Erotisches zur Nacht Frivole Geschichten aus vier Jahrhunderten
Aufbau-Verlag 1989
Erotisches zur Nacht ist der deut...
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Erotisches zur Nacht Frivole Geschichten aus vier Jahrhunderten
Aufbau-Verlag 1989
Erotisches zur Nacht ist der deutsche Titel einer französischen Fernsehserie, die in Frankreich mit großem Erfolg ausgestrahlt wurde und auch bei uns die Gunst vieler Fernsehzuschauer fand. Diese Anthologie kommt dem oft geäußerten Wunsch nach, die den Filmen zugrunde liegenden Texte zu veröffentlichen: „Erotisches zur Nacht“ zum Nachlesen. Die Fernsehserie entstand nach Quellen der Weltliteratur; mit einer Ausnahme – Anton Tschechow – sind es Werke französischer Autoren. Der zeitliche Bogen spannt sich vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. „Erotisches zur Nacht“ – das sind heitere, derbfrivole, ironische, burleske oder auch romantischsentimentale, ja selbst moralisierende Geschichten. Die Vorlagen und ihre filmischen Adaptionen sind in den wenigsten Fällen identisch. Manchmal benutzten die Bearbeiter nur die Grundidee, wie bei Margarete von Navarras Novelle aus dem „Heptameron“; oft variierten sie das Thema, ergänzten es um eigene witzige Einfalle oder verquickten mehrere erzählerische Motive miteinander, so bei der Tschechow-Verfilmung „Das Landhaus“; gelegentlich gaben sie dem Filmgeschehen einen anderen Schluß oder eine andere Wendung, so in Maupassants Novelle „Das Zeichen“; oder aber sie faßten, wie bei der „Weiberwette“ nach Jean de La Fontaine, zwei Erzählungen zusammen.
Der Leser wird bekannte Literatur wiederfinden, aber auch, dem Konzept der Serie entsprechend, weniger Bekanntes, Vergessenes, Wiederzuentdeckendes; eine Novität für den deutschen Sprachraum ist die Erstveröffentlichung eines Maupassant-Stückes, der Bordell-Posse „A la Feuille de Rose. Türkisches Haus“. Und er wird feststellen, daß so manchem derben Filmchen eine dezente Geschichte zugrunde liegt, einer sinnenbetonten Umsetzung eine tugendsame Erzählung, daß aber auch umgekehrt so mancher Film sittsamer ist als seine literarische Quelle. Amüsant zu lesen sind die Geschichten allemal – mögen sie ebensoviel Vergnügen bereiten wie die Fernsehserie. E. R-W.
Herausgegeben von Elke Rappus-Weidemann Aus dem Französischen und Russischen übersetzt
1.Auflage 1989 Aufbau-Verlag Berlin und Weimar Einbandgestaltung Gerhard Rappus/Regine Schmidt Lichtsatz Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V15/30 Druck und Binden III/9/1 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Printed in the German Democratic Republic Lizenznummer 301. 120/191/89 Bestellnummer 614.404 2 00.185
ISBN 3-351-01.499-6
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Pegasus37 Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Margarete von Navarra
Das Heptameron Die fünfundvierzigste Novelle Ein Tapezierer gibt auf Bitten seiner Frau der Kammerjungfer, in die er verliebt ist, die Rute zu spüren, und zwar so, daß sie bekommt, was eigentlich der Ehefrau allein zusteht. Doch diese ist so einfältig zu glauben, ihr Mann könne ihr ein solches Unrecht nicht antun, obwohl die Nachbarin sie hinlänglich ins Bild setzt. In der Stadt Tours lebte ein pfiffiger Mann von wachem Verstand. Er war Tapezierer des verblichenen Herzogs von Orléans, des Sohnes Franz’ I. War er auch durch eine Krankheit taub geworden, begriffsstutzig war er deshalb keineswegs, und in seinem Gewerbe wie in allen anderen Dingen war keiner so geschickt wie er: Wie geschickt er war, werdet Ihr gleich sehen. Mit seiner braven, anständigen Ehefrau lebte er ruhig und in Frieden. Er fürchtete sehr, ihr zu mißfallen, und auch sie trachtete danach, ihm in allem zu Willen zu sein. Doch bei aller Zuneigung liebte er seine Nächsten so sehr, daß er oft heimlich seinen Nachbarinnen zukommen ließ, was seiner Frau gehörte. In ihrem Haus lebte eine Kammerjungfer von üppigem Fleisch, in die sich der Tapezierer verliebte. Da er jedoch fürchtete, seine Frau könne es bemerken, tat er oft so, als schelte und tadle er sie, und sagte, sie sei das faulste Ding, das ihm
je untergekommen sei, was ja kein Wunder wäre, da ihre Herrin sie niemals schlüge. Eines Tages nun, als die Rede von den Rutenstreichen war, die am Tag der Unschuldigen Kinder verabreicht werden*, sagte der Tapezierer zu seiner Frau: „Es wäre wirklich eine gute Tat, Eurer faulen Trine welche zu verabreichen, doch dürftet Ihr das nicht selbst tun, denn Eure Hand ist zu schwach und Euer Herz zu mitleidig; wenn ich sie mir vornehmen dürfte, würde sie uns besser dienen.“ Nichts Böses ahnend, bat ihn die arme Frau, zur Tat zu schreiten, wobei sie gestand, daß sie weder das Herz noch die Kraft habe, die Kammerjungfer zu schlagen. Der Gatte, der nur allzugern die Rolle des gestrengen Peinigers übernahm, ließ die allerfeinsten Ruten kaufen; und um zu zeigen, wie sehr es ihn gelüstete, sie nicht zu schonen, ließ er die Ruten in Salzlake legen, so daß die arme Frau schließlich mehr Mitleid mit der Jungfer hegte als Argwohn gegenüber ihrem Mann. Als der Tag der Unschuldigen Kinder heran war, stand der Tapezierer früh auf und ging hinauf in der Jungfer Kammer. Und dort gab er ihr eine ganz andere Rute zu spüren, als er seiner Frau gesagt hatte. Die Kammerjungfer hub an zu heulen, aber es nützte ihr nichts. Doch aus Angst, *
Nach altem Brauch versuchten die jungen Männer am Morgen des 28. Dezember, dem Fest der Unschuldigen Kinder, junge Frauen im Bett zu überraschen und sie, war ihnen das gelungen, mit Ruten für ihre Faulheit zu strafen.
seine Frau könne ihn überraschen, begann der Tapezierer, mit den Ruten so sehr auf die hölzerne Bettkante einzuschlagen, daß sich die Rinde löste und sie zerbrachen. Die zerbrochenen Ruten trug er zu seiner Frau und sprach: „Meine Liebe, ich glaube, diesen Tag der Unschuldigen Kinder wird Eure Kammerjungfer nie mehr vergessen.“ Nachdem der Tapezierer das Haus verlassen hatte, warf sich die arme Jungfer vor ihrer Herrin auf die Knie und sagte, der Herr habe ihr die größte Schmach angetan, die jemals einer Dienerin widerfahren sei. Doch jene dachte, sie meine die Prügel, und ließ sie nicht ausreden. „Mein Mann hat recht getan, denn ich bitte ihn schon seit langem darum. Und hat es Euch weh getan, so freut mich das. Beklagt Euch nicht bei mir, und außerdem war er noch nicht einmal so kräftig zu Werke, wie er sollte.“ Als das Mädchen sah, daß ihre Herrin solches Tun billigte, glaubte sie, sie könne keine allzu große Sünde begangen haben, zumal die Frau, die als anständig galt, es selbst veranlaßt hatte. Und so wagte sie nicht mehr, davon zu sprechen. Doch als der Herr sah, daß seine Frau sich ebenso freute, betrogen zu werden, wie er, zu betrügen, beschloß er, sie recht oft zufriedenzustellen, und gewann die Kammerjungfer so sehr für sich, daß sie nicht mehr weinte, wenn er mit der Rute zu ihr kam. Das ging nun geraume Weile so fort, ohne daß seine Frau etwas bemerkte. Dann kam der Schnee, und wie der Tapezierer im Gras seines Gartens der Jungfer die Rute gegeben hatte, wollte er es auch im Schnee tun.
Eines Morgens, bevor noch jemand im Haus erwacht war, führte er sie im bloßen Hemd zum Gebet hinaus, worauf sie sich mit Schnee bewarfen und auch das Rutenspiel nicht vergaßen. Das bemerkte eine Nachbarin, die nach dem Wetter sehen wollte und an ein Fenster getreten war, das geradewegs in den Garten schaute. Als sie nun dieses unsittliche Treiben gewahrte, wurde sie so zornig, daß sie beschloß, es ihrer Gevatterin zu sagen, auf daß sie sich nicht weiter von einem so gemeinen Ehemann betrügen und von so einer elenden Dirne bedienen lasse. Nachdem der Tapezierer sein Spiel geendet hatte, schaute er sich um, ob ihn auch niemand beobachtet habe, und erblickte seine Nachbarin am Fenster, was ihm sehr mißfiel. Doch wußte er, der jedem Gewebe seine Farbe zu geben verstand, die Tatsache so gut zu vertuschen, daß die Gevatterin ebenso getäuscht wurde wie seine Frau. Kaum lag er wieder im Bett, ließ er diese im Hemd aufstehen, führte sie in den Garten wie zuvor die Kammerjungfer, balgte sich auch mit ihr lange im Schnee herum und spielte mit ihr das Rutenspiel. Danach legten sie sich wieder zu Bett. Als die gute Frau zur Messe ging, fand sich prompt die liebe Nachbarin ein und bat mit der ihr eigenen Beharrlichkeit, ohne mehr zu sagen, sie solle die Kammerjungfer davonjagen, weil diese ein gemeines, gefährliches Weibsstück sei. Die brave Frau wollte das aber nur tun, wenn sie erführe, warum die Nachbarin so schlecht von ihr denke. So erzählte die Nachbarin denn, was sie
am Morgen im Garten gesehen hatte. Die Ehefrau lachte laut heraus und sagte: „Aber Gevatterin, liebste Freundin, das war ich!“ – „Wie denn, sie war im Hemd, frühmorgens gegen fünf.“ – Die Ehefrau antwortete: „Gewiß doch, Gevatterin, das war ich.“ – Die andere fuhr fort: „Sie bewarfen sich mit Schnee, die Brust und noch was anderes, und alles ganz vertraut.“ – Darauf die Ehefrau: „Ja, ja, Gevatterin, das war ich.“ – „Und danach“, sprach die Nachbarin weiter, „habe ich sie im Schnee etwas tun sehen, was mir weder schön noch anständig erscheint.“ – „Aber Gevatterin“, erwiderte die andere, „ich habe Euch doch schon gesagt und sage es noch einmal, daß ich das war und niemand sonst, die all das getan hat. Mein Mann und ich, wir treiben nämlich solche vertrauten Spiele. Bitte entrüstet Euch nicht darüber, Ihr wißt doch, daß wir unsern Männern zu Gefallen sein müssen.“ Daraufhin zog die Nachbarin von dannen, so begierig, selbst einen solchen Mann zu haben, daß sie kam, sich den der braven Ehefrau auszuborgen. Als der Tapezierer zu seiner Frau zurückkehrte, erzählte er ihr, wie es bei der Nachbarin war: „Seht, Liebste“, sprach er, „wäret Ihr keine so brave und verständige Frau, wir wären schon längst auseinander. Doch ich hoffe, daß Gott uns unsere Freundschaft füreinander bewahrt – zu seinem Ruhm und zu unserem guten Einvernehmen.“ – „Amen, mein Lieber“, sprach die gute Frau, „ich hoffe, daß Ihr mich niemals bei einer Verfehlung ertappen werdet.“
Jean de ‘La Fontaine
Die Wette der drei Freundinnen Drei junge Frauen saßen einst beim Wein Und unterhielten sich von ihren Streichen. Sie hatten Gatten, aber obendrein Auch ihren Freund – gewiß ein gutes Zeichen. Die eine sprach: „Der König aller Gatten Ist meiner, er stellt alle in den Schatten; Ich kann mich jederzeit von dannen schleichen Und suchen meine Lust, der Klotz ist still, Es fällt mir leicht, wenn ich beweisen will, Daß zwei mal zwei gleich fünf.“ – „Bei meinem Eid“, Sprach drauf die zweite, „hätt ich solchen Mann, Ich war ihn zu verschenken gleich bereit; Denn seht, ich habe keine Freude dran, Wenn mir ein Streich nicht etwas Mühe macht. Der Meine ist nicht ganz so ungescheit, Nein, Gott sei Dank nicht; ich muß wohlbedacht Und schlau zu nützen wissen Ort und Zeit, Um ihn nach Lust und Laune zu betrügen. Doch um so süßer ist dann mein Vergnügen Und inniger des Liebsten Dankbarkeit. In Eure Lage möcht ich mich nicht fügen, Trotzdem Ihr sagt, so wohl versorgt zu sein; Ich tauschte nicht Galan noch Gatten ein.“ Die dritte Freundin gab den beiden recht: Sie meinte, daß der Liebe nicht allein Ein sanfter Gatte dienlich, obendrein Sei auch ein wenig leichte Müh nicht schlecht.
Noch länger währte dieses Wortgefecht, In dem sie ihren Standpunkt motivierten Und eigensinnig alle triumphierten, Bis schließlich eine sprach: „Was soll das Streiten? Wem hier der Sieg gebührt, das – laßt euch raten –, Das zeigt sich nicht in Worten, sondern Taten. Mag jede einen neuen Streich bereiten, Und jene, die am schlechtesten fährt dabei, Muß Strafe zahlen an die andern zwei.“ Die beiden riefen: „Ja, es sei, es sei!“ Und alle schworen, später die Geschichten Wahrheitsgetreu einander zu berichten, Und eine ward zur Richterin erwählt. Was jede trieb, das sei euch nun erzählt. Die eine, der die meisten Hindernisse Im Wege standen, liebte einen Knaben, Der zart und lieblich war wie die Narzisse. Jetzt hört, was diese zwei begonnen haben. Sie hatten ihrer Liebe nur verstohlen Sich freuen können, mußten immerfort Sich andre Häuser leihen und sich dort Das, was sie wünschten, im Verborgnen holen. Um nun für ihre Lustbetätigungen Zu finden einen angenehmren Ort, Maskierte jene kluge Frau den Jungen Als Kammerzofe, und er ging sofort Sich vorzustellen mit bescheidnen Mienen Und bot sich an, als Jungfer ihr zu dienen. Der Gatte sah das Mädchen lüstern an, Es schien ihm köstlich, mit ihr anzuknüpfen
Und ihr gelegentlich das Hemd zu lüpfen; Er stimmte bei, daß sie den Platz gewann. So trat sie ein. Doch welche Müh man hatte! Ein hübsches Zöfchen, ein galanter Gatte – Wo das zusammentrifft, da ist es schwierig. Er hat im Anfang zwar nicht viel gewagt, Sah nicht mal hin, als sei er gar nicht gierig Auf die verborgnen Reize dieser Magd; Doch bald darauf begehrte er sie sehr, Er gab Geschenke und versprach noch mehr, Bis daß sie tat, als wolle sie sich geben. Um ihn dem Streich entsprechend einzufangen, Sprach abends sie mit schämig roten Wangen: „Madame ist grämlich heut; sie wünscht soeben Die Nacht allein zu sein.“ Sogleich begeben Sich Herr und Magd, so wie’s geheim beschlossen, Ins Bett hinein. Kaum liegt der Sündenbock und sie steht da und löst sich noch den Rock, Da kommt Madame. Wen, glaubt ihr, hat’s verdrossen? Den Herrn Gemahl, den man zum Narren hielt. „Ho!“ rief die Gattin lachend, „welche Possen! Das Euch Gewohnte scheint genug genossen, Daß Eure Lust nach frischen Früchten zielt. Doch, werter Herr, beim heiligen Johann, Was sagtet Ihr mir das nicht früher an? Ich hätte längst schon Jungfern angestellt. Nur dieser müßt Ihr aus bestimmten Gründen Entsagen, sucht Euch für galante Sünden Nur andre aus. – Und du, mein kleiner Held? Gebraucht die Jungfer gleiches Brot wie ich? Du lüstern Ding, ist hier dein Arbeitsfeld?
O pfui, so jung und schon so liederlich! Ich bin mit Schönem selbst noch gut bestellt Und bin nicht auszustechen. Nun, wir kennen Ein gutes Mittel: fürder sollst du dich Nicht eine Nacht von meinem Bette trennen. Nun spute dich, sogleich dorthin zu rennen. Die Kleider holst du morgen. Wenn ich mich Für dich nicht schämte und Skandal nicht scheute, So jagt ich dich im Hemd jetzt vor die Leute, Doch ich bin gut und will kein Aufsehn machen. In Zukunft will ich dich gestreng bewachen, Du kommst mir Tag und Nacht nicht von der Seite. Was reg ich mich noch auf, es ist zum Lachen. Und dieser Nacht folgt keine solche zweite.“ Die Zofe hört beschämt der Herrin Drohn, Sie sammelt schluchzend ihre Siebensachen Und eilt, verzichtend auf des Gatten Lohn, Zu spielen jetzt die andere Person. Zwei Dienste füllt sie aus, und ohne Klage: Geliebter nachts und Kammermaus bei Tage. In zwei Gestalten sorgt sie schön fürs Rechte. Der arme Gatte hat’s für Glück genommen, Daß er so leichten Kaufs davongekommen. Nun er alleine schläft, hat alle Nächte Das Liebespaar in Seligkeit geschwommen. Wohl wissend, daß nicht wiederkehrt die Stunde, Die man verliert in Amors buntem Reich, War keiner trag in diesem süßen Bunde. – Das war der einen Freundin neuer Streich. Die andre, deren Gatte alles glaubte,
Saß eines Tags mit ihm beim Birnenbaum. Nun hört und staunt, was sie sich dort erlaubte, Es ist so märchenhaft, man glaubt es kaum. Der Kammerdiener war dabei, ein Mann Von schönem Wuchs und trefflichen Manieren, Der gut verstand, die Leute zu regieren. Die Dame sprach: „Es kommt die Lust mich an, Die Güte dieser Birnen zu erproben. Wilhelm, hinauf und schüttle sie herunter!“ Wilhelm ersteigt den Baum. Der Schelm tut droben, Als scheine ihm, der Gatte mache munter Sich drunten über seine Gattin her; Er reibt die Augen sich, als staune er. „Wahrhaftig, Herr“, beginnt er dann zu sagen, „Ich muß mich wundern, daß Ihr Euch nicht mehr Beherrschen könnt. Was laßt Ihr mich da sehen! Will Euch Madame zu kosen jetzt behagen, So mögt Ihr doch ein wenig abseits gehen. Wer treibt vor fremden Augen so sein Spiel! Und achtet Ihr den Diener gleich nicht viel, So seid Ihr Euch doch selbst die Achtung schuldig. Ein kluger Mann ist nie so ungeduldig, Vertraulichkeiten wollen ihre Zeit. Die Sommernächte reichen wohl noch immer. Und wozu hier? Für das stehn Euch bereit Viel gute Betten und viel schöne Zimmer.“ Die Dame spricht: „Was redet dieser Mann? Mir scheint, er träumt. Ist er nicht recht gescheit? Was maßt sich dieser Narr zu sagen an. Herunter, Freund; da wirst du besser sehen.“ Und Wilhelm kommt herab. „Nun also“, spricht
Der Herr, „wir spielen?“ WILHELM: Jetzo freilich nicht. DER GATTE: Wie? Jetzo? WILHELM: Herr, wie soll ich das verstehen? Ich hänge mich den Raben hin zum Fraß, Wenn Ihr Madame soeben nicht im Gras… DIE FRAU: Du ließest besser solche Albernheiten, Sie könnten sonst noch Schläge dir bereiten. DER GATTE: Verehrte, nein; ich lasse ihn sofort Ins Tollhaus stecken – auf mein Ehrenwort! WILHELM: Ist das denn Tollheit, wenn man sagt, was man Gesehen hat? DIE FRAU: Und was hast du gesehen? WILHELM: Ich sah, ich wiederhol es, alles an, Was Ihr, Madame, mit Euch hier ließt geschehen: Ich sah das Spiel der Liebe Euch begehen – Falls nicht ein Zauber an dem Birnbaum dran. DIE FRAU: Ein Zauber? Bindest du uns Märchen auf? DER GATTE: Ich will es selber sehn, ich muß hinauf. Der Baum wird uns die Wahrheit sagen müssen. Als kaum der Herr den Birnenbaum erstiegen, Sieht er den Diener bei der Herrin liegen
Und sieht die beiden kosen, sieht sie küssen. Er hätte sich beinah den Hals gebrochen, So schnell ist er vom Baum herabgekrochen, Damit die Dinge nicht zu Ende kommen. Sie sind jedoch so weit schon vorgeschritten, Daß seine Ehre einen Stoß erlitten. „Halt!“ ruft er. „Halt!“ und fühlt sich ganz benommen. „Vor meinen Augen! Heilige Marie!“ „Was fehlt Euch?“ fragt die Frau, „Was habt Ihr; wie?“ DER GATTE: Du wagst zu fragen? DIE FRAU: Warum nicht, mein Lieber? DER GATTE: Warum? Nein, solche Frechheit sah ich nie! DIE FRAU: Das ist zuviel. Sprich deutlicher darüber. DER GATTE: Der Schurke da, hat er dich nicht gekost? DIE FRAU: Der mich? Mein Herr, Ihr seid wohl nicht bei Trost. DER GATTE: Hab ich die Sehkraft, den Verstand verloren? Was war es denn? DIE FRAU: Ich trau nicht meinen Ohren. Vor deinen Augen sollt ich das begehen! Ich war verrückt! Fand ich nicht Zeit genug, Mich zu vergnügen, wenn nach solchem Trug Mich sehr verlangte?
DER GATTE: Oh, ich muß gestehen, Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Der Baum betrügt mich offenbar. Ich muß Noch einmal sehn. Er steigt erwartungsvoll Von neuem in den Baum. Mit neuem Kuß Beginnt der Schelm und führt den Tanz zum Schluß. Der Gatte sieht ihm zu, indes erwächst Ihm diesmal aus dem Anblick kein Verdruß. Er kommt herab und spricht bestimmt und fest: „Ich sage euch, der Birnbaum ist verhext.“ „Da er so üble Dinge sehen läßt“, Sagt ernst die Frau, „so muß der Baum ins Feuer! Ruft Knechte her und laßt ihn niederhauen, Damit er nicht noch andre täuscht mit neuer Vorspiegelung gemeiner Abenteuer.“ Die Knechte rücken an, und fragend schauen Sie hin zum Baum, welch grausiges Verbrechen Der wohl begangen habe, das den Herrn Bestimmt, das Todesurteil auszusprechen. Doch liegt der Dame die Erklärung fern. Sie sagt: „So schlagt nur zu, was geht’s euch an!“ – So ist die zweite zu dem Ziel gekommen, Das auf die Wette sie sich vorgenommen. Und nun zur dritten; hört, was sie begann. Bei irgendeiner guten Freundin fand Sie stets Gelegenheit zum Rendezvous, Sie selber tat ihr bestes Teil dazu, Doch er, mit dem die Liebe sie verband,
Hat dies Vergnügen nicht für voll genommen: Er will mit ihr allein zusammenkommen Und bittet sie, ihm eine Nacht zu schenken. Sie sagt ihm: „Zwei! Um so geringe Sache Befällt mich, Liebster, keinerlei Bedenken. Seid überzeugt, daß ich das Meine mache, Den Gatten fortzuschaffen für die Zeit.“ Sie hatte wohl es nötig, eine Frau Von Geist zu sein: der Mann, der sie gefreit, Warf nicht sein Geld hinaus für weite Reisen, Auch stellte er sich nicht in Rom zur Schau, Da Ablaß doch viel näher zu erhalten. Dagegen ging, um Eifer zu beweisen, Die Dame stets so weit, wie möglich war. Wallfahrten hatten oft schon hergehalten, Doch war’s auch ihr wie allen Schönen eigen: Sie brauchte Sonderheiten und Gefahr, Um ihre Glut in vollem Glanz zu zeigen. Sie windet abends um die große Zehe Ein Garn, das mit der Haustür sie verbindet, Begibt sich so ins Bett zum Mann der Ehe Und richtet’s ein, daß er den Faden findet. Sofort vermutet Heinrich eine List. Er läßt nicht merken, daß er wach noch ist, Er grübelt lange nach, erhebt sich endlich Und schleicht im Glauben, daß die Gattin schlief, Dem Faden nach, der seinen Fingern kenntlich Hinaus bis vor die Tür des Hauses lief. Er folgert, daß man ihn betrügen wolle, Daß irgendein Galan durch Ziehn am Faden Der Dame seine Ankunft melden solle, Um sie hinab zum Stelldichein zu laden,
Sobald er selber schlief in tiefer Ruh. Wozu denn sonst das Fadenspiel, wozu? Sehr naheliegend schien ihm auch die Sache, Daß man ihn gern einmal zum Hahnrei mache. In Zorngefühlen hat er sich bis an Die Zähne schwer bewaffnet, zieht auf Wache Vors Haus, hinaus, damit er ohne Schonung Den Schuft erwischen und bestrafen kann. Nun muß der Leser wissen, daß die Wohnung Nach rückwärts hin Gelegenheit besaß, Den Freund hereinzulassen. Diesen Spaß Besorgt die Kammerfrau, die dienstbeflissen Der Herrin hilft; durch solchen Beistand wissen Dienstboten große Nachsicht zu erlangen. Indes der Gatte draußen umgegangen, Sind unsre Schöne und der Freund Galan Gar flink zur Hand, der Himmel weiß es wie. Die Glut zu löschen, hat man viel getan In dieser Nacht, und niemand störte sie. Es ging aufs beste, dank der Dienerin, Die trefflich Sorge trug, daß der Kumpan Zur rechten Zeit entwich auf dunkler Bahn. Der Gatte kommt zurück bei Tagbeginn, Nimmt seinen Platz im Bette ein und sagt, Migräne habe ihn so sehr geplagt. – Zwei Tage drauf legt die Gevatterin Den Faden wieder an, den Heinrich fühlt. Von neuem kommt Verdacht, der ihn durchwühlt, Er läuft auf seinen Posten; auf den seinigen Eilt unser Held, sich wonnig zu vereinigen Mit ihr, die ihn erwartet. Man befindet Sich wohl dabei. – Zum dritten Male bindet
Madame den Faden an, und wiederum Späht Heinrich draußen vor dem Haus herum Und hat dem Fremden einen Platz beschieden, Mit welchem dieser überaus zufrieden. Dann ist’s genug; die Gluten sind verglommen, Es könnte nur noch laue Asche kommen, Drei Akte reichen aus fürs schönste Stück. Nachdem der Wicht um Mitternacht entwichen, Kam sein vertrauter Diener angeschlichen Und ging ins Garn. Der Gatte hatte Glück, Er stürzt hervor, verstellt dem Jämmerlichen Den Weg und zwingt ihn, bei ihm einzutreten. Er weiß nicht, daß es nur ein Diener ist, Er packt ihn fest und möchte ihn zerkneten. Geschrei entsteht, die Gattin läuft herbei Und ruft: „Was soll der Lärm? Was soll der Zwist?“ Der Bursche fleht, daß man ihm gnädig sei; Er sei gekommen, um zu dieser Frist Die Zofe mit dem Garn herbeizuziehn, Damit sie öffne, denn seit mehrern Wochen Hätten sie beide sich die Ehe versprochen. „Das also ist’s, was mir so seltsam schien“, Fährt zornig nun Madame die Zofe an, „Das ist’s, weshalb ich jüngst an deiner Zehe Den Faden sah. Ich tat das gleiche dann, Um festzustellen, was darauf geschehe. Nun haben wir’s. Genug, er sei dein Mann, Viel Glück dazu! Doch fort aus meinem Haus!“ Der Herr ist mild gestimmt und schließt den Streit, Das Weitre habe nun bis morgen Zeit. Man stattet andern Tags die beiden aus,
Der Herr die Braut, der Schelm den Bräutigam, Und führt gemeinsam zum Altar das Paar, Das längst schon gut bekannt zusammen war. Womit der dritte Streich sein Ende nahm. Nun, welcher ist der beste? Ihr entscheidet! Der Freundin, die das Urteil fällen sollte, Ward hier ein Spruch gar meisterhaft verleidet, Da jeder sie die Palme reichen wollte. Und welcher Recht und Sieg hier zuzuschreiben, Die Frage wird wohl ewig offenbleiben.
Jean de La Fontaine
Der geprügelte und zufriedene Hahnrei Von Rom zurück kam jüngst ein junger Mann, Der dort in Rom nicht viel für sich gewann Und der auf seinem Wege gern verweilte, Wo ihm ein Zufall guten Wein, ein gutes Quartier und schöne Jungfern zuerteilte. So machte einst der Pilger frohen Mutes In einem hübschen Dorfe Aufenthalt. Da sah er eine junge Dame schreiten, Von einem Pagen ließ sie sich begleiten Und war so schön von Antlitz und Gestalt, Daß sie ihm als der Frauen höchste Zierde Erschien. Mit unbezwinglicher Gewalt Erfüllte ihn die sündige Begierde. Er hatte vielen Ablaß mitgebracht, Doch wenig Tugend – wie man’s immer macht. Die Dame schien in allem ihm vollkommen, Nur fehlte ihr, die also wunderbar, Vielleicht ein Freund, der ihrer würdig war. So hatte er sich Kühnes vorgenommen. Er forschte, wer sie sei. Man sprach: „Das ist Des Dorfes Herrin, unsers Gnädigen Frau. Da er so vornehm ist und reich, vergißt Die junge Dame, daß er alt und grau.“ Man hat ihn noch ausführlicher beschieden. Der fremde Wandersmann war sehr zufrieden, Er hegte Hoffnung, faßte seinen Plan. Am andern Tag stieg er zum Schloß hinan
Und bot dem Gnädigen seine Dienste an: Er könne viel und suche einen Herrn. Nun schön, der Schloßherr übertrug ihm gern Die Falkenjägerstelle, und er tat Dies nicht ganz ohne seines Weibes Rat. Die Dame fand den Jäger anmutvoll; Doch er, kein Neuling mehr in solchen Scherzen, Verbarg die heiße Glut in seinem Herzen, Trotz aller Qual. Denn jener Greis war toll In seine Frau verliebt und ging von ihrer Seite Nur dann, wenn Jagdlust ihn hinausgetrieben. Der Falkenjäger in des Herrn Geleite Wär grade dann recht gern daheim geblieben – Und auch der Dame wär es lieb gewesen: Sie harrten beide auf den Tag des Glückes; Doch hatte sie die Ungunst des Geschickes Zu allzu langem Dulden auserlesen. Sie baten endlich Amor um Erbarmen, Und dieser half mit schlauer List den Armen. An einem Abend sprach die Frau zum Gatten: „Wer ist dein treuster Diener wohl von allen?“ „Der Falkenjäger hat mein Wohlgefallen“, Sprach er; „er stellt sie allein den Schatten. Auf seine Treue kann ich sicher bauen.“ „Du tust nicht gut daran, dem Schelm zu trauen“, Entgegnete sein Weib; „er machte mir Verliebte Reden. Mich befiel ein Grauen Vor dieses Menschen unverschämter Gier; Ich wußte meine Würde kaum zu wahren, Wollt mit dem Dolch ihm in die Augen fahren, Doch hab ich standhaft mich in acht genommen, Um nicht durch diesen ins Gered zu kommen.
Und um die Möglichkeit ihm abzuschneiden, Die Tat vor dir zu leugnen, tat ich so, Als sei ich seines schlimmen Antrags froh, Und hieß in dieser Nacht ihn bei den Weiden Im Parke mich erwarten; sprach: ,Mein Mann Ist immer bei mir – nicht, mich zu bewachen, Nein, mehr aus Liebe – und es ist nur dann Mir möglich, nachts von ihm mich loszumachen, Wenn er im ersten, festen Schlummer ruht; Dann also will ich heimlich von ihm schleichen Und hoffe Euch im Garten zu erreichen.’“ Der Greis geriet in nicht geringe Wut. Die Dame sprach: „Die Sache ist nicht schlimm, Verbirg nur bis zur Nacht noch deinen Grimm. Ertappe ihn dann selbst und straf ihn gut. Du findest ihn ganz sicher bei den Weiden, Dort, wo am Teich die alte Steinbank ist. Doch rat ich dir, gebrauche eine List: Du mußt mit meinem Kleide dich verkleiden! Erblickt im Dunkeln er den Frauenrock, So wird er kühn. Mit einem derben Stock Wirst du die Unverschämtheit ihm verleiden, So gründlich, daß er nie mehr sich erhebt; Denn solch ein Lump verdient nicht, daß er lebt.“ Dem guten Mann gefiel des Weibes Plan. Er dankte ihr gerührt und lobte sie. Ach, einen größern Dummkopf gab es nie! Die Stunde kam, zu strafen den Galan. Der Herr ging mutvoll in der Frau Gewand (Mit Hörnern auf dem Kopfe!) in den Park – Wo er jedoch noch niemand wartend fand.
Nun wartete er selbst. Es fror ihn stark. Derweil er zähneklappernd draußen stand, Trat keck sein Jäger bei der Dame ein Und gab mit ihr – wie könnt es anders sein, Wo Amor mit dabei? – mit frohem Sinn Sich jenem göttlichen Vergnügen hin, Das alle kennen, welche zwischen zwei Leintüchern je ein schönes Weibchen hatten, Ein schönes Weibchen eines andern Gatten. Er gab den Platz nicht gerne wieder frei, Er weilte lange; doch es mußte sein! Ein süßer Abschied noch – dann ging er fort Und lief zu einem andern Stelldichein Zum Park hinein an den bewußten Ort. Der Alte wartete noch immer dort Und fluchte auf des Jägers Langsamkeit. Da endlich kam er, der dem Tod geweiht. Der Jäger sah den Greis von weitem stehen, Er tat, als glaubte er die Frau zu sehen, Und rief ihm zu: „Du Weib aus Satans Reich! Wie? Deinem Gatten spielst du solchen Streich? Ist das dein Dank für seine große Liebe? Weiß Gott, ich schäme mich für dich, du Schlange! Dein Herz ist wahrlich voller Höllentriebe, Und um des Edlen Ehre ist mir bange, Denn ach, ich sehe wohl, du suchst schon lange Nach einem Freund; doch rechne nicht auf mich. Wenn ich dich bat um dieses Stelldichein, So war es nur, um in der Treue dich Zu prüfen, Weib; denn niemals fiel mir ein,
Dem Herrn zur Schmach mit dir mich zu vergehen. Du aber kommst nach andern Dingen sehen. Und wie? Du wagst noch immer hier zu stehen? Weiß Gott, ich prügle dich ins Haus zurück. Und morgen soll’s der gnäd’ge Herr erfahren!“ Bei diesen Worten weinte leis vor Glück Der gute Ehegreis mit weißen Haaren: „Gelobt sei Gott, der mir solch Weib verschafft Und solchen Diener, keusch und sittenhaft!“ Der Jäger aber ließ ihm keine Ruh, Er holte mit der Reitergerte aus Und schlug recht derb und ohne Pause zu Und trieb ihn unter Schlägen bis ins Haus. Dem guten Alten wär es lieb gewesen, Wenn sein Getreuer wen’ger weit gegangen; Doch daß er gar so treu und auserlesen Und ihm ein solcher Schutz vor allem Bösen, Ließ ihn die Prügel in Geduld empfangen. Und als er wieder bei der Gattin lag, Erzählte er und sagte seiner Lieben: „Wenn wir noch hundert Jahre leben blieben, Wir hätten nie mehr solchen Freudentag; Du fändest nie mehr solchen Knecht noch ich. Er soll sich hier in unserm Dorf vermählen, Wir lassen diesen Braven nie mehr fort. Ich bitte dich, behandle ihn wie mich.“ Die Dame sagte: „Daran soll’s nicht fehlen! Ich geb dir, Lieber, gern darauf mein Wort.“
Nicolas-Edme Restif de La Bretonne
Das Milchmädchen
Hübsche Mädchen sieht man unter den Lieferantinnen der Hauptstadt selten: ich habe oft darüber nachgedacht. Sollte der Menschenschlag in Paris weniger schön sein als anderswo? Das glaube ich nicht. Aber als ich eines Tages jemandem meine Beobachtung mitteilte, entgegnete er mir: Die Sitten sind hier so verderbt; kaum taucht ein Mädchen von passabler Gestalt auf, wird es auch schon auf der Stelle entführt; nur die Häßlichen gehen in Frieden ihren Geschäften oder ihrer Arbeit nach… Ich fand diese Erklärung zufriedenstellend, und meine Novelle soll nur beweisen, wie richtig sie ist. ······································································ Suzon, das kleine Milchmädchen, kam jeden Tag mit einem rotbraunen, sehr hübsch herausgeputzten Pferdchen durch die Rue du Faubourg Saint-Honoré zur Place Vendôme, die sie niemals überschritt. Sie trug ein Mieder aus grobem grauweißem Stoff, einen Unterrock aus rot-weiß gestreiftem Molton, ein Häubchen aus braunem Barkan, ein goldenes Kreuz, stets saubere Wollstrümpfe und im Winter Holzschuhe. Alles adrett und ordentlich, doch mußte man sehen, wie sie gewachsen war unter ihren Bauernkleidern! Ihre Taille hätte man mit den Händen umspannen können, ihr Gang war anmutig, der Klang ihrer Stimme von engelsgleicher Sanftheit. War
die Straße voll Schlamm, trug sie ihren Rock mit einer Spange aufgeschürzt, so daß man die Feinheit ihres Beins sehen konnte. Selbst ihre stets reinlichen Holzschuhe hatten nichts Plumpes, ihr Pelzfutter war sauber. Mit einem Wort, alles an ihr war appetitlich. Eines Tages, als Suzon sich der Place Vendôme näherte, wurde sie von einem großen, hageren Mann angesprochen, dessen runde, platte Perücke nur eine Stufe aufwies. Seine Kleider waren dunkelbraun, doch von schönem Stoff, seine Strümpfe über dem Knie befestigt, was ihm zusammen mit seinen langen, dürren Beinen ein wenig das Aussehen eines Reihers verlieh. Er trug noch eckige Schuhe mit Schleifen, die kleiner waren als die der heute üblichen Strumpfbänder. „Mein Kind“, sagte dieser Mann zu Suzette, „für ein Milchmädchen seid Ihr wahrlich ein wenig kokett, und das schickt sich nicht! Ihr bringt sogar die ehrbaren Leute in Versuchung, um wieviel mehr erst die Libertins!“ – „Ich glaube, Monsieur“, entgegnete Suzette mit einem reizenden Lächeln, „die ehrbaren Leute und die Libertins dieser Stadt haben viel schönere Damen als mich, um sich verführen zu lassen!“ – „Nein, mein liebes Kind, nein. Sie besitzen nicht Eure Frische, Eure Gesundheit, Eure schönen weißen Zähne, Eure Farben, Euren Atem…“ Bei diesen Worten rückte ihr der Scheinheilige so nahe, daß das kleine Milchmädchen zurückwich. „Hört mich an, meine Kleine: Ich bemerke Euch schon seit geraumer Zeit und überlege hin und her, wie ich etwas für Euch tun
könnte. Für reich halte ich Euch nicht. Ihr werdet entzückt sein von einer guten Stellung in einem zuverlässigen Haus, wo man Euch alles Nötige mit Sanftheit und Güte beibringen wird. Ich weiß ein Haus, in dem man Euch als Wirtschafterin nehmen würde; Ihr wißt, was das ist?“ – „Ja, Monsieur!“ – „Und wo man Euch zweihundert Taler Lohn geben würde.“ – „Oh, Monsieur! Ich wäre Euch sehr verbunden, und meine Mutter wäre Euch sehr dankbar. Aber eine so schöne Stellung wird gewiß schwer zu bekommen sein!“ – „Nein, denn ich habe sie zur Verfügung. Beredet das mit Eurer Mutter und kommt beide morgen zu mir: Dort wohne ich, bei diesem Torweg.“ Suzon knickste und dankte dem großen dürren Mann für seine Güte. Dann fuhr sie fort, ihre Milch auszurufen, mit einer Stimme, so angenehm und süß wie die Flüssigkeit, die sie feilbot. Während ihrer Unterhaltung mit dem Heuchler befand sich über ihren Köpfen, in einem vergitterten Zwischenstock, ein liebenswerter junger Mann, der Neffe des Alten. Er war etwa zwanzig Jahre alt, doch sein Onkel hatte ihn stets unter Verschluß gehalten; so hatte er niemals allein das Haus verlassen, niemals allein mit den männlichen oder weiblichen Bediensteten gesprochen. Er kannte niemanden und vegetierte in einer so vollständigen Unwissenheit dahin, daß Bruder Philipp* *
Ein Kartäusermönch. Er dichtete im 13. Jahrhundert ein „Marienleben“, das sich an der lateinischen „vita beatae Mariae virginis“ orientiert.
gegen ihn ein Kenner gewesen wäre. Der sorgsam eingesperrte De Neuilli war unter Lebensgefahr auf die Eisenspitzen geklettert, die ein unbenutztes Fenster des Zwischenstocks schmückten, und konnte auf die Straße schauen. Suzon war ihm ebenso aufgefallen wie seinem Onkel, denn sie kam nur während einer Krankheit ihrer Mutter allein hierher. Zuvor war sie Schneiderin in ihrem Dorf gewesen, denn sie hatte den trefflichsten Geschmack für Mieder, Frauenblusen etc.; sie hatte sogar versucht, in dem Teil von Paris, wo sie lebte, den schlechten Geschmack für diese häßlichen, weiten Rockschöße zu beseitigen, die das Gesäß bedecken und dem Gang etwas Verdrießliches, Schwerfälliges geben. Sie hatte versucht, die Bäuerinnen der Pariser Gegend zum Geschmack der Frauen von Caux oder der Provenzalinnen zu bekehren, doch war ihr das nur bei einigen jungen Mädchen von hübscher Gestalt gelungen. Alle Häßlichen hatten an dem schlechten Geschmack festgehalten, als entspräche er ihrer Häßlichkeit am besten. Der junge und sehr unschuldige De Neuilli hatte also Suzon bemerkt, doch noch nicht herausgefunden, ob er sie mit Vergnügen oder Gleichgültigkeit betrachtete. Das Gespräch seines Onkels mit Suzon, von dem ihm kein Wort entgangen war, verschaffte ihm eine vage Ahnung. Er fühlte, es würde ihn entzücken, wenn das hübsche Milchmädchen im Hause wohnte, und in seinem Innern faßte er – zum ersten Mal im Leben – den Entschluß: mit ihr allein zu sprechen. Diesen Gedanken nährte er mit Wohl-
gefallen, als Suzon sich entfernt hatte, und beim Abendessen erwähnte er sie, wie sehr es ihn auch gelüstete, mit seinem Onkel über sie zu sprechen, mit keinem Wort. Der Alte, der wußte, wie unwissend sein Neffe war, beschloß zu verhindern, daß selbiger Suzon zu Gesicht bekäme, wenn sie in seinem Hause wäre. Abgesehen davon, daß er überzeugt war, der junge Mann kenne noch nicht den Unterschied zwischen den Geschlechtern, denn es war ja nie mit ihm darüber gesprochen worden, hatte er größte Sorge getragen, aus seiner Lektüre alles fernzuhalten, was Frauen betraf, so daß er glaubte, es gäbe sie nicht einmal in der Vorstellung seines Neffen. Das Motiv seines Verhaltens war völlig unbegründet: es war eine Folge jenes Vorurteils, in dem unzählige Menschen befangen sind, die Liebe sei in den Augen Gottes das größte Verbrechen. Ohne devot zu sein, stimmen viele Leute gedankenlos dieser Maxime zu, beten sie her, wie Vaucansons Flötenspieler* die Töne nachspielte, die man ihm beigebracht hatte. Gleichwohl konnte der Onkel des jungen De Neuilli noch ein anderes Motiv haben: Er war sein Vormund, Nutznießer seines Vermögens, und verwendete es, wie sein eigenes, zur Befriedigung sehr kostspieliger Neigungen. Nach außen hin anständig, führte Monsieur Desgrands schlicht ein ausschweifendes Le*
Jacques de Vaucanson (1709-1782) war berühmt für seine Musikautomaten, vor allem für den „Flötenspieler“ und die „Ente“.
ben. Da er seit langem von Vergnügungen abgekommen war, deren man sich rühmen kann, wollte er nur noch kräftige Kost, ruhige Genüsse und unschuldige Mädchen. Sobald er sie verführt hatte, verließ er sie und entledigte sich ihrer. Am meisten verabscheute er verheiratete Frauen, mochten sie noch so schön und anhänglich sein; dies war nicht Tugendhaftigkeit, sondern er empfand eine Art von Ekel vor jeder Frau, die durch andere Hände gegangen war. So also verhielt es sich mit Onkel und Neffe, als das Milchmädchen tags darauf wie versprochen mit seiner Mutter kam, der es wieder recht gut ging, so daß sie den Weg machen konnte. Bevor sie bei Monsieur Desgrands eintraten, holte die Milchhändlerin Erkundigungen ein. Man sagte ihr, er sei ein „Mann von Wert“. Dieser Begriff hat in Paris zwei Bedeutungen: er bezeichnet einen reichen Mann und einen ehrbaren Mann. Er wurde im ersteren Sinn verstanden, als man mit der Milchhändlerin darüber sprach; man glaubte, mehr brauche sie nicht zu wissen; denn trotz seiner Falschheit hatte der Tartüff dafür gesorgt, daß man ihn kannte. Hätte die Milchhändlerin den Leuten erklärt, daß sie die Absicht habe, ihre Tochter in sein Haus zu geben – vielleicht wäre man offener gewesen. Doch im Unterschied zu anderen Leuten ihres Schlages war sie diskret. Nachdem die Erkundigungen eingeholt, ihre Milch verkauft war, traten Mutter und Tochter bei Monsieur Desgrands ein, der sie voll Heuchelei empfing. Vor der Mutter setzte er eine züchtige,
einschmeichelnde Miene auf. Gleichgültig und kühl machte er seine Vorschläge und übertölpelte so eine arglose Frau und ein argloses Mädchen. Sie nahmen sein Angebot an. Man kam überein, daß Suzon nach dem Essen mit ihrer Mutter nach Hause zurückkehren und tags darauf wiederkommen würde, um ihre Stellung anzutreten. Der Heuchler wollte nicht für eilig gelten, obgleich er vor Verlangen brannte, die reizende Suzette bei sich zu sehen. Am nächsten Tag kam das hübsche Milchmädchen. Ihre sanfte, beinahe harmonische Stimme rief De Neuilli an sein vergittertes Fenster. Er sah Suzon ins Haus gehen und eilte über ein Geheimtreppchen zu einem anderen Fenster, das auf den Hof ging und genau über der Wohnung seines Onkels lag. Er machte sich so lang als irgend möglich und sah das hübsche Milchmädchen mit seiner Mutter bei Monsieur Desgrands eintreten. Gern hätte er gehört, was gesprochen wurde, doch das war unmöglich. Er ging über das nur für ihn bestimmte Treppchen wieder hinunter und legte das Ohr an eine vernagelte Tür. Redete die Mutter, verstand er etwas, denn sie sprach sehr laut, wie es Leute vom Dorf eben tun. Was jedoch sein Onkel und Suzette sagten, davon konnte er kein Wort hören. Noch lieber hätte er sehen wollen, doch es gab nicht die winzigste Öffnung. Liebe macht selbst die beschränktesten Geister erfinderisch. De Neuilli überlegte, daß diese Tür aus Holz sei und er ein Loch hineinbohren könne. Er hatte kein Werkzeug, also benutzte er sein glücklicher-
weise spitzes Messer und verlieh ihm durch Drehen die Wirkung eines Bohrers. So arbeitete er, während geredet wurde, und riskierte, gehört zu werden. Die Arbeit ging zwar langsam voran, doch sie ging voran. De Neuilli tat nichts anderes und fuhr ohne Unterlaß bis zur Essensstunde fort. Sein Onkel hatte inzwischen sein Kabinett verlassen und Suzon eingewiesen. Anstatt De Neuilli wie üblich zum Essen zu rufen, brachte er ihm seine Portion aufs Zimmer. Der junge Mann, noch mit dem Bohren beschäftigt, hatte gerade die Zeit, herbeizueilen und so zu tun, als habe er eben studiert. Sein Onkel hieß ihn essen und zog sich zurück. De Neuilli trug die Schüsseln neben die Tür und arbeitete, während er aß, weiter. Endlich war es geschafft, und er konnte in das Gemach blicken. Er sah, daß der Tisch gedeckt und noch niemand darinnen war. Er vergrößerte das Loch, so gut er konnte, um besser zu sehen, und er freute sich, daß er es zu seinem Glück unter einem Bronzemedaillon von der Größe eines Sechs-LivresTalers gebohrt hatte; wollte er sehen, nahm er einen Kienspan, um das Medaillon zu heben. Endlich hörte er, daß man ins Zimmer trat, und er erblickte seinen Onkel mit Suzette. „Nun, meine Tochter“, sagte der Heuchler, „endlich sind wir allein, Eure Mutter ist fort! Wir wollen gemeinsam speisen, und so soll es alle Tage sein, es sei denn, ich habe Gäste. Wir werden miteinander plaudern, und ich will Euch, mein liebenswertes Kind, eingehend die Absichten darlegen, die ich Euch betreffend hege. Ihr seid ent-
zückend, doch betrachte ich Eure Reize nicht auf profane Weise, ich begnüge mich, sie als das vollkommenste Werk der Natur und Gottes zu bewundern. Ich bin reich und hänge an niemandem in der Welt, wiewohl ich einen Neffen habe. Aber die Bande der Freundschaft sind stärker als die Bande des Blutes. Übrigens ist mein Neffe ein Dummkopf, was er indes nicht wäre, hätte ich ihn nicht in Unwissenheit gehalten. Er weiß noch nicht einmal, daß es auf der Welt Frauen gibt. Er weiß gar nichts. Er hat immer nur mit mir gesprochen. Ich warte, bis er fünfundzwanzig Jahre alt ist, dann mache ich aus ihm einen Kapuziner. Dieserart werde ich sein Vermögen und das meine haben, das ich dazu nutzen will, ein hübsches Kind, das sich fest an mich bindet, reich, sehr reich zu machen. Ich garantiere ihr nicht weniger als fünfundzwanzigtausend Livres Rente, wenn sie es versteht, sich selbige durch ihre Liebe zu mir und ihre Ergebenheit in alle meine Wünsche zu verdienen. Mein Kind, ich wiederhole es, ich gleiche nicht den Lebemännern. Manch einer vermöchte nicht, diesen hübschen Mund anzusehen, ohne ihn küssen zu wollen, diese hübschen…, ohne sie berühren zu wollen, diese zarte Taille, ohne sie umfassen zu wollen…“ (Bei seinen Worten tat der Scheinheilige all das, was zu tun man sich angeblich nicht beherrschen könne, aber auf eine so diskrete Weise, daß Suzon nicht Mühe hatte, sich zu wehren.) Sie setzten sich zu Tisch, und Monsieur Desgrands servierte dem hübschen Milchmädchen das Beste. Sie aß sehr maßvoll und schien
eingeschüchtert, weil sie mit einem Mann allein war. Nach dem Essen führte der Falsche sie zum Feuer, wo er versuchte, sie auf seinen Schoß zu ziehen. Suzon wollte es nicht erlauben. Er gab sie frei, hatte aber mit ihr ein sehr ausführliches Gespräch. „Mein Kind“, sprach er zu ihr, „ich bin nicht mehr jung, und Ihr müßt in mir einen Vater sehen. Ich gestehe Euch, wäre ich dreißig Jahre alt, ich würde gern Euer Liebhaber sein. Oh, was gäbe ich nicht für das Alter meines einfältigen Neffen! Wie wüßte ich die Zeit zu nutzen, die dieser Automat vergeudet! Denn Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie töricht, blöde und fühllos er ist! Er ist ein Grobian… Indes, wenn Ihr mich zufriedenstellt… wir werden sehen… würde ich alles für Euch opfern, laßt Euch das gesagt sein… Mein Neffe ist reich… Ihr wäret die Herrin bei diesem Tölpel… ich würde dafür sorgen, daß Ihr ihn in fünf oder sechs Jahren heiratet.“ (Suzon war .die zehnte, der der Alte selbiges Versprechen machte, und für gewöhnlich hatte es die Hartherzigen erweicht, denn hierauf zeigte er ihnen seinen Neffen, durch ein Türchen, das von seiner Wohnung in das zugesperrte Zimmer des Zwischenstocks ging. Und da De Neuilli ein hübscher Junge war, fielen die armen Opfer des Heuchlers auf sein Gesicht herein. Anscheinend erzog ihn der Onkel nur deshalb so, wie er es tat, um sich seiner zu diesem schändlichen Zweck zu bedienen: Man wird übrigens noch sehen, ob De Neuilli wirklich sein Neffe war.) Nach solchem Versprechen verließ der
Alte Suzon, um in den Zwischenstock zu gehen. Dort klingelte er, wie gewöhnlich, nach De Neuilli, damit er herunterkäme. Als nun der junge Mann dort war, wo sein Onkel wünschte, hob dieser, in seine Wohnung zu Suzette zurückgekehrt, einen Vorhang auf und zeigte dem jungen Mädchen einen feingliedrigen Jungen von reizendem Äußeren. De Neuilli gewahrte diesen Vorhang zum ersten Mal. Aber er ließ es nicht merken, gab im Gegenteil vor, sehr beschäftigt zu sein mit einem Ball, den er gegen die Decke springen ließ, um sich nach dem Essen Bewegung zu verschaffen. ‚Er sagt, ich sei ein Tor’, dachte er, ‚er kann recht haben. Doch ist das mehr sein Werk als das meine. Wir werden sehen, ob ich mich allein besser unterrichten werde als durch seine Lektionen.’ Der Vorhang schloß sich wieder, und sogleich eilte der Jüngling an sein Loch in der Tür zum Kabinett. Monsieur Desgrands kam gerade mit dem hübschen Milchmädchen zurück. „Ihr seht, meine Tochter, er ist ein sehr schöner Junge!“ – „Ja, Monsieur.“ – „Ich werde ihn Euch geben, wenn ich, ich wiederhole es, mit Euch zufrieden bin.“ – „Ich werde alles tun, um Euch zufriedenzustellen, Monsieur.“ – „Oh, das ist aber charmant, und Ihr seid die erste, die so aufrichtig zu mir gesprochen hat.“ – „Ich bin nicht falsch, Monsieur.“ – „Nun, mein schönes Kind, Ihr werdet mit mir zufrieden sein, glaubt es mir.“ Er wollte sie küssen. Aber Suzette, die seine Rede ganz anders verstand, wehrte sich, und der Gleisner begriff, daß die Zeit noch nicht reif war.
De Neuilli nun, als er die Übergriffe des alten Satyrs sah, lernte das Gefühl der Eifersucht kennen. Er zitterte vor Empörung, und unwillkürlich sagte er laut: „Die bekommst du nicht!“ Man hörte ihn, doch der Alte glaubte, er spiele und rede mit sich allein. Konnte er denn die Wahrheit ahnen? Der Jüngling mutmaßte hierauf, daß der Alte ausgehen würde. Er wollte sich dessen vergewissern und kletterte dazu auf das Eisengitter. Und in der Tat sah er die Kutsche wegfahren. Sowie De Neuilli Suzon allein vermutete, eilte er zu dem Türchen und fand ein Mittel, es hochzuschieben: ein Mensch paßte hindurch. Indes wagte es De Neuilli nicht. Er stieg seine Treppe wieder hinauf und schaute durch das mit seinem Messer gebohrte Loch. Suzon war allein und ordnete Wäsche. „Suzette! Suzette!“ – „Wer ruft mich da?“ – „Ich.“ – „Wer ist das?“ – „Ich, De Neuilli.“ – „Ich kenne Euch nicht! Wo seid Ihr? Wer seid Ihr?“ – „Der Neffe von Monsieur Desgrands.“ – „Oh, Ihr seid das, Monsieur? Und wo steckt Ihr?“ – „Hier.“ – „Wo denn?“ – „Geht dort hinunter, wo mein Onkel mich Euch gezeigt hat, dann reden wir miteinander.“ – „Was habt Ihr mir zu sagen?“ – „Oh, tausend Dinge, die ich noch niemals ausgesprochen habe. Geht schon, ich bin nicht so dumm, wie mein Onkel glaubt. Geht, hübsche Suzon, damit ich mit Euch reden kann.“ – „So gehe ich denn, aber wir werden sehr achthaben müssen, daß Euer Onkel uns nicht sieht!“ – „Das wird er nicht.“ Suzon verließ das Kabinett, und De Neuilli flog ihr entgegen.
Er erreichte den Zwischenstock als erster, öffnete das Türchen und sprang in das Zimmer, das Suzon sogleich betreten sollte. Dort fand sie ihn. Sie machte eine kleine ängstliche Geste. „Endlich sehe ich nun ein liebenswertes Geschöpf, das meine Phantasie und meine Träume mir tausendfach vorgegaukelt haben!“ rief De Neuilli aus. „Reizendes junges Wesen, ich werde Euch mein Leben lang lieben!“ Er ergriff ihre Hände und küßte sie, zog Suzon in seine Arme, ohne jedoch mehr zu wagen. Suzon fragte ihn, wieso er bei seinem Onkel lebe, wie es komme, daß man ihn eingesperrt habe. Der Jüngling wußte den Grund nicht. Aber er erzählte das folgende: „Ich bin immer in dieser Wohnung gewesen, die ich jetzt zum ersten Mal verlasse, seit ich denken kann. Niemand als mein Onkel kam je zu mir. Er war es, der mir meine Kleider brachte wie auch mein Essen, wenn ich nicht mit ihm speiste. Wenn ich bei ihm esse, schließt er eine Tür auf, die zur Treppe im dritten Stock führt, von wo aus er mich in seine Wohnung hinabsteigen läßt. Manchmal habe ich sehr lange nicht mit ihm gespeist, und nicht zur Strafe, denn ich hatte ihm nichts getan. Niemals hat er mir von Geschöpfen wie Euch erzählt, und ich weiß immer noch nicht, wie man Euch nennt.“ – „Ich bin ein Mädchen.“ – „Oh, was ist ein Mädchen doch für ein hübsches Wesen! Ein Mädchen! Welch hübsches Wort! Ein Mädchen… Auf der Straße habe ich weit weniger hübsche gesehen, und sie haben mich nur durch die Seltsamkeit ihrer unschönen Kleidung überrascht.“ –
„Das waren gewiß alte Frauen.“ – „Und was waren die anderen, die ich gesehen habe, mit langem Bart, braunem Gewand, nackten Beinen und von oben bis unten in denselben Stoff gekleidet? Waren das auch alte Frauen?“ Suzette lachte laut auf: „Aber nein, das waren Männer, Kapuziner.“ – „O Gott! Eben das will mein Onkel eines Tages aus mir machen. Mehrfach hat er mir gesagt, daß ich, wenn es an der Zeit ist, mein Gefängnis verlassen und das Glück haben würde, das zu sein… was Ihr eben sagtet… Aber hat er Euch denn von mir erzählt, mein Onkel?“ – „Ja, Monsieur“, antwortete errötend Suzette. – „Hat er gesagt, er würde mich Euch geben?“ – „Ja, Monsieur.“ – „Wird Euch das freuen? Und was werdet Ihr aus mir machen?“ – „Ich mache Euch zu meinem Gebieter, werde Euch als meinen Wohltäter betrachten und als meinen Gatten zärtlich lieben.“ – „Ich verstehe zwar, was ein Wohltäter ist. Aber was ist ein Gatte?“ Hier nun war Suzette sehr in Verlegenheit: „Ein Gatte… ein Gatte, Monsieur… Aber wer weiß denn nicht, was ein Gatte ist?“ – „Ich, Suzon, ich, ich weiß es wahrhaftig nicht.“ – „Ein Gatte, das ist ein Mann… der eine Gemahlin hat.“ – „Eine Gemahlin? He! Was heißt das, eine Gemahlin haben?“ – „Das heißt, zum Beispiel, mit einem Mädchen verheiratet sein: mit ihr zusammen leben, essen, trinken, reden, wohnen… schlafen.“ – „Und wenn ich nun mit Euch verheiratet wäre, würden wir dann des Nachts zusammen schlafen?“ – „Ja, Monsieur.“ – „Oh, meine Suzon! So laßt uns heiraten!“ – „Dafür wird Euer Onkel sorgen, wenn er
mit mir recht zufrieden ist… Aber soll ich Euch gestehen, daß ich nicht so ganz weiß, was er darunter versteht…. mit mir zufrieden sein?“ – „Vielleicht möchte er, daß Ihr mit ihm schlaft?“ Suzette errötete noch mehr, aber De Neuilli schenkte dem keine Beachtung und fand sie nur noch hübscher; er ergriff ihre Hände. „Oh, ich werde niemals dort schlafen!“ hub sie seufzend wieder an. „Man darf nur mit seinem Gatten schlafen, und ich kann Euch schwören; daß ich auf der ganzen Welt nur Euch dazu will!“ De Neuilli machte einen Freudensprung, ohne recht zu wissen, warum. „Ich habe Euch gern!“ sagte er. – „Und ich Euch auch!“ erwiderte Suzon. – „Wie hübsch Ihr seid!“ – „Und Ihr, ich finde Euch so liebenswürdig. Ihr seid nicht dumm, wie Euer Onkel sagt.“ – „Nein, aber ich beginne zu ahnen, daß ich sehr unwissend bin! Doch Ihr werdet mich unterweisen. Ich weiß schon, was ein Mädchen ist, eine Frau, ein Kapuziner, ein Gatte, eine Gemahlin. Gibt es nicht noch etwas, das ich dringend erfahren muß?“ – „Wißt Ihr nicht, was ein Liebhaber ist?“ – „Oh, nein! Aber das Wort ist hübsch!“ – „Ein Liebhaber ist ein junger Mann wie Ihr, der ein Mädchen gern hat und sein Gatte sein möchte.“ – „In diesem Fall, meine Suzon, bin ich, bis ich Euer Gatte bin, Euer Liebhaber… Aber für Euch, gibt es für Euch nicht auch einen Namen, bis Ihr meine Gemahlin seid?“ – „Ihr habt viel mehr Geist, als Euer Onkel wähnt!“ sagte Suzon verzückt, denn der Jüngling gefiel ihr sehr. „Ja, und ich werde diesen Namen mit großer Freude für Euch tragen.
Ich bin Eure Geliebte.“ – „Eine Geliebte! Das ist ein hübscher Name! Ihr seid Mädchen, Ihr seid Geliebte, Ihr werdet Gemahlin sein! Lauter hübsche Namen! Und ich, ich werde Liebhaber, ich werde Gatte sein… Ja, ich werde Euer Gatte sein, meine Suzette, ich werde mit Euch schlafen… Oh, welch Vergnügen! Wie reizend Ihr seid! Wie Eure Gesellschaft mich unterhalten wird! Ich fühle, daß ich sie allem vorziehen werde!“ – „Auch ich werde die Eure allem vorziehen… Doch ich höre eine Kutsche!“ – „Das ist mein Onkel! Er war nicht lange aus!“ – „Geht schnell zurück!“ – „Adieu, meine Geliebte!“ – “Auf Wiedersehen, mein teurer Liebhaber!“ – “Oh, Suzette, was für ein hübscher Name!… Laßt das Schiebetürchen herunter.“ – „Es will nicht gehen!“ – „Da ist er!“ Glücklicherweise gab die Schiebetür in diesem Moment den vereinten Anstrengungen der Liebenden nach, und Monsieur Desgrands trat ein, als Suzette sie, am ganzen Leibe zitternd, mit der Tapisserie bedeckte. „Was hattet Ihr da zu tun?“ fragte er. – „Ich habe diesen Wandteppich geradegerückt, der nicht richtig hing, seit Ihr die Schiebetür hochgeschoben habt.“ – „Laßt sehen.“ Er hob den Wandteppich an und sah, daß die Schiebetür nicht bis unten geschlossen war. Vergebens versuchte er sie herunterzuziehen und ließ schließlich von ihr ab, doch schickte er seinen Lakaien nach einem Schlosser. Er ließ die Schiebetür reparieren und ein Vorhängeschloß anbringen, dessen Schlüssel er an sich nahm. Dieser Einfall verdroß Suzon und
machte sie nicht geneigt, dem Heuchler zu Willen zu sein. Gleichwohl zeigte sie es nicht. Die Schiebetür war so dünn, daß man bis in das Gefängnis des jungen De Neuilli hören konnte, was in dem Zimmer gesprochen wurde, in dem der Onkel mit dem hübschen Milchmädchen geblieben war. Der junge Mann hatte sich entfernt, als er vernahm, daß man die Schiebetür reparierte, war jedoch gleich danach auf Zehenspitzen zurückgekommen. „Sagt mir, ob Ihr sie nicht hochgeschoben habt“, sprach der Alte zu Suzon. „Ich habe Gründe, das zu vermuten.“ – „Nein, Monsieur, ich versichere Euch…“ – „Seid auf der Hut! Ich werde es herausbekommen!“ – „Wenn Ihr Argwohn hegt, Monsieur, ist es unnütz, daß ich hierbleibe.“ – „Nein, mein Püppchen: doch sollte Euch mein Neffe gesehen haben, muß ich es wissen!“ – „Ich versichere Euch, ich habe Eure Schiebetür nicht angerührt, um sie zu öffnen.“ – „Ich glaube Euch. Gehen wir hinauf in mein Kabinett. Ich habe mit Euch zu reden.“ Sie gingen hinauf, und De Neuilli eilte an seine vernagelte Tür. Als sie das Zimmer betraten, merkte er, daß Suzon ungehalten war. „Ich mag solche Scherze nicht, Monsieur, und ein andermal werde ich nicht als erste hinaufgehen.“ – „Mein Kind, beruhigt Euch. Es war eine unwillkürliche Regung, und ich dachte mir nichts Schlimmes dabei… Oh, Suzon, Ihr seid hübsch: Ihr kennt doch mein Versprechen, Euch meinen Neffen zu geben, wenn ich mit Euch zufrieden wäre. Ich will Euch nicht im unklaren darüber lassen, was ich von Eu-
rer Gefälligkeit erwarte. Ich liebe Euch. Ihr seid hübsch und frisch. Ich mag nur Mädchen Eures Schlages, Bäuerinnen von reinem Blut und guter Gesundheit. Obwohl ich nicht kränklich bin, haben mir die Ärzte für ein langes Leben das Rezept des guten Königs David verordnet. Ich werde es Euch erklären.“ (Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.) – “Niemals, niemals, Monsieur!“ rief Suzon aus. „Wenn Ihr mich zu diesem Zweck wolltet, hättet Ihr es nur gleich sagen müssen. Ich hätte Euch nicht getäuscht.“ – „Aber mein Kind, bedenkt Ihr auch, daß meinem Vorschlag nichts Böses innewohnt, daß ihr nur neben mir liegen sollt?“ – “Gleichviel, Monsieur, es gefällt mir nicht, und ich werde nicht einwilligen.“ – „Wie! nicht einmal in der Hoffnung, meinen Neffen zu heiraten?“ – „Monsieur, Euer Neffe nähme es mir eines Tages übel, daß ich mich so betrug, wie Ihr es fordert. Im übrigen, Monsieur, fällt es mir sehr schwer, zu glauben, daß Ihr Euren Herrn Neffen einem armen Milchmädchen geben wollt!“ – „Das darf Euch nicht überraschen, mein Kind: da ich für das, was ich Euch sagte, eine junge Person brauche, gilt es, für das Opfer, das ich verlange, zu bezahlen. Wen soll ich denn nehmen? Eine Bürgersfrau? Ein Mädchen von Stand? Man hätte mich abgewiesen: ich konnte mich nur an ein armes Mädchen wenden, das hübsch ist wie Ihr. Als ich Euch das erste Mal sah, sagte ich mir: Das ist etwas für mich. Schwierigkeiten habe ich nicht erwartet, denn ich bin ein so ehrenwerter Mann, daß ich nur um der Belohnung des Mädchens willen, das meine Tage
verlängern wird, meinen Neffen so aufziehe, wie ich es tue. Ich werde stets Herr über ihn sein, und er wird sich in alles fügen, was ich will, und wird mit Würde anerkennen, was ein hübsches Geschöpf für mich getan hat. Wäre er anders erzogen, würde ich mein Ziel nicht erreichen.“ – „Suchen Sie sich ein anderes Mädchen, Monsieur, denn ich kehre nach Hause zurück.“ – „Wartet einige Tage, beredet Euch morgen mit Eurer Mutter und entschließt Euch nach ihrem Rat.“ Nach vielen Schwierigkeiten willigte Suzon schließlich ein, auf ihre Mutter zu warten. Es war spät. Das Nachtessen wurde aufgetragen, und der Alte setzte sich mit dem hübschen Milchmädchen zu Tisch. Man aß wieder in seinem Kabinett. Als sie vom Tisch aufstanden, führte er Suzon in das Zimmer mit der Schiebetür und ließ sie allein. De Neuilli belauerte alle Schritte seines Onkels: Kaum sah er diesen wieder in seinem Kabinett, das auch sein Schlafzimmer war, kehrte er zur Schiebetür zurück, um mit Suzon zu plaudern. Sie hörte ihn und sagte, sie beabsichtige, tags darauf fortzugehen. „Und warum?“ fragte der verliebte junge Mann, „ich werde vor Kummer sterben, wenn ich Euch nicht mehr sehen kann!“ – „Ihr wollt also, daß ich mit Eurem Onkel schlafe?“ – „Oh, nein, lieber würde ich sterben!“ – „Übrigens werden wir uns nicht mehr sehen können; er hat ein Vorhängeschloß an der Schiebetür anbringen lassen und den Schlüssel an sich genommen.“ – „Ich habe es gehört“, antwortete der junge Mann, „aber das kümmert mich nicht.“ Und da er sehr
kräftig war, rüttelte er so heftig an der Schiebetür, daß sie in zwei Teile brach. Er trat in das Zimmer von Suzon, die gerade zu Bett gehen wollte, und sie war sehr erschrocken. Sie stieß ihn zurück. „Laßt mich bei Euch bleiben“, sagte er, „ich liebe Euch zu sehr, als daß ich Euch verlassen könnte. Mein Onkel mag sagen, was er will, ich werde Euch nie mehr verlassen.“ – „Hört“, sagte das junge Mädchen zu ihm, „Ihr habt die Schiebetür zerbrochen. Morgen wird Euer Onkel alles entdecken. Laßt uns etwas tun. Schließlich ist er nicht Euer Vater; eines Tages wird er Euch Euer Eigentum zurückgeben müssen. Ich gehe morgen in aller Frühe fort, sobald meine Mutter da ist. Geht hier hinaus und versucht Euch davonzuschleichen. Wendet Euch zum Faubourg SaintHonoré…“ – „Was ist der Faubourg Saint-Honoré?“ – „Mein Gott, ich vergaß, daß Ihr nichts wißt!… Nun denn, laßt uns etwas Besseres tun: Ich kenne den Weg. Wiewohl es Nacht ist, mit Euch werde ich mich nicht fürchten. Laßt uns sogleich fortgehen und zu meiner Mutter eilen!“ – “Von Herzen gern!“ sagte der Jüngling. Sie öffneten die Zimmertür, stiegen die Treppe hinab, und als sie in der Pförtnerloge Licht sahen, versteckte Suzon De Neuilli im Dunkeln und rief, ohne sich zu zeigen: „Tür auf!“ Der Pförtner öffnete sie bedenkenlos. Suzette schob De Neuilli vor sich her, und so gelangten sie ungesehen hinaus. Sie erreichten den Faubourg. Als sie gegenüber der Rue d’Anjou waren, hörten sie, daß man hinter ihnen herlief. „Wir werden verfolgt!“ sagte Su-
zette. „Ich kenne hier eine Kundin, sie wohnt im vierten Stock. Nur rasch zu ihr hinauf!“ Sie stürzten in das Haus, denn Suzette kannte das Geheimnis der Eingangstür, und gingen zu der Frau, der die Milchhändlerin am Morgen vom Glück ihrer Tochter berichtet hatte. „O Gott, mein Kind! Ihr! Wohin wollt Ihr um diese Stunde mit dem hübschen Herrn da?“ – „Oh, meine gute Dame, die Welt ist wahrlich trügerisch!“ – „Das ahnte ich, nach dem, was Eure Mutter mir heute früh sagte… Und wer ist dieser Herr?“ – „Das will ich Euch sagen, Madame, oh, das wird Euch erstaunen! Doch im Moment wäre es Monsieur nicht angenehm, daß ich von ihm erzähle… Würdet Ihr gütigst gestatten, Madame Lanternier, daß ich hier bis morgen auf meine Mutter warte?“ – „Ja, liebes Kind, sehr gern! Es bekümmerte mich schon, Euch mit einem erwachsenen jungen Mann fortgehen zu sehen, doch wenn Ihr hier auf Eure Mutter warten wollt, muß ich nichts weiter sagen. Ihr werdet also bei mir schlafen und Monsieur in diesem Bettchen, das mein Sohn benutzt, wenn er alle halbe Jahr auf Urlaub kommt. Er ist nämlich Sergeant und hat sich hervorgetan! Habt Ihr zu Abend gegessen?“ – „Oh, ja, Madame Lanternier, sehr gut sogar.“ – „Nun denn, mein Kind, da dem so ist, wollen wir uns schlafen legen, es ist spät.“ An dieser Stelle muß man die Alte beschreiben: Sie trug ein tabakfarbenes Wollkleid und einen Umhang aus Etamin, eine altmodische Tafthaube bedeckte ihren Kopf, den Kalotten der alten Män-
ner in der Komödie ähnlich, ihr Schuhwerk erinnerte an Sandalen, und obgleich sie nicht arm war, sah sie, in aller Härte des Wortes, erbärmlich aus. Sie hatte eines jener zerfurchten, beinahe bärtigen und männlich wirkenden Gesichter, die das Fehlen aller Reize des weiblichen Geschlechts offenbaren. Man schickte sich an, ins Bett zu gehen. De Neuilli sah verblüfft zu, wie die beiden Frauen sich entkleideten. Dem wurde zunächst keine Beachtung geschenkt, doch schließlich fiel der Alten Blick auf ihn. „Legt Euch schlafen, Monsieur, und schaut uns nicht so an! Man könnte meinen, Ihr habt noch nie jemanden zu Bett gehen sehen.“ Suzon lachte los. De Neuilli indes, nicht beschämt und Gehorsam gewohnt, zog sich aus. Als er aber fast nackt war und Suzon sich gerade ins Bett gelegt hatte, trat er auf sie zu und sagte: „Sie wird mit Euch schlafen, das verdrießt mich sehr! Denkt an Euer Versprechen, daß nicht sie Euer Gatte sein wird.“ – „Was zum Teufel erzählt Ihr uns da!“ rief die Alte, während Suzon laut lachte und sich lange nicht beruhigen konnte. „Ich sehe, es ist ein Scherz“, sagte die alte Lanternier. „Alsdann, Kinder, laßt uns schlafen. Gute Nacht, Monsieur, beruhigt Euch. Ich bin eine Frau und kann nicht der Gatte eines Mädchens werden, sei es auch noch so hübsch.“ – „Ihr seid eine Frau, Madame! Oh, ich hielt Euch für einen Kapuziner.“ Bei diesem Wort glaubte Suzon ersticken zu müssen vor Lachen. Die Alte nun, die nichts davon begriff, fand das sehr sonderbar, aber schließlich neigte sie
wieder ihrer ersten Vermutung zu, daß der junge Mann gern scherze. Endlich schlief man ein, und die beiden jungen Leute erwachten erst am helllichten Tag. Kaum hörte Suzon eine Milchfrau, die immer eine Viertelstunde vor ihrer Mutter kam, da sprang sie auch schon aus dem Bett, kleidete sich an und weckte De Neuilli, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihren reizenden Busen zu bedecken. „Schnell, schnell, steht auf, meine Mutter ist da!“ Der Jüngling kroch ein wenig unzüchtig aus seinen Bettüchern hervor, worauf die gute Lanternier entsetzt war und zu ihm sagte, das sei kein Scherz mehr. De Neuilli schaute sie blöde an. Sie glaubte, er mache sich über sie lustig, und sagte: „Pfui, so ein Schmutzfink!“ Der arme junge Mann wußte nicht, was er davon halten sollte. Er sah Suzon an, die ihm trotz ihres Errötens etwas ins Ohr flüstern mußte. Alsbald kam alles wieder in Ordnung. „Seid ihm nicht böse, Madame“, sagte Suzette, „wißt Ihr erst alles, werdet Ihr ihm nicht zürnen!“ Als Suzette und ihr Gefährte angekleidet waren, liefen sie der Milchfrau entgegen. Die Tochter umarmte ihre Mutter, erzählte ihr, was vorgefallen war, erklärte ihr, wer der junge Mann sei, wie er aufwuchs, wie sie sich gesehen hatten, geflohen waren, wie sie ihn heiraten sollte, sobald er sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendet hätte, wie sie beabsichtigte, den scheinheiligen Onkel zur Herausgabe des Vermögens zu zwingen, etc. Die Mutter war vom Verstand ihrer Tochter ent-
zückt und von allem, was sie hörte. Man beschloß, Suzon solle mit De Neuilli und der andern Milchfrau ins Dorf zurückkehren, während die Mutter ginge, ihre Milch zu verkaufen und zu erfahren, was sich im Hause Desgrands zutrug. „Doch da kommt mir eine Idee, Mutter“, sagte die pfiffige Suzon. „Niemand kennt bislang Monsieur De Neuilli. Wenn wir ihn nun bei uns im Dorf als Mädchen ausgeben würden? Das wäre viel sicherer!“ – „Du hast recht, Tochter!“ Sogleich ließ Suzette ihren Geliebten wissen, daß sie ihn wie ein Mädchen anziehen wolle, damit er nicht erkannt würde. Sie stieg mit ihrer Mutter wieder zu der guten Lanternier hinauf. Binnen kurzem wurde alles arrangiert. Die Milchfrau ging ihre Milch verkaufen und beauftragte jene andere, mit der sie ihr Kind hatte zurückschicken wollen, im Laufe des Vormittags ihr das reinlichste von Suzettes Kleidern zu bringen. Es war Mittag. Suzon legte mit Hand an, wo etwas nicht recht gelang, und kleidete ihren Geliebten ganz wie sich selbst. Das ging nicht ohne Gezeter des jungen De Neuilli ab, der wissen wollte, ob er nun zum Mädchen würde und ob er seine Geliebte noch immer heiraten könne. Suzon beruhigte ihn, indem sie beteuerte, es würde sie sehr verdrießen, wenn er kein Jüngling mehr wäre. Indes war die alte Milchfrau ihre Milch verkaufen gegangen. Kaum drang ihr Ruf an das Ohr des alten Desgrands, versammelte er seine Dienerschaft und schickte einen nach dem anderen los, die Milchhändlerin herbeizuholen, denn er brachte nicht die Geduld auf, die Rückkehr des ersten
Sendboten abzuwarten. „Nun, Madame, Eure Tochter?“ – „Ich bin es, die von Euch Nachricht über sie zu erhalten wünscht. Was tut sie?“ – „Ist sie nicht zu Euch zurückgekehrt?“ – „Nein, Monsieur.“ – „O mein Gott, wo sind sie nur!… Madame, sie sind heute nacht geflohen, sie und mein Neffe.“ – „Ihr Neffe! Monsieur!“ – „Ja, mein Neffe. Ich hatte nämlich einen Neffen.“ – „Ich kenne ihn nicht. Aber meine Tochter, Monsieur, ist wohlerzogen und würde nicht einfach so davonlaufen. Ihr versteckt sie vor mir.“ – „Mein verwünschter Pförtner war es, der ihnen das Tor geöffnet hat! Vielleicht ist der Halunke mit ihnen im Bunde?“ – „Ihr werdet mir mein Kind finden, Monsieur!“ – „Ruhe, Frau!“ – „Aber Monsieur, ich will meine Tochter zurück!“ – „Man wird sie schon entdekken. Und mein feiner Neffe, dieser Schurke… Das mir, der ich ihn so gut erzogen habe!… Da, kommt her, Milchfrau, sie haben Schaden angerichtet!“ Er führte sie in das Zimmer mit der Schiebetür. Dann erzählte er ihr, wie der Pförtner, nachdem er geöffnet, die Dienerschaft zusammengerufen hatte, weil er nicht wußte, wer hinausgegangen war. Es fehlte niemand. So war er denn zu seinem Herrn geeilt, der zunächst in das Zimmer von Suzon hinunterging, die er dort nicht vorfand. Das ganze Haus war hinter ihnen hergelaufen, in die Richtung, in die sie sich entfernt hatten, aber man hatte sie nicht einholen können. Die Milchfrau weinte um ihre Tochter; sie beklagte sich. Der Alte gab ihr fünfundzwanzig Louisdors, für die Wartezeit, sagte er, um sie zu besänftigen. Zufrieden
zog sie von dannen, gesellte sich ihrer Tochter und dem als Milchmädchen verkleideten De Neuilli zu und nahm beide mit in ihr Dorf. Nun also glaubte sich der unwissende Jüngling am Ziel seiner Wünsche: er wich Suzon nicht von der Seite, die wieder ihrem Schneidergewerbe nachging und es sogar ihren Geliebten lehrte, um ihn besser verbergen zu können. Sie trug Sorge, daß er mit niemandem redete. Der Grund dafür war vor allem seine Unwissenheit, und sie ließ es ihn spüren. Was Suzons Mutter angeht, die kehrte tagein, tagaus nach Paris zurück. Gleich am nächsten Tag teilte sie Monsieur Desgrands mit, daß ihre Tochter bei ihr sei. „Und mein Neffe?“ – „Wie mir Suzon sagt, hält er sich verborgen, um zu lernen, und will nicht mehr zu Euch zurück. Er sagt, Ihr habt Eure Macht über ihn mißbraucht. Solltet Ihr auch nur den kleinsten Schritt gegen ihn unternehmen, wird er Klage einreichen und Euch entehren.“ Monsieur Desgrands erschrak. Als er die Milchfrau so sprechen hörte, glaubte er, sein Neffe habe sich konsultiert, jemand verträte seine Interessen. So ging er selbst um Rat: „Ein Mann“, sagte er zu dem Rechtsgelehrten, „hatte einen Neffen, der starb. Da dieser Mann aus gutem Grund einen Neffen haben wollte, ersetzte er ihn durch den Sohn einer armen Frau, der er das Kind abkaufte. Der vermeintliche Neffe ist geflohen und wird gewiß vom Onkel Rechenschaft fordern. Was kann dieser tun? Kann er ihm sagen: Ihr seid nicht mein Neffe, und der Beweis ist, daß ich Euch untergeschoben habe?“ – „Ja, das kann er“, erwi-
derte der Rechtsgelehrte, „und die Seitenverwandten werden wieder in ihre Rechte eintreten. Gegen den Onkel indes wird der Herr Staatsanwalt Anklage erheben. Es wird Haftbefehl gegen ihn ergehen, und die geringste Strafe wird die Galeere sein. Sollte er aber kriminelle Motive gehabt haben, dieses Kind für seinen Neffen auszugeben, könnte er wohl auch aufgehängt werden; das kommt darauf an.“ Mehr brauchte der scheinheilige Desgrands nicht zu wissen. Er kehrte nach Hause zurück, fest entschlossen, seinem falschen Neffen beim ersten Ersuchen Rechenschaft zu geben. Die Milchfrau, die er jeden Tag sah, bat er, seinem Neffen zu versichern, daß er ihm nicht gram sei und ihn jederzeit mit Freuden empfangen würde. Der junge De Neuilli (oder vielmehr Suzon an seiner Statt, denn das junge Mädchen vergötterte ihn) traute den Reden seines Onkels nicht. Suzon wollte selbst mit ihm sprechen. De Neuilli aber, der sich jeden Tag mit ihr darüber beriet, wurde eifersüchtig und wollte nicht erlauben, daß sie ohne ihn in des Onkels Haus ginge. So beschloß man, zu dritt zu gehen, die Mutter, das hübsche Milchmädchen und seine falsche Gefährtin. Eines Montagmorgens machten sie sich auf den Weg und langten gegen acht Uhr bei Monsieur Desgrands an. Suzon rief. Der Heuchler hatte kaum ihre Stimme vernommen, da erschien er auch schon im Fenster und bat Mutter und Tochter zu sich herauf. Als er jedoch eine dritte Milchhändlerin bei ihnen sah, fragte er, ob sie Suzons Schwe-
ster sei. „So ist es!“ antwortete die Mutter. Sie gingen alle drei hinein. De Neuilli, der jetzt einundzwanzig Jahre alt war, gab ein hübsches Mädchen ab. Er gefiel seinem Onkel, der ihn fragte, ob er ebenso widerspenstig sei wie seine Schwester. „Noch mehr“, entgegnete der junge Mann mit einer Stimme, durch die er sich zu erkennen gab. Der Scheinheilige war arg beschämt. „Das ist mein Neffe, glaube ich“, sagte er zur Milchfrau. – „Ja, Monsieur, er selbst. Diese Kleidung trägt er, seit er bei uns ist.“ – „Wie, so lebt er mit Suzon?“ – „Er lebt dort in allen Ehren und wie eine Gefährtin. Auf das übrige habe ich ein Auge. Überdies ist meine Tochter anständig.“ – „Hört, Neffe“, sagte der Heuchler, „wie ich sehe, liebt Ihr Suzette. Wieviel ist Euch meine Einwilligung in Eure Ehe wert? Welchen Anteil an Eurem Vermögen werdet Ihr mir gewähren?“ – „Gar keinen. Ihr verdient ihn nicht. Die einzige Gnade, die ich Euch nach der unwürdigen Art, wie Ihr mich aufgezogen habt, erweisen kann, ist, Euch nicht zu verklagen. Das verspreche ich Euch, wenn Ihr mir auf der Stelle Eure Einwilligung schriftlich gebt, mir mein Eigentum zurückerstattet und mir über Eure Einkünfte eine Besitzurkunde ausfertigt, die erst nach Eurem Tode rechtsgültig wird.“ Der falsche Onkel stimmte allem zu, nachdem er versucht hatte, eine bessere Übereinkunft zu erzielen: Er gab seine Einwilligung schriftlich, eine Vermögensaufstellung seines Neffen, eine Quittung über die Einkünfte, die er ihm schuldete. Jener verpflichtete sich vor dem Notar, der den Vertrag aufsetzte, die Ein-
künfte erst nach dem Tode seines Onkels zurückzufordern. Als alles geordnet war, nahm De Neuilli, den ein Jahr an Suzons Seite aufgeweckt hatte, in Paris eine seinem Vermögen angemessene Wohnung. Er behielt die Milchfrau und ihre Tochter bei sich. Man traf die Vorbereitungen für seine Hochzeit, und vierzehn Tage nach dem Besuch bei seinem Onkel heiratete er Suzette, das hübsche Milchmädchen. Dieser Vorfall erregte kein Aufsehen, denn der Onkel trug Sorge, es zu vermeiden. Um seinen vorgeblichen Neffen zu hindern, über die Art und Weise zu reden, in der er ihn aufgezogen hatte, hielt er es, wie es heißt, für angebracht, ihn von der Unterschiebung zu unterrichten. Kurze Zeit darauf starb der Heuchler, ohne in seinen letzten Augenblicken etwas preiszugeben, wie zu befürchten stand, und der falsche Neffe schaltete alle anderen Erben aus. Da sich jedoch in den Papieren des Monsieur Desgrands Beweise für seine wahre Herkunft fanden, soll er beschlossen haben, zwar nicht auf sein Vermögen zu verzichten, wohl aber alljährlich Wiedergutmachung an den ärmsten Verwandten des Alten zu üben. Und das tut er getreulich. Er lebt glücklich mit Suzon, die ihm alle Tage ihre Zärtlichkeit und ihre Dankbarkeit beweist. ······································································ Wohl dem, der seine Frau reich machen und den kostbaren Vorzug genießen kann, daß sie ganz und gar von ihm abhängig ist! Der ist ein
wahrer Mann. Dagegen ist jener, dessen Vermögen von der Gattin stammt, nichts als ein gemeiner Sklave.
Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade
Eine Kriegslist der Liebe
„Die eigenartige Neigung von Frauen einer bestimmten Art oder Gemütslage für Personen ihres eigenen Geschlechts ist von allen Verirrungen der Natur diejenige, über die am meisten vernünftelt worden ist und die jenen Halbphilosophen, die alles analysieren wollen, ohne dabei jemals zu verstehen, am sonderbarsten erscheint.“ So sprach eines Tages Mademoiselle de Villeblanche, von der im folgenden die Rede sein wird, zu einer ihrer Freundinnen. „Lange vor der unsterblichen Sappho und nach ihr hat es kein einziges Land, keine einzige Stadt auf der Erde gegeben, die uns nicht Frauen solcher Sinnesart gezeigt hätte, und es wäre angesichts so starker Beweise weit vernünftiger, die Natur der Verirrung anzuklagen als jene Frauen des Verbrechens gegen die Natur. Trotzdem hat man niemals aufgehört, sie zu verunglimpfen, und wer weiß, ob es ohne den gebieterischen Einfluß, den unser Geschlecht immer hatte, einem Cujas, einem Bartolo, einem Ludwig IX. nicht eingefallen wäre, gegen diese empfindsamen und unglücklichen Geschöpfe ein Machwerk von Gesetzen zu erlassen, wie sie es gegen die Männer vorhatten, die ähnlich veranlagt waren und gewiß aus den gleichen guten Gründen glaubten, sich selbst genügen zu können, und sich vorstellten, daß die Vermischung der Geschlechter zwar sehr nützlich für die Fortpflanzung, für das
Vergnügen jedoch nicht von eben der Wichtigkeit sei. Gott gefiele es nicht, nähmen wir überhaupt keine Stellung dazu… nicht wahr, meine Liebe“, meinte die schöne Augustine de Villeblanche und küßte die Freundin, was ein ganz klein wenig verdächtig erschien. „Aber statt Verketzerung, Verachtung und Hohn, diese in unserer Zeit stumpf gewordenen Waffen, wäre es nicht unendlich einfacher, wenn man in einer Sache, die doch der Gesellschaft und auch Gott eigentlich gleichgültig ist und der Natur viel dienlicher, als man gemeinhin glaubt, jeden auf seine Art handeln ließe…? Was hätte man denn von dieser sogenannten Verdorbenheit zu fürchten…? Jedes vernunftbegabte Wesen wird einsehen, daß sie Schlimmeres verhüten kann, keiner wird mir dagegen einreden können, sie habe Gefährliches zur Folge… Ah! gerechter Himmel, hat man denn Angst, daß die Andersartigkeit dieser Leute des einen oder des anderen Geschlechts die Welt ins Verderben stürzt, den Ausverkauf der kostbaren menschlichen Gattung bedeutet oder daß ihr angebliches Verbrechen die Menschheit vernichtet, nur weil sie sich nicht an der Fortpflanzung beteiligen? Stellt man das genau in Betracht, so wird man sehen, daß alle diese eingebildeten Verluste die Natur überhaupt nicht berühren, daß sie sie nicht nur nicht verdammt, sondern daß sie uns durch tausend Beispiele beweist, daß sie sie geradezu wünscht und hervorbringt. Würden diese Verluste sie nämlich beunruhigen, läge ihr die Fortpflanzung wirklich so am Herzen, wieso könnte denn dann eine
Frau nur ein Dritteil ihres Lebens dazu tauglich sein und könnte denn dann die Hälfte der Wesen, die sie hervorbringt, die der Fortpflanzung gerade gegenteilige Neigung haben? Sagen wir also lieber, die Natur läßt es zu, daß sich die Menschen fortpflanzen, doch sie verlangt es nicht ausdrücklich. Ganz gewiß wird es immer mehr Menschen geben, als sie benötigt, doch ist die Natur weit davon entfernt, den Neigungen derer zuwider zu sein, die sich nicht fortpflanzen wollen und es ablehnen, sich anzupassen. Also, lassen wir doch die gute Mutter Natur handeln, und seien wir versichert, daß ihre Quellen unerschöpflich sind und daß nichts von dem, was wir tun, sie kränkt und daß das Verbrechen, das gegen ihre Gesetze verstoßen würde, niemals in unserer Macht liegen wird!“ Mademoiselle Augustine de Villeblanche, von der wir soeben ein Stück ihrer Philosophie zu hören bekamen, war im Alter von zwanzig Jahren Herr ihres eigenen Lebens geblieben und verfügte über 30 000 Livres Leibrente. Aus eigenem Willen hatte sie sich entschlossen, niemals zu heiraten. Sie stammte aus gutem, wenn auch aus keinem illustren Hause, war die Tochter eines Mannes, der in Indien reich geworden war und sie als einzige Erbin zurückgelassen hatte. Er war gestorben, ohne daß er sie jemals zu einer Heirat hatte bewegen können. Man braucht es nicht zu verhehlen, Augustines Widerwillen gegen die Ehe wurde entscheidend bestimmt durch jene Art von Neigung, die sie soeben verteidigt hat. Sei es we-
gen eines Rates, auf Grund ihrer Erziehung, aus körperlicher Veranlagung oder Hitze des Blutes (sie war in Madras geboren), sei es aus einer Laune der Natur, was immer es auch sei, Mademoiselle de Villeblanche verabscheute die Männer und hing dem an, was züchtige Menschen Sapphotismus nennen würden. Vergnügen fand sie nur mit ihrem eigenen Geschlecht, und sie hielt sich an den Grazien für die Verachtung schadlos, die sie gegenüber Amor empfand. Augustine war ein rechter Verlust für die Männer: sie war groß, wie gemalt, hatte die herrlichsten braunen Locken, eine leicht gekrümmte Nase, herrliche Zähne, ausdrucksvolle lebhafte Augen… eine zarte weiße Haut, kurz gesagt, sie war eine pikante und wollüstige Erscheinung, die für nichts anderes als für die Liebe geschaffen schien. So war es nicht verwunderlich, daß viele Männer mit spöttischen Bemerkungen über Augustines Neigung nicht sparten, die ja doch nichts Besonderes war, die aber die Altäre von Paphos eines der schönsten Wesen dieser Welt beraubte und notwendig die Anhänger des Tempels der Venus verstimmen mußte. Doch Mademoiselle de Villeblanche lachte aus vollem Herzen über solche Vorwürfe und alle diese schlechten Ratschläge und überließ sich weiter ihren Neigungen. „Die schlimmste aller Torheiten ist es, über Neigungen zu erröten, die uns von der Natur verliehen sind“, sagte sie. „Sich über jemanden zu mokieren, der ungewöhnliche Gewohnheiten hat, ist genauso barbarisch, wie wenn man sich über
einen Einäugigen oder einen Hinkenden lustig macht. Doch die Einfältigen von solchen vernünftigen Ansichten zu überzeugen hieße, den Lauf der Sterne aufzuhalten. Es schmeichelt dem Stolz, über Gebrechen zu spotten, die man selbst nicht hat. Solche Vergnügen sind den Menschen und besonders den Dummköpfen unter ihnen so angenehm, daß sie nur schwer davon ablassen. So führt dieser Stolz zu Boshaftigkeiten, zu grausamen und abgeschmackten Witzen, und für die Gesellschaft, diese Ansammlung von Wesen, die die Langeweile zusammenführt und die sich nur durch den Grad ihrer Dummheit unterscheiden, ist es so süß, zwei oder drei Stunden zu reden, ohne etwas zu sagen, ist es so köstlich, auf Kosten anderer zu glänzen und, während man über Fehler und Gebrechen herzieht, zu verkünden, daß einen selber so etwas ja nicht betrifft… Es ist so eine Art Lobrede, die man stillschweigend auf sich selbst hält. Um solchen Preis ist man sogar bereit, sich mit den anderen zu verbünden, sich zu verschwören, um einen einzelnen zu verderben, dessen großes Unrecht es ist, nicht so zu denken wie die Allgemeinheit der Sterblichen, und man kehrt ganz aufgeblasen und stolz auf seinen Esprit nach Hause zurück, während man doch mit solchem Verhalten nur seine Pedanterie und Dummheit gründlich bewiesen hat.“ So dachte Mademoiselle de Villeblanche, und fest entschlossen, sich niemals bezwingen zu lassen, aller Ratschläge spottend, reich genug, um unabhängig zu sein, über aller Reputation ste-
hend, im Geiste Epikurs darauf bedacht, ein sehr sinnenfrohes Leben zu führen und keines für die himmlischen Freuden, an die sie herzlich wenig glaubte, noch weniger als an eine für ihre Sinne zu chimärenhafte Unsterblichkeit, umgeben von einem kleinen Kreis von Frauen, die wie sie dachten, gab sich die liebe Augustine auf die allerunschuldigste Weise den Freuden hin, die sie liebte. Sie hatte schon viele Anbeter gehabt, doch sind alle von ihr so schlecht behandelt worden, daß sie am Ende doch auf diese Eroberung verzichteten; da erschien ein junger Mann namens Franville, der etwa von ihrem Stand, jedenfalls aber ebenso reich wie sie war. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt und ließ sich von ihrer Kälte nicht beeindrucken, sondern war sogar fest entschlossen, den Platz nicht eher zu räumen, als bis er sie erobert hätte. Er teilte diese seine Absicht seinen Freunden mit, sie machten sich über ihn lustig, er aber blieb dabei, daß er Erfolg haben werde; man bot ihm eine Wette, er schlug ein. Franville war zwei Jahre jünger als Mademoiselle de Villeblanche, hatte fast noch keinen Bart, eine sehr hübsche Figur, ein fein geschnittenes Gesicht und die schönsten Haare der Welt. Kleidete er sich als Mädchen, stand es ihm so gut, daß er beide Geschlechter täuschte und oft sowohl von den einen wie von den anderen eine Fülle von Komplimenten empfing, nach denen er an ein und demselben Tag der Antinous irgendeines Hadrian oder der Adonis irgendeiner Psyche hätte werden können. In dieser Verkleidung gedachte Franville Made-
moiselle de Villeblanche zu verführen. Wie er das fertigbrachte, werden wir sehen. Eine der herrlichsten Vergnügungen von Augustine war, sich während des Karnevals als Mann zu verkleiden und alle Bälle unter dieser für ihre Gefühle so passenden Verkleidung zu besuchen. Franville, der sie auf Schritt und Tritt beobachten ließ und der sich aus Gründen der Vorsicht längere Zeit vor ihr nicht hatte sehen lassen, erfuhr eines Tages, daß die, die er liebte, sich an demselben Abend auf einen Opernball begeben würde, wo jeder Maskierte Einlaß fand, und daß das liebreizende Mädchen dort nach seiner Gewohnheit als Dragonerhauptmann erscheinen würde. Er selbst verkleidete sich als Frau, ließ sich schmükken und mit aller nur möglichen Eleganz zurechtmachen, legte viel Rouge auf, doch keine Maske und begab sich mit einer seiner Schwestern, die weit weniger hübsch war als er, zu der Ballgesellschaft, zu der Augustine nur hinging, um eine Eroberung zu machen. Franville war noch nicht lange im Saal, als Augustine ihn schon mit Kennerblicken musterte: „Wer ist denn dieses schöne Mädchen?“ fragte sie die Freundin, die sie begleitete. „Mir scheint, ich habe sie bisher nirgends gesehen, wie haben wir denn eine so liebliche Erscheinung übersehen können?“ Sogleich unternahm sie alle Anstrengungen, um die falsche Demoiselle Franville in ein Gespräch zu verwickeln. Diese aber floh vor ihr, wandte sich ab, entkam, und all das nur, um noch heißer begehrt zu werden. Schließlich trafen aber
beide doch zusammen. Man wechselte zunächst belanglose Worte, nach und nach wurde das Gespräch interessanter, bis Mademoiselle de Villeblanche sagte: „Hier im Ballsaal ist es schrecklich heiß, lassen wir unsere Begleiterinnen zurück und gehen wir etwas Luft schöpfen in einem dieser Kabinette, wo man spielt und sich erfrischt.“ „Ach, Monsieur“, sprach Franville, der immer tat, als hielte er Mademoiselle de Villeblanche für einen Mann, „ich getraue mich nicht, ich bin hier nur mit meiner Schwester; aber ich weiß, daß bald meine Mutter mit dem Mann kommen wird, den ich heiraten soll. Wenn man mich mit Euch sähe, so könnte…“ „Gut, gut, setzt Euch ein wenig über diese kindlichen Ängste hinweg… Wie alt seid Ihr übrigens, schöner Engel?“ „Achtzehn Jahre, Monsieur.“ „Also, ich sage Euch, mit achtzehn Jahren sollte man sich doch schon das Recht nehmen, alles zu tun, wozu man Lust hat… Gehen wir also! Folgt mir und habt keine Angst!“ Und Franville ließ sich mitnehmen. „Charmantes Fräulein“, fuhr Augustine fort und führte das Wesen, das sie immer noch für ein Mädchen hielt, zu den Kabinetten, die gleich neben dem Ballsaal lagen, „wie, Ihr wollt tatsächlich heiraten…! wie sehr ich Euch bedaure… Und wer ist der Mann, den man Euch ausgewählt hat? Ich wette, es ist ein langweiliger Tropf! Ach, der Glückliche! Was gäbe ich darum, an seiner Stelle zu sein! Würdet Ihr denn ja sagen, wenn zum Bei-
spiel ich Euch heiratete? Sagt es mir ehrlich, himmlisches Mädchen.“ „Leider, Monsieur, Ihr wißt es, wenn man jung ist, folgt man der Stimme seines Herzens.“ „Nun, dann schickt ihn doch fort, diesen sauberen Patron! Und wir werden beide enger Bekanntschaft schließen, und wenn wir uns verstehen… Warum könnten wir uns nicht arrangieren? Ich brauche, Gott sei Dank, um keine Erlaubnis zu fragen, denn ich bin, obwohl erst zwanzig Jahre alt, Herr über mein Vermögen, und wenn Ihr Eure Eltern zu meinen Gunsten umstimmt, vielleicht könnten Ihr und ich noch vor Ablauf einer Woche den ewigen Bund der Ehe schließen.“ Wie sie so plauderten, hatten sie den Ballsaal hinter sich gelassen, und die schlaue Augustine, die sich keineswegs mit platonischen Absichten trug, führte ihre Beute in ein sehr abgelegenes Kabinett, das sie sich von dem Veranstalter des Balles gemietet hatte und über das sie frei verfügen konnte. „Ach, mein Gott“, rief Franville, als er sah, daß Augustine die Tür des Kabinetts schloß und ihn in ihre Arme riß, „oh, gerechter Himmel, was habt Ihr denn vor…! Wie, ein Tête-à-tête mit Euch, Monsieur, und dann an einem so abgelegenen Ort… laßt mich, laßt mich, ich beschwöre Euch, oder ich rufe auf der Stelle um Hilfe!“ „Dazu werde ich dir keine Gelegenheit geben, göttlicher Engel!“ erwiderte Augustine und drückte ihren schönen Mund auf Franvilles Lippen. „Jetzt schrei, schrei, wenn du kannst! Aber der reine
Hauch deines Rosenatems wird mein Herz nur noch mehr entflammen.“ Franville wehrte sich recht wenig, ist es doch schwer, Entrüstung zu spielen, wenn man den ersten zärtlichen Kuß derjenigen verspürt, die man anbetet. Die dadurch ermutigte Augustine bedrängte ihn noch stürmischer und war dabei von einer Leidenschaft, wie man sie wirklich nur von reizenden Frauen her kennt, die von solcher Art Neigung getrieben werden. Bald fingen die Hände an zu suchen, und auch Franville, der die Spröde spielte, hielt die seinen nicht still. Man hatte sich die Kleider geöffnet, und die Finger beider waren fast zu gleicher Zeit da, wo jeder das zu finden hoffte, was ihm gefiel… Da wechselte Franville seine Rolle und rief aus: „Oh, gerechter Himmel, Ihr seid ja nur eine Frau…!“ „Schrecklicher Mensch!“ rief nun ihrerseits auch Augustine, als sie ihre Hand auf den Dingen spürte, deren Beschaffenheit ihr jede Illusion nahm. „Ich habe mir so viel Mühe gegeben und muß jetzt so einen sauberen Kerl vorfinden… Ach, wie unglücklich ich bin!“ „Wahrhaftig, Ihr seid es nicht mehr als ich“, versetzte Franville mit der allergrößten Verachtung im Gesicht und brachte seine Kleider wieder in Ordnung. „Ich habe diese Verkleidung gewählt, um die Männer auf mich aufmerksam zu machen, denn ich liebe sie, ich suche sie. Und auf was muß ich treffen? Auf eine solche H…“ „Auf eine solche… nein!“ brauste nun Augustine auf. „So etwas war ich nie im Leben. Wenn man
die Männer so verabscheut wie ich, darf man nicht so behandelt werden.“ „Wie das? Ihr seid eine Frau und verachtet die Männer?“ „So ist es, und aus dem gleichen Grund, wie Ihr die Frauen verachtet.“ „Ich muß schon sagen, Mademoiselle, das ist ein höchst kurioses Zusammentreffen.“ „Für mich ist es sehr traurig“, erwiderte Augustine mit unwilliger Miene. „Für mich ist es noch viel peinlicher, Mademoiselle“, sagte Franville mit Nachdruck, „denn ich habe mich für drei Wochen beschmutzt. Ihr müßt nämlich wissen, daß wir in unserem Orden das Gelübde abgelegt haben, niemals eine Frau zu berühren.“ „Ich denke, eine Frau wie mich kann man berühren, ohne sich dadurch zu entehren.“ „Meiner Treu, Mademoiselle“, erwiderte Franville, „ich sehe keinen Grund, eine Ausnahme zu machen; verstehe auch nicht, warum Euch ein Laster auch noch ein Verdienst einbringen soll.“ „Ein Laster… Wie kommt denn Ihr, der Ihr dem gleichen frönt, dazu, mir die meinen vorzuwerfen?“ „Haltet ein“, sagte Franville, „warum streiten wir uns? Ist es nicht unser beider Spiel? Das beste ist, wenn wir auseinandergehen und uns nie wiedersehen.“ Bei diesen Worten ging Franville daran, die Tür zu öffnen. „Einen Augenblick, einen Augenblick!“
fuhr Augustine dazwischen, „ich wette, Ihr werdet unser Abenteuer in alle Welt hinausposaunen.“ „Vielleicht wird mir das Spaß machen!“ „Na wennschon, was macht mir das schon aus! Ich stehe, Gott sei Dank, über solchen Dingen. Geht also, Monsieur! Geht und sagt, was Euch gefällt…“ Und ihn noch einmal zurückhaltend, sagte sie lächelnd: „Wißt Ihr, daß das eine außergewöhnliche Geschichte ist… Wir haben uns eben alle beide getäuscht.“ „Ach“, erwiderte Franville, „der Irrtum ist weit grausamer für Menschen mit meiner Neigung als für Menschen von Eurer… die Leere an dieser Stelle bereitet uns Widerwillen…“ „Meiner Treu, mein Lieber, glaubt Ihr denn, daß das, was Ihr uns bietet, uns weniger mißfällt! Ach, geht, unsere Abneigungen sind beide gleich! Trotzdem, das Abenteuer ist amüsant, das kann man nicht leugnen!… Geht Ihr zum Ball zurück?“ „Ich weiß nicht recht.“ „Also, ich nicht“, sagte Augustine. „Ihr habt mich Dinge spüren lassen… Unannehmlichkeiten… Ich werde nach Hause fahren und mich schlafen legen.“ „Was denn, so früh?“ „Ja, wenn es mit Eurer Ehre vereinbar ist, mir den Arm zu reichen und mich nach Hause zu bringen! Ich wohne nur zwei Schritte von hier und habe meine Karosse nicht da. Aber Ihr werdet mich ja hier stehenlassen.“
„Nein, ich begleite Euch gern!“ sagte Franville. „Wenn auch unsere Neigungen verschieden sind, so hindern sie uns doch nicht, höflich zu sein… Gestattet, daß ich Euch meinen Arm reiche…“ „Ich nehme ihn nur, weil ich nichts Besseres finde im Augenblick.“ „Seid meinerseits versichert, daß ich ihn Euch nur aus Höflichkeit anbiete.“ Man ging und kam bald zu Augustines Haus, wo Franville sich verabschieden wollte. Da sagte Mademoiselle de Villeblanche: „Ihr seid wirklich sehr freundlich, Monsieur, doch wollt Ihr mich auf der Straße stehenlassen?“ „Ich bitte tausendmal um Vergebung“, sagte Franville, „ich wagte nicht…“ „Ach, wie ungehobelt sind doch die Männer, die die Frauen nicht lieben!“ „Es ist nur…“, sagte Franville und geleitete sie bis zu ihrem Appartement, „ich wollte schnell zurück zum Ball, um dort meine Dummheit wiedergutzumachen.“ „Eure Dummheit, Monsieur? Ihr seid also sehr ärgerlich, mir begegnet zu sein?“ „Das möchte ich nicht unbedingt sagen, doch ist es nicht wahr, daß wir es beide sehr viel besser treffen können?“ „Gewiß, da habt Ihr recht“, erwiderte Augustine und trat in ihre Wohnung. „Ihr habt recht, Monsieur! Ich vor allem… Ich fürchte, daß diese unglückliche Begegnung mich das Glück meines Lebens kostet.“
„Wie, Ihr seid Euch Eurer Gefühle also nicht sicher?“ „Gestern war ich es noch.“ „Aha, Ihr habt Eure Grundsätze aufgegeben!“ „Ich habe keinen Halt mehr, Ihr habt mir die Ruhe genommen.“ „Gut, dann gehe ich, Mademoiselle, ich gehe. Gott behüte, daß ich Euch länger störe!“ „Nein, bleibt, ich befehle es Euch! Könnt Ihr es einmal im Leben übers Herz bringen, einer Frau zu gehorchen?“ „Ich?“ fragte Franville und setzte sich bereitwillig nieder. „Es gibt nichts, was ich nicht machen würde. Ich sagte Euch doch bereits, daß ich ein Ehrenmann bin.“ „Wißt Ihr, daß es sehr bedauerlich ist, in Eurem Alter solch anstößigen Neigungen nachzugehen?“ „Und in Eurem? Glaubt Ihr denn, daß es anständig ist, in dem Euren so widernatürlichen zu folgen?“ „Oh, das ist ein großer Unterschied! Bei uns ist es Zurückhaltung, Scham oder sogar Stolz, wenn Ihr wollt, die Furcht, sich einem Geschlecht auszuliefern, das uns nur verführt, um uns zu beherrschen… Und trotzdem haben wir Gefühle! Und da entschädigen wir uns eben unter uns. Gelingt es uns, uns gut den Blicken anderer zu entziehen, dann aus weiser Vorsicht. So ist die Natur befriedigt, der Anstand beachtet, und die Gesetze sind nicht verletzt.“ „Das nenne ich eine schöne und gute Sophisterei. Sieht man die Sache so, könnte man ja alles
rechtfertigen. Und was sagt Ihr da, daß wir nicht die gleichen Gründe für uns in Anspruch nehmen könnten?“ „Durchaus nicht. Da Ihr sehr andere Vorurteile habt, müßt Ihr nicht die gleichen Ängste haben. Euer Triumph liegt in unserer Niederlage… Je mehr Ihr erobert, desto mehr steigt Euer Ruhm, und Ihr könnt Euch den Gefühlen, die wir in Euch erwecken, nur durch das Laster oder die Verdorbenheit entziehen.“ „Wahrhaftig, ich glaube, Mademoiselle, Ihr wollt mich bekehren!“ „Ja, das würde ich gern!“ „Was würdet Ihr denn dabei gewinnen, solange Ihr selbst in Eurem Irrtum lebt?“ „Das ist eine Pflicht, die ich meinem Geschlecht schuldig bin. Und da ich die Frauen liebe, freue ich mich, etwas für sie zu tun.“ „Wenn das Wunder einträte, wären seine Wirkungen nicht so allgemein, wie Ihr zu glauben scheint. Ich möchte aber meine Neigungen dann zuerst nur für eine Frau aufgeben… um es zu versuchen.“ „Dieser Vorsatz ist ehrenwert.“ „Ganz sicher gibt es nämlich, ich fühle es selbst, eine Abneigung dagegen, sich für eine Partei zu entschließen, wenn man noch nicht gekostet hat.“ „Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr noch niemals eine Frau…?“ „Noch nie! Und Ihr habt… habt Ihr zufällig schon irgendwelche sicheren Erfahrungen?“
„Oh, Erfahrungen, nein… die Frauen, die ich kenne, sind so geschickt und so eifersüchtig, daß sie mich niemals…. aber ich habe wahrhaftig keinen einzigen Mann in meinem Leben gekannt.“ „Habt Ihr denn einen Eid geleistet?“ „Ja! Ich will nur einen sehen oder kennenlernen, der genauso veranlagt ist wie ich.“ „Ich bin untröstlich, nicht das gleiche Gelübde abgelegt zu haben.“ „Ich glaube, Monsieur, impertinenter zu sein als Ihr ist schier unmöglich.“ Mit diesen Worten stand Mademoiselle de Villeblanche auf und gab dadurch Franville zu verstehen, daß es ihm freistehe, sich zurückzuziehen. Unser junger Liebhaber bewahrte kühles Blut, machte eine tiefe Reverenz und schickte sich an zu gehen. „Ihr geht zurück zum Ball?“ fragte trocken Mademoiselle de Villeblanche und schaute ihn mit ihren Augen an, in denen sich gleichzeitig Ärger und glühende Liebe spiegelten. „Aber ja, Mademoiselle; ich glaube, ich sprach schon davon.“ „So seid Ihr nicht zu dem Opfer imstande, das ich Euch gebracht habe?“ „Wie, Ihr habt mir irgendein Opfer gebracht?“ „Ich bin nur nach Hause gegangen, um nichts mehr zu sehen, nachdem ich das Unglück hatte, Euch kennenzulernen.“ „Das Unglück?“
„Ihr selbst zwingt mich zu diesem Ausdruck, es liegt allein an Euch, daß ich einen ganz anderen gebrauche.“ „Und wie vereinbart Ihr das mit Euren Neigungen?“ „Was läßt man nicht alles im Stich, wenn man liebt!“ „Ja, schon, doch es wäre Euch unmöglich, mich zu lieben.“ „Ihr habt recht, wenn Ihr weiterhin solch verabscheuungswürdige Gewohnheiten bewahrt, wie ich sie bei Euch entdecken mußte.“ „Und wenn ich darauf verzichten würde?“ „Auf der Stelle würde ich die meinen auf dem Altar der Liebe opfern… Ach du Verräter, dieses Geständnis, das du mir entrissen hast, kostet mich meinen Ruf!“ schluchzte Augustine und sank auf einen Fauteuil. „Ich habe aus dem schönsten Mund der Welt eben das süßeste Geständnis meines Lebens gehört“, rief Franville aus und warf sich vor Augustine auf die Knie. „Ach, zärtlich geliebtes Wesen, erkennt meine Täuschung und bestraft sie nicht! Zu Euren Füßen flehe ich dafür um Nachsicht, hier bleibe ich, bis Ihr mir verzeiht. Ihr seht vor Euch den treuesten und leidenschaftlichsten Liebhaber, Mademoiselle. Ich griff zu dieser List, um ein Herz zu besiegen, dessen Widerstand ich kannte. Ist mir das gelungen, schöne Augustine, werdet Ihr dann einer Liebe ohne Laster das verweigern, was Ihr einen schuldigen Liebhaber habt hören lassen? Ich, schuldig… schuldig an dem, was Ihr geglaubt
habt… Ach, könntet Ihr wirklich denken, daß eine unreine Leidenschaft in der Seele dessen wohnt, der niemals für eine andere außer Euch entbrannt ist?“ „Du hast mich getäuscht, Verräter… aber ich verzeihe dir… dennoch, so würdest du mir nichts opfern, Arglistiger, und das schmälert meinen Stolz; nun, was liegt mir daran, ich opfere dir alles… um dir zu gefallen, verzichte ich mit Freuden auf Verirrungen, in welche uns die Eitelkeit beinahe ebensooft verstrickt wie die Gelüste. Ich fühle es, die Natur hat gesiegt, ich hatte sie durch Verirrungen unterdrückt, die ich nun von ganzem Herzen verabscheue. Der Herrschaft der Natur kann man nicht widerstehen, sie hat uns nur für euch geschaffen und euch nur für uns. Folgen wir ihren Gesetzen! Durch die Stimme der Liebe selbst hat sie sie mir heute zurückgerufen, sie werden mir nun heiliger sein. Monsieur, hier habt Ihr meine Hand! Ich halte Euch für einen Ehrenmann und geschaffen, um mich zu begehren. Wenn ich auch für Augenblicke Eure Wertschätzung nicht verdient habe, werde ich mein Unrecht durch Fürsorge und Zärtlichkeit wiedergutzumachen suchen. Ich werde beweisen, daß frühere Verirrungen ein gutartiges Herz nicht für immer verderben können.“ Franville, auf dem Gipfel seiner Wünsche, liefen Tränen der Freude über das Gesicht auf die schönen Hände, die er umklammert hielt; er stand auf, stürzte sich in die Arme, die sich ihm öffneten, und rief aus: „O glückseligster Tag meines
Lebens, nichts kommt meinem Triumph gleich, denn ich führe das Herz, das mir für immer gehören wird, zurück in den Schoß der Tugenden.“ Immer und immer wieder küßte Franville seine Liebe, dann trennte er sich von ihr. Am nächsten Tag teilte er allen seinen Freunden sein Glück mit. Mademoiselle de Villeblanche war eine zu gute Partie, als daß seine Eltern sich seiner Wahl entgegengestellt hätten. Er heiratete sie noch in der gleichen Woche. Zärtlichkeit, Vertrauen, größte Zurückhaltung, strengste Bescheidenheit haben seine Ehe gekrönt, und während er zum glücklichsten aller Männer wurde, gelang es ihm, aus dem freisinnigsten Mädchen die klügste und tugendhafteste Frau zu machen.
Honore Gabriel Riqueti, Comte de Mirabeau
Aus: Meine Bekehrung
Bis jetzt, mein Freund, war ich ein Taugenichts; ich lief den Schönheiten nach und spielte den Ekligen: nun aber ist die Tugend in mein Herz eingekehrt, und ich will nur mehr für Geld vögeln; ich will mich für Weiber im Alter des abnehmenden Sommers als geschworener Zuchthengst ankündigen und sie so alle Monate mal mit dem Popo hüpfen lehren. ······································································ Vom Liebhaber, der wir waren, werden wir nun zum Freunde, und ich fliege, nicht nach neuen Lorbeeren, sondern nach neuen Börsen. Von der vollkommenen Liebe und den methodischen Genüssen der Betschwester und der Präsidentin degoutiert, schmachte ich traurig, als mich mein guter Engel zu Madame Saint-Just führt (die famose Kupplerin für feine Partien, Rue Tiquetonne); ich kündige ihr an, daß ich vakant bin, und außerdem ist der Teufel in meiner Börse. Sie präsentiert mir eine Liste – verfolgen wir sie: 1. Frau Baronin von Conbaille. – „Sapperment! Ein schöner Name. Was ist denn das für ein Weib?“ – „Eine kleine Provinzlerin, die nach Paris gekommen ist, fünfzig- oder sechzigtausend Francs auszugeben, die sie seit zehn Jahren zusammengescharrt hat.“ – „Hat sie noch viel davon?“ – „Nein.“ – „Gehen wir weiter; warum kün-
digt sich dann diese Schlampe unter einem solchen Hofnamen an?“ 2. Frau von Culsouple. – „Wieviel gibt sie?“ – „Zwanzig Louis für die Sitzung.“ – „Zahlt sie voraus?“ – „Nie, und dann ist sie nichts für Sie; sie ist viel zu weit.“ 3. Frau von Fortendiable. – „Halt, das ist, was Ihnen fehlt. Sie ist eine Amerikanerin, reich wie Krösus, und wenn Sie sie befriedigen, gibt es nichts, was sie nicht für Sie tun würde.“ – „Schön, du wirst mich vorstellen.“ – „Morgen, wenn Sie wollen.“ – „Hier?“ – „In ihrem eigenen Haus.“ – Der Name da hat etwas Diabolisches, das mich ergötzt. – Ich gebe die Liste zurück, worauf mit geheimnisvoller Miene die gute Saint-Just folgende Ermahnung an mich richtet: „Mein teurer Freund, Sie haben genug von den Jugendlichsten gesehen: was haben Sie davon profitiert? Die Syphilis. Warum hören Sie nicht auf die Ratschläge der Vernunft? Ich habe in meinem Hause ein wahres Vermögen, eine Alte.“ – „Der Teufel vögle dich!“ – „He, he, daß Ihr Wunsch doch in Erfüllung ginge! Immer noch besser als nichts. Aber es handelt sich nicht darum; ich spreche Ihnen von einem Schatz. Vertrauen Sie mir, und wir werden ihn heben.“ – „Vorwärts, ich bin dabei. Ich verlasse mich auf deine Klugheit.“ Erwartungsvoll begebe ich mich am andern Tage um sieben Uhr abends zu meiner Amerikanerin. Ich finde Überfluß, großen Luxus, viel Gold, aber ohne Geschmack angebracht; Ballen Kaffee, Zuckerproben, kurz einen verdorbenen Ge-
schmack, den ich, potz Henker, bei einer ähnlichen Gelegenheit nur zu gut wiedererkenne. Was mir Unbehagen verursachte, war eine männliche Stimme, deren dröhnendes Lachen von Zeit zu Zeit aus dem benachbarten Kabinett drang und mich besorgt machte. Endlich öffnet sich die Türe, wer würde es sein? Meine Göttin… Aber, Sapperment! Was für ein Weib! Stellen Sie sich einen Koloß von fünf Fuß und sechs Zoll vor; schwarze, krause Haare beschatten eine niedere Stirn, zwei starke Augenbrauen geben den feurigen Augen mehr Härte, ihr Mund ist ungeheuer groß. Ein Anflug von Schnurrbart macht sich unter der mit spanischem Schnupftabak gepfropften Nase bemerkbar. Ihre Arme, ihre Beine, all das ist von einer ungeheuerlichen Form, und es ist ihre Stimme, die ich für diejenige ihres Gatten gehalten habe. „Sapperment“, sagt sie zur Saint-Just, „wo hast du dieses hübsche Kind aufgefischt? Er ist ganz jung, aber er ist klein! Macht nichts, kleiner Mann, schöner Schwanz…“ Um Bekanntschaft zu schließen, umarmt sie mich, daß ich zu ersticken glaube… „Potz Element, ist er schüchtern!“ – „Oh, er ist noch ein ganz frischer Junge.“ – „Wir werden es schon machen… Aber bist du stumm?“ – „Madame“, sage ich, „der Respekt…“ (Ich war ganz verdutzt.) – „He, du bist wohl verrückt, mit deinem Respekt… Adieu, Saint-Just. Ja, ja, ich behalte meinen Vögler: wir werden zusammen soupieren und zusammen schlafen.“
Wir blieben allein, meine Schöne wirft sich auf ein Sofa; ohne mich mit Kleinigkeiten zu amüsieren, springe ich auf sie, und vorwärts zur Plünderung. Ich finde einen Busen, zwar rotbraun, aber hart wie Marmor, einen prächtigen Körper, einen gewölbten Venusberg mit der schönsten Perücke… Während meiner Untersuchung stöhnt meine Schöne wie eine Kuh. Wie bei einer rassigen Stute schlägt ihr Popo den Appell und ihre Votze die Schamade… Potz Wetter noch mal! ······································································ Ich glaube, es ist Zeit, die Hose wieder hinaufzuziehen. Nachdem wir wieder ein wenig zu uns gekommen sind, beglückwünscht mich meine Husarin, indem sie zugleich sich gratuliert; während sie ans Bidet geht, bemühe ich mich, so gut es geht, das Sofa aufzurichten. „Was machst du da?“ sagt sie, mich zurückhaltend. „Mein Lieber, meine Leute sind an so etwas gewöhnt, und übrigens habe ich einen Kammerdiener, der Tapezierer ist und der jeden Morgen alles nachsieht.“ – Sie können sich denken, daß wir nicht gefühlvoll sprachen, dergleichen paßt solchen Vögelweibern auch gar nicht. Wir besahen uns nun ihr Haus, ihr Magazin, wo sich das Gold barrenweise findet; die Schätze der drei Erdteile sind hier vereinigt… Endlich kommen wir in ein Kabinett. Sie öffnet eine Truhe… „Da“, sagt sie, „nimm diese Brieftasche…“ (Ich mache Umstände…) „Vorwärts, Kerl! Wenn er einem so steif wird wie dir, hat man die Fähigkeit, solche Kleinigkeiten wieder auszugleichen…“ Ich stecke das Portefeuille in meine Tasche, nicht oh-
ne bemerkt zu haben, daß es fünfhundert Louis in guten Banknoten enthält… Das ist etwas, das Wonne hervorruft… Wir soupieren: meiner Treu, ich habe es nötig. Sie bedient mich mit Morcheln, Trüffeln in Schinken-Kraftbrühe, Champignons nach Marseiller Art. Zum Dessert gibt es aufpeitschende Pastillen, nicht zu vergessen die Liköre der „Madame Anfou“… Vom Tisch weg werfen wir uns ins Bett, und ich glaube, im Leben hat man keine solche Szene gesehen. Wir verabreden uns zu übermorgen, ich komme hin… Madame ist krank. Ach, es ist erklärlich, sie war zu erhitzt; und dabei verlangte sie trotz meines Einspruches, daß ich das Fenster öffne – im Januar! Eine Lungenentzündung bringt sie nach drei Tagen unter die Erde… O Schmerz!… Ich werde ihr bei der Saint-Just ein De profundis lesen lassen. Nachdem meine Tränen und meine Seufzer versiegt waren (denn sie versicherte mir, daß meine Prinzessin eine ihrer besten Kundinnen gewesen), gestehe ich, daß ich nach diesem traurigen Vorfall Reflexionen anstellte; und da ich stets das Alter geehrt habe, bat ich sie um ihre Vermittlung zu dem Zwecke, mich dem Dienste der vornehmen Witwe zu weihen, von der sie mir erzählt. Wir bestimmen einen Tag, und nach einer Woche werde ich bei Madame in aeternum eingeführt. Da man mir vorausgesagt hatte, daß sie schwer reich sei, überraschte mich die Größe ihres Hauses, die Pracht der Livreen und der Einrichtungsgegen-
stände nicht; im Gegenteil, ich hatte bereits im voraus mir es so vorgestellt… Ah, zum Teufel! Sollte diese Fee sich nicht auch von der meinen ernähren? Das Tête-à-tête wurde verabredet, man erwartete mich, und ich entfalte meine Anmut; in der Absicht, auch die ihre herzurichten, ist meine Alte in ihrem Ankleidezimmer, einem unzugänglichen Zufluchtsort. Ich muß warten und werde in ein lila und weiß gehaltenes Boudoir geführt. Die Täfelung zeigt in ihren kunstvoll verzierten Feldern tausenderlei Gegenstände, und Liebesgötter beleuchten mit flammenden Fackeln diesen reizenden Ort. Ein großes Sofa drückt durch die grünen Kissen, mit denen es bedeckt ist, die Hoffnung aus. Der Blick verliert sich in endlose Weiten durch geschickt angebrachte Spiegel und wird nur durch schlüpfrige Bilder gefesselt, die tausend verschiedene und interessante Stellungen zeigen. Ein süßes Parfüm verbreitet einen wollüstigen Duft, und schon ist meine Einbildungskraft erregt, mein Herz klopft, es sehnt sich… das Feuer, das durch meine Adern strömt, versetzt meine Sinne in regste Tätigkeit… Die Türe öffnet sich, und ein junges Mädchen bietet sich meinen Augen dar; ein bescheidenes Hauskleid, eine naive Schüchternheit, Reize, die Liebeshuldigungen zum Erblühen bringen, entzückende Details… So zeigt sich mir die hübsche Nichte meiner vornehmen Witwe, die schöne Julie. Sie bringt mir die Entschuldigung ihrer Tante, die durch eine Besorgung zurückgehalten wird, und bittet mich, ihr zu gestatten,
mir einstweilen Gesellschaft zu leisten. Ich antworte ihr mit den gebräuchlichen Höflichkeitsphrasen, und wir nehmen in einer Zimmerecke auf Fauteuils Platz. Julie entfernt sich vom Sofa (ach! für mich gab es wohl mehr zu fürchten!), meine Augen schweifen über sie hin. Ich fühle die ganze Schüchternheit einer erwachenden Liebe, alle Kämpfe meiner Vernunft gegen mein Herz. Das Feuer meiner Blicke bleibt auf Julie nicht ohne Wirkung, unsere Konversation wird augenscheinlich schleppend, aber unsere Seelen haben sich bereits verstanden. „Fräulein bilden gewiß das Glück Ihrer Tante, da Sie ihre Gesellschafterin sind?“ – „Meine Tante ist sehr freundlich zu mir, mein Herr.“ – „Der Überfluß, der hier herrscht, gefällt Ihnen ohne Zweifel, und Ihre Vergnügungen“ (Julie seufzt) „…tausend Anbeter…“ (Die Glut steigt mir ins Gesicht.) – „Ach, mein Herr, wie viele dieser Anbeter verdienen als das genommen zu werden, was sie in Wirklichkeit sind!“ – „Wie? Sie finden niemand, dessen Huldigungen Sie interessieren könnten?“ (Sie ist verwirrt.)… „Verzeihung… guter Gott!… ich war im Begriff, eine Indiskretion zu begehen… Aber, mein Fräulein, Sie verurteilen mich, da ich eine solche ersehne!“ Wir hören Geräusch – ein genügend ausdrucksvoller Blick ist Julies ganze Antwort. Die Tante hat ihre Toilette beendet; sie naht… Malen Sie sich ein abscheuliches Kind von sechzig Jahren aus. Ihre Gestalt hat die Form eines umgestürzten Eises; eine kunstvoll arrangierte, mit
einem Rest von schwarzgefärbten Haaren vermischte Perücke beschattet die Spitze; rote Augen, die schielen, wodurch sie an mir vorbeiblickt; ein riesiger Mund, den aber Bourdet gut ausgestattet hat; weiß, rot, Zinnober, blau, schwarz, mit einer Kunst angebracht und mit einer Gleichmäßigkeit aufgetragen, daß nur die Augen eines Kenners und ein geübtes Geruchsorgan es entdecken können. Ein englisches flohfarbiges und weißes Kleid wird von Gazeschleifen zusammengehalten, die mit Perlenschließen, die in kostbaren Tropfen herabfallen, geziert sind und in erlesenem Geschmack gearbeitete Eicheln bilden. Die Stelle, an der sich vor vierzig Jahren ein Busen hätte befinden sollen, bedeckt ein Spitzentuch – das ist, was sich im ersten Augenblick mir zur Wahrnehmung brachte… Welches Glück, wenn ich später davon nicht mehr hätte sehen und fühlen müssen! „Mein Gott, mein teures Herz“, sagt sie, sich zierend, indem sie aufs Sofa zugeht, auf das sie mich niederzieht, „ich bin untröstlich, daß ich Sie mit einem kleinen Mädchen sich langweilen ließ“ (Julie war verschwunden); „es ist meine Nichte, und sie kennt noch so wenig von der Welt!“ – „Wie, Madame, Ihre Nichte? Aber man würde das anscheinende Alter wahrhaftig nicht glauben.“ – „Es ist wahr; aber ihre Mutter ist meine viel ältere Schwester…“ Dann, meine Hand ergreifend: „Die Saint-Just, mein Lieber, hat mir von Ihnen gesprochen, und zwar in ganz besonderer Weise, und Geschichten hat sie mir erzählt!… na, einfach
unglaubliche!…“ – „Diese Gattung von Weibern rühmt uns manchmal stark, aber wenn ich ihr je verpflichtet war, so bin ich es ihr jetzt dafür, daß sie mich dazu veranlaßte, Ihnen meine Huldigungen darbringen zu können.“ – „Nun, mein Herz, dann lassen wir die Förmlichkeiten. Deine Art gefällt mir, du bist hübsch, sei vernünftig, und du wirst es nicht bereuen. Es wird Zeit, daß ich mich nach dem Salon begebe, ich habe Gesellschaft, du wirst bei mir soupieren…“ Eine Verbeugung ist meine Antwort, ein Kuß verschließt mir den Mund… (Ah, pfui Teufel! Das ist der reinste Essig.) „Spiele nicht“, setzt sie fort, „plaudere mit meiner Nichte, du wirst als ihr Liebhaber gelten…“ (Ah, charmante Alte, die Morgenröte der Liebe scheint mir aufzugehen! Ich umarme dich von ganzem Herzen!… Ah, potz Wetter! die Malerei!) „… und wir werden uns zurückziehen, wenn wir die ungelegenen Gäste losgeworden sind.“ Mein Flehen ist ein zurückhaltendes… Wir betreten den Salon, in dem eine zahlreiche Gesellschaft versammelt ist, und während Julie und ihre Tante die Spielpartien arrangieren, überlege ich. Amor! Amor! Du kommst also doch noch, mich zu täuschen, mich zu verwirren, mich zu durchbohren! Grausamer Gott! Bin ich nicht schon lange genug dein Opfer gewesen? Willst du dich rächen? Welche Rolle willst du mir auferlegen?… Ein Opfer der Laune einer scheußlichen Alten, kommen Schönheit und Grazie, mich zu peinigen. Ach!… nur allzu liebenswertes Kind! Wenn ich es je verstanden habe, Herzen zu erobern, um sie
deiner Herrschaft zu unterjochen, wenn ich auf deinen Altären je in einer Weise geräuchert habe, die dir angenehm, ach, dann stehe mir bei!… Ich werde erhört; eine neue Glut durchströmt mich; Julie, die schöne Julie wird mein Herz empfangen, meine Empfindungen, und ihre abgebrauchte Tante wird nichts bekommen als einen teuer erkauften Tribut. Das Spiel verursacht allgemeine Stille; jedermann ist darin vertieft. Julie, am Ende des Salons, nimmt der Form halber ein Buch zur Hand, und ich bin rasch an ihrer Seite. Sie ist unruhig, ich bin befangen. – „Nun“, sagt sie, „hat man Ihnen schon Ihre Rolle zugeteilt?“ – „Ach, mein Fräulein, wenn Sie in meinem Herzen lesen könnten, dann wüßten Sie, wie teuer mir dieselbe ist.“ – „Ich muß Ihnen gestehen, mein Herr, daß mir, sosehr ich an die Gelegenheiten und Motive dafür gewöhnt bin, doch diese Komödie von Ihnen noch viel mehr Unbehagen verursacht als von jedem anderen.“ – „Sie entschuldigen diese also, mein Fräulein?… Ach, ich sehe nur zu sehr, Sie werfen mich zu den elenden Lohnkerlen, die Ihre Tante sich aushält; Sie glauben, ich hülle mich in eine betrügerische Maske! Ich habe es wohl verdient… Aber, es tut nichts, es handelt sich nur darum, Sie von einem Menschen zu befreien, der Ihnen mißfällt; vielleicht werde ich Sie dadurch dazu bringen, mich zu achten… Ach, schöne Julie! Eines Tages werden Sie verstehen, daß ich mich nicht der Gefahr Ihres Hasses ausgesetzt habe… aber Sie wollen mich nicht anhören; Sie verabscheuen
mich, Sie verachten mich… und ich könnte Ihre Geringschätzung nicht lange ertragen…“ (Ich erhebe mich.) – „Mein Gott, mein Herr“, sagt sie zu mir ganz erschrocken, „was wollen Sie tun? Ich wäre verloren, meine Tante würde mich beschuldigen… was weiß ich!… vielleicht, sie betrogen zu haben.“ – „Nein, nein, sie hätte unrecht. Sie dienen ihr nur zu gut… Sie, ihr dienen, Julie!… Gott! welche Idee… und auch Ihrem Liebhaber!“ (Julie ist verwirrt und zwingt sich zu lächeln…) – „Mein Liebhaber, was denken Sie? Sie sind doch hergekommen unter Auspizien…“ – „Ich verstehe Sie, mein Fräulein… und wenn dieses Mittel das einzige gewesen wäre, um bei Ihnen einzudringen, würden Sie mich so verdammenswert finden? Seit sechs Monaten bete ich Sie an“ (Sie zweifeln nicht daran, lieber Freund, daß ich das nicht ernst meinte), „ich folge Ihnen auf jedem Ihrer Schritte, ich glühe im geheimen, ich erkundige mich, man informiert mich über die Passionen Ihres Argus, und ich bin gezwungen, den unehrbarsten Schleier über die reinste Empfindung zu werfen, die je gefühlt worden ist.“ (Die arme Kleine, wie bewegt sie ist, wie ihr Busen sich hebt. Welch ein Busen, großer Gott!… Hündin von einer Alten! Es wäre wirklich notwendig, daß ich dir etwas von diesem Überschuß da abgebe!…) „Sie antworten nicht… Erbarmen, Julie, wir haben nur einen Augenblick für uns, entscheiden Sie mein Schicksal. Warum wollen Sie mich das doppelte Opfer Ihrer Strenge und der Gunstbezeugungen Ihrer Tante sein lassen?“ (Das Wort „Gunstbezeugungen“ ist in einem
so traurigen Ton gesprochen, daß es geradezu überredend wirkt; die Kleine lächelt.) – „Nun gut, ich glaube Ihnen, warum sollten Sie mich auch täuschen?… Ich bin ohnehin schon so unglücklich! Ach, und es hängt nur von Ihnen ab, mich noch unglücklicher zu machen…“ Ich werde Ihnen nicht die Details einer Unterredung wiedergeben, deren Rest vielfach von Beobachtern gestört wurde, aber, um nur ein Wort zu sagen, wir kamen überein, daß ich der Liebhaber der Tante sein würde und daß wir jeden günstigen Augenblick benützen würden, einander zu sehen, wobei wir, die Kleine und ich, möglichst Gleichgültigkeit füreinander heucheln wollten. Man soupiert. Nach dem Souper spiele ich eine Partie Brelan mit der Tante; alle Welt empfiehlt sich. Julie hat sich bereits um Mitternacht zurückgezogen; ich bleibe allein. Nun ist es die Alte, die mir mit ihren warmen Zärtlichkeiten die ganze Härte meines Schicksals klarmacht. Ich antworte indessen grinsend, sie geht, um sich ins Schlafzimmer zu begeben, und ich gehe ebenfalls an meine Nachttoilette. Endlich schlägt die Schäferstunde, die fatale Stunde ist da; eine Kammerfrau ruft mich, ich komme an, indem ich überall etwas, was du wohl weißt, suche und nichts finde. – Nichts? – Nichts, oder der Teufel soll mich holen: rate, wohin es sich hinplaziert hat. Neben einer dicken und wohlgefüllten Börse steht es zwischen zwei Kerzen auf dem Nachttisch von Madame; ich werfe im Vorübergehen einen Blick auf dieselbe. Meine Göttin ist in der Nachthaube… Sapperment,
welchen Wollustreiz übt sie aus! Ihr türkisches Bett von jonquillegelbem Damast scheint ihrem Teint angepaßt zu sein (denn der des Tages ist auf sechs Taschentücher verteilt, die nach der Wäscherin schreien); ein Lächeln, das ihr Gesicht zur Grimasse macht, läßt mich bemerken, daß sie nicht beißt. Endlich klettere ich auf den Altar. – Steht er dir? – Ach, die Not zwingt mich, ihn zum Stehen zu bringen oder auf Julie zu verzichten und auf die so notwendig gewordene Börse, denn die verdammte Partie Brelan hat mir die letzten Louis, die ich besaß, aus der Tasche gezogen. ······································································ Ich läute. Fräulein Macao, die uns als schwarzer Eunuch bediente, arrangiert ihr ihre kleinen Angelegenheiten. Während ich mich wieder ankleide, erschöpft sich die gute Alte in Lobeserhebungen… „Zweimal, meine Liebe… zweimal! Oh! Dieser kleine Engel ist ein Verschwender; die anderen ließen mir immer nur das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber er… Lege da mal deine Hand her, ich bin ganz voll.“ Es ist vier Uhr morgens, als ich mich anschicke, mich zu verabschieden. Die Alte umarmt mich (verflucht! das ist gerade nicht das Angenehme an der Geschichte) und offeriert mir zwei Börsen statt einer, indem sie mir mitteilt, sie enthielten zweihundert Louis, obwohl sie gewöhnlich nur hundert gäbe. – „Nein, Madame“, sage ich großmütig, „wenn ich glücklicher gewesen bin als ein anderer, so strebe ich durchaus nicht nach einer doppelten Belohnung; ich nehme die gewöhnliche
Bezeugung Ihrer Güte an, aber ich will mir weder die Möglichkeit rauben, öfter wiederzukommen, noch diejenige, meinem Geschmack zu entsprechen, der Sie zu befriedigen scheint.“ – Meiner Treu, ich würde ihn beim Wort nehmen. – Einfaltspinsel, der nicht weiß, wie man solche alte Dirne ruiniert… Zum Beweis: Ganz hingerissen zieht sie von ihrem Finger einen schönen Brillanten (ich habe ihn, meiner Ehr, für zweitausend Taler verkauft) und steckt ihn an den meinen; dann entferne ich mich, mit der unbeschränkten Erlaubnis für alle Stunden des Tages und der Nacht und mit der Order, daß ich, um unsere Intrige zu verbergen, Julies Liebhaber spielen werde… Ich mache erst Schwierigkeiten; aber die vorsichtige Tante erklärt mir, daß dies unbedingt notwendig wäre, und aus Liebe zu ihr unterwerfe ich mich. Zu Hause angelangt, sollte ich nicht Ruhe finden? Nein, Julie… Julie, dein Bild beunruhigt mich; ich sehe dich, ach, in diesem Augenblick, eine Beute bislang dir unbekannt gewesener Wünsche, du klagst mich an, und du girrst; ich selbst aber, ich seufze… Schändlicher Durst nach Gold, welch schrecklicher Gottheit zwingst du mich mein Blut zu opfern! Mehr noch, es ist die reinste Substanz, die sich ohne Frucht auf diesem scheußlichen Altar ergießen wird… Aber werde ich nicht entschädigt? Wo fände ich ein hübscheres Kind? Julie, ach, daß die Liebe mich in deinen Träumen male und im Schlafe dich für die Wonnen der Wirklich-
keit vorbereite!… Vorwärts, mein Werter, zu Hilfe, was ist aus Ihnen geworden? Gold, verflucht, Gold! Es ist der Nervus rerum: Kopf hoch; Liebesfeuer entflamme meinen Mut und gebe mir jene erste Kraft, die unter dem blutenden Messer so viele Töchter in Israel fallen machte… Und du, Priap, Schutzpatron der Vögler, dich rufe ich an: daß eine geile Trunkenheit mich bei meiner Alten erfasse, ich biete dir als Opfer alle ihre Vollkommenheiten an… Daß sie im Vögeln krepiere!… Das ist ein deiner würdiges Sühneopfer. Man kann sich vorstellen, daß wohl kein Nachmittag verging, an dem ich mich nicht zu meiner guten Alten begeben hätte. Man führt mich in den engeren Cercle ein. Die treue Macao gibt mir Ratschläge, wie ich das Wohlgefallen von Madame erringen kann, und ich opfere ihr ein Teilchen meines Goldes, um einen Haufen dafür zu gewinnen. Meine Alte empfängt mich mit aller nur denkbaren Liebenswürdigkeit… Aber welch eine Überraschung!… Haben Sie je einen Gummiaufsatz gesehen, den man auf den Rezipienten einer Luftpumpe aufgesetzt hat? Mit jedem Kolbenstoß scheint er seine Frische wiederzuerlangen, seine verrunzelte Haut wird frisch, und die Sonnenstrahlen, die sich in ihm spiegeln, geben ihm den Schimmer wieder, den er bereits verloren… So erging es meiner Alten; ihre Augen haben die Röte verloren, sie scheint aufgeblasen, und wenn sie Haare, Brüste und Zähne hätte, wäre sie vögelnswert… Meine Hand tändelt, und sie belebt ein
kindliches Lächeln… bis sie mich sehr ernstlich davonjagt, um ihre Sachen in Ordnung zu bringen. Mademoiselle Macao ist Chefgouvernante meiner Julie; ihr Name, von glücklicher Vorbedeutung, wird von ihrem Charakter keineswegs Lügen gestraft: dieses Mädchen, das in ihrer Jugend von Herren an allen möglichen Orten besucht worden war, hat Mitleid mit der Unschuld; sie selbst hat Julie die Elemente eines Händespiels beigebracht, eine wieder erneuerte griechische Schäkerei, die auch den Französinnen sehr nützlich ist. Kurz und gut, ich mache ihr begreiflich, daß Julie dazu berufen ist, ihren Zustand endlich zu verändern, und ich beweise ihr durch ein unwiderstehliches Argument, daß ich eigens und expreß von oben heruntergefallen bin, um dieses Werk durchzuführen; sie wird also meine Vertraute, und ich trete bei Julie, die sich eben bei der Toilette befindet, ein. Meiner Treu! Ich weiß nicht, aber die Schüchternheit übermannt mich wieder… Wie schön sie ist, mein Freund!… Langes, aschblondes Haar, schön geschnittene schwarze Augen, Gesichtszüge, die mir, wenn sie regelmäßiger wären, sogar weniger gefielen… Wir bleiben allein: als Debüt werfe ich mich nieder und umarme mein Idol. – Sapperment, welche Furchtsamkeit! – Sicher ist das ein Beweis… Obgleich ich Angst habe, stürze ich mich blindlings mitten in die Gefahr. Aber sollte Julie böse werden? – Ja, wenn sie Zeit dazu hätte… Julie hat sich losgemacht, und ihre Schamhaftigkeit sträubt sich gegen meine Zärt-
lichkeiten, aber sie ist ebenso geneigt, sie zu empfangen. Endlich, nach einigen Umständen, behaupte ich meinen Platz auf den Knien. Ich begehe alle die kleinen Diebstähle, die mir ein derangierter Morgenrock gestattet, der ihre bezaubernden Halbkugeln bloß verschleiert, auf denen ich vorläufig nur meine Augen spazierengehen zu lassen wage. So verrinnen einige Zeit friedlich unsere Tage, und ich gelange allmählich bei Julie immer weiter. Die Tante überschüttet mich mit Wohltaten, aber ich kann sagen, daß ich sie verdiene. Schließlich erscheine ich an einem heiligen Sonnabend zum Diner. Meine teure Tante kündigt mir an, daß sie genötigt ist auszugehen und nicht vor halb acht Uhr zurückkehren würde. Ein wohltätiger Verein, eine Predigt, eine Kollekte und sonst noch solcher Firlefanz sind ihre Pflichten, denen sie sich nicht entziehen kann (durch ihre Stellung nimmt sie im Tempel von Dagon einen Rang ein). Ich fluche, ich werde böse… man hat sich auf einen seligen Tag gefreut… man wird grausam mißbraucht. – Die gute Dame tröstet mich voll zärtlicher Empfindung… „Aber, mein Kleiner, ärgere dich nicht, ich werde es so einrichten, daß ich mit dir werde soupieren können, und nachher… na?… Sag doch, du kleiner Schlimmer!…“ – „Aber ich will nicht, daß du fortgehst.“ – „Julie wird bei dir bleiben, und ihr werdet ein wenig Musik machen… Mademoiselle, ich hoffe, Sie werden den Herrn sich nicht langweilen lassen!“ – „Nein, meine Tante.“ (Und Verlegenheit und Erröten.) Ich runzle die Stirn, ich
habe Geschäfte… Kurz, Fräulein Macao wird schleunigst beauftragt, mir meine Kleider wegzunehmen; die Alte geht und läßt uns, Julie und mich, in dem hübschen Boudoir allein. Himmlische Mächte, von denen jenes göttliche Feuer ausgeht, das uns über die Sterblichen erhebt, ihr sahet mein Glück!… Neugieriger, indiskreter Freund, du willst also ebenfalls in die Mysterien Paphos’ eindringen? – Nun denn! Lies, verschlinge und onaniere! Alles begünstigte meine Glut; die Schönheit des Tages, dessen Strahlen, durch einen durchsichtigen Vorhang gemildert, alle Gegenstände für uns in zarteres Licht tauchten; der Frühling, sein Einfluß, Julies Unschuld; um sie ihr zu rauben, mache ich von meiner Erfahrung, Glut zu erwecken, Gebrauch; ich erkläre ihr schlüpfrige Bilder in noch schlüpfrigerer Manier; Schwüre, ihr zu Füßen geschworen und von ihr zärtlich angenommen… Wünsche erregen uns beide; gewisse Anzeichen, die mich nie täuschen, verdoppeln meine Dreistigkeit; schon ist Julies Mund eine Beute des meinen, der ihn preßt; ihr straff aufgerichteter Busen rebelliert gegen die ihn fesselnden Bänder… Lästige Schleifen, verschwindet!… Tränen entrollen ihren Augen, ich trockne sie mit meinen Küssen. Ihr Atem stockt; das Feuer unserer Herzen ergießt sich in unsere glühenden Busen, unsere Seelen vereinigen sich… Ich werde unternehmender, Julies Arme scheinen mich zurückzustoßen, indessen ziehen sie mich heran; schon verteidigt sie sich nicht mehr, ihre Augen schließen sich halb, ihre
zitternden Augenlider sind nicht einen Moment in Ruhe… Welche Schätze entdecke und durcheile ich!… „Halt ein, Verwegener!“ ruft Zart-Julchen aus. „Mein teurer Geliebter!… Gott… ich… ich… sterbe…“ Und das Wort verhaucht auf ihren Rosenlippen… Cytherea schlägt die Stunde; Amor schwingt seine Fackel in den Lüften, ich schwebe auf seinen Flügeln, ich kämpfe, die Himmel öffnen sich… ich habe gesiegt… O Venus! Bedecke uns mit dem Gürtel der Grazien!… Könnte ich diese wollüstige Ekstase seliger Ruhe ausmalen, in der sich die Seele ins Unendliche zu ergießen scheint!… Doch nein, nein! Solche Entzückungen lassen sich nicht schildern. Wir sind weit entfernt davon, uns Vorwürfe zu machen! Julie macht mir keine; sie wollte mich zum Liebsten, sie ersehnte das Glück, und sie blüht mir entgegen, um es noch weiter zu kosten… Aber welches Wunder! Unser Sofa wird lebendig! Eine Menge kunstvoll kombinierter Bewegungen verschafft der empfindsamen Julie tausend wenn möglich noch viel lebhaftere Empfindungen (endlich hören wir, erschöpft von Vergnügungen und Zärtlichkeiten, auf… und ich bringe auch das teuflische Hilfsmittel zur Ruhe, das mir so unerwartet seine Unterstützung geliehen hat). Ich kannte das Sofa nicht, und Julie setzte alle Wonnen auf meine Rechnung… Ich hüte mich wohl, sie davon abzubringen. Ich bleibe nicht mehr lange; meine Toilette ist verteufelt derangiert, und außerdem würde meine Alte ein nettes Opfer kriegen. – Ich will die ein-
förmigen Details nicht wiederholen; unser Verkehr dauerte drei Monate. Julie liebte mich standhaft; sie verdrehte ihrer Tante so den Kopf, daß diese schließlich für mich ihre Verhältnisse in Unordnung brachte. Ein Familienrat mischte sich drein und steckte sie in ein Kloster. Julie entriß man meiner Zärtlichkeit, und als man vermutete, daß sie bei ihrer Tante verschiedene Lektionen genommen hatte, wollte sogar der Königliche Gerichtshof eingreifen, wenn ich nicht in eben dieser Verwandtschaft eine Beschützerin gefunden hätte. Die Frau Marquise Vit-au-Conas, die eine Stellung bei Hofe einnahm, legte die Angelegenheit bei.
Théophile Gautier
Omphale
Eine Rokoko-Geschichte Mein Onkel, der Chevalier de * * *, bewohnte ein kleines Anwesen, das zum einen auf die düstere Rue des Tournelles ging, zum anderen auf den tristen Boulevard Saint-Antoine. Zwischen Boulevard und Wohnhaus reckten ein paar alte, von Insekten und Moos zerfressene Hainbuchenhecken kläglich ihre dürren Äste aus schlammigem Grund empor, der von hohen, schwarzen Mauern umschlossen war. Ein paar bedauernswerte, verkümmerte Blumen ließen, gleich schwindsüchtigen jungen Mädchen, matt den Kopf hängen und warteten auf einen Sonnenstrahl, der ihre halbverfaulten Blätter trocknen würde. Das Gras war in die nur noch mit Mühe zu erkennenden Alleen eingefallen, denn lange schon hatte sich ihrer keine Harke mehr angenommen. Ein oder zwei Goldfische trieben mehr, als daß sie schwammen, in einem Bassin voller Wasserlinsen und Sumpfpflanzen. Das nannte mein Onkel seinen Garten. Im Garten meines Onkels gab es, neben all den schönen Dingen, die wir beschrieben haben, einen reichlich verwahrlosten Pavillon, den er, gewiß ironisch, Les Délices getauft hatte. Er befand sich im Zustand totalen Verfalls. Die Mauern wölbten sich, große Stücken Putz hatten sich gelöst und
lagen nun auf der Erde zwischen Brennesseln und wildem Hafer, modernder Schimmel färbte die darunterliegenden Schichten grün, das Holz der Fensterläden und der Türen hatte sich verzogen, so daß sie nicht mehr oder nur sehr schlecht schlossen. Eine Art Schwärmertopf, dem üble Gerüche entströmten, schmückte den Haupteingang, denn zu Zeiten Ludwigs XV., als Les Délices erbaut wurde, gab es aus Vorsicht stets zwei Eingänge. Das vom eindringenden Regenwasser völlig zerstörte Gesims war mit Eierstab-, Endivienund Schneckenmotiven überladen. Kurz, Les Délices war ein recht kläglich anzuschauendes Kleinod. Die arme alte Ruine, die so übel zugerichtet war, als sei sie tausend Jahre alt, eine Gips-, keine Steinruine, voller Runzeln, voller Risse, voller Aussatz, zerfressen von Moos und Salpeter, sah aus wie ein vorzeitig durch schmutzige Laster gealterter Greis. Sie flößte keinerlei Ehrfurcht ein, denn es gibt auf der Welt nichts Häßlicheres, nichts Erbärmlicheres als ein altes Gazekleid und eine alte Gipswand, zwei Dinge, die nicht dauern sollen und doch überdauern. In diesem Pavillon hatte mein Onkel mich untergebracht. Das Innere war nicht weniger Rokoko als das Äußere, wiewohl ein wenig besser instand. Das Bett war aus gelbem Lampas mit großen weißen Blumen. Auf einem kleinen, mit Perlmutter und Elfenbein eingelegten Sockel stand eine Muschelpendüle. Kokett wand sich eine Girlande aus
Pomponrosen um einen venezianischen Spiegel, über den Türen waren Ton in Ton die vier Jahreszeiten dargestellt. In einem breiten, ovalen Rahmen posierte eine schöne, stark gepuderte Dame im himmelblauen Mieder mit Bändern von derselben Farbe, einen Bogen in der rechten Hand, ein Rebhuhn in der linken, einen Halbmond auf der Stirn, zu Füßen ein Windspiel, und lächelte auf die anmutigste Art von der Welt. Sie war eine ehemalige Mätresse meines Onkels, die er als Diana hatte malen lassen. Die Einrichtung war, wie man sieht, nicht die modernste. So hinderte nichts, daß man sich in der Régence wähnte, und die mythologische Tapisserie an den Wänden machte die Illusion vollkommen. Der Gobelin zeigte Herkules, wie er zu Omphales Füßen sitzt und spinnt. Die Darstellung ahmte Vanloo nach, und zwar im reinsten PompadourStil. Herkules hielt einen mit rosa Seidenband umwundenen Spinnrocken in der Hand. Den kleinen Finger spreizte er mit ganz besonderer Grazie ab, wie ein Marquis, der eine Prise Tabak nimmt, und zwischen Daumen und Zeigefinger drehte er ein weißes Hanfbüschel. Sein sehniger Nacken war mit Schleifen, Rosetten, Perlenschnüren und tausenderlei weiblichem Flitter beladen. Ein sehr weiter, taubenblau schillernder Reifrock vervollständigte das galante Aussehen des heldenhaften Bezwingers von Ungeheuern. Omphales weiße Schultern waren zur Hälfte mit dem Fell des Nemeischen Löwen bedeckt. Ihre zierliche Hand stützte sich auf die knorrige Keule
ihres Geliebten. Ihr schönes, aschblondes, nur leicht gepudertes Haar floß nachlässig über ihren Hals, der biegsam und geschmeidig war wie der Hals einer Taube. An den Füßchen, wahren Spanierinnen- oder Chinesinnenfüßen, denen selbst Aschenbrödels gläserner Pantoffel zu weit gewesen wäre, trug sie pseudoantike Kothurne, perlenbesät und zartlila. Sie war wirklich reizend! Ihr Kopf war in bewunderungswürdiger Verwegenheit zurückgeworfen, der Mund kräuselte sich zu einem entzückenden Schmollmündchen. Ihre Nasenflügel bebten, die Wangen flammten, ein geschickt plaziertes Schönheitspflästerchen steigerte ihren Schimmer auf wunderbare Weise. Zu einem vollendeten Musketier fehlte ihr nur noch ein kleiner Schnurrbart. Auf dem Gobelin gab es noch viele andere Figuren – die gefällige Vertraute, den unerläßlichen kleinen Amor, doch sie hinterließen in meinem Gedächtnis kein hinreichend klares Bild, als daß ich sie beschreiben könnte. Damals war ich sehr jung, was nicht heißen soll, daß ich heute sehr alt bin; aber ich hatte gerade das Gymnasium absolviert und wohnte, bis ich mich für einen Beruf entschieden haben würde, bei meinem Onkel. Hätte der gute Mann voraussehen können, daß aus mir ein Geschichtenerzähler würde – er hätte mich ganz gewiß hinausgeworfen und unwiderruflich enterbt; denn der Literatur im allgemeinen und ihren Verfassern im besonderen bekundete er die vornehmste Verachtung. Als wahrer Edelmann wollte er alle diese
kleinen Schreiberlinge, die damit beschäftigt sind, Papier vollzuschmieren und unehrerbietig über Personen von Stand zu reden, von seinen Leuten aufhängen oder durchprügeln lassen. Gebe Gott meinem armen Onkel Frieden! aber er schätzte auf der Welt in der Tat nur den Brief an Zétulbé. Ich hatte also gerade das Gymnasium absolviert, war voller Träume und Illusionen. Ich war mindestens so naiv wie ein Rosenmädchen von Salency. Überglücklich, keine Strafarbeiten mehr machen zu müssen, fand ich, daß alles zum besten stand in der besten aller Welten. Ich glaubte an unzählige Dinge, an die Schäferin des Monsieur de Florian, an die gekämmten, weißgepuderten Schafe. Keinen Augenblick zweifelte ich an der Herde von Madame Deshoulières und glaubte, es gäbe wirklich neun Musen, wie im „Appendix de Diis et Heroibus“ des Paters Jouvency behauptet wird. Meine Erinnerungen an Berquin und Geßner schufen mir eine kleine Welt, in der alles rosa, himmelblau und apfelgrün war. O heilige Einfalt! sancta simplicitas!, wie Mephistopheles sagt. Als ich dann in diesem schönen Zimmer stand, einem Zimmer, das mir gehörte, mir ganz allein, empfand ich eine Freude ohnegleichen. Sorgfältig inspizierte ich das Inventar, bis hin zum kleinsten Möbel. Ich durchstöberte alle Winkel und erkundete alle Richtungen. Ich war im siebten Himmel, glücklich wie ein König oder ihrer zwei. Nach dem Souper (denn bei meinem Onkel soupierte man, ein reizender Brauch, der sich zu meinem großen Bedauern wie so viele andere, nicht minder rei-
zende verloren hat) nahm ich meinen Leuchter und zog mich zurück, so ungeduldig war ich, mein neues Heim zu genießen. Beim Auskleiden schien es mir, als hätten sich Omphales Augen bewegt. Ich sah aufmerksamer hin, nicht ohne ein leises Gefühl der Angst, denn das Zimmer war groß, und das schwache Dämmerlicht, das von der Kerze ausging, machte die Finsternis nur noch sichtbarer. Ich glaubte zu sehen, daß sie den Kopf herumgedreht hatte. Jetzt beschlich mich wirklich Angst; ich blies die Kerze aus, drehte mich zur Wand, zog mir das Bettuch über den Kopf, die Nachtmütze bis ans Kinn und schlief endlich ein. Mehrere Tage wagte ich keinen Blick auf den unseligen Gobelin zu werfen. Es wäre vielleicht nicht ohne Nutzen, meinen schönen Leserinnen mitzuteilen – um die unwahrscheinliche Geschichte, die ich erzählen werde, wahrscheinlicher zu machen –, daß ich damals wirklich ein recht hübscher Junge war. Ich hatte die schönsten Augen von der Welt: das sage ich, weil man es mir gesagt hat; einen etwas frischeren Teint als jetzt, eine wahre Nelkenhaut, sowie braunes, lockiges Haar, das habe ich noch immer; und ich war siebzehn Jahre alt, das bin ich heute nicht mehr. Zu einem ganz passablen Cherub fehlte mir nur eine hübsche Patin; die meine war leider siebenundfünfzig Jahre alt und hatte nur noch drei Zähne, was einerseits zuviel war und andererseits nicht genug.
Eines Abends indes faßte ich mir ein Herz und warf einen Blick auf die schöne Geliebte des Herkules; sie sah mich furchtbar traurig und sehnsüchtig an. Diesmal zog ich die Nachtmütze bis zu den Schultern herab und vergrub meinen Kopf unter den Kissen. In dieser Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum, wenn es denn ein Traum war. Ich hörte, wie die Ringe meines Bettvorhangs kreischend die Stange entlangglitten, so als würde er hastig aufgezogen. Ich erwachte, zumindest schien mir das so in meinem Traum. Niemand war zu sehen. Der Mond schien durchs Fenster und warf sein bleiches, blaues Licht ins Zimmer. Auf dem Fußboden und den Wänden zeichneten sich große, bizarr geformte Schatten ab. Die Uhr schlug Viertel nach Mitternacht. Lange hallte ihr Klang nach, ein Seufzer fast. Der deutlich vernehmbare Pendelschlag glich täuschend dem Herzschlag eines erregten Menschen. Ich fühlte mich keineswegs behaglich und wußte nicht so recht, was davon halten. Ein wütender Windstoß ließ die Fensterläden klappern und die Scheiben erzittern. Die Holztäfelung knackte, der Gobelin bauschte sich. Ich wagte es, zu Omphale hinüberzuschauen, denn ich ahnte dunkel, daß sie etwas damit zu tun hatte. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Der Gobelin bewegte sich heftig. Omphale löste sich von der Wand und sprang leichtfüßig auf den Boden. Sie kam an mein Bett, darauf bedacht, der
Wand den Rücken zuzuwenden. Ich muß, glaube ich, meine Überraschung nicht schildern. Der tapferste alte Soldat wäre in einer solchen Lage nicht allzu ruhig geblieben, und ich war weder alt, noch war ich Soldat. Schweigend wartete ich das Ende des Abenteuers ab. Ein perlendes Flötenstimmchen drang leise an mein Ohr, das R affektiert verschleifend, wie es bei den Marquisen und feinen Leuten zu Zeiten der Régence beliebt war: „Mache ich dir angst, mein Kind? Es ist wahr, du bist nur ein Kind, doch es ist nicht nett, vor Damen Angst zu haben, vor allem wenn sie jung sind und dir wohlgesinnt. Das ist weder honett noch französisch. Man muß dich von dieser Furcht heilen. Nun denn, kleiner Wilder, setz eine andere Miene auf und versteck nicht den Kopf unter den Bettüchern. Es wird viel zu tun sein an deiner Erziehung, und du bist nicht eben weit für dein Alter, mein schöner Page; zu meiner Zeit waren die Cherubim kühner als du.“ „Ja aber, es…“ „Es scheint dir seltsam, mich hier zu sehen und nicht dort“, sagte sie, wobei sie ihre weißen Zähne leicht in die rote Lippe grub und mit ihren langen, schlanken Fingern auf die Wand wies. „Die Sache ist in der Tat nicht allzu natürlich, doch würde ich sie dir erklären, verstündest du sie auch nicht besser. So mag es dir genügen, zu erfahren, daß du dich in keinerlei Gefahr befindest.“ „Ich fürchte nur, Ihr seid der… der…“
„Der Teufel, sprechen wir das Wort nur aus, nicht wahr? Das wolltest du doch sagen. Du wirst doch aber zugeben, daß ich für einen Teufel gar nicht so schwarz bin und daß man, wäre die Hölle von Teufeln wie mir bevölkert, seine Zeit dort genauso angenehm verbringen würde wie im Paradies.“ Um zu zeigen, daß sie nicht prahlte, warf Omphale das Löwenfell ab und ließ mich Schultern und Busen von vollkommener Form und blendender Weiße sehen. „Nun, was meinst du dazu?“ bemerkte sie mit einem Hauch von zufriedener Koketterie. „Ich meine, wäret Ihr auch der Teufel in Person, ich hätte keine Angst mehr, Madame Omphale.“ „Recht so. Aber nenn mich nicht mehr Madame und auch nicht Omphale. Für dich will ich nicht Madame sein, und Omphale bin ich sowenig, wie ich der Teufel bin.“ „Wer seid Ihr denn dann?“ „Ich bin die Marquise de T. Einige Zeit nach meiner Heirat ließ der Marquis diesen Gobelin ausführen für meine Gemächer und mich darauf im Kostüm der Omphale darstellen. Er selbst ist mit den Zügen des Herkules abgebildet. Ein seltsamer Einfall, den er da hatte, denn weiß Gott, niemand auf der Welt sah Herkules weniger ähnlich als der arme Marquis. Es ist lange her, daß dieses Zimmer bewohnt wurde. Und ich, die ich natürlich Gesellschaft liebe, ich langweilte mich zu Tode und hatte Migräne davon. Mit seinem Gatten zusammen sein heißt allein sein. Da kamst du,
das heiterte mich auf. Dieses tote Zimmer ist wieder zum Leben erwacht, ich konnte mich mit jemandem beschäftigen. Ich sah dich kommen und gehen, hörte dich schlafen und träumen, verfolgte deine Lektüre. Ich fand dich willfährig, von einnehmendem Äußeren, das gefiel mir: und so liebte ich dich. Ich wollte es dir zu verstehen geben. Ich stieß Seufzer aus, du nahmst sie für die des Windes. Ich machte dir Zeichen, warf dir schmachtende Blicke zu – es gelang mir nur, dir fürchterliche Angst einzuflößen. Aus Verzweiflung habe ich mich zu diesem unziemlichen Schritt entschlossen, um dir freimütig zu sagen, was du in Andeutungen nicht hast verstehen können. Jetzt, da du weißt, ich liebe dich, hoffe ich, daß…“ So weit war unsere Konversation gediehen, als sich das Geräusch eines Schlüssels im Schloß vernehmen ließ. Omphale fuhr erschrocken zusammen und errötete bis ins Weiße ihrer Augen. „Adieu“, sprach sie, „bis morgen.“ Und rückwärts schreitend, ging sie wieder in ihre Wand, wohl aus Angst, ich könne ihre Kehrseite sehen. Es war Baptiste, der meine Kleider holen kam, um sie auszubürsten. „Sie sollten nicht bei geöffneten Vorhängen schlafen“, sagte er zu mir. „Sie könnten sich den Kopf erkälten, dieses Zimmer ist so kalt!“ Die Vorhänge waren in der Tat offen; und ich, der ich nur zu träumen geglaubt hatte, ich wunderte mich, denn ich war sicher, daß sie am Abend zugezogen worden waren.
Kaum war Baptiste fort, eilte ich zu dem Gobelin. Ich betastete ihn von allen Seiten. Es war wirklich ein Wollgobelin, der sich rauh anfaßte wie alle Gobelins. Omphale glich dem reizenden Phantom der Nacht, wie ein Toter einem Lebenden gleicht. Ich hob einen Zipfel hoch. Die Wand war unbeschädigt. Es gab weder eine verdeckte noch eine Tapetentür. Ich bemerkte nur, daß in dem Stück, wo sich Omphales Füße befanden, mehrere Fäden zerrissen waren. Das gab mir zu denken. Den ganzen Tag war ich zerstreut wie nie. Ich erwartete den Abend mit Unruhe und Ungeduld zugleich und zog mich früh zurück, entschlossen, zu sehen, wie das alles ausgehen würde. Ich legte mich nieder. Die Marquise ließ nicht auf sich warten. Sie sprang aus der Wand und fiel geradewegs in mein Bett, setzte sich zu meinen Häupten, und die Unterhaltung begann. Wie am Vortag stellte ich ihr Fragen, verlangte Erklärungen von ihr. Die einen umging sie, die anderen beantwortete sie ausweichend, aber mit so viel Esprit, daß ich nach Ablauf einer Stunde nicht den geringsten Skrupel wegen meiner Bekanntschaft mit ihr hatte. Während wir redeten, fuhr sie mir mit den Fingern durchs Haar, gab mir kleine Klapse auf die Wangen und zarte Küsse auf die Stirn. Spöttisch und geziert plapperte sie daher, gleichzeitig elegant und vertraulich und durch und durch große Dame, wie ich es seither nie wieder bei jemandem gefunden habe.
Zuerst saß sie auf der Bergère neben meinem Bett. Bald schon legte sie mir ihren Arm um den Hals. Ich spürte, wie ihr Herz mir heftig entgegenschlug. Eine schöne, charmante, eine wirkliche Frau, eine echte Marquise saß da an meiner Seite. Armer, siebzehnjähriger Schüler! Da konnte man schon den Kopf verlieren; so verlor ich ihn denn. Ich wußte nicht so recht, was geschehen würde, ahnte jedoch vage, daß es dem Marquis nicht gefallen könne. „Und der Herr Marquis, was wird er dazu sagen, da drüben an seiner Wand?“ Das Löwenfell war zu Boden gefallen, die silbrig glänzenden, zartlila Kothurne lagen neben meinen Pantoffeln. „Nichts wird er sagen“, erwiderte herzlich lachend die Marquise. „Sieht er denn etwas? Und wenn er etwas sähe – er ist der weiseste und friedlichste Ehemann von der Welt. Er ist daran gewöhnt. Liebst du mich, Kind?“ „Ja, sehr, sehr…“ Der Morgen nahte; meine Geliebte entschwand. Der Tag schien mir entsetzlich lang. Endlich wurde es Abend. Alles geschah wie tags zuvor, und die zweite Nacht brauchte der ersten nichts zu neiden. Die Marquise wurde immer anbetungswürdiger. Dieses Treiben ging noch eine ganze Weile so fort. Da ich des Nachts nicht schlief, befiel mich tagsüber eine Art Schlafsucht, die meinem Onkel nichts Gutes zu verheißen schien. Er ahnte etwas; wahrscheinlich horchte er an der Tür und hörte alles, denn eines schönen
Morgens betrat er so jählings mein Zimmer, daß Antoinette kaum Zeit hatte, an ihren Platz zurückzuklettern. Ihm folgte ein Tapezierer mit Zangen und einer Leiter. Mein Onkel sah mich streng von oben herab an, und ich begriff, daß er alles wußte. „Diese Marquise de T. ist wirklich von Sinnen. Wo zum Teufel hatte sie den Kopf, sich in eine solche Rotznase zu verlieben?“ zischte mein Onkel zwischen den Zähnen. „Sie hatte mir doch versprochen, brav zu sein! Jean, hängen Sie diesen Gobelin ab, rollen Sie ihn ein und tragen Sie ihn auf den Speicher.“ Jedes Wort meines Onkels war ein Dolchstoß. Jean rollte meine Geliebte Omphale (oder die Marquise Antoinette de T.) ein, zusammen mit Herkules (oder dem Marquis de T.) und trug das Ganze auf den Speicher. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Tags darauf schickte mich mein Onkel mit der Postkutsche nach B. zu meinen ehrenwerten Eltern zurück, denen ich, wie man sich wohl denken kann, kein Wort von meinem Abenteuer verriet. Mein Onkel starb. Sein Haus und die Möbel wurden verkauft, der Gobelin wahrscheinlich auch. Wie auch immer, vor einiger Zeit stieß ich bei einem Trödler, wo ich nach Verkleidungen herumstöberte, mit dem Fuß an eine große, völlig verstaubte Rolle voller Spinnweben. „Was ist das?“ fragte ich den Auvergnaten.
„Das ist ein Rokoko-Gobelin, der die Liebe der Dame Omphale und des Herrn Herkules darstellt. Eine Beauvaiser Arbeit, ganz aus Seide und sehr gut erhalten. Kauft ihn mir doch für Euer Kabinett ab, er wird Euch nicht teuer kommen, weil Ihr es seid.“ Bei dem Namen Omphale strömte mir alles Blut zum Herzen. „Rollen Sie den Gobelin auseinander“, sagte ich mit rauher, stockender Stimme, so als hätte ich Fieber, zu dem Händler. Sie war es wirklich. Es schien mir, als lächle ihr Mund mir freundlich zu und als leuchte ihr Blick auf, wie er dem meinen begegnete. „Wieviel wollen Sie dafür?“ „Nun, ich kann Ihnen diese Arbeit nicht für weniger als vierhundert Francs überlassen, bestenfalls.“ „Die habe ich nicht bei mir. Ich gehe und hole sie. In knapp einer Stunde bin ich zurück.“ Ich kam mit dem Geld wieder; der Gobelin war nicht mehr da. Ein Engländer hatte ihn in meiner Abwesenheit für sechshundert Francs erstanden und mitgenommen. Vielleicht ist es im Grunde besser so; ich habe mir diese köstliche Erinnerung unbeschadet bewahrt. Es heißt, man soll nicht zu seiner ersten Liebe zurückkehren und auch die Rose nicht anschauen, die man tags zuvor bewundert hat. Und außerdem bin ich nicht mehr jung und auch nicht mehr hübsch genug: für mich steigen die Tapisserien nicht mehr von der Wand herab.
Guy de Maupassant
A la Feuille de Rose* Türkisches Haus ······································································ Personen Miché, Zuhälter Crête de Coq, Bordelldiener Beauflanquet, Bürgermeister von Conville Ein Ein Ein Ein Ein
pensionierter Hauptmann junger Mann Sappeur Marseiller Engländer
Das Stück spielt 1875 in Paris, im Salon eines Bordells. Ein Salon, orientalische Tapeten, im Hintergrund drei Türen, rechts und links Ruhebetten.
*
Der Name des Etablissements (wörtlich: Zum Rosenblatt) ist in seiner Nebenbedeutung zu verstehen: Lecken im Analbereich. Ähnlich verhält es sich bei anderen Eigennamen, z. B. Miché (Kurzform von Godemiché) = künstlicher Phallus; Crête de Coq = Hahnenkamm/Eichel; Beauflanquet = Freudenschoß; Conville = Votzleben.
1. Szene Miché, Crête de Coq MICHÉ: Nun, Crête de Coq, alles fertig? CRÊTE DE COQ: Ja, Monsieur. MICHÉ: Also Beeilung, Beeilung, wir dürfen uns keine Hose entgehen lassen, die Geschäfte gehen so schon schlecht genug. CRÊTE DE COQ: Monsieur, man hat soeben die neue Reklame gebracht. Er gibt ihm ein Paket. MICHÉ liest: Sehr gut, wir müssen versuchen, sie diskret unter die Leute zu bringen. CRÊTE DE COQ: Sie können sich ganz auf mich verlassen, Monsieur. MICHÉ: Wolln mal sehn. Liest: „A la Feuille de Rose, türkisches Haus, möblierte Salons und Séparées.“ CRÊTE DE COQ: Gut möblierte. MICHÉ liest: „Ausgesuchte Gesellschaft, Sicherheit, zarte Aufmerksamkeiten und Diskretion. Neuheit: Unser Haus wird auf türkische Art geführt und empfiehlt sich ganz besonders dem high life. Hier steht keine Zunge still, wir sind für alle Welt offen.“ CRÊTE DE COQ: Das ist gar nicht so dumm. Da hatten Sie mal eine starke Idee, Chef. MICHÉ: Ich habe meine Mädchen als Türkinnen gekleidet. Voilà!
CRÊTE DE COQ: Ein türkisches Haus, das findet man nicht alle Tage, und die Spießer, die sind scharf auf Türkinnen. MICHÉ: Also ehrlich, ich weiß nicht, wie ich mich sonst aus der Affäre gezogen hätte. CRÊTE DE COQ: Sie haben nur drei Mädchen im Haus. MICHÉ: Einer sind die Zähne ausgefallen. CRÊTE DE COQ: Die andre stinkt aus ‘m Hals, das haut die Kunden um. MICHÉ: Die einzige, die man noch vorzeigen kann, ist Raphaele! CRÊTE DE COQ seufzt: Ach, Raphaele, die hat doch schon die ganze Woche die Stellung gehalten. MICHÉ: Bist du jetzt fertig? CRÊTE DE COQ: Denken Sie, es macht Spaß, zuzusehen, wenn die Frau, die man liebt… MICHÉ: Das ist alles Quatsch, du willst doch mein Nachfolger werden, nicht wahr? Tja, da darfst du die Stellung nicht aus Gefühlsduselei aufs Spiel setzen. Also, ich geh mal nachsehen, ob die sich da oben anziehen. Geht ab.
2. Szene Crête de Coq (allein) Oh, Raphaele! Bürstet das Kanapee ab. Oje, schon wieder ein Fleck, den ich nicht gesehen habe. Nimmt eine Schüssel vom Kanapee und
reibt an dem Fleck herum. Oje, diese Huren! Könnten doch wirklich aufpassen. Eine hat keinen Überzieher benutzt. Aber stimmt ja, hab ich denn genug für heute abend? Zieht eine Schublade auf und holt eine Handvoll Überzieher heraus. Drei Uhr. Zählt leise: Eins, zwei, drei. Findet einen blutverschmierten. Oh, den krieg ich nicht mehr sauber, sechs… sieben… achtzehn… Und der da ist im Eimer. Untersucht ihn und bläst hinein. Pech!… wenn den Blondinette benutzt hat, dann hat’s einen erwischt. Bläst in einen anderen. Der geht noch mal. Wird aber wohl das letzte Mal gewesen sein. Na dann… saubermachen, waschen, bürsten, reiben, einseifen. Wenn mir das einer vor fünf Jahren prophezeit hätte, als ich im Seminar war. O du elende Kreatur, was hast du aus mir gemacht! Warum nur wollte der Himmel, daß mir diese verfluchte kleine Wäscherin über den Weg läuft, die damals meine Chorhemden aufbügelte! Ihretwegen muß ich jetzt Überzieher aufbügeln, ‘n dreckiger Job, na wennschon! Die Weiber! Die sind unser Untergang!… Von der komm ich nicht mehr los. Stimmt, sie ist noch mehr runtergekommen als ich. Oh, Raphaele, hier lebt sie nun, ohne Reue und ohne der Vergangenheit nachzutrauern. Und trotzdem liebe ich sie noch… Da habe ich ja einen vergessen. Ich bin aber auch zerstreut heute. Unglücklicher Hahnenkamm! Die Schlampen haben mich Hahnenkamm genannt. Hahnenkamm, wo ich doch heute ei-
gentlich Abbé Hahn heißen sollte! Oh, die Weiber, die Weiber!
3. Szene Crête de Coq, ein Abortentleerer CRÊTE DE COQ zum Leerer: Was wollen Sie? LEERER: Ich komme, um die K-k-kacke auszuleeren… Ich bin der Leer… Leer… Leer… CRÊTE DE COQ: Was für ‘n Lehrer? LEERER: Der Abortleerer. CRÊTE DE COQ: Das ist jetzt nicht die richtige Zeit. LEERER: Aber die K-k-klosetts werden immer… immer werden sie um diese Zeit ausgeleert. CRÊTE DE COQ: Hier nicht, denn hier wird nachts gearbeitet. LEERER: Dann warte ich, bis die mit dem A-aarbeiten fertig sind. CRÊTE DE COQ: Haun Sie ab, es geht nicht. Na los, machen Sie, daß Sie wegkommen, belegen Sie mich nicht mit Ihrer Scheiße! LEERER wütend: Nein, Monsieur, ich be-belege niemanden mit Scheiße… Im G-g-gegenteil, ich fahr sie weg! Ich fahr sie weg! CRÊTE DE COQ: Aber später, Monsieur, später. Gehen Sie jetzt. Der Abortentleerer geht ab.
4. Szene Crête de Coq, Miché, Monsieur und Madame Beauflanquet MICHÉ grüßt förmlich: Ganz recht, Monsieur. Aber mit wem habe ich die Ehre? BEAUFLANQUET: Monsieur Beauflanquet, Bürgermeister von Conville, und Madame Beauflanquet, meine Gattin. MICHÉ: Ah, Sie kommen von Monsieur Léon. Ich versichere Ihnen, Sie werden es nicht bedauern, in meinem Hause abgestiegen zu sein. BEAUFLANQUET: Wir hoffen, Monsieur, daß wir in einem guten Hotel abgestiegen sind. Geben Sie uns ein schönes Zimmer, mit zwei Betten und Waschkabinett. MICHÉ: Ja, Monsieur, seien Sie unbesorgt. BEAUFLANQUET: Das Haus ist doch ruhig, nicht wahr? MICHÉ: Sehr ruhig. Hier können Sie auf allen beiden Ohren schlafen. MADAME BEAUFLANQUET: Oh, mein Freund, ich glaube, es war sehr gut, daß Léon uns hierher geschickt hat. MICHÉ zu Crête de Coq: Führe die Herrschaften ins gelbe Zimmer.
5. Szene Miché, der Abortentleerer MICHÉ: Was wünschen Sie? LEERER: Ich will’ die K-k-klo… MICHÉ: Klothilde? Die sitzt. In Saint-Lazare* LEERER: Nein, die K-k-klosetts will ich ausleeren. MICHÉ: Aber mein Bester, dann kommen Sie früh um vier wieder, um diese Zeit kriegt man das hier nicht leer. LEERER: Um viere bin ich aber nicht im D-d-dienst. MICHÉ: Schon gut, Sie kommen wieder, hopp… LEERER: Die Leute so… so hoppzunehmen. Das ist doch b-b-beschi-schi-schi… beschämend. Miché stößt ihn vorwärts, und der Abortentleerer geht ab
6. Szene Michée, Crête de Coq MICHÉ riecht an seiner Hand: Puh! Puh! Manche Leute müssen sich überhaupt nicht ekeln, wenn sie solche Berufe ausüben. CRÊTE DE COQ kommt herein: Was soll das alles denn bedeuten? Was sind das für Leute, die ich da eben hinaufgebracht habe? *
Pariser Frauengefängnis.
MICHÉ: Das ist ein Spießer, den mir Monsieur Léon schickt, weil er die Alte von dem beschlafen will. CRÊTE DE COQ: Dem sieht man auch an, daß er ein Hahnrei ist. Aber wie wollen Sie das arrangieren? Wir müssen uns vor der Polente hüten. MICHÉ: Ist mir völlig egal. Ich bitte den Ehemann und den Liebhaber zur Kasse, der Rest geht mich nichts an. Das ist wirklich ein gutes Geschäft. Reibt sich die Hände. CRÊTE DE COQ: Was für ein glücklicher Mann! Putzmunter mit all diesen Ludern. MICHÉ: Was erzählst du da von Lude? Solche Scherze verbitte ich mir, Monsieur Crête de Coq! CRÊTE DE COQ: Ich, Monsieur, nichts. Beiseite: Im Hause des Gehenkten spricht man doch nicht vom Strick.
7. Szene Miché, Crête de Coq, Léon LÉON: Guten Tag, Miché. MICHÉ: Monsieur Léon, stehe zu Diensten. LÉON: Sie haben doch einen Herrn und eine Dame aufgenommen, die ich zu Ihnen geschickt habe. Finden Sie ein Mittel, den Ehemann einzuwikkeln.
MICHÉ: Ach, ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Wieder mal auf ‘m Anstand. Kompliment. Nicht übel… die Alte. LÉON: Was wollen Sie? Ich weiß, es ist ein starkes Stück, sie hierher zu schicken. Aber ich bin unglaublich wild drauf, mit ihr zu schlafen, sehe aber keine andere Möglichkeit… Ihre Gefälligkeit wird gut bezahlt. MICHÉ: Verlassen Sie sich ganz auf mich! Ich tu mein möglichstes, wobei ich nur bedaure, daß Ihnen mein Etablissement nicht genügt. LÉON: Ihre Frauen sind reizend, aber eine Frau von Welt!… das ist etwas anderes. Sie schenkt sich hin, liefert sich aus, gehört einem ganz und gar. So eine Frau möchte ich besitzen. MICHÉ: Donnerwetter! Sie brauchen was Gepflegtes. Wir werden Ihnen verheiratete Frauen besorgen. Also, ich bin Ihr Mann. LÉON: Wenn das klappt, Sie wissen, eine Hand wäscht die andere… Jetzt lassen Sie mir eine Flasche Champagner und ein kaltes Huhn raufbringen, denn ich komme um vor Hunger. MICHÉ beiseite: Gutes Geschäft das. Leon und Crete de Coq gehen ab.
8. Szene Miché, ein Buckliger MICHÉ: Kennen Sie eine der Damen?
BUCKLIGER: Nein, Monsieur, aber ich will sie gern kennenlernen. MICHÉ: Ich rufe die Damen herunter. Geht ab.
9. Szene Der Bucklige (allein) So ein Puff ist das einzig Wahre. Die Frauen von Welt, die hab ich ausprobiert, da steh ich nicht mehr drauf. Hat man die einmal am Hals, kriegt man sie nicht wieder los, und dann muß man bei diesen Zierpuppen ‘n Haufen Umstände machen, muß sich richtig ins Zeug legen. Ich zwäng mich nicht gern in ‘n Frack. Außerdem muß man sich vorsehen, daß man sie nicht kompromittiert, und an manchen Tagen tun sie spröde, während die Weiber hier immer gleichbleibend freundlich sind. Die Mädchen kommen herein.
10. Szene Der Bucklige, Raphaele, Blondinette, Fatma DIE MÄDCHEN: Guten Tag, Monsieur. BUCKLIGER: Meine Damen, Respekt, Respekt.
RAPHAELE: Treffen Sie Ihre Wahl, Monsieur, wir sind sehr nett, mit allem vertraut, völlig versaut. BUCKLIGER: Das glaub ich gern, meine Damen, das glaub ich gern. Das sieht man auf den ersten Blick. RAPHAELE: Ist er nicht süß, der Kleine! Ist er nicht lieb! Na los, entscheiden Sie sich. Suchen Sie sich eine von uns aus. BUCKLIGER: Es ist nur, ich bin unschlüssig wegen der Wahl. RAPHAELE: Ich an Ihrer Stelle wäre nicht unschlüssig. BUCKLIGER: Wie das? RAPHAELE: Ich würde Raphaele nehmen. BUCKLIGER: Oh! Sehr hübsch… sehr hübsch… RAPHAELE: Und während du deine Wahl triffst, gibst du da einen aus? BUCKLIGER: Oh, danke. Ich habe keinen Durst. Zwischen den Mahlzeiten trinke ich nie etwas. FATMA: Ist das ein Herzchen. Na los, entscheide dich, mein Apoll. BUCKLIGER: Wegen dir werde ich noch ganz rot! FATMA: Wohl weil du krumm bist, wenn du dich bückst? BUCKLIGER pikiert: Na und du? Du mußt bestimmt noch was zuzahlen. FATMA: Wieso? BUCKLIGER: Na weil du aussiehst, als hättste grade ‘ne Ratte verschluckt. FATMA: Bist du jetzt fertig, alter Stänker! RAPHAELE: Nun mach schon, Süßer.
BUCKLIGER: Du bist die Richtige für mich, du siehst verträglich aus und hast auch schöne Titten. RAPHAELE: Und außerdem besondere Talente. BUCKLIGER: Ist mir nur recht, denn ich bin für alles zu haben. RAPHAELE: Komm, mach es mir, wie du willst. BUCKLIGER: Mann, du versaust mich ja noch ganz und gar. CRÊTE DE COQ kommt niedergeschlagen herein: Immer Raphaele! Zum Buckligen: Ein Schutz gefällig? BUCKLIGER: Ja, das kann nie schaden. Untersucht den Überzieher. CRÊTE DE COQ: Wenn Monsieur sich ehrlich machen wollen? Der Bucklige zahlt. Monsieur wird hoffentlich den Diener nicht vergessen? BUCKLIGER: Keine Sorge, dein Gesicht vergesse ich nicht. Geht mit Raphaele ab. Crête de Coq macht eine enttäuschte Geste.
11. Szene Miché, Crête de Coq, Fatma, Blondinette, dann Madame Beauflanquet CRÊTE DE COQ zählt Miché das Geld in die Hand: Ein Kunde für Madame Raphaele.
MADAME BEAUFLANQUET kommt herein: Es schien mir, als hätte ich die Stimme von Monsieur Léon gehört. MICHÉ: Ja, Madame, er ist gerade gekommen und wird sich gewiß sehr freuen, Sie zu sehen. MADAME BEAUFLANQUET: Mein Mann hat sich hingelegt, während ich meine Sachen auspackte, und ist eingeschlafen, ich werde ihn wecken, damit er seinen Cousin begrüßt. MICHÉ: Nicht nötig, ich mach das schon. MADAME BEAUFLANQUET sieht Fatma und Blondinette: Oh, die Damen! was für ein seltsames Kostüm! MICHÉ kratzt sich am Ohr, beiseite: Teufel auch! Laut: Ja, Madame, ich werde es Ihnen erklären. Die Damen gehören zur Türkischen Gesandtschaft, Seine Exzellenz, der Herr Botschafter, waren so gütig, mir die Aufsicht über seinen Harem anzuvertrauen. MADAME BEAUFLANQUET: Oh, es sind türkische Damen, und sie reden ganz unverblümt. MICHÉ: Ja, ihre Zungen stehen nicht still und sie sind offen für alle Welt. Beiseite: Ähm! Laut: Ich meine, sie können Französisch wie Sie und ich. CRÊTE DE COQ kommt herein: Monsieur Miché, der Buckel zankt sich mit Mademoiselle Raphaele. MICHÉ: Dieser Wurm! Na warte! Macht eine eindeutige Geste und geht ab.
12. Szene Dieselben außer Miché RAPHAELE kommt herein, zu sich: Dieser Trottel! – Weil seine Ladung angeblich in die Hose gegangen ist, wollte er mir mein Geld nicht geben. Steckt das Geld in den Strumpf, sieht Madame Beauflanquet. Ach, eine Neue. Madame Beauflanquet grüßt sehr höflich. Bist du jetzt fertig mit deinem Getue! MADAME BEAUFLANQUET: Meine Damen, ich habe schon viel über das Innere der Harems gehört, hatte aber noch nie Gelegenheit, einen zu besichtigen. RAPHAELE: Oh, Sie sind also das erste Mal in solch einem Haus. MADAME BEAUFLANQUET: In einem türkischen Haus… ja, Madame. RAPHAELE: Aber Sie hatten sicher oft Gesellschaft. MADAME BEAUFLANQUET: Oh, ja, Madame. RAPHAELE: Hatten Sie was gegen bestimmte Stellungen? MADAME BEAUFLANQUET: Nein, Monsieur Beauflanquet hat nie gewechselt. RAPHAELE: Wer ist Beauflanquet? Den Luden kenn ich nicht. MADAME BEAUFLANQUET: Lude. Das muß ein türkischer Titel sein. RAPHAELE: Lecken Sie gern was Süßes?
MADAME BEAUFLANQUET: Was Süßes? Beiseite: O ja, sie meint türkische Konfitüren. Laut: ich habe noch nie davon gekostet. Die Mädchen fangen an zu lachen. FATMA: Sie hat noch nie davon gekostet! Wovon denn dann? RAPHAELE: Vielleicht schon mal Salzstangen geleckt? MADAME BEAUFLANQUET: Oh, das ja. RAPHAELE: Von allen Seiten? MADAME BEAUFLANQUET: J… ja… RAPHAELE: Kennen Sie die Knabentour – Neunundsechzig – Schubkarre – Fingerspiele? MADAME BEAUFLANQUET erstaunt: Ja, ich kenne diese Sachen. Beiseite: Was für drollige Fragen diese Frauen aus der Türkei stellen. Man hatte mir allerdings auch gesagt, die Odalisken seien unbedarft. RAPHAELE: Das Mäuschen ist was für mich. Spielen Sie gern mit Katzen? MADAME BEAUFLANQUET: Oh, ich liebe die niedlichen Muschis. RAPHAELE: Na, da wir dasselbe mögen, können Sie’s ja mal mit meiner versuchen. MADAME BEAUFLANQUET: Nichts, was mir lieber wäre. Mir fehlt etwas, wenn ich keine zum Spielen habe. RAPHAELE streichelt sie: Wir werden uns sehr gut verstehen, meine Süße. MICHÉ kommt mit Crête de Coq herein: Madame, Monsieur Léon erwartet Sie. MADAME BEAUFLANQUET: Und mein Mann!
MICHÉ: Keine Sorge, ich habe es ihm gesagt. Madame Beauflanquet und Crête de Coq gehen ab.
13. Szene Raphaele, Miché, Fatma. MICHÉ: Los, Kinder, heute kommt’s drauf an! Man muß auf euch aufmerksam werden. Ich schlage eine Schlacht und schicke meine alte Garde vor. FATMA: Na, Sie sind vielleicht höflich! MICHÉ: Achtet nicht drauf. Das ist ein historischer Satz. Also hört zu, wir haben hier einen Vogel, den ich ein, zwei Stunden lang beschäftigen muß. Sollte er sein häßliches Maul hier reinstecken, dann nehmt ihn euch anständig vor; er darf auf keinen Fall hier raus; es fällt für alle ‘ne Menge bei ab, und wenn er anfängt zu toben, nehm ich ihn mir vor. RAPHAELE: Seien Sie ganz ruhig. CRÊTE DE COQ kommt herein: Da sind Leute gekommen. Es ist der Hauptmann.
14. Szene Dieselben, der Hauptmann MICHÉ: Los, stellt euch auf, Kinderchen. Ein schönes Bild! HAUPTMANN: Na, Kinder, und der Dienst? Immer wacker die Stellung gehalten? RAPHAELE: Immer, General. HAUPTMANN macht eine Fechtbewegung: Bereit zu einem kleinen Vorstoß? RAPHAELE imitiert seine Bewegung: Sicher doch, General, Sie haben die Ehre. HAUPTMANN: Bitte nach Ihnen. RAPHAELE: Wie Sie befehlen. HAUPTMANN: Ausfallschritt! Die Mädchen umringen und befummeln ihn. Schluß jetzt, ihr wißt doch, daß ich dieses Gefummel nicht leiden kann. Mich muß man nicht erst in Fahrt bringen; ich bin nicht einer von euern grünen Jungs und euern kleinen Schlappschwänzen. FATMA: Na los, General, treffen Sie Ihre Wahl. HAUPTMANN: Nun dann, in Reihe angetreten. Hebt die Stimme: Abteilung, stillgestanden! RAPHAELE: Und laden, General. HAUPTMANN: Immer geistvoll, die Schöne. Richt’ euch, stillgestanden. Abteilung, rechts um -
schöner Arsch, die erste! – Abteilung, rechts um – Nummer 1, drei Schritte vor, marsch. RAPHAELE tritt drei Schritte vor: Danke für die Wahl, General. CRÊTE DE COQ beiseite: Schon wieder Raphaele! Zum Hauptmann: Parole, General. Der Hauptmann zahlt. Wollen Sie ein Futteral für Ihren Säbel? HAUPTMANN lehnt den Überzieher ab, den Crête de Coq ihm hinhält: Niemals. Vielleicht benutze ich noch so ein Ding! Packt man denn seinen Säbel ein, wenn zum Angriff geblasen wird? CRÊTE DE COQ beiseite: Erst beim Rückzug.
15. Szene Fatma, Blondinette, Crête de Coq, Miché CRÊTE DE COQ: Ein Kunde für Madame Raphaele. MICHÉ: Raphaele arbeitet gut. FATMA: Hat die ein Glück, die Hure! BLONDINETTE: Die gehen alle nur zu ihr. FATMA: Dabei können wir uns rühmen, genausogut zu arbeiten. CRÊTE DE COQ: Ja, aber ist eine von euch besser als sie? FATMA: Die scheinen sie nach Gewicht zu nehmen, diese Kuh, sie sollte sich lieber auf ‘m Jahrmarkt sehen lassen.
CRÊTE DE COQ: Du sei bloß still mit deinen Salznäpfen und deinen Storchbeinen, bei deiner Umarmung denken die Männer doch, man fällt mit ‘m Stock über sie her. MICHÉ: Was ist, seid ihr jetzt fertig? Wenn ich nur euch hätte, säß ich schön in der Klemme; sie allein hält hier das Geschäft in Schwung. CRÊTE DE COQ: Monsieur läßt dem Verdienst Gerechtigkeit widerfahren. FATMA: Von wegen, Schlappschwanz. CRÊTE DE COQ: Wenn du mal so geschickt bist wie sie, dann kannst du mitreden. FATMA: Geschickt? Als ob man mir noch was beibringen könnte. CRÊTE DE COQ: Ich weiß ja, daß die Erfahrenheit des Alters für dich spricht, vielleicht hast du schon mit Methusalem geschlafen. MICHÉ: Ruhe jetzt, ist nun Schluß mit der Zankerei? FATMA: Er beschimpft doch mich, dieser Weihwedelschwenker. MICHÉ zu Fatma: Willst du wohl stille sein. CRÊTE DE COQ: Warum macht sie Raphaele schlecht, das dreckige Weibsstück? MICHÉ zu Crête de Coq: Schluß jetzt! FATMA: Sollen wir bei dem geilen Stück auch noch Glacéhandschuhe anziehen? CRÊTE DE COQ wütend: Sag das noch mal, und ich hau dir eins aufs Maul. FATMA: Du? CRÊTE DE COQ: Ja, ich.
MICHÉ trennt sie: Wolln doch sehen, ob ich euch nicht zur Ruhe bringe, Mistpack. CRÊTE DE COQ: Monsieur hat recht. Der Zorn ist ein schlechter Ratgeber, er läßt einen den Kopf verlieren. Schließlich bin ich schuld, und ich bekenne demütig mein Unrecht, denn ich sollte hier ein Vorbild sein. Fatma, willst du mir die Hand reichen? Lernen wir Kränkungen zu verzeihen, und vergessen wir nicht, daß wir niemals einem anderen antun dürfen, was wir selbst nicht wollen, daß es uns widerfahre. Anstatt unseren Nächsten zu verleumden, sollten wir uns bemühen… FATMA lacht: Au, verdammt! Jetzt predigt der Abbé. Scheiße. MICHÉ: Achtung, da kommt jemand.
16. Szene Dieselben, Raphaele, dann ein Marseiller RAPHAELE kommt zurück: Das lasse ich mir gefallen! So ein Mann ist richtig; der macht es einem im Handumdrehn. EIN MARSEILLER tritt ein: Tag auch, meine Allerschönsten. DIE MÄDCHEN: Treten Sie doch ein, sehr nett, mit allem vertraut, völlig versaut. MARSEILLER: Ach, ich weiß doch, daß ihr dazu da seid, kannste glauben. Hätte grade noch ge-
fehlt, daß ihr nicht versaut seid, na, dann würde auch keiner zu euch kommen, auweia! Die Mädchen umringen ihn. RAPHAELE: Triff deine Wahl, mein Süßer. MARSEILLER: Ach, ich weiß ja. Aber wie soll ich denn eine Wahl treffen, wo ihr doch alle wunderschön seid. Ich bin richtig unschlüssig, kannste glauben, ihr seid alle reizend. RAPHAELE: Ich an Ihrer Stelle wäre nicht unschlüssig. MARSEILLER: Und warum das? RAPHAELE: Ich würde Raphaele nehmen. MARSEILLER: Raphaele, das sind Sie, könnt ich wetten; ich will die Zimmer sehen. RAPHAELE: Kommen Sie. MARSEILLER: Und was soll ich damit? Da paßt ja noch nicht mal mein kleiner Finger rein. In Marseille ist was los, kann dir sagen! Ihr kennt ja die Cannebière nicht. Da gibt’s vielleicht schöne Weiber. Dinger haben die, so groß wie mein Hut, auweia! Und alles, was recht ist: da kann man ficken. MICHÉ: Komm, komm, du Witzbold, wir kennen die Cannebière. Als ob in Marseille die Schwänze dicker sind als woanders! MARSEILLER: Und ob, mein Bester! Der Marseiller, der hat ‘n Ständer wie ‘n Bugspriet beim Schiff. Ach Mensch! ich würde Sie nicht bedauern, wenn Sie so einen im Hintern hätten, kannste glauben. MICHÉ: Ich mich auch nicht.
MARSEILLER: Mal abgesehen davon, daß Sie wirklich ‘n prima Arsch dafür hätten! Der Schwanz beim Marseiller, sehn Sie, ich, der ich mit Ihnen rede, wenn er mir steht, dann bin ich nicht zu halten, und er steht mir immerzu. Einmal, mein Bester, hatte ich mit einer Frau geschlafen, die Arme, ich fick sie einmal, zweimal, dreimal und noch mal, und als ich fertig bin, beim zehnten Mal, ohne abzusteigen, Mensch, da merk ich, daß sie tot ist. Mein Schwanz hatte ihr den Bauch durchbohrt, und der Arzt, der ihr Ableben feststellte, hat bescheinigt, daß sie von meinem Schwanz erstickt worden ist, der ihr bis in den Hals gefahren war. FATMA: Na, vielen Dank, da kannste lange warten, daß ich dich ranlasse. MICHÉ scherzt: Tja, und ich, mein Süßer, steige eines Tages bei einem Brand in die vierte Etage eines Hauses hinauf, das in Flammen steht. Vier Personen mußten gerettet werden. Ich lade mir den Ehemann auf den Rücken, greif mir den Vater mit der rechten, die Mutter mit der linken Hand, blieb die Frau, was sollte ich tun? Setz ich sie mir doch rittlings auf meinen Schwanz und mach es ihr beim Hinuntergehen viermal, auf jeder Etage einmal. CRÊTE DE COQ: Sehen Sie mal, Monsieur, er steht wie der Obelisk. MARSEILLER: Wie der Obelisk! da bin ich aber ‘n paar Nummern besser, kann dir sagen, wo ich doch einmal sogar heiraten mußte. RAPHAELE: Ah, Sie sind verheiratet!
MARSEILLER: Oh, ich bin glücklicherweise Witwer. Meine Zukünftige führte mich so in Versuchung die ganze Zeit, wo ich ihr den Hof machte, daß mein Schwanz abends, wenn ich in meine Bude zurückkam und in den Nachttopf pissen wollte – unmöglich, er hatte immer noch den Kopf oben. Das war lästig, die ganze Zimmerdecke wäre davon naß geworden, was hätten Sie da getan? CRÊTE DE COQ: Weiß nicht. MICHÉ: Ich hätte aus dem Fenster gepinkelt. MARSEILLER: Und die Nachbarn? Kann dir sagen! Ich, ich hab meinen Schwanz in den Kamin gesteckt und auf die Dächer gepinkelt, kannste glauben. MICHÉ: Na, dann will ich Ihnen mal einen zeigen, wie Sie noch keinen gesehen haben. Es ist der Schwanz meines Großvaters, ich habe ihn ausstopfen lassen. Das ist alles, was er mir vererbt hat, Sie werden gleich sehen, wie die Glieder meiner Familie beschaffen sind. Zu Crête de Coq: Geh, enthülle das Ding. Crête de Coq zieht die Vorhänge im Hintergrund auf. Man erblickt einen riesigen, an der Wand befestigten Pappschwanz. MARSEILLER: Oh, so einen habe ich wirklich noch nie gesehen. Und wenn er stand, war er sicher sehr schön. Grüßt den Phallus. MICHÉ: Meine Damen, gebt ihm kraft eurer Reize seine ursprüngliche Stärke zurück. Die Mädchen vollführen mit Pfauenfedern einen orientalischen Tanz um den Phallus herum,
während Crête de Coq ihn mit einem Mechanismus in Erektionsstellung bringt. MARSEILLER: Mann, ich halt’s nicht mehr aus! Komm, du Luder! CRÊTE DE COQ: Raphaele! Das geht nicht, er wird sie umbringen. RAPHAELE: Du bist blöd, ich hab schon ganz andere gesehen. Miché geht ab. Crête de Coq und die Mädchen wollen ihm nach. MARSEILLER: Ah, ich würde sie gern alle nehmen. Zu Crête de Coq, auf den Phallus zeigend: Du bleibst hier, du wirst den Veteranen in Gang setzen. Und ihr Weiber, ihr zeigt mir mal, was ihr so alles könnt. Versucht es mit Raphaele. CRÊTE DE COQ setzt die Kurbel in Gang: So ein Unglück, was für eine Qual! Das erinnert mich an die Zeit, als ich die Glocken läutete; oh, Raphaele! was für eine Qual! Wie die rangeht! Und mit mir wird sie dann nicht mehr wollen. Der Marseiller furzt. RAPHAELE: Der verdammte Marseiller! gibt immer bloß an. MARSEILLER: Von wegen, daß ich nicht lache! Es kommt mir nicht! RAPHAELE: Gib dir Mühe! MARSEILLER: Nein, es kommt mir nicht. Ich weiß nicht, wieso. Das passiert mir zum ersten Mal. RAPHAELE: War nicht nötig, so anzugeben. Steht auf.
MARSEILLER: Tja, meine Gute, man tut, was man kann, kann dir sagen… Betrachtet seinen Schwanz. RAPHAELE: So was ist nicht normal. Was hast du Schwein da? Du hast ja Syph. MARSEILLER: Von wegen, das ist nichts weiter, das habe ich von Geburt. CRÊTE DE COQ bringt entsetzt eine Waschschüssel: Na, dann wasch dich bloß schnell. MARSEILLER: Meine Damen, ich empfehle mich. DIE MÄDCHEN: Und unser Geld, unser Geld? MARSEILLER: Von wegen, ihr verdammten Huren, ihr geht mir auf ‘n Docht, euch das Geld für umsonst reinstecken! Zum Publikum: Das passiert mir zum ersten Mal. Macht, daß er wegkommt. RAPHAELE: Hau bloß ab, du Schlappsack! du Cannebière-Trampel!
17. Szene Miché, Monsieur Beauflanquet BEAUFLANQUET: Ist Madame Beauflanquet nicht bei Ihnen? MICHÉ: Pardon, Monsieur, eben noch war sie hier, jetzt befindet sie sich in den Privatgemächern der bewußten Damen. Mit Zustimmung Seiner Exzellenz, des Herrn Botschafters, habe ich die Besichtigungserlaubnis erteilt.
BEAUFLANQUET sieht die Mädchen: Oh, die Damen! MICHÉ: Der Harem Seiner Exzellenz! BEAUFLANQUET: Oh! MICHÉ: Wissen Sie, die Gemächer der Gesandtschaft sind noch nicht hergerichtet, deshalb hat mir Seine Exzellenz die Bewachung seines Harems übertragen. BEAUFLANQUET: Meine Damen, ich bin wirklich beschämt, ich war nicht darauf gefaßt, daß mir zu dieser vorgerückten Stunde die Ehre Ihrer Gesellschaft widerfahren würde. Verzeihen Sie bitte die Ungebührlichkeit meines Aufzugs. Er ist im Schlafrock. MICHÉ: Aber das macht doch nichts, Seine Exzellenz ist oft noch weniger bedeckt. BEAUFLANQUET geziert: Dazu bedürfte es des Privilegiums Seiner Exzellenz. Allerdings wüßte ich nicht, was mir lieber wäre. RAPHAELE lacht: Sag schon, was dir lieb ist, Schätzchen. BEAUFLANQUET verblüfft: Hm? MICHÉ: Wundern Sie sich nicht, Monsieur. Sie werden verstehen, daß die Damen, die außer Seiner Exzellenz noch nie einen Mann gesehen haben, an eine gewisse Freiheit der Rede und des Benehmens gewöhnt sind, die in einem solchen Fall nicht von Nachteil ist. BEAUFLANQUET: Das stimmt. Mit Entsetzen: Aber ich habe mir sagen lassen, man würde jedem Individuum erbarmungslos den Kopf abschlagen, das den Fuß in einen Harem setzt. Glauben Sie
mir bitte, Monsieur, es geschah nur aus Unachtsamkeit. Will sich zurückziehen. MICHÉ: Ja, Monsieur, in der Türkei tut man das, aber in Frankreich ist man weniger grausam. Und da die Damen jetzt meiner Obhut anvertraut sind, trage ich allein die Verantwortung. Es ist überdies das erste Mal, daß dieser Fall eintritt, und dank Ihrer Großzügigkeit werde ich weniger streng sein. BEAUFLANQUET: Aber… wenn Sie darüber reden würden? Was würde passieren? MICHÉ: Sie würden der Rache der türkischen Obrigkeit anheimfallen. BEAUFLANQUET: Und was würde die türkische Obrigkeit tun? MICHÉ: Sie würde Ihnen den Kopf abschlagen, Monsieur. BEAUFLANQUET beiseite: Teufel auch! Er steckt Miché, der sich tief verbeugt, zwei Louisdor zu. MICHÉ: Wenn Sie sich ungestört mit den Damen zu unterhalten wünschen, Monsieur, lasse ich Sie einen Augenblick mit ihnen allein, ich bin blind und stumm. BEAUFLANQUET: Sie sind zu gütig, Monsieur. Ich wäre wahrhaftig glücklich, das Haremsleben genauer kennenzulernen. Beiseite: Dieses Kostüm da ist echt türkisch. In Frankreich würde man so etwas nicht finden. MICHÉ: Wenn Sie Erfrischungen wünschen, klingeln Sie, ich ziehe mich zurück.
BEAUFLANQUET: Was trinken denn die Damen für gewöhnlich? Vermutlich Sirup mit Blütenessenz. MICHÉ: Genau. Zu Crête de Coq: Bring drei Bier und einen Schnaps für Raphaele. CRÊTE DE COQ: Kommt sofort. Geht mit Miché ab.
18. Szene Die Mädchen, Monsieur Beauflanquet BEAUFLANQUET: Meine Damen, bitte glauben Sie mir, niemals hat sich ein beflissenerer und respektvollerer Diener vor Ihnen verneigt. RAPHAELE: Du bist zwar nett, aber du siehst dämlich aus. Na los, setz dich dahin. Was sollen wir mit dir anstellen? BEAUFLANQUET sitzt zwischen Raphaele und Fatma: Die Türkei ist ein sehr schönes Land mit ihren Türmen, Minaretten, Harems, jungfräulichen Wäldern. RAPHAELE: Womit? Jungfräuliches wirst du hier nicht finden, mein Lieber. BEAUFLANQUET geziert: Anscheinend haben Seine Exzellenz der Botschafter den Besitz gut beakkert. Botschafter, das ist eine schöne Stellung; ich bin Bürgermeister von Conville. FATMA: Wie meinen? BEAUFLANQUET: Bürgermeister von Conville, in der Normandie, in Ihrer Heimat sagt man dazu
wohl Pascha. Ja, genau, Pascha von Conville, Conville-Pascha. RAPHAELE: Was willst du nun, wenn du unsere Kätzchen nicht magst? Sollen wir dir deinen Federkiel aufrichten? Raphaele befummelt ihn von der einen, Fatma von der anderen Seite. BEAUFLANQUET beiseite, hüpft hin und her: Was für ein Abenteuer! Anscheinend finden sie mich gut… Laut: Oh, meine Damen, ich bin… Beiseite: Die sind ja wie toll, diese Türkinnen! CRÊTE DE COQ kommt mit den Getränken herein und hätte beinahe alles fallen gelassen: Schon wieder Raphaele! Daran werde ich mich nie gewöhnen! Stellt die Gläser auf den Tisch und sucht das Weite. BEAUFLANQUET steht auf: Oh, meine Damen, jetzt kann ich wohl… Packt Raphaele, die ihm ihr Hinterteil darbietet. Das ist zwar Ehebruch, aber was soll’s, eine Türkin! CRÊTE DE COQ an der Tür: Achtung! Da kommt jemand. Beauflanquet springt auf und rennt ohne Hose hinaus.
19. Szene Die Mädchen, ein junger Mann DIE MÄDCHEN: Komm rein, Süßer, mein Baby, mein Schätzchen, mit allem vertraut, völlig versaut, komm schon rein, Schätzchen, komm schon. CRÊTE DE COQ: Treten Sie doch ein, Monsieur, die Damen sind sehr nett. JUNGER MANN bleibt an der Tür stehen: Ich gehe rein, wenn ich will, also lassen Sie mich in Ruhe. DIE MÄDCHEN: Mit allem vertraut, völlig versaut. CRÊTE DE COQ: Treten Sie ruhig ein, Monsieur, Sie werden sehr zufrieden sein. DIE MÄDCHEN: Mit allem vertraut. Kommen Sie rein, so kommen Sie doch. Der junge Mann geht ohne ein Wort davon. DIE MÄDCHEN alle zusammen: Mann, zieh bloß ab! MICHÉ kommt herein: Was ist los? CRÊTE DE COQ: Er ist weg. MICHÉ: Wer hat mich bloß mit solchen Huren gestraft, die die Leute ziehenlassen. Tja, es läuft schlecht. CRÊTE DE COQ: Da ist ein Soldat; muß ich ihn reinlassen? MICHÉ: Mal sehen. Vielleicht hat er Geld. Versucht es wenigstens und stellt euch bißchen pfiffiger an.
20. Szene Die Mädchen, Crête de Coq, ein Sappeur SAPPEUR: Wollt ihr rauf? DIE MÄDCHEN: Wer denn? Ich? Ich? Ich? Treffen Sie Ihre Wahl, schöner Mann, mit allem vertraut, völlig versaut. SAPPEUR: Oh, is mir völlig egal. Für so was is mich eine so gut wie die andere. RAPHAELE: Macht ja nichts, aber treffen Sie Ihre Wahl, mein schöner Blonder, nehmen Sie Raphaele. FATMA: Nehmen Sie Fatma. BLONDINETTE: Nehmen Sie Blondinette. DIE MÄDCHEN: Mit allem vertraut, völlig versaut. SAPPEUR: Is mir ganz gleich, vollkommnermaßen. RAPHAELE: Ach, du willst uns wohl verarschen! SAPPEUR: Na und, ihr Weiber? ihr wollt wohl nich, daß euch einer an ‘n Arsch faßt, folglicherweise. RAPHAELE: Also was ist, kommen Sie? SAPPEUR: Na wenn Se schon immer rauf wollen, meine Dicke, werd ich Ihr Cupido sein. CRÊTE DE COQ: Immer Raphaele! Soldat, vorher wird bezahlt. SAPPEUR: Bitte sehr, bitte. Zieht sein Taschentuch raus und holt aus einem Zipfel das Geld hervor. CRÊTE DE COQ: Na los, Soldat. SAPPEUR: Ich komm Ihrer Forderung vollkommnermaßen nach. Da sind zwanzig Sous. CRÊTE DE COQ: Zwanzig Sous! Sie wollen uns wohl auf ‘n Arm nehmen.
SAPPEUR: Zehn Sous fürs Haus und zehn fürs Mädchen. CRÊTE DE COQ: Aber hier kostet es fünf Francs für das Haus. SAPPEUR: Hundert Sous fürs Haus, denkste! In Courbevoie macht’s zehn Sous fürs Haus, und wer will, gibt was ‘m Mädchen, was immer nett ist mit den Sappeurs, folglicherweise. CRÊTE DE COQ: Hier kostet es jedenfalls fünf Francs. SAPPEUR: Wo ich über so viel Bargeld vollkommnermaßen nicht verfüge, geben Se’s mir wieder. CRÊTE DE COQ: Da sind Ihre zwanzig Pimperlinge. SAPPEUR: Se hätten nich zufällig ‘ne Kanne, ‘n Gefäß, in das man nachts reinuriniert? CRÊTE DE COQ: Einen Nachttopf? Bitte sehr! SAPPEUR zu Raphaele: Wenn Se mal so freundlich wärn, da ‘n paar Tropfen reinzulassen. RAPHAELE: Wozu? Sie pinkelt. Bitte sehr. Der Sappeur nimmt das Gefäß und schickt sich an, seine Hose aufzuknöpfen. CRÊTE DE COQ: Was wollen Sie tun? RAPHAELE: Er wird da reinwichsen. SAPPEUR: Jetzt gibt’s die Brühe zu trinken, denn ‘s Fleisch is zu teuer, folglicherweise. CRÊTE DE COQ: Los, lassen Sie das, raus hier, wenn Sie nicht zahlen wollen. SAPPEUR: Hundert Sous, denkste! Das is zu happig. Geht ab.
21. Szene Miché, die Mädchen, Crête de Coq MICHÉ: Na, was gibt’s? CRÊTE DE COQ: Der Soldat wollte nur zehn Sous bezahlen, wie in Courbevoie. Beiseite: Zehn Sous für Raphaele!! RAPHAELE zu Miché: Monsieur, können wir fünf Minuten in unsere Zimmer raufgehen? MICHÉ: Geht rauf, wenn ihr wollt, aber haltet euch bereit, wieder herunterzukommen, sowie man euch braucht. Die Mädchen gehen ab, gefolgt von Crête de Coq.
22. Szene Miché, allein Schon wieder ein Reinfall: heute abend läuft’s nicht. Ohne das Geschäft mit Monsieur Léon käme ich nicht auf meine Kosten. So was ist ein gutes Geschäft. Gäbe es das öfter, würde ich nicht zögern, mich aufs Land zurückzuziehen. Wenn ich das Geld zusammen habe, kaufe ich mir ein Häuschen in Bézons und verlege mich aufs Rudern, lebe nur noch auf dem Wasser, da werd ich ‘n andrer Mensch.
23. Szene Miché, ein Engländer ENGLÄNDER: Guten Tag, Monsieur. MICHÉ beiseite: Hallo, ein Engländer, gutes Geschäft das. ENGLÄNDER: Ich wünsche Ihre Etablissement zu besichtigen. MICHÉ: Zu Diensten, Monsieur. ENGLÄNDER: Ich komme her Ihre Mjuseum ansehen. MICHÉ: Hm? ENGLÄNDER: Der Mjuseum. MICHÉ: Aber ich habe gar kein Museum, Monsieur. ENGLÄNDER: Sie sind doch Monsieur Miouchett. MICHÉ: Miché. ENGLÄNDER: Oh yes! Very good Miché. Ich komme Ihre Wachsmjusee ansehen, gebärende Frauenfigjuren, kleine Arsche in Alkol. Freunde von me, sehr gute Junge, sehr ljustig, sagen, das sei bei Sie, Monsieur Miouchett. MICHÉ: Miché. ENGLÄNDER: Oh yes, very good Miché. MICHÉ beiseite: Was für ein Einfall! Laut: Ich will Ihnen was sagen. Ich besitze zwar ein Wachsmuseum, aber man kann noch nicht ran. ENGLÄNDER: Nicht ran? MICHÉ: Ja, nicht rein, nicht rauf, das wird ein wenig Zeit brauchen. ENGLÄNDER: Aoh, ich war nicht eilig.
MICHÉ: Und außerdem wird mir das Kosten verursachen. Ich kann es Ihnen nur zeigen, wenn Sie großzügig sind. ENGLÄNDER: Aoh, ich werde Sie bezahlen, was Sie wollen. Da! Zieht Geld aus der Tasche, Miché nimmt es. Aoh, das war teuer. Beiseite: Aber ich werde sehen. In Frankreich ich sehen immer, was ich wollen; das war teuer, aber ich sehen. MICHÉ: Nun gut. Wenn Sie in den kleinen Salon gehen wollen…. ich werde Sie rufen, wenn alles bereit ist. ENGLÄNDER: All right. Danke, Monsieur Miouchett. MICHÉ: Miché. ENGLÄNDER: Oh yes. Very good Miché.
24. Szene Miché, die Mädchen MICHÉ: Diesmal können wir unseren Schnitt machen. Ich habe da einen Engländer, der partout will, daß ich ihm ein Wachsfigurenkabinett zeige. Verteilt euch auf die Sofas und Stühle, und vor allem rührt euch nicht; starr und steif. Stellt sie in den Posen der Wachsfiguren in einem anatomischen Museum auf. Ja, so. Gut. Nicht mehr bewegen. Ich gehe ihn holen.
25. Szene Dieselben, der Engländer ENGLÄNDER begutachtet die Mädchen: Aoh, das ist sehr hübsch, sehr hübsch, sehr, sehr natjurlich, sehr natjurlich, all right, all right. MICHÉ: Alle Figuren sind der Natur .nachgebildet: sie sind die exakte Darstellung des menschlichen Körpers, Sie können nachsehen, es fehlt nichts. ENGLÄNDER betrachtet Raphaele von nahem: Oh yes! Tritt zurück. Sie riecht sogar. RAPHAELE beiseite: Ich glaube, ich habe gefurzt. MICHÉ: Wenn Sie den Katalog wünschen, das macht fünf Francs mehr. Der Engländer gibt ihm fünf Francs und streckt die Hand aus, um den Katalog in Empfang zu nehmen. MICHÉ: Nur, ich sage es Ihnen gleich mündlich, ich habe den Katalog noch nicht drucken lassen. Sehen Sie, das da ist ein sehr schönes Stück, eine junge Frau, die mit achtzehn Jahren auf einem Ball verstarb; sie stammte aus einem großen Geschlecht und war schwanger. Um ihren Zustand zu verheimlichen, schnürte sie sich in ihr Korsett. Das führte zu einer Darmverletzung, und sie starb eines Abends, wie ich Ihnen sagte, beim Verlassen des Balls. ENGLÄNDER melancholisch: Aoh, wie es Ihr großer Dichter sagte, sie liebte zu sehr den Ball, dieses
hat sie umgebracht! Ich wjunsche jetzt sehen die Geburten. MICHÉ beiseite: Au verflucht! Laut, zeigt auf Raphaele: Sehen Sie, dort ist unser Demonstrationsobjekt. ENGLÄNDER: Aber ich nicht sehen das kleine Baby. MICHÉ: Das werde ich Ihnen erklären. Meine Objekte sind so perfekt, daß sie alle Körperfunktionen naturgetreu ausführen. Diese Figur ist heute morgen niedergekommen; und jetzt braucht es eine gewisse Zeit, um einen neuen Versuch vorzubereiten. ENGLÄNDER: All right! Man hat mir gesagt, Sie hätten in Ihre Mjusee eine Jungfernschaft. MICHÉ: Oh! so was hatte ich hier noch nie. ENGLÄNDER: Aoh! MICHÉ: Niemals. ENGLÄNDER: Dann ich will sehen die Venuskrankheiten. MICHÉ: Oh, die kann ich Ihnen zeigen. Die habe ich seit gestern. Zeigt auf Blondinette: Schauen Sie, untersuchen Sie sie, ein sehr schönes Modell, ebenfalls naturgetreu. ENGLÄNDER: Aoh! Ich mag nicht diese. Aber Sie haben nicht auch männlichen Stücken? MICHÉ: Ja. Ein sehr schönes sogar. Crête de Coq, zeig das Ding. Crête de Coq kommt herein und zieht den Vorhang im Hintergrund auf. Dieses Stück zeigt Ihnen das männliche Glied in zweiunddreißigfacher Vergrößerung.
ENGLÄNDER tanzt davor Jig: Oh, sehr hübsch, all right. Ah, Monsieur Miouchett, ich war sehr verliebt geworden. Könnte ich nicht Liebe machen auf dieser… Zeigt auf Raphaele. MICHÉ: Gewiß. Nur, das ruiniert immer meine Figuren, und ich kann es nur zulassen, wenn ich gut entschädigt werde. Der Engländer zahlt. CRÊTE DE COQ: Wollen Sie eine englische Kapuze? ENGLÄNDER: Oh no! Einen Pariser! Oh, das war nicht nötig. CRÊTE DE COQ lacht: Man muß immer auf der Hut sein! MICHÉ: Und außerdem beschädigen Sie dann das Stück nicht. ENGLÄNDER: Aoh! Ich tun es aus Respekt für die Kunst. Crête de Coq gibt ihm den Überzieher mit den Blutflecken. ENGLÄNDER: Aoh! Nicht diesen! Nimmt einen anderen und besteigt Raphaele. CRÊTE DE COQ: Schon wieder Raphaele. ENGLÄNDER vögelt: Aoh, sehr natjurlich. All right, all right, all right. Steht auf. Aoh, ich war sehr befriedigt. Ich kommen wieder, Monsieur Miouchett. MICHÉ: Miché. ENGLÄNDER: Oh yes, very good Miché. Ich kommen wieder. Der Engländer geht ab, Miche auch.
26.Szene Crête de Coq, die Mädchen CRÊTE DE COQ: Oh, meine arme Raphaele, wenn du wüßtest, was für ein Schlag das ist, dich immer in den Armen solcher Kerle zu sehen. RAPHAELE wirft ihm den Überzieher ins Gesicht: Los, wasch das aus und sei still. Crete de Coq geht ab.
27. Szene Die Mädchen, Madame Beauflanquet MADAME BEAUFLANQUET: Monsieur Beauflanquet hat nicht nach mir verlangt? RAPHAELE: Nein, mein Schätzchen, Sie können ganz ruhig sein. Zu den anderen: Nach dir hat er nicht verlangt. MADAME BEAUFLANQUET beiseite: Oh, ich Unglückselige! Mit dem Champagner hat Léon mir den Kopf verdreht. Wenn mir nur mein Mann nicht begegnet! Wenn er mich in diesem Moment sähe, würde er wohl alles in meinen Augen lesen. Meine Nerven sind in einem Zustand! RAPHAELE: Oh, meine Teure, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen! Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.
MADAME BEAUFLANQUET: Sie sind zu liebenswürdig, Madame. RAPHAELE: Sie haben eine reizende Taille und ein entzückendes Füßchen. Wie steht’s mit dem Rest? Sie waren vorher nie in Paris? Sie wohnen immer auf dem Lande? MADAME BEAUFLANQUET: Ja, Madame. RAPHAELE: Aber Sie müssen sich dort doch langweilen. Was machen Sie den ganzen Tag? MADAME BEAUFLANQUET: Ich kümmere mich um mein Haus. RAPHAELE liebkost sie sanft: Es mißfällt Ihnen doch nicht, was ich da tue? MADAME BEAUFLANQUET: Oh, oh, oh, oh! RAPHAELE: Warte, dir mach ich’s. Leckt sie. Madame Beauflanquet schwinden die Sinne. Raphaele hört auf. Machst du das auch bei mir, sag? MADAME BEAUFLANQUET: Oh, ich wage es nicht. Doch mir scheint, wäre das Licht gelöscht… RAPHAELE zu den Mädchen: Macht ihr mal das Licht aus. Das Licht wird ausgemacht.
28. Szene Dieselben, Monsieur Beauflanquet, dann Léon BEAUFLANQUET: Bin ich geil! Wenn ich nur diese Odaliske wiederfände.
Kommt auf Zehenspitzen herein. Bewegung unter den Mädchen. Er findet seine Frau, küßt sie und zieht sie aufs Sofa. MADAME BEAUFLANQUET: Oh, Léon! BEAUFLANQUET empört: Madame Beauflanquet! MADAME BEAUFLANQUET: Mein Mann! Oh! Bewegung. Sie tastet nach Raphaele. Oh, retten Sie mich, retten Sie mich! RAPHAELE: Lassen Sie mich nur machen. Sucht Monsieur Beauflanquet und zieht ihn in ihre Arme. Nun komm schon, warum hörst du auf? Was hast du gesagt? BEAUFLANQUET: Seltsam, ich dachte, es sei meine Frau. Beginnt Raphaele auf dem Sofa zu vögeln. Léon, der während des Durcheinanders auf Zehenspitzen hereingekommen ist, stößt im Dunkeln auf Madame Beauflanquet. MADAME BEAUFLANQUET erschrocken: Wer ist da? LÉON: Ich bin’s, komm. MADAME BEAUFLANQUET: Lassen Sie mich, lassen Sie mich. Léon zieht sie aufs Sofa und tut ein Gleiches.
29. Szene Dieselben, Miché MICHÉ kommt herein: Wer hat denn hier das Licht ausgemacht? Ihr wißt doch, daß ich das nicht dulde. Crête de Coq, Licht! Crête de Coq kommt mit einem Leuchter herein. BEAUFLANQUET: Meine Frau in den Armen von Léon! MICHÉ: Verflucht, es gibt Ärger! Madame Beauflanquet fällt in Ohnmacht. LÉON zu Miché: Fünf Louisdor für Sie, wenn Sie mich da rausholen. Sucht das Weite. BEAUFLANQUET zu seiner Frau: Madame, Ihr kriminelles Verhalten wird seine Bestrafung erfahren. MICHÉ: Seine Bestrafung, Monsieur. Aber wissen Sie auch, daß Sie es sind, der die Bestrafung verdient? Bedenken Sie, wo Sie sich befinden, in einem Harem, und was Sie hier getan haben. Die türkischen Gesetze geben mir jede Macht über Sie, und Sie kennen ihre Härte. BEAUFLANQUET: Aber Monsieur… MICHÉ: Wenn ich Ihnen in Ihrem Interesse einen Rat geben kann, so vermeiden Sie jeden Skandal und breiten Sie über diese Angelegenheit, die für Sie die schlimmsten Folgen haben könnte, Schweigen; ich hoffe, Sie werden sich für
mein Entgegenkommen erkenntlich zu zeigen wissen. BEAUFLANQUET nachdem er gezahlt hat, zu seiner Frau: Wir kehren noch heute abend nach Conville zurück, Madame. Sie gehen ab.
30. Szene Dieselben ohne Monsieur und Madame Beauflanquet MICHÉ: Was will der denn schon wieder? LEERER betrunken: Ich komme nicht wegen der Kk-kacke, ich habe das G-g-gewerbe aufgegeben. Singt: „Denn mich ekelt die Scheiße, seit ich ein Haar darin fand.“ MICHÉ: Was wollen Sie dann? LEERER: Ich will eine Frau. RAPHAELE: Ach nein! So weit kommt’s! CRÊTE DE COQ: Das hat gerade noch gefehlt. FATMA: Mit dir – niemals. MICHÉ: Das geht nicht. Los, verschwinden Sie. LEERER: Wieso denn, ist mein G-g-geld weniger wert als anderes? Zeigt Miché hundert Sous. MICHÉ: Mensch, wenn er bezahlt! RAPHAELE: Ich will ihn nicht. FATMA: Ich auch nicht. BLONDINETTE: Ich erst recht nicht. RAPHAELE: Er ist zu eklig.
MICHÉ: Zu eklig! Ihr Zimperliesen! Zum Leerer: Ich bin nicht dieser Meinung. Sagen Sie, mein Freund, wenn Sie wollen, daß ich das erledige… LEERER: Aber dann g-g-gegenseitig. MICHÉ: Sooft du willst. LEERER: Na dann komm, Alte. Miché und der Leerer gehen ab. MICHÉ stützt den Leerer, der beim Singen schwankt: „Oh, denn mich ekelt de Scheiße, seit ich ‘n Haar drin fand!“
31. Szene Die Mädchen, Crête de Coq CRÊTE DE COQ zu Raphaele: Oh, Raphaele, jetzt komm ich dran. RAPHAELE: Du, von wegen! Ist der gierig, der Kleine. Er kriegt nie genug. Da kannst du lange warten. CRÊTE DE COQ: Genau, also muß ich mir wieder einen runterholen, wie im Seminar. Ah! Raphaele! Vorhang
Guy de Maupassant
Das Gewächshaus Monsieur und Madame Lerebour waren im selben Alter. Aber Monsieur sah jünger aus, obwohl er von beiden der Angegriffenere war. Sie lebten in einem hübschen Landhaus bei Nantes, das sie sich erbaut hatten, nachdem ihr Handel mit Rouener Baumwollstoffen sie zu Vermögen gebracht hatte. Das Haus stand in einem schönen Garten, der einen Hühnerhof, einen chinesischen Pavillon und ganz am Ende des Grundstücks ein kleines Gewächshaus umfaßte. Monsieur Lerebour war klein, rund und jovial, der Typ des vergnügt lebenden Ladenhändlers. Seine Frau, mager, eigensinnig und immer unzufrieden, hatte die gute Laune ihres Mannes nie zu zerstören vermocht. Sie färbte sich die Haare, las des öfteren Romane, die ihr Träume ins Gemüt trieben, obschon sie so tat, als verachte sie solches Geschreibsel. Sie galt für leidenschaftlich, ohne daß sie je etwas getan hätte, was diese Meinung rechtfertigte. Doch sagte ihr Gatte bisweilen mit einer gewissen Miene, die Vermutungen weckte: „Meine Frau hat es in sich!“ Seit einigen Jahren indes war sie unverträglich gegen Monsieur Lerebour, immer gereizt und schroff, wie wenn ein heimlicher, uneingestandener Kummer an ihr nage. Mißhelligkeit war zwischen ihnen. Sie redeten kaum mehr miteinander, und Madame, die Palmyre hieß, fiel über Monsi-
eur, der Gustave hieß, dauernd mit unfreundlichen Komplimenten, verletzenden Anspielungen, bissigen Reden her, ohne einen ersichtlichen Grund. Er beugte den Rücken, überdrüssig, aber dennoch nicht kleinzukriegen, mit einem solchen Schatz an Frohsinn begabt, daß er die ehelichen Quengeleien hinnahm. Natürlich fragte er sich, was seine Gefährtin so erbittern mochte, denn er spürte freilich, daß ihre Gereiztheit eine verschwiegene Ursache hatte, aber so schwer zu ergründen, daß alle Mühe vergeudet war. Oft bat er sie: „Höre, meine Gute, sag mir, was du gegen mich hast. Ich fühle doch, daß du mir etwas verheimlichst.“ Sie antwortete unabänderlich: „Aber nichts habe ich, gar nichts. Außerdem, wenn ich einen Grund zur Unzufriedenheit hätte, wäre es deine Sache, ihn zu erraten. Ich kann keine Männer leiden, die derart schlaff und begriffsstutzig sind, daß man ihnen auf die Sprünge helfen muß, damit sie das allermindeste verstehen.“ Entmutigt murmelte er: „Ich sehe schon, du willst mir nichts sagen.“ Und er ging und suchte des Rätsels Lösung. Besonders die Nächte wurden für ihn sehr unbehaglich; denn sie schliefen immer noch im selben Bett, wie man es in guten und einfachen Ehen hält. Da gab es nun nichts, womit sie ihn nicht ärgerte. Gerade wenn sie beide sich niedergelegt hatten, begann sie ihn mit ihren gröbsten Bosheiten zu stacheln. Vornehmlich verübelte sie ihm,
daß er Fett ansetzte: „Du nimmst den ganzen Platz ein, so dick wirst du. Und den Rücken schwitzt du mir voll wie ausgelassener Speck. Denkst du vielleicht, das ist mir angenehm?“ Unter dem nichtigsten Vorwand nötigte sie ihn aufzustehen, schickte ihn hinunter, eine Zeitung zu holen, die sie vergessen hatte, oder die Flasche Orangenblütenwasser, die er nicht fand, weil sie sie versteckt hatte. Und in wütendem und höhnischem Ton rief sie hinunter: „Du müßtest doch wissen, wo das steht! Wie man so trottelig sein kann!“ Wenn er dann eine Stunde durch das schlafende Haus geirrt war und mit leeren Händen heraufkam, sagte sie statt eines Dankes: „Na, leg dich nur hin, wenigstens magerst du ein bißchen ab, wenn du herumlaufen mußt, du quillst ja auf wie ein Schwamm.“ Alleweile weckte sie ihn, behauptete, sie habe Magenkrämpfe, und verlangte, daß er ihr den Bauch mit einem Flanelltuch massiere, das er mit Eau de Cologne tränken mußte. Er mühte sich ab, sie zu kurieren, untröstlich, daß sie litt, und erbot sich, Céleste, das Hausmädchen, zu wecken. Da regte sie sich erst recht auf und schrie: „Hat man für so was Töne! Laß nur, laß, ich habe nichts mehr, schnarch weiter, Schlafmütze!“ Er fragte: „Tut dir wirklich nichts mehr weh?“ „Nein“, fauchte sie ihm ins Gesicht, „sei bloß still, laß mich schlafen. Stör mich nicht weiter. Du bist auch zu nichts imstande, nicht einmal eine Frau zu massieren.“ „Aber… meine Liebe…“, klagte er.
Sie erbitterte sich: „Kein Aber… Schluß jetzt. Laß mich in Ruhe…“ Und sie kehrte sich zur Wand. Eines Nachts nun rüttelte sie ihn so ungestüm wach, daß er vor Schreck in die Höhe fuhr und mit einer Behendigkeit auf dem Hinterteil saß, die er nicht an sich kannte. „Was?… Was ist los?“ stotterte er. Sie umklammerte seinen Arm und kniff ihn, daß er hätte schreien mögen. „Ich habe im Haus ein Geräusch gehört“, flüsterte sie ihm ins Ohr. An Madames ständige Attacken gewöhnt, beunruhigte er sich nicht eben und fragte seelenruhig: „Was für ein Geräusch, meine Liebe?“ Sie zitterte wie außer sich und antwortete: „Ein Geräusch… na, ein Geräusch… Schritte… Da ist jemand.“ Ungläubig fragte er: „Du meinst, da ist jemand? Aber nein; du wirst dich getäuscht haben. Wer soll denn da sein?“ Sie bebte: „Wer?… Wer?… Na Diebe, Schafskopf!“ Sacht legte er sich wieder hin: „Aber nein, meine Liebe, da ist niemand, bestimmt hast du geträumt.“ Nun stieß sie die Decke zurück und sprang zornig aus dem Bett: „Daß du doch ebenso feige wie schlappschwänzig bist! Ich jedenfalls lasse mich wegen deiner Trotteligkeit nicht abschlachten.“ Und sie pflanzte sich mit der Kaminzange in Kampfstellung hinter die verriegelte Tür.
Von solchem Beispiel an Tapferkeit beeindruckt, vielleicht beschämt, stand auch er verdrießlich auf, und ohne seine Nachtmütze abzulegen, nahm er die Schaufel und postierte sich seiner Hälfte gegenüber. Zwanzig Minuten warteten sie in tiefster Stille. Kein neues Geräusch störte den Frieden des Hauses. Da kroch Madame wütend wieder ins Bett und erklärte: „Trotzdem bin ich sicher, daß da jemand war.“ Um Streit zu vermeiden, berührte er ihre Panik anderntags mit keinem Wort. Doch in der folgenden Nacht weckte Madame Lerebour ihren Mann noch stürmischer als zuvor und ächzte: „Gustave, Gustave, eben hat jemand mit der Gartentür geklappt.“ Über soviel Hartnäckigkeit erstaunt, dachte er, seine Frau sei vom Somnambulismus befallen, und wollte sie aus dem gefährlichen Traum wachrütteln, als er tatsächlich ein leises Geräusch an der Hausmauer unten zu hören meinte. Er stand auf, schlich ans Fenster und sah, ja, er sah eine weiße Gestalt über einen Gartenweg huschen. Ihm wurde schwach. „Da ist jemand!“ murmelte er. Dann raffte er seine Sinne, ermannte sich, und plötzlich, mit dem ungeheuren Zorn des Besitzers, dem man in sein Reich eingebrochen ist, verkündete er: „Na wartet, wartet, ich wird’s euch zeigen.“ Er stürzte zum Sekretär, schloß auf, griff seinen Revolver und eilte die Treppe hinunter.
Außer sich vor Angst, lief seine Frau ihm nach: „Gustave, Gustave, laß mich nicht alleine, laß mich nicht alleine, Gustave, Gustave!“ Aber er hörte nicht mehr; er hatte bereits die Klinke zum Garten in der Hand. Da stieg sie rasch wieder hinauf und verbarrikadierte sich im ehelichen Gemach. Sie wartete fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Gräßlicher Schrecken befiel sie. Sicher hatten sie ihn umgebracht, gefangen, erwürgt, ermordet. Wenn sie doch die sechs Revolverschüsse hörte, wüßte, daß er kämpfte, daß er sich verteidigte. Aber dieses völlige Schweigen, dieses erschreckende Schweigen ringsum entsetzte sie. Sie klingelte nach Céleste. Céleste kam nicht, antwortete nicht. Sie klingelte noch einmal, am Ende ihrer Kraft, nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Das Haus blieb stumm. Sie drückte ihre brennende Stirn gegen die Fensterscheibe, versuchte, das Dunkel draußen zu durchdringen. Sie konnte nichts als die tieferen Schatten der Büsche neben den grauen Wegen erkennen. Es schlug halb zwölf. Seit einer Dreiviertelstunde war der Mann fort. Sie würde ihn nie wiedersehen! Nein, bestimmt würde sie ihn niemals mehr wiedersehen! Und schluchzend fiel sie auf die Knie. Zweimal klopfte es leise gegen die Tür, sie schrak mit einem Satz hoch. „Mach auf, Palmyre, ich bin’s“, rief Monsieur Lerebour. Sie stürzte hin,
öffnete, und die Hände in den Hüften, die Augen noch voller Tränen, geiferte sie los: „Wo kommst du denn her, du Mistkerl! Läßt mich einfach alleine, daß ich umkomme vor Angst! Du kümmerst dich überhaupt nicht mehr um mich, als ob ich Luft wäre…“ Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und lachte, lachte wie toll geworden, die Backen vom Munde breit gespalten, die Hände auf dem Bauch, die Augen naß. Verdattert schwieg Madame Lerebour. „Das war… das war… Céleste“, stammelte er, „sie hat ein… ein… ein Rendezvous im Gewächshaus… Wenn du wüßtest, was… was… was ich gesehen habe…“ Sie wurde bleich, und die Entrüstung würgte sie: „Wie?… was sagst du?… Céleste?… in meinem Haus?… in meinem… meinem… meinem Haus… in meinem… meinem… meinem Gewächshaus. Und du hast den Menschen, ihren Komplizen, nicht erschossen! Du hattest einen Revolver mit und hast ihn nicht erschossen… In meinem… meinem…“ Sie setzte sich, sie konnte nicht mehr. Er machte einen Kreuzsprung, schnipste mit den Fingern Kastagnetten, schnalzte mit der Zunge und lachte immerfort: „Wenn du wüßtest… wenn du wüßtest…“ Auf einmal küßte er sie. Sie stieß ihn weg. Und mit zornentbrannter Stimme: „Ich dulde nicht, daß dieses Mädchen noch einen Tag länger in meinem Hause bleibt,
hörst du? Nicht einen Tag… nicht eine Stunde. Wenn sie zurückkommt, jagen wir sie hinaus…“ Monsieur Lerebour hatte seine Frau um die Taille gefaßt und drückte ihr einen Kuß nach dem andern in den Nacken, geräuschvolle Küsse wie früher. Wieder verstummte sie, starr vor Staunen. Er aber hielt sie eng umfaßt und zog sie sanft mit zum Bett… Gegen halb zehn am nächsten Morgen klopfte Céleste, verwundert, daß die Herrschaften, die sonst früh aufstanden, noch immer nicht erschienen waren, leise an ihre Tür. Da lagen sie beisammen, plauderten fröhlich Seite an Seite. Céleste war sprachlos. „Madame, der Milchkaffee“, sagte sie. Mit sehr milder Stimme bat Madame Lerebour: „Bring ihn herauf, mein Kind, wir sind ein bißchen müde, wir haben nicht sehr gut geschlafen.“ Kaum war das Mädchen hinaus, fing Monsieur Lerebour wieder an zu lachen und kitzelte seine Frau: „Wenn du wüßtest! Ach! wenn du wüßtest!“ Aber sie faßte seine Hände: „Nicht doch, bleib ruhig, mein Liebling, wenn du soviel lachst, tust du dir gar noch was an.“ Und sie küßte ihn lind auf beide Augen. Madame Lerebour weiß von keinen Bitternissen mehr. Manchmal, in hellen Nächten, tappen die beiden Ehegatten auf leisen Sohlen zwischen Büschen und Beeten zu dem kleinen Gewächshaus am Ende des Gartens. Und sie hocken sich einer neben dem anderen hinter den Scheiben nieder,
als gäbe es da drinnen etwas Wunderliches und äußerst Interessantes zu sehen. Sie haben Céleste den Lohn erhöht. Monsieur Lerebour hat abgenommen.
Guy de Maupassant
Das Zeichen
Die kleine Marquise de Rennedon schlief noch in ihrem geschlossenen, duftenden Zimmer, in ihrem großen, weichen, niedrigen Bett, in ihren leichten Batisttüchern, fein wie Spitze und zärtlich wie ein Kuß; sie schlief allein und friedevoll den glücklichen, tiefen Schlaf der Geschiedenen. Stimmen, die lebhaft in dem kleinen blauen Salon redeten, weckten sie auf. Sie erkannte ihre liebe Freundin, die kleine Baronin de Grangerie, die sich mit der Kammerfrau stritt, weil sie ihr die Zimmertür der Herrin verwehrte. Da erhob sich die kleine Marquise, öffnete die Riegel, drehte den Schlüssel, hob die Portiere und steckte ihren Kopf hinaus, nur ihren Blondkopf, in einer Wolke von Haaren. „Was hast du“, fragte sie, „daß du so früh kommst? Es ist noch nicht neun Uhr.“ Die kleine Baronin antwortete sehr blaß, nervös und fiebrig: „Ich muß dich sprechen. Mir ist etwas Schreckliches passiert.“ „Komm herein, meine Liebe.“ Sie trat ein, beide umarmten sich; und die kleine Marquise kroch ins Bett zurück, während die Kammerfrau die Fenster öffnete und Luft und Licht hereinließ. Nachdem die Bediente hinaus war, sagte Madame de Rennedon: „Nun erzähle.“ Madame de Grangerie fing an zu weinen, vergoß die hübschen klaren Tränen, die jede Frau
reizender machen, und stammelte, ohne sich die Augen zu trocknen, um sie nicht rot zu reiben: „Oh, meine Liebe, es ist grauenvoll, was mir passiert ist. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, nicht eine Minute; hörst du, keine einzige Minute. Hier, fühl mein Herz, wie es klopft.“ Damit nahm sie die Hand ihrer Freundin, legte sie auf ihren Busen, auf die pralle, runde Hülle der Frauenherzen, die den Männern oft genügt und sie abhält, irgend etwas darunter zu suchen. Ihr Herz klopfte stark, tatsächlich. Sie fuhr fort: „Es ist mir gestern passiert… so um vier Uhr… oder halb fünf, ich weiß nicht genau. Du kennst doch meine Wohnung, du weißt, daß mein kleiner Salon, da, wo ich immer bin, vom ersten Stock auf die Rue Saint-Lazare blickt; und daß ich die Angewohnheit habe, mich ans Fenster zu setzen, um die Leute vorübergehen zu sehen. Dieses Bahnhofsviertel ist so lustig, so bewegt, so lebendig… Nun ja, ich mag das! Gestern also saß ich auf dem niedrigen Stuhl, den ich mir in meine Fensterleibung habe einbauen lassen; es stand offen, das Fenster, und ich dachte an nichts: ich atmete die blaue Luft. Du weißt, wie schön es gestern war! Plötzlich bemerkte ich, daß auf der andern Straßenseite auch eine Frau am Fenster sitzt, eine Frau in Rot; ich war in Mauve, du weißt, meine hübsche mauvefarbene Toilette. Ich kannte die Frau nicht, eine neue Mieterin, vor einem Monat
eingezogen; und da es seit einem Monat regnet, hatte ich sie noch nicht gesehen. Aber ich merkte sofort, daß es eine Dirne war. Zuerst war ich ganz angewidert und sehr schockiert, daß sie da genau wie ich am Fenster saß; aber nach und nach amüsierte es mich, sie zu beobachten. Sie hatte die Ellenbogen aufgelehnt und hielt Ausschau nach Männern, und die Männer guckten auch alle nach ihr, oder fast alle. Man hätte glauben können, sie würden durch irgend etwas benachrichtigt, wenn sie sich dem Haus näherten, oder sie witterten sie wie Hunde das Wild, denn plötzlich hoben sie den Kopf und wechselten rasch einen Blick mit ihr, einen Verschwörerblick. Der ihre fragte: ,Wollen Sie?’ Der der Männer antwortete: ,Keine Zeit’ oder ,Ein andermal’ oder ,Kein Geld’ oder auch: ‚Willst du wohl verschwinden, Schlampe!’ Das letzte sagten die Augen der Familienväter. Du kannst dir nicht vorstellen, wie spannend es war, zu sehen, wie sie ihren Handel betrieb oder vielmehr ihr Gewerbe. Manchmal schloß sie mit einemmal das Fenster, und ich sah einen Herrn vor ihrer Tür auf und ab gehen. Sie hatte ihn gefangen wie ein Angler einen Gründling. Ich guckte auf meine Uhr. Sie blieben zwölf bis zwanzig Minuten, nie länger. Wahrhaftig, diese Spinne begeisterte mich allmählich. Und häßlich war sie ja nicht. Ich fragte mich: Wie kann sie sich so gut so schnell völlig verständlich machen? Fügt sie ihrem
Blick ein Zeichen mit dem Kopf oder eine Bewegung hinzu? Und ich nahm mein Opernglas, um mir über ihr Verfahren klarzuwerden. Oh! es war ganz einfach: Zuerst ein Augenzwinkern, dann ein Lächeln, dann eine ganz kleine Kopfbewegung, die besagte: ,Kommen Sie herauf?’ Aber so leicht, so angedeudet, so verschwiegen, daß man wirklich viel Chic brauchte, um es hinzubekommen wie sie. Und ich fragte mich: Ob ich das auch so gut könnte, diesen hübschen frechen kleinen Ruck von unten nach oben? Denn sie war sehr hübsch, ihre Geste. Und ich ging vor den Spiegel und probierte. Meine Liebe, ich konnte es besser als sie, viel besser! Ich war entzückt und setzte mich wieder ans Fenster. Sie fing jetzt gar niemand mehr, die arme Hure, keinen einzigen mehr. Sie hatte einfach kein Glück. Wie schrecklich es aber auch sein muß, sein Brot auf solche Art zu verdienen, schrecklich und bisweilen amüsant, denn schließlich sind manche Männer ja nicht übel, denen man auf der Straße begegnet. Jetzt gingen alle auf meiner Trottoirseite und kein einziger mehr auf ihrer. Die Sonne hatte gedreht. Sie kamen einer nach dem andern, junge, alte, schwarze, blonde, graue, weiße. Ich sah ein paar sehr ansehenswürdige, wirklich sehr ansehenswürdige, meine Liebe, viel schöner als mein Mann, auch als deiner, dein gewesener, da du ja geschieden bist. Jetzt hast du die Wahl.
Ich dachte mir: Ob sie mich verstehen würden, wenn ich ihnen das Zeichen machte? ich, eine ehrbare Frau? Und schon empfinde ich eine närrische Lust, ihnen dies Zeichen zu machen, aber eine Lust wie das Gelüst einer Schwangeren… so ein fürchterliches Gelüst, weißt du, so eins… dem man nicht widerstehen kann! Ich habe so was manchmal. Es ist blöd, so was, weißt du! Ich glaube, wir Frauen haben eine Seele wie Affen. Man hat mir übrigens bestätigt (ein Arzt sagte es mir), daß das Gehirn der Affen sehr dem unsern gleicht. Wir müssen immer jemand nachäffen. Wir äffen unsere Männer nach, wenn wir sie lieben, im ersten Ehemonat, dann unsere Liebhaber, unsere Freundinnen, unsere Beichtväter, wenn sie gut sind. Wir übernehmen ihre Art zu denken, ihre Art zu reden, ihre Worte, ihre Gesten, alles. Es ist schwachsinnig. Kurz, wenn ich zu sehr in Versuchung bin, etwas zu tun, tue ich es immer. Ich sagte mir also: Gut, ich versuche es bei einem, nur bei einem, um mal zu sehen. Was kann mir passieren? Nichts! Wir tauschen ein Lächeln und fertig, ich seh ihn nie wieder; und wenn ich ihn sehe, erkennt er mich nicht; und wenn er mich erkennt, streite ich ab, herrje. Ich fange also an zu wählen. Ich wollte einen, der gut aussieht, sehr gut. Auf einmal sehe ich einen großen Blonden kommen, einen sehr schönen Jungen. Ich mag Blonde, du weißt. Ich betrachte ihn. Er betrachtet mich. Ich lächle; er lächelt; ich mache die Geste, oh! nur an-
deutungsweise; er nickt ,ja’ mit dem Kopf, und schon tritt er ein, meine Liebste! Er tritt ein durch die große Haustür. Du kannst dir nicht vorstellen, was in dem Moment in mir vorging! Ich dachte, ich werde wahnsinnig. Oh, die Angst! Stell dir vor, er hätte mit den Domestiken gesprochen! Mit Joseph, der meinem Mann total ergeben ist! Joseph hätte sicher geglaubt, daß ich den Herrn seit langem kenne. Was sollte ich tun? O weh, was nur? Gleich, in einer Sekunde, würde er klingeln. Was denn nur tun? Da dachte ich, das beste ist, ihm entgegenzulaufen, ihm zu sagen, daß er sich täuscht, ihn anzuflehen, daß er wieder gehen soll. Er würde Mitleid haben mit einer armen Frau! Ich stürze also zur Tür und öffne just in dem Moment, wo er die Hand auf die Klingel legt. Völlig konfus stammele ich: ,Gehen Sie, Monsieur, gehen Sie fort, Sie täuschen sich, ich bin eine ehrbare Frau, eine verheiratete Frau. Es ist ein Irrtum, ein schrecklicher Irrtum; ich hatte Sie für einen meiner Freunde gehalten, dem Sie sehr ähnlich sehen. Haben Sie Mitleid mit mir, Monsieur. Da fängt er an zu lachen, meine Liebe, und antwortet: ‚Guten Tag, mein Kätzchen. Weißt du, deine Geschichte, die kenne ich. Du bist verheiratet, schön, das macht zwei Louisdor statt einem. Die sollst du haben. Komm, zeig mir den Weg.’ Und er stößt mich; er schließt die Tür, und da ich erschrocken vor ihm stehenbleibe, küßt er
mich, faßt mich bei der Taille und schiebt mich in den Salon, der offenstand. Und dann fängt er an, sich alles anzusehen wie ein Gerichtsvollzieher, und sagt: ,Donnerwetter, ist ja nett bei dir, sehr chic; du bist wohl hart in der Klemme, daß du’s Fenster machst.’ Da fange ich an zu flehen: ‚Oh, Monsieur, bitte gehen Sie! Gehen Sie! Mein Mann kommt gleich nach Hause! Er muß jeden Augenblick dasein, es ist seine Zeit! Ich schwöre Ihnen, daß Sie sich irren.’ Und er antwortet seelenruhig: ‚Komm, meine Schöne, hör auf mit dem Theater. Wenn dein Mann kommt, geb ich ihm hundert Sous, damit er gegenüber was trinken geht.’ Als er auf dem Kaminsims die Photographie von Raoul sieht, fragt er: ‚Ist er das, dein… dein Mann?’ ‚Ja, das ist er.’ ,Na, der sieht ja ganz wie ein Muffel aus. Und das, wer ist das? Eine Freundin von dir?’ Es war deine Photographie, meine Liebe, du weißt, die im Ballkleid. Ich wußte nicht mehr, was ich sagte, ich stotterte: ,Ja, das ist eine Freundin von mir.’ ,Die ist sehr hübsch. Die mußt du mir vorstellen.’ Und auf einmal fängt die Pendüle an, fünf Uhr zu schlagen! Und Raoul kommt jeden Abend um halb sechs nach Hause! Wenn er nun käme, bevor der andere weg ist, stell dir das vor! Also… also… ich verlor völlig den Kopf… ich dachte… es… es
wäre das beste… um… um… um den Mann so schnell wie möglich loszuwerden… Je schneller es ginge, desto… verstehst du… und… und da… da… weil es ja sein mußte… und es mußte ja sein, meine Liebe… er wäre sonst nicht gegangen… Also ich… ich… ich schiebe den Riegel vor die Salontür… Das war’s.“ Die kleine Marquise de Rennedon hatte angefangen zu lachen, sie lachte wie toll, den Kopf im Kopfkissen, ihr ganzes Bett wackelte. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, fragte sie: „Und… und… war es ein schöner Junge?…“ „Oh, ja.“ „Und da beklagst du dich?“ „Aber… aber… siehst du, meine Liebe, er… er hat gesagt… er käme morgen wieder… zur selben Zeit… und ich… ich habe schreckliche Angst… Du hast keine Ahnung, wie hartnäckig er ist… und ungeniert… Was mach ich… sag… was mach ich bloß?“ Die kleine Marquise hatte sich im Bett aufgesetzt, um, nachzudenken; dann erklärte sie plötzlich: „Laß ihn festnehmen.“ Die kleine Baronin war baff. Sie stotterte: „Was? Was sagst du? Was denkst du denn? Ihn festnehmen lassen? Unter welchem Vorwand?“ „Oh, das ist ganz einfach! Du gehst zum Kommissar; du sagst, ein Herr verfolgt dich seit drei Monaten; er hatte die Unverschämtheit, gestern zu dir hochzusteigen; er hat dir einen neuen Besuch für morgen angedroht, und du verlangst den
Schutz des Gesetzes. Man wird dir zwei Polizeiagenten stellen, die ihn verhaften.“ „Aber, meine Liebe, wenn er redet…“ „Aber man wird ihm nicht glauben, Dummchen, sofern du deine Geschichte beim Kommissar gut arrangiert hast. Man wird dir glauben, dir, einer untadeligen Frau der Gesellschaft.“ „Oh! das wage ich niemals.“ „Du mußt es wagen, meine Liebe, sonst bist du verloren.“ „Aber denk doch, er würde… er würde mich beschimpfen… wenn man ihn verhaften wollte.“ „Na und, dann wirst du eben deine Zeugen haben und ihn verurteilen lassen.“ „Verurteilen, wozu?“ „Zu einer Entschädigung. In dem Fall muß man unerbittlich sein!“ „Ah! was die Entschädigung angeht… es gibt noch etwas, das mich bedrückt… sehr bedrückt… Er hat… zwei Louisdor dagelassen… auf dem Kaminsims.“ „Zwei Louisdor?“ „Ja.“ „Nicht mehr?“ „Nein.“ „Das ist wenig. Das hätte mich gedemütigt. Na und?“ „Und! was soll ich mit dem Geld machen?“ Die kleine Marquise zögerte einige Sekunden, dann antwortete sie mit ernsthafter Stimme: „Meine Liebe… du mußt… du mußt… deinem Mann
davon ein kleines Geschenk machen… das ist nur gerecht.“
Anton Tschechow
Aus den Memoiren eines Idealisten Am 10. Mai nahm ich 28 Tage Urlaub, bat unseren Kassierer um hundert Rubel Vorschuß und beschloß, um jeden Preis „das Leben zu genießen“, auf Teufel komm raus zu leben, um danach zehn Jahre lang nur noch von den Erinnerungen zu zehren. Wissen Sie denn, was „das Leben genießen“ im besten Wortsinn bedeutet? Das heißt nicht, sich im Sommertheater eine Operette anzusehen, zu soupieren und gegen Morgen angeheitert heimzukehren. Das heißt auch nicht, eine Ausstellung zu besuchen und von dort zum Pferderennen zu fahren, um am Totalisator den Geldbeutel zu leeren. Wenn Sie richtig leben wollen, dann setzen Sie sich in die Eisenbahn und fahren dorthin, wo die Luft nach Flieder und Faulbaum duftet, wo Maiglöckchen und Nachtviolen um die Wette blühen und mit ihrer zarten Blässe und dem Gefunkel diamantener Tautropfen Ihr Auge liebkosen. Dort in der freien Natur, unter dem blauen Himmel und angesichts grünender Wälder und säuselnder Bäche, in der Gesellschaft von Vögeln und grünen Käfern, dort werden Sie verstehen, was leben heißt! Nehmen wir dazu noch zwei, drei Rendezvous mit einem breitkrempigen Hut, flinken Äuglein und einem weißen Schürzchen… Ich gestehe, daß ich von alldem träumte, als ich, den Urlaubs-
schein in der Tasche und von der Freigebigkeit des Kassierers gestreichelt, aufs Land fuhr. Auf Anraten eines Freundes wollte ich mich bei einer Sofja Pawlowna Knigina einmieten, die in ihrem Landhaus ein möbliertes Zimmer mit Beköstigung und Komfort abgab. Die Vermietung vollzog sich schneller als erwartet. Nachdem ich in Pererwa angekommen war und das Landhaus der Frau Knigina ausfindig gemacht hatte, betrat ich die Terrasse und… war verblüfft. Die Terrasse war behaglich, nett und einladend, aber noch liebreizender und (gestatten Sie den Ausdruck) einladender war die füllige junge Dame, die auf der Terrasse am Tisch saß und Tee trank. Sie blinzelte mich an. „Sie wünschen?“ „Entschuldigen Sie bitte“, begann ich. „Ich… ich bin wohl hier nicht richtig… Ich suche das Landhaus von Frau Knigina…“ „Frau Knigina bin ich. Was wünschen Sie?“ Nun war ich völlig durcheinander. Unter Quartierwirtinnen war ich gewohnt, betagte, rheumatische Personen zu verstehen, die nach Kaffeesatz rochen, aber hier… „Engel und Boten Gottes, steht uns bei!“ wie Hamlet sagte – hier saß eine wunderbare, prachtvolle, märchenhafte, bezaubernde Person. Stotternd erklärte ich, was ich wollte. „Ah, sehr angenehm! Setzen Sie sich, bitte! Ihr Freund hat mir schon geschrieben. Möchten Sie nicht Tee? Mit Sahne oder mit Zitrone?“ Es gibt eine Gattung Frauen (meist sind es Blondinen), da genügt es, zwei, drei Minuten bei
ihnen zu sitzen, und man fühlt sich wie zu Hause, als sei man schon ewig miteinander bekannt. Eine solche Frau war Sofja Pawlowna. Kaum hatte ich das erste Glas getrunken, da wußte ich schon, daß sie nicht verheiratet war, von den Zinsen ihres Kapitals lebte und ihre Tante zu Besuch erwartete; ich lernte die Gründe kennen, die Sofja Pawlowna veranlaßt hatten, ein Zimmer zu vermieten. Erstens ist es schwer für eine alleinstehende Frau, 120 Rubel für ein Landhaus aufzubringen, und zweitens ist es irgendwie unheimlich so allein – plötzlich schleicht sich nachts ein Dieb ein, oder am Tage kommt ein übler Bauer herein! Und es ist doch nichts Anstößiges dabei, wenn eine alleinstehende Dame oder ein Mann das Eckzimmer bewohnt. „Aber ein Mann ist besser!“ seufzte die Wirtin und leckte die Konfitüre vom Löffel. „Mit einem Mann hat man weniger Scherereien, und man braucht nicht solche Angst zu haben…“ Mit einem Wort, nach einer Stunde waren Sofja Pawlowna und ich bereits Freunde. „Ach ja!“ fiel mir ein, als ich mich von ihr verabschiedete. „Über alles haben wir gesprochen, nur nicht über die Hauptsache. Wieviel verlangen Sie? Ich werde nur achtundzwanzig Tage bei Ihnen wohnen… Mittagessen natürlich… Tee und so weiter.“ „Na, da haben Sie ja noch ein Thema gefunden! Geben Sie so viel, wie Sie können… Ich gebe ja das Zimmer nicht aus Berechnung ab, sondern
damit es belebter ist… fünfundzwanzig Rubel können Sie geben?“ Natürlich war ich einverstanden, und so begann mein Leben in der Sommerfrische… Dieses Leben ist interessant dadurch, daß ein Tag dem anderen, eine Nacht der anderen gleicht, und welcher Reiz liegt in dieser Gleichförmigkeit, was für Tage, was für Nächte sind das! Lieber Leser, ich bin begeistert, gestatten Sie, daß ich Sie umarme! Des Morgens erwachte ich, und ohne im geringsten an den Dienst zu denken, trank ich Tee mit Sahne. Um elf ging ich zur Wirtin, um ihr einen guten Morgen zu wünschen und bei ihr Kaffee mit fetter Sahne zu trinken. Bis zum Mittagessen plauderten wir. Das gab es um zwei Uhr, und was für ein Essen! Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich, hungrig wie ein Wolf, an den Tisch, nehmen ein Gläschen Aperitif und genießen als Vorspeise warmes Pökelfleisch mit Meerrettich. Dann stellen Sie sich eine Okroschka oder eine Sauerampfersuppe vor, na und so weiter und so fort. Nach dem Essen unbeschwerte Siesta, Romanlektüre und alle Naselang Aufspringen, weil die Wirtin in der Tür erscheint – „bleiben Sie, liegen, bleiben Sie liegen!“. Dann Baden. Abends bis tief in die Nacht Spazierengehen mit Sofja Pawlowna… Stellen Sie sich vor, in der Abendstunde, wenn alles schläft außer der Nachtigall und einem ab und zu aufschreienden Reiher, wenn ein schwach säuselnder Wind kaum merklich das Geräusch der fernen Eisenbahn herüberträgt, dann spazieren Sie durch den Hain oder den Bahndamm entlang mit einer molligen
Blondine am Arm, die sich, in der abendlichen Kühle fröstelnd, kokett an Sie schmiegt und Ihnen ab und an ihr vom Mondlicht bleiches Gesichtchen zukehrt… Unglaublich schön ist das! Es war kaum eine Woche vergangen, da passierte das, was Sie schon längst von mir erwartet haben, lieber Leser, und ohne das keine anständige Erzählung auskommen kann… Ich konnte nicht widerstehen… Meine Erklärungen hörte sich Sofja Pawlowna gleichgültig, ja kalt an, als habe sie schon lange darauf gewartet, sie verzog nur die Lippen, als wollte sie sagen: Ich verstehe nicht, was es da noch lange zu reden gibt! So vergingen achtundzwanzig Tage wie im Fluge. Als das Urlaubsende gekommen war, mußte ich voller Wehmut von Sonja und dem Landhaus Abschied nehmen. Während ich meinen Koffer packte, saß die Hausfrau auf dem Diwan und wischte sich die Äuglein. Selbst dem Weinen nahe, tröstete ich sie; ich versprach, sie an Feiertagen in ihrem Landhaus zu besuchen und im Winter bei ihr in Moskau zu sein. „Ach, wann wollen wir denn abrechnen, mein Herzchen?“ fiel mir ein. „Wieviel habe ich zu zahlen?“ „Später…“, stammelte mein „Verhältnis“ schluchzend. „Wieso später? In Geldsachen hört die Freundschaft auf, wie das Sprichwort sagt, und außerdem möchte ich keineswegs auf deine Kosten gelebt haben. Zier dich nicht, Sofja… Wieviel bekommst du von mir?“
„Na, das sind doch Lappalien…“, sagte die Wirtin schluchzend und zog ein Tischkästchen auf. „Du hättest auch später zahlen, können…“ Sofja wühlte in dem Schubfach, entnahm ihm ein Blatt Papier und reichte es mir. „Ist das die Rechnung?“ fragte ich. „Nun, dann ist es gut… sehr gut…“ (ich setzte die Brille auf) „dann sind wir quitt“ (ich überflog die Rechnung). „Summa summarum… Halt mal, was ist denn das? Summa summarum… Da stimmt doch was nicht, Sonja! Hier steht: Summa summarum zweihundertzwölf Rubel vierundvierzig Kopeken. Das ist doch nicht meine Rechnung!“ „Es ist deine, mein Bester! Schau nur hin!“ „Aber… wieso denn soviel? Für Kost und Logis fünfundzwanzig Rubel – einverstanden… Für Bedienung drei Rubel, nun, meinetwegen, auch damit bin ich einverstanden…“ „Ich verstehe nicht, mein Lieber“, sagte die Wirtin gedehnt und blickte mich mit ihren verweinten Äuglein erstaunt an. „Glaubst du mir etwa nicht? Dann rechne mal nach! Aperitif hast du getrunken… ich konnte dir mittags zu diesem Preis doch nicht noch Wodka geben! Sahne zum Tee und Kaffee… dazu Erdbeeren, Gurken, Kirschen… Betreffs des Kaffees das gleiche… Du hast ja nicht mit mir vereinbart, welchen zu trinken, du hast ihn einfach jeden Tag getrunken! Übrigens sind das solche Lappalien, daß ich dir meinetwegen zwölf Rubel ablassen kann. Bleiben nur noch zweihundert.“
„Aber… hier sind fünfundsiebzig Rubel aufgeführt und nicht erläutert, wofür… Wofür ist das?“ „Was heißt wofür? Du bist ja niedlich!“ Ich blickte ihr ins Gesicht. Sie schaute mich so aufrichtig und erstaunt an, daß meine Zunge kein einziges Wort mehr herausbrachte. Ich gab Sonja hundert Rubel und einen Wechsel auf dieselbe Summe, lud mir mein Gepäck auf den Rücken und ging zum Bahnhof. Kann mir nicht jemand hundert Rubel leihen, Herrschaften?
Zu den Texten dieses Bandes Margarete von Navarra (1492-1549) Das Heptameron. Die fünfundvierzigste Novelle Deutsche Übersetzung von Elke RappusWeidemann © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989 Filmtitel: „Die Strafe“ Jean de La Fontaine (1621-1695) Die Wette der drei Freundinnen. Der geprügelte und zufriedene Hahnrei Originaltitel: La Gageure des trois commères. Le Cocu battu et content Deutsche Übersetzung von Theodor Etzel Der Abdruck der Übersetzung erfolgte mit Genehmigung des Gustav Kiepenheuer Verlages Leipzig und Weimar Filmtitel: „Weiberwette“ Nicolas-Edme Restif de La Bretonne (1734-1806) Das Milchmädchen Originaltitel: La Petite Laitière. Aus: Les Contemporaines ou Aventures des plus jolies femmes de l’âge present Deutsche Übersetzung von Elke RappusWeidemann © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989 Filmtitel: „Der gelehrige Schüler“
Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade (1740-1814) Eine Kriegslist der Liebe Originaltitel: Augustine de Villeblanche ou le stratagème de l’Amour Deutsche Übersetzung von Eberhard Wesemann Der Abdruck der Übersetzung erfolgte mit Genehmigung des Gustav Kiepenheuer Verlages Leipzig und Weimar Filmtitel: „Die Liebeslist“ Honore Gabriel Riqueti, Comte de Mirabeau (1749-1791) Aus: Meine Bekehrung Originaltitel: Ma conversion ou le libertin de qualité Deutsche Übersetzung von Franz Deditius Filmtitel: „Ein Wüstling von Stand“ Théophile Gautier (1811-1872) Omphale. Eine Rokoko-Geschichte Originaltitel: Omphale. Histoire rococo Deutsche Übersetzung von Elke RappusWeidemann © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989 Filmtitel: „Traumnächte“ Guy de Maupassant (1840-1893) A la Feuille de Rose. Türkisches Haus Originaltitel: A la Feuille de Rose. Maison turque Deutsche Übersetzung von Elke RappusWeidemann
© Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989 Filmtitel: „Zum Rosenblatt. Türkisches Haus“ Maupassants derbes Bordell-Stück wurde am 19.4.1875 privat im Atelier des Malerfreundes Maurice Leloir aufgeführt. Maupassant spielte die Raphaele, Octave Mirbeau den Beauflanquet, der Freund Georges Merle den Miché; die anderen Frauen wurden von Transvestiten dargestellt. Den Berichten zufolge soll an obszönen Requisiten nicht gespart worden sein. Das Stück steht ganz am Anfang der schriftstellerischen Karriere Maupassants und ist eine Art von Gemeinschaftsproduktion der Freundesclique, der er damals angehörte. Von Maupassant selbst, der das Stück mit seinem Spitznamen Joseph Prunier signierte, nicht ernst gemeint, verstanden es die Beteiligten als einen Jugendulk, geschrieben zum puren Vergnügen; die literarische Qualität läßt denn auch den späteren Meisternovellisten und großen Romancier kaum erahnen. Eine zweite (und wahrscheinlich die letzte) Aufführung gab es 1877. Beide Aufführungen fanden vor ausgewähltem Publikum statt. Die Meinung der Gäste war geteilt. Sogar stadtbekannte Kokotten sollen empört und schockiert den Raum verlassen haben. Die Brüder Goncourt, Emile Zola und Joris Huysmans fühlten sich angewidert. Turgenjew und Flaubert dagegen fanden das Stück außerordentlich erfrischend. 1984 erschien das bislang nur als Privatdruck in wenigen Exemplaren zugängliche Stück zusammen mit anderen erotischen Schriften des Autors
in dem Band „Un Maupassant inconnu“ (Ed. Encre, Paris), herausgegeben von Alexandre Grenier, dem auch die vorstehenden Auskünfte zu danken sind. Guy de Maupassant Das Gewächshaus Originaltitel: La Serre Deutsche Übersetzung von Christel Gersch © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1984 Filmtitel: „Das Treibhaus“ Guy de Maupassant Das Zeichen Originaltitel: Le Signe Deutsche Übersetzung von Christel Gersch © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1988 Filmtitel: „Das Zeichen“ Anton Tschechow (1860-1904) Aus den Memoiren eines Idealisten Originaltitel: Из воспоминаний идеалиста Deutsche Übersetzung von Gerhard Dick © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1989 Filmtitel: „Das Landhaus“
Inhalt Das Heptameron .........................................7 Die Wette der drei Freundinnen ................... 12 Der geprügelte und zufriedene Hahnrei......... 24 Das Milchmädchen..................................... 29 Eine Kriegslist der Liebe ............................. 59 Aus: Meine Bekehrung ............................... 78 Omphale .................................................. 98 A la Feuille de Rose Türkisches Haus .......... 112 Das Gewächshaus ................................... 156 Das Zeichen ........................................... 165 Aus den Memoiren eines Idealisten ............ 175 Zu den Texten dieses Bandes .................... 182