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Gudrun Hentges Hans-wolfgang Platzer (Hrsg.)
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Gudrun HentgeS . Hans-Wo!fgang P!atzer (Hrsg.) quo
Gudrun Hentges Hans-wolfgang Platzer (Hrsg.)
Eurapa qua vadis? Ausgewählte Problemfelder der europäischen Integrationspol itik
I
VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17381-8
Inhalt
Einleitung ............................................................................................................ 7 Gudrun Hentges/Hans- Wolfgang Platzer
I
Politisch-institutionelle Perspektiven der Europäischen Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon ein weiterer Schritt auf der Suche nach Problemlösungsfähigkeit und demokratischer Legitimität ........................................................................ 15 Andreas HofmannlWolfgang Wesseis Die EU und ihre Nachbam - Integrationsmodelle zwischen Nachbarschaftspolitik: und Vollmitgliedschaft .................................................. 43 Johanna Birk
U
Weltwirtschaftskrise und Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik
Eine gemeinsame europäische Krisenüberwindungsstrategie Probleme und Perspektiven ............................................................................... 69 Hans-Jürgen Bieling Das Europäische Sozialmodell auf dem Prüfstand. Zur wissenschaftlichen Modelldebatte und den Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik unter den Vorzeichen der Weltwirtschaftsund Eurokrise und des EU-Reformvertrages .................................................... 93 Hans-Wolfgang Platzer
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III Dimensionen und Perspektiven der Arbeitsmigration Zwischen offenen Arbeitsmärkten und transnationalem Lohngef::ille. Gewerkschaften und Migration im Zuge der EU-Osterweiterung .................. 127 Thorsten Schulten Migration und Entwicklung. Eine Neuorientierung der EU im21. Jahrhundert? ......................................................................................... 151 UweHunger Feminisierung von Migration - Formen und Folgen weiblicher Wanderungsprozesse ....................................................................................... 171 Susanne Spindler
IV Festung Europa? - Herausforderungen der Fluchtmigration Wohin bewegt sich die europäische Einwanderungspolitik:? Perspektiven nach dem Lissabon-Vertrag und dem Stockholm-Programm ......................... 189 Petra Bendel Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen. Das Beispiel Italien ..................................................... 205 Julia Wahnel
V
Aktuelle Herausforderungen: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
Die extreme Rechte in Europa - zwischen niederländischem Rechtspopulismus und ungarischem Rechtsextremismus .............................. 235 Gudrun Hentges
Autorinnen und Autoren ................................................................................. 277
Einleitung Gudrun Hentges/Hans- Wolfgang Platzer
Quo vadis? Diese häufig bemühte Frageformel, die historisch aus den frühchristlichen Petrusakten der ersten nachchristlichen Jahrzehnte stammt, ist zu einem geflügelten Wort geworden, das umgangssprachlich, neben dem "Wohin gehst du?" auch im Sinne von "Wie geht es weiter?" und "Wohin soll das führen?" verwendet wird. Dieser dreifache Bedeutungsgehalt der Quo-vadis-Frage kommt auch in einschlägigen Europadebatten zum Tragen, die Politik und Wissenschaft seit Beginn der Integrationsgeschichte immer dann besonders intensiv führten, wenn sich das Projekt der europäischen Integration in schwierigen Fahrwassern befand oder an Weichenstellungen angekommen war, die nach grundlegenden Richtungsentscheidungen verlangten. Durch die Weltfinanzmarktkrise des Jahres 2008 - mit ihren bis dato nur zum Teil bewältigten Folgen - und vor allem durch die dramatischen Entwicklungen in der Eurozone zu Beginn des Jahres 2010, als nur noch mithilfe eines 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirms und durch das erstmalige Aufkaufen von Staatsanleihen kriselnder Euro-Länder durch die Europäische Zentralbank ein Crash in der Euro-Zone verhindert werden konnte, gewinnt die Frage "Europa - quo vadis" an beispielloser Aktualität und Brisanz; denn die Europäische Union befindet sich in einer Lage, in der mit den Weichenstellungen zur Bewältigung der EuroKrise auch über die Zukunft der EU als politisches Projekt entschieden wird. Die gewaltigen Herausforderungen, die die EU zu bewältigen hat, umfassen ebenso Maßnahmen eines kurz- und mittelfristigen Krisenmanagements wie längerfristige grundlegende Strukturentscheidungen. Dabei müssen Antworten auf mehrere komplexe Fragen gefunden werden: 11
Erstens: Wie schafft die gesamte EU eine möglichst rasche ökonomische Genesung auf dem schmalen Grat zwischen staatlicher Sparpolitik und notwendigen Wachstumsimpulsen angesichts national höchst unterschiedlicher Strukturvoraussetzungen in den Handels- und Leistungsbilanzen, in den Arbeitslosenzahlen, in der Wettbewerbsfahigkeit, in der Gesamthöhe der Staatsverschuldung und der jährlichen Neuverschuldung?
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zweitens: Wie organisiert die EU künftig die fiir eine Währungsunion nötige Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Überwachung der Haushaltspolitik, ohne dafiir zu viel Demokratie aufzugeben?
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Drittens: Welche Sicherheitsnetze und neuen institutionellen Regeln - darunter voraussichtlich auch die Option geordneter Insolvenzverfahren und Austrittsregeln - braucht die Union künftig fiir Krisen dieser Art?
Als wir den vorliegenden Band konzipierten, waren die Auswirkungen der Weltfinanzmarktkrise in Umrissen erkennbar, nicht jedoch die Herausforderungen, vor denen die EU im Bereich der gemeinsamen Währung nunmehr steht. Vielmehr sollten unter der Leitfrage "Europa - quo vadis?" der konstitutionelle Rahmen nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrages und ausgewählte materielle Problemfelder der Integration beleuchtet werden. Dieses Ziel des Bandes, "Ortsbestimmungen" der EU in ihrer gegenwärtigen vertraglich-politischen Verfasstheit vorzunehmen und in einzelnen zentralen Politikfeldern Pfade bisheriger Entwicklung sichtbar zu machen und aktuelle Weichenstellungen der europäischen Politik kritisch zu reflektieren, behält - auch wenn die Imponderabilien der währungspolitischen Krise jegliche Analyse überlagern - nach wie vor seine Gültigkeit. Dies allein schon deshalb, weil die Dynamik: des Europäischen Integrationsprozesses und das EU-System mittlerweile eine Komplexität angenommen haben, die eine Zusammenführung unterschiedlicher Erklärungsansätze und theoretischer Perspektiven sowie eine nach Politik:feldern differenzierte Problemanalyse erfordern. Diese Prinzipien kommen in der Gesamtkonzeption und in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes zum Tragen. Bei einem solchen Verständnis des wissenschaftlichen Europadiskurses können die in diesem Band gegebenen Antworten auf die Frage "Europa - quo vadis?" notwendigerweise nur Teilantworten sein. Und es handelt sich immer auch um vorläufige Antworten; dies in der gegenwärtigen Lage der EU schon deshalb, weil derzeit nicht absehbar ist, ob die Stabilisierung der Europäischen Währungsunion in der Krise gelingt und ob durch eine nachhaltige Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerungsfähigkeit der EU zugleichjene Voraussetzungen geschaffen werden können, die letztlich auch über den Erhalt der politischen Gesamtarchitektur der EU entscheiden werden. Der Band versammelt Beiträge, die sich zentralen Entwicklungsachsen der EU-Integration und den damit verbundenen Problemstellungen widmen. Dies ist zunächst der historische Erfahrungszusarnmenhang einer engen Wechselwirkung zwischen "Vertiefung" und "Erweiterung" der EU. Zwei Komplexe sind hierbei von zentraler Bedeutung: die Frage der vertraglich-konstitutionellen Weichenstellungen und der "inneren Verfasstheit" der EU nach dem Inkrafttreten des Vertrages
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von Lissabon und die Frage nach den Optionen, die der EU zur Verfügung stehen, ihr Verhältnis zu künftigen Beitrittsaspiranten bzw. Ländern in der (unmittelbaren) Nachbarschaft der Union zu gestalten. Eine zweite Entwicklungsachse der Europäischen Integration, entlang der seit je grundlegende ordnungs- und integrationspolitische Ziel- und Interessenkonflikte einer Lösung zugefiihrt werden mussten, betrim das Verhältnis von "Marktintegration" und "Politikintegration", von Europäischer Wirtschafts- und Währungsunion und Europäischer Sozialunion. Auch dieser Komplex wird in mehreren Beiträgen dieses Bandes beleuchtet. Die einzelnen Analysen, die theoretisch unterschiedlich inspiriert sind, widmen sich neben Grundsatzfragen des sozial-ökonomischen Regierens in der EU ausgewählten Problemfeldern der Arbeitsmarktpolitik und Finanzmarktregulierung, die - zumal unter den Vorzeichen der Weltwirtschafts- und Eurokrise - Aufschlüsse über Handlungsbarrieren und Entwicklungsoptionen der EU in materiellen Kernbereichen des Integrationsprojekts geben. Die dritte Entwicklungsachse der Europäischen Integration ist eng verknüpft mit der Marktöffnung und der Beseitigung von Mobilitätsbarrieren bzw. mit der Herstellung der Freizügigkeit als eine der Grundsäulen des EU-Binnenmarktes. Infolge der Erweiterungsrunden der Jahre 2004 und 2007 gewann die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik der Arbeitsmigration der EU-Bfuger(innen) erneut an Bedeutung. Aus der Perspektive der osteuropäischen Herkunftsstaaten der Arbeitsmigrant(inn)en stellt sich die Frage nach dem quantitativen Ausmaß der Emigrationsbewegungen, nach der zeitlichen Dauer der Emigration, nach der beruflichen Qualifikation der Migrant(inn)en sowie nach dem Zielland dieser neuen Wanderungsbewegung. Die Aufnahrneländer der vorwiegend osteuropäischen Arbeitsmigrant(inn)en stehen ihrerseits vor der Herausforderung, die Konsequenzen der Immigration osteuropäischer Arbeitsmigrant(inn)en im politischen Handeln zu berücksichtigen - eine Herausforderung, mit der vor allem die Gewerkschaften konfrontiert sind. Hier ist zu beobachten, dass sie sich auf einem schmalen Grat bewegen: Einerseits müssen sie vermeiden, dass sie auf nationaler Ebene lediglich die Interessen der einheimischen Arbeitnehmer(innen) gegen unliebsame Konkurrent(inn)en und gegen Lohn-Dumping verteidigen, andererseits kann ein neoliberales Konzept der Öffnung der Arbeitsmärkte keine Lösung für die neuen Herausforderungen der globalisierten Arbeitsmärkte sein. Insofern bewegen sich Gewerkschaften in einem Spannungsfeld, das in diesem Band ausgelotet werden soll. Damit eng verbunden ist auch die Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Entwicklung: Migration, so die Argumentation eines Beitrags, werde in Europa immer noch vorwiegend als Bedrohung wahrgenommen. Dadurch werde, wie ein internationaler Vergleich zeige, den vielschichtigen Wechselwir-
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Platzer
kungen zwischen brain drain und brain gain, zwischen dem Nutzen gelungener Einwanderungspolitik für das Gastland und der wirtschaftlichen Entwicklung in den Herkunftsländern der Migrant(inn)en nicht angemessen Rechnung getragen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration verlangt schließlich mehr denn je eine Genderperspektive: Im Jahr 2005 war (fast) jeder zweite internationale Migrant weiblich (49,6 % im Jahr 2005). Für die Europäische Union verbinden sich mit dieser Entwicklung, die als ,,Feminisierung der Migration" beschrieben wird, nicht zuletzt arbeits- und sozialpolitische Fragen, da Migrantinnen in den EU-Staaten überproportional in folgenden Berufsfeldern tätig sind: im Hotelund Gaststättengewerbe, in den Bereichen Gesundheit und soziale Dienstleistungen sowie in privaten Haushalten. Die vierte Entwicklungsachse steht in Zusammenhang mit der Fluchtmigration in die Europäische Union, also Migration im Sinne von unfreiwilliger Migration. Aufgezeigt werden die aktuellen Tendenzen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Als Folge der Aufhebung der europäischen Binnengrenzen und verstärkten Sicherung der EU-Außengrenzen gewinnen die südeuropäischen EUMitgliedstaaten an Bedeutung, vor allem aufgrund ihrer langen Küstenlinie. Vor dem Hintergrund der Dublin lI-Verordnung, die das Prinzip der Bodenberührung festschreibt und daraus ableitet, welcher Staat zur Bearbeitung des Asylantrags verpflichtet ist, zeichnet sich ab, dass die südlichen EU-Mitgliedstaaten vor großen Herausforderungen stehen. Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik der südeuropäischen Staaten werden in diesem Band exemplarisch am Beispiel Italiens diskutiert und kritisch reflektiert. Die fünfte Entwicklungsachse thematisiert die besorgniserregende Tendenz des wachsenden Einflusses der extremen Rechten auf das Parteiensystem und die politische Kultur der EU-Mitgliedstaaten. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht, wie noch Mitte der 1980er-Jahre, auf einige wenige EU-Staaten - damals standen der französische Front National und die Freiheitliche Partei Österreichs im Zentrum der Debatte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich dieses Phänomen in fast allen EU-Staaten beobachten; in einem Viertel der EU-Länder ist die Regierung mittlerweile von Parteien der extremen Rechten abhängig. Die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen an supranationale Organisationen und der damit verbundene Prozess der Europäisierung zentraler Politikfelder provoziert(e) auf nationalstaatlicher Ebene antieuropäische Abwehrkämpfe und Ressentiments, die häufig durch Bewegungen und Parteien der extremen Rechten vorangetrieben werden. Die Forderung nach einer Wiederherstellung des souveränen Nationalstaates - verbunden mit einer Rückgewinnung nationalstaatlicher Kompetenzen - bezieht sich auf verschiedene Politikfelder. Im Zentrum der Pro-
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grammatik und Ideologie der extremen Rechten steht häufig die Migrations- und Asylpolitik. Forderungen wie "Nederland is de Nederlandse", "Danmark, danskerne", "Magyarorszag, a magyarok", "La France aux Franvais", ,,Deutschland den Deutschen" finden sich in der Agitation der extremen Rechten in Europa. Diese Forderungen nach Exklusion und (Wieder)herstellung einer ethnischen Homogenität sind immer auch verknüpft mit einer repressiven Ausländer- und Asylpolitik. Trotz nationaler Unterschiede und Konkurrenzen versuchen die Bewegungen und Parteien der extremen Rechten punktuell eine transnational übergreifende Kooperation zu realisieren. Unter dem Motto "Für ein Europa der Vaterländer - gegen die EU" strebten bzw. streben die Parteien der extremen Rechten europaweit eine Zusammenarbeit an. Entlang der skizzierten Entwicklungsachsen des EU-Integrationsprojekts lotet dieser Band politisch-institutionelle Rahmenbedingungen, aktuelle Problemhaushalte und Weichenstellungen in zentralen Politikfeldern der Europäischen Union aus. Auf diese Weise will er durch ausgewählte sozialwissenschaftliehe Forschungsbeiträge die mittlerweile breit gefacherten European Studies bereichern und einen Beitrag zu einer integrationspolitischen Debatte leisten, die unter der Frage "Europa - Quo vadis" gerade gegenwärtig größte Aufmerksamkeit verdient. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns bei unserer Lektorin, Dr. Nicole Warmbold (Berlin), für die hervorragende Zusammenarbeit. Gudrun Hentges und Hans-Wolfgang Platzer Fulda im November 2010
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Politisch-institutionelle Perspektiven der Europäischen Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon ein weiterer Schritt auf der Suche nach Problemlösungsfähigkeit und demokratischer Legitimität! Andreas HofmannIWolfgang WesseIs
1. Einleitung: Das Vertragswerk - Lesarten und Untersuchungsperspektiven Nach mehrjährigem Vorlauf, einer mehr als halbjährigen konkreten Vorbereitungszeit und einem problembehafteten, zwei Jahre andauernden Ratifikationsprozess trat am 1. Dezember 2009 ein neues EU-Vertragswerk in Kraft. Das Dokument, das als "Vertrag von Lissabon" in die Annalen der Integrationsgeschichte eingehen wird, ist ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der konstitutionellen Systemgestaltung der europäischen Integration. Ausgehend von der "Berliner Erklärung" vom 25. März 2007 2 über die Verabschiedung eines Mandats für eine Regierungskonferenz (vgl. Europäischer Rat 2007a) hatte der Europäische Rat als konstitutioneller Architekt den Vertrag bereits am 13. Dezember 2007 unterzeichnet. Ein negatives Referendum in Irland und eine Reihe von Klagen vor nationalen Verfassungsgerichten, insbesondere in der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, ließen sein Inkrafttreten über lange Phasen unsicher erscheinen. Der Vertrag von Lissabon kennzeichnet den gegenwärtigen Stand der Beantwortung konstitutioneller Grundfragen der europäischen Integration vonseiten der Regierungen der Mitgliedstaaten. Wir können das Dokument somit als eine weitere Stufe eines seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte zwei Jahrzehnte währenden Prozesses betrachten, die Union "demokratischer, transparenter und effizienter" (siehe Europäischer Rat 2001) zu gestalten. Diese Aufgabe haben die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2007 wie folgt formuliert:
2
Dieser Beitrag ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Aufsatzes: Andreas Hofmann! Wolfgang Wessels (2008), Der Vertrag von Lissabon - eine tragfiibige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, in: integration Nr. 1, S. 3-20. Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge, 25.3.2007; http://www.eu2007.de/delNews/download_docslMaerzl0324-RAAJGerman.pdf (30.9.20 10). V gl. auch Goosmann (2007).
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Andreas
WesseIs
"Um auch in Zukunft eine aktive Rolle in einer sich rasch verändernden Welt und im Hinblick auf die ständig wachsenden Herausforderungen spielen zu können, müssen wir die Handlungsfählgkeit der Europäischen Union und ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Biliger bewahren und weiterentwickeln" (Europäischer Rat 2007c, Ziffer 2). Korrespondierend mit dieser politischen Lesart kann der nun vorliegende Text in unterschiedlichen Perspektiven erfasst, erklärt und bewertet werden (vgl. Quermonne 1992; Wesseis 2005a). In einer Perspektive, die die kurzfristigen Entwicklungsrichtungen der institutionellen Architektur (zu diesem Begriff vgl. Wesseis 2008) analysiert, wird zu prüfen sein, ob und wie nationale und europäische Politiker das neue Regelwerk innerhalb oder auch neben den EU-Organen in Zukunft nutzen werden, um die selbst gesetzten Ziele zur Steigerung der Handlungsfählgkeit und demokratischen Kontrolle zu erreichen (vgl. CEPSfEGMONTfEPC 2010). Eine Betrachtung des Vertragswerks in einer mittelfristigen Perspektive fokussiert die Evolution des politischen Systems Europas seit der Unterzeichnung der Pariser Verträge 1951. Demnach bildet die Bündelung von Souveränität in europäischen Institutionen jenseits des Nationalstaates den Ausgangspunkt fiir die konstitutionelle Entwicklung eines supranationalen Konstrukts, das von den Mitgliedstaaten nach und nach mit einer staatsähnlichen Agenda ausgestattet wurde und dessen vorläufiger Kulminationspunkt mit dem Lissabonner Vertrag vorliegt. Eine besondere Herausforderung fiir die Forschung bildet schließlich die Einordnung des Lissabonner Vertrags in eine langfristige Perspektive im Sinne von Braudels longue duree (vgl. Braudei 1980; vgl. auch Christiansen 1998). Demnach wäre die jüngste Entwicklung eine weitere Stufe der Entwicklung und Transformation europäischer Staaten, die entlang - vielfach symbolisch evozierter - europäischer Traditionen seit "Athen" und "Rom" sowie historischer Grundlinien seit der Herausbildung souveräner Territorialstaaten in Europa nach dem Westfälischen Frieden 1648 verläuft (vgl. Bartolini 2005). Die historische Verortung des Vertragswerks stellt zugleich die Frage nach dem zukünftigen Voranschreiten der Integrationskonstruktion. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten als Vertreter der "Herren der Verträge" (Bundesverfassungsgericht 1994) haben einen "Schwur" auf die Beständigkeit des vorliegenden Werkes geleistet. So formuliert die Präambel des Lissabonner Vertrags3 den "Wunsch", mit dem nun vorliegenden Vertragswerk "den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres 3
Gemeint ist hier die Präambel des Änderungsver1rags, nicht des zu ändernden Vertrags über die Europäische Union.
Die
Union nach dem
von Lissabon
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Handeins verbessert werden sollen, abzuschließen". Die Schlussfolgerungen des Vorsitzes bestätigen diese Erwartung. Mit dem Vertrag von Lissabon erhalte "die Union einen stabilen und dauerhaften institutionellen Rahmen". Sie erwarten "in absehbarer Zukunft keine weiteren Änderungen". Die neu geschaffene institutionelle Balance gebe der Union daher die Möglichkeit, "sich voll und ganz auf die konkreten Aufgabenstellungen zu konzentrieren, die vor ihr liegen, einschließlich der Globalisierung und des Klimawandels" (siehe Europäischer Rat 2007b, Ziffer 6). Nicht zuletzt lassen die Problematiken des Ratifikationsprozesses sowie einige Ergebnisse nationaler Parlamentswahlen der letzten Zeit auf eine deutliche Integrationsmüdigkeit der Bevölkerung schließen, die weitere Integrationsbemühungen auch für an Vertiefungsschritten interessierte Staats- und Regierungschefs unattraktiv erscheinen lassen. Gleichzeitig behält aber auch der Vertrag von Lissabon die Erwartung einer schrittweisen Weiterentwicklung der Union bei. Nach wie vor verortet sich das Vertragswerk als "neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" (siehe Artikell EUV). Diese latent konftigierenden Zielsetzungen der zukünftigen Entwicklung sind als Ausdruck der Schwierigkeit zu werten, konstitutionelle Grundfragen der Systemgestaltung des europäischen Konstrukts abschließend zu beantworten.
2. Neue Struktur - mehr Überschaubarkeit? Der Vertrag von Lissabon nimmt einige Änderungen an der bisherigen Struktur der vertraglichen Grundlagen des europäischen Konstrukts vor. Zwar behält er vordergründig die Zweiteilung des Primärrechts bei, die Unterscheidung zwischen "Union" und "Gemeinschaft" aber wird aufgehoben. Der Ausdruck "Gemeinschaft" wird durchgängig durch den Ausdruck "Union" ersetzt. Die vertragliche Grundlage der Union bilden von nun an der "Vertrag über die Europäische Union" (EUV) sowie der "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV), der den bestehenden "Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft" (EGV) ablöst. Strukturelle Änderungen sind vor allem im EUV zu erkennen. Ein Blick auf die neu geordneten Titel erweckt zunächst den Eindruck, es handele sich hier nun um eine Schilderung der Grundlagen der Union, während der AEUV lediglich die Details der sektoralen Zusammenarbeit klärt (vgl. iTbersicht 1).
Andreas HofmannlWolfgang WesseIs
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Übersicht 1: Aufbau des Primärrechts entsprechend dem Vertrag von Lissabon Vertrag von Lissabon Vertrag über die Europäische Union EUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union-AEUV
Titel I
Gemeinsame Bestimmungen
Erster Teil
Titel II
Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze
Zweiter Teil
Titel III
Bestimmungen über die Organe
Dritter Teil
Die internen Politiken und Maßnahmen der Union
Titel IV
Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit
Vierter Teil
Die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete
Titel V
Allgemeine Bestimmungen über Fünfter Teil das auswärtige Handeln der Union und besondere BestimSechster Teil mungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Siebter Teil Schlussbestimmungen
Titel VI
Grundsätze Nicht-Diskriminierung und Unionsbürgerschaft
Das auswärtige Handeln der Union Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften Allgemeine und Schlussbestimmungen
Eigene Darstellung nach den Vorgaben des Vertrags von Lissabon.
Bei näherer Betrachtung jedoch ist festzustellen, dass wichtige neue Elemente wie beispielsweise die - in dieser Form erstmalige -Aufzählung der Zuständigkeiten der Union entgegen der augenscheinlichen Systematik im AEUV (Artikel 2-6 AEUV)4 zu finden sind. Zudem fällt auf, dass sich in der Lissabonner Version des EUV kein Verweis mehr auf die "polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" findet. Dieser Teil des Regelwerks wurde komplett in den AEUV aufgenommen. Dort wurde der bisherige Titel "Visa, Asyl, Einwanderung" durch den neuen Titel V "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" im Dritten Teil "Die internen Politiken und Maßnahmen der Union" ersetzt. Damit wird die bisherige "dritte Säule" der Union aufgelöst. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verbleibt jedoch als Titel V im EUV. In diesem Bezug wird in Artikel 24, Absatz I EUV betont, dass für die GASP "besondere Verfahren" gelten.
4
Die Nummerierung der Vertragsartikel in diesem Beitrag folgt der in der konsolidierten Version vorgeno=enen Neunummerierung nach Artikel 5, Absatz 1 des Vertrags von Lissabon (entsprechend den Übereinsti=ungstabellen im Anhang zu diesem Vertrag).
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon
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3. Konstitutionelle Grundfragen: Ein dreifaches Dilemma Die folgende Analyse des Lissabonner Vertrags konzentriert sich auf drei zentrale Aspekte des politischen Systems der Union: die Kompetenzordnung, die institutionelle Architektur und die Verfahrensordnung. Dem folgend identifizieren wir drei konstitutionelle Grundfragen der Systemgestaltung: 1. 2. 3.
Wie schreibt der Vertrag die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union und damit deren Aufgabenwahrnehmung fest? Wie positioniert der Vertrag Akteure und strukturiert Verfahren zur Steigerung der Handlungsfähigkeit innerhalb der institutionellen Architektur? Werden die neuen Vorschriften das EU-System "demokratischer" gestalten und damit seine Legitimität steigern?
Bei der Beantwortung dieser Grundfragen nach Effizienz und demokratischer Legitimation, die sich prinzipiell für jedes politische System stellen, gehen wir von einem dreifachen Dilemma aus (vgl. Übersicht 2), das ambivalente Einstellungen und Verhaltensmuster der Mitgliedstaaten beim Ausbau des EU-Systems seit Beginn des Integrationsprozesses prägt und auch weiterhin wesentliche Elemente des Vertrags und dessen Komplexität in einem "Fusionsprozess" (Wesseis 2005b) erklären hilft. Der Lissabonner Vertrag dokumentiert somit den gegenwärtigen Versuch einer dauerhaften Lösung dieser Dilemmata, die ein Grundprinzip der konstitutionellen Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses darstellen.
Übersicht 2: Das dreifache Dilemma Europäische Ebene Ebenendilemma
Problem1ösungsinstinkt
Nationale Ebene Souveränitätsreflex
Entscheidungsdilemma Effizienzsuche
Letztentscheidungsvorbehalt
Legitimitätsdilemma
abgeleitet national
eigenständig europäisch
Eigene Darstellung
3.1 Das Ebenendilemma der AuJgabenzuordnung: Problemlösungsinstinkt versus Souveränitätsreflex Im Hinblick auf das Dilemma der Aufgabenzuordnung unterstreichen die Regie-
rungen der Mitgliedstaaten einerseits die Notwendigkeit, bei grenzüberschreitenden Problemen und globalen Herausforderungen in einer irgendwie gearteten
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Andreas
WesseIs
Form gemeinsam "zum Wohle der europäischen Bürger" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 2) vorgehen ZI.l müssen. In leicht variierenden Formulierungen betonen sie immer wieder: "Europa ist geeint in der Überzeugung, dass wir in der Welt von morgen nur dann unsere Interessen und Ziele vertreten können, wenn wir ZI.lsammenarbeiten" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 1). Als Ziel wird dabei vorgegeben, "einen Beitrag zum Alltagsleben der Bürger ZI.lleisten" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 6). Deutlich tritt in diesen Formulierungen ein "Problemlösungsinstinkt" der Mitgliedstaaten ZI.ltage, der das EU-System zunehmend als optimale "Problemlösungsebene" (Hrbek/Wessels 1984) erkennen lässt. Andererseits versuchen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon in einem gegenläufigen "Souveränitätsreflex" noch stärker als ZI.lvor die Zuständigkeiten der Union ZI.l begrenzen, um das Risiko der Aushöhlung der De-jure-Souveränität der Mitgliedstaaten ZI.l begrenzen. 5 Subsidiarität ist ein zentrales Losungswort, das in dieser Debatte eine prominente Stellung einnimmt, in der Praxis aber nur begrenzt Anwendung findet. Die Erfahrungen mit konkurrierenden Gesetzgebungen im "unitarischen Bundesstaat" (Hesse 1962) Deutschland verdeutlichen, dass dieses Problem kein allein der Europäischen Union eigenes Phänomen darstellt (vgl. Scharpf 1985). Gerade im Hinblick auf eine Erklärung des Integrationsprozesses muss deshalb hervorgehoben werden, dass nicht die Europäische Kommission oder der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Hauptverursacher der Aufgabenausweitung gelten können. Die Regierungen der Mitgliedstaaten selbst wollen die EU-Ebene immer intensiver nutzen, wie die jahrzehntelangen Aktivitäten des Europäischen Rats als Leitliniengeber und konstitutioneller Architekt (vgl. ZI.l diesem BegriffWesseis 2008) belegen.
3.2 Das Entscheidungsdilemma der Handlungsfiihigkeit: Ejjizienzsuche versus Letztentscheidungsvorbehalt Nach dem Beschluss über die adäquate Problemlösungsebene stehen die Mitgliedstaaten vor einem "Entscheidungsdilemma": Einerseits suchen die Mitgliedstaaten Verfahrensregeln, die die Entscheidungseffizienz stärken und damit "die künftige Handlungsfahigkeit der Europäischen Union" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 6) sichern. Andererseits ist vonseiten der Mitgliedstaaten ein immer wieder vorgebrachter Vorbehalt bei der Abgabe von Letztentscheidungsrechten feststellbar, etwa in Form von Vetos im Rat. Das Verfahrensprofil gestaltet sich als Folge vielfacher Kompromissformeln äußerst unübersichtlich. 5
Solche Bestimmungen finden sich zum Teil in den dem Vertrag zugehörigen Protokollen und Erklärungen.
Die
Union nach dem
von Lissabon
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3.3 Das Dilemma der Legitimationsquelle: eigenständig europäisch versus abgeleitet national Neben dem Prozess der Effizienzsteigerung in Kompetenzverteilung und Verfahrensordnung betont der Vertrag die Notwendigkeit, die demokratische Legitimität der Union zu steigern. Dieses Bestreben wird durch die als Titel II neu in den EUV eingebrachten "Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze" eindrücklich verdeutlicht, die in Artikel 10 EUV eine eigenständig europäische und eine abgeleitete nationale Legitimationsdimension nebeneinander stellen. Deutlich wird ein paralleler Ausbau mehrerer Verfahren, die die Legitimität auf beiden Ebenen steigern sollen. Dieses Legitimitätsdilemma zeitigt somit Wirkungen bei der Gestaltung des Vertragstexts, die durch rein effizienzsteigernde oder souveränitätserhaltende Motivationen alleine nicht erklärt werden können. Dabei ist zu beobachten, dass die Stärkung bestehender und die Einführung neuer Akteure zur Steigerung der Legitimität immer auch Auswirkungen auf die Handlungsfahigkeit der Union haben.
4. Die Neuordnung der Kompetenzen: Zwischen begrenzter Emzelermächtigung und staatsähnlicher Agenda 4.1 Ausprägungen des Souveränitätsreflexes Eine Durchsicht des Vertragswerkes im Hinblick auf die Kompetenz- und Aufgabenzuordnung offenbart mehrere Ausprägungen des Souveränitätsreflexes. Der Lissabonner Vertrag übernimmt ausdrücklich nicht die quasi-konstitutionellen, staatsanalogisierenden Charakterisierungen des Verfassungsvertrags. Bereits im Mandat für die Regierungskonferenz wurde dekretiert, dass der EUV und der AEUV keinen "Verfassungscharakter" haben dürfen (Europäischer Rat 2007c, Ziffer 4). Die Artikel des Verfassungsvertrags zu den Symbolen der Union (Hymne, Flagge, Europatag, Wahlspruch) und Bezeichnungen wie "Europäisches Gesetz"6 sind im neuen Vertrag nicht zu finden. Auch die Position des ,,Außenministers der Union" wurde urnbenannt in "Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" und ähnelt damit der Kennzeichnung dieser Position im vorherigen Vertrag von Nizza. Auch die Verbannung der Vorrangklausel des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht aus dem Vertragstext in eine Erklärung (vgl. Erklärung 17 zum Vorrang, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon) ist als Ausdruck des Bemühens zu verstehen, einer unbegrenzten Kompetenzausweitung Grenzen zu setzen - ob6
Diese Bezeichnung lebt jedoch in den neu eingeführten "ordentlichen" und "besonderen Gesetzgebungsverfahren" fort.
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gleich dieses aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hervorgehende Prinzip seit den frühen 1960er-Jahren etabliert ist (vgl. Streinz 2003, S. 75 f.). In diesem Sinne setzt auch der neu in den Vertrag aufgenommene systematisierende Zuständigkeitskatalog in den "Gemeinsamen Bestimmungen" des EIN und den "Grundsätzen" des AEIN der Unionskompetenz deutliche Schranken. Die Grundsätze der Zuständigkeitsordnung (Artikel 4 und 5 EUV) betonen das Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung", die "Verhältnismäßigkeit" und die "Subsidiarität" und unterstreichen damit die Position der Mitgliedstaaten als "Herren der Kompetenzen" - in Anlehnung an die "Herren der Verträge" (Bundesverfassungsgericht 1994). Entsprechend achtet die Union die "nationale Identität" der Mitgliedstaaten, "die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt" (siehe Artikel 4, Absatz 2 EUV). Zudem definiert der Lissabonner Vertrag mit der "nationalen Sicherheit" erstmals eine ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Artikel 4, Absatz 2 EUV). Das traditionelle Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung" wird dadurch akzentuiert, dass "alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten" ausdrücklich bei den Mitgliedstaaten verbleiben (siehe Artikel 4, Absatz 1 EIN). Artikel 48, Absatz 2 EIN betont zusätzlich, dass Regierungskonferenzen bei Änderungsverfuhren des Vertrags auch Rückführungen beziehungsweise Verringerung von übertragenen Kompetenzen vorsehen können. Ein "Protokoll über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit" grenzt zudem die Wirkungen geteilter Kompetenzen ein: "Die Ausübung von Zuständigkeiten [erstreckt] sich nur auf die durch den betreffenden Rechtsakt geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich." (Protokoll Nr. 25 über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit) Schließlich sieht eine Erklärung im Bereich der geteilten Zuständigkeiten die Möglichkeit vor, einen Rechtsakt der Union aufzuheben und so Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückzugeben (vgl. Erklärung 19 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Der Rat kann demnach aufInitiative eines oder mehrerer seiner Mitglieder die Kommission auffordern, "Vorschläge für die Aufhebung eines Rechtsaktes zu unterbreiten". Auch Erklärungen zur GASP belegen den Souveränitätsreflex: So sollen Bestimmungen des Lissabonner Vertrags "weder die derzeit bestehenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die F orrnulierung und Durchführung ihrer Außenpolitik noch ihre nationale Vertretung in Drittländern und internationalen Organisationen berühren" (siehe Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Ferner wird festgestellt, dass der Vertrag von Lissabon "der Kommission durch die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik keine neuen Befugnisse zur Einleitung
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von Beschlüssen übertragen werden und dass diese Bestimmungen die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern" (siehe Erklärung 14 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Als Antwort auf die Bedenken der irischen Bevölkerung betont der Europäische Rat zudem explizit, der neue Vertrag werde weder die Befugnisse der Union im Bereich des Steuerrechts erweitern, noch traditionelle außenpolitische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (wie etwa Neutralität) beeinträchtigen und ebenso wenig in das irische Familien- und Abtreibungsrecht eingreifen (vgl. Europäischer Rat 2008). Zwar formulieren diese Ergänzungen nur Sachverhalte und Möglichkeiten, die das bestehende Vertragswerk bereits heute vorsehen. Deutlicher als zuvor betonen die "Herren der Verträge" jedoch die Absicherung vor Risiken für die nationale Gestaltungshoheit. So markiert der Vertrag expliziter als zuvor mitgliedstaatliche Tabuzonen und nationale domaines reserw'!es - oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts: "Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse" (siehe Bundesverfassungsgericht 2009). 4.2 1m Gegenzug: Mehr Europa - eine staatsähnliche Agenda? Im Gegensatz zu dieser Tendenz beinhaltet der Vertrag von Lissabon in der Präambel und gleichzeitig in den Gemeinsamen Bestimmungen des geänderten EUV einen breit angelegten Wertekatalog sowie eine umfangreiche Ziel- und Aufgabenliste. Im AEUV führen die Mitgliedstaaten - als Ausdruck des Problemlösungsinstinkts im augenscheinlichen Widerspruch zur verstärkten Souveränitätsbetonung - in mehreren Abstufungen einen umfassenden Kompetenzkatalog der Union in den Vertrag ein. Die Formulierungen des Dokuments zeigen deutlich, dass die Vertragsväter und -mütter diese Union nicht als einen eng definierten Zweckverband (vgl. Ipsen 1972) einzig für die regulative Verwaltung eines gemeinsamen Binnenmarktes verstehen. Der neue Artikel 3 EUV spricht wesentliche Ziele staatlichen Handelns an: die allgemeinen Aufgaben der Förderung von Frieden, Werten und Wohlergehen ihrer Völker, (bereits an zweiter Stelle) die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die Errichtung eines Binnenmarkts einschließlich sozial- und regionalpolitischer Aufgaben mit der Betonung von Solidarität, die Wirtschafts- und Währungsunion, der Erhalt der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Erbes Europas und die Förderung der Werte der Union und des Schutzes der Unionsbfuger(innen) in den Beziehungen zur übrigen Welt - wobei letztere Formulierung eine gemeinsame Verteidigung in die Ziele der Union einschließt. Der mit dem Lissabonner Vertrag eingeführte Kompetenzkatalog teilt sich auf in "ausschließliche" (Zollunion, Wettbewerb, Währungspolitik, Erhaltung der
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biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik, Handelspolitik) und "geteilte" Zuständigkeiten (unter anderem Binnenmarkt, Sozialpolitik, Innen- und Justizpolitik, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz und Verkehr) sowie "Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen" der Union (unter anderem Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus und Katastrophenschutz). Zusätzlich - quasi außerhalb dieses nachvollziehbaren Katalogs - bietet der Lissabonner Vertrag Möglichkeiten zur Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik (vgl. Artikel 5 AEUV). Zu diesem Katalog zählen auch die in Artikel 24 EUV aufgeführten Zuständigkeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).7 Addiert man die erwähnten Politikfelder, so fehlt auf EU-Ebene kein zentraler Bereich der nationalen Politik, auch wenn die Verfahren zu deren Ausgestaltung in ihrer Vielfalt keine durchgängige Zentralisierung erwarten lassen. Im Hinblick auf den Problemlösungsinstinkt ist schließlich auf Flexibilitätsoptionen in der Zuständigkeitsverteilung hinzuweisen, die ihren Ausdruck in Artikel 352 AEUV als Ermächtigung zur Vertragslückenschließung finden, jedoch in spezifischer Form auch an anderen Stellen im Vertrag zu finden sind (vgl. Streinz 2003, S. 191).
4.3 Legitimität durch eigenständig europäische Grundrechte? Zum Bereich der Kompetenzordnung sind trotz ihrer "Verbannung" aus dem Vertragswerk auch der Artikel zur Charta der Grundrechte und das dazugehörige Protokoll zu zählen. Zwar wird im neuen Artikel 6, Absatz 1 EUV auf die Charta Bezug genommen und ihr "dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge" zugesprochen, der Text selber wird jedoch nicht dem Primärrecht zugeordnet. In diesem Kontext werden die Auswirkungen des Legitimitätsdrucks deutlich: Aufgrund ihrer bereits erreichten Kompetenzfiille soll die Union einerseits als Wertegemeinschaft den Grundrechteschutz auf europäischer Ebene kodifizieren und die Charta der Grundrechte in einer modifizierten Fassung als rechtsverbindlich anerkennennicht zuletzt, um grundlegenden legitimatorischen Ansprüchen zu genügen. Dem Souveränitätsreflex folgend betont der zweite Unterabsatz des Artikels 6, Absatz 1 EUV jedoch: ,,Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert." Für die Anwendung der Charta sieht ein zusätzliches Protokoll (vgl. Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union 7
Interessanterweise weist der Lissabonner Vertrag diesen Bereich jetzt als "Gemeinsam" und nicht mehr als "Europäisch" aus.
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Union nach dem
von Lissabon
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auf Polen und das Vereinigte Königreich) eine Sonderregelung fiir das Vereinigte Königreich, Polen und in Zukunft auch die Tschechische Republik vor (vgl. Europäischer Rat 2009a). Dieses schafft eine weitere Form von Opt-outs in der ohnehin langen Liste von Ausnahmeregelungen, die insbesondere das Vereinigte Königreich in Anspruch nimmt. Bestanden bisherige Varianten insbesondere darin, sich an geplanten neuen Politikfeldern nicht zu beteiligen, wird mit diesem Protokoll eine Ausnahmeregel vom Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten formuliert. Die Einheitlichkeit der Rechtsgemeinschaft (vgl. Hallstein 1979; Mayer 2005), die als ein besonderes Gut der Integrationskonstruktion gesehen wird, wird dadurch erneut und verstärkt durchbrochen.
5. Die Neuordnung der institutionellen Architektur: Legitimitätsdruck und Handlungsfähigkeit 5.1 Demokratische Grundsätze: Duale Legitimität als institutionelle Leitidee Der Vertrag von Lissabon stellt den veränderten "Bestimmungen über die Organe" in seiner Neuordnung der Artikel des EUV die ebenfalls neuen "Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze" der Union voran. Diese sind gleichsam als institutionelle Leitidee dem Aufbau der institutionellen Architektur vorgeordnet. Betont wird ein duales Legitimationsprinzip: die Union als "Union der Bürgerinnen und Bürger" und als "Union der Staaten". Die Beteiligung der Bürger auf der europäischen Ebene als eigenständig europäisches Legitimationselement wird durch das Europäische Parlament als ihrer Vertretung gewährleistet, während die Mitgliedstaaten durch ihre demokratisch legitimierten Regierungen im Rat vertreten sind (vgl. Artikel 10, Absatz 2 EUV). Zur "Union der Bürger" ist zudem die neu eingeführte Möglichkeit zur "Bürgerinitiative" (Artikel 11 ,Absatz 4 EUV) zu zählen; die verstärkte Beteiligung nationaler Parlamente (Artikel 12 EUV) hingegen ist beiden Prinzipien zuzuordnen. Als zentrale Grundsätze dieses Selbstverständnisses können "Gleichheit" (Artikel9 EUV), "repräsentative Demokratie" (Artikell 0 ElJV, Absatz 1) und "Partizipation" (Artikel 11 EUV) identifiziert werden. Die "demokratischen Grundsätze" umfassen auch den Verweis auf die Rolle politischer Parteien in der Herausbildung eines "europäischen politischen Bewusstseins" (Artikell 0 ElJV, Absatz 4) sowie die Rolle der nationalen Parlamente (Artikel 12 EUV). Die Betonung der Beteiligungsrechte nationaler Parlamente an dieser Stelle ist eine Neuerung des Lissabonner Vertrags und als Antwort auf den Vorwurf sowohl eines demokratischen
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Defizits der Union als auch der vermeintlichen Aushöhlung nationaler Souveränität - insbesondere der Parlamentshoheit - zu verstehen. Die Legitimität europäischer Entscheidungen soll so durch eine abgeleitete - und teilweise vorgelagerte - nationale Dimension gefestigt werden.
5.2 Akteure in der institutionellen Architektur: gesteigerte Handlungsfähigkeit der Institutionen? Der Lissabonner Vertrag sieht eine Reihe von Veränderungen im institutionellen Aufbau der Union vor, deren Formulierungen einen hohen Grad an Mehrdeutigkeit aufweisen und damit auch potenzielle Konflikte fiir die Handlungsfähigkeit der Union erkennen lassen. Zu diskutieren ist, wie sich die neuen Bestimmungen auf das reale Verhalten der Akteure auswirken (werden) und ob die Neuerungen bei einzelnen Akteuren einer Steigerung der Handlungsfähigkeit der Union insgesamt zuträglich sein können (vgl. Lequesne 2007; Wesseis 2008). Eine prominente Neuerung ist der (Vollzeit)Präsident des Europäischen Rats, der nun fiir eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt wird (vgl. Artikel 15, Absatz 5 EUV). Seine Aufgabenbeschreibung lässt die Präferenz der Staats- und Regierungschefs erkennen, ihre eigene Institution handlungsfähiger zu gestalten, legt aber auch den Schluss nahe, dass sie als "Herren der Verträge" eine zusätzliche Instanz zur Kontrolle anderer Institutionen installieren wollen. Einem möglichen Kontrollverlust seitens der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Handlungen der Kommission, aber auch des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik, könnte so durch die Installation eines zusätzlichen "Wächters" Einhalt geboten werden. Schließt man das "Gesetz der unerwarteten Folgen" nicht aus, so kann diese Position - wie in der öffentlichen Debatte schon jetzt immer wieder anklingt - auch zum "Präsidenten der Union" insgesamt stilisiert werden - verbunden mit einer deutlichen Abwertung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, insbesondere des jeweiligen (nach wie vor bestehenden) Ratsvorsitzes. Die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rats kann so zwischen zwei Polen verortet werden: Der Amtsinhaber kann als ein "üblicher" Vorsitzender handeln, der die Arbeit seines Gremiums vereinfacht und beschleunigt; er kann sich aber auch als Präsident im Sinne der französischen Rollendefinition verstehen, der insbesondere nach außen als Repräsentant "Europas" auftritt (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 49). Die Benennung des ersten Amtsinhabers gibt bereits Hinweise darauf, wie die Staatsund Regierungschefs diese Rolle verstehen. Mit der Wahl Herman Van Rompuys, und nicht etwa des lange als aussichtsreicher Kandidat gehandelten ehemaligen Premierministers des Vereinigten Königreichs, Tony Blair, zeigte der Europäische Rat eine deutliche Präferenz fiir eine Person, deren vornehmliehe Stärke im Aus-
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von Lissabon
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handeln von Kompromissen zu liegen scheint (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 21). Da im Sinne einer Pfadabhängigkeit die erste Amtszeit prägend sein wird, gilt es weiterhin zu beobachten, wie der Amtsinhaber seine Position zwischen interner Koordination und externer Repräsentanz ausübt - nicht zuletzt gegenüber anderen Institutionen wie der Kommission (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 75 f.). Eine Innovation besonderer Art ist weiterhin der "Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" (Artikel 18 EUV), der der Union mit der Unterstützung eines "Europäischen Auswärtigen Diensts" (Artikel 27,Absatz 3 EUV) in der internationalen Politik "Gesicht" und "Stimme" verleihen soll. Der Hohe Vertreter wird dazu den Vorsitz im Rat für ,,Auswärtige Angelegenheiten" einnehmen, gleichzeitig übernimmt er die Funktion des derzeitigen Kommissars für Außenbeziehungen und fungiert dabei als einer der Vizepräsidenten der Kommission (vgl. Artikel 18,Absätze 3 und 4 EUV). Dieser "Dreifachhut", den der Amtsträger tragen soll, ist ein fast schon idealtypischer Indikator des Ebenen- und Entscheidungsdilemmas, dem die "Herren der Verträge" durch eine komplexe institutionelle Fusion zu entkommen versuchen. Zum Schutz gegen eine "ungebührliche" Stärkung dieser Position wird gleichzeitig der Fortbestand der außenpolitischen Autonomie der Mitgliedstaaten betont (vgl. Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon), die sich auch im Festschreiben intergouvernementaler Verfahren niederschlägt - mit Einstimmigkeit im Rat als Regelfall, einer schwachen Position für Kommission und Parlament und keiner Zuständigkeit für den Gerichtshof (vgl. Artikel 24, Absatz 1 EUV). Die Sicherung der Kohärenz außenpolitischen Handeins wird sich für die derzeitige Amtsinhaberin Baroness Catherine Ashton so höchst anspruchsvoll gestalten (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 143; Avery 2007). Gegenüber diesen neuen Ämtern stärkt der Lissabonner Vertrag aber auch die Rechte des Präsidenten der Kommission (vgl. Artikel 17, Absatz 6 EUV) sowie dessen Legitimation durch die "Wahl" seitens des Europäischen Parlaments (vgl. Artikel 14, Absatz 1; CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 27). Ein Resultat des negativen Referendums in Irland ist der Verzicht auf die ursprünglich geplante Verkleinerung der Kommission, die eigentlich die Handlungsfahigkeit dieser Institution verbessern sollte (vgl. Europäischer Rat 2008). Es wurde deutlich, dass die konstitutionellenArchitekten die besondere Symbolfunktion des Kommissars als Identifikationspunkt für die Bürger - nicht nur in Irland - unterschätzt hatten. Auch hier wird die latente Spannung zwischen der Suche nach Effizienzsteigerung und der Stärkung der legitimatorischen Dimension der Integrationskonstruktion offenbar. Bei der unausweichlichen Auseinandersetzung um zentrale Führungsrollen darf der Ratsvorsitz als vierte Institution in diesem neu geschaffenen "Führungs-
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quartett" nicht übersehen werden. Neben dem permanenten Präsidenten des Europäischen Rates bleibt im Rat - mit Ausnahme des Rats für "Auswärtige Angelegenheiten" - das bisherige Rotationsprinzip mit einigen Änderungen bestehen. Nach einem Beschluss des Europäischen Rats über die Ausübung des Vorsitzes im Rat vom 27. November 2009 soll eine Gruppe von jeweils drei Mitgliedstaaten eine" Team-Präsidentschaft" für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrnehmen (vgl. Europäischer Rat 2009b). Die Verteilung soll nach dem Prinzip der gleichberechtigten Rotation "unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union" festgelegt werden. Wurde mit Bezug auf die bisherige Regelung in der kurzen Dauer des Vorsitzes ein Defizit hinsichtlich der Kontinuität der Zielsetzung über den Zeitraum des Vorsitzes hinaus gesehen, stellt sich nun die Frage nach der Koordination zwischen den diversen Vorsitzen (vgl. CEPSIEGMONT und EPC 2010, S. 65 ff.). Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der Tagungen des Europäischen Rats, an der sowohl der Präsident desselben als auch der Kommissionspräsident als dessen Mitglieder sowie der Hohe Vertreter als Teilnehmer (vgl. Artikel 15, Absatz 2 EUV) und die Team-Präsidentschaft über den Vorsitz des Rats für ,,Allgemeine Angelegenheiten" (vgl. Artikel 16, Absatz 2 EUV) beteiligt sind. Durch die Aufstellung des neuen Führungsquartetts wird die Aufgabenwahrnehmung zwar auf eine kontinuierlichere Basis gestellt, die Vertragsbestimmungen erhöhen jedoch gleichzeitig die Zahl der Akteure in verantwortlichen Positionen. Nachteile bilden zumindest in den ersten Jahren die zu erwartende Verwirrung bezüglich Zuständigkeiten, Wettstreit um Einfluss und damit eine Verwässerung und Verwischung von Verantwortlichkeiten. Die Stärkung der einzelnen Positionen kann in der Summe zu einem ungeordneten Neben- und Gegeneinander innerhalb der institutionellen Architektur führen und so die Handlungsfähigkeit - entgegen den Absichten der Vertragsväter und -mütter - schwächen.
6. Die Neuordnung der Verfahren: Schritte zum Ausbau einer effizienten und legitimen (Gemeinschafts)methode
6.1 Mehr europäische Demokratie? Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments und die Bürgerinitiative Deutlich feststellbar ist eine Ausweitung zentraler Verfahrensmodalitäten, die in der Regel der früher so genannten Gemeinschaftsmethode zugeschrieben werden. Wie die vergangenen Vertragsrevisionen wird auch der Lissabonner Vertrag die Aufgaben des Europäischen Parlaments ausbauen, dessen parlamentarische Funktionen
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Die Europäische Union nach dem. Vertrag von Lissabon
stärken und somit die eigens:tindig emopäische Legitimitätsdimension der Union verstärken. Er wertet die Rolle eines Organs auf, das außerhalb des direkten Einflussbereichs nationaler Regierungen liegt und dem eine besondere Bedeutung tür die demokratische Legitimität europäischer Rechtsakte zugeschrieben wird (vgl. Pinder 1986 und 2000; LeinenlSchönlau 2003). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusmnmenhang der Ausbau der Legis1ativrechte des Parlaments (vgl. Abbildung 1). Das bisherige Mitentscheidungsverfahren. das dem Europäischen Parlament dem Rat gleichgestellte Betei1igungsmöglichkeiten einräumt, wird nicht nur dem. Begriffnach zum. "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren", sondern auch der Zahl der Artikel nach zu einem ,,NormalfaU". Der Lissabonner Vertrag wird dieses Verfahren in 35 Entscheidungsfiillen zusiitzlich einführen und auf weitere zentrale Politikbereiche ausdehnen - so beispielsweise auf die Asyl- und Einwanderungspolitik und MaßnAhmen gegen internationale Kriminalität und Terrorismus (vgl. CEPS!EGMONTIEPC 2010, S. 36). Das "ordentliche Gesetzgebungsverfahren" stellt so unter den Vertragsartikeln das mit Abstand am häufigsten anzuwendende einzelne Verfahren dar (in 80 von 256 Vorgaben mit Verfahrensbezug).
Abbildung 1: Entwicklung vertraglicher Beteiligungsrcchtc des Europäischen
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Neben diesem Verfahren gewinnt nach den neuen Veruagsgrundlagen auch das Verfahren der Zustimmung an Bedeutung für Grundsatzentscheidungen. Auch im jährlichen Haushaltsverfahren, das der Lissabonner Vertrag - im Unterschied zu den bislang gültigen Vertragsartikeln - in wesentlichen Schritten dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren annähert, hat das Parlament an Rechten gewonnen. Bezüglich der Wahlfunktion hat der Vertrag von Lissabon eindeutig die Rechte des Europäischen Parlaments festgeschrieben. Es "wählt den Präsidenten der Kommission" (Artikel 14 Absatz 1 EUV) mit der "Mehrheit seiner Mitglieder" (Artikel 17 Absatz 7 EUV), auch wenn das Initiativrecht für den Vorschlag beim Europäischen Rat bleibt. Auch im Bereich der Vertragsrevisionen weitet der Vertrag von Lissabon die bisher sehr spärlichen Beteiligungsrechte des Parlaments aus und richtet nun auch rechtlich gefasste Möglichkeiten zur Initiative und zur Vorbereitung von Regierungskonferenzen im Bereich des ordentlichen und des vereinfachten Änderungsverfahrens ein (vgl. Artikel 48 EUV). Durch seine Mitwirkung im einzuberufenden Konvent im Rahmen des ordentlichen Änderungsverfahrens ist das Parlament nun zusätzlich an der Ausformung der Vertragsänderungen beteiligt. Die endgültige Beschlussfassung in den Änderungsverfahren ist jedoch allein den Mitgliedstaaten und damit de facto dem Europäischen Rat vorbehalten. Der Lissabonner Vertrag bestätigt damit das Monopol der "Herren der Verträge" - und damit den Souveränitätsrefiex - bei diesem Letztentscheidungsrecht über Kompetenzen und Verfahrensordnung der Union - der viel beschworenen "Kompetenz-Kompetenz". Neben dem Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments ist auch die Einfiihrung einer "Bürgerinitiative" zur Verbesserung - eigenständig europäischer - demokratischer Legitimität näher zu diskutieren. Artikel 11 ,Absatz 4 EUV erlaubt einer Anzahl von mindestens einer Million Unionsbürgem "aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten" die Kommission aufzufordern, Rechtsakte zur Umsetzung der Verträge zu initiieren. Laut eines Vorschlags der Kommission für eine "Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative" (siehe Europäische Kommission 2010) soll diese Anzahl ein Drittel der Mitgliedstaaten betragen; zudem legt der Vorschlag eine Mindestzahl der aus jedem der beteiligten Mitgliedstaaten stammenden Bürger fest. Obwohl diese Bestimmungen also eine Option direkter Partizipation schaffen, erscheint die Tragweite dieses direktdemokratischen Elements zunächst begrenzt. Die Kommission bleibt das Nadelöhr; ihr Initiativmonopol wird auch durch Bürgerbeteiligung nicht umgangen. Es erscheint jedoch möglich, dass derartige Referenden - eventuell stärker als politische Parteien - zur Herausbildung eines "europäischen poli-
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon
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tischen Bewusstseins" und zum ,,Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union" (siehe Artikel 10, Absatz 4 EUV) beitragen können.
6.2 Mehr Handlungsjähigkeit? Ausdehnung der Mehrheitsabstimmungen im Rat Für die Entscheidungsmodalitäten des Rats bleibt zunächst festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten im Lissabonner Vertrag die Anwendungsbereiche für eine Beschlussfassung nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Rat gegenüber der Version von Nizza bedeutend ausdehnen (vgl. Abbildung 2). Unter den von dieser Ausweitung erfassten Politikbereichen ist insbesondere die Innen- und Justizpolitik zu nennen. Hier stellt nun das qualifizierte Mehrheitswahlverfahren den Regelfall. 8
Abbildung 2: Entwicklung der Entscheidungsarten im Rat von 1952 bis 2009 140
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• Einstimmigkeit
Zur besonderen qualifizierten Mehrheit wird Folgendes zusammengefasst: • die QM mit 72 % der Mitglieder und 65 % Bevö1kerungsanteil, wenn Entscheidungen nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Außenministers gefällt werden (Artikel 238 Absatz 2 AEUV) • qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ausgenommen dem betroffenen Mitgliedstaat (QM minus 1) • qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, an denen nur eine Gruppe bestimmter Staaten beteiligt sind wie z.B. verstärkte Zusammenarbeit oder Entscheidungen der Euro-Gruppe Quelle: Eigene Berechnung aufbauend auf Wesseis 2008, S. 195 und MaurerlWessels 2003, S. 61. 8
In den Bestimmungen des Ver1rags von Lissabon lassen sich in diesem Politikbereich 18 Anwendungsbereiche des qualifizierten Mehrheitswahlverfahrens gegenüber 10 der Einstimmigkeit identifizieren.
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Als Teil des Souveränitätsreflexes und des Letztentscheidungsvorbehalts haben sich die Mitgliedstaaten jedoch in zentralen Bereichen der Innen- und Justizpolitik (vgl. Artikel 82 und 83 AEUV) und der Sozialpolitik (vgl. Artikel 48 AEUV), für die der Lissabonner Vertrag ein Mehrheitsvotum einführt, Vetomöglichkeiten vorbehalten. Im Falle der Bedrohung "wichtiger Aspekte [des] Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere dessen Geltungsbereich, Kosten oder Finanzstruktur" (im Bereich der Sozialpolitik) oder "grundlegender Aspekte [der] Strafrechtsordnung" (im Bereich der Innen- und Justizpolitik) eines Mitgliedstaates durch einen vorgeschlagenen europäischen Rechtsakt kann so ein solcher Einwand zu einer Suspendierung des Mehrheitswahlverfahrens und einer Überweisung an den Europäischen Rat führen, der einstimmig entscheidet. Im Bereich der GASP wird eine solche "Notbremse" fortgeschrieben (Artikel 31, Absatz 2 EUV). Die geschilderten "Notbremsen" erfahren ihrerseits wiederum Einschränkungen. Der Einspruch einzelner Mitgliedstaaten in den genannten Bereichen kann demnach - so in der Innen- und Justizpolitik - von anderen Mitgliedstaaten zur Einleitung einer "verstärkten Zusammenarbeit" genutzt werden. "Notbremse" und "Gaspedal" sind so eng verknüpft. Zusätzlich bietet der Vertrag von Lissabon - wie auch schon seine Vorgänger - durch sogenannte Brückenregelungen ("Passerelle-Klauseln") die Möglichkeit, eine Effizienzsteigerung der Verfahren durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in Bereichen zu erreichen, in denen laut Vertrag Einstimmigkeit vorgesehen ist (vgl. Artikel 48, EUV Absatz 7).
6.3 Einschränkungen und Variationen des Letztentscheidungsvorbehalts? Die Regelungen zur qualifizierten Mehrheit im Rat Während bei der Ausweitung der Anwendungsbereiche des qualifizierten Mehrheitswahlverfahrens im Unterschied zu vorangegangenen Regierungskonferenzen wenige Konflikte beobachtbar waren, erwiesen sich die Regeln für Mehrheitsabstimmungen im Rat als zentrale Kontoverse im Vorfeld der politischen Einigung zum Lissabonner Vertrag. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Suche nach einem Ausgleich zwischen Effizienzsuche in der Beschlussfähigkeit des Organs und der Absicherung nationaler Letztentscheidungsvorbehalte. Nach zähem Ringen einigte man sich letztlich auf eine tTbernahrne einer "doppelten Mehrheit", die die Bestimmungen des Verfassungsvertrags aufgreift. Als Kompromiss wurde jedoch beschlossen, die Einführung der doppelten Mehrheit bis zum 1. November 2014 zu verzögern (Artikel 16, Absatz 4 EUV). Bis da-
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hin gelten die Bestimmungen des Vertrags von Nizza mitsamt seinen gewichteten Stimmen und dem dreifachen Quorum (vgl. Übersicht 3). Für einen Übergangszeitraum vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 räumt das "Protokoll über die Übergangsbestimmungen" zudem die Möglichkeit ein, auch nach Einführung der doppelten Mehrheit auf Antrag eines Mitgliedstaates weiterhin auf die Regelungen von Nizza zu rekurrieren. Damit bestehtfür diesen Zeitraum von zweieinhalb Jahren eine Art "Reserveoption". Die doppelte Mehrheit setzt :für das Zustandekommen eines Rechtsakts die Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rats voraus, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern,9 sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen (vgl. Artikel 16 Absatz 4 EUV - siehe Übersicht 3). Als eine Konzession an die bevölkerungsarmen Mitgliedstaaten setzt der zweite Unterabsatz voraus, dass :für die Bildung einer Sperrminorität mindestens vier Mitglieder des Rates (das heißt also nicht nur drei große Mitgliedstaaten, die zusammen mehr als 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren) notwendig sind, andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Dieses letzte Kriterium verleitet einige Kommentatoren dazu, hier eher von einer "dreifachen Mehrheit" zu sprechen (CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 63). Analog zu den bestehenden Regelungen gilt zudem ein erhöhtes Quorum :für diejenigen Rechtsakte, die nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters zustande kommen. In diesen in 13 Vertragsartikeln vorgesehenen Fällen ist eine Zustimmung von 72 Prozent der Mitgliedstaaten bei gleichbleibendem Bevölkerungsquorum :für eine Verabschiedung des Rechtsakts vonnöten.
Übersicht 3: Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit nach Nizza und Lissabon Vertrag von Nizza (EU 27)
· · ·
Mehrheit der Mitgliedstaaten 255 der insgesamt 345 gewogenen Stimmen (ca. 74 %) 62 % der Gesamtbevölkerung der Union (Prüfung auf Antrag eines Mitgliedstaats)
Vertrag von Lissabon
· · ·
55 % der Mitgliedstaaten (mind. 15) 65 % der Bevölkerung Sperrminorität: mind. 4 Mitgliedstaaten
Eigene Darstellung.
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Dieser eigentlich überflüssige Zusatz ist wohl der Verhinderung mathematischer Spitzfindigkeiten geschuldet. Relevant könnte er wohl im Falle eines nun legal möglichen Austritts eines Mitgliedstaates werden.
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Zur Ermöglichung eines Kompromisses enthält der Vertrag von Lissabon - insbesondere auf Drängen der polnischen Regierung - zudem eine Erklärung (Erklärung 7 zu Artikel 16, Absatz 4 des EU-Vertrags und zu Artikel 238, Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon), die den sogenannten Kompromiss von Ioannina (vgl. Beschluss des Rates vom 29. März 1994 über die Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit) aufgreift und die Möglichkeit einer Form des "suspensiven Vetos" eröffnet. Nach dieser Formel können Mitglieder des Rates ffir die Übergangsperiode vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 den Rat zu weitergehenden Verhandlungen auffordern, falls sie mindestens drei Viertel der Bevölkerung oder mindestens drei Viertel der Mitgliedstaaten vertreten, die ffir die Bildung einer Sperrminorität erforderlich sind. Der Rat soll "alles in seiner Macht Stehende" tun, um innerhalb einer "angemessenen Zeit" und unter Beachtung der vertraglich vorgesehenen zwingenden Fristen eine zufrieden stellende Lösung zu finden (siehe Erklärung 7 zu Artikel 16 Absatz 4 des EU-Vertrags und zu Artikel 238 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Als Kompensation ffir den Wegfall der "Reserveoption" ab dem 1. April 20 17 soll der Schwellenwert ab diesem Zeitpunkt dauerhaft auf 55 Prozent der Mitgliedstaten beziehungsweise 55 Prozent der Bevölkerung, die ffir die Bildung einer Sperrminorität erforderlich sind, gesenkt werden. Übersicht 4 präsentiert einen Überblick über die Kriterien der qualifizierten Mehrheit, die im Falle der Ratifikation des Lissabonner Vertrags sukzessive in Kraft treten werden und fasst den Ablauf der Regeländerungen zusammen. Bei der Bewertung dieser Regelungen ist eine gewisse Nüchternheit geboten. Der verbesserten Handlungsfahigkeit des Rates (und damit der Union insgesamt) kommt in erster Linie die Ausweitung der Anwendungsfalle der qualifizierten Mehrheit zugute. Dieses Entscheidungsverfahren - ungeachtet seiner spezifischen Regelungen - setzt die Verhandlungen im Rat einer Dynamik aus, die die Beschlussfassung erleichtert (vgl. Hayes-RenshawlWallace 2006). In diesen Politikfeldem kann sich kein Mitgliedstaat darauf verlassen, seine Interessen durch Ausübung eines Vetorechts zu wahren.
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Übersicht 4: Vertragsregelungen zur Bestimmung der qualifizierten Mehrheit Zeitablauf
Vertragsregelung
1. Dez. 2009
Berechnung nach den Regelungen von Nizza (protokoll über die Übergangsbestimmungen, Artikel 3 Absatz 3)
1. Nov. 2014
Berechnung nach der doppelten Mehrheit von Lissabon (Artikel 16 Absatz 4 EUV) Auf Antrag eines Mitgliedstaats: Berechnung nach den Regelungen von Nizza (Protokoll über die Übergangsbestimmungen, Artikel 3 Absatz 2) Suspensives Veto (Beschluss des Rates über die Anwendung des Artikels 16 Absatz 4 EUV, Artikel 1): 33,75 % der Mitgliedstaaten (drei Viertel der Spemninorität): 10 Mitgliedstaaten oder 26,25 % der Bevölkerung (drei Viertel der Spernninorität): ca. 128 Mio.
1. April 2017 Berechnung nach der doppelten Mehrheit von Lissabon (Artikel 16 Absatz 4 EUV) Suspensives Veto (Beschluss des Rates über die Anwendung des Artikels 16 Absatz 4 EUV, Artike14): 24,75 % der Mitgliedstaaten (55 % der Sperrminorität): 7 Mitgliedstaaten oder 19,25 % der Bevölkerung (55 % der Spernninorität): ca. 94 Mio. Eigene Darstellung.
Zunächst ist festzustellen, dass die qualifizierte Mehrheitswahl ein nonnales Phänomen im Leben des Rats darstellt, also vom Rat tatsächlich praktiziert wird. Entgegen der häufig geäußerten Darstellung, Konsens stelle im Rat die "angemessene" (March/Olsen 2004) Verhaltensnonn dar und verdränge daher die Relevanz von vertraglich vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen, belegen empirische Studien die Akzeptanz der qualifizierten Mehrheitswahl. Von 2002 bis 2006 wurde demnach in 10 bis 22 Prozent der Rechtsakte des Rats tatsächlich abgestimmt (vgl. Hagemann/Clerck-Sachsse 2007, S. 13). Die Verhaltensmuster von Ministern und Beamten mögen zwar eine deutliche Neigung zur Konsenssuche zeigen, sie wird jedoch durch das Risiko einer möglichen Überstimmung dynamisiert: Verhandlungen im Rat stehen - bei entsprechenden Vertragsregeln - nach Aussagen von beteiligten Akteuren immer im "Schatten" möglicher Abstimmungen (Hayes-RenshawIWallace 2006, S. 259). Die Einschätzung über die Auswirkungen der neuen Bestimmungen auf die Handlungsfähigkeit des Rats variieren. Manche Analysen sehen in dem Senken der Schwelle für Mehrheitsbeschlüsse einen Gewinn an Entscheidungseffizienz, rechtlicher Sicherheit und demokratischer Verantwortlichkeit (vgl. CEPSIEGMONTI EPC 2007, S. 66). Dagegen lässt eine hier bevorzugte Auflistung möglicher Koalitionen für gestaltende Mehrheiten beziehungsweise für Spernninoritäten keine wesentliche Verbesserung der Handlungsfähigkeit des Rats erkennen (vgl. Über-
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sicht 5). Lediglich geringfügige Veränderungen gegenüber dem gegenwärtig gültigen Regelwerk sind ersichtlich, so etwa der Verlust der Sperrminorität für die 2004 bzw. 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten und für die Ostseeanrainer. Auch weiterhin erreichen die 23 kleinsten Mitgliedstaaten keine gestaltende Mehrheit und die größten 14 verlieren zudem aufgrund des neuen Staatenquorums ihre Gestaltungsmehrheit, obwohl sie 90 Prozent der Unionsbevölkerung repräsentieren. Entgegen anderslautenden Bewertungen ist demnach in den neuen Regelungen weder eine Dominanz des Bevölkerungsquorums noch ein Übergewicht des Staatenkriteriums zu erkennen. Angesichts dieser Ergebnisse ist auch die häufig vorgenommene Analyse der Veränderungen in der jeweiligen relativen Entscheidungsrnacht einzelner Staaten als weniger bedeutsam einzustufen (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 67 fI.).
Übersicht 5: Koalitionen für qualifizierte Mehrheiten und Sperrminoritäten (EU 27) Anzahl der Staaten
EU-6 EU-9 EU-12 EU-15 NATO-Staaten 3 größte MS
6 9 12 15 21
14 größten MS 23 kleinsten MS EURO-Gruppe
3 14 23 15
Mittelmeerraum Ostseeanrainer Beitrittsländer 2004/07 Alte Nettozahler")
7 8 12 11
Bevölkerungsquote EU-27
Gewogene Stimmen
Gestaltende Mehrheit Nizza
Lissabon
SperrMinorität Nizza
Lissabon
46,77%
116
Nein
Nein
61,06% 74,5% 79,1 % 94,3 % 41,57%
159 210 237 304
Nein Nein Nein
Nein Nein Ja
Ja Ja Ja Ja
Ja Ja Ja Ja
Ja Nein
Ja Nein
Ja Ja/Nein')
Ja Nein Nein
Nein Nein Nein
Ja Ja
Ja Nein Ja Ja
Nein Nein Nein Nein
Nein Nein Nein Nein
Ja Ja Ja Ja
Ja Ja Nein Nein
Ja
Ja
90.49 % 46,51 % 64,6%
87 267 229 202
38,01 % 30,02 % 20,9% 64,8%
116 95 108 179
.) abhängig von einem Antrag auf Überprüfung des Anteils der Gesamtbevölkerung. b) Stand 2005/EU-25, Quelle: Eurostat 2006. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Berechnungen von Niklas Helwig 2007. Bevölkerungszahlen: Eurostat - Schätzung für den 1.1.2008.
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6.4 Mehr abgeleitete Demokratie? Der Ausbau der Rechte nationaler Parlamente Die möglichen Spannungen und Widersprüchlichkeiten des dreifachen Dilemmas schlagen sich erneut und nachhaltiger als in bisherigen Vertragswerken in der Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente nieder (vgl. Artikel 12 EUV), mit dem die nationale Komponente der Legitimitätsquelle der Union ausgebaut werden soll. Neben einem umfassenderen Anspruch auf Unterrichtung wird nationalen Abgeordneten ein Satz an Einspruchsrechten zuteil (vgl. Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Union und Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit). Nach entsprechenden Protokollen haben nationale Parlamente im Rahmen eines "Frühwarnsystems" acht Wochen nach Vorlage eines Entwurfs für einen Gesetzgebungsakt Zeit, eine begründete Stellungnahme hinsichtlich der Übereinstimmung des Entwurfs mit den Grundsätzen der Subsidiarität abzugeben. Übersteigt die Anzahl der negativen Stellungnahmen ein bestimmtes Quorum, muss der Entwurf "überprüft" werden. Dieses Quorum beträgt im Falle von Vorlagen beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Mehrheit, im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ein Viertel und in allen übrigen Fällen ein Drittel aller Parlamente. lO Das Erreichen derartiger Schwellenwerte hat jedoch nur aufschiebende Wirkung. Die für die Vorlage des Entwurfs zuständige Institution - im Regelfall die Kommission - kann nach Prüfung der Einwände beschließen, "an dem Entwurf festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen". Hält die Kommission bei einem Gesetzgebungsakt im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens an ihrem gerügten Entwurf fest, können der Rat mit einer Mehrheit von 55 Prozent seiner Mitglieder oder das Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen den Entwurfverwerfen. Die für diese Ablehnung notwendigen Quoren ähneln beziehungsweise überschreiten jedoch ohnehin die Anforderungen an Sperrminoritäten im Rechtsetzungsprozess, sodass bei diesem Regelwerk innerhalb der EU-Architektur keine qualitativ neuen Verfahrensformen eingeführt werden. Dessen ungeachtet verdeutlichte die - vorwiegend national geführte - Diskussion im Zuge nationaler Gerichtsverfahren zum Lissabonner Vertrag insbesondere in der Tschechischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, dass nationalen Parlamenten innerhalb der EU-Politik zunehmend Bedeutung zugeschrieben wird. So schreibt das den Anforderungen des Bundesverfassungsge10
Das ,,Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" sieht vor, jedem Parlament zwei Stimmen zuzuteilen. Diese werden in Zweikammersystemen auf beide Kammern verteilt. Die Quoren beziehen sich auf die Zahl der Stimmen - unterschiedliche Kammern können so unterschiedliche Meinungen kundgeben.
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richts angepasste "Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union" (Integrationsverantwortungsgesetz) eine grundsätzliche Zustimmung des Bundestags in allen Fällen möglicher Kompetenzausweitung vor. Von nachhaltiger Relevanz könnte sich zudem die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs fiir die Befolgung des "Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" erweisen (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 113). Nach dessen Artikel 8 kann eine Klage wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip dem Europäischen Gerichtshof "von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden". Das genannte bundesdeutsche Integrationsverantwortungsgesetz etwa ermöglicht bereits einem Viertel der Abgeordneten des Bundestages, eine derartige Subsidiaritätsklage einzuleiten. Der EuGH könnte so - neben nationalen Gerichten - zum "Partner" nationaler Parlamente - gegebenenfalls auch nur Minderheiten nationaler Abgeordneter - gegen die qualifizierte Mehrheit nationaler Regierungen und der Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden.
7. Eine abschließende Antwort aufkonstiiutionelle Grundfragen? Die Übersicht über die Kompetenzordnung, die institutionelle Architektur und die Verfahrensordnung der Union nach dem Vertrag von Lissabon hat die zentralen Dilemmata verdeutlicht, mit denen die Mitgliedstaaten bei ihrem Versuch konfrontiert sind, fiir die gegenwärtigen Gestaltungsprobleme einen adäquaten Problemlösungsraum sowie eine möglichst effiziente Verfahrensordnung unter Wahrung nationalstaatlicher Domänen und legitimatorischer Grundanforderungen zu finden. Das gegenwärtige Resultat dieses Versuchs ist - wie nicht anders zu erwarten - erneut von einer Kompromiss und Konsens ermöglichenden Komplexität gekennzeichnet. Die Komplexität des Textes ist dabei nicht redaktioneller Nachlässigkeit geschuldet, sondern dokumentiert die mühsame Suche nach politisch tragfähigen Formulierungen. Das Ausbalancieren von Interessengegensätzen ffihrt - wie bei Verfassungen fOderaler Systeme - notwendigerweise zu Mehrdeutigkeiten, deren Tragfähigkeit sich erst in der gelebten Praxis erweisen wird. Dieser Befund ffihrt zur eingangs aufgeworfenen Frage zurück, ob und inwieweit der Vertrag von Lissabon Lösungen bietet, die dem dreifachen Dilemma abschließend begegnen? Die Analyse des Einflusses des Vertrags von Lissabon auf die konstitutionelle Entwicklung der Union kommt je nach Betrachtungsperspektive und Zeithorizont zu unterschiedlichen Bewertungen. In einer kurzfristigen Perspektive lassen
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eine Reihe von Veränderungen des Regelwerks bei einzelnen Institutionen und Verfahren ein Mehr an Handlungsfähigkeit sowie demokratischer Mitwirkung und Kontrolle erwarten. Ob und wie diese Auswirkungen der Neuregelung einander verstärken oder vielleicht sogar beeinträchtigen, wird sich allerdings erst im Laufe der weiteren Erprobungsphase herausstellen. Die Hoffuung der Beteiligten besteht in erster Linie darin, die gegenwärtige Diskussion von institutionellen Fragen, die die Agenda der Vertragsreform im letzten Jahrzehnt dominiert haben, hin zu inhaltlichen Fragen der Politikgestaltung zu lenken. Im Vordergrund steht der Wunsch nach einem "Europa der Projekte" (siehe u.a. Barroso 2006). Aus einer mittelfristigen Perspektive betrachtet, erscheint die Dauerhaftigkeit der Antworten des Lissabonner Vertrags auf das dreifache Dilemma fragwürdiger. Die Suche nach der optimalen Problemlösungsebene, den adäquaten Entscheidungsfindungsmechanismen und der legitimatorischen Basis wird sich unter dem Eindruck sich wandelnder externer und interner Kontextfaktoren (mit prominenten Problemen wie Rohstoffknappheit, Klimawandel, einer alternden Gesellschaft und einer noch immer virulenten Wirtschaftskrise) fortsetzen. Die mit dem neuen Vertrag unternommenen Lösungsversuche bilden die zentralen Ausgangspunkte der weiteren Debatte zur konstitutionellen Entwicklung des Integrationsprozesses, die sich weiterhin den geschilderten Grundfragen stellen muss. Aus dieser Perspektive muss zudem die Frage gestellt werden, ob die "Europäische Lösung" dieser globalen Probleme tatsächlich in jedem Fall eine optimale Problemlösung darstellt. In einer langfristigen Perspektive (im Sinne des Konzepts der longue duree) erscheint die Vorstellung einer stabilen konstitutionellen Lösung hingegen absurd. Der Vertrag von Lissabon markiert in dieser Sichtweise eine Etappe in der langfristigen Evolution der Staatlichkeit in Europa. Er signalisiert einen weiteren Schritt in der Transformation des politischen Systems Europas, die alle Ebenen der Politikgestaltung erfasst und grundlegende Aspekte des demokratischen, nationalen Wohlfahrtsstaats beriihrt. Die Suche nach einer Finalität der Integrationskonstruktion durch einen Prozess der Vertiefung ist so in eine neue Phase getreten, die aber trotz des "Schwurs auf Beständigkeit" noch keinen Abschluss der Selbstverständigung über das politische System namens Europäische Union bilden dürfte. Auch wenn das "Verfassungskonzept" vom Europäischen Rat "aufgegeben" wird (siehe Europäischer Rat 2007a, Ziffer 1), so können die Staats- und Regierungschefs damit eine weitergehende Debatte über die Finalität der Integrationskonstruktion auf Dauer nicht unterbinden. "Die Funktion des Verfassungstopos" erweist sich als ,,zeitlos auch im europäischen Kontext" (siehe Müller-Graff 2007, S. 236). Die "Verfassungsdiskussion" (DiezlWiener 2004, S. 10) der jüngsten Vergangenheit mag so zu-
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nächst als "Eintagsfliege" erscheinen, die ihr zugrunde liegenden Probleme und Fragen werden allerdings durch den Lissabonner Vertrag nicht in abschließender Form beantwortet.
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Die EU und ihre Nachbarn Integrationsmodelle zwischen Nachbarschaftspolitik und Vollmitgliedschaft Johanna Birk
Den Prozess der europäischen Integration von einer kleinen, ursprünglich nur in einem Wirtschaftszweig kooperierenden Gruppe von Staaten hin zu einer wirtschaftlichen und vor allem auch politischen Union von nunmehr 27 Mitgliedern kann man uneingeschränkt als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 hin zur heutigen EU erfuhr die Gemeinschaft eine ständige Erweiterung, sowohl um Konzepte und um die Übertragung gemeinsamer Kompetenzen, als auch um Mitgliedstaaten. Positive Errungenschaften haben sich dadurch für die Gesamtheit der Mitglieder in großer Anzahl ergeben, und nie war Europa friedlicher, freier und der Wohlstand größer. In Anbetracht dieser erfolgreichen Entwicklung stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch einer zusätzlichen Erweiterung der Union bedarf und wenn ja, weshalb über Alternativen zur bisher bewährten ,,klassischen" Integration, sprich dem Vollbeitritt weiterer Staaten, diskutiert werden soll. Jede Erweiterungsrunde war schon in der Vergangenheit von heftigen Debatten, von Uneinigkeit und Ängsten in den einzelnen Mitgliedstaaten geprägt. Drängender alsje zuvor sind nach der letzten großen Runde von 2004 nun jedoch die Überlegungen darauf zu richten, inwieweit die EU eine noch stärkere Ausdehnung verkraften und wie viele Länder sie in eine Erweiterung noch einbeziehen kann. Daran knüpft sich die Frage, wie die EU in Zukunft die Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten gestalten will und welche Form von Kooperation fiir notwendig gehalten wird. Der vorliegende Beitrag möchte daher einen Überblick über die bestehenden Kooperationen der EU mit ihren Nachbarn sowie über künftige Alternativmodelle geben, um im Hinblick auf Aktualität und Brisanz des Themas "Nachbarschaft" einen Beitrag für eine differenzierte Diskussion zu leisten.
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Erweiterungsmüdigkeit und Überdehnung Den Erweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 auf nunmehr 27 Mitgliedstaaten gingen heftige Diskussionen über die Absorptionsfahigkeit der EU voraus, die in Anbetracht der hohen Anzahl neu beitretender Staaten und deren teils schwierigen politischen und ökonomischen Voraussetzungenjedoch intensiver geführt wurden, als dies bei den früheren Erweiterungen der Fall war. Die Aufnahme neuer Mitglieder, die in Artikel 49 des Vertrages über die Europäische Union geregelt ist, hält den Beitritt zur Union prinzipiell für alle "europäischen" Staaten offen. Unabhängig von der Frage, welche Staaten geografisch oder kulturell als europäisch gewertet werden können, wird jedoch eine Diskussion darüber geführt, ob die EU weitere Beitritte überhaupt verkraften kann und konkret die Frage, ob sie in der Lage ist, neue Mitglieder aufzunehmen, ohne dabei ihre Dynamik und Funktionsfahigkeit einzubüßen. Die im Jahr 2002 auf dem EU-Gipfeltreffen in Kopenhagen aufgestellten "Kopenhagener Kriterien" präzisieren aus diesem Grund den Inhalt des genannten Artikels, indem sie unter anderem die "Fähigkeit" der EU zur Aufnahme neuer Staaten ausdrücklich als Kriterium nennen (vgl. Rat 1993, S. 13). In der europapolitischen Diskussion wird angeführt, die EU sei in noch größerer Form nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu fällen, wodurch Prozesse erschwert würden und Handlungsblockaden entstehen könnten (vgl. AtilganlKlein 2006, S. 6). Des Weiteren brauche die EU vor einer erneuten Erweiterungsrunde institutionelle Reformen, um die Handlungsfähigkeit ihrer Entscheidungsträger Ministerrat, Kommission und Parlament zu erhalten, insbesondere was deren Transparenz und Mehrheitsentscheidungen anbelangt. Nicht zuletzt müssten, wie auch aus den Kopenhagener Kriterien hervorgeht, die finanziellen Ressourcen für die Aufnahme weiterer Mitglieder vorhanden sein. Bezüglich der vielfach geäußerten Erweiterungsmüdigkeit ist von einer "Vertrauens-, Akzeptanz- und Legitimationskrise" die Rede (siehe AtilganlKlein 2006, S. 6). Die Bürger der EU würden, so Skeptiker, weitere Neumitglieder nicht akzeptieren bzw. ihr Vertrauen in die EU verlieren. Grant beschreibt die Ursachen dieser "Krankheit" zum einen als die Angst der Bürger vor neuer Erweiterung und damit vor potenziellen neuen Einwanderungsströmen auf den jeweiligen nationalen Arbeitsmarkt (vgl. Grant 2006, S. 1). Mit einer fortschreitenden Öffnung der EU und der Angleichung von Standards und Vorschriften verbinden viele Menschen zudem eine zunehmende Globalisierung, was zusätzlich beängstigend wirken kann.
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Vertiefung und Erweiterung Im europapolitischen Alltag wird eine ständige Debatte um Vertiefung (deepening) oder Erweiterung (widening) der Union geführt. Es gibt Befürworter eines Erweiterungsstopps und Befürworter fortwährender Erweiterungsrunden, die das Instrument "Beitritt" als Motor der Integration sehen. Über Dekaden hinweg war die EU erfolgreich, um mit dem Versprechen eines Beitritts eine demokratische, rechtsstaatliche und wirtschaftliche Transformation in den Ländern ihrer Nachbarschaft zu bewirken und Europa schließlich zu vereinen. Was die Mitgliedstaaten betrifft, so stehen sich in der Integrationsgeschichte der EU seit jeher zwei Lager gegenüber, die eine Debatte um mehr deepening bzw. mehr widening führen - diejenigen, die ein fOderales bzw. ein geschlossenes Europa, und diejenigen, die einen lockeren Staatenbund anstreben. Schon unter den Gründungsmitgliedern herrschte diese Uneinigkeit zwischen Föderalisten und Intergouvernementalisten, und damit verbunden auch immer die Frage nach den Grenzen Europas. Obwohl Erweiterungsgegner und -befürworter diese Diskussion um Konsolidierung und weitere innere Integration auf der einen und Integration neuer Mitgliedstaaten auf der anderen Seite fortwährend austragen, ist in der Realität fast immer beides geschehen: eine Vertiefung der Strukturen und policies innerhalb der Union sowie die Aufnahme neuer Mitglieder mit dem Ziel, eine größere Einheit zu schaffen (vgl. Grant 2006, S. 2). Dabei wurden die Kritiker eines widening mit neuen Verträgen bzw. mit Vertragsänderungen in Richtung tiefere politische Union beschwichtigt, die Befürworter hingegen akzeptierten das "Mehr" an politischer Integration als unumgängliche Bedingung für die gewünschte Erweiterung (vgl. Grant 2006, S. 7).
Theoretische Konzepte differenzierter Integration Die Diskussionen zur Ausgestaltung der EU werden anband zahlreicher Konzepte und Begriffe geführt, die einander ähneln und sich teilweise auch überschneiden. Als Mittelweg zwischen den beiden extremen Positionen einer fortgesetzten Erweiterung und eines Erweiterungsstopps schlagen Wissenschaftler eine "differenzierte Integration" vor, die es ermöglichen soll, eine Erweiterung und eine Vertiefung der Union miteinander zu vereinbaren. Dafür gibt es die Erklärungsansätze eines Europas der "konzentrischen Kreise", der "unterschiedlichen Geschwindigkeiten" sowie der "variablen Geometrien". Ersterer geht von der Vorstellung aus, dass die EU und ihre Nachbarschaft in Staaten mit unterschiedlichem Integrationsniveau gegliedert werden können. Dabei wird unterschieden zwischen ei-
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nem "inneren Kreis", einem "Kreis der Nahestehenden" und "äußeren Kreisen". Der innerste Kreis wird von einigen wenigen Staaten gebildet, die die Integration weitestmöglich vorantreiben. Um diesen ,,harten Kern" gruppieren sich die "normalen" Mitgliedstaaten, die nur in manchen Bereichen kooperieren können oder wollen. Die beitrittswilligen und übrigen Drittstaaten schließlich bilden die Peripherie. Ausgestaltet werden könnte das Modell in Zukunft entweder durch einen einzigen, vorher bestimmten Kern, der eine Art Führungsrolle einnimmt, oder aber durch mehr oder weniger zuflillige, variierende Konstellationen von Mitgliedstaaten. Bei der zweiten Variante würde sich wahrscheinlich, so die Theorie, ganz von selbst ein Führungskern herauskristallisieren. Die Debatte um einen "harten Kern" bzw. um ein "Kerneuropa" wurde in der europäischen Integrationspolitik seit Langem und in verschiedener Ausgestaltung diskutiert. Zu dessen bekanntesten Vertretern gehören Wolfgang Schäuble und Karl Lamers mit einem Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1994 (aber auch Jacques Delors, Guy Verhofstadt, Joschka Fischer, Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing, J.B.) (vgl. Veit 2006, S. 3). Die Diskussion um einen Führungskern stieß sowohl auf Zustimmung, aber auch auf viel Kritik. Besonders eine in diesem Zusammenhang vielfach vorgeschlagene deutsch-französische Vorreiterrolle wurde skeptisch betrachtet. Unabhängig von solchen theoretischen Überlegungen hat sich in der Realität jedoch längst ein "innerer Kreis" herausgebildet, der die Integration der EU maßgeblich vorantreibt. Beispiele aus der Vergangenheit sind die Kooperationen im Rahmen des Schengener Abkommens und die Bildung der Eurozone, die als intergouvernementale Übereinkommen einiger weniger Staaten begannen und heute Bestandteil der Verträge der Europäischen Union sind. Die großen Mitgliedstaaten, vor allem Frankreich und Deutschland, aber auch die BeNeLux-Staaten, nahmen dabei fast immer eine Schlüsselfunktion ein. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, auch ,,Multispeed-Europe" genannt, geht ebenfalls von abgestuften Formen der europäischen Integration aus, bei der Avantgarde-Gruppen von integrationswilligen Mitgliedstaaten gemeinsame Ziele verfolgen, betont jedoch stärker, dass die übrigen Mitgliedstaaten nachfolgen können und sollen. Das Ziel soll für alle Staaten das gleiche, der zeitliche Spielraum, dieses zu erreichen, hingegen flexibel sein (vgl. Müller-Graff2007, S. 130). Hierbei steht also eine intergouvernementale Zusammenarbeit im Vordergrund, die aber nicht zwangsläufig außerhalb des EU-Gefüges entsteht, sondern auf Grundlage der Verträge und in möglichst enger Zusammenarbeit mit der gesamten EU stattfinden soll. Im Unterschied zum Konzept des Kerneuropas wird die Bildung einer Avantgarde jedoch nicht im Voraus festgelegt, sondern entsteht
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mehr oder weniger zufällig, je nach Interessen und momentanen Kapazitäten der Mitgliedstaaten. Es kann sich also jedes Mal neu ergeben, ob und welche Staaten eine Vorreiterrolle einnehmen, die Konstellationen sind variabel (vgl. WohlgemuthJBrandi 2007, S. 166). Langfristiges Ziel in einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist gegenüber einem Europa der konzentrischen Kreise ein gleiches Maß an Integration, also ein gleicher Endpunkt für alle Staaten. Ein Europa der variablen Geometrien geht schließlich von der Annahme aus, dass die Staaten sehr heterogen sind und man ihrem ungleichen Entwicklungsstand nicht mit einem einheitlichen Ansatz nach dem One-size-jits-all-Prinzip gerecht werden kann. "Unabänderliche Unterschiede" werden deshalb akzeptiert, und eine "anhaltende Trennung zwischen einer Gruppe von Mitgliedstaaten und weniger entwickelten Integrationskreisen ist möglich" (siehe EU Glossar). Es geht also um differenzierte Integration innerhalb der immer größer werdenden EU, bei der nicht jeder Mitgliedstaat Teil jeder EU-Politik ist. Zudem können sich einzelne Mitgliedstaaten zusammenschließen, um in bestimmten Bereichen intensiver zu kooperieren als der Rest der EU-Staaten. Die im Vertrag von Amsterdam 1996 eingeführte und im Nizza-Vertrag von 2001 und im Reformvertrag von Lissabon erweiterte "Verstärkte Zusammenarbeit" gibt den Mitgliedstaaten dazu die Möglichkeit. Der Vorteil einer Vorreiterrolle im Rahmen dieser "Verstärkten Zusammenarbeit" ist, dass er sich im institutionellen Gefüge der EU vollzieht und damit nicht die Gefahr der Bildung "rivalisierender Parallelstrukturen" entsteht (siehe Emmanouilidis 2005, S. 160). Die EU-Institutionen werden nicht ausgeschlossen, sondern behalten ihre Rechte bei und wachen über den Prozess. Variable Geometrie wird jedoch im europäischen Rahmen manchmal kritisch als "EU ä la carte" gesehen, bei dem sich Staaten diejenigen Aspekte europäischer Integration herauspicken, die ihren nationalen Interessen am besten entsprechen. Neutral ausgedrückt bedeutet dies, dass Staaten wählen, an welchen Politikfeldern sie teilnehmen, und nur eine Mindestzahl gemeinsamer Ziele annehmen. Alles in allem wird der Einsatz flexibler Integrationjedoch unter den Europawissenschaftlern vielfach als realistisch und positiv bewertet, was auch die zurückliegenden Erfahrungen zeigen: "Insgesamt betrachtet hat die Differenzierung nicht zu einer Spaltung Europas, sondern zur Erhöhung der Leistungsfahigkeit und konstruktiven Problembewältigung im Interesse aller Mitgliedstaaten geführt." (siehe WeidenfeldlJanning 2004, S. 4).
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Die Beziehungen zur europäischen Nachbarschaft Unter Europäischer Nachbarschaft werden sowohl die direkt angrenzenden als auch diejenigen Staaten verstanden, die bei einem Beitritt zu direkten Nachbarn werden könnten. Das von der Kommission erarbeitete Konzept des Wider Europe (Größeres Europa, JB.), das seit 2004 in Form der Europäischen Nachbarschaftspolitik umgesetzt wurde, umfasst eine heterogene Gruppe von Ländern, die von den ehemaligen Sowjetstaaten über die Anrainer südlich des Mittelmeers bis zu Ländern des Nahen Ostens reicht. Die Bedeutung dieser neuen, "größeren" Nachbarschaft wird bei einem Blick auf die geografische Ausdehnung erkennbar: Konfliktzonen wie Israel oder der Irak kommen der EU damit so nah wie nie zuvor. Was vor der großen Beitrittsrunde 2004 noch Nachbarn der Nachbarn waren, sind heute direkt an die EU angrenzende Staaten. Und damit verbunden sind auch Herausforderungen wie der Umgang mit nichtchristlichen Kulturen, mit fundamentalistischen Gruppierungen, instabilen Regimes, mangelnder Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Konflikten neuer Art um Öl-, Gas- und Wasserressourcen. In der EU wurden neben den Risiken und Problemen aber auch die Chancen, die mit dieser neuen Nachbarschaft verbunden sind, erkannt. Mit der Ausdehnung nach Osten und Süden ergeben sich in den betreffenden Gebieten strategische Möglichkeiten für eine stärkere sicherheitspolitische Rolle. Dabei ist man sich in der EU darüber im Klaren, dass in einer instabilen Umgebung leicht auch die eigene Sicherheit und der Wohlstand gefahrdet sind, weshalb die Möglichkeit, durch soft power und als Zivilmacht Einfluss zu nehmen, als enorm wichtig angesehen wird. Nicht zuletzt erscheint es für die Länder der EU relevant, in der Ausgestaltung ihrer Außenpolitik auch die in den Partnerländern vorhandenen Energieressourcen zu bedenken. Die Nachbarn haben ihrerseits ganz unterschiedliche Motive für eine Annäherung an die Europäische Union. Zugkräftigstes Motiv ist dabei zweifelsohne der Zugang zum EU-Binnenmarkt, der Handelserleichterungen und eine Steigerung des Exports verspricht. Denn Wohlstand, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sind die Elemente, durch die sich die EU auszeichnet und die sie als erstrebenswert erscheinen lassen. Die Perspektive, diesem Club anzugehören und Vollmitglied zu werden, hat sich als die wirkungsvollste treibende Kraft für Veränderungen in den betreffenden Staaten erwiesen.
Bestehende Formen von Kooperation Der Beitritt zur Europäischen Union ist formell durch Art. 49 EU-Vertrag (EUV) geregelt. Hiernach kann ,jeder europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 ge-
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nannten Grundsätze achtet, ( ... ) beantragen, Mitglied der Union zu werden" (siehe EUV). Dabei handelt es sich jedoch nur um ein Antrags-, nicht um ein Beitrittsrecht. Die hierin genannten Grundsätze beinhalten die Achtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Menschenrechte und die Grundfteiheiten. Präzisiert worden sind diese Kriterien auf dem Gipfel in Kopenhagen 2002 mit den sogenannten "Kopenhagener Kriterien". Sie umfassen Rechtsstaatlichkeit, eine funktionierende Marktwirtschaft und ausreichende Wettbewerbsfahigkeit des Kandidaten (vgl. Rat 1993, S. 13). Die Übernahme des acquis communautaire, des gemeinschaftlichen Besitzstandes der Union, ist die größte Herausforderung für die Beitrittsländer, da das riesige und komplexe Regelwerk alle Rechte und Pflichten der EU beinhaltet und vollständig übernommen werden muss. Anband der in den Verträgen festgelegten Kriterien wird dann über einen Beitritt entschieden. Konnte ein Staat Kriterien nicht erfüllen, gab es jedoch faktisch in fast jeder Erweiterungsrunde Ausnahme- und Übergangsregelungen. Letztlich ist die Entscheidung für oder gegen einen Beitritt daher eine politische. Unter die wirtschaftliche Integration fallt vor allem der Europäische Wirtschaftsraum (EWR). Die vier Länder Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz sind Mitglieder der European Free Trade Association (EFTA) und kooperieren mit der EU im Rahmen des EWR. Das Abkommen über einen gemeinsamen europäischen Wtrtschaftsraum wurde 1992 von der EU und den sieben Gründungsmitgliedern der EFTA unterschrieben und trat 1994 in Kraft. Unter den Gründern der EFTA 1960 waren wiederum die heutigen EU-Mitglieder Dänemark, Großbritannien, Österreich, Portugal und Schweden, die die Freihandelszone vor allem als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgebaut hatten. Heute sind nur noch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz Vollmitglieder. Die Schweiz übernahm das EWR-Abkommen allerdings nicht, blieb jedoch Mitglied der EFTA (vgl. Maurer/I-Iaerder 2007, S. 200). Mit ihr unterhält die EU ein separates Freihandelsabkommen. Die EFTA-Mitglieder haben bezüglich des Binnenmarktes die wesentlichen Teile des acquis communautaire übernommen und diese in ihre nationale Gesetzgebung implementiert. Damit gelten für sie ebenfalls die vier Freiheiten des EU-Marktes (freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital, Artikel 14 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, J.B.). Bei der Assoziierung geht es um dauerhafte besondere und privilegierte Beziehungen zu einem Drittstaat (vgl. Streinz 2005, S. 12). Inzwischen wird der BegriffAssoziierungjedoch meist durch ,,Partnerschaft" ersetzt, der statt aus Brüssel diktierter Regeln eine Zusammenarbeit im Sinne derjoint ownership implizieren soll (vgl. Streinz 2005, S. 12). Besondere Formen der Assoziierung sind die Kon-
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zepte der Nachbarschaftspolitik und der Euromediterranen Partnerschaft, bei denen es sich weder um reine Freihandelsabkommen noch um Entwicklungshilfe im herkömmlichen Sinn handelt. Ein Beitritt zur EU ist in beiden Fällen nicht vorgesehen, sodass sie eine Zwischenform bilden. Das Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) entstand in der Planungsphase der EU-Erweiterungsrunde von 2004 um zehn neue Mitgliedstaaten. Entwickelt wurde sie aufgrund der Tatsache, dass sich durch die Aufnahme neuer Mitglieder die Außengrenzen der EU verschieben und diese dadurch mit neuen Nachbarn konfrontiert ist. Die Beziehungen zu diesen Nachbarstaaten zu gestalten und die Entstehung neuer Trennlinien innerhalb Europas zu vermeiden, war das erklärte Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik (vgl. Com 2003). Bereits auf dem Kopenhagener Gipfel 2002 diskutiert, gab die Kommission 2003 mit ihrer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament "Wider Europe Neighbourhood: A New Framework for Relations with our Eastern and Southern Neighbours" (Com [2003] 104 final) den endgültigen Anstoß zur Ausgestaltung dieses Konzeptes. Die EU sieht sich darin als Wertegemeinschaft, die mit ihrem Konzept der Integration dazu beiträgt, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Die ENP ist ausdrücklich auf Länder ausgerichtet, die in absehbarer Zukunft keine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union haben. Dies betrifft die östlichen direkten Nachbarn (Ukraine, Weißrussland, Moldau), den Kaukasus (Armenien, Aserbaidschan, Georgien), die Länder des Nahen Ostens (Jordanien, Israel, Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Libanon) sowie die südlichen Mittelmeeranrainer Marokko, Tunesien, Ägypten, Algerien und Libyen (vgl. Zorob 2008, S. 2). Nicht ausgerichtet ist die ENP dagegen auf die EU-Beitrittskandidaten sowie auf die potenziellen Beitrittskandidaten des westlichen Balkan. Die Nachbarschaftspolitik soll die Partnerländer durch gemeinsam aufgestellte Ziele der EU annähern. Diese Ziele werden mit Bezug auf spezifische Länderberichte in sogenannten Aktionsplänen festgelegt. Auf der Grundlage gemeinsamer Werte sollen in den Bereichen Sicherheit, Inneres, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Vernetzung der Infrastrukturen bilaterale Kooperationen zwischen der EU und dem betreffenden Partnerstaat stattfinden (vgl. Com [2004] 373 final). Nach dem Prinzip der Konditionierung erfolgen nur bei Fortschritten und beim Erreichen der vereinbarten Ziele weitere finanzielle Zuwendungen. Mit dem Reformvertrag von Lissabon schuf die EU zusätzlich einen Artikel für die Nachbarschaftspolitik, auf dessen Basis sie "spezielle Übereinkünfte" mit den betreffenden Nachbarn schließen kann (siehe Art. 8, Abs.l EU-Vertrag von Lissabon). Obwohl durch diesen Artikel keine neuen Inhalte bereitgestellt werden, ergibt sich daraus dennoch eine Aufwertung der Nachbarschaftspolitik und
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eine Abgrenzung zur bloßen Kooperation mit anderen Drirtstaaten (vgl. Lippert 2008, S. 109). Zu den positiven Ergebnissen der ENP zählen die Fortführung bzw. die Abschlüsse bilateraler Abkommen zwischen der EU und den jeweiligen Nachbarstaaten. Stellt man die ENP der Erweiterungsstrategie als Alternative gegenüber, so bleibt allerdings fraglich, inwieweit sie dieselbe Anziehungskraft aufbeitrirtswillige Länder ausüben kann. Angesichts gemeinsamer Probleme aller angrenzenden Länder ans Mittelmeer erkannte die EU die Notwendigkeit einer eigenen Politik für diesen Raum schon vor dem Ausbau der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Die auf der Außenministerkonferenz in Barcelona am 27.128. November 1995 begründete Euromediterrane Partnerschaft (EMP) gab der bis dahin losen Mittelmeerpolitik der EU einen institutionellen Rahmen. Start nurmehr bilateraler Abkommen zu einzelnen Staaten sollte eine partnerschaftliche, multilaterale Zusammenarbeit neuer Art entstehen. Der innovative Ansatz bestand dabei in der Betonung einer regionalen Komponente. Erklärtes Ziel des Prozesses war die "Schaffung eines Raumes des Friedens, der Stabilität und des gemeinsamen Wohlstandes" (siehe Rat 1995). Normativ gesehen geht es der EU um eine Demokratisierung der gesamten Region, von der alle Beteiligten profitieren. Konkret sollen die Beziehungen der EU zu den Mittelmeerländern sowie die Beziehungen der Mittelmeerländer untereinander (sogenannte Süd-Süd-Kooperationen, J.B.) ausgebaut werden, um die Region zu einer "gemeinsamen Friedens- und Stabilitätszone" zu machen (siehe Rat 1995). Zu den Unterzeichnern gehören die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie zwölf Mittelmeerdrirtländer: Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Malta, Marokko, Syrien, Tunesien, Türkei, Zypern und die Palästinensische Autonomiebehörde. Libyen verfugt seit 1999 über einen Beobachterstatus, seit 2007 sind Mauretanien und Albanien Mitglieder der EMP. Die "Barcelona-Deklaration" besteht aus den drei "Körben" Politik und Sicherheit, Wirtschaft und Finanzen sowie Kultur und Soziales. Die politische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit konzentriert sich darauf, die Demokratisierung der gesamten Region voranzutreiben. In Korb H, der wirtschaftlichen und finanziellen Partnerschaft, steht die Einrichtung einer gemeinsamen Freihandelszone bis zum Jahr 2010 im Vordergrund. Die soziale, kulturelle und gesellschaftliche Partnerschaft soll vor allem den kulturellen Dialog und die Verständigung zwischen den Mitgliedsländern fördern. Auch wenn es schwierig scheint, konkrete Erfolge des Barcelona-Prozesses zu nennen, so können doch einige positive Effekte festgestellt werden. Bis zur Gründung der EMP gab es kein vergleichbares Forum, um für den Mirtelmeerraum re-
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levante Themen mit allen Beteiligten zu besprechen. Im Laufe der Jahre konnte in manchen Themen durch Dialog immerhin eine Annäherung herbeigeführt werden. Die Geschichte der EMP als Forum des Dialogs kann daher als Erfolg gesehen werden. Außerhalb der Vereinten Nationen ist es das einzige Forum, an dem die palästinensischenAutonomiegebiete, arabische Staaten und Israel gleichermaßen und als gleichberechtigte Partner teilnehmen. Geglückte Projekte finden sich hauptsächlich in der wirtschaftlichen Kooperation, wie beispielsweise die Entstehung eines Freihandelsabkommens zwischen Marokko, Tunesien, Jordanien und Ägypten, das unter dem Namen Agadir-Abkommen 2004 in Kraft trat. Bemängelt wird hingegen insbesondere, die EMP sei ineffizient und es mangele ihr an Dynamik. Als größtes Problem stellte sich der Nahostkonfiikt dar, der bislang vielen Kooperationen im Wege stand und Israel und die arabischen Staaten davon abhielt, gemeinsame Projekte anzugehen. Im Jahr 2008 beschlossen die Staats- und Regierungschefs, die Euromediterrane Partnerschaft in eine Union for das Mittelmeer (UMed) zu überführen. Der Vorschlag hierzu kam von Nicolas Sarkozy und war Bestandteil seines Wahlkampfes im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen. Im engeren Sinne beabsichtigte er mit seinem Vorstoß, mit einer solchen "Mittelmeerunion" eine Alternative zum EU-Beitritt der Türkei zu schaffen. Nach anfänglicher Uneinigkeit, vor allem untern den Mitgliedstaaten der EU, wurden die ursprünglichen Pläne gründlich umstrukturiert. Schließlich erklärten sich alle Beteiligten bereit, das Dokument zu unterschreiben, wobei der Name in "Union für das Mittelmeer" (UMed) geändert wurde (Inkrafttreten 13. Juli 2008, J.E.). Konkrete Ziele der Union für das Mittelmeer, sogenannte key initiatives, wurden beim Gipfeltreffen im Juli 2008 festgelegt, darunter die Säuberung des Mittelmeers, die Errichtung von transnationalen SchiftTahrtstraßen und Autobahnen, die Schaffung eines gemeinsamen Katastrophenschutzes sowie ein Solarenergieplan für das Mittelmeer (vgl. Schumacher 2008, S. 2). Als weitere Formen von Assoziierung sind die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Nachfolgestaaten der UdSSR zu nennen. Die Abkommen enthalten keinerlei Beitrittsperspektive, dafür aber die Aussicht auf politischen Dialog der Partner und Abbau von Handelsbeschränkungen. Mit den Balkanstaaten wurden nach dem Zerfall Jugoslawiens die sogenannten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen abgeschlossen, mit dem Ziel, diese Länder "möglichst umfassend ( ... ) in das politische und wirtschaftliche Gefüge Europas" zu integrieren (siehe Kom 2003). Weitere lose Kooperationen sind die Schwarzmeer-Synergie, ein 2007 geschlossenes Kooperationsprogramm der Schwarzmeer-Staaten, die Northern Dimension Initiative aus dem Jahr 2000 sowie die Östliche Partnerschaft,
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die auf einem Gipfeltreffen in Prag im Mai 2009 initiiert wurde. In allen drei Fällen geht es darum, regionale Kooperation so voranzutreiben, dass nicht unbedingt alle, sondern jeweils nur die aktivsten Staaten an einer Initiative teilnehmen. Dies erleichtert den bürokratischen Aufwand und schützt die Partnerstaaten vor einer Überfrachtung mit Projekten (vgl. Vahl2006, S. 51).
Alternative Integrationsmodelle Betrachtet man die Vielzahl der dargestellten Kooperationsformen, so zeigt sich, dass die Außenbeziehungen der EU sowie die innere Integration schon heute sehr komplex und in gewisser Weise bereits differenziert sind: Für einige Vollmitglieder gelten Ausnahme- oder Übergangsregelungen, Nicht-EU-Mitglieder nehmen andererseits an Gemeinschaftsprogrammen wie den Strukturfonds oder dem Erasmus-Programm teil und sind in EU-Strukturen wie den Schengener Raum eingebunden (vgl. MaurerlHaerder 2007, S. 209), wieder andere integrationswillige Mitgliedstaaten kooperieren darüber hinaus auf intergouvernementaler Ebene. All dies zeigt, dass es auch innerhalb der bestehenden EU bereits viele Ausgestaltungen mit mehreren Geschwindigkeiten und variablen Geometrien gibt.
Modelle der Integration in den EU-Binnenmarkt Für den Fall eines Scheiterns der türkischen EU-Vollmitgliedschaft entwickelte Wolfgang Quaisser zusammen mit Steve Wood das Konzept der Erweiterten Assoziierten Mitgliedschaft (EAM), einer erweiterten Wirtschaftsintegration mit Ansätzen von politischer Integration. Dabei geht es ihm um "eine dauerhafte und klar definierte Perspektive für die Türkei und andere Aspiranten" (siehe Quaisser 2004a, S. 1). Inhaltlich gestaltet sich das Modell folgendermaßen: Staaten, die der EAM beitreten, wären Mitglieder des EU-Binnenmarktes, davon ausgespart bliebe die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Zudem gäbe es die Möglichkeit zu beschränkter politischer Teilhabe, wie etwa das Recht zu Anhörung und Stellungnahme in erweiterten Ratssitzungen. Darüber hinaus könnten die Länder an verschiedenen Programmen der EU teilnehmen (vgl. QuaisserlWood 2004, S. 53). Hierbei betont Quaisser die Wichtigkeit von Strukturhilfen, die seiner Meinung nach deutlich höher ausfallen müssten, als es in bestehenden Kooperationen der Fall sei, vor allem, weil den Partnern durch die Übernahme von Teilen des acquis hohe Kosten bevorstünden (vgl. Quaisser 2004a, S. 2).
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Besonders im Fall der Türkei muss diesem Modell jedoch kritisch begegnet werden. Auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens der EU mit der Türkei von 1963 bilden die beiden Parteien seit 1996 eine Zollunion. Das Modell EAM wäre in dieser Hinsicht niedriger angesiedelt und böte deshalb keine Anreize. Bei näherer Betrachtung läuft die EAM ebenso wie das Modell des Europäischen Wirtschaftsraumes Plus oder der Privilegierten Partnerschaft im Grunde genommen auf einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt hinaus, ohne dabei nennenswerte Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess innerhalb der EU zu gewähren (vgl. Emmanouilidis 2008a, S. 39). Ein großer Nachteil ist es zudem, dass die EAM eine Vollmitgliedschaft von vornherein ausschließt. Staaten, die darauf hoffen, der EU beizutreten, würden deshalb kaum einen Anlass sehen, weitere innere Reformen herbeizuführen und eine Demokratisierung voranzutreiben (vgl. AtilganJKlein 2006, S. 9). Emmanouilidis argumentiert, dass ein solches Modell tatsächlich nur dann reizvoll sein kann, wenn es ein Übergangsmodell auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft darstellte (vgl. Emmanouilidis 2008a, S. 46). Das Modell des Europäischen Wirtschaftsraumes Plus (EWR Plus), das für die Türkei unter anderem von Elmar Brok, Mitglied des Europäischen Parlaments, befiirwortet wird, ist angelehnt an die Beziehungen der EU zu Norwegen und setzt auf eine ausgedehnte Kooperation im wirtschaftlichen Bereich, wobei der Anteil der EU-Binnenmarktvorschriften auf möglichst viele Felder ausgedehnt werden soll. Ausnahmen werden gegebenenfalls festgelegt. So sind zum Beispiel im Falle Norwegens die Bereiche Fischerei und Landwirtschaft vom EWR-Abkommen mit der EU ausgenommen (vgl. AtilganJKlein 2006, S. 7 f.). Ein Konsultationsrecht im Rat, angepasste Beiträge zu und Teilnahme an den Gemeinschaftsprogrammen sowie Teilhabe am sozialen Zusammenhalt des EWR kennzeichnen dieses Modell. Ob es für Staaten wie Liechtenstein, Island und Norwegen gleichermaßen anwendbar ist wie für Staaten mit geringerem ökonomischen Entwicklungsstand wie etwa der Ukraine, Moldau oder Weißrussland, kann jedoch angezweifelt werden (vgl. AtilganJKlein 2006, S. 8). Kritiker merken an, dass es bezüglich dieses Modells keine Vergleichbarkeit zwischen weiter und weniger weit entwickelten Staaten gäbe. Außerdem ist es auch nicht für Länder geeignet, die eine Vollmitgliedschaft in der EU anstreben, da eine solche mit einem EWR Plus-Beitritt vorerst nicht vorgesehen ist. Die Privilegierte Partnerschaft wurde in Deutschland von der CDU/CSU als Alternative zu einem EU-Beitritt der Türkei ins Gespräch gebracht. Die Konzeption dieses Modells ist in einem Positionspapier enthalten, das Matthias Wissmann, der von 2002 bis 2007 Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages war, und Karl-Theodor zu Gut-
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tenberg verfasst haben. Demzufolge soll eine Privilegierte Partnerschaft die Türkei an die EU heranfiihren und eine möglichst enge Bindung entstehen lassen. Gleichzeitig aber wird eine Vollmitgliedschaft eindeutig ausgeschlossen. Inhaltlich soll es sich ausschließlich um eine wirtschaftliche Integration handeln, bei der politische Teilhabe und Mitentscheidungsrechte in der EU weitgehend ausgeschlossen bleiben. Konkret würde eine solche Partnerschaft bedeuten, dass die jetzige Zollunion zu einer umfassenden Freihandelszone ausgebaut wird, die über die bestehende Form hinausgehen, bei der sich Handelserleichterungen nur auf bestimmte Produkte beziehen und die einen einheitlichen Außenzoll einschließt. Die hier diskutierte Freihandelszone würde sich dann auf alle Produkte sowie Dienstleistungen erstrecken. Des Weiteren wird die Notwendigkeit der finanziellen Aufstockung von Hilfsprogrammen und die Erweiterung der Teilnahme an EU-Programmen angesprochen (vgl. Wissmann 2004, S. 3). Zu Guttenberg spricht davon, dass aufgrund der langjährigen Kooperation der EU mit der Türkei bereits privilegierte Beziehungen bestehen. Dies lässt jedoch Kritik an seinem Modell insofern zu, als eine Privilegierte Partnerschaft der Türkei wenige bis gar keine Anreize zur Verbesserung der Beziehungen zur EU bietet, da die Türkei durch die schon bestehende Zollunion mit der EU sowie deren NATO-Mitgliedschaft jedenfalls in diesen Bereichen bereits fest integriert ist. Eine verstärkte Einbindung in die europäische Sicherheitspolitik kann daher kein wirklicher Anreiz sein. Die Türkei, die seit 1999 Beitrittskandidat der EU ist, hat den Vorschlag einer Privilegierten Partnerschaft heftig zurückgewiesen und diesen als "Bruch der bestehenden Vereinbarungen" gewertet (siehe AtilganlKlein 2006, S. 14).
Modelle differenzierter Integration Über die Modelle der wirtschaftlichen Kooperation hinaus, die am unkompliziertesten und erfolgreichsten ist, gibt es qualifiziertere Formen, die insbesondere auch politische Mitwirkungsmöglichkeiten vorsehen. Ausgangspunkt solcher variablen Integrationsmodelle ist, wie bereits dargestellt, die Annahme, dass aufgrund der Größe und Heterogenität der EU die Mitgliedstaaten nicht mehr alle die gleichen Ziele verfolgen können und wollen. Deshalb sind viele EU-Experten der Meinung, dass der Einsatz einer variablen Geometrie weiter ausgebaut werden sollte. Differenzierte Kooperation kann verschiedene Formen annehmen. Gemeinsames Merkmal ist immer, dass eine Avantgarde-Gruppe besteht oder gebildet wird. Zum einen kann diese auf der Grundlage von vertraglich etablierten Verfahren wie der "Verstärkten Zusammenarbeit" arbeiten. Zum anderen kann intergou-
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vernementale Kooperation außerhalb des Rahmens der EU stattfinden, indem eine Gruppe von Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit in einem Politikfeld intensiviert, ohne die Strukturen und Organe der EU zu nutzen. Dabei können diese Staaten in Form einer Kerngruppe arbeiten und quasi eine Führungsrolle gegenüber dem Rest der EU einnehmen oder aber in Form von mehreren, je nach Politikbereich unterschiedlich besetzten Gruppen agieren und zur Lösung eines konkreten Problems oder in einem gesamten Politikfeld zusammenarbeiten. Es stellt sich die Frage, wie unter diesem Gesichtspunkt EU-Nachbarstaaten einbezogen werden können. Schon in der Vergangenheit war differenzierte Integration in der EU ein Mittel, um Blockaden zu überwinden und den gesamten EUIntegrationsprozess zu fOrdern. In Form von opting-outs wurden Beitrittskandidaten Erleichterungen eingeräumt und gleichzeitig europaskeptische Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer tieferen Integration durch Kompromisslösungen beschwichtigt. Auch die intergouvernementale Kooperation einiger Mitgliedstaaten hat sich als ein bewährtes Mittel erwiesen. Mit beiden Instrumenten könnten auch die Beziehungen zu Nachbarstaaten gestaltet werden. Konkret könnte dies so aussehen, dass sich nach dem Prinzip der "Verstärkten Zusammenarbeit" einzelne Staaten zusammenschließen, um die Integration stärker als der Rest der EU-Staaten voranzutreiben. Länder der europäischen Nachbarschaft hätten es dann leichter, dem übrigen Kreis der EU beizutreten und so nur in den Bereichen teilzunehmen, in denen sie dazu auch in der Lage sind. Für andere wiederum wäre letztlich eine Beteiligung in Form der ENP eine ernsthafte Alternative. Die Grenzen zwischen innen und außen wären dadurch variabler und die Formen der Kooperationen flexibler, allerdings auch aufgeweichter, was überwiegend positiv bewertet wird. "Tbe mixture of ,variable geometry' on the inside and increased co-operation with nonmembers could gradually blur the distinction between membership and non-membership. ( ... ) Tbis blurring of in and out could make it easier to negotiate accession terms that are acceptable for both existing members and candidate countries." (siehe Barysch 2006, S. 1) Durch diese unterschiedlichen Absrufungen von Integration und durch die Möglichkeit, an Politikfeldern und EU-Programmen teilzunehmen, würden Beschwerden der Nachbarstaaten bezüglich einer ,,Mitgliedschaft zweiter Klasse" oder ausgrenzender Politik seitens der EU entkräftet werden. Für die Mitgliedstaaten ergäbe sich dagegen der Vorteil, unterschiedliche Aufnahmebedingungen für die einzelnen Nachbarstaaten ausarbeiten und damit ihre eigenen Kapazitäten berücksichtigen zu können (vgl. Barysch 2006, S. 9; Emmanouilidis 2008b, S. 21). Tatsächlich wird besonders die ENP bzw. eine erweiterte Nachbarschaftspolitik in den Überlegungen zu differenzierter Kooperation von vielen Seiten als pas-
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sende Ausgestaltung und zukunftsfahiges Modell gesehen, das die diskutierte differenzierte Integration konkret umsetzen könnte. Emmanouilidis beispielsweise schlägt Kooperationen mit der Nachbarschaft nach diesem Prinzip der Differenzierung vor, d.h. dass den Staaten, die der Union (noch) nicht beitreten können, die Möglichkeit gegeben wird, an bestimmten EU-Politikfeldern vorab teilzunehmen (vgl. Emmanouilidis 2005, S. 169). Auch Wohlgemuth/Brandi sehen diese Möglichkeit, Nachbarstaaten zu Mitgliedern einer ,,Kern-Union", beispielsweise im Bereich Binnenmarkt und GASP, zu machen, sie in anderen Bereichen hingegen nur nach Fähigkeit und Willen teilhaben zu lassen (vgl. Wohlgemuth/Brandi 2007, S. 178). Der Reformvertrag von 2009 sieht eine solche Möglichkeit in Bezug auf die Staaten außerhalb der EU allerdings nicht vor. Nach Artikel 8 sind lediglich vertragliche Abmachungen mit der europäischen Nachbarschaft erlaubt. Damit wird deutlich, dass sich die EU als Gesamtheit noch nicht eindeutig für eine differenzierte Integration ausgesprochen hat. Die Kritik an der Bildung von Avantgarde-Gruppen kommt vor allem von den Befiirwortern eines fOderalistischen Europas, die in der "variablen Geometrie" eine Schwächung der EU-Organe sehen und eine zu komplexe Struktur der gesamten Union befürchten (vgl. Grant 2005, S. 2), was tatsächlich eintreten würde, wenn die EU-Institutionen umgangen werden. Auch dem Homogenitätsprinzip der Union, also zeitgleich einen gemeinsamen Weg mit einem gemeinsamen Ziel zu gehen, wird damit widersprochen. Diesen Grundsatz aufzugeben, ist für Europa-Überzeugte sicherlich nur schwer vorstellbar (vgl. Müller-Graff 2007, S. 131). Außerdem wird ein demokratisches Defizit bzw. mangelnde demokratische Legitimität gesehen, da weder nationale Parlamente noch das Europäische Parlament ein Mitsprache-, geschweige denn ein Mitentscheidungsrecht haben (vgl. Grant 2006, S. 33). Eine parlamentarische Kontrolle wäre damit sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene ausgeschlossen. Dagegen wäre zu befürchten, dass durch einen unterschiedlichen Grad an Integration enorme Organisationsprobleme administrativer und legaler Art entstehen, die zusätzliche Kosten verursachen könnten. Risiken werden zudem darin gesehen, dass durch den Ausschluss einiger Mitglieder in Teilbereichen deren Einfluss verloren geht und damit eine interne Spaltung der Union droht. Würde die Mehrheit der Initiativen von den gleichen Staaten ausgehen, könnte es zu einer Rivalität und zu neuen Grenzziehungen in Europa kommen, sodass die "alte EU" an den Rand gedrängt und an Wichtigkeit verlieren würde. Staaten, die sich nicht in der Lage sehen, in einem Politikfeld, beispielsweise der Europäischen Währungsunion, zu kooperieren, hätten ein Abdriften in die Peripherie und schwindende Mitsprachemöglichkeiten zu befürchten und könn-
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ten leicht in Zugzwang geraten, wenn sie nur bei einzelnen Themen der verstärkten Zusammenarbeit mitwirken wollen (vgl. WohlgemuthlBrandi 2007, S. 166). An der Vorstellung von opting-outs wird kritisiert, dass sie bei zu häufiger Anwendung zu einem Verhalten des pick and choose führen könnten, bei dem jeder Mitgliedstaat nur an den Politikbereichen teilnimmt, die ihm gefallen und nützlich sind. Im Endeffekt kann dies die Union vor allem nach außen hin schwächen und sie auch nach innen komplizierter, weniger transparent und weniger solidarisch werden lassen (vgl. Emmanouilidis 2008a, S. 33). Positiv gesehen können diese opting-outs bei mäßiger Anwendung eine sinnvolle Maßnahme sein, um den gesamten Integrationsprozess der EU voranzutreiben, der andernfalls durch das Veto eines einzigen Mitgliedstaates blockiert werden könnte. Um mangelnder Transparenz entgegenzuwirken, erscheint es sinnvoll, dass die EU-Institutionen so weit wie möglich in den Prozess eingebunden werden, indem beispielsweise Beobachter zu den Verhandlungen und Sitzungen zugelassen und Parlament, Kommission und Ministerrat unterrichtet werden. Weiterhin sollten klare Kriterien über den späteren Beitritt weiterer Staaten festgelegt werden. Dadurch wird erreicht, dass diejenigen Staaten, die nicht am konkreten Avantgardeprojekt teilnehmen, dennoch ausreichend in die Prozesse und Abläufe derjenigen, die eine erweiterte Kooperation anstreben, integriert sind. Dies reduziere, so Emmanouilidis, die Gefahr einer Konfrontation oder schlimmstenfalls sogar Abspaltung von einzelnen Mitgliedstaaten (vgl. Emmanouilidis 2008a, S. 33 f.). Um einem Pick-and-choose-Verhalten entgegenzuwirken, bietet sich an, bezüglich der Opting-outs einen eindeutigen Kanon von Kriterien festzulegen, der regelt, welche Politikbereiche für jedes Land obligatorisch sind und in welchen flexible Ausgestaltungen zugelassen werden. WohlgemuthlBrandi (2007, S.168) schlagen eine Art Kern-Acquis vor, den alle EU-Mitglieder übernehmen müssen. Somit wäre gesichert, dass zum Beispiel so wichtige Festlegungen wie die Bestimmungen zum Binnenmarkt von allen Mitgliedern gleichermaßen zu erfüllen sind. Darüber hinaus könnte in den Feldern wie der Währungsunion, der Frage nach gemeinsamen Grenzkontrollen und der Bereiche Justiz, Inneres und Verteidigungspolitik Wahlfreiheit bestehen (vgl. Grant 2006, S. 34). Ein solcher "abgespeckter" acquis würde es letztlich auch Aspiranten erleichtern, dem Kreis "normaler" Mitgliedstaaten beizutreten. Einen differenzierten Avantgarde-Acquis würden dagegen nur bereits weiter integrierte Staaten annehmen (Vgl. Emmanouilidis 2008b, S. 20). In den zuletzt genannten Politikbereichen wurden bereits gute Erfahrungen mit einer Differenzierung gemacht: Das Euro-Projekt ist trotz der unterbliebenen Einführung in einigen Mitgliedstaaten erfolgreicher Bestandteil der EU-Integrati-
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on geworden, im Bereich Inneres und Justiz hat sich das bereits genannte Schengener Abkommen bewährt. Eine bereits klar ausgearbeitete Alternative ist das Modell der Abgestuften Integration von Cemal Karakas, einer Teilintegration, die eine schrittweise Heranführung an die Strukturen der EU und als "Endpunkt" auch eine Vollmitgliedschaft vorsieht (vgl. Karakas 2005, S. 5). Anders als EAM, EWR und Privilegierte Partnerschaft schließt die Abgestufte Integration auch die politische Komponente mit ein. Das Modell stellt einen dynamischen und flexiblen Ansatz dar, bei dem das betreffende Land in drei Stufen enger an die EU und ihre Strukturen gebunden werden soll. Besonders daran ist das Instrument der Konditionierung: Ein Level muss jeweils erfolgreich implementiert worden sein, um die nächste Stufe der Integration zu beginnen. Karakas schlägt vor, in einem ersten Integrationsschritt Bereiche festzulegen, in denen es "die größte gemeinsame Schnittmenge gibt" (siehe Karakas 2005, S. 11). Hier könnten zunächst die weitere Demokratisierung, die Vertiefung der Zollunion aber auch die Bereiche Jugend, Kultur und WissenschaftlForschung für beide "Parteien" interessant sein. Als zweite Stufe könnten weitere Elemente eines gemeinsamen Marktes und somit ein weiterer Abbau von Handelshemmnissen sowie weniger Beschränkungen für ausländische Direktinvestitionen diskutiert werden. Als dritte Stufe schlägt er eine enge Kooperation im Bereich Inneres und Justiz sowie die Einführung der Währungsunion vor (vgl. Karakas 2005, S. 13). Möglich ist aber auch, dass ein Staat, aus welchen Gründen auch immer, in einer bestimmten Integrationsstufe vorerst oder ganz verbleiben möchte. Einen möglichen Einwand nennt Karakas selbst: die Möglichkeit, dass bezüglich der Auswahl von Bereichen, in denen vorerst integriert werden soll, Uneinigkeit unter den Parteien herrschen könnte. Auch hier könnten einzelne Mitgliedstaaten wie bei einem Beitritt von ihrem Vetorecht Gebrauch machen. Dies sei aber "ganz vom politischen Willen der Teilnehmer abhängig" (siehe Karakas 2005, S. 15). Auf den Fall Türkei angewandt, auf den Karakas seine Beispiele ausrichtet, könnte das Modell der abgestuften Integration beiden Seiten Vorteile verschaffen. Aus Sicht der Türkei bliebe, so wahrscheinlich das wichtigste Argument, "die Perspektive der Vollrnitgliedschaft erhalten", auch wenn diese nicht automatisch und zwingend erfolgen würde, also kein "Beitrittsautomatismus" eintritt (siehe Karakas 2005, S. 14). Ebenso wichtig ist - im Unterschied zu anderen Modellen alternativer Integration - die Möglichkeit, politischen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union zu nehmen. Durch partielles Mitbestimmungsrecht und Entsendung von Beobachtern ist eine gewisse Teilhabe garantiert. Daneben würde dem türkischen Staat genügend zeitlicher Spielraum bleiben, um Reformen im eigenen Land weiter voranzutreiben. Durch die Zusammenarbeit mit und in den
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Institutionen der EU kann die Türkei unter Beweis stellen, dass sie den Normen, Regeln und der Arbeitsweise der EU gewachsen ist bzw. diese anerkennt. Auf diese Weise würde sie Vorbehalte einzelner Mitgliedsländer und die Angst der Bürger vor einer Überdehnung der EU abbauen (vgl. Karakas 2005, S. 14). Bei der in der abgestuften Integration in Aussicht gestellten erweiterten Zollunion, der Integration in den Binnenmarkt und schließlich dem Beitritt zur Währungsunion handelt es sich um tatsächliche Anreize für die Türkei. Im Gegensatz zu einer Vollmitgliedschaft müsste sie allerdings den Verzicht auf ein Vetorecht sowie, zumindest vorerst, den Ausschluss aus verschiedenen Bereichen wie beispielsweise der Teilnahme an den Landwirtschaftsfonds oder der Personenfreizügigkeit in Kauf nehmen. Aus Sicht der Europäischen Union ergäbe sich mit diesem Modell eine Entspannung in der Türkeifrage. Der Zeitgewinn ermöglicht der EU eine Konsolidierungsphase, in der die erforderlichen Reformen für eine größere Union durchgefiihrt werden könnten, sodass sich damit auch die Beitrittsdebatte entspannen würde. Dem Argument der Überdehnung wird durch eine stufenweise Integration ebenfalls begegnet, da die EU den jeweiligen Grad an Integration mitbestimmen könnte und nur soweit gehen müsste, wie es die momentanen Kapazitäten erlauben. Daraus erwachsen ihr Kostenvorteile, vor allem im Bereich der eingesparten Landwirtschafts- und Strukturfonds. Auch die Freizügigkeit für Arbeitskräfte bliebe vorerst ausgespart, sodass die Befürchtung vor einer "Überschwemmung" des EU-Arbeitsmarktes hinfallig würde. Trotz allem blieben die Impulse für wichtige Reformen in der Türkei erhalten und könnten das Land in dieser Richtung bestärken (siehe Karakas 2005, S. 14). Dieses Modell könnte auch für weitere Staaten in der europäischen Nachbarschaft attraktiv sein. Ob es allerdings für diese realisierbar ist oder ob die EU dadurch zu komplex würde, da jedes Land ein eigenes Tempo und eine unterschiedliche Integrationsstufe zu unterschiedlicher Zeit hat, bleibt fraglich. Das Modell der Abgestuften Integration könnte jedoch helfen, den Prozess für eine spätere Aufnahme als vollwertiges EU-Mitglied zu beschleunigen und das Misstrauen von Mitgliedstaaten gegenüber dem potenziellen Kandidaten abzubauen. Nicht zu vermeiden wäre hingegen eine zunehmende Verkomplizierung der EU-Strukturen und der Entscheidungsprozesse (vgl. Emmanouilidis 2008a, S. 46). Ebenso bleibt das Problem, dass sich teilintegrierte Staaten auf Dauer benachteiligt oder diskriminiert fühlen können und sie deshalb entweder auf eine baldige Vollmitgliedschaft drängen oder anderweitig Druck auf die EU ausüben. Dies könnte nicht zuletzt zu Spannungen zwischen alten und neuen Mitgliedern führen. Franz-Lothar Altmann, ehemaliger Leiter der Forschungsgruppe "Westlicher Balkan" bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik, brachte die so genannte Ju-
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nior-Partnerschaft ins Gespräch. Dieses für den westlichen Balkan entwickelte Modell gleicht in vielen Punkten Karakas' Abgestufter Integration. Altmann sieht es als Chance, die Balkanstaaten langfristig zu stabilisieren, sie aber zugleich auch stärker an die Strukturen der EU heranzufiihren, als dies die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, die bisherige Kooperationsform der EU mit dem Balkan, tun. Auch bei diesem Modell sind konditionierte finanzielle Zuwendungen angedacht. Im Unterschied zu einer Vollrnitgliedschaft besteht wiederum der Vorteil, dass sich die EU wirtschaftlich, finanziell und politisch nicht übernehmen, sondern mit Rücksicht auf die eigenen Kapazitäten stufenweise vorgehen würde. Gleichzeitig, so Altmann, würde "das Gefiihl der Zugehörigkeit zur Integrationsgemeinschaft EU" bei der Bezeichnung Junior-Mitgliedschaft "von den Politikern, der Bevölkerung und von Investoren direkter und früher gespürt" werden (siehe Altmann 2005, S. 6). Aufgrund dieser Vorteile erachtet Altmann die Junior-Partnerschaft auch fiir Länder wie die Türkei, die Ukraine, Moldau oder Belarus für passend (vgl. Altmann 2005, S. 25).
Ausblick Wie soll die Europäische Union in Anbetracht der Erkenntnis, dass eine klassische Erweiterungsstrategie überholt erscheint und nicht unbegrenzt fortfiihrbar ist, die Beziehungen zu ihrer Nachbarschaft gestalten? Die beschriebenen Formen der Kooperation zeigen, dass es zahlreiche andere Wege gibt, die Nachbarstaaten in die EU-Politik einzubeziehen, ohne die Union zu überdehnen. Sollte sich der Vorschlag einer erweiterten Nachbarschaftspolitik als Modell zur Gestaltung der Beziehungen zur Nachbarschaft durchsetzen, erscheint eine solche weder als "stepping stone to membership" (siehe Grant 2006, S. 59) noch als ausschließende Beitrittsalternative erfolgversprechend. Die Vermittlung einer solchen mitgliedschaftsneutralen Politik ist von großer Bedeutung, erfordert jedoch viel Feingefiihl, da die Nachbarstaaten nicht mit halben Zugeständnissen abgespeist werden möchten, die jetzigen Mitgliedstaaten andererseits aber auch kein Interesse an Partnern haben, die eine verstärkte Kooperation ausschließlich als Sprungbrett zum vollen Beitritt nutzen wollen. Die EU wird daher ihre Kooperationen formen und aktiv gestalten, die Partnerstaaten dagegen einsehen müssen, dass erneute Erweiterungen nach den bisherigen Abläufen nicht mehr ohne Weiteres stattfinden können und Zugeständnisse auch von ihrer Seite notwendig sind. Für die künftige Europapolitik wird vor allen Dingen ausschlaggebend sein, welche innere Zielsetzung die EU in Bezug auf ihre Nachbarn hat und wohin sie steuern möchte. In der brisanten Frage um einen möglichen Beitritt von Staaten
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wie der Türkei oder der Ukraine wird sich allerdings erweisen müssen, wie viel flexible Integration die Union in Kauf nehmen wird und wie weit sie sich von ihrer bisherigen Strategie der Einbindung von Staaten durch einen Vollbeitritt wegbewegen kann. Denn nimmt die EU Länder wie die Türkei oder die Ukraine aus politisch-strategischen Gründen als Vollmitglieder auf, so bedeutet dies im Umkehrschluss auch, dass sie von einer wirtschaftlichen und politischen Union zu einem globalen Akteur wird, der auch weltpolitisch strategische Entscheidungen trifil. Durch die extrem fragile multipolare Weltordnung kann und muss die EU innerhalb dieser eine starke Rolle einnehmen, da sie zu den wenigen Akteuren gehört, die es vermögen, Stabilität zu schaffen. Die Gestaltung auswärtiger Beziehungen erfordert zugleich die Abkehr vom Bild einer reinen Wirtschaftsunion. Will die EU die Beziehungen in der Region des WuJer Europe gestalten und Sicherheit und Wohlstand in ihre Umgebung exportieren, so kann sie nicht allein mit wirtschaftlichen Annäherungen aufWarten. Dadurch würde den hier beschriebenen Alternativmodellen, die sich auf eine wirtschaftliche Integration von Nachbarländern beschränken, zwangsläufig eine Absage erteilt. Stattdessen sollte man sich innerhalb der Mitgliedstaaten darüber klar werden, dass zu einem gestaltenden Akteur auch der Mut gehört, mehr politische Integration zuzulassen. Wird die EU es also letztlich mit allen Konsequenzen wagen, differenzierte Wege zu gehen, sprich: Abkehr vom Homogenitätsprinzip, unterschiedliche Entwicklungsstände ihrer Mitgliedstaaten und weniger demokratische Legitimation, oder wird sie auf dem jetzigen Stand der mühsamen Beitrittsverhandlungen und halben Versprechungen verharren und versuchen, den Spagat zwischen eigenen Interessen und Beitrittswünschen der Nachbarschaft zu meistem? Klar scheint nur, dass es nicht nur einen Weg geben wird und dass die EU den heterogenen Entwicklungsstufen und Bedürfnissen der Nachbarländer nicht mit einem einzigen Modell entgegentreten kann, sondern dass die Anbindung dieser Länder an die EU durch unterschiedliche Modelle gelöst werden muss. Eine differenzierte Integration, die größtenteils im Rahmen der EU-Verträge und unter klar geregelten Voraussetzungen abläuft, scheint dabei die am meisten geeignete und erfolgversprechendste Möglichkeit zu sein, um der großen Heterogenität, den Bestrebungen und Wünschen alter Mitgliedstaaten und neuer Partnerstaaten, den unterschiedlichen Entwicklungsständen in den Ländern, den Befürchtungen und Ängsten der Bürger und den sich ständig wandelnden weltpolitischen Gegebenheiten gerecht zu werden. Letztlich könnten dann die Grenzen zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der Union aufWeichen und der Übergang von kooperierenden zu abgestuft integrierten oder vollintegrierten Mitgliedern fließend werden. Ob das die Zukunft Europas ist, wird sich zeigen.
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Weltwirtschafts krise und Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik
Eine gemeinsame europäische Krisenüberwindungsstrategie Probleme und Perspektiven Hans-Jürgen Bieling
1. Einleitung Der Verlauf der europäischen Integration ist durch viele, zum Teil sehr unterschiedliche Krisen geprägt, so z.B. durch das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in den 1950er-Jahren, De Gaulles "Politik des leeren Stuhls" in den 1960er-Jahren, das Scheitern des "Werner Plans" in den 1970erJahren oder auch durch die sog. Post-Maastricht-Krise zu Beginn der 1990er-Jahre (vgl. Kirt 2001). Nicht wenige dieser Krisen haben sich als Impuls, vielleicht sogar als Motor für weitergehende Integrationsschritte erwiesen. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftlichen Krisenprozesse und die auf diese bezogenen Diskurse, die oft produktiv gewendet und in politische Projekte zur Vertiefung der Integration übersetzt wurden. So führten die starken Wechselkursschwankungen in den 1970er-Jahren zur Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) im Jahr 1979; die wirtschaftliche Stagnation und das befürchtete Zurückbleiben in der Triade-Konkurrenz stimulierten Mitte der 1980er-Jahre das Projekt des EGBinnenmarktes; die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurde mit Blick auf die strukturelle Instabilität des EWS sowie die offene Frage der europäischen Einbindung des vereinigten Deutschlands zu Beginn der 1990er-Jahre finalisiert; und auch der nachfolgend beschleunigte Prozess der Finanzmarktintegration und die Lissabon-Strategie lassen sich als Reaktion auf mutmaßlich europäische Wettbewerbsschwächen interpretieren. Die Tatsache, dass es den europapolitischen Akteuren in der Vergangenheit häufig gelungen ist, Krisen produktiv zu wenden, d.h. sie zum Anlass zu nehmen, den Integrationsprozess voranzutreiben, bildet jedoch keine Gewähr dafür, dass sich dieses Entwicklungsmuster in die Zukunft hinein einfach fortschreibt. Denn grundsätzlich handelt es sich bei Krisen um Konstellationen tiefer Unsicherheit, um Zeiträume der Entscheidung oder Wende, in denen "das Alte stirbt", während "das Neue ( ... ) noch nicht zur Welt kommen" kann (siehe Gramsci 1991 ff., S. 354). Ob und wie Krisen überwunden werden, ist demzufolge grundsätzlich ofG. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
70 fen. Unter Berücksichtigung der bestehenden gesellschaftlichen wie internationalen Strukturen und Kräfteverhältnisse bestimmen in diesem Sinne nicht zuletzt die politischen Diskussionen und Kämpfe, welche Handlungsoptionen praktisch verfolgt werden. Dies gilt auch für das europäische Management der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise. So reproduzieren sich in der Krise einerseits die Muster der bisherigen integrations- und regulationspolitischen Entwicklung, andererseits werden im Verlauf der Krisendynamik und der hierauf bezogenen politischen Konflikte aber zum Teil auch neue Akzente gesetzt. In den folgenden Ausführungen sollen der Charakter des europäischen Krisenmanagements und nicht zuletzt die diesem eingeschriebenen Probleme und Konflikte vor dem Hintergrund der zurückliegenden wirtschaftlichen Integrations- und Globalisierungsprozesse interpretiert werden. Hierzu werden zunächst die Grundzüge der seit den 1980er-Jahren entstandenen neuen europäischen Ökonomie einschließlich ihrer Strukturprobleme erläutert (2.), bevor dann skizziert wird, wie sich die globale Wirtschafts- und Finanzkrise im europäischen Wirtschaftsraum konkret niedergeschlagen hat (3.). Im nächsten Schritt werden der Verlauf und die diversen Elemente des europäischen Krisenmanagements dargestellt (4.). Dessen Ad-hoc-Charakter und die starke Fokussierung auf regulative Gestaltungsoptionen verweisen letztlich zugleich, so die Leitthese dieses Beitrags, auf die fortbestehenden Grenzen und Probleme der europäischen Wirtschaftsintegration (5.).
2. Genese und Funktionsweise der neuen europäischen Ökonomie Den allgemeinen Hintergrund für die jüngeren Krisenprozesse und die diesbezüglichen politischen Gestaltungskonflikte in der EU bildet der Integrationsschub seit den 1980er-Jahren. Dieser vermittelte sich über eine Reihe politischer Projekteso vor allem den EG-Binnenmarkt, die WWU, die Lissabon-Strategie und die Finanzmarktintegration, mehrere Erweiterungsrunden und wiederholte Vernagsrevisionen -, die einen erheblichen Wandel der Organisation und Funktionsweise der europäischen Integration herbeiführten (vgl. bereits Ziltener 2000). Politökonomisch betrachtet zielt die Integration zwar bis heute allgemein darauf, die Widerspruche und Spannungen, die zwischen der Internationalisierung und Globalisierung der (Welt)marktprozesse auf der einen und den begrenzten politischen Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten der Nationalstaaten auf der anderen Seite bestehen, abzuschwächen und zu überbrücken (vgl. z.B. Statz 1989, S. 16). Zugleich aber haben sich innerhalb dieser übergeordneten Zielsetzung die politischen Prioritäten und Instrumente beträchtlich gewandelt.
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In den Nachkriegsjahrzehnten repräsentierten die europäischen Institutionen, Regulationsformen und Koordinationsprozesse wichtige Elemente in der westlichglobalen Konstellation des "eingebetteten Liberalismus" (Ruggie 1982). In Ergänzung zum Bretton-Woods-System und den auf dieses bezogenen Institutionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank sowie des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) förderten sie auf regionaler Ebene eine moderate, d.h. begrenzte, Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. So konzentrierte sich der europäische Liberalisierungsprozess vornehmlich auf die Gütermärkte - und im Hinblick auf die Freizügigkeit auch auf die Arbeitsmärkte -, indessen der grenzüberschreitende Handel fiir Dienstleistungen und der Kapitalverkehr nur sehr vorsichtig und punktuell geöffnet wurden. Selbst im Fall des Warenhandels ging es zunächst primär um tarifäre, kaum aber um nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Außerdem standen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl (EGKS), der Euratom sowie der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) industriepolitische Instrumente zur Verfiigung, um auf dem Weg der Integration die nationalen kapitalistischen Entwicklungsmodelle und den Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung zu unterstützen. Mit dem Integrationsschub änderte sich dies seit den 1980er-Jahren dann insofern, als der Liberalisierungsprozess fortan über die europäische Ebene beschleunigt und die wettbewerbsorientierte Modernisierung der nationalen Regulationssysteme - unter Einschluss der Arbeits- und Sozialsysteme, der öffentlichen Verwaltung und Infrastruktur - begünstigt und aktiv gefördert wurden (vgl. HöpnerlSchäfer 2008). In dem Maße, wie sich die Liberalisierung nun auch auf die nicht-tarifären Handelshemmnisse sowie auf Dienstleistungs- und Finanzmärkte erstreckte - was zur Folge hatte, dass sich die grenzüberschreitende Kapitalmobilität deutlich erhöhte -, verschärfte sich fiir die nationalen Kapitalismusmodelle und Regulationssysteme der Druck, die Investitions- und Anlagebedingungen fiir die transnationalen Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzunternehmen zu verbessern. Zunächst achteten die europäischen Entscheidungsträger im Kontext des EG-Binnenmarktes und der WWU noch darauf, den erhöhten Wettbewerbsdruck arbeits-, sozial- und regionalpolitisch zu flankieren. Gegen Ende der 1990er-Jahre sorgte die dynamische Entwicklung undAusstrahlungskraft des US-amerikanischen Kapitalismusmodells dann aber mehr und mehr dafiir, dass die Komponenten des sozialen Ausgleichs in den Hintergrund traten. Was dies programmatisch, aber auch praktisch bedeutete, hat der damalige Binnenmarkt-Kommissar, Frits Bolkestein (2001), mit Blick auf die Finanzmarktintegration und die sog. Lissabon-Strategie sehr eindeutig zum Ausdruck gebracht:
72 "No-one is forcing the European Union to become more competitive than the United States in nine years time. But if that is what we really want, we must leave the comfortable surroundings of the Rhlneland and move closer 10 the 10ugher conditions and colder climate of the Anglo-Saxon form of capitalism, where the rewards are greater but the risks a1so.lfwe spum the means we must lower our sights lest we lose credibility and berome ridiculous. So we must force ourselves to carry out those micro-economic supply side structural adjustments we decided upon in Lisbon."
Das Bolkestein-Zitat lässt sich in der Form interpretieren, dass das Ziel, durch eine forcierte Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung der nationalen Kapitalismusmodelle eine neue europäische Ökonomie zu institutionalisieren, in der angebotsorientierten Neuprogrammierung der europäischen Integration im Kontext des EG-Binnenmarktes und der WWU angelegt war. Diese wurde dann im Kontext weiterer Integrationsschritte und Reformaktivitäten wie der Finanzmarktintegration oder der Lissabon-Strategie radikalisiert. Dabei griffen vor allem zwei Prozesse ineinander: zum einen der Prozess einer kapitalmarktzentrierten Reorganisation der Finanzbeziehungen, der sich grenzüberschreitend in einer wachsenden Bedeutung der Börsen und Wertpapiermärkte (vgl. Bieling 2003; Mügge 2008), der schrittweisen Integration unterschiedlicher Finanzsegmente und der Herausbildung des sog. FIRE-Sektors - Finance, Insurance und Real Estate - manifestierte (vgl. Janszen 2008, S. 52 ff.); und zum anderen eine weitgreifende Reformdynamik, im Zuge derer viele andere Regulierungsformen und Gesellschaftsbereiche - unter anderem das Kreditsystem, die Hypotheken-Märkte, die Systeme der Corporate Governance und Alterssicherung oder auch große Bereiche der öffentlichen Infrastruktur - mit Blick auf die Entwicklung der Wertpapiermärkte liberalisiert und privatisiert wurden (vgl. Beckmann 2007; Bieling u.a. 2008). Ein zentrales Merkmal der neuen europäischen Ökonomie besteht demzufolge in der Herausbildung eines "finanzgetriebenen Akkumulationsregimes" (Aglietta 2000; Boyer 2000); manche sprechen auch von einem "Finanzmarkt-Kapitalismus" (Windolf2005) oder ,,Finanzialisierungs-Kapitalismus" (Nölke 2009). Dessen Entwicklung allein im europäischen Kontext zu diskutieren - die aktuelle Wirtschaftsund Finanzkrise hat dies sehr deutlich gemacht - greift jedoch zu kurz. Die neue europäische Ökonomie und die Finanzialisierungsprozesse korrespondieren vielmehr mit globalen Umbrüchen, die ihrerseits vor allem durch die USA gefordert und organisiert worden sind. So hat sich nach dem Zusammenbruch des BrettonWoods-Systems, d.h. relativ umfassend geregelten und staatlich kontrollierten internationalen Finanzströmen und Währungsbeziehungen, in den 1980er-Jahren ein neues globales Währungs- und Finanzmarktregime, das sog. Dollar-Wall-StreetRegime (DWSR) (Gowan 1999) herausgebildet. Das DWSR unterscheidet sich vom alten Bretton-Woods-System in zentralen Punkten und veränderten politöko-
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nomischen Spielregeln, so vor allem der Förderung von offenen Kapitalmärkten, freien Wechselkursen und der internationalen Währungskonkurrenz. Die zwei maßgeblichen Säulen des DWSR - der US Dollar als starke globale Leitwährung und die Attraktivität der Wall Street, d.h. des US-amerikanischen Finanzmarktes - stützten sich insofern wechselseitig, als der starke US-Dollar Finanzanlagen in den USA, an der Wall Street also, förderte und der anhaltende Kapitalzufiuss wiederum den Außenwert des US-Dollars stärkte. Der dauerhafte Kapitalzufiuss diente den USA zudem dazu, die strukturell defizitäre Leistungsbilanz zu finanzieren. Mehr noch, er sorgte in gewisser Weise dafiir, dass sich die USA im Unterschied zu anderen Ländern und Wirtschaftsräumen nicht so sehr selbst in die Weltwirtschaft integriert haben, als vielmehr umgekehrt die globalen Geld- und Kapitalmärkte - und indirekt auch die neue europäische Ökonomie - sich in den US-amerikanischen Reproduktionskreislauf integriert und damit den wirtschaftspolitischen Prioritäten der USA unterworfen haben (vgl. CafrunylRyner 2007, S. 24 ff.; Panitch/Gindin 2008, S. 37 ff.). Die forcierte Währungs- und Finanzmarktintegration stellt nun einerseits den Versuch dar, die strukturelle Abhängigkeit des europäischen Wirtschaftsraums von der US-Ökonomie zu reduzieren, d.h. die asymmetrische Struktur der transatlantischen Kooperation zu reduzieren und die Eigenständigkeit (West)europas zu vergrößern. Andererseits wurde dieses Bestreben in der politischen Praxis jedoch dadurch unterminiert, dass sich die konkreten wirtschafts- und finanzmarktpolitisehen Integrationsschritte sehr stark am liberalen US-Modell orientierten und dieses mehr oder weniger imitierten (vgl. GrahI2004). Die "Imitation" schlug sich vor allem in der schrittweisen Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung des europäischen Wirtschaftsraumes nieder. Auf dem Gebiet der Geld- wie auch der Haushaltspolitik bestanden hingegen wichtige Unterschiede fort. So verzichteten die Mitgliedstaaten der Eurozone darauf, die Europäische Zentralbank (EZB) mit einem konjunktur- und beschäftigungspolitischen Mandat auszustatten; und auch die gemeinsamen haushaltspolitischen Steuerungsinstrumente blieben in der EU unterentwickelt. Besonders problematisch stellt sich dies fiir die Staaten der Eurozone dar. In der Folge einer, nicht zuletzt von Deutschland geförderten, lohn-, arbeits- und sozialpolitischen Unterbietungskonkurrenz haben sich zwischen diesen zum Teil deutliche Leistungsbilanzdefizite aufgetürmt (vgl. Huffschmid 2007), die - wie nachfolgend erkennbar wird - gerade in der Krise potenziell eine beträchtliche Sprengkraft entfalten.
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3. Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise im europäischen Wirtschaftsraum Die neue europäische Ökonomie, so die Quintessenz der bisherigen Ausfiihrungen, ist durch eine doppelte Engfiihrung oder Asymmetrie geprägt: zum einen durch die asymmetrische Integration in das globale DWSR und letztlich in den Reproduktionskreislauf der US-Ökonomie; und zum anderen durch eine unzureichende Vergemeinschafumg und Abstimmung der diversen wirtschaftspolitischen Teilbereiche, was sich in beträchtlichen wirtschaftlichen Ungleichgewichten - zunehmend auch innerhalb der Eurozone - niederschlägt. Das Zusammenspiel dieser doppelten Ungleichgewichte und Asymmetrien kennzeichnet auch den Verlauf der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU. So lässt sich das rasche Übergreifen der Krise auf die EU vor allem durch die Partizipation europäischer Anleger und Kreditinstitute an US-amerikanischen Finanzialisierungsprozessen erklären, indessen die innereuropäischen Ungleichgewichte die Probleme eines solidarisch abgestimmten europäischen Krisenmanagements offenbart haben. Über Ursachen, Triebkräfte und Verlauf der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise wird in Politik und Wissenschaft nach wie vor heftig gestritten. Diese Debatten hier nachzuzeichnen, würde zweifelsohne zu weit führen. Doch auch ohne dies lassen sich einige Essentials und Eigenheiten festhalten: Zunächst fällt auf, dass Finanz- und auch Währungskrisen als Ausdruck der "finanziellen Instabilität" kapitalistischer Verhältnisse diesen gleichsam eingeschrieben sind (vgl. Minsky 1982; Kindleberger 2000), jedoch im Kontext des Bretton-Woods-Systems aufgrund der relativ umfassenden Regulierung und politischen Kontrolle der Finanzbeziehungen weitgehend eingehegt werden konnten. Wie bereits angedeutet, änderte sich dies mit dem Übergang zum DWSR. Dieses förderte nicht nur die sukzessive Liberalisierung der Finanzmärkte und Wechselkurse, sondern auch die Entstehung von Finanzblasen. Diese entstanden und zerplatzten in den 1990er-Jahren zunächst noch in den sog. Emerging Markets in Lateinamerika, Asien, Russland oder der Türkei (vgl. Boris u.a. 2000), was zur Folge hatte, dass das global mobile Finanzkapital- auf der Suche nach einem "sicheren Hafen" - vermehrt in die USA oder Westeuropa strömte und hierdurch die Funktionsweise des DWSR vorerst bekräftigte. Mit der sog. Dot.Com- oder New-Economy-Blase und zuletzt mit der Hypothekenmarkt-Blase verlagerte sich seit Ende der 1990er-Jahre dann aber die Blasen- und Krisenentwicklung verstärkt in die USA (vgl. Bieling 2009; UNCTAD 2009, S. 4 ff.): einerseits in Reaktion auf die Risiken und Instabilitäten in der kapitalistischen Peripherie, andererseits aber auch, um das strukturelle US-amerikanische Leistungsbilanzdefizit zu kompensieren. Der europäische Wirtschaftsraum war in diese Entwicklung insofern einbezogen, als nicht wenige Ban-
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ken und institutionelle Anleger - Versicherungen, Investment- und Pensionsfonds - ihr Kapital ebenfalls in den USA platzierten und der US-Konsum zugleich die europäischen Exporte stimulierte. Im Prinzip waren es zwei Kanäle und Mechanismen, über die sich die Krisenprozesse nach Europa übertrugen. Der erste Mechanismus bestand darin, dass sich eine beträchtliche Zahl europäischer Kreditinstitute am Handel mit verbrieften Hypotheken - oftmals verpackt in sog. Collateral Debt Obligations (CDOs) beteiligten (vgl. Bieling 2009, S. 109 f1). Dies erfolgte zum Teil direkt, zum Teil aber auch indirekt, d.h. vermittelt über sog. Special Purpose Vehicles (SPV s), also spezifische Zweckgesellschaften, deren Gründung in andere Länder ausgelagert wurde, um zugleich die Mindestkapitalrücklagen gemäß den Vorgaben des Basler Abkommens zur Bankenregulierung zu umgehen. Diese Entwicklung trug anfangs zur allgemeinen Kreditexpansion bei, wurde dann aber in dem Maße zum Problem, wie die Banken die riskante Finanzierungspraxis durch Kreditgarantien gestützt hatten. In den Quartalsberichten der Kreditinstitute häuften sich seit Sommer 2007 entsprechend die Abschreibungs- und Verlustmeldungen. Die Krise war unverkennbar von den Hypotheken- und Wertpapiermärkten auf das - europäische - Kreditsystem übergesprungen. Mit der Gefahr von Bankenzusammenbruehen, damit verbundenen Dominoeffekten und dem zwischenzeitliehen Zusammenbruch des Interbankenmarktes stieg die wirtschaftliche Unsicherheit. Zudem mehrten sich die Anzeichen fiir eine Kreditklemme, die als Katalysator der weltwirtschaftlichen Rezession fungierte. Neben den über die Wertpapiermärkte und das Kreditsystem vermittelten Ansteckungseffekten trat mit dem Fortgang der Krise ein zweiter Übertragungs- bzw. Verstärkungsmechanismus in den Vordergrund. Zusammen mit der Kreditklemme sorgte der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und des Konsums in den USA mit dafiir, dass fiir andere Länder die externe Nachfrage einbrach (vgl. WTO 2009). Dies war ein allgemeines Phänomen. Die Folgen jedoch waren vor allem fiir jene Länder besonders gravierend, deren Ökonomien durch eine ausgeprägte Exportorientierung, eine starke Handelsverflechtung mit den USA und - anders als etwa China - nur durch begrenzte konjunkturpolitische Handlungskapazitäten gekennzeichnet waren. Die Diffusion der Krise entfaltete sich also sowohl über die global vernetzten Finanzmärkte als auch über die Handelsbeziehungen. Sie wurde durch diverse Schockwellen - den Absturz der Aktienkurse, Währungsturbulenzen und die zum Teil recht starken Schwankungen der Rohstoffpreise - zwischenzeitlich verschärft. Als noch gravierender erwiesen sich jedoch - mehr oder minder hausgemachte - strukturelle Ungleichgewichte in der neuen europäischen Ökonomie. So
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haben sich seit den 1990er-Jahren die Leistungsbilanzsaiden in der EU sehr unterschiedlich und zum Teil sehr stark auseinanderentwickelt (vgl. Tabelle 1 und 2). Auf der einen Seite steht dabei eine recht kleine Gruppe von Überschuss-Ländern wie Finnland, Schweden, die Niederlande und insbesondere Deutschland, indessen auf der anderen Seite viele der süd- und osteuropäischen Länder, die mit zum Teil erheblichen strukturellen Leistungsbilanzdefiziten zu kämpfen haben.
Tabelle J: Leistungsbilanz (in % des BlP und in absoluten Zahlen) ausgewählter Überschussländer
Belgien Deutschland Finnland Niederlande Schweden
19972001 (Jabresdurchschnitt) 4,5% -0,8% 7,2% 4,8% 4,6%
20022006 (Jabresdurchschnitt) 4,5% 4,2% 5,9% 7,5% 6,7%
2007
2008
2009*
3,8% 7,9% 4,0% 8,5% 9,0%
0,2 % 6,6% 2,6% 4,2% 8,3%
0,6% 4,0% 1,1 % 3,1 % 7,8%
.. Schätzung vom Oktober 2009 Quelle: European Commission (2009), S. 212 f.
20032007 (kumuliert in Mrd. €) 61,3 614,5 39,8 207,1 112,7
2008 (in Mrd.€)
2009 (in Mrd.€)*
0,7 165,8 4,8 25,2 27,6
2,1 94,8 1,9 17,9 22,8
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Tabelle 2: Leistungsbilanz (in % des BlP und in absoluten Zahlen) ausgewählter Defizitländer
Bulgarien Estland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Lettland Litauen Polen Portugal Spanien Rumänien Slowenien Slowakei Tschechien Ungarn
199720022001 2006 (Jahres- (Jahresdurchdurchschnitt) schnitt) -2,7% -9,0% -7,4% -12,0% 1,9% -0,6% -6,7% -11,8 % -1,5 % -2,3 % -1,4% 0,5% 1,2% -1,0% -7,3 % -12,5 % -8,5 % -7,4 % -4,0% -2,4% -8,7% -8,6% -2,4% -6,0% -5,4 % -6,3 % -1,8 % -1,4% -6,4% -7,3 % -4,4% -4,1 % -7,8% -8,0%
2007
-22,5 % -17,9% -2,3 % -14,7 % -2,7% -5,3 % -1,8 % -22,5 % -15,0 % -5,2 % -9,8% -10,0% -13,6% -4,5% -5,1 % -2,6% -6,5 %
2008
2009'"
-22,9 % -13,7 % -9,1 % 3,9% -3,3 % -2,3 % -13,8 % -8,8% -1,6% -2,4% -5,1 % -3,1 % -3,0% -2,4% 6,8% -13,0 % -12,4 % 0,1 % -5,1 % -1,9% -12,1 % -10,2 % -9,5 % -5,4% -12,3 % -5,5 % -6,1 % -0,8% -6,8 % -5,8% -3,3 % -2,5% -6,6% -1,3 %
20032007 (kumuliert in Mrd.€) -16,0 -8,2 -112,6 -122,0 -230,6 -21,8 -94,0 -12,2 -10,8 -38,9 -67,0 -342,6 -40,6 -3,7 -13,6 -17,5 -34,4
2008 (in Mrd. €)
2009 (in Mrd.€)*
-8,6 -1,5 -64,7 -32,9 -26,1 -9,3 -47,0 -3,0 -4,0 -18,5 -20,1 -103,9 -16,8 -2,3 -4,4 -5,1 -7,6
-4,6 0,5 -44,0 -21,2 -37,9 -5,2 -37,2 1,3 0,0 -5,7 -16,6 -56,2 -6,4 -0,3 -3,9 -3,4 -1,2
* Schätzung vom Oktober 2009 Quelle: European Commission (2009), S. 212 f.
Die Gründe für die EU-internen Ungleichgewichte sind vielschichtig (vgl. Dullienl Schwarzer 2009, S. 3 ff.). Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass - wie oben bereits angesprochen - der neuen europäischen Ökonomie spezifische Modernisierungsimperative eingeschrieben sind. Unter den Bedingungen einer erhöhten Kapitalmobilität und eingeschränkten wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeiten - gefördert vom Wegfall von Wechselkurskorrekturen und der finanzpolitischen Konvergenzkriterien - sehen sich die Regierungen, Tarifparteien und andere wohlfahrtsstaatliche Akteure offenbar verstärkt unter Druck gesetzt, die nationalen Wettbewerbsbedingungen zu verbessern. Dies kann durch Strategien der Innovation und Produktivitätssteigerung geschehen oder aber - kurzfristig Erfolg versprechender - durch Strategien der Deregulierung und Kostensenkung.
78 Die zweite Option trat im Laufe der 1990er-Jahre in den neuen wettbewerbskorporatistischen Arrangements (vgl. Rhodes 1998; BielingiSchulten 2003) und vielen nationalen "Sozialpakten" (vgl. Hasse11998; FajertagIPochet 2001) mehr und mehr in den Vordergrund. Zunächst stand dabei - vor allem seitens kleinerer, exportorientierter Volkswirtschaften - das Bemühen im Vordergrund, zur Bewältigung der Beschäftigungskrise die Exporte zu steigern oder zur Erfüllung der Konvergenzkriterien der WWU die Kosten zu senken. Die hierbei erzielten Erfolge wurden vielfach gelobpreist. Nachdem mit Deutschland die größte europäische Volkswirtschaft in Kombination von taritpolitischer Lohnzurückhalmng und der sozialpolitischen Agenda 2010 ebenfalls verstärkt auf Kostensenkungsstrategien setzte, mehrten sich dann aber die gesamteuropäischen Probleme: zum einen, weil die Kostensenkung eine Nachfragedrosselung implizierte, die ihrerseits die konjunkturelle Entwicklung bremste (vgl. Cafruny/Ryner 2007, S. 43 ff.); und zum anderen, weil die deutschen Exportüberschüsse bei den europäischen Handelspartnern entsprechende Defizite in der Leismngsbilanz hervorriefen. Die skizzierten Ungleichgewichte sind Sprengstoff für eine solidarische wirtschaftspolitische Kooperation in der EU (vgl. Huffschmid 2007). Grundsätzlich kann ihnen durch das Instrumentarium der Wechselkurskorrektur nicht - dies betrifft die Eurozone - oder nur noch sehr begrenzt entgegengewirkt werden, da sich Abwertungseffekte infolge der internationalen Verflechtung oft ambivalent darstellen und erst mit einiger Verzögerung dazu beitragen, die nationale Wettbewerbsfahigkeit zu verbessern. Zum kurzfristigen Ausgleich der Leismngsbilanzdefizite bedarf es daher beträchtlicher Kapitalzuflüsse, entweder in Form von Direkt- oder Portfolioinvestitionen oder aber von Krediten. Defizitländer sind mithin in besonderem Maße von externen - privaten oder auch staatlichen - Kapital- und Kreditgebern abhängig, die ihrerseits, insbesondere unter Krisenbedingungen, ihre Investitions- und Anlagestrategien überdenken. Der bisherige Krisenverlauf jedenfalls hat deutlich gemacht, dass die Länder mit einer ausgeprägt defizitären Leistungsbilanz und einer entsprechend hohen Außenverschuldung - dies gilt insbesondere für viele der neuen osteuropäischen, aber ebenso für einige südeuropäische Mitgliedstaaten - Gefahr laufen, dass die internationalen Banken und institutionellen Anleger angesichts der bestehenden Risiken ihr Kapital abziehen oder nicht mehr bereit sind, Kredite nachzuschießen. Die Folge solcher Tendenzen sind ernsthafte Liquiditäts- und Solvenzschwierigkeiten, die oft nur mithilfe internationaler Kreditgeber - wie Z.B. dem IWF oder auch der EU - gemildert werden können. Ohne hier weiter ins Detail gegangen zu sein, stellt sich die europäische Krisenkonstellation sehr komplex dar. Noch immer existiert ein beträchtliches Destabilisierungspotenzial, zumal die globale Wirtschafts- und Finanzkrise durch
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spezifische europäische und nationale Krisenfaktoren - z.B. einen überhitzten Immobiliensektor, ein hohes Haushaltsdefizit, eine überbewertete Währung, hohe Leistungsbilanzdefizite und eine entsprechend hohe Auslandsverschuldung - verschärft wurde. In diesem Sinne lassen sich in einer ersten Annäherung mehrere Ländergruppen innerhalb der EU unterscheiden, für die sich der Krisenprozess zum Teil besonders äußert: 11
11
Einer ersten Gruppe sind all jene Länder zuzuordnen, deren Banken sich sehr stark am Handel mit US-amerikanischen Subprime-Krediten und CDOs beteiligt hatten und deren Kreditsystem durch den Kollaps der vormals handelbaren Subprime-Kredite und CDOs schon recht früh ins Wanken geraten war. Dies galt vor allem für Großbritannien, Irland und - mit Abstrichen - die Benelux-Staaten, deren Wirtschaft und Gesellschaft durch einen volkswirtschaftlich bedeutsamen Finanzsektor, eine umfassende Finanzialisierung und enge Anbindung an das US-amerikanische Kapitalismusmodell gekennzeichnet waren (vgl. Becker/Jäger 2009, S. 544 ff.). Weniger direkt wurde die ebenfalls hoch finanzialisierte, durch eine Immobilienblase und ein großes Leistungsbilanzdefizit geprägte spanische Ökonomie erfasst, da deren Banken die Partizipation an riskanten Finanzierungsgeschäften untersagt war. Dies galt hingegen nicht für das weitaus schwächer finanzialisierte Deutschland, das vom Zerplatzen der Spekulations-Blase unmittelbar getroffen wurde, da sich viele deutsche Kreditinstitute sehr stark am Handel mit den Subprime-Krediten und CDOs beteiligt hatten. Zu einer zweiten Ländergruppe zählen all jene Länder, die der Eurozone angehören, die in den letzten Jahren aber - wie bereits ausgefiihrt - nicht mit den geringen Lohnsteigerungen, sozialpolitischen Kiirzungsprogrammen und niedrigeren Inflationsraten in den Überschussländern der Eurozone mithalten konnten. Die sich hieraus ergebenden Wettbewerbsnachteile betreffen vor allem die südeuropäischen Länder, also Spanien, Portugal, Griechenland und zuletzt auch Italien und Frankreich. Als noch junge Mitglieder der Eurozone sind zudem Slowenien und die Slowakei dieser Ländergruppe zuzurechnen. Problematisch ist dabei nicht nur das zum Teil sehr beträchtliche Leistungsbilanzdefizit, sondern auch das Haushaltsdefizit. Dieses war von den meisten Regierungen dieser Ländergruppe - eine Ausnahme bildete Spanien - trotz der konjunkturellen Belebung der letzten Jahre kaum reduziert worden (vgl. European Commission 2009, S. 206), sondern zum Teil sogar - dies galt vor allem für Griechenland - angestiegen. Entsprechend eng und begrenzt stellten sich in der Krise die Möglichkeiten dar, konjunkturpolitisch gegenzusteuern.
80 ..
Die dritte Ländergruppe, die die neuen EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa umfasst, lässt sich in mehrere Subgruppen unterteilen (vgl. Becker 2010, S. 13 ff.). Mit Ausnahme von Polen, das aufgrund der relativ großen und sektoral stärker differenzierten Binnenökonomie bislang relativ gut durch die Krise kam, leiden die Länder der Visegr{u:l-Gruppe (Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn), die den Pfad einer "abhängigen Industrialisierung" beschritten hatten, vor allem darunter, dass die Exporte nach Westeuropa und die USA eingebrochen sind (vgl. Becker 2009, S. 97 ff.; Becker/Jäger 2009, S. 549 f.). Aber auch die zunehmende Zurückhaltung bei der Kreditvergabe - von Slowenien einmal abgesehen werden die Kreditsysteme von westlichen Banken kontrolliert (vgl. Frangakis 2009, S. 72) - wirkte sich krisenverschärfend aus. Im Unterschied zur Visegrad-Gruppe folgten die Modernisierungsprozesse in den Ländern des Baltikums dem Modell einer "abhängigen Finanzialisierung" (vgl. Becker 2010, S. 14 ff.; Becker! Jäger 2009, S. 50 f.). Dieses Modell drückte sich unter anderem in einer umfassenden Privatisierungsstrategie und einem Immobilienboom aus und war politisch durch eine tendenzielle Überbewertung der nationalen Währungen, d.h. die Institutionalisierung fester Wechselkurse zur Inflationsbekämpfung, aktiv gefördert worden (vgl. Leitner 2010). Die Kehrseite dieser Entwicklung waren wachsende Leistungsbilanzdefizite, deren Ausgleich durch entsprechende Kapital- bzw. Kreditimporte im Verlauf der Krise mehr und mehr zum Problem wurde.
Die Zuordnung der einzelnen Länder zu den skizzierten Gruppen wirft zum Teil weitere Fragen auf. So gibt es innerhalb der Ländergruppen national spezifische Krisenverläufe, etwa die Finanzialisierung und den schon länger bestehenden Abwertungsdruck in Ungarn; einige Länder wie Slowenien, Bulgarien und Rumänien entsprechen keinem Entwicklungsmodell eindeutig. Trotz aller Klassifizierungsprobleme sollte deutlich geworden sein, dass der Krisenverlauf in der EU zwar allgemein durch die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen und die Einbindung in den US-amerikanischen Reproduktionskreislauf geprägt war und immer noch ist, darüber hinaus aber heterogene nationale Konstellationen, Diskurse und Strategien der Krisenbewältigung die Formulierung gemeinsamer europäischer Antworten bislang erschwert haben.
4. Elemente und Charakter des europäischen Krisenmanagements Um die Probleme und den Charakter des europäischen Krisenmanagements genauer zu bestimmen, lohnt sich zunächst ein Blick auf einige der zentralen kri-
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senpolitischenAktivitäten. Im Prinzip lassen sich mehrere Reaktionswellen unterscheiden. Die erste Welle war dadurch gekennzeichnet, dass in vielen vereinzelten nationalen Ad-hoc-Rettungsaktionen versucht wurde, die globalisierten Kreditund Finanzmärkte zu stabilisieren (vgl. Bieling 2009, S. 111; Zimmermann 2009, S. 65): Bereits im Sommer 2007 waren in Deutschland die IKB und die Sachsen LB in eine Liquiditätskrise geraten und entsprechend auf staatliche Stützungs- und Rettungsaktivitäten angewiesen. Nur kurz darauf reagierte im Herbst die britische Regierung auf den Bank Run bei Northern Rock - die Kunden fiirchteten um ihre Ersparnisse - mit einer Verstaatlichung des Kreditinstituts. Da zuvor bereits einige Finanzunternehmen in den USA in Schwierigkeiten geraten waren und als solide eingeschätzte Großbanken - etwa die Schweizer UBS, die französische BNP Paribas oder zwischenzeitlich auch die Deutsche Bank - Verluste meldeten, galt die Sorge der nationalen Finanzaufsichten und Finanzministerien vermehrt den Destabilisierungs- und Ansteckungseffekten im europäischen - und transatlantischen - Kreditsystem. Schon im August hatte die EZB entsprechend großzügig mit einer Ausweitung des liquiden Kapitals auf sich abzeichnende Engpässe im Interbankenmarkt reagiert; im Oktober verständigten sich die Finanzminister im ECOFIN dann auf erste allgemeine Richtlinien fiir eine grenzüberschreitende krisenpolitische Koordination. Nach dieser ersten Welle beruhigte sich die Situation nur vorübergehend. Bereits im Dezember 2007 beeinträchtigten die Verlustmeldungen in den Quartalsberichten vieler Banken den Interbankenmarkt erneut. Um der hiermit einhergehenden Kreditverknappung entgegenzuwirken, stimmten sich die fiihrenden Zentralbanken der OECD-Welt ab und pumpten große Mengen an Liquidität in die Märkte. Die dritte Welle ließ nicht lange auf sich warten. Sie wurde im Frühjahr 2008 dadurch ausgelöst, dass die mit Hypotheken unterlegten Wertpapiere geradezu abstürzten und nicht mehr handelbar waren. Die in den Handel mit Subprime-Krediten und CDOs verstrickten Kreditinstitute - und damit indirekt auch der Interbankenmarkt - gerieten hierdurch stärker unter Druck. Um die Destabilisierung des Kreditsystems zu verhindern, intervenierten die Finanzministerien und Zentralbanken vor allem in zweifacher Form (vgl. Beitel 2008, S. 36 f.): Zum einen wirkten sie der schwelenden Liquiditätskrise, d.h. dem Austrocknen des Interbankenmarktes, durch ein zusätzliches Kreditangebot und eine expansivere Geldpolitik entgegen; zum anderen mobilisierten sie - teilweise zusammen mit anderen Marktakteuren - zusätzliche Finanzrnittel, um in Schieflage geratene Institute zu retten und das Finanzsystem zu stabilisieren. In den USA wurde im März 2008 so z.B. die vor dem Kollaps stehende Investrnentbank Bear Stearns durch staatli-
82 ehe Notstandskredite, Bürgschaften und den Verkauf an JP Morgan Chase gerettet (vgl. Roth 2009, S. 63 f.). Nach einer Reihe weiterer Ad-hoc-Rettungsaktionen und dem vermehrten Engagement von Staatsfonds aus China und einigen rohstoffreichen Ländern vornehmlich aus dem Nahen Osten - mehrten sich bis zum Sommer 2008 die Erwartungen, dass das Schlimmste nun bereits überstanden sei. Doch die vierte Welle der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die im September 2008 losgetreten wurde, hatte es dann wirklich in sich. Zunächst konnten in den USA die beiden großen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac noch durch Verstaatlichung gerettet werden, bevor der Bankrott der Investmentbank Lehman Brothers die westliche Finanzwelt schwer erschütterte. Die Folgen dieses Bankrotts waren wahrlich dramatisch (vgl. Euromemorandum-Gruppe 2009, S. 17). So standen eine Reihe mit Lehman Brothers verflochtene Finanzinstitutionen nun plötzlich ebenfalls vor dem Zusammenbruch, etwa die große VersicherungsgesellschaftAlG, die Sparkasse Washington Mutual oder in Europa die britische Hypothekenbank Bradford & Bingley, die belgisch-holländische Bank Fortis, die deutsche Hypothekenbank Hypo Real Estate oder das isländische Kreditsystem insgesamt. Zudem war das Misstrauen zwischen den Banken inzwischen derart groß, dass der Interbankenmarkt austrocknete und sich eine Kreditklemme abzeichnete. Und schließlich brachen im Oktober 2008 auch die Aktienkurse ein, was - wie auch die Kreditklemme - darauf hindeutete, dass die Krise nun mehr und mehr auf die sog. Realwirtschaft übergriff. Die Regierungen und Zentralbanken begegneten den skizzierten Entwicklungen mit unterschiedlichen Maßnahmen. An die Stelle der Ad-hoc-Rettung einzelner Finanzinstitute traten im Herbst 2008 angesichts der wachsenden Zahl von Problemfällen umfassende nationale Rettungsschirme, die aufbauend auf einem finanziell gut ausgestatteten Stabilisierungsfonds eine verbesserte staatliche Garantie von Spareinlagen, vor allem aber ein System von staatlichen Bürgschaften, Unternehmensbeteiligungen bis hin zu Verstaatlichungskonzeptionen umfassten. Der zwischenzeitlich von Frankreich und der Europäischen Kommission ventilierte Vorschlag, nicht viele nationale, sondern ein gemeinsames europaweites Auffangnetz zu schaffen, wurde nicht zuletzt aufgrund des deutschen Widerstands und einer befürchteten finanziellen Überlastung - nicht weiter verfolgt (vgl. Roth 2009, S. 75). Die Finanzminister verständigten sich im Oktober nur darauf, ihre Rettungsaktivitäten zu koordinieren und den Bankrott von systemrelevanten Banken mit allen Mitteln zu verhindern. Gleiches gilt für die Konjunkturprogramme, die für die Jahre 2009 und 2010 aufgelegt wurden und mit deren Hilfe der wirtschaftliche Absturz gebremst werden
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sollte. Das hierfür zur Verfügung gestellte Finanzvolumen blieb hinter den staatlichen Stützungsmaßnahmen für den Finanzsektor - zwn Teil sehr deutlich - zurück (vgl. WattlNikolowa 2009, S. 12). Zudem waren die konkreten Programmelemente sehr stark von nationalen Prioritäten bestimmt. So hatte in den meisten EU-Staaten bereits im Herbst 2008 die Diskussion über ein konjunkrurpolitisches Gegensteuern begonnen, zwn Teil waren sogar schon erste Programme lanciert worden, bevor die diversen Aktivitäten im Kontext der G-20 und der EU dann enger aufeinander abgestimmt wurden (vgl. Roth 2009, S. 98 ff.). Im Vordergrund der meisten Programme standen die Bemühungen, spezifische nationale Wirtschaftszweige - in Deutschland etwa die Automobilindustrie -, die von der Krise besonders betroffen waren, zu unterstützen und - sofern hierfür passende Instrumente verfügbar waren - den drohenden Beschäftigungseinbruch aufzufangen. Bei den jeweiligen Nachbarstaaten weckten manche der eingeleiteten Stimulierungsschritte vorübergehend protektionistische Befürchtungen, die zwar nicht immer im Detail, so aber doch mit Blick auf den allgemeinen wirtschaftspolitischen Diskurs weitgehend zerstreut werden konnten. Im Frühjahr 2010 wurde mit dem drohenden griechischen Staatsbankrott erkennbar, dass sich die Krise infolge der sprunghaft angestiegenen Staatsverschuldung noch stärker ins politische System verlagerte, was zugleich potenziell dramatische Folgen für den europäischen Wirtschaftsraum implizierte. Die äußerst prekäre Situation der griechischen Staatsfinanzen resultierte dabei aus einer Mischung von internen und externen Fehlentwicklungen. Die internen Fehlentwicklungen bestanden vor allem in einer kostenintensiven klientelistischen politischen Kultur - also der Praxis einer öffentlichen (Selbst)versorgung von Parteimitgliedern, einem korrupten Verwaltungssystem und einer Vielzahl von Steuerschlupflöchern für die wohlhabenden Klassen -, die die Probleme einer international ohnehin nur partiell konkurrenzfähigen Wirtschaft verschärfte (vgl. MüllerlSchmidt 2010, S. 279 ff.). Der letztgenannte Aspekt macht bereits deutlich, dass zwn Verständnis der Krisendramaturgie auch externe Faktoren zu berücksichtigen sind: unter anderem - gleichsam als Kehrseite der negativen Leistungsbilanz - das Lohn- und Sozialdumping in anderen EU-Ländern, aber auch die Rolle global orientierter Finanzmarktakteure (vgl. Pfeiffer 2010). So waren es zwei US-amerikanische Rating-Agenturen - Fitch und Standard & Poor's -, die im Dezember 2009 die Kreditwürdigkeit Griechenlands auf eine B-Note herabstuften und damit die Zinslast sprunghaft erhöhten. Dieses Signal wurde anschließend von internationalen Finanzaniegern, vor allem Hedge Fonds, genutzt, um gegen die Solvenz des griechischen Staates und indirekt auch gegen den Euro zu spekulieren. Die anderen EU-Regierungen wollten den hieraus resultierenden Gefahren für die ge-
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meinsame Währung entgegentreten und die eigenen Gläubigerbanken schützen, gingen aber mit Blick auf das vernagsrechtliche "bail out"-Verbot und eine noch unzureichend entwickelte europäische Solidaritätskultur recht zögerlich vor, was die Krise zusätzlich anheizte (vgl. MüllerlSchmidt 2010, S. 287 ff.). Im Ergebnis verständigten sich die Regierungen dann doch auf Nothilfe-Kredite im Umfang von 110 Mrd. Euro, die auf drei Jahre angelegt sind. Dabei drängte die deutsche Regierung darauf, an diesen Krediten mit 30 Mrd. Euro auch den Internationalen Währungsfonds (lWF) zu beteiligen, der zudem in Kooperation mit der Europäischen Kommission ein der griechischen Regierung und Bevölkerung auferlegtes Stabilisierungsprogramm überwachen soll, dessen Erfolgsaussichten und sozialen Konsequenzen allerdings äußerst fragwürdig sind. Die EU-Strategie gegenüber Griechenland fügt sich in die allgemeine Tendenz ein, im Kampf gegen die gestiegene staatliche Schuldenlast das Sanktionsregime der europäischen Währungsunion restriktiver zu fassen. Diese Einschätzung mag überraschen, sind in der Krise die wirtschafts- und finanzmarktpolitischen Interventionsmöglichkeiten doch sukzessive ausgebaut worden. In Bezug auf die Rettungsschirme und Konjunkturprogramme konzentrierte sich die EU zwar primär auf deren grenzüberschreitende Koordination, mobilisierte zum Teil aber auch eigene Finanzrnittel. Konjunkturpolitisch wurden von der EU 30 Mrd. Euro, vornehmlich in Form zinsgünstiger Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB), bereitgestellt und stabilisierungspolitisch der EU-Nothilfefonds für zahlungsunfahige Staaten, die nicht der Eurozone angehören, auf 50 Mrd. Euro aufgestockt. Auch am großen Hilfspaket von insgesamt 750 Mrd. Euro, das - im Kampf gegen die Spekulation - im Anschluss an die Griechenlandkrise aufgelegt wurde, beteiligte sich die Kommission mit 60 Mrd. Euro. Außerdem erklärte sich die EZB bereit, Staatsanleihen gefahrdeter Länder aufzukaufen. Ungeachtet all dieser Aktivitäten ist zuletzt jedoch der Konsolidierungsdiskurs wieder stärker in den Vordergrund getreten, zumal die jüngeren Kredite durch strikte Sparprogramme konditionalisiert werden. So betrachtet ist die wirtschaftspolitische Strategie der EU insgesamt ambivalent. Etwas schärfer scheint das EU-Profil hingegen in drei anderen Bereichen konturiert zu sein: in der Geldpolitik, der regulativen Finanzmarktpolitik und mit Abstrichen im globalen Krisenmanagement. Im Bereich der Geldpolitik hat die EZB ihre enge Fixierung auf die Infiationsbekämpfung im Laufe der Krise zumindest relativiert und sich verstärkt den übergeordneten finanzmarkt- und wirtschaftspolitischen Problemen zugewendet (vgl. Schmidt 2009, S. 390 ff.). Das Hauptaugenmerk lag darauf, dem Austrocknen des Interbankenmarktes entgegenzuwirken und durch Möglichkeiten einer direkten Kreditvergabe für eine hinreichende Liquidität im Finanzsystem zu sor-
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gen. Derartige Aktivitäten wurden insbesondere in jenen Phasen ergriffen, in denen durch drohende oder tatsächliche Bankenpleiten das wechselseitige Vertrauen der Marktakteure schwer erschüttert war. Wurden die Vertrauen, Stabilität und Liquidität sichernden Aufgaben der EZB - und auch einiger anderer Zentralbanken - recht flexibel und kreativ erfüllt, so dauerte es doch eine ganze Weile, bis die EZB auf eine Strategie der Rezessionsbekämpfung einschwenkte. Noch im zweiten Quartal des Jahres 2008, als der Wirtschaftsabschwung bereits klar erkennbar war, hatte sie den Leitzins auf 4,25 Prozent angehoben (vgl. Dräger/Wehr 2010, S. 10). Erst danach wurde er bis zum Mai 2009 in raschen Schritten auf 1,0 Prozent gesenkt, um im Verbund mit den nationalen Konjunkturprogrammen den wirtschaftlichen Absturz zumindest abzumildern. Ein zweiter Bereich, in dem die EU in Reaktion auf die Finanzkrise vielfliltig aktiv wurde, ist die regulative Politik. Diese begleitete in Form von sektorspezifischen Liberalisierungsrichtlinien im Kontext des EG-Binnenmarktes, über die Umsetzung des Aktionsplans fiir Finanzdienstleistungen bis hin zum Aufbau und zur Fortentwicklung eines institutionalisierten Regulierungs- und Aufsichtssystems bereits seit Längerem den Prozess der Finanzmarktintegration (vgl. Bieling 2003). Neu war im Krisenverlauf nun aber, dass einige der vormals sehr marktliberal definierten regulativen Standards infrage gestellt wurden und die Diskussion über eine umfassendere und strenger überwachte Regulierung begann. Der Fokus richtete sich darauf, grundsätzlich keine unregulierten und unüberwachten Finanzmarktsegmente mehr zuzulassen und die Bestimmungen zu Kapitalrucklagen von Kreditinstituten neu zu regeln, Hedge Fonds strenger zu überwachen, die Operationsweise von Rating-Agenturen zu verändern, Steueroasen auszutrocknen, die Gehälter und Boni von Managern zu beschneiden sowie - in Reaktion auf die Vorschläge der Expertengruppe von de Larosiere - ein effektiveres, auch systemisehe Risiken erfassendes Überwachungs- und Frühwarnsystem zu etablieren, das in Form von drei neuen supranationalen Aufsichtsinstitutionen fiir Bank-, Versicherungs- und Börsengeschäfte ab Januar 2011 konkrete Gestalt annehmen soll. All diese Aspekte deuten daraufhin, dass sich der Tenor der europäischen Finanzmarktpolitik verändert hat. Ob damit aber bereits ein Paradigmen- und Strategiewechsel eingeleitet wurde, ist fragwürdig und umstritten. Für einige stellen sich die Folgen der Politisierung der Finanzmarktregulierung bereits als sehr weitreichend dar, so Z.B. fiir Elliot Posner (2010, S. 108): "My survey ofEU reforms enacted or debated since the onset ofthe present crisis suggests three important trends: a palpable and perhaps radical change in the content oflegislation, giving less discretion to finns; a likely incremental, though potentially significant, enhancement of supranational enforcement authority, with further fonnalization of transgouvemmental networks, even in the traditionally sensitive area of prudential supervision; and a greater willingness on the part
86 of national politicians and EU representatives to use strengthened bargaining positions to export EU models to the international level. "
Im Kontrast zu dieser recht optimistischen Sichtweise gelangen andere Beobachter angesichts allenfalls bescheidener, vielfach nur symbolischer Zwischenergebnisse (vgl. Redak/Weber 2010, S. 78 ff.) ood fortbestehender nationaler Interessendivergenzen zu einer weitaus skeptischeren Einschätzung (vgl. Vander Stichele 2009). Hubert Zimmermann (2010, S. 136) hält in diesem Sinne fest "The implementation of any new blueprint on financial govemance will be rather slow and 00even, given persistent differences in core features of national economic systems such as patterns of savings and household debt. Real change will take a lot of time."
Auch der dritte Bereich, der europäische Beitrag zum globalen Krisenmanagement, ist nicht leicht auf einen Begriff zu bringen. Groodsätzlich hat sich die EU nach dem Ausbruch der Krise - gleichsam in Verlängeroog der innereuropäischen Diskussionen - überaus aktiv im globalen Kontext, nicht zuletzt im Rahmen der G-20, darum bemüht, die finanzmarktbezogenen regulativen Standards ood ·Überwachungsmechanismen strikter zu definieren (vgl. SemmlerNoung 2010). Der auf den G-20-Gipfeln in Washington (November 2008), London (April 2009) und Pittsburgh (September 2009) verfolgte Ansatz beruht in diesem Sinne auf einem Primat der regulativen Politik, d.h. auf einer vornehmlich Regeln setzenden, weniger hingegen auf einer staatsinterventionistischen Gestaltungskonzeption. Die EU knüpfte damit - nun freilich stärker ooter Berücksichtigung marktkorrigierender Aspekte - an ihre alte Strategie an, durch verbindliche multilaterale Regeln ood allgemein akzeptierte Regulieroogsstandards global vergleichbare Investitions- und Wettbewerbsbedingungen zu fordern (vgl. Abdelal 2006). Gleichzeitig versuchten sich insbesondere die kontinentaleuropäischen Regieroogen, der US-amerikanischen - und auch britischen - Forderoog nach umfassenderen Konjunkturprogrammen zur Stabilisieroog der Ökonomie zu entziehen. Mehr noch, seit einiger Zeit wird in der EU bereits laut über eine sog. Exit-Strategie diskutiert, d.h. über den Ausstieg aus einem aktiven staatlichen Krisenmanagement und die Rückkehr zur finanzpolitischen Konsolidieroog. Ungeachtet der zwischenzeitlich globalen Initiativrolle der EU (vgl. Ziegler 2009) sind die bisher im Kontext der Gipfeldiplomatie erzielten Resultate recht bescheiden. Neben dem Kampf gegen Steueroasen ood der Umwandlung des Financial Stability Forums (FSF) zum Financial Stability Board (FSB), einschließlich einer stärkeren Institutionalisieroog und Kompetenzerweiteroog, stehen noch zahlreiche Entscheidungen aus. Einige Themen wie die Besteueroog von Finanzmarkttransaktionen oder Spielregeln zur Korrektur globaler Leistungsbilanzoo-
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gleichgewichte sind bislang nicht ernsthaft diskutiert, sondern zunächst verzögert und dann zurückgewiesen worden (vgl. Dieter 2009). Was die strengere Regulierung der Finanzmärkte betrifft, so wurden viele Forderungen vorerst an das FSB und die Expertengemeinschaft zuriickverlagert. Ob deren Reformvorschläge später befolgt werden und die Reformen Krisengefahren zukünftig wirklich vorbeugen, ist ungeachtet der Diskussion über einen stärker systemisch angelegten Regulierungsansatz recht ungewiss. Insgesamt ist das europäische Krisenmanagement bislang durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 11
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erstens durch die Dominanz von Ad-hoc-Maßnahmen, die vor allem darauf zielen, die bestehenden ökonomischen Strukturen - die Finanzmärkte und die jeweiligen Leitsektoren - strukturkonservativ zu stabilisieren, nicht aber die Funktionsweise der neuen europäischen Ökonomie grundlegend zu verändern; zweitens durch vornehmlich national definierte und finanzierte Rettungsschirme und Konjunkturprogramme, die erst im Nachhinein auf europäischer Ebene koordiniert und mit weiteren Finanzmitteln aufgestockt worden sind; drittens - und dies betrifft die innereuropäischen ebenso wie die global orientierten supranationalen Gestaltungsmöglichkeiten - durch einen Primat der regulativen Politik, der allerdings durch eine gelockerte, d.h. liquiditätssichernde Geldpolitik der EZB flankiert wird; und viertens durch den Übergang zu einer stärkeren Sanktionierung der öffentlichen Verschuldung sowie den Verzicht auf eine wirtschafts- und währungspolitisch aktiv herbeigeführte Korrektur der internen wie externen wirtschaftlichen Ungleichgewichte.
5. Grenzen und Probleme Die skizzierten Entwicklungen und Charakteristika des europäischen Krisenmanagements machen deutlich, dass die Risiken einer protektionistischen Renationalisierung der Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik eher gering sind. Doch ebenso wenig haben sich die Erwartungen oder Hoffnungen, dass die Krise einen neuen Vergemeinschaftungsschub auslösen könnte, bisher erfüllt. Offensichtlich gibt es gravierende Hindernisse, neue gemeinsame Ressourcen der Krisenüberwindung zu mobilisieren und diese mithilfe entsprechender politischer Instrumente zu nutzen. Entwicklungsprobleme bestehen dabei in folgenden Bereichen:
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Grundsätzlich verfügt die EU im Bereich der regulativen Finanzmarktpolitik über hinreichend Kompetenzen und Instrumente in Form unzähliger sektorspezifischer Verordnungen und Richtlinien. Mehr noch, auch das System der Finanzaufsicht soll gemäß der Vorschläge der de Larosiere-Expertengruppe neu geordnet, stärker zentralisiert und in Kooperation mit der EZB auf systemische Risiken erweitert werden (vgl. SemmlerIYoung 2010). Ungeachtet aller Modifikationen besteht jedoch das Problem, dass sich die Diskussion über eine veränderte Regulierung - im europäischen wie globalen Kontextnach wie vor im engen Rahmen einer marktliberalen Integrationskonzeption bewegt und die angestrebten Zentralisierungsschritte nicht einfach umgesetzt, sondern aufgrund britischer, deutscher und spanischer Einwände verwässert werden (vgl. DrägerlWehr 2010, S. 14). Die geld- und wechselkurspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der EU werden ebenfalls nicht wirklich ausgenutzt. So zeigt die Mitgliedschaft in der Eurozone für einige Länder, deren Währungen ansonsten unter Druck geraten wären, in der Krise zwar grundsätzlich stabilisierende Effekte, hatte zuvor aber bereits zur Folge gehabt, dass sich die Leistungsbilanzungleichgewichte in der EU verstärkten. Nicht ohne Grund wurde daher auch die Empfehlung des IWF zurückgewiesen, in den krisengeschüttelten osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten unter Umgehung der Konvergenzkriterien sehr rasch den Euro auf Probe einzuführen, um die währungspolitischen Risiken aufzuheben und das Vertrauen der internationalen Kreditgeber zu stärken. Die Konstellation bleibt damit ambivalent: Einerseits werden die globalen wie innereuropäischen Leistungsbilanzungleichgewichte als ein krisenverschärfendes Kernproblem der internationalen Wirtschaftsbeziehungen thematisiert (vgl. UNCTAD 2009, S. 5; DullieniSchwarzer 2009, S. 3 ff.); andererseits sperren sich die europäischen Regierungen aber nach wie vor dagegen, die Wirtschafts- und Steuerpolitik stärker zu vergemeinschaften, die gemeinschaftlichen Haushaltrnittel aufzustocken sowie - EU-intern wie auch global - Mechanismen und Instrumente zur Vermeidung struktureller Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite zu implementieren. Älmlich stellt sich die Situation bei den Instrumenten der unmittelbaren Krisenbekämpfung dar, d.h. den Rettungsschirmen für den Finanzsektor und den Konjunkrurprogrammen. Auch hier gelang es lediglich, die nationalen Aktivitäten locker zu koordinieren und auf diesem Wege offenkundige protektionistische Alleingänge zu vermeiden. Weitergehende Schritte wie z.B. die Einrichtung eines gemeinsamen Rettungsschirms oder eine stärkere supranationale konjunkturpolitische Komponente wurden durch nationale
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verteilungspolitische Interessen blockiert. Die Blockaden scheinen nur dann überwindbar, wenn die Krisenprozesse an den Rändern zu eskalieren und auf den vermeintlich stabilen Kern der EU zurückzuschlagen drohen. So wurde mit Blick auf weitere befürchtete Kreditausfalle etwa der EU-Nothilfefonds für nicht WWU-Staaten aufgestockt; und angesichts eines drohenden Staatsbankrotts von WWU-Mitgliedsstaaten - einige sprechen inzwischen von den sog. PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) wurde die vormals kompromisslos verfochtene Formel des "No bai! out" infrage gestellt und letztlich aufgegeben. Die skizzierten Grenzen zeigen recht deutlich, dass die Grundlagen einer transnationalen europäischen Solidarität, die eine Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion durch stärkere umverteilungspolitische Komponenten möglich machen könnten, noch immer zu schwach entwickelt sind. Offenbar stehen stärkeren - auf sozialen Ausgleich bedachten - Vergemeinschaftungsschritten im Bereich der Geld-, Konjunktur- und Struktur- sowie der Finanzmarktpolitik gewichtige nationale und transnationale Interessen entgegen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Akteurs- und Interessenkonstellation in den verschiedenen Bereichen jeweils spezifisch darstellt. Gegen eine strengere politische Regulierung und Kontrolle sperren sich vor allem die Regierungen - z.B. diejenige Großbritanniens, aber auch die der baltischen Staaten -, deren Gesellschaften durch ein marktliberales, stark finanzialisiertes Kapitalismusmodell geprägt sind oder politisch-kulturelle Vorbehalte gegen eine weitergehende Vergemeinschaftung von Kompetenzen haben (vgl. Becker/Jäger 2009; Zimmermann 2010). Etwas anders stellt sich die Situation hinsichtlich des Abbaus von Leistungsbilanzungleichgewichten in der EU dar. Dann sind es in erster Linie die Überschussländer - allen voran Deutschland -, die wenig Bereitschaft zeigen, ihre relativen Wettbewerbsvorteile abzubauen (vgl. Huffschmid 2007). Die Interessenkonstellation in Fragen der Rettungsschirm- und Konjunkturpolitik ist durch ähnliche Determinanten bestimmt. Auch hier befürchten vor allem die haushaltspolitisch weniger eingeschränkten Regierungen, deren Wirtschaftsräume schwächer finanzialisiert sind, dass eine stärkere stabilisierungs- und konjunkturpolitische Vergemeinschaftung mit negativen Verteilungseffekten einhergeht. Jenseits dieser nationalen Interessenkomponenten, die stark mit den jeweiligen Kapitalismusmodellen korrespondieren, spielen im politischen Entscheidungsprozess aber auch globale und transnationale Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Transnational bedeutsam sind nicht zuletzt die ökonomischen Reproduktionsmuster und politischen Netzwerke der Finanzindustrie, aber auch der transnationalen Dienstleistungs- und Industriekonzerne; und global hat vor
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allem die Funktionsweise des Dollar Wall Street Regimes (DWSR) den Prozess der europäischen Finanzmarktintegration in eine marktliberale Richtung gelenkt. Nun sind die Funktionsprinzipien des DWSR und mit ihnen auch die marktliberale Grundorientierung der globalisierten Währungs- und Finanzmarktbeziehungen in der Krise schwer erschüttert worden. Trotzdem sind, wie gesehen, die Hindernisse, ein stärker gemeinschaftsbasiertes und auf sozialen Ausgleich bedachtes Krisenmanagement zu entwickeln, nach wie vor beachtlich. Offenbar besteht ein Grundproblem aller - sozial orientierten - integrationsfreudigen Kräfte darin, ein alternatives politisches Paradigma der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzmarktpolitik zu etablieren, das dazu beiträgt, spezifische Paketlösungen zu definieren und die fortbestehenden Blockaden und Interessenkonflikte kooperativ aufzulösen.
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Das Europäische Sozialmodell auf dem Prüfstand. Zur wissenschaftlichen Modelldebatte und den Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik unter den Vorzeichen der Weltwirtschafts- und Eurokrise und des EU-Reformvertrages Hans-Wolfgang Platzer
1. Einleitung Das Europäische Sozialmodell ist seit geraumer Zeit Gegenstand einer vielschichtigen, kontrovers gefiihrten wissenschaftlichen Debatte. Ziel dieses Beitrages ist es in einem ersten Analyseschritt, diese Debattenlandschaft zu sichten, zu systematisieren und kritisch zu re:llektieren - in dieser Weise also das Europäische Sozialmodell auf den wissenschaftlichen Prüfstand zu stellen. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk auf die supra- und transnationale Dimension des sozialpolitischen Regierens (in) der EU, die mittels eines eigenen Interpretationsansatzes strukturiert und empirisch beleuchtet wird. Ein zweiter Analyseschritt widmet sich den aktuellen sozial-ökonomischen Herausforderungen, vor denen die EU infolge der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und der tief greifenden Probleme der Europäischen Währungsunion gegenwärtig steht und die das Europäische Sozialmodell in einer integrationsgeschichtlich beispiellosen Weise auch politisch "auf den Prüfstand" stellen. Unter der Leitfrage "Europäisches Sozialmodell- quo vadis" werden abschließend die neuen vertraglichen Rahmenbedingungen nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrages und die jüngsten Weichenstellungen der europäischen Politik thematisiert und mögliche Entwicklungsszenarien erörtert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Europäischen Sozialmodell wurde nicht zuletzt durch die ,,Karriere" dieses Begriffs und Konzepts im politischen Raum seit Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre befördert. Seit den Bemühungen des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, parallel zur Schaffung eines liberalisierten Binnenmarktes auch die "soziale Dimension" der EU zu stärken, hat sich in den offiziellen Verlautbarungen der EU-Organe ein synthetisierender Ansatz herausgebildet, der unter dem Europäischen Sozialmodell sowohl die auf ökonomische Integration und Modernisierung zielenden G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Politiken - Forschungs- und Entwicklungs-Politiken (FuE), Marktliberalisierung und Wettbewerbspolitik etc. - als auch die gemeinschaftlichen Aktivitäten im sozialpolitischen Bereich subsumiert. Diese reichen laut EU-Kommission, "von der allgemeinen und beruflichen Bildung bis zur Beschäftigung; von der Gesundheit und Wohlfahrt über den Sozialschutz bis zum Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern; vom Gesundheitsschutz und der Sicherheit am Arbeitsplatz bis zum Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen ( ... )" (siehe EU-Kommission 1999, S. 6). Mit dem so gefassten Europäischen Sozialmodell postuliert die EU seit den 1990er-Jahren mithin ein spezifisches europäisches Produktionsund Sozialmodell, das sich unter den Vorzeichen der Globalisierung im Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsmächten (USA, asiatische Industrieländer) befindet. In den programmatischen und strategischen Festlegungen des Europäischen Rates von Lissabon im Jahr 2000 (der sog. Lissabon-Strategie) fand dieser synthetisierende Ansatz dahingehend eine Fortschreibung und zugleich ambitionierte Ausweitung, dass sich die EU zum Ziel setzte, im Laufe einer Dekade zur global führenden Makroregion einer wissensbasierten Ökonomie zu werden. Die seit der Jahrtausendwende in diesem Handlungszusammenhang in einer wachsenden Zahl von wohlfahrtsstaatlichen Politikfeldern (u.a. Gesundheit und Renten) praktizierte Offene Methode der Koordinierung (OMK) wird explizit als ein Verfahren betrachtet, das zur Modernisierung eben dieses "Modells" beitragen soll(te). Zugleich war der gesamte Lissabon-Prozess wiederholt von politischen Auseinandersetzungen geprägt, die u.a. der Frage einer stärkeren wettbewerbspolitischen oder stärkeren sozialpolitischen Ausrichtung der Ziele und Instrumente dieses Modernisierungsprozesses galten. Auch die im Frühsommer 2010 unter dem Titel "Europa 2020" verabschiedete Post-Lissabon-Strategie, die den bisherigen Zielkatalog und Handlungsrahmen in seinen Grundlinien fortschreibt, lässt erwarten, dass die konkrete Umsetzung von vergleichbaren ordnungspolitischenAuseinandersetzungen begleitet sein wird. Interpretiert man den kommunikativen Gebrauch des Europäischen Sozialmodells durch die EU-Organe, so zeigt sich: Das Europäische Sozialmodell ist weder abschließend "politisch" definiert, noch ist es gar europarechtlich in expliziter und verbindlicher Weise verankert (vgl. Prunzel2007, S. 63). Angebunden an die ökonomische Dimension der EU-Integrationspolitik umfasst das Europäische Sozialmodell frühere Kennzeichnungen für das sozialpolitische Tätigwerden bzw. für entsprechende sozialpolitische Zielvorstellungen der EU, wie "soziale Dimension", "sozialer Raum", "Europäische Sozialunion", ,,social Europe" etc. In den Dokumenten und Erklärungen der EU-Organe taucht das Europäische Sozialmodell vielfach auch im Zusammenhang mit neuen Integrationszielen und Moderni-
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sierungsanspruchen auf, wie etwa dem "life long leaming", dem "Europäischen Bildungsraum" oder den jüngsten "Flexicurity-Ansätzen" im Bereich der Arbeitsmarktpolitik:. Alles in allem, so lässt sich schlussfolgern, erfiillt das Europäische Sozialmodell im offiziellen Gebrauch durch die EU-Organe sowohl die Funktion einer normativen Gemeinschaftsfiktion als auch die eines "Meta-Projekts", d.h. eines Programms der operativen Unionspolitik, das freilich in seiner ordnungs- und integrationspolitischen Ausrichtung und instrumentellen Ausgestaltung Gegenstand permanenter politischer Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse ist. Dieser politische Bezugshorizont strukturiert bis zu einem gewissen Grad auch die integrationswissenschaftliche Forschung zum Europäischen Sozialmodell, die sich mit der politischen Ökonomie des EU-Integrationsprozesses und mit dem sozial-ökonomischen "Regieren im Mehrebenensystem der EU" befasst. Darüber hinaus wurzelt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Europäischen Sozialmodell in der Tradition der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung und der Varieties ofcapitalism-Forschung (vgl. Hall/Soskice 2001). Das Europäische Sozialmodell war und ist keine "statische" politische Größe, da es - unter sich verändernden Kräfteverhältnissen in der EU - ebenso Gegenstand ordnungspolitischer Auseinandersetzungen ist, die das Verhältnis Markt - Staat betreffen, als auch Gegenstand integrationspolitischer Auseinandersetzungen, die das Verhältnis Nationalstaat - Unionsebene betreffen. Auch wissenschaftlich ist das Europäische Sozialmodell in Anbetracht unterschiedlicher disziplinärer Zugänge und theoretischer Perspektiven keine abschließend geklärte Größe. Zu den kontrovers diskutierten Fragen zählen u.a., ob es sich beim Europäischen Sozialmodell um einen wissenschaftlichen (analytischen) oder politischen (normativen) Begriffhandelt; ob das Modell (primär) auf der nationalen (einzelstaatlichen) oder supranationalen (europäischen) Ebene zu verorten ist bzw. ob es sich um ein spezifisches Mehrebenenphänomen (gleichsam ein EU-Sozial- und Wirtschaftsmodell sui generis) handelt; ob es sich um eine real existierende Struktur (Ist-Modell) oder eine in die Zukunft projizierte Vorstellung (Soll-Modell) handelt; ob darunter (in einem weiteren Sinne) ein spezifisches europäisches Gesellschaftsmodell oder (in einem engeren Sinne) ein charakteristisches europäisches Sozialstaatsmodell verstanden wird? Dieser Beitrag greift in einem ersten Analyseschritt vor allem zwei wissenschaftliche Diskursstränge auf: Dies ist zum einen die in komparativer Perspektive geführte Debatte über die Frage, ob angesichts der Tatsache, dass die gesamte Bandbreite der sozial-ökonomischen Wohlstands- und Regimeunterschiede, die innerhalb der OECD-Welt zwischen entwickelten Industrieländern anzutreffen ist, sich auch in der Europäischen Union findet, überhaupt von einem Europäischen Sozialmodell (im Singular) gesprochen werden kann? Und falls es doch größere
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Schnittmengen gemeinsamer gesellschaftlicher Werte, sozialpolitischer Traditionen und wohlfahrtsstaatlicher Strukturen gibt, die allen EU-Mitgliedstaaten (oder zumindest einer deutlichen Mehrzahl der EU-Staaten) zu eigen sind, welche distinktiven Merkmale dann den empirischen Kern eines Europäischen Sozialmodells bilden? Dies ist zum anderen die aus integrationswissenschaftlichen Blickwinkeln gefiihrte Debatte über die Frage, ob die EU in ihrer Gesamtheit, also durch ihre vertragliche Verfasstheit als Staatenverbund und durch die Art und Weise ihres ökonomischen und sozialpolitischen "Regierens", den (Selbst)anspruch eines Europäischen Sozialmodells rur sich reklamieren, also vor allem mit Blick auf die materiellen Ergebnisse der gemeinschaftlichen Sozialpolitik empirisch einlösen kann? Während der erste Diskursstrang im Rahmen dieses Beitrags nur knapp skizziert werden kann, wird die integrationstheoretische Debatte bezüglich der supraund transnationalen Dimension des Europäischen Sozialmodells etwas ausruhrlieher beleuchtet. Dabei knüpft die Analyse zunächst an eigene Arbeiten zu diesem Themenkreis an (vgl. Platzer 2003,2005 und 2009a). Dort wurde argumentiert, dass es sich mit Blick auf das EU-Mehrebenensystem des Regierens anbietet, den Selbstanspruch der EU an das Europäische Sozialmodell mittels folgender Leitfrage zu strukturieren und empirisch ,,zu testen": ob und inwieweit "die strukturelle Koppelung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich - bzw. die Anpassung dieses Wirkungszusammenhangs an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen - zum Objekt supra- und transnationaler Regulierung und Institutionalisierung wird ( ... )" (siehe Aust u.a. 2002, S. 273). Des Weiteren versucht der Beitrag zu zeigen, dass eine dergestalt auf die Entwicklungslogik und -dynamik des arbeits- und sozialpolitischen Regierens (in) der EU ausgerichtete Analyse einer Vermittlung polit-ökonomischer und institutionalistischer Perspektiven und Erkenntnisse bedarf. Denn es zeigt sich, dass in Arbeiten, die sich der politischen Ökonomie des EU-Integrationsprozesses (aus einer Makroperspektive) widmen, oftmals die graduellen Regulierungs- und Institutionalisierungsfortschritte des sozialpolitischen Regierens unterbelichtet bleiben, während umgekehrt in institutionalistischenAnsätzen, die sich auf die supranationalen Prozessdynamiken konzentrieren, vielfach die problematischen wohlfahrts staatlichen Effekte und nationalen Anpassungszwänge ausgeblendet bleiben, die aus der Marktliberalisierung und monetaristischen Integrationslogik resultieren. Der abschließende Versuch, erste Antworten auf die Frage zu geben, ob und inwieweit die Erfahrungen und Nachwirkungen der Weltfinanzmarktkrise des Jahres 2008 und die nachfolgende Krise der Euro-Zone sowie der im Dezember 2009 in Kraft getretene EU-Reformvertrag zu Veränderungen der EU-Wirtschafts- und Sozialpolitik fiihren können oder werden und welche Zukunftsperspektiven fiir das
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Europäische Sozialmodell damit verbunden sind, wirft eine Reihe analytischer und prognostischer Probleme auf. Diese seien einleitend kurz benannt. Die Frage nach dem Stand und den Perspektiven des EU-Integrationsprojekts auf dem Feld der Sozialpolitik war schon immer untrennbar mit der ökonomischen Dimension der Gemeinschaftsbildung, also mit den verschiedenen Stufen der Markt- und Währungsintegration verbunden. Entsprechend stellte sich die Frage nach der "sozialen Dimension" bei EWG-Griindung, die ökonomisch (zunächst nur) auf den freien Warenverkehr zwischen sechs sozialökonomisch vergleichsweise ,,homogenen" Mitgliedstaaten zielte, unter gänzlich anderen Vorzeichen als dies in der gegenwärtigen EU-27 der Fall ist. Diese heutige EU weist nach den jüngsten Erweiterungsrunden zum einen ein nie gekanntes Maß an Wohlstandsunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten und eine deutlich gewachsene Pluralität und Heterogenität nationaler Produktions- und Verteilungsregime auf. Die heutige EU ist zum anderen im Bereich der Wirtschaftsintegration (im Unterschied zu den Anfangsdekaden des Integrationsprozesses) durch ein nie gekanntes Maß an Marktliberalisierung (die mittlerweile neben den Produktmärkten auch die Arbeits-, Kapital- und Dienstleistungsmärkte umfasst) geprägt und durch die "Klammer" der gemeinsamen Währung (deren Bedingungen auch auf die nicht der Euro-Zone angehörenden EU-Mitgliedstaaten ausstrahlen) einem historisch gleichfalls beispiellosen Interdependenzzusammenhang unterworfen. Die Frage, wie sich diese wirtschafts- und währungspolitisch eng verflochtene, zugleich sozialpolitisch heterogenere EU-27 unter den andauernden Herausforderungen und ungelösten Problemen der Weltfinanzmarkt- und Eurokrise weiterentwickeln wird, ist gegenwärtig (Ende 2010) schwieriger denn je zu beantworten. Mit Blick auf die sozialpolitische Dimension der EU-Problembewältigung gewinnt zunächst das Diktum des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton an Bedeutung: "it's the economy stupid". Betrachtet man allein die Spannungen in der Währungsunion, die aufgrund divergierender mitgliedstaatlicher Leistungsbilanzen schon vor der Weltfinanzmarktkrise vorhanden waren, die mittlerweile durch die ökonomische Krise verschärften Haushaltsprobleme nahezu aller EU-Mitgliedstaaten sowie die problematische Kreditwürdigkeit und Haushaltslage einzelner Länder in der Euro-Zone (vgl. dazu den Beitrag von Hans-JÜfgen Bieling in diesem Band), so wird deutlich, dass die Lösung der ökonomischen und währungspolitischen Herausforderungen nicht nur zu einer conditio sine qua non fiir den politischen Zusammenhalt der EU insgesamt, sondern auch zu einer alles entscheidenden Rahmenbedingung fiir die weiteren sozial- und wohlfahrtspolitischen Entwicklungen auf jeweils nationalstaatlicher Ebene und damit fiir die Grenzen und Möglichkeiten einer supranationalen Sozialpolitik wird.
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2. Das Europäische Sozialmodell auf dem wissenschaftlichen Prüfstand: Dimensionen und Konturen der Modelldebatte 2.1 Komparative Perspektiven Greift man zunächst die Frage nach der Existenz eines "Europäischen Gesellschaftsmodells" auf, so stößt man auf historische Untersuchungen und vergleichende politologische und soziologische Studien, die zu folgenden Befunden kommen: Nach Colin Crouch (1999) ist die Anerkennung und Ordnung der gesellschaftlichen Vielfalt - "combining diversity with overall order" - das gesellschaftspolitische Arrangement des modemen Europas und bezeichnet den Kern der "Wahlverwandtschaft" zwischen den europäischen Industrienationen. Dieses spezifisch europäische Modell gesellschaftlicher Integration umfasst nach Andreas Aust u.a. (2002, S. 273) die Institutionalisierung - d.h. die politische Ordnung, Begrenzung und Strukturierung - gleichermaßen des wirtschaftlichen Wettbewerbs und industriellen Klassenkonflikts, politischer cleavages und kulturell-konfessioneller Spaltungen. Neben dieser Vielfalt und Integration tritt als ein weiteres Merkmal die Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs. Diese Dimension des Europäischen Gesellschaftsmodells umfasst insbesondere die soziale Sicherung (einschließlich der Einkommensverteilung) und die Arbeitsmarktregulierung (staatlich und/oder verbandiich geregelte Arbeits- und Entlohnungsbedingungen). Unter dieser soziologischen Perspektive betrachtet, bezeichnet das Europäische Gesellschafts- oder Sozialmodell einen "Komplex von Strukturhomologien und -ähnlichkeiten der europäischen Gesellschaften ( ... ), ohne davon auszugehen, dass sich das gesamte Merkmalset in allen europäischen Gesellschaften tatsächlich vollständig ausgebildet findet oder finden muss" (siehe ebd., S. 284). Ähnlich argumentiert Hartmut Kaelble (2004 und 2007), der als gemeinsame geschichtliche Entwicklungsmerkmale der europäischen Wohlfahrtsstaaten die bis in die Frühe Neuzeit ZllrÜckreichenden Traditionen des sozialen Sicherungs- und Solidargedankens, die Ausdehnung staatlicher Versicherungsleistungen, die Verankerung sozialer Grundrechte in den nationalen Verfassungen und Rechtsprechungen sowie die nach dem Zweiten Weltkrieg bekräftigte oder neu gewonnene Legitimität des Nationalstaates durch wohlfahrtsstaatliche Politiken hervorhebt. Auch Jacques Derrida und Jürgen Habermas (2003) identifizieren einen durch übereinstimmende Werte und ähnliche sozialpolitische Errungenschaften geprägten gemeinsamen europäischen Weg: "In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen ein solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung
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abzielendes Ethos des Kampfes fiir ,mehr soziale Gerechtigkeit' gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt." (DerridalHabermas 2003) Gegenüber den skizzierten Analysen, die nach den Gemeinsamkeiten eines "Europäischen Gesellschaftsmodells" fragen, kommen Untersuchungen, die sich Methoden der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung bedienen und nach der Existenz eines "Europäischen Sozialstaatsmodells" (im engeren Sinne) fragen, zu unterschiedlichen Befunden. Studien, die in der Tradition, Weiterentwicklung bzw. Ausdifferenzierung der von G0sta Esping-Anderson (1990) maßgeblich inspirierten Wohlfahrtsstaatstypologien argumentieren, betonen die sozial- und wohlfahrtsstaatliche Modellvielfalt und die Pfadabhängigkeit ihrer reformpolitischen Entwicklungen. Demnach sind "nationale Muster wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung ( ... ) in Europa ausgeprägter als transnationale Ähnlichkeiten. Trotz ähnlicher Herausforderungen (Demokratisierung, Industrialisierung, Verstädterung) wurden soziale Probleme unterschiedlich definiert, variierten die politischen Prioritäten und die gefundenen institutionellen Lösungen von Land zu Land. " (Kaufmann 2008, S. 20) Auch die Analysen von Klaus Schubert u.a. (2009) und Sonja Blum u.a. (2010), die sich den Sozialstaatsprofilen aller 27 EU-Mitgliedstaaten widmen, unterstreichen die empirische Vielfalt nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit und kommen mit Blick auf die Fragen nach einem europäischen Kern der Wohlfahrtssysteme zu dem Ergebnis, dass es statt einer aufHomogenisierung setzenden Diskussion um ein Europäisches Sozialmodell analytisch wie politisch sinnvoller sei, von einem empirisch begründeten "politisch limitiertem Pluralismus" (siehe Blum u.a. 2010) auszugehen. Zu einem stärker die europäischen Gemeinsamkeiten betonenden (wenn auch die angelsächsischen Länder Großbritannien und Irland davon abgrenzenden) Befund kommt eine den OECD-Rahmen einbeziehende Untersuchung von Lothar Witte (2005). Sie fragt danach, ob das Europäische Sozialmodell "in ausreichendem Maße Elemente enthält, die allen EU-Mitgliedern (oder zumindest der EU-15) gemeinsam sind und gleichzeitig eine Abgrenzung nach außen (,Rest-OECD') erlauben" (siehe Witte 2005, S. 2). Dabei liegt folgende Definition zugrunde: Das Europäische Sozialmodell umfasse "die Gesamtheit von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aktionen, die darauf gerichtet sind, fiir alle Biligerinnen und Biliger die materiellen (Grund-)Bedilifnisse zu befriedigen, die gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten und den sozialen Zusammenhalt zu stärken" (siehe ebd., S. 2). Der OECD-Vergleich auf der Grundlage von zehn Messgrößen - darunter nicht nur traditionelle soziale Indikatoren wie Pro-Kopf-Einkommen und Einkommensverteilung, sondern etwa auch Indikatoren wie Lesekompetenz und Gewaltverbrechen - fiihrt zu dem Ergebnis, "daß
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ein Europäisches Sozialmodell tatsächlich existiert, wobei der wesentliche Unterschied zu den angelsächsischen Industrieländern (einschließlich Großbritannien) in der Verfolgung und praktischen Einlösung des Zieles des sozialen Zusammenhalts besteht" (siehe ebd., S. 4). Schließlich zeigt die Debattenlandschaft, dass die Beantwortung der Frage nach der Existenz eines Europäischen Sozialmodells (mit dem engeren Fokus der Sozialpolitik) in starkem Maße von der gewählten räumlichen Vergleichsperspektive abhängt: In dem Maße, in dem sich der Vergleichshorizont global ausweitet, treten die innereuropäischen Gemeinsamkeiten wieder stärker hervor: Nach Günther Schmid (2005) "ist das ,Europäische Sozialmodell ' eine Schimäre ( ... ). Dennoch, gegenüber den USA oder Japan - von Indien oder China, Afrika oder Lateinamerika ganz abgesehen - gibt es Gemeinsamkeiten, die nicht zu übersehen sind." Mehrere Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsszenarien konkurrieren miteinander, wenn es um die generelle Richtung der mitgliedstaatlichen Entwicklungen geht. Zum einen wird ein Entwicklungsszenario entworfen, wonach unterschiedliche nationale Kapitalismusvarianten und sozialpolitische Modelle unter den Bedingungen des (nunmehr nach Mittel-Osteuropa erweiterten) EU-Binnenmarkts und unter den Bedingungen der Währungsunion den institutionellen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten in einer Weise verstärken, dass diese Konstellation einen KostensenkungswettlaufbefOrdere, der in einer Art ,,negativer Konvergenz" zu einem europaweiten sozialpolitischen down-sizing fiihre. Ein zweites Szenario geht davon aus, dass, obgleich die Europäische Union das Gewicht wirtschaftspolitischer Erwägungen im Verhältnis zu sozialpolitischen Erwägungen stärke, dies "nicht zur Erosion wohlfahrts staatlicher Arrangements auf nationaler Ebene gefiihrt" hat (siehe Kaufmann 2008, S. 26). Demnach bleiben nationale Gestaltungsspielräume in einem vergleichsweise hohen Maße erhalten, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen und gesellschaftlichen Präferenzstrukturen zu berücksichtigen bzw. zu bewahren. Ein weiteres Szenario schließlich erwartet, dass in den variierenden mitgliedstaatlichen Reformpfaden eine produktive Differenz zum Tragen kommt, aus der sich eine neue "europäische Integrationssynthese" herausbilden wird bzw. sich politisch daraus entwickeln lässt. Eine diesbezügliche Perspektive wird wie folgt begründet: ,,Für die Entwicklung eines unter den Bedingungen der Globalisierung erfolgreichen europäischen Modemisierungspfades ist der kreative Widerspruch zwischen dem aktivierenden bürgergesellschaftlichen Staat und dem aktiven institutionalistischen Sozialstaat unabdingbar. Der aktivierende bürgergesellschaftliche Staat allein verliert nach und nach den Sinn für Gleichheit, für die Würde der Immobilität und die unverzichtbaren Ressourcen der Vergemeinschaftung. Der aktive
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Sozialstaat neigt auf sich allein gestellt auf der anderen Seite dazu, an industriegesellschaftlichen Problemdefinitionen zu lange festzuhalten, die aktiven Potenziale in überholten Institutionen zu binden und dem ( ... ) Wandel soziale Fesseln anzulegen. Im kreativen Widerspruch konkurrieren die Prinzipien, heben sich in Modernisierungskompromissen auf ( ... ). Aktivierender bürgergesellschaftlicher Staat und aktiver institutionalistischer Sozialstaat haben das Zeug, eine Leitdifferenz der Europäisierung Europas zu werden." (Schwengel 1999, S. 346 f.) Diese Fragen nach den generellen Entwicklungstrends, den Konvergenzen oder Divergenzen der sozialstaatlichen Entwicklungen in Europa finden in jüngeren empirischen Forschungsarbeiten, die ländervergleichend angelegt sind und zugleich den Wirkungszusammenhang der EU -Integrationspolitik mitrefiektieren (vgl. u.a. Bieling 1997; Baum-Ceising u.a. 2008), unterschiedliche Antworten. Björn Hacker (2009) hat diese jüngere Forschungslandschaft systematisch aufgearbeitet und mit einer fundierten empirischen Untersuchung zu den Rentenreformen in der EU und der diesbezüglichen Rolle der OMK angereichert. Er formuliert in Anbetracht der von ihm diagnostizierten Tendenz der Hybridisierung nationaler Wohlfahrtsstaaten die folgende Perspektive: ,,Für die Frage nach der Existenz eines Europäischen Sozialmodells hat die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Hybridmodelle in der erweiterten EU zwei auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Folgen: Einerseits nehmen die sozialen und ökonomischen Disparitäten sowie die Verteilung institutioneller Lösungsansätze innerhalb der Union durch die letzte Erweiterungsrunde zu. Viele Autoren befürchten bzw. konstatieren soziale Dumpingprozesse in der zunehmenden innereuropäischen Konkurrenzsituation und sehen eine Gefahrdung des europäischen Sozialmodells, das für die EU-15 noch relativ kohärent gebildet werden konnte ( ... ). Andererseits führt gerade die Hybridisierung des Wohlfahrtsstaates zu Konvergenzprozessen in einzelnen Sektoren der sozialen Sicherung, die ein Europäisches Sozialmodell wahrscheinlicher machen." (Hacker 2009, S. 50) Diese Konvergenzen infolge der Hybridisierung wohlfahrts staatlicher Systementwicklungen in der EU, die Stephan Leibfried als Harmonisierung "durch interne sozial-ökonomische Homogenisierung" bezeichnet (siehe Leibfried 1996, S. 457), gehen nach Hacker (2009, S. 52) mit einer europaweiten Entwicklung Hand in Hand, der zufolge der Primat der Politik über das Marktgeschehen im Sinne der po/Wes against markets schrittweise durch eine wohlfahrts staatliche Politik within and with markets ersetzt wird. Angesichts dieser Übergänge vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat (vgl. Voelzkow 2005) schlussfolgert Hacker mit Blick auf die Modelldebatte, dass sich in der vergangenen Integrationsdekade ein wettbewerbsgetriebenes Reformmuster der Wohl-
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fahrtslandschaft herausgebildet hat, das er empirisch als "liberales" Europäisches Sozialmodell kennzeichnet. Diesen Diagnosen, die infolge der Hybridisierung nationaler Sozialstaatsmodelle konvergierende Reformpfade identifizieren, die nicht zuletzt durch die politische Ökonomie der EU beeinflusst sind, steht die Sicht von Sonja Blum u.a. (2010) gegenüber. Vor dem Hintergrund ihrer empirisch diagnostizierten Vielfalt nationaler Modelle und der Varianz nationaler Reformpfade in der EU-27 kommen die Autoren zu dem Ergebnis, "dass trotz weitreichender Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse in den europäischen Wohlfahrts systemen (l) traditionelle, nationale Erfahrungen und sozialpolitische Leitmotive weiterhin eine zentrale Rolle spielen und sich i.d.R. daraus (2) national spezifische Reaktions-, Anpassungsund Veränderungsmuster ergeben. Darüber hinaus (3) hat das Wohlfahrtssystem eine enorme innenpolitische Bedeutung inne: Die nationalen Reaktionen auf äußere und interne Veränderungen, Krisen und Anpassungen werden - bei aller ,europäischen' Orientierung - auf diesem - einem der wenigen innenpolitisch noch verbleibenden - Politikfeld (überwiegend) durch innenpolitische Determinanten bestimmt. Unserer Meinung nach ist die in der EU gegebene Vielfalt der Wohlfahrtssysteme allerdings (4) kein ,obstacle', das dringend überwunden werden muss, sondern verweist vielmehr auf ein spezifisches Muster europäischer Konfliktlösung - Anerkennung und Verhandlung - und bildet die Voraussetzung für Kooperation, gegenseitiges Lernen und politische Begrenzung. Aus beidem, empirisch gegebener Vielfalt und traditionell bewährten Umgangsmustern, ergeben sich gute Gründe anzunehmen, dass (5) auch die Reaktionen auf die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise - zumindest hinsichtlich der Sozial- und Wohlfahrtspolitik - national spezifische Antworten darstellen werden." (Blum u.a. 2010, S. 11 f.) Diese Skizze der komparativ geführten Debatte zeigt dreierlei. Erstens: Es gibt keinen gemeinsamen wissenschaftlichen Nenner und keine abschließende Antwort auf die Frage: Europäisches Sozialmodell oder Sozialmodelle in Europa? Zweitens: Auch dort, wo sich die vergleichende Forschung an international standardisierten statistischen Konventionen orientiert, liegen die jeweiligen Befunde letztendlich "im Auge des (wissenschaftlichen) Betrachters". Und drittens: Die Wirkungszusammenhänge zwischen der ökonomisch-monetären und politischen Integration im Rahmen der EU und dem Wandel mitgliedstaatlicher Wohlfahrtspolitik werden sowohl unter diagnostischen wie politisch-strategischen Vorzeichen höchst unterschiedlich bewertet.
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2.2 Die integrationswissenschaftliche Debatte: die trans- und supranationale Dimension des europäischen Sozialmodells In der integrationswissenschaftlichen Forschung wird das Europäische Sozialmodell nicht zuletzt deshalb kontrovers diskutiert, weil kaum ein anderes Teilgebiet der EU-Forschung durch vergleichbar tief greifende Unterschiede in den Auffassungen geprägt ist wie der Bereich der europäischen Sozialpolitik und die Frage nach dem Stellenwert der "sozialen Dimension" im EU-Integrationsprozess. Politökonomisch orientierte Arbeiten kommen mehrheitlich zu einer "europessimistischen Sicht" (Keller 1993), wobei sich deren Kemargumente zunächst stichwortartig wie folgt zusammenfassen lassen: Der Weg zu einem föderalen europäischen Wohlfahrtsstaat ist aufgrund nationalstaatlicher SouveränitätsanspfÜche einerseits und der Dominanz eines neoliberalen Paradigmas der Marktintegration andererseits dauerhaft blockiert (vgl. Streeck 1995). Der Integrationsprozess bewegt sich in Richtung einer "Marktgesellschaft ohne Staat" (Scharpf 1995), weil der Binnenmarktlogik mit ihrem faktischen und rechtlichen Zwang zur Deregulierung kein adäquater Ausbau der Regelungskapazitäten auf supranationaler Ebene gegenübersteht. Die Möglichkeiten, innerhalb des bestehenden Vertragsgefüges sozialpolitische Fortschritte zu erzielen, sind am ehesten im Bereich "produktbezogener", kaum jedoch im Bereich "prozessbezogener" Regelungen gegeben, weil hier - strukturbedingt - die gravierenden sozialökonomischen Entwicklungsunterschiede zwischen den EU-Staaten gegensätzliche Regelungsinteressen begründen (vgl. Scharpf 1995). Im Regime der Europäischen Währungsunion, das zur ,,monetären Egalisierung und sozialen und ökonomischen Differenzierung" (Altvater! Mahnkopf 1993) führt, ist eine Wettbewerbslogik angelegt, welche den Druck auf die Absenkung nationaler Sozial- und Tarifstandards verstärkt. Diese Tendenz zum "Wettbewerbsstaat" (Ziltener 1999) befördert ohne neue Formen einer auf europäischer Ebene koordinierten oder regulierten Sozial-, Lohn- und Tarifpolitik Erosionstendenzen des nationalen Sozialstaates (vgl. Busch 1994 und 1998). Demzufolge läuft das EU-Integrationsprojekt als Ganzes Gefahr, - trotz des proklamierten Europäischen Sozialmodells - zu einem Erosionsvehikel und nicht zu einem Stabilisator der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa zu werden. Demgegenüber argumentiert eine "euro-optimistische" Denkschule (u.a. Dibelius 1995; Schulz 1996; Kowalsky 1999; PmnzeI2007), die wiederum mehrheitlich in der Tradition institutionalistischer Forschungsansätze steht (auch VahlpahI2007), dass dem Integrationsprozess eine expansive Dynamik innewohnt, die sich in der sukzessiven Ausweitung vertraglicher Ziele und Handlungsgrundlagen wie im realen Wachstum des sozialpolitischen acquis communautaire zeigt. Nach dieser Sicht ist die EU - ungeachtet bestehender Regelungslücken - insgesamt mit ihrem sozialpo-
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litischen Governance-Instrumentarium (vgl. Prunze12007) durchaus in der Lage, auf die Herausforderungen der Globalisierung angemessen zu reagieren und den Erhalt des Europäischen Sozialmodells durch dessen Modemisierung zu gewährleisten. Innerhalb des skizzierten integrationswissenschaftlichen Spektrums konkurrierender Interpretationen nimmt der Verfasser in einschlägigen Arbeiten eine "mittlere" bzw. "vermittelnde" Position ein. Diese analytische Sicht soll in gebotener Kürze mittels einiger theoretischer Vorüberlegungen und einer empirischen Skizze der vertraglichen Entwicklungen und der Formen und Ergebnisse des sozialpolitischen Regierens (in) der EU dargelegt werden. Im Kontext der Debatte um das Europäische Sozialmodell spielen die Gewichtungen und Interdependenzen zwischen ökonomischer und sozialpolitischer Integration eine zentrale Rolle. Integrationstheoretisch wird hierbei zwischen "negativen" (im weitesten Sinne "marktschaffenden") und "positiven" (im weitesten Sinne "marktkorrigierenden" bzw. "gemeinschaftliche Politik konstituierenden") Regelungen unterschieden. Mit Blick auf die sozialpolitische Regulierung durch die EU hat Scharpf(1996) eine weitere wichtige Unterscheidung hinzugefiigt: "Die Grenze zwischen konsensfahigen und konflikthaften (Interessens-)Konstellationen (lässt) sich näherungsweise durch die Unterscheidung zwischen produkt- und mobilitätsbezogenen Regelungen auf der einen und der Harmonisierung produktions- und standortgebundener Regelungen auf der anderen Seite ziehen ( ... ). Der letztlich ausschlaggebende - und vorderhand nicht ausräumbare - Grund fiir die Konflikthaftigkeit von produktions- und standortbezogenen Regelungen liegt in den extremen Unterschieden im ökonomischen Entwicklungsstand der Mitgliedstaaten." (Scharpf 1996, S. 112) Die Grundentscheidungen darüber, wie und in welcher Gewichtung sich die "positive" und "negative" Integration gestaltet, werden in den jeweiligen Vertragsverhandlungen getroffen, d.h. im Primärrecht der Verträge durch die Kompetenzorganisation und die Entscheidungsregeln fixiert. Integrationsgeschichtlich zeigen alle Vertragsverhandlungen von Rom bis Lissabon, dass die Sozialpolitik eines der sensiblen Politikfelder ist, in dem in den vertragspolitischen great bargains der Regierungen grundlegende Zielkonflikte über Wesen und Gestalt der Union (wirtschaftlicher Zweckverband oder politische Union) ebenso zum Tragen kommen wie konkrete mitgliedstaatliche Souveränitätsvorbehalte. Diese sind ihrerseits Ausdruck unterschiedlicher, aus der ökonomischen und sozialstaatlichen Verfasstheit der Mitgliedstaaten resultierender gesellschaftlicher Präferenzen. Obgleich die Europäische Integration von Beginn an ein "politisches Projekt" war, bildete die Ökonomie den Kembereich und die strategische Entwicklungsachse. Der Vorrang der Ökonomie manifestiert sich im Integrationsverlauf über die Stufen des Gemeinsamen Marktes (EWG-Vertrag), des Binnenmarktes
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(Einheitliche Europäische Akte) und der Währungsunion (Maastrichter Vertrag). Jede Stufe der Marktintegration führte jedoch zu je spezifischen Auseinandersetzungen um die Reichweite der Kompetenzen und die Entscheidungsmodi einer der Marktintegration "gemäßen" gemeinschaftlichen Sozialpolitik. Auch wenn eine asymmetrische Grundarchitektur zwischen der wirtschaftspolitischen und der sozialpolitischen Kompetenzausstattung die EU bis heute prägt, wurden im Laufe der Integrationsentwicklung - ausgehend von der schmalen Basis des EWG-Vertrages (Regelungskompetenzen für Wanderarbeitnehmer, Sozialfonds) - die legislativen Zuständigkeiten der EU in den Bereichen der Arbeits-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik sukzessive erweitert und die Entscheidungsregeln wiederholt angepasst. Dabei war der Schritt vom EWG-Vertrag zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) graduell, der von der EEA zum Maastrichter Vertrag substanziell, der zum Amsterdamer Vertrag wiederum graduell und der zum Nizza-Vertrag minimal. Die Post-Nizza-Entwicklungen bis zum gegenwärtigen EU-Reformvertrag werden im Schlussteil eingehender betrachtet. Historisch betrachtet hat sich die EU-Sozialpolitik erst nach dem Pariser Gipfel von 1972 mit einem sozialpolitischen Aktionsprogramm als eigenständiges Politikfeld etabliert. Die EEA schuf vertragliche Grundlagen insbesondere für Maßnahmen im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, die mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden konnten. Der Maastrichter Vertrag erweiterte die Zuständigkeit der EU u.a. in den Bereichen Arbeitsbedingungen und Geschlechtergleichbehandlung (mit qualifizierten Mehrheitsentscheidungen) sowie soziale Sicherheit. Das letztere Politikfeld unterliegt der Einstimmigkeit. Die damit verbundenen Veto-Konstellationen erklären die weitgehende Stagnation einer regulativen Politik in diesem Bereich und policy-outcomes, die sich allenfalls auf der Ebene unverbindlicher Rechtsakte bewegen. Dieser vertragspolitische Erfahrungshintergrund verweist zugleich auf die jüngeren Versuche einer sozialpolitischen Problembearbeitung mittels der Steuerungsform der Offenen Methode der Koordinierung. Der Amsterdamer Vertrag verankerte die Beschäftigungspolitik als Gemeinschaftsaufgabe, wobei die nach schwierigen Vertragsverhandlungen zur EU-Beschäftigungspolitik gefundenen institutionellen und prozeduralen Kompromisse (vgl. Platzer 1999) zugleich die Grundlogik der Offenen Methode der Koordinierung konstituierten, und er führte - nach dem Ende des britischen opting-out - zur Integration des Maastrichter "sozialpolitischen Protokolls" in das Vertragswerk. Schließlich ergänzte der Vertrag von Nizza den EU-Kompetenzkatalog um den Bereich Antidiskriminierung. Wirft man einen kurzen Blick auf den sozialpolitischen acquis communautaire, der sich bis dato unter diesen vertraglichen Rahmenbedingungen herausge-
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bildet hat, so reflektiert dieser zunächst in starkem Maße wettbewerbs- und mobilitätsbezogene Funktionserfordernisse. Entsprechende Regulierungen, die (im weitesten Sinne) auf dem Prinzip der Harmonisierung basieren, sind demzufolge in den Bereichen der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, der beruflichen Gleichbehandlung von Männern und Frauen und im Bereich des individuellen Arbeitsrechts (z.B. Mindestschutz bei Massenentlassungen und Betriebsübergang) anzutreffen. Diese nach der Gemeinschaftsmethode erlassenen Richtlinien bzw. Verordnungen variieren in ihrem Regulierungsniveau, wobei einerseits - vor allem im Zuge der Binnenmarktregulierung - das Prinzip der Mindeststandards gilt, andererseits, wie etwa im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Gleichstellungspolitik, das Niveau und die Innovationskraft der Gemeinschaftsgesetzgebung als hoch bewertet werden kann (vgl. EichnerNoelzkow 1994). Ein gewichtiges institutionelles Element der sozialpolitischen EU-Governance ist seit dem Maastrichter Vertrag der (multi)sektorale Soziale Dialog zwischen den europäischen Sozialpartnern, deren Verhandlungen und Vereinbarungen den sozialpolitischen Besitzstand der EU gleichfalls angereichert haben. Zu den Ergebnissen des multisektoralen Sozialen Dialogs, die anschließend durch Ministerratsbeschluss in EU-Recht umgesetzt wurden (das Verfahren der sog. verhandelten Gesetzgebung), zählen die Vereinbarungen zum Elternurlaub (1996), zur Teilzeitarbeit (1997) und zu befristeten Arbeitsverträgen (1999). Die seit dem Maastrichter Vertrag gleichfalls mögliche tarifautonome Option einer supranationalen "Selbstregulierung" arbeits- und tarifpolitischer Gegenstände durch die Sozialpartner kam nahezu ein Jahrzehnt nicht zum Tragen. Erst 2002 konnte ein erstes Rahmenabkommen zur Telearbeit abgeschlossen werden, dem Rahmenvereinbarungen zum "Lebenslangen Lernen" (2002) und zum "Stress am Arbeitsplatz" (2004) folgten. Schließlich konnten 2005 ein "framework of actions on gender equality" und 2007 eine Vereinbarung über "Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz" vereinbart werden. Diese autonomen Rahmenabkommen, die bislang primär "weiche" Materien regeln, müssen (ohne "EU-rechtlichen Flankenschutz") durch die nationalen Gewerkschaften und Arbeitgeber vermitteis der nationalstaatlichen Praxen der Arbeitsbeziehungen implementiert werden. Auch auf sektoraler Ebene hat sich diese ,,zweite Säule" der EU-Sozialpolitik etabliert. Die Ausschüsse des Sektoralen Sozialdialogs (ASSD), deren Zahl sich gegenwärtig auf 39 beläuft, schaffen den institutionellen Rahmen für eine Co- oder Selbstregulierung der sektoralen europäischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände. Eine Analyse der bisherigen Politikergebnisse (PlatzerlMüller 2009, S. 783 ff.) zeigt, dass einem enormen quantitativen Wachstum gemeinsamer Stellungnah-
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men sowie einzelnen sektoralen Rahmenabkommen in der Qualität von codes 0/ conduct eine bislang begrenzte Anzahl substanzieller Vereinbarungen gegenübersteht. Vereinbarungen mit arbeits- und taritpolitischem Gewicht (und rechtlicher Wirksamkeit) wurden von den Sozialpartnern im Verkehrssektor abgeschlossen. Eine im Juli 2009 zwischen dem Europäischen Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD) und der Europäischen Arbeitgebervereinigung für Kliniken und Gesundheitswesen (HOSPEEM) ausgehandelte Vereinbarung über den Gesundheitsschutz von Beschäftigten im Krankenhauswesen wurde Anfang 2010 durch eine entsprechende EU-Richtlinie "allgemein verbindlich" gemacht. Für die Bewertung der sozial-regulativen EU-Politik sind schließlich die Befunde einer quantitativen Untersuchung von Holger Bähr u.a. (2008) aufschlussreich, die sich der Entwicklung bindender und nicht-bindender Rechtsakte in der EU-Sozialpolitik (im Vergleich mit der Umweltpolitik) im Zeitraum 1970 bis 2004 widmet. Demnach nimmt seit der Institutionalisierung der beiden Politikfelder in den 1970er-Jahren die Zahl sowohl der bindenden als auch der nicht-bindenden Rechtsak:te in beiden Bereichen kontinuierlich zu. In beiden Politikbereichen übersteigt die Zahl der bindenden Rechtsakte die Anzahl an unverbindlichen Regelungen. Bei den verbindlichen Rechtsakten liegt die Umweltpolitik mit insgesamt knapp 250 Regelungen vor der Sozialpolitik mit insgesamt 155 bindenden Rechtsakten, im Bereich der nicht-bindenden Regelungen liegt die Zahl in der Sozialpolitik bei rund 150 und in der Umweltpolitik bei ca. 75 (vgl. ebd. S. 97 ff.). Diese knapp umrissenen historischen und empirischen Entwicklungen zeigen zunächst, dass das EU-offizielle Verständnis des Europäischen Sozialmodells in Anbetracht der primär- und sekundärrechtlichen Grundlagen wie der materiellen Ergebnisse des sozialpolitischen Regierens mehr ist als eine "normative und realpolitische Chimäre" (siehe Lamping 2004, S. 15). Mit Blick auf das eingangs formulierte Prutkriterium zeigt sich, dass im Zuge der ökonomischen Integration auch im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik Prozesse einer trans- und supranationalen Institutionalisierung bzw. Regulierung stattgefunden haben. Neben die Regulierung, also die hierarchische Steuerung durch EU-Rechtsetzung (vgl. Schulte 2004), und die Institutionalisierung (u.a. Sozialer Dialog) tritt mit der OMK als jüngstem Politikinstrument das Prinzip der Kontextsteuerung ohne Vergemeinschaftung hinzu. In allen Bereichen, in denen die OMK zur Anwendung kommt, werden durch dieses Verfahren des governance-learning, bei dem die teilnehmenden nationalen Regierungen sich auf gemeinsame Ziele verständigen, aber die Kompetenzen für alle Mittel, die zur Erreichung dieser Vorgaben notwendig sind, vollständig für sich behalten, aufUnionsebene keine allgemein verbindlichen europäischen Regeln oder gar Institutionen geschaffen. Auch wenn die hier beschrie-
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benen Entwicklungen im Bereich der EU-Sozialpolitik zunächst auf der ,,Habenseite" eines Europäischen Sozialmodells (im Sinne des Selbstanspruchs der Europäischen Union) verbucht werden können, ergibt sich ein differenziertes Gesamtbild erst dann, wenn man in gleichem Maße die Probleme und Defizite der sozial-ökonomischen EU-Governance einbezieht, wie sie zumal in politökonomischen Erklärungsansätzen herausgearbeitet werden. Die dort diagnostizierten Defizite im institutionellen Design der EU treten, wie zu zeigen sein wird, seit dem Vertrag von Maastricht und im Zuge der Schaffung der Währungsunion zunehmend deutlicher hervor. Diese Steuerungsdefizite führen beim erreichten Grad an ökonomisch-monetärer Integration zu Effekten, die mittlerweile Kernbereiche der mitgliedstaatlichen Wohlfahrtspolitik berühren und von Scharpfwie folgt beschrieben werden: ,,( ... ) in the present state of economic integration, the aspirations of ,sodal Europe' can no longer be realized through purely national solutions. In the horizontal relationship among policy areas, European sodal law is necessary in order to provide a legal counterweight to the supremacy of internal market and European competition law. At the same time, moreover, European sodallaw also has an important role to play in the vertical dimension in order to control the beggar-my-neighbour incentives which will tempt individual Member states once they seriously begin to adjust therr sodal-policy regimes to the constraints and competitive pressures ofthe internal market and monetary union." (Scharpf2002, S. 262) Vor diesem Hintergrund eines zunehmenden Spannungsfeldes zwischen Markt- und Politikintegration bedürfen die jüngeren sozialpolitischen Entwicklungen der Post-Maastricht-Phase einer eingehenderen Betrachtung: Ein erstes hervorstechendes Entwicklungsmerkmal dieser Integrationsetappe ist der weitreichende Wandel in den Modi des sozialpolitischen Regierens. Dieser Wandel manifestiert sich zunächst in der Bedeutungszunahme "weicher" Steuerungsformen, insbesondere in Gestalt der OMK, die im Zuge der Lissabon-Strategie extensiv genutzt wurde und die als zentrale Steuerungsform auch in der 2010 verabschiedeten Post-Lissabon-Strategie fortgeschrieben wird. Unter systematischen Gesichtspunkten lassen sich hierbei nach Materien und Anwendungsbereichen der OMK abgestufte Formen und Grade zwischen ,,harter" und "weicher" Koordinierung unterscheiden. Entlang einer solchen Skala folgen der vertraglich verankerten ,,härtesten" (weil sanktionsbewehrten) Koordination der Haushaltspolitik (Stabilitäts- und Wachstumspakt, Amsterdamer Vertrag 1997), die Koordination der Wirtschaftspolitik und die Beschäftigungspolitik sowie seit 2000/2001 die (nicht vertraglich verankerte) "weiche" Koordination in weiteren Bereichen wie der Bildungspolitik und der sozialen Sicherungssysteme. Der diesbezügliche "weiche" Typus der OMK wird bereits in der Zielformulierung deutlich, wonach es darum
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geht, "die Ermittlung und den Austausch bewährter Verfahrensweisen zu fOrdern sowie innovative Ansätze zu finden, die für die Mitgliedstaaten von gemeinsamem Interesse sind ( ... )" (siehe Europäische Kommission 2001, S. 11). Die generelle, den gesamten Integrationsprozess prägende Asymmetrie zwischen ökonomischer und sozialpolitischer Regulierung spiegelt sich insoweit auch in der politikfeldbezogenenAbstufimg zwischen "harter" und "weicher" OMK wider. Zu den Vorteilen der Steuerungsform der OMK zählt, dass sie auch die Einbeziehung von Politikfeldern und Materien ermöglicht, in denen die EU keine originären Kompetenzen besitzt, die aber gleichwohl in einem Interdependenzzusammenhang mit gemeinschaftlichen Zielen und Projekten der EU stehen. Diese "Offenheit" und die mit der Währungsunion und der EU-Osterweiterung gewachsenen Herausforderungen, gleichzeitig einem management of interdependence und einem management ofdiversity gerecht zu werden, verschafft der OMK mittlerweile eine steuerungspolitisch hohe Bedeutung in den Politikprozessen der EU. Die Leistungsfahigkeit dieser Steuerungsform wird sowohl im politischen Raum wie von Seiten der Forschung unterschiedlich bewertet (zusammenfassend Devetzil Platzer 2009). So wird einerseits in der jüngeren politikwissenschaftlichen Governance-Debatte "diskursiven Regulierungsmechanismen" und nicht-hierarchischen Steuerungsformen eine große Bedeutung für "gutes" und "modernes" Regieren zugemessen. Zumal mit Blick auf die besonderen Systemeigenschaften der EU, in der die deliberative Politik eine beträchtliche Rolle spielt (vgl. EberleinlKerwer 2002), sehen einzelne Autoren in der OMK ein geradezu ideales, EU-konformes Steuerungsinstrument, das eine "experimental govemance" ermögliche, konsensuale sozialpolitische Problemlösungsstrategien generiere und einen "pragmatic constitutialism" befOrdere (vgl. Sabel/Zeitlin 2003). Dem stehen andererseits empirische Forschungsergebnisse zur OMK gegenüber, die ein insgesamt differenziertes, in der Tendenz aber wesentlich skeptischeres Bild zeichnen. Während die OMK im Bereich der Beschäftigungspolitik, gemessen an den Zielen der Lissabon-Strategie (Erhöhung der Beschäftigungsquote, Reduzierung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit etc.), gewisse Erfolge verbuchen kann (vgl. Stefan 2009), haben die OMK-Prozesse in anderen Bereichen, wie etwa der Alterssicherung oder Gesundheitspolitik, (bislang) keine signifikanten Steuerungswirkungen entfaltet (vgl. u.a. BuschIHacker 2009; Hacker 2009). Die offene Koordinierung bleibt entweder für nationale Reformprozesse weitgehend irrelevant oder entfaltet bestenfalls Katalysatoreffekte für ohnehin vorbereitete nationale Reformmaßnahmen. Auch die Entwicklungen im Bereich des Sozialen Dialogs bekräftigen - aufmulti-sektoraler wie sektoraler Ebene - seit 2000 diesen Wandel der Steuerungsformen, wonach anstelle verbindlicher Kollektivvereinbarungen (im Rahmen des Ver-
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fahrens der verhandelten Gesetzgebung) vermehrt mit unverbindlichen Zielvorgaben und Monitoring-Verfahren operiert wird, die im Falle mangelnder Fortschritte keine Sanktionierungen vorsehen. Simone Leiber und Annin Schäfer (2008) charakterisieren diese jüngere Entwicklungstendenz des Sozialen Dialogs als "doppelten Voluntarismus", wonach "zur Verlagerung von Regelungskompetenz auf freiwillige Vereinbarungen durch die Sozialpartner (prozedurale Ebene) der empfehlende, unverbindliche Modus bei der Umsetzung dieser Vereinbarungen (inhaltliche Ebene) tritt" (siehe ebd., S. 117). Die Einbindung der europäischen Gewerkschaften und Arbeitgeber sowohl in die Formulierung als auch in die Umsetzung der EU-Sozialpolitik markiert integrationsgeschichtlich einen institutionellen Fortschritt und wird durchaus zu Recht als Element "guten Regierens" in der EU (Weißbuch der Kommission 2001 "Europäisches Regieren") sowie als Baustein des Europäischen Sozialmodells angesehen. Gleichwohl deuten die jüngeren Entwicklungen einer Selbstregulierung der Europäischen Sozialpartner daraufhin, dass auf diesem Wege die "positive" Integration, also die Verbreiterung und Stärkung eines europaweit gültigen Sockels sozial- und arbeitspolitischer Standards nur in begrenztem Umfang befOrdert werden kann. Zusammen genommen hat sich somit in beiden Bereichen oder Säulen der sozialpolitischen EU-Governance, also im Bereich der regulativen Politik wie im Rahmen des Sozialen Dialogs, seit Ende der 1990er-Jahre ein Wandel vollzogen, der "gekennzeichnet (ist) durch eine Gewichtsverlagerung hin zur autonomen Sozialpartnerschaft und die Anwendung des weichen Steuerungsverfahrens OMK auch im Aktionsfeld des Sozialen Dialogs. Neben den Voluntarismus des ,Regierens durch die Regierungen' ist damit der doppelte Voluntarismus des ,Regierens durch die Sozialpartner' getreten. ( ... ) Dies bedeutet nicht, daß rechtsverbindliche Instrumente nicht weiterhin in einigen Feldern Bedeutung haben ( ... ). Parallel dazu gewinnen jedoch voluntaristische Instrumente an Gewicht." (Leiber/Schäfer 2008, S. 126) Auf zwei weitere markante Entwicklungstrends der vergangenen Integrationsdekade weisen Martin Höpner und Armin Schäfer (2010) hin. Dies sind zum einen Fortschritte in einem Politikfeld, "das quer zur wirtschaftlichen Liberalisierung einerseits und europäischen Sozialpolitik andererseits steht: der Schaffung eines europäischen Antidiskriminierungsraums" (siehe HöpnerlSchäfer 2010, S. 15). Diese Verbesserungen des Schutzes vor Diskriminierungen (aufgrund des Geschlechts, Alters etc.) aufmitgliedstaatlicher Ebene sind, so Höpner und Schäfer, insbesondere dem politischen Verhandlungsgeschick der EU-Kommission bei der Verabschiedung von vier Antidiskriminierungsrichtlinien in den Jahren 2002 bis 2004 sowie der richterlichen Fortentwicklung des europäischen Rechts geschuldet. Dies ist zum anderen die verstärkte Anwendung des europä-
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ischen Wettbewerbsrechts auf Sektoren, für die dieses Recht ursprünglich nicht gedacht war, darunter die staatsnahen Bereiche Öffentlicher Daseinsvorsorge, Telekommunikation, Energie und Transport. Diese Liberalisierungstendenz wird schließlich auch durch "europäisches Richterrecht" dahin gehend unterstrichen und verstärkt, dass der EuGH in mehreren jüngeren Urteilen aus den Jahren 2005 bis 2008 (darunter die Fälle Viking, Laval, Rüffert) den Binnenmarktfreiheiten Vorrang vor nationalen arbeits- und sozialpolitischen Schutzrechten eingeräumt hat. Diese zunehmende Schärfung europarechtlicher Instrumente für eine stetige Vertiefung der marktschaffenden Integration, bei einer gleichzeitigen Blockadeanfalligkeit der supranationalen Sozialpolitik, fiihren, so Höpner und Schäfer, zu einer problematischen Konstellation: ,,Angesichts der Gleichzeitigkeit von heterogener werdenden politökonomischen Interessenlagen und der judikativen Fortentwicklung europäischen Rechts verfestigt sich die Asymmetrie zwischen der Beseitigung von (vermeintlichen) Binnenmarkthindernissen auf nationalstaatlicher Ebene einerseits und marktkorrigierender Integration auf europäischer Ebene andererseits. Die institutionalisierte Koordinierung der nationalen Arbeits- und Sozialverfassungen gewinnt zwar mit der OMK an Bedeutung, ist aber weit davon entfernt, im Europa der 27 auf einheitliche Standards hinwirken zu können oder auch nur zu wollen." (ebd., S. 17) Alles in allem ergibt diese Analyse der Entwicklungstrends des sozialpolitischen Regierens (in) der EU seit der Jahrtausendwende ein vielschichtiges und zugleich widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite ist die europäische Rechtsetzung in einigen sozialpolitisch durchaus bedeutsamen Feldern wie der Antidiskriminierungspolitik vorangekommen. Auf der anderen Seite ist durch die F orcierung der Marktliberalisierung, die auch durch die Rechtsprechung des EuGH vorangetrieben wurde, ein Entwicklungstrend verstärkt worden, wonach an die Stelle eines (auf EU-Ebene) sozialpolitisch regulierten Wettbewerbs zunehmend ein Wettbewerb der sozialpolitischen (mitgliedstaatlichen) Regeln getreten ist. Die "voluntaristische" Steuerungslogik der OMK und die jüngere, gleichfalls "weiche" Vereinbarungspolitik der europäischen Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs sind - ungeachtet der Einbeziehung immer weiterer wohlfahrtsstaatlicher Bereiche in diese Koordinierungspraxis und den dadurch formal erhöhten Stellenwert des "Sozialen" - nicht in der Lage, diesen vorherrschenden Entwicklungstrend einzufangen und auszutarieren. Damit ist das Europäische Sozialmodell- nach dem politischen Anspruch der Europäischen Union also das "EU spezifische Produktions- und Sozialmodell" - in der vergangenen Dekade insgesamt in eine Schieflage zulasten der sozialen Dimension dieses ,,Modells" geraten.
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3. Das Europäische Sozialmodell auf dem politischen Prüfstand: Die wirtschafts- und währungspolitischen Herausforderungen und die Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrags 3.1 EU-Govemance im Bereich der Sozialpolitik: Strukturelle Faktoren und Politisierungsmuster Die vorangegangene Analyse bildet einen ersten Bezugsrahmen und Erfahrungshintergrund, wenn es abschließend darum geht, die gegenwärtigen Herausforderungen und die möglichen Entwicklungsperspektiven der gemeinschaftlichen Sozialpolitik zu beleuchten. Zuvor jedoch gilt es, den Blick auf zwei weitere Erfahrungszusammenhänge zu lenken, die für die Diskussion möglicher Entwicklungsszenarien wichtige empirische und analytische Anhaltspunkte liefern: Dies sind zum einen die dominanten "Politisierungsmuster", die das sozialpolitische Regieren (in) der EU prägen, und zum anderen die Genese des EU-Reformvertrags im Bereich der Sozialpolitik, die gleichfalls Aufschluss über den integrationspolitischen Stellenwert dieses Politikfeldes, seine Entwicklungspotenziale und -grenzen gibt. Das sozialpolitische Regieren, d.h. die relevanten institutionellen Faktoren (Zugangs- und Entscheidungsregeln) und die Präferenzen der an der Entscheidung beteiligten Akteure können im Anschluss an Bähr u.a. (2008) wie folgt beschrieben werden: Trotz der Agenda-Setting-Macht der Kommission und der zunehmenden Bedeutung des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren sind es nach wie vor die Positionen der Regierungen, von denen die sozialpolitischen Einigungschancen im Rat und das Ob und Wie europäischer Gesetzgebung abhängen (vgl. ebd., S. 101). Die Regierungspräferenzen in europäischen Verhandlungen sind wiederum durch ökonomische und institutionelle Kosten-Nutzen-Kalküle sowie durch parteipolitische Ideologien einschließlich der Befriedigung von Klientelinteressen beeinflusst. Im hier interessierenden Zusammenhang sind die folgenden Erklärungen, die Bähr u.a. anbieten, bedeutsam. In der Sozialpolitik ist (stärker als in der Umweltpolitik) ein deutlicher vertraglich-institutioneller Effekt dergestalt zu beobachten, dass bindende Rechtsakte nur dann und nur in den issue areas verabschiedet werden, in denen die EU die explizite Zuständigkeit besitzt und Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. In anderen F eIdern der Sozialpolitik (Familie, ältere Personen, Behinderte etc.) sind nahezu ausschließlich nicht-bindende Regelungen anzutreffen. Bedeutsam sind des Weiteren die ökonomischen und institutionellen Kosten unterschiedlicher Regulierungsarten und -materien. Produktbezogene Regelungen, die i.d.R. weniger konfliktgeladen sind, spielen in der Sozialpolitik eine vergleichsweise geringe Rolle, hingegen ha-
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ben zahlreiche Regulierungsvorhaben eine produktionsbezogene Dimension: "Produktbezogene Regelungen ( ... ) können zwar erhebliche ( ... ) Kosten verursachen. Zugleich aber haben sowohl die Mitgliedstaaten als auch die betroffenen Produzenten ein gemeinsames Interesse an europaweit gültigen Standards, weil diese dann den Handel mit diesen Produkten im Binnenmarkt erleichtern. Insofern sind solche Regelungen leichter zu verabschieden als produktionsbezogene Standards, die den Unternehmen Kosten auferlegen, ohne dass dadurch nennenswerte Vorteile in Bezug auf die Vermarktbarkeit von Produkten entstehen." (ebd., S. 108) Ein weiterer gewichtiger Erklärungsfaktor ist die spezifische Verwurzelung eines Politikbereichs in den nationalen Politiktraditionen. Die Sozialpolitik, deren Institutionalisierung in vielen Ländern mit der Konsolidierung des Nationalstaates einherging, ist tief in den nationalen Traditionen verankert, vergleicht man sie etwa mit der Umweltpolitik, die sich als eigenständiges Politikfeld in den Mitgliedstaaten erst ab den 1970er-Jahren etablierte. Demzufolge konnte sich die gleichfalls in den 1970er-Jahren begonnene EU-Umweltpolitik gegenüber einem relativ schwach institutionalisierten Politikfeld in den Mitgliedstaaten leichter behaupten und im Vergleich zur Sozialpolitik stärker entwickeln. Schließlich erklärt die unterschiedliche Akzeptanz europäischer Regulierung bei den nationalen Wählerschaften die jeweiligen Ergebnisse in unterschiedlichen Politikbereichen. So zeigen bereits Eurobarometer-Daten, dass beispielsweise eine Mehrheit der Bfuger(innen) in den Mitgliedstaaten die EU als geeignete Ebene zur Lösung von Umweltproblemen betrachtet und nur eine Minderheit die nationalstaatliche Ebene, während es bei der Sozialpolitik umgekehrt ist. Auch wenn es, so Bähr u.a., ,,( ... ) in der alltäglichen Entscheidungsfindung häufig keinen direkten Bezug zwischen Regierungen und ihren Wählerinnen und Wählern gibt, so weist die beobachtete Asymmetrie doch daraufhin, daß es für Regierungen in der Umweltpolitik leichter ist, gemeinsame europäische Regelungen gegenüber ihrer nationalen Wählerschaft zu vertreten, als dies im Bereich der Sozialpolitik der Fall ist." (ebd., S. 111) Innerhalb der hier skizzierten Politisierungsmuster tritt eine Konftiktkonfiguration in der jüngeren Vergangenheit besonders hervor, die nicht zuletzt der im Zuge der EU-Osterweiterung gewachsenen sozial-ökonomischen Heterogenität zwischen den EU-Mitgliedstaaten geschuldet ist: "Die Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre waren vielfach das Resultat von Verteilungskonftikten zwischen den Mitgliedstaaten. So verliefen die Konftiktlinien bei der Dienstleistungsrichtlinie und der Übemahrnerichtlinie vor allem zwischen Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsmodellen, weniger hingegen entlang der Links-Rechts-Achse der Parteiensysteme." (HöpnerlSchäfer 2010, S. 4)
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Bis zu einem gewissen Grad spiegeln sich die hier skizzierten Politisierungsmuster im Bereich der Sozialpolitik auch in den Vertragsverhandlungen der vergangenen Dekade wider. Skizziert man die konstitutionellen Weichenstellungen vom Vertrag von Nizza über den Konvent und die Regierungskonferenzen zum Verfassungsvertrag bis zum Vertrag von Lissabon, so sind mit Blick auf den integrationspolitischen Stellenwert der Sozialpolitik die folgenden Erfahrungswerte hervorzuheben: Unter den lefl-overs des Vertrages von Nizza (Vereinfachung des Vertragswerks, Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedstaaten und EU, rechtlicher Status der Grundrechtecharta, Demokratisierung der EU und Beteiligung der nationalen Parlamente) und den in der Erklärung von Laeken vom Dezember 2001 formulierten Reformaufträgen an den Konvent taucht die EU-Sozialpolitik als eigenständiger Reformkomplex nicht auf. Sie war nur "mittelbar" durch die in der Grundrechtecharta enthaltenen sozialpolitischen Bestimmungen von Anfang an Teil der Konvents-Agenda. Erst als sich bei einer Aussprache im Plenum im November 2002 zahlreiche Konventsmitglieder kritisch über das Fehlen sozialpolitischer Reformvorschläge äußerten, wurde schließlich eine Arbeitsgruppe "Soziales Europa" eingerichtet. Eine detaillierte Analyse des Konventsprozesses von Treib (2004) zeigt zunächst, dass in dieser Arbeitsgruppe eine klare Mehrheit für eine zumindest moderate Ausweitung der Kompetenzen und Mehrheitsentscheidungen plädierte. Sie zeigt ferner, dass in den einzelnen Voten der Ausschussmitglieder, wie zu erwarten, Ländermuster sichtbar wurden (wobei sich zu den "traditionellen Skeptikern" Großbritannien und Irland auch zwei neue Mitgliedstaaten, Tschechien und Estland, gesellten), dass aber darüber hinaus auch die (partei)politische Verankerung entlang des Links-Rechts-Spektrums die jeweiligen Haltungen bezüglich einer deutlichen Ausweitung, einer moderaten Stärkung oder keiner Veränderung des vertraglichen Status quo prägte. Die Grundlinie des Ausschusses, die soziale Dimension vertragspolitisch moderat auszubauen, war jenseits der erfolgreichen Aufuahme der Grundrechtecharta in den Corpus des Vertrages und einer Präzisierung und Stärkung sozialer Werte und Ziele in den allgemeinen Vertragsbestimmungen im letztlich entscheidenden "materiellen" Bereich der Kompetenzzuweisungen und Entscheidungsverfahren in den Abschlussberatungen des Konvents nicht mehrheitsfahig. Hier waren die "roten Linien", die von den Regierungsvertretern Großbritanniens, Irlands, Tschechiens und Estlands gezogen wurden, so deutlich und deren Widerstand so groß, dass "um Ende keine andere Lösung möglich war, als den Bereich der Kompetenzen und Mehrheitsentscheidungen im Verfassungsentwurfbis auf den durch die legislative ,Notbremse' abgeschwächten Übergang zu Mehrheitsentscheidungen bei der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer so zu belassen wie bisher" (siehe Treib 2004, S. 26). Die
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Aufnahme einer auf belgischem Vorschlag beruhenden horizontalen SozialklauseI fand im Konvent zunächst keine Mehrheit und wurde erst in der anschließenden Regierungskonferenz (in leicht abgeschwächter Form) in den Verfassungsvertrag aufgenommen. Der sozialpolitisch dergestalt ausgestattete Verfassungsvertrag fand im Ratifizierungsprozess mit dem "Nein" aus den Referenden in Frankreich und den Niederlanden sein jähes Ende. Wie Analysen der innenpolitischen Auseinandersetzungen und des Wahlverhaltens in beiden Ländern zeigen, waren die Abstimmungsergebnisse jeweils einer komplexen Gemengelage aus europa- und innenpolitischen Motiven, Interessen und Kalkülen geschuldet. Im hier interessierenden Kontext ist bemerkenswert, dass in Frankreich - weit stärker als in den Niederlanden -letztlich die Frage eines Europäischen Sozialmodells eine zentrale Rolle spielte: "Wichtiger als die Trennlinie nationale Souveränität und supranationale EU-Integration war ( ... ) eine Links-Rechts-Trennlinie in Gestalt eines Wettbewerbs zwischen der Konzeption eines ,neoliberalen' und eines ,sozialen' Europas. Hier wurde um mehr Markt oder mehr ,Staat' (im Sinne einer supranationalen Politikgestalrung auf EU-Ebene) gerungen, nicht um das Verhältnis zwischen Nation und Europa ( ... ). Der normative Maßstab fiir die linke Kritik am Verfassungsvertrag war das Modell einer Union, die dank Mehrheitsentscheidungen im Rat soziale Mindeststandards und eine Mindestbesteuerung definieren und damit ,Sozialdumping' und einen ungezügelten Wettbewerb in der Besteuerung mobilen Kapitals verhindern kann und zugleich ihre Fähigkeit zur wachstumsfördernden wirtschaftspolitischen Koordinierung als Gegengewicht zur Europäischen Zentralbank stärkt." (Schild 2005, S. 193) Vor diesem Hintergrund geriet in der sog. Reflexionsphase, die sich die EU nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages verordnete, auch das Thema der EUSozialpolitik - zumindest kurzzeitig - wieder auf die politische Tagesordnung. Zu den in Wissenschaft und Politik diskutierten Optionen zählten die Neuformulierung einzelner Verfassungsartikel, die Abtrennung des dritten Teils der Verfassung, die Ergänzung der Verfassung durch ein Sozialprotokoll und eine von den Regierungen zu beschließende politische Erklärung zum sozialen Europa. Die maßgeblich unter deutscher Ratspräsidentschaft gestellten Weichen (zur Roadmap vgl. WesselslFaber 2007), die schließlich zum Vertrag von Lissabon führten, sahen u.a. vor, rasch ein runderneuertes Vertragswerk auszuarbeiten, das auf der Struktur bisheriger Verträge aufbaut und die Substanz der im Verfassungsvertrag erzielten Kompromisse nicht dadurch gefahrdet, dass das "Gesamtpaket" durch die erneute Verhandlung von Sachpolitiken und politikbereichsspezifischen Einzelfragen aufgeschnürt würde. Damit waren auch die Möglichkeiten einer sozialpolitischen
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Nachjustierung eng begrenzt. Unter den rund zwölf/ocal points der Sondierungen und Verhandlungen der Regierungen befand sich dementsprechend nur die Option einer allgemeinen Bekräftigung oder stärkeren (symbolischen) Betonung der sozialen Dimension der EU im Vertrag. Hierbei zählten wiederum nur Frankreich, Deutschland, Belgien und die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament zu den Protagonisten dieser Option, wobei Frankreich nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2007 diesen Verhandlungspunkt nicht weiterverfolgte (vgl. Maurer 2007, S. 6). Im Gesamtergebnis des Vertragswerks von Lissabon kommt diese Option nicht zum Tragen. Vielmehr erfuhr der im Verfassungsvertrag erzielte vertragspolitische acquis dahingehend noch eine Schwächung, dass Großbritannien, Tschechien und Polen die äußerst komplexe und schwierige Verhandlungskonstellation dazu nutzten, sich im Hinblick auf den Geltungsbereich und Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta ein opting-out einzuräumen.
3.2 Ausblicke: Quo vadis Europäisches Sozialmodell? Wendet man sich nunmehr unter Zuhilfenahme dieses analytischen Instrumentariums der abschließenden Frage nach den aktuellen Problemlagen des Europäischen Sozialmodells und den Entwicklungsoptionen einer europäischen Sozialpolitik unter den wirtschafts- und währungspolitischen Krisenbedingungen und den neuen vertraglichen Rahmenbedingungen zu, so kristallisieren sich die folgenden Problemfelder und Szenarien heraus: Zunächst ist davon auszugehen, dass die kommenden Jahre durch erhebliche währungs- und fiskalpolitische Spannungen und Verwerfungen sowie wachsende arbeits- und sozialpolitische Probleme im Integrationsraum geprägt sein werden. (Dies gilt ungeachtet der sich - zumindest in einzelnen EU-Ländern, darunter Deutschland - seit 2010 abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwungrendenzen). Ob das gemeinschaftliche Krisenmanagement der Regierungen Genseits der vertraglichen Festlegungen) makro-ökonomische und politische Steuerungsformen hervorbringt, die in Richtung einer gestärkten "Europäischen Wirtschaftsregierung" führen, bleibt abzuwarten. Immerhin haben sich die EU Mitgliedstaaten (einschließlich der Bundesregierung, die diesen Begriff, der mit einer Wirtschafts- und Industriepolitik ci La /ram;aise assoziiert war, bislang ablehnte) im Frühsommer 2010 auf formale Eckpunkte einer solchen "Wirtschaftsregierung" verständigt. Der in Kraft getretene EU-Reformvertrag selbst schafft in den zentralen Feldern der Wirtschafts- und Steuerpolitik (vgl. Dritter Teil AElTV, Titel I-VIII) keine optimierten konstitutionellen Rahmenbedingungen (neue Kompetenzzuweisungen und Mehrheitsentscheidungen), die eine nachftage- und beschäftigungsorientierte makro-ökonomische Wirtschaftspolitik oder substanzielle materielle Regulierungen (etwa im Bereich der
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Unternehmenssteuern) erleichtern oder befördern könnten. Im Bereich der Finanzmarktregulierung zeichnen sich einzelne europäische Lösungen u.a. im Bereich der Finanzaufsicht ab. Im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik schafft der in Kraft getretene EU-Reformvertrag Rahmenbedingungen, die vor dem Hintergrund des oben skizzierten Verhandlungsverlaufs und hinsichtlich der erzielten Ergebnisse als ,,konstitutioneller Minimalismus" (Platzer 2009b) qualifiziert werden können. Diese Charakterisierung resultiert daraus, dass einerseits Fortschritte im normativen Bereich erzielt werden konnten. Dazu zählen insbesondere die sozialpolitischen Zielbestimmungen der Union, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta (auch wenn sie nunmehr nur im Protokollanhang erscheint und Großbritannien, Tschechien und Polen von ihren Verpflichtungen ausnimmt) und die Einfiihrung einer horizontalen Sozialklausel (Art. III-117), durch die sich die EU verpflichtet, bei der Festlegung und Durchfiihrung von Unionsmaßnahmen der Förderung von Beschäftigung und der Gewährleistung eines angemessenen Sozialschutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie einem hohen Bildungsniveau und dem Gesundheitsschutz Rechnung zu tragen. Andererseits jedoch schreibt der Reformvertrag im Bereich der Kompetenzen und Verfahren, also in den institutionellen Kernfragen, den status quo ante weitgehend fort. D.h., "die institutionellen Rahmenbedingungen fiir die Verabschiedung sozialpolitischer Gesetzgebung (wurden) weitgehend unverändert gelassen ( ... ) und auch die bestehenden Bereiche einstimmiger Beschlussfassung (wurden) nicht angetastet." (Treib 2004, S. 19) Gerade die vertragliche Ermächtigungsgrundlage und die Frage von Einstimmigkeit oder Mehrheitsentscheidungen sind aber, wie die oben analysierten Politisierungsmuster zeigen, von entscheidender Bedeutung, wenn es um das materielle Sekundärrecht und die regulatorischen Qualitäten der EU-Politik geht. Ob künftig mögliche sozialpolitische Weichenstellungen, aufgrund des gestärkten sozialen Normenkanons, in erheblichem Maße durch ,,Richterrecht" geprägt sein werden (vgl. Treib 2004) und ob die stärkere vertragliche Normierung sozialer Ziele die liberalistische Tendenz der jüngeren EuGH-Rechtsprechung zugunsten sozialpolitischer Erwägungen und nationaler arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen verändern wird, bleibt abzuwarten. Gegen eine nachhaltige Ausgestaltung der Sozialen Dimension mittels europäischer Rechtsetzung sprechen neben den konstitutionellen Rahmenbedingungen nicht zuletzt die derzeit gegebenen politischen Machtverhältnisse in der EU, die die voraussehbare Zukunft prägen werden: Der Rat der EU-27 ist durch eine deutliche Mehrheit konservativ-liberaler Regierungen dominiert. Nach den britischen Unterhauswahlen, die eine (dezidiert EU-skeptische) konservative Regierung (mit einem EU-freundlicheren, liberalen Juniorpartner) an die Macht gebracht haben, sind alle vier großen EU-Länder
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liberal-konservativ regiert. Im Falle der deutschen Bundesregierung enthält das Regierungsprogramm der konservativ-liberalen Regierung keinerlei gesetzgeberische Vorhaben im Bereich der EU-Sozialpolitik. Hinzu kommen geschwächte Mitte-Links-Kräfte im EP und eine die (parrei)politischen Machtverhältnisse (wenn auch in abgeschwächter Form) reflektierende Zusammensetzung der neuen EUKommission. Schließlich könnte sich die nunmehr stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente als "Subsidiaritätswächter" gerade hinsichtlich des innenpolitisch sensiblen Bereichs der Wohlfahrtspolitik als ein eher retardierendes Moment beim Ausbau einer supranationalen sozialpolitischen Regulierung erweisen. Ungeachtet der künftig schwieriger werdenden Mehrheitsbildungsprozesse bleibt das EP der strategisch bedeutendste Akteur einer aktiven EU-Sozialpolitik, da dieses EU-Organ wohl auch künftig ein Stück weit emanzipiert von der politischen "Mehrheitskultur" des Rats und der Kommission agieren wird. Konkrete Anknüpfungspunkte für künftige parlamentarische Vorstöße in der neuen Legislaturperiode bietet beispielsweise die gegen Ende der letzten Legislaturperiode verabschiedete Entschließung des EP vom 6. Mai 2009 (vgl. Europäisches Parlament 2009) zu einer erneuerten Sozialagenda. Dort fordert das EP "eine ehrgeizige Sozialagenda für den Zeitraum 2010 bis 2015" und schlägt eine Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen vor. Durch eine Anfang 2010 geschlossene "interinstitutionelle Vereinbarung" hat das EP zudem seine Möglichkeiten zu gesetzgeberischen Initiativen (gegenüber dem Gesetzgebungsmonopol der EU-Kommission) auch formell gestärkt. Vor allem die (neue) Sozialklausel nach Art. 9 AEUV des Reformvertrags bietet die Möglichkeit, in den Gesetzgebungsprozessen sozialpolitischen Belangen (auch im Zusammenhang des regulatory impact assessment der EU-Kommission) Rechnung zu tragen. Hierdurch könnten zukünftig der oben analysierten wettbewerbsrechtlich getriebenen Liberalisierungsdynamik gewisse arbeits- und sozialpolitische Schranken gesetzt werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass gemeinschaftliche Politiken im Rahmen der EU-27 auch künftig in starkem Maße auf jenen Instrumenten und Verfahren des governance-learning, der soft regulation und der Rahmenkoordination basieren werden, die sich, wie oben analysiert, schon seit der Jahrtausendwende in Gestalt der OMK herausgebildet haben und die mittlerweile in einer wachsenden Zahl von Politikfeldern zur Anwendung kommen. Der Reformvertrag präzisiert und fixiert - ohne den Begriff OMK zu verwenden - die diesbezüglichen Verfahren im Vertragstext (vgl. Art. 156 AEUV). Vor diesem Hintergrund kommt der (im Frühsommer 2010) verabschiedeten PostLissabon-Strategie, der sog. Agenda Europa 2020, eine erhebliche Bedeutung zu, zumal es darum gehen wird, das kurzfristig notwendige sozial-ökonomische Krisenmanagement mit den längerfristigen thematischen Entwicklungslinien dieses
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auf zehn Jahre angelegten Prozesses zu verzahnen. Ob dabei anspruchsvolle sozial- und beschäftigungspolitische Ziele und benchmarks Berücksichtigung finden und durchgesetzt werden können, wird erst die Zukunft erweisen. Prozedural und politisch wird mit der ,,Agenda Europa 2020" jedenfalls der bisherige "weiche" Governance-Prozess im Wesentlichen fortgeschrieben. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass Verhaltensabweichungen unsanktioniert bleiben und die Normakzeptanz ausschließlich aus der Handlungsmotivation der beteiligten Akteure erwachsen kann. Die im Zuge der Verhandlungen der Post-Lissabon-Strategie diskutierten Optionen, die bisherige Verfahrenspraxis in Richtung eines "harten" Governance-Prozesses weiterzuentwickeln, also die Zielproj ektionen detaillierter und politisch verbindlicher auszugestalten und die Normakzeptanz durch (die Androhung von) Sanktionen zu erzwingen, waren nicht mehrheitsfahig. Schlussendlich eröffnet der EU-Reformvertrag erstmals die Möglichkeit eines Bfugerbegehrens, durch das die EU-Kommission zu Gesetzgebungsinitiativen aufgefordert werden kann. Es ist zu erwarten, dass dieses Instrument - etwa durch Initiativen und Mobilisierungsaktivitäten der Gewerkschaften Europas - auch in sozialpolitisch relevanten Feldern zur Anwendung kommt. Insgesamt mündet diese Diagnose der sich abzeichnenden Weichenstellungen und die Reflexion der (potenziell) möglichen Entwicklungsvarianten der Europäischen Sozialpolitik in einen eher skeptischen Ausblick: Angesichts der beschriebenen Politisierungsmuster im Bereich der EU-Sozialpolitik ist davon auszugehen, dass die national je unterschiedlichen Problemhaushalte infolge der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise - noch einmal verschärft durch die gewachsenen Ungleichgewichte und Spannungen in der Euro-Zone - die schon vorhandene Heterogenität mitgliedstaatlicher Produktions- und Wohlfahrtsregime in der EU-27 kurz- und mittelfristig eher vergrößern und damit die strukturellen Barrieren einer supranationalen regulativen Politik tendenziell erhöhen werden. Der neue Vertragsrahmen und das institutionelle Design der EU im Bereich des wirtschafts- und sozialpolitischen Regierens weisen - trotz der stärkeren Normierung sozialer Ziele - keine substanziellen Veränderungen auf, die nachhaltige Schritte in Richtung "positiver" Integration, also den weiteren Ausbau einer auf EU-Ebene durch Richtlinien und Verordnungen regulierten und harmonisierten Sozial- und Arbeitspolitik, konstitutionell erleichtern würden. Ein weiterer Faktor, der in naher Zukunft gegen eine nachhaltige Stärkung einer supranationalen Sozialpolitik spricht, sind die derzeitigen politischen Kräfteverhältnisse in den Organen der EU, insbesondere im Europäischen Rat und im Ministerrat. Offen bleibt letztendlich, inwieweit Krise auch Chance bedeuten kann: Ob also die Euro-Krise, die die strukturellen Schwachstellen der Währungsunion-
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darunter die gestörte Kommunikation zwischen (supranationaler) Geldpolitik und (nationaler) Lobnpolitik, die Divergenz europäischer Konjunkturverläufe und die längerfristigen Verschiebungen der Wettbewerbskraft zwischen den Euro-Ländern - offengelegt hat, Lernprozesse befOrdern wird, die zu einem "Mehr" an politischer Integration führen werden. Nach der hier unternommenen Analyse wird sich dieses ,,Mehr" an politischer Integration nicht darin erschöpfen dürfen, lediglich die Kontrollverfahren und Sanktionen des Stabilitätspaktes zu verschärfen, wie es etwa die Analysen der Task Force Van Rompuys oder der deutschen Bundesregierung nahelegen, die in der mangelnden Haushaltsdisziplin die primäre Krisenursache sehen. Schon aus demokratiepolitischen Gründen wird dieses "Mehr" an politischer Integration freilich auch keine zentralisierte Europäische Wirtschaftsregierung sein können, wohl aber eine stringentere und vorausschauende makro-ökonomische Koordinierung sein müssen, die auf einer neuen intelligenten Balance zwischen national eigenverantwortlicher Wirtschaftspolitik und erweiterten solidarischen Steuerungsformen auf der Ebene der Union basiert und weit stärker als bisher auch die Sozialund Beschäftigungspolitik einbezieht.
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BI Dimensionen und Perspektiven der Arbeitsmigration
Zwischen offenen Arbeitsmärkten und transnationalem Lohngef"älle. Gewerkschaften und Migration im Zuge der EU-Osterweiterung Thorsten Schulten
Einleitung Als Anfang 2009 bei Demonstrationen britischer Bauarbeiter(innen) auf einer Ölraffinerie im ostenglischen Lindsey Plakate mit der Aufschrift "British Jobs for British Workers" auftauchten, wurde dies europaweit als ein Fanal für das Aufkommen nationalistischer und xenophober Haltungen gegen ausländische Arbeitsmigrant(inn)en angesehen (vgl. Milne 2009). Anlass der Proteste war die Vergabe von Bauaufträgen an ein italienisches Unternehmen, das dafür bekannt war, nahezu ausschließlich italienische und portugiesische Arbeitskräfte einzusetzen, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Auch wenn sich die protestierenden britischen Arbeitnehmer(innen) und die sie unterstützenden Gewerkschaften deutlich gegen eine nationalistische Vereinnahmung ihrer Proteste verwehrten, so lag der gesamten Auseinandersetzung doch die Überzeugung zugrunde, dass das italienische Unternehmen die Aufträge nur deshalb bekommen habe, weil seine Beschäftigten Löhne undArbeitsbedingungen erhalten, die deutlich unterhalb der in Großbritannien tarifvertraglich vereinbarten Standards liegen. Der Lindsey-Konflikt steht stellvertretend für eine wachsende Zahl von Auseinandersetzungen, in denen Unternehmen das transnationale Lohngefalle in Europa ausnutzen und mit der Beschäftigung von Migrant(inn)en etablierte Lohnund Arbeitsbedingungen unterlaufen. Die Möglichkeit hierzu eröffnet ihnen eine Europäische Union, in der die ökonomische Integration im Rahmen des gemeinsamen Marktes immer enger wird, während gleichzeitig erhebliche ökonomische und soziale Entwicklungsunterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten weiter fortbestehen. Mit der EU-Osterweiterung hat sich dieses Spannungsverhältnis noch einmal nachdrücklich verschärft. Der starke Anstieg der Zuwanderung von osteuropäischen Migrant(inn)en in die Länder des "alten Europa" ist eine direkte Folge dieser Entwicklung. Für die Gewerkschaften wird die Migrationsfrage damit einmal mehr zu einer zentralen politischen Herausforderung. Sie müssen G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Thorsten Schulten
Wege finden, die potenzielle Konkurrenz zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitnehmer(innen) zu begrenzen und für gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen zu sorgen. Im Folgenden werden zunächst die Entwicklung der Ost-West-Migration im Zuge der EU-Osterweiterung nachgezeichnet und deren Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigung in den alten westeuropäischen Ländern analysiert. Anschließend werden die grundlegenden strategischen Herausforderungen gewerkschaftlicher Migrationspolitik herausgearbeitet und anband der Reaktionen der westeuropäischen Gewerkschaften auf die neue Freizügigkeit für Arbeitnehmer(innen) aus Osteuropa diskutiert. Schließlich werden einige aktuelle politische und rechtliche Entwicklungen innerhalb der EU hervorgehoben, die insbesondere in der Folge einiger neuerer Urteile des Europäischen Gerichtshofes die Möglichkeiten zur verbindlichen Regulierung der Arbeitsbedingungen von Migrant(inn)en stark eingeschränkt haben. Am Ende dieses Beitrages werden die Perspektiven gewerkschaftlicher Migrationspolitik in Europa erörtert und zukünftige Konfliktlinien und Auseinandersetzungen aufgezeigt.
1. Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf die Arbeitsmigration in Europa 1.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit, Übergangsregelungen und das soziale Gefälle in der EU Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gehört bereits seit den Römischen Verträgen von 1957 neben der Waren-, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit zu den sogenannten vier Grundfreiheiten der Europäischen Union (vgl. Europäische Kommission 2010). Ihre vollständige Umsetzung innerhalb der sechs EU-Gründungsstaaten erfolgte im Jahr 1968 mit der Verordnung (Nr. 1612/68) des Rates über die "Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft". Seither haben alle EUBürger(innen) das Recht, injedem anderen Mitgliedstaat der EU einer Erwerbsilitigkeit nachzugehen (Artikel 45, EU-Vertrag von Lissabon). Neben den EU-Staaten gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Island, Liechtenstein und Norwegen) sowie die Schweiz, die sich in einem bilateralen Abkommen mit der EU hierzu verpflichtet hat. Da innerhalb der EU-Gründungs staaten relativ vergleichbare Einkommensverhältnisse existierten, gab es zunächst kaum Stimmen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit als potenzielle Bedrohung für bestehende Arbeits- und Sozial standards wahrnahmen. Vor dem Hintergrund von Vollbeschäftigung und eines akuten Ar-
Zwischen offenen Arbeitsmärkten und transnationalem
129
beitskräftemangels verfolgten die meisten EU-Staaten im Gegenteil bis in die frühen 1970er-Jahre hinein eine offensive Migrationspolitik, um ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Mit der schrittweisen Erweiterung der EU wurden jedoch die sozialen und ökonomischen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten immer größer. Besonders evident wurde dies erstmalig in den 1980er-Jahren mit der EU-Süderweiterung, bei der 1981 zunächst Griechenland und 1986 dann Spanien und Portugal in die EU aufgenommen wurden. Aufgrund des erheblichen Lohngefalles zwischen den südeuropäischen Ländern und der übrigen EU kam es in den öffentlichen Debatten nun erstmals vermehrt zu Befürchtungen, dass mit der EU-Süderweiterung eine größere Migrationsbewegung einhergehen könnte. Da in der Zwischenzeit die meisten etablierten EU-Staaten mit einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit konfrontiert waren, wollten sie eine solche Entwicklung jedoch unter allen Umständen vermeiden, zumal sie bereits seit Mitte der 1970erJahre zu einer insgesamt deutlich restriktiveren Migrationspolitik übergegangen waren. Vor diesem Hintergrund wurden bei dem EU-Beitritt Griechenlands erstmals sogenannte Übergangsregelungen eingefiihrt, denen zufolge die Arbeitnehmerfreizügigkeit für griechische Arbeitnehmer(innen) noch für eine Übergangsperiode von sechs Jahren beschränkt blieb. Die gleiche Regelung wurde später auch beim EU-Beitritt Spaniens und Portugals vereinbart, wobei in diesen Fällen die Übergangsperiode sogar auf sieben Jahre ausgedehnt wurde. Ihre bislang größte Erweiterung erlebte die EU zum 1. Mai 2004, als neben Malta und Zypern insgesamt acht Länder aus Mittel- und Osteuropa (darunter Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn) der EU beitraten. Mit der EU-Osterweiterung von acht neuen Mitgliedstaaten (NMS8) hat sich das Wohlstandsgefalle innerhalb der EU noch einmal deutlich auf ein bislang ungekanntes Ausmaß vergrößert (vgl. Mau 2004; HöpnerlSchäfer 2010). Übertroffen wurde diese Entwicklung nur noch durch den EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien (NMS-2) zum 1. Januar 2007, die beide zu den ärmsten Ländern Europas gehören. Alle zehn neuen EU-Staaten aus Mittel- und Osteuropa (NMS-I0) erlebten im Zuge ihres EU-Beitrittes einen kräftigen ökonomischen Aufschwung und konnten gegenüber den alten EU-Staaten (EU 15) deutlich aufholen (vgl. Breuss 2007). Allerdings wird selbst für den wenig realistischen Fall einer anhaltenden Fortsetzung dieser Entwicklungsdynamik innerhalb der EU auf absehbare Zeit ein erhebliches Ost-West-Gefalle bestehen bleiben. Gemessen in Kaufkraftstandards lag im Jahr 2008 das Pro-Kopf-Einkommen in den meisten osteuropäischen EU-Staaten zwischen einem und zwei Dritteln niedriger als in den alten EU-Staaten (Abbildung 1).
Thorsten Schulten
130
Abbildung 1: Pro-Kopf-Einkommen* in der EU (2008) in Kaufkraftstandards (KKS), EU 27 = 100 300
276
250
200
150
191
141135134 124
122120 11711& 116115 108103102
100
100 INS 94 91 80 78 76 72
I[ ~ I r~ ~g ~ j i
50
J
L
w~~m~M~~~~~~ffiurr~~~~~"~~~~U~~~~~
27
*
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf
Quelle: EUROSTAT
Noch prononcierter zeigen sich die ökonomischen Entwicklungsunterschiede bei den durchschnittlichen Stundenlöhnen, zumal wenn diese zu aktuellen Wechselkursen in Euro gemessenen werden (Abbildung 2). Im Jahr 2008 lag der durchschnittliche Lohn in den meisten osteuropäischen EU-Staaten zwischen 4 und 6 Euro pro Stunde. Damit verdienten die Beschäftigten in diesen Ländern im Durchschnitt weniger als ein Viertel ihrer westeuropäischen Kolleg(inn)en. In Bulgarien und Rumänien waren die Lohnunterschiede mit durchschnittlichen Stundenlöhnen von 1,50 Euro bzw. 2,50 Euro sogar noch ausgeprägter.
Zwischen offenen Arbeitsmärkten und transnationalem LohngefliUe
131
Abbildung 2: Durchschnittliche Stundenlöhne in Euro (2007/2008)* 36
30
21,72 28,55 23,20 23,07
26
22,04 21,53 21,32 21,2& 21,08 20,11
20
15
,2,0'
,28 "
10
10.00
8,118 7,58
* **
Industrie und Dienstleistungen, jeweils der aktuellste verfügbare Wert
2005
Quelle: EUROSTAT, eigene Berechnungen
Angesichts des extrem hohen Lohngefälles innerhalb Europas und den damit einhergehenden Befürchtungen einer zunehmenden Ost-West-Migration stand die EUOsterweiterung von Beginn an unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Als politische Reaktion auf die öffentlichen Debatten wurde im Rahmen der Beitrittsverträge mit den neuen osteuropäischen EU-Staaten wiederum eine i'rbergangsfrist von maximal sieben Jahren vereinbart, in der die Arbeitnehmerfreizügigkeit weiterhin eingeschränkt werden durfte (vgl. Europäische Kommission 2006 und 2008). Anders als bei der EU-Süderweiterung sollte diesmal j edoch jedes EU-Mitglied selbst entscheiden, ob es die i'rbergangsreglungen anwendet. Hierbei wurde nach der Formel,,2 plus 3 plus 2" ein Drei-Phasen-Modell entwickelt, wonach nach einer ersten Phase von zwei Jahren, die Anwendung der Übergangsreglung überprüft werden sollte. Nach einer zweiten Phase von weiteren drei Jahren sollten in der Regel alle Beschränkungen der Freizügigkeit aufgehoben werden. Lediglich diejenigen Staaten, die gegenüber der Europäischen Kommission "schwerwiegende Störungen" auf dem Arbeitsmarkt geltend machen, sollten im Rahmen einer dritten und letzten Phase die Möglichkeit haben, die Übergangsregelungen noch einmal für zwei Jahre auszudehnen.
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Thorsten Schulten
Für die im Jahr 2004 beigetretenen NMS-8 muss demnach spätestens zum 1. Mai 2011 die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit hergestellt werden. Für die erst 2007 beigetretenen NMS-2 gilt Entsprechendes für den 1. Januar 2014. Die Übergangregelungen dürfen ausschließlich aufWanderarbeitnehmer(innen) angewendet werden, nicht jedoch auf Selbstständige oder Arbeitnehmer(innen), die nur vorübergehend von Unternehmen ihres Heimatlandes entsandt werden. Lediglich Deutschland und Österreich konnten für sich eine Sonderregelung durchsetzen und dürfen in bestimmten Branchen die Übergangsbestimmungen auch auf sogenannte Entsendearbeitnehmer(innen) anwenden. In der Praxis haben die einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich von den Übergangsregelungen Gebrauch gemacht (vgl. Europäische Kommission 2008, Tabelle 1). Als einzige Länder haben Großbritannien, Irland und Schweden von Beginn an aufjegliche Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die NMS8 verzichtet. Die Mehrzahl der EU-Staaten hat hingegen zu Beginn oder während der zweiten Phase ihre Beschränkungen für Migrant(inn)en aus den NMS-8 aufgehoben. Die volle Übergangsfrist einschließlich der dritten Phase wird lediglich von Deutschland und Österreich in Anspruch genommen. Bei den NMS-2 haben nur Schweden und Finnland von Beginn an auf Zuzugsbeschränkungen verzichtet. Nach Ablauf der ersten Phase der Übergangsfrist haben weitere vier Staaten (Dänemark, Griechenland, Portugal und Spanien) ihre Beschränkungen aufgehoben. In der übrigen alten EU 15 (darunter neben Deutschland und Österreich auch in Irland und Großbritannien) ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Personen aus den NMS-2 nach wie vor eingeschränkt.
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Tabelle 1: Herstellung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer(innen) aus den NMS-8 und NMS-2 in den alten EU-Staaten (EU 15) NMS-8 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn 1. Phase (1.5.2004-30.4.2006) 2. Phase (1.5.2006-30.4.2009)
3. Phase (1.5.2009-30.4.2011 ) Nach der 3. Phase (ab 1.5.2011)
HerstellUIlg der Freizügigkeit
Großbritannien, Irland, Schweden (ab 1.5.2004) Finnland, Griechenland, Portugal, Spanien (ab 1.5.2006) Italien (ab 27.7.2006) Niederlande (ab 1.5.2007 Luxemburg (ab 1.11.2007) Frankreich (ab 1.7.2008) Belgien, Dänemark (ab 1.5.2009) Deutschland, Österreich
NMS-2 Bulgarien, Rumänien
HerstellUIlg der Freizügigkeit
1. Phase (1.1.200731.12.2008) 2. Phase (1.1.200931.12.2011)
Finnland, Schweden (ab 1.1.2007) Griechenland, Portugal, Spanien (ab 1.1.2009) Dänemark (ab 1.5.2009)
3. Phase (1.1.201131.12.2013) Nach der 3. Phase (ab 1.1.2014)
Zeitpunkt noch unklar: Belgien, Deutschland, Großbritannien, Irland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich
Quelle: Europäische Kommmission, eigene Zusammenstellung (Stand: 1.9.2010)
1.2 Entwicklung der Ost-West-Migration nach der EU-Osterweiterung Mit der EU-Osterweiterung hat die Anzahl der Migrant(inn)en aus den neuen EUStaaten deutlich zugenommen (vgL im Folgenden Brücker u.a. 2009, S. 23 ff.). Während vor der Erweiterung zum Jahresende 2003 etwa 0,9 Millionen Personen aus den NMS-8 in einem Mitgliedsland der alten EU 15 lebten, hat sich ihre Anzahl Ende 2007 mit 1,9 Millionen mehr als verdoppelt (Abbildung 3). Dies entspricht einem durchschnittlichen Nettozuwachs von 250.000 Personen pro Jahr. Nach dem Beitritt der NMS-2 hat sich die Anzahl der Migrant(inn)en aus diesen Ländern innerhalb nur einen Jahres um mehr als eine halbe Million auf ebenfalls 1,9 Millionen vergrößert. Insgesamt lebten Ende 2007 3,8 Millionen Personen aus den neuen osteuropäischen EU-Staaten (NMS-8 und NMS-2) in der alten EU 15 und damit fast viermal so viele wie noch zu Beginn des Jahrzehnts. Gemessen an der Gesamtbevölkerung in der EU 15 war der Anteil der osteuropäischen Migrant(inn)en mit knapp einem Prozent allerdings immer noch eher gering. In den meisten EU-15-Staaten stellen Migrant(inn)en aus Nicht-EU-Staaten nach wie vor die weit größere Einwanderungsgruppe.
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Abbildung 3: Anzahl der Ausländer(innen) in den alten EU-Staaten (EU 15), die aus den neuen osteuropäischen EU-Staaten (NMS-8 und NMS-2) kommen* 4,0
3,8 3,.
3,0
2,5
2,0
1,5 ,. 1,5
1,2 _ 1,0
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NMS8 •• NMS2 -*-NMS10
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o,o +----~--~_--~--~---~--~---~--~
2000
*
2001
2002
2003
2004
2005
2008
2007
in Millionen Personen, Angaben jeweils zum Ende des Jahres; NMS-8: CZ, EE, HU, LV, LT, PL, SK; NMS-2: BG, RO
Quelle: BTÜcker u.a. 2009
Mit der EU-Osterweiterung hat sich auch die Rangfolge der bevorzugten Zielländer deutlich verändert. Noch im Jahr 2000 lebte eine große Mehrheit von 62 Prozent der Migrant(inn)en aus den NMS-8 in Deutschland. Ende 2007 waren es demgegenüber gerade mal noch 29 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg ihr Anteil in Großbritannien von 13 Prozent auf 32 Prozent, womit die britische Insel mit Abstand zum beliebtesten Zielland der osteuropäischen Migrant(inn)en wurde. Zu einem relativ starken Migrationszuwachs kam es außerdem in Irland, Spanien sowie außerhalb der EU in Norwegen. Bei den Migrant(inn)en aus den NMS-2 hat sich hingegen Spanien als das mit Abstand beliebteste Zielland entwickelt, während auch hier die relative Bedeutung von Deutschland stark abgenommen hat. Die sehr unterschiedliche nationale Anwendung der Übergangsbestimmungen hat offensichtlich zu einer erheblichen Umlenkung der Migration zugunsten detjenigen Länder geführt, die bereits zu einem flühen Zeitpunkt ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben. Hinzu kommt, dass Länder wie Großbritannien und Irland im letzten Jahrzehnt
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eine besonders dynamische ökonomische Entwicklung erlebt haben, die in vielen Branchen zu einer deutlichen Arbeitskräfteknappheit gefiihrt hat. Demgegenüber blieb die Arbeitslosigkeit in anderen Ländern wie z.B. Deutschland auf anhaltend hohem Niveau, was ihre Attraktivität als Zuwanderungsland deutlich reduziert. Vor dem Hintergrund der 2008 einsetzenden Weltwirtschaftskrise hat sich die Zunahme der Migration zwar deutlich verlangsamt, in zahlreichen wichtigen Einwanderungsländern wie z.B. Spanien und Großbritannien ist die Nettozuwanderungjedoch nach wie vor positiv (vgl. 10M 2010; OECD 2010). Für die Zukunft gehen die meisten Prognosen davon aus, dass sich das Tempo der Ost-West-Migration deutlich verlangsamen wird. In einer umfangreichen, von der Europäischen Kommission geförderten Studie kommen Brücker u.a. (vgl. 2009, S. 33 ff.) zu dem Ergebnis, dass sich die Anzahl der osteuropäischen Migrant(inn)en bis zum Jahre 2020 noch einmal auf insgesamt etwa mehr als 8 Millionen Personen verdoppeln könnte. Allerdings basieren alle Migrationsprognosen immer auf bestimmten sozialen und ökonomischen Entwicklungsszenarios und sind damit naturgemäß mit hohen Unsicherheiten behaftet.
1.3 Auswirkungen der Ost-West-Migration au/Löhne und Beschäftigung Nach Ansicht der Europäischen Kommission (2002, S. 3) bildet die "Freizügigkeit ( ... ) ein Mittel zur Schaffung eines europäischen Arbeitsmarktes und trägt zum Vorteil der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Mitgliedstaaten zur Errichtung eines flexibleren und effizienteren Arbeitsmarktes bei" (Hervorhebung T.S.). Gestützt wird diese Position von der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie, derzufolge ein integrierter europäischer Arbeitsmarkt mit vollständiger Mobilität zu einer effizienteren Aufteilung der Arbeitskräfte zwischen den Staaten fiihrt und damit die Wachstumspotenziale innerhalb der EU insgesamt erhöht (vgl. stellvertretend SinnlWerding 2001). Demgegenüber verweisen kritischere Ansätze auf die Funktion von Migrant(inn)en als "industrielle Reservearmee", die zielgerichtet dafür mobilisiert wird, Löhne niedrig zu halten und insbesondere in ökonomisch prosperierenden Zeiten mit knappen Arbeitskräften ein Erstarken der Gewerkschaften zu verhindern (vgl. stellvertretend Hardy 2009). Die Mehrzahl der makroökonomischen Studien, die sich zumeist auf der Basis von ökonometrischen Modellrechnungen mit den Auswirkungen von Migration auf den Arbeitsmarkt befassen, diagnostizieren - wenn überhaupt - nur leicht negative Effekte auf Löhne und Beschäftigung (für einen knappen Literaturüberblick vgl. Brücker u.a. 2009, S. 56 ff.; für einzelne Länderstudien vgl. die Beiträge in Kahanec/Zimmermann 2010). Im Hinblick auf die Arbeitsmarkteffekte der durch die EU-Osterweiterung ausgelösten Ost-West-Migration gehen Brückner
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u.a. (2009, S. 71) in einer Simulationsrechnung fiir die Europäische Kommission davon aus, dass sich die Arbeitslosigkeit in der alten EU 15 kurzfristig leicht um 0,06 Prozent erhöht hat und die Löhne leicht um 0,09 Prozent gesunken sind (siehe Baas u.a. 2009). Längerfristig würde sich in den EU 15 Ländern jedoch der Kapitalstock wieder an das veränderte Arbeitskräfteangebot anpassen und damit die negativen Effekte wieder ausgleichen, sodass insgesamt von einer lohn- und beschäftigungsneutralen Ost-West-Migration ausgegangen werden kann. Die aus makroökonomischer Sicht eher geringen Auswirkungen der Migration auf Löhne und Beschäftigung widerlegen zunächst manche mit der EU-Osterweiterung verbundenen Bedrohungsszenarien, wie sie insbesondere von rechtspopulistischen und nationalistisch motivierten Kreisen vorgebracht wurden. Zugleich aber werden durch den makroökonomischen Blickwinkel die mit der Ost-WestMigration verbundenen sozialen Probleme systematisch unterschätzt. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich das Arbeitsfeld der meisten Migrant(inn)en auf einige wenige Branchen konzentriert, darunter vor allem die Bauindustrie, der Bereich Hotel und Gaststätten, die Landwirtschaft, die Gebäudereinigung, eher arbeitsintensive Bereiche des verarbeitenden Gewerbes sowie in wachsendem Maße der Pflege- und Gesundheitssektor. Aus an diesen Branchen existiert eine Vielzahl anekdotischer Evidenz darüber, dass Unternehmen Migrant(inn)en ausnutzen, um die Löhne nach unten zu drücken und teilweise einheimische Arbeitskräfte durch "billigere" ausländische Arbeitskräfte zu ersetzen (vgl. Hardy u.a. 2010). Systematische und europaweit vergleichende Untersuchungen über die lohn- und beschäftigungspolitischen Auswirkungen der Ost-West-Migration in den hier relevanten Kernbranchen stehen jedoch nach wie vor aus. Offensichtlich hingegen ist, dass Migrant(inn)en vor allem im Niedriglohnsektor arbeiten (vgl. BlanchflowerlShadforth 2009, S. 159; Galg6czi u.a. 2009, S. 20). In Großbritannien lag der durchschnittliche Medianlohn von Arbeitnehmer(inne)n aus den NMS-8 im Jahr 2009 um ein Drittel niedriger als der Medianlohn von in Großbritannien geborenen Beschäftigten (vgl. Clany 2009). Andere Untersuchen gehen davon aus, dass in den Jahren 2007/2008 die durchschnittlichen Löhne von neu zugewanderten Arbeitnehmer(inne)n aus den NMS-8-Staaten um etwa 12,5 Prozent niedriger lagen als bei in Großbritannien geborenen Beschäftigten (vgl. BlanchflowerlLawton 2010, S. 191). Für Deutschland schätzen Brenke u.a. (2010, S. 124), dass die Löhne von Migrant(inn)en, die seit der EU-Osterweiterung aus den NMS-8-Staaten eingewandert sind, durchschnittlich um fast ein Viertel niedriger als bei in Deutschland geborenen Arbeitnehmer(inne)n liegen. Migrant(inn)en gehen insgesamt besonders häufig einer eher gering qualifizierten Tätigkeit nach, wobei sie in vielen Fällen deutlich unterhalb ihres eigenen
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Qualifikationsniveaus beschäftigt werden. Dementsprechend sind auch die negativen Lohn- und Beschäftigungseffekte der Ost-West-Migration bei den gering qualifizierten Beschäftigten am größten (vgl. Baas u.a. 2009, S. 7), da die Migrant(inn)en vor allem mit gering qualifizierten einheimischen Beschäftigten konkurrieren. Mit ihrer hohen Präsenz im Niedriglohnsektor tragen Migrant(inn)en nicht zuletzt auch dazu bei, dass sich die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht in diesen Bereichen weiter verringert und damit die allgemeine Lohnentwicklung gedämpft wird (vgl. BlanchflowerlShadforth 2009, S. 178 f.). Vor diesem Hintergrund bildet die zunehmende Ost-West-Migration auch eine zentrale Herausforderung für die westeuropäischen Gewerkschaften.
2. Gewerkschaften u.nd Migration in Eu.ropa 2.1 Strategische Herausforderungen gewerkschaftlicher Migrationspolitik Nach Pennix und Roosblad (2000, S. 4 ff.) stehen die Gewerkschaften in ihrem Umgang mit dem Thema Arbeitsmigration grundsätzlich vor drei strategischen Herausforderungen: Als Erstes müssen Gewerkschaften die grundlegende Frage beantworten, ob sie Zuwanderung prinzipiell unterstützen und gestalten wollen oder ob sie in erster Linie auf eine Abschottung der Arbeitsmärkte setzen. Historisch war die Entstehung der modemen Gewerkschaftsbewegung eng mit der Herausbildung des Nationalstaates verbunden, der bis heute - trotz aller intemationalistischen Ansprüche - der wesentliche Bezugsrahmen für die Konstituierung von Solidarität geblieben ist und durch ein entsprechendes nationales System der Arbeitsbeziehungen und des Sozialstaates untermauert wird. Migration wird hierbei - gestützt auf zahlreiche Alltagserfahrungen - von den Gewerkschaften in erster Line als Bedrohung nationaler Arbeits- und Sozialstandards wahrgenommen. Dies hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder zu Reaktionen geführt, in denen sich die Gewerkschaften primär der exklusiven Solidarität ihrer einheimischen Mitglieder verpflichtet sahen und sich gegen Beschäftigte "von außen" abzuschotten suchten. Als beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre die westeuropäischen Regierungen vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit eine Wende hin zu einer deutlich restriktiveren Migrationspolitik vollzogen, wurden sie hierbei in der Regel von den Gewerkschaften aktiv unterstützt (vgl. ebd., S. 189 f.). Mitunter zeigen sich Gewerkschaftsmitglieder sogar in überdurchschnittlich hohem Maße für rechtspopulistische Positionen anfallig und betrachten eine nationalistische Politik als plausible Strategie zur Verteidigung sozialer Standards (vgl. Flecker 2007; Zeuner u.a. 2007).
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Die nach Pennix und Roosblad (2000, S. 8 ff.) zweite strategische Herausforderung für die Gewerkschaften besteht in der Frage, ob sie die Anwesenheit von bestimmten Migrantengruppen eher als ein temporäres Phänomen begreifen oder ob sie diese als einen dauerhaften Bestandteil des heimischen Arbeitsmarktes ansehen. Damit eng verbunden ist die Frage, ob Gewerkschaften sich eher darauf konzentrieren, die Lohn- und Arbeitsbedingungen von Migrant(inn)en durch staatliche und tarifvertragliche Regulierung zu beeinflussen, oder ob sie darüber hinaus auch Strategien für deren aktive gewerkschaftliche Organisierung und Beteiligung entwickeln. Bis in die 1970er-Jahre hinein galten die Migrant(inn)en in den meisten west- und nordeuropäischen Ländern als "Gastarbeiter(innen)", deren Aufenthalt als zeitlich begrenzt angesehen wurde. Dementsprechend zielte die Politik der Gewerkschaften vor allem darauf, bestimmte soziale Rechte und Mindestbedingungen für Migrant(inn)en durchzusetzen, um auf diese Weise eine Absenkungskonkurrenz gegenüber bestehenden Arbeitsstandards zu vermeiden. Nachdem spätestens Ende der 1970er-Jahre deutlich wurde, dass bestimmte ausländische Beschäftigtengruppen nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren werden und sich ihre Bedeutung durch den Zuzug von Familienmitgliedern sogar noch weiter vergrößern wird, gingen auch die Gewerkschaften zunehmend dazu über, auf die gewerkschaftliche Organisierung von Migrant(inn)en und deren aktive Beteiligung in den Organen der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung zu setzen. Die Politik der Gewerkschaften vollzog sich dabei in der Logik der jeweils nationalen Systeme der industriellen Beziehungen und führte dementsprechend zu sehr ungleichen Ergebnissen. Am deutlichsten wird dies beim gewerkschaftlichen Organisationsgrad von Migrant(inn)en, der Anfang der 1990er-Jahre zwischen den europäischen Ländern sehr große Differenzen aufwies, sich innerhalb der einzelnen Länder jedoch kaum mehr vom Organisationsgrad der einheimischen Beschäftigten unterschied (vgl. ebd., S. 192). Mit dem Übergang von einer Politik der eher exklusiven hin zu einer eher inklusiven Solidarität und der Akzeptanz von Migrant(inn)en als gleichberechtigte Gewerkschaftsmitglieder ergibt sich nach Pennix und Roosblad (2000, S. 10 ff.) eine dritte strategische Herausforderung, die sie als "Equal-versus-SpecialTreatment-Dilemma" bezeichnen. Hierbei geht es um die Frage, ob die Gewerkschaften in erster Linie auf eine vollkommene Gleichbehandlung mit den einheimischen Beschäftigten setzen oder ob sie darüber hinaus auch eine eigenständige Migrantenpolitik entwickeln, die den Anspruch verfolgt, die spezifischen Interessen dieser Beschäftigtengruppe zu vertreten. Nach Pennix und Roosblad (2000, S. 198 ff.) hat sich in den meisten europäischen Gewerkschaften im Laufe der Zeit - wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß - eine Politik durchgesetzt, die
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eine eigenständige Interessenvertretung von Migrant(inn)en verfolgt und dieser durch die Schaffung eigenständiger Gremien und Foren innerhalb der Gewerkschaften Nachdruck verleiht. Welche strategischen Entscheidungen die Gewerkschaften im Hinblick auf ihre Politik gegenüber Migrant(inn)en fällen, wird von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt (pennixlRoosblad 2000, S. 200 ff.). Einen wichtigen Einfluss haben zunächst die jeweils nationalen Systeme der industriellen Beziehungen und die damit verbundene organisatorische und institutionelle Macht der Gewerkschaften. Hinzu kommt die gesetzliche und tarifvertragliche Regelungsdichte auf den nationalen Arbeitsmärkten, die unterschiedliche Spielräume fiir das Unterlaufen nationaler Arbeitsstandards schafft. Von zentraler Bedeutung sind darüber hinaus auch die jeweils aktuelle konjunkturelle Entwicklung und die allgemeine Lage auf dem Arbeitsmarkt. Generell wäre zu erwarten, dass Gewerkschaften eher fiir eine offene Migrationspolitik und eine Strategie der inklusiven Solidarität plädieren, je stärker ihre eigene Organisationsmacht, je höher die Regelungsdichte auf dem Arbeitsmarkt und je günstiger die ökonomischen Rahmenbedingungen sind. Darüber hinaus hat schließlich auch der allgemeine öffentliche und politische Diskurs über Migrant(inn)en einen erheblichen Einfluss auf die Politik der Gewerkschaften.
2.2 EU-Osterweiterung, Arbeitnehmeifreizügigkeit und die Haltung der westeuropäischen Gewerkschaften Mit der EU-Osterweitung waren die westeuropäischen Gewerkschaften gezwungen, ihre Haltung zur Öffnung der Arbeitsmärkte neu zu definieren; sie wurden hierbei einmal mehr mit den drei grundlegenden strategischen Herausforderungen gewerkschaftlicher Migrationspolitik konfrontiert. Zunächst standen die Gewerkschaften erneut vor der Frage, ob sie den uneingeschränkten Zugang von Migrant(inn)en aus den neuen osteuropäischen EU-Staaten von Beginn an unterstützen oder ob sie für Übergangsregelungen bei der Arbeitnehmerfreizugigkeit eintreten, die die Arbeitsmärkte fiir eine bestimmte Übergangsfrist weiterhin abschotten. Tatsächlich wurde diese Frage von den westeuropäischen Gewerkschaften sehr unterschiedlich beantwortet (vgl. Benassi 2009; Galg6czi u.a. 2009; Krings 2009; Meardi 2009). Während die Gewerkschaften aus Großbritannien, Irland und Schweden sich prinzipiell gegen die Einführung von l.Jbergangsregelungen aussprachen, plädierten die meisten nationalen Gewerkschaftsbünde dafiir, den Arbeitsmarktzugang zunächst an die Einhaltung bestimmter Sozial- und Tarifstandards zu koppeln. Später haben sie dann in der Regel die Aufhebung der Übergangsreglungen unterstützt. Dagegen traten vor allem die deutschen und die österreichischen Gewerkschaften dafiir ein, die bestehenden Arbeitsmarktbeschränkungen zunächst beizubehalten
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und die Übergangsfristen über die gesamte Periode von sieben Jahren auszunutzen. Auf europäischer Ebene waren Letztere mit ihrem eher restriktiven Ansatz relativ isoliert. So plädierte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), in dem bereits seit den frühen 1990er-Jahren auch zahlreiche Gewerkschaften aus Osteuropa Mitglied sind, in einer Stellungnahme aus dem Jahre 2005 dafür, die vollständige Freizügigkeit aller Arbeitnehmer(innen) innerhalb der EU möglichst rasch herzustellen und Übergangsregelungen nur noch in besonderen Ausnahmefallen zuzulassen (vgl. EGB 2005). Im Jahre 2009 forderte der EGB (2009, S. 2) schließlich die "komplette Umsetzung der Freizügigkeitsgrundsätze". Die gewerkschaftlichen Befürworter einer unmittelbaren Öffnung der Arbeitsmärkte für osteuropäische Migrant(inn)en haben ihre Position vor allem mit zwei Argumenten begründet: Zum einen wurde insbesondere von den britischen und irischen Gewerkschaften auf den Gleichheitsgrundsatz verwiesen, wonach prinzipiell alle Arbeitnehmer(innen) in der EU das gleiche Recht auf Freizügigkeit haben und keine zwei Klassen von EU-BÜfger(inne)n geschaffen werden sollen (vgl. Benassi 2009, S. 46 f.; Krings 2009, S. 58 f.). Zum anderen vertraten die britischen und irischen Gewerkschaften die These, dass eine Beibehaltung der Arbeitsmarktbeschränkungen lediglich dazu führen würde, dass die Arbeitsmigration vermehrt andere Formen jenseits des normalen Arbeitnehmerstatus annehmen würde. Hierzu zählen Entsendearbeitnehmer{innen), Schein selbstständige und undokumentierte Arbeitsmigrant(inn)en, deren Arbeitsbedingungen allesamt deutlich schwieriger zu kontrollieren und die für die Gewerkschaften deutlich schwieriger zu organisieren sind. Das zuletzt genannte Argument hat auch für die schwedischen Gewerkschaften eine entscheidende Rolle gespielt, die sich im Gegensatz zur damaligen sozialdemokratischen Minderheitsregierung gegen Übergangsregelungen ausgesprochen haben (vgl. Bucken-Knapp 2009, S. 117 ff.). In anderen skandinavischen Ländern wie z. B. Dänemark oder Norwegen haben die Gewerkschaften zunächst die von den Regierungen verabschiedeten Übergangsregelungen unterstützt, wonach nur diejenigen Arbeitnehmer(innen) aus den neuen EU-Staaten eine Arbeitserlaubnis erhielten, die eine tarifvertraglich bezahlte Vollzeitstelle nachweisen konnten (vgl. Eldring u.a. 2009). Allerdings galt diese Regelung nicht für Entsendearbeitnehmer(innen), deren Anzahl in beiden Ländern deutlich zunahm und in vielen Fällen zu einem Unterlaufen von tarifvertraglichen Lohn- und Arbeitsstandards geführt hat. Vor diesem Hintergrund haben die Gewerkschaften in beiden Ländern die Beendigung der Übergangsregelungen begrüßt und stattdessen stärker auf staatliche und gewerkschaftliche Maßnahmen gegen Sozialdumping gesetzt. Einen ähnlichen Positionswechsel haben die finnischen Gewerkschaften vollzogen, nachdem während der ersten Übergangsphase
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die Anzahl der Entsendearbeitnehmer(innen) deutlich zugenommen hat (vgl. Lillie/Greer 2007, S. 559). In Norwegen haben die Gewerkschaften zudem ihre Unterstützung für eine offene Migrationspolitik mit der Forderung nach AllgemeinverbindlichkeitserkJärungen von Tarifverträgen in denjenigen Sektoren verbunden, in denen besonders viele Migrant(inn)en aus Osteuropa arbeiten (vgl. Eldring u.a. 2009). Eine ähnliche Strategie verfolgten die Gewerkschaften in der Schweiz, die ihre Zustimmung bei den Volksabstimmungen über die Personenfreizügigkeit erfolgreich an die Verabschiedung sogenannter ,,flankierender Maßnahmen" knüpften, zu denen neben vermehrten Kontrollen von Arbeitsstandards auch die Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen sowie die Möglichkeit branchenbezogener Mindestlöhne in nicht-tarifgebundenen Branchen gehören (vgl. Rechsteiner 2008). Die deutschen und österreichischen Gewerkschaften haben ihre Forderung nach Übergangsregelungen ursprünglich damit gerechtfertigt, dass beide Länder angesichts der langen gemeinsamen Grenze mit den neuen osteuropäischen EUStaaten die Hauptanpassungslasten der zu erwarrendenArbeitsmigration zu tragen hätten und dies mit erheblichen Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt einhergehen würde (vgl. Krings 2009, S. 55 ff.; für Deutschland: Benassi 2009, S. 34 ff.; für Österreich: ChaloupeklPeyrl2009). Später verwiesen die deutschen Gewerkschaften bei der Begründung für die Aufrechterhaltung der Übergangsregelungen immer mehr auf die unzureichende Regulierung des deutschen Niedriglohnsektors. Dementsprechend wird mittlerweile als wesentliche Voraussetzung für die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen und die damit bestehende Möglichkeit der Schaffung allgemeinverbindlicher branchenbezogener Mindestlöhne sowie die Einführung eines allgemeinen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohns angesehen (vgl. DGB 2008). Zugleich mussten die deutschen Gewerkschaften jedoch auch feststellen, dass von den Übergangsregelungen durchaus ambivalente Wirkungen ausgehen. Zwar haben sie einerseits den Umfang der Migration begrenzt, andererseits haben sie jedoch vermehrt andere Formen der Arbeitsmigration hervorgebracht. So kam es z.B. seit 2004 in Deutschland zu einem starken Anstieg der Zuwanderung von Selbstständigen und zu einem deutlichen Zuwachs der Gewerbeanmeldungen von osteuropäischen Einzelunternehmern (vgl. Bundesministerium des Innem 2010, S. 108 ff.). Die unterschiedliche Haltung der europäischen Gewerkschaften gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit scheint auf den ersten Blick die divergierenden ökonomischen Rahmenbedingungen sowie die unterschiedliche Regelungsdichte auf dem Arbeitsmarkt widerzuspiegeln (vgl. Krings 2009, S. 60 ff.). Die britischen und
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irischen Gewerkschaften formulierten ihre positive Haltung zur Öffnung der Arbeitsmärkte vor dem Hintergrund einer prosperierenden Wirtschaftsentwicklung, die in einigen Branchen mit einer Knappheit von Arbeitskräften einherging. Demgegenüber verfügte Deutschland zum Zeitpunkt der EU-Osterweiterung über eine vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit, die insbesondere in Ostdeutschland weit über dem EU-Durchschnitt lag. Hinzu kommt, dass Deutschland im Unterschied zu den meisten anderen westeuropäischen Staaten ein deutliches Regelungsdefizit im Niedriglohnsektor aufweist, das in einer vergleichsweise niedrigen Tarifbindung und dem Fehlen eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum Ausdruck kommt (vgl. Schulten 201 Oa und 20 lOb). So lässt sich z.B. fiir Großbritannien zeigen, dass der Ende der 1990er-Jahre eingefiihrte gesetzliche Mindestlohn gerade fiir die Arbeitsbedingungen von Migrant(inn)en eine wesentliche Schutzfunktion erfiillt hat (vgl. Coast 2008). Wie das Beispiel Österreich zeigt, wo die Gewerkschaften trotz einer außerordentlich hohen Tarifbindung und einer vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit fiir die Nutzung der Übergangsregelungen plädiert haben, lässt sich die Haltung der Gewerkschaften jedoch nicht allein durch objektive ökonomische und institutionelle Rahmenbedingungen erklären. Hinzu kommen vielmehr die in Österreich eher restriktiven Traditionen gewerkschaftlicher Migrationspolitik sowie der dominierende öffentliche Diskurs über die tatsächlichen oder vermeintlichen sozialen Folgen von zusätzlicher Einwanderung. Je nachdem, wann im Zuge der EU-Osterweitung die Öffnung der Arbeitsmärkte vollzogen wurde und wie sich die Gewerkschaften hierzu positionierten, hatte dies weitreichende Konsequenzen fiir die im Folgenden entwickelte Politik der Gewerkschaften. In denjenigen Ländem, die von Beginn an einen freien Zugang zu ihren Arbeitsmärkten gewährleisteten, gewannen aktive Strategien der gewerkschaftlichen Interessenvertretung von osteuropäischen Migrant(inn)en deutlich an Stellenwert. Dies gilt insbesondere fiir Großbritannien, wo die Gewerkschaften eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zur Organisierung der neuenArbeitnehmer(innen) aus Osteuropa entwickelt haben (vgl. FitzgeraldIHardy 2010; Heyes 2009). Das strategische Hauptaugenmerk zur Sicherung sozialer Standards und Vermeidung von Lohndumping besteht hierbei darin, in den Sektoren mit hohem Anteil von Migrant(inn)en die autonome gewerkschaftliche Organisationsmacht zu stärken. Demgegenüber zielt die gewerkschaftliche Politik in den Ländern mit ausgedehnten Übergangsregelungen eher auf den Ausbau staatlicher Regulierung und Kontrolle. Allerdings lässt sich nach Meardi (2009) bei fast allen westeuropäischen Gewerkschaften ein - in einigen Ländern mitunter etwas zeitverzögerter - Trend hin zu einer eher inklusiven Migrationspolitik feststellen,
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der mit dem Auslaufen der Übergangsregelungen auch in Ländern wie Deutschland und Österreich immer stärker wirksam wird.
3. Die Aushöhlung der territorialen Integrität des nationalen Arbeitsrechts Nach Lillie und Greer (2007, S. 555) unterscheidet sich die jüngste durch die EUOsterweiterung ausgelöste Migrationsphase von früheren Phasen dadurch, dass sie Teil eines neoliberalen europäischen Binnenmarktprojektes ist, in dessen Folge die nationale Regulierung der Arbeitsmärkte zunehmend ausgehöhlt wird. Während Migrant(inn)en in früheren Phasen dazu benutzt wurden, einen bestehenden Arbeitskräftemangel zu kompensieren und dabei zumeist die unteren Stufen eines etablierten nationalen Arbeits- und Tarifgefüges besetzten, werden sie heute unabhängig von der Lage auf dem Arbeitsmarkt von Unternehmen eingesetzt, um unter Ausnutzung des europäischen Lohngefälles systematisch bestehende Arbeitsund Tarifstandards zu unterlaufen. Besonders deutlich wird diese neue Funktion der Arbeitsmigration bei den Entsendearbeitnehmer(inne)n, die über einen besonders prekären Status verfügen. Hier handelt es sich um Beschäftigte, die von einem Unternehmen ihres Heimatlandes in ein anderes Land entsandt werden, um dort für einen begrenzten Zeitraum eine bestimmte Arbeit zu verrichten. Auch wenn es keine offizielle statistische Erfassung von Entsendearbeitnehmer(inne)n in der EU gibt, wird ihre Anzahl von der Europäischen Kommission auf gegenwärtig mindestens 1,5 Millionen geschätzt (vgl. Andor 2010). In größerem Ausmaß traten Entsendearbeitnehmer(innen) erstmals in den 1980er-Jamen in der europäischen Bauindustrie auf, als vor allem südeuropäische Baufirmen mit eigenen Beschäftigten Bauaufträge in Nordeuropa ausführten. Die Entsendung von Arbeitnehmern wurde hierbei als Teil der europäischen Dienstleistungsfreiheit begriffen, sodass die betroffenen Arbeitnehmer(innen) in der Regel auch während ihrer Tätigkeit im Ausland zu den Arbeits- und Lohnkonditionen ihres Heimatlandes beschäftigt wurden. Damit entstanden innerhalb der europäischen Hochlohnländer Inseln fremden Arbeitsrechts, die es Unternehmen erlaubten, bestehende Arbeits- und Lohnstandards systematisch zu unterbieten. Nach einer langjährigen kontroversen politischen Auseinandersetzung innerhalb der EU kam es schließlich 1996 zur Verabschiedung der Europäischen Entsenderichtlinie (96171/EG), die es den einzelnen EU-Staaten seither erlaubt, die Einhalrung bestimmter durch Gesetz oder allgemeinverbindliche Tarifverträge festgelegte Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen auch für Entsendearbeitnehmer(innen) verpflichtend zu machen (vgl. Cremers 2006). Damit schien das Problem eines
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zunehmenden Lohn- und Tarifdumpings durch die Entsendung ausländischer Arbeitnehmer(innen) zunächst gelöst zu sein. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends versuchte jedoch die Europäische Kommission, mit ihren Vorschlägen für eine Dienstleistungsrichtlinie das sogenannte "Herkunftslandprinzip" zu etablieren, durch das bei der Durchfiihnmg von Dienstleistungen im Ausland weitgehend die rechtlichen Bestimmungen (inklusive des Arbeitsrechts) des jeweiligen Heimatlandes gelten sollten. Aufgrund des massiven politischen Widerstandes nicht zuletzt der europäischen Gewerkschaften, die hier erstmals größere europaweite Proteste und Demonstrationen organisierten, war die Europäische Kommissionjedoch gezwungen, von diesem Prinzip in großen Teilen wieder abzurücken (vgl. Amold 2008). Schließlich sorgte jedoch eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus den Jahren 2007 und 2008 dafür, dass die territoriale Integrität des nationalen Arbeitsrechtes einmal mehr deutlich relativiert wurde (vgl. D0lvik:l Visser 2009; Röd12009). Im Kern hat der EuGH mit seinen Urteilen zu Viking (C438/05), Laval (C-341105), Rüffert (C-346/06) und Luxemburg (C-319/06) eine weitere "Radikalisierung der Binnenmarktintegration" (siehe Höpner 2009) vollzogen, indem er den ökonomischen Grundfreiheiten der Unternehmen einen weitgehenden Vorrang vor den sozialen Grundrechten der Arbeitnehmer(innen) eingeräumt hat. In den Fällen Viking und Laval wertete der EuGH die Durchfiihnmg von Streiks zum Erhalt bzw. zur Durchsetzung nationaler Arbeitsstandards bei ausländischen Unternehmen als Verstoß gegen die europäische Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit. Bei der Rüffert-Entscheidung wurde die Verpflichtung von Unternehmen, durch Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen bestimmte Tarifstandards einhalten zu müssen, ebenfalls als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gewertet. Schließlich ist im Fall Luxemburg die umfangreiche Übertragung des dortigen Arbeitsrechtes auf Entsendearbeitnehmer(innen) nach Ansicht des EuGH ebenfalls nicht durch EU-Recht gedeckt. Im Kern aller vier EuGH-Entscheidungen steht eine Neuinterpretation der Europäischen Entsenderichtlinie, die nicht als ein Instrument zur Abwehr von Niedriglohnkonkurrenz, sondern als Rechtsrahmen zur Beforderung der Dienstleistungsfreiheit angesehen wird (vgl. Röd12009, S. 152 f.). Die in der Entsenderichtlinie aufgezählten Möglichkeiten der Übertragung von Arbeitsbestimmungen aufEntsendearbeitnehmer(innen) werden vom EuGH als Maximalbestimmungen interpretiert, sodass darüber hinausgehende Vorgaben automatisch als Verstoß gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit gewertet werden. Damit reduziert sich die Möglichkeit der arbeitsrechtlichen Vorgaben für Entsendearbeitnehmer(innen) in der Praxis jedoch auf bestimmte Mindeststandards, während weitergehende For-
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derungen als unzulässige Belastungen fiir ausländische Unternehmen angesehen werden. Mit den vier genannten Entscheidungen verbreitet der EuGH nach Rödl (2009, S. 152) insgesamt "die fatale Botschaft, ( ... ) dass die Grundfreiheiten den Unternehmen so etwas wie ein subjektives Recht gewährten, sich transnationale Lohnunterschiede im europäischen Wettbewerb zunutze zu machen". Der Ausnutzung von Arbeitsmigration durch Unternehmen werden damit rechtlich nur noch wenige Grenzen gesetzt, während zugleich die Möglichkeit zu Gegenmaßnahmen durch eine Einschränkung des gewerkschaftlichen Streikrechts beschnitten wird.
4. Ausblick: Perspektiven gewerkschaftlicher Migrationspolitik in Europa Innerhalb der EU wird die Migration von Arbeitnehmer(inne)n von Ost- nach Westeuropa auch in Zukunft weiter zunehmen. Insbesondere in Deutschland dürfte der endgültige Wegfall der Übergangsregelungen zum 1. Mai 2011 einen weiteren Migrationsschub auslösen. Zwar ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der Ost-West-Migration auch künftig nicht davon auszugehen, dass es hierdurch gesamtwirtschaftlich zu negativen Entwicklungen fiir die Beschäftigung oder das allgemeine Lohn- und Sozialniveau in den betroffenen Zuwanderungsländern kommen wird. Zugleich werden Unternehmen vor allem in arbeitsintensiven Dienstleistungsbranchenjedoch auch künftig versuchen, das transnationale Lohngefälle in Europa auszunutzen und mit dem Einsatz von Migrant(inn)en etablierte Arbeitsund Sozialstandards zu unterlaufen. Nachdem die Abschottung der Arbeitsmärkte, die bereits in der Vergangenheit zu eher ambivalenten Ergebnissen geführt hat, fiir die Gewerkschaften als Strategieoption endgültig wegfallt, bleiben zwei strategische Ansätze gewerkschaftlicher Migrationspolitik, die sich keineswegs widersprechen, sondern vielmehr in einem engen Komplementaritätsverhältnis zueinander stehen: Zum einen können die Gewerkschaften daraufhinwirken, dass die jeweils nationalen Systeme zur Regulierung des Arbeitsmarktes möglichst so umfassend und weitreichend ausgebaut sind, dass sie auch die Arbeitsverhältnisse von Migrant(inn)en erfassen. Dies gilt im besonderen Maße fiir die Regulierung des Niedriglohnsektors. Für Deutschland steht mit dem Wegfall der Übergangsregelungen einmal mehr die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf der Tagesordnung, da ansonsten in vielen Branchen gerade fiir Migrant(inn)en keine verbindlichen Lohnuntergrenzen existieren. Darüber hinaus geht es fiir die Gewerkschaften vor allem darum, die Reichweite und Wirksamkeit tarifvertraglicher Regelungen zu erhöhen, wie dies etwa in Norwegen oder der Schweiz bereits realisiert wurde, wo im Hinblick
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auf die starke Präsenz von Migrant(inn)en in einigen Branchen dieAllgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge durchgesetzt werden konnte. Der zweite strategische Ansatz besteht in der Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht. So bilden gewerkschaftliche Präsenz und Durchsetzungsfahigkeit immer noch die größte Gewähr dafür, dass Lohndumping durch die Beschäftigung von Migrant(inn)en verhindert wird und letztere die gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen erhalten, wie ihre einheimischen Kolleg(inn)en (vgl. Lilliel Greer 2007). In den letzten Jahren haben die Gewerkschaften in vielen europäischen Ländern neue Ansätze entwickelt, um sich der spezifischen Probleme von Migrant(inn)en anzunehmen und diese durch gezielte Organizing-Projekte für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu gewinnen. Hierzu gehört auch die gezielte Kooperation mit den Gewerkschaften aus den Heimatländern der Migrant(inn)en (vgl. HardylFitzgerald 2010). Die zentrale politische Aufgabe der Gewerkschaften besteht darüber hinaus weiterhin darin, deutlich zu machen, dass es sich bei den Fällen von Lohn- und Sozialdumping durch den Einsatz von Migrant(inn)en nicht um ein Problem der Herkunft, Ethnie oder Zuwanderung handelt, sondern - wie es der Vorsitzende der größten britischen Gewerkschaft Unite, Derek Simpson, anlässlich des LindseyKonfliktes noch einmal deutlich ausgedrückt hat - um eine ,,Klassenfrage" (siehe Milne 2009, S. 10). Gegen die Ausnutzung von Migrant{inn)en durch Unternehmen stehen die Gewerkschaften deshalb für eine vollständige Gleichbehandlung von einheimischen und ausländischen Arbeimehmer(inne)n nach dem grundlegenden Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort". Der Durchsetzung dieses Prinzips sind jedoch durch die Politik der EU und die Urteile des Europäischen Gerichtshofes in den letzten Jahren immer stärkere Grenzen gesetzt worden. Nationale Arbeitsvorgaben, die über bestimmte Mindeststandards hinausgehen, werden immer öfter als unzulässige Barrieren gegen die europäischen Marktfreiheiten gewertet. Vor diesem Hintergrund sind die Gewerkschaften auch auf europäischer Ebene gefordert, Strategien zu entwickeln, die die Regulierungsspielräume auf den nationalen Arbeitrnärkten wieder vergrößern und die territoriale Integrität des nationalen Arbeitsrechts sicherstellen. Im Rahmen des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) werden hierzu derzeit vor allem zwei Ansätze diskutiert. Zum einen hat der EGB (2008) vorgeschlagen, in den EU-Vertrag ein "Protokoll zum Sozialen Fortschritt" einzufügen, das grundsätzlich klarstellen soll, dass den ökonomischen Grundfreiheiten kein Vorrang vor den sozialen Grundrechten der Arbeimehmer(innen) eingeräumt werden darf. Allerdings ist eine hierfür notwendige Änderung des europäischen Primärrechts derzeit äußerst unwahrscheinlich, zumal nach langjähriger politischer Auseinandersetzung
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mit dem Vertrag von Lissabon gerade erst ein neuer politischer Kompromiss über die grundsätzliche Verfasstheit der EU festgeschrieben wurde. Kaum weniger politisch anspruchsvoll ist der zweite sekundärrechtliche Ansatz des EGB (201 Oa und 201 Ob), der auf eine Revision der Europäischen Entsenderichtlinie zielt. Hierbei geht es wiederum vor allem um die Klarstellung, dass es sich bei den in dieser Richtlinie definierten Möglichkeiten zur Regulierung der Arbeitsbedingungen von Entsendearbeitnehmer(inne)n lediglich um Mindestbestimmungen handelt und es den einzelnen EU-Mitgliedstaaten freistehen soll, weiterreichende Vorgaben zu machen. Immerhin steht die Auseinandersetzung um die Entsenderichtlinie mittlerweile auch offiziell auf der politischen Agenda der EU, nachdem die Europäische Kommission eine neue rechtliche Initiative zu ihrer Interpretation und Umsetzung angekündigt hat (vgl. Andor 2010). Den Hintergrund hierfiir bildet der massive Vertrauens- und Legitimationsverlust, den die EU im Zuge der jüngsten EuGH-Urteile insbesondere bei Arbeitnehmer(inne)n erlitten hat und der dazu beigetragen hat, dass das gesamte Projekt des Europäischen Binnenmarktes heute "less popular than ever" ist (siehe Monti 2010, S. 20). Nicht zuletzt an der sozialen Bewältigung der Migrationsfrage dürfte sich mitentscheiden, ob der Legitimationsverlust noch stärker als bisher in offen antieuropäische und nationalistische Stimmungen umschlägt. Umgekehrt liegt in der progressiven Politisierung dieses Legitimationsverlustes auch eine Chance fiir die Gewerkschaften, ihren Vorschlägen auf europäischer Ebene stärker Gehör zu verschaffen. Die dabei zugrunde liegende Maxime des "gleichen Lohns fiir gleiche Arbeit am gleichen Ort" kann sich dabei nicht zuletzt auch auf das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit selbst berufen, zu dem laut EU-Vertrag (Artikel 45, Absatz 2) "die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen" gehört.
Literatur Andor, Läszl6 (2010): Moving forward on the Posting ofWorkers Directive, Rede auf der "Conference on Posting ofWorkers and Labour Rights" am 17. März in Oviedo/Spanien; http://europa.euJrapidipressReleasesAction.do?reference=SPEECH/1 Oll OO&type=HTML (1.10.2010)
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Migration und Entwicklung. Eine Neuorientierung der EU im 21. Jahrhundert? UweHunger
1. Einleitung Über Jahrzehnte galt die allgemeine Lehrmeinung, dass die Migration von hoch Qualifizierten aus Entwicklungs- in Industrieländer negative Folgen für Entwicklungsländer hat (Brain Drain). Im Bereich der Entwicklungstheorien galt dies sowohl für Dependenztheorien (vgl. Senghaas 1974) als auch für Modemisierungstheorien (vgl. Rostow 1960). Aus der Sicht der Dependenztheorien war Brain Drain eine von den Industrieländern verfolgte Strategie, um die Abhängigkeit der Entwicklungsländer aufrechtzuerhalten. Liberale Einwanderungsbestimmungen für hoch qualifizierte Migranten hätten die Auswanderung von Eliten aus Entwicklungsländern beschleunigt und den Verlust entscheidender Ressourcen für die Entwicklung der Länder der Dritten Welt bedeutet. Dependenztheoretiker wie Galeano (1988) sprachen in diesem Zusammenhang von einem "Ausbluten" der Entwicklungsländer und plädierten für eine Einschränkung dieser Migration, z.B. durch die Einführung von Steuern, die von Industrieländern zur Kompensation der Ausbildungskosten an Entwicklungsländer gezahlt werden sollten (vgl. auch Bhagwati 1976 und 1983). Anhänger der Modemisierungstheorie, die stets die positiven Effekte des Freihandels und freien Kapitalverkehrs zwischen Industrie- und Entwicklungsländern betonten (vgl. KaiserIWagner 1991, S. 335 ff.), betrachteten die Migration aus Entwicklungsländern ebenfalls als negativ, und zwar in erster Linie im Sinne eines Verlustes von Humankapital, der einen negativen Einfluss auf die sozioökonomische Entwicklung der Dritten Welt hatte. Durch die Abwanderung der besten Köpfe würden wichtige Ressourcen für den Aufbau der Entwicklungsländer fehlen. Anders als die Dependenztheorie sahen sie die Gründe nicht in Weltmarktstrukturen, sondern bei den Entwicklungsländern selbst. Als Gegenmaßnahme schlugen sie daher vermehrte Investitionen in das Bildungs- und Wissensehaftssystem der Entwicklungsländer vor, um die hoch qualifizierten Eliten im Entwicklungsland zu halten.
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Diskussion um den Zusammenhang von Migration und Entwicklung einen anderen Verlauf genommen. Es wird nicht mehr so einseitig davon ausgegangen, dass sich diese Form der Wanderung nur negativ auf die Entwicklungsländer auswirkt. Bereits in den 1970er-Jahren hatte dies der schweizerische Migrationsforscher Paul Ladame angemahnt. Er betrachtete den Brain Drain aus Entwicklungsländern damals nicht als Endstufe eines Migrationsprozesses, der den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang von Entwicklungsländern verschärfte, sondern als eine Zwischenphase innerhalb eines längerfristigen Prozesses, der die Möglichkeit eines positiven Effekts bei Rückwanderung der Eliten in ihre Heimatländer einschloss. Außer der bekannten Auswanderung von Eliten aus Entwicklungs- in Industrieländer (Brain Drain) sei auch die umgekehrte Wanderungsbewegung langfristig möglich, von der dann auch die Entwicklungsländer profitieren würden (Brain Gain). In diesem Zusammenhang prägte Ladame den Begriff der circulation des elites, der sich heute unter dem englischen Begriff Brain Circulation weitgehend etabliert hat (vgl. HillmannJRudolph 1996). Jahrzehntelang blieb die Theorie von Ladame sowohl von Entwicklungs- als auch Migrationsforschern weitgehend unberücksichtigt. Brain Drain blieb das wissenschaftliche Hauptkonzept, das Arbeiten im Bereich der Entwicklungs- und Migrationstheorie sowie -politik beeinflusste (vgl. Körner 1999). Erst dreißig Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wiesen neue Studien daraufhin, dass diese Form der Migration auch positive Effekte fiir die Entwicklungsländer bereithalten kann - also die Umkehrung des Brain Drain in einen Brain Gain tatsächlich möglich scheint. Auslöser hierfiir waren vor allem Meldungen der Weltbank, dass die Rücküberweisungen von Migranten die öffentlichen Entwicklungshilfegelder weltweit bereits (deutlich) überschritten hätten - im Jahr 2007 waren die (offiziellen) Rücküberweisungen von Migranten in ihre Heimatländer mehr als doppelt so hoch (vgl. United Nations Development Programme 2009). Zudem zeigen neuere Studien, dass über den Aufuau von sozialen Netzwerken, etwa im Wissenschaftsbereich, die von emigrierten Wissenschaftlern zur Unterstützung des wissenschaftlichen Austausches zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland aufgebaut wurden, Technologie- und Wissenstransfers stattfinden (fiir erfolgreiche Beispiele solcher Vernetzungen und deren positive Effekte fiir Entwicklungsländer vgl. Gaillard/Gaillard 1997; Brown 2000; Meyer 2001). Schließlich wurde auch beobachtet, dass einst ausgewanderte Eliten aus Entwicklungsländern in den letzten Jahren tatsächlich wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind (wie dies Ladame vorausgesagt hatte) und beim Aufuau ihres Herkunftslandes eine wichtige Rolle spielen. Dieser Aufsatz will versuchen, die neuen Entwicklungen fiir verschiedene Entwicklungsregionen in der Welt nachzuzeichnen und die Frage zu beantworten,
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wie Europa, speziell die Europäische Union, auf die neuen Entwicklungen reagiert. Kann eine Neuorientierung in Bezug auf das Verhältnis von Migration und Entwicklung in Europa festgestellt werden? Bisher herrschte vor allem eine negative Einstellung gegenüber dieser Form von Elitenmigration vor. Brain Drain sollte vermieden und Entwicklung mithilfe von Kapital- und Personaltransfers aus dem Westen vorangetrieben werden. Hierzu wird zunächst auf zentrale Entwicklungen in anderen Entwicklungsregionen hingewiesen, wo sich das neue Paradigma einer Brain-Gain-Perspektive durchsetzt. Idealtypisch konnte man diesen Prozess zunächst in Asien, und hier insbesondere in Indien, beobachten.
2. Die idealtypische Entwicklung vom Brain Drain zum Brain Gain in Asien So ist etwa der Aufschwung der indischen IT-Wirtschaft, der in Deutschland im Zuge der Anwerbung von indischen IT-Spezialisten zu Beginn des 21. Jahrhunderts Aufinerksamkeit erregte (vgl. HungerlKolb 2003), eng mit der Rückwanderung von indischen Migranten und der Rückübertragung ihres Kapitals, Know-hows und ihrer Kontakte aus dem Ausland nach Indien verbunden. Empirische Studien zum indischen Wirtschaftsaufschwung haben mehrfach gezeigt, dass der indische Aufschwung sehr stark mit der Rückwanderung von ehemals ausgewanderten Experten zusammenhängt (vgl. Saxenian 2001 und 2002; Fromhold-Eisebith 2002). So haben etwa meine eigenen Untersuchungen mit indischen IT-Unternehmern in den USA und Rückkehrern nach Indien sowie Recherchen zu indischen ITUnternehmen bzgl. des Anteils von remigrierten Indem und ihres Beitrags an der indischen (Wirtschafts )entwicklung die Annahme unterstützt, dass insbesondere indische IT-Spezialisten in den USA eine große Rolle beim Aufschwung Indiens gespielt haben. Von den zwanzig erfolgreichsten Softwareunternehrnen in Indien, die zusammen über 40 Prozent des Gesamtumsatzes der Branche erwirtschaften, wurden neunzehn unter Beteiligung von Indem gegründet bzw. gegenwärtig von ihnen geleitet, die einst in die USA ausgewandert waren und seit der Öffuung IndiensAnfang der 1990er-Jahre zurückgekehrt sind (vgl. Hunger 2004). Hierbei handelt es sich vor allem um Non-Resident Indians (NRI), die bereits sehr erfolgreich im US-amerikanischen IT-Sektor tätig waren und seit Anfang der 1990er-Jahre die wirtschaftlichen Vorteile des Technologiestandorts Indien nutzen. Auch in anderen Bereichen gibt es immer mehr Rückkehrer nach Indien. Besonders deutlich ist dies im indischen Biotechnologiesektor zu sehen, der mit einem jährlichen Wachstum von 13 Prozent bereits heute die am schnellsten wachsende Branche in Indien darstellt (vgl. Schaaf2005). Wie im IT-Sektor spielen auch hier
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ehemalige Auswanderer, Non-Resident Indians, die aus den USA zurückkehren, eine maßgebliche Rolle. Sie haben Biotechnologieunternehmen gegründet sowie Biotechnologieparks undAusbildungseinrichtungen in großem Umfang mitfinanziert. Indien verfUgt hier wie im IT-Sektor über einen komparativen Wettbewerbsvorteil in Form einer großen Zahl gut ausgebildeter Fachkräfte, deren Lohnkosten vergleichsweise gering sind. Zusätzlich werden von der Regierung große Steuerund Handelserleichterungen gewährt. Selbst im Gesundheitssektor gibt es immer mehr Rückkehrer, seit sich in Indien die Rahmenbedingungen verbessert haben. Indische Ärzte, die in den USA oder Großbritannien erfolgreich waren, kehren nach Indien zurück und gründen Kliniken bzw. kooperieren mit ihnen. Dabei bringen sie nicht selten ihre Kunden (Patienten) aus dem Ausland mit. Diese Entwicklung hat dazu gefUhrt, dass hoch qualifizierte Inder heute nicht mehr automatisch ins Ausland gehen, um einen guten Job zu erhalten, sondern sich zunehmend dafür entscheiden, in Indien zu bleiben. Diese Entwicklung trägt dazu bei, dass die ursprünglich einseitige Interpretation der Auswanderung aus Indien als Brain Drain infrage gestellt wurde. Es stellt sich sogar die Frage, ob die positive Entwicklung Indiens vom Entwicklungsland zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt ohne die vorausgehende Auswanderung der Eliten und ihrer erfolgreichen Etablierung im Ausland (vor allem in den USA) überhaupt möglich gewesen wäre. Denn der Einfluss der NRIs beschränkt sich nicht nur darauf, dass sie als Unternehmer nach Indien zurückgekommen sind, um von den neuen Liberalisierungen und Produktionsmöglichkeiten zu profitierten. Sie haben für die nötigen Absatzwege der indischen Softwareprodukte in den USA und in aller Welt gesorgt und Investitionen von ausländischen Unternehmen nach Indien gelenkt. Die NRIs haben zudem Einfluss darauf genommen, dass die rechtlichen und ökonomischen Strukturen in Indien modernisiert wurden und sich an den Standards der westlichen Welt orientieren. Dabei beschränkt sich der Einfluss der NRIs nicht nur auf den IT-Bereich, sondern erfasst beinahe jede ökonomische Branche und einen breiten gesellschaftlichen Bereich. So ist die Orientierung am westlichen Lebensstil gerade in den indischen Boomzentren groß und fUhrt zunehmend auch zum Aufbrechen der Kastenstruktur in Indien. Auch der Erziehungsstil und die Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft werden mehr und mehr von westlichen Vorstellungen geprägt. In Indien setzt sich damit insgesamt die Ansicht durch, den einstigen Brain Drain in einen Brain Gain verwandelt zu haben. Als Konsequenz daraus hat die indische Politik damit begonnen, ihre Auslandspopulation (die sie als "Diaspora" bezeichnet) systematisch zu erfassen und auszuloten, wie Auslandsinder für die Entwicklung Indiens weiter nutzbar gemacht werden können. Zu diesem Zweck werden weltweit regionale Verbindungs-
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büros eingerichtet, um von dort aus Kontakt zu Indem und indischen Organisationen aufnehmen zu können. In Indien selbst wurde 2004 ein eigenes Ministerium gegründet. Potenziellen Rückkehrern werden dabei attraktive Angebote gemacht, u.a. erhebliche Steuer- und Importerleichterungen. Inder, die nicht an einer Rückkehr interessiert sind, sollen an Indien gebunden werden, indem sie mittels spezieller NRI-Cards vereinfacht nach Indien ein- bzw. aus Indien ausreisen können. Darüber hinaus werden Kindern von Indem im Ausland spezielle Stipendien für ein Studium in Indien angeboten, um den Kontakt auch zur nächsten Generation nicht zu verlieren (ein Programm ist z.B. das Scholarship Pro gram for Diaspora Children). Einige Universitäten reservieren sogar eine gewisse Anzahl von Studienplätzen speziell für Kinder von NRI. Ähnliche Prozesse haben sich auch in China und Taiwan vollzogen (vgl. Saxenian 2002). Wie im indischen Fall entwickelten sich auch hier eine Zusammenarbeit und eine Vernetzung von chinesischen und taiwanesischen Migranten in den USA mit ihrem Herkunftsland. Analog zum indischen Beispiel wurden zahlreiche Netzwerke und Geschäftsbeziehungen zwischen chinesischen IT-Spezialisten und Unternehmern im Silicon Valley und den Sonderwirtschaftszonen in China aufgebaut. Über diese Netzwerke und die chinesischen Unternehmen im Silicon Valley werden neue Ideen und Innovationen ausgetauscht und wird Kapital aus beiden Ländern für gemeinsame Projekte zusammengebracht. Gerade in China wurde von Beginn an ganz gezielt auf "Stammes- und Clanstrukturen zwischen den Festlandchinesen und den Auslandschinesen" (siehe Knecht 2002, S. 13 ff.) gesetzt, um notwendige Investitionen aus dem Ausland nach China zu lenken. Es wird geschätzt, dass ca. 60-70 Prozent aller Auslandsinvestitionen in China von den Überseechinesen getätigt werden (vgl. Zhu 2007, S. 284 f.). Die Überseechinesen investieren aber nicht nur selbst in China, sondern sind (wie die Inder) auch an Investitionen von US-amerikanischen, europäischen und australischen Firmen beteiligt. Sie stellen mit ihren Sprachkenntnissen und mit ihren kulturellen Kenntnissen ein wichtiges Bindeglied zum chinesischen Markt dar.
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Tabelle 1: Ausländische Direktinvestitionen, Rücküberweisung China und Indien im Vergleich BSPproKopf Beginn der ökonomischen Reformen Jährliche Wachstumsrate BSP (1990-2000) Wirtschaftliche Stärke Ausländische Direktinvestitionen 1990 Ausländische Direktinvestitionen 1994 Beitrag der Diaspora an den ADIs
China 7.700 US-Dollar 1979 9,6% Verarbeitende Industrie 3,5 Milliarden 61 Milliarden 60-70 %
Indien 3.800 US-Dollar 1991 5,5% Dienstleistung 0,4 Milliarden 5,5 Milliarden < 10 %
Quellen: CIA. World Factbook 2007, Reserve Bank ofIndia; HuanglKhanna 2003. Zitiert nach: Zhu 2007, S. 284.
Nicht nur in Asien wurde die neue Idee der "Entwicklung durch Migration" (siehe Thränhardt 2005) aufgenommen. Auch (Entwicklungs)länder in anderen Weltregionen wurden (vor dem Hintergrund der asiatischen Erfahrungen) dazu animiert, gezielt ihre Auslandspopulationen für ihre Entwicklung einzusetzen. Diese Prozesse finden sich fast in allen Regionen der Welt. Eine besonders interessante Entwicklung spielt sich derzeit in Ostafrika ab. Interessanterweise sind hier wiederum Inder involviert.
3. Weitere Brain Gain-Ansätze in Afrika, Lateinamerika und im Nahen Osten Die Geschichte der indischen Migration nach Afrika und speziell nach Ostafrika geht viele Jahrhunderte zurück; erste Siedlungen von Indem an der ostafrikanisehen Küste werden von Historikern bis zu 2000 Jahre zurückdatiert (vgl. Bharati 1972, S. 159). Im Mittelalter kamen Inder vor allem als Geschäftsleute nach Afrika und ließen sich in vielen Handelsstädten Ostafrikas nieder (vgl. ebd., S. 159163). Während der Kolonialzeit in Indien und Afrika im 17.,18. und 19. Jahrhundert nahm die indische Migration nach Afrika weiter zu. Der Arbeitskräftemangel in vielen Regionen Afrikas (vor allem Süd- und Ostafrika) führte dazu, dass die Kolonialmacht Großbritannien Hunderttausende Inder zunächst als Sklaven und nach der Aufhebung der Sklaverei im 19. Jahrhundert als Vertragsarbeiter nach Afrika brachte, wo sie auf Zuckerplantagen und in Mienen arbeiteten (vgl. ebd., S. 159). In der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Vertragsarbeiter vor allem am Bau der Eisenbahnstrecke Mombasa - Nairobi - Kampala beteiligt. Einige dieser Inder kehrten im Laufe der Zeit wieder nach
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Indien zurück. Ein Großteil blieb jedoch in Afrika und etablierte sich zumeist im Handel. Heute gibt es in fast allen ost- und südafrikanischen Staaten indische Gemeinden. In fast allen Aufnahmeländern gehören die Inder zur Wirtschaftselite. Insbesondere die Inder in Ostafrika gelten als sehr wohlhabend. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gründeten sie viele Großunternehmen in fast allen Industriezweigen. Interessant ist im Kontext des Zusammenhangs von Migration und Entwicklung, dass die Inder in Ostafrika nicht nur insofern zur Entwicklung Ostafrikas beitragen, als dass sie als "Migranten" (die teilweise schon vor Jahrhunderten auf den Kontinent gekommen sind) zum wirtschaftlichen Erfolg Afrikas beigetragen haben, sondern dass Inder in Ostafrika selbst Rückkehrer sind, nachdem sie Jahrzehnte zuvor vertrieben worden waren. Einige Länder in Ostafrika können heute durch diese indischen Rückwanderer so etwas wie einen Brain Gain verzeichnen. Dies ist derzeit vor allem in Uganda der Fall, aus dem die Inder Anfang der 1970er-Jahre von dem damaligen Diktator ldi Amin brutal vertrieben worden waren. Amin regierte Uganda zwischen 1971 und 1979, nachdem er am 25. Januar 1971 gegen Präsident Milton Obote geputscht hatte. Während seiner Diktatur wurden mehr als 300.000 Menschen getötet und mehrere Hunderttausend Angehörige kleinerer ethnischer Minderheiten mussten vor den TodesschwadronenAmins ins Ausland fliehen. Besonders betroffen waren Inder, die bis zur Machtübernahme Amins die wirtschaftliche und intellektuelle Elite Ugandas darstellten. Sie wurden enteignet und mussten ihr komplettes Hab und Gut zurücklassen. Die Wirtschaft des Landes erlebte daraufhin einen rasanten Niedergang. Erst nach dem Sturz Amins konnten die vertriebenen Inder zurückkehren. Hierfiir wurde ein Gesetz erlassen, das den enteigneten Indem ihren Besitz zurückgab. Interessant ist, dass dies aufDruck internationaler Geldgeber Ugandas geschah, wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der African Development Bank sowie den Hauptgeberländern Schweden, Japan und Deutschland. Seither kehrten Tausende ugandische Inder nach Uganda zurück und stellen heute wieder die Wirtschaftselite ihres Landes dar. Die größten ugandischen Unternehmen, wie etwa die Madhvani Group, die Mehta Group, die Mukwano Group, die Dambe Group, die Crane Group, die IPS Group, die Rupareila Group und Roffings Holdings, gehören allesamt indischen Familien, die Anfang der 1970er-Jahre das Land verlassen mussten und später zurückgekehrt waren. Auch in anderen afrikanischen Staaten ist das neue Konzept des Brain Gain angekommen. Der jahrzehntelange Brain Drain in Afrika wird heute als eine Chance für die Entwicklung des Kontinents wahrgenommen. Überall auf dem Kontinent bilden sich derzeit Netzwerke und Kooperationen, um eine Zusammenarbeit mit der afrikanischen Diaspora zu initiieren bzw. zu intensivieren. Die Afrikani-
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sche Union (AU) etwa misst der Zusammenarbeit mit der Diaspora mittlerweile eine hohe Priorität bei. So wurde das Programm "Citizens for Africa" ins Leben gerufen, um die Diaspora politisch und wirtschaftlich stärker an der Entwicklung zu beteiligen. Es existiert mittlerweile eine Datenbank mit afrikanischen Experten in der Diaspora, es werden Konferenzen veranstaltet, wie zum Beispiel im Oktober 2006 in Paris mit dem Titel ,,Analysen, Perspektiven fiir eine bessere Teilnahme der Diaspora in der Entwicklung Afrikas". Beim "African Union Summit" in Maputo im Sommer 2003 wurde der Diaspora die Bedeutung einer "sixth region of Africa" zugeschrieben. In einem Positionspapier der AU wird gefordert, "to create mechanisms for the strengthening links between the countries of origin and African communities in the Diaspora" (siehe Afrikanische Union 2006, S. 10). Bei ihren Initiativen wird die AU auch von der Weltbank unterstützt. So wurde im September 2007 beschlossen, das Büro der AU in Washington D.C. bei ihrer Arbeit in Bezug auf die afrikanische Diaspora in Amerika (Nord- und Südamerika) finanziell zu unterstützen. Interessanterweise wurde eine der ersten Diaspora-Konferenzen (Conference of Intellectuals from Africa and the Diaspora, CIAD) 2006 in Brasilien durchgeführt, auf Anregung des brasilianischen Präsidenten Luiz Inäcio Lula da Silva. Hintergrund fiir die Entscheidung Lulas, diese Diaspora-Konferenz in Brasilien stattfinden zu lassen, ist die Tatsache, dass in Lateinamerika sehr viele afrikanischstärnmige Menschen leben. Allein in Brasilien sind laut dem Brazilian Institute ofGeography and Statistics gegenwärtig mehr als 75 Millionen Menschen afrikanischer Abstammung (vgl. The African Diaspora Gathers in Salvador, Bahia, Brazil2006). Die meisten von ihnen sind Nachfahren der nach Lateinamerika verschleppten Sklaven. An der Konferenz nahmen neben Lula und anderen hochrangigen brasilianischen Politikern zahlreiche afrikanische Präsidenten, Außenminister, hohe Vertreter der AU und Intellektuelle aus Afrika und der afrikanischen Diaspora in Brasilien teil. Mit der Ausrichtung der afrikanischen Diasporakonferenzen sollten die Beziehungen zwischen Brasilien und Afrika weiter vertieft werden. Die Führer der afrikanischen Staaten und der AU begrüßen das starke Interesse Brasiliens an Afrika. Der Präsident der AU, Alpha Oumar Konare, sagte laut einem Bericht der ,,Agenda Brasil" bei einem Treffen mit dem brasilianischen Außenminister Celso Amorim in Äthiopien: "It is no longer possible to imagine Africa's future without establishing partnerships with countries, such as Brazil, that face challenges similar to those fadng countries on the African continent. (We) propose cooperation projects to transfer Brazils experience in dealing with issues such as combating hunger to Africa" (siehe African and Brazil Get a Step Closer, Agenda Brasil 2005).
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Brasilien hat nicht nur seine afrikanischstämmige Bevölkerung entdeckt, um so etwas wie eine "Diaspora-Diplomatie" aufzubauen. Es gibt noch eine zweite, ganz ähnliche Entwicklung in Bezug auf die arabische Diaspora in Lateinamerika. Derzeit leben ca. 17 bis 20 Millionen Menschen arabischer Herkunft in Ländern Lateinamerikas (z.B. in Chile, Brasilien, Kolumbien, Paraguay, Venezuela und Argentinien), die überwiegend schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika leben. Die große Mehrheit von ihnen sind Nachkommen der seit den 1880er-Jahren aus dem Libanon, Syrien, Palästina und dem Irak nach Lateinamerika ausgewanderten christlichen Minderheiten, die vor der schlechten Behandlung durch das Osmanische Reich und der herrschenden Armut und Arbeitslosigkeit in der Region geflohen waren (vgl. Arab Rots Grow Deep in Brazil's Rich Melting Pot 2005). Die arabischstämmigen Einwanderer sind heute in den meisten lateinamerikanischen Staaten Teil der Elite und aus dem politischen, wirtschaftlichen, sozialen Leben ihrer Aufnahmeländer nicht mehr wegzudenken. Sie engagieren sich politisch, kulturell und sozial. Die arabische Küche und die arabische Musik sind in Ländern wie Argentinien, Venezuela, Kolumbien und EI Salvador weitverbreitet. In den meisten Ländern verfügen Mitglieder der arabischen Diaspora über einen großen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Aufgrund der Verbindungen und den Netzwerken der arabischen Brasilianer exportiert Brasilien gegenwärtig zahlreiche Güter in den Nahen Osten. Das Handeisvolumen zwischen Brasilien und den 22 Ländern der Arabischen Liga hat sich in den letzten Jahren um ein Vielfaches erhöht (vgl. Manzo 2006). Die in Sao Pao10 residierende Arab-Brazilian Chamber of Commerce betont die enorm wichtige Rolle der arabischen Brasilianer bei dem Zustandekommen von Geschäftsabkommen und Exportvereinbarungen zwischen Unternehmen in Brasilien und dem Nahen Osten (vgl. Karam 2007). So finden aufInitiative der brasilianisch-arabischen Handelskammer seit Mai 2005 regelmäßige Wirtschaftstreffen zwischen den Mitgliedstaaten der MERCOSUR (Mercado Comim deI Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) und den Mitgliedstaaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) statt. Der erste "Summit of South American-Arab Countries" wurde im Mai 2005 in Brasilien durchgeführt. Gleich beim ersten Gipfeltreffen im Mai 2005 wurde ein Rahmenabkommen über die Unterzeichnung eines "MERCOSUR-GCC Free Trade Agreement" unterzeichnet. Im Zuge dieser Entwicklung fand auch die erste Konferenz der arabischen Diaspora in Amerika statt. Organisator war das Center for Arab American Studies (CAAS) (Der Titel der Konferenz lautete: "MappingArab Diasporas International Conference 2006"). Ziel war es, "to contribute to a better public understanding of Arab experiences and concerns in the Americas, and to the promotion of a culture of justice, dignity, tolerance, and peace, for peoples
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of all racial, ethnic, religious, and cultural groups". Bei der Konferenz trafen Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler, Prominente, Aktivisten usw. zusammen, "to network, exchange ideas, and analyze the current as well as the historical experiences of displacement and exile" (siehe ebd.). Im Nahen Osten wurde das Potenzial der Diaspora für die Entwicklung der Region ebenso erkannt. Dies ist aktuell etwa im Irak, genauer im Nordirak, zu beobachten, der derzeit einen Boom erlebt, der - ähnlich wie in Indien - sehr stark von der Rückwanderung der ehemals ausgewanderten Eliten (zumeist Flüchtlingen) getragen wird. Seit dem Sturz Saddams sind Hunderttausende Kurden aus Nordamerika und Europa in den Nordirak zurückgekehrt. Sie nehmen dort Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Politik ein. Die kurdische Regionalregierung (KRG) hat von Beginn an Anstrengungen unternommen, die Region mithilfe der Auslandskurden zu entwickeln (vgl. KRG 2008a). In allen strategischen Entwicklungsprogrammen (vgl. etwa KRG, UK Representation 2008b) wird auf die Bedeutung der Diaspora für die Entwicklung der Region hingewiesen. Insbesondere für den Ausbau der hiesigen Infrastruktur, für die die Regionalregierung mehrere Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt hat (allein für die Stadt Suleymaniya waren es im Jahr 2006 ca. fiinfMilliarden US-Dollar), wurden kurdische Spezialisten aus Europa und den USA zurückgeholt und damit beauftragt, Masterpläne für den Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur der gesamten Region zu erstellen. Die KRG arbeitet dabei gezielt mit ihren Auslandsvertretungen zusammen, um im Ausland Akademiker, Diplomaten und Unternehmer kurdischer Abstammung ausfindig zu machen und zu einer Rückkehr zu bewegen (vgl. Scholler 2005). Den potenziellen Remigranten wird die Rückkehr durch verschiedene Angebote schmackhaft gemacht. Die Palette reicht von Steuerbefreiungen über weitere monetäre Anreize - z.B. müssen Rückkehrer nur zehn Prozent des marktüblichen Preises für Bebauungsflächen für Fabriken und BÜfoanlagen zahlen (vgl. MagnussonINoori 2005) - bis hin zur Einrichtung spezieller Schulen für Kinder von Rückkehrern aus Europa und den USA. Auch im Maghreb bzw. Nordafrika spielt das neue Paradigma von Migration und Entwicklung eine Rolle. So zeigt etwa die Studie "Return Migrants to the Maghreb" des Robert Schuman Center for Advanced Studies in Florenz aus dem Jahre 2007, dass Migration auch in vielen Ländern des Maghrebs zur Entwicklung der lokalen Wirtschaften beiträgt: Demnach bringen Rückkehrer Geld, Know-how und Kontakte mit zurück in die Heimat und unterstützen somit zahlreiche lokale Projekte. Allein die Rücküberweisungen der marokkanischen Diaspora nach Marokko waren 2001 sechsmal höher als die öffentlichen Entwicklungshilfegelder (vgl. de Baas 2008). Laut einer Studie von Gallina (2004) würden ohne die Rückflüsse
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und Investitionen der Migranten mindestens vier Prozent mehr Marokkaner unter der Armutsgrenze leben, das entspricht rund 1,2 Millionen Menschen (vgl. Gallina 2004, S. 14). Aufgrund der geografischen Nähe spielt dabei natürlich auch Europa eine wichtige Rolle. Die stärksten Migrationsströme aus dem Maghreb (und Afrika insgesamt) gehen nach Westeuropa. Was die Anerkennung, gezielte Förderung bzw. Nutzung des Brain-Gain-Potenzials angeht, tun sich die EU-Staaten derzeit jedoch vergleichsweise schwer.
4. Die unschlüssige Diaspora-Strategie der Europäischen Union So atmen fast alle EU-Programme in Bezug auf Migration und Entwicklung noch den Geist der eingangs beschriebenen ,,Anti-Brain-Drain-Doktrin". Zwar finden sich in fast allen Programmen der EU, die sich mit Migration befassen, Hinweise auf die Potenziale der Migration für die Entwicklung, doch sind sie meist so gemünzt, dass Entwicklung dazu beitragen soll, Migration insbesondere aus Afrika zu verhindern bzw. abzuschwächen: Migration bzw. Migranten sollen dabei helfen, ihre Herkunftsregionen zu entwickeln, um weitere Auswanderung von dort zu verhindern. Die wirtschaftlichen und politischen Potenziale, die die Migranten etwa bei der Erschließung neuer Märkte oder der Lösung politischer Probleme haben, werden so gut wie gar nicht thematisiert. Eine Ausnahme bildet vielleicht noch die Blue-Card-Initiative der EU-Kommission, mit der hoch Qualifizierte aus Drittstaaten in die EU zugelassen werden sollen. Allerdings ist dies an hohe Hürden gekoppelt, u.a. in Bezug auf Mindesteinkommen. Wie die Analyse der Beispiele aus anderen Weltregionen jedoch gezeigt hat, entstehen durch Migranten initiierte Entwicklungseffekte vor allem durch langfristige Migrations- und Integrationsprozesse, sodass von der Blue-Card-Initiative nur wenige entwicklungspolitische Effekte zu erwarten sind. Die skeptische europäische Haltung in Bezug auf Migration sieht man vor allem an der Partnerschaftspolitik der EU mit Afrika, die 1995 mit dem Barcelona-Prozess eingeleitet wurde. Ziel war und ist es seitdem, eine "buffer zone" einzurichten, "where immigration into the EU is managed from beyond the borders" (siehe Moritz 2007, S. 54). In diesem Rahmen soll eine Art Auffanglager in den wichtigsten Transitstaaten der afrikanischen Migration nach Europa, wie Libyen, Algerien, Marokko und Mauretanien, errichtet werden, um Flüchtlinge aus ganz Afrika abzufangen und ggf. ihre Asylanträge bereits dort aufzunehmen und zu bearbeiten. In diesem Zusammenhang sollen EU-Beamte schon in den Auffanglagern untersuchen, ob eine Person für einen Flüchtlingsstatus innerhalb der EU infrage kommt. Dies geht auf eine Idee des ehemaligen deutschen Innenministers
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Otto Schily zurück. Schily begründete den Vorschlag damit, dass die Flüchtlinge durch die Verlagerung der Asylanträge auf den afrikanischen Kontinent vor Menschenhändlern und Schleusern bewahrt werden (vgl. Schily 2004). Es sollte damit aber auch verhindert werden, dass Flüchtlinge unkontrolliert über das Mittelmeer nach Europa gelangen. Anfang 2008 wurde durch den EU-Kommissar für Entwicklung, Louis Michel, das erste Auffanglager, das sogenannte Zentrum für Migration, Information und Management (Cigem), in Bamako, der Hauptstadt Malis, eröffnet. Das Zentrum soll als erste Anlaufstation für Menschen aus MaU (und auch Restafrika) dienen, die nach Europa auswandern wollen. Sie sollen hier über die Folgen der illegalen Migration nach Europa unterrichtet werden und ihnen soll (nach Möglichkeit) eine Ausbildung angeboten werden, damit sie später legal in die EU einreisen können. Zudem sollen in Zusammenarbeit mit den Geldinstituten in Mali und in der EU die Überweisungen der malischen Diaspora in Europa (ca. 200.000 Menschen aus Mali leben in der EU) an ihre Familienmitglieder in Mali verbilligt werden. Das Projekt lässt sich die EU zwischen 2008 und 2011 insgesamt zehn Millionen Euro kosten. Vertreter malischer Migranten, die schon zuvor aus der EU abgeschoben wurden (z.B. die Organisation Association Malienne des Expulses) kritisieren das Projekt: "Es sei nur eine weitere Verstärkung der Grenzzäune Europas" (siehe BoleschlRaupp 2008). Auch europäische Wissenschaftler sehen das Projekt kritisch. Es sei ein (unfaires) Zusammenspiel zwischen ungleichen Partnern. ,,Auch wenn die EU nach einer erfolgreichen Ausbildung ( ... ) den ausreisewilligen Afrikanern Arbeitsplätze anbieten möchte, hängt das entscheidend vom Willen der Mitgliedstaaten ab" (siehe BoleschlRaupp 2008, S. 8). Dies kann laut Steffen Angenendt, Migrationsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, zu einer "Mogelpackung" werden, sollte es nicht bald legale Jobangebote aus den EU-Ländern geben (zitiert nach: BoleschlRaupp 2008). Die EU versucht dennoch, diese Strategie auszubauen. Dabei sollen Staaten in Afrika, die bereit sind, entsprechende Auffanglager einzurichten, mehr Entwicklungsgelder erhalten. Es gilt, so Torsten Moritz von der Friedrich-Ebert-Stiftung, der die EU-Politik in Bezug auf Afrika kritisiert, der gängige Ton: "We penalize countries who do not cooperate with us in migration questions by cutting development aid to them" (siehe Moritz 2007, S. 54). Darüber hinaus gibt es nur zaghafte Versuche, das neue Paradigma von Migration und Entwicklung in Europa fruchtbar zu machen. So hat die EU beispielsweise eine Initiative gestartet, die Kosten für Rücküberweisungen aus Mitgliedstaaten der EU in die Herkunftsländer der Migranten zu reduzieren (in extremen Fällen blieben bis zu 40 Prozent der Überweisungssumme bei den Banken; vgl.
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Brady 2008). Der französische Immigrationsminister Brice Hortefeux fordert in diesem Zusammenhang sogar die EU auf, eine internationale Bank für Überweisungen zu gründen, bei der Migranten Geld anlegen und zu günstigen Konditionen an Familienmitglieder und Freunde in ihren Herkunftsländern überweisen können. Die Rücküberweisungen sollen mit den Mitteln der EU-Entwicklungshilfe gefOrdert bzw. ergänzt werden. Auch bei der Vergabe von Entwicklungshilfegeldern von staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen sollen neuerdings Migrantenorganisationen aus den j eweiligen Regionen, für die die Entwicklungshilfe geleistet wird, stärker eingebunden werden. Zudem soll die Diaspora dazu ermutigt werden, mehr Investitionen in ihre Herkunftsländer zu tätigen und als Entrepreneur tätig zu werden (vgl. Vertovec 2007). Im Rahmen des neuen Kommunikationsportals Migration und Entwicklung der Europäischen Kommission vom September 2005 (vgl. EU-Portal 2007) sollen zudem Partnerschaften zwischen Mikrofinanzinstituten angestrebt werden, um Finanzierungen bzw. Kredite für Projekte zwischen Diasporaorganisationen und lokalen Organisationen in den Heimatländern zu fOrdern. Darüber hinaus soll die Beteiligung für die Diaspora bei Entwicklungsprozessen in ihren Herkunftsländern dadurch erleichtert werden, dass Datenbanken zur besseren Koordinierung der Aktivitäten der Diasporaorganisationen bereitgestellt werden sollen. Zudem sollen Jugendaustauschprogramme zwischen Afrika und Europa ins Leben gerufen werden, um eine bereits angesprochene Brain Circulation (also eine temporäre Migration zwischen Afrika und Europa) zu fOrdern. So soll die Integration in Europa, etwa durch die Anerkennung von afrikanischen Abschlüssen in Europa, und die anschließende Rückkehr nach Afrika, etwa durch die Übertragbarkeit von Renten, erleichtert werden. Damit reagiert die EU zwar einerseits auf die neuen Ergebnisse der Brain-Gain-Forschung in anderen Weltregionen, den entscheidenden Schritt zur Öffnung der Grenzen für Migranten, wie dies etwa die USA seit den 1960er-Jahren insbesondere für hoch Qualifizierte gemacht haben (vgl. hierzu auch HerrmanlHunger 2003), macht die EU andererseits nicht Die zurückhaltende Haltung der EU ist insofern überraschend, da Europa in seiner Geschichte selbst bereits Erfahrungen mit einem Brain Gain gemacht hat, und zwar sowohl in seiner älteren als auch in seiner jüngeren Geschichte (vgl. Bade 2000). Eines der jüngsten Beispiele hierfür ist Irland, das in den 1980er- und 1990er-Jahren einen Aufschwung erlebt hat, der durch Rückwanderungen verstärkt wurde. Noch bis in die 1980er-Jahre hinein galt Irland als klassisches Auswanderungsland, und zwar seit den großen Auswanderungswellen in die neue Welt im 19. Jahrhundert. Mit dem Wirtschaftsaufschwung in Irland seit Mitte der 1980erJahre setzte auch eine größere Rückwanderungswelle ein. Mit der IT-, Biotechnologie- und Pharmaziebranche setzte Irland auf drei Wachstumsbranchen, in denen
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viele Irish-Americans in den USA tätig waren. In dieser Zeit erschloss Irland neue Exportmärkte außerhalb Großbritanniens. Die USA wurden zum wichtigsten Exportland. Dabei spielte die bereits 1949 gegründete Industrial Development Authority (!DA) eine wichtige Rolle. Büros wurden in potenziellen Investorenländern eröffnet, besonders aber in den USA. Die !DA konzentrierte sich dabei vor allem auf die Sektoren IT, Medizintechnik" Pharmazie, Maschinenbau und Call Center. Heute ist die IT-Industrie - wie in Indien - das Symbol des irischen Wirtschaftsaufschwungs. Die großen Software-Firmen der Welt, wie Microsoft, illM, Amazon, Yahoo, Hewlett-Packard oder Compaq, sind in Irland aktiv. Zusätzlich haben irische Firmen wie Singularity, Mentec, Relate Software, Netforce und RIT sich zu bedeutenden IT-Unternehmen entwickelt. Im Jahre 2002 beschäftigte der irische IT-Sektor über 100.000 Menschen, von denen über 55.000 Arbeitnehmer ausländischer Firmen waren (ICT-Ireland 2002). Intel hat seit 1989 seine größte Manufacturing Base außerhalb der USA in Irland. Google hatte sein europäisches Headquarter in Irland angesiedelt. Ähnlich wie in Indien die Non-Resident Indians eine wichtige Rolle gespielt haben, ist in Irland die Rolle der Irish-Americans zentral. Von den ungefähr 1.000 multinationalen Firmen, die in Irland angesiedelt sind, kommen mehr als die Hälfte aus den USA. Auch bei den Umsturzprozessen in Osteuropa hat die Diaspora in vielen Fällen eine zentrale Rolle gespielt. Eines der bedeutendsten Beispiele fiir eine aktive Rolle der Diaspora in Europa in der post-sowjetischen Ära ist sicherlich die Ukraine. Sowohl die Orangene Revolution in der Ukraine als auch die Rosen-Revolution in Georgien wurden stark von der Diaspora beeinflusst. So ging der Umsturz in der Ukraine im Jahr 2005 auf das Engagement einer ukrainischen Diasporaorganisation in den USA zurück, die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Jahr 2004 entdeckte und öffentlich machte (das U.S.-Ukraine Foundation Election Project). Dies war der Auslöser fiir die Demonstrationen, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingingen und schließlich fiir die Neuwahlen und den Regierungswechsel verantwortlich waren (vgl. U.S.-Ukraine Foundation 2008). Auch nach der Revolution hat die jeweilige Diaspora in beiden Ländern eine wichtige Rolle beim wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbau der neuen demokratischen Regierung eingenommen. Auch in anderen Staaten Osteuropas - z.B. in Polen - war die Diaspora im Wiederautbauprozess wichtig. Durch die Osterweiterung der Europäischen Union sind zwischen 700.000 und zwei Millionen polnische Arbeitnehmer nach Westeuropa ausgewandert, vor allem junge, gut ausgebildete Polen zwischen 18 und 34 Jahren. Profitierten hiervon zunächst die Volkswirtschaften der Aufuahmeländer, allen voran Großbritannien, so profitiert mehr und mehr auch Polen selbst. Alleine
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im Jahre 2007 betrugen die Rücküberweisungen nach Polen vier Milliarden Euro, was 2,5 Prozent des BIP ausmachte. Zudem kehren immer mehr Polen wieder in ihre Heimat zurück. Bei einer Umfrage unter polnischen Arbeitern in Großbritannien gab mehr als die Hälfte an, in den nächsten Jahren wieder zurückkehren zu wollen (vgl. Ratajczyk 2007). Die polnische Regierung hat darauf reagiert und 2007 unter der rechtsliberalen Regierung von Donald Tusk verschiedene Rückkehrprograrnme initiiert, die Heimkehrern Steuererleichterungen und Hilfe bei der Gründung von Firmen bieten (zwei Jahre Befreiung von der Einkommenssteuer und den Beiträgen zur Arbeitsunfl:ihigkeitsversicherung). Zudem ist geplant, die Familienpolitik, den Arbeitsmarkt und den Immobilienmarkt besser an die Bedürfnisse der Rückkehrer anzupassen (vgl. Ratajczyk 2007). Die Rücküberweisungen haben in erster Linie einen Boom im Bausektor ausgelöst, der 2006 um zwölf Prozent gewachsen ist. Die Rücküberweisungen polnischer Arbeiter sind im europäischen Vergleich die höchsten, die ein EU-Beitrittsland jemals erhalten hat (vgl. Schrooten 2005). Umso überraschender ist es, dass innerhalb der EU so wenig Mut vorzufinden ist, neue Wege in der Migrations- und Entwicklungspolitik zu gehen.
5. Fazit Wie diese kurze Zusammenschau gezeigt hat, hat das neue Konzept des Brain Gain mittlerweile eine beachtliche Wegstrecke zurückgelegt und kann in vielen Weltregionen als etabliert angesehen werden. Vorreiter der modemen Brain-GainIdee waren China und Taiwan, wo bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren erste explizite Konzepte zur Entwicklung mithilfe von Auslandspopulationen ausgearbeitet und in die Praxis umgesetzt wurden. Dieses Konzept wurde von anderen südostasiatischen Staaten übernommen und schließlich von Indien perfektioniert. Dieses asiatische Modell wurde dann u.a. von afrikanischen Staaten adaptiert nicht zuletzt auf Druck der Weltbank und des IWF - und ist dort mittlerweile zu einem der wichtigsten Entwicklungskonzepte avanciert. Dieser Ansatz entfaltete auch in Lateinamerika seine Wirkung: Insbesondere Brasilien entwickelte eine "Diaspora-Diplomatie" - vor allem mit Blick auf die in Brasilien lebende afrikanische und arabische Diaspora. In Bezug auf ihre eigene Diaspora im Ausland scheinen lateinamerikanische Staaten vor allem auf Rücküberweisungen und weniger auf Rückkehr zu setzen. Auch im Nahen Osten erwies sich das Konzept des Brain Gain als überaus einflussreich. Im Nordirak vollzieht sich derzeit - ganz ähnlich wie in Indien - ein nahezu idealtypischer Übergang vom Brain Drain zum Brain Gain, der von der Öffentlichkeit jedoch kaum wahrgenommen und von den negativen Schlagzeilen im Irak überlagert wird. Wie gezeigt wurde, spielt das Kon-
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zept auch im Maghreb und in Europa mittletweile eine Rolle. Bemerkenswert ist hier allerdings die weiterhin unschlüssige Haltung der EU (im Gegensatz zu den Regierungen N ordamerikas und Australiens ), die Diaspora tatsächlich als Akteur zu nutzen, der Entwicklung zu befördern vermag. Migration wird in Europa noch immer hauptsächlich als Bedrohung wahrgenommen. Dabei bieten die intensiven Migrationsbeziehungen, die Europa zu anderen Erdteilen hat, auch wirtschaftliche und politische Chancen. Dies hat etwa die USA in den letzten Jahrzehnten bereits erfahren. So haben nicht nur Indien, China und Taiwan von der (Re)migration ihrer hoch Qualifizierten profitiert, sondern auch die USA selbst. Der IT-Boom Mitte der 1990er- bis Anfang der 2000er-Jahre wurde wesentlich von den Millionen hoch qualifizierten Zuwanderern aus eben diesen Ländern mitgetragen. Zusammenfassend zeichnen sich zwei wesentliche Voraussetzungen eines Brain Gains ab, von dem sowohl das Herkunfts- als auch das Aufnahmeland profitieren kann: Es handelt sich in der Regel (a) um einen langfristigen und (b) um einen freiwilligen Prozess. So haben die Migranten, die später produktiv in den Entwicklungsprozess ihres Herkunftslandes eingebunden wurden, in der Regel Jahre oder sogar Jahrzehnte im Ausland studiert, gearbeitet und sich dort eine Existenz aufgebaut, bevor sie (manchmal plötzlich und unetwartet) wieder mit ihrem Heimatland in Verbindung getreten sind und den Wiederaufuauprozess (teilweise auch den Friedensprozess) effektiv unterstützten. Dabei konnten sie auf Strukturen und Netzwerke zurückgreifen, die sie zuvor im Einwanderungsland aufgebaut hatten. In den meisten Fällen hatten sie dabei weder an eine Rückkehr noch an einen Rücktransfer ins Herkunftsland gedacht. Daher erscheint es sinnvoll, Programme zur Nutzung der Potenziale des Brain Gain langfristig anzulegen, d.h. auch langfristige Einwanderungsmöglichkeiten in Industrieländer zu eröflhen und die Migranten in ihrer Etablierung im Aufnahmeland zu unterstützen (wie dies z.B. in Schweden bei kurdischen Migranten der Fall war) bzw. ihnen dieselben Möglichkeiten zu eröflhen wie Einheimischen (etwa durch die Anerkennung von Berufsabschlüssen). Eher kurzfristig angelegte Programme, wie sie die EU favorisiert, die Brain Circula!ion favorisieren, bei denen hoch qualifizierte Migranten nur für eine befristete Zeit (z.B. fünf Jahre) in der Ersten Welt arbeiten dürfen, um anschließend wieder zurückgeschickt zu werden, sind mit Blick auf nachhaltige Brain-Gain-Prozesse für das Herkunftsland eher wenig attraktiv. Gleiches gilt auch für die sogenannten Rückfiihrungsprogramme, die häufig unter Bezugnahme auf Argumente der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eingefiihrt werden. Die besonders erfolgreichen Brain-Gain-Prozesse - wie etwa in Indien oder China - basierten zudem immer auf einem freiwilligen Engagement der Diaspo-
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ra, d.h. die Initiative ging in der Regel von den Migranten selbst aus. Programme, die die Initiative von Migranten künstlich, d.h. von außen bzw. "von oben", organisieren wollten bzw. eine erzwungene Rückführung vorsahen (wie etwa die EUProgramme in Bezug auf verschiedene Maghreb-Staaten), erwiesen sich unter entwicklungspolitischen Perspektiven als wenig erfolgreich (vgl. Portes u.a. 2005). Deswegen sollte sich die Entwicklungszusammenarbeit mit Migranten vor allem darauf konzentrieren, die bestehenden Interessen der Migranten an ihrem Heimatland aufzugreifen, diese zu verstärken und Möglichkeiten zu ihrer weiteren Entfaltung zu schaffen. Die Gründung des African Diaspora Policy Centers (ADPC) durch afrikanische Migranten in den Niederlanden scheint dagegen ein positives Beispiel zu sein, da hier die Initiative zur Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika von den Migranten selbst ausgeht. Europäische "Zwangsprogramme" scheinen dagegen wenig erfolgreich zu sein. Insgesamt deuten die Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Migration und Entwicklung verstärkt darauf hin, dass eine Strategie zur Stimulierung eines Brain Gain wesentlich größeren Erfolg fiir Entwicklungsländer verspricht als die alte Doktrin zur Vermeidung des Brain Drain, etwa durch die Einfiihrung einer sogenannten Brain-Drain-Steuer oder Auswanderungsverbote (wie etwa in Ägypten), die letztlich nicht langfristig durchsetzbar waren. Beispiele fiir einen möglichen Brain Gain - wie in Indien, China, Taiwan oder Uganda - können anderen Entwicklungsländern, die aktuell unter einem Brain Drain leiden, eine neue Perspektive aufzeigen: Nach der (unvermeidlichen) Abwanderung von hoch Qualifizierten und deren Etablierung im Industrieland kann mithilfe von entsprechenden Strukturverbesserungen und Rückkehr-Anreizen eine Rückwanderung der Eliten und/oder die Bildung transnationaler Netzwerke erreicht werden, von der letztlich sowohl das Aufnahme- als auch das Abgabeland profitieren. So erhalten gerade Entwicklungsländer, die einen starken Brain Drain verzeichnen, eine Perspektive, das Potenzial ihrer derzeit schwierigen Situation zu erkennen und gezielt zu nutzen. Europa sollte daher den Mut fiir eine echte Neuorientierung im 21. Jahrhundert aufbringen. Länder wie Indien und China werden sich zukünftig auch ohne Europa weiterentwickeln können. Europa wird letztendlich ohne die Zusammenarbeit mit Ländern wie Indien und China - mit ihren riesigen Märkten - auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfahig sein.
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Feminisierung von Migration Formen und Folgen weiblicher Wanderungsprozesse Susanne Spindler
1. Einleitung Ob von den Philippinen nach Hongkong, von Rumänien nach Deutschland oder von Ecuador oder Marokko nach Spanien - europäisch wie global zeigt sich das Phänomen, dass Frauen aus ärmeren Ländern migrieren, um durch die Erledigung ehemals unbezahlter Reproduktionsarbeit in anderen Haushalten Geld zu verdienen. Diese Frauen putzen, übernehmen die Kinderbetreuung, pflegen alte Menschen. Dadurch ruckt die Migration von Frauen zunehmend in den öffentlichen Blick. Als Trend geht es um ein globales Phänomen; im Rahmen europäischer Migrationen bzw. Migrationen nach Westeuropa zeigen sich jedoch spezifische Ausformungen. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise sind in den letzten Jahren Veränderungen des Bildes von Migrantinnen zu verzeichnen: So entstand der Begriff "Perle des Ostens" als Synonym für die migrantischen Hausarbeiterinnen aus Osteuropa. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Migrantinnen, die nach Europa kommen bzw. innereuropäisch migrieren, in der stark vergeschlechtlichten Sphäre der Hausarbeit eine Lücke füllen und ihre Arbeitskraft hier gern gesehen ist. Gerade die Arbeit in Haushalten organisieren Frauen oft in Formen temporärer Migration. Sie nutzen die Möglichkeiten der mit der EU-Osterweiterung veränderten Einreise- und Arbeitsbedingungen und halten sich dadurch zeitweise legalisiert in den Zielländern der Migration auf. Die Arbeit findet dennoch oft in unregulierten Verhältnissen statt, was Ausbeutung und Gewalt begünstigt. Die Möglichkeit, Geld mithilfe temporärer Migration zu verdienen, kommt jenen Migrierenden entgegen, die ihr Herkunftsland nicht für immer verlassen möchten, dort Kinder und weitere Familienbindungen haben und diese Situation auch nicht grundlegend verändern möchten - oder es pragmatischerweise einfach deshalb nicht tun, weil es die lllegalisierung nach sich zöge. Temporäre Migration, vor allem im Sinne zirkulärer Migration, passt sich aber auch in eine EU-Politik ein, die sich fast ausschließlich gegenüber dieser Form der Migration öffuet - dies wurde u. a. bei dem Beschluss des EU-Rates 2006 zur temG. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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porären Migration deutlich. Hier geht es um die Regulierung von Migration aus "Drittstaaten" in die EU. In ihrem Konzept zur zirkulären und temporären Migration weist die Kommission der Europäischen Gemeinschaften noch einmal deutlich auf ihr Interesse hin, indem sie ihren Auftrag klarstellt: Es sei" ... zu prüfen, wie sich legale Migrationsmöglichkeiten in die Politik der Union im Bereich der Außenbeziehungen eingliedern lassen, um hier zu einer ausgewogenen Partnerschaft mit Drittländern zu gelangen, die auf bestimmte Arbeitsmarktbedfufnisse von EU-Mitgliedstaaten abgestimmt ist; es wird nach Mitteln und Wegen gesucht, wie die zirkuläre und temporäre Migration erleichtert werden kann" (siehe Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007, S. 2). Temporäre/zirkuläre Migration soll somit vor allem der flexiblen und kurzfristigen Beseitigung eines Arbeitskräftedefizits dienen. Sie ist rur all jene ein Problem, die sich langfristig niederlassen möchten und an einer Arbeits- und Lebensperspektive interessiert sind. Mit dem Fokus aufFeminisierung von Migration zeigt sich, dass ,,neue" Formen der Migration - wie z.B. Pendelmigration - häufig von Frauen ausgeübt werden. Daneben existieren jedoch nach wie vor auch andere Formen der Migration. Ich möchte mich daher mit folgenden Fragen beschäftigen: Warum sprechen wir überhaupt von einer Feminisierung der Migration? Wer migriert wie und in welche Arbeitsbereiche? Wie verändern spezifische Formen von Migration Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbilder? Was ändert sich im Herkunfts- oder Zielland der Migration? Welchen Einfluss hat Migration auf Familien? Welche Bilder von Geschlecht und von Migrantinnen entwickeln sich? Wie verändern diese Bilder Lebensrealitäten? Nach einem Überblick über aktuelle Entwicklungen weiblicher Migrationen in und nach Europa und speziell in die Bundesrepublik möchte ich mit Blick auf die sogenannten haushaltsnahen Dienstleistungen die Folgen dieser Migrations- und Arbeitszusammenhänge beleuchten. Die Geschlechterbilder sowohl von Migrant(inn)en als auch von einheimischen Frauen und Männern stehen dabei im Mittelpunkt.
2. Feminisierung der Migration Im Jahr 2005 sind international fast die Hälfte aller Migrant(inn)en Frauen. Im Jahr 1960 hatten Frauen immerhin einen Anteil von ca. 47 Prozent an der Migration; also war schon vor 50 Jahren das Geschlechterverhältnis fast ausgeglichen. Zwar hat die Zahl von Migrierenden sich seither mehr als verdoppelt-laut UN-Bericht waren es 1960 weltweit ca. 75 Millionen Menschen, 2005 sind es 191 Millionen -, der Anteil von Frauen und Männern aber ist weitgehend konstant geblieben. Zu verzeichnen ist lediglich eine Zunahme von ca. drei Prozent der weiblichen Mi-
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grantinnen (vgl. UN 2006, S. 1 ff.). Dies kann als steigende Tendenz bezeichnet werden; von einer Trendwende zeugen diese Zahlen hingegen nicht. Wieso macht dennoch seit einigen Jahren das Schlagwort von einer Feminisierung der Migration die Runde? Zum einen ist es möglich, dass die tatsächliche Zahl migrierender Frauen die Zahlen der offiziellen Statistiken weit übersteigt. Ein wachsender Bedarf an weiblicher Arbeitskraft in bestimmten Sektoren wie dem Dienstleistungssektor, der Hausarbeit, Unterhaltungsindustrie und Prostitution lässt die Anzahl von Migrantinnen in Europa anwachsen. Migrationsforscher(inne)n, die sich auf offizielle Statistiken berufen bzw. diese erstellen, bleibt dieser Prozess oft verborgen, denn viele Frauen wandern iUegalisiert ein oder pendeln mit Touristenvisa und werden deshalb nicht statistisch erfasst (vgl. KoserlLutz 1998, S. 3). Des Weiteren aber bezeugt die Rede von einer Feminisierung der Migration eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Migrantische Frauen werden nicht mehr "nur" als Ehefrauen männlicher Migranten betrachtet, sondern rucken als eigenständige Biografinnen von Migration, als Arbeiterinnen, als Initiatorinnen von Familienwanderungen, als Protagonistinnen der Wanderungen in den Blick (vgl. Heck! Spindler 2004). Ich sehe dies vor allem in drei Feldern begründet: 11
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Die Änderung des Blickwinkels ist erstens der feministischen Migrationsforschung zu verdanken. Zweitens zeigt sich, dass Migrantinnen selbst ihre Belange thematisieren. Insgesamt könnten diese Prozesse als Zeichen gewertet werden, dass Migrantinnen einfordern, gehört zu werden, und das Bewusstsein spezifisch weiblicher Belange und Themen in der Migrationssituation steigt. Drittens gibt es eine erhöhte Nachfrage nach Frauen auf dem globalen Arbeitsmarkt, die nun auch als solche thematisiert wird. Dies könnte mit einer Zunahme von "feminisierten" Arbeitsverhältnissen zusammenhängen, die sich durch Prekarität auf allen Ebenen auszeichnen: Diese Tätigkeiten sind unterbezahlt, häufig ausbeuterisch, unsicher und arbeitsintensiv. Von den Beschäftigten wird ein hohes Maß an Flexibilität erwartet, und häufig basieren die Beschäftigungsverhältnisse auf Teilzeitarbeit - alles Tendenzen des Arbeitsmarktes, die Frauen schon sehr lange und bis heute kennen. Frauen werden bestimmte Fähigkeiten wie Geschicklichkeit zugeschrieben, die sie für bestimmte Sphären prädestinierten. Sowohl die Arbeiten in den Weltmarktfabriken als auch im Haushalt weisen solche Merkmale auf. Dies hat den Effekt, dass in diesen Bereichen die Lohnkosten besonders niedrig sind und schlechte Arbeitsbedingungen legitimiert werden (vgl. Dannecker 2008). Dem liegt erneut ein Bild von Frauen zugrunde, die stillschweigend die sich bietenden Arbeitsbedingungen ertragen, sodass die Arbeitgeber
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Susanne Streiks oder andere Formen des Widerstandes nicht fürchten müssen. Verschwiegen werden soll an dieser Stelle allerdings nicht die Tendenz, dass auch vermehrt Männer in solche Arbeitsprozesse eingespannt werden: "Erwerbsbiographische Abbrüche und Umbrüche, die für Frauen schon immer die Regel, für Männer aber die Ausnahme waren, werden jetzt zur gesellschaftlichen Norm, die ,Flexploitation' (Bourdieu) zum Normalarbeitsverhältnis." (Wichterich 2000, S. 20)
Insgesamt kristallisieren sich zahlreiche Gründe heraus, um von einer "feminisierten Migration" zu sprechen.
3. Differenzierungen verschiedener Migrationsformen, -zeiten und -muster Eine Differenzierung nach Zielländern ist für die Frage von Arbeitsmärkten, in die Migrant(inn)en einwandern, wichtig. Von Migrierten, die sich in Ländern des Südens aufhalten, waren 2005 ungefähr 39,8 Millionen weiblich (51 %). In den Hochlohnländem der OECD waren es 46,2 Millionen (51 %) und in den nicht zur OECD gehörenden Hochlohnländern 8,7 Millionen (40 %) (vgl. Kofinan/Raghuram 2009, S. 1). Welche Auswirkungen die Finanzkrise auf das internationale Migrationsgescheben und speziell auf die Migration von Frauen hat und haben wird, ist bislang nicht hinreichend untersucht. Brigitte Young stellte in ihrem Vortrag auf der Tagung "Care and Migration" an der Universität Frankfurt am Main (23.124.4.2009) fest, dass die Nachfrage nach Arbeitsmigrant(inn)en in Industrieländern abnehme und man zudem feststellen könne, dass die Rücküberweisungen von Migrant(inn)en allgemein zurückgehen. Berichten von Migrant(inn)en in Spanien zufolge sei es dort seit der Krise sehr viel schwieriger geworden, Arbeit zu finden, da nun auch die einheimische Bevölkerung in die Billiglohnarbeitsverhältnisse drängt. Möglich ist aber auch, dass die Krise einen stärkeren Migrationsdruck erzeugt, um noch irgendwie den Lebensunterhalt zu sichern. Differenziert werden müssen weiterhin die Migrationsmuster von Frauen, die sich ebenso unterscheiden wie die von Männern. Bezüglich der Herkunftsländer, der Migrationsweisen sowie der Aufenthaltsdauer zeigen sich vielfältige Formen: Es gibt befristete oder unbefristete Arbeitsmigration, das Studium kann Anlass zur Migration bzw. Grund des legalisierten Aufenthalts sein; Migration findet im Rahmen von Asyl- und Flüchtlingsprogrammen statt ebenso wie als Familienmigration in Form von Familiennachzug oder -gründung. Begleitende Familienmitglieder von Arbeitsmigrantinnen machen einen erheblichen Anteil an Migrantinnen aus. Viele Migrantinnen, die zunächst als Familienangehörige migrieren, gehören dennoch später der arbeitenden Bevölkerung an. Sie machen zwar einen
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großen Teil der arbeitenden Bevölkerung aus, haben aber oft Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt. Im Ausland geborene Frauen haben eine niedrigere Erwerbsquote, sowohl im Vergleich zu im Ausland geborenen Männern als auch zu im Inland geborenen Frauen (vgl. KofmanlRaghuram 2009, S. 3 f.). Oft sind keine eindeutigen Grenzen zwischen verschiedenen Migrationsformen zu ziehen: Die Übergänge zwischen formeller und informeller, legaler und illegaler, erzwungener und freiwilliger Migration sind fließend (vgl. Westpha12004, S. 1), was sehr stark auch mit politischen Situationen und Möglichkeiten in den Herkunfts- und Zielländern zusammenhängt. Neben klassischen Migrationsformen (Arbeitsmigration, Farniliennachzug, Fluchtmigration), die oft auch ineinander verwoben sind, etablieren sich zunehmend neue Formen, die als Transmigration bezeichnet werden. Die Migrationsbewegung verläuft dabei nicht geradlinig vom Herkunftsland ins Zielland der Migration, sondern in Form von Pendelbewegungen oder auch in Form eines Transitverhaltens, in dem von einem zum nächsten Land und weiter gewandert wird. Weltweit ist eine Zunahme von migrierenden Frauen in Form von temporärer, unabhängiger, nachfrageorientierter Migration zu beobachten. Frauen, die sich in jenen transmigrantischen Formen auf den Weg machen, nennt Maria S. Rerrich (2006) "cosmobile Frauen". Sie legen sich weder auf das Einheimisch-Sein noch auf das Zuwandern fest, können dabei illegalisiert sein oder (beispielsweise durch ein Touristenvisum) legalisiert, verbringen kürzere oder längere Zeit im Land. Im später vorgestellten Beispiel der Beschäftigung osteuropäischer Frauen in deutschen Haushalten wird diese Form der Migration näher ausgeführt werden.
4. Arbeitsmigration Ebenso heterogen wie die Migrationsmuster sind die Typen der Arbeitsmigration von Frauen. Während sich Politik und Medien auf deren Arbeit in der Sexindustrie konzentrieren, nimmt die Forschung verstärkt die Arbeit in Privathaushalten oder im Niedriglohn- und Dienstleistungssektor in den Blick (vgl. Shinozaki 2009, S. 72). Im weiteren Verlauf werde ich die sich hier ergebenden besonderen Problemstellungen noch aufgreifen. Frauen wandern auch als qualifizierte Arbeiterinnen mit der Absicht, diese Qualifikation umzusetzen, oder in dem Wissen, dass sie, wollen sie Geld verdienen, diese Qualifikation nicht einsetzen können. Um den Bereich hoch qualifizierter Frauen nicht außer Acht zu lassen und damit eine Ausblendung fortzuschreiben, möchte ich zunächst einige Linien skizzieren.
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4.1 Qualifikation und Migration Die Studie von Kofinan und Raghuram (2009, S. 3) zur Arbeitsmigration qualifizierter Frauen beklagt einen Mangel an Forschung und Daten zur Qualifikation von wandernden Männern und Frauen. In vielen EU-Ländern gibt es keine nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten, anders als in klassischen Einwanderungsländern wie den USA und Kanada. Geschlecht und Bildung beeinflussen gleichermaßen Migrationsprozesse und sind somit eng miteinander verknüpft: In vielen Ländern kann schon beim Zugang zu den Bildungssystemen Geschlechterdiskriminierung die weitere Bildungsbiografie negativ beeinflussen, sodass weniger Frauen als Männer berufliche Qualifikationen erwerben. Diese sind wiederum Voraussetzung für die Migration in jene Länder, deren Zuwanderungspolitik qualifizierte Arbeitskräfte bevorzugt. In den Zielländern der Migration erfahren alle Migrant(inn)en, vor allem aber weibliche, einen besonders hohen Grad an Dequalifikation (vgl. KofinanlRaghuram 2009, S. 6). Weiterhin zeigt sich, dass Frauen mit steigendem Bildungsniveau zunehmend Einfluss aufMigrationsentscheidungen der Familie gewinnen (vgl. Westphal2004, S. 3). Shinozaki (2009, S. 69 ff.) problematisiert den separierenden Diskurs, der in hoch und niedrig qualifizierte Migrant(inn)en trennt. Ebenso weist sie auf die in diesem Bereich zu beobachtende Vergeschlechtlichung hin: Geht es um Fachkräfte, wird das Label ,,hoch qualifiziert" mit dem Finanzbereich oder dem IT-Sektor verbunden, die männlich besetzt sind, nicht aber mit den Sektoren Bildung oder Wissenschaft, die sich durch weibliche Migration auszeichnen. Auch die damit verbundenen Fähigkeiten werden als weibliche Eigenschaften (u.a. sorgend, pädagogisch) interpretiert und als semiqualifiziert abgewertet. Inwiefern mitgebrachte Qualifikationen in der Arbeit eingesetzt werden können, steht wiederum auf einem anderen Blatt: Frauen erfahren einen besonders hohen Grad an Dequalifikation; vor allem in Südeuropa liegt dies wahrscheinlich an einem Arbeitskräftemangel in Niedriglohnsektoren, oft in Privathaushalten. Die Kehrseite dessen sind stark geschützte Arbeitsmarktsektoren für Qualifizierte und die fehlende Anerkennung von Qualifikationen, die außerhalb der EU erworben wurden (vgl. KofinanlRaghuram 2009, S. 6). Eine Studie der Europäischen Kommission zu vier europäischen Ländern (Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien) kommt zu dem Ergebnis, dass qualifizierte Migrant(inn)en, die in EU-Ländern leben, eine ungenügend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt darstellen. Der Weg der Anerkennung von Qualifikationen sei jedoch, so die Einschätzung der Studie, zu komplex, langwierig, teuer und entmutigend. Wurden die Frauen in Deutschland ausgebildet, so stehen sie vor der Hürde, dass die Bilder über sie als Migrantinnen stärker sind als ihre Fähigkeiten und ihre
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Bildung. So haben sie Schwierigkeiten, sich auch außerhalb der ihnen zugewiesenen Bereiche (z.B. in der Sozialen Arbeit) dauerhaft zu etablieren (vgl. Westpha12004, S. 3).
4.2 Sexarbeit und Frauenhandel In den 1990er-Jahren ließ sich eine gestiegene Beschäftigung von Frauen in der Sexindustrie beobachten; zu verzeichnen war auch ein Anstieg des Frauenhandels zur Prostitution (human trafficking), vor allem von Frauen aus Ost- und Südosteuropa. Sie ersetzten Migrationsbewegungen aus Lateinamerika und Asien in den Bereich der Prostitution. Schätzungen zufolge arbeiten in der EU zwischen 200.000 und 500.000 Frauen illegalisiert und teilweise unter Zwang als Sexarbeiterinnen. Kofinan und Raghuram (2009, S. 2) ziehen den Schluss, dass die gestiegene Zahl von Migrantinnen im Prostitutionsbereich mit der Globalisierung des Handels mit sexuellen Dienstleistungen zusammenhängt. Es ist ein lukratives Geschäft, das von einer wachsenden Nachfrage nach exotischen Prostituierten in den Zielländern in Gang gehalten wird. Die beiden Phänomene der Arbeitsmigration in den Sektoren der Prostitution und des Frauenhandels muss man deutlich voneinander abgrenzen. Die Zahlen tun dies jedoch nicht. Auch im öffentlichen Diskurs, vor allem in den Medien, werden beide Phänomene miteinander vermengt. Mit dem Stichwort Frauenhandel bezeichnet man nicht nur solche Formen, bei denen Migrantinnen unter Gewaltanwendung in Prostitution, Sexarbeit und in die Unterhaltungsindustrie gezwungen werden. Zusätzlich werden Heiratsmigrantinnnen oder undokumentierte Migrantinnen, die im Niedriglohnsektor, im Sexgeschäft sowie in privaten Haushalten tätig sind, im selben Atemzug genannt. Sie werden dabei implizit als Objekte mit Warencharakter definiert, die ge- und verkauft werden können. Es liegt aber auf der Hand, dass es für die Frauen eine völlig andere Bedeutung hat, ob sie sich entscheiden zu migrieren, um im Prostitutionssektor zu arbeiten, oder ob sie sowohl zur Migration als auch zur Prostitution gezwungen werden, evtL auch die Migration unter dem Vorzeichen falscher Versprechungen und Arbeitsaussichten antreten und wir es dann mit "Menschenhandel als neue Form der Sklaverei" (siehe Zierer 2007, S. 16) zu tun haben. Straßburger (2007) zeigt auf, inwiefern der Diskurs um ,,zwangsverheiratung" zwei Phänomene miteinander vermischt: die tatsächlich erzwungene Ehe mit der Ehe, die durch ein Arrangement zustande kommt. Sie stellt die arrangierten Ehen in ihrem gesellschaftlichen Kontext dar, wobei deutlich wird, dass sie auf dem freien Willen der Partnerin/des Partners beruht. Heiratsmigrantinnen sind also nicht zwangsläufig als gehandelte und ausgebeutete Frauen anzusehen, da sie
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die Entscheidung zur Eheschließung (auch als Fonn der Migration) in vielen Fällen bewusst getroffen haben. Zugleich werden der Einreise und Heirat von Frauen weniger Vorbehalte entgegengebracht, da man unterstellt, dass die Ehemänner für ihren Unterhalt aufkommen und die eingewanderten Ehefrauen keine gesellschaftlichen Kosten produzieren werden.
4.3 Fürsorgearbeit am Beispiel von Haushaltshilfen aus Osteuropa Die Beschäftigung von Migrant(inn)en und deren Verteilung aufWirtschaftszweige folgt verschiedenen Mustern. Eine signifikante Konzentration von Migrantinnen ist im Dienstleistungssektor, vor allem im Bereich personenbezogener und sozialer Dienstleistungen zu verzeichnen. Besonders stark konzentrieren sich Frauen in bestimmten Tätigkeitsbereichen wie Privathaushalten, Hotels, Restaurants. Saskia Sassen (1996) zeigt schon früh auf, dass Migrantinnen den Bedarf an Arbeitskräften vor allem in den entwerteten Produktions- und Dienstleistungssektoren abdecken. Diese zeichnen sich durch Marginalisierung und Flexibilität aus, die Betroffenen sind besonders stark Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt. Vor allem in Südeuropa, aber auch in Ländern des nördlichen Europas ist in den Privathaushalten seit den 1990er-Jahren der Bedarf an Arbeitskräften stark gestiegen (vgl. KofmanlRaghuram 2009, S. 2), die Beschäftigungsmöglichkeiten für Hausarbeiterinnen, auch als "Hausmädchen", ,,Hausangestellte" oder "Dienstmädchen" bezeichnet, haben sich vergrößert. Es ist davon auszugehen, dass der Bedarf an Arbeiterinnen im häuslichen, pflegerischen und betreuenden Sektor aus mehreren Gründen gestiegen ist: 11
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Reproduktionsarbeit liegt immer noch vorwiegend in Frauenhänden. Frauen suchen aufgrund der gestiegenen beruflichen Einbindung bei gleich gebliebener Reproduktionsbelastung nach neuen Lösungen. Auf dieses Ungleichgewicht in der Verteilung von Arbeit weist der Siebte Familienbericht für Deutschland an mehreren Stellen hin (vgl. Lutz 2009a, S. 60). Durch die Auslagerung der Reproduktionsarbeit verringern sich Spannungen in einem möglichen Konfliktfeld zwischen Männern und Frauen. Hinzu kommen gestiegene Anforderungen des Arbeitsmarktes an Flexibilität und Mobilität, die Betreuungszeiten erschweren (vgl. Lutz 2009a, S. 60). Die Versorgung durch die sozialen Systeme wird teurer; viele Bereiche sind nicht abgedeckt. Vor allem der Bereich der Pflege von Semor(inn)en ist gewachsen. Viele Haushalte können auch durch gestiegenes Einkommen die Hausarbeit von anderen erledigen lassen.
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Das Angebot der Hausarbeiterinnen ist recht groß und gut: Die "anderen Frauen" sind nicht immer, aber oft, migrantische Frauen, die sich ihrerseits durch Flexibilität, Zuverlässigkeit und Bezahlbarkeit (bis hin zur Ausbeutbarkeit) auszeichnen. Sie werden zur Ressource, um die Arbeitskraft von der Haushaltsarbeit freizusetzen, und übernehmen das gesamte Spektrum an reproduktiven Tätigkeiten: angefangen bei der Reinigung und Instandhaltung des Haushalts über die Kindererziehung bis hin zur Pflege der älteren Generation.
Gesicherte Zahlen über Dienstleistungen im Haushalt gibt es nicht. Wahrscheinlich ist, wie Helma Lutz (2009a, S. 61) vermutet, selbst die wissenschaftliche Untersuchung dieses Arbeitsbereichs im nicht-öffentlichen Bereich schwierig, weil sie mit dem Unbehagen möglicher Kontrolle belegt ist. NeuhauslIsfortlWeidner (2009, S. 9) halten es aufgrund einer Modellrechnung für realistisch, dass in der Bundesrepublik in ca. 100.000 Haushalten mittel- und osteuropäische Haushaltshilfen beschäftigt sind. Den Markt der Haushaltsdienstleistungen organisieren sowohl die Arbeitgeber(innen) als auch die Arbeitnehmer(innen) überwiegend informell. Nach der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 können Osteuropäer(innen) aufgrund der veränderten Einreise- und Arbeitsbedingungen legale Verdienstmöglichkeiten in Deutschland nutzen; allerdings ist Arbeitnehmerfreizügigkeit erst ab 2011 vorgesehen. Osteuropäer(innen) ernähren damit ihre Familien oder ermöglichen ihren Kindern eine gute Ausbildung. Seit dem 1. Januar 2005 ist es gesetzlich möglich, dass Aushilfen in Haushalten eingestellt werden, in denen eine als pflegebedürftig anerkannte Person lebt. Das Programm zur Vermittlung von Migrant(inn)en als Haushaltshilfe sieht vor, dass diese über das Arbeitsamt eingestellt werden und deren Tätigkeit vertraglich vereinbart wird. Im Programm vorgesehen sind Personen aus Polen, der Slowakei, aus Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien (also den EU-Beitrittsländern); sie genießen Personen-, nicht aber Arbeitnehmer(innen)freizügigkeit (vgl. Shinozaki 2009, S. 73 f.). Oft wird jedoch kein Vertrag abgeschlossen. Die Osteuropäer(innen) erhalten dadurch keine soziale Absicherung und arbeiten de facto illegal. Eine von Helma Lutz durchgeführte Studie verdeutlicht, dass weder die Arbeitnehmer(innen) noch die Arbeitgeber(innen) über Legalität oder Illegalität informiert sind und ein Mangel in der Beratungslage vorliegt (vgl. Lutz 2009a, S. 64). Die Tendenz, dass viele migrantische Frauen in diesem Sektor tätig sind, hat mehrere Gründe: Viele Frauen aus Osteuropa haben sich, bedingt durch hohe Arbeitslosigkeit und sehr niedrige Löhne in den Herkunftsländern, in diesem neuen Markt schnell etabliert. In dieser Situation nehmen die Frauen ihre Chance zur (oft zeitlich begrenzten) Migration wahr, um damit ihre Lebensverhältnisse und
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die ihrer Familie zu verbessern. Daher sind sie oft bereit, flexibel zu arbeiten, große Belastungen zu ertragen und sich anzupassen. Die Arbeit ist von einem niedrigen Status und bietet kaum Aufstiegschancen, was sie für viele Inländer(innen) wenig attraktiv macht, und auch Migrantinnen können in Bezug auf Statuserhalt oder -verbesserung nur wenig erhoffen. Verbessert werden vorrangig die finanzielle Situation sowie die Ausbildungschancen für die eigenen Kinder. Die bereits angesprochene, im Auftrag der Caritas erstellte Studie (Neuhaus/ IsfortlWeidner 2009) befasst sich mit mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfen, die inoffiziell oft auch Pflegetätigkeiten verrichten. 1 Neben Expert(inn)eninterviews mit Vermittlungsagenturen und ambulanten Pflegediensten steht eine Befragung von Arbeitgeber(inne)n im Zentrum der Studie. 154 Familien erklärten sich bereit, schriftlich über ihren Bedarf, ihre Hilfskräfte und ihre ErfahrungenAuskunft zu geben (vgl. ebd., S. 8). Zu den Ergebnissen: Für den Bereich des Haushaltes werden fast ausschließlich Frauen nachgefragt. Die Arbeiterinnen haben oft besondere Kenntnisse im pflegerischen Bereich; zudem wird ihnen Empathie zugeschrieben (vgl. ebd., S. 12). Die in den Haushalten beschäftigten Frauen kommen aus Polen, Rumänien, Ungarn, Tschechien, Bulgarien und der Ukraine. Oft arbeiten sie rund um die Uhr in der Pflegearbeit, denn hier ist der größte Bedarf festzustellen. Menschen mit körperlichen Einschränkungen sowie Demenz wird es dadurch ermöglicht, nicht in die Vollzeitpflege wechseln und damit auch ihr Heim nicht verlassen zu müssen (vgl. ebd., S. 10). Die Arbeiterinnen werden vorrangig privat entlohnt, entweder von den Pflegebedürftigen selbst oder von Angehörigen (vgl. ebd., S. 12). Einige kommen als "Haushaltshilfen" über Agenturen, die sie als selbstständige Pflegekräfte vermitteln, und gelten damit als legal. Für die Betreuerinnen werden mindestens 1300 Euro pro Monat fallig, Steuern müssen im Heimatland gezahlt werden, die Agenturen kassieren hohe Gebühren. Allerdings ist auch dies rechtlich nicht unproblematisch, da die Frauen nur als Haushaltshilfen und nicht als Pflegekräfte eingesetzt werden dürfen. 2 Ein großer Teil der Betreuerinnen arbeitet irregulär und kostet damit im Vergleich zu den über eine Agentur vermittelten Frauen nur die Hälfte. Die Mehrzahl der Befragten beschäftigen weiterhin Dienste einer ambulanten Pflegehilfe, die über die Krankenkassen abgerechnet werden können, sodass sich die verschiedenen Angebote ergänzen (vgl. ebd., S. 11).
Die Wohlfahrtsverbiinde sind an wissenschaftlichen Analysen zu diesen Themen sehr interessiert,
da diese Formen der Arbeit in Konkurrenz zu jenen Dienstleistungen treten, die traditionell von 2
den sozialen Diensten angeboten worden sind. Nach einem jüngeren Gerichtsurteil gilt der Einsatz in Form selbstständiger Pflegearbeit nun als illegal (vgl. Shinozaki 2009, S. 75).
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Die Befragten sind sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Agenturen und bescheinigen den Frauen einen hohen Grad an Verbindlichkeit. Die Studie bezeichnet die vorrangige Form der Migration als Transmigration bzw. Pendelmigration, da die Frauen zwar flexibel der Arbeit nachgehen, den Herkunftsort als Wohnort und Standort der eigenen Familie aber beibehalten (vgl. ebd., S. 33). Die Frauen bleiben drei Monate, gehen in Urlaub, werden vertreten oder wechseln sich im Dreimonatsrhythmus mit einer anderen Frau ab. Für die Dienstleistungen im Haushaltsbereich zeichnen sich seit einigen Jahren Tendenzen zu Pendelmigrationsformen ab, die sich mittlerweile als Muster verfestigt haben. Oft unterstützt durch ein gutes weibliches Netzwerk im Herkunftsland sowie durch die Familie, können die Frauen das Familieneinkommen sichern und zugleich durch kurze Aufenthalte der Gefahr rechtlicher Probleme ausweichen (vgl. Schwenken 2003, S. 28). "Anstatt in das Zielland einzuwandern und sich dort niederzulassen, lassen sich MigrantInnen ,in der Mobilität' nieder - sie bleiben mobil, so lange sie können, um ihre Lebensqualität zu Hause zu verbessern und zu erhalten. Migration wird so zum Lebensstil, zum Beruf; das Zuhause zu verlassen und fortzugehen wird paradoxerweise zu einer Strategie, um zuhause bleiben zu können, eine Alternative zur Emigration." (Morokvasic 2009, S. 43). Dafür nehmen die Frauen einen hohen Koordinierungsaufwand sowie emotionale Belastungen in Kauf. Das Leben und Arbeiten in globalen Fürsorgeketten (global care chains - ArHe Hochschild) verdeutlicht, dass sowohl die Migration als auch der spezifische Arbeitsbereich der Fürsorgearbeit von besonderen Belastungen gekennzeichnet ist. Die Haushalte unterstützen oft den Kontakt mit der Heimatfamilie der Frau etwa durch Bereitstellung von Internet oder Skype; ebenso trägt der Mobilfunk zu einer intensiven Verbindung in die Heimatländer bei. Oft werden zudem die Bindungen dann, wenn die Frauen in den Familien leben (live-in), sehr eng - das freundschaftliche Verhältnis verstärkt jedoch die Abhängigkeiten und die Möglichkeiten zur Entgrenzung von Arbeitszeiten und -bereichen (vgl. NeuhauslIsfortlWeidner 2009, S. 33 fI). Inwiefern sich im spezifischen Fall der Migration aus Osteuropa Migrationsprozesse nach Einsetzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit verändern, bleibt abzuwarten - es ist allerdings recht wahrscheinlich, dass Frauen dann vermehrt Wanderungen mit der gesamten Familie initiieren werden.
4.4 Bilder von Migrant(inn)en So vielfaltig die unterschiedlichen Migrationen und Frauen sind, so vielfältig sollten auch die Bilder von ihnen sein. Feministische Forschung und Migrationsforschung sehen die Heterogenität ebenso wie die Akteurinnenperspektive der Migrantinnen (vgl. Treibel201O, S. 151). Dennoch herrschen in der Öffentlichkeit
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Stereotype, die funktional sind: Migrantinnen als Frauen und als Nicht-Deutsche werden mit weiblichen Attributen wie Arbeitsamkeit, fleiß, Unterwürfigkeit belegt. Diese Bilder ermöglichen den Arbeitgeber(inne)n, die Löhne gering zu halten, und sie müssen wenig Widerstand fürchten. Als Frauen scheinen sie für soziale, pflegerische und haushälterische Tätigkeiten "qua Geburt" besonders gut geeignet. Vor allem aufgrund der Arbeit von Osteuropäerinnen in Haushalten hat sich in den letzten Jahren das Bild der "Perle des Ostens" verbreitet. Sie übernimmt im Haushalt die Fürsorgearbeit, wird zur helfenden Hand, der die Erlaubnis zuteil wird, bis ins Heiligste - den privaten Raum - vorzudringen. Vorbehalte gegenüber Fremden im privaten Raum müssen schwächer werden. Die Grenzen von Privatheit verschieben sich da, wo eine zunächst unvertraute Migrantin anderen Personen die Wäsche macht, deren Kinder betreut und deren Angehörige pflegt. Die im privaten Raum Beschäftigten müssen Vertrauen erwecken, und hier kommt eine Frau eher in Betracht als ein Mann: Sie wird als im Haushalt kompetent, ungefabrlich und zugleich vertrauenswürdig erachtet. Latenter Rassismus tritt, wie Birgit Geissler als Kommentatorin zum Thema "Care Debatten, Care Ökonomie, Transnationale Problemstellungen" im Rahmen der Tagung "Care and Migration" erklärt, gegenüber einem positiven Gendereindruck zurück. Dies zeigt einmal mehr die Hartnäckigkeit eines essenzialistischen Verständnisses von Geschlecht. Zugleich wird aber auch das von BridgetAnderson (2006, S. 47) beschriebene Machtverhältnis in der Hausarbeit zwischen Arbeitgeber(in) und Arbeitnehmerin wirksam: Die Hausarbeiterin ersetzt mit ihrer Arbeit nicht einfach den oder die Arbeitgeber(in), denn ihr obliegt eine andere Rolle und sie hat im Haushalt weder Macht noch Autorität. Die Erledigung der ",Schmutz'-Arbeit" (Anderson 2006, S. 46) ist ein Kennzeichen: Diese Arbeit ist durch zahlreiche Elemente der Erniedrigung charakterisiert. Anderson zeigt dies am Beispiel einer Hausarbeiterin, die jede Nacht um 0.30 Uhr den Hund ausführen und ihm danach den Hintern waschen muss. Die "Schmutzarbeit" ist ein Bestandteil der Erfahrung vieler Hausarbeiter(innen). Sie ist ein Kennzeichen für das Machtgefalle und erzeugt das Bild der unterlegenen Frau und Migrantin immer aufs Neue. Für migrierte Männer bieten sich diese für die Frauen beschriebenen Bilder nicht an. Doch auch sie arbeiten in vergeschlechtlichten Bereichen, die stark männlich belegt sind, wie beispielsweise die Arbeit auf Baustellen. Während migrantisehe Frauen die Heime reinhalten, reinigen migrantische Männer den öffentlichen Raum als Fensterreiniger oder Straßenkehrer. Die Öffentlichkeit solcher Arbeitsbereiche erschwert es den Männern, unentdeckt zu bleiben; damit sind sie erweiterten Formen der Repression ausgesetzt. Welche Auswirkungen diese Formen der Arbeit und des Lebens auf Geschlechterselbstbilder von Männern haben, ist noch
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ein Forschungsdesiderat. Folgt man der Theorie der hegemonialen Männlichkeit, so leuchtet ein, dass diese Konstellationen Konsequenzen für die Ausarbeitung einer männlichen Geschlechterordnung haben: In einer Hierarchie der Männlichkeiten wird der migrantische Mann auf einen unteren Platz verwiesen. Die Geschlechterverhältnisse von Männem und Frauen im Zielland der Arbeit sind ebenfalls von diesen Phänomenen berührt. Die Frau wird zur Arbeitgeberin (denn sie ist es, die Ersatz für die eigentlich ihr zugeschriebene Arbeit sucht). So bleibt die Sphäre des Haushaltes selbst in ihrer Abwesenheit weiblich konnotiert. Dass auch die Männer dafür verantwortlich sind, wird ausgeblendet. Diese profitieren aber mindestens ebenso wie die Frauen von den (migrantischen) Haushaltsarbeiterinnen, denn deren Arbeit ermöglicht es ihnen, die Trennung der vergeschlechtlichten Sphären privat - öffentlich so aufrechtzuerhalten wie bislang. Sie müssen weder mit einem Aufstand "ihrer" Frauen rechnen noch Fragen zur Vergeschlechtlichung und Ungleichverteilung von Belastungen durch Hausarbeit befürchten (vgl. Phizacklea 1998, S. 34).
5. Schlussbemerkungen Gerade die häusliche Sphäre, in der sich die Frauen aufhalten, unterliegt wenigen Kontrollen von staatlicher Seite. Hier ist aus verschiedenen Gründen zu vermuten, dass sowohl die Arbeit als auch die Migrationsformen kaum ordnungs staatlich sanktioniert werden: Zum einen trägt sicherlich der Haushalt selbst - als geschützte private Sphäre - zu weniger Kontrolle bei. Zum anderen haben sich hier Formen der Migration entwickelt, die der EU-Migrationspolitik durch ihre zeitliche Begrenzung entgegenkommen oder die vice versa die zeitliche Begrenzung zum Teil ihres Arbeitskonzepts und der Ausgestaltung der Migration machen. Die beschriebenen Migrationsformen ruHen im häuslichen Sektor Lücken des Arbeitsmarktes. Im Zuge verstärkter Debatten um den europäischen Sozialstaat eröffuet sich den Individuen eine Möglichkeit, Engpässe und Lücken im Bereich der Pflegearbeit mithilfe von günstigen migrantischen Arbeitskräften selbst zu lösen. Die Kritik an Qualität und Kosten von Pflegeeinrichtungen sind dabei ein wichtiges Argument, eine individuelle Lösung zu suchen. Damit werden einerseits wohlfahrtsstaatliche Aufgaben gleichsam privatisiert, andererseits die durch den Wandel der Familienformen "fehlende" Reproduktionsarbeit nun in Form von Dienstleistungsarbeit erledigt. Gerade im gesundheitlichen Bereich ist sich die EU der Problematik bewusst, wie das Grünbuch über Arbeitskräfte im Gesundheitswesen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008) zeigt. Unter den Stichworten "Mobilitätsmanagement der Arbeitskräfte innerhalb der
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EU" sowie "Globale Migration von Arbeitskräften" schlägt das Papier beispielsweise die Verbesserung der Information l.U1d des Austauschs über Arbeitskräftebedarfl.U1d -mangel zwischen den EU-Ländern vor. Insgesamt sieht das Papier den Migrationsbereich als eine der großen Herausforderungen: Die ,,zu- und Abwanderung der Beschäftigten des Gesl.U1dheitswesens in die l.U1d aus der EU; die l.U1gleiche Mobilität innerhalb der EU l.U1d insbesondere die Migration von Beschäftigten des Gesl.U1dheitswesen aus den ärmeren in reichere Länder innerhalb der EU sowie die Abwanderung von Fachkräften (brain drain) aus Drittländern" (siehe ebd., S. 4) werden als Themen genannt. Gesetzt wird stark auf zirkuläre l.U1d damit temporäre Migration. Begründet wird ihre Forderung vorrangig mit einem zu verhindernden brain drain (auch care drain genannt), das sich durch Zllllehmende Abwanderung von Fachkräften aus dem Gesl.U1dheits- l.U1d Pflegebereich ergibt. Informelle Pflegekräfte werden zwar zu Beginn in einer Grafik zu Arbeitskräften im Gesl.U1dheitswesen (vgl. ebd., S. 4) noch aufgezeigt, die Vorschläge der Kommission beziehen sie dann jedoch nicht mehr explizit ein. Die starke Beteiligllllg von 75 Prozent weiblicher Arbeitskräfte im gesamten Gesl.U1dheitsbereich (vgl. ebd., S. 6) ließe einen genderspezifischen Blick eigentlich notwendig werden, der jedoch hier nicht weiter expliziert wird. Die Globalisierung des Arbeitsmarktes zeigt, wie l.U1gebrochen sich die Geschlechterordnl.U1g darstellt: Frauen migrieren, wie beschrieben, im Rahmen der Fürsorgearbeit in frauenspezifische Arbeitsbereiche, Männer in männerspezifische. Die Erweiterung des Arbeitsmarktes durch die bislang vorwiegend reproduktive Sphäre, in der Hausarbeit nl.U1 zur bezahlten Arbeit wird, bleibt auch in dieser neuen Form der Organisation fest in Frauenhand. Ablesen lässt sich daran eine starke Differenzierung des Arbeitsmarktes in ,,männliche" l.U1d "weibliche" Arbeiten mit den dazu gehörigen Bildern l.U1d Eigenschaften. Dennoch: Ein sich herausbildender homo oeconomicus muss - vor allem aufgrund seiner Merkmale der Flexibilität - nl.U1 nicht mehr l.U1bedingt männlich sein. Auch wenn Männlichkeit keine VoraussetZllllg darstellt, so sind, wie feministische Analysen deutlich gemacht haben, geschlechterkonstituierende l.U1d -reproduzierende Prozesse dennoch in den Bedingllllgen des Arbeitsmarktes sowie in den Folgen der Migration von Männern l.U1d von Frauen wirksam (vgl. Lutz 2009b, S. 11 f.). Konstruktionen von Geschlecht werden in enger Verbindl.U1g zum biologischen Geschlecht gedacht. Die Lage ist oft gekennzeichnet durch den Versuch der Aufrechterhaltllllg von Geschlechterbildern auch auf Seiten der Akteure l.U1d Akteurinnen (vgl. Morokvasic 2009, S. 39 ff.), durch neue Abhängigkeiten von Frauen l.U1tereinander l.U1d durch Eingriffe in die Gefiihlslagen, wie sie beispielsweise transnationale Mutterschaften oder die enge Bindl.U1g an die "neuen Kinder" der Arbeitgeber(innen) mit sich bringen. Nichts-
von
M,,,.,.,,,hn,n
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destotrotz können emanzipatorische Potenziale der Migration für Frauen im Akt der Migration selbst liegen, in der Autonomie der Migration ebenso verzeichnet werden wie neue Möglichkeiten zur Veränderung alter Geschlechterverhältnisse.
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IV Festung Europa? Herausforderungen der Fluchtmigration
Wohin bewegt sich die europäische Einwanderungspolitik? Perspektiven nach dem Lissabon-Vertrag und dem StockholmProgramm Petra Bendel
1. Vergemeinschaftung des Politikfeldes Die Politik in den Bereichen Migration, Grenzkontrollen und Asyl wurde lange Zeit als eine der letzten Bastionen nationalstaatlicher Souveränität betrachtet. Seit zehn Jahren aber beobachten wir einen schrittweisen Prozess der Vergemeinschaftung auch dieses Politikfeldes, der mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam 1999 seinen Anfang nahm. Der Vertrag von Lissabon, in Kraft seit Dezember 2009, markiert eine weitere Zäsur bei der Verteilung von Kompetenzen. Dies gibt Anlass zu prüfen, was bislang erreicht wurde und welche Rahmenbedingungen mit dem EURefonnvemag für die künftige Entwicklung des Politikfeldes geschaffen wurden. Der Maastricht-Vemag von 1992 (in Kraft getreten 1993) hatte eine gesonderte, intergouvernementale, dritte Säule für den Bereich "Justiz und Inneres" geschaffen, in dem die Einwanderungspolitiken primär verankert waren. Seit den späten 1990er-Jahren verlagerten sich diese policies jedoch zusehends in den Kompetenzbereich der Europäischen Union und wurden damit zur Voraussetzung für eine dynamische Gesetzgebung: Der Amsterdamer Vertrag von 1997 (in Kraft 1999) erlaubte den Übergang von der dritten in die erste Säule (Art. 61-65). Mit dem Nizza-Vertrag (2000, in Kraft 2003) erhielt das Europäische Parlament dann Mitentscheidungsmöglichkeiten für Asylftagen und irreguläre Migration. Der nunmehr gültige Lissabon-Vertrag weitet in Artikel 78 und 79 die Kompetenzen der EU für einige Teile der Migrationspolitik aus, macht aber einen Souveränitätsvorbehalt dort geltend, wo es darum geht, "festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen" (Art. 79 (5). Analog gilt für die Integrationspolitik, dass die Bemühungen der Mitgliedstaaten um Integration von Drittstaatsangehörigen zwar unterstützt werden dürfen, jedoch "unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten" (Art. 79 (4». In diesen Bereichen sind daher die Mitgliedstaaten weiterhin dominant, während G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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die Europäische Union nur begrenzte Kompetenzen für eine weitere Vergemeinschafumg zumindest auf der juristisch bindenden Ebene erhält. EU-Politiken im Bereich "Justiz und Inneres" und damit auch in der Migrationspolitik werden durch FÜflfjahresprogramme festgelegt, die der Europäische Rat verabschiedet. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere im Jahr 1999 waren noch recht ambitioniert und in ihrer Stoßrichtung liberal und humanitär. Dies änderte sich nach den Anschlägen des 11. September 2001. Seither steuerte das Politikfeld auf eine stärkere "Versicherheitlichung" zu, die sich auch in dem Nachfolgeprogramm von Den Haag (2004-2009) widerspiegelte. Das neue Stockholm-Programm (2010-2015) unterstreicht den von der Europäischen Kommission seit 2005 propagierten Gesamtansatz oder Global Approach zur Migration (COMl2006/0735 final) und läutet eine neue, zweite Etappe bei der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems ein. Um dies zu erreichen, fOrdert es Konzepte wie das der zirkulären Migration sowie der Prävention irregulärer Migration und betont die Notwendigkeit einer Rückkehrförderung sowie die Entwicklung der externen Dimension der Einwanderung. Einer der kritischen Punkte ist die "Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten", mittels derer Ungleichgewichte zwischen den Staaten in Bezug auf die Außengrenzen und auf jene im Inneren ausgeglichen werden sollen (vgl. KietzlParkes 2009; AngenendtlParkes 2009). Insbesondere die sogenannte Quadro-Group (Zypern, Griechenland, Italien und Malta) hat wiederholt um einen Ausgleich dafür gebeten, dass sie eine vergleichsweise hohe Zahl an Einwanderern aufnehmen muss. Zwischen den beiden letzten FÜflfjahresprogrammen hatte die französische Ratspräsidentschaft im Oktober 2008 den juristisch nicht bindenden, Europäischen Einwanderungspakt lanciert. Die Ergebnisse dieser Initiative, die erneut darauf insistierte, dass allein die Mitgliedstaaten für die Wirtschaftsmigration zuständig seien, fanden Eingang in das Stockholm-Programm. Wir beobachten also eine quasi gegenläufige Entwicklung zumindest zweier sub-po/kies: Einerseits nehmen die EU-Kompetenzen und die entsprechende Gesetzgebung im Bereich der Sicherung der Außengrenzen, der Visapolitik und der Bekämpfung irregulärer Migration zu. Dieser Trend wurde in der Vergangenheit gelegentlich als Möglichkeit für die nationalen Regierungen interpretiert, ihre jeweiligen Handlungsbeschränkungen für die Migrationskontrolle zu umgehen, indem sie "nach Brüssel auswichen" (siehe Guiraudon 2000). Auch ein gewisser Spill-over-Effekt von anderen Politiken ist offenkundig, gab doch das SchengenÜbereinkommen und die damit einhergehende Abschaffung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen erst den Anlass für gemeinsame Grenzkontrollen an den Außengrenzen durch Schengen H.
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Andererseits ist zu beobachten, dass längst nicht alle Bereiche der Migrationspolitik gleichermaßen vergemeinschaftet werden. Wir stehen also einerseits vor einer stärkeren Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaft, andererseits vor einem je nach sub-policy ungleichen Grad der Gesetzgebungstätigkeit und schließlich vor einem verschieden hohen Implementationsgrad selbst bei jenen Politikbereichen, in denen die Europäische Union über eine Kompetenz zur Hannonisierung verfügt. Besonders eifersüchtig aber wachen die Mitgliedstaaten dort über ihre Handlungsspielräurne, wo durch die Zuwanderung die Arbeits-, Bildungs- und Sozialsysteme betroffen sind.
2. Konfiiktstrukturen der europäischen Einwanderungspolitik 2.1 Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten Diese nach sub-policies unterschiedlich weitreichenden Kompetenzen lassen sich zum Teil durch die Konflikte zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union erklären. Wie wir sehen, berührt das Phänomen der Einwanderung wichtige und für jeden Mitgliedstaat je spezifische Auffassungen, wie Migration zu steuern, zu begrenzen oder zu ermöglichen sei. Traditionen und politische Kulturen im Umgang mit "dem Anderen" klaffen auch in Europa noch auseinander. Die Interessen der einzelnen Staaten divergieren je nach dem, wie hoch der Migrationsdruck auf ihnen lastet bzw. wie solidarisch sie sich mit den übrigen Mitgliedstaaten erklären können und wollen. So ist ganz deutlich, dass Griechenland und andere Mitgliedstaaten mit Blick auf die Außengrenzen auf ein stärkeres burden sharing drängen, während andere, zumal das Vereinigte Königreich und Irland, aber auch Dänemark, sich Sonderregelungen (opt ins, opt outs) vorbehalten und wieder andere, wie Schweden, am liebsten auch die Wirtschaftsmigration gemeinsam regeln würden. Diese Divergenz von Interessen gilt ganz besonders für den politisch aufgeladenen und souveränitätslastigen Bereich der Einwanderung in die Arbeitsmärkte und, angesichts unterschiedlicherphilosophies ofintegration (vgl. Favell1999; Lavenex 2009), für die Integrationspolitik, die sich am Schicksal der entsprechenden Richtlinienvorschläge ablesen lässt. Gemeinsame policies kamen bisher vor allem dort sehr häufig zustande, wo Interessen konvergieren; und das ist für die meisten Mitgliedstaaten eben dort, wo Sicherheitsbelange, wo eine Kontrolle der irregulären Migration und der Grenzen betroffen sind.
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2.2 Zielkonjlikte zwischen den sub-policies Doch nicht nur die Ziele der Migrationskontrolle werden an die Migrationspolitik der Europäischen Union herangetragen - es tun sich auch verschiedene Zielkonflikte auf. Ziele einer Einwanderungspolitik reichen von der Prävention von Fluchtbewegungen über die Grenzsicherung und Rückführung irregulär aufuältiger Personen, den Schutz der heimischen Arbeitsmärkte über die Förderung bestimmter Zuwanderergruppen zum Ausgleich demografischer und ökonomischer "Lücken" bis hin zur Integration von bereits eingewanderten Drittstaatsangehörigen. Zwar versucht die Europäische Kommission spätestens seit 2005 mit dem "Gesamtansatz fiir Migration" diese Ziele stärker in Übereinstimmung zu bringen, doch verblieb bislang der Großteil der tatsächlich harmonisierten po/icies im Bereich der Kontrolle und Begrenzung von Migration. Steuerungsziele wie das der Anwerbung von Arbeitskräften und der Integration von Drittstaatsangehörigen hingegen blieben dahinter zurück. Wie aber kann hier Kohärenz erreicht werden? Schließlich wird von Migrationsforscher(inne)n sehr oft bemerkt, dass just "die fehlenden legalen Möglichkeiten der Zuwanderung in die EU mit verantwortlich" seien "fiir den Missbrauch des Asylrechts und die Zunahme der irregulären Migration" (siehe AngenendtfParkes 2008, S. 4). Obwohl sich zumindest deklaratorisch spätestens seit dem von der Europäischen Kommission im Jahr 2005 vorgelegten "Gesamtansatz der Migration" ein umfassendes Verständnis von Migration durchgesetzt hat, war die vergangene Dekade eindeutig auf Abwehr-, Kontroll- und Sicherheitsaspekte konzentriert. Hier liegen jene Ziele, bei denen die Interessen der Mitgliedstaaten am schnellsten zur Übereinstimmung gelangen, und das sind zumeist Systeme zur Abwehr irregulärer Migration. Dies verstärkte sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 unter dem Haager Programm und bestätigte sich erneut mit dem Stockholm-Prograrnm, aber auch mit dem Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission 2010 (COM 2010/171), mit dem bis 2012 die zweite Phase des Asylsystems ihren Abschluss finden soll. Demgegenüber mündeten die in diesem Bereich vereinbarten Kompromisse der vergangenen Dekade, bezogen auf Schutzstandards, häufig nur in sogenannte Mindeststandards. Das heißt, dass das Niveau der gemeinsamen Regelungen vielfach hinter jenem Schutzniveau fiir Migrant(inn)en zurück blieb, das in einzelnen Mitgliedstaaten zuvor bereits geherrscht hatte. Der einzelne Mitgliedstaat kann dann jeweils durchaus höhere Standards ansetzen, die Richtlinie aber orientiert sich häufig am kleinsten gemeinsamen Nenner.
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2.3 Konflikte zwischen den EU-Organen In einigen Teilbereichen war in den vergangenen fünf Jahren dennoch ein Zuwachs an Kompetenzen der supranationalen Organe in der Europäischen Union zu beobachten, der sich mit dem Vertrag von Lissabon verstetigt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die vom Europäischen Parlament errungenen Kompetenzen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf die Inhalte der Migrationspolitik auswirken werden. Tendenziell gilt das Europäische Parlament eher als Verteidiger gemeinsamer policies und Advokat der Menschen- und Flüchtlingsrechte sowie der Rechte von Drittstaatsangehörigen. Trotz formaler Ausdehnung der Kompetenzen für die supranationalen Organe versucht der Rat der Europäischen Union - über verschiedene informelle Mechanismen - seine bisherige Dominanz aufrechtzuerhalten. Dazu ist ein kleiner Exkurs zur Verteilung der Kompetenzen hilfreich: Offiziell setzt der Europäische Rat die Leitlinien für die Fünfjahresprogramme, die dann die großen Ziele der Innen- und Justizpolitikjeweils für eine halbe Dekade festlegen. Diese werden dann von der Kommission inhaltlich ausgefüllt, wobei aber auch die jeweiligen Ratspräsidentschaften wichtige agenda-setters sind. Erst 2004 hat die Europäische Kommission de jure die Initiativfunktion inne, und über die Einbeziehung von NGOs, über Online-Konsultationen und Berichte von Mitgliedstaaten versucht sie, an Legitimität zu gewinnen. Die Mitgliedstaaten aber versuchen natürlich auch, die Kommissionsvorschläge durch informelle ,,Beratergruppen" bereits im Vorfeld zu beeinflussen. Der Rat der Europäischen Union hatte bis vor Kurzem noch einstimmig zu entscheiden. Das heißt: Jeder Mitgliedstaat konnte potenziell mit einem Veto drohen. Nach dem Lissabon-Vertrag wird nun in all jenen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit entschieden, in denen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (früher: Mitentscheidungsverfahren) gilt, das heißt nun auch für Asyl, Einwanderung und die Kontrolle an den Außengrenzen. Denkbar ist, dass dies zu weniger Blockaden führt. Möglich ist aber auch, dass sich die Mitgliedstaaten nun außerhalb der EU-Kontrollinstanzen absprechen, bilateral agieren oder package deals über verschiedene Politikfelder hinweg schließen bzw. sich informeller Mechanismen wie der Future Group bedienen, um bereits die Agenda zu beeinflussen (vgl. Future Group 2008; Bunyan 2008; Buono 2009, S. 334). Das Europäische Parlament wurde bis 2004 zu Einwanderungsfragen lediglich konsultiert, d.h. faktisch, dass der Rat sein Votum oftmals schlicht überging. Zudem versucht der Rat, das Parlament und die Kommission in sogenannte Trialoge einzubinden (vgl. Bunyan 2007), um so Entscheidungen bereits vor den Plenarsitzungen festzuzurren. Dieser Entscheidungsfindungsprozess wurde schon
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häufig als "complicated" kritisiert, "opaque and, for most ob servers, difficult to navigate" (siehe Collet 2009, S. 12), und die Organisation statewatch hat ausgezählt, dass 83 Prozent der Maßnahmen im Ausschuss ffir Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (2005-2009) mittels nicht-öffentlichen ersten Lesungen durchgesetzt wurden. Diese Verfahren werfen ernste Transparenz- und Kohärenzprobleme ffir die Gesetzgebung in der Europäischen Union auf, und sie werden durch die Konflikte zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, insbesondere bei der Implementierung der gemeinsamen Richtlinien, noch erschwert. Ein erster Be:fund lautet somit: Gemeinsame Regelungen werden vielfach bereits auf einem relativ lockeren und niedrigen Niveau (etwa durch Mindestnormen) festgelegt, die den Mitgliedstaaten dann bei der Umsetzung in nationales Recht relativ weiten Handlungsspielraum lassen. Gerade bei der mit "Salami-Taktik" durchgesetztenArbeitsmigration stoßen die unterschiedlichen Richtlinien auf so verschiedene nationale Vorgaben, dass sie über Jahre hinweg verhandelt werden müssen und kaum vorankommen oder (wie die Blue Card oder die Rechte der langfristig aufhältigen Drittstaatsangehörigen) auf einem sehr kleinen gemeinsamen Nenner fixiert werden. Im Sinne einer höheren öffentlichen Akzeptanz müssen die Mitgliedstaaten die EU-Regelungen zum Beispiel zurArbeitsmigration und Integration wiederum mit solchen Maßnahmen koordinieren, die die "einheimischen Arbeitskräftepotenziale besser ( ... ) nutzen" (siehe AngenendtIParkes 2008, S. 3), etwa durch Ausund Fortbildung und Einstellung von Arbeitslosen und älteren Arbeitnehmern, Steigerung der Frauenerwerbsquote, Verkürzung von Ausbildungszeiten, Erhöhung des Renteneintrittsalters (vgl. AngenendtlParkes 2008, S. 3). Bei der Implementierung von Richtlinien ist zu beobachten, dass Mitgliedstaaten zum "Rosinenpicken" tendieren. Selbst dort, wo gemeinsame Regelungen getroffen werden, bleibt das Harmonisierungsniveau oft begrenzt. Das ist etwa bei der Qualifikationsrichtlinie der Fall: Deren Umsetzung erfolgte in einer Weise, dass sich im Ergebnis das Schutzniveau von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat deutlich unterscheidet. Von einer gemeinsamen Asylpolitik, die mit der "Schutzlotterie" in Europa Schluss machen sollte, ist die EU also weit entfernt, wie u.a. der UNHCR in einer aktuellen Studie (2010) kritisiert. Aufgrund der immer wieder intervenierenden Wahlen in den Mitgliedstaaten, den wechselnden Ratspräsidentschaften und einer öffentlichen Meinung, die in einigen Staaten einer weiteren Zuwanderung in die Arbeitsmärkte skeptisch gegenübersteht, erweist es sich als schwierig, die von der Kommission vorgestellten längerfristigen Ansätze zur Behebung demografischer und arbeitsmarktpolitischer Probleme auch anzugehen. Abhilfe schafft der Vertrag von Lissabon, indem er a)
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im Rat die qualifizierte Mehrheit für all jene Bereiche einführt, in denen nun das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, und b) durch die Person des Präsidenten des Europäischen Rates für zweieinhalb Jahre mehr Kontinuität gewährleistet.
2.4 Ressortkonflikte Dies löst jedoch nicht einen weiteren Konflikt, der dem Querschnittsbereich ,,Migration" per se innewohnt, durch mehr oder minder geschickte institutionelle Lösungen aber verschärft oder entschärft werden könnte: den Konflikt zwischen den Ressorts. Ursprünglich in der Justiz- und Innenpolitik angesiedelt, berührt die Migrationspolitik auch Fragen der Entwicklungs- und Außen(handels)politik und reicht ebenso in die Arbeitsmarktpolitik wie in die Sozial- und Bildungspolitik hinein. Die Vision der Europäischen Kommission von einem Gesamtansatz oder Global Approach to Migration (siehe COMJ2006/0735 final) zielt auf die Koordination dieser Querschnittspolitik und auf die Koordination zwischen Herkunftsund Aufuahmestaaten ab. Seit Einsetzung der neuen Kommission 2009 ist die Zuständigkeit sogar für den engeren Bereich der Migration zusätzlich zwischen zwei Kommissionsmitgliedern aufgesplittet: das eine ist zuständig für Justiz und Grundrechte, das andere für Inneres. Die meisten Migrationsaspekte werden auch künftig die Innenpolitik betreffen, während flüchtlings- und menschenrechtliche Probleme in das erste Ressort fallen. Die Menschen- und Bürgerrechte sind somit institutionell noch stärker von der innenpolitischen (traditionell sicherheitspolitisch dominierten) Agenda abgekoppelt. Der Global Approach to Migration, wie ihn die Kommission wünscht, ruckt also mit einer solchen Aufteilung tendenziell eher weiter weg und verlangt nach mehr Koordination (vgl. dazu kritisch Collet 2009). Auch der neue diplomatische Dienst der Europäischen Union, wie ihn der Lissabon-Vertrag institutionalisierte, könnte Kompetenzen übernehmen, die bislang an der Schnittstelle zwischen Migration und Entwicklung lagen und so einen weiteren Schritt weg von den Flüchtlingsrechten hin zum Bereich der Außenpolitik machen. Hier ergibt sich für die kommenden Jahre erheblicher Forschungsbedarf.
3. Politikergebnisse und -pläne Angesichts der Schere, die sich zwischen den verschiedenen sub-policies im Einwanderungsbereich bezüglich der Kompetenzzuweisung an die Europäische Union und ihrer gesetzgeberischen Aktivität auftut, müssen auch bei den bisherigen Politikergebnissen Unterschiede zwischen der Politik zum Asyl- und Flüchtlings-
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wesen, zur irregulären Migration und zu den Grenzkontrollen, der Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten, der Wirtschafts- bzw. Arbeitsmigration und der Integration gemacht werden.
3.1 Flüchtlinge und Asylbewerber Flüchtlinge und Asylbewerber waren immer schon ein Kernthema der EU-Migrationspolitik: Zwischen 1999 und 2004 wurde in einer ersten Phase das Gemeinsame Europäische Asylsystem (Common European Asylum System, CEAS) nach Tampere initiiert. Die Mitgliedstaaten legten im Dubliner Übereinkommen (1990, in Kraft 1997) und der Dublin-II-Verordnung (2003) fest, dass jeweils nur ein Staat für die Behandlung eines Asylbegehrens zuständig ist. Diese Verordnung wird unter dem Stockholm-Programm noch einmal aufgerollt, da sie von Menschenrechtsorganisationen kritisiert wurde. Die Asylverfahrensrichtlinie, wie sie der Rat 2004 verabschiedet hatte, versuchte zumindest einen EU-weiten Mindeststandard für die Asylverfahren festzulegen, scheiterte aber an der unterschiedlichen Implementierung in den Mitgliedstaaten (vgl. UNHCR 2007,2008 und 2010). Das Haager Programm hatte anvisiert, eine zweite Phase zur Errichtung eines gemeinsamen Asylsystems bis 2010 abzuschließen; was jedoch ins Jahr 2012 verschoben wurde. Unter dem Stockholm-Programm wird die Richtlinie zu den Asylverfahren ebenso wie die Qualifikationsrichtlinie (vgl. Marx 2008; ECRE 2009, S. 4) neu verhandelt. Zudem wird eine neue Asylagentur mit Sitz in Malta geschaffen: das European Asylum Support Office (EASO; vgl. Council of the European Union 2009). Sie soll die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten intensivieren, indem sie Good-practice-Beispiele hervorhebt, Beamte ausbildet und die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten stärkt.
3.2 Irreguläre Einwanderung und Grenzkontrolle Kontrollaspekte beherrschten die Migrationspolitik der Europäischen Union über weite Strecken der vergangenen Dekade, und sie dominieren auch das aktuelle Stockholm-Programm. Nach dem 11. September 2001 präsentierte die Kommission einen Vorschlag unter dem Titel "Towards integrated management ofthe external borders of the member states of the EU"; sie entwickelte das European Border Surveillance System (EUROSUR) und das Electronic System for Travel Authorisation (ESTA). Diese unterstützen eine gemeinsame elektronische Infrastruktur, die irreguläre Grenzübertritte aufdeckt, sogenannte overstayers aufspürt und grenzüberschreitende Aktivitäten nachzuvollziehen sucht.
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Besonders umstritten ist jedoch die "Rückführungsrichtlinie" (COM 2005/0391), mit der Standards für die Behandlung und Rückführung von Migrant(inn)en ohne Papiere etabliert werden sollen (vgl. Bendel 2008). Insbesondere eine Regelung, nach der irregulär aufuältige Migrant(inn)en unter bestimmten Bedingungen bis zu 18 Monate lang in Haft genommen werden können, hat Menschenrechtsorganisationen und internationale Organisationen auf den Plan gerufen; und auch die Möglichkeit, selbst besonders vulnerable Personengruppen, Minderjährige und Opfer von Menschenhandel festsetzen zu können, stößt auf Kritik. Schließlich wird bemängelt, dass riickgefiihrte Personen bis zu fünf Jahre an einem Wiedereintritt in einen EU-Mitgliedstaat gehindert werden können. Gleich mehrere Richtlinien gehen das Problem von Menschenhandel und -schmuggel an, indem sie Transportunternehmer und Arbeitgeber von irregulär aufuältigen Personen sanktionieren, aber zugleich die Opfer zu schützen suchen. Unter dem Stockholm-Programm wurde eine Initiative für den Umgang mit jenen Einwanderern, die nicht riickgeführt werden können, angestoßen; und außerdem ist die Kommission dabei, einen Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige auszuarbeiten. Im Rahmen der Kontrolle von irregulärer Migration kommt der Grenzschutzagentur Frontex eine herausgehobene Stellung zu (vgl. Jorry, 2007; Kasparek 2008). 2005 in Warschau gegründet, koordiniert sie die Aktivitäten der Mitgliedstaaten und bildet Rapid Border Intervention Teams (RABITs) aus, welche die Mitgliedstaaten technisch und operational unterstützen können. Die Aufgaben dieser Agentur sind zusehends in Richtung auf Risikoanalysen, operationale Kooperation und Organisation gemeinsamer Rückführungen ausgedehnt worden. Vor allem aber ihre Operationen auf See gerieten zur Zielscheibe der Kritik von Nichtregierungsorganisationen, da sie zentrale flüchtlingsrechtliche Standards, allen voran das Prinzip des non-refoulement, unterliefen (vgl. Human Rights Watch 2006; lAS 2007; Fischer-LescanolLöhr 2007; WeinzierllLisson 2007). Auch die Europäische Kommission (COMl2008/67 final) und das Europäische Parlament haben Frontex evaluiert (Ag-0437/2008), doch während die Kommission eine Aufgabenerweiterung befürwortet, drängt das Parlament schwerpunktmäßig auf die Einhaltung der Menschenrechte.
3.3 Externe Dimension der Migration Seitdem die Europäische Kommission Migration in einem Gesamtansatz behandeln will - seit 2005 also -, ist die externe Dimension der Einwanderung in den Mittelpunkt des EU-Einwanderungsdiskurses gerückt (vgl. Sterh 2008; Geddes 2009). Ziel ist es, Initiativen für Drittstaaten in Form von positiver oder negativer
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Konditionierung zu entwickeln, damit diese ihre Grenzen selbst stärker kontrollieren und mehr Verantwortung bezüglich Transit und Auswanderung übernehmen. Anreize erfolgen etwa über Visaerleichterungen oder andere Einwanderungsbedingungen für die Staatsangehörigen der angrenzenden Länder wie Bona-fide-Reisende, Forscher(innen) oder Studierende (vgl. Haase 2010). Damit sind auch angrenzende Politikfelder der Migrationspolitik wie die Außen- und Sicherheitspolitik, die Außenhandelspolitik, die Europäische Nachbarschaftspolitik etc. berührt, und eingeschlossen sind beispielsweise Maßnahmen wie Mobilitätspartnerschaften mit einzelnen Ländern und eine Intensivierung der Dialoge mit den afrikanischen und lateinamerikanischen Partnern (vgl. Cassarino 2009). Viel diskutiert wird das Konzept der zirkulären Migration, das sich als Triple-win-Situation für Herkunfts-, Transit- undAufnahmestaaten verkaufen lässt (vgl. Heckmann u.a. 2009; Triandaryllidou 2009). Es eröffnet die Möglichkeit, mehrfach Visa zu erhalten, Sozialversicherungsbeiträge zu übertragen und Rückkehrbedingungen zu schaffen, die den Migranten einen gewissen Lebensstandard garantieren. Des Weiteren hat die EU Rücknahmeübereinkommen mit Herkunftsund Transitstaaten abgeschlossen. Ein Pilotprojekt ist das Centre for Information and Management ofMigration in MaU (CIGEM), das über Einwanderungsbedingungen informiert; ein weiteres ist in Marokko geplant. Die Europäische Union will auch mit den sogenannten Diaspora-Organisationen stärker zusammenarbeiten. Diese Schwerpunkte werden auch im Stockholm-Programm noch einmal betont. Klimainduzierte Migration, die künftig sicherlich eine größere Rolle spielen wird (vgl. BendelJHaase 2010; HaaselBendeI2010), ist allerdings bislang als Problemfeld in diesem Programm lediglich angedeutet.
3.4 Arbeitsmigration Wie gezeigt, bewahren sich die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz rur die Migration in die Arbeitsmärkte. Die Europäische Kommission ist in einer Art "Salarni-Taktik" dazu übergegangen, ihre ehemals als eine Richtlinie geplante, jedoch gescheiterte Initiative zur Anwerbung bzw. Zulassung von Arbeitskräften aus Drittstaaten in mehrere einzelne Richtlinien aufzusplitten: So liegt derzeit (Stand 2010) eine Richtlinie für Saisonarbeiter auf dem Verhandlungstisch, eine für bezahlte Auszubildende und Praktikanten (heide anhängig), eine für Studierende, eine für Forscher(innen) sowie für Hochqualifizierte und innerbetriebliche Transfers. Die Blue Card - ursprünglich konzipiert, um bürokratische Barrieren für qualifizierte Einwanderer abzubauen - hat auf dem Verhandlungsweg aufgrund von Interventionen der Mitgliedstaaten bis zu ihrer Verabschiedung 2009 an Substanz verloren: Die meisten Mitgliedstaaten vertreten die Position, dass in Europa bislang keine
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gemeinsame Arbeitsmarktpolitik existiere und somit auch die Kompetenz für die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen in die Arbeitsmärkte nationalstaatliche Angelegenheit sei. So müssen Bewerber um eine europäische Blue Card mindestens für ein Jahr ein Arbeitsplatzangebot vorweisen und über eine entsprechende Ausbildung sowie über ein Mindesteinkommen im jeweiligen Mitgliedstaat verfügen. Nach zwei Jahren können sie in einen anderen EU-Staat weiterwandern, müssen dort aber erneut dieselben Kriterien erfüllen. Die zunächst anvisierte Bewegungsfreiheit konnte für sie freilich nicht durchgesetzt werden. Blue-Card-Inhaber können innerhalb von sechs Monaten ihre Familien mitbringen; auch die Familienmitglieder haben das Recht, in der EU zu arbeiten, und sie können sich den fiinfjährigen Aufenthalt anrechnen lassen, mittels dessen sie dann den Status langfristig authältiger Drittstaatsangehöriger erhalten können.
3.5 Integrationspolitik Obwohl die Europäische Union keine Rechtsetzungsbefugnis für die Integrationspolitik innehat, gibt es bereits seit einer Dekade eine ganze Reihe von Richtlinien, die, dem Charakter von "Integration" als Querschnittspolitik entsprechend, zunächst die Arbeitsrnigration oder die Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie die Familienzusammenführung betreffen, dennoch aber integrationsrelevante Aspekte beinhalten. Integrationspolitik im engeren Sinne erfolgt dann auf der Ebene von soft law, über das jedoch zusehends Kooperation und schließlich Konvergenz der mitgliedstaatlichen Politiken hergestellt werden kann. Verschiedene Initiativen blieben juristisch nicht bindend, wie die Entwicklung gemeinsamer Grundprinzipien des Rates für die Integration 2007, die Festlegung von Prioritäten für gemeinsames Handeln während der letzten französischen oder die Aufstellung von Integrationskriterien während der letzten schwedischen Ratspräsidentschaft. Die Europäische Kommission hat Standards für die Integration in Form von Handbüchern und best practices entwickelt, Fonds für Integration durchgesetzt und den Austausch zwischen den Mitgliedstaaten in Form des European Integration Forums und des Internetportals Integration Portal 2009 auf eine neue Grundlage gestellt. Zu diesem Zweck wurden nationale Kontaktstellen eingerichtet, die über ein Netzwerk miteinander verknüpft sind. Auf diese Weise erhält die Kommission nach und nach Kompetenzen für das Feld der Integration, innerhalb dessen sie einen rechtebasierten Ansatz verteidigt (vgl. COMl2003/336 final: 19). Garantien von Rechten für Drittstaatsangehörige stechen denn auch unter den wenigen rechtlich bindenden Instrumenten der Integrationspolitik hervor. Dabei ist es allerdings noch nicht gelungen, die Rechte auf Niederlassung und Zugang zum Arbeitsmarkt für Einwanderer zu fixieren. Die Richtlinie zur Familienzu-
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sammenführung (2003/86 EC Council) hat das Ziel einer Harmonisierung in den Mitgliedstaaten nicht erreicht, und die Kommission hat angekündigt, eine neue Konsultation zu starten. Für Anpassungsschwierigkeiten injenen Ländern, die einen deutlichen misjit gegenüber Antidiskriminierungspolitiken aufwiesen, sorgte die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43IEG und 2000173/ EG). In den bereits erwähnten Richtlinien für den Arbeitsmarktzugang bestehen etliche integrationsrelevante Aspekte für Hochqualifizierte, Forscher, Studierende und (geplant) für Saisonarbeiter(innen) und Praktikant(inn)en. Auch die Qualifikationsrichtlinie 2004/831EG enthält in ihrem Neuentwurf integrationsrelevante Elemente für Flüchtlinge, Asylbewerber(innen) und für Personen, die subsidiären Schutz genießen. Die Souveränitätslastigkeit der Integrationspolitik spiegelt sich auch in den neueren Rahmenbedingungen für ihre Ausgestaltung wider: Einerseits legt der Vertrag von Lissabon in Artikel 79 (4) eindeutig fest, dass die rechtlichen Regelungen zur Integration bei den Mitgliedstaaten verbleiben, andererseits fixiert das Fünfjahresprogramm von Stockholm (2009), dass ein "gemeinsamer Rahmen für Integration" zu entwickeln sei, der "einem eindeutig europäischen Ansatz folgen" solle. Unter anderem umfasst der Auftrag des Stockholm-Programms ein gemeinsames Monitoring zur Integration.
4. Au.sblick: Qu.o vadis, Migrationspolitik? Einwanderungspolitik stand in der vergangenen Dekade auf der Agenda der Europäischen Union immer wieder oben. Die Grundlinien sind gelegt, harren aber in vielen Bereichen noch der Verfeinerung und Anpassung an den jeweiligen Bedarf der Mitgliedstaaten oder der besseren Harrnonisierung. Eine der Hauptaufgaben der Flüchtlings- und Asylpolitik sowie der Grenzkontrolle liegt künftig wohl darin, zwischen der dominierenden sicherheitspolitischen Stoßrichtung und dem Anspruch und der Notwendigkeit, jenen Schutz zu gewähren, die die EU darum ersuchen und die ihres Schutzes bedürfen, Kohärenz herzustellen. Für die Drittstaatsangehörigen, die bereits in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union leben, sollte ein stärker rechtebasierter Ansatz zwischen den einzelnen Ressorts entwickelt werden. Die externe Dimension der Migration ist mit ihren neuen, noch nicht gänzlich durchsichtigen Instrumenten eine weitere wichtige Säule der künftigen EU-Migrationspolitik. In institutioneller Hinsicht besteht demzufolge wachsender Bedarf an einer Koordinierung dieses Querschnittspolitikfeldes. Substanzielle und nachhaltige politische Lösungen in Richtung eines weitsichtigen Ausbaus der Migrationspolitik sind angesichts der Wirtschaftskrise, der
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Komplexität des F eIdes und fortbestehender Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten (vgl. Parkes/Angenendt 2009) derzeit nicht in Sicht. Die EU-Migrationspolitik wird somit, insbesondere in der Arbeitsmigration und der Integration, auf absehbare Zeit ein Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Gesetzgebungen mit sehr lockerem gemeinsamem Rahmen und eher reaktiv als proaktiv bleiben. Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass die EU-Entscheidungsprozesse in diesem Politikfeld alsbald transparenter und kohärenter werden. Chancen für eine intensivierte Kooperation der Mitgliedstaaten und eine stärkere Kohärenz und Konvergenz liegen derzeit weniger im Bereich "harter" Regulierung durch eine gemeinschaftliche Gesetzgebung als vielmehr im Bereich "weicher" Steuerungsformen. Ob die eingerichteten Fonds, die von der EU-Kommission entwickelten Integrationsindizes und Integrationshandbücher über ein blaming and shaming und den Austausch von best practices politisches Lernen der Regierungen in Richtung einer Weiterentwicklung der Europäischen Arbeitsrnigrations- und Integrationspolitik befOrdern können, bleibt abzuwarten. Für eine rechtebasierte, nachhaltige Politik dürfte dieser Ansatz hingegen nicht ausreichen.
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Die Asyl- und Flüchtlingspolitik. zwischen Europäisierung und nationalen Interessen. Das Beispiel Italien Julia Wahnel
1. Einleitung Das gemeinsame Asylrecht ist wie kaum ein anderes Thema zwischen den Innenund Justizministern der Gemeinschaft umstritten. Besonders die südlichen Mitgliedstaaten - Italien, Spanien, Malta und Griechenland - beklagen die mangelnde Unterstützung und fehlende Solidarität seitens der Europäischen Union und fordern eine Umverteilung schutzbedfuftiger Flüchtlinge auf "freiwilliger und koordinierter Basis" (CONSILIUM 2008; ZEIT v. 3.9.2009). Gemeinsam betonen sie, dass es erforderlich sei, die EU -Maßnahmen im Kampf gegen die irreguläre Migration zu verstärken. In einem im Januar 2009 unterzeichneten Abkommen fordert Italien zusammen mit Malta, Zypern und Griechenland den zeitnahen Abschluss weiterer Rückübernahme-Übereinkommen mit Hauptherkunfts- und Hauprtransitländern, verstärkte Sicherheitsvorkehrungen der EU für die Mittelmeeranrainer sowie die Stärkung von Frontex durch den Aufbau spezieller Agenturen zur besseren Evaluation spezifischer Situationen in besonders sensiblen Grenzzonen. Im Kontext der Einrichtung einer Europäischen Asylunterstützungsagentur fordert die italienische Regierung weitere Ressourcen und Unterstützungsformen zur Verbesserung von Aufnahme- und Schutzkapazitäten für Asylsuchende (vgl. Ministero dell'Interno, Mitteilung des Innenministers Roberto Maroni betreffend Italiens Politiken der Zurückweisung v. 25.5.2009; Ministero delI'Interno, Dokument bzgl. der Maßnahmen von Malta, Italien, Zypern und Griechenland). Gleichzeitig ist die italienische Praxis, überfüllte Flüchtlingsboote aufhoher See abzufangen und alle Insassen ohne EinzelfallpfÜfung zurückzuschicken, seit Jahren Gegenstand heftiger öffentlicher Kritik. Sowohl von den Vereinten Nationen als auch von Nichtregierungsorganisationen und Kirchen wird das Unterlaufen internationaler, im Völkerrecht verankerter Verpflichtungen verurteilt (vgl. CIR 2009a). Auch der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, äußerte unter Betonung des "heiligen und unverletzlichen" Asylrechts Bedenken in Bezug auf die Zurückweisung von schutzbedfuftigen Personen (vgl. CIR 2009a). G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Der fehlende Respekt gegenüber dem Verbot von Kollektivausweisungen und dem Non-reJoulement-Grundsatz sowie die Zurückweisung von irregulären Migrant(inn)en in Länder wie Libyen, die nicht zu den Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention zählen, steht im Mittelpunkt dieser Kritik an der italienischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hatte während der italienischen Ratspräsidentschaft 2003 noch verlauten lassen: "On immigration, I should like to remind you that, if there is one country that is rooted in Christianity, a generous country, open to those who have the least and to those who suffer, I am proud to say that this country is mine, Italy." (Silvio Berlusconi 2003). Demgegenüber dominieren in der aktuellen innenpolitischen Debatte Italiens Regierungsaussagen wie "Ja zu den Rückführungen, wir öffuen die Türen nicht für jeden", "Auf den Booten keiner mit dem Recht auf Asyl" und "Wir sind gegen die Idee eines multiethnischen Italiens" (Silvio Berlusconi, zitiert in Corriere della Sera v. 10.5.2009 und 12.5.2009; eigene Übersetzung, J. w.). Dass Italien irregulären Migrationsströmen ausgesetzt ist, resultiert vor allem aus seiner geografischen Lage - aus der Nähe zu Afrika und Vorderasien und aus der 7.500 bis 8.000 km langen See- und EU-Außengrenze (vgl. Focus Mediterranean). Insbesondere die Bedeutung der kleinen pelagischen Insel Lampedusa als Hauptaniaufstelle und "Eingangstor" - so der italienische Innenminister Roberto Maroni (Ministero dell'Interno, Asylverfahren) - für Bootsflüchtlinge aus Afrika nach Europa stieg im Jahr 2008 nach Angaben des italienischen Innenministeriums deutlich an: 86 Prozent (30.657 Personen) aller Bootsflüchtlinge (36.900) kamen auf Lampedusa an. Dies bedeutete einen Anstieg um 161 Prozent im Vergleich zum VOljahr (11.749 von insgesamt 20.455 Bootsflüchtlingen in 2007) (vgl. UNHCR Italien 2009d). Seit Frühjahr 2009 greift jedoch das italienisch-libysche Freundschaftsabkommen, mit dem Libyen - so die offizielle Begründung - für die kolonialen Verbrechen Italiens entschädigt werden solle. Demnach verpflichtete sich Italien im Jahre 2008 dazu, im Laufe der nächsten 25 Jahre ffinfMilliarden Euro zu zahlen. Vertraglich vereinbart wurde nicht nur die Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, sondern auch - und vor allem - die Flüchtlingsabwehr. Mit der Unterzeichnung des Abkommens verpflichtete sich Libyen zur strikten Kontrolle seiner Küste, sodass Flüchtlingsboote fortan an der Überfahrt zur italienischen Insel Lampedusa gehindert werden. Seit Inkrafttreten des Abkommens werden alle Boat People noch auf hoher See abgefangen und unabhängig davon, ob sie aus politischen oder humanitären Gründen geflohen sind - wieder nach Libyen deportiert. Infolge der strikten libyschen Küstenkontrollen
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sind die Asylanträge in Italien um fast die Hälfte auf 17.000 zurückgegangen, und infolgedessen ist das Flüchtlingslager auf Lampedusa, das über Kapazitäten fiir 850 Personen verfiigt und in dem zeitweise bis zu 2.000 afrikanische Eoat People untergebracht waren, mittlerweile leer (Deutschlandfunk v. 30.12.2009; RP Online v. 31.8.2010). Wie diese einleitenden Hinweise zeigen, ist das Beispiel Italien gut geeignet, um grundlegende Fragen und aktuelle Entwicklungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld nationaler Traditionen und Interessen einerseits und europäischer Probleminterdependenz und EU -Koordinierung andererseits zu beleuchten. Die Zuständigkeit fiir Asyl und Migration lag traditionell bei den Nationalstaaten. Der starke Anstieg von Flüchtlingen und Asylbewerber(inne)n während der 1980er- und 1990er-Jahre veranlasste die EU-Staats- und Regierungschefs jedoch zur Kooperation und zur gemeinsamen Bewältigung dieser Herausforderung (vgl. Haase/Jugl 2007). Die Schritte zur Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik schränken zwar auf nationaler Ebene Handlungsbefugnisse der Mitgliedstaaten ein, ohne freilich - bislang - deren Letztentscheidung im Bereich sensibler asylpolitischer Fragen aufzuheben. Dieses Spannungsfeld zwischen Europäisierung (einschließlich völkerrechtsbasierter internationaler Konventionen und Verträge) und nationaler Interessenpolitik im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik soll im Folgenden analysiert werden. Der Beitrag basiert auf einer umfassenden Auswertung italienischer Quellen und hat das Ziel, die Entwicklung der italienischen Innenpolitik in den Bereichen Asyl und Einwanderung nachzuzeichnen und die Wechselwirkungen mit den Schritten zu einer Asylpolitik auf EU-Ebene herauszuarbeiten. Der Darstellung der migrationspolitischen Entwicklungen, Maßnahmen und Gesetzgebungsprozesse in Italien wird eine knappe Skizze der EU-Asylpolitik vorangestellt (siehe dazu auch den Beitrag von Petra Bendei in diesem Band).
2. Die eu.ropäische Asyl- und Flüchtlingspolitik Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gewähren Flüchtlingen auf der Grundlage des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden Genfer Flüchtlingskonvention, GFK) - basierend auf dem völkerrechtlichen Grundsatz des Non-Refoulement (Nicht-Zurückweisung) - Schutz: Flüchtlinge dürfen nicht dorthin abgeschoben werden, wo ihnen unmenschliche Behandlung, Strafe oder Todesstrafe drohen (GFK, Art. 33; EMRK, Art. 3). Von der Schutzgarantie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus-
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geschlossene Flüchtlingsgruppen (z.B. Bfugerkriegsflüchtlinge und Flüchtlinge, denen im Herkunftsland Folter oder Gefahr für Leib und Leben droht) erhalten ergänzende, sog. vorübergehende und subsidiäre Schutzmaßnahmen (vgl. RL 2001l55IEG und RL 2004/83IEG; Haase/JugI2007; KOM 2009a). Nicht zuletzt garantieren die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EUVIEGV 2006) das Recht auf Asyl (Art. 18): "Das Recht aufAsyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet." Artikel 19 der Charta verbietet Kollektivausweisungen: "Kollektivausweisungen sind nicht zulässig." Im Kontext der Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarktes und des Abbaus der EG-Binnengrenzen sollten daraus resultierende Sicherheitsrisiken durch Ausgleichsmaßnahrnen für die Personenfreizügigkeit und durch gemeinsame Standards für die Kontrolle der Außengrenzen gemindert werden (vgl. Haasel Jug12007; KOMl85/031 0). Die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen und flüchtlingen im Rahmen einer kohärenten europäischen Flüchtlingspolitik mit dem vorrangigen Ziel der Verbesserung der Schutzstandards - Schwerpunkt der vorangehenden Kooperation der Mitgliedstaaten unter dem Dach des Europarates - rückte folglich in den Hintergrund (vgl. Lavenex 2001, S. 78 f.). Die Einrichtung einer Datenbank zur Kriminalitätsbekämpfung und Terrorismusabwehr (später: Schengener Informationssystem, SIS), die Verabschiedung des Schengener Abkommens von 1985 (Schengen I) zum Abbau der Binnengrenzkontrollen zwischen den Schengen-Unterzeichnerstaaten und der Abschluss des Schengener Durchfiibrungsübereinkommens (SDÜ oder Schengen II) im Jahre 1990 waren Antworten der Staatengemeinschaft auf befürchtete Sicherheitsrisiken, intendiert als Kontrolle über Zuwanderungsbewegungen und steigende Fluchtbewegungen nach Westeuropa Ende der 1980er-Jahre (vgl. Haase/Jugl2007). Im Bereich der asylrechtlichen Bestimmungen sollte das One-State-only-Prinzip aus dem 1997 in Kraft getretenen Dubliner Übereinkommen - ersetzt durch die Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 - neben der Garantie eines ordentlichen Asylverfahrens Asylmissbrauch, Mehrfachanträge und ein Weiterschieben von Asylanträgen bzw. -bewerbern verhindern (vgl. Haase/Jugl2007). Durch die Einbindung der zwischenstaatlichen Kooperation in den EU-Vertrag mit Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags 1992 wurden Weichen zu einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik gestellt, jedoch wurde durch die Überfiibrung der Visapolitik in die "erste Säule" lediglich ein Teil tatsächlich vergemeinschaftet (vgl. Lavenex 2001, S. 108). Trotz des Beobachterstatus und des Initiativrechts
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der Europäischen Kommission war und ist der Rat der Justiz- und Innenminister das zentral handelnde Organ (vgl. Haase/Jug12007). Im Amsterdarner Vertrag von 1997 erfolgte die Planung umfangreicher einwanderungsrechtlicher Vorschriften im Rahmen der Überführung der Kontrolle der Außengrenzen und der Politikfelder Asyl und Einwanderung von der "dritten" in die "erste Säule", also weitestgehend in eine gemeinsame (supranationale) Zuständigkeit (EGY, Titel IV, Art. 61-69). Die Eingliederung der bestehenden Regelungen aus dem Schengener Abkommen ("Schengen-Besitzstand" oder "Schengen-acquis") in den Amsterdamer Vertrag führte zu einer EU-weiten Anwendung (vgl. Haase/JugI2007). Die von den Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen 1999 im finnischen Tampere diskutierten Maßnahmen zur Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems sollten sich an der Genfer Flüchtlingskonvention und an anderen Menschenrechtserklärungen orientieren (vgl. BendeI2006, S. 124). Die asylpolitischen Regelungen des Tampere-Programms zu Punkten wie der Partnerschaft mit Herkunftsländem, Fluchtursachenbekämpfung, der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention und des Asylrechts, dem Ausbau von Rückfiihrungsprogrammen zur Steuerung von Migrations- und Fluchtbewegungen, der Bekämpfung des Schlepperunwesens und der irregulären Einwanderung und die engere Kooperation der Grenzkontrollbehörden resultierten in der Konzeption der Aufuahme- (RL 2003/9/EG), Qualifikations- (RL 2004/83/EG) und Asylverfahrensrichtlinie (RL 2005/8S/EG) (vgl. Holzberger 2003, S. 112 f.). Der Umsetzungsprozess der Beschlüsse von Tampere wurde durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und vom 11. März 2004 in Madrid erheblich beeinflusst und erfuhr eine noch stärkere sicherheitspolitische Ausrichtung als schon zuvor. Dies wurde in den Beschlüssen über elektronische Datenbanken deutlich (vgl. SIS I und II; VIS; FADO; EURODAC sowie Haase/Jugl 2007). Oberstes asylrelevantes Ziel des FÜllfjahresprogramms von 2004 zur Festlegung der Leitlinien fiir die Innen- und Justizpolitik zwischen 200S und 2010 war neben dem Hauptaugenmerk - Terrorismusbekämpfung mit Betonung des Sicherheitsaspektes - der Aufbau eines gemeinsamen Asylverfahrens und ein EU-weit gültiger und einheitlicher Rechtsstatus für Personen, die eines internationalen Schutzes bedürfen (KOM 200S/C 53/01). Unter der sicherheitspolitischenAusrichtung war die Bekämpfung der irregulären Einwanderung, des Schlepperunwesens und der Schutz der Außengrenzen durch die Schaffung eines eigens dafiir vorgesehenen Organs (Frontex: frz.jrontieres exterieures: "Europäische Agentur fiir die ope-
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rative Zusammenarbeit an den Außengrenzen") auf EU-Ebene von großer Bedeutung (vgl. Bende12006, S. 128). Die erste Phase des Haager Programms wurde 2006 mit der Schaffung von vier zentralen Rechtsinstrwnenten zur Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen der Mitgliedstaaten anband gemeinsamer Mindeststandards abgeschlossen (vgl. Haase/Jugl 2007): Verordnung (EG) Nr. 343/2003-Dublin, Richtlinie 2003/9IEG-,,Aufnahmebedingungsrichtlinie", Richtlinie 2004/831EG ,,Anerkennungsrichtlinie" bzw. "Qualifikationsrichtlinie" und die Richtlinie 2005/85IEG"Asylverfahrensrichtlinie". Die zweite Phase des Haager Programms, die eine weitere Vereinheitlichung von Standards und ein höheres Schutzniveau fokussiert, endete 2010 (vgl. Haase/JugI2007). Basis für die Gestaltung des Nachfolgeprogramms des aktuellen Haager Programms ist der während der französischen Ratspräsidentschaft 2008 von den europäischen Staats- und Regierungschefs angenommene Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl (vgl. CONSILIUM 2008). Dieser setzt die Leitlinien für eine zukünftige Gestaltung der europäischen Einwanderungs- undAsylpolitik fest (vgl. Europa IP/09/1552, KOM(2008) 360). Neben der Steuerung legaler Migration und Integration liegt sein Fokus auf der Stärkung der Außengrenzen und der Bekämpfung der irregulären Migration. In diesem Zusammenhang wurde zuvor, im Juni 2008, eine Rückfiihrungsrichtlinie vom Europäischen Parlament verabschiedet: Personen, die nach Aufforderung in einem Zeitraum von sieben bis dreißig Tagen nicht ausreisen, droht eine sechs- bis achtzehnmonatige Haftstrafe (vgl. Europäisches Parlament 2008). Das Nachfolgeprogramm des Haager Programms sieht ab 2010 im Bereich Asyl neben der Einrichtung einer europäischen Asylunterstützungsagentur (EASO - European Asylum Support Office) und der weiteren Vereinheitlichung der Asylverfahren bis spätestens 2012 eine Qualitätsverbesserung der Einzelentscheidungen der Mitgliedstaaten und eine besondere Berücksichtigung geografisch belasteter Mitgliedstaaten vor (vgl. Bende12008, S. 14). Ein vom Europäischen Parlament im Mai 2009 verabschiedetes Gesetzespaket mit dem Ziel der Schaffung stärkerer Solidaritätsmaßnahmen und der Stärkung der Rechte von Asylsuchenden bringt Veränderungen in der Richtlinie über dieAufnahmebedingungen für Asylsuchende, der Dublin-Verordnung und EURODAC (vgl. Bende12008, S. 14). Im Oktober 2009 legte die Europäische Kommission die letzten Vorschläge für ein gemeinsames europäisches Asylsystem vor (KOM 2009a). Das aktuelle Gesetzespaket beinhaltet eine schnellere Entscheidung über Erstanträge in der EU (innerhalb von sechs Monaten), eine genauere Erfassung der Gründe für
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen 211
Asylgewährung, eine stärkere Anerkennung geschlechtsspezifischer Gründe von Verfolgung und gleiche Bedingungen fiir Asylanträge überall in der Europäischen Union (KOM 2009a). Innerhalb einer Frist von zwei Jahren müssen die Gesetzesänderungen in nationales Recht umgesetzt werden. Spätestens 2012 soll das gemeinsame Recht in Kraft treten. Bezüglich der Umsetzung der Vorschrift zur Verkürzung des Abschlusses von Erstverfahren innerhalb von sechs Monaten will die Kommission den Mitgliedstaaten eine zusätzliche Übergangsfrist von drei Jahren gewähren (KOM 2009a). Das aktuelle, von der schwedischen Ratspräsidentschaft im Juli 2009 vorgelegte Stockholm- Programm legt die Grundzüge der Asyl- und Migrationspolitik fiir den Zeitraum 2010 bis 2014 fest. Mit der Betonung der Notwendigkeit von Prävention, Kontrolle und Bekämpfung "illegaler" Migration angesichts des wachsenden Drucks durch "illegale" Migrationsflüsse, dem die EU und besonders die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen ausgesetzt sind, werden Maßnahmen zur Bekämpfung der irregulären Migration vorgeschlagen, die die Einfiihrung eines Ein- und Ausreiseregisters sowie eine ZUfÜckhaltendere Vergabe von Visa beinhalten (vgl. Stockholm-Programm, EU-Ratspräsidentschaft 2009, S. 4). Verschärfte Grenzkontrollen sollen nicht den Zugang von Schutzbedürftigen zu Schutzsystemen der EU verwehren (vgl. Stockholm-Programm; EU-Ratspräsidentschaft 2009, S. 56). Angesichts der oft prekären Lebensbedingungen von Asylbewerber(inne)n in den südlichen Mitgliedstaaten der EU wird eine Verbesserung der Behandlung der durch Frontex aufgegriffenen Zuwanderer sowie Lastenteilung (hurden sharing) fiir Flüchtlinge unter den EU-Mitgliedstaaten anvisiert. Der Zugang zur EU fiir Personen, die internationalen Schutzes bedürfen, soll effektiver und effizienter gestaltet werden. Schutzbedürftigen Personen soll der Zugang zu rechtlich sicheren und effizienten Asylverfahren gewährleistet werden (vgl. Stockholm-Programm; EU-Ratspräsidentschaft 2009, S. 5). Ebenso werden Vorschläge zur Entwicklung eines Programms fiir zirkuläre Migration zwischen dem EU-Raum und Entwicklungsländern diskutiert.
3. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik Italiens 3. J Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland Italien galt lange Zeit als klassisches Auswanderungsland: Mehr als 25 Millionen Italiener(innen), vorwiegend aus Mittel- und Süditalien, migrierten zwischen 1876 und 1976 aufgrund von schlechten, ärmlichen Lebensbedingungen und einer hohen Arbeitslosenquote (beides besonders in Süditalien) nach Nord-, Mit-
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tel- und Südamerika und in industrialisierte europäische Länder, die einen starken Arbeitskräftebedarf hatten, wie zum Beispiel Frankreich und Deutschland (vgl. Martiniello 1992, S. 196). Emigration sowie Rücküberweisungen und Investitionen sollten soziale Probleme und politische Spannungen im Herkunftsland mindern und einen positiven Beitrag zu italienischen Wirtschaft leisten (vgl. ContelJ De Biase 1999, S. 228). Nach der Weltwirtschaftskrise 1973/74 wurde sich Italien zum ersten Mal der Einwanderung bewusst. Einen bedeutenden Anstieg von Einwanderern verzeichnete Italien allerdings erst in den 1980er-Jahren: Mit jährlich 300.000 eingereisten Migrant(inn)en wurde es zu einem wichtigen Einwanderungsland (vgl. PapademetriouJHamilton 1996, S. 40). Ausschlaggebend für den Wandel vom Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland war der Wirtschaftsboom Norditaliens in den 1960er-Jahren: Die stetig wachsende Differenz zu den Entwicklungsländern und die damit verbundene Hoffuung auf bessere Lebensbedingungen fungierten als wesentlicher Pull-Faktor für Migrant(inn)en aus den Herkunftsregionen (vgl. Einaudi 2007, S. 51). Politische Maßnahmen und gesetzliche Regelungen zur Steuerung und Strukturierung des Zustroms existierten bis 1986 nicht.
3.2 Flüchtlinge und Asylsuchende in Italien Italien zählte im Jahr 20073.432.651 ausländische Staatsangehörige (5,7 % der Gesamtbevölkerung von 59.131.000). Im Vergleich zum VOljahr wuchs ihre Zahl um 493.729 (plus 16,8 %). Dem nationalen italienischen Statistikinstitut (ISTAT) zufolge war dies der höchste Anstieg in der italienischen Einwanderungsgeschichte. Als Ursache wird der hohe Zuwachs an rumänischen Einwanderern angegeben (ISTAT 2008V 39.177 Personen wurden 2007 eingebürgert. Ende 2007 zählte Italien 350.000 irreguläre Einwanderer (8,7 % aller Ausländer(innen) in ltalien).2 Diese Zahl ist im Vergleich zum VOljahr um 46,3 Prozent zurückgegangen. Der UNHCR registrierte im Jahr 200738.068 Flüchtlinge in Italien (vgl. UNHCR 2008).2008 stieg die Zahl der Flüchtlinge auf 47.000 an (vgl. UNHCR Italien 2009c). 14.053 Personen stellten 2007 einen Asylantrag (Erstantrag). Davon wurden 13.509 Anträge (96, I %) folgendermaßen entschieden: 10408 Asylbewerber(innen) (10,4 %) wurden als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt,
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Die Zahl der Rumänen stieg im Vergleich zum Jahr 2006 um 82,7 % (283.078 Personen) (ISTAT). Verlässliche Daten über irreguläre Migration liegen kaum vor. In Italien spielt des Weiteren die Unterscheidung von irregulären Irnmigram(inn)en und clandestini eine wichtige Rolle: Irreguläre Immigrant(inn)en reisen mit gültigen Papieren (Aufenthaltsgenehmigung) ein und verschwinden nach Ablauf der Genehmigung; clandestini reisen ohne gültige Papiere ein.
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen 213
6.318 (46,7 %) erhielten einen humanitären Schutzstatus, 4.908 Anträge wurden abgelehnt (36,3 %) (vgl. CIR 2008b). Im Jahr 2008 verdoppelte sich die Zahl der Asylbewerber(innen) (30.324). Von 21.447 Personen (70,7 %) wurden 1.785 (8,3 %) als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt, 8.234 (38,4 %) erhielten einen humanitären Schutzstatus, 10.379 Anträge (48,4 %) wurden negativ beschieden (vgl. UNHCR Italien 2009c). Im Jahr 2009 ging die Zahl der Asylanträge im Vergleich zum VOljahr um fast die Hälfte zurück (17.603). Von den insgesamt 23.944 geprüften Anträgen wurden 7.424 (31 %) mit einem internationalen Schutzstatus beschieden (2.230 Flüchtlingsstatus, 5.194 subsidiärer Schutz). 2.149 Personen (9 %) erhielten humanitären Schutz. 12.410 (52 %) wurden nicht anerkannt; 1.961 (8,2 %) hatten einen anderen Ausgang. Somit sind im Jahr 2007 mehr als 57 Prozent aller geprüften Asylanträge positiv beschieden worden und Asylbewerber(innen) erhielten eine Form des internationalen Schutzes (2006 ca. 56 %). Im Jahr 2008 waren es 46,7 Prozent (vgl. UNHCR Italien 2009c). Im Jahr 2009 sank die Zahl der positiv beschiedenen Anträge auf 40 Prozent (vgl. CIR 2009d). Die meisten Asylsuchenden kommen aus Afrika (60 %), vor allem aus Eritrea, Nigeria, Elfenbeinküste, Somalia und Ghana. 22 Prozent der Flüchtlinge kommen aus Europa, besonders aus Serbien-Montenegro, 17 Prozent stammen vom asiatischen Kontinent (vor allem aus Afghanistan) (vgl. CIR 2008b). Anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention kommen hauptsächlich aus Eritrea, Afghanistan, Äthiopien und dem Sudan. Unter den Empfängern des sogenannten humanitären Schutzes befinden sich vor allem Personen aus Eritrea, Elfenbeinküste, Somalia und Afghanistan (vgl. CIR 2008b). Von den Bootsflüchtlingen stellten 70 bis 75 Prozent einen Asylantrag. 2008 wurden ca. 50 Prozent dieser Personen anerkannt und erhielten eine Form des internationalen Schutzes; 2007 waren es 65 Prozent (vgl. UNCHR Italien 2009d). Zwar verzeichnet Italien im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur wenige Asylanträge (vgl. Tabelle 1), jedoch wird die Mehrzahl der Anträge von Personen aus Afrika gestellt, die über das Mittelmeer nach Italien kommen (vgl. UNHCR Italien 2009c und d). Verglichen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten entfallt nur ein geringer Anteil aller gestellten Asylanträge auf die südeuropäischen EUStaaten Italien, Malta, Zypern, Griechenland und Spanien - 2007: 54.523 (27,6 %) von 197.553 insgesamt; 2008: 60.704 (26,5 %) von 228.859 insgesamt (vgl. UNHCR Italien 2009c und 2009d; EUROSTAT).
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Tabelle 1: Asylanträge 2007 und 2008 Asylanträge 2007
Asylanträge 2008
Schweden
36.205
Frankreich
41.845
Frankreich
29.160
Vereinigtes Königreich
30.545
Vereinigtes Königreich
27.905
Italien
30.324
Griechenland
25.115
Deutschland
26.945
Deutschland
19.165
Schweden
24.875
Italien
14.053
Griechenland
19.885
Österreich
11.920
Belgien
15.940
Belgien
11.575
Niederlande
15.255
Spanien
7.195
Österreich
12.750
Niederlande
7.100
Spanien
4.440
Zypern
6.780
Zypern
3.450
Malta
1.380
Malta
2.605
Quelle: EUROSTAT
In Italien hatten Flüchtlinge lange Zeit keinen sicheren Rechtsstatus. Eine effektive Migrations- und Asylpolitik fehlte gänzlich. Erst 1986 wurden erste Regelungen erlassen, die allerdings keine asylrechtlichen Bestimmungen beinhalteten. Die besondere Situation von Flüchtlingen und Asylsuchenden wurde erst 1990, mit der Aufhebung der geografischen Beschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention durch das Gesetz 39/1990 (legge Martelli) zur Kenntnis genommen. Die späte Entwicklung dieses Politikfeldes und der rechtlichen Rahmenbedingungen hat unterschiedliche gesellschaftliche, sozio-historische und politische Motive. Maßgeblich für die fehlende Existenz einer umfassenden Politikgestaltung und Gesetzgebung ist Italiens lange Geschichte als traditionelles Auswanderungsland (vgl. Delle Donne 1995, S. 45).
3.3 Gesetzgebung im Bereich Migration und Asyl Italien ist der einzige Mitgliedstaat in der Europäischen Union ohne eigenständige Asyl-Gesetzgebung (vgl. UNHCR Italien 2009b und c). Trotz des in der italienischen Verfassung garantierten Asy lrechts (Art. 10), sieht sein Rechtssystem weder ein Asylgesetz zu dessen Implementierung noch Regelungen in Bezug auf internationalen Schutz vor (vgl. Delle Donne 1995, S. 32). Die einzige Möglichkeit, Asyl zu erhalten, besteht im Rechtsweg, auch in Fällen, die nicht durch die Genfer Flüchtlingskonvention geregelt sind (vgl. Cicero Foundation 2002).
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen 215
In Übereinstimmung mit den konstitutionellen Inhalten stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 - die wichtigsten von Italien ratifizierten internationalen Konventionen im FlüchtlingsundAsylbereich (vgl. LanglNascimbene 1997, S. 51). Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde allerdings unter Vorbehalt einer temporalen und geografischen Restriktion ratifiziert. Die temporale Einschränkung wurde 1970, die geografische 1990 aufgehoben (vgL Einaudi 2007, S. 49). Als Ergebnis seiner langen Emigrationsgeschichte und der späten Transformation in ein Einwanderungsland fehlte in der italienischen Gesellschaft und Politik lange Zeit nicht nur die Auseinandersetzung mit einwanderungspolitischen Themen, sondern vor allem die Verabschiedung geeigneter Gesetze zur Regelung von Einreise und Aufenthalt von Zuwanderern. Die Bedeutung migrationspolitischer Themen spiegelt sich in der öffentlichen Diskussion wider: Die Flüchtlingsdebatte in Italien ist durch eine fehlende rechtsgestützte Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie durch die lange Abwesenheit des Flüchtlingskonzepts und des Begriffes "Flüchtling" im öffentlichen Diskurs gekennzeichnet. Dies verdeutlicht die variable Definition von Flüchtlingen als Personen ohne reguläres Visum, Asylsuchende, illegale Migrant(inn)en oder Nicht-Personen (vgl. CapussottiILiliana 2003, S. 149). Initiativen der italienischen Regierungen im Flüchtlings- und Asylbereich waren seit Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention 1954 bis zur Verabschiedung der legge Martelli 1990 durch eine Politik der vorübergehenden Aufnahme und geringen Unterstützung gekennzeichnet (vgl. Delle Donne 1995, S. 163). Italiens eigene Wahrnehmung als Transitland - und nicht als Staat, der dauerhaft Asyl gewährt, - und die dementsprechende zeitweilige Aufnahme und Aufenthaltsplanung von Flüchtlingen, rechtfertige in zunehmendem Maße die fehlenden Regelungen im Bereich der sozialen Integration von Flüchtlingen (vgl. Delle Donne 1995, S. 159). Des Weiteren trug die tendenzielle Wahrnehmung von Flüchtlingen als hilfsund unterstützungsbedfuftige Personen, anstatt als Bfuger(innen) mit Rechten und Pflichten, zur Übertragung der Verantwortung aufFreiwilligenorganisationen anstelle von Institutionen aufRegierungsebene bei (vgl. Delle Donne 1995, S. 163). Nach einer langen Zeit der Abwesenheit jeglicher dauerhafter und stabiler umfassender Regelungen in der italienischen Gesetzgebung ist heute das Gesetz 286/1998 (Turco-Napolitano), geändert durch das Gesetz 189/2002 (Bossi-Fini) und aktuell durch das Gesetz 94/2009 (Pacchetto Sicurezza), grundlegend für alle einwanderungsrechtlichen Aspekte und somit auch für Asyl und den Flüchtlingsschutz (vgl. Einaudi 2007, S. 44).
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Bis zur Verabschiedung des ersten umfassenden Gesetzes zur Regelung der Einwanderung von Immigranten im Jahre 1986 regelten polizeiliche Gesetzesdekrete aus dem Jahr 1931 die Anwesenheit von Zugewanderten auf italienischem Territorium. Aufnahme und Zurückweisung von Immigrant(inn)en lagen im Ermessen der Polizei (vgl. Schierup u.a. 2006, S. 186). Die Gesetzesdekrete betrafen alle Migrant(inn)en; die besondere Situation von Flüchtlingen und Asylsuchenden wurde nicht berücksichtigt. Erste Regelungen, die relevante Bedingungen und Verfahren zur Gewährung des Flüchtlingsstatus basierend auf der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbaren, wurden vom italienischen Parlament erst 1990 mit der Aufhebung der geografischen Einschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet (vgl. Calavita 2004, S. 367). Zwar wurden zwischen 1931 und 1986 verschiedene ministerielle Dekrete mit dem Ziel des Aufbaus eines legalen Einwanderungssystems, der Kontrolle irregulärer Einwanderung und der Schließung von Arbeitsmarktlücken erlassen. Diese erfuhren allerdings erhebliche Kritik, da sie lediglich kurzfristige Lösungsansätze vorsahen und sich auf Notfallsituationen konzentrierten, ohne eine Langzeitplanung oder etwa ein gezieltes Migrationsmanagement einzubeziehen (vgl. ContelIDe Biase 1996, S. 236). Ausschlaggebend für die Verabschiedung des Gesetzes 943/1986 (legge Foschi) unter der Regierung von Bettino Craxi (PSI - Partito Socialista Italiano - Sozialistische Partei Italiens) und seiner Mitte-Links-Koalition waren die steigenden EinwandererzahlenAnfang der 1980er-Jahre. Das Gesetz regelte Arbeitsmigration und irreguläre Einwanderung und zog eine anschließende Regularisierungsperiode nach sich, ließ allerdings - zulasten von Italiens fortdauernd laxem Image Einreise und aufenthaltsrechtliche Aspekte außer Acht. Erst das Gesetz 39/1990, die sog. legge Martelli, regelte diese Bereiche. Trotz seiner Attribution als offen und liberal repräsentierte die legge Foschi den ersten ernsten Versuch, die Migrationspolitik zu umreißen (vgl. Martiniello 1992, S. 207 f.). Weitere Versuche der Gestaltung einer kohärenten Migrationspolitik führten unter dem Einfluss nördlicher Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft, die die ungewollte Einreise der clandestini über Italien in weitere Mitgliedstaaten zur Zeit der Abschaffung der Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft befürchteten, zu einer restriktiven Ausrichtung der italienischen Maßnahmen. Neben der bestehenden Position der polizeilichen Instanzen und unterschiedlichen Interpretationen von Kriterien und Verwaltungspraktiken im ganzen Land wurden stärkere Kontrollmaßnahmen und leichtere Abschiebemöglichkeiten entwickelt, was zu einer Kriminalisierung der Einwanderung führte und Einwanderer immer weiter in den Untergrund abdrängte (vgl. Schierup u.a. 2006, S. 187 f.).
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen 217
Unter stärkerer Berücksichtigung der soziokulturellen Integration von Einwanderern sollte das von der Regierung Giulio Andreotti (PPI - Partito Popo/are ltaliano - Italienische Volkspartei) und seiner Mitte-Links-Koalition verabschiedete Martelli-Gesetz (legge Martelli) zur Gestaltung einer fairen Flüchtlingspolitik beitragen und bessere Kontrollmaßnahmen für Einreise und Aufenthalt von Ausländer(inne)n in Italien entwerfen (vgl. Contel/De Biase 1996, S. 237). Auch das Gesetz 39/1990 zog eine anschließende Regularisierungsphase zur Legalisierung irregulärer Migranten - dieses Mal unabhängig von ihrem Arbeitsstatus nach sich (vgl. Martiniello 1992, S. 208). Neben der Einführung weiterer jährlicher Quoten für den italienischen Arbeitsmarkt und der Betonung von Sicherheitsaspekten, welche die Möglichkeit sofortiger Kollektivabschiebungen irregulärer Einwanderer (inkl. Flüchtlinge und Asylsuchende ohne Dokumente) nach der Legalisierungsperiode beinhalten, scham das Gesetz 39/1990 die geografische Restriktion der Genfer Flüchtlingskonvention ab und erweitert demnach den Flüchtlingsbegriff auf alle Menschen ungeachtet dessen, ob es sich um Europäer handelt oder nicht (vgl. Einaudi 2007, S. 152 und S. 155). Das Martelli-Gesetz berücksichtigt erstmals Flüchtlinge und schreibt wesentliche Regeln für die Aufnahme von Asylsuchenden und für Asylverfahren in Italien fest (vgl. Martiniello 1992, S. 208). Allerdings bezieht sich das Gesetz weder auf Artikel 10 der italienischen Verfassung noch erwähnt es den Terminus "Asyl". Zwar regelt es die Asylfälle, die der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen, sichert aber keine Anwendung der Vorkehrungen aus Art. 10 (3) der italienischen Verfassung. Auch die späteren Veränderungen aus der legge Bossi-Fini zeigen keine Veränderungen in diesem Feld: Eine echte organische Regelung fehlt (vgl. Delle Donne 1995, S. 33). Das Gesetz bildet den Rahmen zur Regulierung von Einwanderung, wurde aber hauptsächlich aufgrund von Forderungen anderer EU-Staaten nach einer strikteren italienischen Migrationspolitik als notwendige Voraussetzung für die Aufnahme Italiens in die Schengen-Gruppe auf den Weg gebracht und verabschiedet (vgl. PapademetriouIHamilton 1996, S. 48). Die Aufhebung der geografischen Restriktion der Genfer Flüchtlingskonvention war eine weitere Notwendigkeit und Voraussetzung zur Unterzeichnung der Dublin-Konvention und des Schengener Abkommens (vgl. Einaudi 2007, S. 152). Es wurde trotz Kritik an seinem laxen Charakter - vor allem von Republikanern, Neo-Faschisten und nördlichen Regionalisten - verabschiedet und Italien unterzeichnete das Schengen-Abkommen anschließend im November 1990 (vgl. Martiniello 1992, S. 209).
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Zwar verbessert das Gesetz durch die Abschaffung der Maßnahmen aus den Polizeidekreten von 1931 die rechtliche Situation von ausländischen Arbeiter(inne)n und deren Familien sowie von Asylsuchenden, verdeutlicht jedoch zugleich den nur partiellen, provisorischen, auf Notsituationen konzentrierten Charakter der Legislativmaßnahmen in Bezug auf schutzbedürftige Personen: Lediglich der Artikel "Dringende Maßnahmen bzgl. politisches Asyl, Einreise und Aufenthalt von Nicht-EU-Bürgern und Staatenlosen" bezieht sich auf Flüchtlinge (Einaudi 2007, S. 155). Eine umfassende Aslyregelung wurde aufgeschoben und mündete letztendlich lediglich in einzelnen, als Provisorien angesehenen Artikeln der legge Bossi-Fini aus dem Jahr 2002 (vgl. Einaudi 2007, S. 152). Die Ausarbeitung neuer juristischer Regelungen im Einwanderungsbereich und die Angleichung der Politik auf der Basis bindender Verpflichtungen innerhalb des Vereinheitlichungsprozesses der Europäischen Union waren notwendige Voraussetzung der fortschreitenden Europäisierung des Politikbereichs und somit unerlässlich (vgl. Einaudi 2007, S. 207). Resultat war die Konzeption und Verabschiedung der [egge Turco-Napolitano 3 der Mitte-Links Regierung von Romano Prodi im Jahr 1998. Dieses Gesetz verband zum ersten Mal jegliche bis dahin gültige Gesetzgebung im Migrationsbereich mit einer Anpassung der administrativen Strukturen. Es gilt als erstes Einwanderungsgesetz, das ernsthaft und konkret eine langfristige Eingliederung von Migrant(inn)en in die italienische Gesellschaft und das italienische Wohlfahrts system regelt (vgl. Schierup u.a. 2006, S. 189). Im Zentrum stehen der schnellere Abschluss von Rückübemahme-Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern und verstärkte Ausweisungspolitiken (vgl. Einaudi 2007, S. 207). Anfang des Jahres 2000 beschlossen Umberto Bossi (Lega Nord) und Silvio Berlusconi (Forza Italia) ein Wahlübereinkommen mit dem Fokus auf ein neues Einwanderungsgesetz (vgl. Einaudi 2007, S. 296). Die Radikalisierung des Themas beeinflusste das Klima im gesamten Land und stieß eine polarisierte Debatte der Migrations- und Einwanderungspolitik an: Linkswähler standen der Einwanderung und Migration eher wohlwollend gegenüber; Rechtswähler opponierten gegen Einwanderung. Das Einwanderungsthema wurde hauptsächlich zur Mobilisierung von Wähler(inne)n instrumentalisiert (vgl. Einaudi 2007, S. 300 tf.). Die letzte und aktuellste Gesetzgebung in Italien bzgl. Einwanderung und Migration mit dem Titel "Änderung der Gesetzgebung betreffend Immigration und Asyl" (Modifica alla normativa in materia di immigrazione e di asilo) wurde 2001 von Berlusconis Mitte-Rechts-Regierung verabschiedet und trat 2005 in 3
Der vollständige Titel lautet: Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell'immigrazione enorme sulla condizione dello straniero.
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen 219
Kraft. Es veränderte die bisherige Gesetzgebung in restriktiver Weise, mit einem Fokus auf steigende Abschiebungen und Einschränkung der legalen Migrationsbewegungen (vgl. Einaudi2007, S. 311). Trotz der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zur Legalisierung von mehr als 600.000 irregulären Migrant(inn)en erfolgte eine gleichzeitige Stigmatisierung und Kriminalisierung der ausländischen Staatsangehörigen durch Medien, Öffentlichkeit und Politiker. Noch aus der alten Gesetzgebung hervorgegangene potenzielle legale Möglichkeiten für Migrant(inn)en wurden im Keim erstickt (vgl. Schierup u.a. 2006, S. 190 ff.). Auf institutioneller Ebene wurde innerhalb der Abteilung für Öffentliche Sicherheit des Innenministeriums ein zentrales Direktorat der Einwanderungs- und Grenzpolizei (Polizia delI 'lmmigrazione e delle Frontiere) eingerichtet. Der Polizei wurden so wachsende Kontroll- undAbschiebebefugnisse zugeschrieben; ebenso wurde die lokal administrative Ermessensfreiheit gestärkt (vgl. Polizia di Stato 2007). Wegen Uneinigkeit in den politischen Lagern, die aus der Befürchtung resultiert, eine günstigere Behandlung von Flüchtlingen könnte als Full-Faktor wirken, wurden im Asylbereich lediglich zwei Artikel in Erwägung gezogen, die einige Vorkehrungen berichtigen, während weiter auf eine organische Asylregelung gewartet wird (vgl. Einaudi2007, S. 343). Kapitel II bzgl. der Asylregelungen beeinflusste die asylrelevanten Maßnahmen durch die Einführung eines beschleunigten Verfahrens maßgeblich, was gleichzeitig die einzige Innovation des Gesetzes darstellt. Besagtes Verfahren betriffi vor allem sich irregulär aufhaltende Immigrant(inn)en, die ohne Papiere eingereist oder im Besitz einer Abschiebungsaufforderung sind. Des Weiteren sieht das Gesetz den Aufenthalt von Asylsuchenden in sog. Identifikationszentren vor (CDI - Centri di Identijicazione)4 (vgl. Einaudi2007, S. 344). Die Einrichtung von lokalen Kommissionen in Regionen mit einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen und in der Nähe von bereits existierenden Aufnahmezentren soll die Asylverfahren dezentralisieren und eine schnellere Untersuchung der Asylgtünde gewährleisten (vgl. Einaudi 2007, S. 344). Das erst kürzlich verabschiedete "Sicherheitspaket" (Pacchetto Sicurezza) ändert die Gesetzgebung im Migrationsbereich auf restriktive Weise. Unter dem Aspekt der öffentlichen Sicherheit werden hinsichtlich der Maßnahmen zur Eindämmung der irregulären Migration Regelungen bezüglich der Einreise, der Aufenthaltsgenehmigung, des Erwerbs der Staatsangehörigkeit und des Familiennachzugs verschärft (vgl. Ministero dell'Intemo, Mitteilung zur Gesetzgebung im Bereich der Öffentlichen Sicherheit). Demzufolge werden die "illegale Einreise" 4
Im Jahr 2008 erfolgte die Umbenennung in Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo (CARA) - Aufuahrnezentren für Asylsuchende.
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und der "illegale Aufenthalt" in Italien als Straftat eingeführt, die mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis zu vier Jahren geahndet wird.
3.4 A"nderungen im Asylbereich aufgrund der Europäisierung Durch den fortschreitenden Vereinheitlichungsprozess der Flüchtlings- undAsylpolitik und die Implementierung europäischer Richtlinien in nationales Recht erfuhr die italienische Gesetzgebung wesentliche Änderungen. 2005 wurde die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber (2003/9/EG) durch Gesetzesdekret 140/2005 in nationales Recht umgesetzt (vgl. UNHCR Italien 2009c). Im Jahr 2007 folgte die Implementierung der Qualifikationsrichtlinie (2004/83/ EG) durch Gesetzesdekret 25112007 und die Aufnahme der Verfahrensrichtlinie (2005/85/EG) in nationales Recht durch Gesetzesdekret 25/08. Die europäischen Gesetzesmaßnahmen schafften stärkere Schutzmaßnahmen als es die bisherige italienische Gesetzgebung zuließ: Flüchtlinge, Asylsuchende und Empfanger subsidiären Schutzes genießen nun ein höheres Schutzniveau, mehr Garantien und die Sicherung des Rechts auf Asyl (vgl. CIR 2009c). Einige wesentliche Änderungen gingen mit der Implementierung der europäischen Legislativmaßnahmen einher. So sah die italienische Gesetzgebung, außer einer Aufenthaltserlaubnis für ernste Gründe speziell humanitären Charakters, beispielsweise keine subsidiären Schutzmaßnahmen vor (Art. 5, Komma 6 des Gesetzes 286/1998). Des Weiteren ist die bisherige, aus der legge Martelli hervorgehende Regelung der Entscheidungsgewalt der Grenzpolizei über die Prüfung der Aufuahmekriterien (Art. 1, Komma 4) nichtig: Nach Entgegennahme des Asylantrags muss dieser nun an die verantwortliche territoriale Kommission weitergeleitet werden, die nach Art. 29 der Verfahrensrichtlinie über Aufnahme oder NichtAufnahme entscheidet (vgl. CIR 2009c). Die Implementierung der Maßnahmen aus den europäischen Richtlinien in nationales Recht führte in Italien das Recht aufFarniliennachzug ein. Außerdem wurde die aufschiebende Wirkung bei Berufung an juristische Instanzen aufgrund der Anfechtung eines negativen Bescheides anerkannt (vgl. UNHCR Italien 2009c). Die [egge Bossi-Fini sah eine verpflichtende Haft für alle Immigrant(inn)en vor, die abgeschoben oder abgewiesen werden sollten. Artikel 21 des Gesetzes, das die Verfahrensrichtlinie in nationales Recht umsetzt (Gesetzesdekret 25/08), beschränkt die Inhaftnahme im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention jedoch auf solche Personen, die "Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke" begangen haben (Art. 1, Par. F), die für eine Straftat in Italien verurteilt sind oder einen Abschiebungsbefehl erhalten haben. Nach Art. 20 des Ge-
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setzes zur Umsetzung der Verfahrensrichtlinie kann außerdem kein Asylbewerber ausschließlich zur Prüfung seines Asylantrags in Haft genommen werden. Die Unterbringung von Asylsuchenden in Aufuahmeeinrichtungen darf lediglich zur Feststellung der Identität bei Nicht-Vorlage von Ausweispapieren bzw. bei Besitz falscher Dokumente, beim Versuch der Täuschung der Grenzpolizei oder bei vorherigem illegalen Aufenthalt erfolgen (vgl. CIR 2009c).
3.5 Italienisch-europäische Kooperation Die wachsende Vereinheitlichung verschiedener Politikfelder auf europäischer Ebene ist an gewisse Regeln und Grundsätze gebunden. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten unterliegt dem gemeinsamen Solidaritätsprinzip, das durch den Respekt vor Legislativmaßnahmen, Entscheidungen und Regelungen der Europäischen Union und durch Einhaltung gemeinsam ausgearbeiteter Regeln auch in Abwesenheit von Kontrollmaßnahmen charakterisiert ist (vgl. LanglNascimbene 1997, S. 56). Italien ist als GfÜndungsmitglied der Europäischen Union ein bedeutender EU-Mitgliedstaat, wurde allerdings immer wieder von anderen europäischen Regierungen und italienischen Migrationsexperten für seine nachlässige Arbeit in Richtung einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik kritisiert (vgl. Contel/ De Blase 1996, S. 240). Zu laxe Grenzkontrollen, Italiens Image als" gateway to Europe" (siehe Martiniello 1992, S. 207), das Fehlen einer umfassenden Migrationspolitik und der Druck zur Änderung seiner Politik in diesem Bereich verdeutlichen den Einfluss des europäischen Integrationsprozesses auf Italiens nationale Politik (vgl. Martiniello 1992, S. 207). Die italienische Migrationspolitik wurde lange Zeit von italienischen Politikern und anderen EU-Mitgliedstaaten als liberal angesehen. Der Beitrag ausländischer Arbeitskräfte zur italienischen Wirtschaft wurde von Politik, Öffentlichkeit und Arbeitgebern lange als ökonomisch nützlich betrachtet. Besonders die Schattenwirtschaft erhoffte sich durch billige Arbeitskräfte, für die keine Sozialabgaben und keine weiteren Leistungen zu zahlen waren, große Vorteile (vgl. Einaudi 2007, S. 149). Die Kritik an Italiens kurzfristigen administrativen Dekreten, zeitweiligen Regelungen, seiner einseitigen Konzentration aufNotfallsituationen sowie an einer fehlenden umfassenden Herangehensweise bzgl. Einwanderungs- und Asylaspekten führte, hauptsächlich als Ergebnis des Drucks von anderen Mitgliedstaaten, zur Anpassung an europäische Standards. Resultat ist die Entwicklung einer restriktiven Migrationspolitik, die gleichzeitig Ausdruck und Konsequenz der Ein-
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stellung gegenüber Migration seitens der fiihrenden Parteien und Regierungskoalitionen ist (vgl. Einaudi 2007, S. 149). Die Angst vor der "Invasion" unkontrollierter Massen, die auflegalem Wege nach Italien einreisen und dann im Untergrund verschwinden, die Verbindung von Kriminalität und Migration, die Wahrnehmung von Migrant(inn)en als Bedrohung und als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und die Befiirchtung, die Einwanderer würden das Wohlfahrtssystem ausnutzen, bestimmte das öffentliche Klima nicht nur in Italien, sondern in der gesamten Europäischen Union. Ebenso überwog eine generelle Pauschalisierung von Einwanderern als Wirtschaftsmigrant(inn)en; häufig mangelte es an einer Differenzierung zwischen Arbeitsmigrant(inn)en, Flüchtlingen und Asylsuchenden (vgl. Delle Donne 1995, S. 48). Italiens größtes Anliegen im europäischen Kontext ist die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Kontrolle der irregulären Migration im Mittelmeerraum (vgl. PapademetrioulHamilton 1996, S. 47). Mit dem Hauptziel der Minderung des Emigrationsdrucks aus der nordafrikanischen Region setzt sich Italien in einem europäisch-mediterranen Kooperationsabkommen (vgl. Verordnung (EG) Nr. 1638/2006 zum Europäischen Nachbarschafts- und Parmerschaftsinstrument, ENPI) fiir die Überbrückung des wirtschaftlichen und demografischen Grabens zwischen Nordafrika und Südeuropa ein und plädiert fiir die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und fiir die Öffnung der EU-Märkte für Exporte aus Nordafrika durch Einrichtung einer europäisch-mediterranen Freihandelszone bis zum Jahr 2010 (vgl. LanglNascimbene 1997, S. 58). Ein weiterer Vorschlag auf europäischer Ebene war die Errichtung einer Grenzschutzagentur (später: Frontex) zur besseren Überwachung der Küstengrenzen. Die Ausarbeitung zahlreicher Mitteilungen und Projekte zur Umsetzung der ehrgeizigen Vorschläge von Tampere, initiiert von Romano Prodi, im Jahre 2000 Präsident der Europäischen Kommission, orientierten sich an folgenden Zielen: Verstärkung der Zusammenarbeit mit den wichtigsten Herkunftsländern von Flüchtlingen, Erleichterung von Arbeitsmigration in Einklang mit ökonomischen und demografischen Erfordernissen, Verteidigung des Rechts auf politisches Asyl sowie Kampf gegen Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (vgl. Einaudi 2007, S. 271 und S. 292). Wegen der konservativen Besetzung im Ministerrat und der konservativen Dominanz in den Regierungen der Mitgliedstaaten konnten jedoch viele Ziele nicht umgesetzt werden. Der Fokus der italienischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2003 lag neben der Einwanderung und der Bekämpfung des organisierten Verbrechens in der Eindämmung der irregulären Migration und der Ausnutzung legaler Migrationskanäle (vgl. Giuseppe Pisanu 2003). Innenminister Giuseppe Pisanu schlug
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gemeinsame Einwanderungsquoten im Bereich der legalen Arbeitsmigration als Alternative zur irregulären Einwanderung sowie den Abschluss von Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten vor (vgl. Einaudi 2007, S. 367). Das Vorhaben scheiterte jedoch am Widerstand anderer europäischer Regierungen. Des Weiteren setzte Pisanu einen Akzent auf Entwicklungshilfe für Herkunfts- und Transitländer. Mit dem Ziel der Stärkung von Europol, intensivierten Grenzkontrollen, der Bereitstellung finanzieller Ressourcen und der graduellen Implementierung einer Politik der Rückübemahme (readmission) betonte dagegen Berlusconi den Kampf gegen das transnationale organisierte Verbrechen und den Terrorismus unter Einbeziehung der klaren Verbindung zwischen Migration und Sicherheit, der irregulären Einwanderung und des Menschenhandels (vgl. Giuseppe Pisanu 2003). Berlusconi legt zweifellos ein starkes Gewicht auf den Kampf gegen illegale Einwanderung, auf Grenzkontrollen und Rücksendung in die Heimatländer; gleichzeitig ignoriert er dabei das Management der Zuströme, ihre Aufnahme und Rechte, die Priorität nachhaltiger Entwicklung und den Frieden in den Herkunftsländern. Romano Prodi setzte sich für die Einrichtung von Transitzentren an den Außengrenzen der EU zur Untersuchung von Asylgesuchen und für die Schaffung von regionalen Schutzzonen nahe der Herkunftsländer ein (vgl. Silvio Berlusconi 2003). Italien bekräftigte wiederholt, im Kampf gegen irreguläre Migration aufHilfe der EU angewiesen zu sein, und forderte Solidarität, gemeinsame Verantwortung und politische und finanzielle Unterstützung, um mit der "Last der Migration" fertigzuwerden (vgl. Einaudi 2007, S. 286). Umgekehrt drängte Italien die Europäische Union zur Einführung von Visa für Drittstaatsangehörige (I Visa für mediterrane Drittstaaten) und schlug die Einfiihrung von jährlichen Quoten zur Arbeitsmigration vor (vgl. Einaudi 2007, S. 160). Seine mangelnde Kooperation auf europäischer Ebene resultierte aus der Befürchtung, Italiens bilaterale Beziehungen zu Drittstaaten und der Abschluss von Verträgen mit diesen könnte von einer fortschreitenden Vergemeinschaftung beeinflusst werden (vgl. LanglNascimbene 1997, S. 56). Kritiker fordern einen ausgeglicheneren Ansatz, der die Integration von Einwanderern einschließt und ein Migrationsmanagement basierend auf wirtschaftlichen Bedürfuissen und auf Bedürfuissen von Einwanderern im Lichte einer humanitären Verpflichtung im Bereich der Migrations- und Asylpolitik vorsieht. Rechtsrnaßnahmen und Aufnahmebedingungen müssen die Werte aus der Grundrechte-Charta der Europäischen Union achten und einen alleinigen Fokus auf Militärmaßnahmen vermeiden (vgl. Silvio Berlusconi 2003). Andere Mitgliedstaaten kritisierten die italienische Regierung, nationale und europäische Interessen zu vermischen, indem sie Politiken zur Besänftigung der
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öffentlichen Meinung auf europäischer Ebene durchzusetzen versucht, um unbeliebte oder schwierige Maßnahmen auf interner Ebene, die mit internationalen Vereinbarungen bzw. Verträgen in Konflikt stehen könnten, zu umgehen (vgl. Einaudi 2007, S. 285). Nicht nur italienische, sondern auch auf europäischer Ebene getroffene Maßnahmen werden als Unterlaufen bzw. Aushöhlung des internationalen Flüchtlingsrechts gesehen (Schengen H, Dubliner Übereinkommen, Asylverfahrensrichtlinie) und korrespondieren nicht mit den Bestimmungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Bekämpfung irregulärer Migration: Das Beispiel Libyen Das Beispiel Libyen verdeutlicht nicht nur die italienische Herangehensweise an Themen wie Migration und Asyl, sondern veranschaulicht ebenso die europäische Position: Weder die Polemiken angesichts kollektiver Abschiebungen nach Libyen noch der fehlende Respekt des Asylrechts auf Lampedusa beeinflussten das steigende Interesse der Europäischen Union gegenüber Libyen. Italien spielte innerhalb der Wiederaufuahme der Kooperation der Europäischen Union mit Libyen die Hauptrolle (Einaudi 2007, S. 367). Die italienisch-libyschen Beziehungen im Migrationsbereich basieren hauptsächlich aufbilateralen Vereinbarungen - sie sind die juristische Basis für die Rückführung irregulärer Migrant(inn)en in Herkunfts- und Transitländer. Im Gegenzug werden Herkunfts- und Transitländern präferenzielle Quoten für legale Arbeitsmigration, intensivierte Entwicklungszusammenarbeit sowie technische und politische Unterstützung zugesagt (vgl. Einaudi 2007, S. 241 f.). Erschwert wird ein solcher Abschluss von Abkommen allerdings häufig durch den mangelnden Respekt vor bindenden Verpflichtungen von Seiten der Herkunfts- und Transitstaaten: Die Wahrnehmung von Emigranten als Ressource und Entlastung des einheimischen Arbeitsmarktes resultiert in Desinteresse und mangelndem Kooperationswillen zur Bekämpfung der irregulären Migration der Herkunfts- und Transitstaaten (vgl. Einaudi 2007, S. 269). Insgesamt hat Italien 22 Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten abgeschlossen. 16 davon traten Anfang 2001 in Kraft und wurden durch den damaligen italienischen Innenminister Giuseppe Pisanu (Forza Italia/Popolo della Liberta) initiiert. Begründet wurden diese Abkommen vor allem mit der wachsenden Zahl von Tragödien auf hoher See und den damit verbundenen Risiken für Migrant(inn)en. Die internationalen Abkommen allerdings verbieten Massenruckfiihrungen (vgl. Einaudi 2007, S. 268 und S. 330).
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Ein erstes Übereinkommen zwischen Italien und Libyen mit dem Ziel der Bekämpfung des Terrorismus, des organisierten Verbrechens, des Drogenhandels und der irregulären Migration wurde im Jahr 2000 unterzeichnet. Ein zweites, informelles Abkommen aus dem Jahr 2003 sieht die italienische Finanzierung der Abschiebungen von unerlaubt eingereisten Einwanderern vor, die Libyen auf dem Weg nach Italien passieren. Im Gegenzug wurde von Libyen die Zurucksendung dieser Immigrant(inn)en in ihre Heimatländer erwartet. Italien bot dafür technische (Ausbildung der Grenzpolizei) und politische Unterstützung an. Die von Italien zur Verbesserung der Lage der abzuschiebenden Immigrant(inn)en finanzierte Errichtung von Transitlagern in Libyen entspricht nach Auffassung der EU europäischen Kriterien. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen (u.a. UNHCR, amnesty international) hingegen äußerten Kritik wegen des mangelnden Menschenrechtsschutzes (vgl. Einaudi 2007, S. 331). Der im August 2008 geschlossene Freundschaftsvertrag (trattato di amicizia) zwischen Italiens Premierminister Silvio Berlusconi und dem libyschen Staatschef Muammar al-Ghaddafi soll Frieden, Sicherheit und Stabilität der Mittelmeerregion wahren und das Kapitel der kolonialen Vergangenheit schließen (ItalienischLibysches Abkommen). Unter diesem Vorwand fungiert der Vertrag als Legitimation zur Abwehr von Flüchtlingen, die von Libyen aus nach Italien gelangen wollen. Der gemeinsame Kampf gegen irreguläre Migration ist neben der Finanzierung von Infrastrukturprojekten (Italienisch-Libysches Abkommen, Art. 8) und der Zusammenarbeit im Energie-Sektor und Militärbereich zentraler Bestandteil des Abkommens (La Repubblica v. 12.5.2008) (Italienisch-Libysches Abkommen, Art. 18 und 19, ,,zusammenarbeit im Kampf gegen Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Drogenhandel und illegale Einwanderung", eigene Übersetzung, J. w.). Maßnahmen in diesem Bereich sehen die Kontrolle der südlibyschen Grenze zur Prävention der Ankunft irregulärer Immigrant(inn)en aus Eritrea, Äthiopien, Somalia und Tschad, den Einsatz von Schnellbooten mit italienisch-libyscher Ausstattung zur Überwachung der nordlibyschen Küste und die europäische finanzierung eines Kontrollsystems für libysche Land- und Seegrenzen vor (Italienisch-LibyschesAbkommen, Art. 9) (La Repubblica v. 14. und 15.5.2008). Besagtes Abkommen bestätigt die Achtung der internationalen Gesetzgebung "entsprechend universal anerkanntem internationalen Recht" (Italienisch-Libysches Abkommen, Art. 1), die Wahrung der Menschenrechte und Grundfteiheiten und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie die Anerkennung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (Italienisch-Libysches Abkommen, Art. 6).
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4. Fazit Die Analyse der Entwicklung und gegenwärtigen Ausgestaltung der italienischen Asyl- und Flüchtlingspolitik hat ein vielschichtiges, teilweise paradoxes Wirkungsgeflecht zwischen der Wahrung und Vermittlung nationaler Interessen und den Schritten zur Vergemeinschaftung des Politikbereichs auf europäischer Ebene zutage gefördert. Dabei konnte gezeigt werden, dass dieses hoch komplexe Geflecht von spezifischen Situationen, Rahmenbedingungen, historischen Gegebenheiten und politischen Konstellationen beeinflusst wird. Trotz Überführung dieses sensiblen Politikfeldes in die erste Säule und somit in einen gemeinsamen supranationalen Rahmen, der gemeinsame Gesetzesmaßnahmen vorgibt, bleibt es deutlich nationalstaatlich geprägt. Die Justiz- und Innenminister der Mitgliedstaaten sind nach wie vor die zentralen Akteure. Nichtsdestotrotz erhielt das Europäische Parlament mit In-Kraft-Treten des Lissaboner Vertrags durch Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens bzgl. migrations- und asylrechtlicher Fragen eine deutliche stärkere Position als bisher. Kompetenzzuweisungen, Subsidiaritätsprinzipien und Verantwortungsübernahme stehen nicht selten im Spannungsfeld zwischen nationalen Interessen und Europäisierung. Dies verdeutlicht besonders das Beispiel der italienischen Asylund Flüchtlingspolitik, die maßgeblich von der Durchsetzung italienischer innenpolitischer Interessen auf europäischer Ebene und mangelnder Kooperationsbereitschaft des südlichen Mitgliedstaates gekennzeichnet ist. Umgekehrt werfen die südlichen EU-Mitgliedstaaten der Europäischen Union aktuell fehlende Kooperationsbereitschaft und Solidarität, vornehmlich hinsichtlich der Bekämpfung der irregulären Migration, aber auch bezüglich von Aufnahme- und Schutzkapazitäten für Flüchtlinge und Asylsuchende, vor. Der Vergemeinschaftungsprozess gewann in Bezug auf die italienische Asylund Flüchtlingspolitik bedeutendes Gewicht. Zum einen ist er richtungsweisend für die Ausgestaltung des Politikfeldes auf italienischem Boden. Zum anderen trägt er wesentlich zur Ausarbeitung von konkreten italienischen Gesetzesmaßnahmen bei, die anfangs quasi nicht-existent bzw. völlig unzureichend waren und im Asylbereich bis heute gänzlich fehlen. Hier kann die Europäisierung als Motor zur Implementierung von konkreten umfassenden Maßnahmen verstanden werden. Des Weiteren wird Flüchtlingen in Italien dank der zunehmenden Vergemeinschaftung und der Verabschiedung supranationaler Legislativmaßnahmen heute ein erheblich besserer Schutz garantiert, der Zugang dazu jedoch ist wegen der Restriktivität der italienischen (und europäischen) Politik erheblich eingeschränkt. Die von der Europäischen Gemeinschaft angestoßene restriktive Linie in der italienischen Politik, deren Ziel es vor allem war, Italien von seinem laxen Image
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als gateway to Europe zu befreien, driickt sich besonders im Grenzschutzbereich mit besonderem Augenmerk auf die EU-Außengrenze und die Eindämmung der irregulären Migrationsströme aus. Der Druck anderer EU-Mitgliedstaaten erfolgte wesentlich vor dem Hintergrund eigener Befürchtungen einer Weiterwanderung der Migrant(inn)en in ihre Hoheitsgebiete. Die Europäisierung setzte hier also wichtige Impulse. Diese Anpassung an europäische Standards resultierte auf nationalstaatlicher Ebene in einer restriktiven Migrationspolitik, die zudem Ausdruck und Konsequenz der Einstellung gegenüber Migration seitens der führenden Parteien und Regierungskoalitionen ist. Diese Restriktivität wurde wiederum gezielt von der italienischen Regierung eingesetzt, um einschränkende Initiativen auf europäischer Ebene durchzusetzen (u.a. die Einrichtung von Frontex, von Auffanglagern außerhalb der EU, die Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, Stärkung von Europol etc.). In der italienischen Öffentlichkeit stark kritisierte und national schwer durchsetzbare innenpolitische Entscheidungen wurden entweder "als im Auftrag der EU handelnd" legitimiert oder auf die europäische Ebene verlagert. Nationale Eigeninteressen wie beispielsweise der (ökonomische bzw. arbeitsmarktpolitische) Nutzen der irregulären Einwanderung trübten zudem lange den italienischen Kooperationswillen hinsichtlich einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Eigenes Politikversagen, kritische und umstrittene Maßnahmen in der Eindämmung der Wanderungsbewegungen und der Verstoß gegen europäische Normen und Menschenrechte werden nicht selten durch die mangelnde Unterstützung der Europäischen Union gerechtfertigt und die Verantwortung auf die europäische Ebene geschoben. Letztendlich jedoch stehlen sich beide Kooperationspartner, Italien und die Europäische Union, durch die Tarnung ihrer Abschottungslinie, die mit Argumenten wie "Vermeidung der Tragödien im Mittelmeer" begründet wird, durch die Verlagerung des Flüchtlingsschutzes und der Asylverfahren in Drittstaaten wie Libyen aus der Verantwortung ihrer im Völkerrecht und in europäischen Gesetzestexten verankerten Verpflichtungen, Zugang zu Asylverfahren zu gewähren. Angesichts der Sonderstellung, die Italien bezüglich der engen Zusammenarbeit zwischen der EU und Tripolis in Fragen der Flüchtlingsabwehr zukommt, wird der drastische Rückgang infolge der rigorosen Abschiebungspolitik, basierend auf dem italienisch-libyschen Abkommen, von der italienischen Regierung der Öffentlichkeit als Erfolg verkauft und von der EU auch unterstützt. Zugleich wird die Einnahme eines Vorpostens der Festung Europa durch Libyen nicht nur von Italien, sondern letztlich von allen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten begrüßt.
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Wie gezeigt, entziehen sich die italienisch-europäischen Spannungsverhältnisse in der Asyl- und Flüchtlingspolitik monokausalen Erklärungsmustern. Jedoch lässt sich in Bezug auf beide Seiten festhalten, dass das in der GrundrechteCharta der Europäischen Union und im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verankerte Recht auf Asyl nicht gewährleistet ist und seinen Wert verliert, solange europäische Maßnahmen lediglich Mindestvorschriften beinhalten, europäische wie auch italienische Prioritäten aus Flüchtlingsabwehr und Militärmaßnahmen bestehen und internationale Rechtsgrundsätze verletzt werden. In Italien gibt es bis heute, trotz Verbesserung des Flüchtlingsschutzes auf nationaler Ebene durch die Implementierung europäischer Legislativmaßnahmen, keine Asylgesetzgebung, die die verfassungsrechtlichen Inhalte umsetzt. Konstitutionelle Garantien verlieren an Bedeutung, wenn sie nicht durch entsprechende Gesetzesmaßnahmen umgesetzt und abgesichert sind. Berlusconis Betonung der Verwurzelung seines Landes im Christentum, die Generosität und Offenheit gegenüber Schutzbedürftigen und Leidenden sowie die eigene Emigrationsgeschichte dürften gerade von Italien mehr Toleranz, Aufnahmebereitschaft, Solidarität und Verständnis im Umgang mit Migrant(inn)en und insbesondere schutzbedürftigen Personen erwarten lassen. Im Gegensatz dazu veranschaulichen die fehlende adäquate Unterscheidung von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf der einen und irregulären Migrant(inn)en auf der anderen Seite deren generelle Kriminalisierung in Bedrohungsszenarien und die Instrumentalisierung des Themas zur Mobilisierung von Wähler(inne)n vorwiegend von rechtspopulistischen Parteien die ausgrenzenden und diskriminierenden Praktiken und Gesetzesentwürfe. Die Berichterstattung der Medien trägt zur Polarisierung der öffentlichen Meinung hinsichtlich einer restriktiven Ausrichtung des Politikfeldes auf italienischer und auch auf europäischer Ebene bei, da es ganz danach aussieht, dass im Vordergrund der getroffenen und zu treffenden Maßnahmen der Schutz vor Flüchtlingen und nicht der Schutz von Flüchtlingen steht. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass Flüchtlinge nach internationalem Recht auch dann Anspruch auf Schutz haben, wenn sie irregulär in die EU einreisen. Die Effektivität von Entlastungsmaßnahmen, beispielsweise durch die Einrichtung einer europäischen Unterstützungsagentur, bleibt abzuwarten. Die Erwägung einer Quotierung des Flüchtlingsschutzes jedoch unterläuft den allgemeinen Menschenrechtsschutz, in dessen Rahmen der Flüchtlingsschutz verankert ist, und kann keine beliebige Variable einer Politik der Kosten-Nutzen-Abwägung sein.
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v Aktuelle Herausforderungen: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
Die extreme Rechte in Europa - zwischen niederländischem Rechtspopulismus und ungarischem Rechtsextremismus Gudnm Hentges
1. Einleitung Mit der Frage "Europa - quo vadis?" richtet die Europaforschung ihr Augenmerk auf die europapolitischen Konzeptionen von Parteien, fragt aber auch nach Entwicklungen innerhalb des Parteienspektrums und interessiert sich :für das Erstarken von (transnationalen) Organisationen, (sozialen) Bewegungen und Subkulturen. In diesem Kontext wecken vor allem Parteien und Organisationen der extremen Rechten das politikwissenschaftliche (und politische) Interesse, denn deren Wahlerfolge, die seit Mitte der 1980er-Jahre zu verzeichnen sind, fungieren auch als Seismograf einer sich verändernden politischen Kultur in Europa. Der französische Front National (FN), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und auch der belgische Vlaams Bloc (VB) bzw. Vlaams Belang (VB) spielten bereits in den Debatten der 1980er-Jahre eine Rolle; seit dem Jahre 2000 gerieten neue Formationen in den Blick: In Österreich kam es im Januar 2000 zu einer Koalition zwischen der Freiheitlichen Partei Österreichs und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), im Sommer 2001 übernahm Silvio Berlusconi mit seinem Mitte-Rechts-BÜlldnis "Casa delle Libertä", an dem neben der Forza ltalia (FI) auch die Alleanza Nazionale (AN) und die Lega Nord (LN) beteiligt waren, die Regierung.! Ebenso vollzog sich Ende 2001 in Dänemark - unter dem Eindruck der Ereignisse des 11. September 2001- ein Aufschwung der extremen Rechten. Zwar ist die Dänische VolksparteP (DVP) nicht an der rechtsliberal-konservativen Regierungskoalition beteiligt, die im November 2001 die sozialdemokratische Regierung ablöste und seitdem eine Minderheitsregierung stellt. Da jedoch der däni-
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Bereits 1994 war es Berlusconi lnit dieser Bündniskonstellation gelungen, die politische Macht zu erlangen; die Regierungskoalition brach jedoch aufgrund von Kontroversen auseinander, sodass die erste Amtszeit Berlusconis als italienischer Ministerpräsident 226 Tage nicht überschritt. 1995 wurde die Fortschrittspartei in Dänische Volkspartei umbenannt. Als Fortschrittspartei, deren Programmatik mit der Forderung nach Steuersenkungen in erster Linie wirtschaftsliberal ausgerichtet war, konnte sie im Laufe der 1970er-Jalrre zwischen 15,9 % (1973) und 11 % (1979) der dänischen Wählerstimmen auf sich vereinigen.
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Gudrun
sehe Premierminister Fogh Rasmussen wegen der notwendigen parlamentarischen Mehrheit auf die Partei am rechten Rand angewiesen ist, regiert die DVP mit, ohne selbst einen Minister zu stellen. Während in den 1980er- und 1990er-Jahren das politische Phänomen der extremen Rechten in erster Linie als ein westeuropäisches wahrgenommen wurde, ließ die Osterweiterung deutlich werden, dass diese Thematik keineswegs auf die alten Mitgliedstaaten begrenzt werden darf. Im Gegenteil: Im Zuge der Osterweiterung der Jahre 2004 und 2007 wurde deutlich, dass sich auch in den neuen Beitrittsländern Mittel- und Südosteuropas politische Formationen herauskristallisierten, von denen sich einige als Parteien etablierten, die bei Wahlen durchaus erfolgreich waren. Die fachwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich unterscheidet zwei Dimensionen: einerseits die Einstellungen und Meinungen - Autoritarismus, Nationalismus, (ethnische, rassistische, sozioökonomische) Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Pro-Nazismus -, andererseits das Verhalten, wie z.B. Wahlverhalten, Mitgliedschaft, GewaltlTerror, ProtestIProvokation (vgl. Stöss 1999, S. 22). Insofern werden im Folgenden die empirischen Befunde zu Einstellungen und Meinungen rekapituliert, da sich die Chancen und Möglichkeiten der extremen Rechten nur vor der Folie des (rechtsextremen bzw. -populistischen) Einstellungspotenzials ausloten lassen. Im November 2009 präsentierte die Forschergruppe um den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitrneyer die Studie "Europäische Zustände". Die Studie über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Europa wurde vom "Institut für interdisziplinäre Konfiikt- und Gewaltforschung" an der Universität Bielefeld geleitet und in Kooperation mit Wissenschaftler(inne)n aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Portugal, Ungarn und Polen durchgeführt. Der Begriff "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" umfasst das Ausmaß von Vorurteilen gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen: Einwanderern, ethnisch-kulturellen Minderheiten, Juden, Muslimen, Frauen, Homosexuellen, obdachlosen und behinderten Menschen. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass das Syndrom "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" für alle untersuchten Länder bestätigt werden kann. Im Zentrum steht die Kernideologie der Ungleichwertigkeit, aus der folgende Stereotype resultieren: Vorurteile gegen Einwanderer, Antisemitismus, Vorurteile gegen Muslime, Rassismus, Sexismus und Homophobie. Die Vorurteile, so das Ergebnis der Studie, sind in Europa weit verbreitet, variieren jedoch in ihrem Ausmaß.
Die extreme Rechte in
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Die Mehrheit aller Befragten (60,2 %) befürwortet eine traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung und plädiert damit letztlich fiir eine wirtschaftliche Ungleichheit von Frauen und Männern. Über die Hälfte aller Befragten (50,4 %) sind der Meinung, dass in ihrem Land zu viele Einwanderer lebten. Über die Hälfte aller Befragten (54,4 %) betrachten den Islam als eine Religion der Intoleranz. Über 40 Prozent aller Befragten (42,6 %) lehnen gleiche Rechte fiir homosexuelle Lebensformen ab und verurteilen Homosexualität als unmoralisch. Fast ein Drittel aller Befragten (31,3 %) stimmen der Aussage zu, dass es eine natürliche Hierarchie zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe gebe. Fast ein Viertel aller Befragten (24,4 %) nehmen an, dass die Juden in ihrem Land über einen zu großen Einfluss verfügten.
Deutlich wird an dieser Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, dass Stereotype europaweit verbreitet sind. Bei näherer Betrachtung dieser quantitativen Daten kristallisiert sich heraus, dass deutliche Unterschiede zwischen den EUMitgliedstaaten existieren. Die gegen Einwanderer gerichteten Ressentiments finden sich in ähnlicher Weise in allen untersuchten Ländern: Während in Frankreich und in den Niederlanden die Stimmung gegen Einwanderer weniger stark ausgeprägt war, konnten in Großbritannien und Polen in einem sehr viel höheren Maße gegen Zu- und Einwanderer gerichtete Ressentiments erhoben werden. Antisemitische Vorurteile sind, laut Studie, in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt: In Großbritannien und in den Niederlanden stießen antisemitische Vorurteile auf geringe Resonanz, deutlich stärker war der Antisemitismus in Portugal und vor allem in Polen und Ungarn. Vorurteile gegenüber Muslimen waren - so die Ergebnisse der Studie - in Portugal, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien schwächer ausgeprägt; ein höheres Maß an Islamfeindlichkeit ließ sich in Deutschland, Ungarn, Italien und Polen konstatieren. Rassismus - bezogen auf die Hautfarbe - ist in Italien relativ schwach ausgeprägt, gefolgt von den Niederlanden und Großbritannien; in Portugal und Ungarn hingegen stießen rassistische Vorurteile auf große Zustimmung. Vorurteile gegenüber homosexuellen Lebensweisen waren in den Niederlanden nur schwach vorhanden; in Polen und auch in Ungarn stießen homophobe Aussagen jedoch auf große Resonanz (vgl. Zick/KüpperlWolf 2009). Tendenzen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus werden auf europäischer Ebene bereits seit einigen Jahren beobachtet: Im Jahre 1998
238
Gudrun
nahm die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) in Wien ihre Arbeit auf. Sie befasste sich mit dem Ausmaß und der Entwicklung dieser Phänomene und Erscheinungsformen, analysierte die Ursachen, Folgen und Auswirkungen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und stellte Best-practice-Beispiele zusammen. In Kooperation mit Forschungszentren, Mitgliedstaaten, den Gemeinschaftsorganen, internationalen Einrichtungen oder nichtstaatlichen Organisationen sammelte das EUMC Daten, die für die wissenschaftliche Analyse und Möglichkeiten der Prävention relevant waren. Im März 2007 wurde die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" transformiert in die "Agentur der Europäischen Union für Grundrechte" (Fundamental Rights Agency, FRA). Diese Agentur ist eine Einrichtung der Europäischen Union und untersteht dem Kommissar für die Innen- und Rechtspolitik. Sie soll den "einschlägigen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in Grundrechtsfragen zur Seite (stehen) und ihnen Informationen und Fachkenntnisse (bereitstellen), um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen" (Verordnung EG Nr. 168/2007). Der "Agentur der Europäischen Union für Grundrechte" wurde die Aufgabe übertragen, diese Thematik weiter zu verfolgen. Insofern war die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) bzw. ist die ,,Agentur der Europäischen Union für Grundrechte" (FRA) die zentrale Einrichtung, wenn es - im europäischen Kontext - um die Thematik Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus geht. Das EUMC hat über Jahre hinweg die Entwicklung von rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Tendenzen beobachtet, dokumentiert, wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt oder Studien und Expertisen in Auftrag gegeben. Seit den terroristischen Anschlägen des 11. September 2001 befassten sich einige Studien des EUMC mit Islamfeindlichkeit bzw. Islamophobie in Europa. Für öffentliches Aufsehen sorgte eine Studie zu antisemitischen Tendenzen in Europa, die beim Berliner ,,zentrum für Antisemitismusforschung" in Auftrag gegeben worden war. Die Studie mit dem Titel "Erscheinungen des Antisemitismus in der EU 2002-2003" wurde vom "Management Board"3 des EUMC zurückgewiesen. Grund für die distanziert-ablehnende Haltung gegenüber der Studie war deren Ergebnis: Die Forscher(innen) kamen in ihrer quantitativ angelegten Studie zu dem Ergebnis, "dass antijüdische Gewaltakte in verschiedenen europäischen 3
Der ,,Management Board" des EUMC setzte sich zusammen aus Vertretern aller EU-Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rats und der EU-Kommission.
Die extreme Rechte in
239
Ländern nicht nur von ,angestammten' Rechtsextremisten, sondern zunehmend auch von - meist jugendlichen - radikalen Islamisten begangen werden" (Herzinger 2003). Die Studie vertritt darüber hinaus die These, dass der islamistische Judenhass nicht nur als Reaktion auf die israelische Besatzungspolitik in Palästina zu werten sei, sondern vielmehr auf einer - medial verbreiteten - fest gefügten antisemitischen Weltanschauung basiere. Im April 2009 legte die FRA eine umfassende Studie über die Diskriminierung europäischer Minderheiten vor (vgl. European CommissionlEuropean Union Agency for Fundamental Rights 2010). Die Ergebnisse dieser Studie basieren auf 23 .500 Interviews, die mit Migrant(inn)en und Angehörigen ethnischer Minderheiten in verschiedenen EU-Staaten geführt wurden. Somit wählte diese Studie eine Bottom-up-Perspektive, um die Verletzung von Grundrechten empirisch zu erheben. Die groß angelegte Studie dient dazu, die existierende Lücke in der EUweiten sozialwissenschaftlichen Erhebung zur Thematik Verletzung der Grundrechte weiter zu schließen, indem sie die Diskriminierungserfahrungen von ethnischen Minderheiten und Migrant(inn)en fokussiert. Einige Ergebnisse seien hier exemplarisch vorgestellt: 11
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Die Studie zeigt z.B., dass jeder zweite Roma und vier von zehn afrikanischen Interviewpartner(inne)n mindestens einmal innerhalb der letzten zwölf Monate aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert wurden. 82 Prozent deIjenigen, die aufgrund ihrer Ethnizität bzw. ihres Migrationshintergrunds im Laufe des letzten Jahres diskriminiert wurden, haben nirgendwo über ihre Erfahrungen berichtet - weder an dem Ort, an dem sie Diskriminierung erfahren haben, noch gegenüber einer Einrichtung, die mit solchen Vorfallen befasst ist. Einer von fünf Interviewpartner(inne)n aus der Gruppe der afrikanischen Einwanderer oder der Roma wurde innerhalb des letzten Jahres zum Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs, einer rassistisch motivierten Bedrohung oder Belästigung. Zwischen 57 Prozent und 74 Prozent der Übergriffe oder Bedrohungen (in Abhängigkeit von der beobachteten Gruppe) wurden nicht bei der Polizei gemeldet. 17 Prozent der Nordafrikaner und 14 Prozent der Roma, die im Laufe des letzten Jahres von der Polizei kontrolliert wurden, gingen davon aus, dass sie wegen ihrer ethnischen Herkunft oder wegen ihres Migrationshintergrunds angehalten wurden (vgl. ebd., S. 269; Newsletter Migration und Bevölkerung 5/2009, S. 1)
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Gudrun
Deutlich wird anhand dieser Überblicksdarstellung, dass Menschen - Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten oder Migrant(inn)en - Opfer von rassistisch oder antisemitisch motivierten Angriffen werden. Deutlich wirdjedoch auch, dass die offiziellen Zahlen zum Rassismus lediglich die "Spitze des Eisbergs" zeigen, so die Einschätzung von Morten Kjaerurn, Direktor der Agentur für Grundrechte (zit. nach Newsletter Migration und Bevölkerung 5/2009, S. 1). Diese Vorbemerkungen zeigen, dass Einstellungen und Meinungen - rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische - in Europa weit verbreitet sind, auch wenn sie hinsichtlich des Ausmaßes von Land zu Land variieren. Insofern lässt sich mit Brecht konstatieren: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!". Die Vorbemerkungen lassen aber auch deutlich werden, dass Einstellungen und Meinungen durchaus eine Nähe zu rechtsextremen bzw. -populistischen Ideologien aufweisen können, ohne dass die Personen, die solche Einschätzungen teilen, direkt mit Parteien und Organisationen der extremen Rechten sympathisieren oder ihnen bei Wahlen gar ihre Stimme geben. Insofern muss man einerseits das Ausmaß der rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Einstellungen und Meinungen im Blick behalten, andererseits sollte man sich aber auch dessen bewusst sein, dass diese nicht zwangsläufig dazu führen, dass deren Protagonisten für Parteien der extremen Rechten votieren. Dieser Beitrag fokussiert erstens die europäischen Dimensionen, d.h. die Wahlerfolge der rechtsextremen und -populistischen Parteien bei den Wahlen zum Europaparlament, sowie die Grenzen und Möglichkeiten euro-rechter Fraktionen im EP. Zweitens werden anhand der aktuell erfolgreichsten Parteien der extremen Rechten, der Partij voor de Vrijheid (PVV) in den Niederlanden und der Partei Jobbik in Ungarn, die verschiedenen Varianten der extremen Rechten - Rechtspopulismus und Rechtsextremismus - vorgestellt. Der Beitrag schließt drittens mit wissenschaftlichen Erklärungsansätzen des Phänomens der extremen Rechten und mit Gegenstrategien. Hinsichtlich der Verwendung der Begriffe liegen mittlerweile zahlreiche auch divergierende - Begriffsdefinitionen vor. Der Begriff "extreme Rechte" wird im Folgenden als Oberbegriff gebraucht, unter den die beiden Varianten Rechtspopulismus und Rechtsextremismus subsumiert werden: "Im Zentrum populistischer Ideologie und Praxis steht die strikte Gegenüberstellung von ,Volk' und (vermeintlich) ,korrupter' Elite. Populisten präsentieren sich als die einzig authentischen Vertreter der ,schweigenden Mehrheit', die fortwährend die Verfehlungen des ,Establishments' anprangern. Rechtspopulisten profilieren diese Frontstellung, indem sie fremden- und minderheitenfeindliehe Ressentiments schüren sowie europaskeptische und nationalistische Positionen einnehmen." (Geden 2007, S. 6) Durch gezielte Provokationen, Tabubruche
Die extreme Rechte in
241
und Angstkampagnen präsentieren sie sich als Anti-Establishment-Partei und als Außenseiter im Politikbetrieb. Rechtsextremismus wird verwendet als "die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der MenschenrechtsDeklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen" (Jaschke 1994, S. 31). Bedeutsam ist vor allem das Bestreben, den Individualismus durch eine völkische, kollektivistische, ethnisch homogene Gemeinschaft in einem starken Nationalstaat zu ersetzen.
2. Die extreme Rechte im europäischen Kontext 2.1 Wahlen zum Europaparlament 2001- 2004 - 2009 Die Wahlen zum Europaparlament der letzten Jahre ließen deutlich werden, dass ein wachsender Anteil von Wähler(inne)n dazu bereit ist, für Parteien des Rechtsextremismus und -populismus zu votieren. Trotz einer Verkleinerung des Europaparlaments von 785 auf736 Sitze konnten Vertreter(innen) der extremen Rechten in etwa die Anzahl der Mandate halten. Derzeit repräsentieren ca. 54 Abgeordnete im EP die verschiedenen Parteien und Spektren der extremen Rechten in Europa. Einige Parteien der extremen Rechten konnten aus dem Stand heraus Wahlerfolge erzielen: Die niederländische Partij voor de Vrijheid erhielt 2009 bei den Europawahlen 17 Prozent aller Stimmen und zog mit vier Abgeordneten ins Europaparlament ein. Die ungarische Jobbik kandidierte erstmals, konnte knapp 15 Prozent aller Stimmen auf sich vereinen und ist im Europaparlament mit drei Abgeordneten vertreten.
242
Gudrun
Land
Partei
ÖsteITeich
Freiheitliche Partei Österreichs - FPÖ
Belgien
V1aams Belang - VB
Bulgarien Rumänien
Koalizija Ataka Partidul Romänia Mare -PRM
Frankreich
Front National- FN
Frankreich
~ouvernentpourla France-~PF
Dänemark
Dansk Folkeparti - DF
Italien
Lega Nord - LN ~ovimento Sociale Fiamma Tricolore -
Italien Italien Lettland Litauen Polen Griechenland GB GB
Flämische Interessen Koalition Ataka Großrurnänienpartei Nationale Front Bewegung für Frankreich Dänische Volkspartei-DVP
Soziale Bewegung - Dreifarbige Tri~S-FT kolore Altemativa Sociale - Li- Soziale Alternative sta ~ussolini - AS - Liste ~ussolini Tevzemei un BrIvibai - Für Vaterland und LNNK Freiheit Tvarka ir teisingurnas Ordnung und Gerechtigkeit (Libe(liberalai demokratai) raldemokraten) -TI Liga Polskich Rodzin Liga Polnischer -LPR Familien Laik6s Orth6doxos Syn- Völkisch-orthodoxerAlarm agerm6s - LAOS United Kingdom Independent Party - UKlP British National Party -BNP
Partij voor de Vrijheid -PVV Belgien Lijst Dedecker - LDD Jobbik ~agyarorszägert Ungarn ~ozgalom - Jobbik Siovenskfi Närodnä Slowakei Strana- SNS Dernocratic Unionist Nordirland Party-DUP Rechtsextremes und nationalistisches Spektrum Niederlande
Partei, dt.
Partei für die Freiheit Liste Dedecker Bewegung für ein besseres Ungarn Slowakische Nationalpartei
Europawahlergebnis 2004/2007 2009
Sitze 2004 bis Prozent Sitze Prozent Sitze 2009 6,3
1
13,1
2
2
14,3
3
10,2
2
2
14,2
3
12,0
2
2
4,2
8,7
3
3
9,8
7
6,3
3
3
6,7
3
4,6
I
1
6,8
I
14,8
2
2
5,0
4
10,2
9
9
0,7
1
0,8
0
0
1,2
I
29,8
4
7,5
I
1
6,8
1
12,2
2
2
22,2
14
1,0
0
0
4,1
I
7,2
2
2
16,1
12
16,5
13
13
6,2
2
2
17,0
4
4
4,8
1
1
14,8
3
3
5,6
1
1
18,2
1
1
4,9
2,0 32,0
1 57
54
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Einige Parteien der extremen Rechten konnten ihr Ergebnis gegenüber den Wahlen des Jahres 2004 fast verdoppeln: Die Dansk Folkeparti erhielt bei den Europawahlen 2009 fast 15 Prozent aller Stimmen, die FPÖ über 13 Prozent, die litauische Partei Ordnung und Gerechtigkeit (Liberaldemokraten) 12,2 Prozent, die Lega Nord 10,2 Prozent, die Großrumänienpartei 8,7 Prozent und die Slowakische Nationalpartei erzielte 5,6 Prozent der Stimmen. Weitere Wahlerfolge - wenn auch nicht so sensationelle - lassen sich bei der griechischen Partei Laikos Orthodoxos Synagermos (von 4,1 % auf 7,2 %), bei der British National Party (von 4,9 % auf 6,2 %) und der United Kingdom Independent Party (von 16,1 % auf 16,5 %) beobachten. Zu den Verlierern des rechtsextremen Spektrums zählen die Parteien in Lettland (Tevzemei un BrIvioai -22,3 %), Polen (Liga Polskich Rodzin -21,2 %), Nordirland (Democratic Unionist Party -13,8 %), Frankreich (Front National-3,5 % und Mouvement pour la France -2,1 %), Belgien (Vlaams Belang -4,1 %) und Bulgarien (KoalizijaAtaka -2,2 %). Wenngleich die hier erwähnten Parteien in Ideologie und Programmatik variieren, so lässt sich - zunächst ganz grob - eine Unterscheidung zwischen der extremen Rechten in Westeuropa und ihrem Pendant in Osteuropa bzw. in den neuen EU-Mitgliedstaaten treffen. Während in den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Österreich und Italien die Islamfeindlichkeit bzw. die Bekämpfung von (illegalisierter) Einwanderung im Zentrum des politischen Diskurses stehen, so zeichnet sich die Propaganda der extremen Rechten in Ungarn, Litauen, Rumänien und der Slowakei vor allem dadurch aus, dass Sinti und Roma als Sündenböcke konstruiert werden; ferner findet sich in der Ideologie der extremen Rechten Osteuropas ein hohes Maß an antisemitischen Ressentiments, mitunter auch ein offener Antisemitismus (vgl. Mayer/OdehnaI201O). Sowohl in den alten als auch in den neuen EU-Mitgliedstaaten zeichnet sich die Propaganda der extremen Rechten durch einen (übersteigerten) Nationalismus aus: Der Nationalstaat gilt als die zentrale Referenz politischen HandeIns; die Wiederherstellung der uneingeschränkten nationalstaatlichen Souveränität wird eingefordert; die ethnische, kulturelle und religiöse Homogenität des Nationalstaates wird ebenso als Ziel verfolgt wie die Steigerung des Nationalstolzes, des Nationalbewusstseins und der nationalen Identität. Am deutlichsten ist dies in Ungarn ausgeprägt: Dort propagiert die Partei Jobbik die Aufhebung der durch den Vertrag von Trianon (1920) gezogenen Grenzen, fordert eine territoriale und kulturelle Autonomie für das Szeklerland (das Gebiet im Osten von Siebenbürgen, Rumänien) und tritt ein für die Einrichtung eines "unabhängigen Ungarnbezirkes" in den Transkarpaten, also der heutigen Ukraine.
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In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie Parteien, deren zentrale Ideologie der Nationalismus ist, überhaupt kooperieren können. Mit anderen Worten: Ein AufeinandertrefIen der Nationalismen müsste doch früher oder später Konflikte, Auseinandersetzungen und Verwerfungen nach sich ziehen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Parole: "Nein zu dieser EU - Für ein Europa der Vaterländer". Unter diesem Slogan formierte sich 2008 die Fraktion "Identität, Tradition, Souveränität" im Europäischen Parlament.
2.2 Euro-rechte Fraktionen im Europäischen Parlament Insofern sind Konflikte zwischen den Vertreter(inne)n der extremen Rechten im Europaparlament bereits vorprogrammiert. Ungeachtet der zahlreichen Konfliktlinien und Streitpunkte unternahmen die Abgeordneten im EP immer wieder den Versuch, pragmatische Bündnisse einzugehen, da der Fraktionsstatus zahlreiche Vorteile mit sich brachte, vor allem bezüglich der finanziellen und personellen Ressourcen. In der eurorechten Fraktion der Jahre 1984 bis 1989, die aus 16 Abgeordneten bestand, kooperierten die französische, die italienische und die griechische extreme Rechte miteinander. Vertreter des Front National (zehn Abgeordnete), des MSI - Destra Nazionale (MSI DN) (fiinf Abgeordnete) und der griechischen Partei Ethniki Politiki Enossis (E.P.EN. ) (ein Abgeordneter) schlossen sich zur "Fraktion der Europäischen Rechten" zusammen. Verstärkt wurde die Fraktion im Januar 1987 durch den nordlrischen EP-Abgeordneten John David Taylor, der die Ulster Unionist Party (UUP) repräsentierte. Aufgrund seines Protestes gegen das anglo-irische Abkommen schied er aus der "Fraktion der Europäischen Demokraten" aus und schloss sich - auf der Suche nach einer neuen Fraktion - der eurorechten Fraktion an, die nun aus 17 Abgeordneten bestand. Zahlreiche interne Auseinandersetzungen und Konflikte - u.a. im Zusammenhang mit den antisemitischen Äußerungen Le Pens4 - führten zu einer starken personellen Fluktuation, sodass von den anfangs 16 Abgeordneten lediglich acht über den gesamten Zeitraum der Legislaturperiode in der Fraktion vertreten waren (vgl. OsterhofI 1997, S. 193 fI.). Die Europawahlen des Jahres 1989 hatten vor allem aufgrund des Wahlerfolges der Republikaner Umstrukturierungen innerhalb des rechten Spektrums des EP zur Folge. In der "Technischen Fraktion der Europäischen Rechten" schlossen sich 4
1987 bezeichnete lean-Marie Le Pen den Holocaust als ,,Detail der Geschichte" und löste damit eine internationale Debatte über Antisemitismus und die Auschwitzlüge aus. Auch Bruno Gollnisch, hochrangiger Politiker der FN und seit 1989 Mitglied des Europaparlaments, äußerte sich provozierend über die Gaskammern und relativierte die Anzahl der Opfer des Holocaust. Vgl. Altwegg 2004, S. 42.
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Vertreter des Front National (zehn Abgeordnete), der Republikaner (sechs Abgeordnete) und des belgischen Vlaams Blok (ein Abgeordneter) zusammen und bildeten eine 17-köpfige Fraktion. Die griechische Partei Ethniki Politiki Enossis (E.P.EN.) zog nicht wieder ins EP ein, die italienische MSI - Destra Nazionale (MSI-DN) blieb fraktionslos. Wegen unüberbrückbarer Differenzen bezüglich des Status von Südtirollehnten die Republikaner bzw. Franz Schönhuber eine Zusammenarbeit mit der MSI-DN ab, sodass diese nicht der "Technischen Fraktion der Europäischen Rechten" beitrat. Weitere Konfliktlinien zeichneten sich zwischen der MSI-DN und dem FN ab: Die MSI-DN war nicht dazu bereit, den Führungsanspruch des FN anzuerkennen. Nicht zuletzt waren die innere Zerrissenheit und die Flügelkämpfe innerhalb der MSI-DN dafür verantwortlich, dass sich diese zunehmend an der konservativen statt an der extremen Rechten zu orientieren versuchte. Auch dies sprach gegen eine Kooperation mit den eurorechten Kräften im EP (vgl. Osterhoff 1997, S. 41 f.; Hübner 2008; zur Südtirol-Frage und der italienischen extremen Rechten: Grimm 2009, S. 48; zu MSI-DN: Feldbauer 1996, S. 38 ff. und S. 93 ff.). Bis Ende 2006 verfügte die Eurorechte im EP über keine eigene Fraktion. Dies war einerseits der Tatsache geschuldet, dass die infrage kommenden Parlamentarier nicht dazu in der Lage waren, die für die Fraktionsbildung erforderlichen Voraussetzungen zu erfiillen;5 dies war aber z.T. auch der Tatsache geschuldet, dass inhaltliche Konflikte einem Zusammenschluss entgegenstanden. Nach der Aufuahme Bulgariens und Rumäniens in die EU (1. Januar 2007) entsandten diese beiden neuen Mitgliedstaaten Abgeordnete in das EP. Aufgrund des Einzugs von Abgeordneten der bulgarischen Koalizija Ataka und der Großrumänienparrei konnte sich nun eine eurorechte Fraktion im EP konstituieren, die sich im Januar 2007 der Öffentlichkeit präsentierte. Die Fraktion "Identität, Tradition, Souveränität" (ITS) setzte sich aus Vertretern des belgischen Vlaams Belang (drei Abgeordnete), der bulgarischen Koalizija Ataka (ein Abgeordenter), des Front National (sieben Abgeordnete), der italienischen Alternativa Sodale, Fiamma Tricolore (zwei Abgeordnete), der Freiheitlichen Partei Österreichs (ein Abgeordneter), der Großrumänienpartei (fünf Abgeordnete) sowie aus einem ehemals unabhängigen britischen Abgeordneten (ehemals UK IP) zusammen (vgl. Beer 2010). Als Fraktionsvorsitzender fungierte Bruno Gollnisch vom Front National, der in der französischen und internationalen Öffentlichkeit wegen Verbrei5
Seit den Wahlen zum Europaparlament 2004 gilt, dass sich mindestens 20 Abgeordnete aus mindestens einem Fünftel der Mitgliedsländer (derzeit sechs) zusammenschließen müssen. Gemäß einer Entscheidung des EP muss eine Fraktion seit den Europawahlen 2009 aus mindestens 25 Mitgliedern bestehen, die ein Viertel der Mitgliedstaaten (derzeit wären es sieben) repräsentieren. V gL Landeszen1rale für politische Bildung in Baden Würtiemberg 2010
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tung der Auschwitz-Lüge für Schlagzeilen gesorgt hatte und im Januar 2007 wegen Leugnung des Holocaust in erster Instanz strafrechtlich verurteilt worden war.
Zusammensetzung der Fraktion "Identität, Tradition, Souveränität" Parteien der extremen Rechten
Anzahl der Mandate im EP
Belgien
Vlaams Belang
3
Bulgarien
Koalizija Ataka
1
Frankreich
Front National
7
1
Großbritannien
unabhängig, ehemals UK IP
Italien
Alternativa Sociale, Fiamma Tricolore
Österreich
Freiheitliche Partei Österreichs
1
Rumänien
Großrumänienpartei
5
1+1
Quelle: eigene Zusammenstellung
Die Fraktion "Identität, Tradition, Souveränität" (ITS) bestand nur wenige Monate: Im Januar 2007 aus der Taufe gehoben, löste sie sich schon im November desselben Jahres wieder auf. Grund für das Auseinanderbrechen der eurorechten Fraktion waren Konflikte zwischen dem italienischen Fraktionsmitglied Alessandra Mussolini und einem rumänischen Fraktionskollegen. Mussolini hatte nach einem Mordfall in der Nähe von Rom gegen rumänische Einwanderer gehetzt und den Abzug des rumänischen Botschafters aus Italien gefordert. Die bislang mit der italienischen extremen Rechten kooperierenden rumänischen Europaparlamentarier kündigten die Zusammenarbeit mit der eurorechten Fraktion auf. Infolge des Auszugs der fünf rumänischen Abgeordneten aus der ITS-Fraktion brach diese auseinander, da sie das für eine Fraktionsbildung erforderliche Quorum (mindestens 20 Abgeordnete) nicht mehr erfüllen konnte. Als Ergebnis der Europawahlen des Jahres 2009 zogen 54 Abgeordnete des Spektrums der extremen Rechten in das EP ein. Bei einer Anzahl von 736 Sitzen6 macht dies einen Anteil von 7,3 Prozent aus. In der vorangegangenen Legislaturperiode umfasste das EP ab dem 1. Januar 2007785 Abgeordnete, davon 57, die der extremen Rechten zuzuordnen sind. Demnach betrug der Anteil der rechtsextremen Abgeordneten nach der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die EU ebenfalls ca. 7,3 Prozent, sodass von einer Stabilisierung des rechtsextremen Wählerpotenzials gesprochen werden kann. Europaparlamentarier der extremen 6
Im Vertrag von Lissabon wurde die Erweiterung des EP auf 754 Abgeordnete festgelegt. Noch offen ist, wann die weiteren Abgeordneten ihr Amt antreten werden.
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Rechten haben sich in der aktuellen Legislaturperiode auf verschiedene Fraktionen verteilt. Eine Nachfolgefraktion der "Identität, Tradition, Souveränität" kam nicht wieder zustande. Im Folgenden sollen rechtspopulistische Kräfte in jenen Ländern vorgestellt werden, die bei den Wahlen zum EP Stimmengewinne verbuchen konnten.
3. Die extreme Rechte in ausgewählten EU Staaten Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien haben in Westeuropa eine lange Tradition. Sorgte bereits in den 1980er-Jahren der französische Front National mit seinen Wahlerfolgen für Schlagzeilen, so riss der Faden der Wahlerfolge der extremen Rechten in Westeuropa auch in den darauffolgenden Jahren nicht ab (vgl. LochlHeitmeyer 2001; Bischoffu.a. 2004; Bathke/Spindler 2006; Decker 2006; Flecker 2007; ButterweggelHentges 2008; SpöhrlKolls 2010). Da der niederländische Rechtspopulismus in den Jahren 2009 und 2010 überraschende Wahlerfolge erzielen konnte, wird dieser Beitrag die Niederlande fokussieren.
3.1 Die Niederlande als westeuropäisches Beispiel Die Niederlande galten jahrzehntelang als politisch liberales Land, dessen Regierung und Bevölkerung Diversität toleriert - seien es nun kulturelle, ethnische, religiöse Differenzen oder auch unterschiedliche Lebensformen und -stile wie z.B. homosexuelle Partnerschaften. Grundlage für diesen ausgeprägten kulturellen Pluralismus ist das in den Niederlanden bis in die 1970er-Jahre vorherrschende Prinzip der "Souveränität im eigenen Kreise", das aus dem politischen Ansatz der Versäulung (Verzuiling) der Gesellschaft resultiert. Diesem Konzept zufolge basiert die niederländische Gesellschaft auf verschiedenen Säulen, die ihrerseits die diversen Glaubens- und politischen Gemeinschaften repräsentieren. Unterschieden werden folgende Säulen: die protestantisch-christliche (calvinistische), die katholische, die allgemeine oder neutrale; einige Autoren sprechen ferner auch den Sozialisten und Liberalen eine eigene Säule zu. Diese Säulen umfassen eine eigene Infrastruktur (Gewerkschaften, Zeitungen, Sportvereine, Bestattungsunternehmen, Schulen). Aufgrund der Versäulung der Gesellschaft waren Verhandlungen erforderlich, die vor allem von den politischen Eliten der verschiedenen Säulen geführt wurden - mit dem Ziel, Kompromisse zu vereinbaren. Die in den 1920er-Jahren begonnene Versäulung der niederländischen Gesellschaft erlebte ihre Blütezeit bis Ende der 6Oer-Jahre. Im Zuge der Erosion der sozialen Milieus verlor diese Struktur zunehmend an Bedeutung; neue Parteien entstanden unabhängig und jenseits
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von dem Gedanken der Versäulung der niederländischen Gesellschaft. Dennoch existieren auch heute noch viele Strukturen" die durch die Versäulung geschaffen wurden. Infolgedessen orientieren sich Maßnahmen der staatlichen Förderung und Entscheidungsgremien sehr stark an der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit der Menschen (vgl. Ersanili 2007). Die niederländische Centrumpartij, Vorläufer der ersten Centrumdemocraten (CD), stellte, so die Einschätzung von Meindert Fennema und Wouter van der Brug, die "erste europäische Anti-Immigrationspartei dar, die jemals einen Sitz in einem nationalen Parlament gewonnen hatte" (siehe Fennema/van der Brug 2006, S. 75). Hans Jamaat, Vorsitzender der Centrumpartij, wurde 1982 Abgeordneter. Wegen parteiinterner Streitigkeiten wurde Jarnaat 1984 aus der Partei ausgeschlossen und gründete daraufhin die Centrumdemocraten. Die Centrumpartij wurde 1986 durch die CP'86 ersetzt. 1994 erholte sich die Partei Jamaats von diesen Auseinandersetzungen und Abspaltungen wieder und zog mit drei Abgeordneten in das Parlament ein (vgl. Fennema/van der Brug 2006, S. 76 f.; Mudde 2000, S. 117 ff.). Nach dem Niedergang der Centrumdemocraten im Jahre 1998 gelang es der rechts-liberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, VVD), die gegen Immigranten gerichteten Ressentiments für sich zu nutzen. Ab 2002 erzielten rechtspopulistische Formationen - unter der Ägide von Pim Fortuyn - große Wahlerfolge: Bei den Kommunalwahlen im März 2002 vereinigte die regionale Partei Leefbaar Rotterdam, die Partei Pim Fortuyns, 35 Prozent aller Stimmen. Am 6. Mai 2002, wenige Tage vor den Parlamentswahlen" wurde Pim Fortuyn erschossen. Bei den Parlamentswahlen, die unter dem Eindruck der Ermordung Pim F ortuyns stattfanden" votierten 17 Prozent aller Wähler(innen) für die nach ihm benannte Liste, die Lijst Pim Fortuyn (LPF) (vgl. Fennema/van der Brug 2006, S. 79). Ergebnis dieser Wahlen war die Bildung einer Regierungskoalition aus drei Parteien: dem Christlich-Demokratischen Aufruf (Christen-DemocratischAppel- CDA), der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie - VVD) und der Lijst Pim Fortuyn (LPF), die vier Ministerposten erhielt und fünf Staatssekretäre stellte. Aufgrund parteiinterner Streitigkeiten und Tendenzen der Selbstauflösung der LPF traten bereits 2006 andere konkurrierende rechtspopulistische F ormationen zu den Parlamentswahlen an" die für sich in Anspruch nahmen, das Erbe Pim Fortuyns zu repräsentieren. Eine der Parteien - und zugleich die erfolgreichste dieses Spektrums war die Partij voor de Vrijheid (PVV), die bei den Parlamentswahlen des Jahres 2006 5,9 Prozent aller Stimmen erzielte. Bei den darauffolgenden Parlamentswahlen 2010 erreichte sie das sensationelle Ergebnis von 15,5 Prozent und ging damit als drittstärkste Kraft aus den Wahlen hervor.
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Einziges Mitglied der Partij voor de Vrijheid (PVV) ist Geert Wilders, der seine beruftiche Karriere 1990 als Parlamentsmitarbeiter im Büro des VVD-Parteivorsitzenden Frits Bolkestein7 begonnen hatte (wo er bis 1998 tätig war) und bis zur Gründung seiner eigenen Partei, der Partij voor de Vrijheid (PVV), für die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) im Parlament saß (1998-2004). Dieser kurze Überblick über die wechselnde Parteigeschichte der extremen Rechten in den Niederlanden macht deutlich, dass keineswegs nur eine Partei diese Strömung seit Anfang der 1980er-Jahre repräsentierte, sondern verschiedene Parteien und wechselnde Personen diese Strömung prägten. An dieser Stelle soll eine kurze ideologische Charakterisierung der PVV folgen, die aus dem Stand heraus 17 Prozent aller Stimmen bei den Wahlen zum Europaparlament auf sich vereinigen konnte und mit vier Abgeordneten in das EP einzog. Die Programmatik der PVV verknüpft den Kampf gegen den Islam (bzw. den Islamismus) mit einem Kampf gegen die Masseneinwanderung. 8 Die Programmatik der PVV kulminiert in der Forderung "Kompletter Einwanderungsstopp für Menschen aus islamischen Ländern" (vgl. Partij voor de Vrijheid 2010).9 Wegen der engen Verknüpfung dieser beiden Bereiche sollen nun diese beiden programmatischen Schwerpunkte skizziert werden: Ausgangspunkt der Argumentation der PVV ist, dass es sich bei dem Islam um eine politische Ideologie und nicht um eine Religion handele, sodass die islamischen Vereine und Verbände auch nicht das Religionsprivileg für sich in Anspruch nehmen könnten. Der Islam im Sinne einer politischen Ideologie sei eine totalitäre Doktrin. Auch wenn man nicht leugnen könne, dass es einige wenige gemäßigte Muslime gebe, begrüße die Mehrzahl 7
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Frits Bolkestein war von 1978 bis 1999 Abgeordneter der VVD im niederländischen Parlament, von 1990 bis 1998 Fraktionsvorsitzender der VVD und von 1999 bis 2004 EU-Kommissar. In dieser Funktion legte er die viel diskutierte "Europäische Dienstleistungsrichtlinie" oder "Bolkestein-Richtlinie" vor. Problematisch ist, dass sowohl in der Programmatik der PVV als auch in den Interviews von Geert Wilders gar nicht erst der Versuch unternommen wird, Islam und Islamismus voneinander zu unterscheiden bzw. abzugrenzen. Im Gegenteil: Wilders ist dezidiert und fest überzeugt, dass zwischen dem Islam als religiösem Bekenntnis und einem politischen IslamlIslamismus oder islamischem Fundamentalismus nicht unterschieden werden dürfe. Daraus resultiert, dass die PVV einen Generslverdacht gegen alle Muslime hegt, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer politischen Einstellungen und ungeachtet dessen, welcher religiösen Strömung sie sich zuordnen. Zweifellos ist eine kritische Auseinandersetzung mit allen Facetten des politischen Islam und islamischen Fundamentalismus - sei es dessen Frauenverachtung, Antisemitismus und Antizionismus oder die Homophobie - dringend geboten. Diese sollte im politischen Feld wie auch in den Bildungseinrichtungen erfolgen und Eingang in gesellschaftswissenschaftliche Analysen finden (vgl. zu Frauen- und Menschenrechten: von BraunlMathes 2007; Schirrmacherl Spuler-Stegemann 2006; zu Antisemitismus: Kiefer 2002; zu Bildung: BukowNildiz 2003). Für Übersetzungshilfe (Niederländisch-Deutsch) bedanke ich mich herzlich bei Debora Riemens, M.A.
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der Muslime die Einffihrung der Sharia, befürworte die Djihad-Anschläge des 11. September 2001 und zeichne sich durch eine weitverbreitete Abneigung gegen "die Juden" und "den Westen" aus. Der Islam basiere auf dem Prinzip der Ungleichheit zwischen den Menschen: Muslime gelten als überlegen, alle Nicht-Muslime (oder Kaffern) als unterlegen und minderwertig. Ein jeder Muslim sei zum Djihad verpflichtet. Der Koran schreibe individuelle Verhaltensweisen vor, die in Widerspruch zu niederländischen Gesetzen stünden: der Antisemitismus, die Frauendiskriminierung, die Tötung von Ungläubigen und der Djihad stehe ebenso auf der Agenda wie das Streben nach einer Weltherrschaft des Islam. Eng verwoben mit dieser Argumentationslinie ist die starke Ablehnung der Einwanderung. Die über Jahrzehnte praktizierte "Politik der offenen Grenzen" sei die Ursache der heutigen Probleme, so die pvv. Daraus sei die hohe Kriminalitätsrate in den Niederlanden erwachsen, aber auch die weitverbreitete Abhängigkeit von Sozialleistungen, die Gewalt gegen Homosexuelle und Frauen, die Ehrenmorde und die vorzeitigen SchulabbfÜche. Als die Verantwortlichen einer solchen Politik identifiziert die PVV die politischen "Eliten", die angeblich einen Kulturrelativismus propagiert haben. Mit Blick auf die EU macht die PVV vor allem die politischen Eliten in BfÜssel für die aktuelle Situation in den Niederlanden verantwortlich. Die Elite in BfÜssel habe maßgeblich dazu beigetragen, dass aus Europa ein "Eurabia" geworden sei. Demnach fordert die PVV - in Anlehnung an Dänemark - die Strategie des opt-out. Alle bislang auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen sollten künftig für die Niederlande bedeutungslos sein, vor allem jene im Bereich der Einwanderungspolitik. Die PVV fokussiert in ihrer Programmatik folgende Bereiche: Abschiebung, Asyl, Sozialleistungen, Staatsangehörigkeit, Assimilation, Integration, Anti-Islam!Anti-Islamismus und Anti-EU. Die PVV fordert eine sofortige Abschiebung krimineller Ausländer(innen) ohne niederländischen Pass, nachdem sie nach niederländischem Recht bestraft worden sind und ihre Strafe in den Niederlanden verbüßt haben. Die Forderung nach Abschiebung von Ausländern umfasst aber auch alle in den Niederlanden lebenden erwerbslosen Ausländer(innen): "Wir werden uns auch verabschieden von Fremden ohne Job, indem wir das Programm anwenden ,Arbeit oder Ausreise'." "Für Ausländer gilt die folgende Regel: Arbeit oder Ausreise. Kein Job = kein Platz in den Niederlanden." Wie in anderen EU-Staaten auch (u.a. Spanien), wurden in den Niederlanden im Laufe der letzten Jahrzehnte in unregelmäßigen Abständen immer wieder sog. Legalisierungskampagnen durchgeführt, um die Zahl der undokurnentierten Migrant(inn)en zu senken und ihnen eine legale Lebensperspektive im Land zu bieten. Unter bestimmten Voraussetzungen (Länge des Aufenthalts, Nachweis ei-
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ner Erwerbsarbeit, Straffreiheit) konnten Migrant(inn)en ohne Papiere ihren Aufenthaltsstatus legalisieren und erhielten einen sicheren Aufenthaltstitel. Die PVV wendet sich gegen diese Form der Legalisierung bzw. gegen die sog. Generalamnestie. Sie fordert eine sofortige Ausweisung aller Ausländer(innen), deren Antrag auf Verfestigung des Aufenthaltsstatus gerichtlich gescheitert ist, und fordert, die Generalamnestie gesetzlich zu verbieten. Im Bereich der Asylpolitik will die PVV eine jährliche Quote einführen. Demnach seien die Niederlande bereit, jährlich 1.000 Asylbewerber aufzunehmen, favorisiert wird jedoch deren regionale Unterbringung. In den 1990er-Jahren vollzog sich in den Niederlanden die "Umstellung zu einem anderen Wohlfahrtsstaatssystem". Unter Einbeziehung der Christdemokraten, der Liberalen und Sozialdemokraten wurde ein "Schwerpunktwechsel" vorgenommen: weg von Unterstützung und Sicherheit, hin zu einer "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" (Becker/Cuperus 2007, S. 10). Ungeachtet dieser einschneidenden Reformen verstehen sich die Niederlande nach wie vor als sozialer Wohlfahrtsstaat - wenn auch unter verändertem Vorzeichen. Die PVV erhebt jedoch die Forderung, dass Einwanderer innerhalb der ersten zehn Jahre ihres Aufenthalts in den Niederlanden keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen haben sollten: "Die Niederlande werden von vielen Ausländern als Möglichkeit gesehen, soziale Transferleistungen zu sammeln. Ihre Liebe für unser Land wird schnell verschwinden, wenn wir Einwanderer von allen sozialen Leistungen zehn Jahre ausschließen." Zehn Jahre Leben und Arbeiten in den Niederlanden seien die Voraussetzung für den Bezug von Sozialleistungen; zudem sollten diese nur jenen gewährt werden, die gut Niederländisch sprechen. Die PVV erteilt der bisherigen Praxis der doppelten Staatsangehörigkeit eine deutliche Absage: "Keiner kann Niederländer werden, so lange er oder sie noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt." Menschen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit sollten, so die Forderung der PVY, zentral registriert werden. Die PVV plädiert ferner für eine sehr restriktive Praxis der Einbürgerung: Demnach sollten Einwanderer erst nach einem rechtmäßigen Aufenthalt von zehn Jahren die niederländische Staatsangehörigkeit erhalten, und dies auch nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht straffällig geworden sind. Alle Migrant(inn)en sollten dazu aufgefordert werden, sog. Assimilationsverträge zu unterschreiben bzw. diesen ZllZllstimmen. Für den Fall, dass sie nicht zur Unterschrift bereit seien, sollten sie umgehend ausgewiesen werden. Integration wird vor allem im Kontext von Integrationskursen erwähnt: Perspektivisch sollten solche Kurse nicht mehr in den Niederlanden, sondern in den Herkunftsländern der Migrant(inn)en stattfinden. Innerhalb der Übergangszeit müsste jedoch jeder
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Teilnehmer, der die abschließende Prüfung des Integrationskurses nicht besteht, umgehend abgeschoben werden. Ferner müssten die Einwanderer die Sprach- und Integrationskurse künftig selbst bezahlen. In Übereinstimmung mit dem eingangs skizzierten Selbstverständnis der PVV als Anti-Islam-Partei fordert sie einen Stopp des Moscheebaus in den Niederlanden, die Schließung von Moscheen, in denen Gewalt propagiert wird, die Schließung von islamischen Schulen, das Verbot von Koranunterricht in der Schule oder im Schulgebäude und ein Verbot einer islamischen Geschlechtertrennung (sei es in Integrationskursen, im Theater, in Bibliotheken oder Schwimmbädern). Sie fordert ein Kopftuchverbot (im Gesundheits- und Erziehungswesen, in der öffentlichen Verwaltung, aber auch in öffentlich geförderten Organisationen) und schreckt nicht davor zurück, eine Kopftuchsteuer erheben zu wollen. Des Weiteren fordert die PVY, Burkas und den Koran zu verbieten. An den Staat und die kommunalen Verwaltungen appelliert sie, die staatliche Unterstützung islamischer Medien einzustellen, finanzielle Kürzungen in der ,,Propagandaabteilung" für das Konzept der multikulturellen Niederlande vorzunehmen und kommunale Einrichtungen für Gleichberechtigung zu schließen. Stark ausgeprägt ist eine ablehnende Haltung gegenüber der EU: Deren Eliten werden dafür verantwortlich gemacht, dass Europa ein "Eurabia" geworden sei: "Dank der Eliten in Brüssel verwandelte sich Europa schnell in ,Eurabia' . Die Niederlande sollten deshalb sofort opt-outs verhandeln, wie Dänemark dies getan hat, demnach hätte die EU im Bereich unserer Einwanderungspolitik nichts mehr zu sagen. Alle in Brüssel getroffenen Entscheidungen bezüglich der Masseneinwanderung sollten von den Niederlanden ignoriert werden." "Die Niederlande sollten ihre eigenen Entscheidungen bezüglich der Einwanderungspolitik treffen, nicht Brüssel (opt-out)." Die PVV profilierte sich mit einer Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei. Folglich nimmt sie als Programmpunkt auf: "Zur EU: Türkei rein, Niederlande raus." Bezogen auf die EU-Osterweiterung und die Arbeitskräftemobilität fordert die PVV, die Öffuung des Arbeitsmarktes für Polen rückgängig zu machen, und auch Rumänen und Bulgaren solle der niederländische Arbeitsmarkt verschlossen sein. Die zentrale Botschaft - der Islam als totalitäre Ideologie - verbreitete Wilders öffentlichkeitswirksam in seinem Film Fitna (Versuchung, Zwietracht), der am 27. März 2008 auf verschiedenen Internetseiten veröffentlicht wurde. Der 17-minütige Film basiert vor allem auf der Collage-Technik und besteht aus Fotos und Videoaufuahmen von den Anschlägen des 11. September 2001 sowie den terroristischen Anschlägen in Madrid und London. Man sieht verwundete und tote Men-
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sehen. Unterlegt werden diese Bilder durch Angst- und Schmerzensschreie, untertitelt sind diese angsteinflößenden Szenen mit Koranzitaten. Diese Kombination von Gewaltszenen und Koranzitaten legt die Interpretation nahe, dass der Koran nicht nur Gewalttaten rechtfertige, sondern sogar dazu aufrufe. Der zweite Teil des Films entwirft ein Schreckensszenario davon, wie sich die Niederlande - bei einem Rückgang der autochthonen Bevölkerung - unter dem Einfluss des Islam entwickeln werden: Gezeigt werden eine niederländische Landschaft, dominiert von Moscheen und Minaretten, Frauen, die gezwungen sind, eine Burka zu tragen; die Verstümmelung der weiblichen Genitalien sei an der Tagesordnung; Ehebrecher und Homosexuelle würden zum Tode verurteilt; an den Schulen werde der Djihad gelehrt. Am Ende des Films wird Kampf gegen den Islam bzw. die drohende Islamisierung in die weltpolitischen Konflikte des 20. Jahrhunderts eingeordnet: "Die Regierung möchte, das Du/Sie den Islam respektierst, aber der Islam respektiert Dich/Sie nicht. ( ... ) Der Islam möchte herrschen, unterwerfen und versucht unsere westliche Zivilisation zu zerstören. 1945 wurde der Nationalsozialismus in Europa bekämpft, 1989 wurde der Kommunismus in Europa bekämpft und jetzt muss die islamische Ideologie bekämpft werden." Der Film endet mit dem Aufruf "Stoppt die Islamisierung! Verteidigt unsere Freiheit!" Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Wilders wegen Beleidigung der Muslime und ihrer Religion und Aufstachelung zum Hass gegen Anhänger des Islam. Sie stützte sich bei ihren Ermittlungen einerseits auf den Film ,,Fitna", andererseits aufWilders' Reden und Interviews. Wilders hatte ein Verbot des Koran gefordert, den er als faschistisch bezeichnete und mit Ritlers "Mein Kampf' verglich. Wilders wies die Vorwürfe zurück: All seine Äußerungen über Islam und islamische Extremisten seien durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Er warf der niederländischen Justiz und den Regierungsparteien vor, einen "politisehen Schauprozess" gegen ihn zu inszenieren. Zeugen und Sachverständige, u.a. Islamexperten, sollten seine Einschätzungen über islamistische Gefahren bestätigen. Sein Verteidiger, Abraham Moszkowicz, erklärte, Wilders' kritische Äußerungen über Muslime, den Koran und den Islam seien "ein substanzieller Beitrag zur öffentlichen Debatte" und insofern nicht strafbar. Wilders habe seine Islam-Kritik stets in seiner Funktion als Parlamentsabgeordneter vorgebracht und genieße daher Immunität (vgl. N24 v. 20.1.2010). Aus der Kombination Anti-Immigrationspartei und Anti-Islampartei ergeben sich politische Forderungen, die Wilders im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt skizziert:
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"Ich möchte kriminellen Marokkanern die niederländische Nationalität aberkennen, wenn sie auch noch die marokkanische haben. Das tut unsere Regierung schon jetzt bei Terroristen. Wir müssen überdies die freiwillige Rückkehr von Einwanderern fordern. Außerdem darf es nicht mehr islamische Symbole geben, nicht noch mehr Moscheen. Da der Islam keine Religion, sondern eine Ideologie ist, widerspricht das auch nicht der Religionsfreiheit. Wir müssen auch islamische Schulen schließen. Schon kleine Kinder werden dort mit einer Hass-Ideologie vollgestopft. Für all das gibt es natürlich im Parlament keine Mehrheit. Aber in der Bevölkerung wächst die Unterstützung." (Geert Wilders 2009).
Für Ende 2010 plant Geert Wilders die Gründung einer ,,Allianz der Freiheit". Mit dieser internationalen Bewegung will Wilders seinen Kampf gegen Islam und Islamisierung auf die westliche Welt ausdehnen, zunächst auf die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland (vgl. Die Presse v. 15.7.2010).
3.2 Ungarn als Beispieljiir Mittel- und Osteuropa JO In Osteuropa spielten rechtsextreme Organisationen bis Anfang der 1990er-Jahre zunächst keine bedeutende Rolle. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des real-sozialistischen Staatensystems Ende der 1980er-1Anfang der 1990er-Jahre entstanden die ersten parteiförmigen Organisationen, die auf rechtsextremen Ideologien basierten. Antisemitismus und Rassismus, Homosexuellenfeindlichkeit und (krude) Kritik an (kapitalistischer) Globalisierung zählten zu ihrem ideologischen Reservoir. In Bulgarien, der Slowakei, Rumänien, Polen, Lettland, Tschechien oder auch Ungarn - in all diesen Ländern existieren heute Parteien des rechtsextremen Spektrums, sei es die bulgarische Partei KoalizijaAtaka, die Slowakische Nationalpartei (Slovenskä Närodnä Strana - SNS), die Großrumänienpartei (Partidul Romania Mare - PRM), die ,,Liga Polnischer Familien" (Liga Polskich Rodzin - LPR), die lettische Partei "Für Vaterland und Freiheit! Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung" (Tevzemei un BnvibaiILatvijas Nacionäläs Neatkanoas KustIb - TBILNNK), die tschechische "Arbeiterpartei" (Delnickä Strana - DS) oder die ungarische ,,Bewegung für ein besseres Ungarn" (Jobbik) (vgl. Maegerle 2009). Von all diesen Parteien gilt Jobbik als jene Partei, die ein sensationelles Wahlergebnis erzielen konnte, sowohl bei den Wahlen zum Europaparlament 2009 als
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Für hilfreiche Anmerkungen und Kommentare bedanke ich mich herzlich bei Dr. Istvan Grajczjär, Associate Professor, King Sigismund College (Budapest) und Senior Research Fellow of Democracy and Radicalism Research Group ofMTA PTI (Institute ofPolitical Sciences ofthe Hungarian Academy ofSciences) und bei der Kulturwissenschaftlerin Dr. Magdalena Marsovszky (München/Budapest), Mitglied im Vorstand des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.v. (forschungsforum.net).
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auch bei den nachfolgenden ungarischen Parlamentswahlen im April 20 1O. Aus diesem Grund soll im Folgenden das Länderbeispiel Ungarn näher betrachtet werden. Zu Beginn der 1990er-Jahre tauchten in Ungarn mehrere kleine Bewegungen und Parteien der extremen Rechten auf. Von den vielen kleinen - mehr oder weniger bedeutungslos gebliebenen Parteien des Lagers der extremen Rechten erlangte die 1993 gegriindete MIEP (Ungarische Gerechtigkeits- und Lebenspartei) unter Führung des Schriftstellers und Dramatikers Istvan Csurka eine gewisse Bedeutung. MIEP war eine kleine Partei, die lediglich ein paar Tausend Mitglieder zählte. Ältere Personen, vorwiegend über 60, dominierten zunächst die Parteitage der MIEP. Ungarn wurde von 1998 bis 2002 von einer rechten Koalition regiert, angeführt von Viktor Orbans rechtskonservativer Partei FIDESZ (Fiatal Demokratäk Szövetsege - Ungarischer Bürgerbund). Diese Regierung schloss mit der MIEP, die bei den Wahlen 1998 die Fünf-Prozent-Hürde genommen hatte und nun im Parlament vertreten war, ein taktisches Bündnis. Die MIEP blieb zwar formal in der politischen Opposition, unterstützte jedoch die FIDESZ häufiger bei Abstimmungen und hatte Posten in der Administration und den öffentlich-rechtlichen Medien inne. Eine deutliche Abgrenzung der FIDESZ von der MIEP gab es nicht. Bei den darauffolgenden Wahlen 2002 und 2004 erlangte die MIEP nur noch vier bzw. zwei Prozent der Stimmen, sodass sie ab 2002 nicht mehr im Parlament vertreten war (vgl. T6thJGrajczjar 2003; T6th/Grajczjär 2007). Die Ideologie der MIEP stützte sich vorwiegend auf Antikommunismus und Nationalismus. Vor allem akzentuierte sie das Problem der ungarischen Gebietsverluste nach dem Vertrag von Trianon. Ferner richtete sich ihre Propaganda gegen die Globalisierung und gegen den vermeintlich wachsenden jüdischen Einfluss in Ungarn. Die Koalition zwischen den liberalen und den früheren kommunistischen Parteien sah die MIEP als Agenten der Kräfte der Globalisierung (vgl. T6thl Grajczjär 2007, S. 203). Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom Frühjahr 2002 erhofften sich die studentischenAktivisten der Jobbikll eine Verbesserung der Wahlergebnisses der FIDESZ und der MIEP - verbunden mit der Hoffnung auf eine Regierungskoalition aus FIDESZ und MIEP. Diese Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht: Die FIDESZ verlor ihre parlamentarische Mehrheit; die MIEP scheiterte an der FünfProzent-Hürde. Fortan wurde Ungarn von der MSZP regiert, die mit dem linksliberalen SZDSZ eine Regierungskoalition einging. 11
1999 gründete ein Kreis um Gäbor Vona - und die Studentensektion des .,Bundes Christlicher Intellektuellen" - die "Rechte Jugendgemeinschaft", die bald unter dernAkronym Jobbik bekannt wurde. Ziel dieser neu gegründeten Studentenorganisation war es, die national denkende Jugend Ungarns zu erreichen.
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Dieses Scheitern des rechten bzw. rechtsextremen Lagers nahm die Studentenorganisation Jobbik - aber auch Parteiaktivisten der FIDESZ - zum Anlass, um über eine Parteineugründung nachzudenken. Ein FIDESZ-Politiker, Istvan Stumpf, gab über die Politiker von Jobbik folgendes Urteil ab: "Sie sind gut ausgebildet, kommunizieren gut und ( ... ) haben das Zeug dazu, das radikal-nationale rechte Segment zu besetzten. Die MIEP hat ihren Schwung verlogen und nichts Neues zu sagen, während die Jobbik die allgemein Anklang findenden radikalen Gedanken niveauvoller zu formulieren vermag." (zit. nach Mayer/Odehnal201O, S. 45; vgl. auch zu den ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen FIDESZ und Jobbik: Marsovszky 2010b). Schließlich wurde im Oktober 2003 die Jobbik-Partei gegründet, sie firmierte fortan unter dem Namen "Jobbik Magyarorszagert Mozgalom" (Bewegung für ein besseres Ungarn). Als Vorsitzender fungierte David Kovacs, der über die MlEP und Hochschülerschaft ("Rechte Jugendgemeinschaft", bekannt unter dem Namen Jobbik) bereits Ende der 1990er-Jahre in die Politik gegangen war. Aufgrund ihrer grundsätzlichen Gegnerschaft zur Europäischen Union boykottierte Jobbik die Wahlen zum Europaparlament 2004. Zu den Wahlen im Frühjahr 2006 traten Jobbik und MIEP gemeinsam an, scheiterten jedoch an der Fünf-Prozent-Hfude (vgl. Mayer/Odehnal201O, S. 44 f.). Die Ideologie von Jobbik basiert auf Revanchismus, Kampf gegen Globalisierung und gegen die Europäische Union, Antisemitismus, Hetze gegen Minderheiten (vor allem gegen Sinti und Roma) und Homosexuellenfeindlichkeit bzw. Homophobie. Im Folgenden soll die von der Jobbik vertretene Programmatik und Ideologie kurz umrissen werden. Eine der zentralen Forderungen, mit denen Jobbik antritt, ist die nach einer Revision der Grenzen. Jobbik kämpft gegen den Friedensvertrag von Trianon von 1920, mit dem der Erste Weltkrieg beendet wurde. Entsprechend des Vertrags von Trianon verlor das alte ungarische Königreich zwei Drittel seines Territoriums an Nachbarstaaten. Infolgedessen lebten ca. 3,2 Millionen Ungarn fortan außerhalb des neu gegründeten ungarischen Nationalstaats. Jobbik fordert daher die Aufhebung des Vertrags von Trianon und die Annexion von Nachbarregionen, u.a. von Teilen der Slowakei. Immer wieder überquerte die paramilitärische Ungarische Garde - die Speerspitze von Jobbik - die ungarisch-slowakische Grenze, besetzte symbolisch slowakisches Territorium oder blockierte den ungarisch-slowakischen Grenzübergang. Ungeachtet des Verbots der Ungarischen Garde am 16. Dezember 2008 ist sie nach wie vor in Ungarn aktiv. Im Interview mit der FPÖ-nahen österreichischen Wochenzeitung ,,zur Zeit" kommentiert Gabor Vona, Vorsitzen-
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der von Jobbik wie auch der Ungarischen Garde, das "Friedensdiktat von Trianon" folgendermaßen: "Lassen Sie mich zuerst die Terminologie in dieser sensiblen Angelegenheit klarstellen: Nach meiner Auffassung ist ein Vertrag inuner das Ergebnis von Verhandlungen. Was aber nach dem Ersten Weltkrieg im Schloß Trianon in Versailles geschehen ist, war ein Diktat, mit dem die Feinde Ungarns das Schicksal unseres Landes auf Grundlage von Lügen, gefälschten Zahlen und falschen Berichten beschlossen haben. Mitteleuropa - und damit besonders tragisch auch das ungarische Königreich - wurde zerstückelt von einer Koalition kurzsichtiger Supermächte sowie einer Gruppe gieriger, berechnender und frustrierter Staaten, die unter der Bezeichnung Kleine Entente bekannt ist. FÜI die Ungarn ist Trianon das Synonym für den Versuch, die ungarische Nation zu liquidieren. Der Verlust strategisch, kulturell und wirtschaftlich wichtiger Gebiete und seiner Bewohner fiihrte zu einem demographischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verlust, den unser Land sogar heute noch spürt - ganz zu schweigen von dem psychologisch-geistigen Schaden, den Trianon unserem kollektiven Selbstbewußtsein zugefügt hat." (Vona 201Oa)
Die Fokussierung auf den Vertrag von Trianon und seine Charakterisierung als "Diktat" bzw. "Friedensdiktat" erinnert an die Propaganda der rechtskonservativen Kräfte der Weimarer Republik gegen das "Schanddiktat von Versailles". Die nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Verträge wurden in der Weimarer Republik bzw. werden im heutigen Ungarn als Ursprung des Niedergangs der territorialen Integrität des Nationalstaates gesehen und avancieren damit zum Sündenfall der Nationalgeschichte. Damit eng verbunden ist das ungarische Konzept von Staatsbfugerschaft, das im Kontext einer völkisch ausgerichteten Volksgruppenpolitik (vgl. Rentges 2009) zu interpretieren ist. Wie im Mai 2010 im ungarischen Parlament mehrheitlich beschlossen, verleiht Ungarn ab Januar 2011 den in den Nachbarstaaten lebenden Auslandsungarn auf Antrag die ungarische Staatbfugerschaft - und akzeptiert damit deren doppelte Staatsbfugerschaft. Diese Reform des ungarischen Staatsangehörigkeitsrechts betrifft schätzungsweise 2,5 MillionenAuslandsungarn und verstärkt die ohnehin bereits schwelenden Konflikte zwischen Ungarn und der Slowakei. 12 Betroffen von der großzügigen Vergabe der ungarischen Staatsangehörigkeit an sog. Auslandsungarn sind neben der Slowakei auch Rumänien, Serbien und die Ukraine. Des Weiteren wird dem Kampf gegen Globalisierung und gegen die Europäische Union Priorität beigemessen. Die Globalisierung in all ihren Dimensionen - vor allem der ökonomischen und kulturellen - gilt als Wurzel allen Übels. Gabor Vona wird mit der Aussage zitiert, die wahre Scheidelinie in der heutigen Po12
Die slowakische Regierung kündigte als Reaktion auf die Refonn des Staatsangehörigkeitsrechts bereits ein Gesetz an. Demzufolge soll die Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit künftig zum Verlust der slowakischen Staatsangehörigkeit führen (vgl. Ungarn beschließt umstrittene Doppe1staatsbÜIgerschaft, in: Die Presse v. 26.5.2010).
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litik verlaufe zwischen jenen Politikern, die globale Werte begrüßen, und jenen, die sich für nationale Werte einsetzen (How Jobbik transfonned Hungarian Politics, 05.12.2009). Die "Schatten der Globalisierung" beträfen, so Vona, nicht nur Ungarn, sondern die ganze Welt; Ungamjedoch habe schlechtere Ausgangsbedingungen als die meisten anderen europäischen Länder, die ebenfalls mit der Globalisierung konfrontiert seien (vgl. Vona 20 lOb). Eines der vielen Beispiele, das in diesem Zusammenhang angeführt wird, ist das von Rupert Murdoch: Kaum ein anderer Unternehmer weltweit habe so sehr von der Globalisierung profitiert wie Murdoch und sein Medienkonglomerat News Corporation. Seit 1999 habe er 20 Billionen US-Dollar Gewinn gemacht, ohne dabei Körperschaftssteuer gezahlt zu haben, da er sich in ausländische Steueroasen zurückgezogen habe. Die Jobbik konfrontiert Globalisierungsgewinner wie Murdoch mit den in Armut lebenden ungarischen Landwirten und schwingt sich zum Verteidiger der nationalen Ökonomie und protektionistischen Politik auf (vgl. How Jobbik transfonned Hungarian Politics, 5.12.2009). Hatte Jobbik bereits 2004 die Europawahlen wegen der prinzipiellen Ablehnung der EU boykottiert, so lässt die Partei aktuell keinen Zweifel an der Fortsetzung ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der EU. Jobbik lehnt den Lissabonner Vertrag ab, "da darin ja noch einmal die Tendenz deutlich wird, die europäischen Nationen, ähnlich wie die USA zu einer einzigen Nation, zu einem ,Imperium' zu ,vereinigen' und so die Souveränität der Völker Europas zu zerstören. Wir hingegen glauben an ein Europa der selbstbestimmten Nationen - die natürlich zusammenarbeiten können und sollen." (Vona 20 lOb) Die Abgeordnete im Europäischen Parlament und Aktivistin der Jobbik, Krisztina Morvai, äußert sich zu diesen Fragen wie folgt: "Wir sind nicht unbedingt für den Austritt aus der EU. Aber wir sind gegen die Schaffung eines europäischen Imperiums. Wir sind dagegen, die Nationalstaaten ihrer Entscheidungsbefugnisse zu berauben und den EU-Institutionen zu übertragen. Es gibt keinerlei Kontrolle über die EU-Kommission. Das ist schrecklich und undemokratisch. Ich bin euroskeptisch, aber habe die Hoffnung, dass wir die EU verändern können. Doch wenn das Schlimmste eintritt und wir das 2011 auslaufende Moratorium zum Landverkaufnicht neu verhandeln können, dann sollte Ungarn die EU verlassen. Wir dürfen unser Land nicht preisgeben. Die Europäische Union hat Ungarn mehr nötig als wir die EU." (Morvai 2010). Diese politische Haltung deckt sich mit dem in der extremen Rechten Europas verbreiteten Credo "Für ein Europa der Vaterländer" bzw. ,,Für ein Europa der Völker - Nein zu dieser EU". Eng verknüpft mit dieser nationalistischen Haltung ist ein stark ausgeprägter Antisemitismus, der sich jedoch nicht nur gegen "die Juden" oder gegen Israel
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richtet. Vielmehr hat sich ein antisemitischer Code etabliert, der auch Begriffe wie "Globalist" oder "Globalisierung" mit einer antisemitischen Konnotation versieht. Aber auch die Etikettierung politischer Strömungen und Ideologien als ,jüdisch" ist weit verbreitet (z.B. jüdischer Liberalismus, jüdisch-bolschewistischer Kommunismus, jüdischer Kapitalismus, jüdische Sozialdemokratie). Im Kontext des Antisemitismus von Jobbik sei auf die Ungarische Garde verwiesen, die am 25. August 2007 aus der Partei Jobbik heraus gegründet wurde (vgl. Marsovszky 2009). Vorsitzender des Trägervereins der Ungarischen Garde wurde Gäbor Vona, in Personalunion auch Präsident von Jobbik. Diese paramilitärische Organisation tritt in einer Uniform auf, die an die faschistischen ungarischen Pfeilkreuzier erinnert. Diese Partei regierte Ungarn in den Jahren 1944 bis 1945 - zur Zeit der deutschen Besatzung Ungarns -, sie kollaborierte mit den deutschen Besatzern, unterstützte sie bei der Erfassung, Sammlung und der Deportation der ungarischen Juden in Konzentrationslager und trägt somit eine Mitverantwortung am Tod von ca. 500.000 ungarischen BÜfgernjüdischer Abstammung (vgl. Enzyklopädie des Holocaust 1998, Bd. III, S. 1464 ff.; Aly/Gerlach 2002). Die Rolle der Pfeilkreuzler in den Jahren 1944/1945 wird in der Literatur wie folgt charakterisiert: "Bewaffuete Pfeilkreuzler-Banden streiften durch die Straßen, überfielen und töteten Juden. Viele Opfer wurden am Ufer der Donau erschossen." (Enzyklopädie des Holocaust 1998, Bd. III, S. 1464 ff.) Welches Schicksal die ungarischen Juden erlitten, hat Imre Kerresz (2009), ein ungarischer Auschwitz-Überlebender, in seiner Autobiografie "Roman eines Schicksallosen" eindrücklich beschrieben. Insofern ist der Antisemitismus der Ungarischen Garde bzw. der Partei Jobbik nicht von der Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Juden zu trennen. Vona sagt, dass er die Kritik jüdischer Organisationen an der Gründung der Ungarischen Garde nicht nachvollziehen könne. Auf die Frage, weshalb die "Vertreter des Judentums" die Ungarische Garde bekämpften, erklärt Vona, dass der "Jüdische Weltkongress" lediglich versuche, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Vona präsentiert die Ungarische Garde als Organisation, die dem "internationalen Judentum" die Stirn biete, und verbreitet die Lüge, dass Israel Ungarn aufkaufen wolle bzw. bereits aufgekauft habe: ,,Aus den Äußerungen der Juden in Ungarn und des internationalen Judentums schließe ich, daß die Garde ihnen im Weg steht. Aus den Äußerungen Schlmon Peres', des Staatspräsidenten Israels, können wir schließen, daß ihr Ziel ist, Ungarn zu kaufen - ja im Original der Ansprache von Peres an jüdische Geschäftsleute in Israel heißt es sogar, daß das organisierte Judentum der Meinung ist, Ungarn bereits gekauft zu haben. Was ich voraussehe ist, daß das Judentum sich in Palästina auf die Dauer nur sehr schwer wird halten können. In dem Moment, wo die USA als Weltmacht zusammenbrechen, zum Beispiel in Folge von wirtschaftlichen Problemen, könnte
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Gudrun die Unterstützung der USA für Israel entfallen - und in diesem Moment werden die dort lebenden Juden ein nenes Zuhause, eine neue Heimat benötigen - und es scheint so, daß sie (durch Kontrolle der Massenmedien, des Parlaments, durch Staatsverschuldung bei den jüdisch kontrollierten internationalen Banken usw.) bereits jetzt die entsprechenden Voraussetzungen dafür ,zurechtordnen' ." (Vona 20 Wb)
Diese propagandistische Erfindung - Israel habe Ungarn und Polen bereits aufgekauft - verknüpft verschiedene ideologische Dimensionen miteinander: Globalisierungskritik, die Konstruktion des Feindbilds eines Weltjudentums und von Israel als omnipotenter Staat, der je nach Belieben andere Staaten aufkaufen kann. Diese verschiedenen Ebenen des Antisemitismus prägen Programmatik, Ideologie und Propaganda der Partei Jobbik. Auf ein weiteres Beispiel fiir einen (offenen) Antisemitismus stößt man bei der Lektüre des Organs der Jobbik, Barikäd. Auf dem Titelblatt der März-Ausgabe 2010 ist eine Fotomontage zu sehen, welche die Statue des katholischen Heiligen St. GelIert am GelIertberg in Budapest zeigt. In seiner rechten Hand, die er gen Himmel streck!, hält er jedoch kein Kreuz, sondern eine Menora, und auf dem Titelblatt heißt es warnend "Budapest, erwache! Ist es das, was ihr wollt?" (vgl. Pfeifer 2010) Die Gestaltung des Titelblatts ruft die Leser(innen) dazu auf, sich gegen den (vermeintlich) jüdischen Einfluss in Budapest (wie in ganz Ungarn) zur Wehr zu setzen. In welcher Weise ein Kampf gegen "die Juden" erfolgen solle, bleibt der Fantasie des Lesers/der Leserin überlassen. Der von der Jobbik propagierte Antisemitismus hat zwei verschiedene Dimensionen: Einerseits lebt er von der expliziten Benennung des vermeintlichen Feindes, seien es die Juden (in Ungarn oder weltweit), der Staat Israel, der Zionismus, der Jüdische Weltkongress; andererseits finden sich in der Rhetorik von Jobbik (aber auch anderer ungarischer Parteien, die in der Tradition des völkischen Denkens stehen) implizite antisemitische Anspielungen und Stereotype. Wie Magdalena Marsovszky (201Oa) herausgearbeitet hat, ist der heutige Antisemitismus in Ungarn nur im Kontext der Analyse der Traditionen des völkischen Denkens zu verstehen, das auf eine lange Tradition ZUfÜckblick!. Ethno-Nationalismus und moderner Antisemitismus in Ungarn seien, so Marsovszky, zwei Seiten derselben Medaille. Insofern begrenzt Marsovszky die Analyse des Phänomens keineswegs auf die Parteien und Bewegungen der extremen Rechten (Jobbik, Ungarische Garde), sondern befasst sich auch mit den antisemitischen Tendenzen der rechten Parteien (FIDESZ-MPSZ, KDNP), aber auch mit einem linken Antisemitismus als Erbe der real-sozialistischen Vergangenheit. In der politischen Debatte in Ungarn sind mittlerweile Begriffe wie "Globalist" oder "Globalisierung" zu "antisemitischen Codes" avanciert und werden mit ,,zionismus" gleichgesetzt. Links-liberalen Politikern wird unterstellt, sie würden
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von ausländischen Interessen und der Globalisierung kontrolliert. Sozialistische und liberale Politiker, links orientierte, liberale Journalisten und Medien und liberale Intellektuelle gerieten (und geraten) ins Fadenkreuz einer rechten bzw. rechtsextremen Rhetorik. Ihnen wird vorgeworfen, das eigene Volk zu verraten und ein Vasall fremder Mächte zu sein. Die Andeutung "fremde Mächte" fungiert in der ungarischen Debatte als Synonym für die jüdische Weltherrschaft oder für das "Zionist Occupied Govemment" (ZOG). Zu beobachten ist eine Eskalation der Gewalt, die einhergeht mit einer ,,Dehumanisierung des Feindes". Der (politische) Feind der völkischen Rechten wird mit Ungeziefer verglichen, beispielsweise Ferenc Gyurcsäny (MSZP), von 2004 bis 2009 ungarischer Ministerpräsident, mit Kakerlaken oder links-liberale Politiker mit Würmern. Auch vor einem Vergleich mit Parasiten schreckte die rechtsextreme Publizistik nicht zurück: So lag der Monatszeitschrift der Jobbik im Mai 2007 ein großformatiges Poster bei, überschrieben mit "Gib acht auf die Parasiten". Abgebildet waren Mitglieder der links-liberalen Regierung, die bis April 20 10 im Amt war (vgl. Marsovszky 2009). Außer gegen Juden richtet sich die Programmatik der Jobbik vor allem gegen die in Ungarn lebenden Roma, also gegen die größte im Land lebende autochthone Minderheit (ca. 700.000, das sind sieben Prozent der Gesamtbevölkerung; vgl. Barlai 2009). Die romafeindliche Haltung umfasst ein breites Spektrum von Aktivitäten und reicht von gewalttätigen Übergriffen auf Roma-Siedlungen über angsteinflößende Aufmärsche an von Roma bewohnten Orten bis hin zur Verbreitung einer antiziganistischen Ideologie. Die Ungarische Garde marschierte in der Vergangenheit immer wieder in jenen Regionen auf, in denen Roma siedeln, um - so ihre Argumentation - die Ungarn vor sogenannter Zigeunerkriminalität zu schützen. Während sich die Roma bei diesen Aufmärschen häufig ruhig verhielten, kam es im November 2009 zu Auseinandersetzungen. Die Jobbik hatte am 14. November 2009 in der nordostungarischen Gemeinde Saj6bäbony bei Miskolc, in der ein großer Anteil von Roma lebt, ein sog. Forum abgehalten. 200 bis 300 Roma versammelten sich vor dem Veranstaltungsort und als Angehörige der Ungarischen Garde im Dorf aufmarschierten, kam es zu Handgreiflichkeiten. Den Begriff der Zigeunerkriminalität hatte Jobbik in den politischen Diskurs eingefiihrt; er avancierte zu einem Schlüsselbegriff im Kontext der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung der in Ungarn lebenden autochthonen Minderheit. Spitze des Eisbergs ist die Forderung des Kommunalpolitikers und BÜfgermeisterkandidaten der Jobbik, Csanäd Szegedi. Dieser hatte gefordert, Roma, die wiederholt strafUmig geworden seien, die StaatsbÜfgerschaft abzuer-
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kennen und sie außerhalb der Städte in Lager zu internieren (vgl. BiligermeisterKandidat fordert KZ fiir Roma in Ungarn, in: Pester Lloyd v. 30.08.2010). Dieses Beispiel ließe sich um zahlreiche weitere Beispiele fiir den Antiziganismus der Jobbik ergänzen. Jobbik begreift sich als "Hüter des Magyarentums" und Verteidiger gegen fremde Mächte. Ihren Aussagen - seien es antisemitische, antiziganistische oder homophobe -liegt das nationalistische Credo "Ungarn den Magyaren" zugrunde. Demnach werden Juden ebenso wie Roma, Homosexuelle oder politische Feinde (Liberale, Linke, Sozialisten, Kommunisten) als Feinde des Volkes und Volksfremde denunziert, derer man sich entledigen müsse. Völkisches Denken und EthnoNationalismus sind die beiden ideologischen Säulen, auf denen die menschenverachtende Ideologie der Jobbik basiert (vgl. Marsovszky 201Oa).
4. Zum Spektrum der extremen Rechten in Europa - Niederlande und Ungarn im Vergleich Die beiden Länderbeispiele Niederlande und Ungarn haben gezeigt, wie verschieden die Ausprägungen der extremen Rechten (hier im Sinne eines Oberbegriffs für Rechtspopulismus und -extremismus) sein können. Verschieden sind auch die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der beiden EUMitgliedstaaten. Während die Niederlande ein wirtschaftlich prosperierendes Land sind, leidet Ungarn unter der Weltwirtschaftskrise. In den Niederlanden betrug das BIP pro Einwohner im Jahre 2009 48.223 US-Dollar, im selben Jahr in Ungarn lediglich 12.927 US-Dollar. Entsprechend einer Länderliste (BIP pro Einwohner), die auf Schätzungen des IWF beruht (Stand April 2010), liegen die Niederlande weltweit auf Platz 7, Ungarn auf Platz 47. Die ökonomische Rezession in Ungarn begann bereits im Jahre 2006 und verschärfte sich durch die Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008. Im Oktober 2008 konnte ein Staatsbankrott nur durch Kredite des IWF, der EU und der Weltbank abgewendet werden. Gewährt wurde ein Kredit in Höhe von 20 Mrd. Euro; wovon die ungarische Regierung jedoch nur drei Tranchen in Höhe von 8,7 Mrd. Euro in Anspruch nahm. Die Arbeitslosenquote in den Niederlanden betrug laut Eurostat im Januar 2009 2,8 Prozent, während sie in Ungarn bei 8,6 Prozent lag. Demnach war die Arbeitslosenquote in den Niederlanden im EU-weiten Vergleich am niedrigsten (gefolgt von Österreich, Dänemark, Zypern), während Ungarn zu den Ländern mit der EU-weit höchsten Arbeitslosigkeit zählt (gefolgt von Irland, Litauen, Slowakei, Lettland, Spanien).
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Die ausländische Wohnbevölkerung betrug im Jahre 2004 in den Niederlanden 4,3 Prozent, die Vergleichszahl für Ungarn liegt bei 1,3 Prozent. Anzumerken ist jedoch, dass in den Niederlanden aufgrund der langen Einwanderungsgeschichte und der Tradition der Einbürgerung 19,3 Prozent aller Bewohner(innen) als ,,Allochthone" klassifiziert werden (als solche gelten Personen, die mindestens ein Elternteil besitzen, das nicht in den Niederlanden geboren wurde). In Ungarn spielen allochthone - im Gegensatz zu den autochthonen - Minderheiten keine große Rolle. Die autochthonen Minderheiten, von denen 13 seit dem Jahr 1993 entsprechend des "Gesetzes zum Schutz nationaler und ethnischer Minderheiten" als solche anerkannt worden sind, blicken auf eine lange historische Tradition zurück und sind in der aktuellen politischen Debatte - vor allem im Diskurs der extremen Rechten - von eminenter Bedeutung. Die größte, die der Roma, wird als ethnische Minderheit charakterisiert, im Gegensatz zu den zwölf anderen anerkannten Minderheiten, die als nationale Minderheiten gelten (u.a. die Deutschen, Slowaken, Kroaten, Rumänen). Ein Vergleich der ideologischen Kernelemente, die einerseits von der PVV, andererseits von der Jobbik bzw. der Ungarischen Garde propagiert werden, ergibt Folgendes: Völkisches Denken, Ethno-Nationalismus, Blut-und-Boden-Ideologien spielen in der PVV keine Rolle, während sie in der Jobbik und der Ungarischen Garde von fundamentaler Bedeutung sind. Ist die PVV weit davon entfernt, eine Revision von Grenzen zu fordern bzw. Regionen in den Nachbarstaaten als niederländisch zu reklamieren, ist die Forderung nach Revision des Vertrags von Trianon eine der zentralen Forderungen der Jobbik. Positive Bezüge zur NS-Vergangenheit lassen sich in der Ideologie der PVV nicht finden, im Gegenteil: Das Parteiprogramm der PVV fordert ein Verbot des Koran ebenso wie ein Verbot von Hitlers "Mein Kampf" und setzt den Islam und den Hitler-Faschismus wiederholt gleich. Jobbik und die Ungarische Garde hingegen bedienen sich gezielt einer politischen Symbolik, die an faschistische Bewegungen und Parteien im Ungarn der Zwischenkriegszeit bzw. unter deutscher Besatzung anknüpft - namentlich an die Pfeilkreuzier. Bei der PVV finden sich keinerlei Ansätze zu einer paramilitärischen Vorfeldorganisation; die von Jobbik gegründete Ungarische Garde hingegen präsentiert einen Militarismus par excellence. Die PVV, vor allem Geert Wilders, nimmt positiv Bezug aufIsrael und das Judentum in den Niederlanden. Seine Kampfansage gegen den Islam begründet Wilders damit, dass man die in den Niederlanden lebenden Juden gegen islamische und islamistische (und antisemitische) Anfeindungen verteidigen müsse - und schwingt sich damit zum Verteidiger des Judentums auf. Die Ideologie von Jobbik ist von einem impliziten und expliziten
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Antisemitismus durchzogen, antisemitische Codes spielen im politischen Diskurs der extremen Rechten in Ungarn eine bedeutsame Rolle. Die PVV wendet sich in erster Linie gegen Einwanderer aus islamischen Ländern, ihr Rassismus ist in hohem Maße mit der Feindbildkonstruktion des Islam und der Muslime verknüpft. Jobbik hingegen fokussiert die in Ungarn traditionell ansässigen Roma und konstruiert diese Bevölkerungsgruppe in jeder Hinsicht als Bedrohung ("Zigeunerkriminalität"; "Sozialmissbrauch"). Da sich Geert Wilders in die Tradition von Pim Fortuyn stellt, der die homosexuelle Lebensweise gegen den Islam verteidigte, tritt die PVV als Verteidiger der Rechte der Homosexuellen auf. Jobbik und die Ungarische Garde mobilisieren immer wieder gegen die 2009 in Kraft getretene Zulassung eingetragener homosexueller Partnerschaften. In der Vergangenheit attackierten Kräfte aus dem Lager der extremen Rechten in Ungarn häufig Schwule und Lesben und es kam zu Angriffen auf die jährlich in Budapest stattfindende Homo-Parade. Die PVV fordert die Aufnahme eines Artikels in die Verfassung, der unsere ,jüdisch-christliche, humanistische Kultur" festschreiben solle. Insofern bezieht sich die Programmatik der PVV positiv auf das jüdisch-christliche Erbe - in Abgrenzung zum Islam. Jobbik hingegen sieht das ungarische Christentum in erster Linie durch das Judentum bedroht, sodass ein Szenario entworfen wird, bei dem sich die ungarischen Christen gegen die Juden verteidigen müssen. Im Kontext von Globalisierung und Europäischer Integration finden sich sowohl bei der PVV als auch bei Jobbik Gemeinsamkeiten in dem Sinne, dass der souveräne Nationalstaat (Niederlande bzw. Ungarn) verteidigt werden soll. Die Übertragung souveräner Rechte des Nationalstaats an supranationale Organisationen wie die EU soll rückgängig gemacht werden: Die PVV fordert die Strategie des opting out. PVV und Jobbik bezeichnen sich selbst als "euro skeptisch" bzw. "eurokritisch" und behalten sich die Option eines EU-Austritts für den Fall vor, dass die Türkei in die EU aufgenommen bzw. das Moratorium über den Landkauf in Ungarn nicht verlängert werde. Die nachstehende Tabelle stellt Kemelemente der Ideologie von PVV und Jobbik zusammenfassend dar:
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Völkisches Denken! Blut und Boden Revanchismusltemtoriale Anspruche an Nachbarstaaten NS-Vergangenheit
PVV -
JobbiklUngarische Garde Ja
-
Ja
Keine positiven Bezüge
Positiver Bezug auf die PfeilkreuzIer und damit auf die ungarische Kollaboration mit den deutschen Besatzem ln Gestalt der paramilitärischen "Ungarischen Garde" Antisemitismus richtet sich gegen (vermeintliche) Juden und gegen "veJjudete" Einrichtungen "Ungarn den Magyaren"
Militarismus
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Antisemitismus
-
Nationalismus
"Niederlande den Niederländem" Rassismus richtet sich vor allem gegen allochthone Minderheiten/Einwanderer aus islamischen Staaten Stopp einer Einwanderung von Muslimen nach Europa
Rassismus
Einwanderung
Homophobie
-
Religion
Rassismus richtet sich vor allem gegen autochthone MinderheitcnJRoma
Kampf zur Verlängerung des 2011 auslaufenden Moratoriums des Landverkaufs an Ausländer Gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften/Angriffe gegen Homosexuelle Christentum/Kampf gegen Judentum, jüdische Religion, Juden, Zionismus etc.
Verfassungsrechtliche Verankerung der ,jüdisch-christlichen, humanistischen Kultur" Globalisierungskritik Ja Ja EU EU-skeptisch bzw. EU-feindlich EU-skeptisch bzw. EU-feindlich
Optingout Option eines EU-Austritts im Falle der Aufuahme der Türkei
Option eines Austritts aus der EU für den Fall, dass das 2011 auslaufende Moratorium über den Landkauf in Ungarn nicht verlängert werden sollte
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5. Die wissenschaftliche Ursachendebatte und Gegenstrategien
5.1 Themen der Rechten - Themen der Mitte In Österreich kam es 2000 zu einer Regierungskoalition zwischen der Österreichischen Volkspartei und der FPÖ bzw. ab 2002 der BZÖ, die bis 2006 hielt. So arbeiteten also in einem Regierungsbündnis Christdemokraten und eine Partei der extremen Rechten eng zusammen. Wurde im Jahre 2000 auf EU-Ebene noch über einen Boykott Österreichs nachgedacht, wurde dieser wenige Wochen später wieder revidiert, nachdem "Drei Weise" von Sanktionen eher abgeraten hatten. Bereits Mitte der 1990er-Jahre kam es in Italien zu einer kurzen Phase der Zusammenarbeit der bürgerlichen mit der extremen Rechten. Berlusconis "Forza Italia" ging mit der "Alleanza Nazionale" von Gianfranco Fini und der "Lega Nord" von Umberto Bossi eine Regierungskoalition ein. Dieses Bündnis hielt jedoch nur wenige Monate, fand aber im Mai 2001 eine zweite Auflage. Berlusconi ging als Sieger aus den Nationalratswahlen hervor und koalierte erneut mit der neofaschistischen .,Alleanza Nazionale" und der regionalistischen "Lega Nord" (2001bis2006; 2008 bis dato). Besiegelt wurde die enge Kooperation zwischen den verschiedenen Strömungen des rechten Spektrums durch die Parteineugründung "Popolo della Libertä" (November 2008) - ein Zusammenschluss von "Forza Italia" und "Alleanza Nazional". Auch in der Slowakei existiert seit 2006 eine Regierungskoalition unter Beteiligung der extremen Rechten: Deren Besonderheit besteht darin, dass hier die "Sozialdemokratische Partei der Slowakei" (SMER - Sociälna Demokracia) eine Regierungskoalition mit der "Slowakischen Nationalpartei" (SNS - Slovenskä Närodnä Strana) eingegangen ist. 13 In Ungarn konnte die rechtskonservative Partei "Fidesz - Ungarischer Bürgerbund" zwar aufgrund ihres Wahlerfolgs bei den letzten Wahlen (53 %) allein die Regierung stellen, dennoch gibt es zwischen der FIDESZ und der Jobbik zahlreiche ideologische Gemeinsamkeiten und Formen der Zusammenarbeit. Wie gravierend das Problem ist, zeigt auch das niederländische Beispiel: Nach langwierigen, innerhalb der CDA äußerst umstrittenen und zwischenzeitlich auch gescheiterten Verhandlungen zwischen der rechtsliberalen VVD und der christdemokratischen CDA über die Bildung einer gemeinsamen Minderheitsregierung stand schließlich Anfang Oktober fest, dass sich CDA und VVD zu einer konservativ-liberalen Regierungskoalition zusammenschließen werden. Geert Wilders repräsen13
Beteiligt an der Regierungskoalition sind neben der Sozialdemokratie (SMER-SD) auch die Bewegung für eine Demokratische Slowakei - Volkspartei (LS-HZDS) und die Slowakische Nationalpartei (SNS).
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rierte die PVV bei den Koalitionsverhandlungen (vgl. Neue Hürden für Bündnis mit Wilders in Den Haag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.8.2010). Als Minderheitsregierung wird die VVD-CDA-Regierungskoalitionjedoch auf die Tolerierung durch Wilders angewiesen sein. Dieser hat zwar nur vier von zwölfKapiteln des Koalirionsvertrags zugestimmt, andererseits haben seine Partner in der Regierungskoalition schriftlich akzeptiert, dass der Islam keine Religion, sondern eine (gefabrliche) politische Ideologie sei (vgl. Ross 2010a und 20 lOb). Diese Beispiele zeigen, dass die Analyse der Programmatik und Ideologie sowie der Erfolgsbedingungen der extremen Rechten mit einer Analyse der Debatten der politischen Mitte verknüpft werden muss. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die ideologischen und programmatischen Positionen der extremen Rechten in den Kontext der politischen Debatten einzuordnen und zu untersuchen, in welcher Weise sich die Debatten der extremen Rechten und die der politischen Mitte wechselseitig beeinflussen (vgl. Butterwegge u.a. 2002; Hentges 2002). Diese Wechselwirkungen lassen sich beispielsweise in den Politikfeldern Migration und Integration, Flüchtlings- und Asylpolitik, der Bevölkerungswissenschaft bzw. -politik oder auch in den Debatten über nationale Identität, Nationalstolz, Leitkultur oder Islam bzw. Islamismus beobachten. Jüngstes Beispiel dafür, dass die Grenzen zwischen der politischen Mitte und der extremen Rechten mitunter fließend sind, ist Thilo Sarrazin (2010). Die von ihm Ende August 2010 vorgelegte Publikation "Deutschland schafft sich ab" formuliert Thesen, die in derartiger Schärfe und Undifferenziertheit bislang eher von Personen aus dem politischen Spektrum der extremen Rechten vorgetragen worden sind. Sarrazin, der zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung noch SPD-Mitglied und Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank war, hat sich somit an die Spitze einer pauschalen Kritik an "dem Islam" und "den Muslimen" gestellt. Für Aufsehen sorgten die von ihm vertretenen Positionen, dass die in Deutschland lebenden Muslime über einen niedrigeren IQ verfügten, somit ihre Dummheit an die nachfolgenden Generationen vererbten, und dass alle Juden über ein gemeinsames Gen verfügten. Erste Reaktionen im Feuilleton weisen daraufhin, dass Sarrazins Thesen auf eine "völlige Neudefinition unseres Begriffs von Kultur" hinauslaufen. Sarrazin wolle, so Frank Schirrmacher (2010) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, "eine völlig neue politische Debatte auslösen, die im Kern biologisch und nicht kulturell argumentiert". Im Gegensatz zu vielen anderen Beiträgen zur bundesdeutschen Migrations- und Integrationspolitik akzentuiert Sarrazin weniger die Kultur; vielmehr fokussiert er (vermeintlich) biologische Prozesse und propagiert einen Biologismus. Explizit bedient er sich der Begriffe ,,zuchtwahl" und "Auslese" und rezi-
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piert die modeme Eugenik des 19. Jahrhunderts positiv. Deren Begründer, Francis Galton, hatte in den 1860er-Jahren - im Anschluss an die von Druwin entwickelte Lehre - Überlegungen zur Verbesserung der menschlichen Rasse angestellt. 14 Im Kontext dieser Debatte sorgte schließlich eine am 5. September 2010 veröffentlichte Emnid-Umfrage für Aufsehen: Demnach wäre fast jeder fünfte BundesbÜfger (18 %) dazu bereit, für eine Sarrazin-Partei zu votieren (vgl. "SarrazinPartei" wäre ein Erfolg, in: Welt Online v. 6.9.2010). Daran wird deutlich, dass sich auch in der Bundesrepublik Deutschland ein Wählerpotenzial für eine rechtspopulistische Partei finden ließe. Das Ergebnis der Emnid-Umfrage entspricht zahlreichen weiteren Befunden, die in der jüngsten Vergangenheit immer wieder ein solches Wähler- und Sympathisantenpotenzial in Meinungswnfragen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen diagnostiziert haben. Die im Rahmen der Längsschnittuntersuchung "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" erhobenen Daten z.B. lassen dies deutlich werden: 61,3 % aller Befragten stimmten dem Item zu: "In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden." Jeder dritte Befragte (32,8 %) befürwortete die Aussage "In Zeiten der Wirtschaftskrise können wir es uns nicht leisten, allen Menschen die gleichen Rechte zu garantieren." Und jeder fünfte Befragte (20,5 %) war der Meinung "In Zeiten der Wirtschaftkrise können wir es uns nicht mehr erlauben, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen." (Heitmeyer 2010, S. 31)
5.2 Wissenschaftliche Erklärungsansätze Wurden die verschiedenen Ansätze zur Erklärung der Ursachen in den 1990erJahren häufig noch kontrovers debattiert, wird in den heutigen Debatten eher der Tatsache Rechnung getragen, dass verschiedene Elemente der Ursachendebatte durchaus zusammengedacht werden können. Demnach werden die sozioökonomi14
Galton richtete sein Augenmerk vor allem auf Maßnahmen zur Steigerung der intellektuellen Qualität; Er prägte den Begriff der Eugenik und gilt demnach als Vordenker der wissenschaftlichen eugenischen Bewegung der 1890er-Jahre. Somit hat Galton, ein Cousin von Charles Darwin, dessen Lehre auf die Sozialwissenschaften übertragen (vgl. Bayertz 1987, S. 46 f. und S. 267). Die Forderung nach einer ,,künstlichen Selektion" zur Verhinderung einer (vermeintlich) weiteren Degeneration der menschlichen Art - zentrales Element einer eugenischen Programmatik - mündete in einer rassistischen Bevölkerungspolitik, die Eheschließungen politisch steuerte, aber auch bestimmte Personen, die als ,,minderwertig" galten, zwangsweise sterilisierte. Die Kehrseite dieser Maßnahmen war eine Sozialpolitik, um die als "höherwertig" betrachteten Personen zur Fortpflanzung zu animieren. Die im 19. Jahrhundert begründete Eugenik kulminierte bekanntlich in Deutschland im Jahre 1933 in dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Die weiteren eugenisch inspirierten (bevölkerungs)politischen Implikationen und Konsequenzen sind hinlänglich bekannt und waren - zu Recht - nach dem Ende der NS-Herrschaft in der neu gegründeten Bundesrepublik (zunächst) gründlich diskreditiert. Insofern hat Sarrazin ein Tabu gebrochen.
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schen und die kulturellen Ursachen in den Debatten nicht als einander ausschließend, sondern eher als komplementär debattiert, und auch der Ansatz der Krise der politischen Repräsentation fungiert nicht als einziger und exklusiver Erklärungsansatz in diesem Feld. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatensystems, dem Ende des Staatssozialismus und der Umstrukturierung der Ökonomien - vor allem in den osteuropäischen Ländern - haben sich europaweit tiefgreifende Veränderungsprozesse vollzogen. In den osteuropäischen Transformationsländern war zu Anfang die Hoffnung groß, dass infolge des Umstrukturierungsprozesses und Privatisierungsprozesses der Ökonomie innerhalb weniger Jahre eine Angleichung zwischen dem Lebensstandard in Ost- und Westeuropa hergestellt sein werde. Die ökonomische Entwicklung und die Auswirkung auf die Arbeitsmärkte und sozialen Sicherungssysteme straft diese Prognosen Lügen: Anband des Länderbeispiels Ungarn lassen sich folgende Entwicklungslinien skizzieren: Ungarn hat sich hinsichtlich seiner Wirtschaftsentwicklung in den letzten Jahren von den Nachbarstaaten abgekoppelt. Seit dem Jahr 2005 rallt Ungarn zurück. 2007 wuchs Ungarns Wirtschaft um lediglich ein Prozent (Tschechiens Wirtschaft wuchs um 6,1 %, Polens Wirtschaft um 6,8 %, die der Slowakei um 10,4 %). Bereits seit der Wende ist die ungarische Wirtschaft durch Krisenprozesse gezeichnet: niedrige Beschäftigungsquote, niedrige Sparrate, hohe Steuern und Abgaben, hohe Umverteilungsrate wegen der schlechten Versorgungssysteme (Renten-, Gesundheits-, Bildungssystem) (Mayer/OdehnaI2010, S. 40 f.). Im Oktober 2008 sah sich Ungarn kurz vor dem Staatsbankrott und es bestand die Gefahr, dass 50.000 Arbeitsplätze in Ungarn verloren gehen könnten. Der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Europäische Union stellten ein Hilfspaket in Höhe von 20 Milliarden Euro zur Verfügung, um Ungarn vor dem Staatsbankrott zu bewahren (vgl. Ungarn erhält 20 Milliarden Euro von IWF, EU und Weltbank 2008). Die Auflagen des IWF schränken demnach die Handlungsspielräume der Regierungen ein - was auch zu einer Rhetorik der Globalisierungskritik beigetragen hat. 2009 veröffentlichte das US-Meinungsforschungszentrwn Pew Research Center eine vergleichende Studie über die mentalen und politischen Haltungen in den Transformationsländern. Demnach glauben 72 Prozent aller Ungarn, dass es den Menschen in Ungarn heute schlechter gehe als zu kommunistischen Zeiten (Vergleichswerte: Ukraine und Bulgarien: 62 %, Slowakei 48 %, Tschechien 39 %, Polen 35 %). Nur 56 Prozent aller befragten Ungarn begrüßten die Einfiihrung der Mehrparteien-Demokratie in Ungarn, 1991 waren es noch 74 Prozent. 80 Prozent
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der Ungarn freuten sich 1991 über die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, heute sind es nur noch 46 Prozent (vgl. Mayer/Odehnal2010, S. 40 f.). Diese ökonomische Krisenentwicklung wird von den Menschen wahrgenommen und politisch interpretiert. Wie in den Ergebnissen des europäischen SIRENProjekts nachgewiesen werden konnte, trägt der sozioökonomische Wandel seit Beginn der 1990er-Jahre in einem erheblichen Maße zu einem Aufstieg der extremen Rechten bei (vgl. Hentges u.a. 2003; Flecker 2007). Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit - oder auch nur die Angst vor Arbeitslosigkeit aufgrund drohender Standortverlagerungen -, die massiven Prozesse der Umstrukturierung von Firmen aufgrund von Privatisierungsprozessen oder auch der Umbau sozialer Sicherungssysteme wurden und werden häufig in Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen gebracht. Gefordert wird ein wirtschaftlicher Protektionismus. Es kursiert die Kritik an Globalisierung und am international agierenden Finanzkapital. Dem wird ein ethnisch homogener Nationalstaat gegenübergestellt, der- autonom - die alleinige Entscheidungsgewalt über ökonomische Prozesse haben solle. In diversen Strömungen der extremen Rechten spielen Elemente einer Identitätspolitik eine wichtige Rolle: In allen westeuropäischen Ländern wird deutlich, dass die extreme Rechte gegen den Islam und die drohende Islamisierung propagiert und sich selbst als Retter inszeniert - sei es als Retter der Nation, des Volkes, der Kultur, des Christentums oder des christlichen Abendlandes. Während Feindbildkonstruktionen rund um das Thema IslamlIslamisierunglMuslime in den westeuropäischen Ländern mehr Anknüpfungspunkte finden, sind es in den osteuropäischen Ländern eher Themen wie die "Zigeuner" bzw. die "Zigeunerkriminalität" - als Basis der Ressentiments gegen die Anderen (vgl. Betz 2002a und 2002b). Ähnliches lässt sich bei den antisemitischen Ressentiments beobachten, die seit einigen Jahren nicht nur implizit, sondern auch explizit zum Ausdruck gebracht werden. Vor allem die diskursive Verknüpfung "Juden - jüdisches (Finanz)kapital der US-amerikanischen Ostküste" knüpft an langlebige Stereotype an, die einen (vermeintlichen) Antikapitalismus in Verbindung mit einem Antisemitismus und (antisemitischen) Antizionismus bringen. Die Abwertung der Anderen und die Aufwertung der Eigenen - die Konstruktion der Fremdgruppe und der Eigengruppe - sind konstitutive Merkmale der Ideologie der extremen Rechten. Sie erzeugen eine nationale und kulturelle Identität und dienen einer Selbstvergewisserung in Zeiten zunehmender Ungewissheit und Unsicherheit. Neben den sozioökonomischen und kulturellen Dimensionen verweisen die wissenschaftlichen Erklärungsansätze des Phänomens der extremen Rechten schließlich aufKrisenerscheinungen der politischen Repräsentation, die sich suk-
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zessive ab Anfang der 1980er-Jahre abzeichneten. Somit entstand ein guter Resonanzboden für Parteien am rechten Rand, die mit ihrer Programmatik und Ideologie an die wachsende Unzufriedenheit der Wähler(innen) anknüpfen konnten - eine Unzufriedenheit, die daher rührte, dass die Bevölkerung den Politikern zunehmend weniger Vertrauen entgegenbrachte und die Problemlösungskompetenz der Parteien der bürgerlichen Mitte infrage stellte. Verschärft wurde die Repräsentations- und Legitimationskrise der westlichen Demokratien in einigen EU-Mitgliedstaaten auch dadurch, dass im Zuge des Prozesses der Vergemeinschaftung (nationale) Politik als zunehmend intransparent erlebt wurde, da die Orte der politischen Entscheidungen als nur noch schwer lokalisierbar wahrgenommen wurden (vgl. Frölich-Steffen 2006, S. 147 f.). Im Zuge der Erosion der sozialen Milieus und der nachlassenden Bindungskräfte der Volksparteien entstand ein politisches Vakuum bzw. eine "populistische Lücke" (FleckerfKirschenhofer 2007); es eröffneten sich neue politische Räume für die Entwicklung neuer Parteien und Organisationen, nicht zuletzt am rechten Rand des politischen Spektrums. In Österreich entstand mit der FPÖ eine Partei des Dritten Lagers, die den österreichischen Korporatismus der Nachkriegsjahre infrage stellt; in Skandinavien entwickelten sich aus den ehemals wirtschaftsliberalen Anti-Steuerparteien neue rechtspopulistische Formationen, die die traditionellen Parteien herausforderten; in Osteuropa können wir beobachten, dass G lobalisierungskritik mit Kapitalismuskritik, Antisemitismus und völkischer Ideologie verknüpft wird. Diese neuen F orrnationen konnten aufgrund des Vertrauensverlustes in die alten traditionellen Parteien entstehen. Insofern profitierten sie in vielen Ländern zunächst von ihrer Oppositionsrolle. Erfahrungen zeigen jedoch auch, dass Parteien der extremen Rechten, sofern sie in die Regierung eingebunden werden, Wahlerfolge auch wieder einbüßen können. Mitunter kommt es als Folge der Regierungsbeteiligung auch zu Spaltungen oder Abspaltungen, wie am Beispiel der FPÖ und BZÖ zu sehen ist (vgl. Frölich-Steffen 2006).
5.3 Mögliche Gegenstrategien Welche Gegenstrategien sind möglich, um eine langfristige Verankerung der extremen Rechten im Parteiensystem der EU-Mitgliedsstaaten zu verhindern? Eine Sanktion gegen Länder, in denen Parteien der extremen Rechten an der Regierung beteiligt werden (so im Falle der EU 14 gegen Österreich 2000), hat sich als nicht wirkungsvoll erwiesen. Auch nach dem Wahlerfolg Berlusconis im Mai 2001 und der Beteiligung der Alleanza Nazionale und der Lega Nord an der Regierungskoalition wurde die Debatte des Jahres 2000 nicht wieder aufgegriffen.
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Demgegenüber scheint sich ein belgisches Modell bewährt zu haben: Im Zuge des Aufkommens des Vlaams Belang in den 1990er-Jahren vereinbarten die belgisehen Parteien einen cordon sanitaire und verpflichteten sich, auf keiner Ebene mit dem Vlaams Belang zu koalieren. Diese Strategie der parlamentarischen Isolation wurde auch im Europaparlament im Umgang mit der Fraktion ITS praktiziert und war, so die Einschätzung von Angelika Beer (MdEP), insofern erfolgreich, als dass die Handlungsspielräume der euro-rechten Fraktion deutlich eingeengt wurden. Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im EP, forderte seine Kollegen dazu auf, Mitglieder der ITS-Fraktion nicht in Führungspositionen (z.B. Vizevorsitzende in parlamentarischen Ausschüssen) zu wählen. Bei den Wahlen am 1. Februar 2007 wurde kein Mitglied der ITS-Fraktion zum Vorsitzenden eines Ausschusses gewählt. Beer trifft die Einschätzung, dass im Umgang mit der ITS-Fraktion etwas gelungen sei, was sonst eher die Ausnahme sei: "Man einigte sich intern darauf, die Zusammenarbeit mit der ITS-Fraktion auf das Nötigste zu beschränken und nach außen hin Ablehnung gegenüber der Fraktion zu signalisieren." (Beer 2010, S. 104) Wenn die empirischen Befunde zutreffend sind, dann erweisen sich Prozesse der Desintegration und sozialen Marginalisierung als Resonanzboden für rechtsextreme Propagandisten. (Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass die sozial Marginalisierten die einzigen und wichtigsten Träger der extremen Rechten sind). Insofern müsste eine Gegenstrategie dafür Sorge tragen, dass die modemen Gesellschaften - auch die Transformationsgesellschaften - nicht stetig neue soziale Gruppen von Ausgeschlossenen produzieren. Eine sinnstiftende Erwerbsarbeit - und darüber vermittelt eine ökonomische Absicherung und soziale Anerkennung - ist ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Verlockung der rechtsextremen Ideologien und Organisationen. Identitätspolitik gewinnt dann an Bedeutung, wenn Sündenböcke zur Erklärung gesellschaftlicher Missstände gesucht werden - seien es Sinti und Roma, Juden oder Migrant(inn)en. Hier sind die Bildungssysteme gefordert. Sie müssen Menschen dazu befähigen, gesellschaftliche Prozesse als soziale wahrzunehmen, zu erkennen und zu erklären - und nicht im Sinne einer Ethnisierung des Sozialen oder im Sinne einer Flucht in Biologismus und Eugenik, wie am Beispiel von Sarrazin beobachtet werden kann. Vor allem den Medien kommt die gesellschaftliche Verantwortung zu, fair über Einwanderer, ethnische und religiöse Minderheiten zu berichten - jenseits des Ressentiments und der Skandalisierung (vgl. ButterweggelHentges 2006). Zivilgesellschaftliche Strukturen müssen weiter ausgebaut und gestärkt werden - im Sinne eines sozialen Netzwerks von sinnstiftenden sozialen Beziehungen
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in den Kommunen wie auch überregional. Erfahrungen politischer Partizipation auf kommunaler wie (über)regionaler Ebene und die Erfahrung, in diesem Rahmen etwas verändern zu können - und sei es auch nur im Kleinen - schützt davor, in rechtsextremen Führern Heilsbringer zu sehen. Nicht zuletzt zeigen Beispiele, dass Bündnisse gegen die extreme Rechte dazu in der Lage sind, deren transnationaler Vernetzung etwas entgegenzusetzen. Die Proteste gegen den Anti-Islamkongress, der im Herbst 2009 in Köln stattfinden sollte, konnten diesen verhindern. Unter dem Motto "Köln stellt sich quer" schlossen sich zahlreiche Vereine, Verbände, Initiativen, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften zusammen und verhinderten - mit großem Medienerfolg - das geplante internationale Treffen der extremen Rechten in Köln. Diese politische Aktion könnte zum Vorbild werden für weitere Initiativen - wann immer die Kräfte der extremen Rechten den Versuch unternehmen, sich in der Öffentlichkeit als ,,normale" politische Kraft präsentieren zu wollen.
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Autorlnnen und Autoren
Prof. De. Hans-Jüegen Bieling, Professor fiir Politikwissenschaft an der Fakultät Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Bremen PD De. Petra Bendei, Geschäftsführerin des Zentralinstituts fiir Regionenforschung, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nfunberg Johanna Birk, M.A., Absolventin des Studiengangs Intercultural Communication and European Studies (ICEUS) am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda Prof. Dr. Gudnm Hentges, Professorin fiir Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda Andreas Hofmann, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität zu Köln, Forschungsinstitut fiir Politische Wissenschaft und Europäische Fragen PD Dr. Uwe Hunger, wissenschaftlicher Assistent am Institut fiir Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Hans-Wolfgang Platzer, Professor fiir Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda Dr. Thorsten Schulten, wissenschaftlicher Mitarbeiter (mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Tarifpolitik in Europa), Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WS!) der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Prof. Dr. Susanne Spindler, Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt Julia Wahnel, M.A., Absolventin des Studiengangs Intercultural Communication and European Studies (ICEUS) am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda Prof. Dr. Wolfgang Wesseis, Jean Monnet Professor fiir Europäische Politik, Universität zu Köln, Forschungsinstitut fiir Politische Wissenschaft und Europäische Fragen G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011