotograf unbekannt. S. 72
Wasserleitung in einem Lager. Zeit und Fotograf unbekannt.
S. 73
Arbeiter in einem Lager der Farm Security Administration in Calipatria, Imperial Valley, 1939. (Dorothea Lange)
S. 74/75 Einfahrt in ein Regierungslage r, Marysville. (Dorothea Lange) S. 76/77 Ein mit seinen Murmeln spielender Junge namens Evon Evanoff in einem vorläufigen Lager bei Sacramento vor Eröffnung der Dauereinrichtung, 1941. Fotograf unbekannt. S. 78/79 Trinkwasser für die Familien der Feldarbeiter, Imperial Valley, 1935. (Dorothea Lange) S. 80/81 Verwaltungsgebäude eines Regierungslagers, Marysville. (Dorothea Lange)
IV
D
ie Bundesbehörden, die erkannt haben, daß die elenden Verhältnisse der kalifornischen Wanderarbeiter in der Landwirtschaft ein drängendes und schwerwiegendes Problem darstellen, haben zwei Lager eingerichtet und planen für die unmittelbare Zukunft acht weitere. Aus der Entwicklung der Lager in Arvin und Marysville lassen sich in sozialer und ökonomischer Hinsicht wesentliche Schlüsse ziehen. Die gegenwärtigen Lager wurden auf Pachtgrund errichtet. Für zukünftige Lager hat man von der Regierung erworbenes Land ins Auge gefaßt. Die Behörden stellen den Platz für die Zelte zur Verfügung. Die Dauereinrichtungen sind einfacher Art: Waschräume, Toiletten, Duschen, ein Verwaltungsgebäude und ein Ort, an dem sich die Menschen unterhalten können. Abgesehen von der Pacht, belaufen sich die Kosten für das Lager in Arvin auf 18.000 Dollar. In diesem Lager finden die Arbeiter Wasser, Toilettenpapier und einen Vorrat an Medikamenten vor. Der Lagerleiter lebt auf dem Areal. Um auf dem Grund ein Zelt aufschlagen zu dürfen, gibt es drei einfache Bedingungen: Man muß ein Landarbeiter sein und arbeiten wollen. Man muß dazu beitragen, das Lager sauber zu halten. Und man muß als Gegenleistung zwei Stunden pro Woche in die Erhaltung und Verbesserung des Lagers investieren. 83
Das Ergebnis übertraf die Erwartungen. Die Verwaltung war von allem Anfang an bemüht, den Wanderarbeitern die Würde und den Anstand wiederzugeben, die ihnen die unerträgliche Lebensweise ausgetrieben hatte. In dieser Artikelserie ist das Wort Würde bereits wiederholt vorgekommen. Das Wort bezeichnet hier nichts Aufgeblasenes, sondern meint einfach eine Ebene menschlicher Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Ein Mensch, den man hin und her treibt, bewaffneten Wachen unterstellt, hungern läßt und dazu zwingt, im Dreck zu leben, verliert seine Würde, verliert seine berechtigte Stellung im Hinblick auf die Gesellschaft und daher auch sein moralisches Empfinden dieser gegenüber. Das wird nirgendwo deutlicher als in Gefängnissen, wo man die Menschen jeder Würde beraubt und Verbrechen und Verstöße gegen die Regeln auf der Tagesordnung stehen. Die Zerstörung der Würde betrachten wir also als eines der bedauerlichsten Ergebnisse der Lebensverhältnisse der Wanderarbeiter. So mindert man ihr Verantwortungsbewußtsein und macht sie zu mürrischen Ausgestoßenen, die gegen die Regierung losschlagen werden, wann und wie es ihnen gerade einfällt. Das Beispiel des Lagers in Arvin stützt diese Einschätzung. Die Menschen werden dort dazu ermutigt, sich selbst zu verwalten, und sie haben sich für einfache und durchführbare demokratische Maßnahmen entschieden. Das Lager ist in vier Bereiche geteilt. Jede Einheit ist durch einen in direkten Wahlen bestimmten Vertreter im zentralen Verwaltungsausschuß, im Freizeitausschuß, im Instandhaltungsausschuß und im Ausschuß für gutnachbarschaftli84
che Beziehungen vertreten. Jedes Ausschußmitglied ist von den Angehörigen seiner Einheit gewählt worden und kann von ihnen auch wieder seiner Funktion enthoben werden. Der Leiter des Lagers hat natürlich ein Recht auf Einspruch, auch wenn sich in der Praxis kaum je die Notwendigkeit ergibt, sich den Empfehlungen der Ausschüsse zu widersetzen. Die Ergebnisse dieser verantwortlichen Selbstverwaltung sind bemerkenswert. Die Bewohner des Lagers waren gebrochen, niedergeschlagen und mittellos, als sie eintrafen. Doch mit dem Wiedererwachen ihres sozialen Empfindens haben sie sich niederzulassen begonnen. Das Lager kümmert sich jetzt selbst um seine Armen und sorgt dafür, daß jene, die nichts mehr haben, von den spärlichen Vorräten zu essen und eine Unterkunft bekommen. Der Zentralausschuß macht die Gesetze, die das Verhalten der Lagerbewohner bestimmen. Das Lager in Arvin gibt es nun bereits seit einem Jahr, und es war in dieser Zeit noch nie notwendig, die Polizei zu holen. Wer gegen die Regeln verstößt, wird mit dem Entzug gewisser Privilegien bestraft und darf etwa die Tanzveranstaltungen der Gemeinschaft nicht besuchen; sollte sein Verhalten fortwährend dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderlaufen, ergeht eine Empfehlung an den Verwalter, den Übeltäter des Lagers zu verweisen. Die im Lager anfallenden Aufgaben, Verbesserungen, Abfallbeseitigung, Instandsetzungsarbeiten, Reparaturen, werden vom Arbeitsausschuß eingeteilt. Der Freizeitausschuß organisiert die wöchentlichen Tanzveranstaltungen, bei denen Orchester aufspielen, die sich aus Lager85
bewohnern zusammensetzen. Sie spielen so gut, daß das Lager bereits eines an die Rundfunkanstalt verloren hat. Der Ausschuß kümmert sich auch um die vielen selbstgebastelten Spiele und die Spielplätze, die man im Lager eingerichtet hat. Der Ausschuß für gutnachbarliche Beziehungen ist eine Frauenorganisation, die Näharbeiten und die Herstellung von Quilts betreut, dafür sorgt, daß es kein Elend gibt, und die den Hort leitet und beaufsichtigt, in dem die Mütter ihre Kinder lassen können, wenn sie auf den Feldern arbeiten oder die Produkte in den Schuppen verpakken. Und das alles bedarf bloß der Unterstützung durch einen Leiter und eine Krankenschwester, die dem Lager nur einen Teil ihrer Zeit zur Verfügung steht. Als Versuche einer natürlichen und demokratischen Selbstverwaltung sind diese Einrichtungen in den Vereinigten Staaten einzigartig. Stattet man den Lagern einen Besuch ab, beeindrucken einen verschiedene Dinge besonders. Der mürrische und verängstigte Ausdruck, dem man bei Wanderarbeitern üblicherweise begegnet, ist aus den Gesichtern der Bewohner gewichen. Statt dessen findet man einen sicheren Blick und Selbstvertrauen – man sieht, daß man diesen Menschen ihre Würde wiedergegeben hat. Der Unterschied scheint mit der neuen Stellung des Wanderarbeiters in der Gemeinschaft in Zusammenhang zu stehen. Bevor er in das Lager kam, hat man ihm die Polizei auf den Hals gehetzt, ihn gehaßt und durch das Land getrieben. Man hat ihm klargemacht, daß er unerwünscht war. 86
In den Lagern der Regierung tut die Verwaltung alles, um dem Arbeiter seinen Platz in der Gemeinschaft zu verschaffen. Fürsorgefälle gibt es in den Lagern nicht. In Arvin schlug der Zentralausschuß einmal vor, eine Familie des Lagers zu verweisen, weil sie um Fürsorgegeld angesucht hatte. Hier arbeiten die Menschen eher als in vergleichbaren Situationen, weil sie etwas haben, was ihnen gehört, und sich daher auf den Feldern geschickter anstellen; die Bauern der Umgebung scheinen den Arbeitern aus dem Regierungslager jedenfalls den Vorzug zu geben. Man hat die Bewohner der Lager nicht ausgesucht. Es sind typische neue Wanderarbeiterfamilien. Sie kommen aus Oklahoma, Arkansas, Texas und anderen Dürregebieten. 85 % sind ehemalige Besitzer oder Pächter einer Farm oder haben auf einer Farm gearbeitet. Die restlichen 15 % sind Anstreicher, Mechaniker, Elektriker und Facharbeiter. Wenn eine Familie im Lager eintrifft, sind die Menschen I meist schmutzig, müde und gebrochen. Sie werden von Angehörigen des Ausschusses für gutnachbarliche Beziehungen begrüßt. Man erklärt ihnen die Regeln, hilft ihnen, sich einzurichten, und zeigt ihnen, wie die sanitären Einrichtungen funktionieren. Wenn die Neuankömmlinge nicht genug Decken haben oder es Schwierigkeiten mit der Unterkunft gibt, hilft man ihnen mit den verfügbaren Mitteln aus. Die Kinder werden gebadet und in saubere Kleider gesteckt. Man bemüht sich, die absehbaren Bedürfnisse festzustellen. Wenn die Kinder nicht genug zum Anziehen 87
haben, macht sich die Nährunde sofort ans Werk. Falls jemand krank ist, wird er vom Lagerleiter oder von der Krankenschwester behandelt. Die Frauen, die dem Nachbarschaftsausschuß angehören, sind keine ausgebildeten Sozialarbeiterinnen, doch sie haben etwas, was vielleicht wichtiger ist: ein durch ähnliche Erfahrungen gereiftes Verständnis. Den Neuankömmlingen ist nichts widerfahren, was nicht auch den Angehörigen des Ausschusses widerfahren ist. Ein typischer Bericht des Verwalters sieht etwa so aus: „Neuzugänge. Wenig Verpflegungsreserven. Der Großteil der persönlichen Habe in Säcken, schmutzig. Nachbarschaftsausschuß kümmert sich sofort um die Familie. Um 10 Uhr schon alle verpflegt und gewaschen, die Zelte aufgestellt, die Leute untergebracht und im Bett.“ Die beiden Regierungslager fassen je 200 Familien. Sie wurden versuchsweise eingerichtet und haben sich bewährt. Zwischen den Zeltreihen haben die Familien kleine Gemüsegärten angelegt, um die sie sich nach zehn, zwölf Stunden Arbeit kümmern müssen; sie pflanzen Rüben, Kohl, Mais, Karotten und Zwiebeln. Sie wollen unbedingt etwas wachsen sehen. Ein Mann, dem man noch keinen Grund für seinen Garten zugewiesen hat, gießt regelmäßig einen Stechapfelstrauch, um auch etwas zu pflegen, was ihm gehört. Mit Hilfe der Wiederansiedlungsorganisation will die Bundesregierung diese Lager ausbauen und um kleine Selbstversorgerfarmen erweitern. So will man mehrere Probleme lösen. Die Farmen würden es Frauen und Kindern erlauben, an 88
einem Ort zu bleiben: Die Kinder könnten zur Schule gehen, die Frauen sich um die Farm kümmern, wenn die Männer arbeiten. Das würde dem Verfall entgegenwirken, den ein Leben auf Wanderschaft mit sich bringt, und den Wanderarbeiterfamilien das Gefühl wiedergeben, etwas zu haben, worüber sie selbst bestimmen. Da die Einrichtungen in der Nähe von Gebieten liegen, in denen man Saisonarbeitskräfte braucht, könnten diese Subsistenzbauern bei der Ernte mitarbeiten. Das Umherziehen im ganzen Staat würde damit ein Ende finden. Angesichts des Erfolgs der von den Bundesbehörden eingerichteten Lager, in denen es gelingt, aus potentiellen Kriminellen Staatsbürger zu machen, kommen einem die üblichen Aufwendungen für Tränengas ziemlich verfehlt vor. Die meisten der neuen Zuwanderer aus den Ebenen des Mittleren Westens werden Bürger des Staates Kalifornien werden. Sie haben im Lager unter Beweis gestellt, daß sie etwas zu schaffen vermögen und daß sie zusammenarbeiten können. Sie sind leidenschaftlich entschlossen, sich hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Arbeiter meinte einmal: „Wenn es hier was zu tun gibt, sind wir die richtigen. Wir haben nie Almosen genommen, und unsere Familie wird auch jetzt keine nehmen.“ Die Pläne der Wiederansiedlungsbehörde zur Ausweitung der Lager stößt auf einen durch verschiedene Interessen im Land motivierten Widerstand. Es handelt sich im wesentlichen um vier Argumente, die gegen die Einrichtung von Lagern vorgebracht werden. Erstens, so meint man, würden sich durch die Lager die 89
Kosten der Gemeinden für lokale Polizeikräfte erhöhen. – Die beiden Lager, die es jetzt schon seit über einem Jahr gibt, brauchen hingegen überhaupt keine Polizeikräfte, für welche die Gemeinde aufkommen müßte, während die Squatterlager dauernd das Büro des Sheriffs beschäftigen. Das zweite Argument betrifft die Schulkosten, die sich durch die Kinder aus dem Lager für die Bezirksbehörden angeblich erhöhen würden. – Die Unterstützung der Schulen liegt in den Händen der Landesbehörden und richtet sich nach der Anzahl der Schüler. Und selbst wenn die Schulen teurer würden, ist es doch so, daß die Gemeinden auf die Arbeitskraft der Familien angewiesen sind und eine gewisse Verantwortung übernehmen sollten. Die Alternative ist eine Generation von Analphabeten. Drittens führt man an, daß die Art von Menschen, die in den Lagern wohnt, die Bodenpreise sinken lassen würde. – Durch die beiden Lager, die es bereits gibt, haben sich die Bodenpreise in der Umgebung nicht im geringsten verändert, und die Menschen in den Lagern kommen aus guten alten amerikanischen Familien und haben bewiesen, daß sie dem amerikanischen Lebensstandard entsprechen können. Die Sauberkeit in den Lagern und der Umstand, daß es dort keine Krankheiten gibt, belegen das. Viertens wird – wie etwa vom Herausgeber des Yuba City Herald, der sich selbst als einen Sadisten bezeichnet und eine Reihe hetzerischer und umstürzlerischer Leitartikel über das Lager von Marysville verfaßt hat – behauptet, daß es sich um Brutstätten des Streiks handle. – Angesichts zwingender Beweise mußte der Patriot aus Yuba City seine 90
Aussage, daß das Lager voller Radikaler sei, zurückziehen. Auch die Spekulanten in den Anbauerverbänden werden so argumentieren. Diese Verbände haben kein Hehl daraus gemacht, daß sie die Existenz einer Leibeigenenklasse als für ihren Erfolg unabdingbar ansehen. Jeder Schritt, der auf eine Verbesserung der Lebensumstände der Wanderarbeiter abzielt, wird von ihnen als radikal angesehen werden.
V
F
ür die Wanderarbeiterfamilien in Kalifornien sind Zuschüsse, wie sie Arbeitslosen mit einem festen Wohnsitz gewährt werden, keine Alternative. Es haben sich regelrechte Techniken herausgebildet, wie man in den Genuß eines Zuschusses kommt. Kennt man sich aus, kann man von den verschiedensten Landes- und Bundesstellen Unterstützung bekommen – weiß man nicht Bescheid, wird man abgewiesen. Wanderarbeiter sind immer wieder arbeitslos, weil sie Saisonarbeiter sind. Sie haben jedoch keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, weil man für die meisten Zuschüsse einen festen Wohnsitz haben muß. Der Wanderarbeiter kann keinen festen Wohnsitz angeben. Er muß ja im Land umherziehen, um arbeiten zu können. Er kann nirgendwo ansässig werden, weil er dann verhungern würde. Wenn er sich um eine Unterstützung bewirbt, stellt sich heraus, daß man ihn nicht auf die Liste der Zuschußempfänger setzen kann. Aus demselben Grund kommt er auch für Unterstützungen seitens der lokalen Behörden nicht in Frage, weil deren Fonds den Menschen vorbehalten sind, die in der betreffenden Region ansässig sind. Und auch das CountySpital wurde für die im County ansässigen Menschen gebaut. Es ist aufschlußreich, als Beispiel die Geschichte einer 92
Familie im Hinblick auf medizinische Versorgung, Arbeitslosenunterstützung und unmittelbare Zuwendungen zu verfolgen. Die Familie, von der die Rede sein soll, kam aus Oklahoma, wo der Vater eine kleine Ranch mit 20 Hektar Prärieland bestellt hatte. Es waren fünf Personen: der 50jährige Mann, seine 45jährige Frau und drei Kinder, zwei Jungen im Alter von fünfzehn und zwölf Jahren und ein sechsjähriges Mädchen. Als die Dürre hereinbrach und die Stürme den fruchtbaren Boden davontrugen, verfrachtete die Familie ihr bewegliches Gut auf einen alten Dodge-LKW und machte sich auf den Weg nach Kalifornien. Sie kamen gerade zur Orangenernte im Süden zurecht und hatten eine verhältnismäßig gute Saison. Der ältere Junge und der Vater verdienten zusammen 60 Dollar. Da brachen beim LKW einige Zähne des Differentials ab, und die Reparatur und drei gebrauchte Ersatzreifen kosteten 22 Dollar. Die Familie zog ins Kern County, um auf einem Weingut zu arbeiten, und schlug in einem Squatterlager in der Nähe von Bakersfield ihr Zelt auf. Der Vater verstauchte sich den Knöchel, und das Mädchen bekam die Masern. Die Arztrechnungen beliefen sich auf 10 Dollar, und fast der gesamte Rest der Ersparnisse ging für Essen und Benzin auf. Nun war der fünfzehnjährige Junge der einzige, der Geld nach Hause brachte. Sein kleiner Bruder fand in einem Hof ein Gerät aus Messing und nahm es an sich, um es zu verkaufen. Er wurde verhaftet und mußte vor das Jugendgericht, wurde dann aber in die Obhut seines Vaters entlassen. Da kein Benzin mehr im Tank des Autos war und 93
der Vater den spärlichen Rest des noch vorhandenen Geldes nicht antasten wollte, ging er trotz seines verletzten Knöchels den ganzen Weg vom Squatterlager nach Bakersfield zu Fuß. Dieser Marsch führte zu Komplikationen am Knöchel, und der Vater mußte sich wieder hinlegen. Das Mädchen hatte die Masern inzwischen überstanden; da aber nichts unternommen worden war, um seine Augen zu schützen, hatte es einen Teil seiner Sehkraft verloren. Der Vater suchte jetzt um Unterstützung an und mußte feststellen, daß er nicht anspruchsberechtigt war, weil er keinen festen Wohnsitz nachweisen konnte. Alle Mittel waren aufgezehrt. Von den Nachbarn im Squatterlager bekam die Familie etwas Essen. Ein Mann aus dem Lager, der eine Ziege besaß, brachte jeden Tag eine Schale Milch für das Mädchen vorbei. Etwa um diese Zeit begann der Fünfzehnjährige über Schmerzen im Unterbauch zu klagen, wenn er von den Feldern nach Hause kam. Bald fieberte er, und die Schmerzen wurden schlimmer. Die Mutter legte ihm heiße Tücher auf, und ein Nachbar brachte den gehbehinderten Vater ins Bezirksspital, damit dieser dort um Hilfe für seinen Sohn bitten konnte. Das Spital war belegt, die gesamte verfügbare Zeit des Personals von den im Bezirk ansässigen Patienten beansprucht. Man nahm die Beschwerden des Sohnes, die der Vater als Magenschmerzen beschrieb, nicht ernst. Man gab dem Vater für seinen Sohn eine Dosis von Heilsalzen mit. In dieser Nacht wurden die Schmerzen des Jungen so groß, daß er das Bewußtsein verlor. Der Vater 94
rief im Spital an und stellte fest, daß niemand Dienst hatte, der sich um den Fall hätte kümmern können. Der Junge starb am darauffolgenden Tag an einem Blinddarmdurchbruch. Es war kein Geld mehr da. Das County übernahm die Bestattung. Der Vater verkaufte den Dodge, bekam dafür 30 Dollar und gab 2 Dollar für einen Kranz aus. Mit dem Rest des Geldes kaufte er einen Vorrat an billigen, sättigenden Nahrungsmitteln: Bohnen, Haferschrot, Schweineschmalz. Er versuchte, wieder auf den Feldern zu arbeiten. Manche Nachbarn nahmen ihn gegen ein geringes Entgelt in ihrem Auto zur Arbeit mit. Doch der Mann wurde schnell schwach und konnte beim Schneiden im Akkord nicht mehr als 75 Pence täglich verdienen. Er suchte abermals um Unterstützung an. Man wies ihn auch diesmal ab, weil er keinen festen Wohnsitz nachweisen konnte und nicht arbeitslos war. Das noch durch die Masern geschwächte kleine Mädchen erkrankte aufgrund der ungenügenden Ernährung an Grippe. Diesmal versuchte es der Vater erst gar nicht beim County-Spital. Er wandte sich privat an einen Arzt, der jedoch nur ins Lager kommen wollte, wenn man ihn im voraus bezahlte. Der Vater gab dem Arzt die vereinbarte Summe, die dem Lohn für zwei Tage Arbeit entsprach, und dieser suchte daraufhin das Lager auf. Er maß dem Mädchen die Temperatur, gab der Mutter sieben Pillen für ihre Tochter, empfahl ihr, das Kind warmzuhalten und ging wieder. Der Vater verlor seine Arbeit, weil er zu langsam war. Abermals suchte er um Hilfe an. Diesmal bekam er Nahrungsmittel für eine Woche. 95
Und das geht immer so weiter. Es gibt Tausende solcher Fallgeschichten. Man mag sagen, daß der Mann einen Weg hätte finden müssen, um Unterstützung zu bekommen, aber wie hätte er denn wissen sollen, woher? Es gab für ihn einfach keine Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen. Die kalifornischen Gemeinden werden mit solchen Problemen auf altbewährte Art fertig. Erstens glaubt man es nicht und bestreitet hartnäckig, daß es ein Problem gibt. Zweitens erklärt man sich seitens der lokalen Behörden als nicht zuständig, weil die Betroffenen ja dort keinen festen Wohnsitz haben. Und die dritte und dümmste aller Methoden besteht darin, sich das Problem dadurch vom Hals zu schaffen, daß man die Menschen in ein anderes County abschiebt. Dieses County wird die dort unerwünschten Wanderarbeiter natürlich auf die gleiche Weise los, und so spielt ein County dem anderen den Ball zu. Ein schlagkräftiges Beispiel für diese Insel-Mentalität ist die Geschichte mit den Hakenwürmern im Stanislaus County. Der Schlamm an den Wasserläufen, an denen sich die Squatter niederlassen, ist verseucht. Einige Geschäftsleute aus Modesto und Ceres haben als Lösung vorgeschlagen, die Squatter von dort zu vertreiben. Man hat nicht einmal daran gedacht, die Opfer zu isolieren und etwas gegen die Hakenwürmer zu tun. Daß die von den Würmern Befallenen, die den Geschäftsleuten zufolge aus dem County vertrieben werden sollten, die Menschen auf anderen Farmen anstecken würden, hat schon wieder niemanden interessiert. Ebendiese Weigerung der lokalen Behörden, etwas anderes in 96
Betracht zu ziehen als die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen und den Profit der betreffenden Gemeinden, ist der Grund für viele unlösbare Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Existenz der Wanderarbeiter ergeben. Die County-Behörden scheinen zu befürchten, daß man von ihnen verlangen könnte, jenen Arbeitskräften, die sie für die Ernte ihrer Felder brauchen, unter die Arme zu greifen. Folgt man verschiedenen Statistiken der Bundes- und Landesbehörden sowie den Untersuchungen über das Leben vieler Wanderarbeiter, kann ein Mann höchstens 400 Dollar im Jahr verdienen; der Durchschnitt liegt bei 300 Dollar, und gar nicht so selten verdient ein Arbeiter nicht mehr als 150 Dollar. Damit müssen Essen, Bekleidung und Transportkosten für eine ganze Familie bestritten werden. Manchmal können ganze Familien auf den Farmen arbeiten und sich so etwas dazuverdienen. Aber es sind auch Fälle von Familien dokumentiert, die so krank und unterernährt sind, daß alle zusammen weniger verdienen als ein einziger gesunder Mann. Die Arbeit bringt es mit sich, daß es nicht lange dauert, bis es mit der Gesundheit bergab geht. Essen ist immer knapp, Luxus, in welcher Form auch immer, unbekannt. Wenn eine Familie gerade Geld verdient, setzt sich das Mittagessen etwa so zusammen: gekochter Kohl, in der Schale gebackene süße Kartoffeln, Rahmkarotten, Bohnen, in Fett herausgebackene Fladen, Gelee, Tee (eine achtköpfige Familie); Bohnen, Backpulverkekse, Marmelade, Kaffee (eine siebenköpfige Familie); Dosenlachs, Maisbrot, rohe Zwiebeln (eine sechsköpfige Familie); Kek97
se, Bratkartoffeln, Löwenzahnblätter, Birnen (eine fünfköpfige Familie). Auffällig ist, daß es selbst in besseren Zeiten weder Milch noch Butter gibt. Der Hauptbestandteil der Nahrung ist Stärke. In schlechten Zeiten gibt es nur noch Stärke, weil das der billigste Weg ist, sich den Bauch zu füllen. Wenn es keine Arbeit gibt, reduziert sich das Mittagessen folgendermaßen: Löwenzahnblätter und Bratkartoffeln (Vater, Mutter und sechs Kinder); Bohnen, in Fett herausgebackene Fladen (eine siebenköpfige Familie); Maismehlpfannkuchen (eine sechsköpfige Familie); Haferschrotbrei (eine fünfköpfige Familie). Man kann sich vorstellen, daß selbst in guten Zeiten die Möglichkeit, gesund zu bleiben, sehr gering ist. Daß es für Kinder überhaupt keine Milch gibt, ist für zahlreiche Ernährungskrankheiten verantwortlich. Selbst Pellagra ist keineswegs unbekannt. Das Essen wird auf die allerprimitivste Weise zubereitet. Die Küche besteht meistens aus einem Loch im Boden oder einem Petroleumkanister mit einem Rauchabzug, der vorne offen ist. Wenn die Erwachsenen zehn Stunden auf den Feldern oder in den Packhallen gearbeitet haben, wollen sie nicht mehr kochen. Solange sie noch Geld haben, kaufen sie Konserven, und wenn sie knapp bei Kasse sind, leben sie von halbgekochten Stärkenahrungsmitteln. Die Geburt von Kindern gehört zu den schlimmsten Problemen. Es gibt keinerlei pränatale Vorsorge für die Mütter, und auch überhaupt keine Voraussetzungen dafür. Die Frauen müssen auf den Feldern arbeiten, bis sie kör98
perlich nicht mehr dazu in der Lage sind, und wenn sie nicht arbeiten gehen, kommen sie nicht zur Ruhe, weil sie sich um andere Kinder und das Lager kümmern müssen. Wenn dann das Kind zur Welt kommt, ist kaum je ein Arzt anwesend. In den Squatterlagern steht manchmal eine Nachbarin der Frau bei der Geburt bei. Sanitäre Vorkehrungen werden ebensowenig getroffen wie hygienische Vorsichtsmaßnahmen. Das Kind wird in einem schmutzigen Bett auf Zeitungspapier geboren. Wenn es zu Komplikationen kommt und ein chirurgischer Eingriff oder eine Zangengeburt erforderlich wäre, ist die Mutter praktisch zum Sterben verurteilt. Wenn alles gutgeht, werden die Augen des Säuglings nicht behandelt, und es fehlt die gesamte Palette medizinischer Fürsorge, die einem aus den Kinderzimmern der Mittelklasse vertraut ist. Die meist unterernährte Mutter kann das Neugeborene nicht stillen. Manchmal füttert man das Baby mit Dosenmilch durch, bis es Fladen oder Maismehlpfannkuchen essen kann. Deshalb ist die Säuglingssterblichkeit sehr hoch. Ein Beispiel: Eine Familie mit drei Kindern; die Frau ist 38, sie hat ein mageres, gezeichnetes Gesicht und glasige Augen. Die drei überlebenden Kinder wurden vor 1929 geboren, als die Familie eine Farm in Utah gepachtet hatte. 1930 brachte die Frau ein Kind zur Welt, das nach vier Monaten an einer „Kolik“ starb. 1931 brachte sie ein totes Kind zur Welt, weil „mir zwei Tage, bevor das Baby da war, ein Karren mit einem Berg von Kisten reingefahren ist“. 1932 hatte sie eine Fehlgeburt: „Ich habe das Baby verloren, weil ich krank war.“ 99
Dafür schämt sie sich. 1933 brachte sie ein Kind zur Welt, das nach einer Woche starb. „Einfach so. Ich weiß nicht, woran.“ 1934 ist sie nicht schwanger geworden. Auch dafür schämt sie sich irgendwie. 1935 überlebte ihr Baby ungewöhnlich lange und starb erst nach neun Monaten. „Hat lang so ausgesehen, als würde es überleben. Ein kräftiger Junge, haben wir gedacht.“ Zur Zeit ist sie wieder schwanger. „Wenn wir Milch für ihn bekommen könnten, wär’s wahrscheinlich besser.“ – Ein tragischer, aber keineswegs ungewöhnlicher Fall.
VI
D
ie Geschichte der Einfuhr fremder Arbeitskräfte nach Kalifornien und ihrer Behandlung ist eine Geschichte skandalöser Gier und Grausamkeit. Die ersten größeren Fremdarbeiterkontingente waren Tausende Chinesen, die man als Billiglohnkräfte für den Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien ins Land brachte. Als der Pazifik erreicht war, behielt man einige wenige als Hilfsarbeiter für die Instandhaltung der verschiedenen Strekkenabschnitte, die meisten aber gingen in die Landwirtschaft. Der herkömmliche Lebensstandard der Chinesen war so niedrig, daß weiße Arbeitskräfte nicht mit ihnen konkurrieren konnten. Durch den Familienzusammenhalt gelang es den Zuwanderern aus China, Land zu erwerben und diesem einen viel höheren Ertrag abzutrotzen als die Weißen. Die weißen Arbeiter begannen daher, die Kulis wild zu bekriegen. Die Emotionen schlugen hoch und spitzten sich in Unruhen zu, welche die Chinesen schließlich von den Feldern vertrieben, während die Einwanderungsgesetze die Grenzen dichtmachten und den Zustrom neuer Arbeitskräfte unterbanden. Dann ermunterte man Japaner, als Billiglohnkräfte ins Land zu kommen, und die Geschichte ihres Aufenthalts deckt sich ziemlich genau mit jener der chinesischen Zuwanderer. Wesentlich in diesem Zusammenhang war der 101
niedrige Lebensstandard, der es ihnen erlaubte, Eigentum zu akkumulieren und sich gegen die Konkurrenz der weißen Arbeitskräfte durchzusetzen. Auch diesmal kam es wieder zu Unruhen; die Behörden beschränkten den Zugang zu Grundeigentum über gesetzliche Regelungen und machten die Grenzen dicht. Die Ablehnung, die man den Zuwanderern entgegenbrachte, schlug sich in einer Welle von Werken über die „gelbe Gefahr“ nieder, die kurz vor dem Krieg ihren Höhepunkt erreichte. Der Bedrohung der weißen Arbeitskräfte durch die Japaner wurde ein Ende gesetzt. Einige hatten Land erworben, andere gingen in die Städte, viele wurden umgesiedelt oder deportiert. Die japanischen Landarbeiter waren zwar nicht wirklich organisiert, hatten aber eine Art spontanen Zusammenhalt entwickelt, der sie schwerer lenkbar machte als die Chinesen. Aufgrund der Gegebenheiten der kalifornischen Landwirtschaft begannen die Großgrundbesitzer jedoch bald wieder nach Lohnsklaven zu schreien. Und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine weitere Quelle billiger Arbeitskräfte verfügbar. Man brachte große Kontingente von Mexikanern ins Land, deren niedriger Lebensstandard die Löhne der Landarbeiter so weit drückte, daß die weißen Arbeitskräfte nicht mehr mithalten konnten. 1920 lebten in Kalifornien bereits 80.000 nicht im Land geborene Mexikaner. Die beginnende intensive Bewirtschaftung im Imperial Valley und in Südkalifornien hatte den Einsatz billiger Arbeitskräfte notwendig gemacht. Etwa um diese Zeit stieg der Bedarf an solchen Arbeitskräften seitens der großen Anbauer und der mehr und 102
mehr für den Export produzierenden Eigentümer weiter an. Die Bauern mit weniger als acht Hektar Land erhoben gegen die vorgeschlagene Quotenregelung keinen Einspruch; 66 Prozent befürworteten eine solche Lösung ausdrücklich. Die großen Anbauer hingegen stellten sich gegen eine Beschränkung. 78 Prozent sprachen sich offen gegen eine wie auch immer geartete Begrenzung der Einfuhr von Lohnsklaven aus. Durch die Weltwirtschaftskrise sanken die Löhne im Süden des Landes auf ein dermaßen niedriges Niveau, daß die Arbeit für Weiße nicht mehr in Frage kam. Der Stundensatz fiel auf einen Schnitt von 14 Cent. Für die großen Anbauer boten die mexikanischen Arbeitskräfte nicht nur den Vorteil, daß sie billig waren. Wenn die Grundbesitzer die Mexikaner nicht mehr brauchten, konnten sie sie wie Abfall behandeln. Die lokalen Stellen brauchten sich nicht um Kranke und Invalide zu kümmern; und wenn sich die Arbeiter den niedrigen Löhnen und schrecklichen Lebensbedingungen widersetzten, ließ man sie einfach auf Regierungskosten abschieben. Nun haben sich kürzlich die Mexikaner in Kalifornien, dem Beispiel der Arbeiter in ihrer Heimat folgend, zu organisieren begonnen. In Südkalifornien ist man dieser Entwicklung mit terroristischen Mitteln und einer Brutalität entgegengetreten, die man in einem zivilisierten Land nicht für möglich gehalten hätte. Zu diesen Unterdrückungsmaßnahmen seitens der großen Anbauer nimmt der Bericht des Sonderausschusses folgendermaßen Stellung: „Grundsätzlich scheint ein Groß103
teil der Schwierigkeiten mit den mexikanischen Arbeitskräften im Imperial Valley daher zu rühren, daß diese den Wunsch haben, sich zusammenzuschließen. Gut organisierter Widerstand hat diese Bemühungen im Keim erstickt oder wirkungslos gemacht. […] Wir haben genügend Beweise gefunden, die uns zu der Überzeugung gelangen ließen, daß bekannte Bürger des ImperialValley-County und Beamte, die geschworen haben, dem Gesetz zu dienen, das Recht in mehr als einem Fall mit Füßen getreten haben.“ Dann führt der Bericht eine Reihe von Übergriffen an. „Viele Frauen und Männer wurden verhaftet, aber nicht offiziell eines Vergehens angeklagt. […] eingeschüchtert, um Schuldgeständnisse zu erzwingen. […] Kautionen festgelegt, die so hoch sind, daß die Verhafteten nicht freikommen.“ Und weiter heißt es: „Unserer Einschätzung nach haben sowohl reguläre Exekutivbeamte als auch Zivilpersonen ihre Pistolen zu frei zur Schau gestellt, und die Polizei hat ungerechtfertigterweise Tränengas eingesetzt. Es ist uns unbegreiflich, daß eine Gruppe von etwa 80 Beamten es notwendig fand, auf der Suche nach drei ‚Agitatoren‘ gegen einige hundert Männer, Frauen und Kinder in einem vergleichsweise kleinen, einstöckigen Gebäude mit Tränengas vorzugehen.“ Das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit sowie auf ein Gerichtsverfahren gewährt man den Mexikanern im Imperial Valley nicht. Infolge dieses Umgang mit den mexikanischen Arbeitern sowie der umfangreichen Abschiebungen und des Repatriierungsvorhabens der gegenwärtigen mexikanischen Re104
gierung geht die Zahl mexikanischer Landarbeiter in Kalifornien allmählich zurück. Wie die chinesischen und japanischen Einwanderer haben sie sich des einen Verbrechens schuldig gemacht, das die großen Anbauer unter keinen Umständen akzeptieren: Sie haben sich zu ihrem eigenen Schutz zusammenzuschließen versucht. Allem Anschein nach werden der kalifornischen Landwirtschaft nicht mehr lange mexikanische Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die letzte große Quelle von fremden Arbeitskräften für kalifornische Anbauer waren Philippiner. Zwischen 1920 und 1930 brachte man 31.000 dieser Menschen in die Vereinigten Staaten, von denen die meisten in Kalifornien blieben und eine neue Gruppe von Leibeigenen bildeten. Es waren hauptsächlich junge, unverheiratete Männer; Frauen durften nicht mitkommen. Der Großteil dieser Zuwanderer fand auf den Feldern Mittel- und Nordkaliforniens Arbeit. Ihre Löhne liegen niedriger als die aller anderen Wanderarbeiter. Wie die mexikanischen, japanischen und chinesischen Zuwanderer hat man auch die Philippiner als Rasse diskriminiert. Ihr Verhalten ist ein Musterbeispiel an Sparsamkeit und für Kalifornien einzigartig: Sie schließen sich zu kleinen Gruppen von fünf bis acht Mitgliedern zusammen und teilen die Kosten für die notwendige Ausstattung, etwa für Autos. Einem für Arbeitsfragen zuständigen Beamten der State Relief Administration zufolge „kommen sie oft eine ganze Woche mit zwei Händen Reis und etwas Brot aus“. Man hat also den Männern nicht gestattet, Frauen mitzu105
bringen. Gleichzeitig hat man die Heiratsgesetze Kaliforniens dahingehend abgeändert, daß nun auch Angehörige der malaiischen Rasse keine Weißen heiraten dürfen. Dadurch sahen sich die Männer zu ungesetzlichen Verbindungen mit weißen Frauen gezwungen. Das brachte ihnen nicht nur den Ruf ein, unmoralisch zu sein, sondern führte auch zu zahlreichen rassistischen Ausschreitungen. Es waren gute Arbeiter, aber wie die Zuwanderer vor ihnen begingen sie das unverzeihliche Verbrechen, sich zu ihrem Schutz zusammenzuschließen. Dieser Schritt wurde mit den üblichen Terrormaßnahmen geahndet. Ein gutes Beispiel dafür ist der Überfall, der im vergangenen Jahr im Salinas-Tal stattfand: Eine Schlafbaracke wurde niedergebrannt, alle Habseligkeiten der Philippiner zerstört. Während dem Besitzer der Baracke die Versicherungssumme ausbezahlt wurde, haben die Arbeiter, obwohl sie eine Klage eingebracht haben, noch immer keine Entschädigung erhalten. Aber auch die philippinischen Arbeitskräfte werden in der kalifornischen Landwirtschaft nicht mehr lange eine Rolle spielen. 1935 erkannten die Vereinigten Staaten den Philippinen den Commonwealth-Status zu: Dadurch wurden die 35.000 Philippiner, die in Kalifornien leben, mit einem Schlag zu Ausländern. Die Bundesbehörden starteten gemeinsam mit der Regierung der Philippinen eine Kampagne, die das Ziel hat, alle in Kalifornien lebenden Philippiner zu repatriieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das gelungen sein wird. Durch das Abebben der Wellen ausländischer Lohnsklaven liegt das Geschick der kalifornischen Landwirtschaft 106
nun also in den Händen amerikanischer Arbeiter. Die alten, im Umgang mit den ausländischen Arbeitskräften entwickelten Methoden der Einschüchterung und des Aushungerns werden nun also gegen die neuen weißen Wanderarbeiter eingesetzt. Aber diesem Umgang wird kein Erfolg beschieden sein. Die kalifornische Landwirtschaft muß sich zu einer Art Bestandsaufnahme, zu einer Neuorganisation ihrer inneren Ökonomie aufraffen. Die Landarbeit in Kalifornien wird weiße Arbeit sein, wird amerikanische Arbeit sein, und dadurch wird sich ein Lebensstandard durchsetzen, der viel höher ist als der, den man den „billigen Fremdarbeitern“ zugestanden hat. Einige aufgeklärtere große Anbauer treten mit dem Argument für weiße Arbeitskräfte ein, daß „diese sich weniger auf die Fürsorge verlassen werden als die mexikanischen“. In ihrer Begeisterung übersehen sie allerdings, daß genau der Stolz und die Selbstachtung, welche die weißen Zuwanderer davon abhalten, auf Wohlfahrt und Fürsorge zu vertrauen, sofern es eine Alternative gibt, diese auch daran hindern werden, die Rolle von Leibeigenen und die Terrormaßnahmen, den Dreck und den Hunger zu akzeptieren, die mit dieser Rolle verbunden sind. Fremdarbeiter sind in Kalifornien im Rückzug begriffen, und die zukünftigen Landarbeiter werden Weiße, werden Amerikaner sein. Dieser Tatsache muß man ins Auge sehen. Man wird nicht umhin können, die Haltung gegenüber den Wanderarbeitern und den Umgang mit ihnen einer Revision zu unterziehen.
VII
A
us den Geschichten, die fast täglich in der Zeitung erscheinen, den zahlreichen Berichten für Regierungsstellen, die jedem zugänglich sind, der sich dafür interessiert, und dieser gezwungenermaßen kurzen Artikelserie geht hervor, daß ein Plan gefaßt werden muß, der sich des Problems der Wanderarbeiter annimmt. Dies ist, wenn schon nicht aus humanitären Gründen, so wegen des Bedarfs der kalifornischen Landwirtschaft an solchen Arbeitskräften, unumgänglich. Überblickt man die Lage, bieten sich eine Reihe von Veränderungsvorschlägen an. Die folgenden Punkte zielen auf eine teilweise Lösung des Problems. Da die meisten weißen amerikanischen Wanderarbeiter ehemalige Besitzer einer Ranch, Pächter oder Farmarbeiter sind, steht außer Frage, daß sich ihre Ausbildung und ihr Ehrgeiz nie von der Landwirtschaft gelöst hat. Man sollte ihnen Land verpachten oder – wenn möglich – Grund und Boden des Bundes oder des Landes Kalifornien für Subsistenzfarmen zur Verfügung stellen. Diese Ländereien könnte man den Wanderarbeiterfamilien entweder gegen einen niedrigen Zins verpachten oder auf Basis einer langfristigen Ratenzahlung verkaufen. Es sollte jeweils mehrere solcher Subsistenzfarmen in unmittelbarer Nähe voneinander geben, und die Farmen sollten in Gebieten liegen, in denen man viele Erntear108
beiter braucht. Man sollte kleine Häuser errichten und die Familien ansiedeln; Schulen sollten so nah sein, daß die Kinder sie besuchen können. Die Arbeiter, die solche Farmen übernehmen, sollten ermutigt und unterstützt werden, für ihren Eigenbedarf Obst und Gemüse anzubauen und Vieh zu züchten, Schweine, Hühner, Kaninchen, Puten und Enten zu halten. Man sollte die Erträge darauf abstimmen, daß ihre Erfordernisse dem Bedarf an Wanderarbeitern nicht widersprechen. Wenn Saisonarbeitskräfte vonnöten sind, sollten nicht die gesamten Familien, sondern nur die Männer, die Verwendung finden, zur Arbeit kommen. Während der Erntezeit könnten die Subsistenzfarmen von den Frauen, den älteren Kindern und jenen bewirtschaftet werden, die nicht beschäftigt werden, weil sie alt oder aus irgendeinem Grund invalide sind. Man sollte in diesen Gemeinschaften Zusammenarbeit und Selbsthilfe fördern, damit diese Menschen durch die Selbstverwaltung und die wiedererlangte gesellschaftliche Verantwortung wieder zu wirklichen Staatsbürgern werden. Für die Kosten solcher Projekte sollten Bundes-, Landes- und Countystellen aufkommen, damit die Gemeinden, welche die meisten Saisonarbeitskräfte brauchen, zu deren Wohlergehen auch den entsprechenden Teil beitragen. Die Kosten für solche Unterfangen wären wohl kaum sehr viel höher als die derzeitigen Ausgaben für Tränengas, Waffen, Munition und Hilfssheriffs. Jeder Gruppe solcher Selbstversorgerfarmen sollte ein speziell ausgebildeter Landwirt zugeteilt werden, der die Menschen darin unter109
weist, wie man Landwirtschaft wissenschaftlich betreibt; und man sollte den Gemeinschaftsgeist auch dahingehend fördern, daß bestimmte Geräte und Maschinen wie Traktoren von allen Höfen einer Einheit verwendet werden. Über die Schule oder die lokalen Gesundheitsstellen sollte man die medizinische Betreuung der Familien sicherstellen und die Unterweisung in sanitären Belangen weiterführen und ausbauen. Die Errichtung solcher Farmen würde nicht nur das Problem der Versorgung der Familien lösen, das sich stellt, wenn es fünf, sechs Monate hindurch keine Arbeit gibt, sondern auch dem durch das dauernde Übersiedeln bedingten Verkommen der Familien ein Ende machen und die Erziehung der Kinder sichern. Auf Landesebene sollte man einen Ausschuß für die Belange der Wanderarbeiter mit Außenstellen in den verschiedenen Gebieten einrichten, in denen man Saisonarbeitskräfte braucht. In diesem Ausschuß sollten die Arbeiter vertreten sein. Lokal eingerichtete Stellen sollten, bevor die Nachfrage einsetzt, das betreffende Gebiet bereisen, die Zahl der erforderten Arbeitskräfte sowie den in Aussicht stehenden Lohn erheben. Die Informationen sollten den Subsistenzbauern und den Gewerkschaften zur Verfügung gestellt werden, damit es zu keinem chaotischen Ansturm kommt und sich die doppelte oder dreifache Menge der erforderlichen Arbeiter einfindet. Es gehört bereits zur Tradition der exportorientierten Grundbesitzer, der Spekulanten und der Eigentümergesellschaften, dafür zu sorgen, daß doppelt so viele Arbeiter anreisen, wie gebraucht werden. Durch dieses Über110
angebot war man in der Lage, den Lohn unter jedes gerade noch anständige Niveau zu drücken. Der vorgeschlagene Ausschuß würde solche Strategien unterbinden, sofern die Arbeiter stark genug darin vertreten sind. Man sollte die Landarbeiter dazu ermutigen, sich zu organisieren, und ihnen dabei helfen – und das sowohl zu ihrem eigenen Schutz als auch im Hinblick auf eine vernünftige Aufteilung der Arbeit und ihre Selbstverwaltung auf Grundlage einer Auseinandersetzung mit den gegebenen Problemen. Man begegnet dem Zusammenschluß der Landarbeiter jedoch mit den gleichen Argumenten, mit denen man vor 60 Jahren gegen die gewerkschaftliche Organisation der Handwerker und Facharbeiter auftrat. Man behauptete damals, daß die Industrie nicht überleben könne, wenn sich die Arbeiter zusammenschließen. Heute behauptet man, daß die Landwirtschaft nicht bestehen könne, wenn sich die Landarbeiter organisieren. Es erscheint daher nur vernünftig, davon auszugehen, daß die Landwirtschaft durch den Zusammenschluß der Arbeiter nicht mehr Schaden leiden würde als damals die Industrie. Eines steht fest: Bis sich die Arbeiter in der Landwirtschaft organisieren werden und der Arbeiter dort vertreten sein wird, wo man über seinen Lohn entscheidet, werden die Löhne weiter gedrückt werden, werden die Lebensverhältnisse bis zu dem Punkt immer unerträglicher werden, an dem die gesamte Masse der Arbeiter aus Elend, Hunger und Verzweiflung revoltieren wird. Der Generalstaatsanwalt, der für solche Angelegenheiten zuständig ist, sollte jedem Aufflackern von Terror seitens der sogenannten Schutztruppen der Grundeigentümer auf 111
den Grund gehen und diese für Kalifornien schändlichen Vorkommnisse untersuchen. Der Ursprung der Übergriffe läßt sich auf wenige Personen beschränken. Unbestechlichkeit vorausgesetzt, müßte es ebenso leicht sein, die Anstifter zur Strecke zu bringen, wie es den Behörden gelingt, Entführer dingfest zu machen. Da eine Regierung nichts anderes ist als das System der von ihr erlassenen Gesetze und das bewaffnete Schutzbündlertum einen Versuch darstellt, dieses System von Gesetzen zu stürzen und eine Herrschaft der Gewalt an dessen Stelle zu setzen, könnte man nach bestehendem Syndikalismus-Strafrecht Anklage erheben. Man hat die Gesetze bisher nur gegen die Arbeiter verwendet. Man sollte sie jedoch gegen die viel zerstörerischen faschistischen Gruppen einsetzen, die den Sturz der jetzigen Regierungsform durch Waffengewalt predigen und anstreben. Würde man die genannten drei Vorschläge realisieren, hätte man damit einen wesentlichen Schritt zur Verbesserung der unwürdigen Lage der kalifornischen Landarbeiter getan. Wenn hingegen, wie ein großer Anbauer es ausgedrückt hat, die kalifornische Landwirtschaft unter allen Umständen dessen bedarf, daß eine Lohnsklavenklasse geschaffen und aufrechterhalten wird, gibt man damit zu, daß die kalifornische Landwirtschaft unter demokratischen Verhältnissen nicht gedeihen kann. Und wenn die wirtschaftliche Sicherheit Terrormaßnahmen, die Beschränkung der Menschenrechte, Prügel, durch Hilfssheriffs ausgeführte Morde, Entführungen und die Verweigerung ordentlicher Ge112
richtsverfahren verlangt, gibt man weiters zu, daß die kalifornische Demokratie in rapider Auflösung begriffen ist. Häufiger, massiver und offener als irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten bedient man sich in Kalifornien faschistischer Methoden. Es wird einer militanten und wachsamen Organisation von Angehörigen des Mittelstandes, Arbeitern, Lehrern, Handwerkern und Liberalen bedürfen, um diese um sich greifende Gesellschaftsphilosophie zu bekämpfen und die demokratische Regierungsform im Bundesstaat Kalifornien zu sichern. Die neuen Zuwanderer aus den Staubwüsten des Mittleren Westens werden in Kalifornien bleiben. Es sind Menschen aus guten alten amerikanischen Familien, intelligent, einfallsreich und – wenn man ihnen die Chance gibt – sozial verantwortlich. Der Versuch, sie zum Lohnsklaventum zu zwingen und ihnen Hunger und Verzweiflung aufzuherrschen, wird scheitern. Sie können zu Staatsbürgern erster Güte oder aber zu einer von Leid und Haß getriebenen Armee werden, die sich nimmt, was sie braucht. Zu welchem Weg die Wanderarbeiter sich gezwungen sehen, wird davon abhängen, wie man sie in Zukunft behandelt.
»Die Dürre im Mittleren Westen hat die Landbevölkerung von Oklahoma, Nebraska und Teilen von Kansas und Texas nach Westen getrieben. Ihr Land ist zerstört, und sie werden nie mehr dorthin zurückkehren können. Tausende rumpeln in ihren alten Klapperkisten über die Grenze, mittellos, hungrig und ohne Bleibe, bereit, gegen jede Bezahlung zu arbeiten, damit sie sich und ihre Kinder ernähren können. (…) Wenn sie Kalifornien erreichen, haben sie meist alle Mittel aufgebraucht, haben vielleicht sogar ihre schäbigen Decken, ihren Hausrat und ihr Werkzeug versetzt, um Benzin zu kaufen. Verstört, gebrochen und meist halb verhungert kommen sie an und sehen sich einer einzigen Notwendigkeit gegenüber – Arbeit zu finden, Arbeit um jeden Preis, damit die Familie zu essen hat.« John Steinbeck
114